Platon Werke -- Ubersetzung Und Kommentar: V,3: Laches: 5.3 3525304188, 9783525304181

English summary: Laches is one of Plato's early dialogues and part of a series of dialogues in which Socrates discu

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Platon Werke -- Ubersetzung Und Kommentar: V,3: Laches: 5.3
 3525304188, 9783525304181

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Table of Contents
Body
Vorwort
Übersetzung
Kommentar
Einleitung: Platons Laches und der sokratische Eudämonismus
1. Rechenschaftgabe und Sorge um die Seele
2. Platons Dialogform und die Sokratische Hebammenkunst
3. Grundsätze des Sokratischen Eudämonismus
4. Drei epistemische Ebenen: Vollkommenheit, Wissenssuche und Ignoranz
5. Die Sorge um die Seele und die Sokratische Glücksauffassung
6. Datierung des Laches
I Die Gesprächseröffnung: Personen und Themen, 178a1–190d1
1. Der Auftakt: Die Frage nach der Erziehung der Jugendlichen
2. Sorge, Beratung und Aufrichtigkeit, 178a1–180b7
3. Das Sokratesbild im Laches, 180b7–181d7
4. Laches und Nikias im Expertenstreit, 181d8–184c8
5. Stimmenmehrheit oder Wissen? Wer ist sachverständig? 184c9–187d5
6. Die Rechenschaftgabe und die sokratische Frage, 187d6–190d1
II Die Laches-Hypothese: Tapferkeit ist kluge Beharrlichkeit, 190d2–194c1
1. Die Frage nach einer Definition der Tapferkeit, 190d2–194c1
2. Das Muster der Erörterung sokratischer Definitionsfragen
3. Die Prüfung der Laches-Hypothese, 192b9–194c1
III Die Nikias-Hypothese: Das Wissen über gefährliche oder unbedenkliche Dinge, 194c2–199e12
1. Die erste Erläuterung der Nikias-Hypothese, 194c7–197e10
2. Die Prüfung der Nikias-Hypothese: Das Schlussargument über die Tapferkeit, 197e10–199e12
3. Pars pro toto – Tapferkeit als Bestandteil einer guten seelischen Verfassung
IV Noch einmal: Was ist Tapferkeit? Versuch einer Interpretation des Laches
1. Die Verknüpfung der klugen Beharrlichkeit mit dem glücksrelevanten Wissen
2. Die eudämonistische Tapferkeit
3. Der Zusammenhang der Tugenden
4. Exkurs 1: Eine Hypothese über eudämonistische Besonnenheit im Charmides
V Der Abschluss des Gesprächs im Laches, 199e12–201c5
VI Ergebnisse
VII Exkurse zu Protagoras und Menon
Exkurs 2: Protagoras
Exkurs 3: Menon
Ergebnisse der Exkurse zu Protagoras und Menon
Textausgaben und Übersetzungen
Literaturverzeichnis
Stellenregister
Namenregister
Sachregister
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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525304181 — ISBN E-Book: 9783647304182

PLATON Werke Übersetzung und Kommentar

Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz herausgegeben von Ernst Heitsch, Carl Werner Müller und Kurt Sier

V3 Laches

Vandenhoeck & Ruprecht

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PLATON Laches

Übersetzung und Kommentar von Jörg Hardy

Vandenhoeck & Ruprecht

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Gedruckt mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz

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Für Joda

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

Einleitung: Platons Laches und der sokratische Eudämonismus

41

1. Rechenschaftgabe und Sorge um die Seele . . . . . . . . . .

42

2. Platons Dialogform und die Sokratische Hebammenkunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

3. Grundsätze des Sokratischen Eudämonismus . . . . . . . .

54

4. Drei epistemische Ebenen: Vollkommenheit, Wissenssuche und Ignoranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

5. Die Sorge um die Seele und die Sokratische Glücksauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

6. Datierung des Laches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

Die Gesprächseröffnung: Personen und Themen, 178a1–190d1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

1. Die Frage nach der Erziehung der Jugendlichen . . . . . .

69

2. Sorge, Beratung und Aufrichtigkeit, 178a1–180b7 . . . .

70

3. Das Sokratesbild im Laches, 180b7–181d7 . . . . . . . . . .

75

4. Laches und Nikias im Expertenstreit, 181d8–184c8 . . .

76

5. Stimmenmehrheit oder Wissen? Wer ist sachverständig? 184c9–187d5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

6. Die Rechenschaftgabe und die sokratische Frage, 187d6–190d1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

Die Laches-Hypothese: Tapferkeit ist kluge Beharrlichkeit, 190d2–194c1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I

II

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Inhalt

1. Die Frage nach einer Definition der Tapferkeit, 190d2–192b8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

2. Das Muster der Erörterung sokratischer Definitionsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

3. Die Prüfung der Laches-Hypothese, 192b9–194c1 . . . . 103 III

Die Nikias-Hypothese: Das Wissen über gefährliche oder unbedenkliche Dinge, 194c2–199e12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1. Die erste Erläuterung der Nikias-Hypothese, 194c7– 197e10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 2. Die Prüfung der Nikias-Hypothese: Das Schlussargument über die Tapferkeit, 197e10–199e12 . . . . . . . . . . . 121 3. Pars pro toto – Tapferkeit als Bestandteil einer guten seelischen Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

IV

Was ist Tapferkeit? Ein Versuch einer Interpretation des Laches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 1. Die Verknüpfung der klugen Beharrlichkeit mit dem glücksrelevanten Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2. Die eudämonistische Tapferkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 3. Der Zusammenhang der Tugenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 4. Exkurs 1: Eine Hypothese über eudämonistische Besonnenheit im Charmides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

V

Der Abschluss des Gesprächs im Laches, 199e12–201c5 . 163

VI

Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166

VII Exkurse zu Protagoras und Menon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Exkurs 2: Protagoras . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Exkurs 3: Menon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Ergebnisse der Exkurse zu Protagoras und Menon . . . . . . 214 Textausgaben und Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

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Vorwort

Der Übersetzung zugrunde liegt die Ausgabe: Platonis opera, tom. III, recognovit brevique adnotatione critica instruxit I. Burnet, Oxford 1903. Einen sorgfältigen philologischen Kommentar des Laches bietet C. J. Emlyn-Jones. Plato’s Laches, ed. with introd. and comm., Bristol 1996. Viele Freunde und Kollegen haben mir während der Arbeit an dem vorliegenden Kommentar bei der Klärung meiner Gedanken geholfen. Ausdrücklich danken möchte ich an dieser Stelle Sophia Armani, Norbert Blößner, Torsten Breden, Wolfgang Detel, Ernst Heitsch, Antonio Giménez, Alexander Mourelatos, Michael Prätori, Christopher Rowe, George Rudebusch, Gerasimos Santas, Christoph Schamberger, May Sim und Stephen White. Münster, Januar 2014

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ÜBERSETZUNG

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Laches

Die Personen: Lysimachos, Melesias, Laches, Nikias, Sokrates und die Jugendlichen Thukydides und Aristeides LYSIMACHOS: Zugesehen habt ihr ihm jetzt, dem Mann beim Kämpfen in voller Bewaffnung, lieber Nikias und Laches. Weshalb wir beide, ich und Melesias hier, euch aber gebeten haben, dem Mann gemeinsam mit uns zuzuschauen, das haben wir euch vorher nicht gesagt. Doch jetzt wollen wir es sagen. Wir glauben nämlich ganz offen mit euch reden zu sollen. So manche machen sich freilich über solche Offenheit lustig; b wenn jemand sie um einen Rat bittet, sagen sie womöglich nicht, was sie denken, sondern versuchen, die Meinung des Ratsuchenden zu erraten und sagen dann etwas, was gar nicht ihrer wirklichen Meinung entspricht. Von euch aber dürfen wir annehmen, dass ihr imstande seid, euch ein eigenes Urteil zu bilden und es dann, wenn ihr es euch gebildet habt, auch offen auszusprechen. Deshalb haben wir euch hinzugezogen zu der Beratung über das, was wir euch jetzt mitteilen wollen. Die Sache, über die ich dies alles einleitend gesagt habe, ist folgende: 179a Dies hier sind unsere beiden Söhne. Er hier ist der Sohn dieses Mannes. Er trägt den Namen seines Großvaters: Thukydides. Mein Sohn ist dieser hier, auch er trägt den großväterlichen Namen, den Namen meines Vaters. Er heißt nämlich Aristeides. Wir haben nun beschlossen, uns möglichst gut um die beiden zu kümmern und nicht das zu tun, was die meisten tun, wenn ihre Söhne halb erwachsene Männer sind: Wir wollen nicht zulassen, dass sie einfach machen, was sie wollen, vielmehr wollen wir gerade jetzt damit beginnen, uns um sie zu kümmern, soweit es b in unseren Kräften steht. Nun wissen wir, dass auch ihr Söhne habt, und wir glauben, dass, wenn irgendjemand, so ganz sicher ihr darüber nachgedacht habt, durch welche Förderung die Söhne möglichst gut werden. Solltet ihr allerdings nicht hierauf bedacht gewesen sein, so wollen wir euch daran erinnern, dass man dies nicht vernachlässigen darf und euch auffordern, mit uns gemeinsam Sorge um unsere Söhne zu tragen. Wie wir aber zu diesem Entschluss gekommen sind, Nikias und Laches, müsst ihr euch anhören, auch wenn es eine etwas längere Geschichte ist. 178a

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Übersetzung

Wir speisen bekanntlich zusammen, ich und Melesias, und unsere Söhne sind auch dabei. Wie ich eingangs bereits sagte, wollen wir ganz offen zu euch sprechen. Jeder von uns kann den jungen Leuten von seinem Vater viele vortreffliche Taten berichten; all’ die Taten, die unsere Väter im Krieg wie in Friedenszeiten vollbracht haben, indem sie sich um die Angelegenheiten der Bundesgenossen und diejenigen der Stadt gekümmert haben. Eigene Taten aber kann keiner von uns berichten. Deshalb schämen wir uns ein wenig vor den beiden hier und werfen unseren Vätern vor, dass sie uns, als wir Halbwüchsige waren, ein träges Leben führen ließen und sich selbst um die Angelegenheiten anderer Leute gekümmert haben. Und den jungen Leuten hier versuchen wir dies klar zu machen; dass sie, falls sie sich selbst vernachlässigen und nicht auf uns hören, ohne Ruhm bleiben werden, dass sie aber, falls sie sich um sich kümmern, sich der Namen, die sie tragen, wohl würdig erweisen werden. Sie sagen nun, sie wollten auf uns hören, und wir denken darüber nach, durch welche Sache sie wohl, wenn sie sie erlernen und fleißig betreiben, möglichst gut werden könnten. Nun hat uns jemand unter anderem diesen Unterrichtsgegenstand empfohlen; für einen jungen Mann sei es eine gute Sache, das Kämpfen in voller Bewaffnung zu lernen. Und er war voll des Lobes für diesen Mann, den ihr soeben gesehen habt, wie er seine Kunst zur Schau stellte, und hatte uns aufgefordert, ihm einmal zuzuschauen. Wir glaubten nun, selber zu einer Darbietung des Mannes gehen und auch euch dabei mitnehmen zu sollen, zum einen als Mitzuschauer, zum anderen als Mitberater, und zwar als, wenn ihr wollt, Leute, die sich an der Sorge für die Söhne beteiligen. Das ist es, was wir mit euch beraten wollen. Jetzt ist es also an euch, uns Rat zu geben, und zwar sowohl mit Blick auf diese besagte Sache (zu sagen), ob man sie eurer Meinung nach erlernen muss oder nicht, als auch mit Blick auf andere Unterrichtsgegenstände und Betätigungen – falls ihr noch weitere zu empfehlen habt –, und schließlich auch hinsichtlich der gemeinschaftlichen Fürsorge zu sagen, wie ihr euch daran beteiligen wollt. NIKIAS: Was mich betrifft, Lysimachos und Melesias, so kann ich euer Vorhaben nur loben, bin gerne bereit, mich daran zu beteiligen, und ich glaube, Laches hier ebenfalls. LACHES: Das glaubst du in der Tat zurecht, Nikias. Was Lysimachos eben über seinen Vater und den des Melesias gesagt hat, scheint mir sehr richtig bemerkt zu sein, sowohl mit Blick auf jene als auch mit Blick auf uns und alle, die öffentliche Angelegenheiten betreiben; allen geht es so, wie er es sagt, mit ihren Kindern wie auch mit dem übrigen: Ihre eigenen Angelegenheiten werden nachlässig und gleichgültig behandelt. Damit hast du also völlig recht, Lysimachos. Dass du jedoch uns als Ratgeber

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für die Erziehung der jungen Leute hinzuziehst, Sokrates hier aber nicht, muss mich doch sehr wundern. Denn erstens ist er doch ein Landsmann von euch, und außerdem ist gerade er überall dort, wo es etwas von der Art gibt, das du für die jungen Leute suchst, nämlich einen geeigneten Unterrichtsgegenstand oder eine empfehlenswerte Betätigung. LYSIMACHOS: Was sagst du da, Laches? Beschäftigt sich Sokrates mit Dingen dieser Art? LACHES: Aber gewiss doch, Lysimachos. NIKIAS: Das hätte ich dir auch sagen können, ebenso gut wie Laches. Mir selbst hat er nämlich unlängst jemanden als Musiklehrer für meinen Sohn empfohlen: Damon, einen Schüler des Agathokles, ein hervorragender Mann, nicht nur in der Musik, sondern auch sonst zum lehrreichen Umgang mit jungen Leuten höchst geeignet. LYSIMACHOS: In der Tat, Sokrates, Nikias und Laches, kennen Leute meines Alters die Jüngeren nicht mehr, da wir ja aufgrund unseres Alters die meiste Zeit zu Hause verbringen. Wenn aber auch du, Sohn des Sophroniskos, deinem Landsmann hier etwas Gutes raten kannst, so musst du es tun. Das kann man ja von dir erwarten, denn du bist ja schon von deinem Vater her unser Freund. Ein Leben lang waren dein Vater und ich nämlich Gefährten und Freunde, und er ist gestorben, ohne dass wir jemals in irgendeiner Sache unterschiedlicher Meinung gewesen wären. Übrigens kommt mir jetzt gerade, da die (beiden) hier so reden, etwas in Erinnerung. Die jungen Leute hier erwähnen nämlich, wenn sie sich zu Hause miteinander unterhalten, oft einen gewissen Sokrates und loben ihn sehr. Ich habe sie allerdings nie gefragt, ob sie den Sohn des Sophroniskos meinen. Nun denn, Kinder, sagt mir, ist dieser Mann hier der Sokrates, von dem ihr immer gesprochen habt? DIE JUNGEN: Sicher, er ist es, Vater. LYSIMACHOS: Das ist gut, Sokrates, bei der Hera, dass du deinem Vater, diesem hervorragenden Mann, solche Ehre machst, vor allem auch deshalb, weil so das Deine uns und ebenso das Unsere dir zu Gebote stehen wird. LACHES: Ja wirklich, Lysimachos, lass den Mann nur ja nicht gehen. Denn ich selbst habe ihn schon einmal bei anderer Gelegenheit gesehen, wie er nicht bloß seinem Vater, sondern dem ganzen Vaterland Ehre machte. Während der Flucht am Delion haben wir uns nämlich gemeinsam zurückgezogen, und ich sage dir, wenn die anderen derart vortrefflich hätten sein wollen, wäre unsere Stadt gerettet gewesen und hätte keine solche Niederlage erlitten. LYSIMACHOS: Dieses Lob, Sokrates, ist wirklich schön. Und du bekommst es von Männern, die es verdienen, dass man ihnen glaubt, gerade auch im Hinblick auf das, wofür sie dich loben. Sei also versi-

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chert, dass ich dies gerne höre, dass du in gutem Ruf stehst, und glaube auch du, dass ich zu denen gehöre, die dir sehr wohlgesonnen sind. Du hättest schon früher, von selbst zu uns kommen und uns als Freunde ansehen sollen, wie man es erwarten kann. Doch vom heutigen Tage an, da wir uns nun gegenseitig als einander vertraute Menschen erkannt haben, tue jedenfalls nichts anderes mehr; sei unser Vertrauter, betrachte uns als Freunde und halte es mit den jungen Leuten hier ebenso, so dass ihr unsere Freundschaft fortsetzt. Das wirst du nun sicherlich auch tun, und wir werden dich unsererseits daran erinnern. Doch jetzt zu der Frage, mit der wir begonnen haben: Was sagt ihr, was ist eure Meinung dazu? Ist es für junge Leute vorteilhaft, zu lernen, in voller Bewaffnung zu kämpfen, oder nicht? SOKRATES: Nun, ich für meinen Teil will versuchen, Lysimachos, dir dazu einen Rat zu geben, wenn ich es kann, und auch sonst alles tun, worum du mich bittest. Ich halte es allerdings für das Beste, dass ich, da ich jünger bin als diese beiden hier und in diesen Dingen weniger erfahren, mir erst einmal anhöre, was sie sagen, und von ihnen lerne, bevor ich, falls ich dem, was sie sagen, noch etwas hinzuzufügen habe, sodann erst dich und sie zu belehren und zu überzeugen versuche. Nun, Nikias, warum spricht nicht zuerst einer von euch beiden? NIKIAS: Dem steht nichts im Wege, Sokrates. Auch mir scheint es nämlich in vieler Hinsicht vorteilhaft für die jungen Leute zu sein, diese Kunst zu erlernen. Denn es ist ja schon von Vorteil, dass sie ihre Zeit dann nicht mit anderen Dingen vertun, nämlich so, wie es junge Leute gewöhnlich tun, wenn sie nichts zu tun haben, sondern (sich) mit dieser Sache (beschäftigen). Auch wird dadurch zweifellos ihr Körper gestärkt, das Kämpfen in voller Bewaffnung steht ja den anderen körperlichen Ertüchtigungen nicht nach und ist nicht weniger anstrengend. Außerdem ziemt sich gerade diese Kunst, neben dem Reiten, so recht für einen freien Mann. Denn in dem Kampf, den wir (im Leben) ausfechten und in allem, was diesen Kampf für uns ausmacht, werden nur diejenigen geübt sein, die sich im Umgang mit diesen Kampfwerkzeugen üben. Auch in der Schlacht wird sich diese Kunst als vorteilhaft erweisen, dann nämlich, wenn man gemeinsam mit vielen anderen in Reih und Glied zu kämpfen hat. Ihr größter Nutzen zeigt sich aber erst dann, wenn sich die Reihen lösen und es Mann gegen Mann geht, indem man in der Verfolgung einen, der sich zur Wehr setzt, anzugreifen hat, oder aber selber auf der Flucht ist und die Verfolger abzuwehren hat. Da kann jemand, der sich auf den besagten Waffenkampf versteht, von einem einzelnen sicher nicht bezwungen werden, vielleicht nicht einmal von mehreren, vielmehr wird er in jedem Falle im Vorteil sein. Diese Kunst lässt einen zudem noch nach einer anderen edlen Kunst streben. Wer nämlich gelernt hat, in vol-

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ler Bewaffnung zu kämpfen, der wird wohl auch die damit verwandte Kunst der Truppenaufstellung beherrschen wollen, und wer diese erlernt und sich darin geübt hat, wird sich dann schließlich um die strategische Kunst insgesamt bemühen. Damit dürfte nun klar sein, wie trefflich all diese Unterrichtsgegenstände und die damit verbundenen Betätigungen sind und wie wertvoll ihr Erlernen und ihre Ausübung für einen Mann ist, und der besagte Waffenkampf kann den Auftakt bilden. Eine nicht unwichtige Sache sollten wir abschließend noch hinzufügen, nämlich dies, dass diese Fähigkeit einen jeden im Kriege sicher nicht weniger kühn und tapfer machen wird, als er es sonst wäre. Und wir sollten auch nicht unerwähnt lassen – mag dies auch mancher für nicht so wichtig halten –, dass sie einen Mann auch imposanter erscheinen lässt, und zwar dort, wo er auch so wirken sollte, dort nämlich, wo er seinen Feinden durch eben seine Stattlichkeit noch furchteinflößender erscheint. Kurzum, ich halte es, Lysimachos, wie gesagt, für sehr richtig, dass die jungen Leute darin unterrichtet werden, und habe jetzt wohl deutlich gemacht, weshalb ich dieser Meinung bin. Falls nun Laches dagegen etwas vorzubringen hat, möchte ich es jetzt gerne hören. LACHES: Nun ist es selbstverständlich schwer, Nikias, von irgendeiner Sache zu behaupten, man solle sie nicht erlernen, denn es dürfte wohl ganz gut sein, sich auf alles zu verstehen. So ist es auch mit dem Waffenkampf. Wenn er denn wirklich eine Kunst ist, wie ihre Lehrer behaupten, und wenn es sich damit so verhält, wie Nikias behauptet, dann soll man ihn erlernen. Wenn er aber keine Kunst ist, und uns diejenigen, die das vorgeben, täuschen, oder wenn er zwar eine Kunst ist, aber keine ernsthafte – wozu sollte man ihn dann lernen? Ich sage dies über ihn unter folgendem Gesichtspunkt: Falls an der Sache etwas dran wäre, dann wäre dies – meiner Überzeugung nach – den Spartanern sicher nicht entgangen, die sich ja um nichts anderes kümmern als das ausfindig zu machen und zu erlernen, was ihnen im Krieg Vorteile gegenüber allen anderen verschaffen könnte. Aber selbst wenn es denen entgangen sein sollte, so würde es doch wohl den Lehrern dieser Kunst nicht entgangen sein, dass eben jene (Spartaner) sich unter den Griechen am meisten um diese Dinge bemühen, und dass jemand, der sich damit bei ihnen Ruhm erwirbt, dann bei anderen ja wohl umso mehr damit verdienen dürfte, so wie ein Tragödiendichter, der sich hier bei uns Ruhm erworben hat. Denn eines ist klar: Wer eine Tragödie gut verfassen zu können glaubt, der macht bestimmt keinen Bogen um Attika und präsentiert statt dessen seine Kunst in anderen Städten, sondern wird sich geradewegs hierher begeben und (sein Werk) den Athenern vorstellen, wie es sich gehört. Was aber diese Fechtkünstler betrifft, so sehe ich, dass sie Sparta geradezu als ein unzugängliches Heiligtum ansehen und es

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nicht einmal mit der Fußspitze berühren, sondern einen großen Bogen darum machen und ihre Kunst lieber allen anderen vorführen, am liebsten solchen, die selber zugeben müssten, dass ihnen in Sachen Kriegskunst viele überlegen sind. Überdies war ich, lieber Lysimachos, schon bei nicht wenigen dieser Künstler während ihrer Vorführung anwesend, habe also selbst gesehen, was sie taugen. Wir können die Angelegenheit aber auch unter diesem Gesichtspunkt beurteilen: Noch nie hat sich irgend einer von denen, die den Waffenkampf ausüben, im Krieg ausgezeichnet – man könnte meinen, sie hätten es mit Absicht vermieden. In allen anderen Bereichen stammen ja diejenigen, die sich in einer Sache einen Namen machen, aus dem Kreise derer, die sich speziell damit beschäftigen. Nur diese besagten Leute scheinen dabei ungeheures Pech zu haben. Selbst Stesileos hier, dem ihr mit mir zugeschaut habt, wie er sich vor einer großen Menge zur Schau gestellt und große Worte gemacht hat – dem habe ich bei einer anderen Gelegenheit einmal noch schöner zuschauen können, als er sich in der wirklichen Darbietung (seiner Kunst) wahrlich zur Schau gestellt hat, allerdings wider willen: Als das Schiff, auf dem er sich befand, mit einem Frachtschiff zusammenstieß, focht er mit einem Sichelspeer; eine wirklich hervorstechende Waffe, fürwahr, ganz so, wie auch er aus den übrigen hervorstach. Über diesen Mann gibt es wirklich nichts Bemerkenswertes zu sagen, bis eben auf die Geschichte mit der Sichel an einem Speer. Während er nämlich damit herumfuchtelte, verhakte sich der Speer in der Takelage des anderen Schiffes und hing fest. Stesileos zog daran, um den Speer los zu bekommen, doch es gelang ihm nicht. Die beiden Schiffe fuhren nun (längsseits) aneinander vorbei. Solange es ging, hielt er den Speer fest und lief so auf seinem Schiff neben dem anderen her. Als dann das andere Schiff an seinem vorbeigefahren war und ihn mitzog, weil er nämlich den Speer festhielt, ließ er ihn durch die Hände gleiten, bis er nur noch das äußerste Ende in Händen hielt. Da gab es ein schallendes Gelächter und Beifallsklatschen auf dem Frachtschiff, schon beim Anblick seiner Lage, und als ihm dann noch jemand einen Stein vor die Füße aufs Deck warf, da konnte sich, angesichts des an dem Frachtschiff hängenden Sichelspeers, auch die Besatzung des Kriegsschiffs nicht mehr halten vor Lachen. Zwar mag ja doch noch etwas an dieser Sache sein, wie Nikias meint. Was ich aber erlebt habe, ist eben das, was ich bereits sagte: Sei es, dass sie (sc. die Waffenkampfkunst), wenn sie denn eine Kunst ist, so gut wie keinen Nutzen bringt, sei es, dass sie überhaupt keine Kunst ist – es ist auf jeden Fall nicht der Mühe wert, sie zu erlernen. Es scheint mir auch so zu sein, dass sich ein feiger Mensch in der Überzeugung, diese Kunst zu beherrschen, dadurch zum Übermut hinreißen lässt und so nur umso deutlicher seinen

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wahren Charakter zeigt. Ist hingegen ein Tapferer dieser Überzeugung, so würde er wohl, von den Mitmenschen (argwöhnisch) beobachtet, Vorwürfen ausgesetzt sein, sobald er nur den kleinsten Fehler machte. Denn eine Fähigkeit dieser Art für sich zu beanspruchen, ruft Neid hervor. Wer sich also nicht in einem unglaublichen Maße vor allen anderen in seiner Tüchtigkeit auszeichnet, kann es unmöglich vermeiden, sich mit der Behauptung, er verfüge über diese Fähigkeit, lächerlich zu machen. So scheint es sich mir mit dem Bemühen um diese Kunst zu verhalten, Lysimachos. Aber du solltest, wie ich gleich zu Beginn sagte, Sokrates nicht loslassen, sondern auch ihn danach fragen, wie er über den in Rede stehenden Gegenstand urteilt. LYSIMACHOS: Allerdings bitte ich dich, Sokrates, um Rat. Denn mir scheint, unsere Beratung braucht so etwas wie einen Schiedsrichter. Wenn diese beiden einer Meinung wären, so bräuchten wir vielleicht keinen, aber in der jetzigen Situation, da, wie du siehst, Laches gegen Nikias gestimmt hat, ist es sehr hilfreich, auch von dir zu hören, welchem der beiden Männer du zustimmst. SOKRATES: Bitte, Lysimachos? Was die Mehrheit von uns für richtig hält, dem willst du folgen? LYSIMACHOS: Wie soll man es denn sonst machen, Sokrates? SOKRATES: Würdest du, Melesias, es auch so machen? Wenn du etwa darüber berietest, in welcher sportlichen Disziplin dein Sohn sich üben sollte, würdest du dabei der Mehrheit unter uns folgen oder eher jemandem, der von einem guten Sportlehrer ausgebildet ist? MELESIAS: Dem letzteren natürlich, Sokrates. SOKRATES: Ihm würdest du also eher folgen als uns vieren? MELESIAS: Vielleicht. SOKRATES: Man soll sich meiner Auffassung nach nämlich nach dem Wissen und nicht nach einer Anzahl (sc. Stimmenmehrheit) richten, wenn die richtige Entscheidung getroffen werden soll. MELESIAS: Wie auch sonst. SOKRATES: Also müssen auch wir jetzt zuerst prüfen, ob einer von uns in der Sache, über die wir beraten, sachverständig ist oder nicht. Und wenn einer von uns in der Tat sachverständig ist, dann muss man diesem einen folgen, auf die anderen aber nichts geben. Ist es hingegen niemand von uns, dann muss man sich nach einem anderen umsehen. Oder glaubt ihr etwa, du und Lysimachos, dass es jetzt nur um eine Kleinigkeit geht und nicht vielmehr um die allerwichtigste eurer Angelegenheiten? Denn je nachdem, ob die Söhne tüchtig geraten oder das Gegenteil eintritt, so wird (in jedem Falle) auch der Haushalt des Vaters so geführt werden, wie die Söhne geraten sind. MELESIAS: So ist es.

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SOKRATES: In dieser Sache muss man daher große Vorsicht walten lassen. MELESIAS: Allerdings. SOKRATES: Wie also würden wir, wovon ich eben gesprochen habe, in der Untersuchung vorgehen, wenn wir herausfinden wollten, wer von uns der Sachverständigste für sportliche Wettkämpfe ist? Ist dies nicht derjenige, der die Sache erlernt und auch ausgeübt hat, und der selber ebenfalls gute Lehrer darin hatte? MELESIAS: So scheint es mir zu sein. SOKRATES: Und würden wir nicht vorher auch noch prüfen, was es denn ist, wofür wir die Lehrer suchen? MELESIAS: Was meinst du damit? SOKRATES: Vielleicht wird es auf folgende Weise deutlich werden: Wir haben uns, wie mir scheint, zu Beginn gar nicht darauf geeinigt, was es eigentlich ist, worum es bei unserer Beratung und in unserer Untersuchung, wer von uns sachverständig ist und Lehrer hatte und wer nicht, eigentlich geht. NIKIAS: Aber geht es denn nicht um den Kampfsport, Sokrates, also darum, ob die jungen Leute dies lernen sollen oder nicht? SOKRATES: Gewiss, lieber Nikias. Doch wenn jemand mit Blick auf eine Augensalbe prüft, ob man sie auftragen soll oder nicht, glaubst du, dass die Überlegungen dann die Salbe betreffen oder die Augen? NIKIAS: Die Augen. SOKRATES: Und wenn jemand prüft, ob er einem Pferd das Zaumzeug anlegen soll oder nicht, und wann er es tun soll, dann betreffen seine Überlegungen doch das Pferd und nicht das Zaumzeug? NIKIAS: Das ist wahr. SOKRATES: Kurzum; wenn jemand etwas um einer bestimmten Sache willen untersucht, dann geht es in den entsprechenden Überlegungen um eben diese Sache, um derentwillen er seine Untersuchung aufnahm, nicht aber um das, wonach er ja nur um dieser anderen Sache willen suchte? NIKIAS: Notwendigerweise ist das so. SOKRATES: Also muss man auch den Berater daraufhin prüfen, ob er für die Behandlung der in Rede stehenden Sache sachverständig ist oder nicht? NIKIAS: Sicher. SOKRATES: Und jetzt untersuchen wir doch einen Unterrichtsgegenstand, und zwar um der Seele der jungen Menschen willen, nicht wahr? NIKIAS: Ja. SOKRATES: Ob einer von uns in der Behandlung der Seele sachverständig und daher imstande ist, diese Behandlung gut auszuführen, und wer darin gute Lehrer hatte – das muss also geprüft werden?

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LACHES: Wie bitte? Hast du, Sokrates, denn noch nie Leute getroffen, die ohne Lehrer in einigen Dingen sachkundiger geworden sind als mit Lehrern? SOKRATES: Doch, Laches, solche Leute, denen jedenfalls du (jedoch) nicht zu trauen geneigt wärst, wenn sie dir sagten, sie seien gute Handwerker, solange sie dir nicht ein Erzeugnis ihrer Kunst zeigen können, das gut gemacht ist, zumindest eines, am besten mehrere. LACHES: Da hast du natürlich recht. SOKRATES: Also müssen auch wir, Laches und Nikias, da Lysimachos und Melesias uns ja zur Beratung über ihre Söhne berufen haben, deren Seelen sie so gut wie möglich zu machen entschlossen sind, ihnen die Lehrer zeigen, die wir hatten, und die sich als erstes als tüchtige Männer erwiesen und sich um die Seelen vieler jungen Männer gut gekümmert haben, und später auch uns dies gelehrt haben. Oder es müsste einer von uns, falls er behauptete, er habe zwar keine Lehrer gehabt, könne aber eigene Leistungen vorweisen, dann auch nachweisen, wer unter Athenern oder Fremden, ob Sklave oder Freier, durch ihn nach allgemeinem Urteil gut geworden ist. Wenn sich aber nichts davon bei uns findet, dann müssen wir die beiden auffordern, nach anderen (Ratgebern) zu suchen und dürften nicht die Söhne befreundeter Männer der Gefahr aussetzen, sie zu verderben, und uns damit den schlimmsten Vorwurf unserer nächsten Freunde einhandeln. Wenn ich dabei den Anfang machen soll, so muss ich sagen, Lysimachos und Melesias, dass ich keine derartigen Lehrer hatte. Allerdings bin ich schon von Jugend an auf der Suche danach. Allein, den Sophisten, die als einzige versprachen, mich tüchtig und gut zu machen, kann ich kein Honorar zahlen. Aus eigener Kraft vermag ich diese Kunst aber auch nicht zu finden, selbst jetzt noch nicht. Sollten hingegen Nikias oder Laches diese Kunst gefunden oder erlernt haben, so sollte es mich nicht wundern, sind sie doch an Geld viel vermögender als ich, weshalb sie bei anderen Unterricht nehmen können, und auch älter, weshalb sie (diese Kunst) schon gefunden haben könnten. Sie scheinen mir daher in der Lage zu sein, einen Menschen zu bilden. Sie hätten ja auch kaum so überzeugt ihre Meinungen geäußert über Betätigungen, die für einen jungen Menschen vorteilhaft oder schädlich sind, wenn sie sich nicht zutrauten, sich hinreichend darin auszukennen. Ich vertraue diesen Männern also voll und ganz, es wundert mich nur, dass sie verschiedener Meinung sind. Deshalb habe ich nun meinerseits eine Bitte, lieber Lysimachos: So wie Laches dich aufforderte, mich nicht loszulassen, sondern zu fragen, so ersuche ich nun dich, den Laches ja nicht loszulassen, noch auch den Nikias, sondern sie folgendes zu fragen: Sokrates behauptet, er verstehe von der Sache nichts und sei auch nicht imstande zu entscheiden, wer

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von euch beiden recht hat, denn er habe, was solche Dinge betrifft, weder selber (ein Können) entwickelt, noch sei er jemandes Schüler gewesen. Du aber, Laches, und du, Nikias, sagt uns beide, wer der Fähigste bei der Erziehung der jungen Leute war, mit dem ihr zusammengekommen seid, und ob ihr euer Können besitzt, weil ihr (es) von jemandem gelernt habt oder weil ihr es selbst entwickelt habt. Und wenn ihr (es) erlernt habt, sagt uns, wer der Lehrer von jedem von euch war und welche anderen dasselbe Können besitzen wie diese, damit wir – falls ihr wegen der Angelegenheiten der Stadt keine Zeit habt – zu jenen gehen und sie mit Geschenken oder Gefälligkeiten oder beidem überreden können, sich um unsere wie auch um eure Söhne zu kümmern, damit sie nicht, untüchtig geworden, ihren Vorfahren Schande bereiten. Wenn ihr jedoch selbst dieses Können entwickelt habt, so gebt uns ein Beispiel dafür, welche anderen ihr schon, indem ihr euch (um sie) gekümmert habt, aus untüchtigen zu vorbildlichen und guten Menschen gemacht habt. Denn wenn Ihr jetzt erst mit der Erziehung beginnt, dann nehmt euch in Acht, dass ihr dieses Wagnis nicht bei dem Karer, sondern bei euren Söhnen und den Söhnen eurer Freunde eingeht und es euch nicht sprichwörtlich so ergeht, dass ihr das Töpfern mit dem Fass beginnt. Sagt also, von welchem der genannten (Sachverhalte) ihr behaupten könnt, dass er auf euch zutrifft und bei euch vorliegt, und von welchem nicht. Danach, Lysimachos, erkundige dich bei ihnen und lass die Männer nicht gehen. LYSIMACHOS: Mir jedenfalls scheint Sokrates recht zu haben, Ihr Männer. Ob es euch recht ist, nach diesen Dingen gefragt zu werden und Rechenschaft zu geben, Nikias und Laches, müsst ihr freilich selbst entscheiden. Mich und Melesias würde es natürlich freuen, wenn ihr alles, wonach Sokrates fragt, im Gespräch erörtern wolltet. Ich habe euch ja von Beginn an gesagt, dass wir euch deshalb zu unserer Beratung hinzugezogen haben, weil wir glaubten, dass euch solche Dinge aller Wahrscheinlichkeit nach am Herzen liegen, zumal ja eure Söhne ebenso wie unsere fast in dem Alter sind, erzogen zu werden. Wenn ihr also nichts dagegen habt, so antwortet und prüft die Sache gemeinsam mit Sokrates, indem ihr euch gegenseitig in Rede und Antwort Rechenschaft gebt. Denn er hat ja auch recht damit, dass wir uns jetzt über das höchste unserer Güter beraten. So seht denn zu, ob es euch richtig zu sein scheint, so vorzugehen. NIKIAS: Mein guter Lysimachos, du scheinst Sokrates in der Tat nur vom Vater her zu kennen, und mit ihm persönlich nur umgegangen zu sein, als er noch ein Kind war, wenn er etwa unter den Leuten eures Demos mit dir zusammenkam, wenn er seinen Vater begleitete, oder im Tempel oder bei irgendeiner anderen Versammlung der Demosbewoh-

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ner. Seit er ein erwachsener Mann ist, bist du ihm aber offenbar nicht mehr begegnet. LYSIMACHOS: Wieso denn, Nikias? NIKIAS: Du scheinst mir nicht zu wissen, dass jeder, der sich in Sokrates’ nächster Nähe befindet und mit ihm ins Gespräch kommt, zwangsläufig, mag er vorher auch die Diskussion über ein anderes Thema beginnen, unaufhörlich von diesem in der Rede herumgeführt wird, bis er dahin kommt, über sich selbst Rechenschaft zu geben, auf welche Weise er jetzt lebt und auf welche er sein bisheriges Leben verbracht hat, und dass Sokrates ihn, wenn er aber dahin kommt, dann nicht eher gehen lässt, bis er all dies gut und sorgfältig geprüft hat. Ich selbst bin mit ihm vertraut und weiß, dass einem dies unausweichlich durch ihn widerfährt, und ich weiß auch, dass es mir selbst ebenso ergehen wird. Denn ich verkehre gern mit diesem Mann und glaube, dass es nichts Schlechtes ist, daran erinnert zu werden, dass wir nicht richtig gehandelt haben oder handeln, sondern dass derjenige notwendigerweise mehr Vorbedacht auf sein weiteres Leben verwenden wird, der dies nicht zu vermeiden sucht, sondern – nach Solons Diktum – bereit und willens ist, zu lernen, solange er lebt, und nicht etwa meint, das Alter werde ihm den Verstand schon bringen. Für mich ist es also weder ungewohnt noch unangenehm, von Sokrates geprüft zu werden, sondern ich wusste schon lange ziemlich genau, dass, wenn Sokrates dabei ist, unser Gespräch nicht von den jungen Leuten handeln würde, sondern von uns selbst. Was mich betrifft, so steht dem, wie gesagt, nichts im Wege, die Erörterung mit Sokrates so zu führen, wie er es möchte. Was aber Laches hier angeht, so sieh zu, wie er es damit hält. LACHES: Ganz einfach, mein lieber Nikias, halte ich es mit dem Reden, oder – wenn du so willst – nicht einfach, sondern zweifach. Denn bald könnte man mich für einen Freund der Rede halten, bald auch für einen Feind. Höre ich nämlich einen Mann über die Tugend oder über irgendeine Klugheit reden, der wahrhaftig ein Mann und der Worte würdig ist, die er spricht, freue ich mich über die Maßen, da ich sehe, dass der Redende und das, was gesagt wird, zueinander passen und im Einklang stehen. Auch scheint mir ein solcher Mann geradezu musisch zu sein, weil er die schönste Harmonie nicht mit der Lyra oder sonst einem Spielinstrument erreicht hat, sondern tatsächlich mit sich selbst, sein Leben (also) im Einklang von Worten und Taten zu verbringen, geradezu in dorischer und nicht in ionischer Tonart, ich glaube aber, auch nicht in phrygischer oder lydischer, sondern in der einzig wahren hellenischen Tonart. Ein solcher Mann nun macht, wenn er spricht, dass ich mich freue und jedem das Reden zu lieben scheine, so eifrig nehme ich seine Worte auf. Wer aber das Gegenteil tut, der ärgert mich, umso mehr,

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je besser er zu reden scheint, und bewirkt nun wieder, dass ich das Reden zu hassen scheine. Von Sokrates kenne ich die Reden allerdings nicht aus eigener Erfahrung, sondern habe zuerst, wie es aussieht, seine Taten kennengelernt und dabei gefunden, dass von ihm schöne und offene Worte zu erwarten sind. Wenn er nun auch diese Gabe besitzen sollte, so bin ich mit ihm gleichem Willen und würde mich sehr gerne von ihm prüfen lassen und nicht missgestimmt (von ihm) lernen. Vielmehr pflichte auch ich Solon bei, wobei ich eines hinzufüge: bis ins Alter will ich vieles lernen, aber nur von tüchtigen Männern. Denn dies soll er mir zugestehen; dass auch der Lehrer selbst gut sein muss, damit ich nicht als einer erscheine, der schwer lernt, falls ich widerwillig lerne. Ob aber der Lehrer recht jung ist oder noch nicht in Ansehen steht, oder es sich mit ihm auf irgendeine andere Weise verhält, kümmert mich gar nicht. Dir nun, Sokrates, verspreche ich, dass du mich unterrichten und prüfen kannst, worin immer du willst, und dass du lernen kannst, was wiederum ich weiß. So wichtig bist du mir seit jenem Tage, an dem du mit mir der Gefahr getrotzt und deine Tüchtigkeit unter Beweis gestellt hast, wie man es sich besser nicht wünschen kann. Sage also, was dir beliebt, und beachte nicht unser Alter. SOKRATES: Was eure Bereitschaft anbetrifft, so werden wir euch nicht vorwerfen können, nicht bereit zu sein, euch an der Beratung und der Untersuchung zu beteiligen. LYSIMACHOS: So ist dies jetzt unsere Aufgabe, Sokrates, ich zähle dich nämlich mit zu unserem Kreis. Überlege nun an meiner Stelle zum Wohl der jungen Leute, was wir diese beiden Männer hier fragen müssen und sage im Gespräch deine Meinung. Denn ich vergesse aufgrund meines Alters schon das meiste von dem, was ich zu fragen gedachte und wiederum das, was ich höre. Wenn aber zwischendurch noch andere Reden gehalten werden, erinnere ich mich an überhaupt nichts mehr. Redet also ihr und erörtert unter euch allein, was wir uns zur Beratung vorgenommen haben. Ich aber werde zuhören und dann mit Melesias hier das tun, was immer ihr beschließt. SOKRATES: Wir müssen Lysimachos und Melesias gehorchen, Nikias und Laches. Nun wäre es sicher nicht schlecht, dasjenige zu untersuchen, was wir uns soeben vorgenommen haben – wer unsere Lehrer waren für den besagten Unterricht oder welche anderen (Menschen) wir besser gemacht haben und uns selbst im Hinblick auf diese Dinge zu prüfen. Ich glaube aber, dass eine Untersuchung folgender Art uns zu demselben (Ziel) führt und fast sogar grundsätzlicher sein dürfte. Wenn wir nämlich von irgendeiner Sache wissen, dass sie, wenn sie zu irgendetwas (anderem) hinzukommt, jene (andere) Sache, der sie hinzukommt, besser macht, und wenn wir überdies imstande sind, zu bewirken, dass

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sie zu jenem hinzukommt, dann kennen wir offenkundig eben diese Sache, von der wir, als Ratgeber, sagen sollen, wie man sie wohl am leichtesten und besten erwerben dürfte. Vielleicht versteht ihr nicht, was ich meine. Auf die folgende Weise werdet ihr es aber besser verstehen: Wenn wir wissen, dass die Sehkraft, wenn sie den Augen hinzukommt, diese, zu denen es hinzugekommen ist, besser macht, und wenn wir überdies imstande sind, zu bewirken, dass sie den Augen hinzukommt, dann wissen wir offenkundig, was eigentlich das Sehvermögen selbst ist, von dem wir, als Ratgeber, sagen können, wie man es wohl am leichtesten und besten erwerben dürfte. Denn wenn wir nicht einmal dies wüssten, was Sehvermögen oder was etwa auch Hörvermögen sind, dürften wir als Ratgeber und Ärzte für die Augen oder etwa auch für die Ohren [im Hinblick darauf], wie man Hörkraft oder Sehkraft wohl am besten erlangen dürfte, kaum der Rede wert sein. LACHES: Du hast recht, Sokrates. SOKRATES: Bitten uns, Laches, nun nicht auch jetzt diese beiden hier um Rat, wie wohl die Tugend ihre Söhne, wenn sie ihren Seelen hinzukommt, besser machen dürfte? LACHES: Allerdings. SOKRATES: Muss uns dann nicht wenigstens dies zu Gebote stehen: das Wissen, was denn eigentlich die Tugend ist. Denn wenn wir, denke ich, ganz und gar nicht wüssten, was denn eigentlich die Tugend ist, wie könnten wir dann jemandem raten, wie man sie am besten erwerben kann? LACHES: Überhaupt nicht, wie mir scheint, Sokrates. SOKRATES: Wir behaupten also, Laches, zu wissen, was sie ist? LACHES: Allerdings behaupten wir das. SOKRATES: Und von dem, was wir kennen, sollten wir doch wohl auch sagen können, was es ist? LACHES: Weshalb denn auch nicht? SOKRATES: Lass uns nun, Bester, die Untersuchung nicht sofort über die ganze Tugend anstellen. Denn das wäre wohl eine zu große Aufgabe. Lass uns vielmehr zunächst mit Blick auf einen Teil sehen, ob unser Wissen ausreicht. So nämlich wird die Untersuchung wahrscheinlich für uns leichter werden. LACHES: Gut, lass es uns so machen, Sokrates, wie du willst. SOKRATES: Welchen Teil der Tugend sollten wir uns nun vornehmen? Sicher doch denjenigen, den das Erlernen des Waffenkampfes zu betreffen scheint. Man nimmt doch allgemein an, dass dies die Tapferkeit ist, nicht wahr? LACHES: Ganz sicher nimmt man das an. SOKRATES: So lass uns denn als erstes versuchen, lieber Laches, zu

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sagen, was denn die Tapferkeit ist. Danach werden wir dann auch untersuchen, auf welche Weise sie den jungen Leuten zuteil werden dürfte, soweit sie (jemandem) durch eifriges Üben und Unterricht zuteil werden kann. Versuche nun – wovon ich gerade spreche – zu sagen, was Tapferkeit ist. LACHES: Weiß Gott, das ist nicht schwer zu sagen. Wenn einer bereit (entschlossen) ist, auf seinem Posten zu bleiben und die Feinde abzuwehren und nicht flieht, so wisse, dass er tapfer ist. SOKRATES: Gut gesagt, Laches, und es liegt wohl an mir, der ich mich nicht klar genug ausgedrückt habe, dass du nicht die Antwort gegeben hast, die ich mir vorgestellt habe. LACHES: Was möchtest Du damit sagen, Sokrates? SOKRATES: Ich will es dir erklären, wenn ich kann. Tapfer ist doch wohl derjenige, von dem du sprichst, der auf seinem Posten gegen die Feinde kämpft? LACHES: Gewiss behaupte ich das. SOKRATES: Ich auch. Aber wie ist es mit dem, der nicht auf einem Posten, sondern auf der Flucht mit den Feinden kämpft? LACHES: Inwiefern denn auf der Flucht? SOKRATES: So wie man es von den Skythen sagt; dass sie in der Verfolgung ebenso wie auf der Flucht kämpfen, und wie auch Homer die Pferde des Aineias zu rühmen wusste, dass sie es verstünden, „recht hurtig hierhin und dorthin zu verfolgen und zu fliehen“, und auch Aineias selbst pries er in diesem Sinne, nämlich hinsichtlich seines Wissens von der Flucht und nannte ihn den „Erfinder der Flucht“. LACHES: Und zwar zu recht. Denn er sprach von den Streitwagen. Und was du über die Skythen sagst, betrifft die Reiter; ein Reiterheer kämpft so, ein Hoplitenheer aber so, wie ich es sage. SOKRATES: Mit Ausnahme vielleicht der Spartaner, denn von ihnen erzählt man sich, sie hätten bei Plataiai, als sie auf die Schildträger gestoßen waren, nicht standhalten und gegen sie kämpfen wollen, sondern seien geflohen. Als sich aber die Reihen der Perser aufgelöst hatten, hätten sie kehrtgemacht und wie Reiter gekämpft und so in der Schlacht gesiegt. LACHES: Du hast recht. SOKRATES: Das meinte ich, als ich eben sagte, es liege an mir, dass du nicht richtig geantwortet hast, da ich nicht richtig gefragt habe. Denn ich wollte ja von dir nicht nur wissen, wer im Hoplitenheer tapfer ist, sondern auch, wer es in der Reiterei und auf dem Feld des Kriegführens insgesamt ist, und nicht nur dort, sondern auch, wer angesichts der Gefahren des Meeres tapfer ist, wer in Krankheit oder Armut oder auch im politischen Leben, und weiter, wer nicht bloß Schmerzen oder Ängs-

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ten gegenüber tapfer ist, sondern auch stark genug ist, gegen die Begierden oder die Lust anzukämpfen, sei es im Standhalten oder Kehrtmachen – es gibt doch sicher manche, die auch in diesen Dingen tapfer sind? LACHES: Sicher, Sokrates. SOKRATES: Sie alle sind also tapfer, doch zeigen die einen ihre Tapferkeit gegenüber der Lust, andere gegenüber Schmerzen, einige gegenüber Begierden und wieder andere gegenüber der Furcht, während die anderen Charaktere, wie ich denke, in eben solchen Situationen ihre Feigheit zeigen. LACHES: Gewiss. SOKRATES: Was sind nun diese beiden Eigenschaften? Danach frage ich. Versuche also noch einmal, zunächst von der Tapferkeit zu sagen, was sie als in all diesen Fällen dieselbe eigentlich ist. Oder verstehst du noch nicht, was ich meine? LACHES: Noch nicht so richtig. SOKRATES: Ich meine es genau so, als fragte ich mit Blick auf die Schnelligkeit, was sie denn sei, beim Laufen und beim Kitharaspiel, beim Sprechen und beim Lernen und bei vielem anderen. So etwas steht uns ja bei fast allem zur Verfügung, das irgend der Rede wert ist, bei der Betätigung der Hände, der Beine oder des Mundes und der Stimme oder auch bei der des Nachdenkens. Meinst du nicht auch? LACHES: Sicher. SOKRATES: Wenn man mich nun fragte: „Sokrates, was verstehst du unter dem, was du bei allen Dingen Schnelligkeit nennst“, so würde ich sagen, dass ich die Fähigkeit, in kurzer Zeit vieles auszurichten, Schnelligkeit nenne, mit Blick auf das Sprechen, Laufen und alle anderen Dinge. LACHES: Und das wäre richtig. SOKRATES: Versuche nun auch du, Laches, von der Tapferkeit auf diese Weise zu sagen, welche Fähigkeit, und zwar dieselbe bei Lust und Schmerz und allem, was wir gerade genannt haben, sie ist und somit „Tapferkeit“ heißt. LACHES: Nun, sie scheint mir eine Art Beharrlichkeit der Seele zu sein, wenn ich sagen soll, was ihr in allen Fällen Gemeinsames ist. SOKRATES: Genau das sollst du in der Tat, wenn wir die von uns selbst gestellte Frage beantworten wollen. Folgendes scheint mir nun offensichtlich: Durchaus nicht jede Beharrlichkeit hältst du für Tapferkeit. Das schließe ich daraus: Ziemlich genau weiß ich, Laches, dass du meinst, dass die Tapferkeit zu den in jeder Hinsicht schönen Dingen gehört. LACHES: Ja, sogar zu den allerschönsten.

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SOKRATES: Ist nun nicht die Beharrlichkeit in Verbindung mit Klugheit schön und gut? LACHES: Sicher. SOKRATES: Und die Beharrlichkeit mit Unklugheit, ist die nicht im Gegensatz zu jener schädlich und verderblich? LACHES: Ja. SOKRATES: Behauptest du nun, dass etwas Derartiges, das verderblich und schädlich ist, schön ist? LACHES: Das wäre gewiss nicht richtig. SOKRATES: Du wirst also zugeben, dass nicht diese Art von Beharrlichkeit Tapferkeit ist, da sie ja nicht schön ist und die Tapferkeit etwas Schönes ist? LACHES: Da hast du recht. SOKRATES: Die kluge Beharrlichkeit dürfte also nach deinen Worten Tapferkeit sein? LACHES: So sieht es aus. SOKRATES: So lass uns denn sehen, in Bezug worauf sie klug ist; in Bezug auf alles, auf große wie kleine Dinge? Wenn beispielsweise jemand auf kluge Weise Beharrlichkeit im Investieren zeigt, weil er weiß, dass er infolge der Investitionen letztlich Gewinn erzielen wird, würdest du denjenigen tapfer nennen? LACHES: Nein, weiß Gott, das würde ich nicht. SOKRATES: Und falls jemand, der Arzt ist, wenn sein Sohn oder sonst jemand an einer Lungenentzündung erkrankt ist und ihn darum bittet, ihm zu trinken und zu essen zu geben, sich nicht erweichen ließe, sondern Beharrlichkeit zeigte? LACHES: Auch (diesen Menschen) auf keinen Fall. SOKRATES: Aber einen Mann, der in der Schlacht Beharrlichkeit zeigt und kampfbereit ist, aus kluger Berechnung, weil er weiß, dass andere ihm zu Hilfe eilen werden, dass er gegen Feinde kämpfen wird, die in der Unterzahl sind und auch weniger tüchtig als seine eigenen Leute, und dass er sich zudem in der günstigeren Position befindet – würdest du den, der mit solcher klugen Überlegung und mit solcher Rückendeckung Beharrlichkeit zeigt, tapferer nennen als den, der im gegnerischen Heer standhalten und Beharrlichkeit zeigen will? LACHES: Ich denke, wohl eher den im gegnerischen Lager, Sokrates. SOKRATES: Aber dessen Beharrlichkeit ist doch sicher weniger klug als die (Beharrlichkeit) des anderen? LACHES: Das stimmt. SOKRATES: Auch den also, der, unterstützt durch sein reiterisches Können, in einer Reiterschlacht Beharrlichkeit zeigt, wirst du weniger tapfer nennen als den, der kein geschickter Reiter ist?

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LACHES: Ich glaube schon. SOKRATES: Und auch den, der, unterstützt durch die Kunst des Schleuderns, des Bogenschießens oder etwas ähnlichem, Beharrlichkeit zeigt? LACHES: Sicher. SOKRATES: Und alle diejenigen, die willens sind, in einen Brunnen hinabzusteigen und (darin) unterzutauchen und Beharrlichkeit bei dieser oder einer anderen derartigen Unternehmung zu zeigen, ohne darin geübt zu sein, wirst du tapferer nennen als diejenigen, die darin geschickt sind? LACHES: Wie sollte man sie denn sonst nennen, Sokrates? SOKRATES: Nicht anders, wenn man es wirklich so meint. Aber nun begeben sich solche Menschen doch wohl in Gefahr und zeigen (dabei) Beharrlichkeit auf unvernünftigere Weise als diejenigen, die dasselbe unterstützt durch ein Können tun? LACHES: So scheint es. SOKRATES: Haben sich unvernünftiger Wagemut und unvernünftige Beharrlichkeit nicht vorhin als tadelnswert und sogar schädlich erwiesen? LACHES: Sicher. SOKRATES: Die Tapferkeit ist aber doch, darin waren wir uns einig, etwas Schönes? LACHES: Ja, darin waren wir uns einig. SOKRATES: Jetzt hingegen sagen wir, dass jenes tadelnswerte Verhalten, die unkluge Beharrlichkeit, Tapferkeit sei? LACHES: Es sieht ganz danach aus. SOKRATES: Meinst du nun, dass wir das Richtige sagen? LACHES: Nein, weiß Gott, Sokrates, das meine ich nicht. SOKRATES: Wir sind also wohl doch nicht – im Sinne deiner Worte – dorisch gestimmt, ich nicht und auch du nicht, Laches, denn unsere Taten stehen nicht im Einklang mit unseren Worten. Denn hinsichtlich der Tat, so scheint es, könnte man sagen, dass wir an der Tapferkeit teilhaben, hinsichtlich der Worte aber, wie ich meine, nicht, wenn man uns jetzt miteinander reden hörte? LACHES: Da hast du völlig recht. SOKRATES: Was nun? Hältst du es für gut, dass wir uns in dieser Lage befinden? LACHES: Nicht im geringsten. SOKRATES: Wollen wir also dem Gesagten folgen – jedenfalls so weit? LACHES: Wie weit denn und welchem Gesagten? SOKRATES: Der Auskunft, die befiehlt, Beharrlichkeit zu zeigen. Wenn du nun willst, lass auch uns bei der Untersuchung bleiben und Beharrlichkeit zeigen, damit uns nicht die Tapferkeit selbst verhöhnt, dass wir nicht tapfer nach ihr suchten, wenn denn vielleicht die Beharrlichkeit selbst Tapferkeit ist.

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LACHES: Ich bin zwar bereit, nicht vorzeitig aufzuhören, Sokrates, bin aber solche Erörterungen nicht gewohnt. Allerdings hat mich ein gewisser Ehrgeiz gepackt, was unser Thema anbetrifft, und ich ärgere mich wirklich, dass ich nicht imstande bin, zu sagen, was ich denke. Ich glaube nämlich, eine klare Vorstellung davon zu haben, was Tapferkeit ist, aber sie ist mir, ich weiß selbst nicht wie, entglitten, so dass ich sie in der Rede nicht fassen und nicht sagen kann, was sie ist. SOKRATES: Ein guter Jäger, mein Freund, hat nun doch nachzusetzen und nicht abzulassen? LACHES: Auf jeden Fall. SOKRATES: Willst du also, dass wir auch Nikias hier für unsere Jagd zur Hilfe rufen, ob er vielleicht einen besseren Weg findet als wir? LACHES: Ja, das will ich. Warum auch nicht? SOKRATES: Nun denn, Nikias, eile befreundeten Männern, die bei ihrer Erörterung wie im Sturm umhergetrieben werden und nicht weiter wissen, zur Hilfe, wenn du irgend kannst. Denn du siehst ja, wie ausweglos unsere Lage ist. Befreie du uns aus unserer Ausweglosigkeit, indem du sagst, was deiner Meinung nach die Tapferkeit ist, und vergewissere dich selbst durch dein(e) Wort(e) dessen, was du denkst. NIKIAS: Nun, Sokrates, während der ganzen Zeit scheint ihr mir die Tapferkeit nicht richtig zu bestimmen. Denn das, was ich dich schon richtig sagen hörte, davon macht ihr keinen Gebrauch. SOKRATES: Wovon denn, Nikias? NIKIAS: Schon oft habe ich dich sagen hören, dass genau darin jeder von uns gut ist, wovon er ein Wissen hat, wovon er aber kein Wissen hat, darin sei er schlecht. SOKRATES: Weiß Gott, das ist allerdings wahr, Nikias. NIKIAS: Wenn nun der Tapfere gut ist, dann verfügt er offensichtlich auch über Wissen. SOKRATES: Hast du das gehört, Laches? LACHES: Ja, nur weiß ich nicht so recht, was er damit meint. SOKRATES: Aber ich glaube es zu verstehen: Er scheint mir zu meinen, Tapferkeit sei eine Art Wissen. LACHES: Was für ein Wissen? SOKRATES: Möchtest du das nicht ihn fragen? LACHES: Ja, sicher. SOKRATES: Nun denn, Nikias, sage ihm, was für ein Wissen die Tapferkeit deiner Meinung nach sein dürfte. Es wird ja nicht das Wissen des Flötenspiels sein? NIKIAS: Keineswegs. SOKRATES: Auch nicht das des Kitharaspiels? NIKIAS: Nein, gewiss nicht.

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SOKRATES: Aber was für ein Wissen ist es denn und wovon? LACHES: Das fragst du ihn ganz richtig, Sokrates. Er soll es nur sagen, was für ein Wissen die Tapferkeit sei. NIKIAS: Sie ist, Laches, das Wissen davon, was gefährlich und was ungefährlich ist, in der Schlacht und bei allem anderen. LACHES: Was für ein ungereimtes Zeug sagt er da, Sokrates. SOKRATES: Worauf willst du damit hinaus, Laches? LACHES: Worauf ich hinaus will? Tapferkeit ist doch wohl etwas anderes als Wissen. SOKRATES: Nikias verneint dies. LACHES: In der Tat, weiß Gott, und damit redet er Unsinn. SOKRATES: Lass uns ihn also belehren und nicht etwa schmähen. NIKIAS: Nein, Sokrates. Laches nun aber scheint den Wunsch zu verspüren, dass sich herausstellt, dass auch ich Unsinn rede, weil sich dies auch bei ihm gerade gezeigt hat. LACHES: Ganz genau, Nikias, und ich werde das auch zu beweisen versuchen, denn du sagst ja nichts Sinnvolles. Denn wissen, um ein Beispiel zu nennen, bei den Krankheiten nicht die Ärzte, was gefährlich ist? Oder glaubst du, die Tapferen wüssten es? Oder nennst du die Ärzte tapfer? NIKIAS: Ganz bestimmt nicht. LACHES: Und auch die Bauern nicht, wie ich meine, obwohl sie doch wissen, was in der Landwirtschaft gefährlich ist, wie ja auch alle Handwerker wissen, was auf ihrem Gebiet gefährlich und was ungefährlich ist. Deshalb sind sie aber doch nicht tapfer. SOKRATES: Was scheint dir Laches zu meinen, Nikias? Er scheint in der Tat etwas Sinnvolles zu sagen. NIKIAS: Sicher sagt er etwas Sinnvolles, nur wahr ist es nicht. SOKRATES: Weshalb denn? NIKIAS: Weil er glaubt, die Ärzte wüssten, was die Kranken betrifft, mehr zu sagen als das, was gesund und ungesund ist. (Ärzte) aber wissen offenbar nur soviel. Ob das Gesundsein aber bedrohlicher ist als das Kranksein – meinst du, dass die Ärzte auch das wissen, Laches? Oder meinst du nicht, dass es für viele besser ist, von ihrer Krankheit nicht zu genesen als zu genesen? Denn dies sage mir: Willst du behaupten, dass es für alle besser sei, zu leben, und nicht für viele besser, tot zu sein? LACHES: Ich zumindest glaube das. NIKIAS: Meinst du nun auch, für diejenigen, für die tot zu sein von Vorteil ist, sei dasselbe bedrohlich wie für diejenigen, für die es ein Vorteil ist, zu leben? LACHES: Nein, das meine ich nicht.

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NIKIAS: Und sprichst du es denn den Ärzten zu, dies zu erkennen, oder irgendeinem Fachmann, und nicht vielmehr nur demjenigen, der weiß, was gefährlich und was ungefährlich ist, den ich tapfer nenne? SOKRATES: Begreifst du, was er sagt, Laches? LACHES: Ja! Er bezeichnet die Seher als die Tapferen; wer sonst könnte denn wissen, für wen es besser ist, zu leben, als tot zu sein? Und gibst du, Nikias, also zu, dass du entweder ein Seher bist oder weder ein Seher noch tapfer? NIKIAS: Wie bitte? Einem Seher nun wieder, glaubst du, komme es zu, zu erkennen, was gefährlich und was ungefährlich ist? LACHES: Ja, wem denn sonst? NIKIAS: Weit mehr dem, von dem ich spreche, mein Bester. Denn der Seher braucht nur die Vorzeichen des Zukünftigen erkennen; ob einem Tod, Krankheit oder Verlust von Geld bevorsteht, oder auch Sieg oder Niederlage – in der Schlacht oder in irgendeinem anderen Kampf. Was einem davon aber besser widerfährt oder nicht widerfährt – wie sollte das ein Seher eher beurteilen können als irgendjemand sonst? LACHES: Ich verstehe nicht, was er sagen will, Sokrates. Denn weder in Bezug auf den Seher noch in Bezug auf den Arzt noch in Bezug auf irgendjemand anderen wird klar, wen er den Tapferen nennt, es sei denn, der Tapfere sei ein Gott. Ich habe vielmehr den Eindruck, dass Nikias nicht ehrlich zugeben will, dass er nichts Sinnvolles sagt, sondern sich bei dem Versuch, seine Ratlosigkeit zu verbergen, hin und her windet. Und in der Tat hätten auch wir, du und ich, uns soeben in solcher Weise winden können, wenn wir den Eindruck hätten vermeiden wollen, uns selbst zu widersprechen. Würden unsere Reden vor Gericht gehalten, so hätte es einen guten Sinn, das zu tun. Nun aber, bei einer Diskussion dieser Art, wozu sollte da einer sich umsonst mit leeren Worten schmücken? SOKRATES: Auch ich sehe dafür keinen Grund, Laches. Doch lass uns schauen, ob Nikias nicht etwas Sinnvolles zu sagen glaubt und das, was er sagt, nicht nur um des Redens willen vorbringt. Wir wollen also genauer ausforschen, was er wirklich denkt, und wenn sich herausstellt, dass er etwas Richtiges sagt, ihm zustimmen, anderenfalls aber ihn belehren. LACHES: Dann frage du ihn, Sokrates, wenn du willst. Ich habe, denke ich, genug erfragt. SOKRATES: Dem steht nichts im Wege, denn die Ergebnisse der Befragung werden ja für dich und mich gemeinsam gelten. LACHES: Gewiss. SOKRATES: Sage mir also, Nikias, oder besser: uns, denn ich und Laches unternehmen ja die Untersuchung gemeinsam: Von der Tapferkeit behauptest du, sie sei ein Wissen davon, was gefährlich und was ungefährlich ist?

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NIKIAS: Ja. SOKRATES: Und dies zu erkennen ist nicht jedermanns Sache, da ja weder ein Arzt noch ein Seher dieses Wissen haben noch auch tapfer sein sollen, es sei denn, sie hätten eben dieses Wissen eigens erworben. Das hast du gesagt, nicht wahr? NIKIAS: Ja, das habe ich. SOKRATES: Im Sinne des Sprichworts könnte also nicht jedes Schwein dieses Wissen haben noch auch tapfer sein? NIKIAS: Ich denke, so ist es. SOKRATES: Offenbar glaubst du also, dass nicht einmal die Sau von Krommyon tapfer war. Das sage ich nicht im Scherz, sondern glaube, dass, wer diese Auffassung vertritt, keinem Tier Tapferkeit zusprechen darf oder zugestehen muss, ein Tier sei so klug, dass ein Löwe, ein Panther oder irgendein Eber seiner Meinung nach wisse, was, da es so schwer zu erkennen ist, (nur) wenige Menschen wissen. Und notwendigerweise muss, wer Tapferkeit so bestimmt wie du, behaupten, dass Löwe, Hirsch, Stier und Affe, was die Tapferkeit betrifft, von Natur aus gleich geartet sind. LACHES: Bei den Göttern! Ja, das hast du in der Tat gut gesagt, Sokrates. Und nun antworte uns wahrheitsgemäß, Nikias: Behauptest du, diese Tiere, die wir alle übereinstimmend für tapfer halten, hätten mehr Wissen als wir, oder erkühnst du dich, allen zu widersprechen und sie nicht tapfer zu nennen? NIKIAS: Aber nicht doch, Laches, Tiere nenne ich überhaupt nicht tapfer, noch irgendein anderes Wesen, welches das Gefährliche aus Unvernunft nicht fürchtet. Das nenne ich vielmehr furchtlos und töricht. Oder glaubst du etwa, ich nenne auch die Kinder tapfer, die sich aus Unvernunft vor nichts fürchten? Ich bin vielmehr der Meinung, dass das Furchtlose und das Tapfere nicht dasselbe ist. Anteil an Tapferkeit und Vorsicht haben meines Erachtens nur ganz wenige, an Verwegenheit und Wagemut und Furchtlosigkeit zusammen mit Unvorsichtigkeit hingegen sehr viele: Männer und Frauen, Kinder und Tiere. Dasjenige nun, was du und die meisten Menschen tapfer nennen, das nenne ich verwegen, tapfer dagegen die vernünftigen Handlungen, von denen ich spreche. LACHES: Sieh nur, Sokrates, wie er sich, wie er wohl glaubt, mit seinen Worten schmückt. Diejenigen aber, die nach allgemeiner Überzeugung als tapfer gelten, die versucht er dieser Ehre zu berauben. NIKIAS: Dich jedenfalls nicht, Laches, nur keine Angst. Ich behaupte nämlich, dass du Wissen besitzt, und sicherlich Lamachos, da ihr ja beide (in der Tat) tapfer seid wie auch viele andere Athener. LACHES: Dazu werde ich jetzt lieber nichts sagen, obwohl ich es könnte, damit du nicht sagst, ich sei wahrhaft ein Mann aus Axione.

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SOKRATES: Sage in der Tat dazu nichts, Laches, denn du scheint mir nicht bemerkt zu haben, dass er dieses Wissen von unserem Freund Damon hat, und Damon verkehrt viel mit Prodikos, eben jenem, der in dem Ruf steht, von allen Sophisten am besten derartige Wörter unterscheiden zu können. LACHES: Es ziemt sich ja tatsächlich auch eher für einen Sophisten, derartige Spitzfindigkeiten vorzubringen, als für einen Mann, den die Stadt für würdig hält, an ihrer Spitze zu stehen. SOKRATES: Es ziemt sich allerdings, mein Bester, für den, der an der Spitze des Bedeutendsten steht, an der bedeutendsten Einsicht teilzuhaben. Und Nikias verdient es, dass wir genau prüfen, was er eigentlich mit dieser Bezeichnung für die Tapferkeit im Blick hat. LACHES: So prüfe es denn selbst, Sokrates. SOKRATES: Das werde ich auch, mein Bester. Glaube aber nicht, ich entließe dich aus der Gemeinschaft unserer Erörterung. Sei vielmehr aufmerksam und prüfe mit mir, was gesagt wird. LACHES: Das soll geschehen, wenn du glaubst, dass es nötig ist. SOKRATES: Das glaube ich allerdings. Du aber, Nikias, sage uns noch einmal von Anfang an: Du weißt, dass wir zu Beginn unseres Gesprächs die Tapferkeit untersuchen wollten, indem wir sie als Teil der Tugend untersuchen? NIKIAS: Gewiss. SOKRATES: Und hast nicht auch du deine Antwort als eine Antwort auf unsere Frage, was die Tapferkeit als Teil der Tugend sei, verstanden, wobei es natürlich noch andere Teile gibt, die alle zusammen „Tugend“ (Gutsein) heißen? NIKIAS: Selbstverständlich. SOKRATES: Verstehst du darunter dieselben Teile wie ich? Ich nenne außer der Tapferkeit auch Besonnenheit und Gerechtigkeit und einiges andere dieser Art. Du nicht auch? NIKIAS: Sicher. SOKRATES: Warte einen Augenblick: Dann sind wir uns darin einig. Was aber gefährlich und ungefährlich ist, das sollten wir uns genauer ansehen, damit du darunter nicht etwas ganz anderes verstehst als wir. Was wir darunter verstehen, wollen wir dir sagen. Du aber wirst uns korrigieren, wenn du uns nicht zustimmst. Wir meinen, dass dasjenige gefährlich ist, was Furcht bereitet, und dasjenige ungefährlich, was keine Furcht bereitet. Furcht bereiten aber nicht die vergangenen, auch nicht die gegenwärtigen Übel, sondern die, die man erwartet. Denn Furcht ist unserer Meinung nach die Erwartung eines zukünftigen Übels, oder bist du, Laches, etwa nicht dieser Auffassung? LACHES: Doch, ganz entschieden, Sokrates.

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SOKRATES: Von uns also hörst du, Nikias, dass gefährlich das zukünftige Übel, ungefährlich dagegen das Zukünftige ist, das nicht schlecht oder sogar gut ist. Du aber, sagst du darüber dasselbe oder etwas anderes? NIKIAS: Dasselbe. SOKRATES: Und das Wissen davon nennst du Tapferkeit? NIKIAS: Allerdings. SOKRATES: So lass uns denn noch schauen, ob du und wir auch beim dritten Punkt einer Meinung sind. NIKIAS: Welcher ist es denn? SOKRATES: Ich will es dir sagen. Wir beide, ich und dieser Mann hier, meinen, dass es bei allem, wovon es Wissen gibt, nicht etwa ein Wissen gibt, über das Geschehene zu wissen, wie es geschehen ist, ein anderes, über das (gegenwärtig) Geschehende zu wissen, wie es geschieht, und wieder ein anderes, zu wissen, wie das noch nicht Geschehene am besten geschehen könnte und geschehen wird, sondern ein und dasselbe Wissen. Was beispielsweise das Heilsame betrifft, so überblickt für alle Zeitpunkte kein anderes Wissen als die Heilkunst, die eine ist, das Gegenwärtige, das Vergangene und das Zukünftige, wie es geschehen wird. Und im Hinblick auf das, was die Erde hervorbringt, verhält es sich mit dem Ackerbau ebenso. Und was die Kriegsangelegenheiten angeht, so könnt ihr ja wohl selbst bezeugen, dass die Feldherrnkunst alles am besten besorgt, insbesondere das Zukünftige, und nicht glaubt, sie müsse der Seherkunst dienen, sondern ihr gebieten, weil sie selbst die Ereignisse im Krieg besser kennt, die gegenwärtigen und die bevorstehenden. Und auch das Gesetz bestimmt es so, dass nicht der Seher den Feldherrn befehligt, sondern der Feldherr den Seher. Wollen wir das behaupten, Laches? LACHES: Das wollen wir. SOKRATES: Wie aber? Stimmst du uns zu, Nikias, dass mit Blick auf dieselbe Sache sich ein und dasselbe Wissen auf das Zukünftige, das Gegenwärtige und das Vergangene bezieht? NIKIAS: Ja, denn so scheint es mir zu sein, Sokrates. SOKRATES: Und die Tapferkeit, mein Bester, ist doch, wie du behauptest, Wissen davon, was gefährlich und was ungefährlich ist, nicht wahr? NIKIAS: Ja. SOKRATES: Und übereinstimmend wurde gesagt, dass das Gefährliche und das Ungefährliche das zukünftig Gute oder Schlechte ist? NIKIAS: Gewiss. SOKRATES: Und auch, dass sich ein und dasselbe Wissen auf dieselben Dinge bezieht, ob sie nun zukünftige sind oder sich sonst wie verhalten?

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NIKIAS: So ist es. SOKRATES: Also ist die Tapferkeit nicht nur ein Wissen davon, was gefährlich und was ungefährlich ist. Denn sie kennt nicht nur das zukünftige Gute und Schlechte, sondern auch, was gegenwärtig und zukünftig und sonst wie ist – so wie bei den anderen Wissensarten? NIKIAS: So scheint es. SOKRATES: Du hattest uns als Antwort also einen Teil der Tapferkeit gegeben, etwa ein Drittel. Wir haben aber danach gefragt, was die ganze Tapferkeit sei. Und nach deiner jetzigen Erklärung ist aber Tapferkeit anscheinend nicht bloß Wissen des Gefährlichen und Ungefährlichen, sondern Wissen von allem, das gut und schlecht und sonst wie ist, d müsste, wie jetzt wieder deine Behauptung lautet, Tapferkeit sein. Bist du für diese Änderung, oder was meinst du, Nikias? NIKIAS: Ich glaube schon, Sokrates. SOKRATES: Glaubst du nun, du Trefflicher, ein solcher Mann ließe etwas an der Tugend vermissen, wenn er wirklich von allem Guten Bescheid und in jeder Hinsicht wüsste, wie es entsteht, entstehen wird und entstanden ist, und ebenso von allem Schlechten? Und glaubst du, diesem (Menschen) fehle es an Besonnenheit oder Gerechtigkeit und Frömmigkeit – ihm, der jedenfalls der einzige ist, dem es gegeben ist, Göttern e wie Menschen gegenüber zu beachten, was bedrohlich ist und was nicht, und das Gute zu erlangen, da er damit richtig umzugehen weiß? NIKIAS: Da scheinst du mir etwas Richtiges zu sagen, Sokrates. SOKRATES: Nicht also nur ein Teil der Tugend, Nikias, dürfte wohl das, was du genannt hast, sein, sondern die gesamte Tugend? NIKIAS: So scheint es. SOKRATES: Aber nun haben wir doch gesagt, die Tapferkeit sei nur ein einziger der Teile der Tugend? NIKIAS: Das haben wir. SOKRATES: Nach dem jetzt Gesagten scheint es aber nicht so zu sein? NIKIAS: Richtig. SOKRATES: Also haben wir nicht gefunden, Nikias, was Tapferkeit ist? NIKIAS: Offenbar nicht. 200a LACHES: Und ich hatte wirklich geglaubt, du würdest es finden, nachdem du auf mich herabgesehen hast, als ich Sokrates geantwortet habe. Ich hatte in der Tat recht große Hoffnung, mit Hilfe von Damons Wissen könntest du die Tapferkeit ausfindig machen. NIKIAS: Wie schön, Laches, dass du glaubst, es bedeute nichts mehr, dass sich gerade eben von dir selbst gezeigt hat, dass du über Tapferkeit nichts weißt, sondern darauf schaust, ob es auch um mich so steht. Es scheint dir auch nichts auszumachen, dass wir beide gar nichts von dem wissen, wovon ein Mann, der etwas auf sich hält, Wissen haben

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sollte. Du verhältst dich also, wie mir scheint, allzu menschlich, schaust nicht auf dich selbst, sondern auf die anderen. Ich aber denke, über unser Thema soeben angemessen gesprochen zu haben, und wenn etwas davon nicht ausreichend gesagt ist, es später zu verbessern, sowohl mit Hilfe Damons, den du glaubst verhöhnen zu können, obwohl du ihn noch nie gesehen hast, als auch mit Hilfe anderer. Und wenn ich meiner Sache sicher bin, werde ich auch dich belehren und dir nichts vorenthalten. Du scheinst mir nämlich das Lernen bitter nötig zu haben. LACHES: Denn du bist ja klug, Nikias. Dennoch rate ich Lysimachos hier und Melesias, dich und mich, wenn es um die Erziehung der jungen Leute geht, gehen zu lassen, Sokrates hier aber, wie ich anfangs sagte, nicht. Wenn aber auch meine Söhne im entsprechenden Alter wären, würde ich genau das tun. NIKIAS: Darin stimme auch ich dir zu: wenn Sokrates sich um die jungen Leute kümmern will, niemand anderen zu suchen. Denn auch ich würde meinen Nikeratos am liebsten ihm anvertrauen, wenn er bereit dazu wäre. Aber er empfiehlt mir jedesmal andere, wenn ich ihm gegenüber die Sprache darauf bringe, er selbst aber will nicht. Doch sieh zu, Lysimachos, ob dir Sokrates vielleicht mehr Gehör schenkt. LYSIMACHOS: Das wäre in der Tat nur recht und billig, Nikias, da auch ich für ihn vieles tun würde, was ich für viele andere nicht zu tun bereit wäre. Was sagst du also, Sokrates? Willst du uns wohl Gehör schenken und den jungen Leuten mithelfen, möglichst tüchtig zu werden? SOKRATES: Das wäre wohl schlimm, Lysimachos, jemandem nicht dabei helfen zu wollen, so tüchtig wie möglich zu werden. Wenn sich bei den eben geführten Gesprächen herausgestellt hätte, dass ich über (entsprechendes) Wissen verfüge, diese beiden hingegen nicht, wäre es wohl billig, vorzugsweise mich für diese Aufgabe um Hilfe zu bitten. Nun sind wir aber alle gleichermaßen in Verlegenheit geraten. Wie also könnte man da einem von uns den Vorzug geben? Ich glaube in der Tat, dass keiner den Vorzug verdient. Da sich dies so verhält, überlegt, ob ich euch einen guten Rat zu geben scheine: Ich sage, ihr Männer – es bleibt ja unter uns –, dass wir alle gemeinsam in erster Linie für uns selbst einen möglichst guten Lehrer suchen müssen – denn wir haben ihn nötig – und dann auch für die jungen Männer, und dabei weder an Geld sparen noch andere Dinge unversucht lassen dürfen. Uns in dem Zustand zu belassen, in dem wir uns jetzt befinden, dazu rate ich nicht. Sollte uns aber jemand verspotten, dass wir es für angemessen halten, in unserem Alter in die Lehre zu gehen, dann sollten wir uns meines Erachtens auf Homer berufen, der gesagt hat: Für den bedürftigen Mann ist die Scham nicht gut. Auch wir wollen uns also nicht darum scheren,

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Übersetzung

wenn man etwas über uns sagt, und uns um uns selbst und die jungen Männer kümmern. LYSIMACHOS: Mir gefällt, Sokrates, was du sagst, und sofern ich der Älteste bin, will ich besonders eifrig mit den jungen Leuten lernen. Tu c mir den Gefallen, und komme morgen früh (zu mir) nach Hause – und komme auch wirklich –, damit wir uns weiter beraten. Für heute aber lass uns das Gespräch beenden. SOKRATES: Ja, das will ich tun, Lysimachos, ich werde morgen zu dir kommen, so Gott will.

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KOMMENTAR

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Man soll sich … nach dem Wissen und nicht nach einer (Stimmenmehrheit) richten, wenn die richtige Entscheidung getroffen werden soll (Laches 184e8–9).

Einleitung: Platons Laches und der sokratische Eudämonismus

Im Laches geht es um die Frage danach, was Tapferkeit (ἀνδρεία) ist. Der Umfang der Tapferkeit (und ihres Gegenteils) ist groß; jede absichtliche, überlegte Handlung scheint in einer bestimmten Weise tapfer (oder nicht tapfer) zu sein (Laches 191c8–e11). Die Tapferkeit ist – nach Voraussetzung (190c8–d8) – auf jeden Fall ein Aspekt einer insgesamt guten seelischen Verfassung (ἀρετή). Was ist allen tapferen Handlungen gemeinsam? Und wie ist eine insgesamt gute seelische Verfassung, deren Bestandteil die Tapferkeit ist, genau beschaffen? Diese Fragen möchte Sokrates mit seinen Gesprächspartnern im Laches beantworten. Der Laches steht im Platonischen Werk nicht allein; er gehört zu einer Gruppe sokratischer Dialoge, die zentrale Fragen miteinander teilen, vor allem die Fragen, wie eine gute seelische Verfassung, d. h. die Tugend oder: das Gutsein (ἀρετή) beschaffen ist, wie man sich selbst in eine möglichst gute seelische Verfassung bringt (und möglicherweise auch anderen Menschen bei der Ausbildung einer solchen seelischen Verfassung helfen kann), wie man herausfindet, was man über das Gutsein weiß oder nicht weiß, und welches handlungsleitende Wissen man braucht, um tatsächlich gute, wünschenswerte Handlungen erfolgreich ausführen zu können.1 Diese Fragen sind in Platons Dialogen wiederum 1

Als sokratische Dialoge bezeichne ich hier die Dialoge, in den Platons Protagonist Sokrates mit seinen Gesprächspartnern Fragen danach, was etwas ist, erörtert. Darunter fallen die meisten der Dialoge, die nach einer allgemein akzeptierten chronologischen Einteilung der platonischen Werke zu den frühen Dialogen gehören, aber auch einige Dialoge der mittleren Gruppe wie Politeia und Theaitet (zur Forschungsdiskussion über die Chronologie der platonischen Werke vgl. Erler 2007: 22–26, zur Datierung des Laches siehe unten Abschnitt 6). In den meisten, aber nicht allen Dialogen, die ich unter einem thematischen Gesichtspunkt als sokratische Dialoge bezeichne, wird eine sokratische Was-ist-F?-Frage ausdrücklich in dieser Form gestellt. Die sprachliche und logische Form der sokratischen Was-ist-F?-Fragen und das Muster der Erörterung dieser Fragen erläutere ich in Kapitel II, 2 des Kommentars.

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Kommentar

mit der grundlegenden Frage nach den Bedingungen eines gelingenden Lebens verknüpft.2 Ein gelingendes Leben erfordert glückszuträgliche Handlungen, und die gute, genauer gesagt: jeweils bestmögliche seelische Verfassung, um deren Definition es Sokrates unter anderem im Laches geht, ist das Agens dieser Handlungen (199d4–e1).

1. Rechenschaftgabe und Sorge um die Seele Sokrates’ Gesprächspartner im Laches sorgen sich um eine gute Erziehung und Ausbildung der Jugendlichen und möchten von Sokrates erfahren, was sie tun sollten, um ihre Söhne gut zu erziehen, ihnen also zu einer guten seelischen Verfassung zu verhelfen.3 Sokrates weist sie darauf hin, dass es sich bei der Frage nach der richtigen Erziehung der Jugendlichen um eine überaus wichtige Frage handelt, die man auf der Grundlage von Wissen zu beantworten (184d5–e9) und deshalb zunächst einmal herauszufinden habe, was eine gute seelische Verfassung ist, bevor man jemandem irgendwelche pädagogischen Ratschläge gibt (190b7–c3): „Sokrates: Muss uns dann nicht wenigstens dies zu Gebote stehen: das Wissen, was denn eigentlich die Tugend (das Gutsein) ist. Denn wenn wir, denke ich, ganz und gar nicht wüssten, was denn eigentlich die Tugend ist, wie könnten wir dann jemandem raten, wie man sie am besten erwerben kann? – Laches: Überhaupt nicht, wie mir scheint, Sokrates.“ Was Sokrates hier über die Voraussetzung guter pädagogischer Ratschläge sagt, gilt für jede Handlungsweise: Wenn man die Menschen, auf deren Leben man mit den je eigenen Handlungen Einfluss nimmt, in eine gute (bzw. bessere), d. h. für sie selbst wünschenswerte Verfassung versetzen (und ihr gelingendes Leben nicht etwa beeinträchtigen) 2

Die Bedeutung von ἀρετή erläutert Stemmer 1998. Zur sokratisch-platonischen Glücksauffassung vgl. Blößner 1997: 11–27, Hardy 2010a, 2011a: 11–57, Penner 2005, 2006, Weidemann 2001: 19 und Wolf 1996. Sokrates nennt das gelingende Leben εὐδαιμονία (und in der Politeia auch τό ἀγαθόν im Sinne eines schlechthin Guten, dazu Stemmer 1992: 161 f.). Das Wort εὐδαιμονία begegnet in Platons Werk zwar nur selten, allerdings an einigen wichtigen Stellen (z. B. Menon 88b–c). In der Sache geht es aber wohl stets dann um das gelingende Leben, wenn Sokrates das Gutsein (ἀρετή) bzw. einzelne Tugenden thematisiert. Denn die ἀρετή ist eben die seelische Verfassung einer Person, der die eudämonistisch guten, glückszuträglichen Handlungen entspringen. 3 Sorge (ἐπιμέλεια) ist ein wichtiges Thema einer Vielzahl sokratischer Dialoge. Belegstellen nennt Heitsch 22004a: 187 ff.

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Einleitung

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möchte, sollte man wissen, was man tut und deshalb auch (soweit irgend möglich) wissen, wie ein gutes, für jeden Menschen wünschenswertes Leben beschaffen ist. Das betrifft freilich auch das eigene Leben. Wenn man ein gelingendes Leben führen möchte, sollte man im Sinne des eigenen Glücksstrebens darauf achten, dass man viele Handlungen, die einem unter bestimmten epistemischen Bedingungen zunächst einmal wünschenswert zu sein scheinen, im Ergebnis eines genauen und sorgfältigen Nachdenkens möglicherweise nicht für wirklich wünschenswert hält und deshalb – wenn man eben dies weiß – nicht ausführen möchte. In einer insgesamt guten seelischen Verfassung befindet man sich dann, wenn man über alle glücksrelevanten Tugenden und über ein handlungsleitendes Wissen über gute oder schlechte Sachverhalte verfügt (199d4–e1). Beides gewinnt man auf dem Wege der sokratisch intendierten Art und Weise, seine Meinungen zu prüfen (ἐξετάζειν; Apologie 23c, 28e, 29d–30b) und über sich selbst und die eigene Lebensweise Rechenschaft zu geben (λόγον διδόναι; Laches 187d– 188a). Sokrates’ Fragen richten sich auf Sachverhalte, die für die gesamte Lebensführung wichtig sind und zielen methodisch auf eine Definition solcher Sachverhalte. Wer sich darauf einlässt, die Fragen zu beantworten, die Sokrates stellt, wird, wie Nikias im Laches berichtet, in jedem Falle über die eigene Lebensführung nachdenken. Aus eigener Erfahrung weiß Nikias, „dass jeder, der sich in Sokrates’ nächster Nähe befindet und mit ihm ins Gespräch kommt, zwangsläufig, mag er zuvor auch über etwas anderes gesprochen haben, so lange von Sokrates durch die Erörterung geführt wird, bis er dahin kommt, über sich selbst Rechenschaft zu geben, darüber, auf welche Weise er jetzt lebt und auf welche er sein bisheriges Leben verbracht hat und dass Sokrates ihn, wenn er dahin kommt, nicht eher gehen lassen wird, bis er all dies gut und sorgfältig geprüft hat“ (187d6–188a3). In der sokratisch verstandenen Rechenschaftgabe geht es um das Selbstverständnis von Menschen als Personen, die mit Wissen handeln möchten (vgl. z. B. auch Euthyphron 4e4–5a2,15d4–e2). Wir gehen keinen Schritt, ohne zu glauben, dass wir wissen, was wir tun. Wir prüfen unsere Meinungen, weil wir wissen, dass wir uns in unseren spontanen Meinungen über wünschenswerte Handlungen irren können und uns freilich niemals irren wollen. Wenn man weiß, dass man sich über das, was (für einen selbst und andere Menschen) tatsächlich gut ist, auch irren kann, sollte man über das eigene Handeln so genau und sorgfältig

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nachdenken, dass man jedenfalls die Irrtümer vermeidet, die man durch ein genaues und sorgfältiges Nachdenken in der Tat vermeiden kann. In der Apologie erläutert Sokrates – rückblickend rechtfertigend – selbst die eudämonistische, d. h. glücksrelevante Aufgabe seines Fragens und Prüfens.4 Sokrates wendet sich „wie ein Vater oder älterer Bruder“ an seine Mitmenschen und ermuntert sie dazu, „sich um eine gute seelische Verfassung zu bemühen“ (Apologie 31b3–5), und zwar mit den folgenden Worten (29d7–30a7): „Mein bester Mann, du, ein Athener, aus der bedeutendsten … Stadt, schämst du dich nicht, dich um Geld zu sorgen … und um Ruhm und Ehre, um Einsicht aber und Wahrheit und um deine Seele, dass sie möglichst gut wird, sorgst und kümmerst du dich nicht? Und wenn einer von euch widerspricht und behauptet, er kümmere sich darum, dann lasse ich nicht sofort von ihm ab …, sondern stelle ihm Fragen, prüfe ihn und zwinge ihn zu antworten, und wenn ich den Eindruck habe, er besitze keine Tüchtigkeit, behaupte das aber, dann mache ich ihm Vorwürfe, dass er das Wertvollste am geringsten achtet … Das gebietet der Gott … und ich glaube, dass euch in der Stadt noch nie ein größeres Gut zuteil geworden ist … als dieser mein dem Gott gewidmete Dienst.“5 Wenn Sokrates seine Tätigkeit des Fragens und Prüfens als einen göttlichen Auftrag versteht, möchte er offenbar hervorheben, dass er sich mit seinen Fragen an das je eigene, elementare Glücksstreben seiner Zeitgenossen wendet. Wer behauptet, er kümmere sich um sich selbst und seine eigene gute seelische Verfassung, glaubt zu wissen, was für ihn gut ist und glaubt so auch zu wissen, was er tut. Wer sich fragt, was er tun soll, möchte wissen, ob eine bestimmte Handlung, die er zunächst einmal für wünschenswert hält, tatsächlich wünschenswert ist. In 4 Rückblickend rechtfertigend deshalb, weil Platon Sokrates in der Apologie mit siebzig Jahren als jemanden auftreten lässt, der auf sein bisheriges Leben und seine unentwegte Tätigkeit des Prüfens und Ermahnens zurückschaut und diese Tätigkeit in dem Sinne rechtfertigt, dass er die Gerüchte und Verleumdungen richtig stellen möchte, die er gleich zu Beginn als gleichsam anonyme Klägergruppe anspricht (18b–19a). Interessanterweise sagt Sokrates, viele Zeitgenossen und auch Mitglieder der Jury, zu der er in der Apologie spricht, wüssten, welchen Dienst er seinen Mitbürgern mit seinen Fragen und Prüfungen erwiesen habe (19c–d, 33b–34b). Im Laches wird Sokrates in der Tat so beschrieben, dass er seinen Gesprächspartnern eine große Hilfe ist (180b7– 181d7, 199e12–201c5). Dieser Dialog ist insofern ein literarisches Zeugnis für die sokratische Selbstbeschreibung in der – auf der Ebene der fiktiven Chronologie – späteren Apologie, die im übrigen etwa zeitgleich mit anderen sokratischen Dialogen wie Laches und Menon entstanden sein dürfte (dazu Heitsch 22004a: 177–180). 5 Übersetzung, mit geringfügigen Änderungen: Heitsch 22004a: 23.

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Nikias’ Beschreibung der Rechenschaftgabe im Laches und Sokrates’ eigener Erläuterung seines Fragens und Prüfens in der Apologie wird recht deutlich, welchem eudämonistischen Ziel die Rechenschaftgabe bzw. die Sorge um die Seele dient: Sich um eine möglichst gute, vorteilhafte seelische Verfassung zu bemühen und über seine Lebensweise Rechenschaft zu geben, heißt sich selbst in die Lage zu versetzen, mit einem jeweils bestmöglichen Wissen erfolgreich handeln zu können.6 Und das ist wohl für jeden Menschen wünschenswert. Der Laches ist, wie bereits gesagt, einer von vielen sokratischen Dialogen, die zentrale Fragen und Themen miteinander teilen. Respektable Platonforscher haben darauf hingewiesen, dass eine vergleichende Interpretation verschiedener Dialoge für das Verständnis eines einzelnen Dialoges oftmals sehr aufschlussreich ist, nicht zuletzt deshalb, weil sie den Lesern die Möglichkeit bietet, plausible und insgesamt kohärente (freilich stets hypothetische) Antworten auf bestimmte Fragen zu finden, die in einem einzelnen Dialog offen bleiben. Viele Interpreten schlagen deshalb eine holistische (oder unitaristische) Gesamtdeutung der sokratischen Dialoge vor.7 Die Gemeinsamkeiten der sokratischen Dialoge (oder jedenfalls vieler Dialoge) deuten in der Tat darauf hin, dass Platons Sokrates in diesen Dialogen eine Theorie des gelingenden Lebens entwickelt, die er in den einzelnen Dialogen Zug um Zug anreichert. Nennen wir diese Theorie den Sokratischen Eudämonismus. Für das Verständnis des Laches mag es deshalb hilfreich sein, einige wichtige Gemeinsamkeiten der sokratischen Dialoge eingangs der Kommentierung ein wenig zu erläutern und einen Vorschlag zu einer Rekonstruktion des Sokratischen Eudämonismus zu machen.

6 Zu Aufgabe und Zielsetzung der sokratischen ‚Mission‘ des Fragens und Prüfens vgl. im einzelnen Benson 2000: 17–31, Brickhouse / Smith 1991, 1993, 1994, Hardy 2011a: 35–57 und Taylor 2014. 7 Holistisch nenne ich eine intertextuelle Interpretation der platonischen Dialoge, in der man thematische Zusammenhänge zwischen verschiedenen Dialogen darstellt und die Thesen, die Sokrates offenbar für richtig hält, so zusammenfügt, dass sie einander ergänzen. Für den Laches machen Erler 1987, Devereux 1992, 2006 und Manuwald 2000 solche Vorschläge. Dalfen 2004: 106 spricht im Blick auf den Gorgias davon, dass „Platons Dialoge untereinander kontextuell gelesen werden (müssen)“. Holistische Interpretationen unternehmen im Blick auf die sokratische Methode in den frühen Dialogen etwa Benson 2000, Detel 1973, 1974, Erler 1987, Stemmer 1992, und im Blick auf eine sokratische Theorie eines gelingenden Lebens Kahn 1996, Penner 2005, 2006, Reshotko 2006, Rowe 2007 und Rudebusch 2009, 2010 (mit jeweils anderen Schwerpunkten und Thesen).

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2. Platons Dialogform und die Sokratische Hebammenkunst Der Autor Platon tritt in den Prosadialogen, die er verfasst hat, selbst nicht auf, sondern tritt ganz hinter die Thesen und Argumente zurück, die er seine Dialogpersonen erörtern und kommentieren lässt. Sokrates, der Protagonist der Dialoge, stellt seinen Gesprächspartnern Fragen und verfügt nach eigenem Bekunden selbst nicht über das Wissen, das er bräuchte, um die Fragen, die er stellt, hinreichend beantworten zu können. Gleichwohl prüft, kritisiert, verbessert und widerlegt Sokrates die Meinungen, die seine Gesprächspartner als Antworten auf seine Fragen vorschlagen, und er nimmt die – im Theaitet (149a–151d) als eine Art von Hebammenkunst (Mäeutik, τέχνη μαιευτικε῀) beschriebene – Fähigkeit in Anspruch, Meinungen auf eine immerhin unfehlbar zuverlässige, wahrheitsfördernde und irrtumsvermeidende Weise prüfen (ἐξετάζειν) zu können und „keinen Irrtum zu akzeptieren und etwas Wahres zu verwerfen“ (Theaitet 151d2–3).

Die sokratischen Was-ist-F?-Fragen zielen auf eine erklärungskräftige Definition eines Sachverhalts wie Tapferkeit oder Gerechtigkeit. Im Laches bringt Sokrates die Definitionsforderung darin zum Ausdruck, dass er seinen Gesprächspartner Laches, der zunächst auf einzelne Fälle tapferen Handelns hinweist, danach fragt, was Tapferkeit in jedem Falle ist (191d1–e11) und das Ziel seiner Fragen in der Kritik, die er an den Antworten übt, die Laches gibt, genau erläutert.8 Mit seinen Fragen möchte Sokrates die Aufmerksamkeit und das Erkenntnisinteresse seiner Gesprächspartner zunächst einmal auf einen eudämonistisch relevanten Gegenstand richten. Eine eudämonistisch zielführende Frage steht oft nicht am Anfang der Dialoge. Im Laches bringt Sokrates die Frage danach, was Tapferkeit ist, erst etwa in der Mitte des Dialoges zur Sprache (190b7–e3), und der vorherige Gesprächsverlauf zeigt, dass es keineswegs leicht ist, solche Fragen zu stellen. Mit der Einsicht in die Intention und das Ziel einer sokratischen, eudämonistisch zielführenden

8 Das Wissen, das in einer angemessenen Definition von F zum Ausdruck kommt bzw. käme, ist das Ziel einer sokratischen Untersuchung, d. h. der Suche nach einer zutreffenden Antwort auf eine Was-ist-F?-Frage. Am Beginn der Wissenssuche stehen zunächst einmal Meinungen in der Funktion hypothetischer Definitionen. Die sokratische Forderung nach Definitionen darf man deshalb nicht so verstehen, als setze Sokrates eine angemessene Definition von F bereits voraus, um begründete Meinungen über ganz bestimmte Eigenschaften von F äußern zu können. Um Meinungen als mögliche Antworten auf die Frage danach, was F ist, in dem von Sokrates intendierten Sinne erfolgreich prüfen zu können, hat man sie jedoch in der Form einer Definition auszudrücken, die alle Fälle von F erfasst, die man kennt oder jedenfalls zu kennen glaubt.

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Frage nimmt man die Einstellung der Wissenssuche (philo-sophia) ein, und wer diese Einstellung einmal eingenommen hat, wird sich auch dann weiter um gute Antworten auf eudämonistisch bedeutsame Fragen bemühen, wenn es ihm nicht gelungen ist, eine sokratische Was-ist-F?Frage angemessen zu beantworten. Wohl deshalb versprechen sich alle Gesprächspartner des Sokrates im Laches am Ende des Dialoges einen Erfolg von der Fortsetzung der Gespräche mit Sokrates, obwohl sie keine Antwort auf die Frage danach, was Tapferkeit ist, gefunden haben (199e12–201c5). Wenn Sokrates Fragen stellt und, wie der Laches beispielhaft zeigt, sowohl das Ziel seiner Fragen als auch die Methode der Beantwortung dieser Fragen klar erläutert, ohne selbst abschließende Antworten auf seine Fragen vorzugeben, so möchte er offenbar seine Gesprächspartner selbst herausfinden lassen, was sie über eine Sache wissen oder nicht wissen. Das ist das Ziel (und mögliche Ergebnis) der sokratischen Hebammenkunst (Theaitet 210b11–c5) und so auch der sokratisch verstandenen Rechenschaftgabe. Sokrates appelliert an das eigene Glücksstreben und vor allem auch an das eigene Verstehen seiner Gesprächspartner: Wirklich verstanden hat man nur das, was man selbst verstanden hat. Allein das eigene Verstehen schafft wirkliches Wissen. Das aus eigener Kraft gewonnene Wissen kann man auch mit anderen teilen und gemeinsam verantworten.9 Das scheint Sokrates zeigen zu wollen, und Platon bietet der sokratischen Hebammenkunst die geeignete literarische Form. In der sokratischen Mäeutik geht es um eine besondere Sorge für Gedanken. Sokrates möchte seine Gesprächspartner dazu ermutigen, ihre Gedanken auf eine nachdrückliche Weise als das Ergebnis ihrer eigenen kognitiven Leistungen Ernst zu nehmen und wert zu schätzen, und ihre Meinungen über ein bestimmtes Thema deshalb aufrichtig und möglichst präzise auszudrücken und ihren logischen Raum auszuloten.10 9 Im Charmides (163c–d) sagt Sokrates, es komme nicht darauf an, wer etwas gesagt hat, sondern ob mit einer bestimmten These etwas Richtiges gesagt werde. In diesem Sinne betont Sokrates im Laches, dass er und Laches die Ergebnisse der Befragung des Nikias gemeinsam zu verantworten haben (196c1–9, 197e1–10). 10 Das ist, soweit uns historische Texte überliefert sind, jedenfalls in der abendländischen Geschichte der Philosophie, eine Pionierleistung, die selbst einen kleinen Dialog wie den Laches zu einem Faszinosum macht. Den Laches hat man in der Antike übrigens ausdrücklich den so genannten mäeutischen Dialogen zugerechnet. Diogenes Laertius war der Auffassung, dass Platons Dialoge bzw. bestimmte Dialoggruppen verschiedene didaktische Aufgaben erfüllen, und er hat die Dialoge entsprechend geordnet. Der Laches ist danach ein mäeutischer Dialog, vgl. dazu Erler 2007: 18–21. Die im Theaitet beschriebene Geburtshilfe leistet Sokrates freilich in jedem sokratischen Dialog.

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Wer seine eigenen Gedanken ernst nimmt, übernimmt auch Verantwortung für die Folgen, die seine eigenen Meinungen und Entscheidungen für das Leben anderer Menschen haben, so etwa dann, wenn er Ratschläge über eine gute Erziehung und Ausbildung gibt. Deshalb sollten gute Entscheidungen stets auf Wissen beruhen (184d5–e9). Diese Art der Sorge für die eigenen Gedanken ist keine Selbstverständlichkeit, wie der Laches zeigt: Sokrates’ Gesprächspartner Laches und Nikias, zwei erfahrene Strategen, dürften in praxi mit tapferen Charaktereinstellungen und Handlungen bestens vertraut sein, sind aber – wie es Laches über sich selbst sagt (194b1–4) – nicht vertraut mit den gedanklichen Möglichkeiten, ihre Erfahrungen auf eine theoretische Weise zu erläutern und zu sagen, was Tapferkeit genau ist. Wenn Platon seinen Protagonisten Sokrates so agieren lässt, dass Sokrates seine Gesprächspartner selbst erkennen lassen möchte, was sie wissen oder nicht wissen, so scheint Platon – wie man jedenfalls vermuten darf – in derselben Weise die Leser seiner Dialoge einzuladen, selbst über die Argumente nachzudenken, die er in seinen Dialogen präsentiert.11 Sokrates stellt nicht nur Fragen, sondern er vertritt im eigenen Namen – oft mit Nachdruck – auch einige allgemeine Thesen über eine gute seelische Verfassung und das gelingende Leben, so etwa diese: „Unrecht tun aber und dem Besseren, ob Gott oder Mensch, nicht gehorchen, dass das schlecht ist und abscheulich, das weiß ich“ (Apologie 29b6).12 Wenn Sokrates’ Anspruch, seine Gesprächspartner von bestimmten Thesen zu überzeugen, mit der Zielsetzung seiner Hebammenkunst vereinbar ist, so scheint er anzunehmen, dass seine Gesprächspartner diesen Thesen wiederum aufgrund ihrer je eigenen Überlegungen zustimmen können – wie er auch den Spruch des Delphischen Orakels, er sei der klügste unter den Menschen, glaubt so verstehen zu sollen, dass ihn das Orakel nur als ein Beispiel für jeden genannt hat, der ebenso klug ist wie er, also für jeden, der weiß, was er weiß und nicht weiß (Apologie 23b). Mit anderen Worten: Auch mit seinen eigenen Thesen appelliert Sokrates an die gedankliche Selbstbestimmung seiner Gesprächspartner.13 11 Michael Frede 1992: 219 beschreibt die zentrale philosophische Botschaft der Platonischen Dialoge so: „The dialogues are supposed to teach us a philosophical lesson. But they are not pieces of didactic dialectic with Plato appearing in the guise of the questioner. A good part of their lesson does not consist in what gets said or argued, but in what they show, and the best part perhaps consists in the fact that they make us think about the arguments they present. For nothing but our own thought gains us knowledge.“ Zu den möglichen Motiven für Platons Wahl der Dialogform vgl. auch Blößner 1997: 42–45. 12 Übersetzung: Heitsch 22004a: 22. 13 Zu Sokrates’ Thesen vgl. auch Hardy 2011a: 28 f.

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Eine These zu verstehen heißt ihre Wahrheitsbedingungen zu kennen. Sokrates’ Thesen beziehen sich nun – ebenso wie seine Fragen – auf Elemente eines gelingenden Lebens, genauer gesagt, auf bestimmte glückskonstitutive Fähigkeiten und Handlungsziele. (Ich komme darauf gleich noch zurück.) Freilich hat jeder Mensch seine eigenen Vorstellungen von seinem individuellen Glück und entscheidet selbst darüber, welche Auffassungen über ein gelingendes Leben er für richtig hält. Deshalb versteht man die genaue (inhaltliche und lebenspraktische) Bedeutung der sokratischen Thesen erst recht wohl erst dann, wenn man ihnen aufgrund des eigenen Nachdenkens über die je eigenen Glücksvorstellungen zustimmt oder auch nicht zustimmt. Die Dialogform bietet Platon ja die Möglichkeit, eine zustimmende oder ablehnende Einstellung zu den sokratischen Thesen und auch zu der Zielsetzung der gemeinsamen Rechenschaftgabe exemplarisch in Szene zu setzen. Platons Dialoge entfalten ein breites Spektrum an Reaktionsweisen der sokratischen Gesprächspartner; es reicht etwa von einer brüsken, verständnislosen Ablehnung der Sokratischen Thesen durch Polos und Kallikles im Gorgias oder Thrasymachos im ersten Buch der Politeia, über die wohlwollend-gleichgültige, philosophisch unbedarfte Zustimmung eines Protagoras, Menon oder Euthyphron in den gleichnamigen Dialogen, bis zur wissbegierigen und teils euphorischen Beteiligung an der gemeinsamen Rechenschaftgabe der Gesprächspartner in Dialogen wie Laches, Charmides, Politeia II – X, Phaidon, Theaitet und Phaidros.14 Sokrates scheint nun auch der Auffassung zu sein, dass einige seiner Zeitgenossen sich in ihren eigenen Glücksvorstellungen irren und nicht wissen, aber durch sorgfältiges Nachdenken erkennen könnten, dass bestimmte Überzeugungen und Handlungen vielleicht scheinbar, tatsächlich aber nicht zu ihrem gelingenden Leben beitragen. Anderenfalls bräuchte er seine Mitbürger ja nicht zu ermahnen (und zu ermutigen), sich um ihre Seele zu kümmern und sich im Sinne der Apologie um Einsicht in gute oder schlechte Sachverhalte und Handlungen zu bemühen, also nach Wissen zu suchen. Dieser Anspruch mag für manchen Leser der Dialoge nun ganz und gar nicht damit vereinbar sein, dass Sokrates sich an die je eigene gedankliche Selbstbestimmung seiner Gesprächs14 Im Theaitet (150d–151b) beschreibt Sokrates selbst zwei gegensätzliche Reaktionsweisen seiner Gesprächspartner: Wer sich auf die gemeinsame Rechenschaftgabe einlasse, entdecke in sich selbst viele kluge Gedanken. Andere hätten sich von ihm – und das heißt auch: von der Rechenschaftgabe – abgewandt, nicht weiter für ihre eigenen Gedanken Sorge getragen und so auch keine Fortschritte in der Wissenssuche gemacht. Zu ihnen gehöre Aristeides, der als Jugendlicher im Laches anwesend ist.

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partner wendet. Dieses mögliche Unbehagen braucht man als Interpret nicht zu beschwichtigen (und könnte es auch gar nicht). Selbstverständlich entscheidet jeder Leser eines jeden Textes, in dem es um Überlegungen über ein gelingendes Leben geht, selbst darüber, ob er diesen Überlegungen mit jeweils eigenen Gründen zustimmt. In der Auseinandersetzung mit Platons Dialogen wird jedoch in besonderer Weise deutlich, dass es so ist. Wenn es zutrifft, dass sich der Autor Platon immer auch an die gedankliche Eigenleistung seiner Leser wendet, werden auch einige eigentümliche, spielerische Elemente der sokratischen Dialoge verständlich, die ich hier kurz ansprechen möchte. Im Phaidros (274b–e) sagt Sokrates einmal, das Schreiben von Texten sei, im Unterschied zu einer sach- und adressatengerechten, direkten, mündlichen Verständigung, im Grunde nichts anderes als ein Spiel. Auch Sokrates experimentiert und spielt in vielen Dialogen mit verschiedenen Hypothesen. So spielt er etwa im Kratylos mit einer geradezu sprühenden Heiterkeit mit der Annahme einer natürlichen Richtigkeit der Wörter, im Theaitet mit der amüsant-absurden Annahme, es könne überhaupt keine Irrtümer geben – die allerdings sehr raffiniert begründet wird –, im Charmides mit der Annahme, es gebe ein Wissen, dass sich in der Weise ‚nur auf sich selbst und auf nichts anderes‘ bezieht, dass es sich dabei um ein Wissen zweiter Ordnung handelt, das nicht zugleich mit einer Meinung über irgendeinen nicht-epistemischen Sachverhalt verknüpft ist, und in Menon und Phaidon mit der Annahme, der zufolge die Tatsache, dass Menschen in der Form einer Wiedererinnerung potentielles Wissen in aktuales, explizites Wissen überführen können, auch sogleich die Unsterblichkeit der menschlichen Seelen beweist.15 Im Laches (und anderen Dialogen wie Protagoras und Menon) spielt Sokrates mit der Annahme, es gebe sachverständige Lehrer für die Ausbildung einer guten seelischen Verfassung (184d–185b), obwohl weder er selbst noch seine Gesprächspartner solche Lehrer kennen. Zu den spielerischen Elementen der sokratischen Dialoge gehört wohl auch die Tatsache, dass Nikias Sokrates im Laches zitiert und sich mit seinem eigenen Vorschlag einer Definition der Tapferkeit auf eine sokratische These beruft (194c7–d2), ohne das, was er von Sokrates gehört haben will, selbst so recht erläutern zu können. Platon macht die Leser seiner Dialoge, wie es Blößner, im Blick auf die im Phaidros artikulierte Schriftkritik treffend formuliert, zu Zeugen

15

Zum Kratylos vgl. Hardy 2001, zum Charmides Hardy 2011a: 231–247, zum Theaitet Hardy 2001: 159–215, zum Phaidon Blößner 2001, Hardy 2011a: 283–308.

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philosophischer Diskussionen, um sie so zum eigenen Nachdenken über die Themen der Dialoge einzuladen: „Viele sokratische Gespräche fingieren den im (Phaidros) skizzierten Idealtypus einer situations- und adressatengerechten Kommunikation, aber der Leser ist nicht Adressat, sondern Zeuge des Gesprächs. … Platons Dialoge weisen … weder dem Autor die Rolle eines bloßen ‚Informanten‘ noch dem Leser die eines bloßen ‚Rezipienten‘ zu. … Platons Überlegungen stehen nicht im, sondern hinter dem Text und müssen aus ihm erst rekonstruiert werden. Ohne solche Eigeninitiative des Lesers bleibt der Text … einfach stumm. Platons Dialoge sind geschrieben im Wissen um die Schwäche der Schrift. Sie überwinden diese Schwäche nicht, sondern ziehen Konsequenzen aus ihr. Obgleich sie Fragen erörtern, mit denen es dem Autor ernst ist, breiten sie nicht auch dessen persönliche Antworten und Einsichten vor dem Leser aus, weil sich Einsichten durch bloße Formulierungen nicht vermitteln lassen. … Platons Texte … gerieren sich nicht als Autoritäten, die Unkundige ‚belehren‘ könnten – ebenso wenig wie es Sokrates tat. Wie dieser schaffen sie stattdessen ein Problem- und Methodenbewusstsein, das Wissen-Wollen (‚Philo-sophie‘) und produktive Reaktionen ermöglicht und provoziert. Platon hat mit seinen Dialogen eine Textgattung geschaffen, die sokratische Hebammenkunst … in Literaturform gießt“ (Blößner 2007: 252). Heitsch 2011: 28 f. weist darauf hin, dass Platon „Sokrates mit den verschiedensten Partnern über bestimmte Fragen diskutieren und situations- und adressatengerecht argumentieren läßt und auf diese Weise darstellt, was Argumentationskompetenz ist“ (Kursiv. im Orig.).16 Mit dem experimentellen Spiel mit bestimmten Annahmen möchte Platon offenbar auch exemplarisch zeigen, wie man auf eine logisch korrekte

16

Argumentationskompetenz ist ein praktisches Wissen. Grundsätzlich spielen die verschiedenen Arten eines praktischen Wissens, das sich in einem situations- und adressatengerechten Umgang mit bestimmten Sachverhalten bewährt, in Platons Dialogen eine große Rolle. Gerade dieses Wissen ist das Resultat eigenverantwortlicher gedanklicher Anstrengungen und es ist stets auch die Voraussetzung dafür, ein eigenes Verstehen von Sachverhalten in der Form eines propositionalen Wissens zu gewinnen. Wieland hat darauf aufmerksam gemacht, dass Platon die Möglichkeiten der verschiedenen Arten eines praktischen Wissens literarisch zeigen kann: „Fähigkeiten und Fertigkeiten, Erfahrung und Gebrauchswissen – manchmal freilich auch der Mangel daran – stehen hinter allem, was in einem platonischen Dialog gesagt wird . . . Die Intentionen, die jemand mit dem planmäßigen Gebrauch von Aussagen verfolgt, und das Wissen, das sich im sachgerechten Umgang mit ihnen bewährt, lassen sich durch noch so viele Aussagen nicht ohne Rest einholen oder gar mitteilen. Hier geht es um Wissensformen, mit denen sich der Wissende identifiziert hat und von denen er sich eben deshalb niemals ganz distanzieren kann. Sie sind es, deren Eigenart und deren Wirkungen mit den Mitteln der Dialogregie immerhin noch gezeigt werden können“ (Wieland 1990: 69 f., speziell zum Laches vgl. auch Wieland 1996).

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und im Blick auf eine sokratische Frage zielführende – und insofern glückszuträgliche – Weise mit Hypothesen und Argumenten umgeht. Das ist in jedem Fall der philosophische Ernst der sokratischen Rechenschaftgabe – auch dann, wenn dabei spielerisch eine Annahme erwogen wird, für die es keine wirklich guten Gründe gibt. (Dass es für eine bestimmte Annahme keine guten Gründe gibt, wird ja erst klar, wenn man diese Annahme erst einmal provisorisch ernst nimmt und auf den Prüfstand stellt, sie also zu rechtfertigen sucht). Das Spiel mit Hypothesen ermöglicht Sokrates eine genaue Prüfung der Meinungen und auch der Motive, die seine Gesprächspartner haben. Wenn Sokrates’ Gesprächspartner ihre Thesen im Gespräch mit Sokrates verteidigen wollen, so müssen sie gleichsam ihre Karten auf den Tisch legen; sie müssen sagen, weshalb sie von bestimmten Thesen überzeugt sind oder auch geradezu überzeugt sein wollen, und sie müssen zeigen, ob sie in der Lage sind, ihre Meinungen selbst, mit eigenen Gründen verteidigen zu können.17 Und wenn Sokrates seinen Gesprächspartnern die Einwände vor Augen führt, die ihre Thesen zunächst einmal zu widerlegen scheinen, so möchte er sie stets dazu ermutigen, die Motivation der Wissenssuche aufrecht zu erhalten und sie vor der Misologie, d. h. einem grundsätzlichen Misstrauen in das Argumentieren bewahren (Phaidon 89d1–90e7).18 Philosophisch ernste und spielerische Überlegungen sind in Platons Dialogen oft eng ineinander verwoben. So scheint – um ein Beispiel zu nennen – Sokrates im Phaidon zwar durchaus von der Unsterblichkeit der menschlichen Seelen überzeugt zu sein, weiß (und zeigt) aber auch, dass es sich dabei um eine unvermeidlich hypothetische Annahme handelt, die man nicht so beweisen kann, wie es sich seine Gesprächspartner wünschen. Eine Variante der sokratischen Gedankenexperimente sind wohl auch die in der Literatur so genannten sokratischen Aporien. Die Erörterung der hypothetischen Definitionen von F führt stets zu dem Problem, dass ein Gesprächspartner eine ganz bestimmte Frage, die sich zuvor aus einer generellen Was-ist-F-Frage ergeben hat, nicht beantworten kann. Solche Probleme treten zumeist, wie etwa im Laches, bereits innerhalb des Gesprächsverlaufs und schließlich auch am Ende eines Dialoges 17 Selbstverständlich braucht man Annahmen, die man prüft, nicht selbst für wahr zu halten. Wenn man aber die eigenen Meinungen prüft, um zu wissen, ob man sie mit guten Gründen verteidigen kann, so wird man freilich diejenigen Meinungen prüfen, die man eben zunächst einmal für wahr hält. Meinungen, die man selbst ohnehin nicht für wahr hält, braucht man nicht in dem sokratisch verstandenen Sinne zu prüfen. 18 Vgl. die Unterscheidung zweier Arten des Diskutierens im Theaitet (167e–168c).

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auf. Die sokratischen Dialoge haben zwar insofern kein eindeutiges Ergebnis, als es Sokrates’ Gesprächspartnern nicht gelingt, eine akzeptable, vollständige Antwort auf eine sokratische Frage zu geben und auch Sokrates nun einmal keine solche Antwort gibt. Im Laches resümiert Sokrates das Schlussargument des Dialoges etwas lakonisch mit den Worten, man habe „offenbar nicht gefunden, was Tapferkeit ist“ (199e11). Platons sokratische Dialoge enden aber nicht in dem Sinne ausweglos, dass man gar nichts über das Gutsein herausgefunden hätte und alle möglichen Antworten gleichermaßen akzeptabel (und in diesem Falle beliebig) wären. Denn: „There is always a clear agenda behind any question about what this or that is (part of excellence, or … excellence as a whole). The question is not open-ended: Socrates is after a particular kind of answer“ (Rowe 2007: 93). In manchen Fällen hat die epistemische Situation, in der sich Sokrates und seine Gesprächspartner befinden, den Anschein einer Ausweglosigkeit (ἀπορία). Die Einsicht in eine mögliche Aporie erfordert zunächst einmal das Wissen zweiter Ordnung, das man durch die Rechenschaftgabe in jedem Falle gewinnt (dazu unten Abschnitt 4), und deshalb inspirieren die scheinbar aporetischen Gesprächssituationen Sokrates gerade zur Fortsetzung der gemeinsamen Wissenssuche. Nicht jedes Problem ist eine Aporie. Probleme sind lösbar, Aporien sind es nicht. Eine Aporie im buchstäblichen Sinne bedeutet einen zweifachen Mangel an Wissen; in einer wirklich ausweglosen Situation befindet man sich dann, wenn man eine bestimmte Frage nicht beantworten kann und ebenfalls nicht weiß, welches Wissen man denn bräuchte, um diese Frage beantworten zu können. In den meisten, auf den ersten Blick aporetischen Situationen in Platons Dialogen ist jedoch recht klar, welche ganz bestimmte Frage man mit Hilfe welchen Wissens zu beantworten hätte. So läuft, wie wir sehen werden, das Gespräch über die Tapferkeit mit Laches darauf hinaus, dass Laches die Tapferkeit so zu definieren hätte, dass jede tapfere Handlung beharrlich, klug und auch anerkennenswert ist. Und das Gespräch mit Nikias läuft darauf hinaus, dass Nikias seine eigene, von Sokrates inspirierte These, der zufolge der Tapfere über das Wissen allgemeiner gefährlicher oder unbedenklicher Sachverhalte verfügt (194d1–2, d4–5) so zu interpretieren hätte, dass sie mit einer anderen unproblematischen These, der Nikias ebenfalls zustimmt, nämlich der These, die Tapferkeit sei nur eines der vielen Elemente einer insgesamt guten seelischen Verfassung (198a4-b1), vereinbar wäre.19

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Zur Überwindung der „Aporien und Paradoxien“ in verschiedenen Frühdialogen vgl. die detaillierte, wegweisende Untersuchung von Erler 1987: 259–267.

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3. Grundsätze des Sokratischen Eudämonismus Die sokratischen Gedankenexperimente lassen den Lesern einen großen Spielraum möglicher Interpretationen, und jede Interpretation der Platonischen Dialoge ist freilich ein ihrerseits hypothetisches Unternehmen. Eine gute Orientierung bieten aber wohl die Thesen, die Sokrates ausdrücklich für wahr und allgemein zustimmungsfähig hält. Sokrates geht in Platons Dialogen von folgenden Grundsätzen aus: (1) Jeder Mensch möchte ein gelingendes Leben führen, strebt also nach seinem Glück (eudaimonia). Ein gelingendes Leben zu führen ist auch die Verwirklichung der spezifischen Leistung (oder: Hervorbringung, ergon) des Menschen (Politeia I). (2) Wenn man ein gelingendes Leben führt, befindet man sich in einer insgesamt guten, glückszuträglichen seelischen Verfassung (aretê) und ist deshalb in der Lage, gute, glückszuträgliche Handlungen auszuführen (z. B. Laches 199d4–e1, Gorgias 507b8–c7). (3) In einer guten, glückszuträglichen seelischen Verfassung verfügt man über jede spezielle glücksrelevante Tugend (Laches 199d4– e1). (4) Wenn man sich in einer guten seelischen Verfassung befindet, verfügt man auch über ein handlungsleitendes Wissen über gute oder schlechte Sachverhalte (Laches 199d4–e1), das man das eudämonistische Wissen nennen kann. (5) Wer sich in einer guten seelischen Verfassung befindet, wird – idealerweise – niemals wider besseres Wissen handeln. (Das wird vor allem im Protagoras deutlich). Eine solche seelische Verfassung ist – ebenso wie das glücksentscheidende Wissen – ein idealer Zustand (Laches 199d4–e1), dem man sich lediglich (aber immerhin) nähern kann. (6) In eine gute, glückszuträgliche seelische Verfassung bringt man sich durch eine komplexe Form von Rechenschaftgabe (Laches 187e–188a). In diesem Sinne ist ein gelingendes Leben ein prüfendes Leben (Apologie 38a, 41b–c). (7) Jede Sache, die man auf eine gute, glückszuträgliche Weise gebrauchen kann, kann man auch auf eine schlechte, glücksabträgliche Weise gebrauchen. Wer sich in einer insgesamt guten seelischen Verfassung befindet, weiß, wie man bestimmte (mögliche) Güter (wie Reichtum, Einfluss, Ansehen oder technische Fertigkeiten) auf eine gute, glückszuträgliche Weise gebraucht (z. B. Euthydem 279a–282a, Charmides 174c–d, Menon 87d–88c,

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Gorgias 460a–c). Das gilt auch für die mentalen Fähigkeiten, d. h. die (möglichen) Tugenden einer Person (Menon 88c6–d1). (8) Wer sich in einer guten seelischen Verfassung befindet, möchte sein Leben auf eine gerechte Weise führen und auf die glücksrelevanten Interessen anderer Personen Rücksicht nehmen. (Das ist das große Beweisziel der Politeia.) Hinzu kommen einige methodische Grundsätze über korrekte Definitionen und deren Prüfung.20 Die sokratischen Thesen und die Antworten der Gesprächspartner, die mit diesen Thesen vereinbar sind, lassen sich, wie ich denke, zu einer Theorie eines gelingenden Lebens zusammenfügen. Mit anderen Worten: Wenn wir die sokratischen Dialoge im Blick auf einen widerspruchsfreien thematischen Zusammenhang lesen, können wir versuchen, die problematischen Antworten seiner Gesprächspartner so zu interpretieren, dass sie mit den sokratischen Grundsätzen im Einklang stehen.21

4. Drei epistemische Ebenen: Vollkommenheit, Wissenssuche und Ignoranz Wenn Sokrates die Meinungen seiner Gesprächspartner (und seine eigenen Meinungen) prüft, unterscheidet er drei epistemische Ebenen und zwei Einstellungen zu den je eigenen Meinungen, die in der Apologie, im Lysis, in Politeia V und im Symposion ausdrücklich zur Sprache kommen:22

20

Vgl. dazu Hardy 2011a: 71–75. Eine (in dem hier erläuterten Sinne) holistische Interpretation der Konzeption eines gelingenden Lebens, die Sokrates in Platons Dialogen entwickelt, reicht im übrigen freilich nicht aus, um auch die Auffassungen des Dialogautors Platon (jedenfalls versuchsweise) rekonstruieren zu können. Was Platons Sokrates für richtig hält, braucht nicht auch Platons eigene Meinung zu sein. Wenn man Platons eigenen Auffassungen auf die Spur kommen möchte, hat man eine weitere Interpretationsmaxime zu beachten, die Blößner 2011: 40 ff. vorgeschlagen hat: Der Dialogautor Platon ist ja derjenige, der die Probleme konstruiert, auf die seine Dialogfiguren stoßen, wenn sie eine sokratische Frage zu beantworten suchen. Bei der Interpretation eines Platonischen Dialoges sollten wir uns deshalb stets auch fragen, was der Autor Platon über einen bestimmten Sachverhalt weiß (oder jedenfalls zu wissen glaubt), um bestimmte Probleme überhaupt so konstruieren zu können, wie er es in den Dialogen tut. 22 Zum Folgenden vgl. Hardy 2010 und 2011a: 75–89, mit Textbelegen und weiteren Erläuterungen. Die verschiedenen philosophisch (und nicht nur, aber auch epistemologisch) bedeutsamen Dimensionen der Rede der Diotima in Platons Symposium erläutert Sier 1997. 21

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Vollkommenheit: Wer das Gutsein vollständig definieren könnte, verfügte über ein perfektes Wissen, bräuchte also nicht nach Wissen zu suchen (Apologie 20d-e, 23a-b, Symposion 204a-c) (und sich wohl auch nicht um die Verbesserung seiner seelischen Verfassung zu bemühen). Vollkommenes Wissen haben allein die Götter. Wissenssuche: Wer (im Sinne von Laches 187e–188a) Rechenschaft gibt und seine Meinungen prüft, möchte wissen, ob er etwas weiß oder nicht weiß. Die prüfende Einstellung zu den eigenen Meinungen ist die philosophierende Einstellung: die Suche und das Streben nach Wissen (Lysis 218a-b, Politeia V, 474c–475b, Symposion 203d–204b). Die erfolgreiche Prüfung der eigenen Meinungen führt zu einem Wissen, das Sokrates in der Apologie (20d8) das „menschliche Wissen“ nennt, und zwar in jedem Falle zu einem Wissen zweiter Ordnung über den epistemischen Status bestimmter Meinungen und in einigen Fällen auch zu gerechtfertigten Meinungen. Die Rechenschaftgabe geht mit dem Bemühen, „möglichst gut zu werden“ (Apologie 29b–30b, 36c–d), d. h. mit der Sorge um die Seele einher. Genau betrachtet ist sie deshalb eine insgesamt reflektierte Einstellung zur eigenen Person. Ignoranz: Wer seine Meinungen nicht prüft, ist jemand, der „klug zu sein scheint, es aber nicht ist“ (Apologie 21c8-d1, vgl. Lysis 218a2–b6). Ignoranz ist vermeidbare Unwissenheit. Der Ignorant ist nicht (oder nicht in hinreichendem Maße) bereit, seine Meinungen zu prüfen, hat deshalb viele vermeidbare unreflektierte Meinungen und befindet sich Sokrates zufolge in einer nicht glückszuträglichen Verfassung – ohne es selbst zu wissen. Die sokratisch verstandene Rechenschaftgabe bewegt sich auf der Ebene der Wissenssuche. Um Meinungen erfolgreich zu prüfen, bedarf es sowohl der Fähigkeit als auch der Motivation, dies zu tun. Auch Experten, die sich mit bestimmten Sachverhalten gut auskennen, können insofern Ignoranten sein, als sie ihre Wissensansprüche nicht ausreichend prüfen – und sie sind es sogar oft, wie Sokrates in der Apologie ausführlich berichtet (21a–23a). Diese Tatsache zeigt sehr klar, dass es sich bei der Rechenschaftgabe und Wissenssuche um eine komplexe Einstellung einer Person handelt, die, wie gesagt, sowohl die Fähigkeit zur kritischen Prüfung der eigenen Meinungen als auch die entsprechende Bereitschaft, d. h. den vorrangigen Wunsch nach wahren Meinungen enthält. Den ignoranten Experten fehlt vor allem die Motivation zur Meinungsprüfung und deshalb nehmen sie Wissen in Anspruch, über das sie in Wirklichkeit gar nicht verfügen. Interessanterweise ist es

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gerade die Erfahrung mit ignoranten Experten, die Sokrates gelehrt hat, über welche Art von Wissen er selbst verfügt und wie er den Orakelspruch, er sei „der klügste unter den Menschen“, genau zu verstehen hat (Apologie 21a–23a). Zu den klügsten Menschen gehört Sokrates deshalb, weil er nicht zu wissen glaubt, was er nicht weiß, sondern eben weiß, was er weiß oder nicht weiß. Über dieses Wissen verfügt Sokrates einfach deshalb, weil er seine Meinungen prüft und so das Wissen zweiter Ordnung zum Einsatz bringt, das, wie Platons Dialoge zeigen, grundsätzlich auch Sokrates’ Gesprächspartnern zur Verfügung steht. Sokrates widerlegt zwar alle Antworten, die seine Gesprächspartner als eine Definition von F vorschlagen. Gleichwohl gewinnt man durch eine erfolgreiche Meinungsprüfung ein Wissen zweiter Ordnung, d. h. ein Wissen über das, was man weiß oder nicht weiß, und auch ein Wissen erster Ordnung in der Form gerechtfertigter Meinungen über die Gegenstände der sokratischen Was-ist-F?-Fragen. Wenn man seine Meinungen prüft, fragt man sich, ob man sich eine bestimmte Meinung unter den jeweils bestmöglichen epistemischen Bedingungen gebildet hat und bestätigt oder korrigiert schließlich diese Meinung. Wie man das macht, demonstriert Sokrates in Platons Dialogen auf Schritt und Tritt. Ein Wissen zweiter Ordnung und reflektierte Meinungen sind das erste Ergebnis des Nachdenkens über die eigenen Meinungen: Wenn man eine bestimmte Meinung erfolgreich geprüft hat, dann weiß man, ob man sich diese Meinung unter den jeweils bestmöglichen epistemischen Bedingungen gebildet, also alle jeweils relevanten und verfügbaren logischen und empirischen Gründe, die für oder gegen eine Meinung sprechen, berücksichtigt hat. Wenn man das weiß, kann man noch einmal über den Sachverhalt seiner ursprünglichen Meinung nachdenken, sich eine neue, gegebenenfalls besser begründete Meinung über denselben Sachverhalt bilden und so die ursprüngliche Meinung bestätigen, korrigieren oder ganz aufgeben. Die Meinungsprüfung ermöglicht vor allem die Überwindung vormaliger Irrtümer.23 Wenn man die Gründe, die gegen eine bestimmte Annahme sprechen, genau kennt, dann weiß man auch, dass man eben genau diese Gründe (und Einwände) in einer

23

Wie es Sokrates etwa im Gorgias (458a3-b1) hervorhebt, wenn er über sich selbst sagt, er gehöre zu den Menschen, „die sich gerne prüfen und widerlegen lassen … denen es jedoch nicht weniger Freude macht, geprüft und widerlegt zu werden als zu prüfen und zu widerlegen. Denn dies halte ich für das größte Gut, insofern es ein größeres Gut ist, selbst vom größten Übel befreit zu werden als einen anderen davon zu befreien. Denn ich glaube, für einen Menschen ist kein Übel so groß wie eine falsche Meinung über das, worüber wir gerade reden (das ist an Ort und Stelle: eine Meinung über das Gerechte und Ungerechte, JH).“ (Übersetzung, mit geringfügigen Änderungen: Dalfen 2004: 24 f.)

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nächsten und besseren Antwort zu berücksichtigen hat. Ein kleines Beispiel aus dem Laches: Die Frage, was Tapferkeit ist, beantwortet Laches zunächst mit dem Vorschlag, jemand sei genau dann tapfer, wenn er auf eine beharrliche und kluge Weise mit Gefahren umgeht. Sokrates fragt Laches, ob er ebenfalls meint, dass jede tapfere Handlung anerkennenswert ist und weist ihn darauf hin, dass nicht jede beharrliche, kluge Handlung anerkennenswert ist. Wenn jede tapfere Handlung anerkennenswert, aber nicht jede beharrliche, kluge Handlung anerkennenswert ist, dann ist folglich nicht bereits jeder tapfer, der auf eine beharrliche und kluge Weise mit Gefahren umgeht. Laches erkennt jetzt die Unvereinbarkeit der drei genannten Meinungen, die er zuvor nicht bedacht hatte und korrigiert seinen ursprünglichen Vorschlag über die Tapferkeit (192c-d). Das zweite Ergebnis der erfolgreichen Meinungsprüfung ist ein Wissen erster Ordnung in der Form derjenigen Meinungen, die Sokrates im Menon (97d–98a) als wahre, „befestigte“, „bleibende“ und deshalb wertvolle Meinungen und in der Politeia (534b-d) als widerstandsfähige Erklärungen charakterisiert. Meinungen dieser Art dürfen wir – um einen Terminus der zeitgenössischen Erkenntnistheorie zu gebrauchen – als gerechtfertigte Meinungen bezeichnen. Epistemisch gerechtfertigt sind die Meinungen, die man sich auf eine verlässliche, wahrheitsfördernde und irrtumsvermeidende Art und Weise, also unter den jeweils bestmöglichen epistemischen Bedingungen gebildet hat, die man zum Zeitpunkt der Urteilsbildung kennt und auch selbst herzustellen vermag. Das ist, wie bereits gesagt, genau dann der Fall, wenn man in der Bildung einer bestimmten Meinung, dass p, alle einem selbst jeweils bekannten und epistemisch verfügbaren, relevanten empirischen und logischen Gründe berücksichtigt hat, die für oder gegen eine bestimmte Meinung sprechen. Sokrates arbeitet in Platons Dialogen mit zwei verschiedenen Konzepten eines Wissens erster Ordnung. Als Wissen in einem engeren (und sehr anspruchsvollen Sinne) charakterisiert er das Wissen, über das man dann verfügt(e), wenn man genau weiß, was F ist und F vollständig zu definieren vermag. Dieses Wissen ist ein perfektes, nicht weiter verbesserungsfähiges Wissen. Als Wissen in einem weiteren (und weniger anspruchsvollen Sinne) charakterisiert Sokrates die (vorbehaltlich weiterer Prüfungen) wahren und gerechtfertigten (‚befestigten und bleibenden‘) Meinungen über bestimmte Eigenschaften von F, die man durch den erfolgreichen Gebrauch wahrheitssichernder und irrtumsvermeidender Methoden gewinnt. Solche Meinungen sind ein fallibles, jeweils bestmögliches Wissen in der Form gerechtfertigter Meinungen, die stets mit einem entsprechenden Wissen zweiter Ordnung verknüpft sind.

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Wenn jemand meint, dass p, und weiß, dass er darin gerechtfertigt ist, weil seine Meinung im Sinne des Menon ‚befestigt‘ ist und ‚bleibt‘ und im Sinne der Politeia Widerlegungsversuchen erfolgreich Stand gehalten hat, so weiß er freilich auch, dass er über eben dieses Wissen verfügt.24 Das Wissen, das man durch eine erfolgreiche Rechenschaftgabe, kraft des eigenen Nachdenkens gewonnen hat, kann man selbst verantworten und verteidigen. Mit anderen Worten: Die sokratisch verstandene Rechenschaftgabe macht jemanden zu einem selbstbestimmten Urheber seiner Meinungen.

5. Die Sorge um die Seele und die Sokratische Glücksauffassung Die sokratisch verstandene Rechenschaftgabe hat eine epistemologische und eine eudämonistische Aufgabe. Die erste Aufgabe ist die Wissenssuche. Die zweite ist die Sorge um eine insgesamt gute seelische Verfassung. Wenn uns die Rechenschaftgabe diesem Ziel tatsächlich näher bringen kann, so handelt es sich dabei auch um einen prüfenden Umgang mit dem eigenen Wollen. Wünsche können wir freilich nicht in derselben Weise prüfen wie Meinungen. Wünsche haben keine Wahrheitsbedingungen, sondern Erfüllungsbedingungen. Aber wir können die Meinungen über wünschenswerte Sachverhalte prüfen, die mit unseren Wünschen verknüpft sind, und wir können der Verknüpfung von Meinung und Wunsch, die jeweils eine bestimmte Handlungsabsicht bildet, auf einer volitionalen Ebene zweiter Ordnung ausdrücklich zustimmen oder nicht zustimmen. Das geschieht dann, wenn man sich fragt, ob 24

Ausführlich erläutert Sokrates den mehrstufigen Prozess der Meinungsprüfung im Menon (82b–85b, 97c–98a, siehe dazu unten Exkurs 3, Abschnitt 5). Eine genaue Analyse der sokratischen Methode bietet Stemmer 1992: 72–115. Meinungen, die im Sinne von Politeia 534b-d erst einmal allen Widerlegungsversuchen Stand gehalten haben, nennt Stemmer „widerlegungsresistente Meinungen“ (1992: 142 f.). Perfektes Wissen kann man auch Ideenwissen nennen. Die Gegenstände von Definitionsfragen charakterisiert Platon (in den mittleren und späten Dialogen) in ontologischer Hinsicht als in jeder Hinsicht, d. h. räumlich, zeitlich und qualitativ unveränderliche Gegenstände, die in der deutschsprachigen Forschung (Platonische) Ideen genannt werden. In epistemologischer Hinsicht sind die Ideen die Gegenstände exakten, perfekten Wissens. Vgl. dazu mit Textbelegen Hardy 2005, 2011a: 71–106, Rowe 2007 und Meixner 2007. Im Theaitet (201c– 202d) charakterisiert Sokrates das nicht-perfekte, fallible, aber gleichwohl begründete Wissen über einen bestimmten Sachverhalt als eine mit einer Erklärung (logos) verknüpfte Meinung, erwägt die genannte Charakterisierung dort auch als eine mögliche Definition von Wissen und diskutiert die Einwände, die gegen eine solche Definition sprechen (vgl. dazu Hardy 2001: 217– 301).

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die allgemeinen Güter wie etwa Reichtum, Ansehen, Schönheit, Gesundheit und Klugheit, die Sokrates gelegentlich nennt, wenn er davon spricht, dass jeder Mensch aufgrund seines Glücksstrebens bestimmte Güter erlangen möchte (Apologie 29d-e, Euthydem 279a–281d, Menon 87d–88c, Gorgias 451e, Nomoi 631c, 661a), unter ganz bestimmten Umständen für einen selbst tatsächlich glückszuträglich und erstrebenswert sind. Im Laches spricht Sokrates ganz allgemein davon, dass ein Mensch, der sich in einer insgesamt guten seelischen Verfassung befindet, „das Gute“, d. h. verschiedene Güter zu erlangen vermag (199d4-e1, vgl. Menon 78c1–5). Wenn jemand meint, dass es gut und wünschenswert ist, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, so möchte er das tun, was ihn dieses Ziel erreichen lässt. Handlungen sind das Ergebnis von Meinungen, die mit Wünschen verknüpft sind. Wenn man nun über glückszuträgliche Handlungen nachdenkt, gewinnt man auch Klarheit über seine Wünsche und Absichten. Diesen Sachverhalt thematisiert Sokrates unter anderem in Menon und Gorgias .25 Wenn man seine Meinungen über möglicherweise wünschenswerte Handlungen erfolgreich geprüft hat, so weiß man (im Sinne eines jeweils bestmöglichen Wissens), dass eine bestimmte Handlung tatsächlich das ist, was man im Sinne seines elementaren Glücksstrebens tun will. Mit anderen Worten: Die sokratisch verstandene Rechenschaftgabe macht jemanden auch zu einem selbstbestimmten Urheber seiner überlegten Absichten. An dieser Stelle sind einige Bemerkungen zu dem voluntativen Aspekt der Tugenden angebracht: Die griechische Sprache, in der Platon seine Dialoge verfasst, verfügt nicht über ein Lexem mit derselben Bedeutung wie das deutsche Wort „Wille“, und Sokrates scheint das praktische Überlegen (auf eine naheliegende Weise) als einen zugleich urteilenden und wollenden mentalen Prozess aufzufassen. Die Verknüpfung einer Überzeugung über eine wünschenswerte Handlung mit einem entsprechenden Wunsch bildet eine bestimmte Handlungsabsicht, und solche Absichten sind der Sache nach ein Element der Tugenden (und der insgesamt guten seelischen Verfassung), die Sokrates mit seinen Gesprächspartnern erörtert; wer über eine Tugend wie Tapferkeit, Besonnenheit oder Gerechtigkeit verfügt, möchte entsprechende Handlungen ausführen. Diese interpretatorische Annahme scheint mir unproblematisch zu sein. Sokrates scheint nun ebenfalls davon auszugehen, dass man dann, wenn man im Ergebnis des Nachdenkens über wünschenswerte Hand-

25

Vgl. dazu Hardy 2011a: 179–229.

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lungen genau weiß, was man in einer bestimmten Situation tun will, dies auch tut. Im Protagoras erläutert Sokrates diesen Zusammenhang als Herrschaft des Wissens. Diese Sokratische Annahme bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass Sokrates die Tatsache ignoriert, dass das Wissen über wünschenswerte Handlungen nicht immer mit handlungswirksamen Wünschen verknüpft ist, sondern auch wirkungslos bleiben kann, nämlich dann, wenn eine Person wider besseres Wissen handelt. Vielmehr scheint Sokrates anzunehmen, dass es Wissen in einem starken (im Protagoras erläuterten) Sinne gibt, das so zustande kommt, dass es in der Tat mit einem handlungswirksamen Wunsch verknüpft ist, der dann auch in eine Handlung umgesetzt wird. Das ist eine spezielle und kontroverse These, die in jedem Falle einer eigenen Begründung bedarf (vgl. dazu unten Exkurs 2). Dass Sokrates eine solche These vertreten kann, setzt nun voraus, dass er das Wollen als eine elementare, freilich nicht immer auch erfolgreiche Fähigkeit des menschlichen Seelenlebens auffasst. In einer insgesamt guten seelischen Verfassung ist man in der Lage, wie Sokrates etwa im Menon (87e–88c) sagt, die Fähigkeit des Wollens (und jede mentale Fähigkeit) auf eine glückszuträgliche Weise so zu gebrauchen, dass man (idealerweise) nur Güter erstrebt und entsprechende Handlungen auszuführen wünscht, von denen man wirklich weiß, dass sie in einem eudämonistischen Sinne gut sind. Dass es den Gesprächspartnern in Platons Dialogen nicht gelingt, die sokratischen Fragen, die letztlich, wie unter anderem der Laches zeigt (199d4–e1), auf eine Definition einer insgesamt guten seelischen Verfassung zielen, abschließend zu beantworten, sollte uns nicht überraschen. Erstens ist das Leben bekanntlich ein überaus komplexer Sachverhalt, über den man buchstäblich ein Leben lang nachzudenken hat. Zweitens ist das gelingende Leben kein Sachverhalt, den man einfach entdecken könnte, ohne über sich selbst und das eigene Wollen nachzudenken. Aus diesen beiden Gründen wird man sich kaum vorstellen können, dass es jemandem je gelänge, gleichsam eine definitorische Glücksformel zu finden, die jeden Menschen überzeugte, und es sollte uns ebenfalls nicht allzu sehr überraschen, dass zuweilen nicht einmal zwei Gesprächspartner eines Dialoges in ihren Glücksvorstellungen übereinstimmen. Gleichwohl scheint Sokrates anzunehmen, dass es einige elementare Überzeugungen über ein gelingendes Leben gibt, denen jeder Mensch aufgrund des Nachdenkens über das, was ihm besonders wichtig ist, zustimmen kann, und zwar deshalb, weil jeder Mensch aufgrund seines Glücksstrebens bestimmte Ziele verfolgt, die er selbstverständlich auch erreichen möchte und bestimmte Fähigkeiten hat, die er erfolgreich ausüben möchte, um seine Ziele erreichen zu können.

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Sokrates charakterisiert das Glück als das gemeinsame Ziel der menschlichen Handlungen (Gorgias 467e–468c, 499e, Politeia 505d– e). Das Glück anzustreben bedeutet zunächst einmal nichts anderes als jeweils das tun zu wollen, was tatsächlich (und nicht lediglich scheinbar) vorteilhaft und wünschenswert ist. Dass etwas dem Glück dient, ist deshalb diejenige Auskunft, mit der Fragen nach Gründen für unsere Entscheidungen und Handlungen an ein Ende gelangen (Symposion 204e–205a). Die sokratische Glücksauffassung lässt sich meines Erachtens im Sinne allgemeiner, vorrangiger Handlungsziele verstehen. Mit unseren je besonderen überlegten Handlungen verfolgen wir stets auch allgemeine, vorrangige Ziele. Ein allgemeines, vorrangiges Ziel ist eines, das wir aus bestimmten Gründen für besonders wünschenswert halten, mit verschiedenen Handlungen aus jeweils denselben Gründen anstreben und uns deshalb in jedem Falle für die Handlungen entscheiden, die diesem Ziel dienen. Wenn ich am frühen Morgen eines jedes Tages fünf Kilometer laufe, so verfolge ich mit diesen je besonderen Handlungen das allgemeine Ziel, gesund zu bleiben. Andere Menschen mögen mit der gleichen Handlung andere allgemeine Ziele verfolgen; jemand mag etwa deshalb an jedem Tag fünf Kilometer laufen, weil er sich auf einen Marathonlauf vorbereitet und damit wiederum das allgemeine Ziel verfolgt, die Grenzen seiner körperlichen Leistungsfähigkeit auszuforschen. Wenn man zwischen alternativen Handlungen zu wählen hat, entscheidet man sich im Blick auf ein allgemeines, vorrangiges Ziel für die Handlung, mit der man eben dieses Ziel am besten erreichen kann. Wenn ich mich dafür entscheide, einer caritativen Organisation Geld zu spenden, das ich auch für eine Weltreise einsetzen könnte, so gebe ich dem Ziel, anderen Menschen zu helfen, den Vorrang vor dem Ziel, neue Länder und Kulturen kennenzulernen, obwohl ich auch das für sehr wünschenswert halte. Sokrates gibt dem Ziel, den Gesetzen Athens zu gehorchen, den Vorrang vor anderen Zielen, wenn er sich gegen eine mögliche Flucht aus dem Gefängnis entscheidet und sich der gegen ihn erhobenen Anklage stellen möchte. Freilich kann man bestimmte Handlungen auch um ihrer selbst willen ausüben, so etwa Schach, Lyra oder Saxophon spielen; in diesen Fällen ist eben die Ausführung einer Handlung um ihrer selbst willen ein vorrangiges Ziel. Wir können zwei Arten von allgemeinen, vorrangigen Zielen unterscheiden: inhaltliche und modale Ziele. Allgemeine, vorrangige, inhaltliche Ziele sind zum Beispiel die Güter wie Gesundheit, Reichtum, Schönheit oder Ansehen, die Sokrates gelegentlich aufzählt. Menschen haben, wie gesagt, selbstverständlich unterschiedliche, je individuelle Vorstellungen von ihrem Glück und verfolgen in ihrem Leben deshalb verschiedene allgemeine, vorrangige, inhaltliche Ziele. Es gibt jedoch

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auch Ziele, die wir dann verfolgen, wenn wir etwas auf eine erfolgreiche Art und Weise tun wollen und uns deshalb darum bemühen, bestimmte Fähigkeiten auf eine bestmögliche Weise auszuüben (oder auch zu verbessern). Nennen wir solche Ziele allgemeine, vorrangige, modale Ziele. Modale und inhaltliche Ziele werden freilich im allgemeinen gemeinsam angestrebt. Dennoch können wir die beiden Arten von Zielen begrifflich so voneinander unterscheiden, dass wir mit dem Erstreben eines inhaltlichen Ziels in erster Linie einen bestimmten Zustand in der Welt herstellen (oder auch vermeiden) möchten und mit dem Erstreben eines modalen Ziels, wie gesagt, in erster Linie eine bestimmte Fähigkeit erfolgreich ausüben und insofern etwas auf eine erfolgreiche (oder jedenfalls erfolgversprechende) Art und Weise tun möchten. Wenn die erfolgreiche Ausübung bestimmter Fähigkeiten nun eine notwendige Bedingung dafür ist, allgemeine inhaltliche Handlungsziele erreichen zu können, dann ist auch die erfolgreiche Ausübung dieser Fähigkeiten ein vorrangiges (modales) Ziel. Sokrates möchte in Platons Dialogen, wie ich denke, zeigen, dass jeder Mensch im Sinne seines Glücksstrebens drei (nach meiner Wortwahl) allgemeine, vorrangige, modale Ziele verfolgt, um seine je individuellen inhaltlichen Lebensziele erreichen zu können, und zwar (i) das jeweils bestmögliche Wissen über Sachverhalte, (ii) das von Wissen bestimmte Handeln und (iii) das gerechte, d. h. moralische Handeln. Mit anderen Worten: Wir möchten unsere Urteilsfähigkeit so ausüben, dass wir wissen, wie es sich mit einer Sache verhält. Wir möchten unsere Fähigkeit, etwas zu wollen, so ausüben, dass wir unser Wollen von (dem jeweils bestmöglichen) Wissen über vorteilhafte Handlungen bestimmen lassen. Und wir möchten in unseren Handlungen auf die glücksrelevanten Interessen anderer Menschen Rücksicht nehmen. Wenn man sich um sich selbst und eine gute, glückszuträgliche seelische Verfassung kümmert, bemüht man sich in erster Linie um die erfolgreiche und bestmögliche Ausübung dieser Fähigkeiten. Das Interesse an einer erfolgreichen Ausübung der ersten beiden genannten Fähigkeiten scheint auf den ersten Blick eine Selbstverständlichkeit zu sein. Wenn Sokrates seine Gesprächspartner daran erinnert, dass sie diese Fähigkeiten nicht vernachlässigen dürfen, so geht es ihm aber wohl um eine besondere – keineswegs selbstverständliche – Sorgfalt und Genauigkeit des Nachdenkens. Wenn man sehr sorgfältig und genau über die eigenen Meinungen und Absichten nachdenkt, wird man auf viele mögliche Beeinträchtigungen des gelingenden, glückszuträglichen Urteilens und Wollens aufmerksam, die man aus eigener Kraft vermeiden kann. In diesem Sinne erinnert Sokrates seine Gesprächspartner im Laches daran, dass man darüber nachzudenken hat, was eine gute

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seelische Verfassung ist, bevor man Ratschläge darüber gibt, wie man sie durch irgendwelche Betätigungen erreichen kann (190b7–c3). Sokrates möchte m. E. ebenfalls zeigen, dass eine eudämonistisch gute seelische Verfassung eine sehr komplexe (kognitiv-volitionale) Struktur hat und eine Person darauf zu achten hat, dass sich ihre verschiedenen speziellen Fähigkeiten und Motivationsquellen – die Tugenden – nicht gegenseitig beeinträchtigen, sondern erfolgreich zusammenwirken. Die erfolgreiche Rechenschaftgabe bewahrt eine Person vor einem schlechten, glücksabträglichen Gebrauch ihrer Tugenden, d. h. ihrer seelischen Fähigkeiten. Der Gedanke eines schlechten Gebrauchs der Tugenden klingt auf der semantischen Ebene freilich widersprüchlich – was wir Tugenden nennen, halten wir ja für gute, wünschenswerte und anerkennenswerte Charaktereinstellungen einer Person –, ergibt aber durchaus einen guten Sinn. Wenn man nämlich wirklich alles, wovon man auf irgendeine Weise Gebrauch macht, auf eine gute oder schlechte Weise gebrauchen kann, so trifft dies auch auf die Tugenden zu. Im Menon sagt Sokrates denn auch ausdrücklich, dass die seelischen Eigenschaften nur mit Wissen auf eine wirklich gute Weise gebraucht werden: „Führt nicht überhaupt alles, was die Seele unternimmt und mit einer gewissen Beharrlichkeit betreibt, unter der Anleitung von Wissen zum guten Gelingen (eudaimonia) und bei mangelndem Wissen zum Gegenteil? – So scheint es zu sein“ (Menon 88c1–4). Eine Tugend wird auf eine glückszuträgliche Weise gebraucht, wenn man die Handlungen ausführt, die man nach dem jeweils besten Wissen für gut, d. h. glückszuträglich hält, und die Handlungen unterlässt, von denen man weiß, dass man eben nicht genau genug weiß, ob sie tatsächlich gut oder schlecht sind. Auf eine schlechte, glücksabträgliche Weise wird eine Tugend, d. h. eine bestimmte Handlungskompetenz gebraucht, wenn man ohne ein jeweils bestmögliches Wissen – oder gar wider besseres Wissen – eine bestimmte Handlung ausführt. Wenn Sokrates seine Gesprächspartner paradoxerweise davon überzeugen will, dass sie selbst bestimmte glücksentscheidende Interessen haben, so nimmt er offenbar an, dass einige Gesprächspartner nicht wissen, dass bestimmte Handlungen in der Tat in ihrem eigenen Interesse sind. Das gilt in besonderer Weise für das moralische Handeln. Sokrates ist davon überzeugt, dass Menschen ihre allgemeinen, vorrangigen Lebensziele nur gemeinsam und nur dann erreichen können, wenn sie gegenseitig auf ihre glücksrelevanten Interessen Rücksicht nehmen und deshalb moralische Forderungen akzeptieren. Das ist das Beweisziel der Politeia. In den Dialogen vor der Politeia kommt die sokratische moralphilosophische Kardinalthese zwar auch bereits zur Sprache, doch geht es Sokrates in diesen Dialogen wohl in erster Linie um die Darstellung

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der komplexen Beschaffenheit einer guten seelischen Verfassung und die Bedeutung eines glücksentscheidenden (eudämonistischen) Wissens. Der Laches ist einer dieser Dialoge.

6. Datierung des Laches Im Blick auf die Datierung eines platonischen Dialoges sind drei Themen bzw. Fragen zu erörtern: Die absolute Datierung, d. h. der tatsächliche Zeitraum der Abfassung eines Dialoges, die relative Datierung, d. h. der Platz eines Dialoges innerhalb des Gesamtwerks bzw. einer bestimmten Gruppe von Dialogen, und das dramatische, fiktive Datum, zu dem der Autor Platon ein bestimmtes Gespräch stattfinden lässt. Der dramaturgisch inszenierte Zeitraum des Gesprächs im Laches wird durch zwei historische Ereignisse markiert, deren eines die Dialogfigur Laches nennt. Im Eingangsgespräch des Dialoges erwähnt Laches, ein erfahrener Stratege, die Schlacht am Delion im Jahr 424 v. Chr., wo er gemeinsam mit Sokrates gekämpft habe. Die historische Person Laches ist 418 v. Chr. bei Mantinea gefallen. Irgendwann in dem Zeitraum zwischen 424 und 418 v. Chr., vermutlich noch in 424, sprechen die Gesprächspartner des Laches über die Tapferkeit. Für eine absolute Datierung des Laches gibt es keinen Beleg. Auch über seine relative Datierung kann man nur Vermutungen anstellen. Der sprachliche Stil des Laches weist ihn als einen frühen Dialog aus. Darüber herrscht Einigkeit in der Forschung. Umfassende sprachstatistische Untersuchungen des Stils der platonischen Schriften, die von verschiedenen Forschern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert unternommen und deren Ergebnisse von Ledger 1989 und Brandwood 1990 im wesentlichen bestätigt wurden, ergeben eine – in der Forschung weitgehend akzeptierte – chronologische Einteilung der Dialoge in die drei Gruppen der so genannten frühen, mittleren und späten Dialoge. Die große Gruppe der frühen Werke umfasst die Apologie des Sokrates und die hier in alphabetischer Folge genannten Dialoge Charmides, Euthydem, Euthyphron, Gorgias, Hippias Minor, Ion, Kratylos, Kriton, Laches, Lysis, Menexenus, Menon, Phaidon, Protagoras, Symposion. Die sprachstatistischen Untersuchungen, die sich, wie gesagt, auf Stilmerkmale der Dialoge beziehen, und auch die intertextuellen Beziehungen und thematischen Gemeinsamkeiten der frühen Dialoge erlauben kein sicheres Urteil über ihre zeitliche Reihenfolge.26 Einen Anhalts26

Erler 2007: 22–26 und Nails 1995, 2002 bieten eine kritische Diskussion der Ergebnisse der stilmetrischen Forschung. Speziell zur relativen Datierung des Laches sei auf die umsichtigen

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punkt für die Annahme, dass der Laches ein sehr früher Dialog ist, den Platon vermutlich noch in den 390er Jahren verfasst hat, bietet jedoch die im Corpus Platonicum in Umfang und Dramaturgie einzigartige Einleitung des Dialoges mit ihrer besonderen Darstellung des Sokrates. Im Laches anwesend sind die älteren Bürger Lysimachos und Melesias, deren Söhne Thukydides und Aristeides sowie Laches, Nikias und Sokrates. Laches und Nikias sind die beiden Hauptgesprächspartner des Sokrates, die Antworten auf die Was-ist-F?-Frage nach der Tapferkeit vorschlagen. Nikias (ca. 470 – 413 v. Chr.) war, nach allem, was der griechische Geschichtsschreiber Thukydides über ihn berichtet, ein sehr bedeutender, vorrangig auf Frieden bedachter Feldherr Athens, der von Volksversammlungen seit 427 regelmäßig zu einem kommandierenden Feldherrn (strategos) gewählt wurde und viele militärische Expeditionen geleitet hat. Mit seinem Namen sind entscheidende Ereignisse im Peloponnesischen Krieg verbunden. Laches hat ebenfalls mehrere Expeditionen geleitet und berichtet in Platons Dialog davon, gemeinsam mit Sokrates in der Schlacht am Delion (424 v. Chr.) gekämpft und dort dessen einzigartige Tapferkeit kennengelernt zu haben (181a–b). Nikias und Laches haben die Verhandlungen mit Sparta geführt, in denen zunächst ein Waffenstillstand (423 v. Chr.) und schließlich der so genannte Nikias-Friede (421 v. Chr.) vereinbart wurde, und Nikias hat sich nachhaltig für die Einhaltung des Vertrags eingesetzt. Nikias wurde zuletzt zu einem der Kommandanten der Sizilianischen Expedition gewählt, hatte selbst allerdings gegen dieses Unternehmen gestimmt. Das am Ende von ihm alleine geführte Heer erlitt eine vernichtende Niederlage. Nikias hat kapituliert und wurde später in Syrakus hingerichtet (Thukydides, Der Peloponnesische Krieg 7, 84–86). Mit Laches und Nikias lässt Platon im Laches also zwei bedeutende und anerkannte Zeitgenossen auftreten, die aufgrund ihrer Profession und Lebenserfahrung mit dem Thema des Dialoges, der Tapferkeit, bestens vertraut sind. Beide Gesprächspartner kennen Sokrates und zollen ihm große Anerkennung. Sie beide wissen, dass Sokrates sich mit lebenspraktischen Themen beschäftigt, die Lysimachos und Melesias

Überlegungen von Erler 2007: 151–155 (mit Hinweisen auf die einschlägige Literatur) verwiesen. Die allgemein anerkannte dreigliedrige Einteilung der platonischen Schriften wird in der Forschung mit zwei wichtigen Ereignissen in Platons Leben in Verbindung gebracht: zwei Reisen nach Sizilien. Die erste sizilianische Reise hat Platon in 389/388 v. Chr. unternommen, die zweite in 348/7. Die frühen Schriften hat Platon vermutlich vor seiner ersten sizilianischen Reise verfasst, die mittleren Dialoge in dem Zeitraum zwischen den beiden Reisen, und die späten Dialoge nach seiner zweiten Rückkehr bis zu seinem Tod 348/7. Zu den überlieferten Berichten über Platons Leben vgl. Erler 2007: 41–58.

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Einleitung

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interessieren (180b–d). Nikias will sogar mit der sokratisch intendierten Rechenschaftgabe gut vertraut sein. Er scheint Sokrates in dessen Gesprächen mit seinen Mitbürgern bereits öfters zugehört und großen Gefallen daran gefunden zu haben (187d–188c). Lysimachos hatte damit gar nicht gerechnet; er selbst kennt Sokrates nur als den Sohn seines zu Lebzeiten engen Freundes Sophroniskos (180d–e). In seinem Kommentar des Protagoras interpretiert Manuwald 1999: 83 f. die Eingangsszenerie des Laches als einen Hinweis auf dessen sehr frühe Entstehung: „Der Laches exponiert … die Sokratesgestalt in sehr ursprünglicher Weise: Dem erstaunten Lysimachos muß erst klargemacht werden, daß Sokrates ein geeigneter Gesprächspartner für die Frage ist, was sein Sohn erlernen soll (180c); Sokrates muß als Sohn des Sophroniskos identifiziert werden (180d–181a); Lysimachos weiß nichts davon, was einem beim Umgang mit Sokrates widerfahren kann, Nikias muß es ihm erst erklären (187d ff.). Das spricht dafür, daß es sich beim Laches um einen der frühesten, wenn nicht den frühesten platonischen Dialog handelt … Denn es ist unwahrscheinlich, daß Platon für seine Hauptgestalt erst nach einer ganzen Reihe von Dialogen, etwa nach Sokrates’ selbstverständlichem Auftreten im Protagoras, so grundlegende Erklärungen gegeben haben sollte.“ Heitsch 2004b: 35–41 ist der Auffassung, dass Platon zwei Dialoge, den Ion und den Hippias Minor, in denen Sokrates als ein überlegener Argumentationsspieler auftritt, noch vor 399 v. Chr., dem Jahr des historischen Sokrates-Prozesses, verfasst hat, und mit dem Laches insofern einen neuen Anfang macht, als er Sokrates jetzt als jemanden darstellt, der andere Menschen erkennen lässt, was sie wissen oder nicht wissen, sich „wie ein Vater oder älterer Bruder“ um die Interessen seiner Mitmenschen kümmert, und von Gesprächspartnern wie Melesias, Lysimachos, Laches und Nikias, die bei ihren Mitbürgern ihrerseits hoch angesehen sind, sehr geschätzt wird.27 Ein weiteres, philosophisches Argument für die Annahme, dass der Laches – wenn auch nicht der erste, so doch – ein sehr früher (und dennoch thematisch dichter) platonischer Dialog ist, sei hier noch genannt: Eine sokratisch-philosophische Untersuchung beginnt mit einer Wasist-F?-Frage. Im Laches entwickelt sich die sokratische Frage danach, was das Gutsein bzw. die Tapferkeit ist, aus einem alltäglichen, lebensweltlichen Anlass und einem gemeinsamen Erkenntnisinteresse heraus. Die Gesprächspartner des Eingangsgesprächs denken über eine gute Erziehung und Ausbildung der Jugendlichen nach. Sokrates führt ihnen 27

Eine frühe Datierung des Laches favorisieren ebenfalls Steidle 1950: 129 f. und Kahn 1986, 1996: 150–154. Zu Platons Darstellung des Sokrates im Laches vgl. auch Michelini 2000.

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mehrfach vor Augen, dass man eine so wichtige Frage nur dann sinnvoll erörtern kann, wenn man weiß, was überhaupt eine gute seelische Verfassung ist, und seine Gesprächspartner stimmen ihm aus ihrem eigenen ursprünglichen Erkenntnisinteresse heraus zu. So wird deutlich, dass die Erörterung einer sokratischen Definitionsfrage letztlich dem Ziel dient, ein wichtiges, konkretes, lebenspraktisches Problem der sokratischen Gesprächspartner zu bewältigen und die Rechenschaftgabe, wie Nikias bezeugt, deshalb in der Tat im eigenen Interesse aller Gesprächspartner ist oder jedenfalls sein kann (wenn man sich auf sie einlässt). Nur im Laches werden Motivation und Zielsetzung der Was-ist-F?-Fragen und der sokratischen Rechenschaftgabe so ausführlich dargestellt und, wie gesagt, aus der lebensweltlichen Einstellung und dem Interesse philosophisch unerfahrener Gesprächspartner des Sokrates heraus entwickelt. Das lässt vermuten, dass Platon den Laches vor anderen Dialogen verfasst hat, in denen die gleichen Themen, vor allem das Gutsein und das komplexe, glücksentscheidende Wissen über gute oder schlechte Sachverhalte erörtert werden, um seine Leser in der Einleitung des Dialoges mit einem Sokrates vertraut zu machen, der sich mit seiner Methode des Fragens und Prüfens ernsthaft um die je eigenen Interessen seiner Gesprächspartner kümmert, und im Hauptteil des Dialoges einen ersten Einblick in den modus operandi der sokratischen Methode und die Komplexität der beiden genannten zentralen Themen der sokratischen Untersuchungen zu geben. Der Laches wäre dann der Auftakt zu einer Reihe von Dialogen, in denen Sokrates die Bedingungen und Gefahren eines gelingenden Lebens unter verschiedenen Gesichtspunkten erläutert und so, Schritt für Schritt, eine komplexe Theorie eines gelingenden Lebens entwickelt.

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I Die Gesprächseröffnung: Personen und Themen, 178a1–190d1

1. Der Auftakt: Die Frage nach der Erziehung der Jugendlichen Der Laches ist ein dramatischer, d. h. in direkter Rede verfasster Dialog, und er beginnt mit einer Momentaufnahme aus dem Leben, die einen zunächst unscheinbaren Sachverhalt beleuchtet: Offenheit bzw. Aufrichtigkeit (παρρησία), und zwar die Aufrichtigkeit, die für gemeinsame Gespräche und Beratungen über eine gelingende Lebensführung entscheidend ist. In der Eingangsszenerie anwesend sind Lysimachos, Melesias, deren Söhne Thukydides und Aristeides sowie Laches, Nikias und Sokrates, der allen anderen aus unterschiedlichen Anlässen und in ganz unterschiedlicher Weise bekannt ist. Der Auftakt ist ein Gespräch zwischen Lysimachos, Melesias, Laches und Nikias, die sich gemeinsam das Schauspiel eines professionellen Waffenkämpfers angesehen haben. Die Darbietung ist ein artistischer, professioneller Umgang mit den Waffen eines Hopliten, d. h. eines Bürgersoldaten einer Phalanx (und offenbar mit weiteren, eigens für artistische Demonstrationen angefertigten Waffen, die nicht zur Grundausrüstung eines Hopliten gehörten). Solche Auftritte dürften ein spektakuläres, aber regelmäßiges Element des öffentlichen Entertainment in Athen gewesen sein, vergleichbar heute vielleicht mit Auftritten von ShaolinPriestern, die ihre Fähigkeiten im Kung-Fu dem öffentlichen Amüsement präsentieren. Lysimachos und Melesias hatten zuvor Laches und Nikias eingeladen, sich diese Aufführung gemeinsam anzusehen, ihnen jedoch nicht verraten, weshalb man dem Spektakel zusehen solle (178a1–4). Die Aufführung ist vorbei und die Unterredung zwischen den vier Zuschauern beginnt. Lysimachos und Melesias verraten Laches und Nikias jetzt, weshalb sie sich die Aufführung gemeinsam ansehen wollten. Sie möchten wissen, wie man die jugendlichen Söhne erziehen und ausbilden lassen sollte, so dass sie möglichst gute Bürger werden.

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Sie sind davon überzeugt, dass ihre Gesprächspartner ebenfalls daran interessiert sind, zu wissen, wie man seine Söhne ausbilden lässt und vertrauen auf deren Rat (178b5–179b6). Das Eingangsgespräch wird, nach einigen Umwegen, auf die Frage danach, was Tapferkeit ist, hinauslaufen. Mit Nikias und Laches werden, wie einleitend bereits gesagt, zwei erfahrene und angesehene Feldherrn auf diese Frage antworten; von ihnen beiden wird man sich wohl mit guten Gründen sachkundige Auskünfte darüber erhoffen dürfen, was Tapferkeit ist.

2. Sorge, Beratung und Aufrichtigkeit, 178a1–180b7 Drei Themen werden im Eröffnungsgespräch des Laches miteinander verknüpft: die gemeinsame Sorge um eine richtige Lebensführung, gemeinsame Beratung im Sinne einer gemeinsamen Wissenssuche und die Bedeutung der intellektuellen Tugend der Aufrichtigkeit. Lysimachos berichtet, auch im Namen des Melesias, über gemeinsame Erfahrungen und das Interesse an einer gemeinsamen Beratung über einen Sachverhalt, der, wie Lysimachos annehmen darf, allen Anwesenden am Herzen liegt. Lysimachos und Melesias sorgen sich um die richtige Erziehung und Ausbildung ihrer Söhne. Sie beklagen, dass sich ihre eigenen Väter nicht ausreichend um ihre Erziehung und Ausbildung gekümmert haben und sie selbst möchten es jetzt besser machen. Sie möchten sich um die richtige Erziehung und Ausbildung ihrer Söhne kümmern und suchen nach bestimmten Tätigkeiten, die sie ihren Söhnen empfehlen könnten (179c1–d7). Jemand hat ihnen die Ausbildung im professionellen Waffenkampf empfohlen und deshalb haben sie, im Vertrauen auf diese Empfehlung, Laches und Nikias dazu eingeladen, sich mit ihnen gemeinsam eine solche Aufführung anzuschauen, um dann von den beiden zu erfahren, ob auch sie die Ausbildung im professionellen Waffenkampf empfehlen (179e1–6). Das Vertrauen, das Lysimachos und Melesias dem ungenannten Ratgeber entgegenbringen, erscheint etwas naiv und Lysimachos scheint das auch selbst zu wissen, ist doch der gemeinsame Besuch der Darbietung des Waffenkampfsportlers für ihn lediglich Anlass, Laches und Nikias sein Anliegen mitzuteilen und die beiden ganz allgemein danach zu fragen, ob sie irgendeine Betätigung zu empfehlen wüssten, die zur Erziehung der Jugendlichen beiträgt (180a1–5). Einen eindeutigen Rat wird Lysimachos allerdings nicht erhalten; Laches und Nikias werden gegensätzliche Empfehlungen abgeben und Sokrates, den man schließlich um ein entscheidendes

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Votum bitten wird, verliert kein einziges Wort über Waffenkampfsport oder ähnliche derartige Betätigungen, sondern lenkt das Gespräch auf die Frage, was es denn eigentlich heißt, für andere Menschen Sorge zu tragen und was es denn heißen könne, sich gemeinsam darüber zu beraten. Mag Lysimachos’ Frage, ob das Erlernen des professionellen Waffenkampfsports zu einer guten Erziehung der Jugendlichen beiträgt, auch naiv sein, so scheint er doch einige eudämonistisch wichtige Tatsachen zu kennen; er weiß, dass es wichtig ist, sich um die Erziehung und Ausbildung der Jugendlichen zu kümmern, ist sich darüber im klaren, dass er nicht so recht weiß, wie man das am besten macht, bittet Andere um Rat, um so das Wissen zu erlangen, das ihm nicht zu Gebote steht, und er weiß vor allem, dass gemeinsame, erfolgreiche Beratungen über dieses Thema nur dann Erfolg versprechen, wenn Aufrichtigkeit herrscht. Lysimachos vertraut darauf, dass seine Gesprächspartner Laches und Nikias die Fähigkeit besitzen, sich ein eigenes Urteil zu bilden und ihr Urteil auch offen auszusprechen, also aufrichtig zu sein (178a4–b5). Aufrichtigkeit ist selten und wertvoll. Lysimachos hat bereits die Erfahrung gemacht, dass einige Gesprächspartner nicht sagen, was sie wirklich denken, „sondern versuchen, die Meinung des Ratsuchenden zu erraten und dann etwas sagen, was gar nicht ihrer wirklichen Meinung entspricht“ (178a5–b3). Er weiß, dass die gemeinsame Wissenssuche Aufrichtigkeit erfordert und durch Gesprächsopportunismus vereitelt wird. Was heißt es, sich gemeinsam zu beraten? In einer gemeinsamen Beratung werden Meinungen über einen Sachverhalt ausgetauscht. Zielführende, erfolgversprechende Beratung erfordert die gegenseitige Bereitschaft der Gesprächspartner, ihre Meinung aufrichtig mitzuteilen und nicht zu verbergen. Das Interesse an einer Beratung mit anderen Personen ist eine spezielle Form des grundlegenden Interesses an einem handlungsorientierenden Wissen über einen bestimmten Sachverhalt. Wenn wir über zukünftige eigene Handlungen nachdenken, dann möchten wir wissen, was wir tun sollen. Das gehört offenbar zur conditio humana; wir möchten keinen einzigen Schritt tun, ohne (auf jedenfalls jeweils bestmögliche Weise) zu wissen, was wir tun und warum wir es tun. Wenn wir erkennen, dass uns das Wissen fehlt, das wir bräuchten, um bestimmte Handlungen auf eine wünschenswerte, erfolgversprechende Weise auszuführen, wenden wir uns an Ratgeber, d. h. an andere Menschen, denen wir zutrauen, dass sie das wissen, was wir nicht wissen, aber wissen möchten. Ein Beratungsgespräch ist eine komplexe epistemologische Situation: Wenn jemand einen Rat sucht, denkt er darüber nach, wie ein Sachverhalt F beschaffen ist, um zu wissen, welche Handlungen er ausführen

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sollte, um mit F auf eine wünschenswerte, erfolgreiche Weise umzugehen, weiß, dass er nicht genau genug weiß, wie der Sachverhalt F beschaffen ist, um wissen zu können, was er tun soll, um mit F (bzw. den Ereignissen, die den allgemeinen Sachverhalt F jeweils instantiieren) zielgerecht umzugehen und möchte wissen, was seine Ratgeber über F (und den Umgang mit F) wissen oder jedenfalls zu wissen glauben. Dass in der Tat das Wissen um die Beschaffenheit von F notwendig ist, um über spezielle Handlungen im Umgang mit F erfolgversprechend nachdenken zu können, wird in dieser ausdrücklichen Form allerdings erst von Sokrates ein wenig später zur Sprache gebracht: Sokrates erinnert seine Gesprächspartner daran, dass sie offenbar wissen, und falls nicht, wissen sollten, was dasjenige ist, worüber man sich im Blick auf gute Handlungen berät (184e8–185a3). Gefährdet oder gar vereitelt wird gemeinsame Beratung durch einen unaufrichtigen Gesprächsopportunismus der Ratgeber. Der Gesprächsopportunist erkennt (oder errät) die Meinung, die der Ratsuchende über einen bestimmten Sachverhalt hat und stimmt dieser Meinung zu, ohne jedoch seine eigene Meinung klar und aufrichtig zu äußern. Wer sich so äußert, ist dem Ratsuchenden freilich keine Hilfe. Weil der Gesprächsopportunist nicht vorrangig an der Wahrheit und daher auch nicht wirklich an der Beantwortung der Frage interessiert ist, die der Ratsuchende stellt, leistet er, was immer er sagen mag, keinen Beitrag zur gemeinsamen Wissenssuche. Denn der Gesprächsopportunist wird die Meinung, die er aufs Geratewohl äußert, nicht rechtfertigen können – jedenfalls nicht so, dass die Gründe, die er nennt, von allen Beteiligten objektiv, d. h. gemeinsam als rechtfertigende Gründe nachvollzogen und geprüft werden können. Lysimachos und Melesias haben, wie gesagt, zwei Anliegen: Sie möchten sich mit Nikias und Laches gemeinsam über die Erziehung der Jugendlichen beraten und von ihren Ratgebern deshalb erfahren, ob sie das Erlernen des Waffenkampfsports oder andere Betätigungen oder Unterrichtsgegenstände empfehlen können, und sie möchten wissen, ob sich ihre Gesprächspartner und Landsleute an der gemeinsamen Sorge für die Jugendlichen beteiligen wollen. Der Appell an das gemeinsame Interesse und die gemeinsame Fürsorge ist offenbar nichts Selbstverständliches; er verdankt sich der Erfahrung, dass viele Menschen, seien es Jugendliche oder ihre Eltern, sich eben keine Gedanken über eine richtige Erziehung machen, sondern Erziehung und Ausbildung vernachlässigen (179c1–d5). Nikias ist gerne bereit, sich an einer gemeinsamen Fürsorge und Beratung zu beteiligen und ist davon überzeugt, dass Laches ebenfalls dazu bereit ist (180a6–8). Laches stimmt begeistert zu und teilt die Problemdiagnose des Lysimachos: Die Bürger Athens vernachlässigen ihre eigenen Angelegenheiten und vor allem

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auch die Erziehung und Ausbildung der Jugendlichen (180b1–7). Erstaunt ist Laches indes darüber, dass Lysimachos nicht auch Sokrates zur Beratung hinzuzieht und nicht zu wissen scheint, dass Sokrates sich mit empfehlenswerten Unterrichtsgegenständen bestens auskennt (180b7– c4). Lysimachos ist überrascht; er fragt nach, ob Sokrates sich tatsächlich mit pädagogisch empfehlenswerten Betätigungen beschäftigt (180c5–6). Nikias bestätigt Laches’ Auskunft (180c8–d3). Sokrates, der zufällig in Sichtweite zu sein scheint, wird von Laches ausdrücklich als bester Ratgeber empfohlen und von Lysimachos sodann in das Gespräch hinein gebeten. In dem Wortwechsel, der auf den Bericht des Lysimachos folgt (180a5–181c7), erfahren wir Interessantes über Sokrates. Laches und Nikias wissen, dass Sokrates sich mit geeigneten Unterrichtsgegenständen auskennt und deshalb ein guter Gesprächspartner und Ratgeber ist (180b7–d3). Hingegen kennt Lysimachos Sokrates bislang in gewisser Hinsicht nur dem Namen nach. Er war zeitlebens mit Sokrates’ Vater befreundet (180d4–e5). Das Lob seiner Altersgenossen Nikias und Laches erinnert Lysimachos daran, dass seine Söhne und andere Jugendliche, die in seinem Haus verkehren, oft einen gewissen Sokrates erwähnen und loben. Bisher war Lysimachos nicht auf den Gedanken gekommen, dieser Sokrates könne derselbe wie der Sohn des altvertrauten Freundes Sophroniskos sein. Neugierig geworden fragt Lysimachos die anwesenden Jugendlichen, ob es sich bei dem Sokrates, den sie oft erwähnen, um dieselbe Person handelt, die er als den Sohn des Sophroniskos kennt und ist ebenso überrascht wie erfreut darüber, dass es in der Tat so ist (180e4–181a6). Aufgrund dieser Information fasst Lysimachos Vertrauen und Zuversicht darin, dass Sokrates ihm bei der gemeinsamen Beratung über die richtige Erziehung der Jugendlichen eine Hilfe sein wird. Laches bestätigt diese Zuversicht, indem er von Taten des Sokrates berichtet, die er aus seiner eigenen Erfahrung kennt. Auf dem Rückzugsgefecht in der Schlacht am Delion habe Sokrates so vortrefflich tapfer gehandelt, dass Laches davon überzeugt ist, dass diese Schlacht für Athen einen besseren Ausgang genommen hätte, wenn sich jeder Athener dort so wie Sokrates verhalten hätte (181a7–b4). Von diesem Lob ist Lysimachos beeindruckt, denn Sokrates bekommt es von einem Mann, den Lysimachos selbst für vertrauenswürdig hält. Aufgrund der Anerkennung, die Nikias und Laches Sokrates aussprechen, ist Lysimachos Sokrates nun in besonderer Weise wohlgesonnen; er betrachtet ihn jetzt ausdrücklich auch als einen Vertrauten in der gemeinsamen Beratung und scheint recht gespannt zu sein auf das, was Sokrates zur Erziehung der Jugendlichen zu sagen hat (181b5–c9). Die Erfahrungen, von denen die Gesprächspartner zu Beginn des

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Laches berichten, sind aus zwei Gründen bemerkenswert: Der erste Grund ist, erneut, die Bedeutung der Aufrichtigkeit, diesmal im Blick auf die Zuschreibung epistemischer Autorität. Der zweite ist die nachdrückliche und im Platonischen Werk in dieser Form einzigartige Darstellung der Person des Sokrates – einzigartig deshalb, weil sie nicht, wie etwa die Charakterisierungen der Person Sokrates in Protagoras und Symposion, innerhalb einer philosophischen Unterredung, sondern noch vor dem eigentlichen philosophischen Gespräch, nämlich vor der Erörterung der Frage danach, was Tapferkeit ist, im Laches auftaucht und von philosophisch unerfahrenen Zeitgenossen stammt. Laches, Nikias und auch Lysimachos loben Sokrates aufgrund seiner Taten und des guten Ansehens, in dem er steht. In der Anerkennung, die Sokrates von den Gesprächspartnern des Dialoges erhält, wird auch ein bedeutsamer erkenntnistheoretischer Sachverhalt deutlich. Unseren eigenen Erfahrungen geben wir in unserer Meinungsbildung den Vorrang vor den Zeugnissen anderer Personen. Wenn wir uns ein Urteil über einen bestimmten Sachverhalt bilden wollen und wissen, dass wir nicht in der Lage sind, uns ein Urteil aufgrund eigener Erfahrung zu bilden, verlassen wir uns auf das uns verlässlich erscheinende Urteil anderer Personen. Wenn wir uns auf das Zeugnis Anderer verlassen, sprechen wir jemandem epistemische Autorität zu; wir machen uns dann die Meinung einer anderen Person zu eigen, weil wir glauben, dass sie das weiß, was wir nicht wissen, aber wissen möchten. Aufs Geratewohl verlassen wir uns freilich nicht auf das Urteil Anderer, sondern nur dann, wenn wir glauben, dass sich eine andere Person ihr Urteil über einen Sachverhalt unter den ihr verfügbaren jeweils bestmöglichen Bedingungen gebildet hat, also genau so, wie wir uns unsere eigenen Meinungen zu bilden wünschen. Epistemische Autorität spricht man denjenigen zu, die man für urteilsfähig, aufrichtig und glaubwürdig hält. Lysimachos hält Laches und Nikias für aufrichtig, macht sich deshalb ihr Urteil zu eigen und stimmt in die Anerkennung ein, die sie Sokrates entgegenbringen. Die eudämonistische Botschaft des Eröffnungsgesprächs des Laches lässt sich wohl so ausdrücken: Wenn man gemeinsam für eine Sache Sorge trägt, denkt man darüber nach, wie man deren Verfassung verbessert, und wenn man sich gemeinsam über einen Sachverhalt berät, ist man aufrichtig und äußert seine ehrlichen Meinungen.

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3. Das Sokratesbild im Laches, 180b7–181d7 In den Auskünften der Gesprächspartner des Laches wird ein Bild von Sokrates gezeichnet, das mit Sokrates’ Selbstportrait in der Apologie (und im Theaitet) übereinstimmt und in einem auffälligen Kontrast zu den Vorwürfen steht, von denen Sokrates in der Apologie (18a–28b) berichtet. Nikias scheint einigen Gesprächen mit Sokrates beigewohnt zu haben; er erinnert sich an eine wichtige These, die er oft von Sokrates gehört habe (194c7–d3) und weiß vor allem, dass Gespräche mit Sokrates, mit welchem Anlass sie auch beginnen mögen, auf die gemeinsame Prüfung der Lebensweise hinauslaufen (187e6–188a3). Laches ist ungeübt in philosophischen Gesprächen (194b1–4), weiß aber interessanterweise ebenfalls, dass Sokrates überall dort ist, wo über philosophisch bedeutsame Themen gesprochen wird (180b7–c4). Lysimachos hat wegen seines Alters und seiner Lebensgewohnheiten den erwachsenden Sokrates nie persönlich als jemanden kennengelernt, der sich mit seinen Zeitgenossen über Themen wie die Erziehung und Ausbildung junger Menschen unterhält. Über solche Themen spricht Sokrates an öffentlichen Plätzen wie Marktplatz, Schule und Ringschule oder in Gesprächen, die in den privaten Häusern wohlhabender Bürger stattfinden. Lysimachos hat an solchen Gesprächen wohl nie teilgenommen, ist aber hoch erfreut zu hören, dass Sokrates sich mit jungen und älteren Zeitgenossen über öffentlich wichtige Themen unterhält. Negative Auskünfte über Sokrates sind ihm nie zugetragen worden. Interessanterweise ist Sokrates gerade bei den Jugendlichen in aller Munde und wird von ihnen sehr geschätzt. In der Apologie sagt Sokrates, dass sich viele Menschen gerne mit ihm unterhalten (33a–c) und viele Anwesende, d. h. Mitglieder der Versammlung, die über ihn zu Gericht sitzt, die absurden Vorwürfe der Kläger aus eigener Erfahrung entkräften könnten (19d, 33d–34a). Man kann sich gut vorstellen, dass Nikias’ und Laches’ erwachsene Söhne in der Apologie zu denen gehören, die für Sokrates sprechen könnten. Im Laches entwirft Platon ein klares Gegenbild zu den Vorwürfen, und zwar sowohl zu den offiziellen Klagepunkten als auch den anonymen Gerüchten und Vorurteilen, über die Sokrates in der Apologie berichtet. Die anonymen Vorurteile sind Sokrates zufolge dadurch entstanden, dass diejenigen, denen Sokrates ihr lediglich scheinbares Wissen nachgewiesen hat, das Wissen, über das Sokrates verfügt, missverstanden haben (Apologie 20c–23a). Freilich werden viele Zeitgenossen Sokrates die Kränkung Übel genommen haben, als die selbstverliebte Ignoranten

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die Korrektur unbegründeter Wissensansprüche oft empfinden. Der Laches zeigt dagegen die große Anerkennung, die Sokrates gerade bei denen genießt, deren Wissen und Meinungen er herausfordert und auf die Probe stellt. Das wird am Ende des Dialoges sehr deutlich. Die Auskünfte, die Sokrates’ Gesprächspartner im Laches geben, sind gleichsam Zeugenaussagen, die bestätigen, was Sokrates in der Apologie sagt.

4. Laches und Nikias im Expertenstreit, 181d8–184c8 Von den Empfehlungen seiner Gesprächspartner überzeugt, bittet Lysimachos Sokrates zur gemeinsamen Unterredung hinzu und wiederholt die Frage, die er zu Beginn gestellt hatte (181c8–9): „Was sagt ihr, was ist eure Meinung dazu? Ist es für junge Leute vorteilhaft, zu lernen, in voller Bewaffnung zu kämpfen, oder nicht?“ Sokrates ist gerne bereit, auf diese Frage zu antworten, möchte jedoch erst erfahren, was seine älteren Landsleute, Nikias und Laches, über die fragliche Sache denken (181d1–7). Nikias und Laches geben ganz gegensätzliche Stellungnahmen ab. Nikias zählt verschiedene Vorteile auf: Wenn die Jugendlichen sich im Waffenkampfsport üben, werden sie ihre Zeit nicht mit anderen, nutzlosen Betätigungen vergeuden, stärken ihre körperliche Verfassung, üben sich im Kampf, und zwar auch in ihrem Kampfverhalten als Mitglieder einer Phalanx in einer Schlacht, werden vor allem in Rückzugsgefechten, wenn die Reihen sich lichten und Mann gegen Mann kämpft, technisch überlegen sein, werden zudem stärker motiviert sein, weitere Felder der militärischen Kunst erlernen zu wollen, werden gewiss nicht weniger mutig sein als diejenigen, die sich nicht im professionellen Kampfsport üben und sie werden schließlich auch besonders stark und furchteinflößend auf ihre Feinde wirken (181d8–182d4). Das klingt, aus der Perspektive eines tatkräftigen Strategen, durchaus überzeugend, aber sein Kollege Laches ist ganz und gar nicht überzeugt; er zieht die Kunst des Waffenkampfsports ins Lächerliche. Sicher sei es, so meint Laches, immer gut, eine Kunstfertigkeit zu erlernen, am besten jede – wenn es sich beim Kampfsport denn um eine Kunst handelt (182d6–8). Daran hat Laches aber seine Zweifel, und er macht einen starken Einwand geltend: Wenn der professionelle Waffenkampfsport eine Kunstfertigkeit wäre, dann hätten die Spartaner diesen Sport in ihren Ausbildungskanon aufgenommen, denn gerade sie interessieren sich in besonderer Weise für alles, was militärisch vorteilhaft ist. Für den Waffenkampfsport interessieren sie sich aber nicht. Sollte die Bedeutung des Waffenkampfsports den Spartanern jedoch entgan-

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gen sein, so werden aber die Lehrer dieser Kunst wohl wissen, dass sich die Spartaner für alles militärisch Vorteilhafte interessieren und ihre Kunst eben dort präsentieren. Niemand, der sich mit militärisch nützlichen Fertigkeiten auskennt, wird seine Kunst nicht in Sparta vorstellen. Ebenso werde kein guter Tragödiendichter seine Kunst ausgerechnet den Athenern vorenthalten (182d8–183b7). Laches möchte darauf hinaus, dass ein Experte seine besonderen Fähigkeiten wohl auch allen anderen Experten vorstellen wird. Die Waffenkampfkünstler machten jedoch um Sparta einen großen Bogen. Sie scheinen ihre (angebliche) Expertise gerade dort nicht präsentieren zu wollen, wo diese Expertise hoch geschätzt ist. Laches’ Expertenmeinung ist überaus klar: Die Waffenkampfkünstler sind Scharlatane. Um sein Urteil zu krönen, erzählt Laches eine amüsante Anekdote über Stesileos, die Sportskanone, der die Gesprächspartner des Eröffnungsgesprächs des Laches vorher gemeinsam zugeschaut hatten. Der große Künstler habe seine Kunst einmal auf einem Schiff, einer Triere vorgestellt, offenbar auf einer Vorführung, in der ein Kriegsschiff ein Frachtschiff kapert. Der Künstler habe mit einem Sichelspeer – einem Speer, an dessen Ende eine Sichel befestigt ist, und eine solche hervorstechende Waffe hat wohl nicht zur üblichen Ausrüstung eines Hopliten gehört – so lange herumgefuchtelt, bis sich der Speer in der Takelage des gegnerischen Schiffes verhakte. Solange beide Schiffe einander längsseits passierten, versuchte der Künstler den Speer zu lösen, bis er ihm schließlich aus den Händen glitt – eine große Blamage, und mehr als diese Lächerlichkeit gebe es über diese Kunst nicht zu sagen (183c1–184b3). Außerdem führe diese Kunst nicht etwa zu größerem Mut, sondern verleite feige Menschen vielmehr zum Übermut (184b3–7). Zum Abschluss fügt Laches seinen Bedenken eine der zeitlos wahren sozialpsychologischen Beobachtungen hinzu, die wir in Platons Dialogen finden: Das wirkliche Beherrschen einer Fähigkeit ruft bei den Dilettanten Neid hervor. Sollte es sich beim Waffenkampfsport wirklich um eine Kunstfertigkeit handeln, so hat man diese Kunst, wie jede andere, wirklich zu beherrschen, um sich nicht lächerlich zu machen (184c1–4). Laches beendet seine Stellungnahme mit dem erneuten Hinweis darauf, dass man vor allem Sokrates danach fragen solle, was er von der fraglichen Sache hält (184c5–8). Mit ihren Meinungen über die Bedeutung des Waffenkampfsports für die Erziehung der Jugendlichen verharren Nikias und Laches auf der Ebene der vermeidbaren Unwissenheit. Sie glauben zu wissen, was sie sagen und empfehlen, aber sie geben sich nicht die Mühe, ihre jeweiligen Meinungen gegenseitig zu prüfen und so auch ihre eigenen Meinungen nochmals zu überdenken und gegebenenfalls zu korrigieren. In dieser Hinsicht treten sie als Experten auf, die jedoch, mit den Worten der

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Apologie, klug zu sein scheinen, ohne es zu sein. Nikias und Laches verhalten sich ihrerseits wie zwei verbale Kampfsportler, die ihre Reden aufeinander prallen lassen, ohne ihre Überzeugungen in einem substantiellen Sinne zu rechtfertigen. Interessanterweise werden sich Laches und Nikias später, in der Erörterung ihrer Vorschläge zu einer Definition der Tapferkeit, besonnener und selbstkritischer verhalten. Wenn es um die Suche nach einem allgemeinen, philosophischen Wissen über das, was Tapferkeit ist, und die Prüfung ihrer Meinungen über diesen Sachverhalt geht, nehmen beide durchaus die Einstellung der Wissenssuche (philo-sophia) ein. Ihr eigenes militärisches Expertenwissen, das sie ja auch in ihren gegensätzlichen Urteilen über Sinn oder Unsinn des Waffenkampfsports in Anspruch nehmen, ziehen sie aber niemals ernsthaft in Zweifel – und in dieser Hinsicht fehlt ihnen die Bereitschaft zur Selbstkritik, die man ja auch im Umgang mit den eigenen Expertenmeinungen braucht. Kein Expertenwissen ist unfehlbar. Wer das nicht zugesteht, verharrt in vermeidbarer Unwissenheit und gefährdet das gelingende Leben derer, die auf ein Expertenwissen vertrauen. Platon dürfte Laches und Nikias ja auch deshalb als Gesprächspartner des Sokrates über die Tapferkeit gewählt haben, weil sie Personen repräsentieren, die aufgrund ihres Expertenwissens und ihres Amtes enormen Einfluss auf das Leben ihrer Zeitgenossen hatten und sich im Laches in der Tat so unwissend verhalten, wie es Sokrates in der Apologie (21b–22e) beschreibt. Laches und Nikias gelingt es nicht, ihre Gedanken über ein generelles, im Sinne der Wissenssuche philosophisches Thema auf ihr eigenes, lebensweltliches, praktisches Überlegen zu beziehen. So wird deutlich, dass das sokratisch verstandene philosophische Nachdenken in der Tat eine besondere kognitive Leistung, nämlich eine Sorge um die eigenen Gedanken ist, in der man die eigenen Meinungen ausdrücklich zum Thema macht.

5. Stimmenmehrheit oder Wissen? Wer ist sachverständig? 184c9–187d5 Lysimachos ist nun mit der Situation einander widerstreitender Expertenmeinungen konfrontiert. Nikias spricht sich für das Erlernen des Kampfsports aus, Laches dagegen. Lysimachos ist verständlicherweise ratlos und bittet Sokrates um das entscheidende Votum. Hätten Laches und Nikias übereinstimmende Ratschläge gegeben, bräuchte man wohl keinen Schiedsrichter, der das entscheidende Votum abgibt. So aber möchte Lysimachos wissen, wem Sokrates zustimmt (184c8–d4). Die-

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sen Wunsch kann Sokrates Lysimachos jedoch nicht erfüllen. Sokrates ist erstaunt darüber, dass Lysimachos sich in seiner eigenen Meinung und dem eigenen Handeln einer Mehrheitsentscheidung anschließen möchte (184d5–6) und weist darauf hin, dass eine gute Entscheidung nicht auf einer Stimmenmehrheit, sondern auf Wissen beruht (184e8–9). Mit dieser Empfehlung gibt er dem Gespräch eine erste methodisch bedeutsame Wendung. Wenn man selbst über das für eine gute Entscheidung erforderliche Wissen verfügt, ist man von den Meinungen anderer Menschen und oftmals zufälligen Mehrheitsverhältnissen unabhängig und braucht sich nicht auf tatsächliche oder angebliche Experten zu verlassen. Wissen kann man sich auch gemeinsam erarbeiten, denn durch das gemeinsame Nachdenken kann man sich mit denselben Gründen auf gemeinsame, gemeinsam begründete Meinungen einigen. Das eben ist das Ziel des sokratischen Fragens und Prüfens. Das Wissen, um das es Sokrates geht, wird allerdings erst etwas später klar. Zuerst gibt Sokrates ein einfaches Beispiel, das Lysimachos und Melesias davon überzeugen soll, dass man keinen Mehrheitsentscheid, sondern eben Wissen braucht, um eine gute Entscheidung zu treffen. Sokrates fragt Melesias, ob er sich dann, wenn er etwa erfahren möchte, ob die Ausübung einer bestimmten Sportart den Jugendlichen zu empfehlen sei, auf einen Sportlehrer oder auf die Mehrheitsmeinung sportlicher Laien verließe (184d8–e3). Melesias, der sich jetzt in das Gespräch einschaltet, antwortet zunächst, er verlasse sich in diesem Falle auf einen Sportlehrer (e4). Sokrates fragt nochmals nach, ob Melesias eher dem Rat eines Sportlehrers als dem Rat der anwesenden Gesprächspartner folgen würde (e5–6). Melesias antwortet jetzt interessanterweise: Vielleicht (e7). Die Unsicherheit, mit der Melesias die zweite Frage beantwortet, überrascht. Warum bejaht er nicht auch diese Frage ebenso wie die erste? Irgendetwas scheint Melesias an der Vorstellung, die zweite Frage ebenfalls einfach zu bejahen, nicht zu behagen. Was immer es ist – sollte Melesias hier deshalb zögern, weil er die Möglichkeit erwägt, dass auch ein Experte sich irren kann und es überdies in manchen Fragen gar nicht hilfreich ist, jemandem zu folgen, der ein Experte auf einem bestimmten Gebiet zu sein scheint, so hätte er, wie der weitere Gesprächsverlauf zeigen wird, in der Sache sehr recht. Denn in der Frage nach der Ausbildung einer guten seelischen Verfassung gibt es keine Experten, die es besser wüssten als andere. Mit den gegensätzlichen Expertenmeinungen, die Nikias und Laches äußern, inszeniert Platon eine Unsicherheit unter den Gesprächspartnern und lässt Sokrates in dieser Situation einen wichtigen eudämonistischen Grundsatz zur Sprache bringen, dessen Bedeutung über die spezielle Frage nach dem pädagogischen Sinn oder Unsinn des Waffen-

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kampfsports weit hinaus geht: Jede gute Entscheidung beruht auf Wissen (184e8–9). Sokrates fügt eine weitere Empfehlung hinzu: Wenn man selbst nicht über das Wissen über einen bestimmten Sachverhalt verfügt, sollte man demjenigen folgen, der das Wissen hat, das einem selbst nicht zur Verfügung steht (184e11–a3). An diesem Punkt weist Sokrates seine Gesprächspartner auch ausdrücklich darauf hin, dass die Frage, die sie hier diskutieren, keine Kleinigkeit, sondern von größter Bedeutung ist, denn die Erziehung der Jugendlichen nehme ja einen entscheidenden Einfluss auf die Lebensführung der gesamten Familie (a3–9). Mit diesem Hinweis möchte Sokrates offenbar zu verstehen geben, dass es in der Diskussion um die richtige Erziehung der Jugendlichen genau betrachtet um das grundlegende Thema eines gelingenden Lebens geht. Sokrates schlägt vor, es sei nun zu prüfen, ob es unter den anwesenden Gesprächspartnern jemanden gibt, der sachverständig ist, so dass man dessen Rat folgen solle. Sachverständig sei, so nimmt Sokrates an, jemand, der eine bestimmte Disziplin erlernt habe, erfolgreich ausübe und selbst von guten Lehrern ausgebildet worden ist (185b1–4). Sokrates geht hier zunächst probeweise davon aus, dass es sich bei dem Wissen, das man braucht, um gute Entscheidungen treffen zu können, um ein spezielles Expertenwissen handelt. Im selben Atemzug weist Sokrates darauf hin, dass man ebenfalls und vorher prüfen müsse, was es denn ist, wofür man sachverständige Lehrer sucht (185b6–7). Sokrates stellt zwei Fragen in den Raum: Ist einer der Gesprächspartner ein sachverständiger Experte? Und wofür, für welchen Sachverhalt müsste jemand überhaupt ein Experte sein? Die Verknüpfung dieser beiden Fragen ist raffiniert. Wenn es in der Erörterung der Frage nach der Erziehung der Jugendlichen nämlich, wie Sokrates nach einem methodologischen Umweg schließlich sagen wird, um das Gutsein, d. h. um eine insgesamt gute seelische Verfassung von Menschen geht, so lautet die erste Frage, ob einer der Gesprächspartner ein sachverständiger Experte für das Gutsein ist – und auf diese Frage wird Sokrates, nachdem er den Blick auf den Gegenstand der zweiten Frage gelenkt hat, in eigener Sache eine verneinende Antwort geben. Dass es Experten (und Lehrer) für spezielle wissenschaftliche und handwerkliche Disziplinen und auch für bestimmte Fertigkeiten gibt, ist völlig klar. Aber gibt es solche Experten für das Gutsein und das gelingende Leben? Wenn es sie gäbe, wäre es sinnvoll, sich im Kreise der anwesenden Gesprächspartner nach einem solchen Experten umzusehen, und sollte man fündig werden, wäre es wiederum sinnvoll, diesem Experten zu folgen – wenn man sich denn sicher sein kann, dass man in der Tat einen Experten gefunden hat, dem man mit guten Gründen vertrauen kann. Dass Sokrates hier zunächst

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nach Experten für das Gutsein fragt, ist aber zuerst gar nicht klar, jedenfalls ist es allen anderen Anwesenden im Laches nicht klar. Denn eine Antwort auf seine zweite Frage gibt Sokrates erst nach einem Umweg. Die Situation, in der sich die Gesprächspartner befinden, ist aus sozialepistemologischer Sicht höchst interessant: Zwei Personen, die von Laien mit den gleichen guten Gründen für Experten gehalten werden, vertreten gegensätzliche Meinungen über dieselbe Sache. Was ist jetzt zu tun? Wem sollen die Laien Glauben schenken? Mit anderen Worten: Wie kann jemand, der selbst kein Experte ist, zuverlässig erkennen, dass jemand anderes ein Experte ist? Und selbst dann, wenn ein Laie weiß, dass jemand ein Experte ist, wie kann er wissen, dass er der jeweils speziellen Auskunft des Experten trauen kann? Diese Frage weist erneut auf die Bedeutung der Aufrichtigkeit. Im Blick auf das Gutsein kommt, wie bereits gesagt, eine weitere grundsätzliche Frage hinzu: Gibt es überhaupt Experten für das Gutsein (und damit auch für die Erziehung der Jugendlichen, nach der Lysimachos fragt)? Die Verneinung dieser Frage, die jede weitere Unterredung über die Erziehung auf den ersten Blick zu vereiteln droht, könnte dem Gespräch über das Gutsein durchaus ganz neue Möglichkeiten eröffnen. Denn sie böte einen Ausweg aus dem Problem der gegensätzlichen Expertenmeinungen. Wenn es nämlich keine Experten und Lehrer für das Gutsein (und die darauf zielende Erziehung) gibt, dann braucht man sich in dieser Frage nicht darum zu sorgen, wie man erkennt, dass jemand ein Experte ist und auf welche Expertenauskunft man sich verlassen kann. Wenn es keine Experten für das Gutsein gibt, kann man sich auf sein eigenes Urteil verlassen. Dann ist es freilich umso wichtiger, zu prüfen und herauszufinden, was man selbst darüber weiß. Die sokratische Frage nach Wissen lenkt den Blick zum einen auf das selbstständige Nachdenken und zum anderen auch auf das eudämonistisch relevante Thema des gemeinsamen Gesprächs: eine insgesamt gute, glückszuträgliche seelische Verfassung. Mit der Frage danach, um welches Thema es eigentlich geht, gibt Sokrates dem Gespräch eine zweite, entscheidende Wendung. Für die ausdrückliche Thematisierung des Gutseins nimmt Sokrates sich aber erst noch etwas Zeit. Zunächst nimmt er einen Umweg; er möchte, wie gesagt, klären, ob jemand in der Frage nach geeigneten Unterrichtsgegenständen sachverständig ist und welcher Sachverhalt dieser Frage genau betrachtet zugrundeliegt: „Wir haben uns, wie mir scheint, zu Beginn gar nicht darauf geeinigt, was es eigentlich ist, worum es bei unserer Beratung und in unserer Untersuchung, wer von uns sachverständig ist und Lehrer hatte und wer nicht, eigentlich geht“ (185b9– c1). Um zu klären, worum es bei der gemeinsamen Beratung eigentlich

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geht, macht Sokrates zuerst auf den Unterschied zwischen Mittel und Zweck aufmerksam: „Wenn jemand etwas um einer bestimmten Sache willen untersucht, dann geht es in den entsprechenden Überlegungen um eben diese Sache, um derentwillen er seine Untersuchung aufnahm, nicht aber um das, wonach er ja nur um dieser anderen Sache willen suchte“ (185d5–7)? Das, was jemand „um einer bestimmten Sache willen untersucht“, ist ein bestimmtes Mittel und die andere Sache, „um derentwillen er seine Untersuchung aufnimmt“, ist der Zweck, dem ein Mittel dienen soll, nämlich die Verbesserung einer bestimmten Sache. Für die Unterscheidung zwischen Mittel und Zweck, die Sokrates im Blick hat, gibt er zwei Beispiele (185c5–d3): Wenn man wissen möchte, ob eine bestimmte Augensalbe hilfreich ist oder nicht, sollte man zuerst wissen, unter welchen Bedingungen die Augen gesund sind. Wenn jemand über geeignetes Zaumzeug nachdenkt, sollte er zuerst wissen, welche Art Zaumzeug für ein bestimmtes Pferd geeignet ist. Sokrates’ Überlegungen über den Sachverstand, den man braucht, um Ratschläge über eine gute Erziehung und Ausbildung der Jugendlichen geben zu können, lassen sich so zusammenfassen: Wenn jemand die Fähigkeit F hat, eine bestimmte Sache zu verbessern, dann ist er ein sachverständiger Berater in Fragen der Verbesserung dieser bestimmten Sache. Wenn jemand ein sachverständiger Berater ist, dann hat er die Fähigkeit F erlernt, erfolgreich ausgeübt und hatte gute Lehrer. In der Beratung über eine gute Erziehung und Ausbildung der Jugendlichen geht es um die Verbesserung der Seele der Jugendlichen. Daraus folgt: Wenn jemand die Fähigkeit hat, die Seelen der Jugendlichen zu verbessern, dann ist er in diesen Fragen ein sachverständiger Berater und hat die Fähigkeit der Verbesserung der jugendlichen Seelen erlernt, erfolgreich ausgeübt und hatte gute Lehrer. Interessanterweise erhebt Laches hier zunächst einen grundsätzlichen Einspruch gegen die Annahme, der zufolge man sachverständig nur dann sei, wenn man eine bestimmte Fähigkeit von Lehrern erlernt hat. Laches wendet ein, es gebe doch auch Menschen, die ohne Lehrer in bestimmten Dingen sachkundig geworden sind (185e7–8). So ist es wohl, im Falle erfolgreicher Autodidakten und immer dann, wenn man sich beim Erlernen einer Fähigkeit zwar von Lehrern leiten lassen, diese Fähigkeit aber genau betrachtet nur durch eigene Anstrengungen wirklich erlernen kann. Das trifft in ausgezeichneter Weise auf die Entwicklung der eigenen charakterlichen Verfassung zu. Sokrates antwortet auf Laches’ Einspruch mit dem folgendem Hinweis: Ob jemand ein guter Handwerker, d. h. ein Experte und Lehrer ist, erkennt man an den Werken, die jemand hervorbringt. Wenn jemand nicht wenigstens ein gutes Erzeugnis seiner Kunst, am besten mehrere

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vorzeigen könne, wäre Laches demjenigen wohl nicht zu vertrauen geneigt (185e9–12). Sokrates nennt hier eine wichtige notwendige Bedingung für Expertenwissen und damit auch ein entscheidendes und zuverlässiges Kriterium für das Erkennen von Experten und die Zuschreibung epistemischer Autorität im allgemeinen: Wenn jemand ein Experte ist, also sachverständig mit einer bestimmten Sache umzugehen versteht, dann kann er erfolgreiche Resultate seiner Fertigkeit vorlegen. Anhand dieser Resultate können die Laien erkennen, ob jemand ein sachverständiger Experte ist, denn die Laien, die ein bestimmtes Werk gebrauchen, entscheiden ja darüber, ob dieses Werk gelungen ist oder nicht.28 Sokrates lässt die Möglichkeit, etwas selbst gelernt zu haben, als eine alternative Art des Lernens zu und formuliert die anstehende Aufgabe noch einmal neu: Wenn jemand in der Beratung über die Erziehung der Jugendlichen sachverständig ist, dann kann er entweder auf anerkannte eigene Lehrer oder auf die Ergebnisse seiner Kunst, d. h. auf die Menschen hinweisen, deren seelische Verfassung er selbst anerkanntermaßen verbessert hat. Ist beides nicht der Fall, sollte man keinen Rat geben und den Freunden empfehlen, nach anderen Ratgebern zu suchen, um die Söhne der Freunde nicht etwa durch unüberlegte Ratschläge in Gefahr zu bringen (186a3–b8). Was in diesem unscheinbaren Hinweis sehr klar und deutlich wird, ist das in Platons Dialogen wichtige Problem vermeidbarer falscher Taten, die man aufgrund wiederum vermeidbarer Unwissenheit begeht. Wenn man weiß, dass man nicht weiß, wie man die seelische Verfassung von Menschen durch bestimmte pädagogische Mittel verbessert, sollte man keine Handlungen unternehmen und auch keine Ratschläge geben, von denen man eben wissen kann, dass sie möglicherweise zu einem schlechten Ergebnis führen. Sokrates selbst hatte keine Lehrer in der Lebensführung (186b8–c1). Von den Sophisten hat er sich zwar den Unterricht in dieser Sache erhofft, den sie ihm versprachen, verfügt leider jedoch nicht über die erforderlichen finanziellen Mittel, um sich diesen Unterricht leisten zu können (186c2–4). Aus eigener Kraft habe Sokrates die Kunst der richtigen Erziehung bis heute ebenfalls nicht erlernt (c5). Sokrates scheidet nach eigenem, bestbegründeten Zeugnis als Experte und Ratgeber aus (186d8–e3). Er hält es aber für möglich, dass Nikias oder Laches sachverständig sind, da sie ja immerhin ihre Meinungen über den Waffenkampfsport so entschieden geäußert haben (186c5–d3). Falls also Nikias

28

Zu den Grundzügen der sokratisch-platonischen Auffassung des Expertenwissens vgl. Hardy 2010b.

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oder Laches die Kunst der richtigen Erziehung von jemandem erlernt oder selbst erfolgreich ausgebildet haben, sollten sie zeigen, welche der beiden zuvor genannten Bedingungen für ihren Sachverstand erfüllt sind, also sagen, von welchem seinerseits sachverständigen Lehrer sie ausgebildet wurden oder zeigen, wen sie aus eigener Kraft gut ausgebildet haben (186e3–187a8). Bevor wir uns ansehen, wie Nikias und Laches auf Sokrates’ und Lysimachos’ gemeinsame Frage antworten, sollten wir zu klären versuchen, was Sokrates mit dem Hinweis darauf, dass die Sophisten ihm versprochen hätten, ihn in der Frage nach einer guten Lebensführung zu unterrichten, möglicherweise zu verstehen geben möchte. Immerhin sagt Sokrates im Laches ja ausdrücklich, die Sophisten seien die einzigen, die ihm versprochen hätten, ihm das Gutsein beizubringen. Da Sokrates hier jedoch nur kurz und summarisch von ‚den Sophisten‘ spricht, in anderen Dialogen aber ausführlich mit bestimmten Sophisten darüber spricht, ob es Lehrer für das Gutsein gibt, mag es hilfreich sein, einen Vorschlag zum Verständnis der Bemerkung zu machen, die Sokrates sich hier über ‚die Sophisten‘ erlaubt. Platon stellt die Sophisten, die er in seinen Dialogen auftreten lässt, so dar, dass sie den Anspruch erheben, anderen Menschen beizubringen, wie sie ihre eigenen privaten und öffentlichen Aufgaben erfolgreich bewältigen können, jedoch Argumente vorbringen, die Sokrates nicht Ernst nehmen kann. Es ist gut möglich, dass Platons Darstellung einigen historischen Sophisten, die Anstöße zu gesellschaftlichen Reformen gegeben haben mögen, nicht gerecht wird.29 Die sokratische Kritik an den Sophisten, die in Platons Dialogen auftreten, hat allerdings eine klare philosophische und eudämonistische Botschaft. Die Sophisten waren offenbar ein Wanderzirkus überbezahlter, philosophisch eher langweiliger Entertainer. Was die Sophisten vor allem durchgängig auszeichnet, ist ihr Preis. Sokrates fehlt das Geld, um bei ihnen in die Lehre zu gehen. Kallias, Sohn einer der reichsten Familien Athens, scheint nahezu sein gesamtes Vermögen für die Sophisten ausgegeben zu haben (Apologie 20a–c). Für ihren hohen Preis scheinen die Sophisten indessen nichts geboten zu haben, was für Sokrates philosophischen Wert hätte. Der Grund ist wohl die fehlende Wahrheitssuche der Sophisten. Die Logik der amüsanten sophistischen Argumente, die in Platons Dialogen präsentiert werden, ist gleichsam eine konsequente non-sequiturLogik. Die meisten Sophisten haben allerlei rhetorische Fähigkeiten gelehrt, mit denen man in privaten und öffentlichen Diskussionen seine Meinung durchsetzen kann, die aber keinen Beitrag zur Klärung eines 29

Vgl. dazu de Romilly 1998.

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philosophischen Themas leisten. Das liegt einfach daran, dass es den Sophisten nicht um die Erörterung sokratischer „Was-ist-F?“-Fragen und folglich nicht um den erfolgreichen Einsatz wahrheitssichernder und irrtumsvermeidender Methoden geht. Philosophisch unerfahrene und jüngere Zeitgenossen mögen sich, wie etwa der Euthydem zeigt, von sophistischen Argumenten beeindrucken (und entmutigen) lassen. Wer sich jedoch minimale Klarheit über den, modern formuliert, Kalkül des natürlichen Schließens verschafft hat, wird die offenkundigen Fehlschlüsse der sophistischen Argumente sogleich durchschauen. Philosophisch eher langweilig sind die sophistischen Darbietungen deshalb, weil es den Sophisten (jedenfalls in Platons Dialogen) nicht vorrangig um die Wahrheit geht und die ernsthafte Prüfung sophistischer Thesen deshalb von vorneherein logisch und eudämonistisch aussichtslos ist. Die Grundidee der philosophischen (und auch jeder anderen) Rechtfertigung von Thesen ist bekanntlich der Wahrheitstransfer. In einem logisch gültigen Argument überträgt sich (aufgrund der logischen Form des Arguments) die Wahrheit von Prämissen auf die Konklusion. Wer ein Argument vorträgt, dessen Konklusion er für wahr hält, der hält (vorbehaltlich weiterer Prüfungen) auch die entsprechenden Annahmen (Prämissen) für wahr. Nun kann man freilich, wie es Sokrates tut, mit Annahmen auch spielen, indem man sie als Hypothesen behandelt und zeigen möchte, was aus bestimmten Annahmen folgt oder auch zeigen möchte, dass sich die Wahrheit einer Annahme mit menschenmöglichen Mitteln niemals beweisen (und sich der hypothetische Status einer Annahme niemals beseitigen) lässt. Wenn man jedoch von vorneherein überhaupt nicht daran interessiert ist, ob eine bestimmte Annahme wahr oder falsch ist, kann man seine eigenen Thesen nicht mit Hilfe logisch gültiger Argumente begründen und die Thesen anderer Menschen nicht mit guten Gründen kritisieren. Die sophistische Diskusssionspraxis ist im präzisen Sinne wahrheitsindifferent, und Protagoras scheint für diese Praxis sogar eine aberwitzige, aber, wie Platons Theaitet zeigt, strategisch durchaus ernst gemeinte quasi-theoretische Grundlage erfunden zu haben, nämlich die (als Homo-Mensura-Doktrin bekannte) Auffassung, jede Meinung sei wahr. Welche Konsequenzen diese Auffassung hat, wird im Theaitet vollkommen klar: Wenn jede Meinung wahr ist, ergibt das Argumentieren, Prüfen und Widerlegen nicht den geringsten Sinn (Theaitet 161e4–8).30 Die wahrheitsindifferente Auffassung hat

30 Zu Platons Auseinandersetzung mit der Protagoreischen These über die Wahrheit aller Meinungen vgl. Hardy 2006. Zur Methode der Konstruktion einander entgegengesetzter Argumente bei Protagoras und Gorgias vgl. die instruktiven Überlegungen von Striker 1996.

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bzw. hätte – wenn denn je irgend ein Mensch ernsthaft glaubte, dass jede Meinung eines jeden Menschen wahr ist – freilich eine wichtige eudämonistische Konsequenz für jede Person: Mit dem Verzicht auf Wahrheit ginge ja die Aufgabe der epistemischen Urheberschaft einher; wenn wir wirklich darauf verzichteten, unsere Meinungen zu rechtfertigen und zu begründen, verlören wir die Kontrolle über unsere eigene Meinungsbildung. Wir wären (freiwillig) nicht mehr Herr im eigenen kognitiven Haus und unsere eigenen Meinungen wären glückliche oder unglückliche Zufälle, die uns ebenso zustießen wie Regen oder Sonnenschein. Das wäre ein weiterer hoher Preis, den man für den sophistischen Unterricht zu zahlen hätte. Der Verlust der eigenen epistemischen Autonomie ist gewiss für niemanden wünschenswert. Die generelle wahrheitsindifferente These, die Protagoras vertritt und die Sophistik bei Platon insgesamt kennzeichnet, dürfte deshalb wohl nicht ernst gemeint sein, sondern Element eines Spiels, in dem es – ‚from a logical point of view‘ – nur Verlierer gibt. Aber wer möchte solche Spielchen ernsthaft spielen, wenn es um das gelingende Leben geht? Wir können ja nur auf der Grundlage von Wissen oder jedenfalls wahrer Meinungen erfolgreich oder jedenfalls erfolgversprechend handeln. Deshalb ist die Suche nach Wissen und wahren Meinungen Element eines gelingenden Lebens und insofern ein allgemeines, vorrangiges Handlungsziel. Wenn man sich von den Sophisten, die Sokrates kennengelernt hat, keinen ernsthaften Rat über die Ausbildung einer guten seelischen Verfassung erwarten darf, weshalb macht Sokrates hier dann diesen Seitenhieb? Offenbar möchte Sokrates darauf hinweisen, dass man eine gute seelische Verfassung nur selbst, aus eigener Kraft entwickeln und von niemandem erlernen kann. Auch diese Tatsache muss indes jeder für sich selbst, durch das eigene Nachdenken entdecken. Auch Nikias und Laches können die Vergeblichkeit der Suche nach Experten und Lehrern für das gelingende Leben erst dann erkennen, wenn sie auf Sokrates’ Frage antworten und eben darüber Rechenschaft geben, ob sie in dieser Sache gute Lehrer hatten oder gar selbst gute Lehrer gewesen sind. Die gemeinsame Beweisaufgabe übergibt Sokrates, wie gesagt, nun an Nikias, Laches und Lysimachos, der ja, solange es um die von ihm gestellte Frage geht, die Rolle des Fragenden zu spielen hat: Lysimachos möge Nikias und Laches fragen, ob sie die Fähigkeit zur richtigen Erziehung der Jugendlichen von einem guten Lehrer erworben oder selbst entwickelt und im Umgang mit anderen Menschen erfolgreich angewendet haben (186d5–187b7). Wenn Nikias und Laches diese Fragen beantworten könnten, wären sie sich über ihre eigene epistemische Situation, d. h. über das, was sie wissen und nicht wissen, im Klaren. In epistemo-

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logischer Hinsicht stellen Sokrates und Lysimachos ihren Gesprächspartnern deshalb folgende grundsätzliche Frage: Was wissen Nikias und Laches über ihr eigenes (mögliches) Wissen und über ihre eigenen Fähigkeiten? Mit anderen Worten: Was wissen sie über ihre eigene epistemische Situation? Nicht allzu viel, wie es aussieht. Dennoch wird in Nikias’ und Laches’ Antworten auf Lysimachos’ und Sokrates’ Frage deutlich, was sokratische Rechenschaftgabe bedeutet. Und das ist wiederum recht viel.

6. Die Rechenschaftgabe und die sokratische Frage, 187d6–190d1 In Sokrates’ Namen fragt Lysimachos Nikias und Laches, wie gesagt, danach, ob sie über das von Sokrates genannte Thema, das Wissen über die Erziehung und Ausbildung der Jugendlichen, Rechenschaft geben möchten. Nikias antwortet zuerst (187e6–188c2): „Du scheinst mir nicht zu wissen, dass jeder, der sich in Sokrates’ nächster Nähe befindet und mit ihm ins Gespräch kommt, zwangsläufig, mag er vorher auch die Diskussion über ein anderes Thema beginnen, unaufhörlich von diesem in der Rede herumgeführt wird, bis er dahin kommt, über sich selbst Rechenschaft zu geben, auf welche Weise er jetzt lebt und auf welche er sein bisheriges Leben verbracht hat, und dass Sokrates ihn, wenn er dahin kommt, dann nicht eher gehen lässt, bis er all dies gut und sorgfältig geprüft hat. Ich selbst bin mit ihm vertraut und weiß, dass einem dies unausweichlich durch ihn widerfährt, und ich weiß auch, dass es mir selbst ebenso ergehen wird. Denn ich verkehre gern mit diesem Mann und glaube, dass es nichts Schlechtes ist, daran erinnert zu werden, dass wir nicht richtig gehandelt haben oder handeln, sondern dass derjenige notwendigerweise mehr Vorbedacht auf sein weiteres Leben verwenden wird, der dies nicht zu vermeiden sucht, sondern – nach Solons Diktum –, bereit und willens ist, zu lernen, solange er lebt, und nicht etwa meint, das Alter werde ihm den Verstand schon bringen. Für mich ist es also weder ungewohnt noch unangenehm, von Sokrates geprüft zu werden, sondern ich wusste schon lange ziemlich genau, dass, wenn Sokrates dabei ist, unser Gespräch nicht von den jungen Leuten handeln würde, sondern von uns selbst. Was mich betrifft, so steht dem, wie gesagt, nichts im Wege, die Erörterung mit Sokrates so zu führen, wie er es möchte.“

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Nikias berichtet, dass ein Gespräch mit Sokrates, (i) unabhängig von dem Gesprächsanlass („mag er vorher auch die Diskussion über ein anderes Thema beginnen“) darauf hinausläuft, dass der Gesprächspartner über die eigene Lebensführung Rechenschaft gibt („darüber, auf welche Weise er jetzt lebt und auf welche er sein bisheriges Leben verbracht hat“), (ii) Sokrates mehrfach und wohl unter verschiedenen Gesichtspunkten auf dieses Thema zurückkommt (und der Gesprächspartner in diesem Sinne „unaufhörlich in der Rede herumgeführt wird“) und (iii) das Gespräch erst dann beendet, wenn sein Gesprächspartner jeden Aspekt seiner Lebensführung „gut und sorgfältig geprüft hat“. Selbstverständlich kann niemand in einem einzelnen Gespräch buchstäblich über seine gesamte Lebensführung Rechenschaft geben. Dass ein jedes Gespräch mit Sokrates gleichwohl in irgend einer Weise darauf hinausläuft, über das eigene Leben nachzudenken, ist wohl so zu verstehen, dass die Themen einer sokratischen Untersuchung in jedem Falle für die Lebensführung seiner Gesprächspartner wichtig sind, und Sokrates seine Gesprächspartner – im Sinne der Apologie (29d7–30a7) – dazu ermutigt und provoziert, ihre Meinungen und Wissensansprüche zu verteidigen. Wer etwas zu wissen beansprucht oder auch den Anspruch erhebt, in einem bestimmten Bereich sachkundig zu sein, möchte seine Wissensansprüche verteidigen und seinen Sachverstand zeigen (vgl. Theaitet 169a–c). Und Sokrates’ Gesprächspartner haben freilich auch den Anspruch, ihre Fähigkeiten erfolgreich ausüben und ihre selbst gesteckten Lebensziele erreichen zu können. Sokrates wendet sich, wie bereits gesagt, an das Selbstverständnis seiner Gesprächspartner als rationaler, gedanklich selbstbestimmter Personen. Deshalb kann die Rechenschaftgabe mit jedem beliebigen Gesprächsanlass beginnen, und deshalb führt sie in jedem Falle zur Prüfung der Lebensweise der Gesprächspartner. Im Laches ist sogar die Darbietung eines professionellen, aber wohl nicht ganz ernst zu nehmenden Waffenkampfsportlers ein geeigneter Anlass für die sokratische Rechenschaftgabe. In Nikias’ Darstellung vermisst man allerdings einen Hinweis auf die große Bedeutung der Einsicht in das eigene Nichtwissen und die befreiende Erfahrung, einen Irrtum eingesehen und überwunden zu haben, die wiederum für Sokrates höchst wünschenswert ist (Gorgias 458a–b, Sophistes 230c–e). Nikias weiß jedoch, dass Sokrates seinen Gesprächspartnern klar macht, dass sie zuweilen nicht richtig handeln. Die Einsicht in tatsächliche und mögliche, zukünftige falsche Handlungen ist für Nikias das entscheidende Ergebnis der sokratischen Rechenschaftgabe. Obwohl Nikias mit sokratischen Gesprächen vertraut sein will, äußert er sich nicht dazu, dass die beiden Experten Nikias und Laches, denen

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Sokrates eine sachverständige Meinung zutraut, gegensätzliche Meinungen über dieselbe Sache, nämlich den möglichen pädagogischen Sinn des Waffenkampfsports haben. Vor allem aber antwortet Nikias gar nicht auf Sokrates’ Frage. Er sagt nicht, ob er gute Lehrer hatte oder ob er selbst andere Menschen gut erzogen und ausgebildet hat oder keines von beidem der Fall ist. Nikias scheint auch nicht zu wissen, dass jedes sokratische Gespräch dann, wenn es darum geht, „über sich selbst Rechenschaft zu geben“, mit der Identifikation eines eudämonistisch relevanten Sachverhalts, d. h. des Gegenstands einer sokratischen „Wasist-F“-Frage und einer – sei es auch zunächst einmal hypothetischen – Antwort auf die Frage danach, was etwas ist, erst wirklich beginnt. Zuvor hatte Sokrates ja ausdrücklich gesagt, man habe sich noch „gar nicht darauf geeinigt, was es eigentlich ist, worum es bei unserer Beratung und in unserer Untersuchung, wer von uns sachverständig ist und Lehrer hatte und wer nicht, eigentlich geht“ (185b10–c1). Nikias glaubt an genau dieser Stelle weiterhin, es gehe „um den Kampfsport, also darum, ob die jungen Leute dies lernen sollen“. Das wirft einen Schatten auf seine Vertrautheit mit Sokrates. Wäre Nikias auch mit der Methode sokratischer Gespräche wirklich gut vertraut, so hätte er Sokrates’ Hinweis an Ort und Stelle richtig verstanden: Er hätte gewusst, dass man zunächst den hier eudämonistisch relevanten Sachverhalt und damit den Gegenstand einer Was-ist-F?-Frage zu identifizieren hat, um sich nach der Erörterung einer solchen Frage allererst über mögliche pädagogisch wertvolle Betätigungen sinnvoll beraten zu können, und er hätte Lysimachos’ und Sokrates’ gemeinsame Frage so beantwortet, dass man auch die Frage nach eigenen Lehrern oder eigenen Erziehungserfolgen erst dann erörtern kann, wenn man sich darüber Klarheit verschafft, was eine gute seelische Verfassung ist. Mit der Verfahrensweise der Erörterung sokratischer Fragen ist Nikias offenbar nicht gut vertraut. Immerhin gibt er im weiteren Gesprächsverlauf aber klare Antworten auf Sokrates’ Fragen (196c10–d11, 197e10– 199e10) erkennt die Folgerungen, die sich aus seinen Antworten ergeben und ist vor allem auch aufrichtig genug, das negative Ergebnis der Prüfung seiner Vorschläge anzuerkennen (199e12), versucht nicht, sich der gemeinsamen kognitiven Verantwortung zu entziehen und empfiehlt Lysimachos am Ende des Dialoges, die Gespräche mit Sokrates so fortzusetzen (200a4–d4), wie er es hier zuvor als das Ergebnis eines jeden Gesprächs mit Sokrates beschreibt. Es ist gerade seine Aufrichtigkeit, die Nikias in Platons Darstellung zu einem unzweifelhaften Zeugen der Person des Sokrates und vor allem der Zielsetzung und eudämonistischen Bedeutung der sokratisch intendierten Rechenschaftgabe macht. Wenn Nikias hier keine Antwort auf Sokrates und Lysimachos’ Frage

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gibt, so fehlt ihm vielleicht auch der Mut zur eigenen Courage, den man am Beginn eines sokratischen Gesprächs eben auch braucht (vgl. z. B. Theaitet 146d). Nikias scheint, wie gesagt, mit dem generellen Thema und Ziel, aber nicht mit der Methode der sokratischen Rechenschaftgabe vertraut zu sein. Um Laches steht es nicht anders. Laches inszeniert ebenfalls seine Vertrautheit mit Sokrates und möchte Nikias in dieser Hinsicht ebenbürtig sein. Für Laches ist die Sache ganz einfach. Er nennt sich einen Freund der guten Reden und beginnt seine Darstellung mit einem kleinen Wortspiel: Nicht einfach, sondern zweifach sei seine Einstellung zu Rede und Rechenschaftgabe. Wenn Laches jemanden, „der wahrhaft ein Mann und der Worte würdig“, also in jedem Fall als Person glaubwürdig und aufrichtig ist, die Tugend oder Klugheit loben hört, so freut er sich darüber, dass Person und Gegenstand der Rede im Einklang stehen und erscheint als ein Freund der Argumente. Wenn jemand hingegen so redet, dass Person und Gegenstand der Rede nicht harmonieren, ist er verärgert und erscheint als ein Feind der Argumente (188c3–e4). Auch Laches geht es um Aufrichtigkeit. Die Harmonie, die Laches meint, ist offenbar so zu verstehen, dass die Auskünfte, die jemand über das Gutsein und die Klugkeit gibt, wahr sind und derjenige, der sie gibt, nicht nur wirklich meint, was er sagt, sondern auch selbst aufrichtig und klug ist. Laches charakterisiert die Aufrichtigkeit mit einer musikalischen Metaphorik, die auch sonst oft bei Platon gebraucht wird, übrigens auch zur Kennzeichnung logischer Gültigkeit (z. B. Phaidon 92d). Interessanterweise spricht Laches von zwei verschiedenen Einstellungen zu Reden und zum Austausch von Argumenten, die aus den Erfahrungen erwachsen können, die man mit Reden und Argumenten macht. Wenn jemand unaufrichtig ist, reagiert Laches verärgert, so dass man glauben mag, dass er ein Feind des Redens, ein ‚Misologe‘ ist (188e4). In einem vergleichbaren Sinne spricht Sokrates im Phaidon von einer verdrießlichfeindseligen, ‚misologischen‘ Einstellung zum Argumentieren (89d1– 90d7): „Wir sollten nicht … zu Feinden von Argumenten werden, auf die Art, wie andere zu Menschenfeinden werden. Kann es doch kein größeres Übel für jemanden geben …, als wenn er zum Feind von Argumenten wird. Zur Feindschaft gegenüber den Argumenten kommt es aber auf ganz dieselbe Weise wie zur Misanthropie … Die Ähnlichkeit liegt in (diesem) Punkt: Wenn jemand sich ohne das Fachwissen, das man braucht, um mit Argumenten umzugehen, auf die Wahrheit eines Argumentes verlässt, das ihm wenig später falsch vorkommt, und das einmal zu Recht, ein anderes Mal zu Unrecht, und wenn ihm

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das wieder und wieder passiert … Wäre es nicht ein Jammer …, wenn es tatsächlich ein wahreres und sicheres Argument gäbe, das auch unserem Begreifen zugänglich ist (und im Phaidon die Möglichkeit der Unsterblichkeit der menschlichen Seelen bewiese, JH), und wenn dann trotzdem jemand, weil er mit solchen Argumenten zu tun hatte, die einmal wahr, dann wieder nicht wahr zu sein scheinen, keineswegs sich selbst und seiner eigenen Unkenntnis die Schuld gäbe, sondern sich schließlich … dadurch Erleichterung verschaffen würde, dass er die Schuld von sich weg auf die Argumente schiebt? Er würde dann für den Rest seines Lebens die Argumente hassen … und wäre von der Realität der Dinge und von ihrer Erkenntnis ausgeschlossen.“ (Übersetzung: Ebert 2004). Sokrates wird niemals müde, seine Gesprächspartner zur Rechenschaftgabe zu ermutigen – diesen Rat gibt Sokrates besten Wissens stets gerne, und er wird auch Laches ermuntern, die gemeinsame Wissenssuche mutig fortzusetzen (193e8–194a5). Mit der Gesprächsweise des Sokrates ist Laches nach eigenem Bekunden bisher nicht vertraut, umso mehr aber mit dessen mutigen, lobenswerten Taten. Eingangs hatte Laches ja davon berichtet, dass er mit Sokrates in der Schlacht am Delion gekämpft und dort Sokrates’ vorbildliche Tapferkeit erlebt hat. Laches verknüpft seine Erwartung an ein philosophisches Gespräch mit Sokrates mit der außerordentlichen Wertschätzung, die er Sokrates aufgrund gemeinsamer Erfahrungen entgegenbringt. Er ist davon überzeugt, dass Sokrates auch in seinen Worten tapfer und aufrichtig ist. Laches ist gerne bereit, zu lernen und sich von Sokrates prüfen zu lassen, und er gibt zu bedenken, dass auch der Lehrer gut und tüchtig sein müsse (188e5–189a4). Eines scheint Laches jedoch nicht zu bedenken; er scheint nicht auf den Gedanken zu kommen, dass sich das, worum es Sokrates geht, das Wissen über das gelingende Leben, von keinem Lehrer je vermitteln lässt. Platon zeichnet ein vielfarbiges Bild der beiden Vertrauten des Sokrates. Einerseits treten sie bescheiden hinter Sokrates zurück, andererseits möchten sie sich auch selbst, durchaus unbescheiden, in ein gutes Licht rücken; ihre Gesprächsbereitschaft betonen sie nicht weniger als ihre Vertrautheit mit Sokrates. Nikias und Laches sind es gewohnt, selbstbewusst und bestimmt aufzutreten; sie loben Sokrates in den höchsten Tönen und möchten offenbar auch selbst ein wenig an der Anerkennung teilhaben, die sie und die anderen Anwesenden Sokrates entgegen bringen. Nikias und Laches erheischen Anerkennung, sind zugleich aufrichtig an einer Diskussion mit Sokrates interessiert, aber unerfahren im philosophischen Nachdenken. Beide reden an Sokrates’ und Lysimachos’

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gemeinsamer Frage vorbei: sie nennen weder eigene Lehrer noch eigene Erziehungserfolge – wonach sie ausdrücklich gefragt wurden – und sie erkennen vor allem nicht, dass diese Frage selbst an der philosophischen Sache vorbei geht. Nikias’ Bericht zeigt auf interessante Weise, dass jemand mit den Gesprächen mit Sokrates, vor allem mit ihrem Ziel und ihrer lebenspraktischen Bedeutung wohlwollend vertraut sein kann, ohne die Vorgehensweise der sokratisch verstandenen Rechenschaftgabe genau zu verstehen. Was Nikias sagt, zeigt, mit anderen Worten, den Unterschied zwischen einer Vertrautheit mit einer Sache und einem wirklichen Verstehen. Die beiden Selbstportraits lassen auch eine interessante ambivalente kognitive Situation erkennen. Einerseits verstehen Nikias und Laches nicht, worum es Sokrates geht und wissen nicht, dass sie mit ihren Ratschlägen über Sinn oder Unsinn des Erlernens des Waffenkampfsports genau betrachtet Meinungen darüber äußern, was das Gutsein, d. h. eine glückszuträgliche seelische Verfassung ist. Andererseits sind sie aber doch Suchende und Fragende, die wissen, dass sie vieles Wichtige nicht wissen, aber wissen möchten und lassen sich deshalb gerne auf eine Diskussion mit Sokrates ein. Beide wissen, ungeachtet der verzeihlich selbstverliebten Elemente ihrer Reden, die gemeinsame Rechenschaftgabe zu schätzen; sie glauben, wie sie bereits zu Beginn des Gesprächs gesagt haben, nicht zu wissen, wie man die Jugendlichen gut erzieht und ausbildet, und bewegen sich in dieser Hinsicht auf der Ebene der Wissenssuche. Laches und Nikias werden denn auch aufrichtig auf Sokrates’ Fragen antworten und kein Wissen vorgaukeln, das sie tatsächlich nicht haben. Nur wissen sie noch nicht, dass sich hinter der Frage nach der Erziehung der Jugendlichen die grundsätzliche Frage danach verbirgt, was eine gute, glückszuträgliche seelische Verfassung ist. In dem Gespräch, das der Erörterung der sokratischen Frage danach, was das Gutsein (und speziell die Tapferkeit) ist, vorausgeht, wird auch deutlich, dass es Gesprächspartnern wie Laches und Nikias einige Schwierigkeiten bereitet, aus ihrer lebensweltlichen, vertrauten Einstellung herauszutreten und eine philosophische Einstellung einzunehmen, in der man die eudämonistisch relevanten Themen und Fragen erkennt, die sich hinter den Themen verbergen, über die man in einer lebensweltlichen Einstellung spricht. Eine sokratische Untersuchung beginnt mit einer „Was ist F?“-Frage. Diejenige des Laches lautet: Was ist Tapferkeit? Bevor Sokrates aber diese Frage stellt, setzt er den zuvor eingeschlagenen Umweg noch ein wenig fort; das Ziel seines Umwegs ist die gemeinsame Einsicht darin, dass man eben diese Frage zu stellen hat, um zu erkennen, „worum es bei unserer Beratung und in unserer Untersuchung, wer von uns sach-

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verständig ist und Lehrer hatte und wer nicht, eigentlich geht“ (185b9– c1). Für ihre Gesprächsbereitschaft ernten Nikias und Laches Sokrates’ Lob (189c1–2). Lysimachos wächst die Sache allerdings schon jetzt über den Kopf. Kurzerhand erklärt er Sokrates zum Prokuristen seines eigenen Anliegens; Sokrates möge die erforderlichen Fragen stellen und seine eigene Auffassung darlegen (187c3–d3). Nach den ungeschriebenen Gesetzen der Anerkennung und Höflichkeit ist Sokrates in der Tat erst jetzt autorisiert, das Gespräch auf seine eigene Weise zu führen. Von Lysimachos zur Gesprächsleitung ermächtigt, meint Sokrates, es sei sicher gut, zu prüfen, ob jemand pädagogisch sachverständig sei, selbst gute Lehrer hatte oder eigene Erziehungserfolge vorweisen könne, schlägt jetzt aber eine Untersuchung anderer Art vor, die zu demselben Ergebnis führe. Sokrates möchte die wirklich entscheidende Sache nun von Grund auf untersuchen (189d5–e3). Diese andere Art der Untersuchung wird die Erörterung der Frage danach sein, was das Gutsein ist, und Sokrates möchte diese Frage zunächst im Blick auf die Tapferkeit als eines Aspekt des Gutseins gemeinsam mit seinen Gesprächspartnern beantworten. Die zuvor von Sokrates und Lysimachos in den Raum gestellte Frage nach den pädagogisch Sachverständigen gerät in der weiteren Unterredung in Vergessenheit und taucht erst ganz am Ende des Dialoges, nicht ohne sokratische Ironie, wieder auf. Das hat einen guten Grund: Die Frage nach Experten für die Erziehung der Jugendlichen zielt offenbar ins Leere, denn die gesuchten Experten wären ja zugleich Experten und Lehrer für ein gelingendes Leben und solche Experten gibt es nicht. Jedenfalls ist Sokrates nach eigenem Bekunden kein solcher Experte und seine Gesprächspartner Laches und Nikias haben auch keine solchen Experten genannt. Dennoch erfüllt die Frage nach Experten für eine gute Lebensführung in Platons Dialogregie einen ihrerseits didaktischen Zweck. Sokrates kann von dieser Frage aus mit guten Gründen zu einer anderen, wirklich zielführenden Frage überleiten, nämlich zu der Frage danach, was eine gute seelische Verfassung ist. Auf dem Weg zu einer neuen, grundlegenden Untersuchung einigt Sokrates sich mit Laches zuerst auf die folgende Annahme: Wenn man weiß, wie man ein bestimmtes Mittel einzusetzen hat, um eine Sache in einen guten resp. besseren Zustand zu versetzen und auch in der Lage ist, diese Verbesserung herbeizuführen und deshalb entsprechende Ratschläge geben kann, dann kennt man eben diese Sache (189e3–7). Was es genau heißt, eine Sache in dem Sinne zu kennen, dass man weiß, wie man sie durch den Einsatz bestimmter Mittel in einen guten resp. besseren Zustand bringt, bedarf freilich der Präzisierung, die sich teils aus

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dem weiteren Gesprächsverlauf ergibt, teils aus dem Beispiel, das Sokrates gibt. Wenn man weiß, dass die Verfassung der Augen dadurch verbessert wird, dass sie eine stärkere Sehkraft bekommen, und auch in der Lage ist, die Sehkraft der Augen durch den Einsatz bestimmter Mittel zu verbessern, dann weiß man, was Sehkraft und Sehvermögen sind (190a1–b1). Das Beispiel hatte Sokrates zuvor schon genannt und darauf hingewiesen, dass jemand, der über die Eignung einer Augensalbe nachdenkt, vorrangig nicht etwa die Salbe, als ein bestimmtes Mittel, sondern den Zweck im Blick hat, dem der Einsatz eines Mittels dienen soll, nämlich die Beschaffenheit der Augen, die man verbessern will. Sokrates begründet seine These so (190a6–b1): „Denn wenn wir nicht einmal dies wüssten, was Sehvermögen oder etwa auch Hörvermögen sind, dürften wir als Ratgeber und Ärzte für die Augen oder etwa auch für die Ohren, (im Hinblick darauf,) wie man Hörkraft oder Sehkraft wohl am besten erlangen dürfte, kaum der Rede wert sein.“ In 190a1–b1 behauptet Sokrates eine These, die wir als Wissensvoraussetzung bezeichnen und so darstellen können: Wissensvoraussetzung: Wenn man weiß, wie man auf eine bestimmte Sache F einen guten Einfluss nimmt, dann weiß man, welche Eigenschaften F haben muss, um als diese Sache fortzubestehen und weiß auch, dass man dann, wenn man F in eine gute bzw. bessere Verfassung versetzen möchte, auf diese Sache F jedenfalls keinen Einfluss nehmen darf, der ihr Fortbestehen gefährdet. Die Wissensvoraussetzung gilt Sokrates zufolge nun auch für die Beratung über eine gute Erziehung der Jugendlichen: „Bitten uns, Laches, nun nicht auch jetzt diese beiden hier um Rat, wie wohl die Tugend ihre Söhne, wenn sie ihren Seelen hinzukommt, besser machen dürfte? – Allerdings. – Muss uns dann nicht wenigstens dies zu Gebote stehen: das Wissen, was denn eigentlich das Gutsein (die Tugend) ist. Denn wenn wir, denke ich, ganz und gar nicht wüssten, was denn eigentlich das Gutsein ist, wie könnten wir dann jemandem raten, wie man es am besten erwerben kann? – Überhaupt nicht, wie mir scheint, Sokrates“ (190b3–c3). Sokrates spricht hier weiterhin in der Rolle eines potentiellen Ratgebers. Mit der Wissensvoraussetzung wird eine stillschweigende Annahme expliziert, der man zustimmt, wenn man über bestimmte Betätigungen nachdenkt, die dazu dienen sollen, jemanden in eine gute seelische Verfassung zu bringen. Wenn jemand zu wissen glaubt, wie man sich selbst oder andere in eine gute seelische Verfassung bringt, dann hat er auch eine Vorstellung davon, was eine gute seelische Verfassung ist. Anderenfalls wären seine entsprechenden Hand-

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lungen und Ratschläge ziellos. Allerdings ist es durchaus möglich, eine bestimmte Meinung über eine gelingende Lebensweise und eine gute seelische Verfassung zu haben, ohne irgendjemandem Ratschläge über spezielle pädagogisch sinnvolle Bestätigungen zu erteilen. Sokrates hat ja eine klare Auffassung über das gelingende Leben, nämlich diejenige, dass nur ein prüfendes, um Wissen bemühtes Leben gelingen kann (Apologie 38a), gibt aber gerade keine speziellen Ratschläge über die Erziehung der Jugendlichen und nimmt auch nicht in Anspruch, je jemandes Lehrer gewesen zu sein (Apologie 33a). Mit der Einsicht in die Wissensvoraussetzung ist eine Handlungsempfehlung verbunden: Wenn man wirklich weiß, dass man Wissen braucht, um gute Ratschläge über die Verbesserung einer Sache zu geben, wird man sich mit Ratschlägen zurückhalten und seine Meinungen zunächst einmal sorgfältig prüfen. Wenn man im Sinne der Wissensvoraussetzung weiß, wie man auf eine Sache einen guten Einfluss nimmt, dann weiß man, was diese Sache ist. Sokrates fügt eine weitere Annahme hinzu, die dann zu der philosophischen Untersuchung des Laches überleiten wird: Wenn man weiß, was etwas ist, kann man auch sagen, was es ist (190c6). Wenn man in dem von Sokrates intendierten Sinne sagen kann, was das Gutsein ist, kann man eine Definition der folgenden Form geben: In einer guten seelischen Verfassung befindet sich eine Person genau dann, wenn sie die (endlich vielen) guten Eigenschaften {E1, …, En} hat. Dass Sokrates eine solche Definition im Blick hat, wird allerdings erst ein wenig später klar, wenn Sokrates die Antworten kritisiert, die Laches auf die Frage danach, was Tapferkeit ist, gibt. Mit dem Hinweis auf die Wissensvoraussetzung gelangt Sokrates an das Ziel seines Umwegs und die gemeinsame Unterredung kann jetzt einen neuen, philosophisch zielführenden Anfang nehmen. Sokrates nimmt probeweise an, die Gesprächspartner wüssten, was eine insgesamt gute seelische Verfassung ist und könnten deshalb auch sagen, was sie ist: „Wir behaupten also zu wissen, was sie (sc. die gute seelische Verfassung) ist. – Allerdings behaupten wir das. – Und von dem, was wir kennen, sollten wir doch wohl auch sagen können, was es ist? – Weshalb denn auch nicht?“ (190c4–7). Über die Größe der Aufgabe, die Sokrates sich und seinem Gesprächspartner stellt, ist er sich im klaren und schlägt vor, man solle nicht gleich das gesamte Gutsein, sondern zunächst einmal einen Teil einer insgesamt guten seelischen Verfassung erforschen, und zwar die Tapferkeit (190c8–d1). Die Frage, die Sokrates mit Laches erörtern möchte, lautet also: „Was ist Tapferkeit?“ Die Tapferkeit sucht Sokrates sich deshalb aus, weil diese besondere Tugend den Waffenkampfsport betrifft, über den man

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zuvor gesprochen hatte; falls man durch das Erlernen dieses Sports irgendeinen Aspekt einer guten seelischen Verfassung gut ausbilden kann, so wäre es wohl die Tapferkeit (190d3–6). Sokrates möchte zuerst untersuchen, was die Tapferkeit ist (190d7–8), um danach auch prüfen zu können, wie die Jugendlichen tapfer werden können, falls man diese Charaktereigenschaft durch Übung und Unterricht ausbilden kann (190d8–e2).31 So stellt Sokrates seinen Gesprächspartnern zwar auch eine Antwort auf die spezielle Frage nach der richtigen Erziehung der Jugendlichen in Aussicht, doch zu einer Erörterung dieser Frage kommt es im Laches nicht mehr. Die Untersuchung der Tapferkeit ist, wie gesagt, von der Annahme geleitet, die Tapferkeit sei ein Aspekt (Teil) des Gutseins (190c8–d6). Das heißt, mit anderen Worten: Wenn eine Person sich in einer guten seelischen Verfassung befindet, dann ist sie auch tapfer. Die Annahme, Tapferkeit sei ein Aspekt einer insgesamt guten seelischen Verfassung ist offenkundig überaus plausibel und kommt zunächst recht harmlos daher. Am Ende der dialektischen Erörterungen, die Sokrates erst mit Laches und dann mit Nikias unternimmt, wird sie aber eine an Ort und Stelle ganz unerwartete Verwirrung stiften.

31 Ob das Gutsein sich durch Übung und Unterricht erwerben lässt, ist eine Frage, die Sokrates u. a. auch in Protagoras und Menon erörtert und dort ebenfalls mit der Frage nach einem glücksentscheidenden Wissen verknüpft, vgl. dazu die Exkurse 2 und 3.

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II Die Laches-Hypothese: Tapferkeit ist kluge Beharrlichkeit, 190d2–194c1

1. Die Frage nach einer Definition der Tapferkeit, 190d2–194c132 Sokrates bittet Laches, er möge sagen, was die Tapferkeit ist (190e3), und Laches fällt es zunächst ganz leicht, diese Frage zu beantworten: Tapfer sei derjenige, der bereit ist, auf seinem Posten zu stehen und den feindlichen Angriffen Stand zu halten (190e4–6). Laches meint die Bereitschaft eines Hopliten, in einer Phalanx auf seinem Posten zu kämpfen und nicht zurückzuweichen. Das ist offenbar ein mustergültiger Fall der Tapferkeit – aber gewiss nicht der einzige. Sokrates kommentiert Laches’ erste Antwort mit dem humorvollen Eingeständnis, er selbst habe offenbar nicht hinreichend klar gesagt, welche Antwort er erwartet (190e7–9) und erläutert sodann das Ziel seiner Frage. Zunächst gibt Sokrates weitere Beispiele, die zeigen, dass Laches mit seiner ersten Charakterisierung der Tapferkeit nur einen bestimmten Fall des Tapferseins und – in methodischer Hinsicht – eben nur ein Beispiel unter vielen möglichen anderen genannt hat. Auch Reiter und Streitwagenführer können sowohl im Angriff als auch in der Verteidigung tapfer gegen ihre Feinde kämpfen, und auch Hopliten können auf dem Rückzug, wenn eine Phalanx durchbrochen wurde und die Reihen sich auflösen, weiterhin ihren Gegnern Stand halten. Laches stimmt zu (191a1– c6). Allen Beispielen gemeinsam ist die Tatsache, dass man tapfer ist, wenn man sich einer Gefahr stellt. Die Bereitschaft, einer Gefahr Stand zu halten, ist das erste Element des Definiens Tapferkeit, das in den Überlegungen von Laches und Sokrates zur Sprache kommt. Sokrates erweitert abermals den Umfang der Fälle tapferen Handelns und spannt nun einen sehr weiten Bogen: 32

In dem folgenden Interpretationsvorschlag des Textstücks Laches 190d2–201c5 nehme ich, mit einigen Kürzungen und (teils größeren) Ergänzungen sowie kleineren inhaltlichen Modifikationen (und, wie ich jedenfalls hoffe, Präzisierungen), Überlegungen aus Hardy 2011: 111–136 auf.

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„Ich wollte ja von dir nicht nur wissen, wer im Hoplitenheer tapfer ist, sondern auch, wer es in der Reiterei und auf dem Feld des Kriegführens insgesamt ist, und nicht nur dort, sondern auch, wer angesichts der Gefahren des Meeres tapfer ist, wer in Krankheit oder Armut oder auch im politischen Leben, und weiter, wer nicht bloß Schmerzen oder Ängsten gegenüber tapfer ist, sondern auch stark genug ist, gegen die Begierden oder die Lust anzukämpfen, sei es im Standhalten oder Kehrtmachen – es gibt doch sicher manche, die auch in diesen Dingen tapfer sind? – Sicher, Sokrates. – Sie alle sind also tapfer, doch zeigen die einen ihre Tapferkeit gegenüber der Lust, andere gegenüber Schmerzen, einige gegenüber Begierden und wieder andere gegenüber der Furcht, während die anderen Charaktere, wie ich denke, in solchen Situationen ihre Feigheit zeigen. – Gewiss. – Was sind nun diese beiden Eigenschaften? Danach frage ich. Versuche also noch einmal, zunächst von der Tapferkeit zu sagen, was sie, als in all diesen Fällen dieselbe, eigentlich ist (191c8–e11).“ Sokrates und Laches gehen davon aus, dass die Tapferkeit ein Aspekt einer insgesamt guten seelischen Verfassung ist. Die vielen verschiedenen Fälle, die Sokrates hier erwähnt, lassen vermuten, dass er der Auffassung ist, dass eine Person sich mit jeder absichtlichen Handlung in einer bestimmten Hinsicht tapfer oder eben nicht tapfer verhält. Wenn das zutrifft, ist der Umfang der tapferen (oder nicht tapferen) Handlungen gleich dem Umfang der eudämonistisch guten (oder schlechten) Handlungen – und in diesem Falle hätte man in einer angemessenen Definition der Tapferkeit auch die allgemeinen charakteristischen Eigenschaften einer insgesamt guten seelischen Verfassung aufzunehmen. Konsequenterweise wird die Erörterung der Tapferkeit im Laches schließlich auf eine Charakterisierung des gesamten Gutseins hinauslaufen (199d4-e1); diese Erweiterung des Themas des Dialoges, die Sokrates im Gespräch mit Nikias vorschlagen wird, ist bereits hier vorgezeichnet. Mit der Frage danach, was Tapferkeit ist, erwartet Sokrates eine Antwort, aus der hervor geht, unter welchen Bedingungen jede (tatsächliche oder mögliche) Handlung tapfer oder nicht tapfer ist. Dass Sokrates mit seiner Frage danach, was Tapferkeit ist, eine solche Definition im Blick hat, zeigt auch das Beispiel der Schnelligkeit (192a1–b3). Sokrates’ exemplarische Definition der Schnelligkeit lässt sich so wiedergeben: Für jede Person gilt, dass sie eine bestimmte Tätigkeit genau dann schnell ausübt, wenn sie diese Tätigkeit in kurzer Zeit erfolgreich ausübt. Heute definieren wir Schnelligkeit, genauer gesagt: die physikalische Größe Geschwindigkeit bekanntlich als den Quotienten der Größen Wegstrecke und Zeit.

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2. Das Muster der Erörterung sokratischer Definitionsfragen Neben einer ersten Annäherung an die gesuchte Tapferkeit wird in dem Gespräch zwischen Sokrates und Laches auch das formale Ziel der sokratischen Frage deutlich. Das Ziel einer sokratischen Was-ist-F?-Frage ist eine explizite und erklärende (oder: erklärungskräftige) Definition. (Solche Definitionen werden in der späteren philosophischen Tradition auch Realdefinitionen genannt.) Die Antworten, die seine Gesprächspartner auf eine sokratische Frage danach, was etwas ist, geben, prüft Sokrates deshalb als hypothetische Definitionen. In methodologischer Hinsicht ist die Unterredung zwischen Sokrates und Laches eine geradezu mustergültige Demonstration der Struktur der Prüfung von Definitionsvorschlägen, die Sokrates in verschiedenen Dialogen unternimmt. Offenbar möchte Platon im Laches auch den modus operandi der sokratischen Erörterung von Definitionsfragen zeigen (Kahn 1996). Das Muster solcher Erörterungen sei hier näher erläutert. Platon verfügt freilich nicht über den modernen Begriff einer adäquaten Definition, aber Dialoge wie der Laches zeigen recht klar, dass es in der für Sokrates akzeptablen Beantwortung einer Was-ist-F? der Sache nach um eine explizite Definition geht. Das geht auch daraus hervor, dass Sokrates die Definitionen, die Laches vorschlägt, daraufhin prüft, ob tatsächlich jeder Fall des Definiendum, d. h. jeder Fall von Tapferkeit unter das jeweils vorgeschlagene Definiens fällt (und umgekehrt) und ob man unter dem, was man „F“ wie etwa „Tapferkeit“ oder „Schnelligkeit“ nennt, in jedem Falle genau das versteht, was der Inhalt des Definiens ist, was also jeweils als eine Auskunft über das, was etwas ist, zur Diskussion steht.33 Eine Definition besteht aus einem Definiens und einem Definiendum. Das Definiendum ist der zu definierende allgemeine Sachverhalt, so etwa die Tapferkeit; es umfasst die Menge aller Dinge (einschließlich spezieller Sachverhalte und Situationen), die unter das Definiens fallen, so etwa jeden Fall einer tapferen charakterlichen Einstellung oder einer tapferen Handlung. Das Definiens enthält eine allquantifizierte Aussage bzw. mehrere allquantifizierte Aussagen über den allgemeinen Sachver33 Im Euthyphron, in dem es um eine Definition der Frömmigkeit geht, charakterisiert Sokrates den Gegenstand der entsprechenden Definitionsfrage als dasjenige, was in jeder frommen (oder nicht frommen) Handlung jeweils „sich selbst gleich ist“ (5c8–d6). Das bedeutet: Mit einem generellen Terminus „F“, wie etwa dem generellen Terminus „fromm“, beziehen wir uns nicht allein auf ein Einzelding oder Ereignis, wie etwa eine ganz bestimmte fromme Handlung, sondern stets auch und stets auf denselben allgemeinen Sachverhalt F (oder: die Idee F).

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halt F, und das Definiens einer erklärenden Definition von F nennt die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für das Bestehen des Sachverhalts F, so etwa die Bedingungen für tapferes Handeln. Zu wissen, was etwas ist, heißt zu wissen, unter welchen Bedingungen ein bestimmter Sachverhalt besteht. Auf eine sehr präzise Weise bringt man eine explizite Definition in der Form einer allquantifizierten Bikonditionalaussage zum Ausdruck: Für jedes X gilt, dass X genau dann die Eigenschaft F hat, wenn X die Eigenschaften {E1, …, En} hat. Man könnte auch sagen: Wenn X die Eigenschaften {E1, …, En} hat, dann besteht der Sachverhalt ‚X ist F‘. In Platons Dialogen werden Definitionen im allgemeinen in der Form eines einfachen Behauptungssatzes wie etwa „Tapferkeit ist kluge Beharrlichkeit“ ausgedrückt, an dessen Subjektstelle das Nomen steht, das den zu definierenden Sachverhalt bezeichnet und an dessen Prädikatstelle das Definiens steht. Die Kopula „ist“ erfüllt in solchen definitionsäquivalenten Behauptungssätzen die Funktion des logischen Bikonditionaloperators. In einer adäquaten Definition sind Definiens und Definiendum extensionsgleich und intensionsgleich. Die Extension ist die Menge aller Einzeldinge und Sachverhalte, die unter das Definiens fallen; diese Menge ist gemeint, wenn Sokrates im Laches von dem spricht, ‚was in allen Fällen der Tapferkeit dasselbe ist‘. Die Intension ist der Informationsgehalt der Aussagen des Definiens; sie ist das, was man über einen Sachverhalt F weiß, wenn man versteht, was die Aussagen des Definiens bedeuten. Beides, die Extension und die Intension des Definiens, kommt zur Sprache, wenn Sokrates im Blick auf die Tapferkeit danach fragt, „welche Fähigkeit, und zwar dieselbe bei Lust und Schmerz und allem, was wir gerade genannt haben, sie ist und somit Tapferkeit heißt.“ Die Bedeutung einer Aussage (oder Annahme) zu verstehen heißt, deren Wahrheitsbedingungen zu kennen. Wenn man die Bedeutung der Aussagen versteht, die das Definiens einer Definition bilden, dann kennt man die Bedingungen für die Wahrheit dieser Aussagen und weiß im Falle einer erklärenden Definition auch, unter welchen Bedingungen ein bestimmter Sachverhalt besteht und weiß in diesem Sinne, was etwas ist bzw. ‚was dasselbe bei allem ist, was man „F“ nennt‘. Wenn man die Bedeutung eines Definiens versteht, also die Wahrheitsbedingungen der darin enthaltenen Aussagen kennt, dann kennt man auch die Bedingungen für den korrekten Gebrauch des entsprechenden Prädikats, d. h. des generellen Terminus „F“. Eine Definition von F ist insofern auch eine Erläuterung der Bedeutung des Wortes „F“, das in der Regel als ein freies Lexem auftritt und die Funktion erfüllt, einem Einzelding eine bestimmte Eigenschaft zuzusprechen, so etwa in der Satzform „Person

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P ist tapfer“. Eine hinreichende Antwort auf eine sokratische Was-istF?-Frage ist freilich nicht lediglich eine Worterläuterung, sondern – ihrem Anspruch nach – zugleich eine Erklärung des Sachverhalts F. Sokrates möchte ja wissen, was etwas ist. Eine Definition von F nennt auch die notwendigen und hinreichenden Bedingungen dafür, dass ein ganz bestimmter, raum-zeitlich beschreibbarer Sachverhalt (eine bestimmte Situation) besteht, auf den die Definition von F zutrifft. Die besonderen Sachverhalte bzw. Situationen, die unter die Definition von F fallen, sind Instanzen von F. Der Gegenstand einer Definition ist aber insofern ein allgemeiner Sachverhalt, als eine Definition sich nicht auf eine besondere Situation als jeweils diese besondere Situation bezieht, sondern vielmehr die Bedingungen dafür nennt, dass eine besondere Situation die Eigenschaften hat, die jede Situation dieser Art, d. h. jede Instanz von F hat. Dieser Unterschied ist, wie wir noch sehen werden, zu beachten, um das Wissen von guten oder schlechten Dingen richtig zu verstehen, das in dem Gespräch zwischen Sokrates und Nikias eine wichtige Rolle spielt (198c9–199a9). Die Definitionen, die Sokrates mit seinen Gesprächspartnern erörtert, sind Gegenstand einer gemeinsamen Suche. Die Gesprächspartner prüfen, ob ein Definitionsvorschlag jeden Fall von F erfasst (und erklärt), und stoßen dabei gegebenenfalls auf neue Eigenschaften von F oder auf Fälle von F, die sie zunächst noch nicht bedacht hatten. Deshalb ist es möglich, dass die Gesprächspartner in der Prüfung eines Definitionsvorschlags nicht nur das Definiens, d. h. die Beschreibung und Erklärung eines Sachverhalts F verändern, sondern auch den Umfang des zu definierenden Sachverhalts F neu bestimmen. In der Prüfung einer hypothetischen Definition arbeiten die Gesprächspartner mit zwei gedanklichen Operationen: Sie prüfen einerseits, ob bestimmte Fälle von F zu erkennen geben, was der allgemeine Sachverhalt F ist, und andererseits, ob ein bestimmtes Einzelding in der Tat eine Instanz von F ist. In beiden Fällen gehen sie von einer zweifachen Hypothese aus: Sie nehmen zunächst einmal an, dass der gesuchte allgemeine Sachverhalt F bestimmte Eigenschaften hat und fragen, ob eine mögliche Instanz von F alle diese Eigenschaften hat, und sie nehmen an, dass bestimmte Fälle tatsächlich Instanzen von F sind, und fragen, ob die Definition von F diese Fälle vollständig erfasst. So prüfen die Gesprächspartner im Laches zum einen, ob die Handlungen, mit denen jemand auf beharrliche und kluge Weise eine Gefahr zu bewältigen sucht, zeigen, dass die Tapferkeit in jedem Falle genau darin (oder mindestens darin) besteht. Sie prüfen zum anderen, ob etwa das Verhalten von Soldaten, die mit technischer Überlegenheit und in der Überzahl beharrlich und klug ihre

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Gegner bekämpfen, wirklich tapfer ist. Genau betrachtet werden so zwei Fragen zugleich erörtert: Was ist F?, und: Ist dieses spezielle X eine Instanz von F? Deshalb können in der Prüfung hypothetischer Definitionen, wie gesagt, sowohl die (möglichen oder ex hypothesi tatsächlichen) konkreten Fälle von F beurteilt und genau beschrieben als auch die jeweils angenommenen Definitionen gegebenenfalls korrigiert werden. Sokrates versucht, mit Hilfe dieser beiden gedanklichen Operationen gleichsam ein Überlegungsgleichgewicht zwischen plausiblen, erklärungskräftigen (hypothetischen) Definitionen und allgemein akzeptierten Meinungen über konkrete Fälle von F, so etwa über unzweifelhafte Fälle tapferen Handelns, herzustellen. Die Definitionsvorschläge, die in den sokratischen Dialogen geprüft werden, haben folgende Form: Für jedes X gilt: X hat genau dann die Eigenschaft F, wenn X die Eigenschaften {E1, …, En} hat. Ein Beispiel ist die Definition von Tapferkeit, die uns im Laches begegnet (192b-d): Für jede Person gilt, dass sie genau dann tapfer ist, wenn sie sich beharrlich einer Gefahr stellt und ihre Handlungsweise sowohl klug als auch anerkennenswert ist. Auf dieser Grundlage kann man eine Definition im Blick auf weitere Instanzen von F informativ anreichern und das Definiens von F anhand exemplarischer Sachverhalte mit den Eigenschaften {E1, …, En} erläutern und veranschaulichen. Konstruieren wir zwei Beispiele: Wenn eine Person genau dann tapfer ist, wenn sie sich beharrlich einer Gefahr stellt und ihre Handlungsweise sowohl klug als auch anerkennenswert ist, und wenn jede Person, die sich einer langwierigen medizinischen Therapie unterzieht, sich beharrlich einer Gefahr stellt (nämlich der Gefahr, die von ihrer Erkrankung ausgeht) und diese Handlungsweise klug und anerkennenswert ist, dann ist jeder tapfer, der sich einer langwierigen medizinischen Therapie unterzieht. Und wenn ein Seemann eine gefährliche Überfahrt von Venedig nach Zypern unternimmt, das Schiff mit nautischer Klugheit führt und seine Seefahrt anerkennenswert ist (weil er z. B. Othello nach Zypern bringt), dann handelt er tapfer. Aus dem genannten Definitionsprinzip ergibt sich auch ein Prinzip, das Sokrates in der Widerlegung von Definitionen häufig anwendet: Wenn es mindestens ein X gibt, das zwar einige, aber nicht jede der F definierenden Eigenschaften {E1, …, En} hat, dann ist es nicht der Fall, dass jedes X die Eigenschaft F hat. Sokrates wendet dieses Prinzip zusammen mit der logischen Regel der reductio ad absurdum an, indem er zwei einander widersprechende Annahmen über das jeweilige Definiendum, denen sein Gesprächspartner zustimmt, zusammenfügt und daraus ableiten darf, dass der Definitionsvorschlag falsch ist. Die Diskussion zwischen Sokrates und Laches enthält zwei Beispiele für dieses

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Widerlegungsmuster (192b–193d). Laches’ erster Definitionsvorschlag lautet: Für jede Person und jede Handlung gilt, dass eine Person genau dann tapfer ist, wenn sie sich mit ihrer Handlungsweise beharrlich einer Gefahr stellt. Wenn eine Handlung tapfer ist, dann ist sie auch anerkennenswert. Einige Handlungen, mit denen eine Person sich beharrlich einer Gefahr stellt, sind aber nicht anerkennenswert. Also ist es nicht der Fall, dass jede Person genau dann tapfer ist, wenn sie sich beharrlich einer Gefahr stellt. Der zweite Vorschlag (den Sokrates Laches in den Mund legt) lautet: Tapfer ist eine Person genau dann, wenn sie sich auf beharrliche und kluge Weise einer Gefahr stellt. Einige solche Handlungen sind aber (erneut) nicht anerkennenswert. Also ist es nicht der Fall, dass jede Person genau dann tapfer ist, wenn sie sich beharrlich und klug einer Gefahr stellt.

3. Die Prüfung der Laches-Hypothese, 192b9–194c1 Sehen wir uns jetzt den weiteren Verlauf des Dialoges an. Nach der Kritik an Laches’ erster Auskunft und dem Beispiel der Schnelligkeit fordert Sokrates Laches auf, er möge auf die gleiche Weise, also in dergleichen Form über die Tapferkeit sagen, „welche Fähigkeit, und zwar dieselbe bei Lust und Schmerz und allem, was wir gerade genannt haben, sie ist und somit ‚Tapferkeit‘ heißt“ (192b5–8). Laches scheint verstanden zu haben, welche Art einer Antwort Sokrates mit seiner Frage erwartet und sagt jetzt etwas über die Tapferkeit, „was ihr in allen Fällen Gemeinsames ist“: Tapferkeit ist eine Art von Beharrlichkeit (καρτερία) der Seele (192b9–c1). Aus den Beispielen, die Sokrates und Laches zuvor genannt hatten, geht hervor, dass tapfere Menschen sich in jedem Fall mit einer Gefahr auseinandersetzen. Dieses Merkmal dürfen wir Laches’ erstem Definitionsvorschlag hinzufügen. Laches’ Hypothese über die Tapferkeit lautet demnach: Die Laches-Hypothese: Tapfer ist eine Person genau dann, wenn sie sich beharrlich einer Gefahr stellt. Für Sokrates ist die Tapferkeit eine Fähigkeit (δύναμις, 192b6), und zwar, wie der große Umfang der Tapferkeit zeigt, eine glücksentscheidende Fähigkeit. Der große Umfang der Tapferkeit ist wohl so zu verstehen, dass wir stets damit rechnen müssen, dass wir in dem, was wir tun wollen, auf äußere oder innere Widerstände und Hindernisse stoßen und

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unsere wünschenswerten Handlungen deshalb stets der Gefahr ausgesetzt sind, an diesen Widerständen und Hindernissen zu scheitern. Wenn es uns nicht gelingt, Widerstände und Hindernisse zu überwinden und die entsprechenden Gefahren zu bewältigen, misslingen unsere Handlungen. Die Tapferkeit ist in dieser Hinsicht eine Einstellung und Erwartungshaltung, nämlich die Erwartung bevorstehender guter, wünschenswerter oder schlechter, nicht wünschenswerter Ereignisse. So wird Sokrates die Tapferkeit später, im Gespräch mit Nikias, ausdrücklich charakterisieren (198b2-c8). Auch Laches, der Sokrates an der späteren Stelle nachdrücklich zustimmt (198c1), scheint mit der Beharrlichkeit, die ihm vorschwebt, diese Einstellung zu meinen. Wenn man Laches’ Hypothese in die Form einer Definition bringt, so besagt sein erster Definitionsvorschlag: Tapfer ist eine Person genau dann, wenn sie sich beharrlich einer Gefahr stellt. Sokrates korrigiert und erweitert Laches’ ersten Vorschlag sogleich mit einer zusätzlichen Annahme, der Laches ohne Nachfrage zustimmt: Jede tapfere Handlung ist „schön und gut“, d. h. anerkennenswert (καλόν) und vorteilhaft (ἀγαθόν) (192b9-d9). Anerkennenswert und vorteilhaft ist das beharrliche Handeln aber nur dann, wenn es von Klugheit (φρόνησις) gelenkt wird (192c8-d3). Dass eine Handlung „schön und gut“ ist, bringt eine gegenseitige Wertschätzung und Anerkennung zum Ausdruck (vgl. z. B. Gorgias 474c, 477a). Tapferkeit ist vor allem auch eine normative Eigenschaft, d. h. eine Eigenschaft, die Menschen sich gegenseitig zuschreiben, wenn sie gemeinsame Forderungen anerkennen und anerkennenswerte Ziele verfolgen. Laches lobt Sokrates’ vortreffliches Verhalten am Delion (181b1–4) und „dieses Lob ist wirklich schön“ (b5), wie Lysimachos bestätigt. Dass Sokrates von Laches als vortrefflich tapfer geschätzt wird, ruft auch bei Lysimachos, der Laches offenbar ebenso wahrnimmt, eine wohlwollende Einstellung gegenüber Sokrates hervor (b5-c1). Wenn man tapfer ist, dann weiß man, in welchen Fällen es anerkennenswert (und im Sinne gemeinsamer Forderungen geboten) ist, eine Gefahr zu bewältigen und ist auch bereit, dies zu tun. Sokrates legt Laches nahe, dass nicht jede Beharrlichkeit tapfer ist (192c3–4) und die Tapferkeit deshalb nicht einfach eine Beharrlichkeit der Seele sein könne, weil die Tapferkeit in jedem Falle anerkennenswert (‚schön‘) ist (c4–7), „die Beharrlichkeit mit Klugheit schön und gut ist“ (c8–10), die Beharrlichkeit mit Unklugheit „schädlich und verderblich“ ist (d1–3) und die Tapferkeit deshalb nur eine „kluge Beharrlichkeit“ sein könne (d10–11). Mit diesem Verbesserungsvorschlag hat Sokrates in einem Atemzug Laches’ ersten Vorschlag genau betrachtet freilich nicht lediglich um die Klugheit, sondern um zwei Eigenschaften ergänzt: Tapfere Handlungen sind klug und anerkennenswert.

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Die Überlegungen, die Sokrates in seiner Kritik an Laches’ erster Definition anstellt, lassen sich in der Form des folgenden Arguments rekonstruieren: (1) Für jede Person und jede Handlung gilt: Tapfer ist eine Person genau dann, wenn sie sich in ihren Handlungen beharrlich einer Gefahr stellt. (2) Wenn eine Person tapfer ist, dann ist ihre Handlung, mit der sie sich beharrlich einer Gefahr stellt, auch anerkennenswert, d. h., dass sie mit ihrer beharrlichen Handlungsweise ein anerkennenswertes Ziel verfolgt. (3) Einige Handlungen, mit denen sich eine Person beharrlich einer Gefahr stellt, sind aber nicht anerkennenswert. (4) Einige Handlungen, mit denen eine Person sich beharrlich einer Gefahr stellt, sind also nicht tapfer. (5) Also gälte mit (1) und (4) für jede Person und jede Handlung, dass eine Person genau dann tapfer ist, wenn sie sich beharrlich einer Gefahr stellt, und zugleich gälte nicht für jede Person und jede Handlung, dass eine Person genau dann tapfer ist, wenn sie sich beharrlich einer Gefahr stellt. (6) Also ist es (mit reductio ad absurdum) nicht der Fall, dass für jede Person und jede Handlung gilt, dass eine Person genau dann tapfer ist, wenn sie sich in ihren Handlungen beharrlich einer Gefahr stellt. Mit seinem Verbesserungsvorschlag hat Sokrates den ersten Vorschlag, wie gesagt, um zwei Eigenschaften ergänzt: Tapfere Handlungen sind klug und anerkennenswert. Die Klugheit des Handelnden soll offenbar gerade gewährleisten, dass die Handlungen, mit denen er sich einer Gefahr stellt, anerkennenswert und deshalb wirklich tapfer sind. Die neue, erweiterte Tapferkeitsdefinition steht nun auf dem Prüfstand. Sokrates fragt danach, welche Ziele eine Person verfolgt, die in kluger, beharrlicher Weise einer Gefahr begegnet (192e1–193d10): „So lass uns denn sehen, in Bezug worauf sie (d. h. die Beharrlichkeit) klug ist; in Bezug auf alles, auf große wie kleine Dinge?“ Die „großen Dinge“ (192e1–2, vgl. Apologie 30d) sind die Ziele, die man mit bestimmten Handlungen verfolgt. Sokrates nennt einige Beispiele für beharrliche und dem Anschein nach tapfere Handlungen (und entsprechende Einstellungen), die gegen den erweiterten Vorschlag sprechen, dem zufolge eine Person genau dann tapfer ist, wenn sie sich beharrlich und klug mit einer Gefahr auseinandersetzt (192e1–193c12):

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(i) Wenn ein Investor beharrlich in ein bestimmtes Projekt investiert, weil er weiß, dass er auf jeden Fall einen Gewinn erzielen wird und insofern – das scheint Sokrates mit diesem Beispiel im Sinn zu haben – kein Wagnis eingeht, ist er nicht tapfer. (ii) Wenn ein Arzt seinem Sohn oder jemand anderem, der an einer Lungenentzündung erkrankt ist, keine Nahrung und keine Getränke erlaubt, obwohl ihn sein Patient darum bittet, ist er nicht tapfer. Wir können uns vorstellen, dass ein Arzt eine Therapie für sinnvoll hält, in der ein Patient für eine gewisse Zeit nur wenig Nahrung und Flüssigkeit zu sich nehmen sollte, dem Patienten aber jede Speise und Flüssigkeit verweigert, auch ein erfrischendes Glas Wasser, das die Therapie gar nicht wirklich beeinträchtigen würde. In diesem Falle handelt der Arzt nicht anerkennenswert, weil er nicht bereit ist, ein nur sehr geringes Wagnis einzugehen. (iii) Wenn ein Soldat (zusammen mit anderen) in einer strategisch vorteilhaften Position gegen Gegner kämpft, die in der Unterzahl und weniger gut ausgebildet sind, ist er im Vergleich zu seinen unterlegenden Gegnern nicht tapfer. Die unterlegenen Gegner verfügen zwar über eine vergleichsweise tapfere, anerkennenswerte Motivation, handeln aber im Vergleich zu ihren überlegenen Feinden wiederum nicht klug und sind deshalb ebenfalls nicht wirklich tapfer. (iv) Wenn ein erfahrener Kavallerist beharrlich und klug gegen unterlegene, in einer Reiterschlacht unerfahrene Gegner kämpft, ist er im Vergleich zu seinen Gegnern nicht tapfer. Aber auch seine kampfesmutigen Gegner sind nicht tapfer, weil sie vergleichsweise unklug handeln. (v) Das Gleiche gilt für andere Experten mit bestimmten technischen Fähigkeiten: Wenn jemand die Kunst des Schleuderns oder Bogenschießens beherrscht oder weiß, wie man in einen Brunnen hinabtaucht und seine Fähigkeit beharrlich und klug gegen technisch unterlegene Gegner einsetzt, ist er im Vergleich zu seinen Gegnern nicht tapfer. Aber auch die Gegner sind nicht wirklich tapfer, denn sie sind, im Vergleich zu den Experten, nicht klug, sondern töricht. In den Fällen (iii), (iv) und (v) vergleicht Sokrates zwei Handlungsweisen unter wiederum zwei Gesichtspunkten miteinander und spielt die (vergleichsweise) tapfere Motivation und die Klugheit gleichsam gegeneinander aus. Sokrates und Laches stimmen darin überein, dass diejenigen, die eine technische Überlegenheit ausnutzen, im Vergleich zu

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jenen, die ihnen unterlegen sind, nicht tapfer sind, und zwar offenbar deshalb, weil ihr kluges Handeln nicht anerkennenswert ist. Diese Fälle sind freilich insofern problematisch, als es doch sehr wohl möglich ist, dass sich beide Personengruppen tapfer verhalten. In der Überzahl und technisch überlegen zu sein, bedeutet ja nicht in jedem Falle, kein anerkennenswertes Ziel zu verfolgen. Die technisch unerfahrenen Laien sind zweifellos insofern in einem höheren Masse tapfer, als sie in ihrem Kampf gegen überlegene Gegner ein viel größeres Wagnis eingehen. Doch das bedeutet, wie gesagt, nicht, dass die überlegenen Kämpfer überhaupt nicht tapfer sind. Dieses Problem lässt sich mit einem kleinen Gedankenexperiment vielleicht lösen. Stellen wir uns vor: Die unerfahrenen, aber mutig entschlossenen Laien kämpfen nicht mit der klugen Gewissheit, überlegen zu sein; sie geben der Bereitschaft, einer Gefahr Stand zu halten, in jedem Falle den Vorrang. Hingegen nehmen die technisch überlegenen Experten nur deshalb den beharrlichen Kampf mit ihren Gegnern auf, weil sie wissen, dass sie überlegen sind und ihre Überlegenheit ausnutzen können. Ohne ihre Überlegenheit würden sie nicht beharrlich kämpfen, sondern sich zurückziehen. Die so verstandene strategische Klugheit ist wohl nicht anerkennenswert. Falls die Experten allerdings auch dann entschlossen und beharrlich kämpften, wenn sie ihren Gegnern nicht überlegen sind, so wären auch sie wiederum tapfer. Wenn diese experimentelle Überlegung der Absicht gerecht wird, die Sokrates mit seinen Beispielen verfolgt, so möchte Sokrates offenbar die Bedeutung der in jedem Falle tatsächlich tapferen Handlungsmotivation hervorheben, die in der Entschlossenheit derjenigen zum Ausdruck kommt, die sich trotz ihrer Unterlegenheit ihren Gegnern stellen. Wenn man die Laien und Experten miteinander vergleicht und sich im direkten Vergleich zu entscheiden hat, welche der beiden Personengruppen tapfer ist, dann sind die technisch unerfahrenen Laien tapfer, weil sie sich in eine weitaus größere Gefahr begeben und ihre Bereitschaft, Stand zu halten und nicht zu fliehen, deshalb eine vorrangige tapfere Motivation erfordert. Doch auch die technisch unterlegenen Gegner sind nicht wirklich tapfer, denn sie handeln zwar mit einer anerkennenswerten Motivation, aber ohne die Klugheit, die sie für anerkennenswerte und auch erfolgversprechende Handlungen bräuchten. Die Beispiele (iii), (iv) und (v) haben eine raffinierte doppelte Pointe; sie zeigen, dass eine Person, die sich nur aufgrund ihrer technischen Überlegenheit einer Gefahr stellt, deshalb nicht tapfer ist, weil ihre beharrliche Klugheit nicht anerkennenswert ist, aber auch ihre Gegner deshalb nicht wirklich tapfer sind, weil deren anerkennenswerte Beharrlichkeit nicht erfolgversprechend

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und insofern nicht klug ist. Sokrates geht offenbar davon aus, dass eine tapfere Handlung sowohl anerkennenswert als auch erfolgversprechend ist, also auf eine erfolgversprechende Weise einem anerkennenswerten Ziel dient. Die Gegenbeispiele lassen sich in zwei Fallgruppen einteilen. Die erste umfasst die ersten beiden Fälle und die ersten Alternativen der Fälle (iii) bis (v). Diese Fallgruppe ermöglicht folgendes Argument: (1) Angenommen, für jede Person und Handlung gilt, dass eine Person genau dann tapfer ist, wenn sie beharrlich und klug handelt. (2) Wenn eine Person tapfer ist, dann ist ihre Handlung anerkennenswert. (3) Einige Personen handeln beharrlich und klug, aber nicht anerkennenswert. (4) Wenn eine Person beharrlich und klug, aber nicht anerkennenswert handelt, dann ist sie tapfer. (Diese Annahme ist eine Annahme um des Arguments willen, die wir machen müssen, um mit Hilfe der Anwendung der Regel der reductio ad absurdum die Negation von (1) ableiten zu können.) (5) Also ist es nicht der Fall, dass jede Person genau dann tapfer ist, wenn sie beharrlich und klug handelt. Die zweite Gruppe enthält die zweiten Alternativen der Fälle (iii) bis (v), in denen eine Person ein anerkennenswertes Ziel beharrlich, aber ohne die erforderlichen Fähigkeiten verfolgt. Ihre Handlungen sind anerkennenswert, aber nicht erfolgversprechend. Das gilt für diejenigen, „die sich in Gefahr begeben und dabei Beharrlichkeit auf unvernünftigere Weise zeigen als diejenigen, die dasselbe unterstützt durch ein Können tun“ (193c9–11). Diese Fallgruppe ermöglicht folgendes Argument: (1) Angenommen, für jede Person und jede Handlung gilt, dass sie genau dann tapfer ist, wenn sie beharrlich und klug handelt. (2) Wenn eine Person tapfer ist, dann ist ihre Handlung anerkennenswert. (3) Einige Personen handeln beharrlich und anerkennenswert, aber nicht klug. (4) (Annahme um des Arguments willen) Wenn eine Person beharrlich und anerkennenswert, aber nicht klug handelt, ist sie tapfer. (5) Also ist es nicht der Fall, dass eine Person genau dann tapfer ist, wenn sie beharrlich und klug handelt. Wenn Sokrates und Laches die von Sokrates genannten Fälle so deuten, dass sie Laches’ zweiten Vorschlag widerlegen, so verstehen sie die

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Klugheit, um die Sokrates Laches’ ersten Vorschlag erweitert hatte, im Sinne einer instrumentellen, im Blick auf anerkennenswerte Ziele neutrale Klugheit. Diese Klugheit fehlt den Personen der zweiten Fallgruppe und sie wird von den Personen der ersten Fallgruppe nicht in einer anerkennungswürdigen Weise eingesetzt. Sokrates kritisiert interessanterweise auch diejenigen, die im Sinne der zweiten Fallgruppe beharrlich, aber unklug handeln. Wenn er deren Verhalten ebenfalls für tadelnswert hält, so geht er davon aus, dass eine Person nur dann tapfer ist, wenn sie sich keinen vermeidbaren Gefahren aussetzt, die den Erfolg ihrer Handlungen auf eine absehbare (und grundsätzlich vermeidbare) Weise beeinträchtigen oder gar von vorneherein vereiteln. Wir können uns vorstellen, dass ein wagemutiger Kämpfer sein Leben aufs Spiel setzt, obwohl er sich auch zurückziehen und auf Verstärkung warten könnte, um gemeinsam mit seinen Gefährten mit besseren Erfolgsaussichten zu kämpfen. Wenn er das nicht tut, handelt er auf eine vermeidbare Weise unklug und ist deshalb – trotz seines großen Kampfesmutes – nicht tapfer. Sokrates weist in seinen Beispielen auf Situationen hin, in denen ganz unterschiedliche oder gar gegensätzliche Handlungen in einer bestimmten Hinsicht tapfer oder feige, gut oder schlecht sind. Wenn jemand auf eine konstante Weise tapfer, also klug und anerkennungswürdig handelt, dann weiß er auch in solchen Situationen, welche Handlungsweise nach Abwägung aller relevanten Alternativen in einem insgesamt eudämonistischen Sinne gut ist, also zu seinem gelingenden Leben beiträgt. Im Charmides einigen sich die Gesprächspartner ebenfalls schnell darauf, dass die Besonnenheit selbst ‚schön und gut‘, d. h. anerkennenswert und vorteilhaft ist, weil die besonnenen Handlungen in jedem Falle anerkennenswert und vorteilhaft bzw. erfolgreich sind (Charmides 159b7–161b2). Mit der Annahme, dass jede Tugend in diesem Sinne ‚schön und gut‘ ist, nimmt Sokrates offenbar eine konventionelle Vorstellung auf. Seine Gesprächspartner stimmen dieser Annahme bereitwillig zu, aber es gelingt ihnen nicht, sie auf eine konsistente Weise in ihre Vorschläge einer Definition der Tapferkeit oder Besonnenheit einzufügen. Laches und Charmides blicken auf situationstypische, ihrer Auffassung nach tapfere bzw. besonnene Handlungsweisen. Was sie nicht thematisieren, ist das situationsunabhängige Wissen über die in einem generellen, glücksrelevanten Sinne guten oder schlechte Handlungen, das man braucht, um sich auch in Grenzsituationen, in denen ganz unterschiedliche oder gar gegensätzliche Handlungen in einer jeweils ganz bestimmten Hinsicht gut oder schlecht sein können, für eine alles in allem gute, glückszuträgliche Handlung entscheiden zu können.

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Sokrates ist in Kriton und Apologie davon überzeugt, dass es besser ist, den Gesetzen Athens zu folgen und nicht zu fliehen, und es für ihn selbst und seine Mitbürger besser ist, wenn er seinen zivilen Dienst des Fragens, Prüfens und Ermahnens fortsetzt. Ist es tapfer, also anerkennungswürdig und klug oder wagemutig und tadelnswert, wenn Sokrates sich vor Gericht gegen die gegen ihn vorgebrachte Anklage so verteidigt, dass er das Risiko einer Verurteilung zur Todesstrafe auf sich nimmt? Handelt er damit im Interesse seiner Familie, seiner Freunde und seiner Mitbürger? In solchen Grenzsituationen kommt es wohl auf die vorrangigen, glückszuträglichen Handlungsziele und die eudämonistisch relevanten Gefahren an. Wenn man in einer schwierigen Situation verschiedene Optionen abwägt und sich für eine bestimmte Handlung entscheidet, die man für eine tapfere, also anerkennenswerte und bessere Handlung hält, fällt man ein Urteil über Sachverhalte, die das eigene gelingende Leben fördern oder beeinträchtigen. Für solche Urteile und Entscheidungen braucht man Klarheit über die eigenen vorrangigen Handlungsziele. Erst dann kann man wissen, mit welchen Handlungen man diese Ziele erreichen kann. Dieses Wissen, d. h. das handlungsleitende Wissen über eudämonistisch gute oder schlechte Sachverhalte (und Handlungen) ist offenbar das, was Nikias und Sokrates als das Wissen über die guten oder schlechten Dinge zum Thema machen werden. Nikias wird das Wissen über gefährliche oder unbedenkliche Dinge, das die Tapferkeit auszeichne, ausdrücklich so erläutern, dass eine tapfere Person sogar weiß, ob es für sie besser ist, zu leben oder zu sterben (195c7–d9). Sokrates kommt zu dem Ergebnis, dass er und Laches mit ihrem zweiten Vorschlag offenbar behaupten, dass die unkluge, tadelnswerte Beharrlichkeit tapfer ist, und das sei, wie Laches einräumt, wohl nicht richtig (193d1–10). Dieses Ergebnis hätte man dadurch vermeiden bzw. korrigieren können, dass man der klugen Beharrlichkeit des Tapferen das eben genannte glücksentscheidende Wissen hinzufügte. Wenn jemand tapfer ist, dann weiß er, welche Dinge in einem umfassenden, glücksrelevanten Sinne gefährlich oder ungefährlich sind und welche Handlungen anerkennenswert oder verächtlich sind, und er hat sowohl die Bereitschaft als auch die Fähigkeit, Gefahren auf anerkennenswerte und erfolgversprechende Weise zu bewältigen. Wenn man die tapfere Einstellung so versteht, könnte man die Gegenbeispiele entkräften. Der listige Investor und diejenigen, die eine strategische oder technische Überlegenheit ausnutzen, handeln in der Tat nicht tapfer, wenn sie ihre Klugheit in den Dienst eines alles in allem nicht anerkennenswerten Zieles stellen. Doch die tapfer motivierten Laien sind tatsächlich tapfer und handeln nicht länger unvernünftig, wenn sie den Erfolg ihrer anerken-

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nenswerten Handlungen nicht unnötig gefährden. Eine nahe liegende alternative Form der Laches-Hypothese lautet demnach: Laches-Hypothese*: Eine Person ist genau dann tapfer, wenn sie weiß, welche Dinge in einem insgesamt glücksrelevantem Sinne gefährlich oder unbedenklich sind und sich beharrlich und klug, d. h. auf anerkennenswerte und erfolgversprechende Weise einer Gefahr stellt. Laches hält die Tapferkeit für eine Beharrlichkeit, d. h. für eine bestimmte Motivation, Sokrates hält sie für eine Fähigkeit. Jede Fähigkeit hat bestimmte Erfolgsbedingungen. Wie sich im Gespräch mit Laches gezeigt hat, ist die Tapferkeit die Fähigkeit, Gefahren, deren Bewältigung anerkennenswert ist, auf kluge, erfolgversprechende Weise bewältigen zu können. Und die Beharrlichkeit des Tapferen ist die Bereitschaft, eben dies zu tun. Die Erfolgsbedingungen der Tapferkeit als einer Fähigkeit sind zugleich die Erfüllungsbedingungen der Tapferkeit als einer charakterlichen Einstellung (Bereitschaft). Wenn die Tapferkeit eine kluge Beharrlichkeit, d. h. eine bestimmte Einstellung ist, dann ist sie die erfolgversprechende Verknüpfung der Motivation, sich in einer anerkennenswerten Weise einer Gefahr zu stellen, mit der Fähigkeit, diese Motivation verwirklichen zu können. Eine Bedingung für die erfolgreiche Ausübung der Fähigkeit und Verwirklichung der Motivation des Tapferen ist die Klugheit. Neben seiner Klugheit braucht der Tapfere aber auch ein Wissen über allgemeine, glückszuträgliche Ziele, mit dessen Hilfe er verschiedene Gefahren vergleichen und gegeneinander abwägen kann, und er braucht ebenfalls eine komplexe Handlungsmotivation, die für anerkennenswerte und erfolgversprechende Handlungen sorgt. Diese beiden Aufgaben erfüllt die insgesamt gute seelische Verfassung, die Sokrates später im Gespräch mit Nikias erläutern wird (199d4–e1). Sokrates kommentiert das Ergebnis der Diskussion mit Laches so, dass sie beide wohl doch nicht dorisch gestimmt seien, denn ihre Taten ständen nicht im Einklang mit ihren Worten (193d11–e2). Mit ihren Taten hätten sie beide durchaus teil an der Tapferkeit, mit ihren Worten aber nicht (193e2–4). Mit der Dissonanz zwischen Worten und Taten meint Sokrates wohl den mangelnden Erfolg der bisher erwogenen Erklärungen. Auch Worte (logoi), d. h. hier: Erklärungen und Argumente, sind ja in einem gewissen Sinne ‚Taten‘ – nämlich Urteilshandlungen, die erfolgreich oder erfolglos sein und ihr Erklärungsziel erreichen oder verfehlen können. Erfolgreich sind sie dann, wenn sie das erklären, was sie erklären sollen. Dieser Erfolg ist bislang ausgeblieben. Sokrates empfiehlt (193e8–194a5), den bisherigen Überlegungen aber

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doch so weit zu folgen, dass sie beide weiterhin beharrlich auf der Suche bleiben – „damit uns nicht die Tapferkeit selbst verhöhnt, dass wir nicht tapfer nach ihr suchten, wenn denn vielleicht die Beharrlichkeit selbst Tapferkeit ist“. Sokrates’ abschließende Empfehlung 193e8–194a5 enthält einen spielerisch ausgedrückten, in der Sache aber wohl Ernst gemeinten Hinweis über die gesuchte Tapferkeit. Tapfer ist man gerade dann, wenn man sich beharrlich um die erfolgreiche Bewältigung einer Schwierigkeit bemüht. Und vielleicht können wir, wenn wir mit einem Körnchen Salz nicht sparen, in Sokrates’ Worten auch einen Hinweis auf die gemeinsame Anerkennung und die Bereitschaft zu anerkennungswürdigen Handlungen hören – nämlich auf die Anerkennung, die Sokrates und Laches von der Tapferkeit erhielten, wenn sie denn (selbst eine Person und) selbst Beharrlichkeit wäre und wenn die beiden weiter beharrlich auf der Suche bleiben und ansonsten, falls sie vorschnell aufgäben, von der Tapferkeit selbst getadelt würden.34 Sokrates macht an Ort und Stelle jedoch keinen weiteren Vorschlag und Laches resümiert mit leichter Enttäuschung, er habe zwar eine klare Vorstellung davon, was Tapferkeit ist, könne sie aber nicht so recht in Worte fassen (194b1–4). Sokrates nimmt auch diesen Gedanken auf und bittet Nikias hinzu, der ihnen sagen möge, was er über die Tapferkeit denkt.

34 Als Ermutigung zur Fortsetzung der Wissenssuche in scheinbar ausweglosen epistemischen Situationen will Sokrates an Ort und Stelle auch die Botschaft der Anamnesislektion im Menon (86b) verstanden wissen.

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III Die Nikias-Hypothese: Das Wissen über gefährliche oder unbedenkliche Dinge, 194c2–199e12

Sokrates meint, Laches und er selbst befänden sich, „wie im Sturm umhergetrieben“, in einer ausweglosen Lage (194c2–6). Sokrates und Laches stehen vor dem Problem, dass Laches’ letzter Definitionsvorschlag widersprüchlich zu sein scheint und Laches sich keine weiteren Vorschläge zutraut. Freilich ist nicht jede problematische Situation ausweglos. Eine buchstäbliche Ausweglosigkeit (aporia) besteht, wie bereits gesagt, dann, wenn man eine bestimmte Frage nicht beantworten kann und ebenfalls nicht weiß, was man denn zu wissen hätte, um diese Frage beantworten zu können. Das wäre der Fall, wenn Sokrates und Laches alle Möglichkeiten einer Interpretation des von Laches genannten Vorschlags, die Tapferkeit sei eine kluge Beharrlichkeit, durchgespielt und verworfen hätten, so dass es keine weitere Möglichkeit gibt, das Problem, das in der Klärung dieses Vorschlags aufgetreten ist, zu lösen. Das ist jedoch nicht der Fall. Was man herauszufinden hätte, um das Problem der klugen Beharrlichkeit zu lösen, wäre die Beschaffenheit der seelischen Verfassung einer Person, die mit kluger Beharrlichkeit ausschließlich anerkennenswerte Ziele auf eine erfolgversprechende Weise verfolgt. Sokrates bittet Nikias, er möge sie aus der Zwickmühle befreien, indem er seine eigene Meinung über die Tapferkeit äußert. Nikias meint, dass Sokrates und Laches die Tapferkeit bislang nicht richtig beschrieben und eine ihm von Sokrates vertraute Einsicht gar nicht bedacht haben (194c7–9). Diese Einsicht ruft er den beiden nun in Erinnerung. Schon oft habe er Sokrates sagen hören, „dass jeder von uns genau darin gut ist, wovon er ein Wissen hat, wovon er aber kein Wissen hat, darin sei er schlecht“ (194d1–2). Sokrates stimmt zu (194d3): „Weiß Gott, das ist allerdings wahr.“ Sokrates selbst kommentiert seine eigene These nicht. Er scheint abwarten zu wollen, wie Nikias diese These verstanden hat. Wie der weitere Gesprächsverlauf zeigt, versteht Nikias seinen Vorschlag im Sinne eines umfassenden glücksrelevanten Wissens. Die

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These (194d1–2), mit der Nikias sich auf Sokrates beruft, lässt sich in ihrer allgemeinen Form so ausdrücken: Die sokratisch-nikiatische These: Wenn eine Person in der Lage ist, gute, glückszuträgliche Handlungen in einem bestimmten Gegenstandsbereich F auszuführen, dann weiß sie, welche Handlung in dem Bereich F gut ist und sie weiß auch, wie man eine solche Handlung in einer bestimmten Situation ausführt. In diesem Sinne hatte Sokrates zuvor seinen Gesprächspartnern gesagt, dass eine gute Entscheidung auf Wissen beruhen müsse (184e8–9). Die oben genannte These entspricht ganz der Auffassung über den guten, glückszuträglichen Gebrauch von Gütern, die Sokrates in anderen Dialogen vertritt (z. B. Euthydem 278e–282a, Menon 87d–88c). Das Wissen (σοφία, 194d1–2, 3–4, 8–9, resp. ἐπιστήμη, 194e11–12), das Nikias vorschwebt, ist offenbar ein Wissen über gute (oder schlechte) Sachverhalte und Handlungen und zugleich auch die Fähigkeit, gute Handlungen auszuführen..35 Mit seiner zweiten Auskunft (194d4–5) wendet Nikias die sokratische These im Sinne der Eingangsfragestellung auf die Tapferkeit an: „Wenn nun der Tapfere gut ist, dann verfügt er offensichtlich auch über Wissen“ (194d4–5). Für diese These hat Nikias selbst die Verantwortung zu übernehmen. Sokrates versteht Nikias so, dass Nikias die Tapferkeit für eine Art von Wissen hält (194d8–9). Nikias erhebt keinen Einspruch gegen Sokrates’ Wiedergabe seiner These und Sokrates und Laches fragen nach, was für ein Wissen die Tapferkeit sei. Mit seiner Antwort formuliert Nikias den Definitionsvorschlag, den er sodann zu verteidigen hat: „Tapferkeit ist das Wissen davon, was gefährlich und was ungefährlich ist, in der Schlacht und bei allem anderen“ (194e11–195a1). Nikias’ Hypothese können wir auch so ausdrücken: Die Nikias-Hypothese: Tapfer ist eine Person genau dann, wenn sie über das Wissen der in einem glücksrelevanten Sinne gefährlichen oder unbedenklichen Dinge verfügt. Sokrates formuliert die Nikias-Hypothese, wie gesagt, so, als sage Nikias, Tapferkeit sei eine Art von Wissen (194d8–9). Das ist allerdings eine ungenaue Wiedergabe dessen, was Nikias selbst gesagt hat. Nikias hatte unter Berufung auf Sokrates lediglich gesagt, ein bestimmtes Wis35 Beides ist in der sokratischen Auffassung von Wissen fast stets miteinander verknüpft (vgl. die Belege in Hardy 2005). Nur selten gebraucht Sokrates die Wörter episteme und sophia im Sinne eines lediglich propositionalen Wissens.

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sen davon, wie man etwas gut macht, sei eine notwendige Bedingung dafür, dass der Tapfere gut ist (194d4–5). Sokrates wird Nikias’ These so verstehen, dass die Tapferkeit selbst eine Art von Wissen ist. Sokrates legt Nikias diese These in den Mund (194d8–9), und erst danach macht Nikias sich diese These zu eigen und charakterisiert die Tapferkeit sodann in seinen eigenen Worten als „das Wissen davon, was gefährlich und was ungefährlich ist“ (194e11–195a1). Bereits am Anfang der Diskussion zwischen Sokrates und Nikias besteht daher eine Diskrepanz zwischen den Auffassungen der beiden Gesprächspartner über die Bedeutung der These, der zufolge der Tapfere über ein bestimmtes Wissen verfügt. Dieser kleine Unterschied ist zunächst unscheinbar und er wird auch nicht ausdrücklich ausgesprochen, da Nikias sich Sokrates’ Wiedergabe seiner zweiten Auskunft zu eigen macht. Das unterschiedliche Verständnis der These über das Wissen des Tapferen mag aber eine Ursache der späteren Verwirrung sein, die darin besteht, dass Nikias’ nicht in der Lage ist, seinen Definitionsvorschlag so zu interpretieren, dass sich dieser Vorschlag mit der Annahme, die Tapferkeit sei nur ein Aspekt einer insgesamt guten seelischen Verfassung, der Nikias ebenfalls zustimmt, vereinbaren lässt. Da Nikias sich eine These zu eigen macht, die er selbst in dieser Form nicht ausdrücklich vorgeschlagen hatte, dürfte es ihm Schwierigkeiten bereiten, diese These zu verteidigen. Was Nikias fehlt, ist ein eigenes Verständnis der These, die er in der Rolle des Antwortenden zu verteidigen hat. Erfolgreich verteidigen kann man ja nur Thesen, die man selbst, aus eigenen Überlegungen, mit eigenen Worten und Gründen, für richtig hält. Das gilt auch für Thesen, die man von anderen übernimmt; wenn man ihnen aus eigenen Gründen zustimmt, hat man sie in das eigene Überlegen so eingefügt, dass man sie selbst erläutern und verteidigen kann. Auch das ist eine wichtige Leistung der Rechenschaftgabe. In jedem Falle ist sowohl das allgemeine Wissen, das jemanden dazu befähigt, gut zu sein, als auch das spezielle Wissen, das die Tapferkeit auszeichnen soll, genauer zu erläutern (194d10–196c4). Beide Aufgaben hängen logisch und inhaltlich eng miteinander zusammen, sind aber dramaturgisch, d. h. in der Rollenverteilung des Laches voneinander unterschieden. Der Dialogautor Platon weist den Gesprächspartnern Sokrates und Laches verschiedene Rollen zu, und diese Rollenverteilung steht in einer gewissen Spannung zu den logischen Beziehungen, die zwischen den beiden Thesen bestehen, die Nikias äußert. Sokrates stimmt der allgemeinen These zu, die Nikias in Erinnerung ruft. Diese These dürfen wird daher auch Sokrates zusprechen. Nikias vertritt überdies eine spezielle These über die Tapferkeit: Wenn der Tapfere gut ist, dann verfügt er über Wissen (194d4–5). Diese spezielle These des

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Nikias folgt klarerweise aus der generellen sokratisch-nikiatischen These (194d1–2), jedenfalls dann, wenn man ebenfalls annimmt, dass die Tapferkeit, d. h. die tapfere Einstellung einer Person, wie Sokrates ebenfalls im eigenen Namen sagt, ein Aspekt einer insgesamt guten seelischen Verfassung einer Person ist (198a4–b1). Wenn für jede Handlung gilt, dass jemand dann, wenn er über ein entsprechendes Wissen verfügt, seine Sache gut macht, also kraft seines Wissens eudämonistisch gute Handlungen ausführt, dann trifft dies auch auf die tapferen Handlungen zu: Wenn jemand tapfer ist und handelt, dann verfügt er über ein entsprechendes Wissen, das ihn dazu befähigt. Dennoch dürfen wir die spezielle These des Nikias über die Tapferkeit und das für gute, tapfere Handlungen erforderliche Wissen Sokrates nicht ohne weiteres zuschreiben. Wir dürfen von Sokrates zwar eine nähere Erläuterung seiner eigenen, von Nikias zitierten These erwarten – und der Sache nach scheint das Textstück 199d4–e1, wie wir sehen werden, eine solche Erläuterung zu bieten. Sokrates spielt aber nicht die Rolle des Antwortenden, sondern die des Fragenden. Die Rolle des Antwortenden spielt Nikias; es ist seine Aufgabe, die spezielle These über die Tapferkeit zu verteidigen, die er sich zu eigen macht.

1. Die erste Erläuterung der Nikias-Hypothese, 194c7–197e10 Platon lässt die Gesprächspartner Nikias’ Vorschlag in zwei Anläufen erörtern. Der erste Anlauf ist ein Gespräch, in dem sowohl Sokrates als auch Laches Fragen stellen. In diesem Anlauf geht es über Stock und Stein. Großteils ist das Gespräch ein heiter-zänkischer verbaler Schlagabtausch zwischen zwei Freunden. Laches meint, Tapferkeit sei doch wohl etwas anderes als Wissen und hält Nikias’ These für Unfug (195a2–6). Nikias scheint freilich zu wissen, was Laches im Schilde führt: Laches möchte nicht, dass Nikias mit seinen Antworten auf Sokrates’ Fragen besser da steht als er selbst (195a8–b1). Das Gespräch hat aber auch einen ernsthaften Kern: Nikias kann in seiner Entgegnung auf Laches’ Einwände das Wissen von gefährlichen oder unbedenklichen Dingen, das die Tapferkeit auszeichnet, präzisieren. Laches attackiert Nikias’ These mit folgenden Fragen (195b3–5): Sind es im Falle der körperlichen Verfassung eines Menschen nicht die Ärzte, die wissen, was gefährlich oder unbedenklich ist? Oder wissen die nach Nikias’ Auffassung tapferen Menschen, was in diesem Bereich gefährlich oder unbedenklich ist? Oder sind Ärzte Nikias’ Meinung nach tapfer? Nikias verneint die letztere Frage, womit er offenbar sagen

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will, dass Ärzte nicht bereits aufgrund ihres Fachwissens im Sinne seiner These tapfer sind (195b4). Mit dieser Antwort hat Laches gerechnet und er fügt hinzu, auch Landwirte und andere Experten seien wohl nicht in dem von Nikias genannten Sinne tapfer, obwohl sie über ein bestimmtes Expertenwissen verfügen (195b7–c2). Laches möchte Nikias aus der Reserve locken und er geht in seinen Fragen von der Annahme aus, das Wissen über gefährliche oder unbedenkliche Dinge, das die Tapferkeit auszeichnen soll, sei das Wissen, über das ein jeweiliger Experte verfügt. Diese Annahme ist jedoch ein Missverständnis, das Nikias aufklärt. Nikias entgegnet, dass Ärzte zwar wissen, was gesund oder ungesund ist, aber deshalb längst noch nicht ebenfalls wissen, ob Krankheit oder Gesundheit in dem von ihm gemeinten Sinne bedrohlich oder nicht bedrohlich sind. In einigen Fällen sei es für jemanden besser, nicht weiterzuleben, sondern zu sterben (195c7–d9). Nikias hat hier offenbar Grenzsituationen des menschlichen Lebens vor Augen, in denen etwa ein schwerkranker oder schwerverwundeter Mensch im Sinne seiner eigenen Vorstellung von einem insgesamt gelingenden Leben zu der Entscheidung gelangt, dass es besser für ihn ist, nicht weiterzuleben. Solche Entscheidungen treffen zu können, ist eine (großartige) Leistung der tapferen Einstellung eines Menschen, die Nikias meint. Der Hinweis auf solche Grenzsituationen lässt klar erkennen, welches Wissen von den gefährlichen und unbedenklichen Dingen die Tapferkeit auszeichnet. Wenn jemand in einem glücksrelevanten Sinne tapfer ist, dann weiß er, unter welchen Bedingungen sein gelingendes Leben gefährdet ist. Ob es besser ist, zu leben oder zu sterben, weiß, wie Nikias ausdrücklich sagt, „nur derjenige, der weiß, was gefährlich und was ungefährlich ist, den ich tapfer nenne“ (195d8–9). An dieser Stelle fragt Sokrates noch einmal nach und möchte wissen, ob Laches jetzt verstanden hat, was Nikias sagt (195d10). Laches gelingt es jedoch, Nikias erneut falsch zu verstehen. Dass die Tapferen nach Nikias’ Worten wissen, ob es für sie besser ist zu leben oder zu sterben, versteht Laches so, als behaupte Nikias, dass die Seher tapfer sind, weil sie dies wüssten (195e1–7). Laches scheint anzunehmen, Nikias meine, dass die Seher, die in dem Ruf stehen, zukünftige Ereignisse vorhersehen zu können, erkennen können, ob jemandem Tod, Krankheit oder ein anderes Übel bevorsteht, und die Seher deshalb wissen, was für jemanden gefährlich oder nicht gefährlich ist. Auch dieses Missverständnis klärt Nikias auf. Ein Seher möge zwar wissen, ob ein Mensch in eine Situation geraten wird, die nach allgemeiner Auffassung gefährlich ist, aber er weiß deshalb längst nicht, ob eine solche Situation für diesen Menschen gut oder schlecht, nämlich in einem eudämonistischen Sinne gut oder schlecht ist (195e8–196a3). Nikias

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und Laches haben unterschiedliche Vorstellung über das Wissen des Tapferen. Laches nimmt an, dass jemand tapfer ist, wenn er weiß, ob ganz bestimmte bedrohliche Tatsachen vorliegen oder bedrohliche Ereignisse aller Voraussicht nach eintreten werden. Deshalb seien die jeweiligen Experten, die wissen, ob solche Tatsachen vorliegen, tapfer. Nikias unterscheidet hingegen zwischen den Tatsachen, die in einer bestimmten Hinsicht gefährlich oder unbedenklich sind, und den eudämonistisch guten oder schlechten Eigenschaften verschiedener Dinge. Ein Experte kennt gefährliche oder unbedenkliche Dinge in einer ganz bestimmten Hinsicht. Ein Arzt weiß aufgrund seiner Expertise, dass eine Erkrankung die Gesundheit bedroht und in diesem Sinne gefährlich ist. Ein Landwirt weiß, dass Dürre eine gute Getreideernte gefährdet. Das Expertenwissen alleine macht aber niemanden zu einem tapferen Menschen. Nikias möchte darauf hinaus, dass jemand tapfer ist, wenn er weiß, ob eine bestimmte Situation in einem glücksentscheidenden Sinne für eine Person gefährlich oder unbedenklich ist. Laches möchte Nikias indessen immer noch nicht so recht verstehen; er argwöhnt, Nikias wolle seine Ratlosigkeit verbergen und nicht eingestehen, dass seine Auskünfte widersprüchlich sind (196a4–b7). Sokrates übernimmt jetzt das Ruder und stellt eine sachlich angemessene, zielführende Frage (196c10–d8): „Sage mir also, Nikias, oder besser: uns, denn ich und Laches unternehmen ja die Untersuchung gemeinsam: Von der Tapferkeit behauptest du, sie sei ein Wissen davon, was gefährlich und was ungefährlich ist? – Ja. – Und dies zu erkennen ist nicht jedermanns Sache, da ja weder ein Arzt noch ein Seher dieses Wissen haben noch auch tapfer sein sollen, es sei denn, sie hätten eben dieses Wissen eigens erworben. Das hast du gesagt, nicht wahr? – Ja, das habe ich.“ Sokrates und Nikias schaffen hier noch einmal Klarheit, und jetzt endlich sollte eine genauere Erörterung der von Nikias genannten Hypothese beginnen können. Doch ach, der streitlustige Laches, der sich gerade erst aus der Rolle des Fragenden verabschiedet hatte, unterbricht die weitere Diskussion noch ein letztes Mal mit einer irreführenden Frage. Jetzt möchte Laches erfahren, ob Nikias bestreitet, dass die Tiere tapfer sind, die man nach allgemeiner Auffassung für tapfer hält, oder ob er behauptet, dass diese Tiere über ein größeres Wissen verfügten als Menschen (197a1–5). Wenn es zutrifft, dass man dann tapfer ist, wenn man weiß, welche Dinge eudämonistisch gefährlich oder unbedenklich sind, und Tiere über dieses Wissen nicht verfügen, dann sind Tiere in der Tat nicht tapfer. Laches’ Kritik ist ein Einwand ad hoc, den Nikias mit einer Wortunterscheidung ad hoc pariert: Tapfer seien nur vernünftige Wesen, während die Unvernünftigen nicht tapfer, sondern furchtlos und töricht oder verwegen sind (197a6–c1).

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Nikias unterscheidet in seiner Entgegnung auf Laches’ Frage zwei bedeutungsähnliche, quasi-synonyme Wörter voneinander. Bei Wortunterscheidungen ist Vorsicht geboten. Wortunterscheidungen, die mit der Erklärung eines Sachverhalts verknüpft sind, schaffen stets Klarheit, aber durchaus nicht jede Wortunterscheidung ist erklärungskräftig. Wenn man die Bedeutung eines Wortes „F“ erläutert, gibt man die Wahrheitsbedingungen der Sätze bzw. der Menge der Sätze an, in denen das Wort „F“ als ein Prädikat fungiert. Wenn die entsprechenden Sätze wahr sind, wird mit einer Worterläuterung zugleich eine Eigenschaft bzw. eine Menge von Eigenschaften der mit diesem Wort bezeichneten Sache identifiziert. Wenn man die Bedeutung von „tapfer“ etwa so erläutert, dass man eine jede Person genau dann tapfer nennt, wenn sie über das Wissen der gefährlichen oder unbedenklichen Dinge verfügt, dann sagt man zugleich eben dies über tapfere Menschen aus. Die Unterscheidung der Bedeutung von Wörtern ist im Blick auf die Erklärung eines Sachverhalts sinnvoll, wenn sie dazu dient, vage, unklare Fälle genau zu beschreiben, um sie so in klare, genau bestimmbare Fälle zu verwandeln. (Fälle dieser Art nennt Platon in Politeia V.) Wortunterscheidungen, die diese Funktion nicht erfüllen, sind möglicherweise lexikologisch informativ, aber philosophisch irrelevant. Ob eine Wortunterscheidung für eine sokratische Untersuchung relevant oder irrelevant ist, erkennt man daran, ob sie zur Klärung einer sokratischen „Wasist-F?“-Frage beiträgt oder nicht. Viele Wortunterscheidungen in Platons Dialogen sind heiter, aber wohl philosophisch irrelevant, so etwa diejenigen, die Prodikos im Protagoras zum Besten gibt (Protagoras 337a– c). Sokrates persifliert die subtilen Unterscheidungen des Prodikos gerne, und Prodikos kann seine Kunstfertigkeit immerhin mit soviel Abstand betrachten, dass er Sokrates’ Spaß versteht (358b). Im Charmides äußert sich Sokrates einmal klar und unmissverständlich über den Sinn von Wortunterscheidungen der Art wie er sie schon oft von Prodikos gehört habe: Sein Gesprächspartner Kritias möge mit den Wörtern umgehen, wie es ihm persönlich gefällt. Er möge nur jeweils klar machen, auf welche Sache er sich mit einer bestimmten Wortwahl bezieht (Charmides 163d3–7). Wenn man einen Wortgebrauch so erläutert, dass die Gesprächspartner einer Diskussion wissen, welche Wörter welchen Sachverhalt bedeuten, brauchen sie sich über Wörter nicht zu streiten, sondern können gemeinsam darüber nachdenken, ob das, was jemand auf eine für andere erkennbare Weise über eine Sache sagt, zutrifft oder nicht zutrifft. Nikias’ Unterscheidung wäre beispielsweise relevant, wenn es wilde Tiere gäbe, die unter einer bestimmten Beschreibung tapfer, unter einer anderen Beschreibung nicht tapfer, sondern etwa verwegen sind und der

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allgemeine Sprachgebrauch von „tapfer“ beide Beschreibungen enthielte. Solche vagen Fälle könnte man klären, wenn man den Gebrauch von „tapfer“ so festlegt, dass ein Wesen nur dann tapfer ist, wenn es vernünftig handelt und man die Fälle vernünftigen oder unvernünftigen Handelns wiederum klar voneinander unterscheidet. Um Nikias’ Definition ernsthaft zu kritisieren, müsste Laches auf Fälle hinweisen, in denen jemand (mit Nikias’ Zustimmung) tapfer ist, aber nicht über das Wissen gefährlicher oder unbedenklicher Dinge verfügt und insofern unvernünftig ist. Ob das Reich der wilden Tiere wirklich solche Fälle enthält oder man die Rede von tapferen Tieren nicht einfach als einen metaphorischen Sprachgebrauch verstehen kann, sei hier dahingestellt. In jedem Falle dürfte es recht klar sein, dass Nikias’ Unterscheidung zwischen dem Gebrauch von „tapfer“ und „töricht“ oder „verwegen“ in seiner Entgegnung auf Laches’ Einwand ihren Zweck erfüllen mag, aber entbehrlich ist, um Nikias’ Definition zu verstehen, der zufolge jemand genau dann tapfer ist, wenn er weiß, welche Dinge in einem glücksentscheidenden Sinne gefährlich oder unbedenklich sind. Sokrates vermutet, Nikias habe seine Unterscheidung von Damon übernommen, der mit Prodikos vertraut sei, der in dem Ruf steht, unter allen Sophisten die Kunst der Unterscheidung quasi-synonymer Wörter am besten zu beherrschen (197d1–5).36 Laches hält Nikias’ Unterscheidung für spitzfindig und scheint zu meinen, dass solche Spitzfindigkeiten eines so ehrenwerten Mannes wie Nikias unwürdig sind (197d6–8). Sokrates lässt diese Bemerkung auf sich beruhen und möchte das, was Nikias sagt, genau prüfen (197e1–4). Mit dieser Aufforderung lenkt er das Gespräch wieder in eine philosophische Bahn zurück. Laches steigt jetzt endgültig aus der Rolle des Fragenden aus und überlässt Sokrates das weitere Fragen (197e5). Nikias ist es immerhin gelungen, seine Auffassung über die Tapferkeit, mit der er sich auf Sokrates beruft, in einer wichtigen Hinsicht zu präzisieren: Das glücksentscheidende Wissen des Tapferen ist kein Expertenwissen, und ein bestimmtes Expertenwissen ist keineswegs hinreichend für den Besitz des glücksentscheidenden Wissens. Ärzte mögen wissen, ob eine bestimmte körperliche Verfassung die Gesundheit eines Menschen bedroht, und sie mögen auch wissen, ob Gesundheit oder Krankheit (oder auch eine bestimmte Therapie) in einem eudämonistischen Sinne gut oder schlecht ist. Hoffentlich wissen sie es. Aber aufgrund ihres medizinischen Wissens alleine wissen sie es jedenfalls nicht. Denn das Wissen über das, was in einem glücksrelevanten Sinne

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Zu Damon vgl. Nails 2002: 121 f.

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bedrohlich oder unbedenklich ist, bezieht sich auf die Sachverhalte, die unter bestimmten Umständen über ein gelingendes oder misslingendes Leben entscheiden. Der Tapfere kann Gefahren abwägen und deshalb in einer möglichen Grenzsituation sogar entscheiden, ob zu leben oder zu sterben besser für ihn ist. In diesem Sinne spricht auch Sokrates im Phaidon über die Tapferkeit der Philosophierenden, die eine rationale Überwindung der Todesfurcht ermöglicht (67b7–68b7).

2. Die Prüfung der Nikias-Hypothese: Das Schlussargument über die Tapferkeit, 197e10–199e12 In 197e10–198a2 unternimmt Sokrates einen neuen Anlauf. Nikias hatte gesagt, eine Person sei genau dann tapfer, wenn sie über das Wissen von gefährlichen oder unbedenklichen Dingen verfügt und er wird an diesem Vorschlag festhalten (199a10–b2). Sokrates expliziert nun die beiden Elemente des Definiens der von Nikias vorgeschlagenen Definition, und zwar zuerst die Bedeutung der Rede von gefährlichen oder unbedenklichen Dingen und danach die Bedeutung der Rede von einem Wissen über diese Dinge. Diese Erläuterung wird zu einer neuen, komplexen und plausiblen Tapferkeitsdefinition führen, die jedoch mit der ganz unproblematischen Annahme, die Tapferkeit sei ein Teil einer insgesamt guten seelischen Verfassung, unvereinbar zu sein scheint, so dass Sokrates am Ende zu dem Ergebnis kommt, man habe nicht herausgefunden, was Tapferkeit ist. Wie kommt es dazu? Das Textstück, in dem das Schlussargument des Laches entwickelt wird, lässt sich im Blick auf die logische Struktur des Arguments folgendermaßen gliedern (die folgende Nummerierung der Thesen, die als Prämissen oder Konklusionen fungieren, bezieht sich auf die spätere Darstellung des Arguments): Annahme 1, 196c10–d3: „Sokrates: Sage mir also, Nikias, … Von der Tapferkeit behauptest du, sie sei ein Wissen davon, was gefährlich (δεινῶν) und was unbedenklich (θαρραλεᾥν) ist? – Ja.“ Im Sinne einer Definition lässt sich diese, erstmals in 194e11–195a1 genannte Hypothese über die Tapferkeit, auf die Sokrates und Nikias sich einigen, so ausdrücken: Eine Person ist genau dann tapfer, wenn sie weiß, welche Dinge unbedenklich oder gefährlich sind. Im weiteren Verlauf des Gesprächs zwischen Sokrates und Nikias wird diese Definition mehrfach neu formuliert und erweitert. Nach der Wiederholung der von Nikias vorgeschlagenen Definition ruft Sokrates die eingangs von

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ihm selbst vorgeschlagene Annahme in Erinnerung, der zufolge die Tapferkeit ein Aspekt einer insgesamt guten seelischen Verfassung (ein Teil des Gutseins) ist. Sokrates möchte nun auch Nikias’ Zustimmung zu dieser Annahme gewinnen: Annahme 8*, 198a4–b1: „Sokrates: Hast nicht auch du deine Antwort als eine Antwort auf unsere Frage, was die Tapferkeit als Teil des Gutseins sei, verstanden, wobei es natürlich noch andere Teile gibt, die alle zusammen ‚Gutsein‘ heißen? – Nikias: Selbstverständlich. – Verstehst du darunter dieselben Teile wie ich? Ich nenne außer der Tapferkeit Besonnenheit und Gerechtigkeit und einiges andere dieser Art. Du nicht auch? – Sicher.“ Diese Annahme hat eine besondere logisch-dramaturgische Bewandtnis, die auch der Grund dafür ist, dass ich die Annahme in der obengenannten Form als Annahme 8* bezeichne, obwohl sie im Text des Laches auf die Wiederholung der Tapferkeitsdefinition folgt. An Ort und Stelle ist die besagte Annahme so zu verstehen: Wenn eine Person sich in einer insgesamt guten seelischen Verfassung befindet, verfügt sie über verschiedene spezielle Tugenden. Eine dieser Tugenden ist die Tapferkeit. Das bedeutet: Wenn eine Person sich in einer guten seelischen Verfassung befindet, dann ist sie in jedem Falle auch tapfer, und insofern ist die Tapferkeit ein Teil des Gutseins. Neben der Tapferkeit gibt es weitere spezielle Tugenden wie etwa Besonnenheit und Gerechtigkeit „und einiges andere dieser Art“. Das bedeutet: Wenn eine Person sich in einer guten seelischen Verfassung befindet, dann ist sie tapfer, besonnen, gerecht und verfügt auch über alle anderen glücksrelevanten Tugenden. Wenn Sokrates und Nikias sich auf diese Annahme einigen, so deutet an Ort und Stelle zunächst nichts darauf hin, dass sich diese Annahme mit Nikias’ Tapferkeitsdefinition möglicherweise nicht vereinbaren lässt. Von einem Wissen über unbedenkliche oder gefährliche Dinge ist in dieser Annahme nicht die Rede. Das logische Verhältnis zwischen dieser Annahme und der ersten Tapferkeitsdefinition des Nikias ist an dieser Stelle deshalb noch völlig offen. An späterer Stelle wird Sokrates diese Annahme nochmals in Erinnerung rufen und ihr dann eine ganz andere Bedeutung geben – eine Bedeutung, die hier, an Ort und Stelle, gar nicht erkennbar und wohl auch nicht zu vermuten ist. Zwischenzeitlich wird Sokrates die von Nikias vorgeschlagene Tapferkeitsdefinition mehrfach erweitert haben – mit dem Ergebnis, dass eine Person genau dann tapfer ist, wenn sie über das Wissen aller (eudämonistisch) guten oder schlechten Dinge verfügt und sich zudem in einer insgesamt guten seelischen Verfassung befindet. Diese neue und

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erweiterte Tapferkeitsdefinition wird Sokrates so verstehen, dass die Tapferkeit nicht nur ein Teil, sondern dasselbe wie das gesamte Gutsein ist, und dieses Ergebnis wird Sokrates sodann so kommentieren, dass es mit der Annahme, die Tapferkeit sei ein Teil einer insgesamt guten seelischen Verfassung, unvereinbar zu sein scheint (199e3–9): „Nicht also nur ein Teil der Tugend (des Gutseins), Nikias, dürfte wohl das, was du genannt hast, sein, sondern die gesamte Tugend? – So scheint es. – Aber nun wir haben doch gesagt, die Tapferkeit sei nur ein einziger der Teile der Tugend? – Das haben wir. – Nach dem jetzt Gesagten scheint es aber nicht so zu sein? – Richtig.“ Wenn man die Annahme, die Tapferkeit sei ein Teil einer insgesamt guten seelischen Verfassung so versteht, dass sie die erweiterte Tapferkeitsdefinition verneint, dann folgt aus dem Schlussargument, dass entweder diese Annahme oder die erweiterte Tapferkeitsdefinition falsch ist. Da Sokrates die in 198a4–b1 genannte Annahme aber eben erst an der späteren Stelle 199e3–9 in eben diesem Sinne versteht, genauer gesagt: in diesem Sinne zu verstehen scheint, ist es wohl sinnvoll, zwei Versionen dieser Annahme zu unterscheiden und die Version der Annahme, die als eine Prämisse des Arguments fungiert, in der Rekonstruktion des Arguments erst an der späteren Stelle aufzuführen. Ich kennzeichne die allgemeine Version der Annahme, die in dieser Form in keinem erkennbaren Widerspruch zu der erweiterten Tapferkeitsdefinition steht, mit einem Stern (Annahme 8*) und bezeichne die spätere Version dieser Annahme, die der erweiterten Tapferkeitsdefinition zu widersprechen scheint, als Annahme 8, als welche ich sie auch an eben dieser Stelle in der Rekonstruktion des Arguments aufführen werde. Annahme 2 mit Zwischenkonklusion 3, 198b2–c8: „Dann sind wir uns einig. Was aber gefährlich und ungefährlich ist, das sollten wir uns genauer ansehen. … Wir meinen, dass dasjenige gefährlich ist, was Furcht bereitet, und dasjenige ungefährlich, was keine Furcht bereitet. Furcht bereiten aber nicht die vergangenen, noch auch die gegenwärtigen Übel, sondern die, die man erwartet. Denn Furcht ist unserer Meinung nach die Erwartung eines zukünftigen Übels, oder bist du, Laches, etwa nicht dieser Auffassung? – Doch, ganz entschieden. – Von uns also hörst du, Nikias, dass gefährlich das zukünftige Übel, ungefährlich dagegen das Zukünftige ist, das nicht schlecht oder sogar gut ist. Du aber, sagst du darüber dasselbe oder etwas anderes? – Dasselbe. – Und das Wissen davon nennst du Tapferkeit? – Allerdings.“ Gefährlich oder unbedenklich sind die Ereignisse, denen man mit Furcht oder Zuversicht begegnet. Furcht ist „die Erwartung eines künftigen

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Übels“ (198b8–9), und Zuversicht ist die Erwartung einer künftigen, nahe bevorstehenden guten Sache. Die gefährlichen oder unbedenklichen Dinge, denen man mit Furcht oder Zuversicht begegnet, sind zukünftige Ereignisse, und diese Ereignisse haben ebenfalls die Eigenschaft, gut bzw. schlecht zu sein. Dass die gefährlichen oder unbedenklichen Dinge zugleich schlechte oder gute Dinge sind, besagt bereits die erste allgemeine These des Nikias, der zufolge der Tapfere weiß, welche Dinge gefährlich oder unbedenklich sind, die er, wie gesagt, als eine Variante der sokratischen These versteht, der zufolge man etwas nur dann gut macht, wenn man über ein entsprechendes Wissen verfügt. Nikias macht sich nun auch die Folgerung zu eigen, der zufolge der Tapfere über das Wissen von den bevorstehenden guten oder schlechten Ereignissen verfügt. Jedes zukünftige Ereignis ist entweder gefährlich oder unbedenklich, und jedes dieser Ereignisse ist auch in einem glücksrelevanten Sinne schlecht oder gut. Aus der Konjunktion der Tapferkeitsdefinition des Nikias und der Annahme 2, der zufolge die gefährlichen oder unbedenklichen Dinge die zukünftigen Dinge sind, die in jedem Falle auch in einem glücksrelevanten Sinne schlecht oder gut sind, folgt eine erste erweiterte Definition der Tapferkeit, und zwar unter den folgenden Bedingungen: Wenn es zutrifft, dass (i) eine Person genau dann tapfer ist, wenn sie weiß, welche Dinge gefährlich oder unbedenklich sind, und es zutrifft, dass (ii) jedes zukünftige Ereignis gefährlich oder unbedenklich ist und (iii) jedes dieser Ereignisse auch in einem glücksrelevanten Sinne schlecht oder gut ist, und (iv) wenn die tapfere Person auch ausdrücklich weiß, dass die zukünftigen gefährlichen oder unbedenklichen Dinge stets auch in einem glücksrelevanten Sinne schlecht oder gut sind, dann gilt, dass eine Person genau dann tapfer ist, wenn sie weiß, dass jedes zukünftige Ereignis schlecht oder gut ist (und freilich auch weiß, welche Dinge/ Ereignisse schlecht oder gut sind). Das ist bereits eine erste Erläuterung der von Nikias ursprünglich genannten Tapferkeitsdefinition. Als eine Definition des Wissens, über das der Tapfere verfügt, ist sie jedoch kategorial unterbestimmt, wie die nächste Annahme zeigen wird. Annahme 4, 198c9–199a9: „So lass uns denn noch schauen, ob du und wir auch beim dritten Punkt einer Meinung sind. … Wir beide … meinen, dass es bei allem, wovon es Wissen gibt, nicht etwa ein Wissen gibt, über das Geschehene zu wissen, wie es geschehen ist, ein anderes, über das (gegenwärtig) Geschehende zu wissen, wie es geschieht, und wieder ein anderes, zu wissen, wie das noch nicht Geschehene am besten geschehen könnte und geschehen wird, sondern ein und dasselbe Wissen. Was beispielsweise das Heilsame betrifft, so überblickt für alle

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Zeitpunkte kein anderes Wissen als die Heilkunst, die eine ist, das Gegenwärtige, das Vergangene und das Zukünftige, wie es geschehen wird … Stimmst du uns zu, Nikias, dass mit Blick auf dieselbe Sache sich ein und dasselbe Wissen auf das Zukünftige, das Gegenwärtige und das Vergangene bezieht? – Ja, denn so scheint es mir zu sein, Sokrates.“ Für das Wissen, das Sokrates so erläutert, gibt er drei Beispiele (198d5– 199a4): Ein Arzt weiß, was zu einem vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen Zeitpunkt heilsam ist. Ein Landwirt weiß, unter welchen Bedingungen ein Acker zu jedem Zeitpunkt, an dem bestimmte Bedingungen vorliegen, eine gute Ernte hervorbringt. Und die Strategen wüssten, wie man eine Schlacht plant und führt, und deshalb brauchen und sollten sie sich nicht etwa auf Seher verlassen, die irgendwelche Vorzeichen meinen deuten zu können.37 Das Wissen, das Sokrates mit Nikias’ Zustimmung hier beschreibt, ist ein (im weiteren Sinne) theoretisches Wissen, d. h. ein Wissen über allgemeine Sachverhalte bzw. allgemeine Eigenschaften. Wenn man über ein theoretisches Wissen von F verfügt, dann kennt man den allgemeinen Sachverhalt F in dem Sinne, dass man die notwendigen und hinreichenden Bedingungen dafür kennt, dass der Sachverhalt F besteht (oder nicht besteht), und kann so auch erklären, weshalb der Sachverhalt F besteht. Das Wissen von allgemeinen Sachverhalten kommt daher in der Form (faktischer und kontrafaktischer) allquantifizierter Konditionalaussagen zum Ausdruck. Die Beschreibung dieses Wissens enthält keine raum-zeitlichen Indizes. Das theoretische Wissen bezieht sich nun in dem Sinne auch auf ganz bestimmte Ereignisse, dass jemand, der den allgemeinen Sachverhalt F kennt, auch weiß, ob ein bestimmtes Ereignis eine Instanz von F ist. Das, was man über einen allgemeinen Sachverhalt F weiß, ist das, was allen Ereignissen, die F instantiieren, gemeinsam ist, also auf jede Instanz von F zutrifft. Die Rede von allgemeinen Sachverhalten und allgemeinen Eigenschaften sei hier so erläutert: Allgemeine Sachverhalte sind die Gegenstände von Beschreibungen, Erklärungen und Definitionen, die sich auf das beziehen, was auf mehrere, jeweils besondere Sachverhalte in derselben Weise zutrifft. Allgemeine Sachverhalte sind vor allem das, was Erklärungen (bzw. erklärende Definitionen) erklären. Man könnte auch sagen: Allgemeine Sachverhalte sind das, was unter eine allgemeine Beschreibung oder Erklärung oder unter eine Definition fällt. Und allge37

Das letztgenannte Beispiel ist vielleicht auch eine Anspielung auf eine folgenreiche Fehlentscheidung des Feldherrn Nikias, der offenbar in einer entscheidenden Situation nicht seinem strategischen Sachverstand, sondern dem Rat eines Sehers vertraut hat, vgl. Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, 7. 50.

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meine Eigenschaften sind diejenigen Eigenschaften, die ein bestimmtes Einzelding oder Ereignis hat, das ein Element eines allgemeinen Sachverhalts ist. Wenn ein allgemeiner Sachverhalt besteht, dann haben die Einzeldinge oder Ereignisse, die unter die Beschreibung eines bestimmten Sachverhalts fallen, die allgemeinen Eigenschaften {E1, …, En}. Die allgemeine Eigenschaft Wasser ist beispielsweise die Tatsache, dass jede spezielle raum-zeitliche Wassermenge die Molekularstruktur H2O hat. Der allgemeine physikalische Sachverhalt Arbeit ist die Tatsache, dass Arbeit das Produkt der physikalischen Größen Kraft und Weg (der in Wegrichtung aufgewendeten Kraft) ist. Der allgemeine physikalische Sachverhalt Geschwindigkeit ist der Quotient aus Wegstrecke und Zeit. Der allgemeine Sachverhalt linearer Inkommensurabilität ist die Tatsache, dass sich bestimmte Längen, nämlich jede Seitenlänge eines Rechtecks, nicht als ein Verhältnis zweier ganzer Zahlen darstellen lässt. Wenn man über ein theoretisches Wissen über solche Tatsachen verfügt, dann weiß man, dass ein bestimmter Sachverhalt unter bestimmten Bedingungen besteht. Ein Wissen dieser Art ist offenbar gemeint, wenn Sokrates in 198c9–199a9 davon spricht, dass sich dasselbe Wissen von einer bestimmten Sache auf die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft, also auf verschiedene Zeitpunkte bezieht, zu denen ein bestimmter Sachverhalt besteht. Wenn das zutrifft, dann kennt der Tapfere die allgemeinen Bedingungen, unter denen eine Sache unbedenklich und gut oder gefährlich und schlecht ist, und in genau diesem Sinne kennt der Tapfere nicht lediglich die zukünftigen guten oder schlechten Dinge, sondern alle Dinge dieser Art. Die Verknüpfung der beiden Annahmen, mit denen Sokrates die beiden Elemente des Definiens der Nikias-Hypothese expliziert hat, führt zu einer zweiten erweiterten Definition der Tapferkeit: Zwischenkonklusion 5, 199a10–199d3: „Und Tapferkeit … ist doch, wie du behauptest, das Wissen davon, was gefährlich und was ungefährlich ist, nicht wahr (Wiederholung der Annahme 1)? … Und es wurde übereinstimmend gesagt, dass das Gefährliche und das Ungefährliche das zukünftig Gute oder Schlechte ist? – Gewiss (199b3–5, Wiederholung der Annahme 2). – Und auch, dass sich ein und dasselbe Wissen auf dieselben Dinge bezieht, ob sie nun zukünftige sind oder sich sonst wie verhalten? – So ist es (199b6–8, Wiederholung der Annahme 4). – Also ist die Tapferkeit nicht nur ein Wissen davon, was gefährlich und was ungefährlich ist. Denn sie kennt nicht nur das zukünftige Gute und Schlechte, sondern auch, was gegenwärtig und zukünftig und sonst wie ist – so wie bei den anderen Wissensarten? – So scheint es. – Du hattest uns als Antwort also einen Teil der Tapferkeit gegeben, etwa ein Drittel.

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Wir haben aber danach gefragt, was die ganze Tapferkeit sei. Und nach deiner jetzigen Erklärung ist aber Tapferkeit anscheinend nicht bloß Wissen des Gefährlichen und Ungefährlichen, sondern Wissen von allem, das gut und schlecht und sonst wie ist, müsste, wie jetzt wieder deine Behauptung lautet, Tapferkeit sein …? – Ich glaube schon, Sokrates.“ Der Tapfere kennt demnach nicht lediglich die zukünftigen gefährlichen und schlechten oder unbedenklichen und guten Dinge, sondern alle Dinge dieser Art. Diese Annahme bedarf aber einer wichtigen Präzisierung. Das theoretische Wissen bezieht sich, wie gesagt, auf allgemeine Sachverhalte und Eigenschaften und nicht auf bestimmte raum-zeitliche Einzeldinge oder Ereignisse als solche. Der Tapfere kennt nicht etwa jedes einzelne bedrohliche oder unbedenkliche Ereignis, sondern er kennt die generellen Bedingungen, unter denen ein bestimmtes Ereignis – wann und wo immer es eintritt – gefährlich oder unbedenklich ist. Wenn Sokrates sich den Scherz erlaubt, Nikias habe zuvor nur einen Teil, nämlich ein Drittel der gesuchten Tapferkeit genannt (199c3–4), so scheint er anzunehmen, dass Nikias das Wissen über die Tapferkeit so auffasst, dass es gleichsam die Gesamtsumme des Wissens über vergangene, gegenwärtige und zukünftige gefährliche oder unbedenkliche Ereignisse ist. Diese Auffassung wäre jedoch ein Missverständnis. Nehmen wir an, ein sachkundiger Winzer denkt darüber nach, wo und wann er bestimmte Rebsorten pflanzt, und er weiß, an welche Bedingungen deren Gedeihen geknüpft ist. Wenn er nun etwa über Bodeneigenschaften und den durchschnittlich zu erwartenden Niederschlag und Sonnenschein in den Anbaugebieten Athen, Thessaloniki und Samos oder über die entsprechenden (tatsächlichen oder möglichen) Verhältnisse im vergangenen Jahr, im jetzigen und im nächsten Jahr nachdenkt, so beurteilt er diese Sachverhalte nach allgemeinen Eigenschaften. Nach Nikias’ Beschreibung wäre etwa das Wissen um Eigenschaften des Anbaugebietes Athen ein Drittel und das Wissen um die Gebiete Athen, Thessaloniki und Samos die ‚Gesamtsumme‘ des Wissens, über das der Winzer verfügt. Das Wissen der allgemeinen Eigenschaften guter Anbaugebiete ist freilich nicht die Summe der Kenntnisse von irgendwelchen Weinbergen, die an ganz bestimmten Orten liegen, oder die Summe der Kenntnisse von bestimmten Kalendertagen, an denen die Sonne zwölf Stunden lang geschienen hat oder aller Voraussicht nach scheinen wird. Was der Winzer kennt, sind allgemeine Eigenschaften wie die Zusammensetzung eines Bodens oder die Niederschlagsmenge oder die durchschnittlichen Sonnenscheinstunden, die zu einer bestimmten Ernte führen. Der Winzer verfügt über ein Wissen, das, wie gesagt, die Form (fak-

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tischer und kontrafaktischer) allquantifizierter Konditionalaussagen, d. h. die Form gesetzesartiger Aussagen über die Eigenschaften von Weinbergen und Rebsorten hat. Nicht die Ereignisse, die zu bestimmten Zeitpunkten an bestimmten Orten stattfinden, sondern die (allgemeinen) Eigenschaften, die bestimmte Ereignisse an jedem Ort und zu jeder Zeit haben, sind die Gegenstände des theoretischen Wissens. In derselben Weise kennt der Tapfere die allgemeinen guten oder schlechten, und zwar die im eudämonistischen Sinne guten oder schlechten Eigenschaften der Dinge, denen man in konkreten Situationen mit Furcht oder Zuversicht zu begegnen hat. In diesem Sinne hatte ja Nikias selbst bereits seinen Vorschlag im Gespräch mit Laches erläutert; der Tapfere wisse, „was gefährlich und was ungefährlich ist, in der Schlacht und bei allem anderen“ (194e11–195a1). Diese Charakterisierung des Wissens über gefährliche oder unbedenkliche Dinge nimmt Sokrates hier auf. Das Wissen des Tapferen ist ein im Sinne von 198c9–199a9 theoretisches Wissen über gefährliche oder unbedenkliche Sachverhalte. Aber kann jemand über dieses Wissen verfügen, ohne zugleich eine bestimmte tapfere Einstellung zu haben, also auch zu wissen, wie man mit Gefahren richtig umgeht? Sokrates gibt mit seiner nächsten Annahme eine Antwort auf diese Frage. Wer über ein umfassendes Wissen über gefährliche oder unbedenkliche Sachverhalte verfügt, der befindet sich zugleich in einer insgesamt guten, glückszuträglichen seelischen Verfassung, in der er nicht nur tapfer ist, sondern auch über alle anderen glücksrelevanten Tugenden verfügt. Annahme 6, 199d4–e2: „Glaubst du nun, Trefflicher, (jemand) ließe etwas am Gutsein vermissen, wenn er (i) wirklich von allem Guten Bescheid und in jeder Hinsicht wüsste, (ii) wie es entsteht, entstehen wird und entstanden ist, und ebenso von allem Schlechten? Und glaubst du, diesem (Menschen) (iii) fehle es an Besonnenheit oder Gerechtigkeit und Frömmigkeit – ihm, der jedenfalls der einzige ist, dem es gegeben ist, Göttern wie Menschen gegenüber zu beachten, was bedrohlich ist und was nicht, und (iv) das Gute zu erlangen, da er damit richtig umzugehen weiß? – Da scheinst du mir etwas Richtiges zu sagen.“ Sokrates beschreibt hier eine komplexe gute, glückszuträgliche – und ideale – seelische Verfassung eines Menschen. Wer sich in einer solchen Verfassung befindet, verfügt über das Wissen von (i) gefährlichen oder unbedenklichen Dingen (d9-e1), das sich ebenfalls auf alle anderen guten oder schlechten Eigenschaften dieser Dinge bezieht (d5), und zwar derart, dass dieses Wissen (ii) von ganz bestimmten Zeitpunkten unabhängig ist (d5–6), also ein Wissen von allgemeinen guten oder

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schlechten Sachverhalten ist, und (iii) er ist auch im Besitz jeder glücksrelevanten Tugend (d7-e1), so dass er das Gute nicht nur kennt, (iv) sondern auch zu erlangen (e1), d. h. entsprechend zu handeln vermag (vgl. die Formulierung Menon 78c1, c4–5). Diese Beschreibung einer insgesamt guten seelischen Verfassung enthält offenbar auch die These, der zufolge die verschiedenen Tugenden voneinander abhängig sind. Nennen wir diese These im folgenden die Interdependenzthese. Mit der Erläuterung einer insgesamt guten seelischen Verfassung gewinnt Sokrates eine nochmals erweiterte, sehr reichhaltige Definition der Tapferkeit: Wenn jemand tapfer ist, dann weiß er nicht nur, welche Dinge unbedenklich oder gefährlich sind, sondern er kennt auch die anderen allgemeinen guten oder schlechten Eigenschaften der unbedenklichen oder gefährlichen Dinge, und dieses Wissen ist überdies mit dem Besitz der Tugenden, d. h. mit einer motivationalen Kraft verknüpft. Sokrates kommentiert die so nochmals – und abschließend – erweiterte Tapferkeitsdefinition nun auch in den Worten der zuvor genannten Annahme, der zufolge die Tapferkeit ein Aspekt (bzw. Teil) einer guten seelischen Verfassung ist (190c9–d8) und weist darauf hin, dass Nikias’ Definition in ihrer erweiterten Fassung nunmehr auf das gesamte Gutsein zutrifft: Zwischenkonklusion 7, 199e3–5: „Nicht also nur ein Teil des Gutseins, Nikias, dürfte wohl das, was du genannt hast, sein, sondern das gesamte Gutsein?“ So ist es wohl. Dass die Tapferkeit ein Teil des Gutseins und zugleich das gesamte Gutsein ist, bedeutet im Sinne der zuvor gewonnenen Erläuterung des ‚gesamten Gutseins‘, dass jemand, der sich in einer insgesamt guten seelischen Verfassung befindet, genau dann tapfer ist, wenn er ebenfalls gerecht, besonnen etc. ist, also über alle relevanten Tugenden verfügt. Das ist der Inhalt der erweiterten Definition der Tapferkeit. Die eine Tugend namens Tapferkeit repräsentiert insofern in der Tat das gesamte Gutsein. Sokrates konstruiert nun jedoch ein Problem: Annahme 8, 199e6–10: „Aber wir haben doch gesagt, Tapferkeit sei nur ein einziger der Teile des Gutseins? – Das haben wir – Nach dem jetzt Gesagten scheint es aber nicht so zu sein? – In der Tat.“ Zuvor hatten Sokrates und Nikias sich darauf geeinigt, dass die Tapferkeit ein Teil einer insgesamt guten seelischen Verfassung ist. Nach der erweiterten Tapferkeitsdefinition scheint die Tapferkeit nun aber eine echte Teilmenge des Gutseins und zugleich dasselbe wie das Gutsein zu sein. Sokrates erweckt so den Anschein, als widerspreche die erweiterte

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Tapferkeitsdefinition der Annahme über die Tapferkeit als eines Bestandteils einer insgesamt guten seelischen Verfassung und kommt zu dem Ergebnis, dass er und Nikias keine akzeptable gemeinsame Antwort auf die Frage, was Tapferkeit ist, gefunden haben. 199e11–12, Konklusion 9: „Also haben wir nicht gefunden, Nikias, was Tapferkeit ist? – Offenbar nicht.“ Mit diesen Worten resümiert Sokrates die Tatsache, dass die Erörterung der von Nikias vorgeschlagenen Tapferkeitsdefinition dazu geführt hat, dass die Tapferkeit einerseits ein Teil einer insgesamt guten seelischen Verfassung ist, eine im Sinne von 199d4–e1 tapfere Person aber andererseits auch über alle anderen glücksrelevanten Tugenden verfügt. Wenn Sokrates zu diesem Ergebnis kommt, so scheint er, wie gesagt, diese beiden Annahmen so zu verstehen, dass sie nicht gemeinsam wahr sein können. Welche der beiden Annahmen falsch ist, sagt Sokrates nicht ausdrücklich, und er sagt nicht einmal klar und deutlich, weshalb die beiden Annahmen miteinander unvereinbar sein sollen. Nikias erhebt jedoch keinen Einspruch und so endet die Erörterung mit dem Ergebnis, dass die beiden Gesprächspartner keine akzeptable Antwort auf die Frage nach der Tapferkeit gefunden haben, ohne dass man als Leser so recht wüsste, warum es so ist. Das Argument 194e11–199e12 lässt sich so aufschlüsseln: 1(1) Eine Person ist genau dann tapfer, wenn sie weiß, welche Dinge unbedenklich oder gefährlich sind (194e11–195a1, 196c10–d3). 1(2) Wenn eine Person weiß, welche Dinge unbedenklich oder gefährlich sind, dann weiß sie, welche zukünftigen Dinge (Ereignisse) gut oder schlecht, und zwar in eudämonistischer Hinsicht gut oder schlecht sind (198b2-c8, 199b3–5). 1(3) Also ist eine Person genau dann tapfer, wenn sie über das Wissen von einigen, nämlich den zukünftigen guten oder schlechten Dingen verfügt (198c6–8).38 38 Mit der Rede von „Wissen“ wird ein intensionaler Kontext eröffnet. Wenn Sokrates die ursprüngliche These über die Tapferkeit im Sinne eines Wissens von guten oder schlechten Dingen neu formuliert (198c6–7), versteht er die beiden Ausdrücke „Wissen von unbedenklichen oder gefährlichen Dingen“ und „Wissen von guten oder schlechten Dingen“ demnach so, dass sie denselben extensionalen und intensionalen Gehalt haben. Würde man die zweite Prämisse so darstellen, dass sie lautet „Wenn eine Sache unbedenklich ist, dann ist sie gut, und wenn eine Sache gefährlich ist, dann ist sie schlecht“, so fehlte deshalb der logische Anschluss der ersten und der zweiten Prämisse an die erste Zwischenkonklusion (3). Dass jemand zukünftige unbedenkliche oder gefährliche Dinge kennt, bedeutet aus logischer Sicht, dass er einige solche Dinge kennt.

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1(4) Über das Wissen einiger Dinge mit der Eigenschaft F verfügt man genau dann, wenn man weiß, was der allgemeine Sachverhalt F, so etwa Tapferkeit, ist und deshalb auch die allgemeinen Eigenschaften von F, so etwa die allgemeinen guten oder schlechten Eigenschaften der Dinge kennt (198d1–199a9, 199b6–8). 1(5) Also ist eine Person genau dann tapfer, wenn sie die allgemeinen guten oder schlechten Eigenschaften der Dinge kennt (199b9d3). 1(6) Über das Wissen der allgemeinen guten oder schlechten Eigenschaften der Dinge verfügt eine Person genau dann, wenn sie sich in einer insgesamt guten seelischen Verfassung befindet (199d4-e2). 1(7) Also ist eine Person genau dann tapfer, wenn sie sich in einer insgesamt guten seelischen Verfassung befindet (199e3–5). (Folgerung aus (1) – (6) mit Kettenschluss: die abschließende Tapferkeitsdefinition.) 1(8) [Es ist nun aber nicht der Fall, dass eine Person genau dann tapfer ist, wenn sie sich in einer insgesamt guten seelischen Verfassung befindet (199e6–10).] Das ist eine mögliche Interpretation der ursprünglichen Annahme (8*, 198a4–b1), der zufolge die Tapferkeit nur ein Teil einer insgesamt guten seelischen Verfassung ist. 1(9) [Also ist es nicht der Fall, dass eine Person genau dann tapfer ist, wenn sie weiß, welche Dinge unbedenklich oder gefährlich sind (199e6–9).] (Folgerung aus (1) – (7) und (8) mit reductio ad absurdum.) (10) Eine alternative Interpretation des Textstücks 199e6–12: [(a) Wenn es zutrifft, dass es nicht der Fall ist, dass eine Person genau dann tapfer ist, wenn sie sich in einer insgesamt guten seelischen Verfassung befindet (und die Tapferkeit in genau diesem Sinne ein Teil des Gutseins ist, 199e3–4), (b) dann trifft es ebenfalls nicht zu, dass eine Person genau dann tapfer ist, wenn sie weiß, welche Dinge gefährlich oder unbedenklich sind (199e6– 12).]39

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Für alternative Rekonstruktionen des Arguments vgl. Benson 2000: 69, Brickhouse / Smith 2000: 161 f., Devereux 1977: 138, 2006: 328, Emlyn-Jones 1996: 13 f., Ferejohn 1984: 386, Penner 1973, 1992a, 5, Roochnik 1996: 102 f., Santas 1971: 197 f., Vlastos 1981b: 266, 1994, 118, Woodruff 1987: 109, Yonezawa 2012: 648 f.

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Was zeigt das Schlussargument des Laches? Das Argument bietet m. E. drei Interpretationsoptionen: (A) Die beiden Tapferkeitsdefinitionen und die Annahme, die Tapferkeit sei ein Aspekt einer insgesamt guten seelischen Verfassung, sind wahr und miteinander vereinbar, aber die letztere Annahme ist unterbestimmt, so dass der Anschein eines Widerspruchs zustande kommt. (B) Die beiden Tapferkeitsdefinitionen (1) und (7) sind falsch. (C) Die Annahme (8) ist falsch. Option (A) wird dem Text m. E. am besten gerecht. Der erste Teil des Arguments umfasst die Prämissen (1) – (6) und die Konklusion (7), die zusammen ein logisch gültiges Argument bilden, mit dem Ergebnis, dass eine Person im Sinne der Konklusion (7), d. h. im Sinne der erweiterten Tapferkeitsdefinition genau dann tapfer ist, wenn sie sich in einer insgesamt guten seelischen Verfassung im Sinne von 199d4–e1 befindet (und in dieser Verfassung über das handlungsleitende Wissen der allgemeinen, glücksrelevanten guten oder schlechten Eigenschaften der Dinge verfügt). Wenn man das Argument so interpretiert, kann man Sokrates’ abschließende Äußerungen in 199e6–12 im Sinne von Interpretation (A) als einen Kommentar auffassen, in dem Sokrates zwar einen möglichen Zweifel an der Konklusion (7) anmeldet, ohne jedoch eindeutig zu sagen, dass er diese Konklusion in der Tat für falsch hält. Wenn man die ursprüngliche Annahme (8*), der zufolge die Tapferkeit nur ein Teil einer insgesamt guten seelischen Verfassung ist, hingegen im Sinne von (8), d. h. als Negation der erweiterten Tapferkeitsdefinition (7) versteht, so kann man aus den Annahmen (1) – (8) entweder die Negation der Tapferkeitsdefinitionen (1) und (7) (Interpretation B) oder auch die Negation der These über die Tapferkeit als eines Teils einer insgesamt guten seelischen Verfassung (Interpretation C) ableiten. Die Annahmen (1) – (8) bilden zusammen ein Argument mit der logischen Form einer reductio ad absurdum; das Argument zeigt zwar, dass eine der beiden einander kontradiktorisch entgegengesetzten Thesen (7) oder (8) falsch sein muss, aber es zeigt aufgrund seiner logischen Form alleine freilich nicht, welche der beiden Thesen falsch ist. Wenn man Sokrates nun so versteht, dass die beiden Annahmen einen Widerspruch bilden und die Annahme (8) wahr ist, so kann man das Argument als eine (logisch gültige) Widerlegung der Tapferkeitsdefinition (7) auffassen, die in meiner Rekonstruktion in der Konklusion (9) zum Ausdruck kommt. (Ich habe Annahme (8) und Konklusion (9) in eckige Klammern gesetzt, um anzuzeigen, dass diese beiden logischen Elemente des Arguments zwar mögliche, aber nicht die einzig möglichen Interpretationen der entsprechenden Textstellen darstellen.) Ich habe oben nur diese eine von zwei logischen Möglichkeiten dargestellt. Es sei aber nochmals

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erwähnt, dass man aus einem kontradiktorischen Widerspruch zwischen (7) und (8) sowohl die Negation der einen als auch die Negation der anderen Annahme ableiten kann. Da Sokrates zu dem Ergebnis kommt, man habe „nicht gefunden, was Tapferkeit ist“, hat es zwar den Anschein, dass er die Tapferkeitsdefinition(en) für widerlegt hält. Sokrates sagt aber nicht ausdrücklich, dass er die Annahme, der zufolge die Tapferkeit nur ein Teil einer insgesamt guten seelischen Verfassung ist (199e3–5), so versteht (und die so verstandene Annahme für wahr hält), dass es nicht der Fall ist, dass eine Person genau dann tapfer ist, wenn sie sich in einer insgesamt guten seelischen Verfassung befindet. Sokrates sagt lediglich, dass er und Nikias zuvor gesagt hatten, Tapferkeit sei ein Teil einer insgesamt guten seelischen Verfassung, während es im Ergebnis der Erläuterung der NikiasHypothese nicht so zu sein scheint. Diesem Textbefund können wir in der Darstellung des Arguments Rechnung tragen, indem wir den Zeilen (1) – (9), die (hier ebenfalls in eckige Klammern gesetzte) Konditionalaussage (10) hinzufügen. Annahme (10) ist keine weitere Konklusion, sondern eine zusätzliche Annahme, aus der man dann, wenn man deren Antezedens, d. h. die spezielle Annahme (10a) für wahr hält, die Negation der Tapferkeitsdefinitionen (1) und (7) ableiten kann. Falls die Annahme (8*), die Tapferkeit sei nur ein Teil einer insgesamt guten seelischen Verfassung, aber gar nicht im Sinne der Annahme (8) und so auch nicht im Sinne der Annahme (10a) zu interpretieren ist, bleibt es einfach offen, ob das Hinterglied der Konditionalaussage (10), d. h. die von Nikias vorgeschlagene und von Sokrates erweiterte Definition der Tapferkeit wahr oder falsch ist – und genau das scheint Sokrates sagen zu wollen, wenn er resümiert, man habe „nicht gefunden, was Tapferkeit ist“ (199e11–12). Die zusätzliche Konditionalaussage scheint mir im Sinne der Texttreue die beste Wiedergabe des Resultats des Schlussarguments zu sein. Mit anderen Worten: Platon zeigt mit dem Schlussargument des Laches (im Sinne der Interpretation A), unter welchen Bedingungen die beiden zentralen Annahmen über die Tapferkeit miteinander unvereinbar wären, lässt es an Ort und Stelle aber offen, ob sie tatsächlich unvereinbar sind. In der neueren Forschungsliteratur wird das Argument, soweit ich sehe, zumeist so kommentiert, dass die beiden fraglichen Annahmen unvereinbar sind und Nikias daher entweder die Tapferkeitsdefinition (1), einschließlich ihrer erweiterten Version (7), oder aber die These (8) aufzugeben hätte. Detel 1974, Devereux 1977, 1992, Vlastos 1994, Woodruff 1987 und Yonezawa 2012 sind der Meinung, mit dem Argument werde die von Nikias vorgeschlagene Tapferkeitsdefinition widerlegt. (In dem von M. Burnyeat edierten Text 1994c verteidigt Vlastos

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seinen in 19812c skizzierten Vorschlag, mit dem er seine ursprüngliche Interpretation 19812b korrigiert). Santas 1971, Irwin 1977: 302, Anm. 62 und Penner 1973, 1992a, 1992b sind der Meinung, das Argument widerlege die These (8*) und zeige die Identität von Tapferkeit und Gutsein. Irwin vertritt in einer späteren Monographie 1995: 43 f. die Auffassung, das Argument begründe die These, der zufolge die Tapferkeit dasselbe wie das gesamte Gutsein ist, und diese These werde durch die Teiltugendthese (8*) jedenfalls nicht widerlegt. Schmid 1992: 160 interpretiert Nikias’ Definitionsvorschlag so, dass Nikias mit diesem Vorschlag anscheinend in 195b–196a und dann gewiss in 198e–199a zu der Auffassung der Tapferkeit zurückkehre, die er zuvor bereits in seiner Verteidigung des Nutzens des Waffenkampfsports zum Ausdruck gebracht habe. Sokrates’ Argument gegen Nikias’ Vorschlag sei insofern schlüssig, als es sich gegen eben diese Tapferkeitsauffassung richtet. Ob das Argument auch dann schlüssig sei, wenn man es so versteht, dass es sich gegen das Sokratische Ideal einer Tapferkeit, d. h. einer von dem Wissen über das Gute und Schlechte gelenkten Tapferkeit richtet, sei eine rein akademische Frage, da der Laches keinen sicheren Hinweis darauf biete, wie man dieses Ideal genau zu verstehen habe. In der Tat scheint Nikias die Auffassung der Tapferkeit, die seiner früheren Empfehlung des Waffenkampfsports zugrunde liegt, nicht in Zweifel zu ziehen. Mit seinem späteren Definitionsvorschlag bezieht Nikias sich jedoch auf eine Sokratische These über Wissen als Bedingung des guten Handelns, und er macht sich die Explikation seines Vorschlags zu eigen, die ihm Sokrates mit seinen eigenen Fragen nahelegt. Deshalb dürfen wir Nikias eben den Definitionsvorschlag zusprechen, den er in dem Schlussargument des Laches zu verteidigen hat. Erler 1987, Kahn 1999 und Manuwald 2000 lesen das Schlussargument des Laches als eine Einladung zu einer alternativen Interpretation der Tapferkeitsdefinition des Nikias, die zeigen mag, dass sich diese Definition mit der These, die Tapferkeit sei ein Teil einer guten seelischen Verfassung, vereinbaren lässt. Ich komme darauf zurück. Wenn wir den Versuch unternehmen, die Überlegungen Platons im Laches insgesamt zu verstehen, haben wir zunächst zu klären, wie sich die beiden entscheidenden Annahmen des Schlussarguments des Dialoges zueinander verhalten.

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3. Pars pro toto – Tapferkeit als Bestandteil einer guten seelischen Verfassung Die erweiterte Tapferkeitsdefinition 199d4–e1, die Sokrates aus Nikias’ erstem Vorschlag entwickelt, macht Nikias sich zu eigen – vermutlich deshalb, weil er sich mit seinem ursprünglichen Vorschlag, eine Person sei tapfer, wenn sie weiß, welche Dinge gefährlich oder unbedenklich sind, auf Sokrates beruft (194c7–9) und wohl annimmt, dass auch die erweiterte Tapferkeitsdefinition Sokrates’ eigenen Überlegungen entspricht. Der Annahme, die Tapferkeit sei ein Teil des Gutseins, die Sokrates immerhin im eigenen Namen einführt, stimmt Nikias ebenfalls zu (198a1–b1). Das ist offenbar der Grund für seine Ratlosigkeit. Nikias macht sich zwei Meinungen zu eigen, ist aber nicht in der Lage, sie so zu erläutern, dass sie sich miteinander vereinbaren lassen. Was heißt es, dass die Tapferkeit einer der Teile einer insgesamt guten seelischen Verfassung ist, und unter welchen Bedingungen widersprechen die beiden zentralen Annahmen (7) und (8*) einander? Tugenden (Charaktereigenschaften einer Person) sind keine Teilmengen einer Gesamtmenge und sie stehen nicht in Größenverhältnissen zueinander. Deshalb ist die Rede von Teilen und dem Ganzen des Gutseins insofern irreführend, als sie auf einer verbalen Ebene leicht einen Widerspruch erscheinen lässt, der womöglich gar nicht besteht. Man behauptete einen Widerspruch, wenn man sagte, eine numerisch mit der Zahl 1 bestimmbare Menge sei eine echte Teilmenge der Menge 5 und zugleich genau so groß wie diese. Der mögliche Widerspruch, der am Ende des Schlussarguments im Laches auftritt, ist aber nicht von dieser Art. Deshalb sollten wir die beiden Annahmen (7) und (8*) so formulieren, dass wir entscheiden können, ob sie einander tatsächlich verneinen (und ausgeschlossen ist, dass sie beide wahr sind). Tugenden sind, wie gesagt, Charaktereigenschaften von Personen. Sokrates sagt, Tapferkeit sei ein Aspekt (Teil) einer guten seelischen Verfassung, zu der weitere Aspekte (Teile) derselben Art gehörten, die zusammen „Gutsein“ heißen. Die These über die Tapferkeit als Bestandteil des Gutseins ist demnach so zu formulieren: Wenn eine Person sich in einer insgesamt guten seelischen Verfassung befindet, dann ist sie (unter anderem) tapfer. Und die These über das ‚gesamte Gutsein‘ ist so zu formulieren: In einer insgesamt guten seelischen Verfassung ist eine Person tapfer und auch gerecht, besonnen etc., besitzt also jede glücksrelevante Charaktereigenschaft (Tugend). Sokrates führt die Annahme, die gesuchte Tapferkeit sei ein Aspekt einer guten seelischen Verfassung, als eine methodische Maxime ein.

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Die Frage, die Sokrates sich und seinen Gesprächspartnern stellt, lautet zuerst, was das Gutsein ist, d. h. wie eine insgesamt gute seelische Verfassung beschaffen ist (190b7–c6). Da die Beantwortung dieser Frage jedoch eine sehr große Aufgabe sei (190c8–9), schlägt Sokrates vor, zunächst einmal die Tapferkeit zu untersuchen, die ja gewiss ein Teil einer insgesamt guten seelischen Verfassung sei (190c9–d8). Wenn man weiß, was etwas ist, so kann man auch sagen, was es ist (190c4–7). Die methodische Maxime der Untersuchung lautet daher: Wenn die Gesprächspartner wissen, was Tapferkeit ist, kennen sie jedenfalls einen Aspekt der insgesamt guten seelischen Verfassung, und wenn sie wissen, was Tapferkeit ist, können sie sagen, was sie ist. Das bedeutet, dass eine bestimmte Tugend wie die Tapferkeit insofern ein Teil des Gutseins ist, als sie ein Gegenstand des möglichen Wissens über das (gesamte) Gutsein ist (190c8–e3). Was Tapferkeit ist, hatte Sokrates zuvor bereits gesagt: Sie ist die Fähigkeit, Gefahren sehr verschiedener Art zu begegnen (191c8–e11). Diese Fähigkeit ist, wie sich im Gespräch mit Nikias herausgestellt hat, ein Aspekt einer insgesamt guten seelischen Verfassung. Wenn es nun zutrifft, dass eine Person, die sich in einer insgesamt guten seelischen Verfassung befindet, tapfer ist und ebenfalls über die anderen glücksrelevanten Tugenden verfügt (199d4–e1), so wissen die Gesprächspartner immerhin dies über die Tapferkeit und das Gutsein zu sagen. Im Gespräch mit Nikias ruft Sokrates die methodische Voraussetzung in Erinnerung und gibt dann auch darüber Auskunft, was er selbst unter „Teilen des Gutseins“ versteht (198a1–b1): „Hast nicht auch du deine Antwort als eine Antwort auf unsere Frage, was die Tapferkeit als Teil des Gutseins sei, verstanden, wobei es natürlich noch andere Teile gibt, die alle zusammen Gutsein heißen? … Verstehst du darunter dieselben Teile wie ich? (Teile des Gutseins) nenne ich außer der Tapferkeit auch Besonnenheit und Gerechtigkeit und einiges andere dieser Art. Du nicht auch? – Sicher.“ Sokrates gibt hier zwei Auskünfte. Erstens wiederholt er die methodische Voraussetzung: Ein Teil des Gutseins ist eine bestimmte Tugend insofern, als sie Gegenstand der gesuchten Antwort auf die Frage nach dem gesamten Gutsein ist. Zweitens nennt Sokrates hier verschiedene Tugenden derselben Art, „die alle zusammen Gutsein heißen“. Die einzelnen Tugenden sind demnach verschiedene Aspekte der einen insgesamt guten seelischen Verfassung, auf die man sich mit dem sprachlichen Ausdruck „Gutsein“ bezieht. Die Rede von Teilen des Gutseins, d. h. verschiedenen Eigenschaften einer insgesamt guten seelischen Verfassung ist in 198a1–b1 offenkundig unproblematisch. Wir können uns ja problemlos mit verschiedenen sprachlichen Ausdrücken auf dieselbe Sache beziehen. Im Sophistes kommt diese Tatsache einmal

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klar zur Sprache. Dort wird ausdrücklich die Möglichkeit erläutert, „ein und dieselbe Sache mit vielen Ausdrücken zu bezeichnen“ (251a5–6). So könne man über einen bestimmten Menschen sprechen, dem man im Blick auf sein Aussehen, seine Körpergröße oder die Vorzüge oder Mängel seines Charakters verschiedene Eigenschaften zuspricht (251a7–b4). Genau das ist der Fall, wenn Sokrates das Gutsein analysiert, um das Zusammenspiel verschiedener Fähigkeiten zu erhellen. Die beiden Auskünfte in 198a1–b1 sind offenbar auf raffinierte Weise miteinander verknüpft. Nach der methodischen Voraussetzung gilt: Wenn die Tapferkeit Teil des Gutseins ist, kann man auch sagen, was sie ist. Im Lichte der Interdependenzthese in 199d4–e1 können wir die Rede von Teilen des Ganzen namens Gutsein in 198a1–b1 so verstehen, dass die einzelnen Tugenden voneinander abhängige mentale Fähigkeiten und jeweils notwendige und zusammen hinreichende Bedingungen des Gutseins darstellen. Pars pro toto resp. pars in toto: Wenn die Tugenden voneinander abhängig und so miteinander verknüpft sind, dass ein Mensch, der sich in einer insgesamt guten seelischen Verfassung befindet, über alle relevanten Tugenden verfügt, dann repräsentiert die Tapferkeit, wie auch jede andere derartige Charaktereigenschaft, das ‚gesamte Gutsein‘, und deshalb verlangt die Frage nach der Tapferkeit in der Tat eine Antwort auf die Frage nach dem gesamten Gutsein. Das entspricht auch der Beschreibung der gesuchten Tapferkeit, mit der Sokrates zu Beginn des Gesprächs mit Laches das Ziel seiner Frage erläutert hat. Sokrates hatte die Tapferkeit ja so charakterisiert, dass der Umfang der tapferen Handlungen gleich dem Umfang der in einem umfassenden eudämonistischen Sinne guten Handlungen ist (191c8–e11). Jede tapfere Handlung ist eine gute Handlung, und wer im Sinne von 199d4–e1 tapfer ist, der befindet sich in einer insgesamt guten seelischen Verfassung. Die Erläuterung der komplexen, insgesamt guten seelischen Verfassung in 199d4–e1 erfüllt die methodische Maxime, die Sokrates eingangs vorgeschlagen hatte und sie präzisiert zugleich die beiden inhaltlichen Thesen, die Sokrates vertritt: Wer sich in einer insgesamt guten seelischen Verfassung befindet, hat die Fähigkeit, Gefahren verschiedener Art zu bewältigen, ist also tapfer und ebenfalls gerecht und besonnen etc. Die Annahme 198a1–b1 ist eine genauere Erläuterung der ursprünglichen Auskunft über die Tapferkeit als eines Bestandteils einer insgesamt guten seelischen Verfassung (190b7–d8). Und die Interdependenzthese 199d4–e1 bringt denselben Sachverhalt in einer nochmals informativ reicheren und genaueren Form zum Ausdruck: In einer insgesamt guten seelischen Verfassung befindet man sich dann, wenn man tapfer und gerecht und besonnen und klug etc. ist, also über jede glücksrele-

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vante Tugend und über das glücksrelevante Wissen über gefährliche oder unbedenkliche Dinge verfügt. Was Sokrates seiner ursprünglichen Auskunft mit der erweiterten Tapferkeitsdefinition in 199d4–e1 ausdrücklich hinzufügt, ist die Tatsache, dass eine tapfere Person eben auch weiß, welche Dinge in einer glücksrelevanten Hinsicht gut oder schlecht sind. Die Annahme, der zufolge die Tapferkeit ein Bestandteil des Gutseins ist, wäre nur dann mit der Interdependenzthese unvereinbar, wenn man diese Annahme so versteht, dass einige Personen sich in einer insgesamt guten seelischen Verfassung befinden, daher auch über das Wissen der guten oder schlechten Dinge verfügen und tapfer, aber nicht ebenfalls besonnen, gerecht, klug etc. sind. Dieser Zusammenhang lässt sich auch auf folgende Weise darstellen: P sei die Interdependenzthese und Q die These, der zufolge die Tapferkeit ein Teil des Gutseins ist. Der Ausdruck GUT bezeichne eine insgesamt gute seelische Verfassung einer Person und die Großbuchstaben T, B, G, K und F bezeichnen die Tugenden Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit, Klugheit und Frömmigkeit (es sei einmal angenommen, dass die Menge der Tugenden damit vollständig angegeben ist, man könnte jedoch problemlos weitere spezielle Tugenden hinzufügen). Dann können wir die Unvereinbarkeit der beiden fraglichen Thesen so darstellen, dass sie in der Form des folgenden Thesenpaares vorliegt: (P) (Q)

∀x (GUTx) ↔ (Tx & Bx & Gx & Kx & Fx) ∃x (GUTx) & (Tx & ∼Bx & ∼ Gx & ∼ Kx & ∼ Fx)

Wenn man die Annahme über die Tapferkeit als Bestandteil des Gutseins im Sinne von Q verstände und beide Thesen P und Q für wahr hielte, so behauptete man, dass sich jemand, der tapfer ist, aber nicht ebenfalls über die anderen glücksrelevanten Tugenden verfügt, in einer guten seelischen Verfassung befindet und zugleich das Gegenteil der Fall ist. So verstanden wären die beiden Annahmen klarerweise miteinander unvereinbar.40 Aber weder Sokrates noch Nikias wollen ihre Annahme, Tapferkeit sei ein Bestandteil einer insgesamt guten seelischen Verfassung im Sinne der These Q verstanden wissen. Sokrates und Nikias sind gerade nicht der Auffassung, dass jemand in einer 40

Interessanterweise vertritt die Dialogfigur Protagoras in Platons gleichnamigen Dialog eine Version der These Q: Protagoras behauptet, es gäbe doch viele Menschen, die tapfer sind, ohne ebenfalls klug und besonnen zu sein, aber es ist nicht klar, ob er auch behaupten möchte, dass solche Menschen sich in einer insgesamt guten seelischen Verfassung befinden (Protagoras 349b– d). Im Protagoras wird immerhin klar, dass Sokrates jedenfalls nicht dieser Auffassung ist.

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guten, glückszuträglichen Verfassung ist, der nur tapfer, aber nicht auch besonnen, gerecht etc. ist. Der scheinbare Widerspruch zwischen der Tapferkeitsdefinition und der Annahme, die Tapferkeit sei ein Teil des gesamten Gutseins, besteht nicht, wenn man die letztere, in ihrer ursprünglichen Form unterbestimmte Annahme im Sinne der Erläuterung der insgesamt guten seelischen Verfassung in 199d4–e1 versteht. Beide Annahmen sind zwei Seiten derselben Medaille; solange man jedoch nur die eine Seite ins Auge fasst, bleibt einem die Rückseite verborgen. Im Euthyphron, in dem Sokrates herausfinden möchte, was Frömmigkeit ist, spricht Sokrates auf eine mereologisch ebenfalls unproblematische Weise davon, dass eine bestimmte Charaktereigenschaft ein Teil einer anderen ist. Sokrates einigt sich mit seinem Gesprächspartner in der Passage 11e7–12d4 darauf, dass jede fromme Handlung auch eine gerechte Handlung, aber nicht jede gerechte Handlung auch eine fromme Handlung ist, da es in den frommen Handlungen um die den Göttern zugewandte Sorge, in allen anderen gerechten Handlungen hingegen um die den Menschen zugewandte Sorge geht. Die Frömmigkeit sei deshalb ein Teil der Gerechtigkeit (12d1–3). Diese Annahme erläutert Sokrates mit einem zweifachen Vergleich: Die Scham sei ebenso ein Teil der Furcht wie das Ungerade ein Teil der Zahl und so sei auch das Fromme ein Teil des Gerechten (12c3-d1). Mit anderen Worten: Die Scham ist eine Art (Spezies) des Genus Furcht, die Menge der ungeraden Zahlen ist eine Art (Spezies) des Genus Zahlen, und ebenso, nämlich in dieser Hinsicht, sei Frömmigkeit eine Art (Spezies) der Gerechtigkeit. Das ist eine Definition in der Form der Angabe des genus proximum und der differentia specifica einer Sache. Im Euthypron vergleicht Sokrates das Verhältnis, das zwischen bestimmten Charaktereigenschaften besteht, zwar mit dem Verhältnis, das zwischen zwei Mengen von Zahlen besteht. Aber er vergleicht die beiden Sachverhalte hier interessanterweise gerade nicht in der Hinsicht miteinander, dass er annähme, die frommen Handlungen seien in demselben Sinne eine echte Teilmenge der gerechten Handlungen wie die Menge der ungeraden Zahlen (ja in der Tat) eine echte Teilmenge der natürlichen Zahlen ist, sondern er vergleicht beides, wie gesagt, in der Hinsicht miteinander, dass die frommen Handlungen in demselben Sinne eine Art (Spezies) der gerechten Handlungen sind, wie die Menge der ungeraden Zahlen eine Art der natürlichen Zahlen ist. Auf (etwaige) numerische Relationen zwischen verschiedenen Tugenden, deren eine ein Teil einer anderen ist, kommt es (gerade) in diesem Vergleich nicht an. Der Vergleich, den Sokrates im Euthyphron unternimmt, spricht wohl ebenfalls dafür, dass wir die Annahme, eine Tugend wie die Tapferkeit sei ein einzelner Teil, d. h.

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eine Eigenschaft einer insgesamt guten seelischen Verfassung eines Menschen, in dem Sinne zu verstehen haben, dass die Tapferkeit eine Art der Tugend in dem weiteren Sinne einer insgesamt guten seelischen Verfassung ist. Die Charakterisierung der Frömmigkeit als einer Art der Gerechtigkeit im Euthyphron entspricht allerdings nicht genau der Charakterisierung der insgesamt guten seelischen Verfassung im Laches . Sokrates ist offenbar der Auffassung, dass jede gute Handlung in einer bestimmten Hinsicht eine tapfere Handlung ist (Laches 191c8-e11). Ebenso dürfte die Klugheit an jeder Entscheidung für eine gute Handlung beteiligt sein. Aber man braucht wohl nicht jede spezielle Tugend in jeder Situation. Vielmehr kommt es darauf an, dass die jeweils relevanten Tugenden erfolgreich zusammenwirken. In jedem Falle scheint die Frömmigkeit eine sehr spezielle Tugend zu sein. Um dieser Tatsache Rechnung zu tragen, können wir zwischen dem Zusammenhang der Tugenden, die in jedem Falle zu einer insgesamt guten seelischen Verfassung gehören, und dem Zusammenhang der Eigenschaften der je besonderen guten Handlungen unterscheiden. Eine gute Handlung hat jeweils die Eigenschaft, die der Tugend entspricht, aus deren Ausübung sie hervorgeht. So ist eine bestimmte Handlung eine tapfere Handlung, weil sie das Ergebnis der Ausübung der Tugend ist, die man Tapferkeit nennt. Jede Handlung, die einer insgesamt guten seelischen Verfassung einer Person entspringt, hat mehrere, aber nicht notwendigerweise alle Eigenschaften, die einer bestimmten Tugend entsprechen. In der angelsächsischen Platonforschung werden Sokrates’ Überlegungen im Laches und im Protagoras seit den Arbeiten von Vlastos und Penner oftmals so interpretiert, dass Sokrates die Thesen vertritt, dass die Tugenden (i) in einem bikonditionalen Sinne miteinander verknüpft sind, (ii) dass sie miteinander identisch sind und (iii) das Wissen über gute oder schlechte Sachverhalte für sich genommen eine hinreichende Bedingung für eine gute seelische Verfassung sei. Ich möchte hier die Thesen einiger Autoren kurz darstellen und im Blick auf die Analyse des Schlussarguments des Laches, die ich vorgeschlagen habe, kommentieren. Tapfer ist man genau dann, wenn man auch über die anderen glücksrelevanten Tugenden und ebenfalls über das eudämonistische Wissen verfügt. Aus diesem Grunde repräsentiert die Tapferkeit – wie auch jede andere Tugend – in der Tat die so charakterisierte insgesamt gute seelische Verfassung. Im Sinne der hier vorgeschlagenen Deutung sind auch zwei generelle Thesen vereinbar, die Vlastos und Penner vertreten. Nach Vlastos 1981a stellen die Tugenden verschiedene Arten von Wissen dar und nach Penner 1973 bezeichnen sie im Sinne von Protagoras 329c-d,

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349b dieselbe Sache, nämlich das Gutsein bzw. das Wissen vom Guten und Schlechten. Penners und Vlastos’ Interpretationen beleuchten jeweils einen wichtigen Aspekt der sokratischen Theorie. (Eine detaillierte, kritische Diskussion beider Auffassungen bietet O’Brien, D. 2003). Vlastos 1981a interpretiert Sokrates’ Überlegungen über den Zusammenhang der Tugenden in Protagoras und Laches im Sinne der von ihm so genannten „biconditionality-thesis“. Diese These scheint mir grundsätzlich richtig zu sein und sie lässt sich im Sinne der Interdependenzthese am besten so ausdrücken, dass sich eine Person genau dann in einer insgesamt guten seelischen Verfassung befindet, wenn sie über jede glücksrelevante Tugend verfügt. Die Interdependenzthese impliziert aber weder die von Penner (und anderen Interpreten) vertretene These, der zufolge Sokrates die verschiedenen Tugenden für identisch hält, noch die von Vlastos (und anderen Interpreten) vertretene intellektualistische These, der zufolge Sokrates der Auffassung ist, das Wissen guter oder schlechter Sachverhalte sei hinreichend für eine gute seelische Verfassung. Ferejohn 1984 scheint ebenfalls der Auffassung zu sein, dass Sokrates die verschiedenen Tugenden miteinander identifiziert. Nach Ferejohn ist die These „knowledge of future goods and evils = knowledge of all goods and evils“ die Ursache der „perplexity at Laches 198–99“, und diese These „flows naturally out of (Socrates’) tendency to collapse all of the virtues into a single state-of-soul“ (1984: 386 f.). Einerseits seien die Tugenden für Sokrates Eigenschaften ein und derselben seelischen Verfassung. Andererseits sei Sokrates jedoch ebenfalls geneigt, das Wissen um das zukünftige Gute oder Schlechte als „a part of knowledge of all goods and evils“ zu betrachten (387, Kursiv. im Orig.). Vereinbar seien beide Thesen, wenn Teil zu sein, bedeutet, dass „each special virtue is a science concerned with a special subclass of goods and evils“ (385). Mit Hilfe dieser Auffassung, die Sokrates zwar nicht klar expliziere, in Protagoras 329d aber immerhin anbahne, könne er beide genannten Thesen vereinbaren, „but he has not performed the conceptual spadework necessary to determine if they really are logically inconsistent“ (388). Die von Ferejohn vorgeschlagene Unterscheidung zwischen dem Genus der insgesamt guten seelischen Verfassung und den einzelnen Tugenden als deren Spezies ist sehr plausibel. Dass die Tugenden sich auf jeweils spezielle gute oder schlechte Sachverhalte beziehen und zusammen dennoch „a single state-of-soul“ darstellen, ist im Sinne der Erläuterung der ‚einen‘ guten seelischen Verfassung in 199d4-e1 aber durchaus miteinander vereinbar. Die Definitionen der Tapferkeit und des gesamten Gutseins mögen extensional übereinstimmen, doch das bedeutet nicht, dass man die einzelnen Tugenden nicht

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voneinander unterscheiden kann. Tapfer zu sein ist eine andere Einstellung als besonnen oder gerecht zu sein. Die Tugenden sind nicht identisch, sondern vielmehr verschiedene Eigenschaften derselben guten, glückszuträglichen seelischen Verfassung. (Berechtigte Kritik an der interpretatorischen These, der zufolge Sokrates der Auffassung sei, dass die Tugenden identisch sind, übt im Blick auf Protagoras und Laches auch Manuwald 1999: 429 f.) Irwin 1995 spricht Sokrates die These der Identität der Tugenden und die intellektualistische These zu. Nach Irwin versteht Sokrates’ die erweiterte Tapferkeitsdefinition so, dass das Wissen über die guten oder schlechten Dinge hinreichend für eine gute seelische Verfassung ist, und diese These impliziere (in Laches und Charmides) die These, der zufolge die Tapferkeit (und ebenso die Besonnenheit) mit allen anderen Tugenden identisch ist (und alle Tugenden miteinander identisch sind). Die letztere These scheine Sokrates auch mit der gegenseitigen Abhängigkeit der Tugenden („inseparability of the virtues“) zu begründen, die als Begründung jedoch nicht ausreiche (1995: 43): „Since each virtue without the others will sometimes lead us to actions that are worse than the actions we would do if we also had the other virtues, none of the virtues can really be separated from the other virtues . . . This defence of the inseparability of the virtues does not prove that they are identical; for it does not imply knowledge is sufficient for virtue. We might argue that knowledge of the good is a component of every virtue, but each virtue has a non-cognitive component that distinguishes it from the other virtues. This reply is closed to us, however, once we accept Nicias’ reduction of bravery to knowledge. If knowledge of the good is responsible for all virtuous action, a correct account of the virtues has no room for anything except this knowledge.“ Die These der Identität der Tugenden, die aus dem Schlussargument des Laches folge, sei für Sokrates zwar mit der Annahme, die Tapferkeit sei nur ein Teil des gesamten Gutseins, nicht vereinbar, werde durch diese letztere Annahme aber nicht wirklich in Frage gestellt (1995: 43 f.): „The assumption that bravery is a proper part of virtue was introduced to make the inquiry easier. . . . But the main question at the beginning . . . was not about bravery in particular, but about how to make people ‘fine and good’; bravery was introduced only as the aspect . . . that seemed most relevant to the occasion. Socrates gave no reason in support of the initial assumption, and nothing in the argument of the dialogue depends on the assumption. Plato never suggests, then, that the assumption that bravery is a proper part of virtue is more plausible than the premises of the argument for the unity of virtue have turned out to be . . . Socrates has made it seem plausible that the fine and good person acts bravely because of the sort of knowledge that

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turns out to be sufficient for the other virtues as well.“ Soweit ich sehe, schlägt Irwin folgende Interpretation des Laches vor: Nach Sokrates’ Auffassung ist eine tapfere Person aufgrund ihres Wissens über gute und schlechte Dinge in der Lage, vorteilhafte und anerkennenswerte Handlungen auszuüben. Dieses Wissen sei für Sokrates hinreichend für die Tapferkeit und jede andere Tugend und somit hinreichend für eine insgesamt gute seelische Verfassung. Diese These werde durch die Annahme, die Tapferkeit sei ein Teil des Gutseins, nicht entkräftet. Weil das Wissen über das Gute oder Schlechte hinreichend für das Gutsein (und „responsible“ für gute Handlungen) sei, seien die Tugenden nach Sokrates’ Auffassung zudem miteinander identisch. Diese Interpretation enthält, wie mir scheint, systematisch überbestimmte Thesen, die dem Text des Dialoges nicht gerecht werden. Die Interdependenzthese, die in Sokrates’ Erläuterung der insgesamt guten seelischen Verfassung in 199d4-e1 enthalten ist, braucht man m. E. keineswegs so zu interpretieren, dass keine der Tugenden von anderen Tugenden unterschieden werden könne. Sokrates scheint in der Tat anzunehmen, dass die verschiedenen Tugenden voneinander abhängig sind, und er scheint die Interdependenz der Tugenden so zu verstehen, dass erfolgreiche, eudämonistisch gute Handlungen das Ergebnis einer zielgerechten, unbeeinträchtigten Interaktion der verschiedenen Einstellungen einer Person sind, die man jeweils als Tapferkeit, Besonnenheit etc. bezeichnet. (Ich werde diesen Gedanken später noch erläutern.) Die Interaktion der Tugenden bedeutet freilich nicht, dass sich die verschiedenen Tugenden nicht voneinander unterscheiden lassen. Irwins Interpretation der sokratischen Annahme einer wechselseitigen Abhängigkeit der Tugenden im Sinne einer „inseparability“ scheint mir zu stark zu sein, und diese Annahme, d. h. die Interdependenzthese (wie ich sie genannt habe) hat auch nicht die Funktion, die Irwin ihr zuweist. Die sokratische Annahme einer wechselseitigen Abhängigkeit der Tugenden, die in der Erläuterung der insgesamt guten seelischen Verfassung in 199d4-e1 enthalten ist, beweist in der Tat keineswegs eine – wie immer auch verstandene – Identität der Tugenden und sie impliziert klarerweise auch nicht die (mögliche) These, das Wissen vom Guten und Schlechten sei hinreichend für das Gutsein. Sokrates erläutert die insgesamt gute (und ideale) seelische Verfassung 199d4-e1 und die entsprechend (mehrfach) erweiterte Tapferkeitsdefinition offenbar doch so, dass eine Person, die sich in einer insgesamt guten seelischen Verfassung befindet, sowohl über ein umfassendes Wissen über gute oder schlechte Dinge als auch über eine komplexe Einstellung zu diesen Dingen und insofern über alle glücksrelevanten Tugenden verfügt. Diese Auffassung einer insgesamt guten seelischen

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Verfassung impliziert weder die Annahme einer Identität der Tugenden noch die Annahme, das (propositionale) Wissen über gute oder schlechte Dinge sei hinreichend für die insgesamt gute seelische Verfassung. Sokrates sagt nicht, dass man nur das entsprechende Wissen brauche, um sich in einer guten seelischen Verfassung zu befinden. Vielmehr erläutert er Nikias’ Vorschlag, der Tapfere wisse, welche Dinge gut oder schlecht sind, so, dass derjenige, der weiß, welche Dinge gut oder schlecht sind, auch über die glücksrelevanten Tugenden verfügt. Beides, das Wissen und die tugendhafte Einstellung, wird nach Sokrates’ Auffassung offenbar miteinander erworben, ist aber deshalb doch wohl nicht dasselbe. Deshalb hat auch das intellektualistische Verdikt von Vlastos 1981c keine Textgrundlage im Laches. Vlastos 1981c: 445 ist der Auffassung, das Schlussargument des Laches sei „symptomatic of a deeper . . . error which has often been called (Socratic) ‚intellectualism‘: (Socrates’) failure to give their due weight to extra-cognitive, emotional factors, like fear and confidence (or, more precisely, to see the extra-cognitive components of those emotional factors) in his understanding of the dynamics of the psyche.“ Vlastos scheint zu übersehen, dass Sokrates ausdrücklich von einem Menschen spricht, der weiß, „was bedrohlich ist und was nicht“, und auch über jede relevante Tugend verfügt und deshalb „das Gute zu erlangen“ (199e1), also richtig zu handeln vermag – und das vermag nun einmal nur ein Mensch mit einer entsprechenden Handlungsmotivation, also jemand, dessen Seele neben Wissen auch Wünsche und Emotionen beherbergt. Die Annahme, Tapferkeit sei ein Bestandteil einer insgesamt guten seelischen Verfassung 198a1–b1 und die Erläuterung der Struktur dieser seelischen Verfassung 199d4–e1 sind, wie gesagt, zwei Seiten derselben Medaille. Weshalb hat der Autor Platon den Laches so gestaltet, dass er Sokrates auf einen scheinbaren Widerspruch hinweisen lässt, der nur dann besteht, wenn man eine der Annahmen, auf die Sokrates und Nikias sich einigen, in einer Weise versteht, die wiederum der zuvor gebotenen Erläuterung der von Nikias genannten Tapferkeitsdefinition der Sache nach offenkundig widerspricht? Wagen wir eine Antwort. Nikias zitiert eine These, die er von Sokrates oft gehört haben will: Jeder handelt nur dann gut und erfolgreich, wenn er über ein entsprechendes Wissen verfügt. Sokrates stimmt zu. Die erweiterte Tapferkeitsdefinition 199d4–e1 ist ganz im Sinne dieser These. Wenn Sokrates der Auffassung ist, dass man genau dann tapfer ist, wenn man über das komplexe eudämonistische Wissen und über alle glücksrelevanten anderen Tugenden verfügt, so kann er seine eigene Auskunft über die Tapferkeit als eines Aspekts einer insgesamt guten seelischen Verfassung (198a1–b1)

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nur im Sinne der Interdependenzthese (199d4–e1) verstehen. Wenn Sokrates sich aber darüber im klaren ist, so hätte er sagen können, dass Nikias die Frage danach, was Tapferkeit ist, mit der erweiterten Tapferkeitsdefinition gut beantwortet hat. Das ist in Platons Rollenverteilung jedoch nicht seine Aufgabe. Vielmehr fiele Nikias die Rolle zu, seinen Vorschlag zu verteidigen. Nikias fehlt aber ein eigenes Verständnis der sokratischen These, auf die er sich beruft und auch ein eigenes Verständnis der Tapferkeitsdefinition, die sich aus seinem ursprünglichen Vorschlag mit seiner Zustimmung auf sehr plausible Weise ergibt. Er ist nicht in der Lage, die erweiterte Tapferkeitsauffassung selbst mit eigenen Worten und eigenen Gründen zu erläutern und so zu verteidigen, dass sie dem Einwand, den Sokrates in der Rolle des Fragenden macht, Stand hält. Deshalb kommt Sokrates zu dem Ergebnis, man habe nicht herausgefunden, was die Tapferkeit ist.

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IV Was ist Tapferkeit? Ein Versuch einer Interpretation des Laches

Der archimedische Punkt des Dialoges ist wohl die Beschreibung der insgesamt und vollends guten seelischen Verfassung in 199d4–e1. Denn diese Beschreibung resp. die darin enthaltene Interdependenzthese bietet eine Antwort auf die drei Fragen, die in den Gesprächen zwischen Sokrates, Laches und Nikias offen geblieben waren. Welche seelische Verfassung gewährleistet das tapfere, beharrlich kluge und auch anerkennenswerte Handeln? Wie ist es zu verstehen, dass der Tapfere weiß, welche Dinge in einem umfassenden glücksrelevanten Sinne gefährlich und schlecht oder unbedenklich und gut sind? Und in welchem Sinne ist die Tapferkeit ein Bestandteil einer insgesamt guten seelischen Verfassung? Rufen wir uns den Verlauf der Diskussion des Laches in Erinnerung: Sokrates möchte wissen, aufgrund welcher Fähigkeit sich Menschen in so vielen verschiedenen Situationen tapfer verhalten (191c8–e11). Diese Fähigkeit ist von Anfang an das, was man mit einer Antwort auf die Frage, was Tapferkeit ist, zu erklären hätte. Laches charakterisiert die spezifische Motivation des Tapferen als kluge Beharrlichkeit. Dieser Charakterzug gehört auch für Sokrates zur Tapferkeit. Dafür spricht nicht zuletzt seine ermutigende Aufforderung (194a2–5), „bei der Untersuchung zu bleiben und Beharrlichkeit zu zeigen, damit uns nicht die Tapferkeit selbst verhöhnt, dass wir nicht tapfer nach ihr suchten, wenn denn vielleicht die Beharrlichkeit selbst Tapferkeit ist“. Als eine bestimmte Einstellung einer Person ist die Tapferkeit eine Fähigkeit, die intrinsisch mit der Motivation zur erfolgreichen Verwirklichung dieser Fähigkeit verknüpft ist. Nikias hält die Tapferkeit für ein Wissen von gefährlichen oder unbedenklichen Dingen und fügt dem Definiendum namens Tapferkeit insofern ein weiteres Element hinzu. Sokrates und Nikias sprechen zwar nicht mehr ausdrücklich von der Fähigkeit, die Sokrates im Gespräch mit Laches als den Gegenstand seiner Frage klar beschrieben hatte, und sie sprechen auch nicht über das entscheidende Merkmal der Anerkennungswürdigkeit tapferer Handlungen. Wenn der Tapfere sich aber im Sinne von 199d4–e1 in einer insge-

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Was ist Tapferkeit?

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samt guten seelischen Verfassung befindet, so hat er gewiss auch die Fähigkeit und Bereitschaft, sich beharrlich und klug einer Gefahr zu stellen und dabei anerkennenswerte Ziele zu verfolgen. Die erweiterte Tapferkeitsdefinition schließt der Sache nach deshalb wohl auch die kluge und anerkennenswerte Beharrlichkeit ein, die nach Laches’ und Sokrates’ gemeinsamer Auffassung in jedem Falle zur Tapferkeit gehört. Tapferkeit ist beides: die entschlossene, beharrliche Einstellung gegenüber gefahrvollen Dingen und ein Wissen um die eudämonistisch relevanten Eigenschaften dieser Dinge. Der Tapfere weiß, welchen Dingen er mit Furcht oder Zuversicht zu begegnen hat und er handelt mit einer Beharrlichkeit, die sich von wechselnden und widrigen Umständen nicht beirren lässt. Im Laches kommen die beiden Aspekte der Tapferkeit aus zwei unterschiedlichen Perspektiven zur Sprache. Als handelnde Person nimmt man die Tapferkeit wohl als die kluge Beharrlichkeit wahr, die Laches vor Augen steht. Nikias scheint hingegen eine distanzierte Sicht auf die Dinge einzunehmen; er blickt auf die Voraussetzungen für jedes tapfere und insgesamt eudämonistisch erfolgreiche Handeln und sieht, dass das tapfere Handeln in jedem Falle Wissen erfordert (194e–195a). Aus dieser Perspektive erscheint auch die von Laches genannte Handlungsbereitschaft in einem klaren Licht: Wirklich gut ist sie nur dann, wenn sie von dem Wissen über gute oder schlechte Dinge gelenkt wird, das die tapfere Person davor bewahrt, verächtlich wie etwa ein listiger Investor (192e) zu handeln. Das von Nikias genannte Wissen über die allgemeinen, glücksrelevanten guten oder schlechten Eigenschaften der Dinge ergänzt die von Laches genannte Klugheit. Nikias hält seinen eigenen Vorschlag jedoch für eine grundsätzliche Alternative, die auf ein Thema aufmerksam macht, das vorher gar nicht bedacht worden sei (194c7–9) und unternimmt deshalb keinen Versuch, seinen eigenen Vorschlag mit der von Laches genannten klugen Beharrlichkeit zu verbinden.

1. Die Verknüpfung der klugen Beharrlichkeit mit dem glücksrelevanten Wissen Laches und Nikias können ihre Vorschläge nicht verteidigen und Sokrates unternimmt nicht den Versuch, die beiden Hypothesen, die er mit Laches und Nikias erörtert hat, miteinander zu verbinden. Gleichwohl liegt es sehr nahe, den Laches so zu verstehen, dass der Dialogautor Pla-

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ton seine Leser geradezu einlädt, die Hypothesen des Laches und des Nikias so miteinander zu verbinden, dass man sowohl die Beharrlichkeit als auch das Wissen über eudämonistisch gute oder schlechte Dinge in eine angemessene Definition der Tapferkeit aufnimmt. Sokrates’ fragende Erläuterung des von Nikias genannten Vorschlags ist offenbar von der Annahme geleitet, die beiden von Laches und Nikias genannten Aspekte der Tapferkeit miteinander zu verbinden. Wenn Sokrates Nikias fragt, ob er der Auffassung gefährlicher oder unbedenklicher Dinge zustimmt, die Sokrates und Laches für richtig halten, spricht er ausdrücklich von den nahe bevorstehenden Dingen, denen man mit Furcht oder Zuversicht begegnet (198b2–c8). Diese Dinge sind die Ereignisse, auf die sich die Handlungsbereitschaft, d. h. die kluge Beharrlichkeit bezieht, von der zuvor in dem Gespräch mit Laches die Rede war. Sokrates charakterisiert die Tapferkeit zu Beginn seiner fragenden Erläuterung der Nikias-Hypothese demnach als eine Einstellung einer Person. Um den zukünftigen bedrohlichen oder unbedenklichen Ereignissen nun mit der richtigen, von Wissen gelenkten Furcht oder Zuversicht zu begegnen, bedarf es des Wissens über die allgemeinen guten oder schlechten Eigenschaften dieser Dinge. Diese Überlegung scheint die Fragen zu motivieren, die Sokrates Nikias stellt. Die richtigen Antworten zu geben, wäre Nikias’ Aufgabe. Viele Interpreten des Laches schlagen eine kompatibilistische Interpretation des Dialoges vor, in der man die beiden von Laches und Nikias erwogenen Hypothesen miteinander verbindet. Bereits Bonitz macht einen solchen Vorschlag (1968 [1886]: 216): „Wir brauchen nur die unbestritten(en) … Sätze zu verbinden. … Der Dialog führt … durch seinen eigenen Inhalt … auf die Definition der Tapferkeit als der auf sittlicher Einsicht (sc. der auf dem Wissen vom Guten und Schlechten) beruhenden Beharrlichkeit.“ Mit der Verknüpfung der beiden Definitionsvorschläge des Laches und des Nikias erhielten wir eine, so Kahn 1996: 167, „perfectly respectable definition of courage: perseverance and toughness of soul guided by the knowledge of what is good and what is bad, what is and is not to be feared. … Plato has … composed the Laches in such a way that a thoughtful reader may see (1) that the knowledge of good and bad is put forward as a general account of virtue, and (2) that toughness of soul and a special application to what is and is not really fearful are the distinctive features of courage“. Wenn wir die beiden Hypothesen, die Laches und Nikias vorschlagen, miteinander verbinden, sollten wir m. E. versuchen, etwas genauer zu verstehen, weshalb eine bestimmte seelische Verfassung jemanden in die Lage versetzt, eudämonistisch gute, erfolgreiche Handlungen auszuführen, ‚das Gute also nicht nur zu kennen, sondern auch zu erlangen‘, um so die

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Fragen beantworten zu können, die zwischen Sokrates, Laches und Nikias offen geblieben waren. Eine Möglichkeit, die Beharrlichkeit in das Definiens der Tapferkeit aufzunehmen, diskutiert Devereux 1992, vgl. auch 1977. Für den Sokrates des Laches sei die Klugheit (phronesis) das Wissen von den guten und schlechten Dingen, das den Besitz der Tapferkeit und auch der anderen Tugenden gewährleiste: „wisdom is the whole of virtue insofar as its possession guarantees possession of the other virtues“ (777). Einerseits enthalte die Tapferkeit einen non-kognitiven Faktor in Gestalt der Beharrlichkeit. Andererseits ist aber, wie Devereux im Blick auf 199d–e sagt, das Wissen selbst die Quelle der beharrlichen Einstellung (783): „For Socrates, the power of knowledge of good and evil manifests itself as a kind of endurance; the capacity to endure ‘comes with’ the knowledge.“ Für den Konflikt, der sich daraus ergibt, schlägt Devereux folgende Lösung vor: „(I)f this knowledge is sufficient, then whether or not one has endurance seems irrelevant. However, once we see the particular way in which (Socrates) understands the power of knowledge … , we can see that endurance is a necessary concomitant of knowledge of good and evil. This knowledge is sufficient for virtuous behaviour by indicating how one ought to act. … Thus, we can grant that knowledge of good and evil is sufficient by itself for courageous behavior, and still maintain that endurance is an essential distinguishing feature of courage and should be included in its definition“ (1992: 783). Um ein Wissen von Sachverhalten handlungswirksam werden zu lassen, muss ein motivierender Faktor hinzukommen. „The Socratically virtuous person has endurance, or what we might call will power; but this power does not derive from the will, but solely from one’s knowledge of the good“ (783). Das stimmt aber mit dem Text des Laches nicht überein. Sokrates sagt nicht, das Wissen der guten oder schlechten Dinge sei auch die Quelle der Beharrlichkeit, sondern er charakterisiert die gute seelische Verfassung als die Verbindung von Wissen und Tugenden. Wenn das Wissen vom Guten und Schlechten mit der motivationalen Kraft verknüpft ist, die man mit Laches Beharrlichkeit nennen mag, so gälte es, eben diesen Sachverhalt zu erklären. Erler 1987: 118 f. weist auf die Tatsache hin, dass sich die Annahme, die Tapferkeit sei ein Teil des Gutseins, lediglich dem gesprächspraktischen Vorschlag verdankt, „sich an der Tapferkeit als einem Teil (des Gutseins) zu erproben, weil das leichter schien“. Deshalb solle der Leser eben diese Annahme aufgeben und sich statt dessen, so Erler mit Hinweis auf Phaidros 274a und Politeia 497d, „zu einem beschwerlicheren Weg aufmachen“. Erler schlägt vor, die problematischen Annahmen, die in eine Aporie zu führen scheinen, so zu interpretieren, dass sie zu den

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Annahmen passen, denen die Dialogpartner gemeinsam zustimmen. Nach Erler 2007: 155 zeigt der Laches im Blick auf die Tapferkeit, „dass kognitive Kompetenz alleine (…) nicht ausreicht, sondern durch den Aspekt der Beharrlichkeit ergänzt werden muss“. Erlers hermeneutische Hypothese ist m. E. richtig. Der Leser braucht die ursprüngliche Annahme 198a1–b1 über die Tapferkeit als eines Bestandteils einer insgesamt guten seelischen Verfassung meiner Auffassung nach aber nicht aufzugeben, sondern sollte sie, wie gesagt, auf eine naheliegende, unproblematische Weise, nämlich im Sinne der erweiterten Tapferkeitsdefinition von 199d4–e1 verstehen, um so zu erkennen, das die beiden fraglichen Annahmen sehr wohl miteinander vereinbar sind. Manuwald 2000: 179 nennt fünf Elemente des Laches, die sich zu einer guten Antwort auf die Frage nach der Tapferkeit zusammenfügen ließen und weist darauf hin, dass Sokrates und Nikias sich auf „drei Bestimmungen“ einigen: (i) Tapferkeit ist Teil der gesamten arete, (ii) die gefährlichen oder unbedenklichen Dinge werden als künftige schlechte bzw. gute Dinge bestimmt und (iii) „Wissen bezieht sich nicht nur auf einen Teilbereich der Zeit … , sondern jeweils auf alle Zeitbereiche“. Der Leser sei „nicht aufgerufen, eine der Übereinkünfte fallen zu lassen, sondern eher, eine Definition der Tapferkeit zu suchen, die mit den Übereinkünften harmoniert“ (183). Zwei weitere Annahmen bleiben, so Manuwald (185) im Anschluss an Devereux 1992, im Laches unbestritten: der Gedanke der Beharrlichkeit sowie die in 199d–e formulierte These, der zufolge Sokrates „das zeitübergreifende Wissen von allem Guten und Schlechten für die vollständige arete hält“. Diese fünf Elemente würden in der Politeia aufgenommen (187 ff.): Dort ist (1) „(d)ie Tapferkeit … ausdrücklich ein Teil der arete“; (2) auch hinsichtlich der gefährlichen Dinge als zukünftiger Übel dürfe man eine Übereinstimmung zwischen Laches und Politeia annehmen; (3) „auch in der Politeia (ist) das Wissen (episteme) nicht auf eine bestimmte Zeitstufe eingegrenzt“; (4) die Beharrlichkeit sei dort „der Sache, wenn auch nicht dem Wortlaut nach, Teil der Tapferkeitsdefinition“ und schließlich (5) verfüge das Logistikon „über das ungeteilte Tugendwissen, das als Wissen vom Guten und Schlechten auch das Wissen darüber einschließt, was gefährlich und was ungefährlich ist“. Manuwald beschreibt den Sachverhalt sehr richtig, doch auch bei ihm bleibt eine genauere Erläuterung der guten seelischen Verfassung offen. Yonezawa 2012 vergleicht die Überlegungen im Laches (und Protagoras) mit Sokrates’ Charakterisierung eines beharrlichen gerechten Handelns in der Apologie (28d–29b). Zu Recht weist Yonezawa 2012: 653, 662 ff. darauf hin, dass sich die Gesprächspartner im Laches trotz der misslungenen Definitionsversuche auf einige Kriterien für tapferes

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Handeln einigen. Die Tapferkeit ist offenbar in der Tat eine Art von Beharrlichkeit und ebenfalls eine bestimmte Art von Klugheit (sophia: 194d9, phronesis: 192c5), aber keine technische Klugheit, d. h. kein Expertenwissen, sondern sie umfasst, so Yonezawa, erstens, das sokratische Wissen über das eigene Nichtwissen und, zweitens, Sokrates’ religiöse Überzeugung, der zufolge einem gerechten Menschen im Leben kein wirkliches Übel widerfahren könne. Das sokratische Wissen sei mit der in der Apologie erläuterten Bereitschaft zu gerechten Handlungen (die man oftmals gegen Widerstände durchzusetzen hat) verknüpft, für die Sokrates selbst ein Beispiel ist. Wenn man die im Laches thematisierte Klugheit im Sinne des sokratischen Wissens des eigenen Nichtwissens verstehe, so erfülle die sokratische Tapferkeit die im Laches genannten Tapferkeitskriterien. Nach Yonezawas Interpretation ist die sokratische Klugheit kein Expertenwissen, während Nikias das Wissen von gefährlichen, schlechten und unbedenklichen, guten Dingen als ein spezielles Expertenwissen auffasst. Das scheint mir aber gerade nicht der Fall zu sein. In seiner Entgegnung auf Laches’ Einwände sagt Nikias ausdrücklich, weder Ärzte noch andere Experten wüssten, was in dem von ihm genannten Sinne unbedenklich und gut oder gefährlich und schlecht ist, „es sei denn, sie hätten eben dieses Wissen eigens erworben“ (196c10–d8). Ein tapferer Mensch weiß, was in dem Sinne für ihn gefährlich oder unbedenklich ist, dass er sogar weiß, ob es unter bestimmten Umständen besser für ihn ist, zu leben oder zu sterben (195c7–d9). Das ist gewiss kein Wissen, das handwerklichen oder wissenschaftlichen Experten vorbehalten wäre und gewiss auch kein Wissen über spezielle technische Sachverhalte. Genau darum geht es auch in der Apologie (28d–29b): Sokrates verteidigt seine ‚prüfende Lebensweise‘ mit seinem göttlichen Auftrag und seinem Wissen; er weiß, dass es für ihn am besten ist, ‚auf dem Posten zu bleiben‘, beharrlich sein „Leben zu führen im Streben nach Erkenntnis“ und nicht etwa aus Furcht vor dem Tod oder etwas anderem seinen Posten zu verlassen und den Tod nicht einmal zu fürchten, da ja niemand wissen könne, ob der Tod ein großes Übel oder vielleicht sogar das größte Gut ist (28d–29b). Sokrates nimmt selbst übrigens niemals besondere Tapferkeit, sondern lediglich ein bestimmtes „menschliches Wissen“ (Apologie 20d8) in Anspruch; er betrachtet sich als ein Beispiel für jemanden, der das Wissen zweiter Ordnung erfolgreich gebraucht, das ihn wissen lässt, was er weiß und nicht weiß (20d–23b). So hat er das Orakel verstanden und so wird auch verständlich, dass er niemanden unterrichtet (19d–e, 33a). Das menschliche Wissen, das man gebraucht, wenn man über die eigene Lebensführung nachdenkt, ist in der Tat kein Expertenwissen,

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weil jeder Mensch kraft seiner eigenen Vernunft entscheiden kann, was zu seinem gelingenden Leben beiträgt oder es gefährdet. Yonezawa (652) meint, Sokrates könne das im Laches erwogene Wissen vom Guten und Schlechten aus dem folgenden Grund nicht für ein Element menschlicher Tapferkeit halten (und den entsprechenden Definitionsvorschlag nicht akzeptieren): Da Sokrates in der Apologie betont, dass kein Mensch etwas wirklich Wichtiges weiß (21d4, 22d7) und das menschliche Wissen, verglichen mit dem göttlichen Wissen, nur wenig wert ist, sei er der Auffassung, dass kein Mensch, sondern nur die Götter über das Wissen über das wirkliche Gute verfügen. Daraus, dass Sokrates in der Apologie auf die Beschränktheit des menschlichen Wissens hinweist, folgt m. E. aber nicht, dass Menschen nicht über ein vergleichsweise schwaches, unbedeutendes, aber eben menschenmögliches Wissen über eine gute seelische Verfassung verfügen können. Es sind eben Menschen, die kraft ihrer (beschränkten) Möglichkeiten über ein gelingendes Leben nachdenken, und die Sachverhalte, über die sie nachdenken, nämlich gute oder schlechte Handlungen und Ereignisse und Tugenden wie Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit, sind von dieser Welt. Deshalb können Menschen eben nur, aber immerhin dasjenige über diese Sachverhalte wissen, was sie auf die ihnen mögliche Weise dann wissen, wenn sie ihre Meinungen erfolgreich prüfen. Versuchen wir, die insgesamt gute, glückszuträgliche seelische Verfassung, zu der die Tapferkeit gehört, noch etwas genauer zu verstehen.

2. Die eudämonistische Tapferkeit Unter den Gesprächspartnern des Laches herrscht offenbar Einigkeit über die speziellen Tugenden, die zu einer guten seelischen Verfassung gehören. Sokrates widerlegt Laches’ Vorschlag, jede kluge, beharrliche Handlung sei eine tapfere Handlung, zwar mit dem Hinweis auf Gegenbeispiele, die zeigen, dass nicht jede kluge, beharrliche Handlung auch anerkennenswert ist. Laches stimmt Sokrates aber vorbehaltlos darin zu, dass jede tapfere Handlung vorteilhaft und anerkennenswert (gut und schön) ist. In seiner Kritik an Nikias’ Vorschlag nennt Sokrates keine Gegenbeispiele, die zeigten, dass einige Personen wissen, welche Dinge gefährlich oder unbedenklich sind, aber nicht tapfer sind. Als eine kognitiv-volitionale Einstellung einer Person ist das Gutsein Laches und Nikias offenbar wohlvertraut. Die beiden Gesprächspartner des Sokrates sind jedoch nicht vertraut mit dem umfassenden Wissen, das nach Sok-

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rates’ Auffassung eine Voraussetzung für das gute, erfolgreiche und tugendhafte Handeln ist. Nikias zitiert zwar Sokrates’ Auffassung über Wissen als Voraussetzung des guten Handelns, scheint aber seinerseits nicht genau zu wissen, über welches Wissen derjenige verfügt, der sich in einer insgesamt guten seelischen Verfassung befindet und, in den Worten, die Nikias’ zitiert, „genau darin gut ist, wovon er ein Wissen hat“ (194d1–2). Das in theoretischer Hinsicht entscheidende Element der guten seelischen Verfassung ist das glücksentscheidende Wissen. Dieses Wissen bereitet den Gesprächspartnern im Laches – wie auch in anderen sokratischen Dialogen – einige Verständnisschwierigkeiten. Detel (1974: 130) zufolge möchte Platon mit dem Schlussargument des Laches (und ebenso mit strukturell vergleichbaren Argumenten in anderen sokratischen Dialogen) zeigen, dass „Sokrates’ Gesprächspartner … nicht so sehr falsche Vorstellungen von den jeweils zu definierenden (Tugenden), sondern vielmehr von (Wissen haben).“ Diese Interpretation ist m. E. richtig, jedoch um einen wichtigen Punkt zu ergänzen. Eine alternative Interpretation der von Nikias vorgeschlagenen Definition hätte die Tapferkeit so zu explizieren, dass es sich dabei (i) um das Wissen von allgemeinen gefahrvollen oder unbedenklichen Eigenschaften handelt, das ebenfalls (ii) das Wissen der anderen guten und schlechten Eigenschaften gefährlicher oder unbedenklicher Dinge umfasst und zugleich (iii) mit allen glücksrelevanten Tugenden verknüpft ist und (iv) in genau diesem Sinne in der Tat das gesamte Gutsein repräsentiert. Das eudämonistische Wissen, d. h. das ‚Wissen vom Guten und Schlechten‘ (199d4–e1) bezieht sich vor allem wohl auf den Zusammenhang der guten oder schlechten Eigenschaften der Dinge und ebenso auf den Zusammenhang der Tugenden und es hat eine referentiell transparente Struktur: Der im Sinne der erweiterten Definition (199d4–e1) Tapfere weiß ausdrücklich, dass die verschiedenen glücksrelevanten guten oder schlechten Eigenschaften der Dinge einen Zusammenhang bilden, jede gefährliche oder unbedenkliche Sache also auch viele andere eudämonistisch gute oder schlechte Eigenschaften hat und man eine ganz bestimmte Sache deshalb nur dann angemessen beurteilt, wenn man den jeweils ganz bestimmten Zusammenhang guter oder schlechter Eigenschaften erkennt, der auf diese bestimmte Sache zutrifft. So weiß der Tapfere etwa, dass er sich einer Todesgefahr aussetzt, wenn er gegen einen übermächtigen Gegner kämpft und er weiß auch, ob es für ihn selbst besser und anerkennenswert ist, sich dieser Gefahr zu stellen, weil eine Flucht sein gelingendes Leben womöglich noch stärker beeinträchtigte als der Tod. Der im Sinne der erweiterten Definition tapfere Mensch verfügt aber

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nicht nur über das Wissen der guten oder schlechten Eigenschaften der Dinge, denen er mit Furcht oder Zuversicht begegnet, sondern er hat auch eine komplexe charakterliche Einstellung. Wie gesagt: Der Tapfere (i) weiß, welche Dinge gefährlich oder unbedenklich sind (199d9–e1), kennt (ii) auch alle anderen guten oder schlechten Eigenschaften dieser Dinge (d5), und zwar im Sinne eines allgemeinen, von bestimmten Ereignissen unabhängigen Wissens (d5–6) und ist nicht nur tapfer, sondern auch gerecht, besonnen, klug und fromm, verfügt also (iii) über jede glücksrelevante Tugend (d7–e1), so dass er das Gute auch (iv) zu erlangen, also erfolgreich zu handeln vermag (e1). In einer insgesamt guten seelischen Verfassung befindet man sich dann, wenn man weiß, welche Handlungen in einem umfassenden, glücksrelevanten Sinne gut oder schlecht sind und ebenfalls über eine entsprechende Handlungsbereitschaft verfügt. Mit anderen Worten: Die kluge Beharrlichkeit, über die man in einer insgesamt guten seelischen Verfassung verfügt, ist eine eudämonistische Tapferkeit. Die vollkommen gute, glückszuträgliche seelische Verfassung, die Sokrates in 199d4-e1 beschreibt, ist gewiss ein Ideal. Sokrates’ Überzeugung über eine lebenslange und glücksentscheidende Rechenschaftgabe, die er in der Apologie unmissverständlich zum Ausdruck bringt und die Nikias im Laches so sehr hervorhebt, lassen aber wohl vermuten, dass Sokrates meint, dass es immerhin möglich ist, sich diesem Ideal auf jeweils bestmögliche Weise zu nähern, wenn man sich kraft der sokratisch verstandenen Rechenschaftgabe darum bemüht, sich in eine möglichst gute Verfassung zu bringen.

3. Der Zusammenhang der Tugenden Offenbar ist Sokrates der Auffassung, dass die Tugenden in der Weise voneinander abhängig sind, dass die erfolgreiche Ausbildung und Ausübung der einen Fähigkeit stets die Mitwirkung der anderen Fähigkeiten erfordert. In der Politeia weist Sokrates darauf hin, dass ein Gemeinwesen nur dann gerecht und in einem umfassenden Sinne gut (organisiert) ist, wenn die einzelnen Funktionsträger miteinander kooperieren und sich in der Ausübung ihrer Fähigkeiten nicht gegenseitig beeinträchtigen. Vergleichbares gelte für die verschiedenen Fähigkeiten und Motivationsquellen individueller Personen (Politeia 434c7–435c2). Wenn der Tapfere weiß, dass ein bestimmtes Ereignis in dem von Nikias ausdrücklich gemeinten Sinne (194e3–4, 195c7–d9) sein gelingendes Leben gefährdet, dann möchte er diese Gefahr bewältigen. Die in einem

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umfassenden Sinne erfolgreiche und gute, eudämonistisch wünschenswerte, nämlich vorteilhafte und anerkennenswerte Bewältigung einer Gefahr erfordert eine komplexe charakterliche Einstellung und ein komplexes Wissen. Der Tapfere weiß, dass die Sachverhalte und Ereignisse, die für ihn gefahrvoll oder unbedenklich sind, auch viele andere Eigenschaften haben, die er beachten sollte, wenn er eine bestimmte Sache umfassend beurteilen und wissen will, ob sie in einem glückrelevanten Sinne gut oder schlecht für ihn ist. Ebenfalls weiß der Tapfere, dass er verschiedene Fähigkeiten und Motivationen miteinander zu verknüpfen, nämlich tapfer, klug, besonnen und auf verschiedene andere Weise zu handeln hat, wenn er in einem umfassenden Sinne erfolgreich handeln will. Wenn er das weiß, wird er sich darum bemühen, eine komplexe Einstellung auszubilden, die so beschaffen ist, dass die verschiedenen Tugenden, d. h. bestimmte Fähigkeiten und Motivationen zielgerecht interagieren und sich nicht gegenseitig beeinträchtigen.41 Die Interdependenz der Tugenden mag hier mit einigen Beispielen erläutert werden. Variieren wir die Auseinandersetzung zwischen Nikias und Laches in 182a–184c über Sinn oder Unsinn des Waffenkampfsports. Stellen wir uns vor, dass Nikias und Laches ihre Meinungen über die pädagogische Bedeutung des professionellen Umgangs mit den Waffen eines Hopliten auf einer gesetzgebenden Volksversammlung vortragen, in der darüber beraten wird, ob eine solche Ausbildung für alle wehrfähigen Bürger Athens eingeführt werden sollte. Nikias stimmt mit Nachdruck dafür, Laches dagegen. Ist Nikias von seinem Vorschlag überzeugt, muss er Laches’ strategischen Sachverstand in Zweifel ziehen, um dessen Einwände entkräften zu können. Wenn Nikias davon überzeugt ist, dass sein Vorschlag dem Gesamtwohl der Polis dienlich ist, so würde er sich im Sinne der interpersonalen Tugend der Gerechtigkeit mit seinem Vorgehen gerecht verhalten. Wenn Nikias sich durchsetzt, hat er freilich auch Laches’ öffentliches Ansehen geschmälert. Laches wird erzürnt sein. Nun steht aber ein feindliches Heer vor den Toren Athens, dem es mit der richtigen Strategie zu begegnen gilt. Diese Gefahr abzuwenden, in diesem speziellen Sinne also klug und tapfer zu sein, erfordert wiederum eine gute Kooperation mit Laches. Falls Nikias sich gegen Laches durchsetzt, ist diese Zusammenarbeit gefährdet. Nikias hat zwei konfligierende Wünsche. Er möchte Laches’ Sachverstand zugunsten einer gerechten Sache in Misskredit bringen, dem Meinungskontrahenten jedoch gleichzeitig freundschaftlich begeg-

41

Das Thema einander widerstreitender Tugenden thematisiert Sokrates am Beispiel der Tapferkeit im Politikos (306a–308b), vgl. dazu Ricken 2008: 216–219.

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nen, um sich mit ihm über die Bewältigung der aktuellen Gefahr beraten zu können. Nikias befindet sich in der Situation einer gestörten Wunschbalance – und das ist wiederum ein Gegenstand der speziellen Tugend der Besonnenheit par excellence. Wie immer Nikias sich entscheidet – der Konflikt, in dem er sich befindet, weist ihn auf Abhängigkeiten hin. Zuerst hat Nikias seine Handlungsalternativen unter den normativen Gesichtspunkten der Gerechtigkeit zu bewerten und sodann in dem Sinne besonnen zu sein, dass er den richtigen Wunsch wirksam werden lässt. Sich gegenüber Laches in der gegebenen Situation gerecht und besonnen zu verhalten heißt zugleich, sich gegenüber der drohenden äußeren Gefahr angemessen zu verhalten, also auf kluge Weise tapfer zu sein. Ein weiteres Beispiel: Euthyphron, der sich mit den Geboten der Religion bestens auszukennen wähnt, ist im Begriff, eine Anklage gegen seinen Vater vorzubringen. Wenn er genau weiß, was fromm bzw. pietätlos ist, dann weiß er offenbar auch, was gerecht und ungerecht ist (Euthyphron 4e–5a). Wenn Frömmigkeit nämlich darin besteht, den Göttern den gebührenden Dienst zu erweisen und diese Einstellung auch in der Achtung vor der Verfassung Athens zum Ausdruck kommt, dann ist jemand nur dann fromm, wenn er auch gerecht ist. Wenn Euthyphron davon überzeugt ist, dass vor dem Gesetz alle Bürger gleich sind, dann muss er klären, ob sein Vater ein Unrecht begangen hat. Um wirklich fromm zu sein, muss Euthyphron ebenfalls wissen, ob er mit seiner Anklage gerecht handelt oder womöglich andere Motive hat. Ist Euthyphron wirklich im Recht, so braucht er auch den Mut, das Wagnis einer Klage einzugehen, um seine Einsicht in die Tat umzusetzen. In diesem Sinne heißt es in den Nomoi (659a–b), ein guter Richter müsse neben Einsicht vor allem über Tapferkeit verfügen, um das Recht auch dann durchzusetzen, wenn es unpopulär ist. Variieren wir den Fall: Euthyphron erfährt, dass Sokrates angeklagt ist, das Gutsein seiner Mitbürger zu beeinträchtigen. Ist Euthyphron tatsächlich gerecht und fromm, so wird er die Anklage als eine ungerechte und pietätlose Handlung verurteilen. Ist Euthyphron zudem ein mutiger Mensch, so weiß er, dass die Anklage gegen Sokrates Athen einen großen Schaden zufügt, also eine Gefahr für das öffentliche Leben der Stadt darstellt und es deshalb tapfer wäre, diese Anklage zu entkräften. Wenn Euthyphron in diesem Sinne gerecht, fromm und tapfer ist, wird er sich für Sokrates einsetzen und einen Freispruch erreichen wollen. Würde sich eine solche Motivation bei Euthyphron einstellen, so bräuchte er schließlich auch die spezielle (im weiteren Sinne) technische Klugheit, die er sich ausdrücklich zuspricht, um die Klage erfolgreich abzuwenden. Die Beispiele mögen zeigen: Die einzelnen Tugenden unterscheiden

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sich darin, dass sich jede tugendhafte Einstellung typischerweise auf eine ganz bestimmte gute oder schlechte Eigenschaft der Dinge bezieht. Wenn wir einer Sache mit Furcht oder Zuversicht begegnen und tapfer sind, dann wissen wir, dass diese Sache gefährlich oder unbedenklich und in dieser speziellen Hinsicht schlecht oder gut ist. Dieselbe Sache hat nun verschiedene gute oder schlechte Eigenschaften. Um eine gute oder schlechte Sache richtig zu beurteilen, hat man den Zusammenhang der verschiedenen guten oder schlechten Eigenschaften einer Sache zu beachten, also darauf zu achten, in welchen verschiedenen Hinsichten eine bestimmte Sache gut oder schlecht ist. In derselben Weise hat man ebenfalls darauf zu achten, dass man in einer bestimmten Situation jeweils verschiedene Handlungsmotive und Absichten miteinander zu verknüpfen hat, also über eine der jeweiligen Situation insgesamt angemessene kognitive und volitionale Einstellung verfügt, um erfolgreich handeln zu können. Mit anderen Worten: Das erfolgreiche, in einem umfassenden eudämonistischen Sinne gute Handeln erfordert in jedem Falle das unbeeinträchtigte Zusammenwirken der verschiedenen Tugenden. Deshalb bezieht sich das eudämonistische Wissen auch auf den Zusammenhang der Tugenden – offenbar in demselben Sinne, in dem Sokrates die Dialektik in der Politeia als die Erforschung von Zusammenhängen charakterisiert (532a, 534b–c, 537c). Die Liste der Tugenden lässt Sokrates offen. Zumeist nennt er die traditionellen Tugenden Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit, Klugheit und Frömmigkeit. Zuweilen werden weitere Eigenschaften genannt, so etwa Großzügigkeit in Menon 74a und Politeia 536a. Noch in den Nomoi heißt es aber, dass es nicht darauf ankomme, ob man die Tugenden Teile des gesamten Gutseins oder anders nennt, sondern darauf, ob man ihren Gehalt richtig erkennt (633b). Wenn man sich darüber im klaren ist, dass die Tugenden voneinander abhängige Aspekte der einen komplexen, insgesamt glückszuträglichen seelischen Verfassung sind, erübrigt sich eine vollständige terminologische Liste der Tugenden. Die gute seelische Verfassung umfasst all die Fähigkeiten, die man mit den traditionellen Namen für die Tugenden bezeichnet, also die wünschenswerten, vorteilhaften Fähigkeiten, die für ein gelingendes Leben erforderlich sind. Die gute Verfassung kann freilich Aspekte enthalten, die man bislang noch nicht mit einem eigenen Wort versehen hat. Deshalb könnte man der Liste der traditionellen Tugenden weitere spezielle Tugenden hinzufügen.42 Solche weiteren Tugenden sind dann Charak42 Aristoteles weist in der Nikomachischen Ethik (1108a4–19) darauf hin, dass man noch nicht über treffende Bezeichnungen für die meisten Tugenden verfüge, sondern solche Bezeichnungen allererst finden müsse. Aristoteles charakterisiert die angemessenen Charaktertugenden als die

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tereigenschaften, die man zuvor mit anderen Aspekten identifiziert hatte, jetzt jedoch eigens hervorhebt, um eben deutlich zu machen, dass eine insgesamt gute seelische Verfassung auch diese Aspekte einschließt. Die ‚Entdeckung‘ neuer Tugenden bedeutet eine informative Anreicherung, aber keine Veränderung der allgemeinen, strukturellen Definition des Gutseins im Sinne der Fähigkeit, die je speziellen Tugenden erfolgreich zu koordinieren. In dieser Weise gebraucht man viele allgemeine, strukturelle, d. h. auf die Struktur einer Sache bezogene Definitionen wie etwa Definitionen der Gerechtigkeit oder Gesundheit. Wenn wir auf der Grundlage eines bestimmen, gegenwärtigen medizinischen Forschungsstands die Gesundheit eines Organismus so definieren, dass ein gesunder Organismus sich in einer Verfassung befindet, in der seine Vitalfunktionen unbeeinträchtigt sind, so wird diese strukturelle Definition dadurch nicht verändert, dass wir in der medizinischen Forschung neue, zuvor nicht ausdrücklich berücksichtige medizinische Sachverhalte entdecken, die weiterhin unter diese allgemeine Definition fallen. Wenn wir Gerechtigkeit etwa als die Verteilung von Gütern nach den Rawlsschen Gerechtigkeitsgrundsätzen definieren, so würde die allgemeine Form dieser Definition nicht verändert, falls wir aufgrund veränderter technologischer, politischer oder ökonomischer Verhältnisse auf weitere, zuvor unberücksichtigte Güter, wie etwa auf das Gut eines gerechten Zugangs zu Informationen aufmerksam werden, die ebenfalls nach denselben Grundsätzen zu verteilen sind. Eine strukturell angemessene Definition kann man in vielen Fällen inhaltlich weiter anreichern, ohne ihre allgemeine Form (und Formulierung) ändern zu müssen. Eine Änderung der strukturellen Definition wäre erst dann erforderlich, wenn wir auf Sachverhalte stoßen, die klarerweise zu dem jeweiligen Definiendum gehören, aber von dem entsprechenden Definiens nicht erfasst werden. Diesen Weg beschreitet Sokrates in Dialogen wie dem Laches, indem er bestimmte Definitionsvorschläge auf die Probe stellt. Ein solcher Umgang mit einer Definition des Gutseins setzt nun voraus, dass man das Gutsein zuerst einmal auf eine hinreichend genaue allgemeine, strukturelle Weise bestimmt – und eben dies scheint der Anspruch der Definition zu sein, die wir dem entscheidenden Textstück 199d4–e2 entnehmen können. Der Blick auf bestimmte einzelne Tugenden ist in Platons sokratischen Dialogen der Auftakt für die Suche nach einer strukturellen, erklä-

mittlere Form einer Einstellung in einem bestimmten Handlungsbereich (vgl. dazu Hardy 2011a: 315–342).

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rungskräftigen Definition einer insgesamt guten seelischen Verfassung. Eine Aufzählung verschiedener Tugenden kann, wie etwa der Menon zeigt, eine Definition dessen, was ihnen gemeinsam ist, nicht ersetzen (Menon 72b–d). Verfügt man jedoch über eine angemessene strukturelle Definition des Gutseins, so führt die Beschreibung verschiedener Einzeltugenden zu einer phänomenologisch reichhaltigeren Explikation des Definiendum, also der Fähigkeit des erfolgreichen Handelns, doch eben nicht zur Veränderung der strukturellen Definition – es sei denn, man stieße, wie gesagt, in der Explikation einer Definition auf Fälle, die unter das Definiendum fallen, vom Definiens aber nicht erfasst werden. Das würde auch eine mangelnde Handlungsorientierung bedeuten; man könnte in Situationen geraten, in denen eine bestimmte Handlung im eudämonistischen Sinne gut zu sein scheint, die man jedoch auf der Grundlage des zu diesem Zeitpunkt erreichten Verständnis des Gutseins nicht mit Sicherheit als gut oder schlecht zu beurteilen weiß. Wer den Zusammenhang der Tugenden im Blick hat, wird im praktischen Überlegen alle relevanten Aspekte des guten, erfolgreichen Handelns berücksichtigen. Weitere Tugenden mit jeweils eigenen Namen in den Katalog der Tugenden aufzunehmen hieße lediglich, andere Aspekte desselben Gutseins eigens hervorzuheben. Ebenso könnten wir den Planeten Venus neben „Morgenstern“ und „Abendstern“ etwa auch „Leuchtstern“ nennen, solange wir nur wissen, dass diese Ausdrücke denselben Planeten bezeichnen. Ohne das Wissen um die Interdependenz der Tugenden werden die Fähigkeiten, die für das Gutsein erforderlich sind, auf eine disparate, voneinander unabhängige Weise ausgebildet und in ihrem richtigen Gebrauch beeinträchtigt. Wer scheinbar tapfer, aber zugleich unbesonnen und ungerecht agiert, der ist nicht tapfer, sondern tollkühn und selbst eine Gefahrenquelle (vgl. Protagoras 349e–350c). Wenn Sokrates der Auffassung ist, dass man etwas nur dann gut macht, wenn man über ein entsprechendes Wissen verfügt (194d1–3) und das Wissen vom Guten und Schlechten in 199d4–e1 als ein umfassendes und handlungsleitendes Wissen beschreibt, so kommt es ihm wohl auf den Zusammenhang der verschiedenen glücksrelevanten Eigenschaften der Dinge und ebenso auf den Zusammenhang der Tugenden an. Zu wissen, dass die unbedenklichen Dinge gut und die gefährlichen Dinge schlecht sind, bedeutet für Sokrates, zu wissen, dass diese Eigenschaften in demselben Sinne miteinander verknüpft sind wie die Tugenden miteinander zusammenhängen. In diesem Sinne sind, wie wir gesehen haben, auch die Annahmen, die Tapferkeit sei ein Teil des Gutseins und zugleich dasselbe wie das Gutsein, miteinander vereinbar. Ein Aspekt und zugleich dasselbe wie eine insgesamt gute seelische Verfassung ist die Tapferkeit insofern, als man genau dann tapfer ist,

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Kommentar

wenn man sich in der komplexen seelischen Verfassung befindet, in der man über alle glücksrelevanten Tugenden, d. h. über eine umfassende Handlungskompetenz verfügt. Das scheint Nikias jedoch nicht zu wissen. Anderenfalls hätte er Sokrates entgegnen können: ‚Tapfer ist, wer jede gefährliche oder unbedenkliche Sache kennt. Aber dies weiß jemand, wie ich einmal von dir gelernt habe, nur dann, wenn er weiß, dass die Tatsache, dass eine bestimmte Sache gefährlich oder unbedenklich ist, nur eine der Eigenschaften ist, auf die sich unser Wissen über das Gute und Schlechte bezieht und der Tapfere, wenn er gut handeln möchte, auch die anderen Eigenschaften dieser Art kennen sollte.‘ Das ist es, was Nikias ausdrücklich wissen und selbst über die Tapferkeit sagen sollte, wenn er Sokrates nicht nur zitiert, sondern auch richtig verstanden hätte – und möglicherweise verstünde er das, was er von Sokrates einmal gehört hat, etwas besser und genauer, würde er von Sokrates erneut und noch etwas weiter „in der Rede herum und zur Rechenschaftgabe geführt“.

4. Exkurs 1: Eine Hypothese über eudämonistische Besonnenheit im Charmides Die handlungsleitende Funktion des eudämonistischen Wissens kommt auch im Charmides zur Sprache, und zwar auch dort als eine Antwort auf die Frage, was eine spezielle Tugend, nämlich die Besonnenheit ist. Die Überlegungen, die Sokrates im Schlussteil des Charmides unternimmt, seien hier kurz dargestellt. Sokrates und Kritias einigen sich im Verlauf ihrer Unterredung auf die folgende Annahme (165c7–167a8): Wenn die Besonnenheit eine Art von Wissen ist, dann ist sie ein „Wissen vom Wissen und Nichtwissen“, und zwar die Fähigkeit, Wissensansprüche zuverlässig beurteilen zu können, um so zu erkennen, ob man selbst oder jemand anderes etwas weiß oder nicht weiß. Sokrates zweifelt daran, dass es ein solches Wissen überhaupt gibt, geht dann jedoch zunächst einmal von der Annahme aus, dass es ein solches Wissen gibt, macht die Bestätigung dieser Annahme davon abhängig, dass die so charakterisierte Besonnenheit einen ganz bestimmten Nutzen erbringt (172c6–173a1), und schlägt schließlich eine komplexe, vielsprechende Hypothese über eine eudämonistische Besonnenheit vor, die ihm gleichsam im Traum vorschwebe (173a7–174a8): Wenn die Besonnenheit eine Art von Wissen ist, dann gilt für jede Person: Wenn wir besonnen sind, dann sind wir in der Lage, zu erkennen, ob jemand anderes etwas weiß

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Was ist Tapferkeit?

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oder nicht weiß und könnten deshalb vor allem auch erkennen, ob jemand ein wirklicher Experte ist und ob ein Experte sein Wissen zu unserem Nutzen einsetzt. Sokrates und Kritias deuten Sokrates’ Traum so, dass die Besonnenheit, die Sokrates vorschwebt, das Wissen über das Gute und Schlechte ist, und zwar ausdrücklich ein Wissen, das ein glückliches, gelingendes Leben ermöglicht (174a10–d2). Sokrates’ Hypothese über die eudämonistische Besonnenheit lässt sich demnach so formulieren: Wenn man besonnen ist, dann weiß man, was in einem glücksrelevanten Sinne gut oder schlecht ist (und kann in genau dieser Hinsicht auch die Wissensansprüche und vor allem auch das Handeln von Experten angemessen beurteilen), und wenn das zutrifft, ist die Besonnenheit für die Menschen (überaus) nützlich. Diese Charakterisierung der Besonnenheit wäre bestens vereinbar mit der Erläuterung der guten seelischen Verfassung im Laches (199d4–e2). Im Charmides erhebt Sokrates allerdings einen desaströsen Einwand gegen seine eigene, vielversprechende Hypothese über die eudämonistische Besonnenheit, der jede weitere Prüfung und Erläuterung dieser Hypothese zum Scheitern verurteilt: Zuvor hatte Sokrates die von Kritias erwogene Besonnenheit als ein Wissen vom Wissen und Nichtwissen so verstanden: Wenn die Besonnenheit eine Art von Wissen, nämlich die Fähigkeit ist, Wissensansprüche zuverlässig zu beurteilen, dann verfügt man aufgrund der Ausübung dieser Fähigkeit ausschließlich über ein Wissen zweiter Ordnung, das nicht mit irgend einem Wissen erster Ordnung verknüpft ist (169e6–170d10). An dieser Annahme hält Sokrates im Schlussteil des Dialoges weiterhin fest (174e3–8, 175b6– c8). Aus diesem Grund beziehe sich die so charakterisierte Besonnenheit nicht auf gute oder schlechte Sachverhalte, sei also nicht das von Kritias genannte „Wissen vom Guten und Schlechten“ und erbringe nicht den Nutzen eben dieses (eudämonistischen) Wissens (174d3–7). Ebenfalls erbringe sie nicht den Nutzen, den die anderen Wissensarten wie etwa die Medizin oder ein bestimmtes Handwerk den Menschen verschaffen (174e3–175a4). Wenn nun für jede Art von Wissen gilt, dass es entweder den einen oder den anderen (der beiden alternativen Arten von) Nutzen erbringt, so folgt daraus, dass die Besonnenheit als ein „Wissen vom Wissen und Nichtwissen“ für die Menschen überhaupt nicht nützlich ist (175a6–8). Das zuvor von Kritias zur Diskussion gestellte „Wissen vom Wissen und Nichtwissen“ versteht Sokrates, wie gesagt so, dass es ausschließlich ein Wissen zweiter Ordnung, d. h. ein Wissen über epistemische Sachverhalte hervorbringt, das sich nicht ebenfalls auf irgend ein Wissen erster Ordnung bezieht. Diese Annahme, an der die weitere Prüfung der Hypothese über die eudämonistische Besonnenheit scheitert, ist das

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proton pseudos der gesamten Diskussion im Charmides; sie ist eine falsche Interpretation des Wissens zweiter Ordnung, das man durch die erfolgreiche Prüfung von Wissensansprüchen gewinnt. Ein Wissen zweiter Ordnung, das nicht mit einem Wissen erster Ordnung verknüpft wäre, gibt es nicht. Das wäre so, als wüsste man, dass man etwas sieht, ohne zu wissen, was man denn sieht. Jedes Wissen zweiter Ordnung bezieht sich auch auf ein Wissen bzw. auf eine Meinung über Sachverhalte erster Ordnung; wenn man weiß, dass man etwas weiß oder nicht weiß, dass weiß man selbstverständlich auch, was man weiß oder nicht weiß. Die falsche Annahme über das „Wissen vom Wissen und Nichtwissen“ hätte Sokrates mühelos korrigieren können; wenn es ein solches Wissen gibt, so ist es die Fähigkeit, Wissensansprüche zu prüfen, die Sokrates selbst mit seinen Gesprächspartnern in Platons Dialogen auf Schritt und Schritt zumeist erfolgreich ausübt (und in der Apologie, im Menon und im Theaitet ausführlich erläutert). Immerhin hat Sokrates die Einsicht in sein eigenes Wissen den Erfahrungen zu verdanken, die er mit ignoranten Experten gemacht hat (Apologie 21a–23a). Auch im Laches ermahnt Sokrates seine Gesprächspartner, Entscheidungen seien mit Wissen (und zwar mit dem je eigenen Wissen) zu treffen, um sich von den gegensätzlichen Expertenmeinungen, die Laches und Nikias zuvor geäußert hatten, unabhängig zu machen. Sokrates’ Gesprächspartner Kritias hatte zwischenzeitlich den Argwohn geäußert, Sokrates komme es lediglich darauf an, die Annahme über die Besonnenheit, die Kritias vorgeschlagen hatte, zu widerlegen (166b7-c6). Sokrates verspricht, er wolle diese Annahme sorgfältig prüfen (166c7–d6), aber er tut es offenbar nicht; im Charmides hält Sokrates stattdessen an einer offenkundig abwegigen Annahme fest, die bis zum Ende des Dialoges eine Verwirrung stiftet (175b6–c8), die er leicht hätte vermeiden können. Das ist verwunderlich und bedauerlich, denn das „Wissen vom Guten und Schlechten“ hat ja auch die überaus wichtige Aufgabe, das Handeln von Experten zu beaufsichtigen (171d2– 172a2, 173a7–174d1). Man darf wohl vermuten, dass Platon (auch) mit der irritierenden Dialogregie des Charmides seine Leser einlädt, selbst eine Lösung des Problems zu finden, das Sokrates in dem Schlussargument des Dialoges konstruiert.43

43

Für eine genauere Analyse des Schlussarguments im Charmides und einen Interpretationsvorschlag zur Problemlösung vgl. Hardy 2011a: 231–245.

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V Der Abschluss des Gesprächs im Laches, 199e12–201c5

Laches und Nikias kommentieren das Ergebnis der Unterredung zwischen Sokrates und Nikias mit zwei weiteren Zügen ihres freundschaftlichen Zankgesprächs (199e13–200c1), stimmen aber darin überein, dass man sich in dem Bemühen um eine gute Erziehung der Jugendlichen nur auf Sokrates verlassen solle (200c2–d4). Lysimachos bittet Sokrates abermals, „den jungen Leuten dabei zu helfen, möglichst gut zu werden“ (200d7–8). Die Formulierung erinnert an die Apologie (30a7–b2), in der Sokrates seinen eigenen Auftrag so beschreibt, dass er seine Mitbürger ermahnt, sich um ihre Seele zu kümmern, so dass sie möglichst gut werde. Sokrates kommt der Bitte des Lysimachos gerne nach und verspricht, das heutige Gespräch morgen in Lysimachos’ Hause fortzusetzen (201c4–5). Man kann sich gut vorstellen, dass Lysimachos, der sich aufgrund seines Alters nicht für einen guten philosophischen Gesprächspartner hält, am nächsten Tage weitere Freunde und Bekannte als Gesprächspartner des Sokrates einladen wird. Im Protagoras (361c2–d6) empfiehlt Sokrates selbst das Gespräch über die unbeantworteten Fragen nach dem Gutsein und dem glücksentscheidenden Wissen bei anderer Gelegenheit fortzuführen. Interessanterweise berichtet Nikias davon, dass er Sokrates erfolglos gebeten habe, sich um seinen Sohn Nikeratos zu kümmern (200c7–d3). Sokrates ist zwar bereit, die Gespräche über das Gutsein fortzusetzen, aber er ist nicht bereit, sich, wie es Nikias zu erwarten scheint, im Sinne eines Lehrers um Jugendliche zu kümmern. Hätte sich in den Gesprächen gezeigt, dass er über ein Wissen verfügt, das den anderen fehlt, so wäre es wohl richtig, ihn um Hilfe bei der Erziehung der Jugendlichen zu bitten. So aber verdiene keiner der Anwesenden den Vorzug (200e1– 201a1). Sokrates gibt stattdessen den dreifachen Rat, sie alle sollten nach Kräften nach einem Lehrer für sie selbst und für die Jugendlichen suchen, sollten versuchen, den Zustand der Unwissenheit, in dem sie sich jetzt befinden, zu überwinden und sich weiter um sich selbst und um die jungen Menschen kümmern (201a1–b5). Den Vorwurf, in ihrem

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Kommentar

Alter noch in die Lehre zu gehen, bräuchten sie nicht zu fürchten, sondern sie mögen sich auf das Homerische Diktum berufen, Scham sei nicht gut für den bedürftigen Mann.44 Der erste Ratschlag ist aber wohl nicht ganz Ernst gemeint. Sokrates hatte zuvor ja gesagt, er selbst habe zeit seines Lebens nach einem Lehrer für die Ausbildung einer guten seelischen Verfassung gesucht, jedoch keinen gefunden. Auch seine Gesprächspartner haben keine solchen Lehrer genannt, und das Gespräch des Laches lässt keinen Hinweis darauf erkennen, wie und wo man auf der Suche nach solchen Lehrern fündig werden könnte. Um eine gute seelische Verfassung kann man sich wohl nur selbst kümmern. Die eingangs erhoffte Antwort auf die Frage danach, was eine gute seelische Verfassung ist, haben die Dialogpartner nicht gefunden, und Lysimachos und Melesias bekommen so auch keinen Rat über pädagogisch wertvolle Betätigungen für eine gute Erziehung und Ausbildung ihrer jugendlichen Söhne. Diesen Rat scheinen sie unterdessen gar nicht mehr zu vermissen, aber gleichwohl darauf zu hoffen, dass Sokrates ihnen in nächsten Gesprächen, zu denen sie ihn am Ende des Dialoges einladen, dabei helfen kann, weiter über eine gute Erziehung nachzudenken. Die Fragen nach einer Lehrbarkeit des Gutseins und einem pädagogischen Expertenwissen sind im Laches zwischenzeitlich in Vergessenheit geraten. In Dialogen wie Protagoras und Menon wird Sokrates auf diese Fragen zurückkommen und seinen Zweifel an einer Lehrbarkeit des Gutseins mit einer ausführlichen Erläuterung des glücksrelevanten Wissens begründen, das er im Laches an einer entscheidenden Stelle zur Sprache bringt (vgl. dazu die Exkurse 2 und 3). Auch die sokratische Frage danach, was das Gutsein ist, bleibt, wie gesagt, ohne eine abschließende Antwort. Platon lässt die Gesprächspartner des Dialoges darüber jedoch keineswegs enttäuscht sein. Alle Gesprächspartner des Sokrates sind sich darin einig, dass es das Beste ist, die Gespräche mit Sokrates in der Weise fortzusetzen, wie sie es zuvor erlebt haben. Falls die Gesprächspartner des Sokrates jetzt immerhin wissen, dass man zunächst einmal darüber nachzudenken hat, was eine gute, glückszuträgliche seelische Verfassung ist und auch wissen, dass sie sich darum bemühen sollten, die eigene Unwissenheit zu überwinden, so wäre das wohl eine sehr sokratische Einsicht und ein glücksrelevanter Erfolg. Denn die wirkliche Einsicht in das eigene Nichtwissen wird sie in jedem Falle vor unüberlegten Handlungen in der Erzie-

44 Homer, Odyssee 17, 347, 352. Sokrates zitiert den Homervers auch in Charmides 161a1–3. Im Laches möchte Sokrates mit diesem Zitat möglicherweise zu verstehen geben, dass man das gemeinsame Lernen und die Rechenschaftgabe ebenso braucht wie das tägliche Brot.

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Der Abschluss des Gesprächs im Laches: 199e12–201c5

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hung und Ausbildung ihrer Söhne bewahren und sie wird sie auch davor bewahren, selbst ernannten Ratgebern und Experten leichtfertig zu vertrauen (186a3–b8).

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VI Ergebnisse

Fügen wir die Auskünfte über die Tapferkeit zusammen, die Sokrates, Laches und Nikias nicht in Frage stellen: Wenn eine Person in einer von Wissen geleiteten Weise tapfer ist, befindet sie sich in einer insgesamt guten seelischen Verfassung (deren Ideal Sokrates in 199d4–e1 beschreibt); sie verfügt neben der Tapferkeit auch über alle anderen Tugenden und ebenfalls über ein theoretisches und praktisches Wissen über eudämonistisch gute (glückszuträgliche) oder schlechte (glücksabträgliche) Sachverhalte und Ereignisse. Die tapfere Person hat sowohl die konstante Bereitschaft (Beharrlichkeit) als auch die Fähigkeit, eudämonistisch relevante Gefahren auf eine kluge, d. h. erfolgversprechende Art und Weise zu bewältigen. Wenn sie sich einer Gefahr stellt, verfolgt sie mit ihren Handlungen vorteilhafte und anerkennenswerte, allgemeine, vorrangige Ziele. Tapfer zu sein ist auch selbst ein solches Ziel; wer in einer bestimmten Situation eine Gefahr zu bewältigen sucht, indem er etwa in einer Schlacht seinen Gefährten zur Seite steht, möchte tapfer sein und wird dasselbe Ziel auch in anderen Situationen mit jeweils anderen Handlungen verfolgen. In einer guten seelischen Verfassung hat man nicht nur reflektierte, glückszuträgliche Meinungen, sondern ebenso reflektierte Wünsche.45 Eine Person kann ja auch sich selbst gegenüber tapfer sein (191e4–8), indem sie einen bestimmten Wunsch beharrlich aufrecht hält. Die Verbindung zwischen dem Wissen über gute oder schlechte Sachverhalte und der insgesamt tugendhaften Einstellung ist wohl so zu verstehen: Die Suche nach einem definitorischen Wissen über das Gutsein und das gelingende Leben führt zu einer größeren Aufmerksamkeit auf die außerordentliche Komplexität einer glückszuträglichen seelischen Verfassung. Wenn man ausdrücklich weiß, dass man nur dann tapfer ist, wenn man zugleich gerecht, besonnen, klug und insgesamt eudämonistisch erfolgreich agiert, wird man sich darum bemühen, die Tugenden in 45

Das gelingende Wollen als Element einer insgesamt guten seelischen Verfassung thematisiert Sokrates unter anderem im Menon, dazu unten Exkurs 3.

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Ergebnisse

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der Tat gemeinsam auszubilden, und in genau diesem Sinne ist man in einer bestimmten Situation auf eine bestmögliche Weise tapfer. Jede spezielle Tugend leistet einen bestimmten Beitrag zu einer guten seelischen Verfassung. Die besondere Leistung der Tapferkeit besteht offenbar in der Fähigkeit, Gefahren auf eine erfolgversprechende Weise zu bewältigen, die mit der Motivation zweiter Ordnung verknüpft ist, Handlungsabsichten auf eine konstante Weise in Übereinstimmung mit dem jeweils bestmöglichen Wissen über eudämonistisch wünschenswerte Sachverhalte auszubilden und dabei auch die Gefahren zu überwinden, die drohen, wenn man sich auf eine vergleichsweise sorglose Weise Urteile und Absichten bildet, die man unter anderen, besseren Bedingungen nicht hätte.46 Fähigkeit und Motivation sind intrinsisch miteinander verknüpft, weil beides miteinander entwickelt wird. Das gilt, wie 199d4–e1 zeigt, für das gesamte Gutsein. Wer sich in einer guten seelischen Verfassung befindet, verfügt eben nicht nur über ein Wissen über gute oder schlechte Sachverhalte, sondern auch über die glücksrelevanten Tugenden, also über die Motivation, in Übereinstimmung mit seinem Wissen zu handeln; er vermag „das Gute zu erlangen, da er damit richtig umzugehen weiß“ (199e1).47 Was der Laches ebenfalls zeigt, ist die Bedeutung der Aufrichtigkeit und auch der epistemischen Autonomie. Gegenseitige Aufrichtigkeit erwarten die Gesprächspartner, wenn sie darauf vertrauen, dass sie einander jeweils sagen, was sie meinen und in der Tat meinen, was sie sagen. Ohne dieses Vertrauen kann eine gemeinsame, wahrheitsorientierte und zielführende Erörterung von Meinungen über einen bestimmten Sachverhalt nicht gelingen. Eine weitere Bedingung der erfolgreichen Rechenschaftgabe ist epistemische Autonomie, d. h. die Fähigkeit einer Person, eine Meinung mit eigenen Gründen erläutern und rechtfertigen zu können. Das eigene Verstehen schafft (jeweils bestmögliches) Wissen. Laches hat klare Vorstellungen über die Tapferkeit, aber keine Erfahrung mit dialektischen Erörterungen. Seine ersten beiden Vorschläge sind eine gute Grundlage für die Suche nach einer Definition der Tapferkeit. Laches kann seine Hypothese jedoch nicht so klar ausdrücken, dass er sie gegen Sokrates’ Kritik verteidigen könnte. Er weiß, dass Tapferkeit eine situationsgerechte Klugheit erfordert, doch er scheint nicht zu bedenken, dass man ebenfalls ein theoretisches Wissen über die allgemeinen guten oder schlechten Eigenschaften gefährlicher oder unbedenklicher Dinge braucht, um erfolgreich handeln zu können. Nikias, 46 47

Vgl. Politeia 429c5–430b5. Vgl. dazu auch Hardy 2011b.

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Kommentar

der dieses Wissen zum Thema macht, beruft sich mit seinem Vorschlag auf Sokrates und stimmt sowohl der sokratischen Wiedergabe seiner eigenen Hypothese über die Tapferkeit als auch der erweiterten Tapferkeitsdefinition zu, die sich aus seinem ursprünglichen Vorschlag ergibt. Aber es ist, wenn wir genau hinschauen, von Anfang an eben doch nicht sein eigener Vorschlag, den er in dem Gespräch mit Sokrates sodann zu verteidigen hat. Nikias macht sich die These zu eigen, Tapferkeit sei das Wissen von gefährlichen oder unbedenklichen Dingen. In der Entgegnung auf Laches’ Einwände erläutert er dieses Wissen zwar in seinem eigenen Sinne als das Wissen um eudämonistisch gute oder schlechte Dinge. Doch er kapituliert schließlich vor dem sokratischen Einwand, die so erweiterte Tapferkeitsdefinition sei mit der Annahme, der zufolge die Tapferkeit nur ein Aspekt einer insgesamt guten seelischen Verfassung ist, nicht vereinbar. Tatsächlich ist beides sehr wohl miteinander vereinbar. Wenn die Tugenden voneinander abhängig sind und als Elemente einer insgesamt guten seelischen Verfassung zusammenwirken, so repräsentiert jede einzelne Tugend das gesamte Gutsein. Was Nikias fehlt, ist ein wirklich eigenes, aufgrund seiner eigenen Überlegungen gewonnenes Verständnis des Wissens über gefährliche oder unbedenkliche Sachverhalte. Aber wir können uns, wie bereits gesagt, durchaus vorstellen, dass Nikias und auch Laches in weiteren Gesprächen mit Sokrates, in denen sie erneut „in der Rede herum und zur Rechenschaftgabe geführt“ werden, ihre Hypothesen besser zu verteidigen wüssten. Ein genaueres Verständnis der eigenen Vorstellungen über ein gelingendes Leben ist wohl auch das, was sich die Gesprächspartner des Laches von einer Fortsetzung der Gespräche mit Sokrates erhoffen. Die gemeinsame Rechenschaftgabe ist der Königsweg zu einem gelingenden Leben.

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VII Exkurse zu Protagoras und Menon

Die Bedingungen eines gelingenden Lebens erforscht Sokrates auch in vielen anderen Dialogen Platons. Für einen Vergleich mit dem Laches sind der Protagoras und der Menon thematisch besonders interessant. Beide Dialoge beginnen – wie der Laches – mit der Frage danach, ob man sich auf irgendeine Weise durch Unterricht in eine gute bzw. bessere seelische Verfassung versetzen bzw. versetzen lassen könne, und in beiden Dialogen läuft die Erörterung dieser Frage unter Sokrates’ Regie schließlich darauf hinaus, dass Sokrates ein glücksentscheidendes, handlungsleitendes Wissen vorstellt. Im Protagoras wird deutlich, dass der Tapfere über ein motivational kraftvolles Wissen über gefährliche und unbedenkliche Dinge und auch über die Bereitschaft zu anerkennenswerten Handlungen verfügt. Im Menon prüft Sokrates die Hypothese, das Gutsein sei eine Art von Wissen und entwickelt ein Argument, das zeigt, dass eine Person sich in einer guten seelischen Verfassung befindet, wenn sie über ein praktisches Wissen über den guten, glückszuträglichen Gebrauch verschiedener (möglicher) Güter verfügt, zu denen auch die mentalen Fähigkeiten gehören.48

48

In den folgenden Exkursen nehme ich, mit einigen größeren Kürzungen und Modifikationen, Textpassagen aus Hardy 2011a: 137–167 und 179–212 auf. In methodischer Hinsicht weist der Laches große Übereinstimmungen mit den Dialogen Charmides und Euthyphron auf, vgl. dazu die Analysen von Detel 1973, 1974 und Puster 1983, zu Struktur und Themen des Charmides vgl. auch Hardy 2011a: 231–250. Für das Muster der sokratischen Prüfung hypothetischer Definitionen siehe oben Abschnitt II, 2. Ich möchte hier, wie gesagt, einigen thematischen Wahlverwandschaften des Laches mit Protagoras und Menon nachgehen. Für einen Vergleich mit dem Laches wäre freilich auch das vierte Buch der Politeia aufschlussreich (vgl. dazu Manuwald 1999: 430–433). Ein genauer Vergleich der Tapferkeitsauffassungen in Laches und Politeia IV erforderte eine Darstellung der Seelenmodelle der Politeia, die ich hier nicht leisten kann (vgl. dazu, mit weiteren Literaturhinweisen, Hardy 2011a: 258–264).

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Exkurs 2: Protagoras

1. Der Auftakt: Lehrbarkeit und Einheit der Tugenden Das Gespräch des Protagoras wird – abgesehen von einem kurzen Präludium – von Sokrates erzählt. Sokrates berichtet, Hippokrates habe ihn eines frühen Morgens dazu eingeladen, mit ihm in das Haus des Kallias zu gehen, um dort Protagoras zuzuhören. Auf dem Weg dorthin weist Sokrates Hippokrates auf die besondere Sorgfalt hin, die im Umgang mit ‚Wissensgütern‘ erforderlich sei (313d–314b). Im Gespräch mit Protagoras fragt Sokrates dann nach dem Ergebnis, auf das der protagoreische Unterricht zielt (318a). Protagoras antwortet, er vermittle seinen Schülern die Fähigkeit, ihre privaten und öffentlichen Aufgaben auf eine bestmögliche Weise zu bewältigen (318e–319a). Sokrates ist der Auffassung, diese Fähigkeit sei gar nicht lehrbar (319a–b). Diese Fähigkeit lehren zu können setze nämlich voraus, das eigene Gutsein an andere Menschen weitergeben zu können und dies sei, so meint Sokrates, bislang offenbar niemandem gelungen (319b–320c). Die Frage nach der Lehrbarkeit des Gutseins führt sodann zu der Frage nach einer Einheit der Tugenden (329b–d). Protagoras hält eine lange Rede über die Lehrbarkeit des Gutseins (320c–328d), erwähnt verschiedene Tugenden, und Sokrates möchte erfahren, ob und in welcher Weise die Tugenden nach Protagoras’ Auffassung miteinander zusammenhängen: „(Sokrates:) Du sagtest …, Zeus habe den Menschen Gerechtigkeit und Respekt vor Anderen gesandt, und andererseits wurde in deinen Ausführungen an vielen Stellen … gesagt, dass Gerechtigkeit, Besonnenheit, Frömmigkeit und all diese Eigenschaften zusammen eine Einheit bildeten, das Gutsein. Eben das setze mir nun genau auseinander, ob das Gutsein eine Einheit ist, wobei Gerechtigkeit, Besonnenheit und Frömmigkeit etc. Teile von ihm sind, oder ob das, was ich eben aufzählte, alles (verschiedene) Bezeichnungen ein und derselben Sache sind. … (Protagoras:) Das ist leicht zu beantworten: Das Gutsein ist eine Einheit, und die Eigenschaften, nach denen du fragst, sind Teile davon. … – Haben dann auch … die Menschen von diesen Teilen des

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Protagoras

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Gutseins jeder jeweils einen anderen, oder hat jemand, wenn er auch nur einen einzigen erlangt hat, dann notwendigerweise alle? – Keineswegs, sagte er (Protagoras, JH), denn viele Menschen sind tapfer, aber ungerecht und viele sind gerecht, aber klug sind sie nicht.“ (329c2–e6) 49

Die Frage, die Sokrates an Protagoras richtet, enthält folgende Annahme: Über eine bestimmte Tugend verfügt man genau dann, wenn man ebenfalls über jede andere Tugend verfügt. Im Blick auf Handlungen lässt sich diese These so formulieren: Für jede Handlung gilt: Eine Handlung ist genau dann in einer bestimmten (eudämonistischen) Hinsicht gut, wenn sie in jeder Hinsicht gut ist, d. h. alle Eigenschaften hat, auf die wir uns jeweils dann beziehen, wenn wir eine Handlung als tapfer, besonnen, gerecht, fromm oder klug bezeichnen. Diese Annahme ist die Interdependenzthese, die wir bereits im Laches kennengelernt haben. An Ort und Stelle im Protagoras steht diese These insofern im Raum, als sie in der Frage enthalten ist, die Sokrates Protagoras stellt. Protagoras bestreitet die Interdependenzthese. Sokrates nimmt zu dieser These zunächst nicht ausdrücklich Stellung. Das Schlussargument des Dialoges deutet, wie wir sehen werden, allerdings darauf hin, dass Sokrates die Interdependenzthese für zutreffend hält. Protagoras behauptet, dass es nicht der Fall ist, dass man genau dann über eine bestimmte Tugend verfügt, wenn man ebenfalls über jede andere Tugend verfügt. Ein Beispiel seien tapfere, aber unvernünftige und unbesonnene Menschen (329e, 349b–d, 359a–b). Die protagoreische These lässt sich auch so formulieren: Einige Menschen führen Handlungen aus, die tapfer, d. h. in einer bestimmten Hinsicht gut, aber nicht in jeder Hinsicht gut sind. Im Schlussteil des Dialoges bringt Sokrates dann eine weitere These zur Sprache, die er Protagoras ebenfalls zuspricht: Einige Menschen sind tapfer, verfügen aber nicht über Wissen, nämlich über das – von Sokrates zuvor erläuterte – Wissen über gute und angenehme Handlungen. Dass Sokrates Protagoras diese These zuspricht, geht aus dem weiteren Dialogverlauf hervor: Sokrates erörtert das Problem des Handelns wider besseres Wissen und möchte zeigen, dass niemand, der im Besitz des Wissens über gute und angenehme Handlungen ist, das man durch eine von Sokrates zuvor erläuterte Kunst des genauen Abwägens gewinnt, absichtlich eine für ihn unvorteilhafte Handlung ausführt (355e–359a). Wenn Protagoras dieser Auffassung zustimmt, so könne man auf dieser Grundlage die frühe protagoreische 49

Aus dem Protagoras zitiere ich, teils mit geringfügigen Änderungen, nach der Übersetzung von Manuwald 1999.

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Exkurse

These noch einmal prüfen (359a2–c2). Sokrates erörtert so zwei protagoreische Thesen: (1) Es ist nicht der Fall, dass für jede Handlung gilt, dass sie genau dann in einer bestimmten (eudämonistischen) Hinsicht gut ist, wenn sie in jeder Hinsicht gut ist (329e2–6, 359a7–b6). Einige Menschen führen zum Beispiel Handlungen aus, die tapfer, d. h. in einer bestimmten Hinsicht gut, aber nicht in jeder Hinsicht gut sind. (2) Es ist nicht der Fall, dass eine handelnde Person genau dann tapfer ist, wenn sie über das Wissen von guten und angenehmen Handlungen verfügt (359a7–b6, 360d8–e5). Die zweite These macht Protagoras sich im Schlussargument des Dialoges zu eigen und gibt sie schließlich auf (360e3–5). Welche logischen Beziehungen Sokrates zwischen diesen Thesen knüpft, wird erst am Ende des Dialoges deutlich. Mit der Hilfe eines komplexen Arguments, das Sokrates im Schlussteil des Protagoras entwickelt, widerlegt Sokrates ausdrücklich die zweite protagoreische These. Wenn die beiden protagoreischen Thesen logisch äquivalent sind, dann folgt aus der Widerlegung der zweiten These auch die Widerlegung der ersten These. Die Widerlegung der beiden protagoreischen Thesen ist allerdings nicht das vorrangige Ziel, das Sokrates verfolgt. Mit den Fragen, die Sokrates Protagoras stellt, möchte er vielmehr Klarheit darüber gewinnen, was das Gutsein ist (360e6–361b7). Die sokratische Auffassung des Gutseins wird in seiner Erläuterung des Wissens über gute und angenehme Handlungen, das man durch die Fähigkeit des genauen Abwägens von Meinungen über gute und angenehme Handlungen gewinnt, recht deutlich. Diese Fähigkeit erläutert Sokrates im Ausgang von der Beschreibung des Handelns wider besseres Wissen.

2. Handeln wider besseres Wissen Sokrates möchte von Protagoras erfahren, ob er der verbreiteten Auffassung zustimmt, der zufolge Wissen keine große Kraft hat: „Die meisten (Menschen) haben vom Wissen ungefähr die Auffassung, dass es nicht stark, nicht führend und nicht herrschend sei. Sie betrachten es (grundsätzlich) nicht als etwas von dieser Art, sondern glauben, das Wissen, obwohl der Mensch häufig über es verfüge, habe trotzdem nicht die Herrschaft über ihn, sondern etwas anderes, teils Zorn, teils Lust, teils Unlust, manchmal Leidenschaft, häufig Furcht.

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… Hast du auch eine solche Auffassung oder scheint dir das Wissen etwas Wertvolles und so beschaffen zu sein, dass es über den Menschen herrscht? Und wenn jemand das Gute und das Schlechte kennt, dann würde er nicht von irgend etwas so beherrscht, dass er dann jeweils etwas anderes tut als das, was das Wissen befiehlt, sondern die Einsicht sei hinreichend, um dem Menschen zu helfen?“ (352b3–c7) Was Sokrates hier beschreibt, ist ein Phänomen, das in der Literatur als Handeln wider besseres Wissen, Willensschwäche oder Akrasie (bzw. Akrasia) bezeichnet wird.50 Ich werde die kognitive und volitionale Situation, um die es im Protagoras geht, als Handeln wider besseres Wissen und, in derselben Bedeutung, auch als Akrasie, als akratisches Handeln oder als akratische Situation, und die so handelnde Person auch als akratische Person bezeichnen. (Mit der Rede von der akratischen Person ist keine grundsätzliche mentale Einstellung gemeint, sondern die Tatsache, dass eine Person in einem bestimmten Augenblick wider besseres Wissen handelt.) Die herkömmliche Meinung über die Schwäche des Wissens versteht Sokrates so, dass „viele Menschen wüssten, was am besten sei, aber nicht bereit seien, es zu tun, obwohl es ihnen freistünde, sondern etwas anderes täten. Und alle, die ich fragte, was denn der Grund dafür sei, sagen, (jemand sei) von Lust oder Unlust besiegt oder einem der Affekte, die ich eben nannte, überwältigt“ (352d4–e2). In dieser Beschreibung kommt die Erfahrung zum Ausdruck, zu wissen, welche Handlung die jeweils beste wäre, ohne jedoch die hinreichend starke, kraftvolle Motivation zu haben, sie tatsächlich auszuführen, und zwar deshalb, weil man „von Lust oder Unlust“, also von einem Wunsch, und zwar von einem eigenen Wunsch „überwältigt“ wird (352d7–e9, 352e6–353a2, 353c2, 354e6, 355a3–e3, 357c7–d1, 357e2). Diese Erfahrung möchte Sokrates genauer verstehen. Für Sokrates ist die Klärung der herkömmlichen Auffassung, oftmals von sich selbst überwältigt zu sein, „von einiger Bedeutung, um von der Tapferkeit herauszufinden, wie sie sich zu den übrigen Teilen des Gutseins verhält“ (353b1–3). Von der Erklärung des Handelns wider besseres Wis50

Im Protagoras wird das Problem nicht mit einem eigenen Wort beim Namen genannt. In der Politeia und den Nomoi fällt dann das Wort akrasia, das soviel wie „mangelnde Kraft“ bedeutet. Für detaillierte Diskussionen der Akrasie im Protagoras vgl. Brickhouse / Smith 2007, Kahn 1996: 226–257, Manuwald 1999: 393–424, Penner 1997, Reshotko 2006: 75–83, Rudebusch 1999: 21–27 und Shields 2007. Eine neuere historische Studie zur Willensschwäche bietet Müller 2009. Ich versuche hier zu klären, wie die eigentümliche Genauigkeit des Wissens zu verstehen ist, das man durch die Kunst des genauen Abwägens gewinnt und in welchem Sinne dieses Wissen mit einer handlungswirksamen Kraft verknüpft ist, die eine Person idealerweise vor akratischen Handlungen bewahrt. Einen systematischen Vorschlag zum Verständnis des Handelns wider besseres Wissen mache ich in Hardy 2011a: 364–372.

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sen hängt demnach auch die sokratische Beurteilung der eingangs genannten These des Protagoras ab. Wenn eine Person in einer bestimmten Situation wider ihr besseres Wissen handelt, dann glaubt sie durchaus zu wissen, was zu tun das Beste ist, führt jedoch eine Handlung aus, die nicht mit ihrem Wissen übereinstimmt und die sie unter anderen, besseren motivationalen Bedingungen, die sie selbst schaffen könnte, nicht ausführen wollte (und nicht ausführen würde). Was in der Situation des Handelns wider besseres Wissen misslingt, ist die Ausübung der Fähigkeit, das Wollen unter dem Einfluss des Wissens zu bilden und das Wissen über eine wünschenswerte Handlung mit einem hinreichend starken, handlungswirksamen Wunsch zu verknüpfen, der denselben repräsentationalen Gehalt wie das Wissen über die jeweils beste Handlung hat. Sokrates’ Analyse der Akrasie gliedert sich in (1) die Darstellung der konventionellen Auffassung der Akrasie (352e), die (2) sokratische Neubeschreibung des akratischen Handelns (353a–356c) und schließlich (3) die Darstellung der Kunst des genauen Abwägens, mit der sich das Problem des akratischen Handelns überwinden ließe (356d–357b). In den Fragen, die er Protagoras stellt, wird deutlich, dass Sokrates der Auffassung ist, dass es sich mit dem kraftvollen, ‚über den Menschen herrschenden Wissen‘, das er im Blick hat, so verhält: „Wenn jemand das Gute und das Schlechte kennt, dann würde er nicht von irgend etwas so beherrscht, dass er dann jeweils etwas anderes tut als das, was das Wissen befiehlt, sondern die Einsicht sei hinreichend, um dem Menschen zu helfen“ (352c2–7). Etwas später formuliert Sokrates seine Auffassung, die er für allgemein zustimmungsfähig hält, mit den folgenden Worten (358c6–d2): „Das Schlechte geht niemand freiwillig an, auch nicht das, was er für schlecht hält, und das liegt, wie es scheint, nicht in der Natur des Menschen, das angehen zu wollen, was er für schlecht hält statt des Guten?“ Sokrates vertritt, mit anderen Worten, folgende These: Wenn eine Person weiß, dass eine bestimmte Handlung unter Berücksichtigung aller relevanten Alternativen in einer gegebenen Situation die beste Handlung ist, dann will sie diese Handlung ausführen und führt sie in der Tat aus. Diese These erregt Aufsehen. Ist es nicht offensichtlich, dass wir zuweilen wissen, was das Beste wäre und dennoch anders handeln? Sollte Sokrates davor einfach die Augen verschließen wollen? Das wäre schon deshalb erstaunlich, weil er mit einer recht genauen Analyse des Phänomens beginnt und dasselbe Phänomen sodann auf eine alternative Art und Weise kommentiert. Sokrates stellt das Phänomen des Handelns wider besseres Wissen, das in der herkömmlichen Auffassung als die Überwältigung des Wissens durch nicht-kognitive Antriebskräfte

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beschrieben wird (352c–d), nicht in Abrede. Er bestreitet jedoch, dass eine Person, die über das Wissen verfügt, das sie durch die Kunst des genauen Abwägens gewinnt, die Sokrates im Protagoras erläutert, jemals absichtlich wider besseres Wissen handelt. Sokrates verknüpft zwei Ziele miteinander: Er möchte zeigen, dass die herkömmliche Erklärung des Handelns wider besseres Wissen unangemessen ist und er möchte eine Art von Wissen erläutern, die uns (idealerweise) in jedem Falle vor Handlungen wider besseres Wissen bewahrte. Nach der herkömmlichen Auffassung handelt man wider besseres Wissen, wenn man eine bestimmte Handlung ausführt, die angenehm ist, während eine andere Handlung besser wäre. So hat es den Anschein, dass in der Situation des Handelns wider besseres Wissen zwei Kräfte verschiedener Art miteinander ringen; die Kraft des Wissens, d. h. der Wunsch nach etwas Gutem, scheint dem Einfluss einer Kraft anderer Art, nämlich dem Wunsch nach etwas Angenehmen zu unterliegen. Sokrates behauptet nun, dass die Ausdruckspaare „gut“ vs. „schlecht“ und „angenehm“ vs. „unangenehm“ denselben Sachverhalt bedeuten. Dass etwas „gut“ bzw. „angenehm“ ist, bedeutet, dass etwas das Ziel des Wollens, also wünschenswert ist (355e5–356a3). Damit erscheint die scheinbare Überwältigung in einem neuen Licht. Mit der Gleichsetzung von „gut“ und „angenehm“ weist Sokrates darauf hin, dass sich „das Gute“ und „das Angenehme“ nicht etwa wie Feuer und Wasser zueinander verhalten, sondern zwei verschiedene Größen derselben Art sind, die man daher auch gegeneinander abwägen kann. Ein mentaler Zustand, der das Handeln einer Person bestimmen kann, hat eine bestimmte motivationale Kraft und einen ganz bestimmten repräsentationalen Gehalt. Wenn man eine bestimmte Handlung auswählt und einer anderen vorzieht, dann hält man etwas für wünschenswert, hat also eine ganz bestimmte Überzeugung über eine wünschenswerte Handlung und einen entsprechenden Wunsch. Sokrates’ Neubeschreibung zeigt, dass zwei kommensurable mentale Größen, d. h. zwei mentale Zustände derselben Art, nämlich zwei Wunsch/Überzeugungs-Paare im Falle akratischer Handlungen miteinander konkurrieren. Überwältigt zu sein, bedeutet jetzt, „sich für eine geringere Menge an Gutem größere Übel einzuhandeln“ (355e2–3), also zwei Motive gegeneinander abzuwägen und die geringere Größe, das schwächere Motiv, dennoch handlungswirksam werden zu lassen. Die Überwältigung, von der in der herkömmlichen Auffassung die Rede ist, bedeutet nichts anderes als die Tatsache, dass ein ganz bestimmter Wunsch eine größere Kraft hat als andere Wünsche, und zwar ein Wunsch, der in einer bestimmten Situation der stärkste ist, unter anderen, besseren Bedingungen des praktischen Überlegens aber nicht der stärkste wäre.

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Die akratische Person handelt nicht so, wie sie handeln möchte, aber sie hat eine bestimmte Absicht, denn sie handelt, und sie handelt, wie Sokrates betont, freiwillig. Wer wider besseres Wissen handelt, hatte die Möglichkeit, sich anders zu entscheiden, etwas anderes zu wollen, und hätte unter anderen Bedingungen tatsächlich etwas anderes gewollt, und zwar unter Bedingungen, die er selbst schaffen kann. Die besseren motivationalen Bedingungen herrschen genau dann, wenn wir wissen, welche Handlung die jeweils Beste ist und dieses Wissen mit einer hinreichend kraftvollen Motivation verknüpft ist. Diese Bedingungen schaffen wir Sokrates zufolge durch die erfolgreiche Ausübung der Kunst des genauen Abwägens.

3. Die Kunst des genauen Abwägens Sokrates stellt im Protagoras eine Art des genauen praktischen Überlegens vor, die er mit der Abwägung numerisch bestimmbarer Größen vergleicht. Das tertium comparationis ist eine Genauigkeit, die mit Sicherheit zur Aufklärung und Überwindung möglicher Täuschungen führt: „Wie jemand, der gut abwiegen kann, stelle das Angenehme und Unangenehme zusammen, und sage dann, wenn du auch das Nahe und Ferne mit auf die Waage legst, welches von beidem mehr ist. Wenn du Angenehmes und Unangenehmes nämlich gegeneinander abwägst, musst du jeweils das nehmen, was größer und mehr ist …, und falls das Unangenehme das Angenehme überwiegt, darfst du dies nicht tun. … Wenn nun unser erfolgreiches Handeln (eu prattein) davon abhinge, dass man tut und wählt, was von großer Länge ist, was aber klein ist, meidet und nicht tut – was erschiene uns dann als Heil des Lebens? Wäre es die Meßkunst oder die Macht der Phänomene? Oder führt letztere uns irre und lässt uns dieselben Dinge oftmals (mit anderen) verwechseln und es uns später bedauern im Handeln und im Wählen von Großem und Kleinem? Hingegen würde die Kunst des Abwägens Illusionen wirkungslos machen, die Wahrheit offenbaren und bewirken, dass die Seele beim Wahren bleibt … und so dem Leben Sicherheit geben?“ (356a8–e2) Die „Macht der Phänomene“ bedeutet Vagheit, und Vagheit wird mit Genauigkeit überwunden. Metrisch exakte Aussagen beruhen auf der Definition einer Maßeinheit. Die unvergleichliche Exaktheit metrischer Darstellungen besteht darin, dass sie Relationen ausdrücken, die immer dieselben sind. Hat z. B. Gegenstand A eine numerisch bestimmbare

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Eigenschaft, etwa ein Gewicht mit dem Wert 9 (einer beliebigen Maßeinheit) und hat die Vergleichsgröße B den dreifachen Wert (ist also dreimal so schwer), dann hat Gegenstand B ein Gewicht mit dem Wert 27. Eine metrisch exakte Aussage ist entweder offenkundig wahr oder offenkundig falsch. Wenn man eine Annahme, die auf einer falschen Messung beruht, mit anderen, wahren Annahmen, die auf exakten Messungen beruhen, zu verknüpfen sucht, wird sogleich evident, dass die fragliche Annahme falsch ist.51 Irrtümer bzw. Täuschungen sind Urteile, die (unentdeckt) falsch, aber verständlich, also nicht offenkundig falsch sind. Dass wir Meinungen, die sich unter veränderten epistemischen Bedingungen als falsch erweisen, für wahr halten können, bedeutet, dass ihre Unvereinbarkeit mit anderen, tatsächlich wahren Meinungen, nicht offensichtlich ist. Darin liegt das Täuschungspotential, die „Macht der Phänomene“. Wir können viele Meinungen, die sich bei genauerer Prüfung als falsch erweisen, unter bestimmten Bedingungen mit guten Gründen für wahr halten. Ein Beispiel: Nehmen wir an, ein Kriminalist befindet sich in der folgenden Situation: Er steht vor der Aufgabe, eine von zwei Personen A und B als diejenige zu identifizieren, die sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Tatort aufgehalten hat. Am Tatort wurden Fußabdrücke einer bestimmten Größe gefunden, die beiden Tatverdächtigen zugeordnet werden können, denn beide haben dieselbe Schuhgröße. Ein Zeuge will A, ein anderer hingegen B am Tatort gesehen haben. Am Tatort wurden Goldmünzen gestohlen und beide Personen sind im Besitz solcher Münzen. Unser Kriminalist verfügt somit über verschiedene Indizien. Die verfügbaren Informationen erlauben sowohl die Meinung, A sei die gesuchte Person als auch die Meinung, B sei die gesuchte Person. Die Konjunktion der beiden Meinungen mit anderen, plausiblen Meinungen bildet ein jeweils kohärentes Bild – einen Eindruck. Beide Meinungen könnten wahr sein. Das ist die Situation epistemischer Unsicherheit. Ein zweifelsfreier Beweis könnte darüber entscheiden, welche der beiden möglicherweise wahren Meinungen tatsächlich wahr ist. Stehen keine sicheren Kriterien zur Verfügung, kann die epistemische Unsicherheit nicht beseitigt werden. Ein Urteil, das tatsächlich falsch ist, kann in einer solchen Situation deshalb

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Aus der Perspektive moderner wissenschaftstheoretischer Überlegungen hätte man wohl auch die Möglichkeit zu berücksichtigen, dass die Interpretation von Messergebnissen auf bestimmten theoretischen Hintergrundannahmen beruht, die sich ihrerseits als falsch erweisen können. Diese Überlegung ist für das Verständnis der sokratischen Idee einer Kunst des genauen Abwägens jedoch unerheblich. Sokrates’ Analogie beruht auf der Annahme, dass eine exakte Methode in dem Sinne exakt ist, dass diese Fehlerquelle nicht in Betracht kommt. Arithmetische Operationen sind gerade von der Art, dass sie solchen Fehlern nicht ausgesetzt sind.

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als ein möglicherweise wahres Urteil erscheinen, weil es nicht möglich ist, die Bedingungen genau anzugeben, unter denen ein Urteil sich als wahr oder aber als falsch erweist. Dasjenige Urteil, das tatsächlich falsch ist, kann in der Situation der Unsicherheit deshalb für wahr gehalten werden, weil es zwar (tatsächlich) falsch, aber gleichwohl verständlich ist. Die Annahme, Person A sei diejenige, die sich zur fraglichen Zeit am fraglichen Ort aufgehalten hat (während sie tatsächlich nicht dort war), ist in unserem Beispielfall logisch anschlussfähig an andere, wahre oder jedenfalls plausible Meinungen und deshalb verständlich. Wenn man annimmt, Person A sei zur fraglichen Zeit am Tatort gewesen, so ist diese Annahme vereinbar mit einer der beiden möglicherweise wahren Zeugenaussagen und sie wird gestützt durch die Fußabdrücke und das Vorhandensein der Münzen. Die fragliche Meinung ist eine Hypothese. Eine Hypothese ist eine unter bestimmten epistemischen Bedingungen wahre, inferentiell anschlussfähige, also verständliche Annahme – die jedoch auch falsch sein kann. Epistemische Unsicherheit herrscht in Situationen, in denen eine möglicherweise falsche Meinung verständlich ist und wahr zu sein scheint. Anders verhält es sich im Bereich metrisch exakter Aussagen. Eine metrisch exakte Aussage kann nicht in dem Sinne scheinbar wahr sein, dass sie (tatsächlich, aber unentdeckt) falsch, aber gleichwohl verständlich ist. Metrisch exakte Aussagen schließen Täuschungen aus, die sich in einer Grauzone der Vagheit bewegen. Gäbe es eine vergleichbare Fähigkeit des praktischen Überlegens, so erfüllte diese Fähigkeit dieselbe Funktion; sie würde „die Wahrheit offenbaren und bewirken, dass die Seele beim Wahren bleibt, und so dem Leben Sicherheit geben“ (356e1–2). Die von Sokrates erläuterte Kunst des Abwägens ist die Fähigkeit, die relative Stärke von Handlungsmotiven miteinander vergleichen zu können. Die Genauigkeit ihrer Anwendung besteht – so meine Hypothese – darin, sich über die eigenen allgemeinen und vorrangigen Handlungsziele im klaren zu sein und spezielle Handlungsoptionen immer an denselben Zielen zu messen. Wenn man über ein genaues Wissen über wünschenswerte (gute und angenehme) Handlungen verfügt, dann hat man auch den Wunsch, solche Handlungen auszuführen: „Wir beide (sc. Sokrates und Protagoras) waren ja der Meinung, es gäbe nichts Mächtigeres als Wissen, sondern dies habe immer die Herrschaft, wo immer es vorhanden ist, über Lust und alles andere; ihr (sc. die Vertreter der herkömmlichen Meinung) aber behauptetet, die Lust herrsche oftmals auch über den Menschen, der Wissen hat, und als wir euch nicht zustimmten, stelltet ihr … die Frage: … wenn diese Erfahrung nicht darin besteht, der Lust zu unterliegen, worin

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dann? … Hätten wir damals gleich gesagt: ‚Im Unwissen‘, hättet ihr euch über uns lustig gemacht. Tatsächlich aber (würdet) ihr euch (jetzt) über euch selbst lustig machen. Habt ihr doch selbst zugestanden, dass diejenigen, die falsch handeln, aus Mangel an Wissen falsch handeln bei der Wahl von Lust und Unlust – d. h. aber von Gutem und Schlechtem – und nicht nur an (diesem) Wissen, sondern gerade auch an demjenigen (Wissen), das, wie ihr selbst zugestimmt habt, in der Fähigkeit zum Abwägen (wörtlich: zum Messen, JH) besteht. Die Handlung, die mangels Wissen falsch ausgeführt wird, geschieht … aus Unwissenheit. Der Lust-unterlegen-Sein ist also dies: die größte Unwissenheit. … Wenn also … das Angenehme gut ist, dann tut niemand, der weiß oder glaubt,52 etwas anderes sei besser als das, was er zu tun (geneigt) ist, und (dies andere sei) auch möglich, dennoch (das Schlechtere), wenn es ihm freisteht, das Bessere zu tun. Und Sichunterlegen-zu-sein ist nichts anderes als Unwissenheit, und Herrüber-sich-selbst-zu-sein nichts anderes als Wissen. … Das Schlechte geht niemand freiwillig an, auch nicht das, was er für schlecht hält, und es liegt, wie es scheint, nicht in der Natur des Menschen, das angehen zu wollen, was er für schlecht hält statt des Guten?“ (357c1– 358e8) Sokrates vertritt zwei Thesen. Die eine lautet: „Wenn also … das Angenehme gut ist, dann tut niemand, der weiß … , etwas anderes sei besser als das, was er zu tun (geneigt) ist, und (dies andere sei) auch möglich, dennoch (das Schlechtere), wenn es ihm freisteht, das Bessere zu tun“ (358b6–c1). Mit anderen Worten: Wenn das Wissen über angenehme und gute Handlungen, das man durch die erfolgreiche Ausübung der Kunst des genauen Abwägens gewinnt, eine hinreichende Bedingung dafür ist, dass man über die Motivation verfügt, in Übereinstimmung mit diesem Wissen zu handeln, dann ist es nicht der Fall, dass jemand über dieses Wissen verfügt, ohne seine Handlungsmotivation von diesem Wissen bestimmen zu lassen. In symbolischer Form lässt sich diese These so darstellen: (Wissen ⊃ Motivation) ⊃ ∼ (Wissen & ∼ Motivation)

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Sokrates spricht hier offenbar von einer Meinung, die Wissen zum Ausdruck bringt. Sokrates resümiert hier ja seine Überlegungen zur Kunst des genauen Abwägens und er möchte behaupten, dass niemand im Ergebnis der erfolgreichen Ausübung dieser Fähigkeit ein unvorteilhaftes Ziel anstrebt.

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Wenn diese These zutrifft, dann garantiert das Wissen um die jeweils beste Handlung auch das Handeln, das mit diesem Wissen im Einklang steht. Sokrates behauptet darüber hinaus, „dass die Handlung, die mangels Wissen falsch ausgeführt wird, aus Unwissenheit geschieht“ (357d7–e1). Wenn der Mangel an Wissen nun auch die Ursache der mangelnden Motivation ist, dann ist das besagte Wissen nicht nur die hinreichende, sondern sogar die notwendige Bedingung für die Motivation. Aus der Konjunktion der beiden Thesen folgt: Über das Wissen einer (alles in allem) angenehmen und guten, also wünschenswerten Handlung H verfügen wir genau dann, wenn wir auch über die Motivation verfügen, H auszuführen. In symbolischer Form: Wissen ↔ Motivation Die Kunst des genauen Abwägens ist demnach ein kognitiver und zugleich volitionaler Vorgang, der nicht nur ein genaues Wissen über gute Handlungen, sondern zugleich eine hinreichend kraftvolle Handlungsmotivation hervorbringt. Deshalb kann Sokrates behaupten, dass niemand, der über dieses Wissen verfügt, jemals freiwillig etwas Schlechtes tut (358c–e). Mit anderen Worten: Gute Gründe sind für Sokrates auch hinreichende Beweggründe. Die erfolgreiche Ausübung der Kunst des Abwägens führt Sokrates zufolge nicht lediglich zu Wissen, sondern zur Herrschaft des Wissens. Wenn die Abwägung misslingt, kommt es zu den Fehlern, von denen in der herkömmlichen Auffassung die Rede ist. Die akratische Person hat (mindestens) zwei Handlungsoptionen, und sie weiß, dass die eine Handlung besser, also gegenüber alternativen Handlungen tatsächlich wünschenswert ist. Sie ist durchaus in der Lage, beide (oder mehrere) Handlungsoptionen abzuwägen und sie glaubt aus ihrer Sicht auch zu wissen, welches Motiv das stärkere ist. Wenn sie aber dennoch glaubt, einen Fehler zu begehen, so besteht dieser Fehler darin, ihre Motivation von ihrem Wissen nicht bestimmen zu lassen. Das ist die Erfahrung der Überwältigung, die in der herkömmlichen Meinung zum Ausdruck kommt. Sokrates ist offenbar der Auffassung, dass jemandem, der wider das aus der Innenperspektive vorhandene Wissen handelt, ein doppelter Fehler unterläuft: Der akratischen Person gelingt es nicht, ihre verschiedenen Überzeugungen und Wünsche so abzuwägen, dass sie genau wüsste, welche Handlung im (jeweils) höchsten Maße wünschenswert ist und den entsprechenden Wunsch, also einen Wunsch mit einem ganz bestimmten Gehalt, aufgrund ihrer abwägenden Überlegungen dann auch mit einer hinreichend starken Kraft ausstattete. Die erfolgreiche Ausübung der Kunst des Abwägens leistet Sokrates

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zufolge hingegen beides; sie führt zu einem Wissen um die beste Handlung, das dann auch mit einer hinreichend kraftvollen Motivation verknüpft ist. Das bedeutet, dass bestimmte, tendenziell handlungswirksame Wünsche ihre jeweilige Stärke und Kraft in den praktischen Überlegungen, also in der Abwägung verschiedener Meinungen über wünschenswerte Handlungen bekommen. Das Wissen, das aus der Kunst des genauen Abwägens hervorgeht, ist nicht lediglich ein propositionales Wissen. Wäre es lediglich ein Wissen über wünschenswerte Sachverhalte, könnte es keinen bestimmenden Einfluss auf die Handlungsmotivation einer Person nehmen. Das exakte, eudämonistische Wissen überbrückt vielmehr die mögliche Kluft zwischen dem Wissen um eine wünschenswerte Handlung und der Ausbildung der entsprechenden kraftvollen Motivation. Die Kunst des Abwägens ist ein kognitiver und volitionaler Vorgang, nämlich die Fähigkeit, Gründe abzuwägen und sowohl das eigene Nachdenken als auch die eigene Motivation zu kontrollieren. Sokrates spricht denn auch, wie gesagt, von einem doppelten Mangel: Wenn jemand wider das eigene Wissen handelt, dann mangelt es ihm „an Wissen bei der Wahl von Lust und Unlust, d. h. von Gutem und Schlechtem, und nicht nur an (diesem) Wissen, sondern auch an demjenigen (Wissen), das … in der Fähigkeit zum Abwägen besteht“ (357d2– d7). Im nächsten Satz fasst Sokrates dann beide Mängel zu dem einen Mangel namens „Unwissenheit“ zusammen: „Die Handlung, die mangels Wissen falsch ausgeführt wird, geschieht … aus Unwissenheit“ (357d7–e1). Diese Unwissenheit erklärt Sokrates zur Ursache der scheinbaren Überwältigung (357e2). Im umgekehrten Falle der Herrschaft des Wissens scheinen beide Mängel überwunden zu sein. Kommen wir noch einmal auf den Vergleich zwischen der Kunst des Abwägens von Handlungsoptionen mit der Arithmetik zurück. Sokrates scheint anzunehmen, dass es ein gemeinsames Maß für alle Handlungsmotive gibt, so dass eine Person ihre Motive auf eine genaue, quasi-metrische Weise miteinander vergleichen und gegeneinander abwägen kann. Eine mögliche Deutung dieser Annahme lautet, dass Platon der Auffassung ist, man könne allen Handlungsoptionen einen numerischen Wert zuweisen, um so die beste Option mit Hilfe eines Algorithmus ausrechnen zu können. Diese Interpretation führt jedoch in die Irre. Die Analogie zu einer exakten Messkunst würde durch die Annahme einer algorithmischen Entscheidungsfindung nicht verständlich. Um eine bestimmte Entscheidung zu treffen, müssen wir das Ziel, das als Maßstab der Abwägung verschiedener Optionen fungiert, inhaltlich festlegen. Praktische Überlegungen operieren mit semantischer Information. Eine formale Operation wie die Arithmetik ist eine regelgeleitete Kom-

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bination syntaktischer Informationen, d. h. eine Operation, deren Wahrheit oder Falschheit – und Genauigkeit oder Ungenauigkeit, denn beide Kriterien fallen bei solchen Operationen zusammen – von semantischer Information nicht abhängig ist. Doch keine Operation dieser Art lässt uns erkennen, was wir tun wollen. Die herkömmliche Auffassung des Handelns wider besseres Wissen erweckt den Eindruck, das kurzfristig Angenehme und das langfristig Gute seien verschiedene Arten von Zielen. Sokrates’ alternative Beschreibung des Handelns wider besseres Wissen zeigt hingegen, dass die akratische Person ein Ziel verfolgt, dass sie unter den Bedingungen der Herrschaft des Wissens nicht verfolgte. Die erfolgreiche Abwägung verschiedener Handlungsoptionen führt zu einer (jeweils) bestbegründeten Überzeugung, die so zustande kommt, dass sie mit einer kraftvollen Handlungsmotivation verknüpft ist. Wenn wir unsere Meinungen möglichst genau abwägen, werden wir in der Abwägung von Handlungsalternativen auch mit besonderer Sorgfalt vorgehen. Das genaue und sorgfältige Nachdenken ist die insgesamt wünschenswerte Art und Weise des praktischen Überlegens. „Das Schlechte“, so lautete Sokrates’ Resümee, „geht niemand freiwillig an, auch nicht das, was er für schlecht hält, und es liegt, wie es scheint, nicht in der Natur des Menschen, das angehen zu wollen, was er für schlecht hält, statt des Guten“ (358c6– d2). Sokrates’ Resümee seiner eigenen Darstellung eines kraftvollen Wissens enthält eine prima facie problematische Äußerung, die einer Erklärung bedarf. Wenn Sokrates in 358c6-d2 sagt, dass niemand freiwillig etwas tut, was er für schlecht hält, so scheint er zu behaupten, dass man nicht nur dann, wenn man weiß, was das Beste ist, sondern auch dann, wenn man sich kraft der Kunst des genauen Abwägens eine Meinung über eine (alles in allem) beste Handlung gebildet hat, keine andere als eben diese für gute befundene Handlung ausführt. Um diesen Textbefund erklären zu können, dürfte es sinnvoll sein, mit Penner 1997 zwei Arten der Akrasie zu unterscheiden: Wissensschwäche („knowledgeakrasia“) und Meinungsschwäche („belief-akrasia“). Im ersten Fall weiß eine Person, dass eine bestimmte Handlung die beste Option ist und führt dennoch eine andere aus. Im zweiten Fall handelt eine Person entgegen ihrer Meinung über die jeweils beste Option. Diese Fälle seien wiederum zu unterscheiden in synchronische und diachronische Meinungsschwäche. Im ersten Fall handelt eine Person entgegen ihrer Meinung über die bessere von (mindestens) zwei möglichen Handlungsalternativen, die sie im Augenblick der Entscheidung hat. Im zweiten Fall führt sie hingegen eine Handlung aus, die sie vorher und nachher nicht für die beste Handlung hält (und im nachhinein deshalb bedauert). Sok-

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rates bestreitet nach Penners Auffassung sowohl das Handeln wider das bessere Wissen (knowledge-akrasia) als auch die synchronische beliefakrasia und deutet jeden Fall akratischen Handelns als diachronische Meinungsschwäche: In einer solchen Situation fällt eine Person zu drei verschiedenen Zeitpunkten zwei verschiedene Urteile über die beste Handlung. Zunächst meint sie aufgrund richtiger Abwägungen, dass eine bestimmte Handlung die beste ist, verliert dann jedoch diese Überzeugung, verändert ihre Meinung, begeht in diesem Augenblick einen akratischen Fehler, gewinnt danach jedoch ihre ursprüngliche richtige Meinung zurück und kann die zuvor ausgeführte Handlung deshalb als einen Fehler erkennen (und verurteilen). Diese Analyse halte ich grundsätzlich für richtig. Wenn Sokrates knowledge-akrasia und synchronische belief-akrasia für unmöglich hält, so möchte er meiner Auffassung nach zeigen, dass man sich im Prozess eines genauen (und sorgfältigen) Abwägens eine bestmöglich abgewogene Überzeugung über eine gute Handlung bildet, die mit einer hinreichend starken Handlungsabsicht (dem Wunsch nach etwas Angenehmen) verknüpft ist. Die Kunst des genauen Abwägens ist deshalb ein zugleich kognitiver und volitionaler Vorgang. Sokrates geht offenbar davon aus, dass ein bestimmter Prozess des genauen Nachdenkens und Abwägens ebenfalls dazu führt, das Wollen auf eine nachdrückliche, entschlossene Weise lenken zu können.53 Diese Überlegung können wir uns auf folgende Weise verständlich machen: Wenn wir mit einer besonderen Sorgfalt über die eigenen Motive nachdenken, werden wir darauf aufmerksam, dass wir uns oftmals keineswegs sicher sind, welchen Überzeugungen und Wünschen wir den Vorrang geben. In solchen Situationen schwankt das Urteil und schwelt die Gefahr, einer Überzeugung und Motivation den Vorzug zu geben, die man unter Bedingungen des besseren Wissens für einen Fehler hält. Wenn wir jedoch ausdrücklich darüber nachdenken, welche Meinungen und Wünsche wir haben, gewinnt das praktische Überlegen an Transparenz und Entschiedenheit; wir erkennen dann, dass wir bestimmte Handlungsmotive haben, die wir unter besseren, für uns selbst wünschenswerten Bedingungen des Nachdenkens und Wollens, die wir grundsätzlich selbst schaffen können, nicht haben wollten. Das Gegenstück zur Exaktheit metrischer Methoden ist die Genauigkeit und Sorgfalt des 53

Freilich besteht selbst dann, wenn man über das Wissen über eine jeweils beste Handlung verfügt, das mit einem hinreichend starken Wollen verknüpft ist, die Möglichkeit, dass man diese Handlung aus Gründen, die in der Person liegen, aber durch das Nachdenken und Wollen der Person nicht beeinflusst werden können, nicht ausführt. Doch diese Tatsache ist wohl kein Gegenstand der philosophischen Analyse, sondern Gegenstand neurobiologischer Forschungen.

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praktischen Überlegens. Die Genauigkeit in der Abwägung von Wünschen besteht darin, ausdrücklich und sorgfältig über das nachzudenken, was man für wünschenswert hält und darauf zu achten, dass man stets mit denselben Maßstäben misst, verschiedene Wünsche also an denselben allgemeinen, vorrangigen Zielen misst.54

4. Tapferkeit und die Interdependenz der Tugenden Nach der Darstellung der Kunst des genauen Abwägens kommt Sokrates auf die Tapferkeit zurück. Protagoras hatte behauptet, die verschiedenen Tugenden seien keineswegs voneinander abhängig und hatte die Tatsache, dass einige Menschen tapfer sind, ohne über die anderen Tugenden zu verfügen, als ein scheinbar klares Beispiel für seine These genannt. Sokrates möchte nun klären, wie sich die Tapferkeit zu dem Wissen über gute und angenehme Handlungen verhält, das – wenn man über ein solches Wissen verfügt – stets mit einer hinreichend starken Handlungsmotivation verknüpft ist: „Weiter …, nennt ihr etwas Angst und Furcht, und zwar das, was ich darunter verstehe? … Ich verstehe darunter so etwas wie Erwartung 54

Kahn 1996: 233 ff. unterscheidet eine deskriptive und eine normative Version der sokratischen These („the Socratic paradox“), der zufolge niemand, der weiß, welche Handlungen gut oder schlecht sind, wider dieses Wissen handelt. Andere Dialoge wie Gorgias und Politeia deuten Kahn zufolge darauf hin, dass Platon die folgende normative These vertritt: „if one had genuine knowledge of the good, one would never act badly“ (233). Platon verpflichte sich hingegen nicht zu der deskriptiven und, so Kahn „naiven“ Lesart der sokratischen These im Sinne einer „omnipotence of reason“, der zufolge das Wissen bzw. die Vernunft in jedem Falle das menschliche Handeln bestimmt. Kahn schlägt folgende Interpretation vor (242 f.): Im Protagoras setzt Sokrates die Annahme, es gäbe überhaupt keine akratischen Handlungen („the denial of akrasia“), als ein dialektisches Mittel ein, um seine Gesprächspartner (und die Vertreter der konventionellen Auffassungen über die Schwäche des Wissens) von seinen eigenen Thesen, d. h. von der normativ verstandenen These, niemand handle freiwillig wider besseres Wissen, der Einheit der Tugenden und der These, das Gutsein sei eine Art von Wissen, zu überzeugen. Eine seelische Verfassung, in der man niemals wider besseres Wissen handelte, scheint in der Tat ein Ideal zu sein, ebenso wie die vollends gute seelische Verfassung, die Sokrates in Laches 199d4–e1 beschreibt. Wir können die sokratische These über die Herrschaft des Wissens aber auch in einem plausiblen deskriptiven Sinne verstehen: Wenn es einer Person aufgrund der erfolgreichen, genauen Abwägung verschiedener Handlungsoptionen in einer bestimmten Situation gelingt, ihr Wissen über eudämonistisch gute Handlungen mit einer hinreichend starken motivationalen Kraft zu verbinden und sie in diesem Sinne tapfer ist, befindet sie sich in diesem Falle in der Tat in einer guten, jeweils bestmöglichen, glückszuträglichen seelischen Verfassung. In jedem solchen Falle wird das Ideal einer seelischen Verfassung, in der man niemals wider besseres Wissen handelte, in einer bestimmten Situation in der eben jeweils bestmöglichen Weise verwirklicht.

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Protagoras

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eines Übels, ob ihr sie nun Furcht oder Angst nennt. … Wenn das zuvor Gesagte zutrifft, wird dann irgend jemand das angehen wollen, wovor er sich fürchtet, wenn er die gegenteilige Möglichkeit hat? Oder ist das aufgrund unserer gemeinsamen Annahmen unmöglich? Denn das, was man fürchtet, hält man, darüber besteht Übereinstimmung, für schlecht, und was man für schlecht hält, das geht freiwillig niemand an, noch wählt er es.“ (358d5–e6) Sokrates weist hier auf ein Problem hin, das sich aus seiner eigenen These ergibt. Sokrates hatte behauptet, dass niemand freiwillig etwas Schlechtes tut. „Denn das, was man fürchtet, hält man, darüber besteht Übereinstimmung, für schlecht, und was man für schlecht hält, das geht freiwillig niemand an, noch wählt er es“ (358e4–6). Wenn jemand weiß, dass er sich mit einer bestimmten Handlung in eine Gefahr begibt und solche Handlungen für schlecht hält, dann wird er sich nicht freiwillig und absichtlich in eine gefährliche Situation begeben. Falls es nun zuträfe, dass jemand tapfer ist, wenn er gefährliche Handlungen kennt und solche Handlungen für schlecht hält, so würde jemand, der tapfer ist, gefährliche Handlungen mit seinem Wissen gerade meiden wollen. Mit der Exposition dieses Problems bereitet Sokrates die Bühne für die abschließende Auseinandersetzung mit der protagoreischen These über die verschiedenen Tugenden: „Auf dieser Grundlage … soll sich Protagoras … rechtfertigen, inwieweit seine erste Antwort (sc. die These: Einige Menschen sind sehr tapfer, ohne jedoch über die anderen Tugenden zu verfügen) richtig sein kann. … Dann sag uns …, wobei sind die Tapferen draufgängerisch? Bei dem, wobei es die Feigen sind? – Nein. – … Gehen die Feigen das Ungefährliche an, dagegen die Tapferen das Gefährliche? … Bei welchen Dingen sind deiner Auffassung nach die Tapferen draufgängerisch – bei einer gefährlichen Sache, im Glauben, sie sei gefährlich, oder bei einer ungefährlichen Sache? – Aber das erste ist doch, sagte er, … eben erst als unmöglich erwiesen worden. … – Daher geht, wenn dies denn richtig erwiesen wurde, niemand das an, was er für gefährlich hält, da Sich-unterlegen-Sein Unwissenheit ist, wie sich herausstellte. … Vielmehr gehen umgekehrt alle, Feige wie Tapfere, gerade das an, bei dem sie zuversichtlich sind, und in dieser Hinsicht gehen die Feigen und die Tapferen dasselbe an?“ (359a2–c1) Wenn jemand weiß, dass er sich mit einer Handlung in Gefahr bringt – wird er die Gefahr deshalb bewältigen oder meiden wollen? Das Problem, das Sokrates in 358d5–359c1 zur Sprache bringt, lässt sich in der Form des folgenden Arguments darstellen:

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Exkurse

(1) Für jede Person und jede Handlung gilt: Eine Person möchte eine Handlung H genau dann nicht ausführen, wenn sie weiß, dass H nicht gut ist. (358e4–6: „Was man fürchtet, hält man … für schlecht, und was man für schlecht hält, das geht freiwillig niemand an, noch wählt er es.“) (2) Jemand hält eine Handlung H genau dann nicht für gut (und weiß auch, dass H nicht gut ist), wenn er weiß, dass H auf die Bewältigung einer Gefahr gerichtet ist (359d4–6: „Daher geht … niemand das an, was er für gefährlich hält, da Sich-unterlegen-Sein Unwissenheit ist, wie sich herausstellte“.) (3) Wenn eine Person also weiß, dass eine Handlung H auf die Bewältigung einer Gefahr gerichtet ist, möchte sie H nicht ausführen, die Gefahr also meiden. (4) Wenn eine Person tapfer ist, dann weiß sie, dass bestimmte Handlungen auf die Bewältigung einer Gefahr gerichtet sind. (5) Also: Wenn eine Person tapfer ist, möchte sie Gefahren meiden. Träfe das zu, könnte man, so wendet Protagoras ein, die tapferen von den nicht-tapferen Personen gar nicht unterscheiden. Wenn man der Konklusion des obigen Arguments nicht zustimmen möchte, hat man (mindestens) eine der Prämissen aufzugeben. Welche Prämisse Sokrates und Protagoras für falsch halten, wird in dem Kommentar deutlich, mit dem Sokrates auf Protagoras’ Einspruch reagiert: „Aber es ist doch, Sokrates, sagte (Protagoras), genau das Gegenteil, was die Feigen und die Tapferen jeweils angehen. Um nur ein Beispiel zu nennen: die einen wollen in den Krieg ziehen, die anderen nicht. – Und ist es anerkennenswert, sagte ich, in den Krieg zu ziehen, oder verächtlich? – Anerkennenswert, sagte er. – Und wenn anerkennenswert, dann auch gut: … Denn wir hatten uns darauf geeinigt, dass alle anerkennenswerten Handlungen gut sind. – Aber welche Leute sind es, die, wie du sagst, nicht in den Krieg ziehen wollen, obwohl es anerkennenswert und gut ist? – Die Feigen, antwortete er. – Ist es nicht …, wenn anerkennenswert und gut, dann auch angenehm? – Darin sind wir jedenfalls übereingekommen. – Wollen nun die Feigen wissentlich nicht das Anerkennenswertere, Bessere und Angenehmere angehen? – Aber wenn wir das zugestehen, setzen wir unsere früheren Übereinkünfte außer Kraft – Und wie ist es mit dem Tapferen? Geht er nicht das Anerkennenswertere, Bessere und Angenehmere an? – Unbedingt muss man das zugeben.“ (359e1–360a8) Die Handlungen, auf die Protagoras hinweist, unternimmt man dann, wenn man eine bevorstehende Gefahr kennt, weiß, dass es anerkennenswert ist, sich dieser Gefahr zu stellen und die Gefahr deshalb bewältigen

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Protagoras

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will. Dass bestimmte gefahrvolle Handlungen anerkennenswert sind, ist, wie bereits im Laches, die spezifische Eigenschaft tapferer Handlungen. Der erneute Hinweis darauf, dass die anerkennenswerten Handlungen auch angenehm sind, bekräftigt die Tatsache, dass sie für denjenigen, der dies weiß, in der Tat wünschenswert sind. Die sokratische Maxime des wissenden Handelns lautet: Vergleiche das Angenehme und Unangenehme und „wenn du Angenehmes und Unangenehmes abwägst, musst du jeweils das nehmen, was größer ist, und falls das Unangenehme überwiegt, darfst du es nicht tun“ (356a8–c1). Wenn der Tapfere weiß, dass es angenehm, also wünschenswert ist, gefahrvolle und anerkennenswerte Handlungen auszuführen, dann will er dies auch tun: „Nicht wahr, überhaupt haben die Tapferen keine verächtliche (nicht anerkennenswerte) Furcht, wenn sie sich fürchten, und auch keine verächtliche Verwegenheit? – Richtig. – Wenn aber nicht verächtlich, sind diese Dinge dann nicht anerkennenswert … und wenn anerkennenswert, auch gut? – Haben nicht die Feigen und Tollkühnen … im Gegensatz dazu verächtliche Furcht bzw. verächtliche Verwegenheit? – Er stimmte zu. – Haben sie diese verächtliche Verwegenheit aus einem anderen Grund als Unkenntnis? – Nein, so ist es. Und weiter: Das, wodurch die Feigen feige sind, nennst du das Feigheit oder Tapferkeit? – Ich nenne das Feigheit, antwortete er. – Erwiesen sie (sc. diejenigen, die nicht tapfer sind) sich nicht als feige aufgrund der Unkenntnis dessen, was gefährlich ist? Gewiß. – Wegen dieser Unwissenheit also sind sie feige? … Dürfte dann nicht das Unwissen dessen, was gefährlich ist und was nicht gefährlich ist, Feigheit sein … (und) Tapferkeit ist das Gegenteil von Feigheit? … Das Wissen also davon, was gefährlich oder unbedenklich ist, ist Tapferkeit, als Gegenteil des Unwissens in diesen Dingen? … Was denn nun, Protagoras; sagst du zu dem, was ich frage, weder Ja noch Nein? – Bring es selbst zu Ende, sagte er. – Durch eine einzige Frage noch an dich: Bist du weiterhin der Auffassung, dass es Menschen gibt, die ganz unwissend sind, aber sehr tapfer? – … Wenn du darauf bestehst, dass ich es bin, der antwortet, … so sage ich, dass ich das aufgrund unserer Übereinkünfte für unmöglich halte.“ (360a8–e5) Das hier genannte Wissen über gefährliche oder unbedenkliche Dinge ist genau betrachtet ein kognitives und volitionales Selbstverhältnis einer Person: Die Bereitschaft (und Fähigkeit), das eigene Wollen von seinem Wissen über anerkennenswerte Handlungen bestimmen zu lassen. Wenn Sokrates und Protagoras die Tapferkeit als ein Wissen definieren, dass mit der Motivation verknüpft ist, anerkennenswerte Hand-

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lungen auszuführen, so haben sie die Prämisse (2) des zuvor genannten problematischen Arguments aufgegeben (358d–e). Die korrigierte Version dieser Prämisse lautet: Wenn jemand weiß, dass eine Handlung auf die Bewältigung einer Gefahr gerichtet ist und die Ausführung dieser Handlung für den Handelnden vorteilhaft (angenehm) und anerkennenswert ist, dann weiß er, dass diese Handlung (in einem umfassenden Sinne) gut ist und möchte diese Handlung ausführen. Das zuvor genannte Problem ist damit gelöst. Die Tapferkeit lässt sich zum einen als eine bestimmte Handlungsmotivation und zum anderen als ein Wissen charakterisieren, das mit eben dieser Motivation intrinsisch verknüpft ist. Das „Wissen davon, was gefährlich oder unbedenklich ist“, und die Motivation des Tapferen sind – wie im Laches – zwei Seiten derselben Medaille, d. h. zwei Aspekte einer guten seelischen Verfassung. Sokrates kommt zu dem Ergebnis, dass es nicht der Fall ist, dass eine Person tapfer ist und nicht über das Wissen über gute, vorteilhafte und anerkennenswerte Handlungen verfügt (360e1–5). Protagoras macht sich dieses Ergebnis (mit einigem Unbehagen) zu eigen. Das Schlussargument lässt sich so rekonstruieren (358a–360e): (1) Tapfer ist man genau dann, wenn man motiviert ist, Handlungen auszuführen, die vorteilhaft (angenehm) und in anerkennenswerter Weise auf die Bewältigung von Gefahren gerichtet sind (360a7–b4). (2) Über die Motivation, Handlungen auszuführen, die vorteilhaft (angenehm) und in anerkennenswerter Weise auf die Bewältigung von Gefahren gerichtet sind, verfügt man genau dann, wenn man über das Wissen gefährlicher bzw. unbedenklicher Dinge verfügt (360b4–c1). (3) Also ist man genau dann tapfer, wenn man über das Wissen gefährlicher bzw. unbedenklicher Dinge verfügt. (4) Also ist es nicht der Fall, dass einige Menschen tapfer sind, ohne über das Wissen über gefährliche bzw. unbedenkliche Dinge zu verfügen. M.a.W.: Niemand, dem das besagte Wissen fehlt, ist wirklich tapfer. Mit Hilfe des Schlussarguments kann Sokrates die protagoreische These, der zufolge einige Menschen tapfer sind, ohne über das Wissen von guten und angenehmen Handlungen zu verfügen (359a7-b6, 360d8e5), widerlegen. Wenn diese ausdrücklich widerlegte These nun mit der generellen protagoreischen Behauptung über die disparaten, nicht miteinander verknüpften Tugenden (329e2–6) logisch äquivalent ist, dann hat Sokrates, wie zuvor bereits gesagt, auch diese Behauptung wider-

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Protagoras

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legt. Im Blick auf die Tapferkeit hat Sokrates gezeigt: Tapfer ist man genau dann, wenn man über das Wissen über gefahrvolle, aber vorteilhafte (angenehme) und anerkennenswerte Handlungen und zugleich über die hinreichend starke Motivation verfügt, solche Handlungen auszuführen.

5. Der Abschluss des Gesprächs im Protagoras Nach der Erörterung der Tapferkeit fasst Sokrates seine Überlegungen zusammen und nimmt das Thema einer möglichen Lehrbarkeit des Gutseins wieder auf: „Alle diese Fragen (sc. die Fragen über die Herrschaft des Wissens im allgemeinen und die Tapferkeit im besonderen) stelle ich wirklich nur in der Absicht, Probleme zu klären, die das Gutsein betreffen und zu untersuchen, was eigentlich das Gutsein überhaupt ist … Ist dies Letztere geklärt, ergäbe sich am ehesten Aufschluss über jene Frage, über die wir beide … jeder eine lange Rede gehalten haben, ich mit der These, dass Gutsein sei nichts Lehrbares, du, dass es etwas Lehrbares sei. Und ich habe den Eindruck, dass uns das eben erzielte Ergebnis der Untersuchung … verspottet und, könnte es sprechen, etwa sagte: … Obwohl du (Sokrates) früher sagtest, Gutsein sei nichts Lehrbares, arbeitest du jetzt auf die Gegenposition hin, indem du zu beweisen suchst, dass alle Dinge Wissen sind, Gerechtigkeit, Besonnenheit und auch die Tapferkeit; so dürfte sich das Gutsein wohl vor allem anderen als etwas Lehrbares herausstellen … Protagoras stellte hingegen zunächst die These auf, es sei etwas Lehrbares, ist jetzt aber im Gegensatz dazu offenbar bemüht, dass es sich als alles andere denn lehrbar erweist. … Da ich dies alles nun in heilloser Verwirrung sehe, liegt mir alles daran, dass die Sache klar wird, und ich hätte gerne, dass wir (jetzt) auch die Frage in Angriff nehmen, was das Gutsein ist, und (dann) noch einmal eine Erörterung darüber führen, ob es etwas Lehrbares ist oder nicht.“ (360e6–361c6) Sokrates kommentiert das Gespräch hier aus der Perspektive eines imaginären Zuhörers, dem es so scheinen könne, als hätten Sokrates und Protagoras die Rollen getauscht: Protagoras hatte zuerst behauptet, eine gute seelische Verfassung könne durch Unterricht erworben werden, bestreitet jetzt aber offenbar, dass es sich bei einer guten seelischen Verfassung um eine Art von Wissen handelt, so dass sie demnach wohl auch nicht lehrbar ist. Sokrates hatte zuerst gesagt, das Gutsein sei keinesfalls lehrbar, scheine jetzt aber doch zu meinen, dass es lehrbar ist, da er ja

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offenbar zeigen möchte, dass Dinge wie Gerechtigkeit und Tapferkeit eine Art von Wissen sind. Mit diesem fiktiven Kommentar eines Zuhörers möchte Platon, wie ich denke, seine Leser darauf hinweisen, dass sie den Eindruck, Sokrates halte eine gute seelische Verfassung für eine Art von Wissen, richtig zu interpretieren haben. Die beiden, in dem fiktiven Kommentar genannten Thesen, die jetzt anscheinend jeweils neue Anhänger gefunden haben, sind so miteinander verknüpft: Das Gutsein ist genau dann eine Art von Wissen, wenn es lehrbar ist. (Denn daraus folgte, dass es nicht der Fall ist, dass das Gutsein eine Art von Wissen, aber nicht lehrbar ist.) Diese These vertritt Sokrates aber gar nicht. Die Frage nach einer Lehrbarkeit des Gutseins spielt in den Argumenten über Wissen und Tapferkeit, die er selbst entwickelt hat, gar keine Rolle. Sokrates behauptet ebenfalls nicht, das Wissen über bestimmte, gute, anerkennenswerte und angenehme Sachverhalte (und Handlungen) sei für sich genommen hinreichend für eine gute seelische Verfassung. Er behauptet also nicht etwa die so verstandene These ‚Gutsein ist Wissen‘, wiewohl es einem Zuhörer so scheinen mag. Vielmehr ist Sokrates der Auffassung, dass das möglichst genaue, täuschungsfreie Wissen über gute Sachverhalte, das man durch die Kunst des genauen Abwägens gewinnt, mit einer hinreichend kraftvollen Motivation verknüpft ist und sich jemand in einer guten seelischen Verfassung befindet, wenn er über beides, das Wissen und die damit verknüpfte Motivation verfügt und genau deshalb tatsächlich tapfer ist. In diesem Sinne lässt sich auch die von Nikias im Laches mit Sokrates’ Zustimmung zitierte These (194d1– 3) verstehen, der zufolge jemand etwas nur dann gut macht, wenn er über ein entsprechendes Wissen verfügt. Protagoras sagt, „dass das Gutsein etwas Lehrbares ist und die Athener dieser Auffassung sind“ (328c), beruft sich also auf eine konventionelle Meinung über das Gutsein, und er selbst verspricht, bestimmte Fertigkeiten zu lehren, mit denen man seine privaten und öffentlichen Angelegenheiten erfolgreich erledigen kann. Mit anderen Worten: Protagoras vertritt eine instrumentalistische Auffassung eines handlungsleitenden, glücksrelevanten Wissens. Nach dieser Auffassung kommen Misserfolge dadurch zustande, dass man in einer bestimmten Situation nicht die jeweils geeigneten Techniken eingesetzt hat. Sokrates möchte hingegen den instrumentalistischen Schleier lüften, der über der herkömmlichen Auffassung des Gutseins liegt. Für Sokrates kommt es darauf an, dass man sich ausdrücklich um die Fähigkeit des genauen Abwägens kümmert, möglichst genau darüber nachdenkt, was wirklich und nicht lediglich scheinbar gut ist, welche vorrangigen Handlungsziele man verfolgt (356c–357b) und sich im praktischen Überlegen an diesen Zielen orientiert.

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Exkurs 3: Menon

1. Der Auftakt: Wie erreichen wir eine gute seelische Verfassung? Der Menon ist, wie der Laches, ein dramatischer Dialog. Menon beginnt das Gespräch mit der Frage, ob das Gutsein erlernt werden könne, und bietet sogleich vier Optionen an (70a1–4): Das Gutsein sei entweder lehrbar oder werde nicht durch Unterricht, sondern durch Einüben oder weder durch das eine noch das andere erworben, sondern entsteht von Natur aus oder auf irgendeine andere, von Menon nicht näher erläuterte Weise. Sokrates vermag Menons Frage nicht zu beantworten; er selbst wisse nicht einmal zu sagen, was eine gute seelische Verfassung ist, geschweige denn, wie man sie erwerben kann, und er glaubt, dass niemand in Athen dies zu wissen beansprucht (70c–71b). Menon glaubt hingegen zu wissen, was das Gutsein ist, und er zählt eine Reihe von Beispielen auf, so etwa das Gutsein eines Mannes, einer Frau oder eines Bürgers (71e1–72a5). Sokrates fragt ihn nach den Eigenschaften, die allen den von ihm genannten Fällen gemeinsam sind (72a6–d1, vgl. 72d3–73a3, 72c6–d1, 74a7–b1). Mit anderen Worten: Sokrates’ Frage zielt auf eine Definition einer insgesamt guten seelischen Verfassung. Auf diesen Sachverhalt bezieht sich auch seine Frage nach der Einheit der verschiedenen, von Menon rhapsodisch aufgezählten Tugenden (71e1–72a5). Freilich kann man auch ohne eine Definition des Gutseins über bestimmte Tätigkeitsbereiche sprechen, so etwa über das politisch erfolgreiche Handeln (71e2–5), die erfolgreiche Verwaltung des privaten Haushalts (71e5–7) oder die Fähigkeit, Herrschaft auszuüben (73c9–d1). Ohne eine adäquate Definition lässt sich jedoch nicht entscheiden, ob es sich dabei um Beispiele des gesuchten Gutseins handelt. Wenn man mögliche Beispiele des Gutseins erörtert, ohne von einer hypothetischen Definition des Gutseins auszugehen, besteht ebenfalls die Gefahr, bestimmte Fähigkeiten, die zu einer guten seelischen Verfassung gehören, zu übersehen. Eine adäquate Definition kann – wenn sie denn je erreicht wird – freilich erst am Ende einer dialektischen Untersuchung stehen. Um eine solche Untersuchung jedoch über-

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haupt führen, um also einen bestimmten Vorschlag als eine hypothetische Definition prüfen, das erforderliche Wissen also suchen und unzureichende Meinungen korrigieren zu können, hat man die Meinungen über das Gutsein in der Form einer Definition auszudrücken. Nachdem Menon die Aufforderung zu einer Definition des Gutseins verstanden hat (72a6–d1), gibt er nach einigen Anläufen eine formal korrekte Auskunft. Mit seinem ersten Vorschlag nimmt er vermutlich eine geläufige, zeitgenössische Redewendung auf und bestimmt das Gutsein als den (generellen) Wunsch, Güter zu erlangen und die Fähigkeit, diesen Wunsch auch verwirklichen zu können. Sokrates möchte diese Auskunft etwas genauer verstehen: „Menon: Nach meiner Meinung besteht das Gutsein darin, dass man etwas Schönes (und Gutes) wünscht und es sich auch zu beschaffen vermag. – Sokrates: Du meinst also, … dass es einige Menschen gibt, die (1) etwas Gutes wünschen und (2) andere, die Schlechtes wünschen?55 Du meinst nicht, dass jeder etwas Gutes wünscht? – Nein. – Einige Menschen wünschen Schlechtes? – Ja. – Wünschen (2a) sie es, weil sie meinen, dass die schlechten Dinge gut sind, oder (2b) wünschen sie es, obwohl sie wissen, dass sie schlecht sind? – Meines Erachtens ist beides (möglich). – Und du glaubst wirklich, dass jemand, der etwas Schlechtes kennt und weiß, dass es schlecht ist, es dennoch wünscht? – Ja. – Und was genau wünscht er? Er wünscht doch die Sache zu bekommen? – Was sonst. – Weil er glaubt, dass eine schlechte Sache dem nützt, der sie bekommt, oder weil er weiß, dass eine schlechte Sache dem schadet, der sie bekommt? – Es gibt Menschen, (2a) die glauben, eine schlechte Sache nutze ihnen und (2b) andere, die wissen, dass sie schadet.“ (77b2–d4)56 Menon scheint anzunehmen, dass man in einigen Fällen eine schlechte Sache erstrebt. Auf Sokrates’ Nachfrage unterscheidet Menon drei Fälle: Eine Person erstrebt (1) eine gute Sache X, und sie weiß, dass X gut ist, oder (2a) sie erstrebt eine schlechte Sache Y und glaubt, dass Y gut ist, oder (2b) sie erstrebt eine schlechte Sache Y und weiß (oder meint jedenfalls), dass Y schlecht ist. Sokrates hält die Fälle (2b) für ausgeschlossen (77d4–e4). Menon hatte gesagt, das Gutsein sei der Wunsch nach einer guten Sache und die Fähigkeit, diesen Wunsch auch zu verwirklichen. Nun wird dieser Wunsch aber nicht immer verwirklicht; in einigen Fällen ist man in der Verwirklichung seiner Wünsche 55

Zugunsten der Gliederung habe ich die Nominalgruppen in Satz 77b7–8 umgestellt. Aus dem Menon zitiere ich, mit einigen Modifikationen, nach der Übersetzung von Margarita Kranz: Platon. Menon. Griechisch–Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Margarita Kranz. Stuttgart 1994. 56

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nicht erfolgreich und bekommt insofern eine schlechte Sache. Menon scheint anzunehmen, dass sich ein Wunsch in solchen Fällen auf eine schlechte Sache richtet. Sokrates möchte diese Annahme korrigieren: „Sokrates: Meinst du, dass diejenigen, die glauben, eine schlechte Sache nutze ihnen, wissen, dass es sich dabei um eine schlechte Sache handelt? – Menon: Meines Erachtens wissen sie es nicht. – Ist es deshalb nicht offensichtlich, (i) dass diese Leute nicht schlechte Dinge erstreben, sondern Dinge, die sie für gut halten, (ii) die aber schlecht sind und somit diejenigen, (iii) die solche Dinge nicht (als schlechte Dinge) erkennen und sie für gut halten, offenbar gute Dinge erstreben? – Das könnte so sein.“ (77d4–e4) Sokrates möchte darauf hinaus, dass diejenigen, die eine Sache erstreben, die sie für gut halten, die in Wirklichkeit jedoch schlecht ist, gleichwohl eine gute Sache erstreben. Sie mögen zwar eine schlechte Sache bekommen, aber ihr Streben (ihr Wunsch) richtet sich auch in diesen Fällen auf eine gute Sache. Auf den ersten Blick scheinen Sokrates’ Äußerungen in 77d–e widersprüchlich zu sein. Sokrates sagt zuerst, (i) dass es nicht so ist, dass diejenigen, die glauben, eine schlechte Sache sei gut, schlechte Dinge erstreben (77d7–e1), scheint unmittelbar danach aber zu sagen, (ii) dass diese Leute Dinge erstreben, die schlecht sind (77e1–2) und zuletzt noch einmal zu behaupten, (iii) dass diese Leute „gute Dinge erstreben“ (77e2–4). Zuerst und zuletzt sagt Sokrates unmissverständlich, dass diejenigen, die eine Sache erstreben, die sie für gut halten, die aber schlecht ist, in Wirklichkeit eine gute Sache anstreben. Dazwischen scheint er aber zu meinen, dass diese Leute eine schlechte Sache erstreben.57 Das Problem löst sich auf, wenn wir das Beweisziel der Überlegungen in 77d–e beachten. Menon hält es für möglich, dass einige Leute eine bestimmte Sache erstreben, obwohl sie diese Sache für eine schlechte Sache halten. Um zu zeigen, dass dies unmöglich ist, führt Sokrates eine Annahme ein, der Menon zustimmt: Wenn jemand eine Sache erstrebt, die er für gut hält, dann ist es nicht der Fall, dass er eine schlechte Sache als eine schlechte Sache erstrebt (77d4–7). Jemand, der eine Sache erstrebt, die in Wirklichkeit schlecht ist, erstrebt sie nicht als eine schlechte Sache, sondern er erstrebt eine gute Sache (weiß aber nicht, dass die Sache, die er erstrebt, schlecht ist). Wenn es so ist, enthält Menons Annahme einen Widerspruch. Mit der Verknüpfung der beiden Äußerungen (i) und (ii) formuliert Sokrates nun genau die Annahme, die einen Widerspruch enthält (Prämisse 3 der 57

Auf dieses Problem hat erstmals Santas 1979: 186 f. hingewiesen. Ausführlich erörtern dieses Problem Penner / Rowe 1994.

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nachfolgenden Darstellung) und deshalb Menons Annahme ad absurdum führt: (1) (Annahme um des Arguments willen:) In einigen Fällen erstrebt eine Person eine bestimmte Sache und glaubt, dass die Sache, die sie erstrebt, eine schlechte Sache ist (77d3). (Das sind die Fälle der Gruppe 2b). (2) Wenn eine Person aber glaubt, dass eine bestimmte Sache schlecht (also nicht wünschenswert) ist, dann ist es nicht der Fall, dass sie eine solche Sache erstrebt (77d4–7). (3) Also: Wenn eine Person eine bestimmte Sache erstrebte und glaubte, dass diese Sache schlecht ist, dann erstrebte sie eine bestimmte Sache und zugleich wäre das Gegenteil der Fall (77d4–e2). Doch das ist unmöglich. (4) Also ist es nicht der Fall, dass eine Person in einigen Fällen eine bestimmte Sache erstrebt und glaubt, dass die Sache, die sie erstrebt, eine schlechte Sache ist (77e2–4). Menon hält es, wie gesagt, für möglich, dass einige Leute eine schlechte Sache erstreben. Die aus Sokrates’ Sicht richtige Beschreibung dieses Sachverhalts lautet, dass jemand, der eine schlechte Sache zu erstreben scheint, eine Sache erstrebt, die er für gut hält, aber nicht weiß, dass die Sache, die er erstrebt, eine tatsächlich schlechte Sache ist (77d4–7). Wir können diese Annahme auch als eine begriffliche Explikation von „erstreben“ (oder „wünschen“) lesen: Etwas zu erstreben heißt eine Sache als eine gute Sache zu erstreben. Mit anderen Worten: Etwas zu wünschen heißt etwas Gutes zu wünschen. Wenn jemand eine bestimmte Sache erstrebt, dann hält er sie eben für gut. Wenn man meint, dass eine bestimmte Sache schlecht ist, sie also eben nicht für gut hält, hat man nicht den Wunsch, diese Sache zu bekommen. Wenn das zutrifft, ist es erst recht unmöglich, dass jemand eine schlechte Sache erstrebt und sogar weiß, dass sie schlecht (für ihn) ist: „Sokrates: Und diejenigen, die Schlechtes wünschen, … im Glauben, das Schlechte schade dem, der es bekommt, wissen die wirklich, dass sie davon Schaden erleiden werden? – Menon: Notwendigerweise ist das so. – Und meinen diese Leute nicht, dass sie in dem Maße bedauernswert sind, wie sie Schaden erleiden? – Auch das ist notwendigerweise so. – Sind bedauernswerte Menschen nicht unglücklich? Und gibt es Leute, die bedauernswert und unglücklich sein wollen (βουλέσθαι)? – Das kann ich mir nicht vorstellen. – Also will niemand etwas Schlechtes, denn es will ja niemand bedauernswert und unglücklich sein. Denn was heißt ‚bedauernswert sein‘ anderes als

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Schlechtes zu wollen und zu bekommen? – Es stimmt, was du sagst: niemand will wohl Schlechtes.“ (77e5–78b2) Wenn jemand weiß, dass eine bestimmte Sache ihm Schaden einträgt, so weiß er auch, dass er sich durch den Erwerb dieser Sache (oder durch eine für ihn selbst schädliche Handlung) in eine unglückliche Lage bringt. Nun will sich aber niemand in einer unglücklichen Lage befinden. Wenn Sokrates daraus schließt, dass niemand wissentlich eine schlechte Sache erstrebt, so nimmt er offenbar an, dass derjenige, der eine schlechte Sache erstrebte und wüsste, dass sie schlecht ist, sich mit diesem Wunsch in eine unglückliche Lage begeben wollte. Auch das hält Sokrates für ausgeschlossen: (1) (Annahme um des Arguments willen:) Einige Personen erstreben wissentlich eine schlechte Sache. (2) Wenn eine Person wissentlich eine schlechte Sache erstrebt, dann will sie sich in eine unglückliche Lage bringen. (3) Aber niemand will sich in eine unglückliche Lage bringen. (4) Also ist es nicht der Fall, dass einige Personen wissentlich eine schlechte Sache erstreben. Sokrates und Menon kommen darin überein, dass jeder Mensch in jedem Falle eine (für ihn) gute Sache erstrebt. Daraus ergibt sich folgende Konsequenz für Menons Charakterisierung des Gutseins: „Sokrates: Hast du nicht eben gesagt: Gutsein ist, Gutes zu wollen und sich verschaffen zu können? – Menon: Das habe ich. – Da sich nun gezeigt hat, dass das Wollen (guter Dinge) jedem zukommt, ist es nicht so, dass niemand in dieser Hinsicht besser als jemand anderes ist? – Das ist wohl so. – Wenn einer also besser ist als jemand anderes, dann ist er es darin, (gute Dinge) zu erlangen? – Zweifellos. – Nach deiner Auskunft ist das Gutsein also die Fähigkeit, sich Gutes zu verschaffen (sc. den Wunsch nach guten Dingen verwirklichen zu können).“ (78b3–c1) Wenn jemand eine tatsächlich schlechte, unvorteilhafte Sache erlangt, so liegt das nicht an seinem Wunsch (Streben) nach einer schlechten Sache, sondern an dem mangelnden Wissen davon, ob die Sache, die er erstrebt, gut oder schlecht ist. Auch diejenigen, die eine Sache bekommen, die tatsächlich nicht gut ist, wollten eine gute Sache bekommen (77d7–e4, 78a6–b2). Das entscheidende Merkmal einer guten seelischen Verfassung ist also nicht der grundlegende Wunsch nach guten Dingen, sondern vielmehr die Fähigkeit, diesen Wunsch mit jeweils bestimmten Handlungen zu verwirklichen. Denn darin sind einige Menschen besser als andere.

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2. Anamnesis – der Übergang von Meinungen zum Wissen Nach der zunächst erfolgreichen ersten Annäherung an eine Definition des Gutseins tritt das methodische Problem aus dem Beginn des Gesprächs wieder auf: Die Gesprächspartner diskutieren verschiedene Aspekte des Gutseins, ohne jedoch zu wissen, was eine gute seelische Verfassung genau ist (78c–79e). Sokrates möchte die Suche danach, was das Gutsein ist, weiter voran treiben. Menon glaubt hingegen, es sei unmöglich, danach zu suchen, was etwas ist und auch herauszufinden, was etwas ist, das man nicht bereits kennt (80d5–8). Er bringt einen Einwand vor, der sich in der Form des folgenden Arguments darstellen lässt: (1) Wenn es möglich ist, eine Sache X zu suchen, so verfügt man zu Beginn der Suche nicht über Wissen von X. (2) Wenn es nun möglich ist, X zu suchen, dann ist es – in dieser Ausgangssituation, in der das Wissen von X fehlt – möglich, X zu finden. (3) Wenn es aber tatsächlich möglich ist, X zu finden, dann verfügt man bereits vor der Suche nach X über das (gesuchte) Wissen von X. (4) Also: Wenn es möglich ist, eine Sache X zu suchen, dann verfügt man zu Beginn der Suche nicht über Wissen von X und zugleich verfügt man über das Wissen von X. (5) Also ist es überhaupt nicht möglich, eine Sache X zu suchen. Wenn man zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht bereits über das Wissen von X verfügt, so kann man sich Menon zufolge auch nicht darum bemühen, das Wissen von X zu gewinnen und X in diesem Sinne zu suchen. Man könnte bestenfalls zufällig auf X stoßen, das man dann jedoch nicht als die gesuchte Sache erkennte. Menons Einwand ist freilich eine Karikatur eines sinnvollen reductio-Arguments; sein Einwand ist ein Trick, der seine verblüffende Wirkung einem überraschenden Einsatz verdankt: Menon setzt seinen Trick genau dort ein, wo Sokrates zur Fortsetzung der Suche nach dem Gutsein ermuntert. Menons Paradoxie beruht auf der Verwechslung von Wissen und Meinung.58 Wird der Unterschied zwischen Wissen und Meinung berücksichtigt, löst sich die Paradoxie sogleich auf. Die vollständige und korrekte erste Prämisse lautet: (1*) Wenn es möglich ist, eine Sache X zu suchen, so verfügt man zu Beginn der Suche nicht über Wissen von X, sondern über eine 58

Die Verwechslung von Wissen und Meinungen ist auch die Ursache der Irrtumsparadoxien, die Sokrates im Theaitet 187e5–190e4 erörtert, vgl. dazu Hardy 2001: 159–205.

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Meinung über X. So erklärt sich die Tatsache, dass es ohne weiteres möglich ist, auf dem Wege der Suche nach Wissen, nämlich auf der Grundlage einer Meinung, das gesuchte Wissen auch zu finden. Wenn man ausdrücklich weiß, dass eine bestimmte Meinung über X nicht die hinreichenden Bedingungen für das Wissen von X erfüllt, wenn man also über eine reflektierte Meinung über X verfügt, dann weiß man ebenfalls, unter welchen Bedingungen man über das Wissen von X verfügte und ist deshalb auch in der Lage, das gesuchte Wissen von X als das Ziel der Suche zu erkennen. Diese Einsicht ist nun das Ergebnis einer bestimmen epistemischen Einstellung, die Sokrates in der Geometrielektion (82b9–85b7) des Menon als eine Art von Erinnerung (ἀνάμνησις) erläutert. Sokrates möchte zeigen, dass etwas zu lernen heißt, sich an etwas zu erinnern (81a5–e2). Erinnerung bedeutet dabei genau betrachtet die Explikation eines potentiellen Wissens. Sokrates stellt seinem Gesprächspartner (der ein Sklave im Hause des Menon ist) eine kleine geometrische Aufgabe. Im Ausgang von einem gegebenen Quadrat gilt es die Länge der Seite des Quadrats mit dem doppelten Flächeninhalt zu bestimmen. Das ist die Diagonale des Ausgangsquadrats. Zunächst zeichnet Sokrates ein Quadrat, in das er auch die Diagonale einträgt. Sokrates’ Gesprächspartner steht daher die gesuchte Seite des doppelt so großen Quadrats durchaus vor Augen, nur weiß er eben zunächst noch nicht, dass es sich in der Tat um die gesuchte Seite handelt. Sokrates erweitert dann die Ausgangszeichnung zu einer Zeichnung mit vier Quadraten und stellt dabei bestimmte Fragen, die der Schüler so beantwortet, dass er schließlich erkennt, dass die Diagonale des gegebenen Quadrats die gesuchte Seite ist. Die Geometrielektion gliedert sich in drei Schritte. (1) Sokrates’ Gesprächspartner weiß selbstverständlich, dass ein Quadrat mit der Seitenlänge 2 den Flächeninhalt 4, und ein doppelt so großes Quadrat den Flächeninhalt 8 hat. Das ist höchst elementare Arithmetik. Auf der Suche nach der Seitenlänge des Quadrats mit dem Flächeninhalt 8 begeht der Schüler zunächst jedoch zwei Fehler. Er meint – unter dem Einfluss von Sokrates’ Fragen – zuerst, die Seitenlänge 4, also die Linie, die doppelt so lang ist wie die Seitenlänge des Ausgangsquadrats, sei die gesuchte Größe. Als er nachrechnet, erkennt er freilich sogleich, dass er sich geirrt hat. In seinem zweiten Versuch stimmt der Schüler Sokrates zu, dass die gesuchte Linie größer als 2 und kleiner als 4 ist und schlägt vor, sie habe den Wert 3. Sokrates kommentiert die erste falsche Antwort des Schülers so, sein Gesprächspartner meine zu wissen, was er tatsächlich nicht weiß (82e4–13). (2) Nach der Einsicht in seine Fehler erkennt der Schüler, dass er nicht über das gesuchte Wissen ver-

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fügte (82e14–84a2), obwohl er zuvor dachte, er besitze dieses Wissen (82e1–9). Das ist der entscheidende Schritt zur Einsicht (84a3–c9). Der Schüler weiß jetzt, was er nicht weiß, zuvor jedoch zu wissen glaubte und er hat jetzt auch den ausdrücklichen Wunsch, nach Wissen zu suchen (84b10–c1). (3) Im weiteren Verlauf der Lektion findet der Schüler schließlich die korrekte Lösung der speziellen Aufgabenstellung. Er erkennt, dass das gesuchte Quadrat mit dem doppelten Flächeninhalt des Ausgangsquadrats eine Seitenlänge hat, die der Diagonale des Ausgangsquadrats gleich ist. Diese korrekte Auskunft bezeichnet Sokrates zunächst nicht als Wissen, sondern als eine wahre Meinung (85b8–c10). Durch wiederholte Übungen gewinnt man Sokrates zufolge schließlich jedoch ein genaues Wissen (85c11–d1). Das gilt sowohl für die Geometrie als auch für Gegenstände anderer Art (85e1–3). Wenn das Wissen über einen bestimmten Sachverhalt durch wiederholte Übungen gefestigt wird, hat man auch die Möglichkeit, auf der Grundlage eines bestimmten Wissens weitere Sachverhalte zu entdecken. Um das Beispiel der Geometrielektion des Menon zu variieren: Wenn man einen Beweis für die Inkommensurabilität der Seitenlänge eines Quadrats mit dem Flächeninhalt 2 (die Irrationalität der Quadratwurzel der Zahl 2) gefunden hat, so kann man sinnvollerweise versuchen, diesen Beweis zu verallgemeinern (vgl. Theaitet 147e–148b). Im Hinblick auf die Erforschung des Gutseins kann man sich gut vorstellen, dass man dann, wenn man z. B. herausgefunden hat, dass jede tapfere Handlung eine zwar gefahrvolle, aber kluge, wünschenswerte und anerkennenswerte Handlung ist, diese spezielle Meinung sinnvollerweise mit Meinungen über andere Tugenden verknüpfen kann. Der Prozess des Lernens, den die Geometrielektion demonstriert, nimmt seinen Ausgang von einem vermeintlichen Wissen, führt zu der Einsicht darin, dass man etwas nicht weiß und schließlich zu einem tatsächlichen Wissen des gesuchten Sachverhalts. Der entscheidende Schritt zum Wissen ist die Fehlerkorrektur, die wiederum eine Veränderung der Einstellung zu den eigenen Meinungen erfordert. Der Schüler erkennt schließlich den geometrischen Sachverhalt, der ja der Sache nach offen zu Tage liegt. Der Übergang von einer Meinung, dass p, zum Wissen, dass p, bedeutet den Erwerb eines entsprechenden propositionalen Wissens. Dieser Übergang wird an späterer Stelle weiter erläutert (96d5–98b6). Sokrates’ Gesprächspartner prüft seine ursprünglichen Meinungen über die gesuchte Seitenlänge und bildet sich reflektierte und gerechtfertigte Meinungen über denselben Sachverhalt: Er weiß jetzt, aus welchen Gründen seine beiden ursprünglichen Meinungen falsch sind und seine dritte Meinung wahr ist. Das Wissen eines bestimmten geometrischen Sachverhalts erwirbt der Schüler mit einem

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Wissen zweiter Ordnung, nämlich der Einsicht darin, dass er zuvor eine tatsächlich falsche Meinung für Wissen gehalten hat. Zu wissen, dass man lediglich über eine Meinung verfügt, bedeutet, nicht irrtümlich zu glauben, etwas zu wissen. Das Wissen zweiter Ordnung über das, was man tatsächlich weiß oder eben nicht weiß, verändert nicht den propositionalen Gehalt einer bestimmten Meinung. Aber es verändert den Status der epistemischen Rechtfertigung einer Meinung. Mit der Einsicht in nur scheinbares Wissen und der Überwindung des Zustands eines vermeintlichen Wissens gewinnt (bzw. expliziert) man ein Wissen zweiter Ordnung: das Wissen davon, über eine möglicherweise wahre Meinung, dass p, zu verfügen, deren Wahrheit jedoch erst dann gesichert ist, wenn man eine Meinung zu rechtfertigen, so etwa durch wiederholte Überprüfung zu bestätigen vermag. Was Sokrates in der Geometrielektion als Wissen bezeichnet (85c–d), ist das Ergebnis der Fähigkeit, Meinungen prüfen und wahre Meinungen rechtfertigen zu können. Das ist eine Fähigkeit, die jemand selber auszuüben hat, um sie überhaupt zu besitzen. Wer diese Fähigkeit nicht selbst, in der selbstbestimmten Kontrolle seines Nachdenkens erfolgreich ausüben könnte, hätte sie gar nicht. Der propositionale Gehalt von Argumenten, Beweisen und Theorien kann im Unterricht übermittelt werden, nicht jedoch das eigene Verstehen. Deshalb weist Sokrates in der Geometrielektion ausdrücklich darauf hin, dass sein Gesprächspartner ein elementares geometrisches Wissen gewinnt, das ihm niemand in dieser ausdrücklichen Form jemals mitgeteilt hat. Etwas zu lernen bedeutet für Sokrates „ein Wissen aus sich selbst hervorzuholen“ (85d6–8). Menon scheint indessen zu meinen, dass sich Wissen von einer Person in eine andere transferieren lässt – eine im Grunde erstaunliche Vorstellung, jedenfalls dann, wenn man sie so zu verstehen hat, dass derjenige, der etwas von jemandem lernt, Meinungen übernimmt, ohne diese Meinungen selber, aus dem eigenen Nachdenken heraus verstehen zu können. Das ist der Hintergrund der Menon-Paradoxie: Ein Wissen, das man nicht bereits besitzt, scheint man selbst, aus eigener Kraft und ohne einen Wissenstransfer, niemals finden (und auch gar nicht erst suchen) zu können (80d5–e5). Doch das ist falsch. In der Tat braucht man einen bestimmten Ausgangspunkt für die Suche nach X, nämlich eine reflektierte Meinung über X. Um die Suche nach X auch nach Fehlversuchen fortsetzen zu können, bedarf es freilich nicht irgendeiner Meinung, sondern einer begründeten Hypothese, wie Sokrates später sagt (86a–87b). Mit dieser Einsicht ist Menons Paradoxie ihrer lähmenden Kraft beraubt.59 59

Für Sokrates bedeutet Lehren und Lernen den kognitiv selbstbestimmten, wahrheitssichernden Umgang mit Meinungen. Menon möchte hingegen dadurch etwas lernen, dass er einem Leh-

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Die Einstellung der Wissenssuche ist ein kognitiver und motivationaler Prozess zweiter Ordnung, der die erfolgreiche Meinungsbildung lenkt und auch dafür sorgt, dass man sich die Meinungen, die andere Menschen einem vermitteln wollen, kognitiv aneignen (und gegebenenfalls auch verwerfen) kann. Wer sich Wissen von einem Lehrer transferieren lässt, kann diese kognitive Aneignung nicht leisten. Er hätte selbst dann, wenn er einen kostbaren Schatz wahrer Meinungen transferiert bekäme, nichts verstanden, denn er könnte sich von der Wahrheit dieser Meinungen nicht aufgrund des eigenen Nachdenkens überzeugen. Deshalb würden die Meinungen, die man einfach übernimmt, ohne sie kraft des eigenen Nachdenkens verstanden zu haben, wie es später heißt, nicht „bleiben“ (97e6–98a2). Das Wissen zweiter Ordnung, das in der Fähigkeit zu einem kritischen Umgang mit den eigenen Meinungen besteht, macht jemanden, wie bereits gesagt, zu einem selbstbestimmten Urheber der eigenen Meinungen. Die eudämonistische Pointe des Anamnesismodells im Menon besteht wohl auch darin, dass das Wissen zweiter Ordnung, dass den Übergang einer Meinung, dass p, in ein Wissen über denselben Sachverhalt ermöglicht, mit einer epistemischen Motivation verknüpft ist. Sokrates tritt dafür ein, „dass wir dann, wenn wir glauben, dasjenige, was wir nicht wissen, suchen zu sollen, besser werden, mutiger und weniger träge (im Nachdenken) als (wir es wären), wenn wir glaubten, dass wir das, was wir nicht wissen, niemals finden können“ (86b7–c1). An Ort und Stelle möchte Sokrates Menon davon überzeugen, die Suche nach dem Gutsein fortzusetzen (86c3–6, vgl. Laches 194a1–5). Das Anamnesismodell demonstriert die grundlegende Fähigkeit, durch einen wahrheitssichernden und irrtumsvermeidenden Umgang mit den eigenen Meinungen einen bestimmten Sachverhalt zu erkennen. Wenn man sich ausdrücklich darüber Klarheit verschafft, dass Menschen über diese Fähigkeit verfügen, so ist diese Einsicht auch ein guter Grund für den Mut und die Zuversicht, sich ebenfalls um eine Antwort auf die Frage danach zu bemühen, was das Gutsein ist.

rer zuhört (75b1, 76a8–b1, 76c2–3, 77a1–2, 81a7). Interessanterweise möchte Menon von Sokrates auch über dessen Auffassung vom Lernen als Wiedererinnerung wiederum belehrt (81e5– 82a6) und schließlich erneut über die Lehrbarkeit des Gutseins belehrt werden (87c7–d2). Menon erwartet auch nach der Geometrielektion eine Art des Unterrichts, den er von Gorgias kennt. Wenn Sokrates sich auf die Suche nach dem Gutsein begeben möchte (80d3–4), so kann er den Erwerb von Wissen freilich nicht als einen Wissenstransfer auffassen. Menon kann nicht verstehen, dass Sokrates nicht weiß, was das Gute ist und dennoch gemeinsam mit Menon nach diesem Wissen suchen möchte. Menons Paradoxie des Lernens ist denn auch eine direkte Reaktion auf Sokrates’ erneute Behauptung, selbst kein Wissen zu besitzen (80c6–d3).

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3. Ist eine gute seelische Verfassung eine Art von Wissen? Kaum hat Sokrates Menons Zustimmung gewinnen können, weiter über die Frage „Was ist das Gutsein?“ nachzudenken, stößt die Diskussion erneut auf das bereits bekannte methodische Hindernis. Menon wiederholt nach der Anamnesislektion seine ursprüngliche Frage nach der Lehrbarkeit des Gutseins. Auf die Frage, ob er gemeinsam mit Sokrates danach suchen wolle, was eine gute seelische Verfassung ist, antwortet Menon: „Sicher. Aber ich würde, Sokrates, doch ganz gerne auf die ursprüngliche Frage zurückkommen, nämlich erörtern und (von anderen) hören, ob das Gutsein als lehrbar aufzufassen ist oder als etwas, das von Natur aus oder auf sonst irgendeine Weise entsteht“ (86c7–d2). Deshalb stellt sich für Sokrates jetzt die grundsätzliche methodische Frage, wie man die von einer Definition des Gutseins logisch abhängige Frage nach der Lehrbarkeit des Gutseins erörtern kann, wenn man gar nicht genau weiß, wie eine gute seelische Verfassung beschaffen ist. Die Antwort lautet: Mit der Hilfe einer Hypothese (86e1–4). Die epistemische Ausgangssituation der Suche nach dem Wissen von einer Sache erscheint jetzt in einem klaren Licht; sinnvoll ist die Suche immer dann, wenn sie ihren Ausgang von einer begründeten Meinung nimmt und wenn solche Meinungen aus der Einstellung der Wissenssuche heraus geprüft werden. Wie also müsste eine gute seelische Verfassung beschaffen sein, um unterrichtet werden zu können (87b5–6)? Um diese Frage zu beantworten, bildet Sokrates die folgende Hypothese: In dem zuvor als eine Art von Erinnerung erläuterten Sinne ist eine gute seelische Verfassung genau dann lehrbar (87b5-c4), wenn sie eine Art von Wissen ist (87c8–9), so dass man „von dort aus als nächstes zu untersuchen hat, ob eine gute seelische Verfassung eine Art von Wissen oder etwas anderes als Wissen ist“ (87c11–12). Diese Hypothese erläutert und begründet Sokrates wiederum mit weiteren Hypothesen, und zwar auf folgende Weise: „Sokrates: Ist (i) das Gutsein nach unserer Auffassung etwas anderes als selbst etwas Gutes und halten wir an dieser Hypothese fest? … (ii) Wenn nun auch irgend etwas gut ist, das von Wissen abgetrennt ist, dann wäre es möglich, dass das Gutsein nicht eine Art Wissen ist. Wenn es aber keine gute Sache gibt, die vom Wissen nicht umfasst wird, dann wäre unsere Hypothese, Gutsein sei eine Art Wissen, wohl eine richtige Annahme? – Menon: So ist es. – (iii) Gut sind wir doch kraft des Gutseins? … (iv) Und wenn gut, dann (sind wir auf Nutzbringendes ausgerichtet)…? – Ja. – Und das Gutsein ist etwas Nützli-

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ches? – Das folgt aus unseren Überlegungen. – Prüfen wir der Reihe nach, Dinge welcher Art uns nützen. Gesundheit, Kraft, Schönheit und Wohlstand. Diese Dinge und andere dieser Art halten wir für nützlich, nicht wahr? – Ja. – Dieselben Dinge sind unseres Erachtens zuweilen aber auch schädlich? … Überlege einmal, unter welcher Anleitung etwas nützlich und unter welcher Anleitung etwas schädlich ist. (v) (Unter Anleitung des) richtigen Gebrauchs ist etwas nützlich, sonst aber schädlich? – So ist es. – Betrachten wir die Seelenzustände: … Besonnenheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Auffassungsgabe … etc. Überlege einmal, ob nicht alles von dem, was wir gerade genannt haben, was nicht Wissen oder etwas anderes als Wissen zu sein scheint, im einen Falle nützlich, im anderen Falle schädlich ist. … (vi) Führt nicht überhaupt alles, was die Seele unternimmt und mit einer gewissen Beharrlichkeit betreibt, unter der Anleitung von Wissen zum guten Gelingen (eudaimonia) und bei mangelndem Wissen zum Gegenteil? … Wenn das Gutsein also etwas Seelisches und mit Notwendigkeit nützlich ist, dann muss es Wissen sein. Die seelischen Eigenschaften sind ja für sich genommen weder nützlich noch schädlich, sondern erst dadurch, dass Wissen oder Unverstand hinzukommen, werden sie schädlich oder nützlich. Da das Gutsein (seinerseits in jedem Falle) nützlich ist, muss es nach diesem Argument eine Art von Wissen sein. – Das meine ich auch.“ (87d2–88d3) Sokrates bildet hier einen Zusammenhang verschiedener Hypothesen. Das Argument lässt sich in zwei Teile gliedern. Im ersten Teil, der die Annahmen (i)–(iv) umfasst, nennt Sokrates das explanandum: (i) Das Gutsein ist selbst etwas Gutes (87d2–4). (ii) Wenn irgendeine spezielle Sache gut ist und dabei von Wissen „abgetrennt ist“, dann wäre es möglich, dass das Gutsein nicht eine Art von Wissen ist (87d4–6). Wenn es aber keine gute Sache gibt, die nicht von Wissen umfasst wird, trifft die Hypothese, das Gutsein sei eine Art von Wissen, zu (87d6–8). (iii) Gut sind wir kraft des Gutseins (87d8–e1). (iv) Wenn etwas gut ist, dann ist es auch nützlich. Das gilt für jede Handlung ebenso wie für das Gutsein insgesamt (87e1–3 und erneut 88c5). Die Annahme (i), eine gute seelische Verfassung sei selbst etwas Gutes, ist offenbar so zu verstehen, dass eine gute seelische Verfassung in einem umfassenden, eudämonistischen Sinne gut, d. h. glückszuträglich ist. Bekräftigt wird diese Annahme mit dem Hinweis darauf, dass (iii) wir kraft des Gutseins gut sind und (iv) jede gute Sache auch nützlich

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und daher auch das Gutsein „etwas Nützliches“ ist (87e1–3).60 Dass (iii) „wir kraft des Gutseins gut sind“, bedeutet: Das Gutsein ist das Agens der guten Handlungen. Die erste Hypothese ist deshalb so zu verstehen: In einer glückszuträglichen seelischen Verfassung befindet eine Person sich genau dann, wenn ihre Handlungen (für sie) gut und nützlich sind. Begründet (und erläutert) wird diese erste Hypothese mit der spezielleren Annahme (ii), der zufolge jede Sache genau dann gut ist, wenn sie „von Wissen umfasst“ ist. Dass eine Sache „von Wissen umfasst“ ist, bedeutet, dass eine Sache (jedweder Art) unter der Anleitung von Wissen gebraucht wird. Im zweiten Teil des Arguments wird nun die Annahme (ii) mit Hilfe der folgenden beiden Annahmen präzisiert: (v) Eine Handlung ist genau dann gut und nützlich, d. h. glückszuträglich, wenn sie richtig ausgeführt wird (87d4–8, 88a3–5), und (vi) eine Handlung wird genau dann richtig ausgeführt, wenn sie mit Wissen ausgeführt wird (87d6–8, 88c1–4), denn: „Führt nicht überhaupt alles, was die Seele unternimmt und mit einer gewissen Beharrlichkeit betreibt, unter der Anleitung von Wissen zum guten Gelingen (eudaimonia) und bei mangelndem Wissen zum Gegenteil? – So scheint es zu sein“ (88c1–4). Das gilt sowohl für den Gebrauch von Gütern wie Wohlstand, Gesundheit oder Kraft (87e5– 88a5) als auch für die Tugenden, d. h. die mentalen Fähigkeiten einer Person (88a6–c3). Die Hypothese (vi) scheint die zentrale Beweislast des Arguments zu tragen. Das in 87d2–88d3 entwickelte Argument (das ich im folgenden das Wissensargument nennen werde) lässt sich so darstellen: (1) In einer guten, glückszuträglichen seelischen Verfassung befindet eine Person sich genau dann, wenn ihre Handlungen (für sie) gut und nützlich, d h. glückszuträglich sind (87d2–4, 87d8–e3, 88c1– 4). (2) Für jede Handlung gilt, dass sie genau dann gut und nützlich ist, wenn sie richtig ausgeführt wird (87d4–8, 88a3–5). (3) Für jede Handlung gilt ebenfalls, dass sie genau dann richtig ausgeführt wird, wenn sie mit Wissen ausgeführt wird (87d6–8, 88c1–3). (4) Also befindet sich eine Person genau dann in einer glückszuträglichen seelischen Verfassung, wenn sie jede ihrer Handlungen mit Wissen ausführt (88c5). 60

Die Formulierung, das Gutsein sei selbst etwas Gutes, ist deshalb keine Tautologie, so auch Bluck 1961: 88 und Stemmer 1992: 257 f., Anm. 24. Vgl. etwa Sokrates’ Sprachgebrauch in Charmides 174b–d; auch dort ist es das „Wissen vom Guten und Schlechten“, das dafür sorgt, dass etwas im eudämonistischen Sinne nützlich ist.

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Da jede Handlung nur dann gut ist, wenn sie unter der Anleitung von Wissen ausgeführt wird, ist das Gutsein, das Agens der guten Handlungen, „selbst etwas Gutes“ und deshalb ist die Hypothese, das Gutsein sei eine Art von Wissen, Sokrates zufolge eine richtige Hypothese (87d6– 8). Was Sokrates in dem Wissensargument erläutert, ist die Anleitung (oder Lenkung) der (guten oder schlechten) Handlungen. Das Gutsein ist deshalb eine Art von Wissen, weil eine Handlung nur „unter der Leitung von Wissen“ zum Glück des Handelnden beiträgt (87d6–8, 88c1– 3). Die guten und nützlichen Handlungen sind die von Wissen gelenkten Handlungen. Das Wissen, das Sokrates mit einer guten seelischen Verfassung identifiziert, ist demnach die Fähigkeit (und Motivation) einer Person, gute und schlechte Handlungen zu kennen und ihre Handlungen mit diesem Wissen zu lenken.61 Der richtige, im Sinne der Hypothese (iv) (88c1–4) glückszuträgliche Gebrauch einer bestimmten seelischen Fähigkeit besteht darin, dass man kraft seines Wissens gute Handlungen unternimmt und diejenigen Handlungen, von denen man weiß oder jedenfalls wissen könnte, dass sie lediglich auf einer unsicheren, ungeprüften Meinung beruhen, unterlässt. Handlungen beruhen auf Meinungen über wünschenswerte (oder meidenswerte) Sachverhalte und entsprechenden Wünschen. Zuvor hatte Sokrates gesagt, dass niemand eine schlechte Sache erstrebt, also eine schlechte Handlung ausführen möchte und er hatte, gemeinsam mit Menon, die Hypothese erwogen, das Gutsein sei die Fähigkeit, Gutes zu wollen und dieses Wollen auch zu verwirklichen (78b3–c1). Auch diese Hypothese wird mit dem Wissensargument präzisiert. Tatsächlich tapfer und besonnen ist man Sokrates zufolge dann, wenn man eine entsprechende Einstellung „unter der Anleitung von Wissen“ ausbildet. Mit anderen Worten: Die Fähigkeit, „unter der Anleitung von Wissen“ zu handeln, bringt auch reflektierte Wünsche hervor, nämlich diejenigen

61 Sokrates vertritt genau genommen eine zweifache These: Sowohl für die nicht-mentalen Güter wie Wohlstand oder Gesundheit als auch für die mentalen Fähigkeiten einer Person gilt, dass sie nur dann wirklich gut sind, wenn sie mit Wissen gebraucht werden. Es hat zunächst den Anschein, als seien beide Thesen gleichrangig. Genau betrachtet scheint die insgesamt von Wissen bestimmte seelische Verfassung für Sokrates jedoch auch die Voraussetzung für den richtigen Gebrauch aller nicht-mentalen Dinge zu sein. Sokrates macht zunächst darauf aufmerksam, dass sowohl Dinge wie Wohlstand oder Gesundheit als auch die mentalen Fähigkeiten einer Person nur dann Nutzen bringen, wenn sie auf die richtige Weise gebraucht werden, behauptet dann, dass jede mentale Fähigkeit nur unter der Anleitung von Wissen auf eine richtige, glückszuträgliche Weise ausgeübt wird und kommt schließlich zu dem Ergebnis, das Gutsein sei eine Art von Wissen. Dieses Ergebnis ist eine genauere Charakterisierung der glückszuträglichen seelischen Verfassung namens Gutsein, die Sokrates sich zum Ziel gesetzt hatte. Diese seelische Verfassung ist auch die Voraussetzung für den erfolgreichen Gebrauch der nicht-mentalen Güter (88d4–e2).

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Wünsche, mit denen man das elementare Glücksstreben in ganz bestimmten Situationen am besten zu verwirklichen vermag. Die insgesamt glückszuträgliche Lenkung des Seelenlebens ist offenbar eine kontinuierliche Transformation unreflektierter, unvorteilhafter Elemente des mentalen Lebens in reflektierte, vorteilhafte („gute und nützliche“) Elemente. Die seelische Verfassung, die ein gelingendes Leben ermöglicht und die man „unter der Anleitung von Wissen“ entwickelt, ist eine komplexe Einstellung, die sowohl die Fähigkeit als auch die Motivation zweiter Ordnung einschließt, das eigene Wollen und Handeln von dem bestmöglichen Wissen über gute, d. h. glückszuträgliche allgemeine und vorrangige Handlungsziele bestimmen zu lassen.

4. Der Einwand: Niemand erteilt Unterricht im Gutsein Ist eine gute seelische Verfassung nun, wenn sie denn eine Art von Wissen ist, auch lehrbar? Diese Frage, die Menon (vom Anfang bis zum Ende des Dialoges) beschäftigt, ist noch offen. Menon hatte zuvor seine Eingangsfrage nach der Lehrbarkeit des Gutseins wiederholt (86c7–d2). Sokrates kommt auf diese Frage nun zurück, wiederholt seine Hypothese, der zufolge eine gute seelische Verfassung lehrbar ist, wenn sie eine Art von Wissen ist (89b9–c4) und zieht diese Hypothese jetzt wieder in Zweifel, und zwar auf der Grundlage einer weiteren Hypothese (89d6–e3): Wenn eine bestimmte Sache lehrbar ist und durch Unterricht vermittelt werden kann, dann gibt es auch Lehrer, die sie unterrichten (und Schüler, die andere Menschen als Lehrer akzeptieren). Ob auch eine gute seelische Verfassung unterrichtet werden kann, ist für Sokrates und Menon aber sehr zweifelhaft. Die Gesprächspartner werden – wie im Laches – auf der Suche nach Lehrern für das Gutsein nicht fündig (89e–96c), und so scheint man eine gute seelische Verfassung wohl doch nicht durch Unterricht vermitteln oder erwerben zu können (96c1–10). Der von Sokrates und Menon erwogene Einwand gegen die zuvor etablierte These, eine gute seelische Verfassung sei eine Art von Wissen, lässt sich in der Form des folgenden Arguments darstellen (89d–96e): (1) In einer guten seelischen Verfassung befindet man sich genau dann, wenn man seine Handlungen unter der Leitung von Wissen ausführt (88c5). (2) Das in (1) genannte glücksentscheidende Wissen kann durch Unterricht erworben werden (und es ist insofern lehrbar). (3) Wenn das glücksentscheidende Wissen lehrbar ist, dann lässt sich

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dieses Wissen (und damit auch das entsprechende Gutsein) von Lehrern an Schüler weitergeben (89d6–e3). (4) Das glücksentscheidende Wissen lässt sich aber nicht von Lehrern an Schüler weitergeben. (5) Also ist es nicht der Fall, dass man sich genau dann in einer guten seelischen Verfassung befindet, wenn man seine Handlungen unter der Leitung von Wissen ausführt. Das Argument wäre überzeugend, wenn die Rede von der Lehrbarkeit des Wissens in den Annahmen (2) und (3) dieselbe Bedeutung hätte, wenn es also zuträfe, dass sich eine gute seelische Verfassung in der Weise durch Unterricht erwerben und vermitteln lässt (und lehrbar ist), dass ein Lehrer das eigene Gutsein an andere weitergibt. Das ist jedoch, wie wir gleich noch sehen werden, nicht der Fall. Angesichts der Beobachtung, dass es offenbar gar keine Lehrer des Gutseins gibt, stellt sich für Menon die Frage, wie es den anerkannten Menschen, denen man das Gutsein zuspricht, denn gelungen ist, gut zu werden oder ob es womöglich gar keine wirklich guten Menschen gibt (96d). Um auf diese Frage zu antworten, kritisiert Sokrates jetzt die dritte Prämisse des Wissensarguments, der zufolge jede Handlung nur dann richtig ausgeführt wird, wenn sie mit Wissen ausgeführt wird (87d6–8, 88c1–3). Diese Annahme sei wohl zu korrigieren, denn nicht nur Wissen, sondern auch wahre Meinungen seien eine geeignete Grundlage für das erfolgreiche Handeln (96e–97a). Ein Beispiel sei der Weg nach Larisa (97a6–c1), den man auch dann finden (und anderen beschreiben) kann, wenn man ihn nicht selbst gegangen ist und in diesem Sinne nicht über Wissen verfügt. An die Stelle der ursprünglichen Annahme setzt Sokrates nun eine schwächere Annahme: Eine Handlung wird richtig ausgeführt, wenn die handelnde Person über Wissen oder über eine wahre Meinung verfügt (97b5–7). „Wahre Meinung ist also für das richtige Handeln kein schlechterer Führer als Wissen“ (97b9–10).

5. Die ‚Befestigung‘ von Meinungen und der Wert des Wissens Mit der Annahme, der zufolge man nicht lediglich mit Wissen, sondern auch auf der Grundlage wahrer Meinungen gute Handlungen auszuführen vermag, trägt Sokrates zwar der Beobachtung Rechnung, dass es offenbar keine Lehrer des Gutseins gibt, die ihr (einmal unterstelltes) Wissen an Schüler weiterzugeben vermögen. Damit scheint Sokrates aber die zuvor etablierte These, der zufolge man sich nur dann in einer guten seelischen Verfassung befindet, wenn man über ein handlungslei-

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tendes Wissen über gute Handlungen verfügt, aufgeben zu müssen. Ob er diese These wirklich aufzugeben hat, hängt von der Beantwortung der folgenden beiden Fragen ab: Wie kommen die guten, erfolgversprechenden wahren Meinungen, die Sokrates im Blick hat, überhaupt zustande? Und wie ist es genau zu verstehen, dass sich das Gutsein offenbar nicht durch Lehrer vermitteln lässt? Menon wendet gegen Sokrates’ Überlegung, eine wahre Meinung sei nicht weniger vorteilhaft als das Wissen über einen bestimmten Sachverhalt, zunächst ein, das eine unterscheide sich vom anderen doch immerhin darin, dass derjenige, der über Wissen verfügt, immer die Wahrheit trifft (also zutreffend urteilt), während derjenige, der nur über wahre Meinungen verfügt, nur in einigen Fällen die Wahrheit trifft. Sokrates entgegnet, dass derjenige, der immer eine richtige Meinung hat, doch wohl immer die Wahrheit trifft (97b9–d3). Menon stimmt zu und stellt Sokrates daraufhin zwei Fragen: Weshalb hat Wissen nach allgemeiner Auffassung einen höheren Wert als wahre Meinungen, und – noch einmal – worin genau unterscheidet sich das eine vom anderen (97c4–d3)? An dieser Stelle erläutert Sokrates noch einmal den Übergang einer wahren Meinung in Wissen: „Sokrates: Weißt du es selbst, weshalb du dich wunderst (sc. weshalb Wissen wertvoller ist als wahre Meinungen), oder soll ich es dir sagen? – Sag es mir. – Du hast die Statuen des Dädalus nicht bedacht. Vielleicht gibt es bei euch keine. … Auch die (Statuen) entwischen und laufen davon, wenn sie nicht angebunden werden, bindet man sie aber an, bleiben sie stehen. – Was soll das heißen? – Eines der Werke (des Dädalus) zu besitzen, das unbefestigt ist, hat fast keinen Wert; es ist so wie mit einem Ausreißer: er bleibt nicht an der Stelle. Befestigt ist es allerdings von großem Wert, denn die Werke sind wirklich sehr schön. Warum sage ich das? Wegen der wahren Meinungen: (i) Auch wahre Meinungen sind wertvoll (kalón) und sie bewirken, solange sie bleiben, nur Gutes. (ii) Lange Zeit aber wollen sie nicht bleiben, sondern sie entfliehen der Seele des Menschen und haben so kaum einen Wert, (iii) bis man sie anbindet, indem man über die Gründe nachdenkt, und das ist die Wiedererinnerung, worin wir vorher übereingekommen sind. (iv) Wenn (die wahren) Meinungen dann befestigt sind, werden aus ihnen – erstens – Erkenntnisse und – zweitens – bleiben sie. (v) Deshalb ist Wissen wertvoller als richtige Meinungen, und das Festbinden ist es, was Wissen von wahrer Meinung unterscheidet. – So scheint es, bei Gott, in der Tat irgendwie wohl zu sein. – Mir scheint es auch so zu sein, und ich sage das, obwohl ich es nicht sicher weiß, sondern vermute. Dass aber richtige Meinung und Wissen zwei

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verschiedene Dinge sind, das denke ich nicht nur zu vermuten. Wenn ich behaupten kann, etwas zu wissen – und wenig ist es –, so würde ich auch dies zu den Dingen zählen, die ich weiß. – Und damit hast du wohl recht.“ (97d4–98b6) Sokrates entwickelt hier ein einfaches, aber für seine Auffassung eines handlungsleitenden Wissens bedeutsames Argument: (1) Wenn es ein bestimmtes Wissen, genauer gesagt, eine bestimmte Fähigkeit gibt, mit dessen / deren Hilfe man wahre Meinungen befestigen und in bleibende wahre Meinungen verwandeln kann, dann ist dieses Wissen / diese Fähigkeit wertvoller als jede wahre Meinung. (2) Es gibt in der Tat die Fähigkeit, wahre Meinungen zu befestigen und in bleibende wahre Meinungen zu verwandeln. (3) Also ist diese Fähigkeit / dieses Wissen, nämlich die (modern gesprochen) Fähigkeit der epistemischen Rechtfertigung, wertvoller als jede wahre Meinung. Wertvoll sind Sokrates zufolge sowohl die bleibenden wahren Meinungen als auch das Wissen, das die wahren Meinungen so befestigt, dass sie bleiben. Dass beides wertvoll, aber beides auch kategorial zu unterscheiden ist, geht daraus hervor, dass Sokrates sagt, dass es nicht das ‚Bleiben‘ der befestigten wahren Meinungen, sondern eben das „Festbinden“, d. h. die Fähigkeit zu einem wahrheitssichernden Umgang mit Meinungen ist, was Wissen (im Sinne eben dieser Fähigkeit) von wahren Meinungen unterscheidet (98a6–8). Erfolgreich handeln kann man sowohl mit dem (propositionalen) Wissen über einen bestimmten Sachverhalt als auch mit einer wahren Meinung über denselben Sachverhalt. (i) Auch wahre Meinungen sind wertvoll, „solange sie bleiben“ (97e6– 98a1). Aber dasjenige Wissen, das in der Fähigkeit besteht, wahre Meinungen zu ‚befestigen‘ und zum Bleiben zu bewegen, ist aus eben diesem Grunde noch wertvoller als jede wahre Meinung. Wahre Meinungen, so meint Sokrates, entwischen oft der Seele wie die sprichwörtlichen Statuen des Dädalus. Wenn man sie aber „anbindet, indem man über ihre Gründe nachdenkt“ (98a3–4), werden sie zu Erkenntnissen. Was heißt es, dass die wahren Meinungen, die als Wissen gelten können, „in der Seele bleiben“? Wahre Meinungen dienen einem Ziel: dem erfolgreichen Handeln. Darin besteht ihr Wert. Dafür hatte Sokrates ein Beispiel genannt. Den Weg nach Larisa in dem Sinne zu kennen, dass man ihn selbst bereits gegangen ist, schien keine notwendige Bedingung dafür zu sein, den richtigen Weg zu finden; auch auf wahre Meinungen kann man sich dabei verlassen, wenn sie bleiben.62 62

Allerdings ist ein weiterer Aspekt dieses Beispiels zu beachten: Wie ist es, wenn man sich verläuft, den richtigen Weg verloren hat? Wie hilft man sich aus dieser Situation heraus, findet

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Wenn wahre Meinungen ‚in der Seele bleiben‘, können wir mit ihrer Hilfe unsere Handlungsziele erreichen – solange sie eben bleiben. Dass wahre Meinungen bleiben, scheint daher zu bedeuten, dass sie den Personen, die sie haben, ausdrücklich als wahre Meinungen zur Verfügung stehen. Menschen haben viele wahre Meinungen, ohne sich über deren Gehalt und Wahrheit ausdrücklich im klaren zu sein. Wenn man hingegen ausdrücklich weiß, dass eine bestimmte Meinung wahr ist, so steht einem diese Meinung in der zweifachen Weise zur Verfügung, dass man diese Meinung, erstens, mit anderen Meinungen so verknüpfen kann, dass man in der Lage ist, weitere Sachverhalte zu erkennen, und, zweitens, auf der Grundlage wahrer, kognitiv disponibler Meinungen auch erfolgreich handeln kann. (ii) „Lange Zeit aber wollen sie nicht bleiben, sondern sie entfliehen der Seele des Menschen“ (98a1–2). Dass uns Meinungen verloren gehen, heißt, dass uns die Kenntnis der Sachverhalte, die sie repräsentieren, verloren geht. Wahre Meinungen, die wir wieder verlieren, „haben kaum einen Wert“ (a3). Wenn Sokrates davon spricht, dass uns Meinungen verloren gehen und in diesem Zustand keinen Wert haben, so scheint er zu meinen, dass die Meinungen, die nicht bleiben, ihren Wert deshalb einbüßen, weil uns ihre Wahrheit verloren geht, so dass wir uns nicht sicher sind, dass eine bestimmte Meinung wahr ist. Was bleiben oder entfliehen kann, ist, genau betrachtet, die Gewissheit der Wahrheit. Wahre Meinungen zeigen uns, wie etwas beschaffen ist, und auf dieser Grundlage können wir erfolgreich handeln. Geht uns die Kenntnis bestimmter Sachverhalte verloren, so verlieren wir auch eine mögliche Orientierung für das Handeln. Der bleibende Charakter der Meinungen ist offenbar die Gewissheit, d. h. das Wissen zweiter Ordnung davon, dass eine Meinung wahr ist. Das macht eine wahre Meinung zu einer kognitiv disponiblen und deshalb wertvollen Meinung. Die Gewissheit der Wahrheit einer bestimmten Meinung gewinnt man dadurch, dass man die Gründe kennt, die für eine bestimmte Meinung sprechen und eine wahre Meinung deshalb zu rechtfertigen vermag. Der bleibende Wert wahrer Meinungen besteht, wie gesagt, darin, dass wir ausdrücklich wissen, dass sie wahr sind. (iii) Diesen Wert bekommen die Meinungen aber erst dann, wenn man sie festhält, „in-

auf den richtigen Weg zurück? Wenn man den Weg aus eigener Erfahrung kennt, verfügt man über gute Möglichkeiten, einen Irrweg zu korrigieren. Hat man sich etwa auf eine Wegbeschreibung verlassen, sind die Aussichten weitaus geringer. Das Wissen, das Sokrates favorisiert, ist ja ein Wissen, das aus der Rechenschaftgabe erwächst, das man also aus eigener Kraft erworben hat. Wahre Meinungen, die man von Anderen übernommen hat, sind gegenüber dem selbst erworbenen Wissen mit einer größeren Unsicherheit behaftet.

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dem man über die Gründe nachdenkt, und das ist die Wiedererinnerung“ (98a3–5). Hier ruft Sokrates den zuvor demonstrierten Vorgang eines Lernens in Erinnerung, in dem sich sein Gesprächspartner im Ausgang von der Einsicht in scheinbares und vermeintliches Wissen eine tatsächlich wahre Meinung über einen Sachverhalt gebildet hat, die durch wiederholte Überprüfungen und Übungen derselben Art zu Wissen führt. Was Sokrates Wiedererinnerung genannt hatte, ist der Übergang von wahren Meinungen zu Wissen kraft der Begründung bzw. Rechtfertigung von Meinungen. (iv) „Wenn (die wahren Meinungen) befestigt sind, werden aus ihnen – erstens – Erkenntnisse und – zweitens – bleiben sie“ (98a5–6). Die Befestigung wahrer Meinungen, die in ein Wissen über bestimmte Sachverhalte überführt werden, leistet wiederum ein Wissen anderer Art, nämlich die Fähigkeit zur ‚Befestigung‘, d. h. zur Begründung einer Meinung. (v) „Deshalb ist Wissen wertvoller als richtige Meinungen, und das Festbinden ist es, was Wissen von wahrer Meinung unterscheidet“ (98a6–8).63 Sokrates weist in 97d4–98d8 genau betrachtet auf zwei Arten von Wissen hin. Bei den „befestigten“ Meinungen handelt es sich um propositionales Wissen (98a5–6). Das Wissen, das sich von der Gesamtheit wahrer Meinungen wiederum kategorial unterscheidet (98b1–6), ist die Fähigkeit, eine wahre Meinung zu befestigen, d. h. die Fähigkeit zu einem irrtumsvermeidenden und wahrheitssichernden Umgang mit Meinungen.64 Diese Fähigkeit ist offenbar intrinsisch mit der Motivation zu ihrer erfolgreichen Ausübung verknüpft. Zu unseren allgemeinen vorrangigen Zielen gehört der Wunsch nach Wissen. Dieses Ziel erreichen wir zuverlässig nur dann, wenn wir uns um unseren Meinungsbildungsprozess kümmern. Das scheint der Hinweis auf die Statuen des

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„The statement that there is a difference between knowledge and (true) opinion is the strongest Socratic statement within the whole dialogue“ (Blößner 2011: 57 f.). 64 So erhalten wir auch eine Antwort auf die von Reshotko 2006: 159 gestellte Frage, woran das Wissen, das die wahren Meinungen festzuhalten vermag, seinerseits befestigt sei: „True belief can disappear. … Knowledge, on the other hand, is tethered by a ‘causal calculation’ … But to what is knowledge tethered on the other hand? It had better be tethered to something which is itself stable. Thus, it will not be secure if the fastening is to further true beliefs or propositions. It seems that the idea in the passage is something like this: once you have all of the true beliefs in place, these individual pieces get into a unified whole – a qualitative transition has taken place. Socrates is thinking of knowledge as an interconnected whole. In contrast, mere true beliefs will forever remain scattered bits and pieces.“ Wahre Meinungen bedürfen der ‚Befestigung‘, damit sie bleiben, der urteilenden Person also ausdrücklich als wahre Meinungen zur Verfügung stehen. Das (dispositionale) Wissen, das die wahren Meinungen befestigt, braucht seinerseits nicht an irgendeinem Punkt ‚befestigt‘ zu sein. Die Stabilität der Fähigkeit der epistemischen Rechtfertigung besteht in ihrer erfolgreichen Ausübung.

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Dädalus zu bedeuten. Der Vergleich beruht vordergründig darauf, dass diese Statuen so aussahen, dass ein Betrachter leicht glauben mochte, dass sie sich im nächsten Augenblick in Bewegung setzen (vgl. Euthyphron 11b–d, Politeia 529d). „Die Werke sind wirklich schön“ (97e4–5); die Statuen des Dädalus sind wertvoll, doch nur für den, der ihren Wert zu schätzen weiß. Wer sie aber einmal gesehen und ihren Wert erkannt hat, der möchte eine Statue besitzen und behalten. Ebenso möchten wir uns Meinungen bilden, von denen wir wissen, dass sie wahr sind. Der Hinweis auf die Verwandlung einer wahren Meinung in Wissen entkräftet der Sache nach auch den zuvor erwogenen Einwand (89d– 96e) gegen die Hypothese, das Gutsein sei eine Art von Wissen. Wenn man über eine gefestigte, bleibende wahre Meinung verfügt, so erfüllt eine solche Meinung die Bedingung eines Wissens (im Sinne propositionalen Wissens) über vorteilhafte Sachverhalte, das ein erfolgreiches Handeln ermöglicht. Im Besitz dieses Wissens kommt es auch nicht zu den zuvor genannten Fällen, in denen wir nicht wissen, ob das, was wir anstreben, wirklich gut ist (77b–c). Das gute Handeln aufgrund wahrer Meinungen schien zunächst eine Alternative zu dem guten Handeln aufgrund von Wissen zu sein. Nun sind wahre Meinungen aber nur gut, „solange sie bleiben“ (97e6–98a1). Die wertvollen, bleibenden wahren Meinungen sind das Ergebnis der Fähigkeit eines wahrheitssichernden Umgangs mit Meinungen, den Sokrates als die Befestigung einer wahren Meinung erläutert hat (98a6–8). Diese Fähigkeit ist ein wesentliches Element des umfassenden (eudämonistischen) Wissens und der guten seelischen Verfassung, die Sokrates hypothetisch einander gleichgesetzt hatte. Die wertvollen wahren Meinungen sind daher genau betrachtet keine Alternative zu dem praktischen Wissen, das Sokrates zufolge eine Bedingung für jedes erfolgreiche Handeln ist, sondern ihrerseits das Ergebnis eben dieses Wissens. Deshalb wird die entsprechende Hypothese durch den Hinweis auf die wertvollen wahren Meinungen nicht widerlegt.

6. Noch einmal: Wie erreichen wir eine gute seelische Verfassung? Sokrates’ Erläuterung des wahrheitssichernden Umgangs mit Meinungen gibt auch eine Antwort auf die Frage, wie man sich in eine insgesamt gute seelische Verfassung bringt. Menon möchte wissen, ob man sich durch irgendeine Art von Unterricht in eine gute seelische Verfas-

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sung bringen kann. Sokrates möchte wissen, was eine gute seelische Verfassung überhaupt ist. Um beide Fragen zu beantworten, hatte Sokrates zwei Hypothesen miteinander verknüpft: Das Gutsein „als etwas Seelisches“, d. h. eine bestimmte seelische Verfassung (die man üblicherweise für gut hält) ist ‚selbst etwas Gutes und Nützliches, und nichts anderes als etwas Gutes‘, wenn es eine Art von Wissen ist (87c8–d8). Das heißt: In einer guten seelischen Verfassung befindet sich eine Person genau dann, wenn sie in der Lage ist, ihre mentalen Fähigkeiten (und ebenso alle anderen Dinge, mit denen sie in irgendeiner Weise umgeht) unter der Anleitung von Wissen auf eine gute, glückszuträgliche Weise zu gebrauchen (88c6– d3). Wenn eine gute seelische Verfassung durch Unterricht erworben werden kann, dann ist sie eine Art von Wissen (87c5–7), weil nur Wissen durch Unterricht erworben werden kann (87c1–3). Die Geometrielektion hat gezeigt, wie man die Fähigkeit, seine Meinungen zu prüfen, so einsetzt, dass man ein Wissen zweiter Ordnung über den epistemischen Status der eigenen Meinungen und so auch ein (jeweils bestmögliches) Wissen über bestimmte Sachverhalte erwirbt, das einem vorher nicht in der später erworbenen expliziten Form zur Verfügung gestanden hat. Diese Fähigkeit ruft Sokrates später in Erinnerung (98a6–8). Wertvoll sind die wahren und bleibenden Meinungen, die man ‚festbindet‘, „indem man über die Gründe nachdenkt, und das ist die Wiedererinnerung“ (98a3–5). Die wahren bleibenden Meinungen sind die Meinungen, die wir haben möchten . Wenn sich die in dem Wissensargument 87d2–88d3 erläuterte, glücksrelevante Anleitung durch Wissen nun in der Tat auf alle seelischen Fähigkeiten bezieht, so kann ein Mensch auch auf eine gleichsam wahrheitssichernde, wünschenswerte Weise mit seinen Handlungsmotiven umgehen, indem er sich darum bemüht, sein Wollen (78b3–c1) von seinem (jeweils bestmöglichen) Wissen über gute Handlungen bestimmen zu lassen. Wenn wir auch unsere Wünsche im Lichte allgemeiner, vorrangiger Ziele sorgfältig gegeneinander abwägen und prüfen, sind wir in der Lage, uns die Handlungsabsichten zu bilden, die wir in einem insgesamt glücksrelevanten Sinne haben möchten. In dieser Hinsicht kann man eine gute seelische Verfassung durchaus durch eine Art von Unterricht erwerben – indem man sich um die bestmögliche, glückszuträgliche Ausbildung und Ausübung seiner Fähigkeiten kümmert und sich insofern selbst etwas beibringt. Diese Selbstsorge (und Selbstbestimmung) kann freilich nicht von einem Lehrer an einen Schüler weitergegeben werden. Am Ende des Dialoges wiederholen Sokrates und Menon zwar den Einwand, das Gutsein sei aufgrund des Lehrermangels wohl doch keine Art von Wissen (98d-e). Tatsächlich darf dieser – am Ende des Dialoges

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offenbar ohnehin nicht ganz Ernst gemeinte – Einwand aber vernachlässigt werden. Rufen wir uns noch einmal die Pointe des Wissensarguments in Erinnerung: „Gut sind wir kraft des Gutseins“ (87d8–e1), und wenn jede gute Handlung „unter der Anleitung von Wissen“ ausgeführt wird, so sei die Hypothese, eine gute seelische Verfassung sei eine Art von Wissen, wohl richtig (87d6–8). Diese Hypothese wird weder durch den Hinweis darauf, dass man in einigen Fällen auch aufgrund einer wahren Meinung erfolgreich zu handeln vermag, noch durch die Beobachtung eines permanenten Lehrermangels in Frage gestellt.

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Ergebnisse der Exkurse zu Protagoras und Menon

Ich fasse die Ergebnisse des Vergleichs der thematisch verwandten Überlegungen in Laches, Protagoras und Menon kurz zusammen. Im Laches fragt Sokrates nach den wesentlichen Eigenschaften der Fähigkeit namens Tapferkeit, mit deren Hilfe eine Person erfolgreich mit Gefahren ganz unterschiedlicher Art umzugehen vermag (Laches 191c8–e11). Die Erörterung der von Laches und Nikias erwogenen Tapferkeitsdefinitionen führt schließlich zu einer einsichtigen Charakterisierung der idealen Form einer insgesamt guten seelischen Verfassung einer Person, die alle für ihr Handeln relevanten allgemeinen gefährlichen oder unbedenklichen und auch die anderen allgemeinen schlechten oder guten Eigenschaften bestimmter Sachverhalte (Ereignisse, Handlungen) kennt und ihr Wissen mit Beharrlichkeit, also mit der motivationalen Kraft der Tapferkeit und auch mit den anderen Tugenden verknüpft, die zusammen ein erfolgreiches Handeln ermöglichen (Laches 199d4–e1). Im Menon hat Sokrates gezeigt (oder jedenfalls ein gutes Argument dafür vorgebracht), dass ein Mensch sich genau dann in einer guten, glückszuträglichen seelischen Verfassung befindet, wenn er über ein Wissen verfügt, kraft dessen er in der Tat alle seine mentalen Fähigkeiten („alles, was die Seele unternimmt und mit einer gewissen Beharrlichkeit betreibt“) auf eine gelingende, glückszuträgliche Weise einsetzt und so auch die nach konventioneller Auffassung erstrebenswerten Güter richtig zu gebrauchen weiß. Eine dieser Fähigkeiten ist diejenige der ‚Befestigung‘ wahrer Meinungen, die mit einer entsprechenden Motivation, mit dem ausdrücklichen Wunsch nach Wissen bzw. wahren, bleibenden, wertvollen Meinungen verknüpft ist. Eine andere ist das von Wissen gelenkte Wollen. Diese Fähigkeit erläutert Sokrates im Protagoras als eine Kunst des genauen Abwägens; sie könne „Illusionen wirkungslos machen, die Wahrheit offenbaren und bewirken, daß die Seele beim Wahren bleibt . . . und so dem Leben Sicherheit geben“ (Protagoras 356d7–e2). Wenn es zutrifft, das man in einer insgesamt guten seelischen Verfassung über ein (theoretisches und praktisches) Wissen verfügt, das den richtigen Gebrauch jeder mentalen Fähigkeit lenkt (Menon 87d4–8, 88a3–5), so kann man in derselben reflektierten Weise

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Ergebnisse der Exkurse zu Protagoras und Menon

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auch mit dem eigenen Wollen, d. h. dem grundsätzlichen Wunsch, ‚sich etwas Gutes zu verschaffen‘ (Menon 78b3–c1, Laches 199e1) umgehen. Auf eine gleichsam wahrheitssichernde Art und Weise mit Wünschen / Handlungsabsichten umzugehen und sich, soweit möglich, vor dem Handeln wider eigenes besseres Wissen zu bewahren, heißt den Gehalt und die Stärke von Wünschen genau zu kennen und einen bestimmten Wunsch, eine bestimmte Absicht, aufgrund des Nachdenkens über erstrebenswerte oder meidenswerte Dinge zu bekräftigen. Wer seine mentalen Fähigkeiten auf eine gute, gelingende Art und Weise gebraucht, bildet sich reflektierte Meinungen und Wünsche, weiß also (möglichst genau), was er (mit guten Gründen) meint und will und handelt mit diesem (jeweils bestmöglichen) Wissen. Das korrekte Urteilen und auch das von Wissen gelenkte Wollen ist nur insofern ‚lehrbar‘, als eine Person sich selbst darum kümmert (und in diesem Sinne lebenslang lernt), diese Fähigkeiten auf eine möglichst erfolgreiche Weise auszuüben. Das ist, wie es scheint, ein wichtiges Element des von Sokrates in der Apologie verteidigten und empfohlenen ‚prüfenden Lebens‘.

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Textausgaben und Übersetzungen

Textausgabe für die vorliegende Übersetzung des Laches: Platonis opera, tom. III, recognovit brevique adnotatione critica instruxit I. Burnet, Oxford 1903. Weitere Platonzitate und Verweise auf das Corpus Platonicum beziehen sich auf die Ausgaben: Platonis opera, tom. I, recognoverunt brevique adnotatione critica instruxerunt E. A. Duke, W. F. Hicken, W. S. M. Nicoll, D. B. Robinson, J. C. G. Strachan, Oxford 1995. Platonis opera, tom. II, recognoverunt brevique adnotatione critica instruxerunt I. Burnet, Oxford 1901. Platonis opera, tom. IV, recognovit brevique adnotatione critica instruxit I. Burnet, Oxford 1902. Weitere Textausgaben und Übersetzungen des Laches ins Deutsche: Apelt, O. 1923. Platon. Sämtliche Dialoge. Neu übersetzt und erläutert sowie mit griechisch-deutschem und deutsch-griechischem Wörterverzeichnis versehen von Otto Apelt, Leipzig, zahlreiche Nachdrucke. Georgii, L. 1853. Platon. Sämtliche Werke, Erster Band, Stuttgart. Kerschensteiner, J. 1975. Platon. Laches. Griechisch / Deutsch, Stuttgart. Müller, H. 1850. Platons Werke mit Einleitungen von K. Steinhart, Leipzig. Rufener, R. 1974. Platon. Sämtliche Werke, Band 1, Zürich / München. Schleiermacher, F. 1974. Platon. Sämtliche Werke, Band 1, neu herausgegeben von Ursula Wolf, Reinbek bei Hamburg. Schrastetter, R. 1970. Platon. Laches. Griechisch und Deutsch, Hamburg. Übersetzungen ins Englische: Emlyn-Jones, C. J. 1996. Plato’s Laches, ed. with introd. and comm., Bristol. Sprague, R. K. 1997. Laches, in: Plato. Complete Works, ed. with introd. and notes, by John M. Cooper, Indianapolis/Cambridge. Übersetzung ins Französische: Vicaire, P. 1963. Platon. Laches et Lysis, éd., intro. et comm., Paris. Übersetzung ins Spanische: Schmidt Osmanczik, U. 1983. Platón. Laques, intro., version y notas, México.

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Stellenregister (Kursive Zahlen beziehen sich auf Anmerkungen)

Apologie des Sokrates – 18a–28b 20d8 20d–e 21a–23a 21b–22e 21c8–d1 21d4 22d7 23a–b 29b6 29b–30b 29d7–30a7 29d–e 30a7–b2 30d 31b3–5 33a 36c–d 38a 38a 41b–c Charmides – 159b7–161b2 163c–d 163d3–7 165c7–167a8 169e6–170d10 172c6–173a1 173a7–174a8 174a10–d2 174c–d 174d3–7 174e3–8 174e3–175a4 175a6–8 175b6–c8

44, 49, 55 75 56 56 56, 57, 162 78 56 152 152 56 48 56 88 60 163 105 44 95 56 93 54, 95 54 49, 50 109 47 119 160 161 160 160 161 54 161 161 161 161 161, 162

Euthydem 278e–282a 279a–281d 279a–282a Euthyphron 4e4–5a2 5c8–d6 11b–d 11e7–12d4 12c3–d1 12d1–3 15d4–e2 Gorgias – 451e 458a3–b1 460a–c 467e– 468c 499e 507b8–c7 Laches 178a1–4 178a4–b5 178a5–b3 178b5–179b6 179c1–d5 179c1–d7 179e1–6 180a1–5 180a5–181c7 180a6–8 180b1–7 180b7–c4 180b7–d3 180b–d 180c5–6 180c8–d3 180d4–e5 180d–e

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Stellenregister 180e4–181a6 181a7–b4 181a–b 181b1–4 181b5–c1 181b5–c9 181c8–9 181d1–7 181d8–182d4 182a–184c 182d6–8 182d8–183b7 183c1–184b3 184a3–9 184b3–7 184c1–4 184c5–8 184c8–d4 184d5–6 184d5–e9 184d8–e3 184d–185b 184e4 184e5–6 184e7 184e8–9 184e8–185a3 184e11–a3 185b1–4 185b6–7 185b9–c1 185b10–c1 185c5–d3 185d5–7 185e7–8 185e9–12 186a3–b8 186b8–c1 186c2–4 186c5 186c5–d3 186d5–187b7 186d8–e3 186e3–187a8 187c3–d3 187d6–188a3 187d–188c 187e6–188a3 187e6–188c2 187e–188a 188c3–e4 188e4 188e5–189a4

73 73 66 104 104 73 76 76 76 155 76 77 77 80 77 77 77 78 79 42, 48 79 50 79 79 79 79, 80, 114 72 80 80 80 81, 93 89 82 82 82 83 83, 165 83 83 83 83 86 83 84 93 43 67 75 87 54, 56 90 90 91

189c1–2 189d5–e3 189e3–7 190a1–b1 190a6–b1 190b3–c3 190b7–c3 190b7–c6 190b7–d8 190b7–e3 190c4–7 190c6 190c8–9 190c8–d1 190c8–d6 190c8–d8 190c8–e3 190c9–d8 190d3–6 190d7–8 190d8–e2 190e3 190e4–6 190e7–9 191a1–c6 191c8–e11

191d1–e11 191e4–8 192a1–b3 192b5–8 192b6 192b9–c1 192b9–d9 192b–d 192b–193d 192c3–4 192c4–7 192c8–9 192c8–10 192c8–d3 192c–d 192d1–3 192d10–11 192e1–2 192e1–193d10 192e1–193c12 193c9–11 193d1–10 193d11–e2 193e2–4 193e8–194a5

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223 93 93 93 94 94 94 42, 64 136 137 46 95, 136 95 136 95 96 41 136 129, 136 96 96 96 97 97 97 97 41, 98, 136, 137, 140, 146, 214 46 166 98 103 103 103 104 102 103 104 104 102 104 104 58 104 104 105 105 105 108 110 111 111 91, 111, 112

224 194a1–5 194a2–5 194b1–4 194c2–6 194c7–9 194c7–d2 194c7–d3 194d1–2 194d1–3 194d3 194d4–5 194d8–9 194d10–e10 194e3–4 194e11–195a1 194e–195a 195a2–6 195a8–b1 195b3–5 195b4 195b7–c2 195b–196a 195c7–d9 195d10 195e1–7 195e8–196a3 196a4–b7 196c10–d3 196c10–d8 196c10–d11 197a1–5 197d1–5 197d6–8 197e1–4 197e5 197e10–198a2 198a1–b1

198a4–b1 199a10–b2 199a10–199d3 198b2–c8 198b8–9 198c6–8 198c9–199a9

Stellenregister 200 146 48, 75, 112 113 113, 135, 147 50 75 53, 113, 114, 116, 153 159, 190 113 53, 114, 115 114, 115 113 154 114, 115, 121, 128, 130 147 116 114 116 117 117 134 110, 117, 151, 154 117 117 117 118 121, 130 118, 151 89 118 120 120 120 120 121 114, 120, 121, 135, 136, 137, 144, 150 53, 116, 122, 123, 131 121 126 104, 123, 130, 148 124 130 101, 124, 126, 128

198d1–199b6–8 198d5–199a4 198e–199a 199b3–5 199b6–8 199b9–d3 199c3–4 199d4–e1

199d4–e2 199d5 199d5–6 199d7–e1 199d9–e1 199e1 199e3–4 199e3–5 199e3–9 199e6–9 199e6–10 199e6–12 199e11 199e11–12 199e12 199e12–201c5 199e13–200c1 200c2–d4 200c7–d3 200d7–8 200e1–201a1 201a1–b5 201c4–5 Lysis – 218a2–b6 218a–b Menon 70a1–4 70c–71b 71e1–72a5 71e2–5

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131 125 134 126, 130 126, 131 131 127 42, 43, 54, 60, 61, 98, 111, 116, 130, 132, 135, 136, 137, 138, 139, 141, 143, 144, 146, 150, 153, 154, 159, 166, 167, 184, 214 128, 131, 158, 161 128, 154 128, 154 129, 154 128, 155 129, 144, 154, 167, 215 131 129, 131, 133 123 131 129, 131 131, 132 53, 130, 133 89 44, 47, 163 163 163 163 163 163 163 163 53, 55 56 56 191 191 191 191

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Stellenregister 71e5–7 72a6–d1 72b–d 72c6–d1 73c9–d1 72d3–73a3 74a7–b1 77b2–d4 77b–c 77d3 77d4–7 77d4–e2 77d4–e4 77d7–e1 77d7–e4 77e1–2 77e2–4 77e5–78b2 78a6–b2 78b3–c1 78c–79e 80d5–8 81a5–e2 82b9–85b7 82e1–3 82e4–13 82e14–84a2 84a3–c9 84b10–c1 85b8–c10 85c11–d1 85c–d 85d6–8 85e1–3 86a–87b 86b7–c1 86c7–d2 86e1–4 87b5–6 87b5–c4 87c1–3 87c5–7 87c8–9 87c8–d8 87c11–12 87d2–4 87d2–88d3 87d4–6 87d4–8 87d6–8 87d8–e1

191 191, 192 159 191 191 191 191 192 211 194 193, 194 194 192, 193 193 195 193 193, 194 195 195 195, 204, 212, 215 196 196 197 197 197 197 198 198 198 198 198 199 199 198 199 200 201, 205 201 201 201 212 212 201 212 201 202, 203 202, 203, 212 202 203, 214 202, 203, 204, 206, 213 202, 213

87d8–e3 87e1–3 87e5–88a5 88a3–5 88a6–c3 88c1–3 88c1–4 88c5 89b9–c4 89d6–e3 96c1–10 96d5–98b6 96d 96e–97a 97a6–c1 97b5–7 97b9–10 97b9–d3 97d4–98b6 97d4–98d8 97e4–5 97e6–98a1 98a1–2 98a3 98a3–4 98a3–5 98a5–6 98a6–8 98b1–6 Nomoi 631c 633b 659a–b 661a Phaidon 67b7–68b7 89d1–90e7 Politeia 434c7–435c2 474c–475b 505d–e 529d 532a 534b–c 534b–d 537c Politikos 155 Protagoras 313d–314b 318a 318a–319a

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203 202, 203 203 203, 214 203 203, 204, 206 64, 203, 204 202, 203, 205 205 205, 206 205 198 206 206 206 206 206 207 208 210 211 200, 208, 211 209 209 208 210, 212 210 208, 210, 211, 212 210 60 157 156 60 121 52, 88 154 56 62 211 157 59, 157 56 58

170 170 169

226 319a–b 319b–320c 320c–328d 329b–d 329c2–e6 329e2–6 329e 337a–c 349b–d 352b3–c7 352c2–7 352c–d 352d4–e2 352d7–e9 352e6–353a2 353b1–3 353c2 354e6 355a3–e3 355e2–3 355e5–356a3 355e–359a 356a8–c1 356a8–e2 356c–357b 357c1–358e8 357c7–d1 357d2–7 357d7–e1 357e2 358a–360e 358b6–c1

Stellenregister 170 170 170 170 171 172, 188 171 119 138, 171 173 174 175 173 173 173 173 173 173 173 175 175 171 187 176 177, 190 179 173 181 180, 181, 214 173, 181 188 179

358c6–d2 358c–e 358d5–e6 358e4–6 359a2–c2 359a7–b6 359a–b 359d4–6 359e1–360a8 360a7–b4 360a8–e5 360b4–c1 360d8–e5 360e1–5 360e6–361b7 360e6–361c6 Sophistes 230c–e 251a5–6 251a7–b4 Symposion 203d–204b 204a–c 204e–205a Theaitet 149a–151d 151d2–3 161e4–8 187e5–190e4 201c–202d 210b11–c5

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174, 182 180 185 185, 186 172, 185 172, 188 171 186 186 188 187 188 172, 188 188 172 189 88 137 137 56 56 62 46 46 85 196 59 47

Namenregister a) Moderne Autoren

Benson, H. 45, 131 Blößner, N. 42, 48, 50, 51, 55, 210 Bluck, R. S. 203 Bonitz, H. 148 Brandwood, L. 65 Brickhouse, T. C. / Smith, N. D. 45, 131, 173 Dalfen, J. 45, 57 de Romilly, J. 84 Detel, W. 45, 133, 153, 169 Devereux, D. T. 45, 131, 133, 149, 150 Ebert, Th. 91 Emlyn-Jones, C. J. 131 Erler, M. 41, 45, 47, 53, 65, 66, 134, 149, 150 Ferejohn, M. 131, 141 Frede, M. 48

Kahn, Ch. 45, 67, 99, 134, 148, 173, 184 Manuwald, B. 45, 67, 134, 142, 150, 169, 171, 173 Meixner, U. 59 Michelini, A. N. 67 Müller, J. 173 Nails, D. 65, 120 O’Brien, D. 141 Penner, T. 42, 45, 131, 134, 140, 141, 173, 182, 183, 193 Puster, R. 169 Reshotko, N. 45, 173, 210 Ricken, F. 155 Roochnik, D. L. 131

Heitsch, E. 42, 44, 48, 51, 67

Rowe, C. J. 45, 53, 59, 193 Rudebusch, G. 45, 173

Irwin, T. 134, 142, 143

Santas, G. 131, 134, 193

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Namenregister

Schmid, W. T. 134 Shields, Ch. 173 Steidle, W. 67 Stemmer, P. 42, 45, 59 Striker, G. 85

Vlastos, G. 131, 133, 140, 141, 144

Taylor, Ch. 45

Yonezawa, Sh. 131, 133, 150, 151, 152

Weidemann, H. 42 Wieland, W. 51 Wolf, U. 42 Woodruff, P. 131, 133

b) Personen aus der Antike*

Aristeides 13, 49, 66, 69 Aristoteles 157

Melesias 13, 14, 19, 66, 67, 69 Prodikos 34, 119, 120

Damon 15, 34, 120 Diogenes Laertius 47

Sophroniskos 15, 67, 73

Homer 26, 37, 164 Lysimachos 13, 14, 66, 67, 69–76

Thukydides (Autor) 66, 125 Thukydides (Sohn des Melesias) 13, 66, 69

* Aufgeführt sind hier die Namen der im Kommentar erwähnten Autoren und der im Laches genannten Personen aus der Antike. Unberücksichtigt bleiben Platon, Sokrates, Laches und Nikias.

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Sachregister (Kursive Zahlen beziehen sich auf Anmerkungen)

abwägen / Abwägung 109, 121, 170, 175–184, 212 anerkennenswert (kalón) 53, 58, 102–104, 152, 153, 186–188 angenehm 170–172, 175, 184, 186–188 Aufrichtigkeit 69–74, 81, 89–92, 167 Ausweglosigkeit / Aporie 52 f., 113, 149 Autonomie, epistemische, siehe auch Urheber 86, 167 Autorität, epistemische 74, 83 beharrlich, Beharrlichkeit 53, 103–112, 146–148, 166 f., 202 f., 214 Beharrlichkeit, kluge 28 f., 97, 103–109, 111, 113, 146–152, 154, 166 f. beraten / Beratung 13 f., 19–24, 70–73, 81–83, 89, 94 besonnen / Besonnenheit 34, 36, 60, 109, 122, 128 f., 136 f., 138, 155–157, 160–162, 170 f., 202 biconditionality-thesis 140 Definition(en) 46, 50, 55, 97–103, 124–126, 158 – strukturelle Definition(en) 158 f. Definitionsforderung 46 Definitionsfrage 59, 97–99

Dialoge, sokratische 41, 53 Dialogform 46–53, 48 Einheit der Tugenden, siehe Zusammenhang der Tugenden Einstellung(en) 47, 49, 55 f., 64, 68, 78, 92, 99, 104 f., 110 f., 116 f., 128, 142, 152, 154–157, 166, 197–200, 204 f. Erziehung 42, 48, 67 f., 70–72, 75, 77, 80–84, 93– 96, 163 Eudämonismus, sokratischer 45, 54 f. Experte(n) 56 f., 77–83, 86, 93, 117 f., 161 f., 165 Expertenstreit 76–78 Expertenwissen 78, 80, 83, 117 f., 120, 151, 164 Frage, sokratische, siehe Definitionsfrage fromm, Frömmigkeit 99, 128, 138–140, 156 f., 170 Gebrauch mentaler Fähigkeiten 54 f., 61, 109, 203–205, 212, 214 f., Gebrauch von Gütern 54 f., 61–64, 114, 169, 202–205, 212– 215 Gedankenexperimente, sokratische 50–53 Genauigkeit 63, 173–178, 182–184 Geometrielektion im Menon 197–199, 212

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230

Sachregister

Gerechtigkeit 46, 60, 122, 128, 139–140, 155–158 Glück / gelingendes Leben (eudaimonia) 41–43, 45–47, 54–56, 57–63 Glücksstreben 47, 60–63, 205 gut (agathón) 41–45, 54, 56, 60, 69, 104, 109, 126, 151 f., 174, 192 , 202, 208, 211–213 Gutsein (aretê) / gute, glückszuträgliche seelische Verfassung 41 f., 53–55, 67 f., 80 f., 84, 92–96, 98, 122 f., 128–139, 152 f., 156–159, 163 f., 166–173, 184, 189–195, 200–206, 211– 215 Gutsein als Agens der guten Handlungen 42, 203 f. Handeln wider besseres Wissen 54, 61, 64, 170–176, 182–184 Handlungen, gute, glückszuträgliche 42, 54, 60, 62, 108 f., 114, 137, 154, 164, 203–205, 214 Hebammenkunst, sokratische 46–51 holistische Interpretation der Platonischen Dialoge 45, 55 Ignoranz 55 f. Interdependenzthese 129, 137–145, 171 Interdependenz der Tugenden, siehe auch Zusammenhang der Tugenden 126, 135–138, 154, 158, 184–188 Klugheit 60, 102–109, 138, 146–148, 150, 155, 166 Kunst des genauen Abwägens im Protagoras 176–189, 189, 214 Laches-Hypothese 97–112 Leben, prüfendes 54, 95, 151, 214 f. Lebensführung 43, 69 f., 80–84, 88, 93, 151, 214 f. Lehrbarkeit des Gutseins 80–83, 164, 170, 189–201, 205 f., 215

lernen 197–200, 210–213, 215 Mäeutik, siehe Hebammenkunst Meinungen, gerechtfertigte 56–59 Meinungen, reflektierte 56 f., 198–200, 215 Meinungen, bleibende, wahre und befestigte 58, 208–211, 214 Meinungsprüfung 43–44, 52, 56–59, 68, 77–79, 85, 95 f., 101, 162, 199, 212 Menonparadoxie 196, 200 Misologie 50, 88 Nikias-Hypothese 113–116, 126, 137, 148 nützlich 161, 202–205, 212 Orakel von Delphi 48, 57, 151 Rechenschaftgabe 42–45, 47, 51 f., 54, 57 f., 62, 85–88, 113, 153, 166 Rechtfertigung, epistemische 199 schön und gut (kálos kai agathós) 104, 109, 152 Selbstbestimmung, gedankliche 48 f., 212 Sokratesbild im Laches 75 f. sokratisch-nikiatische These 114 Sophisten 83–86, 120 Sorge 42, 45–48, 56, 59, 70–74, 139, 212 Sorge für Gedanken 47–49, 78 Sorge um die Seele 42–45, 56, 59–65 tapfere Einstellung 110 f., 116 f., 128, 146, 153 f., 165

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Sachregister Tapferkeit 41, 95–102, 109 f., 112 f., 115–139, 146–159, 165–167, 187–189, 214 Tapferkeit, eudämonistische 152–154 Tapferkeit, hypothetische Definitionen der Tapferkeit 95 f., 100, 102, 112, 119, 127, 146 Tapferkeit als Teil einer insgesamt guten seelischen Verfassung 122 f., 127–129, 132 f., 135–144 Tugend, siehe Gutsein Überlegen, praktisches 60 f., 175–184, 190 Überlegungsgleichgewicht 102 Unwissenheit 56, 77 f., 83, 162, 178 f., 185 Urheber – über Meinungen 59, 200 – über Absichten 60 Verstehen, eigenes 43–47, 49–51, 167 Verstehen von Definitionen 100 f. Vollkommenheit 55 f. Waffenkampfsport 67 f., 70, 74 Wahrheit, bleibende 208 f., wahrheitssichernder Umgang mit Meinungen 200, 208–211, 214 f. Was-ist-F?-Frage, siehe Definitionsfrage Wiedererinnerung (anamnesis) im Menon 50, 197–200, 208–210, 212 Willensschwäche (akrasia), siehe Handeln wider besseres Wissen Wissen – fallibles Wissen 58 f.

231

– glücksrelevantes (eudämonistisches) Wissen 42–44, 54, 61, 64 f., 68, 111, 113 f., 120–122, 138, 140, 146–148, 153, 159–161, 164, 167, 169, 190, 202– 206, 211–215 – menschliches Wissen (Apologie) 56 f., 151 f. – perfektes Wissen 56–59 – scheinbares Wissen 75, 199 f., 210 – theoretisches Wissen 125–128, 166 f., 214 Wissen zweiter Ordnung 50, 53, 56–58, 151, 161 f., 199 f., 209, 212 Wissensargument im Menon 203–206, 212 f. Wissenssuche 46, 47, 49, 52, 55–59, 70–72, 78, 91 f., 200 f. Wissensvoraussetzung 94 f. Wollen 59–65, 166, 174–184, 187, 193–195, 205, 212–215 Wortunterscheidungen 119 f. Ziele – allgemeine, vorrangige Ziele 62–64, 110–113, 166, 178, 184, 205, 210–212 – allgemeine, vorrangige inhaltliche Ziele 62 f. – allgemeine, vorrangige modale Ziele 62 f. – anerkennenswerte Ziele 104, 109, 147 Zusammenhang der Tugenden / Einheit der Tugenden 135–140, 153–160, 170 f., 191

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