Pindar in der französischen Renaissance: Studien zu seiner Rezeption in Philologie, Dichtungsstheorie und Dichtung 9783666252013, 3525252013, 9783525252017

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Pindar in der französischen Renaissance: Studien zu seiner Rezeption in Philologie, Dichtungsstheorie und Dichtung
 9783666252013, 3525252013, 9783525252017

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HYPOMNEMATA 101

VáR

HYPOMNEMATA UNTERSUCHUNGEN ZUR ANTIKE UND ZU IHREM NACHLEBEN

Herausgegeben von Albrecht Dihle/Siegmar Döpp/Christian Habicht Hugh Lloyd-Jones/Günther Patzig

HEFT 101

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

THOMAS SCHMITZ

Pindar in der französischen Renaissance Studien zu seiner Rezeption in Philologie, Dichtungstheorie und Dichtung

V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T IN G Ö T T I N G E N

Verantwortlicher Herausgeber: Albrecht Dihle

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufiiahme

Schmitz, Thomas: Pindar in der französischen Renaissance : Studien zu seiner Rezeption in Philologie, Dichtungstheorie und Dichtung / Thomas Schmitz. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1993 (Hypomnemata ; H. 101) Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 1991 ISBN 3-525-25201-3 NE: GT

D 5 © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1993 Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Herstellung: Hubert & Co., Göttingen

Für Arno Offermanns

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 1991 von der philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen; für den Druck wurde sie in Einzelheiten überarbeitet und insgesamt leicht gekürzt. Das Manuskript wurde im März 1992 abgeschlossen, nach diesem Datum erschienene Literatur konnte nicht mehr berücksichtigt werden. Mit großer Freude komme ich der Verpflichtung nach, an dieser Stelle meinen Dank all jenen auszusprechen, die meine Arbeit von ihren ersten Anfangen bis heute begleitet und gefördert haben. In drei Jahren durfte ich in drei verschiedenen Ländern, in drei verschiedenen Universitätssystemen forschen; daher ist die folgende Liste so lang, daß es zu meinem großen Bedauern nicht möglich sein wird, jedem einzeln für seine besondere Hilfe zu danken. Dennoch hoffe ich, daß ihnen diese Form des Dankes nicht allzu unangemessen erscheinen wird, und vor allem, daß ich niemanden aus all den Orten und Jahren vergessen habe. Die Arbeit an der Dissertation und vor allem meine beiden Auslandsjahre wurden erst möglich durch Stipendien der Studienstiftung des deutschen Volkes und von ERASMUS. In vielen Bibliotheken und Institutionen fand ich freundliche Unterstützung, besonders nennen möchte ich die Ecole normale supérieure, die Bibliothèque Nationale und das Institut de recherche et d'histoire des textes in Paris, die Houghton Library der Harvard University in Cambridge (Mass.), die Butler Library der Columbia University in New York, die Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen und die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Für Anregungen, Hilfen, Gespräche und Diskussionen, die mir weiterhalfen und oft neue Perspektiven öffneten, danke ich folgenden Damen und Herren: Nicole Cazauran, Geneviève Demerson, A. Carlotta Dionisotti, Françoise Joukovsky, Barbara Mittler, Isabelle Pantin, Susan Suleiman und dem ganzen CompLit Proseminar von 1989/90, Robert Aulotte, Douglas F. Bauer, Richard Cresenzo, James Hankins, Jean Irigoin, Wolf-Dieter Lange, JeanClaude Margolin, Daniel Ménager, Elmar Mittler, Karl-August Neuhausen, Pierre Petitmengin, Ludwig Schräder. Den Herausgebern der „Hypomnemata",

8

Vorwort

besonders Herrn Albrecht Dihle, bin ich für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe und wertvolle Hinweise zu Dank verpflichtet. Mein größter Dank aber gilt meinem Doktorvater Adolf Köhnken: Wer seine Schriften kennt, weiß, daß man sich keinen scharfsinnigeren und kenntnisreicheren Leser als ihn wünschen kann, wer aber mit ihm persönlich arbeiten durfte, weiß auch um seine Großzügigkeit und seinen Humor. Besonders dankbar bin ich ihm für das Vertrauen, mit dem er mich zwei Jahre in die Ferne ziehen ließ und das er auch dann noch in meine Arbeit zeigte, als sie eine zunächst nicht vorhergesehene Richtung nahm. Gewidmet ist diese Arbeit meinem ersten Griechischlehrer Arno Offermanns - als kleiner Dank dafür, daß er uns Schüler mit ebensoviel Engagement wie Sachverstand an die Schätze der griechischen Literatur heranzuführen verstand.

Neusen bei Aachen, im März 1992

Thomas Schmitz

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

7

1. Einleitung

11

2. Pindardeutung nach Bundy

31

3. I m i t i e r e n d e

50

Texte

4. Pindarlektüre und Pindarverständnis in der Renaissance

71

5. Pindar in der Poetik der Renaissance

146

6. E i n z e l i n t e r p r e t a t i o n e n

226

7. Ergebnisse

260

Anhang 1 : Ausgaben, Übersetzungen und Kommentare Pindars bis 1630

264

Anhang 2: Die Texte

309

Anhang 3: Übersetzung der fremdsprachigen Originalzitate

329

Verzeichnis der zitierten Literatur

340

Indices

381

Addenda und Corrigenda

391

1. Einleitung

ι C'è una linea di confine: da una parte ci sono quelli che fanno i libri, dall'altra quelli che li leggono. Io voglio restare una di quelli che li leggono [...]. Se no, il piacere disinteressato di leggere finisce, o comunque si trasforma in un'altra cosa, che non è quello che voglio io. Italo Calvino Semper ego auditor tantum? numquamne reponam / uexatus totiens rauci Theseide Cordi? Iuvenal

Eine Arbeit über das Nachleben Pindars in den modernen Literaturen ist ein Forschungsdesiderat. Die vorliegende Studie ist nicht diese Arbeit; sie will nicht den gesamten Komplex der Wirkungen Pindars in Frankreich untersuchen. Vielmehr gilt ihr Augenmerk dem Textverständnis der Epinikien und ihrer Rezeption in der französischen Dichtungstheorie und Dichtung, und daher bedarf sie einer Rechtfertigung: Vieles scheint zu diesem Thema schon gesagt; besonders Ronsards Verhältnis zu Pindar ist Gegenstand einer erst kürzlich gedruckten, sehr umfangreichen Studie des amerikanischen Renaissanceforschers Isidore SILVER1, aber auch sonst verfügen wir über mehrere Arbeiten zum Nachleben Pindars in Frankreich 2 . Kann eine neue Untersuchung hier nützen, kann sie neues Material bringen oder das alte in neuem Licht zeigen? Beide Fragen, so hoffe ich, werden Leser nach der Lektüre dieser Arbeit bejahen. Neues Material wird hier an vielen Stellen vor allem dadurch geboten, daß der Blickwinkel nicht mehr einseitig auf Ronsard und Du Beilay liegt,

1) Ronsard and the Grecian Lyre, 3 Bde, 1981 -1987. 2) Vgl. die bei GERBER, „Pindar and Bacchylides" 156f. genannten Arbeiten (die Liste ist nicht ganz vollständig); ferner ζ. B. die einschlägigen Abschnitte bei HIGHET, Classica! Tradition 230-244; BOLGAR, Classical Heritage 323-326 sowie RACE, Pindar 121-129.

12

1. Einleitung

sondern viele Lyriker aus der Zeit nach der Pléiade bis gegen 16303 herangezogen werden. Erfreut sich dieser Abschnitt der französischen Lyrik schon insgesamt keiner allzu großen Beliebtheit bei den Kritikern (und noch viel weniger bei den Lesern), so finden innerhalb dieser vernachlässigten Epoche die Autoren, die für unser Gebiet wichtig sind, noch einmal besonders wenig Aufmerksamkeit: Es ist eine Eigentümlichkeit jeder Geschichtsschreibung und so auch der Literaturgeschichte, dem „Kommenden" und Wachsenden mehr Aufmerksamkeit zu schenken als dem Auslaufenden und Vergehenden, wie beispielsweise HUIZINGA sehr deutlich gezeigt hat4. Nun gibt es in der Zeit von 1580 bis 1630 mindestens zwei Strömungen in der Lyrik, die durch ihre Neuheit zumindest die Spezialisten interessiert haben, nämlich zum einen die barocke Dichtung (mit den umfangreichen Debatten, ob in der Geschichte der französischen Literatur die Bezeichnung Barock überhaupt sinnvoll ist), zum anderen die Vorklassik, also die Vorboten des grand siècle. Demgegenüber bleiben fast alle Namen der großen Masse von Dichtern, die bis ins siebzehnte Jahrhundert hinein noch in der Nachfolge der Pléiade schreiben, völlig unbekannt, und dies nicht nur bei einem größeren Publikum, sondern selbst bei den meisten Spezialisten. Gerade diese minores aber mit ihrer quantitativ so bedeutenden Produktion können besser als die wenigen Autoren der Avantgarde zeigen, wie der Publikumsgeschmack dieser Zeit war5. Viele solch unbekannter Namen werden deshalb auf den folgenden Seiten auftauchen, wobei die meisten hier zum ersten Mal unter dem Aspekt der Pindarrezeption untersucht werden. Wichtiger aber erscheint mir noch, dieses neue ebenso wie das schon bekannte Material auch unter neuen Gesichtspunkten zu betrachten. Wie jede komparatistische Fragestellung verlangt auch das Thema „Pindarrezeption in der französischen Renaissance" gründliche Sachkenntnis in zumindest zwei Literaturen, der antiken griechischen und der französischen (im Verlauf der Untersuchung wird man sehen, daß auch die römische Literatur und die neulateinische Literatur der Renaissance wichtige Rollen spielen und nicht vernachlässigt

3) Einen solchen genau definierten zeitlichen Endpunkt zu setzen ist nicht ohne Willkür, aus praktischen Erwägungen aber unabdingbar. Immerhin kann man für das Jahr 1630 geltend machen, daß sich im Jahrzehnt zwischen 1620 und 1630 eine bedeutende Veränderung in der französischen Literatur feststellen läßt, vgl. LAFAY, Poésie française 9: « [...] vers 1630, en effet, un visage tout nouveau de la poésie se dessine (avec Voiture et la poésie de salon). »; vgl. auch HEMMERDINGER, „Renaissance des lettres grecques" 222f., der die französische Renaissance gegen 1640 enden läßt. Während der ersten drei Jahrzehnte des siebzehnten Jahrhunderts erscheinen auch unter dem (allmählich schwächer werdenden) Einfluß Ronsards die letzten französischen „odes pindariques", danach scheint dieses Genus aus der Mode zu sein, vgl. CHAMARD, Histoire de la Pléiade 1, 374: « L'imitation [des odes pindariques de Ronsard] commence dès 1551 ; elle ne prend fin qu'aux environs de 1630. » 4) Herbst des Mittelalters, vgl. besonders seine Vorrede, XIII. 5) Vgl. BAÏCHE, Naissance du baroque 9.

1. Einleitung

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werden dürfen). Nun möchte ich meinen Vorgängern keineswegs einen Mangel an Sachkenntnis vorwerfen, aber erkennbar scheint bisweilen doch ein gewisser Mangel an Bereitschaft, den jeweils anderen Bereich ernstzunehmen. Wenn sich Altphilologen mit dem Themenkomplex befaßten, so waren ihre Urteile über die behandelten Autoren der Renaissance oft zu pauschal und nicht immer wohlbegründet; auch scheint mir eine gewisse Tendenz sichtbar, in den Texten der Renaissance nur einen Steinbruch zu sehen, aus dem man das edle Gestein (nämlich die an Pindar anklingenden Passagen) ausbricht, ohne sich darum zu kümmern, daß es sich hierbei um eine Literatur in ihrem eigenen Recht handelt. So finden wir ein Beispiel für ein erstaunliches Pauschalurteil bei Young 6 : Pindar was generally misunderstood, unappreciated, and unpopular before Boeckh and Thiersch [...]. Before then, the prevailing opinion most generous to Pindar was that the poems were characterized by 'un beau désordre' (Boileau, Art poétique II, 72). YOUNGS Urteile sind, man muß das so hart sagen, teils vorschnell und teils unsinnig. Daß Pindar in der Zeit vor dem neunzehnten Jahrhundert „generally misunderstood" war, ist eine kühne Behauptung, deren Nachweis nicht leicht zu führen sein dürfte. Das Verdikt „unpopulär" aber ist kaum verständlich (selbst wenn man den für YOUNG günstigsten Fall annimmt und es, unter Ausschluß der dichterischen Wirkungsgeschichte, nur auf die Rezeption bei den Philologen bezieht): Schon ein Blick auf die umfangreiche Liste von Pindarausgaben, -Übersetzungen und -kommentaren aus den gut hundert Jahren zwischen 1513 und 1630 7 genügt, dieses Urteil zu widerlegen. Daß Altphilologen wie ROBINSON8, SCHADEWALDT9 und RACE 10 , die an eine Behandlung der Dichtung Pindars ein Kapitel über deren Nachwirkung eher als Beigabe anschließen, ihre Darstellungen oft gewalttätig raffen müssen, um auf begrenztem Raum Pindareinflüsse in mehreren europäischen Literaturen zu erwähnen, liegt in der Natur ihrer Absicht und kann ihnen nicht vorgeworfen werden. Hingegen kann und muß man in Darstellungen, denen es in erster Linie um die Wirkung antiker Autoren geht, den erwähnten Mangel an Bereitschaft tadeln, sich auf die modernen Literaturen jeweils einzulassen und sie ernstzunehmen; er wird beispielsweise sichtbar, wenn HIGHET 11 Ronsards Oden "an elaborate but sometimes frigid courtesy" vorwirft oder BOLGAR 12 den Gedichten Dorats "a certain distressingly pedestrian quality in the words, which kills both the rhythm and the ideas": Solche pauschalen Verurtei-

6) „Pindaric Criticism" 3 Anm. 4, zustimmend zitiert von KRUMMEN, Pyrsos Hymnon 10f.; gegen dieses Urteil wendet sich zu Recht schon HEATH, „Origins of Modem Pindaric Criticism" 85 Anm. 2. 7) S. unten S. 264-308. 8) Pindar 9-38. 9) Frühgriechische Lyrik 247-257. 10) Pindar 121-129. 11) Classical Tradition 233; vgl. auch die ähnlichen negativen Urteile ebd. 234f. und die pauschale Verurteilung 242. Ähnliche Pauschalverurteilungen äußern zu Pindamachahmungen auch SILVER, Pindaric Odes of Ronsard 122 (der Titel seiner „Conclusion" lautet "Reasons for Ronsard's failure"); MADDISON, Apollo and the Nine 158 und HUTTON, Essays on Renaissance Poetry 211. 12) Classical Heritage 324.

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1. Einleitung

lungen hätten sich diese Forscher auf ihrem eigentlichen Forschungsgebiet wohl nicht gestattet. Umgekehrt ist bei manchen Experten der französischen Literatur festzustellen, daß sie die antiken Literaturen nicht recht ernstzunehmen bereit sind und sie (um das Bild noch einmal aufzugreifen) ebenfalls nur als Steinbruch benutzen, aus dem sich Brocken zur Erklärung der Renaissancetexte beliebig herausbrechen lassen. So finden wir etwa in einem Aufsatz POLLMANNS13 eine recht nebulöse Kenntnis von Pindars Dichtung: „Die Oden Pindars wurden bei den Olympischen Spielen von verschiedenen Chören vorgetragen." Auch hier muß man sich wieder fragen, ob POLLMANN sich ähnliche Ignoranz auf dem Gebiet der französischen Literatur gestattet hätte. Auch SILVERS schon erwähnte (s. oben Anm. 1) Studie zur Pindarrezeption Ronsards nähert sich dem Text des griechischen Dichters mit einer Naivität, wie sie kein Pindarforscher akzeptieren kann: Aus ihrem Kontext gerissene Passagen werden als autobiographische Bekenntnisse interpretiert und vermitteln so von Pindar ein Bild, das eher in den Bereich der „historischen Fiktion" als den der Wissenschaft gehört 14 . Unverzeihlich ist auch die Nonchalance, mit der SILVER keinerlei Notiz von neuerer (das heißt: in den letzten dreißig Jahren erschienener) Sekundärliteratur zu Pindar nimmt 15 : Würde er ein solches Vorgehen auch auf dem Gebiet der Renaissanceliteratur billigen? Gerade für Pindar aber zeitigt eine solche Unkenntnis besonders schwerwiegende Konsequenzen, da sich die Interpretation seiner Epinikien in den letzten Jahrzehnten entscheidend verändert hat. Unverzeihlich ist diese Unkenntnis auch deshalb, weil gerade Pindarforscher in der glücklichen Lage sind, über hervorragende bibliographische Hilfsmittel zu verfügen, hier also der von CURTIUS16 geforderte Weg von der Spezialisierung in eine neue Universalisierung besonders leicht möglich ist. Außer den beiden vor rund zwanzig Jahren erschienenen abgeschlossenen Bibliographien17 erleichtem mehrere sorgfältige und recht vollständige Forschungsberichte 18 und der bekannte Aufsatz YOUNGS19 die Orientierung; krönend abgeschlossen wird die 13) „Tücken eines Wortes" 415 Anm. 16. 14) Vgl. z. B. 1,315 "From a relatively early period in his career until virtually the end Pindar instinctively emphasized brevity as an indispensable element of the poetic craft as he practiced it [...]" (von mir hervorgehoben); 2, 107 Pindar war ein "deeply religious spirit"; 3, 198f. Pindar litt tief, als im Jahre 468 Bakchylides den Auftrag für Hierons Wagensieg erhielt. Vgl. SLATER, „Pindar and Hypothekai" 80: "[...] if one thinks of the innumerable sentences beginning, 'Pindar thinks' or 'Pindar feels' (esp. 'feels passionately') one will have an idea of how simplistic are the judgements passed on him." S. ferner zu solchen und ähnlichen Aussagen (SILVERS Werk enthält unzählige davon) unten S. 36-41. 15) So hätte ein kurzer Blick auf neuere Veröffentlichungen ihn vor der Peinlichkeit bewahren können, Ol. 11 immer noch als „Zins" zu Ol. 10 aufzufassen (2, 65) oder das Prooem von Isth. 1 als psychologisches Zeugnis zu verstehen (2, 82 "Divided in heart between his devotion to the god of poverty and his filial loyalty to Thebes [...]"); auch zu der angeblichen Beziehung von Nem. 7 auf pae. 6 hätte man zumindest einen Hinweis erwartet, daß dies eines der umstrittensten Probleme der modernen Pindardeutung ist - für SILVER gibt es keinen Zweifel an dieser Beziehung, da er hier (2,67) wie anderswo seinen Gewährsleuten, zumeist Philologen aus dem späten neunzehnten oder frühen zwanzigsten Jahrhundert, kritiklos folgt. 16) Europäische Literatur 22. 17) GERBER, Bibliography of Pindar und RICO, Bibliografia pindàrica; zur Ergänzung sollte herangezogen werden FOGELMARK, „Pindaric Bibliography". 18) THUMMER, „Pindaros" (vier Berichte für den Zeitraum von 1945 bis 1979) und GERBER, „Studies in Greek Lyric Poetry" (drei Berichte für den Zeitraum von 1952 bis 1985). 19) „Pindaric Criticism"; YOUNGS Aufsatz wird zwar oft als ein „Klassiker" der Pindarforschung bezeichnet, ist aber stellenweise mit großer Vorsicht heranzuziehen, da die (für die

1. Einleitung

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Reihe dieser Hilfsmittel jetzt durch die kommentierte Gesamtbibliographie GERBERS 20 , die es erlaubt, sich zu jedem Problem, zu jeder Ode rasch und umfassend über die neuere Literatur zu informieren.

Auch unter diesem Gesichtspunkt wird in dieser Arbeit versucht werden, die Texte aus der französischen Renaissance anders zu betrachten als bisher: Den Untersuchungen zur Pindarnachwirkung wird das „neue" Pindarbild (in Wirklichkeit existiert es nunmehr seit dreißig Jahren) zugrundeliegen, wodurch sich an nicht wenigen Stellen eine ganz neue Sicht der Frage ergibt, wie französische Autoren der Renaissance Pindar rezipierten und beurteilten. Mein Hauptanliegen wird dabei sein zu zeigen, daß in mancherlei Hinsicht dieses Pindarbild von der Renaissance schon vorweggenommen wurde. Ohne der Darstellung vorauszugreifen, sei schon hier auf einen Hauptpunkt hingewiesen: W i e angedeutet, waren die Urteile der modernen Kritik über die Pindarimitationen der Renaissance häufig sehr negativ, und HARDISON 21 (1962) gibt einen interessanten Grund, warum er diese Texte für literarische Mißerfolge hält: One feels that the attempt to imitate Pindar was for the most part unfortunate. In the first place, Pindar was insufficiently understood. [ . . . ] Failing in understanding, Renaissance poets were forced to interpret the Pindaric in terms that fitted their own conception of what poetry should accomplish. Since Pindar's odes are occasional and ostensibly devoted to "celebration," they were interpreted as encomia. Was Hardison hier als Mißverständnis der Renaissance abtut, wird vielen modernen Pindarforschern im Gegenteil zutreffend erscheinen: Einer der wichtigsten Punkte (vielleicht sogar d e r 1962 erschienenen Studia Pindarica

wichtigste Punkt) von Elroy L. BUNDYS war gerade, daß Pindars Dichtungen in

erster Linie Enkomien sind22: [ . . . ] there is no passage in Pindar and Bakkhulides that is not in its primary intent enkomiastic - that is, designed to enhance the glory of a particular patron. [ . . . ] it should be evident that the Epinikion must adhere to those principles that have governed enkomia from Homer to Lincoln's Gettysburg Address.

Fakten kenntnisreiche) Darstellung der Forschung an nicht wenigen Stellen von apodiktischen Wertungen überdeckt wird, die YOUNGS eigener unreflektierter Position entstammen (er ist ein verspäteter Nachkomme des in den U S A einst weitverbreiteten „ N e w Criticism", vgl. KRUMM E N , Pyrsos Hymnon 21). Sehr viel knapper, aber im ganzen objektiver unterrichtet über neuere Richtungen der Pindardeutung in französischer Sprache JOUAN, „Lecture actuelle". 20) 21) 22)

„Pindar and Bacchylides", für den Zeitraum von 1934 bis 1987. Enduring Monument l O l f . Studia Pindarica 1,3.

16

1. Einleitung

Damit soll die Renaissance nicht zu einem bloßen Vorläufer dieser modernen Sicht gemacht werden: Ihre Auffassung von Pindars Werken unterscheidet sich auch an vielen Punkten von der unseren, und gerade weil die ungebrochene rhetorische Tradition, in der sie stand, ihr ein richtiges Verständnis der Dichtung Pindars ermöglichte, war es für sie schwierig, sich außerhalb dieser Tradition zu stellen und sie theoretisch zu erfassen und zu durchdringen, wie es die Moderne tut. Dennoch bleibt diese Gemeinsamkeit auffällig und interessant und sollte uns veranlassen, das Pauschalurteil zu revidieren, Pindar sei „generally misunderstood" gewesen.

2 Obwohl also in dieser Studie bisher unbekanntes Material zur Pindarnachwirkung herangezogen wird, kann sie doch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, wie dies MUND-DOPCHIE in ihrer Darstellung der Aischylosrezeption in der Renaissance tut23: Anders als im Falle des attischen Tragikers muß man für Pindar nicht nur ein Überleben („survie"), sondern eine ausgedehnte und vielfältige Wirkungsgeschichte konstatieren, deren voller Umfang erst nach jahrelangem Studium der Primärtexte eruierbar wäre. Greifbare Beweise für eine nähere Beschäftigung mit dem Text der Epinikien finden wir in Frankreich seit den vierziger Jahren des sechzehnten Jahrhunderts, als der Gräzist Jean Dorat den jungen Dichtern der späteren Pléiade am Collège de Coqueret diese schwierigen Gedichte erläutert24. In den vierziger Jahren faßt auch ein junger Schüler Dorats, Pierre de Ronsard, den Plan, Pindars Epinikien in französischen Oden zu imitieren25. 1550 erscheinen seine Quatre premiers liures des Odes, in denen er diesen Plan in die Tat umsetzt: Passagen aus Pindar werden imitiert, und häufig beruft Ronsard sich ausdrücklich auf sein Vorbild; schon Monate vorher war das französische Publikum in einer Art „Werbekampagne" auf diese Nachahmung Pindars vorbereitet worden26. 23) Survie d'Eschyle (1984). 24) Für die ersten nach Frankreich gekommenen Manuskripte s. unten S. 71-74. Vor diesem Zeitpunkt haben wir nur 1535 die erste Textausgabe der Olympien und Pythien bei Wechel in Paris (10, ohne Kommentar oder Übersetzung); die metrischen Kommentare Guillons (14 und 26) fallen schon in die Zeit Dorats. Zu Dorats Vorlesungen vgl. DEMERSON, Dorat en son temps 174-178 mit Anm. 40 sowie SHARATT, „Ronsard et Pindaro", der die Mitschrift eines unbekannten Hörers dieser Vorlesungen veröffentlicht. 25) Die bisweilen diskutierte Frage, ob Ronsard oder Dorat zuerst die Idee einer Pindarnachahmung hatte, ist rein akademisch und läßt sich wohl kaum entscheiden, vgl. die Darstellung der Positionen bei DEMERSON, „Ode pindarique latine" 286-289 und dies., Doral en son temps 6-8 (sie sieht die Priorität bei Ronsard). 26) S. unten S. 79-81.

1. Einleitung

17

Durch das Aufsehen, das die ersten Veröffentlichungen der jungen Dichtergeneration um Dorat, Ronsard und Du Beilay erregten, wurde mit einem Mal auch der Name Pindar in Frankreich bekannt. Ronsards Oden im hohen Stil erlangten rasch eine solche Autorität, daß es nachfolgenden Dichtern unumgänglich schien, in seiner Nachfolge auch in ihre Enkomien Berufungen auf diesen Namen einzuflechten - auch solchen Dichtern, die den Thebaner nur aus Ronsards Odes kannten und noch nie eines seiner Gedichte im Original oder in Übersetzung vor Augen gehabt hatten. Grob kann man drei Arten unterscheiden, wie Pindars Name in Gedichten nach Ronsard auftaucht. Zum ersten finden wir ausdrückliche Berufungen auf dieses Vorbild: Immer wieder schreiben französische Dichter, sie wollten so dichten wie Pindar und seiner Art folgen. Solche Beteuerungen gibt es schon in Ronsards Odes™, und wenn ein französischer Dichter außer dieser Aussage kein explizites Zeichen einer Kenntnis der Epinikien gibt, liegt der Verdacht nahe, daß er sich hierin nur an Ronsard anschließt. Als Beispiel für eine Erwähnung Pindars ohne Kenntnis seiner Werke sei ein besonders kurioses Zeugnis angeführt 28 : Barthélémy Aneau erwähnt in seinem Lyon marchant von 1541 « Psalmes, peans et odes pindariques » (f. 7 r ), in seiner Polemik gegen die Worte „strophe" und „antistrophe" im Quintil Horadan von 154929 hingegen rühmt er sich explizit seiner Unkenntnis Pindars: « Car jamais (parauenture) nous n'en ouysmes parler. Jamais nous n'auons leu Pindare » (in Du Bellay, Deffence 225f. = 122f.). Es gibt kein Indiz für die Annahme, Aneau habe Pindar gekannt; daß er ihn dennoch erwähnt, zeigt, wie sehr sein Ruhm ihm voraneilte: Pindars Name scheint schon um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts geradezu „in der Luft" gelegen zu haben; nach Ronsards Odes begegnen wir ähnlichen Nennungen seines Namens noch häufiger. Auch solche Passagen, in denen ohne direkte Kenntnis des Thebaners aus einer oft schwer faßbaren, diffusen Tradition Nachrichten über sein Leben und sein Werk verarbeitet werden, zeugen von einer indirekten Wirkung Pindars und verdienen Aufmerksamkeit; eine Reihe davon habe ich deshalb im vierten und fünften Kapitel herangezogen, um zu untersuchen, wie Pindar in der Renaissance bewertet wird. Dennoch handelt es sich hier zweifelsohne nur um einen Bruchteil der Stellen, an denen Pindar in der französischen Dichtung erwähnt wird, und weitere Forschungen könnten noch mehr Material zutage fördern, doch glaube ich nicht, daß dieses Material Wesentliches zu dem hier entworfenen Bild hinzufügen könnte. Der zweite Bereich, in dem Pindars Name weit verbreitet wird, ist das Verb „pindariser" (und das daraus wesentlich später abgeleitete Substantiv „pindaris27) 28) 29)

S. unten S. 180. Vgl. MARGOLIN, „Pindare et la Renaissance" 131. Zu diesem Pamphlet s. unten S. 129 mit Anm. 209.

18

1. Einleitung

me"). Bekanntlich hat dieses Verb in der späteren Literatur einen äußerst negativen Beigeschmack im Sinne von „bombastisch, preziös oder pedantisch reden oder schreiben"30; diese pejorative Konnotation ist aber erst in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts nachweisbar31. Auffallend ist, daß sich „pindariser" schon lange vor dem Bekanntwerden von Pindars Werken in Frankreich nachweisen läßt. Schon Octovien de Saint-Gelais (1468-1502) verwendet das Wort in einer Passage (v. 169-171) seines vermutlich zwischen 1490 und 1493 entstandenen Séjour d'honneur (42): [..·] J'ay d'autresfaitz voulu pindariser, Plus n'en ay l'art, mon plectre est trop debile, Car mon chant est lamentable et flebille. Saint-Gelais beschreibt in dieser Passage, daß ihm das Dichten schwerfalle, weil er es vor langer Zeit aufgegeben und seitdem nicht mehr geübt habe. In diesem Zusammenhang fällt pindariser, ohne daß eine Verbindung zu dem Thebaner erkennbar wäre32. Auch der Rhétoriqueur Jean Lemaire de Beiges (1473-1525) benutzt pindariser 1511, noch vor der editto princeps Pindars, in seinem Temple de Vénus, einem Teil seines Werkes Concorde des deux langages {Concorde 19)33: [...] de cueur gay, de vouloir delectable Leurs concepuoirs haultement pindarisent [...]· Man kann davon ausgehen, daß Lemaire ebensowenig wie Saint-Gelais Pindar kannte. Da ferner zur Abfassungszeit des Temple noch keine Pindarnachahmer

30) Vgl. DELBOULLE, „Historique de trois mots" und MARGOLIN, „Pindare et la Renaissance" 129-131. Der Umschwung in der Bedeutung dieses Wortes ist möglicherweise mit dem Erstarken der Opposition gegen Ronsards Stil zu erklären, s. unten S. 172. 175-177. 31) Die These POLLMANNS, „Tücken eines Wortes", das Verb sei schon zu Ronsards Zeiten pejorativ gewesen, ist nicht haltbar; die negative Entwicklung scheint vielmehr erst später einzusetzen, vgl. das unten S. 129 zitierte Zeugnis Binets, das diese Entwicklung eindeutig auf die Kritik an Ronsard zurückführt. Hingegen ist der „pindarisme" immer negativ, aber das Substantiv taucht auch erst spät im sechzehnten Jahrhundert auf, zum ersten Mal offenbar in Blaise de Vigenères Übersetzung der Images des deux Philostrates von 1578 (dieses ungeheuer einflußreiche Werk erlebte zahllose Neuauflagen, vgl. FUMAROLI, Age de l'éloquence 260-262; ich zitiere aus der prächtigen Ausgabe von 1615, p. 81): « la façon de parier des Sophistes, qui est ordinairement mignardée & pleine d'vn affecté Pindarisme. » 32) MARGOLIN, „Pindare et la Renaissance" 129 paraphrasiert den Sinn des Verbs bei Saint-Gelais mit « écrire des vers dans le goût de Pindare », doch kannte Saint-Gelais von Pindar wohl nichts als den Namen und konnte so mit dem « goût de Pindare » nur eine äußerst vage Vorstellung verbinden. 33) Vgl. DELBOULLE, „Historique de trois mots".

1. Einleitung

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einen „pindarischen" Stil in Frankreich bekannt gemacht hatten, ist es nicht leicht, hier den genauen Sinn des Wortes pindariser zu ermitteln. Der Kontext der Stelle scheint darauf hinzuweisen, daß es hier genau wie bei Saint-Gelais soviel wie „singen" oder „dichten" bedeutet; das Wort benützt Lemaire in der Manier der Rhétoriqueurs vielleicht vor allem wegen seiner Seltenheit, ohne daß ihm daran gelegen hätte, einen präzisen Inhalt zu vermitteln. Ebensowenig kannte Rabelais wohl Pindar, als er 1532 in seinem Pantagruel einen „escholier limosin" auftritten ließ, der „zu pindarisieren glaubt" (OC 236)34. Auch hier muß festgehalten werden, daß das Wort an dieser Stelle noch keine negative Bedeutung hat: Zwar gibt der „escholier" in affektierter Sprache Unverständliches von sich, aber Rabelais sagt von ihm nicht, er „pindarisiere", sondern er „ g l a u b e zu pindarisieren" (« cuyde pindariser »); demnach liegt die negative Wertung nicht in pindariser selbst, sondern in dem leeren Meinen des escholier, er „pindarisiere", das Wort selbst scheint soviel wie „erhaben, geziert reden" zu bedeuten. Ronsard, der Pindar als literarisches Vorbild in die französische Literatur einführt, gebraucht pindariser naturgemäß ebenfalls noch ohne negative Assoziation, wenn er in der 2. Ode des 2. Buches stolz betont « Le premier de France / l'ai pindarizé » (OC 1, 176). Im Gegensatz zu späteren Belegen ist für Ronsard selbst und viele seiner Nachfolger pindariser noch gleichbedeutend mit „im pindarischen, d. h. im erhabenen Stil dichten". Auch die Geschichte dieses Wortes wäre für eine vollständige Untersuchung der Pindarrezeption in der französischen Renaissance von Belang; da aber wohl nur ein winziger Bruchteil derer, die das Wort benutzen, auch wirklich die Werke Pindars gekannt hat, liegt sie außerhalb der Absichten dieser Arbeit. Ebenso verhält es sich mit der Geschichte des pindarisme in dem Sinne, wie die moderne Literaturgeschichtsschreibung35 diesen Begriff verwendet hat: Eine genaue Definition dieses etwas vagen (und vielleicht eben deshalb häufig verwendeten) Wortes gibt es nicht, Übereinstimmung scheint nur über einige wenige Punkte zu bestehen: Zum pindarisme scheinen zu gehören der Gebrauch kühner Metaphern, Neologismen (vor allem in Form neuer Komposita), harte, unvermittelte Übergänge von einem Thema zum nächsten, der Gebrauch von Gnomen, der Anspruch auf göttliche Inspiration des Dichters (die fureur poétique), der Gedanke, nur die Dichtung könne große Taten vor dem Vergessen retten... Alle diese Eigenschaften scheinen in erster Linie aus Ronsards Odes gezogen zu sein. Sicherlich wäre es interessant zu verfolgen, inwieweit sie auf die Pindarrezeption Ronsards zurückgehen und was ihre Wirkung in der 34) Vgl. zu dieser Szene BERSCHIN, „Rabelais' .Schülerdialog'". 35) Besonders häufig findet er sich beispielsweise in RAYMOND, Influence de Ronsard oder bei CHAMARD, Histoire de la Pléiade.

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französischen Literatur nach Ronsard gewesen ist, aber auch hier mußte ich angesichts der Fülle der Texte, die für diesen pindarisme in Frage kommen, auf eine Behandlung der Frage verzichten. Der dritte und letzte Bereich, in dem Pindars Name in der französischen Literatur weit verbreitet war, ist die „ode pindarique". Zunächst sei einmal geklärt, was mit diesem Namen gemeint ist: Im allgemeinen bezeichnet man unter den Gedichten Ronsards nur seine triadischen Oden36 so, die sich durch besonders zahlreiche Entlehnungen aus Pindars Epinikien auszeichnen37. Wenn man nun aber bedenkt, daß Pindar auch monostrophische Oden geschrieben hat38, könnte man geneigt sein, den Kreis der pindarischen Oden Ronsards nicht nur auf die triadischen zu beschränken. Dennoch kann man feststellen, daß die (zweifellos vorhandenen39) Beziehungen zu Pindar in den monostrophischen Oden Ronsards wesentlich weniger zahlreich sind als in den triadischen. Auch in der Wahl der Themen kann man von einem gewissen Bruch zwischen den triadischen und den monostrophischen Gedichten sprechen: Letztere behandeln auch pastorale Themen oder Liebesdichtung und nähern sich so den horazischen Carminai. So werde ich im folgenden den Begriff ode pindarique als Synonym für „triadische Ode" verwenden; ausschlaggebend war für mich dabei außer den genannten Beobachtungen am Text der Odes Ronsards, daß in der späteren französischen Tradition der Begriff ausschließlich in diesem Sinne verwendet zu sein scheint41.

36) Es sind dies zwölf der ersten dreizehn Gedichte der Quatre premiers liures (bis auf die siebente Ode, die „Vsure a luimesme"), die Ode de la paix, ebenfalls aus dem Jahr 1550, und die „Ode à Michel de l'Hospital", die achte im Cinquiesme liure des Odes von 1552; also insgesamt vierzehn Gedichte. 37) Fast alle Anklänge sind in LAUMONIERS Ausgabe der Werke Ronsards vermerkt, wobei bisweilen sogar des Guten zuviel getan wird (s. z. B. unten S. 200 Anm. 166); vgl. femer SILVERS Dissertation aus dem Jahre 1937, Pindaric Odes of Ronsard. 38) Ol. 14; Pyth. 6. 12; Nem. 2. 4. 9 und Isth. 8. 39) So wird z. B. das Prooem von Pyth. 1 in der letzten Ode des ersten Buches, das von Ol. 6 in der ersten des zweiten Buches imitiert. 40) Das erste Gedicht, das nach den erhabenen Oden des ersten Buches einen deutlich leichteren Ton anschlägt, ist 1, 17 „Auantuenue du printens" (OC 1, 147-154; zur Sonderstellung dieses Gedichtes vgl. jetzt FENOALTEA, Du palais au jardin 46f.). Obwohl auch hier mit dem Mythos der Weltzeitalter ein Element des erhabenen Stiles zu finden ist, gehört das „pastorale" Besingen der Rückkehr des Frühlings (ein horazisches Thema, vgl. carm. 1,4; 4 , 7 und 12; auch Horaz variierte darin schon ein beliebtes Thema, vgl. NISBET/HUBBARD, Horace Odes 1 58-61) eindeutig nicht mehr zu dieser Stilhöhe. Für die monostrophischen Gedichte 1,14-16 hingegen kann man noch keinen Bruch zu den vorhergehenden triadischen Gedichten feststellen; auch diese drei Oden sind Enkomien im hohen Stil und könnten sich somit an Pindars monostrophische Gedichte anschließen. 41) Bemerkenswert ist, daß in Frankreich in fast allen odes pindariques die metrische Struktur besonders deutlich gekennzeichnet ist: Die Namen „strophe", „antistrophe" und „épode" (o. ä.) werden ausdrücklich in den Text gesetzt, möglicherweise in Anlehnung an die Anordnung in Pindarausgaben dieser Zeit.

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D i e metrische Form der ode pindarique

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wird nach Ronsard rasch zu e i n e m

beliebten G e n u s der französischen Literatur. Während aber bei Ronsard selbst der Ausdruck „pindarische Ode" s o w o h l die Form als auch den Inhalt b e z e i c h net, wird er bei den nachfolgenden Dichtern rasch ausgehöhlt und zu einer rein formalen Bezeichnung, die sich nur auf die triadische Struktur bezieht. Zwar ist der Großteil dieser späteren odes pindariques

w i e Ronsards Gedichte in den B e -

reich der enkomiastischen Literatur einzuordnen, aber A n l e h n u n g e n an Pindar werden seltener, und man findet jetzt sogar leichte Liebesdichtung in Form von triadischen Oden. Trotz dieser erkennbaren Tendenz, sich in der ode pindarique vor allem an Ronsard anzuschließen, scheinen mir manche Forscher zu weit darin zu gehen, den französischen Dichtern nach Ronsard jegliche direkte Pindarkenntnis abzusprechen. Gewiß können die bis ins siebzehnte Jahrhundert in der Dichtung zu findenden Lobspriiche auf den „Lyricorum princeps" 42 und die in den poetologischen Abhandlungen auftauchenden Hinweise auf Pindar als großes Vorbild der Odendichtung43 als Lippenbekenntnisse abgetan werden, die ohne jede Kenntnis des Originals nur Themen Ronsards variieren, doch finden wir andererseits auch immer wieder Fälle eindeutiger und unabhängiger Kenntnis der Epinikien. Außer den zahlreichen Belegen im Hauptteil der Untersuchung seien dafür im folgenden schon vorab einige Beispiele angeführt. So wird in der 1554 gedruckten Ciaire Le Carons in einer Marginalanmerkung (f. 41) mit Quellenangabe eine Passage aus Pindars Ol. 10 zitiert; die ode pindarique „Au Seigneur de Ronsard prince des Poetes François" (f. 184v) beginnt mit einer Imitation des Prooimions der fünften nemeischen Ode. Ein typischer Fall ist der des Dichters Amadis Jamyn, des Sekretärs Ronsards: Nur zögernd gesteht seine Biographin GRAUR ihm eine direkte Kenntnis der Epinikien zu und glaubt nicht an einen nennenswerten Einfiuß des Thebaners auf seine Dichtung44. Dennoch finden wir in der „Ode, au Roy Charles IX. Sur sa Forge" aus seinen Oeuures poetiques von 1575 (f. 62 v ) zwei klare Anspielungen auf Ol. 1. Das Prooimion dieses Gedichtes ahmt auch der Beginn von Louis de Balsacs45 „Ad Georg. Armagniacum cardinalem. Ode ad numéros pindaricos" aus seinen 1578 erschienenen Opera Poetica (f. 66 v ) nach. Griechisch zitiert Jean-Edouard Du Monin im Nachwort „Au lecteur" seiner Nouuelles oeuures von 1582 eine Sentenz Pindars (Ol. 1, 33). Jean de La Jessée übersetzt im ersten Band seiner Premieres oeuures von 1583 (37, p. 493) einen Teil von Nem. 10 ins Französische. Mit ausdrücklicher Nennung des Verfassers zitiert Gilles Durant de La Bergerie am Beginn der Ode „A Antoine Mornac aduoeat en parlement" seiner Œuures pœtiques von 1594 (f. 155r) das Prooimion der ersten Pythie. Alle diese Belege sollten uns vorsichtiger werden lassen in der Tendenz, den französischen Dichtem der Renaissance direkte Kenntnis der pindarischen Epinikien leichtfertig abzusprechen. Auch um die Griechischkenntnisse dieser Epoche muß es besser gestanden haben, als mancher zuzugeben bereit ist 46 , bedenkt man, daß in den beiden Jahrzehnten zwischen 1541 42) S. unten S. 98-107. 43) S. unten S. 161-177. 44) Amadis Jamyn 119 Anm. 7: « Jamyn, qui connaissait le grec, a pu fréquenter Pindare ; mais c'est surtout l'attitude pindarique selon Ronsard qu'il adopte dans ses odes grecques. » 45) Zu Balsac vgl. DEMERSON, „Ode pindarique latine" 295 mit Anm. 67. 46) So hat man selbst Ronsard Griechischkenntnisse absprechen wollen und sich die Frage gestellt, ob dieser Schüler Dorats Pindar überhaupt im Urtext lesen konnte (so z. B. der

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und 1561 um die zehn Prozent aller in Frankreich gedruckten Bücher Ausgaben klassischer griechischer Texte waren und sich diese Ziffer bis zum Ende des Jahrhunderts immer noch bei fast fünf Prozent hielt17: Diese zahlenmäßig bedeutende Produktion 48 muß ihren Markt gehabt haben. Und schließlich gab es seit 1528 die erste vollständige lateinische Übersetzung Pindars von Lonicer (8 und die Nachdrucke 9. 12 und 25), zu der 1558 die Übersetzung Melanchthons (22. 27), 1560 die Estiennes (24. 29. 31. 38. 41. 45. 48. 52. 62. 63) und 1575 die metrische Übertragung Le Sueurs (33. 34. 35. 44. 60) hinzukamen (erst im siebzehnten Jahrhundert werden die ersten vollständigen französischen Übersetzungen von Marin, 57, und Lagausie, 64, gedruckt): Auch hier scheinen die zahlreichen Drucke ein gewisses Publikumsinteresse vorauszusetzen. So wird man aus diesen Daten den Schluß ziehen, daß bei der im gesamten sechzehnten Jahrhundert in der französischen Literatur anzutreffenden ode pindarique zwar der Einfluß des übermächtigen Ronsard eine sehr große Rolle spielt, daß aber bei Dichtern und Publikum dieser Zeit mit einer direkten Pindarkenntnis stets gerechnet werden muß.

Obwohl sich also das Gros der späteren odes pindariques in der französischen Literatur weiter von Pindar entfernt, kann man somit auch hier direkte oder indirekte Wirkung niemals ausschließen 49 , und eine auf Vollständigkeit einflußreiche Ronsardforscher LAUMONIER; in seiner Nachfolge verneint auch ETIENNE, „Ronsard a-t-il su le grec" die im Titel seines Aufsatzes gestellte Frage rundweg; eine kurze Darstellung der Forschungsgeschichte dieses Problems bei SILVER, Ronsard and the Greek Epic 56-58). Man könnte bisweilen den böswilligen Gedanken hegen, manche Renaissanceforscher hätten es deshalb so eilig, die griechische Literatur als Einfluß auszuschalten, weil sie selbst in ihr weniger sattelfest sind - vgl. die Worte HIGHETS, Classical Tradition 157 über den "decline in classical knowledge" und die daraus resultierende Folge für das Verständnis der Renaissanceliteratur: "[...] readers do not like to think that, in order to appreciate poetry, they themselves ought to have read as much as the poet himself." 47) Vgl. die Statistiken in Histoire de l'édition française 548. Erwähnenswert ist auch, daß schon zuvor griechische Texte, besonders Aldinen, in größerem Umfang aus Italien nach Frankreich importiert wurden, vgl. BUNKER, Bibliographical Study 9f. und KRISTELLER, Humanismus und Renaissance 2, 95f. 48) Sie kommt der Produktion italienischer Bücher in Frankreich gleich und übersteigt die spanischer Texte. 49) Selbst triadische Oden, deren Inhalt auf den ersten Blick gar nichts mit Pindar gemein hat, können Zeugnisse für seine Rezeption sein, wofür ich ein interessantes Beispiel aus der italienischen Literatur anführen möchte. Der Dichter Gian Giorgio Trissino (1478-1550) verwendet in seinem Werk zweimal triadische Oden: Zum einen in den Zwischenaktliedem der 1515 zum ersten Mal gedruckten Tragödie Sophonisba, zum anderen in neun „Canzconi" seiner 1529 gedruckten (aber offenbar schon früher entstandenen, vgl. BOLGAR, Classical Heritage 443) Rime. In beiden Fällen würde wohl niemand pindarischen Einfluß vermuten: Die Chorlieder sind eng an den Handlungsgang der Tragödie gebunden, die Gedichte aus den Rime enthalten petrarkische Liebesdichtung (vgl. MADDISON, Apollo and the Nine 144); selbst die metrische Form läßt kaum an ein pindarisches Epinikion denken, denn anders als in französischen odes pindariques fehlen Bezeichnungen wie „Strophe", „tour" oder „pause", und die triadische Struktur ist nur bei sehr genauem Hinsehen erkennbar, zumal zwei sehr kurze „Stollen" oft von einem relativ langen „Abgesang" begleitet sind. Dennoch ist Trissinos eigene Aussage über das Vorbild dieser triadischen Kompositionen in seiner Pcoetica von 1529 eindeutig (f. LVII V ): [...] ito ad imitazione di Pindarca (il quale fa la stropha, ε la antistropha simili, ε poi induce Pepeado) diverso da ltorco) ho fatto canzoni, le quali hanno le due prime stanzie simili di ccompcositura a guisa di stropha, ε di antistropha; ε la terza

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angelegte Arbeit müßte auch diesen Bereich untersuchen; eine solche Studie wäre auch deshalb interessant, weil bisher noch niemand diese Form der französischen Lyrik systematisch untersucht hat50. Ich selbst habe als Vorarbeit für diese Dissertation Forschungen über französische und neulateinische pindarische Oden angestellt und dabei gefunden, daß sich zwischen 1551 und 1630 mehr als vierzig Dichter in Ronsards Nachfolge in dieser Gedichtform versuchen; darunter stößt man auf so umfangreiche Sammlungen wie die 23 pindarischen Oden in der zweiten Auflage der Schediasmata (1586) des deutschen Humanisten Paul Schede und den Gedichtband des Jean Le Blanc mit dem Titel Odes pindariques (1604), der 20 solcher Oden enthält, oder auf barocke Monstrositäten wie die Roy aies couches des Claude Garnier (1604) in 38 und den Panegyrique Bourbonien des François Berthrand d'Orléans (1623) in 73 (siel) Triaden. Und selbst die von mir untersuchten mehr als 120 pindarischen Oden stellen sicherlich nur einen Teil der tatsächlich existierenden dar: Ohne Zweifel könnte man in kollektiven oder individuellen Gedichtsammlungen und besonders in den zahlreichen enkomiastischen pièces liminaires von Büchern aller Art dieser Epoche51 noch wesentlich mehr finden; auch französische Dramen dieser Zeit enthalten odes pindariques52. Besonders hingewiesen sei hier auch darauf, diversa da esse crome ερωάω; eco η la quale terza stanzia si concorda la sesta; si c o m e fa la quarta, ε la quinta cron la prima, ε cron la secronda; ε erosi seguita questo (ordine di tre stanzie in tre stanzie, finco che dura la canzone. Dieser Tatbestand sollte uns zur Vorsicht mahnen, die Möglichkeit von Pindarrezeption von vornherein dort abzulehnen, wo sie nicht direkt sichtbar ist: Wenn Trissino nicht selbst darauf hingewiesen haue, wäre wohl kaum ein Forscher auf den Gedanken gekommen, hier auch nur von indirekter Pindarnachwirkung zu sprechen. 50) Man findet einige Namenslisten von Dichtern, die odes pindariques geschrieben haben, bei MARTINON, Strophes 453; VAGANAY, Odes pindariques après Ronsard und CHAMARD, Histoire de la Pléiade 1,373f., aber keine wirkliche Untersuchung dieser Gedichte. 51) Diese Gedichte und Prosastücke, meist Lobsprüche für den Verfasser des jeweiligen Buches und sein Werk, können zuweilen eine außerordentliche Ausdehnung annehmen, so sind ζ. B. in den Opuscules Antoine de Blondeis (1576) 47 von 240 Seiten solchen pièces liminaires gewidmet. Zur Wichtigkeit ihrer Rolle in der Literatur der Renaissance vgl. MCFARLANE, „Poésie néo-latine à l'époque de la Renaissance" 9f. 52) Dagegen macht HIGHET, Classical Tradition 629 Anm. 23 den zunächst schlüssig erscheinenden Einwand geltend, triadische Chorlieder in Dramen der Renaissance sollten aus dem Kreis der „pindarischen Oden" ausgeschieden werden, weil sie ebensogut auf die häufig ebenfalls triadisch gegliederten Chorlieder der attischen Tragödie zurückgehen könnten, und tatsächlich zeigen die von mir eingesehenen Chöre auch keinerlei textliche Entlehnungen aus den Epinikien. Dennoch ist die Bezeichnung ode pindarique auch hier angebracht: Wenn in Fronton Du Ducs Histoire tragique de la Pucelle (1581) und Pierre Matthieus Esther tragedie (1585) alle akttrennenden Lieder triadisch sind und ihre Teile die Bezeichnungen „strophe antistrophe - épode" tragen, so sehe ich darin eher den Einfluß von Ronsards odes pindariques als den der attischen Tragiker. Noch deutlicher wird dieser Einfluß in Jean Godards Franciade (im zweiten Band seiner Œuures, 1594), wo wir nach dem 4. Akt eine Art Siegeslied des Chores finden, das sogar ausdrücklich die Gattungsbezeichnung ode pindarique trägt: „Chœur des soldards Troyens. Ode Pindarique. Danse - Arriere-Danse - Pause". Auch hier zeigt der Text nirgendwo direkte Pindarreminiszenzen, und selbst der allgemeine Ton ist weit von Ronsards

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daß die neulateinische Dichtung gerade der französischen Renaissance ein verhältnismäßig wenig behandeltes Gebiet darstellt, auf dem noch viele Entdeckungen gemacht werden können53. Ein Teil des während dieser Vorarbeiten von mir gesammelten Materials konnte in diese Arbeit einfließen, aber eine systematische Untersuchung der odes pindariques hätte ihren Rahmen gesprengt54. Eine letzte Unvollständigkeit schließlich ist sachlich begründet: Einige Interpreten55 haben in ihren Untersuchungen der odes pindariques Ronsards auf dessen italienische Vorläufer (außer dem Anm. 49 schon zitierten Trissino seien noch Francesco Filelfo, Benedetto Lampridio, Antonio Sebastiano Minturno und Luigi Alamanni erwähnt) verwiesen und behauptet, Ronsard habe sich eher an ihnen als an Pindar selbst orientiert. MADDISON 56 gibt an, Filelfo habe Pindar gekannt und seine griechischen Oden enthielten auch Pindarreminiszenzen; da aber diese griechischen Gedichte auf den Wunsch des Dichters hin unpubliziert blieben, können sie Ronsard oder Dorat nicht beeinflußt haben. In den vier Büchern lateinischer Odae von 1497 konnte ich keine Anklänge an Pindar entdecken. Er wird genannt in einer pièce liminaire, einem Lobgedicht auf Filelfo von einem loannes Franciscus Hostianus; dort heißt es, Filelfo übertreffe die antiken Schriftsteller, weil er Redner u n d Dichter sei, in dem anschließenden langen Katalog der Autoren, die Filelfo übertroffen hat, fallt auch Pindars Name. Filelfo selbst beginnt das erste Gedicht des ersten Buches mit einer Kette von Fragen, die gewiß an Pindar erinnern, die man aber auch bei Horaz 57 finden kann: Ergo quid tandem cupimus referre? Ducta quem nobis uolucris sagitta Fertur ad calcem? quibus excitamur Ignibus acti?* Lampridio hat ein Widmungsgedicht für die Pindaredition des Calliergi (2) verfaßt 58 . Ein großer Teil seiner Carmina ist in Triaden geschrieben, doch fehlt jeder explizite oder implizite Hinweis auf Pindar. Zudem wurden die Carmina erst 1550 gedruckt, als Ronsard seine odes

pindarischen Oden entfernt, ein zumindest indirekter Einfluß ist aber allein durch die Genusbezeichnung unverkennbar. Somit müßten auch die Chorlieder französischer Dramen in eine Untersuchung der ode pindarique einbezogen werden. 53) So sagt MCFARLANE, „Poésie néo-latine et poésie de langue vulgaire" 3 8 9 zu Recht: « [...] les érudits ont eu tendance à négliger la littérature néo-latine de la France qui attend toujours son Ellinger ou son Leicester Bradner. » 54) Um zukünftigen Forschern die Arbeit zu erleichtern, habe ich in mein „Verzeichnis der zitierten Literatur" aber alle Bücher aufgenommen, in denen ich auf lateinische oder französische odes pindariques gestoßen bin. 55) So besonders MADDISON, Apollo and the Nine 228 Anm. 1 und die in den folgenden Anmerkungen zitierten Stellen. 56) Ebd. 39-43. 57) S o z. B. carm. 1, 12, 1-3, w o Pindar Ol. 2 imitiert wird: „Quem uirum aut heroa lyra uel acri / tibia sumis celebrare, Clio? / quem deum?"; an dieses Gedicht fühlt man sich auch durch das identische Metrum bei Filelfo (sapphische Strophen) erinnert. 58) Vgl. IRIGOIN, Histoire du texte 409.

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pindariques schon geschrieben hatte59. Der literarische Weit von Lampridios pindarischen Oden war schon bei seinen Zeitgenossen umstritten. Paolo Giovio lehnt sie im Abschnitt über Lampridio seiner Elogia doctorum virorum von 1557 rundweg ab (p. 219): Scripsit Odas xmulatione Pindarica eruditas & graues, sed ob id plerisque minus iucüdas, quod prisci, imitationeque difficilis poetas cursum, tanquàm inflati, & tortuosi fluminis sequutus insolentior, & durior Latinis auribus euaserit. Fit enim, monente Fiacco, vt qua optima & excellenter Grœcè ornata intelliguntur, vel paribus numeribus tractata ad genium Latina suauitatis mimimè respondeant.* Gian-Matteo Toscani hingegen lobt in seinem Ρeplus Italiœ von 1578 gerade Lampridios pindarische Oden ausdrücklich und polemisiert mit einem persönlichen Seitenhieb gegen Giovio (p. 56): Cremona Lampridiü nostri sxculi miraculum edidit. qui quod Horatius stultae temeritatis esse existimauit tentare, sibi procliue admodum esse declarauit, Pindari imitationem, quem felicißime Latinis est versibus xmulatus: vt Aurato Poetarum regi, & omnibus Grcecae lingux peritis videtur. Nam Iouius qux non assequitur, ea non probat Was den angeblichen Einlluß M inturno.s auf Ronsard angeht, so ist mir die Aussage MADDISONS60 unverständlich: Sie schreibt, Mintumo habe schon 1535 zwei triadische Oden „veröffentlicht" („published"), gibt aber als Ausgabe dieser Gedichte Mintumos Rime et prose aus dem Jahre 1559 an. Möglicherweise entstanden die Gedichte schon früher 61 , aber von einer Veröffentlichung kann doch wohl erst zum Zeitpunkt der Drucklegung geredet werden, als Ronsards Odes schon lange vorlagen (Mintumo könnte sogar durch ihn beeinflußt sein). Es handelt sich um zwei Oden an Kaiser Karl V. zu je fünf Triaden (p. 166 und 176), deren einzelne Teile jeweils mit „Volta - Riuolta - Stanza" bezeichnet sind. Der Beginn des ersten dieser Gedichte „A" Carlo quinto imperadore, uincitor dell' Africa" beginnt ähnlich wie die erste Ode Filelfos (oben S. 24) mit Fragen: Qual Semideo, anzi quai nouo Dio Tra gli huomini mortali, Qual supremo ualor, qual Gioue in terra, Qual Febo nel sauer, qual Marte in guerra, Qual' onor d'immortali Virtù, qual uincitor modesto, e pio Con ardente disio Di cantar lui m'infiamma [...]? Ob hier allerdings eine direkte Nachwirkung der pindarischen Epinikien vorliegt, kann kaum entschieden werden. Gekannt jedenfalls hat Mintumo den Thebaner und in seinem Dialog De poeta, ebenfalls aus dem Jahr 1559 (23), die erste olympische Ode übersetzt62.

59) Annahmen, Lampridio habe schon vorher durch mündliche Kontakte (über Michel de L'Hospital) die Pléiade beeinflußt (vgl. DEMERSON, „Ode pindarique latine" 285 und MARGOLIN, „Pindare et la Renaissance" 132), bleiben rein spekulativ. 60) Apollo and the Nine 144. 61) Nichts zwingt uns, die Entstehung in dasselbe Jahr 1535 zu legen, in das Karls erfolgreicher Feldzug gegen Tunis fiel, auf den der Titel der ersten Ode („uincitor dell' Africa") anspielt. Sicher ist nur, daß die Gedichte vor der Abdankung Karls 1556 entstanden. 62) S. unten S. 88f.

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Am ehesten könnten Alamannis 1533 erschienene Opere Toscane als Einfluß auf Ronsards Odes genannt werden. In ihrem zweiten Band findet man p. 196-232 acht triadisch komponierte „Hymni", deren Teile mit „Ballata Contra Ballata - Stanza" bezeichnet sind63. Obwohl Alamanni zu Beginn des ersten Gedichtes angibt, er wolle «Nel Pindaresco stile» schreiben, lassen sich in den enkomiastischen „Hymni" doch keine direkten Pindarreminiszenzen feststellen. Möglicherweise kannte Ronsard diese Gedichte und ließ sich von ihrer metrischen Gestaltung anregen, auch seinerseits die pindarische Triade in aus stichisch verwendeten, gereimten Kurzversen (meist sieben bis zehn Silben umfassend) bestehenden Strophenformen zu „imitieren"64, doch ist dies eine reine Spekulation. Selbst wenn man diese Möglichkeit akzeptiert, so handelt es sich doch um einen rein formalen Einfluß, während Ronsards Odes im Gegensatz zu Alamannis Gedichten zahlreiche Anklänge an den Pindartext enthalten, so daß man sich wohl L A U M O N I E R S 6 5 kategorischer Aussage anschließen kann: « Ronsard suit Pindare et non pas Alamanni. » Die französische Dichtung des sechzehnten Jahrhunderts ist der italienischen Literatur in mannigfacher Weise verpflichtet (man denke nur an den kaum zu überschätzenden Einfluß Petrarcas), aber die Pindarimitation scheint ein autochthones Produkt Frankreichs, kein Import aus Italien zu sein; daher werde ich in dieser Arbeit auf italienische Pindarnachahmer nicht zu sprechen kommen.

3 So baut sich denn die Darstellung folgendermaßen auf: Der eigentlichen Untersuchung der Renaissancetexte gehen zwei einleitende, eher theoretische Kapitel voran. Als erstes findet man eine Darstellung der neuen Methoden und Ergebnisse der Pindarinterpretation. Die meisten Renaissanceforscher, auch solche, die sich mit Pindarrezeption mehr oder wenig ausführlich befaßt haben66, sind nicht genügend darüber informiert, daß Pindars Gedichte heute wesentlich anders gelesen werden als noch vor vierzig Jahren, und daß einige Behauptungen, die in der älteren Literatur zu Pindar wie sichere Tatsachen aussehen, heute fast einmütig abgelehnt oder zumindest stark bezweifelt werden. In der Tat hat in

63) Vgl. die Analyse bei MADD1SON, Apollo and the Nine 145-149. 64) Vgl. VIANEY, „Modèle de Ronsard" 433f. und die ausfürliche Behandlung bei HAU VETTE, Exilé florentin 452-454 (der mir aber die Wichtigkeit des Einflusses Alamannis auf Ronsard überzubewerten scheint). 65) Ronsard poète lyrique 704; vgl. auch 344 Anm. 1; dem zustimmend auch HIGHET, Classical Tradition 629 Anm. 23. 66) S. oben S. 14.

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der Pindarforschung eine « révolution Bundyenne »67 stattgefunden, und ich habe versucht, die Hauptpunkte dieser Revolution kurz darzustellen. Daran anschließend sollen kurz, ohne Anspruch auf Originalität, einige Grundbegriffe von „imitierenden" Texten im weitesten Sinne geklärt werden. Man kennt die ungeheure Bedeutung, die Verfahren wie Zitat und Zitatmontage, Parodie, Travestie u. ä. in der modernen und postmodernen Literatur und Kunst im allgemeinen angenommen haben. Dies hat auch zu einer explosionsartigen Vermehrung von theoretischen Arbeiten über solche Aspekte der Literatur geführt. Wenn auch nicht alle diese neuen Ansätze für die Arbeit mit älterer Literatur geeignet sind, so sollte doch weder die Klassische noch die Renaissancephilologie sie einfach ignorieren, sondern auf ihre jeweilige Brauchbarkeit gründlich prüfen. Für mich kam noch die Notwendigkeit hinzu, eindeutig offenzulegen, in welchem Sinne ich Begriffe wie „intertextuell" oder „Topos" verwende, da einige von ihnen von verschiedenen Forschem unterschiedlich definiert werden. Den Hauptteil meiner Arbeit machen die zwei umfangreichen Kapitel über Pindarrezeption in Philologie und Poetik der Renaissance aus. Im ersten davon habe ich versucht zu zeigen, daß Dichter der Renaissance Pindar nicht in einem Vakuum lasen, sondern unter bestimmten Voraussetzungen: Die Editionen, Ubersetzungen und Kommentare, die sie benutzten, gaben ihnen ein bestimmtes Bild des antiken Autors vor; die herrschende communis opinio tat ein übriges, sie schon vor dem ersten Kontakt mit den Epinikien zu beeinflussen. Einigen besonders wichtigen Strömungen dieses Diskurses habe ich nachzugehen versucht und dabei festgestellt, daß sich zwischen dem Bild der Fachphilologen und dem der Dichter oft enge Parallelen ergeben. Im Kapitel über „Pindar in der Poetik der Renaissance" habe ich vor allem darzustellen versucht, wie Pindar in poetologischen Texten dieser Epoche beurteilt wurde; dabei stellte sich heraus, daß die häufig anzutreffende These, Pindar sei im Verlauf des sechzehnten Jahrhunderts in Frankreich völlig aus der Mode gekommen, sich nicht halten läßt. Kurz angeschnitten werden auch zwei Bereiche, in denen in der Renaissance der Name Pindar öfter genannt wird, die fureur poétique und der Komplex des „dunklen" Dichtens. Das so gewonnene Bild habe ich anhand von Einzelinterpretationen zu erhärten versucht; dabei lag mein Hauptaugenmerk nicht auf stofflichen Berührungen im Sinne einer „Quellenforschung" oder Einflüssen der „Ideen" Pindars, sondern auf der Art, wie die Autoren der Renaissance Pindars poetische Technik begriffen und selbst verwendeten. Hier konnte an vielen Stellen auf die Diskussionen der beiden vorhergehenden Kapitel zurückgegriffen werden. 67)

JOUAN, „Lecture actuelle" 30.

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Drei Anhänge runden meine Studie ab: zunächst eine Liste aller Pindarausgaben, Übersetzungen und Kommentare bis zum Jahre 1630. Für den an der Geschichte der klassischen Studien Interessierten wird sie schon in sich interessant und aussagekräftig sein: Sie zeigt die vielfältigen Formen, die die lebhafte Beschäftigung mit Pindar in dieser Zeit annehmen konnte. Eine möglichst vollständige Erfassung aller gedruckten und handgeschriebenen Arbeiten zu den wichtigsten klassischen Autoren ist ein Desiderat der Renaissanceforschung 68 ; meine Liste soll dazu einen kleinen Beitrag liefern. Zum zweiten habe ich die interpretierten Einzeltexte, die oft nur sehr schwer erreichbar sind, hier noch einmal abgedruckt; schließlich hielt ich es, besonders angesichts des teilweise fachübergreifenden Charakters der Arbeit, für nötig, die Originalzitate zu übersetzen, die dem nichtspezialisierten Leser unter Umständen Schwierigkeiten bereiten könnten. So habe ich denn für alle griechischen und für die (nach meinem subjektiven Empfinden) schwierigeren lateinischen und französischen Zitate Übersetzungen gegeben; diese wollen nur eine Verständnishilfe sein und keineswegs irgendeinen literarischen Anspruch stellen. Der fachübergreifende Aspekt hat mich auch veranlaßt, in umfangreichem Maße auf Sekundärliteratur zu verweisen, besonders habe ich zu den weniger bekannten Dichtern und Humanisten jeweils in einer Fußnote eine erste bibliographische Orientierung zu geben versucht. Der Fachmann des einzelnen Gebietes wird sicherlich manchen dieser Hinweise für unnötig halten, aber wer sich auf fremdem Boden bewegt, wird vielleicht manchmal dankbar sein, auch das dem Spezialisten Selbstverständliche erläutert zu sehen. Auch mir selbst ist es oft so ergangen, denn die Art meiner Arbeit brachte es mit sich, daß ich häufig die Gebiete verlassen mußte, auf denen ich mich zu Hause fühle69. Wenn in den Anmerkungen und im Text bisweilen gegen Vorgänger polemisiert wird, so bitte ich dies nicht als Ausdruck von Streitsucht anzusehen, sondern dem Engagement für die Sache zuzuschreiben. Auch dort, wo ich die Meinung früherer Gelehrter ablehne, bin ich mir bewußt, daß diese Studie ohne ihre Vorarbeiten niemals hätte zustande kommen können: Immer wieder müssen wir feststellen, daß wir nur Zwerge auf den Schultern von Riesen sind70. Schließlich sei noch auf eine in dieser Arbeit bei Originalzitaten verwendete Konvention hingewiesen: Die Darbietung der zitierten Textpassagen aus der Renaissance bot Probleme; dabei mußte ich zwischen lateinischen und 68) Dankbar sei erwähnt, daß Paul Oskar KRISTELLER mit seinen umfangreichen Studien Iter Italicum und Catalogus Translationum et Commentariorum zumindest begonnen hat, diese Lücke zu schließen, vgl. RYAN, „Neo-Latin Literature" 215. 69) Ich bin mir vor allem bewußt, die beeindruckende Menge an Büchern und Aufsätzen über die Pléiade und besonders Du Beilay und Ronsard nur zum geringen Teil zu überblicken. 70) Vgl. zu dieser von Bernhard von Chartres geprägten Formulierung und ihrer Geschichte MERTON, On the Shoulders of Giants.

1. Einleitung

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französischen Texten einerseits sowie den (wenigen) griechischen Texten aus der Renaissance andererseits unterscheiden. Während sich für das Französische des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts viele Herausgeber, besonders in Frankreich, zu einer teilweisen Modernisierung der alten Formen entschlossen haben, gebe ich hier, soweit möglich, diese Texte ebenso wie die lateinischen völlig unverändert wieder. Dies bedeutet, daß sich einige (sehr wenige) Abkürzungen finden werden, besonders eine Art Zirkumflex " statt der Nasale η oder m (röd = rond, höme = homme), das Zeichen 9 für die Endung -us (no 9 = nous), ferner in lateinischen Texten -q; für die Partikel -que (atq; = atque). Die Akzentsetzung wurde nicht vereinheitlicht, sondern unverändert übernommen, die Buchstaben i und j, u und ν nicht nach modernen Gesichtspunkten unterschieden (die Renaissance unterscheidet u und ν nur so, daß sich häufig die erste Form für vokalischen und konsonantischen Gebrauch im Wortinneren, die zweite am Wortanfang findet, also vn = un, trouuer = trouver; bei der Unterscheidung von / und j scheint es gar keine Regeln zu geben71). Eine teilweise Modernisierung scheint mir nur in Frankreich sinnvoll zu sein, wo Texte aus der Renaissance (im Gegensatz zu altfranzösischen Texten) den literarisch bewanderten Leser nicht vor unüberwindbare sprachliche Probleme stellen und diese Vereinheitlichungen ihm die Lektüre erleichtem (obwohl vielleicht auch gerade dort der durch Beibehaltung erzielte Verfremdungseffekt wünschenswert wäre, um den Leser durch einen nicht zu vertraut wirkenden Text vor den großen Unterschieden in der Sprache und den vielen faux amis zu warnen). Dieses Argument kann in Deutschland so nicht gelten, und ich hoffe, daß die Lektüre der zumeist recht kurzen Stücke in ihrer Originalform die Leser nicht über Gebühr ermüdet, zumal ich in einem Anhang zu den schwierigeren zitierten Texten eine Übersetzung gebe. Sicherlich ist das Gegenargument richtig, daß in der überwiegenden Anzahl der Fälle die orthographischen Konventionen nicht auf den Autor des jeweiligen Textes, sondern auf die Setzer und Drucker zurückgingen, aber andererseits sahen die Leser der Renaissance die Texte in eben dieser Form und erwarteten auch, sie so zu sehen, so daß ihre Beibehaltung durchaus ihren Sinn hat. Ebenso habe ich auch die Interpunktion der Renaissance unverändert übernommen 72 . Da ich in fast allen Fällen die Originaltexte aus dem sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert eingesehen habe, gilt dies auch für die Fälle, wo ich eine moderne Edition zitiere: Diese ist nur angegeben, damit der Leser Referenzen bequemer nachprüfen kann; die 71) Zur Unterscheidung dieser Buchstaben während der Renaissance vgl. CATACH, Orthographe française 312-314; diese sorgfältige und materialreiche Studie gibt erschöpfend Auskunft über Fragen orthographischer Konventionen im sechzehnten Jahrhundert. 72) Zur Interpunktionspraxis der Renaissance und ihren Unterschieden gegenüber dem modernen Gebrauch vgl. NICHOLS, „Conventions of Punctuaüon".

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1. Einleitung

Textgestalt in meiner Arbeit folgt den (oft abweichenden) Originalausgaben. Wo mehrere Ausgaben zu Lebzeiten eines Dichters gedruckt wurden, habe ich mich möglichst an die erste gehalten. Leider war es aber unumgänglich, von dieser klaren Regel drei Ausnahmen zu machen: Zum einen konnte ich die Unterscheidung der „runden" (s) und der „langen" ( 0 Form des Buchstabens s nicht beibehalten73. Die zweite Abweichung war bei der reformierten Rechtschreibung Jean-Antoine de Bai'fs notwendig, die eine ganze Fülle von Zusatzzeichen aufweist74; sie war mit dem begrenzten Zeichensatz eines Computers unserer Zeit nicht genau wiederzugeben. Ich habe daher versucht, Bai'fs Schreibweise so eng wie möglich nachzuahmen, mußte dabei aber den einen oder anderen Kompromiß eingehen. Die letzte Ausnahme bilden die wenigen zitierten griechischen Texte aus der Renaissance: Da hier das Druckbild der Renaissance mit seinen zahlreichen Ligaturen7S von vornherein nicht nachgeahmt werden konnte und da ferner viele Eigentümlichkeiten dieser Texte eher auf Unkenntnis und technische Probleme als auf die Beachtung von Konventionen zurückgehen, habe ich mich hier zu einer vollständigen Modernisierung entschlossen. Schließlich seien noch einige in der Arbeit verwendete Abkürzungen und Konventionen erklärt: Fettgedruckte Ziffern ohne weiteren Zusatz (1) verweisen auf die Numerierung in der Liste der Pindareditionen (S. 264-308). Im Anhang 3 (S. 329-339) übersetzte lateinische und französische Zitate aus der Primärliteratur sind im Text mit einem Sternchen (*) gekennzeichnet. Die Abkürzungen OC und OP bedeuten Œuvres complètes bzw. Œuvres poétiques. Die Abkürzungen antiker Werke folgen im allgemeinen dem Greek English Lexicon von Liddell/Scott/Jones und dem Thesaurus linguae Latinae. Die Gesänge der Ilias werden mit großen, die der Odyssee mit kleinen griechischen Buchstaben zitiert. Für die Namensangaben der Humanisten erschien es mir nicht praktikabel, den Gebrauch von latinisierten (oder gräzisierten) und muttersprachlichen Namensformen zu vereinheitlichen: Manche Formen sind so vertraut (z. B. Sainte-Marthe und Dorat gegenüber Ramus und Melanchthon), daß die Uneinheitlichkeit eher in Kauf genommen werden konnte als ein Abweichen vom Gewohnten. 73) Sie sieht in französischen Texten im allgemeinen so aus, daß im Wortinnern die „lange", am Wortende die „runde" Form geschrieben wird. 74) Von Bai'fs Étrénes gibt es einen modernen Faksimilenachdruck, so daß sich der interessierte Leser relativ leicht einen Eindruck verschaffen kann. Zu den zahlreichen (letztlich mißglückten) Rechtschreibreformen in Frankreich während des sechzehnten Jahrhunderts vgl. RICKARD, Langue française 38-47, der auch 47 eine Seite aus Baïfs Étrénes abbildet. 75) Vgl. zum griechischen Druck der Renaissance außer der klassischen Darstellung SCHOLDERERS, Greek Printing Types auch BARKER, Aldus Manutius und den kürzlich erschienenen Aufsatz DRYSDALLS, „Abréviations et lettres ligaturées" zu den Ligaturen.

2. Pindardeutung nach Bundy

Die folgenden Seiten wollen keine neue kurze Gesamtdarstellung von Pindars Dichtung sein1; sie wollen auch nicht den Anspruch erheben, eine Geschichte der neueren Pindarforschung zu sein2. Eine solche zu schreiben wäre wohl heute recht schwer: Auf dem Gebiet der Pindarforschung ist (teilweise in Analogie zum Gesamtgebiet der klassischen Studien) gerade in den letzten Jahrzehnten eine starke Zersplitterung zu beobachten3. Neben traditionelle Beiträge, die eine philologische und interpretatorische Behandlung der Epinikien versuchen, treten Studien, die sich bemühen, neue Wege bei der Deutung der antiken Texte und der antiken Kultur zu gehen, wofür nur einige wenige Beispiele genannt seien: So finden wir dekonstruktionistische Lektüren der Epinikien4, ein Interesse an den Verbindungen von Pindars Gedichten zu religiösen Ritualen, besonders Initiationszeremonien5, eine Interpretation seiner Epinikien im Rahmen des von BAKHTIN6 stammenden Konzeptes des „Karneval"7 und sehen Pindar eingeordnet in den Zusammenhang einer mündlichen, archaischen Kultur, die eher mit anthropologischen als mit literaturwissenschaftlichen Methoden erforscht werden kann8. All diese Forschungstrends müssen hier ebenso vernachlässigt werden, wie es unmöglich ist, zu jedem der im folgenden dargestellten Grundsätze einer 1) Unter den kürzeren Darstellungen, die auch für Nichtfachleute verständlich sind, weise ich besonders auf WILLCOCK, „On First Reading Pindar" und „Second Reading of Pindar" sowie auf YOUNG, „Pindar" hin. 2) Eine solche Geschichte findet sich in mehreren neueren Arbeiten zu Pindar, vgl. außer der oben S. 14f. genannten Literatur ζ. B. noch KÖHNKEN, Funktion des Mythos 2-10; LLOYD-JONES, „Modern Interpretation of Pindai" und „Pindar"; LEHNUS, Olimpiche XXIIIXXVII; NEWMAN/NEWMAN, Pindar's Art 1-38; MOST, Measures of Praise 25-41 und KRUMMEN, Pyrsos Hymnon 10-27. 3) Dies wurde schon 1986 von HEATH, „Origins of Modern Pindaric Criticism" 98 festgestellt: "The vigour and diversity of contemporary Pindaric studies make it hazardous to generalise [...]." 4) HUBBARD, Pindaric Mind. 5) CROTTY, Song and Action', KRUMMEN, Pyrsos Hymnon. 6) Vgl. besonders Œuvre de François Rabelais. 7) NEWMAN/NEWMAN, Pindar's Art. 8) GENTILI, Poetry and Its Public und NAGY, Pindar's Homer.

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2. Pindardeutung nach Bundy

literarischen Deutung der Epinikien jeweils die oft kontroverse Diskussion nachzuverfolgen. Insofern wird die folgende Darstellung notwendig subjektiv sein. Dennoch können wohl viele der dargestellten Punkte als „konsensfähig" bei einer ganzen Reihe von Interpreten gelten. Über einen Punkt jedenfalls dürfte bei Vertretern aller Forschungsrichtungen Einigkeit herrschen, nämlich darin, daß Elroy L. BUNDYS 1962 zum ersten Mal erschienene Studia Pindarica einen entscheidenden Wendepunkt in unserer Interpretation Pindars bedeuten 9 . Dennoch sind die in diesem schlanken Buch dargestellten Ideen weit davon entfernt, von allen Forschern anerkannt zu werden, und sicherlich gibt es auch heute noch eine nicht ganz gering zu veranschlagende Anzahl von Pindardeutern, die ihnen rundweg ablehnend gegenübersteht 10 . Niemand aber, der sich mit Pindar beschäftigt, kann es sich leisten, diese Ideen zu ignorieren 11 . Im folgenden werde ich daher versuchen, das von Bundy zuerst skizzierte und seitdem von vielen Forschern weiterentwickelte neue Pindarbild kurz darzustellen; dieser Versuch wird Pindarfachleuten nichts Neues sagen, er ist in erster Linie für diejenigen gedacht, die mit diesem neuen Bild noch nicht vertraut sind. Worin also liegt Bundys Hauptverdienst? Was sind die wichtigen methodischen Neuerungen, die er nach den oben (s. Anm. 9) zitierten Urteilen in die Pindardeutung eingeführt hat? Diese Fragen zu beantworten fällt nicht ganz leicht, aus zwei Gründen. Zum einen kündigte BUNDY am Ende seiner Studia Pindarica12 selbst an, weitere Oden Pindars auf dem von ihm begangenen Weg interpretieren zu wollen; diese neuen Studien aber sind niemals erschienen, und wir besitzen so nur seine Lektüre zweier Epinikien, die, wie er selbst zugibt 13 , exzeptionell sind: Es handelt sich um relativ kurze Gedichte, die keine mythischen Erzählungen enthalten und in der Geschichte der Pindardeutung nie besondere Aufmerksamkeit erregt haben. Zum anderen aber enthalten Bundys Aufsätze keine Passagen, in denen er ausführlich und zusammenhängend seine methodischen Ansprüche darstellt. Abgesehen von wenigen Andeutungen zu 9) Vgl. beispielsweise THUMMER, „Pindaros: 2. Bericht" 294: „eine neue Methode der Pindarexegese, die einen Wendepunkt - vielleicht den wichtigsten seit Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Pindar - auf dem Weg zum Verständnis des Dichters darstellt"; YOUNG, „Pindaric Criticism" 88: "his work is probably the most important of this century"; SLATER, „Doubts about Pindaric Interpretation" 193: "the most outstanding contribution to the study of Pindar in this century"; KOPFF, „American Pindaric Criticism" 50: "Bundy's importance is no longer subject to question." Der Versuch CLAYS, „Greek Studies" 288-290, eine Gesamtwürdigung von Bundys Einfluß in Nordamerika zu geben, fällt durch mangelnde Sachkenntnis auf dem Gebiet der Pindarforschung recht dürftig, teilweise auch falsch aus. 10) Vgl. KOPFF, „American Pindaric Criticism" 51 und JOUAN, „Lecture actuelle" 30. 11) Vgl. JOUAN, „Lecture actuelle" 30: « D'une façon ou d'une autre, les critiques ultérieurs ont été amenés à se situer par rapport au système de Bundy. » 12) 2, 92; vgl. auch 1, 4 Anm. 15, wo er angibt, er sei dabei, eine Monographie zu Pyth. 2 zu schreiben. 13) 2, 92.

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Beginn und zum Ende seiner Untersuchungen müssen wir uns darauf beschränken, seine Methode aus seiner Interpretationspraxis herauszulesen. Das wohl wichtigste Verdienst der Studia Pindarica besteht darin, in Erinnerung zu rufen, daß die vier Bücher Oden, die uns von Pindar überliefert sind, als Epinikien zur Feier eines athletischen Sieges geschrieben wurden und daß ihr Zweck daher sein muß, den Sieger und Auftraggeber des Liedes zu loben. Diese Aussage könnte so banal erscheinen, daß ihre Wiederholung überflüssig ist, aber in der Geschichte der Pindardeutung haben die Interpreten diese simple Wahrheit nicht immer anerkannt. So schrieb z. B. GRONINGEN14 im Jahre 1958: [La] lie Pythique prouve que l'épinicie ne doit pas être considérée par définition comme un panégyrique, un éloge, un έγκώμιον au sens technique ultérieur. [...] Le poète a toute liberté de traiter la matière qui s'offre à son génie, fût-elle strictement personnelle. Si l'on veut munir cette ode-ci d'une étiquette, il faut lui donner le nom de profession de foi, d'apologie, ou de protestation. Il s'y ajoute un éloge nécessité par l'occasion, mais qui n'est qu'un accessoire. BUNDY widerspricht genau dieser Sicht, wenn er kategorisch (und sicherlich provokativ) schreibt 15 : "there is no passage in Pindar and Bakkhulides that is not in its primary intent enkomiastic—that is, designed to enhance the glory of a particular patron." Das gesamte Genus Epinikion gehöre in den größeren Zusammenhang der enkomiastischen Literatur, und jede Ode Pindars sollte als ein Versuch gelesen werden, den Adressaten zu preisen und die Zuhörer davon zu überzeugen, daß dieses Lob verdient und aufrichtig ist16. Insofern sind Pindars Epinikien „rhetorisch", weil sie mittels Argumenten den Rezipienten von einer These (hier von den herausragenden Leistungen des Siegers) überzeugen wollen 17 .

14) Composition littéraire 366; ähnlich ζ. Β. FRANKEL, Dichtung und Philosophie 500: „Der Preis des Siegers ist nur ein Thema neben anderen im Epinikion.", und noch vor wenigen Jahren bezeichnete GENTILI, Poetry and Its Public 111 das Enkomion als "an opportunity for the poet to express his own point of view". 15) Studia Pindarica 1,3. 16) Aufrichtigkeitsbeteuerungen sind ein ständig wiederkehrendes Element der Epinikien, vgl. ANGELI BERNARDINI, Mito e attualità 50f. mit Anm. 37 und die Zusammenstellung solcher Passagen bei PAVESE, Urica corale 133f. 146. 17) Vgl. SLATER, „Doubts about Pindaric Interpretation" 195: "I used to say that encomiastic poetry was basically rhetoric. If this be considered too paradoxical, I suggest we look upon it as argumentation, structures of poetic argument for the end of glorifying the victor."; ders., „Pindar and Hypothekar 79: "Pindar approached his rhetoric task in the same way an orator approached his forensic and epideictic task, since they have in common the rhetorical situation."

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Nun ist aber enkomiastische Literatur stets auf den Adressaten fixiert, auf den zu Lobenden, den BUNDY mit dem Ausdruck „laudandus" bezeichnet. Ihm gegenüber muß die Person des Dichters zurücktreten18; das von GRONINGEN angenommene Eindringen von « matière strictement personnelle » in solche Literatur muß also a priori als unwahrscheinlich gelten19, ebenso wie die „rhetorische" Ausrichtung des Siegesliedes es nicht erwarten läßt, dort lange, vom eigentlichen Thema (also dem Lob des Adressaten) wegführende Abweichungen zu finden. Dennoch lesen wir in Pindars Gedichten eine große Anzahl von Passagen, die in seiner Rezeptionsgeschichte immer wieder zum Vorwurf willkürlicher Digressionen geführt haben. Man kann vor allem zwei Arten solcher Passagen unterscheiden: Einmal Aussagen in der ersten Person, in denen Pindar rein persönliche Anliegen (Polemik gegen Dichterkollegen, Äußerungen seiner religiösen, politischen oder philosophischen Überzeugungen u. ä.) zu verfolgen scheint20, zum anderen die oft sehr langen mythischen Erzählungen, deren Zusammenhang mit dem Siegerlob für moderne Leser oft nicht ersichtlich ist. Wie ist dieser scheinbare Widerspruch zu Bundys Erklärung des Epinikions zu erklären?

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Beginnen wir mit dem bei Bundy ausgesparten Bereich, den mythischen Erzählungen. Neuere Untersuchungen scheinen zu zeigen, daß im allgemeinen solche Erzählungen in der Frühzeit der griechischen Literatur schon seit den Ursprüngen21 zwei Eigenschaften haben. Ausgeführte Mythen ebenso wie kurze Anspielungen stehen nicht um ihrer selbst willen da, sind keine bloße bunte Dekoration der Literatur (wozu sie später in einer durch die alexandrinische Tradition bestimmten Bildungsdichtung gelegentlich werden), sondern werden immer mit einem bestimmten Zweck erzählt, als Paradeigma, als Parallele, als Kontrast oder, um es in SLATERS 22 Worten zu sagen: "[...] myth is a form of argument." Zum zweiten sind griechische Mythen außergewöhnlich wandelbar und können von ihrem jeweiligen Erzähler der Situation angepaßt werden, wobei die 18) Vgl. SLATER, „Pindar and Hypothekai" 79. 19) Studia Pindarica 2, 35: "the environment thus created is hostile [...J to personal, religious, political, philosophical and historical references that might interest the poet but do nothing to enhance the glory of a given patron [...]." 20) Die erste Person ist in Pindars Dichtung sogar auffallend prominent, wie LEFKOWITZ, First-Person Fictions 145 zu Recht feststellt und BREMER, „Pindar's Paradoxical εγώ" 44f. detailliert nachweist. 21) Vgl. besonders den brillanten Aufsatz von WILLCOCK aus dem Jahre 1964, „Mythological Paradeigma", ferner ders., „Ad Hoc Invention" und BRASWELL, „Mythological Innovation". 22) „Doubts about Pindaric Inteipretation" 195.

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Veränderungen v o n kleinen Details bis zu den großen Handlungslinien reichen können 2 3 . A u c h Pindar erzählt seine Mythen nicht aus reiner Freude am Erzählen, auch bei i h m sind sie streng funktional und d e m Z w e c k d e s Epinikions, der Verherrlichung des Wettkampfsiegers, untergeordnet 2 4 . D a b e i m ü s s e n wir bedenken, daß Pindar bei s e i n e m Publikum intime Kenntnis der gängigen Fassung der von i h m erzählten Mythen voraussetzen konnte, dieses Publikum daher in der L a g e war, j e d e auch noch so geringe Gewichtsverlagerung, j e d e Änderung am Überlieferten zu bemerken und ihren Z w e c k zu erkennen 2 5 . Ferner ist zu beachten, daß zu Pindars Zeit D i n g e als belangreich für das Lob e i n e s S i e g e r s galten, deren Funktion uns heute nicht mehr ohne weiteres klar ist 26 . S o brauchen wir uns nur v o r A u g e n zu halten, daß jeder S i e g eines griechischen Athleten e i n e hohe Ehre nicht nur für ihn selbst, sondern auch für seine Heimatstadt bedeutete, u m die Relevanz der vielen Stadtgründungsmythen zu verstehen, die wir in den Epinikien finden: D e r Ruhm des Siegers und der Stadt verstärken einander, der G l a n z der göttlichen Gründungsgeschichte findet seinen W i d e r s c h e i n i m aktuellen Glanz des (ebenfalls gottgegebenen) Sieges. Eine Eigenart der pindarischen Erzählung ist dabei die Konzentration auf die für ihre Funktion entscheidenden Punkte: Hierin einem alexandrinischen poeta doctus nicht unähnlich, läßt Pindar Unwesentliches ganz weg oder streift es nur sehr knapp, um die wichtigen Passagen des Mythos genauer zu beleuchten; an anderen Stellen begnügt er sich überhaupt mit kurzen Allusionen, deren Relevanz seinen Zeitgenossen, für die der Mythos lebendige Überlieferung war, sofort klar wurde, die wir uns aber häufig nur mühsam (wenn überhaupt) erschließen können. Die Vertrautheit mit dieser Überlieferung und (im Rahmen des Erwartungshorizontes 2 7 ) die feste Bereitschaft der Hörer, nach einer solchen Relevanz zu suchen, garantierten, daß die oft komplizierten Beziehungen zwischen Mythos und Aktualität vom zuhörenden Publikum der Aufführung verstanden werden konnten. 23) Vgl. zu diesem Aspekt außer den oben Anm. 21 zitierten Aufsätzen WILLCOCKS besonders MARCH, Creative Poet und STEPHANOPOULOS, Umgestaltung des Mythos. 24) Dies darf wohl als erwiesen gelten seit der gründlichen Behandlung der Frage durch KÖHNKEN, Funktion des Mythos, der gerade solche Oden interpretiert, bei denen dieser Grundsatz bis dahin nicht anwendbar schien. 25) Gerade unsere geringere Kenntnis ist gewiß der Grund dafür, daß wir die Relevanz einer mythischen Erzählung nicht immer erfassen können, vgl. SLATER, „Doubts about Pindaric Interpretation" 196 Anm. 17: "[...] we often cannot see what point Pindar is making because we cannot tell how he is altering the accepted myth." Da Pindar so frei abändern kann und er für viele Mythen unser frühester Zeuge ist, sind Versuche, aus seinen Erzählungen frühere Versionen zu rekonstruieren (vgl. beispielsweise STONEMAN, „Mythological Tradition"), äußerst skeptisch zu beurteilen - hier gilt analog, was WILLCOCK, „Ad Hoc Invention" 53 zu den homerischen Mythen gesagt hat. 26) SLATER, „Doubts about Pindaric Interpretation" 195 Anm. 15 gibt dafür ein hübsches Beispiel. 27) Zu diesem in der Fachsprache mittlerweile eingebürgerten Terminus vgl. JAUSS, Literaturgeschichte als Provokation 177-183 und die amüsanten Bemerkungen HALPORNS, „Dramatic Criticism" 628.

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Wichtig bei alledem ist die Erkenntnis, daß für Pindars Gesellschaft die Wettkämpfe ebenso als Betätigungsfeld der Manneskraft, der άρετά, galten, wie es in der mythischen Vorzeit die Kämpfe der Heroen waren. Diese Erfolge mit den Leistungen der mythischen Helden zu parallelisieren erschien dieser Gesellschaft daher nicht ungewöhnlich oder gar blasphemisch28. Von diesem Standpunkt aus ist klar, daß die von FRANKEL gestellte Frage, „warum sich eigentlich die große Poesie auf so ephemere Dinge eingelassen hat wie es die Sportsiege waren"29, nur von einem unreflektierten Anachronismus verursacht sein kann: Siege an den Panhellenischen Festspielen (die nicht nur „Sportsiege" waren, das Wort trägt schon in sich falsche Konnotationen) standen in der Werteskala der aristokratischen Gesellschaft, für die Pindar schrieb, ganz weit oben30. Es ist richtig, daß andere Stimmen in der griechischen Welt schon zu Pindars Zeiten Kritik an diesem hohen Ansehen der Spiele äußern31 und daß diese Gesellschaft im fünften Jahrhundert auf dem Rückzug ist und bald ganz verschwinden sollte, aber in Pindars Werken scheint der Glaube an die Gültigkeit ihrer Werte noch völlig unerschüttert.

28) Vgl. NAGY, Pindar's Homer 146-214 (mit dessen „myth and ritual"-Implikationen ich allerdings nicht übereinstimme). 29) Dichtung und Philosophie 493; ähnlich auch noch YOUNG, „Pindaric Criticism" 86, der sich wendet gegen das Bild von "a Pindar who does little more than praise athletes". Vielen Interpreten scheint gar nicht bewußt zu sein, daß die Annahme, die Wettkampfsiege seien eigentlich ein zu unwürdiges Thema für die Dichtung eines Genies wie Pindar, keineswegs „natürlich", sondern von der Ideologie bestimmter Gesellschaften und ihrer Bewertung der Poesie diktiert ist. Diese unbewußte ideologische Wahl scheint mir auch eine Wurzel für die seit BOECKHS Pindarkommentar (1821) anzutreffende Zweiteilung des Inhaltes der Epinikien in einen „subjectiven Zweck" und eine „objective Einheit" (vgl. dazu NEWMAN/NEWMAN, Pindar's Art 6-18 und KRUMMEN, Pyrsos Hymnon 12f.): Dahinter steht unausgesprochen die Überzeugung, die „objective Einheit" allein (also die Verherrlichung des Wettkampfsiegs) sei als Sujet für hohe Dichtung nicht ausreichend; vgl. LLOYD-JONES, „Modem Interpretation of Pindar" 122; KOPFF, „American Pindaric Criticism" 50: "Since Boeckh and Hermann the public and epideictic element in Pindar has been seen as a mere filler between truly poetic statements." 30) Dazu fügt sich die Beobachtung NAGYS, Pindar's Homer 152, daß "victorious deeds in war [...] are in fact denoted by the same terms that are used for victorious deeds in athletics". 31) Vgl. besonders das berühmte Xenophanesfragment 2 DK; in die gleiche Richtung gehen ζ. B. Tyrtaios, frg. 12, If. W sowie die bei KEMPER, Rat und Tat 107 Anm. 88 angeführten Stellen.

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2 Lo stile, il gusto, la filosofìa personale, la soggettività, la formazione culturale, l'esperienza vissuta, la psicologia, il talento, i trucchi del mestiere: tutti gli elementi che fanno si che ciò che scrivo sia riconoscibile come mio, mi sembrano una gabbia che limita le mie possibilità. Se fossi sola una mano, una mano mozza che impugna una penna e scrive... Italo Calvino

Wenden wir uns nunmehr den scheinbaren Selbstaussagen des Dichters in den Epinikien zu. Wenn wir enkomiastische Literatur durch die Jahrhunderte der Literaturgeschichte betrachten, so fällt auf, daß wir in ihrer großen Mehrheit immer wieder Passagen in der ersten Person lesen, Pindar hier also keine Ausnahme ist. An vielen Stellen ist auch leicht erkennbar, daß solche Passagen dem Gedichtzweck untergeordnet sind: Wenn das „Ich" in einem enkomiastischen Gedicht angibt, seine Sprachkraft reiche nicht aus, die Leistungen des laudandus angemessen zu besingen, so ist dies kein autobiographisches Bekenntnis des Autors (der damit etwa zugäbe, ein schlechter Dichter zu sein), sondern ein rhetorisches Mittel, um die Größe dieser Leistungen darzustellen32. Offensichtlich spricht hier nicht der Dichter XY in eigener Person, sondern das „Ich" ist eine Rolle, die im Gedicht eine bestimmte Funktion zu erfüllen hat - im Falle enkomiastischer Literatur eben die Rolle, den Adressaten zu preisen. Ebenso muß die erste Person auch in Pindars Gedichten an einer ganzen Reihe von Stellen aufgefaßt werden: Das „Ich" bezeichnet hier nicht den historischen Menschen Pindar, sondern ist eine Rolle, eine Funktion im Gedicht33; von BUNDY als „laudator" bezeichnet. Ein besonders klares Beispiel für diese Art der ersten Person sind die vielen Stellen, an denen in den Liedern gesagt wird „Ich kam, um den Sieger zu preisen." Ältere Interpreten glaubten, aus diesen Aussagen geradezu ein Reisetagebuch Pindars schreiben zu können, heute sehen wir darin ein konventionelles Motiv, den „Ankunftstopos": Der laudator „reist" dorthin, wohin sein Lied gelangt34. Die Tendenz, jede erste Person in den Epinikien als persönliche oder autobiographische Aussage des Dichters zu verstehen, ist der vielleicht

32) S. unten S. 90f. 33) BUNDY, Studia Pindarica 1, 3: "[...] when Pindar speaks pridefully in the first person this is less likely to be the personal Pindar of Thebes than the Pindar privileged to praise the worthiest of men." 34) Vgl. BUNDY, Studia Pindarica 1,23. 27; THUMMER, Isthmische Gedichte 2, 145 und SLATER, „Futures in Pindar" 87.

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folgenschwerste Irrtum der gesamten Pindardeutung. Sie findet sich vor allem seit dem neunzehnten Jahrhundert, seit der Zeit also, als romantische Strömungen in der Ästhetik und Literaturtheorie ein gesteigertes Interesse an der Person des Dichters und seinem Seelenleben fördern 35 . Ferner gilt es mindestens seit der Zeit Goethes abendländischen Lesern als selbstverständlich, daß die „Lyrik" die subjektive Gattung schlechthin ist, so daß ein Klassiker der Literaturtheorie in Deutschland definieren kann 36 : „Die lyrische Kundgabe ist die einfache Selbstaussprache der gestimmten Innerlichkeit oder inneren Gestimmtheit." Diese Aussage erschien so „natürlich", daß man sich die Frage nicht mehr stellte, ob Pindar mit einem modernen Lyriker mehr als nur den Namen (den er selbst nicht in diesem Sinne verstanden hätte) gemeinsam hat; auch seine Dichtung wurde als Selbstaussage gelesen37. Gefördert wurde diese Tendenz auch durch die antiken Kommentare zu Pindars Gedichten. Diese Kommentare begannen zur Zeit der alexandrinischen Bibliothek, also nur rund 150 Jahre nach Pindars Tod, zu entstehen; für uns greifbar sind sie nur noch in den Scholien, d. h. den in den mittelalterlichen Manuskripten am Rand oder zwischen den Zeilen geschriebenen Erklärungen, die das alte Gut der Alexandriner mit späteren Zusätzen vermischen und so ein sehr heterogenes Erscheinungsbild bieten. Die Methode, die Epinikien als autobiographische Zeugnisse zu lesen, ist hier schon weit ausgebildet; was aber für unkritische Benutzer der Scholien noch schlimmer war: Da der begrenzte Platz in den Handschriften eine äußerst konzise Ausdrucksweise nötig machte, findet man häufig Aussagen über Leben und Ansichten Pindars ohne den Hinweis, daß diese Angaben lediglich aus einer Gedichtpassage herausgelesen sind. So konnte der Eindruck entstehen, wir besäßen ein umfangreiches Wissen über Pindars Leben, auf dessen Grundlage wir seine Biographie schreiben könnten, und dieses „Wissen" findet sich bis weit in unser Jahrhundert in beinahe allen Darstellungen Pindars 38 . Neuere Forschungen zeigen aber, daß

35) Vgl. die Anmerkungen BOOTHS, Rhetoric of Fiction 35f. zum "[...] shift of critical emphasis, during the Romantic period, from poem to poet, from interest in the artistic product to theories of expression dealing with the artistic process". 36) KAYSER, Sprachliches Kunstwerk 339, der sich hier vor allem an Emil Staiger anlehnt; ähnlich definiert beispielsweise auch Hegel in den Vorlesungen über die Ästhetik die Gattung Lyrik. 37) So spricht auch LLOYD-JONES, „Modern Interpretation of Pindar" 109 vom "romantic and historicist approach to Pindar which [...] was adopted in virtually all modern treatments and which still comes most naturally to most readers, including several distinguished scholars"; vgl. auch NISBET/HUBBARD, Horace Odes 1 73: "Classical Scholars are inveterate sentimentalists." 38) Vgl. YOUNG, „Pindar" 158: "But most of this is outright historical fiction in the guise of scientific research. Even worse, this largely fictional biography of Pindar was incorporated as historical fact into most encyclopedias and modern studies on Pindar. The

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dieses angebliche Wissen fast ausnahmslos auf eine einzige Quelle zurückzuführen ist: Pindars Gedichte39. Wenn wir einmal erkannt haben, daß die erste Person in den Epinikien nicht autobiographisch zu verstehen ist, dann fallen auch alle diese angeblichen Zeugnisse weg, und mit ihnen ein Großteil dessen, was wir bisher über Pindar sicher zu wissen glaubten. Die Epinikien sind also keineswegs als Gedichte einer Erlebnislyrik im romantischen Sinn aufzufassen, die vom Leben ihres Autors sprechen. Wie aber steht es mit den in ihnen in der ersten Person geäußerten philosophischen oder religiösen Meinungen? Gerade diese Abschnitte haben manche Interpreten besonders angezogen, die weniger an den Gedichten als Kunstwerken interessiert waren als an der Religiosität ihres Dichters (dem ein besonders „tiefer" Gottesglaube attestiert wurde40) oder seiner geistesgeschichtlichen Rolle (wobei dann seine Werke als Philosophie in Versform betrachtet wurden41). Auch hier aber muß man bedenken, daß das ursprüngliche Publikum der Epinikien gar nicht auf den Gedanken gekommen wäre, in den Gedichten nach persönlichen Aussagen eines Dichters zu suchen. Die Siegeslieder werden nicht als privates Lied eines einzelnen verstanden, sondern der Preis des Siegers geschieht in öffentlichem Auftrag, wie Pindar als laudator an einer Stelle ausdrücklich sagt: έγώ δέ ϊδνος έν κοινω σταλείς (ΟΙ. 13, 49). Wir müssen daher aufhören, die in den Epinikien geäußerten theologischen oder philosophischen Ansichten als Pindars persönliche Meinung zu verstehen: Wenn aus diesen Gedichten eine Sicht der Welt und des Menschen gezogen werden kann, so ist sie nicht die private Pindars, sondern die der Gesellschaft, für die er schrieb42. Allzu oft

general reader would do well to discount what he reads about Pindar's persona] life as the probable result of confusion, wrong assumptions, and impetuous misinterpetation." 39) LEFKOWITZ hat ihre wichtigen früheren Aufsätze zu diesem Problem jetzt in FirstPerson Fictions zusammengefaßt. 40) Vgl. ζ. B. FRANKEL, „Pindars Religion", ein Aufsatz, der versucht, „die Religiosität eines wahrhaft frommen [...] Menschen zu fassen und zu schildern" (232). 41) Soz. B. im Pindarkapitel von JAEGERS Paideia, 1,271-291, wo es ebenfalls heißt: „Bei Pindar erst wird der Siegeshymnos zu einer Art religiöser Dichtung." (276), oder bei SCHADEWALDT, Frühgriechische Lyrik 230, der Pindars Dichtung so beschreibt: „Das ist zunächst ganz vom Religiös-Weltanschaulichen her bestimmt, und in der Ausgeprägtheit, in der sich diese Gegensätzlichkeiten gegenüberstehen, ist Pindar wirklich ein Vorläufer Piatons." Als besonders einflußreiche Darstellung dieser Richtung ist zu nennen FRANKELS Dichtung und Philosophie, für den „der konkrete Inhalt der längeren Lieder hoffnungslos disparat" ist (558) und ihre Einheit nur durch ihre weltanschauliche Systematik gewährleistet wird (566: „Die Wertelehre bringt eine gewisse Systematik in Pindars Ideen von Welt und Leben. Ebenso kommt seine Ethik einem System wenigstens nahe [...]."). 42) Vgl. SLATER, „Pindar and Hypothekai" 80: "All we learn from Pindar is what his audience accepted [...]"; LLOYD-JONES, „Pindar" 149f.: "Pindar, like Dante, inherited the picture of the world fashioned by the religion of his people. The greatest error of romantic criticism has been to treat this as though it were a personal philosophy or religion of the poet's own making [...]."; KOPFF, „American Pindaric Criticism" 50.

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scheinen Interpreten zu vergessen, daß die uns vorliegenden vier Bücher Epinikien keine vom Autor bewußt angelegte und komponierte Sammlung43 von Gedankenlyrik sind (wie es beispielsweise die Gedichtbände eines Baudelaire oder Rilke sind), sondern daß es sich hier ausnahmslos um Einzelgedichte handelt, die nur ein historischer Zufall in der Form zusammengestellt hat, wie wir sie heute lesen. In etwas anderem Sinne wurde eine zweite Kategorie von Aussagen in der ersten Person seit der Zeit der Scholiasten zu Unrecht als persönliche Bekenntnisse des Dichters verstanden: Hier handelt es sich um in den Epinikien häufige Passagen, die einen Übergang markieren und in denen der Dichter sich selbst (oder die Muse, oder sein Gedicht usw.) anredet und sich zum Thema zurückzurufen scheint, nachdem er eine Digression gemacht habe. Ein typisches Beispiel für eine solche Passage ist Pyth. 11, 38-40: ήρ', ώ φίλοι, κατ' άμευσίπορον τρίοδον έδινάθην, / όρθάν κέλευθον ιών το πρίν· ή μέ τις άνεμος εξω πλόου / εβαλεν, ώς δτ' ακατον ένναλίαν; Wörtlich genommen werden solche Übergangsformeln schon von den Scholiasten, die LLOYD-JONES44 zutreffend beschreibt als [...] the ancient commentators, who seem to operate with a theory of poetic inspiration deriving, in the last resort, from Plato. The poet writes in frenzy, they assume, as though improvising: when he employs the traditional device of apologizing for a digression by saying that in his excitement he has been carried far out of his path, they innocently take his word for it. Dieses Bild Pindars als eines von rasender Begeisterung dahingerissenen Genies hat ebenfalls in seiner Rezeptionsgeschichte einigen Anklang gefunden, wieder vor allem seit der Romantik, der das Bild eines so inspirierten Dichters ganz natürlich erschien45. Demgegenüber sehen wir heute solche .Abbruchsformeln" 46 als zu Pindars Zeit geläufige Technik, den Übergang von einem Thema zum nächsten vorzubereiten - auch hier also darf das „Ich" nicht als eine Aussage des Dichters in eigener Person gewertet werden. 43) Planvoll angeordnete Sammlungen, bei denen die Folge der Gedichte Teil der künstlerischen Gestaltung ist, sind offenbar eine von den römischen Dichtem weiterentwickelte Neuerung der hellenistischen Literatur, vgl. KROLL, Studien 225-246. 44) „Pindar" 146; vgl. hingegen die „Ehrenrettung" der Scholiasten bei HEATH, Unity in Greek Poetics 160f. 45) Vgl. aber noch SCHADEWALDT, Frühgriechische Lyrik 223: „Seine [Pindars] Sophia ist ein Wissen von Natur, aus dem Inneren heraus, unserem .Genie' vergleichbar." 46) Vgl. THUMMER, Isthmische Gedichte 1, 122-127; RACE, Style and Rhetoric 4157. CAREY, „Three Myths" 143 zeigt, daß vor und neben Pindar auch andere griechische Dichter diese Technik anwenden, betont aber zu Recht: "But though other writers may use the formalized break-off, it remains essentially Pindar's property."

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Schließlich sei noch eine dritte Verwendung der ersten Person in Pindars Gedichten genannt, die für spätere Leser befremdlich war und sie dazu brachte, hier persönliche Aussagen des Dichters zu vermuten; es handelt sich um eine zuerst von YOUNG47 beschriebene Verwendung des „Ich": With the 'first-person indefinite,' the poet, by stating what he will do or hopes to do, suggests what intelligent people in general, often the laudandus in particular, do or ought to do. The statements made in the first person therefore, may be applied to both the poet and the laudandus [...]. Typisch für diese Verwendung der ersten Person ist ζ. B. folgende Passage: εί δέ μοι πλοΰτον θεός άβρόν όρέξαι, / έ λ π ί δ ' εχω κλέος εύρέσθαι κεν ύψηλόν πρόσω (Pyth. 3, 1 lOf.)· Mit „ich hoffe" ist hier ausgedrückt, was man machen sollte, wobei dieses „man" sich besonders auf den laudandus Hieron bezieht: Er soll seinen Reichtum auch weiterhin dafür einsetzen, seinen Ruhm zu mehren, durch Prachtentfaltung, besonders an den panhellenischen Spielen, ein bei Pindar häufig wiederkehrendes Motiv4«. Auch die „first-person indefinite" ist kein Ich, wie wir es aus der modernen Lyrik kennen. Die erste Person steht in dieser Verwendung nur paradigmatisch für ein „man"; eine Verwendung, die für einen heutigen Leser recht ungewohnt und daher verwirrend wirkt.

3 Der letzte Abschnitt mit den Ausführungen über die erste Person in Pindars Gedichten hat vor allem die destruktive Seite der modernen Pindarinterpretation gezeigt: Seit langem als sicher Angenommenes scheint nunmehr in den Bereich der „historical fiction"49 zu fallen, und was an sicheren Informationen über Pindar übrigbleibt, ist recht mager: "Apart from his approximate dates [ca. 518 47) Three Odes 58; unter YOUNGS Vorgängern (er selbst nennt Isthmian 7 10 mit Anm. 19 einige von ihnen) vgl. besonders FRANKEL, Dichtung und Philosophie 543 Anm. 12: „Ein ,ich' in Pindars Poesie ist vieldeutig. [...] gelegentlich [geht es], wie hier, auf den im Liede Gefeierten, in dessen Namen Pindar und der Chor vor die Götter tritt; und schließlich bedeutet oft ein ,ich will', ,ich werde' und ähnliches, so viel wie ,man soll', weil das Dichterwort ein Ausdruck der öffentlichen Meinung und ein Spiegel maßgeblicher Lebensweisheit ist." Schon die Scholiasten verstanden die erste Person an einigen Stellen so, und die Renaissancekommentatoren folgen ihnen darin, vgl. beispielsweise die Erklärung von Aretius (40) zu der ersten Person in Nem. 1, 31 f. (p. 376): „De diuitiarum abusu, atque honesto vsu sub sua persona agit, intelligens Chromium [...].", die sich dem Schol. Nem. 1, 44 anschließt: πιθανώς ö θέλει παραινέσαι τω Χρομίω, έφ' έαυτοΰ έξενήνοχεν. 48) Vgl. ζ. Β. Nem. 1, 31f.; Isth. l', 67f. und die Zusammenstellung bei THUMMER, isthmische Gedichte 1,47 oder YOUNG, Three Odes 45 Anm. 2. 49) YOUNG, „Pindar" 158.

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ca. 438 Β. C.) and native city (Thebes), we know almost nothing certain about his personal life." 50 Gerade dieser Aspekt hat sicherlich mit dazu geführt, daß manche Interpreten diesem neuen Pindarbild etwas reserviert gegenübertreten, denn, wie YOUNG51 zutreffend bemerkt, "We are naturally loath to purchase ignorance at the price of apparently certain knowledge." Pindars Dichtung kann auf die bisher allzu oft gestellten Fragen nach seinem Leben und seiner persönlichen Überzeugung keine Antworten geben52; dieser Befund bedeutet aber nicht, daß wir überhaupt aufhören müssen, an seine Werke Fragen zu stellen, sondern nur, daß wir lernen müssen, die richtigen Fragen zu stellen. Da die Natur der pindarischen Dichtung, wie dargestellt, öffentlich und rhetorisch ist, so ergibt sich, daß es für den Interpreten eine zentrale Aufgabe sein muß, die Regeln dieser Rhetorik, oder, wie BUNDY sagt53, ihre „Grammatik", zu verstehen. In diesem Punkt wendet sich seine Interpretationspraxis von der romantischen, auf den Autor zentrierten Perspektive ab und stellt mehr das Publikum in den Vordergrund, das ja zu Pindars Zeiten nicht zum ersten Mal ein Epinikion hörte, sondern mit diesem Genus schon vertraut war. Daher kannte es die typischen Elemente genau, die sich in jedem Epinikion wiederfinden 54 : Der Sieger hat den Preis errungen, weil er sich selbst angestrengt hat (πόνος, im Falle einer persönlichen Teilnahme am Wettkampf, wie in den Liedern für Boxer, Ringkämpfer, Läufer usw.55) oder (δαπάνα, im Falle eines Sieges mit dem Rennpferd oder dem Viergespann 56 ) weil er nicht vor den Kosten zurückschreckte, die die Haltung von Pferden mit sich bringt. Mit dem Sieg hat er seine angeborene Begabung (φυά) unter Beweis gestellt und setzt die Reihe seiner großen Vorfahren würdig fort. Sein Sieg ist aber nicht nur sein Werk, sondern Beweis einer göttlichen Gunst, die ihn erst eigentlich ermöglicht hat; er bringt nicht nur dem Sieger selbst großen Ruhm, sondern auch seiner 50) Ebd., zu einem ähnlich negativen Ergebnis gelangt BREMER, „Pindar's Paradoxical έγώ" 49f. Wie sehr nahezu alles bisher Geglaubte ins Schwanken geraten ist, zeigt die Tatsache, daß selbst eine scheinbar so sicher bewiesene Tatsache wie die chorische Aufführung der Epinikien neuerdings in Zweifel gezogen worden ist; vgl. die lebhafte Diskussion unter den Anhängern der neuen These, die Epinikien seien monodisch (LEFKOWITZ, First-Person Fictions 191-201; DA VIES, „Monody, Choral Lyric"; HEATH, „Receiving the κώμος", LEFKOWrrZ/HEATH, „Epinician Performance") und ihren Gegnern (CAREY, „Performance of the Victory Ode"; BURNETT, „Performing Pindar's Odes"; BREMER, „Pindar's Paradoxical έγώ" 50-57 und CAREY, „Victory Ode in Performance"). 51) Isthmian 7 15. 52) Vgl. SLATER, „Pindar and Hypothekai" 79f. und YOUNG, „Pindar" 166. Für diesen Bereich scheint also die Aufforderung zu gelten, die TAPLIN, Stagecraft of Aeschylus 66 für das aischyleische Drama gemacht hat: "Ask no questions, and you will be given no unconvincing answers." 53) Studia Pindarica 1, 32 "a grammar of choral style", vgl. 2, 92. 54) Der folgende Katalog ist WILLCOCK, „On First Reading Pindar" 39 verpflichtet. 55) Vgl. LLOYD-JONES, „Modern Interpretation of Pindai" 113. 56) Vgl. MEDDA, „Lode della ricchezza".

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ganzen Familie 5 7 , seiner Heimatstadt 5 8 usw. Für den A u g e n b l i c k hebt den Sieger sein Erfolg auf d i e Stufe d e s höchsten G l ü c k e s , das ein M e n s c h erreichen kann, aber dieses Glück wird nicht e w i g anhalten, w e i l das m e n s c h l i c h e L e b e n (im G e g e n s a t z z u m D a s e i n der Götter) ein stetes W e c h s e l s p i e l v o n auf und ab ist 59 . D e r R u h m des S i e g e s aber ist dazu bestimmt, schnell zu vergehen, w e n n er nicht durch ein L i e d unvergänglich gemacht wird, denn nur die Dichtung kann vor d e m V e r g e s s e n bewahren 6 0 . Umgekehrt aber macht d i e große Leistung ein L i e d auch nötig, d i e s e s ist eine Schuld, d i e der Dichter d e m Sieger abstatten muß 6 1 . Passagen, in d e n e n Pindar über die D i c h t u n g und ihren Wert spricht, sind in seinen Epinikien außerordentlich prominent; auch hier steht nicht ein Interesse an dichtungstheoretischen Erörterungen im Vordergrund, sondern diese A u s s a g e n haben die Funktion, den Wert des j e w e i l i g e n Siegesliedes zu betonen und so d e m Lob für den Adressaten zusätzliche Kraft zu verleihen 6 2 . Zu diesen in fast allen Gedichten wiederkehrenden tritt aber auch eine Anzahl einmaliger Motive, die sich in den Epinikien nicht parallelisieren lassen, ja manche Gedichte sind von einer solchen Besonderheit entscheidend geprägt (Ol. 2 von der eschatologischen Vision, Pyth. 4 durch den breit ausgestalteten Mythos usw.). Bemerkenswert ist vor allem, wie schon S. 35 angedeutet, Pindars freier Umgang mit der Tradition in seinen mythischen Erzählungen, wo er oft sehr einschneidende Veränderungen vornimmt. Aber auch sonst hindert uns wohl nur unsere mangelnde Kenntnis der traditionellen Motive zu sehen, wie Pindar sie abändert und mit ihnen spielt.

57) Zu diesem von der Forschung vernachlässigten Aspekt vgl. jetzt KURKE, .fathers and Sons". 58) Vgl. ζ. B. MÉAUTIS, Pindare 438; BUNDY, Studia Pindarica 2, 82f.; ANGELI BERNARDINI, Mito e attualità 125f.; HUBBARD, Pindaric Mind 153 und besonders SAÏD/ TRÉDÉ-BOULMER, „Eloge de la cité". 59) Vgl. die Belege bei NISBET/HUBBARD, Horace Odes 2 266. Vielleicht ist es gerade dieser pessimistische Zug (LLOYD-JONES, „Pindar" 162f. spricht von der "tragic view of human life"), der uns Pindar auch heute noch lesenswert erscheinen läßt, vgl. SLATER, „Pindar and Hypothekar 80: "The pessimism is not Pindar's, it is his audience's. It is his audience who are aware of the dangers of achievement in the face of an envious, irrational heaven, and [...] of the mutability of fortune. It was impossible not to take into account the prejudices of archaic morality against any achievement. So much the better for us. Pindar could not indulge in the unlimited adulation that makes later encomia unreadable." 60) Vgl. die Zusammenstellung der Belege bei THUMMER, Isthmische Gedichte 1, 102 und s. unten S. 185 mit Anm. 132. 61) Seit SCHADEWALDT, Aufiau des pindarischen Epinikion 277 mit Anm. 1; 278 mit Anm. 1 und 294 mit Anm. 2 nennen wir dies den „Verpflichtungsgedanken", das Motiv das „Sieg-Lied-Motiv", vgl. auch BUNDY, Studia Pindarica 2, 59 mit Anm. 56. 62) Vgl. THUMMER, Isthmische Gedichte 1, 82-102 und SLATER, „Pindar and Hypothekai" 80: "Bringing to the attention of the audience the value of poetry is a means of self advertisement, which orators also indulged in."

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Diese und andere traditionelle Motive des Siegesliedes waren Pindars Publikum so innig vertraut, waren schon so oft in Liedern anderer Dichter gebraucht worden63, daß es bei der Komposition eines Liedes nicht nur möglich, sondern sogar nötig war, sie nicht in ihrer einfachen Form darzustellen, sondern zu variieren. Eine knappe Andeutung genügt oft, um dem Zuhörer einen ganzen Themenkomplex vor Augen zu führen64, und zunächst sehr fremdartig anmutende Passagen sind häufig nichts weiter als Variationen dieser bekannten Motive65. Dies bedeutet für den Interpreten der Epinikien zweierlei: Zum einen muß er versuchen, diese oft verwickelten Formen auf ihre einfachen „Urformen" zurückzuführen, zum anderen ist ein pindarisches Gedicht nicht allein aus sich verständlich, sondern um den variierten Topos66 zu erkennen, muß man aus anderen Epinikien erst einmal gelernt haben, daß es sich um einen Topos handelt, welche Funktion er hat und wie er sonst noch variiert werden kann67. In diesem Punkt ist das Epinikion ein besonders schlagendes Beispiel für einen an der gesamten antiken Literatur zu beobachtenden Zug, den CAIRNS68 zutreffend so beschreibt: The logical incompleteness and apparent internal inconsistencies of many ancient writings are a consequence of their non-individual character, that is, their membership of genres [...]. These writings assume in the reader a knowledge of the circumstances and content of the particular genre to which they belong, and they exploit this

63) Vgl. FRANKEL, Dichtung und Philosophie 484: „[die Chorlyrik] rechnete auf ein Publikum das durch stete Übung in den Stand gesetzt war, die schwierigen Texte richtig zu verstehn und die reichhaltige Darbietung zu würdigen." 64) Vgl. YOUNG, Three Odes 24. 65) Vgl. WILLCOCK, „On First Reading Pindai" 37: "Obscure phrases [...] are found to be erudite variations of common themes"; femer FRÄNKEL, Dichtung und Philosophie 567 Anm. 25; YOUNG, Three Odes 107-109. 66) Der Begriff „Topos" ist in der Pindarinterpretation so üblich geworden, daß er auch hier verwendet werden soll, doch ist ein kleiner Unterschied zu seinem Gebrauch in bezug auf die Literatur des Mittelalters und der Renaissance (s. unten S. 58-61) zu beachten: Zwar handelt es sich auch bei Pindar um eine schon geprägte, klischeehafte Formulierung, wie wir aus den Variationen in seinen eigenen Epinikien erkennen können, doch bleibt für uns der vor Pindar liegende Teil der Tradition meist völlig im Dunkel. 67) BUNDY, Studia Pindarica 2, 92: "The study of Pindar must become a study of genre." Hier ergibt sich eine interessante Parallele zur bildenden Kunst der archaischen Zeit, in der konventionelle Motive ebenfalls eine gewichtige Rolle spielen und von uns erst als konventionell erkannt werden müssen, bevor wir die Darstellung „lesen" können, vgl. SOURVINOU-INWOOD, „Myths in Images" 396: "[...] if our aim is to reconstruct the meanings particular ancient images had for people of the society in which they were produced, it is necessary first to reconstruct the relevant assumptions and expectations that shaped ancient perceptual filters in an attempt to reconstitute those filters and read the ancient pictures through them." 68) Generic Composition 6f.

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knowledge to allow logical connexions and distinctions to remain implicit or be omitted altogether. Daher befindet SLATER69, in Anlehnung an Äußerungen VON DER MÜHLLS, "understanding Pindar depends on finding parallels". Nur wenn sich ein Motiv an genügend vielen Stellen der Siegeslieder Pindars nachweisen läßt, können wir sicher sein, seine konventionelle Natur und seine Funktion im jeweiligen Kontext zu verstehen. Nur wenn wir eine Variation auf ihre einfache Form zurückgeführt haben, können wir ihre Besonderheiten im jeweiligen Gedicht einschätzen. Allerdings soll hier auch gleich auf eine Gefahr hingewiesen werden, die die von Bundy initiierte Pindardeutung mit sich bringt. Es ist richtig, daß Pindar Variationen einer endlichen Anzahl von Themen benutzt, um seine Epinikien zu gestalten, und daß man diese Motive und Themen in einer Liste zusammenstellen kann70. Manche Interpreten scheinen aber zu glauben, eine solche Zusammenstellung s e i eine Interpretation. Demgegenüber muß betont werden, daß sie vielmehr nur der erste Schritt zu einer solchen ist71. Interessant ist nicht die Erkenntnis, daß ein Satz „nur" eine Variation eines Topos ist, sondern die Untersuchung, warum dieser gerade so und nicht anders variiert worden ist, also die Frage: Was leistet diese Variation für das Gedicht und sein Ziel, das Lob d i e s e s speziellen Siegers? Ebenso muß auch festgestellt werden, daß Versuche, den „Bauplan" des Epinikion zu definieren72, bisher gescheitert sind und wohl auch zum Scheitern verurteilt sind: Jedes der Gedichte scheint ein ganz origineller, neuer Versuch, aus schlagenden Variationen der konventionellen „Zutaten" ein der konkreten Situation angemessenes Lied zu schreiben73.

69) „Doubts about Pindaric Interpretation" 195; ähnlich auch schon FRANKEL, Dichtung und Philosophie 487. 70) Eine solche Liste ist ein äußerst nützliches Arbeitsinstrument, auch wenn sie auf den ersten Blick recht abschreckend wirkt, wie die Computerliste PAVESES, Lirica corale. 71) Vgl. WILLCOCK, „Second Reading of Pindar" 1: "[...] it is a dangerous mistake to suppose that the conventions are coterminous with the poetry, and that one can define Pindar by classifying the contents of his poems."; s. auch unten S. 60. 72) Hier wäre besonders zu nennen HAMILTON, Epinikion (1974). 73) Vgl. LLOYD-JONES, „Pindar" 154: "There is absolutely no fixed order for the elements of the victory ode, each poem having not only its own metrical pattern but its own structure with its own particular shape; the claims of certain scholars to have 'created a generalized formal model' cannot be substantiated." Durch die trockenen Schemata, mit denen manche neueren Interpreten solche Baupläne darzustellen versuchen, fühle ich mich häufig an den im letzten Jahrhundert einmal populären „terpandrischen Nomos" erinnert, von dem man auch einmal glaubte, er könne den Aufbau aller Epinikien erklären, vgl. YOUNG, „Pindaric Criticism" 21f. und GARCÍA LÓPEZ, „Prooimia y preludios" 394f.; zu der vor allem in den letzten Jahrzehnte beliebten Mode (der in Three Odes auch YOUNG huldigte), in antiken Kunstwerken symmetrische Strukturen entdecken und diese in Tabellen und Diagrammen darstellen zu wollen, vgl. die berechtigten Einwände TAPLINS, Stagecraft of Aeschylus 101-103.

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Obwohl es also keine „Blaupause" für das Siegeslied gibt, der der Dichter blind folgte, kann man doch gewisse Regeln feststellen, denen die Oden unterworfen sind: So ist im allgemeinen der Beginn besonders prächtig ausgeführt74, mit ungewöhnlichen Klangwirkungen (ζ. B. Ol. 4 βροντάς ά κ α μ α ν τ ό ποδος: die o- und a-Laute scheinen das Rollen des Donners zu malen 75 ), kühnen Bildern und Metaphern (ζ. B. Ol. 7 der lang ausgeführte Vergleich mit der Trinkschale beim Hochzeitsmahl76) oder thematisch interessantem Material (ζ. B. Isth. 7, wo in wenigen Versen ein ganzer Strauß von thebanischen Mythen evoziert wird). Eine besondere Stellung nimmt die Nennung des Namens des Siegers ein, die meist sorgfältig vorbereitet wird und an exponierter Stelle erfolgt77. Was die Übergänge zwischen einzelnen Komplexen angeht, so variiert Pindar zwischen kunstvoll schlichten Übergängen (so vor allem, um längere mythische Erzählungen einzuleiten, die er regelmäßig mit einem Relativpronomen beginnt und so mit dem Vorhergehenden verklammert78) und gewaltsamen Abbrüchen, wobei er bald stillschweigend das Thema wechselt, bald den Abbruch ausdrücklich ankündigt79. Mythen geht nicht selten ein κεφάλαιον voran, eine kurze, wuchtige Vorwegnahme der Hauptpunkte 80 , wobei die Erzählung selbst häufig dem in der archaischen Literatur üblichen Verfahren der Ringkomposition folgt. Doch es würde zu weit führen, hier noch mehr solcher Einzeltechniken zu beschreiben. Nur auf eine für die archaische griechische Dichtung typische (und in ihrer Nachfolge in der gesamten antiken Literatur anzutreffende 81 ) soll noch hingewiesen werden, die Priamel. Diese Technik, von BUNDY82 als "focusing or selecting device" bezeichnet, kann man in Pindars Dichtung als allgegenwärtig bezeichnen; sie besteht darin, zur Hervorhebung des Hauptbegriffs, auf den hingeführt werden soll, diesem eine Reihe anderer Begriffe, häufig in Katalogform, entgegenzusetzen, die (implizit oder explizit) abgelehnt werden. Diese einfache Figur kann in den Epinikien eine ganze Reihe von Formen

74) Vgl. GARCÍA LÓPEZ, „Prooimia y preludios" (der allerdings einem zu starren Formalismus anhängt) und RACE, Style and Rhetoric 85-117. 75) Vgl. MADER, Psaumis-Oden 17. 76) S. unten S. 147. 77) Von BUNDY wird diese Technik „name cap" genannt, vgl. Studia Pindarica 1, 5 Anm. 18 und 11-15. 78) Vgl. KÖHNKEN, Funktion des Mythos 129 mit Anm. 67. 79) S. oben S. 40. 80) Vgl. ILLIG, Form der pindarischen Erzählung 57f. und VIVANTE, „Myth and Action" 132, der diese Technik mit den Schlagzeilen in modernen Zeitungen vergleicht. 81) Vgl. die Belege und Literaturangaben bei N1SBET/HUBBARD, Horace Odes 1 2f. und SYNDIKUS, Lyrik des Horaz 1, 24f.; zur Priamel im allgemeinen vgl. KRISCHER, „Logische Formen der Priamel"; RACE, Classical Priamel sowie ders., Style and Rhetoric 9-40. 82) Studia Pindarica 1,5.

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annehmen; besonders deutlich erkennbar ist sie in den Prooimien der Oden, wo der laudator aus einer Fülle möglicher Themen schließlich sein jetziges Sujet, die Verherrlichung des Sieges, auszuwählen vorgibt83. Auch bei der Priamel ist wieder wichtig zu wissen, daß manchmal wenige Signalworte genügen, um dem Zuhörer zu Pindars Zeit, der an diese Denk- und Darstellungsform gewöhnt war, ihre Verwendung anzudeuten; zu diesen Signalworten gehören beispielsweise Formeln wie άλλος άλλα und ähnliches84.

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Die vorhergehende Darstellung hat ansatzweise gezeigt, daß wir Pindars Dichtung heute besser verstehen als vor fünfzig oder hundert Jahren. Untersuchungen über die „Grammatik" des Epinikions erlauben uns, viele Passagen zu verstehen, die damals als dunkel galten und zu deren Deutung man (mit einem perfekten Zirkelschluß) gem auf angebliche historische Tatsachen zurückgriff, deren Existenz meist durch nichts anderes belegt war als durch eben diese Passagen. Dennoch sind wir auch heute weit davon entfernt, alle Probleme gelöst zu haben, die Pindars Oden an uns stellen, und wie auf vielen Gebieten der modernen Wissenschaft, so scheinen auch bei Pindar neue Entdeckungen und neue Methoden mehr Probleme aufzuwerfen als zu lösen. Zum Abschluß dieses Kapitels seien deshalb die Gebiete genannt, auf denen wir an die Grenzen des Erfahrbaren zu stoßen scheinen. Es wurde schon gesagt, daß über die persönlichen Lebensumstände des Dichters Pindar fast nichts bekannt ist - seine Gedichte sagen nichts über ihn selbst aus, und die sekundären Quellen (vor allem die Scholien und die in einigen Hanschriften überlieferten Viten) enthalten fast ausschließlich ad hocErfindungen und Legendäres. Auch der Schaffensprozeß bleibt völlig im Dunkeln, wenngleich mir die Annahme absurd erscheint, Pindar habe seine komplizierten metrischen Schemata ohne Zuhilfenahme der Schrift entwickeln können85. Vor allem würden wir gerne mehr wissen über die Modalitäten des Kontraktes, den Pindar mit seinem Auftraggeber Schloß. Daß die Länge des Gedichtes von der Höhe der Bezahlung abhing, ist eine zwar wahrscheinliche, 83) Vgl. beispielsweise die große Bandbreite von Variationen dieses Motivs in den Anfängen von Ol. 1. 11; Pyth. 10; Nem. 5; Isth. 1. 4. 7. Zu den Haupttypen vgl. den oben Anm. 81 genannten Aufsatz KRISCHERS. 84) Vgl. die Beispiele bei BUNDY, Studia Pindarica 1,7. 85) Sie ist eine der Hauptthesen von NAGYS Pindar's Homer, vgl. ζ. B. 18: "[...] throughout this book, I argue against the need to assume that the medium of writing was necessary for the medium of composition or for the medium of performance and reperformance."; dagegen richtig KRUMMEN, Pyrsos Hymnon 272: „[...] die komplexe Art dieser Dichtung [läßt] nur den Schluß zu, daß Pindar einen Text verfaßte."

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aber unbeweisbare Vermutung, ebenso die Annahme, der Auftraggeber habe Pindar gewisse Punkte vorgegeben, die dieser in das Siegeslied einschließen mußte: Dies ist so gut wie sicher für die Liste der früheren Siege des jetzigen Siegers und seiner Vorfahren, die Pindar wohl kaum kennen konnte, aber sehr zweifelhaft bei der Wahl des mythischen Stoffes. Gedankenspiele, die Bearbeitung eines bestimmten Mythos sei auf den ausdrücklichen Wunsch des Adressaten geschehen, bleiben im Bereich der reinen Spekulation. Das Übermaß an solchen und ähnlichen Spekulationen in der Pindardeutung der Vergangenheit86 hat bei einigen Forschern in den letzten Jahren zu einem Exzeß in die entgegengesetzte Richtung geführt. Es ist richtig, daß die Epinikien sehr sparsam mit Einzelheiten der konkreten Situation des Sieges sind, weil sie nicht nur für den Augenblick der eigentlichen Siegesfeier geschrieben wurden, sondern von vornherein für eine lange Dauer vorgesehen waren, wie NAGY87 richtig schreibt: "[...] each of these victory odes aimed at translating its occasion into a Panhellenic event, a thing of beauty that could be replayed by and for all Hellenes for all time to come." Dennoch sind gewisse Einzelheiten dem Augenblick des Sieges verhaftet und mußten recht bald für den Leser und Hörer unverständlich werden. Dies wird besonders deutlich bei einer Reihe von in den Epinikien erwähnten Namen, bei denen wir häufig nur vermuten können, daß es sich um einen Verwandten des Siegers, seinen Trainer, seinen Wagenlenker o. ä. handelt88. So müssen wir damit rechnen, auch an anderen Stellen Anspielungen auf historische Umstände vor uns zu haben, die wir nicht verstehen und deren Existenz wir manchmal nicht einmal ahnen89. Daher warnt uns SLATER 9 0 zu Recht vor dem "methodological error in thinking that what we do not know we do not need to know". Glücklicherweise sind diese Abschnitte verhältnismäßig rar, ebenso die auch heute noch ungelösten textkritischen, grammatischen und semantischen 86) Ein besonders abschreckendes Beispiel wird zitiert bei YOUNG, „Pindaric Criticism" 42f.; ihm ließen sich viele weitere anfügen. 87) Pindar's Homer 114; vgl. z. B. FRÄNKEL, Dichtung und Philosophie 488f. 88) Manche Interpreten sind in diesem Fall bereit, den Angaben der sonst verschmähten Scholien zu vertrauen, aber die waren in den allermeisten Fällen wohl genau w i e wir auf Vermutungen über die Identität des Namensträgers angewiesen. Besonders kraß ist der Fall des Damophilos in Pyth. 4, 281, der in keinem erkennbaren Verhältnis zum Anlaß der Ode steht, aber er ist keine Ausnahme, wie YOUNG, „Pindar" 164 Anm. 5 suggeriert (der wahrscheinlichste Lösungsvorschlag dieses Problems scheint mir der von GILDERSLEEVE, Olympian and Pythian Odes 303 zu sein, vgl. jetzt auch CAREY, „Epilogue of Pindar's Fourth Pythian" 148 und BRASWELL, Fourth Pythian Ode 5f.). 89) Vgl. LLOYD-JONES, „Modern Interpretation of Pindar" 117: "Many of his historical allusions are acknowledged facts, as no serious scholar would dispute; and it is natural that there should be others whose existence, owing to the poverty of our information, are not so easy to demonstrate." 90) „Pindar's Pythian 3" 55 Anm. 19.

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Probleme. Dennoch gibt es eine ganze Anzahl von offenen interpretatorischen Einzelfragen, von denen einige so umstritten sind, daß die Bibliographie ihrer Lösungsvorschläge ganze Bände füllen könnte91. Die oben angedeuteten Grenzen des Erfahrbaren machen sich hier deutlich bemerkbar, und wenn die von Bundy ins Leben gerufene Methode der Pindarinterpretation es auch ermöglicht hat, daß wir dem Verlauf eines „normalen" Siegesliedes gut folgen können, so müssen wir uns doch, vor allem angesichts der fragmentarischen Überlieferung der archaischen griechischen Lyrik, an nicht wenigen Stellen in Bescheidenheit üben und uns mit dem unbefriedigenden non liquet begnügen.

91) Als Beispiele seien nur genannt Nem. 7 (ist die mythische Erzählung 33-47 vom Tod des Neoptolemos in Delphi als Entschuldigung für pae. 6,98-120 geschrieben?) und Ol. 1 (ist die 52f. vorgebrachte religiöse Motivierung für die Änderung des Pelopsmythos Ausdruck tiefer Religiosität des Dichters oder nur konventionelle Begründung für eine aus technischen Gründen eingeführte Neuerung, wie ähnlich auch in der hellenistischen Dichtung religiöse Motive bisweilen vorgeschoben werden, um eine technische Überleitung zu bilden, vgl. Kallimachos, frg. 75, 4-9; Apollonios Rhodios 1, 919-921; 4, 248-250?). Gerade diese „Problemoden" lassen die verschiedenen Positionen der Interpreten klar erkennen, und ihre Behandlungen sind daher aus methodischen Gründen besonders interessant.

3. Imitierende Texte

— Thy reason man? — Troth sir, I can yeeld you none without wordes, and wordes are growne so false, I am loath to proue reason with them. William Shakespeare Hablar es incurrir en tautologías. Jorge Luis Borges Sino ad allora avevo pensato che ogni libro parlasse delle cose, umane o divine, che stanno fuori dai libri. Ora mi avvedevo che non di rado i libri parlano di libri, ovvero è come si parlassero fra loro. Umberto Eco

Wer heute, im Jahre 1991, über Probleme von (wie die Renaissance sagte) literarischen Imitationen oder (im heutigen Jargon) über „Literatur auf zweiter Ebene"1 schreiben will, hat wenig Chancen, Originelles zur Diskussion beisteuern zu können. Wohl selten beschäftigte sich eine Epoche der Literatur derart obsessioneil mit ihrem Verhältnis zu vorhergehenden Texten, mit der Tatsache, daß man Bücher nur über andere Bücher, nicht über Dinge außerhalb der Texte schreiben kann, wie die Gegenwart2. In der Tat sieht die kanadische Forscherin HUTCHEON bei ihrem Versuch, den allzu oft verwendeten und dadurch proteisch gewordenen Begriff „postmodem" zu definieren, gerade in diesem Rückgriff auf die Texte der Vergangenheit einen der Hauptpunkte, der alle Kunstrichtungen auszeichnet, die postmodern sein wollen 3 : "On the surface,

1) Diesen Begriff entnehme ich dem Untertitel von GENETTES Palimpsestes (1982). 2) Damit soll nicht gesagt sein, daß die V e r f a h r e η der „Literatur auf zweiter Ebene" nicht schon früher eine große Wichtigkeit angenommen hatten: So kann die Literatur der gesamten christlichen Spätantike und noch mehr des Mittelalters als Text angesprochen werden, der nur über andere Texte spricht, sie glossiert, kommentiert, imitiert... Der entscheidende Unterschied zur Postmoderne scheint mir darin zu liegen, daß diese solche Verfahren in den Kunstwerken selbst theoretisiert, ja sie zum eigentlichen Gegenstand der Kunst macht.

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postmodernism's main interest might seem to be in the process of its own production and reception, as well as in its own parodie relation to the art of the past." Charakteristisch für die Literatur unserer Zeit ist dabei die enge Verbindung zwischen Praxis und Theorie: Letztere beschränkt sich nicht darauf, die schöpferischen Werke nur zu begleiten, sondern eilt ihnen oft voran, zeigt ihnen neue Möglichkeiten, so daß die Unterscheidung zwischen Kunst und Kritik oft schwierig wird. Kritiker wollen als Künstler eigenen Rechtes gelten (so z. B. in der französischen Nouvelle Critiqué), Künstler legen die Maske (lat. persona) des Kritikers und Theoretikers an (so z. B. Jorge Luis Borges). Diese enge Verbindung hat zusammen mit der zentralen Wichtigkeit des Themas zu einer gewaltigen Produktion über seine Theorie geführt, die von einem einzelnen kaum noch überblickt werden kann4. Zu dieser schon abschreckend umfangreichen Liste kommt für das spezielle Gebiet dieser Arbeit, die Imitation in der Renaissance, noch einmal eine beträchtliche Anzahl von Studien hinzu, die diesem wichtigen Aspekt der Renaissanceliteratur gewidmet sind5. Aber es ist nicht nur die große Anzahl der Arbeiten auf dem Gebiet der « littérature au second degré », die den Überblick erschwert, sondern auch ihre methodische Vielfalt und Zersplitterung. Um die Ursachen für dieses Phänomen zu betrachten, ist ein kurzer Exkurs in die Geschichte dieses Forschungszweiges nötig. Das große Interesse, das ihm bis heute gilt, erhielt dieses Gebiet zuerst in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, als Kritiker in einer Reaktion auf den Strukturalismus, der den Text als geschlossenes System betrachtete6, gerade die Offenheit des Textes betonten, der eine Reihe von Spuren anderer Texte in sich einschließt und mitklingen läßt7; diese Eigenschaft wird mit dem Terminus „Intertextualität" bezeichnet. Zur selben Zeit findet die Sprachphilosophie DERRIDAS weite Aufmerksamkeit, besonders in Nordamerika. Für Derrida ist die Iterabilität, 3) Poetics of Postmodernism 22 (1988). Schon drei Jahre zuvor hatte sie diesem zentralen Verfahren ihre Studie Theory of Parody gewidmet mit der Begründung (1): "Parody is not a new phenomenon by any means, but its ubiquity in all the arts of this century has seemed to me to necessitate a reconsideration of both its nature and its function." 4) Vgl. die beeindruckende Bibliographie von HEBEL, Intertextuality, Allusion and Quotation, die bis zum Jahr 1989 reicht. 5) Vgl. die (nicht annähernd vollständige) Liste bei GREENE, Light in Troy 312f. Anm. 34. 6) Vgl. besonders JAKOBSON/LÉVI-STRAUSS, „« Les chats » de Baudelaire" (1962, in: JAKOBSON, Questions de poétique 401-419), einen Klassiker strukturalistischer Literaturanalyse. Vorstufen zu diesem Textbegriff findet man schon bei den russischen Formalisten, vgl. TYNJANOV, „Literarische Evolution" 437 und dazu TODOROV, Critique de la critique 22f. 7) Eine direkte Antwort auf den in der vorhergehenden Anmerkung zitierten Aufsatz von JAKOBSON/LÉVI-STRAUSS ist RIFFATERRE, „Describing Poetic Structures" (1966); ein weiterer wichtiger Meilenstein ist KRISTEVA, Σημειωτική (1969), die dabei auf Ideen von ΒΑΚΗΤΊΝΕ zuriickgriff, vgl. zu ihm als „Erfinder" der Intertextualität GREENE, Light in Troy 143f. und SOMVILLE, „Intertextualité" 114f.

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also die Fähigkeit, unabhängig vom ursprünglichen Kontext zitiert werden zu können, ein entscheidendes Merkmal, ja geradezu die Voraussetzung jeder sprachlichen Äußerung8. So kann es nicht erstaunen, daß die nachfolgende Kritik diese beiden Ansätze verfolgend der Eigenschaft der Intertextualität nicht nur ungemein viel Aufmerksamkeit schenkt, sondern in ihr geradezu das Kennzeichen literarischer Texte, ihre „Literarität"9, sieht, so besonders in den Arbeiten von RIFFATERRE10. Man kann in der Tat (auch ohne an Derrida zu denken) nicht leugnen, daß Stellen, an denen literarische Texte deutlich auf andere Texte verweisen, also Zitate, Anspielungen, Imitationen, Parodien usw., eine privilegierte Position einnehmen. Es ist, als ob die Sprache über sich selbst nachdenke, als ob sie an solchen Stellen in einer Art mise en abyme ihre verlorene Unschuld zur Schau stelle: Wir verwenden immer schon von anderen geprägte Formulierungen, reden immer schon in Zitaten 11 , und dies gilt im besonderen Maße für literarische Sprache, die eine "message for its own sake" 12 darstellt. Ausgehend von solchen Gedanken untersucht daher COMPAGNON 1979 die Theorie des Zitates in einer Studie 13 , die « place l'acte de citation au cœur de toute pratique du texte dont il est le geste élémentaire ». Eine ähnlich wichtige Rolle weist der amerikanische Kritiker BLOOM den Beziehungen von dichterischen Texten auf vorhergehende Texte zu: Seine Studie Anxiety of Influence14 trägt den Untertitel A Theory of Poetry und macht so klar, daß für BLOOM Dichtung (zumindest seit der Romantik) entscheidend vom Verhältnis der Dichter zu ihren Vorgängern (und das heißt für ihn vom ödipodalen Kampf mit ihnen) bestimmt ist. Obwohl die Verbreitung intertextueller Praktiken in der Literatur unbestreitbar ist, lassen die zuletzt genannten Arbeiten sie doch zu einer rein sprachphilosophischen Idee werden, die ihre Praktikabilität im Umgang mit Texten verliert: « [...] à force de la [l'intertextualité] voir partout, on risque de la faire passer du rang d'outil conceptuel à celui de lieu commun. » 15 Besonders unter dem Blickwinkel der Poststrukturalisten, für die die ganze Welt nichts als „Text" ist 16 , verläßt der Begriff Intertextualität dann vollends den Bereich der Sprach- und

8) Vgl. Marges 388f.; dazu CULLER, On Deconstruction 110-134; EAGLETON, Literary Criticism 129 und LEITCH, Deconstructive Criticism 160f. 9) Der „literaturnost", also dem Faktor, der einen literarischen Text auszeichnet, gilt seit den russischen Formalisten die besondere Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaft, vgl. STRIEDTER, „Formalistische Theorie" XVIII-XX; ERLICH, Russischer Formalismus 190f.; TADIÉ, Critique littéraire 18f. 10) Sein Werk Semiotics of Poetry (1978) gilt als eine der wichtigsten praktischen Studien der Intertextualität; vgl. femer die von GENETTE, Palimpsestes 8f. angegebenen Aufsätze. 11) Wittgensteins Gedankenspiel einer „Privatsprache" zeigt die Richtigkeit dieses Satzes und nimmt somit teilweise Derrida schon vorweg. 12) JAKOBSON, Language in Literature 69, in seinem berühmten Vortrag „Linguistics and Poetics" aus dem Jahre 1958; vgl. schon seine Formulierung aus dem Jahre 1921 (Questions de poétique 15): «[...] la poésie est la mise en forme du mot à valeur autonome, du mot " autonome " [...]. »; vgl. zu diesem Komplex TODOROV, Critique de la critique 18-24. 13) Seconde main 10, vgl. auch 34: « Ecrire, car c'est toujours récrire, ne diffère pas de citer. » 14) Aus dem Jahre 1973, "in the days when he thought that poetry was about poets' relationship to the world as well as their relationship to Milton" (CULLER, Pursuit of Signs 139f.); daran hat BLOOM eine Reihe ähnlich gelagerter Bücher angeschlossen, vgl. LENTRICCHIA, After the New Criticism 319-346 und LEITCH, Deconstructive Criticism 129-143. 15) SOMVILLE, „Intertextualité" 121. 16) Vgl. z. B. LEITCH, Deconstructive Criticism 58: "The world is text. Nothing stands behind. There is no escape. Here in the prisonhouse of language." Daß diese Sicht ein

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Literaturwissenschaft und gerät in den Sog größerer erkenntnistheoretischer und sogar metaphysischer Fragestellungen. Es soll und kann nicht Aufgabe dieser Arbeit sein, solchen rein theoretischen Fragen nachzugehen. So unbefriedigend es auch sein mag: Hier kann nur so viel Theorie getrieben werden wie nötig, und an einigen Stellen wird ein rein pragmatisches, theoretisch nicht näher zu begründendes fiat nötig sein. Dieser Pragmatismus wird dadurch erleichtert, daß die Texte, mit denen wir es zu tun haben werden, nur selten auf so komplizierte Formen der Intertextualität zurückgreifen wie die Postmoderne: Bei aller Wichtigkeit, die das Verfahren der Imitation für die Literatur (und auch alle anderen Künste 17 ) der Renaissance hat, handelt es sich doch im allgemeinen um ein klar erkennbares und abgrenzbares Phänomen.

So kann es auf den folgenden Seiten nicht mein Ziel sein, einen neuen Beitrag zu diesem unübersichtlichen Forschungsgebiet zu liefern. Die Vielfalt der Arbeiten und die Zersplitterung der methodischen Ansätze machen es aber nötig, den eigenen Standpunkt klar zu bestimmen und vor allem vorab zu definieren, in welchem Sinne einige ansonsten vielleicht mißverständliche Termini gebraucht werden sollen. Obwohl das, was ich hier zunächst vage „Imitation" nennen möchte, schon seit der Antike eine wichtige Rolle im Bereich der Rhetorik spielt, fehlt es doch, verglichen mit anderen Gebieten der Rhetorik, an einem klaren kritischen Vokabular 1 ' - möglicherweise auch deswegen, weil die Theoretiker sich in der Antike wie in der Renaissance gem einer metaphorischen Ausdrucksweise bedienen und die handwerkliche Seite vernachlässigen. Mein Augenmerk wird bei diesen Versuchen einer Standortbestimmung immer auf die Fälle gerichtet sein, denen mein Interesse gilt, also Texten aus der französischen Renaissance - es ist nicht mein Ziel, ein so ehrgeiziges Projekt wie GENETTE zu verfolgen, der in seinem Buch Palimpsestes (1982) als Vermesser des gesamten Feldes der Intertextualität auftritt.

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Als erste wichtige Standortbestimmung muß hier klargestellt werden, daß mein Interesse in dieser Arbeit Texten und ihrer Rezeption gilt, nicht aber Autoren. Ich halte BARTHES polemische Aussage vom „Tod des Autors" für vollkommen zutreffend 19 : « [...] la naissance du lecteur doit se payer de la mort de l'Auteur. » In einer Zeit, da das menschliche Subjekt als sinnstiftendes Zentrum

Arbeiten über Intertextualität letztlich unmöglich macht, zeigt auch HUTCHEON, Theory of Parody 16. 17) Vgl. DUBOIS, „Imitation différentielle" 143. 18) Diesen Mangel beklagt auch GENETTE, Palimpsestes 7 Anm. 2 in dem ironischen Satz « Il serait temps qu'un Commissaire de la République des Lettres nous imposât une terminologie cohérente. » 19) Bruissement de la langue 67; vgl. LEITCH, Deconstructive Criticism 103-105 und EAGLETON, Literary Theory 107. 138.

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zutiefst fragwürdig geworden ist20, ist ein Rekurs auf den Autor-Gott21 und seine „Intention" zur Erklärung literarischer Texte eine Angelegenheit, die eigentlich längerer Rechtfertigungen bedürfte. Trotzdem feiert sie in manchen Interpretationen immer noch fröhliche Urständ, und selbst der in der Literaturwissenschaft scheinbar schon seit Jahren verpönte Rückgriff auf biographisches Material scheint einfach unausrottbar. Vielleicht ist es letztlich eine persönliche Entscheidung eines jeden Lesers, ob er Interpretationsversuche, die den Autor in den Mittelpunkt stellen, interessant und überzeugend findet, ich jedenfalls lehne sie sowohl in ihrer primitiven Form22 als auch unter dem Deckmantel psychoanalytischer Erkenntnisse ab. Damit ist klar, daß ich aus den Werken von BLOOM23 und seinen Nachfolgern24 nur wenig Verwertbares ziehe. Damit soll nicht gesagt sein, daß nicht gelegentlich solche Gedankengänge attraktiv sind und in gewissen Fällen der Autor und seine Absicht mit ins Spiel kommen m ü s s e n 2 5 , aber im allgemeinen ziehe ich es vor, über Texte und ihre Leser zu reden. Besser für meine Ziele geeignet ist die Untersuchung GENETTES26, aber seine Terminologie ist für eine Untersuchung von Pindarrezeption in der Renaissance teils zu global, teils unbrauchbar. Daher wird es leider nötig sein, einige Begriffe hier anders zu definieren oder neu einzuführen. Dennoch möchte 20) Vgl. TAURECK, Französische Philosophie 95-179 und CULLER, Pursuit of Signs 33: "[...] as meaning is explained in terms of systems of signs—systems which the subject does not control—the subject is deprived of his role as source of meaning." 21) Vgl. BARTHES, Bruissement de la langue 65: « Nous savons maintenant qu'un texte n'est pas fait d'une ligne de mots, dégageant un sens unique, en quelque sorte théologique (qui serait le " message " de l'Auteur-Dieu), mais un espace à dimensions multiples, où se marient et se contestent des écritures variées, dont aucune n'est originelle : le texte est un tissu de citations, issues des mille foyers de la culture. » 22) So wenn GREENE, Light in Troy (1982) 162f. uns die Behauptung vorsetzt, Angelo Poliziano verwende in seinen Schriften immer wieder Bilder der Verstümmelung, weil er als junger Mann bei der Pazzi-Verschwörung in Florenz (1478) Zeuge solcher Szenen wurde. Abgesehen von der kruden, des neunzehnten Jahrhunderts würdigen Kausalität muß GREENE auch auf unbewiesene Behauptungen zurückgreifen ("Mutilation seems to have extended even to dismemberment..."), um seine These zu stützen, was ihn als ein "duespaying member of the 'must-have' school of biography" (COHN, „Fictional versus Historical Lives" 10) kennzeichnet. 23) S. oben Anm. 14. Daß BLOOM im Prinzip auf ein altes, subjektzentriertes Erklärungsmodell zurückgreift, haben ihm auch einige seiner Kritiker zum Vorwurf gemacht, vgl. CULLER, Pursuit of Signs 108f.; EAGLETON, Literary Theory 184 und LEITCH, Deconstructive Criticism 13 If. 142f. 24) Für den Bereich der Renaissance wäre besonders zu nennen DUBOIS, „Grands hommes de l'antiquité" (1975) und „Imitation différentielle" (1977) sowie FERGUSON, „Exile's Defense" (1978). 25) So sagt HUTCHEON, Theory of Parody 38 zu Recht: "Both parody and pastiche [...] clearly involve the issue of intent."; ein Gedanke, den sie auf den beiden nächsten Seiten vor allem am Beispiel des Plagiats ausführt. 26) Palimpsestes.

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ich betonen, daß mir GENETTES Arbeit der gründlichste und klügste Versuch zu sein scheint, das unübersichtliche Feld der Beziehungen zwischen Texten zu systematisieren. Genette unterteilt die Beziehungen zwischen zwei Texten (wofür er den allgemeinen Namen „transtextualité" wählt) in fünf Bereiche, von denen uns zwei interessieren: die „hypertextualité" und die „intertextualité". Beide Namen bezeichnen ein Verhältnis eines Textes A zu einem Text B, wobei beide Texte literarisch sind (also nicht Β Kommentar zu A ist) und Β in irgendeiner Weise auf den vorhergehenden Text A verweist. Für einen solchen Verweis gibt es verschiedene Möglichkeiten; ich zähle nur einige Beispiele auf: Ein Text kann einen anderen ausdrücklich zitieren, kann auf ihn anspielen, kann ihn parodieren, kann ihn mehr oder weniger frei in eine andere Sprache übersetzen usw. Der Hauptunterschied zwischen der Intertextualität und der Hypertextualität liegt für Genette darin, daß die zweite ein Werk in seiner Gesamtheit betrifft (« l'œuvre considérée dans sa structure d'ensemble »27), während die erste nur für einzelne, genau abgrenzbare Stellen gilt. An einem Beispiel illustriert heißt das: Wenn Thomas Mann einen Roman über einen Komponisten des zwanzigsten Jahrhunderts Doktor Faustus nennt, so verweist er für das ganze Werk auf einen zugrundeliegenden anderen Text, die Historia von D. Johann Fausten, der sein ganzes Buch durchziehen wird. Diesen Text nennt Genette „hypotexte", seine Metamorphose entsprechend den „hypertexte". Wenn andererseits Horaz sein carm. 1, 12 mit einer Gruppe von drei Fragen beginnt, die den Leser an die Fragen im Prooem von Pindars zweiter olympischer Ode erinnern, so liegt ein Fall von Intertextualität vor, denn im weiteren Verlauf des Gedichtes verschwindet das pindarische Epinikion aus dem Blickfeld, hat also keinen Einfluß auf das Ganze des Textes28. Genette selbst gibt zu, daß die Grenzen zwischen seinen verschiedenen Klassen oft weniger klar sind, als dies zunächst erscheinen könnte 29 . Gerade die scheinbar offensichtliche Beschränkung der Hypertextualität auf die Gesamtheit eines Textes aber offenbart sich in der Praxis als wenig hilfreich: Eines der Paradebeispiele Genettes für ein Verhältnis von Hypertext zu Hypotext sind die Aeneis und die Odyssee. Daß Virgil sich über weite Strecken an diesem homerischen Vorbild orientiert, ist unbestreitbar, aber gilt dies wirklich für die Gesamtheit seines Epos? Oft wird ja die zweite Hälfte der Aeneis auch als ,.römische Ilias" bezeichnet, wodurch ein weiterer Hypotext ins Spiel kommt oder vielmehr: Wodurch nach Genettes enger Definition eigentlich überhaupt 27) Ebd. 9. 28) Diese Technik, das Gedicht mit einer gleichsam als Motto dienenden Anspielung zu eröffnen, findet sich bei Horaz noch häufiger, vgl. NISBET/HUBBARD, Horace Odes 1 xiif. 29) Palimpsestes 14.

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nicht mehr von Hypertextualität die Rede sein kann, da jeder der beiden zugrundeliegenden Texte das neue Werk nicht mehr in seiner Gesamtheit beeinflußt, sondern nur je zur Hälfte. Diese Beschränkung erscheint mir zu eng, weshalb ich im folgenden auch dort von Hypertextualität reden werde, wo nicht das ganze Werk in einem Abhängigkeitsverhältnis zu einem Hypotext steht, sondern nur größere, in sich geschlossene Teile. Zu dieser Ausweitung veranlaßt mich vor allem ein rein pragmatischer Gedanke: In dem von mir untersuchten Material kommt es zwar vor, daß ein Text sich durchgängig an einen anderen anlehnt (so ist beispielsweise Ronsards Gedicht „A la fontaine Bellerie", OC 1, 203, eine mehr oder weniger textgetreue Umsetzung von Horaz, carm. 3, 1330), aber dieser Fall ist äußerst selten. Dafür ist vor allem die in Poetiken der Epoche häufig empfohlene Praxis der « imitation composite » verantwortlich, die ausdrücklich eine Vielzahl von Vorbildern vorschreibt31. Hingegen ist der Fall häufig, daß größere Stücke mehrerer Texte verarbeitet werden. Um bei Ronsard zu bleiben: Die erste Ode seiner Quatre premiers liures des Odes, „Au Roi" (OC 1,61), beginnt mit einer Umsetzung des Prooems von Ol. 7 32 , doch finden wir im Laufe des Gedichtes (v. 29-38) eine ebenso klare Imitation von Theokrit, id. 17,1-4 33 . Obwohl ich mir bewußt bin, daß die Bezeichnung „größere, in sich geschlossene Teile" recht dehnbar ist, halte ich es doch für möglich, hier von „Hypo-" und „Hypertext" zu reden.

Entscheidend scheint mir dabei zu sein, daß die beiden Passagen aus der Ode „Au Roi" die antiken Texte gewissermaßen im Verhältnis eins zu eins wiedergeben: Alle Elemente, die der Leser wahrnehmen soll, sind ausdrücklich im Text genannt34, Hypo- und Hypertext sind symmetrisch. Wo hingegen der sekundäre Text als Vehikel eines größeren Zusammenhanges dient, wo also das Verhältnis zum Primärtext ausgesprochen asymmetrisch wird, scheint mir der Begriff „hypertextuell" nicht mehr anwendbar; hier werde ich dann von „intertextuell" sprechen. Als Beispiel für diesen letzten Fall können wir eine Passage aus Pindar betrachten. In Pyth. 3, 80-82 heißt es (angeredet ist Hieron): μανθάνων οίσθα προτέρων / εν παρ' έσλον πήματα σΰνδυο δαίονται βροτοις / α θ ά ν α τ ο ι . Durch die Erwähnung der anonymen

30) Vgl. aber NOYER-WEIDNER, „Ronsards Antike-Nachahmungen", der auch eine Anlehnung an mittelalterliche Traditionen nachweisen kann. 31) Vgl. WEBER, Création poétique 1, 122-124 und GREENE, Light in Troy 39f. _ 32) « C o m m i un qui prend une coupe » entspricht dem pindarischen Φιάλαν ώς e'í τις [...] ελών; die Imitation setzt sich bis Vers 6 fort (s. auch unten S. 147). 33) Besonders klar ist der Bezug am Ende der beiden Passagen, wo es bei Ronsard heißt: « Mais HENRI sera le Dieu / Qui commuera mon mettre, / Et que i'ai uoué de mettre / A la fin & au meilieu. »; dem entspricht bei Theokrit ανδρών δ ' α υ Πτολεμαίος évi πρώτοισι λεγέσθω / καί πύματος και μέσσος. 34) Es gehört einer anderen Ebene an, daß ζ. B. der junge Dichter Ronsard durch Berufung auf anerkannte Autoritäten sich selbst eine gewisse Legitimation verschafft, somit also die beiden Passagen doch noch mehr im Leser wachrufen als sie zu sagen scheinen, denn diese Elemente gehören nicht mehr in den eigentlichen Text, sondern verweisen schon über ihn hinaus auf einen größeren, kulturellen „Kontext".

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πρότεροι (wobei damit, wie häufig im Griechischen, jemand ganz bestimmtes gemeint ist, hier Homer) wird deutlich, daß der Zuhörer oder Leser diese Passage nur dann voll versteht, wenn ihm die entsprechende homerische Vorbildstelle vorschwebt (Ω 527-533). Vom Leser zu Pindars Zeiten konnte der Dichter erwarten, daß er den Kontext der homerischen Passage in das Epinikion „importiert" und so die pindarische Umdeutung der Stelle goutiert35.

Die Renaissance liefert uns eine Vielzahl von klaren Beispielen für solche intertextuellen Berührungen. An vielen Stellen geht der Leser in die Irre oder findet den Text unverständlich, wenn er nicht die (zumeist antike) Vorbildstelle kennt, auf die ein Autor anspielt. Nehmen wir wieder Ronsard, der in der Ode , A Jouachim Du Beilay Angeuin" stolz seinen Erfolg als Dichter verkündet36 (OC 1, 118): Par une cheute subite Encor ie n'ai fait nommer Du nom de Ronsard la mer Bien que Pindare i'imite. Warum die Imitation Pindars zu einem plötzlichen Sturz führen sollte, warum Ronsard gar einem Meer seinen Namen geben sollte, kann nur der Leser verstehen, der den zugrundeliegenden Text kennt, Horaz, carm. 4, 2, 1-4, wo dieser jedem Nachahmer Pindars das Schicksal des Icarus ankündigt. Hier liegt ein typischer Fall für das vor, was RIFFATERRE37 die „Matrix" eines Gedichtes nennt, "an abstract concept never actualized per se: it becomes visible only in its variants, the ungrammitacilities." So tritt bei Ronsard der Name „Icarus" nicht selbst auf, aber die Bilder des Sturzes und des Meeres importieren ihn in den Text, der an dieser Stelle durch seine Intertextualität mehr sagt als seine Oberfläche zeigt. Der Intertext, hier der Icarusmythos und seine Anwendung auf die Pindarnachahmung, läßt den Text der Ode gewissermaßen „explodieren", lädt ihn mit Sinn auf. Damit ist klar, was ich die .Asymmetrie" der Intertextualität genannt habe: Der sekundäre Text erhält durch seinen Intertext einen merklichen Zuwachs an Bedeutung und kann nur dann gelesen und verstanden werden, wenn seine 35) Zu der im einzelnen problematischen Deutung des Verhältnisses der pindarischen zur homerischen Stelle vgl. zuletzt ROBBINS, „Gifts of the Gods". 36) S. zu der Passage femer unten S. 78f. 37) Semiotics of Poetry 13; vgl. auch 19-21 u. ö. RIFFATERRES Kategorien wenden auf die Literatur der Renaissance ähnlich auch CORNILLIAT/MATHIEU-CASTELLANI, „Intertexte Phénix" 7 an: « Dans tous les cas, et par-delà la différence des systèmes de représentation mis en jeu, la présence du corps étranger, remembré — dans la traduction ou la transposition narrative — ou démembré — dans une écriture essayiste ou poétique de l'emprunt — , se marque toujours par la trace que laissent ces anomalies intratextuelles, ces signaux que M. Riffaterre nomme agrammaticalités, car elles constituent des écarts réglés par rapport aux normes internes du texte d'accueil, par rapport à son idiolecte. »

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intertextuelle Dimension wahrgenommen wird. Bei der Hypertextualität hingegen ist es möglich, den Text auch ohne Kenntnis des Hypotextes zu verstehen. Darin sieht auch GENETTE 3 8 einen wichtigen Unterschied zwischen beiden Phänomenen: [...] contrairement à l'intertextualité telle que la décrit bien Riffaterre, le recours à l'hypotexte n'est jamais indispensable à la simple intelligence de l'hypertexte. Tout hypertexte, fût-ce un pastiche, peut, sans « agrammaticalité » perceptible, se lire pour lui-même, et comporte une signification autonome, et donc, d'une certaine manière, suffisante. Mais suffisante ne signifie pas exhaustive. Wenn wir diese Aussagen auf die Ronsardpassagen anwenden, so sehen wir, daß danach die zuletzt zitierte (aus der Ode ,A Jouachim Du Beilay Angeuin") sicherlich intertextuell ist: Ohne die „Matrix" ist sie unverständlich. Hingegen können die beiden erwähnten Stellen aus der Ode „Au Roi" auch ohne genaue Kenntnis der zugrundeliegenden Passagen aus Pindar und Theokrit verstanden werden, ja selbst ohne das Wissen, daß es für sie einen Hypotext gibt. Dieses Kriterium der Symmetrie textlicher Berührungen sollte deshalb helfen, den subjektiven Begriff „größere, in sich geschlossene Teile" etwas zu objektivieren: Wo eine merkliche Asymmetrie vorliegt, wo also der imitierende Text einen größeren Zusammenhang evoziert und zu seinem Verständnis eine Kenntnis dieses Zusammenhangs voraussetzt, liegt Intertextualität vor, wo hingegen ein Text einen vorhergehenden Text imitiert, ohne ihn so zu verformen und zu komprimieren, daß er ihn in sich einschließt, liegt ein Verhältnis von Hyperund Hypotext vor.

2 Die nächste wichtige Frage ist die nach der genauen Art der transtextuellen Bezüge. Eine grundlegende Unterscheidung betont zu Recht GREENE 39 : The reader must [...] distinguish between the use of a single, specific subtext and a topos that conventional repetition has removed from the purview of any one author or work. [...] It [the topos] is also to some degree dehistoricized: if the topos has been everywhere, then it derives specifically from nowhere. The reader is not expected to know its history but to recognize its conventionality.

38) 39)

Palimpsestes 450. Light in Troy 50.

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D i e Wichtigkeit dieser Unterscheidung ist für die Literatur der Renaissance kapital. D a d i e s e Epoche, anders als wir heute, noch eine direkte, lebendige Verbindung zu der Rhetorik der Antike hatte, finden wir an vielen Stellen auch aus der Tradition der A n t i k e stammende T o p o i - i m L a u f e der Studie werden wir einer ganzen Reihe d a v o n begegnen, so „die Größe des Sujets macht seine B e arbeitung schwierig", „der Lobredner fürchtet, seinem T h e m a nicht g e w a c h s e n zu sein" oder „kunstvoll besungene Liebe ist unaufrichtig" 40 . An all diesen Stellen wäre e s verfehlt, nach einer einzigen Vorläuferstelle zu suchen. Zwar liegt auch hier e i n e Art v o n Intertextualität vor (der sekundäre T e x t trägt an diesen Stellen eine seine Oberfläche sprengende Dimension mit sich), aber der Intertext ist selbst schon z u s a m m e n g e s e t z t aus einer ganzen Reihe v o n Manifestationen eines Modells, das seinerseits jede einzelne von ihnen übersteigt 41 . Um die Definition von „Topos" ist seit dessen Einführung in die Literaturwissenschaft durch CURTIUS42 eine heftige Polemik entbrannt. So wurde CURTIUS der Vorwurf gemacht, sein Toposbegriff sei viel zu weit gefaßt und meine eigentlich nicht viel mehr als „Klischee", was im Gegensatz zur Bedeutung des Konzeptes τόποz/locus communis in der antiken Rhetorik stehe43. Demgegenüber halten andere Forscher gerade die von CURTIUS angelegte Unscharfe des Toposbegriffes für unumgänglich und sehen darin eine spezifische Eigenart des Topos 44 . Mir erscheint der Nachweis, daß der moderne Begriff „Topos" von dem antiken abweicht, nicht unbedingt schon ein Argument gegen dessen moderne Verwendung zu sein, denn, wie BAEUMER45 richtig feststellt, der Topos ist heute „nicht mehr Hilfsmittel und Instrument der Literaturherstellung für den Dichter, als vielmehr Methode und Werkzeug der Literaturwissenschaft für den Forscher". Da die Toposforschung mittlerweile ein eigener, blühender Forschungszweig ist, kann auch hier meine Absicht nicht sein, eine neue Definition des Topos zu geben oder theoretisch zu begründen, warum ich gerade diese oder jene vorziehe. Mir erscheint der weitergefaßte Toposbegriff für diese Studie geeignet. Dabei möchte ich auch hier die Aufmerksamkeit ebensosehr auf die Seite des Rezipienten wie auf die des Produzenten richten: Der Topos spielt (besonders, wo er die Funktion eines A r g u m e n t e s übernimmt, wie in den oben angeführten Beispielen) mit dem Effekt der Wiedererkennung. Der Leser ist geneigt, dem schon Bekannten und durch eine lange Tradition Sanktionierten Autorität zuzuerkennen und Glauben zu schenken (vielleicht darf man an ähnliche Strategien in der modernen Werbung erinnern, si

40) S. unten S. 83f. 90f. 193f. 195-199. 41) Vgl. CURTIUS, „Literarästhetik des Mittelalters" 140: „Ein Topos ist etwas Anonymes. [...] Er hat eine zeitliche und räumliche Allgegenwart wie ein bildnerisches Motiv." 42) Vor allem in Europäische Literatur (zuerst 1948). 43) Vgl. besonders VEIT, „Toposforschung" 137-183. 44) Vgl. EMRICH, „Topik und Topoi" 214-151; BAEUMER, „Vorwort" XI: „[...] so kann jeder sprachliche Ausdruck - sei es eine Metapher, ein Motiv, eine Redewendung, ein Bild - unter bestimmten sprachlichen Gebrauchsbedingungen zu einem Topos werden." und zuletzt BORNSCHEUER, „Neue Dimensionen" 6: „Ein topos bzw. locus (communis) kann, in aller Kürze gesagt, sowohl ein (erkenntnistheoretischer, logischer oder anderer) Kategoriebegriff oder eine Regel als auch ein bloßes Klischee oder ein Stichwort formaler oder materialer Art sein." 45) „Vorwort" XIV.

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parua licet componere magnis); dies scheint mir in der Renaissance eine entscheidende Funktion der Verwendung von Topoi zu sein.

Von großer Wichtigkeit erscheint mir im Zusammenhang mit dem Toposgebrauch folgende Überlegung: Man hat beim Lesen kritischer Literatur häufig den Eindruck, als sei mit der Feststellung, diese oder jene Passage sei ein Topos, die Aufgabe des Interpreten schon erfüllt. Demgegenüber möchte ich festhalten, daß dies erst der Anfang einer Interpretation ist. Das Wissen um die Verwendung eines Topos ist ein wichtiger Schritt beim Verständnis einer Passage, weil ihre besondere Natur zu einiger Vorsicht bei ihrer Interpretation führen muß46. Die beiden nächsten Schritte aber sind ebenso wichtig; ihre Fragen lauten: W i e wird der Topos an dieser konkreten Stelle variiert? W e l c h e F u n k t i o n übernimmt er in diesem Kontext? Mit einer letzten Bemerkung möchte ich den Bereich des Topos verlassen: Die Tatsache, daß eine bestimmte Passage einen Topos variiert, schließt nicht aus, daß sie auch noch einen anderen, konkreten Intertext hat, d. h. daß sie sich an eine ganz bestimmte schon vorliegende Variante dieses Topos anschließt. Dies soll wiederum ein Beispiel aus Ronsard zeigen. In seiner Ode „A Bouju Angeuin" finden wir folgende Passage (OC 2, 88): Les Pyramides tirées Des entrailles d'un rocher, Iadis des Rois admirées, Le tens a fait trebucher. Mais si l'esprit poétique Qui m'agite, n'est errant, Plus que nul pilier antique Ton euure sera durant. * Die Versicherung, allein die Dichtung könne unsterblichen Ruhm verleihen, ist ein seit der Antike bekannter Topos; auch der Vergleich des ewig währenden Wortes mit Bauwerken, die eines Tages zusammenfallen werden, ist traditionell47. Dennoch variiert Ronsard hier nicht nur einen Topos, sondern schließt sich durch einige Signalworte im Text auch deutlich an eine frühere, und 46) Vgl. CURTIUS, „Literarästhetik des Mittelalters" 139: „Man kann einen ma. Text sei er historischer, philosophischer oder sonstiger Art - nur dann verstehen, wenn man untersucht hat, ob er in der Tradition eines Topos steht. Wer das nicht beachtet, kann zu Fehlschlüssen von oft erheblicher Tragweite gelangen. Wie oft führt ein solches Verfahren dazu, daß ein ma. Text als historisches Zeugnis oder als psychologisches Dokument aufgefaßt wird, während er nur eine typische Formel der Tradition variiert." Diese Aussagen gelten ohne Einschränkung auch für Texte der Renaissance. 47) Vgl. für die Antike die Belege bei SYNDIKUS, Lyrik des Horaz 2,271-277; für die Renaissance JOUKOVSKY, Gloire dans la poésie 398-404 und CLEMENTS, Pléiade 43-47.

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vielleicht die berühmteste, Variation dieses Topos an, nämlich Horaz, carm. 3, 30 48 . So erreicht er zweierlei: Das Aufgreifen des Topos läßt den Leser eine ihm schon bekannte und daher leicht für gültig gehaltene Argumentation 49 wiederfinden, die Anspielung auf den berühmten Intertext betont den „gelehrten" Charakter der Dichtung und verleiht ihr dadurch noch mehr Autorität. Die These, daß Intertextualität dem Text unter anderem auch Überzeugungskraft verleiht, möchte ich anhand einer Analogie zu erklären versuchen: Der amerikanische Kritiker BOOTH hat festgestellt, daß das Erkennen von Ironie den Leser dazu bringt (oder bringen soll), den vom Autor unter diesem Deckmantel geäußerten Überzeugungen zuzustimmen. Diesen Prozeß beschreibt er folgendermaßen50: All authors [...] invite us to construct some sort of picture of their views and to judge them as in some sense coherent or plausible or challenging. But ironic authors obviously offer that invitation more aggressively, and we must answer it more actively: since the reader has in a sense put the finaJ position together for himself, he can scarcely resist moving immediately to the [...] judgment: "Not only do I see it for what it is, but it must be sound since it is my own." Was eine Solidarität zwischen Autor und Leser knüpft, ist der Glaube, etwas entdeckt zu haben, die Annahme, zusammen mit demjenigen, der die Ironie geschaffen hat, zu einer besonders scharfsinnigen, intelligenten Spezies Mensch zu gehören; das Gefühl dieser überlegenen Solidarität läßt den Leser dann leicht sich auch mit den geäußerten Meinungen solidarisieren. In ähnlicher Weise scheint mir auch die Intertextualität zu funktionieren: In der angeführten Ronsardstelle hat der Leser Grund, sich an der Entdeckung des Intertextes (nämlich der Horazpassage) zu erfreuen und sich so für besonders klug zu halten. Diese Entdeckung führt dann zu einem "inside - outside" Denken: Auf der einen Seite stehen die Klugen (zu denen unter anderem der Autor zählt), die solche Anspielungen aufgrund ihrer ausgedehnten Gelehrsamkeit erkennen und entziffern können, auf der anderen Seite die barbarischen Dummköpfe, die dazu nicht in der Lage sind. Dieses Gefühl der Verbundenheit läßt den Leser dem Autor vertrauen und seinen Argumenten Glauben schenken. Wenn wir uns von den Topoi den konkreten Intertexten zuwenden, so halte ich auch hier einige Unterscheidungen für nützlich. Die Arten intertextueller Berührungen sind zwischen zwei Extremen angesiedelt 51 : Auf der einen Seite 48) Dies zeigen schon die Pyramiden und die Könige (,.regali [... ] situ Pyramidum", 2), dann aber besonders der « euure plus durant que nul pilier antique », das „monumentum aere perenni us". 49) Die ihrerseits hier in zwei Richtungen wirkt: Zum einen wird durch den besonderen Status der Dichtung konkret der Wert des vorliegenden Liedes betont, zum anderen ist die Versicherung „meine Dichtung kann dich unsterblich machen" eine Werbung des jungen Dichters um Unterstützung; vgl. CAVE, „Muse publicitaire" 9f.: « On comprend donc que Ies Odes de 1550 soient un recueil doublement publicitaire : Ronsard y fait la réclame non seulement de la France, de la famille royale et des grands, mais aussi de la poésie, des poètes, et surtout de lui-même en tant que poète. Le genre encomiastique est un genre de l'enflure, projetant une image grossie à la fois du destinateur et du destinataire [...]. » 50) Rhetoric of Irony 41. 51) Vgl. die gute Definition von „allusion" und „citation" bei MATHIEU-CASTELLANI, „Intertextualité et allusion" 27f.

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haben wir das Zitat, bei dem der sekundäre Text angibt, d a ß es sich bei der entsprechenden Passage um eine intertextuell besetzte handelt, und auch deren Herkunft mehr oder weniger deutlich bezeichnet. Am entgegengesetzten Ende der Skala finden wir die Anspielung, bei der der sekundäre Text es dem Leser überläßt herauszufinden, daß ihm ein Intertext eingeschrieben ist und welcher Art dieser ist. Zwischen diesen Extremen sind alle möglichen Abstufungen denkbar: Hinweise darauf, daß der Text imitiert ist, ohne die Quelle zu nennen, unvollständige oder verschlüsselte Angabe der Herkunft, Schlüsselwörter, die den Leser auf bestimmte Intertexte hinlenken... Das Verfahren der Anspielung ist zweifelsohne in der Dichtung das häufigere, weil es in kaum zu überbietender Ökonomie den Text mit Bedeutung belädt: Oft genügen wenige Begriffe, um durch die Worte des Gedichtes hindurch einen zweiten Text, eine ganz neue Bedeutung hindurchscheinen zu lassen52: Un des aspects les plus déconcertants de cette relecture critique opérée par la mise en perspective de plusieurs textes et de plusieurs langues, est à coup sûr le ludique : dans le processus de l'allusion — ad-ludere — qui marque si fortement l'écriture de la poésie, un texte joue avec des textes, ou plutôt avec des résidus textuels, cachant et masquant la référence, cryptant le message en sollicitant un décodage [...]. Auch hier werde ich bei der praktischen Untersuchung versuchen, mich auf die Seite des Rezipienten zu stellen; meine Fragen bei der Interpretation konkreter Texte werden lauten: Welche Intertexte werden für den zeitgenössischen Leser durch den Text evoziert? Durch welche Signale wird dies erreicht? Welche neuen Dimensionen gewinnt der Text für den Leser durch diese Intertextualität?

3 Diese Fragen und die zuletzt zitierte Ronsardstelle53 führen uns auf eines der dornigsten Probleme, denen man bei praktischen Untersuchungen von Phänomenen der Intertextualität begegnet. Während in der Ode „A Bouju Angeuin" der Anklang an Horaz eindeutig erkennbar war, sind die folgenden Fragen bisweilen kaum zu beantworten: Wann darf man mit einer wirklichen Nachahmung einer bestimmten Stelle rechnen und wann gestaltet ein Dichter nur ein traditionelles Motiv? Wieviel Ähnlichkeit ist nötig, um einen vielleicht zufälligen Anklang auszuschließen und von einer wirklichen Imitation zu sprechen 54 ?

52) CORNILUAT/MATHIEU-CASTELIANI, „Intertexte Phénix" 8. 53) S. oben S. 60. 54) Einige instruktive Beispiele aus der lateinischen Literatur für diese Schwierigkeit bietet KROLL, Studien 150-154.

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Schließlich stellt sich in der französischen Renaissance häufig das schwierige Problem der sekundären Nachwirkung: Ein französischer Dichter des sechzehnten Jahrhunderts kann sehr wohl eine Pindarstelle nur über den Umweg einer Ronsardimitation kennen; ja er kann sogar diese Tatsache der Sekundärüberlieferung verleugnen und ob des großen Prestiges Pindars behaupten, er zitiere hier den Thebaner, während er in Wirklichkeit einzig Ronsard vor Augen hat55. Noch schwieriger werden diese Probleme durch die schon erwähnte Praxis der Renaissancedichter, oft mehrere Vorbildstellen gleichzeitig zu verarbeiten, sie (wie Terenz 56 sagt) zu „kontaminieren". Exemplarisch wird dies deutlich im Falle der zahlreichen mythologischen Erzählungen und Anspielungen in der Dichtung. SEZNEC57 beschreibt die Lage der Intertexte bei Ronsard so: Ronsard [...] puise indistinctement et simultanément à toutes sources ; il accueille toutes les divinités ; qu'elles viennent d'Asie, Grèce, de Rome ou d'Egypte ; qu'elles soient primitives, classiques décadentes ; il va même de préférence aux textes les moins connus, plus bizarres, pour faire parade d'érudition [...].

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Es ist in einem gegebenen Fall daher nicht leicht zu entscheiden, welche Intertexte eine mythische Erzählung evoziert: Geht es nur allgemein um eine nicht genau festzumachende „Vulgatfassung" des Mythos, oder sind außerdem noch mehrere ganz bestimmte Texte miteinander kontaminiert? Auch in diesem Problemkreis ist wohl keine methodisch fundierte, theoretisch eindeutige Lösung zu erreichen 58 - der Interpret kann nur zwischen verschiedenen Extrempositionen eine Art Ausgleich suchen und muß sich in Einzelfallen oft pragmatisch entscheiden. Meine Faustregel in dieser Studie war es im allgemeinen, eher (über-) vorsichtig bei der Entscheidung zu sein: Interund hypertextuelle Berührungen habe ich nur dort angenommen, wo eindeutige w ö r t l i c h e Anklänge die beiden Passagen vergleichbar machten. Im Einzelfall habe ich oft mögliche Intertexte erwähnt, auf die Unsicherheit dieser Beziehung aber hingewiesen, um so dem Leser die Entscheidung zu überlassen. Zu dieser Vorsicht hat mich vor allem die Erfahrung gemahnt, daß viele 55) Vgl. LAFAY, Poésie française 71: « Le processus est complexe ; les influences sont aussi bien directes et indirectes, sans qu'il soit toujours possible d'établir la distinction : car Pindare n'est pas tellement en lui-même qu'en Ronsard, Pétrarque qu'en Ronsard et en Luigi Tansillo, à leur tour en Desportes, etc. L'écheveau de ces fils entremêlés sans fin devient impossible à débrouiller. » Vgl. zu diesem Problem ferner PIGMAN, „Neo-Latin Imitation" 199 mit Anm. 2. 56) Andria prol. 16. 57) Survivance des dieux antiques 271. 58) Ein Versuch einer solchen Systematisierung ist beispielsweise LEE, Allusion, Parody and Imitation (1971), doch bleibt auch dieser Beitrag eine wirkliche theoretische Fundierung schuldig und muß letztlich immer wieder auf den common sense zurückgreifen.

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Forscher auf der Suche nach den Nachwirkungen eines bestimmten Autors geneigt sind, überall solche Wirkungen zu sehen59. Wo eindeutig traditionelle Motive und Topoi vorliegen, habe ich gelegentlich einen Teil dieser Überlieferung zitiert, nicht um zu suggerieren, dem Leser der Renaissance seien alle diese Passagen präsent gewesen oder der Text evoziere eine ganz bestimmte unter ihnen (obwohl diese Annahme in einigen Fällen vielleicht berechtigt wäre), sondern um zu zeigen, wie wenig angebracht in solchen Fällen die Behauptung ist, diese oder jene Stelle sei das direkte Modell: Angesichts der erdrückenden Fülle des Materials sind solche Aussagen nicht sinnvoll. Hilfreich ist es auch in diesem Fall, sich mehr auf die Seite des Rezipienten als auf die des Autors zu stellen: Interessant scheint mir nicht zu wissen, ob Ronsard beim Verfassen einer mythologischen Anspielung diesen oder jenen antiken oder zeitgenössischen Autor vor Augen hatte, sondern die Feststellung, daß der „gebildete Leser" der Renaissance hier wohl durch die Wortwahl und die stofflichen Elemente an eine (oder mehrere) ganz bestimmte Fassung(en) des Mythos dachte, sich dort hingegen nur sein allgemeines Wissen um die „Normalfassung" des Mythos ins Gedächtnis rief. Dabei bin ich mir durchaus der Problematik des Begriffes „gebildeter Leser" bewußt: Seit Jahren versucht die Literaturkritik, und besonders die rezeptionsästhetisch ("reader-response") orientierte, das Bild eines solchen Ideallesers zu entwerfen - wie mir mit manchen anderen scheinen will, ohne durchschlagenden Erfolg. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Sowohl RIFFATERRES60 „superreader" als auch FISHS61 „informed reader" werden von CULLER62 als Strohmänner entlarvt, die im Prinzip weiter nichts sind als Metamorphosen ihrer Schöpfer. „Der Leser" ist ebensowenig von dem jeweiligen Interpreten unabhängig existent wie „der Text" 63 : In speaking of the 'text itself', measuring it as a norm against particular interpretations of it, is one ever dealing with anything more than o n e ' s own concretization? [...] It is a version, in other words, of the old problem of how one can know the light in the refrigerator is off when the door is closed. Jede hermeneutische Tätigkeit muß mit ihrer logischen Unvollkommenheit leben, und wie ich schon gesagt habe, finden wir auf dem Gebiet der Intertextualität in nuce viele allgemeine

59) Dies gilt vor allem dann, wenn man den relativ sicheren Bereich der textlichen Nachwirkungen verläßt und sich darauf einläßt, so nebulose Kategorien wie die „Gedankenwelt" und den „Stil" eines Autors in seinen vermeintlichen Nachahmern wiederzufinden SILVER, Grecian Lyre böte genug Material zum Nachweis, daß solche Verbindungen oft nur von dem jeweiligen Interpreten wahrgenommen werden können. 60) „Describing Poetic Structures" 215. 61) Is There a Text 49. 62) Pursuit of Signs 93 (für RIFFATERRE) und On Deconstruction 65-69 (für FISH, der allerdings an der in der vorigen Anmerkung zitierten Stelle selbst auf den hybriden Charakter seines Lesers hingewiesen hatte). 63) EAGLETON, Literary Theory 84f.

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Probleme der Interpretation wieder. Wir werden nie mit Sicherheit sagen können, ob dieser oder jener Fall von Intertextualität den Lesern der Renaissance offenkundig war, aber wir dürfen beim Publikum einer Epoche, für die die literarische Imitation ein derart zentrales Verfahren der Produktion war, doch eine gesteigerte Aufmerksamkeit für solche Phänomene voraussetzen. Auch hier aber bewährt sich die oben erwähnte Vorsicht: Es wird mir in dieser Arbeit nicht darum gehen, besonders verborgene und abgelegene Intertexte herauszufinden, sondern ich werde versuchen, den von den Texten gegebenen Hinweisen zu folgen.

4 Zum Abschluß dieses Kapitels möchte ich noch einige Konstanten der Nachahmungsdiskussion in der französischen Renaissance hervorheben. Obwohl die Bedeutung der Imitation in der französischen Dichtung nicht weniger groß ist als in der italienischen Renaissance, finden wir ihr gegenüber doch in Frankreich von vornherein eine gewisse Reserviertheit 64 . Besonders fällt auf, daß die Nachahmung antiker Dichtung vor allem dazu dienen soll, die französische Sprache und Literatur zu befähigen, eines Tages die Antike zu überflügeln 65 : „Das Studium älterer Autoren und das Erlernen ihrer Dichtungsformen, Stilmittel und Themen sind nur Mittel zur Erreichung dieses Ziels." Dieses patriotische Ziel läßt sich ablesen aus der vielfach verwendeten Plünderungsmetapher 66 : Französische Dichter sehen ihre Imitationen als Raubzüge, durch die sie Frankreich mit den Schätzen der Vergangenheit schmücken. Aus denselben Argumenten wie diese patriotische Motivierung aber speist sich in Frankreich auch eine Gegenbewegung gegen die Imitation: Schon seit der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts finden wir Autoren, die behaupten, Frankreich bedürfe der Antike nicht, um groß zu werden, und die eine „Überfremdung" der französischen Sprache und Literatur befürchten 67 . Ein Beispiel für diese Opposition ist die Polemik um die griechischen Begriffe „Strophe", „ode" usw., die Ronsard in die französische Sprache eingeführt hatte 68 ; klar ausgedrückt sehen wir sie in der 1551 gedruckten Replique aux furieuses defenses von Guillaume Des Autels, wo es heißt (p. 58f.): En premier lieu ie ne suis pas de l'auis de ceux, qui ne pensent point que le François puisse faire chose digne de l'immortalité de son inuention, sans l'imitation d'autrui : si c'est imiter desrober vn sonnet tout entier d'Arioste, ou de Petrarque, ou vne ode d'Horace, ou ilz n'ont point de 64) Zur Opposition gegen die Praxis der Imitation vgl. WEBER, Création poétique 1, 120-122. 65) HARDT, „Konzept der literarischen Innovation" 319f.; vgl. CARRON, „Imitation and Inteitextuality" 569f. 66) S. unten S. 81f.; vgl. ferner Du Beilay, Deffence 338-340 = 196. 67) Vgl. DUBOIS, „Grands hommes de l'Antiquité" 627. 68) S. unten S. 128-131.

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propriété, I [...]& ne different en rien des translateurs qu'ilz mesprisent tant, sinon en ce qu'ilz laissent ou changent ce qu'il leur plait : quelque immodeste plus librement dirait ce qu'ilz ne peuuêt traduire.* Gleichzeitig enthält diese Passage (mit einem Seitenhieb auf Du Bellay69) einen anderen Vorwurf: Die Plünderungsmetapher wird hier von einem Gegner der Imitation aufgegriffen, der deren Anhänger des literarischen Diebstahls bezichtigt, weil ihre Imitationen zu eng den Vorbildtexten folgen. Wie häufig in Polemiken (nicht nur) der Renaissance wird nicht klar zwischen zwei Argumenten unterschieden: (1) Die Autoren der Pléiade imitieren nicht richtig70, sondern plagiieren nur71; (2) die französische Literatur bedarf der Imitation überhaupt nicht, um groß zu werden. Beide Argumente finden wir in anderen Zusammenhängen wieder. Die Ansicht, Imitation sei an und für sich unnütz oder sogar schädlich für die französische Literatur, wird außer von einer nationalistischen Richtung auch von den christlichen Eiferern vertreten, denen der Rekurs auf die heidnische Literatur suspekt ist. Ein Beispiel für diese Opposition finden wir überraschenderweise sogar im Schöße der Pléiade. Etienne Jodelle wendet sich in seinem 1556 erschienenen Gedicht „Au peuple françois" gegen die « mille songes, / Mille fables, mille mensonges »72 der antiken Literatur und geht auch mit deren Nachahmern hart ins Gericht (OC 1, 115):

69) Der Satz « ne different en rien des translateurs qu'ilz mesprisent tant » bezieht sich auf Du Beilays zwei Jahre zuvor erschienene Deffence, in der das Übersetzen ausdrücklich verdammt wurde, vgl. CASTOR, Pléiade Poetics 68; allgemein zum Verhältnis von Übersetzungen und Imitationen bei den Dichtern des sechzehnten Jahrhunderts vgl. STACKELBERG, „Übersetzung und Imitatio" und NAÏS, „Traduction et imitation". Es sei schließlich noch darauf hingewiesen, daß für den englischen Dichter Dryden Imitation nur eine Art der Übersetzung ist, vgl. STEINER, After Babel 253-256 und GREENE, Light in Troy 51 f. 70) „Richtige" Imitation wird dabei oft in der Tradition der Quintilianpassage 10,1,19 (ihm war dabei schon Seneca, Ep. 84, 3-7 in einer ausführlichen Beschreibung vorangegangen, vgl. GREENE, Light in Troy 73-76) beschrieben als Überführung oder Verdauung des Angelesenen in „Fleisch und Blut", vgl. COLEMAN, Gallo-Roman Muse 73f. und CAVE, Cornucopian Text 37. Zu dem wohl berühmtesten Auftreten dieser Metapher in Du Beilays Déffence 99 = 42 vgl. die eindringliche Interpretation bei FERGUSON, „Exile's Defense" 284f. 71) Trotz der Wichtigkeit „imitierender" Verfahren in der Literatur ist der Vorwurf des Plagiats in der Literaturkritik der Renaissance (und selbst der Antike, vgl. KROLL, Studien 148f.) nicht selten, vgl. die Beispiele bei GUILLERM, „Topique de la traduction" 21f. und TIEGHEM, Littérature latine de la Renaissance 41 (für die neulateinische Literatur). Obwohl ich das Material nicht genügend überblicke, um eine allgemeine Aussage darüber treffen zu können, will es mir doch scheinen, daß dahinter häufiger polemische Absicht gegen eine bestimmte Imitation steckt als eine systematische Theorie darüber, wo Imitation aufhört und Plagiat anfängt. Vgl. femer zu diesem Fragekomplex VAILLANCOURT, „Rhétorique et éthique". 72) Zum Vorwurf der „Lüge", der der Dichtung schon in der Antike gemacht wurde, vgl. KROLL, Studien 49-52; für die religiösen Eiferer der Renaissance kommt noch hinzu, daß

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[...] tous ceux qui veulent escrire Du tout comme l'antiquité, Seruans aux aueugles d'amorce, Se pensent eux mesmes sans force, Et sans yeux la postérité. Noch deutlicher äußert sich der christliche Fundamentalismus bei Théodore de Bèze, der im Vorwort zu seiner Tragödie Sacrifice d'Abraham von 1550 bedauert, daß die besten Geister Frankreichs sich an einer Nachahmung der frivolen antiken Literatur vergnügen, statt sich ernsthaften Dingen zuzuwenden 73 (zitiert nach WEINBERG, Critical Prefaces 150): Que pleust à Dieu que tant de bons esprits que je cognoy en France, en lieu de s'amuser à ces malheureuses inuentions ou imitations de fantasies vaines et deshonnestes (si on veut juger à la venté), regardassent plustost à magnifier la bonté de ce grand Dieu, duquel ils ont receu tant de graces [...]. Solchen und ähnlichen Angriffen auf ihre Dichtung war die Pléiade besonders seitens der Protestanten während ihrer gesamten Wirkungszeit ausgesetzt74; daß dabei oft die Technik der Imitation im Vordergrund stand, erklärt sich aus der großen Rolle, die die Pléiade selbst ihr zuwies. Für diese jungen Dichter war es ja notwendig, sich bei Hof ein Ansehen zu verschaffen, um so die Existenz materiell zu sichern; zur Erreichung dieses Ziels mußten sie sich erst von den übrigen potentiellen Hofdichtern absetzen75. Um zu zeigen, wie sehr sie ihren Konkurrenten überlegen sind, wenden sie eine zunächst widersprüchlich anmutende Doppelstrategie an: Sie betonen sowohl den innovativen Charakter ihrer Dichtung als auch das Anknüpfen an die große Tradition der Antike. Innovation war nötig, um den Hof auf sich aufmerksam zu machen, die Aufnahme der schon anerkannten Überlieferung antiker Dichtung sicherte den jungen Unbekannten Autorität76. Hierbei findet man häufig eine Kombination der beiden Komponenten: Ein Dichter behauptet, als erster dieses oder jenes antike Werk oder Genre imitiert nach Meinung christlicher Fundamentalisten alle von heidnischen Autoren geschriebene Dichtung per definitionem „Lüge" ist. 73) Vgl. zu diesem Vorwort MARGOLIN, „Pindare et la Renaissance" 142f. 74) S. unten S. 88. 172. 75) Diesen soziologischen Aspekt der Dichtung Ronsards heben besonders zwei kürzlich erschienene Beiträge gut heraus: DESAN, „Tribulation of a Young Poet" und CAVE, „Muse publicitaire". 76) S. oben S. 61 ; vgl. CASTOR, Pléiade Poetics 74f.: "[...] despite the fact that they were writing poetry which was 'new', they could still enjoy the security of being associated with accepted literary authority."

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oder auferweckt zu haben77. Am Beispiel von Ronsards Pindarimitation wird dies besonders deutlich. Ronsard zitiert im Vorwort ,Au lecteur" seiner Odes Horaz7S, um sich als ersten Nachahmer Pindars zu bezeichnen (OC 1, 45): [...] m'acheminant par un sentier inconnu, & monstrant le moie de suiure Pindar^, & Horactf, ie puis bië dire, (& certes sans uâterie) ce que lui-même modestement témoigne de lui, Libera per vacuü posui vestigia princeps, Non aliena meo pressi pede. Auch sonst wird Ronsard nicht müde, immer wieder seine Priorität zu betonen, so OC 1, 130 (« Premier i'ai dit la façon / D'accorder le lue aus Odes »); 136 (« premier les [les merueilles] épandi / Dans les Françoises oreilles »); 163 (« le te [la lire] sonnai deuant tous en la France »); 2, 9 (« le premier ») und 30 (« des uers non tantés, / Et non sonnés de nul poëte »); 5, 260 (« Mon jeune esprit, qui premier trauailla / De marier les Odes à la Lire »). Dabei hatte der neulateinische Dichter Salmon Macrin 79 schon zwanzig Jahre vor dem Erscheinen von Ronsaids Odes für sich in Anspruch genommen, der erste Pindarnachahmer in Frankreich gewesen zu sein, wenn er im Gedicht „Ad Hil. Bellaium, cognomine Langium" 80 seiner Carminum libri quatuor schreibt (f. 19r): Primus puellse timula Lesbix Qui plectra sumpsi, & Pindaricum melos Non antè vulgata per vrbes Pictonias fide publicaui.*

Fast wörtlich stimmt Jean Le Masle81 in seinen Nouuelles recreations aus dem Jahre 1580 Ronsards Anspruch zu (f. 32v): « Ronsard qui le premier pindarisa en France. » Spätere Autoren in Frankreich verstehen die „Nachahmung 77) Dieses Motiv findet sich schon häufig in der römischen Literatur: Der Dichter rühmt sich, als erster eine griechische Gattung nach Italien verpflanzt zu haben, vgl. KROLL, Studien 12-14. 78) Epist. 1, 19, 21f. Ist es ein ironischer Zufall, daß sich nur zwei Verse vorher Horazens berühmter Ausruf findet „o imitatores, servom pecus"? An anderer Stelle sieht freilich auch Horaz gerade darin sein Hauptverdienst, der erste bei der Imiation eines griechischen Autors (oder Genres) gewesen zu sein, carm. 3, 30, 10-14: „dicar [ . . . ] / princeps Aeolium carmen ad Italos / deduxisse modos." 79) Zu ihm vgl. MCFARLANE, „Jean Salmon Macrin" und SOUBEILLE, „Date importante"; zum Verhältnis Ronsards zu Macrins Oden MCFARLANE., „Pierre de Ronsard" 179. 80) Vgl. zu diesem in vielen Einzelheiten (und wohl auch an der zitierten Stelle) Horaz, carm. 3, 30 imitierenden Gedicht JOUKOVSKY, Gloire dans la poésie 189 (in den zitierten Versen geht femer wohl „puellœ [...] Lesbia; [...] plectra" auf Horaz, carm. 1, 26,11 „Lesbio [...] plectro" zurück). An anderen Stellen seiner Werke verzichtet Macrin ausdrücklich darauf, Pindar nachzuahmen, vgl. DEMERSON, „Ode pindarique latine" 285f. 81) Zu ihm Dictionnaire des lettres françaises XVIe 447 und CIORANESCO, Bibliographie du seizième 430.

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vergangener Literatur, d. h. der Antike und der italienischen Renaissance, als Hauptdomäne und Hauptkriterium des innovatorischen Engagements Ronsards und seiner Schar" 82 , wie einige Beispiele zeigen sollen. So lesen wir in der 1578 erschienenen Galliade von Guy Le Fèvre de la Boderie (f. 124 v ) ein Lob Ronsards, « Rapportant le premier en la terre Gallique / Des Roumains & des Grecs la Poësie antique ». In einem griechischen Epitaph aus der Laudatio funebris Georges Crittons auf Ronsard heißt es (p. 22): Πρώτος ά π ' 'Ιταλίας καί ά φ ' Ε λ λ ά δ ο ς ήγαγε Μούσας Κελτίδος εις γαίην ζάθεος ούτος άνήρ. In den zuletzt zitierten Passagen überrascht, daß Ronsard hyperbolisch nicht nur die Priorität in der Pindarnachahmung zugesprochen wird, sondern er überhaupt als der erste humanistische Dichter Frankreichs gepriesen wird, der die Musen aus Rom und Griechenland nach Gallien verpflanzt habe. Damit werden einige Jahrzehnte humanistischer Poesie in Frankreich einfach aus dem Gedächtnis gestrichen - wie ja überhaupt bekannt ist, wie wenig Gerechtigkeit die Pléiade ihren französischen Vorgängern widerfahren ließ. Die Eindeutigkeit der Aussage ist auch deswegen überraschend, weil zunächst in Frankreich um die Priorität der Odendichtung ein reglrechter Streit entstand. Diesen Streit noch einmal darzustellen ist hier nicht der Ort83, festgehalten sei nur, daß Ronsard keineswegs den Namen „ode" oder die Sache in die französische Literatur eingeführt hatte. Daß es der Pléiade dennoch gelang, Frankreich davon zu überzeugen, dies sei ihre Leistung, zeugt von der Wirksamkeit ihrer „Öffentlichkeitsarbeit"84.

Die Pléiadedichter rückten so die Imitation in den Mittelpunkt der literarischen Debatten, weil sie mittels dieses Verfahrens ihren Unterschied von den übrigen französischen Dichtern betonten. Diese Strategie wird deutlich im Vorwort zu Ronsards Odes, wo das Bild eines „Anti-Lesers" konstruiert wird, der sich eben dadurch auszeichnet, daß er die Wichtigkeit der antiken Literatur und ihrer Imitation nicht anerkennt; diesen Anti-Leser beschreibt FAISANT85 zutreffend so: c'est le représentant d'une génération vieillie, attachée à la tradition marotique, et dont la vanité n'a d'égale que 1'« Ignorance » ; c'est de surcroît un « poétastre » de cour, qui confond les « honneurs » mondains avec la vraie « gloire », et dont tout le talent consiste à rimer des « mignardises », à filer un vers sans surprise, « continuant toujours en son propos » ; c'est enfin un censeur jaloux et mesquin, 82) So HARDT, „Konzept der literarischen Innovation" 317 mit Bezug auf Etienne Pasquier. 83) Vgl. die ausführlichen Darstellungen bei LAUMONIER, Ronsard poète lyrique XXV-LI und CHAMARD, Histoire de la Pléiade 1,280-284. 84) Vgl. aber die unabhängige Bewertung der Frage bei Estienne Pasquier, Œuvres 1, 703f. 85) „Instance du lecteur" 36.

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qui ne s'attache qu'à des critiques vétilleuses de pure forme sans tenir compte de la beauté des « inventions », bref un « mâtin abboyeur qui mord de rage la pierre qu'il ne peut digérer ». So stellt die Pléiade ihren Kampf um Anerkennung und dichterische Vorherrschaft gerne als Kampf gegen die „Ignorance" dar86: Hier wird die Rhetorik und Metaphorik der ersten Humanisten wiederaufgegriffen, um die literarischen Gegner als Barbaren darzustellen. Somit ist klar, warum die Verfahren der Imitation in der poetischen Praxis und Theorie der Pléiade und späterer Dichter, die sich in ihrer Tradition sehen, eine solch zentrale Rolle spielen.

86)

S. die Beispiele unten S. 189 Anm. 141.

4. Pindarlektüre und Pindarverständnis in der Renaissance

ι Wie bei der überwältigenden Mehrheit der antiken Autoren, so müßte auch bei Pindar eine Geschichte seiner Nachwirkungen in Italien beginnen: Hier tauchen die ersten Manuskripte auf, die das Abendland erreichen, hier werden die ersten gedruckten Ausgaben erstellt, hier versuchen sich auch zum ersten Mal humanistische Dichter an einer Imitation seiner Epinikien1. Obwohl er in Italien offenbar weniger Fortune hatte als in Frankreich, böten diese Aspekte seines Nachlebens doch genug Stoff für eine eigene Untersuchung. Hier sollen nur noch einmal einige der wichtigsten Fakten des Bekanntwerdens Pindars im Westen und besonders in Frankreich ins Gedächtnis gerufen werden; die Darstellung erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit und versteht sich lediglich als Skelett einer Vorgeschichte seiner literarischen Rezeption. In BOLGARS2 Liste von Handschriften, die im fünfzehnten Jahrhundert im Besitz von italienischen Humanisten nachweisbar sind, finden wir auch einige Angaben zu Pindarmanuskripten; eine Fülle weiterer Informationen findet man verstreut bei IRIGOIN3. So wissen wir, daß Fulvio Orsini, der eine Ausgabe der Fragmente der griechischen Lyriker (ohne Pindar) machte, eine Vielzahl von Pindarhandschriften besaß, unter anderem den Vaticanus gr. 1312 (den er Pietro Bembo abkaufte; die Geschichte des Verkaufs läßt sich aus Briefen der beiden rekonstruieren4) sowie die Vaticani gr. 1313 und 1333 und 1360 und 1363.

Wohl in Italien wurde auch gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts eine handschriftlich erhaltene lateinische Übersetzung Pindars angefertigt (enthalten in einem Manuskript der Nationalbibliothek in Florenz, dem Maglibechianus

1) 2) 3) 4)

S. oben S. 24-27. Classical Heritage 503. Histoire du texte. Vgl. NOLHAC, Bibliothèque de Fulvio Orsini 100.

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4. Pindarlektüre und Pindarverständnis

ci. VII 10255). Allerdings scheint dieser Anonymus schon einen Vorgänger in der italienischen Frührenaissance gehabt zu haben. In seiner zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts verfaßten Chronik der Stadt Cremona vermerkt Francesco ARISI für das Jahr 13646: „Raynaldus Persichellus humaniorum literarum professor, Musarum cultor, à Graecis Poetis, & prascipuè à Pindaro carmina in latinos numéros minim in modum convertit." Leider scheint es heute unmöglich, Genaueres über diese erste dichterische Übersetzung zu erfahren, doch setzt die Notiz zumindest voraus, daß sich während dieser Zeit ein Pindarmanuskript in Cremona befand. Dazu paßt, daß gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts wiederum ein Cremonenser, Daniel Cajetan, eine Abschrift der olympischen Oden machte (den Brixiensis A IV 137) und daß Benedetto Lampridio, einer der ersten, der sich an der triadischen Ode versuchte8, ebenfalls aus Cremona stammte. Während seines Aufenthaltes in Italien, der sich auf Januar bis September 1508 datieren läßt9, konnte auch Erasmus eine Handschrift Pindars benutzen, wie er selbst bezeugt. In seinen Adagia bedankt er sich für die Hilfe, die ihm italienische Humanisten leisteten, als er bei Aldus Manutius in Venedig zu Gast war (Opera omnia 2,405): Cum apud Italos aederê Prouerbiorum opus homo Batauus, quotquot illic aderät eruditi ultro suppeditabät autores nondü per typographes euulgatos, quos mihi suspicabätur usui futuros. Aldus nihil habebat in thesauro suo, quod nö cömunicaret. Idem fecit Ioannes Lascaris, Baptista Egnatius, Marcus Musurus, Frater Vrbanus. Quorüdam officiü sensi quos nec de facie nec de nomine noueram. In his [libris manu descriptis] erät [...] Pindarus cü accuratis cömentarijs. Leider ist es aus diesen Angaben nicht möglich zu bestimmen, welchen Codex Erasmus in Venedig gesehen hat. Wenn man einmal von den anonymen „quidam" absieht, so wissen wir, daß mindestens zwei der genannten Humanisten Pindarhandschriften besaßen: Marcus Musurus 10 den Vaticanus gr. 4 1 " ; Janos Laskaris war Besitzer des Parisinus gr. 2774 und scheint den Parisinus gr. 2882 selbst geschrieben zu haben 12 .

5) Vgl. IRIGOIN, Histoire du texte 423. 6) Cremona literata 1, 175. 7) Vgl. IRIGOIN, Histoire du texte 204 Anm. 6. 8) S. oben S. 24. 9) Vgl. GEANAKOPLOS, Greek Schotars in Venice 264f. 10) 1470-1517, vgl. Contemporaries of Erasmus 2,472f. und Graecogermania 61-75; zu seiner Mitwirkung an der editio princeps s. unten S. 267. 11) IRIGOIN, Histoire du texte 176; außerdem besaß er noch andere Pindarhandschriften, die sich bis heute noch nicht identifizieren ließen, vgl. IRIGOIN/MONDRAIN, „Marc Mousouros" 262. 12) IRIGOIN, Histoire du texte 263. 372.

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Janos Laskaris 1 3 ist auch ein B i n d e g l i e d zur französischen Renaissance: Bekanntlich unternahm er mehrere Reisen nach Frankreich und half dort unter François I b e i m A u f b a u der k ö n i g l i c h e n Bibliothek in Fontainebleau und d e s C o l l è g e Royal; bei seinen Reisen brachte er Handschriften und gedruckte A u s gaben der griechischen Klassiker mit über d i e Alpen. A u c h G e o r g i o s H e r m o n y m o s 1 4 , der 1 4 7 6 nach Paris k a m und Laskaris in Fontainebleau half (eine e t w a s traurige Bekanntheit erlangte er dadurch, daß er unter anderem Erasmus und Beatus Rhenanus i m Griechischen unterrichtete und z u m Dank später v o n seinen Schülern der Unfähigkeit gescholten wurde), machte eine Abschrift der O l y m p i e n mit Scholien, den Leidensis Vossianus gr. Q 39 1 5 . In die Wirkungszeit Laskaris', die letzten Jahre des fünfzehnten und die ersten des sechzehnten Jahrhunderts (er starb 1534), lassen sich die ersten Zeugnisse für eine direkte Kenntnis des Thebaners in Nordeuropa 16 datieren. Um diese Zeit kam wahrscheinlich der Parisinus

13) 1445-1534, vgl. zu ihm SANDYS, History of Classical Scholarship 2, 78f.; PFEIFFER, Klassische Philologie 130f.; Contemporaries of Erasmus 2, 292-294 und Graecogermania 50-60. 14) Vgl. zu ihm SANDYS, History of Classical Scholarship 2, 169, IRIGOIN, „Georges Hermonyme"; Contemporaries of Erasmus 2,285f. 15) IRIGOIN, Histoire du texte 286 mit Anm. 2; VOGEL/GARDTHAUSEN, Griechische Schreiber 75. 16) Als großer Name, der aus der lateinischen Tradition bekannt ist, geistert Pindar auch schon vorher, im Mittelalter, durch die europäische Dichtung, aber schon die Autoren der Spätantike im Westen scheinen nur noch seinen Namen und Ruf, nicht mehr seine Dichtung zu kennen, so ζ. B. Hieronymus, Sidonius Apollinaris und Venantius Fortunatus (vgl. COURCELLE, Lettres grecques en occident 50. 238-240. 251). Für das spätere Mittelalter ist femer zu bedenken, daß „Pindarus Thebanus" als Name des Verfassers der flias Latina galt (der wirkliche Verfasser ist wahrscheinlich Baebius Italicus, vgl. SCAFFAI, „Aspetti e problemi" 1931). Eine überzeugende Erklärung für diese seltsame Zuschreibung ist, wie SCAFFAI darlegt, noch nicht gefunden worden; doch bleibt die Tatsache bestehen, daß dieser Verfassername in zahlreichen Codices seit dem 11. Jahrhundert und auch in der Literatur auftaucht, z. B. bei Benzo von Alba, MGH SS 11, 599 (gegen Ende des elften Jahrhunderts, die Stelle wird erwähnt von CURTIUS, Europäische Literatur 168 Anm. 7, der aber nicht darauf hinweist, daß „Pindar" hier nicht den griechischen Dichter meint; Benzo ist offensichtlich der erste Autor, bei dem diese Zuschreibung bezeugt ist, vgl. SCHANZ/HOSIUS, Geschichte der römischen Literatur 2, 507). Ein merkwürdiges Faktum findet sich in der wohl 1486 gedruckten Ars versificando p. [12], des deutschen Humanisten Conrad Celtis (1459-1508; zu ihm BURSIAN, Classische Philologie 109-117, dort auch 110 Anm. 2 eine Beschreibung der Ars', zu ihr vgl. femer LEONHARDT, Dimensio syllabarum 247): Unter den von ihm behandelten Metren gibt es auch ein „Pindaricum", mit dem Modellvers .Luminibus q; prior rediit vigor" (Boëthius, cons. 1 carm. 3, 2), die Erklärung des Metrums lautet: „Pindanis in metro pede quouis sic anapesto / Vtitur vt reliqui subeunt bene legificati." Ich habe keine Erklärung, warum dieses Metrum (ein akatalektischer daktylischer Tetrameter, in der heutigen metrischen Theorie gelegentlich auch „Alcmanicum" genannt) als „pindarisch" bezeichnet wird. Da Celtis' Ars, wie WORSTBROCK, „Die ,Ars versificando" nachgewiesen hat, besonders in ihren ersten Teilen umfangreichen Gebrauch von mittelalterlichen Quellen macht, wäre vielleicht hier auch die Erklärung für das „Pindaricum" zu finden.

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gr. 2465 nach Blois 17 . 1509 hörte der Dominikaner Johannes Cuno 18 in Padua Vorlesungen von Musurus und gab dessen Lehren in Nordeuropa weiter, wie eine in Sélestat erhaltene Kopie seiner Mitschrift der Vorlesung über Pindar von der Hand des Beatus Rhenanus bezeugt 19 . Zwei andere Handschriften können wir etwas später in Frankreich nachweisen: Der von Calliergi für seine Edition (2) benutzte Parisinus gr. 2709 kam im Jahre 1542 aus Italien nach Fontainebleau, der Parisinus gr. 2774 hat Janos Laskaris und später Catherine de Médicis ( t 1589) gehört 20 .

Aber zu dieser Zeit haben die Handschriften schon ihre Wichtigkeit verloren: 1513 und 1515 waren in Italien die beiden ersten gedruckten Ausgaben entstanden, und wir wissen, daß griechische Texte, besonders Aldinen, in nicht unbeträchtlichem Umfang (wenn auch zu hohen Preisen) aus Italien nach Frankreich gelangten 21 . Nur wenig später erscheinen dann auch nördlich der Alpen die ersten Pindareditionen; die Verbreitung dieser gedruckten Bücher ist wesentlich größer als die der Handschriften, und wir können davon ausgehen, daß die französischen Dichter, die Pindar lasen, dies wohl in einer dieser Ausgaben taten.

2 Wer über Pindarrezeption in der Renaissance spricht, muß sich bewußt sein, daß Rezeptionsmechanismen durch die äußere Darbietungsform eines Textes entscheidend mitgestaltet werden können. Lucans Bellum ciuile galt dem Mittelalter als Tragödie, und entsprechend finden wir in den Handschriften vielfach eine Einteilung nach „Akten" und „Szenen", bestimmt von „Auftritten" und „Abgängen" der handelnden Personen: Wer einen solchen Text liest, wird einen völlig anderen Eindruck bekommen als ihn eine moderne Ausgabe vermittelt. Die Rezeption eines Textes wird von vielen Faktoren seiner Darbietung gesteuert und beeinflußt, die von den einfachsten Äußerlichkeiten bis zu komplexen Erscheinungen reichen und sich größtenteils in den Bereich des „Erwartungshorizontes" 22 einordnen lassen. Eine bestimmte Art von Cover suggeriert uns, daß wir einen Groschenroman lesen werden, die Einteilung in Kapitel steuert unsere Auffassung von der narrativen Struktur eines Werkes, das Vorwort und die Anmerkungen eines Herausgebers können unsere Interpretation von 17) Vgl. IRIGOIN, Histoire du texte 203 Anm. 2; der Codex stammt aus Neapel und dürfte demnach während einer der beiden Perioden, als die Stadt französisch besetzt war, nach Frankreich gelangt sein, also wohl 1495-1496 unter Charles VIII oder 1501-1504 unter Louis XII. 18) 1463-1513; zu ihm PFEIFFER, Klassische Philologie 113 Anm. 35. 19) IRIGOIN/MONDRAIN, „Marc Mousouros" 253f. 20) IRIGOIN, Histoire du texte 382. 263. 21) S. oben S. 22 mit Anm. 47. 22) S. oben S. 35 Anm. 27.

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vornherein in eine bestimmte Richtung lenken: Die Liste ließe sich verlängern23. In ähnlicher Weise wird auch, wie wir sehen werden, in den Pindareditionen der Renaissance dem Leser ein Bild des Dichters vorgegeben, das ihn noch vor dem ersten Kontakt mit dem eigentlichen Text nicht unerheblich beeinflußt. Die Frage, welche Faktoren diese Steuerung bewirken und in welcher Weise, gehört in den größeren Zusammenhang einer Geschichte der Philologie und der Lektüre im sechzehnten Jahrhundert, die noch zu schreiben ist 24 . KOCH klagte im Jahre 1927 über BURSIANS Classische Philologie, das Buch sei „wertlos für Untersuchungen, die sich nicht ausschließlich mit einzelnen Philologenpersönlichkeiten beschäftigen" 2 5 . Leider ist seine Klage immer noch zutreffend. So dankbar wir für die von SANDYS26 und PFEIFFER27 dargebotene Faktenfülle sein müssen, so deutlich muß man sehen, daß diese beiden Bücher die großen Linien in der Geschichte der Philologie und Interpretation gegenüber der Beschäftigung mit Leben und Leistung einzelner vernachlässigen. Eine Arbeit, die gerade diesen Linien nachzugehen versucht, ist JEHASSE 28 , doch liegt hier der Schwerpunkt des Interesses mehr auf den philosophischen und theologischen Grundlagen als auf der konkreten Arbeit der Interpretation, und die etwas unorganisierte Art der Darbietung wird dieses Werk nicht jedem attraktiv erscheinen lassen. Seine detaillierte Besprechung der Ausgaben Henri Estiennes zwischen 1531 und 1597 (71-141) kann aber einen guten Eindruck davon geben, wie Textausgaben eines antiken Autors in der Renaissance aussahen.

Wir sind heute durch unsere Texteditionen an eine recht nüchterne (oder von uns für nüchtern gehaltene) Art der Darbietung gewöhnt: ein Vorwort über die Grundlagen der Texterstellung, in kommentierten Ausgaben und Übersetzungen eventuell noch einführende Darlegungen zu Leben, Werk und literaturgeschichtlicher Einordnung - darauf beschränken sich heute meist die ersten Seiten einer Edition. Dies war während der Renaissance anders, und JEHASSE vermittelt ein Bild von der Buntheit dessen, was ein Leser dieser Epoche fand und zu finden erwartete. Der nächste Schritt wäre jetzt zu fragen, wie diese Einleitungen und überhaupt die ganze in den Editionen, Kommentaren und Übersetzungen sich manifestierende philologische Arbeit die Rezeption (auch bei Dichtern) beeinflußten. A l s Beispiel für eine solche Studie kann ich auf JEHASSE 4 6 3 - 4 6 9

verweisen, der zeigt, wie Vorworte und Kommentare in Homereditionen der Renaissance das Bild Homers als eines moralisch-theologischen Dichters verbreiten helfen. Für Pindar wurden, soweit ich sehe, nur in zwei Beiträgen erste Versuche gemacht, diesen Beziehungen nachzugehen 29 : außer in dem schon 23) Eine umfangreiche Studie dieser Aspekte bietet das 1987 veröffentlichte Buch GENETTES, Seuils. 24) Vgl. für erste Ansätze RIGOLOT, „Statut du discours préfacier. 25) .fortleben Pindars" 197 Anm. 14. 26) History of Classical Scholarship (1908). 27) Klassische Philologie (1976). 28) Renaissance de la critique (1976). 29) Gute Bemerkungen zu einigen ausgewählten Vorworten zu Pindarausgaben macht GELZER, „Pindarverständnis und Pindarübersetzung" 94-101.

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erwähnten (und überraschend „modernen") Aufsatz KOCHS noch in REVARDS kurzem Artikel „Neo-Latin Commentaries" (1985), der aber, auch aufgrund seiner Knappheit, zu sehr an der Oberfläche bleibt. Man könnte sagen, daß im Falle Pindars eine solche Untersuchung besonders nötig ist: Sein Ruf als der größte Lyriker des Altertums zusammen mit den Schwierigkeiten, die sein Text dem Verständnis entgegenbringt, führt dazu, daß er wohl oft „weniger gelesen" und „fleißiger erhoben" wurde; und zu Recht spricht SCHADEWALDT 30 von der „Macht der Formulierungen über Pindar". Drei Faktoren tragen zu diesen Formulierungen bei, und wir sehen diese Faktoren in den Ausgaben, Kommentaren und Übersetzungen Pindars ihre Macht ausüben: (1) das vor allem aus der antiken Literaturkritik stammende Bild Pindars als des größten, unnachahmlichen Lyrikers (nicht nur) des Altertums, wie es sich besonders in Horaz, carm. 4, 2 manifestiert 31 ; (2) das Bild eines „moralischen" oder gar „religiösen" Dichters, das teilweise aus der christlichen Antike und ihrem Versuch, die Lektüre heidnischer Texte zu rechtfertigen, stammt; (3) das von den Scholien überlieferte „Wissen" über Pindar, seine Dichtung und sein Leben sowie deren Methode der Interpretation der Epinikien. Schon ein flüchtiger Blick auf die Inhaltsangaben der Renaissanceeditionen zeigt, daß wir in fast allen mindestens einen, oft alle diese Faktoren finden.

3 Daß Pindar der größte aller Lyriker ist32, konnte die Renaissance in Quintilian 10, 1, 61 „nouem uero lyricorum longe Pindarus princeps" lesen (wo auch Horazens Urteil von seiner Unnachahmlichkeit zustimmend zitiert wird), und in

30) Frühgriechische Lyrik 246. 31) Angesichts der geradezu erdrückenden Fülle von Sekundärliteratur zu carm. 4, 2 werde ich mich über die Interpretation dieses Gedichtes nicht äußern und mich stattdessen ganz auf seine Rezeption in der Renaissance konzentrieren. Nur soviel sei gesagt, daß es mir grundfalsch erscheint, aus ihm eine programmatische Aussage Horazens herauszuinterpretieren. Einen so subtilen und ironischen Autor wie Horaz auf bestimmte dogmatische Positionen festlegen zu wollen, ist immer bedenklich, ganz besonders aber in diesem Fall, wo die Funktion des Pindarbildes im Gedichtganzen viel stärker berücksichtigt werden muß als etwaige persönliche Aussagen und Wertungen des Dichters - ebenso wie es auch bei Pindar und den Dichtem der Renaissance nicht angeht, poetische Theorien aus Gedichten herauszudistillieren, s. S. 188-213. Zum Nachleben Horazens im sechzehnten Jahrhundert in Frankreich allgemein vgl. LEBÈGUE, „Horace en France". 32) Auch die Tatsache, daß Pindar in den beiden Epigrammen AP 9 , 1 8 4 und 9, 571, die den Kanon der neun griechischen Lyriker enthalten, jeweils an erster Stelle genannt wird (vgl. auch Petron 2 , 4 „Pindarus nouemque Lyrici"), könnte ein Urteil über seine herausragende Stellung implizieren, vgl. GENTILI, Poetry and Its Public 243 Anm. 2.

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einer Passage des einflußreichen anonymen De sublimitate33 wird er als Vertreter des hochstrebenden Genies gegen die Mittelmäßigkeit des Bakchylides (der für die Renaissance ja kaum mehr als ein Name war) abgesetzt (33, 5). Die zahlreichen antiken Nachrichten und Urteile über Pindar werden in vielen Editionen der Renaissance abgedruckt. Die wohl umfangreichsten Sammlungen antiker Testimonien findet man im Kommentar des Aretius (40) und in der Ausgabe Schmids (56); Aretius zitiert: Diogenes Laërtios, Quintilian, Horaz, Ovid, Properz, Statius, Theokrit, Philostrat, Plutarch (Lykurg- und Themistoklesvita), Piaton, Athenaios, Galen und Máximos von Tyros. Aber die bei weitem größte Wirkung zeitigte zweifelsohne die Beschreibung Pindars in der berühmten Horazode 4, 2. Die ersten sieben Strophen dieser Ode werden in vielen Editionen dem Text Pindars vorangestellt, und man kann ohne Übertreibung von einer Omnipräsenz dieses Gedichtes sprechen34. Hierzu einige Beispiele: Die erste vollständige Ausgabe nördlich der Alpen wurde 1526 von Jakob Ceporinus 35 in Basel besorgt (5); Vor- und Nachwort schrieb anstelle des bei Drucklegung des Werkes schon verstorbenen Herausgebers kein Geringerer als Ulrich Zwingli 36 , und er beginnt sein Vorwort „Linguarum candidatis" mit einem das Original abwandelnden Zitat aus unserer Horazode:,»Pindarum quisquís studet, ut ab Horatiano Carmine ordiar, commendare, ceratis Dsdali pennis nititur, optime lector." Sein Ruhm, erklärt Zwingli, sei so gewaltig, daß diese wachsgeleimten Flügel versagen und den Lobredner Pindars abstürzen lassen müßten: „Vnde qui tarn immanem gloriam complecti tentabit, uitreo daturus est nomina ponto." Die Variation des Urteils, daß es nämlich nicht mehr der Nachahmer, sondern der Lobredner Pindars ist, der sich in solche Gefahr begibt, spiegelt die Rolle Zwingiis in diesem Vorwort wider. Die erste vollständige Pindarübersetzung (8), von Johannes Lonicer37, erschien in erster Auflage 1528 in Basel bei demselben Andreas Cratander38, der

33) Es wurde 1554 von Francesco Robortello zum ersten Mal herausgegeben und galt bis ins neunzehnte Jahrhundert als Werk des Dionysius Longinus, vgl. SANDYS, History of Classical Scholarship 2,141 und PFEIFFER, Klassische Philologie 172 mit Anm. 101. 34) Diese Präsenz ist so hoch, daß der Icarusmythos in der Renaissance an sehr vielen Stellen die Konnotation des d i c h t e r i s c h e n Scheiterns trägt. Zwei Beiträge zur Rezeptionsgeschichte dieses Mythos geben interessante Stellensammlungen zu seiner Wirkung, berücksichtigen aber diese Verbindung zu Horaz, carm. 4, 2 nicht und verlieren dadurch eine wichtige Dimension der Interpretation: EIGELDINGER, „Mythe d'Icare" und MATHIEUCASTELLANI, Mythes de l'Eros baroque 156-184. 35) 1499-1525, eigentlich Wiesendanger; vgl. zu diesem Humanisten BURSIAN, Classische Philologie 159, BUNKER, Bibliographical Study 11 und Graecogermania 1 lOf. 36) Zu Zwingiis Vorwort vgl. GELZER, „Pindarverständnis und Pindarübersetzung" 94-96. 37) Eigentlich Lonitzer, 1499-1569, Schüler Melanchthons und ab 1527 Professor in Marburg; vgl. zu ihm BURSIAN, Classische Philologie 197f. und Contemporaries of Erasmus

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auch Ceporinus' Ausgabe gedruckt hatte. In der zweiten Auflage von 1535 (9) finden wir ein .Pindari encomium a Ioanne Lonicera Marpurgi pronunciatum, & uitam & insignia uatis decora complectens", in dem sich Lonicer auf das Zeugnis Horazens und Quintilians für sein Urteil beruft, Pindar sei der größte der neun Lyriker. Die Aristologia Michael Neanders, gedruckt 1556 bei Ludwig Lucius 39 (20), enthält ein Gedicht Philipp Melanchthons auf Pindar 40 , das als Parodie auf Horaz beginnt: Pindarum quisquís uolet explicare, lile ceratis ope Daedalea Nititur pennis, uitreo daturus Nomina ponto. Die Abweichung vom Horaztext ist ähnlich wie in Zwingiis Vorwort gestaltet: Bei Melanchthon tritt nun an die Stelle des Nachahmers der Erklärer, womit die Leistung Neanders, der diese schwierige Aufgabe anzugehen gewagt hat, hervorgehoben werden soll. Nachdem Pierre de Ronsard 1550 zum ersten Mal seine vier Bücher Odes veröffentlicht hatte, deren erstes Buch mit zwölf „odes pindariques", d. h. in Triaden komponierten Gedichten, beginnt, überbieten sich seine Freunde und Anhänger geradezu gegenseitig in Ausdrücken der Bewunderung für dieses Werk. Häufig wird dabei mehr oder weniger explizit auf den Text des Horazgedichts angespielt, mit dem Tenor, die Odes hätten gezeigt, daß Horazens Verdikt von der Unnachahmlichkeit Pindars falsch sei. Ronsard selbst war darin seinen Lobrednern vorangegangen, wenn er in dem Gedicht„A Iouachim Du Bellai Angeuin" stolz versicherte, Horazens Warnung treffe auf ihn nicht zu, und seine Überlegenheit über Horaz, den Sohn eines Freigelassenen, betont41 {OC 1, 118): Par une cheute subite Encor ie n'ai fait nommer Du nom de Ronsard la mer Bien que Pindare i'imite : Horace harpeur latin 2, 345f.; zu Lonicers Pindarausgabe vgl. G ELZER, „Pindarverständnis und Pindariibersetzung" 96-98. 38) Eigentlich Hartmann, t um 1540, zu ihm vgl. BENZING, Druc/fcer im deutschen Sprachgebiet 34f. und Contemporaries of Erasmus 1, 357f. 39) Eigentlich Luck, vgl. BENZING, Drucker im deutschen Sprachgebiet 40. 194. 40) Dasselbe Gedicht (es stammt aus Melanchthons Poemata von 1548) ist im Nachdruck von 1563 der Übersetzung Melanchthons (27), p. 11 und in Neanders Ausgabe von Pyth. 4 (42) wiederabgedruckt. 41) Vgl. dazu LEBÈGUE, „Horace en France" 297.

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Etant fils d'un [im Original: nn] libertin B a s s e & lenté auoit l'audace, N o n pas m o i de franche race D o n t la Gractf e n f l e les sons, A u e c plus horrible aleine, A f f i n que Phebus rameine Par m o i ses uieilles chansons. D e r H i n w e i s auf d i e adlige A b s t a m m u n g d e s Dichters ist hier funktional: Er begründet die hohe Qualität von Ronsards Lied, das dadurch d e m Sohn e i n e s F r e i g e l a s s e n e n (nach Horaz „libertino patre natum", sat.

1, 6, 4 5 =

epist.

1, 2 0 , 2 0 ) überlegen ist. W i e häufig bei Pindar dient das S e l b s t l o b d e s D i c h ters zur A u f w e r t u n g seines Liedes 4 2 , w i e auch die bei Ronsard f o l g e n d e n Verse z e i g e n : « L e q u e l [Phebus] m ' e n c h a r g e de chanter / M o n J o u a c h i m pour le vanter [ . . . ] . » A d l i g e Abkunft und göttlicher Auftrag d e s Dichters legitimieren so sein Loblied 4 3 . J o a c h i m D u B e i l a y zollte s e i n e m e n g e n Freund Ronsard mehrfach das K o m p l i m e n t , seine D i c h t u n g hätte ihn Pindar n a c h a h m e n lassen, o h n e das Schicksal des Icarus zu erleiden. Schon vor der Veröffentlichung kündigte er dessen Odes 1549 in seinem „Chanl triumphal sur le voyage de Boulongne. M. D. XLIX. Au moys d'aoust." folgendermaßen an (OP 3, 83): Ronsard premier osa bien attenter De faire Horace en France ree hanter. Et le Thebain (ô gloire souhaitable !) Qu'à grand labeur il a fait imitable. Die Beziehung auf den Horaztext ist hier implizit: Erst Ronsard hat „mit großer Mühe" (ein möglicher Anklang an Horazens „per laborem plurimum", carm. 4, 2, 29f.) eine Nachahmung Pindars möglich gemacht - das heißt, daß er vorher unnachahmlich war, ein auf carm. 4, 2 zurückgehender Topos44. Ähnlich wird im Sonett 60 der 1549, also ebenfalls noch vor den Odes, erschienenen Oliue Ronsards Pindarimitation gepriesen (OP 1, 78): Enfonce l'arc du vieil Thebain archer, Ou nul que toy ne sceut onq' encocher Des doctes Sœurs les sajettes diuines. Auch hier ist die Beziehung auf Horaz sehr fein: Ronsard ist der einzige, der jemals Pindar hat nachahmen können, so spielt Du Beilay auf den Topos von dessen Unnachahmlichkeit an 45 . Gleichzeitig erhält Ronsard selbst durch das betonte « nul que toy » ein seinem Vorbild 42) S. oben S. 43. 43) Zu diesem Motiv des göttlichen Auftrags vgl. N1SBET/HUBBARD, Horace Odes 2 315; speziell zu Apollo s. ferner unten S. 211 mit Anm. 189. 44) Ähnlich dann in den Odes Ronsard selbst, OC 1, 110 „ces nouuelles façons, / Auparauant non inimitables" (zu „nouuelles" s. unten Anm. 58). 45) Zum Motiv des „Bogens der Dichtung" s. unten S. 186f.

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ähnliches Attribut: Auch er ist einzigartig und damit unnachahmlich. Deutlicher ist die Beziehung zum Horazcarmen dann im 115. und letzten Sonett der Oliue. Aus dem Gedicht wird deutlich, daß der ohne Namensnennung Angeredete Ronsard sein muß; Du Beilay fragt ihn (OP 1, 124): Quel eigne encor' des eignes le plus beau Te prêta l'aele ? & quel vent jusqu'aux cieulx Te balança le vol audacieux, Sans que la mer te fust large tombeau ? Du Bellay verschmilzt in diesem (ein italienisches Sonett Barbatis imitierenden 46 ) Gedicht zwei Bilder aus dem carmen: den Flug des Icarus (2-4) und den Flug des „dircaeischen Schwans", den ein Wind bis in die Wolken trägt (25-27). So erhält denn auch Ronsard Hilfe vom „schönsten aller Schwäne" (eine Anspielung auf Pindar, den „Dircaeus eyenus" und „princeps lyricorum"), der ihm „den Flügel lieh", wie Icarus seine Flügel von Daedalus erhalten hatte 47 . Ebenso deutlich ist die Anspielung auf das Horazcarmen in dem Gedicht „A Madame Marguerite d'escrire en sa langue" aus dem ebenfalls 1549 erschienenen Recueil de poesie (ιOP 3, 97): Quicunque soit qui s'estudie En leur langue imiter les vieulx, D'vne entreprise trop hardie Il tente la voye des cieulx, Croyant en des ailes de cire, Dont Phebus le peult déplumer, Et semble, à le voir, qu'il desire Nouueaux noms donner à la mer. [··.] Ou est celuy qui tant s'abuse De cuider ancores voler Ou par regions incongnues, Le cygne Thebain si souuent Dessoubs luy regarde les nues, Porté sur les ailes du vent ?* Deutlich stammen die beiden ersten Strophen (vgl. besonders die Aufnahme des indefiniten Pronomens „quicunque" - „quisquís" im ersten Vers) und der über den Wolken fliegende „thebanische Schwan" am Ende der zitierten Passage, in der fünften Strophe des Gedichts (nach „multa Dircaeum leuat aura eyenum, / tendit [...] quotiens in altos / nubium tractus", 25-27), aus dem Horazgedicht, aber das Bild des stürzenden Icarus ist nicht ausschließlich auf einen möglichen Pindamachahmer gemünzt, sondern bezieht sich auf jeden, der die antiken Dichter in ihrer eigenen Sprache imitieren wollte. Näher am Horazcarmen bleibt die Anspielung auf den „thebanischen Schwan" in den letzten zitierten Versen, die mit Hilfe der von Horaz stammenden Bilder betont, es sei unmöglich, Pindar nachzuahmen; auch hier allerdings ist,

46) Vgl. die Anmerkung BELLENGERS, OP 1,205. 47) Zu der Metapher „Schwan" für den Dichter vgl. für die Antike SYNDIKUS, Lyrik des Horaz 1,481 und NISBET/HUBBARD, Horace Odes 2 333f. 342; für das Fortleben in der Renaissance JOUKOVSKY, Gloire dans la poésie 335-339.

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entsprechend der Gesamttendenz des Gedichtes, die Unmöglichkeit gemeint, dies in dessen eigener Spache zu tun.

Auch in einem Sonett, das Du Beilay für die pièces liminaires zu Ronsards Odensammlung von 1550 schrieb, ist die Beziehung auf Horaz offensichtlich: Ronsard wird, über den Umweg von carm. 4, 2, Pindar gleichgestellt. In einer subtilen Form des Kompliments greift Du Beilay Horazens Vergleiche für Pindar auf und wendet sie auf Ronsard an (Ronsard, OC 1, 56): Commi! un torrent, qui s'enfi^ & renouuelle Par le degout des hauts sommés chenus, Froissants & ponts, & riuaiges connus Se fait (hautain) une trace nouuelle : Tes uers Ronsard, qui par sourc^ immortelle Du double mont sont en France uenus Courent (hardis) par sentiers inconnus De même audaci, & de carriere telle.* In Übersteigerung von Horazens „monte decurrens uelut amnis, imbres / quem super notas aluere ripas" (5f.) werden die Verse Ronsards nicht nur einem alles mit sich reißenden Strom verglichen, sondern außerdem noch als auf dem „double mont", das heißt auf dem Musenberg Parnassos, entspringend bezeichnet48. Vorangegangen war diesem Bild Du Beilays schon Ronsard selbst, der im Innern seiner Odensammlung seine Dichtung mit einem über die Ufer tretenden Fluß verglichen hatte („A sa Muse", OC 1, 236f.): un uers resonant, Qui bniie d'une telle noise Qu'un fleuue débordé tonant, Alors qu'il sacaigí & emmeine, Pillant de son flot sans merci, Le trésor de la riche pleine Le beuf & le bouuier außi.* Der Schwerpunkt der beiden Bilder ist aber unterschiedlich: Während Ronsard selbst das laute Tosen des Flusses betont („noise", „tonant": dies sind Schallmetaphern, die der erhabenen Dichtung zukommen 49 ) und sein Überfluten der Ebene als einen gewalttätigen Raubzug nach deren Schätzen versteht (auch sonst stellt Ronsard seine Imitationen antiker Dichtung metaphorisch als Raub dar 50 ), steht bei Du Beilay der Schwung des Flusses und vor allem das 48) Diese Periphrase des Parnaß ist schon in der antiken Literatur sehr häufig, vgl. die zahlreichen Belege bei SCHMIDT, „Parnassos" 1595f. und NISBET/HUBBARD, Horace Odes 2 325. 49) S. unten S. 179 mit Anm. 114. 50) S. oben S. 65f. und unten S. 82.

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dadurch auf eine neue Bahn verlegte Flußbett („trace nouuelle", „sentiers inconnus"), also die poetische Innovation, im Vordergrund; damit hält er sich enger an die Vorlage, in der zwar diese Idee der Neuerung noch nicht enthalten war 51 , aber ebenfalls die reißende Schnelligkeit des Stromes hervorgehoben wird („decurrens" 5, „fernet" und „ruit" 7, „deuoluit" und „fertur" 11). Der Effekt beider Passagen bei Ronsard und Du Beilay aber ist derselbe: Durch den Vergleich mit einem Ruß werden Ronsards Verse indirekt denen Pindars an die Seite gestellt. Diesen Vergleich nahm Ronsard selbst noch einmal in der 1552 erschienenen Ode „A Madame Marguerite" auf, w o er ihn wie bei Horaz auf Pindar anwendet (OC 3, 111, in den beiden letzten Versen wird auch auf den unerreichbar hohen Flug des „thebanischen Schwans" bei Horaz 25-27 angespielt): Apres comme vne eau débridée. Ou comme la foudre guindée Sur la niie au mois le plus chaut, S'ouit tonner la vois Dircée Qui par l'air c'est si bien dreBée, Que nulle n'a bondi plus haut. Ähnlich wie in der pièce liminaire für Ronsards Odes setzt Du Beilays auch in der 1550, kurz nach den Odes, erschienenen „Musagnxomachie" Ronsard mit Pindar gleich; dort heißt es von ihm (OP 4, 15): C'est le Pindare François, Qui de Thebe & de la Pouille Enrichist le Vandomois. Literarische Nachahmung eines antiken Autors wird in diesen Versen, entsprechend dem Programm der Pléiade von der Deffence et illustration de la langue francoyse, als Bereicherung des Vaterlandes verstanden 52 . Ronsard hat seiner Heimatprovinz die Schätze Thebens und Kalabriens (das heißt die Dichter Pindar und Horaz) zugeführt, wobei die Bezeichnung „Pouille" für Apulien in dieser Passage nicht nur zufällig an das Wortfeld „dépouiller" anklingt: Ronsard selbst hatte dieses Wortspiel verwendet in seinen Odes, wo er, seine Leier anredend, sagt: « Je pillai Thebe' et saccagai la Pouille, / T'enrichissant de leur belle dépouille » (OC 1, 164) 53 .

In einem 1552 entstandenen Gedicht „A laques Gohory Parisien sur la poursuite d'Amadis. Ode" evoziert Du Beilay noch einmal Horaz, um Ronsards Erfolg bei der Nachahmung Pindars zu preisen54 (OP 5,258): O si l'art De Ronsard Si bien j'eusse, Que je peusse Du Thebain 51) Zum Bild des „neuen Weges" s. unten Anm. 58. 52) Vgl. STEINER, After Babel 247f., der Beispiele für dasselbe Bild bei der Übersetzung antiker Texte gibt. 53) Dasselbe Bild finden wir noch bei Montaigne, der seine Essais nennt « mon livre maçonné purement de leurs [de Sénèque et de Plutarque] dépouilles » (OC 294). 54) Zu Gohory, t 1576, vgl. Dictionnaire des lettres françaises XVIe 354 und CIORANESCO, Bibliographie du seizième 343 f.

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Escriuain Suyure Γ seile Immortelle Sans la mer Surnommer ! Die Anspielung auf Horazens Gedicht ist deutlich: Du Beilay wünscht, er könnte wie Ronsard dem Flug des „Thebaners" folgen, ohne (sc. wie Icarus) einem Meer (sc. durch einen Sturz) seinen Namen zu geben. Aus dem Kontext gerissen, sind diese Verse bisweilen als persönliche Aussage Du Beilays interpretiert worden: Er gebe hier zu, daß er sich der Pindarimitation nicht gewachsen fühle, und überlasse diese Art von Dichtung ganz Ronsard. Der Zusammenhang des Gedichtes zeigt aber, daß diese Deutung dem Text nicht gerecht wird. Die Ode ist ein Enkomion für Gohory, und diese Verse sind Teil einer Abwandlung eines in der Rhetorik des Enkomions üblichen Topos: Zur Verstärkung des Lobes wird gesagt, die Tugend des Adressaten übersteige jede Möglichkeit des Enkomions, oder der laudator gibt an, seine Kräfte seien zu schwach, diese Tugenden zu peisen 55 . So auch hier Du Beilay: Er sagt, seine Dichtung sei den Verdiensten Gohorys nicht angemessen. „Könnte ich wie Ronsard singen, der den unsterblichen Pindar nachahmt, dann würde ich Dein Lob über die gesamte Welt verbreiten!" « Le Thebain » steht hier nicht so sehr für Pindar als bestimmten Autor mit einem bestimmten Werk und Stil, vielmehr ist damit der Dichter genannt, der nach dem allgemein akzeptierten Urteil der Antike das Höchste auf dem Gebiet der lyrischen Dichtung und des Enkomions vollbracht hat. Dieselbe Konvention benutzt 1594 Gilles Durant de La Bergerie in seinem Gedicht „Au Roy de France & de Nauarre" (Œuures pœtiques, f. 1360, wo er sich die dichterische Kraft eines Homer, Pindar, Horaz oder Ronsard wünscht, um die Tugenden Henris IV würdig besingen zu können 56 . Ronsard, seit 1550 55) S. unten S. 90f. 56) Die Passage wird zitiert unten S. 183. Die Namen großer Dichter der Vergangenheit werden in der Exordialtopik des Enkomions häufig gebraucht, um die Unmöglichkeit adäquaten Lobes auszudrücken; dies kann in verschiedener Form geschehen. Das Motiv, daß jemand für sein Lob den besten Dichter wünscht, ist spätestens seit der Anekdote über Alexander belegt, der bei Cicero, Arch. 24 (vgl. Plutarch, Alex. 15, 8) auf dem Grabhügel Achills ausruft „O fortunate adulescens, qui tuae uirtutis Homerum praeconem inueneris!" (diese Geschichte wird von Ronsard erwähnt OC 2, 122, von Du Beilay OP 8, 43). Bei Statius, silu. 4, 2, 8-10 ist das Moüv so gewendet, daß das lyrische Ich erklärt, selbst wenn es über Homers oder Virgils Dichtkunst verfügte, könne es Domitian nicht angemessen Dank abstatten. Bei Sidonius Apollinaris finden wir mit Bezug auf große Dichter der Vergangenheit zweimal die Aussage „meine Kunst ist kleiner als ihre, aber mein Thema größer": carm. 4, 17 und 6, 36; ähnlich Coripp, lohan. praef. 15f. „Aeneam superat melior uirtute Iohannes, / sed non Vergilio carmina digna cano." Im Panegyricus auf Theoderich des Ennodius werden alle früheren Dichter zusammen angeredet, opuse. 1, 78: „simulastis, poetae, grandia, sed fated uos

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der „französische Pindar", nimmt in diesem Topos bei Du Beilay und Durant denselben Platz ein wie Pindar, der „princeps lyricorum", in der Antike. Er wird aber nicht nur zum « roy des sonneurs », sondern im selben Jahr 1552 spricht Du Beilay im Vorwort „Au Seigneur I. de Morel" zu seiner Übersetzung des vierten Buches der Aeneis auch von « l'inimmitable main de ce Pyndare François PIERRE DE RONSART » (OP 6, 254): Ronsard wird so sehr mit Pindar identifiziert, daß er schon zu Lebzeiten wie dieser unnachahmlich ist. Überhaupt war die Bezeichnung Ronsards als „französischer Pindar" in Frankreich weitverbreitet, wie die folgenden Belege zeigen sollen: Schon in den pièces liminaires zu seinen Odes von 1550 finden wir in einem lateinischen Epigramm von Pierre Du Faur de Saint-Jory57 die Verse „Pindaricos hic [Ronsard] est ánimos, strepitusque referre / Ausus, & ignotas primus inire vias" 58 (Ronsard, OC 2,214). Ronsard selbst betont an mehreren Stellen der Odes, « Le conuenit praesentem dominum gessisse potiora". Etwas anders wird die Größe der Taten ausgedrückt bei Fronto, Principia historiae 2 „tantas res a te gestas, quantas Achilles gessisse cuperet et Homerus scripsisse"; Venantius Fortunatus erklärt das Fehlen eines Lobgedichtes auf den Adressaten damit, daß es heute keine Dichter wie Virgil oder Homer gibt, die sich zutrauen könnten, eines zu schreiben, carm. 6, I a , 5f. Wiederum bei Sidonius, carm. 2, 69-74 treffen wir auf das häufige Motiv, daß selbst die größten Dichter (hier Orpheus) nicht ausreichen würden, dem Ruhm des Adressaten durch ihr Dichten gerecht zu werden, vgl. CURTIUS, Europäische Dichtung 168. Auch Menander Rhetor erwähnt in seiner Anleitung zum Verfassen des Königslobs dieses Motiv, 369, 7-12: λήψει δε δευτέρων προοιμίων εννοίας, οταν αυξήσεως ενεκα παραλαμβάνηται, η άπό Όμηρου της μεγαλοφωνίας, δτι ταύτης μόνης έδεΐχο ή ϋπόθεσις, ή άπό Όρφέως του Καλλιόπης ή άπό των Μουσών αύτών, 'ότι μόλις αν καί αύται προς άξίαν της υποθέσεως ειπείν ήδυνήθησαν [...]; vgl. ferner NISSEN, „Historisches Epos" 303. Zur Wirkung des Motivs in der französischen Renaissance s. unten S. 98f. 57) 1540-1600, die Subskription des Epigrammes vermerkt stolz über den Verfasser „anno actatis su® XI", vgl. zu ihm Dictionnaire des lettres françaises XVIe 354. 58) Die starke Betonung des Wagnisses („ausus") und der Vorläuferstellung (vgl. die pointierte Nebeneinanderstellung „ignotas primus") läßt sich auf den antiken Topos des πρώτος εύρετής zurückführen; das Bild des bisher unbegangenen Weges ist dabei konventionell für Dichter, die die Neuartigkeit ihrer Dichtung betonen, vgl. ζ. B. die von Ronsard selbst in seinem Vorwort „Au lecteur" (OC 1, 45) zitierte Horazstelle epist. 1, 19, 21f. „libera per uacuum posui uestigia princeps, / non aliena meo pressi pede", femer Passagen wie Lucrez 1,926f. = 4, If. „auia Pieridum peragro loca nullius ante / trita solo"; Virgil, georg. 3, 40f. 292f.; Properz 3, 1,17f. „intacta [...] uia"; 3, 3,25f. „noua [...] semita"; Manilius 2, 53-59; Oppian, Kyn. 1, 20f. Alle diese Passagen gehen letztlich zurück auf den Aitienprolog des Kallimachos, frg. 1, 25-28 κελεύθους άτρίπτους (vgl. aber auch schon Choirilos, frg. 1, lf.), vgl. zu dieser Tradition KAMBYLIS, Dichterweihe und ihre Symbolik 155-162 und WIMMEL, Kallimachos in Rom 132 mit Anm. 1 (nur kurz angemerkt sei, daß Kallimachos seinerseits dieses Bild möglicherweise aus Pindar übernahm, pae. 7b, 1 lf. Όμηρου [δε μη τρι]πτόν κατ' άμαξιτόν / ίόντες, wenn wir Snells und Lobeis Ergänzungen akzeptieren, vgl. FOLÌAKOFF, „Nectar, Springs and the Sea" 46). Daß er selbst der erste gewesen sei, der diese Art der Lyrik in Frankreich eingeführt habe, betont Ronsard häufig in den Odes, s. die Belege oben S. 67-69. Obwohl in all diesen Passagen sicherlich eine Stellungnahme Ronsards in eigener Sache nicht von der Hand zu weisen ist, zumal es ja einen regelrechten Streit um die Priorität der Odendichtung in Frankreich gab (s. S. 69), sollte man bei ihrer Interpretation doch auch ihre Funktion berücksichtigen: Daß ein Loblied neuartig und von aller früheren Dichtung verschieden sei, ist eine konventionelle Aufwertung des Lobes, die wir schon bei

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premier de France / l'ai pindarizé » (OC 1, 176) und bereitet die Bezeichnung des „französischen Pindar" vor mit einer Formulierung wie « Thebes [...] / Faite Françoise par nous » (OC 2, 33); Le Caron spricht in seiner Claire von 1554 von « ce diuin Pindare Frâçois Pierre de Ronsard » (f. 4V). Wie sehr der Name des „Pindare françois" für Ronsard eingebürgert war, zeigt auch Jean Macers 1557 gedruckte Philippique contre les poëtastres, eine (sich vor allem moralisch entrüstet gebärdende) Polemik gegen die Dichter der Pléiade, die damit schließt, daß der Verfasser den König bittet, die jungen Dichter nach platonischem Vorbild samt und sonders aus dem Staat zu verbannen. Ronsard braucht hier gar nicht mehr namentlich genannt zu werden, zu seiner Identifizierung reicht die mehrfach vorkommende Anrede « Pseudopindare Françoys » (f. Biiij", Cir, Ciiijv). Daß Ronsard nicht an Pindar heranreicht, daran ist gerade die moralische Minderwertigkeit seiner Dichtung schuld (f. Cij v ): « Tu te veux surnommer Pindare Françoys ? le n'en suis enuieux, ains memerueille d'auantage cöment tu t'atribue ce nom, pour traiter seullement d'amourettes. » In den 1559 gedruckten Odes Olivier de Magnys (15291561) ist Ronsard der « Pindare vandosmois, / Qui rien que celeste ne sonne » (f. 73r)· Diese Bezeichnung findet sich am häufigsten in den fünfziger Jahren des sechzehnten Jahrhunderts59, unmittelbar nach der Veröffentlichung von Ronsards Odes, aber auch in späteren Jahren kehrt sie wieder: Ironisch wird sie verwendet in einem Gedicht der protestantischen Gegner Ronsards, der 1563 erschienenen Replique sur la response von D. M. Lescaldin60, wo es heißt (Polémique protestante 2, 239): « Poetes Ronsardins, helas accourez viste, / Vostre Pindare meurt à faute d'eau beniste. » Ähnlich in der im selben Jahr gedruckten und vermutlich ebenfalls von Montméja verfaßten Response aux calomnies (ebd. 1, 85): « Ceux qui t'ont des François le Pindare appellé, / T'appellent meintenant vn prestre esceruellé. » Uneingeschränkt bewundernd ist die Beziehung noch in Guillaume Calvimonts 1571 gedruckten Syluae, der in dem Epigramm „In Petrum Ronsardum, Ianum Auratum & Dionysium Lambinum" (f. 18v) noch einmal Tabourots französisches Anagramm « Rose de Pindare » 6I für den Namen Pierre de Ronsard aufgreift „Pindarica ille rosa est".

Pindar finden (eine Sammlung der Belege, mit einer von meiner abweichenden Deutung, bei MILLER, „Argument of Nemean 8.19-34" 113f.), vgl. z. B. Ol. 3, 4 νεοσίγαλον εύρόντι τρόπον, Nem. 8, 20f. νεαρά δ' έξευρόντα δόμεν βασάνω / ές ελεγχον, ίχπας κίνδυνος, vgl. auch Ol. 9, 48f. (eine Passage, die Ronsard OC 1, 106 imitiert); ähnlich ist vielleicht auch Ol. 1, 36 άντία προτέρων zu interpretieren (die Änderung des Mythos wird deshalb so sehr betont, weil das Lied durch diese Neuerung aufgewertet werden soll). Neuheit als Qualitätsmerkmal der Dichtung tritt schon bei Homer in Erscheinung (α 35If.: την γαρ άοιδήν μάλλον έπικλείουσ' άνθρωποι / η τις άϊόντεσσι νεωτάτη άμφιπέληται) und wird von den Dichtem während der gesamten Antike erwähnt, vgl. NISBET/HUBBARD, Horace Odes 1 307f.; dies., Horace Odes 2 337f. 59) Vgl. außer den zitierten Passagen noch Pontus de Tyard in Poètes du XVI' siècle 374 (1551); Guillaume Des Autels, Amoureux repos f. Iijv (1553); Charles Fontaine, Nouuelles, ά antiques Merueilles f. Liiijr und Mviir (1553); Du Bellay, OP 5, 192 (1558). 60) Hinter diesem Pseudonym vermutet der Herausgeber PINEAUX Bernard de Montméja; vgl. zu ihm Dictionnaire des lettres françaises XVIe 525 und CIORANESCO, Bibliographie du seizième 511. 61) Vgl. zu Tabourots Anagramm LAUMONIER in Ronsards OC 2, 204f. Anm. 5. Zu dem in der französischen Renaissance ungeheur beliebten Verfahren, Namen in Anagramme umzusetzen, vgl. RIGOLOT, Poétique et onomastique und HUCHON, Français de la Renaissance 15.

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Noch 1588, also kurz nach Ronsards Tod, spricht in einer pièce liminaire zu den Premiers exercices poétiques Jean de Viteis 62 ein gewisser Estienne Marcel von « Les airs que le Thebain legua au Vendomois » (p. 120), und selbst 1624 nennt Gilles Thomas 63 in einem Sonett Ronsard noch « l'Homère et le Pindare François » M .

Kehren wir nach diesen Beispielen für die Bezeichnung des „französischen Pindar" wieder zur Wirkungsgeschichte des Horazgedichtes 4, 2 zurück: Der Name „Pindare françoys" wird neben Ronsard auch Du Beilay65 zugeschrieben in einem Gedicht Robert de La Hayes66, das in den pièces liminaires von Du Beilays Aeneisübersetzung erschien: „Rob. Hayus de I. Bellaio & P. Ronsardo". Mit Anspielung auf carm. 4 , 2 werden die beiden „fratres Pindaridas" (diese Form des Adjektivs ist wohl wegen des Anklangs an die „fratres Tyndaridas" gewählt) als unnachahmlich gepriesen (Du Beilay, ΟΡ 4, 178): Fratres Pindaridas studet canorae Quisquís carminibus Lyra aemulari, Cera tentât adhuc volante, nomen Vt de se vitreo mari relinquat, Montes atque iterum nouo furore Jungit montibus, & Dei tonantis Fulmen, perniciem suum lacessit.* In Überbietung des Horaztextes stellt La Haye den Versuch, Ronsard und Du Beilay nachzuahmen, nicht nur als einen icarischen Flug dar, sondern auch als frevlerisches Unternehmen, das wie der Versuch des Otus und Ephialtes, durch Aufeinandertürmen von Bergen den Olymp zu erobern, den götdichen Zorn und die Vernichtung der Frevler herausfordern wird67. Auch Ronsard selbst erweist einem Dichterkollegen die Ehre, seine Pindarnachahmung zu loben: In dem „Sonet a Guillaume des Autelz Charrolois" (im Cinquiesme liure des Odes, 1553) sagt er vom Adressaten (OC 5, 223): Car c'est toi, brauement qui n'as point eu de creinte Hardi, d'aler a Thebe' & d'épuiser l'eau sainte, Dont Dirce fit jadis son Pindare immortel.

62) Zu ihm vgl. Dictionnaire des lettres françaises XVIe 706 und CIORANESCO, Bibliographie du seizième 692. 63) Zu ihm vgl. CIORANESCO, Bibliographie du dix-septième 3,1909. 64) Vgl. KATZ, Ronsard' s French Critics 46. 65) Zum Problem von Du Beilays Pindarkenntnis und -nachahmung s. unten S. 165 Anm. 69. 66) Zu ihm vgl. CHAMARD in Du Bellay, OP 4, 178 Anm. 1. 67) Vgl. Claudian 21, 10-12: „equidem si carmen in unum / tantarum sperem cúmulos aduoluere rerum, / promptius inponam glaciali Pelion Ossae."

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In diesem Lob spielt Ronsard auf Horaz, epist. 1, 3, 9-14 an, wo Horaz von seinem Freund Titius sagt „Pindarici fontis [...] non expalluit haustus" (vgl. auch bei Pindar selbst Isth. 6, 74 πίσω σφε Δίρκας άγνόν ϋδωρ, Pyth. 9, 88 Διρκαίων υδάτων und Ol. 6, 85f. θ ή β α ν [...] τάς έρατεινόν ΰδωρ / πίομαι 68 ): Ebenso hat Des Autels keine Furcht gezeigt und aus Pindars dircaeischer Quelle getrunken69, d. h. sich von seiner Dichtung zu Nachahmungen anregen lassen. Der erste Teil der 1554 erschienene Ciaire des französischen Juristen Louis Le Carón70 ist ein Dialog über Recht; darauf folgen unter dem Titel „La clairté amoureuse" Gedichte desselben Autors, unter anderem auch ein Lobgedicht , A u Seigneur de Ronsard prince des Poetes François" in Form einer pindarischen Ode in zwei Triaden. Wir finden zwar keine Anklänge an den Text der Epinikien, aber mit ausdrücklicher Nennung Horazens bestätigt Le Carón Ronsards Selbstlob71, seine Oden straften die Behauptung lügen, Pindar sei unnachahmlich (f. Π ff): Tu demens par ton honneur Le Romain lirique Horace, Qui a chanté nul sonneur Pouuoir imiter la trace Du sucrecoullant72 Thebain, 68) Auf diese Verse scheint auch Melanchthon in seinen „In enarrationem Pindari uersus" (abgedruckt in 20 und 27, s. oben S. 78 Anm. 40) anzuspielen, wo Pindar bezeichnet wird als der Dichter „ad Dircen sua qui sonabat / Carmina fontem". Vgl. NISBET/HUBBARD, Horace Odes 2 347 "It was an old poetic way of identifying the inhabitants of a country to mention the river that they drank [...]." (mit Beispielen aus der antiken Literatur). 69) Zu diesem Bild des „Quellentrunks" vgl. KROLL, Studien 28-30 und WIMMEL, Kailimachos in Rom 226-233. Im Falle Des Autels wirken die Worte Horazens sogar noch bis ins zwanzigste Jahrhundert weiter, wenn ihm RAYMOND, Influence de Ronsard 1, 86 bescheinigt: « Le pindarisme de Des Autels n'est pas seulement emprunté aux Quatre premiers Livres des Odes, comme celui de la plupart des contemporains ; il est issu de la source même, où bien peu osent aller boire. » 70) 1534-1613, er bediente sich auch öfters der gräzisierten Namensform Charandas; vgl. zu ihm die Einleitung zur Ausgabe seiner Dialogues von BUHLMANN und GILMAN 7-52. 71) S. obenS. 78f. 72) Das Bild von der „süßen" Dichtung ist bei Pindar häufig (vgl. z. B. Ol. 7, 8f. νέκταρ χυτόν [...] / γλυκύ ν καρπόν φρενός oder Nem. 3, 77f. μεμιγμένον μέλι λευκώ / συν γάλακτι; eine Zusammenstellung der Belege bei THUMMER, Isthmische Gedichte 2, 39; vgl. auch WASZINK, Biene und Honig 8f.); es wurde von Ronsard mehrmals übernommen (vgl. die Stellen bei SILVER, Grecian Lyre 2, 130-132). Das ungewöhnliche Kompositum „sucrecoulant" ist hier wohl nicht mehr als ein epitheton ornans: Jede Lyrik ist „süßtönende" Dichtung; vgl. in der Dichtung der französischen Renaissance Jean de La Jessée, Rochelleide (f. CiiijO « Vien donc Muse, ma Mignonne, / Sucrer mes vers d'vn doux miel »; Pierre Enoc, Opuscules (f. E r ) « la Muse doux-coulante »; ferner Horaz, ars 99 „non satis est pulchra esse poemata: dulcia sunto [...]." STACKELBERG, „Bienengleichnis" 273f. Anm. 3 sieht diese und ähnliche Epitheta in der Tradition des Vergleichs der dichterischen Arbeit mit dem Honigsammeln der Bienen (s. unten S. 154f.) und verweist auf antike Vorläufer wie

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Qui par sa lire admirable Se rendoit incomparable. Außer dem Zitat aus der Horazode finden wir hier auch Anspielungen auf die anderen aus der Antike überlieferten Topoi über Pindar: Er ist „unvergleichlich", seine Dichtung „bewundernswert". Andererseits blieb, wie man sich leicht vorstellen kann, Ronsards überkühne, ja arrogante Versicherung aus den Odesn nicht ohne Widerspruch: 1562 polemisiert der protestantische Dichter und Philologe Florent Chrestien 74 in seiner Seconde Response (vor allem aufgrund seiner religiösen Überzeugungen) mit ungefähr allen erdenkbaren Vorwürfen gegen ihn7S; unter anderem heißt es auch, sein Versuch der Imitation habe ihn wie Icarus kläglich scheitern lassen {Polémique protestante 2, 337): Comme le poure enfant du pere ingenieus, Le malheureus Icare, haussoit audacieus Son vol inusité, or' es voyes cogneues Seulement aus oyseaus, or' par dessus les nues A la fin son désir si fort le maîtrisa Que le plumage tombe, & le corps se brisa Sur les marins rochers, Dedale se tourmente De son vain artifice, & d'auoir pris la sente Incogneue aus humains : il voudrait bien encor' N'auoir bougé de Crete auprès du Minotaur.* Chrestiens Darstellung der Einzelheiten (so besonders der trauernde Vater Daedalus) geht deutlich auf Ovids Fassung des Mythos zurück (met. 8, 183235), aber es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die Anwendung des Bildes auf einen dichterischen Mißerfolg und die bewußte Umkehrung von Ronsards stolzer Behauptung auf Horaz anspielen. Antonio Minturno bezeugt in seinem Dialog De poeta (1559, 23) mit ausdrücklichem Bezug auf Horaz (carm. 4, 2 wird p. 385 zitiert) moderne

Homer A 249 (von Nestor του και άπό γλώσσης μέλιτος γλυκίων ρέεν α ύ δ ή ) und Boëthius, cons. 5 carm. 2, 3 „melliflui oris Homerus". 73) S. oben S. 78f. 74) 1541-1596, Erzieher des späteren Henri IV; vgl. zu ihm Dictionnaire des lettres françaises XVIe 180 und CIORANESCO, Bibliographie du seizième 209f. 75) Vgl. zu dieser Satire JACOBSEN, Florent Chrestien 88-101 und s. unten S. 172; zu den oft sehr persönlich geführten Polemiken zwischen den protestantischen Dichtern und der Pléiade vgl. LEBÈGUE, Poésie française 1, 36-44; PINEAUX, „Ronsard et les poètes antiques"; WEBER, Création poétique 1, 135-138; zum komplizierten Verhältnis der christlichen Dichter im späteren sechzehnten Jahrhundert zu den antiken Mythen vgl. BAÏCHE, Naissance du baroque 142-144 und 197-213.

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Versuche, Pindar gegen dessen Rat zu imitieren, und will diesen Nachahmern durch Vorstellen eines Beispiels helfen (p. 394): Ac tametsi neminem esse putat Horatius, qui non frustra conetur ilium aemulari, si quis tarnen in animum induxerit, ut uelit eundem scribendi modü imitan, quod hac state audio non deesse, qui moliatur, ne desit quo quidem ille utatur tanq exemplo, in medium afferam primum illud ex Olympijs carmen. Ohne Wertung erwähnt Minturno hier, daß „hac state" einige Dichter Horazens Verbot zuwiderhandeln; in etwas späteren Texten werden wir sehen, wie mit dem für die Renaissance so charakteristischen Selbstbewußtsein behauptet wird, dieses Verbot habe keine Geltung mehr76. In einem Lobgedicht auf Le Sueurs zuerst 1575/76 erschienene Pindarübersetzung (33, die erste, die eine dichterische Wiedergabe versucht) zitiert Jean Dorat nicht nur Horaz, carm. 4, 2, sondern auch epist. 1, 3, 9-1477: Hactenus attigerat tua Pindare, carmina nemo, Dicte Venusina non imitande lyra. Sed nunc Ausoniis tanta est fiducia musis Ausit vt haec Lyricen tangere plectra nouus. Pindarici qui non Sudorius horruit haustus Fontis, & Icarij vana pericia maris. Ceratis ñeque enim fidit temerarius alis, Sed firmis, Calabrûm qualibus acer olor.* Die beiden horazischen Passagen werden hier in einem virtuosen intertextuellen Spiel miteinander kombiniert: Das horazische Urteil über die Unnachahmlichkeit Pindars hat seine Gültigkeit verloren, weil die neulateinische Literatur der Renaissance („Ausoniae musae") die römische Literatur so weit übertrifft, daß sich sogar ein unerfahrener Dichter („Lyricen nouus") erfolgreich an die Epinikien heranwagen kann. Der fünfte Vers des Zitates stellt die Wasserbilder des horazischen carmen und der epistula zusammen: Le Sueur braucht weder den Trank aus der Quelle Pindars noch die (nunmehr eitlen, „vana") Gefahren eines Absturzes ins icarische Meer zu fürchten. Im letzten Distichon dann wird noch ein weiteres Glied in dieses Spiel hineingenommen: Während Horaz sich in carm. 4, 2 als Biene dem Schwan Pindar gegenüberstellt, beschreibt er in 2, 20, dem Abschlußgedicht des zweiten Buches (in dem v. 13 ebenfalls Icarus erwähnt wird!), seine Metamorphose in einen „canorus ales" (15f.), also einen Schwan, und sein Auffliegen in den Himmel; wenn nun aber Le Sueur bei

76) 77)

S. unten S. 94. S. oben S. 87.

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4. Pindarlektüre und Pindarverständnis

Dorat ebenso sicheren Schwingen vertraut wie Horaz, der „kalabrische Schwan"78, so ist dies ein ironischer Hinweis Dorats, daß auch Horaz bei Gelegenheit die in carm. 4, 2 scheinbar so eindeutig abgelehnte Rolle des hochfliegenden Schwanes annehmen kann. An einer Stelle der langen „Ode pindarique pour hymne, à Monseigneur Francois de Vergi, comte de Champlite, & gouuerneur pour sa majesté en Bourgogne" seiner 1582 gedruckten Nouuelles Oeuures gibt Jean-Edouard Du Monin 79 vor, daran zu zweifeln, ob seine dichterische Kraft den Tugenden des Adressaten gewachsen sei (p. 110): Mais mon dos plaie à l'entreprise, De ton Athlantique fardeau, Et crain que mon nom ne baptise (Loyer de mon brusque cerueau) Ce large détroit Cyanée Ou ma ligne peche ton nom [..·].* Den möglichen Ort seines Absturzes verlegt Du Monin mit gelehrter Umschreibung an den Hellespont („Cyanée" nach der antiken Tradition, daß sich dort die Symplegaden, Κυάνεαι oder Cyaneae, befunden haben80), vielleicht wegen der Assoziation an den Mythos von Phrixos und Helle, da dort ebenfalls ein mythologischer Sturz in die See stattgefunden hat, der diesem Meer seinen Namen gab. Die an den Dichter gestellte Aufgabe wird mit einer mythologischen Hyperbel als „atlantische Last" bezeichnet, also als so schwer wie das ganze Weltgebäude, das Atlas auf seinen Schultern trägt. Dasselbe Bild des übergroßen Gewichtes zum Ausdruck des Topos, „der laudator fürchtet, hinter der Größe seines Themas zurückzubleiben" 81 , liest man in der Laus Pis. 75f. „fessa labat mihi pondere ceruix / et tremefacta cadunt succiso poplite membra"82; in der Renaissance bei Pietro Bembo, „Beracus" (Anthology of Neo-Latin Verse 318): „Sit modo non impar tanto sub pondere, quae me / Musa uocat." Weitere Beispiele für das Motiv des Lobes, das seinem Thema nicht gerecht werden kann: Isokrates, or. 9, 40 [...] τ (ς αν ή ποιητής η λόγων εϋρετής άξίως των πεπραγμένων έπαινέσειεν; Breit ausgeführt findet es sich zu Beginn des anonymen Panegyrikos auf Messalla, [Tibull,] 4 , 1 , 1 - 6 :

78) Zu dieser Metapher s. oben S. 80 mit Anm. 47. 79) 1559-1586; vgl. zu ihm Dictionnaire des lettres françaises XVIe 269f. und CIORANESCO, Bibliographie du seizième 278. 80) Euripides, Med. 2. 1263; IT 241; Herodot 4, 85, 1; Ovid, trist. 1, 10, 34; Valerius Flaccus 4, 561f. u. ö. 81) Vgl. ferner CURTIUS, Europäische Literatur 168f. 412-414 und NISBET/ HUBBARD, Horace Odes 1 87; für eine besondere Variante dieses Topos s. unten S. 193-195. 82) Ähnlich ist auch Properz 3, 3, 22 und 3, 9, 5f. „turpe est, quod nequeas, capiti committere pondus / et pressum inflexo mox dare terga genu" sowie Horaz, ars 39f.

4. Pindarlektüre und Pindarverständnis

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Te, Messalla, can am quamquam me cognita uirtus terrei, ut infirmae ualeant subsistere uires: incipiam tamen. at méritas si carmina laudes deficient, humilis tantis sim conditor actis, nec tua praeter te chartis intexere quisquam facta queat, dictis ut non maiora supersint. Ähnlich auch 25f. und 177f. Mehrfach begegnet es bei Sidonius Apollinaris, carm. 1, 24 „paruula tura damus"; 16, 70 „barbitus hic noster plectro licet impare cantat"; ferner bei Ausonius 20,41 „succumbo materiae" und „[ilia] quae supra uires dicendi meas posita cunctor attingere", vgl. auch 20, 70; Laus Pis. 214f. „quod si digna tua minus est mea pagina laude, / at uoluisse sat est", vgl. auch 18; Paneg. 3 , 1 , 2 „malui eloquentiam potius quam pietatis erga te officium meum desiderali"; Ennodius, opuse. 1, 82 „uictus gestorum tuorum enormitate"; Cassiodor, or. frg. p. 465, 5-7 „quam arduum de celsis prineipibus humiles loqui"; Coripp, lust. 1,14 „inualidos ad pondera tendo lacertos". Bei Venantius Fortunatus, Mart. 1, 26-39 ist die Unwiirdigkeit und Unfähigkeit des laudator besonders breit ausgeführt; vgl. auch 45-48 „ergone dignus ero Martini gesta beati / [ . . . ] / attrectare manu trepida uel pangere lingua?" Menander Rhetor schreibt dieses Motiv ausdrücklich für das Prooimion des Königslobs vor, 368, 8-11: λήψη τοίνυν [...] τά προοίμια δηλονότι άπο της αυξήσεως, μέγεθος περιτιθείς τη υποθέσει, οτι δυσέφικτος, καί οτι καθήκας εαυτόν εις άγώνα οΰ ράδιον κατορθωθηναι λόγω [...]. In der französischen Renaissancedichtung findet man es ζ. B. bei Jean Prévost83 in der Ode für Scévole de Sainte-Marthe (Tragédies et autres œuuvres f. Vir): « C'est pour toy que i'ay tenté / Vn labeur si difficile. » I m Jahre 1 6 0 4 taucht das berühmte Horazcarmen gleich z w e i m a l auf: D e r Pariser Dichter Jean L e Blanc 8 4 spielt in der O d e , A M o n s e i g n e u r de Geure, Secretaire d'Estat", in seinen Odes pindariques,

auf Horaz an, aber in Ronsards

N a c h f o l g e versichert er selbstbewußt, seine Imitationen hätten ihn nicht das Schicksal des Icarus nehmen lassen: Bien que i'imite ses [Pindare] pas M a cheute, ny m o n trespas Encores n'ont faict nommer D e mon n o m Blanche la mer, Car si iusqu'au Ciel ie vole, Cil qui l'vn & l'autre Pole Esclaire de ses cheuaux Fauorise m e s trauaux.* D i e Gunst Gottes (hier in der Gestalt des Sonnengottes dargestellt, weil e s ja die Strahlen der Sonne waren, die Icarus stürzen ließen) für seine Dichtung bewahrt Le B l a n c davor, d a s s e l b e u n g l ü c k l i c h e Schicksal w i e seine V o r g ä n g e r zu nehmen.

83) 1580-1622; zu ihm vgl. Dictionnaire des lettres françaises XVIe 579; CIORANESCO, Bibliographie du dix-septième 3,1652 und LAFAY, Poésie française 25. 84) Zu ihm vgl. CIORANESCO, Bibliographie du dix-septième 2, 1217; LAFAY, Poésie française 430f. und SCHMIDT, Etudes sur le XVIe siècle 261-266.

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4. Pindarlektüre und Pindarverständnis

Im selben Jahr erscheinen in Paris die Royales Couches Claude Garniers, des Herausgebers der Gedichte Ronsards und Verteidigers seiner Werke gegen Angriffe zeitgenössischer Gegner 85 . Dem Gedicht, einer langen pindarischen Ode von 38 Triaden, ist die erste Strophe Horazens als Motto vorangestellt, und auch im Innern spielt Garnier auf diesen Text an, wenn er sich Pierre de Ronsard gleichstellt und dabei eine ähnliche Zuversicht äußert wie Le Blanc (p. 62): Mais Ronsard on enuia bien Quand ses flans respiroient la vie, » Pis est de tomber au lien » De la pitié que de l'enuie. D'vn compagnon si genereus le me sentiray bien-heureus : Qui seul, deffiant le nauffrâge, S'éleua dessur le plumage Du Thebain sans peur d'abymer, Comme ie fais ores sans crainte D'honnorer par folle contrainte De mon nom les eaus de la mer.* Durch die Anführungszeichen vor Versen (sie finden sich im allgemeinen nicht im Haupttext, sondern am Rand) wird in der Renaissance nicht angezeigt, daß es sich um ein Zitat handelt (obwohl diese Verse tatsächlich aus Pindar Pyth. 1, 85 κρέσσον γαρ οΐκτιρμοΰ φθόνος zitiert sind), sondern werden Sentenzen bezeichnet, und zwar sowohl allgemein bekannte Maximen als auch vom Autor selbst geprägte sententiöse Aussagen 86 . Die pindarische Passage war auch schon von Ronsard selbst in der wohl berühmtesten seiner odes pindariques nachgeahmt worden, in der „Ode a Michel de L'Hospital, chancelier de Madame Marguerite" {OC 3, 158): « C'est grand mal d'estre miserable, / Mais c'est grand bien d'estre enuié. », wo sie ebenfalls schon von guillemets umgeben war. Ohne jeden Zweifel kannte Garnier Ronsards Gedicht, aber sein „la pitié"

85) Zu ihm vgl. CIORANESCO, Bibliographie du seizième 330 und LAFAY, Poésie française 429f. 86) Vgl. LAUMONIER in der Einleitung zu Ronsards OC 1, XXVII mit Anm. 1 und besonders CAT ACH, Orthographe française 78-81 und 299-301; ungenau die Angaben bei COMPAGNON, Seconde Main 247, der in seinem historischen Überblick den Eindruck erweckt, als seien solche Zeichen eine Erfindung des sechzehnten Jahrhunderts, und dabei völlig unerwähnt läßt, daß sich schon in mittelalterlichen Manuskripten ähnliche Marken zur Kennzeichnung moralischer Sentenzen oder biblischer Zitate finden (vgl. KROLL, Studien 73). Übrigens wurden auch in Pindarausgaben der Renaissance zahlreiche gnomische Partien so gekennzeichnet, z. B. in Wechels Ausgabe der Olympien und Pythien von 1535 (10), in der auch Pyth. 1, 85 so markiert ist.

4. Pindarlekliire und Pindarverständnis

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ist näher am Text Pindars (οΐκτιρμοΰ) als Ronsards miserable" und läßt daher eine direkte Kenntnis der Pythie vermuten87. Deutlich erkennbar ist in diesen Versen die Funktionalität des Icanis-Motivs: Dem Lob soll besonderes Gewicht verliehen werden nicht nur durch die Versicherung des laudator, er fürchte nicht, wie Icarus zu scheitern, sondern auch durch die Anknüpfung an die Tradition Ronsards, der gegen anonyme Neider in Schutz genommen wird. Ronsard allein sei fähig gewesen, Pindar nachzuahmen, und Garniers Gedicht nimmt an der Einzigartigkeit (« seul, deffiant le nauffrâge ») von Ronsaids Oden teil. Auch in Versen der in demselben Buch enthaltenen „Ode pindarique a la Royne" stellt sich Garnier in eine Tradition von Dichtern, die bei Pindar beginnt und bei ihm selbst endet (p. 72f.): Du premier chant le son rare Fut en la Grece inuenté Par la Muse de Pindare Diuinement agité ; Le dédiant aus loüanges Des olympicques guerriers, Verdissans par ses lauriers Dans les campagnes étranges. Horace le contrefit D'vne asseurance Romaine, Et Ronsard nôtre le fit Au gré d'vne riche veine [...] Second après luy ie veus En étonner les Neueus I D'vne future merueille. Außer diesem Anknüpfen an eine große enkomiastische Tradition, die für den laudandus poetische Unsterblichkeit verbürgt (« en étonner les Neueus »), ist in diesen Versen noch die Anspielung auf den Topos von der translatio studiorum hervorhebenswert; Die Dichtung gelangt von Griechenland über Rom, oft noch mit der Zwischenstufe der italienischen Humanisten, nach Frankreich88.

87) Der Zusammenhang sowohl bei Garnier als auch bei Ronsard zeigt, daß ihre Formulierungen unmittelbar auf Pindar zurückgehen (bei Garnier wird der „Thebain" später selbst genannt, bei Ronsard finden sich in dem Gedicht noch andere klare Pindarzitate, vgl. die Angaben LAUMONIERS in seiner Ausgabe), doch war der Spruch, daß es besser sei, beneidet als bemitleidet zu werden, wohl schon zu Pindars Zeiten sprichwörtlich und läßt sich außer bei ihm noch bei „Thaies" in den Sprüchen der Sieben Weisen (Fragmente der Vorsokratiker 1,64: φθονοΰ μάλλον ή οίκτίρου) und bei Herodot (3, 52, 5: μαθών οσω φθονέεσθαι κρέσσον έστί ή οίκτίρεσθαι) nachweisen, ähnlich auch Aischylos, Ag. 939 ό δ ' άφθόνητός γ' ούκ έπίζηλος πελει; vgl. FRANKEL, Dichtung und Philosophie 525 Anm. 38 und THUMMER, Isthmische Gedichte 1, 80 mit Anm. 57. Konventionell ist auch, daß Dichter beneidet werden und dieser Neid, der sich zu ihren Lebzeiten (vgl. « Quand ses flans respiroient la vie ») ungehemmt äußert, nach ihrem Tod schwächer wird, vgl. NISBET/HUBBARD, Horace Odes 2 339f. 88) Vgl. zu diesem Topos CURTIUS, Europäische Literatur 38f. 388 und JOUKOVSKY, Gloire dans la poésie 57-61. 166-168. 215f.

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4. Pindarlektüre und Pindarverständnis

Erasmus Schmid89 beansprucht im Pindari edendi specimen von 1611 (51), das seiner berühmten Pindarausgabe von 1616 (56) voranging, in dem Brief ,.Lectori benevolo s. p." (der in der Ausgabe fast unverändert wiederabgedruckt wurde), erst seine neue, emendiate Edition werde Pindars schwierigen Text verständlich machen, jetzt endlich werde man ihn lesen und imitieren können, und er unterstellt Horaz einigermaßen fragwürdige Motive für seine Behauptung, Pindar sei unnachahmlich (f. A4 r ): deponam tecum quicquid libuerit, & pro lucro illud habebis, si non conscientia tua fateri te cogat, Te jam Pindarum non legere solum, sed & intelligere, adeoq; obscuritatem, quam quidem nonnulli sibi ipsis finxerunt, videre nullam: Imo te etiam, si debitam diligentiam adhibeas, & aliàs Musas vel mediocriter propitias habeas, pro tuo genio IMITARI EUM POSSE, qvod invidus Horatius, ut Lectores ab elegantissimo Poeta deterreret, ne furta sua fortè deprehenderent, hyperbolicè negavit. In Form einer Wette (diese Form der wissenschaftlichen Argumentation scheint seit der Renaissance etwas aus der Mode gekommen) stellt Schmid seine Behauptung auf, nur der schlechte Zustand des Textes sei schuld an Pindars angeblicher Dunkelheit. Stark tritt auch hier das hohe Selbstbewußtsein der Renaissance hervor: Was früher unmöglich war, das wird jetzt bei genügender Sorgfalt selbst einem nur mittelmäßigen Dichter gelingen (so wie Dorat in seiner Zeit einem „Lyricen nouus" zutraute, woran Horaz gescheitert war90). In seiner Ausgabe selbst übersetzt (56) Schmid gar Teile des Horazgedichts ins Griechische: Seine ,,Προσφώνησις ad studiosam juventutem, qvum ad Pythiorum Pindari auscultationem invitaretur" ist ein Preisgedicht auf Pindar in Form einer triadischen Ode, in der er Horazens „multa Dircaeum leuat aura cycnum" (25) und Teile des Katalogs der Werke Pindars (10-24) überträgt: Πνοά δέ μάλα Διρκαιον άείρει Κύκνον, στεφάνου δαφνείοιο άξιον· ηπω κατά πουλύπλοκα Διθυράμβων άποκυλινδέμεν επείγεται ζεύγματα, λεξίας νεοσιγάλους· ηε φερενίκων ανδρών άρετάν άγλαϊαν τε κωμάζει, ϋμνοισιν άναξιφορμίγγεσσιν 89) 1570-1637, ab 1597 Professor in Wittenberg, vgl. zu ihm BURSIAN, Classische Philologie 238-240; zu seiner Pindarausgabe GELZER, „Pindarverständnis und Pindarübersetzung" 101-103. 90) S. oben S. 89f.

4. Pindarlektüre und Pindarverständnis

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άείδων · ή Θεών αυτών δύναμιν δίκαν τε κελαδει · ή και καλλιπλούτους πόλιας γεραίρει. In einem Lobgedicht der pièces liminaires der Ausgabe wird Schmid dann von Emericius Thurzo, dem Rektor der Universität zu Wittenberg, bescheinigt, seine Behauptung, jetzt endlich sei eine Nachahmung Pindars möglich, sei richtig: Pindarum qvisqvis fuit aemulatus OLIM, is aptatis ope Daedalea Nixus est pennis, vitreo daturus Nomina ponto. Pindarum qvi NUNC studet aemulari, lile construcds ope SCHMIDIANA Usus antennis, celebri daturus Nomina Famae est. Monte decurrens velut amnis, imbres Qvem super notas aluêre ripas, Eluit sordes, Lyriciq; mendas SCHMIDIUS aufert,

Laurea donandus Apollinari, PINDARUM cuius licet aemulari Ductibus; cuius studio & LYCOPHRON Luce fruetur.* Interessant sind die kompositorischen Abwandlungen bei der Imitation der Horazode: Die erste Strophe wird verdoppelt, wobei dem „einst" das, jetzt" gegenübergestellt wird („olim" und „nunc" durch Kapitälchen hervorgehoben). Daß bisher eine Nachahmung Pindars scheitern mußte, wird auf unzureichende Hilfsmittel zurückgeführt, die „aptatae ope Dasdalea pennae" sind offenbar die bisher veröffentlichten Ausgaben Pindars. Jetzt hingegen hat Schmid „antennae" gebaut, die den Namen des Nachahmers nicht mehr dem Meer, sondern dem Ruhm überantworten (ein weiteres witziges Detail des intertextuellen Spiels mit der antiken Literatur: Nach Plinius, nat. 7, 209 erfand gerade Daedalus Mastbaum und Rahe, „malum et antennam"). Die dritte Strophe (die Horazens zweite in den beiden ersten Versen wörtlich wiederholt) macht jetzt Schmid, nicht mehr Pindar, zu einem von Regengüssen geschwollenen Bergbach, der nicht nur einfach gewaltig dahinströmt, sondern seine Gewalt auch nutzt, um „den Lyriker" von seinem Schmutz zu befreien (Anspielung auf die mythische Reinigung des Augiasstalls mittels eines umgeleiteten Flusses). In der vierten Strophe dann wird nur noch der Anfangsvers von Horazens dritter Strophe

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4. Pindarlektüre und Pindarverständnis

aufgenommen und angekündigt, durch Schmids Arbeit werde auch Lykophron verständlich gemacht werden91. In einer pindarischen Ode seiner Œuures poétiques von 1618 lehnt Joachim Bernier de La Brousse 92 das Kompliment eines Dichterkollegen ab, der seine Dichtung einen reißenden Strom genannt hatte. Verglichen mit Deinen erhabenen Werken, versichert Bernier, sind meine Gedichte nur ein kleiner Bach neben einem gewaltigen Fluß, und fährt fort (f. 1100: II me suffit seulement d'estre Apprenti d'vn si docte maistre, Craignant que pour auoir renom, Les riues de l'eau Poicteuine, Apres ma chute, & ma ruine, Ne se nommassent de mon nom. Berniers Befürchtung ist, die Namensgebung an die Flüsse Poitous (die hier in patriotischer Weise an die Stelle des icarischen Meeres treten), also das Symbol des Sturzes und dichterischen Scheiterns, könne sein einziger Nachruhm bleiben; seit Ronsard seinen Loir und Du Beilay seine Loire zu Symbolen ihres Dichterruhmes gemacht haben, ergießt sich eine wahre Flut von Lokalflüssen und -flüßchen in die französische Lyrik, um vom Ruhm der jeweiligen Lokaldichter zu zeugen93. Mein letztes Beispiel für die Wirkung unseres Horaztextes stammt aus dem 1623 gedruckten Panegyrique Bourbonien des Hofdichters François Berthrand d'Orléans 94 , einer pindarischen Ode, die mit ihren 73 Triaden sämtliche Rekorde bricht. Der Dichter gesteht in der zweiten Antistrophos, daß er sich angesichts der überwältigenden Tugenden des Adressaten (Henry de Bourbon) seiner Aufgabe nicht gewachsen fühle, Quand bas de stylle & de fureur D'vn dos de cire en mon erreur 91) Kaum beantwortet werden kann die Frage, ob diese Ankündigung real ist oder nicht. Wenn hier tatsachlich eine Lykophronausgabe Schmids angekündigt wird, so ist sie niemals erschienen; daher liegt es nahe, diese Verse trotz dem Futur „fruetur" bildlich zu verstehen: Schmids Scharfsinn ist so groß, daß er nicht nur Pindar, sondern sogar den „poeta obscurus" par excellence Lykophron enträtsein könnte. Für die Funktion im Text ist die Frage belanglos: Der konnotationsreiche Name Lykophron wird als steigernder Höhepunkt des Lobes eingeführt. 92) t 1623; vgl. zu ihm Dictionnaire des lettres françaises XVIIe 154; CIORANESCO, Bibliographie du dix-septième 1,343 und LAFAY, Poésie française 387-394. 93) Vgl. zu diesem Topos und seinen antiken Ursprüngen JOUKOVSKY, Gloire dans la poésie 343-345; s. ferner oben S. 86f. mit Anm. 68. 94) Zu ihm vgl. GOUJET, Bibliothèque françoise 13,445-448; CIORANESCO, Bibliographie du seizième 124 und ders., Bibliographie du dix-septième 1, 346.

4. Pindarlektüre und Pindarverständnis

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Je brosse la route d'Icare : Quand ie marche aueugle à tastons Pour imiter les graues tons Ou de Terpandre ou de Pindare. Die Anspielung auf die « route d'Icare » und damit indirekt auf seinen Sturz dienen hier als Variante des Topos von der Unfähigkeit des laudator, der mit seinem Lob hinter den wahren Leistungen des laudandus zurückzubleiben droht95. Mit Terpander ist hier wohl nicht der sagenhafte griechische Dichter gemeint, sondern Ronsard: Jean Dorat hatte aus dem Namen Pierre de Ronsard das griechische Anagramm Σώς ό Τέρπανδρος gebildet, das auf der Titelseite und im Kolophon der Odes von 1550 und am Ende der ebenfalls 1550 erschienenen Ode de la paix abgedruckt war (Ronsard, OC 1,41. 268; 2,153 und 3, 35); Jean Martin 96 hatte dieses Anagramm erklärt in der „Breue exposition de quelques passages du premier liure des Odes de Pierre de Ronsard", die schon in der ersten Ausgabe der Odes 1550 erschienen war (OC 2, 203). Jacques Tahureau spricht 1554 in einem Gedicht „A la Muse de P. de Ronsard" von « nostre docte Terpandre » (Poésies complètes 231; ähnlich ebd. 297 « vn François Terpandre »). Jean Bastier de La Peruse 97 nennt Ronsard 1556 in seinen Diuerses Poésies (im Anschluß an seine Tragödie Medee) « le grand Vandomois, / Ce grand Terpandre » (p. 9). Karel Utenhoven (der Jüngere) 98 verwendet das Anagramm 1560 in einem griechischen Epigramm (abgedruckt in Ronsard, OC 2, 204f. Anm. 5). Du Beilay schreibt in den Xenia von 1569 ein Epigramm darüber (OP 8, 89f.); Guy Le Fèvre de La Boderie zitiert es zusammen mit einem anderen Anagramm des Namens Pierre de Ronsard in seiner Galliade von 1578 (f. 124v): Viue le grand RONSARD, qui d'esprit haut & rare A fait en son nom clair SE REDORER PINDARE, Et Terpandre nouueau a remis sur les lois Des vers modulisez de nos Bardes Gaulois [...]· Schließlich erklärt Claude Binet 99 seine Bedeutung noch einmal in seiner 1585 nach Ronsards Tod zum ersten Mal gedruckten Vie de P. de Ronsard (14.47). An unserer Stelle legt auch die Verbindung mit Pindar diese Assoziation an den « Pindare françois » Ronsard nahe.

95) S. oben S. 90f. 96) t 1553, vgl. zu ihm Dictionnaire des lettres françaises XVIe 495 und CIORANESCO, Bibliographie du seizième 473 f. 97) 1529-1554; zu ihm vgl. Dictionnaire des lettres françaises Λ Ί ^ 419 und CIORANESCO, Bibliographie du seizième 402. 98) 1536-1600; vgl. zu ihm Dictionnaire des lettres françaises XVIe 681f.; CIORANESCO, Bibliographie du seizième 675 und DEMERSON in Du Beilay, OP 7, 340f. 99) 1553-1600; vgl. zu ihm Dictionnaire des lettres françaises XVIe 108f. und CIORANESCO, Bibliographie du seizième 131 f.

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4. Pindarlektüre und Pindarveiständnis

All diese Zitate100 legen beredtes Zeugnis dafür ab, wie Bezugnahmen auf Pindar sehr häufig durch das Medium der Pindarode des in der Renaissance deutlich populäreren Horaz gemacht werden. Daß Pindar ständig gewissermaßen durch die horazische Brille gelesen wurde, dafür sorgte auch die Tatsache, daß Horazens carmen in vielen Editionen Pindars abgedruckt wurde (in 1. 20. 21. 22. 24. 29. 30. 31. 38. 39. 41. 45. 46. 47. 48. 52. 61. 62. 63, in 64 eine französische Übersetzung): Daß dies beim Leser gewisse Erwartungen weckt, ist ganz klar. Aber auch ohne Beziehung auf Horaz ist die Bezeichnung Pindars als des größten Lyrikers ein Topos der Renaissanceliteratur, sei es als einfache Aussage, sei es als Bezugspunkt im Lob für einen modernen Dichter, der ihn noch übertrifft. Lonicers Übersetzungen (8. 9. 25) nennen ihn schon auf der Titelseite „Lyricorum facile princeps", und ähnliche Superlative finden wir auf den Titelseiten der Aristologia Neanders (20) und der Ausgabe Schmids (56). Portus bezeichnet ihn im Widmungsbrief seines Kommentars (36) als „Lyricorum principem", in einem griechischen Epigramm der pièces liminaires der Edition Prevosteaus (39) heißt es Μουσάων άρχος Πίνδαρος οίος ενι, und Paul Estienne stellt in seiner Ausgabe von 1599 (47) im Brief an Jacques Bongars101 mit einer Anspielung auf die einleitende Priamel von Ol. 1 die rhetorische Frage „quis non, has ipsas comparationes ad nostrum poëtam deuoluens, & quantum aqua caeteris elementis, aurum metallis, sol astris, Olympiaca corona reliquis, tantum inter lyricos hunc nostrum vatem excellere concessurus sit?" Einige wenige Beispiele mögen genügen, um das Vorkommen derselben Superlative auch bei französischen Dichtem zu zeigen: Olivier de Magny nennt Pindar in dem Gedicht ,A Monseigneur de saint Cheron" (f. 27 r ) aus seinen Amours von 1553 « Le Thebain, l'excellent Pindare / A qui Lyrique on ne compare ». Für Gabriel Du Préau102 in seiner Übersetzung der Histoire de la guerre saincte ist er der Inbegriff des enkomiastischen Dichters: In dem Gedicht „Au diet Seigneur d'Happlaincourt abbé du Mont S. Quentin près Peronne. Ode par le mesme du Preau" (f. aiiijr) heißt es über den Adressaten « Pour louer sa vertu rare, / Il fauldroit bien vn Pindare » Interessantes Detail in dieser Abwandlung des Topos, für das Lob den besten Dichter zu verlangen103: Durch 100) Außer den zitierten Stellen vgl. noch Etienne Jodelle, OC 1, 78-83 (1553); Claude Binet, Ode sur la naissance (in der pièce liminaire „A Monsieur Mazille", 1573); Jean Le Masle, Nouuelles recreations f. 60 v (1580); Jean Prévost, Tragedies f. Vir (1614). 101) 1554-1612; zu ihm vgl. SANDYS, History of Classical Scholarship 2, 192; Dictionnaire des lettres françaises XVIe 119 und ClORANESCO, Bibliographie du seizième 140; zum Widmungsbrief Estiennes an ihn vgl. MARGOLIN, „Pindare et la Renaissance" 141. 102) 1511-1588; zu ihm Dictionnaire des lettres françaises XVIe 278 und ClORANESCO, Bibliographie du seizième 286f. 103) S. oben S. 82-84 mit Anm. 56.

4. Pindarlektüre und Pindarversländnis

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den Zusatz des unbestimmten Artikels (« ν η Pindare ») wird Pindars Name hier geradezu zur Gattungsbezeichnung des enkomiastischen Dichters. Die zweite Auflage der Schediasmata poetica Paul Schedes104 erschien 1586 in Paris, und auch hier sehen wir Pindar, diesmal zusammen mit Homer und Virgil, als Inbegriff des enkomiastischen Dichters: In der pindarischen Ode „Ad Elisabetham reginam Angliae" (vol. 1, p. 1) heißt es „tua fama est / Maior clariorque, quàm potis fari / Pindarus, aut Maro, & acer Homerus." Dasselbe Motiv105, mit veränderten Namen, finden wir bei Charles Fontaine106, der in der Ode ,Λ la Royne" seiner Odes, enigmes, et epigrammes den Tod all der antiken Dichter beklagt, die die Königin nicht mehr besingen können (p. 15): « Mais que ne reuiuent apres / Ces plus grans hauts diuins Poetes, / [ . . . ] / Archiloc, Callimac, Pindare, / Pour haut chanter ton honneur si rare ? » In den schon zitierten Royales Couches Claude Garniers schließlich ist er der « Roy des sonneurs ». Wie bekannt diese Konvention gewesen sein muß, zeigen auch Stellen, in denen von einem Dichter der Renaissance gesagt wird, er übertreffe Pindar noch: Damit dieses Lob wirksam ist, muß Pindar als Maßstab für dichterische Qualität allgemein anerkannt sein. Wir finden diese Aussage bezogen auf Marguerite de Navarre in einem Gedicht Jacques Peletiers aus dem Jahre 1547 ,Λ la Royne de Nauarre" (Oeuures poetiques f. 84r): Mais uos escritz d'une armoni^ extresme, Par qui uaincriez Pindare le supresme Mieux qu'oncq Corinna, en seront par uous mesme La trompette & tesmoins. Bemerkenswert ist hier die Anspielung auf den aus den Pindarscholien und der übrigen antiken Tradition bekannten „Dichterwettstreit" Pindars mit der boiotischen Dichterin Korinna107: „Besser" als die antike wird die moderne Dichterin ihren männlichen Rivalen übertreffen. Marguerites eigene Schriften werden zum Zeugen für ihre dichterische Begabung aufgerufen, weil Peletier (mit dem schon erwähnten Topos 108 ) vorgibt, er selbst wage nicht, sie zu loben, da seine Verse hinter ihrer Tugend zurückbleiben müßten. Auch die Aussage „nur Du selbst wärest geeignet, Dein eigenes Lob zu singen" ist konventionell. Sie findet sich in der Antike ζ. B. bei Livius, frg. 61 Weissenborn (= Seneca, suas. 6, 22) im Bericht über den Tod

104) Der sich auch Melissus nannte; dieser interessante neulateinische Dichter stellt ein Bindeglied zwischen deutschen und französischen Humanistenkreisen dar: In Deutschland geboren, studierte er lange Zeit in Paris und hatte Verbindungen zur Pléiade; vgl. zu ihm Dictionnaire des lettres françaises XVIIe 597; SCHÄFER, Deutscher Horaz 64-108; MCFARLANE, „Pierre de Ronsard" 187 und NILGES, Imitation als Dialog 47-64. 105) Zu seinen antiken Ursprüngen s. oben S. 82-84 mit Anm. 56. 106) 1534-1573, vgl. Dictionnaire des lettres françaises XVIe 328. 107) S. unten S. 125f. 108) S. oben S. 90f.

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4. Pindarlektüre und Pindarverständnis

Ciceros: Cicero war ein Mann, „in cuius laudes exequendas Cicerone laudatore opus fuerit" 109 ; in enkomiastischer Literatur im anonymen Panegyricus auf Messalla, [Tibull,] 4 , 1 , 5f. „Nec tua praeter te chartis intexere quisquam / Facta queat". Einige Beispiele aus der französischen Renaissance mögen genügen. Die dem Lyoner Dichterkreis angehörende Pemette Du Guillet beginnt in ihren 1545 postum publizierten Rymes ein Gedicht folgendermaßen (13): Par ce dizain clerement je m'accuse De ne sçauoir tes vertus honnorer, Fors du vouloir, qui est bien maigre excuse : [..·] Preste moy donc ton eloquent sçauoir Pour te louer ainsi, que tu me loues ! Besonders beliebt ist dieses Motiv in Enkomien für politische Potentaten, die auch als Dichter dilettieren; so beispielsweise bei Ronsard in der Ode „A Michel Pierre de Mauleon protenoterre de Durban" (OC 2, 86): « ni son stile, ni le mien / Ne te sçauroient chanter si bien / Que toi-même »; oder bei Jean Prévost in der „Ode Pindarique. A Monsieur de SaincteMarthe, Conseiller du Roy, et Thresorier general de France" (Tragedies et autres ceuures f. Vi"). Gilles Durant de la Bergerie 110 gestaltet in seinen 1588 gedruckten Imitations ein ganzes Gedicht über diesen Topos, die pindarische Ode „A Iacques Mauduit. Ode 25" (f. 119v, auch in den Œuures paliques von 1594, f. 1600, ' n der er sich an den Adressaten wendet: Dich, der Du « pere du chant » bist, zu preisen wäre so unsinnig wie Wasser ins Meer zu tragen. Ironisch umgekehrt wird das Motiv im Epigramm „A vn importun" von Meilin de Saint-Gelais, wo dieser es ablehnt, den namenlosen Adressaten zu preisen: « Comment veux-tu queje m'amuse / A louer ni toi ni ta muse ? / Tu le fais cent fois mieux que moi ! » (hervorhebenswert das durch den Reim „muse" noch betonte raffinierte Spiel mit der Scheinetymologie von „amuse" aus αμουσος). A u c h Estienne Forcadel 1 1 1 bescheinigt in s e i n e m Epigramm „ A d Oliuarium M a i g n y u m de I. Ant. B a y f o " aus den Epigrammata

von 1 5 5 4 modernen D i c h -

tern, sie hätten Pindar (und Horaz) übertroffen (p. 108): M e miseret Flacci, B a y f u s quòd scripserit odas: Scribere si pergas, Pindare, quid facies? Exercent Musae per Phocidos arua Choreas D u m B a y f u s digitis, oreq; dulce canit. A n ' n e duos, Maigny, superet, doctißime 1 1 2 , quaeras, Quid scio? te alterutro plus potuisse scio.*

109) Wohl auf diese Stelle ist das Urteil Negris über Pindar zurückzuführen (in seiner „Praefaiio", 4, f. lxxxv): „Sed quid ego in Pindaro laudando diutius ïmoror: ad quê pro dignitate ac mentis exomädü altero mehercule opus esset Pindaro?" 110) 1550-1615; vgl. zu ihm CIORANESCO, Bibliographie du seizième 289 und LAFAY, Poésie française 329. 111) Zu Forcadel vgl. MCFARLANE, „Pierre de Ronsard" 183 und ders., „Poésie néolatine et poésie de langue vulgaire" 396. 112) S. zu diesem Attribut unten S. 248 Anm. 87.

4. Pindarlektüre und Pindarverständnis

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Forcadel nuanciert das Kompliment, Baïf und Magny seien größer als die beiden bedeutendsten Vertreter der antiken Lyrik113: Während es für den Adressaten Magny uneingeschränkt gilt („scio"), wird es für Baïf nur angedeutet („Quid scio?'). Etwas bescheidener gibt sich Denys Lambin, der in der Vorrede zum sechsten Buch seiner Lukrezausgabe aus dem Jahre 1563 Dorats dichterische Versuche preist; er sagt nicht, Dorat übertreffe die Antiken, sondern läßt den Ausgang der Konkurrenz offen (p. 467): Cum enim dithyrambos scribendos suscipis: cum Pindaro ancipiti Marte certas, cum versus Lyricos scribis: cum eodem Pindaro, cum Simonide, Stesichoro, Alcaeo, Sapphone non sine vincendi spe contendere videris. An diese Passage schließt sich noch eine ganze Reihe Namen antiker Dichter an, denen Dorat (jeweils in ihrem Genus) gleichkommt. Während Pindar die Gattung Lyrik zusammen mit anderen Namen repräsentiert, ist er alleiniger Vertreter des Dithyrambus; vielleicht ist bei der Nennung von Dorats Dithyramben vor allem an die Übersetzung eines Pindarfragmentes zu denken, die er im Jahre 1557 angefertigt hatte114. Ähnlich sagt Joachim Du Beilay von Ronsard, er habe nicht nur Pindar übertroffen, sondern auch Theokrit und Homer (gemeint ist, jeden in seinem Genus: Pindar in den Odes, Theokrit in der Continuation des Amours und den Eglogues und Homer in der Franciade, deren erste vier Gesänge abzuschließen er gerade beschäftigt war). Das „Epigramme pastoral" betitelte Gedicht ist in „vers rapportés" („versus rapportati") geschrieben115; es wurde zum ersten Mal in der Ausgabe von 1565 der Jeux Rustiques abgedruckt, alle Beteiligten treten entsprechend der bukolischen Gattung in der Maske von Schäfern auf: Ronsard unter dem von ihm selbst in seinen Eglogues gewählten Namen Perot, die antiken Dichter werden am Gedichtanfang durch ihre Herkunft deutlich identifiziert (OP 5, 401): Tityre, Dorilas & Menalque, venus De Sicile, de Thebe' & de Smime [...] Nach einer Beschreibung dieser drei Hirten, die mit ihren Gesängen bei allen ländlichen Wettbewerben die Preise davontragen, betritt Ronsard die Szene:

113) S. unten S. 103 mit Anm. 118. 114) S. unten S. 127. 115) Vgl. zu dieser Technik CURTIUS, Europäische Labyrinth 2 9 3 und DUBOIS, Poésie du XVI' siècle 24.

Literatur

290f.; HOCKE, Welt als

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Mais Perot l'outrepasse Tityre, Dorilas & Menalque surpasse [...]· Auch hier ist deutlich, wie Pindar neben Homer und Theokrit als hervorragendster Vertreter einer antiken Gattung zitiert wird: Ronsards Sieg ist um so ruhmreicher, als die drei Besiegten selbst alle übrigen Konkurrenten aus dem Feld geschlagen haben, « Ayant gaigné le pris sur tous les pastoureaux ». Ähnlich wird Ronsard geehrt in der 1574 in Frankfurt erschienenen ersten Auflage der Schediasmata Paul Schedes, wo es im „Dialogus P. Melissi et N. Clementis Trelaei" über Ronsard heißt (p. 21): Redux sit Maro, sit redux Homerus; Dircaeusque & Horatius resurgant: Primas Vindocino (reor) poëtae Sedes quatuor unico resignent. Virgil und Homer, Horaz und Pindar werden als römische und griechische Vertreter der nach dem Verständnis der Renaissance erhabensten Gattungen116 genannt, in denen Ronsard brilliert hat: die Ode im hohen Stil und das Epos (die ersten vier Gesänge der Franciade waren 1572 erschienen); aber sie alle würden selber dem Dichter aus Vendôme die höchste Ehrenstellung einräumen. Bei Guillaume Calvimont ist das Übertreffen Pindars (und Homers) an eine Bedingung geknüpft. In seinen Syluae von 1571 sagt er in dem Gedicht „Ad Petrum Ronsardum", Ronsard könne sowohl Homer als auch Pindar übertreffen, wenn er jetzt die „nuces" der Jugend hinter sich lasse und sich ganz mit der heiligen Quelle benetze (f. 9 v f.): Iam Ronsarde nuces tenera primordia vitae Linque, & te totum prolue fonte sacro. I Sic vel Mœonidem poteris superasse poëtam. Sic tua Pindarica gloria maior erit. Nicht ganz klar ist, was Calvimont mit dieser Aufforderung meint: Soll die heilige Quelle die erhabene Inspiration der Musen bedeuten, d. h. wird Ronsard prophezeit, er werde nur mit Werken im erhabenen Stil Erfolg haben (diese Auffassung läge 1571 nahe, als Ronsard gerade die Franciade schrieb)? Oder ist „sacer" von religiöser Dichtung zu verstehen, wird Ronsard also aufgefordert, die frivole heidnische Dichtung zugunsten einer „christlichen Muse" aufzugeben (das antike Dekor der Verse muß in der Renaissance nicht gegen diese Deutung sprechen)?

Ronsard selbst stellt in dem in seinen Œuures von 1587 zum ersten Mal gedruckten Gedicht „Au Sieur Barthelemi Del-Bene, Gentil-homme Florentin,

116)

S. unten S. 166f.

4. Pindarlektiire und Pindarverständnis

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P o ë t e Italien e x c e l l e n t , pour response & reuanche a d e u x de s e s O d e s Italiennes" 1 1 7 den Adressaten den antiken Dichtern Horaz und Pindar an die Seite ( O C 18, 255): Nach seinem Tod werde er in die Unterwelt eingehen, und S o u s les ombres là bas le Calabrais Horace, Entre les Myrthes verds te quittera sa place : Et Pindare Thebain te cederà son lieu : Ainsi entre deux D i e u x tu seras nouueau D i e u [·.·]. Deutlich ist auch in dieser Passage, daß Horaz und Pindar als hervorragendste Lyriker des Altertums gewählt sind, denen jetzt die Moderne einen gleichwertigen Dichter beigesellen wird 118 . Gerne wüßte man, ob der Anklang von Ronsards Szene an Dante, Inferno 4, 82-102, wo Dante in den Kreis der antiken Dichter Homer, Horaz, Ovid, Lucan und Virgil aufgenommen wird, nur zufällig ist, oder ob Ronsard die Divina comedia kannte 119 . Die Szene, daß der Gepriesene nach dem Tode in der Unterwelt oder im Himmel unter den höchsten Würdenträgern Platz findet, kommt ähnlich bei Lucan 1, 47-52 vor: Nero wird nach seinem Tod wählen können, das Szepter Jupiters zu halten oder den Sonnenwagen des Phoebus zu besteigen, „tibi numine ab omni / cedetur" (50f.); Vorformen schon im homerischen Apollonhymnos, hymn. Αρ. 3f. καί ρά τ ' άναϊσσουσιν έπί σχεδόν έρχομένοιο / πάντες άφ' έδράων und bei Theokrit, id. 17, 16-21 (Ptolemaios wird im Olymp zwischen Alexander und Herakles seinen Platz erhalten), vgl. auch die erotische Variante des Motivs bei Properz 2, 28, 29f. und Ovid, trist. 1, 6, 33 sowie die ins Scherzhafte gewendeten Platzkämpfe in der Unterwelt bei Aristophanes, ran. und Lukian, DMorl 3. 25. 6, 6. Noch weiter ausgeführt erscheint dasselbe Motiv in Robert Garniers 1586 im Tombeau Ronsards gedruckter „Elégie sur le trespas de Pierre de Ronsard, au sieur Des Portes, abbé de Thiron". Hier ist es Ronsard, der in die Unterwelt zu den antiken Helden und Dichtem gelangt (Gamier, OC 2,440): Sur tous le grand Eumolpe, et le diuin Orphée, Et Line, et Amphion, Et Musée, et celuy dont la plume eschauffee Mist en cendre Ilion. Le louengeur thébain, le chantre de Mantoue, Le lyrique latin, Et aueques Sénèque, honneur grand de Cordoue, L'amoureus Florentin. Tous vont battant des mains, sautellent de liesse, S'entredisant entre eux :

117) Zum Anlaß dieses Gedichtes vgl. NOLHAC, Ronsard et Γ humanisme 228f. 118) Wie selbstverständlich die Paarung Pindar - Horaz gewesen sein muß, können wir schon bei Petrarca erkennen, der im Sonett 247 seines Canzoniere die beiden einfach durch die Periphrase «l'una e l'altra lira» bezeichnet (Rime 321). 119) NOLHAC, Ronsard et l'humanisme 224 erwähnt, Ronsard habe den Namen Dantes gekannt, und scheint damit eine Unkenntnis seiner Werke zu implizieren.

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4. Pindarlektüre und Pindarverständnis

Voylà celuy qui donte et l'Itale et la Grèce En poömes nombreus. All diese Dichter (Eumolpos, Orpheus, Linos, Amphion, Musaios, Homer 120 , Pindar, Virgil, Seneca und Petrarca) beschenken und bekrönen dann den Neuankömmling, um ihm eine Ehrenstellung in ihrem Kreis zu geben.

Ronsard selbst wird nach seinem Tode in der Oraison funèbre Jacques Davy Du Perrons bescheinigt, er habe Pindar (und andere antike Dichter) übertroffen, weil er sich nicht nur in einem, sondern in vielen poetischen Genera hervorgetan habe (91): Il s'est bien veu au temps passé des hommes excellents en un genre de Poësie : mais qui aient embrassé toutes les parties de la Poésies ensemble, comme cestuy-cy a faict, il ne s'en est point encore veu jusques à maintenant. Homère a bien emporté la palme entre les Epiques, Pindare entre les Lyriques [...] : mais la gloire universelle de la Poësie, ils l'ont tous divisée entre eux, et chascun en a pris sa partie. Il n'y a jamais eu qu'un seul Ronsard qui l'ait possédée toute pleine et toute entiere. Ich möchte die angeführten Stellen keineswegs so verstanden wissen, als hätten die Philologen und Dichter der Renaissance eine feste, unabänderliche Rangliste der antiken Dichter gehabt, in der Pindar (zumindest in der Disziplin „Lyrik") unweigerlich den ersten Platz hielt. Vielmehr handelt es sich bei dieser Bezeichnung « prince des poètes »121 um einen Topos, und bei jedem Vorkommen muß der Interpret nach seiner Funktion fragen. Pindar wird auf der Titelseite einer Edition „Lyricorum princeps" genannt: Daß hier eine literarische Wertung wesentlich ferner liegt als eine Werbung für die betreffende Ausgabe, ist leicht ersichtlich, und der Vergleich mit den „Waschzetteln" moderner Bücher, die ebenfalls mit Superlativen nur so gespickt sind, drängt sich geradezu auf (man weiß, daß die Titelseiten mit ihren umfangreichen Angaben im 16. und 17. Jahrhundert als Werbung für das Buch dienten, das ja ungebunden beim Buchhändler auslag122). Wenn Ronsard der französische Pindar genannt wird, so hat dies angesichts seiner pindarischen Oden gewiß einen spezifischen Sinn, aber das Lob ist wiederum nur Teil der üblichen superlativischen Technik des Enkomions. Wenn

120) Homer wird als der Zerstörer Trojas bezeichnet, weil er der Dichter des trojanischen Krieges ist, vgl. zu dieser Konvention der antiken Literatur NISBET/HUBBARD, Horace Odes 2 21 "[...] the writer does what he describes" (mit Beispielen). 121) Sie sollte auch ebensowenig wie ihr lateinisches Pendant „princeps lyricorum" verabsolutiert werden: Diesen Begriff empfand die Renaissance nicht als so superlativisch, daß er nur einem Autor hätte zukommen können. 122) Vgl. Histoire de l'édition française 583-593.

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Ronsard in Hinblick auf seine Erfolge in anderen Gattungen als der Ode gepriesen wird, tauscht man den Namen Pindar gegen einen anderen aus. So wird Ronsard 1572 nach dem Erscheinen der ersten Bücher seiner Franciade der französische Homer und Virgil (so ζ. B. in einem Brief Marc-Antoine de Murets, Opera omnia 1, 596 „Ronsardum pridem Pindarum, nuper etiam Homerum Gallicum"123); Estienne Pasquier gibt eine ganze Liste von antiken Autoren, die Ronsard übertroffen oder denen er es zumindest gleichgetan habe (Œuvres 1, 708): « [...] en quelque espece de Poësie, où il ait appliqué son esprit, en imitant les anciens, il les a surmontez, ou pour le moins esgalez. [...] Il a en nostre langue representé uns Homere, Pindare, Theocrite, Virgile, Catulle, Horace, Petrarque [...]. » Solche Gleichsetzungen sind ein beliebter Topos der Renaissance124, so ist z. B. der Tragiker Jean de La Péruse der französische Euripides, Jean Des Caurres der picardische Sokrates, bei Estienne Pasquier ist Rabelais der französische Lukian, Alain Chartier Seneca usw.125 Wenn IJSEWIJN126 die ähnliche Praxis karolingischer Hofdichter vergleicht, so wird deutlich, daß hier mehr vorliegt als nur ein gelehrtes Spiel der Epoche: Hinter diesem Brauch wird der Wunsch der Renaissance (jeder Renaissance?) deutlich, die großen Vorgänger im hegelschen Sinn „aufzuheben", also zu erhöhen und gleichzeitig zu ersetzen, vgl. das Zeugnis Jacques Tahureaus, aus seiner Oraison au Roy (1555, Poésies complètes 431): « nôtre France est plaine d'vne infinité d'Homeres, de Virgiles, d'Euripides, de Senecques, de Menandres, de Terences, d'Anacréons, de Tibulles, de Pindares, d'Horaces, de Demosthenes, de Cicerons françoys, et bref en quelque maniere d'écrire que ce soit la France pour le jourd'huy ne doit rien à l'antiquité des Grecz ni des Latins. »

Besonders deutlich sehen wir die Konventionalität der Namensnennung in den Fällen, wo Pindars Name in Dichterkatalogen auftaucht. Ähnliche Kataloge von Dichlernamen finden wir schon in der Antike, z. B. bei Ovid, ars 3,329-340 (Dichter, die der Liebende kennen sollte; die Palinodie dazu rem. 759-766: Dichter, die der unglücklich Verliebte meiden sollte), trist. 2, 363-412 (Dichter, die in ihren Werken von Liebe gesprochen haben) und Am. 1, 15, 9-30 sowie Pont. 4, 16, 5-46 (Dichter, deren Ruhm ihren Tod überdauert hat). Ich gebe einige Beispiele aus der französischen Renaissance: 1554, Jacques Tahureau127 in den Sonnetz, odes, et mignardises: Pindar, Horaz, Petrarca (Poésies complètes 296; ausgewählt als die größten Lyriker, mit Anspielung auf die translatio studiorumm); derselbe in den im selben Jahr gedruckten Premieres Poésies: Pindar (an erster 123) Für weitere Beispiele vgl. KATZ, Ronsard's French Critics 27.46. 57. 124) Daß die Renaissance dabei oft recht vorschnell bei der Vergabe solcher Ehrentitel war, steht außer Zweifel und wurde bisweilen von den Dichtern selbst anerkannt (witzig in dem Epigramm „De sc ipso" des Ianus Pannonius, Galle und Honig 6: „Laudas me nimium, priscis et uatibus aequas, / mentiris noui, me tarnen, Ode, iuuat."), aber auch das ist keine neue Erscheinung in der Literaturkritik (vgl. KROLL, Studien 15f.), wie die satirische Darstellung bei Horaz, epist. 2, 2,99-101 zeigt: discedo Alcaeus puncto illius; i He meo quis? quis nisi Callimachus? si plus adposcere uisus, fit Mimnermus et optiuo cognomine cresciL 125) Vgl. SWEANY,,¿tienne Pasquier" 50. 126) „Neo-Latin" 98f. 127) 1527-1555; zu ihm vgl. PEACH, Jacques Tahureau. 128) Zur translatio s. oben S. 96 mit Anm. 93; zu Pindar und Horaz als den größten Vertretern der antiken Lyrik s. oben S. 103 Anm. 118.

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Stelle), Horaz, Alkaios, Kallimachos, Stesichoros, Orpheus, Virgil, Homer, Anakreon, Catull, Properz, Ovid, Tibull (Poésies complètes 76; die Liste wird eingeführt mit dem „Vbi sunt"-Motiv). 1555, Charles Fontaine in seinen Ruisseaux: Homer, Pindar, Simonides, Stesichoros, Alkaios, Sappho, Anakreon, Virgil (p. 278; als Beispiele für Namen, die die Zeiten überdauert haben). In Jean Bastier de La Péruses Diuerses Poésies von 1556 finden wir einen von Horaz stammenden Katalog (p. 9); er umfaßt Homer, Pindar, Anakreon, Alkaios, Stesichoros, Sappho, Ronsard. Homer, so heißt es, habe zwar den ersten Platz, aber deshalb seien die anderen nicht vergessen: Alle Namen (bis auf Ronsard natürlich) und das Motiv stammen aus Horaz, carm. 4 , 9 , 5-12. Diese Passage war auch schon in Ronsards Odes zweimal imitiert worden 129 . Sie wird noch einmal aufgegegriffen in Guillaume Calvimonts Syluae von 1571, wo in einer pièce liminaire ein gewisser Adamus Blacuodseus Scotus den Autor Calvimont auffordert, den Spuren Homers und Pindars zu folgen (f. 3r): Non modo Mceonides fama super çthera notus Sed Maro Mœoni® viuit imago tubs. Nec modò Thebani diurna poemata vatis In pretio serie posteritatis erunt: Sed volat, & penna solui metuente volabit Viuax Pindarica; Flaccus imago lyrae. Tu modò Mœonij sequeris vestigia cygni, Tu modo Pindarica plectra sonora lyrae.* In der Bezeichnung „penna solui metuente" (die Junktur stammt aus Horaz, carm. 2, 2, 7) spielt Blacuodaeus wieder auf den Icarusmythos und auf Horaz, carm. 4, 2 an, wobei hier witzig darauf verwiesen wird, daß Horaz selbst ja betrieben hat, wovon er anderen der übergroßen Gefahr wegen abrät. Weitere Dichterkataloge in der französischen Literatur: 1573, Du Préau, Histoire de la guerre saínete: Simonides, Pindar, Bacchydes (sicí, f. äij r , vollständig zitiert unten S. 123). 1577, Pierre Enoc 130 in seinen Opuscules: Homer, Pindar, Horaz, Catull, Properz und Tibull (f. Fiij r ). Schließlich 1579, Ferrand de Bez 131 in seinen Epistres heroiques amoureuses: Anakreon, Pindar, Martial (f. 12r; als Beispiele für Dichter, die sich in « amour desloial » vergangen haben, Pindar aufgrund der Legende, er sei in den Armen eines schönen Knaben gestorben 132 ). Wo Pindar in Gesellschaft solch schattenhafter Gestalten wie „Bacchydes" und Stesichoros auftritt, liegt es nahe, die ganze Liste als aus der Sekundärüberlieferung stammend zu betrachten und direkte Kenntnis des Dichters als unwahrscheinlich anzusehen 133 - auch wenn wir natürlich nie ganz ausschließen können, daß ein Dichter der Renaissance auch solche nur fragmentarisch überlieferten Autoren der Antike aus eigener Anschauung kennt. Ihre Fragmente konnte er jedenfalls seit 1560 in Estiennes (24 und die zahlreichen Neuauflagen und Nachdrucke) oder Orsinis Ausgabe der Lyriker finden, und tatsächlich sehen wir in den

129) Vgl. OC 1, 140 und 2, 32. 130) t 1590 (= Pierre de La Meschiniere); zu ihm vgl. Dictionnaire des lettres françaises XVIe 294; CIORANESCO, Bibliographie du seizième 299 und PINEAUX, Poésie des protestants 52-54. 131) t 1581; zu ihm Dictionnaire des lettres françaises XVIe 103f. und CIORANESCO, Bibliographie du seizième 124. 132) S. dazu unten S. 121 mit Anm. 186. 133) Schon in der Spätantike finden wir solche Kataloge, unter denen sich auch dem jeweiligen Verfasser nur dem Namen nach bekannte Autoren befinden, vgl. NORDEN, Antike Kunstprosa 2, 580 mit Anm. 1.

4. Pindarlektiire und Pindarversüindnis

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1583 erschienenen Premieres Œuures von Jean de La Jessée134 (37) Übersetzungen auch sehr kleiner Fragmente relativ obskurer Lyriker (p. 486-497, alle neun Lyriker des Kanons sind vertreten). Hätte La Jessée nur behauptet, diese Lyriker gelesen zu haben, kaum ein Philologe hätte ihm Glauben geschenkt.

Auf den individuellen Namen kommt es in solchen Passagen nicht mehr an, erzielt werden soll nur der Gesamteindruck „große Dichter". Dennoch bleibt dieser aus der Antike übernommene Topos nicht ohne Wirkung auf die Rezeption der Epinikien: Kaum ein antiker Dichter wird so regelmäßig mit Superlativen bedacht wie Pindar, und diese Konvention setzte sich offenbar im Gedächtnis eines gebildeten Lesers fest. Wenn Ronsard in seinen ersten veröffentlichten Gedichtsammlungen seinen Ruf mit dem schon etablierten Ruhm Pindars zu stützen und zu verteidigen hofft135, benutzt er diesen Topos geschickt für seinen Zweck. Wenn aber auch im weiteren Verlauf des sechzehnten und beginnenden siebzehnten Jahrhunderts die Gleichsetzung « Ronsard le Pindare françois » sich hartnäckig hält, so scheint nun paradoxerweise der antike Dichter von dem großen Ruhm seines modernen Pendant zu profitieren. Und wenn das Lob „Du übertriffst Pindar noch" Wert hat, so deshalb, weil darin dem Leser der Renaissance die Transgression des gewöhnlichen Topos )r Pindarus princeps lyricorum" deutlich spürbar ist: Die Wirksamkeit der Negation des Topos setzt dessen Lebendigkeit und Bekanntheit voraus. Das gleiche gilt von der immer wiederkehrenden Behauptung, jetzt endlich habe jemand Pindar imitiert, ohne wie Icarus zu fallen: Dieses Motiv erhält seine enkomiastische Relevanz erst vor dem Hintergrund der Bekanntheit und Akzeptiertheit des horazischen Verdiktes. So wäre es also gewiß falsch, alle diese aus der Tradition von Horaz, carm. 4, 2 und Quintilians Urteil stammenden Behauptungen allzu wörtlich zu nehmen - aber es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß diese Topoi Auswirkungen auf die Rezeption hatten.

4 Der zweite für die Rezeption Pindars wichtige Faktor ist die Interpretation seiner Gedichte als moralische und religiöse Literatur. Diese Sicht stammt wiederum

134) Zu ihm INGMAR, lrJean de La Jessée" und MCFARLANE, „Pierre de Ronsard" 187. 135) Diese Funktion des Namens Pindar wird deutlich z. B. in einer Passage des Vorwortes „Au lecteur" der Odes von 1550 (OC 1,47): « [ . . . ] ie m'assure qu'ils ne me sçauroient accuser, sans condamner premièrement Pindare auteur de telle copieuse diuersité. » Man sieht deutlich, wie der junge Ronsard Pindar hier gleichsam als Schild gegen eventuelle Angriffe (die wegen der Arroganz seiner Aussagen nicht ausblieben und auch Pindar nicht verschonten) vor sich hält.

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4. Pindarlektüre und Pindarverständnis

schon aus der Tradition der Antike, hier vor allem aus den Kirchenvätern 136 . Deren Argumente für die Ansicht, auch die Lektüre heidnischer Schriftsteller könne für Christen nützlich sein waren unter anderem: Die Grundsätze der Moral finden sich auch in den besten antiken Autoren, und bei ihnen sehen wir schon Vorahnungen der christlichen Offenbarungen (der berühmteste Fall ist hier Virgil, die „anima naturaliter Christiana" par excellence, der Höhepunkt dieser Sicht das Virgilbild in Dantes Divina commedia137). Pindar hat an dieser Verteidigung insofern Anteil, als er wegen seiner vielen Gnomen als moralische Autorität zitiert werden kann138. Ein Vergleich seinerOden mit den Psalmen ist ein von der Spätantike bis in die Renaissance verbreitetes Motiv 139 . Diente dieser Vergleich zunächst dazu, im Rahmen der christlichen Apologetik den Psalmen durch den Vergleich mit dem „größten Lyriker" literarisches Prestige zu verschaffen (,.David ist unser Pindar"), so darf man auch hier vermuten, daß im Laufe der Jahrhunderte umgekehrt wiederum Pindar durch die konventionelle Verbindung mit den Psalmen profitierte und ihm die Aura eines religiösen Dichters zuwuchs140. Gerade nördlich der Alpen befinden sich die Humanisten, zumal nach der Reformation, in einer Situation ähnlich der der Verteidiger antiker Autoren in der triumphierenden Kirche der Spätantike141: Die Literatur des Altertums gilt nicht mehr wie im früheren Humanismus als wertvoll an sich, sondern muß ihren Wert aus den in ihr zu findenden moralischen Lehren beziehen; ferner ist es ratsam, diese Moral in einer Zeit, in der schon der leiseste Verdacht der Häresie lebensgefährlich sein kann, so „christlich" wie möglich darzustellen (zumal gerade das Studium des Griechischen zumindest in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts von der katholischen Orthodoxie mit Mißtrauen betrachtet

136) Für die Tradition moralisierender Interpretation in der Antike vgl. KROLL, Studien 64-86; für die Übernahme in der Renaissance vgl. BORINSKI, Antike in Poetik 1, 120. 137) Vgl. ECHARD, „Humanists and Classical Poetry" 431-436; hierhin gehören auch die Legenden über manche antike Autoren, z. B. Seneca, sie hätten sich heimlich zum Christentum bekehrt. 138) So wird er z. B. von dem französischen Philologen Juste Lipse benutzt, vgl. JEHASSE, Renaissance de la critique 534 Anm. 22. 139) Vgl. COURCELLE, Lettres grecques 48; CURTIUS, Europäische Literatur 54. 80. 445f. und JEANNERET, Poésie et tradition biblique 316 Anm. 21 und 318 Anm. 29; es gab sogar Psalmenparaphrasen in der Form pindarischer Oden, s. unten S. 132f. Anm. 216. Ein Beispiel für die Verbindung Pindars mit den Psalmen sei zitiert. Jean Le Masle erklärt im Gedicht „Contre les Poetes escriuans lasciuement. Au Seigneur lean le Frere de l'Aual" von 1580 (f. 60 v ) unter Angabe seiner Quelle, in den Psalmen seien alle heidnischen Dichter schon enthalten: « Saint Hierosme docteur / Bien approuué, qui en est traducteur/ [...] dit qu'en luy [dans le Psautier] (oultre le Grec Pindare) / Celuy qui bien à l'ouyr se prepare, / Pourra gouster d'vn Horace Romain, / D'vn Simonid', d'vn Catulle, & Serain, / D'Alcee außi [...]. » 140) S. oben S. 107 zur Verbindung Pindar - Ronsard. 141) Vgl. BORINSKI, Antike in Poetik 1, 117.

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wird 1 4 2 ). D a ß unter diesen V o r z e i c h e n die Befürwortung der Pindarlektüre bei T h e o l o g e n w i e Zwingli und Melanchthon andere Formen annehmen m u ß als bei den italienischen Humanisten auf d e m Höhepunkt ihrer B e w e g u n g , leuchtet unmittelbar ein. U n d in Frankreich läßt die vergiftete Atmosphäre der R e l i g i o n s kriege eine moralisch-religiöse Interpretation besonders wünschenswert erscheinen. S o sagt STEVENS 143 zu Recht über die Situation der französischen H e l l e nisten dieser Zeit: "The arguments most frequently mentioned by contemporary d e f e n d e r s o f H e l l e n i s m were chiefly religious. [ . . . ] A c l o s e corollary o f this claim can be seen in the conviction o f s o m e Hellenists that the basis for natural ethics could be found in the Greek moralists." Die Überzeugung, das Studium der griechischen Philosophie könne auf die christliche Theologie vorbereiten, findet sich am ausführlichsten ausgedrückt in Guillaume Budes De transitu Hellenismi ad Christianismum von 1535. Eine ebenso lange Tradition wie diese theologische Interpretation antiker Philosophie hat auch die Auffassung, Dichtung sei eine Form moralischer Unterweisung 144 . Diese „Rettung" antiker Autoren führt bisweilen zu recht bizarren Auswüchsen, so wenn Denys Lambin in seiner berühmten Lucrezausgabe von 1563 sogar diesen atheistischen Epikureer für eine „christliche" Deutung beansprucht145. Im Gegensatz zu anderen antiken Autoren lassen sich Pindars Werke relativ einfach als moralische Literatur darstellen: Sein auffälliger Reichtum an G n o men mußte großen Erfolg haben in einer Zeit, die überall Sentenzen und Sprichwörter auszog und Emblemata hochschätzte. Beweis für diese Vorliebe ist die Tatsache, daß das erste in Frankreich gedruckte griechische Buch eine solche Sentenzensammlung war 146 , Beweis auch die Adagia des Erasmus, die bis 1536 sechzig Auflagen erlebten und dabei von ihrem Sammler ständig erweitert wurden 147 . Und eines der berühmtesten Sprichwörter aus den Adagia, „dulce bellum inexpertis", öfter als eigene kleine Abhandlung gedruckt, geht über Stobaios, ecl. 4, 9, 3 auf Pindar, frg. 110 zurück γλυκύ δε πόλεμος άπείροισιν 1 4 8 . Es sei angemerkt, daß man schon in den mittelalterlichen Handschriften ein besonderes Interesse an den gnomischen Partien der Epinikien feststellen kann, die eigens gekennzeichnet und sogar schon aus den Gedichten gezogen und zu eigenen Anthologien vereinigt wurden149.

142) Vgl. KLUGE, „Griechische Studien" 12-14. 143) „Motivation for Hellenic Studies" 115. 144) Vgl. dazu HARDISON, Enduring Monument 18-23. 145) Vgl. HOCKE, Lukrez in Frankreich 16-19; FRAISSE, Influence de Lucrèce 56-59 und JEHASSE, Renaissance de la critique 90-92. 146) 1507, Βίβλος ή Γνωμαγυρικη, vgl. KLUGE, „Griechische Studien" 50 und BUNKER, Bibliographical Study 79. 147) Vgl. JEHASSE, Renaissance de la critique 74-76 und STEVENS, „Motivation for Hellenic Studies" 118 mit weiteren Beispielen für diese beliebte Gattung. 148) Vgl. HUTTON, Themes of Peace 22 und PFEIFFER, Klassische Philologie 107f. 149) Vgl. IRIGOIN, Histoire du texte 136. 261 und GENTI LINI, Fortuna neogreca 6. 28.

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Das beredteste Zeugnis für dieses moralische Interesse an Pindar ist sicherlich die von Neander aus ihm ausgezogene Aristologia (20; Neander gab ähnliche Anthologien auch aus anderen griechischen Autoren heraus), die eben nur diese Gnomen (und einige erzählende Partien, aus denen sich ebenfalls leicht moralische Lehren ableiten ließen) enthält und als sittliches Erziehungsbuch für die Schule gedacht ist150. Aber auch sonst finden wir in den Vorworten der Editionen immer wieder betont, daß die Pindarlektüre moralisch nützlich sei. Ein stets wiederkehrendes Argument ist dabei die Natur seiner enkomiastischen Poesie: Pindar, so heißt es, lobt die Guten, tadelt aber die Schlechten unerbittlich; dadurch spornt er den Leser dazu an, selbst tugendhaft und lobenswürdig zu werden (Loben und Tadeln werden in der Renaissance häufig als die Hauptaufgaben der Dichtung bezeichnet151). So begründet beispielsweise der Theologe David Chytraeus seine Beschäftigung mit Pindar. In seiner 1596 erschienenen Kompilation aus Pindars Werken (43) konzentriert er sich auf zwei Aspekte: Zum einen auf die Genealogien der antiken Heroen, zum anderen auf die Gnomen („sententia; insignes"), mit denen Pindar zu sämtlichen Kardinaltugenden aufrufe. Auch er sieht das Loben als den wichtigsten Aspekt von Pindars Dichtung (f. A3 r ): [...] Pindari Lyricorum principis argumentum & scopus in singulis Odis est, vt Virtutem victorum in sacris certaminibus laudet: & sumptâ occasione, ex victorum patriâ aut familias origine, relicto humiliore argumento, euolans in sublime, veteres historias, seu veterum Graeciae principum Genealogías & res gestas celebret, vbiq; grauißimas sententias de DEO, prouidentiâ ac scelerum pcenis, & praecepta de Iustitia & modestia & caeteris virtutibus intexens, Regulas vitae cum exemplis historiarum coniungat.* Diese Auffassung von der Dichtung Pindars macht sich z. B. Jean Macer in seiner gegen Ronsard gerichteten Philippique von 1557 zunutze. Mit einer Anspielung auf den Text der Epinikien, die direkte Kenntnis zu zeigen scheint 152 , definiert Macer das Wesen von Pindars Werken so (f. Bi v f.): 150) Vgl. KOCH, .fortleben Pindars" 197. 151) Vgl. GORDON, Ronsard et la rhétorique 56f.; bei Pindar selbst findet sich (in einer Passage in der ersten Person) die Formulierung αίνέων αίνητά, μομφάν έπισπείρων άλιτροίς (Nem. 8, 39). Man kann auch daran erinnern, daß schon Piaton aus seiner Verurteilung der Poesie im Staat nur die ϋ μ νους θεοίς καί έγκώμια τοις άγαθοϊς ausnimmt (607 a), s. unten S. 158 mit Anm. 42. 152) Die von Macer im letzten Satz des Zitates erwähnte « honte & ignominie » der Besiegten, die sie die großen Straßen meiden und über enge Hintergassen heimkehren läßt, wird von Pindar zweimal erwähnt (vgl. SLATER, „Victor's Return" 246), Ol. 8, 68f., wo es vom Sieger Alkimedon heißt έν τέτρασιν παίδων άπεθήκατο γυίοις / νόστον εχθιστον καί άτιμστέραν γλώσσαν καί έπίκρυφον οίμον, und Pyth. 8, 86f., wo die besiegten Gegner κατά λ α ύ ρ α ς δ' έχθρων άπάοροι / πτώσσοντι. Da Macer die knappen Bilder Pindars breiter ausmalt (« attendoient la nuict tenebreuse ») und sich nicht sehr eng an den Text

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Pindare en ses odes, est du tout occupé a chanter l'hôneur qu'on portoit a celuy qui auoit rapo rte la victoire des ieux Olympiques, & autres instituez en Grece : au cô trai re a môstrer la honte & ignominie que reçeuoiët les vaincuz. Laquelle estoit si grande, qu'en plein iour n'osoient retourner en I leur maison : mais attendoient la nuict tenebreuse, encore fuyoiêt il [j/c!] les giads chemins : en sorte que le plus expediät chemin c'estoiët montaignes, forestz, & lieux desertz. Eben an dieser moralischen Komponente der Dichtung fehle es bei Ronsard, der sich nur an schlüpfriger Liebesdichtung („odes impudicques", „amourettes" 153 ) erfreue. Wäre er wirklich der französische Pindar, so fände er in Frankreich genügend Stoff für Lobesdichtung (f. Biiij'f.): Pleust a Dieu : que ce noble pindare Grec, qui en son temps n'a- I uoit si bien matière d'exercer sa cause qu'il auroit maintenant, reuequist a l'heure presente : qu'il se plairait bien a descripre les louanges d'infinis Hectors, Achilles, Aiax, que nourrist nostre tres victorieuse Fiâce : sans lequel nöbre, cj ferais tu, toy qui te dis Pindare Françoys ? Bemerkenswert ist an dieser Passage das schon an die Querelle des Anciens et des Modernes gemahnende Argument, die Großen Frankreichs böten Pindar heute mehr « matière d'exercer sa cause » als einst die Helden Griechenlands: Gewiß, es ist zu einem großen Teil auf den Wunsch zurückzuführen, den Mächtigen Frankreichs zu schmeicheln, zeigt aber doch den gerade für die französische Renaissance charakteristischen Zug von Patriotismus und Selbstbewußtsein sehr deutlich. Eine besonders stark ausgeprägte Form dieser A p o l o g e t i k für das Studium Pindars lesen wir in Z w i n g i i s Vorwort zu W i e s e n d a n g e r s A u s g a b e 1 5 4 ( 1 5 2 6 , 5). Er erklärt: „Nihil m o u e o r criticis istis [ . . . ] qui [ . . . ] arbitrantur

flagitium

s u m m u m eße, si gentilem poëtam legas", aber daß ein großer Teil d e s Vorwortes eben diesen Kritikern antwortet, zeigt, w i e w i c h t i g die A r g u m e n t e dieser „critici" damals g e n o m m e n wurden. Pindar, s o heißt es, tadelt o f f e n , auch in s e i n e m Lob: „nullos e n i m sic laudat, ut si quid illis uitij hsereat, non ciuilißime taxet." Er ist „sanctus", w e i l seine R e l i g i o n aufrecht ist, und wir finden d i e Ansicht des Orígenes und Augustinus über die Dichter auch bei i h m bestätigt: „sie nostrü uidemus, etiäsi d e o s uocet, unicü tarnen e s s e credat." Zur Untermauerung dieser Behauptung zeigt Zwingli dann an einigen Beispielen, w i e in der antiken Dichtung der Plural nur um des rhetorischen S c h m u c k e s willen da ist, ohne wirklich eine Vielzahl zu meinen 1 5 5 . Pindars Werke dienen als Propädeutik z u m Studium der Psalmen und aller hebräischen Schriften: „nullus graec o r u m autorum sic uidetur prodesse ad sacrarum literarum intellectü atq; hic

anlehnt, kann nicht entschieden werden, ob er hier an eine bestimmte der beiden Passagen denkt; wahrscheinlich spielt er aus dem Gedächtnis auf beide an. 153) S. oben S. 85. 154) Zu Zwingiis Vorwort vgl. die ausführliche Analyse SCHMITTS, „Pindar und Zwingli". 155) Vgl. dazu SCHMITT 310-312.

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noster" (diesem Aspekt ist auch der größte Teil der am Schluß des Buches stehenden Epistel Zwingiis „candido lectori" gewidmet, in der er an konkreten Einzelstellen zeigt, wie pindarischer Wortgebrauch beim Verständnis der hebräischen Bibel helfen kann). Zwingli schließt mit dem triumphierenden, lapidaren Satz „sancta & casta sunt omnia". Diese umfangreiche Argumentation des an der religiösen und moralischen Seite Pindars besonders interessierten Zwingli deutet schon sämtliche Elemente dieser Sichtweise an, die wir vor allem im protestantischen Milieu der Renaissance häufig wiederfinden. Im Widmungsbrief der ersten Auflage von Lonicers Übersetzung (8) wird Pindar von Lonicer „pudicus, religiosus, adeoq; pietatis amantißimus uates" genannt. Seine Dichtung regt zur Nachahmung der von ihm besungenen Tugenden an, alles in allem ist er ein Dichter, „qui uel à summo theologo legi mereatur". Ähnliche Aussagen lesen wir in dem in der zweiten Auflage der Übersetzung (9) enthaltenen „Encomium" auf Pindar: Lonicer referiert die berühmte Anekdote, nach der Bienen im Munde des Knaben Pindar ihre Waben bauten und Honig sammelten, und er interpretiert diese Geschichte so, daß Pindars Dichtung so rein sei wie der Honig der Bienen 156 : „Non Lalages, non Lydiae, non Galatese, non Pasiphaës, nö uana louis hic adulteria disces: uerum ex pudico lyrico, pudicam etiam lyram, uel si mauis citharam audies." Seine Dichtung und besonders seine Gnomen, fährt Lonicer fort, lehren die „morum integritas". Ein weiterer Vertreter dieser protestantischen Interpretation ist Philipp Melanchthon. Die Grundsätze seiner Pindardeutung gehören in den größeren Zusammenhang seiner Bemühungen, die Lektüre der griechischen Klassiker in den Rahmen der protestantischen Erziehung einzufügen 157 . Als Anhänger der lutherischen Ideen stellte er sich aber der erasmischen Ansicht entgegen, die Lektüre griechischer Schriftsteller könne den Text der Bibel verstehen helfen: Nur der Glaube allein lehrt die in der Schrift enthaltene christliche Wahrheit entdecken. Melanchthon gibt hingegen zu, daß auch heidnische Autoren nützliche moralische Lehren enthalten können, und er selbst bezieht sich in seinen Schriften häufig auf die griechische Gnomik als moralische Autorität158. Pindar spielt in Melanchthons Bestrebungen eine wichtige Rolle: Dreimal hielt er in Wittenberg Vorlesungen über ihn159, und sein Interesse an diesem Dichter 156) Literatur zu dieser Bienenmetaphorik in der antiken Dichtung bei Bras well, Fourth Pythian Ode 144. 157) Vgl. dazu GARIN, Educazione in Europa 191-196; PFEIFFER, Klassische Philologie 118-122 und BOLGAR, Classical Heritage 344-349; zu Melanchthons griechischen Studien vgl. Graecogermania lOlf.; zu den pädagogischen Zielen und den Inhalten des Griechischunterrichts bei den Protestanten allgemein KLUGE, „Griechische Studien" 22-28 und 33-35. 158) Vgl. BORINSKI, Antike in Poetik 2, 10. 159) KOCH, „Fortleben Pindars" 197 Anm. 11.

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manifestiert sich deutlich in seiner 1558 zum ersten Mal veröffentlichten Übersetzung (22). Wie er Pindar interpretierte und warum er ihn für lesenswert hielt, geht aus dem schon erwähnten160 Gedicht auf die Erklärung Pindars hervor, das er 1548 in seinen Poemata drucken ließ. Dort äußert er sich zunächst über die Schwierigkeit der Epinikien, die einen Erklärer eigentlich wie Icarus scheitern lassen müßte, betont dann aber den Nutzen von Pindars Liedern, Quae canunt Regum memoranda facta, Literis nullis alijs relata, Et regunt mores hominum sequaces Laude bonorum. Cùm Duces petiêre Colchos, Phasidos ripis legerent ut aurum, Narrat Alciden agitasse remos Lege coactum. Sic docet summis edam Deorum Filijs, legum patienda uincla: Legibus uires & opes superbas Cedere iustum est. Bella Titanum recitans nefanda, Arma qui contra superas tulerunt, Impíos fato simili perire Pnemonet omnes. Ergo uirtutis sapientiaeq; Musa doctrinam quia tradit isto Pindari scripto, iuuenes modesti hunc Noscite uatem. Interessant ist an diesen Versen der Versuch, Pindars mythische Erzählungen zu „moralisieren". Aus den beiden Beispielen, die Melanchthon wählt161, sollen die

160) S. oben S. 78 und 87 Anm. 68. 161) Beide verdienen eine nähere Betrachtung: Daß Herakles bei der Argonautenfahrt mitruderte, wird von Pindar in Pyth. 4 nicht ausdrücklich erwähnt, Melanchthon konnte dies aber schließen aus 171 f., wo seine Teilnahme am Argonautenzug berichtet wird, und 202 εΐρεσία δ' ύπεχώρησεν ταχειάν έκ π α λ α μ ά ν ακορος. Aller Wahrscheinlichkeit nach liegt hier aber eine „contaminano" mit Apoilonios Rhodios 1,1161-1163 vor, wo Herakles' große Kraft beim Rudern beschrieben wird. Auch die zweite Anspielung auf einen pindarischen Mythos ist nicht ganz exakt: Eine ausgeführte Titanomachie gibt es bei Pindar nirgends (nur zwei kurze Anspielungen auf die Befreiung der Titanen von ihren Fesseln, Pyth. 4, 291 und frg. 35). Melanchthon scheint hier eher an den bei Pindar Ol. 4, 6f. und Pyth. 1, 15-28 erwähnten hundertköpfigen Typhos und die Gigantenkämpfe zu denken, von denen Pindar ζ. Β. Pyth. 8 , 1 5 - 1 8 spricht (wo auch Typhos erwähnt wird); dort finden wir schon ähnlich wie hier bei Melanchthon eine moralisierende Gnome βία δε icaì μεγάλαυχον εσφαλεν έν χρόνω. Zu

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„iuuenes modesti" fromme Lehren ziehen und in diesem Geiste Pindar lesen. Trotz dieser Hochachtung für die antike Literatur distanziert sich Melanchthon aber von der für ihn übergroßen Begeisterung der italienischen Humanisten: Die von Poliziano geäußerte Auffassung, wegen seines besseren Stiles sei Pindar insgesamt den Psalmen vorzuziehen, weist er an anderer Stelle deutlich zurück 162 . Diese Überzeugungen seines Schwiegervaters Melanchthon greift Caspar Peucer in der „Epistola nuncupatoria" zu dessen Übersetzung auf163; über weite Passagen ist dieser Widmungsbrief nichts als eine erweiterte Prosaparaphrase von Melanchthons Gedicht. Michael Neander 164 kann man als Produkt der von Melanchthon entworfenen protestantischen Erziehung bezeichnen: Der spätere Rektor des Gymnasiums in Ilfeld (ab 1550) studierte bei Luther und Melanchthon in Wittenberg, und so verwundert es nicht, daß diese moralische Sicht Pindars in seiner schon erwähnten Aristologia besonders prominent ist. In seinem Widmungsbrief (den er mit Nachdruck „christlich" datiert: „In ipso die gloriosissima resurrectionis filij Dei IESV CHRISTI Saluatoris nostri, ώσπερ μονωτάτου, οϋτω καί β ι α ρ κ ε σ τ ά τ ο υ , Anni 1556") gibt er Beispiele dafür, wie die Gnomen und Mythen Pindars als moralische Exempla interpretiert werden können. Neander greift auch den konventionellen Vergleich Pindars mit den Psalmen auf, und seine Position scheint ein Versuch, zwischen Poliziano und Melanchthon zu vermitteln: Im Gegensatz zu den Psalmen finde man in den Epinikien nicht göttliche Offenbarung, aber was ohne sie zugänglich sei, „eadem legantur similiter in carmine Pindarico, sed logé dulciora & gratiora omnia". Dieser moralische und religiöse Gehalt mache die Pindarlektüre in der Schule nützlich: „Pindarus in scholis suum habet usum, non aspernendum penitus: quemadmodü canteri eius generis authores adolescentes prçparât, & idoneos efficiunt, ad res cum in Ecclesia tum república commode tractandas, quae sunt longè maxima:."

verweisen ist auch darauf, daß Titanen- und Gigantenschlachten schon in der antiken Literatur oft verwechselt wurden, vgl. VIAN, Guerre des Géants 169-174. 2 8 4 - 2 8 6 und NISBET/HUBBARD, Horace Odes 2 191. 162) Vgl. KOCH, „Fortleben Pindars" 196 Anm. 10 und Graecogermania 142. Dieselbe Argumentation finden wir auch in David Chytraeus' Genealogiœ et Gnomœ wieder, der Pindar ebenfalls nicht den Psalmen an die Seite stellen will, aber die Pindarlektüre empfiehlt, weil Ziel der Epinikien das Lob der Tugend sei. 163) Vgl. zu dieser Epistel GELZER, „Pindarverständnis und Pindarübersetzung" 99f. und Graecogermania 142. 164) Eigentlich Neumann, 1525-1595; vgl. zu ihm BURSIAN, Classische Philologie 212-215.

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Denselben Standpunkt vertritt Neander auch in einer alkalischen Ode an Valentin Trozendorf165 aus den pièces liminaires seiner Aristologia: Πινδάρου ποιήματα θεια πάντες άνέρες μεν πουλυδαεΐς σέβουσιν, ώσπερ εί ταΰτ' έκ τρίποδος γ ' ελεξεν μάντις 'Απόλλων. 166 Und in einem weiteren (mit αύτοσχεδιαστί bezeichneten) Gedicht der pièces liminaires dieses Buchs vergleicht Karel Utenhoven167 Pindar als Quelle der Weisheit mit der Bibel und schließt: α π ' έμών έκάς πρόριψον / βιβλίων χορόν βέβηλων. Während die Lektüre dieser βίβλια βέβηλα im allgemeinen abgelehnt wird, gehört Pindar nicht zu diesem „Haufen profaner Bücher", sondern steht auf einer Stufe mit der Bibel. Le Sueur rechtfertigt sich in der Vorrede zu der 1576 erschienenen Übersetzung der Pythien (33) gegen den Vorwurf, als Jurist müsse er Wichtigeres zu tun haben als einen griechischen Dichter in lateinische Verse zu übertragen: „sie Pindaricam poësim tot rerum grauium & magnarum cognitione abundantem, ad vita; communis vsum spectare in primis & pertinere arbitramur." Er begründet dies mit der in der Renaissance prominenten Sicht, Dichtung sei nur eine frühere Form von Philosophie168: ,Ac si verum amamus, id sané fateamur necesse est Poëticam artem à philosophia non instituto, sed tempore & ortu, non rebus, sed numeris & modis seiunetam & separatam esse". So sei auch Pindars Dichtung, ebenso wie die Homers, nichts anderes als Morallehre: Quod si singularum eius odarum materiam & argumenta diligenter excutias, hanc de optimae reipublicae statu, illam de temperantia & continentia, aliam de dolore fortiter tolerando conscriptam inuenies: esteri sque omnibus nihil ferè nisi graue & serium & iuuentutis moribus conformandis valde necessarium contineri.

165) Eigentlich Friedland, 1490-1556, seit 1531 Leiter des Gymnasiums in Goldberg, Schlesien, vgl. BURSIAN, Classische Philologie 203f. und GARIN, Educazione in Europa 200f. 166) Den Vergleich der Epinikien mit den Sehersprüchen Apollons finden wir ähnlich in Melanchthons Gedicht, hier allerdings unter dem Aspekt der Schwierigkeit: „Mulla sunt quamuis satis inuoluta, / Delphicae sortes ueluti fuerunt". Man darf wohl davon ausgehen, daß Neander hier seinen Lehrer zitiert und dessen Vergleich raffiniert in einer anderen Funktion benutzt. 167) Wohl der Ältere, zu ihm Contemporaries of Erasmus 3, 362f. 168) Diese Lehre findet sich z. B. in den Versen 535-568 von Ronsards „Ode à Michel de l'Hospital" (OC 3, 148-150), sowie in seinem Abbregé de l'art poétique François (OC 14,4), oder in Le Carons Dialogues 260-263, ihre Quelle war vor allem Horaz, ars 391-405, vgl. ECHARD, „Classical Poetry" 428 und HARDISON, Enduring Monument 5-7.

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Diese Tradition greift im Widmungsbrief an die Ratsherren von Bem in der postumen Ausgabe des Pindarkommentars seines Vaters Franciscus (1583, 36) Aemilius Portus169 auf. Pindar, so heißt es, sei zwar kein Christ gewesen, aber er lobe in seinen Gedichten die Tugenden und rufe dadurch zur Frömmigkeit auf: „Quare dignus est hic Poeta, quem legant, & volutent omnes: sed ij potissimum qui magnos honores gérant." Auch Paul Estienne betont im Vorwort zu seiner Ausgabe von 1599 (47) den Nutzen der Pindarlektüre: „huius lectione si fruatur iuuentus, aliáne lectio stimulos virtutum magis pectoribus addat, nescio. Nam quo tot Olympiac® victoriac, tot serta, tot lauri, quàm studiosje & currenti iuuentutì calcar subjicere?" Daniel Heinsius legt in seinen 1612 zum ersten Mal gedruckten Orationes (53) großen Nachdruck auf die Wichtigkeit einer moralischen Interpretation der Dichtung. Er beklagt sich über die „grammatici", die Dichter nur lesen, um Beispiele für ihre grammatischen Regeln zu finden170 (p. 63 f.): Dij eos atque homines perdant, qui ex auro tam prestanti, peluim primi aut matulam fecerant: qui ne pueri in scholis I nescirent, cujus temporis aut modi sit vox aliqua, modum omnem intemperanti® ac vanitatis egressi sunt: tempus vero, cujus sacrosancta est possessio, nihil agendo perdiderunt. Nam dum his intentus noster animus, folia arborum sectatur aut vmbram, ipsi nobis fructus intercipiuntur. Nemo robur e l o q u e n t i , nemo rerù ac verborum splendore, nemo dignitatè sermonis, & ccelestes impetus, nemo tot augustas sententias, tot virtutis praecepta, tot oracula examinât, quç si in Platone nobis aut Aristotele occurrerent, digna putaremus, quibus vita, quibus mores quisque nostrum emendaret.* Diesen schleudert Heinsius zornig entgegen, die Dichtung sei zu heilig für solche Profanisierang 171 : „sacer est locus, extra / Meiete" (p. 68). Grammatische Erklärung sei nötig, aber die Interpretation dürfe sich nicht auf sie beschränken, das Wichtigste an der Dichtung sei die in ihr zu findende moralische Belehrung: „sapienti® injuriam fecistis, qui in poëtarum libris aliud quam ipsam quassiuistis."172 François Marin173 zählt in einem „Discours du translateur, sur les oeuures de Pindare, a la noblesse" seiner 1617 erschienenen französischen Übersetzung

169) 1550-1615, zu ihm BURSIAN, Classische Philologie 232-234. 170) Ähnlichkeiten mit aktuellen Zuständen in der klassischen Philologie wären rein zufällig und von mir keineswegs beabsichtigt. 171) Persius 1, 113f. 172) Heinsius' Argumentation wird (teilweise im Wortlaut, jedoch ohne Verweis auf die Quelle) übernommen von Jacques Lectius in der Vorrede zu seiner 1614 erschienenen Gesamtausgabe aller nicht-hexametrischen griechischen Dichter bis in die byzantinische Zeit (54). 173) Zu ihm CIORANESCO, Bibliographie du dix-septième 2,1369.

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der Epinikien (57) die Lehren auf, die man aus Pindars Mythen ziehen kann (z. B. « Princes, & Magistrats; ici vous apprendrez / Qu'il faut que l'équité s'obserue en vos decrez »), und er gibt in den Terzetten seines Sonetts „Sur le mesme suiet" (ebd.) eine ähnliche Liste: Aymer l'honneur, la vertu, l'équité, Estre ennemy de toute impieté, Se conseruer sans reproche, & sans tare, Estre discret, ne molester aucun, Hayr l'orgueil, obliger vn chacun, Sont les leçons de mon docte Pindare. Obgleich diese Betonung des moralischen Wertes Pindars in der protestantischen Tradition am deutlichsten hervortritt, ist sie nicht auf diesen Kreis beschränkt. Auf katholischer Seite wendet sich ζ. B. die jesuitische Erziehung der Gegenreformation diesem moralischen Aspekt ebenso stark zu wie ihr protestantisches Pendant174. Die Ansicht, Pindar könne als moralischer Dichter gelesen werden, durchzieht die Renaissance ebenso kontinuierlich wie das Bild des unnachahmlichen „lyricorum princeps". Auch in der Dichtung wird die Auffassung rezipiert, aus Pindars Epinikien ließen sich moralische Lehren ziehen. So wird er in Des Autels 1553 gedrucktem Amoureux repos in dem Gedicht „De la ville des Romans. 5. Façon à Tour, retour & Enchant" bezeichnet als der « haut-sonnam Pindare, / Qui n'est de |...J vice amy ». Jean de La Péruse betont in seinen Diuerses Poesies von 1556 in der „Ode à monsieur l'Euêque de Terbes, A. d'Achon" (p. 9), in der er sich auch auf Pindar beruft, Dichter besängen nur gute Menschen und die Poesie ertrage es nicht, das Laster zu preisen.

Wenn Marin in seinem „Discours" versichert « Autant qu'il a de vers, ce sont autant d'Oracles », wenn Neander in seiner griechischen Ode Pindars ποιήματα θεια mit den Sprüchen des μάντις 'Απόλλων vergleicht 175 , dann fühlt sich sicherlich mancher heutige Leser an das einst populäre Bild Pindars als eines religiösen Dichters, als eines „Poeten und Propheten" erinnert. Zwei Gesichtspunkte scheinen mir jedoch diese Sicht entscheidend von der der Renaissance zu unterscheiden. Zum einen sollte man beachten, daß in den zitierten Texten der Schwerpunkt stets auf dem Effekt liegt, den Pindars Gedichte auf den Leser haben: Sie spornen ihn dazu an, tugendhaft zu sein und die vom Dichter gepriesenen Leistungen nachzuahmen. Anders gesagt: Das Hauptinteresse der Renaissance liegt auf der Moral des Rezipienten, nicht auf der 174) Vgl. KLUGE, „Griechische Studien" 36-38; GARIN, Educazione in Europa 203-207 und JEHASSE, Renaissance de la critique 55-57. 175) S. oben S. 115.

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Religiosität des Poeten. Im Gegensatz dazu behauptete die spätere (romantisch beeinflußte) Deutung, der Dichter selbst sei tiefreligiös, und berief sich dabei auf „Selbstzeugnisse" wie Ol. 1, 35. 52f. und 9, 35-39176. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Deutung, die Lonicer der berühmten Bienenepisode gibt177: Für ihn ist der Honig ein Symbol für die Reinheit der Dichtung, nicht des Dichters. Wo die Renaissance in ihrer Interpretationspraxis nach dem moralisch-religiösen Gehalt der Epinikien fragt, da versteht sie diese Religiosität nicht als Ausdruck einer individuellen Seele, die in ihren Gedichten sich selber ausspricht, sondern weist auf den öffentlichen Charakter und die öffentliche Funktion dieser Religion hin. Andererseits müssen wir sehen, daß auch in der Renaissance der moralische Nutzen nicht der einzige Zweck der Pindarlektüre ist: Von vornherein finden wir andere, deutlicher „humanistische" Argumente eng mit diesem Nutzen verbunden. Schon Zwingli selbst stellt den moralischen Vorzügen der Epinikien ihre reiche „eruditio"178 zur Seite und gibt eine Aufzählung ihrer rhetorischen Tugenden: Quis cultus similiü ac dißimiliü? quanta eorum ubertas? quanta translationum uis? quàm proprius earum usus? quàm in loco semper adsunt? Sententiarü uero quàm anxia cura ne uspiam desint? quae harum est cum auctoritate coniuncta familiaritas, καί το έπιεικές?* Ebenso betont Lonicer in der Vorrede zu seiner ersten Auflage, die Jugend solle nicht nur die moralischen, sondern auch die stilistischen Vorzüge der Epinikien nachahmen; dies sei nützlich für „declamationes": „Continent enim in uniuersum ij certaminü hymni aliud nihil, atq; genus laudis έπιδεικττικόν." Und ähnlich lobt er in seinem „Pindari encomium" den rhetorischen Schmuck der Oden, die „Schemata", „Tropi", „Comparationes", „Allegoria;" und „Metaphorae". Selbst Neander stellt in seiner Aristologia dem moralischen diesen rhetorischen Nutzen zur Seite, wenn er erklärt, sein Buch solle schon für Anfänger der griechischen Sprache verständlich sein, damit sie mit „lectissimi flosculi" ihre Rede schmücken können. Und Peucer führt neben den moralischen Lehren auch einen rein „humanistischen" Grund für die Pindarlektüre an: Er erzähle die „historiae" der Griechen (womit wohl vor allem die mythischen Partien gemeint sind179), „Legatur ergo Pindarus propter ueterem historiam". 176) S. oben S. 39f. 177) S. oben S. 112. 178) Diesen Begriff Zwingiis definiert SCHMITT, „Pindar und Zwingli" 307 zutreffend so: ,ßruditio ist [...] zu verstehen als Ausdruck einer anspruchsvollen, nicht ohne weiteres verständlichen und nicht jedem zugänglichen Sprache [...]." 179) Peucer gibt eine Aufzählung davon: „Pindarus magnam partem ueteris Graecas historiae récitât, Pelopidas, Argonautas, Aeacidas [...]."

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Besonders deutlich sehen wir dieses Nebeneinander von moralischem und „humanistischem" Nutzen in der Praefatio an Henri III in der zweiten Auflage von Le Sueurs Übersetzung (34 und 35): Le Sueur gibt zwei Gründe an, warum er Pindar ins Lateinische übertragen habe: partim quòd in his libris veterum Heroum insignia cuncta facinora virtutésque ad imitandum propositas & vtilia pleraque vitas praecepta contineri videbam: partim quòd huius authoris grauissimi stylum sententiarum sublimitate rerúmque antiquitate inobscuratum, atque ideo ab illius cognitione iucundissima plures abalienatos intelligebam. In Erasmus Schmids „ΠΡΟΓΡΑΜΜΑ qvo ad auscultationem enarrationis Pindarics studiosa iuventus invitabatur" (im ersten Band seiner Ausgabe, 56) schließlich überflügelt das rein humanistische Argument der Wissenserweiterung den moralischen Nutzen und wird zum Hauptgrund für die Pindarlektüre: ,At, fructus qvis ad te rediturus sit qvaeris? Inter multíplices pnecipuus hic & maximus, Eruditionis nimirum Graecae accessio locuples [...]." Obwohl die Forschung der letzten Jahrzehnte gezeigt hat, daß der Humanismus keineswegs eine antikirchliche oder gar antireligiöse Bewegung war180, wird sich manchem modernen Leser angesichts dieses Nebeneinanders von rhetorisch-humanistischer und moralischer Nutzanwendung doch die Frage aufdrängen, inwieweit diese Beteuerungen des moralischen Wertes antiker Dichtung aufrichtig sind. Bei einem Zwingli oder Melanchthon glauben wir gern, daß sie Pindar vor allem um seiner moralischen Lehren willen lesen, aber wie sieht es bei all den anderen Philologen aus? Sind sie vielleicht „reine" Humanisten, die in erster Linie an ihren antiken Texten interessiert sind und ihnen nur aus Werbungs- und Vorsichtsgründen ein moralisch-religiöses Deckmäntelchen umhängen 181 ? Selbst wenn wir mehr Zeugnisse über diese Männer hätten, könnten wir, so glaube ich, die Frage nicht eindeutig beantworten: Seit der ersten Stunde des Humanismus geht die Lektüre antiker Autoren mit den Zielen einer neuen Erziehung Hand in Hand. Die Überzeugung, daß uns diese Lektüre

180) Das Bild des „atheistischen Humanisten" wurde von einigen Forschern des letzten Jahrhunderts vor allem aus BURCKHARDTS 1860 zum ersten Mal erschienener Kultur der Renaissance gezogen, wobei sie dessen Darstellung zum Teil gewaltsam einseitig auffaßten; eine Gegenbewegung deutele dann den Humanismus als ausgesprochen religiöses Phänomen, als besonders einflußreich ist im französischen Sprachraum FEBVRE, Problême de Γ incroyance von 1942 zu nennen; vgl. für den gesamten Problemkreis die zusammenfassenden Darstellungen bei KRISTELLER, Humanismus und Renaissance 1,69-83. 127; BUCK, „Stand der Renaissanceforschung" 33-38 und MARGOLIN, Humanisme en Europe 63-80: Der Humanismus läßt sich nicht auf eine dieser Positionen reduzieren, sondern enthält Elemente aus beiden. 181) Ähnlichkeiten mit aktuellen Zuständen in der „Krise der Geisteswissenschaften", in der plötzlich jede geisteswissenschaftliche Tätigkeit für sich beansprucht, dem „Prinzip Verantwortung" zu dienen, wären wiederum rein zufällig.

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nicht nur zu klügeren, sondern auch besseren Menschen machen wird, steht im Zentrum des humanistischen Glaubens. Auch hier können wir wieder auf ein Anknüpfen an Traditionen der Antike verweisen: Schon für Isokrates war Rhetorik ein Instrument der Vervollkommnung des Menschen, der rechte Gebrauch des Wortes ein Zeichen auch für Redlichkeit182. Angesichts dieser Tradition die Betonung stilistischer Vorzüge in den Oden Pindars gegen die moralische Interpretation auszuspielen wäre anachronistisch: Für die Renaissance sind beide untrennbar miteinander verbunden - und dies ist ein weiterer Unterschied zu jüngeren Interpretationen, die einen „religiösen" Inhalt in Pindars Gedichten suchen: Sie gehen davon aus, daß hinter der äußeren poetischen Form ein tieferer, „wahrerer" Gehalt verborgen ist, den zu entdecken wichtigste Aufgabe des Interpreten sei und der uns die wahren Überzeugungen des Menschen Pindar offenbare. Die Leser Pindars in der Renaissance aber waren weit davon entfernt, diesem chimärischen Gegensatz von Form und Inhalt, von Äußerem und Innerem nachzujagen, wie ich zu zeigen versucht habe.

5 Wenden wir uns schließlich dem letzten unserer drei Faktoren zu, den antiken Scholien; sie werden uns auch von den bisher besprochenen Materialien näher zur konkreten philologischen Arbeit der Renaissance an Pindars Gedichten bringen. Ein Leser dieser Epoche, der einem Pindartext ohne jedes Hilfsmittel gegenübertrat (wie ihn ζ. B. die editio princeps bot), dürfte in mancher Hinsicht vor Rätseln gestanden haben, und die Scholien enthielten viel Material, das der Renaissance zum Verständnis dieser schwierigen Texte willkommen sein mußte. Nachdem Calliergis 183 Ausgabe von 1515 (2) zum ersten Mal diese antiken Kommentare enthalten hatte, finden wir in den meisten Ausgaben und Übersetzungen zumindest Teile aus dieser Tradition: Abschnitte über Pindars Leben aus den in vielen Manuskripten den Scholien vorangestellten Viten und anderen antiken Quellen, Erklärungen der Metra seiner Oden, Informationen über die panhellenischen Spiele. Und wir können sicher sein, daß auch die Erklärungen des Textes selbst von jedem sorgfältig gelesen wurden, der die Epinikien im griechischen Original studierte. 182) Vgl. z. B. or. 3, 7 = 15, 255 το γαρ λέγειν ώς δει του φρονείν εν> μέγιστον σημείον ποιούμεθα, καί λόγος αληθής καί νόμιμος καί δίκαιος ψυχής αγαθής καί πιστής εϊδωλόν έστιν und dazu JAEGER, Paideia 3, 150-153 und BURK, Pädagogik des Isokrates 119-121; ferner Stellen wie or. 2, 38; 4, 47-49. MARROU, Histoire de l'éducation 1, 139 bringt diese von Isokrates ausgehende Tradition auf den Punkt in der Formulierung: « Dans la pensée et dans l'enseignement de celui-ci [d'Isocrate], forme et fond apparaissent inséparables. » 183) Zu ihm vgl. Contemporaries of Erasmus 1,244f. und Graecogermania 75-92.

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Über den historischen Wert des in den antiken Viten überlieferten Materials ist schon oben (S. 27f.) das Nötige gesagt. Bevor wir uns jetzt dessen Rezeption in der Renaissance zuwenden, seien noch einmal kurz die verschiedenen Quellen vorgestellt. In den verschiedenen Zweigen der handschrifdichen Tradition finden wir drei Versionen einer Pindarbiographie: In der Handschrift A die sogenannte vita Ambrosiana, in den anderen Handschriften die vita Thomana und in einigen von ihnen außerdem noch eine Biographie in Hexametern, die sogenannte vita metrica. Außer diesen dreien muß als wichtige Quelle noch das byzantinische Lexikon Suda angesprochen werden, das in seinen Artikeln Π ί ν δ α ρ ο ς und Περί Πινδάρου Informationen über Pindar enthält184. Neben den Pseudofakten über Pindars Familie, seine Lehrer usw. enthalten alle diese Viten umfangreiches legendenhaftes Material, das in der Renaissance eifrig rezipiert wurde. In der vita Ambrosiana

und der metrica finden wir die

Legende, Bienen hätten in Pindars Mund ihren Honig gesammelt, als dieser im Kindesalter auf dem Helikon eingeschlafen sei185. In allen drei Viten wird Pindars Frömmigkeit und seine besonderes Verhältnis zu den Göttern betont, vor allem zu Demeter, Pan und Apollon, für die er jeweils Gedichte geschrieben habe, vgl. vita Ambrosiana:

ήν δέ οΰ μόνον ευφυής ποιητής, ά λ λ α και

άνθρωπος θεοφιλής; ein Punkt, der für die frommen Pindarleser der Renaissance interessant war. Über seinen Tod weiß die Suda zu berichten, Pindar habe um „das Schönste im Menschenleben" gebeten und sei daraufhin im Theater in den Armen seines Geliebten Theoxenos gestorben186. Schließlich ist noch die Anekdote erwähnenswert, bei einer Zerstörung der Stadt Theben in späterer Zeit sei einzig das Haus Pindars verschont worden187.

184) Aus dem 1961 veröffentlichten P. Oxy. 2438 ist uns eine weitere Pindarbiographie bekannt, die die Renaissance natürlich noch nicht kennen konnte. 185) Außerdem noch überliefert bei D i o Chrysostomos, or. 64, 23; Philostrat, Im. 2, 12; Pausanias 9, 23, 2 und AP. 2, 385-387; API. 16, 305, 3f. Bei Aelian, VH 12, 45; Cicero, diu. 1, 78; 2, 66 und anderswo wird dieselbe Geschichte von Piaton erzählt, diese Fassung hält WILAMOWTTZ, Pindaros 58 Anm. 3 für das Original; ebenso wird diese Legende auch über Sophokles, Virgil und Lucan berichtet, vgl. den kurzen, aber sehr materialreichen Aufsatz O P E L T S , „Bienenwunder" sowie L E F K O W I T Z , Lives of the Greek Poets 59 und SLATER, „Pindar's House" 149. 186) Diese Legende scheint einmal mehr auf einer Interpretation eines Textes als autobiographischem Zeugnis zu beruhen: Aus dem irrealen Gedichtanfang des Enkomions auf Theoxenos (frg. 123) Χρην μέν κ α τ ά κ α ι ρ ό ν ε ρ ώ τ ω ν δ ρ έ π ε σ θ α ι , θυμέ, σ υ ν ά λ ι κ ί α (ein Topos, vgl. NISBET/ HUBBARD, Horace Odes 1 122) und der ersten Person in dem kräftigen ά λ λ ' ε γ ώ (10) schlossen die antiken Erklärer wohl, Pindar habe sich erst im Alter in den Adressaten verliebt. Daß der laudator in einem Enkomion auf einen jungen Mann in den laudandus verliebt zu sein erklärt, ist aber ein konventionelles Motiv dieser Literaturgattung, vgl. V O N DER MÜHLL, Ausgewählte Kleine Schriften 236. 187) In der Suda und der vita metrica wird diese Tat Alexander zugeschrieben, in der vita Ambrosiana dem Spartanerkönig Pausanias, in der vita Thomana schließlich werden beide Versionen erwähnt.

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Daß auch die Renaissance möglichst viel über das Leben eines so renommierten Dichters wie Pindar wissen wollte, ist einleuchtend: Diese Epoche versucht nicht nur, die antiken Texte zu verstehen, sondern auch, durch sie hindurch die lebendigen Menschen zu greifen, die diese Texte schrieben188. Eine plastische Illustration für diese Haltung ist die bekannte Anekdote über Niccolò Macchiavelli, der abends seine besten Kleider anlegte, wenn er mit den großen Männern der Vergangenheit Umgang pflegte189; ebenso kann man Petrarca erwähnen, der, als Manuskripte Homers und Piatons in seinen Besitz kommen, in einem Brief seinen Stolz ausdrückt, solch erlauchte Gäste unter seinem Dach zu haben (fam. 18, 2, 12 „Quis tantis non gaudeat et glorietur hospitibus" 190 ). So finden wir denn die erwähnten Legenden über Pindars Leben immer wieder nacherzählt, wofür ich einige Beispiele anführen möchte. Schon Aldus druckt 1513 die vita Thomana und den Artikel aus der Suda ab, und Versionen dieser antiken Biographien finden sich vor den Ausgaben ebenso häufig wie Horazens Pindarode. Lonicer erzählt in seinem „Pindari encomium" (in 9) das Leben Pindars nach der vita Thomana und dem Abschnitt über Pindar in Philostrats Imagines (2,12). Majoragio gibt in seiner „Praefatio" von 1550 (16) alle biographischen Legenden wieder. Die gewiß vollständigste Sammlung all dieser biographischen Informationen finden wir im Abschnitt über Pindar des neunten Dialogs von Lilio Gregorio Giraldis191 zuerst 1545 gedruckter Historia poetarum tarn Grcecorum quam Latinorum (p. 996-1003). Große Verbreitung fand dieser Abschnitt dadurch, daß er als Beigabe in Estiennes Pindarausgabe (zuerst 1560, 24, und die Nachdrucke 29. 31. 38. 41. 45. 46. 48. 52. 62 und 63) häufig wiederabgedruckt wurde. Giraldi zeigt sich darin als sorgfältiger Wissenschaftler: Die in Dialogform dargebotene Lebensbeschreibung zieht alles verfügbare Material heran und nennt auch die Quellen (außer den Viten und der Suda werden vor allem noch Pausanias, 188) Davon zeugt die Beliebtheit der Biographie als literarisches Genos während der Renaissance, vgl. KRISTELLER, Humanismus und Renaissance 2, 20. 189) Wie er selbst in einem Brief vom 10. 12. 1513 an Francesco Vettori berichtet, Opere 1111. 190) Vgl. SANDYS, History of Classical Scholarship 2 , 9 und VOIGT, Wiederbelebung des Altertums 1,49. Auch für Ronsard sind die antiken Schriftsteller in einer „Elegie" aus den Œuvres von 1584 « Aristote ou Platon, ou le docte Euripide / Mes bons hostes muets, qui ne faschent jamais » (OC 18, 33). Ein ähnliches Motiv ist schon in der Antike nachweisbar bei Plutarch, der Aem. 1, 2 über die Arbeit an seinen Viten sagt, er glaube das Erzählte selbst mitzuerleben, οταν ώσπερ έπιξενούμενον εκαστον αύτών έν μέρει δια της ιστορίας υποδεχόμενοι και παραλαμβάνοντες άναθεωρώμεν ,,δσσος εην οΐός τε". 191) 1479-1562. Von ihm berichtet Montaigne in seinen Essais (OC 106): « J'entends, avec une grande honte de notre siècle, qu'à notre vue deux très excellents presonnages en savoir sont morts en état de n'avoir pas leur soûl à manger : Lilius Gregorius Giraldus en Italie, et Sebastianus Castalio en Allemagne [...]. » Zu seiner Historia vgl. IJSEWIJN, Companion to Neo-Latin Studies 23 mit Anm. 1.

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Philostrat, Valerius Maximus und Athenaios aufgeführt). Neben eine kritische Diskussion um die Namen seiner Eltern und Lehrer (p. 997f.) tritt aber auch bei Giraldi eine Wiedergabe des oben genannten legendären Materials. Rezipiert werden diese Informationen auch in der französischen Dichtung: Die Bienenlegende wird dem „Pindare françoys" Ronsard von Florent Chresüen in seiner Seconde Response von 1563 höhnisch vorgehalten192 (Polémique protestante 2, 336) Tu enfles ton gosier, pensant estre en la France Seul à qui Apollon a vendu sa science, Ou que dés le berceau les abeilles du ciel Sur toy, comme à Pindare, ont distillé leur miel. Auch die Angaben der Viten und anderer antiker Quellen über Pindars Aufenthalt am Hofe Hierons werden in der Dichtung rezipiert: Du Préau führt in der Vorrede an Jacques d'Happlaincourt zu seiner Übersetzung der Histoire de la guerre saínete von 1573 neben anderen auch Hieron als Beispiel für einen Herrscher an, der die Poesie in hohen Ehren hielt (f. äijr): Hieron Roy de Syracuse, homme grand amateur des lettres & lettrez, eut toute sa vie les poetes Lyriques Simonides, Pindare, & Bacchydes en telle estime & amitié, qu'il ne pouuoit estre sans leur compagnie : desquels aussi la familiarité & accointance ne luy apporta pas peu de profit. Car estant vne fois tombé en vne griefue & longue maladie, dont il deuint tout sec & etique, en fut deliuré par les playsans propos & deuis de ces poètes. Die Angabe über Hierons Krankheit und den Effekt der Dichtung auf ihn könnte auf die Informationen der Scholien zu Pyth. 3 zurückgehen193, doch sind hier andere Quellen (z. B. Aelian, VH 4, 15) ebenso möglich. Auf die Interpretation der Scholien scheint es auch zurückzugehen, wenn Ronsard in seinen Quatre premiers liures des Odes zwei Oden an François de Carnavalet einfügt, deren erste drei Triaden umfaßt, die kürzere zweite, nichttriadische aber mit „Vsure a luimesme" überschrieben ist (OC 1, 99). Ronsard ahmt hier offenbar Ol. 10 und 11 nach: Die zweite Ode wurde von den Scholien

192) Außer bei Chrestien wird die Legende (allerdings ohne ausdrücklichen Bezug auf Pindar) noch erwähnt bei Pierre Enoc, Opuscules f. Eir (1577); in einer pièce liminaire Olivier de Manares für die Opuscules Antoine de Blondeis, p. 221 (1576, zu Manare Dictionnaire des lettres françaises XVIe 476) und in François Auffrays Tragico-medie morale p. 8 (1615; zu Auffray, t 1652, Dictionnaire des lettres françaises XVIIe 112 und VIER, „Poètes bretons" 551). 193) Inscr. a und b, schol. Pyth. 3, 111 b. 117. 141 a. b. 158 b; vgl. auch schol. Pyth. 1, 89 a. b; vgl. zu dieser Legende FRANKEL, Dichtung und Philosophie 527 mit Anm. 42.

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aufgrund ihrer Interpretation von Ol. 10, 9 ομως δε λΰσαι δυνατός όξείαν έπιμομφάν τόκος Ι θ ν α τ ώ ν als „Zins" der ersten aufgefaßt 194 , und diese Interpretation fand ihren Weg auch in die Ausgaben der Renaissance. Ronsard könnte sie dort gefunden haben, oder er hatte diese Auffassung in den Vorlesungen seines Lehrers Dorat über Pindar gehört. Ähnlich sehen wir die biographischen Interpretationen der Scholien verwertet in einem Sonett der Premieres œuures Jean de La Jessées (37,1583, p. 79): [...] Pindare osa bien se nommer Poëte naturel, & vainqueur deprimer Ses hayneus assistez du seul art miserable. Ainsi voyant des leurs differer ses chantz beaus, Se donna le nom d'Aigle, & les nomma Corbeaus : Comme s'ils croässoyent par la science aprise. Puisse vn instint nayf m'ayder heureusement ! L'Aigle i'imiteray, non le croässement De ceus-la que si peu Nature fauorise.* Ohne Zögern übernimmt La Jessée hier die Angabe der Scholien, die berühmte Passage Ol. 2, 86-88 beziehe sich auf Pindars Dichterkollegen195: σοφός ό πολλά είδώς φυα· μαθόντες δέ λάβροι παγγλωσσία κόρακες ώς ακραντα γαρυέτων Διός προς όρνιχα θείον, vgl. die ähnliche Symbolik in Nem. 3, 80-82: εστι δ ' αίετός ώκυς έν ποτανοΐς, ο ς ελαβεν αίψα, τηλόθε μεταμαιόμενος, δαφοινόν αγραν ποσίνκραγέται δέ κολοιοι ταπεινά νέμονται. Obwohl La Jessée die biographische Interpretation der Passage akzeptiert, gibt er nicht, wie die Scholien, die Namen Simonides und Bakchylides für diese neidischen Kollegen an196 - was Ronsard schon getan hatte, allerdings ohne 194) Vgl. schol. Ol. 11 inscr. τώ αύτώ τόκος, zu dieser ganzen Tradition BUNDY, Studia Pindarica 1,1. 195) S. dazu unten S. 24If. 196) Schol. Ol. 2, 154 c. 157 a. 158 c. d; andere Stellen, an denen die Scholien in Pindars Gedichten Anspielungen auf diese beiden Dichter sehen: schol. Pyth. 2 , 1 6 3 b. 166 d. 171 c. d; Nem. 3, 143; 4, 60 b; Isth. 2, 9 a. b. 15 a. In der französischen Renaissance wird diese Interpretation in den meisten Kommentaren zur Stelle vertreten, so z. B. in der Prosaparaphrase Molthers (6), f. B3 r („Bacchilidem & Simonidem asmulos intelligit"); vgl. ferner z. B. Bernard Martin, Variae lecliones f. 28r.

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direkten Bezug auf Ol. 2. In dem Brief „Au lecteur" seiner ersten Odensammlung von 1550 spricht er von den neidischen Dichterkollegen seiner eigenen Zeit („Sciamaches"), die nicht bereit sind, für die französische Sprache Partei zu ergreifen (OC 1,49): Mais que doit-on esperer d'eus ? lesquels étants paruenus plus par l'opinion, peut estre, que par raison, ne font trouuer bon aus princes sinon ce qu'il leur plaist : & ne pouuants souffrir que la clarté brusle leur ignorance, en médisant des labeurs d'autrui deçoiuent le naturel jugement des hommes abusés par leurs mines. Tel fut jadis Bacchylide à l'entour d'Hieron Roi de Sicile tant notté par les vers de Pindare [...]. In dem Gedicht „A Madame Marguerite" seines 1552 erschienenen fünften Odenbuches wird im selben Zusammenhang Simonides erwähnt (OC 3, 112): Mainte Ode d'vn ply difficile Rescriuit [Pindare] au Roy de Sicile, Où les broquars injurieux De Simonide son contraire, L'ont moqué, comme chez ton frere M'ont moqué ceulx des enuieux. Wie schattenhaft diese Informationen für die Renaissance blieben, zeigt die Tatsache, daß Ronsard in allen späteren Ausgaben den Namen „Simonide" durch „Bacchilide" ersetzte: Da er von dem einen genau so wenig wußte wie von dem anderen, sind die Namen für ihn beliebig austauschbar. Kurz erwähnt habe ich schon 197 , daß auch eine andere in der antiken Tradition erwähnte „Rivalität" Pindars von der Renaissance rezipiert wurde, gemeint ist der u. a. in der Suda, bei Pausanias 9, 22, 3 und Plutarch, Moralia 347 F erwähnte Wettstreit mit der boiotischen Dichterin Korinna. Deren zeitliche Einordnung ist bis heute umstritten, wenn auch neuerdings eine Mehrheit der Forscher dahin neigt, sie in die alexandrinische Zeit zu setzen" 8 ; die angebliche Konkurrenz zu Pindar aber sieht man heute wohl übereinstimmend als literarhistorische Fiktion. Die Dichter der Renaissance hingegen standen auch hier ihren antiken Quellen unkritischer gegenüber, und wir finden diesen Wettstreit und die fünf Niederlagen (in der Suda und bei Aelian VH 13, 25; bei Pausanias ist nur eine Niederlage erwähnt) Pindars ihr gegenüber mehrfach erwähnt, so in Frankreich schon 1533 in Guillaume Télins 199 Bref sommaire. Dort werden in einem Gedicht „La louêge de Musique. H Epistre de Guillaume 197) S. 99. 198) Vgl. besonders SEGAL, „Pebbles in Golden Urns" mit der älteren Literatur. 199) t 1550, zu ihm Dictionnaire des lettres françaises XVIe 660f. und CIORANESCO, Bibliographie du seizième 659.

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telin adresant a tous les Musiciens / & Joueurs dinstrumentz" die neun griechischen Lyriker aufgezählt, und von Pindar heißt es (f. lxviivf.): De tous ceulx cy fut Pindarus le maistre I Ce neantmoins que les dieux firent naistre Durant son temps Corynus [sic!] bien harpant Tant quon loyoit plus loing que dung harpant Et ceste cy par deux fois tant monta Sus ses accordz quelle le surmonta.* Als letztes Beispiel für dieses Interesse am Leben des Dichters zitiere ich François Marin: Er beendet die Einleitung zu seiner französischen Übersetzung von 1617 (57) mit einem Abschnitt « Pourquoy Pindare diuise ses odes par strophes, Antistrophes, & Epodes », dessen letzter Satz lautet: « Pour sa vie, elle a esté honorable : & sa mort a esté telle qu'il l'a desiree, Voyez Suidas. » Die prominente Stellung dieses lapidaren Satzes, ganz am Schluß der Einleitung, unterstreicht, wie wichtig für Marin und seine Zeitgenossen solche Informationen waren. Auch hier müssen wir allerdings wieder, wie bei der Behandlung des ,religiösen" Aspektes, vorschnelle Urteile vermeiden: Trotz diesem Wunsch, den ganzen Menschen Pindar in Dichtung und Leben zu greifen, ließ sich die Renaissance anscheinend nicht zu den Exzessen der biographischen Pindardeutung verführen, die in der Wissenschaft des neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts eine so traurige Rolle spielen. Nirgendwo finden wir den Versuch, aus seinen Dichtungen heraus seine Biographie zu schreiben, nirgendwo Spekulationen über persönliche Anliegen in den Epinikien. Als letztes zu behandeln bleiben die Angaben der Scholien über Metrik. Es ist bekannt, daß schon die Alexandriner keine präzisen Vorstellungen mehr von der Natur der pindarischen Metren hatten, und die Renaissance, die sich ganz auf das in den spätantiken Handbüchern überlieferte Wissen verließ (editio princeps des Kompendiums aus Hephaistion 1526 in Florenz), kam hier zu keinem besseren Verständnis. Pindars Perioden werden in den Ausgaben der Renaissance in eine Reihe kurzer Kola aufgebrochen, die man mit Hilfe der verschiedenen bekannten griechischen Versfüße zu erklären versucht, genau wie in den antiken metrischen Scholien200. Ein gutes Beispiel für diese Behandlung gibt René Guillons201 Abhandlung De generibus carminum graecorum (1548 und 1560, 14 und 26), deren Erklärungen aus den Angaben der metrischen

200) Zur antiken Kolomclric und zum Wert der metrischen Erklärungen der Scholien vgl. IRIGOIN, Scholies métriques 17-21 und TESSIER, „Demetrio Triclinio". 201) 1500-1570, Schüler Budés, zu ihm Dictionnaire des lettres françaises XVIe 369 und CIORANESCO, Bibliographie du seizième 357f.

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Scholien geschöpft sind, wie Guillon in seinem Widmungsbrief selbst darlegt (p. 3): Lodoi'cus Marius à Matha, der Adressat des Briefes, habe ihn gedrängt, „vt tabulas illas emitterem, quas sciebas me de singulis versibus, cum aliorum Poëtarû tum Pindaricis potißimum, post Hypomnematistas, metiendis scriptitasse". Da man die pindarischen Strophenformen so aus mit einer gewissen Beliebigkeit kombinierten Versen zusammengesetzt dachte, war die allgemeine Lehre für die Abfassung moderner odes pindariques, bei der Komposition der Strophen und Epoden habe man völlige Freiheit, müsse das einmal gewählte Schema aber konsequent beibehalten. Zu dieser Sicht über die Freiheit, ja Willkürlichkeit einer pindarischen Ode haben sicherlich auch Horazens Worte carm. 4, 2, 1 lf. „numeris [...] lege solutis" beigetragen; sie scheint die später (z. B. im deutschen Sturm und Drang) aufkommende Auffassung von Pindars „freien Rhythmen" vorzubereiten: So rechtfertigt Lonicer in der zweiten Auflage seiner Übersetzung (1535), warum er Pindar in Prosa übertragen habe: Pindars Verse seien schwer nachzuahmen, und überhaupt würden sie erst durch die (jetzt verlorene) Musikbegleitung zu Versen: „nisi tibicen accesserit, orationi sunt solutae simillimi." Demgegenüber betont Minturno in seiner Schrift De poeta (23, 1559, p. 397) die strenge Regelhaftigkeit der pindarischen Triade: „Quis enim lege carmen illud epodicum carere putauerit, quod ordine tarn mirando compositum eodem semper modo tripartitum est?" An seine Ausführungen über die Struktur der Triade schließt Minturno die Vermutung an, Pindars Dithyramben seien vielleicht wirklich „lege soluti" gewesen; dieselbe Vermutung hatte zwei Jahre zuvor auch schon Pierre Ramus in seinem Kommentar zu Ciceros kleiner Schrift De optimo genere oratorum geäußert: Ramus zitiert dort f. 2 v -4 r zum Lemma „dithyrambici" (opt. gen. 1 ) den bei Dionysios von Halikarnaß (Comp. 99, 7-100, 9) überlieferten Beginn eines pindarischen Dithyrambos (frg. 75) und eine eigens für ihn von Dorat angefertigte lateinische Übersetzung dieses Gedichtes, um seinen Lesern einen Eindruck davon zu vermitteln, was ein Dithyrambus sei; im anschließenden Kommentar vermutet er, Freiheiten in der Versfügung der Dithyramben hätten zu Horazens Formulierung „numeris lege solutis" geführt202.

202) Daß der Dithyrambus „licentior et diuitior" gewesen sei, sagt Cicero, de orat. 3 , 1 8 5 (vgl. auch Dionysios von Halikarnaß, Comp. 85, 18-86, 7). Inwieweit dies schon auf Pindars Dithyramben bezogen werden kann und Horazens Worte auf Pindars gesamtes Schaffen übertragen, was nur für einen einzelnen Bereich gilt, ist ein vieldiskutiertes Problem, vgl. die ausführliche Diskussion der Lösungsvorschläge und der Schwierigkeiten bei FREIS, „Catalogue of Pindaric Genres" 30f. Anm. 7. Das Fehlen strophischer Responsion jedenfalls ist für Pindar nicht anzunehmen und erst für den sogenannten „neuen Dithyrambos" (vgl. dazu LESKY, Geschichte der griechischen Literatur 466-471) bezeugt (wenn mir auch nicht, wie häufig

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Zusätzlich zu den eigentlichen metrischen Scholien enthalten einige mittelalterliche Manuskripte auch eine Reihe kleinere Abhandlungen allgemeinerer Art über Pindars Metren203. Unter anderem werden hier die Bezeichnungen Strophe, Antistrophos und Epode mit den Tanzbewegungen des Chores erklärt, und die Renaissance, die seit Calliergis Edition diese Abhandlungen kennt, übernimmt diese Erklärung. Übernommen wird teilweise auch die dort gegebene kosmologische Spekulation über den Grund der Rechts- bzw. Linksdrehung des Chores bei der Strophe und Antistrophos, so ζ. B. bei Guillon (p. 13f.): Tragici, Comici & Lyrici poëtç (quod est memoratu dignissimum) in suis poëmatibus vtebâtur strophe, antistrophe, & epodo. Strophe quidê quoniâ à dextris vertebâtur in partes sinistrasi cui versioni respödet proportione, motus vniuersi q fit ab oriëte in occidente: antistrophe côtrà quoniä mouebätur à sinistris ad dexterä, cui ^-pportione respödet planetarü motus, q fit ab occidète in oriente. Epodo vero, quoniä stabant vno in loco I & recitabant carmina, cui proportione respondet immotç status terrç. Da Guillon sich im Widmungsbrief seines Buches ausdrücklich auf die Scholien als Quelle für seine metrischen Analysen beruft, liegt es nahe, auch diese Erklärung der Triadenstruktur auf die metrischen Abhandlungen der Scholien zurückzuführen (überliefert war sie auch bei Macrobius, somn. 2, 3, 1; diese Passage wird von Jacques Peletier du Mans in seinem Art poétique von 1555 zitiert204). Außer Peletier und Guillon erwähnen diese Spekulation noch Negri in seiner „Praefatio" von 1521 (4), Louis Le Carón in seinem Dialogue „Ronsard, ou de la Poesie" von 1556 (281f.; hier werden auch Teile aus der platonischen205 Theorie von der Sphärenharmonie verarbeitet) und Minturno in seinem Werk De poeta von 1559 (23, p. 391). Um die griechischen Benennungen der einzelnen Teile der pindarischen Ode 2 0 6 entbrennt in Frankreich bald nach der Veröffentlichung von Ronsards Odes 1550 eine heftige Polemik 2 0 7 . Wohl um den „pindarischen" Charakter seiner Oden zu betonen (und ihnen gleichzeitig einen gelehrten, fremdartigen Anstrich zu geben), läßt Ronsard die Namen der Triadenteile zwischen

behauptet, Aristoteles, Rh. 1409 b 26-29 eindeutig zu belegen scheint, daß Melanippides diese Neuerung eingeführt hai)· 203) Bei DRACHMANN 3, 306-311 ; vgl. dazu IRIGOIN, Scholies métriques 55f. 204) S. unten S. 167. 205) Vgl. Rep. 616 e-617 c und Ti. 36 c-d. 206) Zu den noch heute geläufigen Termini muß noch das Wort είδος hinzugezogen werden, mit dem in der Renaissance die Ode bezeichnet wird, vgl. beispielsweise die Erklärung im Kommentar des Aretius (40), p. 19: „Poëmata sua [...] είδος apellat, quale diminutiuum apud Theocritum habuimus, qui idillia vocat parua πονημάτια: sic Vergilius suas Ecglogas, & inde Horatius Odas. Nota est dictio dialecticis είδος pro specie, sed hîc poematiö lyricü dicitur, idë ferè quod oda vel hymn 9 ." 207) Vgl. LEBÈGUE, Poésie française 1, 20f.

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den einzelnen Strophen abdrucken, vertröstet aber den Leser in seinem Brief „Au lecteur" für eine Erklärung dieser griechischen Namen auf die Zukunft (OC 1,46f.): le ne te dirai point à present que signifie Strophe, Antistrophe, Epode (laquelle est tousiours differente du Strophe & Antistrophe de nombre, ou de rime) ne quelle estoit la lire, ses coudes, ou ses cornes [...]. le reserue tout ce discours à un meilleur loisir. Daß gerade diese griechischen Bezeichnungen den Zorn der literarischen Gegner Ronsards erregten, bezeugt Binet in seiner nach Ronsards Tod 1585 veröffentlichten Vie de P. de Ronsard: Ronsards Kritiker, schreibt Binet (18), disoient que ses escrits estoient pleins de vanterie, d'obscurité, et de nouueauté, et le renuoioient bien loing auec ses Odes Pindariques, Strophes et Antistrophes, lournans toutes choses en risée, dont est venu mesmes le prouerbe, quand quelqu'vn s'escoute parler et quand quelqu'vn veut farder et mignarder son langage, ou escrire d'vn stile obscur ou nouueau et non accoustumé, ou mesmes affecté, de dire : Il veut Pindariser. Schon 1550, also noch im Jahr der Veröffentlichung der Odes, wurde Ronsard gleich zweimal angegriffen: Zunächst von dem protestantischen Dichter Théodore de Bèze im Vorwort zu seiner Tragödie Sacrifice d'Abraham, in dem er im allgemeinen beklagt, daß sich so viele junge Dichter dem frivolen Spiel mit der antiken Dichtung hingeben, statt religiöse Poesie an den wahren Gott zu verfassen 208 , und sich besonders gegen die Arroganz von Ronsards Oden wendet, ohne allerdings seinen Namen zu nennen (WEINBERG, Critical Prefaces 151): [Je] n'ay vsé de strophes, antistrophes, epirrhemes, parecbases, ni autres tels mots qui ne seruent que d'espouuanter les simples gens, puisque l'vsage de telles choses est aboli et n'est de soy tant recommandable qu'on se doiue tormenter à le remettre sus. Wenn Bèze hier den Gebrauch solcher mittlerweile veralteter Bezeichnungen angreift, so ist doch auch gleichzeitig der Wunsch spürbar, sich von seinem Gegner in humanistischem Wissen nicht übertreffen zu lassen: Mit dem Hinweis auf die von Ronsard nicht erwähnten „epirrhemes, parecbases" impliziert er, daß er in diesen komplizierten metrischen Namen noch mehr zu Hause sei als dieser. Ebenso waren Ronsard und Du Beilay in Barthélémy Aneaus 209 1550 anonym erschienenem Quintil Horatian heftig attackiert worden, unter anderem wegen dieser griechischen Bezeichnungen: « Comme ton Ronsard trop et tresarrogamment se glorifie auoir amené la lyre grecque et latine en France, pource qu'il nous fait bien esbahyr de ces gros et estranges motz, strophe et antistrophe » (zitiert nach Du Bellay, Deffence 225f. = 122f.; angeredet ist Du Bellay). Auch die höhnische Polemik Jean Macers in seiner Philippique aus dem Jahre 1557 210 geht in dieselbe Richtung, doch sehen wir hier deutlicher die Gründe, die einen Teil des französischen Publikums gegen diese Bezeichnungen aufbrachten (f. Bvij v ): le mebahis ou il a aprins loiselerie, & la chasse, veu qu'il est si bon fauconnier & veneur, que d'apriuoiser en son clapier, innumerables dictions Grecques : comme strophe, antistrophe, epodes, hecatombe. l'estime que si son maistre luy eust ouuert 208) Zitiert oben S. 67. 209) t 1561, zu ihm Dictionnaire des lettres françaises XVIe 48 und CIORANESCO, Bibliographie du seizième 86f.; Analyse des Quintil bei MEERHOFF, Rhétorique et poétique 135-164. 210) S. oben S. llOf.

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la langue hebraique, il eust voulu hebraiser comme il grecize : c'est a luy grande ignorance de ne point vouloir enrichir sa langue, veu que tous les anciens Grecz, Latins, & autres, en dérobant, cachoient leur larrecin : encore est outrecuidé & ignare ce gëtil mariolet parisien, qui s'ose vâter que luy seul est digne d'entrer au temple de la Minenie Françoyse.* Macer wirft hier der Pléiade vor, ihrem eigenen Anspruch von der Deffence et illustration de la langue francoise nicht gerecht zu werden. Für die griechischen Bezeichnungen hätten französische gefunden werden sollen, so lautet implizit seine patriotische Forderung. Diese Eingemeindung der fremden Worte hatte schon 1553 Guillaume Des Autels in der Vorrede „Au lecteur" seines Amoureux repos vollzogen, er machte auch Ronsards Nachlässigkeit wieder gut, der selbst trotz seinem Versprechen im Vorwort seiner Odes2u auf die angekündigte Erklärung der griechischen Namen nie zurückgekommen zu sein scheint. Des Autels übersetzt sie mit „tour", „retour" und „enchant" ins Französische - aus Respekt, wie er sagt, vor seinen großen Vorgängern, « ces diuins espritz, lesquelz auecques toy i'admire, premiers auteurs de notre lyre françoise ». Des Autels fährt dann fort mit der Erklärung, was sich der Leser unter diesen Namen vorzustellen habe, wobei er mit einer heimischen Analogie, den französischen Tänzen 212 , wiederum eine gute patriotische Gesinnung vorweisen kann: Voyla pourquoy i'vse des tiltres frâçois, & appelle FAÇON ce, qui en grec par Pindare heut esté appelle ΕΙΔΟΣ. Tu auiseras si i'ay bien sceu trouuer la cöenance d'vn mot à l'autre, mais ie te veux bien auertir, qu'à ses ecriz chacun peult donner tel tiltre qu'il luy plait : pourueu que le nom signifie sa chose. Or pource que de tous les poëmes, le lyrique est celuy qui se diuersifie en plus de façons : tel nom m'a semblé tant conuenant, que ie croy Pindare auoir vsurpé le sien, pour mesme raison : sans ce que le mot FAIRE, duquel FAÇON est descendu, est propre aux poetes. Quät a στροφή, que i'ay appelé TOVR, 'Αντιστροφή RETOVR, & 'Επωδός (non si heureusement) ENCHANT, ce a esté pour faire entendre à noz purs françois la raisons de telles appellatiôs, que ie croy estre cy. Cependant que sus la lyre on sonnoit les louäges des victorieux, iceux solennellement accöpaignez, dansoyent : & durant la strophe se toumoyent d'vn costé, à l'antistrophe retoumoyêt de l'autre : de quoy tu peux voir quelque restante image en noz branles : Hz s'arrestoyent a l'epode, comme pour prendre haleine : ainsi qu'aux reprises des basses dances.* Der gereizte Ton dieses Abschnittes (vgl. « à ses ecriz chacun peult donner tel tiltre qu'il luy plait » und das offensichtlich ironische « noz purs françois ») ist wohl damit zu erklären, daß Des Autels, der sich nach anfänglicher Ablehnung zu diesem Zeitpunkt der Pléiade angenähert hatte213, hier gegen die erwähnten Kritiker für seine Freunde Partei ergreift. Diese Freundschaft und die Tatsache, daß er selbst in seinen Gedichten pindarische Triaden gebraucht hatte, hinderten ihn aber nicht daran, in seiner wohl 1559 (das exakte Datum der ersten Auflage ist umstritten) erschienenen Satire Mythisloire Barragouyne seinerseits wieder die „pindariseurs" aufs Korn zu nehmen (p. 71f.; die Sprecher sind Gaudichon und die Muse Calliope214): Voyci les pindariseurs, dit elle : Mordienne, dit il, qu'elle audace ? Ha, ie n'en appro- I che pas, comment ? ils portent des arbalestes : Quels diables d'engins sont 211) 212)

S. oben S. 129. Zu den französischen Tänzen der Renaissance vgl. BOURCIEZ, Mœurs polies 333-

337. 213) Vgl. YOUNG, Guillaume des Aulelz 18; MEERHOFF, Rhétorique et poétique 170f. und BELLENGER, Pléiade 116. 214) Zu dieser Szene s. auch unten S. 153. Der Vollständigkeit halber muß man hinzufügen, daß der Spott der Mythistoire auch vor dem Quintil Horadan nicht haltmacht und so kein Engagement für irgendeine der beiden Seiten verrät.

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ces tours & cötretours, & ces furieux outreports ? voyla de nouueaux fredös sur la lyre. [...] celuy là se faisoit appeler sergent de bande, & est&noit toutes les Muses auec des mots d'vn pied & demi. Der karikierte „sergent de bande" ist niemand anders als Ronsard selbst 215 , die verspotteten „anderthalbfiißigen Worte" (nach Horazens „sesquipedalia uerba", ars 97) beziehen sich wohl nicht nur auf die erwähnten metrischen Termini, sondern allgemein auf die unter den „pindarisants" beliebte Mode, oft ungewöhnlich zusammengesetzte Wörter zu benutzen (der auch Des Autels wenige Jahre zuvor gefrönt hatte).

Die in Des Autels „Au lecteur" ausgedrückte Vorstellung, die gefeierten Sieger selbst seien es gewesen, die den die Strophen begleitenden Tanz aufführten, mag uns etwas bizarr erscheinen und war wohl in keiner antiken Tradition vorbereitet; dennoch war sie während der Renaissance offenbar allgemein anerkannt. Auch bei François Marin, in dem Abschnitt über Metrik seiner Pindarübersetzung von 1617 (57), findet sie sich ganz ähnlich wie bei Des Autels ausgedrückt: « [les victorieux] chatoient à l'entour d'vn Autel, & dansoiët, se tournants de la main droicte à la main gauche, & les vers qu'ils prononçoient en ceste premiere route s'appelloient Strophe, στροφή, comme qui diroit tour », und ebenso die Erklärung des „retour" und der επωδός, « supplément & addition ». Ohne dieses seltsame Detail, aber sonst ganz ähnlich, werden die Teile der pindarischen Ode bei Pierre de Laudun in seinem Artpoetique (1597) beschrieben (p. 91): Or il faut sçauoir que c'estoient noms propres aux autheurs & chantres, que lors que l'on disoit des Strophes, les chantres se mettoient à chanter & les balladens & danseurs se mettoient à tourner : Antistrophe, retournoient leurs pas ou cadances, suiuants tousiours le mesme son, & à VEpode se refraichissoit [s/c!]. Qui en voudra sçauoir d'auantage il aura recours aux Odes de Pindare. Die Ansicht, Pindar sei beim Bau seiner Strophen willkürlich vorgegangen und deshalb sei es auch seinen modernen Nachahmern erlaubt, ihre pindarischen Oden frei von irgendwelchen Zwängen zu komponieren, finden wir in der Dichtung ausgedrückt z. B. bei Florent Chrestien: Er verfaßt ein Lobgedicht auf Jacques Grévin für dessen Seconde Partie de l'Olimpe (in dessen Theatre, 1562, p. 220), „Florentis Christiani Aurelii Ode in Iacobum Greuinum Claromontanum Bellouacum", in dem er unter anderem eine Aufzählung der

215) Er wird in einer Apostrophe angeredet mit « Ha Terpandre mon amy, pourquoy fus tu puni des Ephores ? » (zur Bezeichnung „Terpandre" für Ronsard s. oben S. 97). Möglicherweise liegt in dem Begriff „sergent de bande" auch eine Anspielung auf eine Passage aus Du Beilays Deffence, wo es heißt (186 = 98): « [...] si i'etoy' du nöbre de ces anciens Critiques luges des Poëmes, [...] ou (s'il fault ainsi parler) vn sergent de bande en notre Lägue Fräcoyse [...] ».

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Dichtungsarten Grévins gibt. Du leistest, schreibt Chrestien, in allen Formen Hervorragendes, so wenn Du „legis expertes Latinae / Pindaricos animosus haustus [tractare incipis]", wiederum mit Anspielung auf Horaz, carm. 4,2, 9f. und epist. 1, 3, 9-14216. Paul Schede bezieht in der zweiten Auflage seiner Schediasmata ebenfalls auf Horazens Worte, wenn er das Verfassen seiner pindarischen Oden folgendermaßen ausdrückt (1, p. 22, angeredet ist „Ioannes Michael Brutus, Stephani Polonia Regis Historicus"): Levis simius gravis Pindari Audaces ego, liberis licet Numéris strictior, Dithyrambos BRVTE repraesentem, Rarus exempli sequendi praebitor? Schede will also bei seinen Metra „strikter" verfahren als Pindar, dessen Praxis als „frei" bezeichnet wird. Auch Scévole de Sainte-Marthe217 rechtfertigt in der Vorrede „Ad lectorem" seiner lateinischen Poemata (1629) Freiheiten in der Versfügung mit dem Vorbild Pindars: „Nam pro instituta vatibus licentia / Hinc inde numéros lege nulla colligens / [ . . . ] / Inusitatos nectere ausus sum modos." In allen diesen neulateinischen Texten ist die Wirkung des horazischen „numeris [...] lege solutis" deutlich (vgl. „legis expertes" bei Chrestien, „liberis [...] numeris" bei Schede und „lege nulla" bei Sainte-Marthe). Auffällig ist dabei eine deutliche Trennung in der metrischen Behandlung bei der Komposition griechischer, lateinischer und französischer pindarischer Oden in der Renaissance: Die wenigen griechischen Gedichte 218 nehmen meist das metrische Schema eines bestimmten

216) Zusammen mit Henri Estienne und Fédéric Jamot verfaßte Chrestien 1565 oder 1566 eine griechische Paraphrase einiger Psalmen in antiken Versmaßen (sie bildet den zweiten Teil von Buchanans Psalmorum Dauidis paraphrasis poetica, vgl. zu diesem Buch MCFARLANE, Buchanan 254-259; GARDY, Bibliographie de Théodore de Bèze 130f. und SCHMITZ, „Frédéric Jamot" 284f.), und er selbst schrieb eine Paraphrase des 120. Psalms in Form einer pindarischen Ode (p. 39), deren Versmaß (mit einigen Freiheiten) Ol. 13 nachahmt. Zu den von Estienne herausgegebenen Psalmübersetzungen und -paraphrasen vgl. JEHASSE, Renaissance de la critique 87f. 217) 1536-1623; zu ihm vgl. Dictionnaire des lettres françaises XVIe 429; CIORANESCO, Bibliographie du seizième 632f. und MCFARLANE, „Pierre de Ronsard" 187f. 218) An griechischen pindarischen Oden lassen sich nennen: Die gerade erwähnte (s. Anm. 216) Psalmparaphrase Florent Chrestiens aus dem Jahre 1566, sieben Oden des belgischen Humanisten Frédéric Jamot aus den Jahren 1566 bis 1598 (vgl. SCHMITZ, „Frédéric Jamot"), eine Ode von „I. D. Perronius" in den pièces liminaires der Œuures poetiques von Clovis Hesteau de Nuysement aus dem Jahre 1578 (f. eir), zwei Oden von Pierre Bouille (1599 und 1605; vgl. OPELT, „Zwei griechische pindarische Oden"), eine Ode für die pièces liminaires von Claude Dausques Übersetzung der Predigten des Basileios, des Bischofs von Seleucia (f. t t 3 v ) , geschrieben von dem Jesuiten und Mathematiker Odon van Maelcote (1604), sowie schließlich die drei Oden des Erasmus Schmid, die wohl als Ankündigung für

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Epinikions zum Vorbild und imitieren es, wenn auch oft mit geringen Abweichungen. Die lateinischen Oden sind meist freier in der Imitation und zielen vor allem auf eine Nachahmung des Gesamteindrucks eines pindarischen Epinikions, wie ihn die Epoche verstand: Sie kombinieren die aus der lateinischen Lyrik bekannten VersmaBe zu neuen, originellen Strophenformen 219 . Daß in französischen Gedichten eine direkte Imitation der metrischen Foim pindarischer Epinikien nicht versucht wurde, nimmt nicht wunder Die französische silbenzählende Metrik war zu weit von der griechischen quantitierenden Metrik entfernt, als daß ein solcher Versuch möglich erschienen wäre. Antike Versmaße in pindarischen Oden zu neuen Strophenformen zu kombinieren scheint nur Jean-Antoine de Baïf versucht zu haben 220 . Vor seine pindarische Ode stellt Baïf deshalb eine genaue Analyse jedes einzelnen Verses des Gedichtes. Ansonsten aber finden wir in den französischen odes pindariques eine bemerkenswerte Uniformität221. Alle Verse der Strophen und Epoden gehören jeweils derselben Versgattung an, meist Acht-, Zehn- oder Zwölfsilbler, wobei häufig die Verse der Epoden kürzer sind als die der Strophenpaare: Enthalten die Strophen Alexandriner, so sind die Epoden in Zehnsilblem abgefaßt usw., auch umfassen die Strophenpaare oft zwei Verse mehr als die Epoden. Nur selten versuchen französische Dichter, verschiedene Versarten in den Strophen oder Epoden zu mischen, und in einem Fall sehen wir sogar eine pindarische Ode, bei der die mit Strophe, Antistrophe und Epode bezeichneten Partien metrisch identisch sind; der einzige Unterschied liegt in der Anordnung der männlichen und weiblichen Reime („Ode par Marc-Antoine de Muret au signeur Louis Maigret Lionnois", eine pièce liminaire für die zweite Auflage von Meigrets Polybiosiibersetzung, 1558, f. 6Γ)Ein Zeugnis für diese Tendenz zur Vereinheitlichung bieten die Bemerkungen über pindarische Oden in Pierre Lauduns Art poétique: Das Werk wurde erst 1598 veröffentlicht, als das Genre seinen Höhepunkt schon überschritten hatte, und man sollte daher in ihm eher eine Bestandsaufnahme der schon vorliegenden pindarischen Oden als Regeln zu ihrer Abfassung sehen 222 . Laudun schreibt (p. 94): Les vers sont si longs que l'on veut, & ne s'en trouuent gueres moins de six syllabes, les couplets sont depuis dix iusques à vingt vers : mais les plus vsitez sont de dix à quinze & seize. L'epode se gouuerne presque comme les deux parties supérieures : Si la Strophe & l'Antistrophe est de douze, l'Epode sera de huict, dix, ou quatorze, & ainsi des autres.

Noch fremder als Pindars Metrik blieb der Renaissance der Anlaß seiner Oden: Der Gedanke, daß diese Gedichte des „größten Lyrikers" für Sieger in Wettkämpfen geschaffen wurden, in Wettkämpfen, die noch dazu Teil eines Vorlesungen über die Pythien, Nemeen und Isthmien abgefaßt und dann in seine Pindaredition (56) aufgenommen wurden. 219) Allerdings finden wir auch hier direkte Nachahmungen, so ζ. B. in der Ode Dorats „In Gelonin Macrini, Io. Aurati Ode ad numéros Odes Pindari Olympiacas IIII", Odes latines 69, zuerst erschienen in Macrins Nœniarum libri tres aus dem Jahre 1550, p. 109 [numeriert als 909], die das Metrum von Ol. 4 übernimmt, oder in Scévole de Sainte-Marthes Gedicht „Ad P. Pitheum", Poemata p. 69, das Ol. 1 nachahmt; vgl. DEMERSON, „Ode pindarique latine" 292f. 220) S. unten S. 237 mit Anm. 49. 221) Die schon bei Ronsard beginnt, vgl. JANIK, Geschichte der Ode 31. Möglicherweise zu Recht wird von VIANEY, „Modèle de Ronsard" 432f. die metrische Form von Ronsards odes pindariques auf die italienischen „pindarischen" Hymnen Luigi Alamannis zurückgeführt (s. auch oben S. 26). 222) S. unten S. 173f.

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Kultes für heidnische Götter waren, mußte ihr anstößig erscheinen. So sehen wir zwar in manchen Ausgaben Abschnitte über die panhellenischen Festspiele, aber das dort entworfene Bild bleibt unscharf. Einzig Ronsard selbst zeigt in einer langen Passage der Ode , A Madame Marguerite" sein aus den Epinikien Pindars (besonders Ol. 1 . 3 und 9) und auch aus deren Scholien geschöpftes Wissen und gibt eine poetische Beschreibung der olympischen Spiele, um seinen Kritikern ihre Ignoranz und seine eigene Überlegenheit vor Augen zu führen (OC 3, 107-113). Meist aber wendet man sich von der speziellen Idee „Enkomien für Wettkampfsieger" rasch zu der allgemeineren Vorstellung „Enkomien für tugendhafte Männer und besonders Herrscher", die der Renaissance vertrauter war und eine moralische Interpretation zuließ223, wie beispielhaft eine Passage aus Molthers Widmungsbrief seiner Übersetzung der ersten und zweiten olympischen Ode von 1527 (6) an Conrad Peutinger zeigt (f. A2 r ): Víctores, quos uidit olympicis ludis, ita célébrât, ut uictoriarum obiter meminerit, laudes autem uirtutum amplißimas, nunc à patria, nunc a familià, nunc ab ingenio, nunc à studiis, nunc a rebus gestis mira aeque ac iucunda breuitate concinnauit. Deutlich wird hier die Tendenz sichtbar, von den Wettkampfsiegen auf das allgemeinere „Lob für Tugend" zu lenken. Daß die französische Dichtung diese (schon in Pindars Hieron- und Arkesilaos-Oden angelegte und in Horazens „pindarischen" Oden weiterentwickelte) Wendung mitvollzieht und sich ganz auf Panegyriken für die Großen konzentriert, kann bei dem Mangel an Wettkampfsiegern im Frankreich der Renaissance nicht verwundern224. Zum großen Teil aus dem Material der Scholien, aber auch aus anderen antiken Quellen geschöpfte Darstellungen der Spiele finden sich z. B. in der „Praefatio" Majoragios (1550, 16) oder in der Aristologia Neanders (20), wo wir die Umarbeitung der Wettkämpfe in vertrautere und „moralischere" Institutionen besonders klar fassen können; eine kurze Zusammenfassung seiner Sicht der Spiele gibt Neander auch in den Prolegomena seiner Ausgabe von Pyth. 4 von 1596 (42); sie liest sich so225:

223) S. oben S. 110. 224) Vgl. JANIK, Geschichte der Ode 28. 225) Vgl. die zutreffende Charaktersierung KOCHS, „Fortleben Pindars" 197: „Wenn er [Neander] sich eine griechische Olympiade ausmalt, stellt er sich eine Art germanisches Thing· vor: Beratungen über gemeinnützige Angelegenheiten mit anschließenden Wettkämpfen als Gedächtnisfeiern für große Heroen und als Ansporn der jungen Mannschaft zu Mut und - guter Sitte!" Denselben Vergleich der panhellenischen Spiele mit den zeitgenössischen Volksfesten findet man auch bei dem Theologen Chytraeus in seinen Genealogice f. A3r (43).

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Et tametsi in diuersis locis Graeciœ plures essent ludi instituti, tarnen qui dicebantur Olympia, Pythia, Isthmia, Nemea inter cetera praestabant, quod & victores clariores redderent & maiori frequentiâ non modo è Graeciâ sed etiam ex alijs terris vbi, quomodo nunc etiam solet fieri in congressibus Imperij, deliberationes instituebantur de rebus pertinentibus ad incolumitatem Graciae, & illis finitis, deinde ludi varij omnisque generis celebrabantur. Aber spätestens226 in Erasmus Schmids Ausgabe (56, 1616) sehen wir auch ein genuines Interesse an den Spielen als historischem Faktum, wenn er alle Angaben über die Sieger in einer langen chronologischen Liste sammelt.

6 Wie aber beeinflußten die Scholien die Arbeit am Text selbst? Und wo können wir die Renaissance bei dieser Arbeit konkret beobachten? Diese Fragen sollen als nächste behandelt werden. MOST227 hat in einer überzeugenden Untersuchung gezeigt, daß aus der Antike zwei Traditionsstränge von Urteilen über Pindars Dichtung erhalten sind: Die literarische Rezeption des Dichters scheint selten oder nie von seiner Dunkelheit und Unverständlichkeit zu sprechen, die grammatische Tradition hingegen, die sich für die Moderne vor allem in den antiken Scholien manifestiert, wimmelt geradezu von Bemerkungen über diese Eigenschaften der Epinikien. Ich habe schon angedeutet, daß das von den antiken Kommentatoren gebotene Material für die Renaissance sehr wichtig sein mußte angesichts eines Textes, dessen Sprache für die Leser dieser Zeit, die noch kaum über sprachliche Hilfsmittel wie Lexika oder Grammatiken verfügten, sicherlich nicht leicht zu verstehen war228. Und nach einer Bemerkung WILSONS229 könnte dieses Material den Philologen dieser Epoche auch ein bestimmtes Bild von der Dichtung Pindars vermittelt haben: "The kind of interest they [the scholia] display in the myths and the geography of the odes often highlights the aspect of Pindar which seems uppermost in the allegiance of the Hellenistic poets - that of the learned poet." Ich werde an einigen Beispielen zu zeigen versuchen, daß die Renaissance in der Tat in Pindar gewisse „alexandrinische" Elemente sah.

226) Auch die italienischen Humanisten hauen schon ein solches Interesse bezeugt, so z. B. Negri in seiner „Praefatio" von 1521 (4), in der es einen langen Abschnitt über die panhellenischen Spiele gibt, in dem er eine Reihe antiker Zeugnisse über deren Ablauf und Bedeutung zusammenträgt. 227) Measures of Praise 12-22. 228) S. oben S. 120. 229) „Pindar and his Reputation" 99.

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Daß Pindar ein äußerst schwieriger Autor ist, wird in der Renaissance allgemein anerkannt - wenn auch mit Ausnahmen: Neander möchte, daß seine Aristologia schon Anfängern verständlich ist, und auch Henri Estienne sagt im Widmungsbrief seiner Ausgabe an Philipp Melanchthon (1560, 24), er habe seine sehr wörtliche Prosaübersetzung Pindars verfaßt, „ut ab iis qui sunt in hac lingua tyrones, uti dixi, gratiam inirem, Grceca cum Latinis (quod in libera miniméque adstricta interpretatione nequeunt) conferre cupientibus, & rüdem quandam in animo habere sentètiae informationë contentis." Immerhin erkennt Estienne damit an, daß diese „tyrones" ohne solche Hilfsmittel Pindar wohl kaum verstehen könnten, und insgesamt müssen diese Absichten, ihn Anfängern vorzusetzen, wohl auch in der Renaissance eher illusionär gewesen sein230 (im Englischen würden man wohl von "wishful thinking" sprechen). Realistischer ist da Antesignanus' „Praxis", eine Reihe von griechischen Originaltexten zur Lektüreübung in Cleynaerts Grammatik (18), die Pindars erste olympische Ode als letzten in einer Reihe von mit steigendem Schwierigkeitsgrad angeordneten Texten bringt und sie so erst den fortgeschritteneren Studenten zumutet. Auch sonst finden wir viele Beispiele dafür, daß die Renaissance die Epinikien als schwierig empfand: Schon Aldus Manutius verspricht im Widmungsbrief der editio princeps an Andrea Navagero 231 , in Kürze auch einen Pindarkommentar zu drucken (ein Versprechen, das offenbar niemals erfüllt wurde), und scheint damit anzuerkennen, daß Pindar eines solchen bedarf. Zwingli lobt in Ceporinus' Ausgabe Pindars „eruditio": Auch auf diesem Gebiet sei er der vorzüglichste der Lyriker gewesen, ,,qd' istie uictoriie probant, in quibus alicubi subindicat, sua non temere citra Interpretern intellectual iri". Zwingli spielt hier auf Ol. 2, 83-86 an232, und Anspielungen auf diese Passage werden wir öfter wiederfinden. Sie wird zitiert im „Pindari encomium" Lonicers, der Pindar schon auf der Titelseite der zweiten Auflage seiner Übersetzung einen ,,Poëta, à paucis hactenus intellectus" nennt: „Interim de industria quasdam occultât, adeò ut & ipse ηδ cuiuis sese planum fore putet, dum inquit: - π ο λ λ ά μοι ΰ π ' / 230) Dieselbe Beobachtung kann man auch für den gewiß nicht leichteren Aischylos machen: Auch hier finden wir in der Renaissance zu einer lateinischen Übersetzung seiner Tragödien die Bemerkung, sie sei „pro utriusque linguae tyronibus" geschrieben, vgl. MUNDDOPCHIE, Survie d'Eschyle 90. 231) 1483-1527; zu ihm vgl. Contemporaries of Erasmus 3, 8f. 232) Die Passage ist wohl so zu vèrstehen, daß der Appell an den Scharfsinn des Rezipienten (und besonders des laudandus) eine Form des Lobes darstellen soll, vgl. YOUNG, Three Odes 50 mit weiteren Beispielen aus Pindar. So versteht SNELL, „Was sagt Pindar Neues" 25 auch am Beginn von Bakchylides, ep. 5 die Verse 3f. γνώση μεν [ί]οστεφάνων / Μ ο ι σ ά ν γλυκΰδωρον ά γ α λ μ α als „Du bist klug genug, meine Worte zu verstehen." Umstritten ist, wie die Worte Pindars im einzelnen semantisch und syntaktisch aufzufassen sind, vgl. zuletzt MOST,,lindar, O. 2. 83-90" und VERDENIUS, „Pindar, O. 2, 83-86".

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άγκώνος ώκέα βέλη, / ένδον έντί φαρέτρας / φωνάντα συνετοίσιν, ές / δε το πάν, έρμηνέων χατίζει." Lonicer gibt auch eine Interpretation der Passage: Pindar, so schreibt er, ist nicht dunkel, er ermangelt nicht der σαφήνεια und ένάργεια (ενάργεια wird Pindar auch schon in der antiken Rhetorik zugesprochen, vgl. Dionysios von Halikamaß, De imitatione 205, 5), aber er spricht nur zu den Kundigen: „Sapiens, uirtutibus claras & eruditione, facile, ut alia, sic etiam Pindarica obtinebit. [...] Et sapientem & eruditam mentem Pindarus exigit, à qua intelligatur, & puram etiam."233 Marcantonio Majoragio 234 begründet in seiner 1550 zum ersten Mal veröffentlichten „In Pindarum praefatio" (16), warum er als soeben ernannter Professor des Griechischen an der Universität Mailand gerade Pindar interpretiert, und auch er spricht von der Schwierigkeit der Pindarlektüre: Sed dum patriam cuiusque victoris, originem ciuitatum ac familiarum peruestigat, magnas sœpè tenebras & obscuritatem lectoribus offundit. Atque vt in summa dicam: siue res, quas tractat Pindarus, siue locutionem, siue carminu varietatem spectes, magna est in eo difficultas, magna obscuritas. Diese Dunkelheit, fährt Majoragio fort, brauchten seine Zuhörer aber nicht zu fürchten, zumal sie großen Nutzen aus der Lektüre Pindars ziehen würden, „quem ego tarn apertè tam facilè sum interpretaturus, vt etiam literarum Graecarum penitùs rudes, si modo diligenter audire voluerint, omnia poßint intelligere". Wenn in dieser Ankündigung die übertrieben ausgemalte Schwierigkeit Pindars und die versprochene Leistung der Erklärungen so weit auseinanderzuklaffen scheinen, so ist dies wohl zum großen Teil auf die Absicht der ,,Praefatio" zurückzufuhren, die in erster Linie Studenten in Majoragios Veranstaltungen ziehen soll. Le Sueur führt in der Vorrede seiner Olympien an Henri III (34 und 35) diese Schwierigkeit als einen der Gründe an, warum er Pindar übersetzt habe: „quòd huius authoris grauissimi stylum sententiarum sublimitate rerúmque antiquitate inobscuratum, atque ideo ab illius cognitione iucundissima plures abalienatos intelligebam". Auch Schmid spricht im ΠΡΟΓΡΑΜΜΑ seiner Ausgabe (56) von der Dunkelheit Pindars und zitiert die bekannten Worte aus 01. 2: ,At obscuritatem praetendis, & qvidem ipsius Poetas verbis [Zitat Ol. 2, 83-86]. en έ ρ μ η ν έ α nunc συν θ ε ώ habebis." Für Schmid ist Pindars Schwierigkeit aber vor allem durch den mangelhaften Überlieferungszustand des Textes zu erklären; so schreibt er denn im Brief seines Specimen von 1611 233) Man findet hier die Verbindung von intellektueller und moralischer Befähigung wieder, s. oben S. 118-120. 234) Zu ihm SANDYS, History of Classical Scholarship 2, 147.

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(51): „Tot autem & tanta errata quûm in Pindarum irrepserint; an non obscurum fieri necesse fuit? sed prater omnem suam culpam." Schon auf der Titelseite hatte Schmid, ähnlich wie Lonicer, behauptet, erst durch seine Ausgabe sei es möglich, „ut jam legi & intellegi possit", und auch Jean Benoît nimmt auf der Titelseite seiner vier Jahre später erschienenen Ausgabe (1620, 58) für sich in Anspruch, „arduum eiusdem sensum explanauit". Gewiß ist auch in diesen Fällen der Aspekt der Werbung für die jeweilige Ausgabe nicht zu vernachlässigen, aber der frische Optimismus, mit dem man an die Überwindbarkeit der Verständnisprobleme glaubt, ist doch hervorhebenswert. Daß Pindar als sehr schwierig erachtet wurde, könnte uns schon die Tatsache argwöhnen lassen, daß seine editio princeps unter anderem auch Lykophrons Alexandra enthält, das „obscurum poema" par excellence, das später in Joseph Justus Scaliger einen kongenialen Übersetzer finden sollte. Obwohl diese Kombination wohl eher zufällig ist als von Aldus geplant 235 , ist es doch interessant zu beobachten, daß wir Pindar öfter in dieser merkwürdigen Gesellschaft finden. Jean Dorat scheint gerade für diese beiden eine Vorliebe gehabt zu haben, jedenfalls werden ihre Namen öfter zusammen genannt, wenn seine Vorlesungen beschrieben werden: Claude Binet berichtet in seiner Vie de P. de Ronsard (erste Auflage 1585), daß « Ronsard [...] pria Dorat de luy ouurir le chemin d'Homere, de Pindare, et de Lycophron » (Ronsard besaß nachweislich eine Lykophronausgabe236). Auch Jean Papire Masson 237 hebt in seinem „Epitaphium I. Aurati poeta regii" (in seinen Elogia von 1628, p. 288) unter den von Dorat erklärten griechischen Dichtem neben Homer noch Pindar und Lykophron hervor. Im Lobgedicht des Rektors von Wittenberg auf Erasmus Schmid (zitiert oben S. 95) heißt es, nun da Schmid Pindar erklärt habe, könne er sich sogar an Lykophron wagen. Bekanntlich waren die literarischen Bewertungen antiker Dichtung während der Renaissance verschieden von denen unserer Zeit 238 , und so sollten wir an dieser für uns so überraschenden Paarung Pindar - Lykophron nicht allzuviel Anstoß nehmen: Lykophron zählte man in dieser Zeit unter die allergrößten Dichter 239 . So finden wir ihn z. B. in Ronsards „Ode a Michel de l'Hospital" aufgezählt gemeinsam mit Hesiod, Arat, Theokrit, Apollonius, den Tragikern und Komikern 240 ; allerdings sehen wir auch schon Urteile über ihn, die den unseren

235) Sie geht wohl auf die von Aldus benutzten Codices zurück, in denen sich öfters die Epinikien mit Lykophrons Alexandra zusammen finden, so z. B. im Palatinus gr. 40, Ambrosianus C 222 inf., Vaticanus gr. 915, Parisinus gr. 2403, Laurentianus 32, 52, Venetus Marcianus gr. 475, Estensis gr. 51. Auch der von Aldus ebenfalls im selben Band herausgegebene Text des Dionysios Perihegetes ist in mehreren Manuskripten überliefert, die gleichzeitig die Epinikien enthalten. 236) Vgl. LAUMONIER, „Bibliothèque de Ronsard" 326. 237) 1544-1611; zu ihm Dictionnaire des lettres françaises XVIe 475f. und CIORANESCO, Bibliographie du seizième 475f. 238) Vgl. CURTIUS, „Literarästhetik des Mittelalters" 133f. 239) Zum großen Ansehen, das Lykophron in der französischen Renaissance genoß, vgl. NOLHAC, Ronsard et l'humanisme 88-91. 240) Ich zitiere die Stelle: Auf die « Poetes diuins » (Eumolpos, Musaios, Orpheus, Hesiod, Linos und Homer) folgt in Griechenland die Generation der „vieus Poëtes humains" (OC 3, 150f.): L'vn sonna l'horreur de la guerre Qu'à Thebes Adraste conduit, L'autre conme on tranche la terre,

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näherkommen, so wenn Du Beilay, Deffence 158 = 83 ihn deutlich unter Homer stellt, weil er zu dunkel sei.

Wichtig ist bei allen Aussagen über die Schwierigkeit und Dunkelheit Pindars, daß die Renaissance diese Eigenschaften nie als ein unüberwindliches Hindernis zum Verständnis des Dichters sieht. Schon in den oben zitierten Stellen fallt der Optimismus und die Zuversicht auf, mit der Philologen dieser Zeit den so schwierigen Text angehen. Pindar scheint von der Renaissancephilologie, wie WILSON aus anderen Gründen vermutet hat241, eher als ein alexandrinischer poeta doctus denn als bewußt dunkler Autor rezipiert worden zu sein, oder mit anderen Worten: In den Augen dieser Zeit will Pindar nicht unverständlich und dunkel schreiben, sondern fordert seinen Lesern eine gewisse Anstrengung bei der Lektüre seiner Epinikien ab. Wo es in seinen Gedichten schwer verständliche Stellen gibt, da sind sie bewußt so geschaffen, weil sie nur für ein gelehrtes Publikum geschrieben sind, und eine gelehrte Deutung wird imstande sein, Licht in diese Dunkelheit zu bringen - dies ist die Interpretation, die die Renaissance der heute umstrittenen Passage aus der zweiten Olympie gibt242. Diese Sicht wurde den Philologen dieser Epoche auch von den parallelen Erscheinungen der zeitgenössischen Dichtung nahegelegt: Wir finden z. B. in der französischen Poesie in der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts noch starken Einfluß der sogenannten Grands Rhétoriqueurs, in deren Dichtung gelehrte Verrätselungen in der Tradition des poeta doctus äußerst prominent sind243. Analog zu ähnlichen Erscheinungen in der zeitgeL'autre les flambeaus de la nuit : L'vn sus la flûte departie En set tuiaus Seciliens Chanta les beus, l'autre en Sithie Remena les Thessaliens : L'vn feit Cassandre furieuse, L'vn au ciel darda les debas Des Roys chetis, l'autre plus bas Traina sa chanson plus joyeuse. Man sieht, wie es aufgrund der „gelehrten" Antonomasien (vgl. für diese in der Renaissancedichtung ungeheuer beliebte Technik Du Beilay, Deffence 285-287 = 161f. und die Beispiele bei BUSCHNER, Bedeutung der Mythologie Tli. und MARGOLIN, „Pindare et la Renaissance" 136f.) bisweilen schwierig ist, die Dichter zu erkennen, auf die Ronsard anspielt: Einige bleiben schattenhaft (wer ist der Verfasser einer griechischen Thebais? oder ist Aischylos gemeint?); wenn mit dem zweiten Dichter Hesiod gemeint ist, dann wird sein Name sowohl unter den „Poètes diuins" („l'Ascréan") als auch hier unter den „Poètes humains" genannt, und die beiden zuletzt zitierten scheinen überhaupt keine individuellen Dichter zu sein, sondern einfach die Gruppen der Tragiker und Komiker zu vertreten. 241) S. oben S. 135. 242) S. oben S. 135f. mit Anm. 232. 243) Zur Tradition der schwierigen Dichtung seit der Antike vgl. CLEMENTS, Pléiade 88-91; zum Einfluß der Rhétoriqueurs auch in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts vgl. LEBÈGUE, Poésie française 1, 202f.; zu Gemeinsamkeiten zwischen ihrer Dichtung und

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nössischen Literatur werden auch Verständnisprobleme im Pindartext als gelehrte „Rätsel" aufgefaßt, die einer mit ebensoviel Gelehrsamkeit ausgerüsteten Deutung verständlich sein werden244. Eine ähnliche Haltung sehen wir auch in Hinsicht auf die Einheit der Epinikien und auf die in ihnen enthaltenen „Digressionen". Ich zitiere als Beispiel die Vorrede zur ersten Auflage von Lonicers Übersetzung (1528), in der es heißt: Continent enim in uniuersum ij certaminü hymni aliud nihil, atq; genus laudis έπιδεικτικόν. Quandoquidë perpetuò uictores à genealogia, ab educatione, à patria, ab affinibus, adeóq; locis eò pertinètibus, euehit ad sydera. Quorü locorû nexus & cohaerentia, dû nobis obscurior apparet, fit, quo minus Pindaricam agnoscamus menté. Bemerkenswert an dieser Passage ist, wie Lonicer ohne weiteres als gegeben annimmt, daß sich alle diese „Exkurse" auf das Lob des Siegers beziehen, und ein scheinbares Fehlen des Zusammenhanges eher der modernen Unwissenheit als einer pindarischen Absicht zuzuschreiben bereit ist (vgl. besonders „ η o b i s obscurior apparet"). Daß der Verfasser eines enkomiastischen Gedichtes das Recht, ja die Pflicht hat, alle diese dem konkreten Thema zunächst scheinbar fernliegenden Betrachtungen über Heimat, Familie und Umstände des laudandus zu machen, wird auch in Ronsards Vorrede ,Au lecteur" zu den Odes von 1550 deutlich ausgedrückt (OC 1,48): [...] c'est le urai but d'un poëte Liriq de celebrer iusques à l'extremité celui qu'il entreprend de louer. Et s'il ne connoist en lui chose qui soit dinne de grande recommandation, il doit entrer dans sa race, & là chercher quelqu'un de ses aieus, iadis braues, & uaillans : ou l'honnorer par le titre de son pais, ou de quelque heureuse fortune suruenue soit à lui, soit aus siens, ou par autres uagabondes digreßions, industrieusement brouillant ores ceci, ores cela, & par l'un louant lautre, tellement que tous deus se sentent d'une même louange. Telles inuentiös encores te ferai-ie ueoir dâs mes autres liures, ou tu pourras (si les Muses me fauorisent còme i'espere) contêpler de plus prés les saintes cöceptions de Pindar^, & ses admirables incôstances, que le tens nous auoit si longuement celées [...]. Pindars „uagabondes digreßions" sind hier nicht als Beispiel zitiert fur genialisches, verwirrtes Dichten ohne festen Plan, sondern werden ganz im Gegenteil der der Pléiade vgl. MCFARLANE, Renaissance France 38f. und SIMONE, Umanesimo, rinascimento, barocco 188-191, der zu Recht besonders auf die Kontinuität der lateinischen Dichtung beider Gruppen hinweist. 244) Zum gesamten Problemkomplex des „schwierigen Dichtens" in der Renaissance s. unten S. 213-225.

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als ein Kunstmittel des Lobes aufgefaßt (vgl. „industrieusement brouillant"): Die scheinbare Unordnung ist bewußt gewählt; dazu paßt, daß diese Regeln für das Enkomium, wie HUTTON245 und GORDON246 überzeugend gezeigt haben, größtenteils aus antiken und zeitgenössischen rhetorischen Handbüchern stammen - diesen Anschein von fehlender Ordnung beim Leser zu erwecken, kann und muß der Lobdichter lernen. Es ist klar, daß in dieser Sicht das Lob die Einheit des Gedichtes verbürgt (vgl. Lonicers lapidares „Continent enim in uniuersum ij certaminü hymni aliud nihil, atq; genus laudis έπιδεικτικόν"), die kunstvollen .Ausschweifungen" die Einheit nicht gefährden. Interessante Bemerkungen zu diesen „Digressionen" macht auch der Übersetzer Le Sueur in der „Epistola nuncupatoria" (1575): Er sieht zwei besonders auffällige Eigenschaften in Pindars Dichtung, quíe nescio an excusare, an vero potiùs profiteri, laudare, & predicare debeam: Vnum, quòd sçpè instituto sermone abrupto, & plané derelicto, in aliarum rerum magnarum certè, & cognitione dignarum, vacua spatia liberé vel potius licenter excurrit: Alterum, quòd sumpto sibi & proposito victore aliquo, diutius nonnunquam in patria illius, quàm propria & peculiari virtute laudanda immoratur. Verum enimuerò longiusculas illas digressiones, quas Graeci έκβάσεις appellant, & à Pindaro, & à caeteris Lyricis, Dithyrambicísque poëtis vsurpatas fuisse existimare debemus: partim vt hoc genere scribendi lectorum fastidium vitarent, partim vt diuersarum rerum, sententiarum, historiarum, fabularum coaceruatione, furoris & cuiusdam diuini afflatus opinionem sibi in vulgus artificiosè quaererent. Diese Erklärung der „longiusculas digressiones" ist eine der interessantesten Äußerungen der Renaissance zur Einheit der pindarischen Epinikien. Das Problem dieser Einheit ist hier klar erkannt (auch hier könnte man wieder auf die Tradition der Scholien verweisen, wo die Suche für die Motivation eines Exkurses, einer εκβασις, schon ein immer wiederkehrender Punkt ist), und die von Le Sueur gegebenen Antworten sind teilweise sehr bemerkenswert: Die Ansicht, dies sei ein allgemeines Merkmal der lyrischen und insbesondere „dithyrambischen" Dichtung, könnte Le Sueur aus Äußerungen der Scholien übernommen haben. Etwas später in seiner Epistel rechtfertigt er dies auch mit dem Brauch im antiken Griechenland: Weil ein Sieg eines Athleten auch immer gleichzeitig Ruhm und Ehre für seine Familie und seine Heimat brachte, mußte auch das Enkomium so viel Zeit auf Stadt und Vorfahren verwenden. Diese Begründungen beruhen einerseits auf Überlegungen darüber, was einer bestimmten Dichtungsart angemessen ist, man könnte hier von „gattungsspezifi245) Essays on Renaissance Poetry 293f. 246) Ronsard et la rhétorique 49-57.

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sehen" Begründungen sprechen; andererseits ist die Berücksichtigung des Brauches in Griechenland geradezu eine literatursoziologische Überlegung ähnliche Gedanken über Anlaß und Ziel der Epinikien und ihre Stellung im sozialen Kontext haben ja auch in der modernen Pindarinterpretation eine wichtige Rolle gespielt247. Die interessantesten Gedanken Le Sueurs aber scheinen mehr auf der Seite des Rezipienten zu verweilen: Wenn er diese Digressionen dem Willen des Dichters zuschreibt, Überdruß („fastidium") beim Leser zu vermeiden, wird dieser rezeptionsbezogene Aspekt deutlich. Man könnte diese Motivation für eine allzu wörtliche Interpretation von pindarischen Abbruchsmotiven halten, in denen der Dichter sich von einem allzulangen Exkurs zurückzurufen scheint, in den er unversehens, unbeabsichtigt geraten zu sein vorgibt, fortgetragen von seiner poetischen Inspiration (κόρος-Motiv 248 ). Le Sueur ist aber keineswegs naiv genug, diese Passagen wörtlich zu verstehen: Wenn die enkomiastischen Dichter solche Exkurse anwenden, so erklärt er, dann um sich durch Anwendung einer poetischen Technik („artificiosè", vgl. Ronsards „industrieusement") den Ruf göttlicher Inspiration zu verschaffen - wohlgemerkt nur den R u f , und nur beim „vulgus". Keineswegs scheint Le Sueur aber diesen Anspruch auf Inspiration selbst wörtlich zu nehmen, und er erwartet offenbar auch von den gebildeten Lesern, daß sie dieses kunstvolle Manöver durchschauen. Wieder sehen wir deutlich, wie in der Renaissance rezeptionsästhetische Gesichtspunkte wichtiger sind als die in späterer Zeit so beliebte Frage nach der Psychologie des Dichters249. Auch in seinem Kommentar zu den Nemeen sehen wir Le Sueur darum bemüht, die Einheit der Epinikien herauszustreichen. In Nem. 1, 33-35 ändert er den im Original abrupten Übergang Pindars zum Heraklesmythos: εγώ δ ' Ήρακλέος αντέχομαι προφρόνως έν κορυφαις άρετάν μεγάλαις, άρχανον ότρύνων λόγον ώς [...]. Le Sueur fügt in seiner Übersetzung der Passage einige erklärende Verse hinzu (f. 9 r ): Cùm Chromi aetatémque tuam contemplor & acta Iam teneris ingentia in annis, 247) Zum Gedanken, daß der Sieger immer auch seiner Heimatstadt Ruhm verleiht, s. oben S. 35. 42f. 248) Vgl. BUNDY, Studia Pindarica 1,29 Anm. 71. 40. 73 und THUMMER, Isthmische Gedichte 1, 124f.; s. auch oben S. 40. 249) Wie sehr in der Renaissance poetische Theorie auf den Rezipienten abgestimmt war, zeigt FAISANT, „Instance du lecteur" 40-45 am Beispiel von Ronsards Poetik.

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Herculis inuicti virtutem animósque recordor, Pieriusque animi furor ardet Dicere nata simul [...]. Während der Text Pindars von der gnomischen Partie 31-33a unvermittelt mit dem kräftigen Neueinsatz έγω δ ' zum folgenden Heraklesmythos überleitet, macht die Übersetzung durch die Einfügung der beiden Verse „cum [...] annis" klar, in welchem Verhältnis dieser Mythos zum Lob des Siegers steht: Le Sueur möchte die Erzählung von der Heldentat des Knaben Herakles als Analogie zum Adressaten der Ode, dem Wagensieger Chromios250, verstanden wissen, der ebenfalls „teneris [...] in annis" schon Heldentaten verrichtet habe. In seinem Kommentar erklärt er, was ihn zu dieser Abweichung veranlaßt hat (f. 57v): DISTICHON hoc loco Poëtç adiecimus, quia aliter latinae aures, quarum iudicium sanum est & sagax, Poetam abruptè & praecisè loquutum existimassent: quamuis reuera sententia auctoris cötinua est, & cohçret. Ideò enim Pindarus in pueri Herculis laudes digreditur, vt lector intelligat Chromij principis pueritiam cùm prima Herculis aetate comparali posse. Explizit stellt Le Sueur hier noch einmal die Verbindung zwischen der mythischen Erzählung und der enkomiastischen Absicht der Ode her: Das den „lateinischen Ohren" zunächst anstößige Fehlen einer Verbindung existiert nur scheinbar, tatsächlich ist der Sinn „continuus" und „cohçrens". In ähnlicher Weise sieht auch Benedict Aretius in seinem 1587 gedruckten Kommentar (40) eine Parallele zwischen dem Heraklesmythos und dem Sieger Chromios (p. 377): Digressio qua Herculis vitam infantilem proferì, tanquam cxemplü boni ominis. Mens ergo & sentëtia poöiae est, oslèdere ότι oí διαφανείς έν τοις εργοις, και τοις λόγοις αθάνατοι γίνονται. Nominatim autS, Herculis primum laboré tantum persequitur, vt ostendat, boni esse ominis, primo certamine Chromium statim vicisse: futurum vt haec prima victoria, multis aliis in posterum victoriis det occasionem Chromio, quemadmodum Hercules infans primos labores pertulit, ex quo vaticinatur Tiresias, futurum vt hic puer multis exantlatis laboribus, immortalis tandem reddatur.*

So wird auch an dieser Stelle der Exkurs nicht als Hinweis auf ein genialisches, planloses Dichten verstanden, sondern als Kunstmittel zur Gestaltung des Siegerlobs. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der von Le Sueur

250) Während die modernen Interpreten der Passage sich im allgemeinen darüber einig sind, daß der Mythos eine Allegorie zum Sieger darstellen soll, gehen die Meinungen über ihre genaue Art und den Umfang auseinander, vgl. zuletzt CAREY, Five Odes 118-120; SLATER, „Victor's Return" 250-264 und PETRUCIONE, „Role of the Poet"; der Versuch des letzteren, auch eine Analogie zwischen dem Dichter und Herakles zu sehen, scheint mir aber nicht überzeugend.

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ohne erkennbares Vorbild im Original in die Übersetzung eingeführte Hinweis auf den ,,Pierius [...] animi furor", der bestätigt, was wir schon vorher bei ihm über pindarische Digressionen gelesen haben: Sie sind dazu bestimmt, eine „cuiusdam diuini afflatus opinionem" beim Volk zu erzeugen, entwachsen aber selbst einem künstlerischen Kalkül („artificiose"). So wird auch hier der Übergang in die mythische Erzählung in Le Sueurs Übersetzung (die wir an dieser Stelle eher als „freie Nachdichtung" ansehen müssen) nur zum Schein mit einem abrupten Einfall götdicher Inspiration begründet, tatsächlich ist diese Erzählung ein technisches Mittel zur Gestaltung des Lobes. Damit nähert sich Le Sueurs Sicht dieses mythischen Elements modernen Pindarinterpretationen, die Pindars Mythen ebenfalls nicht nur als „irrelevante Digressionen" oder als „vorwiegend dekorative Bestandteile" sehen, sondern als funktionale Elemente des Epinikions, die nur im Hinblick auf ihren Kontext und die enkomiastische Technik des Gedichtganzen verstanden werden können251. Daß er diese Sicht der Mythen wählt, läßt sich nicht zuletzt auch durch die rhetorische Tradition begründen, innerhalb derer er steht und auf die er sich zur Interpretation stützt: Sie schrieb für Enkomien solche Exkurse geradezu vor, in denen der Besungene entweder mittels seiner Heimat und seiner Vorfahren gepriesen wurde, « ou par autres uagabondes digreßions, industrieusement brouillant ores ceci, ores cela, & par l'un louant lautre λ252. Diese rhetorische Tradition ließ bei Interpreten der Renaissance den Gedanken nicht aufkommen, bei Pindars Mythenerzählungen handle es sich um vom Gedichtganzen gelöste Versatzstücke, die der Dichter aus genialischer Willkür in sein Epinikion einfüge. So kann man zusammenfassend den Interpreten der Renaissance eine überraschende Modernität bei ihrer Lektüre Pindars bescheinigen: Die Betonung des technischen, „alexandrinischen" Elements seiner Dichtung bewahrte sie vor dem Mißverständnis, Pindar als genialischen Wirrkopf, seine Dichtung als regellos „stürmende und drängende" Schwärmerei aufzufassen. Ihre eigene Vertrautheit mit einer von rhetorischen Regeln beeinflußten und gesteuerten Dichtung ließ Leser der Renaissance erwarten, auch in Pindars Epinikien eine solche „rhetorische" Poesie zu finden253. So verwendeten sie mehr Energie darauf, die 251) S. oben S. 34-36. 252) S. oben S. 140f. Unter diesen etwas unpräzisen Wortlaut Ronsards könnte man das von Le Sueur hier angenommene Verfahren der mythischen Analogie ziehen (vgl. « par l'un louant lautre »). 253) Vgl. GORDON, Ronsard et la rhétorique 54f.: « [...] les rhéteurs analysent souvent la poésie comme si elle dépendait du genre démonstratif. Sous l'influence de cet exemple, il est probable que les lecteurs du XVIe siècle viennent à la poésie avec des réactions toutes faites et qu'il s'attendent à trouver chez les poètes les conventions d'éloge que la rhétorique leur a rendu familières. »

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Funktion der scheinbar irrelevanten Digressionen im Rahmen des Enkomions zu bestimmen als sich persönliche oder psychologische Erklärungen für solche Abschnitte auszudenken. Schließlich trug sogar eine für uns zunächst befremdliche Eigenart der Renaissance zu einem „modernen" Pindarverständnis bei: In dieser Zeit wurde allgemein archaische, klassische und späte griechische Dichtung nicht scharf voneinander geschieden, weder in der Wertschätzung noch in der Art der Interpretation. Die Auffassung, Verständnisprobleme im Pindartext seien eine ähnliche Erscheinung wie die gelehrten Verrätselungen der alexandrinischen Dichtung mit ihrer Vorliebe für das Entlegene und Gesuchte254, gibt zwar sicherlich ein schiefes Bild vom Verhältnis des Dichters Pindar zu seinem Publikum (anders als die Alexandriner schreibt Pindar nicht für eine kleine Elite, sondern für eine ganze Gesellschaft, der die von ihm benutzten Konventionen völlig vertraut sind), führt die Interpreten der Renaissance aber andererseits auf einen erfolgversprechenden Weg, den auch moderne Pindardeuter noch gehen: Auch wir sehen Pindar als Meister der ungewöhnlichen Formulierung, dessen Kunst darin besteht, bekannte Konventionen und Topoi neuartig auszudrücken oder nur durch kurze Andeutungen zu evozieren255, und sehen eine Aufgabe der Deutung auch darin, diese Andeutungen und Verrätselungen auf die einfachen Aussagen zurückzuführen.

254) Zwischen den alexandrinischen Dichtem und Pindar gibt es in der Tat Berührungspunkte; für Kallimachos vgl. SMILEY, „Callimachus' Debt" (zu stofflichen Entlehnungen); POLIAKOFF, „Nectar, Springs and the Sea" (zu Metaphern für Dichtung); KÖHNKEN, „Apollo's Retort" (zur pindarischen Abbruchsformel hy. 2,105-113); NEWMAN, „Pindar and Callimachus" und FUHRER, „Pindaric Feature" (zu Fragen der poetischen Technik); RICHARDSON, „Pindar and Later Criticism", bes. 391-398 (zeigt die Ähnlichkeit „poetologischer" Passagen bei Pindar und Kallimachos). 255) S. obenS. 44f.

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Though this be madnesse, yet there is method in't [...]. William Shakespeare

le suis troublé de fureur, Le poil me dresse d'horreur, D'un¿ ardeur mon am¿ est pleine : Mon estomac est pantois, Et par son canal ma uois Peut se degorger a peine, Vne deite m'emmeine : Fuiez peuple qu'on me laisse, Voici uenir la deesse, le la sen entrer en moi : Heureus celui qu'elle garde, Et celui qui la regarde Dans son templi où ie la uoi.*

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Ronsard beginnt seine Ode an Königin Catherine de Médicis, die zweite der Quatre premiers Hures des Odes von 1550 {OC 1, 65), mit dieser Beschreibung seiner fureur, das erste Gedicht seiner Sammlung, an Henri II, hatte er mit einem das Prooem von Ol. 7 imitierenden Vergleich seiner Dichtung mit einer weingefüllten Schale1 begonnen. Beide Prooimien rücken so die Dichtung und den Dichter an den Beginn: Daß diese an so prominenter Stelle befindlichen und an so hohe Personen adressierten Oden den laudator dem laudandus, das „Ich" dem „Du" vorangehen lassen, zeugt von einem hohen Selbstbewußtsein des Dichters. Gewiß, in beiden Stücken handelt es sich um panegyrische Literatur, aber die neue Dichterschule wendet sich bewußt von dem bisweilen allzu unterwürfigen Stil ihrer Vorgänger ab2. Dabei erscheinen mir etwaige persönliche 1) Während der Sinn dieses Vergleiches bei Pindar im großen und ganzen klar zu sein scheint, sind viele Einzelheiten immer noch strittig, vgl. die letzten Beiträge zur Erklärung der Passage: YOUNG, Three Odes 69-74; BRASWELL, „Notes on the Prooemium"; RUBIN, „Toast and the Future Prayer"; ANGELI BERNARDINI, Mito e attualità 157-163; BROWN, „Bridegroom and the Ahlete" und VERDENIUS, Commentaries on Pindar 1,40-49. 2) Vgl. HOLYOAKE, Poetic Theory 120.

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Motive der Pléiadedichter für dieses neue Selbstbewußtsein (so ζ. B. der Umstand, daß sie selbst im Gegensatz zu den meisten französischen Dichtern vor ihnen dem Adel angehören und deshalb bei Hof selbstsicherer auftreten können3) weit weniger wichtig als dessen Rolle im Text: Bevor der Lobredner sein Lob beginnt, konstituiert und legitimiert er sich in seiner Rolle. Im Fall des Prooems der Ode für den König geschieht dies durch die durchgängige Imitation eines antiken Textes, und im Kommentar Jean Martins, der in den ersten beiden Auflagen der Odes enthalten war, wird auf diese Imitation ausdrücklich hingewiesen (OC 2,205): Semblable comparaison commance la 7 Ode des Olympies de Pindare, faite à l'honneur de Diagore Rhodien φιάλαν ώς ε ΐ τ ι ς . le poëté est le maistre du banquet, sa riche tasse c'est son hinne, pource qu'elle reçoit toutes choses, le uin excelant c'est le don des muses, le Roi, c'est son hôtd, ou conuié, abreuué de telle liqueur.* Interessant ist, wie in dieser Erklärung des Passus der Dichter der aktive Teil ist, der „maistre du banquet", während der König, der Adressat des Gedichtes, nur passiv bewirtet und getränkt wird. Wer psychologische Interpretationen liebt, mag daraus seine Schlüsse ziehen - ich konzentriere mich auf die Funktion dieses Prooems im Text: Es soll den Wert der persona des laudator im Gedicht hervorheben und so das Lob verstärken. Der laudator stellt sich betont in eine lange Reihe anderer Lobesdichter, die bei Pindar, dem „roy des sonneurs", beginnt; dieses Anknüpfen an die Antike verleiht ihm Autorität, seinem Lob Gewicht: Hypertextualität erfüllt hier die Rolle der Legitimierung4.

Die parallele Passage in der Ode an die Königin aber ist noch interessanter: Am Anfang des Gedichtes steht hier nicht nur diese Konstituierung der persona, sondern auch eine Beschreibung des dichterischen Schöpfungsprozesses. Der Dichter spürt in dieser ersten Strophe die Göttin in sich fahren und ihn inspirieren - inspirieren zu eben der Ode, an deren Anfang wir diese Beschreibung lesen. Der Beginn eines Gedichtes ist eine privilegierte Position, der Augenblick in der Zeit, in dem das Werk für den Rezipienten aus dem Noch-nicht tritt und sich in der Gegenwart manifestiert. Ronsard zieht diesen privilegierten Augenblick für Leser und Dichter in eins: In dieser Strophe fallen der Beginn der Schöpfung des Gedichtes und der Beginn seiner Rezeption zusammen, so als entfalte sich das Gebilde erst genau in der Sekunde, in der wir zu lesen anfangen. Jedes Gedicht betreten wir über die Schwelle eines ersten Wortes, eines ersten Satzes, eines ersten Sinnes, aber nur selten zeigt die Schwelle ihre Zweideutigkeit so eindeutig wie in dieser Ode: Materiell dem Text angehörend gibt diese erste Strophe doch vor, außerhalb seiner zu stehen. Lassen wir uns auf die poetische Fiktion ein, so sehen wir am Beginn des Gedichtes den Dichter,

3) 4)

Vgl. dazu WEBER, Création poétique 1,63-106 und CASTOR, Pléiade Poetics 25. S. oben S. 60f.

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b e v o r er eben dieses Gedicht zu schreiben begonnen hat5. In einer unendlichen Regression sucht der Text einen Punkt vor seiner eigenen Existenz zu erreichen, ohne doch jemals dorthin gelangen zu können, verwischt die Dichotomie von Text und Außertext (von „texte" und „prétexte", könnte ich im Französischen schreiben) - und den Leser ergreift Schwindelgefühl in dieser unendlichen Reihung von Bildern des Dichters, der sich in seinem eigenen Text spiegelt, von sich ewig wiederholenden russischen Puppen: Diese Gedichtschwelle können wir nicht gelassenen Schrittes überwinden, wir werden gewaltsam, schwindelerregend ins Innere des Textes gesogen. Und ebenso scheint es auch dem Dichter zu ergehen: In dieser ersten Strophe steht er weder außerhalb noch innerhalb des Gedichtes auf festem Boden, sondern hat sich auf der zweideutigen Schwelle niedergelassen, die diesen neuen Narcissus (mit uns, den Lesern) in den von ihm selbst geschaffenen Spiegel zieht. Zweideutig, widerspruchsvoll ist diese erste Strophe des Gedichtes, ein Januskopf, der nach außen und innen zugleich schaut, Teil und nicht Teil des Textes. Widerspruchsvoll ist sie auch noch in anderer Hinsicht: Der gebildete Leser der Renaissance erkannte sicherlich sofort, daß eines der literarischen Vorbilder6 für Ronsards Schilderung der fureur Virgils Darstellung der Sibylle von Cumae (Aeri. 6, 45-50) war, die von Apollo inspiriert wird7. Und wie die 5) Vgl. SLATER, „Futures in Pindar" 88: "[...] Pindar formulates his song by convention roughly for a time, when his chorus is arriving at the place where they are to sing, but at a moment before the song is to be sung." (zu der Frage, ob Pindars Lieder überhaupt von einem Chor vorgetragen wurden, s. oben S. 42 Anm. 50). 6) In der Tatsache, daß die fureur hier als Epiphanie einer Gottheit (vgl. besonders 9f.; mit der „deesse" ist wohl, vielleicht mit Anklang an die θεά des //¿as-Prooems, die Muse gemeint) dargestellt wird, sehe ich (gegen Guy DEMERSON in Ronsard, OC 2,229) eine Anleihe an den Beginn von Kallimachos' Apollonhymnus, wo die apollinische Begeisterung mit demselben Bild geschildert wird. Interessant sind hierbei die Verse 1 lf. « Heureus celui qu'elle garde / Et celui qui la regarde »: Die in LAUMONIERS Edition angeführten Varianten aus den Ausgaben nach 1553 zeigen, daß Ronsard hier „garde" und „regarde" als Synonyme verwendet, der Gott also vom Inspirierten gesehen wird und ihn seinerseits betrachtet. Beide Motive sind in der Antike häufig anzutreffen: (1) Der Blick der Muse(n) inspiriert den Dichter seit Hesiod, Theog. 81-84, vgl. ferner z. B. Kallimachos, frg. 1, 37f. = epigr. 21, 5f. und Horaz, carm. 4, 3, lf.; (2) der Dichter betont, er habe den inspirierenden Gott selbst gesehen, vgl. Alkman, frg. 47 PMG; Horaz, carm. 2, 19, lf. sowie (in etwas anderem Zusammenhang) Virgil, ecl. 10, 26, vgl. femer die Sammlung der Belege bei NISBET/HUBBARD, Horace Odes 2 315. In der antiken Literatur finde ich keine Stelle, an der beide Motive wie hier bei Ronsard auf engstem Raum miteinander verknüpft sind, doch begegnet in Kallimachos' Hymnus sowohl der Blick des Dichters (11 όψόμεθ") als auch, in anderen Zusammenhängen, zweimal der Blick des Gottes (52 όφθαλμόν έπήγαγεν und 90 ΐ δ ε ν , vgl. auch 93 είδε). Angesichts der Ähnlichkeit von Ronsards « Heureus [...] celui qui la regarde » mit Kallimachos' ος μιν ϊδτι, μέγας ούτος (10) halte ich es somit für sehr wahrscheinlich, daß auch der Apollonhymnus zu den Vorbildtexten dieses Strophe Ronsards gehört. 7) Die wichtigsten Berührungspunkte: « le poil me dresse » (2) = „non comptae mansere comae" (48), « D'un¿ ardeur mon ame est pleine » (3) = „rabie fera corda tument" (49), « Mon estomac est pantois » (4) = „pectus anhelum" (48). Das Rasen der Sibylle

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Sibylle, so wird auch der Dichter vom Text in einer typisch mündlichen Situation vorgestellt: Er erwähnt seine Stimme (5), er wendet sich direkt an das ihn umstehende Publikum: « Fuiez peuple, qu'on me laisse »8. Moderne Leser von Lyrik lassen sich durch die jahrhundertelange abendländische Tradition oft einlullen - so sehr, daß wir den Widerspruch des Gelesenen gar nicht mehr bemerken: Da liegt ein Stück bedruckten Papiers vor uns, das zu sprechen vorgibt, das uns von seiner Mündlichkeit überzeugen möchte. Schon bei den frühesten überlieferten Fragmenten der archaischen griechischen Lyriker können wir uns die Frage stellen, wieviel von der Mündlichkeit, die das lyrische Ich für sich in Anspruch nimmt, nur konventionelle Fiktion ist und wieviel Realität. All diese Elegien, die zum Kampfe aufrufen, diese lamben, die einen Gegner verspotten, diese melischen Gedichte, die das Symposion oder den Thiasos zur Szene haben - wurden sie von ihren Autoren für eine bestimmte Situation (und nur für sie) geschrieben9, so daß lyrisches Ich und Autor zusammenfallen (und ihre schriftliche Überlieferung nur eine Art Betriebsunfall ist10), oder war ihre weitere, schriftliche Verbreitung von vornherein vorgesehen, die Mündlichkeit also mehr im Gedicht (auf dem Papier) erzeugt als außerhalb seiner existierend"? Kein Zweifel aber ist dann mehr möglich bei den Werken der alexandrinischen Lyriker und ihrer römischen Nachfolger12: Formal an die Tradition der ersten Lyriker anknüpfend, mit deren Texten genauestens vertraut, wird bei diesen Autoren die Mündlichkeit rein konventionell wo ihre Werke wirklich einmal mündlich vorgetragen werden, im Freundeskreis der Neoteriker etwa oder bei einer der von Horaz, Martial und anderen so anschaulich beschriebenen Autorenlesungen 13 , da ist dies nur die Ausnahme von der üblichen schriftlichen Verbreitung.

scheint ein beliebter Vergleichspunkt für die fureur der Dichter zu sein, vgl. GENTILI, Poetry and its Public 11 und s. unten S. 159 mit Anm. 48. 8) Diesem Wunsch des inspirierten Dichters sollte man Folge leisten, wie uns Horaz, ars 453-476 lehrt: „uesanum tetigisse timent fugiuntque poetam / qui sapiunt"; binnen kurzem wird er ohnehin in irgendeine Grube fallen und den gerade noch verhaßten „vil peuple" zu Hilfe rufen: „.succurrite* longum /clamel ,io ciues'". 9) Dies ist eine der Hauptthesen von GENTILI, Poetry and Its Public, einer der letzten Gesamtdarstellungen der archaischen griechischen Lyrik, vgl. z. B. 20: "Many poems in Alcaeus, Sappho, Solon, the Theognidean collection, and Anacreon must have been composed in the immediate hie et nunc of a particular occasion." 10) So zeigt sich FRANKEL, Dichtung und Philosophie 185 erstaunt, daß ein Lied Alkmans schriftlich überliefert wurde: „Eigentlich hätte dieses Lied untergehen sollen, nachdem es seinen nächsten Zweck erfüllt hatte [...]."; ähnlich ζ. Β. NAGY, Pindar's Homer 382f. 11) Daß die Dinge schon für Archilochos, den wohl frühesten griechischen Lyriker, von dem Texte überliefert sind, komplizierter liegen, als häufig angenommen wird, und die erste Person bei ihm wohl weniger autobiographisch als vielmehr persona ist, zeigen DOVER, „Poetry of Archilochos" 205-212 und SEIDENSTICKER, „Archilochus and Odysseus". Wer sich näher mit der archaischen griechischen Literatur befaßt hat, weiß, daß diese Frage in den größeren Kontext des Problems gehört, in welchem Maße die Epoche von Homer bis Piaton noch von Mündlichkeit geprägt war oder schon literarisch dachte und arbeitete. Die Bibliographie zu diesem Problemkreis ist mittlerweile ins Unendliche gewachsen und kann kaum noch von einem Einzelnen überblickt werden, deshalb kann ich hier nur ohne eine Diskussion der verschiedenen Standpunkte apodiktisch sagen, daß ich mehr Plausibilität in der Ansicht derer sehe, die spätestens seit dem Einsetzen der Lyrik (aber in beschränktem Maße auch schon in den homerischen Epen) eher literarisches als mündliches Schaffen am Werk sehen. 12) Vgl. BING, Well-Read Muse 17: "Performance might now [by Hellenistic times] appear as a self-conscious fiction [...]." 13) Vgl. KROLL, Studien 121f.

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Hier findet die fiktive Mündlichkeit einen festen Platz in der abendländischen Lyrik, den sie bis weit in die Moderne hinein nicht mehr aufgeben sollte.

Auch Ronsards Gedicht steht in dieser Tradition und bleibt innerhalb der Konventionen dieser fiktiven Mündlichkeit. Dennoch wird sie hier bei ihm mehr als bei anderen zu einem entscheidenden Faktor des Gedichtes: Nur wenn wir, die Leser, uns in den Text hineinziehen lassen und die Rolle des fingierten Publikums akzeptieren, wenn wir also von außertextlichen zu immanenten Lesern werden, kann die persona des Dichters ihre Legitimation aus der fureur gewinnen. Überspitzt formuliert: Vom Funktionieren dieser Konvention hängt das Funktionieren der ganzen Ode ab. Gerade enkomiastische Dichtung (wir werden dies später noch sehen) muß immer wieder aufs Neue ihren Wahrheitsanspruch formulieren, gerade die persona des lobenden Dichters (der laudator) muß sich über die Rolle des bloßen Schreibers hinausheben und eine Legitimation für sein Lob vorweisen. Diese Legitimation wird in Ronsards Ode durch die erste Strophe geboten: Das immanente Publikum wird zum Zeugen für die sibyllinische Inspiration des laudator, der sich somit aus der allzumenschlichen Sphäre des möglicherweise Unwahren und Unaufrichtigen aufschwingt14. TOURNON15 hat bestritten, daß das Konzept der fureur rein konventionell sei, und sie im Text selbst lokalisiert, genauer in den von Ronsard aus der antiken Literatur in seinen Text importierten Sentenzen: [...] les formules sentencieuses ne s'assimilent pas à leur contexte pour l'amplifier en leçons de morale. Elles lui restent toujours partiellement hétérogènes, de façon perceptible ; et c'est là précisément ce qui leur donne une place privilégiée dans la poésie telle que Ronsard la conçoit et la pratique. Quelle que soit la sagesse empreinte dans leur signification, elles relèvent de la « fureur » du seul fait qu'elles n'appartiennent pas en propre au poète qui les formule, et contribuent à donner à son chant les accents « d'une bouche troublée ». TOURNONS Interpretation erscheint mir richtig darin, daß sie die fureur im Text sucht, nicht in der Psyche des Dichters, und er hat auch recht damit, sich mit der Erklärung dieses Konzeptes als literarischer Konvention nicht zu begnügen: Eine solche Klassifizierung ist ja erst die Grundlegung für eine Interpretation, der nächste Schritt muß dann die Frage nach der Funktion des Topos im Kontext sein. In meiner eigenen Analyse des Passus aus der Ode an die Königin

14) Man hat oft über die poetologisch-philosophischen Implikationen dieser Legitimation nachgedacht, die man vom homerischen Musenanruf und dem antiken Topos der Dichterweihe bis zu Rimbauds „Voyant" und den Surrealisten verfolgen kann (in unserem Jahrhundert gibt es dann allerdings auch eine entschiedene Abkehr von dieser Tradition; vgl. ζ. B. Dichter wie Paul Valéry, Œuvres 1, 1204f. « Je trouvais indigne, et je le trouve encore, d'écrire par le seul enthousiasme. L'enthousiasme n'est pas un état d'âme d'écrivain. » oder T. S. Eliot, Selected Prose 44 "Significant emotion [...] has its life in the poem and not in the history of the poet."); aber es erschiene mir ebenso interessant, einmal Konstanten und Veränderungen ihrer kontextuellen Funktion (literarisch, rezeptionsästhetisch, soziologisch usw.) zu untersuchen. 15) „Sagesse des autres" 18.

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habe ich zu zeigen versucht, wie die fureur im Text verankert ist - wobei ich allerdings, etwas anders als TOURNON, den Text als beim Rezipienten produzierten Text verstehe. Der zweideutige Schwellencharakter dieser Strophe, die Konstituierung von Rollen für das immanente Publikum und die persona des Dichters machen die göttliche Inspiration tatsächlich zu mehr als einer rein literarischen Konvention: Die fingierte mündliche Situation mit ihrer für den zeitgenössischen Leser wohl klaren Anspielung auf Virgils Sibylle, die vom (impliziten) Leser miterlebte göttliche Inspiration heben den Dichter über die Rolle des gedungenen Lobredners heraus und verleihen seinem Lob Wahrheit und Autorität.

Dieser funktionale Aspekt der fureur scheint mir in Ronsards Ode der wichtigste zu sein: Fureur und Inspiration spielen sich i n n e r h a l b des Gedichtes ab, kommen nicht von außen an es heran. In etwas anderem Zusammenhang hat CAVE16 vom „self-constituting character" der fureur gesprochen, und die Ode an die Königin gibt ein Beispiel dafür, wie man diese Formulierung verstehen kann: Die göttliche Inspiriertheit des Gedichtes liegt eben in der Darstellung dieser Inspiriertheit. Insofern könnte man behaupten, daß Ronsards Darstellung der fureur in diesem Gedicht unter die von AUSTIN17 beschriebenen „performative utterances" zählt: Ihre Wirklichkeit wird durch den Akt des Aussprechens konstituiert; die Aussage „Ich bin inspiriert" i s t die Inspiration. Zumindest was die Ode ,A la Roine" angeht, scheint mir demnach CAVE18 recht zu haben: "It hardly needs to be said that the question whether Ronsard 'really believed in' the neoplatonist theory of inspiration has little pertinence in such a situation."

2 L'enthousiasme n'est pas un état d'âme d'écrivain. Paul Valéry Quando l'autore ci dice che ha lavorato nel raptus dell'ispirazione, mente. Umberto Eco

Doch die Interpreten von Renaissancedichtung haben sich selten damit zufriedengegeben, die Frage nach der „Aufrichtigkeit" der fureur als unwichtig einfach beiseite zu schieben. Allzu prominent ist dieser Zug in fast der gesamten „höheren" Dichtung der Zeit: Seit in Michele Marullos Hymnus an Sol 19 16) Cornucopian Text 242. 17) Things with Words. 18) Cornucopian Text 242. 19) Carmina 136; zuerst in den vier Büchem der Hymni naturales, enthalten in der zweiten Auflage seiner Epigrammata, Florenz 1497; vgl. MADDISON, Apollo and the Nine 83.

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offenbar zum ersten Mal seit der Antike diese göttliche Gunstbezeigung in der Dichtung erfahren und dargestellt worden ist20, kann und will kaum ein Dichter ohne einen Anspruch auf göttliche Inspiration auskommen21. Manche Interpreten sind geneigt, an die Aufrichtigkeit der fureur zu glauben und in ihr eine Einkleidung des allgemeingültigen Gedankens von der gänzlich verschiedenen Sehweise des Dichters zu erkennen, so ζ. B. WEBER im Jahre 195622: A travers les singularités et les bizarreries de l'explication mythique des fureurs poétiques s'affirme une idée capitale et toujours valable : la poésie est un mode de connaissance différent de la connaissance conceptuelle et méthodique, mais ayant le même objet. Il est vrai que les théoriciens du XVI e siècle ont été impuissants à préciser la nature de cette différence. Demgegenüber ist E C H A R D 2 3 (1981) eher skeptisch, was den Glauben der Dichter an diese Theorie angeht: The fact that Ronsard has nymphs dancing in the forest of Gastine does not mean he believed it was so. The fact that the humanists say a poet is a 'vates' does not mean they believed it was so. In both instances classical custom dictates the inclusion. Einer der schwerwiegendsten Fehler, den man bei einer Untersuchung von dichtungstheoretischen Fragen aus vergangener Zeit machen kann, ist der Glaube, unsere eigenen Begriffe ließen sich ohne weiteres auf die Vergangenheit übertragen; ein Fehler, der besonders dadurch provoziert wird, daß sich bisweilen dieselben Termini sowohl in unserer als auch in der zurückliegenden Zeit finden, ohne aber notwendigerweise denselben Inhalt zu haben. Dies scheint mir teilweise auch beim vorliegenden Problemkreis der Fall zu sein: Mit den Worten „Inspiration" und „dichterische Schöpfung" verbinden wir unwillkürlich Ideen, die man aus dem Gedankengut der Romantik ableiten kann24. So ruft bei uns der Begriff des „inspirierten Dichters" das Bild eines in trunkener

20) Einzelne Belege für das Motiv gibt es auch im Mittelalter, aber anscheinend nirgends eine so ausführliche Darstellung wie bei den Dichtem der Renaissance, vgl. CURTIUS, Europäische Literatur 467f. 21) Auch Ronsard kannte Marullus' Hymni und benutzte sie für seine eigenen Hymnes, vgl. WEBER, Création poétique 1,483-493. 22) Création poétique 1, 36. Ähnlich äußert sich auch BAÏCHE, Naissance du baroque 30. 23) „Humanists and Classical Poetry" 427. 24) Romantik sei hier nur als literaturhistorischer Terminus, allerdings im weitesten Sinne, verstanden; zur Zählebigkeit romantischer Kategorien in der modernen Literaturwissenschaft, auch dort, wo man sie am wenigsten vermuten würde, vgl. TODOROV, Critique de la critique.

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Schaffenslust Dichtenden wach, der sich mit seinem Notizbuch in die Einsamkeit der Natur flüchtet, um dort in rasender Eile aufs Papier zu wühlen, was ihm die Muse diktiert und wes' das Herz ihm überläuft. Dieses Bild existiert ähnlich auch schon in der Renaissance, aber es existiert nur in der Karikatur: Einen solchen Dichter emstzunehmen wäre damals kaum jemandem eingefallen 23 . So liefert Guillaume Des Autels in seiner vermutlich 1SS9 zum ersten Mal erschienenen Mythistoire Barragouyne eine gar grausliche Beschreibung der inspirierten Dichter (p. 70f.): Sein Held Gaudichon besteigt den Musenberg und läßt sich von Calliope (die mit dem wenig schmeichlerischen Epitheton „putain" belegt wird) das Volk der französischen Dichter zeigen, « vne iolie petite bande de furieux ». Sie alle sind nicht nur in dichterischer Raserei, sondern noch dazu verliebt: « [...] ces deux qualitez iointes ensemble, Poète & Amoureux (deux plus hauls degrez de supreme folie) sont suffisantes pour écerueler vn bon cerueau. » Auch Jean Macer hat in seiner gegen die Dichtung der Pléiade gerichteten Philippique von 1557 nur Spott für die fureur übrig (f. Av r ): « [...] celuy d'entre eux est tenu le plus vaillät, qui est le plus souuét yure, & surprins de la fureur bacchique. » Ähnlich wird di e fureur im 1564 zum ersten Mal vollständig gedruckten Cinquiesme liure26 aufs Kom genommen: Das 46. Kapitel trägt die Überschrift „Comment Panurge et les autres rithment par fureur poétique" und beschreibt einen Anfall dichterischer Schöpfungswut, der vor allem darauf zurückzuführen ist, daß die Beteiligten sämtlich - betrunken sind 27 . Die Beschreibung der Symptome zeigt Berührungen mit der in Ronsards Ode „A la Roine" (Rabelais, OC 912): « Es-tu, disi Frère Jean, fol devenu ou enchanté ? Voyez comme il escume ; entendez comment il rithmaille. Que tous les diables a il mangé ? Il tourne les yeux en la teste comme une chèvre qui se meurt ! Se retirera il là à l'escart ? fiantera il plus loin ? mangera il de l'herbe aux chiens pour descharger son thomas ? ou à usage monachal mettra il dedans la gorge le poing jusques au coude afin de se curer les hypochondres ? reprendra il du poil de ce chien qui le mordit ? » Pantagruel reprent Frère Jean, et luy dit : « Croyez que c'est la fureur poétique Du bon Bacchus [...]. »* Die wenig ehrenvollen Vergleiche (mit einer sterbenden Ziege, einem pathologisch Wahnsinnigen, einem unter Drogeneinfluß Stehenden), die ganze Absurdität der Situation mit ihren im wörtlichen und nicht übertragenen Sinne trunkenen „Dichtem" zeigen, wie wenig ernst das Bild einer solchen göttlichen Raserei offenbar genommen wurde.

25) Erwähnt werden muß, daß auch in der Antike die Idee des schöpferischen Wahnsinns schon zum Spott reizte, vgl. z. B. die karikierende Darstellung bei Aristophanes, nub. 319-322, die ironisierende Schilderung in Piatons Ion und den oben Anm. 8 schon zitierten „uesanus poeta" aus Horazens ars. 26) Inwieweit dieses letzte Buch der Pantagruel-Reihe auf Rabelais zurückgeht, ist eine in der Forschung heftig umstrittene Frage; heute scheint der Konsens dahin zu gehen, es zum größten Teil für nicht authentisch zu halten. 27) Trunkenheil als Vorstufe zur poetischen Inspiration findet sich in der antiken und mittelalterlichen Tradition, vgl. ZIOLKOWSKI, „Classical Influences" 31-34.

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Ronsard selbst hingegen zeichnet in der Ode „A Jan de La Hurteloire" ein Bild vom dichterischen Schaffen, das uns weit wegführt vom romantischen Dichter, der nur seiner Eingebung vertraut (OC 1, 215): [... J seul dedans ta chambré à part, Escri de main laborieuse Les uers qu'Apollon te depart. Lequel iadis t'enseigna lart De sa sçienc^ inestimable, Dont le désir te point & art, Tant la fureur en est aimable. Pelle melle dessus la table Les liures auBi soient ouuers, [...]·* Obwohl in dieser Textpassage die fureur ausdrücklich erwähnt wird, präsentiert sich die dargestellte poetische Arbeit doch nicht als Schaffen eines romantischen Orginalgenies, sondern als mühsames Handwerk (vgl. „main laborieuse") eines poeta doctus alexandrinischen Zuschnitts28. Auch in einer pièce liminaire zur ersten Auflage von Paul Schedes Schediasmata von 1574 finden wir die für unser Gefühl zunächst überraschende Verbindung von „natürlicher" Inspiration und mühsamer Arbeit. Das Sonett eines gewissen Franciscus Averlius ist ein Akrostichon des Namens „Paulus Melissus" (Schediasmata f. a6 v ): Ρ A V L

indare par le miel dans le blanc laict espars du poëme au vif tiré la pourtraiture, oulant nous enseigner, que comme de nature e laict vient ; außi doit des esprits bien-gaillars

V S M E

enir le vers naïf, coulant de toutes pars, uivy toutes fois d'art, de diligence & cure, esme s'il est besoing user faut de rature, par l'escrit ronceux faire de beaus essars.

L I S

es abeilles ainsi non sans peine sur peine ngenieusement emmielent leur manoir, ignalant combien vaut l'industrieuse veine.

S ur tous, ce laict & miel en tes vers on peut veoir ; V ers, ou nature faict avec l'art sa demeure, S ymbolizans afin que par toy la mort meure.* 28) Schon für die antiken Dichter ist seit der hellenistischen Zeit Dichten nur noch unter Heranziehung vieler Bücher vorstellbar, vgl. KROLL, Studien 37f.

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Nach dem Gedicht erklärt Averlius noch einmal in einer lateinischen Prosaparaphrase, wie er Pindars Bild πέμπω μεμιγμένον μέλι λευκώ / συν γάλακτι (Nem. 3, 77f.) versteht: Pindarus per lac, quod a natura est, suavitatem indicat: per mei, quod plurimo apum labore conficitur, artem & diligentiam. Sic ego in te agnosco & vena divite copiosum stilum, & incredibili studio & arte excultum genium: Quod si parum feliciter expressi, multum tamen integré de te judicavi. Vale Die bei Pindar zu einer Einheit verschmolzenen Bestandteile („Honig, mit weisser Milch vermischt" soll wohl die besondere Süße des Siegesliedes betonen) werden hier also in zwei Komponenten zerlegt: Die Milch symbolisiert die natürliche Begabung, der Honig hingegen steht für den Dichter, der wie die Bienen fleißig arbeiten muß. Das Bild der mühsam arbeitenden Biene zeigt bei Averlius wörtliche Anklänge an Horaz, carm. 4, 2, 27-32, wo Horaz sein Dichten als „nach Art einer Biene" vorgehend bezeichnet, „grata carpentis thyma per laborem / plurimum"29 (vgl. bei Averlius „plurimo apum labore"). Averlius greift hier jedoch einen seit der Antike durch das Mittelalter bis in die Renaissance nachweisbaren Topos30 auf, der das Vorgehen der Dichter mit dem der Bienen vergleicht; dieses Bild wird besonders häufig auf die Art angewendet, in der Dichter ihre Vorgänger benutzen sollen: Wie die Bienen sollen sie von Blüte zu Blüte fliegend den Saft einsammeln und daraus etwas Eigenes produzieren. Offenbar hat Pindars Wort „Honig" bei dem Humanisten eine Assoziation an diesen Topos geweckt, und es ist interessant zu sehen, wie diese intertextuelle Lektüre dem Text des Epinikions eine neue Dimension gibt (wobei dann allerding die „Milch" etwas gewaltsam zum Symbol der Natur hochstilisiert werden muß, offenbar eine ad hoc Deutung, die nur um der Symmetrie „natura - ars" willen gemacht wird31). 29) Auch Pindar selbst vergleicht einmal seine Gedichte mit dem Flug einer Biene, Pyth. 10, 53f. έγκωμίων γαρ άωτος ύμνων / έπ' ά λ λ ο τ ' ά λ λ ο ν ώτε μ έ λ ι σ σ α θύνει λόγον, doch ist in diesem Vergleich der Aspekt der mühsamen Arbeit, der bei Averlius im Vordergrund steht („incredibili studio"), nicht genannt, daher liegt es hier näher, an Horaz (vgl. „per laborem plurimum") als Quelle zu denken (wobei Horaz selbst möglicherweise bei diesem Vergleich mit einer Biene auf Simonides, frg. 593 PMG zurückgreift; vgl. FRAENKEL, Horace 435 Anm. 1; FRANKEL, Dichtung und Philosophie 369 und SYNDIKUS, Lyrik des Horaz 2, 302Γ.). 30) Vgl. die umfangreiche Sammlung der Belege bei STACKELBERG, „Bienengleichnis". 31) Die Zusammenstellung „Milch und Honig" hat bei Lesern der Renaissance gewiß auch Erinnerungen an biblische und christliche Formulierungen wachgerufen. Vielleicht ist es daher nicht ganz abwegig, die apokryphe Apocalypsis Pauli zu zitieren, in der die beiden Elemente ähnliche Funktionen übernehmen, vgl. USENER, Kleine Schriften 4, 401: „[...] der

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Diese eigenwillige Deutung des pindarischen Bildes zeigt noch einmal in aller Deutlichkeit, daß Pindar in der Renaissance nicht als „Stürmer und Dränger" avant la lettre verstanden wurde. Ebensowenig wie Ronsard empfand auch Averlius die Theorie von der Inspiration und das handwerkliche Arbeiten eines poeta doctus als Gegensatz: Dies zeigt, wie wenig unser moderner, oder genauer, der romantische Inspirationsbegriff der Renaissance angemessen ist, denn mit ihm läge in der Tat zwischen diesen beiden Polen eine schwer überbrückbare Kluft vor. Naiv erscheint es mir daher, wenn CLEMENTS 3 2 (ohne jeden Quellenbeleg) das Erlebnis eines solchen Gegensatzes auch fur die Dichter der Pléiade voraussetzt: Trying to subscribe to the classic beliefs in έ ν θ ο υ σ ι α σ μ ό ς and ingenium, these poets [of the Pléiade] were sobered by the disclosure that poetry was hard work. Because they were practitioners even more than theorists of poetry, they knew this from their own experience. Müssen wir wirklich glauben, die Dichter der Pléiade seien ahnungslos genug gewesen, um erst einer solchen „Ernüchterung" zu bedürfen? Mir erscheint es ganz im Gegenteil berechtigt, das Wissen um den handwerklichen, mühsamen Charakter des poetischen Schaffensprozesses vorauszusetzen 33 . Der Gedanke, daß Dichtung sehr eng mit Rhetorik verbunden ist und ihren Regeln zu folgen hat, ja daß sie nur eine besondere Art von Rhetorik ist34, war für Dichter und Publikum der französischen Renaissance so selbstverständlich, daß sie nicht erst an ihn erinnert werden mußten35. In diesem Zusammenhang muß auch daran erinnert werden, daß der dichterische Schöpfungsprozeß in der Renaissance anders gesehen wurde als in der (nach-) romantischen Zeit: Zwar finden wir auch hier gelegentlich das Bild vom

Honigstrom ist der Ort der Propheten, der Milchfluß der unschuldigen Kindlein und der reinen Seelen." Es ist nicht auszuschließen, daß Averlius seine Deutung wegen ähnlicher Assoziationen erfindet. 32) Pléiade 189. 33) Bei der Erklärung dieses in der französischen Renaissance auffälligen Vorranges des „Technischen" zieht POT, Inspiration et mélancolie 23 eine höchst anregende, wenn auch in ihrer Allgemeinheit anfechtbare Parallele zwischen Malerei und Dichtkunst: « la peinture française est entrée de plain-pied dans le formalisme maniériste sans connaître auparavant l'idéalisme néo-platonicien [...]. » 34) Diese letztere Spielart stammt bekanntlich aus der mittelalterlichen Tradition, vgl. CURTIUS, Europäische Literatur 157-168. 35) Vgl. LAWRENCE, „Rhetorical Tradition", bes. 511; HUTTON, Essays on Renaissance Poetry 291-310 und NAÏS, „Poétique du XVI e siècle"; s. auch oben S. 144 Anm. 253 die Bemerkungen GORDONS zur Erwartungshaltung des Publikums.

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gottgleichen Schöpfer, der gewissermaßen ex nihilo sein Werk schafft 36 , aber der überwiegende Teil der betreffenden Passagen aus Dichtung und theoretischen Werken sieht diesen Prozeß doch eher im Rahmen der aus der antiken Rhetorik bekannten inuentio. Dieser Terminus aber bezeichnet gerade nicht die freie Erfindung, sondern das Auffinden von schon existierenden Themen oder Argumenten 37 . Aus dieser rhetorischen Tradition heraus wird verständlich, warum für einen Dichter der Renaissance kein Gegensatz besteht zwischen einem eigenständigen Schaffen und dem Prinzip der imitatio - ein Gegensatz, den spätere Interpreten nichtsdestoweniger auch in Aussagen dieser Epoche zu finden glauben38. Wenn wir all diese Aspekte in Betracht zu ziehen versuchen (den rhetorischhandwerklichen Aspekt der dichterischen Schöpfung in der Renaissance, das Prinzip der imitatio, die Tradition des poeta doctus), werden wir wohl kaum geneigt sein, bei den Darstellungen der fureur besonders tiefe philosophische oder gar mystisch-religiöse Ideen am Werk zu sehen, besonders wenn wir bedenken, wie sehr die poetische Theorie der Renaissance (auch dies aus der Tradition der antiken Rhetorik) auf den Rezipienten bezogen ist39. Diese Ausrichtung auf den Leser läßt es fruchtbarer erscheinen, die fureur als Strategie im Text zu untersuchen und zu prüfen, was sie eigentlich erreicht (eine Frage, auf die ich auf den ersten Seiten dieses Kapitels für einen einzelnen Text eine Teilantwort zu geben versucht habe), als nach ihrer „Aufrichtigkeit" zu fragen. Aber es ist auch notwendig, über den Einzeltext hinauszugehen und nach den größeren Zusammenhängen zu fragen, innerhalb derer die fureur wirksam wird. In einem geistesgeschichtlichen Rahmen kann sie sicherlich als ein seit der christlichen Spätantike zu beobachtender Versuch interpretiert werden, gegen die platonische Behauptung zu argumentieren, Dichtung sei moralisch 36) Dies betont zu Recht LIEBERG, „Idee des dichterischen Schöpfertums", der seine These allerdings etwas überspitzt; für den Bereich der französischen Renaissance vgl. außerdem die bei PATTERSON, French Poetic Theory 1, 671 zitierten Aussagen Vauquelin de La Fresnayes. 37) Vgl. CASTOR, Pléiade Poetics 95-128. 38) Nur angemerkt sei, daß die Renaissance in dieser Sicht des schöpferischen Prozesses modernen Theorien von der Textproduktion nahesteht, vgl. CAVE, Cornucopian Text 76. 39) In diesem Zusammenhang könnte man auf das Wort Paul Valérys verweisen, Œuvres 1, 1321: « On reconnaît le poète [...] à ce simple fait qu'il change le lecteur en " inspiré ". » Eine ähnlich negaüve Bilanz zieht für die „philosophischen" Implikationen der fureur auch LÜTHJE, „Zum Verhältnis von art und nature" 157 in Hinsicht auf Jacques Peletier (s. unten S. 167f.): „Peletiers Poetik bietet keine Handhabe, ein dem antiken vates vergleichbares Dichterbild zu entwickeln. Die Topoi der Inspirationslehre oder der theologischen Poeük werden allenfalls metaphorisch benutzt, sofern sie nicht in gewundener Argumentation ganz zurückgenommen erscheinen. Es stellt sich [...] die Frage, ob Peletier hier die Ausnahme innerhalb der Renaissancepoetik darstellt, oder ob nicht vielleicht auch andere Autoren bisher zu sehr beim Wort genommen wurden, wenn es um die Inspirationslehre ging."

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gefährlich und als Nachahmung der Nachahmung metaphysisch minderwertig, eine Behauptung, die von Augustinus und anderen Kirchenvätern übernommen wird 40 . Die Ansicht, der Dichter sei göttlich inspiriert, ist als Einwand gegen Piatons pauschale Verdammung der Poesie auch deshalb besonders wirkungsvoll, weil sie ebenfalls aus Piaton stammt41 - allerdings muß sie von späteren Theoretikern ständig weiterentwickelt werden, weil Piatons eigene Darstellung im Ion und Phaidros mit einem gewissen ironischen Unernst vorgetragen wird. So hält sich denn die Renaissance in diesem wie in anderen Punkten der platonischen Philosophie enger an die Übersetzungen und Kommentare des Neupiatonikers Marsilio Ficino als an die Originaltexte Piatons42, da die hier sichtbare Tendenz zur Systematisierung leichter Stoff zu einer dichtungstheoretischen Umsetzung bot. Gerade den Dichtem aus der Pleiade und ihrem Umkreis mußte das Argument von der göttlichen Inspiriertheit des Dichters sehr gelegen kommen, da sich ihre Dichtung vor allem wegen der stark hervortretenden weltlichen und antik-mythologischen Elemente schon früh in dieser Zeit erbitterter Religionskämpfe den Vorwurf von Frivolität und Heidentum gefallen lassen mußte. Aber auch auf einer pragmatischeren Ebene erwies sich das Argument für sie als nützlich: Als junge Dichter ohne bekannte Namen waren sie bis zur Mitte der fünfziger Jahre darauf angewiesen, die Aufmerksamkeit des Hofes und der Großen zu erregen, und die Berufung auf die fureur erlaubte ihnen, sich von der Masse der„rimeurs", also der bloßen Versschmiede, abzusetzen als Autoren einer Dichtung, deren Überlegenheit gewissermaßen göttlich verbürgt war43. Paradoxerweise suchen die Autoren der Pléiade den Anschluß an diese Tradition, indem sie auf zwei Gebieten die völlige Neuartigkeit ihrer Dichtung betonen: Als erste vertreiben sie den „monstre Ignorance" aus Frankreich44, als einzige ihrer Zeit können sie sich darauf berufen, göttlich inspiriert zu sein45. Im Nebeneinander dieser beiden Ansprüche sehen wir ein weiteres Mal, wie wenig 40) Vgl. ECHARD, „Humanists and Classical Poetry" 424f. 41) Vgl. LEBÈGUE, „Platonisme en France" 346f. 42) Vgl. DEMONET-LAUNAY, XVIe siècle 25; LÜTHJE, „Zum Verhältnis von art und nature" 145f.; KRISTELLER, Humanismus und Renaissance 1, 172-174; zur Rezeption Ficinos in der Dichtung der Renaissance ebd. 1, 63 mit Anm. 36; zur Wirkung Ficinos in Frankreich vgl. FRANCHET, Poète et son œuvre 14. Möglicherweise kann auch die in der Renaissance oft begegnende Auffassung, Aufgabe jeder Art von Dichtung sei das Loben und Tadeln (s. oben S. 110), als Reaktion auf Piaton verstanden werden, denn dieser hatte in der berühmten Passage der Politeia, in der er alle Dichter aus seinem Idealstaat verbannt, Hymnen auf Götter und Enkomien auf verdiente Männer ausdrücklich ausgenommen: Rep. 607 a χρή [...] είδεναι [...] οτι οσον μόνον ΰμνους θεοίς καί εγκώμια τοις άγαθοις ποιήσεως παραδεκτέον εις πόλιν, vgl. dazu GENTILI, Poetry and Its Public 41f. 43) Vgl. BAÏCHE, Naissance du baroque 37. 44) S. unten S. 189 mit Anm. 141. 45) S. oben S. 67f.

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dit fureur der Renaissance mit romantischer Schwärmerei zu tun hat: Zwischen der humanistischen Betonung des gelehrten Charakters ihrer Dichtung und der Behauptung, göttlich inspiriert zu sein, gibt es für diese Dichter offenbar keinen Widerspruch. Beachtet werden muß auch, daß die Dichter der Pléiade weder die ersten waren, die humanistische Gelehrsamkeit in die französische Dichtung einführten, noch als erste in Frankreich von der fureur geredet haben. Schon im 1533 gedruckten Bref sommaire Guillaume Télins etwa wird zustimmend ein bei Cicero überliefertes 46 Wort Demokrits zitiert (f. lxxiv r ): « Democritus disoit les poetes qui estoient sans fureur, Cest assauoir qui nestoient rauys en leurs espritz estre non parfaitz / grans & excellens. Car cela procede de nature et non pas dart acquis. »; und auch sonst ist das Konzept der fureur schon vor der Pléiade nachweisbar 47 . Ein wichtiger Meilenstein ist die 1546 gedruckte Übersetzung von Piatons Ion von Richard Le Blanc, in deren Vorwort das Konzept der „fureur diuine" ausführlich erklärt wird (dabei wird als Beispiel unter anderem auch Virgils Sibylle erwähnt 48 ). Doch die Pléiadedichter sind die ersten, die dieses Konzept mit solcher Konsistenz benutzen und daraus einen prominenten Teil ihrer poetologischen Aussagen machen, weil sie seine Wirksamkeit im Kampf um die Aufmerksamkeit des Hofes und den Vorrang in der französischen Dichtung erkennen. Für diese Prominenz muß man jedoch auch Gattungskonventionen verantwortlich machen: Während die Dichter in der Nachfolge Clément Marots sich vor allem des niedrigen Stils bedienten, in dem feierliche Darstellungen der Inspiration nicht üblich sind, sind vor allem Ronsards Odes Beispiele für den „style sublime", in dem solche Passagen ein seit der Antike immer wiederkehrendes Element sind - nicht zuletzt Pindar betont (als laudator) in den Epinikien, seine Kunst sei göttlich inspiriert (vgl. z. B. Isth. 4, 1 θεών εκατι und Passagen wie Ol. 9, 25-29; 11, 8-10 49 ) und konstruiert als Gegenbild zu seiner

46) Diu. 1, 80: „negat enim sine furore Democritus quemquam poetam magnum esse posse, quod idem dicit Plato" (auf diese Quelle verweist Télin selbst in einer Randnote); ähnlich auch de orat. 2, 194. Télin hat mit Demokrit möglicherweise den griechischen Autor zitiert, der tatsächlich am Anfang dieser ganzen Tradition steht, vgl. DODDS, Greeks and the Irrational 82; KROLL, Studien 24 und NISBET/HUBBARD, Horace Odes 2 316f. 47) Vgl. LEBÈGUE, „Platonisme en France" 346f.; MCFARLANE, Renaissance France 10 und POT, Inspiration et mélancolie 23f. 48) Vgl. PATTERSON, French Poetic Theory 1, 246f. Schon bei Pseudo-Longinos, subi. 13, 2 finden wir den Vergleich verzückter Dichter mit der Pythia, vgl. auch die Bitte um Inspiration bei Valerius Flaccus 1, 5-12; s. ferner unten S. 211 Anm. 189. 49) Vgl. dazu BUNDY, Studia Pindarica 1,14-17. Auch Nem. 4,41-43 scheint hierherzugehören, wie MILLER, „Defense of Digressive Leisure" 21 If. Anm. 36 ausführt (gegen KÖHNKEN, Funktion des Mythos 205-212, der die "first person indefinite" hier wohl zu eindeutig auf den laudandus allein beziehen möchte; die beiden folgenden Verse mil ihrer Anrede

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spontanen, „natürlichen" Dichtung die Werke der μαθόντες50, die ohne natürliche Begabung nur durch mechanisches Befolgen der Regeln dichten wollen (vgl. die „rimeurs" und „versificateurs" der Pléiadedichter); ebenso könnte man aber auch Horaz erwähnen, der in der Sammlung seiner Carmina einzelne Gedichte unter anderem dadurch als einer höheren Stilebene zugehörig kennzeichnet, daß er an ihren Beginn eine Beschreibung seiner göttlichen Inspiration (carm. 2, 19; 3, 25) oder einen Musenanruf (carm. 1, 12) oder beides (carm. 4, 6) setzt51. Ausdrücklich beruft sich auf Pindar als Quelle für die fureur Le Carón (Dialogues 277): [...] la fureur des Muses n'inspire rien, qui ne soit tout parfait, diuin et rare. A cète cause Pindare parlant (à mon auis) des poëtes chante ainsi : Des Dieux les enfants immuables Prospèrent tousjours indomables.52 Ähnlich wird Pindar auch bei Jean de La Jessée in einer schon zitierten Passage53 mit Anspielung auf Ol. 2, 86-88 als Beispiel eines „Poete naturel" genannt, der den nur durch „art" Schreibenden überlegen sei (Premieres œuures, p. 79): [...] Pindare osa bien se nommer Poëte naturel, & vainqueur deprimer Ses hayneus assistez du seul art miserable. Ainsi voyant des leurs differer ses chantz beaus, Se donna le nom d'Aigle, & les nomma Corbeaus : Comme s'ils croässoyent par la science aprise.

an die γλυκεία φόρμιγξ scheinen mir aber nahezulegen, daß der laudator zumindest a u c h gemeint ist; vgl. auch LEFKOWITZ, First-Person Fictions 134f.). 50) Vgl. ζ. B. Ol. 2, 86-88; Nem. 3, 40-42 und die weiteren Beispiele bei MILLER, „Defense of Digressive Leisure" 209f. Auch bei Pindar ist dies allerdings jeweils aus dem Kontext zu verstehen und keine dogmatische Position, da er an anderen Stellen das Lernen lobt, vgl. YOUNG, Three Odes 86 Anm. 2 und SNELL, „Was sagt Pindar Neues" 27 Anm. 7. 51) Vgl. ζ. B. auch die funktional ähnliche Anrufung der Μοίσαι bei Theokrit, id. 17,1 und der „Sicelides Musae" und der Quellnymphe Arethusa bei Virgil, ecl. 4, 1 und 10,1; ebenso die Beschreibung àzr fureur bei dem französischen Dichter Gilles Durant de La Bergerie, s. unten S. 183. 52) Isth. 3, 18b: άτρωτοι γε μάν παίδες θεών. Pindar stellt in dieser gnomischen Partie dem menschlichen Leben, das durch ständigen Schicksalswechsel gekennzeichnet ist, das stets unveränderte Sein der Götter (παίδες θεών = θεοί, vgl. THUMMER, Isthmische Gedichte 2, 64) gegenüber. Wenn Le Carón die Gnome auf die Dichter anwendet, so scheint er dies ohne jeden Hinweis im Kontext zu tun, und seine vorsichtige Bemerkung « à mon auis » deutet wohl darauf hin, daß er sich bewußt ist, den Text Pindars hier sehr eigenmächtig umzudeuten. 53) S. oben S. 124.

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Puisse vn instint nayf m'ayder heureusement ! L'Aigle i'imiteray, non le croassement De ceus-la que si peu Nature fauorise. Nach den bisherigen Überlegungen zur fureur ist es wohl einleuchtend, daß La Jessée in diesem Sonett Pindar nicht als einen kunstlosen Schwärmer darstellen (und in dieser Hinsicht als sein Vorbild bezeichnen!) möchte. Auch hier ist der Wunsch nach einem „instint nayf' wieder in erster Linie funktional: Dieser „instint" soll die Überlegenheit vor den als anonymes Gegenbild konstruierten « hayneus assistez du seul art miserable » begründen. Keineswegs wird hier grundsätzlich und theoretisch eindeutig die „science aprise" verdammt - reichlich seltsam hätte auch in der Renaissance eine solche Verdammung wirken müssen in einem Gedicht, das durch das namentliche Zitat aus Pindar seine eigene Gelehrsamkeit so deutlich zur Schau stellt. So bestätigen diese Passagen aus Dichtung und Dichtungstheorie die Ergebnisse, die zuvor aus der philologischen Interpretation Pindars in der Renaissance gezogen wurden54: Der Thebaner gilt der Renaissance nicht als Beispiel für willkürliches, zusammenhangloses Schreiben, Passagen, in denen er von der göttlichen Inspiration seiner Dichtung spricht, werden wie das Konzept der fureur eher als textimmanente Strategie denn als psychologische Selbstaussagen des Dichters verstanden.

3 In einer Passage aus dem Vorwort „Au lecteur" aus Ronsards Odes haben wir gesehen, wie der Name Pindars zu polemischen Zwecken benutzt wurde: Der junge, unbekannte Ronsard gebraucht den „Lyricorum princeps" als Schutzschild gegen eventuelle Angriffe auf seine Poesie55. Ich habe ebenfalls erwähnt, daß das Schicksal des Thebaners mit dem des „Pindare françois" nach 1550 untrennbar verbunden war, so daß es in einigen Fällen sogar schwierig ist zu sagen, ob mit dem Namen „Pindar" nicht überhaupt Ronsard gemeint ist56. Diese beiden Tatsachen muß sich ständig vor Augen halten, wer über Pindar in der Dichtungstheorie der Renaissance nachdenkt. Die junge Gruppe der Pléiade trat 1549/50 mit mehreren Paukenschlägen an die französische Öffentlichkeit (Du Beilays Deffence, sein Recueil de poésie, seine Vers lyriques und seine Oliue mit ihrer ,.Préface", Ronsards Odes und ihr Vorwort) und polemisierte heftig gegen alle frühere Dichtung in Frankreich, die als barbarisch abgetan

54) 55) 56)

S. oben S. 144f. S. oben S. 107 Anm. 135. S. oben S. 17.

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wurde. Damit schaffte sie sich Feinde: Der führende Dichter und offizielle Hofpoet war immer noch der heftig angegriffene Meilin de Saint-Gelais, und die von ihm vertretene alte „Schule"57 Marots hatte immer noch zahlreiche Anhänger unter Frankreichs Dichtern, die sich gegen die arrogante Provokation der „brigade" zur Wehr setzten. Als seit der Mitte der fünfziger Jahre des sechzehnten Jahrhunderts die Überlegenheit der jungen Poeten dann in Frankreich allgemein anerkannt zu sein scheint, kommen die Angriffe von einer anderen Seite: Die immer weiter erstarkenden protestantischen Kreise äußern lautstark ihre Opposition gegen jede Art von weltlicher Poesie und gegen die „heidnische" Dichtung der Pleiade insbesondere; der auf beiden Seiten mit persönlichen Angriffen und großer Bitterkeit ausgefochtene Streit wird durch die Religionskriege noch verschärft (diese christlich-asketische grundsätzliche Opposition gegen Dichtung ist eine während der ganzen Renaissance greifbare Strömung58). Gegen Ende des Jahrhunderts mehren sich dann die Stimmen, die Ronsard und seine Gruppe ebenso pauschal verurteilen wie diese selbst ihre Vorgänger verurteilt hatten, und in diesen Dichtern, nun im Namen einer neoklassischen Ästhetik59, die „Barbarei" verkörpert sehen. Es muß aber betont werden, daß bis 1630, unserem Grenzjahr, kein vollständiger Umschwung feststellbar ist: K A T Z 6 0 hat gezeigt, daß der von manchen früheren Kritikern behauptete starke Bruch im Publikumsgeschmack nicht existierte, daß Ronsard vielmehr bis zu diesem Jahr (und auch noch darüber hinaus) Anhänger und Verehrer hatte. Wir müssen den groben Simplifizierungen der Literaturgeschichtsschreibung gegenüber auf der Hut sein. Weder gibt es eine Epoche, in der die Pléiade uneingeschränkt und von aller Kritik unangefochten geherrscht hätte, noch gibt es einen genau datierbaren Bruch, ein Jahr, in dem die Pléiade plötzlich als nicht mehr aktuell empfunden worden wäre; vielmehr bietet die ganze Periode ein Bild heftiger Polemik, in der bald diese, bald jene Seite zeitweilig ein Übergewicht zu erringen scheint.

57) Der Begriff ist cum grano salis zu nehmen: Wahrscheinlich wurde diesen Dichtem erst durch die Angriffe der Pléiade bewußt, wie sehr sie ästhetische Urteile und Maßstäbe teilten; von einer irgendwie organisierten Gruppe kann bei ihnen zu keiner Zeit gesprochen werden (allerdings ist auch die Pléiade viel schwerer zu fassen und zu definieren, als es zunächst den Anschein hat, und keineswegs monolithisch). Dennoch sind die Vorstellungen dieser Gruppe, als deren wichtigste Vertreter neben Marot selbst und Saint-Gelais noch Charles Fontaine genannt werden muß, so ähnlich, daß das Wort „Schule" nicht verfehlt ist (vgl. auch die Kapitelüberschrift in PATTERSON, French Poetic Theory 1,233: "The School of Marot"). 58) Vgl. SPINGARN, Literary Criticism 9. 59) Vgl. die treffende Formulierung MCFARLANES, „Pierre de Ronsard" 197: "[...] Ronsard's star was to suffer from neo-classical criteria which he himself had done so much to prepare." 60) Ronsard's French Critics.

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Bei vielen Erwähnungen Pindars, bei vielen Urteilen über seine Dichtung muß man sich daher fragen, ob wirklich er selbst gemeint ist oder ob sein Name nur als Repräsentant für etwas anderes genannt wird: Man kann ohne Übertreibung sagen, daß durch Ronsards Berufung auf ihn Pindar zu einem Mitglied der Plèiade wurde und mit den übrigen Dichtem dieser Gruppe be- und verurteilt wird. Ebenso wie viele französische Poeten nach Ronsard „pindarische Oden" schreiben und zu „pindarisieren" behaupten, ohne je ein Epinikion gesehen zu haben, wenden sich offenbar auch manche Kritiker Ronsards gegen Pindar und verurteilen seine Dichtung, die sie nur vom Hörensagen kennen 61 . Da aber andererseits Ronsards Stil in seiner „erhabenen" Lyrik wirklich viele Gemeinsamkeiten mit Pindars Dichtung zeigt (nicht zuletzt deshalb, weil er ihn an vielen Stellen bewußt imitiert), wird es noch schwieriger, zwischen Urteilen zu unterscheiden, die wirklich Pindar meinen, und solchen, in denen er nur stellvertretend für zeitgenössische Dichter genannt wird. Schon in dieser früheren Epoche finden wir daher eine aus der in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts ausbrechenden Querelle des Anciens et des Modernes wohlbekannte Erscheinung: Die antiken Dichter sind oft nur « hommes de paille », in Wirklichkeit sind es die Zeitgenossen, die man unter ihrem Namen angreift oder verteidigt. Dennoch muß in jedem Einzelfall die Frage gestellt werden, warum gerade Pindar erwähnt wird und ob nicht doch eine genauere Kenntnis seiner Dichtung sichtbar wird. Daß die Kunde von Pindars Namen der Kenntnis seiner Werke vorauseilt, kann nicht überraschen angesichts des Ruhmes, den er in der lateinischen Antike genoß, die von der Renaissance ja wesentlich früher rezipiert wurde als die griechische 6 2 . Aber diese Nennungen seines Namens wollen in der Regel offenbar mehr die allgemeine Vorstellung eines großen Dichters, des größten lyrischen Dichters der Antike, evozieren, als daß sie spezifisch Pindar meinen. Damit will ich nicht ausschließen, daß sich auch in Frankreich schon vor Dorat Humanisten mit seinen Gedichten beschäftigt haben. Nur scheinen davon keine Spuren erhalten zu sein 63 , und ins Bewußtsein des allgemeinen gebildeten Publikums dringt er jedenfalls erst durch Ronsards Odensammlung von 1550. Dessen Imitation der Epinikien wird in den unmittelbar der Veröffentlichung vorausgehenden Jahren in theoretischen Texten angekündigt, wie die folgenden Beispiele zeigen. 61) Eine offenkundige Ausnahme von dieser Regel ist die schon mehrfach zitierte Philippique Jean Macers, für den Ronsard nur ein „Pseudopindare Françoys" ist und der daher deutlich zwischen dem immer nur respektvoll genannten griechischen Dichter und seinem modernen Nachahmer (den er heftig bekämpft) unterscheidet. 62) S. oben S. 76-97; vgl. auch VAN TIEGHEM, Littérature latine 29. 63) Zu den Anfängen der Beschäftigung mit Pindar in Frankreich s. oben S. 16 mit Anm. 24.

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Als Vorbild für die dichterische Imitation wird Pindar schon 1548 in Thomas Sebillets64 Art poétique erwähnt. Seinen Abschnitt über die Ode schließt Sebillet folgendermaßen {Artpoétique 148): Pource n'en atten de moy aucune régie autre, fors que choisisses le patron dés Odes en Pindarus Poète Grec, et en Horace Latin, et que tu imites a pied levé Saingelais és Françoises, qui en est Autheur tant dous que diuin. Daß bei Sebillet der der Pléiade verhaßte (vielleicht nicht zuletzt weil um seine Stellung bei Hof beneidete) Saint-Gelais Teil des für die Ode nachzuahmenden Dreigestirns war, mußte den jungen Dichtern heftig mißfallen. Pindar scheint Sebillet nur dem Namen nach zu kennen, denn seine Aufzählung von mit der Pindarimitation unvereinbaren Themen für die Ode hätte er schwerlich so geben können, wenn er seine Gedichte jemals gelesen hätte: « Venus, sés enfans, et sés Chantes : Bacchus, sés flaccons, et ses saveurs » (Art poétique 151). Diese Aufzählung läßt eher auf Horaz als Vorbild schließen und wählt auch unter seinen Gedichten nur die aus, die sich der marotischen Vorliebe für „leichte" Dichtung annähern. Joachim Du Beilay erwähnt Pindar als dichterisches Vorbild in der Ode ,Au Seigneur Pierre de Ronsard" aus seinen Vers lyriques von 1549 (OP 3, 40): [...] chante tout ce qu'ont chanté Homere & Marón tant fameux, Pyndare, Horace tant vanté, Afin d'estre immortel comme eux. Ebenso wie in Schedes schon zitiertem „Dialogus P. Melissi et N. Clementis Trelaei"65 werden hier die beiden für das Verständnis der Pléiade erhabensten Gattungen zitiert: Homer und Virgil stehen für das Epos (das in der im gleichen Jahr erschienenen Deffence in einem eigenen Kapitel „Du long poème françois" ausführlich behandelt wird), Pindar und Horaz für die Ode. Während Du Beilay in seinem dichterischen Werk Pindar in den Jahren unmittelbar vor 1550 häufig erwähnt und so den literarischen Coup der Odes Ronsards vorbereiten hilft66, fällt sein Name im poetischen Manifest der Pléiade nicht: Du Beilay empfiehlt in der Deffence für fast alle poetischen Genera die Imitation spezifischer antiker Autoren, nennt aber in seinem Kapitel über die 64) 1512-1589, zu ihm Dictionnaire des lettres françaises XVIe 641 und CIORANESCO, Bibliographie du seizième 645; Analyse des Art bei PATTERSON, French Poetic Theory 244287. 65) S. oben S. 102. 66) S. oben S. 79-81.

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Ode keine Namen. Daß Pindar nicht als Musterautor genannt wird, muß um so mehr überraschen, als eine Erwähnung auch in diesem aufsehenerregenden theoretischen Text so kurz vor der Veröffentlichung von Ronsards Odes wirksam gewesen wäre67. Versuche, den Grund dieser Auslassung zu eruieren, müssen reine Spekulation bleiben, da uns keine Zeugnisse vorliegen. So wird (neben dem Hinweis auf die Eile, mit der das dichterische Manifest offenbar geschrieben wurde) vor allem die Überlegung angestellt, Du Beilay habe nicht einfach Sebillet wiederholen wollen und sich daher lieber dazu entschlossen, überhaupt keine Modelle für die Ode anzugeben; dafür spreche ferner die Vermutung, die Pléiade sei vor allem auch deshalb so erzürnt über Sebillets Poetik gewesen, weil ein Teil seiner Vorschriften genau ihrem Programm entsprochen habe (das sie demnächst mit Eklat zu veröffentlichen gedachte) und ihnen diese Vorwegnahme äußerst nachteilig habe erscheinen müssen bei ihrem Versuch, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und besonders des Hofes zu erregen68. Angesichts der Schwierigkeit, solche verborgenen psychologischen Motive zu ergründen, kann man über die Wahrscheinlichkeit dieser Spekulationen wohl kaum urteilen. So zeigen auch die Vorschriften, die Du Bellay für die Ode gibt, allenfalls oberflächliche Berührungen mit Pindars Epinikien69 (Deffence 208-212 = 112114): 67) Wie ungewöhnlich diese Auslassung ist, zeigt STACKELBERG, Französische Literatur 35, der das von Du Beilay Versäumte nachholt und Pindar kurzerhand unter den in der Deffence empfohlenen Vorbildern nennt... 68) Vgl. SAULN1ER, „Entrée de Henri II" und DESAN, „Tribulation of a Young Poet"; nachdem die erste Hitze der Kontroverse sich gelegt hatte, sahen beide Parteien die Gemeinsamkeiten stärker als das Trennende und söhnten sich aus, vgl. MEERHOFF, Rhétorique et poétique 170. 69) Daß Du Beilay Pindars Epinikien direkt kannte, läßt sich nicht von der Hand weisen, auch er studierte ja bei DoraL Allerdings spielt er in seinen Werken nirgendwo auf den Text von Pindars Oden an; der Versuch SILVERS, in mehreren Aufsätzen (besonders „Did Du Beilay Know Pindar?", „Pindaric Parallelism", „Ronsard Imitator of Du Bellay" 177-187, „Pindaric Collaboration" und „Du Bellay and Hellenic Poetry") eine von Ronsards Pindarimitationen unabhängige Nachahmung auch bei Du Beilay nachzuweisen, ist trotz seinen gegenteiligen Behauptungen erfolglos. Der einzige von diesen Aufsätzen, in denen SILVER wirklich anhand konlaeter Textstellen Pindamachwirkungen zu beweisen versucht, ist „Did Du Beilay Know Pindar?", wo er anhand von 27 numerierten Motiven nachgewiesen zu haben glaubt, daß Du Beilay seine „Ode au Prince de Melphe" (s. zu diesem Gedicht unten S. 188-195) mit ständigem Blick auf Pyth. 5 schrieb. SILVER gibt selbst zu, daß jede einzelne der von ihm angeführten Passagen in sich nicht beweiskräftig ist, und hier müßte man gleich einwenden, daß sich eine Reihe schwacher Argumente niemals zu einem starken summieren können. Bei näherem Hinsehen ergibt sich aber, daß SILVERS Argumente nicht von schwacher Beweiskraft sind, sondern ohne jede Beweiskraft. Zwei Beispiele mögen stellvertretend für alle stehen. So schreibt er 1013: "When Du Beilay writes Car si je loüe ta faconde he probably had in mind εν t e Μοίσαισι ποτανός άπό ματρός φίλας." Ich kann zwischen den beiden zitierten Textpassagen keinerlei textliche Berührung sehen; und wenn jede Stelle, an der ein Renaissancedichter die Beredsamkeit seines laudandus lobt, auf Pyth. 5, 114 zurückginge, dann müßte

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Chante moy ces Odes, incongnues encor' de la Muse Francoyse, d'vn Luc bien accordé au son de la Lyre Greque, & Romaine : & qu'il n'y ait vers, ou n'aparoisse quelque vestige de rare, & antique erudition. Et quand à ce, te fourniront de matière les louanges des Dieux, & des Hommes vertueux, le discours fatal des choses môdaines, la solicitude des ieunes Hômes, còme l'amour, les vins libres, & toute bòne chere. Sur toutes choses, près garde q ce gère de Poëme soit éloigné du vulgaire, enrichy, & illustré de motz propres, & epithetes non oysifz, orné de graues sentences, & varié de toutes manieres de couleurs, & ornementz Poétiques [...]. Zwar könnte man in der Vorschrift, Stoff für Oden sei das Lob der Götter und tugendhafter Menschen 70 , einen Hinweis auf Pindar sehen, der ja als der „Lobesdichter" schlechthin galt71, doch trifft diese Beschreibung ebensogut auf einige carmina Horazens und auf die schon im Entstehen begriffenen Odes Ronsards zu und setzt somit keine direkte Kenntnis der Epinikien voraus. Bemerkenswert ist aber, daß die « louanges des Dieux, & des Hommes vertueux » an erster Stelle genannt werden und so ihre Ausnahmestellung betont wird: Entsprechend dem theoretischen Verständnis der Epoche zeichnet dieses „erhabenste" Sujet (Götter und tugendhafte Menschen) auch das erhabenste Genus aus. Für die stilistische Gestaltung der Oden rät Du Beilay, jede mögliche Art von rhetorischem und poetischem Schmuck anzuwenden, was ebenfalls in der poetischen Theorie der Renaissance dem erhabenen Stil und somit dem erhabenen Genus vorbehalten ist.

dieses Gedicht in der Tat eine umfangreiche Nachwirkung gehabt haben... 1017 heißt es: "[...] Du Beilay praises Caracciolo for that magnanimity in virtue of which he is capable D'honnorer un moindre que soi. Although the wording is quite different, it is probable that the original of Du Bellay's line is the injunction of Pindar: τω σε μή λαθέτω . . . φιλείν δε Κάρρωτον εξοχ' εταίρων." (Pyth. 5, 23. 26). Auch hier sehe ich nicht, was daran „wahrscheinlich" sein soll: Nicht nur sind die beiden Passagen textlich ohne jede Berührung, wie SILVER selbst zugeben muß, sondern auch die Gedanken sind ganz verschieden, da bei Pindar, wie die folgenden Verse zeigen, Arkesilaos Karrhotos nicht aus „magnanimity" schätzen soll, sondern weil dieser als sein Wagenlenker ihm Siege gebracht hat. Es ist also zwar möglich, daß Du Beilay Pindar gekannt hat, aber in seinen Werken gibt es keine direkten Anspielungen auf den Text der Epinikien. 70) Zu Recht hebt CHAMARD in einer Anmerkung seiner Ausgabe hervor, daß dieser Themenkatalog auf Horaz, ars 83-85 zurückgeht: Musa dedit fidibus diuos puerosque deorum et pugilem uictorem et equum certamine primum et iuuenum curas et libera uina refenre. Das für französische Verhältnisse unbrauchbare Sujet der Wettkampfsieger übergeht Du Beilay allerdings von vornherein (s. oben S. 133f.; zu dem beträchtlichen Nachleben von Horazens ars in der französischen Dichtungslehre der Renaissance vgl. AZIBERT, Influence d'Horace 61135). 71) S. oben S. 98f.

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Eine prominente Rolle spielt Pindar dann allerdings im 1555 erschienenen Art poétique von Jacques Peletier du Mans (1517-1582), dem vollständigsten und systematischsten Ausdruck der poetischen Theorien der Pléiade72. Peletier schreibt die Erfindung der Ode in Frankreich Ronsard zu: Dieser habe ihm schon 1547 in Le Mans Oden gezeigt und hinzugefügt, er wolle noch mehr in diesem Genus schreiben und dabei Horaz imitieren. Dieses Vorhaben sei erfolgreich gewesen und mehr noch die Oden, die Ronsard seitdem geschrieben habe « a l'imitacion du prämier des Liriquis, Pindari » (Art poétique 174). Pindar erhält hier sein traditionelles Epitheton und Ronsards pindarische Oden werden über seine horazischen gestellt; dies allerdings bedeutet nicht einfach, daß Peletier auch Pindar über Horaz stellt, wie wir sehen werden. Wenn Peletiers Vorschriften hinsichtlich der Themen der Ode denen Du Beilays folgen, so spürt man den Eindruck, den Ronsards Odes hinterlassen haben: « La matieri d i l'Odi, sont les louanges des Dieus, Dimidieus, e des Princes : Les amours, les banquçz, les jeuz festiz, e samblablis passât an s » {Art poétique 176f.). Zwar bleiben auch jetzt noch Liebe und Trinkgelage in der Liste, aber wie bei Du Beilay halten Enkomien und Götterhymnen die erste Stelle. Schließlich sehen wir Peletiers Parteistandpunkt für die Pléiade deutlich, wenn er die Ode, und besonders die pindarische Ode, als höchste Dichtungsgattung nach dem epischen Gedicht (das zu schreiben Ronsard sich damals gerade anschickte) bezeichnet {Art poétique 179): L'Odi φ li g'anri d'ecriri li plus spacieus pour s'ebatri, qui so£t au dessous d i l'euuri Héroïque, an cas d i touti libçrte Poëtiqui : commi Fables, Figuras, e autres naïuitez. Qui voudra fçri des Strofis e Anástrofes, faudra qu'il parli plus hau timan t qu'an nuli des autris façons. Car çlis n i si meto£t anciennimant sinon aus hinnis des Dieus.* Daß die Ode diesen hohen Rang im Gattungsgefüge einnimmt, unmittelbar nach dem Epos, war schon bei Du Beilay vorbereitet, Peletier aber ist offenbar der erste, der dies so deutlich ausdrückt73. Der pindarischen Ode wird in dieser erhabenen Gattung noch einmal ein besonders hoher Platz eingeräumt; die Begründung dafür allerdings, die triadische Form sei in der Antike nur für Götterhymnen gebraucht worden, ist falsch und läßt daran zweifeln, ob Peletier Pindars Werke gekannt haben kann. Peletier fährt in seiner Darstellung der ode pindarique fort, indem er (unter ausdrücklicher Berufung auf Macrobius, somn. 2, 3, 1) die kosmologische 72) Vgl. HOLYOAKE, Poetic Theory 136 und PATTERSON, French Poetic Theory 1,439-483. 73) Vgl. zu dieser Rangfolge der Gattungen HARDISON, Enduring Monument 69-71.

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Erläuterung der Namen strophe, antistrophe und épode gibt74. Die abschließenden Sätze des Abschnittes über die Ode zeigen aber, daß Pindar selbst stark in den Hintergrund tritt (Art poétique 180): Horace n'an [des triades] à point usé : duquel Quintilien à dit qu'il eto£t prçsqu^ seul ài tous les Liriqu^s Latins, díntf d'£tré lù. E cçrttfs, meintfnant qu'il à soutenù M tans : nous pouuons quasi diri ài lui ci qu¿ li même! Quintilien diso$t ài Pindar^ : uni magnifiçanc^ d'çr, san tancas, figuras, eureus¿ copi¿ ài nons e ài moz : e quasi un¿ manieri ài fleuu¿ an elocucion.* Obwohl bei Peletier keine Herabsetzung Pindars spürbar ist, der zumindest dem Namen nach seinen führenden Rang behält und an dem sich auch Horaz messen lassen muß, rückt Horaz hier unter Berufung auf Quintilian 10, 1, 96 „lyricorum idem Horatius fere solus legi dignus" in den Vordergrund. Wie Peletier hier die schon erwähnten7S Worte Quintilians über Pindar auf Horaz anwenden möchte, so scheint er allgemein vorsichtig („quasi") Pindar als Musterautor der Ode im hohen Stil durch den Römer zu ersetzen. Entgegen den ersten Aussagen, in denen Peletier Ronsards pindarische Oden seinen horazischen vorzuziehen schien, darf man aus diesem Abschnitt vielleicht schließen, daß ihm selbst Horaz vertrauter war als Pindar (den er vielleicht überhaupt nur aus Ronsards Odes kannte). Im selben Jahr 1555 finden wir in der monumentalen Horazausgabe von Georg Fabricius76 auch eine Diskussion von Pindars Dichtungstheorie, die uns noch einmal zeigt, daß das Bild des genialischen, nur der Natur vertrauenden Dichters in der Renaissance noch nicht anzutreffen ist. Die Stelle findet sich im Kommentar des Iacobus Grisolius zu ars 408 („natura fieret laudabile carmen an arte"), sie ist interessant genug, um hier zitiert zu werden (p. 1188): Verum Pindarus quod εαυτόν άεί λέγει αύτοδίδακτον naturam doctrinae praefert. illius autem verba haec sunt in Epharniostum [sie!] Opuntium, το δέ φυά κράτιστον òbcav, πολύ δε όιδακτανς ανθρώπων άρεταΐς κλέος ώρουσαν έλέσθαι, ανευ δέ θεοΰ σεσιγαμένον ού σκαιότερον χ ρ ή μ ' εκαστον 77 . quorü sententia est, Non ut natura per se poßit opera perficere, uerum si magnus sit eius habitus, arte aßumpta, prasclarum fit & excellens quiddam. Ars uerò & institutio per se nihil potest efficere, quod in lucem sit proferendum. [...] Sic Pindarus contra eos, qui omnia ponunt in arte, quam negat, nisi

74) 75) 76)

S. oben S. 128. S. oben S. 76. Eigentlich Goldschmied, 1516-1571; vgl. BURSIAN, Classische Philologie 205-

77)

Ol. 9, 100-104.

208.

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coniuncta sit cum optima natura, quicquam efficere, quod tacendum non sit potius, quam praedicandum. Nam & si gloriatur ipse natura se multum ualuisse, & sine doctore, quantus esset extitisse, non tarnen negat suo studio, & suo labore se perfecisse, ut artis ignaras non esset: dixit enim se αύτοδίδακτον, non άπαίδευτον.* Der lapidare letzte Satz faßt in nuce noch einmal zusammen, was wir ähnlich schon im vorigen Kapitel 78 gesehen haben: Die Beteuerungen in Pindars Oden, er vertraue der Natur, dichte spontan, ohne Rücksicht auf Theorie, seine ostentative Verachtung der „Gelernten" werden von der Renaissance nicht im Sinne eines romantischen, regellosen Schwärmers verstanden 79 . Grisolius erklärt die zitierte Passage aus der neunten olympischen Ode entsprechend den Regeln aus Horazens ars poetica: Kunst ohne Natur vermag gar nichts, aber auch Natur kann nur in Verbindung mit Kunst zu wahrer Größe steigen (vgl. ars 409f.: „ego nec Studium sine diuite uena / nec rude quid prosit uideo ingenium"). Grisolius bleibt hier etwas im Allgemeinen, ohne an Besonderheiten der Epinikien seine Aussage, Pindar arbeite nicht ohne „Studium" und „labor" zu exemplifizieren (wie Le Sueur am Beispiel der scheinbaren Digressionen 80 ), aber seine feine Unterscheidung zwischen α π α ί δ ε υ τ ο ς und α υ τ ο δ ί δ α κ τ ο ς macht klar, daß auch er Pindar als poeta doctus versteht - wäre eine andere Form von Dichtung und Dichtem für die Renaissance überhaupt vorstellbar? Auch in Abel Matthieus" 1559 erschienenem Deuis de la langue francoyse, in dem an vielen Stellen zu jener Zeit vieldiskutierte Probleme des literarischen Übersetzens behandelt werden, finden wir den Namen Pindar mehrfach erwähnt. Matthieu beklagt, daß Marot bei der Nachahmung Petrarcas versagt habe (f. 36 v ): Er sei glücklich in der Imitation von Virgil, Ovid, Musaios und Davids gewesen, fors et reserué le Petrarque, ou sa veine s'est monstree sterile et rude à traduire ou ensuuyre les Sonnetz d'icelluy, qui pourtant luy a esté Jnimitable comme l'on diet le semblable de Pindare : en quoy les Jeunes véritablement se sont myeulx portez que luy, si fault que ie declare ma sentence, qui est argument à demonstrer que tous les autheurs ne sont pas bons à mectre en francoys, desquelz l'imitation est si difficile à tenir que la traduction en est impossible. Mit ausdrücklichem Hinweis auf die Tradition („comme l'on diet") nimmt Matthieu in dieser Passage Bezug auf das bekannte, auf Horaz zurückgehende 78) S. oben S. 143-145. 79) S. auch oben S. 154-157. 80) S. oben S. 141f. 81) Zu ihm Dictionnaire des lettres françaises XVIe 498 und CIORANESCO, Bibliographie du seizième 476.

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Dictum von Pindars Unnachahmlichkeit: Dieser scheint hier zum „klassischen" Beispiel eines „Jnimitable" Dichters stilisiert zu werden, dem Petrarca in dieser wie in einer späteren Passage (f. 38v) hinsichtlich dieser Eigenschaft verglichen wird. Der Gedankenverlauf im weiteren Verlauf des Textes aber bleibt etwas unklar: Bezeichnt das „en quoy", in dem „les Jeunes"82 Marot übertroffen haben sollen, nur die Nachahmung Petrarcas (wobei besonders an Du Beilays Oliue zu denken wäre), oder ist auch an die des eher beiläufig genannten Pindar (also vor allem an Ronsards Odes) gedacht? Inwieweit schränkt schließlich der Nachsatz, manche Autoren könnten gar nicht ins Französische übertragen werden, das vorangehende Lob (« les Jeunes véritablement se sont myeulx portez que luy ») wieder ein? Gehören also auch Pindar und Petrarca zum Kreis dieser Dichter, und rät Matthieu von ihrer Nachahmung generell ab? Eine solche pauschale Ablehnung ist wohl eher unwahrscheinlich, wenn wir zum Vergleich eine nur zwei Seiten vorher stehende Passage vergleichen, in der Matthieu ohne jeden Anflug von Kritik von neueren Versuchen einer Pindarnachahmung spricht (f. 35vf.): [...] aucuns se préparent à imiter Pindare en ses chantz qu'ilz appellent Odes, & Horace, Callimaque en ses hymnes qui sont traictz de carmes & de louenges adressées aux dieux et choses à eux consacrées, Anacreon aux compotations et volupté de bouche et de Venus, Petrarque aux traictz d'amouretes de Jeunesse otieuse, et les autres autrement se propo-1 sent vn subiect à escrire et composer en vers francoys. Wie in den schon zitierten Poetiken finden wir auch hier unter dem Komplex der Ode sowohl die erhabene (Hymnen und Enkomien) als auch die leichtere Dichtung vereint, aber im Gegensatz zu diesen früheren Passagen ordnet Matthieu den einzelnen Unterarten auch verschiedene Musterautoren zu: Pindar (und Horaz?) den eigentlichen „Odes" (sind damit allgemein Enkomien gemeint?), Kallimachos den Götterhymnen, Anakreon der erotischen und Symposienpoesie, Petrarca der Liebesdichtung. Daß in dieser Passage die Versuche einer Pindar- und Petrarcanachahmung genannt werden, ohne daß Matthieu sie verurteilt, läßt vermuten, daß auch an der zuerst zitierten Stelle eine solche Verurteilung in dem etwas unklaren Text nicht impliziert war. Wenn Matthieu im folgenden (f. 36 v ) die Befürchtung äußert, diese jungen Dichter möchten im Urteil der Masse mit ihrer gelehrten Dichtung hinter Marot zurückstehen, da sie auf deren Geschmack nicht genug Rücksicht nähmen, so spricht er damit den von mir weiter unten83 behandelten Problemkreis des „dunklen Dichters" an; auch hier aber bezieht der Deuis selbst 82) 83)

Damit sind vor allem die Dichter der Pléiade gemeint. S. unten S. 213-225.

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keine klare Position84: Matthieu sagt nicht, ob er die Mißachtung der Masse für wünschenswert oder schlecht hält, er scheint nur in distanzierter Haltung eine Prognose über die Erfolgsaussichten der .Jeunes" zu machen. Die 1561 zum ersten Mal veröffentlichte Ars poetica Julius Caesar Scaligere war bekanntlich ein Wegbereiter für die doctrine classique in Frankreich und übte ihre volle Wirkung erst in der klassischen Epoche aus, während sie zum Zeitpunkt ihrer Publikation zunächst eher marginal blieb. Pindar wird in diesem Werk erwähnt, aber die Stelle läßt sich sehr kurz behandeln85: Scaliger schreibt mit dem engen Ziel, die Überlegenheit der lateinischen Dichtung über die griechische zu zeigen, und so kehrt er das bei Gellius 17, 10, 8-19 erwähnte Urteil um, das in einem Vergleich der Beschreibungen des Aetna bei Pindar, Pyth. 1, 19-28 und Virgil, Aen. 3, 571-582 Pindar überlegen sah. Scaliger nennt schon am Beginn der Passage (Ars poetica p. 245-247) sein Ziel mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit: Er will zeigen, daß Virgil „Pindaro logé maior"; seine Kriterien für einen literarischen Vergleich beschränken sich allerdings meist auf platte, zuweilen geradezu alberne Rationalisierungen, so z. B. die Kritik an Pindars Metapher κίων ούρανία (Pyth. 1, 19, vom Aetna, der wie ein Pfeiler steil in den Himmel aufragt): „Quis enim sine risu (sapientem intelligo) cieli columnam montem dicat?" Bei einem derartigen Verständnis für dichterische Qualität kann es nicht verwundern, daß Pindar ebenso abgeurteilt wird wie nach Scaligere Geschmack die griechischen Tragiker im Vergleich zu Seneca nicht bestehen können. Diese pauschale Ablehnung Pindars ist um so erstaunlicher, wenn man weiß, daß Scaliger in seinen 1539 erschienenen Heroes auch Pindar ein Gedicht widmet, in dem er ihn mit den traditionellen Superlativen bedenkt (p. 20): PINDARVS Ales olorini diuino carmine cantus, Vltima Pegasei meta scuera chori. Nam quis te patrij liquida inter sidera cceli Consequitur? quis te posse tenere pulet? Te saüs est uidisse, satis potuisse uidere. Est audire Dei, non hominis capere. Der eklatante Gegensatz, in dem diese aus der Tradition von Horaz, carm. 4, 2 stammende 86 Verherrlichung zu der herben Kritik in der Poetik steht, zeigt noch einmal in aller

84) Man könnte aber eine positive Haltung zur Pléiade daraus ableiten, daß Mathieu Marots Werke eine « euure abiecte » nennt. 85) Zu Scaliger und Pindar vgl. ferner GELZER, „Pindarverständnis und Pindarübersetzung" 94. 86) S. oben S. 76-97. Hier bei Scaliger wird deutlich auf den aus Horaz stammenden Höhenflug („liquida inter sidera cceli") des dircaeischen Schwans („olorini cantus") angespielt, der eine Nachahmung („quis consequitur?") unmöglich macht. Bemerkenswert ist femer noch, daß Scaliger selbst sich zweimal der Form der pindarischen Ode bedient hat, für zwei Gedichte

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Deutlichkeit, wie wenig Kategorien wie „Aufrichtigkeit" dort greifen, wo Literatur traditionellen Konventionen verpflichtet ist Pindars Aufnahme in die „Heldengalerie" ist von Scaliger nicht weniger „aufrichtig" geschrieben als seine Verdammung, weil Pindars Art der Lyrik nicht zu Scaligers poetologischer Konzeption paßte.

Aus anderen, nämlich moralischen Gründen greift Florent Chrestien Pindar an in der schon erwähnten87 1563 erschienen Seconde response, aber es ist ganz deutlich, daß dieser Angriff auf Pindar in Wirklichkeit seinem Gegner Ronsard gilt. Chrestien beschimpft in einem längeren Abschnitt jede Dichtung in der Art der Pléiade als unmoralisch und zitiert mehrere antike Dichter als Beispiele, um diese Behauptung zu belegen ÇPolémique protestante 2, 336): le ne veus pas nier que tu ne sois Poëte, le ne veus faire tort à ta grande trompete. Tu es premièrement Poëte estant menteur, Tu es außi Poëte estant si grand vanteur : Pindare a esté tel en ses bruyantes notes

Der Abschnitt greift im folgenden eine ganze Reihe angeblicher moralischer Verfehlungen Ronsards auf und zitiert als Beispiele und Vorbilder je einen oder mehrere antike Autoren88 (er ist habgierig wie Simonides89, gefräßig wie Alkman90, Atheist wie Lucrez und Horaz und anderes mehr). Dabei geht es keineswegs um die literarischen Verdienste dieser Dichter, es ist dies der christliche, auch aus den Kirchenvätern bekannte Eifer gegen die moralische Korruptheit der Heiden.

religiösen Inhalts: In den erst 1600 postum gedruckten Poemata sacra finden wir p. 102 die Ode „Natalia Domini nostri Iesu Christi filij Dei viui" (zwei Triaden), p. 104 „Natalia semper Virginis Matris Marias" (eine Triade). 87) S. oben S. 88. 123; s. auch S. 131f. mit Anm. 216. 88) Die angeblichen Verfehlungen einer angegriffenen Person werden ähnlich auch bei Martial 2, 89 mit denen berühmter Autoren verglichen, doch ist das Motiv dort eher scherzhaft, weniger aggressiv als bei Chrestien. Ähnlich scharf wie Chrestien (und möglicherweise ein Vorbild) ist Polizianos „In Mabilium Nouatum Insubrem", zuerst gedruckt 1498 (Anthology of Neo-Latin Poetry 270), vgl. ζ. Β. 24f. „Coeli numina quod negas, deumque, / Lucreti fuit hoc, & Euripidis." 89) Daß Simonides habgierig und knauserig gewesen sei, wird schon in antiken Anekdoten mehrfach behauptet, vgl. ζ. B. Aristophanes, Pax 698f. mit den Scholien (dort wird das Zeugnis von Simonides' Zeitgenossen Xenophanes, frg. Β 21 DK angeführt); Aelian, VH 8, 2; 9, 1; Plutarch, Moralia 786 Β und Athenaios 14, 656 d όντως δ ' ήν ώς αληθώς κίμβιξ ó Σιμωνίδης καί αισχροκερδής. Zum Wahrheitsgehalt und zur Entstehung solcher Anekdoten vgl. SLATER, „Simonides' House" 234f. und LEFKOWITZ, Lives of the Greek Poets 50-53. 90) Wohl nach Athenaios 10, 416 c-d = Alkman, frg. 17, 4 PMG ό παμφάγος 'Αλκμάν mit der Erläuterung des Athenaios 'Αλκμάν δ ' ó ποιητής εαυτόν άδηφάγον είναι παραδίδωσιν, vgl. Aelian, VH 1, 27.

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In Pierre de Lauduns91 Art poetique, 1597 gedruckt, finden wir noch einmal die poetischen Theorien der Pleiade ausgedrückt, als sei in den beinahe fünfzig Jahren seit deren erstem Auftreten nichts geschehen. LEBÈGUE92 führt dies auf Lauduns provinzielle Rückständigkeit in Fragen des literarischen Geschmacks zurück: « On se croirait ramené un demi-siècle en arrière, au temps de Sebillet. On devine en Laudun un provincial qui, quoiqu'il ait respiré l'air de la capitale, se plaît encore à des formes poétiques que les Parisiens méprisent [...]. » So sind denn auch viele seiner Aussagen eher als rückblickende Betrachtungen auf die poetische Praxis der Pléiade zu verstehen denn als originelle Theorien. Wir haben schon gesehen, wie er bei seinen Vorschriften für die metrische Struktur pindarischer Oden sich empirisch ganz auf die vorliegenden französischen odes pindariques stützt93. Wie für Peletier, so ist auch für Laudun die Ode das höchste lyrische Genus (Art poetique p. 85): L'ode est vn poëme lyrique, & le plus excellent que l'on puisse trouuer. De son Origine, elle est venüe des Grecs, & signifie chant. [...] l'ode n'est employée qu'és choses graues, à la loüange des Rois, Princes, & Hommes illustres. Leichtere Liebes- oder Trinkdichtung erwähnt Laudun in dieser Aufzählung der Themen überhaupt nicht mehr, sondern konzentriert sich ganz auf die durch Ronsards enkomiastische Oden vorgegebenen Sujets. Die zitierte94 ausführliche Erklärung des Strophenbaus gibt Laudun, weil, wie er sagt, französische Dichter ohne genaue Kenntnis in Nachahmung Ronsards pindarische Oden zu schreiben versucht hätten (Art poetique p. 90): Il y a plusieurs qui a l'imitation de Ronsard se sont voulus mesler de faire des Odes Pindariques : mais ie croy qu'ils les ont plustost faictes par imitation que pour en auoir certaine science : c'est pourquoy ie me suis proposé de declarer vne partie de ce qu'il m'en semble. le ne traicteray ny de sa matière, ny de son origine, car elle est de mesme que la commune. Or pour venir à son nom, Ronsard le luy à imposé l'apellant Pindarique, pource que Pindare a diuisé ses Odes par strophes, antistrophes, & Epodes : qui sont trois parties. Obwohl Pindar in diesem Abschnitt noch als Vorbild Ronsards erwähnt wird, geschieht diese Erwähnung doch eher beiläufig, und es ist offensichtlich, daß 91) 1575-1629; zu ihm Dictionnaire des teures françaises XVIe 33 und ClORANESCO, Bibliographie du seizième 409; zu seinem Art vgl. PATTERSON, French Poetic Theory 1, 758-777. 92) Poésie française 1, 191.

93) S. oben S. 133. 94) S. oben S. 133.

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der „Pindare françois" in Frankreich mittlerweile sein Vorbild als Musterautor ersetzt hat: Ronsard selber ist nunmehr die maßgebliche Autorität für die Komposition von Oden. Jean Vauquelin de la Fresnayes95 Art poétique ist zwar erst 1605 zum ersten Mal im Druck erschienen, aber das Werk wurde schon in den siebziger Jahren des sechzehnten Jahrhunderts verfaßt. Auch diese Poetik steht noch in der Tradition der Pléiade96, bringt kaum neue Gedanken und beschränkt sich mehr oder weniger darauf, das von der Pléiade in Theorie und Praxis dargelegte Programm in Verse zu fassen. Vauquelin empfiehlt für die Ode „mile belles fleurs", Schmuck und Farben, dies wieder als Kennzeichen des erhabenen Stils und damit eines erhabenen Genres. Die pindarische Ode erwähnt er nur en passant als eine mögliche metrische Form (Art poétique 41): Si d'vne fiction d'vn long discours tu causes, Tu pourras diuiser cette longueur en pauses. Ou par les pliz tournez des Odes du Sonneur, Qui Grec sur les neuf Grecs lyriques eut l'honneur. Während Pindar hier nur durch die Umschreibung „der beste der griechischen Lyriker" bezeichnet wird, nennt Vauquelin kurz darauf auch seinen Namen: Zusammen mit Sappho, Anakreon und Horaz wird er als Musterautor für die Ode vorgestellt, die Ode als höchste Form der lyrischen Dichtung definiert (Art poétique 42f.): Mais auec son fredon, or la lyre cornue En la France est autant qu'en la Grece connue : Et nul vulgaire encor n'a iamais entrepris De vouloir par sus elle en emporter le pris. Car depuis que Ronsard eut amené les modes I Du Tour et du Retour et du Repos des Odes, Imitant la pauane ou du Roy le grand bal97, Le François n'eut depuis en l'Europe d'égal : [...] En ce genre sur tous proposer tu te dois L'inimitable main de Pindare Gregeois, Et du Harpeur Latin, et tesiouir et rire Et sur la Téïenne et la Saphique lyre.

95) 1536-1607; zu ihm Dictionnaire des lettres françaises XVIe 684 und CIORANESCO, Bibliographie du seizième 679f.; Analyse seines Art bei PATTERSON, French Poetic Theory 1, 662-720. 96) Vgl. SPINGARN, Literary Criticism 116. 97) Die triadische Form wurde schon bei Guillaume Des Autels mit französischen Tänzen verglichen, s. oben S. 130.

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Ins Auge fallt auch im Anfangsteil dieses Textes das charakteristische Selbstbewußtsein der französischen Renaissance, die ihre eigenen Werke der Antike an die Seite stellt und sich dem übrigen Europa überlegen fühlt. Obwohl die im Zitat darauf folgenden Verse nicht besonders klar sind, scheint es doch, daß Vauquelin hier eine Zweiteilung der antiken Vorbilder und der Themen vornimmt: Pindar, der das aus Horaz, carm. 4, 2 stammende Adjektiv „inimitable" erhält, und Horaz selbst werden für die erhabenen Oden genannt („En ce genre" meint offenbar Ronsards pindarische Oden), Anakreon und Sappho für die leichtere Dichtung in diesem Genus („tesiouir et rire"). Die letzte französische Poetik, die behandelt werden soll, ist Pierre de Deimiers98 1610 erschienene Académie, ein Werk, das nicht nur zeitlich auf der Schwelle von Renaissance und Klassizismus steht, sondern auch in seinen Ideen zwischen diesen beiden Epochen oszilliert". Diese ambivalente Stellung ist beispielhaft zu erkennen in Deimiers Haltung zu Ronsard: An vielen Stellen betont er ausdrücklich seine Größe und stellt ihn als Vorbild hin, kritisiert ihn aber anderswo auch offen, oft auf sehr pedantische Weise100. Daß der seit der Pléiade herrschende literarische Geschmack durch ein neues Ideal abgelöst zu werden beginnt, läßt sich deutlich an Deimiers Worten über den Streit zwischen „art" und „nature" ablesen (Académie p. 13): [...J il me semble que c'est la vérité, que le Poëte qui n'escrit que par art, composera d'ouurages beaucoup plus propres & agreables que ceux de l'autre qui ne sera riche que de ce que la Nature aura decoré son esprit. Diese Sicht hätte ein halbes Jahrhundert zuvor schwerlich Anerkennung gefunden, als die poetische Theorie lautstark proklamiert, das Hauptkriterium für große Dichtung liege in der göttlichen Inspiration und die Natur stehe über der Kunst101; zum Vergleich sei die Ansicht Louis Le Carons aus seinem Dialog „Ronsard ou de la Poesie" zitiert (Dialogues 274f.):

98) 1580-1615; zu ihm vgl. Dictionnaire des lettres françaises XVIe 214 und CIORANESCO, Bibliographie du seizième 235; zu seiner Académie PATTERSON, French Poetic Theory 1, 787-809. 99) Vgl. LEBÈGUE, Poesie française 2, 64. 100) Vgl. KATZ, Ronsard's French Critics 53-56. 101) Allerdings wurde auch zu diesem Zeitpunkt die These nicht verabsolutiert: Die Defence Du Beilays enthält ein eigenes Kapitel mit dem Thema « Que le Naturel n'est suffisant à celuy qui en Poesie ueult faire œuure digne de l'immortalité » (193-200 = 103-107).

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Mais qui voudrait sans la fureur des Muses approcher (comme dit Platon 102 ) aux portes poétiques sous cète esperance que par l'art il pourrait estre bon poëte : icelui certainement serait imparfait, et sa poesie au regard de celle qui est pleine de fureur, s'évanouïroit. Ich möchte hier keine Gedanken über die .Aufrichtigkeit" solcher Aussagen anstellen103, als wichtig soll nur festgehalten werden, daß Deimiers Urteil zur Zeit der Pléiade so nicht akzeptiert worden wäre, während jetzt das Pendel in die entgegengesetzte Richtung schwingt und eine solche Ansicht als repräsentativ für die sich neu entwickelnde Ästhetik gelten darf. Deimier gibt nicht wie seine Vorgänger antike Musterautoren für die einzelnen Genera an; er erwähnt aber Pindar im Zusammenhang mit seiner Kritik an einer Passage Ronsards. In dem Gedicht ,A Madame Marguerite" hatte dieser die schon erwähnten104 Verse Ol. 2,83-86 imitiert (OC 1,73): l'ai sous l'esselté un carquois Gros de fleches nompareilles, Qui ne font bruire leurs uois Que pour les doctes oreilles. Deimier nimmt Anstoß an der Metapher des Bogens für die Dichtung105 und sieht sie auch durch die Autorität Pindars nicht gerechtfertigt (Académie p. 450): Ceste façon de parler n'est aucunement propre pour le langage ny pour la raison, quoy que Pindare que Ronsard a imite en ce lieu ait escrit ainsi : car ceste authorité n'est pas assez forte pour faire treuuer à propos vne metaphorisation si estrange : Aussi ce n'est pas le seul embrouillement que Pindare a meslé en ses Odes. An einer anderen Stelle tadelt Deimier das bei Ronsard häufige Enjambement und will auch hierfür Pindars Vorbild nicht als Begründung gelten lassen (Académie p. 455): Et la dessus, ie respondray que c'est la vérité que Pindare escriuoit de la sorte : mais c'estoit en Grec : & qu'outre cela, il a esté blasmé de quelques vns de son pays pour auoir escrit ainsi, comme pour s'estre quelque-fois eslargy en Epithetes, allegories, & phrases trop superlatiues & disproportionnées.

102) Phdr. 245 a ος δ' αν άνευ μανίας Μουσών έπί ποιητικός θύρας άφίκηται, πεισθείς ώς αρα έκ τέχνης ικανός ποιητής έσόμενος, ατελής αύτός τε καΐ ή ποίησις ύπο της των μαινομένων ή του σωφρονοΰντος ήφανίσθη. 103) S. oben S. 151-153. 104) S. oben S. 136f. 105) S. dazu unten S. 186f.

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Bemerkenswert ist an diesen Stellen nicht so sehr die Kritik an dem einzelnen Bild und den einzelnen Zügen als vielmehr die allgemeine Haltung zur antiken Dichtung: Die Aussage, Pindars Autorität sei „nicht stark genug", um die ungewöhnliche Metapher oder die Enjambements zu rechtfertigen, und besonders der lakonische Schlußsatz der ersten Passage, dies sei „nicht die einzige wirre Stelle in Pindars Oden", zeigen am Beispiel Pindars eine auch sonst bei Deimier sichtbare Tendenz: Das Ansehen der klassischen Autoren kann jetzt auch auf rein literarischem (nicht nur, wie bei den Protestanten, moralisch-religiösem) Gebiet angezweifelt und kritisiert werden106. Die „Burleskomanie" und die Querelle des Anciens et des Modernes am Ende des siebzehnten Jahrhunderts107 sind also keineswegs gänzlich neue Phänomene, sondern nur Fortsetzung und Höhepunkt einer schon vorher zu beobachtenden Anti-Renaissance, deren erste Ansätze wir hier bei Deimier sehen können108. Deutlich ist auch, daß diese Abkehr von Pindar bei Deimier vor allem eine Abkehr von der Dichtung der Pléiade bedeutet, denn Ronsard ist es, der hier indirekt getroffen werden soll: Die von Deimier angeführte Kritik an Pindars Werken (von anonymen « quelques vns de son pays ») hat kaum Rückhalt in der antiken Überlieferung über Pindar; sie paßt eigentlich nur auf die Situation Ronsards109.

4 Der kurze chronologische Aufriß über die Rolle Pindars in der poetischen Theorie hat gezeigt, daß bei Deimier, zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts, eine kritischere Einstellung gegenüber der Autorität Pindars (und antiker Dichtung schlechthin) vorliegt. Wie aber sieht es mit der manchmal gehörten Behauptung aus, er sei im Laufe der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts „aus der Mode gekommen"? Ein Verfechter dieser These ist ζ. B. CLEMENTS 1 1 0 , der die Kritik der späteren Pléade an Pindar verbunden sieht mit einer Abkehr vom dunklen, pindarischen Stil ihrer frühen Jahre: Pindar is cited as the most flagrant example of unintelligibility among the Hellenic or Latin authors, even more than Lycophron, Heraclitus, and Persius, because of his complex, involved style. In censuring Pindar, the Pléiade is also aiming at the neo-Pindarism of Ronsard and his imitators.

106) Vgl. STACKELBERG, „Klarheit als Dichuingsideal" 271 f. 107) Nur erinnert sei daran, daß auch Pindar in der Querelle eine wichtige Rolle spielte, vgl. MARGOLIN, „Pindare et la Renaissance" 141. 108) Vgl. HEMMERDINGER, „Renaissance des lettres grecques" 222f. 109) S. oben S. 162f. 110) Pléiade 120.

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Diese angebliche Abkehr vom pindarischen Stil brachte nach JANIK 1 1 1 auch einen Niedergang der Form der Ode mit sich, die, wie wir gesehen haben, das erhabene Genre par excellence in der Lyrik war: „Niemand trat in den späteren Jahren mehr mit einem oder gar mehreren Büchern Oden an die Öffentlichkeit." Wer an solch großen literarhistorischen Linien interessiert ist, darf es mit der Wahrheit nicht allzu genau nehmen: JANIKS Behauptung wird schon durch einen Blick auf die im späten sechzehnten und beginnenden siebzehnten Jahrhundert in Frankreich veröffentlichten Werke mit lyrischer Dichtung widerlegt; als Beispiel seien nur Jean Le Blancs zwei Odensammlungen genannt, die Odes pindariques von 1604 (zwanzig triadische Oden) und die Neotemachie poetique von 1610. Die historische Wirklichkeit ist oft nicht so geradlinig wie es uns die biologistischen Schematisierungen der Literaturgeschichte glauben machen wollen (Genera und Epochen „wachsen" und „verfallen"; so sind denn auch JANIKS Kapitel passend „Die Entstehung der Ode", „Die Blütezeit der Odendichtung" und „Der Untergang des Odentypus der Plejade" überschrieben). Nicht nur bleibt die Ode bis ins siebzehnte Jahrhundert hinein lebendig, es fehlt auch nicht an französischen Dichtern, die sich deutlich auf Pindar berufen, wenn sie Oden veröffentlichen. Dies sei an einigen Beispielen gezeigt. Olivier de Magny, ein Dichter mit Beziehungen zum Lyoner Dichterkreis und zur Pléiade, beschreibt im Gedicht „Au Seigneur Pierre de Paschal" in seinen Amours (1553) seine Poesie mit folgender Metapher (f. 27r): le dressay mon vol iusqu'aux deux, Au sein du trésor le plus rare, Acostant, trop audacieux, Les Graces de nostre Pindare. Auch in seinen 1559 erschienenen Odes erwähnt er Pindar, in der triadischen Ode ,Λ Monsieur d'Auansson, premier President au grand conseil du Roy, en faueur de Pierre de paschal. Ode de la Iustice" (f. 38r): [...] la nature & les cieux T'ont fortuné de tout leur mieux, Te faisant non seulement digne Des mignardz fredons de mes vers, Mais encor des accordz diuers De la Pindarique buccine. Mit Pindar ist an beiden Stellen offensichtlich Magnys Freund Ronsard („nostre Pindare"112) gemeint, den er über sich selbst stellt, im ersten Beispiel 111) 112)

Geschichte der Ode 85. S. oben S. 84-87.

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(möglicherweise, die Anspielung ist sehr leicht) mit Hilfe des bekannten Bildes von Icarus: Obwohl die Möglichkeit des Scheiterns nicht direkt genannt wird, tragen doch die Worte „vol iusqu'aux cieux" und „trop audacieux" die Konnotation des Überschreitens einer natürlichen Grenze und somit der Unvermeidlichkeit des Sturzes in sich (denkbar ist auch ein Anklang an den Flug des durch die Hippukrene mit der Poesie verbundenen Pegasus 113 ). In diesem Gedicht wird Ronsard auch durch eine Anspielung auf den Text seiner Odes ein Kompliment gezollt: Wenn Magny sich den „Graces de nostre Pindare" nähern will, so zitiert er damit das erste Gedicht aus Ronsards Sammlung, „Au Roi", in dem von der „Thebaine Grace" die Rede ist (OC 1, 62). Magnys zweite Passage verwendet eine Schallmetapher: Während seine eigenen Verse nur „angenehme Melodien" sind, wäre der Adressat der „pindarischen Trompete" würdig (die seinen Ruhm weiter verbreiten könnte als die „fredons" Magnys) 114 . Die Antonomasie „Pindar" für Ronsard hat Magny offenbar nicht nur wegen der bekannten Vorliebe der Renaissance für solche Umschreibungen 115 gewählt, sondern auch, weil dies für Ronsard als ehrenvoll empfunden wird. Jean de La Jessée, der Pindar kannte und übersetzte 116 , veröffentlichte 1573 in seiner Rochelleide ein Gedicht, das nur vorgibt, eine pindarische Ode zu sein, die „Ode, sur les presens troubles de France. A Monsieur frere du Roy". Ihre gleichen Strophen zu acht kreuzweise gereimten Siebensilblem sind in Gruppen zu je drei angeordnet, zwischen diese „Triaden" ist jeweils das Wort „PAVSE" eingeschoben. La Jessée beginnt das Gedicht auch mit einem expliziten Hinweis darauf, daß es sich um eine pindarische Ode handelt (f. Ciiij r ): le veux bien polir c'est Ode, Mais tordre ie la voudroy A la Thebaine methode, Pour le Frere de mon Roy.

113) Zu Bellerophon als Bild für den „stürzenden Dichter" s. unten S. 266.; zum Bild der „zum Himmel fliegenden" Dichtung vgl. JOUKOVSKY, Gloire dans la poésie 330-333. 114) Die Trompete wird in der Renaissance oft als Symbol für die epische Dichtung der Leier der Lyrik oder der Röte der bukolischen Dichtung gegenübergestellt, hier steht sie allgemein für erhabene, „hochtönende" Dichtung; JOUKOVSKY, Gloire dans la poésie 499f. ist der Ansicht, das Motiv sei aus der bildenden Kunst der italienischen und französischen Renaissance übernommen, wo die Göttin Fama oft mit einer Trompete dargestellt ist, so findet sich die Göttin auch in der Dichtung der Pléiade (ebd. 509f.). 115) S. oben S. 138f. Anm. 240. 116) Er übersetzte eine mythische Partie aus Nem. 10 (37). Zu La Jessée vgl. Dictionnaire des lettres françaises XVIe 414; CIORANESCO, Bibliographie du seizième 392f. und INGMAR, „Jean de La Jessée". La Jessées Pindarkenntnis läßt es möglich erscheinen, daß er sich bei seiner Ode direkt an die monostrophischen Oden Pindars anschließt, doch ist jedenfalls auffallig, daß er offenbar durch die pseudotriadische Form beim Leser den Eindruck einer „regulären" ode pindarique in der Nachfolge Ronsards hervorzurufen sucht

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La Jessées Ode soll offenbar aufgewertet werden, wenn sie als „nach der thebanischen Methode" komponiert vorgestellt wird - wir haben schon gesehen, daß einige französische Theoretiker der pindarischen Ode den höchsten Rang im Genus Ode zuweisen117. Solche und ähnliche Umschreibungen für das Dichten von odes pindariques gehen auf das Vorbild Ronsards zurück, der in seinen Odes ähnlich von « ceste Ode / Ditte a la Thebaine mode » spricht (OC 1, 85), seinen « uers thébain » (1, 97) auf einer « Thebaine corde » spielt (1, 105) und ankündigt, er werde « Brouiller mes vers a la mode / De Pindar' » (7, 42). Paul Schede lobt 1574 den schottischen Dichter George Buchanan in einem Gedicht aus der ersten Auflage seiner Schediasmata für seine Nachahmungen einer ganzen Reihe von antiken Dichtern118 („Ad Georgium Buchananum Scotum", p. 8): TE siue chordas Pindaricae lyrse Aut Flaccianum tendere barbiton Miratur Euterpe [...] Seu te Maronis grandisona tuba Laudes canendo cœlicolae patris Stupet triumphantem, graueisque Maeonidae numéros tonantem [..·]. Wie schon mehrfach119, sind Pindar und Horaz auch hier die Vertreter der Lyrik, Homer und Virgil die des Epos (vgl. die Abstufungen in den Instrumenten: „lyra" und „barbiton" für die Lyriker, „tuba" und der Donner für die Epiker). Bemerkenswert ist noch, daß Melissus Buchanan am Ende als „Sonne der Dichter" bezeichnet, mit dem er sein eigenes schwaches Licht nicht vergleichen möchte: Certare Soli sidera nulla sint Ausura, quamuis splendida maximè; Nedum verecunda Melissus Franconiae nigricans ocellus. Dieser Vergleich geht wohl auf die berühmte Priamel von Pindars erster olympischer Ode zurück, in der gesagt wird, die olympischen Spiele überstrahlten alle anderen Wettkämpfe, wie die Sonne allein am Himmel stehe (5f.):

117) S. oben S. 166f. 118) Die Form des Lobes, in durch „siue [...] seu" verbundenen Alternativen, könnte auf Statius, silu. 1, 3, 101-104 zurückgehen, wo in ganz ähnlicher Weise vom Abfassen von (pindarischer?) Lyrik, Epik, Satiren oder Episteln die Rede ist: seu tibi Pindaricis animus contendere plectris, siue chelyn tollas heroa ad robora, siue liuentem sati ram nigra rubigine turbes, seu tua non alia splendescat epistola cura. 119) S. oben S. 102f. und 164.

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μηκέτ' άελίου σκόπει αλλο θαλπνότερον έν άμέρα φαεννόν οίστρον έρημος δι' αιθέρος. Die Stellung ganz zu Anfang der vier Bücher Epinikien hat gewiß dazu beigetragen, daß die erste olympische Ode besonders populär wurde120 (vgl. schon im Altertum Lukian, Gall. 7 έν άρχη εύθυς του καλλίστου των ασμάτων απάντων). Die beeindruckende Anfangspriamel wird außer hier bei Schede auch 1575 in den Oeuures poétiques Jamyns und 1578 in den Opera poetica Louis de Balsacs nachgeahmt. Jamyn beginnt sein Gedicht „Ode, au Roy Charles IX. Sur sa forge" (f. 62v) so: Nos yeux ne pourroyent contempler Par le vuide espace de l'air, Vn astre en ses rayons plus beau Que du grand Soleil le flambeau Traisnant les iours en sa carriere. Jamyns „vuide espace de l'air" nimmt Pindars έρήμας δι' αιθέρος sehr genau auf121 und zeigt direkten Rückgriff auf dessen Text an. Balsac übernimmt in dem Gedicht „Ad Georg. Armagniacum cardinalem. Ode ad numéros Pindaricos" (f. 66") nicht nur Pindars Bild der Sonne, sondern auch das Wasser und das Gold (lf. "Αριστον μεν ϋδωρ, ό δέ χρυσός αίθόμενον πυρ / ατε διαπρέπει νυκτΐ μεγάνορος έξοχα πλούτου), und genau wie die Priamel Pindars dienen auch seine Verse dazu, das eigentliche Thema des Liedes, den Preis des Adressaten, in den Vordergrund zu rücken (wobei außerdem der vierte zitierte Vers eine Imitation von Ol. 2, 1 Άναξιφόρμιγγες ΰμνοι ist): Nam velut nullum melius splSdescit auro Nullum aqua dulei melius nec astrum Sole corusco splendidius vllum micat: Lyrae potentes Camœnç, Nec volunt nec queunt, Te maius celebrare decus. Ähnlich wie La Jessée 122 verfahrt Olivier de Manare in einer pièce liminaire für die 1576 erschienenen Opuscules Antoine Blondels (p. 221), wenn er erklärt: le veux te batir123 vne ode Imitateur des François Suyuans la Thebaine mode. 120) Daß Ol. 1 das Lieblingsstück des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts war, berichtet FOGELMARK, „Pindaric Bibliography" 80. Vgl. noch Lessing im 31. seiner Briefe, die neueste Literatur betreffend: „Die e r s t e [olympische Ode], weiß ich, kennen Sie gewiß. Wer sollte auch nicht so neugierig gewesen sein, wenigstens die erste Ode des P i n d a r s zu lesen, wenn sie ihm auch noch so viel Mühe gekostet?" 121) Für diese Junktur gibt es noch mehr Belege, vgl. Ol. 13, 88 αιθέρος [...] έρημου, ferner Virgil, georg. 3,109 „aëra per uaeuum" und Horaz, carm. 1, 2, 34 „uaeuum [...] aëra", doch zeigt der Kontext deutlich, daß Jamyn hier direkt auf Pindar zurückgreift. 122) S. oben S. 179f. 123) Zu diesem Bild (der Dichter „baut" sein Gedicht) vgl. JOUKOVSKY, Gloire dans la poésie 398-404.

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Auch diese Ode gibt also vor, pindarisch zu sein, obwohl sie es weder in Form noch Inhalt ist (das Gedicht ist monostrophisch, also keine ode pindarique, und bewegt sich im „niedrigen" Stil). Manare gibt aber auch gar nicht vor, direkt Pindar zu folgen, sondern möchte sich an dessen französische Nachahmer (gemeint sind wohl Ronsard und seine Nachfolger) anschließen. Daß Pindar zu dieser Zeit Prestige genoß, läßt sich auch an einem merkwürdigen Faktum aus Guy Le Fèvre de La Boderies124 Hymnes ecclesiastiques von 1582 ablesen: Dort findet sich ein „Chant Royal 8. Ex 4. Ode Pyth. & 4. Argonaut. Apolonii. A Madame de l'Ile-Dieu, & de la Fueillee Dame d'honneur de la Royne mere" (f. 248 v ). Das Gedicht erzählt die Geschichte von der Erdscholle, die der Argonaut Euphemos von Triton zum Geschenk erhält, und gibt anschließend eine christlich-allegorische Deutung dieser Geschichte. Trotz der Ankündigung im Titel des Gedichtes scheinen sämtliche Details der Erzählung aus der Version des Apollonios Rhodios, Arg. 4, 1551-1563 und 1731-1764 zu stammen, jedenfalls enthält Le Fèvres Gedicht keinen Zug, der sich in Pindars Fassung Pyth. 4, 14-56, nicht aber bei Apollonios fände (wohl aber umgekehrt nur bei Apollonios belegte Motive125). Da der hellenistische Dichter unter anderem Pindar als Quelle benutzt hat und ihre Versionen deshalb in vielen Punkten übereinstimmen, kann nicht völlig ausgeschlossen werden, daß Le Fèvre auch Pindar kannte und imitierte, doch lassen sich dafür im Text des Franzosen keine Indizien finden. Die Erwähnung Pindars im Titel ist offenbar nur erfolgt, weil es zum Prestige des Gedichtes beitrug, den bekannten und bewunderten Namen als Modell voranzustellen. Jean-Edouard Du Monin fügt in seine 1582 gedruckten Nouuelles Oeuures eine fünfzehn Triaden umfassende „Ode Pindarique pour hymne, à Monseigneur Francois de Vergi, comte de Champlite, & gouuerneur pour sa majesté en Bourgongne" ein (p. 110), und außer durch die im Titel ausdrücklich erwähnte „pindarische" Form wird das Gedicht auch im Innern als pindarisch markiert: Du Monin verwendet für sein Lob die allegorische Form der Seefahrt eines

124) 1541-1598; zu ihm vgl. CIORANESCO, Bibliographie du seizième 421 und SECRET, Esotérisme de Guy Le Fèvre. 125) So wird bei Le Fèvre wie bei Apollonios die Erdscholle von Triton übergeben, der die Gestalt des Poseidonsohnes Eurypylos angenommen hat; bei Pindar wird der Name des Gottes nicht genannt (vgl. aber 20 Τριτωνίδος und dazu BRASWELL, Fourth Pythian Ode 90). Vor allem aber das Motiv, Euphemos habe später den Traum, die Scholle werde von Milch benetzt und verwandle sich in eine Frau, und er erhalte daraufhin von Jason den Rat, die Scholle ins Meer zu werfen, kommt nur bei Apollonios, nicht aber bei Pindar vor und wird von Le Fèvre übernommen. Derselbe Mythos war schon 1573 von Dorat in dem Gedicht „De Henrici Regis Poloniae inuictiss. profectione ode allegorica" (Odes latines 215, 13-24) berührt, die knappe Erzählung läßt keine Entscheidung zu, ob Dorat hier einem bestimmten Vorbild folgte.

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Kaufmannes, der die Tugenden des Adressaten als Warenballen zu verkaufen sucht, dabei nennt er sein Gedicht „ma nef Pindarique"126. Auch in den Œuures pœtiques von Gilles Durant de La Bergerie (1594) wird Pindar in einer ode pindarique erwähnt, hier allerdings in einer Reihe von Dichtern. Durants Sammlung enthält zwei Bücher Oden; während das erste dieser beiden Bücher aus im anakreontischen Stil geschriebenen Liebesgedichten (an seine „Nymphelote Charlóte") besteht, beginnt das zweite mit einer pindarischen Ode „Au Roy de France & de Nauarre". Die Form des Gedichtes und das Prooem, das Durants „fureur plus forte" beschreibt, markieren einen scharfen Gegensatz zur vorhergehenden leichteren Dichtung127. Im Inneren der Ode findet sich folgende Reihung (f. 1360: Si i'auois vne plume habile, Comme la plume de celuy Qui fait que les armes d'Achille Durent encore auiourd'huy : Si ie pouuois chanter vne Ode, Qui fut façonnee à la mode De ce grand poëte Thebain, Ou bien du lyrique Romain : Si de la fureur non-pareille De Ronsard i'estois élancé

Durant hat sicherlich recht, wenn er die dichterische Kraft eines Homer, Pindar, Horaz oder Ronsard (der hier bruchlos in die Reihe der großen Musterautoren eingefügt wird) für sich als unerreichbar ansieht, aber der Zweck dieser Verse ist nicht eine solche Selbstaussage, es handelt sich vielmehr um eine in Enkomien häufige Variante des Bescheidenheitstopos: Der laudator furchtet, sein Lob könne den Eigenschaften des laudandus nicht angemessen sein12*. Hier wird dies so dargestellt, daß sich der Lobredner allgemein anerkannten rühmenden Dichtem gegenüberstellt und seine Unterlegenheit zugibt129. Der konventionelle Charakter dieser Passage ist klar, ebenso aber, daß Pindars Prestige noch ungebrochen sein muß, wenn sein Name in diesem Topos verwendet werden kann. Durants Respekt für Pindar wird auch aus einer weiteren Ode deutlich, „A

126) Der Anklang an die ähnliche Metapher in Pindar Nem. 5, 2f. ά λ λ ' έπί π ά σ α ς όλκάδος εν τ' άκάτω, γλυκεΐ' άοιδά, / σ τ ε ΐ χ ' άπ' Αίγινας ist wohl nur zufällig; außerdem fährt dort das Lied auf einem Schiff, während es bei Du Monin das Schiff i s t . 127) Zu dieser funktionalen Verwendung der fureur s. oben S. 158f. 128) S. oben S. 90f. 129) S. oben S. 82-84 mit Anm. 56.

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Antoine Mornac Aduocat en Parlement", in der er das berühmte Prooem von Pyth. 1 zitiert130 und dieses Zitat einleitet mit den Worten (f. 155r): Le grand Prince de la lyre Entre les Grecs reueré, Mornac, que vouloit-il dire, Parlant à son luth doré [.··] ? Gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts hat Pindar also offenbar noch nichts von seiner Stellung als,.Prince de la lyre" eingebüßt, und auch im ersten Jahrzehnt des nächsten Jahrhunderts ist sein Ruf noch intakt, wie zwei 1604 in Paris veröffentlichte „pindarische" Bücher zeigen. In den Royales Couches Claude Gamiers sind Hinweise auf Pindar überaus häufig: Schon in einer pièce liminaire Frédéric Morels wird Garnier ,,/Emulus en carmen Dircej oloris" genannt (f. äi r , mit Anspielung auf Horazens „Dircaeus cycnus", carm. 4, 2, 25); er selbst bittet vor der eigentlichen „Ode" in einem „Discours, au Roy" um gütige Aufnahme seiner Dichtung (f. Air). I...J reçoy de ma lyre Vn dous present que ie t'apporte (SIRE) L'ayant tissu cheminant dans le train Peu frequenté de Pindare Thebain Roy des sonneurs : c'est vne ode tracée Dessur les bors de la claire Dircée. Pindar wird hier als « Roy des sonneurs » bezeichnet, daher ist sein Weg auch „wenig begangen": Damit möchte Garnier keineswegs eine platte Aussage darüber machen, daß die ode pindarique aus der Mode sei, sondern wertet durch den Hinweis auf die Seltenheit und damit die Kostbarkeit seiner Dichtung das Lob auf. Vor die „Ode" selbst wird die erste Strophe von Horaz, carm. 4, 2 gestellt, und auch im Textinneren fehlt es nicht an Hinweisen, die den Leser daran erinnern sollen, daß es sich um ein pindarisches Gedicht handelt: Garnier erwähnt seine « lyre Thebaine » und zitiert mehrere bekannte Gnomen aus Pindars Epinikien131; ebenso spricht er in der in demselben Buch enthaltenen „Ode pindarique a la Royne" (p. 71) von seinem « vers Thebainement dous ». Insgesamt

130) S. unten S. 254f. 131) Unter anderem « Les Aigles trauersent la mer » = Nem. 5, 21 καί πέραν πόντο io π ά λ λ ο ν τ ' αίετοί; eine Anspielung auf Ol. 6, lOOf., s. unten S. 235, und das schon angeführte Zitat aus Pyth. 1, 85, s. oben S. 92.

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läßt sich also bei Garnier eine direkte Kenntnis Pindars und ein recht großer Aufwand feststellen, sein Lied in die Tradition Pindars und Ronsards zu stellen. Auch in Jean Le Blancs zwanzig Odes pindariques aus demselben Jahr und seiner Neotemachie aus dem Jahre 1610 (die einige Gedichte aus der früheren Sammlung in mehr oder weniger stark überarbeiteter Fassung wiederaufnimmt) fehlt es nicht an audrücklichen Rückbindungen an das antike Vorbild: Er zitiert « la Pindarique voix » und spricht von « Le Poète qui me guide / En la voye Thebai'de » („A monseigneur de Rosny", aus den Odes pindariques), nennt seine Dichtung « vn Dorien appareil » („A Monsieur Des-Yveteaux", aus den Odes pindariques), er fordert die Musen auf, ihn zu inspirieren « de la mesme flame / Que vous inspirastes iadis / Le docte Pindare » (,,Α Nicolas de Neufuille", Neotemachie p. 37). Dem Adressaten der Ode ,A Nicolas de Sillery, Chancelier de France" versichert er, seine Verse könnten ihn unsterblich machen (,Neotemachie p. 36): Mais puis que i'ay diuin BRVLARD, En main la harpe Dorienne, Puis que i'imite le bel art De la Muse Pindarienne, Ce meschef [l'oubli] n'arriuera pas, le te sauueray du trespas [...]. Der in Pindars Dichtung so häufig anzutreffende Topos, daß nur die Dichtung unsterblichen Ruhm verleihen kann132 (Le Blanc drückt dies so aus: « L'ancre 132) Ζ. Β. Pyth. 3, 114f.; Isth. 4,40f.; eindrucksvoll die negative Wendung Ol. 10, 9193 καί όταν καλά ερξαις άοιδας άτερ, / Άγησίδαμ', εις Ά ί δ α σταθμόν / άνήρ Υκηται, κενεά πνεύσαις επορε μόχθω βραχύ τι τερπνόν; vgl. auch Passagen wie Pyth. 1, 93f.; Nem. 7, 12f.; Isth. 7, 16-19; frg. 121, 3f. und besonders die durch ihre Nachahmung bei Horaz, carm. 3, 30 „Exegi monumentum aere perennius" in der europäischen Literaturgeschichte tatsächlich unsterblich gewordenen Verse Pyth. 6, 10-14 τον οΰτε χειμέριος ομβρος, έπακτός έλθών / έριβρόμου νεφέλας / στρατός άμείλιχος, οΰτ' άνεμος ές μυχούς / αλός άξοισι παμφόρω χεράδει / τυπτόμενον (ähnlich schon Simonides, frg. 531, 4f. PMG έντάφιον δέ τοιούτον οΰτ' εϋρώς / οΰθ' ό πανδαμάτωρ αμαυρώσει χρόνος, vgl. auch Isokrates, or. 15, 7 μνημεΐον [...] πολύ κάλλιον των χαλκών άναθημ(*των); s. auch oben S. 43. Beteuerungen, daß die Dichtung unsterblich sei und auch den von ihr Besungenen Unsterblichkeit verleihe, sind in der französischen Renaissance so gängige Münze, daß es schwerfällt, aus dieser Masse Beispiele herauszugreifen; einige wenige mögen genügen. Mit Anklang an Horazens „monumentum aere perennius" Jean de La Péruse, Diuerses poésies p. 16: Contre vieillart faucheur Il n'i a tour qui soit seure, Et nul palais tant soit seur Tou-iours debout ne demeure : La seulle euure de la Muse Par le fil des ans ne s'vse, Mais tou-iours acroist sa force [...].

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seule est plus forte qu'eux [les ans] »*, p. 33) wird hier unmittelbar mit der Nachahmung Pindars in Verbindung gebracht, und diese Verbindung wird gleich doppelt ausgedrückt, in Form einer Anspielung auf die „dorische Harfe" und direkter durch den Hinweis auf die Nachahmung „der pindarischen Muse". Auch die Ode „A Monseigneur de Geure, Secretaire d'Estat" aus den Odes pindariques beginnt mit einer ausführlichen Erklärung, daß Le Blanc sich an Pindar orientieren wolle: J'ose accueillir ton oreille De ma louange pareille A celle que façonnoit Pindare alors qu'il regnoit En l'honneur de ceux qui furent Des jeux Isthmiques la fleur, Et de ceux-là qui se pleurent En l'Olympique labeur. Obwohl sicher viele der späteren pindarischen Oden in der französischen Literatur nur Ronsard nachahmen, ohne Pindar zu kennen, wird doch in den Texten immer wieder betont, daß diese Gedichte „pindarisch", „thebanisch" oder „dorisch" seien. So bittet auch Jean de Schélandre133 am Ende seiner 1608 in den Meslanges (zusammen mit Tyr et Sidon) erschienenen „Ode pindarique sur le voyage fait par l'armee des estats de Hollande au pais de Liege l'an 1602. Item sur la prise de Graue" (p. 43) den Adressaten, seine « fredons que l'entreprends / Sur la Pindarique lire » gnädig anzunehmen. Ähnlich spricht Jean Prévost in seiner Ode pindarique a Monsieur le Prince de Condé (1610) von seiner « corde Dorienne » und betont auch in zwei Oden seiner Tragedies von 1614 den „pindarischen" Charakter der Gedichte. Die „Ode pindarique a Monsieur de Saincte Marthe, Conseiller du Roy, et Thresorier general de France" beginnt folgendermaßen (f. Vir): Sus Muses aux noirs cheueux Bandez moy l'arc de Memoire, Que i'enuoye à nos neueux Ebenso Claude Garnier, Ode sur la maiorité du Roy p. 14 (zu den guillemets am Rande s. oben S. 92 mit Anm. 86): » Le marbre, la bronse & le cuiure » Ne sont bastans pour faire viure » Les noms dans l'immortalité : » Les vers, armez contre les âges, » Contre les vents & les orages, » Sans plus en ont l'authorité. » 133) 1585-1635, vgl. Dictionnaire des lettres françaises XVIIe 933f.; CIORANESCO, Bibliographie du dix-septième 3, 1831 und LAFAY, Poésie française 431-433.

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De S A B M C T E - M A R T H E la gloire : Il me piaist de descocher Les traits du Thebain archer [..·]· Die Metapher des Bogens für die Dichtung ist zwar bei Pindar häufig 134 , wurde aber (wohl in Anlehnung an ihn) offensichtlich von Ronsard zuerst in die französische Dichtung übernommmen und fand dann dort eine sehr große Verbreitung135; daher ist wohl bei Prévost kaum an eine direkte Kenntnis des „thebanischen Bogenschützen" zu denken. „Bis zu den Enkeln" will er schießen, eine Variante der konventionellen Behauptung von der Langlebigkeit der Dichtung. Auch die an denselben Scévole de Sainte-Marthe gerichtete .Autre Ode pindarique" stellt sich deutlich in die Tradition Pindars (f. Viiijr): le veux retenter vne Ode, Et la sonner à la mode Que dans ses vers enlacez Le cygne Thebain l'accorde, Sur la mieux disante corde Qu'il touchast aux bords Dircez. Der (aus Horaz, carni. 4, 2, 25 stammende; auch das Adjektiv „Dircez" im letzten zitierten Vers könnte eine Reminiszenz an Horazens „Dircaeum" sein) „thebanische Schwan" und seine „mode" erinnern den Adressaten wieder an die lange Tradition des pindarischen Enkomions; solche Hinweise sind nur sinnvoll, wenn diese Tradition auch 1614 noch als positiv anerkannt wird. In ähnlicher Weise wendet sich auch Joachim Bernier de La Brousse an den Adressaten einer Ode aus seinen Œuures pcëtiques von 1618 (f. 100v): [...] entends la lyre De ton la Brousse qui respire Ta gloire & tes faicts genereux, A la Thebaine & graue mode [...]. Schließlich sei noch François Berthrands Panegyrique Bourbonien (1623) erwähnt: Mit Hilfe des aus Horaz übernommenen Bildes vom Flug des Icarus bezeichnet auch er sich als Nachahmer Pindars 136 und nennt seine Dichtung

134) Eine Sammlung und Interpretation der Belege bei SIMPSON, „Chariot and the Bow" 449-473. 135) Vgl. JOUKOVSKY, Gloire dans la poésie 333. 136) S. oben S. 96f.

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« vne voix Dorienne, / vn ton Thebainement hautain » und einen « hymne tout Pindarien ». Alle diese Passagen können weder zeigen, ob Pindar in der zweiten Hälfte des sechzehnten und den ersten Jahren des siebzehnten Jahrhunderts viel gelesen wurde, noch sind sie unabhängige literaturkritische Aussagen über seine Dichtung. Sie sind aber beweiskräftig genug, um die These von einer generellen Ablehnung Pindars zu widerlegen: Wenn sein Name in Topoi der enkomiastischen Dichtung so benutzt werden konnte, dann muß seine Dichtung immer noch als verbindliches Vorbild empfunden worden sein.

5 Ceux qui ont le goût bon et qui en voyant un livre croient trouver un homme sont tout surpris de trouver un auteur. Biaise Pascal Écrire devant être, le plus solidement et le plus exactement qu'on le puisse, de construire cette machine de langage où la détente de l'esprit excité se dépense à vaincre des résistances réelles, il éxige de l'écrivain qu'il se divise contre lui-même. C'est en quoi seulement et strictement l'homme entier est auteur. Paul Valéry

Dieser Befund spricht nicht für die Annahme einer chronologischen Entwicklung des Geschmacks (vom Pindarenthusiasmus zur Abkehr von Pindar); eine Annahme, die auch durch eine genauere Analyse der Texte widerlegt wird, die angeblich eine solche Abkehr zeigen. Ein Kronzeuge für deren Befürworter ist hierbei Joachim Du Beilays „Ode au Prince de Melphe diuisee en treze pauses" (OP 5, 348); das Gedicht erschien erst 1568 in einer postumen Sammlung der Werke Du Beilays, entstand aber nach der Vermutung CHAMARDS 1 3 7 etwa 1555 oder 1556. Es handelt sich um eine ode pindarique insofern, als das Werk in Triaden - deren Teile aber Du Beilay selbst nicht bezeichnet hat, wenn ich daher im folgenden von Strophen und Epoden spreche, so geschieht dies nur der Klarheit wegen - geschrieben ist, nach jeder Epode liest man im Text das Wort

137)

Du Beilay, OF 5, 348 Anm. 2.

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PAVSE 138 . Du Beilays Aussage über Pindar findet sich in der Strophe der dritten Triade (OP 5, 350): Si ie voulois suyure Pindare, Qui en mille discours s'égare Deuant que venir à son poinct, Obscur je brouillerais ceste Ode De cent propos : mais telle mode De louange ne me plaict point. CHAMARD spricht in einer Anmerkung zu dieser Passage in Du Beilays OP von einer « critique du pindarisme »139, CLEMENTS140 bemerkt zu CHAMARDS Datierung auf 1555 oder 1556: "These dates seem logical enough, for the revolt against Pindarism had already set in." Ist aber Du Beilays Aussage wirklich so eindeutig gegen Pindar gerichtet, daß von einer „Revolte" gegen den antiken Dichter geredet werden kann? Ist in diesen Versen überhaupt eine theoretische Wertung Pindars impliziert? Um diese Fragen beantworten zu können, muß zunächst der Kontext dieser Strophe beachtet werden. In den zwei ersten Triaden gibt Du Beilay an, warum er Antoine Caracciol, den Fürsten de Melphe, preisen will: Obwohl er in diesem barbarischen Zeitalter141 seine Leier schon an den Nagel gehängt habe (« Au croc j'auois pendu la lyre »), sehe er sich durch die Tugenden des Adressaten genötigt, seinem Vorsatz, von der Dichtung abzulassen, untreu zu werden und ihm ein Enkomion zu singen. In der zweiten Triade gibt er als weitere 138) Dieselbe „pseudotriadische" Struktur zeigt auch Du Bellays Louange de la France et du Roy treschrestien Henry II aus dem Jahre 1560, OP 5, 308; s. auch oben zu Jean de La Jessée, S. 179. 139) Vgl. auch CHAMARD, Histoire de la Pléiade 1, 304 und HIGHET, Classical Tradition 631 Anm. 35: "Du Bellay's Ode au Prince de Melphe [...] criticizes Pindar as obscure and rambling." 140) Pléiade 100. 141) Klagen über die Barbarei und „ignorance" der Zeit finden sich oft in Gedichten der Renaissance, häufig in Enkomien für Dichter oder Gelehrte, denen bescheinigt wird, ihr Wirken habe diese bösen Geister nun endgültig vertrieben; einige Beispiele aus Ronsards Odes mögen genügen: OC 1, 75 an Marguerite de France « tu alas trouuer / Le uilain monstre Ignorance »; 124 an Jacques Bouju « où ta muse luit / La sourde ignorance fuit »; 127 an Jean Dorât « tu brises l'ignorance »; 237 an seine Muse « Vn uers qui soit industrieus, / Foudroiant la uieille ignorance »; 2, 88 wieder an Bouju « L'un de ceus qui ont défait / Le uillain monstre Ignorance / Et le siccle d'or refait » (der Kampf gegen die „ignorance" wird gern in militärischen Metaphern dargestellt, vgl. die Beispiele bei WEBER, „Structure des odes" lOlf.). Andererseits loben dieselben Autoren, die diese Klagen führen, in anderen Gedichten (vor allem Enkomien für politische Potentaten) die gegenwärtige bewundernswerte Wiedergeburt von Künsten und Wissenschaften. Beide Motive sind konventionell und werden je nach Situation und Adressaten des Gedichtes variiert; diese Konventionalität verkennt, wer sie als Zeugnisse für die „innere Zerrissenheit" oder „ambivalente Haltung" eines Dichters interpretieren will.

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Begründung für sein Loblied an, er sei mit dem Adressaten verwandt und befreundet (« Ceste amitié me conuie / D'immortaliser ta vie / Au sein de l'eternité »), darauf folgt die zitierte Strophe. Nicht berücksichtigt werden aber von den meisten Interpreten die ebenso wichtigen beiden nächsten Strophen, in denen es heißt: Il me plaict de chanter ta gloire D'un vers lequel se face croire Par sa seule simplicité : Sans me distiller la ceruelle Nuict & jour, pour rëdre nouuelle le ne sçay quelle antiquité. Tirant d'une longue fable Vn loz qui n'est veritable, Pour farder l'honneur de ceux, Qui peincts de telles louanges, Comme de plumes estranges, N'ont rien de louable en eux. Du Bellay stellt in diesen Versen zwei Formen des Lobes vor: Das unaufrichtige („non veritable") Enkomion muß sich in „tausend Exkurse" verirren, um den laudandus wie die Krähe der Fabel mit „fremden Federn" zu schmükken, er selbst hingegen (qua laudator) wird ein aufrichtiges Lob verfassen, das dieser Kunstmittel nicht bedarf, weil sein laudandus selbst ihm genügend Lobenswertes bietet. Du Beilay fährt fort mit einer zweiten irrealen Periode: „Wenn es mir an Stoff fehlte, besänge ich die Taten Deiner Vorfahren." Er gibt dann eine lange Beschreibung eben dieser Taten, um sie abzuschließen mit den Worten [Je] ne veux bastir ton renom Sur ses [de ton père] vertus dont tu hérités : le veux sur tes propres mérités Fonder la gloire de ton nom. An dieser Stelle ist die Ablehnung ganz offensichtlich nur ein Kunstgriff des Enkomions, der es Du Beilay erlaubt, zwei Aspekte des Lobes auszudrücken: Einerseits lehnt er einen Exkurs in die großen Taten der Vorfahren ab, weil Caracciol selbst « Mille arguments suffisans » bietet, andererseits erlaubt ihm gerade die Ablehnung (mit einer der rhetorischen praeteritio ähnlichen Technik) die Darstellung eben dieser ruhmreichen Taten. Dieselbe Technik findet sich auch bei Ronsard, und zwar im Jahre 1550, zu einem Zeitpunkt also, an dem nicht einmal Interpelen wie CHAMARD oder CLEMENTS eine Abkehr von

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Pindar vermuten könnten: Am Beginn der Ode „Au reuerendissime Cardinal de Guise" wird ein Exkurs in die Taten der Vorfahren des Kardinals ebenfalls abgelehnt, weil der Adressat durch eigene Taten Unsterblichkeit errungen habe (OC 1,80): Leur [de ta race] uertu qui au ciel monte Te ferait seuli immortel, Mais ta uergongneuse honte Rougirait d'un honneur tel. Ebenso in der Ode „A Jouachim Du Bellai Angeuin" (OC 1,116): Sache que le sang de ceus-ci Et leur rac¿ est la tienn¿ außi. [·..] Puis que sa louange foisonne En cent uertus propres a lui, A quoi par les honneurs d'autrui Rempli-ie ce que ie lui donne ? Mit ähnlicher Begründung lehnt Ronsard in dem Gedicht „A Jan Martin" einen mythischen Exkurs ab (OC 1, 132f.): Il ne faut que i'honore Ton renom, ô MARTIN, De fables prises ore Du Grec, or du Latin : Ta uertu (reluisante Comme les feus des Dieus, Me sera sufisante Pour te loger aus cieus. In Des Autels' Amoureux repos von 1553 muß wiederum, wie bei Du Bellay, Pindar als Gegenpol zu einem einfachen und aufrichtigen Lob herhalten: In dem Gedicht „Aux trois Graces Françoyses" (f. Eiiij") wird ein Exkurs abgebrochen mit der Bemerkung « Laißons, laißons, à Pindare ces ruses, / Qui court bien loin à la vertu d'autruy, / [ . . . ] ô Muses, / C o n duysez moy plus droict que luy » (der Begriff „ruses" zeigt, daß hier wieder der konventionelle Gegensatz von kunstvollem, unaufrichtigem und kunstlosem, ehrlichem Lob ausgedrückt wird). Ähnlich wird ein Exkurs in die Taten der Ahnen abgelehnt in der Ode „A Monsieur Henri de la Tour, Duc de Bouillon, Vicomte de Turenne, Mareschal de France" Abraham Vermeils (Poésies 19). All diese Passagen sind keineswegs dichtungstheoretische Programme, sondern dienen als Priameln 142 dazu, das dem entsprechenden (mythologischen, historischen) Exkurs entgegengesetzte Lob der Taten hervorzuheben. Gerade die Aussage, die Leistungen des Adressaten machten einen Rekurs auf die Taten seiner Ahnen überflüssig, ist schon in der Antike ein in Enkomien gebräuchliches Motiv, das von Menander Rhetor für das Königslob zur Regel gemacht wird, 370, 15-20: η άλλως τοιαύτα αττα περί τοΰ γένους έρείς, οτι εϊχομεν ειπείν τι περί του γένους, έπε! δέ νικά τα τοΰ βασιλέως, σπεύδωμεν έπί βασιλέα, οί μεν ούν άλλοι γένη κοσμείτωσαν καί λεγόντων περί αύτών α βοΰλονται, έγώ δέ μόνον επαινέσω τούτον άνευ του γένους- αρκεί γαρ αυτός χωρίς έπεισάκτου τινός ευφημίας έξωθεν; vgl. ferner ζ. Β. [Tibull] 4, 1, 28-36 „non tua maiorum contenta est gloria fama"; Laus Pis. 12f. „qui tantis animum natalibus aequas, / et partem tituli, non summam, pon is in illis, / ipse canendus

142)

S. dazu oben S. 46f.

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eris". Ausdrücklich abgelehnt wie bei Du Beilay und Ronsard wird das Lob der Vorfahren auch bei Sidonius Apollinaris, carm. 7,157-162: sed portio quanta est haec laudum, laudare patres, quos quippe curules et praefecturas constat debere nepoti? sint alii, per quos se postuma iactet origo, et priscum titulis numeret genus alter; Auite, nobilitas tu solus auos. Ähnlich finden wir auch bei Symmachus, or. 3, 9 die Ablehnung eines dichterischen Exkurses.

Auch die Zurückweisung pindarischer Exkurse muß in diesem Zusammenhang gesehen werden: Die beiden ersten Strophen betonen schon die Spontaneität und Aufrichtigkeit des Enkomions. Nicht als professioneller Lobredner gibt sich der laudator hier aus, sondern als Freund des Adressaten, als Dichter, den die Tugenden Caracciols spontan zu einem Lied inspirieren, ja ihn aus seiner poetischen Untätigkeit reißen143. Diese Untätigkeit aber ist funktional: Sie hebt einerseits die Spontaneität des Lobes hervor, andererseits betont sie die Größe der Leistungen, die imstande waren, den eigentlich schon verstummten Dichter zu einem Lied anzuregen - der historische Du Beilay war vor der Abfassung dieses Gedichtes ebensowenig untätig gewesen wie er Pindar ablehnte. Pindars „mille discours" sind hier als Gegenbild zu dieser Spontaneität gezeichnet, er ist der Repräsentant der professionellen (und daher potentiell unaufrichtigen) lobenden Dichtung: Die Digressionen Pindars erschienen zwar auch dem Verständnis der Renaissance problematisch, wurden aber eindeutig als Kunstgriffe der enkomiastischen Technik, nicht als poetischer Mangel verstanden144. Dasselbe konventionelle Motiv treffen wir in der Ablehnung, die Taten der Vorfahren zu preisen: Gerade das Lob der « aieus, jadis braues, & vaillans » wird ja in einer schon zitierten Stelle aus dem Vorwort zu Ronsards Odes als Beispiel für eine solche im Verfahren des kunstvollen Enkomions übliche „Digression" genannt145. Dem stellt Du Beilay als laudator hier seine „Naivität" und

143) Beide Motive sind pindarisch: Die Tugenden (oder im Epinikion der Sieg) des laudandus verpflichten den Dichter zu einem Lied („Sieg-Lied-Motiv", s. oben S. 43 mit Anm. 61), das er s p o n t a n schreibt (vgl. die Betonung der Schnelligkeit seines Liedes Ol. 9, 23f.; Nem. 4, 44 und besonders Ol. 6, 22-28 α τάχος [...] σάμερον [...] έν ώρα; ähnlich wohl auch Ol. 4, 5 αύτίκ'); das „professionelle" Verhältnis von Dichter und Adressat wird im Lied in Termini von Freundschaft, oft Gastfreundschaft, ausgedrückt, vgl. VERDENIUS, Commentaries on Pindar 2, 13 (mit Verweis auf ältere Literatur); FRANKEL, Dichtung und Philosophie 492; SLATER, „Doubts about Pindaric Interpretation" 197 und ders., „Pindar and Hypothekai" 80; ANGELI BERNARDINI, Mito e attualità 99f.; HUBBARD, Pindaric Mind 156158; MOST, Measures of Praise 187 und NAGY, Pindar's Homer 147 Anm. 7. 144) S. oben S. 140-144. 145) S. oben S. 140f.

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Aufrichtigkeit gegenüber, und dieses Gegensatzes von professionellem und aufrichtigem, spontanem Lob wegen wird Pindar hier erwähnt, nicht aber, um ein vom Gedichtzweck losgelöstes literarisches Urteil abzugeben. Eine sorgfältige Analyse würde zeigen, daß diese angebliche Kunstlosigkeit und Spontaneität ein sich durch alle vierzehn Triaden des Gedichtes hindurchziehendes Motiv ist, ich muß mich mit einigen Hinweisen begnügen. In der Epode der sechsten Triade sagt der laudator, angesichts der Überfülle von Tugenden verirre er sich: « le perds toute cognoissance, / Et pauure par l'abondance / N e sçay que choisir en toy. » 146

Das Motiv, daß gerade die Fülle der Tugenden das Loben schwer mache147, findet sich in fast denselben Worten auch bei Ronsard (OC 2, 83): « Ton abondance me fait pouure, / Tant la nature heureus t'a fait. »148 Es ist in enkomiastischer Literatur nicht selten und läßt sich schon bei Pindar nachweisen (z. B. Nem. 10, 19 βραχύ μοι στόμα πάντ' άναγήσασθ' 149 ), häufig ist es seit der hellenistischen Zeit: Isokrates, or. 9, 48 [...] ού δέδοικα μή φανώ μείζω λέγων των έκείνω προσόντων, άλλα μή πολύ λίαν άπολειφθώ των πεπραγμένων αύτω; vgl. auch die lange Rechtfertigung or. 12, 84-87; Theokrit, id. 17, 11 (Panegyrikos für Ptolemaios) τί πρώτον καταλέξω; έπεί πάρα μυρία ειπείν; (mit Anspielung auf Homer ι 14 τί πρώτον τοι επειτα, τί δ' ϋστάτιον καταλέξω; vgl. auch hymn. Αρ. 207 = 19), Kallimachos, hy. 1, 92150. Die Darstellung der Unfähigkeit angesichts der überwältigenden Masse des Stoffes wird von Menander Rhetor für das Prooimion des Königslobes vorgeschrieben151. In der lateinischen Literatur finden wir Ähnliches Laus Pis. 18 „nec si cuncta uelim breuiter decurrere possim"; Plinius, paneg. 56, 2 „quo fit ut prope in immensum diffundatur oratio mea"; Ennodius, opuse. 1, 82 „uictus gestorum luorum enormitate"; Claudian 1, 55-57 „non, mihi centenis pateant si uoeibus ora / multifidusque ruat centum per pectora Phoebus, / acta Probi narrare queam"; Priscian, Anast. praef. 12-14 „cuncta non ego potero producere / (non mille dentur si mihi linguae, simul / fons ingeni sit carmen effundens

146) Vgl. eine der raffiniertesten (und wirkungsvollsten!) Reden der gesamten abendländischen Literatur (Shakespeare, Iulius Cœsar 1597-1605): I come not (friends) to sleale away your hearts, I am no Orator, as Brutus is; But (as you know me all) a plaine blunt man That loue my Friend, and that they know full well, That gaue me publike leaue to speake of him: For I have neyther wit nor words, nor worth, Action, nor Vtterance, nor the power of Speech, To stirre mens Blood: I onely speake right on: [...]. 147) Es gehört in den größeren Zusammenhang der Exordialtopik, in der der laudator die Befürchtung äußert, er sei seinem Stoff nicht gewachsen, s. oben S. 90f. 148) Die knappe, brillante Formulierung verdankt Ronsard vielleicht Ovid, met. 3, 466 „inopem me copia fecit". Vgl. auch Ronsard, OC 1,92f., wo die Größe des Stoffes durch eine Reihe von Fragen ausgedrückt wird, in denen der laudator einen Beginn für sein Lob sucht. 149) Hier verbunden mit dem κόρος-Motiv; vgl. zu diesem ganzen Komplex bei Pindar BUNDY, Studia Pindarica 1,13f. 150) Für weitere Beispiele vgl. NISSEN, „Historisches Epos" 305; s. femer unten S. 239f. 151) Zitiert unten S. 240.

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nouum)" 1S2 ; Coripp, loh. praef. 21f. „concitai ad cantus series ditissima rerum: / incallii gestis frigidus ingenio"; Claudian 21,22-24; 138-140 „singula conplecti cuperem, sed densior instat / gestorum series laudumque sequentibus undis / obruimur"; Paneg. 2, 5 , 1 „sed quid faciam? nouam quandam patior ex copia difficultatem"; 4, 3, 1; 6, 7, 1 „dies me ante deficiat quam oratio, si omnia patris tui facta uel hac breuitate percurram."; 8 , 1 , 4 ; 10, 6,1. In der französischen Renaissance finden wir das Motiv außer bei Ronsard und Du Beilay (vgl. außer der angeführten Stelle auch OP 7, 43 „Singula si cupiam breuibus describere chartis, / Scribentem calamus destituatque dies.") unter anderem bei Amadis Jamyn, dem Sekretär Ronsards, der sich in der „Ode, au Roy Charles IX. Sur sa forge" (Oeuures poetiques f. 62 v ) des konventionellen Bildes der unzähligen Sandkörner bedient: «[...] il ne faut de mon carquois / Tirer des traicts à cette fois / Sur toutes les vertus du Prince / [ . . . ] / On conterait mieux l'areine / Que les vertus de ce Roy [...] » 153 . Dasselbe Bild verwendet Claude Garnier in seiner Ode sur la maiorité du Roy (p. 8) 154 : On aurait plustost nombrez Tous les cheueux des boccages, Tous les sablons des nuages, Et tous les ioyaux des prez : On aurait desnombré mieux Tous les brillants que les Cieux Argentent par la nuict brune, Que de sçauoir racompter Le bon-heur & la Fortune Que DIEV luy [à Louis] fait meriter. Die ungeheure Anzahl der zu besingenden Taten führt auch Filbert Bretin in einer „Ode à sa Muse" (Poesies amoureuses f. 23 v ) als Begründung für den Abbruch seines Gedichtes an: « il 152) Die beiden zuletzt zitierten gehen auf die berühmten Verse der /lias Β 488-490 zurück πληθύν δ ' ούκ αν έγώ μυθήσομαι ούδ' όνομήνω, / ούδ' εϊ μοι δέκα μεν γλώσσαι, δέκα δε στόματ' είεν, / φωνή δ ' άρρηκτος, χάλκεον δέ μοι ήτορ ένείη, doch ist dies wohl indirekt, da in der lateinischen Literatur dasselbe Bild schon seit Ennius häufig auftritt, vgl. die Belege bei NORDEN, Aeneis Buch VI 293 und SKUTSCH, Annais ofQ. Ennius 628f. 153) Obwohl Jamyns Gedicht an mehreren Stellen direkte Pindarkenntnis zeigt (so wird gleich in den ersten Versen Ol. 1, 5f. imitiert, später Ol. 1, 14-17), kann der Anklang an Ol. 2, 98-100 έπεί ψάμμος αριθμόν περιπέφευγεν, / καί κείνος οσα χ ά ρ μ α τ ' άλλοις εθηκεν, / τίς αν φράσαι δύναιτο; (vgl. auch Ol. 13, 46) wohl kaum als direkte Pindarreminiszenz gewertet werden, wenn man bedenkt, wie ungeheuer verbreitet der Topos der „numero carentis harenae" (Horaz, carm. 1, 28, 1) in der gesamten antiken Literatur ist, vgl. NISBET/ HUBBARD, Horace Odes 1 320f. und die Sammlung der Belege bei ThlL 6, 2527, 60-84; s. ferner die folgende Anmerkung. Zum Bild des Bogens bei Jamyn s. oben S. 186f. 154) Die Häufung von unzählbaren Dingen in Garniers Gedicht ist schon bei Pindar, Pyth. 9, 46-48 (Blätter im Frühling, Sand im Meer und in den Flüssen) vorbereitet (vgl. auch z. B. Piaton, Euthydem 294 b; Catull 7, 3-8; 61, 199-203 und Dracontius, laud, dei 2, 655 Sand und Steme; Kallimachos, hy. 4, 175f. Schneeflocken und Steme; Virgil, georg. 2, 105108 Sand und Wasserfluten; Martial 6, 34 Fluten und Muscheln des Meeres, Bienen in Athen, Applaus im Theater usw., vgl. KROLL, Studien 166), ähnlich wie bei Garnier gehäuft finden wir die Vergleiche vor allem bei Ovid, vgl. ars 3, 149f. (Eicheln, Bienen, wilde Tiere), mei. 11, 614f. (Ähren, Blätter, Sandkörner), trist. 4 , 1 , 55-58 (Sandkörner, Fische, Fischeier, Blumen, Ähren, Obst und Schnee) und 5, 1, 31f. (Strauchwerk, Sand, Grashalme). Ein weiteres Beispiel aus der Renaissance, diesmal aus Italien: Ugolino Verino in seinem „Eulogium in Beati Francisci honorem" 27-30 aus dem Jahre 1485 (Renaissance Latin Verse 92): „tu citius Libyci pelagi numerabis harenas / omniaque in nitido sidera fixa polo / quam sacra Francisci numeres tot nomina fratrum." S. ferner unten S. 229f.

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vaut beaucoup mieux / Se taire que trop peu dire ». Eine Überfülle an Material erwähnt auch Gabriel Du Préau als Schwierigkeit beim Loben: « son renom seulement / D'vne entiere Franciade / Ou plustost d'vne Iliade / Donnerait bien l'argument. »

In der Antistrophos der neunten Triade ist es Du Beilays Muse, die « ne peut retrouuer l'issue / Du labyrinth de tes vertus »; in der dreizehnten Triade lobt er die Klarheit und tadelt die „obscurité", auch dies im Einklang mit seiner persona, die einfach und spontan dichtet. Angesichts dieser Stellen wäre es wohl naiv zu glauben, Du Beilay dichte wirklich « D'vn vers lequel se face croire / Par sa seule simplicité »: Die Behauptung, kunstlos und einfach zu dichten, ist ihrerseits konventionell und Teil der enkomiastischen Exordialtopik, Aufrichtigkeitsbeteuerungen gehören ebenso wie die Aussage, das Thema übersteige die dichterischen Fähigkeiten des laudator, zu den häufigsten Topoi der enkomiastischen Literatur; solche Beteuerungen schließen oft eine Verurteilung des gekünstelten, unaufrichtigen Lobes ein155. In ähnlicher Weise lehnt Du Beilay in dem Gedicht „A vne Dame" aus der zweiten Auflage seines Recueil de poesie von 1553 (überarbeitet hat er es unter dem Titel „Contre les Petrarquistes" in die Diuers Jeux rustiques von 1558 wiederaufgenommen) Petrarcas kunstvolle Liebesdichtung ab (OP 4, 205): I'ay oublié l'art de petrarquizer le veulx d'amour franchement deuiser Sans vous flater, & sans me deguiser. Ceulx, qui font tant de plaintes N'ont pas le quart d'vne vraye amytié, Et n'ont pas tant de peine la moitié, Comme leurs yeulx, pour vous faire pitié, Getent de larmes feintes. Noz bons ayeux, qui cet art demenoient, Pour en causer, Petrarque n'apprenoient, Ains franchement leur dame entretenoient Sans fard, ou couuerture. Mais außi tost qu'Amour s'est fait scauant, Lui qui estoit François au parauant, Est deuenu menteur, & deceuant, Et de Thusque nature.

155) Die Kritik an Schmeichlern kann eine der wirkungsvollsten Formen der Schmeichelei sein, wie Shakespeares Decius weiß (Julius Cœsar 769f.): "But, when I tell him, he hates Flatterers, / He sayes he does; being then most flattred." Für Beispiele, in denen sich die Pléiadedichter gegen „Schmeichelei" wenden, vgl. CLEMENTS, Pléiade 36-38.

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Es ist nicht verwunderlich, daß auch in diesen Versen manche Interpreten vor allem eine Abkehr vom Petrarcismus der Oliue haben entdecken wollen156; aber auch hier ist wieder vor allem die Funktion der Stelle im Kontext zu beachten: Die persona des Liebhaber-Dichters lehnt jegliche Art von kunstvoller Poesie ab, um die Aufrichtigkeit („franchement") seiner eigenen Liebesdichtung (und Liebe) zu betonen, da jede Form von „Amour scauant" Gefahr läuft, Verstellung und Schmeichelei zu werden. So wie in der Ode an Caracciol Pindar als d e r Vertreter des enkomiastischen Genus genannt wurde, ist hier Petrarca vor allem der typische Repräsentant kunstvoller Liebesdichtung; dies muß jede Interpretation zunächst berücksichtigen. Wie wenig auch dieses Gedicht eine literaturkritische Aussage machen will, zeigt die letzte Strophe, in der der Dichter, nachdem er zuvor ausführlich sämtliche Elemente der petrarcischen Dichtung karikiert hat, in ironischer Umkehrung des Beginns anbietet, auch in diesem Ton zu dichten, sollte dies von seiner Geliebten gewünscht werden (OP 4,215): Si toutesfois tel style vous piaist mieulx, le reprendray mon chant melodieux, Et voleray jusqu'au seiour des dieux D'une aisle mieux guidée. Là dans le seing de leurs diuinitez le choisiray cent mile nouueautez, Dont ie peindray voz plus grandes beautez Sur la plus belle Idée. Man könnte die Ansicht vertreten, das ganze Gedicht laufe auf diese Schlußpointe hinaus: Während die persona des Liebhaber-Dichters bis zu diesem Endpunkt über viele Strophen hinweg mit ebenso feurigen wie konventionellen Wahrheitsbeteuerungen alle Aspekte der verlogenen, professionellen Liebesdichtung (eben des „petrarquizer") ablehnt, scheint er in dieser Schlußstrophe augenzwinkernd die Konventionalität eben dieser Ablehnung einzuräumen157. 156) So z. B. CHAMARD, Histoire de la Pléiade 1,275-278, der in diesem Gedicht eine « amusante et spirituelle palinodie » und eine « profession de foi très nettement anti-pétrarquiste » sieht und es im Vergleich zur Petrarca nachahmenden Oliue einen « complet revirement » nennt. S. zum angeblichen „Anti-Petrarcismus" dieser Passage auch unten Anm. 161. 157) Man könnte Du Beilays Liebeserklärung daher (wenn man mir den Anachronismus verzeihen will) als postmodern bezeichnen - jedenfalls fühle ich mich durch sein Gedicht stark an die Definition von „postmodern" erinnert, die Umberto Eco in den Postille a "Il nome della rosa" gegeben hat: Penso all'atteggiamento post-moderno come a quello di chi ami una donna, molto colta, e che sappia che non può dirle "ti amo disperatamente", perché lui sa che lei sa (e che lei sa che lui sa) che queste frasi le ha già scritte Liala. Tuttavia c'è una soluzione. Potrà dire: "Come direbbe Liala, ti amo disperatamente". A questo punto, avendo evitata la falsa innocenza, avendo detto chiaramente che non si può più parlare in modo innocente, costui avrà però detto alla donna ciò che voleva dirle: che la ama,

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„Heute bin ich noch der aufrichtige, kunstlose Liebhaber, aber wenn es gewünscht wird, kann ich sogleich auch in die Rolle des .Petrarquiste' schlüpfen." Die feine Ironie dieses Gedichtschlusses unterminiert (wer „dekonstruiert" lesen will, mag dies immerhin tun) den Gegensatz von Aufrichtigkeit und gekünstelter Dichtung, von „Sein" und „Schein", der bis dahin das Gedicht zu beherrschen schien: Während die Erwartung des Lesers zunächst durch seine Erfahrung und den Gedichtzusammenhang dahin gelenkt wird, daß die „larmes feintes" der „vraye amitié" nicht nur gegenübergestellt, sondern auch untergeordnet werden, muß er sich hier eines besseren belehren lassen. Die Wahrheit in ihrer Konventionalität ist nur eine Form des Scheins, wenn der Dichter « sans fard ou couuerture » auftritt, so zeigt er nicht sein wahres Gesicht, sondern nur eine andere Maske. Unter diesen Voraussetzungen gewinnt auch der auf den ersten Blick für einen modernen Leser so harmlos-naiv anmutende Rekurs auf « nos bons ayeux » neue Brisanz: Daß die französischen Vorfahren in ihrer kunstlosen Liebe aufrichtiger waren als die heutige Zeit, ist eine Anspielung auf ein berühmtes Rondeau Clément Marots aus dem Jahre 1538 „De l'Amour du Siecle Antique" (Œuvres diverses 129), das mit den Versen begann « Au bon vieulx temps vng train d'Amours regnoit / Qui sans grand art & dons se demenoit » (vgl. bei Du Bellay den wörtlichen Anklang « qui cet art démenoient ») und gegenüber dieser wahren, langlebigen Liebe den Verfall der Gegenwart (« Rien que pleurs fainctz, rien que changes », vgl. Du Bellays « larmes feintes ») beklagt 158 . Die kernigen guten Vorfahren, die auch ohne das falsche Gift der ma che la ama in un'epoca di innocenza perduta. Se la donna sta al gioco, avrà ricevuto una dichiarazione d'amore, ugualmente. Nessuno dei due interlocutori si sentirà innocente, entrambi avranno accettato la sfida del passato, del già detto che non si può eliminare, entrambi giocheranno coscientemente e con piacere al gioco dell'ironia... Ma entrambi saranno riusciti ancora una volta a parlare d'amore. 158) Von der Beliebtheit und Bekanntheit dieses Gedichtes zeugt, daß die Ausgaben Marots schon seit 1538 ein „Rondeau par Victor Brodeau, responsif au précédant" enthalten, in dem sich Brodeau ( t 1540, Sekretär von François I; zu ihm Dictionnaire des lettres françaises XVIe 136 und CIORANESCO, Bibliographie du seizième 159) über die Primitivität des « bon vieulx temps » lustig machte, als ein Festessen aus Zwiebeln und Knoblauch bestand (« Lors les Seigneurs estoient petis Nacquetz, / D'aux & Oignons se faisoient les bancquetz ») und « La f e m m e estoit trop sotte ou trop peu fine ». Daß in früheren Generationen die Liebe einfacher und kunstloser war als in der Gegenwart, ist schon in der römischen Liebeselegie ein konventionelles Motiv, vgl. beispielsweise Tibull 2, 3, 69-74; Properz 3, 13, 25-46 und, mit ähnlicher ironischer Distanzierung wie Brodeau, Ovid, Am. 1, 8, 39-42 sowie Med. 11 f. „forsitan antiquae Tatio sub rege Sabinae / maluerint quam se ruta patema coli", vgl. SMITH, Elegies of Tibullus 429f.; es überlebt bis in die Moderne, wie Boris Vians „Complainte du progrès" aus dem Jahre 1955 (abgedruckt in Textes et Chansons, Paris 1966, 84) beweist, die folgendermaßen beginnt; Autrefois pour faire sa cour On parlait d'amour Pour mieux prouver son ardeur

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« Thusque nature » liebten, entpuppen sich bei näherem Hinsehen als intertextuelle Pappkameraden; die Natur, auf die Du Beilay hier zurückzugreifen scheint, transzendiert keineswegs die scheinbar abgelehnte Literatur, sondern ist dieser eingeschrieben159. Hatte man auch nur einen Augenblick lang wirklich glauben können, ein Vertreter der stolzen französischen Renaissance lehne die italienische Raffinesse zugunsten einer altfranzösischen Bäuerlichkeit ernsthaft ab?160 Einige weitere Beispiele mögen genügen, um die Konventionalität solcher Aufrichtigkeitsbeteuerungen in der französischen Renaissance zu zeigen 161 . In ähnlicher Weise lehnt z. B. Jacques Tahureau in einem Sonett die kunstvolle Dichtung ab und betont seine eigene Aufrichtigkeit (Poésies complètes 232): Ce n'est pas moy qui veut d'vn feint ouurage Par mille vers farder sa passion, Ou en flattant plaire à l'affection De l'amoureux inconstant et volage. [...] Mais bien je vueil, sans contraindre ma lire, Chantant l'honneur de celle que j'admire, Qu'en l'admirant l'on me puisse admirer. Auch hier setzt sich der Liebesdichter von kunstvollen und daher unaufrichtigen („feint") Konkurrenten ab und betont den einfachen, ungezwungenen Charakter seiner eigenen Dichtung (« sans contraindre ma lire »). Etienne de La Boétie entschuldigt sich in einem Sonett (dem elften aus der Gruppe der Sonette, die 1580 in der ersten Auflage von Montaignes Essais abgedruckt wurden) dafür, daß seine Liebesdichtung nicht die eines Petrarca, Catull oder

On offrait son cœur Maintenant c'est plus pareil Ça change Ça change [-..]. 159) Vgl. Valéry, Œuvres 2, 762: « Tout enthousiaste contient un faux enthousiaste ; tout amoureux contient un feint amoureux [...].» 160) Einem Angehörigen unseres armen Nebelvolkes sollte es vorbehalten bleiben, 250 Jahre später zu schreiben: „Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist!", aber der Sprecher dieses Satzes hat ja auch noch lange nicht ausgelernt... 161) Im weiteren Sinne gehört auch die unten S. 202-213 behandelte Ablehnung des hohen Stils für die Liebesdichtung in denselben Rahmen. Man könnte diesen Gegensatz („kunstlos = aufrichtig" gegen „kunstvoll = erheuchelt") durch die gesamte europäische (Liebes-) Dichtung verfolgen. Das Motiv ist schon bei Petrarca zu finden, vgl. beispielsweise den (von Montaigne, OC 23 zitierten) Schlußvers des Sonetts 170 aus dem Canzoniere (Rime 236): «chi po dir com' egli arde, è 'η picciol foco.» Zur Abrundung möchte ich nur noch eine besonders amüsante Gestaltung aus dem neunzehnten Jahrhundert zitieren, Edmond Rostand, Cyrano de Bergerac 1428-1433: Laissons, d'un seul regard de ses astres, le ciel Nous désarmer de tout notre artificiel : Je crains tant que parmi notre alchimie exquise Le vrai du sentiment ne se volatilise, Que l'âme ne se vide à ces passe-temps vains, Et que le fin du fin ne soit la fin des fins !

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Properz erreiche; eine Nachahmung dieser Dichter lehnt er aber mit Verweis auf seine Aufrichtigkeit ab (Montaigne, OC 93): Qui pourra sur aultruy ses douleurs limiter, Celuy pourra d'aultruy les plainctes imiter : Chascun sent son tourment, et sçait ce qu'il endure, Chascun parla d'amour ainsi qu'il l'entendit, le dis ce que mon cœur, ce que mon mal me dicL Que celuy ayme peu, qui ayme à la mesure. Daß sich solche Beteuerungen gerade in der enkomiastischen und Liebesdichtung der Renaissance besonders zahlreich finden, kann nicht verwundern: Die kommunikative Struktur dieser Genera, die sich direkter als andere an einen (fiktiven oder tatsächlichen) Adressaten wenden, verlangt eine besondere Anstrengung des lyrischen Ich, seine Glaubwürdigkeit herauszustreichen; und die quantitativ alle anderen Gattungen überragende Produktion in diesen beiden Dichtungsarten während der Renaissance machte solche Anstrengungen vollends unverzichtbar, da sich der Dichter aus der Masse der Konkurrenten herausheben muß, unter anderem auch, indem er sie in ihrem Aufrichtigkeitsanspruch überbietet.

Während also Du Beilay in den beiden zitierten Gedichten die persona des kunstlosen und aufrichtigen laudators bzw. Liebhabers annimmt, gilt an anderen Stellen genau dieser Rolle sein Spott. In dem 1559 erschienenen Gedicht „Le Poete courtisan"162 gibt er dem Höfling Ratschläge für seine poetische Karriere (OP 6, 132): Je veulx en premier lieu que sans suiure la trace (Comme font quelques vns) d'vn Pindare & Horace, Et sans vouloir comme eux voler si haultement, Ton simple naturel tu suiues seulement. Ce procès tant mené, & qui encore dure, Lequel des deux vault mieulx, ou l'art, ou la Nature163, En matière de vers, à la court est vuidé : Car il suffit icy que tu soyes guidé Par le seul naturel, sans art & sans doctrine, Fors cet art qui apprend à faire bonne mine, Car vn petit sonnet qui n'ha rien que le son, Vn dixain à propos, ou bien vne chanson, Vn rondeau bien troussé, auec vne ballade (Du temps qu'elle couroit) vault mieulx qu'vne Iliade. Laisse moy donques là ces Latins & Gregeoys ; Qui ne seruent de rien au poëte François, Et soit la seule court ton Virgile & Homere, Puis qu'elle est (comme on diet) des bons esprits la mere.

162) Vgl. dazu SMITH, Anti-Courtier Trend 112-117. 163) Wohl eine Kontamination aus Horaz, ars 78 „grammatici certant, et adhuc sub iudice Iis est" und 408f. „natura fieret laudabile carmen an arte, / quaesitum est."

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Ich habe diese Stelle sehr ausführlich zitiert, damit ihr beißender Sarkasmus klar wird: Wie alle diese von Du Beilay gegebenen Vorschriften, so muß auch das Gebot der Schlichtheit ironisch verstanden werden. Während in der „Ode au Prince de Melphe" das Bekenntnis zu Kunstlosigkeit und Spontaneität funktional für das Enkomion ist, beabsichtigt Du Beilay hier mit seiner Vorschrift, auf jede Kunst zu verzichten, « Fors cet art qui apprend à faire bonne mine », eine satirische Zeichnung der am Hofe herrschenden allgemeinen Kulturlosigkeit (die ihrerseits wiederum nur ein Topos der antihöfischen Strömung der Renaissance ist164). Akzeptieren wir C H A M A R D S Datierung der „Ode au Prince de Melphe", dann ist dieses Stück satirischer Dichtung nach ihr entstanden, in jedem Fall können beide Gedichte zeitlich nicht weit voneinander getrennt werden: Wie können Interpreten, die in der „Ode" eine (etwas naive) Selbstaussage sehen, den dann entstehenden eklatanten Widerspruch zum „Poete courtisan" (der doch ebenso „ehrliche" Urteile enthalten müßte) erklären, wo Du Beilay die früher von ihm selbst eingenommene Stellung zu verspotten scheint? Oder müssen wir glauben, daß enkomiastische Dichtung per se „aufrichtiger" ist als Satire? Erst wenn wir beide Passagen in ihrem Kontext betrachten und auf eine Interpretation als autobiographische Aussage verzichten, löst sich der scheinbare Widerspruch auf. Ebenso unhaltbar ist die Annahme einer späteren entschiedenen Abkehr von Pindar auch für Ronsard165. Man führe sich nur vor Augen, daß er bis zu seinem Tode 1585 seine Oden immer wieder neu aufgelegt und zum Teil gründlich umgearbeitet hat, was zumindest zeigt, daß er diesem stark an Pindar orientierten Teil seines Gesamtwerkes immer noch Interesse entgegenbrachte. Femer hat er auch lange nach der Veröffenüichung der Odes in seinen Gedichten noch auf Pindar zurückgegriffen 166 . So spielt er in seiner 1562 erschienenen Institution pour l'Adolescence du Roy treschrestien Charles neufuiesme de ce nom auf Pyth. 1, 86-88 und 91 f. an, w o es heißt: ν ώ μ α δικαίω π η δ α λ ί ω σ τ ρ α τ ό ν · [ . . . ] εϊ χι καί φ λ α ΰ ρ ο ν π α ρ α ι θ ύ σ σ ε ι , μέγα τοι φέρεται πάρ σέθεν. πολλών ταμίας έσσί· π ο λ λ ο ί μάρτυρες άμφοτέροις πιστοί. [·.·]

164) Vgl. MÉNAGER, Introduction à la vie littéraire 14f. 165) Vgl. ζ. Β. HIGHET, Classical Tradition 235: "In 1551 Ronsard gave up the attempt to rival Pindar." 166) Vgl. DEMERSON, „Ode pindarique latine" 294: « [ . . . ] l'initiation accomplie surtout par Dorât fut à l'origine d'un goût durable pour le poète thébain. » Allerdings sollte man sich von der sehr umfangreichen Eintragung „Pindare" im „Index des sources" im Band 20 der OC nicht täuschen lassen, da hier auch banale mythologische Anspielungen verwertet sind, die keinesfalls als intertextuelle Berührungen angesehen werden können. Als Beispiel möge genügen, daß z. B. die (banale) Junktur « la Muse brunette » {OC 18, 315) auf Pindars ίοπλοκάμων Μοισάν (Pyth. 1, If.) zurückgeführt wird.

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έξίει δ ' ώσπερ κυβερνάτας άνήρ ίστίον άνεμόεν. Bei Ronsard wird diese Stelle wiederaufgegriffen (OC 11,9): Si vn pilote fault, tant soit peu, sur la mer, Il fera desoubs l'eau la nauire abismer. Aussi faillant vn Roy tant soit peu, la prouince Se perd, car volontiers le peuple suit son prince. Ronsard hat nicht nur Pindars Gnome übernommen, daß bei einem Fürsten schon ein kleiner Fehltritt große Wirkung zeigen muß, sondern sich offenbar auch aus dem Zusammenhang von Pyth. 1 heraus zu der nautischen Metapher vom Steuermann anregen lassen (vgl. bei Pindar auch den κυβερνάτας άνήρ 91). Während aber Pindar mit einer bei ihm häufig zu findenden Technik beide Termini des Gleichnisses in eins zieht (Hieron 167 i s t ein Steuermann), wandelt Ronsard sie in einen ausgeführten Vergleich in zwei parallelen Gliedern von je zwei Versen um (w i e ein Steuermann, s o auch der König, vgl. die Konjunktion „aussi"); die Parallelität wird noch betont durch die Wiederaufnahme des „tant soit peu" an metrisch identischer Stelle der beiden Verse. Zwar hatte Ronsard dieselbe pindarische Passage auch schon in der 1550 gedruckten Ode de la paix zitiert, aber diese erste Anspielung war wesentlich kürzer gewesen (OC 3, 31): Aussi qu'est il plus vitieus Que leur [des rois] peché tant soit il mince ? D'autant que mil' mille & mille yeus Auisent la faute d'vn Prince. In der Institution von 1562 hat Ronsard aber den Text Pindars nicht nur ausführlicher, sondern auch genauer zitiert; femer zeigt die in der Ode de la paix noch nicht übernommene Metapher vom Steuermann, daß Ronsard hier tatsächlich wieder die Epinikien vor Augen gehabt haben muß und nicht nur einfach auf sein eigenes früheres Gedicht zurückgriff. In seinem 1565 gedruckten Gedicht „Responce aux iniures et calomnies, de ie ne sçay quels Predicans, & Ministres de Geneue" verwendet er folgende Umschreibung für „Afrika" (OC 11, 157): ou le peuple brulé Ne voit loing de son chef le Soleil reculé, Desoubs le pieds duquel craque la chaude arene, Ou Phebus se vit pris des beaux yeux de Cyrene. Die Anspielung auf die Liebe Apollons zu der Nymphe Kyrene geht auf die neunte pythische Ode Pindars zurück, deren mythische Erzählung Ronsard schon für das in den Odes von 1550 erschienene Gedicht „A la Roine" (OC 1, 65) in origineller Weise verwendet hatte. Die Form der Anspielung zeigt, daß Ronsard Pindar hier offenbar aus dem Gedächtnis zitiert Die „schönen Augen Kyrenes" bezaubem den Gott in Pyth. 9 nämlich nicht in Libyen, sondern in Thessalien, nach Afrika entrückt er die Nymphe erst später168. 167) Daß in diesen Versen Hieron, nicht etwa sein Sohn Deinomenes gemeint ist, weist nach KÖHNKEN, „Hieran und Deinomenes". 168) Da Ronsard in der Passage aus der Ode „A la Roine" eindeutig auf Pindar zurückgeht (s. unten S. 226-228), liegt es nahe, auch hier an die neunte pythische Ode als Bezugspunkt für diese mythologische Anspielung zu denken; möglich wäre allerdings auch, daß er sich an Kallimachos, hy. 2, 88-96, wo die Begegnung Apollos mit Kyrene ebenfalls in Afrika stattfindet, orientiert (die Lokalisierung in Thessalien ist wohl das Ursprüngliche, sie ist auch

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Wie im Falle Du Beilays aber glauben die Verfechter der These, Ronsard habe sich in seinen späteren Jahren von Pindar abgekehrt, auf in Gedichten enthaltene „Selbstaussagen" des Dichters verweisen zu können. Auch hier aber müssen die betreffenden Stellen wieder genauer als bisher analysiert werden. Der wichtigste Beleg ist eine Passage aus der ,.Elegie de Pierre de Ronsard, a Chretophle de Choiseul, abbé de Mureaux". Dieses Gedicht verfaßte Ronsard als pièce liminaire für die 1556 erschienene Anakreonübersetzung seines Freundes Remi Belleau, nahm es aber auch in seinen im selben Jahr gedruckten Second liure des Hymnes auf169. Pindar wird in folgenden Versen erwähnt (OC 8, 356): Me loüe qui vouldra les repliz recourbez Des torrens de Pindare en profond embourbez, Obscurs, rudes, fâcheux, & ses chansons congnues Que je ne sçay comment par songes & par nües, Anacreon me plaist, le doux Anacreon ! Für C H A M A R D 1 7 0 ist dies eine klare Absage an Pindar und die pindarische Dichtung: « Avec désinvolture, il débarquait Pindare [...]. » Auch in dieser Passage aber muß beachtet werden, daß ein Leser der Renaissance sie wohl nicht als geradlinige literaturkritische Aussage las. Der Hauptton liegt deutlich auf dem Namen Anakreon, der in betonter Stellung den letzten Vers rahmt. Und als Kompliment für eine Anakreonübersetzung ist dieses Gedicht ja auch geschrieben worden, was erklärt, weshalb der „Pindare françois" hier seinem Vorbild dessen Gegenpol vorzieht, die leichte Liebesdichtung Anakreons (wobei selbstverständlich für die Renaissance mit, Anakreon" auch und gerade die aus hellenistischer und byzantinischer Zeit stammenden Anacreontea gemeint sind)171. Nur in diesem Zusammenhang ist auch die Kritik an Pindars Gedichten als « Obscurs, rudes, fâcheux » zu verstehen. In genau derselben Weise schreibt

in den hesiodeischen Ehoien, frg. 215, und bei Apollonios Rhodios, Arg. 2, 500-505 bezeugt; die Entführung nach Afrika und die Verbindung mit der libyschen Stadt Kyrene sind möglicherweise eine Neuerung Pindars, vgl. VIANS Anmerkung zu Apollonios 2, 510 und KÖHNKEN, „Neunte pythische Ode" 102). 169) Vgl. MAURER, „Ronsard und die dunklen Dichter" 182. 170) Histoire de la Pléiade 2, 88f.; vgl. auch NOLHAC,Ronsard et l'humanisme 111 Anm. 2: « II est impossible de mieux caractériser, et de mieux renier, les excès de l'ode pindarique. » 171) Zum großen Eindruck, den Estiennes Anakreonausgabe in Frankreich machte, vgl. NOLHAC, Ronsard et l'humanisme 107-114.

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Jacques de Courtin de Cissé172 in dem Horazens berühmte Soracteode (carm. 1, 9) imitierenden Gedicht „Au Seigneur Guill. Gosselin de Caen" von 1581 « Le Poete Teïen / M'aggrée plus que le graue Pindare » (Euures poetiques f. 86 v ): Der Gegensatz Pindar - Anakreon ist ein konventioneller Gegensatz zwischen zwei Dichtungsgattungen und zwei Stilhöhen, nicht zwischen zwei Dichterpersönlichkeiten; den Gewinner bestimmen die Konventionen der Gattung, der das jeweilige Gedicht angehört. Wenn Ronsard in seiner „Elegie" eine Ablehnung des früher von ihm selbst so nachdrücklich befürworteten Pomps zu empfehlen scheint, so müssen auch dafür in erster Linie gattungsspezifische Gründe gesucht werden, und in dem Gedicht ,A son liure" der ebenfalls 1556 gedruckten Nouuelle continuation des Amours macht Ronsard dies ganz deutlich173 (OC 7, 324): Or, si quelcun après me vient blasmer de quoy le ne suis plus si graue en mes vers que j'estoy A mon cômencement, quand l'humeur Pindarique Enfloit empoulement ma bouche magnifique : Dy luy que les amours ne se souspirent pas D'un vers hautement graue, ains d'un beau stille bas Populaire & plaisant, ainsi qu'a fait Tibulle, L'ingenieux Ouide, & le docte Catulle : Le fils de Venus hait ces ostentations : Il sufist qu'on luy chante au vray ses paßions Sans enfleure ny fard, d'un mignard & doux stille, Coulant d'un petit bruit comme vne eau qui distille. Ceux qui font autrement, ils font vn mauuais tour A la simple Venus, & à son fils Amour. Wie in der „Elegie", so werden auch hier zwei Stilebenen einander gegenübergestellt: Der hochtönende, pindarische Stil der Oden und der hohen Poesie einerseits und der « mignard & doux stille » der Liebesdichtung (des « doux Anacreon »). Nur dieses Gegensatzes willen 174 wird der hohe Stil als dunkel und schwülstig abgewertet, werden die (aus Horaz, carm. 4, 2, 5 „monte decurrens uelut amnis" stammenden) « torrens de Pindare » „in der Tiefe schlammig" (vgl. bei Horaz unmittelbar danach „ruit profundo / Pindarus ore", 7f.) genannt, mit Anklang an das (ebenfalls metaphorisch auf Dichtung

172) 1561-1584; vgl. zu ihm Dictionnaire des lettres françaises XVIe 205; CIORANESCO, Bibliographie du seizième 222 und SOONS, „Courtin de Cissé". 173) Vgl. dazu MAURER, „Ronsard und die dunklen Dichter" 181. 174) Das Motiv „Liebe verlangt unprätentiöse Dichtung" führt auch dazu, daß Venus hier das Attribut „simple" erhält, obwohl sie sonst eher mit Beiwörtern wie „üppig" o. ä. verbunden wird. Ähnlich, wenn auch in anderem Zusammenhang, Ovid, Am. 1, 10, 15f. „et puer est et nudus Amor, sine sordibus annos / et nullas uestes, ut sit apertus, habet."

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bezogene) berühmte Kallimachoswort175, der breite assyrische Strom führe viel Schlamm mit sich; hinzu kommt auch noch der gerade besprochene Topos, daß kunstvolle Dichtung im hohen Stil potentiell unaufrichtig ist (vgl. den Gegensatz „enfleure ny fard" - „au vray"). Daß diese gattungsspezifischen Gründe für die Ablehnung der hohen Poesie und die Gegenüberstellung der „leichteren" Dichtung verantwortlich sind, geht auch aus einer Passage des Gedichtes „Le voiage de Tours, ou les Amoureus Thoinet et Perrot" hervor, das im 1560 veröffentlichten Second liure des Amours enthalten ist (OC 10, 228f.): Ou bien, si tu ne veus, il me plaist de me rendre Angeuin, pour te voir, & ton langage aprendre, Et là, pour te fléchir, les hauts vers que j'auois En ma langue traduit du Pindare Gregeois, Humble je rediray an vn chant plus facile Sur le dous chalumeau du pasteur de Sicilie. In diesen Versen imitiert Ronsard eine Stelle aus Virgil, in der (allerdings in anderem Zusammenhang) Gallus angekündigt hatte, seine vorher verfaßten Gedichte in einen bukolischen Stil umzuschreiben: „ibo et Chalcidico176 quae sunt mihi condita uersu / carmina pastoris Siculi modulabor auena" (ecl. 10, 50f.). Auch Ronsard kündigt mit „rediray" den Übergang in eine andere Gattung und damit eine andere Stilebene an: von den „hohen" pindarischen Versen zum bukolischen, Theokrit (den « pasteur de Sicilie ») nachahmenden „chant plus facile", der der Geliebten gefallen soll (vgl. die Signalworte „hauts vers" 175) Hy. 2, 108f. Άσσυρίου ποταμοΐο μέγας ρόος, ά λ λ α τά πολλά / λύματα γης καί πολλόν έφ' ΰδατι συρφετον ελκει. Es ist zwar denkbar, daß dieses Wort bei Ronsard durch dessen Rezeption bei Horaz, sat. 1, 4, 11; 1, 10, 50 vermittelt ist, wo Horaz von Lucilius sagt „fluere hunc lutulentum", doch hatten die Dichter der französischen Renaissance auch direkte Kenntnis von Kallimachos, wie Nie. Bezançon beweist, der in einer pièce liminaire für Gilles Durant de La Bergeries Imitations von 1588 (f. 136v = f. 242' der Œuures pœtiques) die Szene aus dem Hymnos (105-112: der Neid kommt zu Apollo und sagt ihm, er liebe nur das große Gedicht; daraufhin wird er von dem Gott weggestoßen) mit genauer Aufnahme der Details nachahmt. 176) Wie dieses Umschreiben genau zu verstehen ist, bleibt für uns heute allerdings unklar: Der Sprecher „Gallus" in dieser Ecloge ist eine recht durchsichtige Verkleidung für den römischen Dichter Cornelius Gallus. Von dessen Werk sind erst vor wenigen Jahren (1979) ganz geringe Reste auf uns gekommen (vgl. ANDERSON/PARSONS/NISBET, „Elegiacs by Gallus", selbst die Zuweisung dieses Papyrusfragments an Gallus ist später bestritten worden), so daß wir nur vermuten können, was mit dem „chalcidischen Vers" gemeint sein könnte. Nach einer Bemerkung Quintilians (10, 1, 56, vgl. auch Servius zu ecl. 6, 72) nimmt man meist an, daß damit Werke in der Manier des Dichters Euphorion von Chalkis (3. Jhdt. v. Chr., auch von dessen Werken haben wir nur ganz geringe Fragmente) gemeint sind, doch wie Gallus diese Nachahmungen Euphorions in einen bukolisch-theokriteischen Stil umgeschrieben haben soll, können wir nicht einmal ahnen, vgl. CROWTHER, „C. Cornelius Gallus" 1635.

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„humble")· Diese Rücksicht auf die Geliebte (die hier zugleich die Angeredete, also das implizite Publikum ist) zwingt das lyrische Ich, einen anderen Stil als in der erhabenen Dichtung zu wählen177. Mit ironischem Augenzwinkern verweist die persona des Liebesdichters darauf, daß er ja auch einmal pindarisch geschrieben habe, erkennt aber gleichzeitig an, daß diese Art von Dichtung der bukolischen Liebessituation nicht angemessen ist (wobei der « beau stille bas » vor allem in Ronsards erster Sammlung der Amours immer noch äußerst gelehrt und anspielungsreich bleiben kann: Stilhöhe scheint bisweilen nicht nur eine Frage des tatsächlich verwendeten Stils, sondern auch der „Pose" des lyrischen Ich zu sein). Dieser Vergleich der erhabenen Poesie mit der leichteren Liebesdichtung ist ein schon aus der Antike bekannter Topos, der keinesfalls an jeder einzelnen Stelle als literarisches Credo interpretiert werden darf. Zu Recht verweist daher LAUMONIER in den Anmerkungen seiner Ausgabe zu der Stelle aus der Nouuelle continuation auf Passagen wie Ovid, ars 1,463-468, wo Liebhabern der Rat gegeben wird, ihre angelernte Kunst zu verbergen, wenn sie für die Geliebte etwas schreiben („lateant uires"), und auf Properz 1,9,9-14, wo Mimnermos Homer vorangestellt wird („plus in amore ualet Mimnermi uersus Homero") 178 . Gerade in einigen der Anacreontea, die Ronsards „Elegie" ja als pièce liminaire rühmen will, ist dieses Motiv schon vorbereitet (wenn auch noch nicht ganz entwickelt), so z. B. Anacreont. 2 (das von dem programmatischen Refrain δότε μοι λύρην 'Ομήρου / φονίης ανευθε χορδής umschlossen wird) und 23 (das mit der programmatischen Absage endet χαίροιτε λοιπόν ήμίν, / ήρωες· ή λύρη γαρ / μόνους "Ερωτας άδει, 10-12), ähnlich auch 4 (Hephaist soll einen Trinkbecher schmieden, keine Rüstung: t í γαρ μάχαισι κάμοί; 4) 179 .

177) Zu der rhetorischen Interaktion von implizitem Dichter und fiktivem Publikum während der Renaissance, besonders in der Liebesdichtung, vgl. KENNEDY, Rhetorical Norms 20-78. 178) Ebenso wird die Untauglichkeil der erhabenen Poesie für die Liebesdichtung auch in Properz 3, 1, 7-12 oder 2, 34 dargestellt („tu non Antimacho, non tutior ibis Homero", 45), und Ovid gestaltet die Einleitungsgedichte aller drei Bücher seiner Amores aus Varianten dieses Topos: 1, 1 (der Knabe Amor hindert den Dichter daran, epische Stoffe zu besingen, dieser muß ihnen am Schluß resigniert entsagen: „ferrea cum uestris bella ualete modis", 28); 2, 1 (epischen, erhabenen Versen verschließt sich die Tür der Geliebten: „quid mihi profuerit uelox cantatus Achilles", 29) und 3, 1 (Elegie und Tragödie stehen einander gegenüber in einem Streitgespräch, das die berühmte Geschichte des Prodikos von Herakles am Scheideweg [frg. 2 DK = Xenophon, Mem. 2, 1, 21-34; vgl. frg. 1 DK] parodiert). 179) Hier liegt die Umkehrung des in der vorhergehenden Anmerkung beschriebenen Topos vor: War dort erhabene Dichtung als ungeeignet für die Liebe abgelehnt worden, so wird hier der Krieg als Thema für die leichte, besonders Liebes- oder Gelagedichtung zurückgewiesen (denn diese beiden Bereiche passen nicht zueinander, Ovid, Am. 1, 10, 19 „nec Venus apta feris Veneris nec filius armis"); dieses Motiv ist schon früh in der griechischen Lyrik zu finden: Xenophanes, frg. 1, 19-23 DK; Stesichoros, frg. 210 PMG Μοίσα, συ μεν πολέμους άπωσαμένα μετ' έμοΰ / κλείοισα θεών τε γάμους άνδρων τε δαίτας / καί θ α λ ί α ς μα κάρων; Anakreon, frg. 2 W ού φιλέ ω δς κρητήρι παρά πλέω οϊνοποτάζων / νείκεα και πόλεμον δακρυόεντα λέγει; Theognis 763-768; vgl. FRANKEL, Dichtung und Philosophie 340 mit Anm. 20 und NISBET/HUBBARD, Horace Odes 2 180.

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Allerdings kann überraschenderweise auch Pindar als Beispiel eines „Liebesdichters" zitiert werden. Dafür ist sicherlich zum einen die schon erwähnte in der Suda überlieferte Legende verantwortlich, die ihn in den Armen seines Geliebten Theoxenos sterben läßt180, zum anderen aber kann man dies auch aus den konventionellen Eigenschaften der poetischen Genera erklären: Pindar ist der „Lyricorum princeps", und die Lyrik ist im traditionellen Kontrast zu Epos und Tragödie das Genus der Liebe (erst wenn i n n e r h a l b der Lyrik Stilhöhen einander gegenübergestellt werden, wird Pindar zum Beispiel für die erhabene Dichtung). Pindar in Verbindung mit Liebesdichtung finden wir schon Anacreont. 20 (Πινδαρικόν δ ' ετι μοι μέλος / συγκεράσας τις έγχέοι, 3f.). In Frankreich wird das Motiv außer durch die Pindarviten auch durch eine Passage aus Petrarcas Triumphus Cupidinis (4, 16-18) vermittelt, in der Pindar in einer ganzen Reihe von antiken und zeitgenössischen Dichtern genannt wird, die von Liebe ergriffen wurden (Orpheus, Virgil, Ovid, Catull, Properz, Tibull, Sappho, Dante u. a.)181. Die Passage lautet (Rime 502): Alceo conobbi, a dir d'Amor sì scorto, Pindaro, Anacreonte, che rimesse à le sue muse sol d'Amore in porto. Auffällig an diesen Versen ist, wie gerade die sonst häufig als Vertreter gegensätzlicher Dichtungsarten zitierten Pindar und Anakreon hier friedlich vereint sind. In Frankreich gibt Guillaume Belliard182 1578 in seinem Premier Liure des poemes unter dem Titel „Le triomphe d'Amour pris de Petrarque. A la Royne de Nauarre" eine (von ihm selbst so bezeichnete) „Imitation" von Petrarcas Triumphus (es handelt sich mehr um eine freie Übersetzung), in der auch die zitierten Verse leicht abgeändert wiedergegeben werden (f. 51r): le vis aussi Pindare, Anacreon, Virgille, Qui d'amour ont escrit en si graue stille [...].

180) S. oben S. 121 mit Anm. 186. 181) Ähnliche Beispielreihungen als Apologie der Liebe sind in der antiken Liebesdichtung konventionell. Häufig werden exempta aus den Götter- und Heroengeschichten zitiert, mit dem Tenor „auch all diese bezwang die Liebe, wie sollte da ich ihr entgehen?" (vgl. GOW, Theocritus 2, 180 und NISBET/HUBBARD, Horace Odes 2 69f.). Exemplaketten mit früheren Dichtem finden wir mehrfach bei Ovid (s. die oben S. 105 zitierten Belege), das Urbild solcher Reihungen darf man in Hermesianax, frg. 7 Powell vermuten, wo außer den Dichtern (Orpheus, Musaios, Hesiod, Homer, Mimnermos, Antimachos, Alkaios, Anakreon, Sophokles, Euripides, Philoxenos und Philitas) auch die Philosophen (Pythagoras, Sokrates und Aristipp) als Beispiele für die Macht der Liebe herhalten müssen. 182) Sekretär der Marguerite de Valois; zu ihm Dictionnaire des lettres françaises XVIe 95 und CIORANESCO, Bibliographie du seizième 114.

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Vereint finden wir Pindar und Anakreon auch in Pierre de Lavais „Ode aux médisants", wo es heißt: « Les deux Grégois mieux disants, / [ . . . ] / Anacréon et Pindare, / Aimèrent en leurs vieux ans ». Auch bei Dorât sehen wir Pindar in einer „bukolischen" Umgebung, in dem Gedicht„De poetis et prineipibus victoribus poetas amantibus, ad eundem prineipem Carolum Lotharingum cardinalem, carmen Pindaricum Aurati" aus seinen 1558 gedruckten Triumphales odee, doch ist diese Stelle etwas anders zu beurteilen (Odes latines 131): Nam sues Bœotias Pauerat qui sub vetustis Pastor olim Pindarus ilicibus, Aureo tunc ccepit arcu Eminus eiaculali Tela volantia, ceu canos olores, Quae sacros Reges tulenint astra supra, Praecipuè Siculos. Diese Verse stehen im Zusammenhang einer „Menschheitsgeschichte der Poesie", die Dorat in diesem Gedicht gibt und die die Abkehr der Dichtung von einer ursprünglichen Einfachheit und Armut zeigt; dabei klingt der Beginn des Gedichtes deutlich an das Prooem von Isth. 2 an183 (Odes latines 123): Prisci, Lotharinge, Poëtae Quos coronatos comam Simplici lauro, nec auro, Duxerant antra in sua Pierides, Nouerant solos amores Ad calamos modulari, Siqua puella decens, aut siqua nympha Dulce florentis iuuentae ver agebat.

183) Da DEMERSON in ihrer Ausgabe auf diese Anklänge nicht zu sprechen kommt, gehe ich kurz auf die wichtigsten Stellen ein: Deutlich, fast schon programmatisch ist die parallele Struktur des ersten Verses mit dem eingeschobenen Vokativ „Prisci, Lotharinge, Poëtie" - Ol μεν π ά λ α ι , ω Θ ρ α σ ύ β ο υ λ ε , φώτες; das bei Pindar auf die Musen bezogene Epitheton χ ρ υ σ α μ π ύ κ ω ν (1) wird bei Dorat raffiniert mit einer Paronomasie in negierter Form auf die Dichter übertragen „coronatos comam / Simplici lauro nec auro"; schließlich fällt die Strukturgleichheit auf, wenn Dorat das Thema der Liebeslieder mit einem Kondizionalsatz einführt, wo wir bei Pindar einen Relativsatz mit kondizionalem Sinn finden: „Siqua [...] agebat" - όστις [...] όπώραν (4f.); an dieser Stelle hilft der griechische Text auch, den zunächst nicht ganz klaren Sinn der Worte Dorats zu verstehen: „Dulce florentis iuuenta: ver agebat" ist in Nachahmung von Pindars είχεν Ά φ ρ ο δ ί τ α ς / εύθρόνου μ ν ά σ τ ε ι ρ α ν ά δ ί σ τ α ν όπώραν geschrieben und bedeutet wohl „trug den süßen Frühling seiner Jugendblüte". Hervorhebenswert ist schließlich, daß Dorat die für die Renaissance anstößige Knabenliebe abändert und an die Stelle des καλός eine reizende „puella" setzt.

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In dieser Perspektive wird denn auch Pindar zum Beispiel des Übergangs von der alten Einfachheit zum neueren Prunk (den übrigens Dorat keineswegs ablehnt, sondern bevorzugt: „Se, qui volet, esse creatum / Optet ilio seculo, / [...]/ Me iuuat nunc esse natum", Odes latines 131). Daß allerdings Pindar, der Sänger der sizilischen Könige (gemeint sind vor allem Hieron und Theron), einmal in seiner Heimat Boiotien Schweine gehütet haben soll (die „sues Bœotias" wohl nach der Βοιωτίαν υν Ol. 6, 90 und den Scholien zu dieser Stelle), ist in keiner antiken Tradition vorgebildet, Dorat erfindet dies wohl neu in Anlehnung an die Berufungsgeschichte des Schafhirten Hesiod (Theog. 22-34)1M. Trotz der unterschiedlichen Tendenz können wir die zitierten Stellen bei Dorat aber in die Nähe der Passagen rücken, in denen Pindar als Liebesdichter bezeichnet wurde, weil er auch hier als Vertreter der „Einfachheit" genannt wird. Doch bleiben diese Belege vereinzelt gegenüber der überwiegenden Tradition, die Pindar als Vertreter des hohen Stils eher dem Epos gleichstellt und ihn im Gegensatz zur Liebesdichtung sieht. Außer der Kenntnis der Epinikien, deren Stil gewiß nichts mit der „leichten Muse" eines Anakreon gemein haben, sorgte sicherlich auch die überragende Stellung Ronsards dafür, daß diese Tradition in Frankreich das aus Petrarca stammende Pindarbild fast vollständig verdrängte: Ronsards pindarische Schaffensperiode wird durch den erhabensten Stil seiner lyrischen Dichtung charakterisiert, und er selbst symbolisiert den Wechsel zum niedrigeren Stil der Amours als eine Ablösung des Vorbilds Pindar durch Anakreon, wie wir gesehen haben. Einige weitere Beispiele sollen zeigen, wie konventionell in der französischen Renaissance das Motiv ist, Liebesdichtung der hohen Dichtung gegenüberzustellen. Jacques Tahureau lehnt in einem Sonett von 1554 eine Imitation von Pindar, Horaz und Petrarca ab (Poésies complètes 296): Arriere, Grec, Latin, Thoscane, arrière, Je ne veux plus de vostre inuention Pour éleuer en admiration L'œil tant diuin de ma belle guerriere : Assez cet œil me verse de matière Au fond du mien, assez de passion, Pour en dorer ma noble nation, Et n'estre plus de vous trois la derniere. Assez vrayment, au fort de mon souci, Pindare, Horace, et vous Pétrarque aussi,

184) Möglicherweise will Dorat auch nur allgemein auf die bukolische Sphäre anspielen, in der Hirten öfter von den Musen inspiriert werden (vgl. beispielsweise Theokrit, id. 7, 92 Νύμφαι κήμέ δίδαξαν ά ν ' ώρεα βουκολέοντα, ähnlich 7, 50f.). Die für einen modernen Leser ebenfalls naheliegende Berufung des Kuhhirten Archilochos konnte Dorat ja noch nicht kennen, da sie im erst 1954 veröffenüichten Monumentum Archilochium überliefert ist.

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J'ay voulu suyure et piller vostre lire t.··]. Wir finden hier zwei Topoi vereinigt, die wir einzeln schon gesehen haben: Die Absage an die Imitation (hier wieder mit dem Bild des „piller" ausgedrückt) wird durch die Tiefe und Aufrichtigkeit der Liebe des Dichters begründet, die ihm Inspiration genug sei (« assez [...] de matière »), gleichzeitig aber soll, mit Anklang an die „translatio studiorum", die so entstehende Dichtung Frankreich (« ma noble nation ») über Griechenland, Rom und Italien hinausheben. Jacques Béreau stellt sich im Sonett 3 seiner 1565 erschienenen Werke als typischer Vertreter des niedrigen Stils dar, der nicht mit der erhabenen Lyrik der « Poètes diuins et sainctz » wetteifern kann und will (Eglogues 199): Que ne m'a Apollon, qui d'vne sainte ardeur Vous echaufe et instruit vostre plume sçauante A desenseuelir la gloyre périssante, Fait comme à vous sentir sa diuine fureur ? Dem setzt er sein eigenes bukolisches Glück entgegen; er lebe abgeschieden in seinem kleinen Dorfe, « où, me promenant tantost par vn bocage, / Tantost assis au bord d'vn beau courbe riuage, / Je chante du plaisir ou du mal que j'y voy ». Berühmt ist eine ähnliche Versicherung Joachim Du Beilays, der in einem Sonett seiner 1558 erschienenen Regrets die Imitation anderer Dichter ablehnt, um nur „aufrichtig" seinen niedrigen Stil zu schreiben 185 (OP 2, 55): Je ne veulx fueilleter les exemplaires Grecs, Je ne veux retracer les beaux traicts d'vn Horace, Et moins veulx-je imiter d'vn Petrarque la grace, Ou la voix d'vn Ronsard, pour chanter mes Regrets. Ceulx qui sont de Phœbus vrais poètes sacrez, Animeront leurs vers d'vne plus grand' audace : Moy, qui suis agité d'vne fureur plus basse, Je n'entre si auant en si profonds secretz. Je me contenteray de simplement escrire Ce que la passion seulement me fait dire : Sans rechercher ailleurs plus graues argumens. Die genannten Lyriker Horaz, Petrarca und Ronsard (denen noch die anonymen „Grecs" vorangestellt sind) repräsentieren den hohen Stil, ohne daß aus diesen Versen eine grundsätzliche Ablehnung ihrer Werke ablesbar wäre - wie hätte ein Leser eine solche Kritik an Ronsard auch vereinen können mit der Anrede an ihn zu Beginn eines der nächsten Sonette (OP 2, 58) « la moitié de mon ame » 186 ?

185) Zur Rolle der ersten Person in den Regrets und gegen die älteren Versuche, in diesem Gedichtzyklus psychologische Zeugnisse zu sehen, vgl. die brillante Analyse BELLENGERS,Du Beilay 243-257 sowie WEBER, Création poétique 1,416-418. 186) Mit dem Herausgeber CHAMARD nehme ich an, daß diese Formulierung auf das Vorbild von Horaz, carm. 1, 3, 8 (Horaz an Virgil) „animae dimidium meae" zurückzuführen ist, die Du Beilay schon in der Oliue imitiert hatte „O de mon cœur la seconde moitié" (OP 1, 117 ), lateinisch OP 7, 59 „Pars animae [...] dimidiata meae". Obwohl Horaz selbst mit diesem Bild in einer langen Tradition steht und seinerseits oft nachgeahmt wurde (vgl. die Belege bei NISBET/HUBBARD, Horace Odes 148; dies., Horace Odes 2 275f.), ist es doch sehr wahrscheinlich, daß Du Beilay hier auf die bei weitestem berühmteste Formulierung dieses

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Vauquelin de la Fresnaye spielt in seinen Foresteries aus dem Jahre 1555, stark von Virgil und Theokrit beeinflußten bukolischen Gedichten 187 , mit dem aus Anacreont. 23 bekannten Motiv von der Leier und ihren Saiten 188 , wenn er sich in „De trois lyres. Forest. 9" für seine Leier je eine Saite von Ronsard, Baïf und Belleau wünscht, wobei aber für Ronsard eine wichtige Einschränkung gemacht wird (Foresteries 64): C'est trop enflé dedans ce bois Nostre Forestiere músete, Ca qu'on m'apporte sus l'herbete, La lyre des poètes François Queje sonne vne chansonnette Sus la lyre du Vandomois : Mais sa corde je ne veu pas, Où c'est que guerrier il accorde De la furieuse discorde, Qui ensanglante les combats : Mais bien la chanterele corde Où il fredonne ses ébats. Der Topos, einen hohen Dichter als für die Liebesdichtung oder Bukolik ungeeignet abzulehnen, wird hier spielerisch abgewandelt, weil ja Ronsard nicht nur durch seine Odes den hohen Stil, sondern durch seine Amours auch die Liebesdichtung verkörpern kann. In einer Passage seiner ebenfalls virgilisch und theokriteisch inspirierten Idillies (in den Diuerses Poésies von 1605) wandelt Vauquelin den Gegensatz zwischen hoher Dichtung und bukolischem Liebeslied mit einem Anklang an Virgil ab („Idil. 40"; Diuerses Poésies 2,489): [...] alors que chanter i'essaye Ou soit les Princes ou les Rois, Ma langue cesse, & ie ne chante Comme ie faisoy par deuant : Mais si tost que l'Amour ie vante, Que Philis ie mets en auant, Si doucement mon Luth ie touche, Que tous rauis en sont les cieux : Et lors sans peine de la bouche Topos anspielt (zumal hier auch von einer Dichterfreundschaft die Rede ist), der seine Passage auch im Wortlaut am ähnlichsten ist. 187) Vgl. zu dieser Sammlung HULUBEI, Eglogue en France 359-363. 188) Vgl. für unseren Zusammenhang besonders 5f.: ήμειψα νεΰρα πρώην / καί την λύρην απασαν. Dieses Lied stand in der 1556 gedruckten Anakreonübersetzung Rémy Belleaus an erster Stelle (Belleau, OC 1, 7): Que sa lyre ne veut chanter que d'Amours Volontiers ie chanterais Les faits guerriers de nos Rois, Mais ma lyre ne s'accorde Qu'à mignarder vne corde Pour l'Amour tant seulement [...]. In einer Anmerkung zum Text Vauquelins vermutet der Herausgeber BENSIMON, auch aufgrund anderer Indizien, wohl zu Recht, Vauquelin habe Belleaus Übersetzung schon vor ihrer Drucklegung gesehen.

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Me coulent les vers gracieux. Das Motiv ist hier durch Virgil, eel. 6, 1-8 vermittelt, wo die persona des bukolischen Dichters, Tityrus, von Apollo daran gehindert wird, epische Stoffe zu besingen189: cum canerem reges et proelia, Cynthius aurem uellit et admonuit: „pastorem, Tityre, pinguis pascere oportet ouis, deduetum dicere carmen." Ein Echo dieses Topos finden wir auch in der „Elegie 1" Louise Labés (aus ihren Euures von 1555), wo ebenfalls Apollo nicht zuläßt, daß sie die erhabenen Themen des Epos besingt, sondern ihr zuteilt, Liebesdichtung zu schreiben (OC 129): Chanter me fait [Phebus], non les bruians tonnerres De Jupiter, ou les cruelles guerres, Dont trouble Mars, quand il veut, l'Vniuers. Il m'a donné la lyre, qui les vers Souloit chanter de l'Amour Lesbienne : Et à ce coup pleurera de la mienne. Berücksichtigt man diese Tradition, wird man Ronsards A u s s a g e über Pindar ins rechte Licht rücken: Pindar wird hier, w i e auch sonst in der französischen R e n a i s s a n c e , als typischer Vertreter der erhabenen Lyrik genannt; die Abwertung seines Stils und seiner Dichtung darf nicht absolut g e s e h e n werden, sondern m u ß immer i m Z u s a m m e n h a n g mit den gattungsspezifischen K o n v e n tionen interpretiert werden, in denen ein solcher Vergleich v o n erhabener D i c h tung und „kunstloser" Liebesdichtung üblich ist. D a s Nennen (und Verurteilen) e i n e s typischen Repräsentanten des erhabenen Stils ist dabei eine nicht selten anzutreffende Variante d i e s e s T o p o s . Häufig wird H o m e r als der Epiker par e x c e l l e n c e zitiert (weil ja das Epos wiederum das erhabene G e n u s schlechthin ist); der besonders hohe Bekanntheitsgrad Pindars seit den f ü n f z i g e r Jahren d e s sechzehnten Jahrhunderts s o w i e d i e Stellung Ronsards als „Pindare françois"

189) Virgil selbst ahmte dabei seinerseits eine berühmte Passage aus Kallimachos' Aitienprolog nach (frg. 1, 21-24): και γαρ öxej πριά^τιστον έμοίς έπί δέλτον εθηκα yoOvaoijV, Άιπόιλλων ειπεν δ μοι Λύκιος· „ . . . . ] . . . άοιδέ, το μεν θύος δττι πάχιστον θρέψαι, την Μοΰσαν δ ' ώγαθε λεπταλέην." Diese Stelle enthält gewissermaßen das „Glaubensbekenntnis" der alexandrinischen Dichtung und wurde von den lateinischen Dichtern oft nachgeahmt, so finden wir dasselbe Motiv (ein Gott hindert den Dichter, ein großes episches Gedicht zu schreiben) noch häufiger in der römischen Literatur, ζ. B. Horaz, carm. 1, 19, 9-12 (Venus); 4, 15, 1-4 (Apollo); parodistisch sal. 1, 10, 31-35 (Quirinus verbietet dem Dichter, griechisch zu schreiben); Properz 3, 3, 1-26 (Apollo), Ovid, am. 1, 1, 1-4 (Cupido), vgl. NISBET/HUBBARD, Horace Odes 1 86 mit weiteren Beispielen; ähnlich finden wir in der französischen Renaissance das Motiv, Apollo schreibe einem Dichter sein Thema vor, bei Claude Estienne Nouvelet, Hymne triomphal au Roy: „Apollon me rappeile", und bei Jean Le Blanc am Ende des Gedichtes „A Monseigneur le Dauphin et à Madame", Neotemachie poetique p. 13.

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erklären, warum es besonders wirkungsvoll sein mußte, wenn er gerade Pindar an dessen Stelle treten ließ190. Sicherlich mitentscheidend war dabei, daß Pindar auch schon in dem so überaus weitverbreiteten Horazcarmen 4, 2 als „Dircaeus cycnus" den hohen Stil gegenüber der „apis Marina" vertritt. Aber während Horaz dort im Zuge der recusatio, in deren Rahmen das lyrische Ich betont, seine poetischen Fähigkeiten seien zum Besingen epischer Themen nicht ausreichend191, Pindar gegenüber respektvoll bleibt und ihn als unerreichbares Vorbild darstellt, verlangt die Tradition, in der Ronsards Worte stehen, eine Abwertung des „erhabenen" Dichters. Naiv aber wäre es, wollte man diese Verse als persönliches, „aufrichtiges" Urteil Ronsards über Pindar zitieren: Auch hier ist genaues Beobachten der Funktionalität der Passage und der Tradition, in der sie steht, sehr viel wichtiger als etwaige Spekulationen über persönliche Vorlieben und Abneigungen des Dichters192. Wir können weiter nichts sagen, als daß die von Ronsard in seiner Liebesdichtung gewählte poetische persona traditionsgemäß den erhabenen Stil ablehnt - eben den Stil, den Ronsard selbst in Frankreich eingeführt hatte und mit dem sein Name untrennbar verbunden war. Mancher mag bedauern, daß der Dichter ihm nicht offen sein persönliches Urteil über Kollegen und

190) Dabei kann Pindar auch die Fronten wechseln und seinerseits als Lyriker dem „höheren" Epos gegenübergestellt werden: Ronsard unternimmt in der Ode „Au pais de Vandomois voulant aller en Italie" aus dem Jahr 1550 eine imaginäre Italienreise, während der er dann auch ein Epos schreibt und seine lyrischen Vorbilder verabschiedet (OC 2,94): Plus les beaus uers d'Horace Ne me seront plaisans, Ne la Thebaine grace Nourisse de mes ans : Car ains que tu reuiennes Petite Lir¿, il faut Que trompe tu deuiennes Pour bruire bien plus haut. In dieser Passage soll sich die Leier der lyrischen Dichtung in die (epische) Trompete verwandeln (zur Schallsymbolik s. S. 179 mit Anm. 114); damit werden die Vorlieben genau umgekehrt gesetzt wie sonst in der Lyrik üblich, wo in der Tradition der Liebesdichtung und der recusatio diese Art von Dichtung meist entweder rundweg abgelehnt oder einem anderen, einem „maiore poeta plectro" (Horaz, carm. 4 , 2 , 33), überlassen wird. Auch hier ist die „Thebaine grace" weniger auf Pindar speziell zu beziehen als vielmehr typischer Vertreter der lyrischen Dichtung. 191) Ich kann wiederum nicht auf die Einwände eingehen, die gegen die Interpretation von carm. 4, 2 als recusatio erhoben worden sind, und muß mich damit begnügen, auf die meines Erachtens überzeugende Darstellung bei FRAENKEL, Horace 438 hinzuweisen. Zur recusatio allgemein vgl. WIMMEL, Kallimachos in Rom 193-266; NISBET/HUBBARD, Horace Odes 1 80-83 und dies., Horace Odes 2 179-183. 192) Vgl. MCFARLANE, Renaissance France 12: "[...] when Ronsard experiments in the style bas of the Marie cycle, his claims to be 'naïf' merely show him to be following a tradition different from the Petrarchan tone of the earlier Amours."

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Vorgänger bekanntgibt, aber der Wunsch nach solchen Urteilen gehört wohl eher ins journalistische Feuilleton als in die Literaturwissenschaft...

6 Es kann demnach keine Rede davon sein, daß Pindar seit einem bestimmten Zeitpunkt in Frankreich auf völlige Ablehnung stößt oder daß die Epinikien als "the most flagrant example of unintelligibility" gelten193. Dennoch ist es denen, die in der französischen Dichtung und Dichtungstheorie eine solche Abkehr von Pindar entdecken wollen, zuzugeben, daß er als Beispiel für schwierige oder dunkle Dichtung zitiert werden kann. Bevor man aber aus dieser Tatsache Schlüsse zieht, muß zunächst klargestellt werden, was eigentlich die französische Renaissance unter „dunkler" Dichtung verstand, weil wir sonst wiederum Gefahr laufen, uns durch unsere modernen Begriffe in die Irre führen zu lassen194. Seit der « révolution du langage poétique » (um es in den Worten KRISTEVAS zu sagen) denken wir bei dem Begriff des „schwierigen" Dichters an eine Art von Dichtung, die bewußt auf sprachliche Eindeutigkeit verzichtet und es im freien Spiel mit dem signifiant den Assoziationen des Lesers überläßt, aus dessen Denotationen und Konnotationen einen Sinn zu gewinnen - einen Sinn, der dann allerdings nicht mehr verifizierbar oder falsifizierbar ist. Überspitzt, aber richtig bringt FRIEDRICH195 dies (bezogen auf Stéphane Mallarmé) auf folgende Formel: In solchem Dichten ist Sprache nicht mehr Mitteilung. Mitteilung setzt Gemeinsamkeit mit demjenigen voraus, dem man mitteilt. Doch MALLARMÉS Sprache ist nur noch Äußerung ihrer selbst. [...] er spricht, um nicht mehr verstanden zu werden. In einem die Rezeption Pindars in der europäischen Klassik und Romantik behandelnden Aufsatz hat SHANKMAN gezeigt, wie das von der Romantik beeinflußte Pindarbild "virtually transforms him into an ancient Greek version of Stéphane Mallarmé"196. Zerstören also auch Pindars Gedichte alle traditionellen Kommunikationsformen so radikal, daß sie sich einem Verständnis im herkömmlichen Sinne völlig sperren? Diese Sicht scheint in der Renaissance noch ganz zu fehlen. Weder konnten die Leser dieser Epoche, die (zu ihrem Glück oder Unglück?) den Terminus „archaisch" noch nicht kannte, annehmen, Pindar benutze eine ihnen völlig fremde Denkweise und Logik, noch sahen sie ihn als 193) 194) 195) 196)

S. oben S. 177. S. oben S. 152-156 zur fureur. Struktur der modernen Lyrik 120. „Pindaric Tradition" 229.

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e i n e n D i c h t e r , der „nicht m e h r verstanden w e r d e n will". Ich habe auf d e n Optim i s m u s , mit d e m d i e P h i l o l o g e n der Zeit glaubten, d e n S c h w i e r i g k e i t e n Pindars b e i k o m m e n z u k ö n n e n , und auf d i e V e r b i n d u n g zu z e i t g e n ö s s i s c h e n F o r m e n d e r „ s c h w i e r i g e n D i c h t u n g " h i n g e w i e s e n 1 9 7 : „ D u n k l e s " D i c h t e n b e d e u t e t für d i e s e E p o c h e , in der Tradition d e r Rhétoriqueurs, s c h r e i b e n , d i e nur e i n e r E l i t e v e r s t ä n d l i c h sind

g e l e h r t e V e r r ä t s e l u n g e n zu 198

. Trotz aller D u n k e l h e i t aber

soll d i e K o m m u n i k a t i o n z w i s c h e n D i c h t e r und L e s e r aufrechterhalten b l e i b e n , oder, w i e e s COLEMAN 199 in b e z u g auf S c è v e und D u B e i l a y formuliert: [Their] a l l u s i o n s ask the reader to u s e his m e m o r y and k n o w l e d g e m o r e than h i s f r e e l y w a n d e r i n g i m a g i n a t i o n (in the m o d e m s e n s e ) a n d o n c e the allusion has been grasped n o intellectual g y m n a s t i c s n e e d be p e r f o r m e d . D u B e l l a y and S c è v e v i e w p o e t r y f r o m a p r e - R o m a n t i c standpoint as a p i e c e o f c o m m u n i c a t i o n and p e r s u a s i o n rather than a private exploration o f private sensations and e x p e r i e n c e s .

197) S. oben S. 135-140. 198) Zum Unterschied zwischen solcher „Verdunkelung" und dem modernen „dunklen Dichten" vgl. SPITZER, Stil- und Literaturstudien 2, 137f. und FRIEDRICH, Struktur der modernen Lyrik 118-121, die beide den spanischen Barockdichter Góngora Mallarmé gegenüberstellen, sowie STACKELBERG, Französische Literatur 67. CLEMENTS, Pléiade 4f. verweist zu Recht auf den Zusammenhang zwischen dieser Verrätselung und der Sicht, Dichtung sei nur eine Form von Philosophie oder Theologie: Durch seine nur den Gelehrten verstündliche Sprache verhindert der Dichter, daß die in seinen Schriften enthaltenen metaphysischen Wahrheiten Unberufenen in die Hände fallen (auch die platonisch-petrarcische Theorie von der göttlichen Inspiration der Dichtung läßt sich teilweise in diesem Zusammenhang sehen, vgl. STACKELBERG, „Klarheit als Dichtungsideal" 258f.), wie sehr klar eine Passage aus Jean de La Péruses Diuerses Poésies (1556, p. 10) zeigt, die sich an die schon mehrfach erwähnten (s. S. 136f. und 139) Verse Pindars Ol. 2, 83-86 anlehnt: l'ai caché dix mille vers Pleins de graces nonpareilles, Qui ne seront découuers Que pour les doctes oreilles : Le vulgaire populace Ne mérité telle grace, Et la grand' tourbe ignorante N'est digne qu'on les lui chante : Car Apollin ne veut pas Que celui qu'il fauorise Ses vers diuins profanise, Les chantant au peuple bas. In „alexandrinischer" Manier (s. unten S. 217 mit Anm. 206) werden hier sakrale Ausdrücke („vers diuins profanise") mit dem Anspruch, für eine Bildungselite zu schreiben („doctes oreilles", dieses Element ist in Pindars σ υ ν ε τ ο ί σ ι ν vorgegeben) zu einer auf uns zunächst befremdlich wirkenden Mischung vereinigt. Nur kurz sei schließlich darauf hingewiesen, daß während der Renaissance auch der Einfluß von vielerlei Geheimlehren (orphischer, hermetischer, kabbalistischer, astrologischer, mantischer u. a. Natur) auf diesen obskuren Stil beträchtlich war, vgl. für das Nähere VASOLI, „Occultismo del Rinascimento". 199) „Images in Scève's 'Délie'" 377.

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Mythologische und historische Anspielungen, vor allem aus der antiken Literatur und Geschichte, fordern also vom Leser ein hohes Maß an Belesenheit und Bildung, keineswegs aber will der Dichter, daß der Leser sich seinen rätselhaften Worten nur noch ratend nahe. Dazu paßt, daß Ronsard die eigentliche Dunkelheit nie als einen Reiz oder Vorzug von Dichtung nennt; wo Unverständlichkeit nicht auf „ignorance" des Lesers zurückzuführen ist, ist sie ein tadelnswerter Fehler der Dichtung 200 . Aber es herrscht in der Dichtungstheorie und -praxis der Renaissance keineswegs Einigkeit darüber, welche Dichtung und welche Dichter das richtige Maß gelehrter Verrätselung treffen und welche in den Fehler übergroßer Dunkelheit und Unverständlichkeit fallen; auch sind deutliche individuelle Unterschiede zwischen den einzelnen Theoretikern und Dichtern feststellbar. Ferner kann ein und derselbe Dichter, abhängig von der Gattung, in der er gerade schreibt, beide Rollen annehmen, die des poeta doctas, der nur für die happy few schreibt (häufig dabei in der Maske des inspirierten uates mit Aufnahme des horazischen „Odi profanum uolgus", carm. 3, 1, l 201 ) und die des leichten (Liebes-) Dichters, der den kunstlosen und leichtverständlichen Charakter seiner Dichtung betont. Wir haben schon gesehen, daß selbst Ronsard, der „Pindare françois", bei Gelegenheit die Dunkelheit des hohen Stils ablehnen und Schlichtheit fordern kann202. Etwas anders hingegen ist es zu beurteilen, wenn sich Charles Fontaine 1546 in dem Epigramm „A Monsieur Maurice Sceue" gegen die zwei Jahre zuvor erschienene Délie wendet (Fontaine d'amour, f. Miiijv): Tes vers sont beaux, & bien luysants, Graues, & pleins de maiesté. Mais pour leur haulteur moins plaisants : Car certes la difficulté Le grand plaisir en a osté. Brief ilz ne quierent vn Lecteur, Mais la commune autorité Dit qu'ilz requierent vn Docteur. Hier scheint tatsächlich eine literaturkritische Bemerkung vorzuliegen, in der Fontaine, entsprechend der Doktrin der für leichtere Dichtung eintretenden

200) MAURER, „Ronsard und die dunklen Dichter" 166. 201) Vgl. MCFARLANE, Renaissance France 10; COLEMAN, Gallo-Roman Muse 4952; BAÏCHE, Naissance du baroque 41f. und die Stellensammlung bei CLEMENTS, Pléiade 4851. 202) S. oben S. 202-213.

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marotischen „Schule", der er angehört, Scèves vom Stilideal dieser Schule abweichende Poesie wegen ihrer Dunkelheit tadelt203. Demgegenüber tritt die junge Gruppe der Plèiade mit dem kompromißlosen Anspruch auf, nur für eine gebildete Elite zu schreiben; ihre Äußerungen sind dabei von einer sicherlich absichtlich provokativen Arroganz. So schreibt Du Beilay im Vorwort zur ersten Auflage seiner Oliue 1549 (ΟΡ 1,9): Quand à ceulx qui ne vouldroient receuoir ce genre d'escripre, qu'ilz appellent obscur pource qu'il excede leur jugement, je les laisse auecq' ceulx qui après l'inuention du bléd vouldroient encores viure de glan. Je ne cerche point les applaudissements populaires. Il me suffit pour tous lecteurs auoir vn S. Gelais, vn Heroët, vn de Ronsart, vn Caries, vn Sceue, vn Bouju, vn Salel, vn Martin ; et si quelques autres sont encor' à mettre en ce rane, à ceulx la s'addressent mes petiz ouuraiges. Car s'ilz ne les approuuent, je suis certain pour le moins qu'ilz louront mon entreprinse. Wer Du Beilays Dichtung zu schwierig findet, ist genauso barbarisch und altmodisch wie der, der sich nach der „Erfindung" des Getreides noch von Eicheln ernähren wollte204: Die neue Art von Dichtung hat endgültig Schluß gemacht mit dieser Art von Barbarei. Ähnlich wie ein Jahr später im Vorwort zu Ronsards Odes wird hier mit diesen anonymen Kritikern ein Zerrbild des Lesers entworfen, dessen Funktion darin besteht, das tatsächlich intendierte Publikum ex negativo zu definieren und dessen Tugenden vor diesem dunklen Hintergrund noch heller leuchten zu lassen205. Mit der für die Dichtung der Pléiade üblichen (und für humanistische Dichter typischen) Abwertung der französischen Vorgänger (vgl. die berühmte Passage Deffence 174-184 = 92-97) einher geht der hochmütige Verzicht auf die „applaudissements populaires": Du Bellay möchte für sich nur ein kleines Publikum erlesener Kenner.

203) Vgl. COLEMAN, Gallo-Roman Muse 59f. Scève wird wegen derselben Fehler auch in der Poetik des den Marotikem nahestehenden Thomas Sebillet (1548) getadelt (Art poétique 33). Auch von einer ohne Namensnennung gehaltenen Kritik in Du Beilays Deffence vermutet CHAMARD in seiner Ausgabe, sie sei gegen Scève gerichtet (den die Pléiade in späteren Jahren mit Lob bedachte): « Quelque autre, voulant trop s'eloingner du vulgaire, est tumbé en obscurité aussi difficile à eclersir en ses Ecriz aux plus Scauàs comme aux plus Ignares. » ( D e f f e n c e 182f. = 96). Zu dieser Stelle merkte Aneau im Quintil Horatian an: « Contemple icy ton image. » (zitiert nach Du Bellay, Deffence 183 Anm. 1 = 96 Anm. 4). 204) Das Motiv ist übernommen aus Cicero, orat. 31 „quae est autem in hominibus tanta peniersitas, ut inuentis frugibus glande uescantur?" 205) Vgl. die treffende Darstellung dieses „Antilesers" bei FAISANT, „Instance du lecteur" 36 (zitiert oben S. 69f.).

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Damit stellt er sich in die antike Tradition, deren wohl bekanntester Ausdruck bei Horaz zu finden ist, carm. 3, 1, 1 „Odi profanum uolgus et arceo" 206 , und die auch von Petrarca schon aufgegriffen worden war, vgl. «la turba al vil guadagno intesa» (Sonett 7 des Canzoniere, Rime 9). In dieselbe Richtung weist bei Du Beilay auch die Bezeichnung seiner Werke als « petits ouuraiges »: Sie geht (ebenfalls über Petrarca?) auf die römischen Dichter zurück, die seit den Neoterikem ihre Gedichte gem verkleinernd als „nugae" und „ineptiae" bezeichnen oder ihr Dichten „ludere" nennen 207 , ebenfalls mit Rückgriff auf die alexandrinische Ästhetik des Kleinen, Erlesenen 208 . Wenn Du Beilay dabei die Namen der Handvoll Leser nennt, die er sich für seine Werke erhofft, so imitiert er eine Stelle aus Horaz, sat. 1, 10, in der dieser ähnlich wie Du Beilay seinen Vorgänger Lucilius als veraltet abgetan hatte („wenn er heute lebte, wäre er beim Dichten wesentlich sorgfältiger", 67-71) und sich, „contentus paucis lectoribus" (74) eine kleine Schar namentlich genannter Leser wünscht (81-90) 209 : Plotius et Varius, Maecenas Vergiliusque, Valgius et probet haec Octauius optimus atque Fuscus et haec utinam Viscorum laudet uterque ambitione relegata, te dicere possum, Pollio, te, Messalla, tuo cum fratre, simulque uos, Bibule et Serui, simul his te, candide Fumi, conpluris alios, doctos ego quos et amicos prudens praetereo, quibus haec, sint qualiacumque, adridere uelim, doliumis, si placeant spe deterius nostra. Während Horaz aber seine Ablehnung der Masse noch mit feiner Ironie würzt (vgl. das den elitären Anspruch mildernde „sint qualiacumque" 88 und die burleske Erwähnung des „cimex Pantilius" 78), schlägt dies dem jungen Du Beilay in blanke, ungebremste Arroganz um, woran

206) Vgl. auch 1,1, 30-32 „secemunt populo" und Passagen wie Catull 9 5 \ 2 „populus tumido gaudeat Antimacho"; [Virgil,] catal. 9, 64 „pingui nil mihi cum populo"; Properz 2,13a, 13f. „populi confusa ualeto / fabula"; Ovid, am. 1, 15, 35 „uilia miretur uulgus"; bei diesem Topos stehen die Römer in der Tradition der alexandrinischen Dichter, für die eine solche Ablehnung der breiten Masse zugunsten der kleinen Elite typisch ist, vgl. z. B. Kallimachos, epigr. 2 8 , 4 σικχαίνω πάντα τα δημόσια und frg. 1, 25-28: Der Dichter soll nicht über die breite Straße daherfahren, sondern auf κελεύθους άτρίπτους (dazu oben S. 84f. Anm. 58). Vgl. zu dieser Tradiüon KROLL, Studien 117f. und N1SBET/HUBBARD, Horace Odes 1 14. 207) Vgl. hierzu FR AENKEL, Horace 174-176; BRINK, Horace on Poetry 3, 358; NISBET/HUBBARD, Horace Odes 1 361 und SYNDIKUS, Catull 1, 74f. (jeweils mit Beispielen). Du Beilay selbst verspottet den Namen „nugae" in seinem Epigramm „In malum poetam" (OP 7, 87): „Paule, tuum inscribís nugarum nomine librum: / in toto libro nil melius titulo." 208) Vgl. ζ. Β. die oben S. 211 Anm. 189 zitierte Passage aus Kallimachos' Aitienprolog; femer epigrr. 8. 28; frgg. 398. 465 (ob auch Theokrit, id. 7 , 4 5 ^ 8 so zu fassen ist, ist in der Forschung umstritten); dazu POLIAKOFF, „Nectar, Springs and the Sea" 46. 209) Diese Namensnennung bei Horaz parodiert ihrerseits eine Passage des angegriffenen Lucilius, in der dieser ebenfalls die Namen seiner potentiellen Leser aufgeführt hatte („Persium non curo legere, Laelium Decumum uolo", frg. 592-593 Marx, vgl. zur Parodie FRAENKEL, Horace 131 f.). Während sich aber Lucilius als Publikum weder die Ungebildeten noch die zu Gebildeten wünscht (vgl. Cicero, de orat. 2, 25 „neque se ab indoctissimis neque a doctissimis legi uelle"), dreht Horaz das Motiv um und möchte in seiner verfeinerten Zeit nur einer kleinen Elite gefallen.

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sicherlich auch der Wechsel des Genus schuld ist: Du Beilay übernimmt diese Passage aus einer Satire, in der das όνομαστί κωμωδεΐν gattungsgemäß ist, in ein mit großer Verve und großem Emst vorgetragenes literaturtheoretisches Vorwort, wo es deplaziert wirkt.

Er hatte die Dichter seiner Zeit reizen wollen, und er erreichte sein Ziel. Noch im selben Jahr 1549 antwortete Thomas Sebillet (den die Pléiade zu dieser Zeit noch als literarischen Gegner ansah210) im Vorwort zu seiner Übersetzung von Euripides Iphigenie auf diese Provokationen (WEINBERG, Critical Prefaces 143): [...] si quéqu'vn par fortune prend plaisir a més passetemps, je ne suy pas tant ennuyeus de son aise que je luy vœilhe défendre la communication de més ébbas pour les reséruér a vne affectée demyedouzaine dés estimés princes de nottre langue et par ce moyen cércher leur applaudissement. Sebillet wirkt in diesen Sätzen gegenüber der arroganten Schärfe Du Beilays souverän, und sein Ausdruck von der « afféctée demye-douzaine » trifft ins Schwarze; auch hatte er den Zweck von Du Beilays Manöver scharfsinnig durchschaut: Wenn der junge, unbekannte Dichter neben seine Freunde auch einige schon berühmte Dichter (Mellin de Saint-Gelais, Antoine Heroët, Hugues Salel, denen er sicherlich völlig unbekannt war) in den Kreis der Kenner aufnahm, so wollte er durch diese Schmeichelei deren Wohlwollen erringen - der Appell an den Sachverstand des Publikums ist ja eine beliebte Form der rhetorischen captado benevolentiae211. Man kennt die Fortsetzung des Streites212: Saint-Gelais ließ sich durch Du Beilays Schmeichelei nicht gewinnen, sondern versuchte vergeblich, Ronsards Odes vor dem König lächerlich zu machen... Aber der einsetzende Erfolg machte es für die Dichter der Pléiade überflüssig, weiterhin durch solche Handstreiche auf sich aufmerksam zu machen. Zwar durchziehen Angriffe auf (meist namenlose) „Neider" und die „ignorance" noch ihr gesamtes Werk, zwar mangelt es auch weiterhin nicht an wirklichen oder imaginären Gegnern213, aber der Erfolg gab jetzt ihnen die Möglichkeit, ihrerseits die Rolle der Maßvollen und 210) S. oben S. 164f. 211) S. oben S. 136 Anm. 232. 212) Vgl. CHAMARD, Histoire de la Pléiade 1, 362f. und NOLHAC, Ronsard et l'humanisme 180f. Du Beilay kam übrigens seinerseits noch einmal auf die Polemik Sebillets zurück. Im Vorwort „Au lecteur" der zweiten Auflage der O Hue verteidigt er sich gegen die Angriffe, indem er unter anderem schreibt (OP 1,18): « [...] je n'y feray point de response. Encores moins à ce qu'ilz disent, que j'ay reserué la lecture de mes ecriz à vne affectée demydouzaine des plus renommez poètes de nostre langue. [...] Ceux dont je ne cherche point les applaudissements ont occasion de gronder. » Wie man sieht, ist der Ton dieser Passage kaum moderater als der des Vorworts der ersten Auflage. 213) S. oben S. 64-67 und 161f.

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Besonnenen zu spielen. Dennoch finden sich auch weiterhin Vertreter der extremen Position: So stellt sich Pontus de Tyard in seinem 1552 erschienenen Solitaire premier, der die vollständigste Darstellung der Theorie von der fureur poétique enthält, auf eine ähnlich radikale Position wie Du Beilay im ersten Vorwort der Oliue: Im Dialog stellt Pasithée dem Ich-Erzähler Solitaire die Frage „Was antwortet Ihr denen, die sagen, es sei besser gar nicht als unverständlich zu schreiben?"; dieser erwidert (Solitaire premier 67): Je leur respondray (dy-je) que l'intention du bon Poëte n'est de non estre entendu, ny aussi de se baisser et accomoder à la vilté du vulgaire (duquel ils sont le chef) pour n'attendre autre jugement de ses oeuvres que celuy, qui noistroit d'une tant lourde cognoissance. Aussi n'est-ce en si sterile terroir qu'il desire semer la semence qui lui rapporte loiiange. Bien desireroit-il que ces chassieux (mais aveugles) eussent la veüe bonne, et peussent cognoistre que ce qu'ils cerchent sous nom de facilité, n'est rien moins que facilité : mais doit avoir nom d'ignorance painte aux rudes lineamens de leurs grossières inventions.* Zwar will der Dichter verstanden werden, aber nicht von der „vilté du populaire"; die von ihnen geforderte „facilité" ist in Wahrheit nichts anderes als „ignorance"214. Im folgenden wird dann Maurice Scève als positives Beispiel für einen Dichter zitiert, der sich durch seine Schwierigkeit dem Urteil der Masse entzogen hat. Von der provokanten Forderung Du Beilays wird in dieser Passage nichts zurückgenommen, auch die Formulierung ist eher noch schärfer; allerdings muß man bedenken, daß die Rolle des elitären uates, der den « vulgaire odieus » (Ronsard, OC 2, 4215) verachtet, in einem Dialog, der das Prinzip von der göttlichen Inspiration der Dichtung darstellt, nur eine logische Folge der vertretenen dichtungstheoretischen Positionen ist. In ähnlicher Schärfe wird zeitgenössische Kritik an der angeblichen Dunkelheit von Ronsards Gedichten auch von Marc-Antoine de Muret zurückgewiesen: Dieser französische Philologe 216 verfaßte schon 1553 einen ausführlichen Kommentar zu den ein Jahr zuvor erschienenen Amours seines Freundes Ronsard, in dessen „Preface" er gegen die Kritiker polemisiert (Commentaires, nicht paginiert): L'vn le reprenoit de se trop loüer, l'autre d'escrire trop obscurément, l'autre d'estre trop audacieux à faire nouueaux mots : ne sçachans pas, que ceste coustume de se loüer luy est commune auecques tous les plus 214) Ich kann hier nur knapp darauf hinweisen, daß diese Auffassung („Literatur will nur den Gebildeten verständlich sein") im gesamten Renaissancehumanismus zu finden ist, vgl. GÖTTERT, „Ringen um Verständlichkeit" 5 (zu Erasmus). 215) S. zu dieser Tradition oben S. 215 mit Anm. 201. 216) Vgl. zu ihm PFEIFFER, Klassische Philologie 142f.

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excellens Poëtes qui iamais furent : que l'obscurité qu'ils prétendent, n'est qu'vne confession de leur ignorance : & que sans l'inuention des nouueaux mots, les autres langues sentissent encores vne toute telle pauureté, que nous la sentons en la nostre. Wie bei Pontus de Tyard, so finden wir auch bei Muret das Schlagwort „ignorance" wieder: Wer Ronsards Dichtung mit ihren mythologischen und historischen Anspielungen als zu schwierig empfindet, überführt sich nur selbst der Unwissenheit und schlägt sich auf die Seite der Barbarei, der konventionellen Feindin aller humanistischen Bestrebungen217. Dennoch liegt eine gewisse Ironie in der Tatsache, daß sich ein solcher Angriff gerade in einem Kommentar zu den Amours findet, denn sein Erscheinen ist ja ein Geständnis, daß die umfangreiche Gelehrsamkeit, die in diesen Gedichten entfaltet wird, für den normalen „gebildeten Leser" nicht mehr verständlich ist. Schwierig ist es, den Standpunkt von Jacques Peletier du Mans zu bestimmen. In einem Epigramm „A un Poeti escriuant obscurément" aus seinen Œuures poetiques von 1547 scheint eine unabhängige Wertung vorzuliegen (f. 89 r ): [...] s'il y a fruit en ta Poesie, On le deust Vai a clair sans commentaire : Mais si tu ueux cacher ta fantaisie, Il ne faudrait seulement que te taire. Bedenken muß man aber, daß das Epigramm nach der poetischen Theorie der Renaissance zum niederen Stil gehört, daher wird in ihm ein Bekenntnis zur Klarheit des „style bas" erwartet, auch bietet nur der erhabene (oder hier: dunkle, schwülstige) Stil der im Epigramm üblichen Satire Angriffspunkte. Man kann zum Vergleich z. B. ein Epigramm Etienne Forcadels „De Chéril" von 1579 heranziehen: Le parler facile et commun Semble à Chéril des moins honnestes. Vn sot et lui c'est bien tout vn ; L'obscur ne sied point aux poëtes, Mais aux sibylles et prophètes ; Qui pourra lire sans moquer Les vers dans les nues secrètes, Qu'Œdipe ne peut expliquer ? Auch in solchen Passagen sind wohl Gattungskonventionen wichtiger als die „persönliche Meinung" des Autors: Wie das lyrische Ich in der erhabenen Poesie die „nugae" zurückweist

217)

S. oben S. 189 Anm. 141.

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und ankündigt „paulo maiora canamus" (Virgil, ecl. 4, 1), so verspottet umgekehrt die persona des Epigrammatikers den erhabenen Stil als dunkel.

Diese gattungsspezifischen Überlegungen mahnen zur Vorsicht, Peletiers Äußerung einseitig zu verabsolutieren. Auch die Ablehnung schwerverständlicher Dichtung in Peletiers Art poétique von 1555 wird in der modernen Sekundärliteratur häufig als eindeutige dichtungstheoretische Stellungnahme dargestellt218; die Passage ist jedoch wesentlich differenzierter, als die ersten Sätze vermuten lassen (Art poétique 138f.): Commi donq nous auons dit la clçrte £tri li plus insini ornimant du Po£mi : einsi l'obscurité si contera pour li premier vici. Car il n'i à point di diferanci antri η i parler point, e n'£tní point antandù [...]. Mçs il i à manier«! ài juger les obscuritez. Car si li Poëti n'usi point di moz trop loin cherchez, ni trop afectez, ni impropres : s'il n'£t point trop brief : s'il a suiui bon ordri [...] : alors s'il n'£t antandù, ci sira la fauti du Lecteur, e non pas ài l'Auteur. Commi si pour quelque Fabli aleguei par ateinti : si pour quelque neu ài Filisofii mis par anrichicimant : si pour quelque Histoçri touchei par brief incidant : sommi, si pour quelqui bonni alusión, 1 i Lecteur £t tard a comprandri : qu'il s'an accusi, e non pas l'Auteur: lequel plus tôt siro^t acusabli, s'il auo£t écrit trop au long : e s'il anseigno£t commi an uni Ecoli. * Unmöglich ist es, diesen Text auf eine klare Position festzulegen: Zwar wird die Dunkelheit als « primiervici » bezeichnet und streng verurteilt (besser sei es, zu schweigen, als unverständlich zu sprechen, denn damit stehle man dem Gegenüber die Zeit), aber bei der Definition dessen, was als „dunkel" zu bezeichnen ist, tut sich Peletier schwer: Gelehrte Anspielungen zu verstehen muß der Leser in der Lage sein, andernfalls muß er sich selbst die Schuld geben, wenn er ein Gedicht nicht versteht. Wenn Peletier die Klarheit als « \t plus insin¿ om¿mant du Po£m¿ » bezeichnet, scheint er sich auf Aristoteles' Poetik zu beziehen219, in der es heißt (1458 a 18): λέξεως δε άρετή σαφή καί μή ταπεινήν είναι, vgl. auch Rhetorik 1404 b If. λέξεως αρετή σαφή είναι. Auch Peletiers Versuch, die Grenze zwischen „zu schwierig" und „zu einfach" abzustecken, findet sich schon dort, denn auch Aristoteles ist der Ansicht, der Dichter müsse einen Mittelweg zwischen dem „Banalen" (ταπεινός) einerseits und dem „Verrätselten" (αίνιγμα) bzw. „Unkorrekten" (βαρβαρισμός) andererseits suchen (1458 a 18-32: δει αρα κεκράσθαί πως

218) Vgl. PATTERSON, French Poetic Theory 1,454 und HOLYOAKE, Poetic Theory 181 "he rejects obscurity and the excessive use of mythological and erudite references"; differenzierter WEBER, Création poétique 1,144. 219) Zur Theorie der Dunkelheit in der Antike vgl. FUHRMANN, „Obscuritas", zu Aristoteles dort besonders 60-62.

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τούτοις). Auch bei Aristoteles finden wir so die bei Peletier beobachtete Unsicherheit des Urteils schon angelegt (vgl. das indefinite πως).

Auch in den auf die zitierten Zeilen folgenden Abschnitten ist Peletiers Standpunkt nicht eindeutig: Zwar lehnt er die „obscurité naturçtë" ab und vertritt sogar die Ansicht, ein guter Dichter werde niemals ein von sich aus dunkles Thema („un argumant obscur") behandeln, doch sein Schwanken wird wieder deutlich bei der Behandlung der Frage, ob ein Dichter nur für eine kleine Elite oder für das große Publikum schreiben soll {Art Poétique 141): Il faut sus toutes choses qu'un Ecrit so£t louable anuçrs les doctes : e ci pendant qu'aus moins sauans il donn¿ ài prim¿ înci quelqují aprehansion ài beaute, e quelque esperancé ài \i pouuo^r antandr^. * Obwohl das kleine Elitepublikum an erster Stelle steht, will Peletier doch auch die weniger Gebildeten nicht ganz ausschließen, aber seine Termini sind so unbestimmt (vgl. das doppelte indefinite „quelqu^"), daß aus all diesen Ausführungen kein klares Bild zu gewinnen ist. Auch Guillaume Des Autels Stellung zum Grad der Dunkelheit in der Dichtung der Pléiade ist unklar. Es wurde schon erwähnt220, wie er seine persönliche Einstellung zu dieser Dichtergruppe änderte und sich nach anfänglicher Ablehnung mit ihr anfreundete, in seiner Satire Mythistoire Barragouyne aus dem Jahre 1559 aber dennoch ihre griechischen Termini und „anderthalbfüßigen Wörter" verspottet. In einer interessanten Passage seiner 1551 erschienenen Replique aux furieuses defenses221 bezeugt er selbst diesen Umschwung: Er bekennt, er habe die Gedichte eines noch lebenden Autors, dessen Namen er nicht nennen wolle (aus dem Zusammenhang ist deutlich, daß nur der auch schon einige Seiten zuvor ohne Namensnennung erwähnte Ronsard gemeint sein kann), früher zu dunkel gefunden, mittlerweile seine Ansicht aber geändert und ihn besser schätzen gelernt. « le ne l'estime donq point tant obscur, qu'élaboré & non vulgaire : & le mets, non maugré I moy, au premier lieu de noz Poëtes, de ceux mesmement qui ont pris tel sujet [...] » (p. 72f.). Daß eben Des Autels wenige Jahre später dann wieder denselben „sergent de bande" und seine „pindariseurs" wegen ihrer fureur und Dunkelheit verspotten kann222, ist sicherlich zu einem guten Teil mit den schon erwähnten genusspezifischen Überlegungen zu erklären (welche Satire will darauf verzichten, dem - allzu - Erhabenen einen

220) S. oben S. 130f. 221) Sie ist Teil einer „battle of the books", in der sich Louis Meigret und Des Autels zwischen 1542 und 1551 mit Pamphleten regelrecht bekriegten, vgl. HUCHON, Français de la Renaissance 42 und CITTON/WYSS, Doctrines orthographiques 30f. 222) S. oben S. 130f. und 153.

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Seitenhieb zu versetzen?), zeigt aber andererseits, wie wenig fest die Grenzen von „erhaben" und „obskur" im sechzehnten Jahrhundert definiert waren, wie weit man noch von dem später (nicht immer zum Vorteil der französischen Literatur) erreichten Konsens über solche Geschmacksfragen entfernt war. Pierre Laudun übernimmt in seine Poetik von 1598 die unklare Position Peletiers mit zum Teil wörtlichen Anklängen223 {Art poétique 251): Or il faut fuir [...] euiter l'obscurité, [...] si la clairté est vn ornement de poesie, l'obscurité en est vn vice. D'ailleurs qu'il vaudrait mieux ne parler point, que de parler sans estre entendu. Or ie n'appelle pas obscurité à vn autheur, si en passant ou pour y enrichir son œuure, ou pour le confirmer, ou introduire, il touche vn trait ou de fable ou d'histoire ou de philosophie, ou de autre sciêce : car en tel cas si il n'est entendu c'est la faute du lecteur par son ignorance & non de I'autheur par sa science, mais qu'aussi I'autheur ne soit point allé prendre les mots, desquels il traicte son histoire, trop Ioing. Die Entschlüsselung mythologischer, geschichtlicher oder philosophischer Anspielungen darf der Autor seinen Lesern abverlangen: Damit wird, wie bei Peletier, das zunächst so eindeutig scheinende Bekenntnis für Klarheit und gegen „obscurité" zum großen Teil wieder zurückgenommen; eine klare Richtlinie, wo der „poeta doctus" zum „poeta obscurus" wird, kann (und will) Laudun ebensowenig geben wie sein Vorgänger. Eindeutiger gegen die Dunkelheit spricht sich hingegen Vauquelin de la Fresnaye aus und begründet dies schon zwei Jahrhunderte vor Rivarol mit der der französischen Sprache inhärenten Klarheit224 (Art poétique 44): il faut comme en la Prose, Poëte n'oublier aux vers aucune chose De la grande douceur, et de la pureté Que nostre langue veut sans nulle obscurité. Im folgenden verbietet Vauquelin Neologismen und Dialektismen, weil sie die Sprache zu schwer verständlich machen, und tadelt als negatives Beispiel für einen allzu dunklen Dichter mit scharfen Worten Du Monin (« comme vn Du Monin, faire vne parlerie / Qui, nouuelle, ne sert que d'vne moquerie »); man sieht, wie bei ihm die Ablehnung dieser Art von Dichtung sehr viel eindeutiger als bei Laudun und Peletier ist. Interessant sind die Ausführungen über dieses Thema in der Académie Deimiers (1610): Auch er lehnt die « obscurité naturelle » ab und zitiert als 223) Vgl. PATTERSON, French Poetic Theory 1,762f. 224) Zur Geschichte des Topos von der clarté der französischen Sprache vgl. WEINRICH, Wege der Sprachkultur 136-154.

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Beispiele für diesen Fehler Persius, Lykophron, Du Monin und Du Bartas; überraschend aber ist die Auswahl der Beispiele für poetische Klarheit, denn da tritt neben Malherbe der Name Ronsard (Académie, p. 269). Seine allgemeinen Ausführungen zur Dunkelheit übernehmen noch einmal die Formulierungen Peletiers 225 und Lauduns und zeigen, daß selbst hier, an der Schwelle zur klassischen Epoche, die Tradition des „schwierigen Dichters" noch lebendig und geschätzt ist (Académie, p. 268f. [268 irrtümlich als 279 numeriert]): Comme si pour quelque fable alleguee en passant, si pour quelque traict de Philosophie mis pour enrichissement, si pour quelque hystoire rapportee par vne comparaison ou terme d'exemple, & en fin, si pour vne figure vn peu hors d'vsage, celuy qui lira vn Poëme se treu- I ue tardif & trauaillé à comprendre le sens d'iceluy qu'ils s'en accuse soy mesme, & non pas l'Autheur [...]. Was die Anführung Ronsards als Beispiel für Klarheit angeht, so haben wir schon gesehen, daß Deimiers Verhältnis zum Führer der Pléiade ambivalent ist und er ihn (trotz allem Lob im allgemeinen) im besonderen oft recht kleinlich angreift 226 . Daß sich aber Formulierungen aus der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, dem Höhepunkt der Tätigkeit der Pléiade, hier an der Schwelle zu einer neuen Epoche noch einmal fast unverändert wiederfinden, überrascht zunächst und zeigt, wie wenig sich der Publikumsgeschmack in dieser Zeit gewandelt hat und daß die von manchen behauptete227 klare Abkehr von der „schwierigen Dichtung" in Frankreich zumindest bis zum Beginn des siebzehnten Jahrhunderts nicht stattgefunden hat. Diese Feststellung fügt sich in die bisherigen Ergebnisse: Die Behauptung, Pindar sei im späteren sechzehnten Jahrhundert das Paradebeispiel für allzu dunkle und schwerverständliche Poesie224, läßt sich aus den Quellen nicht belegen. Zwar kann er als „obskurer" Dichter getadelt werden, aber solche Passagen entstammen entweder den poetischen Polemiken der französischen Renaissance (und mit dem Namen Pindar sind im Grunde die zeitgenössischen Dichter gemeint), oder sie müssen aus schon in der Antike nachweisbaren gattungsspezifischen Konventionen erklärt werden und haben somit nur beschränkten Wert als literaturkritische Aussagen. Betont werden muß hier noch einmal, daß das vor allem in der älteren Sekundärliteratur allzu häufige Verfahren, aus dem Gedichtzusammenhang herausgerissene Einzelstellen als unabhängige Aussagen zu werten, keinerlei Beweiskraft hat: Bevor man über die literaturtheoretische

225) 226) 227) 228)

S. oben S. 221f. S. oben S. 175-177. Vgl. z. B. CLEMENTS, Pléiade 105f. 119. S. oben S. 177f.

5. Pindar in der Poetik der Renaissance

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Position solcher Passagen etwas aussagen kann, muß zunächst der unmittelbare Kontext und die Funktion im Gedichtganzen untersucht werden, darüber hinaus aber auch ihr Verhältnis zu den Konventionen der Gattung des betreffenden Gedichtes.

6. Einzelinterpretationen

ι Den Beginn von Ronsards Ode „A la Roine" aus dem Jahre 1550 habe ich schon in anderem Zusammenhang behandelt, wobei ich den funktionalen Charakter der Darstellung der fureur in der ersten Strophe zu zeigen versucht habe1. Hier möchte ich auf die übrigen Strophen des Gedichtes, ihre enkomiastische Technik und besonders ihre Beziehung zu Pindar eingehen. Bevor ich auf den Text selbst zu sprechen komme, ist zunächst die Frage angebracht, welche Erwartungen ein zeitgenössischer Leser wohl an ein Gedicht herantrug, das ein Enkomion (im erhabenen Stil) für die Königin von Frankreich, Catherine de Médicis, sein will. Außer dem Lob für ihre persönlichen Eigenschaften (von großen Taten konnte 1550 noch kaum die Rede sein) führen uns die von Ronsard selbst im Vorwort seiner Odensammlung expressis verbis aufgezählten Gattungskonventionen 2 dazu, einen Exkurs in zwei Bereiche zu erwarten, die wohl kaum ein Lobredner für diese Frau außer Acht lassen konnte oder wollte: Zum einen ihre Heimat Florenz, auf deren kulturelle Leistungen während des Quattrocento die französischen Humanisten mit Bewunderung oder dem Wunsch, sie zu übertreffen, blickten3, zum anderen die glorreiche Tradition ihrer Familie, der Medici4. In der Tat führt das Gedicht nach der einleitenden Beschreibung der poetischen fureur mit einer einfachen Überleitung zum Lob der Stadt Florenz, das als mythische Erzählung beginnt: Die Muse entrückt das lyrische Ich in die Gefilde, „wo einst Apollon sich in die Nymphe Florence verliebte" (16f.). Der Anschluß des Mythos mittels eines Relativpronomens ist dabei eine bei Pindar sehr häufig

1) S. oben S. 146-151. 2) Zitiert oben S. 140. 3) Zum Verhältnis des französischen zum italienischen Humanismus vgl. SIMONE, Umanesimo, rinascimento, barocco 3-106. 4) In der Anordnung und der Auswahl dieser beiden Punkte folgt Ronsard dem von Menander Rhetor 369, 21-23 für das Königslob vorgegebenen Programm: καν μεν ένδοξος ή πατρίς τυγχάνη, προθήσεις τον περί ταύτης λόγον, καί προ του γένους έρεΐς [...]. 1st dieses Zusammentreffen zufällig oder kannte Ronsard durch die Tradition rhetorischer Handbücher diese Vorschriften?

6. Einzelinterpretationen

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zu beobachtende Erscheinung 5 , der Ronsard an dieser Stelle wohl folgt. Der Zweck dieses Verfahrens ist bei beiden Dichtern jedenfalls derselbe: Diese „Minimalverzahnung" ist eine kunstvoll-schlichte Art des Übergangs, die die Aufmerksamkeit des Lesers gleich auf die zu erzählende Geschichte und deren Hauptpunkt lenkt6. So auch an unserer Stelle: Das lokale Relativum „où" weist gleich auf den wichtigsten Punkt der Geschichte hin, auf den Ort, an dem sie sich abspielt - es handelt sich ja um einen Gründungsmythos für die Stadt Florenz. In sehr gedrängter Form nimmt Ronsard in dieser mythischen Erzählung den Mythos von Pindars neunter pythischer Ode auf, wobei er diesen originell umsetzt: Während Pindar von der Liebe Apolls zu Kyrene erzählt, der eponymen Stadtnymphe der Heimat des Siegers Telesikrates, wird dies bei Ronsard zur Liebe des Gottes zu Florence, der Stadtgöttin der Heimat seiner Heldin Catherine. Dennoch bleiben die auch bei Pindar hervortretenden Elemente der Erzählung erhalten und werden zum Teil wörtlich umgesetzt. So ist besonders die Gestalt der Nymphe Kyrene/Florence beibehalten: Den üblichen Beschäftigungen mythischer griechischer Mädchen zieht sie die Jagd auf wilde Tiere vor und schützt so die Herden ihres Vaters Hypseus/Amo. Allerdings können wir auch eine Änderung beobachten: In der Pythie verliebt sich der Gott in das Mädchen, als er es ohne Waffen mit einem Löwen ringen sieht (26-28), bei Ronsard hingegen rüstet sie sich erst dazu, mit einem wilden Wolf zu kämpfen. Auch wird die Nymphe bei Ronsard mit den Attributen ,,ualeureus¿" u n d „belle" versehen (28), während bei Pindar ihre Schönheit nie ausdrücklich erwähnt wird (Apollon betont in seiner Rede 30-37 mehrfach ihren Mut und ihre Kraft, θυμόν γυναικός και μεγάλαν δύνασιν, 30). In diesen Änderungen darf man wohl eine Anpassung an den unterschiedlichen Zeitgeschmack sehen: Für die bienséance der französischen Königin und ihres Hofes war die griechische Heroine zu herb gezeichnet und wird deshalb ins Weichere, Weiblichere umgeformt.

Die wichtigste Abänderung des Mythos bei Ronsard ist zweifellos dessen Raffung: Während die Erzählung bei Pindar (in der von Ronsard benutzten vor-Boeckhschen Verszählung) 119 Verse umfaßt, hat der Franzose sie auf sechzehn Verse (von etwa gleicher Länge) gekürzt. Ronsard behält nur das Gerüst der Handlung bei: Apollon verliebt sich in die Nymphe Florence, raubt sie und benennt eine Stadt nach ihr. Die im Original so umfangreichen Teile mit dem Gespräch Apollon - Chiron und der Weissagung über Aristaios, den

5) S. oben S. 46. Auch in Pyth. 9 beginnt die mythische Erzählung mit einem solchen Relativum (τάν, 5), doch wird hier die Nymphe Kyrene selbst in den Mittelpunkt gerückt (vgl. aber das auf die Ortschaft verweisende τόθι, 6). 6) Den Hauptpunkt der Darstellung gleich zu Beginn der Erzählung kräftig hervorzuheben ist ein wichtiges Merkmal pindarischer Mythen, vgl. MOST, Measures of Praise 159: "[...] Pindar does not begin his mythological narrative arbitrarily, but instead isolates that moment which is decisive for his interpretation of the myth [...]."

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6. Einzelinterpretationen

gemeinsamen Sohn Kyrenes und Apolls, entfallen völlig. Auch in der Genealogie der Nymphe beobachten wir bei Ronsard eine Verkürzung, die der Ökonomie der kurzen Erzählung dient. Während bei Pindar Kyrene Enkelin eines Flußgottes ist (ihr Vater Hypseus ist der Sohn des Peneios), ist sie bei Ronsard Tochter des Arno. Diese Kürzungen lassen einen über die bloße erzähltechnische Raffung hinausführenden Unterschied zwischen dem antiken und dem modernen Dichter und besonders ihrem Publikum erkennen: Für die Hörer der neunten pythischen Ode war jeder einzelne der genannten Namen ein Stück verbürgter Überlieferung der Stadtgeschichte Kyrenes, an die sie glaubten, stellte so den aktuellen Sieger in eine Verbindung mit der mythischen Vorzeit und ließ seinen Sieg um so glanzvoller erscheinen7. Ronsards Leser hingegen goutieren diese Namen nur noch als gelehrtes Spiel, nicht als lebendige Tradition, so daß die Beibehaltung all der mythologischen Details im Zusammenhang der Ode diesen Effekt nicht mehr haben konnte. Von der Multifunktionalität des pindarischen Mythos8 übernimmt Ronsard nur einen Aspekt. Für ihn ist an der Apollo - Kyrene Erzählung nur das Ergebnis wichtig, die Stadtgründung, das ihm ein Lob der göttlich gegründeten Stadt Florenz und somit der Königin erlaubt. Was bei Pindar nur ein Teil der enkomiastischen Relevanz des Mythos war, wird für den Franzosen zum einzigen Punkt. Betont steht daher der Ort des Geschehens am Anfang und am Ende der Erzählung (15 « par les champs / Ou iadis » und 31-34 « La uille qui te fit naistre / Laquelle [ . . . ] / Et ou »). Wie zu Beginn des Mythos, so dienen auch an seinem Ende diese Lokalangaben zu einer schlichten Überleitung, die diesmal den Blick von der Stadt(nymphe) auf Catherine de Médicis (« nostre Iunon », 33) und ihre bedeutende Familie (« ta diuine race », 34) lenkt. In umgekehrter Reihenfolge werden diese beiden Themenkomplexe dann in den folgenden Strophen expliziert: Die zweite Strophe behandelt einige Glanzlichter9 aus der Familiengeschichte der Medici (genannt werden der eher unbedeutende Giuliano, Bruder Lorenzos des Prächtigen, sowie die beiden Medicipäpste Leo X. und Clemens VII.), die zweite Epode lobt die Persönlichkeit der Königin, während die zweite Antistrophos (50-55) Übergangscharakter hat. Somit finden wir in dieser Passage eine bei Pindar häufig zu beobachtende Technik wieder: Der Leser ist in einer ähnlichen Position wie der « Dieu qui du ciel la vit » (27) und beobachtet aus großer Höhe zunächst die Stadt, dann die Familie und schließlich ein bestimmtes Mitglied dieser Familie. Auch bei 7) S. oben S. 36. 8) Zu den zahlreichen Elementen, die diesen Mythos mit dem übrigen Gedicht und dem Gedichtzweck verklammern, vgl. KÖHNKEN, „Neunte pythische Ode". 9) Die 37-42 ausgeführte „Stemenmetapher" ist ein Topos des Enkomion, vgl. die Belege aus der antiken Literatur bei NISBET/HUBBARD, Horace Odes 1 162f.

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Ronsard möchte ich deshalb mit einem aus der Pindarforschung stammenden10 gelungenen Bild vom „Fokussieren" sprechen, dem diese allmähliche Verengung des Blickwinkels dient und das das am Ende befindliche Element (hier also Catherine) besonders gewichtig erscheinen läßt. An der die Familiengeschichte behandelnden Partie sei nur das deutliche Bemühen hervorgehoben, von den Helden der Medici stets eine Verbindung zu Catherine zu ziehen (vgl. die Apostrophen « ton Iulien », 40, und « Tes deus grands Papes », 47), die somit niemals ganz aus den Augen verloren wird, seitdem sie in 31 zum ersten Mal angeredet wurde.

Ergiebiger ist für uns die Überleitungspartie 50-55. Auch hier bedient sich Ronsard einer bei Pindar häufig zu findenden Technik des Übergangs": Die Aufzählung der großen Taten der Medici wird abgebrochen mit der Begründung, eine erschöpfende Behandlung des Themas sei ohnehin nicht möglich. Zum Ausdruck dieser Unerschöpflichkeit benutzt Ronsard zwei Bilder: die Blumen des Frühlings und die Farben der Wiese. Diese beiden Bilder zeigen auch noch einmal in aller Deutlichkeit die Absurdität des Versuchs, für solche konventionellen Passagen eine bestimmte „Quelle" zu finden'2: Schon in Gedichten von Amadis Jamyn und Claude Garnier waren wir ähnlichen Klischees begegnet, um die Vorstellung des „Unzählbaren" auszudrücken, dort vor allem dem Bild der „numero carentis harenae" (Horaz, carm. 1,28, l) 13 . Auch bei Ronsard finden wir nur eine (im übrigen sogar recht banale) Variation dieses Topos wieder, und zu den von LAUMONIER in seiner Ausgabe aufgezählten „Vorbildstellen" ließen sich noch „unzählige" weitere stellen. Aufschlußreich sind hier auch die Varianten. Ronsard hat die Passage 1555 umgearbeitet und die ursprünglichen Bilder (Blumen und Farben) durch andere ersetzt, nämlich die Ernte des Sommers und das Eis des Winters14: On ne conte les moissons De l'Esté, ni les glaçons 10) S. oben S. 46f. 11) Zu den Abbruchsformeln bei Pindar s. oben S. 40. Eine auf den ersten Blick ähnliche Passage finden wir schon in der Dichtung vor Pindar bei Ibykos, frg. 282, 23-26 PMG, doch hat hier der Hinweis auf die Unerschöpflichkeit des Themas wohl noch nicht diese Funktion, sondern ist Einleitungsformel zu einem Katalog (wie bei Homer Β 488-492), vgl. GENTIO, Poetry and Its Public 129f. 12) S. oben S. 58-60. 13) S. oben S. 194 mit Anm. 153 und 154. 14) Auch diese Verse hat Ronsard dann für die letzte zu seinen Lebzeiten gedruckte Ausgabe (1587) noch einmal gründlich umgearbeitet, die Bilder jetzt aber beibehalten. Fast schon ein Plagiat sind die Verse aus einer „Chanson" der zum ersten Mal 1573 gedruckten Premieres aeuures von Philippe Desportes, der Ronsards Bildern noch drei weitere konventionelle (Wüstensand, Sterne, Träume) hinzufügt (Poètes du XVI' siècle 807): L'Hy ver n'a point tant de glaçons, L'Esté tant de jaunes moissons, L'Afrique de chaudes areines, Le Ciel de feux estincelans, Et la nuict de songes volans, Que pour vous j'endure de peines.

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6. Einzelinterpretationen Qui l'hiuer tiennent la trace Des eaus roides à glisser, Ainsi je ne puis penser Les louanges de ta race.

Das Ersetzen des einen Bildes durch das andere verändert den Kontext kaum und zeigt so, wie sehr in einem solchen Topos die geprägten Formulierungen austauschbar sind: Ronsard hätte beinahe jedes der konventionellen Bilder hier verwenden können, ohne den Sinn der Passage zu beeinflussen. Entscheidend für den Leser ist das Wiedererkennen des Topos, nicht die Frage nach einem bestimmten Hypotext.

Während also diese Bilder konventionell sind und nicht an eine bestimmte Vorbildstelle zu denken ist, scheint mir LAUMONIER recht zu haben mit seiner Anmerkung, der Gedankenverlauf der Stelle sei auf Pindar zurückzuführen. Wie schon erwähnt, ist der Hinweis auf die Unerschöpflichkeit des Themas (zuweilen verbunden mit dem potentiellen Überdruß der Hörer, dem sogenannten κόρος-Motiv) eine häufig anzutreffende Begründung für den .Abbruch" einer Passage in den Epinikien15. Ich greife als Beispiel Ol. 13, 45f. heraus: Dort bricht der laudator einen Katalog der verschiedenen Siege des Adressaten Xenophon (32-45) mit dem Hinweis auf deren übergroße Anzahl ab: ώς μάν σαφές / ούκ αν είδείην λέγειν ποντιάν ψάφων αριθμόν. Besondere Ähnlichkeit mit Ronsards Passage zeigt hierbei der Kunstgriff, an den Katalog das (schon zu Pindars Zeiten konventionelle16) Bild des Unzählbaren unvermittelt anzuschließen; identisch ist in beiden Fällen die Funktion: Von einer Aufzählung soll zu einem anderen Abschnitt übergeleitet werden. Dabei kommt es dem Lobredner darauf an, den Eindruck zu vermitteln, er wähle aus einer ungeheuren Vielzahl von Punkten nur einige wenige aus17. Es läßt sich nicht schlüssig beweisen, daß Ronsard diese Technik aus Pindar gelernt hat oder gar nur von ihm gelernt haben kann (wenn mir die erste dieser Annahmen aufgrund der Funktionsgleichheit der Passagen und der zahlreichen Pindarreminiszenzen im Rest des Gedichtes auch recht wahrscheinlich erscheint) - dazu müßte man beweisen, daß sie zwischen Pindar und Ronsard von niemandem sonst angewendet worden ist. Was man aber in jedem Fall festhalten kann, ist folgendes: Die Verwendung derselben Technik macht klar, daß

15) Zu den vier von LAUMONIER genannten Passagen ließen sich noch einige weitere hinzufügen, vgl. BUNDY, Studia Pindarica 2,75f. 16) S. oben S. 194 Anm. 153. 17) Vgl. CURTIUS, Europäische Literatur 168f. mit Anm. 8, der dieses Klischee „pauca e multis" nennt. Menander Rhetor schreibt diesen Topos („das Thema ist unerschöpflich") für das Prooimion des Königslobs vor und gibt als Beispiel genau eines der klischeehaften Bilder, die wir in solcher Fülle antreffen (368, 21-369, 2): δέχεται δε τα προοίμια τοΰ λόγου καί έξ παραδειγμάτων αορίστων αυξήσεις, οίον ώς αν εϊ λέγοιμεν, ώσπερ δέ πελάγους απείρου τοις όφθαλμοϊς μέτρον ούκ έ'στι λαβείν, οϋτω καί βασιλέως εύφημίαν λόγω περιλαβείν ού ράδιον.

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Ronsard auch bei seinem Publikum auf ein Verständnis für diesen Abbruch vertrauen konnte und daß dieses Publikum daher in der Lage gewesen sein muß, auch Pindars Abbrüche als das zu interpretieren, was sie sind, Kunstgriffe, um von einem Thema zum nächsten überzuleiten. Im anschließenden direkten Lob für Catherine fällt besonders die hyperbolische Versicherung auf, nur sie selbst könne mit sich verglichen werden (« l'on ne sçauroit uoir / Rien que toi qui te resemble », 65f.). Auch sie fällt in den Bereich der Unsagbarkeitstopoi: Der laudator steht vor einer so einzigartigen Größe, daß alle Vergleiche versagen müßten. Eine Parallele für diesen Gedanken finden wir in einer berühmten Passage Du Beilays, der in den Antiquités de Rome von 1558 schreibt (OC 2, 9): « Rome seule pouuoit à Rome ressembler », lateinisch gefaßt in den Poemata, ebenfalls 1558 (OP 7, 49) „Se [...] parem Romae non, nisi Roma, ferat." 18 Gerade in Zeiten wie der französischen Renaissance, in denen die Großen mit Enkomien überhäuft werden, muß jeder Vergleich abgegriffen wirken; daher nehmen dann die Unsagbarkeitsbeteuerungen zu. Die Kraft der durch ständige Superlative abgenutzten Sprache reicht in der Tat nicht mehr aus, Größe darzustellen, deswegen ist es für den Lobredner sicherer, das Unmögliche gar nicht erst zu versuchen, denn für jeden laudator gilt, was Plinius in seinem Panegyricus auf Traían 2, 1 sagt: „Equidem non consuli modo, sed omnibus ciuibus enitendum reor, ne quid de principe nostro ita dicant, ut idem illud de alio dici potuisse uideatur." Dabei wird diese Unsagbarkeitsbeteuerung von Ronsard nur sehr kurz ausgeführt. Anders als Autoren in der Rolle des „bescheidenen" Lobredners, der die Furcht äußert, sein Lob möchte hinter der Größe des Themas zurückbleiben 19 , verläßt Ronsard die seit den ersten Versen eingenommene Pose des inspirierten, über den „peuple" erhabenen Dichters auch hier nicht: Die Unmöglichkeit des Vergleichs wird wie ein objektiver Tatbestand dargestellt, nicht als subjektive Unfähigkeit des laudator 20 . Dazu paßt die in der folgenden (dritten) 18) Vorläufer dieses Topos finden sich schon in der antiken Literatur, vgl. die Belege bei NISSEN, „Historisches Epos" 306, doch scheint es keine Beispiele für die hier vorliegende ausgeführte Form zu geben. Vgl. in der französischen Renaissance femer Isaac Haben im Gedicht „Au Roy", aus dem zweiten seiner Trois liures des meteores von 1585 (f. 2r): « Mais comme dans la vouste ronde / Ne reluist sinon vn Soleil, / Qui les Cieus, l'air, la terre, & l'onde / Esclaircit du feu des son œil, / Ainsi tu n'as point de semblabe [...] » (der Anklang an Pindar Ol. 1, 5f. ist wohl nur zufällig). Ähnlich auch Shakespeare, Hamlet 3375 + 13-15: "[...] to make true dixion of him, his semblable is his mirrour, & who els would trace him, his vmbrage, nothing more." 19) S. oben S. 90f. und 193-195. 20) Auch hier werden manche versucht sein, Rückschlüsse auf das Seelenleben Ronsards zu ziehen (s. oben S. 146f.). Derselbe Ronsard aber kann in derselben Odensammlung auch andere Töne anschlagen. In dem Gedicht „A Charles de Pisseleu" (OC 2 , 4 8 ) imitiert er die Form der recusalio und will die epischen Stoffe anderen Dichtern überlassen, weil er selbst dazu zu schwach sei: « Ma petite lirique muse / Ne m'amuse / Qu'à l'humble uers où je suis

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Strophe ausgesprochene selbstbewußte Versicherung an die Königin, in seinen Versen werde der Klang ihres Namens das ganze All erfüllen21 und die Kritik an dem anonymen « tas qui chantent de toi » (76), der nicht versteht, Lobesdichtung zu schreiben: Auch diese Verse dienen vor allem dazu, den selbstbewußten Charakter des laudator hervorzuheben, ein möglicher Bezug auf zeitgenössische Dichter ist nur sekundär22. Auch hier kann nicht schlüssig bewiesen werden, daß dieses Selbstbewußtsein aus Pindar stammt, bei dem der laudator ebenfalls in hohem Maße diese Eigenschaft zeigt; angesichts des „pindarischen" Charakters der Ode kann diese Annahme aber Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen; Versicherungen, nur die Dichtung könne dem Adressaten Unsterblichkeit verbürgen, sind jedenfalls bei Pindar äußerst häufig23. Die restlichen Verse des Gedichtes sind dem 1544 geborenen Dauphin (dem späteren François II, der nur wenige Monate König war und schon 1560 starb) und der Zukunft Frankreichs gewidmet. Der kaum geborene Prinz kann von Ronsard nur mit den üblichen Topoi gelobt werden: Schon in jungen Jahren lasse er erkennen, daß er seinen Eltern nachschlagen werde, schon als Knabe übe er sich in Waffen. Die Ähnlichkeit des Prinzen mit seinen Eltem wird in zwei Versen betont (90f.): « Qui de front, d'ieus, & de uois, / A Pere & Mere ressemble ». Schon in der antiken Literatur finden wir dieses konventionelle Motiv, zuerst bei Hesiod, Op. 235, aber auch sonst sehr häufig24. Ein weiteres konventionelles Klischee der enkomiastischen Literatur ist die Frühreife eines Kindes, das CURTIUS25 den „Topos puer senex" nennt. Schon bei Pindar finden wir in Pyth. 4, 281f. eine Vorstufe dieses Topos; dort wird über Damophilos gesagt 26 : κείνος γαρ έν παισίν νέος, / έν δε βουλαΐς πρεσβυς έγκύρσαις έκατονταετεί βιοτα. Besonders ausgeprägt kommt er vor bei Claudian, der nicht müde wird, diese Eigenschaft an Honorius, dem Sohn des Kaisers Theodosius, zu loben, vgl. 7, 22-28; 8, 160-164 und 518-522 „quantus né. » Das eine wie das andere ist eine konventionelle Rolle, die der Dichter je nach Bedarf übernimmt 21) Dabei finden wir zwei Topoi kombiniert: Zum einen die Ausdehnung (« tout l'uniuers », 74; zu diesem Klischee vgl. CURTIUS, Europäische Literatur 169f.; es findet sich auch bei Pindar, Nem. 5, 1-3 und Isth. 4, 41f.), zum anderen die Schallmetapher („bruiant", 73); vgl. zu ihrem Vorkommen in der enkomiastischen Literatur der Renaissance JOUKOVSKY, Gloire dans la littérature 323-330 und 339-343. 22) Daß er sicherlich auch vorliegt kann nicht geleugnet werden angesichts des ähnlichen Gedankens zu Beginn der Ode „La uictoire de François de Bourbon" (OC 1,82), wo Clément Marot (nach dem Vorbild von Pindar Ol. 9,1-8) namenüich genannt wird. 23) S. oben S. 185 Anm. 132. 24) Vgl. die Beispiele bei WEST, Works & Days 215f.; interessant auch hier die angeführten Stellen aus Menander Rhetor, der die Verwendung des Topos für die Rede beim Hochzeitsfest vorschlägt. 25) Europäische Literatur 108-112. Mit den religiösen und philosophischen Hintergründen dieses Topos, besonders in der christlichen Literatur der Spätantike, beschäftigt sich GNILKA, Aetas Spiritalis. 26) Vgl. zu dieser Passage BRASWELL, Fourth Pythian Ode 38If., der auch weitere Literaturangaben zum Topos puer senex macht.

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in ore pater radiati [...] / iam patrias imples galeas; iam cornus auita / temptatur uibranda tibi." Auch Menander Rhetor nimmt 371,30-32 Waffenübungen in der Jugend in seinen Katalog der Themen für das Königslob auf.

Wegen des jugendlichen Alters des Thronfolgers sind auch die Lobesthemen für seine politischen Taten in die Zukunft verlegt: Iuppiter hat, eingedenk einer alten Weissagung der Themis27, befohlen, daß Florenz unter französische Herrschaft kommen soll (79-87), und das Schicksal will, daß der zukünftige König sein Reich über die ganze Erde ausdehnen soll28 (99-108). Mit einem Blick auf die künftige Größe Frankreichs, das von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang reichen wird29, schließt die Ode. Betrachtet man abschließend das Gedicht noch einmal als Ganzes, so fällt sein handwerklicher Charakter ins Auge: Die meisten Passagen lassen sich auf die seit der Antike üblichen Konventionen des Enkomions zurückführen. Wenn sich unser modemer Begriff der Originalität auf solche Literatur überhaupt sinnvoll anwenden läßt, so nur auf die Anordnung und Variation der überlieferten Topoi - im Stofflichen geht Ronsard nicht über das Überkommene hinaus. Dieses Gedicht ist sicherlich nicht unter einer rasenden Begeisterung entstanden, sondern das Werk eines poeta doctus, der die technischen Konventionen enkomiastischer Literatur klug anwendet. Ähnlich las Ronsard auch seine Vorgänger: Auch in ihnen erkannte er die Regeln des Enkomions und benutzte die Passagen, die er für seinen Zweck anwenden konnte. Die Interpretation dieser Ode bestätigt, was wir schon aus den Pindarkommentaren der Renaissance und Ronsards Vorworten schließen konnten30: Pindars Epinikien werden als Enkomien angesehen31, in ihnen sucht und findet die Renaissance Techniken zur Gestaltung dieser Gattung.

27) Vielleicht wird Themis hier eingeführt wegen der engen Verbindung zu Zeus, die sie besonders im Mythos von der Verheiratung der Thetis hat. In erster Linie aber ist wohl ihre Funktion im antiken Pantheon entscheidend: Das „göttliche Recht" will die Weltherrschaft Frankreichs. 28) Mit einer deutlichen Anspielung auf die berühmte Iuppiterprophezeiung im ersten Buch der Aeneis, vgl. Ronsards « Son empire n'a borné / D'un fleuue, ou d'une montaigne » (lOlf.) mit Virgils „his ego nec metas rerum nec tempora pono: / imperium sine fine dedi" (278f.). Noch deutlicher greift auf dieselbe Virgilpassage Claude Estienne Nouvelet in seinem Hymne trionfai von 1572 zurück, wo Gott (Iuppiter ist hier christlich umgedeutet) ankündigt: « Cest empire ie ne mesure, / le ne le borne point afin / Qu'a tout iamais heureux il dure, / Tant que le monde preigne fin. » 29) Die Betonung der Größe des Herrschaftsgebietes ist im Enkomion konventionell, vgl. NISBET/HUBBARD, Horace Odes 1 168. Diese Angabe wird von Ronsard mythologisch umschrieben; zu ähnlichen Ausdrücken für „die ganze Welt" vgl. JOUKOVSKY, Gloire dans la poésie 323-330. 30) S. oben S. 140-142. 31) Vgl. besonders die oben S. 140 zitierte Aussage Lonicers: „Continent enim in uniuersum ij certaminü hymni aliud nihil, atq; genus laudis έπιδεικτικόν."

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2 In den pièces liminaires zu Robert Garniere Tragödie Hippolyte aus dem Jahre 1573 finden wir eine lateinische pindarische „Ode in Hippolytum a Rob. Garnerio Regio Consiliario, Gallico cothurno donatum" (f. 6*ΐ.) des Humanisten Pascal Robin32, die Gamiers Drama als würdigen Nachfolger der antiken Hippolytostragödien des Euripides und Seneca lobt. Schon bei der ersten Lektüre des Gedichtes fällt seine für eine ode pindarique merkwürdige Form auf: Die Antistrophos umfaßt einen Vers weniger als die Strophe, obwohl ihre metrische Struktur (bis auf wenige geringe Abweichnungen) gleich ist: Wohl durch ein Versehen des Setzers ist der Vers 17 der Antistrophos in der Strophe in zwei Verse (2 und 3) geteilt". Robin beginnt sein Gedicht mit einer Pindarreminiszenz: Das Motiv der zwei Anker, das die Ode eröffnet und schließt (40f.), hat er aus Pindars sechster olympischer Ode imitiert34. Robins Verse lauten: Mare cum furit agitatum Hyeme aspera, tunc Anchoras duas si Citò proiciat Tiphys in aequor, Ratem melius moratur. Dies geht zurück auf Ol. 6, lOOf.: [...] άγαθαΐ δέ πέλοντ' έν χειμερία νυκτί θοάς έκ ναός άπεσκίμφθαι δύ' άγκυραι. Robin hat Pindars knappes Bild ausgedehnt: Aus den drei Worten έν χειμερία νυκτί macht er geradezu ein kleines Gemälde des Wintersturms (lf.). Auffallig ist auch, wie das den Urheber der Aktion aussparende άπεσκίμφθαι Pindars

32) Über ihn ist nur sehr wenig bekannt, vgl. die Skizze PINEAUXS, „Admirateur angevin". Erwähnt sei, daß Robin in den Honnestes loisirs von François de La Motte-Messemé eine französische ode pindarique zu Ehren des Verfassers veröffentlicht hat (f. 286'), die aber keinerlei Anklänge an Pindar zeigt. 33) Daß die Anordnung in einem Vers wohl die richtige ist, zeigt die Elision „tueri illius" in Vers 17. 34) Schon in der Antike war dieses Motiv sprichwörtlich, wie sein häufiges Vorkommen zeigt, vgl. beispielsweise die bei Stobaios, ecl. 4, 1, 3 und 4 , 4 6 , 22 zitierten Passagen aus Euripides und Epiktet; bei lateinischen Dichtem Properz 2, 22a, 41 „nam melius duo defendunt retinaeula nauim" und Ovid, rem. 447 „non satis una tenet ceratas ancora puppes" sowie die weiteren Beispiele, die PFEIFFER zu Kallimachos, frg. 91 und DIGGLES, Phaethon 124f. anführen.

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bei i h m zu e i n e m Aktiv umgewandelt wird (wobei Tiphys, der Steuermann der Argo, m e t o n y m i s c h für das Genus „Steuermann" gesetzt wird). Die beiden Anker sind ein beeindruckendes Bild, und GILDERSLEEVE35 meint nicht zu Unrecht, dies seien "the verses to which one always comes back when thinking over this poem". Auch die französische Renaissance scheint ähnlich empfunden zu haben, denn Robin war weder der erste noch der letzte, der diese Passage imitierte. Ronsard hat sie gleich zweimal in seinen Werken nachgeahmt, die erste Stelle (aus den Odes) lautet (OC 1,96): Quand la bize uient fâcher La proue quel' soufl¿ & uire. Alors il fait bon lâcher Deux ancres de son nauire. Obwohl Robin die Werke Ronsards genau kannte 36 , hat er die beiden Anker doch direkt aus Pindar imitiert, nicht (nur?) über den Umweg der Odes Ronsards, wie zwei Elemente zeigen, die sich nur bei ihm, nicht aber bei Ronsard übernommen finden: Pindars θοάς (101), bei ihm Epitheton des Schiffs, fehlt bei Ronsard ganz, während es bei Robin zum Adverb „citò" (4) umgewandelt wird 31 . Zum anderen folgt Robins „proiciat" Pindars άπεσκίμφθαι (101) wesentlich enger als Ronsards blasseres „lacher". Nach Ronsard und Robin wird das Bild, etwas freier, noch einmal in der „Ode Pindarique sur la naissance de monseigneur le Dauphin" (in den Royales couches von 1604) Claude Gamiers aufgegriffen, wo es heißt38: » Quand la tempeste suruient, » Et que l'Aquilon vient bruire, » Vn seul ancre ne conuient » Pour le salut d'vn nauire. Interessant ist die originelle V e r w e n d u n g des M o t i v s bei Robin 3 9 , das seine O d e rahmt: B e i i h m werden die beiden Anker z u m S y m b o l für die Tragödien des Euripides und Seneca, die den M y t h o s v o n Hippolytos und Phaidra g e w i s sermaßen „befestigen"; diesen Ankern tritt nun als dritter das Drama Gamiers an die Seite, um ihn noch weiter „festzuhalten" („triplicibus [ . . . ] tenendum c u m anchoris", 40f.). In der kurzen Nacherzählung des Mythos, die Robin in den Versen 6-29 gibt, hält er sich nicht an die Dramen des Euripides und Seneca, die beide die Auferweckung des Hippolytos durch Asklepios nicht kennen (sie enden jeweils mit Klagen über seinen Tod), sondern folgt wohl der aus Virgil und Ovid 40 bekannten Version des Mythos 41 , in der berichtet wird, daß

35) Olympian and Pythian Odes 171. 36) Vgl. PINEAUX, „Admirateur angevin". 37) Man könnte auch die Frage stellen, ob Robin vielleicht das Adverb θοώς in seiner Ausgabe las, doch scheint diese Variante nirgends überliefert. 38) Zu den guillemets am Rand s. oben S. 92 mit Anm. 86. 39) Zu seiner Einbettung in andere „Doppelungen" in der sechsten Olympie s. unten S. 248. 40) Virgil, Aeneis 7, 761-780; Ovid, met. 15, 497-546 und Fasti 6, 737-762. Robins Formulierung „Arte Paeonia" (8) geht auch deutlich auf Virgils „Paeoniis [...] herbis" (7, 769)

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Diana Hippolytus nach seinem gewaltsamen Tod durch die Hilfe Aesculaps von den Toten zurückgeholt habe und Aesculap für diese Tat von Iuppiter mit dem Blitz erschlagen worden sei; ferner wird dort Hippolytus' Entriickung in den Hain der Diana bei Aricia und seine Identifizierung mit der dort ansässigen römischen Gottheit Virbius erzählt. In pindarischer Manier 42 beginnt Robin die Erzählung mit einem die Hauptpunkte zusammenfassenden κεφάλαιον (61S), bevor er die Ereignisse noch einmal ausführlicher darstellt 43 . Auffällig ist hier die auch sonst in den pindarischen Oden der Renaissance zu beobachtende strikte Respektierung der Strophengrenzen: Die Strophe enthält Prooem und κεφάλαιον, die Antistrophos die mythische Erzählung, die Epode schließlich die Ausführung des Motivs der „beiden Anker".

3 Wie Ronsards oben behandelte zweite Ode, so ist auch das erste Gedicht aus Baïfs44 Étrénes de poézie fransoçze von 1574, eine pindarische Ode in acht Triaden45, Catherine de Médicis gewidmet. In viel stärkerem Maße als Ronsard behandelt Baïf in dieser Ode die Familiengeschichte der Medici (ungefähr fünf Triaden), doch räumt er im Jahre 1574 auch dem direkten Lob Catherines mehr Raum ein: Nach dem Tode ihres Mannes Henri II (bei einem Turnier, 1559) und ihres ältesten Sohnes François II (1560) führte Catherine während der Minderjährigkeit ihres zweiten Sohnes Charles IX (geboren 1550) offiziell, bis beinahe zu ihrem Tod 1589 hinter den Kulissen die Regierungsgeschäfte Frankreichs. Das Land wurde gerade in dieser Zeit von den zu Beginn der sechziger Jahre ausgebrochenen Religionskriegen aufs äußerste erschüttert, Hand in Hand

und/oder Ovids „ope Paeonia" (met. 15, 535) zurück, wobei BÖMER in seinem Kommentar zu dieser Stelle anmerkt, Ovid habe seine Formulierung „mit deutlichem Bezug" auf Virgils Worte gewählt. 41) Gewiß wären auch noch andere Erzählungen möglich, so z. B. Pausanias 2, 27, 4 oder Apollodor 3, 10, 3, doch sind die beiden großen Römer die naheliegendsten Quellen. Kaum in Frage kommt die Erzählung bei Pindar, Pyth. 3, 54-58, denn zum einen bleibt der von Asklepios dem Tod Entrissene dort namenlos (und schon die Antike kannte eine Vielzahl von Heroen, denen dies widerfahren sein soll, vgl. die Listen bei Apollodor 3, 10, 3 und Schol. Euripides Ale. 1 = Schol. Pyth. 3, 96), zum anderen fehlt bei Garnier das bei Pindar auffälligste Element, daß sich Asklepios habe bestechen lassen (ετραπεν καί κείνον άγάνορι μισθω χρυσός έν χερσί φανείς, 55). 42) S. oben S. 46. 43) Robins Sprache ist dabei in den Versen 16-20 nicht ganz klar; ich verstehe sie so: Hippolytos' keuscher und daher Phaedra verhaßter Lebenswandel („verecundula Phedraeque neueres nimis ingrata curricula") konnte sein Leben („retinacula vitœ", eine bei Plinius, e pisi. 1 , 1 2 , 8 vorkommende Junktur) nicht retten, a b e r Diana ließ ihn auferstehen und entrückte ihn. 44) Ausnahmsweise sei hier einmal auf ein biographisches Zeugnis verwiesen, um zu zeigen, wie sehr Baïf für die Dichtung Pindars begeistert war: Nach der Aussage Colletets war sein Haus geschmückt mit « de belles inscriptions grecques en gros caractères, tirées du poète Anacréon, de Pindare, d'Homère, et de plusieurs autres qui attirent agréablement les yeux des passants » (GUIGNARD, „Les de Baïf 201f.). 45) Eine kurze Analyse des Gedichtes bei AUGÉ-CHIQUET, Jean-Antoine de Baïf370f.

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mit den Kriegsfolgen ging eine schwere wirtschaftliche Krise46. Bot so schon die allgemeine Situation wenig Stoff zu Lobgesängen, war die Lage eines Lobredners für Catherine selbst noch prekärer: Zwar ist unbestreitbar, daß sich die Königin während ihrer Regierungstätigkeit oft für eine Versöhnung zwischen den verfeindeten Parteien eingesetzt hat, doch wird ihr Name immer wieder mit dem Massaker an den Hugenotten in der Bartholomäusnacht von 1572 in Verbindung gebracht. Entscheidend ist hierbei nicht die Frage, wieweit sie von der „Pariser Bluthochzeit" wirklich Kenntnis gehabt oder sie gar mitgeplant hat47, sondern die Feststellung, daß für einen großen Teil ihrer Zeitgenossen ihre Schuld feststand. Es ist daher interessant zu sehen, wie ein enkomiastischer Dichter mit diesen Schwierigkeiten seines Themas umgeht. Auf den ersten Blick fällt uns zunächst die ungewöhnliche Form des Gedichtes auf, denn Baïf verwendet nicht nur eine reformierte Rechtschreibung4», sondern versucht auch, in den reimlosen Versen seines Gedichtes die quantitierende Metrik der Griechen und Römer nachzubilden49. Offensichtlich unter dem Einfluß der Annahme, Pindars Epinikien seien in freien Versen geschrieben50, bietet Baïf in seinen Versen eine eigenwillige Mischung aus lamben und Trochäen, Daktylen, Choriamben, Ionikern und anderen Metren, die er seinen Lesen in einer „Brieve rçzon dçs métrés de se livre" (f. âij r ) erklärt. Die Ode selbst beginnt mit einer ausgedehnten Schiffahrtsmetapher: Der laudator (der sich hier zunächst mit einem unbestimmten „wir" bezeichnet) hofft auf eine glückliche Fahrt übers Meer, das Segel geschwellt vom Wind der königlichen Gunst, und auf Landung in einem guten Hafen (1-14). Diese Verse bieten wieder ein deutliches Beispiel für die Kombination der Verarbeitung eines Topos mit einem bestimmten Hypotext51: Dichtung unter dem Aspekt der Schiffahrt darzustellen ist ein seit der Antike vor allem in Prooimien sehr weitverbreitetes Motiv52, das Baïf hier aufgreift. Gleichzeitig aber sind die 46) Vgl. SIEBURG, Geschichte Frankreichs 103-111; ein beeindruckendes, düsteres Bild der ersten Regierungsjahre Henris III zeichnet JEHASSE, Renaissance de la critique 182-184. 47) Sie ist unter Historikern auch heute noch nicht endgültig geklärt, vor allem, weil schon die zeitgenössischen Quellen kein klares Bild geben, vgl. SIEBURG, Geschichte Frankreichs 98 und MIQUEL, Guerres de religion 283-285. 48) S. oben S. 30 Anm. 74. 49) Solche Versuche findet man recht häufig in der französischen Renaissance bis in die zwanziger Jahre des siebzehnten Jahrhunderts, vgl. SPINGARN, Literary Criticism 139-142; PATTERSON, French Poetic Theory 1, 637-649; LEBÈGUE, „Horace en France" 395f. 407; WEBER, Création poétique 1, 150-153; ATTRIDGE, Well-Weighed Syllables 121-124; SCHMIDT in Poètes du XVI' siècle 957-1017 (mit Beispielen) und DUBOIS, Poésie du XVI' siècle 78-82; speziell für Baïf vgl. BONNIFFET, „Poésie vocale". 50) S. oben S. 126f. 51) S. oben S. 60f. 52) Die Literatur zu diesem Topos geht ins Unermeßliche, vgl. die beeindruckende Liste in Bibliographie zur antiken Bildersprache 546-548; einen ersten Umriß von der Fülle der

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ersten Verse eine deutliche Imitation einer Pindarpassage. Baïfs Verse lauten (1-7): A seus ki vont, l'ankre du havre levant, AU loéiç repassér longe travçrse de mçr, S'çt l'amiable rékonfaurt, É premiér éspoçr d'ureus kours, An poupe prandre le vant : Kar Ion s'atand laurs, au desirable retour An bién komansant biénfinir [·.·]. Ihren Vorbildtext ein wenig ausdehnend sind sie eine fast wörtlich Wiedergabe von Pindars Pyth. 1, 33-35: ναυσιφορήτοις δ ' άνδράσι πρώτα χάρις ές πλόον άρχομένοις πομπαΐον έλσεΐν ουρον· έοικότα γαρ καί τελευτα φερτέρου νόστου τυχείν. Interessant ist hier die Umsetzung des pindarischen Motivs bei Baïf: In der ersten Pythie läßt sich Hieron nach seinem Wagensieg als Bürger der von ihm selbst kurz zuvor gegründeten Stadt Aitnai feiern. Insofern kann sein Wagensieg mit günstigem Wind zu Beginn einer Seefahrt verglichen werden: Er ist ein gutes Omen für die Zukunft dieser Stadt, die noch viele ruhmreiche Siege erhalten wird, wie im Gedicht selbst in den folgenden Versen (35-39) expliziert wird. Zwei Elemente an diesem Bild legten wohl für einen Dichter der Renaissance seine Umsetzung in ein Prooimion nahe: (1) Die Schiffahrtsmetapher hat in der Exordialtopik ihren festen Sitz; (2) der Aufbruch der Seeleute (ές πλόον

Belegstellen kann vermitteln CURTIUS, Europäische Literatur 138-141. Häufig ist das Motiv auch bei Pindar, der es vor allem in Abbruchsformeln verwendet, vgl. LIEBERG, „Seefahrt und Werk" 209-213 und PÉRON, Images maritimes, auf diese Verwendung bei Pindar führt WIMMEL, Kallimachos in Rom 227f. und 230f. die gesamte antike Tradition zurück. Angeführt seien aus dieser reichen Überlieferung wegen der besonderen Ähnlichkeit mit Baïfs Bild nur die Verse von Venantius Fortunatus, Mart, praef. 35-37 (angesprochen sind Agnes und Radegundis): poscendum est uobis, ne naufraga prora laboret, flatibus ille suis ut mea uela iuuet. credere tunc potero ad portum mea carbasa ferri.* Wie bei Baïf (lOf.), so soll auch bei Venantius der laudandus das „Segel des Liedes" anschwellen lassen. Als Vorläufer solcher Stellen muß eine Passage aus dem Prooimion zum ersten Buch von Virgils Geórgica gelten, wo der angeredete Augustus ebenfalls gebeten wird „da facilem cursum atque audacibus adnue coeptis" (40), vgl. KLINGNER, Virgil 190f. „Gibt der Caesar dem Dichter .leichte Fahrt' [...] wie einem Schiffer etwa guten Wind [...]." Vgl. in der französischen Renaissance noch Du Beilay in den 1558 gedruckten Poemata (OP 7, 35, angeredet ist Marguerite de France, der die Sammlung gewidmet ist): „O Diua, ingenii portus et aura mei."

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ά ρ χ ο μ έ ν ο ι ς ) läßt sich leicht auf den Aufbruch zur dichterischen Fahrt u m m ü n zen, die eine schon bei Pindar häufig zu findende Metapher für die Dichtung ist. S o wird bei Baïf der pindarische Hypotext mit e i n e m bekannten T o p o s k o m b i niert. In den folgenden Versen finden wir bei Baïf ein stark an Pindar erinnerndes Element, den sogenannten „Verpflichtungsgedanken" 53 . An drei Stellen begegnen wir diesem Motiv: « Randre le veu ke devons » (14); « Paiant le loéiér » (17) und « Muçs ne faut se kontenir » (106). Da keine der Passagen irgendwelche textlichen Berührungen zu Pindar aufweist, liegt hier wohl nicht mehr als eine oberflächliche Motivgleichheit vor, zumal diese Verpflichtung für Baïf, der das offizielle Amt eines „secrétaire de la chambre du Roi" bekleidete, eine ganz andere Realität haben mußte als für Pindar. Ebenso ist auch das Motiv des « non komun çant tout nouveau » (16) zu beurteilen: Daß die Neuheit des Liedes eigens hervorgehoben wird, um seinen Wert zu betonen, findet sich zwar auch bei Pindar öfter 54 , ist aber ein zu weit verbreitetes Motiv, als daß hier bei Baïf an einen direkten Rückgriff auf die Epinikien zu denken wäre. Mit einer ähnlichen Technik w i e Ronsard (s. o b e n S. 2 2 9 - 2 3 1 ) leitet Baïf nach d e m recht lang a u s g e d e h n t e n Prooimion ( 1 - 2 1 ) z u m direkten L o b der Königin über. In der Passage 2 2 - 2 9 , in der sich der laudator zum ersten Mal mit „Ich" bezeichnet („Je", 26, und „me", 27 und 29), wird wiederum das k o n v e n tionelle Motiv variiert, d i e große Anzahl der „oneurs" ( 2 8 ) m a c h e das L o b e n schwierig, und w i e Ronsard schließt Bai'f unvermittelt ein Bild dieser großen M e n g e an. Allerdings ist dieses Bild bei ihm anderer Art: Der Lobredner zögert w i e der H o l z f ä l l e r i m Wald, der nicht w e i ß , w e l c h e n v o n all den B ä u m e n er fällen soll. D a s Bild d e s Lobredners, der „vor lauter B ä u m e n den W a l d nicht m e h r sieht", stammt aus d e m E n k o m i o n Theokrits für P t o l e m a i o s II., id. 17, 9 f . : Ί δ α ν έ ς π ο λ ύ δ ε ν δ ρ ο ν ά ν ή ρ ύ λ α τ ό μ ο ς έ λ θ ώ ν / π α π τ α ί ν ε ι ,

παρ-

ε ό ν τ ο ς α δ η ν , π ό θ ε ν α ρ ξ ε τ α ι έ ρ γ ο υ , w o e s in genau derselben Funktion eingeführt wird 55 : D e r laudator stellt beim Übergang z u m direkten Lob die übergroße M a s s e d e s Materials fest, d i e ihn unsicher macht, w o er mit d e m L o b

53) S. oben S. 43 mit Anm. 61. 54) S. oben S. 84f. Anm. 58. 55) Bemerkenswert sind kleine Änderungen der theokriteischen Vorlage. Bei Baïf ist das Bild einerseits konkreter, lebendiger gestaltet: Während das griechische άνήρ ύλατόμος den Holzfäller nur ganz anonym, abstrakt bezeichnet, erhält er bei Bai'f den bestimmten Artikel (« Le buççeron », 22) und wird durch zwei Details (das Beil in der Hand, bleibt er angespannt stehen, 23f.) plastisch vor Augen geführt; auch Bai'fs Fortsetzung « avant ke bûçér / L'arbre déstiné » (24f.) faßt die konkrete Handlung ins Auge, während Theokrits πόθεν αρξεται έργου demgegenüber farbloser wirkt. Andererseits tauscht Bai'f das Idagebirge gegen ein blasses « dedan le boçs » (22) aus, wohl weil dieser Name für die Leser seiner Zeit andere Assoziationen geweckt hätte als für die griechischen Leser Theokrits: Während diese bei der Erwähnung des Idagebirges wohl zunächst an eine urtümliche Bergwildnis dachten, hätte der antike Name bei Lesem der Renaissance wohl alexandrinisch-gelehrt gewirkt und wäre so möglicherweise in unliebsamen Gegensatz zu dem lebenskräftigen Bild des Holzfällers geraten.

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beginnen soll, eine Unsicherheit, die bei Theokrit durch eine Frage ausgedrückt wird (11): τί πρώτον καταλέξω; έπεί πάρα μυρία ειπείν. Auch diese Technik wird von Menander Rhetor für das Prooimion des Königslobes vorgeschlagen, und zwar ausdrücklich, um den Übergang zu den Hauptpunkten zu schaffen, 369,1317: ή τρίτη δε του προοιμίου έννοια [...] προκαταρκτική γενέσθω των κεφαλαίων, οϊον ώς διαποροΰντος του λέγοντος δθεν χρη την άρχην των έγκωμίων ποιήσασθαι. Auch hierfür lassen sich wiederum viele Beispiele aus der antiken Literatur anführen 56 , von denen ich eine kleine Auswahl treffe. Besonders beliebt ist die schon bei Theokrit beobachtete Technik, durch (direkte oder indirekte) Fragen die Unermeßlichkeit des Themas darzustellen 57 , die sich schon im homerischen Apollonhymnus 207-215 und einige Male bei Pindar findet, so Isth. 7, 1-15; frgg. 29, 1-5 und 213, ferner ζ. B. Kallimachos, hy. 1, 4f. πώς καί νιν, Δικταΐον άείσομεν ήέ Λυκαΐον; / έν δοιη μάλα θυμός [...]; Laus Pis. 1-6 „Vnde prius coepti surgat mihi carminis ordo / quosue canam títulos, dubius feror. hinc tua, Piso, / nobilitai ueterisque citant sublimia Calpi / nomina, Romanas inter fulgentia gentes; / hinc tua me uirtus rapit et miranda per omnes / uita modos."; Statius, silu. 4, 2, 7f. „qua celebrem mea uota lyra, quas soluere grates / sufficiam?"; Ennodius, opuse. 1,19 „nescio quas aristas horréis inferam, quas relinquam"; Claudian 21,291-296 „quid primum, Stilicho, mirer?" [es folgen drei Vorschläge, eingeleitet durch „quod"]; Paneg. 2, 22, 3; 4, 5, 8 „sed mihi circumuento hac ipsa rerum copia, quae potissimum capessenda sit uia, qui aditus fiat, incertum est: ita se multa offerunt [...]."; 7, 3, 1; 10, 2, 2-5. Beispiele aus der Renaissance, diesmal der neulateinischen Dichtung Italiens: Ugolino Verino in seinem „Eulogium in Beati Francisci honorem" (Renaissance Latin Verse 93): „quo, Francisce, tuas percurram carminé laudes [...]?"; Antonio Beccadelli zu Beginn seiner „Laus Elisiae" (Poeti latini del quattrocento 18): „Elisia, auricomas inter celeberrima nymphas, / quae formae aut animo laus erit apta tuo?"; Francesco Filelfo in seinen Odae von 1497 (Poeti latini del quattrocento 72) „ 0 rex Karole, [ . . . ] / te verbis quibus efferam poeta?" In der französischen Renaissance finden wir ein breit ausgeführtes Beispiel für diese Konvention in Ronsards Ode „A Madame Marguerite" (OC 3,103-105).

So drückt auch Baïf als laudator seine Unsicherheit, wo er mit dem Lob beginnen soll, durch eine indirekte Frage aus (« A koç me prandrç », 26f.); dem anschließenden Satz „die übergroße Fülle macht mich arm" (29) waren wir fast wörtlich schon bei Ronsard und Du Beilay begegnet58. Auch hier sehen wir somit wieder die Kombination eines Topos mit der Imitation eines bestimmten Hypotextes, der Theokritpassage, und können wieder konstatieren, daß der Dichter der Renaissance Funktion und enkomiastische Relevanz des antiken Passus genau verstanden und auf seine eigenen Bedürfnisse übertragen hat. In den folgenden etwa fünf Triaden wird ausführlich die auf Catherines Verheiratung als Höhepunkt hinsteuernde Familiengeschichte der Medici erzählt. Das allgemeine Lob für die 56) Ich verweise noch einmal pauschal auf die oben S. 193-195 zitierten Beispiele für den Topos „die Fülle des Materials macht das Loben schwierig", von denen einige sich auch hier einfügen lassen. 57) Vgl. NISSEN, „Historisches Epos" 305 (der auf die Vorbildstelle Homer 114 hinweist τί πρωτόν τοι επειτα, τί δ ' ύστάτιον καταλέξω;); BUNDY, Studia Pindarica 2, 45 mit Anm. 32 und NISBET/HUBBARD, Horace Odes 1 155, dort auch jeweils weitere Beispiele. 58) S. oben S. 193.

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Familie, sie schätze über alles die Ruhe ihrer Mitbürger (34), nimmt ein auch bei Pindar häufiges Motiv auf, in dessen Epinikien die „friedliche Ruhe im Staate", ησυχία, ebenfalls ein Gegenstand des Lobes ist 59 . Auch hier kann nicht entschieden werden, ob mehr vorliegt als eine nur zufällige Motivgleichheit, da eindeutige sprachliche Berührungspunkte zu einer pindarischen Passage fehlen. Im folgenden nimmt die Legende vom Gründer der Dynastie, Averardo, und seinem Kampf mit dem Riesen Mugello, als er im Gefolge Karls des GroBen nach Norditalien kam, die Stelle des Mythos ein. Durch eine Art Aition ist sie an die Gegenwart der Familie gebunden: Averardos Schild, auf dem sich die sechs blutgefärbten Eisenkugeln der Keule des Riesen abzeichnen, ist eine Erklärung für die sechs roten Kugeln im Familienwappen der Medici. Man kennt die Wichtigkeit, die auch bei Pindar die Ursprungsmythen der Familien der Sieger haben: Oft wird in seinen Epinikien der Mythos der Heroen erzählt, auf die sich die jeweilige Familie zurückführt 60 . Wie schon beim Lob für die friedliche Stille, läßt sich aber auch hier nicht mehr als die Parallelität feststellen, da das Verfahren auch sonst in der enkomiastischen Literatur verbreitet ist. Sichereren B o d e n g e w i n n e n wir mit d e m M o t i v der V e r s e 6 9 - 8 4 : D i e großen Erfolge der Medici haben auch Neider auf den Plan gerufen. A u c h hier kann zunächst festgehalten werden, daß dies ein in den pindarischen Epinikien weitverbreiteter T o p o s ist. D a s M o t i v des Neiders, der den Sieger nicht loben will o d e r sogar aktiv versucht, ihm zu schaden, findet sich an sehr vielen Stellen 6 1 , w o b e i wir k a u m an konkrete N e i d e r d e n k e n sollten, sondern darin eine indirekte Darstellung d e s Wertes d e s S i e g e s s e h e n m ü s s e n : N u r w e r e t w a s Großes geleistet hat, ist beneidenswert und wird beneidet 6 2 . S o wird das M o t i v auch bei Baïf verwendet: D i e « anvïeus faus, konsitoiéns a n e m i s » ( 7 1 ) bleiben ganz anonym und sind in erster Linie dazu da, die überragende Stellung der

59) Im Prooimion von Pyth. 8 wird 'Ησυχία sogar als göttliche Macht angerufen. Zur Stelle bei Baïf vgl. besonders das Lob für den Sieger Psaumis in Ol. 4, 16 προς Ή σ υ χ ί α ν φιλόπολιν καθαρά γνώμα τετραμμένον, ferner Passagen wie Pyth. 1, 70 oder frg. 109, 2; vgl. SCHROEDER, Pindar's Pythien 69; BURTON, Pindar's Pythian Odes 175; FRANKEL, Dichtung und Philosophie 568f.; BOWRA, Pindar 104; FORSSMANN, Untersuchungen zur Sprache 52 und DICKIE, ,Jiêsychia and Hybris". 60) Berühmt ist besonders der Fall der Oden für Sieger von der Insel Aigina: Die vornehmen Geschlechter dort leiteten sich auf Aiakos und seine Söhne zurück, und ein Aiakidenmythos ist in diesen Oden die Regel, wie Pindar in einer Passage selbst sagt, Isth. 6, 19-21 ϋμμε τ', ω χρυσάρματοι Αίακίδαι, / τέθμιόν μοι φαμι σαφέστατον εμμεν / τ ά ν δ ' έπιστείχοντα νάσον ραινέμεν εΰλογίαις; diese Eigenart hatten schon die Interpreten der Renaissance bemerkt, so erwähnt Peucer im Widmungsbrief der Übersetzung Melanchthons (22) die „Aeacidas, quorü memoria praxipuè delectatur". 61) Vgl. THUMMER, Isthmische Gedichte 1, 80f.; KIRKWOOD, „Blame and Envy"; RACE,,.Pindaric Encomium" 135 mit Anm. 14; 142f. und NAC.Y, Best of the Achaeans 222228; für Beispiele bei anderen griechischen Schriftsteilem dieser Zeit vgl. CAREY, „Three Myths" 149. In Nem. 8 ist der Neid sogar eines der zentralen Themen des Liedes, vgl. die Interpretation von KÖHNKEN, Funktion des Mythos 19-36. 62) Vgl. die auch in der Renaissance rezipierte Gnome Pyth. 1,85 (s. oben S. 92f. mit Anm. 87) und THUMMER, isthmische Gedichte 1,81: Pindar kann „den Neid dazu verwenden, die Tüchtigkeit eines Menschen sichtbar zu machen".

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Medici zu illustrieren, wie auch die anschließende Sentenz (72-74) zeigt. Jede große Tat bringt zwangsläufig Neid hervor63. Baïf hat aber auch dieses konventionelle Motiv mit einer Anspielung auf eine bestimmte pindarische Passage kombiniert: Wenn er die Neider mit „Dohlen und Raben" vergleicht, die gegen den Adler anzukrächzen wagen, so geht dies auf die berühmten Verse 86-88 der zweiten Olympie zurück64. Interessant ist auch hier das Textverständnis des französischen Dichters. Wir haben schon gesehen, daß diese Passage aus dem zweiten olympischen Lied von den Scholien und in deren Nachfolge auch von den Kommentaren der Renaissance als autobiographisches Zeugnis Pindars interpretiert wurde: In den Raben sah man die beiden Dichter Simonides und Bakchylides, deren nur „angelerntem" (μαθόντες, 86) Dichtertum Pindar seine eigene natürliche Begabung im Bild des Adlers entgegenstelle 65 . Diese biographische Deutung wird heute allgemein verworfen, die Raben ohne Bezug auf konkrete Personen als Metapher für den typischen Neider angesehen66 (wobei es unter den Interpreten strittig ist, ob dieser Neid ausschließlich dem laudandus gilt67 oder ob der laudator zumindest mitgemeint ist68; diese Frage spielt aber in unserem Zusammenhang keine entscheidende Rolle). Baïf wendet sich in seiner Umsetzung der Passage von der zu seiner Zeit herrschenden communis opinio ab. Mag er auch selbst an den Bezug auf Pindars „Dichterrivalen" geglaubt haben, so erkannte er doch die enkomiastische Möglichkeit der Stelle und ihre Verbindung mit dem konventionellen Neidmotiv. Seine eigene Verwendung der „Raben und Dohlen" macht diese zu 63) Vgl. bei Pindar besonders Pyth. 11, 29 ϊσχει τε γαρ όλβος ού μείονα φθόνον; ferner Passagen wie Pyth. 7, 18f. und frg. 94a, 8-10. Die bei Bai'f ebenso wie bei Pindar zugrundeliegende Denkstruktur erläutert richtig SLATER,,lindar and Hypothekar 80: "It is an enthymema constructed as usual from the minor premise: Great Achievement attracts Envy; this achievement attracts envy; therefore this achievement is great." 64) Zitiert oben S. 124. Textliche Berührungen sind « Véinemant krians » (81) = άκραντα γαρύετον (87; Bai'f las natürlich noch den in den Handschriften zu findenden Indikativ γαρύετον, nicht die von Snell in den Text genommene Konjektur Bergks γαρυέτων, zu dieser Konjektur vgl. KIRKWOOD, „Pindar's Ravens") und das „auzet" (82), das wohl aus Pindars λάβροι (87) entwickelt ist. Die ähnliche Passage Nem. 3,80-82, in der der Adler Dohlen gegenübergestellt wird, zeigt ansonsten keine Ähnlichkeit mit den Versen bei Bai'f, doch könnten die beiden verschiedenen Vogelarten, die jeweils Gegner des Adlers sind (in der Olympie Raben, κόρακες, in der Pythie Dohlen, κολοιοί), den französischen Dichter angeregt haben, hier beides zu kombinieren („çukâs é korbeaus", 80). 65) S. oben S. 124f. 66) Vgl. THUMMER, Isthmische Gedichte 1, 85 Anm. 62 und STONEMAN, „Theban Eagle" 190f. "[...] they are a type, and Pindar dismisses them contemptuously [...]." Eine besonders klare Darstellung der Probleme dieses Passus findet man bei LEHNUS, Olimpiche 49f. 67) So STONEMAN, „Theban Eagle", der a l l e Adlergleichnisse in Pindar (und Bakchylides) ausschließlich auf den Adressaten beziehen möchte. 68) So ANGELI BERNARDINI, „Aquila tebana"; eine Auffassung, die mir dem Kontext angemessener scheint.

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einem Symbol für die anonymen Neider der Medici, also der laudandi seines Gedichtes, die ihrerseits durch den Adler dargestellt werden; sie beweist, daß er zumindest neben der verbreiteten biographischen Deutung auch Verständnis für die Funktion der Verse an den Text herantrug. Das richtige Textverständnis des pindarischen Motivs und seine identische Funktion bei Bai'f lassen es wahrscheinlich erscheinen, daß der französische Autor den gesamten „Neidkomplex" aus den pindarischen Epinikien bezogen hat. Schwerer ist es festzumachen, ob auch ein Leser der Renaissance bei diesen Versen der (pindarischen!) Ode an Pindar dachte. Meine Antwort ist ein sehr vorsichtiges, ja", zumindest für die kleine Elite, für die Baïf schrieb: Wenn wir bedenken, daß Pindar als d e r Repräsentant lobender Dichtung gilt69 und daß ferner Loben und Tadeln als zwei Seiten derselben Medaille angesehen wurden70, wenn wir ferner beachten, daß die Adler- und Rabenmetapher in der Renaissance nicht selten zitiert wurde und für den gebildeten Leser wohl wie ein Signal wirkte71, wird man mit der Identifizierung des Hypotextes rechnen. Die folgenden Strophen sind vor allem für den Historiker von Interesse. Sie enthalten die Fortsetzung des Lobes für die Familie Medici, die nicht nur wegen ihrer politischen Macht, sondern auch ausführlich für ihr Mäzenatentum (97-112) gepriesen wird. Zieht man von der abschließenden Formulierung « Tout par eus se sauva » (112) die in Enkomien übliche Übertreibung ab, so kann man hier sogar von verdientem Lob sprechen, wenn man an die Rolle der Stadt Florenz und der Herrscherfamilie für bildende Kunst und Literatur des fünfzehnten Jahrhunderts denkt An anderen Stellen hingegen ist unter dem Blickwinkel der enkomiastischen Technik besonders die Verdrehung oder zumindest einseitige Beleuchtung von historischen Tatsachen hervorhebenswert; ich will nur auf zwei Passagen hinweisen. In den Versen 122-140 wird die Verheiratung von Lorenzo, dem Herzog von Urbino, mit Madeleine de La Tour d'Auvergne sowie der frühe Tod der beiden beschrieben. Dabei verschweigt Baïf naturgemäß, daß Lorenzo an der Syphilis starb, an der er schon bei seiner Hochzeit gelitten hatte. Ein anderer Punkt bietet sich in den Versen 169-173: Dort macht Baïf aus der Tatsache, daß Catherine erst nach zehnjähriger Ehe ihr erstes Kind geboren haue, einen besonderen Ruhmestitel, weil dies ein Merkmal edler Rasse sei. Die Zeitgenossen hauen dies anders gesehen, und vor der Geburt des Prinzen François im Jahre 1544 war schon das Gerücht entstanden, die Königin sei unfruchtbar. Auch hier beobachten wir also eine einseitige Darstellung historischer Ereignisse72. Hervorzuheben bleiben in diesem Abschnitt zwei aus der antiken Literatur entlehnte Passagen: Der Kommentar zum Tod Lorenzos und seiner Frau (« Le DIEU le gran Dieu kaçe 69) S. oben S. 98f. 70) S. oben S. 110. 71) S. oben S. 124f. 72) Bei zwei weiteren historischen Ungenauigkeiten kann ich keinen Grund ersehen vielleicht lagen hier Baïf einfach falsche Informationen vor. (1) Baïf behauptet, Lorenzo Medici sei fünf Tage vor seiner Frau Madeleine de La Tour d'Auvergne gestorben (133-135). In historischen Darstellungen findet man hingegen, daß im Gegenteil Lorenzo erst einige Tage nach ihr starb. (2) Baïf läßt zwischen Geburt und Hochzeit Catherines sechzehn Jahre vergehen (150). Tatsächlich fand die Hochzeit am 28. Oktober 1533 in Marseille statt, die im April 1519 geborene Catherine war damals also erst vierzehn Jahre alt (sechzehn Jahre nach ihrer Geburt hätte sie der 1534 verstorbene Clemens VII. auch kaum mehr verheiraten können).

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l'eur avenir / D'un triste brou])as, tçl ke les ieuz dez uméins / Jusk'a la fin ne konoçtront. », 141-143) geht wohl auf eine Formulierung aus Horaz, carm. 3,29, 29-32 zurück 73 : „prudens futuri temporis exitum / caliginosa nocte premit deus / ridetque si mortalis ultra / fas trépidât." Gemeinsam ist beiden Versreihen die Idee des göttlichen Verhüllens und die Vorstellung, die Menschen könnten diesen Nebel nicht durchdringen; unterschiedlich (und zwar fast diametral entgegengesetzt) aber ist ihre Funktion: Während bei Horaz diese Verse in einem Gedicht stehen, das zum Symposion einlädt, und daher eine typische Aufforderung begründen, den Tag zu nutzen (das „carpe diem-Motiv", vgl. „quod adest memento /conponere aequos", 32f.), sind sie bei Baïf noch Ausdruck der Trauer für den Tod des Fürstenpaares, weshalb das eher objektive Beiwort „caliginosa" (30) durch das stärker die subjektive Seite ins Auge fassende „triste" (142) ersetzt ist und der „lachende" Gott (31) weggefallen ist.

Die zweite Passage, die Verse 192-197, zeigen eine engere Beziehung zu ihrem Vorbildtext. Bei Baïf heißt es: Jamçs ne fut malçzé, Mçmes au méçant, Troublér l'état : mçs rasoçr Lerçç' ébranlé, Peu de Roçs le pouroçt : Si DIEU gouvçrneur n'an ouvroçt le moién. AU REINE, s'çt Toç, Toç kï se laus méritant, Grasses aras de ma çanson. Vorbild für diese Verse ist folgender Abschnitt aus Pindars Pyth. 4,272-275: ράδιον μεν γαρ πόλιν σεΐσαι καί άφαυροτέροις· άλλ' έπί χώρας αύτις εσσαι δυσπαλε^ δή γίνεται, έξαπίνας εί μή θεός άγεμόνεσσι κυβερνατηρ γενηται. τίν δε τούτων έξυφαίνονται χάριτες. Baïf hält sich im ersten Teil ganz eng an die pindarische Vorbildstelle, von der seine eigenen Verse so beinahe eine Übersetzung sein könnten (auffallend besonders das Beibehalten des Bildes έπί χώρας αύτις εσσαι, 273 = „rasoçr", 194). Erst im Vers 196 wird seine Imitation freier. Das einfache δυσπαλές (273) ersetzt Baïf durch die Versicherung « Peu de Roçs le pouroçt », womit er das άγεμόνεσσι (274) der Adressatin gemäß durch „Könige" ersetzt und schon hierhin vorzieht. Die beiden letzten zitierten Verse erklären bei Baïf,

73) Diese Verse waren schon von Ronsard in dem Gedicht „A Gui Peccate prieur de Sougé" seiner Odes imitiert worden (OC 2,109f.): Lâs on ne peut connoistre Le destin qui doit naistre, Et l'homme en uain poursuit Conjecturer la chose, Que Dieu sage tient close Sous une obscure nuit.

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entsprechend Vers 275 bei Pindar, daß gerade der Besungene diese schwierige Aufgabe mit Gottes Hilfe ausführen könne. In Pindars Vers τίν δε τούτων έξυφαίνονται χάριτες hat Baïf offenbar χάριτες als die Gabe des Liedes verstanden; er zeigt damit eine gute Kenntnis des pindarischen Sprachgebrauchs, bei dem in der Tat χάριτες (oder Χάριτες) häufig ein Synonym für das Siegeslied ist74. Entscheidend ist, daß er diese Auffassung der bei Pindar mehrdeutigen75 Passage in seiner Umsetzung festgelegt hat und χάριτες übersetzt mit « Grasses [...] de ma çanson »: Hier läßt die Nachdichtung genau das Textverständnis erkennen. Bemerkenswert ist hier auch die Funktion dieser Verse: Bei Baïf sind sie eng verbunden mit dem vorhergehenden Gedanken, daß nur die natürliche Anlage (der „naïf, 189) Erfolg verbürge, das Lernen solcher natürlichen Talente hingegen nicht möglich sei (187-191). Daß nur die φυά, die ererbte Anlage, den Wert eines Mannes ausmacht, ist ein bei Pindar so häufig wiederkehrender Gedanke, daß er geradezu als typisch für seine Epinikien gelten darf76; möglicherweise nahm ihn Baïf daher77. Dieser pindarische Gedanke und die pindarische Gnome sind bei Baïf eng miteinander verzahnt und stützen einander: Auch bei ihm wird durch die Proklamation der Vorherrschaft des Ererbten keine adlige Ideologie angelegt, sondern eine enkomiastische Aussage für Catherine gemacht, die diese natürlichen Anlagen sämtlich besitzt. So finden wir bei dem französischen Dichter eine originelle Umsetzung der Vorbildtexte. 74) Vgl. THUMMER, Isthmische Gedichte 1, 142 und KÖHNKEN, Funktion des Mythos 147 mit Anm. 130 und 131 sowie die Belege bei SLATER, Lexicon to Pindar 542 s. v. χάρις 1 b. 75) Kommentatoren scheinen diesem Vers keine allzu große Aufmerksamkeit zu schenken; der jüngste Kommentar (BRASWELL, Fourth Pythian Ode 376) übersetzt mit den Scholien "for you the web of this favour is being woven out". Mir erscheint Bai'fs Auffassung (nach der man etwa übersetzen müßte „Dir wird ein Preislied für diese Taten gewebt") keineswegs unmöglich, zumal auch ύφαίνειν als Metapher für Dichten bei Pindar, frg. 179 υφαίνω [...] άνδημα (vgl. das Zeugnis des Schol. Nem. 7, 116, in dem dieses Fragment überliefert ist το ποίημα ϋφάσματι παρέοικεν, und Bakchylides 5, 9f. ύφάνας ΰμνον) vorkommt. In dieselbe Richtung wie Bai'fs Auffassung scheint mir auch die Erklärung Neanders in seinem 1596 gedruckten Kommentar zu Pyth. 4 zu deuten (42, f. 194"): „ac horum caussâ Charités Dea litterarum & studiorum socia; tibi texunt coronam [...]"; vgl. femer die Erklärung bei DISSEN/SCHNEIDEWIN, Pindari carmina 2, 265 zur Stelle aus Pyth. 4 „Tibi vero huius rei decus et laus paratur [...]." 76) Allerdings sollte man daraus keine „aristokratische Ideologie" o. ä. herauszulesen versuchen (so ζ. B. JAEGER, Paideia 1, 286f.): Pindar kann an anderen Stellen auch Lernen und harte Arbeit preisen, s. oben S. 160 mit Anm. 50. 77) Vgl. besonders Ol. 9, 100-102 το δέ φυά κράτιστον ίίπαν· πολλοί δέ διδακτ α ΐ ς / ανθρώπων άρεταις κλέος / ώρουσαν άρέσθαι und Nem. 3, 40-42 συγγενεΐ δέ τις ευδοξία μέγα βρίθει, / δ ς δε δίδακτ' εχει, ψεφεννός άνήρ άλλοτ' α λ λ α πνέων οΰ ποτ' άτρεκεΐ / κατέβα ποδί, μυριάν δ ' άρετάν άτελεΐ νόω γεύεται. Obwohl die textlichen Berührungen nur sehr leicht sind (vgl. besonders « mille vçrtus », 191, und Pindars μυριάν άρετάν, Nem. 3,42), möchte ich vermuten, daß Baïf diese beiden Passagen vor Augen hatte.

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6. Einzelinlerpretationen

Das Gedicht endet mit einer Triade, die in Strophe und Antistrophos ausschließlich direktes Lob für die Adressatin, in der Epode hingegen Wünsche für ihre Zukunft und die des Landes enthält. Daß in einem 1574 gedruckten Buch Catherine als die große Friedensbringerin und Versöhnerin gefeiert wird, mußte zumindest dem Teil des Publikums merkwürdig vorkommen, für den sie, die blutbefleckte „Jézabel", eine der Hauptschuldigen an den Freveln der Religionskriege war78. Baïf schließt sein Gedicht ebenso, wie er es begonnen hat: mit einer nautischen Metapher79, nämlich mit dem Wunsch, Catherine möge das (Staats-) Schiff in einen sicheren Hafen bringen. Mit dieser Aufnahme der Anfangsmetaphorik gelangt auch die Ode in einer Art Ringkomposition80 in ihren sicheren Hafen.

4 Abraham de Vermeils pindarische Ode „A Monsieur Du Plessis Mornay" erschien zum ersten Mal in der 1600 gedruckten Sammlung Seconde Partie des Muses francoises r'alliees%K Das lange Gedicht (elf Triaden) ist ein Enkomion auf Philippe de Mornay, einen Vertrauten und Verbündeten Henris IV. Schon 78) Diese Aussage wird nicht berührt durch den Einwand, das Gedicht könne ja vor 1572 entstanden sein: Gelesen hat es das Publikum erst 1574. Der Text selbst gibt uns keinen Anhaltspunkt für Vermutungen, wann er geschrieben wurde, doch einige Überlegungen lassen mich eher annehmen, daß seine Entstehungszeit nach 1572 liegt: 1572 erschienen Bai'fs große Œuvres en rime, so daß er vor diesem Jahr kaum die Zeit hatte, für die Schublade zu produzieren. Das in den Etrénes de poézie fransoçze folgende Gedicht preist Henri III als König von Polen, ist also sicher nach 1573 entstanden. Auch dieses Gedicht ist in reimlosen antiken Versformen gehalten (sapphische Strophen), zeigt also, daß das Interesse Baïfs an dieser Form mindestens bis nach 1573 anhielt und daß er mindestens bis zu diesem Jahr auch an den Etrénes arbeitete. 79) Die am Schluß eines Gedichtes genau so konventionell ist wie am Beginn, vgl. die Beispiele bei CURTIUS, Europäische Literatur 138-141, an die ich noch einen Beleg aus der französischen Renaissance anschließen möchte, den Schluß der „Ode à monsieur l'Euêqe de Terbes, A. d'Achon" aus den 1556 postum gedruckten Diuerses Poésies von Jean Bastier de La Péruse, wo die Seefahrtsmetapher mit einem „pindarischen" Abbruch verbunden ist (p. 9): Muse, quel souflant Zefire Tant que tu es sans ramer, A poussé nôtre nauire Si auant dans la mer ? De peur qu'il ne nous refuse Le moïen d'aller à bord, Repren l'auiron ma Muse, Il est tans de prendre port.* 80) Auch bei Pindar finden wir in Nem. 5 am Anfang und am Ende des Gedichtes eine Schiffahrtsmetapher in dieser Funktion: LIEBERG, „Seefahrt und Werk" 213 ist der Ansicht, Pindar wolle hier „Anfang und Schluß des Epinikions aufeinander beziehen und so die Geschlossenheit des Gedichtes unterstreichen". 81) Vgl. zu diesem Buch die Beschreibung bei LACHÈVRE, Bibliographie des recueils 121 f.

6. Einzelinterpretationen

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bei einer ersten flüchtigen Lektüre der Ode fällt ein Zug auf, den man wohl zu den Merkmalen des literarischen Barock zählen darf*2: Vermeil brennt in den 341 Versen ein verschwenderisches Feuerwerk an antiker Mythologie ab, sei es in Anspielungen, sei es in ausgeführten Erzählungen. So finden wir (ohne die mythologischen Metonymien wie „Muse", „Mars" usw. mitzuzählen) folgende Mythen erwähnt: Kampf zwischen Achill und Hektor (25f.), Kephalos tötet seine Gattin Prokris (28-31), Adrastos betrauert den von der Erde verschlungenen Amphiaraos (65-76), Kassandra, das Ende des trojanischen Krieges und die Heimfahrt der Griechen (92-172), Kadmos und die Sparten (142-146), Amphion und die Mauern Thebens (271-275), Bellerophon und Pegasus (315f.); hinzu kommt mit der Evozierung der bukolischen Welt des virgilischen Tityrus und Apolls (276-279) noch eine weitere quasi-mythologische Anspielung. Die Komposition des Gedichtes erscheint auf den ersten Blick recht unübersichtlich, weswegen ich der Interpretation einiger interessanter Passagen (die Länge der Ode macht eine Auswahl nötig) eine kurze Zusammenfassung und Gliederung vorausschicken möchte. 1-31: Prooimion: Der Name Mornays soll den Giebel des Gedichtes schmücken; die Dichtung wird mit der Metapher des Bogens dargestellt. 32-79: Der laudator kann sich nicht entscheiden, ob Mornay wegen seiner Kriegstaten oder wegen seiner „Muse" mehr zu loben sei; wie Amphiaraos zeichnet er sich dadurch aus, daß er beides in gleichem Maß besitzt. 80-177: Darstellung der französischen Religionskriege, die von Kassandra beim Untergang Trojas vorausgesagt werden; Henri hat in diesen Kriegen gesiegt, und nur Momay ist würdig, diesen Sieg zu besingen. 178-208: Wie Henri den Frieden aus dem Himmel geholt hat, so soll Momay die Musen aus den Händen der „ignorance" befreien. 209-310: Dann werden die Musen ihn preisen, als Kriegshelden, Ratgeber und Dichter. 311-341: Abbruch: Das Lob konnte seinem Gegenstand nicht gerecht werden, aber der laudator, ein « Poete nouueau nai » (341), hat sein Möglichstes getan. Schon aus dieser Zusammenfassung wird klar, was Vermeil zum Kernpunkt seines Lobes macht: Mornay hat sich sowohl auf dem Gebiet der Taten als auch auf dem des Geistes ausgezeichnet. So stellt ihn Vermeil als den

82) Zu dieser „Verschwendung" als typischem Zug des Barock vgl. DUBOIS, „Imitation différentielle" 147.

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6. Einzelinterpretationen

Idealhelden dar, wie er schon in der Ilias gefordert wird83 (μύθων τε ρητ ή ρ ' εμεναι πρηκτήρά τε έργων, I 443) und in der gesamten abendländischen Geistesgeschichte zu finden ist. Zum mythologischen Vorbild dieser Idealfigur aber wählt Vermeil eine Gestalt aus Pindar, den mythischen Seher und Kämpfer Amphiaraos aus der sechsten olympischen Ode. Der doppelte Anspruch auf Ruhm, den der französische Dichter hier an Mornay lobt, spielt in Pindars Ode eine wichtige Rolle84: Die Gestalt des Amphiaraos wird dort als Analogie zum Sieger Hagesias aus Syrakus eingeführt, denn beide haben nicht nur große Leistungen im physischen Bereich erbracht (Amphiaraos als Kämpfer vor Theben, Hagesias durch seinen olympischen Sieg85), sondern sind außerdem noch Seher. Diese doppelte Begabung des Siegers wird in der sechsten Olympie durch weitere Doppelungen kräftig herausgestrichen, so ζ. B. in dem Bild der zwei Anker (lOOf.), das wir schon bei Pascal Robin verarbeitet sahen86. Noch einmal fällt auf, wie ein Dichter der französischen Renaissance die enkomiastische Funktion eines pindarischen Motivs erfaßt und in Details seinen eigenen Zielen anpaßt: Aus Amphiaraos, dem Kämpfer und Seher (άμφότερον μάντιν τ ' αγαθόν καί δουρί μάρνασθαι, ΟΙ. 6, 17), wird bei Vermeil in Analogie zu seinem laudandus Mornay der Ratgeber und Held Amphiaraos (« Bon au conseil, bon aux combats », 76)87. Doch wenden wir uns nach diesem ersten Überblick dem einzelnen zu. Vermeil beginnt seine Ode (1-8) mit einer Aufnahme des Prooimions der sechsten Olympie, so schon programmatisch auf die Strukturähnlichkeit seines Gedichtes mit diesem Epinikion vorausdeutend. Pindars Verse lauten (1-4): Χρυσέας ΰποστάσαντες έυτειχεΐ προθύρω θαλάμου κίονας ώς δτε θαητόν μέγαρο ν πάξομεν· αρχομένου δ ' έργου πρόσωπον 83) Vgl. zu diesem Bildungsideal JAEGER, Paideia 1,30f. 84) Vgl. CAREY, „Three Myths" 144f. 85) Zur Parallelität dieser beiden Leistungen s. oben S. 36. 86) S. oben S. 234f. Manche Interpreten sind wohl zu weit gegangen, wenn sie in der Idee der Doppelung, die auch in diesem Bild enthalten ist, d e n Leitgedanken dieser Ode gesehen haben, vgl. beispielsweise NORWOOD, Pindar 129, der von der "governing idea of duality" spricht. Vorsichtiger zum Bild der Anker und anderen Doppelungen LEHNUS, Olimpiche 85: «Come traspare dall'imagine delle due àncore ai vv. 100-1, la ragione è eminentemente quella encomiastica di evidenziare le due patrie (mitico-reali) di Hagesias, e la compresenza in lui di doti profetiche e guerriere.» 87) Bemerkenswert ist, daß Vermeil darin schwankt, was denn eigentlich Gegenpol zum kriegerischen Ruhm Mornays sein soll: Bald ist es seine politische Tätigkeit im Staatsrat (vgl. den oben zitierten Vers 76), bald ist es seine „Muse" (43-53), denn Momay war auch Verfasser okkult-hermetischer Schriften; auf seinen schriftstellerischen Ruhm weist auch das Attribut „docte" (322), denn die Bezeichnung „doctus" ist in der lateinischen Literatur ein häufig zu findendes Epitheton des Dichters und kann geradezu „dichterisch" heißen, vgl. KROLL, Studien 37 und NISBET/HUBBARD, Horace Odes 1 13.

6. Einzelinterpretationen

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χρή θέμεν τηλαυγές. Wie beeindruckend dieses Prooimion schon in der Antike gewesen sein muß, zeigen die zahlreichen Autoren, die es zitieren88. Dabei fällt auf, daß die Verse nicht nur selbst Beispiel für ein „weithin glänzendes" Prooimion sind, sondern in sich auch die Anleitung zur Komposition eines Gedicht- oder Redeeingangs zu enthalten scheinen (vgl. das χρή in 4), weswegen sie sogar in der rhetorischen Theorie zitiert werden, so ζ. B. in der unter dem Namen des Dionysios von Halikarnaß überlieferten Techne 256, 16-19: άρχή μεν δή του λόγου τοΰδε του θεοΰ, όστις ποτ' αν ρ, έπαινος ήμίν γιγνέσθω, ώσπερ πρόσωπον τι τηλαυγές προκείμενος τω λόγω. So ist verständlich, daß Pindars Verse in vielen Prooimien Fortune hatten. In der französischen Literatur hatte vor Vermeil schon Ronsard dieses Prooimion imitiert, zu Beginn des Einleitungsgedichtes des zweiten Buches der Odes (OC 1, 167): Je te ueil bâtir uni ode, La maçonnant à la mode De tes palais honnorés, Qui uoulontiers ont l'entrée De grands marbres acoutrée Et de haus piliers dorés. Affin que le frond de Feuure Tout le bâtiment dequeuure Estant richement uétu : Ainsi (PRINCE) je ueil mettre Au premier trait de mon mettre Ta louang«í & ta uertu.* Bei Vermeil ebenso wie bei Ronsard dient der Rückgriff auf das pindarische Epinikion dazu, den laudandus (Momay bzw. Henri II) am Gedichtanfang einzuführen. Beide betonen direkter als Pindar, daß der jeweilige laudandus das πρόσωπον τηλαυγές ihrer Ode sein soll (vgl. bei Ronsard « Ainsi [...] je ueil mettre », bei Vemeil « le veux mettre », 7). Der Grund, warum die beiden französischen Dichter hier expliziter sind als Pindar, der in den auf das Prooimion folgenden Versen (4-7) zunächst nur einen „hypothetical laudandus"89 vorstellt („wenn einer Olympiasieger ist, müssen ihn alle Loblieder besingen"), bevor er dann in 9 den Sieger (mit dem Patronymikon Σωστράτου υιός) nennt, ist offenbar, daß das Publikum ihrer Zeit (und wohl besonders die Adressaten der Oden) diese Form der Priamel, die auf die Namensnennung als

88) 89)

SNELLS Testimonienapparat gibt nur eine Auswahl der Stellen. Vgl. zu diesem Begriff BUNDY, Studia Pindarica 2 , 5 4 .

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6. Einzelinterpretationen

Höhepunkt hinstrebt90, nicht mehr verstanden hätte: Die Großen der französischen Renaissance waren offenbar ungeduldiger als die Wettkampfsieger des fünften Jahrhunderts v. Chr., ihren Namen in enkomiastischen Gedichten genannt zu hören. Der Vergleich der Passagen aus Ronsard und Vermeil zeigt, wie schwierig es sein kann, direkten von indirektem Einfluß zu unterscheiden91: Ronsards Imitation von Ol. 6 ist näher am Original und zeigt klarere textliche Berührungen als Vermeils (vgl. besonders das Beibehalten der architektonischen Fachbegriffe „entrée" = προθύρω und „piliers dorés" = Χρυσέας κίονας). Zeigte das Gedicht sonst keine Pindarreminiszenzen, so wäre mancher Interpret wohl versucht, Vermeils Verse nur auf Ronsard zurückzuführen und ihm selbst direkte Kenntnis abzusprechen92. Der aus Ol. 6 stammende Amphiaraosmythos und die Gesamtstruktur des Lobes zeigen aber, daß Vermeil sehr wohl auch das Original gekannt haben muß und auch im Prooimion unmittelbar auf Pindar zurückgreift.

In Antistrophos und Epode der ersten Triade führt Vermeil das Prooimion noch weiter aus. Dem Bild vom „Bogenschützen" für den Dichter waren wir an anderer Stelle schon begegnet; dort hatte ich darauf hingewiesen, daß es in der französischen Renaissance so verbreitet ist, daß nicht jedesmal an eine Anspielung auf Pindar gedacht werden kann93. Hier aber haben wir ein sicheres Indiz dafür, daß Vermeil bei diesem Bild zumindest auch auf Pindar zurückgreift: Wenn er es ablehnt, mit « quelques poinctes / Qui ne bruient dans leur carquois » (14f.) zu schießen, so spielt er damit direkt auf Ol. 2, 83-86 an94, vgl. besonders „dans leur carquois" = ένδον έντί φαρέτρας und „bruient" = φωνάεντα. In der zweiten Strophe finden wir bei Vermeil die schon bei Ronsard und Baïf beobachtete Technik wieder, zum direkten Lob der Qualitäten des Adressaten dadurch überzuleiten, daß die Unsicherheit des laudator dargestellt wird, welches Thema er wählen solle. Auch Vermeil malt diese Unsicherheit mit Hilfe eines Bildes, das er aus der antiken Literatur bezieht: Seine Inspiration („chaleurs", 38) flattert ungewiß wie die Strahlen des Mondes, die von der Wasseroberfläche in einer Schale reflektiert werden. Dieses Bild ist imitiert aus Virgils Aeneis, wo es von Aeneas heißt95 (8, 20-25): 90) Das sogenannte „name cap", s. oben S. 46 mit Anm. 77. 91) S. oben S. 62f. 92) Vor allem, wenn man die in der Renaissanceforschung allgemein spürbare Tendenz bedenkt, Autoren dieser Epoche Griechischkenntnisse abzusprechen, s. oben S. 21f. 93) S. oben S. 79. 176. 1861". 94) Auch diese Verse waren schon bei Ronsard imitiert worden, s. oben S. 176. 95) Virgil nimmt in diesen Versen (die übrigens in Montaignes Essais zitiert werden, OC 29) seinerseits einen berühmten Vergleich aus Apollonios Rhodios wieder auf, der die nächtliche Unruhe Medeas so beschreibt (3,755-760): πυκνά δέ oí κραδίη στηθέων εντοσθεν εθυιεν. Ήελίου ώς τίς τε δόμοις ένιπάλλεται αίγλη,

6. Einzelinterprelationen

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[...] animum nunc hue celerem nunc diuidit illuc in partìsque rapit uarias perque omnia uersat, sicut aquae tremulum labris ubi lumen aënis sole repercussum aut radiantis imagine lunae omnia peruolitat late loca, iamque sub auras erigitur summique ferit laquearía tecti. Originell verwendet Vermeil das Gleichnis, das im antiken Epos die Unsicherheit einer Person malte, um hier das konventionelle Motiv des „zögernden" laudator zu gestalten96. Konventionell ist auch die 42 erwähnte „abondance des objets", die das Loben schwierig macht97. In den folgenden Versen begründet der laudator, warum ihm bei Mornay eine Auswahl der zu lobenden Themen besonder schwer falle: Wann auch immer er sich einem der beiden Bereiche „Mars" oder „Muse", also kriegerische Taten oder Geistesgaben, zuwenden will, drängt sich das jeweils andere Feld in den Vordergrund. Auch dieses Motiv („zwei Leistungen des laudandus machen einander den ersten Rang streitig") findet sich seit der Antike als Topos der enkomiastischen Literatur. So beginnt beispielsweise die Laus Pisonis mit der Feststellung, die edle Abkunft und die großen Taten des Adressaten beanspruchten beide den ersten Platz (1-6): Vnde prius coepti surgal mihi carminis ordo quosue canam títulos, dubius feror. hinc tua, Piso, nobilitas ueterisque citant sublimia Calpi nomina, Romanas inter fulgentia gentes; hinc tua me uirtus rapit et miranda per omnes uita modos. Drei Gegensatzpaare, die sich jeweils in den Vordergrund drängen, bringt Claudian 21,14-18: [...] ueteres actus primamque iuuentam prosequai? ad sese mentem praesentia dueunt. narrem iustitiam? resplendet gloria Maitis, armati referam uires? plus cgit inermis.

ύδατος έξανιοΰσα το δή νέον ήέ λέβητι ήε που έν γαυλω κέχυται, ή δ ' ενσα καί ενθα ώκείη στροφάλιγγι τινάσσεται άίσσουσα· ως δέ και έν στηθεσσι κέαρ έλελίζετο κούρης. Zu Vorbildern und Nachgestaltungen dieses Gleichnisses in der Antike vgl. FRANKEL, Noten zu den Argonautika 376-380. Neben anderen textlichen Berührungen (so z. B. „summi laquearía tecti", 25 = „aux haultes voutes", 35 und „aënis", 22 = „plombée", 33) zeigt vor allem ein Detail, daß Vermeil auf Virgil zurückgreift, nicht auf Apollonios: Während der Grieche nur das Licht der Sonne erwähnt (756), handelt es sich bei Virgil um die Sonne o d e r den Mond (23), woraus Vermeil nur den Mond („l'œil de la nuict", 34) ausgewählt hat. 96) S. oben S. 239f. 97) S. oben S. 193-195.

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6. Einzelinterpretationen

Franto, Principia historiae 20 schwankt, ob die Friedens- oder die Kriegstaten Traians höher zu bewerten seien: „bello an pace clarior Traianus imperator existimandus sit, in ambiguo quidem pono." Christliche Tugenden wetteifern bei Venantius Fortunatus, carm. 6, 1", 5f. „iustitiae cultor pietatis amore coruscas: / quod te plus habeat, certat utrumque bonum." In der griechischen Literatur finden wir den Topos in Isokrates' Enkomion für Euagoras, or. 9, 69, wo der laudator vier Bereiche nennt, in denen sich Euagoras ausgezeichnet habe; aus ihnen könne er keinen auswählen, der der wichtigste sei: άεί γάρ μοι δοκεΐ μέγιστον είναι καί θαυμαστόταχον κ α θ ' ö χι αν αύχών έπισχήσω χήν διάνοιαν; ähnlich auch im Enkomion für Alkibiades, or. 16, 39 άεί γάρ μοι δονεί μείζον είναι το μήπω πεφρασμένον των ήδη [...] είρημένων. Ohne den Zweifel des laudator, aber sonst ähnlich im Panegyricus auf Messalla, [Tibull,] 4 , 1 , 39f.: „nam quis te maiora gerit castrisue foroue? / nec tarnen hinc aut hinc tibi laus maiorue minorue." In der französischen Renaissance liest man denselben Topos beispielsweise bei Du Beilay, der in seiner schon zitierten98 „Ode au Prince de Melphe" über vier Strophen ausführlich das Motiv von den mannigfaltigen Tugenden des Adressaten variiert, die einander den ersten Rang streitig machen (OP 5,354f.).

Dieses Lob für Momay, der wegen seiner mehrfachen Begabung als einzigartig gepriesen wird (54-62), bekräftigt Vermeil durch den Vergleich mit dem pindarischen Amphiaraos, wobei die Analogie zwischen beiden zweimal, am Anfang und am Ende der kurzen Erzählung, explizit ausgedrückt wird: « Tresdigne du los que donna / Adraste au bon fils d'Oiclée » (65f.) und « Ainsi, disie, dira ton Prince » (77). Hierin ahmt Vermeil eng die Struktur des pindarischen Textes nach, in dem die Parallele zwischen mythischem Held und laudandus ebenfalls am Anfang und am Ende des Mythos ausgeführt wird: Άγησία, τίν δ' αίνος έτοιμος, 8ν έν δίκα / άπό γλώσσας "Αδραστος μάντιν Οίκλείδαν ποτ' ές Άμφιάρηον / φ θ έ γ ξ α τ ' (12-14) und το καί / ά ν δ ρ ί κώμου δέσποτα πάρεστι Συρακοσίω (17f.). Vermeil hält sich hier so eng an den Text seiner Vorlage, daß er in der ersten Passage sogar das Patronymikon „Sohn des Oikles" übernimmt; während aber bei Pindar dort auch der Name Amphiaraos genannt wird, findet der Leser bei Vermeil keine weitere Erläuterung dieser Umschreibung - der französische Dichter setzt also voraus, daß der Leser die pindarische Passage wiedererkennt, zumindest aber, daß ihm der Mythos geläufig ist99. Betrachtet man Unterschiede und Gemeinsamkeiten der kurzen mythischen Erzählungen bei Vermeil und Pindar genauer, so bemerkt man, daß der Franzose die Szene des Versinkens breiter ausmalt als Pindars nüchternes έπεί κατά γ α ΐ ' αυτόν τέ νιν καί φαιδίμας ίππους εμαρψεν (14): Bei Vermeil wird daraus ein Schlachtgemälde mit herumirrenden Pferden und Blitz und Donner (63-73). Hingegen bleibt er in der kurzen Rede des Adrastos sehr eng am 98) S. oben S. 188-200. 99) Die beeindruckende Szene, wie Amphiaraos mitsamt seinem Wagen vom Boden verschlungen wird, findet sich in der antiken Literatur häufiger beschrieben (auch Pindar erwähnt sie außer in Ol. 6 noch Nem. 9, 24-27); den Lesern der Renaissance dürfte z. B. die kurze Erwähnung in Ovids Metamorphosen 9, 406f. vertraut gewesen sein, dort findet man 8,317 auch (allerdings in anderem Zusammenhang) das Patronymikon „Oeclides".

6. Einzelinterpretationen

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Original und behält sogar Pindars Metapher στρατιάς όφθαλμόν (16) in seinem « L'œil vigilant de mes all arm es » (75) bei; verrat dabei allerdings auch, daß er den griechischen Text nicht ganz richtig versteht Während bei ihm der Zusatz „vigilant" zeigt, daß er die AugenMetapher recht wörtlich und anschaulich nimmt, ist οφθαλμός bei Pindar nur eine Umschreibung für „das Kostbarste, das Wertvollste"100. Vermeils Vorliebe für Schlachtenszenen (die nicht erstaunen kann in einer Zeit, in der in Frankreich seit vierzig Jahren beinahe ununterbrochen Krieg geführt wurde) setzt sich auch in den nächsten Triaden fort: Zunächst werden ausführlich die Schrecken bei der Eroberung Trojas und der wilde Sturm beim Beginn der griechischen Heimfahrt beschrieben 101 (89-124), dann weissagt Kassandra, die Religionskriege in Frankreich würden noch einmal solche Schrecken mit sich bringen, bevor Henri IV einen strahlenden Sieg davonträgt (125-172). Die Anregung, gerade Kassandra eine solche weit in die Zukunft reichende Prophezeiung geben zu lassen, erhielt Vermeil möglicherweise aus Lykophrons (in der Renaissance hochgeschätzter und bekannter 102 ) Alexandra (wo die Weissagung allerdings nicht erst zum Zeitpunkt der Eroberung Trojas gegeben wird). Nahegelegt wird die Verbindung Frankreichs mit Troja sicherlich auch durch den zuerst von Jean Lemaire de Beiges geprägten und dann von Ronsard in seiner Franciade verbreiteten Mythos 103 , Francus, ein Sohn Hektors, sei aus dem Massaker gereuet worden und habe schließlich Frankreich besiedelt (darauf spielt Vermeil in 129f. an « le voi Troie renouuellée / Dessus les terres des Gaulois »). Hingewiesen sei schließlich auf die Konventionalität des Verfahrens, das Vermeil hier anwendet: Enkomien durch direkte Reden aufzulockern und so historische Ereignisse in sie einzureihen ist ein schon in der Antike häufiger Kunstgriff, den wir beispielsweise regelmäßig in den Gedichten Claudians finden. In ähnlicher Weise wird auch von Menander Rhetor 374,619 vorgeschlagen, im Königslob einen Fluß oder ein Land mit einer Rede auftreten zu lassen.

Nach der langen Kassandrarede104 geht Vermeil wieder zum direkten Lob Mornays über; die Überleitung schafft er durch eine Abbruchsformel mit einer nautischen Metapher (178-181). Ich habe schon darauf hingewiesen 105 , daß Pindar häufig seine Abbrüche mit diesem Bild gestaltet. Obwohl die Übereinstimmungen nicht wörtlich genau sind, ist doch die allgemeine Ähnlichkeit der in Frage kommenden Passagen aus den Epinikien 106 so groß, daß ich es hier 100) Vgl. Ol. 2,9f. (bezogen auf die Vorfahren Therons) Σικελίας τ ' εσαν / οφθαλμός und SLATER, Lexicon to Pindar 402 s. v. οφθαλμός c. "pride, crown". 101) Woher auch immer Vermeil diese Szene nahm (naheliegend wäre beispielsweise die beeindruckende Schilderung bei Euripides, Tro. 75-94 oder das zweite Buch der Aeneis), es handelt sich jedenfalls nicht, wie der Herausgeber LAFAY in seiner Anmerkung meint, um einen « épisode célèbre de l'Iliade ». 102) S. oben S. 138f. Für andere Beispiele ausgedehnter Weissagungen in der antiken Literatur vgl. KROLL, Studien 220-222. 103) Vgl. DEMONET-LAUNAY, XVI' siècle 8. 125f. 104) Ihr wird zunächst in 173-177 eine Sentenz angeschlossen, die auf Horaz, carm. 3, 2, 31 f. „raro antecedentem scelestum / deseruit pede Poena clauda" zurückgeht, allerdings bemerkt LAFAY zu Recht, daß der Text der beiden abschließenden Verse, besonders das Wort „pretexte" (176), nicht ganz verstandlich ist, wie Vermeils Gedicht auch sonst einige in Details schwerverständliche Passagen enthält 105) S. oben S. 238 Anm. 52. 106) Es sind dies besonders Pyth. 11, 38-40 ηρ', ω φίλοι, κατ' άμευσίπορον τρίοδον έ δ ι ν ά θ η ν , / ό ρ θ ά ν κέλευθον ίων τό π ρ ί ν ή μέ τις ¿ίνεμος εξω πλόου / εβαλεν, ώς δτ' ακατον έ ν ν α λ ί α ν ; und Nem. 4, 69f. απότρεπε / αϋτις Εύρώπαν ποτί χέρσον εντεα

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6. Einzelinterpretationen

(auch angesichts der sonst so zahlreichen pindarischen Remniszenzen) für sicher halte, daß der Franzose diese Art der Überleitung aus Pindar übernommen hat. Wieder einmal wird dadurch, daß Dichter der Renaissance in ihren Schöpfungen dieselben Verfahren anwenden wie Pindar, deutlich, daß das Textverständnis dieser Epoche den technischen Charakter solcher Formeln durchschaut. An die Schreckensszenen der Kassandraweissagung schließen sich in den folgenden Triaden nach dem Abbruch Bilder aus dem Bereich der „Muses", also der geistigen Leistungen Mornays. Vermeil schmückt auch diesen Abschnitt mit der Imitation eines pindarischen Prooimions, diesmal mit der „goldenen Leier" der ersten pythischen Ode. Diese Verse dürften wohl mit dem Prooimion der ersten Olympie die bekanntesten der Epinikien gewesen sein und werden dementsprechend oft zitiert und imitiert107 (1-10): ναός. Aus der ersten Passage ist besonders ähnlich die Idee des Windes, der den laudator aus der Bahn wirft, aus der zweiten der Gedanke, wieder näher ans Ufer („bort", 181) heranzufahren. Eine ähnliche Passage aus dem Gedicht „A monseigneur le Duc de Vendosme", dem vierten aus den Odes pindariques Jean Le Blancs, lehnt sich deutlicher an die Verse aus der elften Pythie an: « Muse, quel vent impetueux / Roulant sur les flots tortueux / A faict escarter mon vaisseau / Qui fendoit si droictement l'eau ? » (vgl. „si droictement" = όρθάν κέλευθον ιών). Ähnlich ist auch der Schluß der „Ode à Paul Melisse" aus den Opuscules Pierre Enocs (f. Ev r ): Mais, Muse, quelque Zephyre Pourroit bien nostre nauire En pleine mer escarter, Sans que puißions l'arrester : Vire le donc vers la riue, Et qu'au port, seur, il arriue : C'est assez : l'ancre iettons, Mettons fin à nos doux sons. 107) Außer bei Vermeil finden wir sie beispielsweise bei Ronsard, zu Beginn der Ode „A sa lire" (OC 1, 162f.): Lire doré¿, ou Phebus seulement, Et les neuf seurs ont part également, Le seul confort qui mes tristesses tue, Que la danc¿ oit, & toute s'euertue De t'obeir, & mesurer ses pas Sous tes fredons mignardés par compas, Lors qu'en bruiant tu merques la cadanse D'un auantieu, le guide de la danse. Le feu armé de Iupiter s'eteint Sous ta chanson, si ta chanson l'atteint : Et au caquet de tes cordes bien iointes Son aigle dort sur sa foudr¿ à trois pointes Abaissant l'ailé, adone tu uas charmant Ses yeus agus, & lui en les fermant Son dos heriss¿, & ses plumes repousse Flaté du son de ta parole douce.* Femer in der Ode „A Antoine Mornac Aduocat en Parlement" aus den Œuures poetiques von Gilles Durant de La Bergerie (f. 1551):

6. Einzclinterpretationen

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Χρυσέα φόρμιγξ, 'Απόλλωνος και ίοπλοκάμων σύνδικον Μοισάν κτέανον· τάς ακούει μεν βάσις άγλαίας άρχά, πείθονταν δ ' αοιδοί σάμασιν άγησιχόρων οπόταν προοιμίων άμβολάς τ ευχής έλελιζομένα. καί τον αίχματάν κεραυνόν σβεννύεις 5 αίενάου πυρός, εϋδει δ ' άνά σκάπτω Διός αίετός, ώκεΐαν πτέρυγ' άμφοτέρωθεν χ α λ ά ξ α ι ς , άρχος οιωνών, κελαινώπιν δ ' έπί οί νεφέλαν άγκύλω κρατί, γλεφάρων άδύ κλάιθρον, κατέχευας· ò δέ κνώσσων ΰγρόν νώτον αίωρεί, τεαις ριπαισι κατασχομενος. ίο Von Pindars prachtvoll geschmückten Versen übernimmt Vermeil nur die wichtigsten Bilder, so faßt er 2-4 sehr frei in den etwas prosaischen Worten zusammen « Qui fredonne sur les nües / Le bal du ciel azuré » (21 lf.). Daß die Musik auch den Blitz erlöschen läßt, übergeht der Franzose, überträgt aber dafür άνά σκάπτω Διός (6) mit « sur le fouldre ardent » (214), verschmilzt also hier Blitz und Adler. Breiter ausgeführt ist das Bild vom schlafenden Adler108, in dem Vermeil auch einige pindarische Details übernimmt („voiler la face", 216 = κρατί κατέχευας, 8; „perché sur", 214 = άνά, 6). In den folgenden Triaden liest man ein direktes Lob für den Adressaten der Ode, wieder mit einer deutlichen Zweiteilung (die durch eine Apostrophe an die „Muses" und einen Abbruch betont wird, 249-254; vgl. auch die Antithese « tes faicts & ta doctrine », 302): Der Teil, der den kriegerischen Taten Mornays gewidmet ist (224-239), zeigt noch einmal Vermeils Vorliebe für wilde Kriegsszenen, an das Kriegslob angeschlossen findet sich hier die politische Tätigkeit im Staatsrat (240-248); den zweiten und ausführlicheren Abschnitt bildet ein Preis der geistigen Leistungen des laudandus (260-301). In der zehnten Epode begegnen wir einem anderen schon bekannten Motiv: Der laudator lehnt

Le grand Prince de la lyre Entre les Grecs reueié, Momac, que vouloit-il dire, Parlant à son luth doré, Qu'au son de ses cordes iointes Le rouge foudre à trois pointes De Iupiter s'estaignoit, Et que Mars bouffy de rage Adoucissoit son courage, Quand vn beau chant l'attaignoit ? 108) Womit wohl kaum, wie LAFAY angibt, „l'Aigle de la Maison d'Autriche" gemeint ist.

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6. Einzelinterpretationen

es ab, die ruhmvollen Vorfahren des laudandus zu erwähnen, weil dieser es nicht nötig habe, sich mit solch fremdem Lob zu schmücken109. Vermeil beginnt die letzte Triade seiner Ode mit einer erneuten Abbruchsformel: Der laudator kann seinem übergroßen Thema nicht gerecht werden und wird scheitern wie Bellerophon (dessen Name hier nicht ausdrücklich genannt wird) bei seinem Versuch, auf dem Pegasus („[le] cheual volant", 316) in den Himmel zu fliegen. Auch diesen Mythos scheint Vermeil den Epinikien zu entnehmen, wo Bellerophons Ende Isth. 7, 44-47, ebenfalls am Ende eines Liedes, erzählt wird: δ το ι πτερόεις ερριψε Πάγασος / δεσπόταν έθέλοντ' ές ούρανοΰ σταθμούς / έλθείν μεθ' όμάγυριν Βελλεροφόνταν / Ζηνός 110 . Die Übertragung dieses Mythos auf den „scheiternden" Dichter scheint neu zu sein; möglicherweise läßt sich Vermeil hierzu auch durch Icarus anregen, den anderen Himmelsstürmer, dessen Scheitern in der Renaissance zu einem ständig anzutreffenden Symbol für den dichterischen Mißerfolg wurde"1. Vermeil beendet sein Gedicht mit der Feststellung, er habe als „Poete nouueau nai" (341, eine konventionelle Verkleinerungsformel) sein Möglichstes getan, aber seine Verse könnten den Tugenden Mornays nicht gerecht werden112. Auch bei ihm wird (wie bei Bai'f) die am Anfang verwendete Metapher, hier also der „Pfeil der Dichtung", am Ende wieder aufgenommen und schließt die Ode. 109) S. oben S. 190f. 110) Auch Ronsard hatte in der Ode „Au Seigneur de Carnaualet" (OC 1,90, Verse 5392) schon ausführlich Pindars Beilerophonmythos imitiert, dabei allerdings außer der Stelle aus Isth. 7, die nur sein Ende erzählt, auch die Erzählung seiner Taten in Ol. 13, 63-92 verarbeitet. Der Herausgeber LAUMONIER scheint mir diese Kontamination zu Recht „ungeschickt" zu nennen, da trotz der Ankündigung « Mais quel mechef le tua / Je le passe sous silence » die Erzählung fortgesetzt wird, wodurch die Aposiopese Pindars (Ol. 13,91 διασωπάσομαί οί μόρον έγώ) ihren Sinn verliert. Anklang fand die Darstellung der Bellerophonerzählung in der siebten isthmischen Ode auch bei den protestantischen Pindarerklärern, da sie leicht eine moralische Auslegung erlaubte, so ζ. B. bei Caspar Peucer im Widmungsbrief der Übersetzung Melanchthons (22): Bellerophontem, inquit, cum Pegaso uectus saepe uicisset magnos hostium exercitus, tantis elatum succesibus, Pegaso uoluisse intra cœlum uehi: sed excussum, in terra delapsum esse, & crus fregisse, ac postea mœrore extinctum esse, qua pictura significat, infelices esse conatus omnium hominum, qui erumpentes extra metas sui loci, altiora concupiscunt [...]. Diese Interpretation wurde dadurch nahegelegt, daß auch bei Pindar der mythischen Erzählung schon eine scheinbar moralisierende Gnome vorangeht: τα μακρά δ ' εϊ τις / π α π τ α ί ν ε ι , βραχύς έξικέσθαι χαλκόπεδον θεών εδραν (43f.); hier steht aber wohl nicht so sehr die Morallehre im Vordergrund als vielmehr der Wunsch, durch dieses „ne plus ultra-Motiv" (vgl. das berühmte μή μάτευε Ζευς γενέσθαι Isth. 5, 14) darzustellen, daß der laudandus bis an die Grenzen des einem Menschen Erreichbaren gelangt ist, vgl. BUNDY, Studia Pindarica 2,43f. und THUMMER, Isthmische Gedichte 1, 77f. 111) S. oben S. 76-97. 112) S. zu diesem (häufiger zu Beginn von Enkomien anzutreffenden) konventionellen Motiv oben S. 90f.

6. Einzelinterpretationen

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5 Im Anschluß an diese Beispiele für die Pindarrezeption französischer Dichter soll, gewissermaßen als Satyrspiel, noch kurz ein kurioses Zeugnis für Pindarkenntnis und Pindarimitation in der französischen Renaissance besprochen werden 1 1 3 . 1560 veröffentlicht Jean Vetus seine Orationes in Medicince commendationem, & in gratiam octodecim Medicee laureœ Candidatorum instituiez, ac in eorundem scholis per tres côtinuos dies habitœ, in quibus perpetua gymnasiorum corporis & animi comparano explicatur. Ich habe hier den Titel des Buches so ausführlich zitiert, weil schon in ihm ein sich durch alle Reden hindurchziehender roter Faden sichtbar wird: In ihnen vergleicht Vetus die Kandidaten für das Medizinexamen mit Wettkampfsiegern aus der Antike und würzt diesen Vergleich durchgehend mit Zitaten aus und Anspielungen auf die pindarischen Epinikien. Exemplarisch soll hier die Rede „Ad Antonium Prunerium Lingonensem" (p. 87-92) behandelt werden, in der Vetus sich besonders auf Ol. 4 bezieht, das 452 entstandene Lied für den Viergespannsieg des Psaumis aus Kamarina114. Da die (soweit ich sehe) einzige Darstellung von Leben und Werk des Jean Vetus, der Aufsatz PERRODS115 aus dem Jahre 1901, an recht schwer zugänglicher Stelle veröffentlicht ist, möchte ich hier kurz die dort enthaltenen Fakten mitteilen: Jean Vetus oder Jean Le Vieil wurde etwa 1525 in Saint-Amour (Franche-Comté) geboren, gegen 1550 kam er nach Paris. Er studiert Medizin und Philosophie und unterrichtet eine Weile am Collège d'Autun und am Collège du cardinal Le Moine. Außer seinen Orationes veröffentlicht er 1559 eine Rede De obitu Caroli quinti Imperatoris und in den Jahren 1562-1564 polemische Werke theologischen Inhalts, in denen er sich als Anhänger der Ligue, also der militant katholischen Seite, zeigte. 1573 erhält er einen offiziellen Titel („Maître des requêtes de l'Hôtel du Roi"), 1581 wird er geadelt. Nach diesem Datum fehlen weitere Nachrichten über ihn, sein Todesjahr ist unbekannt.

An seiner Rede für Prunerius werden uns hier nur die Beziehungen zu Pindar interessieren, obwohl sie, genau wie die ganze Sammlung der Orationes, auch unter anderen Aspekten untersucht zu werden verdiente116. Vetus beginnt 113) Es sei an dieser Stelle noch einmal Frau A. Carlotta Dionisotti herzlich gedankt: Ohne ihren Hinweis wäre ich niemals auf dieses bemerkenswerte Zeugnis aufmerksam geworden. 114) In der Sekundärliteratur gelegentlich geäußerte Zweifel (so zuletzt MADER, Pindars Psaumis-Oden 112f.) an dieser durch die Scholien (Schol. Ol. 4 inscr., bestätigt durch P. Oxy. 2 2 2 , 2 , 2 2 ) überlieferten Information über Anlaß und Datierung der Ode sind unbegründet, vgl. GERBER, „Pindar's Olympian Four" 7f. 115) „Notice biographique et bibliographique". 116) So besonders unter dem kulturgeschichtlichen Blickwinkel, denn sie liefern wertvolle Informationen über die Geschichte der Erziehung, besonders im Fache Medizin. Speziell

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6. Einzelinterpretationen

seine Rede mit dem Namen „Pindarus" und weist so beinahe programmatisch auf die große Rolle hin, die der griechische Dichter in seinem Lob auf Prunerius spielen wird. Gleich der erste Satz paraphrasiert eine Gnome aus Ol. 4: Daß Pindar das Lob auf Psaumis um so lieber verfasse, als wir durch Glück unserer Freunde selbst erfreut werden (1-3), geht auf 4f. ξείνων δ ' ευ πρασσόντων / εσαναν α ΰ τ ί κ ' άγγελίαν ποτί γλυκειαν έσλοί zurück. Bemerkenswert ist hier das Textverständnis des Humanisten, der die bei Pindar recht unvermittelt zwischen zwei Anrufungen an Zeus eingeschobene Gnome als Begründung für das Loblied erkennt, darin sicherlich bestärkt durch sein Wissen um die Häufigkeit des Motivs der Gastfreundschaft in den Epinikien117. Dieses Freundschaftsmotiv (das gegen Ende der Rede noch einmal aufgegriffen wird, vgl. „amico assentari", 57) verbindet Vetus qua laudator mit der zu Beginn des Enkomions üblichen Bescheidenheits- oder besser Unfähigkeitsbeteuerung: Obwohl er sich seiner Schwäche bewußt sei („mediocritatis mese conscientia deterritus", 7f.), werde er sich munter an das Lob des Prunerius machen, weil ihn Freundschaft und Pflicht dazu bewegten („officio & necessitudine semel impulsus", 8f.). In den folgenden Sätzen zieht Vetus die Parallele zwischen den körperlichen Fähigkeiten" 8 des „uetus ille Athleta" (10) und den geistigen Gaben seines laudandus, die er für „multò insignius" (11) hält. Auch die übrigen Eigenschaften, die Pindar an Psaumis lobt, übertreffe Prunerius, wobei die Liste dieser Eigenschaften 119 (13f., vgl. 31) wiederum direkt auf Ol. 4, 14-16 zurückgreift: έπεί νιν αίνέω, μάλα μεν τροφούς έτοιμον ίππων, χαίροντα τε ξενίαις πανδοκοις, καί προς Ή σ υ χ ί α ν καθαρά γνώμα τετραμμένον.

in unserer Rede wäre es ζ. Β. interessant zu wissen, ob die von Vetus erwähnten „inflämatissimae de Medicina dissensiones" (54) und die befürchtete Bestechlichkeit der Prüfer (60-64) mehr sind als nur konventionelle Motive, um die großartigen Leistungen des Prüflings hervorzuheben. 117) S. oben S. 192 Anm. 143. 118) Pindar spricht nie von der körperlichen Stärke des Psaumis, der ja mit dem Viergespann gesiegt hatte: Als Sieger galt in dieser Wettkampfart der Besitzer des Wagens, der nicht besonders sportlich sein mußte, weil er nur selten selbst das Rennen fuhr (dieses außergewöhnliche Faktum liegt beim Sieg des Herodot aus Theben vor und wird von Pindar in Isth. 1,15 auch gebührend gewürdigt, vgl. dazu PRIVITERA, Istmiche 142). Möglicherweise überträgt Vetus hier auf den Sieger Psaumis, was Pindar von Erginos, dem Held seiner mythischen Erzählung, sagt, vgl. „uelocitatis in pedibus" (12) = ταχυτάτι (24) und „neruorum in lacertis" (12) = χείρες (25). 119) Die aufgezählten Qualitäten (Pferdezucht, Gastfreundschaft, politisches Wohlverhalten) sind bei Pindar konventionell und kehren (um das Element der Frömmigkeit vermehrt) auch Isth. 2, 37-40 wieder, vgl. THUMMER, Isthmische Gedichte 1, 148f. und YOUNG, Three Odes 45 Anm. 2.

6. Einzelinterpretationen

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Vetus erwähnt in seiner Liste das letzte Element, die 'Ησυχία 1 2 0 , zunächst nicht, scheint sie aber in der öfter betonten „Leutseligkeit" des Prunerius („facilitas", 15; vgl. die lange Beschreibung 16-27) zu verarbeiten. Der folgende lange Abschnitt (16-51) ist dem Lob des Prunerius und seinem Lebensweg gewidmet, erst gegen Ende tritt Pindars Psaumis wieder in Erscheinung: Prunerius sei zu den medizinischen Examina121 angetreten wie Psaumis zu den olympischen Wettkämpfen. Nach diesem allgemeinen Vergleich der beiden „Sieger" greift Vetus zum Ende seiner Rede wieder konkret auf den Text der Ode zurück. Er betont, er lobe Prunerius nicht aus übertriebener Freundschaft, sondern sein Lob entspreche der Wahrheit, was mit Pindars griechisch zitierter Gnome διάπειρά τοι βροτών ελεγχος (58f.) begründet wird. Noch einmal sei das gute Textverständnis des Humanisten hervorgehoben: Er hat den Zusammenhang 122 zwischen dieser Gnome und der vorangehenden Aufrichtigkeitsbeteuerung123 (ού ψεύδεϊτέγξω/λόγον, 17f.) durchschaut und macht ihn in seiner Prosarede explizit. Erst die δ ι ά π ε ι ρ ά , der „entscheidende = erfolgreiche" Versuch124, zeigt, was in einem Menschen steckt125, und der Erfolg des laudandus beweist aller Welt, wie berechtigt das Lob des laudator ist.

120) S. zu diesem Begriff bei Pindar oben S. 241 mit Anm. 59. 121) Sie werden mit recht martialischen Metaphern beschrieben: „in aciem, in discrimê, & ad inflämatissimas de Medicina disensiones exiisti" (54f.). 122) Er wird bei Pindar durch die Partikel τοι (18) angedeutet, vgl. DENNISTON, Greek Particles 542f. 123) Die bei Pindar konventionell ist, s. oben S. 33 mit Anm. 16. 124) So, und nicht als „perseverance" (GERBER, „Pindar's Olympian Four" 20), ist wohl dieses Wort zu verstehen, das nur eine Verstärkung von π ε ί ρ α ist, vgl. JURENKA, „Psaumidea" 6 und MADER, Pindars Psaumis-Oden 50f. Daß dies die richtige Auffassung ist, zeigt auch die Rolle der διάπειρά im Mythos: Sie ist das Subjekt zu ε λ υ σ ε ν , dem Verb des ersten Satzes. Es ist der einmalig erfolgreich abgeschlossene Waffenlauf, der „entscheidende Versuch", der Erginos vom Spott der lemnischen Frauen befreit, nicht etwa lange Mühe, wie nach GERBERS Auffasung übersetzt werden müßte. 125) Ein bei Pindar mehrfach auftretender Gedanke, vgl. besonders Nem. 3, 70f. und Isth. 4, 30; dazu GUNDERT, Pindar und sein Dichterberuf 13f. und THUMMER, Isthmische Gedichte 2 , 7 1 .

7. Ergebnisse

Die vorliegende Studie hat versucht, sich dem Bereich der Pindarrezeption in der französischen Renaissance von verschiedenen Seiten her zu nähern. Zum Schluß sollen noch einmal im Überblick die wichtigsten Ergebnisse zusammengefaßt und darauf aufbauend der Versuch gemacht werden, Möglichkeiten für neue Wege der Forschung zu zeigen. Wie zu erwarten war, wird auch Pindar (wie andere antike Autoren) in mancher Hinsicht recht gewaltsam für das Verständnis der Renaissance umgedeutet. Ein Musterbeispiel ist das Bild des aus der christlichen Apologetik stammenden „Sittenlehrers" Pindar, dem wir vor allem bei protestantischen Pindardeutern häufig begegneten. Gläubig übernommen werden die heute von den meisten Forschern als Legende abgelehnten biographischen Nachrichten über Pindar, die sich in den antiken Scholien und der Sekundärüberlieferung finden. Auch das Verständnis der Renaissance für Pindars Metrik ging nicht über das von den spätantiken Gelehrten gebotene Material hinaus und konnte so nicht zu einer tieferen Einsicht in den Bau seiner Epinikien gelangen. Das Material aus den Editionen und Kommentaren ebenso wie die Erwähnungen Pindars in der französischen Dichtung und Dichtungstheorie zeigte eine auffallende Homogenität in der Übernahme des antiken Urteils, Pindar sei der „lyricorum princeps". Bezugnahmen auf dieses Klischee lassen sich von der Mitte des sechzehnten bis in die ersten Jahre des siebzehnten Jahrhunderts durchgängig nachweisen. Besonders intensiv zeigte sich auch die Nachwirkung des Pindarbildes aus dem Horazcarmen 4, 2: Immer wieder begegnet man in der französischen Renaissance dem Bild des unnachahmlichen, hochfliegenden „dircaeischen Schwans". Schon die Nachwirkung dieser Tradition zeigte eine enge Parallelität zwischen der philologischen und der dichterischen Rezeption, die noch deutlicher hervortrat bei der Betrachtung des konkreten Textverständnisses: Analoge Formulierungen in Kommentaren zu den Epinikien und in dichtungstheoretischen Erörterungen ließen erkennen, daß Pindars Oden als Enkomien im technischen Sinn aufgefaßt und damit als dem epideiktischen Genus zugehörig betrachtet werden. Gegenüber dem in der späteren Literatur zu findenden Bild

7. Ergebnisse

261

des „regellosen Schwärmers" Pindar sucht die Renaissance in den Epinikien stärker das regelhafte und „rhetorische" Element, das auch die moderne Pindarforschung seit Bundy in den Vordergrund rückt. Gegen diesen Befund, die Renaissance habe bei Pindar vor allem das Regelhafte gesucht, spricht auch nicht die seit der Pléiade in der französischen Dichtung so häufig anzutreffende und gelegentlich mit Pindar in Verbindung gebrachte Theorie der fureur poétique. Aus ihr kann nicht ein dem romantischen Geniebegriff ähnliches Verständnis des poetischen Schaffensprozesses herausgelesen werden. Für die Renaissance gibt es zwischen dieser behaupteten göttlichen Inspiration und dem Arbeiten eines poeta doctus keinen Gegensatz. An vielen Stellen läßt sich die fureur vielmehr als eine innertextliche, in erster Linie funktionale Strategie verstehen, die vor allem Enkomien Legitimation verschafft, hierin der Praxis der Hyper- und Intertextualität nicht unähnlich. Als unzutreffend erwiesen sich Behauptungen, Pindar sei im Verlaufe des sechzehnten Jahrhunderts „aus der Mode gekommen". Ronsards Versuch einer Pindarimitation fand bis ins siebzehnte Jahrhundert hinein Nachahmer, und es läßt sich nachweisen, daß Pindars Ansehen ebenfalls bis 1630 hoch gewesen sein muß, weil Berufungen auf ihn in der Dichtung immer noch zahlreich sind. Deutlich ist auch, daß bis ins siebzehnte Jahrhundert hinein nicht nur Dichter der französischen Renaissance direkte Kenntnis der Epinikien zeigen, sondern eine solche Kenntnis offensichtlich auch bei ihrem Publikum voraussetzen. Stellen, an denen sich Dichter und Kritiker scheinbar von Pindar abwenden, erweisen sich bei genauerer Untersuchung entweder als Variationen von Topoi, die nicht als Beispiele einer literarischen Wertung gelesen werden können, oder als Angriffe auf zeitgenössische Dichter, für die der Thebaner nur ein Strohmann ist. Besonders teilt Pindar Lob und Tadel mit Ronsard, seinem ersten und größten Nachahmer und dem „Pindare françoys". Auch die These, Pindar sei in der französischen Renaissance ein Paradebeispiel für verpöntes „obskures Dichten" gewesen, konnte widerlegt werden. Deutlich wurde hierbei, daß es einerseits keine klare Definition gibt, wo Dichtung „zu dunkel" wird, und daß selbst für Klarheit als Stilideal eintretende Theoretiker beim Publikum ein hohes Maß an Gelehrtheit voraussetzen (Tradition des poeta doctus und seines Elitepublikums), daß andererseits hier wiederum Pindar häufig nur als Deckname für zeitgenössische Dichter gesetzt wird. Die so gewonnenen Ergebnisse konnten durch Einzelinterpretationen erhärtet werden. Das Verständnis für die enkomiastische Funktionalität der Epinikien manifestierte sich in Imitationen der Renaissancedichter, die Pindars technischrhetorische Kunstgriffe in Enkomien für die Großen ihrer Zeit anwenden. Noch einmal wurde hier deutlich, wie sehr Pindars Epinikien als ein Glied in der langen Kette enkomiastischer Literatur verstanden wurden.

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7. Ergebnisse

Als wichtigstes Ergebnis der Untersuchung kann somit die Widerlegung der Behauptung gelten, Pindar sei vor dem neunzehnten Jahrhundert unbeliebt und größtenteils mißverstanden gewesen: Seine reiche Rezeptionsgeschichte in der französischen Renaissance zeigt, daß er vielmehr ein häufig gelesener Autor war und daß seine Gedichte auf einem methodisch richtigen Weg verstanden wurden. Pindar ist gewiß in vielerlei Hinsicht ein Glücksfall für eine solche Untersuchung. Seine Rezeption ist hinreichend vielfältig, um eine Studie über das Verständnis seiner Epinikien zu erlauben; sie ist andererseits überschaubar genug, um nicht jeden Rahmen zu sprengen. So war es möglich, das Textverständnis der Philologen an einer annähernd vollständigen Untersuchung seiner Ausgaben, Übersetzungen und Kommentare zu überprüfen, eine Aufgabe, die für viele andere Autoren allein aufgrund der Masse des vorhandenen Materials wohl nicht zu bewältigen wäre1. Pindar war auch deshalb ein äußerst lohnendes Objekt für eine solche Studie, weil es in der Moderne über die allgemeine Methode, wie er zu lesen und verstehen sei, eine Kontroverse mit klar bestimmten Positionen gibt und auch die Renaissance sich in diese Positionen eindeutig einordnen läßt. Aus diesen Ergebnisse lassen sich einige Ausblicke auf weitere Forschungen und auch einige Forderungen für diese Forschungen ableiten. BUNDY2 hielt es für "evident that the Epinikion must adhere to those principles that have governed enkomia from Homer to Lincoln's Gettysburg Address". Diese a priori ausgesprochene Behauptung müßte durch weitere literargeschichtliche Studien zum Enkomion überprüft werden - in demselben Sinn hat BUNDY3 auch geschrieben: "The study of Pindar must become a study of genre." Insofern kann man mit Fug und Recht behaupten, daß die vorliegende Arbeit nicht nur für die Pindarrezeption der Renaissance, sondern auch für das Verständnis der Epinikien selbst Ergebnisse gebracht hat: Die Funktionen enkomiastischer Konventionen müßten in einer vergleichenden Studie untersucht werden, die möglichst alle Literaturen einschließen sollte, die in der Tradition der antiken Rhetorik stehen. Schon CURTIUS4 hatte etwas Ähnliches gefordert, als er sagte, „über die Topik des Personallobes" könnte man „ein Buch schreiben". Eine solche Untersuchung kann gewiß nicht morgen schon von einem einzelnen geschrieben werden, zunächst müssen einzelne Mosaiksteinchen (wie die

1) Ich denke z. B. an lateinische Dichter wie Horaz oder Virgil, an Philosophen wie Piaton oder Aristoteles. 2) Studia Pindarica 1,3. 3) Ebd. 2, 92. 4) Europäische Literatur 168.

7. Ergebnisse

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vorliegende Studie) gesammelt werden, um schließlich eine große, interdisziplinäre Synthese anzustreben. Eine weitere Forderung, die sich mir aus meinen Untersuchungen zu ergeben scheint, ist folgende: In der Textkritik antiker Texte ist es üblich, jede Konjektur bis zu ihrem wirklichen Urheber zurückzuverfolgen, und moderne Herausgeber sind bereit, auch die frühesten Ausgaben emstzunehmen und zu durchsuchen. Bei der Interpretation der antiken Texte hingegen lassen moderne Forscher oft eine gewisse Nachlässigkeit walten - wir haben im Falle Pindars gesehen, mit welcher Arroganz alle Arbeiten vor dem neunzehnten Jahrhundert vom Tisch gefegt wurden. Es wäre Zeit, auch hier dieselbe Sorgfalt anzuwenden wie bei der Textkritik und die älteren Kommentare und Übersetzungen nicht nur hier und dort, sondern systematisch heranzuziehen, um gleichzeitig der Wissenschaftsgeschichte und dem Textverständnis des jeweiligen Autors zu nützen5. Auch hier wäre Pindar als Modell geeignet, ähnliche Studien auch für andere Epochen und Länder als die französische Renaissance anzustellen und zu zeigen, daß die Epinikien keineswegs immer als das Werk eines rasenden Narren verstanden wurden, sondern schon lange vor unserer Zeit ein richtigeres Verständnis anzutreffen war6.

5) „Wie viele Fehldeutungen würden sich die Interpreten der Antike ersparen, wenn sie auf die Art und Weise achten wollten, mit der später die Antike rezipiert wurde!" FRIEDRICH, Montaigne 77. 6) Vgl. ζ. B. FITZGERALD, Agonistic Poetry 139f. (Congrave in England) oder NUNLIST, Herder 9If. (Herder in Deutschland).

Anhang 1 : Ausgaben, Übersetzungen und Kommentare Pindars bis 1630

Je ne sais pas de lecture plus facile, plus attrayante, plus douce que celle d'un catalogue. Anatole France L'elenco potrebbe certo continuare e nulla vi è di più meraviglioso dell'elenco, strumento di mirabili ipotiposi. Umberto Eco

Die folgende bibliographische Liste muß notwendigerweise ein Kompromiß sein: Es mußte versucht werden, die größtmögliche Genauigkeit zu erreichen, ohne dabei den umfangreichen Apparat der beschreibenden Bibliographie zum Selbstzweck werden zu lassen. Die immer noch vollständigste Liste früher Editionen, Kommentare, Übersetzungen etc. findet man in HEYNES Pindarausgabe; in den beiden modernen Bibliographien zu Pindar erhalten sie relativ wenig Aufmerksamkeit: GERBER 1 macht dazu nur sehr wenige Angaben (wie wenig interessiert er an alten Ausgaben ist, kann man daraus ersehen, daß er relativ viele von ihnen, darunter selbst die editio princeps, nicht selbst gesehen hat, wie aus seinen eigenen Angaben hervorgeht2); RICO 3 ist umfassender, ihre Liste scheint aber größtenteils aus H E Y N E (und G R A E S S E 4 , der seinerseits unter anderem HEYNE benutzte) zu stammen. Wenn meine Zusammenstellung auch die umfangreichste bisher erschienene ist, so kann sie doch keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erheben, vor allem in Hinsicht auf verstreut in Anthologien oder Werken anderer Autoren abgedruckte einzelne Oden: Hier ließen sich wahrscheinlich noch manche Funde 1) 2) Fehler in trifft. 3) 4)

Bibliography to Pindar. Schon FOGELMARK, „Pindaric Bibliography" 71-77 hatte auf einige Lücken und GERBERS Bibliographie hingewiesen, was alte Ausgaben und Übersetzungen beBibliografo pindàrica. Trésor de livres rares.

Anhang 1: Pindarausgaben bis 1630

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machen. Daß in der Sekundärüberlieferung erhaltene und (unter Umständen sogar schon vor der editio princeps von 1513) abgedruckte Pindarfragmente von vornherein ausgeschlossen bleiben mußten, versteht sich von selbst. Eine vollständige Erfassung aller Drucke und Nachdrucke bis 1630 habe ich nur für die eigentlichen Textausgaben und Übersetzungen zu geben versucht, nicht aber für die mannigfachen ,»Pindarica", auf deren Nachdrucke ich gelegentlich nur summarisch hinweise. Ausgeschlossen blieben auch die zahlreichen Werke, die unter verschiedenen Aspekten Gnomen aus Pindars Epinikien zitieren5. Schließlich waren für mich Fragen der eigentlichen Texterstellung nur von sekundärem Interesse. So aufschlußreich es auch wäre, die Verwandtschaftsverhältnisse früher Editionen im einzelnen genau zu untersuchen und ihre Geschichte so zu schreiben, wie es IRIGOIN 6 für die Ausgaben von Aldus und Calliergi in meisterhafter Weise getan hat, ist doch meine Absicht eine andere: Da mein Augenmerk auf Pindarrezeption liegt, soll diese Liste nur zeigen, w i e sich ein Pindartext der Renaissance dem Leser darbot; Bemerkungen zur eigentlichen Textgestaltung konnte ich nur vereinzelt geben. Meine Notizen folgen im wesentlichen dem von BOWERS 7 vorgeschlagenen System der Beschreibung, vereinfachen es jedoch soweit wie möglich. Ziel meiner Liste ist nicht, die „ideal copy" einer jeden Edition erschöpfend zu beschreiben und Auskunft über ihre unterschiedlichen „états" (engl, „states") und Varianten zu geben, sondern nur, ein anschauliches Bild der Renaissanceeditionen zu vermitteln und darüber hinaus den Fachleuten der Bibliographie etwa bei der Beantwortung der Frage zu helfen, ob ein konkret vorliegendes Exemplar einer bestimmten Edition zuzuordnen ist. Wer sich auch nur oberflächlich mit Büchern des 16. und 17. Jahrhunderts beschäftigt hat, weiß, daß damit schon sehr viel gewonnen ist: Hinter demselben Titelblatt verbergen sich nicht selten ganz verschiedene Bücher, unterschiedliche Titelblätter schmücken ansonsten identische Ausgaben, Exemplare sind im Laufe ihrer langen Geschichte verstümmelt worden, und oft ist es sogar schwer, einem Buch anzusehen, ob es

5) Außer den bei FOGELMARK, „Pindaric Bibliography" 93f. genannten Werken kann ich noch verweisen auf Nicolas Caussins zuerst 1612 erschienenen und häufiger nachgedruckten Thesaurus Grtzcoe Poeseos (er gibt eine ganze Reihe von Pindarzitaten, so besonders p. 242-244 unter dem Stichwort „Lyra. Vis Musica: & Carminum" die erste Strophe von Pyth. 1 mit einer Interlinearversion), auf Pardoux Du Prats Übersetzung Mark Aurels, der Institution de la vie humaine von 1570 (zitiert p. 175 unter dem Titel „Sentences extraictes de Pindare ancien Poëte Grec, par Pardoux du Prat, Docteur és Droits" in französischer Übersetzung Ol. 2 , 6 6 f . und die pseudopindarische [Ol. 5], 15f.) und auf Franciscus Costerus' Sica tragica von 1599 (p. 184 werden Ol. 1,28f. griechisch und in lateinischer Übersetzung zitiert). 6) Histoire du texte 399^120. 7) Bibliographical Description; kürzer dargestellt bei GASKELL, Introduction to Bibliography 321-335; vgl. auch TANSELLE, „Tolerances".

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Anhang 1: Pindarausgaben bis 1630

vollständig ist oder nicht. So enthält denn jede meiner Kurzbeschreibungen (soweit möglich) folgende Punkte: - Numerierung, Kurztitel, Datum - Umschrift der Titelseite und, soweit vorhanden, des Kolophons, entsprechend den von BOWERS aufgestellten Normen. Auf die Unterscheidung von „langem" und „rundem" s mußte ich leider verzichten8. - (Kollationsformel: Format, Paginierung oder Foliotierung, Signaturen und Umfang der Hefte) - (Summarische Inhaltsangabe) - E: Gibt die von mir lokalisierten Exemplare an, die in eckigen Klammern aufgeführten Exemplare habe ich nicht selbst eingesehen. Für die Bibliotheken werden folgende Abkürzungen verwendet: Ars = Bibliothèque de l'Arsenal, Paris; BL = British Library (vormals British Museum), London; BN = Bibliothèque Nationale, Paris; Col = Butler Library, Columbia-University, New York; DB = Privatkollektion von Douglas F. Bauer, New York9; ENS = Bibliothèque de l'Ecole normale supérieure, Paris; Gö = Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen; HAB = Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel; HL = Houghton Library, Harvard University, Cambridge (Mass.); Maz = Bibliothèque Mazarine, Paris; SG = Bibliothèque SainteGeneviève, Paris; YU = Beinecke Library, Yale University, New Haven (CT). - R: Hinweise auf Referenzbibliographien und Sekundärliteratur zur jeweiligen Ausgabe, oft findet man dort eine genauere Beschreibung, Hinweise zur Druckgeschichte oder die Lokalisierung weiterer Exemplare. - A: Anmerkungen über Besonderheiten der konsultierten Exemplare und/ oder der gesamten Edition Kollationen und Inhaltsangaben gebe ich nur für Bücher, die ausschließlich oder überwiegend Ausgaben und Ubersetzungen Pindars enthalten. Aufgenommen habe ich auch solche Bücher, die ich trotz langen Recherchen und zahlreichen Bibliotheksbesuchen nicht näher bestimmen konnte und deren Existenz mir in einigen Fällen zweifelhaft erscheint (man weiß, wie sich Fehler eines einzigen Bibliographen durch die Forschung hinschleppen können).

8) S. oben S. 30. 9) Ich möchte an dieser Stelle Herrn Bauer noch einmal meinen herzlichen Dank aussprechen für die Erlaubnis, seine Sammlung zu benutzen und die in ihr enthaltenen Bücher hier aufzuführen.

Anhang 1: Pindarausgaben bis 1630

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1. Aldus, Venedig, 1513 ΠΙΝΔΑΡΟΥ. II Ολύμπια. II Π ύ θ ι α . II Νέμεα. II Ισθμια. II Κ α λ λ ι μ ά χ ο υ ϋμνοι, oí ευρισκόμενοι. II Διονυσίου π ε ρ ι ή γ η σ ι ς . II Λ υ κ ό φ ρ ο ν ο ς άλεξάνδρα, το σκοτεινόν ποίημα. II PINDARI. II Olympia. II Pythia. II Nemea. II Isthmia. II Callimachi hymni qui inueniuntur. II Dionysius de situ orbis. II Licophronis Alexandra, obscurum poema. II [Druckermarke] [Kolophon, p. 374] Venetijs in aedib. Aldi, et Andreae Asulani II Soceri, Mense Ianuario M. D. ΧΙΠ. 8°, pp. [76] 1-373 374: * 8 1-238 244 f. *iv: Aldus Manutius Rom. Andreae Nauagerio Patritio Veneto S.P.D.; *iiir: Inhaltsverzeichnis mit Angabe der Initia der Oden und der Seitenzahlen; *iiiir: Πινδάρου λυρικού γένος.; *νΓ: Καί άλλως έκ των Σου'ιδα.; *ν ν : Laus Pindari ex Horatio (carm. 4, 2, 1-32), dann griechische vitae des Kallimachos, Dionysius Perihegetes und Lycophron; p. 1: ΠΙΝΔΑΡΟΥ ΟΛΥΜΠΙΟΝΙΚΑΙ.; p. 65: ΠΙΝΔΑΡΟΥ ΠΥΘΙΟΝΙΚΑΙ.; p. 144: ΠΙΝΔΑΡΟΥ NEMEONIKAI.; ρ. 196: ΠΙΝΔΑΡΟΥ ΙΣΘΜΙΟΝΙΚΑΙ. E: Ars 8° BL 3848; HL *OGC.P653.513 [BL 685.d.l und 160.C.13 und G.8401; BN Rés. Yb 716 und 717 und 718; Col BP 884.5 I; DB; Gö 8' Auct. Gr. I 605; HAB Lg 1616.3; SG OE a 8M10 Rés. inv. 243; YU Gfp61.c513], R: A D A M S , Cambridge Ρ 1218; BRUNET, Manuel du libraire 4, 657f. und Suppl. 2, 240; FlRMIN-DlDOT, Aide Manuce 363-367; GEANAKOPLOS, Greek Scholars in Venice 146; GENTILINI, Fortuna neogreca 15f.; G E R B E R , Bibliography of Pindar 1; GRAESSE, Trésor de livres rares 5, 293; Griechische Handschriften 144f.; HEYNE, Pindari carmina 1, 37f.; IRIGOIN, Histoire du texte 399-408; NUC N P 0371452; RENOUARD, Annales des Aide 139-141; RICO, Bibliografia pindàrica 1; SANDYS, History of Classical Scholarship 2,

118.

A: Ob die einflußreiche Erstausgabe Pindars wirklich von dem griechischen Gelehrten Marcus Musurus (ca. 1470-1517, Schüler von Janos Laskaris) besorgt wurde, wie IRIGOIN, Histoire du texte vermutet hatte, ist recht unsicher, vgl. SICHERL, Johannes Cuno 101, derselbe in Griechische Handschriften, sowie IRIGOIN/MONDRAIN, „Marc Mousouros" 262. Die Datumsangabe im Kolophon scheint zunächst auf den Januar 1514 hinzuweisen (und so wird die Ausgabe auch von FlRMIN-DlDOT datiert), da im 16. Jahrhundert in Venedig noch die alte Zeitrechnung üblich war, nach der das Jahr Ostern beginnt (vgl. F L E T C H E R , New Aldine Studies 178); die Angabe „Mense Ianuario M. D. XIII." würde dann nach unserer Zeitrechnung den Januar 1514 bezeichnen. Im Widmungsbrief an Andrea Navagero (Ausgabe des Briefes in Aldo Manuzio editore 1, 106-108, italienische Übersetzung ebd. 2, 275f., französische Übersetzung bei FlRMIN-DlDOT, Aide Manuce 364-367) wird aber die Veröffentlichung von Ausgaben der griechischen Redner und Piatons für die

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Anhang 1: Pindarausgaben bis 1630

Zukunft angekündigt, die eindeutig auf 1513 datiert sind (vgl. IRIGOIN, Histoire

du texte 400).

2. Calliergi, Rom, 1515 Π Ι Ν Δ Α Ρ Ο Υ , II ΟΛΥΜΠΙΑ. ΠΥΘΙΑ. II ΝΕΜΕΑ. ΙΣΘΜΙΑ. II Μ ε τ ά έξηγήσεως π α λ α ι ά ς πάνυ ώφελί II μου, καί σχολίων όμοιων. II [Druckermarke] II ^ Impressi Romae per Zachariam Calergi Cretensem, per II missu S + D + N + Leonis +X+ Pont+ Max+ ea etiam condì II tione, ut nequis alius per quinquennium hos imprimere, II aut uenundare Libros possit: utq; qui secus fecerit, is ab uni II uersa dei Ecclesia toto orbe terrarum expers excommunica II tusq; censeatur+ [Kolophon, f. Pviii r ] Ή του π ι ν δ ά ρ ο υ περίοδος α ΰ τ η ί , των ολυμπιονικών, πυθιονίκων, νεμεονίκων τε II καί ίσθμιονίκων, έν 'Ρώμη τή β α σ ι λ ί δ ι των πόλεων, παρά τοις οίκίοις του μεγαλοπρε II πους Αυγουστίνου του κισίου έντυπωθεισα, πέρας ε'ίληφεν ήδη σϋν θεώ. ά ν α λ ώ μ α σ ι II μεν τοις αύτοΰ, δια παραινέσεως του λογίου ανδρός Κορνηλίου βενίγνου του ούϊτερβι II έως, πόνω δέ καί δεξιότητι, Ζαχαρίου καλλιέργου του κρητός. "Ετει τώ άπό της ένσάρ II κου οικονομίας του κυρίου ημών ίησοΰ ΧΡΙΣΤΟΥ, χιλιοστώ, φίε'. μηνός αϋγούστου, ιγ'. II ΛΕ'οντος δεκάτου μεγίστου άρχιερέως, όσίως οίακονομοΰντος 'Ρώμην. II Ή τών τετραδίων κατά τάξιν ακολουθία. II α.β.γ.δ.ε.ζ.η.θ.ι.κ.λ.μ.ν.ξ.Α.Β.Γ.Δ.Ε.Ζ.Η.θ.I.Κ.Λ. II Μ.Ν.Ξ.Ο.Π.Ρ. II "Απαντά είσι τετράδια, πλην τών .α.ι.ν.ξ. ό'ντων τριαδίων, καί του .θ. πενταδίου. 4°, pp. 480: α 4 β-θ 8 ι 6 κ-μ 8 ν-ξ 6 A-Η 8 θ 1 0 Ι-Ρ 8 f. αΙ ν : Λαμπρίδιος. Κορνηλίω βενίγνω τώ οΰϊτερβιεΐ (4 Distichen), γένος (vita Thomana, griechisch); αΙΙ Γ : Vita aus der Suda, Vita metrica (beide griechisch); αΙΙ ν : Περί λυρικών ποιητών, Εις τους αυτούς ήρωελεγειοι; αΙΙΙΓ: Περί κώλων τών στροφών, άντιστροφών τε, καί έπωδών, Περί τών είκοσιοκτών ποδών; αΙΙΙ ν : Περί δισσυλάβων ποδών; aIV r : Περί τών κώλων της στροφής καί αντίστροφης, του πρώτου τών ολυμπίων είδους; a I V v : Περί της έπιγραφής αύτοΰ; ßl r : Olympische Oden; κΙΓ: Σ χ ό λ ι α νεωτέρων, πάνυ καί αΰτα ωφέλημα, ως έξ αυτών έστι δήλον, εις τα πινδάρου ολύμπια. 'Ή κατά τινας, Δημητρίου του τρικλινίου; ΑΙΓ: Pythien; ΙΙΓ: Nemeen; OIr: Isthmien. E : Ars 4° BL 1603; HL *OGC.P653.515 [BL 75.e.9 und 688.g.2 und C.77.C.13 und G.8821; BN Rés. Yb 231 und 242; DB; Gö 8° Auct. Gr. II 4700; YU Gfp61.c515 und 1987.+56],

Anhang 1: Pindarausgaben bis 1630

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R: ADAMS, Cambridge Ρ 1219 und 1220 und 1221; BRUNET, Manuel du libraire 4, 658 und Suppl. 2, 240; FLRMIN-DLDOT, Aide Manuce 563f.; GEANAKOPLOS, Greek Scholars in Venice 214f.; GENTIUM, Fortuna neogreca 16; GERBER, Bibliography of Pindar 1; Graecogermania 76. 86f.; GRAESSE, Trésor de livres rares 5, 293f.; HEYNE, Pindari carmina 1, 38f.; IRIGOIN, Histoire du texte 408-420; IRIGOIN, Scholies métriques 109-114; NUC NP 0371454 und 0371456; RICO, Bibliografía pindàrica 1; SANDYS, History of Classical Scholarship 2,107. A: Die Seitenangabe 2 und die ungeraden Seitenzahlen 3-71 sind im Exemplar der Houghton-Library in Tinte von einer wohl aus dem 16. Jahrhundert stammenden Hand eingetragen. Calliergis Pindaredition war das erste Buch, das in Rom ganz in griechisch gedruckt wurde. Die Anordnung der Ausgabe folgt eng den Manuskripten: Relativ kleine Textpassagen sind von umfangreichen Scholien umgeben. Auf der jeweils ersten Seite der Olympien und Pythien sind die Lemmata im Scholienkorpus rot gedruckt, auch dies in Anlehnung an einige Handschriften (so z. B. im Vaticanus gr. 41, Matritensis 4633, Parisinus suppl. gr. 158, Vaticanus Urbin. gr. 144). Die Ausgabe machte Epoche und wurde oft nachgeahmt, insbesondere die dem eigentlichen Text vorgestellten, den Scholien entnommenen Stücke (Viten, metrische Abhandlungen usw.; zu ihrer Herkunft aus den Manuskripten vgl. IRIGOIN, Histoire du texte 410f.) wurden geradezu kanonisch.

3. Melanchthon (?), Ol. 14, Leipzig, 1519 iumrahmte Titelseite] EI ΚΑΛΩΣ EIPHTAI TO ΛΑΘΕ II Β Ι Ω Σ Α Σ . ΣΥΝΤΑΓΜΑ TOY II ΠΛΟΥΤΑΡΧΟΥ : II RECTE NE DICTVM SIT II an secus, sie viue vt nemo te II vixisse sentiat, Plutar= II chi cömentarius. II Εκ των του Π ι ν δ ά ρ ο υ ολυμπίων ε'ίδοσ II ι δ ' τω Ασωπίχω Ορχομενίω II π α ί δ ι κ λ ε ο δ ά μ ο υ σ τ α δ ι ε ΐ . Il Ex Pindari vatis olympicis Ode xiiij. Il In gratiam Asopichi Orchomenij, Il qui puer cursu vicit II Olympia. [Kolophon, f. ß3 r ] H Ε'τυπώθη έν τη λ ι ψ ί α υπό των περί II Ο υ α λ ε ν τ ι ν ο ν τον Σκούμαννον δύο II και δεκάτη θ α ρ γ η λ ι ώ ν ο σ ί σ τ ι μ έ ν ο υ , II ετει τώ άπο τησ θεογονίασ II α φ ' ι θ ' : f. β 3 ν : ΕΚ ΤΩΝ ΤΟΥ ΠΙΝΔΑΡΟΥ ο λ υ μ π ί ω ν εϊδοσ ι δ ' τώ Ορχομενίω παίδι κλεοδάμου σταδιεΐ (nur griech. Text).

Άσωπίχω

Ε : HAB 166 Quod. (7). R: Graecogermania

152;VD 16 Ρ 2802.

A: Herausgegeben wurde der Text wohl ebenso wie die Plutarchabhandlung von Melanchthon, der das Vorwort zeichnet. Zum Drucker Valentin Schumann

270

Anhang 1: Pindarausgaben bis 1630

vgl. BENZING, Drucker im deutschen Sprachgebiet 278 und Graecogermania 141.

4. Negri, Praefatio, Mailand, 1521 [umrahmte Titelseite] STEPHANI II Nigri elegätissime è grçco II Authoç, subdito?, Trä= II slationes. uidelicet. II Philostrati Icones. Pythago= II rç Carme aureü Athençi col II lectanea Musonij philosophi II Tyrii de pncipe oprimo Iso= II cratis (Tregis muneribus oro. II & alia multa scitu digniss. & II rara inuëtu, quae uersa pagi= II na lector bone lubës, & gau= II dens inuenies. II Cü Gratia & Priuilegio. [Kolophon, f. xciijr] H Impressum Mediolani per Io. de Castelliono II Anno Dñi .M. D. XXI. Mensis Augusti. f. lxxixr-lxxxviijr: „Praefatio in Pindarü Poeta Eminentissimü a Stephano Nigro in Publico Gymnasio Mediolani habita." E: DB; Gö 8" Auct. Gr. 1, 4029. R:

BRUNET,

Manuel du libraire Suppl. 2, 27.

A: Das Werk besteht aus mehreren Teilen, jeder mit eigener Titelseite, einige auch mit eigenem Kolophon. Foliotiert ist es in zwei Partien, 1: f. i-xliij, 2: i-xciij; die „Praefatio in Pindarü" befindet sich in der zweiten Partie. Der Binnentitel des Teils lautet STEPHANI II Nigri chriç quinq; : prçfatio- II nes tres in Homerum: ï pin- II darfi: in .T. Liuiü: ad ïgenuos II pueros Antonium ac Guliel- II mü Illustrissimi uiri Antonij II prati utriusq; Galliae magni II Cancellarij filios missas (das Exemplar Bauers enthält nur diesen Teil). Zum Drucker Giovanni Castiglione vgl. B O R S A , Clavis typographorum 1, 105. Nachgedruckt wurde die „Prafatio" noch einmal in Stephani Nigri quae quidem praestare sui nominis ac studiosis utilia nouerimus, Basileae excudebat Henricus Petrus , p. 203-226.

5. Ceporinus, Basel, 1526 ΠΙΝΔΑΡΟΥ II ΟΛΥΜΠΙΑ, ΠΥΘΙΑ, II ΝΕΜΕΑ, ΙΣΘΜΙΑ. II PINDARI II Olympia, Pythia, II Nemea, Isthmia. II [Druckermarke] II BASILEAE PER AND. CRAT. II AN. M D. XXVI. 8·, pp. [72] 1-312 313-320: * 8 A4 B-T8 Υ6 Φ 4

Anhang 1: Pindarausgaben bis 1630

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f. *2 r : Linguarum candidatis Huldrichus Zuinglius sal., datiert 23. Februar 1526; p. 1: Olympien; 89: Pythien; 198: Nemeen; 269: Isthmien; f. Φ11: Huld. Zuing. candido lect. s. E: BN Yb 4279 und Rés. Yb 720; HL *OGC.P653.526 [BL 1067.k.l0 und 160.b.9; BN Rés. Yb 721; Col B88P63 IB 26; DB; Gö 8' Auct. Gr. II 4702; YU Gfp61.c526]. R: A D A M S , Cambridge Ρ 1222; B R U N E T , Manuel du libraire 4, 658; G E R B E R , Bibliography of Pindar 1; Graecogermania 153f.; G R A E S S E , Trésor de livres rares 5, 294; H E Y N E , Ρ indari carmina 1, 39; M / C NP 0371457 und 0371458 und 0371459; RICO, Bibliografia pindàrica 1; VD 16 Ρ 2794. A: In dem Exemplar BN Yb 4279 fehlen die Hefte * und Φ.

6. Molther, Ol. 1 und 2, Hagenau, 1527 PINDARI II OLYMPIORVM HYMNI PRI= II MVS ET SECVNDVS LATI II ΝΓΓΑΤΕ DONATI MEN= II RADO MOLTHERO II INTERPRETE SI= II MVL ET PA II RAPHRA II STE. II M. D. XXVII. [Kolophon, f. C7V] HAGANOAE APVD HENRI= II CVM GRAN, ANNO II M. D. XXVn. II MENSE SEPTEMBRI 8% pp. 40: A 8 Β 4 C 8 f. A2 r : „Clarissimo et praestantiss. uiro Chuonrado Peutingero I. V. Doctori, Menradus Moltherus s. d.", datiert Heidelberg, Cal. Martij 1527; A3 r : Pindari Olympiorum Víctores, primus hymnus; A7 r : Paraphasis in primum hymnum Pindari; B3r: „Ioanni Piniciano suo Menradus Moltherus s. d.", datiert Heidelberg, pridie Non. Martij 1527; B4 r : Pindari Olympiorum hymnus secundus; C4r: Paraphrasis in Olympiorum secundum hymnum; C7r: ,JEerrata" [iic!]. E: Bibliothèque municipale de Haguenau In 369 [BL 832.d.l4 (6)]. R: BENZING, Bibliographie Haguenovienne 44; BURG, Bibliothèque de Haguenau 384; GRAESSE, Trésor de livres rares 5,296; HEYNE, Pindari carmina 1, 39; Répertoire bibliographique XVIe 15, 44; PANZER, Annales typographici 7, 97; RICO, Bibliografia pindàrica 55; VD 16 Ρ 2805. A: Während Molther für Ol. 1, wie er im Widmungsbrief selbst angibt, eine sehr wörtliche Übersetzung gibt, versucht er für Ol. 2 eine dichterische Wiedergabe in sapphischen Strophen, wobei er sich für die ersten Verse auf Horaz, carm. 1,12 stützt. An die Übersetzung schließt sich jeweils eine Prosaparaphrase der Epinikien an. Das zuverlässige Répertoire bibliographique XVIe kennt nur die Exemplare in Hagenau und London. Zum Drucker Heinrich Gran vgl. BENZING, Drucker im deutschen Sprachgebiet 171.

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Anhang 1: Pindarausgaben bis 1630

7. Soter, Ol. 1, Köln, 1528 EPIGRAMMATA II GRAECA VETERVM ELE- II gantíssima, eademq; Latina ab utriusq; II linguae uiris doctissimis uersa, atq; II in rem studiosorum è diuersis II autoribus per Ioannê Sote II rem collecta, nunc- II que iterum II edita. II Α Ν Α Γ Ν Ω Σ Θ Η ι II τ α ε π ι γ ρ ά μ μ α τ α . II Τύτθ* ε ξ ε σ τ ' έσμεν καί παΰρ* έπιγράμματα, πικρά II άμμιν ομως ή κέντρ', ητ' οΰ χάρις εσπεται τύτθα. II [Druckermarke] II COLONIAE, Il ANNO MDXXVIII. p. 70: Ίερώνι Συρακουσίω, κέλητι. Είδος α'. Hieroni Syracusano equo uictori abeüti primus hymnus cätatus. E: Maz 21025 [BL 237.L36; BN Rés. Yb 963; Gö 8° Auct. Gr. I 2180], R: BRUNET, Manuel du libraire 5, 460; NUC NS 0737139; RICO, Bibliografía pindàrica 24. A: Die Pindarode findet sich noch nicht in der ersten Auflage, Coloniae, Anno MDXXV.

8. Lonicer, Basel, 1528 PINDARI II POETAE VETVSTISSIMI, II Lyricorüq; omniü principis, II Olympia, II Pythia, II Nemea, II Isthmia, II à Ioanne Lonicera latinitate donata. II [Druckermarke] II BASILEAE, APVD AND. CRAT. II AN. M. D. XXVIII. [Kolophon, f. 85v] BASILEAE APVD ANDREAM II CRATANDRVM, MEN= II SE MARTIO. II AN. M. D. XXVIII. 8', ff. [2] 1 2-85 86: A-L 8 f. A2 r : Brief Lonicers an M. Adamus, Fürst von Hessen, datiert Frankfurt 1527; l r : Olympia; 24v: Pythia; 53v: Nemea; 74 r : Isthmia; 85v: Erratum. E: HL *OGC.P653.526 [BL 11335.a.31; DB], R: GRAESSE, Trésor de livres rares 5, 296; HEYNE, Pindari carmina 1, 39f.; NUC NP 0371750; RICO, Bibliografia pindàrica 47; VD 16 Ρ 2797. A: Außer der Übersetzung bietet die Ausgabe, am Rand gedruckt, einige Erklärungen.

Anhang 1: Pindarausgaben bis 1630

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9. Lonicerus, Basel, 1535 PINDARI POE II TAE VETVSTISSIMI, LYRI- II coram facile principis, II OLYMPIA II PYTHIA II ΝΕΜΕΑ II ISTHMIA II Per loan. Lonicera latinitate donata: adhibitis enarratio= II nibus, è Graecis Scholiis, & doctissimis utriusq; linguç au II toribus desumptis: quarum suffragio Poeta, à paucis ha= II ctenus intellectus, nunc planior & illustrior redditur. II [Druckermarke] II Cum gratia & priuilegio Caesareo. II BASILEAE, II Apud Andream Cratandrum, II M. D. XXXV. 4', pp. [12] 1-458 459-474: α 6 A-Z 4 a-z 4 Aa-Mm 4 Nn 6 f. a l v : Epigramme von Euricius Cordus und Iacobus Micyllius; a2 r : Brief von Lonicerus an Iacobus à Tubenheym, datiert Marburg 1532; α3 Γ : Pindari encomium, a Ioanne Lonicero Marpurgi pronunciatum; p. 1 : Pindari Olympia; 155: Pythia; 305: Nemea; 404: Isthmia; f. Mm 2 r : Indices; Nn5v: Errata. E: BN Yb 248; HL *OGC.P653.E535 [BL c.47.f,16; BN Rés. Yb 238; Col Gonzalez Lodge 1535 P65; DB; Gö 8' Auct. Gr. II 4815; SG Y 4' 195 inv. 295], R: A D A M S , Cambridge Ρ 1234; G E R B E R , Bibliography of Pindar 7; G R A E S S E , Trésor de livres rares 5, 296; H E Y N E , Pindari carmina 1, 39f.; NUC NP 0371751; RICO, Bibliografia pindàrica 47; VD 16 Ρ 2798. A: Diese Ausgabe hat mit der von 1528 (8) kaum noch etwas gemeinsam: Die Übersetzung (in Prosa, Ol. 14 auch in Distichen) jeder Ode wird begleitet von einem „argumentum" und Erläuterungen („enarratio"), in den Erklärungen zu Ol. 1 findet sich auch ein Abschnitt über die Metrik „de ternario sectionum"; auch die Übersetzung selbst ist gründlich überarbeitet.

10. Wechel, Olympien und Pythien, Paris, 1535 ΠΙΝΔΑΡΟΥ II ΟΛΥΜΠΙΑ KAI ΠΥΘΙΑ. II PINDARI II OLYMPIA ET PYTHIA II [Druckermarke] II Parisiis II Ex officina Christiani Wechel. II sub scuto Basiliciensi. II M. D. XXXV. 8", pp. 1-2 3-80 97-190 191-192: a-e 8 g-m« p. 3: ΟΛΥΜΠΙΟΝΙΚΑΙ; 79: ΠΥΘΙΟΝΙΚΑΙ. E: Gö 8° Auct. Gr. II 4986; Maz 44696 [BL 160.a.l5],

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Anhang 1: Pindarausgaben bis 1630

R: ADAMS, Cambridge Ρ 1239; BRUNET, Manuel du libraire 4, 661; ELIE, „Chrétien Wechel" 193; GRAESSE, Trésor de livres rares 5, 296; HEYNE, Pindari carmina 1, 40; PANZER, Annales typographici 8, 189. A: Bietet nur den bloßen Text der Olympien und Pythien. Die Komposition des Buches ist auffällig: Die sechzehn Seiten, die das Heft f hätten ergeben sollen, sind weggefallen, der letzte Vers auf p. 80 ist Pyth. 1, 19a, der erste auf p. 97 Pyth. 1, 19b. Das Exemplar der Bibliothèque Mazarine enthält zahlreiche handgeschriebene Anmerkungen in Griechisch und Latein. Zum Drucker Christian Wechel vgl. RENOUARD, Répertoire des imprimeurs 434f. und Contemporaries of Erasmus 3, 434.

11. Brubacchius, Frankfurt, 1542 [umrahmte Titelseite, ΠΥΘΙΑ. II ΝΕΜΕΑ. ώφελίμου, καί σχολίΝΕΜΕΑ. ISTHMIA. II Anno II M. D. XLII.

in schwarz und rot] ΠΙΝΔΑ II ΡΟΥ II ΟΛΥΜΠΙΑ. ΙΣΘΜΙΑ. II Μετά έξηγήσεως π α λ α ι ά ς πά II ν υ II ων όμοιων. II PINDARI. IL OLYMPIA. PYTHIA. II FRANCOFORTI, opera & Il impensa Petri Brubacchij,

4°, ff. 1 2-370 371-378:

a-z 8 · 4 aa-rr 8 · 4 ss-tt8 uu-zz 8 · 4 aaa-nnn 8 · 4 ooo-ppp 8

qqq6 f. l v : Vitae, über die neun Lyriker, Metren Pindars; 5Γ: Olympien; 99 r : Σχόλια νεωτέρων zu den Olympien; 157r: Pythien; 257r: Nemeen; 333r: Isthmien; f. pppvii r : Index; qqqvv: Errata. E: HL *OGC.P653.542; Maz 10441 [BL 76.b.23 und 682.b.3; BN Yb 243; Col B88P63 IB 42; DB; Gö 8° Auct. Gr. II 4704; HAB Lg 1616.4; YU Gfp61x542], R: ADAMS, Cambridge Ρ 1223 und 1224; GERBER, Bibliography of Pindar 1; GRAESSE, Trésor de livres rares 5, 294; HEYNE, Pindari carmina 1, 40; IRIGOIN, Scholies métriques 115; NUC NP 0371460; RICO, Bibliografía pindàrica 1; VD 16 Ρ 2795. A: Jedes der vier Bücher der Oden hat eine eigene Titelseite. Wie schon aus dem Titel und der Inhaltsangabe ersichtlich ist diese Ausgabe ein (in Einzelheiten verbesserter, offenbar existieren auch mehrere états) Nachdruck der Edition des Calliergi (2), hinsichtlich der technischen Gestaltung (Anordnung von Text und Scholien) aber plumper als ihr Vorbild. Zum Drucker Peter Brubach (oder Braubach) vgl. BENZING, Drucker im deutschen Sprachgebiet 122. 172.

Anhang 1: Pindarausgaben bis 1630

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12. Lonicer, Zürich, 1543 R: GERBER, Bibliography of Pindar 7; GRAESSE, Trésor de livres rares 5,296; HEYNE, Pindari carmina 1, 39f.; RICO, Bibliografía pindàrica 47.

13. Soter, Ol. 1, Freiburg, 1544 EPIGRAM II MATA GRAECA VE II TERVM ELEGANTISSIMA, EADEM'QVE II Latina ab utriusq; lingua uiris doctißimis uersa, atq; in rem II studiosorum è diuersis autoribus per Ioannem II Soterem collecta. II ΑΝΑΓΝΩΣΤΗι TA II έ π ι γ ρ ά μ μ α τ α . II Τυτθ' εξεστ' έσμεν καί π α ϋ ρ ' έπιγράμματα, πικρά II αμμιν δμως η κέντρ', ήτ' οΰ χάρις εσπεται τύτθα. II EPIG. AD LECT. II Parua licet simus pauca ac epigrammata, amari II Nos tarnen aut Stimuli, sequitur seu gratia magna. II FRIBVRGI BRISGOIAE II Stephanus Grauius excu II débat An. M. D. XL1I1I. p. 78: „Atqui commonefacit me hic Hieronis incliti illius Syracusarum tyranni memoria, ut & adijciam hymnum primum των ολυμπιονικών, quem in eius potissimum laudem cecinit Pindarus, nemini imitabilis uates: quem Latio donauit MENRADVS MOLTHERVS." E: DB [BN Yb 2387; Gö 8° Auel. Gr. I 2185; HAB Τ 722.8 e Heimst. (2); SG Y 8° 227 Inv. 1329], R : BRUNET, Manuel du libraire 5 , 4 6 0 .

A: Zum Drucker Stefan Graf vgl. BENZING, Drucker im deutschen biet 148.

Sprachge-

14. Guillon, Olympien, Paris, 1548 DE GENERIBVS II CARMINVM GRAECORVM II Renato Guillonio Vindocineo II Autore. II [Druckermarke] II PARISIIS, II Excudebat Christianus Wechelus, sub Pegaso, II In vico Bellouacensi, Anno II M. D. XLVIII. 4', pp. 1 2-38 39-40: A-E4 p. 10-38: Metrische Analyse der olympischen Oden, der griechische Text der ersten Triade ist jeweils abgedruckt. E: DB; YU 1988.796.

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15. Laurus, Pyth. 3, Venedig, 1550 AELIANI II DE VARIA HISTORIA II LIBROS XIIIIIACOBVS LAV II REVS VENETVS E" GRAE II CO IN LATINVM II VERTEBAT. II ADIVNCTA EST ET ODE PIN II dari, quœ inscribitur in Hieronem Ce= II lete, ab eodem Heroico carmi- II ne donata. II Cum Indice copiosißimo rerum notabilium, II quœ in eis leguntur. II [Druckermarke] II IN VINETIA APPRESSO GABRIELI II GIOLITO DI FERRARII II MDL. f. 96 v : Pindari Pythiorum Ode tertia, quae inscribitur in Hieronem Celete ab eodem Iacobo Laureo Veneto heroico carmine donata, .Argumentum"; 97 r : Übersetzung. E: HL *OGC.Ae46A.E550 [BL 160.1.6; DB; Maz 52411; SG Q 8° 278 Res. inv. 1110 Pièce 1]. R: HEYNE, Pindari carmina 1, 50; NUC NA 0083159. A: Am Rande der Übersetzung gedruckt finden sich Anmerkungen; es handelt sich hauptsächlich um mythographische Erläuterungen, Lokalisierung der Mythen bei Virgil und Ovid usw. Das Gedicht selbst wird eingeteilt in 15 „parecbasis". Zum Drucker Gabriele Giolito de Ferrari vgl. B O R S A , Clavis typographorum 1, 163.

16. Majoragio, Praefatio, 1550 M. ANT. MAIORAGII II ORATIONES II ET PR/EFA= II TIONES, II Vnà cum Dialogo II DE ELOQVENTIA, II Olim à loan. Petro Ayroldo Marcellino, II Venetijs in lucem prolatœ, II NVNC VERO, MENDIS INFI- II nitis exemtis, ad Iuuentutis vtilita- II tem denuò editae. II [Druckermarke] II COLONIA AGRIPPIN/E, II Apud Ioannem Gymnicum, sub Monoce- II rote. ANNO M. DC. XIV. II Cum gratia & priuileg. S. Cœs. Maiest. E: HL MLm 144.20*. A: Majoragios Werke wurde in vielen Nachdrucken neuaufgelegt (mindestens zehn davon habe ich bibliographisch nachweisen oder in Bibliotheken finden können); einige von ihnen (wie zum Beispiel der oben aufgenommene) geben an, die Orationes et prœfationes seien zuerst 1550 in Mailand erschienen. Diese Erstausgabe habe ich jedoch weder bibliographisch nachweisen noch auffinden können, weshalb ich auf diesen Nachdruck zurückgreifen mußte; dort findet man p. 600: „In Pindarum. Prœfatio IUI."

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17. Bosche, Olympien, Löwen, 1553 ΠΙΝΔΑΡΟΥ II ΟΛΥΜΠΙΑ. II PINDARI II OLYMPIA. II Calci addita sunt, quae castigauit & annota- II uit in hunc autorem, Ioannes Lonaeus II Boscius. II [Druckermarke] II Louanii II Ex officina Bartholomei Grauij II Anno 1553. II Cum Gratia & Priuilegio C. M. 8', pp. 1-2 3-88: α-ε 8 ζ 4 . p. 3: Olympien. E: YU Gfp61.D553. R: NUC NP 0372070. A: Enthält, entgegen der Ankündigung der Titelseite, nur den griechischen Text der Olympien. Dennoch scheint das einzige gefundene Exemplar vollständig zu sein (die Signaturen zeigen, daß Heft ζ von vornherein nur mit zwei Doppelblättern vorgesehen war).

18. Antesignanus, Ol. 1, Lyon, 1554 INSTITVTIONES II LINGVO GR/ECE, II N. CLENARDO AVTHORE, II CVM II Scholijs P. Antesignani Rapistagnensis. II Quid hoc libro contineatur, tertium folium indicabit. II [Druckermarke] II LVGDVNI, II Apud Matthiam Bonhomme. II M. D. LIIII. II CVM PRIVILEGIO REGIS. R: BAKELANTS/HOVEN, Bibliographie de Clénard Nr. 130. A: Von den ungeheuer zahlreichen Drucken der griechischen Grammatik Cleynaerts notiere ich nur diesen, der zum ersten Mal die „Praxis praeceptorum grammatices" des Pierre Antesignanus (das wenige, das wir über sein Leben wissen, ist in der Beschreibung der Ausgabe bei BAKELANTS/HOVEN gesammelt) und in ihr eine Teilausgabe der ersten olympischen Ode enthält. Ich habe diese Ausgabe nicht sehen können, meine Umschrift der Titelseite stammt von der Photographie bei BAKELANTS/HOVEN, Bibliographie de Clénard 2, 79; das von mir eingesehene Exemplar ist ein Nachdruck aus dem Jahre 1566 (BAKELANTS/HOVEN Nr. 185, HL JH 153). Die Seiten 235-263 enthalten griechische Originaltexte in steigendem Schwierigkeitsgrad, mit umfangreichem Kommentar. Pindar bildet den Abschluß der mit dem Vaterunser beginnenden Reihe, p. 260: „Pindari Olympia siue Olympiae-victores / Πίνδαρου ολύμπια ή ολυμπιονικαι", es ist dies der Text der ersten Triade von Ol. 1 mit einer

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lateinischen Interlinearversion und ausführlichen, vor allem sprachlichen Erklärungen.

19. Ceporinus, Basel, 1556 ΠΙΝΔΑΡΟΥ II ΟΛΥΜΠΙΑ, ΠΥ- II ΘΙΑ, ΝΕΜΕΑ, II ΙΣΘΜΙΑ. II PYNDARI OLYM- II PIA, PYTHIA, NE- II MEA, ISTHMIA. II [Druckermarke] II Hœ Victorice, ad emendatü doctiß. Iacobi Cœpo- II rini exemplar collatœ, nunc exeunt. [Kolophon, f. T7V] BASILEA, PER HEREDES II A N D R E J CRATANDRI, II Anno Salutis M. D. LVI. II Mense Septembri. 8% pp. [16] 1-292 293-304: α 8 A-T 8 f. α2 Γ : „Huldrichus Geminius linguarum candidatis s. d."; a 8 v : Inhaltsverzeichnis „Pindari Thebani, omnium Lyricorum principis, Victoria quatuor [...] Hasce omnes aliquando interpretatus est D. Ioannes Loniceras, quibus & docta adiunxit Commentarla."; p. 1: Olympien; 83: Pythien; 184: Nemeen; 252: Isthmien; f. Τ3Γ:„Huldrichus Geminius candido lectori s. d." E : Col B88P63 IB56; YU Gfp61.c526b [Gö 8° Auct. Gr. II 4706; HAB 141.46 Poet. (1) und Ρ 978.8° Heimst. (2)]. R: BRUNET, Manuel du libraire 4, 658; GERBER, Bibliography of Pindar 1; GRAESSE, Trésor de livres rares 5, 294; HEYNE, Pindari carmina 1, 40; NUC NP 0371462 und 0371463 und 0371464; RICO, Bibliografía pindàrica 1. A: Im wesentlichen ein Nachdruck der Ausgabe von 1526 (5).

20. Neander, Aristologia, Basel, 1556 ΑΡΙΣΤΟ- II ΛΟΓΙΑ ΠΙΝΔΑΡΙΚΗ ΕΛ- II λ η ν ι κ ο λ α τ ί ν η . II έν αΰτίί δε σπουδαίως συγκομισθέντα έστίν απαν- II τα, απερ έν Πινδάρω άοιδφ ώσπερ παλαιοτάτω, II οϋτω και σοφωτάτω αξιομνημόνευτα, καΐ II έν ανθρώπων βίω ώφέ'λιμα II τυγχάνει. II ARISTOLOGIA PIN- II DARICA G RUCOLA- II tina. Il Hoc est, quicquid est in Pindaro, uate ut uetustißi- II mo, ita quoq; castißimo & sapientißimo, memo- II rabile, notatu dignum, & rarum, nec alibi simili- II ter obuium: seu historia: notabiles, seu fabula iu- II cundifiimœ, seu sententiœ insignes & gra- II ues, plenœ doctrinœ & sapientiœ. II Ad finem accesserunt Sententiae quaedam utiles II & sapientes Nouem Lyricorum, ex uarijs II tum Patrum, tum Ethnicorum II libris collectae. II Omnia

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Grcecolatina, cum expositione, usu & accomoda- II tione singulorum: opera ac studio MICHAE- II LIS NEANDR1 Sorauiensis. II BASILEA, PER LV II douicum Lucium. [Kolophon, f. E3V] BASILEA, PER LVDOVI= II cum Lucium, Anno Salutis humance M. II D. LVI. Mense Augusto. 8°, p p . [32]

1 - 4 3 4 435-440:

α - β 8 a-z8 Α - D 8 E 4

f. α2Γ: Widmungsbrief an die „Cónsules & Senatoribus in inclyta Lignitia", datiert Ostern 1556; ρ. 1: Ad Valentinum Trozendorfium, alkaiische Ode Neanders, in Griechisch; 8: De vita Pindari poetae, lyricorum principis; 14: Horaz, carm. 4, 2, 1-32; 15: In Pindarum Philippus Melanchthon; 16: De ludis; 25: Auszüge aus den Olympien in Text und Übersetzung, umgeben von erklärenden Noten, Parallelpassagen usw.; 136: Pythien; 270: Nemeen; 326: Isthmien; 378: Gnomen der Lyriker aus der Sekundärüberlieferung; 434: Errata. E: Ars 8' BL 3873; HL *OGC.P653.556 [BL 685.d.2 und G.8403 und G.8383 (2) und 73.U9; BN Yb 1624; DB; Gö 8° Auct. Gr. II 5146; HAB 69 Poet. (2); YU Gfp61.a556], R: A D A M S , Cambridge Ρ 1 2 4 1 ; BRUNET, Manuel du libraire Bibliography of Pindar 11; H E Y N E , Pindari carmina NP 0372006; RICO, Bibliografia pindàrica 33.

4, 28; GERBER, 1, 40f.; NUC

A: Das Exemplar der Houghton Library trägt auf der Titelseite die handschriftliche Widmung „Suo Henrico Reddelio Neander dd", dieselbe Hand hat im Innern des Buches mehrere Korrekturen, zumeist von Druckfehlern, angebracht.

21. Morel, Paris, 1558 ΠΙΝΔΑΡΟΥ II ΟΛΥΜΠΙΑ, ΠΥΘΙΑ, II ΝΕΜΕΑ, ΙΣΘΜΙΑ. II PINDARI II OLYMPIA, PYTHIA, II ΝΕΜΕΑ, ISTHMIA. II [Druckermarke] II Βασιλεΐ τ ' ά γ α θ φ κρατερω τ ' αίχμηττί. II PARISIIS, M. D. LVIII. II Apud Guilielmum Morelium in Graecis typographum Regium. 4°, pp. [4] 1-80 88-200 193-258 547-586: a 2 Α-C 8 D 4 E 8 F 4 G-L 8 Μ 4 N 6 OQ8 R4 S 6

T

.V8

X

4

f. a2 r : Vita aus der Suda (griechisch);