Pierre Bourdieu und die Fotografie: Visuelle Formen soziologischer Erkenntnis. Eine Rekonstruktion 9783839458730

Pierre Bourdieus sozialanthropologische Feldforschung ist bis heute wohl einzigartig geblieben. Die Beiträger*innen des

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Pierre Bourdieu und die Fotografie: Visuelle Formen soziologischer Erkenntnis. Eine Rekonstruktion
 9783839458730

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Franz Schultheis, Stephan Egger (Hg.) Unter Mitarbeit von Charlotte Hüser Pierre Bourdieu und die Fotografie

Bourdieu-Studien  | Band 1

Alle fünf Bände der Serie »Visuelle Formen soziologischer Erkenntnis« werden von Franz Schultheis und Stephan Egger unter Mitarbeit von Charlotte Hüser herausgegeben. Die Serie erscheint in der Reihe »Bourdieu-Studien«.

Franz Schultheis, Stephan Egger (Hg.) Unter Mitarbeit von Charlotte Hüser

Pierre Bourdieu und die Fotografie Visuelle Formen soziologischer Erkenntnis. Eine Rekonstruktion

»La plupart des questions que je me pose […] prennent sans doute leurs racines dans le sentiment d’être dans le monde intellectuel un étranger« (Pierre Bourdieu) A Stephan, l’ami, qui nous a quittés beaucoup trop tôt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Foto von Pierre Bourdieu mit Kamera, vermutlich aufgenommen von Abdelmalek Sayad; späterer Fund — noch nicht archiviert Korrektorat: Luisa Bott, Bielefeld Lektorat: Antonia von Consbruch Satz & Bildbearbeitung: Michael Rauscher, digitron GmbH Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg Print-ISBN 978-3-8376-5873-6 PDF-ISBN 978-3-8394-5873-0 https://doi.org/10.14361/9783839458730 Buchreihen-ISSN: 2749-764X Buchreihen-eISSN: 2749-7658 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Danksagung Die Erforschung der Visuellen Soziologie Pierre Bourdieus wurde dank der großzügigen Unterstützung des Vorhabens durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft ermöglicht. Ihr gilt unser besonderer Dank.1 Dank gilt auch dem artsprogram der Zeppelin Universität. Mit der hier im Herbst 2019 präsentierten Ausstellung des gesamten fotografischen Fundus unter dem Titel »Der verstehende Blick  – Fotografien von Pierre Bourdieu« bot sich uns ein anregender Rahmen für den Einstieg in das Forschungsprojekt. Weiterhin bedanken wir uns bei der Zeppelin Universitätsgesellschaft für die gewährte finanzielle Unterstützung der Publikationen. An der Forschung selbst waren neben den Herausgebern in verschiedenen Rollen und Funktionen auch Charlotte Hüser, Antonia von Consbruch, Matthias Fringant und Nasser Tafferand beteiligt. Auch ihnen ist Dank geschuldet. Dieses Buch ist ebenso wie die nachfolgenden vier Bände zur Visuellen Soziologie Stephan Egger gewidmet, der kurz vor Fertigstellung des Manuskripts verstarb. Mit ihm haben wir nicht nur einen langjährigen treuen Weggefährten, Freund und Kollegen verloren, sondern auch einen herausragenden Sozialwissenschaftler, dessen wissenschaftliches Ethos mit jenem Bourdieus wahlverwandt war. Pierre Bourdieu hat in kaum vergleichbarer Weise eine Soziologie betrieben, die mit Fotos, Fragebögen, Interviews, Zahlen und Fakten soziale »Wirklichkeit« einzufangen versuchte  – jenseits theoretischer Spekulation und statistischer Empirie. Er ist damit in den Sozialwissenschaften ein »Solitär«. Vielleicht gerade deshalb war diese Vorgehensweise entscheidend für die Herausbildung seiner epochemachenden Konzepte von »Habitus« und »Praxis«. Seine Zeit in Algerien, die er in tausenden Fotos dokumentiert hat, ist hier eine zentrale Erfahrung. Aus dem hinterlassenen, von der Camera Austria verwalteten Fotoarchiv und seinen zugehörigen Schriften wird in diesem Projekt eine Art von Soziologie vorgestellt, die soziale Wirklichkeit »sichtbar« und »greif bar« macht, eine »plastische« Soziologie, die es vor Pierre Bourdieu nicht gegeben hat und auch nach ihm möglicherweise nicht mehr geben wird. 1 | Im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts

»Fotografie als Instrument, Methode und Erkenntnisform soziologischer Forschung bei Pierre Bourdieu« wurde das Fotoarchiv Pierre Bourdieus digitalisiert und ist nun unter dem Link www.bourdieu-photo-archive.com öffentlich zugänglich.

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Inhalt Vorwort  ���������������������������������������������������������������������� 9 Franz Schultheis

Fotografie als Instrument, Methode und Erkenntnisform soziologischer Forschung bei Pierre Bourdieu  ���������������������������� 15 Ein Gespräch zwischen Pierre Bourdieu und Franz Schultheis

Mit dem Objektiv sehen Im Umkreis der Fotografie  �������������������������������������������������� 43 Stephan Egger

Die Gestalt des Gesellschaftlichen Zu Bourdieus »plastischer« Soziologie  ������������������������������������� 61 Christine Frisinghelli

Anmerkungen zu den fotografischen Dokumentationen von Pierre Bourdieu  �������������������������������������������������������� 67 Tassadit Yacine

Algerien – Matrix eines Werks  ���������������������������������������������� 75 Akli Kebaili

Heimat und Fremdheit Eine Zeugenschaft  ���������������������������������������������������������� 89 Pierre Bourdieu

Für Abdelmalek Sayad  ������������������������������������������������������ 99 Franz Schultheis und Christine Frisinghelli

Orte und Geschichten Das Fotoarchiv  ������������������������������������������������������������� 107 Stephan Egger

Zum vermeintlichen Paradox einer Fotografie unter Herrschaftsbedingungen  ������������������������������������������� 115

Autorinnen und Autoren, Mitwirkende  ������������������������������������ 119 Textnachweise  ������������������������������������������������������������� 121 Bildnachweise  ������������������������������������������������������������� 123

Vorwort Der Untertitel des vorliegenden Bandes, Visuelle Formen soziologischer Erkenntnis, steht zugleich für ein insgesamt auf fünf Bände ausgelegtes Publikationsvorhaben, bei dem die Bedeutung der Fotografie und deren vielfältige Gebrauchsweisen und Funktionen im Werk Pierre Bourdieus rekonstruiert und sichtbar gemacht werden. Dieser erste Band dient der Einführung in die Rolle der Fotografie als Instrument, Methode und Erkenntnisform der soziologischen Forschung Bourdieus, der Kontextualisierung dieser Praxis im Algerien des Kolonialkriegs und der Stellung visueller Objektivierung in Bourdieus Werk. Es folgen vier thematische Bände, in denen mit der von Bourdieu selbst entwickelten Kompositionstechnik ein Dialog zwischen den jeweils korrespondierenden fotografischen Zeugnissen seiner Feldforschungen und deren in Publikationen Bourdieus verschrifteten Beschreibungen und sozialtheoretischen Analysen präsentiert werden. In Band zwei wird auf diese Weise die für Bourdieus Habitus-Theorie impulsgebende Interdependenz von Habitat und Habitus thematisiert. Es folgen, nach gleichem Konstruktionsprinzip, dialogisch gestaltete Bände zu den thematischen Schwerpunkten »Geschlechterverhältnisse«, »Arbeit und Elend« und schließlich jenen »Ungleichzeitigkeiten«, die der koloniale Kontext im Leben seiner Bewohner zurücklässt. Was wird mit dieser Reihe zu Pierre Bourdieus Visueller Soziologie bezweckt? Es geht um nicht mehr, aber auch um nicht weniger als die Frage, wie Erkenntnis in den Humanwissenschaften wirken kann und wirken soll. Bourdieus Studien, gerade im algerischen Kontext, sind ein herausragendes Beispiel dafür, wie eine soziale Welt als »Welt« für ihre »Bewohner« sinnlich erfassbar wird – die fotografische Dokumentation dieser Welt ist hier nur als Hinweis darauf zu verstehen, wie tief verstrickt menschliche Praxis in ihren Bildern von sich selbst erlebt wird. Bourdieu hat während seiner Zeit in Algerien tausende Fotos aufgenommen, in der von der modernen, auch der arabischen Kultur fast unberührten Kabylei, das brutale Eindringen der kolonialistischen »Moderne« in die traditionelle Kultur Nordafrikas, ihre Sichtbarkeit im städtischen Umfeld und die Verdrängung einer bäuerlichen Gesellschaft zugunsten einer kapitalistischen Ökonomie, die den durch diese »Modernisierung« Enteigneten jene Arbeitskräfte zuführte, mit denen sie »wirtschaften« konnte, ohne ihnen ein eigenes Selbstbewusstsein, eine eigene »Ehre« zuzugestehen, die bis dahin den Zusammenhalt dieser Gesellschaften garantierte – die Elendsviertel der größeren Städte, das städ9

tische Subproletariat sind nur die krassen fotografischen Beispiele für diese umfassende ökonomische, soziale, kulturelle und symbolische Enteignung, der Zusammenbruch der familiären Strukturen, die Kinder und Jugendlichen auf der Straße, all dies hat Bourdieu in seinen Fotos festgehalten. Wie sieht der Mensch sich selbst? Er »sieht« sich im buchstäblichen Sinne in einer Welt, deren Sichtbarkeit mit allen Zutaten ihrer Häuslichkeit, ihrer Arbeiten, ihrer Dialoge und Riten die Grundlage seines Daseins ausmacht. Dies ist der Ursprung der Visuellen Soziologie Bourdieus und auch der Kristallisationskern seiner Theorie der sozialen Welt. Mit dieser Reihe wird versucht, diesen Dialog zwischen sinnlicher Wahrnehmung und theoretischer Herausbildung dieser epochalen Theorie selbst in sinnlicher Art und Weise erfahrbar zu machen. Zu dieser Einführung in die Visuelle Soziologie Bourdieus gehört auch seine algerische Erfahrung als solche. Deshalb sind vorliegendem Einführungsband drei Texte beigegeben, die den Umkreis dieser Erfahrung beleuchten. Sie bildet, wie Tassadit Yacine in einem ersten Beitrag überzeugend darlegt, die »Matrix« eines Werks, das immer wieder an diese Ursprünge zurückkehrt, erinnert also an diese entscheidende Formationsphase der Bourdieu’schen Soziologie. Der zweite Beitrag von Akli Kebaili legt Zeugnis ab über die Verhältnisse im kolonialen Algerien zur Zeit der Befreiungskriege und versucht, aus sehr persönlicher Sicht, die damit einhergehenden, oft traumatischen Erfahrungen dem Vergessen zu entreißen – plastisch und eindringlich. Schließlich ein kurzer Text von Bourdieu selbst, in dem er seinen wichtigsten Mitarbeiter und Freund Abdelmalek Sayad nach seinem verfrühten Tod auf mitfühlende und gleichzeitig bewundernde Art ehrt, seinen Mut, seinen zurückhaltende und deshalb so fruchtbare Zugangsweise während ihrer Forschungen in einem kriegsgeschüttelten Land, sein Werk, das mit der post­humen Veröffentlichung von La double absence. Des illusions de l’émigré aux souf frances de l’immigré einen »klassischen« Höhepunkt erreicht. Von ihm stammt im Übrigen auch das Foto Bourdieus mit seiner Kamera, das hier als Cover dient. Bourdieu hat mit Sayad unter diesen ungemein schwierigen Verhältnissen seine Feldstudien betrieben, dabei rund 3.000 Fotos aufgenommen, von denen sich etwa 1.200 im Archiv der Camera Austria befinden und für die Publikationen zu seiner Visuellen Soziologie zur Verfügung stehen  – ein veritabler Schatz nicht nur für das Verständnis der Koordinaten der Bourdieu’schen Soziologie, sondern nicht zuletzt für die Soziologie überhaupt.

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»Ich werde hier versuchen, einige Prinzipien der Forschung aufzuzeigen, selbst wenn mir klar ist, dass dies nicht alle Probleme löst. Das Wesentliche bleibt aber, dass man nachdenkt, wenn einmal ein Problem auftaucht. Eine der Schwierigkeiten bei der Transkription ist ein wenig wie jene, die sich beim wissenschaftlichen Photo auftut. Das geschah sehr häufig, als ich in Algerien war, Photos gemacht habe, sie den Leuten zeigte und sie nichts ›erkennen‹ konnten. Tatsächlich erzählt das Photo sehr oft nur, wenn man weiß, was man dort erkennen will (das gilt übrigens ganz allgemein). Es gibt nichts Schwierigeres, als soziologisch über ein Photo zu sprechen, selbst wenn es dem Soziologen in die Augen springt, ist hier nichts evident. Ich hatte etwa vor, eine Nummer von Actes zu entwerfen, die fast ausschließlich aus Photos bestehen sollte, um zu zeigen, dass Photographie eine Sprache wie andere sein könne, aber das ist ganz schwierig. Das Photo für sich genommen spricht nicht und eine Art der Konstruktion ist es dann, mehrere Photos nebeneinander zu stellen, weil dies sofort Gegensätze zum Sprechen bringt (in der ersten Nummer von Actes habe ich das mit den Modeschöpfern gemacht, ihre Unterschiedlichkeit erzeugte eine Art von Sprache, jedenfalls für den, der es zu sehen wusste). Wenn man die Dinge konzeptuell anspricht, sehen die Leute, die hier nichts erkennen konnten, noch weniger, und wenn man darauf hinweist, gerät man in Gefahr, zu stigmatisieren. Man muss also oft auf Schriftliches zurückgreifen und sieht sich dann demselben Problem gegenüber wie ein Schriftsteller: Man muss gleichzeitig ein Bild erstehen lassen und dazu Begriffe liefern (Photos sind hier immer sehr nützlich, wahnsinnig viele Dinge, die man nur im Nachhinein erkennt; wenn man sich im Feld bewegt, wird man überflutet und hat keine Begriffe dafür, erst wenn man daran arbeitet, sagt man sich: ›Das habe ich ja gar nicht gesehen‹. Deshalb ist es gut, die Dinge zu sammeln, damit man sie später in Ruhe betrachten kann). Wie also bewerkstelligen, damit etwas bedeutend erscheint, ohne den Leser zu manipulieren? Man muss etwas konstruieren, indem man die Bausteine der Kon­struktion dem Material selbst entnimmt, eine Art Selbstkon­struktion in Gang setzt, während man aber die Konstruktionsarbeit benennt: ›Wir zeigen Ihnen hier Schlaglichter auf das Leben, aber wir behaupten nicht, dass dies die Realität ist‹, ›es ist aus der Realität konstruiert, durch Schnittfolgen.‹« Pierre Bourdieu, Séminaire Enquête, Collège de France, 14. März 1991

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Quelle: Andrea Rapini, aus In Algeria. Immagini dello sradicamento, Rom: Carocci, 2012.

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Franz Schultheis

Fotografie als Instrument, Methode und Erkenntnisform soziologischer Forschung bei Pierre Bourdieu Manchmal machte ich Fotos aus dem einzigen Grund, um mich später daran erinnern zu können, um später etwas beschreiben zu können, oder aber ich fotografierte Gegenstände, die ich nicht mitnehmen konnte. Aber es gab da auch noch etwas Anderes: Das Fotografieren war auch, wie soll ich sagen, eine Art und Weise zu schauen. Pierre Bourdieu

In einem viel zitierten Essay aus dem Jahr 1974 schreibt Howard Becker: »Sociologists today know little of the work of social documentary photographers and its relevance to what they do. They seldom use photographs as a way of gathering, recording or presenting data and conclusions«.1 Becker konnte nicht wissen, dass Pierre Bourdieu genau dies bereits Ende der 1950er-Jahre ausgiebig und systematisch praktizierte und dass Fotografieren im Rahmen seiner frühen Feldforschungen nach seiner eigenen Aussage an der »Konversion« seines Blicks auf das Gesellschaftliche und seine biografische Konversion vom Philosophen zum Ethnologen und Soziologen maßgeblichen Anteil hatte. Während seiner algerischen Feldforschungen hielt Bourdieu einige tausend fotografische Dokumente fest, die er datiert und geografisch verortet über viele Jahrzehnte als eine zentrale Quelle seiner wissenschaftlichen Studien nutzen sollte. Fotografie diente ihm sowohl als Instrument, Methode und Erkenntnismittel seines Forschens und wurde dann zum Ausgangspunkt einer sukzessiven 1 | Howard Becker, Photography and sociology, Studies in the Anthropology of Visual Communication, 1, 1974, 6.

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Ausweitung seiner »visuellen Soziologie« auf den Bereich der Forschung »über« Fotografie in seiner bekannten Studie Eine illegitime Kunst bis hin zum ausgiebigen und systematischen Einsatz visueller Dokumente in seiner Revue Actes de la Recherche en Sciences Sociales oder Werken wie Die feinen Unterschiede. Ulf Wuggenig hat zu Recht betont, dass sich Bourdieu im Laufe seiner Karriere eines Rückgriffes »auf visuelle Aussageformationen« bediente, der in seiner Breite und Vielfalt in der Soziologie einzigartig sein dürfte.2 Er nutzt die Fotografie aktiv und systematisch als Teil seiner Forschungskonzepte zur Beobachtung, Beschreibung und Analyse gesellschaftlicher Phänomene, setzt sie konsequent als Instrumente wissenschaftlicher Forschung ein. Dadurch erweitert er das Forschungsrepertoire der Sozialwissenschaften um originär empirisch-fotografische Bildpraktiken. Umso mehr überrascht, dass diese visuelle Komponente des Bourdieu’schen Werks bis heute keine angemessene Würdigung erfahren hat: »While Bourdieu’s early writings on Algeria are increasingly read alongside with, and as fundamental to, his later work, his engagement with photography remains relatively unknown«.3 Hauptgrund für dieses Manko dürfte sein, dass bisher nur ein Bruchteil des Bourdieu’schen Fotoarchivs zugänglich ist und dessen wissenschaftliche Sichtung inklusive einer inhaltlichen Auf bereitung und Veröffentlichung noch aussteht. Eine Schließung dieser Lücke ist deshalb nicht nur von Interesse für eine adäquate Rezeption der Bourdieu’schen Forschungspraxis und Theoriebildung – insofern ihm die Fotografie als wesentlicher Zugang zu einer dichten Beschreibung sozialer Wirklichkeiten diente, eröffnet sich hier die Möglichkeit, die für sein Werk kennzeichnende intensive Verschränkung visueller und diskursiver Zugänge im Detail zu rekonstruieren. Insbesondere ist hier der Anteil dieser »visuellen Soziologie« an der Ausarbeitung zentraler Konzepte wie »Habitus«, »symbolisches Kapital« oder »symbolische Gewalt« zu vergegenwärtigen. Andererseits kann eine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit der visuellen Soziologie Bourdieus dazu 2 | Ulf Wuggenig, Die Übersetzung von Bildern. Das Beispiel von

Pierre Bourdieus La distinction, in Beatrice von Bismarck, Therese Kaufmann & Ulf Wuggenig (Hg.), Nach Bourdieu. Visualität, Kunst, Politik, Wien: Turia + Kant, 2008, 143–193, hier 144. 3 | Muriam Davis  & Pierre Bourdieu, Picturing Algeria, Arab Studies Journal, 2013, 71–73, hier 71.

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dienen, den Gebrauch der Fotografie in der sozialwissenschaftlichen Praxis neu zu beleben. Dafür fehlt es bisher an einem geeigneten paradigmatischen Koordinatensystem, das dieser Praxis ein ausreichendes Maß an Kohärenz, Sichtbarkeit und Resonanz verleihen könnte, um zu einer Reintegration in den akademischen Methodenkanon zu gelangen. Bourdieus fotografisches Werk bietet also das Potential an empirischer Fundierung, methodischer Stringenz und gesellschaftstheoretischer Ref lexivität, um dies in exemplarischer Weise zu leisten.

Von der Dokumentar- und Sozialfotografie zur Visuellen Soziologie Schon vor einem halben Jahrhundert plädierte Howard Becker für eine Öffnung soziologischer Forschung für die in der sozialen Dokumentarfotografie seit langem gebotenen anschlussfähigen Praxen der visuellen Repräsentation gesellschaftlicher Phänomene.4 Unter den Entwicklungen von der Sozialfotografie hin zur visuellen Sozialwissenschaft ist zum einen an die frühen sozialkritischen Arbeiten im  – vorwiegend  – angelsächsischen Sprachraum von Agee und Evans, Riis, Berger und Mohr, Salgado, im deutschsprachigen Raum etwa an das klassische Werk von Sander zu denken, die auf zunehmendes Interesse stoßen.5 Im englischsprachigen Raum war man in den letzten Jahrzehnten zunehmend mit der Weiterentwicklung der nun »Visual Sociology« benannten Fachrichtung befasst.6 4 | Becker 1974, 6. 5 | James Agee & Walker Evans, Let Us Now Praise Famous Men,

Cultural Critique, 21, 1992, 143–170; Jacob Riis, How the Other Half Lives, New York: Dover, 1971; John Berger & Jean Mohr, A Seventh Man: Migrant Workers in Europe, New York: Verso, 1975; Sebastião Salgado, Migranten, Frankfurt: Suhrkamp, 2000. Im deutschsprachigen Raum etwa an klassische Werke von August Sander, Menschen des 20. Jahrhunderts. Ein Kulturwerk in Lichtbildern, München: Schirmer & Mosel, 2002 zu denken, die auf zunehmendes Interesse stoßen (vgl. z. B. Maren Stange, Symbols of Ideal Life: Social Documentary Photography in America 1890–1950, Cambridge: Cambridge University Press, 1989, oder Rudolf Stumberger, Klassen-Bilder. Sozialdokumentarische Fotografie 1900–1945, Konstanz: UVK, 2007. 6 | Douglas Harper, Good Company, Chicago and London: Routledge, 1982; Douglas Harper, Visual Sociology. Expanding Sociological Vision, The American Sociologist, 19 (1), 1988, 54–70; Douglas Harper, Fotografien als sozialwissenschaftliche Daten, in Uwe Flick, Ernst

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Auch sozialwissenschaftliche Nachbardisziplinen wie Anthropologie7, Ethnologie8, Geschichte und Post-colonial Studies nutzen die Fotografie als Instrument und Methode der Feldforschung, wobei aber auch immer wieder der »koloniale Blick« der Forschenden thematisiert wurde. Die Visuelle Soziologie, die zunächst mehr auf Fotografie als auf Film basierte, entstand in den 1960er-Jahren durch Impulse der visuellen Anthropologie, deren Ursprünge bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurückverfolgt werden können, sowie der dokumentarischen Fotografie, insbesondere der Arbeiten von Lewin Hine und Jacob Riis Anfang des 20. Jahrhunderts über die Lebensbedingungen marginalisierter Klassen in den USA. Die ersten visuellen Soziologen interessierten sich für einen kritischen soziologischen Ansatz, direkt und nah am Feld, inspiriert durch die Zugänge der Dokumentarfotografen und der Chicagoer Schule. Auch in der Durkheim-Schule ist der Gebrauch der Fotografie schon frühzeitig nachweisbar. Maurice Halbwachs machte von ihr bei seinen Studien über die Armutsviertel von Paris regen Gebrauch9 und Marcel Mauss beschrieb in seinem Manuel d’Ethnographie unter anderem die Vorzüge von Luftaufnahmen für die sozialtopografische Analyse der Lebensräume gesellschaftlicher Gruppen.10 Laut Howard Becker und Douglas Harper muss die Arbeit der visuellen Soziologen auf einem partizipativen Beobachtungsansatz, also einer gründlichen Kenntnis des Feldes, und der Umsetzung von Bildern in soziologische Konzepte basieren.11 Wie Becker präzisiert, verändert sich die Bedeutung von Bildern je nach Kontext der Produktion und des Sehens – ihre erkenntnistheoretische Gültigvon Kardoff & Ines Steinke (Hg.), Qualitative Sozialforschung, Reinbek: Rowohlt, 2002, 402–415; John Grady, The Scope of Visual Sociology, Visual Sociology, 11 (2), 1996, 10–24; Howard Becker, Exploring Society Photographically, Evanston: Block Gallery, 1981; Howard Becker, Doing Things Together, Evanston: Northwestern University Press, 1986; Howard Becker, Visual Sociology, Documentary Photography, and Photojournalism, Visual Sociology, 10 (1-2), 1995, 5–14; Elisabeth Chaplin, Sociology and Visual Representation, London: Routledge, 1994. 7 | John Collier & Malcolm Collier, Visual Anthropology: Photographs as a Research Method, Albuquerque: UNM Press, 1986. 8 | Sarah Pink, Doing Visual Ethnography, London: Sage, 2006. 9 | Christian Topalov & Maurice Halbwachs, photographe des taudis parisiens, Genèses, 28, 1994, 128–145. 10 | Marcel Mauss, Manuel d’Ethnographie, Paris: Payot, 1947. 11 | Vgl. Becker 1981 und Harper 1988.

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keit resultiert deshalb aus der Kenntnis der Bedingungen, unter denen sie aufgenommen wurden. Der ref lexive Ansatz, also die Erklärung der im Forschungsprozess verwendeten Verfahren und der Art der Beziehung zwischen Beobachter und Beobachteten, wird somit auch in der Forschung mit Bildern unerlässlich. Auf die Frage, wie und warum eine zuvor legitime Praxis der wissenschaftlichen Forschung in der Nachkriegszeit mehr und mehr zugunsten eines rein diskursiven akademischen Stils aus dem Kanon legitimer Methoden der Forschung und der Vermittlung ihrer Befunde getilgt wurde, gibt uns Becker eine plausible Antwort: »As sociology became more scientific and less openly political, photography became more personal, more artistic, and continued to be engaged politically. Not surprisingly, then, the two modes of social exploration have ceased to have very much to do with one another.«12 Als Gattungen der Repräsentation von Gesellschaft haben Text und Bild in jüngster Zeit unter dem Credo des Visual Turn der Sozialwissenschaften den Dialog, wenn auch zögerlich, wieder aufgenommen. Seit einigen Jahren versuchen verschiedene Seiten mit unterschiedlichen theoretischen Perspektiven und Forschungsstrategien wieder an die visuellen Traditionen von Anthropologie, Ethnologie und Soziologie anzuknüpfen.13 So fordert etwa Abel sehr nachdrücklich eine Reintegration der Fotografie in das Instrumentarium sozialwissenschaftlicher Forschung: »An die Stelle einer bloßen kritischen Kommentierung und Bewertung von Bildern Anderer und ihrer Bildpraktiken sollte eine sozialwissenschaftliche Umgangspraxis mit dem Medium Bild treten, die Visualität und Bildlichkeit zur Lösung sozialwissenschaftlicher Forschungsfragen in einem ref lexiven Modus aktiv nutzt«.14 Es fehlt allerdings bisher an einem geeigneten exemplarischen Bezugsrahmen, welcher den Bemühungen 12 | Vgl. Becker 1974, 6. 13 | Vgl. hierzu vorbildlich Thomas Eberle (Hg.), Fotografie und Gesell-

schaft. Phänomenologische und wissenssoziologische Perspektiven, Bielefeld: transcript, 2017. 14 | Vgl. Thomas Abel & Martin Deppner, Undisziplinierte Bilder. Fotografie als dialogische Struktur. Skizze eines gemeinsamen Denkraums, in Abel & Deppner (Hg.), Undisziplinierte Bilder. Fotografie als dialogische Struktur, Bielefeld: transcript, 2012, 9–22.

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um eine überzeugende und nachhaltige Rehabilitation visueller Forschungspraxis und deren Reintegration in den akademischen Methodenkanon das ausreichende Maß an Kohärenz und Legitimität verleihen könnte. Aus unserer Perspektive bietet die weitgehend vernachlässigte visuelle Soziologie eines der bedeutendsten Sozialwissenschaftler der Nachkriegszeit das erforderliche Potential an empirischer Fundierung, methodischer Stringenz und gesellschaftstheoretischer Ref lexivität, um dies auf beispiel­ gebende Weise zu leisten.

Bourdieus Visuelle Soziologie Bourdieus fotografisches Werk entsteht unter spezifischen soziohistorischen Bedingungen, die eine Hinwendung zu soziologischer und ethnologischer Feldforschung bedingten und dabei eine »Konversion des Blicks« auf die gesellschaftliche Welt nach sich zogen. Bei seinem Militärdienst in Algerien traf Bourdieu Ende der 1950er-Jahre auf eine Welt voller Widersprüche. Bis dahin geprägt durch eine vorkapitalistische Wirtschaftsweise und traditionelle Wirtschaftsethik, erlebt Algerien mit der französischen Kolonisation eine dramatische Umgestaltung: brutale Durchsetzung fremder ökonomischer Prinzipien, rapider Verfall der traditionellen landwirtschaftlichen Produktionsweise, Entstehung eines neuen Subproletariats, ökonomische Prekarisierung und gesellschaftliche Entwurzelung breiter Bevölkerungsschichten. Dem soziologischen Beobachter eröffnet sich hier ein weites Feld zur Beobachtung und Analyse der Folgewirkungen eines forcierten sozialen Wandels, der grundlegende soziologische Fragen aufwirft.15 Die vom jungen Bourdieu entwickelte Radiografie einer Gesellschaft im Umbruch erinnert im Übrigen stark an die später unter dem Titel Das Elend der Welt vorgelegte Studie.16 Was wird aus einer Gesellschaft, wenn sie sich einer neuen ökonomischen Verkehrsweise und Handlungslogik ausgesetzt sieht, die im Widerspruch zu den seit Generationen gültigen sozialen Spielregeln (Bruder-Ethik, Reziprozität der Gabe etc.) steht? Inwieweit strukturiert 15 | Vgl. hierzu detailliert Franz Schultheis, Bourdieus Wege in die Soziologie, Konstanz: UVK, 2007. 16 | Pierre Bourdieu et al., La misère du monde, Paris: Seuil, 1993 [Das Elend der Welt, Konstanz: UVK, 1997].

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der traditionelle ökonomische Habitus die Handlungsspielräume der sozialen Akteure, Vorstellbares und Unvorstellbares? Was geschieht mit Menschen, deren gesamte Plausibilitätsstrukturen, wie etwa die Geschlechtsspezifika der raum-zeitlichen Organisation des Alltagslebens, durch das Hereinbrechen von völlig inkompatibel erscheinenden Existenzbedingungen brüchig werden? Welche Formen des Leidens gehen mit diesem Zustand sozialer Entwurzelung und Anomie einher? Viele der über 1.000 fotografischen Zeugnisse »sprechen« von der hier manifesten Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, wenn sie etwa traditionelle bäuerliche Praktiken mit Bildern der mechanisierten agrarindustriellen Produktion konfrontieren. Bourdieu erläutert in zahlreichen Gesprächen, von denen einige wenige publiziert wurden, die soziologische Relevanz solcher Fotografien: »Es gibt ein Foto, das dafür sehr typisch ist und das ich für den Einband von Travail et travailleurs en Algérie genommen habe. Darauf sind Landarbeiter auf der Ebene von Mitidja in der Nähe von Algier zu sehen. Sie arbeiten in einer Reihe und versprühen Sulfat, das durch einen Schlauch geleitet wird, über den sie mit einer Maschine verbunden sind, in der das Sulfat transportiert wird. Sie bewegen sich zu fünft oder zu sechst vorwärts, vielleicht sind es auch mehr. Das Bild zeigt sehr gut die Lebensumstände dieser Menschen und zugleich sieht man die Industrialisierung der landwirtschaftlichen Arbeit in diesen großen Kolonialfarmen.«17 Ähnliches gilt für die fotografischen Repräsentationen geschlechtsspezifischer Ordnung des traditionellen Sozialraums und deren Kontrast zu den Lebensbedingungen in kolonialen Umgruppierungszentren. Bourdieu entschloss sich angesichts dieser dramatischen Situation, seine philosophische Doktorarbeit über die »Zeitstrukturen des Gefühlslebens« aufzugeben und sich ganz einer engagierten empirischen Forschung in diesem »gigantischen soziologischen Laboratorium«, wie er es nannte, zu widmen:

17 | Vgl. Franz Schultheis, Algerien 1960 – ein soziologisches Labora-

torium, in Boike Rehbein, Gernot Saalmann & Hermann Schwengel (Hg.), Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen, Konstanz: UVK, 2003, 25–40, hier 40.

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»Ich wollte angesichts der dramatischen Situation in Algerien etwas tun, wollte mich nützlich machen und entschloss mich deshalb, eine Untersuchung über die algerische Gesellschaft in Angriff zu nehmen, um den Menschen zuhause ein wenig besser verständlich zu machen, was in diesem Land geschah. Ich wollte bezeugen, was sich da vor meinen Augen abspielte.« 18 Wir stehen bei der Rezeption der Visuellen Soziologie Bourdieus aber vor einem echten Problem. Zwar hat er die Cover seiner Buchpublikationen der 1960er- und 70er-Jahre häufig mit seinen Fotografien gestaltet, ohne dass in den einschlägigen Rezensionen darauf aufmerksam gemacht wurde. Auch die zentrale Bedeutung der fotografischen Arbeiten Bourdieus ging in den zahlreichen Besprechungen von Studien wie Das Haus oder Junggesellenball unter.19 Vielleicht verweist dieser blinde Fleck der Rezeption auf die von Becker angesprochene Verpönung visueller Dokumente im Kontext einer fortschreitenden Akademisierung der wissenschaf tlichen Produktion  – ganz abgesehen von verlegerischen Erwägungen, die eine Reproduktion der zahlreichen fotografischen Dokumente als »zu teuer« eingestuft haben. Dass Bourdieu trotzdem unbeschwert Fotografie als Instrument, Methode und Erkenntnismittel seiner frühen Feldforschungen einsetzte, erklärt sich vielleicht durch den Umstand, dass er sich als Autodidakt im Feld der Soziologie und Ethnologie das Forschen sozusagen als »learning by doing« aneignete. Der »undisziplinierte« Charakter seiner Wege in die Forschung eröffnete ihm die Freiheit zum ungezügelten Experimentieren: »Ich bin einfach ins kalte Wasser gesprungen, so wie man Kinder ins Wasser stößt, damit sie schwimmen lernen. Ich arbeitete gleichzeitig an tausenderlei Fragen und Themen von der Gabe, über den Kredit bis hin zu Verwandtschafts18 | Vgl. Franz Schultheis & Christine Frisinghelli, In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung, Graz: Camera Austria, 2003, 183. 19 | Pierre Bourdieu, La maison ou le monde renversé, in Jean Pouillon & Pal Maranda (éds.), Échanges et communications. Mélanges offerts à Claude Lévi-Strauss à l’occasion de son 60ème anniversaire, Paris & Den Haag: Mouton, 1970, 739–758; auch in Pierre Bourdieu, Esquisse d’une théorie de la pratique, Genf: Droz, 1972, Neuauflage Paris: Seuil, 2000, 61–82 [Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt: Suhrkamp, 1976, 48– 65]; Pierre Bourdieu, Le bal des célibataires. Crise de la société paysanne en Béarn, Paris: Seuil, 2002 [Junggesellenball. Studien zum Niedergang der bäuerlichen Gesellschaft, Konstanz: UVK, 2008].

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beziehungen und hatte irgendwie schon das Gefühl, auf dem rechten Wege zu sein, ohne dass ich aber genauer hätte sagen können, worin meine Methode denn eigentlich konkret bestand.«20 Obwohl die Fotografie im Kontext dieser Feldforschung einen zentralen Platz einnahm, widmet Bourdieu ihr keine expliziten methodologischen oder theoretischen Ausführungen. Dies hat wohl mit dazu beigetragen, dass sie seitens der Rezeption seiner Studien lange Zeit schlicht als illustratives Beiwerk verstanden wurde. Erst die posthume Veröffentlichung eines kleinen Ausschnitts aus dem Bourdieu’schen Fotoarchiv in einem bislang in sieben Sprachen vorliegenden Buch und die Präsentation dieser fotografischen Zeugnisse an einer Vielzahl von Ausstellungsorten in vielen Ländern löste ein reges wissenschaftliches und breiteres öffentliches Interesse aus.21 In der Rezeption von Bourdieus Visueller Soziologie wurde dabei insbesondere deren zentrale Bedeutung für ein vertieftes Verständnis von Bourdieus Gesamtwerk betont, vor allem da die jahrelangen Feldforschungen in Algerien als entscheidende biografische Erfahrung für die intellektuelle Karriere Bourdieus von zentraler Bedeutung werden sollten.22 In diesem Sinne sind die fotografischen Arbeiten Bourdieus in Zusammenhang mit seinen frühen ethnologischen und soziologischen Studien zu lesen, welche als diskursiver Verweiszusammenhang oder selbst als diskursive  – weil in ihrem Entstehen maßgeblich durch Fotografien unterstützte  – Visualisierungen zu interpre-

20 | Schultheis & Frisinghelli 2003, 187. 21 | Schultheis & Frisinghelli 2003. So hat sich etwa die deutschspra-

chige Bildwissenschaft mit Bourdieus Fotografien auseinandergesetzt, vgl. erneut von Bismarck, Kaufmann & Wuggenig 2008. Weitere ähnlich gelagerte Publikationen wurden von Daniel Suber, Hilmar Schäfer & Sophia Prinz, Pierre Bourdieu und die Kulturwissenschaften, Konstanz: UVK, 2011 und André Ducret & Franz Schultheis, Un photographe de circonstance: Pierre Bourdieu en Algérie, Genf: AES, 2005, herausgegeben. Ebenso widmete sich die Zeitschrift Ethnography, 4, 2004, in ihrem Sonderheft Pierre Bourdieu in the Field ausgiebig diesen fotografischen Zeugnissen. 22 | Vgl. Schultheis, Initiation und Initiative, in Pierre Bourdieu, Die zwei Gesichter der Arbeit, Konstanz: UVK, 2000, 165–184, jetzt auch in Pierre Bourdieu, Tradition und Reproduktion, Berlin: Suhrkamp, 2020, 423–442.

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tieren sind.23 Weiterhin wurde auch die Bedeutung der fotografischen Arbeiten Bourdieus für eine Spurensicherung der algerischen Sozialgeschichte betont: »Although Bourdieu is more known for his mind than of his visual work, the archive is one of the most important collections to Algerian history, as Bourdieu successfully emulated the Bressonian humanism in modernist photography.«24 Die bisher vorliegende rudimentäre Rezeption von Bourdieus soziologischer Fotografie – Spiegel der ja nur bruchstückhaften Verfügbarkeit seines Archivs  – repräsentiert diese maßgeblich als Verschränkung von fotografischer Visualisierung und diskursiver dichter Beschreibung, wie sie vor allem in den frühen ethnosoziologischen Arbeiten Bourdieus auf exemplarische Weise deutlich wird und als Entstehungskontext seiner gesamten Theorie der gesellschaftlichen Welt betrachtet werden kann. Diese manifestiert sich bereits zu dieser Zeit in bevorzugten Themenstellungen, Methoden und Haltungen seiner ref lexiven Sozialforschung. Zudem wird die »historische und thematische Rahmung« von Bourdieus Fotografien betont, für eine Kontextualisierung seiner Arbeiten plädiert oder auf die bereits in seinen frühen Schriften zum Ausdruck kommende gesellschaftspolitische Auffassung sozialwissenschaftlicher Arbeit verwiesen, die auch Bourdieus spätere Arbeiten begleitet.25 Ein weiterer für die Rezeption seiner visuellen Soziologie bedeutsamer Aspekt ist die hohe Selbstref lexivität von Bourdieus Umgang mit der Fotografie und der Sozialwissenschaft insgesamt, die sich nicht zuletzt in seinen kunsttheoretischen und wissenschaftssoziologischen Arbeiten, zuletzt in seinem Soziologischen Selbstversuch zeigt.26

23 | Vgl. Pierre Bourdieu, Esquisse d’une théorie de la pratique [Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt: Suhrkamp 1976]; Pierre Bourdieu, Algérie ’60, Paris: Minuit, 1977 [Die zwei Gesichter der Arbeit, Konstanz: UVK, 2000]; oder Pierre Bourdieu, Le sens pratique, Paris: Minuit, 1980 [Sozialer Sinn, Frankfurt: Suhrkamp, 1987]. 24 | Vgl. Davis 2013. 25 | Bourdieu et al. 1993, oder Pierre Bourdieu, Contre-feux, Paris: Raison d’agir, 1998. 26 | Vgl. Pierre Bourdieu, Ein soziologischer Selbstversuch, Frankfurt: Suhrkamp, 2002.

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Dazu gehört wohl auch, dass Bourdieu kurze Zeit nach seiner Rückkehr aus Algerien Fotografie und ihre sozialen Gebrauchsweisen selbst zum Gegenstand systematischer soziologischer Forschung gemacht hat, während er die Fotografie weiterhin als Mittel seiner ethnografischen Feldforschungen in der eigenen Heimat, dem Béarn, einsetzte.27 Bourdieus Studien zum sozialen Gebrauch der Fotografie bieten selbst ein bemerkenswertes Potenzial an kritischer Ref lexivität, wenn man sie auf seine eigenen Gebrauchsweisen mit diesem Medium anwendet und der Frage nachgeht, wodurch sich diese von anderen Umgangsweisen unterscheiden: »Reading Bourdieu’s texts alongside the images highlights that photography was a ›way of looking‹ that is echoed in his sociological methodology. Bourdieu himself notes that for the anthropologist and the photographer, ›there was this objectifying and loving, detached yet intimate relationship to the object, something similar to humour‹. Photography, then, was not only a way to account for the distance between subject and object, but also a way to capture a personal relationship at a particular historical moment. In this sense, the act of taking photos was intimately related to Bourdieu’s notion of a reflexive sociology, which attempted to account for the role of the observer in ethnographic practice.«28 Wenn sich der für Bourdieu kennzeichnende ref lexive Blick auf die soziale Welt nicht zuletzt durch den Blick durch das Objektiv schärfte, so bleibt der Frage nachzugehen, welcher systematische Stellenwert der Fotografie als Instrument der Forschung im Bourdieu’schen Werk zukommt: Welche konkreten Strategien der Visualisierung des Gesellschaftlichen und welche Funktionen der Fotografie lassen sich im Rahmen der ethnologischen und soziologischen Feldforschungen Bourdieus identifizieren? Liest man das Manuel d’Ethnographie von Marcel Mauss aus dem Jahr 1947, überraschen die offenkundigen Parallelen zwischen den hier gegebenen methodischen Handlungsanweisungen und den von Bourdieu autodidaktisch entwickelten visuellen Formen der Feldforschung. Betonte dieser, dass man sich im Feld gar nicht »zu viel« der Fotografie bedienen könne (wenn man sie denn jeweils exakt 27 | Vgl. Bourdieu 2002. 28 | Davis 2013, 173.

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datierte und verortete), so tat Bourdieu eben dies mit verschiedenen interdependenten Interessen und Zielen. Bourdieu dient die Fotografie zunächst als dokumentarisches Medium für eine »Spurensicherung« einer Gesellschaft im Umbruch, sozusagen als Sozial- oder Dokumentarfotografie der gesellschaftlichen Transformation. Der Einsatz der Fotografie zielt dabei nicht zuletzt darauf ab, die vom kolonialen Blick verneinte Kultur Algeriens anhand unterschiedlichster Motive  – von Gebrauchsgegenständen über Friedhöfe bis hin zu handwerklichen Praktiken – zu dokumentieren. Dabei standen immer die Situation des Umbruchs und ihre Widersprüche im Vordergrund, das Aufeinandertreffen unvereinbarer gesellschaftlicher Strukturen und Praktiken und nicht etwa eine museal-folkloristische Strategie der Inszenierung einer exotischen Kultur. Vielmehr verband sich mit dieser Spurensicherung29 aufs Innigste die Visualisierung und Kritik der Gewalt des Kolonialismus. Gleichzeitig berichtet Bourdieu mehrfach, dass das Fotografieren unter den schwierigen Bedingungen eines kriegsgeschüttelten Landes die Kontaktaufnahme und den Auf bau eines Vertrauensverhältnisses mit den Bewohnern erleichterte und er dieses Mittel strategisch einzusetzen wusste. Er erzählte uns hierzu Folgendes: »Es gibt da eine Reihe von Fotos, die ich in der Region von Collo gemacht habe, und zwar in einer ziemlich dramatischen Situation. Ich befand mich in der Hand von Leuten, die die Macht über Leben und Tod hatten – was mich selbst betraf, aber auch die, die bei mir waren. Es ist eine Reihe von Bildern, auf denen die Menschen unter einem großen Olivenbaum 29 | Fast 50 Jahre nach Bourdieus Aufenthalt in Algerien haben wir

mit einer kleinen Forschergruppe eben jene Orte besucht, die Bourdieu fotografisch dokumentiert. Und wenn Bourdieu in den späten 1950er-Jahren die These aufgestellt hatte, dass die vom Kolonialismus systematisch eingesetzten Formen der Entwurzelung auch nach der Befreiung Algeriens fortbestehen und die in Umgruppierungszentren zwangsweise ausgesiedelten Menschen nicht in ihre früheren Häuser und Orte zurückkehren würden, so konnten wir – wiederum mittels fotografischer Feldforschung  – am Beispiel der Siedlung Djebabra, etwa 200 km südlich von Algier, belegen, dass diese Hypothese zutraf. Hier ließ sich das Fortbestehen des von den Kolonialherren militärstrategisch durchgesetzten panoptischen Siedelns ein halbes Jahrhundert nach Bourdieu erneut in Bildern festhalten. Wir trafen sogar zwei Bewohner an, die Bourdieu im Kindesalter fotografiert hatte und die immer noch am gleichen Ort unter kaum veränderten prekären Lebensbedingungen ausharrten.

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sitzen, diskutieren und Kaf fee trinken. Fotos zu machen, war in diesem Fall eine Art und Weise, ihnen zu sagen: ›Ich interessiere mich für euch, ich stehe auf eurer Seite, ich höre euch zu, ich werde bezeugen, was ihr hier erlebt‹.« Zudem betont Bourdieu, dass die Fotografie für ihn ein Hilfsmittel zur Bewältigung »überwältigender« Eindrücke in diesen Krisenzeiten darstellte und der Blick durch das Objektiv der Kamera ihm die Möglichkeit bot, bei noch so dramatischen und bewegenden Situationen die Haltung eines distanzierten Beobachters zu wahren und trotz aller subjektiven Betroffenheit die Möglichkeit zum kühlen wissenschaftlichen Objektivieren zu sichern: »Ich war sehr bewegt und sensibel für das Leiden der Menschen dort, aber zugleich war da auch die Distanz des Beobachters, die sich in der Tatsache manifestierte, dass ich Fotos machte. An das alles musste ich denken, als ich Germaine Tillion las, eine Ethnologin, die über eine andere algerische Region, den Aurès, gearbeitet hat, und die in ihrem Buch Ravensbrück erzählt, dass sie in einem Konzentrationslager mit ansehen musste, wie die Menschen starben, und dass sie jedes Mal, wenn jemand starb, eine Kerbe machte. Sie machte einfach ihre Arbeit als professionelle Ethnologin, und sie erzählt in ihrem Buch, dass ihr das half, durchzuhalten. Daran dachte ich also und ich sagte mir: Du bist schon ein komischer Typ.« Andererseits diente ihm sein Fotoapparat als Türöffner, wenn er etwa einem Familienvater anbot, ein Gruppenbild für ihn anzufertigen, andererseits wurde er aber auch, wie im Falle eines Beschneidungsrituals, selbst angefragt, ob er dieses Ereignis fotografisch festhalten könnte. Er selbst sagte dazu im Gespräch: »Unter diesen Fotos ist auch eine Serie mit ziemlich dramatischen Bildern von einer Beschneidung – ich habe sie auf die Bitte des Vaters hin gemacht, der mich aufforderte: ›Komm zum Fotografieren‹. Das Fotografieren war ein Weg, zu den Menschen Zugang zu finden und gerne gesehen zu sein. Später habe ich den Leuten die Fotos geschickt.« Andererseits fungierte das fotografische Archiv als eine Art »Notizbuch«, als ein Mittel der Entlastung bei der teilnehmenden Beobachtung, zur Reduktion von Komplex­ität. Wie Bourdieu in Gesprächen zu seinen algerischen Forschungen mehrfach betonte, führte er während diesen Arbeiten zu seinem späteren Bedauern kein ethnografisches Tagebuch: »Was macht man angesichts einer so drückenden, erdrückenden Wirklichkeit? Natürlich be27

stand die Gefahr, mich von dem allem überschwemmen zu lassen und daraus eine völlig irre Chronik zu machen, in der ich alles zu erzählen versuchte. Einer der großen Fehler, die ich gemacht habe, war, kein Tagebuch zu führen. Ich hatte lauter lose Zettel, alles total chaotisch – es war einfach alles sehr schwierig, wir hatten wenig Zeit, und es war sehr anstrengend.« Der Verzicht auf das Führen eines detaillierten Forschungs-Tagebuchs erklärt sich also vor allem mit den besonders schwierigen Umständen, unter denen er im kriegsgeschüttelten Algerien Feldforschungen betreiben musste, und dies oft genug, wie er erzählte, unter Gefahr für Leib und Leben. Tatsächlich wurde einer seiner engen Mitarbeiter während der Forschungen getötet und kurze Zeit nach Aufnahme der Studien zum kabylischen Haus und den Umsiedlungslagern in Collo sah er sich gezwungen, angesichts gewaltsamer Auseinandersetzungen überstürzt abzureisen. Unter diesen ausgesprochen problematischen Rahmenbedingungen, die zum ständigen »Auf-der-Hut-Sein« zwangen und kaum die Muse für ausführliches schriftliches Protokollieren der gemachten Beobachtungen ließen, gab ihm die Fotografie ein geeignetes Mittel zur Spurensicherung an die Hand. Sie erlaubte es ihm, über Jahrzehnte hinweg immer aufs Neue die Erinnerung an Schlüsselsituationen wachzurufen, nochmals die oft nur intuitiv erfahrene sozialwissenschaftliche Relevanz von Beobachtungen zu reaktualisieren und einer kritisch-distanzierten Ref lexion zu unterziehen. Diese Form des rekurrenten Umganges mit den fotografischen Dokumenten erinnert an die Arbeit des Detektivs, der sich Szenen eines Tatorts immer wieder vor Augen führt und anhand von zuvor übersehenen oder nicht in Zusammenhang gebrachten Details neue Schlüsse ziehen kann. In diesem Zusammenhang sei auch daran erinnert, dass Bourdieu ja den in der ethnologischen Feldforschung gängigen Begriff »teilnehmende Beobachtung« für sein eigenes Forschen durch das Konzept »teilnehmende Objektivierung« ersetzte. Dabei kam dem fotografischen Festhalten von Momenten, die seine Aufmerksamkeit und Neugierde wachriefen, die Rolle eines materiellen Trägers dieser Erfahrungen zu. »Die Fotos, die man in aller Ruhe immer wieder anschauen kann, erlauben ebenso wie Tonaufnahmen, die man immer wieder anhören kann, Feinheiten wahrzunehmen, die einem auf den ersten Blick entgangen sind oder die 28

man aus Gründen der Diskretion während des Interviews nicht in aller Ausführlichkeit betrachten kann.«30 Die hier von Bourdieu angesprochene Analogie von Foto und Tonaufnahme erinnert an seinen Umgang mit qualitativen Interviews, eine Forschungsmethode, die er seit seinen ersten Gehversuchen im algerischen Terrain bis hin zu seinen späten Forschungen, insbesondere im Falle von Das Elend der Welt, systematisch einsetzte. Auch hier betonte er im Gespräch immer wieder, dass er die Mitschnitte solcher Interviews immer aufs Neue anhörte bzw. die Transkriptionen immer wieder einer relecture unterzog und dabei zuvor übersehene bzw. überhörte wichtige Aspekte und Nuancen entdecken konnte. Ähnlich ging es ihm mit seiner Fotosammlung, die er nach seinen eigenen Aussagen regelmäßig durchforstete. Hier scheint es nicht unwichtig, dass er diese zunächst rund 3.000 Fotografien, von denen heute nur ein gutes Drittel erhalten geblieben ist, nicht nach Gegenständen, Themen, Orten oder Zeitpunkten kategorisiert archiviert hatte, sondern sie quasi als Loseblatt-Sammlung in Kartons auf bewahrte. Das trug dann, wie man vermuten darf, auch dazu bei, dass er auf der Suche nach einem zu einer anstehenden Publikation passenden visuellen Dokument dieses unstrukturierte Ensemble immer aufs Neue durchforsten musste und sich dabei ungeplant durch die sich zufällig ergebenden Samples neue assoziative Bezüge ergaben.31 30 | Franz Schultheis im Gespräch mit Pierre Bourdieu, Voir avec l’ob-

jectif: autour de la photographie, Esquisses algériennes, Paris: Seuil, 2008, 374 [Mit dem Objektiv sehen: Im Umkreis der Photographie, Algerische Skizzen, Berlin: Suhrkamp, 2010, 486]. Vgl. auch Jens Kastner, Die ästhetische Disposition. Eine Einführung in Pierre Bourdieus Kunsttheorie, Wien. Turia + Kant, 2008. 31 | Wie Bourdieu in den verschiedenen Gesprächen zu seiner fotografischen Praxis freimütig erzählte, stöberte er auch ohne konkrete Verwendungsabsichten oft in seiner Fotosammlung und die hier geweckten Erinnerungen an damalige Erlebnisse lösten bei ihm regelmäßig starke Emotionen aus. Ähnlich berichtet sein damaliger enger Mitarbeiter Salah Bouhedja bei der Besichtigung der Ausstellung der Fotografien am Institut du Monde Arabe in Paris im Jahre 2003: »Aber gerade hier hat man gesehen, was überall und in völlig unerwarteten Umgebungen geschah. Auf den Fotos, die er gemacht hatte, habe ich Dinge gesehen, die die Algerier mit Gold aufgewogen hätten. Fotos eines örtlichen Metzgers, eines Olivenbaums und zusammengespannter Ochsen. Die Leute nippen an ihrem Tee oder Kaffee. Als ich das gesehen habe, musste ich weinen«, vgl. Salah Bouhedja im Gespräch mit Tassadit Yacine, »Il était un parmi les dix«. Autour de

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Weiterhin kam Bourdieu bei der Rekonstruktion seines Umgangs mit der Fotografie darauf zu sprechen, dass sie ihm beim »Generieren von Fragen« und »Konstruieren von Gegenständen« wichtige Impulse bot und er beim Betrachten seiner visuellen Zeugnisse über Jahrzehnte hinweg immer neue Themen der Forschung aus ihr gewinnen konnte: »Es gibt ein Foto, das dafür sehr typisch ist und das ich für den Einband von Travail et travailleurs en Algérie genommen habe. Darauf sind Landarbeiter auf der Ebene von Mitidja in der Nähe von Algier zu sehen. Sie arbeiten in einer Reihe und versprühen Sulfat, das durch einen Schlauch geleitet wird, über den sie mit einer Maschine verbunden sind, in der das Sulfat transportiert wird. Sie bewegen sich zu fünft oder zu sechst vorwärts, vielleicht sind es auch mehr. Das Bild zeigt sehr gut die Lebensumstände dieser Menschen und zugleich sieht man die Industrialisierung der landwirtschaftlichen Arbeit in diesen großen Kolonialfarmen.« Oder an anderer Stelle: »Das erinnert mich an ein Foto, das ich auf einem Friedhof gemacht habe … Ich selbst hatte immer Hypothesen bezüglich der Organisation des Raumes im Sinn: Es gibt einen Lageplan des Dorfes mit einer bestimmten Struktur, eine Struktur des Hauses; und außerdem habe ich entdeckt, dass die Verteilung der Gräber auf dem Friedhof grob die Organisation des Dorfes nach Clans reproduzierte. Und ich habe mich gefragt: Werde ich auf den Märkten dieselbe Struktur wiederfinden?« Dabei waren für ihn, wie er betonte, die scheinbar »naivsten« Bilder viel ergiebiger und innovativer als jene, die bereits theoriegeleitetet geschossen waren und deshalb erwartbare Déjà-vu- bzw. Déjà-su-Effekte erzielten. Neben den oben skizzierten Funktionen des Fotografierens im Feld sah Bourdieu in dieser Praxis auch ein Instrument materialer Ethnografie. »Manchmal machte ich Fotos aus dem einzigen Grund, um mich später daran erinnern zu können, um später etwas beschreiben zu können, oder aber ich fotografierte Gegenstände, die ich nicht mitnehmen konnte … Da war zum Beispiel eine Heiratslampe, die ich fotografierte, um später untersuchen zu können, wie sie hergestellt worden war, oder eine Getreidemühle etc.« Oder auch: »… und bin dort auf Häuser gestoßen, von denen man das Dach abgenommen hatte, um die Leute zum Gehen zu zwingen. Sie waren nicht verl’enquête sur des camps de regroupement dans Le déracinement, Awal. Cahiers des études berbères, 27-28, 2003, 287–293, hier 292.

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brannt worden, aber sie waren nicht mehr bewohnbar. Und in den Häusern fand ich Tonkrüge (das ist etwas, das ich schon in einem anderen Dorf, in Aïn Aghbel, zu erforschen begonnen hatte: Es gibt Orte, wo all das, was wir Einrichtung nennen würden, aus gebrannter Erde gefertigt ist und von den Frauen hergestellt und geformt wird), in der Kabylei nennt man sie aqoufis, diese großen, mit Zeichnungen verzierten Tonkrüge für das Getreide. Die Zeichnungen zeigen oft Schlangen, denn Schlangen sind ein Symbol der Auferstehung. Und obwohl die Situation so traurig war, war ich glücklich, fotografieren zu können – es war alles sehr widersprüchlich. Ich konnte von diesen Häusern und unbeweglichen Einrichtungsgegenständen nur dank der Tatsache Fotos machen, dass sie kein Dach mehr hatten …« Überhaupt muss in diesem Zusammenhang betont werden, dass Bourdieus Gebrauch der Fotografie aufs Engste mit der Eigenart seines Denkens, Forschens, Schreibens und Publizierens verknüpft war, eine Besonderheit wissenschaftlichen Arbeitens, die sich mittels des Konzepts »Palimpseste« beschreiben und begriff lich fassen lässt.

Soziologische Palimpseste und ihre visuellen Träger Dem mit Bourdieus Werk Vertrauten dürfte mehrfach aufgefallen, wenn nicht aufgestoßen sein, dass Bourdieu über vier Jahrzehnte verstreut immer wieder auf bestimmte Forschungsfragen und Themen zurückgreift und sich bezeichnenderweise bei dieser auf den ersten Blick repetitiv erscheinenden Arbeitsweise auch seiner Fotosammlung bedient. Die frühen sozialanthropologischen Studien zu den Geschlechterbeziehungen in der Kabylei tauchen gut drei Jahrzehnte später in einem langen Artikel in Actes de la Recherche wieder auf, kurze Zeit später in Form der Monografie Die männliche Herrschaf t. Noch augenfälliger wird diese Form rekurrenten Weiterarbeitens an früheren »Baustellen« seines Forschens bei den Studien zum Béarn, die er kurz vor seinem Tod in einem kleinen Band versammelt unter dem Titel Der Junggesellenball neu auf legte. Bourdieu, der in einem Rückblick auf die algerischen Feldforschungen aus dem Jahre 2000 feststellte, dass er damals ein Kapital an Erfahrungen und Materialien ansammelte, das ihm bis zu seinem Lebensende Stoff für seine Studien liefern sollte, hatte die Gewohnheit, Fragen, die sich ihm schon in den autodidaktischen Lehrjahren der Sozialwissenschaften in Algerien stellten, im Laufe 31

der folgenden vier Jahrzehnte immer aufs Neue wiederaufzugreifen und sich an ihnen weiter abzuarbeiten. Hierbei stützte er sich, wie bereits erwähnt, regelmäßig auf die fotografischen Zeugnisse, die für ihn eine Art visuelles Notizbuch darstellten, umso mehr, als er später bedauernd feststellen sollte, dass er unter den schwierigen Bedingungen in Algerien nicht dazu kam, detaillierte schriftliche Feldberichte anzufertigen. Zur Charakterisierung dieser besonderen Arbeitsweise Bourdieus benutzt Tassadit Yacine das sehr treffende Konzept »Palimpsest« und stellt dazu fest: »Dieser Rückgriff auf frühere Themen (die Studien der Esquisse werden beispielsweise in Le sens pratique wieder aufgenommen, oder auch in Célibat et condition paysanne, nochmals überarbeitet in Le bal des célibataires) werden oft als ›Wiederholung‹ gesehen, obwohl es sich um eine Wiederaufnahme handelt, wie in einem Palimpsest: Das frühere Werk überlagert sich, tritt zurück, ohne gelöscht zu werden, nimmt Vergangenes wieder auf, um es mit Neuem, das Junge mit dem Alten zu verbinden. Und in der Tat handelt es sich hier um einen Rückgriff auf das, was in Teilen vorlag, schon entworfen, aber einer ständigen Vervollkommnung überlassen, die von sozialen Bedingungen abhängt, die ihrerseits mit einem sozialen, kulturellen, ökonomischen Kontext verbunden sind.«32 Das fotografische Archiv von ursprünglich rund 3.000 Bildern diente bei diesem beharrlichen Zurückkehren zu den Fragestellungen, die er in den bereits vorliegenden Publikationen nur in einer ihn nicht völlig befriedigenden Weise gestellt, geschweige denn beantwortet zu haben glaubte, als materielles Substrat, dass es ihm erlaubte, sich wieder in die sie auslösenden Situationen und Beobachtungen zurückzuversetzen und den Faden neu aufzugreifen. Hintergrund dieses hartnäckigen kritischen Hinterfragens der zuvor noch so akribisch beschriebenen und analysierten Phänomene dürfte das für Bourdieus epistemologische Haltung kennzeichnende permanente Suchen nach nicht verarbeiteten bzw. nicht ausreichend mit epistemologischer Wachsamkeit objektivierten Bedingungen und Grenzen seines Blicks auf diese Phänomene sein. Ausgehend von der erkenntnistheoretischen Position seiner Lehrer Bachelard und Canguilhem stellt Erkenntnisfortschritt für Bourdieu eine »kontinuierliche Polemik gegen den eigenen Irrtum« dar und letztlich sind alle seine 32 | Tassadit Yacine, Voir au plus loin. Pierre Bourdieu, peintre du

monde social, Awal. Cahiers des études berbères, 27–28, 2003, 7–11, hier 9.

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Studien immer zugleich Auseinandersetzungen mit unterschiedlichsten sozialwissenschaftlichen Gegenständen, wie auch zugleich das Suchen nach den Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis schlechthin. Dazu stellt er kurz vor seinem Tod mit Rückblick auf seine Forschungen in Algerien fest: »Sicher mussten die außergewöhnlichen, außerordentlichen schwierigen (und riskanten) Bedingungen, unter denen ich zu arbeiten hatte, durch die dabei unausgesetzte Vorsicht meinen Blick schärfen. Die ganzen praktischen Probleme, die schon die bloße Durchführung der Untersuchung unauf hörlich und oft in sehr dramatischer Form stellte, zwangen zur ständigen Ref lexion über die Gründe und die Berechtigung der Enquête, über die Motive und Absichten des Durchführenden, über all die Fragen, die die positivistische Methodologie spontan als gelöst ansieht.«33 Diese Form radikaler kritischer Ref lexion basierte von Anfang an auf einem spezifischen Ethos des Forschens, geleitet von der Idee, dass erst die kritische Hinterfragung der gesellschaftlichen Bestimmungen und Prägungen des Subjekts der Erkenntnis und den sich aus ihnen ergebenden Dispositionen des Wahrnehmens und Urteilens Wege zu gesicherteren Erkenntnissen eröffnen können. Er selbst brachte diese erkenntnistheoretische Haltung im biografischen Rückblick folgendermaßen auf den Punkt: »Oft staune ich darüber, wie viel Zeit ich brauchte – und ich bin gewiss noch nicht zu Ende damit  – manches von dem, was ich schon vor langer Zeit äußerte, und zwar in dem Gefühl, genau zu wissen, was ich sage, wirklich zu begreifen. Und wenn ich mir dieselben Themen vornehme und abermals vornehme, wenn ich immer wieder auf dieselben Gegenstände und Analysen zurückkomme, so stets, wie mir scheint, in einer Art Spiralbewegung, die mir jedes Mal ermöglicht, einen höheren Grad des Formulierens und Verstehens zu erreichen und unbemerkte Beziehungen und verborgene Eigenschaften aufzudecken.«34 Die fotografische Spurensicherung, die er bei der Erarbeitung seines Kapitals an wissenschaftlichen Fragen betrieben hatte, stellte gewissermaßen das empirische Material, das ihnen zugrunde lag, für dieses Kreisen um die sensiblen Punkte seiner Analysen immer wieder erneut zur Verfügung und erlaubte es ihm, sich daran weiter abzuarbeiten. 33 | Vgl. Pierre Bourdieu, Esquisse algériennes, Paris: Seuil, 354 [Algerische Skizzen, Berlin: Suhrkamp, 457 f.]. 34 | Pierre Bourdieu, Méditations pascaliennes, Paris: Seuil, 1997, 17. [Meditationen, Frankfurt: Suhrkamp, 2001, 16].

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Wenn Bourdieu zur Charakterisierung der Bedeutung des Fotografierens für seinen Werdegang den Begriff »Konversion des Blicks« wählt, dann deshalb, weil ihn der Blick durch das Objektiv der Kamera dazu zwang, den beobachteten Phänomenen oder Personen eine spezifische Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen, sich selbst zurückzunehmen und die soziale Wirklichkeit, die sich ihm darbot, zu fokussieren. Gerade diese Fokussierung bedeutete eine wichtige Stütze beim »Generieren von Fragen« und »Konstruieren von Gegenständen«, die ihn über Jahrzehnte hinweg immer neue Forschungsthemen aus ihrer fotografischen Dokumentation gewinnen ließ. Dies lässt sich exemplarisch an La domination masculine demonstrieren, der Bourdieu über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten immer wieder Analysen widmete, wobei er sich direkt auf seine visuellen Dokumente, insbesondere der weiblichen Hexis, stützte.35 Gleichzeitig verwendet Bourdieu seine fotografischen Dokumente als textergänzende und »verstärkende« Illustrationen seiner Bücher, im Rahmen von Artikeln in seiner Hauszeitschrift Actes de la Recherche en Sciences Sociales oder so auf lagenstarken Zeitschriften wie Télérama. Es scheint ganz so, als ob dies die Funktion erfüllte, komplexe und teilweise schwer zugängliche theoretische Gegenstände durch visuelle Träger greif barer und nachvollziehbarer zu machen. Isac Chiva, der Bourdieus Forschungen schon sehr früh publizierte, charakterisierte diese Publikationsstrategie Bourdieus mit folgenden Worten: »Das ›Feld‹ ist im Geschriebenen präsent, es liefert, gestützt auf seine Untersuchung, in gewisser Weise das Material; lange Auszüge aus Gesprächen vertiefen, Fotos bebildern es. Jenseits einer reinen Beschreibung der Gesellschaft im Béarn und einer Analyse der dort wirksamen sozialen Logik, wird so eine Wiederaufnahme, eine erneute Analyse möglich.«36 Und schließlich, trotz aller Instrumentalisierung der Fotografie für Zwecke soziologischer Objektivierung, kamen bei Bourdieu durchaus auch Bedürfnisse nach ästhetischem Ausdruck von Erfahrungen und Befindlichkeiten zur Geltung: »Zum anderen habe ich Dinge fotografiert, die ich schön fand.«

35 | Pierre Bourdieu, La domination masculine, Actes de la Recherche en

Sciences Sociales, 84, 1990, 2–31. 36 | Vgl. Isac Chiva, Pierre Bourdieu: »Une ethnographie particulière«,

Awal. Cahiers des études berbères, 27–28, 2003, 39–46, hier 45.

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Visuelle Soziologie und das Konzept des »Habitus« Man steht nicht allein mit der Vermutung, dass sich die Bourdieu’sche Konzeption des Habitus ganz maßgeblich der in Algerien vor seinen Augen stattfindenden Konfrontation zweier sehr unterschiedlicher Lebenswelten verdankt, in denen die jeweiligen Wahlverwandtschaften zwischen Denk- und Verhaltensweisen und objektiven gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen besonders plastisch verdeutlicht sind. Wie bereits erwähnt verwendete Bourdieu, wenn auch weitgehend unbemerkt, seine fotografischen Dokumente zur Illustration seiner Bücher, nutzte sie im Rahmen von Artikeln in seiner Zeitschrift Actes de la Recherche en Sciences Sociales oder auch bei der Präsentation seiner Forschungsergebnisse in Zeitschriften wie Télérama. Es scheint ganz so, als ob dies die Funktion erfüllte, komplexe und teilweise schwer zugängliche theoretische Gegenstände durch visuelle Träger greif barer und nachvollziehbarer zu machen bzw. sie für ein Nicht-Fachpublikum zu »vulgarisieren«. Dies gilt im Besonderen für die Vermittlung seiner Habitus-Theorie, für deren Plausibilisierung Bourdieu systematisch fotografische Visualisierungen einsetzt. Weiterhin betont Bourdieu immer wieder, dass es ihm ein wichtiges Anliegen war, die Leser seiner Studien so nahe wie möglich an das jeweilige Forschungsfeld und die dort entwickelte Forschungspraxis heranzuführen und partizipieren zu lassen. Dies gilt ebenso für die systematische und ausgiebige Verwendung von visuellen Elementen in den Beiträgen zu Actes de la Recherche – der Name der Zeitschrift selbst spricht schon für diesen Anspruch. Viele der vorliegenden Fotografien zeugen von Entwurzelung und Zerrissenheit und dem mit ihnen einhergehenden »gespaltenen Habitus«. In jedem Fall dienten sie der Versinnbildlichung und Veranschaulichung seiner Thesen. In der kabylischen Gesellschaft meinte Bourdieu besonders deutlich die einverleibten, zum Körper gewordenen Voraussetzungen sozialen Handelns zu erkennen, die sich besonders im Unterschied zwischen Männern und Frauen, ihren Praktiken und Körperhaltungen zeigten. Judith Butler hat den Habitus treffend als »Theorie des Körperwissens« bezeichnet, also zugleich als eine Form dessen, was der Körper weiß und was über ihn gewusst wird.37 37 | Vgl. Judith Butler, Bodies that matter, New York & London: Routled-

ge, 1993.

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Es erscheint daher nur folgerichtig, in der Abbildung von Körpern etwas über beiderlei Wissen in Erfahrung bringen zu wollen. In den fotografischen Zeugnissen kommen die in der körperlichen Hexis der abgebildeten Frauen verkörperten Wirkungen männlicher Herrschaft besonders eindrücklich zum Ausdruck. Diese wurden für Bourdieu zu visuellen Vorlagen seiner Untersuchungen zur symbolischen Gewalt, ja zu deren Versinnbildlichung. Gleiches gilt für seine Theorie des Kapitals der Ehre, für die er die vom Mann erwartete Haltung – dem Gegenüber fest in die Augen blicken, seinem Blick standhalten, nie den Blick senken – in vielen Ablichtungen veranschaulichte. Die spezifische Bedeutung der Fotografie für Bourdieus soziologische Praxis zeigt sich prototypisch darin, dass er drei Jahrzehnte nach seinen algerischen Feldforschungen La domination masculine unter systematischem Rückgriff auf diese visuellen Zeugnisse verfasst und einige exemplarische Bilder aus seinem Fundus im Vorgriff auf das Buch schon in einem Artikel in Actes de la Recherche einsetzt. Dies gilt auch für seine Theorie des sens pratique: Die Fotografie eines arbeitenden kabylischen Bauern auf dem französischen Cover macht die veranschaulichende, ja versinnbildlichende Funktion des visuellen Zeugnisses für dieses zentrale theoretische Konzept nachvollziehbar.38 Schon in seiner Esquisse d’une théorie de la pratique liefert Bourdieu detaillierte Beschreibungen praktischer Verrichtungen, wie etwa des Gebrauchs einer Eisenstange zum Heben eines Steins, und in vielen der vorliegenden Fotografien geht es um ebensolche vermeintlich banalen Praktiken, die geradezu als eine Umsetzung von Marx’ Feuerbach-These erscheinen, die Arbeit als »menschlich sinnliche Tätigkeit, Praxis« fasst.39 Schließlich ist hier auch darauf zu verweisen, dass Bourdieu hinsichtlich der von ihm angesprochenen »Konversion des Blicks« im Kontext seiner visuellen Feldstudien auch sich selbst als Subjekt des Beobachtens und fotografischen Objektivierens miteinbezog und den »verstehenden Blick« auf den eigenen Habitus als Kind der bäuerlichen Provinz Frankreichs richtete. So erzählte er während eines ausführlichen Gesprächs über die persönlichen Implikationen bei diesen Forschungen: »Den verstehenden Blick des Ethnologen, mit dem ich Algerien betrachtet habe, konnte 38 | Vgl. Bourdieu 1980 op.cit. 39 | Vgl. Karl Marx, Die deutsche Ideologie. Thesen über Feuerbach, in

Frühschriften, Stuttgart: Kröner, 1971, 339 ff.

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ich auch auf mich selbst anwenden, auf die Menschen aus meiner Heimat, auf meine Eltern, die Aussprache meines Vaters und meiner Mutter, und mir das alles so auf eine völlig undramatische Weise wiederaneignen, denn hier liegt eines der großen Probleme entwurzelter Intellektueller, welchen oft nur die Wahl zwischen Populismus und verschämter Selbstverleugnung als Reaktion auf die symbolische Gewalt der Klassengesellschaft zu bleiben scheint. Ich bin diesen Menschen, die den Kabylen sehr ähnlich sind und mit denen ich meine Kindheit verbracht habe, mit dem Blick des Verstehens begegnet, der für die Ethnologie zwingend ist und sie als wissenschaftliche Disziplin definiert. Die Fotografie, die ich zunächst in Algerien und dann im Béarn betrieb, hat als Begleiterin auf diesem Weg zweifellos viel zu dieser Konversion des Blickes beigetragen, die eine wahre – und ich glaube, das Wort ist nicht zu stark – Sinnesänderung voraussetzte. Denn die Fotografie ist Ausdruck der Distanz des Beobachters, der Daten speichert und sich dabei immer bewusst bleibt, dass er Daten speichert (was in so familiären Situationen wie der eines Dorf balles nicht immer einfach ist). Zugleich aber setzt die Fotografie auch Vertrautheit, Aufmerksamkeit und Sensibilität selbst für kaum wahrnehmbare Details voraus. Details, die der Beobachter nur durch eben diese Vertrautheit unmittelbar zu verstehen und zu interpretieren vermag; eine Sensibilität für das unendlich kleine Detail einer Situation, das selbst dem aufmerksamsten Ethnologen zumeist entgeht. Die Fotografie ist aber auch eng verwoben mit dem Verhältnis, das ich zu jedem Zeitpunkt zu meinem Gegenstand unterhalten habe. Und ich habe keinen einzigen Augenblick lang vergessen, dass es sich dabei um Menschen handelte, Menschen, denen ich mit einem Blick begegnet bin, den ich  – auch wenn ich befürchte, mich dadurch lächerlich zu machen – als liebevoll, ja als oft gerührt bezeichnen möchte.«40

Das Projekt Seit Pierre Bourdieu sein Fotoarchiv in unsere Hände gegeben hatte, konnte mit Bezug auf diesen Fundus an visuellen soziologischen Quellen eine Vielzahl von Studien realisiert werden. Dazu zählen neben der deutschsprachigen Ausgabe von Algérie 60 die gemeinsam mit Camera Austria 40 | Schultheis & Frisinghelli 2003, 11.

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verantwortete Publikation eines Ausschnitts von über 150 der insgesamt rund 1.200 Fotos, begleitet von ausgewählten Werkauszügen, in einem Band, der mittlerweile in sieben Sprachen vorliegt.41 Das Bourdieu’sche Werk bietet sich vorbildlich dafür an, das Ensemble möglicher soziologischer Gebrauchsweisen von Bildern in ihren unterschiedlichen Konfigurationen und Praktiken in den Blick zu nehmen und zu erforschen. Damit soll zugleich eine Lücke in der Rezeption der Soziologie Bourdieus geschlossen werden, indem die weitgehend ignorierte Bedeutung von Visualisierungen als »dichter Repräsentation« der gesellschaftlichen Welt sichtbar und für weitergehende Forschungen verfügbar gemacht wird. Dafür steht uns der Fundus von über 1.000 fotografischen Zeugnissen aus dem Algerien der Kolonialkriegszeit und mehr als 100 Fotos aus den ethnografischen Feldforschungen im Béarn zur Verfügung. Essentiell für das Projekt ist dabei, dass diese visuellen Zeugnisse nicht isoliert für sich stehen, sondern im direkten Zusammenhang und Dialog mit den verschrifteten ethnologischen Beobachtungen und Analysen stehen und daher eine ideale Ausgangslage für die Rekonstruktion eines spezifischen Blicks auf gesellschaftliche Tatbestände in Gestalt eines wechselseitigen In-Beziehung-Setzens von Bild und Text bieten. Mit diesem noch weitgehend brachliegenden Material soll in einem ersten Schritt die Genese einer exemplarischen und anschlussfähigen Position im Schnittfeld unterschiedlicher Formen und Gattungen der Repräsentation des Gesellschaftlichen nachvollziehbar gemacht werden. Bourdieus Fotografien werden als visuelle sozialwissenschaftliche Quellen in ihrer Bedeutung für ein vertieftes Verständnis der Themen, Fragestellungen,

41 | Die Bedeutung der Fotografie als Instrument und Methode der

Bourdieu’schen Feldforschung wurde in mehreren Zeitschrif tenartikeln und Buchbeiträgen herausgearbeitet und im Rahmen einer Monografie über den autodidaktischen Weg Bourdieus in die Soziologie soziohistorisch und werkgeschichtlich kontextualisiert, vgl. Schultheis 2007. Die Auseinandersetzung mit der für das Bourdieu’sche Gesamtwerk gegebenen Schlüsselstellung der frühen algerischen Studien erfolgte nicht nur in verschiedenen persönlichen Gesprächen mit Bourdieu, sondern seit Jahren in den Bänden der Schriften Bourdieus im Suhrkamp Verlag, von denen bisher neun Bände erschienen sind. Insbesondere die letzten beiden Publikationen, Tradition und Reproduktion und Habitus und Praxis, Berlin: Suhrkamp, 2020, stehen mit Bourdieus »fotografischem Gedächtnis« in engem Zusammenhang.

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Haltungen und Methoden in Bourdieus Studien betrachtet und analysiert. Aus methodologischer Perspektive gilt es zu fragen, welcher systematische Stellenwert der Fotografie als Instrument der Feldforschung im Bourdieu’schen Werk zukommt und welche Strategien der Visualisierung des Gesellschaftlichen Bourdieu hier entwickelt. Unter besonderer Berücksichtigung der Schnittstelle zwischen Visuellem und Diskursivem erwarten wir Antworten auf die Frage, inwiefern diese Methoden sich den spezifischen Phänomenen verdanken, welche Bourdieu ins Zentrum stellt, also inwiefern jene von ihm analysierten, gesellschaftlich produzierten und habituell verkörperten Praktiken nach einer Kombination verschiedener Zugangsweisen verlangen. Nicht nur weil diese Phänomene körperlicher, synästhetischer Natur sind und infolgedessen nicht im Diskursiven aufgehen, sondern auch, weil sie ständig in Bewegung begriffen und individuelle Abweichungen nicht ausgeschlossen sind. Wenn sich die Vermutung, dass insbesondere die Erforschung des »Habitus« das diskursive Medium notwendig überschreiten muss, als richtig erweist, dann wäre wohl ein nicht unbeträchtlicher Teil sozialwissenschaftlicher Zugangsweisen im Anschluss an Bourdieu neu zu überdenken. Und es wäre außerdem zu erwarten, dass diese Vermutung zu einer Neufassung von Theorien der »dichten Beschreibung« führt und nahelegt, dichte Beschreibungen mit dichten Bildkompositionen zu ergänzen. Denn spezifisch an Bourdieus Werk ist, dass hier visuelle und sprachliche Daten, Abbildungen und ihre soziologische Versinnbildlichung und theoretische Interpretation vorliegen, die »aus einer Hand« geschaffen wurden. Das Grundproblem des Fremdverstehens von visuellen Zeugnissen, nämlich »dass Visuelles stets in Sprache übersetzt werden muss, um erfasst und als Erfasstes kommuniziert sowie deutungs- und handlungsrelevant werden zu können«42 stellt sich an unserem Forschungsgegenstand deshalb anders dar  – Bourdieu legt in vielen Studien jeweils selbst den von ihm bei der Produktion dieser Bilddokumente intendierten soziologischen Sinn offen und thematisiert und kommentiert die von ihm durch das Ob-

42 | Vgl. Angelika Poferl & Reiner Keller, Die Wahrheit der Bilder, in

Thomas Eberle (Hg.), Fotografie und Gesellschaft, Bielefeld: transcript, 2017, 305–315.

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jektiv der Kamera »objektivierten« gesellschaftlichen Tatbestände. Wenn also einerseits zutrifft, dass Bilder in Diskursen einen wichtigen Bestandteil der sozialen und diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit darstellen, der dennoch auf Sprache angewiesen bleibt, dann ist hier festzuhalten, dass die Schaffung eines solchen sprachlichen Repertoires  – wie etwa im Hinblick des für Bourdieu zentralen Konzepts »Habitus« – sich direkt auf visuelle Eindrücke stützt, die, fotografisch gespeichert und verfügbar, selbst der späteren theoretischen Konstruktion und Konzeptualisierung zugrunde liegen. Anders gesagt soll nachvollzogen werden, welchen heuristischen Wert visuelle Dokumente bei der Generierung von sozial- und kulturwissenschaftlichen Theorien haben können. Die für unser Projekt gewählte Methodik zielt also auf eine Verschränkung theoriegeleiteter sozialwissenschaftlicher Archivarbeit, welche die gesamten verschrifteten Feldforschungen Bourdieus in Algerien und dem Béarn einerseits und andererseits die während dieser Forschungen produzierten visuellen Datenträger systematisch zueinander in Bezug setzt. Im Unterschied zu den üblichen Anwendungsfeldern bildanalytischer Methoden, bei denen es in der Regel um den Versuch sinnhaften Nachvollzugs der von einem fremden Produzenten eines visuellen Datenträgers verfolgten Intentionen der Objektwahl und der jeweiligen Perspektive und ästhetischen Re-Präsentation des Gegenstandes geht, haben wir es bei unserem Vorhaben mit einem kohärenten Ensemble an Bilddokumenten zu tun, welche von ihrem Produzenten hinsichtlich ihrer Entstehungsbedingungen, ihrer raum-zeitlichen Verortung, ihrer Inhalte und ihrer Verweisungsfunktionen für das ihnen zugrunde liegende Interesse ausführlich beschrieben, kommentiert und in ihren Funktionen der Versinnbildlichung soziologisch relevanter Zusammenhänge theoretisch eingebettet wurden. Hier liefert uns demnach der Produzent der Bilder selbst einen Schlüssel zum sinnhaften Nachvollzug ihres soziologischen Sinns. Anstatt es wie so oft mit einem nicht klar zuschreibbaren, potentiell vieldeutigen und von seinen Intentionen und Funktionen her nur hypothetisch und spekulativ interpretierbaren Bildmaterial zu tun zu haben, geht es in unserem Fall um Bestandteile eines wissenschaftlichen Gesamtwerks, deren methodische Hervorbringung als Datenträger empirischer Feldforschung und praktische Verwendung für diverse Studien hinsicht40

lich der Beschreibung von gesellschaftlichen Phänomenen, aber ebenso deren sozialtheoretische Konzeptualisierung mittels dialogischen Bezugnahmen von visuellen und verschrifteten Repräsentationen rekonstruierbar wird. Oft liegen genaue schriftliche Beschreibungen von Gebrauchsgegenständen, körperlicher Hexis, sozialen Praktiken, Behausungen oder Gruppen vor, die direkt auf vorhandene Fotografien verweisen. Dementsprechend wird der Zugang zur Visuellen Soziologie zunächst und vorrangig werkimmanent erfolgen, auch wenn dabei auf den eingangs rezipierten einschlägigen state of the art der sozialwissenschaftlichen Forschung zur Fotografie und der Bildanalyse zurückgegriffen wird, um Fragen an die jeweilige Perspektivität – etwa die für bestimmte Aufnahmen gewählte Frontalität oder im Gegenteil die Strategie der image volée – zu stellen. Da Bourdieu ja in verschiedenen Publikationen selbst seine Vorstellung von Komplementarität von Bild und Text vorexerziert hat, indem er Fotos in seinen Studien platzierte und exemplarisch in mehreren Fällen sehr detaillierte Montagen vorlegte, lässt sich hier direkt an diese Exempel anknüpfen und der gesamte Fundus entlang dieses Orientierungsrahmens sichten, ordnen und zugänglich machen. Die Auswertung des Datenmaterials erfolgt in Anlehnung an die Grounded Theory,43 einem methodologischen Ansatz, der explizit auf eine stark empiriegesättigte Theoriebildung abzielt. Sie folgt der Annahme, dass Bourdieus frühe Arbeiten im Sinne einer »dichten Repräsentation« auch als zumindest »wahlverwandter« Ansatz der Grounded Theory interpretiert werden können  – eine Annahme, die sich dank eines kürzlich im Bourdieu-Archiv entdeckten Briefwechsels zwischen Bourdieu und Strauss plausibilisieren lässt. Es geht hier also nicht zuletzt um einen systematischen Vergleich der Fotografien aus Algerien und dem Béarn im Hinblick auf Bourdieus »mediterranes Paradigma«: »In a sense, Bourdieu’s early fieldworks provide a model for cross-cultural understanding in which the rural France and the Algerian colony are brought into dialogue with each other. Recalling Lévi-Strauss he called this a ›Tristes tropiques in reverse‹.«44 Und wenn nicht alles 43 | Vgl. Barney Glaser & Anselm Strauss, The Discovery of Grounded Theory. Strategies of Qualitative Research, London: Weidenfeld & Nicholson, 1967, 1–19. 44 | Vgl. Les Back, Portrayal and betrayal: Bourdieu, photography and sociological life, The Sociological Review, 57 (3), 2009, 471–490, hier 488.

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täuscht, ist dies Bourdieu nicht nur für diesen Vergleich sehr »gründlich« und »tiefgründig« gelungen, sondern seinem gesamten Werk überhaupt – der Soziologe hat bis zuletzt immer auch eine Art »Ethnologie« betrieben, die empirisch derart gesättigt war, dass man sich der ungemein »erhellenden« und deshalb in einem gutem Sinne suggestiven Kraft seines Werks kaum entziehen kann.

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Mit dem Objektiv sehen Im Umkreis der Fotografie Ein Gespräch zwischen Pierre Bourdieu und Franz Schultheis, Collège de France, Paris, 26. Juni 20011

Franz Schultheis: Pierre Bourdieu, als Sie sich einverstanden erklärten, uns den Zugang zu den Fotografien zu ermöglichen, die Sie während Ihres Algerienaufenthaltes gemacht haben und die 40 Jahre lang in Kartons ruhten, haben Sie uns zugleich ein Gespräch über ihren Gebrauch der Fotografie im Rahmen Ihrer ethnografischen Feldforschungen und soziologischen Untersuchungen vor Ort zugesagt. Beginnen wir doch mit einer sehr bodenständigen Frage. Was war das für ein Fotoapparat, mit dem Sie damals in Algerien fotografiert haben? Pierre Bourdieu: Das war ein Fotoapparat, den ich in Deutschland gekauft hatte. Eine Zeiss Ikof lex. Leider ging die Kamera auf meiner Reise in die Vereinigten Staaten in den 60er-Jahren kaputt, was ich sehr bedauert habe. Wenn ich die Zeit dazu finde, sehe ich mich manchmal in Gebrauchtfotoläden um, ob ich nicht dieselbe noch einmal finde, aber man hat mir schon mehrmals gesagt, dass es sie nicht mehr gibt. Die Ikof lex-Kameras von Zeiss waren damals technisch das Beste vom Besten in Deutschland. Ich habe meine auch dort gekauft. Das war wohl im ersten Jahr, als ich mein eigenes Geld verdiente (ich wurde um 1955 zum Professor ernannt). Übrigens habe ich sie, glaube ich, nach Frankreich geschmuggelt … Sie hatte eine ganz außergewöhnliche Linse, was auch der Grund dafür war, dass sie so teuer war. Abgesehen davon entsprach sie dem klassischen Modell Rolleif lex mit dem Sucher oben auf dem Gehäuse … Das war für mich sehr nützlich, denn in Algerien gab es oft Situationen, in denen es eine sehr delikate Angelegenheit war zu fotografieren, und auf diese Weise konnte ich Fotos machen, ohne dass es bemerkt wurde. Zum Beispiel hatte ich auch eine Leica, ich hatte Freunde in Algerien, die waren professionelle Fotografen, und die bat ich um ihren Rat, denn eines der Probleme in Algerien besteht in dem sehr, sehr hellen, grellen Licht, das einem jedes Bild vernichtet, also be1 | Erweiterte Fassung des bereits in Camera Austria, 75, 2001, 3–14, unter dem Titel Teil-

nehmende Objektivierung: Fotografische Zeugnisse einer untergehenden Welt abgedruckten Interviews mit Franz Schultheis.

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nötigte ich ihren Rat. Na ja, und diese Freunde benutzten fast alle eine Leica, das war damals die übliche Profikamera, aber sie setzt eben voraus, dass man der Person, die man fotografieren möchte, direkt gegenübersteht. Das war aber oft nicht möglich – zum Beispiel, wenn man eine Frau in einem Land fotografieren möchte, in dem das nicht gerne gesehen wird etc. In manchen Fällen habe ich mir die Erlaubnis eingeholt, zum Beispiel während meiner Feldforschungen in der Region Collo oder in der Region Orléansville. Dort machte ich dann natürlich sehr viele Fotos, und die Leute freuten sich darüber. Unter diesen Fotos ist auch eine Serie mit ziemlich dramatischen Bildern von einer Beschneidung – ich habe sie auf die Bitte des Vaters hin gemacht, der mich aufforderte: »Komm zum Fotografieren«. Das Fotografieren war ein Weg, zu den Menschen Zugang zu finden und gerne gesehen zu sein. Später habe ich den Leuten die Fotos geschickt. F. S.: Haben Sie die Fotos selbst entwickelt? P. B.: Ich habe mir erst sehr viel später die entsprechende Ausrüstung gekauft, weil alle meine Fotografen-Freunde mir sagten: Ein wahrer Fotograf entwickelt seine Fotos selbst, denn erst an der Entwicklung sieht man die wahre Qualität der Fotos und man kann mit dem Material arbeiten, kann zum Beispiel Ausschnittsvergrößerungen machen. Aber damals konnte ich das nicht, ich hatte jedoch ein kleines Fotolabor in Algier, das ziemlich schnell arbeitete und wo ich genau sagen konnte, was ich wollte. Ich habe Kontaktabzüge machen lassen und kleine Positive, später habe ich mich dann auch länger mit dem Mann aus dem Labor unterhalten und kompliziertere Sachen in Auftrag gegeben. Da ich damals sehr viele Fotos machte, zeigte er großes Interesse und ich habe ihm freie Hand gegeben, aber immer auch versucht, mehr recht als schlecht die Kontrolle darüber zu haben. F. S.: In gewisser Weise waren Sie ja schon vor Ihrer Abreise nach Algerien von der Fotografie fasziniert. Hatten Sie geplant, sich während Ihres Aufenthalts dort systematisch der Fotografie zu bedienen? War das ein richtiges Projekt? P. B.: Ich habe diese Sache sehr wichtig genommen, habe Hefte angelegt, in die ich die Negative eingeklebt habe, und außerdem hatte ich Schuhschachteln, in die ich das Filmmaterial einordnete. Und dann habe ich kleine Zelluloid-Tütchen gekauft, in die ich die Fotos steckte, schrieb jeweils eine Nummer darauf und die entsprechende Nummer in das Heft, in das ich die Negative eingeklebt hatte. Ich hatte jedoch ein Problem: Sollte ich das gesamte Filmmaterial auf heben? Ich neigte dazu, sehr viel aufzuheben, denn schließlich hatte das Material zwei Funktionen: zum einen eine dokumentarische Funktion. Manchmal machte ich Fotos aus dem einzigen Grund, um mich später daran erinnern zu können, um später etwas beschreiben zu können, oder aber ich fotografierte Gegenstände, die ich nicht mitnehmen konnte. Aber es gab da auch noch etwas Anderes: Das Fotografieren war auch, wie soll ich sagen, eine Art und Weise zu schauen. Es gibt 44

ja diese kleinbürgerliche Spontansoziologie (in Frankreich zum Beispiel von jenem kleinbürgerlichen Schriftsteller Daninos), die sich über die Leute lustig macht, die sich mit dem Fotoapparat über die Schulter gehängt auf den Weg zu ihren touristischen Ausf lügen machen und schließlich vor lauter Fotografieren die Landschaft gar nicht mehr wirklich betrachten. Ich habe das schon immer für Klassenrassismus gehalten. In meinem Fall zumindest war das eine Art und Weise, meinen Blick zu schärfen, genauer hinzusehen, einen Zugang zum Thema zu erlangen … Ich habe während meiner Jahre in Algerien immer wieder Fotografen bei ihren Fotoreportagen begleitet und beobachtet, dass sie überhaupt nicht mit den Menschen, die sie fotografierten, sprachen, sie wussten so gut wie nichts über sie. Es gab also verschiedene Arten von Fotografien. Da war zum Beispiel eine Hochzeitslampe, die ich fotografierte, um später untersuchen zu können, wie sie hergestellt worden war, oder eine Getreidemühle etc. Zum anderen habe ich Dinge fotografiert, die ich schön fand. Ich erinnere mich an ein Foto, auf dem ein kleines Mädchen mit Zöpfen zu sehen ist, mit ihrer kleinen Schwester an ihrer Seite. Man hätte meinen können, eine deutsche Madonna aus dem 15. Jahrhundert. Oder dieses andere Foto, das ich auch sehr mag – ich erinnere mich noch, das war am Rande eines Elendsviertels –, darauf ist ein kleines Mädchen zu sehen, das war gerade mal 80 cm groß und trug einen Brotlaib gegen den Bauch gepresst, der fast so groß war wie die Kleine selbst. Das Foto ist sehr nüchtern und zurückhaltend; das Mädchen hebt sich von der weißen Mauer ab, vor der es steht. F. S.: Und wann haben Sie damit begonnen, systematisch Fotos zu machen? War das nach Ihrem Militärdienst? P. B.: Ja, genau. Das war in den 60er-Jahren. Ich hatte die Idee, Fotos von Situationen zu machen, die mich sehr berührten, weil in ihnen verschiedene, dissonante Realitäten ineinanderf lossen. Eines dieser Fotos mag ich ganz besonders: Es ist ein Foto, das ich am helllichten Tag mitten im Sommer in Orléansville gemacht habe, an einem der heißesten Orte in Algerien. Auf dem Bild ist ein Werbeschild für eine Fahrschule zu sehen, mit einer Straße, die sich mitten durch Tannenwälder schlängelt, und direkt daneben eine Werbung für Kühlschränke. Diese Art von Vermischung der Realitäten amüsierte mich. Ein anderes Foto, das auch sehr typisch war, habe ich für den Umschlag des Buches Algérie 60 2 verwendet. Abgebildet sind zwei Männer mit Turbanen, richtig traditionelle Araber, die auf der Stoßstange eines Autos sitzen (ein Stück weiter hinten ist übrigens mein eigenes Auto zu sehen, ein Renault Dauphine) und in ein sehr ernstes Gespräch vertieft sind. 2 | Pierre Bourdieu, Algérie ’60. Structures économiques et structures temporelles, Paris: Minuit,

1977. [Die zwei Gesichter der Arbeit: Interdependenzen von Zeit- und Wirtschaftsstrukturen am Beispiel einer Ethnologie der algerischen Übergangsgesellschaft, Konstanz: UVK, 2000].

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F. S.: Wenn man sich diese Fotos ansieht, stellt sich einem die folgende Frage: Man sieht, dass das keine touristischen Fotos sind, sondern Fotografien, die ganz gezielt genauso gemacht wurden. Die Fotos verfolgen also eine ganz bestimmte Absicht. Sie selbst sagen, Sie haben fotografiert, um zu objektivieren, um eine Distanz zu schaf fen oder um sich für einen Augenblick aus der Zeit auszuklinken. Ich halte deshalb den Gedanken für durchaus naheliegend, dass es einen inneren Zusammenhang zwischen der Objektivierung durch den fotografischen Blick und dem ethnologischen Ansatz gibt, den Sie sich damals gerade als ethnologischer Autodidakt erarbeitet haben. Dass also diese beiden Blicke – der des Ethnologen oder Anthropologen und der des Fotografen – eine Wahlverwandtschaf t aufweisen. P. B.: Ja, da haben Sie zweifellos Recht, in beiden Fällen war da dieses zugleich objektivierende und liebevolle, distanzierte und doch enge Verhältnis zum Gegenstand, so etwas Ähnliches wie das, was man unter Humor versteht. Es gibt da eine Reihe von Fotos, die ich in der Region von Collo gemacht habe, und zwar in einer ziemlich dramatischen Situation. Ich befand mich in der Hand von Leuten, die die Macht über Leben und Tod hatten – was mich selbst betraf, aber auch die, die bei mir waren. Es ist eine Reihe von Bildern, auf denen die Menschen unter einem großen Olivenbaum sitzen, diskutieren und Kaffee trinken. Fotos zu machen, war in diesem Fall eine Art und Weise, ihnen zu sagen: »Ich interessiere mich für euch, ich stehe auf eurer Seite, ich höre euch zu, ich werde bezeugen, was ihr hier erlebt«. Es gibt da beispielsweise auch eine Reihe von Fotos, die nichts besonders Ästhetisches haben und die ich an einem Ort namens Aïn Aghbel gemacht habe wie noch an einem weiteren, der Kerkera hieß. Das Militär hatte die Leute, die zuvor verstreut in den Bergen wohnten, zusammengetrieben und in eine Art Reihenhäuser im Stil eines römischen Castrum umgesiedelt. Ich war gegen den Rat meiner Freunde zu Fuß in die Berge aufgebrochen, um mir die zerstörten Dörfer anzusehen, und bin dort auf Häuser gestoßen, von denen man das Dach abgenommen hatte, um die Leute zum Gehen zu zwingen. Sie waren nicht verbrannt worden, aber sie waren nicht mehr bewohnbar. Und in den Häusern fand ich Tonkrüge (das ist etwas, das ich schon in einem anderen Dorf, in Aïn Aghbel, zu erforschen begonnen hatte: Es gibt Orte, wo all das, was wir Einrichtung nennen würden, aus gebrannter Erde gefertigt ist und von den Frauen hergestellt und geformt wird), in der Kabylei nennt man sie aqoufis, die großen, mit Zeichnungen verzierten Tonkrüge für das Getreide. Die Zeichnungen zeigen oft Schlangen, denn Schlangen sind ein Symbol der Auferstehung. Und obwohl die Situation so traurig war, war ich glücklich, fotografieren zu können – es war alles sehr widersprüchlich. Ich konnte von diesen Häusern und unbeweglichen Einrichtungsgegenständen nur dank der Tatsache Fotos machen, dass sie kein Dach mehr hatten … Dies ist sehr charakteristisch für die Erfahrung, die ich dort gemacht habe und die etwas ganz Außergewöhnliches ist: Ich war sehr bewegt und sensibel für das Leiden der Menschen dort, aber zugleich war da auch die Distanz des Beobachters, die sich in der Tatsache manifestierte, dass ich Fotos machte. An das alles musste ich denken, als ich Germaine 47

Tillion las, eine Ethnologin, die über eine andere algerische Region, den Aurès, gearbeitet hat und die in ihrem Buch Ravensbrück erzählt, dass sie in einem Konzentrationslager mitansehen musste, wie die Menschen starben, und dass sie jedes Mal, wenn jemand starb, eine Kerbe machte. Sie machte einfach ihre Arbeit als professionelle Ethnologin, und sie erzählt in ihrem Buch, dass ihr das half, durchzuhalten. Daran dachte ich also und ich sagte mir: Du bist schon ein komischer Typ. Es war hier, in diesem Dorf mit dem Olivenbaum, wo uns die Leute schon am ersten Tag nach unserer Ankunft  – nein, nicht am ersten Tag, es war am zweiten Tag, der erste Tag war viel dramatischer, aber das werde ich nicht erzählen, denn es würde so nach Heldenpathos klingen – am zweiten Tag nach unserer Ankunft also begannen die Menschen zu erzählen: »Ich hatte früher dies, ich hatte früher jenes, ich hatte zehn Ziegen, ich hatte drei Schafe«, sie zählten all die Güter auf, die sie verloren hatten, und zusammen mit drei anderen habe ich, so viel ich konnte, aufgeschrieben. Ich habe die Katastrophe aufgezeichnet und zugleich hatte ich mit einer Art Verantwortungslosigkeit – und das ist wirklich eine scholastische Verantwortungslosigkeit, das ist mir im Rückblick klar – vor, das alles mit den Methoden, die mir zur Verfügung standen, zu analysieren, während ich mir immer sagte: »Armer Bourdieu, mit den armseligen Instrumenten, die du hast, bist du der Sache nicht gewachsen, man müsste einfach alles wissen und alles verstehen, die Psychoanalyse, die Ökonomie …« Ich habe Rorschach-Tests durchgeführt, habe getan, was ich konnte, um zu verstehen – und zugleich hatte ich die Absicht, Rituale zu sammeln, zum Beispiel den Ritus anlässlich des Frühlingsanfangs. Und diese Leute haben mir Geschichten erzählt, Geschichten von Menschenfressern, und sie haben von ihren Spielen erzählt, die sie immer gespielt haben: Sie nahmen sich Oliven von dem Olivenbaum, unter dem sie immer saßen, Oliven, die noch nicht ganz reif waren, und warfen sie in die Höhe. Dann muss man sie auf dem Handrücken wieder fangen und je nachdem, wie viele Oliven danebengegangen sind, bekommt man drei oder vier Schläge mit den Fingern. Unter diesem Olivenbaum habe ich Typen interviewt, die zwischen 30 und 50 Jahre alt waren, und manche von ihnen hatten unter ihrer Djellaba eine Waffe versteckt. Sie haben also dort gespielt (wenn man zwei verloren hat, bekommt man einen Schlag mit zwei Fingern, bei drei mit drei Fingern usw.) und sie schlugen sehr, sehr hart zu, sie spielten wie Kinder. Das ist nun etwas sehr Typisches für mein Verhältnis zu diesem Land. Es ist äußerst schwierig, auf die richtige Weise über das alles zu sprechen. Es war weit davon entfernt, ein Konzentrationslager zu sein. Es waren dramatische Zustände, aber nicht so, wie es oft gesagt wurde. Und ich war da und habe das alles beobachtet, und alles war so kompliziert und ging weit über meine Möglichkeiten! Wenn sie mir Dinge erzählten, habe ich danach manchmal zwei oder drei Tage gebraucht, um alles zu verstehen, komplizierte Namen von Orten oder Stämmen, Zahlen von verlorenem Vieh und anderen verlorenen Gütern, und ich war dann völlig überwältigt von dem allem, und insofern war jede Hilfe gut, und das Fotografieren war im Grunde eine Art und Weise zu versuchen, den Schock einer niederschmetternden Realität zu be48

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wältigen. Es gab dort einen Ort, der lag ganz in der Nähe und hieß Kerkera, ein riesiger Ort, der einfach mitten auf einer sumpfigen Ebene hochgezogen worden war, welche die Leute nicht bebauen konnten, weil sie keine Pf lüge und Gespanne hatten, die stark genug gewesen wären. Dort also hatte man die Leute angesiedelt, zwei- oder dreitausend Personen, riesengroß, und diese Art Vorstadtsiedlung ohne Stadt war wirklich tragisch. Dort habe ich die verrückteste Sache meines Lebens gemacht: eine Konsumstudie im Stil des INSEE. (Eine Konsumstudie ist etwas sehr Aufwändiges. Sie kommen mit ihrem Fragebogen an und fragen: »Was haben Sie gestern gekauft?« Kerzen, Brot, Karotten … Sie zählen alles auf und kreuzen jeweils ja oder nein an. Zwei Tage später kommen sie dann wieder, insgesamt drei Mal.) Es war eine Riesenarbeit, eine solche Untersuchung in einer so schwierigen Situation zu organisieren und durchzuführen – auch wenn ich nicht allein war, sondern wir zu dritt oder viert waren. Diese ganze Untersuchung hat nichts Besonderes ergeben außer der Tatsache, dass diese Bevölkerung, die völlig vernichtet, homogenisiert, nivelliert und auf die unterste Stufe des Elends reduziert zu sein schien, eine Normalverteilung aufwies  – es gab all die Unterschiede, die man auch bei einer normalen Bevölkerung findet, eine Normalverteilung. F. S.: Wenn man Ihnen so zuhört, hat man den Eindruck, dass sie kein konkretes Projekt verfolgt haben, sondern ein wenig in alle Richtungen gingen und innerhalb kurzer Zeit einen Gesamtdurchlauf durch die Soziologie machen wollten. P. B.: Ja, aber wie hätte man es auch anders machen können? Was macht man angesichts einer so drückenden, erdrückenden Wirklichkeit? Natürlich bestand die Gefahr, mich von dem allem überschwemmen zu lassen und daraus eine völlig irre Chronik zu machen, in der ich alles zu erzählen versuche. Einer der großen Fehler, die ich gemacht habe, war, kein Tagebuch zu führen. Ich hatte lauter einzelne Fetzen, alles total chaotisch – es war einfach alles sehr schwierig, wir hatten wenig Zeit, und es war sehr anstrengend. F. S.: Eine ganz konkrete Frage: Sie haben zwar kein Tagebuch geführt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es Ihnen beim Anschauen der Fotos gelingt, alles sehr schnell und zuverlässig einzuordnen, und wenn Sie jenes am Boden sitzende Mädchen sehen, können Sie sicher sagen »Das war da und da«, oder? Die Fotos sind also Gedächtnisstützen, die sehr … P. B.: Ja, ich kann durchaus sagen, das war in Orléansville, das war in Cheraïa … F. S.: Diese Gedächtnisstützen sind also durchaus sehr wichtig, und man müsste schauen, ob man davon ausgehend nicht…

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P. B.: Das hätte man machen müssen … aber ich hatte einfach nicht die Energie dazu. Wir haben von morgens um sechs bis nachts um drei gearbeitet, es war einfach unvorstellbar. Sayad war der Einzige, der durchgehalten hat, die anderen waren völlig fertig, das war wirklich eine harte Zeit. F. S.: Um noch einmal auf die Frage des Blicks zurückzukommen: Im Zentrum steht das Emotionale und dann ist da der Bruch, der für Sie sehr wichtig ist, ein Bruch zwischen einer Welt, die in ihren bekannten und gewohnten Formen im Verschwinden begrif fen ist, und einer neuen Welt, die sich sehr schnell durchsetzt. Also die Nicht-Gleichzeitigkeit der Gegenstände. Das, was in Ihrem Buch Travail et travailleurs en Algérie3 den soziologischen Blick strukturiert, scheint das Auseinanderklaf fen zwischen Zeitstrukturen und ökonomischen Strukturen zu sein, und man könnte sagen, dass man dieselben Leitmotive in Ihren Fotos findet, also in dem fotografischen Blick auf die soziale Welt … P. B.: Es gibt ein Foto, das dafür sehr typisch ist und das ich für den Einband von Travail et travailleurs en Algérie genommen habe. Darauf sind Landarbeiter auf der Ebene von Mitidja in der Nähe von Algier zu sehen. Sie arbeiten in einer Reihe und versprühen Sulfat, das durch einen Schlauch geleitet wird, über den sie mit einer Maschine verbunden sind, in der das Sulfat transportiert wird. Sie bewegen sich zu fünft oder zu sechst vorwärts, vielleicht sind es auch mehr. Das Bild zeigt sehr gut die Lebensumstände dieser Menschen und zugleich sieht man die Industrialisierung der landwirtschaftlichen Arbeit in diesen großen Kolonialfarmen, die im Vergleich zur französischen Landwirtschaft sehr fortschrittlich waren. Ich habe mit einigen dieser Leute, die als Landarbeiter einen Hungerlohn verdienten und an den Rändern der Großgrundbesitze ihr eigenes kleines Stück Land bearbeiteten, kurze Gespräche geführt… F. S.: Angesichts dessen, was Sie über die Art und Weise, wie Sie diese Fotos konzipiert und gemacht haben, erzählen, fragt man sich, was die adäquate Form ihrer Rezeption und Präsentation sein könnte. Es gilt, einen Bezug zu Ihrer ethnologischen Forschung und zu den Büchern herzustellen, die von Ihren Anfängen erzählen, als Sie denselben Gegenstand analysierten, der sich auch auf den Fotos wiederfindet. Diese beiden Dinge zueinander in Beziehung zu setzen, scheint naheliegend, aber zugleich schreckt man auch ein wenig davor zurück, weil das auf den ersten Blick eine noch spontanere und vereinfachendere Vorgehensweise wäre als einfach in den Texten nach Situationsbeschreibungen zu suchen, nach Erzählungen, die an das erinnern, was auf den Fotos zu sehen ist. P. B.: Es ist ja völlig normal, zwischen dem Inhalt meiner Forschungen und meinen Fotos einen Bezug herzustellen. Zum Beispiel war eine Sache, die mich damals besonders interessiert hat, das, was ich die »Ökonomie der Not« oder die »Ökonomie Elends« nannte. Normalerweise wurde das 3 | Pierre Bourdieu et al., Travail et travailleurs en Algérie, Paris & Den Haag: Mouton, 1963.

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Elendsviertel (nicht nur vom rassistischen, sondern einfach auch vom naiven Blick) als etwas Schmutziges, Hässliches, Ungeordnetes, Zusammengewürfeltes etc. wahrgenommen, während es in Wahrheit der Ort für ein sehr komplexes Leben ist, für eine wirkliche Ökonomie, die ihre eigene Logik hat, wo sich sehr viel Einfallsreichtum entfaltet, eine Ökonomie, die vielen Menschen zumindest das Minimum zum Überleben bietet und vor allem Gründe für ein soziales Überleben, das bedeutet, der Schande zu entgehen, die für einen Mann mit Selbstachtung die Tatsache bedeutet, nichts zu tun und in keiner Weise zum Lebensunterhalt seiner Familie beizutragen. Ich habe zu diesem Thema sehr viele Fotos gemacht, Fotos von all den Hausierern und Straßenverkäufern, und ich war wirklich verblüfft von dem Einfallsreichtum und der Energie, die in diesen ungewöhnlichen Bauten steckten, die an ein Schaufenster oder einen Laden erinnerten, oder diese völlig bunt zusammengewürfelten Auslagen am Boden (das hat mich auch vom Ästhetischen her interessiert, weil es ein sehr barockes Bild war), von diesen Apothekern, die ich befragte und die so ziemlich alle Quellen der traditionellen Magie verkauften, deren Namen ich aufzeichnete, Aphrodisiaka etc. Es gab auch sehr pittoreske Fleischer (diese drei großen, dreieckigen Holzständer, an denen die Fleischstücke aufgehängt wurden)  – ein typisches Motiv für den Fotografen, der auf der Suche nach dem Pittoresken, dem Exotischen ist. Ich selbst hatte immer Hypothesen bezüglich der Organisation des Raumes im Sinn: Es gibt einen Lageplan des Dorfes mit einer bestimmten Struktur, eine Struktur des Hauses; und außerdem habe ich entdeckt, dass die Verteilung der Gräber auf dem Friedhof grob die Organisation des Dorfes nach Clans reproduzierte. Und ich habe mich gefragt: Werde ich auf den Märkten dieselbe Struktur wiederfinden? Das erinnert mich an ein Foto, das ich auf einem Friedhof gemacht habe: Auf einem anonymen Grab eine mit Wasser gefüllte Cassoulet-Dose. Am siebten Tag nach dem Tod muss man Wasser zum Grab bringen, um die weibliche Seele festzuhalten; in diesem Fall handelte es sich nun um eine Cassoulet-Dose, in der sich zuvor ein Produkt befunden hatte, das Tabu war: ein Schwein … F. S.: Als Sie dann nach Frankreich zurückkamen, haben Sie sehr bald mit Forschungen über die Fotografie 4 begonnen. Wie kamen Sie darauf? Kam der Anstoß dazu von außen? P. B.: Ich erinnere mich nicht mehr genau und möchte keinen Unsinn erzählen. Aber ich weiß, dass es damit zusammenhing, dass mir Raymond Aron die Leitung des Generalsekretariats eines gerade von ihm neu gegründeten Forschungszentrums anvertraut hatte. Ich war damals nicht besonders selbstsicher und habe mir gedacht, es wäre gut, wenn ich es hinkriegen würde, auch noch eine andere Einnahmequelle für mich zu haben, für den 4 | Pierre Bourdieu et al., Un art moyen. Essai sur les usages sociaux de la photographie, Paris:

Minuit, 1965 [Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Frankfurt: Suhrkamp, 1983].

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Fall, dass ich mich nicht sehr gut anstellen würde, dann wäre es nicht so schlimm, wenn … Also habe ich einen Vertrag mit Kodak geschlossen. Was ich dabei natürlich im Kopf hatte, war die Tatsache, dass die Fotografie die einzige Praxis mit künstlerischer Dimension ist, die für alle zugänglich ist, und zugleich auch das einzige kulturelle Gut, das allgemein konsumiert wird. Über diesen Umweg wollte ich zu einer allgemeinen ästhetischen Theorie gelangen. Das war zugleich ein sehr bescheidenes und sehr ehrgeiziges Vorhaben. Es wird gerne gesagt, dass die Fotos, die das einfache Volk macht, schrecklich sind usw., und ich wollte zunächst verstehen, warum das so war, wollte versuchen zum Beispiel der Tatsache Rechnung zu tragen, dass diese Bilder zumeist frontal aufgenommen waren, dass hier Beziehungen zwischen Personen gezeigt werden – all diese Dinge, die dem Ganzen eine Notwendigkeit verliehen, welche zugleich den Effekt einer Rehabilitation hatte. Was ich dann noch gemacht habe, war, dass ich eine Fotosammlung, die meines Kinderfreundes, analysiert habe. Ich habe mir ein Foto nach dem anderen angesehen, habe die Bilder vollkommen in mich aufgenommen, und ich glaube, ich habe in dieser Schuhschachtel viele Dinge gefunden. F. S. Aber wie Sie erzählt haben, haben Sie doch schon beim Fotografieren in Algerien Berufsfotografen beobachtet und zu sich selbst gesagt: »Dieses Foto hätte ich nicht gemacht« oder »Ich hätte es anders gemacht«, manchmal auch »Das hätte ich genauso gemacht«. Da war also bereits eine Ref lexivität im Umgang mit der Fotografie, also eine Art Beginn, ein Ausgangspunkt für die Ref lexion … P. B.: Ja, das stimmt. Auch wenn es ab und zu mal vorkam, dass die Berufsfotografen Fotos gemacht haben, die ich selbst gerne gemacht hätte, selbst von den merkwürdigsten Dingen, so haben sie doch auch sehr viel gemacht, was ich nicht gemacht hätte und was einfach nur malerisch aussah. Ich denke, es war – abgesehen von gelegentlichen Zufallstreffern – nicht leicht für sie, einen nichtkonventionellen Blick auf diese Gesellschaft zu werfen, der seinem Schema nach nicht ausschließlich die Kategorie des Pittoresken bediente: der Weber bei der Arbeit, die Frauen auf dem Heimweg vom Brunnen. Eines meiner »typischsten« Fotos zeigt eine verschleierte Frau auf einem Motorroller – das ist ein Foto, das sie zweifellos auch hätten machen können. Das ist der »einfachste« Aspekt dessen, was ich begreifen wollte. Ich weiß eine Anekdote, die meine Erfahrung mit diesem Land sehr gut zum Ausdruck bringt (ein seltsames Land, in dem ich ständig ein Gefühl der Tragik empfand – ich hatte große Angst, auch nachts in meinen Träumen … – und in dem dennoch ständig auch irgendwelche lustigen Dinge sah, die mich zum Lachen oder Schmunzeln gebracht haben), eine Geschichte, die diese doppelte, widersprüchliche und ambivalente Erfahrung sehr gut zum Ausdruck bringt, eine Erfahrung, die auszudrücken oder verständlich zu machen mir hier, in Frankreich, immer sehr schwer fiel, ja sogar in Algerien gegenüber der algerischen Stadtbevölkerung bürgerlicher Herkunft war das schwierig – ich denke da an eine junge Studentin aus einer 54

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bedeutenden Familie der Koulouchlis, die bei unseren Untersuchungen im städtischen Milieu mitgemacht hat (sie hat mir erst kürzlich geschrieben) und die ein gewisses Gefühl der Furcht, gemischt mit Abscheu, nicht verbergen konnte angesichts der Leute, die mich oft anfassten in ihrem etwas lächerlichen und erbärmlichen Versuch, ihr Elend und Unglück in Szene zu setzen oder herauszustellen. (Das ist der Grund, warum ich den Blick von Männern wie Mouloud Farraoun so gerne mochte, wenn er mir von seinen Auseinandersetzungen mit den Eltern von Schülern berichtete, oder den Blick von Abdelmalek Sayad, der den Menschen, die wir trafen, mit einem oft zugleich amüsierten und ein wenig gerührten Blick begegnete.) Aber um auf meine Geschichte zurückzukommen: Ich fuhr also eines Tages gerade aus einem Parkplatz heraus, da kam eine junge, verschleierte Frau vorbei, die sah, dass ich zögerte, mit meinem Auto vorzufahren, und sie drehte sich zu mir um und sagte unter ihrem Schleier: »Na, Schätzchen, fährst du mich über den Haufen?!« F. S.: Wissen Sie, das, was Sie da sagen, erinnert mich ein wenig an eine Bemerkung von Günther Grass, an die Sie sich sicherlich auch erinnern. Er hat gesagt: »Die Soziologie ist zu ernst.« Aber das stimmt nicht! Ganz und gar nicht! Er hat nur einfach nicht verstanden, dass es deplatziert gewesen wäre, im Elend der Welt mit Humor zu arbeiten. P. B.: Auch in Le déracinement, das dem Elend der Welt in vielen Punkten ähnelt, wird dieser lustigen Seite wenig Platz eingeräumt. Im Übrigen: Wenn ich nach einem literarischen Modell suchen würde, um so schreckliche Erfahrungen bis hin in ihre humoristischsten Aspekte zum Ausdruck zu bringen, dann würde ich eher an Arno Schmidt denken. Ich bedauere oft, dass ich nicht Tagebuch geführt habe. Ich habe mich ganz meiner »Pf licht« als Forscher und als Zeuge gewidmet, und ich habe mein Bestes gegeben, mit den Mitteln, die mir zur Verfügung standen, um diese zugleich außerordentlichen und  – leider!  – universellen Erfahrungen weiterzugeben, Erfahrungen, die immer mit Flucht und Befreiungskriegen verbunden sind. Auch wollte ich mich nicht damit zufriedengeben, dies alles in der Art eines guten Reporters zu bezeugen, sondern ich wollte auch die Logik und die transhistorischen Effekte dieser umfangreichen Zwangsumsiedelungen der Bevölkerung herausarbeiten. Und dann gibt es da noch die Zensur des akademischen Anstands, die dazu führt, dass es eine Menge Dinge gibt, bei denen man nicht einmal daran denken würde, sie zu erzählen. Und das, was ich Ihnen in diesem Moment erzähle, hätte ich ihnen wahrscheinlich vor 30 Jahren nicht sagen können oder ich hätte es gesagt, aber nicht auf die gleiche Weise, wie ich es heute zu sagen wage. F. S.: Heute können Sie sich das erlauben. Ihr Werk existiert, und nun können Sie noch einmal zurück in die Vergangenheit gehen und die bisher versteckte Seite offenlegen.

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P. B.: Die Sorge darum, nur ja genügend seriös und wissenschaftlich zu sein, hat mich, was die literarische Seite meiner Arbeit angeht, dazu gebracht, mich sehr zurückzunehmen: Ich habe vieles zensiert. Ich glaube, in der gesamten Anfangszeit des Centre de sociologie européenne gab es diese stillschweigende Aufforderung  – wenn es auch keine explizite Vorschrift war –, all das zu streichen, was philosophisch oder literarisch war. Man hatte die stillschweigenden Regeln der Gruppe zu respektieren. Alles andere erschien als unangemessen, narzisstisch, selbstgefällig. Heute bedaure ich oft, dass ich die brauchbaren Spuren dieser Erfahrung nicht bewahren konnte. Es stimmt schon, dass ich damals viele Dinge erlebt habe, die mich von meinen intellektuellen Zeitgenossen entfernt haben. Ich bin sehr viel schneller gealtert … Ja, stimmt, ich sollte eines Tages versuchen, mir die Fotos anzuschauen und alles auf Band zu sprechen, was mir dabei in den Sinn kommt. F. S.: Bevor wir zum Ende kommen noch eine persönliche Frage: Welche Rolle spielt diese Algerienerfahrung Ihrer Meinung nach im Kontext der soziologischen Selbstanalyse, wie Sie sie in Ihrem letzten Kurs am Collège de France skizziert haben? P. B.: Yvette Delsaut hat einen Text über mich geschrieben, in dem sie sehr richtig sagt, dass Algerien das ist, was es mir ermöglicht hat, mich selbst zu akzeptieren. Den verstehenden Blick des Ethnologen, mit dem ich Algerien betrachtet habe, konnte ich auch auf mich selbst anwenden, auf die Menschen aus meiner Heimat, auf meine Eltern, die Aussprache meines Vaters und meiner Mutter, und mir das alles so auf eine völlig undramatische Weise wiederaneignen, denn hier liegt eines der großen Probleme entwurzelter Intellektueller, wenn ihnen nur die Alternative zwischen Populismus oder im Gegenteil einer verschämten Selbstverleugnung als Reaktion auf die symbolische Gewalt der Klassengesellschaft zu bleiben scheint. Ich bin diesen Menschen, die den Kabylen sehr ähnlich sind und mit denen ich meine Kindheit verbracht habe, mit dem Blick des Verstehens begegnet, der für die Ethnologie zwingend ist und sie als Disziplin definiert. Die Fotografie, die ich zunächst in Algerien und dann im Béarn praktiziert habe, hat als Begleiterin zweifellos viel zu dieser Konversion des Blickes beigetragen, die eine wahre – und ich glaube, das Wort ist nicht zu stark – Sinnesänderung voraussetzte. Denn die Fotografie ist eine Manifestation der Distanz des Beobachters, der seine Daten erfasst und sich dabei immer bewusst bleibt, dass er Daten erfasst (was in so familiären Situationen wie der eines Balles nicht immer einfach ist), aber zugleich setzt die Fotografie auch die ganze Nähe des Vertrauten, des Aufmerksamen und eine Sensibilität selbst für kaum wahrnehmbare Details voraus, Details, die der Beobachter nur durch seine Vertrautheit unmittelbar zu verstehen und zu interpretieren vermag (und sagt man nicht von jemandem, der sich gut benimmt, dass er »aufmerksam« ist?), eine Sensibilität für das unendlich kleine Detail einer Handlung, das selbst dem aufmerksamsten Ethnologen zumeist entgeht. Die Fotografie ist aber auch verwoben mit dem Verhältnis, das ich zu jedem 57

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Zeitpunkt zu meinem Gegenstand unterhalten habe, und ich habe keinen einzigen Augenblick lang vergessen, dass es sich dabei um Menschen handelte, Menschen, denen ich mit einem Blick begegnet bin, den ich  – auch wenn ich befürchte, mich dadurch lächerlich zu machen – als liebevoll, oft auch gerührt bezeichnen möchte. Das ist der Grund, warum ich niemals aufgehört habe, selbst Interviews und Beobachtungen durchzuführen (damit habe ich immer meine Forschungen begonnen, egal, um welches Thema es sich handelte), was ein Bruch mit den Routinen einer bürokratischen Soziologie darstellt (verkörpert meines Erachtens durch Lazarsfeld und das Bureau of Applied Social Research an der University of Columbia, die den Taylorismus in die Forschung eingeführt haben), einer Soziologie, die nur über zwischengeschaltete Interviewer Zugang zu ihren Befragten hat und die, im Unterschied selbst noch zum zaghaftesten Ethnologen, keine Gelegenheit hat, weder die befragten Personen noch ihr direktes Umfeld zu Gesicht zu bekommen. Die Fotos, die man in aller Ruhe immer wieder anschauen kann, erlauben ebenso wie Tonaufnahmen, die man immer wieder anhören kann (ganz zu schweigen von Videos), Details zu entdecken, die einem auf den ersten Blick entgangen sind oder die man aus Gründen der Diskretion während des Interviews nicht in aller Ausführlichkeit betrachten kann (ich denke da – im Rahmen der Untersuchung für Das Elend der Welt – zum Beispiel an die Wohnungseinrichtung des Metallers von Longwy oder seines algerischen Nachbarn).

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Stephan Egger

Die Gestalt des Gesellschaftlichen Zu Bourdieus »plastischer« Soziologie Nennen wir es gleich beim Namen: Es gibt in der Geschichte der Sozialwissenschaften vor und nach Bourdieu keine derart anschauliche Verschränkung von Theoriebildung und methodischem Material. Das gilt nicht nur für die fotografischen Dokumente, die Bourdieu selbst hundertfach in seiner Zeitschrift Actes de la Recherche en Sciences Sociales eingesetzt hat und dort tausendfach in anderen Beiträgen erschienen sind. Das gilt auch für den extensiven Einsatz statistischer Daten und nicht zuletzt für eine Kultur des »Gesprächs«  – die Konfrontation mit einer Selbstinterpretation des Individuums in seinen sozialen Zusammenhängen ist derart »plastisch«, dass sich jede Optik der »Sozialstrukturanalyse« wie ein unbeholfener Versuch ausnimmt, soziale Wirklichkeiten sinnfällig zu machen.1 Dieser wissenschaftshistorisch absolut einzigartige Zugang verdichtet sich ganz zweifellos in Bourdieus Gebrauch der Fotografie – sie bildet, und dies ganz ohne jede Übertreibung, das Fundament einer Erinnerung an das »Sinnliche« sozialer Welterfahrung. Wenn Bourdieu, zwei Jahrzehnte nach seiner algerischen »Initiation«, nicht nur in Le sens pratique über die kabylische »Einteilung der Welt« Fotografien verwendet, sondern auch in der im gleichen Jahr erschienenen Anatomie du goût, zentrales Kapitel der späteren Feinen Unterschiede, Menschen in ihrem »natürlichen«, und das heißt: klassenspezifisch gesonderten, Umfeld zeigt, dann entsteht hier tatsächlich ein Eindruck von 1 | Zur Verdeutlichung dieses in jedem Sinne »exzentrischen« Unter-

nehmens genügen einige wenige Zahlen. In den knapp 30 Jahren seit ihrer Gründung 1975 bis zu Bourdieus Tod haben die Actes über 2.500 Fotos veröffentlicht, auch wenn ein Teil auf die Ablichtung ebenso vielsagender Zeitungsausschnitte, Seiten aus Handbüchern und anderen schriftlichen Zeugnissen entfiel, zudem über 600 Tabellen und 200 Grafiken  – eine »dichtere« Annäherung an soziale Wirklichkeit lässt sich kaum vorstellen, zumal die Wiedergabe von Interviews in diese Rechnung gar nicht erst eingeht.

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der menschlichen »Figur« des Sozialen, die Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung zur Deckung bringt – der »soziale Körper«, seine durch dieses Umfeld verfügten Haltungen und Gesten, zeigt sich in genau diesem Umfeld als klassifikatorisches Merkmal von Prädikation oder Stigma, denen keine »rationale«, sondern »emotionale«, »sinnliche« Wahrnehmung Legitimität verleiht.2 Es ist dies überhaupt Ursprung und Ziel der Bourdieu’schen Soziologie  – die »einverleibten« und damit »gelebten« Formen sozialer Unterschiede zu zeigen, ganz gleich, ob es sich um die patriarchalisch und gleichzeitig possessiv um den Landbesitz organisierte Gesellschaft in Algerien handelt oder den Zugang der Menschen zu »Bildung« und »Kultur« in der modernen »Klassengesellschaft«. Dass dabei der Mensch die »Figur« abgibt, nach deren Erscheinungsform sich die klassifikatorische Logik des Sozialen bestimmt, ist nur offensichtlich, wenn der erste Sinn des Menschen dem Auge zugeteilt ist: Die sinnliche Wahrnehmung des Anderen spielt hier eine derart außergewöhnliche Rolle, dass sie jeden rudimentären »Instinkt« überschreibt – ohne ihn nicht in »gefühlte« Gewissheiten überführen zu können. Die Bourdieu’sche Soziologie ist bevölkert von Figuren und ihren Figurationen – und hält sich deshalb an Fotografien fest, die sie abbilden und gleichzeitig, innerhalb eines interpretativen Kontexts, »sinnlich« erfahrbar machen. An dieser Stelle wäre es müßig, auf die algerische Erfahrung Bourdieus hinzuweisen – das wurde in den letzten 20 Jahren mit zunehmender Aufmerksamkeit getan, und dass diese zugleich »sinnliche« wie intellektuelle Erfahrung einen ganz wesentlichen Impuls für Bourdieus Soziologie bedeutet hat, lässt sich mittlerweile kaum mehr in Abrede stellen.3 Vor diesem Hintergrund ist es nahe2 | Vgl. nur Pierre Bourdieu, Le sens pratique, Actes de la Recherche en Sciences Sociales, 2, 1976, 43–86, oder Anatomie du goût, Actes de la Recherche en Sciences Sociales, 5, 1976, 5–81. 3 | Diese algerische Erfahrung hat Bourdieu sehr viel später in seiner »Autobiographie« genauer geschildert, vgl. Ein soziologischer Selbstversuch, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002, 45–66. Zu ihrem Stellenwert in der Werkgenese zuerst Franz Schultheis in seinem Nachwort zur deutschen Übersetzung von Algérie 60, Paris: Minuit, 1977, vgl. Die zwei Gesichter der Arbeit, Konstanz: UVK, 2000, 165–184. Mit dem Band Images d’Algérie, Arles: Actes Sud, 2003, einer Zusammenstellung von Textauszügen der algerischen Arbeiten Bourdieus, begleitet von umfangreichem fotografischem Material, setzt dann auch die weitere Rezeption ein, vgl. Tassadit Yacine, L’Algérie: matrice d’une œuvre, in

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liegend, nicht nur von einer intellektuellen »Formation« zu sprechen, sondern von einem epistemologischen »Format«, das mit seiner empirischen Dichte eine bis dahin kaum bekannte Verbindung von »Theorie« und »Praxis« in den sciences humaines verwirklicht  – die Fotografie ist hier, neben der Beobachtung von Lebensvollzügen, eingehenden Gesprächen, morphologischen Feststellungen, das entscheidende Mittel dieser einzigartigen Form wissenschaftlicher Arbeit. Bourdieu hat während seines Aufenthalts in Algerien an die 3.000 Aufnahmen gemacht, von denen uns wenigstens ein Drittel zur Verfügung steht. Und nicht nur dort: In seiner Heimat, dem südwestfranzösischen Béarn, findet er ganz ähnliche Transformationen einer bäuerlich geprägten Gesellschaft vor, die von der »Moderne« mit allen ihren Konsequenzen erfasst wird  – auch diesem »Kapitel« seines Werdegangs als »plastischer« Soziologe sind hunderte Fotos und dutzende Gespräche mit den »Ureinwohnern« gewidmet. Dabei bleibt die Fotografie ein wesentliches Mittel, um die »Figur« des Menschen innerhalb seiner »Figurationen«, um das »Gesicht« des Sozialen einzufangen. Bourdieu hat das mit seinem Begriff des »Habitus« namhaft gemacht, zu einer Zeit, als Algerien, zumindest geografisch, schon hinter ihm lag Aber schon dort gibt es eine Ahnung von der Tragweite des »Konzepts«.4 In seiner Sociologie de l’Algérie von 1958 stößt man nämlich auf einen bemerkenswerten Abschnitt, der versucht, jene »gentilistische Demokratie« in der Kabylei zu beschreiben, in der Ehre, Besitz, sozialer Status und die Unvordenklichkeit dieses gesamten Zusammenhangs deutlich wird: »Der Zusammenhalt der Gruppe beruht weniger, wie in unserer Gesellschaft, auf einer rationalen und objektiven Organisation, sondern auf einem Gemeinschaftsgefühl, das alle im engeren Sinne politischen Institutionen durchdringt. Pierre Encrevé & Rose-Marie Lagrave (Hg.), Travailler avec Bourdieu, Paris: Flammarion, 2003, 333–345, ausführlich wiederum bei Schultheis, Bourdieus Wege in die Soziologie, Konstanz: UVK, 2007, dort auch die Rede von einem »Kristallisationskern« der gesamten Theorie Bourdieus. Dass man davon tatsächlich aus gutem Grund sprechen kann, hängt allerdings weniger mit den »begriffsbildenden« Aspekten der algerischen Erfahrung zusammen, sondern vielmehr mit einem »anthropologischen« Erstaunen angesichts der Persistenz genau jener Schemata des Wahrnehmens, Denkens, Verhaltens und Handelns, die später in Bourdieus Habitusbegriff zusammenfließen. 4 | Vgl. zur »Geschichte« des Konzepts einige Ausführungen im Band Pierre Bourdieu, Habitus und Praxis, Berlin: Suhrkamp, 2020, 414 ff.

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In der Gemeinschaf t des Clans oder des Dorfes werden die fundamentalen, durch eine unwidersprechbare Tradition überlieferten Werte von allen geteilt, ohne dass sie ausdrücklich bestätigt sind; deshalb werden die politischen Institutionen von einer organischen Verbundenheit des Individuums mit der Gemeinschaft belebt und beseelt; sie finden ihre Grundlage in bezeugten Gefühlen und nicht in formulierten Prinzipien und können sicher sein, dass derart intim geteilte und kaum infrage gestellte gemeinsame Einstellungen nicht rechtfertigt, bestätigt oder durchgesetzt werden müssen … Aus dem gleichen Grund, der Intensität der Gemeinschaftsgefühle, müssen die Regeln, welche der Gemeinschaft zugrunde liegen, nicht wie Imperative erscheinen. Sie beseelen die lebendige Realität der Sitten. Die gentilistische Demokratie muss sich nicht bekunden, um zu existieren; vielleicht existiert sie umso lebendiger, desto weniger sie die Gefühle formuliert, die sie begründen … tatsächlich ist der Einzelwille unmittelbar und spontan mit dem Allgemeinwillen deckungsgleich. Doch dieses Ideal ist nur zu verwirklichen, weil es nicht als Ideal dargestellt und wahrgenommen wird; weil es nicht ausdrücklich als abstraktes Prinzip formuliert wird, sondern im Zustand des Gefühls erlebt, als unmittelbare und vertraute Gewissheit.«5 Hier kommt die ganze Unvordenklichkeit der bestehenden Ordnung, der eigenen Existenz, in die sich diese Ordnung einschreibt, zum Ausdruck. Bourdieu hat diese unauf lösliche Verbindung von »Innenwelt« und »Außenwelt«, verhängt und bestätigt durch einen »Alltag«, der nicht nur tief in die Gefühle der Menschen eindringt, sondern auch in ihr gesamtes »Aussehen«, die Kleidung, die Haltung, den Körper, hier schon geahnt – gerade die Fotos aus der Kabylei sind hier untrüglich. Aber auch grundsätzlich: Die enorme »Plastizität« des Menschen innerhalb einer »Kultur« wird insbesondere dann deutlich, wenn völlig unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen, eine Differenz, die den ganzen emotionalen und handlungspraktischen »Haushalt« des Menschen bildlich erfahrbar macht – »Menschenbilder« sind das, worin wir uns erkennen, und Bourdieu hat genau dieses Erkenntnispotential in bis dahin nie dagewesener Weise ausgeschöpft. Durch Bourdieus Fotografien entsteht tatsächlich ein »Gesicht« des Gesellschaftlichen, mit allen seinen Be5 | Pierre Bourdieu, Sociologie de l’Algérie, 1958, Neuauflage Paris: PUF,

2010, 26 f.

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schwernissen, seinen Leiden, seinen ökonomischen und sozialen Grundlagen, seiner Gemeinschaftlichkeit, aber auch seinen Strukturen und Hierarchien, während der Einbruch der »Zivilisation«  – in Algerien wie im Béarn  – eben diese habituellen Verwurzelungen offenlegt. Bourdieus Fotografien geben dem »Sozialen« ein Gesicht, sind die Dokumente einer »plastischen« Soziologie, die es vorher und danach in dieser Art nie gab. Insofern ist und bleibt das epistemologische »Format« dieser Soziologie ohne jeden Vergleich.

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Christine Frisinghelli

Anmerkungen zu den fotografischen Dokumentationen von Pierre Bourdieu »In einem um seine Unabhängigkeit kämpfenden Algerien an einer wissenschaftlichen Analyse der algerischen Gesellschaft zu arbeiten bedeutete gleichzeitig den Versuch, die Grundlagen wie die Ziele dieses Kampfes zu verstehen.« Pierre Bourdieu

Das Buch und die Ausstellung Pierre Bourdieu. In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung stellten erstmals eine umfangreiche Auswahl der fotografischen Dokumentationen von Pierre Bourdieu vor und damit Materialien der Öffentlichkeit zur Verfügung, von deren Publikation Pierre Bourdieu – mit wenigen Ausnahmen – über 40 Jahre lang abgesehen hatte: Die Fotografien, die hier versammelt wurden, sind in den Jahren zwischen 1957 und 1961 in Algerien entstanden und ergänzen um eine wesentliche Facette die ethnographischen und soziologischen Studien Bourdieus in einer Zeit, die von den tragischen Umständen des Kolonialkriegs geprägt war. Im Gespräch, das Franz Schultheis 2001 mit Pierre Bourdieu für Camera Austria International geführt hat,1 und das den Beginn der gemeinsamen Arbeit an diesem Projekt markiert, stellt Bourdieu seine fotografische Praxis in den Kontext seiner anthropologischen und soziologischen Arbeit und kommentiert sie in einem Rückblick auf die für ihn so entscheidende Zeit in Algerien  – seine affektive Bindung an dieses Land, sein Respekt für die

1 | Pierre Bourdieu & Franz Schultheis: Gespräch, Camera Austria International, 75, 2001 (vgl. »Mit dem Objektive sehen. Im Umkreis der Photographie«).

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Menschen, um deren Rehabilitierung er in allen seinen Arbeiten bemüht war. Die Fotografie interessierte ihn, sie repräsentiert die distanzierte Beobachtung des Wissenschaftlers und macht gleichzeitig die Tatsache des Beobachtens selbst bewusst; sie ermöglicht, unmittelbar und aus vertrauter Distanz Details zu studieren, die im Augenblick der Wahrnehmung übersehen werden oder nicht eingehend untersucht werden können. Die Fotografie »ist verwoben mit dem Verhältnis, das ich zu jedem Zeitpunkt zu meinem Gegenstand unterhalten habe, und ich habe keinen einzigen Augenblick lang vergessen, dass es sich dabei um Menschen handelte, Menschen, denen ich mit einem Blick begegnet bin, den ich  – auch wenn ich befürchte, mich dadurch lächerlich zu machen – als liebevoll, oft auch gerührt bezeichnen möchte.«2 Diese Aufnahmen sind auch Mittel zur Kommunikation mit den Menschen, denen das zentrale Interesse Bourdieus galt: Den in Umsiedlungslager, die Centres de Regroupement, deportierten, dort zur Untätigkeit gezwungenen oder in den Städten gestrandeten, landlos gewordenen Bauern; den Familien, deren Status zu zerbrechen droht und die unter miserablen Bedingungen in den Slums der Großstädte überleben; dem Elend der Arbeitslosen und Millionen Entwurzelter. Diese Fotografien sind vor allem aber das Ergebnis wissenschaftlicher Arbeit, in diesem Sinne sind sie in einem direkten inhaltlichen Zusammenhang mit den zeitgleich entstandenen Texten zu sehen, und stehen damit in einem Kontext und sind historisch und thematisch gerahmt. Am Beginn unserer Arbeit stand also die Aufgabe, die fotografischen Dokumentationen auf Zusammenhänge hin zu untersuchen, die Pierre Bourdieu in seinen Schriften analysiert. Wir haben das Archiv Pierre Bourdieus und alle Gegebenheiten dieser Sammlung von Negativen und Abzügen, Kommentaren und auch die Sammlung von Skizzen in den Fiches d’Algérie im Kontext der Studien Bourdieus zu lesen versucht. Von Pierre Bourdieu selbst stammen bereits Entwürfe, Bilder mit Texten zu kombinieren, an denen wir uns orientieren konnten und die unseren konzeptuellen Ansatz bestärkten, für Ausstellung und Buch thematische Gruppierungen von Fotografien mit Textpassagen aus Bourdieus Werken über Algerien zu verschränken.

2 | Ebd.

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Bourdieu hat seit dem Entstehen dieser Fotografien nur wenige für Veröffentlichungen herangezogen, der allergrößte Teil seiner fotografischen Dokumentationen ist bisher unbekannt geblieben. Den Kennern des Werkes Bourdieus werden diejenigen Fotografien vertraut sein, die als Titelbilder für die Erstausgaben verschiedener Bücher gewählt wurden: Travail et travailleurs en Algérie, Le déracinement, Algérie ’60 und Le sens pratique. Aber auch für Artikel und Interviews in Zeitschriften sind Fotografien aus dem Fundus verwendet worden. Zahlreiche Aufnahmen, die in Publikationen Verwendung fanden, sind jedoch nicht mehr im Archiv zu finden, zum Teil ist auch das Negativ nicht mehr vorhanden, denn sehr viele von den vielleicht 2.000 Aufnahmen, die in den vier Arbeitsjahren entstanden waren, scheinen durch Umzüge verloren gegangen zu sein. Der Stand des Archivs bei der Übernahme 2001 umfasste ca. 600 Objekte. Ende 2017 wurde ein zweites Konvolut an Negativen und Abzügen aufgefunden und konnte in das Archiv aufgenommen werden. Der derzeitige Stand (2021) des Archivs umfasst 994 Negative im Format 6 cm × 6 cm, 109 Negative im Format 35 mm, weiters 216 Kontakt- bzw. Arbeitsabzüge im Format zwischen 6 cm × 6 cm bis maximal 12,5 cm × 12,5 cm Größe. Den neben den Negativen wichtigsten Korpus des Archivs bilden 230 großformatige Vintage-Abzüge im Format 23 cm × 23 cm, eine kleinere Gruppe davon im Format 30 cm × 30 cm, die von Pierre Bourdieu in drei Alben thematisch zusammengestellt worden waren. Von 93 dieser 230 Abzüge existieren keine Negative, d. h. diese Originalfotografien sind die einzigen Quellen, die uns noch zur Verfügung stehen. Titel und Datierungen stammen ausnahmslos von Pierre Bourdieu, Ortsangaben wurden dort, wo sie eindeutig aus vorhandenem Bildmaterial oder aus Publikationen ableitbar waren, ergänzt. Die ursprüngliche Nummerierung der Negative wurde als Archivnummer der Bilder beibehalten. Ein System von Buchstaben gibt darüber Aufschluss, ob sich im Archiv ein Originalabzug mit einem existierenden Negativ (N_P), nur ein Negativ (N), oder ein Originalabzug ohne existierendes Negativ (R) befindet. 2019 wurden von allen Negativen und Originalfotografien hochwertige Scans und digitale Arbeitsabzüge hergestellt, um die Originale nicht mehr dem Risiko weiterer Schädigungen auszusetzen. Das digitale Archiv umfasst derzeit

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1.153 Objekte (1.003 Scans von Negativen, 150 Reproduktionen von Abzügen ohne Negativ).3 In unserer Auswahl von Fotografien für In Algerien und für die zahlreichen Ausstellungen sind Fotografien, die von Pierre Bourdieu für Publikationen verwendet wurden, zentrale Motive. Ferner haben wir die existierenden Originalfotografien als von ihm ausgewählte Abbildungen für Buch und Ausstellung weitgehend berücksichtigt. Auch die Sequenzen der Fotografien in den Alben, die zum Teil handschriftlich kommentiert sind, wurden als definierte Einheiten festgehalten. Wir haben also versucht, die Entscheidungen Bourdieus nachzuvollziehen und in unseren Entscheidungen die Gegebenheiten des Archivs sichtbar zu machen. Pierre Bourdieu stellt die Bedingungen dieser gleichzeitig methodisch angelegten, jedoch unter großem emotionalem Druck entstehenden Dokumentationsarbeit so dar: »Diese etwas überspannte libido sciendi, entsprungen einer Leidenschaft für alles, was dieses Land und seine Menschen anging, und auch dem heimlichen und ständigen Gefühl der Schuld und der Auf lehnung im angesichts so vielen Leidens und so großer Ungerechtigkeit, sie kannte keine Ruhe, keine Grenze … Der schlichte Wunsch, all die Geschehnisse in mir aufzunehmen, ließ mich mit Leib und Seele eine verbissene Arbeit fortführen, die es mir ermöglichte, den Erfahrungen gewachsen zu sein, deren unwürdiger und hilf loser Zeuge ich war und über die ich unter allen Umständen Rechenschaft ablegen wollte.«4 So interessierte es ihn zum Beispiel, die Arten der Bekleidung zu dokumentieren, um die verschiedenen Möglichkeiten der Abwandlung und Vermischungen europäischer Mode und traditioneller Kleidung mit der sozialen Situierung ihrer Träger in Verbindung zu setzen; er führt heimlich Aufzeichnungen von Gesprächen an öffentlichen Plätzen durch, um im alltäglichen Sprachgebrauch den Wechsel von einer Sprache in die andere zu untersuchen; er wertete Archive aus, führte Interviews mit Informanten, Fragebogenerhebungen, Tests in Schulen oder Diskussionen in den Sozialstationen durch.

3 | Nachdem 2017 weitere Dokumente in das Archiv aufgenommen

wurden, sind die darauf bezogenen Daten im Vergleich zur Erstfassung dieses Textes korrigiert. 4 | Pierre Bourdieu, Ein soziologischer Selbstversuch, Frankfurt: Suhrkamp, 2002, 56.

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Die fotografische Arbeit Pierre Bourdieus im Algerien der 50er-Jahre steht in der Tradition einer engagierten humanistischen Fotografie, wie wir sie (zudem in thematischer Nähe) von den groß angelegten Dokumentationen des Elends der landlos gewordenen Bauern oder ihr Dasein als Pächter oder Landarbeiter fristenden Bevölkerung aus den USA der 30er-Jahren kennen. Vor allem James Agees und Walker Evans’ gemeinsame Text/Bild-Arbeit, ihre luzide, engagierte und würdevolle Beschreibung des miserablen Lebens dreier Pachtbauern-Familien in Let Us Now Praise Famous Men (eine Beschreibung, die die eigene Tätigkeit des Beschreibens in kritischer Weise kommentiert und mit zur Diskussion stellt), markierten einen Wendepunkt in der Ref lexivität dokumentarisch-künstlerisch engagierten Arbeitens und können in der Analyse einen Bezugspunkt für die hier vorliegenden Fotografien bilden.5 Denn Bourdieu gelingt es auf ähnliche Weise, eine Basis des Vertrauens herzustellen, die ihm eine fotografische Praxis ermöglicht, die sein Engagement, die Wahrhaftigkeit seiner Absichten und seine Zuneigung dokumentiert. Jedoch darf in diesem  – vielleicht ohnedies gewagten  – Vergleich nicht vergessen werden, dass diese Arbeit im Zustand des Krieges entstanden ist, wo oft nur Zufälle über Leben und Tod entscheiden konnten. Es war für uns sehr erhellend nachzuvollziehen, mit welcher Präzision Bourdieu als Fotograf sich dem Gegenstand seiner Untersuchung mit dem Ziel einer vollständigen fotografischen Erfassung eines Zusammenhangs näherte. Er umkreiste seine Forschungsgegenstände mit der Kamera regelrecht, wählte immer wieder verschiedene Perspektiven und Annäherungen an sein »Objekt«. Oder aber er zeichnete als gleichsam passiver Beobachter auf, was sich vor seiner Kamera abspielte: So gibt es von einer Straßenkreuzung in Blida eine Sequenz von nahezu 20 Aufnahmen, in denen sich aus gleichem Blickwinkel Passanten an der Kamera Bourdieus vorbeibewegen. Ähnlich die Serie von Aufnahmen eines Zeitungskiosks auf dem Hauptplatz von Blida, wo – gleich einem ablaufenden Film – sich ständig verändernde Gruppierungen von Kindern und Erwachsenen vor den Auslagen mit den ausgestellten Zeitschriften drängen. Da Bourdieu mit einer Sucherkamera arbeitete, liegt die Blickebene seiner Fotografien immer sehr tief: die Möglichkeit, die Kamera in Brusthöhe zu bedienen, erlaubte es, 5 | James Agee & Walker Evans, Let Us Now Praise Famous Men, Boston:

Houghton Mifflin, 1941.

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auch in schwierigen Situationen und nahezu unbemerkt zu fotografieren, ohne die Kamera vor das Auge heben zu müssen. Die Zusammenarbeit mit Pierre Bourdieu begann für uns im Jahr 2000 unter zunächst vollkommen anderen Vorzeichen als jenen, die in der Folge Ausschlag gebend für das Entstehen von Buch und Ausstellung sein sollten. Denn das Jahr 2000 stellte für uns (in Österreich) in politischer Hinsicht eine Zäsur dar: Mit der Regierungsbeteiligung der Freiheitlichen Partei Österreichs schien ein xenophober und anti-intellektueller Konsens in Österreich hegemonial geworden zu sein und die Sorge zu rechtfertigen, dass die Reduktion von Komplexität zum Leitmotiv einer neuen politischen Linie in Österreich werden könnte. In diesem zeitlichen und politischen Umfeld unterstützte Bourdieu die in unserer Zeitschrift geführte Debatte und publizierte seinen ersten Text bei uns, Gegen eine Politik der Entpolitisierung, eine wichtige Stellungnahme im Zusammenhang mit der von ihm eingeforderten europäischen sozialen Bewegung gegen die Politik der Globalisierung und des Neoliberalismus.6 Franz Schultheis schließlich, der die Rolle des Vermittlers zwischen Bourdieu und Camera Austria einnahm, stellte uns jenen, bisher weitgehend unveröffentlichten fotografischen Fundus Bourdieus vor, der in der Zeit seiner feldspezifischen ethnologischen Studien im Algerien der 50er-Jahre entstanden war. Bourdieu stand dem Projekt einer Ausstellung und Publikation zunächst skeptisch gegenüber, da er die künstlerisch-ästhetische Wirkung seiner Fotos nicht überbewertet sehen wollte. Und auch für uns galt es abzuwägen, ob ein so dezidiert auf im KunstKontext positioniertes Projekt wie Camera Austria die geeignete Institution sein könnte, um Bourdieus ethnographisch definiertes fotografisches Material zu bearbeiten. Aber gerade vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung Bourdieus mit dem Medium Fotografie und seiner Essays zur Analyse und Bedeutung des künstlerischen Feldes, dessen Wirkungsweisen in der Gesellschaft, schien es uns äußerst interessant, die fotografischen Dokumente Bourdieus selbst, aus dem Blickwinkel unserer Arbeit mit Fotografie, einer Analyse zu unterziehen. Die Möglichkeit, sich mit diesem so wichtigen Archiv auseinanderzusetzen, bedeutete für uns aber auch, in unser ureigenes Feld, die 6 | Pierre Bourdieu, Gegen eine Politik der Entpolitisierung, Camera

Austria International, 72, 2000.

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Bearbeitung fotografischen Materials und seiner gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Bedeutung, zurückzukehren und mit der Präsentation der Ausstellung im Kunsthaus Graz im Herbst 2003 die Fotografien und die Positionierung Bourdieus auch im Kunst-Kontext zu diskutieren.7 Unser Dank gilt Pierre Bourdieu für sein Vertrauen in dieses gemeinsame Projekt und seine Mitarbeit daran bis kurz vor seinem Tode. Jerôme Bourdieu danken wir für die Unterstützung und die konstruktiven Gespräche, besonders in der letzten Phase des Projektes. Franz Schultheis stellte für uns erst den Rahmen her, der uns ermöglichte, die fotografischen Dokumentationen Bourdieus im wissenschaftlichen, biografischen und historischen Kontext zu verankern. Salah Bouhmedja danken wir für die geduldige Hilfe bei der Sichtung des Archivs und bei der Kommentierung und Identifikation von Fotografien. Nicht zuletzt ist den Organisatoren des Programms »Graz 2003 – Kulturhauptstadt Europas« für die Basisfinanzierung dieses komplexen Projektes zu danken.

7 | An der Durchführung dieses Projektes sind neben der Autorin aus

dem Team von Camera Austria maßgeblich die Fotografen Seiichi Furuya und Manfred Willmann sowie als Kuratorinnen Maren Lübbke und Anja Rösch beteiligt.

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Tassadit Yacine

Algerien – Matrix eines Werks Sicher bildete allein schon der Krieg und das damit verbundene Leid eine Form politischer Erziehung. Aufgrund seiner Prüfungen ist sich das algerische Volk seiner Wahrheit bewusst geworden. Aber man darf nicht verkennen, dass das affektive politische Bewusstsein dem rationalen politischen Bewusstsein voraus ist. Pierre Bourdieu

Algerien nimmt im Werk Bourdieus eine zentrale Stellung ein. Jeder ernsthafte Beobachter sollte sich darauf beziehen, um zu verstehen, wie sehr die Vorgehensweise (der enthnographische Blick), die grundlegenden Problematiken ebenso wie die kulturellen Bezugnahmen, mit denen er seine Ausführungen oft verdeutlichte – vor allem, wenn er für uns fremde Gegenstände dieser Region thematisierte  – hier entstanden sind.1 Diese Bezugnahmen sind bisweilen explizit, manches Mal implizit, oft vielsagend. Es scheint so, als ob er sie dem Leser selbst zu entziffern überließe, um ihren tieferen Sinn zu verstehen. Für Bourdieu 1 | Die Verbindungen zwischen der Gesellschaft im Béarn und der

kabylischen sind insbesondere in seiner Textsammlung Raisons pratiques, Paris: Seuil, 1994, 175, benannt: »Die Frage, der ich hier nachgehen möchte, hat mich schon immer beschäftigt, von meinen ersten ethnologischen Arbeiten über die Kabylei bis zu meinen jüngsten Forschungen über die Welt der Kunst und im engeren Sinne über das Funktionieren des Mäzenatentums in den modernen Gesellschaften. Und ich möchte zu zeigen versuchen, dass mit denselben Instrumenten über so unterschiedliche Dinge nachgedacht werden kann wie den Tausch von Ehren in einer vorkapitalistischen Gesellschaft, das Agieren von Stiftungen wie der Ford Foundation oder der Fondation de France in Gesellschaften wie der unsrigen, den Tausch zwischen den Generationen innerhalb einer Familie oder die Transaktionen auf den Märkten der symbolischen, religiösen usw. Güter.« [Praktische Vernunft, Frankfurt: Suhrkamp, 1998, 161]

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ist die algerische und insbesondere kabylische Erfahrung Grundlage einer unausgesprochenen epistemologischen und politischen Wahrnehmung, einer Erfahrung, die es ihm ermöglichte, wie einst von Durkheim vorgeführt, Ethnologie und Soziologie zu verbinden und so die Forschung voranzutreiben. Im Hinblick auf die französische Soziologie ist sein Beitrag unbestreitbar (Bildung, Geschmack, Museen, Fotografie usw.). Ist sein Werk über Algerien dem gleichzusetzen? Sicher nicht, und das aus verschiedenen Gründen. Der wichtigste steht wohl im Zusammenhang mit dem Krieg in Algerien. Daher auch die Bedingungen der Rezeption des Werks, die gleichzeitig die Bedingungen einer Forschung erhellen, die in politische Kräfte eingebettet war. Das Vorgehen des Autors gibt den Stellenwert der Ethnologie und der Soziologie in einer Kriegszeit wider, mit sämtlichen Implikationen, die sich daraus ergeben. Und daher auch die Notwendigkeit, auf die Soziogenese des Werks zurückzukommen, bei dem man merkt, wie sich die ersten Forschungen gleichzeitig neu und radikal im Vergleich zu anderen Wissenschaftlern verhalten, die in Algerien ihre Studien betrieben haben, Autoritäten wie Jean Servier, Jean Bousquet oder Germaine Tillion (deren Feldforschung Bourdieu schätzt, während er ihre Grenzen aufzeigt). Gerade im Bezug zu ihr (aus dem Land stammend und früh deportiert, mit Beziehungen zu de Gaulle) wird der junge, frisch angekommene Bourdieu Position beziehen, wenn er insbesondere die Ursachen der Unterentwicklung analysiert, am Beispiel der Gesellschaft der Chaouïa (Herkunft von Germaine Tillion), die bis dahin als geschlossenes Universum wahrgenommen wird,2 dessen Armut untrennbar von einzigartigen kulturellen Bedingungen und deshalb völlig unvereinbar mit dem kolonialen Staat erschien. Gegen diese These und ihre Argumente sträubt sich Bourdieu seit 1958, bezieht sich stattdessen auf die Studien von Georges Balandier.3 In einem, nicht ohne Schwierigkeiten,4 durch das Sozialministerium publizierten Artikel, Die innere Logik der 2 | »[…] Mir scheint es gefährlich (wie bei Germaine Tillion, L’Agérie en

1957), sämtliche Phänomene der sozialen Auflösung der algerischen Gesellschaft als simple Phänomene der Akkulturation aufzufassen«, Pierre Bourdieu, Sociologie de l’Algérie, Paris: PUF, 1958, 118. 3 | Ebd. 4 | Père Henri Sanson im Gespräch mit Tassadit Yacine, »C’était un esprit curieux«, Awal. Cahiers des études berbères, 27-28, 2003, 279–286.

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ursprünglichen algerischen Gesellschaf t,5 legt Bourdieu Nachdruck gerade auf diesen Aspekt. Indem er zwischen Sozialwissenschaft und Politik, zwischen zivilisierten und primitiven Gesellschaften, zwischen Beobachter und Beobachtetem eine Verbindung herstellt, wird hier ein »totaler und radikaler« epistemologischer Bruch vollzogen, der die Soziologie einen echten Schritt nach vorne bringt. Für Bourdieu kann das politische System als Instanz der Legitimation einer Kultur nicht ohne Auswirkungen auf die Lebensweisen der Bevölkerung und ihre Weltsichten bleiben, wie sein erstes, 1958 veröffentlichtes Buch Sociologie de l’Algérie zeigt – hier wird der Kolonisation die Verantwortung für vielfältigste ökonomische und soziale Leiden angelastet. Dieses Buch, schon hier bemerkenswert durch seine dichten und hellsichtigen Beschreibungen, liefert eine echte Matrix der intellektuellen Anliegen, die man in seinen ersten Arbeiten bis Mitte der 1960er-Jahre und später in seinen persönlichen oder mit nahen Mitarbeitern entwickelten Veröffentlichungen wiederfindet. Es ist also weder unzulässig noch übertrieben, seine erste Beziehung zu Algerien als ein bedeutendes Moment der intellektuellen Konversion Bourdieus zu bezeichnen, der, durch die Macht seines Gegenstandes, zu einem Soziologen wurde, obwohl er durch seine Ausbildung zum Philosophen bestimmt war. Diese Umwidmung ist Ergebnis eines »Schocks«, den die algerische Realität bewirkte, verstärkt durch eine persönliche und kollektive Geschichte, und der am Ursprung eines selbstständigen, unruhigen und rastlosen Denkens liegt. Die Einmaligkeit dieses Denkens zu begreifen, ist kaum möglich, ohne es in den politischen und sozialen Kontext zurückzuversetzen, aus dem es entstand: in eine algerische Gesellschaft, die durch Kolonisierung und Krieg zerfiel.

Soziale Herkunft und wissenschaftliche Orientierung Die ersten Jahre Bourdieus in Algerien standen unter dem Zeichen der damaligen sozialistischen Regierung, unter Premierminister Guy Mollet und Robert Lacoste, Minister der Zentralregierung für das kolonisierte Al5 | In Le Sous-Développment en Algérie, Algier: Secrétariat social, 1959,

40–51; Pierre Bourdieu, Esquisses algériennes, Paris: Seuil, 99–111 [Algerische Skizzen, Berlin: Suhrkamp, 126–142].

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gerien.6 Bekannte Intellektuelle haben das Gouvernement général (GG genannt) aufgesucht, nicht nur ein hoch politischer, sondern auch »kultureller« Ort. Viele von ihnen waren anerkannte Intellektuelle, wie Émile Dermenghem, Archivar und Konservator, Linkskatholik, Germaine Tillion, überzeugte Patriotin, Mitglied des Kabinetts Jacques Soustelle, Vincent Monteil, ein islamisierter Offizier, Louis Massignon, der große Orientalist, später ans Collège de France berufen. Wenige unter vielen. Sich in diesem Klima der politischen Verschlechterung des Krankheitsbildes zu behaupten, war kaum günstig für die Sozialwissenschaften, umso mehr, als an der Universität von Algier eine Art Terror gegen die Gegner des französischen Algeriens herrschte. Mit Ausnahme der privilegierten »Kaste« der Kolonialherren waren die »Kaskaden der Verachtung« bei der Mehrheit der Bevölkerung die Regel, gegen die Araber, die Juden, die Spanier, die Malteser. Man kann sagen, dass das französische Denken, von der Rechten bis zur Linken, für die Algerier keine Bedeutung hatte, nachdem diese »gegensätzliche Komplizen« für die Fortführung des Krieges waren, mit Ausnahme einer kleinen Minderheit (zum Beispiel der Liberalen), einiger Leute, die nur sich selbst repräsentierten (Mandouze) oder in der Nähe zur Kommunistischen Partei standen (Alleg, Audin, Maillot usw.).7 Trotz der auch in Frankreich bestehenden Risiken haben allerdings einige Intellektuelle mutig Position bezogen, ohne aber selbst das Land zu kennen,8 die Denkweisen und Handlungspraktiken der Algerier, gerade die der Bauern. Der junge Philosoph hingegen, der so viele Opfer gebracht 6 | Robert Lacoste wurde für dieses Amt im Februar 1956 ernannt,

nach der Demission von General Catroux, nach dem berühmten »Tag der Tomaten«. André Nouschi und Jean Sprecher beschreiben ganz klar das Klima des Terrors, in dem sich die Forschung über Algerien entwickelte, vgl. Awal. Cahiers des études berbères, 27–28, 2003, 29–35 und 295–305. 7 | Jean Sprecher, »Il se sentait bien avec nous. Cela signifiait qu’il était a notre bord«, Awal. Cahiers des études berbères, 27–28, 2003, 295–305. 8 | »Ich war betroffen über die Kluft zwischen den Vorstellungen der französischen Intellektuellen von diesem Krieg, davon, wie er zu beenden sei, und dem, was ich mit meinen eigenen Augen sah: die Armee, die erbitterten ›pieds noirs‹, dann alles weitere: Militärputsche, Auflehnung der Kolonisten, der unvermeidliche Rekurs auf de Gaulle usw.«, Pierre Bourdieu im Gespräch mit Axel Honneth, Hermann Kocyba und Bernd Schwibs, Der Kampf um die symbolische Ordnung, Ästhetik und Kommunikation, 1986, 142–166, hier 146.

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hatte, um sich die herrschende Kultur anzueignen, fand sich plötzlich gezwungen, einen Teil seiner Kenntnisse zu dekonstruieren und zu rekonstruieren, die sich angesichts des moralischen Elends und der Armut stellten: »Ich kam als Wehrpf lichtiger nach Algerien. Nach zwei recht harten Jahren, in denen von wissenschaftlichem Arbeiten keine Rede sein konnte, habe ich mich in die Feldforschung gestürzt. Ich begann ein Buch zu schreiben mit der Idee, etwas zum Verständnis dieses Landes beizutragen, über das Drama der algerischen Bevölkerung, aber auch über die Kolonisten, deren Situation nicht weniger dramatisch war, jenseits ihres Rassismus usw.«9 Die Zeit zwischen 1955 und 1960 ist für die Lauf bahn Bourdieus entscheidend, weil er angesichts der Gefahren, der Ängste und des allgegenwärtigen »Faschismus«10 ein komplexes und von bestehenden Normen unabhängiges Denken entwickelt hat, das die algerische Frage in Gang setzte. Diese Brüche waren erst möglich dank seiner Vorbildung an der École normale, wo er zu einer Minderheit der Linken gehörte, die gleichzeitig gegen die Rechte und die sozialistische und kommunistische Linke kämpfte.11

Das Andere oder die Rückkehr zu sich selbst Pierre Bourdieu war 25, als er im Herbst 1955 das erste Mal seinen Fuß auf algerische Erde setzte. Zunächst als einfaches Mitglied einer Flugeinheit in der Ebene des Chélif eingeteilt, wurde er danach Verwaltungsangestellter, bevor er wieder in Algier eintraf, auf Betreiben des Colonel Ducourneau, der selbst aus Pau stammte und mit der Familie über verwandtschaftliche Beziehungen verbunden war. Er wird Angestellter beim Dienst für Dokumentation und Information bei Faugère, einem liberalen Juristen beim Gouvernement général, Schlüssel zu einer der am besten ausgestatten Bibliotheken Algeriens. Dort lernt er wichtige und bestens informierte Leute kennen: Dermenghem, einen ausgezeichneten Archivar, André Nouschi, der eine Promotion über die Region Constantine vorbereitete, Dozenten der Universität, ohne die Beziehungen alle auf9 | Ebd. 10 | Sprecher 2003, op. cit. 11 | Lucien Bianco, »On n’avait jamais vu le ›monde‹; nous étions une

petite frange de gauche entre les communistes et les socialistes«, Awal. Cahiers des études berbères, 27–28, 2003, 267–277.

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zuzählen, die ihn mit Algeriern aus den Kolonialschulen verbanden: Moulod Féraoun, Mouloud Mammeri und natürlich seine Studenten, die er in seine Forschungen einbezog, vor allem Sayad, Hénine, Accardo. Diese »Anstellung« in einem Dokumentationsdienst verschaffte ihm eine privilegierte Stellung, eine Art Vergrößerungsglas, die es Bourdieu ermöglichte, die Brutalität der Auswirkungen des Krieges wahrzunehmen. »Ich war schockiert über das zunehmende Auseinanderfallen dieser Gesellschaft«, wie er mir 1997 gestand, hat also aus Notwendigkeit eine Tugend gemacht. Der Zugang zu Dokumenten und das Beziehungsnetzwerk haben es ihm ermöglicht, die Situation besser zu verstehen. Und so nahm das Land, das er nur als Leser kannte, Gestalt an, wurde zu einer der wesentlichen Dimensionen seiner Heranbildung. Am Ende seines Militärdienstes kam er wieder an die Universität von Algier, an der er Philosophie und Soziologie unterrichtete, während er zwischen 1958 und 1961 viele Untersuchungen über die städtische und ländliche Welt Algeriens durchführte. Wie »Algerien« als Gegenstand existent machen, wie der Tragödie des Krieges gerecht werden? Sein ethnologischer Zugang wird es ihm ermöglichen, die Mechanismen der Kolonialherrschaft und ihre zerstörerischen Wirkungen für die algerische Gesellschaft aufzudecken. Unter diesen Bedingungen zu leben, verstand sich nicht von selbst – die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg waren noch wach. Ein Krieg, der auch die Seinen nicht verschont hatte und von dem er nur selten und zurückhaltend erzählte, der auch in einer Region stattfand, die ständig von »Infiltrationen und Manipulationen« geprägt war, bis schließlich in seinem eigenen Dorf die Befreiung ankam. Algerien hat diese Erinnerung wiederauf leben lassen, einen der Züge, die der Soziologe dann als soziale Chirurgie bezeichnet hat, und es ihm erlaubte, die traumatischen Erfahrungen der Kolonisierung und die Wirkungen symbolischer Herrschaft freizulegen. Trotz des klaren Bewusstseins der blanken und brutalen Gewalt legt Bourdieu hier Wert auf tiefer liegende und verschlossene, weil nicht wahrnehmbare Prozesse. Viel später wird Bourdieu die verdeckten Mechanismen von Herrschaft freilegen, die nicht offenliegen, sondern Untergrund einer Gruppe, einer Kultur, einer Sprache, in allen sozialen und kulturellen Praktiken sind. Und das ist ganz ohne Zweifel der Punkt, in dem sich Bourdieu von den Ethnologen seiner Zeit unterscheidet – weil die algerische Erfahrung für ihn der 80

bis repetita einer erlebten Situation in seiner Herkunftsregion war. Entwaffnet, beherrscht, finden sich auch die Bauern des Südwestens als durch staatliche Politik kulturell enteignet wieder, deklassiert als Kulturlose, im Namen eines zentralistischen Universalismus, der sich das legitime Monopol auf »Kultur« angeeignet hat.

Anthropologie im Dienste der Dekolonisierung Anthropologie ist für Bourdieu ein Mittel der Rehabilitierung der algerischen und béarnesischen Kulturen, indem sie sich auf althergebrachte und zurückgedrängte Praktiken bezieht. Im Hinblick auf Algerien war diese Haltung völlig neu, weil die zukünftige Nation Gegenstand abstrakter Projektionen seitens der neuen Führungskräfte war, die einem linken westlichen Diskurs jenseits der sozialen Wirklichkeiten anhingen. Auch hier unterschied sich Bourdieu von herrschenden Vorstellungen, indem er sich auf die am wenigsten legitimen Zeugnisse der »indigenen« Tradition einließ, um sie zu rehabilitieren: »Zur Untersuchung der rituellen Überlieferungen wäre ich nie gelangt, wenn nicht dieselbe ›Rehabilitierungsabsicht‹, die mich zunächst veranlasst hatte, das Ritual aus der Gesamtheit der legitimen Forschungsgegenstände zu streichen und allen Arbeiten zu misstrauen, die es gelten ließen, mich von 1958 an bewogen hätte, das Ritual der primitivistischen, gönnerhaften Behandlung zu entreißen. Ich wollte damit bis in den letzten Winkel jenem Rassendünkel nachspüren, der seinen Opfern durch die Selbstbeschämung, die er in ihnen erzeugt, die Erkenntnis und Anerkennung ihrer eigenen Überlieferung versagt.«12 Zwischen der regionalen Herrschaft und der kolonialen war es theoretisch sicher nur ein Schritt. Seine Studien zur Kabylei haben zu einem besseren Verständnis der Verhältnisse im Béarn geführt. Er wird strukturale Homologien zwischen den beiden Universen zeigen, Teil der integrativen Sicht einer Forschung, die den Gedanken wissenschaftlicher Assoziationen gebiert: »Hier wären auch meine Arbeiten zu den kabylischen und den Bauern im Béarn zu erwähnen. Warum der Béarn? Um nicht in den Fehler einer vom Mitleid gerührten, vom menschlichen Reichtum einer zu Unrecht missachteten Bevölkerung ent12 | Pierre Bourdieu, Le sens pratique, Paris: Minuit, 1980, 10 [Sozialer Sinn, Frankfurt: Suhrkamp, 1987, 10 f.].

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zückten Ethnologie zu verfallen und zwischen mir und meinen Informanten jene Distanz zu schaffen, die eigentlich Vertrautheit ermöglicht.«13 Und dann natürlich das Verständnis der Art des intellektuellen Maßstabs seiner eigenen Erfahrung zwischen Béarn und Paris. Gegenstandswahl und Forschungsdisziplin werden immer ausgeprägter, der Philosoph wird zum Sozialanthropologen durch die Macht der Umstände, die ihn Distanz zur philosophischen Abstraktion gewinnen lassen  – und zur nostalgischen Wahrnehmung der Ethnologen der Kolonisatoren. Denn zu dieser Zeit beschäftigte sich in Algerien die Soziologie im engeren Sinn mit dem Studium der europäischen und amerikanischen Gesellschaften, während die Ethnologie umgekehrt den sogenannten primitiven Bevölkerungen gewidmet war, einem Orientalismus der Sprachen und den außereuropäischen Religionen: »Es ist nicht nötig auszuführen, wie willkürlich und absurd diese Klassifizierung war. Immerhin nahmen meine Arbeiten über die kabylische Gesellschaft eine ziemlich seltsame Stellung ein, in gewisser Weise zwischen Orientalismus und Ethnologie …«14 Diese zumindest unbequeme Position wird Bourdieu zu einer neuen Wahrnehmung der Anthropologie führen, als einer »totalen« Wissenschaft, welche die falschen Grenzen zwischen den Disziplinen  – Soziologie und Anthropologie – und den Gesellschaften einreißt, eine wahre symbolische Revolution. Seine Sociologie de l’Algérie, auch an anderen Universitäten und bei einigen algerischen Intellektuellen wahrgenommen, wurde unterdessen von seinen Kollegen der Universität Algier stark kritisiert: »Würde es Sie überraschen, dass ich tausend vergiftete und boshafte Komplimente vernommen habe? Sie ahnen bestimmt, dass die ›Spezialisten‹ mir gegenüber mit perfiden und zuckersüßen Anspielungen keineswegs gespart haben. Sie haben sich rasch eine Lehrmeinung zu meinem Büchlein gebildet: bloßes Bücherwissen, reine Theorie (was für ein Vokabular!), keinerlei längere Erfahrung mit den algerischen Verhältnissen und dann noch die Anmerkungen zu den Europäern usw. Kurzum, dieser Knirps aus dem Mutterland, der meint, er hätte etwas zu Algerien zu sagen, wo 13 | Pierre Bourdieu, Entre amis, Esquisses algériennes, Paris. Seuil, 349–

356, hier 353 [Unter Freunden, Algerische Skizzen, Berlin: Suhrkamp, 2008, 451–460, hier 457]. 14 | Pierre Bourdieu, Entre amis, Esquisses algériennes, 350 [Unter Freunden, Algerische Skizzen, 452].

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doch so viele alte Spezialisten (wussten Sie, dass man sie jetzt nicht mehr ›Tattergreise‹, sondern ›altes Kino‹ nennt?) usw. usw. Man muss an den Hund des Gärtners denken, der keinen Salat frisst, aber auch niemanden sonst davon essen lässt.«15 Der junge Dozent aus dem »Mutterland« verteilte die Karten neu, indem er jene damalige Konzeption der Anthropologie infrage stellte, die ihre Stärke aus der kulturellen Diskriminierung bezog. Wie einst Lévi-Strauss zeigte Bourdieu die Ähnlichkeit der Kulturen, ohne jenen kulturellen Unterschied zu betonen, der den Kolonisatoren so sehr am Herzen lag, um ihre Überlegenheit zu legitimieren, einen Rassismus, der so gut im »Choc des civilisations« beschrieben wird.16

Suche und Untersuchungen während des Kriegs oder »Wie die Schlange aus ihrem Nest locken« Mit Beginn des Krieges 1954 ist die Gewalt in der algerischen Gesellschaft überall und grenzenlos: Sie zieht ihre Bahn, ohne Menschen oder soziale Gruppen auszunehmen. Und so wird der Krieg mit seiner zerstörerischen Kraft zum Bruch mit dem sozialen Charme, indem er Herrschaft in ihrer extremen Brutalität offenlegt, und die reale Macht dementiert alle konventionalisierten Diskurse über die algerische Gesellschaft. Die unmittelbare Beobachtung in den kriegsergriffenen Regionen (Collo, Ouarsenis, Kabylei) zeigt die Niederlagen. Bourdieu versucht, wie die Kablyen sagen, »die Schlange aus ihrem Nest zu locken«. Als Augenzeuge wird der Soziologe durch die Macht der Geschichte jener Vermittler, der die Wahrheit über jene Welt kennt, die auf dem Spiel steht. Wenn diese Zeugenschaft unmittelbar war, so erforderte die wissenschaftliche Analyse Trennung und ein Aus-der-FassungBringen: Diese Situation unter immensem Druck war gleichwohl Voraussetzung für die Schärfung des Blicks: »Sicher mussten die außergewöhnlichen, außerordentlich schwierigen (und riskanten) Bedingungen, unter denen ich zu arbeiten hatte, durch die dabei gebotene unausgesetzte Vorsicht meinen Blick 15 | Pierre Bourdieu Lettres à André Nouschi, Esquisses algériennes,

377–382, hier 377 f. [Algerische Skizzen, 489–497, hier 489 f.]. 16 | Vgl. Pierre Bourdieu, Esquisses algériennes, 59–74 [Algerische Skizzen, 73–93].

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schärfen. Die ganz praktischen Probleme, die schon die bloße Durchführung der Untersuchung unauf hörlich und oft in sehr dramatischer Form stellte, zwangen zur ständigen Ref lexion über die Gründe und die Berechtigung der Enquête, über die Motive und Absichten des Durchführenden, über all die Fragen, die die positivistische Methodologie spontan als gelöst ansieht.«17 Um diese Untersuchungen unter Kriegsbedingungen durchzuführen, musste Bourdieu sich der Unterstützung der Herrschenden (Verwaltung, Militär usw.) wie der Beherrschten versichern können (der Bevölkerung und ihrer unsichtbaren Führer). Es ist deshalb falsch zu glauben, dass ein französischer Ethnologe sich in problematischen Gebieten ohne vermittelnden Beistand auf halten konnte. Es war das Unterpfand (der Freundschaft und der Sympathie für die algerische Sache) notwendig, um die Bevölkerung für sich zu gewinnen. In einer Widmung an Sayad ruft Bourdieu einen dieser Momente in Erinnerung: »Seit dem Beginn unsere Bekanntschaft, er war damals Student an der Universität von Algier […] trieben wir uns an den entlegensten Ecken Algeriens herum, in den Umsiedlungslagern auf der Halbinsel Collo, in der Ebene von Orléansville, auf den gesperrten, mit Warnschildern und Minenhinweisen bestückten Straßen im Ouarsenis-Gebirge, und in der Großen und Kleinen Kabylei, in den Slums und Trabantensiedlungen von Algier und anderen Orten. Wir hatten so viele gemeinsame, oft tragische Erinnerungen […] Auch deswegen arbeitete ich so gerne mit ihm zusammen.«18 Seine Nähe zum Feld und seine Beziehungen zu bestimmten algerischen Intellektuellen hatten bald die Aufmerksamkeit und den Verdacht der zivilen und militärischen Autoritäten auf sich gezogen. Auf der schwarzen Liste geführt scheint es, als ob Bourdieu auf Rat von Colonel Ducourneau Algerien im Herbst 1959 verließ. Zuvor war er von Raymond Aron bemerkt worden (damals Vorsitzender der gymnasialen Entscheidungsgremien in Algerien und Tunesien), um schließlich sein Assistent an der Sorbonne zu werden.

17 | Vgl. Pierre Bourdieu, Entre amis, Esquisses algériennes, 354 [Unter

Freunden, Algerische Skizzen, 457 f.]. 18 | Pierre Bourdieu, Pour Abdelmalek Sayad, Esquisses algériennes, 357–362, hier 357 [Für Abdelmalek Sayad, Algerische Skizzen, 461–468, hier 461 f.].

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Entschleiern und Anprangern Nachdem Bourdieu die traditionelle Kultur der bäuerlichen Gesellschaft untersucht hatte, konnte er sie ohne Schwierigkeiten mit einer anderen sozialen Kategorie konfrontieren, jener der Arbeitslosen in den Städten, Opfer des harten Gesetzes des Kapitalismus und ihrer Verzweif lung angesichts der Brutalität der ungleichen ökonomischen und sozialen Tauschbeziehungen. Der Nachdruck wird hier vor allem auf die Unverhältnismäßigkeit zwischen Position und Aspiration gelegt, eine Entzauberung, die Zuf lucht zur Zukunftslosigkeit der Tradition suchte. Um die kapitalistische Ökonomie nachzuvollziehen, zeigt Bourdieu, wie bedeutend es ist, vorkapitalistische Kultur zu verstehen und insbesondere ihren Bezug zur Zeit. Die entwurzelten Bauern, enteignet von ihrer alten Kultur, jedem persönlichen Antrieb und jedem Erwartungshorizont, können die Welt nicht mehr verstehen, weil die Welt sie nicht versteht. In ihrem Universum gefangen, werden sie in Umsiedlungslagern verteilt, Opfer und Darsteller in der Arbeit Le déracinement. Und die Bauern ohne Grund und Boden werden zum Subproletariat der Elendsviertel oder der neuen Sozialwohnungsbauten in den großen Städten, ein enteignetes »Lumpenproletariat«, wie es in Travail et travailleurs en Algérie beschrieben ist.19 Im Unterschied zu den meisten, die über diese Zeit geschrieben haben, verzichtet Bourdieu auf denunziatorische Einlassungen, auf große Zurschaustellung von Empathie oder politische Stellungnahmen, sondern er beschreibt die alltägliche Situation dieser Entwurzelten. Diese Haltung wird von Intellektuellen gleicher Richtung oft missverstanden: »Natürlich war ich für die Aktionen einiger Intellektueller – ich denke an Sartre, Janson, Vidal-Naquet – gegen die Folter und für den Frieden, wollte auf meine Art dazu beitragen. Dagegen beunruhigte mich der häufig damit einhergehende Utopismus; meiner Meinung nach war es selbst für ein unabhängiges Algerien nicht erstrebenswert, eine mythische Sicht der algerischen Gesellschaft zu nähren. Einmal mehr befand ich mich, was die Welt der Intellektuellen betrifft, in einer zwiespältigen Lage.«20 19 | Vgl. Pierre Bourdieu, Alain Darbel, Jean-Pierre Rivet & Claude

Seibel, Travail et travailleurs en Algérie, Paris & Den Hag: Mouton, 1963. 20 | Vgl. Pierre Bourdieu im Gespräch mit Axel Honneth, Hermann Kocyba und Bernd Schwibs, Der Kampf um die symbolische Ordnung, Ästhetik und Kommunikation, 1986, 142–166, hier 146.

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Noch bevor er sich 1961 für eine Unabhängigkeit Algeriens ausgesprochen hatte,21 legt Bourdieu die politischen und ökonomischen Grundlagen der Kolonisation schonungslos offen: die Zerschlagung der räumlichen Einheiten, die Enteignungen, dann die systematische Einführung des Geldverkehrs, Ersatz für den üblichen Tauschhandel. Danach analysiert er die Folgen dieser Politik im Hinblick auf die Destrukturierung der Persönlichkeit des »Algeriers«, der sich einem verzweifelten und ungleichen Kampf gegen den Kapitalismus gegenübersieht, einer Verzweif lung, die für die Verfassung der Kolonisierten konstitutiv ist. Neben der Inbesitznahme des Raums (Beschlagnahmungen, Verletzungen der Gebietsrechte in verschiedenster Form) geschieht eine andere Inbesitznahme, die der Körper und des sozialen Köpers insgesamt (Internierungen, Umsiedlungen, Morde, Abwurf von Napalm …). Doch das schwerste für die Überlebenden ist die alltägliche Demütigung, die Scham seiner selbst, seines Körpers, seiner Geschichte. Bourdieu erinnert an die Schandtaten der Militärs an den Leibern vergewaltigter Frauen, als wolle er den Versuch offenlegen, den Tiefengrund einer ganzen Gesellschaft zu zerstören  – ein Beispiel ist die systematische Zerstörung alltäglicher Räume der Sozialisation wie die der Brunnen, ursprüngliche Orte in der Umgebung einer Bauernschaft, die nun in Umsiedlungslager verpf lanzt wurde, in denen »die militärische Unterdrückung furchtbare Prüfungen einer der Moral der Ehre bedeuteten.« Diese Beschreibungen des Leidens und der Degradierung des Menschen sind ausnahmslos wissenschaftlich und lassen eine politische Situation verstehen, der gegenüber die Ethnologie stumm geblieben war.22 Le déracinement, erst 1964 veröffentlicht, aber schon 1961 fertiggestellt, lässt diese chaotische Welt wiederauferstehen, die zwischen 1956 und 1962 ihre Werte und ihre Vorstellungen verloren hatte, auf denen die 21 | Vgl. Pierre Bourdieu, Revolution dans la revolution, Esprit, 1961,

27–40, auch in Esquisses algériennes, 125–137 [Algerische Skizzen, 154–174]. 22 | Ohne Zweifel müsste man die Ursachen dieses Schweigens und selbst die Existenzbedingungen dieser Disziplin in den Blick nehmen, wenn sie sich nicht mit Gesellschaften beschäftigt, die mit dem Krieg konfrontiert werden. Der Bericht Rocards vom April 1959 wird der Öffentlichkeit die Realität der Umsiedlungslager vor Augen führen, in denen jeden Tag 500 Kinder an den Folgen der Unterernährung starben, vgl. Vincent Duclert, Un rapport d’inspecteur des finances en guerre d’Algérie. Das camps de regroupement au principe die gouvernement, Outre-Mers. Revue d’histoire, 90, 163–197. Die Untersuchung von Bourdieu und Sayad geschah etwas später, in den Jahren 1960–1961.

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neue Ordnung ihre Grundlagen errichten wird. Und so beschreibt Bourdieu – insbesondere in seinen Aufsätzen zum Krieg im engeren Sinne – die unmittelbare Geschichte, deren Ausläufer er ebenfalls andeutet, weil er eine »monströse« soziologische Realität am Ursprung der Monstrositäten sieht, die das gegenwärtige algerische System begründen. Zwei Punkte sind in meinen Augen wesentlich: Unterentwicklung, Grundlage aller Übel der Dritten Welt, und die Lager als destrukturierende Struktur oder Archetyp einer verkehrten sozialen Welt, in der Zwang und Repression zur Regel werden. In einer ganzen Reihe von Artikeln hat sich Bourdieu über die Zukunft eines unabhängigen Algerien Gedanken gemacht, und wenn man sie liest, gewinnt man den Eindruck, dass er eine Soziologie dieser Zeit angestrebt hat. Die ersten Analysen Bourdieus, unabdingbar für ein auch kritisches Verständnis der algerischen Gesellschaft, haben dazu beigetragen, die Herrschaftsmechanismen der Kolonisatoren sowohl zu entschleiern als auch anzuprangern, und den Kolonisierten Argumente für ihre Versuche der politischen Befreiung an die Hand zu geben wie auch die Wiedergewinnung ihrer verleugneten und verachteten Kultur. Dieser klare und kritische Blick auf ein Algerien im Krieg ist einer der unersetzlichen Beiträge für eine befreiende Soziologie.23

23 | Mir fällt es schwer, meine Beziehung zu Pierre Bourdieu als rein

intellektuelle zu begreifen. Lässt sich in der Welt der Sozialwissenschaften immer von menschlichen und geschichtlichen Dimensionen absehen? Was mich angeht, ist der algerische Krieg entscheidend für meine Beziehung zu Bourdieu gewesen. Ich habe unmittelbar darunter gelitten  – mein Vater, geboren 1930, wurde unter der Verwaltung von Guy Mollet gefoltert und im Februar 1956 erschossen, ich verlor 23 Mitglieder meiner Familie. Unter diesen Bedingungen ging ich in die Schule des Krieges: eine Klasse inmitten einer Kaserne mit einem uniformierten Schulmeister. Diese Gründe können keine klare Trennung zwischen intellektueller Zusammenarbeit und grundsätzlicher Affinität bewirken. Aufgrund eines seltsamen Zusammentreffens der Umstände fand ich mich mit ihm verbunden, der die Meinen in einem tragischen Moment ihrer Geschichte verband: Gründe meiner radikalen Fremdheit!

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Akli Kebaili

Heimat und Fremdheit Eine Zeugenschaft

Als Kind habe ich mir nicht vorstellen können, irgendwo zu leben, wo es keine Feigen- und Olivenbäume gibt. Vor Jahren habe ich einen Feigenzweig neben einem großen Baum vor der Kleinmarkthalle in der Stadtmitte Frankfurts entdeckt. Vielleicht hatte jemand getrocknete Feigen in der Kleinmarkthalle gekauft und eine Feige unter diesem Baum verloren. »Fantastisch«, dachte ich. Endlich hatte ich etwas in Frankfurt am Main entdeckt, was mich an meine Kindheit erinnerte. »Ich habe eine Stück Heimat in der Fremde gefunden«, dachte ich. In der Kabylei habe ich das Gefühl, dass mich jeder Baum, jede Pf lanze kennt. Zu Feigenbäumen habe ich eine besondere Beziehung, denn ohne sie wäre ich vielleicht während des Algerienkriegs verhungert. Wir hatten kein Geld, um etwas auf dem Markt zu kaufen. Zum Glück hat uns die Natur einigermaßen versorgt. Es gab zu jeder Jahreszeit etwas auf den Feldern, wildes Gemüse, aber auch verschiedene Obstsorten. Frische Feigen kann man im Sommer zwei bis drei Monate lang genießen. Man kann sie aber auch trocknen und für ein ganzes Jahr oder länger auf bewahren. Unser Frühstück bestand oft aus getrockneten Feigen und Olivenöl. Zu dem Feigenzweig in Frankfurt hatte ich sofort eine enge Beziehung. Ich habe ihn manchmal mehrmals am Tag besucht. Immer bescherte er mir einen Moment des Glücks. Gleichzeitig erinnerte er mich auch an die schwierigen Situationen im Krieg. Ich war auch besorgt, dass der Feigenzweig den Winter nicht überleben oder dass die Stadt ihn entfernen würde. In der Tat passierte, was ich befürchtet hatte. Eines Tages war der Feigenzweig nicht mehr an seinem Platz. Er wurde wahrscheinlich von den Mitarbeitern einer zuständigen Behörde der Stadt Frankfurt entfernt. Sie haben ihn wohl als Störung für den großen Baum betrachtet. Ich war sehr enttäuscht. »Diese Menschen verstehen nicht, was ein 89

Feigenbaum bedeutet«, dachte ich. Ich hatte also ein Stück Heimat in Frankfurt verloren, bis ich eines Tages dort zwei relativ große Feigenbäume im Nizza-Garten entdeckte. Seitdem ist der Nizza-Garten mein Lieblingsort geworden. Er ist meine kabylische Insel in Deutschland. Eigentlich habe ich keine richtige Heimat. Ich war und bin, egal wo, immer eine Ausnahme. Geboren bin ich in einem Dorf in der Kabylei namens Tiwal. Mein Vater war aber nicht gebürtig aus Tiwal. Nach dem Tod seines Vaters kam seine Mutter aus dem Nachbarort Ait Xiyar mit ihrem zwei Monate alten Sohn – meinem Vater – in ihren Geburtsort Tiwal zurück. Meine Schwestern und ich waren die einzigen im Dorf, die den Familiennamen Kebaili trugen. Auch wenn meine Mutter aus dem Dorf war, habe ich mich nie ganz heimisch gefühlt, vielleicht auch, weil ich von einigen Freunden als Kind und Jugendlicher immer wieder als Fremder behandelt wurde. »Geh in das Dorf deines Großvaters väterlicherseits zurück«, beschimpfte man mich. Heute bedauern diese Freunde, mich damals als Fremden bezeichnet zu haben, und sie sind sogar stolz auf meine Leistungen. Eine Geschichte, die ich als Jugendlicher in meinem Dorf erlebt habe, ist mir heute noch präsent. Eines Tages war ich zusammen mit zwei Freunden im Auto unterwegs. Beide waren mit mir verwandt. Einer rief »Akli« (gesprochen Echli), »Ja«, antwortete ich. »Nein, ich meine unseren Akli«, sagte er mir. Sowohl ich als auch der andere Akli sind mit ihm verwandt. Der Unterschied war, dass der andere mit ihm väterlicherseits verwandt war und ich mütterlicherseits »Was ist das für eine blöde Tradition? Man macht einen Unterschied zwischen Mann und Frau auch in der Verwandtschaft«, sagte ich ihnen. Ich war sehr verletzt. Solche Situationen musste ich immer wieder erleben. Eine Tante mütterlicherseits ist bei uns in der Kabylei sehr beliebt. Nur in bestimmten Konf liktsituationen zwischen den Familien wird die Verwandtschaft väterlicherseits als viel wichtiger betrachtet als diejenige mütterlicherseits. Wegen meines Studiums musste ich mein Dorf Tiwal verlassen. Nach ein paar Jahren im Internat in der Kabylei habe ich in Algier Jura studiert. Doch ich wollte nicht in einem Unrechtsstaat wie Algerien als Staatsanwalt oder Richter arbeiten. Deshalb habe ich im Handelsministerium als Jurist gearbeitet, wo mir allerdings nach einem halben Jahr bewusst wurde, dass ich in einem Staat, dessen Regierung meine Muttersprache und meine Kultur missachtete, keine Karriere machen wollte. 90

Mit einer aggressiven Arabisierungspolitik – bis heute – soll die kabylische Sprache langfristig ausgerottet werden. Offiziell wird die Arabisierungspolitik als Vorgehen gegen Französisch als Sprache der ehemaligen Kolonialpolitik Frankreichs dargestellt. Doch in Wirklichkeit bekämpft man unsere kabylische Kultur und Sprache (im Allgemeinen masirische Kultur). Ich kann mich erinnern, wie wir als Schüler Hefte in masirischer (berberischer) Schrift, Tifinagh, vor der Polizei verstecken mussten. Oft wurden Schüler festgenommen, nur weil man bei ihnen Hefte in Tifinagh-Schrift fand. Diese Hefte wurden von einer masirischen Akademie in Paris (L‘Académie Berbère) verteilt. So konnte die algerische Regierung schnell einen Bezug zum Imperialismus finden. »Es sind die Franzosen, die die algerische Revolution zu sabotieren versuchen«, hieß es. So habe ich mich entschieden, Algerien zu verlassen. Ich war einige Monate in Paris. Schnell konnte ich aber feststellen, dass ich dort nicht leben wollte. Mein Ziel war natürlich, nur ein paar Jahre im Ausland zu leben. Ich habe gehofft, dass irgendwann die kabylische Kultur und Sprache in Algerien offiziell anerkannt würde. Außerdem wollte ich zu meiner Mutter. Meine Mutter, die sich für mich und meine zwei Schwestern aufgeopfert hatte, durfte ich nicht im Stich lassen. Ihr Traum war, mich mit einer kleinen Familie an ihrer Seite zu haben. Einerseits hatte sie Verständnis dafür, dass ich die Welt sehen wollte, gleichzeitig hatte sie aber doch erwartet, dass ich irgendwann zurückkehren würde. Die Zeit des Terrorismus in den 90er-Jahren hat meine Entscheidung, Algerien zu verlassen, unterstützt. Meine Mutter war nun selbst froh, dass ich die Kabylei und Algerien verlassen hatte. Ansonsten wäre ich vielleicht ermordet worden. In der Kabylei verlassen in der Regel Mädchen die Familie, wenn sie heiraten. Jungs bleiben dagegen zu Hause. Meine beiden Schwestern sind verheiratet und haben meine Mutter verlassen. Obwohl ich in Deutschland wohne, ist das Haus meiner Mutter immer mein Hauptwohnsitz geblieben. Viele meiner persönlichen Sachen sind bis heute dort, obwohl meine Mutter nicht mehr lebt. Die Frauen in der Kabylei haben materiell gesehen genau das gleiche Recht wie Männer, solange sie in der Familie leben. Und sollte es mit der Ehe nicht klappen, so kann die kabylische Frau jederzeit zurück in das Haus ihrer Eltern, auch wenn diese nicht mehr leben sollten. Die Frauen haben dann genau das gleiche Recht wie ihre Brüder. Auch wenn die Eltern sterben, dürfen Brüder das Erbe ohne die Erlaub91

nis der Schwestern nicht verkaufen, selbst wenn sie weit entfernt leben. Das gilt hauptsächlich für das Haus und die Felder. Deshalb ist es bis heute in der Kabylei sehr schwierig, irgendein Stück Land zu kaufen. Nach dem Krieg im Jahr 1962 war es mein Ziel, eine gute Position in der kabylischen Gesellschaft zu erreichen, damit ich auch meine Mutter und meine Schwestern beschützen könne. Sehr früh fing ich an, mich zu rasieren und rauchte. Damit wollte ich anderen Männern signalisieren: »Passt bloß auf, ich bin jetzt auch ein Mann.« Ich wollte auch schnell ein Mann werden, weil ich damals glaubte, dass Männer vor nichts Angst haben und jedes Problem lösen können. Heute weiß ich, dass auch Männer oft nicht in der Lage sind, selbst kleine Probleme zu lösen. Deshalb rauche ich seit über 25 Jahren nicht mehr. Auch die Angst, die seit meiner Kindheit mein Begleiter war, hat mich bis heute nicht verlassen. In der Schule gehörte ich zu den Besten in der Klasse. Als Ersatz dafür, dass ich keinen Vater oder großen Bruder hatte, brauchte ich Verbündete im Dorf. Oft wurde ich von einem Älteren geschlagen und war deshalb sehr verletzt. »Er kann sich das erlauben, weil ich keinen Vater oder großen Bruder habe, der mich beschützt«, dachte ich mir. Mit Höf lichkeit und Freundlichkeit versuchte ich, mich gegen das Unrecht mancher Männer zu schützen. Doch diese Haltung hat mir Probleme mit meiner Mutter verursacht. Ich verließ morgens das Haus mit einer Jacke, abends kam ich ohne sie zurück, weil ich sie verschenkt hatte. Ebenso handhabte ich es mit anderen Gegenständen wie Uhren, Brillen, Radiogeräten usw. Meine Mutter konnte mein Verhalten nicht verstehen und hat mich oft dafür bestraft. Oft brachte ich Freunde mit nach Hause, die mit mir in meinem Zimmer übernachtet haben. Dadurch fühlte ich mich sicherer. In Deutschland wollte ich also eine neue Kultur kennenlernen und eine neue Sprache lernen. Die Deutschen hatten bei uns den Ruf, korrekt und diszipliniert zu sein. Ich wollte wissen, wie sie denken, was sie zum Lachen bringt. Dass Deutsche weinen können, konnte ich mir nicht vorstellen. »Ein Volk, das so viel im Bereich Wissenschaft und Technologie leistet, hat keine Gefühle und kann nicht weinen«, dachte ich. Made in Germany steht bei uns hoch im Kurs. Leider auch Adolf Hitler, der von manchen bewundert wird, da er in der Lage war, Frankreich zu besetzen. Dies belegt, dass die Franzosen doch nicht die Mächtigsten waren! »Der Feind meines Feindes ist mein Freund«, lautet die Devise. 92

Letztlich sind die Kabylen wenig über den Nationalsozialismus informiert und wenn sie von der Unmenschlichkeit des Nazi-Regimes erfahren, sind sie natürlich auch gegen Hitler und sein Regime. Auch sie wären dagegen, dass irgendjemand unsere Demokratie abschaffen würde. Viele Kabylen hegen übrigens große Sympathie für den Staat Israel. Wieder nach der Devise, dass der Feind meines Feindes mein Freund ist. Auch wenn viele Kabylen die Israelpolitik gegenüber den Palästinensern kritisieren, will man doch nicht für einen neuen arabischen Staat plädieren, der gegen unsere kabylische Kultur agieren könnte. Ich wollte die Werke von deutschen Philosophen, vor allem Das Kapital von Karl Marx, auf Deutsch lesen, was ich inzwischen getan habe. In Wirklichkeit habe ich wahrscheinlich einen Ort gesucht, wo ich ohne Angst und in Frieden und Freiheit leben kann. Deutschland war für mich damals ein geeignetes Land. Vom Leben in Freiheit und vor allem weit von dem Ort entfernt, wo ich als Kind gelitten hatte, hoffte ich, von meinem Trauma als Kriegskind geheilt zu werden. Die Angst, die mich seit meiner Kindheit quälte, hat unterschiedliche Ursachen. Zuerst den Krieg, aber auch die Zeit nach der Unabhängigkeit Algeriens im Jahr 1962. Mit vier Jahren, im Jahr 1957, musste ich miterleben, wie mein Vater von französischen Soldaten erschossen wurde. Die Szene ist bis heute fest in meinem Gehirn verankert. Mein Vater war engagiert gegen die französische Kolonialpolitik. An dem Tag war er zu Hause, als die französische Armee ihn erwischte. Er lag im Bett und gab vor, krank zu sein. Drei Soldaten drangen gewaltsam ins Haus und befahlen ihm, aufzustehen. Dann musste er sich mit dem Rücken vors Haus stellen. Meine Mutter protestierte, doch ein Soldat gab einen Warnschuss ab, um sie einzuschüchtern. Vor unseren Augen wurde mein Vater dann von drei Soldaten erschossen. An dem Tag haben sie in unserem Dorf acht Personen liquidiert. Meine ältere Schwester war damals zehn Jahre alt. »Sie haben meinen Vater getötet«, schrie sie und lief von Haus zu Haus. Ich kann mich nicht erinnern, was ich gemacht habe. Meine Mutter erzählte mir später, ich hätte mich hinter einem Schrank (eine Tonne aus Ton, Akufi auf Kabylisch) versteckt. Geweint hatte ich anscheinend nicht. Meine jüngere Schwester war erst ein paar Monate alt. Die Soldaten setzten noch das Nachbarhaus in Brand. Ein Zimmer war voller Stroh, was das Feuer entfachte. Dann kamen die Nachbarinnen und wir versammelten uns vor meinem Vater, der am Boden lag. Ich kann mich gut an 93

sein weißes Hemd erinnern. Er war nicht tot, sondern hatte noch etwa zehn Minuten gelebt. Eine Nachbarin gab ihm ein Glas heiße Milch. Meine Mutter nahm ihm sein Gebiss aus dem Mund. Wir warteten, bis er gestorben war. Dann trugen ihn meine Mutter und die Nachbarin ins Haus. Da wir Angst hatten, dort zu übernachten, gingen wir zu einer Tante und haben bei ihr gewohnt. Nach ein paar Tagen begruben die Männer der algerischen Befreiungsbewegung FLN–ALN meinen Vater zusammen mit einem anderen Mann in einem Grab. Das Gebiss meines Vaters haben wir bis heute auf bewahrt. Er hat auch ein französisches Lexikon, Larousse, hinterlassen. Man erzählte, dass mein Vater der einzige Mann im Dorf war, der Französisch lesen und schreiben konnte. Er hatte es in Frankreich gelernt, wo er 30 Jahre lang gearbeitet hatte. 1992 legte unsere Gemeinde einen Friedhof für alle Leute an, die im Krieg gestorben sind, an. Der Kulturverein unseres Dorfes, Tigri n Tiwal, fand dann zwei Skelette in einem Grab. Wer war mein Vater und wer war der andere Mann, war die Frage. Meine Mutter konnte das Problem lösen, indem sie dem Kulturverein das Gebiss meines Vaters zur Verfügung stellte. Damit konnte man feststellen, wer mein Vater war. Man hat mir ein Foto vom Schädel meines Vaters nach Deutschland geschickt. Es war makaber. Gleichzeitig war ich einigermaßen erleichtert, da ich mindestens etwas von meinem Vater sehen konnte. Ein Foto hatte er uns ja nicht hinterlassen. Seitdem habe ich eine Suchaktion nach einem Foto gestartet, lange Zeit vergeblich. Im Mai 2009, etwa ein Jahr nach dem Tode meiner Mutter, habe ich doch noch ein Foto meines Vaters erhalten. Ein Freund aus meinem Dorf, Husin Boukider, arbeitete im Rathaus, wo er im Keller viele Fotos von Personen fand, die im Krieg gestorben waren. Das Foto von meinem Vater war von 1949, er war damals 47 Jahre alt. Er war 26 Jahre älter als meine Mutter. Doch meine Mutter war bereits zweimal verheiratet gewesen. Mein Vater war in Frankreich und wollte zuerst nicht heiraten. Meine Mutter war bei ihrem ersten Mann nur zwei Wochen geblieben. Der zweite Mann war im Zweiten Weltkrieg gestorben. Bevor mein Freund Husin Boukider mir das Foto per Mail schickte, hatte er mich vorgewarnt. In der Tat war ich sehr unsicher und wusste nicht, wie ich auf das Foto reagieren würde. Ich habe mich dann entschieden, das Foto anzusehen, wenn ich alleine wäre. Als ich das Foto meines Vaters sah, musste ich sofort an meine Mutter denken. »Warum 94

sehe ich das Foto erst nach dem Tode meiner Mutter, wo sie mir nicht mehr bestätigen kann, dass es sich wirklich um meinen Vater handelt«, dachte ich. Danach verfasste ich einen kurzen Text über meine Gefühle. Dabei habe ich geweint. Später zeigte ich das Foto meinem Sohn Idir und meiner Frau Edel. Beide bestätigten, dass ich ihm etwas ähnele. Er war auf dem Foto schlecht rasiert und sah wie ein Westernheld aus. Das ist aber nicht das Bild, das ich von ihm hatte. Man erzählte mir, dass er immer sehr adrett war. »Er benutzte nie Wasser zum Waschen, das einen Tag alt war, und er war sehr korrekt und immer gut angezogen«, haben mir Leute erzählt, die ihn kannten. Beim Anblick des Fotos meines Vaters kamen wieder viele Gedanken und Bilder aus der Zeit im Krieg hoch. Das Schlimmste damals war die Angst, zu sterben. »Warten auf das Sterben ist schlimmer als das Sterben selbst«, dachte ich. Keine Religion, kein Gott oder irgendeine Macht konnte verhindern, dass mein Vater ermordet wurde. Warum hatte Gott, falls er existiert, die bösen Franzosen nicht daran gehindert, unseren Vater zu töten? Das fragten wir uns damals. Es war für mich als Kind sehr schwierig, die Situation im Krieg zu verstehen. Einerseits waren wir Kinder fasziniert von der Technik der Franzosen, etwa den Panzern und Hubschraubern. Anderseits verstanden wir nicht, warum die Soldaten kamen, um uns zu unterdrücken, zu foltern und zu töten. Auch das Leben war damals voller Widersprüche. Tagsüber erlebten wir schöne Momente in der Schule. Wir mussten französische patriotische Lieder lernen, was uns Spaß machte. Wir bekamen Schokolade und andere Süßigkeiten und Käse von den Soldaten, alles Dinge, die wir nicht hatten. Doch nachts kamen die Soldaten und töteten Menschen. Oft versammelten die französischen Soldaten das ganze Dorf, wenn sie »Terroristen«  – so nannten sie Befreiungskämpfer – festgenommen hatten. Wir mussten zusehen, wie sie erschossen wurden. Manchmal zwangen sie Mütter, ihre toten Söhne zu identifizieren. Mitten im Krieg versuchten die Franzosen, uns mit patriotischen Liedern und Spielen zu assimilieren. Sie hatten eine Philosophie entwickelt, dass wir Kabylen besser assimilierbar waren als die Araber. Wir mussten lernen, dass unsere Vorfahren die Gallier waren. Mit fünf Jahren musste ich in die Schule. In der Klasse waren die Schüler zwischen 5 und 18 Jahre alt. Der Lehrer selbst war erst 18 95

Jahre alt. Er musste seinen Militärdienst ableisten. Oft weigerten sich die Schüler, seinen Befehlen zu folgen, obwohl er mit einer Militäruniform und Waffe lehrte. Dann musste er den Sergent rufen, da er alleine nicht mit uns fertig wurde. Vor dem Sergent hatten wir natürlich alle Respekt und Angst. Das französische Schulsystem war sehr hart. Schüler wurden nicht nur geschlagen, sondern auch gefoltert und gedemütigt. Als Strafe musste man beispielsweise eine halbe Stunde knien. Oder man musste mit dem Gesicht zur Wand stehen. Eine Geschichte, die meinem Freund Lahlu passierte, war eine große Lektion für alle Schüler. Der Lehrer verlangte von ihm, sich hinzuknien, doch Lahlu weigerte sich. »À genou, Lahlu, à genou«, sagte der Lehrer. Lahlu weigerte sich mit dem Satz: »Non Monsieur, je refuse.« Wir mussten alle lachen, weil Lahlu damals einen Sprachfehler hatte. Dann rief der Lehrer den Sergent: »Sergent, Sergent!« Ganz schnell kam der Sergent. Er öffnete das Fenster und sah Lahlu im Streit mit dem Lehrer. »À genou, Lahlu«, sagte der Sergent in einem entschiedenen Ton. »Oui Monsieur, oui Monsieur«, antwortete Lahlu. Alles war still in der Klasse. Eine andere Einschüchterungsmethode bestand darin, auf einen Zettel den Satz »Ich bin ein Esel« zu schreiben. Diesen Zettel klebten sie auf den Rücken eines »schlechten« Schülers. Dieser Schüler musste dann während der Pause im Hof mit dem Zettel auf dem Rücken herumlaufen. Unsere Schule war in der ersten Etage des Gebäudes, im Erdgeschoss war die Kaserne der französischen Armee. Übrigens hatten Dorf bewohner diese Schule kurz vor dem Krieg gebaut. Sie ist bis heute das schönste Gebäude im Dorf und vielleicht in der Kommune. Sie hat zwei Etagen. Nach dem Krieg hat unsere Gemeinde eine neue Schule gebaut. Das Erdgeschoss der alten wurde einem Kulturverein zur Verfügung gestellt und die erste Etage wurde zum Gebetsraum umgewandelt. Mit der Unabhängigkeit im Jahr 1962 waren wir glücklich und durften uns auch nachts endlich überall frei bewegen, ohne Angst, getötet zu werden. Doch unmittelbar nach dem Krieg kam es zu anderen Grausamkeiten, die ich mitansehen musste. Irgendwann im Sommer 1962 war ich zusammen mit Freunden auf einem Wochenmarkt, der etwa drei Kilometer von unserem Dorf entfernt war. Unterwegs waren viele Menschen, die eingekauft hatten, als plötzlich zwei bewaffnete Männer einen Mann aufforderten, ihnen zu folgen. Der Mann hatte wahrscheinlich schnell verstanden, warum. Er war angeblich Kollabora96

teur der französischen Armee (Verräter), hieß es später. »Aber was mache ich mit meinem Esel? Ich habe doch für meine Kinder eingekauft«, sagte er. Einer von ihnen war aus meinem Dorf. »Kümmere dich nicht um deinen Esel, wir werden dafür sorgen, dass er nach Hause kommt«, antworteten sie ihm. Dann wurde der Mann ein paar Meter weiter, versteckt zwischen Bäumen, erschossen. Wir Kinder haben die Schüsse gehört und sind ins Dorf gerannt. Ich war schockiert, enttäuscht vor allem von dem Täter aus meinem Dorf. »Warum müssen auch nach dem Krieg Kinder immer noch ihre Väter verlieren?«, dachte ich. Später ging ich zusammen mit Freunden dorthin zurück, denn wir wollten sicher sein, ob er es wirklich war. Wir fanden ihn. »So sieht also ein Verräter aus«, dachte ich und habe an seine Familie gedacht. Er hat mir sehr leid getan. In den letzten Jahren nach der Unabhängigkeit herrschten Willkür und Ungerechtigkeit. Viele sogenannte Verräter wurden gefoltert und hingerichtet. Ein Mann aus einem anderen Dorf wurde ins Dorf gebracht, mit Benzin übergossen und verbrannt. Ein anderer wurde wie ein Esel durch das Dorf geführt und von vielen Bewohnern zusammengeschlagen. Eine davon war sogar meine Mutter. Da sie Verantwortliche der FLN im Dorf war, sorgte sie dafür, dass sie ihn allein an einem ungestörten Ort, wo ihr Bruder begraben wurde, schlagen durfte  – auch der Bruder meiner Mutter wurde von der französischen Armee kurz vor der Unabhängigkeit Algeriens erschossen. Dort schlug sie mit Hilfe einer stacheligen Pf lanze auf ihn ein. Die Tat meiner Mutter hat mich sehr überrascht, was ich ihr auch sagte. »Hast du vergessen, was er uns angetan hat?«, fragte sie mich. So viele Grausamkeiten, die man nach dem Krieg gegen Landsleute ausübte! 1963 kam es dann zum Krieg nach dem Krieg. Unter der Führung eines Kabylen, der eine wichtige Rolle für die Unabhängigkeit Algeriens gespielt hatte, Hocine Ait Ahmed, wurde eine Partei gegründet, FFS, Front des forces socialistes. Diese Partei kämpfte damals gegen die FLN, die unmittelbar nach dem Krieg als Einheitspartei proklamiert wurde. Ait Ahmed und andere bekannte kabylische Politiker waren dagegen. Es war damals die Rede von einem Krieg zwischen Arabern und uns Kabylen. Ich kann mich sehr gut erinnern, wie die Soldaten der Zentralalgerischen Regierung, also Araber, in unser Dorf kamen und uns große Angst einjagten. Uns Schüler holten sie aus der Klasse und versammelten uns vor der Schule. Sie suchten, wie damals die französischen Soldaten, nach »Terroristen«. 97

Auch die Gendarmen in der Kabylei, in der Regel Araber, Sicherheitskräfte, die dem Verteidigungsministerium bis heute unterstellt sind, benahmen sich wie Sheriffs. So musste ich auch im unabhängigen Algerien weiterhin in Angst leben. Mit der Unabhängigkeit hat sich die algerische Regierung entschieden, uns Kabylen und andere Masiren (Berber) zu arabisieren. In den Schulen mussten wir Arabisch als Hauptsprache lernen. Auch Französisch wurde unterrichtet. Nur unsere Muttersprache wurde ignoriert. Am 11.  Oktober 1979 habe ich deutschen Boden betreten. In Tübingen wurde ich von einer deutschen Familie abgeholt. Es war ein tolles Gefühl. Alles schien schön. Die Deutschen waren sehr freundlich, offen und hilfsbereit. Ich hatte auch keine Hemmungen, Menschen anzusprechen. Ich fühlte mich sehr frei.

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Pierre Bourdieu

Für Abdelmalek Sayad Abdelmalek Sayad war mir ein Freund, ja mehr als ein Freund, eine Art Bruder, und es fällt mir schwer, von ihm zu sprechen, ohne pathetisch zu werden, was er nicht gemocht hätte. Als wir uns wenige Tage vor seinem Tod zum letzten Mal sahen, auch Rebecca war dabei, sprachen wir ganz natürlich und ohne jede Feierlichkeit über alle Probleme, die ihn beschäftigten, über die Fortsetzung seiner Arbeit, die Veröffentlichung seiner Texte, die Erfüllung seiner Verträge. Und erst nachträglich verstand ich, dass er mir seine letzten Verfügungen hatte mitteilen wollen, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Er war glücklich über diesen Augenblick und zugleich tieftraurig (er hatte gerade erfahren, dass er nie wieder würde normal sehen können). Ich habe viel gesprochen, um ihn zum Lachen zu bringen, und er hat viel gelacht, vor allem, als er mit ironischem Stolz von den 60 Kartons erzählte, die mit Papieren und Büchern vollgepackt werden mussten, damit die Handwerker kommen konnten. Seit dem Beginn unserer Bekanntschaft Ende der 50er-Jahre – er war damals Student an der Universität Algier, später erinnerte er mich oft mit belustigter Verwunderung an den Philosophiekurs, den ich damals über Gott bei Kant gegeben hatte … – treiben wir uns in den entlegensten Ecken Algeriens herum: in den Umsiedlungslagern auf der Halbinsel Collo und in der Ebene von Orléansville, auf den gesperrten, mit Warnschildern und Minenhinweisen bestückten Straßen im Quarsenis-Gebirge, in der großen und in der kleinen Kabylei, in den Slums und Trabantensiedlungen von Algier und Constantine und an vielen anderen Orten. Wir hatten so viele gemeinsame, oft tragische Erinnerungen: an die Abende während der Feldforschung, wenn alle anderen eingeschlafen waren und wir beiden bis zwei oder drei Uhr morgens weiter diskutierten und unsere Beobachtungen vom Tage transkribierten; an den Tag, an dem wir vom Tod unseres Freundes Moulah Hennine erfuhren, den die OAS ermordet hatte (es hätte auch ihn treffen können) – wir widmeten ihm Le Déracinement; an den Tag, an dem wir gemeinsam über Serpentinen, die von verbrannten Autowracks übersät waren, zu einem mir vertrauten Dorf der Großen Kabylei hochfuhren – in der Ferne knatterte ständig Gewehrfeuer, wir fuhren an einem halb versteckten Mann vorbei, wohl einer bewaffneten Wache, mit der wir bloß einen Blick wechselten (ich habe ihn nie mit der Wimper zucken oder zurückweichen sehen), und gewiss dachten wir daran, dass wir am Abend auf demselben Weg zurück mussten; an seinen Besuch bei den Perès blancs von Djemka Saharidj, 99

wo ich ein neutrales Asyl für meine Forschungen gefunden hatte und wo er mich leicht erstaunt ansah, als ich mich am Gebet vor dem Abendessen beteiligte; an den Tag, an dem er mich mit dem Ellbogen anstieß, weil er fürchtete, dass ich mich vertrauensselig hintergehen ließ, weil ich die etwas spinnerten Äußerungen eines kleinen örtlichen Propheten, eines autodidaktischen amahbul, sorgfältig mitschrieb, der mich davon überzeugen wollte, dass die Araber die Demokratie erfunden hatten, indem er mich fragte: »Beni Toufout (so hieß einer der lokalen Stämme), was heißt das? Beni Tofout? Tu votes [Du wählst!].« Im Grunde  – und deswegen arbeitete ich so gern mit ihm zusammen (wir führten Dutzende, vielleicht Hunderte von Interviews gemeinsam durch) – richtete er auf seine Landsleute einen weder nachsichtigen noch herablassenden Blick, und die kleinen Listen, die kleinen Lügen, die kleinen Schwächen des Leids und Elends registrierte er auf eine Weise, die ich liebevoll oder gerührt nennen möchte. Im Unterschied zu all den scheinradikalen Intellektuellen, die gern Lektionen in Nationalismus erteilt hätten und mit ihrem voluntaristischen, oft ostentativen Populismus ihre Ignoranz des wirklichen Volks, um nicht zu sagen ihre Furcht oder ihren Ekel vor ihm, nicht selten kaum verhehlen konnten, verstand er es, dem Volk tief verbunden und aufgeschlossen zu sein, ohne sich je an der Nase herumführen zu lassen. Und das spürten diese Menschen, die – davon zeugen die wundervollen Gespräche, die er geführt hat – ihm jenes Vertrauen entgegenbrachten, das die Voraussetzung einer wirklichen Kommunikation zwischen dem Soziologen und denen ist, die er studiert. All dies, weil er wirklich, aber ohne große Worte zu machen, dem verbunden war, was man die Sache des algerischen Volkes nennen können möchte. Ich habe gesagt: ohne große Worte, und wie mit meinem Vater, an den er mich oft erinnerte, so brauchte ich auch mit ihm nicht zu sprechen, um mich mit ihm im Wesentlichen eines Sinnes zu fühlen (vor allem über die, die zu viel sprechen, insbesondere über Dinge, die man besser unausgesprochen lässt, wie die guten Empfindungen für die gute Sache). Ich lud ihn nach Hause in mein Pyrenäendorf ein, wo ich untersuchte, warum die ältesten Söhne aus Bauernfamilien unverheiratet blieben, und er verstand sofort und half mir – wie zu anderen Zeiten Yvette Delsaut – die Wurzeln meines Interesses für die kabylischen Bauern zu verstehen. Das stiftete zwischen uns (mein Vater und meine Mutter mochten ihn sehr) so etwas wie wirkliche Familienbande. Er hatte tiefe Überzeugungen, die zu äußern er sich weigerte, vor allem in Anwesenheit pharisäerhafter Verteidiger der guten Sache, und doch mitzuteilen verstand, ohne in pathetische oder prophetische Glaubensbekenntnisse zu verfallen. Als ich mein erstes Team zusammenstellte, mit dem ich unter schwierigen und gefährlichen  – manche hätten wohl auch geurteilt etwas zweifelhaften  – Bedingungen Feldforschungen zu den Auswirkungen der Arbeitslosigkeit (damals schon!) durchführen wollte, brachte er seine besten Freunde dazu, mitzumachen: Moulah Hennine, der Medizin studierte und den später (ich sagte es schon) die OAS umbrachte, Ahmed Mis100

raoui, der Zahmedizin studierte, und viele andere, etwa Alain Accardo, der auch bis heute nicht von der guten Sache gelassen hat … Gewiss sah er (auch wenn er es nie sagte) in der Entscheidung, Zeugnis abzulegen, den besten und wohl auch einzig möglichen Beitrag zu einem Kampf, dessen Ambiguität ihm in keiner Weise entging. Wenn ich das sage – geschrieben hat er es niemals  –, so deswegen, weil wir hundertmal in Andeutungen davon gesprochen haben, so wie wir auch in Situationen, in denen wir an Algerien verzweifelten, hundertmal den schließlich fallengelassenen Vorsatz fassten, gemeinsam ein dialogisches Buch über die Widersprüche und Ambiguitäten der Situation Algeriens zu machen  – eine der komplexesten und tragischsten (man denke nur an all die versteckten Dramen und Verbrechen des Befreiungskriegs) der ganzen Menschheitsgeschichte. Das wundervolle, zu einem großen Teil noch unveröffentlichte Werk Abdelmalek Sayads muss ich wenigstens kurz erwähnen. Man kann es – wie er es selbst in den Papieren tut, die er mir zur Veröffentlichung übergab – in zwei Themengruppen unterteilen, die in ihrer scheinbaren Banalität eine wesentliche Intention erkennen lassen: Emigration und Immigration. Durch die schlichte Symmetrie dieser Anordnung wollte er seinen Willen zu Ausdruck bringen, im Gegensatz zu der nicht nur hierzulande, sondern auch auf der anderen Seite des Mittelmeers – wo die Emigration (und die Rückkehr) äußerst heikle Probleme stellt – geläufigen Praxis zwischen den beiden Seiten des Phänomens, die so wenig zu trennen sind wie Vorder- und Rückseite ein und desselben Blatts, ein Gleichgewicht herzustellen. Dies hieß zunächst einmal auch, mit der frankozentrischen Sicht der Wanderungsströme als schlichter Immigration brechen  – mit einer Sichte, die die Algerier nur als »Immigranten« kennt, die keinerlei Bindungen und Wurzeln haben und deren Existenz gewissermaßen beginnt, wenn sie in Marseille aus dem Schiff oder in Orly aus dem Flugzeug steigen. Eine Sicht, die dazu führte, dass man noch in den 70er-Jahren den Immigranten für einen jungen, alleinstehenden Mann hielt, der vorübergehend Geld verdienen will, das er seiner Familie schickt, bevor er in sein Heimatland zurückkehrt, um sein früheres Leben wiederaufzunehmen. In zwei exemplarischen, klassisch gewordenen Artikeln mit den Titeln Les trois âges de l’immigration [Die drei Zeitalter der Immigration] und Un immigré exemplaire [Ein besipielhaf ter Immigrant] bietet Abdelmalek Sayad eine Sozialgeschichte der Immigration in Frankreich, die eine differenzierte Erklärung des Aufbruchs nach Frankreich liefert (wer brach als erster auf, mit welchem Ziel, aufgrund welcher Zwischenstationen usw.). Später kommt er auf die Problematik zurück und versucht, den Übergang der Emigration von Individuen zu der ganzer Familien zu analysieren (er ist weitgehend mit dem ihn ermöglichenden Befreiungskrieg verbunden). Ein radikaler Umschwung, den Abbas, einer seiner Interviewpartner, in eine herrliche Formel fasst: Vorher kamen wir, um für die Franzosen zu produzieren, nunmehr kommen wir, um Franzosen zu produzieren (indem wir uns reproduzieren). Die Emigration verstehen heißt auch: ihre Auswirkungen auf die algerische Gesellschaft zu verstehen, natürlich die wirtschaftlichen Auswirkun101

gen, aber auch die sozialen und kulturellen Auswirkungen, die man anzuprangern oder zu verurteilen beginnt. Es galt daher zu studieren, wie man in Algerien selbst – auch in Algerien, müsste man sagen – der Emigration den Prozess macht. Einen Prozess, der mit Diskussionen über die »Wiedereingliederung« der Emigranten in ihre Wirtschaft, ihre Gesellschaft und ihre Kultur getarnt wird, und der seinerseits die Spannungen zwischen der Versuchung, sich von der Welt abzuschließen, und den Verführungen tarnt, die von ebendieser Welt ausgehen, angefangen bei den Verführungen durch die Konsumgüter. Verurteilt wird in den »Emigranten«, diesen Verrätern an der Nation und am Nationalismus, das Schändliche, Schlechte, Schuldhafte, das es auszumerzen gilt. Für alle, die sich mit einer einseitigen Sicht begnügten, ergibt sich daraus eine überraschende Schlussfolgerung: Auf beiden Seiten des Mittelmeers wirft die Emigration gleich viele und zum Teil identische Probleme auf, die an tief eingewurzelten Tabus rühren, an das Wesen beider Gesellschaften, an alles, was mit den vagen und gefährlichen Begriffen »Identität« oder »Nation« bezeichnet wird. Was sich daran zeigt, dass man auf beiden Seiten nur euphemistisch darüber redet, auf algerischer Seite zum Beispiel das »Opfer« beschwört, das die Emigranten bringen, oder die Ausbeutung, deren Opfer sie sind. Zweite Themengruppe: die Immigration. Sie stellt den bekanntesten Aspekt von Sayads Werk dar, und ich kann mich kürzer fassen. Der Emigrant ist ein Arbeiter, eine Arbeitskraft. Er ist in neoliberaler Sicht gewissermaßen der ideale Arbeiter: ein ungelernter Arbeiter, der immer bloß ungelernt bleibt (als angelernter Justierer, angelernter Polierer), und auch ein »Streikbrecher«. Ohne Arbeit, als Arbeitsloser, existiert er nicht mehr und muss zurückgeschickt werden. Noch einmal ist an der letzten Arbeit Abdelmalek Sayads über den immigrierten Körper zu erinnern, dieses sichtbare Bild der Person, das mehr noch als Name, Vorname oder Akzent die »Naturalisierung« und den gelingenden Zugang zur »Natur« der gebürtigen Franzosen, der wahren Eingeborenen, schwierig, wenn nicht unmöglich macht. Aber das ist nur einer der Faktoren, die bewirken, dass der Emigrant-Immigrant – wie einer von ihnen sagte – weder hier noch dort, weder von hier noch von dort ist. Das Entscheidende, vielleicht Unüberwindliche ist das staatliche Denken, dieses eingef leischte System von Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien, das alles Wahrgenommene einem nationalen (und nationalistischen) Raster unterwirft und den Emigranten-Immigranten der Fremdartigkeit, Andersartigkeit zuschlägt, namentlich dann, wenn der Staat aufgrund irgendeines Verstoßes gegen die Schicklichkeitsregeln, die für Nichteingeborene gelten – stets leben sie ja unter der Drohung, als Eindringlinge zu erscheinen –, seine »Gäste« an ihren Ausländerstatus erinnert und so die Erinnerung an das doppelte Vergehen weckt, das seine unstatthafte, unerwünschte, ungerechtfertigte und nicht zu rechtfertigende Anwesenheit verursacht und ihm fast unvermeidlich eine Verdoppelung seiner Strafe einträgt, die dem doppelten Vorgehen logischerweise inhärent ist: dem Vergehen, hier zu sein, fehl am Platz, und dem Vergehen, ein 102

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Vergehen begangen zu haben, anstatt sich selbst in Vergessenheit zu bringen und vergeben zu lassen, dass er da ist. In den Sozialwissenschaften, deren analytische Verfahren weniger streng kodifiziert sind als andernorts üblich, hängt die Forschung von dem mehr oder weniger kontrollierten Habitus dessen ab, der sie durchführt. Abdelmalek Sayad verkörperte die angemessene Sichtweise, den zugleich nahen und fernen, vertrauten und distanzierten Blick, der dem Soziologen geziemt. Er war weder ein wichtigtuerischer Schwadroneur noch Schulmeister, noch Experte: Er verstand sich als öffentlicher Schreiber, eine vertrauenswürdige, aufnahme- und vermittlungsfähige Person, der ein vertrauliches und zugleich öf fentliches Wort als persönliche Botschaft überantwortet wird, die sie zu transkribieren und an den rechtmäßigen Empfänger weiterzuleiten hat. Bis zuletzt verhielt er sich als getreuer Zeuge: In seine Arbeit brachte er sein ganzes Leben ein, alles, was seine schwierige Existenz als hoffnungslos treuer Überläufer ihn gelehrt hatte (obwohl Mitglied einer französischen Institution, des CNRS – und in zweiter Linie auch der École des Hautes Études –, hielt Sayad darauf, seine algerische Staatsbürgerschaft zu behalten). Diese realistischen und maßvollen Dispositionen, die ihn beständig zu nuancierten, komplexen und verständnisvollen, von allen extremen Positionen gleich weit entfernten Bestandsaufnahmen streben ließen, zeigten sich schon von Anfang an, während des Algerienkriegs, in dem stillen Mut, der ihn dazu bewog, ostentative Engagements zurückzuweisen und sich damit bisweilen Verdächtigungen und Kritiken seitens extrem Radikaler auszusetzen, und die in jeder Hinsicht sicherlich riskanteste Entscheidung zu treffen: das, worüber die anderen sprachen, mit eigenen Augen zu sehen und im Quarsenis, in der Kabylei und auf der Habinsel Collo Untersuchungen durchzuführen. Derselbe bescheidene Mut brachte ihn dazu, eine Forschungsarbeit, die er als Form wissenschaftlichen und zugleich politischen Engagements ansah, bis zum Ende und von Krankenhaus zu Krankenhaus zu tragen und zu ertragen wie die beiden riesigen Koffer, die er überall mit sich herumschleppte. So gelang es ihm, uns glauben zu machen, dass er unsterblich sei, wo doch alles in ihm Schwäche, Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit ausdrückte. Mit allen seinen Freunden werde ich alles tun, um seinem Werk, aber auch dem beispielhaften Forscher, den er verkörperte, die einzige Form von Ewigkeit zu sichern, die Menschen zu verleihen vermögen.

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Franz Schultheis und Christine Frisinghelli

Orte und Geschichten Das Fotoarchiv Pierre Bourdieu nutzte die Fotografie während seiner frühen Feldforschungen systematisch als Methode, Instrument und Erkenntnisform bei der Beobachtung, Beschreibung und Analyse gesellschaftlicher Phänomene und der Entwicklung seiner theoretischen Konzepte wie »Habitus« oder »Praxis«. Dadurch erweiterte er das Forschungs- und Methodenrepertoire der Sozialwissenschaften um originär empirisch-fotografische Bildpraktiken. Diese visuelle Komponente des Bourdieu’schen Werks konnte bis heute noch nicht angemessen gewürdigt werden, weil nur ein Bruchteil seines Fotoarchivs zugänglich und die umfangreichen mit ihm korrespondierenden Dokumente der Archives Bourdieu in Paris noch nicht zugänglich waren. Nun liegt es geschlossen und digitalisiert bereit und wird im Hinblick auf die für Bourdieus Werk kennzeichnende, intensive Verschränkung visueller und diskursiver Zugänge im Detail rekonstruiert, um zu einer adäquaten Rezeption der Bourdieu’schen Forschungspraxis und Theoriebildung zu gelangen und auf diesem Wege den Gebrauch der Fotografie in den Sozialwissenschaften neu zu beleben. Bourdieus fotografisches Werk bietet das erforderliche Potential an empirischer Fundierung, methodischer Stringenz und gesellschaftstheoretischer Ref lexivität, um dies auf exemplarische Weise zu leisten. Dass aus diesem Archiv eine von der Camera Austria kuratierte »globale« Ausstrahlung in Form von zahlreichen Fotoausstellungen hervorging, ist hier nicht nur eine Randnotiz wert. Unter dem Titel Pierre Bourdieu In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung. In Algeria. Testmonies of Uprooting. Images d’Algerie. Une Af finité élective sind an folgenden Orten Ausstellungen entstanden.

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Ausstellungen 24.1.2003 – 2.3.2003 Institut du Monde Arabe, Paris (FR) 15.11.2003 – 6.2.2004 Camera Austria, Kunsthaus Graz, Graz (AT) 20.4.2004 – 22.5.2004 L’Institut Franco-Japonais de Tokyo, Tokyo (JP) 11.6.2004 – 18.7.2004 Daelim Contemporary Art Museum, Seoul (KR) 15.10.2004 – 28.11.2004 The Photographers’ Gallery, London (UK) 31.10.2004 – 23.1.2005 BildMuseet, Umeå universitet, Umeå (SE) 25.1.2005 – 24.2.2005 Gallery of Contemporary Art, Celje (SI) 8.3.2005 – 8.5.2005 Aspekte Galerie der MVHS im Gasteig, München (DE) 15.3.2005 – 9.4.2005 Centre de la Photographie, Genève (CH) 28.5.2005 – 18.7.2005 Kunstraum der Leuphana Universität, Lüneburg (DE) 9.9.2005 – 16.10.2005 Galerie im Taxispalais, Innsbruck (AT) 28.2.2006 – 7.5.2006 Shedhalle, Rote Fabrik, Zürich (CH) 15.4.2005 – 28.5.2005 Centre Culturel Français, Freiburg i. Br. (DE) 1.3.2006 – 31.3.2006 Bibliothèque Nationale d’Algérie, Algier/Centre Culturel Français, Algier (DZ) 7.4.2006 – 11.5.2006 Centre Culturel Français, Constantine (DZ) 20.5.2006 – 10.6.2006 Centre Culturel Français, Tlemcen (DZ) 22.6.2006 – 3.9.2006 Deichtorhallen, Hamburg (DE) 15.1.2007 – 21.3.2007 Kahn Liberal Arts Institute, Smith College, Northampton (US) 3.5.2007 – 1.6.2007 Karşı Sanat Çalışmaları, Istanbul (TR) Oktober 2006 – Juni 2007 Goldsmiths College, University of London, London (UK) 5.5.2008 – 15.6.2008 ENS/École normale supérieure Lettres et sciences humaines, Lyon (FR) 108

17.1.2009 – 2.3.2009 Universität Konstanz, Konstanz (DE) 5.11.2009 – 6.12.2009 MUCEM/Musée des Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée, Marseille (FR) 13.10.2011 – 15.1.2012 Círculo de Bellas Artes, Madrid (ES) 26.11.2011 – 12.2.2012 Université de Strasbourg, in collaboration with StrasbourgMéditerranée and Stimultania, Strasbourg (FR) 15.3.2012 – 27.5.2012 Centre du Patrimoine Arménien, Valence (FR) 11.5.2012 – 30.6.2012 Università di Modena e Reggio Emilia, Modena (IT) 16.6.2012 – 4.11.2012 Jeu de Paume/Château de Tours, Tours (FR) 28.4.2017 – 30.6.2017 Institut Français de Grèce, Athens (GR) 28.2. – 13.7.2019 Institut du Monde Arabe, Tourcoing (FR) 7.4. – 17.5.2019 Landskrona Foto, Landskrona (SE) 23.8. – 13.10.2019 Haus der Kulturen der Welt, Berlin (DE) 10.10.2019 – 30.10.2020 Zeppelin Universität, Friedrichshafen (DE) Aber selbst wenn dieser theoretischen Dimension des fotografischen Werks besondere Aufmerksamkeit gilt, ist doch auch eine erzählerische Absicht erkennbar: Bourdieu hat in tausenden Fotos nicht nur Orte mit ihrer ganz spezifischen Prägung festgehalten, Bauten und Basare, Märkte und Moscheen, Fahrräder und Friedhöfe, sondern auch Geschichten  – Geschichten von Menschen einer untergehenden Welt, Geschichten von eingeborenem Stolz und eingeschlepptem Leid, Geschichten von traditioneller »Arbeit« und modernem Elend, Geschichten von Männern und Frauen, von Bauern und Handwerkern, von Alten, Jugendlichen, Kindern, und all dies mit einem ungeheuer sensiblen, persönlich Anteil nehmenden Blick auf die äußeren und inneren Bedingungen menschlicher Existenz. Insofern ist Bourdieus Fotoarchiv auch eine »Erzählung« oder besser: es beinhaltet »Erzählungen«, von denen wir selbst als »Nachgeborene« noch eine intensive Erfahrung zurückbehalten können. Nicht zuletzt dies ist der Zweck, dem sich das Fotoarchiv widmet. 109

Publikationen Das vorliegende Publikationsvorhaben visiert einen sozialtheoretischen Einführungsband und vier thematisch zusammenhängende Bände an. Band 1: Habitat und Habitus Band 2: Geschlechterverhältnisse Band 3: Arbeit und Elend Band 4: Ungleichzeitigkeiten Der Einführungsband wird zusammen mit dem ersten geplanten Buchprojekt publiziert. Er macht den intensiven Dialog der Bourdieu’schen Theoriebildung mit einem fotografischen Material deutlich, das nicht nur als »Erinnerungsstütze« dient, sondern als Moment sozialer »Anschauung«, von der im Diskurs und in den Methoden der Nachkriegssoziologie kaum mehr Spuren vorhanden waren. Bourdieu bringt hier Dimensionen sozialer Erfahrung zusammen, die wesentlich im »Bild« der Menschen voneinander ihren sinnlichen Ausdruck finden und deren Konnotationen auch sinnlich erfasst werden.

Band 1: Habitat und Habitus Die enge Verwandtschaft von häuslicher Umgebung als morphologische Kennzeichnung sozialer Merkmale und menschlicher »Haltung« bildet einen der wesentlichen theoretischen Anhaltspunkte für Bourdieus Konzept des »Habitus«. Die Feldforschung in Algerien mit ihrer fotografischen Dokumentation liefert dazu anschauliches Material. Der Band soll in drei Abschnitte unterteilt werden. Auf der einen Seite fotografische Zeugnisse einer »intakten«, abgeschlossenen Welt der Kabylei, die mit vielerlei visuellen Dokumenten zu den Wohnverhältnissen, den alltäglichen Verrichtungen, der materiellen Ausstattung der Lebenswelt und den dabei beobachteten Menschen aufwarten kann. Dem gegenüber stehen Fotografien aus den durch die Kolonialherrschaft verhängten Umsiedlungslagern in verschiedenen Regionen Algeriens und ihrem Versuch, nicht nur die alten sozialen Ordnungen aufzulösen, sondern die ihnen verhafteten Menschen auch zu »modernisieren«. Hier wird deutlich, dass sich der eingef leischte Habitus 110

nur mit Mühe und in verschiedenen Formen einer Mischung von Rückzug und Anpassung insbesondere bei den Frauen und der Jugend vor nie dagewesene Herausforderungen gestellt sieht. Schließlich die fotografische Dokumentation der einziehenden »Moderne« des Habitats, die Forcierung eines sozialen Wohnungsbaus, der, wie »komfortabel« auch immer, die in ein städtisches Umfeld emigrierten ehemaligen Landbewohner mit Neuerungen konfrontiert, die ihnen »fremd« erscheinen  – f ließend Wasser statt Gang zum Brunnen, Gasherd statt Feuerstelle – und damit vor allem die einstige Kollektivität der Verrichtungen mit all ihren sozialen Konnotationen infrage stellt: Die Sippe weicht dem Haushalt. Auch diese Umbrüche hat Bourdieu fotografisch festgehalten.

Band 2: Geschlechterverhältnisse Ein zweiter Band wird sich mit den Geschlechterverhältnissen im vorkolonialen und kolonialen Algerien beschäftigen. Dazu hat Bourdieu eine Fülle von Fotografien hinterlassen, von der strikten Arbeitsteilung der Geschlechter in der Kabylei über die Irritationen, die in den Umsiedlungslagern an ihren Plätzen »Öffentlichkeit« auslöst (der Gang zum Brunnen etwa, der in der Kabylei den Frauen und Kindern oblag, wird in den Lagern wesentlich zur »Männersache«, weil die Wasserstellen öffentlich zugänglich sind), bis hin zu den städtischen Geschlechterverhältnissen, an deren Abbildung sich zeigt, wie das Kolonialsystem mit eben dieser Öffentlichkeit die Frauen zur Verschleierung zwingt – es gibt hier eine umfangreiche Serie von Fotografien aus Algier oder Blida, die dieses Phänomen ausführlich dokumentieren. Auch hier ist deshalb eine Dreiteilung des fotografischen Materials im kabylischen Kontext, der Irritationen der Geschlechterbeziehungen schon in den Umsiedlungslagern und schließlich den städtischen Verhältnissen mit jeweils entsprechenden Einführungen und Texten angezeigt.

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Band 3: Arbeit und Elend In der umfangreichen Publikation Travail et travailleurs en Algérie konnte Bourdieu aus verlegerischen Gründen nur sieben Fotografien unterbringen, obwohl um die 30 geplant waren. Das uns zur Verfügung stehende Archiv fasst diese Bilddokumente sehr viel weiter. Aufgrund der schwachen Industrialisierung des kolonialen Algerien sind hier zwar kaum Bilder aus »Fabriken« vorhanden, der massive Ausbau des agrarischen Sektors, der vor allem Rebkulturen forcierte, ist mit seiner halb-industriellen Behandlung aber minutiös festgehalten. Dazu kommen Bilder aus dem traditionellen städtischen Handwerk, vor allem aber die fotografische Dokumentation der prekären Verhältnisse des städtischen Subproletariats der Arbeitslosen und Tagelöhner – Arbeit, Arbeitslosigkeit und Elend geben sich hier die Hand. Bourdieu hat gerade die prekäre Situation des städtischen Subproletariats in vielen Bildern festgehalten. Dazu zählen nicht zuletzt »Straßenbilder«, die auf der einen Seite die »Tatenlosigkeit« der Männer ohne Arbeit zeigen, das »Herumsitzen« auf der Straße, auf der anderen Seite die dadurch in Gang gesetzte Zerrüttung der familiären Strukturen, die den Kindern ebenfalls ein Leben auf der Straße zuweist. Diese Dokumente gehören zu den eindrücklichsten Zeugnissen der Entwurzelung, die Bourdieu im kolonialen Algerien zusammengetragen hat.

Band 4: Ungleichzeitigkeiten Der Einbruch der modernen »Zivilisation« in Algerien ist nirgendwo spürbarer als in den Städten. Bourdieu hat den irritierenden Umgang mit den Segnungen der Moderne – Supermärkte wie Monoprix, Messen mit Karussell für die Kinder, in denen schon die damals produzierten Autos nachgebildet sind, Geschäfte mit Spitzenunterwäsche, vor denen verschleierte Frauen stehen, Zeitungsleser, Autos, Motorräder – in einer kaum überschaubaren Reihe von Fotografien festgehalten. Das ungleiche Aufeinandertreffen zweier Kulturen und zweier gelebter »Zeiten« wird hier anschaulich vorgeführt. Insbesondere der vestimentäre Code spielt hier eine entscheidende Rolle. Man sieht, wie in den Städten bei den Männern traditionelle Kleidung und »moderne« Formen koexistieren, wie in manchen Fällen der »Anzug« zum 112

Symbol der Fortschrittlichkeit seines Trägers wird, gleichzeitig aber eine massive Tendenz der weiblichen Bekleidungsformen zur Verschleierung erkennbar wird  – eine vermeintliche »Islamisierung«, die nichts anderes ausdrückt als die Scheu einer traditionellen Geschlechterrolle vor einer »fremden« Öffentlichkeit. Auch wenn es am Ende zu anspruchsvoll klingen mag, sind wir der Überzeugung, dass gerade die einzigartige dialogische Konstellation von Theoriebildung und bildlicher Dokumentation allein schon methodisch unbedingt in den Kanon der Sozialwissenschaften gehört – in einen Kanon, der bis heute zwischen theoretischer Spekulation und einem Glauben an die Aussagekraft von Zahlen gefangen ist. Dies alles ist bei Bourdieu vorhanden: Bilder, Dokumente, Tabellen, Graphiken, Gespräche, eine umfassende Annäherung an soziale Realitäten, die ihr Verständnis erst ermöglicht.

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Stephan Egger

Zum vermeintlichen Paradox einer Fotografie unter Herrschaftsbedingungen Vielleicht am Ende noch ein Wort zur »politischen« Stellung der Fotografie Bourdieus in einem Kontext, der gekennzeichnet war von der Brutalität der französischen Kolonialmacht in Algerien, nicht nur der physischen Gewalt mit mehr oder weniger systematischen Folterungen und Erschießungen, sondern der dann allerdings wirklich systematischen Zerstörung einer eingelebten »Kultur«. Denn es wäre ein fatales Missverständnis, Bourdieu anzulasten, dass er als gebürtiger Franzose diese Herrschaftsverhältnisse für seine ethnografischen Forschungen in irgendeiner Weise »ausgeschlachtet« hätte – die Schlächter standen auf der anderen Seite. Und vielleicht hilft es, in dieser Hinsicht noch einmal an den Werdegang Bourdieus zu erinnern. Geboren und aufgewachsen in einer der abgelegensten Provinzen Frankreichs, eines Frankreichs, dessen elitäres Zentrum seine Gebiete unterhalb der Loire ohnehin nicht als »französisch« adeln wollte, dann als hervorragender Schüler und »Internatsinsasse« ans Gymnasium in Pau gekommen, gehänselt für seinen béarnesichen Zungenschlag, malträtiert von seinen Mitschülern, mit besten Abschlussnoten für den Concours général vorgeschlagen, der ihn schließlich an die Elitehochschule École normale bringt, umgeben von Privilegierten, die auch hier seine Fremdheit bestätigen, nach dem Studium zum Wehrdienst in Frankreich eingezogen, dort aber aufgrund seiner »aufsässigen«, »unbotmäßigen« als eine Art »Strafmaßnahme« ins kriegsgeschüttelte Algerien »versetzt«, wo er sich aufgrund der Fürsprache eines Freundes der Familie in die Abteilung »Dokumentation« des Kriegsministeriums retten kann. Und schon dort beginnt Bourdieu, jene Daten zu »entwenden«, die später in seine Forschungen eingehen werden. 115

Aber das ist noch längst nicht alles. Nach Ende seines Wehrdienstes wird er Dozent an der Universität von Algier, lernt dort algerische Studenten kennen, die ihn später bei seinen Feldforschungen begleiten werden, unter ihnen Salah Bouhedja, allen voran aber Abdelmalek Sayad, mit dem er schon Anfang der 60er-Jahre Le déracinement schreibt, eine Studie über jene Umsiedlungslager, in denen die dörf lichen Gemeinschaften unter militärischen Bedingungen und oft unter katastrophalen Lebensverhältnissen »zerbrochen« werden sollten  – eine Kooperation mit den Kolonialherren sieht gewiss anders aus.1 Doch auch damit nicht genug. Abgesehen von den städtischen Szenen aus Algier oder Blida, die Bourdieu mit scharfem Blick auf das Wesentliche der »Ungleichzeitigkeiten« fotografiert, den Einbruch einer erzwungenen »Moderne« in eine traditionelle Gesellschaft, ein Einbruch übrigens, der mit den vielen Bildern verschleierter Frauen nur dann misszuverstehen ist, wenn man Bourdieus Interpretation nicht kennt, die schon in seinem ersten Buch, Sociologie de l’Algérie, als Antwort auf die kolonialistisch erzwungene »Öffentlichkeit« der Frau und keineswegs als abschätziger Stereotyp islamischer Vorgaben vestimentärer Codes verstanden werden darf, also abgesehen davon: Die Fotografien Bourdieus erfolgen bisweilen aus dem Forschungsprozess heraus, aber nicht zuletzt auch auf den ausdrücklichen Wunsch der Fotografierten  – eine Familie möchte sich zusammen abgebildet sehen, Jugendliche posieren absichtlich vor Bourdieus Kamera, ein Vater bittet Bourdieu eindringlich, die Beschneidung seines Jungen abzulichten. Wer hier die Fotografie im Dienste der Kolonialherren erkennen will, ist blind. Und zuletzt: In eben seiner ersten Publikation, Sociologie de l’Algérie, die in diesem Band in Auszügen vorliegt, spricht Bourdieu ganz unmissverständlich vom alltägli1 | Dass Bourdieu als Franzose durch seine fotografischen Zeugnisse

einen insgeheimen »Pakt« mit dem französischen Kolonialismus geschlossen hätte, wäre in der Tat ein weit hergeholte Interpretation, vgl. zum unvergleichlich kritischen Aspekt seiner algerischen Arbeiten unter vielen nur Nirmal Puwar, Sensing a Post-Colonial Bourdieu: An Introduction, Sociological Review, 57, 2009, 371–384; Kamel Chachoua, Pierre Bourdieu et l’Algérie: Le savant et la politique, Revue du mondes musulmans et de la Méditerrannée, 131, 2012, 1–19; Julian Go, Decolonizing Bourdieu: Colonial and Post-Colonial Theory in Pierre Bourdieu’s Early Work, Sociological Theory, 31, 2013, 49–74; George Steinmetz, The sociology of empires, colonies, and postcolonialism, Annual Review of Sociology, 40, 2014, 77–103.

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chen Rassismus der Kolonialherren und Kolonen gegenüber der einheimischen Bevölkerung, dem Rassismus der dortigen Bevölkerungsgruppen einander gegenüber, der Araber gegenüber den Berbern und den »Negern«, der Berber gegenüber den Arabern, der städtischen gegenüber der ländlichen Bevölkerung und den Nomaden – in einer Zeit, die 60 Jahre hinter uns liegt, ist mehr political correctness kaum vorstellbar und Bourdieu, das zeigen auch seine späteren Studien, in denen oft von »Klassenrassismus« die Rede ist, bewegt sich hier, mindestens, auf der Höhe unserer Zeit.

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Autorinnen und Autoren, Mitwirkende

Pierre Bourdieu gilt als einer der bedeutendsten Sozialwissenschaftler des 20. Jahrhunderts und war zwei Jahrzehnte Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie am Collège de France. Zu seinen bekanntesten Publikationen zählen La distinction und La misère du monde. Stephan Egger (1963–2021) promovierte an der Universität Leipzig, war Research Fellow im Projekt »Visuelle Formen soziologischer Erkenntnis« an der Zeppelin Universität Friedrichshafen und Mitherausgeber der Bourdieu Schrif ten im Suhrkamp Verlag. Er verstarb 2021 kurz vor Drucklegung dieses Bandes, an dem er maßgeblichen Anteil hat. Christine Frisinghelli ist Mitgründerin der seit 1980 erscheinenden Zeitschrift Camera Austria International, bis 2010 deren Chefredakteurin sowie Leiterin des Ausstellungs- und Vermittlungsprogramms von Camera Austria im Kunsthaus Graz. Seit 2001 Kustodin des Fotoarchivs Pierre Bourdieu. Charlotte Hüser arbeitet am Lehrstuhl von Professor Franz Schultheis an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Sie war für die Klassifizierung und Digitalisierung der gesammelten fotografischen Zeugnisse von Pierre Bourdieu zuständig und unterstützt die Publikation der Forschungsergebnisse. Sie studiert Politik-, Verwaltungswissenschaft & Internationale Beziehungen (Master-Studiengang). Akli Kebaili, geboren in der Kabylei, emigrierte 1979 nach Deutschland, promovierte in Politikwissenschaft an der Universität Tübingen und war lange Zeit Migrationsbeauftragter der Stadt Frankfurt. Franz Schultheis ist Senior Professor an der Zeppelin Universität Friedrichshafen und arbeitete lange mit Pierre Bourdieu zusammen. Er ist Präsident der Fondation Bourdieu und Mitherausgeber der Bourdieu Schrif ten im Suhrkamp Verlag. Tassadit Yacine ist Forschungsdirektorin an der Écoles des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS), Mitglied des Laboratoire d’anthropologie sociale und Herausgeberin der Esquisses algériennes, Bourdieus Schriften zu Algerien. 119

Textnachweise Franz Schultheis

Fotografie als Instrument, Methode und Erkenntnisform soziologischer Forschung bei Pierre Bourdieu

Erstveröffentlichung Pierre Bourdieu

Mit dem Objektiv sehen Im Umkreis der Fotografie

Zuerst unter dem Titel »Teilnehmende Objektivierung. Fotografische Zeugnisse einer untergehenden Welt«, in Camera Austria International, 75, 2001, 3–14. Auch in In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung, Graz: Camera Austria, 2003, 23–50. Weiterhin in Voir avec l’objectif: autour de la photographie. Entretien avec Franz Schultheis, in Esquisses algériennes, Paris: Seuil, 2008, 363–374. Auch in Algerische Skizzen, Berlin: Suhrkamp, 2010, 469–486. Stephan Egger

Die Gestalt des Gesellschaftlichen Zu Bourdieus »plastischer« Soziologie Erstveröffentlichung Christine Frisinghelli

Anmerkungen zu den fotografischen Dokumentationen von Pierre Bourdieu Zuerst in Pierre Bourdieu, In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung, Graz: Camera Austria, 2003, 217–230. Gleichzeitig in Pierre Bourdieu, Images d’Algérie. Une af finité élective, Arles: Actes Sud, Graz: Camera Austria, 2003, 203–213. Überarbeitete Fassung 2021 Tassadit Yacine

Algerien – Matrix eines Werks

In L’Algérie, matrice d’une œuvre, in Pierre Encrevé & Rose-Marie Lagrave (dir.), Travailler avec Bourdieu, Paris: Flammarion, 2003, 333–345. Deutsche Erstveröffentlichung Übersetzung Stephan Egger 121

Akli Kebaili

Heimat und Fremdheit Eine Zeugenschaft

In Akli Kebaili, Ein Stück Kabylei in Deutschland. Gedanken über Heimat und Migration, Mainz: Kinzelbach, 2011, 99–112. Mit freundlicher Genehmigung Pierre Bourdieu

Für Abdelmalek Sayad

Annuaire de l’Afrique du Nord, 23, 1998, 9–13. Auch in Esquisses algériennes, Paris: Seuil, 2008, 357–362. Zuerst deutsch in Algerische Skizzen, Berlin: Suhrkamp, 2010, 461–468. Mit freundlicher Genehmigung Franz Schultheis und Christine Frisinghelli

Orte und Geschichten Das Fotoarchiv

Erstveröffentlichung Stephan Egger

Zum vermeintlichen Paradox einer Fotografie unter Herrschaftsbedingungen Erstveröffentlichung

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Bildnachweise Das Fotoarchiv Pierre Bourdieu wird seit 2001 von Camera Austria, Labor für Fotografie und Theorie in Graz sowie der Fondation Bourdieu betreut. Das Copyright für die Fotografien und Notizen zu den Forschungen Bourdieus in Algerien (1957–1961) hält die Stiftung Pierre Bourdieu. Die Bildtitel, Aufnahmedaten, Ortsangaben und Negativ-Nummern wurden von Pierre Bourdieus übernommen. Im Zuge der Sicherung und Bearbeitung des Archivs wurden diese Daten mit Verweisen darauf ergänzt, ob im Archiv ein Originalabzug mit einem Negativ (N_P), ausschließlich ein Negativ (N) oder einzig ein Originalabzug (R) ohne Negativ vorhanden ist. Das seit 2019 vollständig digitalisierte Archiv umfasst derzeit etwas über 1.200 Objekte. Für diesen Band sind knapp 300 Fotos verwendet worden. Die Bildnachweise beziehen sich auf die bei der Camera Austria registrierten Daten. Die Bilder, Graphiken und Fragebögen im Beitrag »Gesichter des Gesellschaftlichen« stammen aus verschiedenen Publikationen Bourdieus, die jeweils angegeben sind.

Vorwort Seite 11 Seite 13

N_005_3 Andrea Rapini, aus: In Algeria, Imagini dello sradicamento, Rom: Carocci, 2012

Fotografie als Instrument, Methode und Erkenntnisform soziologischer Forschung bei Pierre Bourdieu Seite 15 Seite 16

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N_01N_6_2013_Aïn Aghbel (Collo) N_02N_6_2010_Aïn Aghbel (Collo) N_02N_4_2012_Aïn Aghbel (Collo) N_02N_026_2009_Aïn Aghbel (Collo) N_02N_025_2002 A_00A_002b_Aïn Aghbel (Collo) N_126_7 R_038_Ferkane. Olivenöl Herstellung R_039_Ferkane. Olivenöl Herstellung R_037_Rückkehr zum Brunnen (Kabylei) 123

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N_077_664 N_086_770_P_Cheraïa N_021_2006 N_030_P_Djebabra N_006_5_P N_008_5 N_031_1_P_Djebabra A_001_f_Ain Aghbel (Collo) N_111_661_P N_008_2_Cheraïa N_008_6_Cheraïa N_048_262_Sulfatierung der Weinstöcke, Ebene von Mitidja N_026_264_Sulfatierung der Weinstöcke, Ebene von Mitidja N_029_3_Djebabra, Umsiedlungslager N_029_8_Djebabra, Umsiedlungslager N_029_2_Djebabra, Umsiedlungslager N_029_6_P_Djebabra, Umsiedlungslager N_005_6_Oued Foundouk N_003_5_Oued Foundouk N_003_1_Oued Foundouk N_003_7_P_Oued Foundouk N_012_3 N_083_707 N_048_281_P_Orléansville N_050_251_P N_007_1_L N_008_3_L L_015_Béarn L_016_Béarn A_013_Aïn Aghbel (Collo) N_088_787_Aïn Aghbel (Collo) A_015_Aïn Aghbel (Collo) N_088_788_Aïn Aghbel (Collo) N_009_7_P_Djebabra A_006_Aïn Aghbel (Collo) N_086_773_Beschneidung, Aïn Aghbel (Collo) N_086_774_P_Beschneidung, Aïn Aghbel (Collo) N_014_2_P N_037_169_P_Beni Messous N_034_148 N_080_689 N_106_383_Sulfatierung der Weinstöcke, Ebene von Mitidja N_106_380_Sulfatierung der Weinstöcke, Ebene von Mitidja N_106_381_Sulfatierung der Weinstöcke, Ebene von Mitidja N_107_392_Sulfatierung der Weinstöcke, Ebene von Mitidja

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N_073_629_P_Muslimischer Friedhof N_072_622_Muslimischer Friedhof N_011_79_Muslimischer Friedhof N_011_4_Muslimischer Friedhof N_007_7_L_Béarn N_007_3_L_Béarn F_LBDC _9 F_LBDC _8 R_098_Kabylisches Dorf R_099_Bouzina (Aurès) R_102_Beni-Zmenzer R_096_Teniet el Abe (Aurès) N_035_153 N_035_155 N_035_154 N_035_158 A_004e_Aïn Aghbel (Collo) A_004a_Aïn Aghbel (Collo) N_031_6_Djebabra N_031_2_Djebabra N_092_807_P_Aïn Aghbel (Collo) N_095_829 N_095_830 N_093_817_Aïn Aghbel (Collo) N_008_1 N_003_P_Djebabra N_018_459 N_113_5 N_018_458_P_Castlilone N_018_601 N_074_632 N_073_629 N_123_3 N_123_4 N_131_5 N_114_2 N_046_431 N_046_435 N_130_3 N_035_159 R_001 N_099_315 N_09_318 R_004_Algier, Place du Gouvernement (Regierungsplatz) N_016_2019_Aïn Aghbel (Collo) N_016_2020_Aïn Aghbel (Collo) 125

Mit dem Objektiv sehen: Im Umkreis der Photographie Seite 46 Seite 49 Seite 53 Seite 55 Seite 58

N_027_2 N_031_4_P_Aïn Aghbel (Collo) N_084_716 N_003_3_P N_023_599 N_033_01 N_070_586_Blida N_058_489_Algier, Parc Mont-Riant N_064_538 N_061_518

Die Gestalt des Gesellschaftlichen: Zu Bourdieus »plastischer« Soziologie Die folgenden Fotografien sind zuerst enthalten in Pierre Bourdieu & Monique de Saint Martin, Anatomie du goût, Actes de la Recherches en Sciences Sociales 5, 1976, 2–81. Seite 61

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Anatomie du goût, 2 Anatomie du goût, 2 Anatomie du goût, 3 Anatomie du goût, 3 Anatomie du goût, 35 Anatomie du goût, 36 Anatomie du goût, 34 Anatomie du goût, 54 Grundriss eines Dorf hauses (Béarn) Pierre Bourdieu, Le bal des célibataires. Crise de la société paysanne en Béarn, Paris: Seuil, 2002, 91; Junggesellenball, Studien zum Niedergang der bäuerlichen Gesellschaft, Konstanz: UVK, 2008, 87. Verteilung auswärtiger Eheschließungen (Béarn) Le bal des célibataires, 80–81; Junggesellenball, 78. Interview mit einem Dorf bewohner, Pierre Bourdieu, Le bal des célibataires, Paris: Seuil, 2002, 157f; Junggesellenball, Konstanz: UVK, 2008, 146. Fragebogen Museumsbesuch, Pierre Bourdieu & Alain Darbel, L’amour de l’art, Paris: Minuit, 1969, 2. Auf l., 174; Die Liebe zur Kunst, Konstanz, UVK, 2006, 173. Entwicklung der Studentinnenzahlen in Paris und der Provinz, Pierre Bourdieu & Jean-Claude Passeron, Les héritiers, Paris: Minuit, 1964, 123; Die Erben, Konstanz: UVK, 2007, 113.

Anmerkungen zu den fotografischen Dokumentationen von Pierre Bourdieu Seite 67 Seite 68

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N_076_652 N_076_653_P N_078_668 N_078_669 N_035_156 N_035_157 N_069_582_Blida, April 1960 N_069_581_Blida, April 1960 N_070_587_Blida, April 1960 N_069_584_Blida, April 1960 N_104_369 N_105_371 N_105_372 N_049_254_Blida N_067_566_Blida N_067_568_Blida N_067_570_Blida N_012_2_Blida N_067_567_Blida N_067_563_Blida N_068_572_Blida

Algerien – Matrix eines Werks Seite 75 Seite 76

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N_024_2011_Aïn Aghbel (Collo) N_025_2008_Aïn Aghbel (Collo) N_016_212_Aïn Aghbel (Collo) N_087_780_P_Aïn Aghbel (Collo), Umsiedlungslager N_082_704_Aïn Aghbel (Collo), Umsiedlungslager N_082_705_Aïn Aghbel (Collo), Umsiedlungslager N_015_731 N_025_726 N_084_717 N_025_735_Cheraïa, Umsiedlungslager N_004_6 N_115_1 N_107_396 A_008_Aïn Aghbel (Collo) R_046 R_047 R_048 R_67_Taouirt Amokane (Kabylei)

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Die folgenden Graphiken wurden an der École Pratique des Hautes Études (EPHE) erstellt und finden sich zuerst in Pierre Bourdieu & Abdelmalek Sayad, Paysans déracinés, Études rurales 12, 1964, 56–94, dann in Bourdieu & Sayad, Le Déracinement. La crise de l’agriculture traditionelle en Algérie, Paris: Minuit, 1964. Seite 80 Seite 81

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Umsiedlungslager Djebabra, 128 Umsiedlungslager Matmata, 28 Umsiedlungslager Kerkera, 135 N_022_741 N_084_716 N_113_3 N_030_2_Djebabra N_092_811_Aïn Aghbel (Collo), Brunnen N_092_809_Aïn Aghbel (Collo), Brunnen N_094_822_P_Aïn Aghbel (Collo), Brunnen N_092_810_Aïn Aghbel (Collo), Brunnen N_006_4 N_006_8 N_087_778 N_087_779 A_001d_Aïn Aghbel (Collo) A_001e_Aïn Aghbel (Collo) A_003d_Aïn Aghbel (Collo) A_003e_Aïn Aghbel (Collo) R_008 R_012 R_014 N_039_188_Algier, Bab el Oued, Bettler

Die folgenden Fotografien stammen aus Pierre Bourdieu et al., Travail et travailleurs en Algérie, Paris & Den Haag: Mouton, 1963, ohne Seitenangaben mit römischen Ziffern. Bourdieus dort enthaltene Étude sociologique jetzt in einer aktualisierten Fassung, Paris: Raisons d‘agir, 2021 [Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe]. Seite 87

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II. Bauer ohne Land [105] VII. Schuhmacher der Kasbah von Algier V. Schaufel und Pickel [183]

Heimat und Fremdheit – Eine Zeugenschaft Seite 89

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N_032_001 N_032_003 A_005_Aïn Aghbel (Collo) A_009_Aïn Aghbel (Collo) N_047_287 N_047_288 N_008_5 N_089_795 R_071 N_015_730 R_103_Beni Zmenzer (Kabylei) N_027_1 R_069 R_070 R_066_Zemmorah (Kabylei) R_095_Teniet El Abed (Aurès) R_094_Chir (Aurès) R_097_Guelaâ (Aurès) R_068_Beni Zmenzer (Kabylei) R_087 R_105_Beni-Zmenzer (Kabylei) R_056_Beni-Zmenzer (Kabylei), Kabylisches Haus von innen R_104_Beni-Zmenzer (Kabylei) N_123_6_Makouda (Kabylei) N_029_5 R_020_Erdbeben vom 21.2.60, Region von Malouza, Beni Ilman R_040_Schulklasse im Umsidlungslager Sidi-Ghalem N_123_8_Makouda (Kabylei) R_085_Koranschule von Aïn Tolba N_124_5 N_124_1 N_110_424 N_109_410 N_108_409 N_014_6 N_089_832 (in der Mitte mit weißem Hemd: Abdelmalek Sayad)

Für Abdelmalek Sayad Seite 103 N_095_831 (rechts: Abdelmalek Sayad) Seite 105 N_028_3 Collo (in der Mitte mit Pfeife: Abdelmalek Sayad)

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Orte und Geschichten – Das Fotoarchiv Seite 107 Ausstellungsankündigung Graz Ausstellungsankündigung Algier & Paris Seite 108 Ausstellungsankündigung Konstanz Ausstellungsankündigung Lyon Ausstellungsankündigung Tokyo Seite 109 Ausstellungsankündigung London N_021_2001 N_016_2018_Aïn Aghbel (Collo) Seite 110 N_127_7 N_092_808 N_015_732 N_046_434 Seite 111 N_022_266_P N_089_794_Messung des Korns, Matmatas N_090_839_P_Palestro Seite 112 N_105_378_Sulfatierung der Weinstöcke, Ebene von Mitidja N_024_465_P_Blida N_128_3 Seite 113 N_059_500_P_Blida N_107_393_P

Zum vermeintlichen Paradox einer Fotografie unter Herrschaftsbedingungen Seite 115 N_094_328 N_091_800 N_093_818_Aïn Aghbel (Collo) Seite 116 A_010_Aïn Aghbel (Collo) N_050_244 N_100_326 Seite 117 N_037_170

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In Algerien Eine erste Annäherung an Bourdieus Fotografie Das vorliegende Publikationsprojekt nimmt Ausgang von der Veröffentlichung des mit Texten Bourdieus versehenen Fotobandes In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung. Dieses Buch erschien 2003 gleichzeitig in Französisch und wurde dann in fünf weitere Sprachen – Englisch, Spanisch, Italienisch, Griechisch und Arabisch – übersetzt. Allerdings stützte sich diese Publikation auf eine deutlich kleinere Auswahl von Fotografien, die zudem noch nicht systematisch mit den schriftlichen Feldstudien Bourdieus in Dialog gebracht wurden und deshalb nur ansatzweise in ihrer Rolle als visuelle soziologische Erkenntnismittel rekonstruiert und gewürdigt werden konnten.

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PIERRE BOURDIEU

VISUELLE FORMEN SOZIOLOGISCHER ERKENNTNIS eine buchserie in fünf bänden Franz Schultheis, Stephan Egger (Hg.) Unter Mitarbeit von Charlotte Hüser

Pierre Bourdieu und die Fotografie Visuelle Formen soziologischer Erkenntnis. Eine Rekonstruktion November 2021, 136 Seiten, kart., 256 SW-Abb., 29,00 € (D/A), ISBN 978-3-8376-5873-6, E-Book: 25,99 € (D/A) Pierre Bourdieu

Habitat und Habitus Visuelle Formen soziologischer Erkenntnis, Band 1 November 2021, ca. 250 Seiten, kart., ca. 150 SW-Abb., ca. 39,00 € (D/A), ISBN 978-3-8376-5874-3, E-Book: ca. 38,99 € (D/A)

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Geschlechterverhältnisse Visuelle Formen soziologischer Erkenntnis, Band 2 März 2022, ca. 250 Seiten, kart., ca. 100 SW-Abb., ca. 39,00 € (D/A), ISBN 978-3-8376-5875-0, E-Book: ca. 38,99 € (D/A)

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Arbeit und Elend Visuelle Formen soziologischer Erkenntnis, Band 3 August 2022, ca. 200 Seiten, kart., ca. 100 SW-Abb., ca. 39,00 € (D/A), ISBN 978-3-8376-5876-7, E-Book: ca. 38,99 € (D/A)

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Ungleichzeitigkeiten Visuelle Formen soziologischer Erkenntnis, Band 4 März 2023, ca. 300 Seiten, kart., ca. 200 SW-Abb., ca. 39,00 € (D/A), ISBN 978-3-8376-5877-4, E-Book: ca. 38,99 € (D/A)

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Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018 2019, 246 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4474-6

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