Physiologie : zahlreiche Tabellen [5., komplett überarb. Aufl] 9783137960058, 3137960053

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Physiologie : zahlreiche Tabellen [5., komplett überarb. Aufl]
 9783137960058, 3137960053

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Physiologie Herausgegeben von Rainer Klinke, Hans-Christian Pape und Stefan Silbernagl Mit Beiträgen von Christian Bauer Bernhard Brenner Gerrit ten Bruggencate Norbert Dieringer Andreas Draguhn Heimo Ehmke Ulf Eysel Peter Gaehtgens Michael Gekle Rainer Greger Hanns-Christian Gunga Claus Jessen Andreas Karschin Malte Kelm Karl Kirsch

Rainer Klinke Christoph Korbmacher Wolfgang Kuschinsky Karl Messlinger Hans Oberleithner Hans-Christian Pape Peter Scheid Jürgen Schrader Hobe Schröder Horst Seller Stefan Silbernagl Dominique Singer Karlheinz Voigt Barbara Walzog

Illustrationen von Rüdiger Gay und Astried Rothenburger 5., komplett überarbeitete Auflage über 700 farbige Abbildungen sowie zahlreiche Tabellen

Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! R. Klinke, H-C. Pape, St. Silbernagl: Physiologie (ISBN 3-13-796005-3) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2005

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Illustrationen und Umschlaggrafik: Atelier Gay + Rothenburger, Sternenfels

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

1. Auflage 1994 2. Auflage 1996/2000 3. Auflage 2001 4. Auflage 2003 1. italienische Auflage 1999 1. russische Auflage nach der 4. dt. Aufl. 2004

Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handele. Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 1994, 2005 Georg Thieme Verlag KG Rüdigerstraße 14 D-70469 Stuttgart Unsere Homepage: http://www.thieme.de Printed in Germany Umschlaggestaltung: Thieme Verlagsgruppe Satz: Ziegler + Müller, 72138 Kirchentellinsfurt Satzsystem: 3B2 (Version 7.51) Druck: Appl, Wemding ISBN 3-13-796005-3

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3

4

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Wichtiger Hinweis: Wie jede andere Wissenschaft ist die Medizin ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere was Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in diesem Werk eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autoren, Herausgeber und Verlag große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. Jeder Benutzer ist angehalten, durch sorgfältige Prüfung der Beipackzettel der verwendeten Präparate und gegebenenfalls nach Konsultation eines Spezialisten festzustellen, ob die dort gegebene Empfehlung für Dosierungen oder die Beachtung von Kontraindikationen gegenüber der Angabe in diesem Buch abweicht. Eine solche Prüfung ist besonders wichtig bei selten verwendeten Präparaten oder solchen, die neu auf den Markt gebracht worden sind. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers. Autoren und Verlag appellieren an jeden Benutzer, ihm etwa auffallende Ungenauigkeiten dem Verlag mitzuteilen.

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Vorwort zur 5. Auflage

Wandel allenthalben: Die Approbationsordnung für Ärzte definiert neue Ausbildungsziele, und in der Autorenschaft steht ein Generationswechsel an. Die vorliegende 5. Auflage unseres Lehrbuches will diese beiden Aufgaben lösen. Ein Teil unserer bisherigen Autoren hat sich aus Altersgründen aus der Mitarbeit zurückgezogen. Stattdessen konnten jüngere profilierte Kollegen zur Mitarbeit gewonnen werden. Unseren ausgeschiedenen Mitautoren danken wir nochmals ganz herzlich für ihre langjährige Kooperation. Die schon bisher von uns gepflegte Orientierung des Stoffangebotes auf klinische Anwendbarkeit wurde, im Sinne der neuen Approbationsordnung, weiter verstärkt. Dezente blaue Markierungen im Text weisen auf klinische Bezüge hin, ohne den Lesefluss zu stören oder den Leser abzulenken. Bewährtes haben wir beibehalten, so etwa die prägnanten Einführungen, die die jeweiligen Abschnitte vorstellen, ohne durch Details zu verwirren. Die Texte berücksichtigen in allen Kapiteln die aktuellen Erkenntnisse und bieten so jungen Studentinnen und Studenten Grundlagen für funktionelles Denken und ärztliches Handeln. Bei alldem haben wir uns wieder um eine klare Darstellung bemüht, gepaart mit übersichtlichen und informativen Abbildungen.

Hierfür danken wir insbesondere unseren Grafikern, Frau Astried Rothenburger und Herrn Rüdiger Gay, die unsere didaktischen Ziele kenntnisreich mitverfolgt haben. Der Verlag hat das Buch wiederum mit Entgegenkommen und Tatkraft gefördert. Hier gilt unser Dank vor allem Frau Marianne Mauch, Frau Simone Profittlich und Herrn Manfred Lehnert. Für den zuverlässigen Satz danken wir Frau Annette Ziegler, für die sorgfältige Erstellung des Registers Frau Katharina Völker. Damit übergeben wir das Werk unseren Leserinnen und Lesern und wünschen ihnen Freude und Erfolg in Studium und Beruf. Rainer Klinke, Hans-Christian Pape und Stefan Silbernagl Frankfurt am Main, Münster und Würzburg, im August 2005

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Anschriften

Bauer, C., Prof. Dr. Physiologisches Institut der Universität Zürich Winterthurer Strasse 190 CH-8057 Zürich Brenner, B., Prof. Dr. Abt. Molekular- und Zellphysiologie Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Straße 1 30625 Hannover ten Bruggencate, G., Prof. Dr. vormals: Physiologisches Institut der LMU München Pforzheimer Straße 40 13469 Berlin Dieringer, N., Prof. Dr. Physiologisches Institut der LMU München Pettenkoferstraße 12 80336 München Draguhn, A., Prof. Dr. Institut für Physiologie und Pathophysiologie der Universität Heidelberg Im Neuenheimer Feld 326 69120 Heidelberg Ehmke, H., Prof. Dr. Institut für Vegetative Physiologie und Pathophysiologie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf Martinistraße 52 20246 Hamburg Eysel, U., Prof. Dr. Institut für Physiologie der Ruhr-Universität Bochum Universitätsstraße 150 44780 Bochum Gaehtgens, P., Prof. Dr. Institut für Physiologie der FU Berlin Arnimallee 22 14195 Berlin Gekle, M., Prof. Dr. Physiologisches Institut der Universität Würzburg Röntgenring 9 97070 Würzburg Greger, R., Prof. Dr. vormals: Physiologisches Institut II der Universität Freiburg/Brsg. Im Bremmengässle 3 79423 Heitersheim

Gunga, H.-C., Prof. Dr. Institut für Physiologie, Zentrum für Weltraummedizin, Charité, Campus Benjamin Franklin Arnimallee 22 14195 Berlin Jessen, C., Prof. Dr. vormals: Physiologisches Institut der Universität Gießen Redwitzstraße 5a 96191 Viereth-Trunstadt Karschin, A., Prof. Dr. Physiologisches Institut der Universität Würzburg Röntgenring 9 97070 Würzburg Kelm, M., Prof. Dr. Medizinische Klinik der Universität Düsseldorf Moorenstraße 5 40225 Düsseldorf Kirsch, K., Prof. Dr. Institut für Physiologie der FU Berlin Arnimallee 22 14195 Berlin Klinke, R., Prof. Dr. Physiologisches Institut II der Universität Frankfurt Theodor-Stern-Kai 7 60590 Frankfurt Korbmacher, C., Prof. Dr. Institut für Zelluläre und Molekulare Physiologie der Universität Erlangen/Nürnberg Waldstraße 6 91054 Erlangen Kuschinsky, W., Prof. Dr. Institut für Physiologie und Pathophysiologie der Universität Heidelberg Im Neuenheimer Feld 326 69120 Heidelberg Messlinger, K., Prof. Dr. Institut für Physiologie und Exp. Pathophysiologie der Universität Erlangen/Nürnberg Universitätsstraße 17 91054 Erlangen

Oberleithner, H., Prof. Dr. Institut für Physiologie II der Universität Münster Robert-Koch-Straße 27a 48149 Münster Pape, H.-C., Prof. Dr. Institut für Physiologie I der Universität Münster Robert-Koch-Straße 27a 48149 Münster Scheid, P., Prof. Dr. vormals: Institut für Physiologie Ruhr-Universität Bochum In der Russbreite 10 37077 Göttingen Schrader, J., Prof. Dr. Institut für Herz- und Kreislaufphysiologie der Universität Düsseldorf Universitätsstraße 1 40225 Düsseldorf Schröder, H., Prof. Dr. Klinik für Geburtshilfe, Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf Martinistraße 52 20246 Hamburg Seller, H., Prof. Dr. Institut für Physiologie und Pathophysiologie der Universität Heidelberg Im Neuenheimer Feld 326 69120 Heidelberg Silbernagl, S., Prof. Dr. Physiologisches Institut der Universität Würzburg Röntgenring 9 97070 Würzburg Singer, D., PD Dr. Kinder- u. Poliklinik der Universität Würzburg Josef-Schneider-Straße 2 97080 Würzburg Voigt, K., Prof. Dr. Physiologisches Institut der Universität Marburg Deutschhausstraße 2 35033 Marburg Walzog, B., Prof. Dr. Physiologisches Institut der LMU München Schillerstraße 44 80336 München

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Die Herausgeber Rainer Klinke

1936 in Schlesien geboren, nach dem Krieg in Franken aufgewachsen, verheiratet, zwei Kinder. Studium der Medizin in Erlangen, Wien und Heidelberg. Nach der Medizinalassistentenzeit, dem späteren AiP, wissenschaftliche Tätigkeit an den Physiologischen Instituten in Erlangen und an der FU Berlin; dort Habilitation und 1971 Ernennung zum Professor. Forschungsaufenthalt in England, 1977 Berufung nach Frankfurt/M. Leiter des Physiologischen Institutes II, langjähriger Geschäftsführender Direktor des Zentrums der Physiologie, Gründungsmitglied und Sprecher der abgeschlossenen Sonderforschungsbereiche 45 „Vergleichende Neurobiologie des Verhaltens“ und 269 „Molekulare und zelluläre Grundlagen neuronaler Organisationsprozesse“. Mitherausgeber mehrerer Fachzeitschriften, seit 1972 Mitarbeiter an den wichtigsten deutschsprachigen Lehrbüchern der Physiologie. Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Fachgesellschaften, Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Hals-NasenOhrenheilkunde, ausgezeichnet mit der Purkyneˇ-Medaille der Tschechischen Akademie der Wissenschaften. Seit Sommersemester 2004 emeritiert. Bei Studienantritt war ich mir über mein Berufsziel keineswegs im Klaren. Die Medizin bietet vieles, so in der Physiologie ein Betätigungsfeld für biologisch Interessierte. Die Erforschung von Körperfunktionen bringt Erkenntnisse über viele Grundeigenschaften des Lebens. Mich hat über Jahre insbesondere die Funktion des Ohres und die zentralnervöse Verarbeitung von Schallsignalen gefesselt, beruht doch auf Sprache und Gehör die zwischenmenschliche Kommunikation und damit unsere Kultur. So war es mir auch ein Anliegen, ein kultiviertes und ästhetisch ansprechendes Lehrbuch zu schaffen, das meine Erfahrungen als Hochschullehrer und Lehrbuchautor zusammenfasst, das sich einer klaren Sprache bedient und das der Leserin und dem Leser die Überzeugung vermittelt, dass man die Physiologie „packen“ kann und dass deren Verständnis die Grundlage ärztlichen Handelns ist.

Hans-Christian Pape

In Bad Oeynhausen geboren (1956) und aufgewachsen. Nach Studium der Biologie an der Ruhr-Universität Bochum Wechsel an die Medizinische Fakultät der Universität Essen und Promotion. Forschungstätigkeit an der State University of New York (Stony Brook), der Stanford University und der Yale University. 1989 Rückkehr an die Ruhr-Universität Bochum, dort Habilitation im Fach Physiologie. Berufung (1994) zum Direktor des Physiologischen Instituts der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, dort Sprecher des Sonderforschungsbereichs 426 „Limbische Strukturen und Funktionen“ und Gründungsmitglied des Hauptstudiengangs „Neurobiologie/Neurowissenschaften“ der Medizinischen und der Naturwissenschaftlichen Fakultät. Seit 2004 Direktor des Instituts für Physiologie I (Neurophysiologie) der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Lokaler Koordinator des transregionalen SFB „Mesiale Temporallappen-Epilepsie“. 1990 Bennigsen-Foerder-Preis Nordrhein-Westfalen, 1993 Heisenberg-Stipendium und 1999 Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Förderpreis der DFG. Senator der DFG (1999 – 2005). Sehr gut erinnere ich mich, dass ich als Schüler ein unbändiges Interesse an den Naturwissenschaften – insbesondere an den Grundlagen des Lebendigen – entwickelte, und dass diese Begeisterung – weil zu oft mit der Vernachlässigung anderer Fächer verbunden – nicht immer auch auf eine Begeisterung seitens der Lehrerschaft stieß. Im Studium zogen mich die Neurowissenschaften, und hier vor allem die Fragen zu höheren Hirnfunktionen, in ihren Bann. Wo besser ließ sich dieses Interesse umsetzen als in der Physiologie, in der die naturwissenschaftliche Analyse in medizinischen Fragestellungen zur Anwendung kommt und damit die traditionellen Grenzen der Fachgebiete aufgebrochen werden. Ich denke, nur durch dieses Miteinander der Disziplinen ist der menschliche Organismus zu begreifen, sind neue Formen der Diagnose und Therapie zu entwickeln, und die Diskussion von Gehirn und Geist sinnvoll zu führen. Ein erstes Verständnis für diese moderne, ebenenübergreifende Physiologie muss in klarer Sprache und übersichtlichen Illustrationen vermittelt werden – und genau das ist der Inhalt dieses Buchs.

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Die Herausgeber

Stefan Silbernagl

1939 in Berlin geboren, aufgewachsen im Allgäu. Studium der Elektrotechnik und dann der Medizin in München. Staatsexamen, Promotion, Heirat, Medizinalassistentenzeit, dann Haus- und Notarzt in München. Seit 1968 Physiologieausbildung in München, danach in Innsbruck, dort 1974 Habilitation und 1979 a. o. Professor. 1976 Geburt eines Sohnes (radfahrend auf S. 9 zu sehen). Berufung nach Würzburg, dort Vorstand am Physiologischen Institut (1981 – 2004), Dekan (1987 – 1989, 2002 – 2004) und Studiendekan (1996 – 2002) der Medizinischen Fakultät. Mitglied der Gründungskommission der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität Dresden (1991 – 1994) und Sprecher des DFG-Sonderforschungsbereiches 176 „Molekulare Grundlagen der Signalübertragung und des Stofftransportes in Membranen“ (1988 – 1999) in Würzburg. Beides, mein naturwissenschaftlich-technisches Interesse und meine Neigung zur Medizin, ließ sich in der Physiologie vereinen. Themen meiner wissenschaftlichen Arbeit in Würzburg und bei regelmäßigen Forschungsaufenthalten in den USA sind vor allem die Nierenfunktion, insbesondere der tubuläre Transport, der renale Stoffwechsel und die Pathomechanismen der Nephrotoxizität, sowie die Epithel- und Zellphysiologie. Meine langjährigen Erfahrungen aus dem studentischen Unterricht sind in die Lehrbücher eingeflossen, in denen ich (mithilfe kompetenter Zeichner) versuche, die Körperfunktionen nicht nur möglichst klar zu beschreiben, sondern sie auch bildlich darzustellen. Ich möchte physiologische Vorgänge trotz all ihrer Komplexität eindeutiger und vor allem einprägsamer und damit merkbarer machen. Als einer, dem „erschaubare“ Kunst wie Malerei und Architektur sehr nahe liegt und der gerne selbst künstlerisch photographiert, schließe ich dabei ein wenig von mir auf andere.

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IX

Inhaltsverzeichnis 1 Wer liest schon Einleitungen? S. Silbernagl 1.1 1.2 1.3

2

2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8

3.2 3.3

4

Gestörte Zell-Zell-Interaktionen sind ein typisches Merkmal maligner Tumoren Zellverbände ··· 54 Kommunikation benachbarter Zellverbände ··· 60

Membranpotenzial A. Karschin und R. Greger 4.1 4.2 4.3 4.4

5

Erregungsübertragung in Zellverbänden R. Klinke

···

79

5.1

· ··

Ärztliches und missbräuchliches Wirken an den Synapsen · ·· 80 5.2 Grundfunktionen der Synapsen · · · 80 5.3 Elektrische Synapsen · · · 80 5.4 Chemische Synapsen · ·· 81 5.5 Transmitterfreisetzung · ·· 82 5.6 Transmitterwirkung · ·· 85 5.7 Beendigung synaptischer Prozesse ··· 90 5.8 Transmittersynthese · · · 91 5.9 Pharmakologie cholinerger Synapsen ··· 92 5.10 Weitere Transmittersubstanzen · · · 92 5.11 Präsynaptische Bahnung und Hemmung ··· 98

13

Die zelluläre und molekulare Physiologie hilft Krankheitsmechanismen zu verstehen ··· 14 Subzelluläre Komponenten · · · 15 Transportwege durch die Zellmembran · ·· 21 Ionale Zusammensetzung von Intra- und Extrazellulärflüssigkeit · · · 32 Homöostatische Mechanismen ··· 34 Hormone und Mechanismen der Signaltransduktion · ·· 35 Zelluläre Motilität ··· 41 Altern und Zelltod ··· 45

3 Von der Zelle zum Organ C. Korbmacher und R. Greger 3.1

1

Physiologie: Funktion des Lebendigen ··· 2 Woher weiß man, was in diesem Buch steht? · · · 2 Ob Zelle oder Organismus: ein offenes System mit innerem Milieu ··· 7

Die Zelle als Grundbaustein C. Korbmacher und R. Greger mit Beiträgen von B. Brenner und S. Silbernagl 2.1

···

6

Muskulatur R. Brenner 6.1 6.2 6.3 6.4

···

53

···

54

7

7.2 7.3

···

63

Der Zusammenbruch des Membranpotenzials ist lebensbedrohlich · · · 64 Wozu ein Membranpotenzial? · · · 64 Das Ruhemembranpotenzial ··· 64 Aktionspotenziale · ·· 67

7.4 7.5 7.6 7.7 7.8 7.9 7.10 7.11 7.12

101

···

137

Ein mutiertes Muskelprotein und seine fatalen Folgen · ·· 102 Skelettmuskel ··· 102 Glatte Muskulatur ··· 122 Herzmuskel · ·· 130

Das Herz J. Schrader und M. Kelm 7.1

···

Klinische Bedeutung und Systematik von Herzerkrankungen · ·· 138 Bedeutung des Herzens für den Kreislauf ··· 138 Druck-Volumen-Veränderungen während des Herzzyklus ··· 139 Regulation der Koronardurchblutung · · · 143 Beziehungen zwischen Energiestoffwechsel und Herzfunktion · · · 147 Elektrophysiologische Grundlagen · · · 149 Elektromechanische Koppelung ··· 153 Regulation der Pumpleistung des Herzens · ·· 155 Erregungsausbreitung am Herzen · · · 161 Grundlagen der Elektrokardiographie ··· 163 Aussagemöglichkeiten des EKG · ·· 169 Molekulare Ursachen von Herz-Kreislauferkrankungen · ·· 172

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X

Inhaltsverzeichnis

8

Das Kreislaufsystem P. Gaehtgens und H. Ehmke 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5

8.6 8.7 8.8

···

175

Funktion des Kreislaufsystems. Eine Übersicht · ·· 176 Das geschlossene Gefäßsystem und seine Funktionselemente ··· 178 Ohm, Poiseuille, Newton: drei wichtige Gesetze für die Blutströmung · ·· 184 Stofftransport in Austauschgefäßen · ·· 193 Kreislaufregulation: zentrale Steuerung, Verbraucherkontrolle und langfristige Adaptation ··· 198 Kreislauffunktion unter Belastung: der Härtetest ··· 208 Der Lungenkreislauf ··· 215 Kreislauffunktion und Lebensalter ··· 218

11 Säure-Basen-Gleichgewicht P. Scheid 11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 11.6 11.7

11.8 11.9

9

Blut: Ein flüssiges Organsystem C. Bauer und B. Walzog 9.1

9.2 9.3 9.4 9.5

10.10 10.11 10.12 10.13

223

···

255

Einleitung und Überblick · · · 256 Physik der Gase · ·· 259 Lungenvolumina und Atemvolumina ··· 261 Atemmechanik · ·· 262 Perfusion der Lunge · ·· 274 Ventilation, Perfusion und Gasaustausch ··· 276 Atemgastransport im Blut ··· 282 Diffusion durch die Alveolarmembran · ·· 289 Verteilung von Ventilation und Perfusion ··· 290 Blutgase: Normalwerte und Störungen · · · 294 Atmungsregulation · · · 296 Gewebeatmung ··· 301 Atmung unter ungewöhnlichen Bedingungen ··· 305

311

Einleitung und Überblick · · · 312 Chemische Pufferung ··· 312 Die Besonderheiten des Bicarbonatpuffers · · · 314 Bilanz von Säuren und Basen im Organismus · ·· 316 Blut als Indikator für den Säure-Basen-Status des Organismus · ·· 318 Diagnostik des Säure-Basen-Status im Blut und Normalwerte ··· 319 Primäre Störungen des Säure-BasenGleichgewichts und chemische Pufferung als Sofortmaßnahme · · · 320 Antwort des Organismus auf primäre Störungen · · · 322 Säure-Basen-Status des gesamten Organismus ··· 323

12 Die Funktion der Nieren S. Silbernagl

Die Untersuchung des Blutes – Ein Grundbaustein der ärztlichen Diagnostik ··· 224 Zusammensetzung und Volumen des Blutes · · · 224 Zelluläre Bestandteile des Blutes · ·· 227 Abwehrmechanismen des Körpers ··· 233 Blutstillung und Wundheilung · ·· 245

10 Atmung P. Scheid 10.1 10.2 10.3 10.4 10.5 10.6 10.7 10.8 10.9

···

· ··

···

325

12.1 Ein Überblick · ·· 326 12.2 Menge ist Volumen mal Konzentration: die Clearance · · · 329 12.3 Die Nierendurchblutung · · · 331 12.4 Die Filtration des Primärharns · ·· 336 12.5 Aktive Na+-Resorption und die Folgen ··· 339 12.6 Harnkonzentrierung und Diurese ··· 349 12.7 Tubulärer Transport organischer Stoffe ··· 355 12.8 Phosphat-, Ca2+- und Mg2+-Ausscheidung · · · 361 12.9 Die Niere im Dienst des Säure-Basen-Haushalts · ·· 365 12.10 Renin und Nierenhormone · ·· 369 12.11 Nierenstoffwechsel · · · 370 12.12 Nierenversagen und künstliche Niere · · · 372

13 Salz- und Wasserhaushalt H. Oberleithner 13.1 13.2 13.3 13.4 13.5 13.6 13.7 13.8

Die Zelle und ihr Mantel · ·· 378 Das Medium Wasser · ·· 378 Die Natriumbilanz · · · 381 Die Wasserbilanz · ·· 388 Die Säurebilanz ··· 392 Die Kaliumbilanz ··· 394 Die Calcium- und Phosphatbilanz Die Magnesiumbilanz ··· 403

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···

· ··

398

377

Inhaltsverzeichnis

14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung M. Gekle 14.1 14.2 14.3 14.4 14.5 14.6 14.7 14.8 14.9 14.10 14.11 14.12 14.13 14.14

···

407

Der Magen-Darm-Trakt: Ein komplexes Organsystem und häufige Arztbesuche · · · 408 Einleitung und Orientierung: Ein kurzer Überblick · · · 408 Allgemeingültiges zum Magen-DarmTrakt ··· 410 Mundhöhle und Mundspeicheldrüsen · · · 422 Ösophagus und Schlucken ··· 424 Magen · ·· 426 Pankreas ··· 437 Dünn- und Dickdarm: Flüssigkeits- und Elektrolyttransport ··· 442 Dünn- und Dickdarm: Nährstoffverdauung und -absorption · · · 447 Motorik von Dünn- und Dickdarm · ·· 460 Physiologie der Leber · · · 462 Die Anforderungen des Organismus an die Ernährung · · · 472 Energiehaushalt und Kontrolle des Körpergewichts · · · 477 Regulation der Nahrungsaufnahme · ·· 483

15 Temperaturregulation und Wärmehaushalt M. Gekle, D. Singer und C. Jessen

···

493

15.1 Warum Temperaturregulation? ··· 494 15.2 Was heißt Konstanz der Köpertemperatur? · · · 494 15.3 Wärmebildung ··· 495 15.4 Wärmetransfer im Körper · · · 496 15.5 Wärmeaustausch mit der Umwelt ··· 496 15.6 Aktive Regulation · ·· 499 15.7 Physiologie und Umwelt · ·· 503 15.8 Hyperthermie, Hypothermie und Fieber · ·· 505

16 Endokrines System K. Voigt 16.1 16.2 16.3 16.4

16.5 16.6

Die Störung hormoneller Systeme führt zu Krankheiten · ·· 510 Allgemeine Endokrinologie: Hormone sind Signalstoffe · ·· 510 Der Hypothalamus als neuroendokrine Schaltstelle ··· 519 Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden-System: Mineralo- und Glucocorticoide ··· 535 Hypothalamus-HypophysenSchilddrüsen-System · · · 544 Der Inselapparat des Pankreas: Insulin und Glucagon · ·· 551

···

509

17 Sexualfunktionen, Schwangerschaft und Geburt H.-P. Leichtweiß, H. J. Schröder und D. Singer

···

561

···

589

· ··

611

17.1

Trotz Kinderwunsch keine Schwangerschaft: was nun? · · · 562 17.2 Sexualentwicklung. Eine Übersicht ··· 562 17.3 Reifung der Gameten · ·· 562 17.4 Geschlechtsakt (Kohabitation) · ·· 567 17.5 Befruchtung und Implantation der Eizelle · ·· 568 17.6 Plazentafunktion ··· 570 17.7 Physiologie des Fetus ··· 574 17.8 Physiologie der Schwangeren · · · 578 17.9 Geburt und Milchproduktion (Laktation) · · · 579 17.10 Anpassung des Neugeborenen an das extrauterine Leben · · · 582

18 Leistungsphysiologie K. Kirsch und H.-C. Gunga 18.1 Der Muskelapparat ··· 590 18.2 Der Sauerstofftransport ··· 595 18.3 Leistung und Ausdauer ··· 603

19 Bauelemente des Nervensystems R. Klinke 19.1 19.2 19.3 19.4 19.5

Das zentrale Nervensystem – Grundlage bewussten Menschseins ··· 612 Grundfunktionen des Nervensystems ··· 612 Nerven- und Gliazellen · ·· 612 Initiale Schritte der Informationsverarbeitung · · · 616 Reizverarbeitung in neuronalen Netzwerken · · · 619

20 Somatoviszerale Sensibilität K. Meßlinger

···

627

20.1 Wenn ich den Boden unter den Füßen nicht spüre · · · 628 20.2 Mechanische Oberflächensensibilität ··· 628 20.3 Thermosensibilität · ·· 634 20.4 Tiefensensibilität und Propriozeption ··· 635 20.5 Viszerale Sensibilität · · · 636 20.6 Nozizeption und Schmerzentstehung ··· 637 20.7 Spinale sensorische Systeme · ·· 641 20.8 Zerebrale sensorische Systeme · · · 646 20.9 Schmerzformen und Schmerzhemmung ··· 651

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XI

XII

Inhaltsverzeichnis

21 Hören und Sprechen: Kommunikation des Menschen R. Klinke 21.1 21.2 21.3 21.4 21.5 21.6 21.7 21.8

···

Basis menschlicher Kultur – die Sprache Schall ··· 658 Hörempfindungen ··· 659 Schallleitung durch äußeres Ohr und Mittelohr · · · 660 Funktion des Innenohres ··· 662 Zentralnervöse Verarbeitung von Schallreizen ··· 668 Hörschäden und Hörprüfungen · ·· 669 Der periphere Sprechapparat ··· 672

22 Gleichgewichts-, Lage- und Bewegungssinn R. Klinke 22.1 Seekrank im Weltraum · · · 676 22.2 Physiologie des peripheren Vestibularorgans ··· 676 22.3 Das zentrale vestibuläre System

· ··

···

657

25.1 25.2 25.3 25.4 25.5

24.1 24.2 24.3 24.4

Was Schiller inspirierte · ·· 714 Die Bedeutung der Chemosensibilität Der Geschmackssinn ··· 714 Der Geruchssinn · · · 721

· ··

675

···

685

· ··

· ··

Die Sinne – Eingang zum Bewusstsein Die Vielzahl der Sinneskanäle · · · 728 Objektive Sinnesphysiologie ··· 729 Subjektive Sinnesphysiologie · ·· 730 Kognitionsphysiologie · · · 733

···

26 Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik G. ten Bruggencate und N. Dieringer

23.1 Das Auge als Fenster zur Welt · · · 686 23.2 Auge und optische Abbildung · · · 686 23.3 Netzhaut und primäre sensorische Prozesse · · · 691 23.4 Signalverarbeitung in der Netzhaut · · · 695 23.5 Sehschärfe · ·· 698 23.6 Topographie der zentralen Sehbahn · ·· 699 23.7 Neurophysiologie des zentralen Sehsystems ··· 701 23.8 Räumliches Sehen · ·· 708 23.9 Farbensehen · · · 709

24 Geschmack und Geruch A. Draguhn

···

727

658

680

23 Sehsystem U. Eysel

25 Empfindungen – Wahrnehmungen Die Verarbeitungsprinzipien in Sinneskanälen R. Klinke

···

735

26.1 Lou Gehrigs Schicksal · · · 736 26.2 Sensomotorik im Überblick ··· 736 26.3 Spinalmotorische Elemente und ihre Funktionen · ·· 738 26.4 Supraspinale Kontrolle spinaler Verschaltungen · ·· 752 26.5 Motorische Areale der Großhirnrinde · ·· 758 26.6 Basalganglien: Struktur, Funktion und klinische Zeichen ··· 762 26.7 Kleinhirn: Struktur, Funktion, Symptome · · · 769 26.8 Augen- und Blickbewegungen · · · 774 26.9 Ein Gesamtkonzept der Motorik · ·· 782

27 Neurovegetative Regulationen H. Seller 27.1 27.2 27.3

713

728

27.4 27.5 27.6 27.7

···

785

Das Vegetativum – Wirkungen und Nebenwirkungen · · · 786 Peripherer Aufbau und Transmitter · · · 786 Rezeptoren der postsynaptischen Membran ··· 787 Organeffekte ··· 789 Funktionen des Rückenmarks · ·· 793 Kerngebiete in der Medulla oblongata · · · 797 Hypothalamus und limbisches System – homöostatische Regulationen und emotionelle Verhaltensweisen · ·· 799

714

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Inhaltsverzeichnis

28 Integrative Funktionen des Gehirns H.-C. Pape

···

801

28.1 Das Unfassbare im Leben ··· 802 28.2 Grundlage kognitiver Funktionen · · · 802 28.3 Organisation des Cortex cerebri – Assoziationscortices ··· 803 28.4 Kognition versus Emotion – Das limbische System ··· 807 28.5 Motivation – Belohnung und Abhängigkeit ··· 812 28.6 Lernen und Gedächtnis · · · 813 28.7 Lernabhängige synaptische Plastizität · · · 818 28.8 Hirnentwicklung – entwicklungsund erfahrungsabhängige Plastizität · ·· 822 28.9 Linkes Gehirn/Rechtes Gehirn – Sprache · ·· 827 28.10 (Appendix) Nicht-invasive Verfahren zur Messung von Hirnfunktionen · · · 831

30 Blut-Hirn-Schranke, Liquor cerebrospinalis, · · · 849 Hirndurchblutung und Hirnstoffwechsel W. Kuschinsky 30.1 Schlaganfall ··· 850 30.2 Blut-Hirn- und Blut-Liquor-Schranke ··· 850 30.3 Hirndurchblutung und Hirnstoffwechsel ··· 855

31 Maßeinheiten, Kurven und ein wenig Mathematik S. Silbernagl 33.1 Messgrößen und Maßeinheiten · ·· 862 33.2 Potenzen und Logarithmen ··· 868 33.3 Graphische Darstellung von Messdaten

32 Normalwerte S. Pummer und S. Silbernagl 29 Rhythmen des Gehirns: Elektroenzephalographische und neurale Korrelate des Verhaltens H.-C. Pape 29.1 Tagesmüdigkeit: Faulheit oder Krankheit? · · · 836 29.2 Das Elektroenzephalogramm · ·· 836 29.3 EEG-Korrelate von Wachen und Schlafen 29.4 Neurophysiologische Grundlagen von Wachen und Schlafen · · · 842 29.5 Der circadiane Rhythmus ··· 845 29.6 Schlafstörungen · · · 846

···

835

· ··

840

32.1 32.2 32.3 32.4 32.5 32.6 32.7

···

···

861

869

···

873

Gesamtorganismus und Zelle ··· 874 Herz und Kreislauf · · · 874 Lunge und Gastransport · · · 874 Niere und Ausscheidung · · · 874 Ernährung und Stoffwechsel ··· 875 Nervensystem und Muskel · · · 875 Blut und andere Körperflüssigkeiten ··· 875

Sachverzeichnis

···

879

Abkürzungsverzeichnis

···

927

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XIII

1

Wer liest schon Einleitungen? S. Silbernagl

1.1

Physiologie: Funktion des Lebendigen

1.2

Woher weiß man, was in diesem Buch steht? ··· 2

···

2

Beobachtung, Hypothese, Experiment, Deutung, Theorie und die Fallen · · · 3 Zu kompliziert? ··· 5

1.3

Ob Zelle oder Organismus: ein offenes System mit innerem Milieu ··· 7 Die Autonomie der Zelle ··· 7 Das Meer in uns: Milieusicherung durch Spezialisierung ··· 8 Ungeregeltes Leben gibt es nicht ··· 8 Rückkopplung kann negativ oder positiv sein · · · 10

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2

1 Wer liest schon Einleitungen?

1.1

Physiologie: Funktion des Lebendigen

Ein Virus hat bereits eine Art von Leben, eine Amöbe, ein Baum, ein Hund, ein Mensch, sie alle leben. Die Physiologie versucht, die physikalischen und chemischen Faktoren aufzuklären, die für die Entstehung, die Entwicklung und den Erhalt dieses Lebens verantwortlich sind. Dabei ist die Frage, was vor sich geht, nur der Ausgangspunkt für die Frage, wie es passiert. So fragt ein Physiologe etwa: Wie gelangen Ionen durch die Zellmembran, und mit welchen Signalen kommunizieren Zellen miteinander? Wie überlebt ein Fisch im Süßwasser, wie einer im Salzwasser? Warum muss eine Wüstenratte nichts trinken und warum kühlt der Pinguin nicht aus, wenn er jahraus, jahrein auf antarktischem Eis steht? Wie wird unser Blutdruck geregelt? Wie arbeiten unsere Nieren, unsere Muskeln, unsere Augen, ja sogar (und das fragt des Physiologen eigenes Gehirn!): Wie funktioniert unser Gehirn? Inhalt dieses Buches ist die Physiologie des Menschen. Dabei muss man sich aber vor Augen halten, dass der Großteil der Kenntnisse über die Funktionen unseres Körpers nicht von Beobachtungen am Menschen, sondern von Experimenten an Einzelzellen im Reagenzglas, an Zellkulturen, an isolierten Organen und an Tieren gewonnen wurde. Am meisten weiß man daher über die Mechanismen, die sich in der Evolution bereits seit Hunderten von Millionen Jahren bewährt haben und daher allen tierischen Zellen mehr oder weniger gemeinsam sind. Relativ viel ist auch noch bekannt über die Funktion derjenigen unserer Organe und Organsysteme, die sich von denen anderer Säuger nur unwesentlich unterscheiden. Darm- und Nierenfunktion, Atmung, Blutdruckregulation, Säure-Basen-Haushalt sind einige Beispiele dafür. Anders ist das bei höheren Gehirnfunktionen, doch können uns da unter Umständen Beobachtungen an Patienten weiterhelfen. Vergleicht man ihre Symptome mit den Befunden bei gesunden Probanden, kann man unter Umständen auf Funktionsmechanismen schließen. Die (immer noch spärlichen) Kenntnisse über die spezifischen Funktionen unseres Großhirns z. B. stammen großteils von Beobachtungen an Patienten, bei denen umschriebene Gehirnbezirke etwa durch Verletzungen oder Tumoren zerstört worden sind. Umgekehrt ist die Physiologie des Menschen, sind die Kenntnisse über die normale Funktion unseres Körpers natürlich unverzichtbare Grundlage, wenn der Arzt Fehlfunktionen des Körpers, also Krankheiten, erforschen und kausal oder zumindest symptomatisch behandeln will. Auf Aspekte der Pathophysiologie, des Grenzgebiets zwischen Physiologie und klinischer Medizin, wird daher in allen Kapiteln dieses Buches immer wieder eingegangen werden.

1.2

Woher weiß man, was in diesem Buch steht?

Ausgehend von Beobachtungen, stellt der naturwissenschaftlich arbeitende Physiologe eine überprüfbare Hypothese auf; zu ihr macht er Experimente mit gezielter Fragestellung, wobei das Bezweifeln der eigenen Hypothese wichtigstes Prinzip ist. Korrelation z. B. muss auf Kausalität überprüft werden. Eine gezielte Beobachtung kann eine Art Experiment sein, ebenso wie ein unerwartetes Versuchsergebnis eine Beobachtung sein kann. Jedes Experiment muss von einem Kontrollexperiment begleitet sein, und Versuchswiederholungen verringern die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ergebnis zufällig war. Widerspricht das Ergebnis der Hypothese, muss sie verworfen werden; wird sie bestätigt, kann sie nach eingehender Überprüfung zur Theorie werden. Neben der Beobachtung am Patienten ist die Tierphysiologie die wichtigste Quelle, aus der die Physiologie des Menschen schöpft. Die Komplexität des Organismus zwingt den Physiologen zu Vereinfachungen, will er aussagekräftige Ergebnisse erhalten; „Modelle der Natur“ und das Arbeiten in vitro sind zwei der Möglichkeiten. Fehlschlüsse und Artefakte sind es, die die Resynthese der Einzelbefunde erschweren. Schließlich muss die Übertragbarkeit der Befunde vom Tier oder gar von der Zellkultur auf den Menschen streng geprüft werden. Schon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts war in einem Lehrbuch der Physiologie kein Platz mehr, den experimentellen Hintergrund des behandelten Lehrstoffes zu schildern. Adolph Fick (1829 – 1901) schrieb 1860 in seinem „Compendium der Physiologie des Menschen“ (10): „Der nächste [wichtigste] Zweck dieses Buches ist, dass es den Medicin Studirenden in Stand setze, mit möglichst geringer Anstrengung sich diejenigen physiologischen Kenntnisse anzueignen, welche ein billiger [vernünftiger] Examinator von ihm verlangen muss … habe ich mich – eingedenk des ersten Zweckes – durchweg vorwiegend an die Resultate gehalten und sie mit einiger Ausführlichkeit dargestellt … das Resultat ist das Wichtigste und Interessante, und, wenn man es einmal sicher hat, d. h. jederzeit einen strengen Beweis führen kann, so kümmert man sich nicht mehr um die Methode seiner ursprünglichen Auffindung.“ Allerdings war Adolph Fick noch in der Lage, seinen Studenten dann wenigstens in der Vorlesung diejenigen Versuche zu zeigen, mit denen er das Gelehrte belegen konnte. Das ist heute nicht mehr möglich, da sich das Wissen in der Physiologie seither, grob geschätzt, verhundertfacht hat. Das heißt, auch in der Vorlesung bleibt heute praktisch keine Zeit mehr, die Wege zu schildern, an deren Ende unser (mehr oder weniger) „gesichertes Wissen“ steht. Das birgt die Gefahr in sich, dass der Student das „Wissen“ des Lehrbuchs (und der spätere Arzt oder Biologielehrer den Inhalt einer Fachzeitschrift) ohne Bedenken als feststehende Tatsache übernimmt. Kritikfähigkeit in dieser Beziehung setzt aber voraus, dass er oder sie wenigstens prinzipiell die Wege naturwissenschaftlich-medizinischer und -biologischer Wissensfin-

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1.2 Woher weiß man, was in diesem Buch steht? Beobachtung im Experiment

Beobachtung

neue Hypothese Hypothese Fragestellung Kontrollexperiment Experiment

Experiment verbessern

Hypothese verwerfen

Ergebnis

vieldeutig, variabel

Schlussfolgerung passt nicht zur Hypothese

System zu komplex

„Modell der Natur“ Isolierung von: Organen Organteilen Zellen (Zellkultur) Zellorganellen Proteinen u. a.

passt zur Hypothese

übertragbar? Vereinfachung

Falsifizierung, Experimentum crucis

Teil-Ergebnisse

Theorie Teil-Experimente

Abb.1.1 Von der Beobachtung zur Theorie: Der Weg experimenteller Forschung. Zum Beispiel entdeckte Ernest Basil Verney (1894 – 1967, Foto) zusammen mit E. H. Starling in den zwanziger Jahren, dass eine isolierte Niere, die künstlich durchströmt wird, keinen konzentrierten Urin erzeugen kann (18, 20) (Beobachtung im Experiment). Aufgrund dieser und anderer Beobachtungen stellten sie folgende Hypothese auf: „Wir schlagen daher vor, dass irgendeine Substanz oder Substanzen mit einer Pituitrin-(Hypophysenextrakt-)ähnlichen Wirkung normalerweise im intakten Säuger vorhanden sind und dazu dienen, die Niere in ihrer wichtigen Funktion der Wasser- und Chloridausscheidung zu

dung mit all ihren Klippen kennt. Sie sollen uns daher im Folgenden kurz beschäftigen.

Beobachtung, Hypothese, Experiment, Deutung, Theorie und die Fallen Die Gegenprobe Humanphysiologie ist ein Fach der Medizin, doch als Forscher ist der Physiologe Naturwissenschaftler; er geht bei seiner Forschung daher prinzipiell genau so vor wie der „reine“ Naturwissenschaftler, also etwa der Physiker, Astronom oder Chemiker (Abb. 1.1): Er stellt Beobachtungen an, zieht seine Schlüsse daraus und stellt auf deren Basis eine Hypothese auf. Diese Hypothese muss überprüfbar sein. Eine unüberprüfbare Hypothese ist wertlos, weil sie nicht viel mehr wert ist als eine schlichte Behauptung. Mit Überprüfen ist hier vor allem gemeint, dass der Wissenschaftler seine Hypothese in Frage stellen (falsifizieren; 5) muss, d. h., ein überaus wichtiges Prinzip seines Arbeitens muss der Zweifel sein. Wichtiger als die Probe ist die Gegenprobe! Ein einfaches Beispiel: Vor einigen Jahrzehnten konnte im Elsass beobachtet werden, dass der Rückgang der

regulieren“ (18). Zur Überprüfung der Hypothese setzten sie dem Nierenperfusat einen Hypophysenhinterlappenextrakt zu (Experiment) mit dem Ergebnis, dass sich die Wasserausscheidung dadurch normalisierte. Schließlich wies Verney auch nach, dass das Blut durch den Kopf des Versuchstiers fließen muss, bevor es anschließend in der Niere antidiuretisch wirken kann. Dieser Effekt blieb aus, wenn vorher der Hypophysenhinterlappen entfernt worden war (19). Damit war bewiesen, dass die Konzentrierungsfähigkeit der Niere vom Hypophysenhinterlappen abhängt (Theorie). Heute wissen wir, dass dort Adiuretin als steuerndes Hormon sezerniert wird.

Geburtenrate sehr eng mit dem Rückgang der Anzahl der dort nistenden Störche korreliert. Bringt also der Storch die Babys? Eine Bestätigung dieser Hypothese wäre gewesen, wenn der Beobachter anschließend nach Franken gefahren wäre und dort eine ähnliche Korrelation vorgefunden hätte (Probe). Eine mögliche Gegenprobe (Entfernung eines der korrelierenden Phänomene) wäre hingegen gewesen herauszufinden, ob ein Land existiert, wo es gar keine Störche gibt und trotzdem Babys auf die Welt kommen …

Korrelation und Kausalität Wir lächeln über das Beispiel mit den Störchen, weil wir wissen, wie Kinder auf die Welt kommen. Bei der Beobachtung noch nicht erforschter Phänomene ist das anders. Trotzdem ist ein häufiges Zusammentreffen zweier oder mehrerer Phänomene oder gar eine enge quantitative Korrelation natürlich eine wichtige Beobachtung, sei es in der Astronomie, in der Physiologie oder in der praktischen Medizin. Über die Kausalität sagt eine Korrelation, wie wir an obigem Beispiel gesehen haben, allerdings nichts aus. Die Kausalität kann hier nur Hypothese sein, die es zu überprüfen, in Zweifel zu ziehen gilt.

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3

4

1 Wer liest schon Einleitungen?

Beobachtung versus Experiment Zur Überprüfung seiner Hypothese greift der Wissenschaftler zum Experiment. Er „experimentiert“ nicht „herum“, sondern stellt eine Frage, von der er hofft, dass sie durch das Ergebnis seines Experiments beantwortet werden kann. Den Unterschied zwischen Beobachtung und Experiment hat der französische Physiologe Claude Bernard (1813 – 1878) so ausgedrückt: „Beobachtung ist die Erforschung natürlicher Phänomene, das Experiment ist die Erforschung eines Phänomens, das durch den Forscher verändert worden ist“ (1). Diese Veränderung, dieses Eingreifen in den natürlichen Ablauf ist es, was das Experiment einerseits zum machtvollsten Werkzeug naturwissenschaftlicher Forschung macht, andererseits aber auf Irrwege, zu Artefakten führen kann (s. u.). Beobachtung und Experiment sind nicht ganz zu trennen. Eine „gezielte“ Beobachtung, etwa die Voraussage einer Beobachtung, ist bereits eine Art Experiment. Umgekehrt kann der Wissenschaftler bei einem Experiment eine Beobachtung machen, nach der er ursprünglich gar nicht gefragt hat. Die Entdeckung der antibiotischen Wirkung des Penicillins (1928) durch den britischen Bakteriologen Sir Alexander Fleming (1881 – 1955) ist ein berühmtes Beispiel dafür. Seine Bakterienkulturen waren ihm unprogrammgemäß verschimmelt. Er hat sie sich trotzdem genau betrachtet (die „Neugierde des Forschers“), und ihm fiel auf, dass die Bakterien sich im Bereich des Schimmelpilzes (Penicilliumarten) nicht vermehrt hatten. Seine daraus abgeleitete Hypothese, dass der Schimmel einen antibakteriellen Stoff produziert, bewahrheitete sich, und das Antibiotikum Penicillin trat wenige Jahre später seinen Siegeszug um die Welt an.

Fürchtet der Arzt die Gegenprobe? Da wohl die meisten Leserinnen und Leser dieses Buches Ärzte werden wollen, hier auch ein kurzes Wort zur klinisch-medizinischen Forschung. Obwohl auch schon der Physiologe, der ja oft an Lebewesen forschen muss, nicht so frei experimentieren kann wie etwa der Chemiker, sind die experimentellen Möglichkeiten des Arztes natürlich noch viel mehr eingeschränkt. Er kann sich bei seiner klinischen Forschung oft nur auf rückschauende (retrospektive) oder, was das bessere „Experiment“ ist, auf vorausschauende, vorhersagende (prospektive) Beobachtungen an seinen Patienten stützen. Diese Beschränkung darf aber nicht dazu verleiten, die Gegenprobe, das Experimentum crucis, etwa in Form einer sog. Doppelblindstudie, zu scheuen*. Claude Bernard sagt dazu: „Es ist das post hoc, ergo propter hoc** der Mediziner, zu dem wir uns sehr leicht verleiten lassen, besonders wenn das Ergebnis eines Experimentes oder eine

* Von einer Doppelblindstudie spricht man dann, wenn z. B. beim Vergleich der Wirksamkeit zweier Medikamente (oder eines Medikaments mit einem wirkungslosen Stoff, einem Plazebo) weder der Arzt noch der Patient weiß (beide sind „blind“), welche Tablette welche Substanz enthält. ** Danach und daher dessentwegen.

Beobachtung unsere vorgefasste Meinung bestätigt“ (1). (Auch der Autor dieser Einleitung ist Mediziner).

Kein Experiment ohne Kontrolle Ein Experiment führt zu einem Ergebnis, also zu einer Reihe von Messwerten, aus denen der Wissenschaftler seine Schlüsse zieht. Zieht er die richtigen? Angenommen, ein Versuchstier, etwa eine Ratte, wird narkotisiert, die Niere wird freigelegt und ein bestimmtes Medikament wird in die Nierenarterie injiziert. Einen Tag später steigt bei der Ratte die Natriumausscheidung im Urin. Was ist der Grund dafür? Das Narkosemittel? Der Operationsstress? Oder wirklich die injizierte Substanz? Hier ist, wie bei jedem Experiment, ein Kontrollexperiment notwendig, in diesem Fall eines, bei dem zwar narkotisiert und operiert, aber nur das Lösungsmittel, in dem das Medikament gelöst war, injiziert wird. Außerdem genügt natürlich nicht ein einziges Paar von Experimenten, da die Höhe der Natriumausscheidung im Einzelfall genauso gut ein Zufall sein könnte. Erst eine Reihe gleichartiger Versuche und Kontrollexperimente und deren statistische Auswertung kann klären, ob das Versuchsergebnis (mit mehr oder wenig hoher Wahrscheinlichkeit) kein Zufall war (6).

Und das Ergebnis? Hat der Wissenschaftler aus dem Ergebnis des Experiments den richtigen Schluss gezogen, und ist damit seine Frage beantwortet? Oder ist das Ergebnis vieldeutig und damit nicht interpretierbar? Oder kommt gar jedesmal etwas anderes als Ergebnis heraus? Dann war vielleicht das Experiment von vorneherein schlecht geplant, oder es war zwar gut konzipiert, aber schlecht durchgeführt; oder war etwa das Versuchsobjekt zu komplex, um eine einfache Antwort zu erhalten? Lag es daran, muss der Physiologe sich nach einem einfacheren Experimentalobjekt für die Beantwortung seiner Frage umtun (s. u.). Bringt ihn auch das nicht weiter, ist die Frage, zumindest vorläufig, unbeantwortbar. Diese Tatsache muss der Forscher allerdings erkennen. Der englische Zoologe Peter B. Medawar (1915–1987, Nobelpreis für Medizin 1960) schreibt dazu in der Einleitung seines Buches „Die Kunst des Lösbaren“: „Kein Wissenschaftler wird bewundert, dass es ihm nicht gelungen ist, Probleme zu lösen, die er mit ihm zur Verfügung stehenden Mitteln überhaupt nicht lösen konnte… Gute Wissenschaftler nehmen normalerweise solche Probleme in Angriff, die sie für wichtig und lösbar halten. Denn schließlich ist es ihre Aufgabe, Probleme zu lösen, und nicht bloß, mit ihnen zu ringen… Und das ist genau der Grund, warum einige der wichtigsten biologischen Probleme bisher noch nicht auf der Tagesordnung unserer Forschungsvorhaben erschienen sind …“ (4). Passt das Ergebnis des Versuchs zur Hypothese, gewinnt sie an Substanz, doch muss ihre Gültigkeit (und auch ihre Allgemeingültigkeit) unter allen möglichen Bedingungen – auch von anderen Wissenschaftlern – weiterhin streng überprüft werden. Wenn dann immer noch alles zusammenpasst, wird die Hypothese zur Theorie. Sie findet dann, gewöhnlich nach einer Latenzzeit

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1.2 Woher weiß man, was in diesem Buch steht?

Zu kompliziert? Lebendiges, auch eine einzige Zelle, besteht aus unzähligen Komponenten, Reaktionen und Interaktionen. Ist es also ein hoffnungsloses Unterfangen, dieses Knäuel zu entwirren? Offenbar nicht ganz, wie die folgenden Kapitel dieses Buches zeigen. Wie seine anderen biologischexperimentell arbeitenden Kollegen vereinfacht der Physiologe das System, an dem er experimentieren will, und zwar auf ganz verschiedenen Wegen.

Innenelektrode

Meerwasser

Öl Außenelektrode Stellarganglion Riesenaxon

Aktionspotenzial

von vielen Jahren, Eingang in die Lehrbücher. Das sichert ihr zwar ein relativ langes Leben, doch sind alle Theorien, auch diejenigen, auf die dieses Buch aufbaut, nicht davor sicher, irgendwann vielleicht doch einmal vom Sockel gestürzt zu werden. Dogmen gibt es in der Wissenschaft nicht. Zeitigt das Experiment ein klares Ergebnis, das nicht zur Hypothese passt, muss sie verworfen oder zumindest revidiert werden. Das gilt für alle Ergebnisse des Experiments. Nur die zur Hypothese „passenden“ Antworten herauszusuchen, ist zwar verführerisch, hat aber nichts mehr mit Wissenschaft zu tun. Es passiert auch immer wieder, dass ein Versuchsergebnis völlig unerwartet ist (Beobachtung beim Experiment, s. oben) und auch nach Befragung der Literatur beim Wissensstand der Zeit nicht einzuordnen ist – sozusagen ein Puzzlestück ohne Puzzle. Trotzdem wird es der Wissenschaftler, wenn er sich seiner Sache sicher ist, veröffentlichen. Irgendwann, nach Monaten oder Jahrzehnten, findet sich das Puzzle dazu. Bis dahin ist das Faktum eines solchen Versuchsergebnisses allerdings wertlos, da „… es seinen Wert nur durch die Idee bekommt, mit der es verbunden ist oder durch die Antwort, die es liefert“ (1).

Reizelektroden

Abb.1.2 „Modell der Natur“: Riesenaxon des Tintenfisches Loligo. Während beim Menschen und bei den meisten Tieren die Nervenfasern weniger als 0,02 mm dick sind, hat das Riesenaxon einen Durchmesser von etwa 1 mm. Dies erlaubt das Einführen einer Silberdraht-Elektrode ins Innere des Axons (Innenelektrode) und ermöglichte es bereits Ende der 1930er-Jahre, die grundsätzlichen Mechanismen der Fortleitung von (hier mit „Reizelektroden“ ausgelösten) Impulsen in Nervenfasern aufzuklären (9,11). Im lebenden Tintenfisch gewährleistet die Dicke des Axons eine sehr rasche Impulsfortleitung und damit eine relativ synchrone Aktivierung der Mantelmuskulatur. Diese Muskeln erzeugen den Wasserstoß, der den Tintenfisch bei Überraschungen rückwärts treibt (aus 2 nach 15 und aus 12).

Modell und Experiment der Natur In Säugetieren sind Nervenfasern höchstens 0,015 mm dick. Das machte elektrophysiologische Versuche an ihnen bis vor kurzem äußerst schwierig. Der Tintenfisch hingegen besitzt ein Riesenaxon mit dem 60fach größeren Durchmesser von etwa 1 mm (Abb. 1.2). Diese Modellnervenfaser erlaubte es schon sehr früh, die grundsätzlichen Vorgänge bei der Nervenerregung mit relativ einfachen Methoden zu klären (9,11,12,15). Auch der Mechanismus einfacher Lernvorgänge (Habituation und Sensitisierung bei polysynaptischen Reflexen, Kap. 26.3.4) hat sich am Modellganglion einer Meeresschnecke (Seehase, Aplysia californica) mit seinen großen Nervenzellkörpern und seinen wenigen, gut bekannten Schaltverbindungen viel unkomplizierter klären lassen (13,14) (Abb. 1.3) als am hoch komplexen Zentralnervensystem eines Säugetiers mit seinen Milliarden von Nervenzellen. Genetische Defekte, also etwa das Fehlen eines Hormons oder eines Enzyms, stellen ebenfalls eine Vereinfachung dar, da eine physiologische Funktion ja auch durch ihr Fehlen charakterisiert werden kann. Moderne Methoden der Molekularbiologie haben es sogar möglich gemacht, durch Genmanipulation die Aminosäurensequenz eines Enzyms oder Rezeptors gezielt zu verändern (sitedirected mutagenesis), um herauszufinden, welche Antei-

le der Aminosäurensequenz und der Proteinfaltung z. B. an der Substrat- bzw. Hormonbindung beteiligt sind. Auch das experimentelle Entfernen oder Abschalten eines Gens („Knock out“), das Einschleusen eines fremden Gens (Transgen) in die Keimbahn und weitere Methoden der Genetik und der Molekularbiologie können dazu dienen, die Funktion des jeweiligen Genprodukts, z. B. bei der Lernfähigkeit (17) oder der Entstehung des Bluthochdrucks (22) aufzuklären.

Auch Zerlegen vereinfacht Der Physiologe isoliert z. B. ein Organ aus dem zu komplexen Organismus, eine Zelle aus dem Organ, bestimmte Organellen (z. B. Mitochondrien oder Stücke der Zellmembran) aus der Zelle. Will er nur ein bestimmtes Protein, etwa ein Enzym oder einen Ionenkanal der Zellmembran, untersuchen, so reinigt er das Protein von allen anderen Zellbestandteilen. Das Enzym kann er dann im Reagenzglas oder in der Photometerküvette untersuchen, das Kanalprotein in eine künstliche Lipidmembran einsetzen und dort die Kanaleigenschaften (Kap. 2.3) studieren. Hier arbeitet er also in vitro (im Glas) und

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5

6

1 Wer liest schon Einleitungen?

Mantelfalte Siphon physiologischer Reiz

Kontraktion

sensorisches Neuron

Kiemen L7

„lernfähige“ präsynaptische Endigung

SN

Reiz- und Ableitelektrode Reiz Nr.:

Motoneuron

1

Das Modell Zellkultur

Ableitelektrode 2

15

15 min Pause 1

nicht mehr in vivo (im lebenden Organismus). Ist das Organ vom Körper, die Zelle vom Organ oder die Zellmembran von der Zelle isoliert, kann die Flüssigkeit, mit der das Organ künstlich durchströmt wird bzw. in der die Zelle oder die Membran schwimmt, vom Experimentator vorgegeben werden. Das ist deswegen eine Vereinfachung, weil dadurch die vielen unbekannten Variablen, z. B. die zahlreichen Komponenten des Bluts, eliminiert und durch die bekannten Eigenschaften der gewählten Lösung ersetzt werden. Es können also z. B. der pH-Wert, die Osmolalität, die K+-Konzentration und der Sauerstoffpartialdruck als Konstanten vorgewählt werden, während eine andere Größe, etwa das Zellpotenzial, z. B. in Abhängigkeit von der Ca2+-Konzentration gemessen wird.

2

15

0,2 s

Abb.1.3 „Modell der Natur“: das Ganglion des Seehasen Aplysia. Wird der Siphon der Mantelfalte dieser Meeresschnecke durch irgendetwas berührt, so verkleinern sich die Kiemen reflektorisch auf die rot gestrichelte Größe. An diesem Rückziehreflex sind 24 sensorische Neurone, 6 Motoneurone sowie 1 inhibitorisches und 2 exzitatorische Interneurone beteiligt. Die geringe Anzahl dieser Komponenten, die Kenntnis ihrer genauen Lokalisation und die Tatsache, dass sie relativ groß sind, machen den Seehasen zu einem idealen Modell für einfachste Lernvorgänge: Wenn der Reiz z. B. mit Schmerzen verbunden ist, wird die Reflexantwort verstärkt (Sensitisierung), oder aber, wenn der Reiz sich z. B. als unschädlich herausstellt, wird die Antwort abgeschwächt (Habituation; Kap. 25.2). Durch Einstich einer Reiz-(und Ableit-)Elektrode in eines der beteiligten sensorischen (SN) und einer Ableitelektrode in eines der motorischen Neurone (L7) kann die Habituation auf Einzelneuron-Ebene registriert werden: Auf den Reiz Nr. 1 (violette Kurve, obere Reihe von Registrierungen) erfolgt die maximale Reflexantwort (rote Kurve). Wird der Reiz alle 10 s wiederholt (Reiz Nr. 2 bis 15), so wird die motorische Antwort zunehmend kleiner. Auch noch 15 min nach diesem „Training“ hat Reiz Nr. 1 (unten) einen kleineren Effekt als Reiz Nr. 1 im „untrainierten“ Zustand (oben). Das Neuron SN hat „gelernt“, weniger Transmitter freizusetzen: akute Habituation. Bei chronischem Training (Tage bis Wochen) vermindert sich außerdem die Anzahl der sensorischen Neurone, die zu den Motoneuronen synaptischen Kontakt haben. Damit steht ein einfaches, gut definiertes Modell zur Verfügung, mit dem auch die molekularen Mechanismen eines solchen Lernvorgangs untersucht werden können (nach 13,14).

Aus dem intakten Organismus isolierte Zellen können in vitro weitergezüchtet werden (Primärkultur), doch verändern sie dabei oft ihre Eigenschaften und sterben dann ab. Will man über Monate und Jahre an Zellen mit weitgehend konstanten Eigenschaften forschen, bedient man sich Zelllinien, die unsterblich (immortal) sind, d. h. die sich immer wieder teilen, ohne dabei wesentlich zu „altern“. Solche Zellkulturen (Abb. 1.4) entstammen bestimmten Tumoren oder wurden durch Virusinfektion immortalisiert. Obwohl allein schon diese Immortalität zeigt, dass sich die Summe ihrer Eigenschaften von der einer „normalen“ Leber-, Nerven- oder Muskelzelle unterscheidet (und daher die Übertragbarkeit der experimentellen Ergebnisse hier besonders sorgfältig geprüft werden muss), können an solchen Zellen viele prinzipielle Fragen der Zellphysiologie geklärt werden.

Passen die Rädchen schließlich zusammen? Lesen wir nochmals bei Claude Bernard nach: „… wenn man einen lebenden Organismus auseinander nimmt, indem man seine verschiedenen Teile isoliert, tut man das nur zur Erleichterung der experimentellen Analyse und keineswegs, um sie getrennt zu verstehen. In der Tat, will man einer physiologischen Eigenschaft ihren Wert und ihre wirkliche Bedeutung zumessen, muss man sie immer auf das Ganze beziehen und darf endgültige Schlussfolgerungen nur im Zusammenhang mit ihren Wirkungen auf das Ganze ziehen…“ (1). Das war also das ursprüngliche Ziel der Wahl eines Modells, der Griff zur Zellkultur, der Untersuchung in vitro. Je größer allerdings, besonders in letzterem Fall, die Vereinfachung war, desto weiter hat sich der Physiologe vom lebenden Organismus entfernt und desto vorsichtiger muss er sein, die Einzelergebnisse auf ihn zu übertragen. Je größer der Eingriff des Experimentators war, desto mehr besteht die Gefahr, dass er nur die Folgen seines Eingriffs, also Artefakte misst, die mit der gesuchten physiologischen Funktion gar nichts zu tun haben. Auf der anderen Seite besteht keinerlei Chance, die eigentlichen zellulären und molekularen Mechanismen des Körpers, und das schließt auch so komplexe geistige Leistungen wie etwa das Gedächtnis mit ein, am intakten Organismus zu klären. In Zukunft wird es die größte Herausforderung für die Physiologie werden, die unendlich vielen Daten, die auf zellulärer,

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1.3 Ob Zelle oder Organismus: ein offenes System mit innerem Milieu subzellulärer und molekularer Ebene gewonnen werden, wieder zu einer Gesamtschau der Physiologie des Menschen zusammenzusetzen.

Kann Leben am Computer erforscht werden? Ja und nein. Ja, weil er riesige Datenmengen auswerten kann, zu deren Bearbeitung unsere Lebensspanne oft nicht ausreichen würde. Ja, weil mit ihm sehr rasch viele Kombinationen bekannter Einzelfunktionen des Organismus theoretisch „ausprobiert“ werden können. Das heißt, mit ihm lassen sich aus einzelnen Beobachtungen und experimentellen Befunden hypothetische Vorhersagen machen. Er kann also Bekanntes (Gespeichertes) neu kombinieren und beim Experimentieren am lebenden Organismus helfen, große Datenmengen rasch zu erfassen und zu übersichtlichen Zahlen zu kondensieren. Was er natürlich nicht kann, ist bekannte oder unbekannte Fakten, die nicht gespeichert sind, berücksichtigen. Die Wirkung einer erstmalig aus dem Blut isolierten Substanz z. B. oder eines neuartigen chemischen Stoffes auf die Zelle oder den Gesamtorganismus kann nur im Experiment an der Zelle bzw. am Tier eruiert werden, nicht am Computer.

Mikroskop

Kulturschale

Brutschrank Mikroelektroden

Riesenzelle

1.3

Ob Zelle oder Organismus: ein offenes System mit innerem Milieu

Die Zellmembran hat zugleich Schutz- und Austauschfunktion: Sie verhindert einerseits die Vermischung von äußerem Milieu und Zellinnerem, andererseits muss der Zelle als offenem System chemische Energie zugeführt werden, und gleichzeitig müssen Endprodukte die Zelle verlassen können. Spezialisierte Proteine der Membran transportieren selektiv und dem Bedarf angepasst anorganische Ionen und organische Substanzen, und Rezeptorproteine dienen der Signaltransduktion. Während ein Einzeller autonom ist, sind es beim Vielzeller die Organe, die die Barriere-, Austausch- und Kommunikationsfunktion übernehmen, wobei die Autonomie der Zelle einer erhöhten Unabhängigkeit und Leistungsfähigkeit des Gesamtorganismus geopfert wird. Für die Sicherung des inneren Milieus der Zelle sorgen die homöostatischen Regulationsmechanismen des Körpers; dabei sind Nervensystem und Kreislauf die Signal- und Transportwege. Die beteiligten Komponenten der Homöostase werden vor allem durch negative Rückkopplungssysteme geregelt, die Regelbreite wird durch Verhalten erweitert. Positive Rückkopplung ist ein physiologischer Verstärkermechanismus, der als pathologischer Teufelskreis katastrophal sein kann.

Die Autonomie der Zelle Die Grenze zwischen Ordnung und Unordnung Schon für einen Einzeller, also etwa eine Amöbe (Abb. 1.5) gilt es, zwei für sein Überleben notwendige, aber prinzipiell gegensätzliche Anforderungen zu erfüllen: Einerseits muss er die „Ordnung“ dessen, was Leben ausmacht, gegen die „Unordnung“ der unbelebten Umge-

Epithel

Abb.1.4 Das Modell Zellkultur. Bestimmte Zellen teilen sich in der Kulturschale im Brutschrank immer wieder und lassen sich daher unbegrenzt weiterzüchten, d. h., sie sind immortalisiert („unsterblich“ gemacht). Sie lassen sich sogar für lange Zeit tiefgefrieren, ohne dass ihre Vitalität (nach dem Auftauen) darunter leidet. Damit stehen der Forschung über Jahre und Jahrzehnte Zellen mit weitgehend konstanten Eigenschaften zur Verfügung, was die Klärung vieler prinzipieller Fragen der Zellphysiologie mit relativ einfacher Methodik in vitro erlaubt. Das rechte Foto zeigt unter dem Mikroskop, dass sich kultivierte Zellen, die von einem Epithel abstammen, auch in der Kulturschale wieder zu einem Epithel zusammenfinden. Damit lässt sich also auch die Physiologie eines solchen Zellverbandes studieren (Kap. 3). Das linke Foto zeigt im Zentrum eine Riesenzelle. Sie lässt sich aus etwa 50 – 100 normal großen Einzelzellen der Kultur fusionieren, ohne dass dabei die fundamentalen Zellfunktionen verloren gehen. Solch große Zellen erlauben es dann etwa, mit mehreren (z. B. Na+-, K+- und pH-) Mikroelektroden simultan in der Zelle zu messen (aus 16).

bung abschotten, andererseits ist er als – sowohl im thermodynamischen als auch im kommunikativen Sinn – „offenes System“ auf den Austausch von Wärme, Sauerstoff, Nahrungs- und Abfallstoffen sowie von Informationen mit seiner Umgebung angewiesen. Für das Abschotten sorgt die Zellmembran, deren hydrophobe Eigenschaften die wässrigen Lösungen außerhalb und innerhalb der Zelle vor der tödlichen Vermischung bewahren. Für die „Durchlässigkeit“ der Membranbarriere sorgen vor allem in ihr eingebaute Proteinmoleküle: zum einen die sog. Rezeptoren, die dem Empfang und der Weiter-

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1 Wer liest schon Einleitungen? Endozytose Nahrungsvakuole Diffusion, Carrier u.a.

Pseudopodie

Umwelt, z. B. der Nährstoffkonzentration, mit gezielten Bewegungen zu reagieren bzw. ein geeigneteres Milieu aufzusuchen. Diese Autonomie der Einzelzelle geht im vielzelligen Organismus mit seinen spezialisierten Organen weitgehend verloren. Was dafür gewonnen wird, ist eine größere Leistungs- und Überlebensfähigkeit sowie ein erhöhter Aktionsradius. Augenfälligstes Beispiel dafür ist die Entwicklung von Lebewesen, die das Meer verlassen konnten und zu Landbewohnern geworden sind.

Das Meer in uns: Milieusicherung durch Spezialisierung

Exozytose Zellkern

Abb.1.5 Versorgung und Entsorgung der Zelle. Ein Einzeller wie die Amöbe lebt im Wasser (manche auch als Parasiten in der wässrigen Umgebung des menschlichen Darms: Amöbenruhr!); er nimmt daraus Sauerstoff und Nahrung auf und gibt dorthin seine Abfallstoffe ab. Das Milieu, in dem er lebt, ändert sich dadurch praktisch nicht, da es unendlich viel größer ist als er selbst. Im Gegensatz dazu sind die Zellen im menschlichen Körper von einem Extrazellulärraum umgeben, der sogar kleiner als das Volumen dieser Zellen ist (Kap.13.2). Hier übernehmen Organe die Funktion der Sauerstoff- und Nahrungsaufnahme und der Ausscheidung (s. auch Abb.1.6) und erhalten so das „innere Milieu“ (1). Beim genaueren Hinsehen erkennt man auch schon in der Amöbe spezialisierte Zellorganellen, wie z. B. eine Nahrungsvakuole, in die größere Nahrungspartikel per Endozytose aufgenommen werden und aus der Unverdauliches per Exozytose wieder abgegeben wird, beides Mechanismen, die viele Zellen des menschlichen Körpers zur Aufnahme bzw. Abgabe von Eiweißmolekülen benützen (Abb. 2.5, S.19). Durch Ausstülpen von Pseudopodien kann sich der Einzeller auch bewegen, was Fibrozyten, die in eine Wunde einwandern, oder Leukozyten, die sich auf eingedrungene Bakterien zubewegen, im Körper ebenfalls tun.

gabe von Informationen aus der Umwelt dienen; zum anderen besitzt die Membran Transportproteine, also Poren, Carrier und „Pumpen“ (Kap. 2.3). Die Durchlässigkeit der Membran ist selektiv und häufig geregelt. So werden viele für den Zellstoffwechsel wichtige Substrate, z. B. D-Glucose und L-Aminosäuren, aktiv in die Zelle transportiert; mit L-Glucose und D-Aminosäuren hingegen kann die Zelle wenig anfangen; konsequenterweise werden solche inerten Stoffe meist auch nicht durch die Zellmembran transportiert. Auch Ionenkanäle, -pumpen und -carrier sind meist hoch spezifisch und, je nach Bedarf der Zelle, mehr oder weniger aktiviert.

Die Umwelt des Einzellers In einem See oder im Ozean umgibt den Einzeller ein weitgehend gleich bleibendes Milieu; es verändert sich praktisch nicht, wenn er sich daraus versorgt und nicht mehr Verwertbares dorthin abgibt. Solange er überhaupt lebt, d. h. die Ordnung von Struktur und Funktion (Synthese- und Energiestoffwechsel, Ionengradienten etc.) aufrechterhalten kann, ist er autonom. Ja, er ist mittels seiner Rezeptoren und seiner Beweglichkeit (Pseudopodien, Geißeln) sogar in der Lage, auf Änderungen der

Auch jede der etwa 70 Billionen Zellen unseres Körpers ist auf ein Milieu mit weitgehend konstanten Eigenschaften angewiesen. Ganz im Gegensatz zur Situation des Einzellers im Wasser ist aber das Volumen der extrazellulären Flüssigkeit, in der unsere Zellen „schwimmen“, nicht nur nicht unendlich größer, sondern sogar deutlich kleiner als das Gesamtvolumen dieser Zellen (Kap. 13.2). Angesichts der ununterbrochenen Inanspruchnahme dieser Flüssigkeit für die Ver- und Entsorgung der Zellen bedarf es daher großer Anstrengungen, dieses innere Milieu zu erhalten. Beteiligt an dieser Milieusicherung oder Homöostase sind fast alle Organe und Organsysteme, von denen dieses Buch handelt (Abb. 1.6). Gleichzeitig haben Organe die Abschottungs- und Austauschfunktionen gegenüber bzw. mit der Umwelt übernommen. Den großen Vorteilen eines solchen Staates von spezialisierten Zellgruppen, also u. a. der großen Unabhängigkeit nach außen, steht als ein wesentlicher Nachteil die gegenseitige Abhängigkeit der Organe und Organsysteme gegenüber. Fällt ein wichtiges davon aus, ist der ganze Organismus vom Tode bedroht.

Ungeregeltes Leben gibt es nicht Integration durch Infrastruktur Sinnvoll kooperieren können die spezialisierten Organe des Körpers nur, wenn ihre Funktionen aufeinander abgestimmt sind. Als Infrastruktur stehen dazu vor allem das Nervensystem und das Kreislaufsystem zur Verfügung. Die rasche Kommunikation über Nervensignale wird dabei ergänzt durch die langsamere Übermittlung humoraler Signale auf dem Blutweg. Dieser ist darüber hinaus auch der Verkehrsweg für den An- und Abtransport unzähliger anderer Substanzen, seien es Nahrungs- oder Abfallstoffe, Roh- oder Fertigprodukte der zellulären Synthese oder der fast überall benötigte Sauerstoff. Um z. B. ihn auch unter wechselnder Belastung (etwa der Skelettmuskulatur) in ausreichender Menge (aber ohne gleichzeitige Energieverschwendung) anzuliefern, bedarf es der funktionellen Integration einer ganzen Palette von Einzelfunktionen: Atemtiefe, Atemfrequenz, Blutvolumen, Blutdruck (mit den Einzelkomponenten Herzschlagvolumen, Herzfrequenz und Gefäßweite), Erythrozyten- und Hämoglobinkonzentration im Blut sind die wichtigsten davon. Schon dieses eine Beispiel zeigt, dass Leben (übrigens auch das des Einzellers) ohne Steuerung und darüber hinaus auch ohne Regelung nicht existieren kann (8, 21).

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1.3 Ob Zelle oder Organismus: ein offenes System mit innerem Milieu

Fühlen, Erleben, Erfahren, Verhalten Motorik Sexualität, Reproduktion

Sinne

Nahrungsaufnahme

Haut O2 CO2

Leber

Tastsinn Wärmeabgabe

Magen

Verteilung, Speicherung

Regulation

Atmung

(Wasser, Salze, Säuren)

Darm Niere

Ausscheidung

Ausscheidung (Harnstoff u.a.)

Abb.1.6 Organe und Organsysteme im Dienste der Homöostase und der Arterhaltung. Ob Herz, Gefäße, Lunge, Niere, Magen, Darm, Leber, Muskeln, Haut, Genitalien, Hormondrüsen, Nerven oder Gehirn, alle stehen sie entweder im Dienste der Homöostase, also der Konstanthaltung des „inneren Milieus“ (1), oder im Dienste der Arterhaltung, wozu Partnerwerbung und Schwangerschaft ebenso gehören wie die körperliche und seelische Entwicklung des Kindes.

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser Mit Steuerung ist das gemeint, was ein Seemann macht, wenn er den Hafen verlassen hat: Er steuert das Schiff in die Himmelsrichtung, in der sein Ziel liegt. Wenn Karte und Kompass sehr präzis sind, das Schiff unterwegs auf keine Hindernisse trifft und der Kapitän Strömungen und Windrichtungen in seine Kursberechnung mit einbezogen hat, sollte er ohne weitere Steuerbewegung sein Ziel erreichen. Diese Bedingungen sind aber gewöhnlich nicht erfüllbar. Der Kapitän wird daher wiederholt die gewünschte Position mit der tatsächlichen vergleichen und bei Abweichungen den Kurs korrigieren. Hier wird die Steuerung also durch eine Rückmeldung des Erreichten ergänzt. Eine Steuerung mit einer in sich geschlossenen Informationsschleife nennt man Regelung. Zu einem solchen Regelkreis (Abb. 1.7) gehört der Regler, dem das Regelziel (Sollwert) vorgegeben wird und von dem aus Funktionen (Stellglieder) zur Erreichung dieses Ziels angesteuert werden. Den Kreis schließen Sensoren oder Fühler, die den tatsächlichen Wert oder Istwert der zu

Beim Menschen lassen sich das Erleben von Musik, die Freude über schöne Bilder, die Neugierde des Wissenschaftlers oder gar das Fragen nach dem „Sinn des Lebens“ im religiösen Glauben in die beiden genannten Kategorien allerdings nur recht mühsam einordnen. Das soll auch hier nicht geschehen. (Das Bild im Zentrum zeigt die Skulptur „der Denker“ von Auguste Rodin. Linkes und mittleres Foto: Lennart Nilsson; rechtes Foto vom Verfasser.)

regelnden Größe laufend messen und an den Regler zurückmelden, wo der Istwert mit dem Sollwert verglichen und von wo aus nachgeregelt wird, wenn Störgrößen den Istwert verändert haben. Regler, die eine Größe konstant halten sollen, heißen Halteregler. Bei ihnen sind es die Störgrößen, die Abweichungen des Istwertes vom Sollwert verursachen und damit die Stellglieder aktivieren. Im Organismus ist der Sollwert allerdings selten eine unveränderliche Konstante, sondern kann „verstellt“ werden, wenn übergeordnete Bedürfnisse dies erfordern. In diesem Fall ist es die Sollwertverstellung, also die Führungsgröße (Abb. 1.7), die ein Abweichen des Istwerts vom Sollwert bewirkt und damit die Stellglieder aktiviert. Hier folgt die Regelung der Führungsgröße (und nicht der Störgröße), so dass man in diesem Fall von Folge- oder Servoregelung spricht. Die Verstellung der geregelten Muskellänge durch die γ-Motoneuronen (S. 743 ff.) ist ein physiologisches Beispiel dafür. Die großen Vorteile der Regelung gegenüber der einfachen Steuerung sind zum einen, dass die Komponenten

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1 Wer liest schon Einleitungen?

Sollwert- Führungsgröße vorgabe

Sollwert = Istwert

Regler

negative Rückkopplung Regelgröße (Istwert) Fühler A

Sinnesreizen und die motorische Aktivität der Skelettmuskulatur. Solche Regelprozesse können, wie etwa bei einer gezielten Bewegung, nur Millisekunden dauern oder sich, wie beim Wachstum, über viele Jahre hinziehen. Kompliziert wird die Situation dadurch, dass die Regelkreise im Körper häufig miteinander verzahnt sind. Die Vermaschung der Kreislauf- mit der Atmungsregulation sowie die der Regelung des Natriumbestands und des Blutvolumens sind Beispiele dafür.

?

Stellgröße Stellglied 1 Stellglied 2 Stellglied n geregeltes System

Störgröße

Soll-Blutdruck = Ist-Blutdruck

?

vegetatives Nervensystem Kreislaufzentren

N.IX N.X Pressorezeptoren

Arteriolen Herzfrequenz

Blutdruck B

venöser Rückstrom

peripherer Widerstand z.B. Orthostase

Abb.1.7 Regelkreis. Die prinzipiellen Komponenten eines Regelsystems (A), das (als wesentlicher Unterschied zu einer Steuerung) eine Rückkopplungsschleife (feed back) enthält, deren Istwert (Regelgröße) vom Regler mit dem Sollwert (Führungsgröße) verglichen wird. Abweichungen des Istwerts vom Sollwert, die durch Störgrößen entstehen, werden vom Regler mit einer Stellgröße beantwortet, die den Istwert mittels Stellgliedern dem Sollwert nähert (s. auch Abb.1.8). In der Natur gibt es Regelkreise, seit es Leben gibt. Als wichtigste Mechanismen der Homöostase wurden sie allerdings erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts voll erkannt (8, 21). Die akute Regulation des Blutdrucks (B) ist eines der unzähligen Beispiele für die Regelkreise im Körper, die z. T. eng miteinander vernetzt sind.

der Steuerung relativ ungenau arbeiten dürfen, ohne dass der Sollwert (zumindest im Mittel) verfehlt wird (selbst ein unpräziser Steuermann kann sein Ziel – wenn auch nur im Zickzackkurs – erreichen); zum anderen können unerwartete Störgrößen bei der Regelung berücksichtigt werden (in obigem Beispiel ein Sturm auf hoher See oder, bei der Konstanthaltung des Blutdrucks etwa, ein Blutverlust). Geregelt sind im Körper nicht nur relativ einfache Größen wie Blutdruck, Zell-pH-Wert, Muskellänge und die Glucosekonzentration im Plasma, sondern auch – und gerade – so komplexe Abläufe wie Befruchtung, Schwangerschaft, Wachstum, Organdifferenzierung, Nahrungsaufnahme und -verdauung sowie die Verarbeitung von

Rückkopplung kann negativ oder positiv sein Die negative Rückkopplung: An/Aus ist zu primitiv In den oben beschriebenen Regelkreisen wird ein (im Vergleich zum Sollwert) zu kleiner (bzw. zu großer) Istwert mit einer Verstärkung (bzw. Abschwächung) des Signals beantwortet. Wegen dieser „Vorzeichenumkehr“ im Regelzentrum spricht man in diesem Fall von negativer Rückkopplung. Mit mehr oder weniger großen, wellenförmigen Abweichungen kann damit ein im Mittel konstanter Istwert eingehalten werden (Abb. 1.8 A). Beim plötzlichen Auftreten einer Störgröße sind die Abweichungen besonders groß, doch ebben sie in einem stabilen Regelsystem bald wieder ab. Solche Schwankungen können nur wenige Prozent betragen, in anderen Fällen aber auch recht beträchtlich sein. So schwankt der Blutzuckerspiegel im Zusammenhang mit den Mahlzeiten etwa um den Faktor 2. Offenbar soll eine intakte Blutzuckerregelung nur gefährliche, also besonders niedrige oder hohe Werte (Hypo- bzw. Hyperglykämie) sowie chronische Abweichungen verhindern. Die einfachste Form eines technischen Regelkreises mit negativer Rückkopplung ist die eines Heizkörpers, dessen Heißwasserzufluss über ein Ventil oder über eine Umwälzpumpe von einem Zimmerthermostat beim Überund Unterschreiten einer vorgewählten Temperatur abbzw. angedreht wird. Im Mittel wird die Zimmertemperatur dadurch zwar etwa auf dem gewünschten Wert gehalten, doch ergeben sich große Schwankungen durch die Trägheit des Systems, da der Heizkörper auch ohne Zufluss noch lange Wärme abströmt und die Wiederaufwärmung ebenfalls einige Zeit braucht. Diese Schwankungen können dadurch gedämpft werden, dass a) der Zuflusshahn statt an/aus nur graduell gedrosselt bzw. geöffnet wird und/oder b) die jeweilige Gegensteuerung schon einsetzt, bevor die erwünschte Temperatur erreicht ist. In der einen oder anderen Form sind solche Regelkreise auch im Organismus verwirklicht. Ein besonderes Problem ist das Auftreten von in ihrer Intensität stark unterschiedlichen Störgrößen, im Heizungsbeispiel etwa das Offenbleiben eines Fensters; trotz (a) und (b) kommt es dabei zu besonders hohen Istwertschwankungen. Hier wäre es hilfreich, wenn der Sensor nicht den Istwert selbst, sondern das voraussichtliche Ausmaß der Istwertänderung abschätzen könnte; ein Maß dafür ist die Geschwindigkeit der Änderung (im Beispiel C/min). Je größer die Störgröße, um so steiler verliefe dann die Istwertänderung und um so stärker wäre folglich die Gegensteuerung.

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1.3 Ob Zelle oder Organismus: ein offenes System mit innerem Milieu

Soll

Regler

Störgröße

Sensor Regelstrecke

Die positive Rückkopplung: Knalleffekte und Katastrophen Von positiver Rückkopplung spricht man, wenn die Erhöhung des Istwerts über die Rückkopplungsschleife verstärkt wird (Abb. 1.8 B). Während die oben genannte negative Rückkopplung ja den Istwert möglichst konstant halten sollte, ihn also bei einem Anstieg wieder erniedrigte, dient die positive Rückkopplung der Selbstverstärkung des ursprünglichen Steuerbefehls. Drei physiologische Beispiele dazu: – Im Dünndarm katalysiert Trypsin die Trypsinbildung aus Trypsinogen (S. 451): Autokatalyse. – Eine Depolarisation der Nerven- und Muskelzelle erhöht die Membranleitfähigkeit für Na+; der dadurch erhöhte Na+-Einstrom depolarisiert die Zellmembran etc. (S. 68 f.). – Luteotropes Hormon (LH) erhöht die Synthese von Östradiol. Kurz vor der Mitte des Menstruationszyklus

Soll

Regler

Sensor

Störgröße

Soll

Andere Störgrößen unserer körperinternen Regelung sind allerdings so neu, dass wir erst noch lernen müssen, uns richtig zu verhalten. Die zu hohe Kochsalz- und Fettaufnahme mit der Nahrung in westlichen Industrieländern z. B. überfordert offenbar häufig die Regelkreise für die Kochsalzbilanzierung bzw. die des Körpergewichts; Hochdruck bzw. Fettsucht sind oft die Folge (Kap. 13 bzw. 14).

Regelstrecke

Regler

Sensor Regelstrecke

Störgröße

Im Organismus können Messgrößenänderungen durch Rezeptoren (Sensoren) registriert werden, die relativ rasch adaptieren und damit auch differenziell arbeiten können (PD-Rezeptoren; Kap. 20). Typische Beispiele dafür sind die Kälterezeptoren (Thermoregulation; Kap. 15) und die arteriellen Pressorrezeptoren (akute Blutdruckregulation; Abb. 1.7 und Kap. 8). Letzteres Beispiel zeigt auch den Nachteil der Differenzialeigenschaften eines Rezeptors im Regelkreis: Sehr langsame, aber stetige Änderungen, wie etwa die Entwicklung eines arteriellen Hochdrucks (Hypertonie), können der Registrierung und damit der Regelung entgehen, ja rasche Blutdrucksenkungen bei einem Patienten mit Hypertonie werden sogar mit einer Wiederanhebung des Drucks beantwortet. Für die langfristige Blutdruckregulation sind also andere Regelkreise erforderlich (Kap. 8, 12 und 13). Regelung durch Verhalten. Auch wenn wir gesund sind, ist unsere körperinterne Thermoregulation überfordert, wenn wir z. B. versuchen, eine arktische Nacht in Hemd und Hose bzw. im Sommerkleid im Freien zu überleben; hier befinden wir uns außerhalb der Regelbreite der Thermoregulation. Die Regelbreite wird erhöht, wenn das Verhalten als Stellglied in den Regelkreis mit einbezogen wird. Viele Tiere haben in der Evolution „gelernt“, sich in Höhlen vor Kälte oder Hitze zu schützen, der Mensch hat darüber hinaus Heiz- und Kühlsysteme entwickelt, um seine Umgebungstemperatur im Regelbereich seiner internen Thermoregulation zu halten.

Regler Sensor

Führungsgröße (Sollwert)

Regelstrecke

Regelgröße (Istwert) Zeit

1 stabile Regelung

Zeit

2 starke Störgröße

Zeit 3 starke Sollwertverstellung

Regelgröße (Istwert)

A negative Rückkopplung

Zeit

B positive Rückkopplung

Abb.1.8 Negative und positive Rückkopplung. Bei der negativen Rückkopplung (A) hält der Regler den Istwert möglichst nahe am Sollwert, doch sorgen Störgrößen (s. auch Abb.1.7) immer wieder für Abweichungen, die „negative“ Nachregelungen in der Gegenrichtung auslösen, so dass der Istwert wellenförmig um den Sollwert schwankt (A,1). Bei besonders ausgeprägten Störgrößen (A, 2) oder bei plötzlicher Verstellung des Sollwertes (A, 3) kommt es initial zu relativ starken Abweichungen, doch flacht die Welle bei

stabiler Regelung in der Folge rasch wieder ab (Dämpfung). Bei der positiven Rückkopplung (B) wirkt eine Abweichung des Istwertes vom vorherigen Istwert (hier gibt es keinen Sollwert) als „positiver Reiz“ für eine noch größere Abweichung, so dass es zu einer Selbstverstärkung in diesem Regelkreis kommt. Physiologische Beispiele der positiven Rückkopplung sind im Text genannt. Als Teufelskreis (Circulus vitiosus) ist die positive Rückkopplung allerdings auch wesentlich am Fortschreiten von Krankheiten beteiligt.

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1 Wer liest schon Einleitungen? erhöht Östradiol aber auch umgekehrt die LH-Freisetzung, so dass der für die Ovulation notwendige sehr rasche LH-Anstieg zustande kommt (Abb. 17.1, S. 563). Solche positiven Rückkopplungsmechanismen müssen von außerhalb der Schleife her unterbrochen werden: im ersten Beispiel durch das Aufbrauchen des Trypsinogens, im zweiten durch die depolarisationsbedingte Inaktivierung der Na+-Kanäle (S. 68 f.) und im dritten vermutlich durch Veränderungen an den Östradiolrezeptoren der Hypophyse oder des Hypothalamus (Kap. 16 und 17). Unter pathologischen Bedingungen führen solche positiven Rückkopplungsschleifen in einem Circulus vitiosus häufig zur Katastrophe, wenn sie nicht rechtzeitig vom Arzt unterbrochen werden. Ein beginnender Kreislaufschock etwa (Kap. 8) kann mehrere solcher Teufelskreise auslösen, darunter den folgenden: Blutdruckabfall → Hypoxie und Azidose → Myokardkontraktion gestört → Herzkraft sinkt → Blutdruck sinkt noch stärker usw. Auch Gewöhnung und Sucht (Rauchen, Alkohol, Tranquilizer, Rauschgifte) entstehen in der positiven Rückkopplungsschleife eines Teufelskreises, der, wenn man vom Rauchen absieht, oft auch noch in einen sozialen Teufelskreis einmündet.



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Zum Weiterlesen … 1 Bernard C. Introduction à l’étude de la médicine expérimentale. Erstausgabe Paris 1865, Nachdruck Paris: Garnier-Flammarion; 1966; Einführung in das Studium der experimentellen Medizin. Leipzig: Barth; 1961 2 Eckert R. Tierphysiologie. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2000 3 Hanson NR. Perception and Discovery. An Introduction to Scientific Inquiry. San Francisco: Freeman, Cooper; 1969 4 Medawar PB. Die Kunst des Lösbaren. Reflexionen eines Biologen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; 1972 5 Popper KR. Logik der Forschung. Tübingen: Mohr; 1984 6 Sachs L. Angewandte Statistik, 11. Auflage. Berlin: Springer; 2004 7 Wartofsky MW. Conceptual Foundations of Scientific Thought. An Introduction to the Philosophy of Science. New York: Macmillan; 1968

… und noch weiter 8 Cannon WB. The Wisdom of the Body. New York: Norton; 1932/1939 9 Cole KS, Curtis HJ. Electrical impedance of the squid giant axon during activity. J Gen Physiol. 1939; 22: 649 – 670 10 Fick A. Compendium der Physiologie des Menschen mit Einschluss der Entwicklungsgeschichte. Wien: Braumüller; 1860 11 Hodgkin AL, Huxley AF. Action potentials recorded from inside a nerve fibre. Nature. 1939; 144: 710 – 711 12 Hodgkin AL, Huxley AF. Resting and action potentials in single nerve fibres. (Lond.) 1945; 104: 176 – 195 13 Kandel ER. Small systems of neurons. Sci Amer. 1979; 241: 60 – 70 14 Kandel ER. Classical conditioning and sensitization share aspects of the same molecular cascade in Aplysia. Cold Spring Harbor Symposia on Quantitative Biology, Vol. XLVIII. Cold Spring Harbor Laboratory; 1983 15 Keynes RD. The nerve impulse and the squid. Sci Amer. 1958; 199: 83 – 90 16 Oberleithner H, Kersting U, Silbernagl S, Steigner W, Vogel U. Fusion of cultured dog kidney (MDCK) cells. II: Relationship between cell pH and K+ conductance in response to aldosterone. J Membr Biol. 1989; 111: 49 – 56 17 Silva AJ, Paylor R, Wehner JM, Tonegawa S. Impaired spatial learning in α-calcium-calmodulin kinase II mutant mice. Science. 1992; 257: 207 – 211 18 Starling EH, Verney EB. The secretion of urine as studied on the isolated kidney. Proc Roy Soc Lond. 1925; Ser. B 97: 321 – 363 19 Verney EB. The secretion of pituitrin in mammals, as shown by perfusion of the isolated kidney of the dog. Proc Roy Soc Lond. 1926; Ser. B 99: 487 – 517 20 Verney EB, Starling EH. On secretion by the isolated kidney. J Physiol (Lond.) 1922; 56: 353 – 358 21 Wagner R. Probleme und Beispiele biologischer Regelung. Stuttgart: Thieme; 1954 22 Wagner J, Zeh K, Paul M. Transgenic rats in hypertension research. J Hypertens. 1992; 10: 601 – 605

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Die Zelle als Grundbaustein C. Korbmacher und R. Greger mit Beiträgen von B. Brenner und S. Silbernagl

2.1

Die zelluläre und molekulare Physiologie hilft Krankheitsmechanismen zu verstehen ··· 14

2.2

Subzelluläre Komponenten · · · 15 Die Plasmamembran trennt den Extrazellulär- vom Intrazellulärraum ··· 15 Das Zytoskelett ist entscheidend für die Organisation der Zellstruktur und für den intrazellulären Transport ··· 16 Der Zellkern speichert, verarbeitet und repliziert die genetische Information der Zelle ··· 17 Proteinsynthese findet an Ribosomen statt ··· 18 Das endoplasmatische Retikulum ist wesentlich für die Synthese von Membranproteinen, sekretorischen Proteinen und Lipiden · ·· 19 Im Golgi-Apparat werden Proteine modifiziert und gelangen von dort aus durch vesikulären Transport an ihren Bestimmungsort ··· 19 Lysosomen und Peroxisomen sind Abbaustationen · · · 20 Mitochondrien produzieren ATP mit Hilfe eines Protonengradienten · · · 20

2.3

2.4

2.5

Homöostatische Mechanismen · · · 34 Mechanismen der Zellvolumenregulation wirken Zellschrumpfung oder -schwellung entgegen ··· 34 Die Homöostase der Ionenkonzentrationen im Zytosol erfordert eine feine Abstimmung der Ionentransportmechanismen ··· 34 Der pH-Wert im Zytosol wird in engen Grenzen reguliert · · · 35

2.6

Hormone und Mechanismen der Signaltransduktion ··· 35 Steroidhormone, Calcitriol und Schilddrüsenhormone regulieren die Transkription ··· 36 Die hormonabhängige cAMP-Kaskade ··· 36 Die hormonabhängige IP3-Kaskade ··· 38 Enzymgekoppelte Hormonrezeptoren ··· 39 Wachstumsfaktoren · · · 40 Calcium als Botenstoff · · · 40 Stickstoffmonoxid (NO), ein besonderer Botenstoff · · · 40

2.7

Zelluläre Motilität · · · 41 Wechselwirkungen zwischen Motorproteinen und Zytoskelettstrukturen sind Grundlage zellulärer Motilität · ·· 41 Motorproteine nutzen die chemische Energie der ATP-Hydrolyse, um sich an Zytoskelettstrukturen entlang zu bewegen ··· 42 Motorproteine vermitteln den intrazellulären Transport und sind an Stoffaufnahme (Endozytose) und Stoffabgabe (Exozytose) beteiligt ··· 42 Motorproteine sind an der Dynamik der Zellstruktur beteiligt ··· 44 Motorproteine sind auch an Kriechbewegungen von Zellen beteiligt ··· 44 Motorproteine sind an zwei spezialisierten motilen Strukturen beteiligt, dem Sarkomer und dem Axonem · ·· 44

2.8

Altern und Zelltod · ·· 45 Altern und Langlebigkeit · ·· 45 Maximale Lebensspanne · ·· 46 Zelltod: Nekrose und Apoptose ··· 48

Transportwege durch die Zellmembran

· · · 21 Der Transport von Gasen (z. B. CO2, O2) und lipophilen Substanzen durch die Zellmembran erfolgt durch Diffusion · ·· 21 Nicht lipidlösliche Substanzen gelangen mit Hilfe spezifischer Membrantransportproteine durch die Membran · · · 22 Wasserkanäle (Aquaporine) ermöglichen den polaren Wassermolekülen den Durchtritt durch die Plasmamembran · ·· 22 Ionenkanäle sind selektive und komplex regulierte Poren für den Membrandurchtritt von Ionen ··· 22 Die elektrochemische Triebkraft bestimmt den passiven Transport von Ionen durch die Plasmamembran · · · 24 Der Stromfluss durch einzelne Ionenkanäle kann mit Hilfe der Patch-Clamp-Technik direkt gemessen werden · ·· 26 Carrier binden Substrate und befördern sie durch die Plasmamembran · ·· 28 Ionenpumpen transportieren „primär-aktiv“ unter Verbrauch von ATP ··· 30

Ionale Zusammensetzung von Intra- und Extrazellulärflüssigkeit

··· 32 Zwischen Extra- und Intrazellulärflüssigkeit bestehen Ionengradienten insbesondere für Na+ und K+ · ·· 32 Die zentrale Rolle der Na+-K+-ATPase ··· 32

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2

14

2 Die Zelle als Grundbaustein

2.1

Die zelluläre und molekulare Physiologie hilft Krankheitsmechanismen zu verstehen

sche zelluläre Grundmechanismen in einer Vielzahl von Organen betroffen sind. Ein Paradebeispiel für eine solche Erkrankung ist die Mukoviszidose (Zystische Fibrose), bei der es durch einen erblichen Defekt eines einzigen Membrantransportproteins, des Chloridkanals CFTR (cystic fibrosis transmembrane conductance regulator), zu krankhaften Veränderungen in so unterschiedlichen Organen wie Lunge, Bauchspeicheldrüse, Dickdarm, Nebenhoden und Schweißdrüsen kommt (S. 258, 441). Auch ein Verständnis der Wirkungen und Nebenwirkungen von Medikamenten ist nur möglich, wenn man deren zelluläre und molekulare Angriffspunkte kennt. Gerade die Ähnlichkeit der zellulären Grundmechanismen ist dabei eine ernorme Herausforderung für eine gezielte medikamentöse Therapie, bei der ein bestimmtes Medikament möglichst spezifisch nur auf ein Organsystem und dessen Zellen wirken soll. Daher muss der Arzt auch die gewebespezifischen Ausprägungen und Nuancen der zellulären und molekularen Grundelemente verstehen, um durch die Wahl des richtigen Medikaments möglichst gezielt, beispielsweise in einen Signaltransduktionsweg, eingreifen zu können. Dies ist unter anderem dadurch möglich, dass ein und derselbe Signaltransduktionsweg durch die Aktivierung unterschiedlicher Rezeptoren beeinflusst werden kann, wobei diese Rezeptoren mehr oder weniger organspezifische Verteilungsmuster zeigen

Den Funktionen des Körpers liegt das Zusammenspiel komplex organisierter Zellverbände zu Grunde, wobei die Zellen die Grundbausteine darstellen, die die funktionellen Elementarleistungen erbringen. Unser Wissen über die zellulären und molekularen Mechanismen in den einzelnen Organen und Organsystemen schreitet rasch voran (1, 3, 4, 8,11). Dabei zeigt sich, dass bestimmte zelluläre Grundprozesse in allen Organsystemen nach ganz ähnlichen Prinzipien ablaufen bei nach außen hin gänzlich unterschiedlichen Organfunktionen. So werden in allen Zellen des Körpers ähnliche oder gar identische Struktur- und Funktionselemente verwendet, wobei die individuelle Zusammensetzung der verschiedenen Bauelemente letztlich die zell- und organspezifische Funktion bestimmt. Beispiele hierfür sind Membrantransportproteine oder Signaltransduktionsmechanismen, die baugleich oder mit nur kleinen Variationen in den unterschiedlichsten Organen vorkommen. Diese Erkenntnis hat wesentlich zur Entwicklung eines organübergreifenden zellulären und molekularen Krankheitsverständnisses beigetragen. So sind viele Erkrankungen mit Manifestationen in verschiedenen Organsystemen nur dadurch zu verstehen, dass identi-

Lumen

Bürstensaum

Schlussleiste

Adhäsionsgürtel

Lysosomen raues endoplasmatisches Retikulum

Zytoplasma

Desmosom

Zellkern mit Chromatin

Zytoskelett

glattes endoplasmatisches Retikulum 1µm

Golgi-Apparat

Kernpore

Blutseite Basalmembran basolaterale Einfaltung

Hemidesmosom

Abb. 2.1 Schematische und elektronenmikroskopische Darstellung einer Epithelzelle. Mikrovilli, die dem Lumen zugewandt sind, dienen der Oberflächenvergrößerung der Zellmembran ebenso wie die basolateralen Einfaltungen auf der Blutseite der Zelle. Die einzelnen Zellen werden über die Schlussleisten (Tight Junction oder Zonula occludens, s. auch Abb. 3.2), den darunter liegenden Adhäsionsgürtel (Zonula adherens) und über punktförmige Desmosomen zusammen-

Mitochondrium Mikrotubuli

Gap Junction

gehalten. Der Zellkern ist von einer Doppelmembran (Kernhülle) umgeben, die Kernporen ausspart (s. auch Abb. 2.3). Diese Kernhülle geht in das endoplasmatische Retikulum über (s. auch Abb. 2.5). Weitere Organellen sind die ebenfalls von einer Doppelmembran abgegrenzten Mitochondrien (s. auch Abb. 2.6) sowie der Golgi-Apparat, Lysosomen (s. auch Abb. 2.5), Mikrotubuli und andere Komponenten des Zytoskeletts (Foto: W. Pfaller).

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2.2 Subzelluläre Komponenten können. Wirkt ein Medikament also bevorzugt auf einen organspezifischen Rezeptor, wird der Signaltransduktionsweg überwiegend in dem entsprechenden Organ beeinflusst werden mit nur geringen Nebenwirkungen auf andere Organsysteme. In den folgenden Abschnitten dieses Kapitels werden einige grundlegende Zellfunktionen und deren molekulare Bauelemente kurz erläutert, wobei das Hauptgewicht der Darstellung auf Membrantransportprozessen und Signaltransduktionswegen liegt, da diese für das Verständnis komplexer physiologischer Organfunktionen und deren Pathophysiologie von herausragender Bedeutung sind.

2.2

Subzelluläre Komponenten

Eine Zelle mit ihren einzelnen Komponenten und Organellen ist in Abb. 2.1 schematisch dargestellt. Die Plasmamembran trennt das Zytosol vom Extrazellulärraum. Sie regelt die Kommunikation zwischen diesen beiden Kompartimenten. Das Zytoskelett (Filamente und Mikrotubuli) durchspannt die Zelle; es ist für die Zellbewegung verantwortlich, steuert intrazelluläre Transportprozesse, sorgt für den Zusammenhalt von Zellverbänden und bestimmt den orientierten Einbau von Membranproteinen. Im Zellkern ist die genetische Information enthalten, die die Proteinsynthese der Zellen steuert. Diese findet an den Ribosomen des rauen endoplasmatischen Retikulums statt. Der Golgi-Apparat ist eine wichtige Station für die Modifizierung und Reifung der Proteine als Voraussetzung für deren gezielten Einbau in subzelluläre Kompartimente oder in Sekretionsvesikel. Lysosomen und Peroxisomen sind intrazelluläre Membranvesikel, die Hydrolasen und Katalasen enthalten. Sie dienen dem enzymatischen Abbau der in die Vesikel aufgenommenen Substanzen. Mitochondrien enthalten die Enzyme der Atmungskette. Hier wird aus den reduzierten Äquivalenten NADH + H+ und FADH2 ein chemischer und elektrischer Gradient für Protonen aufgebaut, der dann vermittels der mitochondrialen ATP-Synthetase zur ATP-Produktion dient.

Die Plasmamembran trennt den Extrazellulär- vom Intrazellulärraum Die Plasmamembran umgibt das Zytosol (auch Zytoplasma genannt) und trennt damit den Extra- vom Intrazellulärraum. Der Aufbau der Membran (Abb. 2.2) spiegelt ihre zwei gegensätzlichen Funktionen wider. Zum einen trennt die Zellmembran wässrige Lösungen ganz unterschiedlicher Zusammensetzung (S. 32, Tab. 2.1), zum anderen bestimmt die Membran das Ausmaß der Kommunikation zwischen den Kompartimenten. Die Membran besteht aus einer Doppelschicht von Lipiden (z. B. Phosphatidylcholin), wobei sich in der Membranmitte die apolaren (hydrophoben) Kohlenwasserstoffketten der Fettsäurereste gegenüberstehen und die polaren (hydrophilen) Kopfgruppen in die wässrigen Lösungen ragen. Durch die Hydrophobizität der Membran wird diese zu einer kaum überwindbaren Barriere für

Tabelle 2.1 Ionenkonzentrationen im Intra- und Extrazellulärraum (Zytosol bzw. Interstitium) (mmol/l H2O) Zytosol Na+

8 – 30

Interstitium 145

K+

100 – 155

Ca2+

< 0,001*

1,25*

Mg2+

≈ 0,8*

0,7*

Cl– HCO3– große Anionen

4 – 30

4,4

117

8 – 15 100 – 150**

27 –

Die Messwerte im Extrazellulärraum werden meist mit chemischen Methoden gewonnen. Hierdurch bestimmt man die Konzentration (c). Die intrazellulären Messungen mit Mikroelektroden erfassen dagegen die Konzentration der freien, ionisierten Teilchen, also die Ionenaktivität (a). Aus Gründen der Vereinfachung sind in der Tabelle nur Konzentrationswerte angegeben (Umrechnung S. 865). Für den Intrazellulärraum sind Bereiche anstelle von Mittelwerten angegeben, weil zum einen die Messungen noch eine gewisse Streuung aufweisen und weil zum anderen die Werte von Zellart zu Zellart erhebliche Unterschiede ergeben. So ist z. B. die Cl–-Konzentration in den meisten Nervenzellen und in quergestreiften Muskelzellen sehr niedrig, in vielen Epithelien dagegen deutlich höher. Große Anionen sind vorwiegend Proteine und organische Phosphate. Im Extrazellulärraum kommen nur sehr geringe Konzentrationen von großen Anionen vor. * ionisierter Anteil ** Ladungsäquivalent-Konzentration

Ionen, Wasser und hydrophile Moleküle. Neben Lipiden enthält die Membran Proteine und in geringem Umfang auch Kohlenhydrate. Die Proteine können an die hydrophilen Kopfgruppen der Lipide angelagert sein, oder sie können sich als integrale Proteine durch die ganze Membran spannen. Solche Transmembranproteine dienen zum Beispiel als Transportproteine und sorgen damit für die geordnete Kommunikation zwischen Extra- und Intrazellulärraum. In die Gruppe der Transportproteine gehören Ionenkanäle, Carrierproteine und Pumpen (ATPasen). In anderer Weise dienen so genannte Rezeptorproteine der Kommunikation, indem sie bestimmte Stoffe (z. B. Hormone) erkennen und dieses Signal in entsprechende intrazelluläre Botensubstanzen umsetzen (S. 35 ff.). Auch die so genannten Adhäsionsmoleküle (S. 179) gehören zur Gruppe der Transmembranproteine. So vermitteln Integrine den Kontakt der Zellen mit der extrazellulären Matrix. Daneben gibt es verschiedene Familien von Zell-Zell-Adhäsionsmolekülen, beispielsweise die Familie der Cadherine, die einen Ca2+-abhängigen Zell-Zell-Kontakt vermitteln. Adhäsionsmoleküle spielen bei so unterschiedlichen Prozessen wie der gezielten Migration von Immunzellen und dem zielgerichteten Auswachsen eines Axons im sich entwickelnden Zentralnervensystem eine wesentliche Rolle. Die physiologische Bedeutung dieser Moleküle kann auch daran abgelesen werden, dass ein Verlust von Zell-Zell- und Zell-Matrix-Adhäsionsmolekülen ein charakteristisches Merkmal metastasierender Tumorzellen ist. Ähnlich wie das Zytosol von der Plasmamembran umgeben ist, sind auch die intrazellulären Organellen von Membranen umhüllt. Auch sie bestehen aus Lipiddoppelschichten und verfügen über an- und eingelagerte

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2 Die Zelle als Grundbaustein

Extrazellulärraum

Glykosylierung

ca. 5 nm

Phospholipidkopfgruppe Fettsäurereste hydrophobe Schicht integrales Membranprotein peripheres Membranprotein

Zytoplasma

A schematischer Aufbau der Plasmamembran

B rasterkraftmikroskopische Aufnahme der Plasmamembranoberfläche

Abb. 2.2 Plasmamembran. A Schematischer Aufbau: Die Phospholipid-Doppelschicht ist so orientiert, dass sich die apolaren (hydrophoben) Fettsäurereste gegenüberstehen. Die polaren (hydrophilen) Kopfgruppen stehen in Kontakt mit der Innen- (Zytosol) bzw. Außenlösung. In die Membran sind Proteine eingelagert. Diese Proteine können auf jeweils nur einer Membranseite lokalisiert sein, oder sie können die ganze Membran durchspannen. Im letzteren Falle bezeichnet man sie als integrale Membranproteine oder Transmembranproteine. Transportproteine sind generell Transmembranpro-

Proteine. An einigen der Organellen ist die Membran doppelt gefaltet. So hat der Zellkern eine äußere und eine innere Membran (Abb. 2.3). Ähnlich verfügen die Mitochondrien über eine Außen- und eine Innenmembran (Abb. 2.6, S. 20). Die Organellenmembranen sind je nach Organelle mit ganz unterschiedlichen Proteinen ausgestattet (s. unten). Auch die Zusammensetzung der Lösung im eingeschlossenen Kompartiment kann stark von der des Zytosols abweichen.

Das Zytoskelett ist entscheidend für die Organisation der Zellstruktur und für den intrazellulären Transport Das Zytoskelett (Abb. 2.1, S. 14) dient je nach Zelltyp ganz unterschiedlichen Funktionen. Es kann, wie das Wort impliziert, in Form feiner Proteinfäden und -schläuche – Mikrofilamente, Mikrotubuli – die Zelle durchspannen und damit die Zellgestalt stabilisieren und beispielsweise zur Ausformung von Zilien und Mikrovilli beitragen. Zytoskelettfäden können auch die Membran auf der Innenseite verspannen und in Wechselbeziehung mit

5 nm

teine. Dort, wo Proteine von den Membranlipiden umgeben sind, weisen sie apolare Peptidketten (hydrophobe Aminosäuren) auf. Sowohl Proteine als auch die Lipidkopfgruppen können Kohlenhydratkomponenten enthalten. Die Lipidzusammensetzung ist für die Plasmamembranen verschiedener Zelltypen unterschiedlich. B Rasterkraftmikroskopische Aufnahme (Atomic force microscopy; 29) der Plasmamembran einer Eizelle des Krallenfrosches (Xenopus laevis). Die Membranproteine ragen 2 – 5 nm aus dem Lipid heraus (Foto: H. Oberleithner).

Membranproteinen treten (z. B. Ankyrin und Bande-3Protein bei Erythrozyten, Abb. 9.4, S. 230). Die funktionelle Bedeutung des Zytoskeletts reicht aber weit über das hinaus, was das Wort „Skelett“ impliziert. In Zellverbänden stellen besondere Zytoskelettelemente (Tonofilamente) Zellverbindungen (Desmosomen) her. Das Zytoskelett ist für Bewegungen der gesamten Zelle ebenso verantwortlich (s. auch die spezifische Funktion der Aktin-Myosin-Interaktion am Muskel), wie es intrazelluläre Transportprozesse steuert (Mikrotubuli) beispielsweise im Rahmen des axoplasmatischen Transports (S. 41 ff., 614). Ein weiteres Beispiel für gerichteten intrazellulären Transport, an dem Zytoskelettelemente maßgeblich beteiligt sind, ist der gezielte Einbau von Membranvesikeln in die Plasmamembran von Epithelzellen auf der „richtigen“ Membranseite (59). Eine Zerstörung des Zytoskeletts unterbricht daher auch den Transport dieser Vesikel.

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2.2 Subzelluläre Komponenten

Zytosol

aktiver Rezeptor inaktiver Rezeptor

Transkriptionsfaktor 160 nm

Tight Junction (Schlussleiste)

Steroidhormon Kernporen

0

RNA

Splicing

0,5 1,0 µm A AA

AA

AA

DNA

A

B Kernporen des Krallenfrosches (rasterkraftmikroskopische Aufnahme)

Zellkern

A Proteinbildung

Abb. 2.3 Kernporen als Durchlass zwischen Zytosol und Zellkern. A Epithelzelle mit Zellkern. Das Steroidhormon (rot) bindet an den inaktiven Rezeptor. Dieser besteht aus zwei Teilen, dem eigentlichen Rezeptor (blau) und der Kernlokalisationssequenz (gelb). Nach Bindung des Hormons gelangt der Komplex an die Kernpore, wird dort „überprüft“ und durch die Pore hindurchgelassen. Im Zellkern bindet der Komplex an entsprechende DNA-Sequenzen. Im Zusammenspiel mit Transkriptionsfaktoren (rosa), die ebenfalls die Kernlokalisationssequenz besitzen, werden die entsprechenden Messenger-RNAs transkribiert und weiter bearbeitet (Splicing = Herausschneiden nicht kodierender RNA-Bruch-

Der Zellkern speichert, verarbeitet und repliziert die genetische Information der Zelle Der Zellkern ist vom Zytoplasma durch eine Doppelmembran abgetrennt (Abb. 2.3 und Abb. 2.4). Er enthält in Chromosomen die genetische Information als Desoxyribonucleinsäuren (DNA). Diese Information ist mit ca. 3 · 109 Nucleotiden pro Zellkern unglaublich dicht gepackt. Man kann die DNA als eine Art Datenbank auffassen, die bei einer Zellteilung durch exakte Replikation an beide Tochterzellen weitergegeben wird. Von der DNA wird die jeweils erforderliche genetische Information abgelesen, die zur Herstellung entsprechender Genprodukte (Proteine) erforderlich ist. Dabei kommt der Regulation der Genexpression eine entscheidende Bedeutung zu für eine den jeweiligen Anforderungen angepasste Ausprägung von Zelleigenschaften und -funktionen. Das menschliche Genom enthält schätzungsweise 25 000 Gene, wobei in einer individuellen Zelle nur jeweils eine spezielle Auswahl – etwa 10 000 – dieser Gene in Proteine übersetzt wird. So enthalten beispielsweise alle Körperzellen das Gen für Albumin, aber nur Leberzellen (Hepatozyten) können Albumin synthetisieren und in die Blutbahn sezernieren. Diese gewebe- und zellspezifische Genexpression ist ein komplex regulierter Vorgang der

siehe Abb. 2.4

stücke). Die mit Polyadenin (…AAA) versehenen mRNASchwänze erlauben das Passieren der Kernporen in umgekehrter Richtung. Mit Hilfe von Ribosomen werden die Messenger-RNAs im Zytosol in Proteine umgeschrieben (s. Abschnitt Proteinsynthese) B Rasterkraftmikroskopische Aufnahme (Atomic force microscopy; 29) von Poren in der Kernhülle der Eizelle des Krallenfrosches (Xenopus laevis). Die Abbildung zeigt den dichten Besatz mit Kernporen, die mit ihrer Öffnung ins Zytosol ragen. Jede Kernpore ist ein Komplex aus mehr als hundert Proteinen, der einen zentralen Kanal bildet (43) (Foto: H. Oberleithner).

durch körpereigene Mechanismen aber auch durch äußere Faktoren beeinflusst wird. Die DNA erhält durch Interaktion mit bestimmten Kernproteinen eine hoch verdichtete räumliche Struktur, die Chromatin genannt wird. Die aneinander gereihten Grundbausteine des Chromatins sind die Nucleosomen bestehend aus etwa 200 Basenpaaren DNA und einem Proteinkern aus Histonen. Eine Aktivierung der Genexpression setzt eine Veränderung der Chromatinstruktur voraus, so dass Bereiche der DNA für die Genkontrollmechanismen frei zugänglich werden. Die Synthese von Proteinen (Abb. 2.4) beginnt damit, dass bestimmte Abschnitte der DNA durch RNA-Polymerase II zu Ribonucleinsäure (RNA) umgeschrieben werden (Transkription). Hier kann die erste Stufe der Kontrolle der Genexpression eingreifen. Dabei spielen regulatorische Bereiche der DNA eine wesentliche Rolle. So ist jedem Genabschnitt auf der DNA ein Promotor als regulatorisches Element vorgeschaltet, der für die Initiierung der Transkription erforderlich ist. Durch einen Vorgang, der alternatives Splicing genannt wird, können aus einem Gen verschiedene eng verwandte mRNAs entstehen, wodurch sich die Anzahl der möglichen Genprodukte erhöht. An der komplexen Steuerung der Genexpression sind eine Vielzahl von Transkriptionsfaktoren beteiligt. In einer

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2 Die Zelle als Grundbaustein

Zellkern

DNA

Transkription Modifikation (Splicing, Exportsignal) Inaktivierung 5’Ende

mRNA Ribosom

Translation

mRNA

Ribosom

3’Ende

Start wachsendes Protein

Modifikation Protein

verschiedene Zellantworten (je nach Ziel adressiert)

raues endoplasmatisches Retikulum Zytoplasma Golgi-Apparat

Modifikation

(z.B. Glykosylierung) Sekretvesikel

Exozytose

Plasmamembran

Abb. 2.4 Vereinfachte schematische Darstellung der Proteinsynthese. Im Zellkern wird DNA durch RNA-Polymerase II in Messenger-RNA (mRNA) umgeschrieben (Transkription) und modifiziert. Die mRNA verlässt den Zellkern durch die Kernporen. Ein Teil wird inaktiviert. Der andere Teil wird in den Ribosomen in eine Proteinsequenz übersetzt (Translation). Die Translation beginnt mit dem Aminoende (5'), und an das Carboxylatende (3') wird jeweils eine weitere Aminosäure angeknüpft. Anschließend wird das synthetisierte Protein modifiziert, je nach Ziel adressiert oder nach Modifikation im Golgi-Apparat zum „Export“ durch Exozytose vorbereitet.

weiteren Stufe der Kontrolle wird die Weiterverarbeitung der RNA und ihre Vorbereitung zum Export aus dem Zellkern als Messenger-RNA (mRNA) geregelt. Auf der Ebene der Ribosomen wird dann „entschieden“, welche Teile der mRNA in Proteine „übersetzt“ werden (Translation) und welche in inaktive mRNA umgebaut werden. Prinzipiell findet also die Kontrolle auf mindestens drei Ebenen statt, von denen vermutlich der ersten Ebene, d. h. der Kontrolle der Transkription z. B. durch Hormone (s. u.), die größte Bedeutung zukommt.

Kernporen bilden einen Kommunikationsweg zwischen Zytosol und Zellkern Die Kernhülle, die aus zwei Doppelschichtmembranen besteht (Abb. 2.1, S. 14 und Abb. 2.3, S. 17), ist mit Tausenden von relativ großen Kernporen ausgestattet, die aus einem Proteinkomplex von mehr als 30 Proteinen beste-

hen und einen Durchmesser von etwa 100 nm haben (43; Abb. 2.3). Im Bereich der Kernporen sind die innere und äußere Kernmembran eng miteinander verbunden. Der Proteinkomplex durchspannt beide Membranen, so dass die Poren den Kommunikationsweg zwischen Zytosol und Kerninnerem herstellen. Der Eingang einer Pore besteht wie der Ausgang aus 8 Einzelbausteinen, die kreisförmig angeordnet sind (Abb. 2.3 B). Der eigentliche Tunnel wird von einer Vielzahl von Proteinen gebildet. Die Kernporen kontrollieren den bidirektionalen Transport. Zum einen können Proteine aus dem Zytosol in den Zellkern gelangen, wenn sie eine entsprechende Kernlokalisationssequenz aufweisen. Diese Sequenz besteht aus einem Schwanz von 7 basischen Aminosäuren. In Abb. 2.3 A ist der Vorgang des Imports in den Zellkern am Beispiel des Steroidhormonrezeptors wiedergegeben. Nach Bindung des Hormons gelangt der Hormon-Rezeptor-Komplex in den Kern, kann sich dort an spezifische DNA-Sequenzen binden und unter Zuhilfenahme einiger anderer Proteine (Transkriptionsfaktoren) die Transkription der Zielgene steuern. Zum anderen werden durch die Kernporen Messenger-RNAs exportiert. Nach Transkription und Splicing (Herausschneiden nicht kodierender Sequenzen) werden bis zu 200 Adeninbausteine an die Messenger-RNAs angefügt. Dieser Poly-A(denin)Schwanz der Messenger-RNA stellt das Exportsignal dar. Schließlich können auch Ionen die Kernporen in beide Richtungen passieren. Sie scheinen dabei nicht den Haupttunnel durch die Pore, sondern parallele Seitenwege zu benutzen.

Proteinsynthese findet an Ribosomen statt Die Proteinsynthese findet an den Ribosomen statt (Abb. 2.4). Sie beginnt an einer bestimmten Startstelle der mRNA, dem so genannten Startkodon, mit einer Start-Transfer-RNA (tRNA). Ein Kodon entspricht einem Basentriplett, d. h. drei aufeinander folgenden Basen, der mRNA. Da es vier verschiedene Basen gibt, existieren 43 = 64 mögliche Kodons. Für 20 verschiedene Aminosäuren steht also eine redundante Anzahl von Codes zur Verfügung. Jede tRNA enthält unter anderem drei Basen, die das so genannte Antikodon bilden, und transportiert eine entsprechende Aminosäure. Das zu synthetisierende Peptid wächst in festgelegter Richtung weiter, indem immer an das Carboxylatende eine weitere Aminosäure angekoppelt wird. Der Prozess hört an einem von drei möglichen Stoppkodons auf. Nach der ribosomalen Synthese werden Proteine häufig noch modifiziert. Diese posttranslationale Modifikation kann z. B. darin bestehen, dass unter Verwendung von Koenzymen Aminogruppen azetyliert oder karboxyliert werden. Die Modifikation des synthetisierten Proteins kann der Vorbereitung des „Exports“ aus dem Zytosol oder der Sicherstellung einer ganz bestimmten Proteinfunktion dienen. Hierzu ist z. B. auch die Glykosylierung von Proteinen zu rechnen. Für ihre Funktion müssen Proteine die entsprechende komplexe Faltstruktur (die Tertiärstruktur) aufweisen. Für diese „Faltung“ sorgen sog. Hitzeschockproteine, die ihre Bezeichnung ihrer Fähigkeit verdanken, durch Hitze verformte Proteine wieder zurückzufalten. Hitze ist aber

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2.2 Subzelluläre Komponenten nur eine von vielen möglichen Ursachen für Missfaltungen. Die Hitzeschockproteine (HSP) gehören zur Familie der Chaperone („Anstandsdamen“), die eine Vielzahl von Aufgaben haben und insbesondere unerwünschte Interaktionen von sich faltenden Polypeptiden sowie deren Aggregation verhindern (67). Bei der Zellteilung wird jeweils das komplette genetische Material des Zellkerns repliziert, wobei der komplexe Mechanismus der Replikation sicherstellt, dass Lesefehler erkannt und repariert werden. Auch spontan im genetischen Code auftretende Defekte werden laufend repariert, so dass die im Kern enthaltene Information außerordentlich gut konserviert bleibt.

Das endoplasmatische Retikulum ist wesentlich für die Synthese von Membranproteinen, sekretorischen Proteinen und Lipiden Das endoplasmatische Retikulum (ER) (Abb. 2.1, Abb. 2.4, Abb. 2.5) wird mit Ribosomenbesatz raues ER und ohne solchen glattes ER genannt. Das ER steht mit der Kernhülle in enger Verbindung, wobei die äußere Kernmembran in die Membran des ER übergeht und somit das Lumen des ER mit dem Spalt zwischen den beiden Kernmembranen kommuniziert. Das ER ist mit seinem ribosomalen Besatz Teil der Maschinerie der Proteinsynthese, wobei an den Ribosomen des rauen ER die Synthese von Membranproteinen und von sekretorischen Proteinen stattfindet (S. 413), während zytosolische Proteine an freien Ribosomen im Zytoplasma produziert werden. Darüber hinaus werden die Proteine im ER modifiziert und damit ihre Bestimmung und ihr Bestimmungsort festgelegt. Zellen mit sekretorischer oder exkretorischer Funktion sind besonders reich an rauem ER. In diesen Zellen werden Teile des ER als Vesikel an den Golgi-Apparat abgegeben und stehen dort nach Modifikation wiederum als Vesikel für den „Export“ bereit (Abb. 2.5 und S. 413). Dieser so genannte „secretory pathway“ (51), dem die sekretorischen Proteine und auch die Membranproteine folgen, ist ein komplex regulierter Prozess mit verschiedenen Zwischenschritten, in deren Rahmen die posttranslationale Modifikation der Proteine erfolgt. Das glatte ER ist an der Lipidsynthese beteiligt.

Im Golgi-Apparat werden Proteine modifiziert und gelangen von dort aus durch vesikulären Transport an ihren Bestimmungsort Der Golgi-Apparat (Abb. 2.1, Abb. 2.4, Abb. 2.5) ist ein Membransystem, das sich in Lamellen in der Nähe des Zellkerns und des ERs gruppiert. Dieses Membransystem stellt eine wichtige weitere Station für den Export von Proteinen dar. So werden hier z. B. Proteine glykosyliert und Sekretvesikel vorbereitet. Diese Vesikel (Abb. 2.5) können dann als Folge eines entsprechenden Stimulus (z. B. cholinerge Stimulation der exkretorischen PankreasAzinuszellen) mit der Plasmamembran fusionieren und ihren Inhalt nach außen entleeren (S. 413). Die entleerten Membranen werden anschließend wieder internalisiert, um erneut für den vesikulären Transport verwendet zu werden. Vesikulärer Transport dient also der Exkretion.

„Material“ Lumen Endozytose Rezeptorrezirkulation

Endosomen

Exozytose

Abbau des Materials

Fusion

sekundäre Lysosomen primäre Lysosomen Sekretvesikel

Zytosol

GolgiApparat

raues endoplasmatisches Retikulum

Zellkern

Abb. 2.5 Vesikeltransport am Beispiel einer Epithelzelle. Bei der Endozytose wird das Material häufig an mit besonderen Rezeptoren versehenen Plasmamembranarealen in die Zelle aufgenommen. Nach Bildung von (primären und sekundären) Endosomen, Rezeptorrezirkulation und Fusion mit primären Lysosomen entstehen sekundäre Lysosomen. Dort kommt es zum Abbau des aufgenommenen Materials. Auch abgestorbene Zellorganellen (z. B. Mitochondrien) werden lysosomal abgebaut. Die Membran der Endosomen mit den entsprechenden Rezeptoren rezirkuliert zur Plasmamembran und wird in diese wieder integriert. Bei der Exozytose von Sekretvesikeln werden die Vesikel aus dem Golgi-Apparat geliefert und fusionieren mit der Plasmamembran, um den Vesikelinhalt abzugeben.

Vesikulärer Transport in der Gegenrichtung schließt sich an die Endozytose, d. h. die Aufnahme extrazellulären Materials (Phagozytose, Pinozytose), an. Beide Prozesse müssen gezielt ablaufen, also an der „richtigen“ Membran und in der vorgesehenen Richtung, wobei das aufgenommene bzw. exportierte Material korrekt erkannt werden muss. Für die Bildung von endozytotischen Vesikeln spielt das Protein Clathrin eine wichtige Rolle. Die endozytotischen Vesikel durchlaufen mehrere Stadien (frühe, dann späte Endosomen) und rezirkulieren teilweise zur Plasmamembran oder fusionieren schließlich mit Lysosomen (Abb. 2.5). Bei der Fusion der aus dem Golgi-Apparat stammenden Membranvesikel mit der Plasmamembran kommt es zum gezielten Einbau der in der Vesikelmembran befindlichen Membranproteine in die Plasmamembran. Ebenso spielt der regulierte Ausbau von Membranproteinen aus der Plasmamembran durch Endozytose eine wichtige Rolle, beispielsweise im Rahmen der Rezeptorendozytose bei Desensitivierungsreaktionen. Ein anderes Beispiel ist die gezielte Anpassung der Transportleistung in Epithelien durch eine Regulation der Anzahl der aktiven Transportproteine in der Zellmembran. Im „steady state“ stehen Ein- und Ausbau der Membranproteine in einem

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2 Die Zelle als Grundbaustein 2+

Ca

4 +

+

3

+

H H H

ADP

2+

Ca

ATP Pyruvat

Phosphat

Ca -Speicher

NADH

Atmungskette +

ADP

+

NAD

+

[H ]

1

2+

+

H H H

+

– + +

[H ]

ATP

ADP

äußere Membran Spalt innere Membran Matrix

+

– +

[H ]

[H+]

ATP ATPSynthetase

Abb. 2.6 Mitochondrienfunktion. Das Mitochondrium besitzt eine Außen- und eine Innenmembran. Durch die mitochondrialen Enzyme des Zitratzyklus und des Fettsäureabbaus werden in der Matrix reduzierte Äquivalente NADH + H+ und FADH2 (1) gebildet. Aus den reduzierten Äquivalenten werden über die Atmungskette (1) Protonen durch die innere Mitochondrienmembran in den mitochondrialen Spalt transportiert. Der so aufgebaute chemische Protonengradient, der vom Spalt in die Matrix gerichtet ist und das gleichzeitig erzeugte transmembranale elektrische Potenzial,

dynamischen Gleichgewicht. Um die Expressionsdichte in der Plasmamembran dem jeweiligen Bedarf anzupassen, kann sowohl die Insertionsrate der Transportproteine als auch deren Endozytoserate modifiziert werden. So bewirkt beispielsweise in der Niere das Hormon Adiuretin (ADH) die Insertion bestimmter Wasserkanäle (Aquaporin 2) in die apikale Zellmembran der Hauptzellen des Sammelrohrs (s. u.; S. 390, Abb. 13.14), während das Hormon Parathyrin (PTH) die Internalisierung und den anschließenden lysosomalen Abbau eines Phosphattransporters (NaPi-3) im proximalen Tubulus stimuliert (S. 362, Abb. 12.37). Über diese Mechanismen fördert ADH die renale Wasserresorption, während PTH die Resorption von Phosphat hemmt, das dadurch vermehrt ausgeschieden wird.

Lysosomen und Peroxisomen sind Abbaustationen In den Lysosomen und Peroxisomen (Abb. 2.1, Abb. 2.5) wird das endozytotisch aufgenommene Material abgebaut. Die Lysosomen sind eine Art Verdauungsapparat der Zellen und enthalten hierzu unter anderem Hydrolasen und Protonenpumpen, die das saure pH-Optimum für die Hydrolasen herstellen. Die Hydrolasen stammen aus dem endoplasmatischen Retikulum und werden über den Golgi-Apparat an die Lysosomen exportiert. Die Peroxisomen verwenden molekularen Sauerstoff und oxidieren die Substrate, insbesondere Fettsäuren, unter Bildung von Peroxiden. Das Peroxid wird vermittels des in diesen Organellen vorkommenden Enzyms Katalase zu H2O entgiftet. Ein weiterer Abbauweg, insbesondere für zytoplasmatische Proteine, ist die Degradation in so genannten Proteasomen. Diese stellen große zytoplasmatische

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treiben H+-Ionen via ATP-Synthetase in die Matrix, wodurch ATP produziert wird (2). Ca2+ wird unter ATP-Verbrauch mit Hilfe einer Ca2+-Pumpe (Ionenpumpe, S. 30 ff.) in den Matrixraum hineintransportiert (3). Damit stellen die Mitochondrien eines der zellulären Speichersysteme für Ca2+ dar. Der Protonengradient treibt über Carriersysteme (S. 28 f.) die Aufnahme von Phosphat und Pyruvat (4) an. ATP und ADP werden mit einem Antiportsystem (S. 28) aus dem bzw. in den Matrixraum transportiert (2).

Proteinkomplexe dar, die die abzubauenden Proteine nur dann aufnehmen und proteolytisch spalten können, wenn diese zuvor mit dem kleinen Protein Ubiquitin markiert wurden. Durch die selektive Ubiquitinierung von Proteinen mit Hilfe verschiedener Ubiquitinasen erhält dieser Abbauweg einen hohen Grad an Spezifität.

Mitochondrien produzieren ATP mit Hilfe eines Protonengradienten Mitochondrien besitzen, wie in Abb. 2.6 ersichtlich, eine Doppelmembran. Die Eigenschaften der beiden Membranen sind völlig unterschiedlich. Die äußere Membran ist für kleine Moleküle (< 5 kDa) relativ gut permeabel. Die innere Membran, die die Matrix umschließt, lässt dagegen H+-Ionen, Ca2+, ATP, Phosphat und andere Substrate nur mittels spezifischer Transportproteine durch (s. u.). In den Mitochondrien werden energiereiche Substrate zur Gewinnung von ATP umgesetzt. Dementsprechend finden wir in der Matrix die Enzyme des Fettsäureabbaus und des Zitratzyklus. Die innere Mitochondrienmembran enthält die Enzyme der sog. Atmungskette. Über diese Reaktionskette werden die aus dem Energiemetabolismus anfallenden reduzierten Äquivalente NADH + H+ und FADH2 in die oxidierte Form überführt (NAD+ bzw. FAD). Dabei werden H+-Ionen durch die innere Membran aus der Matrix heraustransportiert, und es entsteht ein transmembranales elektrisches Potenzial. Die Abgabe der H+-Ionen auf der Außenseite wird durch den polarisierten Einbau der Atmungskettenenzyme in die innere Mitochondrienmembran möglich. So wird ein hoher elektrochemischer H+-Gradient erzeugt, der vom äußeren mitochondrialen Raum in den Matrixraum gerichtet ist. Dieser H+-Gradient treibt eine

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2.3 Transportwege durch die Zellmembran ATP-Synthetase an (s. u.). Sie kann als rückwärts laufende H+-Ionenpumpe aufgefasst werden: Der H+-Ionenrückfluss über die Pumpe erzeugt aus ADP und anorganischem Phosphat das energiereiche ATP. Eine Erhöhung der H+-Permeabilität der inneren mitochondrialen Membran führt zu einer „Entkoppelung“ der Atmungskette. Dabei findet zwar der H+-Transport statt, ein H+-Gradient kann aber nicht mehr aufgebaut und somit kein ATP mehr produziert werden. Diese Arbeitsweise von Mitochondrien sorgt z. B. in den Zellen des braunen Fetts dafür, dass bei Bedarf Wärme statt ATP produziert werden kann. Als Entkoppelungsproteine dienen dabei H+-Kanäle (= Thermogenin = UCP1 [Uncoupling Protein 1]), die in die innere Membran eingebaut werden. Sie bewirken einen H+-„Kurzschluss“ über die innere Membran, was den H+-Gradienten, also die Triebkraft für die ATP-Synthetase, aufhebt. Dieser Mechanismus der Wärmebildung spielt beispielsweise für die Thermoregulation bei Neugeborenen eine wichtige Rolle (S. 503 f.). Die Eigenschaften der inneren Mitochondrienmembran sind vielfältig und kompliziert. Neben der Ausstattung mit den Enzymen der Atmungskette und der H+Ionenpumpe besitzt diese Membran Transportsysteme für den ATP/ADP-Austausch, anorganisches Phosphat, Pyruvat, Proteine und viele andere Substrate. Proteine müssen importiert werden, weil das Genom der Mitochondrien nur für die wenigsten der mitochondrialen Proteine kodiert (63). Nur durch die Ausstattung mit spezifischen Transportsystemen kann gewährleistet werden, dass diese Membran die Ausbildung hoher Konzentrationsgradienten zulässt und trotzdem ausreichenden Umsatz erlaubt. Die innere Mitochondrienmembran baut neben dem H+-Ionen- und ATP-Gradienten auch einen Gradienten für Ca2+ auf, wobei die mitochondriale Ca2+Aufnahme auch der Stabilisierung der sehr niedrigen zytosolischen Ca2+-Konzentration von etwa 10–7 mol/l dient (S. 31). Für den „Bergauftransport“ von Ca2+ wird ATP verbraucht. Die Aufnahme von ADP in die mitochondriale Matrix wird durch Gegentransport von ATP getrieben. Die Aufnahme von anorganischem Phosphat oder Pyruvat treibt der H+-Ionengradient (Abb. 2.6).

2.3

Transportwege durch die Zellmembran

Die Zell- oder Plasmamembran hat einerseits Barrierefunktion als Grenzschicht zwischen dem Intra- und Extrazellulärraum. Andererseits erlaubt sie den selektiven Transport von Substanzen in die Zelle hinein und aus der Zelle heraus. Um dies zu ermöglichen, muss die Membran für solche Substanzen permeabel sein. Dabei gibt es verschiedene Transportwege, die zur Permeabilität der Zellmembran beitragen und in den folgenden Abschnitten näher erläutert werden sollen.

Der Transport von Gasen (z. B. CO2, O2) und lipophilen Substanzen durch die Zellmembran erfolgt durch Diffusion Diffusion durch die Lipidschicht der Membran ist ein wichtiger Transportmechanismus für sehr kleine Moleküle wie Gase (O2, CO2) oder für lipidlösliche Moleküle. Die Diffusion folgt einer einfachen Gesetzmäßigkeit (1. Fick’sches Diffusionsgesetz). Die Transportrate wird durch die für die Diffusion zur Verfügung stehende Fläche, den Konzentrationsgradienten und durch die Permeabilität für das entsprechende Teilchen bestimmt. Oben wurde darauf hingewiesen, dass die Lipidmembranen dazu dienen, Zellen gegen den Extrazellulärraum abzugrenzen sowie innerhalb der Zellen verschieden zusammengesetzte Kompartimente (Zellorganellen) zu umschließen. In der Tat stellt die hydrophobe Lipidmembran eine sehr effektive Trennschicht dar, die ohne die Hilfe spezieller Membrantransportproteine (s. u.) nur von solchen Molekülen überwunden werden kann, die eine hohe Lipidlöslichkeit besitzen. Dabei hängt die pro Zeiteinheit über die Lipidmembran transportierte Stoffmenge (JDiff [mol/s]) von der für die Diffusion zur Verfügung stehenden Fläche (A [m2]) und von dem Unterschied der Konzentrationen des Stoffes (∆c [mol/m3]) auf beiden Seiten der Membran ab. So wird es ohne Konzentrationsunterschied nicht zu einer Nettodiffusion des Stoffes über die Lipidmembran kommen und JDiff gleich Null sein. Die Permeabilität (P [m/s]) der Lipidmembran für den jeweils zu transportierenden Stoff geht als Proportionalitätsfaktor ein, der von den Stoffeigenschaften abhängt. Nach dem 1. Fick’schen Diffusionsgesetz (S. 194 u. Fußnote) ergibt sich folgender Zusammenhang:   mol JDiff = P  A  c 2 sm Die Permeabilität hat damit die Dimension einer Geschwindigkeit:   J mol  m3 P = Diff A  c s  mol  m2 Das beinhaltet, dass hochpermeable Substanzen die Membran mit großer Geschwindigkeit passieren und wenig permeable Substanzen mit entsprechend geringerer Geschwindigkeit. Dabei hängt die Permeabilität einer Substanz von der Beweglichkeit der Substanz und deren Löslichkeit in der Lipidschicht sowie von der Dicke der Lipidmembran ab, die für Zellmembranen aber praktisch konstant ist. Einfache Diffusion durch die Lipiddoppelschicht der Zellmembran spielt physiologisch nur für lipophile Stoffe eine Rolle. So penetrieren kleine Moleküle wie die Gase CO2, O2 und N2 die Lipidmembran vergleichsweise leicht, und auch etwas größere Moleküle können durch das Lipid diffundieren, wenn sie ausreichend lipidlöslich sind (z. B. Alkohol, Steroidhormone und bestimmte Medikamente).

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2 Die Zelle als Grundbaustein

Nicht lipidlösliche Substanzen gelangen mit Hilfe spezifischer Membrantransportproteine durch die Membran Für die meisten Substanzen, die durch die Zellmembran transportiert werden müssen, kommt einfache Diffusion als nennenswerter Permeationsweg nicht in Frage, da die Substanzen nicht ausreichend lipidlöslich sind. Vielmehr erfolgt hier der Stoffaustausch zwischen den Kompartimenten mit Hilfe spezifischer Membrantransportproteine. Dies gilt insbesondere für alle geladenen Teilchen (Ionen) aber auch für größere hydrophile Moleküle (z. B. Glucose, Aminosäuren) und für H2O selbst, das mit Hilfe spezieller Wasserkanäle (Aquaporine) durch die Zellmembran gelangt. Diese Transportproteine sind in das Membranlipid so eingelagert, dass sie durch die ganze Membran reichen (Abb. 2.2, S. 16). Entsprechend den unten näher ausgeführten funktionellen Kriterien werden Membrantransportproteine als Kanäle (Ionenkanäle und Wasserkanäle), als Carrier und als Pumpen klassifiziert. Die Aminosäuresequenzen vieler Membrantransportproteine sind in den vergangenen zwanzig Jahren aufgeklärt worden, z. B. die des spannungsgesteuerten Natriumkanals (49) – s. auch Abb. 4.6 –, des Ca2+-Kanals (60), der verschiedenen Glucosecarrier (28) und der Aquaporine (54). Auch hinsichtlich eines detaillierten Verständnisses der Funktion, Regulation und dreidimensionalen Struktur von Membrantransportprotein sind große Fortschritte erzielt worden (21, 45, 62). Insbesondere kennt man inzwischen eine Reihe von Erkrankungen, denen defekte Membrantransportprozesse zugrunde liegen (Kapitel 4, S. 74; 2, 7, 30).

Wasserkanäle (Aquaporine) ermöglichen den polaren Wassermolekülen den Durchtritt durch die Plasmamembran Lange Zeit war unklar, wie die polaren Wassermoleküle durch die Lipidmembran von Zellen gelangen können. Experimente mit künstlichen Lipidmembranen zeigten, dass die an Zellmembranen auftretenden erheblichen Wasserflüsse durch einfache Diffusion nicht zu erklären sind. Außerdem hatte man beobachtet, dass die Wasserpermeabilität der Zellmembran je nach Zelltyp sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Während die meisten Zellen, z. B. Erythrozyten und Nervenzellen, eine hohe Wasserpermeabilität aufweisen und auf entsprechende osmotische Gradienten rasch mit einer Zellschwellung oder Zellschrumpfung reagieren (S. 34, S. 385, S. 866), gibt es beispielsweise in der Niere Tubulusepithelzellen, deren apikale Membran fast wasserundurchlässig ist (dicker aufsteigender Teil der Henle-Schleife, S. 350) oder über eine hormonell regulierbare Wasserpermeabilität verfügt (Hauptzellen des Sammelrohrs, S. 390, Abb. 13.14). Inzwischen weiß man, dass es Membranproteine gibt, die hochspezifische Wasserkanäle in der Zellmembran ausbilden. Diese so genannten Aquaporine sind eine gut konservierte Genfamilie, die in Bakterien, Pflanzen und Tieren vorkommt. In Säugetieren kommen sie in verschiedenen Isoformen vor mit gewebespezifischer Verteilung. Im Körper gibt es keine Wasserpumpen, die aktiv unter ATP-Verbrauch Wasser transportieren könnten. Wasser kann also nur dadurch gerichtet transportiert werden,

dass primär- oder sekundär-aktive Transportprozesse (s. u.) einen osmotischen Gradienten (S. 867) schaffen, dem das Wasser passiv folgt, vorausgesetzt die Zellmembran verfügt aufgrund von Wasserkanälen über eine entsprechende Wasserpermeabilität. Eine besondere Rolle spielt das Aquaporin 2 (AQP2), das in den Hauptzellen des Sammelrohrepithels der Kontrolle durch das antidiuretische Hormon Adiuretin (ADH) unterliegt (s. o. und S. 390, Abb. 13.14). Unter der Einwirkung von ADH wird Aquaporin 2 in die apikale Membran der Hauptzellen eingebaut, was eine wesentliche Voraussetzung für die renale Wasserresorption und die Harnkonzentrierung darstellt. Mutationen des Aquaporin 2 sind eine Ursache des renalen Diabetes insipidus (S. 391), einer Erkrankung, bei der die Patienten große Mengen verdünnten Urins ausscheiden. In den meisten anderen Körperzellen werden dagegen Wasserkanäle konstitutiv in der Zellmembran exprimiert. Für die Entdeckung der Aquaporine und für deren molekulare Charakterisierung erhielt Peter C. Agre 2003 den Nobelpreis für Chemie (12).

Ionenkanäle sind selektive und komplex regulierte Poren für den Membrandurchtritt von Ionen Ionenkanäle sind selektive Poren in der Zellmembran, die den Durchtritt von Ionen erlauben. Die Richtung und die Rate des Ionentransports werden von der elektrochemischen Triebkraft vorgegeben. Ionenkanäle weisen im Allgemeinen eine hohe Transportrate auf. Der Öffnungszustand von Ionenkanälen wird durch das Membranpotenzial, durch Signalstoffe oder durch sonstige Regelprozesse komplex gesteuert. Mit der PatchClamp-Technik lässt sich das Öffnungs- und Schließverhalten einzelner Ionenkanäle untersuchen. Ionenkanäle erlauben den transmembranalen Transport von Ionen und weisen im aktivierten Zustand eine hohe Transportrate auf mit 106 – 108 Ionen pro Sekunde pro Kanal. Ionenkanäle bestehen aus Transmembranproteinen mit meist mehreren helikalen Strukturen, die jeweils durch die Lipiddoppelschicht reichen und sich so anordnen, dass sie eine Art „Pore“ oder „Kanal“ umschließen (Abb. 4.4 [S. 70], 4.6 [S. 72], 4.8 [S. 74]) (5,10, 21). Mit ihrer Durchlässigkeit für geladene Teilchen tragen die Ionenkanäle entscheidend zur elektrischen Leitfähigkeit der Zellmembran bei, wobei die Einzelkanalleitfähigkeit der meisten bisher bekannten Ionenkanäle in einem Bereich von 1 bis 500 pS liegt. Die Ionenkanaldichte in der Zellmembran variiert je nach Kanal- und Zelltyp von 1 bis 1000 Kanälen pro µm2, wobei die Kanäle je nach Funktionsanforderung sehr unterschiedlich auf verschiedene Membranbereiche einer Zelle verteilt sein können. So findet man beispielsweise im Bereich der Ranvierschen Schnürringe (S. 620) eines Neurons eine viel höhere Ionenkanaldichte als in den Internodien und in der apikalen Membran einer polaren Epithelzelle meist ganz andere Ionenkanäle als in deren basolateraler Membran. Häufig besteht ein Ionenkanal aus mehreren Proteinuntereinheiten und akzessorischen Proteinen, die für die Lokalisation und Regulation der Ionenkanäle von Bedeutung sind. Dabei sind die Kanalporen jeweils hochselektiv

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2.3 Transportwege durch die Zellmembran für bestimmte Ionen, so dass man die verschiedenen Ionenkanäle nach ihrer Ionenselektivität einteilen kann, z. B. in Na+-, K+-, Ca2+- und Cl–-Kanäle. Dies ist allerdings erst eine recht grobe Unterteilung. So gibt es beispielsweise ganz verschiedene Typen (und Genfamilien) von K+-Kanälen mit jeweils unterschiedlicher Struktur, Funktion, Regulation und Gewebeverteilung (S. 69 f.). Bei einer an der Regulation der Ionenkanäle orientierten Einteilung kann man folgende Gruppen unterscheiden: 1. spannungsgesteuerte Ionenkanäle, 2. ligandengesteuerte Ionenkanäle (ionotrope Rezeptoren), 3. rezeptorgekoppelte Ionenkanäle (metabotrope Rezeptoren) sowie 4. konstitutiv aktive beziehungsweise komplex regulierte Ionenkanäle, die beispielsweise durch spezifische Kinasen phosphoryliert und dadurch aktiviert werden (z. B. der CFTR-Chloridkanal, S. 258, 441). Ionenkanäle stellen keine starren, kontinuierlich geöffneten Membranporen dar, sondern lassen nur intermittierend einen Ionenfluss durch die Membran zu. Die Kanäle schalten also ständig zwischen einem Offen- und einem Geschlossenzustand hin und her (Abb. 2.9, S. 27), wobei die Kinetik dieses so genannten Gating charakteristisch für bestimmte Ionenkanaltypen ist. So findet man bei unterschiedlichen Kanälen Offen- oder Geschlossenzeiten im Millisekunden- bis Sekundenbereich. Dabei wird der Ionenfluss durch einen Einzelkanal ganz entscheidend von seiner mittleren Offenwahrscheinlichkeit bestimmt, die je nach Aktivierungszustand des Kanals einen Wert von null bis eins annehmen kann. So bedeutet beispielsweise eine Offenwahrscheinlichkeit von 0,6, dass sich der betrachtete Kanal im statistischen Mittel jeweils 60 % der Zeit im Offen- und 40 % der Zeit im Geschlossenzustand befindet. Nur während der Kanal geöffnet ist, fließt durch den Kanal ein Ionenstrom, wobei sich die Einzelkanalströme mehrerer Kanäle summieren. Dabei ist der resultierende makroskopische Strom (I), den man über die gesamte Zellmembran messen kann, das Produkt aus der Anzahl der Kanäle (N), dem Einzelkanalstrom (i) und der Offenwahrscheinlichkeit (P0): I ¼ N  P0  i Bei den spannungsgesteuerten Ionenkanälen hängt die Offenwahrscheinlichkeit der Kanäle ganz wesentlich vom Membranpotenzial ab. Prominentes Beispiel eines spannungsgesteuerten Kanals ist der so genannte schnelle Na+-Kanal, der in Neuronen und Muskelzellen entscheidend zur Entstehung des Aktionspotenzials beiträgt (S. 67 ff., Abb. 4.7 – 4.9). Ein Beispiel für einen ligandengesteuerten Ionenkanal ist der nikotinische Acetylcholinrezeptor (Cholinozeptor), der durch den Liganden Acetylcholin direkt aktiviert wird und damit an Synapsen und an der motorischen Endplatte ein chemisches in ein elektrisches Signal verwandelt (S. 85, Abb. 5.6). Das charakteristische Merkmal der ligandengesteuerten Ionenkanäle ist, dass die Kanäle selbst als Rezeptoren für die sie aktivierenden Liganden (z. B. Neurotransmitter) dienen, weshalb diese Kanäle auch als ionotrope Rezeptoren bezeichnet werden (S. 85). Im Gegensatz dazu befin-

det sich bei den rezeptorgekoppelten Ionenkanälen ein separater Rezeptor in enger funktioneller Assoziation mit dem Ionenkanal. Die Rezeptoraktivierung führt erst indirekt (z. B. über Botenmoleküle) zu einer Aktivierung der Ionenkanäle, die daher auch metabotrope Rezeptoren genannt werden (S. 88). Daneben gibt es in den meisten Zellen konstitutiv aktive K+-Kanäle, die für die Aufrechterhaltung des Ruhemembranpotenzials verantwortlich sind (S. 64). Ein Beispiel für einen komplex regulierten Ionenkanal ist der epitheliale Natriumkanal (ENaC) (s. u.; Abb. 2.9), der sich in verschiedenen Na+-resorbierenden Epithelien findet. Er spielt insbesondere im distalen Tubulus und Sammelrohr der Niere für die Feinregulation des Natriumhaushalts und damit für die Langzeitregulation des Blutdrucks eine entscheidende Rolle (S. 348) (57). Dieser Kanal unterliegt einer präzisen hormonellen Kontrolle vor allem durch das Steroidhormon Aldosteron (S. 348 u. S. 383), wobei eine Vielzahl zusätzlicher Signaltransduktionswege an seiner Regulation beteiligt sind (23). Dabei wird nicht nur die Offenwahrscheinlichkeit der in der Membran vorhandenen epithelialen Natriumkanäle beispielsweise durch Phosphorylierung reguliert (20), sondern die Regulation erfolgt auch auf der Ebene der Transkription und Translation sowie beim Einbau der Kanäle in die Membran, bei deren endozytotischem Ausbau und bei der Kanaldegradation. Unter normalen Bedingungen herrscht ein dynamisches Gleichgewicht zwischen kontinuierlichem Kanaleinbau und endozytotischem Ausbau, wobei die endozytierten Kanäle zum Teil in Lysosomen oder Proteasomen abgebaut werden (S. 20), zum Teil aber auch über endosomale Vesikel rezirkulieren und erneut in die Membran eingebaut werden. Die Dynamik des Systems erlaubt eine rasche Anpassung der Expressionsdichte des Ionenkanals in der Membran. So kann die Expressionsdichte des Kanals bei Bedarf sowohl durch eine Stimulation der Einbaurate als auch durch eine Hemmung des endozytotischen Ausbaus rasch erhöht werden. Dass diese Prozesse von entscheidender pathophysiologischer Bedeutung sind, wird durch eine seltene Form der erblichen arteriellen Hypertonie (Bluthochdruck) belegt, dem Liddle-Syndrom (S. 348). Ihm liegt eine Mutation des epithelialen Natriumkanals (ENaC) zugrunde, die seine Überfunktion („gain of function“) bewirkt. Dabei ist der zytoplasmatische Bereich der βoder γ-Untereinheit des Kanals betroffen, wodurch dessen endozytotischer Ausbau aus der Membran gestört ist. Dies führt zu einer erhöhten Kanaldichte in der Membran, wodurch es zu einer vermehrten Natriumresorption in der Niere kommt, was zu einer Volumenexpansion (S. 385) und letztlich zur Erhöhung des arteriellen Blutdrucks führt (57). Die bedarfsgerechte Steuerung der Membrandichte ist für die Langzeitregulation praktisch aller Ionenkanäle, einschließlich der spannungs- und ligandengesteuerten relevant. Auch die Kanalregulation durch Phosphorylierung ist nicht auf eine einzelne Gruppe von Ionenkanälen beschränkt. So gehört ein am Herzaktionspotenzial beteiligter Ca2+-Kanal zwar primär zur Gruppe der spannungs-

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2 Die Zelle als Grundbaustein gesteuerten Ionenkanäle. Seine Aktivität wird aber auch entscheidend durch eine hormonell gesteuerte Phosphorylierungsreaktion den physiologischen Anforderungen angepasst (Abb. 7.16, S. 151). In den vergangenen Jahren hat das funktionelle und molekulare Detailwissen über die Ionenkanäle enorm zugenommen. Dabei hat insbesondere die Erforschung seltener genetischer Erkrankungen, denen Ionenkanaldefekte zugrunde liegen („Kanalerkrankungen“, S. 74), wesentliche neue Einblicke in physiologische und pathophysiologische Zusammenhänge gewährt (2, 7, 30).

Die elektrochemische Triebkraft bestimmt den passiven Transport von Ionen durch die Plasmamembran Damit Substanztransport durch die Zellmembran stattfindet, ist neben einem Transportweg auch eine entsprechende Energiedifferenz erforderlich, die auf die zu transportierende Substanz wirkt und auch als Trieb„kraft“ bezeichnet wird. Diese Triebkraft, die den rein passiven Transport gelöster Teilchen, insbesondere von Ionen, über die Plasmamembran bestimmt, ergibt sich aus dem elektrochemischen Gradienten, der für ein bestimmtes gelöstes Teilchen zwischen Außen- und Innenseite der Membran besteht. Dieser elektrochemische Gradient wird auch als elektrochemische Potenzial(Energie-)differenz oder elektrochemische Triebkraft bezeichnet und setzt sich aus zwei Komponenten zusammen. Die eine Komponente beruht auf dem transmembranalen Konzentrationsgradienten des gelösten Teilchens (entspricht ∆C im Fick’schen Diffusionsgesetz, S. 21) und wird chemische Triebkraft genannt. Die andere Komponente ist nur für geladene Teilchen, also Ionen (z. B. Na+, Cl–), relevant. Sie wird als elektrische Triebkraft bezeichnet und hängt von der elektrischen Potenzialdifferenz zwischen Außen- und Innenseite der Membran, also vom Zellmembranpotenzial (S. 64 ff.), ab.

Im Gleichgewichtszustand sind die chemische und elektrische Triebkraft gleich groß, aber entgegengesetzt gerichtet Bei entsprechender Permeabilität der Zellmembran können gelöste Teilchen sowohl von außen in die Zelle (Influx) als auch von innen nach außen (Efflux) gelangen. Die Summe dieser beiden unidirektionalen Fluxe (Efflux und Influx) ergibt den Nettoflux. Ein Nettoflux oder Nettotransport tritt nur dann auf, wenn Influx und Efflux ungleich sind, d. h. wenn die elektrochemische Triebkraft entweder den Influx oder den Efflux begünstigt. So würde beispielsweise ein nach innen gerichteter Konzentrationsgradient eines positiv geladenen Ions (Kations) bei gleichzeitig negativem Membranpotenzial zu einem Überwiegen des Influx und damit zu einem Nettotransport des Kations in die Zelle führen. Sind dagegen die Triebkräfte für Influx und Efflux gleich groß, befindet sich das System im elektrochemischen Gleichgewicht und es findet kein Nettotransport statt. Für Ionen ist der Gleichgewichtszustand dann erreicht, wenn

chemische und elektrische Triebkraft gleich groß aber entgegengesetzt gerichtet sind. So ist beispielsweise ein negatives Membranpotenzial als einwärts gerichtete elektrische Triebkraft erforderlich, um die auswärts gerichtete chemische Triebkraft auszugleichen, die für ein Kation besteht, dessen intrazelluläre Konzentration höher ist als dessen extrazelluläre Konzentration (z. B. K+). Für einen bestimmten Konzentrationsgradienten gibt es genau ein Potenzial, nämlich das Gleichgewichtspotenzial, an dem diese Bedingung erfüllt ist und an dem sich das Ion im elektrochemischen Gleichgewicht befindet. Zeigen hingegen die elektrische und chemische Triebkraft in dieselbe Richtung, weil z. B. das Membranpotenzial negativ und die chemische Triebkraft für ein Kation (z. B. Na+ oder Ca2+) einwärts gerichtet ist, so addieren sich die beiden Triebkräfte zu einer hohen Gesamttriebkraft. Quantitativ kann man die zwischen der Innenseite (i) und Außenseite (a) einer Membran bestehende elektrochemische Potenzialdifferenz (beziehungsweise Energiedifferenz: ∆ µX) für ein gelöstes Teilchen der Substanz X folgendermaßen beschreiben: µx = R  T  ln

½XŠi + zx  F  ð i ½XŠa

a Þ

Elektrochemische Energiedifferenz = chemische Energiedifferenz + elektrische Energiedifferenz Wobei zX die Wertigkeit des betrachteten Ions X, T die absolute Temperatur, R die universelle Gaskonstante (8,314 J · K–1 · mol–1) und F die Faraday-Konstante (9,65 · 104 A · s · mol–1) bedeuten. Der erste Term auf der rechten Seite der Gleichung beschreibt die chemische Energiedifferenz (J/mol) für eine Bewegung der Substanz X über die Membran ohne Berücksichtigung einer eventuellen Ladung von X. Der zweite Term dagegen beschreibt die elektrische Energiedifferenz für die Bewegung eines Mol der geladenen Partikel X (je mit einer Wertigkeit von zX) über die Membran. Die Differenz (ψi – ψa) ist die Spannungsdifferenz über der Membran, die man auch als Membranpotenzial (Em) bezeichnet. Berechnet man ∆ µX, dann kann man die Richtung der elektrochemischen Energiedifferenz oder Triebkraft und damit die Richtung des passiven Nettotransports des gelösten Teilchens X durch die Membran vorhersagen. Bei einem positiven Wert für ∆ µX ist dieser einwärts, bei einem negativen Wert auswärts gerichtet. Beträgt der Wert für ∆ µX dagegen Null, befindet sich die Substanz X energetisch im Gleichgewicht, d. h. es findet kein Nettotransport statt: ∆ µX = 0. Dieser Spezialfall kann unter zwei Bedingungen eintreten. Entweder sind sowohl die chemische Triebkraft als auch die elektrische Triebkraft Null, z. B. wenn das Teilchen ungeladen ist und auf beiden Seiten der Membran in gleicher Konzentration vorliegt. Oder die chemische und elektrische Triebkraft sind gleich groß aber entgegengesetzt in der Richtung. In beiden Fällen ist die elektrochemische Triebkraft Null und die Substanz X energetisch im Gleichgewicht. In der Gleichgewichtssituation (∆ µX = 0) gilt also: µx = R  T  ln 0 = R  T  ln Ex =

½XŠi + zx  F  ð i ½XŠa

a Þ = 0

½XŠi + zx  F  ðEx Þ ½XŠa

RT ½XŠ  ln i (Nernst-Gleichung) ½XŠa zx  F

Ex bezeichnet man als das Gleichgewichtspotenzial des Ions X für die Konzentrationen [X]i und [X]a (Kap. 4, S. 64).

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2.3 Transportwege durch die Zellmembran

Mit Hilfe der Nernst-Gleichung lässt sich das Gleichgewichtspotenzial (Nullstrompotenzial) eines Ions berechnen Die im vorhergehenden Abschnitt hergeleitete Beziehung ist die Nernst-Gleichung, mit Hilfe derer sich das Gleichgewichtspotenzial (Ex), das auch Nernst-Potenzial genannt wird, für ein Ion X berechnen lässt (Kap. 4, S. 64). Am Gleichgewichtspotenzial sind elektrische Triebkraft und chemische Triebkraft gleich groß aber entgegengesetzt gerichtet, wodurch sie sich gegenseitig aufheben. Dadurch ist die auf das Ion einwirkende elektrochemische Triebkraft gerade Null, und es kommt weder zu einem Nettoausstrom noch zu einem Nettoeinstrom von Ionen, weshalb das Nernst-Potenzial auch Nullstrompotenzial genannt wird. Für eine Temperatur von 37 8C nimmt R · T/F den Wert von 0,027 V an. Wird mit dekadischen statt mit natürlichen Logarithmen gerechnet, muss mit 2,3 multipliziert werden, d. h. R · T/F · 2,3 = 0,061 V oder 61 mV. Unter Annahme einer Körpertemperatur von 37 8C kann man die Nernst-Gleichung daher folgendermaßen schreiben: Ex =

61 ½XŠ  log i ½mVŠ zx ½XŠa

Sind für ein Ion X die intrazelluläre ([X]i) und die extrazelluläre ([X]a) Ionenkonzentration bekannt, lässt sich anhand der Nernst-Gleichung das Gleichgewichtspotenzial EX leicht berechnen. So ergibt sich beispielsweise bei einem Konzentrationsverhältnis von [X]i/[X]a von 10/1 für ein einwertiges Kation (zX = 1) ein Gleichgewichtspotenzial (– 61 mV/zX) · log (10/1) = – 61 mV. Bei einem zweiwertigen Kation (z. B. Ca2+, Mg2+) beträgt der Wert – 30,5 mV. Bei Anionen muss das negative Vorzeichen von z berücksichtigt werden.

Die Kenntnis von Gleichgewichtspotenzial und Membranpotenzial erlaubt eine Vorhersage über die Richtung des Ionentransports durch einen Ionenkanal Bei vorgegebenen Konzentrationen für [X]i und [X]a befindet sich das Ion X in einer lebenden Zelle nur dann im elektrochemischen Gleichgewicht, wenn das Membranpotenzial Em (S. 64 ff.) dem Gleichgewichtspotenzial Ex entspricht. Kennt man das tatsächliche Membranpotenzial Em der Zelle, kann man durch Vergleich mit dem Gleichgewichtspotenzial eine Aussage darüber machen, ob sich das betrachtete Ion X im elektrochemischen Gleichgewichtszustand befindet oder ob eine elektrochemische Triebkraft für einen Nettoeinstrom oder Nettoausstrom besteht. Mit dieser Überlegung lässt sich also die Richtung des Ionentransports durch Ionenkanäle vorhersagen. Dies ist in Abb. 2.7 exemplarisch für das K+-Ion illustriert. Dabei wird in diesem Beispiel von einer intrazellulären K+-Konzentration von 120 mmol/l und einer extrazellulären K+-Konzentration von 4 mmol/l ausgegangen. Wie weiter unten ausgeführt, ist für diese Ungleichverteilung der K+-Ionen die Na+-K+-Pumpe verantwortlich (S. 30). Setzt man diese Werte in die Nernst-Gleichung

innen

außen

+

[K ]

+

[K ]

120 mmol/l

4 mmol/l

mV

Em

DE = Em– EK EK = – 61 · log

EK = –90 mV Em = –90 mV DE = 0 +

120 4

EK = –90 mV

+

K -Ausstrom = K -Einstrom

innen

außen

+

[K ]

innen

+

[K ]

120 mmol/l

außen

4 mmol/l +

[K ]

mV

+

[K ]

120 mmol/l

4 mmol/l

Em mV

EK = –90 mV Em = –70 mV DE = +20 mV +

K -Ausstrom

Em

EK = –90 mV Em = –100 mV D E = –10 mV +

K -Einstrom

Abb. 2.7 Die Richtung der Ionenbewegung durch den Kanal wird durch die elektrochemische Triebkraft (∆ E = Em – Ex) bestimmt. In den gezeigten Beispielen sind drei Zellen dargestellt mit jeweils unterschiedlichem Membranpotenzial (Em). Das Gleichgewichtspotenzial für K+ beträgt dagegen in allen drei Fällen – 90 mV. Im oberen Beispiel ist Em = EK und damit die Triebkraft ∆ E gleich Null. Die K+-Ionen befinden sich im Gleichgewicht. Für depolarisierte Werte des Membranpotenzials Em (links) wird ∆ E positiv, es kommt zum K+-Ausstrom. Für hyperpolarisierte Werte von Em (rechts) wird ∆ E negativ, und ein K+-Einstrom ist die Folge.

ein, errechnet sich ein Gleichgewichtspotenzial für K+ (EK) von – 90 mV.

Die auf das K+-Ion einwirkende elektrochemische Triebkraft E kann nun folgendermaßen berechnet werden: E = Em

EK

Beträgt das tatsächliche Zellmembranpotenzial (Em) ebenfalls – 90 mV und entspricht somit EK, dann befindet sich das K+-Ion über der Membran im Gleichgewicht (Em = EK). Unter dieser Bedingung ist die elektrochemische Triebkraft gleich Null (Em – EK = 0) und es kommt zu keinem Nettoflux des Ions (K+-Ausstrom = K+-Einstrom). Ist das tatsächliche Membranpotenzial dagegen negativer oder positiver als EK, kommt es zu einem Überwiegen des Einstroms (negativer Wert für ∆ E) beziehungsweise des Ausstroms (positiver Wert für ∆ E) von K+-Ionen (Abb. 2.7).

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2 Die Zelle als Grundbaustein

saugen

PatchPipette

Kanal Membran

ziehen

„whole-cell“ „cell-attached“ ziehen

Zelle

Tight Junction

„outside-out“

Badlösung

Versuchsauswertung siehe nächste Abb.

„inside-out“

Abb. 2.8 Patch-Clamp-Technik zur Untersuchung einzelner Ionenkanäle. Bei einem Patch-Clamp-Experiment wird zunächst eine Patch-Pipette (Spitzendurchmesser ca. 1 µm) auf die Zellmembran aufgesetzt, wobei es zu einem engen Kontakt zwischen dem Glas der Pipette und der Zellmembran kommt und ein Membranfleck (Patch) elektrisch isoliert wird („cell-attached“-Konfiguration). Durch Ziehen an der Glaspipette kann dieser Membranfleck herausgetrennt werden, so dass nun die Zytoplasmaseite der Badlösung ausgesetzt ist („inside-out“-Konfiguration). Alternativ kann man,

Der Stromfluss durch einzelne Ionenkanäle kann mit Hilfe der Patch-Clamp-Technik direkt gemessen werden Die Entwicklung der Patch-Clamp-Technik (48), für die E. Neher und B. Sakmann 1991 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden, ermöglichte es erstmals, die Aktivität einzelner Ionenkanäle zu beobachten (Abb. 2.8). Die Patch-Clamp-Technik erlaubt die genaue biophysikalische Analyse von Ionenkanälen, eine Messung ihrer Einzelkanalleitfähigkeit, ihrer Schaltkinetik und ihrer Regulation. Es ist eine faszinierende Technik, bei der man einzelne biologische Moleküle „in Aktion“ sehen kann. Sie hat unser Verständnis elektrischer Membranphänomene revolutioniert und einen wesentlichen Beitrag geleistet, die Wirkung von biologischen Botenstoffen, von Pharmaka, von Toxinen und von Ionenkanalmutationen aufzuklären (2, 5, 7,10). Bei einem Patch-Clamp-Experiment wird eine feine Glaspipette mit besonders glattem Glasrand mit einem Spitzendurchmesser von 0,3 – 3 µm auf die Zellmembran aufgesetzt und angepresst (Abb. 2.8). Dann wird ein kleines Areal (Patch) der Zellmembran mit negativem Druck etwas in die Pipettenöffnung hineingesaugt. Durch enge Interaktion der Glasoberfläche mit der Zellmembran (Seal) entsteht ein sehr hoher Abdichtungswiderstand (im Bereich von mehreren GΩ), der den Membranflecken elektrisch isoliert. Nun lassen sich entsprechend der Messanordnung

ausgehend von der „cell-attached“-Konfiguration, durch vorsichtiges Saugen an der Pipette den Membranflecken durchbrechen und damit die „whole-cell“-Konfiguration erreichen. Wird nun die Pipette von der Zelle fortgezogen und die anhaftende Membran exzidiert, kommt es häufig zu einer spontanen Fusion der Exzisionsränder und damit zur Ausbildung eines Membranbläschens. Dabei ist die Membranaußenseite nun der Badlösung zugewandt („outside-out“Konfiguration; Messdaten s. Abb. 2.9).

in Abb. 2.8 Ströme durch den isolierten Membranflecken bei vorgegebener Klemmspannung (Patch Clamp) messen. Da das Membranareal in der Pipette nur wenige µm2 groß ist, befinden sich in dem untersuchten Membranstück meist nur wenige Ionenkanäle. Dank rauscharmer Patch-Clamp-Verstärker können die Einzelkanalströme, die sich in der Größenordnung von pA (10–12 A) bewegen, verlässlich gemessen werden. Neben der so genannten „cell-attached“-Konfiguration, die der Einzelkanalregistrierung an der intakten Zelle dient, kann die Patch-ClampTechnik je nach Fragestellung noch in verschiedenen anderen Konfigurationen durchgeführt werden (10, 25). Um Ionenströme über die gesamte Zellmembran (Ganzzellströme) zu messen, kann man durch kurzes Ansaugen die Membran, die das Zellinnere vom Pipetteninneren trennt, durchbrechen und so eine Ganzzellableitung erreichen („whole-cell“-Konfiguration; Abb. 2.8). Dies erlaubt die Beurteilung der Gesamtleitfähigkeit einer Zelle, die sich aus den Leitfähigkeitswerten der vielen in der Zellmembran befindlichen Einzelkanäle zusammensetzt. Dabei kann der Beitrag der verschiedenen Ionenkanäle zur Gesamtleitfähigkeit mit Hilfe von spezifischen Inhibitoren, mit Ionensubstitutionsexperimenten oder mit Spannungspulsprotokollen analysiert werden. Ausgehend von der Ganzzellableitung, kann man durch vorsichtiges Zurückziehen der Pipette ein kleines Membranareal von der Zelle abziehen und es isoliert untersuchen. Dies wird dadurch ermöglicht, dass sich nach dem Abziehen an der Pipettenspitze ein kleines Membranbläschen bildet, wobei die ursprüngliche Zytosolseite dem Inneren der Pipette zugewandt ist (Abb. 2.8). Da in dieser „ouside-out“-Konfiguration die Außenseite der Membran zur Badlösung zeigt, kann man in solchen Experimenten den

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2.3 Transportwege durch die Zellmembran A Versuchsaufbau

Messgerät D Amilorid hemmt den Na+-Kanal (ENaC) Elektrode c

Badlösung: NaCl

Kontrolle

Pipettenlösung: KCl/K-Glukonat c

10 µmol/l Amilorid

Membranfleck „outside-out“ 2 µm

Na+-Kanal (ENaC)

c

auswaschen 1 pA

250 ms

Oszillograph

B Einzelkanalströme Klemmspannung 0 mV

c

–40 mV

c

–80 mV

c

–120 mV

C Auswertung 2

Stromspannungskurve

–160 mV

c

–200 mV

1,5 1

Spannung Pip (mV)

0,5 –200 –160 –120 – 80

c

Strom (pA)

c

– 40

40

80

120

160

200

–0,5 –1 1 pA

250 ms

Oszillograph

Abb. 2.9 Einzelkanalregistrierung eines epithelialen Natriumkanals (ENaC) in einem „outside-out“-Patch der apikalen Membran einer renalen Sammelrohrepithelzelle. Mit Hilfe der schematisch dargestellten Messanordnung (A) können Einzelkanalströme in solchen isolierten Membranflecken gemessen und auf einem Oszillographen dargestellt werden. Die gezeigten Einzelkanalregistrierungen stammen von einem „outside-out“-Patch (s. Abb. 2.8) der apikalen Membran einer renalen Sammelrohrepithelzelle der Maus (M-1 Zelllinie). Die unten (B) abgebildeten Stromspuren zeigen Einzelkanalströme bei unterschiedlichen Klemmspannungen. Der Geschlossenzustand des Kanals ist jeweils mit „c“ gekennzeichnet. Kanalöffnungen führen zu negativen Stromauslenkungen (Einwärtsstrom von Na+-Ionen bei negativem Klemmpotenzial), wobei der Kanal unterschiedlich lange im Offenzustand verweilt. Die Amplitude der Einzelkanalströme

Effekt von extrazellulär applizierten Substanzen auf Einzelkanalströme untersuchen, z. B. den Effekt des Diuretikums Amilorid auf den epithelialen Natriumkanal (ENaC; Abb. 2.9). Schließlich kann man, ausgehend von der Ableitung an der intakten Zelle, das Membranareal unter der Pipette aus der Zelle herausreißen und isoliert untersuchen, wobei jetzt die ursprüngliche Zytosolseite

ENa+

– 1,5 –2

EinzelkanalLeitfähigkeit: 7,5 pS

verändert sich in Abhängigkeit von der Klemmspannung, was in der Stromspannungskurve dargestellt ist (C). Aus der Steigung der Stromspannungskurve lässt sich die Einzelkanalleitfähigkeit des Kanals berechnen, die in diesem Fall etwa 7,5 pS beträgt. Die Stromspannungskurve ist nicht linear, weil die Natriumkonzentration in der Badlösung hoch und in der Pipette niedrig ist. Das Nullstrompotenzial, d. h. die Spannung, bei der die extrapolierte Kurve die X-Achse schneidet, liegt etwa beim Gleichgewichtspotenzial von Na+ (ENa+), was zeigt, dass es sich um einen Na+-selektiven Kanal handelt, in diesem Fall um den epithelialen Natriumkanal (ENaC; S. 23 u. 348). Die Einzelkanalregistrierungen rechts oben (D) zeigen, dass das Medikament Amilorid die Kanalaktivität reversibel hemmt, was die diuretische Wirkung von Amilorid erklärt (S. 353; Einzelkanalregistrierungen: B. Letz; 37).

der Badlösung zugewandt ist („inside-out“-Konfiguration; Abb. 2.8). Dies ermöglicht die Untersuchung des Effekts von zytosolisch applizierten Substanzen auf die Einzelkanalaktivität.

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28

2 Die Zelle als Grundbaustein

Carrier binden Substrate und befördern sie durch die Plasmamembran Carrier sind Membrantransportproteine, die den Durchtritt polarer Stoffe durch Membranen erleichtern. Sie transportieren spezifische Substrate unter Ausnutzung von elektrochemischen Gradienten von einer Membranseite auf die andere. Je nach Transportmodus unterscheidet man Kotransporter (Symporter), Antiporter (Austauscher) und Uniporter. Für Carrier-vermittelte Prozesse gilt gewöhnlich die Michaelis-MentenKinetik, d. h. der Transportprozess wird durch die Affinität (1/KM) und die maximale Transportrate (Jmax) charakterisiert. Carrierproteine werden z. B. durch allosterische Effekte, aber auch durch Phosphorylierung und andere Mechanismen reguliert. Carrierproteine binden ihr Substrat auf der diesseitigen Membranseite („cis“-Seite), durchlaufen eine Konformationsänderung und geben es jenseits der Membran („trans“-Seite) wieder ab. Bei den Carrierproteinen unterscheidet man Symporter (auch Kotransporter i. e. S. genannt), Antiporter (auch Austauscher genannt) und Uniporter. Letztere binden nur ein Substrat, das entsprechend seinem elektrochemischen Gradienten (also „bergab“) im Sinne einer „erleichterten Diffusion“ mit Hilfe des Uniporters über die Membran gelangt. Beispiele hierfür sind die Na+-unabhängigen Glucosetransporter der GLUT-Familie (S. 555) und verschiedene Harnstofftransporter der UT-Familie (S. 351). Das charakteristische Merkmal von Symportern ist der gemeinsame Transport mehrerer Substrate in die gleiche Richtung. Beim Antiporter dagegen werden die Substrate des Transporters sozusagen im Austausch in entgegengesetzter Richtung über die Membran transportiert. Ein gut untersuchter Antiporter ist der Cl–/HCO3–-Austauscher des Erythrozyten, der Bande-3-Protein (S. 229) oder AE1 (anion exchanger 1) genannt wird. Dieser Austauscher spielt unter anderem für die Säuresekretion in den Typ-ASchaltzellen des Sammelrohrs der Niere eine Rolle (S. 365, Abb. 12.40), und Mutationen des Transporters führen zu einer renal-tubulären Azidose (13). Symporter und Antiporter ermöglichen es, die elektrochemische Triebkraft eines Substrats (oder auch mehrerer Substrate) auszunutzen, um ein anderers Substrat entgegen seinem elektrochemischen Gradienten sozusagen „bergauf“ zu transportieren. Beispielsweise nutzen viele Carrierproteine den einwärtsgerichteten elektrochemischen Gradienten für Na+, um ein anderes Substrat im Symport in die Zelle hinein- oder im Antiport aus der Zelle herauszutransportieren. So dienen Na+-abhängige Symportsysteme beispielsweise dem Transport von Glucose (SGLTTransporter; S. 356), Aminosäuren (S. 358), Phosphat (NaPi-Symportcarrier; S. 361), Cl– (Na+-Cl–-Symporter; S. 347), und K+ (Na+-K+-2Cl–-Symporter; S. 346). Beim Peptid-H+-Symportcarrier wird dagegen die einwärtsgerichtete elektrochemische Triebkraft der H+-Ionen ausgenutzt, um Di- und Tripeptide in die Zelle zu transportieren (S. 358 u. 451). Beispiele für Na+-abhängige Antiportsysteme sind der Na+/H+-Austauscher und der 3Na+-Ca2+-Antiporter (s. u.).

Der Transport mit Hilfe von Carrierproteinen kann elektrogen oder elektroneutral erfolgen, je nachdem ob der Transport mit oder ohne Nettoverschiebung von Ladung über die Membran einhergeht. Das hängt zum einen von den transportierten Substraten und zum anderen von der Stöchiometrie des Transportes ab. So gleichen sich beispielsweise beim Na+-K+-2Cl–-Symporter die Ladungen der transportierten Ionen aus, und der Transport erfolgt elektroneutral. Dagegen sind der Na+Glucose-Symporter (S. 356 u. 449) und auch der 3Na+Ca2+-Antiporter elektrogen. Bei den elektrogenen Transportern spielt das Membranpotenzial als Triebkraft eine wichtige Rolle, während die elektroneutralen Transporter vom Membranpotenzial unabhängig sind (S. 24). Den von Symportern oder Antiportern vermittelten „Bergauf“-Transport von Substraten nennt man „sekundär-aktiv“. Dabei heißt „aktiv“ hier, dass beispielsweise beim Na+-Glucose-Symporter die Glucose gegen einen elektrochemischen Gradienten („bergauf“) transportiert wird unter Ausnutzung der elektrochemischen Triebkraft für Na+. Die Bezeichnung „sekundär“ bedeutet, dass dieser „Bergauf“-Transport nicht direkt durch die Spaltung von ATP angetrieben wird sondern indirekt. Voraussetzung für diesen „sekundär-aktiven“ Transport ist natürlich ein „primär-aktiver“ Transportvorgang, nämlich die Na+-K+-ATPase (s. u.), die unter ATP-Verbrauch für die Generierung des Na+- und K+-Konzentrationsunterschieds und damit indirekt auch für das Zustandekommen des Membranpotenzials (S. 64 ff.) sorgt. Gelegentlich spricht man auch von „tertiär-aktivem“ Transport. Dabei schafft ein „sekundäraktiver“ Transportmechanismus einen elektrochemischen Gradienten, der die Triebkraft für einen „tertiär-aktiven“ Carrier bereitstellt. So erfolgt beispielsweise die Aufnahme organischer Anionen in die proximale Tubuluszelle über einen „tertiär-aktiven“ Transportmechanismus (S. 360; Abb. 12.35 A). Ein typisches Merkmal des durch Carrierproteine vermittelten Transports ist dessen Sättigbarkeit. Da die Bindungsreaktion durch die Affinität zwischen Protein und Substrat charakterisiert ist, und die Anzahl solcher Proteine – sprich Bindungsstellen – limitiert ist, ist im einfachsten Fall mit einer Sättigungsabhängigkeit zu rechnen, wie sie durch die Michaelis-Menten-Gleichung (Abb. 2.10) dargestellt wird. J=

Jmax  c ½mol/sŠ KM + c

Hierbei sind J und Jmax die aktuelle bzw. die maximale Transportrate, c ist die Substratkonzentration und KM die Substratkonzentration, bei der Halbsättigung besteht. Ein klinisch wichtiges Beispiel für das Sättigungsverhalten von Carriern ist der Na+-gekoppelte Glucosetransport im proximalen Tubulus der Niere. Wird hier durch eine steigende Glucosekonzentration im Primärharn das Transportmaximum der SGLT-Carrier überschritten, wird die glomerulär filtrierte Glucose nicht mehr vollständig resorbiert und erscheint im Urin (Glukosurie) (S. 356 f.; Abb. 12.31). Dies tritt beispielsweise dann auf, wenn im Rahmen eines Diabetes mellitus (S. 556 ff.) die Plasmaglucosekonzentration

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2.3 Transportwege durch die Zellmembran

Transportstoff

+

Affinität (~1/ KM )

[Na ]

+

[Na ] +

Na

Membran Carrier

+

–2

+

[H ]

Jmax Außenlösung

Vesikel

–1

A

Transportrate J (nmol · s · cm )

+

[H ]

2

H

Jmax 2

überschießende Aufnahme 3

–9

1

4

Na -Aufnahme in die Vesikel (10 mol/mg)

0

J ·c aktuelle J = max Transportrate KM + c

0

5

KM

10

1 1 KM 1 = · + J c Jmax Jmax 1

B

0,5 1 Jmax

1 KM

0

+

nur Na -Gradient + treibt Na -Aufnahme

0

0,5

1 c

1

0

1

lg

Jmax – J

[H ] = n · lgc – n · lgKM

1

C lg

J Jmax – J 0,5 Steigung n

0 0

0,5

lg c

1

Abb. 2.10 Michaelis-Menten-Kinetik. Die Anzahl der transportierenden Carrier bestimmt die maximale Transportrate (Jmax). c ist die Konzentration des zu transportierenden Stoffes (z. B. D-Glucose). Seine Affinität zum Carrier wird durch den Kehrwert des sog. KM-Werts wiedergegeben (KM = c bei ½ Jmax), und sie bestimmt die Anfangssteilheit und die Krümmung der Kurve. Bei niedrigen Konzentrationen ist der Transport J der Konzentration fast linear proportional (fast linearer Kurvenanstieg in A). Mit zunehmender Konzentration wird der Anstieg von J immer flacher und erreicht schließlich den Sättigungswert Jmax. Um KM und Jmax zu bestimmen, werden häufig linearisierte Auftragungsweisen verwendet. Bei der Auftragung 1/J gegen 1/c (B) erhält man Jmax bzw. KM aus den y- bzw. x-Achsen-Abschnitten. In der linearisiert-logarithmischen Auftragung (C) entspricht die Steigung (n) dem sog. Hill-Koeffizienten. Letzterer ist ein Maß für die Kooperativität der Bindungsstellen, aus ihm kann also die Stöchiometrie der Substrat-Carrier-Interaktion abgelesen werden. Wird von einem Carrier 1 Substratmolekül transportiert, so beträgt die Steigung n = 1, bei 2 Substratmolekülen pro Carrier n = 2 usw.

2

3

4

5

60

Zeit (min)

[Na ] +

J

Gleichgewicht: + + Na - und H -Gradient aufgebraucht

1

+

–

+

2

+

1 J

+

Na - und H -Gradient + treiben Na -Aufnahme

+

+

[Na ]

Na +

H

+

Vesikel

[H ]

Abb. 2.11 Gegentransport von H+-Ionen und Na+-Ionen in Bürstensaumvesikeln von proximalen Nephronzellen. Membranvesikel werden in einer Lösung mit niedriger Na+Konzentration vorinkubiert, um eine niedrige intravesikuläre Na+-Konzentration zu erzielen. Dann wird zum Zeitpunkt Null die Na+-Konzentration in der Außenlösung erhöht. In kurzen Zeitabschnitten wird nun die Aufnahme von Na+ in die Vesikel gemessen (blaugrüne Kurve). Durch Vorinkubation der Vesikel in einer Lösung mit saurem pH-Wert und niedriger Na+-Konzentration wird die Aufnahme von Na+ stark beschleunigt (braune Kurve). In beiden Fällen kommt es nach etwa einer Stunde zum Konzentrationsausgleich für H+ und Na+ (Gleichgewicht). Die erhöhte Aufnahme im Anfangsteil der oberen Kurve wird überschießende Aufnahme (overshoot) genannt (Daten nach 46) und zeigt, dass die Na+-Aufnahme durch einen auswärtsgerichteten H+Gradienten stimuliert wird. Solche experimentellen Beobachtungen führten zum Konzept des Na+/H+-Austausch(Antiport-)Carriers, dessen molekulare Struktur und Funktion inzwischen aufgeklärt wurde und der in unterschiedlichen Subtypen in praktisch jeder Zelle des Körpers vorkommt (17).

über einen Wert von 10 mmol/l steigt. Für den Arzt ist die Glukosurie ein wichtiges Symptom bei der Diagnose und Verlaufskontrolle dieser Erkrankung. Die Funktionsweise von Carrierproteinen wurde vorwiegend mit der sog. Vesikeltechnik aufgeklärt. Dabei werden Membranen unter Zerstörung der Zellen (Homogenisation) aus ihrem natürlichen Verband herausgelöst. Solche Membranen bilden in Gegen-

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2 Die Zelle als Grundbaustein wart divalenter Kationen (Ca2+, Mg2+) spontan kleine Bläschen (Vesikel). Durch Zentrifugation werden Vesikel aus unterschiedlichen Membranregionen getrennt und angereichert. Der Inhalt der Vesikel kann durch Vorinkubation festgelegt werden. Dann kann die Aufnahme eines Substrates von der Badlösung oder die Abgabe aus dem intravesikulären Raum in Abhängigkeit von der Zeit verfolgt werden. Abb. 2.11 zeigt ein solches Experiment (46). Beim ersten Ansatz waren die Vesikel pH-äquilibriert ([H+i] = [H+a]) und Na+ wurde dem Außenmedium zugegeben. Hierdurch kam es zur Na+-Aufnahme, die nach kurzer Zeit einen konstanten Wert (Gleichgewicht) erreichte. Im zweiten Ansatz wurde ein H+Gradient vorgegeben, der von innen nach außen gerichtet war: [H+]i > [H+]a. Hierdurch wurde die initiale Na+-Aufnahme beschleunigt. Diese Daten sind so zu interpretieren, dass die Na+Aufnahme an die H+-Abgabe gekoppelt ist. In der Tat ist mit derartigen Experimenten zum ersten Mal die Existenz des – wie man inzwischen weiß (17) – ubiquitären Na+/H+-Antiporters nachgewiesen worden. Solche Versuche mit Membranvesikeln erlauben die Austestung von Hemmstoffen, die Bestimmung der kinetischen Eigenschaften und die Untersuchung der Regulation des Transportproteins. So wurde für das Na+/H+-Austauschsystem gezeigt, dass es vor allem durch pH-Änderungen auf der zytosolischen Seite so modifiziert wird, dass Azidose zu einer Steigerung der Umsatzrate, Alkalose zu einer Reduktion führen (14). Damit wird der Zell-pH reguliert – allerdings zu Lasten einer Na+-Aufnahme. Diese Na+-Aufnahme in die Zelle würde zu einer Na+-Akkumulation führen, wenn nicht durch die Beschleunigung der Pumpaktivität der Na+-K+-ATPase (s. u.) das aufgenommene Na+ wieder aus der Zelle herausgepumpt werden würde.

Ionenpumpen transportieren „primär-aktiv“ unter Verbrauch von ATP Ionenpumpen können hohe transmembranale Ionenkonzentrationsunterschiede erzeugen. Sie sind Membranproteine, die unter direktem ATP-Verbrauch Ionen transportieren und daher „primär-aktive“ Transporter oder auch ATPasen genannt werden. Ionenpumpen erzeugen Ionengradienten, die wiederum dazu dienen können, Carriersysteme „sekundär-aktiv“ zu „treiben“ oder den Ionentransport durch Kanäle sicherzustellen. Ionenpumpen sind Membrantransportproteine, die direkt ATP verbrauchen (ATPase-Aktivität) und dabei Ionen transportieren. Damit ist klar, dass solche Pumpen die Tätigkeit einstellen, wenn die ATP-Produktion in den Mitochondrien der Zelle (Abb. 2.6, S. 20) zusammenbricht. Die bestuntersuchte Pumpe dieser Art ist die Na+K+-Pumpe (33), auch Na+-K+-aktivierbare ATPase oder kurz Na+-K+-ATPase genannt, die sich in der Plasmamembran praktisch aller Zellen findet und durch intrazelluläres Na+ und extrazelluläres K+ aktiviert wird. Abb. 2.12 A zeigt ein elektronenmikroskopisches Bild einer gefriergeätzten Membran. Die einzelnen Na+-K+Pumpen sind deutlich als kleine Partikel in der Membran sichtbar (vgl. auch Abb. 2.2 A, S. 16). Pro Pumpzyklus und Verbrauch eines Moleküls ATP werden 3 Na+ aus der Zelle heraus und 2 K+ in die Zelle hinein tranportiert (Abb. 2.12 B). Damit gehört die Na+-K+-Pumpe zur Gruppe der elektrogenen Transportmechanismen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass der durch sie vermittelte Transport mit einer Nettoverschiebung von elektrischer Ladung über die Zellmembran einhergeht. Die Elektrogenizität der Na+-K+-Pumpe trägt allerdings nur gering-

fügig (5 – 10 mV) zum negativen Ruhemembranpotenzial der Zellen bei; das Ruhemembranpotenzial kommt nämlich in erster Linie dadurch zustande, dass die Na+K+-ATPase einen K+-Konzentrationsgradienten schafft, der K+-Ionen über K+-Kanäle aus der Zelle treibt (s. u.; S. 64). Die Na+-K+-Pumpe, oder auch Na+-K+-ATPase, ist ein Proteinkomplex, der aus mindestens jeweils einer α-Untereinheit (ca. 100 kDa) und einer β-Untereinheit (45 – 50 kDa) aufgebaut ist. Die katalytische Funktion und die Bindung von Na+ und K+ können der α-Untereinheit zugeordnet werden. Während zur ATP-Spaltung die Anwesenheit der β-Untereinheit nicht nötig ist, müssen zum Pumpen der Ionen beide Untereinheiten vorhanden sein. Abb. 2.12 C zeigt schematisch die einzelnen Schritte eines Pumpzyklus der Na+-K+-ATPase: Auf der Membraninnenseite bindet ATP an einer katalytischen Untereinheit, ADP wird abgespalten und eine phosphorylierte Zwischenstufe erreicht. Nun werden drei Na+-Ionen gebunden. Die Affinität dieser Bindungsstellen für Na+ ist dabei so groß, dass sehr niedrige zytosolische Na+-Konzentrationen von ca. 10 mmol/l und darunter erzeugt und gehalten werden können. Die Konfiguration der Pumpe in dieser Phase nennt man E1-Form. In dieser Phase kommt es zur Konfigurationsänderung. Die Na+-Bindungsstellen gelangen jetzt auf die Außenseite der Membran, die Phosphatbindung hat ihre Energie verloren, und nach Abgabe der Na+-Ionen werden zwei K+-Bindungsstellen frei. In dieser sog. E2-Form werden nun zwei K+-Ionen auf der Außenseite aufgenommen, auf die Membraninnenseite gebracht und dort zusammen mit dem Phosphat freigegeben.

Eine besondere Eigenschaft der Na+-K+-ATPase ist ihre Hemmbarkeit durch Ouabain (g-Strophanthin), einem so genannten Herzglykosid, das als Medikament aus Pflanzen (z. B. aus Fingerhut) gewonnen, aber auch im Körper gebildet wird (S. 349). Die Bindungsstelle für Ouabain befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu den K+-Bindungsstellen. Die Ouabainbindung wird durch erhöhtes K+ auf der Außenseite behindert und umgekehrt durch erniedrigtes K+ gefördert. Dies erklärt, warum Überdosierungserscheinungen im Rahmen einer Therapie mit Herzglykosiden insbesondere bei Patienten mit niedriger Plasmakaliumkonzentration zu befürchten sind. Die Bindung von Ouabain hält die Pumpe beim Übergang von der E2-Form in die E1-Form an (Abb. 2.12 C). Damit stellt die Na+-K+-ATPase sowohl ihre Pumptätigkeit als auch die Spaltung von ATP ein. Ouabain war nicht nur eine wertvolle Hemmsubstanz bei der Aufdeckung der physiologischen Funktionen der Na+-K+-Pumpe. Die hemmende Wirkung auf die Na+-K+-Pumpe erklärt auch die seit Jahrhunderten bekannte, herzkraftsteigernde Wirkung von Strophanthinen und anderen Herzglykosiden (Digoxin, Digitoxin), die bei der Therapie der Herzinsuffizienz eine wichtige klinische Rolle spielen. In der Herzmuskelzelle wird die zytosolische Ca2+-Konzentration nämlich u. a. dadurch gesenkt, dass Ca2+ mit Hilfe des 3Na+/Ca2+-Antiporters durch den (von der Na+-K+Pumpe erzeugten) elektrochemischen Na+-Gradienten sekundär-aktiv aus der Zelle getrieben wird (Abb. 7.20 auf S. 154). Eine teilweise Hemmung der Na+-K+Pumpe durch die Herzglykoside erhöht die zytosolische Na+-Konzentration. Dadurch sinkt der elektrochemische Na+-Gradient, d. h. die Triebkraft für den

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2.3 Transportwege durch die Zellmembran A Membranvesikel +

+

3 Na

+

B Na - K -ATPase

außen Membran 3 nm innen +

2K

ADP

ATP

C Reaktionsschema

Extrazellulärraum +

[K ]

+

[Na ]

Ouabain (g-Strophanthin)

Zustand E2

P

P

6.

P

5. +

4.

+

Na - K -ATPase b-Untera-Untereinheit einheit

Membran

7.

+

[K ] Zytosol

+

3 Na

+

2K

1. +

Na -Affinität niedrig

+

[Na ] P

+

2K

Abb. 2.12 Na+-K+-ATPase als Na+-K+-Pumpe. A Gefriergeätzte Membranvesikel bei 54 000facher Vergrößerung. Deutlich sind einzelne Na+-K+-Pumpen als Korpuskel (*) sichtbar (nach 42). B und C Reaktionsschema der Na+-K+-ATPase. Die Pumpe besteht aus mindestens zwei Untereinheiten (α und β). Zunächst wird in der sog. E1-Form der ATPase ATP gebunden und eine Stelle des Proteins mit einer energiereichen Phosphatbindung (∼P) versehen. Hierdurch ändert sich die Konformation des Moleküls: Die 3 Na+-Bindungsstellen werden freigegeben, und Na+ wird auf die andere Membran-

3Na+/Ca2+-Austauscher, so dass die zytosolische Ca2+Konzentration und damit die Herzkraft (Kontraktilität) ansteigt (S. 154). Außerdem wird neuerdings diskutiert, dass Herzglykoside möglicherweise auch durch eine Steigerung der Ca2+-Permeabilität von Na+-Kanälen die intrazelluläre Ca2+-Konzentration erhöhen. Dass Herzglykoside in höheren Dosen schnell toxisch sein können, erklärt sich aus der zentralen Bedeutung der Na+-K+-Pumpe für praktisch alle Körperzellen (s. u.). Mit zunehmender Hemmung der Na+-K+-Pumpe vermindern sich die Konzentrationsgradienten für Na+ und K+, was zu einem sukzessiven Zusammenbruch des Zellmembranpotenzials führt, wodurch wiederum andere lebenswichtige Funktionen der Zellen beeinträchtigt werden. Klinisch im Vordergrund steht bei einer Überdosierung von Herzglykosiden, neben einer Reihe von Allgemeinsymptomen (z. B. Übelkeit, Sehstörungen), das Auftreten von zum Teil lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörun-

2.

ATP

2+

Mg

P ADP

+

Na -Affinität hoch

Zustand E1

3. P +

3 Na

seite transportiert. Die Phosphatbindung hat jetzt ihre Energie verloren und K+-Bindungsstellen werden freigegeben (Zustand E2). K+ wird gebunden, auf die Zytosolseite transportiert und dort unter gleichzeitiger Abspaltung des Phosphatrestes abgegeben. Die Na+-K+-ATPase(-Pumpe) befindet sich nun wieder in der Ausgangsform. Das Herzglykosid Ouabain (g-Strophanthin) bindet in unmittelbarer Nachbarschaft zu den K+-Bindungsstellen und hemmt dadurch die Na+-K+-ATPase.

gen, die sich häufig durch einen AV-Block 1. Grades ankündigen (S. 170). Neben der Na+-K+-ATPase(-Pumpe) kommen noch zwei Arten von Ionenpumpen relativ häufig vor. Die einen sind die H+-ATPasen, die entweder unter ATP-Verbrauch H+Ionen in einem Kompartiment anreichern (z. B. Lysosomen) oder einen H+-Gradienten ausnutzen, um ATP zu produzieren (Mitochondrien; S. 20 f.). Ähnliche Pumpen, die H+-Ionen gegen K+ austauschen (H+-K+-ATPasen), kommen auch an Epithelien vor, z. B. im Magen, wo unter ATP-Verbrauch ein stark saurer Magensaft gebildet wird (S. 428 f., Abb. 14.12). Eine weitere Art sind die Ca2+ATPasen, die Ca2+ unter ATP-Verbrauch pumpen, z. B. in Zellmembranen, im sarkoplasmatischen Retikulum (SERCA-Pumpe; S. 154) oder in Mitochondrien. Mit Hilfe dieser Ca2+-Pumpen werden die enormen Ca2+-Konzentrationsgradienten (z. B. zwischen Extrazellulärraum und Zytosol) von vier Dekaden und mehr aufgebaut.

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32

2 Die Zelle als Grundbaustein

Pumpen, Carrier und Kanäle im Vergleich Pumpen, Carrier und Kanäle haben gemeinsam, dass sie ganz bestimmte Substrate mit hoher Selektivität durch die Membran transportieren. Bei Ionenkanälen treibt der elektrochemische Gradient für das betreffende Ion den Nettotransport. Bei Carrierproteinen ist es die Konzentrationsdifferenz oder (bei elektrogenen Carriern) der elektrochemische Gradient, doch besteht häufig eine Kopplung an Na+, wodurch die Triebkraft für Na+ ausgenutzt wird, um das gekoppelte Substrat entgegen seinem elektrochemischen Gradienten zu transportieren (sekundär-aktiver Transport; s. o.). Ionenpumpen können unter ATP-Verbrauch besonders große Konzentrationsdifferenzen aufbauen. Weil nur bei diesen letzteren Prozessen der ATP-Verbrauch direkt an den Transport gekoppelt ist, nennt man diese Transportvorgänge „primär-aktiv“.

2.4

Ionale Zusammensetzung von Intra- und Extrazellulärflüssigkeit

In der Intrazellulärflüssigkeit ist K+ das dominierende Kation. Die meisten Anionen dieses Kompartiments sind große impermeable Moleküle (Proteine, Phosphate). Die Konzentration an freiem, d. h. ionisiertem Ca2+ ist im Zytosol mit etwa 10–7 mol/l sehr niedrig. In der Extrazellulärflüssigkeit ist Na+ das dominierende Kation und Cl– das dominierende Anion. Die ungleiche Ionenverteilung zwischen Zytosol und Extrazellulärraum wird durch Ionenpumpen (z. B. Na+-K+-ATPase, Ca2+ATPase), durch Carriersysteme (z. B. 3 Na+/Ca2+-Antiport, Na+/H+-Antiport) und durch Ionenkanäle (z. B. Cl–Kanäle) aufrechterhalten.

Zwischen Extra- und Intrazellulärflüssigkeit bestehen Ionengradienten insbesondere für Na+ und K+ Die Ionenzusammensetzung der Extra- und Intrazellulärflüssigkeit ist unterschiedlich, was für die Funktion der Zelle von elementarer Bedeutung ist. Dabei bleibt das Prinzip der Elektroneutralität gewahrt, d. h. in einer Lösung ist die Summe der positiven Ladungen stets gleich der Summe der negativen Ladungen. Tab. 2.1 fasst die Konzentrationen für einige wichtige Ionen in der Intraund Extrazellulärflüssigkeit zusammen, wobei sich die Angaben auf die zytosolische Flüssigkeit und die interstitielle Flüssigkeit beziehen. Die Zusammensetzung der Plasmaflüssigkeit, die ebenfalls zur Extrazellulärflüssigkeit gehört, ist zwar ganz ähnlich aber nicht identisch mit der der interstitiellen Flüssigkeit. Die Unterschiede beruhen vor allem auf dem hohen Proteingehalt der Plasmaflüssigkeit, der etwa 7 % des Plasmavolumens ausmacht (S. 379 ff.; Tab. 13.1). Auch die Zusammensetzung der Flüssigkeit in den Zellorganellen kann deutlich von der der zytosolischen Flüssigkeit abweichen. Auf diese Feinheiten soll hier aber nicht eingegangen werden, sondern es soll der wesentliche Unterschied in der Zusammensetzung der Intra- und Extrazellulärflüssigkeit hervorgehoben werden. Dieser besteht darin, dass die Na+Konzentration extrazellulär hoch und intrazellulär nied-

rig ist, während umgekehrt die K+-Konzentration intrazellulär hoch und extrazellulär niedrig ist. Diese entgegengesetzt gerichteten Konzentrationsgradienten für Na+ und K+ werden durch die kontinuierliche Pumpleistung der Na+-K+-ATPase aufgebaut, die den Motor für die ungleiche Ionenverteilung zwischen Intra- und Extrazellulärflüssigkeit darstellt (s. u.). Im Extrazellulärraum ist Cl– das häufigste Anion, während im Intrazellulärraum anionische Proteine und Phosphate überwiegen. Bicarbonat ist in beiden Kompartimenten ein wichtiges Anion, wobei seine intrazelluläre Konzentration etwas niedriger ist als die extrazelluläre. In Übereinstimmung damit liegt der pH-Wert im Zytosol typischerweise um pH 7,2 und ist damit geringfügig saurer als der extrazelluläre pH von 7,4. Die Konzentration von ionisiertem Ca2+ liegt im Extrazellulärraum im Bereich von 1 – 2 mmol/l, im Zytosol dagegen normalerweise bei etwa 0,1 µmol/l (10–4 mmol/l oder 10–7 mol/l). Die meisten Zellen weisen ein Membranpotenzial im Bereich von – 50 bis – 80 mV auf (Zytosolseite negativ gegenüber Extrazellulärraum). Für dessen Zustandekommen ist die Ungleichverteilung der Ionen, insbesondere von K+, zwischen Extra- und Intrazellulärraum sowie das Vorhandensein einer dominierenden K+-Leitfähigkeit von entscheidender Bedeutung (S. 64). Die Verwendung von Konzentrationen vernachlässigt, dass in reellen, d. h. relativ konzentrierten Lösungen, die Aktivität (a) eines Ions deutlich kleiner ist als die Konzentration (c): a = f · c. Hierbei ist f der Aktivitätskoeffizient (S. 865 f.). Er beträgt z. B. für NaCl im Plasma (Osmolalität 290 – 300 mosm/l, T = 37 8C) 0,75. Üblicherweise verwendet man zumindest für die Angaben in der Extrazellulärflüssigkeit Konzentrationen, weil die meisten Bestimmungsmethoden die Konzentrationen und nicht die Aktivitäten erfassen. Hingegen misst man im Zytosol mit ionenselektiven Elektroden die Aktivitäten und nicht die Konzentrationen. Aus Gründen der Vereinfachung werden hier für beide Kompartimente bewusst Konzentrationen und nicht die Aktivitäten verwendet.

Die zentrale Rolle der Na+-K+-ATPase Im Folgenden soll kurz zusammengefasst werden, wie diese ungleiche Ionenverteilung zwischen Intra- und Extrazellulärflüssigkeit zustande kommt und welcher Zusammenhang mit dem Membranpotenzial besteht, wobei für eine ausführliche Besprechung des Membranpotenzials auf Kapitel 4 verwiesen wird. Abb. 2.13 zeigt ein Schema zur Ionenverteilung, das etwa gleichermaßen für eine ruhende Nervenzelle oder eine apolare, nicht erregbare Zelle zutrifft. Die zytosolische Na+-Konzentration ist niedrig und die von K+ hoch, weil die Na+-K+-Pumpe laufend Na+ aus der Zelle heraus- und K+ in die Zelle hineintransportiert. Die Membran der dargestellten Zelle sei, wie für die meisten Zellen des Körpers, aufgrund einer hohen Dichte und Aktivität von K+-Kanälen überwiegend für K+ permeabel, auch wenn zusätzlich in der Zellmembran Kanäle für andere Ionen existieren (z. B. für Na+, Ca2+ und Cl–). Die Akkumulation von K+ in der Zelle führt dazu, dass sich die Zellmembran entsprechend der dominierenden K+-Leitfähigkeit so polarisiert, wie es annähernd dem K+-Gleichgewichtspotenzial entspricht (S. 64); d. h. das in Abb. 2.13 gezeigte Membranpotenzial

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2.4 Ionale Zusammensetzung von Intra- und Extrazellulärflüssigkeit ist mit – 80 mV nur 10 mV von dem Potenzial entfernt, wie es aus der K+-Verteilung und der Nernst-Gleichung (S. 25) errechnet werden kann (EK = – 90 mV). Gäbe es keinerlei Na+- und Ca2+-Einstrom, könnte die Zelle dank der einmal etablierten Na+- und K+-Gradienten auch ohne fortlaufende Na+-K+-ATPase-Aktivität den Gleichgewichtszustand halten mit einem stabilen Membranpotenzial, das dem Gleichgewichtspotenzial für K+ entspräche. Im Regelfall, und besonders bei Nervenzellen oder auch bei transportierenden Epithelzellen, hat die Zelle aber laufend mit dem Na+-Einstrom über Kanäle und sonstige Na+-Aufnahmesysteme (Abb. 2.13 und Abb. 2.14) Schritt zu halten, wozu eine entsprechende Pumpaktivität der Na+-K+-ATPase erforderlich ist. Der kontinuierlich aufrechterhaltene Na+-Gradient wird von Carrierproteinen für die Aufnahme von Substraten und den Heraustransport von H+- und Ca2+-Ionen ausgenutzt. Die fein regulierten Ca2+-Kanäle lassen im Ruhezustand einen nur sehr begrenzten Ca2+-Einstrom zu. Dieser Ca2+-Einstrom, für den eine sehr hohe Triebkraft besteht (∆E = Em – ECa = – 80 mV – [+ 120 mV] = – 200 mV), wird laufend durch den Heraustransport von Ca2+ über das 3Na+/Ca2+-Gegentransportsystem sowie durch Ca2+-ATPasen ausgeglichen. Über in der Membran befindliche Cl–-Kanäle verteilen sich die intra- und extrazellulären Cl–-Ionen in der Regel so, dass sie sich im elektrochemischen Gleichgewicht befinden. Für das in Abb. 2.13 gezeigte Beispiel (Em = – 80 mV; extrazelluläre Cl–-Konzentration = 117 mmol/l) ist dies bei einer intrazellulären Cl–-Konzentration von etwa 6 mmol/l der Fall, da bei dieser Konzentration das Gleichgewichtspotenzial für Cl– dem Membranpotenzial Em entspricht. Cl– verteilt sich allerdings nicht in allen Körperzellen rein passiv entsprechend dem Membranpotenzial, sondern wird in manchen Zellen durch „sekundär-aktive“ Transportsysteme intrazellulär akkumuliert, was beispielsweise in Cl–-sezernierenden Epithelzellen funktionell von Bedeutung ist (Abb. 14.18 A, S. 440, u. Abb. 14.20, S. 445). Je nach Zelltyp kann die intrazelluläre Cl–-Konzentration also variieren. Die großen intrazellulären Anionen, insbesondere die intrazellulären Proteine, können die Zelle im Gegensatz zu Cl– nicht verlassen, da die Zellmembran keine entsprechenden Permeationswege aufweist. Die durch die Na+K+-ATPase intrazellulär akkumulierten K+-Ionen gleichen die negativen Ladungen dieser großen Anionen aus (Elektroneutralität). Somit konserviert die Zelle ihre Osmolalität durch die „Dichtheit“ der Zellmembran für große Anionen. Wird eine Zelle z. B. dadurch belastet, dass über entsprechend aktivierte Kanäle Na+ einströmt, so kommt es zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Depolarisation, da das Membranpotenzial aufgrund der Zunahme der Na+-Leitfähigkeit der Membran dem Gleichgewichtspotenzial von Na+ von etwa + 60 mV zustrebt (S. 68). Die Folge der Depolarisation ist die intrazelluläre Anreicherung von Cl–, das sich entsprechend dem veränderten Membranpotenzial neu verteilt. Die Zelle nimmt also sowohl Na+ als auch Cl– auf. Dadurch kommt es zu einem Anstieg der intrazellulären Osmolarität, was einen osmotischen Wassereinstrom und damit eine Zellschwellung zur Folge hat. Dies tritt allerdings nur dann auf, wenn der Na+-Einstrom die Fähigkeit der

ATP-getriebene Pumpe

+

Na

+

K mV

Ionenkanal Carriermolekül 2+

Ca

+

K ATP

+

3 Na

mmol/l H2O +

[K ] + [Na ] 2+ [Ca ] – [A ] – [HCO3 ] – [Cl ]

= 120 = 15 = 107. In diesem Beispiel wird die Reaktion durch β-Adrenozeptoren in der Zellmembran von Leber- und Muskelzellen vermittelt. Dort führt die Bindung des Hormons Adrenalin (oder anderer βAgonisten) an einem spezifischen Adrenozeptor zur Bildung von zyklischem Adenosinmonophosphat (cAMP) aus ATP (Abb. 2.15, Abb. 2.16). Die Reaktion wird von einem Enzym, der Adenylylcyclase, vermittelt. Die Kopplung derartiger Rezeptoren mit der Adenylylcyclase erfolgt über G-Proteine (24). Ihren Namen verdanken diese Proteine der Tatsache, dass sie Guanosintriphosphat (GTP) bzw. Guanosindiphosphat (GDP) binden. Diese Proteine sind membranständig und befinden sich auf der Zytosolseite. In inaktiver Form liegen sie immer als Komplex von drei Untereinheiten (Abb. 2.15) vor. In dieser „ruhenden“ Form bindet die α-Untereinheit GDP. Durch Interaktion mit dem Rezeptor-Agonisten-Komplex wird GDP durch GTP ersetzt. Nun trennt sich einerseits der RezeptorAgonisten-Komplex und andererseits die β- und γ-Untereinheit von der GTP-bindenden α-Untereinheit. Je nach Rezeptortyp und Art des interagierenden G-Proteins kann sowohl die α-Untereinheit als auch der Komplex aus βund γ-Untereinheit eines G-Proteins für die weitere Signaltransduktion von Bedeutung sein. Im Falle des β-Adrenozeptors ist es die GTP-bindende α-Untereinheit, die an die Adenylylcyclase bindet und diese aktiviert. Die Adenylylcyclase (auch Adenylatcyclase genannt) beginnt, aus ATP cAMP zu produzieren. Allerdings wird der Prozess sehr bald spontan dadurch unterbrochen, dass das GTP an der α-Untereinheit zu GDP hydrolysiert wird. Hierdurch reassoziiert das komplette G-Protein (α-β-γ) und steht für eine erneute Rezeptor-Agonisten-Komplex-Interaktion zur Verfügung. cAMP seinerseits steuert Phosphorylierungsprozesse von Proteinen, indem es Proteinkinasen vom ATyp (PKA) aktiviert. Kinasen sind phosphorylierende Enzyme, und Proteinkinasen phosphorylieren Proteine an den OH-Gruppen ihrer Tyrosin-, Serin- oder ThreoninReste (Abb. 2.18 auf S. 39). Die ubiquitäre PKA besteht aus einem Dimer von jeweils zwei regulierenden und zwei katalytischen Untereinheiten. Die regulierenden Untereinheiten binden cAMP und geben dadurch die katalytischen Untereinheiten frei, die dann ihrerseits die Proteinphosphorylierung steuern. Die phosphorylierten Proteine

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2.6 Hormone und Mechanismen der Signaltransduktion Hormon

1

außen

Rezeptor

a

b g

Rezeptor

g

Membran

b

2 G-Protein Adenylylcyclase

GDP

a Adenylylcyclase

GTP

Zytosol

GDP

7 3 b

a GDP

g

b Adenylylcyclase

a

g

Adenylylcyclase

GTP

P 5’-AMP

8

Protein

P

4 cAMP

Phosphodiesterase

ATP

5

cAMP-Rezeptor regulierende Untereinheit katalytische Proteinkinase A Untereinheit

Phosphatasen

9 Protein

Protein P

6 Hormonwirkung in der Zelle

Abb. 2.15 Hormonale Steuerung über zyklisches Adenosinmonophosphat (cAMP). Die Hormonbindung führt zur Dissoziation des G-Proteins in die α-Untereinheit und die βund γ-Untereinheiten (1). Hierbei bindet die α-Untereinheit GTP und ersetzt dabei GDP (2). Die GTP-bindende α-Untereinheit reagiert nunmehr mit der eigentlichen Adenylylcyclase (3), wodurch diese aktiviert wird und aus ATP (Mg2+abhängig) cAMP bildet (4). cAMP seinerseits aktiviert eine

vermitteln dann die regulatorischen Wirkungen auf Zellfunktionen, im obigen Beispiel fördern sie die Glykogenolyse. Auch die Wirkung von cAMP und die der phosphorylierten Proteine wird ständig dadurch kontrolliert, dass einerseits cAMP über eine Phosphodiesterase zu 5′-AMP gespalten und andererseits die Proteinphosphorylierung durch Phosphatasen rückgängig gemacht wird. Auf den Verstärkungsfaktor, der durch diese komplexe Transduktion gewährleistet wird, wurde oben schon eingegangen. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass verschiedene Rezeptoren auf den gleichen intrazellulären Botenstoff (Second Messenger) konvergieren können. Mehr noch: Es kommen zwei Arten von G-Proteinen vor,

ATP ADP Phosphorylierung

Proteinkinase vom Typ A (PKA) (5), die durch Phosphorylierung eines Proteins die eigentliche Hormonwirkung in der Zelle auslöst (6). Die cAMP-Produktion wird dadurch unterbrochen, dass GTP wieder zu GDP hydrolysiert wird (7). Darüber hinaus wird cAMP durch Phosphodiesterase zu 5′AMP gespalten (8), und unabhängig davon werden die phosphorylierten Proteine durch Phosphatasen wieder dephosphoryliert (9).

fördernde, davon war eben die Rede, und hemmende. Man unterscheidet also stimulierende (Gs) und hemmende (inhibierende, Gi) G-Proteine. So kann die Adenylylcyclase von fördernden Hormonen gesteigert und von hemmenden Hormonen gebremst werden (Abb. 2.16). Ein weiterer Vorteil der Koppelung über G-Proteine besteht darin, dass die Hormoneffekte durch den spontanen Abbau von GTP schnell beendet werden und somit der Hormoneffekt rasch „abgeschaltet“ werden kann. Die ganze Transduktionskette, die bisher besprochen wurde, wird üblicherweise in wenigen Sekunden bis Minuten durchlaufen. Ihre Entdeckung ist eng mit der Erforschung pathophysiologischer Vorgänge verknüpft.

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2 Die Zelle als Grundbaustein

Acetylcholin (M2,M4) Adenosin (A1,A3) Adrenalin (a2) Angiotensin II Dopamin (D2,D3,D4) Melatonin Prostaglandine Serotonin (HT1) Somatostatin u. a.

Oxytocin Prostacyclin Prostaglandine Sekretin Serotonin (5-HT4, 5-HT7) VIP u. a.

stimulierende Hormone (Hs )

spezifische Rezeptoren (R)

Rs

Ri Membran

G-Proteine (G)

Forskolin Gi

Gs

as

b g

b g

Adenylylcyclase

ai

ATP cAMP Pertussistoxin hemmt GTPBindung

P

Forskolin (Abb. 2.16) aus der Wurzel von Coleus Forskohlii aktiviert die katalytische Untereinheit der Adenylylcyclase direkt. Forskolin wird daher häufig experimentell eingesetzt, um die Rolle des cAMP-Signaltransduktionsweges in Zellen zu untersuchen. Viele Peptidhormone, manche Prostaglandine, Catecholamine und Adenosin benützen den bisher geschilderten Transduktionsmechanismus. Sie wirken z.T. über G-Proteine, die die Adenylylcyclase stimulieren (Gs), z.T. über solche die sie hemmen (Gi) (Abb. 2.16, oben links bzw. oben rechts.)

Die hormonabhängige IP3-Kaskade

GTP

GTP

Choleratoxin hemmt GTPHydrolyse

maximal aktiviert wird (Abb. 2.16). Im Fall von Pertussis-(Keuchhusten-)Toxin kommt der Effekt dadurch zustande, dass das hemmende Gi-Protein nicht mehr aktiviert werden kann und somit das stimulierende Gs-Protein relativ zuviel cAMP produziert (Abb. 2.16). Im Trachealepithel (s. S. 220) führt das zu einer Steigerung der NaCl– und Wassersekretion. Der Zusammenhang mit dem Krankheitsbild Keuchhusten ist damit allerdings noch nicht befriedigend geklärt.

hemmende Hormone (H i) außen

ACTH Adenosin (A2A,A2B) Adiuretin (V2) Adrenalin (b) CRH Dopamin (D1, D5) FSH Glucagon Histamin (H2)

Zytosol

38

Proteinkinase A s. vorherige Abb.

Abb. 2.16 cAMP-fördernde und -hemmende Hormone. Hier werden der stimulierende Weg und der antagonisierende (hemmende) Weg zusammengefasst. Stimulierendes bzw. inhibitorisches Hormon (Hs, Hi) wirken über den entsprechenden Rezeptor (Rs, Ri) aktivierend auf ein stimulierendes bzw. inhibitorisches G-Protein (Gs, Gi). Das jeweilige G-Protein wirkt auf die katalytische Untereinheit der Adenylylcyclase. Choleratoxin verhindert die Hydrolyse von α-Gs-GTP zu α-Gs-GDP und steigert damit die Aktivität der Adenylylcyclase. Pertussistoxin verhindert die GTP-Bindung am Gi-Protein und hebt damit die hemmende Wirkung an der Adenylylcyclase auf. Es steigert damit ebenfalls indirekt die cAMP-Konzentration im Zytosol. Im oberen Teil werden einige bekannte stimulierende und hemmende Hormone, die über Erhöhung bzw. Erniedrigung von cAMP wirken, zusammengefasst. Forskolin stammt aus der Wurzel von Coleus Forskohlii. Unter Umgehung des Rezeptors und des G-Proteins aktiviert Forskolin die katalytische Untereinheit der Adenylylcyclase direkt und steigert damit die Produktion von cAMP.

So wurden die G-Proteine dadurch entdeckt, dass sie bestimmte Toxine (Choleratoxin und Pertussistoxin) binden und dadurch in ihrer Aktivität beeinflusst werden. Im Fall von Choleratoxin konnte der Wirkmechanismus, der zum Öffnen von Chloridkanälen in der luminalen Membran des Ileums und des Kolons und damit zu Chlorid- und letztlich auch Na+- und Wasserverlust (Diarrhö) führt (s. S. 432), so erklärt werden, dass das Toxin die Gs-α-Untereinheit in der GTPbindenden Form ribosyliert, so dass keine spontane Inaktivierung mehr eintritt und die Adenylylcyclase

Weitere Hormone, deren Rezeptorprotein ebenfalls heptahelikal (= 7-mal die Membran kreuzend) ist, benützen Inositoltrisphosphat (IP3) und, parallel dazu, Diacylglycerin (DAG) als Second Messenger. IP3 wird aus dem Phospholipid P2-Phosphatidylinositol (PIP2) mittels der Phosphodiesterase Phospholipase C (PLC) abgespalten, wobei gleichzeitig DAG entsteht (Abb. 2.17). Ähnlich wie bei der Transduktion über cAMP werden auch hier GProteine benötigt (Gq), die den Hormon-Rezeptor-Komplex an PLC koppeln. IP3 wirkt in der Zelle über eine Freisetzung von Ca2+ aus Ca2+-Speichern. Das erhöhte intrazelluläre Ca2+ ist dann der tertiäre Botenstoff (s. u.), der z. B. die Freisetzung von Sekretvesikeln (z. B. Pankreas, Mastzellen) vermittelt. IP3 wird mit einem komplexen Metabolismus zunächst zu Tetrakisphosphat (IP4) phosphoryliert und schließlich wieder in Phosphatidylinositol überführt. Auch die Metaboliten, z. B. IP4, haben offenbar eine Steuerfunktion, indem sie beispielsweise die Ca2+Aufnahme über die Plasmamembran regulieren. Das andere Spaltprodukt der Phospholipase C, Diacylglycerin (DAG), hat ebenfalls die Funktion eines zweiten Botenstoffes. DAG stimuliert die Proteinkinase C (PKC). Diese Kinase phosphoryliert dann ihrerseits Proteine. Besonders interessant ist hierbei, dass die Aktivierung der Proteinkinase C meist Ca2+-abhängig ist: Erhöhtes Ca2+ verstärkt die Kinaseaktivierung durch DAG. Auf diesem Wege unterstützen sich also DAG und das durch IP3 freigesetzte Ca2+ in ihrer Wirkung. Die Hormonwirkung wird auch hier auf mehreren Stufen begrenzt, zum einen wieder über die Inaktivierung des G-Proteins (G-GTP → G-GDP), zum anderen über den IP3-Metabolismus und schließlich über Phosphatasen, die die phosphorylierten Proteine wieder dephosphorylieren. Schon eingangs wurde erwähnt, dass IP3-vermittelte Transduktionsprozesse von den gleichen Hormonen ausgehen können wie die cAMP-vermittelte Transduktion. So übt z. B. Vasopressin (antidiuretisches Hormon, ADH) seine cAMP-vermittelte Wirkung auf die Wasserpermeabilität des Nephrons über sog. V2-Rezeptoren aus (S. 390, Abb. 13.14), wohingegen die IP3-vermittelte Kontraktion der glatten Muskelzelle durch V1-Rezeptoren initiiert wird (S. 389). Ganz analog

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2.6 Hormone und Mechanismen der Signaltransduktion

Hormon

Endothelin Gastrin Histamin (H1) Oxytocin Serotonin (HT2) u.a.

Insulin

außen

Acetylcholin (M1, M3) Adiuretin (V1) Adrenalin (a1) Angiotensin II Bradykinin CCK

a

a

b

b

Interstitium Zellmembran

Phospholipase C

GTP

PIP2

IP3-Abbau IP3

DAG

Zytosol

Gq-Protein

Proteinkinase C

P PhosphotyrosinReste

Membran

Rezeptor

P

P

P

P

Tyrosinkinase

Zytosol

Autophosphorylierung

P Tyr

P

IRS-1

SH2

ATP ADP OH

O PO32–

Abtransport

intrazellulärer 2+ Ca -Speicher Ca

Proteindephosphorylierung Ca

2+

2+

Calmodulin Proteinphosphorylierung Proteinmodifikation z.B. Kinaseaktivierung

direkte Effekte

Abb. 2.17 Kaskade der Hormonwirkung über den Phosphatidylinositol-Metabolismus. Rezeptoraktivierung löst über Bindung von GTP die Aktivierung eines Gq-Proteins aus, das nicht identisch ist mit den G-Proteinen, die die katalytische Untereinheit der Adenylylcyclase regulieren. Das aktive Go-Protein aktiviert seinerseits die Phospholipase C (PIP2-Phosphodiesterase), die Phosphatidylinositol-4,5-bisphosphat (PIP2) in Inositol-1,4,5-trisphosphat (IP3) und Diacylglycerin (DAG) spaltet. IP3 setzt Ca2+ aus seinen intrazellulären Speichern frei. Ca2+ seinerseits hat zum einen direkte Wirkungen, z. B. die Erhöhung einer K+-Leitfähigkeit. Es kann seine Effekte aber auch indirekt dadurch erzielen, dass es an Calmodulin bindet. Der Ca2+-Calmodulin-Komplex gibt das Signal weiter, indem er z. B. calmodulinabhängige Proteinkinasen aktiviert. Schließlich aktivieren DAG und Ca2+ gemeinsam eine Proteinkinase C. Die Wirkung des Hormons wird limitiert durch 1. Inaktivierung des Gq-Proteins, 2. Abbau von IP3 und Resynthese von PIP2, 3. Abtransport von Ca2+ aus dem Zytosol und 4. Phosphatasen, die Phosphatreste der phosphorylierten Proteine abspalten.

sind die cAMP-vermittelten Catecholamineffekte an βRezeptoren (über Gs-Protein) bzw. an α2-Rezeptoren (über Gi-Protein) gekoppelt, wohingegen die IP3-vermittelten Effekte über α1-Rezeptoren laufen.

Enzymgekoppelte Hormonrezeptoren

Bindung von Zielproteinen mit SH2-Domäne

Abb. 2.18 Enzymgekoppelter Hormonrezeptor. Insulin bindet an einen heterotetrameren Rezeptor mit 2α- und 2βUntereinheiten. Der Insulinrezeptor ist eine Rezeptor-Tyrosinkinase, d. h. er wird dadurch aktiviert, dass sich die zytosolischen Domänen der beiden β-Untereinheiten gegenseitig an ihren Tyrosinresten phosphorylieren (Autophosphorylierung). Die Weitergabe des Signals erfolgt durch Bindung und Phosphorylierung des Proteins IRS-1 (insulin receptor substrate-1), das zytosolische Proteine phosphoryliert, die eine so genannte SH2-Domäne besitzen.

auf der zytoplasmatischen Seite Guanylylcyclase-Aktivität und gehört zur Gruppe der Rezeptor-Guanylylcyclasen, die aus Guanosintriphosphat (GTP) den Second Messenger cGMP bilden, der in der Folge die Proteinkinase G (PKG) aktiviert. Im Fall von Insulin führt die Bindung an den heterotetrameren Rezeptor (2α- und 2β-Untereinheiten) zur Autophosphorylierung der β-Untereinheiten (Abb. 2.18). Der Insulinrezeptor ist eine Rezeptor-Tyrosinkinase, d. h. er wird dadurch aktiviert, dass sich die zytosolischen Domänen der beiden β-Untereinheiten gegenseitig an ihren Tyrosinresten phosphorylieren. Die Weitergabe des Signals erfolgt anschließend durch Bindung und Phosphorylierung des Proteins IRS-1 (Insulin receptor substrate-1), das in der Folge solche zytosolische Proteine phosphoryliert, die eine sog. SH2-Domäne besitzen. Zu deren Wirkungen in der Zelle zählt dann u. a. der Einbau neuer Glucose-Carrier in die Zellmembran z. B. von Skelettmuskel-, Herzmuskel- und Fettzellen. Somatotropin (STH), Prolactin und Erythropoietin steuern die Zellfunktion über Tyrosinkinase-assoziierteRezeptoren, bei denen der Rezeptor mit Nicht-RezeptorTyrosinkinasen zusammentritt (v. a. mit Proteinen der Src-Familie), die ihrerseits dann die Zielproteine phosphorylieren.

Einige Hormone und Wachstumsfaktoren (s. u.) aktivieren Membranrezeptoren, die dadurch auf der zytosolischen Seite selbst Enzymaktivität enfalten. So besitzt beispielsweise der Rezeptor für Atriopeptin (ANF; S. 160 u. 348 f.)

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2 Die Zelle als Grundbaustein

Wachstumsfaktoren Das Zellwachstum, die Reifung, die Proliferation und die Zelldifferenzierung werden durch sog. Wachstumsfaktoren gesteuert, von denen laufend neue entdeckt werden: neuronaler Wachstumsfaktor (nerve growth-factor, NGF); Neurotrophine; „brain derived neurotrophic growth factor“ (BDGF); „platelet derived growth factor“ (PDGF); eine ständig ansteigende Anzahl von Zytokinen (z. B. Interleukine, Kap. 9.4), die u. a. für die Reifung und Funktion von Leukozyten von Bedeutung sind; Thrombopoietin; „insulin-like growth factor“ (ILGF); Somatomedine etc. Diese hormonähnlichen Signalstoffe dienen vor allem der lokalen Kommunikation zwischen verschiedenen Zellen, wobei man eine autokrine Wirkung, bei der der Signalstoff auf die ihn sezernierende Zelle selbst einwirkt, von einer parakrinen Wirkung, bei der sich die Wirkung auf benachbarte Zellen erstreckt, unterscheidet. Das Wachstumshormon STH (S. 529 f.) und die oben genannten Hormone Insulin und Erythropoietin wirken ebenfalls als Wachstumsfaktoren. Bei vielen Wachstumsfaktoren spielen für die Signalvermittlung sog. Tyrosinkinasen (s. o.), die Phosphatreste auf die OH-Gruppen von Tyrosinresten übertragen, eine Rolle. Häufig tragen die Rezeptoren für diese Faktoren auf der Zytosolseite eine Vielzahl von Tyrosinresten, und der Rezeptor selbst hat Tyrosinkinaseaktivität wie bereits für den Insulinrezeptor beschrieben (Abb. 2.18). Das Signal setzt sich über eine Kaskade von Kinasen fort und wird letztlich über Transkriptionsfaktoren in den Zellkern getragen (vgl. Abb. 2.3, S. 17), wo diese Wachstumsfaktoren die Transkription bestimmter Genabschnitte steuern.

Calcium als Botenstoff Es wurde schon gezeigt, dass Ca2+ ein wichtiger Botenstoff für die Übermittlung der IP3-induzierten Hormonantwort ist. Generell ist Ca2+ notwendig für die Sekretion von Vesikeln, also auch für die Freisetzung von Neurotransmittern. Ca2+ reguliert in vielen Zellen die K+-Leitfähigkeit derart, dass eine erhöhte zytosolische Ca2+-Aktivität die K+-Kanäle öffnet (53). Auf einige Ca2+-vermittelte Prozesse und auf die Mechanismen der Ca2+-Homöostase wurde schon weiter oben verwiesen. Viele der Ca2+-vermittelten Prozesse werden nicht durch das Ca2+-Ion selbst, sondern durch ein Ca2+-bindendes Protein, Calmodulin, ausgelöst. Calmodulin ist ein zytosolisches Protein mit 148 Aminosäuren. Es hat vier Bindungsstellen für Ca2+ und ändert durch die Ca2+-Bindung seine Konfiguration. In dieser geänderten Konfiguration kann der Ca2+Calmodulin-Komplex dann andere Proteine (Enzyme) binden und deren Aktivität (calmodulinabhängige Kinasen) steuern (Abb. 2.17). Besondere Transduktionsmechanismen vermitteln die Einflüsse äußerer Reize in dafür spezialisierten Sinnesorganen. Die Energie des Reizes muss letztlich in ein elektrisches Signal umgewandelt werden, das dann an das Zentralnervensystem weitergegeben wird. Häufig spielt dabei eine Veränderung des transmembranalen Ca2+-Einstroms eine wesentliche Rolle. Große Fortschritte wurden in den vergangenen Jahren im Verständnis des Transduktionsprozesses in den Stäbchen und Zapfen der

Retina erzielt. Hier konnte gezeigt werden, dass der Lichtreiz zur Konzentrationsabnahme des Botenstoffes zyklisches GMP (cGMP) führt. Zyklisches GMP wirkt an der Stäbchenmembran direkt als zweiter Botenstoff und löst dort die Öffnung von cGMP-gesteuerten, nichtselektiven Ionenkanälen und damit einen Na+- und Ca2+-Einstrom und eine Depolarisation aus (35). Der Lichtreiz führt zu einer Abnahme von cGMP und somit zur Hyperpolarisation. Dieser Mechanismus und seine Einbindung in den Sehvorgang werden in Kapitel 23 ausführlich besprochen (vgl. Abb. 23.9, S. 694). Transduktionsprozesse sind Mechanismen der Verstärkung und der Feinkontrolle. Inzwischen werden immer vielfältigere Mechanismen erkannt. Wichtige intrazelluläre Botenstoffe, die praktisch ubiquitär vorkommen, sind cAMP, cGMP, IP3, DAG, zyklische ADP-Ribose (cADPR) und Ca2+. Häufig bestehen komplexe Wechselbeziehungen derart, dass verschiedene Hormone an einer Zelle auf einen Botenstoff konvergieren, dass sie einen Botenstoff in gegensätzlicher Weise beeinflussen oder dass mehrere Transduktionsmechanismen miteinander interferieren. So ist Ca2+ einerseits Botenstoff, modifiziert aber andererseits die DAG-induzierte PKC-Aktivierung und steuert über die Phosphodiesterase die Konzentration von cAMP.

Stickstoffmonoxid (NO), ein besonderer Botenstoff Aus L-Arginin kann in vielen Zellen Stickstoffmonoxid, NO, gebildet werden. Das hierfür notwendige Enzym, die NO-Synthetase (NOS) kommt in mindestens zwei Formen vor. Zum einen als induziertes und zum anderen als konstitutives Enzym. Ersteres wird z. B. durch Zytokine (s. u.) induziert, letzteres durch Ca2+ aktiviert. NO ist eine sehr labile Verbindung. Die kurze Halbwertszeit von nur wenigen Sekunden hat denn auch seine Entdeckung erschwert (22). Ohne die chemische Natur zu kennen, wurde die Substanz zunächst als endothelialer vasodilatierender Faktor (EDRF) beschrieben: So wurde gezeigt, dass Acetylcholin am intakten Gefäß zur Vasodilatation führte, nach Entfernung des Endothels dagegen zur Vasokonstriktion. Acetylcholin hatte in diesem Experiment damit zwei Effekte: zum einen einen direkten vasokonstriktorischen (über die in Abb. 2.17 gezeigte Kaskade) und einen indirekten, der durch das Endothel vermittelt wurde. Inzwischen weiß man, dass dem letzteren Effekt eine Freisetzung von NO zugrunde liegt (44, 52). Für diese Entdeckung erhielten R. F. Furchgott, L. Ignarro und F. Murad 1998 den Nobelpreis für Medizin und Physiologie. NO kommt eine besondere Bedeutung bei der Kontrolle des Gefäßwiderstandes zu (vgl. Kap. 8; S. 204). Darüber hinaus scheint es bei der Steuerung einer Vielzahl anderer Funktionen eine Rolle zu spielen: Als Neurotransmitter im ZNS und eventuell als Neurotoxin, als Makrophagenzytotoxin, als Hemmer der Plättchenaggregation sowie als Modulator der renalen Autoregulation. Die Kaskade der NO-Wirkung ist in Abb. 2.19 zusammengefasst. NO aktiviert die Guanylylcyclase. Zyklisches GMP wirkt dann als zweiter Botenstoff, indem es Proteinkinasen vom G-Typ (PKG) aktiviert. An der glatten Gefäßmuskulatur führt dies zur Relaxation (S. 126 ff.).

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2.7 Zelluläre Motilität

2.7 außen

Hormon

Membran

Rezeptor

Phospholipase C

Gq-Protein GTP

IP3

intrazellulärer 2+ Ca -Speicher

NO-Synthetase NADPH,O2

Arginin

Citrullin

Zytosol

2+

Ca

NO Guanylylcyclase cGMP

GTP

Proteinkinase G

Abb. 2.19 NO als Signalstoff. Die konstitutive Stickstoffmonoxid-(NO-)Bildung wird durch die zytosolische Ca2+Konzentration kontrolliert. Im vorliegenden Beispiel wird an einer Endothelzelle durch das Hormon (z. B. Acetylcholin) Ca2+ aus zytosolischen Speichern freigesetzt (vgl. auch Abb. 2.17). Dieses aktiviert die NO-Synthetase, die in der Folge aus Arginin NO freisetzt. NO aktiviert die Guanylylcyclase, die aus GTP zyklisches GMP (cGMP) produziert. cGMP aktiviert Proteinkinasen vom G-Typ (PKG). Hierdurch kommt es an der glatten Gefäßmuskulatur zur Relaxation.

Insbesondere zur Behandlung der Angina pectoris hatte man bereits seit langem – ohne es zu wissen – den gefäßerweiternden Effekt von NO klinisch genutzt. Unter Angina pectoris versteht man charakteristische Brustschmerzen, die mit einem Engegefühl einhergehen und typischerweise durch eine unzureichende Durchblutung des Herzmuskels verursacht werden aufgrund arteriosklerotischer Verengungen der Herzkranzgefäße. Das Medikament Nitroglyzerin (z. B. als sublingual applizierte Nitrokapseln, die der Patient zerbeißt) kann akut zu einer Linderung dieser Beschwerden führen. Inzwischen weiß man, dass das wirksame Abbauprodukt von Nitroglyzerin das NO ist, das vor allem durch eine periphere Vasodilatation die Herzarbeit und damit den Sauerstoffbedarf des Herzens senkt, was der Angina pectoris entgegenwirkt.

Zelluläre Motilität B. Brenner

Intrazelluläre Transportprozesse, Formänderungen und Fortbewegungen von Einzelzellen sowie Bewegung durch Flagellen, Zilien oder Muskelzellen resultieren aus Interaktionen von Motorproteinen mit Aktinfilamenten oder Mikrotubuli des Zytoskeletts. Motorproteine nutzen die chemische Energie der ATP-Hydrolyse, um sich an Aktinfilamenten oder Mikrotubuli entlang zu bewegen. Motorproteine gehören zu drei Familien, den Myosinen, Kinesinen und Dyneinen. Myosine interagieren mit Aktinfilamenten, Kinesine und Dyneine mit Mikrotubuli. Motorproteine haben ein aktives Zentrum. Seine Aufgabe ist, während der Spaltung von ATP Strukturumlagerungen zu induzieren, die in Kräfte und Bewegungen umgeformt werden. Myosine und Kinesine bestehen aus Kopfdomäne und variabler Schwanzdomäne. Die Schwanzdomäne vermittelt die Zusammenlagerung zu Dimeren bis hin zu Filamenten, oder sie ermöglicht die Bindung an Membranelemente. Als Folge können Vesikel an Filamenten des Zytoskeletts entlang transportiert oder Membransysteme am Zytoskelett verankert werden. Motorproteine können aber auch Zytoskelettstrukturen gegeneinander verschieben oder in hochgeordneten Strukturen wie Flagellen, Zilien oder Sarkomere integriert sein, die Bewegung einzelner Zellen oder ganzer Organismen ermöglichen.

Wechselwirkungen zwischen Motorproteinen und Zytoskelettstrukturen sind Grundlage zellulärer Motilität Praktisch alle Formen zellulärer Motilität, wie Endo- und Exozytose, Transport von Vesikeln, Formänderungen und Fortbewegung einzelner Zellen bis hin zu makroskopischen Kräften und Bewegungen durch Muskulatur sind Folge der Wechselwirkung von Motorproteinen mit Aktinfilamenten oder Mikrotubuli des Zytoskeletts. Manche Motorproteine üben ihre Funktion als Monomere aus, andere als Dimere (Abb. 2.20). Manche Motorproteine bilden Filamente, z. B. die Myosinfilamente der Muskulatur, oder sie sind in komplexe Strukturen wie Zilien, Flagellen und Sarkomere integriert. Motorproteine, die mit Aktinfilamenten interagieren, gehören zur Familie der Myosine (Abb. 2.20 A). Motorproteine, die sich an Mikrotubuli entlang bewegen, gehören entweder zur Familie der Kinesine (Abb. 2.21 B) oder zu den Dyneinen (Abb. 2.21 C). In der Myosinfamilie wurden bisher über zwanzig Untergruppen identifiziert, die eine Vielzahl verschiedener Funktionen erfüllen. Sie haben alle eine nahezu identische globuläre Kopfdomäne und eine hoch variable Schwanzdomäne. Die Kopfdomäne beinhaltet das aktive Zentrum, den Ort der ATP-Hydrolyse, und sie vermittelt die Bindung an Aktin. Der Kopfdomäne sind eine unterschiedliche Anzahl von leichten Ketten angelagert. Die variable Schwanzdomäne vermittelt die Bildung von Dimeren oder Filamenten, die Bindung an Membranen für vesikulären Transport oder die Verankerung von Membranen an Aktinfilamentbündeln, beispielsweise in den Mikrovilli des Darmepithels. Alle Myosine laufen zum Plus-Ende der Aktinfilamente, mit

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2 Die Zelle als Grundbaustein Plus-Ende der Mikrotubuli gibt es auch Kinesine, die sich zum Minus-Ende der Mikrotubuli bewegen. Vesikel können deshalb auch von Kinesinen je nach Wahl des transportierenden Kinesins sowohl zur Zellperipherie als auch zurück zum Zellzentrum transportiert werden. Bei den Dyneinen sind zwei Gruppen zu unterscheiden. Die zytoplasmatischen Dyneine transportieren Vesikel zum MinusEnde von Mikrotubuli (Abb. 2.21). Die ziliären Dyneine sind in den Axonemen der Flagellen und Zilien integriert (Abb. 2.22). Sie sind Motor des Zilienschlages und der Flagellenbewegung. Dyneine sind die größten bisher bekannten Motorproteine. Sie sind makromolekulare Komplexe aus einer Gruppe von schweren und leichten Ketten. Ihre genaue molekulare Struktur ist teilweise noch nicht bekannt.

A Myosine Klasse I

monomer

Kopfdomäne

II leichte Ketten

dimer

V VI

10 nm

B Kinesine Klasse 1

Motorproteine nutzen die chemische Energie der ATP-Hydrolyse, um sich an Zytoskelettstrukturen entlang zu bewegen

dimer

14 10 nm 3

monomer

C Dynein: Vesikeltransport

Vesikel

DynaktinKomplex

25 nm

Dynein Mikrotubulus

Abb. 2.20 Molekulare Motoren. (A) Myosine der Klassen I, II, V, und VI sind Beispiele für monomere und dimere Myosine. Myosine der Klasse II lagern sich über ihre Schwanzelemente zu Filamenten zusammen. Den Kopfdomänen sind am Übergang zu den Schwanzdomänen leichte Ketten angelagert. Die Zahl der angelagerten leichten Ketten ist für die verschiedenen Klassen charakteristisch. (B) Kinesine der Klasse 1, 14 und 3 sind Beispiele monomerer und dimerer Kinesine sowie von solchen mit Motordomäne am C-terminalen Ende (Klasse 14), die zum Minus-Ende der Mikrotubuli wandern (nach 1). (C) Zytoplasmatisches Dynein mit Dynaktin-Komplex zur Verankerung des Dyneins an Vesikeln (nach 1). Siehe auch Abb. 2.21.

Ausnahme von Myosin der Untergruppe VI (Myosin VI), das sich zum Minus-Ende bewegt. Demzufolge können Vesikel, je nach Wahl des transportierenden Myosins, in beide Richtungen an den Aktinfilamenten entlang transportiert werden (Abb. 2.21). Als Plus-Ende wird bei Aktinfilamenten und Mikrotubuli dasjenige Ende bezeichnet, an welches sich bei der Filamentbildung die Aktin- bzw. Tubulinmonomere anlagern. Die Kinesin-Familie umfasst über zehn Untergruppen. Die globuläre Kopfdomäne ist für alle Kinesine ebenfalls nahezu identisch. Sie vermittelt die Bindung an die Mikrotubuli und beinhaltet ebenfalls das aktive Zentrum zur ATP-Hydrolyse. Die Schwanzdomäne der Kinesine ist ähnlich den Myosinen hoch variabel und vermittelt Dimerisierung sowie Bindung an Transportgut beispielsweise in Form von Vesikeln. Der variablen Schwanzdomäne können leichte Ketten angelagert sein. Auch die Vertreter der Kinesine können sich jeweils nur in einer Richtung an den Mikrotubuli entlang bewegen. Neben Bewegung zum

Myosine und Kinesine haben ein strukturell nahezu identisches aktives Zentrum. In diesem induziert die ATP-Hydrolyse Umlagerungen von Strukturelementen, die an der Bindung von ATP und seinen Spaltprodukten, ADP und anorganisches Phosphat, beteiligt sind. Diese ersten Umlagerungen werden in mehreren Stufen verstärkt. Bei Myosinen erfolgt ein letzter Verstärkungsschritt durch ein Hebelarm-Element (Abb. 6.2), das durch die angelagerten leichten Ketten gekennzeichnet ist. Je nach Länge dieses Hebelarm-Elements kann sich ein Myosinmolekül pro hydrolysiertem ATP-Molekül zwischen 5 nm und fast 40 nm am Aktinfilament entlang bewegen. Im Verlauf der ATP-Hydrolyse ändert sich sowohl die Konformation der Kopfdomäne von Myosinen und Kinesinen als auch ihre Affinität zur Zytoskelettstruktur. Daraus resultiert eine geregelte, zyklische Abfolge von: – hochaffine Bindung an Aktinfilament oder Mikrotubulus, – Strukturänderungen der Kopfdomäne zur Weiterbewegung des Motorproteins, – Wechsel zu niederaffiner Bindung mit Ablösen des Kopfes vom Zytoskelettelement und schließlich der – Rückkehr der Kopfdomäne zu ihrer Ausgangskonfiguration. Bei jedem dieser Zyklen bewegt sich das Motorprotein einen Schritt am zugehörigen Zytoskelettelement weiter. Die Kopfdomänen von Dimeren beeinflussen sich wechselseitig, so dass sich Motorproteine über hunderte von ATPase-Zyklen koordiniert, „Hand über Hand“, an den Zytoskelettstrukturen entlang bewegen können.

Motorproteine vermitteln den intrazellulären Transport und sind an Stoffaufnahme (Endozytose) und Stoffabgabe (Exozytose) beteiligt Eine Hauptfunktion der molekularen Motoren ist Transport und Anordnung membranärer Zellorganellen. Kinesine sind beispielsweise für den schnellen axonalen Transport (s. S. 614) verantwortlich, also dem schnellen zentrifugalen Transport von Mitochondrien, von Vorläufern sekretorischer Vesikel oder von Bestandteilen der

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2.7 Zelluläre Motilität A intrazelluläre Transportprozesse

B Zellmigration Aktinkortex Lamellipodium

Zellkern

Golgi-Komplex

Endozytose

Aktinkortex

Mikrotubuli

Aktinpolymerisation

Strom von Aktinmonomeren Golgi

Exozytose

Aktinfilamentnetzwerk

Dynein-DynaktinKomplex Mikrotubulus

Abb. 2.21 Intrazellulärer Transport und Kriechbewegungen von Zellen. (A) Kinesine und Myosine vermitteln intrazelluläre Transportprozesse einschließlich Endo- und Exozytose. Zytoplasmatische Dyneine verankern den Golgi-Apparat nahe dem Zellzentrum (s. a. Abb. 2.20C). (B) Schema zur

synaptischen Endigungen vom Perikaryon zu den präsynaptischen Bereichen am Ende des Axons. Der Rücktransport erfolgt hauptsächlich durch zytoplasmatische Dyneine. Zentrifugaler und zentripetaler Transport sind in praktisch allen Zellen, auch in weniger extrem geformten, zu finden (Abb. 2.21). Entsprechend der Ausrichtung der Mikrotubuli erfolgt der zentrifugale Transport über Kinesine mit Bewegungsrichtung zum Plus-Ende, der zentripetale Transport durch zytoplasmatische Dyneine oder Kinesine mit Bewegungsrichtung zum Minus-Ende der Mikrotubuli (Abb. 2.21). Ein Beispiel für diesen gegenläufigen Transport ist die Anordnung des Golgi-Apparates im Bereich des Zentromers in Kernnähe, im Gegensatz zum endoplasmatischen Retikulum (ER), dessen Elemente bis in die Zellperipherie reichen. Der Golgi-Apparat wird dabei von zytoplasmatischen Dyneinen im Bereich des Zentromers verankert (Abb. 2.21). Vom Golgi-Komplex abgeschnürte Vesikel werden über Motorproteine zu ihren Bestimmungsorten transportiert, beispielsweise zu den für Exozytose bestimmten Bereichen (Abb. 2.21), d. h. bei Nervenzellen über den schnellen axonalen Transport bis zu den Synapsen in der Peripherie, wo die Neurotransmitter exozytiert werden. Auswahl und Bindung der zu transportierenden Vesikel wird bei Kinesinen durch leichte Ketten vermittelt, die der Schwanzdomäne assoziiert sind. Spezifische Rezeptormoleküle in der Membran der zu transportierenden Vesikel binden selektiv an diese leichten Ketten und vermitteln dadurch die Auswahl des Motorproteins und dementsprechend Richtung und Zielort des Transports. Die Bindung von zytoplasmatischen Dyneinen an Vesikel und Golgi-Membransysteme wird durch einen makromolekularen Komplex, den so genannte Dynaktin-Komplex, vermittelt (Abb. 2.20 C).

Myosinvermittelter Transport entlang den Aktinfilamenten ist an Endo- und Exozytose sowie an Transport und Verteilung von Vesikeln beteiligt. Der myosinvermit-

Aktinfokale Kontakte depolymerisation

Kriechbewegung (Migration) von Zellen mit Aktinpolymerisation am vorderen Pol, Bildung von Haftpunkten, myosinvermittelte Verschiebung des Aktinkortex zum vorderen Pol sowie Lösen der Haftpunkte und Aktindepolymerisation am hinteren Zellpol (nach 1).

telte Vesikeltransport ist mehr für die lokale Verteilung in der Zellperipherie verantwortlich (Abb. 2.21), während ein Transport über lange Strecken zunächst an den Mikrotubuli entlang durch Kinesine erfolgt. Im Verlauf der Endozytose sind Myosine bereits an der Bildung der Vesikel über die „clathrin coated pits“ beteiligt. Anschließend ist Myosin der Klasse VI, das zum Minus-Ende der Aktinfilamente wandert, für den Transport der Vesikel in Richtung Zellzentrum zuständig. Vesikeltransport in Richtung Zellperipherie, auch im Rahmen der Exozytose, wird beispielsweise durch Myosine der Klasse V vermittelt. Beispiel für spezifische Zellfunktionen, die auf dem Kinesin/Myosin-vermittelten Vesikeltransport beruhen, ist, neben dem axonalen Transport in Neuronen, die Verteilung von melaningefüllten Vesikeln, den so genannten Melanosomen, in den Melanozyten. Der Transport der Melanosomen zur Zellperipherie erfolgt entlang den Mikrotubuli durch Kinesine. Die Verteilung der Melanosomen in der Peripherie erfolgt dagegen an Aktinfilamenten entlang und wird durch Myosin V vermittelt. Weitere Beispiele sind der Transport von Opsin zu den Außengliedern von Stäbchen und Zapfen der Retina und die Phagozytose abgestoßener Membranscheiben der Außenglieder durch die Pigmentepithelzellen (vgl. Kap. 23.3). Mutationen in Kinesinen oder Myosinen können durch Beeinträchtigung des Vesikeltransports zu Störungen motorischer und sensibler Funktionen des peripheren Nervensystems führen (angeborene periphere Neuropathie), die mit charakteristischen Pigmentierungsstörungen einhergehen können. Auch familiäre Sehstörungen, die bis zur Erblindung führen, können Folge von Mutationen in Kinesinen oder Myosinen sein. Solche Mutationen beeinträchtigen die

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2 Die Zelle als Grundbaustein Phagozytose abgestoßener Membranscheiben der Photorezeptoren des Auges durch das Pigmentepithel und führen zum Krankheitsbild der Retinitis pigmentosa mit fortschreitendem Sehverlust durch Untergang der Photorezeptoren.

Motorproteine sind an der Dynamik der Zellstruktur beteiligt Aufrechterhaltung und Änderungen der Zellform sind weitere wesentliche Funktionen des Zusammenspiels zwischen Zytoskelettstrukturen und Motorproteinen. Ein Beispiel sind die Mikrovilli von Epithelzellen. Zentral gelegene Aktinfilamentbündel bilden das Skelett der Mikrovilli. Die Oberflächenmembran ist im Bereich der Mikrovilli über Myosin I Moleküle am Aktinfilamentbündel verankert. Myosin I ist ein monomeres Myosin mit einem Schwanzbereich, der an Membranlipide binden und so Aktinfilamente in Membranen verankern kann. Die Struktur der Stereovilli (früher: Stereozilien) der Haarzellen des Gehör- und Gleichgewichtsorgans ist ebenfalls auf das Zusammenspiel von Aktinfilamentbündeln und Myosinmolekülen verschiedener Familien angewiesen. Auch die Vorspannung der so genannten tiplinks (vgl. Kap. 21.4) wird über Myosin-I-Moleküle kontrolliert. Sie verankern die tip-links an den Aktinfilamenten des benachbarten Stereovillus. Bei geringer Vordehnung der tip-links können die Myosin-I-Moleküle an den Aktinfilamentbündeln entlang in Richtung der Spitze der Stereovilli wandern und die Vorspannung der tip-links vergrößern. Über diesen Mechanismus kann die Empfindlichkeit des Gehörs an leise Töne und Geräusche angepasst werden. Aus dem Zusammenwirken verschiedener Myosine wird verständlich, dass Mutationen in verschiedenen Myosinen angeborene Taubheit verursachen können, die mit Missbildungen der Stereovilli einher gehen. Oft sind diese Störungen von einem fortschreitenden Sehverlust entsprechend der Retinitis pigmentosa begleitet. Das Krankheitsbild wird als Usher-Syndrom bezeichnet.

Motorproteine sind auch an Kriechbewegungen von Zellen beteiligt Motorproteine können auch Formänderungen von Zellen verursachen, die zu Kriechbewegungen (Migration) führen. Diese spielen in der Embryogenese eine zentrale Rolle, wo es z. B. bei der Entwicklung des Nervensystems zu zielgerichteten Wanderungen über lange Distanzen kommt. Aber auch im erwachsenen Organismus findet sich Fortbewegung bei einer Vielzahl von Zellen, beispielsweise bei Makrophagen und neutrophilen Granulozyten oder bei Fibroblasten, Osteoklasten und Osteoblasten. Auch die koordinierte Wanderung von Darmepithelzellen von den Krypten, dem Ort ihrer Bildung, bis zu den Zottenspitzen gehört hierher. Zellmigration ist ein koordiniertes Zusammenspiel von Motorproteinen und Zytoskelett, einschließlich lokaler Kontaktpunkte der Zelle mit der Unterlage (Abb. 2.21 B). Bei einer kriechenden Zelle bilden sich zwei Pole,

der vordere, flache Pol wird Lamellipodium genannt. Der hintere Pol ist abgerundet und enthält den Zellkörper mit Zellkern und Organellen. Das Aktinnetzwerk unter der Oberflächenmembran, der so genannte Aktinkortex, spielt bei der Kriechbewegung eine zentrale Rolle. Er steht durch lokale Kontaktpunkte (focal contacts) über die Zellmembran mit der Unterlage in Verbindung. Im ersten Schritt werden am vorangehenden Zellpol Aktinfilamente des Kortex durch Polymerisation verlängert. Die Verlängerung der Aktinfilamente erfolgt an ihrem zur Oberflächenmembran gerichteten Plus-Ende. Dadurch wird die Oberflächenmembran am vorangehenden Zellpol in Kriechrichtung vorgewölbt. Es entstehen flache, breite Vorwölbungen der Oberflächenmembran, die Lamellipodien. Im zweiten Schritt bilden die neugeformten Lamellipodien lokale Kontaktpunkte mit der Unterlage. Diese bleiben während der Kriechbewegung der Zelle stationär und verankern den vorangehenden Zellpol mit der Unterlage. Im dritten Schritt wird der Aktinkortex mit dem eingeschlossenen Zellkörper durch filamentbildende Vertreter der MyosinII-Klasse vom hinteren Zellpol an stationären Aktinfilamenten entlang zum vorderen Zellpol verschoben. Gleichzeitig depolymerisieren die Aktinfilamente am hinteren Zellpol, die lokalen Kontaktpunkte werden gelöst und in Vesikeln durch Myosine zum vorderen Zellpol transportiert.

Motorproteine sind an zwei spezialisierten motilen Strukturen beteiligt, dem Sarkomer und dem Axonem Motorproteine bilden schließlich zwei Typen spezialisierter motiler Strukturen. Diese bestehen aus hochgeordneten Zusammenlagerungen von Motorproteinen, die sich an Filamentschienen entlang bewegen: Eine solche Struktur ist das Sarkomer aus Myosin- und Aktinfilamenten. Es ist das Bauelement von Skelett- und Herzmuskel, und in Form von Minisarkomeren auch das der glatten Muskulatur (vgl. Kapitel 6). Die andere Struktur ist das Axonem, das kontraktile System von Flagellen und Zilien der Eukaryonten. Es ist aus Mikrotubuli, ziliärem Dynein und zusätzlichen Strukturproteinen aufgebaut und hat eine charakteristische 9 + 2-Organisation der Mikrotubuli (Abb. 2.22 A). Die Doppeltubuli tragen in regelmäßigen Abständen ziliäre Dyneine. Sie bilden die äußeren und inneren Arme der Doppeltubuli und wandern unter ATP-Hydrolyse am benachbarten Doppeltubulus entlang. Durch Querverbindungen zwischen den Doppeltubuli werden Verschiebungen zwischen benachbarten Doppeltubuli zu charakteristischen Verbiegungsmuster der Axoneme umgeformt, den wellenförmigen Flagellenbewegungen bzw. dem Zilienschlag (Abb. 2.22 C).

Angeborene Defekte in ziliären Dyneinen führt zu gestörtem Zilienschlag des respiratorischen Epithels. Dadurch wird der geregelte Schleimstrom aus den peripheren Atemwegen und den Nasennebenhöhlen Richtung Rachenraum beeinträchtigt, über den eingeatmete Bakterien und Staubpartikel abtransportiert werden. Die Folge der Dyneindefekte sind deshalb einerseits vermehrte Infektionen der Lunge und der Nebenhöhlen. Daneben ist auch die Fortbewegung der Spermien als Zeichen gestörter Flagellenfunktion beeinträchtigt. Schließlich wird als Zeichen einer gestör-

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2.8 Altern und Zelltod A Querschnitt durch ein Axonem (schematisch) Plasmamembran äußerer Dyneinarm innerer Dyneinarm radiale Speiche zentrales Tubuluspaar innere Schale äußere Doppeltubuli Nexin

B Wellenbewegung von Flagellen

Altern und Langlebigkeit

Bewegungsrichtung

C Bewegungsrhythmus eines Ziliums Aktivität

0

Erholung

80

Zeit (ms)

160

Abb. 2.22 Aufbau und Funktion von Flagellen und Zilien. (A) Schematischer Querschnitt durch ein Axonem mit zentralem Tubulus-Paar und den neun peripher angeordneten Doppeltubuli. Äußere und innere Dyneinarme bestehen aus zwei unterschiedlichen Isoformen der ziliären Dyneine. Querverbindungen zwischen Doppeltubuli und den Speichen verhindern eine Verschiebung der Doppeltubuli über große Distanzen. Verschiebung benachbarter Doppeltubuli resultiert deshalb in charakteristischen Verbiegungen der Axoneme (nach 1). (B) Wellenbewegung von Flagellen (nach 31). (C) Zilienschlag. Dargestellt ist die Form eines Ziliums alle 8 ms (modifiziert nach 15).

ten Zellmotilität in der Embryonalentwicklung gehäuft eine spiegelbildliche Anordnung der Thorax- und Bauchorgane (situs inversus) beobachtet. Das Krankheitsbild wird als Kartagener-Syndrom bezeichnet.

2.8

bestimmt und beträgt beim Menschen 112 – 115 Jahre. Die Lebenserwartung hingegen wird auch durch zahlreiche Umweltfaktoren bestimmt. Die höhere Lebenserwartung der Frau gegenüber dem Mann kann auf einen weniger riskanten Lebensstil, auf hormonelle Unterschiede sowie auf ihre Ausstattung mit zwei XChromosomen zurückgeführt werden. Altern ist auch eng mit Defiziten der genetischen Homöostase verbunden, z. B. einer unzureichenden DNA-Reparatur. Die perfekt geschützten Keimzellen sind „unsterblich“. Zellen sterben entweder an Mangel von O2, Glucose und/oder gestörter Blutversorgung, was zu Schwellung und Platzen der Zelle mit Entzündungsprozessen führt (Nekrose), oder sie räumen sich durch den programmierten Zelltod (Apoptose) selbst aus dem Weg, ein alltäglicher, physiologischer Vorgang.

Altern und Zelltod S. Silbernagl

Altern ist eine gestörte Homöostase zahlreicher Regelungs- und Instandhaltungssysteme, was mit einer verminderten Widerstandsfähigkeit gegenüber Herausforderungen der Umwelt, einer Abwehrschwäche bei Infektionen und einer Reduktion vieler Körperfunktionen verbunden ist. Eine der Folgen ist die Gebrechlichkeit des alten Menschen, die zum limitierenden Faktor wird. Die maximale Lebensspanne ist durch das Genom

Altern ist ein normaler, unvermeidlicher Prozess, der mit dem Tod endet. Die derzeit wohl beste Definition beschreibt das Altern als Verlust der Homöostase (s. S. 8), der alle metabolischen, neuroendokrinen, immunologischen und genomischen Regelungs- und Instandhaltungssysteme erfasst (41). Typische Beispiele sind die erhöhte Sterblichkeit älterer Menschen während außergewöhnlich heißer Sommer (thermoregulatorisches Defizit) oder bei viralen und bakteriellen Epidemien (immunologisches Defizit) (6). Während des Alterns kommt es zu einer Reduktion von Körperfunktionen, so des Atemgrenzwerts, des Herzzeitvolumens (HZV), des Grundumsatzes, der Nervenleitungsgeschwindigkeit (Abb. 2.23 A), der maximalen O2-Aufnahme, der glomerulären Filtrationsrate (GFR) u. v. a. m. Die Muskel- und Knochenmasse nimmt ab, während die von Fett zunimmt, was großteils endokrine Ursachen hat (sinkende Sekretion u. a. von STH, ACTH, LH und FSH). Die Osteoporose, ein Verlust von Knochensubstanz, kann in milder Form bei Frauen und Männern ab etwa dem 40. Lebensjahr nachgewiesen werden. Da der Knochenstoffwechsel bei Frauen u. a. östrogenabhängig ist und die Ausschüttung dieses Hormons nach der Menopause stark abnimmt, wird der Knochen zunehmend brüchiger (postmenopausale Osteoporose). Das betrifft meist zuerst die Wirbelkörper, kann aber so weit gehen, dass die Knochen der Beine nicht einmal mehr dem normalen Körpergewicht standhalten, d. h., es kommt zur Spontanfraktur (Abb. 2.24), ein Ereignis, das die Lebenserwartung wesentlich verkürzt. In dem Maße, wie auch Männer ein immer höheres Alter erreichen, leiden auch sie zunehmend an (seniler) Osteoporose. Für die meisten (ansonsten „gesunden“) alten Menschen ist es die allgemeine Gebrechlichkeit, die zum limitierenden Faktor für ein unabhängiges Leben bis zum Tode wird. Diese „Altersschwäche“ ist gekennzeichnet durch verminderte Muskelkraft, verlangsamte Reflexe, eingeschränkte Beweglichkeit, Gleichgewichtsstörungen und fehlende Ausdauer. Die Folgen sind Stürze, Frakturen, Einschränkung der alltäglichen körperlichen Aktivitäten

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2 Die Zelle als Grundbaustein

Nervenleitungsgeschwindigkeit

100

20

80

Grundumsatz

60

Atemgrenzwert

Zellanzahl (x105)

HZV

Funktion (%)

46

15

Lungenfibroblasten von: Neugeborenen

10

100jährigen

5

Progerie (Werner-Syndrom)

40

20

40

60

80

100

0

0

20

40

Alter (Jahre) A altersabhängige Körperfunktionen

Abb. 2.23 Altern. (A) Im Alter nehmen zahlreiche Körperfunktionen ab, neben den im Bild gezeigten auch die glomeruläre Filtrationsrate, die maximale O2-Aufnahme u. a. m. (B) Kultiviert man Lungenfibroblasten von Neugeborenen und von 100-jährigen Probanden, so endet die Tei-

und Verlust der Unabhängigkeit. Ursache der Muskelschwäche sind nicht nur physiologische Alterungsprozesse und krankhafte Prozesse (z. B. Gelenkschwäche), sondern auch ein Mangel an körperlicher Aktivität (auch bei der Osteoporose, s. o.), was zu einem Teufelskreis führt. Unklar ist, worauf das Altern eigentlich zurückzuführen ist. Wodurch ist es bedingt, dass ein Hund siebenmal schneller wächst und altert als ein Mensch? Ist Altern, ähnlich wie unsere Entwicklung, ein geordneter und genetisch regulierter, d. h. ein programmierter Prozess, oder ist es das Ergebnis einer ungeordneten „Abnutzung“, d. h., einer Ansammlung von schadhaften Molekülen wie DNA und Proteinen und eines zunehmenden Verschleißes von Zellen und Organen? Höchstwahrscheinlich liegt die Wahrheit zwischen diesen beiden Extremen. Besonders eindrucksvoll ist die im Alter zunehmende Instabilität des somatischen Genoms. So gibt es eine hochsignifikante Korrelation zwischen der maximalen Lebenszeit einer Spezies und deren Fähigkeit, ihre DNA zu konservieren und/oder zu reparieren (26). Eine ähnliche Korrelation gibt es bei Säugern z. B. zwischen der Aktivität der PolyADP-Ribose-Polymerase (PARP) und der Langlebigkeit (18). Aus all diesen und anderen Gründen bestehen wenig Zweifel, dass die maximale Lebensspanne innerhalb einer bestimmten Spezies durch ihr Genom bestimmt wird und dass die relativ hohe maximale Lebenszeit des Menschen die ausgeprägte Stabilität seines Genoms widerspiegelt (6).

Maximale Lebensspanne Den Welt„rekord“ der zuverlässig dokumentierten Lebenszeit eines Mannes, des Californiers C. M., beträgt 114 Jahre (66), der einer Frau, Jeanne Calment aus Frankreich, 122 Jahre (55). Von 53 000 100-jährigen Frauen aus 13 Industrieländern sind ca. 1000 106 Jahre alt geworden,

60

80

Teilungsgenerationen B Teilungsfähigkeit kultivierter Zellen

lungsfähigkeit der Zellen bei letzteren früher als bei den Kindern. Noch wesentlich früher endet die Teilungsfähigkeit der Zellen von Patienten mit Werner-Syndrom, bei denen das Gen mutiert ist, das für die DNA-Helicase kodiert. Sie altern vorzeitig: Progeria adultorum.

aber nur 1 Frau hat 112 Jahre erreicht (Abb. 2.25) (34). Diese und andere Studien besagen, dass die maximale Lebenszeit des Menschen etwa 112 – 115 Jahre beträgt und das Alter von Frau Calment eine extrem seltene Ausnahme ist. An der maximalen Lebenszeit des Menschen wird sich voraussichtlich auch nichts ändern, da sie offensichtlich genetisch festgelegt ist. Unterhalb dieser Grenze jedoch hat sich die Zahl der ganz Alten in den reichen Ländern der Erde seit etwa 1970 wesentlich erhöht. Grund dafür ist die gesunkene Mortalität der über 80-Jährigen, was auf die verbesserten Lebensbedingungen und die erfolgreichen medizinischen Interventionen in diesen Ländern zurückzuführen ist.

Durchschnittliche Lebenserwartung Im Gegensatz zur wohl ausschließlich genetisch fixierten, maximalen Lebensspanne, wird die durchschnittliche Lebenserwartung zumindest zur Hälfte durch Umweltfaktoren mitbestimmt (32), also hauptsächlich durch die Lebensbedingungen (Ernährung, Arbeits- und Hygienebedingungen, Erziehung, medizinische Versorgung u. a. m.). Da in den reichen Ländern mit einer homogenen Population die Lebenserwartung von Frauen seit 1840 linear angestiegen ist und heute rund 85 Jahre beträgt, wird für 2020 eine mittlere Lebenserwartung von 90 und für 2050 eine von 95 Jahren vorausgesagt (50), ein Durchschnittsalter, das dann aber wahrscheinlich nicht weiter ansteigen wird. Gründe dafür sind u. a., dass die Gen-Frequenz für Alterskrankheiten (familiäre Karzinome, Demenz, Diabetes mellitus u. a.) bis zu 1 % beträgt. Es erscheint auch wahrscheinlich, dass der für das Erreichen dieses Alters geeignete Lebensstil nicht von allen akzeptiert werden wird.

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2.8 Altern und Zelltod 100000

gesunder Knochen eines jungen Erwachsenen Frakturhäufigkeit pro 100 000 Frauen

osteoporotischer Knochen 1800

Überlebende

10000 1000 100 10 1 100

1400

1000

102

104

106

108 110 Alter (Jahre)

112

Abb. 2.25 Mortalität von 100-jährigen Frauen. Von 52 947 100-jährigen Frauen aus 13 Industrieländern sind ca. 1000 106 Jahre alt geworden, aber nur 1 Frau hat 112 Jahre erreicht (nach 34).

600

200 4 9 4 9 9 4 4 9 4 9 4 –3 –3 –4 –4 –5 –5 –6 –6 –7 –7 –8 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80

Alter (Jahre)

Abb. 2.24 Altersabhängige Knochenfraktur-Häufigkeit wegen Osteoporose bei Frauen. Die im Alter fortschreitende Osteoporose (Verlust der Knochensubstanz) lässt die Knochenfrakturhäufigkeit exponentiell ansteigen. Dieser Anstieg scheint größtenteils auf den Östrogenmangel nach der Menopause zurückzuführen sein (postmenopausale Osteoporose). Bei Männern in hohem Alter kommt es aber ebenfalls zu einer (senilen) Osteoporose (aus 9, nach 47).

Warum leben Frauen länger als Männer? In den meisten Industrieländern leben Frauen derzeit 5 – 8 Jahre länger als Männer. Das hat eine Reihe von Ursachen, so der häufig riskantere Lebensstil von Männern (Rauchen, Alkohol, Aggressivität) und die protektive Wirksamkeit der Östrogene bei Frauen. Es gibt erste Anzeichen dafür, dass sich dieser Unterschied in der Lebenserwartung verringert. Ursache ist eine sinkende Mortalität von 25 – 59-jährigen Männern, was auf deren vermehrte Akzeptanz eines gesünderen Lebensstils und auf den medizinischen Fortschritt zurückgeführt wird. Eine attraktive Hypothese für eine weitere Ursache dieses Unterschieds ist, dass etwaige Mutationen des X-Chromosoms beim Mann 100% der Zellen betrifft, in denen dieses Gen exprimiert wird (19). Bei Frauen hingegen betrifft die zufällige Inaktivierung entweder das von der Mutter oder das vom Vater ererbte X-Chromosom, so dass ein Defekt statistisch nur 50% der Zellen betrifft. Das ist der Grund, warum Frauen nicht erkranken, wenn sie Träger eines X-chromosomalen rezessiven Gendefekts sind, während Männer mit dem gleichen Gendefekt mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % unter der Krankheit leiden. Beispiele dafür sind die Du-

chenne-Muskeldystrophie (s. S. 102) und die Hämophilie A (s. S. 250). Da das X-Chromosom auch zahlreiche Gene trägt, die verschiedene Funktionen des ZNS steuern, führen X-chromosomale Gendefekte häufig zu sensorischen Defiziten und/oder einer mentalen Retardierung. Auch hier sind nur die Männer betroffen, was auch der Grund dafür ist, dass in Institutionen für geistig Retardierte 30 % mehr Männer als Frauen sind (68). Da die Aufrechterhaltung der ZNS-gesteuerten hormonalen Homöostase (s. o.) und der kognitiven Fitness wesentliche Faktoren für ein gesundes Altern sind, haben auch hier die Frauen einen wesentlichen Vorteil.

Altern als Störung der genetischen Homöostase Wie oben bereits erwähnt, ist Altern auch eine Funktion der genetischen Homöostase (6). Es gibt eine Reihe menschlicher Gene, deren primäre Funktion der Erhalt der genomischen Stabilität ist. Sog. Care-taker-Gene erkennen und reparieren die DNA. Dieser Prozess ist hoch spezialisiert und hängt von der Art des DNA-Defekts ab. Sind diese Gene defekt, kommt es zu bestimmten Erkrankungen. So gibt es z. B. Gene der Xeroderma-pigmentosum-Gruppe, die uns gegen UV-Licht-Schäden schützen, Gene der der Ataxia-telangiectasia-Gruppe, die die durch ionisierende Strahlen verursachte Defekte reparieren sowie solche der Fanconi-Anämie-Gruppe, die unser Genom gegen alkylierende Agenzien und reaktive Sauerstoff-Spezies verteidigen. Das Werner-Syndrom (Progeria adultorum) ist das hervorstechendste Beispiel einer vorzeitigen Alterung, die durch Mutationen eines Care-taker-Gens verursacht wird. Die Patienten entwickeln sich bis zur Pubertät normal, um dann schon ab dem 20. Lebensjahr u. a. graue Haare, eine Katarakt (grauen Star) und eine Atrophie der Haut zu bekommen. Frühzeitige Arteriosklerose, Diabetes mellitus und ein stark er-

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2 Die Zelle als Grundbaustein

Hypoxie, Ischämie

Hypoglykämie

Glucosemangel

endogene Substanzen Vergiftung (z. B. Glutamat) (z. B. Oxidantien)

Zellaktivität (Erregung, Transport u.a.)

O2 -Mangel

Lactat

Phospholipase A2 +

H

mitochondriale Atmung

+

2+

Ca

Na

+

Na

ATP

anaerobe Glykolyse

K

+

K Oxidantien

H2O

Makromoleküle

Depolarisation

Cl

–

Entzündung

höhtes Karzinom-Vorkommen sind weitere Symptome, die sonst typisch für ältere Menschen sind. Das beim Werner-Syndrom defekte Care-taker-Gen ist eine Helicase, die insbesondere bei der DNA-Replikation für die genomische Stabilität sorgt. Dieses (glücklicherweise seltene) Syndrom zeigt beispielhaft, dass ein stabiles Genom eine entscheidende Voraussetzung für „normales“ Altern und Langlebigkeit ist.

Cl

–

Zellschwellung

Membranzerstörung

Abb. 2.26 Nekrose. ATP-Mangel, hervorgerufen durch Hypoglykämie, Hypoxie, Ischämie, Toxine oder eine zu hohe Na+- und/oder Ca2+-Belastung der Zelle, führt zu Zellschwel-

+

Zelltod

lung und zur Freisetzung von zytosolischen Proteinen, die die Immunabwehr und Entzündungsprozesse aktivieren (aus 11).

meiotische Rekombination tritt jede reife Keimzelle sozusagen „generalüberholt und mit TÜV-Plakette“ in die Befruchtungsphase ein. Als Nebeneffekt verdanken wir diesem Reparaturaufwand, der ja die Allelen der Großeltern neu mischt, unsere menschliche Individualität.

Zelltod: Nekrose und Apoptose Nekrose

Keimzellen sind „unsterblich“ Schon einzelne, kultivierte Zellen „altern“, d. h. sie hören nach einer bestimmten Anzahl von Zyklen auf, sich zu teilen, Lungenfibroblasten von 100-Jährigen z. B. wesentlich früher als solche von Neugeborenen (Abb. 2.23 B). Nur wenige Zelltypen sind „unsterblich“, d. h. ihre Teilungs-(Proliferations-)Fähigkeit scheint unbegrenzt zu sein. Dazu zählen hämopoetische Stammzellen des Knochenmarks, Stammzellen der Darmkrypten und Tumorzellen sowie unsere Keimzellen. Vor allem für letztere ist die Reparatur eines jeglichen DNA-Schadens mit höchstmöglicher Effektivität und Präzision notwendig. Unter diesem Aspekt ist die Chromosomen-Rekombination der Keimzellen während der Meiose ein äußerst effektiver Mechanismus, Doppelstrangbrüche und -reparaturen durchzuführen, da dabei ja das intakte homologe Chromosom als Muster zur Verfügungs steht. Durch die

Beim Altern sterben Zellen und Zellverbände ab. Während des Sterbevorgangs geschieht dies mit stark erhöhter Geschwindigkeit. Ist die primäre Todesursache ein Kreislaufstillstand, dann sterben mit vorhersagbarer zeitlicher Sequenz die einzelnen Organe. Das ZNS ist wegen seines großen O2-Bedarfs als erstes innerhalb von wenigen Minuten irreversibel geschädigt. Die anderen Organe folgen mit unterschiedlicher Zeitskala nach; so beispielsweise die Leber und die Niere nach weniger als einer Stunde. Bradytrophe Gewebe, also solche mit geringem Stoffwechsel, bleiben am längsten revitalisierbar. Der hypoxische und ischämische Zelltod läuft dabei nach einem monotonen Schema ab, bei dem das Absinken der zytosolischen ATP-Konzentration letztendlich zu einer irreversiblen Zellschwellung führt (Abb. 2.26). Die intrazelluläre Na+-Homöostase kommt aus dem Gleichgewicht, wenn ATP-Mangel die Tätigkeit der Na+-

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2.8 Altern und Zelltod CD95-L TNF-a

Ischämie Energiemangel

+

Na

Casp8

oxidativer Stress

K

+

–

K , Cl , HCO3– organische Elektrolyte SM

+

Ceramid

Phagozytose

2+

Ca

osmotischer Schock Gifte

O2–

Bax

Cytochrom c Caspase9 APAF1 p53

Strahlen Glucocorticoide

fehlende Wachstumsfaktoren

Zellschrumpfung

Depolarisation

Endonuklease

Caspase3

Bcl2

DNAFragmentierung

Apoptose

Scramblase Phosphatidylserinumlagerung

Abb. 2.27 Apoptose ist ein programmierter, fein regulierter Zelltod, den die Zelle selbst vollzieht. Damit werden täglich Milliarden von Zellen aus dem Weg geräumt, um neuen Zellen Platz zu machen, die durch Teilung von Nachbarzellen entstehen. Dies ermöglicht Organ- und Gewebeumbauten während der Embryonalentwicklung und bei veränderten Anforderungen an ein Gewebe. Aber auch die Bindung von außen (z. B. von CD8+-T-Killerzellen) kommender Signalstoffe (CD95-Ligand, TNFα) an den CD95-Rezeptor der Zelle sowie die Einwirkung von Glucocorticoiden, oxida-

K+-ATPase beeinträchtigt. Ursachen des ATP-Mangels sind u. a. Ischämie, Hypoxie und Hypoglykämie. Die intrazelluläre K+-Konzentration sinkt dabei ab, die extrazelluläre K+-Konzentration steigt an, und die Zellmembran depolarisiert. Folglich strömt Cl– in die Zelle, und die Zelle schwillt. Auch bei normaler Energiezufuhr kann es zu diesen Störungen kommen, wenn der Na+-Einstrom so stark ansteigt, dass die Na+-K+-ATPase überfordert wird. Eine Vielzahl endogener Substanzen (z. B. der Neurotransmitter Glutamat) und exogene Gifte (z. B. Oxidantien) steigern den Na+- und/oder Ca2+-Einstrom über Aktivierung entsprechender Kanäle. Die Zunahme der intrazellulären Na+-Konzentration führt nicht nur zu Zellschwellung, sondern, über Beeinträchtigung des 3 Na+/Ca2+-Austauschers, auch zu einer Zunahme der zystolischen Ca2+-Konzentration. Ca2+ löst eine Reihe zellulärer Wirkungen aus, u. a. dringt es auch in Mitochondrien ein und führt über Hemmung der mitochondrialen Atmung zu einem ATP-Mangel. Bei O2-Mangel weicht der Energiestoffwechsel auf anaerobe Glykolyse aus. Dabei entsteht Milchsäure, die zu Lactat– und H+ dissoziiert. Es kommt so zu einer zytosolischen Azidose, die die Funktion intrazellulärer

tivem Stress, Energiemangel, Strahlen und bestimmten Toxinen können Apoptose auslösen. Die intrazelluläre Signalkaskade löst den Einbau von Ionenkanälen in die Zellmembran aus, was zum Ionen-Ausstrom und damit zur Zellschrumpfung führt, induziert die Zerstörung von Zellbestandteilen (z. B. DNA-Fragmentierung) führt zur Phosphatidylserin-Umlagerung in die äußere Phospholipidschicht. Dies erkennen die Makrophagen und nehmen daraufhin die Zellreste auf, ohne dass es, im Gegensatz zur Nekrose, zu einer Entzündung kommt (aus 11).

Enzyme stört und dabei u. a. die Glykolyse hemmt, so dass auch diese letzte ATP-Quelle versiegt. Bei Energiemangel ist die Zelle auch vermehrt oxidativen Schädigungen ausgesetzt, da die zellulären Schutzmechanismen gegen Oxidantien (O2-Radikale) ebenfalls ATP-abhängig sind. Damit droht die Schädigung der Zellmembran (Lipidperoxidation) sowie die Freisetzung intrazellulärer Proteine in den Extrazellulärraum. Da diese mit dem Immunsystem normalerweise nicht in Berührung kommen, werden sie für ein Fremdantigen gehalten, und es kommt zur Aktivierung des Immunsystems und zur Entzündung (s. S. 243 f.), die die Zelle noch weiter schädigt. Die Zeitspanne zwischen der Unterbrechung der Energiezufuhr und dem nekrotischen Zelltod hängt von der Höhe des Na+-Einstroms ab, also z. B. von der Aktionpotenzialfrequenz erregbarer Zellen oder der Transportleistung epithelialer Zellen. Da die spannungsabhängigen Na+-Kanäle erregbarer Zellen durch Depolarisation der Zellmembran aktiviert werden (s. S. 67 ff.), kann Depolarisation den Zelltod beschleunigen.

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2 Die Zelle als Grundbaustein

Apoptose Eine gänzlich andere Art von Zelltod ist die Apoptose (4, 65), mit der der Körper täglich Hunderte von Milliarden von Zellen eliminiert, um sie durch Teilung benachbarter Zellen zu ersetzen. Bei der Apoptose kommt es innerhalb von kurzer Zeit zur Zellschrumpfung, zur Bläschenbildung unter der Zelloberfläche und zur Auflösung des Chromatins. Dieser Vorgang wird auch als programmierter Zelltod bezeichnet (Abb. 2.27). Er spielt auch bei der Differenzierung eine Rolle, wenn, wie etwa im reifenden Nervensystem, bestimmte Zellen „im Weg“ sind und entfernt werden müssen. Auch Killerzellen (Lymphozyten) lösen an ihren Zielzellen Apoptose aus (s. S. 244). Die Apoptose ist kein Sterben wie der ischämische Zelltod, bei dem, wie oben dargestellt, ein Mangel an O2 oder Substraten die Zelle in den Tod treibt, sondern eigentlich ein Suizid. Die apoptotische Zelle verbraucht, wenn der Vorgang einmal angestoßen ist, ATP, um sich selbst umzubringen. Im Gegensatz zur Nekrose ist die Apoptose programmiert und stellt, ebenso wie die Zellteilung, einen fein regulierten physiologischen Mechanismus dar. Dieser programmierte Zelltod dient der Anpassung des Gewebes an wechselnde Belastungen, der Eliminierung überflüssig gewordener Zellen bei der Embryonalentwicklung sowie der Entfernung schädlicher Zellen, wie etwa Tumorzellen, virusbefallener Zellen oder solcher immunkompetenter Zellen, die sich gegen körpereigene Proteine richten. Signalkaskade der Apoptose. Proteinspaltende Caspasen aktivieren die Sphingomyelinase, die aus Sphingomyelin Ceramid abspaltet. Daraufhin kommt es zur Aktivierung der kleinen G-Proteine Ras und Rac, zur O2–Bildung und Zerstörung der Mitochondrien mit Freisetzung von Cytochrom c. Durch Aktivierung von Tyrosinkinasen führt Ceramid zur Hemmung von K+-Kanälen, zur Aktivierung von Cl–-Kanälen und letztlich zur Ansäuerung der Zelle. Bei der Apoptose spielen außerdem MAPKinase-Kaskaden und die zytosolische Ca2+-Konzentration eine Rolle. Apoptose kann durch bestimmte Gene begünstigt (z. B. bax) oder gehemmt (z. B. bcl2) werden. Die Aktivierung einer Endonuklease führt letztlich zur Zerlegung der DNA (DNA-Fragmentierung), die Zelle verliert Elektrolyte und organische Osmolyte, baut Proteine ab und schrumpft schließlich unter Abgabe kleiner Partikel, die von Makrophagen aufgenommen werden. Damit verschwindet die Zelle, ohne dass intrazelluläre Makromoleküle freigesetzt werden und eine Entzündung auslösen. Auslöser der Apoptose sind u. a. der Tumornekrosefaktor (TNFα), Glucocorticoide, eine Aktivierung des CD95(Fas/Apo1)-Rezeptors oder der Entzug von Wachstumsfaktoren. Über ein p53-Protein begünstigen DNASchäden die Apoptose. Bei Ischämie z. B. exprimieren die betroffenen Zellen bisweilen den CD95-Rezeptor und setzen sich somit der Apoptose aus. Auf diese Weise „kommen sie dem nekrotischen Zelltod zuvor“ und verhindern damit zumindest die Freisetzung intrazellulärer Makromoleküle nach außen, die ja eine Entzündung auslösen würden.

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Von der Zelle zum Organ C. Korbmacher und R. Greger

3.1 3.2

Gestörte Zell-Zell-Interaktionen sind ein typisches Merkmal maligner Tumoren Zellverbände

···

3.3 ···

54

54 Gap Junctions bestehen aus Konnexonen und verbinden das Zytosol benachbarter Zellen · ·· 54 Zellen werden durch Desmosomen miteinander und durch Hemidesmosomen mit der extrazellulären Matrix verbunden ··· 56 Schlussleisten (Tight Junctions) verbinden Epithelzellen und ermöglichen einen selektiven und kontrollierten parazellulären Transport ··· 56 Der transzelluläre Transport an Epithelien erfordert eine Koordination der apikalen und basolateralen Transportschritte · · · 59 Endothelverbände zeigen gewebespezifische Unterschiede · ·· 59

Kommunikation benachbarter Zellverbände ··· 60 Regulatorischer Einfluss des Gefäßendothels auf die glatte Gefäßmuskulatur ··· 60 Funktionelle Interaktion von Endothelzellen, Gliazellen und Neuronen im Zentralnervensystem (ZNS) · · · 61

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3 Von der Zelle zum Organ

3.1

Gestörte Zell-Zell-Interaktionen sind ein typisches Merkmal maligner Tumoren

Im Gegensatz zu den Zellverbänden gesunder Organe, die sich durch eine wohl geordnete Struktur und Funktion auszeichnen, sind Tumoren Zellverbände, in denen wesentliche Mechanismen der Zellregulation und der Zell-Zell-Kommunikation defekt sind. So entstehen Tumoren durch unkontrollierte Zellteilung entarteter Tumorzellen, wobei man zwischen gutartigen (benignen) und bösartigen (malignen) Tumoren (Krebs) unterscheidet. Gutartige Tumoren sind meist von einer fibrösen Kapsel umgeben und bleiben lokal begrenzt. Sie sind daher in der Regel gut operabel und beeinträchtigen den Organismus nur dadurch, dass sie bei entsprechender Lokalisation und Größe die Funktion benachbarter Organstrukturen behindern oder durch Sekretion biologisch aktiver Substanzen ungünstige Wirkungen auf den Gesamtorganismus entfalten. Ein Beispiel dafür ist die Überproduktion von Schilddrüsenhormon (Hyperthyreose; siehe S. 551) durch ein gutartiges Schilddrüsenadenom. Maligne Tumoren zeichnen sich dagegen dadurch aus, dass die Tumorzellen Strukturbarrieren überwinden und in benachbarte Gewebe eindringen können (Invasivität). So können Tumorzellen beispielsweise die Basalmembran von Epithelien enzymatisch zerstören und dann durchwandern. Zur Invasivität der Tumorzellen trägt auch die aufgehobene Kontaktinhibition bei, die normalerweise über Zell-Zell- oder Zell-Matrix-Kontakte die Proliferation gesunder Zellen begrenzt. Einzelne Zellen maligner Tumoren können sich aus dem Tumorgewebe lösen und über den Blutweg oder die Lymphgefäße in entfernte Körperregionen gelangen, wo sie sich ansiedeln und Tochtergeschwülste bilden können, die so genannten Metastasen. Die Konsequenzen der bei Tumoren gestörten Zell-Zell-Interaktionen illustrieren die wichtige Bedeutung dieser Mechanismen für die Funktion von Zellverbänden in Organen.

3.2

Zellverbände

Damit aus Einzelzellen ein Organ entsteht, ist eine funktionelle Organisation der Zellen in Zellverbänden mit Kontakt- und Kommunikationsmechanismen zwischen den Einzelzellen erforderlich. Beispiele für hochspezialisierte Zellverbände sind Epithelien, d. h. die äußeren und inneren Auskleidungen unseres Körpers wie Haut, Darmschleimhaut, Nierentubulusepithel, exokrine Drüsenepithelien und Respirationsepithel sowie Endothelien, also die Auskleidungen des Gefäßsystems. Auch glatte Muskelzellen und Herzmuskelzellen sind in komplexen Zellverbänden organisiert. Dabei kommunizieren die Einzelzellen über Poren (Gap Junctions), so dass beispielsweise beim Herzmuskel ein sog. funktionelles Synzytium entsteht, was eine koordinierte Kontraktion des Herzens ermöglicht. Die Poren weisen Durchmesser auf, die Moleküle bis zu etwa 1000 Da passieren lassen, was sie zu wichtigen Verbindungswegen zwischen dem Zytosol benachbarter Zellen macht. Wegen ihrer guten Durchlässigkeit für Ionen werden

die Gap Junctions auch als „elektrische Synapsen“ bezeichnet. Ihr Öffnungszustand wird über komplexe Regelmechanismen kontrolliert. Punktförmige Desmosomen verbinden mit Hilfe transmembranaler Adhäsionsproteine Zellen und deren Zytoskelett, wodurch dem Zellverband mechanische Zugfestigkeit verliehen wird. Hemidesmosomen vermitteln die Verbindung der Zellen mit der extrazellulären Matrix. Die meisten Körperzellen sind in komplexen Verbänden zusammengefasst. Eindrucksvolles Beispiel ist das Nervensystem, wo eine große Zahl von Neuronen (n ≈ 1010) in streng koordinierter Weise zusammenarbeitet. Die Darstellung der Organisation und der komplexen synaptischen Verschaltung des Nervensystems soll den Kapiteln 19 – 29 vorbehalten bleiben. Weitere Beispiele sind Organe wie Herz, Niere, Lunge, Leber, Darm, Milz, Muskeln, Gefäße usw. Erst die Organisation in einem Zellverband und eine enge Koordination ermöglicht es den einzelnen Zellen, durch ihr Zusammenwirken organspezifische Leistungen zu erbringen. Zellen mit ähnlicher Funktion werden gemeinsam angesteuert und stimmen sich gegenseitig ab. Zellen unterschiedlicher Funktion, wie beispielsweise Endothelzellen und glatte Muskelzellen (Gefäßsystem), Neurone und Gliazellen (ZNS) sowie lokale Nervenplexus, glatte Muskelzellen und Epithelzellen (Gastrointestinaltrakt), kommunizieren miteinander, wodurch eine Organsteuerung möglich wird. Im Folgenden werden einige Beispiele und Mechanismen für ZellZell-Kontakte und deren Bedeutung für die funktionelle Koordination verschiedener Zelltypen besprochen.

Gap Junctions bestehen aus Konnexonen und verbinden das Zytosol benachbarter Zellen Gap Junctions beinhalten Verbindungswege für die chemische und elektrische Kommunikation zwischen benachbarten Zellen. Diese Verbindung wird durch zwei Halbkanäle (Konnexone) benachbarter Zellen gewährleistet, die axial aneinander koppeln und so eine Verbindung vom Zytosol der einen zum Zytosol der anderen Zelle schaffen. Mit wenigen Ausnahmen, z. B. Erythrozyten oder reife Skelettmuskulatur (dort sind die Einzelfasern ohnehin polynukleäre „Organellen“; vgl. Kap. 6), findet man Gap Junctions praktisch in allen Zellverbänden, so in Epithelien, glatten Muskelzellen und insbesondere im Herzmuskel. Man kann sie auch als elektrische Synapsen auffassen, weil die Größe der Poren einen ungehinderten Transport von Ionen und damit einen Stromfluss von Zelle zu Zelle ermöglicht (Abb. 3.1, vgl. auch Abb. 5.1, S. 81). So ist auch der Begriff „funktionelles Synzytium“ zu verstehen, das für die Erregungsausbreitung im Herzen und für dessen koordinierte Kontraktion eine wichtige Rolle spielt (S. 161). Auch eine Vielzahl glatter Muskelzellen kann über Gap Junctions funktionell an einen Schrittmacher gekoppelt werden. Von ihm geht die Erregung aus und pflanzt sich auf Nachbarzellen fort. Im Säugerhirn sind elektrische Synapsen dagegen eher die Ausnahme, da sie im Gegensatz zu den chemischen Synapsen keine gerichtete Erregungsausbreitung erlauben (S. 80 – 81). Gap Junctions spielen aber nicht nur für die Weiterleitung elektrischer Signale eine wichtige Rolle.

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3.2 Zellverbände Konnexons sind zueinander leicht verdreht und umschließen eine Pore, die einen funktionellen Durchmesser von ca. 1,5 nm aufweist. Die Pore ist für kleine Moleküle bis etwa 1000 Da (alle anorganischen Ionen, cAMP, IP3, ATP, Glucose, Aminosäuren etc.) leicht permeabel. Die elektrischen Eigenschaften der einzelnen Konnexone konnten inzwischen auch mit der Patch-ClampTechnik (S. 26 f.) durch gleichzeitige Strommessungen in zwei benachbarten Zellen untersucht werden. Dabei wurde ein Einzelkanalleitwert von etwa 100 pS ermittelt (15, 26).

Kanäle

Kanal (1,2– 1,5 nm)

A

100 nm Zytosol 1 Zellmembranen

Gap Konnexon2 Konnexon1

Ionen, ATP, cAMP, Aminosäuren u.v. a. m.

B

Zytosol 2

C

Kanal offen

Kanal zu

Abb. 3.1 Im Bereich einer Gap Junction treten die Plasmamembranen zweier benachbarter Zellen so nahe zusammen, dass dazwischen nur noch ein schmaler Spalt besteht (engl.: Gap). In diesem Kontaktbereich sind die beiden Zellen durch zahlreiche Kanäle verbunden. Jede der beiden Zellen trägt zu jedem Kanal einen Halbkanal (Konnexon) bei, der aus sechs, zueinander leicht verdrehbaren Connexinmolekülen besteht (B, C; s. a. Abb. 5.1, S. 63). Auf der elektronenmikroskopischen Aufnahme von Gap Junctions der Rattenleber (A, aus 8) sind die Poren (Durchmesser ca. 1,5 nm) als schwarze Punkte inmitten der zahlreichen Konnexone zu erkennen (Schema aus 22).

In der Leber kann beispielsweise das Signal, das über eine sympathische Aktivierung der β-Adrenorezeptoren den Glykogenabbau stimuliert (von innervierten auf nicht innervierte Hepatozyten übertragen werden, da die Gap Junctions für den Second messenger cAMP permeabel sind. Die Anzahl der Gap Junctions pro Zelle kann enorm sein. So findet man an Hepatozyten bis zu 100 000 Gap Junctions pro Zelle (16). Der Aufbau einer Gap Junction ist in Abb. 3.1 und Abb. 5.1 (S. 81) wiedergegeben. An einer Gap Junction sind zwei benachbarte Zellen durch zahlreiche Kanäle verbunden; zu jedem dieser Kanäle trägt eine Zelle einen Halbkanal bei. Die beiden Halbkanäle (Konnexone) sind aus jeweils 6 Connexinmolekülen aufgebaut. Eine Gap Junction kann einige wenige bis zu vielen Tausenden von Konnexonen enthalten. Gewebespezifische Eigenschaften der Konnexone ergeben sich dadurch, dass der Mensch 14 verschiedene Konnexine besitzt, die von unterschiedlichen Genen kodiert werden und sich zu homomeren oder heteromeren Konnexonen verbinden können, wobei die meisten Zellen mehr als einen Connexintyp exprimieren. Die sechs Säulen eines

Regulation des Öffnungszustandes der Gap Junctions Eine Erhöhung der zytosolischen Ca2+-Aktivität und ein saurer pH-Wert in der Zelle schließen die Konnexone. So kann unter pathophysiologischen Bedingungen eine Zelle mit erheblich erhöhter zytosolischer Ca2+-Konzentration oder mit saurerem pH-Wert als ihre Nachbarzellen vom Verband ausgeschlossen werden, um die benachbarten Zellen nicht zu schädigen. Die auf diese Weise isolierte Zelle wird ihrem Schicksal überlassen, und das ist dann in der Regel ihr Untergang. Andere Regulationsmechanismen schließen Phosphorylierung (Calmodulin-, Proteinkinase-A-, Proteinkinase-C- und Tyrosinkinasen-abhängig) sowie die Steuerung durch kleine G-Proteine ein. Auch das Membranpotenzial kontrolliert Konnexone: Eine Depolarisation führt zur Verminderung der Kommunikation (15). Die Regulierbarkeit der Konnexone hat je nach Gewebe eine unterschiedliche physiologische Bedeutung. So kann beispielsweise der Neurotransmitter Dopamin, vermutlich über einen Anstieg der intrazellulären cAMP-Konzentration, die Kommunikation durch Gap Junctions zwischen bestimmten Neuronen der Retina als Reaktion auf eine erhöhte Lichtintensität verringern (1).

Bedeutung der Gap Junctions für Koordination und Entwicklung – Die Koppelung der Zellen über Gap Junctions bringt den Vorteil mit sich, dass der Zellverband „Probleme“ der Einzelzelle mit abfangen und ausgleichen kann. Dieser Vorgang findet seine Begrenzung dann, wenn die Belastung durch die vorgeschädigte Einzelzelle zu groß wird. Dann wird die Einzelzelle, wie oben erläutert, infolge des Anstiegs der Ca2+-Konzentration abgekoppelt (2). – Gap Junctions sorgen auch für die elektrische Koppelung am Herzmuskel und in Verbänden glatter Muskelzellen, was eine zeitgleiche Kontraktion ermöglicht („funktionelles Synzytium“). – Über Gap Junctions können „Schrittmacherzellen“ umgebende Zellen steuern. Man nimmt an, dass dieser Vorgang beispielsweise für β-Zellen im endokrinen Pankreas von Bedeutung ist (18). – Gap Junctions spielen eine wichtige Rolle in der Embryogenese. Im Blastulastadium wird eine Vielzahl von Gap Junctions ausgebildet. Mit zunehmender Differenzierung werden bestimmte Differenzierungskompartimente eng aneinander gekoppelt, andere Kompartimente koppeln sich ab (3, 14).

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3 Von der Zelle zum Organ

Zellen werden durch Desmosomen miteinander und durch Hemidesmosomen mit der extrazellulären Matrix verbunden Die zarte Lipiddoppelschicht der Plasmamembran ist nicht geeignet, der Zelle eine stabile Form und mechanische Widerstandskraft zu verleihen. Diese Funktion wird vom Zytoskelett übernommen (S. 16). Um in einem Zellverband mechanische Stabilität zu erreichen, ist es daher erforderlich, dass sich die Zytoskelette benachbarter Zellen miteinander verknüpfen. Dies geschieht mit Hilfe punktförmiger Kontakte, die Desmosomen (Maculae adhaerentes) genannt werden (Abb. 2.1, S. 14). Diese bestehen aus einem Proteinkomplex, der unter anderem Adhäsionsproteine enthält, die zur Familie der Cadherine (vgl. S. 15) gehören und als transmembrane Ankerproteine sich mit den entsprechenden Adhäsionsproteinen der Nachbarzelle verbinden. Gleichzeitig interagieren die Adhäsionsproteine auf der zytoplasmatischen Seite mit verschiedenen intrazellulären Ankerproteinen, die über Intermediärfilamente die Verbindung zum Zytoskelett herstellen. So vernetzen die Desmosomen die Intermediärfilamente benachbarter Zellen und sorgen für die Zugfestigkeit und mechanische Belastbarkeit des Zellverbandes. Die physiologische Bedeutung der Desmosomen kann man auch daran erkennen, dass die unter Umständen tödlich verlaufende Hautkrankheit Pemphigus vulgaris dadurch ausgelöst wird, dass die Patienten Antikörper gegen die Proteine Plakoglobin und Desmoglein bilden, die Bestandteile der Desmosomen in Haut und Schleimhäuten sind (1, 3). Dadurch werden die Desmosomen der Hautzellen (Keratinozyten) geschädigt, was zur Blasenbildung der Haut und zu deren flächenhafter Ablösung bei nur geringer mechanischer Belastung führt. Während die Desmosomen Zell-Zell-Verbindungen darstellen, dienen die sog. Hemidesmosomen oder Halb-Desmosomen der Verankerung der Zelle mit der extrazellulären Matrix. Sie ähneln in ihrer Struktur den Desmosomen, wobei die transmembranen Adhäsionsproteine der Hemidesmosomen zur Familie der Integrine (S. 179) gehören, die beispielsweise an das Protein Laminin binden, das ein Bestandteil der Basalmembran von Epithelzellen ist. Untereinander sind Epithelzellen nicht nur durch einzelne punktförmige Desmosomen mechanisch verknüpft, sondern haben direkt unterhalb der Tight Junctions (s. u.) einen praktisch durchgehenden Adhäsionsgürtel (Zona adhaerens), der den Epithelien eine besondere mechanische Stabilität verleiht (Abb. 2.1). Die molekularen Komponenten dieses Adhäsionsgürtels ähneln denen der Desmosomen, und auch hier sind die Cadherine die entscheidenden Adhäsionsmoleküle, die den Zell-Zell-Kontakt vermitteln. Im Gegensatz zu einem epithelialen Zellverband besteht Bindegewebe überwiegend aus extrazellulärer Matrix mit vergleichsweise wenigen Zellen. Hier sind die direkten Verbindungen zwischen den Zellen eher selten, und die mechanische Stabilität des Gewebes wird vor allem durch faserförmige Polymere, insbesondere Kollagene, der extrazellulären Matrixsubstanz erzielt, die von den Bindegewebszellen produziert wird. Epithelien sitzen praktisch immer auf einer sog. Basalmembran, an die sich eine mehr oder weniger komplexe Bindegewebsschicht anschließt. Diese stellt dann beispielsweise beim Darmepithel die Verbindung her mit einer darunter liegenden Muskel-

und Gefäßschicht. So verbinden sich unterschiedliche Gewebe und Zellverbände zu größeren funktionellen Einheiten, den Organen.

Schlussleisten (Tight Junctions) verbinden Epithelzellen und ermöglichen einen selektiven und kontrollierten parazellulären Transport Das funktionelle Merkmal von Epithelien ist deren Fähigkeit zu vektoriellem Transport von Substanzen von der einen auf die andere Seite des Epithels (transepithelialer Transport). Eine entsprechende asymmetrische Anordnung von Transportproteinen in der apikalen und basolateralen Membran ermöglicht den gerichteten transzellulären Transport von Substanzen. Parallel dazu können Substanzen das Epithel durch den Spalt zwischen den Zellen überqueren (parazellulärer Transport). Die einzelnen Epithelzellen sind über charakteristische Schlussleisten (Tight Junctions) miteinander verbunden, die den Stofftransport durch den Interzellularspalt kontrollieren und einen apikalen von einem basolateralen Membranbereich abgrenzen. Die Schlussleisten sind bei sog. dichten Epithelien, die sehr große Konzentrationsgefälle erzeugen, besonders komplex aufgebaut und dadurch wenig durchlässig und hochselektiv. Bei sog. lecken Epithelien hingegen sind sie einfacher strukturiert und daher durchlässiger. Vor allem in lecken Epithelien erfolgt ein erheblicher Teil des transepithelialen Transportes, z. B. von Ionen und Wasser, nicht transzellulär, sondern zwischen den Zellen (parazellulär), d. h. durch die Schlussleisten hindurch. Auch Endothelzellen sind, insbesondere im Bereich der Blut-Hirn-Schranke, über Schlussleisten miteinander verbunden und gehören damit funktionell zu den Epithelien. Epithelien bilden die zelluläre Grenzschicht zwischen dem Körperinnern und der Außenwelt beziehungsweise einem Organlumen, das mit der Außenwelt in Verbindung steht (z. B. das Darmlumen, das Lumen der Nierentubuli, das Lumen der Ausführungsgänge der Schweißdrüsen etc.) oder das ein umschriebenes, von der interstitiellen Flüssigkeit abgegrenztes Kompartiment bildet (z. B. das Lumen der Schilddrüsenfollikel; S. 546). Man unterscheidet bei Epithelien daher generell eine luminale Seite, die auch apikale oder mukosale Seite genannt wird, von einer basolateralen Seite, die auch serosale Seite oder Blutseite genannt wird. Neben ihrer Barrierefunktion ist es die wesentliche Aufgabe von Epithelien, Substanzen von der einen auf die andere Seite des Epithels vektoriell zu transportieren. Dabei bezeichnet man ganz allgemein den transepithelialen Transport von basolateral nach apikal als Sekretion und den von apikal nach basolateral als Absorption, in manchen Fällen (Nierentubulus, Darm, Speicheldrüsen- und Pankreasgänge) auch von Re(ab)sorption. Aus der Barriereund Transportfunktion ergeben sich besondere Anforderungen an die zelluläre Organisation der Epithelien, da gerade aufgrund des transepithelialen Transports die Zusammensetzung der Flüssigkeiten auf beiden Seiten des Epithels häufig sehr unterschiedlich ist. Gerichteter

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3.2 Zellverbände

luminal

Bürstensaum

Schlussleisten

1 Epithelzelle (z.B. Enterozyt)

luminal

Adhäsionsgürtel Gap Junction

Hemidesmosom basolateral

Bürstensaum

3 Querschnitt im EM

Claudine Occludin u.a.

Schlussleisten

Interzellularspalt (lateraler Spalt)

2 seitliche Aufsicht

Abb. 3.2 Schlussleisten (Tight Junctions) verbinden die Seitenwände benachbarter Epithelzellen an ihrer luminalen Kante. Dadurch bilden die Tight Junctions eine selektive und kontrollierte Barriere für den parazellulären Transport und trennen überdies die luminale von der mit unterschiedlichen Membrantransportproteinen ausgestatteten basolateralen Zellmembran. Oben links ist diese Verbindung an einer Epithelzelle der Darmmukosa schematisch gezeigt (1).

Transport und die Aufrechterhaltung transepithelialer Konzentrationsunterschiede ist nur möglich, wenn – die Eigenschaften und Transportproteine der apikalen Membran von denen der basolateralen Membran verschieden sind (polarisierte Zelle) und wenn – der Transport zwischen den Zellen hindurch (parazellulär) kontrolliert wird. An beiden Funktionen sind die sog. Schlussleisten (Tight Junctions) wesentlich beteiligt, die ein charakteristisches morphologisches und funktionelles Merkmal der epithelialen Gewebe darstellen. Innerhalb eines Epithelzellverbandes sind die Zellen am luminalen (apikalen) Pol miteinander durch Schlussleisten verbunden (Abb. 3.2). In diesem Bereich kommt es zu einem sehr engen Kontakt zwischen den Plasmamembranen der benachbarten Zellen, weshalb für die Schlussleisten auch die Begriffe Zonula occludens, Kissing Junction oder Tight Junction geprägt wurden, wobei sich letzterer als der gebräuchlichste durchgesetzt hat (9). Mit Hilfe von elektronenmikroskopischen Untersuchungen konnte man nachweisen, dass apikal oder basolateral applizierte Markermoleküle die Tight Junctions nicht überwinden können, so dass diese die eigentliche Diffusionsbarriere im Interzellular-

4 Transmembranproteine

(2) Aufsicht mit Hilfe der Gefrierbruch-Elektronenmikroskopie auf eine der beiden seitlichen Zellwände mit zahlreichen Säumen. (3) Ein elektronenmikroskopisches Transmissionsbild, in dem beide Zellen quer getroffen sind. Die schematische Zeichnung (4) illustriert, dass die Tight Junctions aus einer Aneinanderreihung benachbarter und miteinander interagierender Transmembranproteine bestehen, zu denen die Claudine und das Occludin zählen (aus 3).

spalt darstellen (25, 3, 4). Im elektronenmikroskopischen Transmissionsbild hat man den Eindruck, als verschmölzen die Plasmamembranen benachbarter Zellen im Bereich der Tight Junctions (Abb. 3.2). In der Gefrierbruch-Elektronenmikroskopie erscheinen die Tight Junctions auf der Seitenwand der Zelle als Säume (tight junctional strands), die wie ein Gürtel um die gesamte Zelle herumlaufen und mit entsprechenden Säumen der Nachbarzellen in Verbindung treten (8). Inzwischen weiß man, dass diese Säume im Wesentlichen aus einer Aneinanderreihung von transmembranalen Adhäsionsproteinen bestehen, den Claudinen (19) und dem Occludin (13). Die extrazellulären Domänen der Claudin- und Occludinproteine benachbarter Zellen interagieren und sind für die Ausbildung der abdichtenden Säume der Tight Junctions verantwortlich. Auf der intrazellulären Seite stehen sie mit einer Reihe von zytosolischen Proteinen in Verbindung, die für die Verankerung der Tight Junctions mit dem Zytoskelett und für deren Lokalisation und Regulation von Bedeutung sind (5).

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3 Von der Zelle zum Organ

Tight Junctions sind erforderlich für die epitheliale Polarität Tight Junctions haben nicht nur eine Funktion als passive Diffusionsbarriere, sondern beeinflussen auch so komplexe Prozesse wie Gentranskription, Zellproliferation und Ausbildung der epithelialen Polarität (6; 20). So behindert die nahtlose Aneinanderreihung der Claudin- und Occludinmoleküle im Bereich der Tight Junctions die laterale Beweglichkeit von Membranlipiden und Membranproteinen in der Plasmamembran. Die Tight Junctions bilden also die Grenze zwischen dem apikalen und dem basolateralen Membranbereich der Zellen. Dadurch wird eine polarisierte Anordnung von Lipiden und Transportproteinen ermöglicht (s. u.), und es wird verhindert, dass eine einmal etablierte Polarisierung durch laterale Diffusion der Membranproteine verloren geht (5; 17). Ein entscheidender Aspekt der Polarisierung besteht darin, dass dieselben Rezeptoren und Membrantransportproteine, wie wir sie in Kap. 2 für Zellen im Allgemeinen beschrieben haben, in der Membran der Epithelzellen streng sortiert sind. Manche finden sich nur luminal (apikal) und andere nur auf der Blutseite (basolateral). In den Epithelzellen existieren demnach exakte Sortiermechanismen, die Proteine nach ihrer Synthese und nach weiterer Aufarbeitung im Golgi-Apparat an die „richtige“ Membran „adressieren (25). Dabei scheint der „richtige“ Einbau zum einen bereits durch die Struktur des Proteins vorgegeben zu sein, zum anderen wird die Polarisierung aber auch durch die Unterschiede in der Lipidzusammensetzung der beiden Membranen bestimmt. Man hat sich das so vorzustellen, dass ein neu synthetisiertes Protein mehrere Molekülabschnitte besitzt, die es intrazellulär von Kompartiment zu Kompartiment weiteradressieren, bis es schließlich in der richtigen Membran seine eigentliche Funktion aufnimmt. Allgemein entspricht die Ausstattung der basolateralen Membran von Epithelzellen derjenigen von apolaren Zellen (z. B. Blutzellen, Bindegewebszellen). So finden sich in der basolateralen Membran praktisch aller Epithelien eine Na+-K+-ATPase, K+-Kanäle,

der für die pH-Homöostase notwendige Na+-H+-Austauschcarrier, Aufnahmesysteme für metabolische Substrate sowie Rezeptoren für Hormone und Autakoide (s. u.). Die luminale (apikale) Membran hat dagegen eine sehr viel variablere Ausstattung, die für das jeweilige Epithel charakteristisch ist. So besitzen der proximale Tubulus und das Jejunum spezifische Transportsysteme für die dort zu resorbierenden Substrate, also z. B. Na+Glucose- und Na+-Aminosäuren-Symportcarrier. An der korrekten intrazellulären „Zustellung“ von Membrantransportproteinen ist das Zytoskelett beteiligt. Störungen der Zytoskelettfunktion gehen mit Störungen der Proteinanlieferung und des Proteineinbaus in die Membran einher. Beispielsweise nehmen Erythrozyten mit einem Defekt des erythrozytären Membranskelett-Proteins Ankyrin Kugelform an, was sie mechanisch instabil macht und bei den betroffenen Patienten eine hämolytische Anämie verursacht (kongenitale Sphärozytose; S. 229).

Lecke und dichte Epithelien haben unterschiedlich ausgeprägte Tight Junctions und unterschiedliche Transportfunktionen Die Barrierenfunktion der Schlussleisten wird einerseits durch die Anzahl der Säume in Serie und andererseits durch deren Proteinzusammensetzung (man kennt beim Menschen 18 verschiedene Claudine) bestimmt, die je nach Gewebe unterschiedlich sein kann und damit eine gewebespezifische Selektivität des parazellulären Transports ermöglicht. So genannte dichte Epithelien verfügen über eine große Zahl von Säumen in Serie, die zudem untereinander vernetzt sind (Abb. 3.2 S. 57). Dabei nimmt die Dichtheit des parazellulären Weges für den Fluss von Ionen in der Regel logarithmisch mit der Zahl der Säume zu (7), was dafür spricht, dass jeder Saum als unabhängige Barriere wirkt. Lecke Epithelien haben nur wenige solcher Säume. Dichte Epithelien kommen überall dort

Tabelle 3.1 Lecke und dichte Epithelien. Der transepitheliale Gesamtwiderstand Rte eines Epithels setzt sich aus dem transzellulären Widerstand (apikale und basolaterale Membran: Rz) und dem parazellulären Widerstand (Schlussleiste und lateraler Spalt: Rs) zusammen und wird nach dem 2. Kirchhoff-Gesetz bestimmt: 1/Rte = 1/Rz + 1/Rs oder Rte = Rz · Rs/(Rz + Rs). Dabei hängt Rte wesentlich von der Komplexität der Schlussleisten (Tight Junctions) ab, die letztlich die Größe von Rs bestimmt. Bei lecken Epithelien ist Rte klein und Rs < Rz, bei mitteldichten und dichten Epithelien ist Rte groß und Rs > Rz. Auch die transepithelialen Potenziale (Ete) sind bei lecken Epithelien im Allgemeinen niedriger als bei mitteldichten und dichten Epithelien. Epithel proximaler Tubulus

Rte (Ω · cm2) 5

Ete (mV)*

Schlussleisten

– 3 bis + 3

leck

Gallenblase

30

–1

leck

dicker aufsteigender Teil der Henle-Schleife

34

+ 6 bis + 15

mitteldicht

Kolon

500

– 10 bis – 40

mitteldicht bis dicht

Sammelrohr

800

– 5 bis – 60

mitteldicht bis dicht

– 60

dicht

Harnblase

1500

* Ete ist die Differenz zwischen dem Potenzial auf der luminalen Seite und dem auf der basolateralen Seite, d. h. bei einem Ete von – 60 mV ist das Potenzial auf der luminalen Seite um 60 mV negativer als auf der basolateralen Seite. Ete hängt einerseits von Rte ab, andererseits von der Aktivität und der Richtung der elektrogenen transepithelialen Transportprozesse des entsprechenden Epithels. Da elektrogene Transportprozesse regulatorischen Einflüssen unterliegen (z. B. Regulation des epithelialen Natriumkanals [ENaC] im Sammelrohr durch Aldosteron; S. 348), ist Ete entsprechend variabel.

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3.2 Zellverbände im Körper vor, wo große transepitheliale Konzentrationsgradienten geschaffen und erhalten werden, also beispielsweise in der Harnblase, im Sammelrohr der Niere und im Kolon. Lecke Epithelien findet man dagegen dort, wo geringe transepitheliale Gradienten vorliegen, so z. B. im proximalen Nierentubulus, im Jejunum, im Pankreasazinus etc. Auch das maximale transepitheliale Potenzial (Ete) und der transepitheliale elektrische Widerstand (Rte, in Ω · cm2) sind ein Maß für die Leckheit oder Dichtheit eines Epithels (Tab. 3.1). So zeichnen sich sehr dichte Epithelien durch einen hohen transepithelialen Widerstand aus. Entsprechend können an elektrisch dichten Epithelien durch elektrogene Transportvorgänge auch hohe transepitheliale Potenzialdifferenzen (Ete) auftreten, die in der Größenordnung des Ruhemembranpotenzials der Zellen liegen können (Tab. 3.1). Eine transepitheliale Potenzialdifferenz ist wiederum eine wichtige Trieb„kraft“ für den parazellulären Transport von geladenen Teilchen. Dies ist beispielsweise für die parazelluläre Ca2+- und Mg2+-Resorption im dicken aufsteigenden Schenkel (TAL) der Henle-Schleife von Bedeutung, wobei in diesem Nephronabschnitt offenbar das Protein Claudin-16 (= Paracellin-1) den Tight Junctions eine selektive Permeabilität für divalente Kationen verleiht (S. 363). Mutationen des Proteins Claudin-16 sind die Ursache für ein autosomal rezessiv vererbtes renales Magnesium- und Calciumverlustsyndrom (23). Aufgrund eines defekten Claudin-16 kommt es im TAL zu einer verminderten parazellulären Resorption von Mg2+und Ca2+-Ionen und damit zu einer vermehrten Ausscheidung dieser Ionen im Urin. Dies führt bei den Patienten zu einem Abfall der Magnesiumkonzentration im Plasma, was sich durch verschiedene kardiale, neuromuskuläre (z. B. Muskelkrämpfe) und zentralnervöse Symptome äußert, die aber häufig nicht sehr ausgeprägt sind. Die Calciumkonzentration im Plasma bleibt trotz des renalen Calciumverlusts meist im Normbereich, vermutlich aufgrund einer kompensatorisch erhöhten intestinalen Calciumresorption und einer Calciummobilisation aus dem Knochen infolge Hochregulation des Parathormons (S. 400 f.; Abb. 13.25). Allerdings verursacht die vermehrte renale Calciumausscheidung (Hyperkalziurie) Verkalkungen in der Niere (Nephrokalzinose), die bei den betroffenen Patienten häufig die Ursache für ein fortschreitendes Nierenversagen sind. Die Folgen der Mutationen von Claudin-16 illustrieren die Bedeutung dieser Proteinfamilie (s. o.) für die Funktion und Selektivität der Tight Junctions. Es mag die Frage entstehen, warum es z. B. für den proximalen Tubulus vorteilhaft sein sollte, wenig ausgeprägte Tight Junctions mit einer niedrigen Anzahl von Säumen (1 – 3) und einem geringen transepithelialen Widerstand auszubilden. Eine detaillierte Erklärung dafür wird bei der Besprechung der einzelnen Epithelien und ihrer Funktion gegeben (Kap. 12 u. 14). Vorweg sei hier festgehalten, dass durch den „lecken“ Weg zwischen den Zellen, den sog. parazellulären Weg, ein erheblicher Teil des Resorptionsflusses oder Sekretionsflusses (bei exokrinen Drüsen) passiv erfolgen kann. Für diesen Transport sind dann sehr geringe transepitheliale Triebkräfte ausreichend. Dadurch kann beispielsweise im proximalen Tubulus bis zu 70% der Na+-Resorption parazellulär und damit energetisch besonders günstig erfolgen

(10, 11). Lecke Schlussleisten sind also vorwiegend dort zu finden, wo die Transportraten besonders groß sind, also z. B. im proximalen Tubulus, im Dünndarm oder in den Endstücken exokriner Drüsen, wo aber keine größeren transepithelialen Konzentrationsgradienten aufgebaut werden müssen und der Transport wenig selektiv erfolgt.

Der transzelluläre Transport an Epithelien erfordert eine Koordination der apikalen und basolateralen Transportschritte Durch Epithelien werden teilweise enorme Mengen an Wasser, Elektrolyten und organischen Substanzen transportiert (Kap. 12 u. 15). So werden beispielsweise im proximalen Tubulus der Niere täglich unter anderem ca. 1 kg NaCl, 180 g Glukose und 110 l Wasser resorbiert. Ein erheblicher Anteil des NaCl, des Wassers und praktisch die gesamte Menge an Glucose muss dabei die Tubuluszelle, d. h. deren mit besonderen Transportsystemen ausgestattete luminale sowie die basolaterale Membran, passieren. Ein solcher Transportvorgang ist nur möglich, wenn die Transportraten beider Membranen genau aufeinander abgestimmt sind (21): Jede Steigerung der luminalen Aufnahme muss praktisch verzögerungsfrei zu einer vermehrten Abgabe über die basolaterale Membran führen (vgl. Abb. 2.14, S. 35). Beteiligt an dieser Regulation sind u. a. die zytosolische Ca2+-Konzentration, der zytosolische pH-Wert und die Konzentrationen von ATP und ADP in der Zelle.

Endothelverbände zeigen gewebespezifische Unterschiede Auch bei Endothelverbänden bestimmt die Art der ZellZell-Verbindung das Ausmaß und die Route der Permeation vom Gefäßlumen ins Interstitium und zurück (s. a. S. 194 ff.). In einigen Organen sind die Endothelverbände mäßig dicht (Haut, Skelettmuskel, Lunge) oder ausgesprochen dicht (ZNS). Im Gehirn bildet das dichte Endothel der meisten Kapillarbereiche die eigentliche Barriere der Blut-Hirn-Schranke (Kap. 19 u. 30), wobei auch hier Tight Junctions zwischen den Endothelzellen für die Dichtigkeit des Endothels von entscheidender Bedeutung sind (s. u.; S. 851; Abb. 30.2). In anderen Organen sind die Endothelverbände fenestriert, wie z. B. in der Darmschleimhaut, in den Glomerula der Niere und in endokrinen Drüsen. Diese Fenestrierung erlaubt den transendothelialen passiven Transport von kleinen bis mittelgroßen Molekülen (in den Glomeruluskapillaren der Niere beispielsweise bis zu einer Molekülmasse von 6 – 15 kDa, S. 339 f.). Wesentlich größere Makromoleküle und korpuskuläre Blutbestandteile können hingegen im Normalfall nicht permeieren. Schließlich kommen auch noch losere Endothelverbände mit noch größerer Permeabilität vor, sog. diskontinuierliches Endothel beispielsweise in der Leber und im Knochenmark. Insgesamt wird also durch die Dichtigkeit der Endothelzellverbände das Ausmaß der passiven Kommunikation zwischen Blut und Interstitium bestimmt.

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3 Von der Zelle zum Organ

ATP

Histamin

Endothelin

Thrombin

Angiotensin II

transforming growth factor

ADH

Blut

Acetylcholin

P

2+

H1

ETB

T

T

Phospholipase C

Ca

GTP NO-Synthetase

Arginin

cGMP

Guanylylcyclase

AII

V1

TGF

(Prä-)Pro-Endothelin

Endothel

M

Endothelin

Citrullin

NO

AII

ETA

Guanylylcyclase 2+

Ca GTP

Phospholipase C cGMP M

Vasodilatation

Abb. 3.3 Kommunikation zwischen Endothel und glatten Gefäßmuskelzellen. Auf der Blutseite besitzen Endothelzellen Rezeptoren, beispielsweise für Acetylcholin (M), Thrombin (T), ATP (P), Histamin (H1), Endothelin (ETB), Angiotensin II (AII), ADH (= Arginin-Vasopressin; V1) und transforming growth factor (TGF). Diese Faktoren können in der Endothelzelle sowohl die Bildung von NO (= Stickstoffmonoxid), als auch die von Endothelin steigern. Auch die glatte Gefäßmus-

3.3

Kommunikation benachbarter Zellverbände

Unterschiedliche Zelltypen eines Organs treten über Transmitter und lokal wirkende Hormone (Autakoide) miteinander in Kontakt und können sich gegenseitig beeinflussen. Beispiele für das komplexe Zusammenwirken verschiedener Zelltypen in einem Zellverband sind die funktionelle Einheit aus Endothelzellen und glatten Muskelzellen oder die aus Endothelzellen, Gliazellen und Neuronen.

Regulatorischer Einfluss des Gefäßendothels auf die glatte Gefäßmuskulatur Die Kommunikation benachbarter Zellverbände mit unterschiedlicher Funktion erfolgt oft durch sog. Autakoide. Autakoide sind lokale Hormone, die ihre Wirkung unmittelbar in der Nähe ihres Ausschüttungsortes entfalten. Die Kommunikation durch Autakoide soll am Beispiel von Endothelzellen und glatten Gefäßmuskelzellen erläutert werden (12, 16). Abb. 3.3 zeigt schematisch Endothelzellen und darunter befindliche glatte Muskelzellen. Die Endothelzelle verfügt über eine Vielzahl von Rezeptoren, von denen hier solche für Thrombin, Acetylcholin, ATP (Purinrezeptoren), Histamin und Endothelin (Rezeptortyp B: ETB) sowie für Angiotensin II, antidiuretisches Hormon (= ADH = Arginin-Vasopressin = AVP) und Transforming

Gefäßmuskulatur

60

Kontraktion

kulatur besitzt zahlreiche Rezeptoren, darunter solche für Acetylcholin, Angiotensin II und Endothelin (ETA). Während NO leicht aus dem Endothel in die benachbarten Gefäßmuskelzellen diffundieren kann und dort über cGMP (S. 40) eine Vasodilatation auslöst, führen Endothelläsionen dazu, dass die Agonisten (z. B. Endothelin) die Rezeptoren der Muskelzelle selbst erreichen und infolgedessen die Vasokonstriktion überwiegt.

growth factor (TGF) beispielhaft wiedergegeben sind. Nach Bindung entsprechender Signalstoffe stimulieren diese Rezeptoren (Phospholipase-C- und IP3-vermittelt; S. 34 f.) durch einen Anstieg der zytosolischen Ca2+-Konzentration die Bildung von NO (S. 40) und Endothelin. NO wirkt in der benachbarten glatten Muskelzelle über Guanylylcyclase relaxierend. Andererseits können Agonisten wie ADH, Thrombin, Angiotensin II und TGF die Freisetzung von Endothelin bewirken, das über den Endothelinrezeptor A (ETA) an den glatten Muskelzellen eine Konstriktion auslöst. Schließlich können Agonisten wie Angiotensin II, ADH und Acetylcholin direkt an den glatten Muskelzellen wirken und dort über Ca2+-Freisetzung eine Kontraktion erzeugen. Lokale Hormone und Transmitter können so in komplexer Weise die glatten Gefäßmuskelzellen entweder direkt beeinflussen oder indirekt über die Endothelzellen. Dabei kann derselbe Transmitter, z. B. Acetylcholin, bei einer direkten Wirkung auf die glatten Muskelzellen zu einer Kontraktion führen, während er über eine durch das Endothel vermittelte NOFreisetzung relaxierend wirkt (S. 40; 12). Dies erklärt vermutlich die klinische Beobachtung, dass eine gestörte Endothelfunktion zu einem Überwiegen vasokonstriktorischer Einflüsse führt. Im Rahmen arteriosklerotischer Gefäßveränderungen kommt es schon früh zu einer verminderten NOProduktion in den geschädigten Endothelzellen und dadurch zu einem verminderten vasodilatatorischen

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3.3 Kommunikation benachbarter Zellverbände Einfluss des Endothels. Schreiten die krankhaften Veränderungen fort und kommt es zu Endotheldefekten, können vasoaktive Substanzen aus der Blutbahn direkt auf die Gefäßmuskelzellen einwirken, ohne in ihrer Wirkung durch die Endothelzellen modifiziert zu werden. Möglicherweise beruhen vorübergehende Koronarspasmen, wie sie bei der so genannten PrinzmetalAngina beobachtet werden, auf einer defekten Endothelfunktion mit verminderter NO-Freisetzung. Dafür spricht jedenfalls die Tatsache, dass bei diesen Patienten durch Infusion von Acetylcholin in die Koronararterien in der Regel ein Koronarspasmus ausgelöst werden kann, was als diagnostisches Kriterium für das Vorliegen einer Prinzmetal Angina gewertet wird. Pathophysiologisch kann man sich das so erklären, dass die Applikation von Acetylcholin bei diesen Patienten aufgrund eines Endotheleffekts nicht zu einer NOFreisetzung führt, sondern direkt an den glatten Gefäßmuskelzellen angreift und dadurch eine Vasokonstriktion auslöst.

Funktionelle Interaktion von Endothelzellen, Gliazellen und Neuronen im Zentralnervensystem (ZNS) Eine andere Interaktion von Zellverbänden existiert im ZNS zwischen Endothelzellen, Gliazellen und Neuronen (Abb. 30.2, S. 851). Dieser komplexe Verband gewährleistet eine strenge Trennung von systemischer Zirkulation und interstitiellem Raum zwischen den Neuronen. Die eigentliche Blut-Hirn-Schranke (s. auch Kap. 19 u. 30) kommt dadurch zustande, dass die Endothelzellen dieser Gefäße durch hochdifferenzierte Tight Junctions verbunden sind und daher der parazelluläre Transportweg dicht ist (Abb. 30.2). Somit hängt der Zugang zum interstitiellen Raum des ZNS von den Transporteigenschaften dieser spezialisierten Endothelzellen ab. Sie besitzen u. a. Transporter für Ionen und metabolische Substrate, die den Transport in beide Richtungen ermöglichen und genau kontrollieren. Funktionell entspricht hier das Endothel also einem Epithel (s. o.). Außerdem sorgen Gliazellen dafür, dass es trotz des geringen Volumenanteils des Interstitiums im ZNS auch bei starker neuronaler Aktivität zu keinen großen Schwankungen im extrazellulären Ionenmilieu kommt. Diese räumliche Pufferung von Ionen ist im ZNS unabdingbar, weil neuronale Aktivität mit großen Nettoionenströmen einhergeht. So verlässt während des Aktionspotenzials K+ die Neurone und Na+ wird aufgenommen (Kap. 4). Da das interstitielle Volumen im ZNS sehr klein ist, würden dort erhebliche Änderungen der extrazellulären Ionenkonzentrationen auftreten, wenn nicht geeignete Transportsysteme der Gliazellen für den Ausgleich sorgen würden. In Phasen der Ruhe kehrt sich die Transportrichtung um, und der Ausgangszustand wird wiederhergestellt. Darüber hinaus weiß man inzwischen, dass Gliazellen auch Neurotransmitter aufnehmen und metabolisieren sowie Rezeptoren für Neurotransmitter besitzen. Diese sind womöglich Teil eines Mechanismus, um die Funktion der Gliazellen auf die der umgebenden Neurone abzustimmen (S. 614 f.).

Zum Weiterlesen … 1 Alberts B, Johnson A, Lewis J, Raff M, Roberts K, Walter P. Molekularbiologie der Zelle, 4. Aufl. Weinheim: WileyVCH, 2004 2 Greger R, Windhorst U. Comprehensive Human Physiology. From Cellular Mechanisms to Integration. Berlin: Springer, 1996 3 Lodish H, Berk A, Matsudaira P, Kaiser CA, Krieger M, Scott MP, Zipursky SL, Darnell J. Molecular Cell Biology. 5th ed. New York: WH Freeman & Co; 2004 4 Wills N, Reuss L, Lewis SA (eds.). Epithelial Transport. London: Chapman & Hall; 1996

… und noch weiter 5 Anderson JM. Molecular structure of tight junctions and their role in epithelial transport. News Physiol Sci. 2001; 16: 126 – 130 6 Cereijido M, Valdes J, Shoshani L, Contreras RG. Role of tight junctions in establishing and maintaining cell polarity. Annu Rev Physiol. 1998; 60: 161 – 177 7 Claude P. Morphological factors influencing transepithelial permeability: a model for the resistance of the zonula occludens. J Membr Biol. 1978; 39: 219 – 232 8 Claude P, Goodenough DA. Fracture faces of zonulae occludentes from “tight” and “leaky” epithelia. J Cell Biol. 1973; 58: 390 – 400 9 Farquhar MG, Palade GE. Junctional complexes in various epithelia. J Cell Biol. 1963; 17: 375 – 412 10 Frömter E, Diamond J. Route of passive ion permeation in epithelia. Nat New Biol. 1972; 235: 9 – 13 11 Frömter E, Rumrich G, Ullrich KJ. Phenomenologic description of Na+, Cl– and HCO3– absorption from proximal tubules of the rat kidney. Pflügers Arch. 1973; 343: 189 – 220 12 Furchgott RF, Zawadzki JV. The obligatory role of endothelial cells in the relaxation of arterial smooth muscle by acetylcholine. Nature. 1980; 288: 373 – 376 13 Furuse M, Fujimoto K, Sato N, Hirase T, Tsukita S, Tsukita S. Overexpression of occludin, a tight junction-associated integral membrane protein, induces the formation of intracellular multilamellar bodies bearing tight junction-like structures. J Cell Science. 1996; 109: 429 – 435 14 Guthrie SC, Gilula NB. Gap junctional communication and development. TINS. 1989; 12: 12 – 16 15 Kolb HA, Somogyi R. Biochemical and biophysical analysis of cell-to-cell channels and regulation of gap junctional permeability. Rev Physiol Bioch Pharmacol. 1991; 118: 1 – 47 16 Lüscher TF, Boulanger CM, Dohi Y, Yang Z. Endotheliumderived contracting factors. Hypertension. 1992; 19: 117 – 130 17 Matter K, Mellman I. Mechanisms of cell polarity: Sorting and transport in epithelial cells. Curr Biol. 1994; 6: 545 – 554 18 Mears D, Sheppard NF, Atwater I, Rojas E. Magnitude and modulation of pancreatic β-cell gap junction electrical conductance. J Membr Biol. 1995; 146: 163 – 176 19 Morita K, Furuse M, Fujimoto K, Tsukita S. Claudin multigene family encoding four-transmembrane domain protein components of tight junction strands. Proc Natl Acad Sci USA. 1999; 96: 511 – 516 20 Schneeberger EE, Lynch RD. The tight junction: a multifunctional complex. Am J Physiol. 2004; 286: C1213 – 1228

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62

3 Von der Zelle zum Organ 21 Schultz SG, Hudson RL. How do sodium-absorbing cells do their job and survive. News Physiol Sci. 1986; 1: 185 – 188 22 Silbernagl S, Despopoulos A. Taschenatlas der Physiologie. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2003 23 Simon DB, Lu Y, Choate KA, Velazquez H, Al-Sabban E, Praga M, Casari G, Bettinelli A, Colussi G, RodriguezSoriano J, McCredie D, Milford D, Sanjad S, Lifton RP. Paracellin-1, a renal tight junction protein required for paracellular Mg2+ resorption. Science. 1999; 285: 103 – 106

24 Simons K, Wandinger-Ness A. Polarized sorting in epithelia. Cell. 1990; 62: 207 – 210 25 Spring KR. Routes and mechanism of fluid transport by epithelia. Annu Rev Physiol. 1998; 60: 105 – 119 26 Veenstra RD, DeHaan RL. Measurement of single channel currents from cardiac gap junctions. Science. 1986; 233: 972 – 974

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63

Membranpotenzial A. Karschin, R. Greger

4.1

Der Zusammenbruch des Membranpotenzials ist lebensbedrohlich ··· 64

4.2

Wozu ein Membranpotenzial?

4.3

Das Ruhemembranpotenzial ··· 64 Das K+-Nernst-Potenzial dominiert das Ruhepotenzial ··· 64 Goldman-Hodgkin-Katz-Gleichung zur besseren Beschreibung der Realität · · · 65 Die molekularen Korrelate der Ruheleitfähigkeit ··· 66

···

64

4.4

Aktionspotenziale · ·· 67 Eigenschaften des Aktionspotenzials · ·· 67 Verschiedene Ionenleitfähigkeiten bestimmen den Aktionspotenzialverlauf · · · 68 Die Arbeitsweise einzelner spannungsabhängiger Ionenkanäle ··· 69 Spannungsabhängige Ionenkanäle bilden eine Proteinfamilie · ·· 70 Ionenkanäle sind selektiv permeabel · · · 72 Spannungssensoren messen die Membranspannung ··· 72 Öffnen und Schließen der Kanäle ··· 74 Das Öffnen und Schließen der Kanäle ist modulierbar · · · 75 Das Zusammenspiel der verschiedenen Ionenkanäle beim Aktionspotenzial ··· 76 Unterschiedlicher Aktionspotenzialverlauf in erregbaren Zellen · · · 77 Aktionspotenzialmuster in Nervenzellen des Zentralnervensystems · ·· 78

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4 Membranpotenzial

4.1

Der Zusammenbruch des Membranpotenzials ist lebensbedrohlich

Ein älterer Patient wird auf der Intensivstation zur akuten Stabilisierung seines Elektrolyt- und Wasserhaushaltes über einen zentralen Venenkatheter dauerversorgt. Wegen einer Harnwegsinfektion soll ein Antibiotikum verabreicht werden, das vom Intensivpfleger statt in aqua dest. oder physiologischer Kochsalzlösung (0,9 %ige NaCl-Lösung) irrtümlicherweise in einer 20 ml Ampulle KCl-Lösung (25 mmol/l) gelöst und schnell intravenös zugeführt wird. Noch während der Infusion erleidet der Patient einen Herzstillstand und verstirbt. Obwohl solche Todesfälle sehr selten sind, sind die klinischen Risiken im Umgang mit intravenös appliziertem KCl bekannt, insbesondere, wenn es zu schnell oder in zu hohen Dosen verabreicht wird (therapeutischer Einsatz z. B. bei starker Hypokaliämie). Daher sind von den Gesundheitsämtern Strategien vorgeschrieben, um eine fehlerhafte Anwendung auch in der Hektik der Notfallmedizin unbedingt zu vermeiden: KCl-Lösungen sollen stark verdünnt, getrennt gelagert und als Lösung oder auf dem Etikett farbkodiert (dunkelgrün/blau) sein. Wenn man versteht, wie das negative, zelluläre Ruhepotenzial entsteht und wie es von der selektiven Membranpermeabilität für K+-Ionen dominiert wird, lässt sich erklären, warum das Herz des Patienten zu schlagen aufhörte: Durch einen plötzlichen Anstieg der extrazellulären K+-Konzentrationen bricht das Membranpotenzial der Zellen zusammen. Dies betrifft auch die kardialen Muskelzellen. Sie verlieren ihre Fähigkeit, weiterhin die Impulse zu bilden, die zur Kontraktion des Herzens führen.

4.2

Wozu ein Membranpotenzial?

Das Membranpotenzial und seine Änderung dient der Nachrichtenübermittlung im Nervensystem sowie der Auslösung der Muskelkontraktion und steuert eine Vielzahl von Zellfunktionen. Im gesamten Nervensystem werden Botschaften rasch und zum Teil über lange Strecken elektrisch vermittelt. Durch elektrische Vorgänge wird die Muskelkontraktion ausgelöst, und elektrische Vorgänge beeinflussen direkt auch die Funktion von Epithelzellen. Es hat sich trotzdem eingebürgert, von erregbaren und nicht erregbaren Zellen zu sprechen. Als erregbare Zellen sind dabei ausschließlich jene definiert, die auf eine initiale Depolarisation (Senkung des Membranpotenzials auf einen weniger negativen Wert) mit Aktionspotenzialen (also mit raschen, monoton ablaufenden Depolarisationen) antworten können. Im Folgenden wird auf die Entstehung des Membranpotenzials, dann auf das sog. Ruhemembranpotenzial und schließlich auf das Aktionspotenzial eingegangen.

4.3

Das Ruhemembranpotenzial

Die Zellmembranen der meisten Zellen unseres Körpers enthalten K+-Kanäle, die dauerhaft geöffnet sind. Da die K+-Konzentration im Zytosol durch Aktivität der Na+K+-Pumpe etwa 30-mal größer ist als im Extrazellulärraum, entsteht ein im Zytosol negatives Membranpotenzial nahe des K+-Gleichgewichtspotenzials. Oft weist das gemessene Membranpotenzial jedoch etwas weniger negative Werte auf als nach der Nernst-Gleichung für K+-Ionen zu errechnen wäre. Dies wird dadurch verursacht, dass die Membran nicht nur K+-Ionen leitet, sondern teilweise auch für Na+-Ionen permeabel sein kann. Der Beitrag der relativen Permeabilitäten aller Ionen wird quantitativ mit der Goldman-Hodgkin-KatzGleichung erfasst.

Das K+-Nernst-Potenzial dominiert das Ruhepotenzial In Kap. 2 wurde besprochen, wie durch die Aktion ATPgetriebener Ionenpumpen in der Membran (z. B. Na+K+-ATPase) Konzentrationsgradienten wichtiger Ionen wie Na+, K+, Ca2+ oder Cl– zwischen Intra- und Extrazellulärraum aufgebaut werden (Tab. 2.1, S. 15). Diese mit Energieaufwand etablierten Ionenkonzentrationsgradienten stellen somit die erste treibende „Kraft“ für die nachfolgenden Ionenbewegungen über die Membran dar („Kraft“ ist hier nicht im physikalischen Sinn verwendet). Aus den Gesetzmäßigkeiten der Diffusion ergibt sich, dass Ionen entlang dieser Konzentrationsgradienten fließen, wenn ihnen ein Passageweg durch die lipophile Phospholipidmembran, z. B. ein Ionenkanal, zur Verfügung steht (und der Diffusion noch kein Membranpotenzial entgegenwirkt). Im Falle der im Zytosol konzentrierteren K+-Ionen (ca. 120 mmol/l) bedeutet dies einen Netto-K+-Auswärtsstrom, der mit dem Verlust positiver Ladung im Zytosol, d. h. dem Aufbau eines negativen intrazellulären Potenzials einhergeht. K+-Ionen fließen nun solange über die Membran, bis die Triebkräfte der elektrostatischen Anziehung und die chemischen Diffusionskräfte sich gerade ausbalancieren. Der Wert dieses negativen Potenzials, bei dem kein Nettostrom von K+ existiert (K+-Ionen stehen „im Äquilibrium“), wird als K+Äquilibriums-, K+-Gleichgewichts- oder K+-Nernst-Potenzial (EK) bezeichnet. Auf Na+-Ionen bezogen, die im Interstitium höher konzentiert (ca. 145 mmol/l) sind als im Zytosol (ca. 15 mmol/l), bedeutet dies, dass durch Na+Einstrom über permanent offene Na+-selektive Ionenkanäle ein positives Na+-Gleichgewichtspotenzial (ENa) aufgebaut werden würde. Generell wird an einer Phospholipidmembran mit offenen Ionenkanälen für eine Ionenspezies (selektive Permeabilität, s. unten) immer das Potenzial erzeugt, das dem Konzentrationsgradienten dieses Ions über die Membran entspricht (ci, ca = Ionenkonzentrationen innen bzw. außen). Quantitativ lässt sich dieser Vorgang für jedes Ion nach den Prinzipien der Physikalischen Chemie durch die Nernst-Gleichung beschreiben (s. S. 25):

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4.3 Das Ruhemembranpotenzial EIon =

2,303 

RT c  log i [mV] zF ca

(4.1)

Man sieht, dass in der Gleichung die Ladung des Ions (z), die absolute Temperatur (T) und der dekadische Logarithmus (log) der Konzentrationsverhältnisse des Ions als veränderliche Parameter enthalten sind, nicht jedoch wie gut die Membran das Ion leitet. Bei Körpertemperatur (37 8C) vereinfacht sich die Nernst-Gleichung wie folgt: EIon =

61 c  log i [mV] z ca

(4.2)

Ist eine Membran nur für K+-Ionen permeabel, wie dies bei vielen Zellen in Ruhe der Fall ist, errechnet sich bei einem typischen K+-Konzentrationsverhältnis von ci/ca (120 mmol/l)/(4 mmol/l) ein Membranpotenzial von – 90 mV. Für ein besseres Verständnis des Membranpotenzials sollte man sich folgende Punkte vor Augen führen: – Die Erhaltung des Gleichgewichtspotenzials kostet keine Energie, wohl aber der Aufbau und die Wiederherstellung der ionalen Konzentrationsunterschiede, z. B. durch die kontinuierlich arbeitende Na+-K+-ATPase, in Ruhe bzw. nach elektrischer Aktivität. – Die negative Ladung ist vorwiegend an der Innenseite der Phospholipidmembran lokalisiert und nicht auf das gesamte Zytosol verteilt, d. h., die Elektroneutralität im Zellinneren (Anzahl der Kationen = Anzahl der Anionen) ist nicht merklich gestört. Die Funktion der Membran als Ladungsspeicher wird durch die Membrankapazität (ca. 1 µF/cm2) beschrieben. Sie induziert bei jeder Membranumladung wegen ihrer geringen Größe nur einen kurzen kapazitiven Stromfluss. – Die Veränderung der Ionenkonzentrationen in beiden Kompartimenten bei der Neueinstellung des Membranpotenzials ist sehr gering. In der Regel ändert sich zum Erreichen des K+-Gleichgewichtspotenzials die innere K+-Konzentration nur um wenige µmol, um kurze Zeit später wieder ausgeglichen zu werden. Bei exzessiver elektrischer Aktivität, z. B. im ZNS während epileptischer Anfälle können jedoch auch kurzfristig Ionenverschiebungen im mmol-Bereich auftreten. – Ob und wie viel Ionenstrom über die Membran fließt, ist davon abhängig, wie weit das Membranpotenzial der Zelle (Em) vom Gleichgewichtspotenzial des wandernden Ions (EIon) zum jeweiligen Zeitpunkt entfernt ist. Diese Differenz (Em – EIon) wird als elektrische Trieb„kraft“ bezeichnet. Für K+-Ionen ist diese Triebkraft bei einem realen Membranpotenzial von Em = – 75 mV mit 15 mV relativ klein (EK = – 90 mV), bei der Membranumladung während des Aktionspotenzials mit > 90 mV aber sehr groß. Der K+-Strom fließt nur so lange, bis diese Differenz ausgeglichen ist und zwar abhängig von der Zahl der verfügbaren K+-Kanäle (d. h. der elektrischen Leitfähigkeit gK, Einheit S · cm–2, entspricht 1/Widerstand). Allgemein berechnet sich der Stromfluss nach dem Ohm-Gesetz IIon = gIon  ðEm

EIon Þ ½A  cm 2 Š

(4.3)

und beträgt daher Null wenn die Triebkraft der Ionenbewegung (am Gleichgewichtspotenzial) oder die Leit-

fähigkeit (keine funktionsfähigen Kanäle) Null ist. Beim normalen Ruhepotenzial ist für K+-Ionen die Triebkraft gering und die Leitfähigkeit groß, für Na+Ionen sind die Verhältnisse umgekehrt.

Goldman-Hodgkin-Katz-Gleichung zur besseren Beschreibung der Realität An den meisten Zellen unseres Körpers wird in Ruhe ein Membranpotenzial Em gemessen, das dem K+-Gleichgewichtspotenzial (EK) nahe kommt. Das aktuelle Membranpotenzial kann durch Einstechen einer Mikroelektrode gemessen werden, die typischerweise aus einer Metalldrahtspitze in einer sehr fein ausgezogenen und mit Salzlösung gefüllten Glaskapillare (Spitzendurchmesser 0,1 – 0,5 µm) besteht. In Abb. 4.1 ist eine Messanordnung zur Ableitung des Membranpotenzials an einer isolierten Nervenzelle gezeigt, bei der die Referenzelektrode in der Badlösung liegt (entspricht dem Extrazellulärraum) und zwischen den Elektroden ein Spannungsmessgerät mit einem hohen Innenwiderstand (zur Vermeidung eines Kurzschlusses) geschaltet ist. In diesem Experiment wird ein Potenzial von – 75 mV gemessen, wenn die Außenlösung eine K+-Konzentration von 4 mmol/l aufweist. Der gemessene Wert weicht um – 15 mV vom errechneten K+-Nernst-Potenzial von – 90 mV ab. Um zu testen, wie die Differenz von 15 mV zustande kommt, prüft man, ob sich das gemessene Potenzial wirklich wie ein Nernst-Potenzial verhält. Wenn man schrittweise die extrazelluläre K+-Konzentration erhöht und die entsprechenden Potenzialantworten misst, so wird deutlich, dass nur bei hohen K+-Konzentrationen die Vorhersagen der Nernst-Beziehung gut erfüllt werden, bei niedrigem K+ jedoch zu positiveren Werten abweichen. Offensichtlich ist die Zellmembran nicht ausschließlich für K+-Ionen durchlässig, sondern weist auch eine geringe Permeabilität (P) für andere Ionen, vorwiegend für die in hoher Konzentration vorkommenden Na+- und Cl–-Ionen auf. Wenn wir uns vorstellen, die Membran wäre gleichermaßen durchlässig für K+- und Na+-Ionen (ENa = ca. + 60 mV), dann wäre zu erwarten, dass das Membranpotenzial bei ca. – 15 mV, d. h. genau zwischen den beiden Gleichgewichtspotenzialen liegen würde. Da das Membranpotenzial aber viel näher bei EK als bei ENa liegt, ist die Membran offensichtlich für Na+-Ionen weit weniger permeabel als für K+-Ionen.

Der quantitative Zusammenhang, der die relative Permeabilität der Membran für verschiedene Ionen berücksichtigt, wird als Goldman-Hodgkin-Katz-Gleichung (GHK) bezeichnet: Em =

RT PKþ  ½Kþ Ša þ PNaþ  ½Naþ Ša þ PCl  ½Cl Ši  ln F PKþ  ½Kþ Ši þ PNaþ  ½Naþ Ši þ PCl  ½Cl Ša (4.4a)

Setzen wir wie bei der Nernst-Gleichung die Werte von R (8,314 J · K–1 · mol–1), F (9,65 · 104 A · s · mol–1) und T (310 K) ein und wandeln den natürlichen (ln) in den dekadischen Logarithmus (log) um, so ergibt sich:

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65

4 Membranpotenzial +

K -Konzentration im Bad

A Messanordnung

(mmol/l)

4

20

4

Registrierung 0

Messelektrode

–20

C Auswertung 0

– 40

– 60

– 80 Referenzelektrode Bad

Einstich

0

10

20

30

Zeit (s) B Originalregistrierung

Membranpotenzial (mV)

Messgerät

Membranpotenzial (mV)

66

–20 –40 Messwerte –60 –80

–120

Zelle

61  log

PKþ  ½Kþ Ši þ PNaþ  ½Naþ Ši þ PCl  ½Cl Ša ½mVŠ PKþ  ½Kþ Ša þ PNaþ  ½Naþ Ša þ PCl  ½Cl Ši (4.4b)

Die Gleichung wurde aus der Nernst-Beziehung unter der idealisierten Voraussetzung abgeleitet, dass das elektrische Feld über die Membran konstant abfällt (daher wird die GHK auch Constant-Field-Gleichung genannt). In der dargestellten Form berücksichtigt die Gleichung nur drei Ionen, sie könnte aber um beliebig viele andere einwertige Ionen in analoger Weise erweitert werden. Die PWerte [cm/s] stellen hierbei konzentrationsunabhängig die selektive Permeabilität, eine Konstante nach dem Fick’schen Diffusionsgesetz, für die einzelnen Ionen durch spezifische Ionenkanäle dar (Kap. 2, S. 22). Wir merken uns, dass die Permeabilität (P) der Leitfähigkeit (g) der Membran proportional und von der mittleren Ionenkonzentration c in der Membran unabhängig ist: P=

gRT ½m  s 1 Š z2  F2  c

1

3

5

+

10

30 50 100

[K ]Bad (mmol/l)

Abb. 4.1 Messung des Zellmembranpotenzials. A zeigt die Messanordnung, bestehend aus dem Bad, einer kultivierten Nervenzelle, einer Mikroelektrode und einer Referenzelektrode sowie dem hochohmigen Messgerät. B zeigt eine Originalaufzeichnung. Der Pfeil markiert den Einstich in die Zelle. Das jetzt angezeigte Potenzial (Em) stabilisiert sich auf Werte um – 75 mV. Oberhalb der Registrierung ist die jeweilige K+-Konzentration in der Badlösung in mmol/l angegeben. Die Erhöhung der K+-Konzentration von 4 auf 20 mmol/l führt zu einer Depolarisation um ca. 20 mV. Bei Rückkehr zur

Em =

Nernst-Beziehung + für [K ]

–100

(4.5)

Die Bedeutung der GHK-Gleichung lässt sich am besten durch praktische Beispiele veranschaulichen. Nehmen wir an, dass die Zelle in Abb. 4.1 eine dominierende K+-Permeabilität (PK = 10–7 cm/s) aufweist und dass PNa+ 500-mal und PCl– 10-mal kleiner ist. Für diesen Fall errechnet man eine Kurve, die sich optimal an die Messdaten anpasst (Abb. 4.1 C). Wenn man eine

Ausgangskonzentration (4 mmol/l) repolarisiert die Zelle auf – 75 mV. C zeigt die Abhängigkeit des Membranpotenzials von den experimentell getesteten unterschiedlichen K+-Konzentrationen im Bad. Die Messpunkte sind mit einer roten Kurve verbunden. Die gestrichelte Gerade zeigt zum Vergleich die Nernst-Beziehung für [K+]. Die Abweichung kommt dadurch zustande, dass bei niedrigen extrazellulären K+-Konzentrationen eine in der Realität geringfügige Na+Permeabilität das tatsächliche Membranpotenzial maßgeblich zu positiveren Potenzialen verschieben kann.

strikt K+-selektive Membran annimmt, entfallen die letzten beiden Teile der GHK-Gleichung, und wir erhalten wieder die Nernst-Beziehung. Es ist davon auszugehen, dass PK+, PNa+ und PCl– keineswegs immer konstant sind, sondern als Funktion z. B. der Messzeit variieren. Dann müssen wir für jeden Messzeitpunkt die aktuellen PK+-, PNa+- und PCl–-Werte einsetzen, um das aktuelle Membranpotenzial errechnen zu können.

Die molekularen Korrelate der Ruheleitfähigkeit Die K+-Leitfähigkeiten, die beim Ruhepotenzial die wichtigste Rolle spielen (und damit erregbare Zellen von der Erregungsschwelle entfernt halten), werden als K+-selektive Hintergrundleitfähigkeiten bezeichnet. Verantwortlich dafür sind hauptsächlich die am Ruhepotenzial dauerhaft geöffneten K+-Tandemporenkanäle (K2P) und einwärts gleichrichtende K+-Kanäle (KIR), deren einfache, charakteristische Strukturen in Abb. 4.4 C u. D dargestellt sind. Ihre Aktivität ist nicht so strikt vom Membranpotenzial abhängig wie dies für spannungsabhängige K+Kanäle vom Kv-Typ der Fall ist. Eine besonders hohe Dichte dieser Kanäle in der Membran wird erforderlich, wenn es sinnvoll ist, das Ruhepotenzial von Nerven- oder Muskelzellen so zu stabilisieren, dass sie vor ungewollter, spontaner Erregung durch synaptische Kontakte oder Nachbarzellen geschützt sind. Ein bekanntes Beispiel

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4.4 Aktionspotenziale stellt die hohe K+-Ruheleitfähigkeit der Muskelzellen im Arbeitsmyokard dar, die durch KIR-Kanäle dominiert wird und im Herzen einer unkoordinierten, arrhythmischen Erregungsausbreitung vorbeugt. Welche Folgen eine künstlich eingeleitete Stabilisierung des Ruhepotenzials von Neuronen im ZNS hat, wird bei der Einleitung und Aufrechterhaltung einer Inhalationnarkose sehr anschaulich demonstriert. Generell stellt die Aktivierung von K+-Kanälen einen idealen Mechanismus dar, Neurone durch K+-Ausstrom zu hyperpolarisieren, und damit ihre Aktivität im neuralen Netzwerk zu dämpfen. Neuere molekularphysiologische Untersuchungen haben gezeigt, dass geringe Konzentrationen verschiedener Inhalationsnarkotika, z. B. Chloroform, Isofluran oder Halothan, die Offenwahrscheinlichkeit einiger K2P-Kanäle stark erhöhen und damit die Bereitschaft der Nervenzellen reduzieren, Aktionspotenziale zu generieren (19). Aus der hohen K2P-Kanalexpression in einzelnen Neuronenpopulationen im Gehirn wird so das komplexe Wirkprofil dieser Narkotika verständlicher. Man vermutet, dass z. B. die K2P-Aktivierung in den Motoneuronen von Hirnstamm und Rückenmark sowie in Raphé-Neuronen immobilisierend und sedativ wirkt. Eine Kanalaktivierung in Zellen des Locus coeruleus vermittelt eher die analgetische und hypnotische Komponente der Narkose. Andererseits spiegelt die Blockade des sensorischen Informationsflusses und der Bewusstseinsverlust während der Narkose die Ruhigstellung sensorischer Neurone im Spinalganglion wider. Sind die K+-Ruheleitfähigkeiten relativ klein, kann sich das Ruhepotenzial durch depolarisierende Kationenleckströme (Na+ oder Ca2+) u. U. um 20 – 30 mV vom K+Gleichgewichtspotenzial entfernen. So wird im Dunkeln das Potenzial von Photorezeptoren in der Netzhaut unter dem Einfluss von nichtselektiven Kationenkanälen (CNGTyp; Abb. 4.4 B 3) depolarisiert, deren Aktivität vom zytosolischen Konzentrationsniveau der zyklischen Nukleotide cGMP und cAMP abhängt (CNG: cyclic nucleotidegated) (Abb. 23.9 A, S. 694). Eine andere Gruppe Nukleotid-gesteuerter Kationenkanäle (HCN-Typ, Abb. 4.4 B 3) ist verantwortlich für die Schrittmachercharakteristik z. B. in Stammhirnneuronen (Abb. 4.10 D, S. 77) oder Zellen des Erregungsleitungssystems im Herzen (S. 153). Schrittmacherzellen besitzen kein echtes Ruhepotenzial, sondern nähern sich unter dem depolarisierenden Einfluss der Ströme durch HCN-Kanäle (Ih oder If), die bei negativen Membranpotenzialen aktiv sind (HCN: hyperpolarization- and cyclic nucleotide-gated), wiederholt spontan der Erregungsschwelle für die Auslösung eines neuen Aktionspotenzials (langsames diastolisches Potenzial, S. 153). Einen anderen Sonderfall stellen Epithel- und Muskelzellen dar, bei denen Cl–-Leitfähigkeiten mit 70 – 80 % der Gesamtruheleitfähigkeit für die Regulation des Zellvolumens, für Sekretionsprozesse bzw. für den Schutz vor Übererregung eine wichtige Rolle spielen.

Die Bedeutung der Cl–-Leitfähigkeit zur Stabilisierung des Skelettmuskelpotenzials, wird besonders bei verschiedenen vererbten Skelettmuskelerkrankungen offenkundig. So sind Mutationen im CLCN1-Gen des muskulären Cl–-Kanals für zwei Muskelerkrankungen, die dominante Thomsen- und die rezessiv vererbte Becker-Myotonie (Myotonia congenita), verantwortlich (20). Hier kommt es infolge der bis heute mehr als 40 beschriebenen Gendefekte zu einer abnormen Verminderung der Cl–-Leitfähigkeit. Dies geht mit einer Übererregbarkeit der Muskelfasermembran einher, die sich in Spontanentladungen des Muskels, auch nach Ende der Aktivierung durch das Motoneuron, äußern kann. In der klinischen Diagnostik lassen sich bei den Erkrankten durch Beklopfen des Muskels repetitive Entladungsserien im Elektromyogramm hervorrufen. Symptomatisch fällt bei den betroffenen Patienten neben einer allgemeinen Muskelschwäche auf, dass die Muskulatur zu Beginn einer Willkürbewegung sich auffallend leicht versteift und krampft, was sich durch Wiederholung der Bewegung verbessert („Warm-upPhänomen“).

4.4

Aktionspotenziale

Erregbare Nerven- und Muskelzellmembranen reagieren auf eine Vordepolarisation, wenn diese einen bestimmten Schwellenwert erreicht, mit monotonen Potenzialantworten, den Aktionspotenzialen. Diese bestehen in der Regel aus drei Phasen: rasche Depolarisation und Potenzialumkehr, langsame Repolarisation und Nachhyperpolarisation. Der Kurvenverlauf kommt dadurch zustande, dass sich in der erregbaren Membran zeit- und potenzialabhängig die Ionenleitfähigkeiten ändern. In Ruhe dominiert die K+-Leitfähigkeit. Bei Depolarisation und, stark vermehrt, bei Erreichen der Schwelle öffnen sich Na+-Kanäle. Dadurch kommt es zur raschen Depolarisation und Potenzialumkehr. Diese Na+-Kanäle gehen nach sehr kurzer Zeit in einen inaktiven Zustand über. Deshalb kommt es zur Repolarisation der Membran. Ein weiterer Grund für die Repolarisation und vor allem für die Nachhyperpolarisation ist die (etwas verzögerte) Zunahme der K+-Leitfähigkeit. Aktionspotenziale gehorchen dem Alles-oder-Nichts-Gesetz, d. h., sie treten nur mit obigem programmhaften Ablauf auf.

Eigenschaften des Aktionspotenzials Sticht man eine Mikroelektrode in eine Nerven- oder Skelettmuskelzelle ein, wie in der Versuchsanordnung für die Messung von Ruhepotenzialen gezeigt (Abb. 4.1), lässt sich bei Erregung, z. B. durch einen kurzen depolarisierenden Strompuls, der Verlauf von Aktionspotenzialen auf einem Oszilloskop darstellen (Abb. 4.2). Wenn das Membranpotenzial gegen die Zeit aufgetragen wird, kann man im Potenzialverlauf bestimmte, wiederkehrende Teile identifizieren. Typischerweise kommt es vom Ruhemembranpotenzial nach einer gewissen Vordepolarisation, die die Erregungsschwelle erreicht, zu einer raschen Depolarisation (Aufstrich) auf positive Potenzialwerte von ca. + 20 bis + 40 mV (Potenzialumkehr, „Over-

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4 Membranpotenzial nach dem „Alles-oder-Nichts-Gesetz“ ausgelöst. Entweder kommt es also zur Auslösung von Aktionspotenzialen, dann haben sie in etwa den hier gezeigten Verlauf, oder sie unterbleiben ganz. Das Gesetz schließt jedoch nicht aus, dass Form und Größe des Aktionspotenzials in unterschiedlichen, erregbaren Zellen variieren können (Abb. 4.9). Die elektrischen Vorgänge an der Nervenzelle, die mit dem Aktionspotenzial verknüpft sind, wurden von Hodgkin u. Huxley (9) um 1950 mit Akribie an Riesenaxonen (ca. 1 mm Durchmesser) des Tintenfisches untersucht (Abb. 1.2, S. 5) und quantitativ treffend beschrieben. Inzwischen lassen sich stabile intrazelluläre Ableitungen mit Glasmikroelektroden auch an kleinen Säugerneuronen (10 – 30 µm Durchmesser) und deren Fasern durchführen. Sie demonstrieren, dass vieles, was zuvor in Invertebraten gemessen wurde, auch direkt auf den Menschen übertragbar ist.

A Aktionspotenzialverlauf in einer Nervenzelle Strompuls

20

„Overshoot“

Potenzialumkehr

0

Repolarisation

Membranpotenzial Em (mV)

68

–20

– 40

rasche Depolarisation Nachhyperpolarisation

– 60

Verschiedene Ionenleitfähigkeiten bestimmen den Aktionspotenzialverlauf

– 80

–100

0

5

10

Zeit (ms) B fortgesetzte Strominjektion Ableitungselektrode Strominjektion

Registrierung

Reiz 0

Aktionspotenziale

Abb. 4.2 Typischer Aktionspotenzialverlauf in einer Nervenzelle bei hoher zeitlicher Auflösung. A Das Aktionspotenzial wird durch einen kurzen Strompuls z. B. über eine Reizelektrode ausgelöst und über eine Ableitelektrode registriert. Es beginnt mit einer raschen Depolarisation bis zur Potenzialumkehr („Overshoot“). Dann schließt sich die Repolarisation an, die schließlich in eine längerdauernde Nachhyperpolarisation übergeht. B Fortgesetzte Strominjektion führt in der Nervenzelle zu einer anhaltenden Salve gleichförmiger Aktionspotenziale.

shoot“). Im Anschluss daran kehrt das Potenzial rasch, innerhalb 1 – 2 ms, wieder zum Ausgangswert zurück oder sinkt sogar kurzfristig unter diesen ab (Nachhyperpolarisation, „undershoot“; Unterschied zum Herzmuskel Abb. 4.9). Die Aktionspotenzialform ist monoton, d. h., wenn für eine bestimmte Zellart einmal der Schwellenwert erreicht wird, läuft das Aktionspotenzial immer nach dem gleichen „Programm“ ab. Dies wird deutlich wenn man kontinuierlich depolarisierenden Strom in die Nervenzelle injiziert, und die Zelle darauf mit einer Serie von Aktionspotenzialen antwortet (Abb. 4.2 B). Die Aktionspotenziale werden auf eine solche Dauerreizung

Um zu verdeutlichen, dass Aktionspotenziale durch eine stereotyp verlaufende Sequenz von Ionenbewegungen, d. h. durch Umverteilung elektrischer Ladung über die Membran, charakterisiert sind, schalten wir in einem Gedankenexperiment die Leitfähigkeiten für die einzelnen Ionen willkürlich an und aus. Am Ruhepotenzial, wenn also die K+-Leitfähigkeit dominiert, stabilisiert sich das Membranpotenzial Em beim K+-Gleichgewichtspotenzial von – 90 mV (Em = EK), d. h. die Triebkraft für K+-Ionen und der Stromfluss IK = gK (Em-EK) sind Null. In diesem Moment ist die elektrochemische Triebkraft für Na+Ionen jedoch sehr groß (Em – ENa = – 90 – [+ 60] = – 150 mV). Werden jetzt schlagartig viele Na+-Kanäle geöffnet (wie dies durch Strominjektion über die Mikroelektrode geschieht), so strömen Na+-Ionen „explosionsartig“ solange in die Zelle, bis sich das Membranpotenzial umpolarisiert und sich an ENa annähert. Um die abfallende Phase des Aktionspotenziales zu simulieren, genügt es jetzt, die Na+-Leitfähigkeit schnell wieder zu vermindern und die K+-Kanäle geöffnet zu halten, damit die dominante Ionenleitfähigkeit wieder von Na+ auf K+ zurückwechselt. Der K+-Ausstrom aus der Zelle repolarisiert dann das Aktionspotenzial unterschiedlich schnell, je nachdem, wie viele K+-Kanäle zur Verfügung stehen. Welche Leitfähigkeiten in einem Neuron den zeitlichen Verlauf des Aktionspotenziales tatsächlich bestimmen, lässt sich im Experiment durch Strommessung mit der von Hodgkin und Huxley benutzten Spannungsklemm-(Voltage-Clamp-)Apparatur (Abb. 4.3) bestimmen. Wird mit dieser Anordnung das Potenzial vom Ruhewert auf einen beliebigen depolarisierten Wert (z. B. – 15 mV) „geklemmt“, kommt es zu einer komplexen Stromkurve. Initial wird ein Einwärtsstrom beobachtet, der dann in einen anhaltenden Auswärtsstrom übergeht. Durch Austausch der am Stromfluss beteiligten Ionen bzw. spezifische Blockade der selektiven Ionenkanäle lassen sich die einzelnen Komponenten der Stromkurve leicht differenzieren. So kann man z. B. Na+ in der Außenlösung entfernen und durch ein großes impermeables Kation ersetzen. Die Stromkurve, die man unter dieser Bedingung erhält, weist jetzt keine rasche negative Stromkomponente mehr auf, sondern zeigt lediglich die langsame positive Komponente. Daraus ist zu folgern, dass die rasche negative Stromkomponente (Einwärtsstrom) durch den Einstrom von Na+ verursacht wird.

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Spannungsklemme

Em (mV)

4.4 Aktionspotenziale 0

Spannungsverlauf

– 40

1 – 80

Em 2

I (mA /cm )

2

Spannungsmessgerät

Ec Rückkopplungsverstärker

Gesamtstrom

1

Auswärtsstrom

0 –1

Einwärtsstrom

2

–2 2

I (mA /cm )

2 Strommessgerät

1

+

K -Stromanteil

–1

Tetrodotoxin

+

Na -Kanäle blockiert

0

3

–2 2

I (mA /cm )

Bad Axon

A

B

2 1

+

Na -Stromanteil

0 –1 –2

+

K -Kanäle blockiert

Tetraethylammonium

4 0

2

4

6

8

10

Zeit (ms)

Abb. 4.3 Ionenstromanalyse in einem Neuron mit der Spannungsklemme. A zeigt schematisch die Apparatur. Die transmembranale Spannung (Em) wird mit dem Voltmeter durch zwei Elektroden gemessen, von denen sich eine in der Nervenzelle und die andere im Bad befindet. Das Spannungssignal wird in einen Eingang eines Rückkopplungsverstärkers geleitet und dort mit einer vorgegebenen Testspannung (Ec) verglichen. Weichen Em und Ec voneinander ab, produziert der Verstärker einen Ausgangsstrom (I, messbar über das Strommessgerät), der über die Stromelektrode wieder in die

Eine ganz ähnliche Kurve erhält man durch Applikation von Tetrodotoxin (TTX), dem Gift des japanischen Kugelfisches, das die Na+-Leitfähigkeit in sehr geringen Konzentrationen durch Blockade der Ionenpore hemmt (Abb. 4.3 B). Tetraethylammonium (TEA+) ist ein Blocker für spannungsabhängige K+-Kanäle. Wird das Spannungsklemmexperiment in Anwesenheit von TEA+ durchgeführt, dann fehlt der Stromkurve die positive Komponente. Dies bedeutet, dass der im Kontrollexperiment beobachtete langsame positive Stromanstieg durch eine zunehmende K+-Leitfähigkeit verursacht wird.

Damit kann in genauer Übereinstimmung mit der theoretischen Vorhersage von Hodgkin und Huxley (9) das Aktionspotenzial von erregbaren Zellen als ein vorgegebenes „Programm“ von zeitabhängigen Leitfähigkeitsänderungen aufgefasst werden. Nach ihrem etwas vereinfachten Modell sollten die hier beteiligten Na+- und K+Kanalporen wie „Tore“ in der Membran durch Depolarisation einen unterschiedlich schnellen potenzialabhängigen Aktivierungsprozess durchlaufen, um bei fortwährender Depolarisation geöffnet zu bleiben (K+-Kanäle) oder einen inaktiven Zustand erreichen (Na+-Kanäle). Diese Vorstellung lässt sich bis heute aufrechterhalten und wird durch die molekulare und funktionelle Charakterisierung der Kanalproteine bestätigt.

Zelle eingespeist wird, um die Membranspannung Em auf Ec zu „klemmen“. B1 Vom Ruhemembranpotenzial aus wird die Spannung (Em) auf – 15 mV depolarisiert und dort geklemmt. B2 Mit der Depolarisation kommt es zu einem messbaren Einwärtsstrom, der nach wenigen Millisekunden auf Null zurückkehrt und sogar seine Richtung ändert (Auswärtsstrom). B3 zeigt den Stromverlauf nach Blockierung der Na+-Kanäle durch Tetrodotoxin. B4 zeigt den Stromverlauf nach Blockierung der K+-Kanäle durch Tetraethylammonium.

Die Arbeitsweise einzelner spannungsabhängiger Ionenkanäle Verschiedene Entwicklungen haben dazu beigetragen, dass die ionalen Mechanismen der spannungsabhängigen Leitfähigkeitsänderungen der Membran heute weitgehend verstanden sind: – Die Gen- und Aminosäuresequenzen der am Aktionspotenzial beteiligten Kanalproteine wurden mittels rekombinanter Gentechnologie identifiziert. – Ionenströme durch einzelne Kanäle (nativ oder nach Einschleusen in eine Wirtszelle) lassen sich mit der Patch-clamp-Technik messen. – Erste dreidimensionale Strukturen von Ionenkanälen werden durch biochemische Aufreinigung der Membranproteine, Kristallisation und Röntgenstrukturanalyse aufgeklärt. – Künstlich erzeugte und natürlich vorkommende Mutationen in Ionenkanälen sowie die Untersuchung gendefizienter Organismen (z. B. „Knockout-Mäuse“) geben Hinweise auf die physiologische Kanalfunktion.

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69

70

4 Membranpotenzial

Abb. 4.4 Einteilung spannungsabhängiger Kationenkanäle. In der Abbildung ist schematisch dargestellt, wie sich die porenbildenden α-Untereinheiten spannungsabhängiger Kationenkanäle in der Membran falten und zu einer Ionenpore zusammentreten. (A) Spannungsabhängige Na+- und Ca2+-Kanäle (heute gebräuchliche Abkürzung Nav, Cav) (4); (B) Spannungs- und Ca2+-abhängige K+-Kanäle (Kv, KCa), sowie Kationenkanäle, die durch zyklische Nukleotide aktivierbar sind (CNG/HCN) (18); (C) K+-Tandemporen-Kanäle (K2P) (19); (D) Einwärts gleichrichtende K+-Kanäle (KIR) (23). Wie in den Porenaufsichten rechts veranschaulicht, bestehen Nav- und Cav-Kanäle aus vier Domänen (I – IV), von denen jede wiederum aus sechs hydrophoben α-helikalen Segmenten (S1 – S6) aufgebaut ist. Die rot markierten S4 Segmente stellen dabei die Spannungssensoren für die Kanalöffnung

Spannungsabhängige Ionenkanäle bilden eine Proteinfamilie Die hydrophoben Proteinuntereinheiten (Abb. 4.4 B – D) und -pseudountereinheiten (Abb. 4.4 A), die sich in der Membran zu Kanalproteinen zusammenlagern, werden aufgrund ihrer Aminosäuresequenz (Primärstruktur), der daraus ableitbaren Membranfaltung (Topologie) und ihrer Funktion verschiedenen Ionenkanalfamilien zugeordnet. Für ein Verständnis des Aktionspotenzials genügt es zunächst, dass wir uns auf die Familie der spannungsabhängigen (syn. spannungsgeschalteten) Kationenka-

dar (Abb. 4.6 C), die P-Regionen zwischen S5 und S6 sind an der Bildung des Selektivitätsfilters beteiligt (Abb. 4.6 B). Bei allen anderen Kanälen, deren Untereinheiten aus Einzeldomänen (bzw. als Dublette bei K2P) bestehen, wird die Pore durch Zusammenlagerung gleicher (Homomere) oder verschiedener Subtypen (Heteromere) gebildet. In der hochauflösenden Röntgenstruktur im Einsatzbild (E) sind vier gleiche, um eine Zentralpore angeordnete Untereinheiten eines KvKanales mit ihren außen angeordneten S4-Segmenten deutlich zu erkennen (15). Aus einer Analyse der HydropathieWerte der Aminosäuren im Kanalprotein werden die gemeinsamen Strukturmerkmale (vier α-helikale transmembranäre (M-)Segmente, zwei P-Regionen in Tandemstellung) der Unterfamilie der K2P-Kanäle ersichtlich.

näle konzentrieren, nämlich die Na+-, Ca2+- und K+Kanäle, deren Aktivität primär von einer Verschiebung des Membranpotenzials abhängig ist (Abb. 4.4). Daneben gibt es aber noch eine Reihe anderer Kationenkanäle, die einem gemeinsamen, evolutionär konservierten Bauplan entstammen. Bei TRP-Kanälen (aktivierbar durch H+-Ionen, Hitze oder Druck) oder CNG/HCN-Kanälen (aktivierbar durch zyklische Nukleotide) steht aber die Aktivierung über extra- oder intrazelluläre Stimuli und daher ihre Rolle bei der sensorischen Signalentstehung im Vordergrund (z. B. im Auge, S. 693). Für eine Beschreibung ganz anders strukturierter Membrankanäle wie Porine

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4.4 Aktionspotenziale

Mutation Punktmutationen, Deletionen, Hybride

DNA

heterologe Expression Säugerzellen, Froschoozyten, Hefen, Bakterien

transgene Tiere Verhaltenstests, Microarray-Technologie, Proteomik

3 Ionenkanal: biologische Funktion Sekundärstruktur, Membranfaltung, funktionelle Segmente

6

1

Messung Elektrophysiologie, Pharmakologie

5 2

mRNA

4

Massenproduktion Kristallstruktur

Verteilung im Gewebe Immunzytochemie, In-situ-Hybridisierung

Röntgenstrukturanalyse

Abb. 4.5 Molekularphysiologische Charakterisierung von Ionenkanälen. Aus der genetischen Information der isolierten cDNA lassen sich mit modernen molekularphysiologischen Methoden Vorhersagen zur Funktion und dreidimensionalen Struktur von Ionenkanälen treffen. Die DNA oder davon transkribierte mRNA kann direkt oder in unterschiedliche Vehikel verpackt (z. B. Plasmide), durch Injektion, Infektion oder Transfektion in Wirtszellen eingeschleust werden (1; heterologe Expression). Bilden sich in der fremden Umgebung funktionelle Membranproteine, lässt sich deren Funktion mittels zellulärer Assays (z. B. patch-clamp-Messungen) bestimmen (2). Um die funktionelle Rolle einzelner Abschnitte im Protein zu untersuchen, verändert man gezielt die cDNA mittels rekombinanter DNA-Technologie (Mutagenese)

(Aquaporin), Konnexone, Anionenkanäle (CLC- und CFTRCl–-Kanäle) und Neurotransmitter-aktivierte Kanäle (z. B. nikotinischer Cholinozeptor) wird auf die Kap. 2, 3 und 5 verwiesen. Aus Rekonstitutionsversuchen lässt sich schließen, dass in spannungsabhängigen Kanälen die eigentlichen Ionenporen aus jeweils vier symmetrisch angeordneten, primären -Untereinheiten gebildet werden. Bei den in Abb. 4.4 abgebildeten K+-Kanälen (KIR, K2P, Kv, KCa) finden die Untereinheiten bei der Proteinassemblierung zusammen, bei Na+-(Nav-) oder Ca2+-(Cav-)Kanälen sind sie als Domänen, also gewissermaßen als PseudoUntereinheiten im Quartett bzw. bei K+-Tandemkanälen (K2P) als Dublette auf dem Gen abgelegt. In der Regel werden Lokalisation und Einbettung in der Membran, sowie die Funktion der αUntereinheiten noch durch eine Reihe eng assoziierter akzessorischer oder -Untereinheiten unterstützt, die aber nicht an der Bildung der Kanalpore beteiligt sind.

(3), und vergleicht die möglicherweise dadurch veränderte Eigenschaft mit der Vorhersage. Falls es gelingt, das Kanalprotein in ausreichender Menge zu produzieren, biochemisch aufzuarbeiten und messbare Kristalle herzustellen, lassen sich die aussagekräftigsten Strukturinformationen mittels der Röntgenstrukturanalyse gewinnen (4). Die physiologische Funktion eines Kanalproteins im Gesamtorganismus lässt sich manchmal auch dadurch erschließen, dass man die Verteilung der mRNA bzw. des Proteins im Gewebe analysiert (z. B. im histologischen Hirnschnittpräparat) (5). Seit einigen Jahren kann der Phänotyp genetisch veränderter oder zerstörter Ionenkanäle auch gezielt durch Gentransfer im Tiermodell (z. B. „Knockout“-Maus) untersucht werden (6).

Die einzelnen Abschnitte der Porenuntereinheiten durchspannen mit einer charakteristischen und für die Klassifikation wichtigen Anzahl von α-helikalen Segmenten die Membran komplett (S-Segmente) oder teilweise als so genannte Porenschleife oder P-Domäne. Diese ist als Teil des Selektivitätsfilters bei der Auswahl der Ionen beteiligt, die den Kanal passieren können. Molekularphysiologische Untersuchungen, bei denen bestimmte Abschnitte des Moleküls gentechnisch modifiziert (Mutagenese) und nach Einschleusen in eine Wirtszelle (heterologe Expression) gemessen werden, liefern uns zusammen mit ersten Röntgenstrukturdaten und der Phänotypisierung transgener Tiere genaue Vorstellungen über die Funktionsweise der verschiedenen Kanalproteine und ihre Aufgaben im Organismus (Abb. 4.5).

So ist mittlerweile gut verstanden, (a) wie bewerkstelligt wird, dass sich nur eine Ionenspezies durch die wassergefüllte Pore bewegt (Selektivität), (b) über welchen Mechanismus („Sensor“) spannungsabhängige Ionenka-

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71

4 Membranpotenzial näle das Membranpotenzial wahrnehmen, und (c) wie der Kanal geöffnet und wieder geschlossen wird (Schaltverhalten; gating).

Ionenkanäle sind selektiv permeabel Dass die meisten Ionenkanäle selektiv nur eine bestimmte Ionenart passieren lassen, ist von entscheidender Bedeutung für die Charakteristik des Aktionspotenzials. Dabei diskriminieren Ionenkanäle die hindurchtretenden Ionen nach Größe und Ladung. Roderick MacKinnon und seinen Kollegen an der Harvard Medical School gelang es 1998 mit der ersten Kristallstruktur eines einfachen bakteriellen K+-Kanales (Abb. 4.6) eine Region im extrazellulären Drittel des Kanales darzustellen, die zuvor bereits als Selektivitätsfilter erkannt worden war (22). Aus der Röntgenstrukturanalyse wurde ersichtlich, wie sich durch Zusammenlagerung hochkonservierter Abschnitte (Aminosäuresequenz Glycin-Tyrosin-Glycin) in den vier Porenschleifen eine engste Stelle (ca. 0,3 nm) bildet, bei der die Carbonylstrukturen der Glycine die Passage der Ionen koordinieren. Nach einer heute allgemein akzeptierten Vorstellung werden die Hydrathüllen der einströmenden K+-Ionen am Selektivitätsfilter abgestreift und durch den Carbonylsauerstoff der Glycine ersetzt. Dieser energetische Trick, K+-Ionen (Radius 133 pm) weiterzutransportieren, funktioniert jedoch mit

A Röntgenstruktur einer Pore

den kleineren Na+-Ionen (Radius 95 pm) aufgrund der stabilen Packform des Filters nicht (> 1000-fach niedrigere Permeabilität). Anders ausgedrückt, täuscht der Kanal durch die Passgenauigkeit des Selektivitätsfilters den passierenden K+-Ionen eine kontinuierliche wasserförmige Umgebung vor.

Spannungssensoren messen die Membranspannung Die initiale Depolarisation für die Auslösung des Aktionspotenzials kann sehr unterschiedliche Ursachen haben und sowohl in der Zelle selbst (z. B. Sinneszellen oder Schrittmacherzellen) entstehen als auch von außerhalb (elektrotonische Ausbreitung, synaptischer Kontakt etc.) kommen. Der Vorgang der Erregungsentstehung und Erregungsausbreitung am Skelettmuskel und in Nervenzellen wird in Kap. 5 ausführlich besprochen. Warum reagieren aber spannungsabhängige Ionenkanäle überhaupt so hochsensitiv auf kleine Änderungen im Membranpotenzial? Hodgkin und Huxley sagten bereits voraus, dass eine geladene Domäne in der Membran die Spannungsänderung registrieren und dies auf unbekannte Weise in Änderungen der Ionenpermeabilität übersetzen müsste. Mutationsanalysen im rekombinanten Protein zeigen, dass diese Eigenschaft auf dem Vorhandensein von intrinsischen Spannungssensoren beruht. Darunter werden

B Selektivitätsfilter (schematisches Detail)

Kaliumionen

Kaliumionen Gly-Tyr-GlySequenz

Selektivitätsfilter Porenhelix S5 Helix Aktivierungstor S6 Helix

C Formänderung des Kanalproteins durch Spannungssensoren

S4

S1

S2

S3

+ + + S4 + + +

S5

innen

S6

S4 S4

DV

Pore

+ + +

+ + +

S4

a-Untereinheit N

Spannungssensoren + + +

außen

+ + +

72

C

4 mal a-Untereinheit

Abb. 4.6 Strukturmodell spannungsabhängiger K+-Kanäle. Spannungsabhängige K+-Kanäle stellen einen tetrameren Zusammenschluss von α-Untereinheiten dar, die jeweils aus sechs α-helikalen Segmenten, einem Spannungssensor (S4) und den porenbildenden Schleifen des Selektivitätsfilters aufgebaut sind. A Die Röntgenstruktur verdeutlicht die Orientierung der verschiedenen Kanalsegmente bei der Bildung einer wassergefüllten Pore. Auf der extrazellulären Seite befindet sich der Selektivitätsfilter, auf der Zellinnenseite ist das über einen Potenzialsensor gesteuerte Tor lokalisiert. Auf der Membraninnenseite ist das Kanalprotein über ein Verankerungsprotein mit dem Zytoskelett verbunden und mit β-

Untereinheiten assoziiert. B In der Detailaufnahme des Selektivitätsfilters wird deutlich, wie an der engsten Stelle (ca. 0,3 nm) die Karbonylstrukturen der Gly-Tyr-Gly-Sequenz in die wassergefüllte Pore hineinragen und die passierenden K+-Ionen (die eine Distanz von ca. 0,75 nm zueinander haben) dirigieren. C Modell der Formänderung des Kanals durch Membrandepolarisation. Wenn sich die geladenen Spannungssensoren in den S4-Segmenten durch das Spannungsfeld der Membran bewegen, öffnet sich das Kanaltor durch diese Formänderung. Da viele positive Ladungen durch die Membran transportiert werden, ist dieser Prozess sehr sensitiv (13, 15)

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4.4 Aktionspotenziale B Messung Klemmspannung 20 mV

A prinzipielle Messanordnung

+

Na -Einzelkanalströme

Oszillograph Messverstärker

+

2 pA

Na -Kanal

Saugelektrode

C Auswertung

2 pA

Referenzelektrode gemittelter Einzelkanalstrom (aus ca. 300 Einzelströmen)

Bad 0

10

20

Zeit (ms)

30

Muskelzelle

Abb. 4.7 Originalregistrierung von Na+-Einzelkanalströmen mit der Patch-Clamp-Technik an einer Muskelfaser. Der mit der Saugelektrode abgegrenzte Ionenkanal im Membranfleck („patch“) kann mit der Elektrode aus der Zellmembran herausgerissen werden und sozusagen „zellfrei“ durch Anlegen eines Potenzials vermessen werden (A). Nach wiederholter Depolarisation (B) von – 65 mV auf – 45 mV kommt es mit unterschiedlicher Verzögerung zu kurz anhaltenden, negativen (nach unten gerichteten) Stromereignissen (grün). Die Amplitude dieser (Einzelkanal-)Ströme beträgt etwa 1 – 2 pA. Mittelt man viele solcher Experimente, so erhält man

Proteinanteile im Membranfeld verstanden, die imstande sind, eine veränderte Membranspannung in eine Formänderung des Kanals zu übersetzen, und so die Schwelle für die Kanalöffnung festlegen. Noch ist es nicht gelungen, für alle spannungssensitiven Ionenkanäle diese Sensoren zu identifizieren. In den spannungsabhängigen Na+-, K+oder Ca2+-Kanälen stellen jedoch 4 bis 7 regelmäßig angeordnete positive Ladungen (meistens von positiv geladenen Argininresten) in der vierten α-Helix (S4) jeder Untereinheit einen idealen Kandidaten für diese Funktion dar (Abb. 4.6 C). Wieder waren es die Strukturanalysen

eine Stromkurve (C), die qualitativ mit der in Abb. 4.3 B (unterste Spur) übereinstimmt. Die gemittelte Kurve kommt so zustande, dass einzelne Na+-Kanäle auf eine Depolarisation mit einer kurz andauernden Öffnung (1 – 2 ms) reagieren, um dann im Geschlossenzustand zu verweilen, solange das Membranpotenzial depolarisiert ist. Bei einem Versagen der schnellen Inaktivierung würde sich bei nur einem offenen Na+-Kanal mit einer Passagerate von 107 Ionen/s die Na+Konzentration in der Muskelzelle innerhalb einer Sekunde verdoppeln.

der Arbeitsgruppe von MacKinnon, die zeigten, wie sich bei einer Potenzialänderung die geladene hydrophobe Domäne spannungsabhängiger K+-Kanäle im Inneren der Membran von einer Seite auf die andere bewegt und dabei den Kanal öffnen könnte (15).

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73

0

1

1 2 3

3

4

2

4 2 Zeit (ms) 3

1

Na+-Kanal

4

Repolarisation

Depolarisation

4 Membranpotenzial

Strom (pA)

Mittelwert, dann sollte man qualitativ wieder das Verhalten, das die gesamte Zelle gezeigt hat, reproduzieren können. Abb. 4.7 C zeigt eine aus 300 Einzelregistrierungen gemittelte Summenkurve. Sie entspricht exakt der Aktivierungs- und Inaktivierungskurve der Na+-Leitfähigkeit (Abb. 4.9). Quantitativ wird der Stromfluss durch die ganze Zelle (I) als Funktion der Anzahl aller Kanäle (N), deren Offenwahrscheinlichkeit (po), und der Einzelkanalstromamplitude (i) beschrieben (S. 26 f.)

+

Na

 I ¼ N  po  i A  cm

außen Membran

geschlossen, aktivierbar

geschlossen, nicht aktivierbar

offen

innen

geschlossen, aktivierbar

74

Abb. 4.8 Vereinfachtes Reaktionsschema der Funktionsweise spannungsabhängiger, inaktivierender Ionenkanäle. Vom geschlossenen, aber aktivierbaren Zustand (1), wie er beim Ruhepotenzial und, noch ausgeprägter, bei hyperpolarisiertem Membranpotenzial vorliegt, wird der Kanal durch Depolarisation geöffnet (2). Vom Offenzustand gelangt der Kanal während der Depolarisation innerhalb von Millisekunden zum inaktivierten Zustand, indem eine globuläre Ballstruktur des Proteins von innen die Pore verschließt (3). Dieser Übergang kann durch Batrachotoxin oder Veratridin verzögert oder unterbunden werden. Aus dem inaktivierten Zustand wird der Kanal durch Repolarisation wieder zum aktivierbaren Zustand zurückgeführt – die Ballstruktur wird durch Repolarisation von ihrer Bindestelle verdrängt und der Kanal kann sich schließen (Deinaktivierung; 1). Tetrodotoxin verhindert unter anderem die Aktivierung des Na+-Kanals.

Öffnen und Schließen der Kanäle Mit der im Labor von Erwin Neher und Bert Sakmann am Göttinger Max-Planck-Institut entwickelten PatchClamp-Technik (14) lässt sich das schnelle, spannungsinduzierte Öffnen einzelner Kanäle „online“ beobachten. Wie auf S. 26 beschrieben, wird bei dieser Methode die Spitze einer hitzepolierten Glaselektrode so auf die Zellmembran aufgesetzt, dass ein Membranfleck mit idealerweise einem Ionenkanal elektrisch vom Außenmedium abgedichtet wird (Abdichtwiderstand > 109 Ω). In Abb. 4.7 ist ein Experiment gezeigt, bei dem einzelne Na+-Kanäle an der isolierten Nervenzelle untersucht wurden (17). Das Potenzial wurde über die Patch-Clamp-Elektrode von – 80 auf – 40 mV depolarisiert. Die Stromaufzeichnungen zeigen einzelne, ca. 1 ms andauernde Ereignisse mit Amplituden von etwa 1 – 2 pA. Besonders häufig sind die Ereignisse kurz nach Beginn der Depolarisation. Dann werden sie immer seltener, und nach wenigen Millisekunden sind trotz noch bestehender Depolarisation keine Ereignisse mehr nachweisbar. Das einzelne Ereignis entspricht der Öffnung eines Na+-Kanals. Nachdem der einzelne Kanal für sehr kurze Zeit Ionen hat passieren lassen (ca. 107 Na+-Ionen/s), schließt er spontan. Addiert man nun viele dieser Einzelbeobachtungen und bildet den

2



(4.6)

Damit ist bewiesen, dass das Phänomen der Aktivierung so zustande kommt, dass sich eine Vielzahl von einzelnen Na+-Kanälen in der Membran (50 – 500/µm2) öffnet. Der individuelle Zeitpunkt der Einzelkanalöffnung ist statistisch um ein Maximum verteilt. Einmal offen, fallen die Kanäle sehr rasch wieder zu und werden sich erst dann wieder öffnen können, wenn das Membranpotenzial für eine gewisse Zeit den Ruhewert eingenommen hat. Dieser Prozess des raschen „Zuschlagens“ des Na+-Kanals wird Inaktivierung genannt. Es gibt mehrere Erklärungsmöglichkeiten für die schnelle Inaktivierung, so etwa, dass der Kanal von den durchtretenden Ionen blockiert wird oder dass das Kanalprotein selbst seine Konformation ändert. Wie ein solches „Inaktivierungstor“ funktionieren könnte, ist in Abb. 4.8 vereinfacht dargestellt. Dabei verschließt eine zytosolische, globuläre Struktur (hier am aminoterminalen Ende des Kanals), die durch einen Proteinfaden mit dem Ionenkanalprotein verbunden ist, nach Öffnung des Kanals die Pore von innen. Repolarisiert das Membranpotenzial, löst sich die globuläre Struktur von ihrer Bindestelle, und der Kanal schließt sich durch die Formänderung des Kanalproteins (Lösung der Inaktivierung).

Der Kanal hat also mindestens drei Zustände: vom aktivierbaren Geschlossenzustand (1) geht er durch Depolarisation in den Offenzustand (2) und spontan in den inaktivierten Geschlossenzustand (3) über und ist nur durch Repolarisation zum aktivierbaren Geschlossenzustand rückführbar. Prinzipiell gilt dieses Funktionsschema bei den meisten spannungsabhängigen Ionenkanälen, allerdings in unterschiedlichem Maße. Viele K+-Kanäle hingegen inaktivieren nicht, sondern folgen dem Membranpotenzial, werden also erst durch die Repolarisation wieder geschlossen. Der exakte zeitliche Ablauf der spannungsabhängigen Kanalinaktivierung ist pharmakologisch modifizierbar. So verzögern eine Reihe tierischer und pflanzlicher Gifte die Na+-Kanal-Inaktivierung, verlängern dadurch das Aktionspotenzial und verursachen so bei Vergiftung eine massive Übererregung von Muskelzellen mit einer augenblicklich einsetzenden Muskelstarre. Batrachotoxin, ein Neurotoxin aus der Haut eines tropischen Frosches, δConotoxin (PVIA) aus marinen Kegelschnecken oder Veratridin aus einer Lilienart sind bekannte Beispiele. Die Verzögerung der Inaktivierung von Na+-Kanälen durch Mutation kann auch Ursache verschiedener Erbkrankheiten sein (z. B. Paramyotonia congenita, s. u.).

Ionenkanalerkrankungen: Die wichtige Rolle spannungsabhängiger Ionenkanäle beim Ruhe- und Aktionspotenzial in erregbaren Zellen lässt vermuten, dass Fehlfunktionen dieser Kanäle eine Reihe von ZNS-, Muskel- oder Herzerkrankungen zur Folge haben. Die

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4.4 Aktionspotenziale Kanalfunktion kann durch immunologische (Autoimmunerkrankungen, z. B. Myasthenia gravis), toxische (z. B. Tier- und Pflanzengifte) oder genetische Ursachen (Punktmutationen, Deletionen etc.) gestört sein. Erkrankungen aufgrund von Genmutationen werden heute als „Kanalerkrankungen“ i. e. S. bezeichnet und führen oft zu einem Funktionsverlust des Kanals oder der ganzen Zelle. Bekannte Beispiele sind die Einschränkungen der Skelettmuskelfunktion durch die Myotonia congenita (Cl–-Kanäle) oder Lähmungsattacken durch eine Form der periodischen Paralyse (Ca2+Kanäle). Durch Veränderung der Selektivität, des Schaltverhaltens (dauerhafte Aktivierung oder verzögert eintretende Inaktivierung bei Na+-Kanälen, Paramyotonia congenita), des Membrantransports (LiddleSyndrom, S. 23 u. 348) oder der pharmakologischen Ansprechbarkeit kann im Phänotyp aber auch eine Überfunktion zu Tage treten, die sich in gesteigerter Erregbarkeit von Neuronen (Epilepsien) oder Herzmuskelzellen (Kammerflimmern) ausdrücken kann. Bei komplexen, multikausalen Krankheitsbildern können durchaus auch mehrere, für die Funktion eines Organs wichtige Kanalproteine durch genetische Veränderungen betroffen sein. So sind beim Long-QT-Syndrom, bei dem ein verlängertes Aktionspotenzial in Herzmyozyten zu ventrikulärer Arrhythmie und plötzlichem Herztod führen kann, verschiedene α- und β-Untereinheiten von K+-Kanälen (KCNQ1, HERG, KCNE1/2, Kir2.1), Na+-Kanälen (SCN5A) und Ca2+-Kanälen (RYR2) in ihrer Funktion beeinträchtigt. Die Auflösung der Inaktivierung braucht soviel Zeit, dass bei repetitiver Reizung einer Zelle höchstens eine Frequenz von etwa 500 – 1000/s erreicht werden kann, wie sie z. B. in Motoneuronen vorkommt. Wird der zweite Reiz zu einem Zeitpunkt gesetzt, zu dem die Na+-Kanäle noch nicht aktivierbar sind, dann bleibt der Reiz ohne Antwort. Die Zelle ist refraktär. Man unterscheidet deskriptiv eine absolute Refraktärzeit, innerhalb der auch eine weitaus überschwellige Reizung kein Aktionspotenzial auslösen kann, von der relativen Refraktärzeit, innerhalb der auf überschwellige Reizung Aktionspotenziale mit kleinerer Amplitude beobachtet werden (zur Refraktärität im Herzen s. S. 152).

Das Öffnen und Schließen der Kanäle ist modulierbar Um die Arbeitsweise der Zellen an unterschiedliche Bedingungen anzupassen, kann die Spannungsabhängigkeit von Ionenkanälen durch physikalische Faktoren (z. B. Hitze oder mechanische Zugspannung) und chemische Modulatoren verändert werden. In der Regel kommt es als Antwort auf ausgeschüttete Neurotransmitter oder Wachstumsfaktoren zur Aktivierung intrazellulärer Signalkaskaden, die in der Phosphorylierung/Dephosphorylierung der Kanalproteine resultieren (12). Ein bekanntes Beispiel ist die Steigerung der Aktivität (genauer: der Offenwahrscheinlichkeit po) spannungsabhängiger Ca2+Kanäle im Herzmuskel (Cav1-Kanäle) als Folge der Freisetzung von Noradrenalin durch das sympathische Nervensystem (Abb. 7.16, S. 151). Hier führt (über Mechanis-

men, die auf S. 36 ff genau beschrieben werden) die Stimulation von α1-Adrenozeptoren zum cAMP-Anstieg und zur Aktivierung der Proteinkinase A, gefolgt von einer Phosphorylierung des Ca2+-Kanalproteins. Die Bedeutung dieser Kanalregulation ist hier an der Verbesserung der elektromechanischen Kopplung direkt ablesbar. Ein einfacherer Regulationsmechanismus steuert dagegen die parasympathische Hemmung der Herzfunktion durch Acetylcholin. Im Unterschied zur Sympathikusaktion führen aktivierte muskarinische M2-Cholinozeptoren in Sinusknotenzellen zur Abspaltung von βγ-Untereinheiten aus dem trimeren G-Protein und zu deren direkten Anbindung an einen Subtyp der moderat spannungssensitiven KIR-Kanäle (Abb. 4.4 D, S. 70). Diese Acetylcholin-aktivierten KIR-Kanäle stehen somit unter der obligaten Kontrolle durch freie G-Proteine. Wie eng die Kanalaktivität auch an den Energiestoffwechsel der Zellen gekoppelt sein kann, wird an einer anderen Gruppe von KIR-Kanälen demonstriert, die durch zytosolisches ATP in ihrer Aktivität gebremst und durch ADP stimuliert werden (sie werden deshalb als KATPKanäle bezeichnet). Respiratorische Neurone im Hirnstamm, der Muskeltonus koronarer Widerstandsgefäße, und die Insulinsekretion in den B-Zellen des Pankreas werden beispielsweise durch diesen Mechanismus gesteuert. In der B-Zelle führt der durch Hyperglykämie hervorgerufene Anstieg der ATP-Konzentration zu einer Hemmung der K+-Kanalaktivität und bedingt dadurch eine Membrandepolarisation, die zur Freisetzung von Insulin führt (S. 554). Therapeutisch ist die Modulation der pankreatischen ATP-sensitiven Kanäle durch orale Antidiabetika von zentraler Bedeutung beim Typ-IIDiabetes mellitus. Dabei wirken die zur Blutzuckersenkung eingesetzten Medikamente der Sulfonylharnstoffgruppe (z. B. Glibenclamid, Tolbutamid) durch Hemmung der K+-Kanalfunktion (d. h. Destabilisierung des Ruhepotenzials der B-Zelle) über den mit dem Kanal assoziierten Sulfonylharnstoffrezeptor (SUR). Von umgekehrter Wirkung am Kanal ist die strukturell sehr heterogene Substanzklasse der Kaliumkanalöffner (z. B. Pinacidil, Chromakalim), die sekretorische Zellen und Muskelzellen hyperpolarisieren. Neben ihrem Einsatz bei Hypoglykämiezuständen finden sie Verwendung bei der Therapie von koronarer Herzerkrankung, Asthma oder Ischämien. Wie aus der ATP-Abhängigkeit der KATP-Kanäle zu erwarten ist, kann eine vererbte Fehlfunktion sowohl des Kanalproteins als auch des Sulfonyharnstoffrezeptors bereits im Kindesalter zur unregulierten Insulinhypersekretion und Hypoglykämie führen. Weitere wichtige Funktionen als zytosolische Modulatoren sind auch für Phosphoinositolphosphate (PIP2, IP3), zyklische Nukleotide, Protonen (H+) oder Ca2+-Ionen beschrieben. Zytosolisches Ca2+, der vielseitigste sekundäre Botenstoff, verändert in der Regel durch direkten Kontakt mit dem Kanalprotein oder über Ca2+-bindende Proteine (Calmodulin, Calbindin) die Kanalaktivität. In Ca2+-aktivierten

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75

4 Membranpotenzial A Nervenzelle

Zeit (ms) 1

2

3

0 4

Zeit (ms)

400

+40

+40

AP Aktionspotenzial

–40

–70

Repolarisation

0

Depolarisation

Membranpotential (mV)

0

Kalium-Leck- repolarisierende depolarisierende leitfähigkeiten Leitfähigkeiten Leitfähigkeiten (g)

76

B Herzmuskelfaser gCa –70 +40

gNa

AP

gCa

C Sinusknotenzelle

gCa –70 +40

gKv

gKIR

gKCa

gK2P

Abb. 4.9 Molekulare Grundlagen des Aktionspotenzials und zeitlicher Verlauf der relativen Ionenleitfähigkeiten in erregbaren Zellen. A Dargestellt ist der Kurvenverlauf des Aktionspotenzials in einer typischen Nervenzelle und die dabei maßgeblich beteiligten Ionenkanäle und -leitfähigkeiten. Der zeitliche Verlauf der depolarisierenden (rot), repolarisierenden (blau) und Leckleitfähigkeiten (grün) wird durch das charakteristische, stark oder moderat spannungsabhängige Schaltverhalten der beteiligten Kanäle beschrieben. Die initiale Zunahme der Gesamtleitfähigkeit der Zelle entspricht hier weitgehend der Zunahme der Na+-Leitfähigkeit. Im

K+-Kanälen (KCa, Abb. 4.4 B, S. 70), z. B., verschiebt der Einstrom von Ca2+-Ionen aus dem Extrazellulärraum oder aus internen Speichern die Aktivierungsschwelle der Kanäle zu negativeren Potenzialen. Diese Mechanismen sind entscheidend wichtig in glatten Muskelzellen bei der Gefäßdilatation oder der Rhythmik der Magen-Darmperistaltik. Von einem spannungsabhängigen Kanalblock spricht man, wenn Ionen, für die der Kanal nicht durchgängig ist, von der Membranspannung in die Kanalpore getrieben werden und so den Durchtritt permeabler Ionen blockieren. Im Falle der einwärts gleichrichtenden K+-Kanäle (KIR; engl. inwardly rectifying; Abb. 4.4 D) wirken Mg2+-Ionen sowie die positiv geladenenen, dem L-Ornithinstoffwechsel entstammenden Polyamine Spermin4+, Spermidin3+ und Putreszin2+ als Kanalblocker. Diese bewirken eine Geichrichtung des Ionenstroms, d. h. die K+-Ionen gelangen leichter in die Zelle hinein als heraus. Bei Membrandepolarisation werden die Kanalblocker nämlich aufgrund ihrer Ladung bis in den Porenfilter der KIR-Kanäle hineingetrieben und blockieren so die Auswärtspassage für die ansonsten permeablen K+-Ionen. Wird das Membranpotenzial hingegen negativer als EK, verdrängen die jetzt einströmenden K+-Ionen die Blocker wieder von ihrer Bindestelle.

AP

gCa D glatte Muskelzelle

gKCa

–70 0

Zeit (ms)

4

weiteren Verlauf bestimmt die K+-Leitfähigkeit die Gesamtleitfähigkeit. Zum Vergleich sind typische Aktionspotenziale einer Herzmuskelzelle (B), einer Sinusknotenzelle (C) und einer glatten Muskelzelle (D) gezeigt mit den zugrundeliegenden Ca2+-abhängigen Leitfähigkeiten. In der Herzmuskelzelle wird das lange Depolarisationsplateau durch eine temporäre Erhöhung der Ca2+-Leitfähigkeit hervorgerufen, in Aktionspotenzialen des Sinusknotens und der glatten Muskelzellen wird die Aufstrichphase durch einen schnellen Ca2+Einstrom getragen. Zu beachten sind die unterschiedlichen Zeitskalen.

Das Zusammenspiel der verschiedenen Ionenkanäle beim Aktionspotenzial Aus der Funktionscharakteristik der beteiligten Kanalproteine lassen sich jetzt die einzelnen, wiederkehrenden Teile des stereotyp ablaufenden Aktionspotenzials erklären, wie es typischerweise in Neuronen oder im Skelettmuskel zu beobachten ist (Abb. 4.9 A): – Ruhephase: Das Ruhepotenzial wird durch offene K+Kanäle vom KIR- und K2P-Typ nahe EK stabilisiert. – Schwelle: Das Aktivierungspotenzial für die Öffnung spannungsabhängiger Na+-Kanäle (Nav) wird durch eine initiale Depolarisation erreicht, die meistens von außerhalb der Zelle getriggert wird. – Aufstrich: Wegen der großen elektrochemischen Triebkraft für Na+-Ionen kommt es durch positive Rückkopplung schnell zum explosionsartigen, depolarisierenden Na+-Einstrom (regenerativer Prozess). – Overshoot: Aufgrund der gegenüber dem Ruhepotenzial ca. 40-fach erhöhten Na+-Leitfähigkeit der Membran strebt das Membranpotenzial in Richtung ENa (+ 60 mV).

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4.4 Aktionspotenziale – Abfall: Infolge einer intrinsischen Eigenschaft inaktivieren die Nav-Kanäle innerhalb 1 – 2 ms spontan (und bleiben inaktiviert, solange die Depolarisation besteht; Refraktärphase). Gleichzeitig öffnen sich mit einer geringen Verzögerung spannungsabhängige K+-Kanäle (Kv). Die große Triebkraft für K+-Ionen nach außen bedingt einen K+-Ausstrom und die Repolarisation der Membran. – Nachhyperpolarisation: Bei eintretender Repolarisation können sich in Neuronen die noch offenen Kv-Kanäle und v. a. die durch Ca2+-Akkumulation langsam aktivierten KCa-Kanäle zusammen mit KIR- und K2P-Kanälen zu einer großen K+-Ruheleitfähigkeit summieren, so dass die Repolarisation kurzfristig „überschießt“ (5 – 15 ms). Nach dem zeit- und potenzialabhängigen Schließen von Kv- und KCa-Kanälen wird das Ruhepotenzial wieder nur noch durch KIR- und K2P-Kanäle stabilisiert.

Unterschiedlicher Aktionspotenzialverlauf in erregbaren Zellen Die Aktivierung und Inaktivierung verschiedener Kanaltypen mit unterschiedlichen Zeit- und Spannungscharakteristika führt dazu, dass sich die prototypischen Aktionspotenziale in in den verschiedenen erregbaren Geweben z.T. stark unterscheiden (Abb. 4.9 B). Während das Aktionspotenzial im Nerv und Skelettmuskel typischerweise sehr kurz ist (1 – 2 ms), wird in Herzmuskelzellen das auffällige, lang andauernde Depolarisationsplateau durch einen starken Einstrom von Ca2+ (Konzentrationsverhältnis [Ca2+]a/[Ca2+]i ≈ 10 000) in die Zelle getragen (S. 149 f.). Zunächst kommt es aber auch hier zum Na+-Einstrom und zur raschen Inaktivierung von Na+-Kanälen. Dann öffnen sich, bedingt durch die Depolarisation, Cav-Kanäle. Dieser Vorgang hält ca. 200 ms an. Auch hier wird die Repolarisation durch K+-Kanäle getragen. In den Schrittmacherzellen des Sinusknotens (Abb. 4.9 C) sowie in manchen Neuronen und glatten Muskelzelltypen ist die Aufstrichphase der Aktionspotenziale deutlich langsamer als im Nerv. Hier fehlen spannungsabhängige Na+-Kanäle und die Verzögerung spiegelt die langsamere Kinetik der gating-Prozesse spannungsabhängiger Ca2+-Kanäle wider (sog. „Ca2+-spikes“). In viszeralen glatten Muskelzellen z. B. von Darm, Blase, Uterus oder der Gefäßwand (Single-unit-Typ) kann die Entstehung und der Zeitverlauf von Aktionspotenzialen besonders variabel sein. So lassen sich neben getriggert ausgelösten, schnellen Aktionspotenzialen auch längere Aktionspotenziale mit ausgeprägtem Plateau erkennen (ca. 100 – 200 ms). Diese können in Salven auftreten und langsamen, spontanen Depolarisationswellen aufgelagert sein (Abb. 4.9 D). Auch hier wird der langsame Aufstrich des Aktionspotenzials durch einen Ca2+-Einstrom getragen. Die oft mehrere Sekunden andauernden, langsamen Oszillationen des Membranpotenzials erklärt man sich heute durch ein synchronisiertes Zusammenspiel spannungsabhängiger Ca2+-Kanäle (Cav) und Ca2+-aktivierter K+-Kanäle (KCa). Fließt bei der spannungsabhängigen Auslösung von Aktionspotenzialen ein großer regenerativer Ca2+-Strom, steigt [Ca2+]i und aktiviert KCa-Kanäle. Diese repolarisieren die Membran der glatten Muskelzelle,

A lineare Kodierung

Strompuls Pyramidalzelle 2

B Adaptation Kortex Pyramidalzelle 1

Thalamus

C

Burst-Modus

Hirnstamm D

tonischer Modus

Schrittmacher

Abb. 4.10 Aktionspotenzialmuster von Neuronen im menschlichen ZNS. Auf Stimulation hin generieren Neurone in unterschiedlichen Gehirnregionen ein diverses Spektrum an Aktionspotenzialmustern. Typisch sind AntwortPulsmuster mit gleichbleibender (A) oder abnehmender (B) Frequenz (Adaptation) und die Aneinanderreihung von Pulssalven („bursts“, C). Eine Reihe von Nervenzellen ist durch ihre Schrittmacherfunktion auch zur spontanen Bildung von niederfrequenten Aktionspotenzialen fähig (D). Man beachte die unterschiedliche Ausbildung der Nachhyperpolarisation.

sodass es sekundär wieder zum Schließen der Cav-Kanäle und Abfall von [Ca2+]i kommt. Wenn daraufhin die Aktivität der KCa-Kanäle sinkt, kann wieder eine neue, langsame Depolarisationswelle des myotonen Rhythmus beginnen (6). Die Öffnungskinetik kardialer Cav1-Kanäle (auch als LTyp-Ca2+-Kanäle bzw. Dihydropyridin-Rezeptoren bezeichnet), die, wie oben beschrieben, von Noradrenalin geregelt wird, ist für die Entstehung des Aktionspotenzials im Erregungsleitungssystem und in Kardiomyozyten für den Prozess der elektromechanischen Kopplung unabdingbare Voraussetzung. Eine Reihe selektiver, organischer Cav1-Kanalblocker („Ca2+-Antagonisten“) aus den Substanzklassen der Dihydropyridine (Nifedipin), Benzothiazepine (Diltiazem) und Phenylalkylamine (Verapamil) können so verwendet werden, um die Kontraktilität des Herzens herabzusetzen, den Sinusrhythmus zu senken oder die AV-Knoten-Überleitungszeit zu verlängern. Sie sind daher in der Behandlung der Herzinsuffizienz, der koronaren Herzkrankheit oder von Herzrhythmusstörungen von großer klinischer Bedeutung Kap. 7). Beim Einsatz von

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78

4 Membranpotenzial Cav1-Blockern in der Hochdruck-Therapie wird ebenfalls versucht, die energetische Belastung des Herzens zu reduzieren. Hier wird durch den verringerten Ca2+Einstrom in die glatte Muskulatur des koronaren und peripheren Gefäßsystems der myogene Tonus verringert und dadurch der periphere Widerstand gesenkt (S. 202).

Aktionspotenzialmuster in Nervenzellen des Zentralnervensystems Um die vielseitigen Funktionen bei der Signalübertragung wahrzunehmen, ist auch in Neuronen ein unterschiedliches Repertoire spannungsabhängiger Ionenkanäle auf Somata, Dendriten und Axonen verteilt. Elektrophysiologische Messungen, z. B. im lebenden Gehirnschnittpräparat, haben gezeigt, dass Nervenzellen mit diesem Kanalrepertoire imstande sind, spontan oder bei Reizung durch andere Zellen sehr unterschiedliche Aktionspotenzialmuster zu generieren (Abb. 4.10). Am häufigsten werden bei kontinuierlicher Reizung in regelmäßigen Abständen Aktionspotenziale ausgelöst, und zwar umso mehr, je größer der depolarisierende Strom ist. Dieser lineare Zusammenhang zwischen Reizstärke und Impulsfrequenz (1 – 400 Hz) stellt ein Kodierungsprinzip der Informationsübertragung im Nervensystem dar und ist z. B. typisch für Stammhirnneurone, dornlose Sternzellen im Kortex oder α-Motoneurone im Vorderhorn des Rückenmarks. In kortikalen oder hippokampalen Pyramidalzellen ist dabei zu beobachten, dass sich die Aktionspotenzialfrequenz mit der Zeit verlangsamt (Adaptation), häufig eine Folge intrazellulärer Ca2+-Akkumulation und der langsam sich vergrößernden Nachhyperpolarisation durch KCa-Kanäle. Große Pyramidalzellen im Hippocampus und besonders Thalamusneurone erzeugen aber auch komplexere Muster. Dabei organisieren sich Salven von Aktionspotenzialen, wiederum verursacht durch ein Zusammenspiel niederschwelliger, spannungsabhängiger Cav-Kanälen und Nukleotid-geschalteter Kationenkanäle vom HCN-Typ, was zu rhythmischen Entladungssalven, sogenannten „Burst-Clustern“ führt. Thalamokortikale Relais-Neurone wechseln sogar je nach Aufmerksamkeitszustand des Gehirns zwischen zwei ausgeprägten Zuständen hin- und her: tonische Aktivität von aufeinanderfolgenden Einzelpulsen registriert man im desynchronisierten Zustand (Wachheit), Entladungssalven von 2 bis 8 Aktionspotenzialen sind typisch für die synchronisierte Gehirnaktivität (Schlaf, Absence-Epilepsien), die man im EEG an δ-und ϑ-Wellen erkennt (Schlafspindeln; S. 841). Der globale Aktivitätszustand des Gehirns wird u. a. von der geringen Zahl weit projizierender Stammhirnneurone kontrolliert, die mit einer Aktionspotenzialfrequenz von 1 bis 10 Hz Schrittmacherfunktion (S. 843) haben und konstant langsam wirkende Neurotransmitter wie Acetylcholin, Serotonin oder Noradrenalin ausschütten.

Zum Weiterlesen … 1 Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM. Principles of Neural Science. New York: McGraw-Hill; 2000 2 Nicholls JG, Martin AR, Wallace BG. From Neuron to Brain. Sunderland, Mass.: Sinauer Associates; 1992 3 Byrne JH, Schultz SG. An Introduction to Membrane Transport and Bioelectricity. 2nd ed. New York: Raven Press; 1994 4 Caterall WA, Chandy KG, Gutman GA. The IUPHAR Compendium of Voltage-gated Ion Channels. Leeds, UK: IUPHAR Media; 2002 5 Hille B. Ion Channels of Excitable Membranes. 3rd ed. Sunderland/Mass.: Sinauer Associates; 2001 6 Boron WF, Boulpaep, EL. Medical Physiology. Philadelphia: Saunders; 2003 7 Lodish H, Baltimore D, Berk A, Zipursky SL, Matsudaira P, Darnell J. Molecular Cell Biology. 3rd ed. New York: Scientific American Books; 1995

… und noch weiter 8 Catterall WA. Cellular and molecular biology of voltagegated sodium channels. Physiol Rev. 1992; 72: S15-S48 9 Hodgkin AL, Huxley AF. A quantitative description of membrane current and its application to conduction and excitation in nerve. J Physiol. 1952; 117: 500 – 544 10 Armstrong CM, Hille B. Voltage-gated ion channels and electrical excitability. Neuron. 1998; 20 : 371 – 380 11 Jan LY, Jan YN. Voltage-gated and inwardly rectifying potassium channels. J Physiol. 1997; 505: 267 – 282 12 Levitan IB. Modulation of ion channels by protein phosphorylation and dephosphorylation. Ann Rev Physiol. 1994; 56: 193 – 212 13 Yellen G. The voltage-gated potassium channels and their relatives. Nature. 2002; 419: 35 – 42 14 Hamill OP, Marty, A, Neher E, Sakmann B, Sigworth FJ. Improved patch-clamp techniques for high-resolution current recording from cells and cell-free membrane patches. Pflügers Arch. 1981; 391: 85 – 100 15 Jiang Y, Lee A, Chen J, Ruta V, Cadene M, Chait BT, MaKKinnon R. X-ray structure of a voltage-dependent K+ channel. Nature. 2003; 423: 33 – 41 16 Clapham DE. TRP channels as cellular sensors. Nature. 2003; 426: 517 – 524 17 Waldmann R, Lazdunski M. H+-gated cation channels: neuronal acid sensors in the NaC/DEG family of ion channels. Current Biology. 2003; 8: 418 – 424 18 Kaupp UB, Seifert R. Cyclic-Nucleotide-Gated Ion Channels. Physiol Rev. 2002; 82: 769 – 824 19 Lesage F, Lazdunski M. Molecular and functional properties of two-pore-domain potassium channels. Am J Physiol. 2000; 279: 793 – 801 20 Lehmann-Horn F, Jurkatt-Rott K. Voltage-gated ion channels and hereditary disease. Physiol Rev. 1999; 79: 1317 – 1372 21 Sigworth FJ, Neher E. Single Na+ channel currents observed in cultured rat muscle cells. Nature. 1980; 287: 447 – 449 22 Doyle DA, Cabral JM, Pfuetzner RA, Kuo A, Gulbis JM, Cohen SL, Chait BT, MacKinnon R. The structure of the potassium channel: molecular basis of K+ conduction and selectivity. Science. 1998; 280 : 69 – 77 23 Fakler B, Ruppersberg JP. Functional and molecular diversity classifies the family of inward-rectifier K+ channels. Cell Physiol Biochem. 1996; 6: 195 – 209

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Erregungsübertragung in Zellverbänden R. Klinke

5.1

Ärztliches und missbräuchliches Wirken an den Synapsen · · · 80

5.2

Grundfunktionen der Synapsen

5.3

Elektrische Synapsen

···

80

5.4

Chemische Synapsen

···

81

5.5

Transmitterfreisetzung

5.6

Transmitterwirkung

···

5.7

Beendigung synaptischer Prozesse · · · 90

5.8

Transmittersynthese

5.9

Pharmakologie cholinerger Synapsen

···

91

80 ···

92

5.10 Weitere Transmittersubstanzen

· ··

82

··· 85 Das exzitatorische postsynaptische Potenzial (EPSP) ist ein Resultat der Transmitterbindung · ·· 86 Neben dem Transmitter können auch andere Substanzen das Rezeptorprotein beeinflussen ··· 87 An metabotropen Rezeptoren öffnet der Ligand den Ionenkanal nicht direkt, sondern indirekt über Botenmoleküle · ·· 88 Transmitter können auch inhibitorische postsynaptische Potenziale (IPSP) auslösen ··· 89 EPSP und IPSP an einer Zellmembran beeinflussen sich gegenseitig · · · 89

· ·· 92 Glutamat ist im Gehirn der wichtigste Transmitter für exzitatorische Synapsen · ·· 93 Glycin wirkt als Transmitter an inhibitorischen Synapsen und als Neuromodulator ··· 94 GABA ist der Transmitter vieler inhibitorischer Interneurone · · · 94 Monoaminerge Synapsen sind häufig bei psychischen Erkrankungen gestört · ·· 95 Auch ATP, NO und CO können transmitterähnliche Funktionen übernehmen ··· 96 Oligopeptide, die als Transmitter oder Neuromodulatoren wirken, nennt man Neuropeptide ··· 96

5.11 Präsynaptische Bahnung und Hemmung

···

98

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80

5 Erregungsübertragung in Zellverbänden

5.1

Ärztliches und missbräuchliches Wirken an den Synapsen

Ein Organismus kann in seiner Gesamtheit nur dann funktionieren, wenn zwischen seinen verschiedenen Komponenten Nachrichten ausgetauscht und beachtet werden. Dieser Informationsaustausch kann über Hormone oder über das Nervensystem erfolgen. Sinnesorgane nehmen z. B. Informationen aus der Umwelt auf in Form von Schall, Licht, Duftstoffen etc. Über zugehörige Nerven wird die Information ans Gehirn weitergeleitet und dort ausgewertet. Als Resultat werden dann wieder Informationen und Befehle an die Peripherie zurückgegeben, etwa an bestimmte Effektororgane wie Muskeln und Drüsen, womit die Umweltreize beantwortet werden können. Der zentralnervöse Auswertungsprozess ist im Prinzip ein Rechenvorgang, der an den Kontaktstellen verschiedener Neurone, den Synapsen, stattfindet. Die Funktion der Synapsen kann durch eine Vielzahl von Naturstoffen, Bakterientoxinen, Pilz-, Tier- und Pflanzengiften (z. B. Nicotin), oder synthetischer Verbindungen beeinflusst werden. Praktisch jeder von uns ist durch Gebrauch im täglichen Leben oder in der ärztlichen Anwendung davon betroffen. Man denke z. B. an Narkosen, Schmerzbehandlung, Therapie von Depressionen oder motorischen Störungen usw. Missbrauch ist häufig, der bis zu körperlicher Abhängigkeit und Tod führen kann. So ist die Synapse sehr häufig der Angriffsort privaten, aber vor allem ärztlichen Wirkens.

5.2

Grundfunktionen der Synapsen

Die in bisherigen Kapiteln geschilderten Einzelleistungen der Zellen ergeben nur dann ein sinnvolles Ganzes, wenn die Zellen kooperieren können. Dazu müssen Nachrichten ausgetauscht werden. Dies geschieht insbesondere mit Hilfe des Nervensystems. Die Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen, die Synapsen, spielen bei der Nachrichtenverarbeitung eine große Rolle. An einer Synapse müssen Nachrichten, die als Serien von Aktionspotenzialen einlaufen, vom ersten (präsynaptischen) Neuron auf ein zweites (postsynaptisches) Neuron übertragen werden. Dies ist entweder direkt durch Ionenströme oder, weit häufiger, indirekt durch chemische Überträgerstoffe möglich. Bei der Informationsverarbeitung im Zentralnervensystem geht es nicht um die bloße Weitergabe von Information, etwa vom Ohr zum Gehirn; vielmehr wird die im Zentralnervensystem eingehende Information kritisch verarbeitet. Dazu müssen Millionen von Nervenzellen miteinander interagieren. Erst auf der Grundlage dieser kritischen Verarbeitung sind Entscheidungen möglich, Zuwendung oder Abwendung, Flucht oder Angriff. Aus diesen Gegensatzpaaren wird schon deutlich, dass die kritischen Verarbeitungsprozesse im Gehirn manche der grundsätzlich gegebenen Möglichkeiten positiv auswählen, also fördern, andere ausschließen, also unterdrücken oder hemmen. Orte dieser kritischen Interaktionen sind die Kontaktstellen zwischen Nervenzellen, die Synapsen. Ihre Funktion wird im Folgenden besprochen. Im Übrigen sind von ebenso großer Bedeutung auch die Kontakt-

stellen von Sinneszellen zu Nervenfasern und von Nervenfasern zu Effektororganen, wie Drüsen und Muskeln. Sie werden auch als Synapsen bezeichnet. Die Synapse zwischen dem Axon eines Motoneurons und der Skelettmuskelfaser trägt die spezielle Bezeichnung „motorische Endplatte“ oder neuromuskuläre Endplatte. Im Kap. 4 wurde gezeigt, dass ein erregtes Neuron ein Aktionspotenzial ausbildet. Serien von Aktionspotenzialen sind Träger der Information. Aufgabe der Synapse ist es, dieses Signal von einem Neuron auf ein anderes oder auf Effektorzellen zu übertragen. In der Regel entstehen dort als Resultat einer Umkodierung auch wieder Aktionspotenziale, oder es müssen Aktionspotenziale unterdrückt werden, die von einer anderen Quelle verursacht wurden. Letztlich führt die synaptische Übertragung also wiederum zu elektrischen Erscheinungen. Dazu gibt es zwei Möglichkeiten: Sehr schnell in der Signalübertragung sind die elektrischen Synapsen, langsamer die chemischen Synapsen, bei denen ein chemischer Überträgerstoff die Signalübertragung übernimmt. Aber auch hier gibt es wieder grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Einmal kann die chemische Überträgersubstanz unmittelbar elektrische Erscheinungen an der nachfolgenden Zelle auslösen; hier ist die Aktion wieder relativ schnell. In anderen Fällen löst der Überträgerstoff erst eine Kette weiterer chemischer Prozesse aus, die danach ihrerseits zu elektrischen Erscheinungen an der Membran des nachfolgenden Neurons führen; dies ist mit einem größeren Zeitbedarf verbunden. Folgende Fachausdrücke sind üblich: Die Zelle, die in der Richtung der Informationsübertragung gesehen, vor der Synapse liegt, heißt präsynaptisch, die hinter der Synapse liegende postsynaptisch.

5.3

Elektrische Synapsen

Elektrische Synapsen sind offene Poren zwischen zwei benachbarten Zellen, die aus Proteinkomplexen (Konnexonen) aufgebaut sind. Sie erlauben einen Ionenstrom, wenn ein Potenzialgefälle zwischen beiden Zellen besteht. Bei der elektrischen Synapse liegen die Zellmembranen benachbarter Neurone eng aneinander, so dass nur ein winziger Spalt von 2 nm Breite übrigbleibt. Im Bereich dieser Membranannäherungen, die als Gap Junctions bezeichnet werden, sind Proteinkomplexe in jede der beiden Membranen eingelagert. Sie bestehen aus sechs Untereinheiten aus Connexin, die so angeordnet sind, dass in ihrer Mitte eine mit Wasser gefüllte Pore entsteht, die die Doppelschicht der Zellmembranen durchdringt. Diese Proteinkomplexe in den beiden Zellmembranen, Konnexone genannt, liegen sich so gegenüber, dass die Poren der einen Zelle mit den Poren der anderen offene Verbindungen bilden, also „Kanäle“ entstehen (Abb. 5.1). Derartige Gap Junctions kommen insbesondere im Embryonalstadium sehr häufig vor und dienen ganz allgemein dem interzellulären Austausch von Ionen und kleinen Molekülen. Im adulten Leben nehmen sie an Zahl ab, aber dennoch sind viele erregbare und auch nicht erregbare Zellverbände mit Gap Junctions ausgestattet, etwa der Herzmuskel, die glatte Muskulatur sowie Epi-

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5.4 Chemische Synapsen

Zelle 1

Spalt

Proteinkomplex 2 nm 4 nm

Gap Junction

Mikroelektrode Stromfluss

Zelle 2 8 nm

Zelle 1 „präsynaptisch“

Kanal

elektrische Synapse

Konnexon der Zelle 1

Austausch kleinmolekularer Stoffe

je sechs Untereinheiten

Konnexon der Zelle 2

Abb. 5.1 Elektrische Synapse in einer Gap Junction. Proteinkomplexe, Konnexone genannt, bilden Kanäle, die das Zytoplasma zweier benachbarter Zellen verbinden und durch die ein Austausch kleinmolekularer Substanzen, vor allem von Ionen, möglich ist (nach 6).

thel- und Gliazellen. Auch in der Retina kommen an den amakrinen Zellen elektrische Synapsen vor. Wird eine der durch Gap Junctions verbundenen Zellen durch ein Aktionspotenzial depolarisiert, so entsteht ein Potenzialgefälle zwischen der depolarisierten (präsynaptischen) und der nicht depolarisierten (postsynaptischen) Zelle. Durch die Konnexone werden positive Ionen entlang des Potenzialgefälles in die postsynaptische Zelle (oder Anionen in die Gegenrichtung) fließen (Abb. 5.2). Erreicht die daraus resultierende Depolarisation dieser postsynaptischen Zelle den Schwellenwert, so kommt es auch hier zu einem Aktionspotenzial. Die geschilderten Ionenströme entstehen praktisch ohne Zeitverzögerung (Größenordnung 10–5 s), so dass auch eine große Zahl von Zellen, die durch Gap Junctions miteinander verbunden sind, zuverlässig miteinander synchronisiert werden können. Der Vorgang ist der elektrotonischen Erregungsausbreitung an einer nicht myelinisierten Nervenfaser ähnlich, die in Kap. 19 näher beschrieben ist. Die Konnexone sind normalerweise in beide Richtungen elektrisch leitend. Somit kann die Erregungsübertragung in beide Richtungen erfolgen, ganz im Gegensatz zur chemischen Synapse. Dort ist die Erregungsübertragung immer nur in eine Richtung möglich. An manchen Zellen kann die Durchlässigkeit der Konnexone jedoch über die intrazelluläre Ca2+-Konzentration, den intrazellulären pH oder das Membranpotenzial reguliert werden. So ist es möglich, eine Stromrichtung zu sperren. Obwohl die elektrischen Synapsen einen sehr einfachen Weg der Erregungsübertragung darstellen, haben

Zelle 2 „postsynaptisch“

Abb. 5.2 Bei Stromeinspeisung in eine Zelle mit einer elektrischen Synapse durch eine Mikroelektrode fließt durch die Konnexone auch ein Strom in die benachbarte „postsynaptische Zelle“ (2). In gleicher Weise beeinflusst im normalen Zellverband eine depolarisierte präsynaptische Zelle auch ihre Nachbarin.

sie offenbar wegen der Stereotypie ihrer Aktion große Nachteile. So können mit einer Zelle nur wenige andere Zellen unmittelbar kommunizieren. Die direkte Erregungsübertragung ist auf weit entfernte Zellen nicht möglich. Insbesondere sind bei elektrischen Synapsen prä- und postsynaptische Zellen immer im gleichen Erregungszustand. Das Entstehen von Hemmung aus einer Erregung ist ausgeschlossen. Wegen dieser Nachteile stellen die elektrischen Synapsen im Säugerhirn Ausnahmen dar. Sie sind etwa in der Retina, im Hirnstamm, in den Vestibulariskernen oder in der unteren Olive zu finden. Einen ähnlichen aber pathologischen Erregungsmechanismus gibt es bei Erkrankungen, in denen die Markscheiden von Axonen degeneriert sind. Zwar entstehen keine Gap Junctions, aber durch das Fehlen der Isolationsschicht können sich nackte Axone so dicht aneinanderlegen, dass praktisch kein Extrazellulärraum mehr existiert. Der elektrische Widerstand zwischen den Axonen sinkt so weit, dass Aktionspotenziale von einem Axon auf das andere überspringen können, was normalerweise nicht der Fall ist. Einen derartig pathologisch veränderten Bereich nennt man Ephapse. Das Überspringen der Erregung von einem Axon auf das andere führt zu Fehlmeldungen, z. B. zu Schmerzempfindungen, obwohl periphere Schmerzrezeptoren nicht erregt sind.

5.4

Chemische Synapsen

Das Membranpotenzial einer Zelle ist kein statischer Zustand, sondern beruht auf einem energieabhängigen dynamischen Gleichgewicht. Ioneneinstrom und Ionenausstrom halten sich die Waage. Werden nun vorhandene Ionenkanäle durch chemische Substanzen geöffnet oder geschlossen, so ändert sich das Fließgleichgewicht und damit das Membranpotenzial.

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5 Erregungsübertragung in Zellverbänden Zunächst gilt es festzuhalten: An chemischen Synapsen kann die Informationsübertragung nur in einer Richtung erfolgen, von der präsynaptischen auf die postsynaptische Seite. Aber auch die chemische Synapse hat die Aufgabe, Signale von einem Neuron auf ein anderes zu übertragen. Das heißt letztlich, es müssen Mechanismen bereitstehen, die das Membranpotenzial der postsynaptischen Zelle verändern. Da das Ruhemembranpotenzial jeder Zelle ein Fließgleichgewicht zwischen verschiedenen Ionenströmen darstellt, kann es leicht gestört werden, wenn eine bestimmte Ionenart plötzlich besser durch die Zellmembran diffundieren, d. h. ihrem elektrochemischen Gradienten folgen kann. Würde z. B. die Zellmembran für Na+-Ionen plötzlich durchlässiger, so würden diese, dem elektrochemischen Gradienten folgend, in die Zelle einströmen. Dadurch würde das Membranpotenzial positiver, die Zelle also depolarisiert (GoldmanHodgkin-Katz-Gleichung S. 65). Genau dies geschieht an der postsynaptischen Membran einer Synapse, und zwar dadurch, dass Überträgerstoffe (Neurotransmitter) präsynaptisch freigesetzt werden und an der postsynaptischen Membran Ionenkanäle öffnen. Damit ist schon ein wichtiges Funktionsprinzip dargestellt: Die Änderung der Leitfähigkeit für bestimmte Ionen ist Grundlage der Funktion chemischer Synapsen. Ionenströme verändern das Membranpotenzial der postsynaptischen Zelle. Diese Potenzialveränderungen nennt man daher postsynaptische Potenziale. Da am Ruhemembranpotenzial jedoch mehrere Ionen beteiligt sind, kann das Gleichgewicht durch Leitfähigkeitsänderung für verschiedene Ionen „gestört“ werden. So kann z. B. bei zusätzlichem K+-Ausstrom oder bei Cl–-Einstrom das vorhandene Ruhemembranpotenzial verstärkt, d. h. hyperpolarisiert werden. Dies ist das Gegenteil einer Erregung; geeignete chemische Vorgänge an der postsynaptischen Membran können ein Neuron also auch hemmen. In dieser Möglichkeit zur Umkehr des Signals ist ein wesentlicher evolutionärer Vorteil chemischer Synapsen zu sehen. Es liegt auf der Hand, dass die hier zunächst nur grob skizzierten chemischen Prozesse ihrerseits wiederum durch weitere chemische Substanzen modifiziert werden können. Dies geschieht einmal durch körpereigene Substanzen, die Neuromodulatoren oder durch Pharmaka (s. später). Es sei schließlich noch betont, dass Neurotransmitter neben den im Folgenden zu schildernden Aufgaben bei der Informationsübertragung noch eine andere wichtige Bedeutung haben: Während der fetalen und frühkindlichen Hirnentwicklung spielen sie eine unverzichtbare Rolle bei der Organisation zerebraler Strukturen (S. 822 ff.). Da die meisten Rauschgifte mit der Wirkung von Neurotransmittern interferieren (s. Tab. 5.1 u. 5.2), hat ein Drogenkonsum der Mutter während der Schwangerschaft und Stillzeit deletäre Folgen für die fetale bzw. frühkindliche Hirnentwicklung!

5.5

Transmitterfreisetzung

In der präsynaptischen Nervenendigung sind chemische Überträgerstoffe, die Transmitter, in den synaptischen Vesikeln gespeichert. Wird die Endigung durch ein Aktionspotenzial depolarisiert, kommt es u. a. zu einem Ca2+-Einstrom. Das Ca2+ aktiviert eine Verschmelzung der Vesikel mit der präsynaptischen Membran. Sie öffnen sich dann und schütten ihren Inhalt in den synaptischen Spalt aus. Läuft entlang eines Axons eine Serie von Aktionspotenzialen, so werden diese schließlich auch die Endigung erreichen und den präsynaptischen Bereich depolarisieren (Abb. 5.3). Bei dieser Depolarisation kommt es nicht nur, wie entlang des Axons, zum Einstrom von Na+. Die Axonmembran verfügt über mehrere Typen spannungsabhängiger Ca2+-Kanäle, durch die beim Ankommen eines Aktionspotenzials Ca2+-Ionen in die synaptische Endigung einströmen. Die dort in Ruhe sehr niedrige Konzentration von Ca2+ (ungefähr 10–7 mol/l) steigt daher um einige Größenordnungen an. Aus dem endoplasmatischen Retikulum kann evtl. zusätzliches Ca2+ freigesetzt werden. In jedem Fall bedarf es einiger Zeit (ca. 0,2 ms), bevor der Ca2+-Spiegel auf wirksame Konzentrationen gestiegen ist. In der synaptischen Endigung (Abb. 5.4) liegt eine große Zahl sogenannter synaptischer Bläschen (Vesikel). Sie bestehen, ähnlich wie die Zellmembran, aus einer Phospholipid-Doppelschicht und enthalten eine Flüssigkeit, die mit der chemischen Überträgersubstanz, dem Transmitter, angereichert ist. Dieser Transmitter überträgt schließlich die Erregung auf die postsynaptische Membran, daher sein Name. Viele verschiedene Substanzen finden als Transmitter Verwendung, eine davon ist Acetylcholin (Formel Abb. 5.10). Wir wollen im Folgenden den chemischen Übertragungsprozess grundsätzlich betrachten und dazu als Beispiel eine Synapse verwenden, die Acetylcholin (ACh) als Transmitter ausschüttet. Eine solche Synapse nennt man cholinerge Synapse. Das Paradebeispiel einer cholinergen Synapse ist die motorische Endplatte. Die zu schildernden Mechanismen gelten aber grundsätzlich auch für andere Synapsen und andere chemische Transmitter, die ab S. 92 näher beschrieben sind. Die synaptischen Vesikel liegen in drei Populationen vor. Zum einen gibt es einen Pool von Vesikeln, die über das Protein Synapsin an das Zytoskelett gebunden sind und eine ruhende Vesikelreserve darstellen (s. Abb. 5.3). Über eine Phosphorylierung können sie im Bedarfsfall mobilisiert und dem zweiten Pool zugeführt werden. Dieser Bedarfsfall kann starke synaptische Aktivität oder Veränderung von Synapsen als Grundlage synaptischer Plastizität sein (s. Kap. 28.8). Bei der Bildung und Stabilisierung von Synapsen und beim Neuritenwachstum spielen die Synapsine eine weitere wichtige Rolle. Die zweite Population von Vesikeln liegt in unmittelbarer Nähe der sogenannten aktiven Zone, einem präsynaptischen Membranbezirk, der direkt gegenüber der postsynaptischen Membran liegt. Sie besteht aus Vesikeln, die zwar auch nicht sofort für die Transmitterausschüttung benutzt werden, aber sehr kurzfristig dafür

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5.5 Transmitterfreisetzung

Aktionspotenzial

+

Na

Synapsin

Phosphorylierung Zytoskelett Vesikel Überträgerstoff (Transmitter)

2+

synaptische Endigung

Ca

Exozytose des Transmitters synaptischer Spalt

postsynaptische Membran

a muscarinischer Rezeptor

Abb. 5.3 Mechanismus der Transmitterfreisetzung an einer präsynaptischen Endigung. Das Einlaufen der Aktionspotenziale depolarisiert die Membran. Es werden spannungsabhängige Ca2+-Kanäle geöffnet, Ca2+ strömt ein. Das Kalzium wird an Synaptotagmin gebunden, dadurch werden die

nicotinischer Rezeptor

an die Zellmembran gebundenen, „angedockten“ Vesikel entsperrt, es kommt zur Exozytose des Vesikelinhalts in den subsynaptischen Spalt. Bei erhöhtem Bedarf können durch Vermittlung des Ca2+ über eine Phosphorylierung auch Vesikel des Reservepools vom Synapsin abgelöst werden.

synaptische Vesikel präsynaptisches Faserende

postsynaptische Membranverdichtung

Spine eines postsynaptischen Neurons

Abb. 5.4 Elektronenoptisches Bild einer Synapse (Pfeil) an einem Spine (Sp) aus dem Hippocampus. Die präsynaptische Faserendigung ist dicht mit klaren synaptischen Vesi-

keln angefüllt. Die postsynaptische Membranverdichtung ist deutlich zu sehen. Vergrößerung ca. 20 000 fach (Aufnahme Prof. M. Frotscher, Freiburg).

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5 Erregungsübertragung in Zellverbänden

präsynaptisches Neuron Vesikel Exozytose des Überträgerstoffes synaptischer Spalt postsynaptische Membran postsynaptisches Neuron Position der ACh-Rezeptoren Einfaltung der postsynaptischen Membran

Abb. 5.5 Exozytose von synaptischen Vesikeln an einem synaptischen Spalt. Das Präparat wurde durch blitzartiges Einfrieren von Nervengewebe innerhalb einer Millisekunde

bereitgestellt werden können. Der dritte Pool schließlich besteht aus Vesikeln, die an die aktive Zone angelagert, „angedockt“, sind. Nur diese angedockten Vesikel sind der Teil, der unmittelbar für eine Transmitterausschüttung genutzt werden kann. Bei dieser Transmitterausschüttung handelt es sich um eine sorgfältig kontrollierte Exozytose. An dieser Exozytose und an der anschließenden Rückgewinnung der Vesikel sind etwa 20 verschiedene Proteine regulatorisch beteiligt, die zum Teil an der Plasmamembran der synaptischen Endigung, zum Teil an den Vesikeln anliegen, bzw. in sie integriert sind. Sie sollen hier nicht im einzelnen benannt werden. Ferner sind energiereiche Verbindungen wie ATP und GTP zur Transmitterfreisetzung nötig. Zur Transmitterausschüttung müssen die angedockten Vesikel zunächst vorbereitet werden (Priming). Dazu durchlaufen sie einen Reifungsprozess, in dem aus zwei Proteinen der Plasmamembran (Syntaxin und SNAP-25) und einem der Vesikelmembran (Synaptobrevin = VAMP) ein Komplex gebildet wird, der als Kernkomplex (auch core-Komplex oder SNARE-Komplex) bezeichnet wird. Bei diesem Prozess spielen andere Proteine eine wichtige regulatorische Rolle. Unter Vermittlung durch ATP resultiert als Ergebnis eine partielle Fusion der Vesikelmembran mit der präsynaptischen Membran. Die Bildung des Kernkomplexes kann durch die Bakterientoxine Botulinumtoxin (an nikotinischen Synapsen, s. S. 85) bzw. Tetanustoxin (an den Renshaw-Zellen, s. S. 748) verhindert werden. DIe genannten Toxine sind Proteasen, die bestimmte, am Vorgang beteiligte Proteine spalten. So verhindern diese Toxine letztlich eine Transmitterausschüttung. Ein weiteres integrales Membranprotein der Vesikelmembran ist das Synaptotagmin. Es ist ein Ca2+-Rezeptor. Ist in der präsynaptischen Endigung wegen vorangegangener Aktionspotenziale die Konzentration von Ca2+ in ausreichender Höhe, werden kooperativ Ca2+-Ionen gebunden und Synaptotagmin öffnet unter Vermittlung weiterer Proteine die präsynaptische Membran, ermöglicht also die Exozytose (s. Abb. 5.3). Dabei wird der Kernkomplex aufgelöst. Durch die Exozytose werden ca.

nach einem elektrischen Reiz erhalten. Vergr. ca. 200 000 fach (Aufnahme Dr. J. E. Heuser, Washington University, St. Louis, Mo.).

8000 – 10 000 Transmittermoleküle als kleinstmögliche Memge (1 „Quant“) in den subsynaptischen Spalt ausgeschüttet. Innerhalb der Vesikel liegt die Transmitterkonzentration in der Größenordnung von etwa 100 mmol/l und selbst im subsynaptischen Spalt werden nach einer Transmitterfreisetzung Konzentrationen in der Größenordnung eines millimolaren Bereichs erreicht. Wichtig für den Vorgang der exozytotischen Transmitterausschüttung ist nicht die Depolarisation der Endigung, sondern der Einstrom von Ca2+. Das Ca2+ dient dabei als Botenstoff, der die Exozytose der Vesikel auslöst. Zusätzlich kann auch das Ca2+ eine weitere Ca2+-Freisetzung aus präsynaptischen Calciumspeichern triggern. Eine Erhöhung der extrazellulären Ca2+-Konzentration erhöht den Ca2+-Einstrom und damit die Transmitterfreisetzung. Umgekehrt führt eine künstliche Erhöhung der extrazellulären Mg2+-Konzentration durch Verdrängung zu einer Verringerung des Ca2+-Einstroms und damit zu einer Verringerung des Transmitterausstoßes. Nach Beendigung des präsynaptischen Aktionspotenzials wird das Ca2+ über aktive Pumpen (Ca2+-ATPasen) und im Austausch gegen Na+ (3 Na+/Ca2+-Carrier) wieder aus der Präsynapse entfernt. Durch Beeinflussung des Ca2+-Einstroms bzw. des Ca2+-Gehalts der präsynaptischen Endigung kann der Organismus die Effektivität von Synapsen variieren. Schon eine mehrmalige starke Erregung des präsynaptischen Neurons führt zu einer minutenlangen Erhöhung der Ca2+-Konzentration und damit zu erhöhter Transmitterfreisetzung. Wir haben hier die einfachste Form eines „Gedächtnisses“ vorliegen (S. 818 ff.). Dieser Vorgang wird synaptische Potenzierung oder posttetanische Potenzierung (nach repetitiver, d. h. tetanischer Reizung) genannt. Die Exozytose der Vesikel steigt mit der 4. Potenz der Ca2+-Konzentration. Daher ist die Erhöhung des Ca2+Spiegels in der präsynaptischen Endigung sehr wirksam. Aber offensichtlich sind auch noch andere Mechanismen an der posttetanischen Potenzierung beteiligt. Die geschilderten Mechanismen erhöhen die Effektivität einer Synapse. Andererseits kann der Ca2+-Einstrom auch durch Beeinflussung der Ca2+-Kanäle gesteuert wer-

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5.6 Transmitterwirkung den. Sie können häufiger oder wenig häufig geschlossen oder geöffnet werden (Kap. 4). Eines der Coniotoxine (Schneckengifte) beispielsweise blockiert Ca2+-Kanäle. Schließlich ergibt sich hier auch die Möglichkeit einer pharmakologischen Beeinflussung. Mg2+ verdrängt Ca2+Ionen und reduziert so die Transmitterausschüttung. Die präsynaptische und die postsynaptische Membran sind durch einen Spalt von 20 – 50 nm voneinander getrennt. In diesen Spalt werden die Transmittermoleküle ausgeschüttet. Sie diffundieren an die gegenüberliegende postsynaptische Membran, ein Vorgang, der etwa 0,1 ms benötigt. Die Membran des nach Transmitterausschüttung leeren Vesikel ist ein wertvoller Rohstoff für die präsynaptische Endigung. Daher wird die Vesikelmembran innerhalb weniger Sekunden rezykliert, also einer Endozytose unterworfen. Die leeren Vesikel werden dazu mit einer Clathrinhülle überzogen (Abb. 5.7) und als „coated vesicles“ in die präsynaptische Endigung wieder zurückverlagert. Sie streifen dort ihre Hülle wieder ab, über Protonenpumpen erhalten sie einen saueren pH und schließlich fusionieren sie mit Endosomen. Durch Knospung (budding) werden von den Endosomen dann wieder Vesikel abgespalten (s. Abb. 5.8). Diese werden mit Transmitter gefüllt, der im Zytoplasma der endoplasmatischen Endigung synthetisiert bzw. aus dem präsynaptischen Spalt wieder gewonnen wurde (s. später). Die Füllung der Vesikel mit dem Transmitter wird über Transporter in der Vesikelmembran besorgt, die elektrische bzw. chemische Gradienten ausnutzen, die über Protonenpumpen aufgebaut werden. Der gefüllte Vesikel wird dann, vermutlich über die Vermittlung von Aktin (s. Kap. 6) wieder dem Pool der fusionsbereiten bzw. angedockten Vesikel zugeführt. Viele Einzelheiten des hier geschilderten Vorgangs sind noch ungeklärt. Im übrigen scheint es auch die Möglichkeit zu geben, entleerte Vesikel wieder unmittelbar zu füllen (sog. kiss and run). Die hier skizzierten Prozesse der Vesikelexozytose bzw. -endozytose können durch die pauschal genannten weiteren beteiligten Proteine reguliert und in ihrer Geschwindigkeit moduliert werden. Dies ist ein weiterer der Mechanismen, mit denen der Organismus die Effektivität jeder einzelnen Synapse beeinflussen kann.

5.6

Transmitterwirkung

In die postsynaptische Membran sind Proteine eingebaut, die Ionenkanäle bilden. Sie sind normalerweise selten geöffnet. Binden aber Transmittermoleküle an diese Proteine, so ändert sich deren Konfiguration, und die Ionenkanäle öffnen sich häufiger. Dann können bestimmte Ionen vermehrt durch die Zellmembran hindurchtreten. In die elektronenoptisch verdickte postsynaptische Membran, speziell subsynaptische Membran genannt, sind Proteine eingelagert, die Transmittermoleküle binden und deswegen Rezeptoren genannt werden. Man beachte: Der Begriff Rezeptor wird in zweifacher Bedeutung verwendet. In der Zell- und Molekularbiologie bezeichnet er eine Bindungsstelle für Moleküle, die Sig-

Kanal

AChBindungsstellen

Strukturproteine

postsynaptische Zelle

Abb. 5.6 Dreidimensionales Modell von nicotinischen Acetylcholinrezeptoren, die in der Lipiddoppelschicht der Zellmembran schwimmen. Das Protein besteht aus fünf Untereinheiten, von denen zwei identische die Bindungsstellen für das Acetylcholin tragen. Sind diese Stellen besetzt, öffnet sich ein trichterförmiger Ionenkanal zum Zellinneren.

nale übertragen, etwa Hormone und Transmitter. So ist der Begriff hier gebraucht. In der Sinnesphysiologie (s. Kap. 19 ff.) versteht man unter einem Rezeptor die Sinneszelle bzw. ihren rezeptiven Teil. Manchmal wird in diesem Zusammenhang auch der Begriff Sensor benutzt, der eigentlich technische Messfühler bezeichnet. Bei cholinergen Synapsen gibt es zwei Typen von Rezeptoren. Hier soll zunächst das Beispiel einer sog. nicotinischen Synapse besprochen werden, wie sie z. B. an der motorischen Endplatte vorkommt (weiteres zur neuromuskulären Endplatte S. 112). Das Rezeptorprotein für ACh besteht aus fünf Untereinheiten (Abb. 5.6), die zusammen einen Kanal bilden, der die Zellmembran durchspannt. Jeder dieser Kanäle hat zwei Zustände, offen oder geschlossen und im offenen Zustand eine ganz bestimmte Durchlässigkeit für Ionen. Meistens ist dieser Kanal geschlossen. Binden aber zwei ACh-Moleküle an dieses Protein, so kommt es zu Ladungsverschiebungen innerhalb des Makromoleküls und in deren Folge zu einer allosterischen Formveränderung. Der zentrale Kanal weitet sich, hat dann etwa einen inneren Durchmesser von 0,65 nm und wird durchgängig für die Kationen Na+ und K+ (Abb. 5.7). Für Anionen ist der Kanal jedoch nicht durchgängig wegen der im Inneren vorhandenen Wandladungen. Es handelt sich also um einen unspezifischen Kationenkanal. Wir haben hier einen Ionenkanal vor uns, der direkt durch den Liganden, d. h. also durch die Anlagerung des Transmittermoleküls, geöffnet wird (ligandengesteuerte Kanäle). Derartige Rezeptoren nennt man auch ionotrope Rezeptoren. Fälle, in denen bis zur Öffnung eines

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5 Erregungsübertragung in Zellverbänden

Endosom

Neuromodulatoren oder Medikamente

Neuromodulation Heterozeptoren

Neuromodulatoren

sekundäre Botenstoffe ranMembcling recy

Rückkopplung

Na

+

Transmitter

Autorezeptor

Neuromodulation

a GTP GDP

Neuromodulation

muscarinische Synapse

+

K

Transmitter öffnet Ionenkanal

Transmitter katalysiert Reaktionen von G-Proteinen

Abb. 5.7 Interaktion von Transmittermolekülen mit ihren spezifischen Rezeptoren im synaptischen Spalt. Postsynaptisch ist auf der rechten Seite ein nicotinischer Rezeptor dargestellt, der durch den Liganden selbst geöffnet wird; die linke postsynaptische Seite zeigt einen muscarinischen Rezeptor. Bei diesem wird ein Ionenkanal erst über eine

Ionenkanals noch weitere chemische Prozesse zwischengeschaltet sind – die beteiligten Rezeptoren nennt man auch metabotrope Rezeptoren –, werden wir auf S. 88 kennenlernen. An der präsynaptischen Endigung, etwa einer neuromuskulären Endplatte, werden durch ein Aktionspotenzial mehrere Vesikel freigesetzt. Der synaptische Spalt wird wegen der hohen Konzentration des Transmitters im Vesikel (∼ 100 mmol/l) mit einer großen Zahl von ACh-Molekülen überschwemmt. So wird auch eine große Zahl von ACh-Rezeptoren besetzt. Im Übrigen gibt es an vielen Synapsen auch in der präsynaptischen Membran Rezeptoren für den Transmitter, sog. Autorezeptoren (Abb. 5.7). Je nach Synapsentyp kann durch ihre Wirkung die Transmitterausschüttung entweder verstärkt oder beendet werden (positive oder negative Rückkopplung). Über diese Autorezeptoren kann auch der Ca2+-Einstrom in die präsynaptische Endigung beeinflusst werden.

Normalerweise finden sich die Rezeptoren für den Transmitter nur im Bereich der subsynaptischen Membran. Dies gilt auch für die motorische Endplatte, wo außerhalb des synaptischen Bereichs auf der Oberfläche der Muskelzelle nur wenige ACh-Rezeptoren

nicotinische Synapse

Kaskade von chemischen Reaktionen geöffnet. Die Membran des entleerten Vesikels wird mit einer Clathrinhülle versehen und in die präsynaptische Endigung zurückverlagert. danach wir ddie Clathrinhülle wieder abgelöst, der Vesikel fusioniert mit einem Endosom.

vorkommen. Wird der motorische Nerv aber etwa durch eine Verletzung durchtrennt, dann bilden sich auf der gesamten Oberfläche der Muskelzelle AChRezeptoren aus, der Muskel wird für ACh hypersensitiv.

Das exzitatorische postsynaptische Potenzial (EPSP) ist ein Resultat der Transmitterbindung Die Öffnung von unspezifischen Kanälen für Kationen durch ACh führt zu einem starken Na+-Einstrom und zu einem schwächeren K+-Ausstrom an der postsynaptischen Membran. Im Endeffekt fließen also mehr positive Ladungen in die Zelle. Es entsteht eine lokale Depolarisation, die als exzitatorisches postsynaptisches Potenzial (EPSP) bezeichnet wird. ACh-Moleküle öffnen Ionenkanäle in der postsynaptischen Zellmembran, so dass sich deren Leitfähigkeit für einwertige Kationen unspezifisch erhöht. Welche Kationen fließen, ist wie immer (Kap. 4) abhängig von den elektrochemischen Gradienten. Das Gleichgewichtspotenzial für Na+ ist + 55 mV, das Membranpotenzial der

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5.6 Transmitterwirkung postsynaptischen Zelle liegt aber bei etwa – 60 bis – 80 mV. Somit bestehen starke treibende Kräfte für Na+, und es werden Na+-Ionen ins Zellinnere strömen und die Zelle depolarisieren (Abb. 5.7, 5.9). Andererseits ist der Kanal auch durchlässig für K+-Ionen, für die ein, wenn auch geringer, elektrochemischer Gradient von innen nach außen besteht. Da das K+-Gleichgewichtspotenzial bei etwa – 90 mV liegt, werden daher gleichzeitig K+-Ionen durch die postsynaptische Membran austreten und damit der durch den Na+-Einstrom bedingten Depolarisation in gewissem Umfang entgegenwirken. Dennoch, die Öffnung der beschriebenen Kanäle führt netto zu einem Einstrom positiver Ionen, also zu einer Depolarisation der postsynaptischen Membran, die als exzitatorisches postsynaptisches Potenzial (EPSP) bezeichnet wird. An der motorischen Endplatte nennt man das EPSP auch Endplattenpotenzial. Da die beteiligten Ionenströme von der Differenz ihres Gleichgewichtspotenzials und dem Membranpotenzial abhängen (s. S. 65), wird der Na+Strom bei verringertem Ruhemembranpotenzial immer kleiner, der K+-Strom größer. Damit wird die Amplitude des EPSP kleiner. Die am Zustandekommen des EPSP beteiligten Ionenströme verhalten sich anders als die Na+- und K+-Ströme während eines Aktionspotenzials (S. 678 f.). Dies liegt daran, dass andere Ionenkanäle mit anderen Eigenschaften daran beteiligt sind. Während beim Aktionspotenzial die Ionenkanäle spannungsabhängig sind und mit fortschreitender Depolarisation weitere Kanäle geöffnet werden, der Depolarisationsprozess sich also selbst verstärkt, hängt die elektrische Leitfähigkeit der transmittergesteuerten Kanäle nur von der Zahl der gerade mit Transmitter besetzten und daher offenen Ionenkanäle ab. Die Amplituden eines EPSP liegen im Bereich von 100 µV bis eventuell 10 mV. Die Gesamtdauer eines EPSP beträgt, je nach der speziellen Art der Synapse, 5 ms bis zu einigen 100 ms. Das zunächst lokal im Synapsenbereich ausgebildete EPSP breitet sich passiv elektrotonisch (Kap. 19) über die gesamte postsynaptische Zellmembran aus. Es gehorcht nicht dem Alles-oder-nichts-Gesetz. Sind viele benachbarte exzitatorische Synapsen gleichzeitig oder kurz nacheinander aktiviert, überlagern sich die Ströme (örtliche bzw. zeitliche Summation). Es entsteht ein EPSP wesentlich größerer Amplitude, das die gesamte postsynaptische Zelle depolarisieren kann. Erreicht diese Depolarisation am Axonhügel einer Nervenzelle oder im Bereich einer motorischen Endplatte einen gewissen Schwellenwert (10 mV und mehr), so werden schlagartig spannungsabhängige Natriumkanäle geöffnet, die Zelle bildet ein Aktionspotenzial aus, das entlang ihres Axons weitergeleitet wird oder – im Falle der motorischen Endplatte – eine Muskelkontraktion einleitet (Kap. 6). Von Ausnahmen abgesehen, z. B. der neuromuskulären Endplatte, genügt ein einzelnes präsynaptisches Aktionspotenzial nicht, um auch postsynaptisch ein Aktionspotenzial auszulösen. Es ist die Summation mehrerer präsynaptischer Eingänge nötig. Vom Beginn des EPSP bis zur Ausbildung des Aktionspotenzials vergehen nochmals etwa 0,3 ms, so dass bei ausreichender Transmitterausschüttung das postsynaptische Aktionspotenzial schon etwa 0,5 – 0,6 ms nach dem präsynaptischen erscheinen kann. Doch hängt ganz all-

gemein die als Zeitbedarf zwischen prä- und postsynaptischem Aktionspotenzial definierte Synapsenzeit sehr vom jeweiligen Synapsentyp ab.

Neben dem Transmitter können auch andere Substanzen das Rezeptorprotein beeinflussen Zum postsynaptischen Rezeptorprotein für den Transmitter haben auch bestimmte andere Substanzen eine hohe Affinität. Wenn sie den gleichen Effekt haben wie der Transmitter, nennt man sie Agonisten. Verhindern sie dagegen durch ihre Bindung die Wirkung des Transmitters, nennt man sie Antagonisten. Wir haben gesehen, dass ein ganz bestimmtes Transmittermolekül an das Kanalprotein bindet und dessen Ionenkanal öffnet. Das Protein besitzt dafür eine Bindungsstelle, den Rezeptor. Dieser Rezeptor ist aber nicht absolut spezifisch. Für die meisten Synapsen gibt es eine ganze Reihe körperfremder (evtl. auch körpereigener) Substanzen, die ebenfalls an den Rezeptor binden können. Sie werden häufig als Medikamente verwendet. Am Beispiel einer nicotinischen Synapse ist der natürliche Transmitter ACh. An dessen Stelle können chemisch ähnlich gebaute Substanzen, wie etwa Succinylcholin, gebunden werden, die die Wirkung von ACh entfalten und ein EPSP ausbilden. Aber auch chemisch sehr andersartige Moleküle können evtl. mit dem Rezeptor interagieren, wie z. B. das Nicotin. Alle diese Stoffe wirken wie der Transmitter und werden deshalb als Agonisten bezeichnet. Häufig werden solche Substanzen zur genaueren Charakterisierung des Rezeptors benutzt. So ist in diesem Fall hier der Name nicotinische Synapse entstanden. Neben den Agonisten gibt es aber auch chemische Verbindungen, die zwar am Rezeptormolekül binden, die aber nicht gleichzeitig den Ionenkanal öffnen können. Ja, sie verhindern durch ihre Gegenwart sogar, dass der natürliche Transmitter binden und wirken kann. Diese Substanzen blockieren daher den Ionenkanal, d. h. sie verhindern dessen Öffnung. Man nennt sie Antagonisten. Für die nicotinischen Synapsen ist z. B. das im indianischen Pfeilgift Curare enthaltene d-Tubocurarin ein solcher kompetitiver Blocker. Es tritt mit dem echten Transmitter in Kompetition, bindet an den ACh-Rezeptor an der motorischen Endplatte und verhindert so willkürliche Muskelkontraktionen. Auf diese Weise haben Indianerstämme ihre Beutetiere und Kriegsgegner gelähmt, was durch Atemstillstand zum Tode führt. Da das Curarin weder die Darmwand durchdringen und so an die Muskelendplatten gelangen kann, noch gar die Blut-Hirn-Schranke durchdringt, war der Genuss der so gefangenen Tiere auch nicht schädlich. Curare-ähnliche Substanzen werden heute in der Anästhesie zur Muskelrelaxation verwendet (s. Tab. 5.1, S. 92). Eine andere Substanz, die hochspezifisch und kompetitiv an nicotinische ACh-Rezeptoren bindet, ist das Schlangengift α-Bungarotoxin. Es wirkt schon in nanomolarer Konzentration und kann experimentell dazu verwendet werden, die ACh-Rezeptoren auf Zelloberflächen zu markieren.

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5 Erregungsübertragung in Zellverbänden

Endosom Transmitterspeicherung Cholinacetyltransferase

Knospung

Andocken

Synthese „reuptake“-Hemmer Esterasehemmer Esterase

Cholin

Wiederaufnahme Hyperpolarisation

Transmitterspaltung

+ – ++ – ++ ++ + – – –– – – –

+ ++ + – – – – aGTP

+

muscarinische Synapse

K

b g

HOH

CH3 Botenstoff a-GTP öffnet Ionenkanal

Abb. 5.8 Späte Prozesse an Synapsen. Metabolische Prozesse öffnen Ionenkanäle an denjenigen Synapsen, an denen der Rezeptor selbst keinen Ionenkanal darstellt. Dies ist im dargestellten Fall einer muscarinischen Synapse eine an GTP gekoppelte Untereinheit eines G-Proteins. Im synaptischen Spalt wird der Transmitter inaktiviert, entweder durch Wiederaufnahme oder durch enzymatische Spaltung und nach-

An metabotropen Rezeptoren öffnet der Ligand den Ionenkanal nicht direkt, sondern indirekt über Botenmoleküle Bei manchen Synapsen stellt das Rezeptorprotein selbst keinen Ionenkanal dar. Bei Bindung von Transmittermolekülen löst dieses Protein aber eine Kaskade chemischer Reaktionen aus, als deren Folge benachbarte Ionenkanäle durch einen Botenstoff geöffnet werden. Man spricht von metabotropen Rezeptoren. Im Gegensatz zu den bisher geschilderten Synapsen, bei denen der Transmitter direkt den Ionenkanal öffnet, gibt es andere Rezeptorproteine, die nicht selbst einen Ionenkanal darstellen. Ein Beispiel dafür ist die cholinerge Synapse vom muscarinischen Typ, so genannt, weil dort das Gift des Fliegenpilzes, Muscarin, als Agonist wirkt. Dort ist der ACh-Rezeptor ein Protein, das, vom Aspekt der Evolution her interessant, große chemische Ähnlichkeit zum Sehfarbstoff Rhodopsin (S. 693 f.), zu den α- und β-adrenergen und anderen Rezeptoren besitzt. Die zur Ausbildung eines EPSP notwendigen Ionenkanäle werden

+

CH3 N

O CH2 CH2

O

C CH3

Acetyl Cholin CH3 Wirkung der Esterase auf ACh

folgende Wiederaufnahme der Bruchstücke. In der präsynaptischen Endigung wird der Transmitter wieder resynthetisiert. Durch Knospung (budding) löst sich vom Endosom wieder ein Vesikel ab. Dieser nimmt Transmittersubstanz auf und wird an die präsynaptische Membran verlagert. Dort dockt er bei Bedarf an.

erst durch einen Stoffwechselprozess geöffnet. Wegen des beteiligten Metabolismus nennt man die zugehörigen Rezeptoren metabotrope Rezeptoren. Der Vorgang ist jeweils links in Abb. 5.3, 5.7 und 5.8 illustriert. Sobald der Transmitter an den Rezeptor gebunden ist, bildet ein trimeres G-Protein mit dem Rezeptor einen Komplex. Auch hierin sind sich Rhodopsin, der Muscarinrezeptor und die übrigen, mit G-Proteinen vergesellschafteten Rezeptoren ähnlich. Das an das G-Protein gebundene GDP wird gegen GTP ausgetauscht (s. a. S. 37). Dann entsteht ein aktiviertes G-Protein, bestehend aus GTP und der αUntereinheit (Abb. 5.7 u. 5.8), das schließlich einen K+Kanal öffnet. In diesem Beispiel würde der Agonist also die postsynaptische Zelle hyperpolarisieren, d. h. hemmen (s. nächster Abschnitt). Für eine Beeinflussung von Ionenkanälen durch sekundäre Botenstoffe gibt es viele Möglichkeiten. Es können verschiedene Botenstoffe verwendet werden, um Ionenkanäle zu öffnen oder zu schließen. Neben der beschriebenen Öffnung eines Kanals durch die aktivierte α-Untereinheit des G-Proteins kann an manchen Synapsen auch die β-γ-Untereinheit durch GTP aktiviert werden, z. B. am Herzen. An anderen metabotropen Synapsen

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5.6 Transmitterwirkung können sekundäre Botenstoffe zwischengeschaltet sein. So können Ionenkanäle durch cAMP/IP3 oder durch Phosphorylierung über die Proteinkinase C geöffnet werden. Dieser Vorgang geht wieder von einem G-Protein aus, das die Phospholipase C aktiviert. Dies führt zur Bildung von IP3. Zusätzlich wird über die Bildung von Diacylglycerin (DAG) die Proteinkinase aktiviert. Die Wirkungsmechanismen sekundärer Botenstoffe sind auf S. 37 näher beschrieben und bei der Besprechung von Effektorsynapsen im Kap. 27 genauer dargestellt.

Bei den muscarinischen Synapsen – weitere werden später besprochen – sind die Bindungsstelle für den Transmitter und der Ionenkanal nicht im selben Membranprotein lokalisiert. Dieser Umstand ergibt eine weitere Möglichkeit zur Beeinflussung der Synapsenfunktion. Zunächst gibt es am Rezeptor wieder kompetitive Blocker, bei der muscarinischen Synapse etwa das Gift der Tollkirsche, das Atropin (s. Tab. 5.1, S. 92). Häufig kennt man aber auch Substanzen, die den Ionenkanal selbst verlegen und ihn so blockieren. Diese Substanzen konkurrieren nicht mit der Bindungsstelle, sind also nichtkompetitive Blocker. Noch wichtiger ist der Umstand, dass manche Bakteriengifte wie das Cholera-Toxin oder das Pertussis-Toxin (Keuchhusten) mit den G-Proteinen interagieren (s. S. 37). Es liegt auf der Hand, dass Synapsen, die derartige Mechanismen benutzen, sehr langsam sind. Es müssen ja erst mehrere chemische Reaktionen ablaufen, bevor die Membranleitfähigkeit geändert werden kann. Die Übertragungszeiten liegen daher in der Größenordnung von 100 ms. Muscarinische Synapsen kommen postganglionär parasympathisch, als Autorezeptoren sowie im ZNS vor. Über muscarinische Rezeptoren, die von Axonen des Nucleus basalis (Meynert) ausgebildet werden, werden insbesondere Lernvorgänge gesteuert. Bei der AlzheimerKrankheit geht die Zellzahl im Meynert-Kern zurück.

Transmitter können auch inhibitorische postsynaptische Potenziale (IPSP) auslösen Entscheidend für den Effekt eines Transmitters ist, welche Art von Ionenkanälen letztlich geöffnet werden. Sind es Kanäle, die selektiv nur für K+ oder Cl– durchlässig sind, so kann der entstehende Ionenstrom das vorhandene Ruhemembranpotenzial negativer machen und damit einer Erregung entgegenwirken. Dieses Potenzial hemmt die Zellerregung und wird daher als inhibitorisches postsynaptisches Potenzial (IPSP) bezeichnet. Entscheidend für die Ionenströme an Membranen sind der aktuelle Wert des Membranpotenzials und Zahl und Art der geöffneten Ionenkanäle. Würde also eine Transmittersubstanz nicht den oben beschriebenen nicotinischen ACh-Rezeptor öffnen, sondern einen Ionenkanal mit einer anderen Ionenspezifität, so würden andere Ströme fließen und damit auch ein anderes Endergebnis entstehen. Entscheidend ist die Art des durch den Transmitter betätigten Kanalproteins. So gibt es an manchen

Synapsen Kanäle für K+, an anderen für Cl–. Letztere sind viel häufiger. Betrachten wir zunächst einen Rezeptor, der nach Bindung eines Transmitters metabotrop die Leitfähigkeit für K+ stark erhöht. Liegt ein normales Membranpotenzial vor, wird es zum Ausstrom weiterer K+-Ionen kommen, und entsprechend der Goldmann-Gleichung (S. 65 f.) wird durch die Permeabilitätserhöhung das Membranpotenzial hyperpolarisiert (Abb. 5.9). Es entsteht ein sog. inhibitorisches postsynaptisches Potenzial (IPSP). Es ist so benannt, weil die dabei auftretende Hyperpolarisation einer Depolarisation und damit einer Erregung entgegenwirkt, also die Zelle hemmt (inhibiert). Grundsätzlich ähnliche Verhältnisse liegen vor, wenn der Hyperpolarisationsstrom von Cl–-Ionen getragen wird. Weil das Gleichgewichtspotenzial für Cl– zwischen – 70 und – 75 mV liegt, strömt Cl– in die Zelle und hyperpolarisiert sie, wenn das aktuelle Membranpotenzial weniger negativ ist als dieser Wert. Dies ist bei sehr vielen Zellen der Fall.

EPSP und IPSP an einer Zellmembran beeinflussen sich gegenseitig Werden an einer Zellmembran gleichzeitig erregende (exzitatorische) und hemmende (inhibitorische) Synapsen aktiviert, dann reduziert ein Ionenstrom wechselseitig den Effekt des anderen. Somit besitzt der Organismus die Möglichkeit, erregende bzw. hemmende Einflüsse auf die Nervenzelle wirksam zu unterdrücken. Eine Nervenzelle ist mit Tausenden von synaptischen Endigungen, teils exzitatorischer, teils inhibitorischer Natur, besetzt. Werden benachbarte exzitatorische und inhibitorische Synapsen aktiviert, so überlagern sich die entstehenden Ströme und heben sich z. T. wechselseitig auf. Das resultierende postsynaptische Potenzial ist kleiner als das eines EPSP oder eines IPSP allein (Abb. 5.9). Bei gleichzeitiger Aktivierung einer inhibitorischen Synapse vermag ein EPSP die Zelle nur in geringerem Umfang zu depolarisieren, die Zelle wird weniger stark erregt, also gehemmt. Dabei ist nicht die Hyperpolarisation durch das IPSP, sondern die Erhöhung der Membranleitfähigkeit für K+ bzw. Cl– das Wesentliche. Dadurch nämlich wird das Membranpotenzial in der Nähe des Gleichgewichtspotenzials für K+ (bzw. Cl–), also bei stark negativen Werten, festgehalten, und der depolarisierende Effekt des Na+-Einstroms wird reduziert. Der Na+-Einstrom wird durch einen K+-Ausstrom oder einen Cl–-Einstrom kompensiert. Zusammengefasst: Ein EPSP kommt netto durch einen Na+-Einstrom zustande, ein IPSP durch einen K+-Ausstrom oder einen Cl–-Einstrom. Dann könnte man vermuten, dass eine Absenkung der Leitfähigkeit für K+ die Zelle ebenfalls depolarisieren sollte, wogegen eine Verringerung der Leitfähigkeit für Na+ zu einer Hyperpolarisation führen müsste. Dies ist tatsächlich so, und die Natur nutzt auch diesen Mechanismus, nämlich das Schließen von Ionenkanälen durch Transmitterbindung. Synapsen, bei denen zur Depolarisation die K+-Leitfähigkeit reduziert wird, gibt es in autonomen Ganglien. Hauptsächlich kommen dort nicotinische Synapsen vor, bei denen ACh über einen Na+-Einstrom ein EPSP auslöst. Es

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5 Erregungsübertragung in Zellverbänden A erregende Synapse (1) hemmende Synapse (2)

B

1

2 1

C

+

K

+

Na

+

KAusstrom

ENa

+

+40

+

K

+

–

K

Cl

+

Na

+40

0

–40

Reiz

+

K

–

Cl

0

Aktionspotenzial (AP) –40

2

Na+Einstrom

+80

Membranpotenzial (mV)

APSchwelle

–80

Reiz

EPSP

–80

EK

IPSP

+

–120

1 ms

EPSP

–120

1 ms

IPSP

EPSP + IPSP IPSS

Strom

90

EPSS EPSS

IPSS

EPSS + IPSS

Zeit

Abb. 5.9 A Vorgänge bei Auslösung eines EPSP nach einem elektrischen Reiz (Pfeil) auf eine präsynaptische Endigung. Dargestellt ist der exzitatorische postsynaptische Strom (EPSS) und das zugehörige exzitatorische Potenzial (EPSP). Überschreitet dieses die Schwelle, so wird zusätzlich ein Aktionspotenzial (AP) ausgelöst, das über spannungsabhängige Na+-Kanäle das Membranpotenzial in Richtung ENa, dem Gleichgewichtspotenzial für Na+, depolarisiert. B Auslösung eines IPSP, dargestellt ist wieder der inhibitorische postsynaptische Strom (IPSS) und das zugehörige inhibitorische Potenzial (IPSP). Dabei ist angenommen, der

finden sich aber auch andere, bei denen das ACh eine vorhandene K+-Leitfähigkeit vermindert und so ebenfalls ein (langandauerndes) EPSP auslöst. Die Reduktion einer vorhandenen Na+-Leitfähigkeit zur Hyperpolarisation einer Zelle ist an den Stäbchen und Zapfen der Retina zu beobachten (S. 692 f.). Noch etwas sollte man jetzt schon festhalten: Der Mechanismus der Entstehung von postsynaptischen Potenzialen entspricht weitgehend der Entstehung von sog. Rezeptorpotenzialen an den Sinneszellen (Rezeptorzellen) eines Sinnesorgans, wo Ionenkanäle durch bestimmte chemische oder physikalische Reize geöffnet oder geschlossen werden (S. 619). Die Ähnlichkeit nimmt nicht wunder. Eine Synapse ist ein hochspezialisiertes „Sinnesorgan“, das hochspezifisch auf bestimmte chemische Substanzen reagiert.

Strom sei durch K+-Ionen getragen. Cl–-Ionen können eine Rolle spielen, wenn das Membranpotenzial positiver ist, als das Gleichgewichtspotenzial für Cl–, das bei – 75 bis – 70 mV liegt. C Membranströme bei der Aktivierung exzitatorischer (EPSS) und inhibitorischer Synapsen (IPSS) und die daraus resultierenden postsynaptischen Potenziale (EPSP, IPSP). Bei gleichzeitiger Aktivierung exzitatorischer und inhibitorischer Synapsen überlagern sich die entstehenden Membranströme und heben sich teilweise auf. Das resultierende postsynaptische Potenzial (rot) wird daher sehr klein.

5.7

Beendigung synaptischer Prozesse

Der synaptische Übertragungsprozess muss schnell beendet werden, um für neuerliche Benutzung zur Verfügung zu stehen. Langdauernde Wirksamkeit des Überträgerstoffs würde bei vielen Synapsen zu einer Abnahme der erforderlichen Übertragungsraten führen. Daher wird der postsynaptische Rezeptor sehr schnell gegenüber dem Transmittermolekül desensitisiert. Der Transmitter kann auch enzymatisch abgebaut oder von der präsynaptischen Endigung oder Gliazellen wieder aufgenommen werden. Der synaptische Prozess muss schnell wieder beendet werden, sonst könnten neu eintreffende Signale nicht beantwortet werden, man spricht von einem Depolarisationsblock. Er tritt z. B. unter Succinylcholin an der motorischen Endplatte auf. Diese Substanz wird von

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5.8 Transmittersynthese Esterasen (s. später) nur langsam gespalten und führt daher zu einer Muskelerschlaffung, deren Mechanismus grundsätzlich anders ist als bei den kompetitiven Blockern vom Curaretyp (S. 74). Der Organismus besitzt drei Mechanismen, den synaptischen Strom zu beenden. Als erstes ist die Desensitisierung zu nennen. Dabei kommt es trotz fortdauernder Bindung des Transmitters an den Rezeptor erneut zu einer Konfigurationsänderung im Kanalprotein, es wird wieder für Ionen undurchlässig. Damit ist der synaptische Strom abgeschaltet, der Übertragungsvorgang beendet. Die Desensitisierung ist ein häufig benutzter, schneller Mechanismus. An manchen Synapsen kann es dann jedoch Minuten dauern, bis sich der Kanal rekonfiguriert und so wieder erregbar wird. Um eine zu lang dauernde Desensitisierung zu verhindern, gibt es zwei weitere Möglichkeiten, die Transmitterwirkung zu beenden. Der Transmitter kann entweder schnell chemisch abgebaut und in unwirksame Komponenten zerlegt oder aber durch Wiederaufnahme in die präsynaptische Endigung mit hoher Affinität aus dem synaptischen Spalt entfernt werden (Abb. 5.8). Im Zentralnervensystem können auch Gliazellen den Transmitter aufnehmen (Kap. 19). Dazu ist an glutamatergen (s. später) Synapsen der synaptische Bereich dicht von Astrozytenfortsätzen eingehüllt. Welcher der Inaktivierungsmechanismen an einer Synapse die größere Rolle spielt, hängt vom jeweiligen Synapsentyp ab. ACh wird beispielsweise durch ACh-Esterasen außerordentlich schnell hydrolytisch gespalten. Es entsteht ein Acetylrest und Cholin; Letzteres wird durch einen hochspezifischen Carriermechanismus, ein Na+-Cholin-Kotransport, wieder in die präsynaptische Endigung aufgenommen und erneut zur Bildung von ACh verwendet. Hier bietet sich bei cholinergen Synapsen wieder die Möglichkeit der pharmakologischen Beeinflussbarkeit. Die ACh-Esterase kann durch Substanzen wie Eserin (Physostigmin) gehemmt werden. Die Wirksamkeitsdauer des ausgeschütteten ACh wird daher verlängert. Therapeutisch wird dies genutzt, wenn man zur Beendigung einer Muskelrelaxation nach einer Narkose mit Hilfe einer hohen ACh-Konzentration kompetitive Blocker vom Curaretyp entsprechend dem Massenwirkungsgesetz von den ACh-Rezeptoren verdrängen will. So kann die Muskelrelaxation schnell wieder aufgehoben werden. Auch bei der Muskelerkrankung Myasthenia gravis werden Blocker der ACh-Esterase erfolgreich eingesetzt. Diese Krankheit ist eine Autoimmunerkrankung, bei der der Organismus Antikörper gegen den nicotinischen ACh-Rezeptor bildet (S. 112). Wegen der Bindung der Antikörper an den Rezeptor nimmt am Muskel die Zahl der verfügbaren ACh-Rezeptoren ab. Die ungenügende synaptische Depolarisation reduziert die Zahl der postsynaptischen Aktionspotenziale und führt damit zu einer Muskelschwäche. Diese kann durch Eserin behoben werden. Viele Insektizide, wie etwa Paraxon, der aktive Metabolit des Parathions (E 605) oder Sarin, sind ACh-Esterase-Hemmer. Die geschilderten Wiederaufnahmemechanismen an den präsynaptischen Endigungen nehmen entwe-

der die Transmitterbruchstücke (z. B. Cholin) oder das gesamte Transmittermolekül auf (z. B. Serotonin). Dazu liegen in der präsynaptischen Membran spezifische Transporterproteine. Dieser Mechanismus der Wiederaufnahme von Transmitterbruchstücken bzw. des gesamten Transmittermoleküls kann an vielen Synapsen wiederum wirksam beeinflusst werden. Manche Psychopharmaka greifen gerade an diesem synaptischen Mechanismus an. So blockiert z. B. die antidepressive Substanz Imipramin die Wiederaufnahme von Catecholaminen an adrenergen Synapsen (S. 96). Dadurch wird die Wirksamkeit des Transmitters gesteigert. Derartige Substanzen, allgemein Reuptake-Hemmer genannt, werden in der Psychopharmakologie häufig eingesetzt.

5.8

Transmittersynthese

Die präsynaptische Endigung besitzt den enzymatischen Apparat zur Synthese des Transmitters. So können die Vesikel schnell wieder aufgefüllt werden. Die notwendigen Enzyme müssen aber im Zellkörper synthetisiert werden und gelangen durch axonalen Transport in die Endigung. Häufig produziert eine Endigung mehrere Transmitter (Cotransmitter). Der gelegentlich hohe Bedarf an Transmittermolekülen erzwingt in der Regel eine Synthese am Ort des Bedarfs, in der präsynaptischen Endigung. Allerdings werden die zur Synthese notwendigen Enzyme im Zellkörper synthetisiert und durch axonalen Transport in die synaptische Endigung gebracht. Da die Transmittersynthese somit von der Art des Transmitters abhängt, soll hier zunächst beispielhaft wieder eine cholinerge Synapse dargestellt werden. Andere Transmittersubstanzen haben selbstverständlich ihre eigenen Synthesewege. Das ACh entsteht mit Hilfe der Cholinacetyltransferase durch Acetylierung des Cholins, wobei der Essigsäurerest aus dem Acetylcoenzym A stammt. Cholin ist im Körper weit verbreitet und wird von der Nervenendigung durch zwei verschiedene Transportmechanismen aufgenommen, von denen einer eine sehr hohe Affinität besitzt (sog. High Affinity Uptake). Dieser Weg wird durch Hemicholinium blockiert. Ist die Nervenendigung depolarisiert, d. h. aktiviert, so wird die Cholinaufnahme beschleunigt. Das im Zytoplasma synthetisierte ACh wird durch Transporter aktiv in die synaptischen Vesikel transportiert und gespeichert. Es kommt dort in sehr hoher Konzentration von 100 mmol/l und mehr vor, was einigen tausend Molekülen pro Vesikel entspricht. Allgemein kann man sagen, dass niedermolekulare Transmittersubstanzen in kleinen (40 – 50 nm), elektronenoptisch transparenten Vesikeln gespeichert werden, wogegen die großen (> 70 nm) elektronenoptisch dichten Vesikel Proteine und Peptide enthalten. Diese Substanzen werden nicht in der präsynaptischen Endigung, sondern im Zellkörper gebildet und gelangen über axonalen Transport in die präsynaptische Endigung. Es soll schon hier gesagt sein, dass die Synapsen zwar nach ihrem Haupttransmitter benannt werden (z. B. cholinerg), dass aber fast alle synaptischen Terminale nicht nur eine einzige Transmittersubstanz freisetzen, sondern

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92

5 Erregungsübertragung in Zellverbänden wesentlich unterscheiden (s. Tab. 5.3 und Abb. 5.12, S. 97). Schließlich sind manche Pharmaka an Synapsen des Zentralnervensystems nur deswegen unwirksam, weil sie die Blut-Hirn-Schranke nicht durchdringen und so nicht an den möglichen Wirkort gelangen können. Der Depolarisationsblock bei Succinylcholin (Suxamethonium) und ähnlichen Substanzen kommt durch die geringfügige Depolarisation an der motorischen Endplatte zustande. Sie wird durch diese Stoffe wegen des länger andauernden Na+-Einstroms verursacht. Nach einer anfänglichen Aktivierung der Muskelzelle, die zu fibrillären Zuckungen führt, können die spannungsabhängigen Na+-Kanäle (s. S.70) nicht wieder reaktiviert werden. Dadurch wird die Entstehung weiterer Muskelaktionspotenziale verhindert. Schließlich kommt es auch zu einer Densitisierung der AChRezeptoren.

eine ganze Reihe von biologisch aktiven Stoffen gleichzeitig. Beispiele sind ATP, GTP, Oxytocin, Substanz P, Enkephaline und andere. Man nennt sie Cotransmitter. Auch mehrere der klassischen Transmitter (S. 92 ff.), z. B. Glycin und GABA oder Glycin und Glutamat, kommen gleichzeitig vor. Die Cotransmitter können den synaptischen Prozess modulieren. Sofern sie in den großen elektronendichten Vesikeln gespeichert sind, können sie auch eine eigene Freisetzungskinetik besitzen, z. B. erst auf hochfrequente präsynaptische Aktionspotenziale hin ausgeschüttet werden.

5.9

Pharmakologie cholinerger Synapsen

Kompetitive Blocker an nicotinischen Synapsen sind Pharmaka vom Curaretyp. Diese sind an muscarinischen Synapsen unwirksam. Dort ist Atropin der klassische kompetitive Blocker. An vielen Stellen wurde bereits die Möglichkeit zur pharmakologischen Beeinflussung cholinerger Synapsen angedeutet. Diese für den Arzt wichtigen Daten sollen in der Tab. 5.1 noch einmal zusammengefasst werden. Die Tabelle gibt auch Auskunft über das Vorkommen einzelner Synapsentypen. Man beachte, dass wesentliche Unterschiede zwischen nicotinischen und muscarinischen Rezeptoren bestehen, und dass auch innerhalb eines Rezeptortyps Untertypen vorkommen, die sich manchmal in ihren Eigenschaften

5.10

Weitere Transmittersubstanzen

Neben ACh sind Aminosäuren (Glutamat, Glycin und γ-Aminobuttersäure), Monoamine (Serotonin, Histamin, Dopamin, Noradrenalin und Adrenalin) und schließlich eine Reihe von Oligopeptiden als Transmitter bekannt (Abb. 5.10).

Tabelle 5.1 Auswahl von Stoffen, die die verschiedenen Funktionsschritte an cholinergen nicotinischen und muscarinischen Synapsen beeinflussen Nicotinische Synapsen

Muscarinische Synapsen

Rezeptortypen

N1, N2; viele Subtypen

m1 – m5

Vorkommen

N1 motorische Endplatte; N2 präganglionär in autonomen Ganglien, ZNS

postganglionär parasympathisch, ZNS, Autorezeptoren

Transmittersynthese

kein spezifischer Hemmer der Cholinacetyltransferase bekannt Hemicholinium hemmt Cholinwiederaufnahme ! Speicherentleerung

Transmitterfreisetzung verstärkt abgeschwächt

β-Bungarotoxin (Schlangengift) Botulinumtoxin, Mg2+

keine spezifischen Substanzen bekannt Mg2+

Nicotin (N1, N2)

Muscarin (Fliegenpilz) Methacholin Oxytremorin Pilocarpin

Bindung an postsynaptischen Rezeptor Agonisten = Cholinomimetika

N1: Succinylcholin Dekamethonium Antagonisten – kompetitive Blocker

motorische Endplatte: Depolarisationsblock

N1: α-Bungarotoxin (Schlangengift)

Atropin (Tollkirsche) Scopolamin

N1: d-Tubocurarin Gallamin

motorische Endplatte: Muskelrelaxanzien

Pirenzepin (M1)

N2: Hexamethonium

autonome Ganglien

– nichtkompetitive Blocker

keine spezifischen Substanzen bekannt

Chinidin (Herz)

Spaltung des ACh

gehemmt durch ACh-Esterase-Hemmer wie Eserin, E 605, Sarin; Tacrin (im ZNS)

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5.10 Weitere Transmittersubstanzen

Glutamat ist im Gehirn der wichtigste Transmitter für exzitatorische Synapsen Synapsen, die Glutamat verwenden, finden sich an etwa 50 % der Neurone des ZNS, besonders im Telenzephalon und im Hippocampus. Die von Glutamat beeinflussten ligandengesteuerten Rezeptorkanäle sind exzitatorisch. Die genannten Bahnen bilden die wichtigsten erregenden Eingänge von den Sinnessystemen zum Kortex. Insbesondere sind sie an Lernvorgängen beteiligt. Glutamat ist somit der wichtigste zentralnervöse Transmitter! Dementsprechend wird der Glutamatantagonist Ketamin (s. Tab. 5.2) als Narkosemittel verwendet. Die Freisetzung von Glutamat erfolgt, ebenso wie für ACh beschrieben, in Abhängigkeit von Ca2+, die Beendigung der synaptischen Prozesse aber nicht durch enzymatische Spaltung, sondern durch Wiederaufnahme („reuptake“) des Transmitters. Vorwiegend die präsynaptischen Endigungen nehmen das Glutamat auf, aber auch Astroglia (S. 616) ist daran beteiligt. Glutamat öffnet direkt einen unspezifischen Ionenkanal für Kationen. Der postsynaptische Rezeptor kommt in mindestens drei verschiedenen Haupttypen vor, von denen wiederum viele Subtypen existieren. Sie unterscheiden sich in ihrer Empfindlichkeit gegenüber synthetischen Agonisten (Tab. 5.2). Ein Typ wird durch N-Methyl-D-Aspartat (NMDA) erregt und daher NMDA-Rezeptor genannt. Viele der mit diesem Rezeptortyp ausgestatteten Synapsen besitzen gegenüber den gewöhnlichen Synapsen einen zusätzlichen Mechanismus. An ihnen wirkt nämlich das in der extrazellulären Flüssigkeit vorhandene Mg2+ als nichtkompetitiver Blocker und verlegt den zugehörigen Ionenkanal (Abb. 5.11). Somit ist zunächst eine Transmitterausschüttung unwirksam. Wird

CH3 +

CH3 N

O

CH3 H3

+

N

O

CH2 CH2

HO

C CH3

–

CH2 COO

COO

HO

+

H3

N

N

+

N

+

CH2 CH2 NH3

NH Histamin

+

CH2 CH2 NH3

HO

–

Dopamin

–

CH2 CH2 CH2 COO

CH CH2 NH3

HO

OH

HO Glycin

Neurotransmitter

Leu-Enkephalin Noradrenalin

HO

–

CH2 COO

Neuropeptide

+

HO

GABA

H3

C

5-HT

Glutamat +

Exzessive Reizung von manchen NMDA-Synapsen kann die postsynaptische Zelle aber auch irreversibel schädigen (sog. Exzitotoxizität), was möglicherweise durch den starken Ca2+-Einstrom zustande kommt. Offenbar tritt an Rezeptoren diesen Typs die Desensitisierung sehr langsam ein. Exzitotoxizität verstärkt manche neurologische Erkrankungen wie Hörschäden, Morbus Alzheimer oder Nachfolgeschäden bei Schlaganfall, die primär durch Hypoxie bedingt sind.

CH2 CH2 NH3

N H

Acetylcholin

CH CH2

C

das Membranpotenzial der postsynaptischen Zelle jedoch durch exzitatorische Synapsen anderen Typs (AMPA-Rezeptor, AMPA = α-Amino-3-hydroxy-5-methyl-4-isoxazol-propionsäure) ein klein wenig vordepolarisiert, dann nehmen die Bindungskräfte für Mg2+ ab, das Mg2+ diffundiert vom Ionenkanal weg, Na+-Ionen können in die Zelle eindringen und so eine starke Depolarisation auslösen. Durch denselben Ionenkanal können jetzt zusätzlich aber auch noch Ca2+-Ionen in das Zellinnere gelangen. Sie tragen dort über sekundäre Botenstoffe und Proteinveränderungen zur Ausbildung langanhaltender Potenzierungen der synaptischen Effektivität bei (Langzeitpotenzierung). Sie bilden so eine Grundlage für Lernvorgänge (S. 818). Auch eine Reduzierung synaptischer Aktivität (Langzeitdepression) ist über einen ähnlichen Mechanismus möglich. Da der Eingang über die NMDA-Synapse nur wirksam ist, wenn gleichzeitig andere Synapsen aktiv sind, die die Zelle depolarisieren, können an solchen postsynaptischen Neuronen logische Funktionen geschaltet werden. Das Stickoxid NO (S. 204) wirkt an NMDA-Synapsen als retrograder Messenger auf die Präsynapse zurück. Es entsteht vermehrt in der Postsynapse, wenn durch den Ca2+-Einstrom bei Depolarisation die NO-Synthase aktiviert wird.

CH OH

CH2

Tyr–Gly–Gly–Phe–Leu

+

NH2

Met-Enkephalin Tyr–Gly–Gly–Phe–Met

CH3 Adrenalin

Substanz P Arg – Pro – Lys – Pro – Gln – Gln – Phe – Phe – Gly – Leu – Met – NH2

Abb. 5.10 Strukturformeln der wichtigsten Neurotransmitter und einiger Neuropeptide. Man beachte die chemische Verwandtschaft von Dopamin, Noradrenalin und Adrenalin!

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94

5 Erregungsübertragung in Zellverbänden

A

Aktionspotenzial

kein Reiz

NO

B AMPARezeptor

Aktionspotenzial

Aktionspotenzial

NMDARezeptor 2+

Mg

2+

Mg Ruhepotenzial

+

Na

offener Kanal 2+ durch Mg blockiert: kein Ionenstrom

postsynaptische Zelle

2+

Ca

+

Na

Kanalfreigabe

Vordepolarisation +

K

+

K

NMDA-Kanal offen: Ionenstrom

Abb. 5.11 Synaptische Mechanismen an NMDA-Rezeptoren von Zellen des Hippocampus. A Mg2+ verlegt nichtkompetitiv den Ionenkanal des NMDA-Rezeptors, so dass auch nach Bindung von Glutamat kein Ionenstrom fließen kann. B Hat zuvor eine exzitatorische AMPA-Synapse an dieser Zelle das Membranpotenzial leicht vordepolarisiert,

An manchen der geschilderten Synapsen wird statt Glutamat Aspartat verwendet. Häufig ist an NMDA-Rezeptoren Glycin ein obligater Cotransmitter. Das zur Narkose verwendete Ketamin ist ein nichtkompetitiver Blocker von NMDA-Rezeptoren.

Aus dem synaptischen Spalt wird Glutamat entweder durch Aufnahme in die Präsynapse oder in Gliazellen entfernt (s. Glia, S. 616). Neben den ionotropen Glutamatrezeptoren gibt es noch eine Reihe metabotroper Glutamatrezeptoren (mGLU-R, s. Tab. 5.3, S. 97).

Glycin wirkt als Transmitter an inhibitorischen Synapsen und als Neuromodulator Glycin scheint vorwiegend für spezifische inhibitorische Aufgaben eingesetzt zu werden. Die meisten RenshawZellen, über die die α-Motoneurone des Rückenmarks (S. 748 f.) gehemmt werden, schütten Glycin aus. Strychnin ist dort ein kompetitiver Antagonist, und seine Verabreichung führt wegen des Wegfalls der Hemmung der α-Motoneurone zu Krämpfen. Das Tetanustoxin (s. S. 84) verhindert die Vesikelexozytose und führt deswegen ebenfalls zu Krämpfen, dem Wundstarrkrampf (Tetanus). Die Glycinrezeptoren öffnen einen Cl–-Kanal und führen so zu einem IPSP. Die Wirkung wird durch Wiederaufnahme beendet. 30 % der Renshaw-Zellen schütten aber GABA als inhibitorischen Transmitter aus.

dann kann das Mg2+-Ion nicht mehr am NMDA-Kanal binden. Der Mg2+-Block wird aufgehoben und Na+ und Ca2+ können in die Zelle einströmen. Das Ca2+ kann als intrazellulärer zweiter Botenstoff verwendet werden und weitere Prozesse, z. B. Lernvorgänge, einleiten. NO moduliert die Präsynapse retrograd.

Im Zentralnervensystem spielt Glycin auch die Rolle eines Cotransmitters bzw. Neuromodulators, wo es z. B. im Hippocampus die im vorigen Abschnitt beschriebenen NMDA-Rezeptoren beeinflusst.

GABA ist der Transmitter vieler inhibitorischer Interneurone Viele inhibitorische Interneurone, die an praktisch allen Stellen des Zentralnervensystems vorkommen, und die Axone der Purkinje-Zellen des Zerebellums schütten γ-Aminobuttersäure (GABA) als Transmitter aus. GABA wirkt hemmend auf postsynaptische Strukturen, bewirkt also eine Inhibition. Es gibt wieder mindestens zwei verschiedene postsynaptische Mechanismen, die durch verschiedene Rezeptoren (GABAA, GABAC einerseits; GABAB andererseits) ausgelöst werden. GABAA- und GABAC-Rezeptoren öffnen direkt einen Cl–-Kanal, es kommt zum Cl–-Einstrom und damit zu einer Hyperpolarisation, also zu einem IPSP. Die Barbituratnarkotika, die Steroidanästhetika und die Tranquilizer (Beruhigungsmittel) aus der Klasse der Benzodiazepine (z. B. Diazepam) verstärken die inhibitorische Wirkung von GABAA-Rezeptoren. Dies liegt daran, dass die genannten Substanzklassen zusätzlich zu GABA am Protein des Ionenkanals binden können und so die GABA-Wirkung verstärken. Das Kanalprotein ist auch hier wieder aus mehreren Untereinheiten aufgebaut. Eine dieser Untereinheiten bindet GABA, eine andere kann zusätzlich Benzodiazepine, eine andere Barbiturate, wieder eine andere die Steroide binden. Es ist derzeit nicht klar, welche natürli-

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5.10 Weitere Transmittersubstanzen chen Stoffe (etwa Neuromodulatoren) am sog. Benzodiazepinrezeptor bzw. Barbituratrezeptor angreifen. Die genannten Untereinheiten können unterschiedliche chemische Eigenschaften besitzen, was zu unterschiedlichen pharmakologischen Eigenschaften führt. Bicucullin ist ein kompetitiver Blocker für den GABAA-, nicht aber für den GABAC-Rezeptor. Das Krampfgift Picrotoxin ist ein nichtkompetitiver Blocker, der den Cl–-Kanal schließt. Die GABAB-Rezeptoren öffnen K+-Kanäle über G-Proteine. Ein Agonist ist Baclofen. Präsynaptische GABAB-Rezeptoren schließen Ca2+-Kanäle und hemmen die Transmitterfreisetzung.

Die GABA-Wirkung wird dadurch beendet, dass GABA durch die präsynaptische Endigung und durch Gliazellen aufgenommen wird.

Monoaminerge Synapsen sind häufig bei psychischen Erkrankungen gestört Serotonin (5-Hydroxytryptamin = 5-HT) ist im Körper weit verbreitet. Im Gehirn ist es besonders in den Raphekernen zu finden. Von dort gibt es viele Projektionen ins limbische System, zum Thalamus und Hypothalamus, ins Vorderhirn, ins Kleinhirn und ins Rückenmark. Über diese Bahnen werden offenbar viele neuronale und letztlich psychische Funktionen kontrolliert. So versteht man, dass eine Substanz wie Lysergsäurediethylamid (LSD), das teilweise als Agonist, teilweise als Antagonist von 5-HT wirkt, schwerste psychische Veränderungen wie z. B. Halluzinationen auslöst. Im Rückenmark ist Serotonin an der endogenen Schmerzhemmung beteiligt (s. Kap. 20.9, S. 655). Die Transmitterfreisetzung erfolgt auf die übliche Weise. Postsynaptisch sind mehrere verschiedene Rezeptoren gefunden worden, die meist über sekundäre Botenstoffe Ionenkanäle für K+ und Ca2+ öffnen. Die Transmitterwirkung wird durch Wiederaufnahme beendet. Dieser Mechanismus wird durch manche Psychopharmaka gehemmt (Reuptake-Hemmer). Ein weiteres Monoamin, das als Transmitter verwendet wird, ist Histamin. Es spielt im Gehirn des Säugers eine wichtige Rolle als Modulator. Histaminerge Neurone gehen vom hinteren Hypothalamus aus und ziehen an viele Stellen des Gehirns, wo sie den Wachheitszustand, motorische Aktivität, Nahrungsaufnahme, Sexualverhalten und den Hirnstoffwechsel beeinflussen. Wegen der Beteiligung dieser Neurone an der Schlaf-wach-Regulation (s. S. 842 ff.) erzeugen viele Antihistaminika Müdigkeit. Vor allem wird Histamin an vielen Effektoren eingesetzt, z. B. bei der Sekretion von Magensaft, und ist daher dort abgehandelt (S. 428 ff.) Bei Entzündungsvorgängen spielt es ebenfalls eine große Rolle. Die Catecholamine sind strukturell nah miteinander verwandt (Abb. 5.10). Das Dopamin kommt insbesondere in den Basalganglien vor, wo Neurone aus der Substantia nigra eine dopaminerge Bahn zum Striatum bilden. Bei der sog. Parkinson-Krankheit (Schüttellähmung) gehen viele dieser Neurone zugrunde. Die vom Striatum auf die Motorik ausgeübte Kontrollfunktion ist dann gestört (S. 767). Therapeutisch wird dann eine Vorstufe von Dopamin, das L-Dopa, verabreicht. Es kann im Gegensatz zu Dopamin die Blut-Hirn-Schranke durchdringen und

führt nach Verstoffwechselung zu einem Anstieg der zerebralen Dopaminspiegel, was die Symptome bessert. Es gibt mehrere verschiedene Dopaminrezeptoren. Alle wirken über sekundäre Botenstoffe, die postsynaptische Wirkung kann inhibitorisch oder exzitatorisch sein. Dopamin wird aus dem synaptischen Spalt sehr schnell wieder in die präsynaptische Endigung aufgenommen. Dort kann es durch Monoaminoxidasen abgebaut werden. Außerhalb des Neurons wird es durch Catechol-OMethyltransferase metabolisiert. Therapeutisch wird Dopamin als β1-Agonist bei kardiogenem Schock eingesetzt. Bei der Ausbildung einer Sucht spielen die dopaminergen Bahnen, die von der Area ventralis tegmentalis ausgehen und zum Nucleus accumbeus projizieren, eine wichtige Rolle.

Noradrenalin wird im ZNS vor allem von den Neuronen des Locus coeruleus als Transmitter verwendet. Dieser Kern besteht aus nur etwa 1000 Zellen, deren Axone sich jedoch so vielfach verzweigen, dass die zugehörigen adrenergen Endigungen an vielen Stellen des ZNS zu finden sind. Sie haben modulierenden Einfluss z. B. auf Reifungsprozesse und Lernvorgänge, Verarbeitung von Sinnesreizen, Schlafregulation (s. S. 843 f.) und endogene Schmerzhemmung. Im peripheren Nervensystem sind Noradrenalin (und, in geringerem Maße, Adrenalin) ferner Überträgerstoffe der sympathischen postganglionären Endigungen, wichtig z. B. am Herzen und an der Gefäßmuskulatur (S. 789). An einigen zentralen Synapsen kommt auch Adrenalin als Transmitter vor. Für Catecholamine gibt es vier Haupttypen von Rezeptoren, α1, α2 sowie β1 und β2. Sie unterscheiden sich in ihrem Ansprechen auf verschiedene Agonisten bzw. Antagonisten, aber auch in ihren postsynaptischen Effekten. Die α1-Rezeptoren steuern über den sekundären Botenstoff IP3 (Kap. 2) die Ca2+-Kanäle und erhöhen bei Aktivierung das intrazelluläre Ca2+. α2-Rezeptoren führen zu einer Konzentrationsverminderung des sekundären Botenstoffs cAMP, was seinerseits unterschiedliche Wirkungen auslösen kann. β-Rezeptoren, z. B. an den Purkinje-Zellen des Kleinhirns, erhöhen über den sekundären Botenstoff cAMP die K+-Leitfähigkeit und bilden so ein IPSP. In Bezug auf die Wirkungen an Herz und Gefäßen s. Abb. 27.2, S. 788. Wiederaufnahme und Abbau ähneln denen des Dopamins. Tab. 5.2 stellt die wichtigsten Möglichkeiten zur Beeinflussung verschiedener Synapsen zusammen. Die Tabelle 5.3 gibt einen Überblick über die Wirkungsmechanismen verschiedener Rezeptoren. Es soll noch einmal betont werden, dass sehr viele psychotrope Drogen mit serotonergen, dopaminergen oder adrenergen Synapsen interagieren, z. B. das Kakteengift Mescalin oder die Designerdroge Ecstasy. Viele postsynaptische Rezeptoren kommen überdies in verschiedenen Subtypen vor, die eine spezifische Verteilung im Gehirn aufweisen (Abb. 5.12). Deren biologische Bedeutung liegt darin, dass diese Subtypen verschieden schnell auf den Transmitter reagieren. So kann der Organismus damit schnellere und langsamere Synapsen realisieren. Biochemische Grundlage sind Varianten im Rezeptorprotein. Man

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5 Erregungsübertragung in Zellverbänden

Einflüsse auf

Tabelle 5.2

Auswahl von Stoffen, die an verschiedenen Synapsentypen den Funktionsablauf verändern Glutamat

Glycin

GABA

5-HT = Serotonin

Dopamin

Noradrenalin Adrenalin

Opioidpeptide

Rezeptoren

NMDA AMPA Kainat mGluR1 – 5

GlyR

GABAA GABAB GABAC

5-HT1 – 7

D1 – D5

α1, α2, β1, β2

µ, δ, κ

Transmittersynthese





Allylglycin hemmt GAD



α-Methylα-Methylmetatyrosin DOPA ! falscher Transmitter

Transmitterspeicherung







– Mg2+

– Mg2+

– Mg2+

Transmitterfreisetzung verstärkt abgeschwächt Agonisten

Einflüsse an postsynaptischen Rezeptoren

96

Reserpin Speicherentleerung durch Hemmung der Vesikelbeladung

– Mg2+, LSD

Mg2+

Amphetamin Mg2+

GABAA Muscimol LSD indirekt: Benzodiα-methyl-5-HT azepine,Barbiturate GABAB Baclofen GABAC CACA

Bromocriptin

α1: Phenylephrin, Dopamin α2: Clonidin β1: Dobutamin Isoproβ2: Salbutamol terenol

APV CNQX

Strychnin

Bicucullin (GABAA) Gabazin Phaclofen (GABAB)

Cyproheptadin Methysergid LSD

Haloperidol

nicht kompetitiv

Mg2+ Kynureninsäure Ketamin (NMDA)

Picrotoxin

Picrotoxin (GABAA GABAC)





α1: Prazosin α2: Yohimbin β1: Atenolol β2: Butoxamin –

Inaktivierung des Transmitters





Wiederaufnahme gehemmt durch 4-Methyl-GABA

Wiederaufnahme gehemmt durch Imipramin, Amitriptylin, Fluoxetin (Antidepressiva)

Aminooxyessigsäure hemmt GABA-Transaminase





NMDA Taurin AMPA Kainat AP4 (mGluR)

Antagonisten kompetitiv



µ: Morphin

Phenoxy- Naloxon benzamin Propranolol

Cocain, Imipramin hemmen Wiederaufnahme

Enkephalinasehemmer verstärken Wirkung

Catechol-O-Methyltransferase-Hemmer verzögern Abbau Monoaminoxidasehemmer hemmen Abbau

–: Spezifische Substanzen fehlen

hofft, an diesem Subtypen auch durch neu zu entwickelnde Neuropharmaka (hochspezifische Agonisten oder Antagonisten) gezielt therapeutisch eingreifen zu können.

Auch ATP, NO und CO können transmitterähnliche Funktionen übernehmen Alle synaptischen Vesikel enthalten ATP, das mit dem Haupttransmitter ausgeschüttet wird. Es wirkt entweder direkt als Cotransmitter oder die Abbauprodukte ADP bzw. AMP übernehmen diese Rolle. Entsprechende Rezeptoren, die Purinozeptoren, sind entweder ligandengesteuert oder metabotrop. Sie modulieren die Antworten auf die klassischen Transmittersubstanzen. Auch das leicht diffusible Radikal NO (Stickstoffmonoxid) bzw. CO (Kohlenstoffmonoxid) können trans-

mitterähnliche Funktionen übernehmen. Dabei können z. B. präsynaptische Prozesse in einer Art Rückkopplung beeinflusst werden (s. Abb. 5.11). Auch H2O2 scheint eine derartige Rolle spielen zu können. Es mag sein, dass diese Art der Informationsübertragung im ZNS eine sehr große Rolle spielt. Die Wirkungsabläufe lassen sich dabei aber nicht in das klassische Synapsenschema einordnen (s. a. Kap. 2).

Oligopeptide, die als Transmitter oder Neuromodulatoren wirken, nennt man Neuropeptide Mit den bisher beschriebenen Stoffen ist die Liste der Transmitter noch immer nicht vollständig. Bestimmte Oligopeptide bzw. kurzkettige Polypeptide, bestehend aus 2 – 30 Aminosäuren, werden auch als Transmitter

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5.10 Weitere Transmittersubstanzen

Abb. 5.12 Verteilung von Subtypen eines NMDA-Rezeptors im Rattenhirn. Mit einer molekularbiologischen Methode (In-situ-Hybridisation) sind hell Subtypen von NMDARezeptoren im Gehirn markiert. Man sieht, dass manche

Tabelle 5.3 Beispiele von Transmitterwirkungen an verschiedenen Rezeptortypen [nach 33, modifiziert]. Die beeinflussten sekundären Botenstoffe können ihrerseits wieder verschiedene Effekte auslösen Transmitter

Rezeptortyp

Wirkung über

Acetylcholin

N1 (Muskeltyp) N2 (neuronale Typen)

ligandengesteuerte Kationenkanäle

m1, m3, m5 m2

IP3/DAG Gα-GTP, GK+ ↑

NMDA, AMPA

ligandengesteuerte Kationenkanäle

mGluR1 – 8

IP3/DAG

Glycin

GlyR

Anionenkanal

GABA

GABAA, GABAC

Cl–-Kanal

GABAB

cAMP ↑, GK+ ↑, Ca2+ ↑

Glutamat

Serotonin

5-HT1

cAMP ↓

5-HT2

IP3/DAG

5-HT3

ligandengesteuerter Kationenkanal

5-HT4 – 7

cAMP ↑

D1, D8

cAMP ↑

D2, D3, D4

cAMP ↓

Noradrenalin

α1

IP3/DAG

Adrenalin

α2

cAMP ↓, Ca2+ ↓, GK+ ↑

β1, β2

cAMP ↑

Dopamin

Opioide

µ, δ

cAMP ↓, GK+↑

κ

Ca2 ↓

Subtypen dieses Rezeptors praktisch nur in bestimmten Hirnteilen, z. B. im Hippocampus (Mitte) oder im Kleinhirn (rechts), vorkommen (Aufnahme: Frau Prof. H. Monyer, Heidelberg).

oder Cotransmitter eingesetzt bzw. zur Modulation synaptischer Vorgänge verwendet. So sind Enkephalin, Endorphin und Dynorphin Transmitter an denjenigen Synapsen, an denen auch Opiate angreifen. Opiate (z. B. Morphin) sind starke Schmerzmittel. Die oben genannten Opioidpeptide hemmen ebenso wie Opiate die Weiterleitung von Schmerzen im Rückenmark (s. S. 655). Sie spielen außerdem in limbischen, autonomen und motorischen Systemen eine Rolle. Andere Neuropeptide sind die Substanz P, das Angiotensin II, das Somatostatin, das Thyrotropin-Releasing-Hormon (TRH), das Vasoaktive Intestinale Polypeptid (VIP), das Neuropeptid Y und viele andere. Die meisten der genannten Substanzen wurden zunächst an anderer Stelle des Körpers als Hormone entdeckt, bevor ihre Rolle bei der synaptischen Übertragung erkannt wurde, daher die Namen. Die Wirkung eines Hormons und eines Transmitters sind auch sehr ähnlich (S. 37 ff.). Wie schon gesagt, werden die Neuropeptide häufig zusammen mit anderen Transmittern aus den großen, elektronenoptisch dichten Vesikeln (Dense-Core-Vesikel) ausgeschüttet und modulieren, d. h. verändern dann präoder postsynaptisch deren Wirkung (Cotransmitter). Dies kann präsynaptisch durch eine Beeinflussung der Transmittersynthese bzw. -freisetzung geschehen. Auf der postsynaptischen Seite besteht die Möglichkeit einer direkten Wirkung auf Kanalproteine durch Phosphorylierung oder indirekt über Beeinflussung sekundärer Botenstoffe. Mit diesen Mechanismen kann die Transmitterwirkung über Minuten verstärkt oder abgeschwächt werden. Die Forschung ist hier noch sehr im Fluss, und man kann erwarten, dass sich auch hier ein weites Feld für die Neuropharmakologie auftun wird. Auch Steroide haben auf viele Rezeptortypen eine modulierende Wirkung.

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97

98

5 Erregungsübertragung in Zellverbänden

Neuron 2: Interneuron Neuron 1: primäre Afferenz Aktionspotenzial

mV

+

Na

–

Cl

Neuron 3: andere Afferenz

Inaktivierung +

K

2+

Ca

sekundäre Botenstoffe

2+

Ca -Einstrom

Modulation

mV

EPSP Neuron 3

postsynaptisches Neuron

Abb. 5.13 Schema verschiedener Möglichkeiten präsynaptischer Hemmung und Bahnung. Die Wirksamkeit der primären Afferenz (Neuron 1) auf das postsynaptische Neuron kann durch die Aktivität des Interneurons (Neuron 2) selektiv vermindert (oder erhöht) werden (s. Text). Das Membranpotenzial des postsynaptischen Neurons und die

5.11

Präsynaptische Bahnung und Hemmung

An der präsynaptischen Endigung können auch Synapsen angelagert sein. Diese axoaxonischen Synapsen können die Transmitterausschüttung hemmen oder verstärken. Eine weitere Möglichkeit, Synapsenfunktionen zu verändern, besitzt der Körper in der präsynaptischen Hemmung bzw. präsynaptischen Bahnung. Dabei wird eine synaptische Endigung (Neuron 1 in Abb. 5.13) ihrerseits von einer axoaxonischen Synapse beeinflusst. Dies kommt z. B. an Eingängen zu den α-Motoneuronen des Rückenmarks, aber auch an vielen anderen Synapsen des ZNS vor. Durch unterschiedliche Mechanismen kann über diese zusätzlichen Synapsen der Transmitterausstoß vermindert oder vergrößert werden. Am α-Motoneuron z. B. wird bei Aktivierung der zusätzlichen Synapse (Neuron 2 in Abb. 5.13) an der präsynaptischen Endigung über GABAB-Rezeptoren ein G-Protein aktiviert, das über cAMP die Leitfähigkeit für Ca2+ herabsetzt. Es strömt weniger Ca2+ in die synaptische Endigung (Neuron 1), was seinerseits die Transmitterausschüttung reduziert. In anderen Fällen kann durch eine Vordepolarisation der präsynaptischen Endigung die Amplitude des einlaufenden Aktionspotenzials verringert werden, was ebenfalls den Ca2+Einstrom reduziert. Ganz allgemein wird bei einer präsynaptischen Hemmung die Leitfähigkeit für Ca2+ reduziert, bei der Bahnung erhöht. Schließlich kann über eine

nA mV

EPSP Neuron 1

Wirksamkeit anderer synaptischer Eingänge (Neuron 3) sind unbeeinflusst. Für Neuron 1 ist die Amplitude des Aktionspotenzials, des Ca2+-Einstroms und das entstehende EPSP in Schwarz für den Normalfall dargestellt, in Rot bei gleichzeitiger Aktivierung von Neuron 2, d. h. bei präsynaptischer Hemmung.

Blockade von K+-Kanälen die Repolarisation nach einem Aktionspotenzial verzögert werden. Auch dadurch kann mehr Ca2+ in die synaptische Endigung strömen. Das Membranpotenzial der postsynaptischen Zelle wird durch die präsynaptische Hemmung in keiner Weise beeinflusst. Dies bietet den Vorteil, dass die Zelle für andere Eingänge voll sensibel ist, die Hemmung betrifft ganz ausschließlich die Nervenendigungen, an denen die präsynaptischen Endigungen ansetzen. In Kap. 19 wird näher ausgeführt werden, wie die geschilderten synaptischen Prozesse bei der Funktion neuronaler Netzwerke eingesetzt werden.

Zum Weiterlesen … 1 Herdegen T, Tölle T, Bähr M. Klinische Neurobiologie. Heidelberg: Spektrum; 1997 2 Kandel ER, Schwartz JH, Jessel TM, eds. Principles of Neural Science. 4th ed. New York: McGraw-Hill; 2000 3 Li L, Chin LS. The molecular machinery of synaptic vesicle exocytosis. Cell Mol Life Sci. 2003; 60: 942 – 960 4 Murthy VN, de Camilli P. Cell biology of the presynaptic terminal. Annu Rev Neurosci. 2003; 26: 701 – 728 5 Mutschler E, Geisslinger G, Kroemer HK, Schäfer-Korting M. Mutschler Arzneimittelwirkungen. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft; 2001 6 Shepherd GM. Neurobiology. 3rd ed. London: Oxford University Press; 1994 7 Südhof TC. The synaptic vesicle cycle: a cascade of proteinprotein interactions. Nature. 1995; 375: 645 – 653

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5.11 Präsynaptische Bahnung und Hemmung 8 Südhof TC. The synaptic vesicle cycle revisited. Neuron. 2000; 28: 317 – 320 9 Zimmermann H. Synaptic Transmission. Cellular and Molecular Basis. Stuttgart: Thieme; 1993

… und noch weiter 10 Auld DS, Robitaille R. Glial cells and neurotransmission: an inclusive view of synaptic function. Neuron. 2003; 40: 389 – 400 11 Barbour B, Häusser M. Intersynaptic diffusion of neurotransmitter. TINS. 1997; 20: 377 – 384 12 Bennett MR. The concept of long term potentiation of transmission at synapses. Prog Neurobiol. 2000; 60: 109 – 137 13 Bennett MR. The concept of transmitter receptors: 100 years on. Neuropharmacology. 2000; 39: 523 – 546 14 Bennett MV, Contreras JE, Bukauskas FF, Saez JC. New roles for astrocytes: gap junction hemichannels have something to communicate. Trends Neurosci. 2003; 26: 610 – 617 15 Brenman JE, Bredt DS. Synaptic signaling by nitric oxide. Curr Opin Neurobiol. 1997; 7: 374 – 378 16 Choi DW. Glutamate receptors and the induction of excitotoxic neuronal death. Prog Brain Res. 1994; 100: 47 – 51 17 Darlison MG, Richter D. Multiple genes for neuropeptides and their receptors: co-evolution and physiology. TINS. 1999; 22: 81 – 88 18 Dexcarries L, Mechawar N, Aznavour N, Watkins KC. Structural determinants of the roles of acetylcholine in cerebral cortex. Prog Brain Res. 2004; 145: 45 – 58 19 Ferreira A, Rapoport M. The synapsins: beyond the regulation of neurotransmitter release. Cell Mol Life Sci. 2002; 59: 589 – 595 20 Fossier P, Tauc L, Baux G. Calcium transients and neurotransmitter release at an identified synapse. TINS. 1999; 22: 161 – 166 21 Geppert M, Südhoff T. Rab3 and Synaptotagmin. Annu Rev Neurosci. 1998; 21: 75 – 95 22 Hatt H, Franke C, Dudel J. Synaptic-like activation of excitatory membrane channels (acetylcholine, glutamate). In: Elsner N, Penzlin H. Synapse, Transmission, Modulation. Stuttgart: Thieme; 1991: 119 – 129

23 Hilfiker S, Greengard P, Augustine GJ. Coupling calcium to SNARE-mediated synaptic vesicle fusion. Nature Neurosci. 1999; 2: 104 – 106 24 Jonas P. The time course of signaling at central glutamatergic synapses. News Physiol Sci. 2000; 15: 83 – 89 25 Jones S, Sudweeks S, Yakel JL. Nicotinic receptors in the brain: correlating physiology with function. TINS. 1999; 22: 555 – 561 26 Kasai H. Comparative biology of Ca2+-dependent exocytosis: implications of kinetic diversity for secretory function. TINS. 1999; 22: 88 – 93 27 Le Beau FE, Traub RD, Monyer H, Whittington MA, Buhl EH. The role of electrical signaling via gap junctions in the generation of fast network oscillations. Brain Res Bull. 2003; 62: 3 – 13 28 Meir A, Ginsburg S, Butkevich A, et al. Ion channels in presynaptic nerve terminals and control of transmitter release. Physiol Rev. 1999; 79: 1019 – 1088 29 Perry E, Walker M, Grace J, Perry R. Acetylcholine in mind: a neurotransmitter correlate of consciousness. TINS. 1999; 22: 273 – 280 30 Rizo J, Südhof TC. Snares and munc18 in synaptic vesicle fusion. Neurosci. 2002; 3: 641 – 653 31 Schwarting RKW. Ice cracks the brain oder Stimulantien als Werkzeuge in der Neurowissenschaft. Neuroforum. 1997; 4: 116 – 126 32 Volknandt W. Vesicular release mechanisms in astrocytic signalling. Neurochem Int. 2002; 41; 301 – 306 33 Walmsley B, Alvarez FJ, Fyffe REW. Diversity of structure and function at mammalian central synapses. TINS. 1998; 21: 81 – 88 34 Watling KJ, Kebabian JW, Neumeyer JL. The RBI Handbook of Receptor Classification and Signal Transduction. Nartick, Mass.: Res Biochem Int; 1995 35 Wickelgren I. Teaching the brain to take drugs. Science. 1998; 280: 2045 – 2047

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101

Muskulatur B. Brenner

6.1

Ein mutiertes Muskelprotein und seine fatalen Folgen ··· 102

6.2

Skelettmuskel · ·· 102 Morphologische Organisation des Skelettmuskels ··· 102 Molekulare Grundlagen der Kontraktion des Skelettmuskels ··· 104 Muskelkontraktion beruht auf der zyklischen Wechselwirkung von Myosinköpfen mit Aktinfilamenten unter Hydrolyse von ATP (Querbrückenzyklus) ··· 105 Elektromechanische Koppelung ··· 108 Die Freigabe des Querbrückenzyklus wird durch Ca2+-abhängige Umlagerungen der Regulatorproteine Troponin und Tropomyosin kontrolliert · ·· 109 Zur Erschlaffung (Relaxation) muss die Ca2+-Konzentration im Sarkoplasma wieder unter 10–7 mol/l gesenkt werden · · · 111 Neuromuskuläre Erregungsübertragung · ·· 111 Zeitlicher Verlauf und Formen der Muskelkontraktion (Muskelmechanik) ··· 113 Muskelmechanik · ·· 116 Muskelenergetik ··· 120

6.3

Glatte Muskulatur

6.4

Herzmuskel ··· 130 Morphologische Organisation des Herzmuskels ··· 130 Elektromechanische Koppelung im Myokard · · · 131 Erregung des Herzmuskels ··· 133

· ·· 122 Molekulare Grundlagen der Kontraktion glatter Muskulatur · · · 123 Besonderheiten des Querbrückenzyklus bewirken eine hohe Halteökonomie des glatten Muskels · · · 124 Molekulare Mechanismen der Regulation glattmuskulärer Kontraktion · · · 124 Der Phosphorylierungsgrad der regulatorischen leichten Myosinkette kann durch Transmitter oder Pharmaka auch bei konstanter sarkoplasmatischer Ca2+-Konzentration verändert werden · · · 126 Im glatten Muskel kann ein Anstieg der intrazellulären Ca2+-Konzentration über Ca2+-Einstrom durch die Zellmembran und Ca2+-Freisetzung aus Vesikeln des sarkoplasmatisches Retikulums erfolgen ··· 126 Mechanische und funktionelle Eigenschaften der glatten Muskulatur · ·· 128

6 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! R. Klinke, H-C. Pape, St. Silbernagl: Physiologie (ISBN 3-13-796005-3) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2005

102

6 Muskulatur

6.1

Ein mutiertes Muskelprotein und seine fatalen Folgen

„Als mein Junge etwa 3 Jahre alt war fiel mir auf, dass er im Vergleich zu anderen Kindern sehr unsicher ging und häufig hingefallen ist. Und schnell laufen konnte er auch nicht. Erst dachte ich, er sei einfach ein Spätentwickler. Doch dann bekam er Schwierigkeiten beim Aufstehen, wenn er mal wieder hingefallen war, und fing mit dieser merkwürdigen Angewohnheit an, sich beim Aufstehen mit den Händen an Knien und Oberschenkeln abzustützen. Auch Treppen rauf- oder runter zu gehen fiel ihm immer schwerer. Ach ja, und anfangs hat er immer mal wieder über Schmerzen in den Waden geklagt, wenn er ein Stück gehen musste.“ Diese Symptome sind charakteristisch für eine fortschreitende Muskelschwäche, die Duchenne-Dystrophie, die sich bei Kleinkindern beginnend zunächst im Bereich des Beckengürtels bemerkbar macht. Die Erkrankung führt im Verlauf von etwa 10 Jahren zu vollständiger Geh- und Stehunfähigkeit. Lebensbegrenzend sind schließlich die Beeinträchtigung der Atemmuskulatur, die eine künstliche Beatmung erfordert, und die Mitbeteiligung der Herzmuskulatur, die eine zunehmende Herzmuskelschwäche zur Folge hat. Die Erkrankung wird durch Mutationen in einem Strukturprotein der Muskulatur, dem Dystrophin, verursacht. Bei Fehlen dieses Strukturproteins wird bei Muskelkontraktionen die Oberflächenmembran der Muskulatur geschädigt. Die betroffenen Muskelfasern gehen zugrunde und können nur anfangs durch Regeneration neuer Muskelfasern ersetzt werden.

6.2

Skelettmuskel Morphologische Organisation des Skelettmuskels

Kleinste morphologische Einheit des Skelettmuskels ist das Sarkomer. Zwei Proteine des Sarkomers, Aktin und Myosin, bewirken unmittelbar die Kontraktion des Muskels. Durch Zusammenlagerung von Myosinmolekülen entstehen bipolar aufgebaute Myosinfilamente. Ketten von Aktinmonomeren bilden Aktinfilamente, an die sich die Regulatorproteine Tropomyosin und Troponin anlagern. Troponin ist ein Komplex aus drei Untereinheiten, Troponin C, Troponin I und Troponin T. Die Querstreifung des Skelettmuskels kommt durch die charakteristische Anordnung von Aktin- und Myosinfilamenten zustande, die lichtmikroskopisch zu dunkler erscheinenden A-Banden und helleren I-Banden führt. Diese werden jeweils durch eine H-Zone bzw. Z-Scheibe in der Mitte geteilt. Myosinfilamente sind über Titinmoleküle beidseitig an den Z-Scheiben elastisch aufgehängt und im Sarkomer zentriert. Aktinfilamente sind am α-Aktinin der begrenzenden Z-Scheiben verankert. Der Skelettmuskel ist aus vielkernigen Muskelfasern mit einem Durchmesser von 10 – 100 µm und einer Länge von bis zu mehreren Zentimetern aufgebaut (Abb. 6.1; vgl. Tab. 6.2, S. 134). Bei der Entwicklung des Skelettmuskels

ordnen sich einkernige Myoblasten in Ketten an. Die Myoblasten fusionieren zu vielkernigen Myotuben, die zu Muskelfasern ausdifferenzieren. Einzelne einkernige Zellen bleiben als Satellitenzellen erhalten. Sie ermöglichen die Neubildung von Muskelfasern bei Verletzungen oder anderen Schädigungen der Skelettmuskulatur. Jede Muskelfaser besteht aus einem Bündel dichtgepackter Myofibrillen mit einem Durchmesser von ca. 1 µm, die sich über die gesamte Länge einer Muskelfaser erstrecken. Zwischen den Myofibrillen liegt das Zytoplasma der Muskelfasern, auch Sarkoplasma genannt. Die Oberflächenmembran der Muskelfasern wird als Sarkolemm bezeichnet.

Die Skelettmuskulatur ist lichtmikroskopisch quergestreift Im Lichtmikroskop zeigen Skelettmuskelfasern eine charakteristische Streifung aus hellen und dunklen Banden (Abb. 6.1; vgl. Tab. 6.2, S. 134). Sie entstehen durch regelmäßige Anordnung von dicken und dünnen Myofilamenten, die entsprechend des jeweils wichtigsten Proteinanteils als Myosinfilamente bzw. Aktinfilamente bezeichnet werden. Die dunkel erscheinenden Banden sind aufgrund der hohen Dichte parallel angeordneter Myosinfilamente im polarisierten Licht stark doppelbrechend (anisotrop). Sie werden A-Banden genannt. Die hellen Banden sind wenig doppelbrechend (isotrop). Sie werden entsprechend I-Banden genannt. Im Zentrum der A-Bande ist ein hellerer Bereich zu erkennen, die H-Zone. Jede IBande wird durch eine dunkle Linie, die Z-Linie oder ZScheibe, in der Mitte geteilt. Der Abschnitt zwischen zwei Z-Scheiben ist das Sarkomer. Das Sarkomer ist die morphologische Untereinheit des Skelettmuskels, das Halbsarkomer die funktionelle. Die Länge der Sarkomere liegt unter physiologischen Bedingungen zwischen 2,2 und 2,4 µm. Viele hintereinander geschaltete Sarkomere bilden die Myofibrille. Die Querstreifung entsteht dadurch, dass die Z-Scheiben aller Myofibrillen etwa auf gleicher Höhe liegen und alle Sarkomere etwa gleich lang sind. Innerhalb eines Sarkomers sind Myosin- und Aktinfilamente in charakteristischer Weise angeordnet (Abb. 6.1). Die Myosinfilamente sind 1,6 µm lang, nehmen die ABande im Zentrum des Sarkomers ein. Sie sind über weitere, filamentäre Proteine, die Titinmoleküle, beidseits in den benachbarten Z-Scheiben verankert und im Sarkomer elastisch zentriert. Die 1,1 µm langen Aktinfilamente sind am α-Aktinin, dem Hauptanteil der Z-Scheiben, verankert. Die Aktinfilamente bilden jeweils eine Hälfte der I-Bande und reichen zwischen die im A-Band gelegenen Myosinfilamente bis an die Grenzen der HZone. Im Bereich der H-Zone fehlen Aktinfilamente zwischen den Myosinfilamenten. Die H-Zone wird in der Mitte durch die M-Linie geteilt, in der die Myosinfilamente über Strukturproteine (z. B. Myomesin) verankert sind. Mit der M-Linie assoziiert ist eine Kreatinkinase, die bei der Muskelkontraktion zur Regeneration von verbrauchtem ATP beiträgt. Die Myofibrillen einer Muskelfaser mit Sarkomeren und darin charakteristisch angeordneten Aktin- und Myosinfilamenten werden als kontraktiler Apparat der Muskelfaser bezeichnet.

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6.2 Skelettmuskel

Sehne

Muskel

Muskelfasern

Myosinfilamente Aktinfilamente

Muskelfaser (=Zelle)

C Z-Scheibe

A-Band H-Zone

A Myofibrille

B

Myosinfilament Aktinfilament Titinfilament Z-Scheibe

I-Band

M-Linie

A-Band H-Zone

Abb. 6.1 Morphologische Organisation des quergestreiften Skelettmuskels in Muskelfasern und Myofibrillen mit Anordnung der dicken Myosin- und dünnen Aktinfilamente im Sarkomer. Der vergrößerte Ausschnitt einer Myofibrille (A) illustriert die lichtmikroskopisch sichtbaren Elementen der Querstreifung. Der elektronenmikroskopische Längsschnitt eines Sarkomers (B) zeigt die Zuordnung der Querstreifung zur Anordnung der Aktin- und Myosinfilamente. Der Querschnitt (C) verdeutlicht die hexagonale Anordnung der Myosin- und Aktinfilamente (modifiziert nach 11).

len (Abb. 6.2 C). Das einzelne Myosinmolekül (Abb. 6.2 E) besteht aus zwei schweren Myosinketten (MW 220 kDa) und insgesamt vier leichten Myosinketten (MW ca. 20 kDa). Die beiden schweren Ketten bestehen jeweils aus einem α-helikalen Schwanzteil und einer globulären Kopfdomäne (Myosinkopf). Die α-helikalen Schwanzteile der beiden schweren Ketten sind umeinander gewunden und bilden eine stabförmige Struktur mit Myosin-Schaft und -Hals. Der Übergang zwischen Schaft und Hals ist elektronenmikroskopisch oft als Knick zu erkennen (Abb. 6.2 E). Der distale Teil des Kopfes ist die katalytische Domäne, die an Aktin binden und in ihrem aktiven Zentrum ATP hydrolysieren kann. Der proximale Teil des Kopfes mit zwei angelagerten leichten Ketten wird als Leichte-Ketten-Domäne bezeichnet. Dieser Teil übt bei der Kontraktion die Funktion eines Hebelarms aus. Bei physiologischen Ionenkonzentrationen lagern sich Myosinmoleküle im Bereich des Schaftes und Halses zusammen und bilden das Rückgrat der Myosinfilamente, aus dem seitlich die Kopfdomänen herausragen (Abb. 6.2 C, D). Die seitlich aus dem Myosinfilament herausragenden Köpfe binden im Verlauf des Kontraktionsprozesses an die Aktinfilamente und bilden die sog. „Querbrücken“ zwischen Myosin- und Aktinfilament. Die Aggregation der Myosinmoleküle erfolgt nach einem festen Muster, so dass bipolare Myosinfilamente mit einer kopffreien Zone in der Filamentmitte entstehen (Abb. 6.2 C). Daran anschließend ragen alle 14,3 nm die Kopfpaare von jeweils drei Myosinmolekülen in einem Winkelabstand von 120o seitlich aus dem Filament. Die drei in einer Ebene gelegenen Myosinkopfpaare werden als Krone bezeichnet. Aufeinanderfolgende Kronen sind um jeweils 40o gegeneinander verdreht, so dass die aus dem Filament ragenden Myosinköpfe alle 3 × 14,3 nm identische räumliche Orientierung haben.

An jeder Hälfte eines Myosinfilaments sind außerdem in Längsrichtung, an der M-Linie beginnend, 3 – 6 Titinmoleküle angelagert, die über die freien Enden der Myosinfilamente hinausragen und diese in der Z-Linie elastisch verankern (Abb. 6.2 A). Im Verlauf der A-Bande sind die Titinmoleküle an den Myosinfilamenten angelagert. Im IBand dagegen verlaufen sie frei und haben in diesem Bereich eine hohe elastische Dehnbarkeit.

Dünne Filamente bestehen aus Aktin und Regulatorproteinen Im Überlappungsbereich zwischen Aktin- und Myosinfilamenten bilden die Myofilamente im Querschnitt ein hexagonales Gitter (vergrößerter Querschnitt in Abb. 6.1). Jedes dicke Myosinfilament ist dabei von 6 dünneren Aktinfilamenten umgeben bzw. jedes Aktinfilament von 3 Myosinfilamenten. Daraus ergibt sich im quergestreiften Muskel ein 2 : 1-Verhältnis von Aktin- zu Myosinfilamenten.

Dicke Filamente bestehen hauptsächlich aus Myosin und sind im quergestreiften Muskel bipolar aufgebaut Ein Myosinfilament (Durchmesser ca. 12 nm) entsteht durch Zusammenlagerung von ca. 300 Myosinmolekü-

Ein Aktinfilament hat einen Durchmesser von ca. 10 nm. Es entsteht durch Zusammenlagerung von etwa 400 globulären Aktinmonomeren (G-Aktin; MW 42 kDa) zu einer doppelsträngigen Helix (Abb. 6.2 B). Auf jede Windung entfallen dabei 2 × 7 Aktinmonomere. Diese Grundstruktur wird auch F-(filamentäres-)Aktin genannt. Im Bereich der beiden helikalen Längsrillen sind dem F-Aktin die Regulatorproteine, das filamentäre Tropomyosin und der eher globuläre Troponinkomplex, in regelmäßigem Abstand angelagert. Ein Tropomyosinmolekül erstreckt sich über 7 Aktinmonomere und jedes Tropomyosinmolekül ist mit einem Troponinkomplex assoziiert. Der Troponinkomplex besteht aus drei Untereinheiten, dem Troponin C (Calcium-bindende Untereinheit), Tro-

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104

6 Muskulatur A Sarkomer

Aktin

H-Zone

Myosin

extrazelluläre Matrix

Titinfilament

Kollagenfibrillen Z-Scheibe

Z-Scheibe

M-Linie

B Aktinfilament

37 nm Tropomyosin

Troponinkomplex

Merosin

G-Aktin

Sarkoglykane

Sarkolemm

5,5 nm

C Myosinfilament

Myosinköpfe

kopffreie Zone

Dystrophin D Anordnung der Myosinmoleküle

Aktinfilament aktives Zentrum Aktinbindung

katalytische Domäne

E Myosinmolekül

leichte Ketten-Domäne

Schaft

Hebelarm

Abb. 6.3 Verbindung des kontraktilen Apparates mit Sarkolemm und Kollagenfibrillen der extrazellulären Matrix. Dystrophindimere verankern Aktinfilamente des kontraktilen Apparates an Sarkoglykanen in Proteinkomplexen des Sarkolemms. Diese sind über Merosin an Kollagenfibrillen der extrazellulären Matrix gebunden (nach 24).

Hals Kopf

Abb. 6.2 Aufbau von Myosin- und Aktinfilamenten. Anordnung im Sarkomer (A). Aktinfilament mit Tropomyosin und Troponinkomplex (B). Myosinfilament mit Anordnung der Myosinkopfpaare und kopffreier Zone in der Mitte des Myosinfilaments (C). Vergrößerter Ausschnitt mit helikaler Anordnung der Myosinkopfpaare (D). Myosinmolekül mit Schaft, Hals und den beiden globulären Köpfen (E). Bei den globulären Köpfen werden katalytische Domäne und leichte-Ketten-Domäne unterschieden. Die katalytische Domäne weist je ein aktives Zentrum zur ATP-Hydrolyse und einen Aktinbindungsbereich auf (F).

ponin T (Tropomyosin-assoziierte Untereinheit) und Troponin I (inhibitorische Untereinheit).

Der kontraktile Apparat ist über verschiedene Proteine mit dem Sarkolemm und Kollagenfibrillen der extrazellulären Matrix verbunden Der kontraktile Apparat der Muskelfasern und das Sarkolemm stehen mit dem umgebenden Binde- und Stützgewebe in enger Verbindung (Abb. 6.3). Das Protein Dystrophin spielt dabei eine zentrale Rolle. Dystrophindimere verankern auf der intrazellulären Seite des Sarkolemms Aktinfilamente an Sarkoglykanen, die Bestandteil von Proteinkomplexen im Sarkolemm sind. Diese Membranproteinkomplexe sind ihrerseits über Merosin an Kollagenfibrillen der extrazellulären Matrix gekoppelt.

Muskeldystrophien sind charakteristische Krankheitsbilder, die auf funktionelle Beeinträchtigung dieser Verankerungskomplexe zurückzuführen sind. Beispiele hierfür sind die durch Dystrophin-Mutationen verursachte Duchenne-Dystrophie, durch SakroglykanMutationen hervorgerufene Gliedergürteldystrophie und durch Merosin-Mutationen bedingte kongenitale Dystrophie. Bei Störungen der Verbindung zwischen kontraktilem Apparat, Sarkolemm und umgebendem Bindegewebe wird das Sarkolemm bei Muskelkontraktionen geschädigt, so dass es zum Untergang von Skelettmuskelfasern kommt. Hauptsymptom der Dystrophien ist daher die zunehmende Muskelschwäche durch chronisch fortschreitende Degeneration von Muskelfasern mit erhöhter Serumkonzentration der muskulären Kreatinkinase als Zeichen des Untergangs von Muskelfasern. Der Erbgang der Duchenne Dystrophie ist X-chromosomal rezessiv. Das DystrophinGen ist das größte bekannte Gen und seine Größe hat eine hohe Rate von Spontanmutationen zur Folge. Die Häufigkeit der Erkrankung liegt bei etwa 1 : 3000 männlichen Neugeborenen. Eine Behandlung des Gendefekts ist bis heute nicht möglich.

Molekulare Grundlagen der Kontraktion des Skelettmuskels Bei Längenänderungen des Muskels, Dehnung oder Verkürzung, verschieben sich Myosin- und Aktinfilamente relativ zueinander, ohne dass die beiden Filamente ihre absolute Länge ändern. Dadurch wird die Länge der Sarkomere (Abstand der Z-Scheiben) bei

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6.2 Skelettmuskel konstanter Breite der A-Banden (= Länge der Myosinfilamente) und konstantem Abstand zwischen Z-Linie und Grenze der H-Zone (= Länge der Aktinfilamente) verändert. Die passiven Kräfte bei Dehnung eines nicht aktiven Muskels werden durch Dehnung der Titinmoleküle verursacht.

Titinfilament Aktinfilament Myosinfilament

Bei Längenänderungen des Muskels gleiten Aktinfilamente an den Myosinfilamenten entlang (Gleitfilamenttheorie) Bei Längenänderungen des Muskels, Dehnung oder Verkürzung, bleibt die Länge der Myosin- und Aktinfilamente konstant. Statt dessen entsteht der Eindruck, dass Aktin- und Myosinfilamente aneinander entlang gleiten (Gleitfilamenttheorie). Dies führt zu charakteristischen Änderungen des Querstreifungsmusters. Bei aktiver Verkürzung werden die Aktinfilamente weiter zwischen die Myosinfilamente gezogen. Dadurch verschmälern sich HZone und I-Bande in gleichem Ausmaß, während die Länge der A-Bande (entspricht der Länge der Myosinfilamente) konstant bleibt (Abb. 6.4). Durch serielle Anordnung der Sarkomere (400 – 450 pro mm Faserlänge) addiert sich die Verkürzung der einzelnen Sarkomere zu makroskopisch sichtbarer Verkürzung des entsprechenden Muskels. Bei Dehnung eines Muskels werden die Aktinfilamente aus den Räumen zwischen den Myosinfilamenten herausgezogen, d. h. H-Zone und I-Banden werden breiter, während das A-Band in seiner Länge konstant bleibt. Wird ein Muskel aus dem Organismus isoliert, nimmt er in Ruhe die so genannte Gleichgewichtslänge ein. Im Organismus ist ein ruhender Muskel normalerweise etwas über die Gleichgewichtslänge hinaus vorgedehnt. Bei Dehnung über die Gleichgewichtslänge hinaus werden die Titinmoleküle elastisch gedehnt und produzieren entsprechend elastische Rückstellkräfte, die für die passiven Rückstellkräfte bei Dehnung von Muskelfasern verantwortlich sind.

Muskelkontraktion beruht auf der zyklischen Wechselwirkung von Myosinköpfen mit Aktinfilamenten unter Hydrolyse von ATP (Querbrückenzyklus) Aktive Verkürzung und die Erzeugung von Muskelkraft beruhen auf zyklischen Wechselwirkungen zwischen Myosinköpfen und Aktinfilamenten (Querbrückenzyklus). Die wesentlichen Schritte des Querbrückenzyklus sind 1. die Anlagerung von ATP an den Myosinkopf und daraus resultierende Lösung der hochaffinen Bindung von Myosinkopf und Aktin, 2. die Hydrolyse von ATP, 3. die niederaffine und 4. die hochaffine Anlagerung des Myosinkopfes an Aktin, 5. das Kippen des Hebelarms mit Phosphatabdissoziation und 6. ein weiteres Kippen des Hebelarms bei ADP-Abgabe. Das Kippen des Hebelarms führt zu Filamentverschiebung und Muskelverkürzung.

Sarkomer Länge 2,00µm

Länge 2,20µm

Länge 2,50µm

M-Linie

Z-Scheibe

H-Zone I-Band

A-Band

Abb. 6.4 Lage der Myosin- und Aktinfilamente im Sarkomer bei verkürztem und gedehntem Muskel und ihre Beziehung zum Querstreifungsmuster. Die Länge der Aktin- und Myosinfilamente bleibt bei Längenänderungen des Muskels konstant. Bei Dehnung über die Gleichgewichtslänge hinaus werden die Titinfilamente gedehnt.

Wird durch äußere Bedingungen ein Verschieben der Aktinfilamente gegen die Myosinfilamente verhindert, führen die Strukturumlagerungen im Myosinkopf zur Entwicklung von Muskelkraft. Bei jedem Zyklusdurchlauf wird pro Myosinkopf ein Molekül ATP im aktiven Zentrum des Myosinkopfes hydrolysiert. Bei ATP-Verarmung besetzen alle Myosinköpfe den hochaffin gebundenen, nucleotidfreien Zustand (Rigorkomplex; z. B. bei Totenstarre = Rigor mortis). Durch Zugabe von ATP kann die hochaffine Bindung im Rigor durchbrochen werden und der Muskel erschlafft (Weichmacherwirkung von ATP). Die molekulare Grundlage der Muskelkontraktion ist die zyklische Wechselwirkung zwischen Myosinkopf und Aktinfilament, der sog. Querbrückenzyklus, in dessen Verlauf ATP hydrolysiert wird. Die bei der ATP-Hydrolyse freigesetzte chemische Energie kann vom Myosinmolekül in aktive Muskelkraft und/oder Verkürzung des Muskels umgeformt werden. Das Myosin wird demzufolge als Motorprotein des Muskels bezeichnet. Nach derzeitigem Kenntnisstand werden im Verlauf des Querbrückenzyklus folgende Schritte durchlaufen (Abb. 6.5). – Schritt 1: Die Bindung eines ATP-Moleküls in das aktive Zentrum des Myosinkopfes durchbricht die feste, hochaffine Bindung zwischen nucleotidfreiem Myosinkopf und Aktinfilament. Der Myosinkopf löst sich vom Aktinfilament ab. – Schritt 2: Die Spaltung des ATP-Moleküls in ADP und anorganisches Phosphat induziert eine Strukturumlagerung des Myosinkopfes mit Umklappen des Hebelarms. Dadurch wird die katalytische Domäne in Rich-

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105

6 Muskulatur A Querbrückenzyklus

3

2 ATP-Spaltung

niederaffine Bindung ADP Pi

ATP

ADP Pi

4

Z-Scheibe

1

Ablösung

6

5

2. Kraftschlag

1. Kraftschlag

ADP

6 –8 nm

2 – 4 nm

B Kraft eines Moleküls

Detektor

Aktin Laserfalle

hochaffine Bindung

Pi

Kraft (pN)

106

1mM ATP

6 4 2 0

Laserfalle Myosinköpfchen

Abb. 6.5 Der Querbrückenzyklus. (A) Schematische Darstellung der zyklischen Wechselwirkung zwischen Myosinkopf und Aktinfilament. Kraftentwicklung bzw. Filamentverschiebung sind Folge von Strukturumlagerungen im Komplex aus Myosinkopf und Aktinfilament. Erster Beitrag zur Strukturumlagerung erfolgt in Schritt 5 durch Umorientierung des Hebelarms bei der Abdissoziation des anorganischen Phosphats. Zweiter Beitrag erfolgt durch weiteres Umklappen des Hebelarms bei Abdissoziation von ADP (Schritt 6). Das Rückumklappen des Hebelarms erfolgt bei Spaltung des ATPMoleküls (Schritt 2). Die gestrichelten Linien verdeutlichen das Ausmaß der Filamentverschiebung. Insets in 1 und 2: Röntgenkristallographisch ermittelte Struktur des Myosin-

tung Z-Linie verschoben und kommt in Höhe eines neuen Aktinmonomers zu liegen. – Schritt 3: Der Myosinkopf geht mit Aktin eine Bindung niedriger Affinität ein (niederaffiner Aktomyosinkomplex). – Schritt 4: Strukturumlagerungen im Myosinkopf führen zu fester, hochaffiner Bindung des Myosinkopfes an Aktin (hochaffiner Aktomyosinkomplex). – Schritt 5: Umorientierung des Hebelarms und Abdissoziation des anorganischen Phosphats aus dem aktiven Zentrum des Myosinkopfes. Durch die Umorientierung des Hebelarms werden Aktin- und Myosinfilament etwa 6 – 8 nm gegeneinander verschoben. Diese

0

0,5

1

1,5

2

2,5

3

3,5

4

Zeit (s)

kopfes vor und nach ATP-Hydrolyse mit Rückumklappen des Hebelarms bei Spaltung von ATP (Schritt 2; nach 3). (B) Messungen der von einem einzelnen Myosinmolekül erzeugten Kräfte bei Wechselwirkungen mit einem Aktinfilament. Hierzu wird ein Aktinfilament mit Hilfe von zwei fokussierten Laserstrahlen, so genannten Laserfallen, zwischen zwei Plastikkügelchen aufgespannt. Zur Messung von Kräften und Bewegungen wird ein Kügelchen zur Messung seiner Position auf einem Detektor abgebildet. Die dargestellte Registrierung zeigt mehrere Wechselwirkungen zwischen aufgespanntem Aktinfilament und einem Myosinmolekül auf einem dritten, am Kammerboden festhaftenden Kügelchen (nach 15).

Verschiebung stellt den ersten Teilschritt des sogenannten Kraftschlags dar. – Schritt 6: Die Abdissoziation von ADP geht mit einem weiteren Umklappen des Hebelarms einher. Durch diesen zweiten Teilschritt des Kraftschlags werden Aktin- und Myosinfilament um weitere 2 – 4 nm gegeneinander verschoben. Nach Abdissoziation von ADP ist der Myosinkopf wieder im nucleotidfreien Zwischenzustand, der ebenfalls hochaffin an Aktin gebunden ist (hochaffiner Aktomyosinkomplex). Bei physiologischen ATP-Konzentrationen wird sehr schnell (< 1 ms) ein neues ATP Molekül in das aktive

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6.2 Skelettmuskel Zentrum des Myosinkopfes binden, die feste Bindung zwischen nucleotidfreiem Myosinkopf und Aktin lösen und den Querbrückenzyklus erneut starten (s. Schritt 1). Bei Verarmung von ATP, insbesondere nach dem Lebensende, binden schließlich alle Myosinköpfe mit sehr hoher Affinität an Aktin. Der Muskel ist starr. Der nucleotidfreie Komplex aus Aktin und Myosinkopf wird deshalb auch als Rigorkomplex bezeichnet (Totenstarre = Rigor mortis). Bei Zugabe von ATP kann durch Bindung von ATP an den Myosinkopf die hochaffine Bindung zwischen Myosinkopf und Aktin durchbrochen werden. Der totenstarre Muskel erschlafft wieder (Weichmacherwirkung von ATP). Mg2+ ist an der Bindung der ATP-Moleküle in das aktive Zentrum des Myosinkopfes beteiligt und ist deshalb essenziell für die Bindung und Hydrolyse von ATP. MgATP wird deshalb als Substrat des Myosins bezeichnet. Werden die Enden des Muskels nicht in ihrer Position festgehalten, kann ein Myosinkopf in jedem Zyklus Aktinund Myosinfilamente etwa 10 nm gegeneinander verschieben. Bei mehrfachem Durchlaufen des Querbrückenzyklus werden die Aktinfilamente teleskopartig zwischen die Myosinfilamente gezogen. Das Resultat ist eine Längenänderung des Muskels. Eine Kontraktion, bei der sich ein Muskel ohne Last oder bei konstanter Last verkürzt, wird isotonische Kontraktion genannt. Sind die Muskelenden hingegen in ihrer Position fixiert, d. h. können Aktin- und Myosinfilamente nicht gegeneinander verschoben werden, muss die Position der Aktinbindungsstelle relativ zur Verankerung des Hebelarms über das Halssegment des Myosinmoleküls im Myosinfilament konstant bleiben. Die Umorientierungen des Hebelarms in den Schritten 5 und 6 können dann nicht mehr so ablaufen, wie bei freier Filamentverschiebung. Statt dessen führen die Umorientierungen zu elastischer Verformung des Myosinkopfes im Bereich der Verankerung des Hebelarms in der katalytischen Domäne. Elastische Verformung dieses Abschnittes führt zu einer Rückstellkraft, die einer „Verschiebekraft“ entsprechend an den Muskelenden als aktive Muskelkraft wahrgenommen wird. Eine Kontraktion, bei der ein Muskel bei konstanter Länge Muskelkraft entwickelt, wird isometrische Kontraktion genannt. Verkürzung des Muskels und Generierung von isometrischer Muskelkraft beruhen also auf ein und demselben Grundprozess. Im intakten Skelettmuskel durchläuft ein Myosinkopf den Querbrückenzyklus ca. 5 – 50-mal pro Sekunde. Mit Hilfe der Proteinkristallographie sind atomare Strukturen von Aktinmonomer, Aktinfilament sowie einigen Zwischenzuständen des Myosinkopfes aufgeklärt worden. Da bisher jedoch nur die freie, nicht an Aktin gebundene Myosinkopfdomäne kristallisiert werden kann, beschreiben die bekannten Strukturen lediglich die Umlagerung in Schritt 2 (Abb. 6.5). Dabei können selbst Kräfte und Bewegungen, die von einem einzelnen Myosinmolekül erzeugt werden, gemessen werden (Abb. 6.4 B). Hierzu wird ein Aktinfilament über zwei etwa 1 µm große Plastikkügelchen aufgespannt, die jeweils in einer so genannten Laserfalle festgehalten werden. Eines der beiden Kügelchen wird auf einem Detektor abgebildet, um seine Position zu verfolgen. Wird das Aktinfilament in die Nähe eines dritten Kügelchens gebracht, auf dem ein Myosinmolekül immobilisiert wurde, treten Wechselwirkungen zwischen Myosinmolekül und Aktinfilament auf, die mit einem Detektor registriert werden können. Damit konnten

Kräfte bis zu 5 pN und Verschiebungen des Aktinfilaments von 5 – 10 nm gemessen werden.

Makroskopische Längenänderungen ergeben sich aus der seriellen Anordnung der Sarkomere und mehrfachem Durchlaufen des Querbrückenzyklus, makroskopische Kräfte resultieren aus der parallelen Anordnung vieler Myosinmoleküle Die Strukturumlagerung im Verlauf des Querbrückenzyklus ergeben eine Filamentverschiebung von ca. 10 nm pro Zyklus. Durch mehrfachen Zyklusdurchlauf können größere Filamentverschiebungen erreicht werden. Dies erlaubt die Gesamt-Längenänderungen des Muskels von über 10% der Ausgangslänge. Durch asynchrone Tätigkeit der Myosinköpfe und parallele Anordnung von über 1010 Myosinköpfen pro Halbsarkomer einer Muskelfaser addieren sich die winzigen, von einzelnen Myosinköpfen entwickelten Kräfte von 2 – 5 pN zu den von Muskeln erzeugten hohen aktiven Kräfte von bis zu 4 × 105 N/m2.

Möglichst langer Kraftbeitrag bei hoher Halteökonomie steht nur scheinbar im Widerspruch mit schneller Verkürzung Die ADP-Abdissoziation ist während elastischer Verformung des Myosinkopfes bei festgehaltener Filamentposition erheblich verzögert. Dadurch wird die Verweildauer in den festgebundenen Zwischenzuständen an äußere Bedingungen angepasst. Dies erlaubt ein und demselben Muskel sowohl Kraftentwicklung bei günstigem ATP-Verbrauch als auch schnelle Verkürzung. Wird ein Verschieben der Aktin- und Myosinfilamente verhindert, so dass statt Filamentverschiebung eine Muskelkraft entwickelt wird (isometrische Kontraktion), ist die Abdissoziation von ADP (Schritt 5) bis zu 100fach langsamer, als unter schneller Muskelverkürzung bei freier Filamentverschiebung. Die Dauer des Kraftbeitrags im Verlauf eines Querbrückenzyklus ist entsprechend bis zu 100fach länger als die Anheftungsdauer des Myosinkopfes am Aktinfilament bei schneller Verkürzung. Demzufolge kann pro hydrolysiertem ATP-Molekül auch über einen längeren Zeitraum ein aktiver Kraftbeitrag aufrecht erhalten werden (hohe Halteökonomie). Hieraus folgt auch, dass ein Muskel über lange Zeit bei möglichst niedrigem ATP-Verbrauch Kraft entwickeln kann (z. B. Haltemuskulatur des Rückens), wenn die Abdissoziation von ADP möglichst lange verzögert wird. In der Tat existieren „langsame“ Myosinisoformen, in denen die ADP-Abdissoziation verlangsamt ist. Soll sich dagegen ein Muskel sehr schnell verkürzen, so ist sicherzustellen, dass sich nach Abschluss der Strukturumlagerungen (Kraftschlag) der jeweilige Myosinkopf rechtzeitig vom Aktinfilament ablöst, bevor er eine weitere Filamentverschiebung durch andere Myosinköpfe behindert. Die ADP-Abdissoziation muss demzufolge möglichst schnell erfolgen, wenn der Kraftschlag abgeschlossen ist. Entsprechend findet sich bei Muskeln, die zu besonders schneller Verkürzung fähig sind, „schnelle“ Myosinisoformen, die sich durch eine besonders schnelle ADP-Abgabe auszeichnen. Bei diesen Isoformen ist dann allerdings auch die ADP-Abdissoziation bei blockierter Filamentverschiebung schneller als bei den langsamen Isoformen und entsprechend ist die Halteökonomie ungünstiger.

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108

6 Muskulatur T-Tubulus terminale Zisternen T-Tubulus

sarkoplasmatisches Retikulum: longitudinales System terminale Zisternen

junctional feet Sarkolemm Myofibrille

Triade

I-Band

Abb. 6.6 Transversale Tubuli und sarkoplasmatisches Retikulum im Skelettmuskel. Zuordnung von transversalen Tubuli (T-Tubuli) und den Komponenten des sarkoplasmatischen Retikulums (longitudinales System, terminale Zister-

Elektromechanische Koppelung Die Kontraktion des Skelettmuskels wird durch Erregung des Sarkolemms und Freigabe des Querbrückenzyklus reguliert. Die vermittelnden Prozesse werden unter dem Begriff „elektromechanische Koppelung“ zusammengefasst. Im quergestreiften Muskel wird das Aktionspotenzial über Einstülpungen des Sarkolemms (T-Tubuli) bis in das Innerste der Fasern fortgeleitet. Die T-Tubuli stehen im Bereich der Triaden mit den terminalen Zisternen des sarkoplasmatischen Retikulums in engem Kontakt. Über Koppelung von zwei spezialisierten Ca2+-Kanälen, dem DihydropyridinRezeptor in der Membran der T-Tubuli und dem Ryanodin-Rezeptor in der Membran der terminalen Zisternen des sarkoplasmatischen Retikulums, werden bei Depolarisation der T-Tubuli Ca2+-Ionen aus den terminalen Zisternen des sarkoplasmatischen Retikulums freigesetzt. Die in das Sarkoplasma freigesetzten Ca2+-Ionen kontrollieren die Freigabe des Querbrückenzyklus.

Transversale Tubuli und deren Kontakte zum sarkoplasmatischen Retikulum sind morphologische Voraussetzungen für die elektromechanische Koppelung Die Aktivität des Skelettmuskels wird durch Aktionspotenziale am Sarkolemm kontrolliert, die zu einer Freigabe des Querbrückenzyklus führen. Die zwischen Aktionspotenzial am Sarkolemm und Freigabe des Querbrückenzyklus eingeschalteten Prozesse werden als elektromechanische Koppelung bzw. Erregungs-KontraktionsKoppelung bezeichnet. Das Aktionspotenzial des Skelettmuskels zeigt wie beim Nerv eine steile Depolarisation und Umpolarisation durch Öffnung schneller, spannungsgesteuerter Na+-Kanäle (vgl. S. 75 f.). Die Repolarisation erfolgt durch Inaktivierung der Na+-Kanäle und

A-Band

nen) zum kontraktilen Apparat. Vergrößerter Ausschnitt zeigt Triadenstruktur aus T-Tubulus mit beidseits gelegenen terminalen Zisternen. Im Spaltraum zwischen T-Tubulus und terminalen Zisternen sind die Junctional Feet zu erkennen.

Öffnung von K+-Kanälen. Röhrenförmige Einstülpungen des Sarkolemms, die transversalen Tubuli (T-Tubuli), ermöglichen die Fortleitung des Aktionspotenzials bis in das Innerste der Fasern (Abb. 6.6). Diese senkrecht zur Faseroberfläche zwischen den Myofibrillen laufenden Röhren bilden in jedem Sarkomer zwei Netzwerke, die an den Grenzen zwischen A- und I-Banden gelegen sind. Sie werden als transversales tubuläres System bezeichnet. Das sarkoplasmatische Retikulum stellt ein intrazelluläres Membransystem dar, in dem Calciumionen (Ca2+) in hoher Konzentration gespeichert sind. Im quergestreiften Muskel bildet das sarkoplasmatische Retikulum ein intrazelluläres Netzwerk (Abb. 6.6) mit parallel zur Faseroberfläche angeordneten Röhren (longitudinales tubuläres System) und erweiterten Endbezirken (terminale Zisternen). Dieses Netzwerk geht in jedem Sarkomer von zwei Seiten enge Kontakte mit den Röhren des transversalen tubulären Systems ein, ohne dass die Lumina der beiden Systeme direkt kommunizieren (Abb. 6.6). Die räumliche Anordnung eines transversalen Tubulus mit beidseits gelegenen terminalen Zisternen ist in Längsschnitten als Triaden-Struktur zu erkennen (Abb. 6.6). Im Bereich dieser Triaden sind in der Membran der transversalen Tubuli modifizierte spannungsgesteuerte Ca2+-Kanäle angeordnet. Diese Kanäle werden auch Dihydropyridin-Rezeptoren (DHPR; Abb. 6.7) genannt, da sie Pharmaka der Dihydropyridin-Klasse binden. Sie stehen im Kontakt mit einer zweiten Klasse von spezialisierten Ca2+-Kanälen, die in der Membran der terminalen Zisternen lokalisiert sind. Sie werden als Ryanodin-Rezeptoren (RyR; Abb. 6.7) bezeichnet, da sie das Pflanzenalkaloid Ryanodin binden. Der Ryanodin-Rezeptor ist sehr groß und überbrückt den Spalt zwischen den Membranen der transversalen Tubuli und den terminalen Zisternen des sarkoplasmatischen Retikulums (Abb. 6.7). Aufgrund der regelmäßigen Anordnung dieser Rezeptorpaare im Kontaktbereich zwischen transversalen Tubuli und termina-

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6.2 Skelettmuskel len Zisternen sind im Spalt zwischen T-Tubuli und terminalen Zisternen im Elektronenmikroskop regelmäßige Verdichtungen, so genannte Junctional Feet zu erkennen (Abb. 6.6 und Abb. 6.7). Familiäre Myotonien, angeborene Kontraktionsstörungen des Skelettmuskels, und periodische Lähmungen können durch Mutationen im schnellen Na+-Kanal des Skelettmuskels verursacht sein, die zu einer verzögerten Inaktivierung der Na+-Kanäle führen. Die Folge sind gesteigerte Erregbarkeit, Serien von Aktionspotenzialen mit entsprechend länger anhaltenden Muskelkontraktionen und verzögerter Muskelerschlaffung (Myotonie). Solche Mutationen haben bei anhaltender Muskeltätigkeit einen verstärkten K+-Verlust aus den Muskelfasern zur Folge. Dies ist an einer erhöhten K+Konzentration im Serum (Hyperkaliämie) zu erkennen und führt zu ausgeprägter Depolarisation des Sarkolemms und der T-Tubuli. Dadurch können schnelle Na+-Kanäle soweit inaktiviert werden (vgl. Kap. 4.4), dass keine Aktionspotenziale mehr auslösbar sind und eine vorübergehende, ausgedehnte (generalisierte) Muskellähmung (Paralyse) auftritt. Das Krankheitsbild wird dementsprechend familiäre hyperkaliämische periodische Paralyse genannt.

Der Anstieg des Calciums im Sarkoplasma ist beim Skelettmuskel überwiegend auf die Ca2+Freisetzung aus intrazellulären Speichern des sarkoplasmatischen Retikulums zurückzuführen Die über die T-Tubuli fortgeleiteten Aktionspotenziale führen aufgrund der starken Membrandepolarisation zu molekularen Umlagerungen der in den Triaden lokalisierten Dihydropyridin-Rezeptoren (Abb. 6.7 B). In der Folge werden an die Dihydropyridin-Rezeptoren gekoppelte Ryanodin-Rezeptoren in der Membran der terminalen Zisterne geöffnet. Das in den terminalen Zisternen gespeicherte Ca2+ strömt in das umgebende Sarkoplasma mit den darin gelegenen Myosin- und Aktinfilamenten. Ein direkter Ca2+-Einstrom während des Aktionspotenzials über Ca2+-Kanäle im Sarkolemm ist beim Skelettmuskel von untergeordneter Bedeutung (vgl. Tab. 6.2, S. 134).

Die Freigabe des Querbrückenzyklus wird durch Ca2+-abhängige Umlagerungen der Regulatorproteine Troponin und Tropomyosin kontrolliert Beim quergestreiften Muskel erfolgt die Freigabe des Querbrückenzyklus über das Tropomyosin, das diejenigen Bindungsstellen am Aktin kontrolliert, die eine hochaffine Anlagerung der Myosinköpfe ermöglichen. Bei niedriger Ca2+-Konzentration im Sarkoplasma sind diese Bindungsstellen durch Tropomyosin blockiert. Bei hoher Ca2+-Konzentration sind sie freigegeben, so dass der Querbrückenzyklus durchlaufen werden kann. Die Umlagerungen des Tropomyosins werden von Troponin gesteuert. Bindung von 2 Ca2+-Ionen an die Troponin-CUntereinheit induziert die Umlagerung von Tropomyosin mit Freigabe der hochaffinen Myosinbindungsstellen am Aktin.

A Aktionspotenzial transversales tubuläres System

sarkoplasmatisches Retikulum: longitudinales tubuläres System

junctional feet: DHPR RyR

Sarkolemm

terminale Zisterne

Sarkoplasma Ca2+-ATPase 2+

2+

Ca

Ca2+

Ca

Ca2+

Ca2+ Ca2+

Ca2+

Myosin Aktin

B

terminale Zisterne

Ca2+

T-Tubulus

RyR

Sarkoplasma

– + – +

DHPR

– + – + – + – + – +

+ – + – RyR

Ca2+

Aktionspotenzial

DHPR

+ – + – + – + – + –

Abb. 6.7 Elektromechanische Koppelung im Skelettmuskel. (A) Freisetzung von Ca2+ aus terminalen Zisternen nach Ausbreitung des Aktionspotenzials in den T-Tubuli. Signalübertragung von Dihydropyridin-Rezeptor (DHPR) zu Ryanodin-Rezeptor (RyR), der den Spalt zwischen T-Tubulusmembran und terminaler Zisterne überbrückt. Rücktransport von Ca2+ in das longitudinale System des sarkoplasmatischen Retikulums durch primär aktive Ca2+-Pumpen. (B) Schema zur Koppelung zwischen Aktionspotenzial-induzierter Umlagerung des Dihydropyridin-Rezeptors und Öffnung des Ryanodin-Rezeptors mit Ca2+-Freisetzung aus den terminalen Zisternen (nach 1).

Die Kontraktion des Skelettmuskels wird durch Ca2+abhängige Aktivierung des Querbrückenzyklus reguliert. Die Kontrolle des Querbrückenzyklus wird durch die Regulatorproteine Tropomyosin und Troponin vermittelt, die den Aktinfilamenten angelagert sind (Abb. 6.2 B, S. 104). Ca2+-Sensor ist die Troponin-C-Untereinheit. Sie hat insgesamt 4 Bindungsstellen für Ca2+-Ionen, von denen 2 auch im relaxierten Muskel mit Ca2+-Ionen besetzt sind, während die beiden anderen Ca2+-Bindungsstellen erst bei Ca2+-Konzentrationen über 10–7 mol/l von Ca2+-Ionen besetzt werden. Bei niedrigen sarkoplasmatischen Ca2+-Konzentrationen (unterhalb 10–7 mol/l) sind am Aktinfilament des quergestreiften Muskels nur Bindungsstellen für schwache Wechselwirkungen mit den Myosinköpfen (niederaffine Bindungsstellen) zugänglich (Abb. 6.8 B). Die Bindungsstellen für hochaffine Wechselwirkungen sind durch Tropomyosin blockiert. Dadurch ist der Schritt 4 des Querbrückenzyklus blo-

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6 Muskulatur ckiert, d. h. die Myosinköpfe sind mit den ATP-Spaltprodukten ADP + Pi beladen, können aber lediglich niederaffine Wechselwirkungen mit Aktin eingehen. Da die hochaffinen Bindungsstellen blockiert sind, bleibt das Fortschreiten im Zyklus aus. Der Muskel entwickelt keine aktive Kraft und bei Dehnung sind nur passive Kräfte durch Dehnung der Titinmoleküle zu beobachten. D. h. der Muskel ist erschlafft. Steigt die sarkoplasmatische Ca2+-Konzentration über 10–7 mol/l, so binden zwei zusätzliche Ca2+-Ionen an die Troponin-C-Untereinheit. Dies führt zu Konformationsänderungen des Troponin-Komplexes, die dem assoziierten Tropomyosinmolekül eine Umlagerung auf der Oberfläche der Aktinfilamente erlauben (Abb. 6.8 B). Durch diese Umlagerung werden die hochaffinen Bindungsstellen für die Myosinköpfe zugänglich und somit der weitere Ablauf des Querbrückenzyklus freigegeben. Mit steigender Ca2+-Konzentration werden die hochaffinen Bindungsstellen immer häufiger freigegeben, so dass ein Myosinkopf, der mit den ATP-Spaltprodukten beladen ist, immer schneller den weiteren Zyklusdurchlauf erreicht. Demzufolge erreichen mit steigender Ca2+-Konzentration die Myosinköpfe schneller die elastisch verformten, kraftgenerierenden Zwischenzustände. Dadurch entwickelt der Muskel mit steigender Ca2+-Konzentration einerseits höhere aktive Kräfte (Abb. 6.8 C; vgl. Tab. 6.2, S. 134),

A

andererseits wird die Kraftanstiegsgeschwindigkeit schneller (Abb. 6.8 D), bis schließlich eine Sättigung erreicht ist. Durch die Ausbreitung der Aktionspotenziale über das transversale tubuläre System bis in das Zentrum der Muskelfasern werden unabhängig vom Faserdurchmesser die Diffusionswege für Ca2+ auf den Querschnitt einzelner Myofibrillen reduziert. Dadurch wird gleichzeitige Aktivierung und gleichzeitiger Kontraktionsbeginn für oberflächliche wie tiefe Myofibrillen sichergestellt.

Von Kontraktur spricht man, wenn die Muskulatur ohne reguläre Aktionspotenziale aktiviert wird, beispielsweise durch lokale Depolarisation mit Ca2+-Einstrom über Ca2+Kanäle oder durch Ca2+-Freisetzung aus dem sarkoplasmatischen Retikulum mittels Pharmaka. Zum Beispiel aktiviert Koffein in vitro die Ryanodin-Rezeptoren und kann dadurch ohne Aktionspotenzial eine Ca2+-Freisetzung aus den Ca2+-Speichern des sarkoplasmatischen Retikulums verursachen. Die Folge ist eine Kontraktur. Langsame Muskelfasern in Muskelspindeln (vgl. Kap. 26.3.2) können durch graduelle Depolarisation ohne Aktionspotenzial abgestuft aktiviert werden. Erbliche Defekte durch Mutationen im Ryanodin-Rezeptor können bei Allgemeinnarkosen besonders mit Inhalationsnarkotika (z. B. Halothan) zu massiver Ca2+Freisetzung aus dem sarkoplasmatischen Retikulum

C

Myosin

100

Aktin Kraft (%)

75

Schnittebene B

Tropomyosin Troponin

Herzmuskulatur 50 Skelettmuskulatur 25 0

B Myosinkopf

[Ca2+]

10–7

10– 6 10– 5 Calciumkonzentration (mol/l)

D 100%

Ca2+ Troponin C Tropomyosin

Aktin

Kraft (%)

110

66%

25%

[Ca2+] niederaffine Bindungsstellen

hochaffine Bindungsstellen

Abb. 6.8 Ca2+-abhängige Aktivierung des kontraktilen Apparates beim quergestreiften Muskel. (A) Anordnung der Aktinfilamente mit den Regulatorproteinen Troponin und Tropomyosin relativ zu den Myosinköpfen im kontraktilen Apparat. (B) Umlagerung von Tropomyosin relativ zu niederund hochaffinen Bindungsstellen für Myosin an der Oberfläche der Aktinmonomere. Bei Anstieg der sarkoplasmatischen Ca2+-Konzentration auf > 10–7 mol/l werden mit Ca2+Bindung an Troponin C und Umlagerung des Tropomyosins die hochaffinen Bindungsstellen an den Aktinmonomeren

0

1

Zeit (s)

häufiger freigegeben. In der Folge können sich Myosinköpfe sowohl an niederaffine als auch hochaffine Bindungsstellen anlagern, und der Querbrückenzyklus kann vollständig durchlaufen werden (nach 28). (C) Aktive Kraft als Funktion der sarkoplasmatischen Ca2+-Konzentration einer Skelett- und Herzmuskelfaser. (D) Verlauf der Kraftentwicklung bei drei Ca2+-Konzentrationen von 0,9, 1,5 und 32 × 10–6 mol/l, die zu 25%, 66% und 100% der maximalen Kraftentwicklung führen.

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6.2 Skelettmuskel der Skelettmuskulatur führen. Daraus resultieren anhaltende massive Kontraktionen der Skelettmuskulatur mit massiver Wärmebildung und entsprechend schnellem Anstieg der Körpertemperatur (maligne Hyperthermie).

Zur Erschlaffung (Relaxation) muss die Ca2+-Konzentration im Sarkoplasma wieder unter 10–7 mol/l gesenkt werden Zur Erschlaffung des Muskels werden Ca2+-Ionen durch aktive Ca2+-Pumpen aus dem Sarkoplasma in das longitudinale System des sarkoplasmatischen Retikulums zurückgepumpt. In der Folge sinkt die sarkoplasmatische Ca2+-Konzentration, und Ca2+-Ionen dissoziieren von Troponin C ab. Durch Rückumlagerung der Tropomyosinmoleküle an der Aktinfilamentoberfläche werden die hochaffinen Bindungsstellen für Myosin wieder blockiert und die Myosinköpfe können nicht mehr die hochaffin gebundenen Zustände erreichen. Sinkt die sarkoplasmatische Ca2+-Konzentration unter etwa 10–7 mol/l ist der Muskel wieder vollständig erschlafft. Für alle Muskeltypen erfordert die Erschlaffung ein Absenken der sarkoplasmatischen Ca2+-Konzentration auf Werte unter etwa 10–7 mol/l. Im Skelettmuskel werden Ca2+-Ionen durch primär aktive Ca2+-Pumen (Ca2+-ATPasen) in der Membran des sarkoplasmatischen Retikulums in das longitudinale System gepumpt und dort bis zu Konzentrationen von etwa 1 mmol/l angereichert (Abb. 6.7 A; vgl. Tab. 6.2, S. 134). Unter Spaltung von einem ATPMolekül transportieren die Ca2+-ATPasen 2 Ca2+-Ionen gegen einen Konzentrationsgradienten von bis zu vier Zehnerpotenzen. Mit Abnahme der sarkoplasmatischen Ca2+-Konzentration dissoziiert Ca2+ von Troponin-C ab. Die Folge ist eine Rückumlagerung des Tropomyosins mit Blockierung der Bindungsstellen für die hochaffine Anlagerung von Myosinköpfen an Aktin (Abb. 6.8). Damit wird der Querbrückenzyklus vor der hochaffinen Bindung von Myosin an Aktin gestoppt (vgl. Abb. 6.5 A). Die aktive Muskelkraft sinkt aber erst wenn ADP von bereits hochaffin an Aktin gebundenen, kraftgenerierenden Myosinköpfen abdissoziiert und die Bindung eines neuen ATP-Moleküls die hochaffine Bindung des Myosinkopfes an Aktin löst (Relaxation). Die Erschlaffungsgeschwindigkeit eines Muskels wird demzufolge zum einen durch die Geschwindigkeit beeinflusst, mit der die sarkoplasmatische Ca2+-Konzentration gesenkt werden kann. Diese hängt vor allem von den Diffusionswegen und damit der Lage und Ausdehnung des sarkoplasmatischen Retikulums sowie der Aktivität der Ca2+-Pumpen ab. Zum anderen beeinflusst die Geschwindigkeit der Abdissoziation von ADP die Erschlaffungsgeschwindigkeit. Langsame Abdissoziation von ADP (Schritt 6) verlängert den Beitrag einer Querbrücke zur aktiven Kraft und verzögert somit das Abklingen der aktiven Kraft nach Absenken der sarkoplasmatischen Ca2+-Konzentration. Langsame Myosinisoformen mit verzögerter Abdissoziation von ADP führen deshalb neben reduzierter Verkürzungsgeschwindigkeit auch zu einer verzögerten Erschlaffung langsamer Muskelfasern.

Neuromuskuläre Erregungsübertragung Willkürlich oder reflektorisch ausgelöste Kontraktionen des Skelettmuskels erfordern intakte nervale Verbindung zum Nervensystem. Skelettmuskelfasern werden durch motorische Nervenfasern über eine synaptische Verbindung, die neuromuskuläre Endplatte, innerviert. An der neuromuskulären Endplatte wird präsynaptisch der Transmitter Acetylcholin (ACh) freigesetzt. Bindung von ACh an den nikotinischen Acetylcholin-Rezeptor in der subsynaptischen Membran löst das Endplattenpotenzial aus, ein exzitatorisches postsynaptisches Potenzial (EPSP). Unter physiologischen Bedingungen ist am Skelettmuskel jedes EPSP überschwellig, und jedes Aktionspotenzial des Motoneurons wird auf die Muskelfaser übertragen. Motorische Nervenfasern verzweigen sich an ihrem Ende mehrfach und innervieren entsprechend mehrere Muskelfasern. Eine motorische Nervenfaser mit den von ihr innervierten Muskelfasern werden als ,motorische Einheit‘ bezeichnet.

Motorische Nervenfaser und Skelettmuskelfaser bilden eine charakteristische synaptische Verbindung, die neuromuskuläre Endplatte Kontraktionen des Skelettmuskels erfordern die nervale Verbindung zum Nervensystem. Dort ausgelöste Aktionspotenziale werden an der Kontaktstelle zwischen motorischer Nervenfaser und Skelettmuskelfaser, der neuromuskulären Endplatte, auf die Muskelfaser übertragen (vgl. Tab. 6.2, S. 134). Die motorische Nervenfaser verliert an ihrem Ende ihre Myelinscheide, verzweigt sich mehrfach bevor sie mit der innervierten Muskelfaser die neuromuskuläre Endplatte bildet. Im Bereich der neuromuskulären Endplatte bildet das verzweigte Axon multiple Auftreibungen, die präsynaptischen Endknöpfchen, und steht dort im synaptischen Kontakt mit der innervierten Muskelfaser (Abb. 6.9). An der neuromuskulären Endplatte erfolgt die Übertragung der Aktionspotenziale vom Motoneuron auf die Muskelfaser mit Hilfe des chemischen Transmitters Acetylcholin (ACh). Ein am Ende des Motoneurons einlaufendes Aktionspotenzial führt über spannungsgesteuerte Ca2+-Kanäle zum Einstrom von Ca2+-Ionen und damit zum Anstieg des intrazellulären Calciums. Als Folge wird die Exozytose präsynaptischer Vesikel mit Freisetzung von Acetylcholin induziert (vgl. Kap. 5.4). Die Freisetzung erfolgt im Bereich der aktiven Zonen. Dort sind acetylcholinhaltige Vesikel in Doppelreihen mit der präsynaptischen Membran assoziiert. Acetylcholin diffundiert durch den synaptischen Spalt und bindet an die in der subsynaptischen Membran gelegenen nikotinischen Acetylcholinrezeptoren (vgl. Kap 5.5; vgl. Tab. 6.2, S. 134). Durch charakteristische Auffaltungen des Sarkolemms im Bereich der motorischen Endplatte wird eine vergrößerte Oberfläche mit hoher Rezeptorendichte in der postsynaptischen Membran erreicht. Die Acetylcholinrezeptoren liegen bevorzugt gegenüber den aktiven Zonen an den Rändern der subsynaptischen Einfaltungen. Die nikotinischen Acetylcholinrezeptoren zählen zu den ionotropen Rezeptoren (vgl. Kap. 5.5). Nach Bindung des Liganden wird der zuge-

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111

112

6 Muskulatur

präsynaptische Membran synaptischer Spalt postsynaptische Membran

Myelinscheide Axon vom Motoneuron

aktive Zone synaptische Vesikel (ACh) Ca2+-Kanäle

Schicht aus Schwann-Zellen

präsynaptische Endknöpfchen Muskelfaser neuromuskuläre Endplatte

ACh-Rezeptoren

Mitochondrium subsynaptische Einfaltungen

Muskelfaser

Abb. 6.9 Neuromuskuläre Endplatte. Aufbau einer neuromuskulären Endplatte mit präsynaptischen Endknöpfchen und charakteristischer Auffaltung der subsynaptischen Mem-

hörige Ionenkanal geöffnet, der für kleine Kationen permeabel ist. In Folge strömen besonders Na+-Ionen durch die subsynaptische Membran und lösen eine lokale Depolarisation aus, ein exzitatorisches postsynaptisches Potenzial, EPSP (vgl. S. 86). Dieses Potenzial wird an der neuromuskulären Endplatte Endplattenpotenzial genannt. Das Endplattenpotenzial breitet sich über die postsynaptische Membran der Skelettmuskelfaser aus und aktiviert dort gelegene spannungsgesteuerte Na+Kanäle (vgl. Kap. 4.4). Dadurch wird ein Aktionspotenzial ausgelöst, das sich von der motorischen Endplatte ausgehend über die gesamte Muskelfaser ausbreitet. An der neuromuskulären Endplatte führt normalerweise jedes präsynaptische Aktionspotenzial zur Auslösung eines fortgeleiteten postsynaptischen Aktionspotenzials (1:1Übertragung). Das in den synaptischen Spalt freigesetzte Acetylcholin wird dort von der Cholinesterase durch Spaltung in Acetat und Cholin inaktiviert. Das entstandene Cholin wird für Resynthese von Acetylcholin über einen Na+/Cholin-Kotransporter wieder in die Nervenendigung aufgenommen. Die neuromuskuläre Endplatte mit nicotinischem Acetylcholin-Rezeptor ist eine für den Skelettmuskel spezifische synaptische Verbindung. Kompetitive Hemmung der nicotinischen Acetylcholin-Rezeptoren, z. B.

bran zur Oberflächenvergrößerung. Aktive Zentren mit membranassoziierten, acetylcholinhaltigen, präsynaptischen Vesikeln (modifiziert nach 21).

durch d-Tubocurarin, wirkt auf die Skelettmuskulatur, nicht jedoch auf Herztätigkeit oder Tätigkeit der glatten Muskulatur. Acetylcholinrezeptoren des zentralen Nervensystems werden nicht gehemmt, da die Blut-Hirn-Schranke für d-Tubocurarin undurchlässig ist. d-Tubocurarin kann deshalb als selektives Muskelrelaxans eingesetzt werden. Die Muskelrelaxation kann durch Substanzen aufgehoben werden, welche die Cholinesterase hemmen (Cholinesterase-Blocker, z. B. Eserin). Durch Cholinesterase-Blocker steigt die Acetylcholinkonzentration im synaptischen Spalt an und das d-Tubocurarin wird vom nikotinischen Acetylcholin-Rezeptor verdrängt. Botulinumtoxin A und verwandte Substanzen werden bei Lebensmittelvergiftungen an der motorischen Endplatte wirksam. Das Andocken der Vesikel an der präsynaptischen Membran wird unter dem Einfluss von Botulinumtoxin A durch Abbau der zum Andocken notwendigen Proteine verhindert. Damit wird die neuromuskuläre Erregungsübertragung blockiert. Ist die Atemmuskulatur mitbetroffen, wird die Erkrankung lebensbedrohlich. Botulinumtoxin kann andererseits therapeutisch zur Minderung eines überhöhten Muskeltonus eingesetzt werden. Die Bildung von Autoantikörpern gegen den nicotinischen Acetylcholin-Rezeptor führt zum Krankheits-

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6.2 Skelettmuskel bild der Myasthenia gravis, einer schweren fortschreitenden Muskelschwäche. Aufgrund vermehrten Abbaus der durch Antikörper markierten Acetylcholinrezeptoren ist deren Zahl stark reduziert. Die Erregungsübertragung auf die Muskelfasern ist eingeschränkt, d. h. nicht mehr jedes Aktionspotenzial des Motoneurons führt zu einem überschwelligen Endplattenpotenzial. Die Folge ist eine fortschreitende Muskelschwäche. Therapeutisch kann durch Hemmstoffe der Cholinesterase der Abbau von Acetylcholin verzögert werden, so dass trotz reduzierter Zahl von nicotinischen Acetylcholinrezeptoren die Endplattenpotenziale wieder die Schwelle für fortgeleitete Aktionspotenziale erreichen können.

Die Skelettmuskulatur ist in motorischen Einheiten organisiert Durch Aufzweigung der Motoneurone im innervierten Muskel bildet eine Nervenfaser Endplatten mit mehreren Muskelfasern, die dadurch zu einer funktionellen Einheit, der motorischen Einheit werden (vgl. Tab. 6.2, S. 134). Die Anzahl an Muskelfasern einer motorischen Einheit ist durch die Aufzweigung der Neurone fest vorgegeben. Sie bestimmt die Abstufbarkeit der Kräfte und Bewegungen: je weniger Muskelfasern pro motorischer Einheit, desto feiner können Kräfte und damit die Motorik abgestimmt werden. Die Anzahl von Muskelfasern pro motorischer Einheit beträgt z. B. in den äußeren Augenmuskeln etwa 5 – 10, in der Rumpfmuskulatur über 1000. Ein Übergreifen der Erregung auf benachbarte Muskelfasern ist beim Skelettmuskel nicht zu beobachten, da, anders als bei Herz- und glatter Muskulatur, keine niederohmigen Verbindungen (Gap Junctions; vgl. Kap. 3.2) zwischen Muskelfasern bestehen, über die sich eine Depolarisation auf benachbarte Fasern ausbreiten könnte.

Zeitlicher Verlauf und Formen der Muskelkontraktion (Muskelmechanik) Der zeitliche Verlauf einer Muskelkontraktion wird im Mechanogramm anhand von Latenzzeit, Gipfelzeit und Erschlaffungszeit charakterisiert. In Skelettmuskeln können schnell zuckende und langsame Fasern unterschieden werden. Sie sind durch den Gehalt an Myoglobin, glykolytischen und oxidativen Enzymen, Mitochondriendichte sowie verschiedene Myosinisoformen gekennzeichnet. Im Skelettmuskel kann Erhöhung der Aktionspotenzialfrequenz im Motoneuron zur Überlagerung der mechanischen Antworten führen. Mit zunehmender Aktionspotenzialfrequenz verschmelzen Einzelzuckungen zunächst zu unvollständigen und schließlich vollständigen, glatten tetanischen Kontraktionen. Die Muskelkraft von Willkürbewegungen kann durch Überlagerung der einzelnen mechanischen Antworten (zeitliche Summation) und durch Rekrutierung zusätzlicher motorischer Einheiten gesteigert werden.

Das Mechanogramm beschreibt den zeitlichen Ablauf der Kontraktion schneller und langsamer Fasern Wird die Kontraktion einer motorischen Einheit der Skelettmuskulatur durch ein einzelnes Aktionspotenzial ausgelöst, so spricht man von einer Einzelzuckung. Beim Skelettmuskel ist die Amplitude der Einzelzuckung praktisch konstant, da jedes Aktionspotenzial des Motoneurons zu einer Erregung aller Muskelfasern einer motorischen Einheit führt, und jede Faser bei Erregung praktisch immer mit gleicher Kontraktionsamplitude antwortet. Dementsprechend zeigt der Skelettmuskel sowohl für Einzelfasern als auch motorische Einheiten ein Allesoder-Nichts-Verhalten. Der genaue zeitliche Verlauf einer Muskelzuckung wird durch das so genannte Mechanogramm beschrieben, in dem die Muskelkraft bzw. -spannung gegen die Zeit aufgetragen wird (Abb. 6.10 A). Bei einer Einzelzuckung werden verschiedene Abschnitte unterschieden: – Die Latenzzeit ist die Zeit zwischen Beginn des Muskelaktionspotenzials und Beginn des Kraftanstiegs bzw. der Verkürzung des Muskels. In dieser Phase erfolgen die Aktivierungsprozesse, die unter dem Begriff der elektromechanischen Koppelung zusammengefasst sind, bis zur Freigabe des Querbrückenzyklus durch Umlagerung des Tropomyosinmoleküls. Beim Skelettmuskel mit stark ausgeprägten intrazellulären Ca2+-Speichern ist die Latenzzeit deutlich unter 10 ms. – Die Gipfelzeit ist die Zeit, in der die aktive Kraft bzw. die aktive Verkürzung ihre Maxima erreichen. – Die Erschlaffungszeit ist die Zeit des Kraftabfalls vom Maximum bis zu vollständiger Erschlaffung bzw. die Zeit der Verlängerung des Muskels von maximal erreichter Verkürzung zurück zur Ausgangslänge. Sie wird wesentlich bestimmt durch die Geschwindigkeit mit der Ca2+ aus dem Sarkoplasma eliminiert werden kann, und von der Geschwindigkeit der ADP-Abdissoziation vom Myosinkopf. Entsprechend ist die Erschlaffungszeit eine für die verschiedenen Myosinisoformen charakteristische Größe. Generell ist die Erschlaffungszeit länger als die Gipfelzeit (Abb. 6.10 A), und sie ist bei Ermüdung – im Gegensatz zur Gipfelzeit – weiter verlängert.

Innerhalb fast aller Skelettmuskeln können rasch zuckende und langsame Fasertypen anhand des Zeitverlaufs der Kontraktion im Mechanogramm unterschieden werden (Abb. 6.10 A; Tab. 6.1). Langsame Muskelfasern (Typ I in Tab. 6.1) sind reich an Myoglobin („rote“ Muskeln) und exprimieren so genannte langsame Myosinisoformen. Fast alle Schritte des Querbrückenzyklus und somit der ATP-Umsatz sind verlangsamt. Langsame Myosinisoformen zeichnen sich durch einen längeren Kraftbeitrag pro verbrauchtem ATP-Molekül aus (hohe Halteökonomie). Langsame Muskelfasern sind dort zahlreich, wo Haltefunktionen erforderlich sind. Sie bauen Nährstoffe vor allem aerob ab, ermüden daher nicht so schnell, sind aber empfindlich gegen Sauerstoffmangel und haben entsprechend ein dichtes Kapillarnetz. Schnelle Muskelfasern (Typ IIA und IIB in Tab. 6.1) besitzen deutlich weniger Myoglobin („weiße“ Muskeln) und exprimieren schnelle Myosinisoformen. Fast alle Schritte des Querbrückenzyklus werden beschleunigt durchlaufen, entsprechend ist der Kraftbeitrag pro verbrauchtem ATP kürzer (geringe

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113

6 Muskulatur A

B

Aktionspotenzial

Kraft in % der Maximalkraft

100

Reizserie:

elektrischer Doppelreiz Einzelreiz

niederfrequent

hochfrequent

M. soleus

0

0

100

200

1s

Kontraktion

M. gastrocnemius

300

400

Einzelzuckung

Zeit (ms)

Superposition

[Ca ] 10 µmol/l

elektrischer Reiz

C

2+

100

tetanische Kontraktionen: unvollständig vollständig

elektrische Reize

D

Kraft und Lichtsignal in %

2+

[Ca ] berechnet

Kraftentwicklung Lichtsignal

2

Lichtsignal

0

20 N/cm

114

Einzelzuckung

Spannungsentwicklung

200 ms

2s

vollständige tetanische Kontraktion

Abb. 6.10 Mechanogramm, Superposition und Tetanus. (A) Mechanogramme schneller und langsamer Skelettmuskelfasern im Vergleich zum Aktionspotenzial (nach 29). (B) Mechanische Antwort des Muskels (Kontraktion) bei direkter elektrischer Reizung. Einzelzuckung bei Einzelreiz, Superposition bei Doppelreiz, unvollständiger und vollständiger Tetanus bei niederfrequenten und hochfrequenten Reizserien (nach 29). (C, D) Zeitverläufe der sarkoplasmatischen Ca2+Konzentration und der aktiven Kraftentwicklung bei Einzel-

Tabelle 6.1

zuckung (C; nach 10), und bei vollständiger tetanischer Kontraktion (D; nach 7). Zur Messung der sarkoplasmatischen Ca2+-Konzentration wurde das Licht-emittierende Ca2+-Indikatorprotein Äquorin der Leuchtqualle Aequorea forskalea in einzelne Muskelfasern injiziert. Das Lichtsignal ist ein Maß für die sarkoplasmatische Ca2+-Konzentration (vgl. Beziehung zwischen Lichtemission und berechneter Ca2+Konzentration in D).

Einteilung und Eigenschaften von Skelettmuskelfasern

Fasertyp

I

IIA

IIB

Kontraktionsverlauf

langsam

schnell

schnell

Isoform der schweren Myosinkette

Typ I

Typ IIA

Typ IIB

Myosin-ATPase-Aktivität

niedrig

hoch

hoch

Farbe

rot

rot/rosa

weiß

Myoglobingehalt

hoch

hoch

niedrig

Mitochondriendichte

hoch

hoch

niedrig

Stoffwechsel

oxidativ

glykolytisch und oxidativ

glykolytisch

Laktatdehydrogenase-Aktivität Ermüdbarkeit

niedrig gering

mittel oder hoch mittel

hoch schnell

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6.2 Skelettmuskel Halteökonomie). Schnelle Muskelfasern kommen bei schnellen Bewegungen (schnelle Verkürzung) zum Einsatz. Sie gewinnen ihre Energie vorwiegend anaerob aus dem Kreatinphosphatspeicher und durch Glykolyse. In den meisten Skelettmuskeln sind beide Fasertypen zu finden, jedoch in unterschiedlichen Anteilen. In „roten“ Muskeln (z. B. M. soleus) überwiegen die langsamen, myoglobinreichen Fasern, in „weißen“ Muskeln (z. B. M. gastrocnemius) überwiegen die schnellen Fasern. Der Fasertyp wird durch das Impulsmuster der Motoneurone festgelegt. Eine motorische Einheit besitzt daher einen einheitlichen Fasertyp (vgl. Tab. 26.1, S. 740). Stimuliert man eine motorische Einheit schneller Muskelfasern mit dem Impulsmuster, das für eine langsame motorische Einheit typisch ist, so kommt es innerhalb weniger Wochen durch Umprogrammierung der Genexpression zu einer Umwandlung in Richtung langsamer Muskelfasern. Auch umgekehrte Umwandlung von langsamer zu schneller Faser ist möglich. Das Grundmuster der Verteilung von schnellen und langsamen Fasern eines Muskels ist zwar genetisch festgelegt, die Differenzierung erfolgt aber erst nach der Geburt und kann durch Änderung der Erregungsmuster (Training) beeinflusst werden. Passendes Muskeltraining fördert die ererbten Anlagen deutlich. Durch Muskelbiopsien können entsprechende Veranlagungen (z. B. Sprinttalent) frühzeitig erkannt und gezielt trainiert werden.

Bei schnell aufeinanderfolgenden Aktionspotenzialen können sich Einzelzuckungen zu Kontraktionen mit gesteigerter Amplitude überlagern Ein einzelnes Aktionspotenzial führt im Skelettmuskel zu einer Einzelzuckung (Alles-oder-Nichts-Verhalten). Das Aktionspotenzial kann dabei indirekt durch Aktivierung des innervierenden Motoneurons oder experimentell durch direkte elektrische Reizung des Skelettmuskels ausgelöst werden. Das Aktionspotenzial des Skelettmuskels ist viel kürzer (wenige ms) als die mechanische Antwort (Dauer der Einzelzuckung 50 – 500 ms; Abb. 6.10 A), so dass noch während einer Einzelzuckung ein weiteres Aktionspotenzial ausgelöst werden kann. Ist der Abstand zwischen zwei Aktionspotenzialen kleiner als die Dauer einer Einzelzuckung, kommt es durch Überlagerung (Superposition) zu einer vergrößerten mechanischen Antwort (Abb. 6.10 B; vgl. Tab. 6.2, S. 134). Serien von Aktionspotenzialen führen zu langanhaltenden mechanischen Antworten, die in Abhängigkeit von der Aktionspotenzialfrequenz noch Schwankungen im Reiztakt zeigen. Sie werden unvollständige tetanische Kontraktion genannt. Wird der Abstand zwischen aufeinanderfolgenden Aktionspotenzialen kleiner als etwa 1⁄3 der Dauer einer Einzelzuckung, der so genannten Verschmelzungsfrequenz, kommt es zu einer vollständigen Verschmelzung der einzelnen Antworten. Diese Antwort wird vollständige (glatte) tetanische Kontraktion („glatter Tetanus“) genannt. Die Kraft im Tetanus kann je nach Muskeltyp den 3- bis 10fachen Wert der Einzelzuckung erreichen.

Messungen mit Ca2+-sensitiven Farbstoffen (Ca2+-Indikatoren) ermöglichen eine Darstellung der freien sarkoplasmatischen Ca2+-Konzentration in Beziehung zur Kraftentwicklung des Muskels. Bei Einzelzuckungen ist das Signal der erhöhten sarkoplasmatischen Ca2+-Konzentration deutlich kürzer als die mechanische Antwort (Abb. 6.10 C) und erreicht auch nicht die für maximale Kraftentwicklung notwendige Höhe (vgl. Abb. 6.8 C). Bei einer Einzelzuckung erreicht der Skelettmuskel deshalb nur ca. 1⁄4 bis 1⁄5 der maximal möglichen Kräfte. Die Abnahme der Muskelkraft, d. h. die Erschlaffung, erfolgt nicht schon unmittelbar nach Abdissoziation der Ca2+-Ionen von Troponin C sondern erst nachdem ADP von der kraftgenerierenden Querbrücke abdissoziiert ist und eines neues ATP-Molekül gebunden hat (vgl. Abb. 6.5 A, S. 106). Auch bei Superposition von Einzelzuckungen überlagern sich die einzelnen intrazellulären Ca2+-Signale noch nicht. Erst im glatten Tetanus überlagern sich auch die Ca2+-Signale als Zeichen höherer sarkoplasmatischer Ca2+-Konzentration (Abb. 6.10 D; vgl. Tab. 6.2), deren Folge die Zunahme der Kontraktionsamplitude ist.

Die Muskelkraft von Willkürbewegungen kann durch Erhöhung der Aktionspotenzial-Frequenz in den einzelnen motorischen Einheiten (zeitliche Summation) und Rekrutierung zusätzlicher motorischer Einheiten gesteigert werden Im intakten Organismus sind Einzelzuckungen von Muskelfasern nur als Antwort bei Dehnungsreflexen zu beobachten (vgl. Kap. 26.3). Alle willkürlichen Bewegungen hingegen sind längeranhaltende Kontraktionen. Bei schwachen willkürlichen Bewegungen treten in den Motoneuronen Aktionspotenziale mit Frequenzen von 6 – 8 Hz auf. Einzelfasern bzw. einzelne motorische Einheiten zeigen entsprechend repetitive Kontraktionen mit beginnender Superposition. Da bei Willkürbewegungen die einzelnen motorischen Einheiten jedoch asynchron erregt werden, ergibt die Summe aller motorischen Einheiten einen nahezu glatten Kontraktionsverlauf. Eine Steigerung der Impulsrate der Motoneurone von z. B. 8 auf 50 Hz führt zu einer zunehmenden Superposition der Einzelantworten jeder Muskelfaser bzw. jeder einzelnen motorischen Einheit (zeitliche Summation; vgl. Tab. 6.2, S. 134). Entsprechend kann die Kontraktionskraft im Maximum auf das 5- bis 10-fache ansteigen. Durch Aktivierung zusätzlicher motorischer Einheiten (Rekrutierung) kann die entwickelte Muskelkraft und Kontraktionsgeschwindigkeit unter Last ebenfalls erhöht werden (vgl. Tab. 6.2). Die Abstufbarkeit der Muskelfunktion ist dabei um so feiner, je kleiner die motorischen Einheiten sind, d. h. je geringer der zusätzliche Kraftbeitrag der einzelnen motorischen Einheit ist. Die Aktivität motorischer Einheiten lässt sich mit Hilfe der Elektromyographie registrieren (Abb. 6.11). Im Elektromyogramm (EMG) werden Summenaktionspotenziale (vgl. S. 623) von Skelettmuskelfasern registriert. Die Elektroden werden entweder in die Muskulatur eingestochen (Nadelelektroden) oder liegen an der Hautoberfläche (transkutanes EMG). Im Nadel-EMG lässt sich z. B. die Aktivität einzelner motorischer Einheiten verfolgen.

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115

116

6 Muskulatur

Muskelruhe

1 2

100 mV 10ms

leichte Willküraktivierung

mV 100

1 2

300 10ms

stärkere Willküraktivierung

1

100

2

300 10ms

maximale Willküraktivierung

1 1000 2 200ms

Abb. 6.11 Elektromyographie bei Muskelruhe und Willkürmotorik unterschiedlicher Intensität. Signale von zwei motorischen Einheiten abgeleitet mit zwei Nadelelektroden. In Muskelruhe keine Aktionspotenziale. Bei Steigerung der Willkürmotorik Rekrutierung einer zweiten motorischen Einheit (Spur 1) und Erhöhung der Aktionspotenzialhäufigkeit in beiden motorischen Einheiten (nach 13).

Muskelmechanik Myosinköpfe im kontraktilen Apparat des Muskels können sowohl aktive Verkürzung induzieren als auch Kraft entwickeln. Kontraktionen, bei denen ohne Änderung der Kraft nur eine Verkürzung erfolgt, heißen isotonisch. Kontraktionen, bei denen der Muskel ohne Änderung der Länge ausschließlich Kraft generiert, werden isometrisch genannt. Die auxotonische Kontraktion ist eine Mischform, bei der sich unter Verkürzung auch die entwickelte Kraft ändert. Schließlich gibt es Kombinationen beider Grundformen wie die Unterstützungsund Anschlagskontraktion. Mit steigender Last wird die Verkürzungsgeschwindigkeit in der isotonischen Phase einer Unterstützungskontraktion geringer. Die Zusammenhänge werden in der Kraft-Geschwindigkeits-Beziehung beschrieben. Wird ein Muskel passiv gedehnt, so ändern sich in charakteristischer Weise aktive Kraft und maximale Verkürzung. Diese Beziehungen werden im Arbeitsdiagramm des Muskels zusammengefasst. Die mit steigender Vordehnung zunehmenden passiven Kräfte sind Grundlage der Ruhe-Dehnungs-Kurve des Muskels.

Das Arbeitsdiagramm des Muskels beschreibt das Verhalten von Muskelkraft und Muskelverkürzung bei unterschiedlicher Länge des Muskels Ein nicht erregter isolierter Muskel nimmt seine Gleichgewichtslänge ein. Diese ist meist etwas kürzer als die Muskellänge im Verband des Skeletts in Ruhestellung

(Ruhelänge des Muskels). Wird der Muskel über seine Gleichgewichtslänge hinaus gedehnt, werden passive Rückstellkräfte beobachtet. Die gemessene passive Rückstellkraft steigt mit zunehmender Dehnung nicht linear, sondern in etwa exponentiell an. Ursache dieser passiven Kräfte sind im Wesentlichen die Titinmoleküle in den Sarkomeren. Extrazelluläre Strukturen wie elastische und kollagene Fasern des Bindegewebes sind von untergeordneter Bedeutung, außer bei sehr großen Dehnungen, die im intakten Organismus jedoch nicht erreicht werden. Trägt man die gemessenen passiven Kräfte gegen die Muskellänge auf, so erhält man die Ruhe-DehnungsKurve (Abb. 6.12 A). Mit steigender Dehnung entfalten sich mehr und mehr die im Titinmolekül vordefinierten Domänen, die sich bei Entdehnung wieder neu falten. Die Neufaltung erfolgt bei geringeren Längen als die Entfaltung. Als Folge zeigt die Ruhedehnungskurve eine Hysterese. Die Entdehnungskurve liegt unter der Kurve für zunehmende Dehnung, und ein gedehnter Muskel erreicht unter Entdehnung nicht mehr ganz seine ursprüngliche Ausgangslänge. Dieser Dehnungsrückstand wird unter aktiver Verkürzung wieder rückgängig gemacht. Sowohl die Ruhe-Dehnungs-Kurve als auch die Abhängigkeit der verschiedenen Kontraktionsformen von der Muskellänge müssen am isolierten Muskel gemessen werden, da sich in situ der Arbeitsbereich von Skelettmuskeln nur über etwa ± 10% der Ruhelänge erstreckt. Einerseits lässt sich der Abstand zwischen Ursprung und Ansatz eines Muskels im Skelett nur wenig ändern, andererseits ist in situ die Muskelaktivität über Längensensoren (Muskelspindeln; vgl. S. 743) reflektorisch auf diesen schmalen Arbeitsbereich limitiert.

Bei einer isotonischen Kontraktion verkürzt sich der Muskel unter konstanter Kraftentwicklung Bei isotonischer Kontraktion verkürzt sich der Muskel bei konstanter Kraftentwicklung bzw. unter konstanter Belastung (Abb. 6.12 C). Diese Kontraktionsform wird beispielsweise beobachtet, wenn an einen relaxierten, isolierten Skelettmuskel ein Gewicht gehängt wird, das den Muskel zunächst passiv dehnt, bis die passiven Dehnungskräfte der Gewichtskraft des angehängten Gewichtes entsprechen. Das Anheben des Gewichtes bei Stimulation des Muskels entspricht einer isotonischen Kontraktion, da die Last während der aktiven Verkürzung konstant bleibt und der Muskel beim Anheben stets eine Gesamtkraft entwickeln muss, die der anzuhebenden Last betragsmäßig gleich, ihr aber entgegengesetzt gerichtet ist. Dementsprechend werden die Begriffe Last und Muskelkraft häufig sinngleich benutzt. Bei genauer Betrachtung wird allerdings erkennbar, dass mit abnehmender Dehnung der Titinmoleküle und somit abnehmenden passiven Kräften die vom Muskel aktiv entwickelten Kräfte während isotonischer Verkürzung zunehmen müssen, da die Summe von passiven plus aktiven Kräften der konstanten Last des Gewichtes entgegenwirken (Abb. 6.12 A).

Trägt man von der Ruhe-Dehnungs-Kurve ausgehend die bei der jeweiligen Ausgangslänge im glatten Tetanus maximal mögliche Verkürzung waagerecht (isotonisch) und nach links (Verkürzung) auf, so ergibt die Verbin-

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6.2 Skelettmuskel dung der Endpunkte die Kurve der isotonischen Maxima (Abb. 6.12 B).

A Arbeitsdiagramm des Skelettmuskels isometrische Maxima

Bei isometrischer Kontraktion entwickelt ein Muskel Kraft ohne seine Länge zu ändern

Die isometrisch entwickelte Kraft hängt von der Muskellänge ab Die Ausgangslänge beeinflusst zum einen die passiven Kräfte eines Muskels (Ruhe-Dehnungs-Kurve) und zum anderen die bei Stimulation zusätzlich entwickelte aktive isometrische Kraft (Abb. 6.12 B; senkrechte Pfeile). Aktive und passive Kräfte addieren sich bei jeder Ausgangslänge zur isometrischen Maximalkraft. Die Ursache hierfür ist die parallele Anordnung der Titin- und Aktinfilamente, die einerseits passive Kräfte verursachen (Titin) und andererseits die von den Querbrücken produzierten aktiven Kräfte übertragen (Aktinfilamente). Die im glatten Tetanus entwickelte aktive isometrische Kraft ist im Bereich der Gleichgewichtslänge maximal und fällt sowohl mit steigender Länge oberhalb des Maximums als auch mit abnehmender Länge des Muskels ab. Trägt man von der Ruhe-Dehnungs-Kurve ausgehend die jeweils im glatten Tetanus entwickelte aktive isometrische Kraft senkrecht nach oben (isometrische Kontraktion) auf, so ergibt die Verbindung der Endpunkte die Kurve der isometrischen Maxima (Abb. 6.12 B). Bei Einzelzuckungen werden geringere isometrische Kräfte erreicht als bei Superposition oder bei tetanischer Kontraktion. Die Kurve isometrischer Maxima ist für Einzelzuckungen deshalb flacher als die in Abb. 6.12 B gezeigte Kurve.

Die Längenabhängigkeit der aktiv entwickelten isometrischen Kraft lässt sich aus der Gleitfilamenttheorie erklären Wird die aktiv entwickelte isometrische Kraft gegen die Sarkomerlänge aufgetragen und mit dem jeweiligen Ausmaß an Überlappung zwischen Aktin- und Myosinfilamenten verglichen, kann der charakteristische Verlauf des aktiven Kraft-Längen-Diagramms aus Gleitfilamenttheorie und zyklischer Querbrückentätigkeit erklärt werden (Abb. 6.13). Bei Sarkomerlängen über 2,2 µm sinkt die aktive isometrische Kraft linear mit abnehmender Über-

Kurve der Unterstützungsmaxima

Kraft

Ruhedehnungskurve angehobene Last

Arbeit Hubhöhe

Gleichgewichtslänge

Muskellänge (cm)

B isotonische und isometrische Kontraktion Kurve der isometrischen Maxima Ruhedehnungskurve

Kraft

Kurve der isotonischen Maxima

Kraft

Bei einer isometrischen Kontraktion sind die Muskelenden fixiert (Abb. 6.12 C), so dass keine Änderung der Muskellänge stattfinden kann. Ein Beispiel dafür ist die Funktion von Haltemuskeln. Bei dieser Kontraktionsform bleibt die Länge der Sarkomere konstant, sofern die Dehnung der Sehnen vernachlässigbar ist. Die Strukturumlagerungen beim „Kraftschlag“ im Verlauf des Querbrückenzyklus führen bei festgehaltener Filamentposition zu elastischer Verformung des Myosinkopfes, aber auch zu Dehnung der Aktin- und Myosinfilamente. Die Summe der so erzeugten elastischen Rückstellkräfte ist die außen messbare aktive Muskelkraft. Die maximale Muskelkraft ist somit abhängig von der Zahl parallel angeordneter Myosinköpfe und entsprechend um so größer, je größer der Gesamtquerschnitt aller Fasern eines Muskels ist (physiologischer Muskelquerschnitt).

isotonische Maxima

Muskellänge

Muskellänge Ruhedehnungskurve

C verschiedene Kontraktionsformen

isotonisch

isometrisch

auxotonisch

Unterstützungszuckung

Anschlagszuckung

Abb. 6.12 Kontraktionsformen im Kraft-Länge-Diagramm (Arbeitsdiagramm). (A) Arbeitsdiagramm mit Ruhedehnungskurve, Kurven der isometrischen und isotonischen Maxima sowie Kurve der Unterstützungsmaxima für einen Arbeitspunkt (x). Eingezeichnet sind isometrische und isotonische Kontraktion für diesen Arbeitspunkt sowie Unterstützungskontraktionen für 3 verschiedene Lasten. Für eine der Unterstützungskontraktionen ist die physikalische Arbeit eingezeichnet. Sie entspricht dem Produkt aus angehobener Last und Hubhöhe und ist gleich der von diesen beiden Größen eingeschlossenen Fläche. (B) Konstruktion der Kurven der isotonischen und isometrischen Maxima. (C) Verlauf einer isotonischen, isometrischen, positiv auxotonischen, Unterstützungs- und Anschlags-Kontraktion im Arbeitsdiagramm.

lappung zwischen Myosin- und Aktinfilamenten ab, da mit abnehmender Überlappung entsprechend weniger Myosinköpfe mit den Aktinfilamenten interagieren können. Gleichbleibend maximale aktive Kraft wird bei Sarkomerlängen zwischen 2,2 und 2,0 µm erreicht. In diesem Bereich können stets alle Myosinköpfe mit Aktin interagieren. Wegen der kopffreien Zone im Zentrum der Myosinfilamente bleibt die Zahl von Myosinköpfen, die mit Aktinfilamenten interagieren, mit abnehmender Sarkomerenlänge im Bereich von 2,2 bis 2,0 µm konstant. Der Abfall der aktiven isometrischen Kraft bei Längen

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6 Muskulatur unterhalb von 2,0 µm beruht auf mehreren Faktoren: beginnende Doppelüberlappung der Myosinfilamente mit Aktinfilamenten beider Sarkomerhälften, Kollision der Myosinfilamente mit den Z-Scheiben sowie reduzierte Ausbreitung der Aktionspotenziale in den T-Tubuli. Die meisten isolierten Muskeln können sich deshalb nur auf ca. 50 – 70% ihrer Ausgangslänge verkürzen. Weitergehende Verkürzungen führen zu irreversiblen Veränderungen in der Sarkomerstruktur.

eine Phase isotonischer oder auxotonischer Kontraktion. Das Hochheben eines Gegenstandes ist eine typische Unterstützungskontraktion (Abb. 6.12 C). In der ersten Phase muss der Muskel zunächst soviel Kraft entwickeln, bis diese dem Gewicht des Gegenstandes entspricht. Dann kann der Gegenstand in der zweiten Phase angehoben werden. In der ersten Phase wird unter konstanter Muskellänge die aktive Kraft ansteigen (isometrische Phase), in der zweiten Phase wird unter Muskelverkürzung der Gegenstand angehoben (isotonische Phase). Bei Unterstützungskontraktionen im intakten Organismus ist die zweite Phase aufgrund der Veränderung der wirksamen Hebelarme häufig nicht exakt isotonisch sondern vielmehr auxotonisch. Kaubewegungen (mit Kieferschluss) sind typische Anschlagskontraktionen (Abb. 6.12 D). In der ersten isotonischen bzw. auxotonischen Phase führt die Muskelverkürzung zum Kieferschluss (Anschlag), in der zweiten, isometrischen Kontraktionsphase wird ohne Längenänderung Muskelkraft entwickelt (Kaudruck).

Bei der auxotonischen Kontraktion ändern sich gleichzeitig Länge und Kraft Gelenkbewegungen verändern häufig die Länge des wirksamen Hebelarmes. Dadurch wird auch beim Anheben eines konstanten Gewichtes die tatsächliche Belastung des Muskels während der Verkürzung verändert. Beim Anheben einer Last kann sich beispielsweise der Winkel zwischen Unterarm und Oberarm und somit der wirksame Hebelarm für den M. bizeps brachii ändern. Kontraktionen, bei denen sich während der Verkürzung die Muskelkraft bzw. Muskelbelastung ändert, werden auxotonische Kontraktionen genannt. Bei positiv auxotonischer Kontraktion steigt die Last mit der Verkürzung an (Abb. 6.12 C), bei negativ auxotonischer Kontraktion hingegen fällt sie.

Mit zunehmender Last nimmt die Längenänderung (Hubhöhe) während einer Unterstützungskontraktion ab Die Hubhöhe bei einer Unterstützungskontraktion ist um so größer, je kleiner die anzuhebende Last ist (Abb. 6.12 A). Wird für verschiedene Gewichte, bei vorgegebener Ausgangslänge des Muskels, die in der isotonischen Phase jeweils erreichte Endlänge gegen die zum Anheben des Gewichtes notwendige Muskelkraft in das Arbeitsdiagramm des Muskels eingetragen, ergibt die Verbindungslinie der Endlängen die Kurve der Unterstützungsmaxima. Dabei sind die von der vorgegebenen Ausgangs-

Unterstützungskontraktion und Anschlagskontraktion sind zusammengesetzte Kontraktionsformen Bei der Unterstützungskontraktion und der Anschlagskontraktion können zwei Phasen unterschieden werden, die nacheinander ablaufen: eine isometrische Phase und

B

100

Sarkomerlänge (µm) 1,60

C A

80

Kraft in % vom Maximum

118

A

2,00

D B

60

2,20 C

40

Kraftentwicklung beim Skelettmuskel

2,50 D

20

3,60 0

E

E

0 1,2 1,4 1,6 1,8 2,0 2,2 2,4 2,6 2,8 3,0 3,2 3,4 3,6

Sarkomerlänge (µm)

Abb. 6.13 Einfluss der Sarkomerlänge auf aktive isometrische Kraft. Aufgetragen ist die im glatten Tetanus entwickelte aktive isometrische Kraft (isometrische Maximalkraft minus passive Kraft entsprechend der Ruhedehnungs-

Titinfilament

Myosinfilament

Aktinfilament

kurve) gegen die jeweilige Sarkomerlänge. Die einzelnen charakteristischen Abschnitte lassen sich durch unterschiedliches Überlappungsverhalten der Aktin- und Myosinfilamente erklären (nach 16).

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6.2 Skelettmuskel A

B

Die Verkürzungsgeschwindigkeit eines Muskels nimmt mit zunehmender Last ab Wird die unter isotonischen Bedingungen gemessene Verkürzungsgeschwindigkeit des Muskels gegen die jeweils angehobene Last bzw. die zum Anheben notwendige Muskelkraft aufgetragen, erhält man die Last-Geschwindigkeits-Beziehung bzw. Kraft-Geschwindigkeits-Beziehung (Abb. 6.14 A). Ohne äußere Last verkürzt sich der Muskel mit seiner maximalen Geschwindigkeit. Diese wird von der Geschwindigkeit des Gleitens der Aktinund Myosinfilamente im Sarkomer sowie von der Gesamtzahl hintereinander geschalteter Sarkomere (Muskellänge) bestimmt. Die Verkürzungsgeschwindigkeit nimmt mit zunehmender Last hyperbolisch ab. Entsprechend werden leichte Lasten schneller angehoben als schwere. Entspricht die anzuhebende Last der halben isometrischen Maximalkraft, erreicht die Verkürzungsgeschwindigkeit noch etwa 1⁄4 der unter lastfreier Verkürzung beobachteten Maximalgeschwindigkeit. Ist die Last gerade gleich der isometrischen Maximalkraft, ist die Verkürzungsgeschwindigkeit Null, d. h. der Muskel kann sich nicht mehr verkürzen.

0

P0

Kraft bzw. Last

Vmax

0 absorbiert

Leistung

erzeugt

Die physikalische Muskelarbeit entspricht dem Produkt aus Last und Hubhöhe Da die vom Muskel zu entwickelnde Gesamtkraft gleich der anzuhebenden Last ist, wird die physikalische Muskelarbeit bei einer Unterstützungskontraktion im KraftLängen-Diagramm durch die Fläche des Rechtecks repräsentiert, dessen Seiten der angehobenen Last (= der zum Anheben der Last notwendige Muskelkraft) und der Hubhöhe entsprechen (Abb. 6.12 A). Die Arbeit erreicht im mittleren Lastbereich ein Maximum und wird für niedrige und höhere Lasten kleiner. Sie erreicht für Lasten gleich der isometrischen Maximalkraft (Hubhöhe = 0) bzw. bei lastfreier Verkürzung (Last = 0) den Wert Null, da jeweils eine Größe des Produkts gleich Null ist. Obwohl bei isometrischer Kontraktion und lastfreier Verkürzung die physikalische Muskelarbeit gleich Null ist, wird im Verlauf beider Kontraktionsformen ATP im Querbrückenzyklus umgesetzt. Die bei der Hydrolyse von ATP freigesetzte chemische Energie wird dabei vollständig in Form von Wärme abgegeben.

Verkürzung

Geschwindigkeit

Die Endpunkte werden erreicht, wenn das anzuhebende Gewicht schwerer ist als die isometrisch mögliche Maximalkraft (rein isometrische Kontraktion), bzw. wenn das Gewicht gerade den passiven Muskelkräften bei der vorgegebenen Ausgangslänge entspricht (rein isotonische Kontraktion). Die Kurve der Unterstützungsmaxima entspricht in erster Näherung der Verbindungsgeraden zwischen den Endpunkten der zugehörigen isometrischen und isotonischen Kontraktion. Für jede Ausgangslänge des Muskels muss vom entsprechenden Punkt auf der Ruhe-Dehnungs-Kurve ausgehend die Kurve der Unterstützungsmaxima neu bestimmt werden.

Vmax

Verlängerung

länge möglichen rein isometrischen bzw. rein isotonischen Kontraktionen die Endpunkte der Kurve der Unterstützungsmaxima.

Kraft bzw. Last P0

Abb. 6.14 Die Beziehung zwischen Muskelkraft bzw. Last und Verkürzungs- bzw. Dehnungsgeschwindigkeit (A) und Leistung (B). (A) Ist die äußere Last gleich Null wird die maximale Verkürzungsgeschwindigkeit (Vmax) erreicht. Entspricht die Last der isometrischen Maximalkraft (Po) erfolgt keine Verkürzung. Bei Lasten über Po wird der Muskel verlängert bzw. gedehnt. (B) Die Leistung (Produkt aus Muskelkraft bzw. Last und Verkürzungsgeschwindigkeit) entspricht dem jeweiligen Rechteck unter der Kraft-Geschwindigkeits-Beziehung. Die maximale Leistung wird bei Lasten/Kräften von ca. 1⁄3 der isometrischen Maximalkraft (Po) erreicht. Bei Dehnung kann ein Muskel Kräfte entwickeln, die das doppelte der isometrischen Maximalkraft erreichen, und es können hohe Leistungen absorbiert werden (Bremswirkung bei Dehnung; nach 13).

Bei Verlängerung bzw. Dehnung eines aktivierten Muskels werden die höchsten Kräfte erreicht Übersteigt die Last die isometrische Maximalkraft, wird der Muskel verlängert (Abb. 6.14 A, negative Verkürzungsgeschwindigkeit). Auch hier entspricht die vom Muskel der Verlängerung bzw. Dehnung entgegengesetzten Kraft gleich der einwirkenden Last. Dieser Funktionsbereich ist für Bremsbewegungen, zum Beispiel beim Bergabgehen, von großer Bedeutung. Unter Verlängerung werden vom aktiv kontrahierenden Muskel Kräfte erzeugt, die das Doppelte der maximalen isometrischen Muskelkraft erreichen können. Bei hohen Kräften können im Muskelgewebe Mikroläsionen auftreten. Nach ungewohnten Muskelbelastungen, insbesondere solchen, die mit Bremsfunktionen der Muskulatur einhergehen (z. B. Bergabgehen), treten verzögert Muskelschmerzen auf, die nach 24 bis

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6 Muskulatur 48 Stunden ihr Maximum erreichen (Muskelkater). Ursache ist eine entzündliche Reaktion der Muskelfasern mit Anschwellen und Schmerz aufgrund von Mikroläsionen, die zum Beispiel im Bereich der ZScheiben und den Verankerungen des kontraktilen Apparates über membranassoziierte Strukturproteine in den extrazellulären Kollagenfibrillen auftreten können.

Auch die Muskelleistung nimmt mit steigender Last ab Die von einem Muskel bei Verkürzung erzeugte mechanische Leistung ist das Produkt aus Kraft (angehobene Last) und Verkürzungsgeschwindigkeit. Die Leistung entspricht daher dem jeweiligen Rechteck unter der KraftGeschwindigkeits-Beziehung (Abb. 6.14 B). Die mechanische Leistung ist bei lastfreier Verkürzung (Last = 0) und isometrischer Kontraktion (Hubhöhe = 0) gleich Null. Das Leistungsmaximum liegt bei Lasten, die eine Hubkraft von etwa 30 % der isometrischen Maximalkraft erfordern. Die Kraft-Geschwindigkeits-Beziehung lässt auch erkennen, dass ein Muskel schon bei relativ langsamen Dehnungen eine erhebliche mechanische Leistung absorbieren kann (Bremsfunktion), die in Form von Wärme abgegeben wird (Abb. 6.14 B).

Verkürzungsgeschwindigkeit und Muskelleistung können durch zeitliche Summation und Rekrutierung motorischer Einheiten an wechselnden Bedarf angepasst werden Soll ein Gegenstand angehoben werden, kann durch Erhöhung der Aktionspotenzialfrequenz, mit der motorische Einheiten angesteuert werden (zeitliche Summation), und durch Rekrutierung motorischer Einheiten die aktive Gesamtkraft erhöht werden. Bei gleichem anzuhebendem Gewicht wird die relative Belastung der einzelnen Muskelfaser reduziert. Entsprechend der Kraft-Geschwindigkeits-Beziehung kann der Gegenstand schneller angehoben werden. Analog lässt sich die Geschwindigkeit von Bewegungen durch Dehnung und damit erzeugter Bremswirkung der kontrolliert mitaktivierten, antagonistisch wirkenden Muskeln genau dosieren (vgl. Abb. 6.14 A und S. 744). Die Hubgeschwindigkeit wird darüber hinaus auch von den aktivierten Muskelfasertypen (Tab. 6.1, S. 114) mitbestimmt. Die meisten Skelettmuskeln haben sowohl langsame als auch schnelle Muskelfasern, jedoch in unterschiedlichen Anteilen. Dies bedeutet, dass nicht nur durch Rekrutierung und Summation sondern auch durch Auswahl schneller oder langsamer motorischer Einheiten die Hubgeschwindigkeit dem Bedarf angepasst werden kann.

Muskelenergetik Die zur Muskelkontraktion notwendige Energie stammt aus der Hydrolyse von ATP. Aufgrund effizienter Nachlieferung sinkt die ATP-Konzentration bei Muskelarbeit praktisch nicht ab. Die Regeneration von ATP erfolgt aus Kreatinphosphat, durch Glykolyse und durch oxidative Phosphorylierung. Zu Beginn einer Muskeltätigkeit

wird ATP ohne Sauerstoffverbrauch über Kreatinphosphat bereitgestellt. Die eingegangene Sauerstoffschuld in Form ansteigender Kreatinkonzentration muss in der Erholungsphase über oxidative Phosphorylierung und Regeneration des Kreatinphosphats ausgeglichen werden. Der Wirkungsgrad der Muskulatur bei der Umformung der chemischen Energie in mechanische Arbeit kann 50 % erreichen. Einschließlich der chemischen Prozesse zur Regeneration von ATP beträgt der Gesamtwirkungsgrad ca. 25 %. Die Muskeltätigkeit wird durch zentrale und periphere Ermüdungserscheinungen begrenzt. Im Muskel selbst führt der pH-Abfall bei Laktatproduktion zur Abnahme der Muskelkraft. Im Verlauf der Muskelkontraktion und in der Erholungsphase wird Wärme freigesetzt. Die Initialwärme ist der im Verlauf der Kontraktion freigesetzte Anteil, die Erholungswärme wird nach Ende der Kontraktion freigesetzt. Die Myosinkopfdomänen besitzen ATPase-Aktivität. ATP ist dementsprechend direktes Substrat der Myosinköpfe, und die chemische Energie der Hydrolyse von ATP ist unmittelbare Energiequelle der Muskelkontraktion. Bei der Muskelkontraktion hydrolysiertes ATP wird ständig mit so hoher Effizienz nachgeliefert, dass praktisch kein Absinken der normalen ATP-Konzentration (ca. 5 mMol/l) im Sarkoplasma eintritt. Die ATP-Regeneration erfolgt im Wesentlichen über drei Mechanismen: – 1. ATP wird aus Kreatinphosphat nachgeliefert, entsprechend der Lohmann-Reaktion: Kreatinphosphat + ADP ↔ Kreatin + ATP. Die ATP-Konzentration bleibt dabei unverändert bis die Kreatinphosphat-Konzentration von ca. 20 mmol/kg Muskelgewebe in Ruhe auf unter 2,5 mmol/kg abgesunken ist (Abb. 6.15 A). Die ATP-Regeneration aus Kreatinphosphat erfolgt ohne Sauerstoffverbrauch und ohne Bildung von Laktat (Milchsäure) ist also anaerob-alaktazid. Die Einstellung des Gleichgewichtes wird durch Kreatinkinase katalysiert. Die Kreatinkinase ist in der M-Linie integriert und bildet im Bereich der I-Bande mit glykolytischen Enzymen einen Komplex, der mit den Aktinfilamenten assoziiert ist. Diese Lokalisation sichert ein schnelles Nachliefern von ATP aus ADP mit kürzesten Diffusionsstrecken.

– 2. ATP entsteht anaerob beim Abbau von Glukose über die Glykolyse. Die Glukose stammt überwiegend aus dem Glykogenabbau. 3 Mol ATP/Mol Glukose werden beim Abbau aus Glykogen gewonnen, bei Abbau freier Glukose nur 2 Mol ATP/Mol Glukose. Der Glykogenvorrat entspricht ca. 100 mM Glukoseeinheiten pro kg Muskelgewebe. Bei der anaeroben Glykolyse entsteht Laktat, d. h. die ATP-Bereitstellung erfolgt anaeroblaktazid. – 3. Durch die oxidative Phosphorylierung in den Mitochondrien werden 36 Mol ATP/Mol Glukose gewonnen. Energieliefernde Substrate sind Kohlenhydrate und Fettsäuren. Bei Fettsäuren hängt die Energieausbeute vom Fettsäuretyp ab. Die ATP-Bereitstellung ist entsprechend aerob-alaktazid. Das in den Mitochondrien gebildete ATP kann nicht direkt die Mitochondrien verlassen. Über die Lohmann-Reaktion wird das energiereiche Phosphat auf Kreatin übertragen und gelangt in

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6.2 Skelettmuskel

A

B

Kontraktion

Erholung

Reiz

Kraft

ATPase-Aktivität Konzentration Energie

CrP

CrP-Gehalt

ATP Sauerstoffverbrauch 0

10

20

freigesetztes Pi (mmol/kg )

(äquivalent der alaktazid geleisteten Arbeit)

Abb. 6.15 Energieumsatz während Muskelkontraktion. (A) Konzentrationen von ATP und Kreatinphosphat (CrP) in Abhängigkeit von der freigesetzten Menge an anorganischem Phosphat, Pi, während anaerober alaktazider Phase der Energiegewinnung (nach 25). (B) Verhalten von Kraftentwicklung, ATPase-Aktivität, Kreatinphosphat (CrP)-Gehalt

Form von Kreatinphosphat in das Sarkoplasma, wo es der Regeneration von ATP aus ADP dient.

Zu Beginn einer Muskeltätigkeit ist die anaerobe Regeneration von ATP notwendig, da die Anpassung des Stoffwechsels (oxidative Phosphorylierung) an den gesteigerten Bedarf eine Anlaufzeit erfordert. In dieser Phase wird ATP zunächst über die Lohmann-Reaktion aus Kreatinphosphat regeneriert. In dieser Anfangsphase sinkt der Kreatinphosphatgehalt des Muskels bei praktisch konstanter ATP-Konzentration (Abb. 6.15 A, B). Das Kreatinphosphat-Defizit wird nach Ende der Muskeltätigkeit, zu Beginn der Erholungsphase über die umgekehrte Lohmann-Reaktion aus ATP regeneriert, das über die oxidative Phosphorylierung produziert wird. Der dazu in der Erholungsphase notwendige Sauerstoff entspricht einer Sauerstoffschuld, die bei Belastungsbeginn über Abbau von Kreatinphosphat eingegangen wurde. Für die meisten Tätigkeiten reicht diese anaerob alaktazide Energiegewinnung aus (Abb. 6.15 B). Bei schnellen Muskelfasern (vgl. Tab. 6.1, S. 114) mit geringer Kapazität der oxidativen Phosphorylierung muss bei Bedarf zusätzlich ATP über anaerobe Glykolyse mit Laktatproduktion bereitgestellt werden. Absinken des Kreatinphosphats sowie Laktat- und Phosphat-Anreicherung führen bei diesen Fasern zu schneller muskulärer Ermüdung. Bei anhaltender Tätigkeit von langsamen Muskelfasern mit hoher Kapazität der oxidativen Phosphorylierung sinkt zunächst der Kreatinphosphatspiegel solange, bis die oxidative Phosphorylierung ausreichend angestiegen ist, um den ATP-Bedarf zu decken (ca. 1 – 2 min). Dann erfolgt die ATP-Regeneration aerob. Das System ist stationär (im Fließgleichgewicht), wenn die ATP-Regeneration mit dem ATP-

10 s

5 min Zeit

und Sauerstoffverbrauch vor, während und nach einer kurzfristigen tetanischen Kontraktion (anaerobe alaktazide Energiegewinnung). Zu beachten ist die Änderung der Zeitskala mit Beginn der Erholungsphase. Gestrichelte, waagerechte Linien repräsentieren Ruhewerte von ATPase-Aktivität und Sauerstoffverbrauch (nach 5).

Verbrauch Schritt hält. In diesem Fließgleichgewicht bleiben die intrazelluläre Konzentration von ATP und Kreatinphosphat konstant.

Die Rate der ATP-Spaltung kann bei körperlicher Belastung auf das 50- bis 100fache des Ruheumsatzes ansteigen. Entsprechend ist der Sauerstoffverbrauch ebenfalls auf das 50- bis 100fache gesteigert, da der Sauerstoffbedarf pro ATP konstant bleibt, solange ATP ausschließlich durch oxidative Phosphorylierung bereitgestellt wird. Die Dauerleistungsgrenze, bis zu der die ATP-Regeneration über die oxidative Phosphorylierung gedeckt wird, kann kurzfristig überschritten werden, wenn ATP zusätzlich anaerob über Glykogenabbau gebildet wird. Durch anaerobe Glykolyse kann die ATP-Regeneration allerdings nur kurzfristig gesteigert werden, da die Glykogenvorräte begrenzt sind und das Endprodukt Laktat in Muskelfasern und Blutplasma angereichert wird. Folge des Laktatanstiegs ist ein pH-Abfall, der beispielsweise durch Verschiebung der Kraft-Calcium-Kurve (Abb. 6.8 C, S. 110) zu reduzierten Muskelkräften und daraus resultierenden Leistungseinschränkungen führt. Mit einer Halbwertszeit von etwa 15 Minuten wird Laktat aus der Muskulatur über das Blut abtransportiert und in Leber und Herzmuskel verstoffwechselt.

Zentrale und periphere Effekte führen zur Ermüdung von Willkürbewegungen Die Abnahme der Muskelkraft bei anhaltenden willkürlichen Bewegungen ist im ersten Stadium auf eine Reduktion der Willkürinnervation zurückzuführen (zentrale

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121

122

6 Muskulatur Ermüdung). Unter elektrischer Stimulation des efferenten Nervs kann die anfängliche Muskelkraft wieder erreicht werden. Bei fortgesetzter Stimulation des efferenten Nervs sinkt die Muskelkraft erneut ab, kann aber durch direkte Stimulation der Muskulatur wieder gesteigert werden. Demzufolge ist dieser erneute, zweite Kraftabfall Folge der Ermüdung der neuromuskulären Erregungsübertragung durch Transmitterverarmung. Erst eine Abnahme der Muskelkraft bei fortgesetzter direkter Stimulation des Muskels mit Abfall des intrazellulären pH-Wertes durch Anhäufung von Laktat bei anaerober Energiebereitstellung, oder der Anstieg von Phosphat und in geringerem Maße von ADP führen zur Ermüdung des Muskels selbst (periphere Ermüdung). Ursachen für die reduzierten Muskelkräfte bei peripherer Ermüdung sind Abnahme der Ca2+-Freisetzung aus dem sarkoplasmatischen Retikulum sowie reduzierte Ca2+-Empfindlichkeit des kontraktilen Apparates bei reduziertem pH-Wert und Anstieg des Phosphats. Zunehmende Abweichungen vom pH-Optimum der ATP-Hydrolyse durch Myosin oder der an ATP-Bereitstellung und -Regeneration beteiligten Enzymsysteme können zur Reduktion der Muskelkraft bei Ermüdung beitragen.

Die Muskulatur kann chemische Energie mit hohem Wirkungsgrad in mechanische Arbeit umformen Die bei der Hydrolyse von ATP durch die Myosinköpfe freigesetzte chemische Energie kann unter optimalen Bedingungen zu 40 – 50 % in mechanische Arbeit umgeformt werden (maximaler Wirkungsgrad). Die Muskelleistung erreicht ein Maximum bei Lasten, die etwa 30 % der isometrischen Maximalkraft entsprechen (Abb. 6.14). In diesem Bereich ist der Wirkungsgrad am günstigsten. Zum Beispiel kann beim Radfahren mit Hilfe einer Gangschaltung die Belastung der Muskulatur auch bei wechselnden äußeren Bedingungen in diesem Bereich verbleiben. Andererseits werden selbst unter optimalen Bedingungen 50 – 60% der umgesetzten chemischen Energie als Wärme freigesetzt. Darüber hinaus geht auch die Regeneration von ATP über oxidative Phosphorylierung von Glukose bzw. Fettsäuren in der Erholungsphase mit Wärmebildung einher. Werden diese Wärmeverluste mit berücksichtigt, liegt der Gesamtwirkungsgrad der Muskulatur bei 20 – 30 %, d. h. selbst bei optimalem Gesamtwirkungsgrad werden 70 – 80 % des Gesamtumsatzes in Form von Wärme freigesetzt.

Die Wärmeproduktion des aktiven Muskels erfolgt in zwei Phasen, die als Initialwärme und Erholungswärme bezeichnet werden Wie alle Gewebe hat auch der Muskel einen Ruheumsatz, der von einer Wärmeproduktion begleitet ist, der so genannten Ruhewärme. Wird der Muskel stimuliert, so lassen sich global zwei Phasen der Wärmeproduktion unterscheiden. Die Phase der Initialwärme während der Kontraktion, die mit Ende der Erschlaffung abgeschlossen ist, und die Phase der Erholungswärme, die nach Ende der Erschlaffung über mehrere Minuten anhält. Bei länger anhaltendem glatten Tetanus sinkt die Wärmeproduktion im Tetanus nach einem initialen Maximum auf einen

konstanten Wert ab. Die während der länger anhaltenden tetanischen Kontraktion produzierte Wärme wird auch als Erhaltungswärme bezeichnet. Ein Teil der Initial- bzw. Erhaltungswärme ist auch bei langanhaltender tetanischen Kontraktion der Zahl aktiver Querbrücken proportional. Auch unter isometrischer Kontraktion wird der Querbrückenzyklus im Muskel kontinuierlich durchlaufen. Demzufolge wird laufend chemische Energie umgesetzt, auch wenn die mechanische Arbeit gleich Null ist. Bei isometrischer Kontraktion wird dementsprechend die gesamte chemische Energie der ATP-Hydrolyse nur in Wärme umgeformt. Der von Querbrücken unabhängige Teil von Initial- bzw. Erhaltungswärme ist anderen Prozessen zuzuschreiben, beispielsweise dem aktiven Rücktransport von Ca2+-Ionen in das sarkoplasmatische Retikulum durch die Ca2+-ATPasen. Die Erholungswärme ist schließlich das Begleitprodukt all derjenigen Prozesse, die in der Erholungsphase zur Wiederherstellung des Ausgangszustandes des Stoffwechsels beitragen. Die Erholungswärme ist in ihrer Summe etwas größer als die Initial- bzw. Erhaltungswärme.

6.3

Glatte Muskulatur

Die glatte Muskulatur erzeugt Kräfte und Bewegungen innerer Organe. Ihre Funktion wird durch das vegetative Nervensystem und humorale Einflüsse gesteuert. Der kontraktile Apparat des glatten Muskels kann über einen größeren Längenbereich aktiv sein als der des Skelettmuskels, wodurch eine effektive Volumenkontrolle von Hohlorganen ermöglicht wird. Die glatte Muskulatur von Hohlorganen kann bei Füllung gedehnt werden, ohne anhaltende passive Rückstellkräfte zu entwickeln (plastisches Verhalten), so dass ein Rückstau in die vorgeschalteten Organe vermieden wird. Die glatte Muskulatur ist darüber hinaus in der Lage bei möglichst geringem ATP-Verbrauch dauerhaft aktiv zu sein und dadurch einen Tonus aufrecht zu erhalten. Solche für den glatten Muskel spezifischen Eigenschaften bedingen eine weit größere funktionelle Vielfalt als beim quergestreiften Muskel. Glatte Muskulatur spielt in fast allen Organsystemen eine wichtige Rolle. Glatte Muskeln sind Hauptkomponenten der Atemwege, des Verdauungstraktes, des Urogenitaltraktes und des Gefäßsystems. Die vielfältigen Funktionen erfordern eine Reihe von Besonderheiten gegenüber der Skelettmuskulatur. – In Hohlorganen dient die glatte Muskulatur der Volumenkontrolle. Der kontraktile Apparat und das kraftübertragende Zytoskelett müssen dazu über einen großen Längenbereich aktiv sein, woraus sich deren anders als im Skelettmuskel gestaltete, nicht-lineare und nicht-parallele Anordnung begründet. – Glatte Muskulatur darf bei der Füllung von Hohlorganen einer Dehnung praktisch keinen Widerstand entgegensetzen, um Rückstau in vorgeschaltete Organe zu vermeiden. In den Widerstandsgefäßen mancher Abschnitte des großen Kreislaufs ist dagegen sicherzustellen, dass Änderungen des Innendrucks möglichst keine Querschnitts- und damit Widerstandsveränderungen verursachen. Dort muss die glatte Muskulatur direkt, reflexartig einer Längenänderung gegensteuern. – In manchen Organsystemen muss glatte Muskulatur bei möglichst geringem ATP-Verbrauch kontinuierlich

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6.3 Glatte Muskulatur aktiv sein, um über ihren Tonus die Funktion des Organsystems zu kontrollieren. Ein Beispiel hierfür ist die glatte Muskulatur der Widerstandsgefäße im Kreislauf (vgl. Kap. 8.5). Andererseits müssen glatte Muskeln unter Kontrolle des vegetativen Nervensystems ihren Tonus sehr schnell geänderten Anforderungen anpassen können. Ein Beispiel hierfür ist die Aktivität des M. ciliaris bei der Nah- und Fernakkomodation des Auges (vgl. S. 689). – Die Funktion der glatten Muskelzellen muss durch neurale und humorale Einflüsse koordiniert und an wechselnde Anforderungen angepasst werden. In manchen Organsystemen ist hierzu eine ausgedehnte Kommunikation und Koordination zwischen den einzelnen glatten Muskelzellen erforderlich. Entsprechend dieser vielfältigen Anforderungen an die glatte Muskulatur findet man beim Vergleich verschiedener Organsysteme eine Vielfalt von morphologischen und funktionellen Anpassungen. Aus den vielfältigen Funktionen erklärt sich auch, dass therapeutisch sehr häufig in die Funktion der glatten Muskulatur einzugreifen ist. Dabei ist es essenziell, die funktionelle Vielfalt im Detail zu kennen. Nur so können die jeweils relevanten glatten Muskelzellen gezielt und selektiv angesprochen werden, ohne unerwünschte oder gar bedrohliche Nebenwirkungen durch Mitansprechen anderer glattmuskulärer Zellen zu provozieren.

A glatte Muskelzelle Gap Junction

„dense bodies“

Myosin

Aktin

B Myosinfilament

C Minisarkomere

Aktinfilament

1 entspannt

2 kontrahiert

Minisarkomer

Myosinfilament

„dense body“

Molekulare Grundlagen der Kontraktion glatter Muskulatur Die glatte Muskulatur besteht aus spindelförmigen, einkernigen Zellen. Sie stehen häufig durch Gap Junctions in funktionellem Kontakt. Aktin- und Myosinfilamente sind länger als beim Skelettmuskel und in Form von Minisarkomeren organisiert. Auch im glatten Muskel sind Längenänderungen durch Verschiebung der Aktinfilamente gegen die Myosinfilamente verursacht. Bei den bandförmigen Myosinfilamenten des glatten Muskels ragen die Myosinköpfe an Vorder- und Rückseite in entgegengesetzter Richtung aus dem Filamentrückgrat. Dies ermöglicht den Aktinfilamenten am gesamten Myosinfilament vorbeizugleiten. In Folge kann glatte Muskulatur über einen weit größeren Längenbereich aktiv sein als die quergestreifte Muskulatur. Den Aktinfilamenten sind die fadenförmigen Proteine Tropomyosin und Caldesmon angelagert. Im Zytoplasma gelöstes Calmodulin ist das Ca2+-Sensorprotein des glatten Muskels.

Glatte Muskulatur ist aus spindelförmigen Zellen aufgebaut, die ein funktionelles Synzytium bilden können Die glatte Muskulatur ist aus einkernigen, spindelförmigen Zellen mit zentralem Zellkern aufgebaut (vgl. Tab. 6.2, S. 134). Die meisten glatten Muskelzellen haben einen Durchmesser von etwa 5 – 10 µm bei einer Länge von bis zu mehreren 100 µm. In vielen Organen stehen die glatten Muskelzellen durch Gap Junctions (vgl. Kap. 3.2) in funktionellem Kontakt (funktionelles Synzy-

Abb. 6.16 Organisation von Aktin- und Myosinfilamenten in glatten Muskelzellen. (A) Glatte Muskelzellen mit Gap Junctions und Anordnung der Aktin- und Myosinfilamente. (B) Schema eines Myosinfilaments mit seitenpolarer bzw. antiparalleler Anordnung der Myosinmoleküle. (C) Organisation von Aktin- und Myosinfilamenten in Minisarkomeren, deren Anordnung in glatten Muskelzellen und Mechanismus der Zellverkürzung über Annäherung der dense bodies durch Gleiten der Aktinfilamente entlang der Myosinfilamente.

tium; Abb. 6.16 A; vgl. Tab. 6.2). Die Zellmembran weist Invaginationen auf, die wahrscheinlich den T-Tubuli der Skelettmuskulatur entsprechen.

Aktin- und Myosinfilamente sind im glatten Muskel in Minisarkomeren angeordnet In glatten Muskelzellen sind Aktin- und Myosinfilamente in Form so genannter Minisarkomere organisiert (Abb. 6.16 A, C). Die Minisarkomere werden durch die sogenannten „dense bodies“ begrenzt, die -Aktinin enthalten und entsprechend der Z-Scheiben der quergestreiften Muskulatur die Aktinfilamente verankern. Die dense bodies sind durch Mikrofilamente miteinander verbunden und bilden ein elastisches Zytoskelett, das an das extrazelluläre Bindegewebe gekoppelt ist. Durch die unregelmäßige Anordnung der dense bodies sind die Minisarkomere des glatten Muskels gegeneinander versetzt und

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6 Muskulatur nicht exakt parallel ausgerichtet. Entsprechend fehlt eine Querstreifung (vgl. Tab. 6.2, S. 134). Die Anzahl der Aktinfilamente, die in einem Minisarkomer um ein Myosinfilament angeordnet sind, ist variabel und im Mittel weit größer als im Skelettmuskel. Im Querschnitt einer glatten Muskelzelle ist keine hexagonale Organisation der Myofilamente zu erkennen. Der glatte Muskel besitzt nach bisherigen Erkenntnissen keine Titinfilamente. Die Aktinfilamente des glatten Muskels sind in ihrem Grundaufbau den Aktinfilamenten der Skelett- und Herzmuskulatur ähnlich, jedoch um ein Vielfaches länger. Auch hier sind entlang der helikalen Längsrillen Tropomyosinmoleküle den Aktinmonomeren angelagert. Troponin konnte im glatten Muskel nicht nachgewiesen werden. Statt dessen finden sich Caldesmon, Calponin und Calmodulin. Caldesmon ist ein fadenförmiges Protein, das parallel zu Tropomyosin den Aktinfilamenten angelagert ist und 7 – 14 Aktinmonomere eines Stranges überspannt. Calponin kann ebenfalls an das Aktinfilament binden, die Bindungsstelle ist jedoch unklar. Calmodulin ist ein Ca2+-Sensorprotein, das im Zytoplasma gelöst ist und nach Bindung von 4 Ca2+-Ionen als (Ca2+)4Calmodulinkomplex an seine Zielproteine bindet. Die Myosinfilamente des glatten Muskels sind im Querschnitt rechteckförmig und um ein Vielfaches länger als die des Skelettmuskels. Anstelle der helikalen Geometrie sind die Myosinmoleküle bandförmig angeordnet und besitzen einen seitenpolaren bzw. antiparallelen Aufbau (Abb. 6.16 B). Dabei sind die beiden Filamenthälften so orientiert, dass die Köpfe der Myosinmoleküle auf Vorder- und Rückseite in entgegengesetzter Richtung aus dem Rückgrat des Filaments ragen. Auch beim glatten Muskel sind den schweren Myosinketten im Hebelarmbereich der globulären Kopfdomäne zwei leichte Ketten, eine essenzielle und eine regulatorische Kette, angelagert.

Der seitenpolare Aufbau der Myosinfilamente ermöglicht große Verschiebungen zwischen Aktin- und Myosinfilamenten Grundlage von Längenänderungen des glatten Muskels ist wie beim Skelettmuskel der Gleitfilamentmechanismus. Bei aktiver Kontraktion oder passiver Dehnung gleiten die Aktinfilamente an den Myosinfilamenten entlang, ohne dass Aktin- oder Myosinfilamente ihre Länge ändern. Bei aktiver Kontraktion verkürzen sich dadurch die Minisarkomere. Die dense bodies werden dabei einander angenähert. Da die Minisarkomere überwiegend in Längsrichtung der spindelförmigen Zellen angeordnet sind, führt die Annäherung der dense bodies zu einer Verkürzung der glattmuskulären Zellen überwiegend in Längsrichtung (Abb. 6.16 C). Der seitenpolare Aufbau der Myosinfilamente ermöglicht große Verschiebungen zwischen Aktin- und Myosinfilamenten, da Aktinfilamente beim Entlanggleiten an den Myosinfilamenten nicht auf entgegengesetzt orientierte Myosinmoleküle treffen, wie dies im Skelettmuskel bei Sarkomerlängen unter etwa 2,0 µm der Fall ist (vgl. Abb. 6.13). Aufgrund der Länge der Aktinfilamente werden die dense bodies erst nach entsprechend ausgedehnten Filamentverschiebungen mit den Myosinfilamenten kollidieren und erst dann eine

weitere Verkürzung behindern. Dementsprechend kann glatte Muskulatur über einen weit größeren Längenbereich aktiv sein als die Skelettmuskulatur. Darüber hinaus erlaubt die größere Länge von Aktin- und Myosinfilamenten einer größeren Zahl von Myosinköpfen Wechselwirkungen mit einem Aktinfilament einzugehen. Damit können pro Minisarkomer mehr Myosinköpfe parallel aktiv sein. Entsprechend kann ein glatter Muskel auch größere aktive Kräfte entwickeln als ein Skelettmuskel.

Besonderheiten des Querbrückenzyklus bewirken eine hohe Halteökonomie des glatten Muskels Die Grundlagen von Kraftentwicklung und Verkürzung sind auch beim glatten Muskel zyklische Wechselwirkungen zwischen Myosinkopf und Aktinfilament. Das Myosin des glatten Muskels zeichnet sich durch sehr langsame ADP-Abdissoziation von der kraftgenerierenden Querbrücke aus. Dementsprechend ist die Halteökonomie des glatten Muskels sehr hoch. Die molekulare Grundlage von Kraftentwicklung und Verkürzung im glatten Muskel ist die zyklische Wechselwirkung der Myosinköpfe mit Aktinfilamenten. Der Querbrückenzyklus zwischen Myosinkopf und Aktinfilament verläuft ähnlich wie im Skelettmuskel, weist jedoch einige Besonderheiten auf. Die Affinität des Myosinkopfes für ADP ist sehr hoch, die ADP-Abdissoziation (Schritt 6 in Abb. 6.5 A, S. 106) ist stark verzögert und geht mit einer größeren zusätzlichen Umlagerung des „Hebelarms“ einher. Verzögerung der ADP-Abgabe bedeutet, dass ein glattmuskulärer Myosinkopf länger zu aktiver Kraft beiträgt, als im quergestreiften Muskel. Insgesamt ist der ATP-Umsatz im glatten Muskel 100- bis 1000fach langsamer als im schnellen Skelettmuskel. Tatsächlich kann ein glatter Muskel, bezogen auf gleichen Querschnitt, bei 100- bis 500fach geringerem ATP-Umsatz höhere Kräfte entwickeln und aufrechterhalten als ein Skelettmuskel. Gleichzeitig ist allerdings die maximale Verkürzungsgeschwindigkeit glatter Muskelzellen um mehrere Größenordnungen langsamer als im Skelettmuskel, was ebenfalls aus der verzögerten ADP-Abdissoziation selbst unter isotonischen Bedingungen verständlich wird (Abb. 6.5 A). Insgesamt kann der glatte Muskel unter sehr geringem Verbrauch von ATP langanhaltend Kräfte entwickeln. Er hat eine sehr hohe Halteökonomie und ist deshalb für lange Haltefunktionen besonders geeignet. Beispielsweise muss die glatte Muskulatur der Arterien des Kreislaufsystems permanent kontrahieren, um der gefäßweitenden Wirkung des Blutdruckes standzuhalten (vgl. Kap. 8).

Molekulare Mechanismen der Regulation glattmuskulärer Kontraktion Die Kontrolle des Querbrückenzyklus erfolgt im glatten Muskel überwiegend am Myosinkopf durch Phosphorylierung der regulatorischen leichten Kette mit Hilfe der Myosin-leichte-Ketten-Kinase (MLCK). Erst nach Phosphorylierung der regulatorischen leichten Kette kann der Myosinkopf den Querbrückenzyklus durchlaufen. Zunehmende Phosphorylierung der regulatorischen

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6.3 Glatte Muskulatur A Querbrückenzyklus beim glatten Muskel inaktiv

100

[Ca2+]i > 10–7 M

MLCK

2+

Calmodulin

Calmodulin

aktiv

B

Kraft (%)

[Ca2+]i < 10–7 M

Ca

MLCK Pi

ATP

ADP

niederaffine Bindung

100 % phosphorylierte regulatorische leichte Ketten

Querbrückenzyklus freigegeben ATP

Querbrückenzyklus blockiert

Pi

C 2+

Ca Sensitivierung 50

ADP MLCP

Kraft (%)

100

ADP Pi

Pi

0

hochaffine Bindung ADP Pi

10-12 nm

Pi 0

Abb. 6.17 Regulation des Querbrückenzyklus beim glatten Muskel. (A) Schema der Regulation auf Querbrückenebene. Mit dephosphorylierter regulatorischer leichter Kette kann sich der Myosinkopf des glatten Muskels nicht hochaffin an Aktin anlagern. Der Querbrückenzyklus ist blockiert, und der glatte Muskel dementsprechend relaxiert. Ca2+-Aktivierung führt über den Ca2+-Calmodulin-Komplex ([Ca2+]4CaMKomplex), Aktivierung der Myosin-leichte-Ketten-Kinase (MLCK) und Phosphorylierung der regulatorischen leichten Kette des glattmuskulären Myosins zur Freigabe des Querbrückenzyklus. Erschlaffung bei Dephosphorylierung der regulatorischen leichten Kette durch die Myosin-leichte-Ketten-Phosphatase (MLCP). Bei [Ca2+] < 10–6 mol/l resultiert

leichten Ketten führt zum Anstieg der glattmuskulären Kraftentwicklung. Die Dephosphorylierung durch die Myosin-leichte-Ketten-Phosphatase (MLCP) führt zur Abnahme der glattmuskulären Kontraktion. Die Kontraktion des glatten Muskels kann wie im quergestreiften Muskel über Änderungen der intrazellulären Ca2+Konzentration reguliert werden. Der Ca2+-Sensor ist das Calmodulin, das nach Bindung von 4 Ca2+-Ionen die MLCK aktiviert.

Im glatten Muskel wird der Querbrückenzyklus überwiegend durch Ca2+-aktivierte Phosphorylierung der regulatorischen leichten Myosinkette kontrolliert Ähnlich der Regulation im Skelettmuskel (vgl. Kap. 6.2) führt im glatten Muskel eine Erhöhung der intrazellulären Ca2+-Konzentration über ca. 10–7 mol/l zur Aktivierung des Querbrückenzyklus (Abb. 6.17 A). Als Ca2+-Sensor fungiert das im Zytoplasma gelöste Protein Calmodulin (vgl. Tab. 6.2, S. 134). Bei Ca2+-Konzentrationen über 10–7 mol/l bildet Calmodulin mit 4 Ca2+-Ionen einen

2+

Ca -Desensitivierung

10

–7

10

–6

10

–5

Calciumkonzentration (mol/l)

10

–4

eine Dissoziation von Ca2+ aus dem (Ca2+)4CaM-Komplex und Inaktivierung der MLCK. Die Aktivität der MLCP überwiegt. (B) Beziehung zwischen aktiver Kraft und Phosphorylierungsgrad der regulatorischen leichten Ketten. (C) Kraft-CalciumKurve des glatten Muskels. Auswirkung einer Aktivierung oder Hemmung von MLCK oder MLCP. Linksverschiebung der Kraft-Calcium-Kurve bedeutet Ca2+-Sensitivierung bei verstärkter Phosphorylierung der regulatorischen leichten Ketten, Rechtsverschiebung entspricht Ca2+-Desensitivierung bei verminderter Phosphorylierung. Bei unveränderter Ca2+Konzentration wird bei Ca2+-Sensitivierung eine höhere Kraft entwickelt, bei Ca2+-Desensitivierung eine geringere (modifiziert nach 8).

(Ca2+)4-Calmodulin-Komplex. Dieser aktiviert die Myosin-leichte-Ketten-Kinase (MLCK = myosin light chain kinase), die ihrerseits die regulatorischen leichten Myosinketten phosphoryliert. Erst nach dieser Phosphorylierung der regulatorischen leichten Kette kann das Myosin des glatten Muskels den Querbrückenzyklus durchlaufen (Abb. 6.17 A). Der dephosphorylierte Myosinkopf kann sich nicht hochaffin an Aktin anlagern, so dass der Querbrückenzyklus vor Schritt 4 (Abb. 6.5 A) blockiert ist. Sinkt die Ca2+-Konzentration unter etwa 10–6 mol/l, dissoziiert der Ca2+-Calmodulin-Komplex und die MLCK wird wieder inaktiv. Die Unterbrechung des Querbrückenzyklus erfolgt jedoch erst durch Dephosphorylierung der regulatorischen leichten Kette des Myosins durch die Myosin-leichte-Ketten-Phosphatase (MLCP = myosin light chain phosphatase; vgl. Tab. 6.2).

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6 Muskulatur

Der Phosphorylierungsgrad der regulatorischen leichten Myosinkette kann durch Transmitter oder Pharmaka auch bei konstanter sarkoplasmatischer Ca2+-Konzentration verändert werden Neben der Ca2+-gesteuerten Phosphorylierung kann der Kontraktionsgrad des glatten Muskels auch bei konstanter Ca2+-Konzentration erhöht oder vermindert werden. Durch Transmitter oder Pharmaka können über Aktivierung oder Hemmung der MLCK oder MLCP die regulatorischen leichten Ketten vermehrt phosphoryliert oder dephosphoryliert und somit der Querbrückenzyklus bei konstanter sarkoplasmatischer Ca2+-Konzentration vermehrt angeschaltet (Ca2+-Sensitivierung) bzw. abgeschaltet werden (Ca2+-Desensitivierung). MLCK und MLCP sind Zielproteine verschiedener Signalkaskaden, die dementsprechend den Kontraktionsgrad (Tonus) der glatten Muskulatur beeinflussen können. Der Kontraktionsgrad der glatten Muskulatur hängt vom Grad der Myosinphosphorylierung ab (Abb. 6.17 B). Dabei behält die glatte Muskulatur in vielen Organen einen Zustand bei, in dem phosphorylierende und dephosphorylierende Prozesse gleichzeitig ablaufen. Demzufolge kann eine Modulation der MLCK- und MLCP-Aktivitäten bei konstanter sarkoplasmatischer Ca2+-Konzentration den Phosphorylierungsgrad der regulatorischen leichten Ketten und damit den Kontraktionsgrad des glatten Muskels verändern. In der Konsequenz wird dadurch die Ca2+-Empfindlichkeit des glatten Muskels verändert (Abb. 6.17 C). Bei Inaktivierung der MLCK bei konstanter Ca2+-Konzentration werden weniger leichte Ketten phosphoryliert und somit die Aktivität des glatten Muskels vermindert. Dies führt zu einer Rechtsverschiebung der Beziehung zwischen aktiver Kraft und sarkoplasmatischer Ca2+-Konzentration, der Kraft-Calcium-Kurve (Calcium-Desensitivierung; Abb. 6.17 C; vgl. Tab. 6.2, S. 134). Umgekehrt bewirkt eine Hemmung der MLCP bei konstanter Ca2+-Konzentration einen erhöhten Phosphorylierungsgrad der regulatorischen leichten Myosinketten und damit bei konstanter Ca2+-Konzentration eine höhere Kraftentwicklung und dementsprechend eine Linksverschiebung der Kraft-Calcium-Kurve (Calcium-Sensitivierung; Abb. 6.17 C; vgl. Tab. 6.2). MLCK und MLCP sind Zielproteine zahlreicher intrazellulärer Signalkaskaden, die über diesen Weg den Kontraktionsgrad (Tonus) des glatten Muskels beeinflussen können (Abb. 6.19). MLCK und MLCP werden dabei über Proteinkinasen am Ende dieser Signalkaskaden in ihrer Aktivität moduliert. Ein Beispiel ist die Hemmung der MLCK durch die Proteinkinase A über den Adenylylzyklase-cAMP-Weg nach Aktivierung von β2-Adrenozeptoren (vgl. Kap. 2.6). Folgen sind eine reduzierte Phosphorylierung der regulatorischen leichten Ketten, Ca2+Desensitivierung und Relaxation des glatten Muskels bei unveränderter intrazellulärer Ca2+-Konzentration. Auch Stickstoffmonoxid (NO), das von Endothelzellen der Blutgefäße freigesetzt wird, kann nach Diffusion in glatte Muskelzellen eine Relaxation auslösen. Durch NO-vermittelte Aktivierung der Guanylylzyklase wird über cGMP die Proteinkinase G aktiviert (vgl. S. 40). Diese

aktiviert durch Phosphorylierung die MLCP. Folgen sind die reduzierte Phosphorylierung der regulatorischen leichten Ketten und eine Tonusabnahme der glatten Muskulatur. Beispiele für vermehrte Aktivierung des glatten Muskels (Tonuszunahme) über Ca2+-Sensitivierung sind α1-Adrenozeptoren- und Rho/RhoKinase-vermittelte Hemmung der MLCP. Bindung von Agonisten an α1Adrenozeptoren führt zur Aktivierung des Phospholipase-C-Proteinkinase-C-Signalweges (vgl. Kap. 2.6). Proteinkinase C aktiviert durch Phosphorylierung einen Inhibitor der MLCP. Folge ist ein Anstieg der Phosphorylierung der regulatorischen leichten Ketten mit Tonuszunahme der glatten Muskulatur. Der Rho/RhoKinase-Weg vermittelt die tonussteigernde Wirkung verschiedener Neurotransmitter und Hormone. Bindung der Agonisten an Rezeptoren in der Zellmembran führt über das GProtein Rho zur Aktivierung der RhoKinase. Die RhoKinase hemmt durch Phosphorylierung die MLCP. Folge ist auch hier eine Tonuszunahme des glatten Muskels durch Ca2+-Sensitivierung (Abb. 6.19). Die Aktivierung des glatten Muskels über die dünnen Filamente ist weniger gut verstanden. An diesen Mechanismen sollen die Proteine Caldesmon und Calponin beteiligt sein. Caldesmon, das parallel zum Tropomyosin an die Aktinfilamente binden kann, blockiert die niederaffine Anlagerung der Myosinköpfe an Aktin (Schritt 3 in Abb. 6.5 A, S. 106). Tropomyosin blockiert die hochaffine Bindung (Schritt 4 in Abb. 6.5 A). Die Blockierung beider Bindungstypen verhindert den weiteren Ablauf des Querbrückenzyklus. Experimentellen Befunden zufolge induziert der (Ca2+)4-Calmodulin-Komplex bei Ca2+-Konzentrationen über 10–7 mol/l die Abdissoziation der Caldesmon-Moleküle vom Aktinfilament und hebt dadurch die blockierende Wirkung auf. Andere Ergebnisse zeigen eine Ca2+-abhängige Phosphorylierung von Caldesmon und resultierende Aufhebung der Blockierung. Darüber hinaus sind Wirkungen von Caldesmon auf die Position des Tropomyosins beschrieben worden, ähnlich der von Troponin im Skelettmuskel. Die genauen molekularen Wechselwirkungen sind allerdings zu Zeit nicht geklärt. Noch weniger gesichert ist die Bedeutung von Calponin.

Im glatten Muskel kann ein Anstieg der intrazellulären Ca2+-Konzentration über Ca2+-Einstrom durch die Zellmembran und Ca2+-Freisetzung aus Vesikeln des sarkoplasmatisches Retikulums erfolgen Der Anstieg der intrazellulären Ca2+-Konzentration wird durch Freisetzung von Ca2+ aus dem sarkoplasmatischen Retikulum oder Einstrom durch Ca2+-Kanäle in der Zellmembran erreicht. Auslösende Mechanismen für den intrazellulären Ca2+-Anstieg können zum einen die Depolarisation der Zellmembran sein (,elektromechanische Koppelung‘), zum anderen die Wirkung von Transmittern und Pharmaka (,pharmakomechanische Koppelung‘). Ein Absinken der intrazellulären Ca2+-Konzentration wird durch Ca2+-ATPasen erreicht, die Ca2+Ionen in das sarkoplasmatische Retikulum oder in den extrazellulären Raum pumpen. Auch über einen 3Na+/ 1Ca2+-Austauschcarrier kann Ca2+ in den extrazellulären Raum transportiert werden. In der ruhenden, relaxierten glatten Muskelzelle ist die Ca2+-Konzentration bei etwa 10–7 mol/l. Ein Anstieg der

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6.3 Glatte Muskulatur Aktionspotenzial

Gap Junction

spannungsgesteuerter Ca2+-Kanal

Ca2+ 2+

Ca -ATPase

Ca2+

Aktivierung elektromechanische Koppelung

ligandengesteuerter Ca2+-Kanal

glatte Muskelzelle

+

2+

Ca

[Ca2+]i > 10–7 M RyR G

+

3 Na 2+

Ca

Ca2+

[Ca2+]i < 10–7 M Ca2+

Proteinkinase A

Ca2+ sarkoplasmatisches Retikulum

IP3R

Phospholipase C a1-Rezeptor

Catecholamin cAMP ATP

IP3

2+

3 Na -Ca Austauscher

pharmakomechanische Koppelung

Ca2+

Catecholamin

Relaxation

G

Adenylylcyclase b2-Rezeptor

Abb. 6.18 Mechanismen zur Auslösung von Kontraktion und Relaxation im glatten Muskel. Zwei Wege zur Erhöhung der sarkoplasmatischen Ca2+-Konzentration: zum einen über Ca2+-Einstrom durch spannungs- und ligandengesteuerte Ca2+-Kanäle; zum anderen über Ca2+-Freisetzung aus dem sarkoplasmatischen Retikulum, sowohl bei Aktivierung des Ryanodin-Rezeptors (RyR; Ca2+-induzierte Ca2+-Freisetzung) als auch bei Aktivierung des Inositoltrisphosphat-Rezeptors

intrazellulären Ca2+-Konzentration kann durch zwei Mechanismen erreicht werden (Abb. 6.18): 1. Einer elektromechanischen Koppelung entsprechend werden bei Depolarisation der Zellmembran spannungsgesteuerte Ca2+-Kanäle geöffnet, durch die Ca2+ aus dem extrazellulären Raum in das Sarkoplasma einströmt (vgl. Tab. 6.2, S. 134). Bei manchen glatten Muskeltypen kann dieser Einstrom von Ca2+-Ionen eine zusätzliche Freisetzung von Ca2+-Ionen aus dem sarkoplasmatischen Retikulum induzieren. Die Freisetzung erfolgt über die Ca2+-induzierte Öffnung von Ca2+-Kanälen in der Membran des sarkoplasmatischen Retikulums, den Ryanodin-Rezeptoren (Ca2+-induzierte Ca2+-Freisetzung). 2. Ein Anstieg der intrazellulären Ca2+-Konzentration kann auch ohne Depolarisation der Zellmembran beispielsweise durch Neurotransmitter, Hormone und Pharmaka vermittelt werden (pharmakomechanische Koppelung; vgl. Tab. 6.2). Hierzu existieren zwei Signalwege: Die Bindung von Agonisten an ligandengesteuerte Ca2+Kanäle der Zellmembran führt zu einem Ca2+-Einstrom in das Myoplasma. Dieser Ca2+-Einstrom induziert eine zusätzliche Ca2+-Freisetzung über Ryanodin-Rezeptoren des sarkoplasmatischen Retikulums. Beim zweiten Signalweg führt die Bindung von Agonisten an ihre Membranrezeptoren (z. B. α1-Adrenozeptoren), über G-Protei-

(IP3R; α1-Adrenozeptor-cAMP-Signalweg). Abnahme der sarkoplasmatischen Ca2+-Konzentration über Ca2+-ATPasen im sarkoplasmatischen Retikulum und Sarkolemm sowie über einen 3Na+/1Ca2+-Austauschcarrier im Sarkolemm. Beschleunigte Relaxation durch β2-Adrenozeptor-cAMP-Signalweg über Aktivierung der Ca2+-ATPasen des sarkoplasmatischen Retikulums.

ne vermittelt, zur Aktivierung der Phospholipase C. Unter deren Wirkung werden Phospholipide in Inositoltrisphosphat (IP3) und Diacylglyzerol (DAG) gespalten (vgl. Kap. 2.6). Die Bindung des intrazellulären Botenstoffes IP3 an spezialisierte Ca2+-Kanäle des sarkoplasmatischen Retikulums, die IP3-Rezeptoren, induziert ebenfalls die Freisetzung von Ca2+ aus dem sarkoplasmatischen Retikulum.

Die Abnahme der intrazellulären Ca2+-Konzentration wird durch ATP-abhängige Ca2+-Pumpen und einen 3Na+/1Ca2+-Austauschcarrier erreicht Zur Abnahme der intrazellulären Ca2+-Konzentration tragen ein aktiver Rücktransport in das sarkoplasmatische Retikulum mit Hilfe von ATP-getriebenen Ca2+-Pumpen sowie ein aktives Ausschleusen von Ca2+ durch die Oberflächenmembran über ATP-getriebene Ca2+-Pumpen und einen 3Na+/1Ca2+-Austauschcarrier bei (vgl. Tab. 6.2). Die Ca2+-Pumpen des sarkoplasmatischen Retikulums sind ebenfalls Zielproteine einiger Signalkaskaden, die über diesen Weg den intrazellulären Ca2+-Spiegel senken können.

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6 Muskulatur Ein Ansatz zur Behandlung des Bluthochdrucks ist die Reduktion des Tonus der glatten Gefäßmuskulatur durch Pharmaka, die den Anstieg der intrazellulären Ca2+-Konzentration vermindern. Dabei kann sowohl an der elektromechanischen und pharmakomechanischen Koppelung der glatten Gefäßmuskelzelle eingegriffen werden, als auch an der Transmitterfreisetzung des Sympathikus. Entsprechend werden zum Beispiel Blocker spannungsgesteuerter Ca2+-Kanäle (so genannte Ca2+-Antagonisten) oder α1-AdrenozeptorAntagonisten eingesetzt. NO-freisetzende Medikamente (Nitroglyzerin) werden zur Erschlaffung der glatten Gefäßmuskulatur zum Beispiel bei Angina pectoris genutzt.

Dehnung des Muskels, können diese rhythmische Aktivität modulieren und dadurch den Tonus des glatten Muskels erhöhen (so genannter „Bayliss-Effekt“). Beim Multi-unit-Typ stehen nur wenige Zellen in kleinen motorischen Einheiten in funktionellem Kontakt. Spontane Aktivität ist nicht vorhanden, und die Reaktion auf Dehnung ist gering. Die glattmuskulären Zellen des Multi-unit-Typs werden direkt durch das vegetative Nervensystem innerviert. Der Muskeltonus ist entsprechend neurogen und die Kontraktionen sind aufgrund der kleinen motorischen Einheiten fein abstufbar. Die nicht spontan aktiven glatten Muskelzellen zeigen bei Dehnung ausgeprägtes viskoelastisches bzw. plastisches Verhalten.

Mechanische und funktionelle Eigenschaften der glatten Muskulatur Gemessen am zeitlichen Verlauf werden beim glatten Muskel langanhaltende tonische und kurze phasische Kontraktionen unterschieden. Funktionell ist die glatte Muskulatur in zwei Haupttypen organisiert, den „Single-unit“-Typ und den „Multi-unit“-Typ. Beim Singleunit-Typ bilden benachbarte Zellen über Gap Junctions ein funktionelles Synzytium. Myogene Schrittmacherzellen sorgen für organspezifische, spontane rhythmische Aktivität. Das vegetative Nervensystem, aber auch

In Abhängigkeit von der Kontraktionsdauer werden beim glatten Muskel tonische und phasische Kontraktionen unterschieden Langanhaltende Dauerkontraktion des glatten Muskels (tonische Kontraktionen) erhalten die aktive Muskelkraft unter geringstem ATP-Verbrauch über lange Zeit aufrecht. Sie werden vor allem durch Prozesse der pharmakomechanischen Koppelung ausgelöst. Ein Beispiel ist die glatte Muskulatur der Gefäße des Kreislaufsystems. Kurze, oft rhythmische Kontraktionen (phasische Kontraktionen) sind überwiegend durch elektromechanische

2+

2+

Ca -Desensitivierung

Ca -Sensitivierung Tonus

Tonus

Myosin-LC-Phosphorylierung

Proteinkinase A

Myosin-LC-Phosphorylierung

MLCK Pi

cAMP

Catecholamin

inaktiv

aktiv G

Adenylylcyclase

G

Proteinkinase G

Rho-Kinase

MLCP

Liganden

Rho Catecholamin G

b2-Rezeptor

cGMP

Phospholipase C NO

a1-Rezeptor

Guanylylcyclase Proteinkinase C

Abb. 6.19 Tonusänderungen durch Ca2+-Sensitivierung und Ca2+-Desensitivierung des kontraktilen Apparates. Ca2+-Sensitivierung und Ca2+-Desensitivierung durch Änderung der Aktivitäten von MLCK und MCLP bei konstanter sarkoplasmatischer Ca2+-Konzentration. MLCK und MCLP sind Zielproteine von vier Signalwegen: α1-Adrenozeptor-Diacylglyzerol (DG)-Proteinkinase C (PKC)-Signalweg und der Rho-

DG

RhoKinase-Signalweg. Beide hemmen die MCLP und resultieren in Ca2+-Sensitivierung des kontraktilen Apparates. β2Adrenozeptor-cAMP-Proteinkinase A (PKA)-Signalweg mit Hemmung der MLCK, und Stickstoffmonoxid (NO)-cGMPProteinkinase G (PKG)-Signalweg mit Aktivierung der MLCP. Beide führen zu verminderter Phosphorylierung der regulatorischen leichten Ketten und somit Ca2+-Desensitivierung.

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6.3 Glatte Muskulatur Koppelung gesteuert. Ein Beispiel ist die rhythmisch tätige Darmmuskulatur.

Aufgrund der funktionellen Organisation kann die glatte Muskulatur zwei Haupttypen zugeordnet werden, dem „Single-unit-Typ“ und dem „Multi-unit-Typ“

A 20 mV

Membranpotenzial

Kraft 20 mN

Den sehr unterschiedlichen Anforderungen entsprechend ist die glatte Muskulatur in unterschiedliche funktionelle Typen organisiert (vgl. Tab. 6.2, S. 134). Im „Singleunit-Typ“ sind benachbarte Zellen durch Gap Junctions (vgl. Kap. 3.2) elektrisch gekoppelt und bilden ein funktionelles Synzytium. Zu diesem Typ der glatten Muskulatur gehören z. B. die Darmmuskulatur, die glatte Muskulatur von Ureteren und Uterus sowie mancher Blutgefäße. Glatte Muskulatur vom Single-unit-Typ ist aufgrund eigener Schrittmacherzellen spontan rhythmisch aktiv (myogener Tonus). Diese myogene rhythmische Aktivität wird über das vegetative Nervensystem moduliert sowie durch Dehnung der glatten Muskelzellen verstärkt. Die Schrittmacherzellen unterscheiden sich strukturell nicht von anderen glattmuskulären Zellen zeigen jedoch charakteristische elektrophysiologische Merkmale. Die Membran wird durch Präpotenziale (Schrittmacherpotenziale) vordepolarisiert. Bei Erreichen des Schwellenpotenzials werden durch Öffnung spannungsgesteuerter Ca2+-Kanäle der Zellmembran Ca2+-Aktionspotenziale (Spikes) ausgelöst. Die Repolarisation bei Abklingen eines Aktionspotenzials geht in ein erneutes spontanes Schrittmacherpotenzial über, so dass Spikesalven entstehen. Spontane Schwankungen des Membranpotenzials solcher Schrittmacherzellen im Sekunden- bis Minutenrhythmus („slow waves“) modulieren die Frequenz der Spikesalven. Bei Depolarisation treten höhere Spikefrequenzen auf. Hyperpolarisation resultiert in niedrigeren Spikefrequenzen oder einer Unterbrechung der Spikesalven (Abb. 6.20 A). Diese Rhythmen sind organspezifisch und werden demzufolge als basale, organspezifische Rhythmen bezeichnet. Die Rhythmen können durch das vegetative Nervensystem moduliert werden. Zum Beispiel wird nach Bindung von Acetylcholin an muscarinische Acetylcholinrezeptoren (vgl. Kap. 5.9) die Membran depolarisiert. Dadurch steigt die Frequenz der Schrittmacherpotenziale und der Spikesalven. Infolge der Steigerung des Ca2+-Einstroms und der Ca2+-induzierten Ca2+Freisetzung aus Vesikeln des sarkoplasmatischen Retikulums nimmt die Kontraktionsamplitude der glatten Muskulatur zu. Adrenalin oder Noradrenalin bewirken über Aktivierung von β2-Adrenozeptoren eine Hyperpolarisation der glattmuskulären Schrittmacherzellen. Die Folge ist eine Verlangsamung der Spikefrequenz oder Unterbrechung der Ca2+-Spikes mit resultierender Abnahme der Kontraktionsamplitude des glatten Muskels. Bei Dehnung spontan aktiver glatter Muskulatur werden die Schrittmacherzellen zunehmend depolarisiert, d. h. die Frequenz der Spikesalven nimmt zu. Entsprechend steigt der Ca2+Einstrom und damit der Tonus der glatten Muskulatur. Diese dehnungsreaktive Tonuszunahme (Bayliss-Effekt) ist Grundlage für die Autoregulation zum Beispiel der Arteriolen (vgl. Kap. 8.5).

60 s

B intrazelluläres Ca2+

Kraft 2 mN 40 s

Abb. 6.20 Membranpotenziale, intrazelluläres Ca2+ und Kontraktion glatter Muskulatur mit myogenem Tonus. (A) Rhythmische Spikesalven bei spontaner Depolarisation bewirken rhythmische Kontraktionen. (B) Parallele Registrierung von intrazellulärer Ca2+-Konzentration und Muskelkontraktion zeigen, dass rhythmische Schwankungen der aktiven Kontraktion auf Änderungen der intrazellulären Ca2+-Konzentration beruhen. Intrazelluläres Ca2+ wurde mit einem Ca2+-sensitiven Farbstoff gemessen (nach 17).

In manchen Organen bilden glatte Muskelzellen an Stelle der Spikepotenziale langanhaltende Aktionspotenziale mit einer Plateauphase. Folge sind lang anhaltende Kontraktionen. Beispiel sind die Aktionspotenziale in Ureteren und Uterus.

Der „Multi-unit-Typ“ der glatten Muskulatur (vgl. Tab. 6.2) zeigt gewöhnlich keine Spontanaktivität und reagiert nur wenig auf Dehnung. Statt dessen werden die glatten Muskelzellen durch zahlreiche vegetative Nervenfasern innerviert, die aus Varikositäten erregende oder hemmende Neurotransmitter freisetzen. Der Tonus dieser glatten Muskeln ist entsprechend neurogen. Die zahlreichen Verzweigungen der vegetativen Nervenfasern erreichen dabei fast jede Zelle. Nur kleine Zellgruppen stehen durch Gap Junctions in elektrischer Verbindung und bilden entsprechend kleine funktionelle Einheiten. Die Kontraktion dieser glatten Muskeln ist deshalb fein abstufbar (vgl. Tab. 6.2). Beispiele für diesen Typ der glatten Muskulatur sind Iris- und Ziliarmuskeln sowie Samenleiter und Pilomotoren. Bei nicht spontan aktiver glatter Muskulatur führt eine Dehnung nur vorübergehend zu passiven Rückstellkräften, die zunächst rasch, dann immer langsamer abklingen (viskoelastisches Verhalten). Im Verlauf von Minuten sind passive Rückstellkräfte praktisch nicht mehr messbar. Ein einmal gedehnter glatter Muskel bleibt deshalb verlängert (plastisches Verhalten) und kann nur durch aktive Verkürzung seine

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129

130

6 Muskulatur

Z-Linie

M-Linie

Glanzstreifen Zonula adhaerens

Sarkomer

Gap junction

2,1µm 1,6µm

Abb. 6.21 Morphologische Organisation des Herzmuskels. Schematischer Längsschnitt mit parallel angeordneten, verzweigten Ketten aus einkernigen Zellen. Die Zellgrenzen sind als Glanzstreifen erkennbar. Der vergrößerte Ausschnitt

Ausgangslänge wieder erreichen. Diese Eigenschaft erlaubt Hohlorgane, z. B. Harn- oder Gallenblase, ohne wesentliche Drucksteigerung zu füllen, so dass sich bei Füllung kein Rückstau in die davor gelegenen Organe (Niere bzw. Leber) aufbaut. Die Entleerung erfolgt nur unter aktiver Kontraktion. Viele glatte Muskeln lassen sich nicht eindeutig einem dieser beiden Typen zuordnen, sondern stellen Mischformen dar. Der spontane myogene Tonus wird in unterschiedlichem Maße durch den neurogenen, vom vegetativen Nervensystem gesteuerten Tonus überlagert. Entsprechend sind Innervationsdichte und Dichte der Gap Junctions unterschiedlich. Schließlich kann der Tonus der glatten Muskulatur auch durch im Blut zirkulierende Hormone oder lokale Hormone und Stoffwechselprodukte beeinflusst werden. Glatte Gefäßmuskulatur ist für diese Gruppe typisch.

6.4

Herzmuskel Morphologische Organisation des Herzmuskels

Herzmuskelzellen sind einkernig und stehen mit benachbarten Zellen durch Gap Junctions in Kontakt. Der Herzmuskel ist wie der Skelettmuskel aus regelmäßig angeordneten Sarkomeren aufgebaut. Er ist deshalb ebenfalls quergestreift. Der Aufbau der Myosin- und Aktinfilamente und die zyklische Wechselwirkung zwischen Myosinkopf und Aktinfilament sind praktisch identisch mit denen des Skelettmuskels, obwohl nahezu alle sarkomerische Proteine des Myokards herzmuskelspezifische Isoformen sind.

1,0µm

Mitochondrium

Myosinfilament Aktinfilament

zeigt die Anordnung der Myofibrillen mit Reihen von Mitochondrien sowie Glanzstreifen mit Zonulae adhaerentes und Gap Junctions (modifiziert nach 20).

Die Herzmuskulatur ist aus einkernigen Zellen aufgebaut, die über Gap Junctions ein funktionelles Synzytium bilden Wie bei der Entwicklung des Skelettmuskels ordnen sich auch beim Herzmuskel die Myoblasten in Ketten an (vgl. S. 102). Anders als beim Skelettmuskel verschmelzen die einkernigen Myoblasten jedoch nicht. Statt dessen bilden sie für den Herzmuskel charakteristische Zellgrenzen, die Glanzstreifen (Abb. 6.21). Dort verbinden die Zonulae adhaerentes die Aktinfilamente benachbarter Zellen und stellen die Übertragung kontraktiler Kräfte von Zelle zu Zelle sicher. Über Gap Junctions in den Glanzstreifen stehen benachbarte Zellen auch in elektrischer Verbindung (funktionelles Synzytium), so dass sich Aktionspotenziale von Zelle zu Zelle ausbreiten können. Die Zellen einer solchen Kette verzweigen sich oft und stehen mit benachbarten Zellsträngen in Verbindung. Insgesamt gleicht die Anordnung der Zellstränge einem in die Länge gezogenen Netzwerk. Die einkernigen Herzmuskelzellen sind etwa 100 µm lang bei einem Durchmesser von etwa 15 µm.

Durch regelmäßige Anordnung der Sarkomere ist der Herzmuskel ebenfalls quergestreift Die Herzmuskelzelle besteht aus einem Bündel von Myofibrillen mit zahlreichen zwischen den Myofibrillen gelegenen Mitochondrien und einem zentral gelegenen Zellkern (Abb. 6.21 vgl. Tab. 6.2, S. 134). Die Myofibrillen sind wie beim Skelettmuskel aus hintereinander gelegenen Sarkomeren aufgebaut (vgl. Abb. 6.1, S. 103). Die Anordnung der Aktin- und Myosinfilamente in den Sarkomeren ist mit der Anordnung im Skelettmuskel identisch. Auch

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6.4 Herzmuskel bei der Herzmuskelzelle liegen die Z-Scheiben aller Myofibrillen auf gleicher Höhe. Deshalb ist auch der Herzmuskel quergestreift (vgl. Tab. 6.2). Die Titinmoleküle des Herz- und Skelettmuskels unterscheiden sich in ihrer molekularen Struktur. Die kardialen Titinmoleküle sind weniger dehnbar. Der Arbeitsbereich der Herzmuskelzellen liegt deshalb bei Sarkomerlängen zwischen 1,8 und 2,0 µm und damit im ansteigenden Teil des Länge-KraftDiagramms (vgl. Abb. 6.13, S. 118).

Die sarkomerischen Proteine des Myokards sind herzmuskelspezifische Isoformen mit Eigenschaften ähnlich denen des Skelettmuskels Der Herzmuskel besitzt mit Myosin, Aktin, Troponin und Tropomyosin sarkomerische Proteine, die in Aufbau und Funktion mit denen des Skelettmuskels grundsätzlich vergleichbar sind (vgl. S. 102 f.). Auch die Wechselwirkungen zwischen Myosinkopf und Aktinfilament (Querbrükkenzyklus) sind im Prinzip identisch mit denen des Skelettmuskels (vgl. S. 104 ff.). Allerdings stellen die meisten Proteine des Sarkomers herzspezifische Isoformen dar, sind also Produkte anderer Gene als die Proteine des Skelettmuskels. Zum Beispiel ist im kardialen Troponin C durch Mutation eine Ca2+-Bindungsstelle verloren gegangen. Das kardiale Troponin I besitzt im Gegensatz zur skelettmuskulären Isoform eine Phosphorylierungsstelle. Die Aktivierung des Herzmuskels ist demzufolge, im Gegensatz zum Skelettmuskel, über Phosphorylierung des Troponin I modulierbar. Bei der Diagnostik des Herzinfarktes werden die Plasmakonzentrationen der Kreatinkinase sowie der kardialen Isoformen von Troponin T und I ermittelt. Letztere sind spezifisch für den Herzmuskel und erlauben die Abgrenzung eines Myokarduntergangs durch Herzinfarkt von Läsionen der Skelettmuskulatur, beispielsweise durch eine intramuskuläre Injektion. Plötzlicher Herztod ohne erkennbare Ursache bei Jugendlichen ist häufig Zeichen einer familiären hypertrophischen Kardiomyopathie. Dabei handelt es sich um eine genetisch bedingte Vergrößerung (Hypertrophie) des Herzmuskels mit einer Häufigkeit von etwa 1 in 500 Familien. Bei jeder zweiten betroffenen Person ist diese Erkrankung auf Mutationen in sarkomerischen Proteinen des Herzens zurückzuführen, vor allem in der Kopfdomäne der kardialen schweren Myosinkette, aber auch in Regulatorproteinen und Aktin. Folgen sind Herzrhythmusstörungen sowie zunehmende Unfähigkeit des Herzens, einen bedarfsgerechten Blutfluss aufrecht zu erhalten (Herzinsuffizienz). Zur Vorbeugung des plötzlichen Herztodes durch Rhythmusstörungen kann ein Defibrillator implantiert werden. Fortschreitende Herzinsuffizienz kann schließlich eine Transplantation erforderlich machen. Andere Mutationen in Regulatorproteinen und Aktin können dagegen Ursache dilatativer Kardiomyopathie sein, einer Veränderung des Herzmuskels, die ohne vorangehende Wandverdickung zur Erweiterung (Dilatation) der Herzkammern mit fortschreitender Herzinsuffizienz führt.

Elektromechanische Koppelung im Myokard Auch im Herzmuskel vermitteln Ca2+-Ionen die Koppelung zwischen Aktionspotenzial und kontraktiler Antwort, die so genannte elektromechanische Koppelung. Das Aktionspotenzial des Herzmuskels ist mehrere 100 ms lang und breitet sich ähnlich dem Skelettmuskel über Einstülpungen des Sarkolemms (T-Tubuli) bis in das Innere der Myokardzelle aus. An den Kontaktstellen zwischen T-Tubuli und terminalen Zisternen des sarkoplasmatischen Retikulums sind herzmuskelspezifische Dihydropyridin-Rezeptoren in die Membran der T-Tubuli integriert. Bei Depolarisation im Verlauf eines Aktionspotenzials strömen Ca2+-Ionen durch die Dihydropyridin-Rezeptoren der T-Tubuli, aber auch der Oberflächenmembran, in das Sarkoplasma. Die eingeströmten Ca2+-Ionen induzieren die Öffnung von RyanodinRezeptoren in den terminalen Zisternen und damit eine für den Kontraktionsablauf entscheidende, zusätzliche Ca2+-Freisetzung aus den terminalen Zisternen des sarkoplasmatischen Retikulums (Ca2+-induzierte Ca2+Freisetzung). Auch beim Herzmuskel gibt eine Umlagerung des Tropomyosins nach Bindung von Ca2+-Ionen an Troponin C den Querbrückenzyklus frei. Die Höhe der kontraktilen Antwort ist ähnlich dem glatten Muskel nicht nur von der erreichten sarkoplasmatischen Ca2+Konzentration abhängig sondern kann darüber hinaus auch durch Ca2+-Sensitivierung bzw. Ca2+-Desensitivierung des kontraktilen Apparates verändert werden. Im Herzmuskel wird, ähnlich wie im Skelettmuskel (vgl. S. 108 ff.) die Kontraktion durch die sarkoplasmatische Ca2+-Konzentration kontrolliert. Während die Vorgänge der elektromechanischen Koppelung in beiden Muskeltypen grundsätzlich ähnlich ablaufen, existieren spezifische Unterschiede bezüglich der Quellen für den Anstieg der sarkoplasmatischen Ca2+-Konzentration. Auffällig ist zunächst, dass das Aktionspotenzial des Herzmuskels etwa 100fach länger ist als die Aktionspotenziale von Skelettmuskel und Nerv. An die Depolarisation und Umpolarisation der Zellmembran durch Aktivierung herzmuskelspezifischer schneller Na+-Kanäle schließt sich eine Plateauphase von 200 – 300 ms an (vgl. Kap. 7.6). In dieser Phase bleibt die Zellmembran auf etwa Null mV depolarisiert, bevor durch verzögerte Repolarisation das Membranruhepotenzial wieder erreicht wird. Während der Plateauphase sind Ca2+-Kanäle geöffnet, so genannte L-Typ Ca2+-Kanäle, die sich durch lange Öffnungsdauer auszeichnen. Demzufolge können Ca2+-Ionen während der gesamten Plateauphase in die Zelle einströmen. Darüber hinaus werden die Aktionspotenziale durch röhrenförmige Einstülpungen der Oberflächenmembran, die transversalen Tubuli (T-Tubuli), in die Tiefe der einzelnen Zellen fortgeleitet (Abb. 6.22). Die T-Tubuli liegen im Myokard in der Nähe der Z-Scheiben. Das sarkoplasmatische Retikulum ist ebenfalls in Form eines longitudinalen Systems mit Endauftreibungen, den terminalen Zisternen, angeordnet. Anders als bei den Triaden des Skelettmuskels (vgl. S. 108) stehen im Herzmuskel in der Regel terminale Zisternen nur einzeln mit einem T-Tubulus in engem Kontakt. Diese Kontaktstellen werden deshalb Diaden genannt (Abb. 6.22). Im Bereich der Diaden

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131

6 Muskulatur Noradrenalin

+

3 Na /Ca2+-Austauscher

Calciumkanal 2+

2+

Ca

b1-Adrenozeptor

Ca

Aktionspotenzial

2+

Ca -ATPase

Adenylylcyclase transversaler Tubulus

ATP cAMP

Proteinkinase

P

ATP

3Na+

ADP

Ca2+ Diade

Sarkoplasma

2+

Ca -ATPase

sarkoplasmatisches Retikulum

Ca2+

Ca2+

Sarkoplasma

Abb. 6.22 Elektromechanische Koppelung im Herzmuskel. Anordnung der T-Tubuli und des sarkoplasmatischen Retikulums (SR) im Myokard. T-Tubuli liegen in Höhe der ZLinien. Sie stehen mit einer terminalen Zisterne in engem Kontakt und bilden die so genannten Diaden (Inset). Die kardialen Ryanodin-Rezeptoren (RyR) in der Membran der terminalen Zisternen bilden in regelmäßigen Abständen die so genannten Junctional feet. Im Gegensatz zum Skelettmuskel stehen die Ryanodin-Rezeptoren der Junctional feet nicht

sind herzmuskelspezifische Dihydropyridin-Rezeptoren (DHPR) in die Membran der T-Tubuli integriert (vgl. Kap 7.6). Diese DHP-Rezeptoren stellen L-Typ Ca2+-Kanäle dar. Sie werden, anders als im Skelettmuskel (vgl. S. 109; Abb. 6.7 B), durch die Depolarisation der Tubulusmembran in Verbindung mit den fortgeleiteten Aktionspotenzialen geöffnet. In Folge strömen Ca2+-Ionen in das Zellinnere. Diese induzieren zusammen mit den Ca2+-Ionen, die während des Aktionspotenzials durch L-Typ Ca2+Kanäle im Sarkolemm in die Herzmuskelzelle einströmen, eine Öffnung von herzmuskelspezifischen Ryanodin-Rezeptoren (RyR) in der Membran der terminalen Zisternen (Abb. 6.22). Dadurch können in den terminalen Zisternen gespeicherte Ca2+-Ionen in das Sarkoplasma ausströmen (Ca2+-induzierte Ca2+-Freisetzung beim Herzmuskel; vgl. Tab. 6.2).

AP

DHPR

+

–

+

–

transversaler Tubulus

RyR sarkoplasmatisches Retikulum

132

Ca2+

in direktem Kontakt zu den Dihydropyridinrezeptoren (DHPR). Der Ca2+-Einstrom durch die Dihydropyridinrezeptoren induziert die Öffnung der Ryanodin-Rezeptoren und die Ausschüttung von Ca2+ aus den terminalen Zisternen. Abnahme der sarkoplasmatischen Ca2+-Konzentration erfolgt durch Ca2+-ATPasen in der Membran des sarkoplasmatischen Retikulums und im Sarkolemm, sowie durch den 3Na+/ 1Ca2+-Austauscher. β1-Adrenozeptorstimulation mit verbessertem Ca2+-Einstrom durch Ca2+-Kanäle.

Der Anstieg des Calciums im Sarkoplasma ist auch beim Myokard überwiegend auf die Ca2+-Freisetzung aus dem sarkoplasmatische Retikulum zurückzuführen Der Anstieg der intrazellulären Ca2+-Konzentration in der Herzmuskelzelle resultiert zum überwiegenden Teil aus der Ca2+-induzierten Ca2+-Freisetzung durch die Ryanodin-Rezeptoren in den terminalen Zisternen des sarkoplasmatischen Retikulums. Der Ca2+-Einstrom über die LTyp Ca2+-Kanäle in der Oberflächenmembran und die DHP-Rezeptoren der T-Tubuli trägt nur wenig zum Gesamtanstieg der sarkoplasmatischen Ca2+-Konzentration bei. Die Funktion des Ca2+-Einstroms ist die Freisetzung von Ca2+ durch die Ryanodin-Rezeptoren der terminalen Zisternen durch Ca2+-induzierte Ca2+-Freisetzung (Triggerfunktion des Ca2+-Einstroms).

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6.4 Herzmuskel

Der Querbrückenzyklus wird auch im Herzmuskel durch Ca2+-Bindung an Troponin C freigegeben Auch im Herzmuskel wird der Querbrückenzyklus über die mit dem Aktinfilament assoziierten Regulatorproteine Troponin und Tropomyosin kontrolliert. Mit steigender Ca2+-Konzentration über 10–7 mol/l werden durch Umlagerung der Tropomyosinmoleküle vermehrt die hochaffinen Myosinbindungsstellen an den Aktinfilamenten freigegeben. Die hochaffin gebundenen Querbrückenzustände werden dementsprechend schneller erreicht. Die Höhe der entwickelten isometrischen Kraft und die Geschwindigkeit der Kraftentwicklung nehmen zu (vgl. Abb. 6.8 C, S. 110). Zwei Unterschiede existieren im Vergleich zum Skelettmuskel. Zum einen besitzt die kardiale Isoform der Troponin-C-Untereinheit insgesamt nur drei Bindungsstellen für Ca2+-Ionen. Von diesen sind zwei Bindungsstellen auch im relaxierten Muskel mit Ca2+Ionen besetzt, während eine Bindungsstelle lediglich beim Anstieg der sarkoplasmatische Ca2+-Konzentration über 10–7 mol/l ein Ca2+-Ion binden kann. Zum anderen besitzt die kardiale Isoform der Troponin-I-Untereinheit eine Phosphorylierungsstelle, die durch cAMP-abhängige Proteinkinasen phosphoryliert werden kann.

Beim Herzmuskel tragen zur Absenkung der Ca2+-Konzentration im Sarkoplasma neben Ca2+-ATPasen im sarkoplasmatischen Retikulum auch ein Ca2+-Abtransport in den extrazellulären Raum durch Ca2+-ATPasen und einen 3Na+/1Ca2+-Austauschcarrier bei Wie beim Skelettmuskel (vgl. Kap. 6.2) erfordert auch die Relaxation des Herzmuskels ein Absenken der sarkoplasmatischen Ca2+-Konzentration auf unter 10–7 mol/l. Die Ca2+-Ionen dissoziieren von Troponin C ab, durch Umlagerung der Tropomyosinmoleküle werden die hochaffinen Bindungsstellen der Myosinköpfe am Aktinfilament wieder unzugänglich, und der Querbrückenzyklus ist blockiert. Der Abfall der sarkoplasmatischen Ca2+-Konzentration im Herzmuskel wird zum einen durch Ca2+ATPasen in der Membran des sarkoplasmatischen Retikulums vermittelt (Abb. 6.22). Zum anderen tragen, anders als beim Skelettmuskel (vgl. S. 111), auch Ca2+ATPasen und ein 3Na+/1Ca2+-Austauschcarrier in der Oberflächenmembran bei (Abb. 6.22, Tab. 6.2, S. 134). Bei manchen Formen der Herzmuskelschwäche werden Digitalisglykoside zur Steigerung der Muskelkraft eingesetzt. Digitalisglykoside hemmen die 3Na+/2K+Pumpe (vgl. S. 30). Dadurch wird der Na+-Gradient über der Zellmembran reduziert, der den Antrieb des 3Na+/ 1Ca2+-Austauschcarriers liefert. Bei der Relaxation wird dementsprechend weniger Ca2+ aus der Zelle abtransportiert und mehr in das sarkoplasmatische Retikulum aufgenommen (Ca2+-Beladung). Bei nachfolgenden Kontraktionen kann dadurch mehr Calcium aus dem sarkoplasmatischen Retikulum freigesetzt werden, so dass die sarkoplasmatische Ca2+-Konzentration höhere Werte erreicht und damit eine verstärkte Kontraktionskraft erzielt wird.

Die aktiv entwickelten Kräfte können beim Herzmuskel über Förderung des Ca2+-Einstroms bzw. der Ca2+-Freisetzung aus dem sarkoplasmatischen Retikulum und über Ca2+-Sensitivierung bzw. Ca2+-Desensitivierung des kontraktilen Apparates moduliert werden Ein Weg, die aktiven Kräfte des Myokards einem veränderten Bedarf anzupassen, sind Änderungen der unter Aktivierung erreichten sarkoplasmatischen Ca2+-Konzentration (vgl. Kap. 7.7). Stimulation von β1-Adrenozeptoren führt über den Adenylylzyklase-cAMP-Proteinkinase A Signalweg zur Phosphorylierung der L-Typ Ca2+Kanäle (Abb. 6.22). Dies erhöht deren Offenwahrscheinlichkeit. Infolge strömen vermehrt Ca2+-Ionen in die Herzmuskelzelle ein. Stimulation von α1-Adrenozeptoren führt über die Phospholipase C-Inositoltrisphosphat(IP3)Signalkaskade zu vermehrter Ca2+-Freisetzung aus dem sarkoplasmatischen Retikulum (vgl. Kap. 2.6). Beide Mechanismen resultieren dementsprechend in einer verstärkten kontraktilen Antwort des Myokards (positiv inotrope Wirkung). Zum anderen kann, ähnlich dem glatten Muskel (vgl. S. 125, Abb. 6.17), auch im Herzmuskel bei gleicher sarkoplasmatischer Ca2+-Konzentration der kontraktile Apparat verstärkt oder vermindert aktiviert werden (Ca2+Sensitivierung bzw. Ca2+-Desensitivierung). Phosphorylierung der kardialen Troponin I-Untereinheit führt zu beschleunigter Abdissoziation der Ca2+-Ionen von Troponin C. Folge ist zum einen eine schnellere Erschlaffung. Zum anderen wird, einer Ca2+-Desensitivierung entsprechend, die halbmaximale Kraftentwicklung erst bei höheren Ca2+-Konzentrationen erreicht. Beispiele für eine Ca2+-Sensitivierung sind die Phosphorylierung der regulatorischen leichten Myosinkette über den β1-Adrenozeptor-cAMP-Signalweg, oder zunehmende Ausgangslänge der Myokardzellen. Ca2+-Sensitivierung, also eine Linksverschiebung der Kraft-Calcium-Beziehung (vgl. Abb. 6.17) durch zunehmende Vordehnung der Myokardzellen ist beispielsweise Grundlage des so genannten Frank-Starling Mechanismus (vgl. S. 155 ff.).

Erregung des Herzmuskels Die regelmäßigen Kontraktionen des Herzmuskels werden durch Aktionspotenziale ausgelöst, die in spezialisierten Zellen, den Schrittmacherzellen des Sinusknotens entstehen. Diese breiten sich über Gap Junctions von Zelle zu Zelle über das gesamte Herzmuskelgewebe aus. Der Herzmuskel entspricht daher einer einzelnen motorischen Einheit. Die Muskelkraft des Myokards kann deshalb nicht durch Rekrutierung zusätzlicher Muskelzellen gesteigert werden. Die Dauer einer einzelnen Kontraktion ist beim Myokard nur wenig länger als das Aktionspotenzial. Superposition von Einzelkontraktionen ist deshalb praktisch nicht möglich, so dass Kontraktionen des Herzmuskels ausschließlich Einzelzuckungen sind. Kontraktionen des Herzmuskels werden durch Aktionspotenziale ausgelöst, die von Schrittmacherzellen erzeugt werden (vgl. S. 150 ff.). Die Schrittmacherpotenziale ent-

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133

134

6 Muskulatur Tabelle 6.2

Skelett- Herz- und glatter Muskel im Vergleich Skelettmuskel

glatter Muskel

Herzmuskel

Morphologie

vielkernige Faser, Querstreifung

einkernige Zellen, Gap Junctions, keine Querstreifung

einkernige Zellen, Gap Junctions, Querstreifung

funktionelle Organisation

viele motorische Einheiten (Multi-Unit)

Single-Unit, Multi-Unit

Single-Unit

Erregung

neurogen: über neuromuskuläre Endplatte auf Muskelfaser übertragen

Single-Unit Typ: Automatie durch Schrittmacherzellen, Ausbreitung über Gap Junctions, Modulation über Neurotransmitter; Multi-unit-Typ: neurogen über synaptische Übertragung

myogene Automatie durch Schrittmacherzellen, Ausbreitung über Gap Junctions; neurogene Modulation durch Neurotransmitter

Ca2+ im Sarkoplasma

Ca2+-Freisetzung aus SR über Dihydropyridin/RyanodinRezeptor-Interaktion; Ca2+-Bindung an Troponin C, Umlagerung Tropomyosin, Freigabe hochaffiner Myosinbindungsstellen an Aktin

Ca2+-Einstrom über Sarkolemm und Ca2+-Freisetzung aus SR bei Depolarisation (elektromechanische Koppelung); Ca2+-Einstrom über ligandengesteuerte Ca2+-Kanäle; Ca2+-Freisetzung aus SR über second messengers (pharmakomechanische Koppelung); Ca2+-Bindung an Calmodulin, Phosphorylierung der regulatorischen leichten Myosinkette

Ca2+-Einstrom über Sarkolemm und T-Tubuli (L-Typ Ca2+-Kanal, Dihydropyridinrezeptor) triggert Ca2+-induzierte Ca2+-Freisetzung aus SR; Ca2+-Bindung an Troponin C, Umlagerung Tropomyosin, Freigabe hochaffiner Myosinbindungsstellen an Aktin

Regulation [Ca2+]i

Überlagerung (Summation), abhängig von Frequenz der Aktionspotenziale

abgestufte Depolarisation; abgestufte Ligandenaktivierung über Transmitterkonzentration; Senkung durch Aktivierung von Ca2+-Pumpen und 3Na+/1Ca2+Austauschcarrier

Verstärkung des Ca2+-Einstroms (β1-Adrenozeptorstimulation, cAMPabhängige Phosphorylierung der L-Typ Ca2+-Kanäle); Verstärkung der Ca2+-Freisetzung aus SR bei vermehrter Ca2+-Beladung des SR

Abstufung der Kontraktionsamplitude

Superposition, Tetanisierbarkeit; Rekrutierung motorischer Einheiten

Single-unit-Typ: Superposition, Tetanisierbarkeit; Ca2+-Sensitivierung/ -Desensitivierung. Multi-unit-Typ: Superposition, Tetanisierbarkeit; Rekrutierung motorischer Einheiten

Ca2+-Beladung des sarkoplasmatischen Retikulums; Ca2+-Sensitivierung/-Desensitivierung

Erschlaffung

Ende der Aktionspotenziale im Motoneuron; Ca2+-Pumpen in der Membran des SR; ADP-Abdissoziation von Myosinköpfen

Ende der Aktionspotenziale, Ca2+-Pumpen in Sarkolemm und SR; 3Na+/1Ca2+-Austauschcarrier im Sarkolemm; Ca2+-Desensitivierung. Dephosphorylierung der regulatorischen leichten Myosinkette; ADPAbdissoziation von Myosinköpfen

Ende des Aktionspotenzials, Ca2+Pumpen in Sarkolemm und SR; 3Na+/1Ca2+-Austauschcarrier in Sarkolemm; Ca2+-Desensitivierung; ADP-Abdissoziation von Myosinköpfen

Rezeptoren für Liganden/ Hormone

nicotinischer AcetylcholinRezeptor in motorischer Endplatte

Rezeptoren für Vielzahl von Transmittern und Hormonen (z. B. Katecholamine, Acetylcholin, Histamin, Serotonin, NO)

muscarinischer Acetylcholin-Rezeptor (Parasympathikuswirkung), β1-Adrenozeptoren (Sympathikuswirkung)

SR= sarkoplasmatisches Retikulum

stehen, ähnlich wie im Single-unit-Typ des glatten Muskels, auch ohne Innervation (vgl. S. 129). Sympathikus und Parasympathikus modulieren die Frequenz der Schrittmacherpotenziale (vgl. S. 153). Die Aktionspotenziale der Schrittmacherzellen breiten sich beim Herzmuskel über die Gap Junctions (Abb. 6.21) in den Zellgrenzen (Glanzstreifen) von Zelle zu Zelle aus, bis sämtliche Herzmuskelzellen erregt sind. Dies bedeutet, dass der gesamte Herzmuskel einer einzelnen motorischen Einheit entspricht (Single-Unit; vgl. Tab. 6.2, S. 134), auch wenn durch Verzögerung der Erregungsausbreitung Vorhöfe und Ventrikel nicht gleichzeitig, sondern nacheinander

kontrahieren (vgl. Kap. 7.6). Da jedes Aktionspotenzial der Schrittmacherzellen stets alle Herzmuskelzellen erregt, kann das Myokard, anders als der Skelettmuskel (vgl. Kap. 6.2), seine Kontraktionskraft nicht durch Rekrutierung zusätzlicher motorischer Einheiten erhöhen. Die lange Dauer der Aktionspotenziale hat auch zur Folge, dass eine Kontraktion als Antwort auf ein Aktionspotenzial nur wenig länger dauert als das Aktionspotenzial selbst (vgl. Abb. 6.23). Dies hat zur Folge, dass sich mechanische Antworten kurz aufeinanderfolgender Aktionspotenziale beim Herzmuskel, im Gegensatz zum Skelettmuskel (vgl. S. 115), nicht überlagern. Der Herz-

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6.4 Herzmuskel

… und noch weiter

Reiz

0

Aktionspotenzial

mV

– 80

[Ca2+] 1 µmol/l

Ca2+-Konzentration

10–2 N

Kontraktionskraft [N]

0

0

400 ms

Abb. 6.23 Zeitliche Beziehungen zwischen Aktionspotenzial, sarkoplasmatischer Ca2+-Konzentration und Mechanogramm des Herzmuskels. Die mechanische Kraftentwicklung dauert nur wenig länger als das Aktionspotenzial. Zur Messung der sarkoplasmatischen Ca2+-Konzentration wurden Myokardzellen mit dem Licht-emittierenden Ca2+-Indikatorprotein Äquorin beladen. Das Lichtsignal ist ein Maß für die sarkoplasmatische Ca2+-Konzentration (modifiziert nach 22).

muskel ist also nicht tetanisierbar. Dementsprechend ist jede Kontraktion des Herzmuskels eine Einzelzuckung. Dies gewährleistet, dass sich an jede Kontraktion der Herzkammern eine Phase der Füllung anschließt, bevor eine erneute Kontraktion folgen kann. Aufgrund fehlender Superposition bzw. fehlender Tetanisierbarkeit kann das Myokard, im Gegensatz zum Skelettmuskel seine Kontraktionskraft nicht durch Superposition dicht aufeinanderfolgender Kontraktionen erhöhen.

Zum Weiterlesen … 1 Alberts B, Johnson A, Lewis J, Raff M, Roberts K, Walter P. Molecular Biology of the Cell, 4th ed. New York: Garland Science; 2002 2 Bagshaw CR. Muscle Contraction, 2nd ed. London: Chapman and Hall; 1993 3 Geeves MA, Holmes KC. Structural mechanism of muscle contraction. Annu Rev Biochem. 1999; 68: 687 – 728 4 Katz AM. Physiology of the Heart, 3rd ed. Philadelphia: Lippincott Williams & Wilkins; 2001 5 Kushmerick MJ. Energetics of Muscle Contraction. Bethesda: American Physiological Society; 1983. 6 Rüegg JC. Calcium in Muscle Contraction, 2nd ed. Berlin: Springer; 1992

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135

137

Das Herz J. Schrader, M. Kelm

7.1

Klinische Bedeutung und Systematik von Herzerkrankungen ··· 138

7.2

Bedeutung des Herzens für den Kreislauf · · · 138

7.3

Druck-Volumen-Veränderungen während des Herzzyklus · ·· 139

7.8

Regulation der Pumpleistung des Herzens

···

155

Frank-Starling-Mechanismus ··· 155 Herzsympathikus · ·· 157 Herzhypertrophie · · · 158 Beziehungen zwischen Herzzeitvolumen und venösem Rückfluss ··· 160 Das Herz als endokrines Organ · ·· 160

7.9

Phasen der Herzaktion · · · 140 Herztöne ··· 140 Echokardiographie · ·· 141 Mechanismen der Ventrikelfüllung · · · 142 Arbeitsdiagramm des Herzens · · · 142

Erregungsausbreitung am Herzen

··· 161 Hierarchie der Erregungsausbreitung · · · 162 Beeinflussung des Herzrhythmus durch das vegetative Nervensystem ··· 162

7.10 Grundlagen der Elektrokardiographie · ·· 163 7.4

Regulation der Koronardurchblutung

···

143

Anatomische Voraussetzungen ··· 143 Koronarfluss (Koronardurchblutung) ··· 143 Myokardialer Sauerstoffverbrauch · · · 145 Determinanten der Koronardurchblutung · ·· 145 Koronare Herzkrankheit · ·· 146

7.5

Beziehungen zwischen Energiestoffwechsel und Herzfunktion · ·· 147

7.6

Elektrophysiologische Grundlagen

· ··

149

Ruhepotenzial · · · 150 Herzaktionspotenzial · · · 150 Automatie ··· 153

7.7

Elektromechanische Koppelung

Entstehung des EKG · · · 164 Vektorkardiographie · · · 166 Bipolare Standardableitung · ·· 167 Unipolare EKG-Ableitungen ··· 168

7.11 Aussagemöglichkeiten des EKG

· ·· 169 Der normale Sinus-Rhythmus ··· 169 Extrasystolen · ·· 170 Atrioventrikuläre Leitungsstörungen ··· 170 Vorhofflimmern, Vorhofflattern · ·· 171 Kammerflimmern · · · 171 Herzinfarkt ··· 172

7.12 Molekulare Ursachen von Herz-Kreislauferkrankungen · ··

···

172

153

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138

7 Das Herz

7.1

Klinische Bedeutung und Systematik von Herzerkrankungen

Die Kenntnis der zentralen Aufgaben des Herzens für den Kreislauf und das Verständnis der zugrunde liegenden Mechanismen stellt eine wesentliche Voraussetzung für die Anwendung von diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen bei Herzkreislauferkrankungen dar. Für die Erbringung der lebensnotwendigen Pumpleistung des Herzens in Ruhe und bei Belastung sind vier Kenngrößen wichtig: 1. Das Myokard mit den Mechanismen der Kontraktion und Relaxation, 2. das Endokard und die Herzklappen zur Strukturierung der Phasen der Herzaktion, 3. der Koronarkreislauf zur bedarfsgerechten Versorgung des Myokards, 4. das Erregungsbildungs- und -leitungssystem zur Koordination und Rhythmisierung von Erregung, Kontraktion und Relaxation unterschiedlicher Myokardareale. Entsprechend werden Herzerkrankungen in vier wesentliche Gruppen eingeteilt: myokardiale, endokardiale, koronare und rhythmologische Krankheitsbilder. Sie stellen die mit Abstand häufigste Krankheitsgruppe und Todesursache in industrialisierten Ländern dar. Fast jede zweite Notaufnahme in Krankenhäuser ist auf kardiovaskuläre Erkrankungen zurückzuführen. Die koronare Herzkrankheit (KHK), die wiederum auch myokardiale und rhythmologische Störungen zur Folge haben kann, stellt die epidemiologisch und klinisch wichtigste Herzerkrankung dar.

7.2

Bedeutung des Herzens für den Kreislauf

Funktionell betrachtet, besteht das Herz aus zwei hintereinander geschalteten Pumpen, wobei die Pumpleistung jeweils identisch ist. Das linke Herz pumpt sein Schlagvolumen in die Aorta und den großen Körperkreislauf, das rechte Herz pumpt das Blut über die Arteria pulmonalis in den Lungenkreislauf. Die Herzklappen haben Ventilfunktion und erlauben den Blutfluss nur in eine Richtung. Bei jeder Kontraktion (Systole) kommt es zu einem Tiefertreten der Ventilebene. Dem Herzen kommt im Kreislauf eine zentrale Funktion zu, indem es die Energie bereitstellt, mit der Blut von der venösen Seite auf die arterielle Seite des Kreislaufs gepumpt wird. In funktioneller Hinsicht besteht das Herz aus zwei getrennten Pumpensystemen, wobei der rechten und linken Herzkammer (Ventrikel) je ein Vorhof vorgeschaltet ist (Abb. 7.1). Das rechte Herz fördert das aus der V. cava inferior und superior stammende venöse Blut durch die Kontraktion des rechten Ventrikels über die A. pulmonalis in den Lungenkreislauf. Das linke Herz pumpt das mit Sauerstoff gesättigte Blut durch Kontraktion des linken Ventrikels über die Aorta in den Körperkreislauf. Die Kontraktion von linkem und rechtem Herzen erfolgt gleichzeitig. Die Pumpwirkung des Herzens beruht auf der rhythmischen Abfolge von Kontraktion

Aorta

V. cava superior Pulmonalvene linker Vorhof Pulmonalarterie

Ventilebene Aortenklappe

rechter Vorhof

Mitralklappe

Pulmonalklappe

Trikuspidalklappe

linker Ventrikel

rechter Ventrikel V. cava inferior

Abb. 7.1 Blutfluss durch das Herz. Venöses Blut gelangt über die V. cava superior und inferior in den rechten Vorhof, arterialisiertes Blut fließt über die vier Pulmonalvenen in den linken Vorhof. Nach Öffnung der Segelklappen (Trikuspidal- und Bikuspidalklappen) gelangt das Blut in der Diastole in den rechten und linken Ventrikel und wird in der nächsten Systole nach Öffnung der Taschenklappen in die Pulmonalarterie bzw. Aorta ausgeworfen. Alle Herzklappen liegen in einer Ebene, der Ventilebene.

(Systole) und Entspannung (Diastole). In der Diastole werden die Herzkammern mit Blut gefüllt, in der Systole werden ca. 2⁄3 des in den Ventrikeln vorhandenen Bluts, das Schlagvolumen (normalerweise ca. 70 ml), ausgeworfen. Die Stellung des Herzens in einem geschlossenen Kreislaufsystem macht deutlich, dass die Förderleistung des rechten und linken Herzens gleich sein muss (Abb. 7.2). Geringste Unterschiede im Schlagvolumen zwischen rechtem und linkem Ventrikel hätten mit der Zeit erhebliche Störungen des Druck- und Volumenverhältnisses in den einzelnen Kreislaufabschnitten zur Folge. Dass der linke Ventrikel wesentlich muskelstärker als der rechte Ventrikel ist, liegt in der Tatsache begründet, dass der linke Ventrikel das gleiche Schlagvolumen gegen einen hohen arteriellen Druck (systolischer Druck 120 mmHg) pumpen muss. Der muskelschwächere, rechte Ventrikel hingegen muss lediglich den Druck in der Pulmonalarterie (systolischer Druck 20 mmHg) überwinden. Die Richtung des Blutflusses ist durch die Anordnung der Herzklappen gegeben, die Ventilfunktion haben und den Transport von Blut nur in eine Richtung erlauben. Die Herzklappen sind zwischen Vorhof und Ventrikel in der sog. Ventilebene angeordnet (Abb. 7.1). Der Trikuspidalund der Bikuspidal-(Mitral-)Klappe kommt hierbei die Funktion von Einlassventilen zu. Das entsprechende Auslassventil für die rechte und linke Herzkammer ist die Pulmonal- und Aortenklappe (Semilunarklappen). Öffnen und Schließen der Herzklappen erfolgen rein passiv durch das Blut, das entsprechend dem im Herzen herrschenden Druckgradienten immer von Orten hohen Drucks zu Orten niedrigen Druckniveaus fließt.

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7.3 Druck-Volumen-Veränderungen während des Herzzyklus

CO2

O2 Lunge

rechtes Herz

linkes Herz

arterielles System

venöser Rückstrom

peripheres Gewebe

CO2

O2

Abb. 7.2 Herz und Kreislauf. Schematische Darstellung der wesentlichen Funktionselemente des Herzens in ihrer Stellung im Blutkreislauf. Sauerstoff (O2) wird im Lungenkreislauf aufgenommen und über die Kapillaren des Körperkreislaufs an das Gewebe abgegeben. CO2 nimmt den umgekehrten Verlauf. Die Stellung der Herzklappen entspricht der Austreibungsphase während der Systole (Segelklappen geschlossen, Taschenklappen geöffnet).

Was die Lage des Herzens im Thorax anbetrifft, so wird aus der Betrachtung eines Röntgenbildes deutlich, dass der überwiegende Teil des rechten Ventrikels zur Vorderseite orientiert ist, wobei große Teile des rechten und linken Ventrikels breit dem Zwerchfell aufliegen (Abb. 7.3). Die Schräglage des Herzens im Thorax macht verständlich, dass bei einem Tiefertreten des Zwerchfells, z. B. bei tiefer Einatmung, das Herz in eine steilere Lage übergeht. Neben der Veränderung der Herzachse in Abhängigkeit von der Atmung kommt es bei jeder Kontraktion zu Formveränderungen des Herzens selbst. Die spiral- und ringförmige Anordnung der Muskelfasern in den Ventrikeln bewirkt, dass sich das Herz bei jeder Kontraktion, sowohl in der Längs- als auch in der Querachse, verkürzt. Dies hat zur Folge, dass bei jeder Systole die Ventilebene des Herzens (Abb. 7.1) tiefer tritt.

7.3

Druck-Volumen-Veränderungen während des Herzzyklus

Nach Erregung des Ventrikelmyokards steigt der intraventrikuläre Druck zunächst isovolumetrisch an. In diese Anspannungsphase fällt der 1. Herzton. Nach Öffnen der Aorten- und Pulmonalklappen wird das Schlagvolumen bei weiterem Druckanstieg ausgeworfen (auxotone Austreibungsphase). Mit dem Schluss der Semilunarklappen (2. Herzton) endet die Ventrikelsystole. Sie wird gefolgt von der Entspannungsphase (isovolumetrisch) und der Füllphase. Für die diastoli-

V. cava superior A. coronaria dextra

Aortenbogen Pulmonalisbogen A. coronaria sinistra V. cordis magna

Abb. 7.3 Röntgenbild des Thorax in posterioanteriorer Projektion. Aus der Schemazeichnung ist zu ersehen, dass die rechte Seite des Herzens (vom Probanden aus gesehen) durch die V. cava superior und den rechten Vorhof begrenzt wird. Auf der linken Seite sind es von kranial nach kaudal Aortenbogen, Pulmonalisbogen, linker Vorhof und linker Ventrikel. Beachte, dass das Herz mit dem rechten Ventrikel und Teilen des linken Ventrikels breit dem Zwerchfell aufliegt.

sche Ventrikelfüllung ist neben dem Druckgradienten und der Vorhofkontraktion der Ventilebenenmechanismus von Bedeutung. Die graphische Auftragung von ventrikulären Druck- und Volumenänderungen während des Herzzyklus ergibt das Druckvolumendiagramm, aus dem die vom Herzen geleistete Druckvolumenarbeit abgelesen werden kann. Die Fähigkeit des Herzens, ein Schlagvolumen gegen einen bestimmten Druck in der Aorta auszuwerfen, wird durch die Lage der Ruhedehnungskurve sowie den Verlauf der Kurve für die isovolumetrischen und isobarischen Maxima bestimmt. Die im Herzen und in der Aorta sich abspielenden Druckveränderungen im Wechsel zwischen Systole und Diastole können auch am Menschen mit Hilfe eines über eine periphere Arterie eingeführten Katheters im Rahmen diagnostischer Herzkatheteruntersuchungen gemessen werden. Zusammen mit dem Druckverlauf im linken Vorhof lässt sich die Systole in Anspannungsphase und Austreibungsphase, die Diastole in Entspannungsphase

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139

7 Das Herz 2 Austreibung 1 Anspannung

3 Entspannung 4 Füllung

120

Aortendruck C

80

mmHg

B

Druck im linken Ventrikel 40

Druck im linken Vorhof

D

A

ml/s

0 500

Stromstärke (Aortenwurzel)

250 0 120 Schlagvolumen

ml

140

Volumen des linken Ventrikels

40 Restvolumen 0

EKG Herztöne I

II

III

Systole 0

0,2

Diastole 0,4

0,6

0,8 s

Abb. 7.4 Herzzyklus. Zeitliche Korrelation von Druck, Fluss, Ventrikelvolumen, EKG und Herztönen (I – III) in Systole und Diastole in Ruhe (Herzfrequenz 75/min), 1. isovolumetrische Anspannungsphase, 2. auxotone Austreibungsphase, 3. isovolumetrische Entspannungsphase, 4. Füllungsphase. Punkte A und D kennzeichnen den Schluss bzw. die Öffnung der Atrioventrikularklappen, Punkte B und C die Öffnung bzw. den Schluss der Aortenklappen.

und Füllungsphase unterteilen (Abb. 7.4). Obwohl die gleiche Unterteilung natürlich auch für das rechte Herz gilt, sollen der Einfachheit halber im Folgenden die Verhältnisse am linken Ventrikel beispielhaft besprochen werden.

Phasen der Herzaktion Die Anspannungsphase und damit die Ventrikelsystole beginnt mit dem Schluss der Atrioventrikularklappen. Der Klappenschluss kommt dadurch zustande, dass der Ventrikeldruck den Vorhofdruck überschreitet. Damit wird der Rückfluss von Blut in den Vorhof verhindert (Abb. 7.4 A). Da auch die Aortenklappe in dieser Phase geschlossen ist, steigt jetzt der Druck im Ventrikel steil an, ohne dass sich dort das Volumen (enddiastolisch ca. 120 ml) ändert. Der Druckanstieg erfolgt also isovolumetrisch. Die Anspannungsphase endet, wenn der Ventrikeldruck den Druck in der Aorta überschreitet und sich die Aortenklappe öffnet (Abb. 7.4 B). Jetzt beginnt die Aus-

treibungsphase, die durch einen weiteren Druckanstieg in Ventrikel und Aorta charakterisiert ist. Dementsprechend nimmt das Volumen im Ventrikel jetzt ab, und zwar um den Betrag, der als Schlagvolumen (ca. 80 ml) in die Aorta gepumpt wird. Ein Restblutvolumen von ca. 40 ml bleibt im Ventrikel zurück. (Der Quotient aus Schlagvolumen und enddiastolischem Volumen heißt Ejektionsfraktion und beträgt 0,6 – 0,75, in diesem Fall 0,67.) Da sich in der Austreibungsphase sowohl der Druck als auch das Volumen im Ventrikel verändert, bezeichnet man die Kontraktionsform als auxoton. Die Austreibungsphase endet, wenn der Ventrikeldruck den Aortendruck wieder unterschreitet, was zum Schließen der Aortenklappen führt (Abb. 7.4 C). In der Druckregistrierung der Aorta findet man synchron zum Klappenschluss eine kurze Druckschwankung (Inzisur). Sie lässt sich mechanisch durch das kurzzeitige Schwingen der Blutsäule über der Aorta bei Klappenschluss erklären. Die isovolumetrische Erschlaffungsphase ist der Zeitabschnitt zwischen Schluss der Aorten- und der Wiederöffnung der Mitralklappe (Abb. 7.4 D). In dieser Phase nimmt der Ventrikeldruck rasch ab, unterschreitet den Vorhofdruck, und die Füllungsphase beginnt. Wie aus Abb. 7.4 zusätzlich zu ersehen ist, nimmt bereits im ersten Drittel der Füllungsphase das Ventrikelvolumen um etwa 80 % des Schlagvolumens zu. Diese rasche Füllung hat zur Folge, dass selbst bei gesteigerter Herzfrequenz, die mit einer Abnahme der Diastolendauer einhergeht, eine adäquate Ventrikelfüllung garantiert ist. Ein Vergleich der ventrikulären Druckentwicklung mit dem EKG zeigt, dass zum Zeitpunkt des Öffnens der Aortenklappen das Ventrikelmyokard bereits vollständig erregt ist (Abb. 7.4). Trotzdem nimmt der Ventrikeldruck zu Beginn der Austreibungsphase noch deutlich zu. Dieser paradox erscheinende Befund erklärt sich aus den geometrischen Veränderungen des Ventrikels während der Austreibungsphase. Durch das ausgeworfene Schlagvolumen nimmt nämlich der Ventrikelradius ab, und gleichzeitig nimmt die Wanddicke des Ventrikels zu. Entsprechend dem Gesetz von Laplace (S. 159) kommt es aufgrund dieser Größenveränderungen rein physikalisch zu einer zusätzlichen Druckentwicklung.

Herztöne Synchron zum Herzzyklus entstehen im Herzen „Töne“, die über dem Thorax am besten mit Hilfe eines Stethoskops wahrgenommen werden können. Selbst der Ungeübte kann leicht einen 1. und 2. Herzton hören. In der Medizin werden die normalen Herztöne von krankhaften Herzgeräuschen abgegrenzt. Im physikalischen Sinne handelt es sich aber bei den Herztönen nicht um Töne, sondern auch um Geräusche, die ein breites Frequenzspektrum von 15 – 400 Hz aufweisen und die aus unterschiedlichen Einzelkomponenten bestehen. Der 1. Herzton entsteht als niederfrequentes, dumpfes Geräusch während der Anspannungsphase (Abb. 7.4, I). Er kommt dadurch zustande, dass der Ventrikel sich um das Blut, das als Flüssigkeit inkompressibel ist, anspannt und dadurch zusammen mit den Atrioventrikularklappen in Schwingung gerät. Deshalb spricht man beim 1. Herzton vereinfacht auch von einem Muskel- oder Anspannungs-

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7.3 Druck-Volumen-Veränderungen während des Herzzyklus

EKG Schallkopf

I

Phonokardiogramm

II

III

rechter Ventrikel

Brustwand linker Ventrikel

Aorta

linker Vorhof

Ventrikelseptum offen

A

4

C

3

aortales Segel der Mitralklappe

E geschlossen

B

D

2 1 0 cm

Wand des linken Vorhofs

Abb. 7.5 Echokardiographie. Der linke Teil der Abbildung zeigt die Lage des Schallkopfes, der als Sender und Empfänger fungiert. Im rechten Teil der Abbildung ist ein typisches Echokardiogramm dargestellt, zeitlich synchronisiert mit EKG und Phonokardiogramm. Am Ende der isovolumetrischen Entspannungsphase kommt es zu einem raschen

ton. Er kann insbesondere gut im 4. bis 5. Interkostalraum links medioklavikulär gehört werden. Der 2. Herzton fällt mit dem Schluss der Aorten- und Pulmonalklappe zusammen (Abb. 7.4, II). Es ist ein heller „Ton“ mit höherfrequenten Anteilen. Seinem Entstehungsmechanismus zufolge ist der 2. Herzton ein Klappenton, der besonders gut im 2. Interkostalraum rechts und links vom Sternum gehört werden kann. Mit besonderer elektronischer Verstärkung (Phonokardiogramm) lässt sich noch ein 3. Herzton nachweisen, der durch das während der frühen Ventrikelfüllung einströmende Blut zustande kommt (Abb. 7.4, III). Bei einer herzgesunden Person ist dieser 3. Herzton nicht auszukultieren. Der auskultatorische Nachweis des 3. Herztones ist pathognomonisch (krankheitskennzeichnend) für eine gestörte Ventrikelfüllung bei Patienten mit Herzinsuffizienz. Der 1. und 2. Herzton können in der Intensität und dem Zeitabstand ihrer Einzelkomponenten bei Stenosen und Leckagen (Insuffizienzen) an den Herzklappen und bei Kurzschlüssen (Shunts) zwischen linkem und rechtem Herzen moduliert werden. Ferner führen diese kardialen Vitien je nach betroffener Herzklappe zu zusätzlichen interponierten typischen Herzgeräuschen, anhand derer man die Art des Herzklappenfehlers diagnostizieren kann. Während früher die durch rheumatische Endokarderkrankungen bedingte Mitralstenose und Aortenklappeninsuffizienz die häufigsten Klappenfehler (Vitien) darstellten, sind heute die relative Mitralinsuffizienz aufgrund einer Dilatation des linken Ventrikels bei Herzinsuffizienz und die

Öffnen der Mitralklappe bis zu einer maximalen Stellung (A). Dann kehren die Klappen zu einer Mittelstellung zurück (B), um sich kurz vor der Systole durch Vorhofkontraktion erneut zu öffnen (C). In der sich anschließenden Austreibungsphase schließt sich die Klappe (D) und wölbt sich in den Vorhof (E) (aus 20).

degenerative (arteriosklerotisch bedingte) Aortenklappenstenose bei älteren Patienten die klinisch wichtigsten Vitien.

Echokardiographie Die Echokardiographie ist eine nichtinvasive Methode, mit der in vielen Fällen eine exakte Beurteilung sowohl der kardialen Morphologie (z. B. Verdickung der Mitralsegel bei Mitralklappenstenose) als auch der Funktion (z. B. Wandbewegungsstörungen im Bereich einer Herzinfarktnarbe) möglich ist. Zusätzlich lässt sich mit ihr die Flussgeschwindigkeit des Blutes im Herzen und die Zusammensetzung des Herzgewebes, d. h. der Anteil an Bindegewebe und Myokardzellen, bestimmen (Doppler-Technik). Die Echokardiographie beruht auf dem Prinzip des Echolots, wobei durch den Schallkopf, der dem Thorax aufliegt, Ultraschallwellen (2,2 – 12 MHz) ausgesendet werden. An Grenzflächen unterschiedlich schalldichter Strukturen – wie beispielsweise zwischen Gewebe und Blut – entstehen Reflexionen, die vom Schallkopf registriert werden. Das Empfangssignal wird aufgearbeitet und auf einem Monitor dargestellt. Der Untersucher kann zwischen verschiedenen Darstellungsformen wählen: zweidimensionale Schnittbilder durch das Herz, ggf. mit eingeblendetem, farbkodiertem Doppler-Signal, Flussprofildarstellung einzelner Areale sowie die so genannte M-Mode-Darstellung. Im M-Mode werden die Reflexionen einer Schnittlinie gegen die Zeit aufgetragen, um z. B. das Öffnungsverhalten der Mitralklappe darzustellen (Abb. 7.5).

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141

7 Das Herz

U-Kurve

isovolumetrische Maxima



Ventilebene 300

rechtes Herz

A Auswurfphase

Verschiebung der Ventilebene

Ventrikeldruck (mmHg)

142

isobarische Maxima 200

äußere Herzarbeit C

120

Ruhedehnungskurve

80

B A’

0 0

D 40

A 120

Ventrikelvolumen (ml)

B Füllphase

Abb. 7.6 Ventilebenenmechanismus. Schematische Darstellung (für das rechte Herz) der Veränderung der Ventilebene im Herzzyklus als Mechanismus der diastolischen Ventrikelfüllung. A Durch Kontraktion tritt die Ventilebene tiefer und saugt damit Blut in den Vorhof. Zustand am Ende der Systole. B In der Diastole stülpt sich der Ventrikel durch Höhertreten der Ventilebene über das in den Vorhöfen liegende Blut. Dies trägt wesentlich zur Füllung des Ventrikels bei.

Mechanismen der Ventrikelfüllung Wie oben bereits erwähnt, wird der Ventrikel im Wesentlichen zu Beginn, d. h. im ersten Drittel der Diastole, gefüllt (Abb. 7.4). Für die Füllung sind drei Faktoren verantwortlich. Die Druckdifferenz zwischen Vorhof und Ventrikel während der Füllphase stellt eine der treibenden Kräfte dar, mit der Blut in der Diastole in die Ventrikel fließt. Hinzu kommt am Ende der Diastole die Kontraktion der Vorhöfe, die die Druckdifferenz zusätzlich vergrößert, aber nur zu einer geringfügigen zusätzlichen Füllung des Ventrikels führt (Abb. 7.4). Wichtig, insbesondere für die frühe diastolische Füllung, ist der sog. Ventilebenenmechanismus. Er beruht darauf, dass sich das Herz bei jeder Systole in seiner Längsachse verkleinert (Spiralmuskulatur). Da die Herzspitze auf dem Zwerchfell aufliegt und damit fixiert ist, senkt sich dabei die Ventilebene (Abb. 7.6). Dadurch kommt es über eine Dehnung der Vorhöfe zu einer gewissen Sogwirkung, mit der Blut aus den zentralen Körpervenen angesaugt wird. In der sich anschließenden Entspannungsphase geht das Herz aufgrund seiner elastischen Rückstellkräfte wieder in seine Ausgangsform zurück. Dabei stülpen sich sozusagen die Ventrikel über das in den Vorhöfen liegende Blutvolumen, wodurch der Ventrikel gefüllt wird. In der nun folgenden Systole schließen sich die Segelklappen und das Schlagvolumen wird nach Öffnung der Taschen-

Abb. 7.7 Druck-Volumen-Diagramm des linken Ventrikels. Die Werte A, B, C und D sind aus Abb. 7.4 entnommen. A – B = Anspannungsphase, B – C = Austreibungsphase, C – D = Entspannungsphase, D – A = Füllungsphase. Die von den Punkten A, B, C, D umschriebene, hellrote Fläche entspricht der äußeren Herzarbeit. Die orange Fläche unterhalb des Kurvenabschnitts D – A kennzeichnet diejenige Arbeit, die zur Wiederauffüllung des Ventrikels in der Diastole aufgewendet wird.

klappen ausgeworfen. Das Herz pumpt also während der Austreibungsphase nicht nur Blut in die Aorta, sondern saugt gleichzeitig Blut aus den großen Venen an und wirkt so in gewisser Weise wie eine Druck-Saug-Pumpe. Der Ventilebenenmechanismus spielt insbesondere bei höheren Herzfrequenzen eine wichtige Rolle.

Arbeitsdiagramm des Herzens Trägt man die in Abb. 7.4 wiedergegebenen Werte A, B, C und D der Ventrikeldruckkurve gegen die entsprechenden Werte des Ventrikelvolumens auf, so erhält man das Druck-Volumen-Diagramm des linken Ventrikels (Abb. 7.7). In diesem Diagramm kennzeichnet die Strecke A – B die isovolumetrische Anspannungsphase, der Abschnitt B – C die auxotone Austreibungsphase, die Strecke C – D stellt die isovolumetrische Erschlaffungsphase dar, während der Abschnitt D – A der Füllphase entspricht. Die von den Punkten A, B, C, D umschriebene, hellrote Fläche hat als Produkt von Druck und Volumen die Dimension einer Arbeit und entspricht somit der vom Herzen geleisteten Druck-Volumen-Arbeit. Die Kenntnis der DruckVolumen-Schleife ist wichtig für das Verständnis wesentlicher Myokarderkrankungen, wie der Herzinsuffizienz und der linksventrikulären Hypertrophie (s. S. 158 ff.). Die in Abb. 7.7 dargestellte Fläche unter dem diastolischen Kurvenanteil D – A stellt diejenige Arbeit dar, die

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7.4 Regulation der Koronardurchblutung durch Dehnung des Ventrikels in der Füllungsphase aufgebracht wird. Diese Energie wird bei jeder Systole wieder in das System zurückgeführt, so dass die gesamte Arbeit die Differenz beider Flächen darstellt. Da bei jeder Systole die Stromstärke in der Aorta von 0 auf 500 ml/s erhöht wird (Abb. 7.7), addiert sich zur Druck-Volumen-Arbeit die sog. Beschleunigungsarbeit. Die vom ganzen Herzen geleistete Arbeit wird also im Wesentlichen von der Größe des Schlagvolumens und der Höhe des Aortendrucks bestimmt. Der Anteil der Beschleunigungsarbeit an der äußeren Herzarbeit beträgt am linken Ventrikel ca. 1 %. Dieser Wert liegt am rechten Ventrikel wesentlich höher (bis zu 10%), da die DruckVolumen-Arbeit dort nur ca. 1⁄5 der des linken Ventrikels beträgt, die Beschleunigungsarbeit jedoch ähnlich ist. Der Anteil der Beschleunigungsarbeit nimmt bei Steigerung der Herzarbeit und bei eingeschränkter Windkesselfunktion (s. Kap. 8) der Aorta (Arteriosklerose) zu. Hierbei fällt ins Gewicht, dass die beschleunigte Blutmasse größer ist als die Masse des Schlagvolumens. Eine einfache Betrachtung zweier extremer Fälle veranschaulicht dies. Würde das Schlagvolumen in ein großes nachgiebiges Reservoir ausgetrieben, so wäre praktisch nur die Masse des Schlagvolumens zu beschleunigen. Erfolgte aber die Austreibung in ein langes, mit Blut gefülltes starres Rohr, so müsste die gesamte im Rohr enthaltene Flüssigkeitssäule beschleunigt werden. Hinzu kommt, dass außer der Volumenarbeit, die den größten Teil der Arbeit pro Herzschlag darstellt, auch die noch zur Erzeugung der Pulswelle erforderliche Arbeit berücksichtigt werden muss. Diese beträgt für den linken Ventrikel 10 bis 20 % der gesamten Arbeit und besteht zu weniger als der Hälfte aus der kinetischen Energie und zu mehr als der Hälfte aus potenzieller Energie.

Wie Abb. 7.7 zeigt, liegt Punkt A des Arbeitsdiagramms (Beginn der Ventrikelkontraktion) auf der Ruhedehnungskurve. Der Kurvenverlauf macht deutlich, dass der Ventrikeldruck im rechten Teil der Kurve mit zunehmender Ventrikelfüllung sehr stark zunimmt. Im linken Teil der Kurve, d. h. im physiologischen Bereich, kommt es hingegen nur zu geringfügigen Veränderungen des Füllungsdrucks bei Zunahme des Kammervolumens. Der normale enddiastolische Füllungsdruck (A in Abb. 7.4 und Abb. 7.7) liegt beim Erwachsenen bei 5 – 8 mmHg. Für die passive Kraftentwicklung bei Dehnung (Ruhedehnungskurve) sind in erster Linie die Titinfilamente – ein drittes Filamentsystem neben den dicken und dünnen Filamenten – verantwortlich. Bei Titin handelt es sich um extrem lange elastische Molekülstränge („molekulare Federn“), die als Stützproteine auch zur Aufrechterhaltung einer hohen aktiven Spannung bei isometrischer Kontraktion beitragen (s. a. S. 105 ff.). Das Arbeitsdiagramm des Herzens soll durch einige wichtige Hüllkurven der Ventrikelfunktion ergänzt werden, die allerdings nur experimentell zu erheben sind. Bei extrem hohem Aortendruck erreicht die isovolumetrische Ventrikelkontraktion ein Druckmaximum B‘, ohne dass sich die Aortenklappen öffnen (Abb. 7.7). Ist auf der anderen Seite der Aortendruck gleich dem enddiastolischen Füllungsdruck, so wird das Schlagvolumen isotonisch ausgeworfen, und Punkt A‘ kennzeichnet den Endpunkt dieser Kontraktion.

Die Verbindungslinie von B‘ bis A‘ ist die sog. Kurve der Unterstützungsmaxima (U-Kurve). Sie gilt nur für Punkt A auf der Ruhedehnungskurve. Jeder andere Punkt auf der Ruhedehnungskurve hat seine eigene U-Kurve und ist durch eigene Maximapunkte A‘ und B‘ charakterisiert. Die Verbindungslinie der verschiedenen Punkte A‘ ergibt die Kurve der isobarischen (isotonischen) Maxima, die der Punkte B‘ die Kurve der isovolumetrischen Maxima (Abb. 7.7).

7.4

Regulation der Koronardurchblutung

Die arteriovenöse Sauerstoffdifferenz am Herzen ist bereits in Ruhe mit 140 ml/l Blut sehr hoch. Folglich kann das Herz die mit einer Steigerung der Herzarbeit einhergehende Erhöhung des Sauerstoffverbrauchs nur durch eine Zunahme des Koronarflusses (Koronardurchblutung) decken. Wegen der systolischen Kompression des Ventrikelmyokards erfolgt die Durchblutung im Wesentlichen in der Diastole (phasischer Koronarfluss). Der mittlere Koronarfluss beträgt 70 – 80 ml/ min pro 100 g Gewebe und kann maximal auf das 4- bis 5fache des Ruhewerts gesteigert werden: Koronar (fluss)reserve. Für die Anpassung des Koronarflusses an die Herzarbeit sind metabolische Faktoren von entscheidender Bedeutung. Hinzu kommen physikalische, neurohumorale und endotheliale Faktoren. Veränderungen des Gleichgewichts zwischen myokardialem Sauerstoffverbrauch und dem Sauerstoffangebot über das Koronarsystem kommen bei der Pathophysiologie der koronaren Herzkrankheit eine große Bedeutung zu.

Anatomische Voraussetzungen Die Abgänge für die rechte und linke Koronarseite liegen kurz über der Aortenklappe, so dass der treibende Druck, mit der die Koronararterien durchblutet werden, dem Druck in der Aortenwurzel entspricht. Die großen Koronararterien verlaufen epikardial und geben von dort nahezu rechtwinklig Versorgungsäste, die bis zum Endokard reichen, in den Herzmuskel ab. Wie die rasterelektronenmikroskopische Aufnahme der Abb. 7.8 zeigt, ist das Myokard außerordentlich gut kapillarisiert. Jede Muskelfaser ist im Mittel von vier Kapillaren umgeben, so dass insgesamt auf jede Muskelfaser eine Kapillare entfällt. Die hohe Kapillardichte von ca. 4000 Kapillaren/mm2 garantiert, dass insbesondere der Sauerstoff und das CO2 nur kurze Diffusionsstrecken zu überwinden haben. Die Koronarvenen verlaufen mit den epikardialen Koronararterien zusammen und münden über den Koronarsinus in den rechten Vorhof. Ein geringer Anteil des koronarvenösen Blutes entleert sich über sog. Thebesius-Venen direkt in die Ventrikel.

Koronarfluss (Koronardurchblutung) Unter Ruhebedingungen beträgt der Koronarfluss (CF) im Mittel 70 – 80 ml/min pro 100 g Gewebe. Innerhalb jedes Herzzyklus treten jedoch erhebliche Flussschwankungen auf. Die in Abb. 7.9 wiedergegebene Registrierung des phasischen Koronarflusses zeigt, dass der Fluss in der

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143

7 Das Herz Systole 120

linker Ventrikel

80

Druck (mmHg)

40

0

Aorta

120

100

80

100

Abb. 7.8 Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme großer epikardialer Arterien und der Kapillaren des Ventrikels der Ratte. Für diese Darstellung wurden die Koronargefäße mit einem polymerisierenden Kunststoff gefüllt. Nach Abdauung des Gewebes bleibt das dargestellte Ausgusspräparat des Gefäßbaums übrig (aus 10).

Systole erheblich absinkt, initial sogar unter Null, während der wesentliche Anteil der Durchblutung in der Diastole erfolgt. Der Grund für die systolische Flussabnahme liegt darin, dass die Koronargefäße, insbesondere die Kapillaren, in der Phase der systolischen Kraftentwicklung durch den Herzmuskel selbst so komprimiert werden, dass der Blutfluss sistiert. Die gleiche Schlussfolgerung lässt sich aus den in Aorta und Ventrikel herrschenden Druckwerten ableiten: In der Austreibungsphase übersteigt der linksventrikuläre Druck den Aortendruck, d. h. der Druck im Myokard, insbesondere in den endokardnahen Schichten, ist größer als der treibende Druck für den Koronarfluss. Folglich kollabieren die Gefäße, und der Fluss sistiert. Die systolische Kompression der Gefäße hat außerdem zur Folge, dass das Herz, ähnlich einem Schwamm, das venöse Blut während der Systole in den Koronarsinus auspresst (Abb. 7.9). Umgekehrt ist in der Diastole der Ventrikeldruck und damit der Druck in der Wand des Ventrikels deutlich niedriger als der Aortendruck. Dadurch öffnen sich die Gefäße, und der Herzmuskel wird nun durchblutet. Da in den endokardnahen Schichten des Myokards, insbesondere im linken Ventrikel, die systolische Druckentwicklung am höchsten ist, ist es auch dieser Bereich, der in der Systole am schlechtesten mit Sauerstoff versorgt wird und der bei einer Einschränkung der Myokarddurchblutung mit einer Kontraktilitätsabnahme am empfindlichsten reagiert. Dies erklärt auch den klinischen Befund, dass eine pathologisch verminderte Koronardurchblutung bevorzugt zu Innenwandschäden führt.

linke Koronararterie

80 60 40

Blutfluss (ml/min)

144

20 0 100

Sinus coronarius 50

0

0

0,2

0,4

0,6

0,8

Zeit (s)

Abb. 7.9 Koronardurchblutung. Gleichzeitige Registrierung des Druckverlaufs in der Aorta, in der linken Koronararterie, im Sinus coronarius (venöser Ausstrom) und im linken Ventrikel. Während der Systole sinkt der Koronarfluss stark ab, und die Durchblutung erfolgt im Wesentlichen in der Diastole. Durch die systolische Kompression der Koronargefäße bedingt, erfolgt die Flusssteigerung im Sinus coronarius nur während der Systole.

Die hier durchgeführten Überlegungen gelten für den linken Ventrikel. Da die systolischen Druckwerte im rechten Ventrikel wesentlich niedriger liegen, bedeutet dies, dass der Druck in der Aorta, d. h. der treibende Druck, mit der die Koronargefäße auch des rechten Ventrikels durchblutet werden, immer höher als der rechtsventrikuläre Druck ist. Folglich kommt es hier nicht zu einer Flussunterbrechung während der Systole.

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7.4 Regulation der Koronardurchblutung

Myokardialer Sauerstoffverbrauch Die Funktion der Koronardurchblutung besteht, wie bei jedem anderen Gefäßsystem auch, darin, das Sauerstoffangebot und die Substratversorgung des Herzens über einen breiten Arbeitsbereich zu gewährleisten. Gleichzeitig werden über das Koronarsystem CO2 und andere Stoffwechselendprodukte abtransportiert. Die Besonderheit des Koronarsystems ist seine hohe O2-Extraktionsrate. Die arteriovenöse Sauerstoffdifferenz, AVDO2, die sich aus der Differenz zwischen dem Sauerstoffgehalt des arteriellen Bluts (200 ml O2/l Blut) und dem koronarvenösen Sauerstoffgehalt (60 ml O2/l Blut) errechnet, beträgt 140 ml O2/l Blut. Das heißt, bei einmaliger Passage durch das Herz werden aus 1 l Blut 140 ml Sauerstoff vom Herzen aufgenommen und verbraucht. Aus AVDO2 lässt sich durch Multiplikation mit dem Koronarfluss (CF) der myokardiale Sauerstoffverbrauch (MVO2) berechnen, entsprechend der Formel MVO2 – AVDO2 · CF. Der MVO2 beträgt unter Ruhebedingungen 10 – 11 ml O2/min pro 100 g Gewebe. Bei körperlicher Belastung steigt die vom Herzen geleistete Arbeit und damit der myokardiale Sauerstoffverbrauch auf das 4- bis 5fache des Kontrollwerts an. Prinzipiell kann ein blutdurchströmtes Organ eine Zunahme des Sauerstoffverbrauchs entweder durch eine gesteigerte Sauerstoffextraktion und/oder durch eine Steigerung des Flusses decken. Da am Herzen die Sauerstoffextraktionsrate mit 140 ml O2/l Blut bereits sehr hoch ist, erfolgt die Anpassung des Sauerstoffangebots an den myokardialen Sauerstoffverbrauch nahezu ausschließlich über eine Steigerung des Koronarflusses. Aufgrund dieser Gegebenheiten nimmt der Koronarfluss proportional mit der Erhöhung des myokardialen Sauerstoffverbrauchs zu. Bei starker Stimulation des Herzens im Rahmen einer körperlichen Belastung steigt daher auch der Koronarfluss maximal bis auf das 4- bis 5fache des Ruhewerts an. Eine maximale Koronardilatation lässt sich auch pharmakologisch durch Gabe eines Koronardilatators, z. B. Adenosin, auslösen. Der Quotient von maximal möglichem Koronarfluss und der Koronardurchblutung unter Ruhebedingungen nennt man die Koronarflussreserve (CFR). Sie kennzeichnet gleichermaßen auch das Verhältnis von maximal möglichem Sauerstoffangebot zu demjenigen unter Ruhebedingungen. Genauer definiert errechnet sich CFR aus dem Quotienten (Koronarwiderstand in Ruhe)/(Koronarwiderstand nach max. Dilatation). Um ihn nach dem Ohm-Gesetz in den Quotienten aus den Koronarflüssen (s. o.) umzurechnen, muss neben der Koronardurchblutung im linken Ventrikel (in Ruhe normalerweise ca. 70 ml/min pro 100 g Gewebe) auch die jeweilige koronare Perfusionsdruckdifferenz bekannt sein, die in Ruhe normalerweise ca. 80 mmHg beträgt.

Determinanten der Koronardurchblutung Die Parallelität zwischen myokardialem Sauerstoffverbrauch und Koronarfluss lässt sich auch am denervierten Herzen nachweisen. Dies zeigt, dass das Signal für die Koronardilatation von den arbeitenden Myokardzellen stammt. Man nimmt daher an, dass metabolische Faktoren für die Anpassung der Koronardurchblutung von

epikardiales Leitungsgefäß

Perfusionsdruck

autonome Kontrolle Sympathikus a-Rezeptoren b-Rezeptoren Vagus

endotheliale Kontrolle

Epikard Myokard

Widerstandsgefäße

metabolische Kontrolle Adenosin + + K ,H PO , PCO 2

Abb. 7.10 flussen.

2

Faktoren, die die Koronardurchblutung beein-

entscheidender Bedeutung sind. Allerdings herrscht noch nicht völlige Klarheit darüber, welche gefäßaktiven Substanzen im Einzelnen beteiligt sind. Neben Veränderungen der Konzentration von H+ und K+ scheinen auch solche von CO2, Stickstoffmonoxid (NO) und Adenosin eine wichtige Rolle zu spielen. Diejenigen Faktoren, die insgesamt die Höhe der Myokarddurchblutung beeinflussen, lassen sich in vier Gruppen zusammenfassen, die in Abb. 7.10 schematisch zusammengestellt sind. Neben den bereits besprochenen metabolischen Faktoren sind es physikalische Faktoren. Dazu zählen der Aortendruck als die treibende Kraft für die Koronardurchblutung und die Kompression der Koronargefäße bei jeder Systole. Unter neurohumoralen Faktoren versteht man die Überträgerstoffe des vegetativen Nervensystems, die das Herz entweder auf nervösem Wege (Noradrenalin) oder, wie im Fall von Adrenalin (und Noradrenalin) aus dem Nebennierenmark, auch auf humoralem Wege erreichen. Die Wirkung von Noradrenalin auf die Koronarien selbst besteht in einer durch αAdrenozeptoren vermittelten Vasokonstriktion. Da Noradrenalin aber über β-Adrenozeptoren positiv inotrop wirkt, was mit einem gesteigerten Sauerstoffverbrauch einhergeht, werden gleichzeitig metabolische Faktoren freigesetzt, die die Vasokonstriktion überspielen, so dass dosisabhängig eine Koronardilatation resultiert. Eine alleinige β-adrenerge Stimulation der Koronargefäße führt ebenso wie eine Reizung des N. vagus (Acetylcholin) zu einer Gefäßdilatation, deren Ausmaß jedoch nur gering und physiologisch weniger bedeutsam ist. Endotheliale Faktoren spielen bei der Interaktion zwischen Gefäßendothel und glatter Gefäßmuskulatur eine wichtige Rolle. Koronare Endothelzellen werden nach Stimulation z. B. durch Acetylcholin, Noradrenalin, Histamin und ATP zur Freisetzung des gefäßdilatierenden NO angeregt, das sei-

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145

7 Das Herz nerseits die glatte Gefäßmuskulatur über einen cGMPabhängigen Mechanismus relaxiert (Abb. 3.3, S. 60). Außerdem können Endothelzellen das Prostaglandin PGI2 sowie Adenosin freisetzen, beide stark koronardilatierende Substanzen. Endotheliale Faktoren scheinen für die Regulation des Gefäßtonus auch von der Gefäßinnenseite her von Bedeutung zu sein. So setzen Thrombozyten bei ihrer Aktivierung u. a. ATP, ADP und Serotonin frei (S. 246 ff.), die dann unter Vermittlung des Gefäßendothels die glatte Gefäßmuskulatur dilatieren (S. 203 ff.).

Koronare Herzkrankheit Etwa ein Drittel aller Todesfälle in den westlichen Industrieländern beruhen auf den Auswirkungen einer akuten oder chronischen Einschränkung der Koronardurchblutung, die klinisch unter dem Begriff der koronaren Herzkrankheit zusammengefasst werden. Wichtig für das Verständnis dieses Krankheitsbildes ist es, dass am gesunden Herzen unter Ruhebedingungen immer ein Gleichgewicht zwischen Sauerstoffangebot über das Koronarsystem und dem Sauerstoffverbrauch des Myokards besteht. Eine Zunahme des koronaren Gefäßwiderstandes kann bedingt sein durch eine koronare Makroangiopathie bei der es zu einer Einschränkung der Koronardurchblutung auf der Ebene der koronaren Leitungsgefäße kommt. Die häufigste Ursache ist ein arteriosklerotischer Plaque und eine dadurch bedingte Einengung des Gefäßlumens („fixierte Koronarstenose“), die insbesondere bei Belastungen einen adäquaten Anstieg des koronaren Blutflusses verhindert. Diese Einschränkung der Koronarreserve (Abb. 7.11A) führt belastungsabhängig zu einer Sauerstoffmangelsituation mit Verminderung der Pumpfunktion des Herzens und klinischen Zeichen der Angina pectoris (Brustschmerz) und Dyspnoe (Luftnot). In gleicher Weise kann die Lumeneinengung eines Koronargefäßes durch einen Spasmus der glatten Muskulatur epikardialer Gefäße zu einer Reduktion der Koronardurchblutung in Ruhe und unter Belastung („dynamische Stenose“) führen. Ferner kann eine Ruptur einer koronaren Plaque zur Anlagerung von Thromben führen bis hin zum vollständigen Gefäßverschluss und einer begleitenden Embolisation von thrombotischem Material in die nachgeschaltete Mikrostrombahn (Mikroembolisation, Abb. 7.11B). Klinisch äußern sich diese Vorgänge des progredienten Gefäßverschlusses in instabiler Angina pectoris, dem nicht transmuralen und dem transmuralen Myokardinfarkt, welche heute unter dem Begriff des akuten Koronarsyndroms zusammengefasst werden. Bereits 20 Minuten nach einem Verschluss einer Koronararterie kommt es zur Desintegration von Kardiomyozyten mit nachfolgender Freisetzung von Zellbestandteilen und Proteinen, die heute bereits frühzeitig und spezifisch im Blut nachgewiesen werden können (z. B. Troponin). Bleibt die Flussunterbrechung länger als 6 Stunden bestehen, wird das betroffene Gewebe irreversibel geschädigt. Ein Herzinfarkt ist heute definiert durch den positiven Nachweis von Troponin im Serum. Zusätzlich müssen entweder eine typische Angina pectoris oder ischämietypische EKG-Veränderungen vorlie-

A Koronarstenose Stenose

Koronar(Fluss)reserve (CFR)

146

Minderversorgung 5 4 3 2 1 20

0

40

60

80

Stenosegrad (%)

B Kapillarverschluss

Verschluss

embolisierte Kapillare

Plaque Zelluntergang

Abb. 7.11 Häufige Ursachen einer Reduktion des koronaren Blutflusses bei koronarer Herzerkrankung. Normalerweise kann die Koronardurchblutung bei Bedarf durch Dilatation peripherer (distaler) Koronargefäße um den Faktor 4 – 5 erhöht werden: Koronar(fluss)reserve (CFR). (A) Eine Stenose großer (proximaler) Koronargefäße führt bei einem Stenosegrad > 60% durch die Einengung des Lumens zu einer progredienten Reduktion von CFR, da dann schon in Ruhe die proximale Widerstandserhöhung durch eine teilweise Dilatation der distalen Gefäße kompensiert wird, d. h. CFR sinkt ab (Knick in CFR-Kurve). Bei starker Belastung (Zunahme des myokardialen Sauerstoffverbrauchs) kommt es damit zu einer Minderversorgung (Sauerstoffmangel) des nachgeschalteten Myokards, die bei hohen Stenosierungsgraden auch schon bei leichter Belastung oder in Ruhe auftritt (CFR erreicht 1). (B) Arteriosklerotische Plaques können durch Ruptur destabilisiert werden, so dass Plaquematerial und sich daran anlagernde Thromben in das Gefäßlumen prolabieren. Dies kann dazu führen, dass distal liegende Gefäße embolisiert werden und es zum Gefäßverschluss mit anschließendem Untergang von Myokardzellen kommt.

gen. Neben dem ischämiebedingten Funktionsausfall sind es insbesondere Rhythmusstörungen (Extrasystolen, Kammerflimmern), die als Komplikationen auftreten können und den Verlauf und die Prognose eines Herzinfarkts verschlechtern. Auch eine koronare Mikroangiopathie kann zur Einschränkung der Koronar(fluss)reserve und zu belastungsabhängiger Angina pectoris führen. Durch eine Hypertrophie der Media in der Gefäßwand und eine vermehrte periarterioläre Fibrose können die Widerstandsarterien nicht mehr

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7.5 Beziehungen zwischen Energiestoffwechsel und Herzfunktion entsprechend weit dilatieren. Dies tritt besonders häufig bei einer arteriellen Hypertonie und einem Diabetes mellitus auf.

7.5

Beziehungen zwischen Energiestoffwechsel und Herzfunktion

Der Herzmuskel ist für seine Energiegewinnung hauptsächlich auf die oxidative Phosphorylierung angewiesen. ATP-verbrauchende Reaktionen (Kontraktion, Ionengradienten, Strukturerhaltung) und ATP-synthetisierende Reaktionen sind gewöhnlich im Gleichgewicht. Als Substrate verbrennt das Herz normalerweise freie Fettsäuren (50 – 60 %), gefolgt von Glucose (30 %) und Lactat (20 %). Der relative Substratanteil hängt von der arteriellen Substratkonzentration ab. Bei Gewebehypoxie als Folge unzureichender Koronardurchblutung ist die oxidative ATP-Gewinnung eingeschränkt. Gleichzeitig kommt es über eine Stimulation der Glykolyse zu einer Steigerung der anaeroben ATP-Synthese durch Substratkettenphosphorylierung. Als Ausdruck der Gewebehypoxie wird nicht mehr Lactat verbraucht, sondern Lactat gebildet und aus dem Herzen freigesetzt. Die Energie, mit der das Herz seine Pumparbeit leistet, steht ihm in Form von ATP zur Verfügung. Der normale Vorrat der Myokardzelle an ATP (4 – 5 µmol/g Gewebe) reicht jedoch nur für wenige Herzschläge. Nach ca. 10 s wäre er erschöpft, und das Herz würde seine Funktion einstellen, wenn nicht laufend mit hoher Geschwindigkeit ATP aus seinem Abbauprodukt, dem ADP, resynthetisiert würde. Die ATP-Bildung erfolgt am Herzmuskel hauptsächlich durch oxidative Phosphorylierung in den Mitochondrien, den „Kraftwerken“ der Zelle. Die anaerobe, glykolytische ATP-Synthese spielt normalerweise quantitativ eine untergeordnete Rolle. Wie aus dem elektronenmikroskopischen Bild in Abb. 7.12 zu ersehen ist, ist der Anteil der Mitochondrien sehr hoch. Bezogen auf die Gesamtzelle beträgt deren Volumenanteil 36 %. Dies unterstreicht, dass im Herzmuskel den aeroben Energie bildenden Prozessen in den Mitochondrien eine hohe Bedeutung zukommt. Der bei weitem größte Anteil des vom Herzen verbrauchten ATP, ca. 80%, wird für die eigentliche Kontraktion und die Erschlaffung (Aktin-Myosin-Interaktion und Ca2+-Pumpen) benötigt. Für strukturerhaltende Prozesse werden weitere 15 – 20% benötigt, während in die Aufrechterhaltung der elektrischen Erregbarkeit (Na+-K+-Pumpe) nur 0,5 – 1 % des gesamten ATPVerbrauchs eingehen (Tab. 7.1).

Tabelle 7.1

Mitochondrien

Abb. 7.12 Elektronenmikroskopisches Bild des Arbeitsmyokards (Längsschnitt). Man erkennt die Zellgrenzen einer Muskelfaser mit treppenförmig angeordneten Glanzstreifen (D). Der Sauerstoff gelangt aus dem (hier teilweise sichtbaren) Erythrozyten im Kapillarlumen (Cap) durch Diffusion zu den sehr zahlreichen Mitochondrien, den Orten der oxidativen Phosphorylierung. Die Mitochondrien sind in Faserrichtung palisadenförmig angeordnet; damit gelangt das dort synthetisierte ATP unmittelbar zu den kontraktilen Elementen, dem Ort des ATP-Verbrauchs.

Die Grundzüge des Energiestoffwechsels am Herzen sind in Abb. 7.13A für das normale Myokard zusammengefasst. Die Substrate, die vorzugsweise im Herzen verstoffwechselt werden, sind Fettsäuren, Glucose und Lactat. Normalerweise stellen die freien Fettsäuren mit ca. 50 – 60 % den Hauptanteil an der Energiegewinnung, gefolgt von Glucose mit 30% und Lactat mit 20%. Der relative Anteil der verbrauchten Substrate hängt jedoch ganz entscheidend von ihrer Blutkonzentration ab. Bei erhöhten Plasmaglucosekonzentrationen, z. B. infolge einer kohlenhydratreichen Nahrung, kann der Anteil der Glucoseverbrennung bis auf 70% ansteigen. Erhöht sich auf der anderen Seite bei körperlicher Belastung der Lactatspiegel im Blut, so wird nun Lactat bevorzugt verstoffwechselt. Das Herz ist also in der Lage, entsprechend der arteriellen Konzentration der jeweiligen Substrate seine Energiegewinnung umzustellen. Dies ist auch der

Anteil der ATP-verbrauchenden Prozesse am Gesamtenergieverbrauch des Herzens

Energie

Energie benötigende Strukturen und Prozesse

Funktion

Anteil am Energieverbrauch

ATP

kontraktile Proteine

Kontraktion

80%

Ionenpumpen

2+

Ca Na+, K+

Synthese (Proteine, Nucleinsäuren)

Erschlaffung elektrische Aktivität Strukturerhaltung

0,5 – 1% 15 – 20%

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147

148

7 Das Herz

Lipide

freie Fettsäuren

Acetyl-CoA

Lactat

NADH NADH

Acetyl-CoA +

+

H

H

Pyruvat

Lactat

Pyruvat NAD NAD

Lipide

freie Fettsäuren

ATP

Citratzyklus

ADP

NAD

NADH

NAD

NADH

G-1,3-P Ox

G-3-P

Glucose

G-6-P H2O

Glykogen

O2

G-6-P

Ox Elektronen- Red transport O2

Glykogen ADP

ADP normale Kontraktion

ADP

G-1,3-P NAD Red FAD NADP

G-3-P Glucose

ATP

ATP

ATP

ADP

geringe Kontraktion

CrP extrazellulär

Zytoplasma

ATP

ATP

ADP

CrP Mitochondrien

A normaler Energiestoffwechsel

Abb. 7.13 Grundzüge der Energiegewinnung am Herzen. A Normalerweise steht dem Herzen genügend Sauerstoff zur Verbrennung seiner Substrate, freie Fettsäuren, Glucose und Lactat, zur Verfügung. Die oxidative Energiegewinnung in den Mitochondrien liefert genügend ATP für die Muskelkontraktion. B Bei Sauerstoffmangel kommt es zu Gewebehypoxie, und die oxidative Energiegewinnung sistiert. Da die anaerobe, glykolytische Energiegewinnung unzureichend ist

Grund dafür, dass selbst bei eingeschränkter Koronardurchblutung das Substratangebot an das Herz nie zur limitierenden Größe wird, wie dies z. B. beim Sauerstoff der Fall ist. Im Gegensatz zum Gehirn, das im Wesentlichen nur Glucose verstoffwechselt, ist das Herz also ein „Allesfresser“. Die gemeinsame Endstrecke aller Substrate im Stoffwechsel ist das Acetyl-CoA, das in den Citratzyklus eingeschleust wird (Abb. 7.13A). Die dort in Form von NADH und NADPH zur Verfügung stehenden Reduktionsäquivalente werden dann in der Atmungskette bei Anwesenheit von O2 zu H2O oxidiert. Die hierbei frei werdende Energie (Protonengradient über die innere Mitochondrienmembran) wird in einem letzten Schritt zur Synthese von ATP aus ADP herangezogen. Das ATP wird über die Mitochondrienmembran in das Zytoplasma transportiert und steht dort für die vielfältigen Energie verbrauchenden Prozesse zur Verfügung.

B anaerober Energiestoffwechsel

und Kreatinphosphat nur einen kurzfristigen Energiespeicher darstellt, nimmt der ATP-Gehalt und damit die Kontraktionskraft ab. Als Ausdruck der Gewebehypoxie dreht sich die Richtung der von der Lactatdehydrogenase katalysierten Reaktion um, so dass das Myokard Lactat jetzt nicht mehr aufnimmt, sondern sogar ins Blut abgibt. Da für jedes gebildete Lactat ein H+ entsteht (aus Milchsäure), kommt es auch zu einer Azidose der Myokardzelle.

Bei Sauerstoffmangel infolge unzureichender Koronardurchblutung kommt es zu charakteristischen Umstellungen im Herzstoffwechsel. Als Folge eines verminderten Sauerstoffangebots über den Koronarkreislauf wird die oxidative Phosphorylierung gehemmt, die ATP-Konzentration sinkt ab, und es kommt zum Rückstau von Reduktionsäquivalenten, die in Form von NADH im Zytoplasma akkumulieren (Abb. 7.13B). Dies hat zwei Konsequenzen: – Durch die Abnahme der ATP-Konzentration wird die anaerobe Glykolyse stimuliert, und Glucose und Glykogen werden vermehrt abgebaut. Die glykolytische Energieausbeute ist jedoch nur gering und kann den ATP-Abfall nicht kompensieren. – Durch den erhöhten Gehalt an NADH und Pyruvat, das aus der Glucose vermehrt entsteht, aber nicht mehr im Citratzyklus weiter verstoffwechselt werden kann, dreht sich das Gleichgewicht der von der Lactatdehydrogenase katalysierten Reaktionen um: Aus Pyruvat entsteht nun Lactat. Gleichzeitig nimmt damit der pH-Wert ab, d. h. eine Gewebeazidose entwickelt sich.

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7.6 Elektrophysiologische Grundlagen Während also am gut durchbluteten Herzen Lactat aufgenommen wird, kommt es bei Hypoxie des Herzens zu einer vermehrten Lactatabgabe in das koronarvenöse Blut. In klinischen Studien wird häufig die Lactatfreisetzung als ein Maß für die Ausdehnung und den Schweregrad einer Myokardhypoxie herangezogen. Neben dem ATP steht dem Herzmuskel im Kreatinphosphat (CrP) eine zusätzliche energiereiche Phosphatverbindung zur Verfügung. Über die Kreatinkinasereaktion steht ATP mit dem Kreatinphosphat im Gleichgewicht: ADP + CrP ↔ ATP + Cr. Das Kreatinphosphat stellt einen schnell mobilisierbaren Energiespeicher dar, der insbesondere bei vorübergehendem Sauerstoffmangel ein zu rasches Absinken des ATP-Gehalts verhindert. Normalerweise besteht am Herzen ein Gleichgewicht zwischen ATP-verbrauchenden und ATP-bildenden Reaktionen. Beide Prozesse sind, wie in Abb. 7.14 schematisch dargestellt, eng aufeinander abgestimmt. Welches sind nun die Mechanismen, die ATP-Synthese und ATP-Verbrauch miteinander koppeln? Nimmt z. B. primär die Herzarbeit und damit der ATP-Verbrauch durch Aktivierung des Sympathikus zu, so kommt es bei gleicher ATPSyntheserate zu einem Abfall von ATP und zu einem Anstieg der dephosphorylierten Abbauprodukte ADP und AMP. ADP ist wahrscheinlich ein wichtiger Faktor, der die oxidative Phosphorylierung in den Mitochondrien stimuliert und im Sinne eines Rückkopplungskreises die ATPSyntheserate steigert. Hinzu kommt, dass die bei Sympathikustimulation erhöhte zytosolische Ca2+-Konzentration durch Stimulation von Enzymen des Citratzyklus die oxidative Phosphorylierung ebenfalls direkt stimulieren kann (Abb. 7.14). Wird die ATP-Synthese durch eine mittelgradige Verminderung des Koronarflusses (relativer O2-Mangel) reduziert, so besitzt das Herz die Fähigkeit, seinen ATPVerbrauch (Kontraktionskraft) über noch unbekannte Mechanismen ebenfalls zu reduzieren. Netto resultiert dann wieder ein Gleichgewicht zwischen ATP-Synthese und ATP-Verbrauch auf einem niedrigeren Niveau. In Analogie zum Winterschlaf von Tieren nennt man dieses Phänomen „Hibernation“. Eine gesteigerte ATP-Synthese setzt voraus, dass das Sauerstoffangebot ausreichend ist. Am Herzen ist dafür der Koronarkreislauf verantwortlich. Wie oben besprochen, sind es metabolische Faktoren, die die Anpassung des Koronarflusses an eine gesteigerte Herzarbeit besorgen. Abb. 7.14 gibt darüber hinaus Auskunft, wie bei zwei dieser Faktoren, CO2 und Adenosin, der Energiestoffwechsel des Herzens mit dem Koronarfluss verknüpft sein könnte. So entsteht in der Myokardzelle proportional zur Zunahme des Sauerstoffverbrauchs auch vermehrt CO2, das seinem Konzentrationsgradienten entsprechend die Myokardzelle verlässt und koronare Widerstandsgefäße dilatiert. Aus dem bei Mehrarbeit in erhöhten Mengen anfallenden ADP entsteht durch eine weitere Dephosphorylierung AMP und daraus Adenosin, ebenfalls eine koronardilatierende Substanz. Bei einer Steigerung des Strömungsgeschwindigkeit wird außerdem vermehrt NO gebildet, welches durch eine schubspannungsabhängige Aktivierung der endothelialen NO-Synthase zustan-

Koronarfluss

O2

Myokardzelle

Substrate

Erregung

O2 Ca

Substratkettenoxidative Phosphorylierung CO2

2+

Kontraktion

ATP

»

ATP-Synthese Dilatation

ATP-Verbrauch ATP

Adenosin

AMP

ADP

Abb. 7.14 Zusammenhang zwischen ATP-verbrauchenden und ATP-synthetisierenden Prozessen im Myokard. Bei ausreichendem Sauerstoffangebot über das Koronarsystem besteht ein Gleichgewicht zwischen ATP-Synthese und ATP-Verbrauch. Ein Ungleichgewicht resultiert immer dann, wenn entweder der ATP-Verbrauch die Resynthese überschreitet (Steigerung der Herzarbeit) oder bei gleichbleibendem ATP-Verbrauch die ATP-Synthese abfällt (Sauerstoffmangel). Als Folge wird ATP (über ADP und AMP) vermehrt bis zum Adenosin abgebaut, einer koronardilatatorisch wirksamen Substanz.

de kommt. Darüber hinaus ist NO für die Aufrechterhaltung des Ruhetonus der Koronargefäße wichtig.

7.6

Elektrophysiologische Grundlagen

Das Aktionspotenzial des Ventrikelmyokards (ca. 300 ms) wird durch einen lawinenartigen Na+-Einstrom in das Faserinnere (Depolarisation und Over-shoot) ausgelöst, gefolgt von der Plateauphase (Ca2+-Einstrom) und Repolarisation (K+-Ausstrom). Die Dauer der absoluten Refraktärzeit ist gleich groß wie die Dauer der mechanischen Spannungsentwicklung, so dass der Herzmuskel praktisch nicht tetanisierbar ist. Im Unterschied zu dem konstanten Ruhepotenzial des Ventrikelmyokards (– 85 mV) findet sich an den spontan tätigen Sinus- und AV-Knoten eine diastolische Depolarisation. Das sich anschließende Aktionspotenzial wird durch die Einwärtsströme if, iCa und iK getragen. Um in rhythmischer Folge, d. h. im Wechsel von Systole und Diastole, Blut durch das Kreislaufsystem zu pumpen, müssen Mechanismen vorhanden sein, die die Leistungen der vielen Millionen Herzmuskelzellen zeitlich und räumlich aufeinander abstimmen. Diese Koordination erfolgt mit Hilfe von elektrischen Signalen, die normalerweise im Sinusknoten des Herzens entstehen, von

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149

7 Das Herz

Herzaktionspotenzial

Potenzial (mV)

+40

Plateauphase

0

Repolarisation

schnelle Depolarisation

–40

–80 0

150

300

Zeit (ms) +

Zytosol der Herzmuskelzelle

2+

+

Na 12 mmol/l

Ca < 0,0015mmol/l

K 150mmol/l

145mmol/l

1,25 mmol/l

4 mmol/l

Zellmembran

Herzmuskelzellen reagieren auf einen Reiz, der die Membran bis auf ca. – 65 mV (das sog. Schwellenpotenzial) depolarisiert, mit einem Aktionspotenzial. Dieser Reiz stammt normalerweise aus dem Sinusknoten (primärer Schrittmacher des Herzens); im Falle eines künstlichen Schrittmachers ist dieser Reiz ein kurzer Stromstoß. Das Besondere des Aktionspotenzials des Ventrikelmyokards ist seine lange Dauer von ca. 300 ms. Es hat eine charakteristische Form und wird in verschiedene Phasen eingeteilt (Abb. 7.15): – schnelle Phase der Depolarisation mit einem Überschießen des Potenzials zu positiven Werten (Overshoot), – Plateauphase, – Phase der Repolarisation.

EZR

+

2+

Na relative Permeabilität

150

K

Ca

+

10

1,0

0,1 0

150

300

Zeit (ms)

Abb. 7.15 Ionale Grundlagen für das Zustandekommen des Aktionspotenzials einer Herzmuskelzelle des Arbeitsmyokards. Die zeitlichen Veränderungen der Permeabilität für Na+, Ca2+ und K+ sind den einzelnen Phasen des Aktionspotenzials zugeordnet. Die intrazelluläre Ca2+-Konzentration von 0,0015 mmol/l (= 1,5 µmol/l) ist der Maximalwert während der Plateauphase, in Ruhe beträgt er 0,1 µmol/l.

dort über das Erregungsleitungssystem die Ventrikel erreichen, um dann von Zelle zu Zelle weitergeleitet zu werden, bis schließlich das gesamte Ventrikelmyokard erregt ist. Um das komplexe Zusammenspiel von elektrischen Phänomenen und Herzkontraktion besser zu verstehen, ist es zunächst notwendig, die Elementarprozesse der Erregung an einer einzelnen Herzmuskelzelle zu besprechen.

Ruhepotenzial In gleicher Weise wie Nervenzellen besitzt auch jede Zelle des Arbeitsmyokards in der Diastole ein Ruhemembranpotenzial, das ca. – 85 mV beträgt. Das Ruhepotenzial entspricht weitgehend dem K+-Gleichgewichtspotenzial. Sein Zustandekommen ist in Kap. 4 (S. 64) ausführlich erläutert.

Für das Zustandekommen des Aktionspotenzials sind zeit- und potenzialabhängige Veränderungen der Membranleitfähigkeit für Na+, Ca2+ und K+ verantwortlich. Die grundsätzlichen Einzelmechanismen sind in Kap. 4 (S. 75 f.) sowie auf S. 133 ff. besprochen. Das für das Verständnis der elektrischen Erregung Wesentliche ist im Folgenden zusammengefasst. Die rasche Depolarisation kommt durch die vorübergehende Öffnung (Aktivierung) der Natriumkanäle der Membran zustande, die von einem lawinenartigen Einstrom von Na+ in das Faserninnere gefolgt ist. Trieb„kraft“ ist das hohe elektrochemische Potenzial für Na+ (Na+ extrazellulär 145 mmol/l, intrazellulär 12 mmol/l; innen negatives Membranpotenzial). Der Natriumeinwärtsstrom führt zu einer Umpolarisierung der Membran (auf ca. + 40 mV) in Form eines „Over-shoot“. Die Anstiegssteilheit der Membrandepolarisation ist hierbei ein direktes Maß für die Geschwindigkeit des Na+-Einstroms. Der Einwärtsstrom dauert nur etwa 1 – 2 ms. Danach sind die Natriumkanäle inaktiviert und können erst wieder geöffnet werden, wenn die Membran vom Plateau aus auf Potenziale negativer als – 50 mV repolarisiert ist. An die rasche Depolarisation schließt sich die Plateauphase an, in der es zu einer Erhöhung der Membranleitfähigkeit für Ca2+ und damit zu einem langsamen, depolarisierenden Ca2+-Einstrom in die Muskelfasern kommt. Die freie extrazelluläre Ca2+-Konzentration beträgt 1,25 mmol/l, der entsprechende zytosolische Wert am ruhenden Muskel liegt mit rund 0,1 µmol/l mehr als 10 000fach und während des Aktionspotenzials immer noch 1000fach niedriger (Abb. 7.15). Neben der elektrischen Triebkraft (Membranpotenzial) besteht also eine erhebliche chemische Triebkraft für den Ca2+-Einstrom durch die Myokardzellmembran. Im Vergleich zu dem schnellen Na+-Einwärtsstrom ist aber die Amplitude dieses Ca2+-Stroms etwa 50fach kleiner. Die K+-Permeabilität nimmt zu Beginn des Aktionspotenzials zunächst rasch ab, um dann zu Beginn der Phase der Repolarisation wieder zuzunehmen (Abb. 7.15). Dies führt zu einem repolarisierenden K+-Ausstrom aus den Myokardzellen, da während der Plateauphase die nach innen gerichtete, elektrische Triebkraft für K+-Ionen kleiner war als die nach außen gerichtete chemische Triebkraft (K+ extrazellulär 4 mmol/l, intrazellulär 150 mmol/l).

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7.6 Elektrophysiologische Grundlagen

Klemmspannung 2+

Ca

Klemmspannung

0

0

mV

mV

– 40

– 40 2+

2+

Ca - Einzelkanalströme

Ca - Einzelkanalströme

Kanal geschlossen

1 mmol/l Adrenalin

Kanal offen

2+

Ca

1pA

1pA

0,24pA

0,24pA

A Kontrolle Auswertung

100ms

Abb. 7.16 Analyse von Ca2+-Einzelkanalströmen mit der Patch-Clamp-Technik vor und nach Gabe von Adrenalin. Der Ca2+-Kanal befindet sich normalerweise mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit im geschlossenen oder offenen

Die genaue Analyse der Ionenströme ist durch Anwendung der Spannungsklemmtechnik („voltage-clamp“) möglich geworden (Abb. 4.1, S. 66). Hierbei wird wie bei einer intrazellulären Ableitung eine Mikroelektrode in das Faserinnere eingestochen. Das Besondere der Spannungsklemmtechnik besteht darin, dass über die Mikroelektroden unter Verwendung eines Regelverstärkers Strom appliziert werden kann. Dadurch ist es möglich, das Membranpotenzial sprunghaft auf beliebige Potenziale zu bringen und dort konstant zu halten (zu „klemmen“). Die hierbei durch die Membran fließenden Ionenströme (I) kann man messen. Durch Vergleich der vorgegebenen Sollspannung mit der gemessenen Istspannung ist es möglich, die Netto-Ionenströme in ihre Teilkomponenten (IK+, INa+, ICa +) zu zerlegen (s. auch Kap. 4). Ein erheblicher Fortschritt bei der Analyse von Membranströmen wurde in neuerer Zeit erreicht, als es gelungen war, aus dem Herzen durch Kollagenasebehandlung funktionell und metabolisch stabile Herzmuskelzellen zu isolieren. An diesen enzymatisch isolierten Einzelzellen können mit Hilfe der PatchClamp-Technik Einzelkanalströme analysiert werden (S. 26 f.). Dazu wird eine Saugpipette (innerer Durchmesser ca. 2,5 µm) auf die Zellmembran aufgesetzt und eine kleine Membranfläche („patch“) elektrisch abgedichtet. Mit dieser Anordnung ist es möglich, durch Klemmpulse das Potenzial z. B. auf 0 mV zu halten, wodurch die Aktivität eines einzelnen Ca2+-Kanals gemessen werden kann. 2

Wie aus Abb. 7.16 zu ersehen ist, besteht die Aktivität des myokardialen Ca2+-Kanals aus schnellen Stromfluktuationen zwischen zwei Leitfähigkeitsniveaus (offen und geschlossen) und ist gefolgt von einer längeren Ruheperiode. Substanzen, die die Leitfähigkeit der Myokardzellmembran für Ca2+ erhöhen, z. B. Adrenalin oder der sympathische Überträgerstoff Noradrenalin, führen zu einer

B nach Adrenalingabe

Auswertung

100ms

Zustand (A). Nach Gabe von Adrenalin (B) nimmt die Öffnungswahrscheinlichkeit des Ca2+-Kanals deutlich zu. Im unteren Teil der Abbildung (Auswertung) sind die Mittelwerte von ca. 400 Ca2+-Einzelkanalströmen aufgetragen (nach 30).

Zunahme der Öffnungswahrscheinlichkeit der Ca2+-Kanäle. Dementsprechend gelangt bei jedem Aktionspotenzial eine größere Menge Ca2+ in das Faserinnere. Dieser erhöhte Ca2+-Einstrom führt zur besseren Ca2+Beladung des sarkoplasmatischen Retikulums und ist damit für die herzkraftsteigernde Wirkung dieser Substanzen verantwortlich. Auf der anderen Seite führen Substanzen, die den Ca2+-Einstrom hemmen, z. B. die sog. Ca2+-Antagonisten, zu einer Abnahme der Öffnungswahrscheinlichkeit der Ca2+-Kanäle, sie setzen die Herzkraft herab. An der glatten Muskulatur der Koronararterien führt eine Hemmung des Ca2+-Einstroms zu einer Relaxation, d. h. zu einer Vasodilatation. Da Ca2+-Antagonisten am Herzen also gleichzeitig den Koronarfluss erhöhen und die Herzarbeit herabsetzen, wird diese Substanzgruppe zur Therapie der koronaren Herzkrankheit (s. u.) eingesetzt. Die Zahl der Natriumkanäle, die sich bei einer Erregung öffnen, hängt in entscheidendem Maß von der Höhe des Membranpotenzials vor der Erregung ab. Wie Abb. 7.17 zeigt, führt eine Senkung des Membranpotenzials von – 90 mV auf – 80, – 65 und – 60 mV, z. B. durch Erhöhung der extrazellulären K+-Konzentration, zu einer progredienten Abnahme der Anstiegssteilheit der Depolarisation. Bei einem Membranpotenzial von ca. – 55 mV ist das Natriumsystem nahezu vollständig inaktiviert, und es lässt sich kein normales Aktionspotenzial mehr auslösen. Die Tatsache, dass die Anstiegsgeschwindigkeit des Auf-

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151

7 Das Herz

+40 0 – 40 – 80

Anstiegssteilheit (V/s)

Membranpotenzial (mV)

10 ms

400

200

0

–120

–100

– 80

– 60

– 40

Ruhepotenzial (mV)

Abb. 7.17 Die Anstiegssteilheit des Herzaktionspotenzials ist vom Ruhepotenzial abhängig. Die Steilheit des Erregungsanstiegs (Geschwindigkeit der Depolarisation) nimmt mit der Verminderung des Ruhepotenzials ab, weil das Na+-System inaktiviert wird. Die Kurve im unteren Teil der Abbildung wurde aus Versuchen gewonnen, wie sie im oberen Teil dargestellt sind (nach 31).

+45mV

Aktionspotenziale 0 mV

–90mV

Refraktärzeit

absolut

relativ

10

–7

Reizstrom (10 A)

152

Reize 5

0

100

200

300

400

500

600

ms

Abb. 7.18 Refraktärität. In der absoluten Refraktärphase löst selbst ein starker Reiz keine neue Erregung aus. In der relativen Refraktärphase kann eine erneute Erregung ausgelöst werden; dafür sind jedoch erhöhte Reizintensitäten notwendig (nach 31).

strichs des Aktionspotenzials eine Funktion der Höhe des anfänglichen Membranpotenzials ist, hat zwei wichtige Konsequenzen: 1. Wenn die Membran vollständig depolarisiert ist, d. h. wenn alle Na+-Kanäle inaktiviert (geschlossen) sind, ist es nicht möglich, selbst durch hohe Reizintensitäten eine erneute Erregung auszulösen (Abb. 7.18). Der Herzmuskel befindet sich in der absoluten Refraktärphase. Erst wenn das Membranpotenzial deutlich negativer als – 50 mV ist, kann mit erhöhten Reizintensitäten eine erneute Erregung ausgelöst werden. Der Herzmuskel befindet sich dann in der relativen Refraktärphase. Die funktionelle Bedeutung der Refraktärphase wird durch einen Vergleich zwischen der Dauer des Aktionspotenzials und dem zeitlichen Ablauf der dazugehörigen Muskelkontraktion ersichtlich (Abb. 6.23, S. 135). Das Maximum der mechanischen Spannungsentwicklung liegt innerhalb der Plateauphase des Aktionspotenzials, d. h. in der absoluten Refraktärphase. Der Herzmuskel kann also erst dann wieder neu erregt werden, wenn die Kontraktion bereits abgeschlossen ist. Somit ist der Herzmuskel nicht tetanisierbar. Im Unterschied dazu beträgt am Skelettmuskel die Dauer des Aktionspotenzials nur 2 – 4 ms bei sonst gleicher Dauer der mechanischen Antwort. Dies ist der Grund dafür, dass der Skelettmuskel tetanisierbar ist (Kap. 6). Am Herzen schützt hingegen die lange Dauer der absoluten Refraktärzeit vor zu rascher Neuerregung und garantiert damit, dass die Pumpfunktion des Herzens im Wechsel zwischen Systole und Diastole nicht beeinträchtigt wird. 2. Das Ruhemembranpotenzial ist, wie bereits dargelegt, im Wesentlichen vom transmembranalen K+-Konzentrationsgradienten abhängig. Entsprechend führt eine Erhöhung der Plasmakonzentration von K+ zu einer Depolarisation und hat damit Störungen der Erregungsausbreitung zur Folge. Klinisch führt eine Hyperkaliämie daher zu einer Verlangsamung der Erregungsausbreitung über das Herz und im Fall einer schweren Hyperkaliämie evtl. sogar zu lebensbedrohlichen Rhythmusstörungen. Steigt die extrazelluläre K+-Konzentration auf Werte von über 25 mmol/l an, so kommt es zum sofortigen Herzstillstand. Diese pathophysiologischen Zusammenhänge macht man sich in der Herzchirurgie zunutze, um das Herz für operative Eingriffe vorübergehend ruhig zu stellen. Dabei wird der Kreislauf durch eine extrakorporale Pumpe aufrechterhalten (Herz-Lungen-Maschine) und das Herz mit einer K+reichen Pufferlösung (kardioplege Lösung) durchströmt. Der resultierende Herzstillstand in Kombination mit einer Kühlung des Herzens vermindert den myokardialen Energieverbrauch drastisch. Dies führt zu einer deutlichen Verbesserung der Funktionserhaltung vor und der Stabilität des Herzens nach dem Wiederanschluss an die Körperzirkulation. Die Einflüsse von Hyper- und Hypokaliämie auf das Membranpotenzial normaler und hypoxämischer Myokardzellen sind auf S. 396 geschildert.

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Einwärts- Auswärtsstrom strom

7.7 Elektromechanische Koppelung Frequenz, mit der z. B. der Sinusknoten tätig ist. Die Plateauphase ist ebenfalls weniger ausgeprägt als im Arbeitsmyokard (Abb. 7.19 B) und fällt zeitlich mit den Veränderungen der Membranpermeabilität für Ca2+ zusammen. Welchen Einfluss die Überträgerstoffe des Sympathikus und Parasympathikus auf die Automatie und damit auf die Herzfrequenz haben, wird auf S. 162 besprochen werden.

IK 0

IF ICa

7.7 A 200

400

ms

Membranpotenzial (mV)

40

B

20 0 –20

Schwelle –40 –60 –80

Abb. 7.19 Ionenströme während des Schrittmacherpotenzials. Den spontanen Änderungen des Membranpotenzials (B) im Sinusknoten liegen prinzipiell drei Ströme (und daher drei Leitfähigkeitsänderungen) zugrunde (A): 1. Ein nicht-selektiver Einwärtsstrom, iF, der vor allem von Kationen getragen wird und nicht TTX-hemmbar ist, 2. ein langsamer Ca2+-Einwärtsstrom (iCa) und 3. ein K+-Auswärtsstrom, iK. Die Ionenkanäle für IF werden am Ende der Repolarisationsphase aktiviert, wenn das Membranpotenzial negativer als ca. – 50 mV wird; IF leitet die spontane Depolarisation ein. Der zweite für die spontane Depolarisation verantwortliche Strom, iCa, wird aktiviert, wenn das Membranpotenzial wieder positiver als etwa – 55 mV wird, wobei die einströmenden Kationen die Zelle zunehmend depolarisieren. Dies entspricht dem Aufstrich des Membranpotenzials. Gleichzeitig öffnen sich nun K+-Kanäle, die den Auswärtsstrom iK fließen lassen, was die Repolarisation der Zelle erlaubt (nach 13).

Automatie Im Unterschied zur Arbeitsmuskulatur ist das Ruhepotenzial des Sinusknotens (SA-Knoten) nicht konstant (Abb. 7.19 B). An die Repolarisation (maximales diastolisches Potenzial) schließt sich die Phase der diastolischen Depolarisation an. Voraussetzung für das Entstehen dieser Spontandepolarisation ist das Fehlen der stabilisierenden Kaliumleitfähigkeit (gK). Der Schrittmacherstrom (IF; Abb. 7.19 A) wird durch Hyperpolarisation aktiviert und von Na+-Ionen getragen, die durch die nichtselektiven Kationenkanäle einströmen. Erreicht die diastolische Depolarisation die Schwelle, entsteht ein neues Aktionspotenzial. Im Unterschied zur Arbeitsmuskulatur besitzen der Sinusknoten und der Atrioventrikular-(AV-)Knoten keine raschen Na+-Kanäle. Der Aufstrich ist folglich langsamer und wird durch den Ca2+-Einstrom erzeugt. Die Anstiegssteilheit der diastolischen Schrittmacherdepolarisation, d. h. die Zeit, die bis zum Entstehen eines neuen Aktionspotenzials verstreicht, bestimmt daher die

Elektromechanische Koppelung

Während der Plateauphase des myokardialen Aktionspotenzials strömt Ca2+ aus dem extrazellulären Raum über L-Typ-Ca2+-Kanäle in das Faserinnere und erhöht zusammen mit Ca2+ aus dem sarkoplasmatischen Retikulum (Aktivierung von Ryanodin-Rezeptoren) die intrazelluläre Ca2+-Konzentration von 10–7 auf 10–5 mol/l. Die Höhe der zytosolischen Ca2+-Konzentration bestimmt das Ausmaß der Kontraktion. Die positiv inotrope Wirkung von Adrenalin und Noradrenalin kommt durch eine cAMP-vermittelte Steigerung des transmembranalen Ca2+-Einstroms zustande. In der Diastole wird Ca2+ aktiv in das sarkoplasmatische Retikulum zurückgepumpt (SERCA) sowie über die Zellmembran nach außen transportiert. Die Erregung der Herzmuskelzelle, die ihren Ausdruck in einem Aktionspotenzial hat, ist ein elektrisches Phänomen, das über die Zellmembran abläuft. Die Kontraktion hingegen ist ein mechanischer Prozess, der sich an den kontraktilen Strukturen im Inneren der Zelle abspielt. Diejenigen Mechanismen, die die Koppelung zwischen Membrandepolarisation und Kontraktion bedingen, werden unter dem Begriff der elektromechanischen Koppelung zusammengefasst. Hierbei spielen Ca2+-Ionen die Schlüsselrolle. So kann man im Experiment zeigen, dass nach Umschalten auf ein Ca2+-freies Nährmedium zwar noch Aktionspotenziale ausgelöst werden können, doch sind diese von keiner Kontraktion mehr gefolgt. Ca2+Entzug führt also zu einer elektromechanischen Entkoppelung. Das Ausmaß der Aktivierung des kontraktilen Apparats des Herzens wird im Wesentlichen durch die zytosolische Ca2+-Konzentration bestimmt. Diese ist in der ruhenden Herzmuskelzelle mit 10–7 mol/l außerordentlich niedrig. Bei einer Erregung steigt sie kurzzeitig bis auf das rund 15fache des Ruhewerts an. Das Maximum der Kraftentwicklung wird bei einer zytosolischen Ca2+Konzentration von etwa 10–5 mol/l erreicht. Den zeitlichen Zusammenhang zwischen Veränderungen der zytosolischen Ca2+-Konzentration und der Myokardkontraktion kann man experimentell sehr elegant durch intrazelluläre Injektionen eines Ca2+-Indikatorproteins, des Äquorins, oder Ca2+-empfindlicher Fluoreszenzindikatoren messen (Abb. 6.23, S. 135). Für die zyklischen Veränderungen der zytosolischen Ca2+-Konzentration sind eine Reihe von inzwischen gut analysierten Einzelmechanismen verantwortlich. Wie Abb. 7.20 zeigt, strömt während der Plateauphase des Aktionspotenzials Ca2+ entlang seines elektrochemischen Gradienten über L-Typ-Ca2+-Kanäle (DHPR = Dihydropyridinrezeptoren) in das Faserinnere ein und triggert durch

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153

Na+- Ca2+- Austauscher +

Na - K - ATPase +

Na

ATP

K

Ca2+- ATPase +

[Ca2+]a =1,5 ·10 –3 mol/l

2+

Na Ca

ATP

+

Intrazellulärraum

+

Calmodulin Mitochondrium (Ca2+-Puffer)

Extrazellulärraum

7 Das Herz

T-Tubulus

154

2+

Ca [Ca2+]i =10–7–10–5 mol/l 2+

Ca -ATPase (SERCA)

Troponin C

2+

Ca2+

Calsequestrin 2+

–2

[Ca ] =10 mol/l

sarkoplasmatisches Retikulum

Ca

RyR2

+

2+

Ca

DHPR

Kontraktion

Abb. 7.20 Ca2+-Austauschvorgänge an der Myokardzelle. Die Erhöhung der zytosolischen Ca2+-Konzentration vor der Kontraktion erfolgt durch den Ca2+-Einstrom (L-TypCa2+-Kanal, Dihydropyridin-Rezeptor, DHPR) aus dem Extrazellulärraum und durch Ca2+-Freisetzung aus dem sarkoplasmatischen Retikulum über einen weiteren Ca2+-KanalTyp (Ryanodinrezeptor, RyR2). Hierbei kommt es zu einer zeitlichen und räumlichen Summation einer großen Zahl von lokalen Ca2+-Freisetzungsereignissen in Form so genannter „Calcium sparks“. Eine Verminderung der Ca2+Konzentration (Relaxation) erfolgt durch primär-aktiven Rücktransport in das sarkoplasmatische Retikulum und über die Zellmembran nach außen (Ca2+-ATPasen). Zusätzlich wird über den 3 Na+/1 Ca2+-Austauscher, der letztlich von der Na+-K+-ATPase getrieben wird, Ca2+ aus der Zelle transportiert (sekundär-aktiver Transport).

Aktivierung von Ca2+-Kanälen des sarkoplasmatischen Retikulums (Ryanodin-Rezeptoren, RyR2) eine zusätzliche Ca2+-Freisetzung aus dem sarkoplasmatischen Retikulum (Ca2+-induzierte Ca2+-Freisetzung). Dieses Ca2+ induziert dann den Kontraktionszyklus durch Bindung an Troponin C. Mitochondrien sind ebenfalls in der Lage, am intrazellulären Ca2+-Austausch teilzunehmen, indem sie bei einer Ca2+-Überladung der Zelle Ca2+ aufnehmen und damit puffern. Im sarkoplasmatischen Retikulum ist das Ca2+ hauptsächlich an Calsequestin, einem Ca2+-Speicherprotein gebunden. Viele der biologischen Wirkungen von Ca2+ werden wahrscheinlich durch seine Interaktion mit Calmodulin vermittelt. Der Informationsgehalt, der in Veränderungen von Amplitude, Frequenz und Dauer der Ca2+-Veränderungen während des Herzzyklus steckt, kann durch Calcium/Calmodulin-abhängige Enzyme, Ionenkanäle und Transkriptionsfaktoren wahrgenommen und in Signale umgemünzt werden, so dass z. B. eine Herzhypertrophie resultiert.

Trotz ähnlicher Funktionsabläufe bei der elektromechanischen Koppelung bestehen folgende, funktionell wichtige Unterschiede zwischen Herz- und Skelettmuskel: Der Herzmuskel ist bei jeder Kontraktion auf das während des Aktionspotenzials aus dem Extrazellulärraum einströmende Ca2+ angewiesen (Triggereffekt). Die Höhe dieses Ca2+-Einstroms bestimmt über die Ca2+Beladung des intrazellulären Speichers (sarkoplasmatisches Retikulum) letztlich die Kontraktionskraft. Am Skelettmuskel hingegen sind die intrazellulären Ca2+-Speicher in Form des sarkoplasmatischen Retikulums wesentlich stärker ausgeprägt und stellen die wichtigste Quelle für das kontraktionswirksame Ca2+ dar. Die Kontraktionsamplitude einer einzelnen Skelettmuskelfaser ist im Unterschied zum Herzmuskel nicht graduierbar. Die Kraftentwicklung am Skelettmuskel wird daher durch Rekrutierung einer verschieden großen Anzahl von Muskelfasern erreicht (Kap. 6). Die Unterschiede im Ca2+-Stoffwechsel von Herz- und Skelettmuskel erklären auch den Befund, dass bei Ca2+-freier Perfusion eines Skelettmuskels die durch elektrische Reizung auslösbare Kontraktionsamplitude erst nach einiger Zeit abnimmt (Erschöpfung der Speicher). Beim Herzmuskel hingegen führt der gleiche Eingriff bereits nach wenigen Schlägen zum Herzstillstand. Der Herzmuskel relaxiert, wenn die zytosolische Ca2+Konzentration absinkt. Dafür sind zwei Mechanismen verantwortlich. Zum einen ist es die rasche Wiederaufnahme von Ca2+ in das sarkoplasmatische Retikulum. Hierbei handelt es sich um einen direkt ATP-abhängigen Prozess (primär-aktiver Transport), der durch eine Ca2+ATPase (SERCA = Sarcoplasmic Endoplasmic Reticulum Calcium-transporting ATPase) getragen und durch Phospholamban (PLB) moduliert wird. Die Phosphorylierung von Phospholamban durch cAMP-abhängige Proteinkinasen enthemmt die Aktivität von SERCA und steigert dadurch die Ca2+-Aufnahme in das sarkoplasmatische Retikulum. Die dadurch rascher sinkende zytosolische Ca2+Konzentration erklärt, dass nach β-adrenerger Stimulation des Herzens (cAMP-Anstieg) die Relaxationsgeschwindigkeit gegenüber Kontrollen gesteigert ist (Abb. 7.21, S. 156). Zum anderen wird Ca2+, ebenfalls durch eine primär-aktiv transportierende Ca2+-ATPase, über die Zellmembran nach außen transportiert. Wie in Abb. 7.20 dargestellt ist, beeinflusst außerdem ein 3 Na+/ 1 Ca2+-Austauschcarrier die zelluläre Ca2+-Konzentration. Das entlang seines elektrochemischen Gradienten einströmende Natrium treibt dabei Ca2+ (sekundär-aktiv) aus der Zelle. Hiermit steht ein dritter Mechanismus zur Verfügung, die zytosolische Ca2+-Konzentration auf niedrigen Werten zu halten. Vom energetischen Gesichtspunkt wird der Na+/Ca2+-Austausch indirekt von der membranständigen Na+-K+-ATPase getrieben. (S. 30). Die in Abb. 7.20 dargestellten Zusammenhänge erklären wahrscheinlich auch den Wirkungsmechanismus von Digitalisglykosiden, einer Gruppe von Pharmaka, die klinisch zur Steigerung der Herzkraft eingesetzt werden. Digitalisglykoside hemmen nämlich die Na+K+-ATPase (S. 30 f.). Dadurch kommt es über eine Zunahme der intrazellulären Natriumkonzentration zu einer Verminderung des Na+-Ca2+-Austauschs. Letzt-

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7.8 Regulation der Pumpleistung des Herzens lich steigt also die zytosolische Ca2+-Konzentration an, was wahrscheinlich für die unter Digitalisglykosiden beobachtete Steigerung der Herzkraft verantwortlich ist. Eine weitere prinzipielle Möglichkeit, die Herzkraft zu beeinflussen, besteht in der unmittelbaren Erhöhung oder Senkung des transmembranalen Ca2+-Einstroms während des Aktionspotenzials. Wie oben bereits erwähnt, führt der sympathische Überträgerstoff Noradrenalin und das Nebennierenmarkhormon Adrenalin über eine Zunahme der Öffnungswahrscheinlichkeit der L-Typ-Ca2+-Kanäle zu einem gesteigerten Einstrom von Ca2+ in das Faserinnere. Dies ist gefolgt von einer Zunahme der Kontraktionskraft (Inotropie). Die molekularen Mechanismen, die der hormonellen Regulation des Ca2+-Kanals zugrunde liegen, sind in Abb. 6.22 (S. 132) schematisch zusammengefasst. Adrenalin bzw. Noradrenalin binden zunächst an den β1-Adrenozeptor, der auf der Außenseite der Myokardzellmembran lokalisiert ist. Dadurch kommt es unter Mitwirkung eines Gs-Proteins zu einer Aktivierung der membrangebundenen Adenylylcyclase, in deren Folge cAMP in der Zelle akkumuliert (Abb. 2.15, S. 37); cAMP als Second Messenger der Hormonwirkung bewirkt die Umwandlung einer Proteinkinase aus der inaktiven in die aktive Form. Die so aktivierte cAMP-abhängige Proteinkinase führt dann zu einer Phosphorylierung von Membranproteinen des Ca2+-Kanals. Dies hat zur Folge, dass der Ca2+-Kanal sich häufiger öffnet und entsprechend mehr Ca2+ in das Faserinnere gelangen kann. Der parasympathische Überträgerstoff, Acetylcholin, antagonisiert am Herzvorhof die inotrope Wirkung von Adrenalin und Noradrenalin. Dieser inhibitorische Effekt lässt sich über eine Hemmwirkung auf das Adenylylcyclasesystem erklären, die über einen muskarinergen (M2-)Cholinozeptor und ein Gi-Protein vermittelt wird. Gemeinsame Endstrecke ist wieder das cAMPSystem der Zelle, das eine zentrale Rolle bei der Vermittlung der inotropen Wirkung einnimmt. Einzelheiten s. Abb. 2.16 rechts (S. 38). Am nichtstimulierten Herzen wirkt Acetylcholin lediglich am Vorhof negativ inotrop und hat keinen direkten Einfluss auf die Inotropie des Ventrikelmyokards. Die Wirkung auf den Vorhof (wie auch die negativ chrono- und dromotrope Wirkung auf Sinus- bzw. AV-Knoten, Abb. 7.29 u. 7.30, S. 163) wird durch eine M3-Cholinozeptor- und ebenfalls Gi-Protein-vermittelte Aktivierung von K+-Kanälen verursacht. Eine Zunahme der K+-Leitfähigkeit im Vorhof bedeutet einen vergrößerten repolarisierenden K+-Strom, der das Aktionspotenzial verkürzt und die Repolarisation beschleunigt.

7.8

Regulation der Pumpleistung des Herzens

Das Herzzeitvolumen als Produkt aus Schlagvolumen und Herzfrequenz beträgt in Ruhe 4,5 – 6 l/min und kann bei körperlicher Belastung bis auf 25 l/min ansteigen. Eine Erhöhung des Schlagvolumens erfolgt über den Frank-Starling-Mechanismus und, insbesondere bei Arbeit, über den Sympathikus. Beim Frank-Starling-Mechanismus ist die Vordehnung des Herzmuskels die entscheidende Größe, die es dem Herzen erlaubt, ein erhöhtes Schlagvolumen auszuwerfen, wenn sich der

venöse Rückstrom erhöht (erhöhte Vordehnung), oder ein unverändertes Schlagvolumen gegen einen erhöhten Blutdruck auszuwerfen. Bei gleicher Vordehnung steigert der Herzsympathikus die Herzkraft durch Erhöhung des Ca2+-Einstroms. Die Geschwindigkeit des Druckanstiegs und des Druckabfalls ist unter Sympathikuseinfluss gesteigert, so dass sich die Systolendauer verkürzt. Bei chronischer Druck- und Volumenbelastung kommt es zu Herzhypertrophie. Bei einer Herzinsuffizienz ist die ventrikuläre Kraftentwicklung vermindert, so dass ein normales Herzzeitvolumen nur bei erhöhtem Vorhofdruck gefördert werden kann. Die Pumpfunktion des Herzens wird normalerweise so reguliert, dass das pro Zeiteinheit über die Aorta ausgeworfene Volumen, das Herzzeitvolumen (l/min), zu jedem Zeitpunkt genau die Bedürfnisse der zu versorgenden Gewebe deckt. Bei körperlicher Arbeit nimmt das Herzzeitvolumen zu, in Ruhe sinkt es ab. Die Größe des Herzzeitvolumens beträgt beim Erwachsenen in Ruhe ca. 4,5 – 6 l/min und errechnet sich aus dem Produkt aus Schlagvolumen (ca. 80 ml) und Herzfrequenz (ca. 70/ min). Dieses kann am Patienten kontinuierlich durch Katheter bestimmt werden, welche über die V. brachialis bis in die Pulmonalarterie vorgeschoben werden (invasive Bestimmung), oder zumindest mit Doppler-Echokardiographie über der Aortenklappe abgeschätzt werden (nicht invasive Bestimmung). Die Größe des Herzzeitvolumens hängt insbesondere von der Körpergröße, genauer von der Körperoberfläche, ab. Um die Förderleistung des Herzens bei allen individuellen Unterschieden besser vergleichbar zu machen, wird das Herzzeitvolumen daher auf 1 m2 Körperoberfläche normiert. Der daraus resultierende Herzindex beträgt im Mittel 3,4 l · min–1 · m–2. (Das auf die Körperoberfläche bezogene Schlagvolumen beträgt im Mittel 47 ml · m–2.) Die dynamische Anpassung des Herzzeitvolumens an die wechselnden Bedürfnisse des Körpers kann prinzipiell durch eine Änderung des Schlagvolumens und/oder der Herzfrequenz hervorgerufen werden. Das Schlagvolumen, oder genauer, die Kraft, die notwendig ist, um ein Schlagvolumen zu fördern, kann über zwei unterschiedliche Mechanismen gesteigert werden: den Frank-Starling-Mechanismus und den Sympathikustonus. Beide Einflussgrößen sollen im Folgenden ausführlich besprochen werden.

Frank-Starling-Mechanismus Bereits im Jahre 1895 hat Otto Frank die bahnbrechende Beobachtung gemacht, dass die Spannungsentwicklung des Herzmuskels entscheidend von seiner Vordehnung abhängig ist. In einem bestimmten Bereich führt eine Zunahme der Vordehnung des Muskels zu einer Steigerung der entwickelten Muskelspannung (Abb. 7.21 oben links). Da sich der Zeitpunkt der maximalen Spannungsentwicklung bei unterschiedlicher Vordehnung nicht verändert, nimmt die Geschwindigkeit der Spannungsentwicklung (dP/dt) ebenfalls zu (Abb. 7.21 links unten). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat der englische Physiologe Starling zusätzlich zeigen können, dass die von Frank zunächst für das Froschherz gezeigten Gesetzmäßigkei-

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155

7 Das Herz Vordehnung

Noradrenalin

4,0

4,0

+ Noradrenalin (50 µg/l)

Spannung (g)

Spannung (g)

5g

3g

Kontrolle

1g 0

0

+30

+30

+20 +10 0

dP/dtmin –10 –20

dP/dtmax

+20

dP/dtmax

dP/dt (g/s)

dP/dt (g/s)

156

+10 0 –10

0

0,5

1,0

Zeit (s)

Abb. 7.21 Inotropiemechanismen. Wird ein isolierter Papillarmuskel elektrisch stimuliert, so kommt es bei einer Zunahme der Vordehnung (Frank-Starling-Mechanismus) sowie nach Gabe von Noradrenalin zu einer Steigerung der Kontraktionsamplitude. Die Vordehnung wird über das An-

ten in gleicher Weise auch für das Warmblütermyokard gelten. Man spricht daher heute vom Frank-StarlingMechanismus. Inzwischen wissen wir, dass die ultrastrukturelle Basis für den Frank-Starling-Mechanismus in den Myofilamenten liegt. Innerhalb gewisser Grenzen wird die Kontraktionsamplitude am Herzmuskel wie auch am Skelettmuskel (S. 117 f.; Abb. 6.13, S. 118) mit zunehmender Vordehnung erhöht. Der Zusammenhang zwischen Vordehnung und Herzkraft ist auch aus dem Vergleich der in Abb. 7.7 (S. 142) wiedergegebenen Ruhedehnungskurve mit der Kurve der isovolumetrischen Maxima zu ersehen. Mit zunehmendem Ventrikelvolumen nimmt die Amplitude der isovolumetrischen Kontraktion zunächst stark zu, durchläuft ein Maximum, um danach wieder abzunehmen. Am Schnittpunkt der Ruhedehnungskurve mit der Kurve der isovolumetrischen Maxima ist die aktive Spannungsentwicklung wieder gleich null. Bei der in Abb. 7.7 gewählten Art der Auftragung stellt das Ventrikelvolumen ein indirektes Maß für die Vordehnung des Herzmuskels dar. Mit steigendem enddiastolischen Volumen nimmt nämlich der enddiastolische Druck und damit die Vordehnung zu. Der enddiastolische Druck beträgt normalerweise ca. 7 mmHg und wird klinisch zur Beurteilung der Vordehnung herangezogen. Selbst unter pathologischen Bedingungen steigt er jedoch kaum über 20 mmHg an und erreicht damit nie Werte, die notwendig wären, um das Optimum der Kraftentwicklung zu überschreiten. Der normale Vordehnungsbereich des Ventrikelmyokards liegt also im aufsteigenden Schenkel der Kurve, die die aktive Kraftentwicklung mit der Sarkomerenlänge korreliert (Abb. 6.13, S. 118; s. a. S. 117 f.). Die zunehmende Kraftentwicklung kommt z.T. durch eine Änderung der Aktin-Myosin-Überlappung, z.T. durch eine

–20

dP/dtmin 0

0,5

1,0

Zeit (s)

hängen von Gewichten im Bereich von 1 – 5 g eingestellt. Die Geschwindigkeit der Spannungsentwicklung (dP/dt) im unteren Teil der Abbildung bezieht sich im linken Bild auf die Spannungsentwicklung bei größter Vordehnung (5 g), im rechten Bild auf die bei Gabe von Noradrenalin (nach 28).

dehnungsabhängige Empfindlichkeitsänderung der Myofilamente für Ca2+ zustande. Mit Hilfe des Frank-Starling-Mechanismus ist das Herz in der Lage, bei erhöhtem enddiastolischen Volumen eine gesteigerte Spannung in der nachfolgenden Systole zu entwickeln. Die genaue Analyse einer akuten Volumenbelastung („preload“, Vorlast), z. B. bei gesteigertem venösen Rückstrom, ergibt, dass im Arbeitsdiagramm des linken Ventrikels (Abb. 7.22 A) der Arbeitspunkt A auf der Ruhedehnungskurve nach rechts zu Ax verschoben wird. Dem neuen Arbeitspunkt Ax entspricht ein eigener Punkt auf der Kurve der isovolumetrischen Maxima (Bx,) und der isotonischen Maxima (Ax‘). Unter Zugrundelegung der entsprechenden U-Kurve für den Arbeitspunkt Ax resultiert eine neue, größere Druck-Volumen-Fläche (DxAx-Bx-Cx). Dies bedeutet, dass die vom Herzen bei akuter Volumenbelastung geleistete Arbeit größer ist, wobei ein erhöhtes Schlagvolumen gegen einen unveränderten Aortendruck gepumpt wird. In gewisser Weise funktioniert das Herz also wie eine Servopumpe: Wird ihm ein erhöhtes Volumen angeboten, so pumpt es dies mit dem nächsten Schlag auch weiter in die Körperperipherie. In ähnlicher Weise lassen sich die Folgen einer Druckbelastung („afterload“, Nachlast) im Arbeitsdiagramm analysieren (Abb. 7.22 B). Bei einer akuten Erhöhung des diastolischen Aortendrucks von z. B. 80 auf 120 mmHg öffnen sich die Aortenklappen erst bei dem erhöhten Druck. Da die U-Kurve bei gleichem Arbeitspunkt A auf der Ruhedehnungskurve nicht verändert ist, nimmt das Schlagvolumen zunächst ab, so dass das Ventrikelvolumen am Ende der Systole erhöht ist. Dies gilt jedoch nur für die erste Herzaktion nach der Druckerhöhung. In der sich anschließenden Füllphase addieren sich nämlich das normale Füllvolumen und das endsystolisch erhöhte Ven-

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7.8 Regulation der Pumpleistung des Herzens

B’x

10

HZV (l/min)

Ventrikeldruck (mmHg)

300

200

5

150 Cx

C

120 100 80

0 B

Bx

D

0 A’x 0 40

Dx

SV

A

Ax

80

120

0

+4

+8

+12

Druck im Vorhof (mmHg)

SVx

50

–4

160 Ventrikelvolumen (ml)

Abb. 7.23 Ventrikelfunktionskurve. Der Druck im Vorhof bestimmt die Füllung des Ventrikels und über den FrankStarling-Mechanismus die Höhe des Herzzeitvolumens (HZV).

A Volumenbelastung B’x

Ventrikeldruck (mmHg)

300

200 Cü

Cx

C

120



Bx

B

80

D

0 0

A’x

40

SV Dx

80

SVx A

120

Ax

160 Ventrikelvolumen (ml)

B Druckbelastung

Abb. 7.22 Druck-Volumen-Diagramm des linken Ventrikels bei einer akuten Volumenbelastung und einer akuten Druckbelastung. A Bei einer Volumenbelastung verschiebt sich der Arbeitspunkt A auf der Ruhedehnungskurve nach rechts (Ax). Es ergibt sich eine neue Kurve der Unterstützungsmaxima (U-Kurve A‘x, B‘x). Bei gleichbleibendem Druck in der Aorta (Bx) ist das resultierende Schlagvolumen größer (SVx > SV). B Bei einer akuten Druckbelastung durch Erhöhung des Aortendrucks sinkt das Schlagvolumen zunächst ab, da sich der Arbeitspunkt A auf der Ruhedehnungskurve nicht verändert. Daraus resultiert ein erhöhtes endsystolisches Volumen (Dx). Wird bei der darauffolgenden diastolischen Füllung ein normales Volumen aufgenommen, so verschiebt sich der Punkt A auf der Ruhedehnungskurve nach rechts (Ax). Durch die erhöhte Vordehnung kann das Herz nun wieder ein nahezu unverändertes Schlagvolumen gegen den erhöhten Aortendruck auswerfen (SVx ≈ SV).

Volumenbelastung kann das Herz über den Frank-Starling-Mechanismus jetzt ein nahezu gleiches Schlagvolumen gegen einen erhöhten Aortendruck auswerfen. Das Herzzeitvolumen kann somit konstant gehalten werden, obwohl der Druck in der Aorta angestiegen ist. Bei einem arteriellen Mitteldruck von über 170 mmHg sinkt das Herzzeitvolumen allerdings ab. In energetischer Hinsicht ist die Druckarbeit gegenüber einer Volumenarbeit energieaufwändiger, gemessen am vergleichsweise höheren Sauerstoffverbrauch des Herzens. Dies hat seine Ursache in der bei Druckarbeit erhöhten Wandspannung des linken Ventrikels. Eine andere, weit verbreitete Art, die Gesetzmäßigkeit des FrankStarling-Mechanismus darzustellen, besteht darin, die Abhängigkeit des Herzzeitvolumens vom Vorhofdruck in Form der sog. Ventrikelfunktionskurve aufzutragen (Abb. 7.23). Durch Erhöhung des Drucks im Vorhof nimmt nicht nur die diastolische Ventrikelfüllung, sondern auch der Ventrikeldruck und damit die Vordehnung zu. Bei gleichbleibender Herzfrequenz resultiert daraus eine Steigerung des Herzzeitvolumens. Aus Abb. 7.23 wird außerdem deutlich, dass allein durch den Frank-Starling-Mechanismus das Herzzeitvolumen auf über das Doppelte des Kontrollwerts (5 l/min) gesteigert werden kann.

Die physiologische Bedeutung des Frank-Starling-Mechanismus besteht in der langfristigen genauen Abstimmung zwischen Herzzeitvolumen und venösem Rückstrom. Außerdem ist der Frank-Starling-Mechanismus für die präzise Abstimmung der Pumpleistung des rechten und linken Ventrikels verantwortlich. Bei den normalerweise geringen Unterschieden in der Pumpleistung zwischen rechtem und linkem Ventrikel verhindert er langfristig Volumenverschiebungen und damit Druckveränderungen im großen und kleinen Kreislauf.

Herzsympathikus

trikelvolumen, so dass der Arbeitspunkt für die nächste Herzaktion auf der Ruhedehnungskurve nach rechts zu Ax verschoben ist. In Analogie zu den Verhältnissen bei einer

Bei starker körperlicher Belastung nimmt das Herzzeitvolumen maximal bis auf 25 l/min zu, was einer 4- bis 5fachen Steigerung des Ruhewerts entspricht. Bei Leistungssportlern kann dieser Wert sogar bis auf 35 l/min ansteigen. Entscheidend für diese Zunahme der Förder-

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157

7 Das Herz

SV (ml)

Sympathikusstimulation

Schlagvolumen

80 40

Vorhofstimulation 0

Herzzeitvolumen

16 14 12

HZV (l/min)

158

10 8 6 4 2 0

0

50

100

150

200

250

Herzfrequenz (Schläge/min)

Abb. 7.24 Sympathikusstimulation, nicht aber Vorhofstimulation, steigert frequenzabhängig das Schlag- und Herzzeitvolumen. Bei gleichbleibendem Schlagvolumen (violette Kurven) steigt das Herzzeitvolumen als Funktion der Herzfrequenz linear an. Bei einer alleinigen Frequenzerhöhung ohne positiv inotrope Wirkung, z. B. ausgelöst durch eine künstliche Vorhofstimulation (blaue Kurven), sinkt das Schlagvolumen mit zunehmender Herzfrequenz ab, weil die diastolische Füllung unzureichend wird. Entsprechend nimmt das Herzzeitvolumen im mittleren Frequenzbereich nur mäßiggradig zu, um bei höheren Frequenzen sogar wieder abzusinken. Bei Sympathikusstimulation hingegen nimmt mit Steigerung der Herzfrequenz (chronotrope Wirkung) auch das Schlagvolumen zu (zusätzliche inotrope Wirkung, rote Kurven), so dass insgesamt ein stark gesteigertes Herzzeitvolumen resultiert.

leistung des Herzens ist die Aktivierung des Sympathikus durch seine herzkraft- und herzfrequenzsteigernde Wirkung. Im Unterschied zum Frank-Starling-Mechanismus ist die positiv inotrope Wirkung des Sympathikus unabhängig von der Vordehnung. Wie Abb. 7.21 rechts oben zeigt, steigert der sympathische Überträgerstoff Noradrenalin die Herzkraft bei unveränderter Vordehnung. Hinzu kommt, dass unter dem Einfluss von Noradrenalin und Adrenalin die Kraftentwicklung deutlich schneller erfolgt und das Maximum der Kraftsteigerung früher erreicht wird. Dies ist typisch für Änderungen der Muskelkontraktilität (Kap. 6). Dieser Sachverhalt drückt sich in der ersten Ableitung des ventrikulären Drucksignals aus (Abb. 7.21, rechts unten). Vergleicht man die maximale Druckanstiegsgeschwindigkeit, dP/dtmax, bei sympathischer Stimulation mit der der Vordehnung (Abb. 7.21 links unten), so ist ersichtlich, dass bei ähnlicher Steigerung der Kontraktionsamplitude dP/dtmax im Fall einer Sympathikusstimulation wesentlich stärker ansteigt. Zusätzlich zeigt Abb. 7.21, dass unter Sympathikuseinfluss

auch die maximale Relaxationsgeschwindigkeit, dP/dtmin, zunimmt. Dies beruht auf einer beschleunigten Wiederaufnahme von Ca2+ in das sarkoplasmatische Retikulum. Verantwortlich hierfür ist die cAMP-abhängige Phosphorylierung von Phospholamban (S. 154). Bezogen auf das gesamte Herz verkürzt sich unter Sympathikuseinfluss die Dauer der Systole bei starker körperlicher Arbeit um maximal 40%. Parallel dazu nimmt auch die Diastolendauer erheblich ab. Nur aufgrund der Tatsache, dass die Ventrikelfüllung hauptsächlich im ersten Drittel der Füllungsphase erfolgt (Abb. 7.4, S. 140), kommt es auch bei erhöhter Herzfrequenz zu einer ausreichenden diastolischen Ventrikelfüllung. Bei der sympathikusbedingten Steigerung des Herzzeitvolumens kommt neben der positiv inotropen besonders der positiv chronotropen Wirkung eine wichtige Bedeutung zu. Unter der Annahme eines konstanten Schlagvolumens nimmt das Herzzeitvolumen entsprechend der Beziehung HZV = Schlagvolumen × Frequenz linear mit der Frequenz zu (violette Kurven in Abb. 7.24). Wird in einem Versuch die Herzfrequenz durch künstliche Reizung des Vorhofs erhöht, ohne dass die Kontraktionskraft sich gleichzeitig verändert, so kommt es frequenzbedingt zu einer Einschränkung der Füllphase, das Schlagvolumen nimmt ab, so dass das Herzzeitvolumen insgesamt nur mäßiggradig ansteigt, um bei höheren Frequenzen wieder abzufallen (blaue Kurven in Abb. 7.24). Bei Aktivierung des Sympathikus, z. B. durch körperliche Arbeit, steigt hingegen aufgrund der positiv inotropen Sympathikuswirkung auch das Schlagvolumen an und vergrößert das schon durch den Frequenzanstieg erhöhte Herzzeitvolumen noch zusätzlich (rote Kurven in Abb. 7.24). Lediglich bei Frequenzen über 200/min nimmt das Schlagvolumen wegen der dann zu kurz werdenden Füllungsphase ab und ist von einer steilen Abnahme des Herzzeitvolumens gefolgt. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass insgesamt vier Faktoren die Größe des Herzzeitvolumens bestimmen: – Vordehnung (preload) – wichtige Determinante ist der enddiastolische Druck; – Nachlast (afterload) – entspricht im Wesentlichen dem Druck in der Aorta, der bei jeder Systole überwunden werden muss; – Herzfrequenz; – Inotropie. Herzfrequenz und Inotropie werden im Wesentlichen vom vegetativen Nervensystem (Sympathikus, Parasympathikus) beeinflusst. Für die Anpassung des Herzens an gesteigerte Arbeit ist der Sympathikus von entscheidender Bedeutung. Vereinfachend gesagt, liegt der durch Nervenaktivität vermittelten Steigerung des Herzzeitvolumens eine Bedarfssteigerung zugrunde, wogegen der Frank-Starling-Mechanismus bei einer Veränderung des Angebots zum Zuge kommt.

Herzhypertrophie Die Steigerung der Herzkraft durch Vordehnung oder durch Sympathikusstimulation stellt Anpassungsmechanismen dar, die akut, d. h. von einem Herzschlag zum

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7.8 Regulation der Pumpleistung des Herzens nächsten, zur Verfügung stehen. Wird das Herz über einen längeren Zeitraum einer erhöhten Arbeitsbelastung ausgesetzt, z. B. beim Leistungssportler, bei erhöhtem Blutdruck oder bei Herzklappenfehlern, so kommt es zu strukturellen Veränderungen des Herzmuskels in Form einer Herzhypertrophie. Hierbei bleibt die Zahl der Herzmuskelzellen konstant, lediglich ihre Dicke und ihre Länge nehmen zu, so dass insgesamt die Dicke der Ventrikelmuskulatur und das Herzgewicht (von normalerweise 250 – 300 g auf maximal 500 g) zunehmen. Typischerweise ist beim Sportlerherz das diastolische Ventrikelvolumen und das Schlagvolumen in Ruhe gegenüber Untrainierten erhöht. Da der Sportler außerdem eine niedrige Herzfrequenz aufweist (Folge der gesteigerten Aktivität des N. vagus), bleibt sein basales Herzzeitvolumen aber unverändert. Eine Herzhypertrophie ist normalerweise ein reversibler Prozess; sie kann sich binnen weniger Wochen zurückbilden, wenn die Auslösefaktoren, die zu der erhöhten Arbeitsbelastung des Herzens führten, beseitigt sind bzw. nicht weiter bestehen. Wenn allerdings eine lang anhaltende Herzhypertrophie zur strukturellen Veränderung im Sinne einer Fibroseentstehung geführt hat, ist die Herzhypertrophie nur partiell reversibel. Bei der Herzhypertrophie kann man drei Stadien unterscheiden: 1. Entwicklung der Hypertrophie, wenn die Arbeitsbelastung des Herzens die für die normale Muskelmasse des Herzens typische Herzarbeit überschreitet. 2. Phase der Kompensation, wenn durch das belastungsinduzierte Herzwachstum das Verhältnis von Herzmuskelmasse zu Herzarbeit ausgeglichen ist (Abb. 7.25, Mitte). Obwohl in dieser Phase keine schwerwiegenden Einschränkungen der Herzmechanik festzustellen sind, findet man mit verfeinerten Methoden eine Verminderung der Verkürzungs- und Relaxationsgeschwindigkeit des Herzmuskels. 3. Phase des Herzversagens, wenn das Herz progredient dilatiert (Abb. 7.25, rechts) und nicht mehr in der Lage ist, ein normales Herzzeitvolumen zu fördern. Für den Übergang zwischen den einzelnen Phasen sind geometrische Faktoren von großer Wichtigkeit. Geht man vereinfachend davon aus, dass das Herz ein kugelförmiger Hohlkörper ist mit bestimmtem Innenradius r (m), einer Wanddicke d (m) und dem transmuralen Druck Ptm (Pa), der normalerweise dem Innendruck entspricht, so gilt: Die Wandspannung K, d. h. die Kraft/Wandquerschnitt (N · m–2), nimmt proportional mit dem Innendruck und dem Radius zu. Daher gilt auch: Je dicker die Wand, desto geringer ist bei gleichem Innenradius die Wandspannung. Diese zwischen Wandspannung und Innendruck geltenden Gesetzmäßigkeiten wurden erstmals von dem französischen Mathematiker und Physiker Laplace (1749 – 1827) beschrieben:  r Nm K ¼ Ptm 2d

2



bzw. Ptm ¼ K 2d r ½PaŠ

Auf das Herz übertragen gestattet diese Beziehung, folgende Phänomene der Herzfunktion zu erklären. Wie aus Abb. 7.25 zu ersehen ist, kommt es bei Druckbelastung zu einer Zunahme der Wandspannung, die den Hypertro-

d

d Ventrikeldruck P

konzentrische Hypertrophie

Wandspannung K

Wandspannung normalisiert

K =

P ·r d

r

r

r

K=

P ·r d

d Hypertrophie mit Dilatation

Wandspannung K

K =

P ·r d

Abb. 7.25 Herzhypertrophie. Bei einer Druckbelastung des Ventrikels (z. B. linker Ventrikel bei Aortenstenose oder Hypertonie) kommt es zunächst zu einer konzentrischen Hypertrophie des Ventrikels und deswegen zu einer normalisierten Wandspannung: Stadium der Kompensation. Wenn der Ventrikel dilatiert wird, also bei starker oder langjähriger Druckbelastung, entwickelt sich wegen der ungünstigen energetischen Situation eine Herzinsuffizienz.

phieprozess auslöst. Dabei verdickt sich die Ventrikelwand, doch steigt der Kammerradius nicht an: sog. konzentrische Hypertrophie. (Bei einer chronischen Volumenbelastung, z. B. bei einer Aorteninsuffizienz, hypertrophiert das Kammermyokard ebenfalls, doch wird die Kammer dabei dilatiert, d. h. der Radius steigt, was eine wegen des Laplace-Gesetzes von vornherein ungünstigere Situation darstellt: sog. exzentrische Hypertrophie.) Im Stadium der Kompensation ist definitionsgemäß die Wanddicke vergrößert, aber die Wandspannung – d. h. die Kraft pro Muskelquerschnitt – ist wieder normal (Laplace). Wenn das hypertrophierte Herz zusätzlich noch dilatiert, nimmt die Wandspannung proportional mit dem Radius zu, und es resultiert eine Herzinsuffizienz. In dieser Situation benötigt das Herz mehr Energie, um ein gleiches Schlagvolumen zu fördern, dementsprechend nimmt der Wirkungsgrad – d. h. das Verhältnis von aufgewendeter Energie zu äußerer Arbeit – ab. Eine therapeutisch ausgelöste Verkleinerung des Herzens, z. B. durch Digitalis, würde in dieser Situation zu einer Ökonomisierung der Herzarbeit führen und die Herzinsuffizienz in einen Zustand der kompensierten Hypertrophie überführen. Für den Übergang vom Stadium der Kompensation zur Herzinsuffizienz sind eine Reihe von Faktoren wichtig. So kommt es mit zunehmendem Durchmesser der Einzelmyofibrillen bei gleichbleibender Kapillarisierung zu einem ungünstigeren Verhältnis von Muskelmasse und Sauerstoffversorgung. Die Diffusionsstrecken für O2 werden immer größer und begrenzen damit die Größenzunahme des Herzens, so dass man auch von einem kritischen Herzgewicht (ca. 500 g) spricht. Andere beteiligte Faktoren sind eine Abnahme der Koronarreserve (s. u.) und eine Zunahme des Gehalts an Kollagen mit interstitieller Fibrose.

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159

7 Das Herz Herzzeitvolumen

Sympathikus

25

20 venöser Rückstrom

Kontrolle

B

Herzinsuffizienz

15

l/min

160

10

5

C

A

Sympathikus Kontrolle 0

0

4

8

12

16

Druck im Vorhof (mmHg)

Abb. 7.26 Beziehungen zwischen Druck im Vorhof als Maß für die Ventrikelvordehnung und Herzzeitvolumen bzw. venösem Rückstrom. Durch Erhöhung des Drucks im Vorhof und die dadurch erhöhte Ventrikelfüllung nimmt über den Frank-Starling-Mechanismus das Herzzeitvolumen zu. Gleichzeitig nimmt durch Rückstau der venöse Rückstrom ab. An Punkt A befindet sich das Kreislaufsystem im Gleichgewicht: Das Herzzeitvolumen entspricht dem venösen Rückstrom. Bei Sympathikusstimulation ist die Ventrikelfunktionskurve nach links verschoben und verläuft steiler. Da die Kurve für den venösen Rückstrom gleichzeitig nach oben verschoben ist (Tonisierung der Venen), liegt der Gleichgewichtspunkt bei Sympathikusstimulation bei B. Bei Herzinsuffizienz verläuft die Ventrikelfunktionskurve als Ausdruck der eingeschränkten Pumpleistung abgeflacht. Ein gegenüber der Kontrolle unverändertes Herzzeitvolumen kann nur dann gefördert werden, wenn der Druck im Vorhof erhöht ist (Gleichgewichtspunkt C).

Beziehungen zwischen Herzzeitvolumen und venösem Rückfluss Da das Herz seine Pumpfunktion in einem geschlossenen Kreislauf ausübt, fließt in der Zeiteinheit genausoviel Blut zum Herzen zurück, wie das Herz auswirft. Das Herzzeitvolumen und der venöse Rückstrom sind also identisch. Eine graphische Darstellung dieser Zusammenhänge anhand der bereits bekannten Ventrikelfunktionskurve (Abb. 7.23) zeigt Abb. 7.26 (violette Kurve). Am Schnittpunkt A der Ventrikelfunktionskurve mit der Kurve, die den venösen Rückstrom in Abhängigkeit vom Druck im Vorhof charakterisiert (gestrichelte violette Kurve), befindet sich das System im Gleichgewicht (Gleichgewichtspunkt A). Der Verlauf der Kurve für den venösen Rückstrom zeigt, dass mit Zunahme des Vorhofdrucks der venöse Rückstrom abnimmt. Der Schnittpunkt der Kurve mit der X-Achse liegt bei 8 mmHg. (Dieser Wert stellt sich ein, wenn das Herzzeitvolumen und der venöse Rückstrom gleich null sind, d. h. bei Herzstillstand: sog. statischer Blutdruck; S. 177.)

Bei adrenerger Stimulation ist die Ventrikelfunktionskurve steiler (Abb. 7.26, rote Kurve). Bei gleichem Druck im Vorhof, d. h. gleicher Vordehnung der Ventrikel, ist das Herzzeitvolumen gesteigert. Gleichzeitig kommt es unter sympathischem Einfluss zu einer Tonisierung der Venen, so dass die Kurve für den venösen Rückstrom zu höheren Werten verschoben ist (gestrichelte rote Kurve) und der neue Gleichgewichtspunkt bei B liegt. Bei einer Herzinsuffizienz ist die Kontraktionskraft der Ventrikel herabgesetzt. Ursache hierfür können toxische Einflüsse oder eine kritische Einschränkung der Koronardurchblutung sein. Die Ventrikelfunktionskurve verläuft gegenüber der Kontrolle deutlich flacher (Abb. 7.26, blaugrüne Kurve). Kompensatorisch tritt bei einer Herzinsuffizienz durch Wasserretention eine Zunahme des Blutvolumens ein. Hinzu kommt, dass sich durch die verminderte Pumpfunktion das Blut vor dem rechten Herzen staut und zu einer Erhöhung des Vorhofdrucks führt. Beide Faktoren zusammen bewirken, dass die Kurve für den venösen Rückstrom nach oben verschoben ist und in dem in Abb. 7.26 gegebenen Beispiel mit der Kurve unter Sympathikuseinfluss identisch ist. Dies hat zur Folge, dass trotz reduzierter Pumpleistung der Gleichgewichtspunkt bei Herzinsuffizienz bei C liegt. Vergleicht man Gleichgewichtspunkt C mit A eines Kontrollherzens, so wird deutlich, dass das Herzzeitvolumen bei Herzinsuffizienz im kompensierten Zustand etwa gleich groß ist, doch wird dies erkauft durch eine stärkere Vordehnung.

Das Herz als endokrines Organ Im Vorhof des Herzens wird ein Peptidhormon, das Atriopeptin (Synonym: atrialer natriuretischer Faktor [ANF], atriales natriuretisches Peptid) synthetisiert, das u. a. an der Niere die Natriumausscheidung steigert und damit einen Einfluss auf den Volumenhaushalt des Körpers ausübt (Kap. 13). Atriopeptin wird in membrangebundenen sekretorischen Granula des Vorhofs gespeichert; seine Freisetzung erfolgt durch Muskeldehnung infolge einer Steigerung des Blutvolumens. Das zirkulierende Atriopeptin besteht aus 28 Aminosäuren und enthält eine über eine Disulfbrücke geschlossene Ringstruktur, die für die biologische Wirkung entscheidend ist. Die natriuretisch-diuretische Wirkung von Atriopeptin führt zu einer Erniedrigung des Plasmavolumens und kann somit den zur Hormonfreisetzung führenden primären Reiz, die erhöhte Vorhofdehnung, wieder vermindern (negativ rückgekoppelter Regelkreis). Bei Herzinsuffizienz sind die Atriopeptinplasmaspiegel erheblich erhöht und korrelieren mit den überhöhten kardialen Füllungsdrücken. Diese Beziehung konnte auch für das BNP (brain natriuretic peptide) nachgewiesen werden, welches derzeit hinsichtlich seiner diagnostischen Wertigkeit als „endokriner“ Parameter einer Herzinsuffizienz geprüft wird. Erste Studien zeigen, dass Erhöhungen der Serumkonzentration an BNP und seinen Derivaten mit einer einge-

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7.9 Erregungsausbreitung am Herzen

Aktionspotenziale

Sinusknoten

Vorhofmyokard

AV-Knoten His-Bündel

Kammerschenkel

Purkinje-Fäden Ventrikelmyokard 0

Abb. 7.27 Herzerregung. Erregungsbildung und Erregungsausbreitung sowie die an den entsprechenden Orten gemessenen Aktionspotenziale. Sinus- und AV-Knoten zeigen eine spontane diastolische Depolarisation des Membranpoten-

schränkten kardialen Prognose assoziiert sind. Ferner kommt dem Nachweis eines normalen BNP-Spiegels eine hohe Spezifität beim Ausschluss einer kardialen Ursache einer akuten Luftnot (Dyspnoe) in Notaufnahmesituationen zu (hoher negativer prädiktiver Wert).

7.9

Erregungsausbreitung am Herzen

Die Erregung des Herzens breitet sich, ausgehend vom Sinusknoten (primärer Schrittmacher), über Vorhof, AV-Knoten, His-Bündel, Kammerschenkel und PurkinjeFasern aus und erreicht das Ventrikelmyokard, wo die Erregung von einer Myokardzelle auf die nächste weitergeleitet wird. Bei der Überleitung im AV-Knoten (sekundärer Schrittmacher) ist die Leitungsgeschwindigkeit stark vermindert. Der AV-Knoten wirkt wie ein Frequenzsieb, das eine zu rasche Neuerregung der Ventrikel verhindert. Die Ausbreitungszeit der Erregung im Ventrikel (140 ms) ist wesentlich kürzer als die Dauer eines Aktionspotenzials (300 ms), so dass der Herzmuskel sich wegen der langen Refraktärzeit nicht wieder selbst erregen kann (kein „reentry“). Der Herzsympathikus (Noradrenalin) wirkt über eine Zunahme der Steilheit der spontanen diastolischen Depolarisation im Sinusknoten herzfrequenzsteigernd (positiv chronotrop). Am AV-Knoten beschleunigt der Sympathikus die Überleitungszeit (positiv dromotrop). Die Wirkungen der parasympathischen Fasern des N. vagus sind dem Sympathikus entgegengesetzt: Acetylcholin wirkt negativ chronotrop und dromotrop.

Zeit (ms)

500

zials. Die Aktionspotenzialdauer ist an den Kammerschenkeln und Purkinje-Fäden am längsten. Man beachte die Verzögerung der Erregungsausbreitung im AV-Knoten (nach 18).

Die Herzfrequenz eines Erwachsenen beträgt in Ruhe etwa 70 Schläge pro Minute. Bei körperlicher Arbeit steigt dieser Wert bis auf 180 – 200 Schläge pro Minute an. Ausgangspunkt für die rhythmische Erregung des Herzens ist der Sinusknoten, eine ca. 3 × 10 mm große Struktur, die im rechten Vorhof an der Einmündungsstelle der V. cava superior lokalisiert ist. Der Sinusknoten ist automatisch tätig und durch eine spontane diastolische Depolarisation charakterisiert (Abb. 7.19, S. 153, und Abb. 7.27). Morphologisch handelt es sich beim Sinusknoten, wie auch bei den anderen Strukturen der Erregungsleitung im Herzen, um spezialisierte Herzmuskelzellen, die myofibrillenarm und sarkoplasmareich sind. Biochemisch sind sie durch ein Überwiegen des glykolytischen Stoffwechsels gekennzeichnet. Vom Sinusknoten breitet sich die Erregung zunächst fächerförmig über die Vorhöfe aus. Die Erregungsübertragung erfolgt von einer Myokardzelle auf die nächste über Gap Junctions. Gap Junctions sind kommunizierende Verbindungen zwischen zwei Zellen (S. 54), die am Herzen auf Höhe der Z-Streifen (Glanzstreifen) lokalisiert sind und Orte erniedrigten Membranwiderstands darstellen. Deswegen kann das Myokardgewebe auch als ein funktionelles Synzytium bezeichnet werden. Die Geschwindigkeit der Erregungsausbreitung in der Vorhofwand beträgt 0,3 – 0,6 m/s (Abb. 7.28). Dieser Wert ist etwas kleiner als die Leitungsgeschwindigkeit einer marklosen Nervenfaser (0,5 – 2 m/s) und natürlich wesentlich geringer als die in markhaltigen Nervenfasern, die bei 100 m/s liegt (S. 619).

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161

162

7 Das Herz

70

Sinusknoten

70 0,3 – 0,6

Vorhof

0,04

60

AV-Knoten kranial

40 – 50

0,1

AV-Knoten kaudal

1,0

His-Bündel

20

1,0

25 – 40

1,5 – 4,0 0,5

Kammerschenkel

Purkinje- Fäden 60

Ventrikelmyokard

Leitungsgeschwindigkeit (m/s) Ausbreitungszeit (ms) –1

Schrittmacherfrequenz (min )

Abb. 7.28 Geschwindigkeit der Erregungsausbreitung. Wegen der starken Abnahme der Leitungsgeschwindigkeit im AV-Knoten wirkt dieser wie ein Frequenzsieb. Die Erregung benötigt insgesamt 210 ms, um vom Sinusknoten aus das Ventrikelmyokard vollständig zu erregen.

Ausgehend vom Sinusknoten und den beiden Vorhöfen, ist der AV-Knoten die nächste Station der Erregungsausbreitung (Abb. 7.28). Der AV-Knoten ist auf Höhe des Septums auf der Grenze zwischen Vorhof und Kammer lokalisiert und stellt die einzige leitende Verbindung zwischen Vorhof und Ventrikel dar, die durch die „Isolierplatte“ Ventilebene zum His-Bündel führt. Bei der Erregungsübertragung am AV-Knoten kommt es zu einer erheblichen Verzögerung (Abb. 7.28). Die Leitungsgeschwindigkeit geht im kranialen Knotenabschnitt auf etwa 10% von derjenigen am Vorhof zurück, steigt aber im kaudalen Abschnitt des AV-Knotens wieder an. Die Gründe für die langsame Leitungsgeschwindigkeit sind neben dem Faserdurchmesser in der Tatsache zu suchen, dass das „schnelle Natriumsystem“ am AV-Knoten nur schwach exprimiert wird, wodurch eine verlangsamte Aufstrichsgeschwindigkeit des Aktionspotenzials resultiert (Abb. 7.27). Die funktionelle Bedeutung der Verzögerung der Erregungsausbreitung ist darin zu sehen, dass der AV-Knoten abnorm gesteigerte Frequenzen, z. B. bei Vorhofflimmern (s. u.) nicht überleitet, da sie in die Refraktärphase des jeweils vorangegangenen Aktionspotenzials fallen, das sich ja relativ langsam über den AVKnoten ausbreitet. Der AV-Knoten wirkt folglich wie ein Frequenzsieb, durch das die Herzventrikel vor zu hohen Frequenzen der Vorhöfe geschützt werden. Zum anderen

hat die verlangsamte Überleitung im AV-Knoten zur Folge, dass für die diastolische Füllung der Ventrikel durch die Kontraktion der Vorhöfe ein genügend langes Zeitintervall zur Verfügung steht. Wie aus den in Abb. 7.28 wiedergegebenen Daten zu ersehen ist, nimmt die Leitungsgeschwindigkeit im HisBündel, den beiden Kammerschenkeln, besonders aber in den Purkinje-Fäden wieder deutlich zu (1,0 – 4,0 m/s). Die Dauer der Erregungsausbreitung vom Sinusknoten zum Ventrikelmyokard beträgt ca. 150 ms, so dass nach insgesamt 210 ms das gesamte Herz erregt ist. Ein Vergleich der Dauer eines Aktionspotenzials (ca. 300 ms) mit der Zeit, die ein Impuls benötigt, um vom AV-Knoten das Ventrikelmyokard zu erregen (140 ms), zeigt, dass die Erregungsausbreitung bereits weit vor dem Ende eines Aktionspotenzials abgeschlossen ist. Für eine Neuerregung des Herzens hat dieser Zusammenhang eine wichtige Konsequenz: Die Erregungsausbreitung im Ventrikel ist zu einem Zeitpunkt abgeschlossen, an dem sich das erregte Gewebe noch in der absoluten Refraktärphase befindet. Die Erregung kommt somit zu Ende, eine erneute Erregung durch Wiedereintritt (Reentry; S. 172) der Erregungsfront in bereits repolarisiertes Myokard ist normalerweise nicht möglich. Die lange Dauer des Aktionspotenzials schützt somit das Herz vor einer vorzeitigen Erregung während des Herzzyklus. Die Aktionspotenzialdauer an den Purkinje-Fäden unmittelbar vor dem Übergang der Erregung auf den Herzmuskel ist mit ca. 450 ms am längsten, so dass hier ein besonders guter Schutz gegen eine Reentry-Erregung besteht.

Hierarchie der Erregungsausbreitung Nicht nur der Sinusknoten, sondern auch tiefer liegende Strukturen der Erregungsleitung sind zu spontaner, d. h. automatischer Impulsbildung befähigt. Jedoch nimmt die Eigenfrequenz vom Sinusknoten über den AV-Knoten bis zu den Purkinje-Fäden laufend ab (Abb. 7.28). Der Sinusknoten ist nur deshalb der primäre Schrittmacher (sog. nomotopes Automatiezentrum), weil er von allen Strukturen die höchste Eigenfrequenz besitzt und den AVKnoten erregt, bevor dieser selbst automatisch tätig wird. Fällt aber der Sinusknoten aus bzw. kommt es zu einer Unterbrechung der Überleitung seiner Erregung auf den AV-Knoten, so übernimmt der AV-Knoten selbst Schrittmacherfunktion mit einer Eigenfrequenz von ca. 40 – 50 pro Minute (sekundärer Schrittmacher). Liegt die Unterbrechung der Erregungsausbreitung unterhalb des AVKnotens, so stellt sich ein Kammerrhythmus von 25 – 40 Schlägen pro Minute ein. Bei einer Störung der Erregungsausbreitung ist es also immer die Struktur mit der dann höchsten Eigenfrequenz, die als heterotopes Automatiezentrum Schrittmacherfunktion übernimmt.

Beeinflussung des Herzrhythmus durch das vegetative Nervensystem Das Herz ist gut mit sympathischen und parasympathischen (vagalen) Fasern versorgt. Die sympathischen Nerven entstammen den oberen 5 – 6 Thorakalsegmenten des Rückenmarks und werden im rechten bzw. linken Ganglion stellatum auf postganglionäre Fasern umge-

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7.10 Grundlagen der Elektrokardiographie Acetylcholin

Adrenalin

Noradrenalin

Acetylcholin

A 0

mV

120

– 20 – 40 – 60 100 ms

– 80

Vagusstimulation

20 0

mV

B – 60 20

Leitungszeit ab Sinusknoten (ms)

Schwelle 100

80

60

40

20

Sympathikusstimulation

Vorhof

0

mV

0

C

0

2

AV-Knoten 4

6

His-Bündel 8

10

Entfernung vom Sinusknoten (mm) – 60

Abb. 7.29 Einfluss von sympathischen und parasympathischen Überträgerstoffen auf die Herzfrequenz. A Adrenalin führt zu einer Zunahme, Acetylcholin zu einer Abnahme der diastolischen Depolarisation im Sinusknoten. Dadurch wird die Schwelle im Fall von Acetylcholin später (negativ chronotrop), im Fall von Adrenalin früher (positiv chronotrop) erreicht. B Stimulation des N. vagus senkt die Schrittmacherfrequenz. C Sympathikusstimulation erhöht die Schrittmacherfrequenz (B und C nach 19).

schaltet. Der sympathische Überträgerstoff am Herzen ist Noradrenalin, das bei Reizung aus den terminalen Nervenendigungen freigesetzt wird. Während der Herzsympathikus Vorhof und Ventrikelmyokard gleichmäßig versorgt, ziehen die vagalen Nerven bevorzugt zu den Vorhöfen, zum Sinus- und zum AV-Knoten. Stimulation des N. vagus induziert eine Abnahme der Herzfrequenz. Diese durch Acetylcholin ausgelöste sog. negative Chronotropie beruht auf einer Abnahme der Schrittmacherfrequenz im Sinusknoten. Sie kommt dadurch zustande, dass Acetylcholin die K+-Permeabilität der Zellmembran steigert, so dass die diastolische Depolarisation verlangsamt abläuft. Abb. 7.29 zeigt, dass dadurch die Steigung der diastolischen Depolarisation flacher und somit die Schwelle für die Neuerregung später erreicht wird. Der Schrittmacher des Herzens steht in Ruhe unter dem hemmenden Einfluss des N. vagus (Vagotonus), und im Experiment führt eine Durchtrennung des rechten Herzvagus zu einer Frequenzsteigerung. Der zweite funktionell wichtige Angriffspunkt des N. vagus ist der AV-Knoten. Wie in Abb. 7.30 dargestellt, führt Acetylcholin am AV-Knoten zu einer Verminderung der Anstiegssteilheit im Aktionspotenzial, d. h. zu einer zusätzlichen Verzögerung der Erregungsausbreitung von den Vorhöfen auf die Ventrikel, und wirkt somit negativ dromotrop. Eine sehr starke Stimulation beider Nn. vagi kann sogar zu einer vollständigen Blockierung der Über-

Abb. 7.30 Leitungszeiten im AV-Knoten wurden gemessen, nachdem über eine am Sinusknoten platzierte Elektrode der Vorhof erregt worden war (Entfernung = Abstand zur Reizelektrode). Beachte: Acetylcholin und Noradrenalin beeinflussen die Leitungszeit nur im Bereich des AV-Knotens.

leitung im AV-Knoten führen. Ein momentaner Herzstillstand (Asystolie) ist die Folge, der so lange anhält, bis nach wenigen Sekunden ein heterotropes Zentrum, z. B. in den Purkinje-Fäden, erneut Schrittmacherfunktion übernimmt. Die Wirkung einer Stimulation des Herzsympathikus ist der einer Vagusstimulation entgegengesetzt. Die positiv chronotrope Wirkung sympathischer Überträgerstoffe kommt durch ein Steilerwerden der diastolischen Depolarisation am Sinusknoten zustande (Abb. 7.29). Am AV-Knoten beschleunigt Noradrenalin die Anstiegssteilheit des Aktionspotenzials; dadurch wird die Überleitungszeit vom Vorhof auf den Ventrikel beschleunigt: positiv dromotrope Wirkung (Abb. 7.30). Neben der Wirkung auf die Herzfrequenz und die Überleitungszeit besteht eine weitere wesentliche Wirkung des Sympathikus in einer Steigerung der Herzkraft (positive Inotropie), auf die weiter oben ausführlich eingegangen wurde. Zunächst soll aber besprochen werden, wie die Ausbreitung der Erregung über das Herz anhand von typischen Potenzialschwankungen an der Körperoberfläche verfolgt werden kann.

7.10

Grundlagen der Elektrokardiographie

An der Grenzlinie zwischen erregtem Muskelgewebe (Außenseite negativ) und unerregtem Muskelgewebe (Außenseite positiv) entsteht eine Potenzialdifferenz (Dipol), deren elektrisches Feld sich im Körper ausbreitet. Auf der Körperoberfläche sind die bei der Erregung des Herzmuskels auftretenden Potenzial-

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163

164

7 Das Herz

+ + + + + + + + – – – – – + – – – – – – – ++ + 1

Herzmuskelfaser Erregungswelle

+ + + + + + – – – + – – – – – – – ++ ++ – – + 2

+ + + + – – + + – – – – – + – ++ – + + + – – –

3

– + – – + – + + + + + + – + + – – – + + – – – – 5

+ + + – + – + – – – – – + + + + + – + + – – – – 4

Abb. 7.31 Biphasisches Aktionspotenzial. Veränderungen der extrazellulär gemessenen Potenzialdifferenz, wenn eine Erregung von links nach rechts über eine Muskelfaser abläuft. Sowohl im voll erregten (3) als auch im nicht erregten

schwankungen (Vektoren) in Form des EKG nachweisbar. Es entsprechen sich: P-Welle und Vorhoferregung, PQ-Intervall und Überleitungszeit, QRS-Komplex und Kammererregung, ST-Strecke und vollständige Ventrikelerregung, T-Welle und Ventrikelrepolarisation. Die Vektorkardiographie ermöglicht eine räumliche Darstellung der Vektorveränderungen zu jedem Zeitpunkt der Herzaktion. Mit Hilfe der bipolaren Standardableitung nach Einthoven (I, II, III) kann im Einthoven-Dreieck die elektrische Herzachse und damit annäherungsweise die Herzlage bestimmt werden. Zusätzlich gibt es die unipolaren Ableitungen nach Goldberger (aVR, aVL, aVF) und die Brustwandableitungen nach Wilson (V1 – V6), die heute zur EKG-Routinediagnostik gehören. Das Elektrokardiogramm (EKG) ist ein klinisch häufig eingesetztes diagnostisches Verfahren, das Auskunft über die Ausbreitung der elektrischen Erregung über Vorhof und Ventrikelmyokard gibt. Bei der Registrierung eines EKG werden Veränderungen der Potenzialdifferenz zwischen zwei Punkten auf der Körperoberfläche gegen die Zeit aufgezeichnet. Zunächst ist es wichtig zu verstehen, wie es, ausgehend von den einzelnen Aktionspotenzialen an den Millionen Muskelfaserzellen im Herzen, zu einer auf der Körperoberfläche messbaren Potenzialdifferenz kommt.

Entstehung des EKG Betrachtet man die Potenzialdifferenz an einer Muskelfaser im nicht erregten Zustand, so beträgt diese bei intrazellulärer Ableitung zwar – 85 mV (Membranpoten-

Gewebe (1, 5) lässt sich keine Potenzialdifferenz messen. Nur wenn der Muskel teilweise erregt (2) bzw. teilweise repolarisiert ist (4), entsteht ein Messsignal.

zial), bei einer extrazellulären Ableitung über zwei, der Faser außen aufgelegte Elektroden jedoch gleich Null (Abb. 7.31,1). Läuft nun an dieser Muskelfaser ein Aktionspotenzial ab, so entsteht eine Potenzialdifferenz zwischen bereits erregten und noch nicht erregten Faserabschnitten (Abb. 7.31, 2). Wenn die gesamte Faser depolarisiert ist, so lässt sich, wie an der ruhenden Faser, bei extrazellulärer Ableitung keine Potenzialdifferenz mehr nachweisen (Abb. 7.31, 3). Erst bei Repolarisation entsteht wieder eine Potenzialdifferenz, nun aber in umgekehrter Richtung (Abb. 7.31, 4). Die mit Hilfe der beschriebenen Elektrodenanordnung gemessenen Potenzialschwankungen stellen ein sog. biphasisches Aktionspotenzial dar. Die hier für die Einzelfaser angestellten Überlegungen gelten in gleicher Weise für Muskelfasern im Verbund, d. h. im Gewebe bzw. am gesamten Herzen. Die Potenzialdifferenzen an jeder Muskelfaser addieren sich hierbei zu einer Summenpotenzialdifferenz. Da ein Vektor ganz allgemein eine gerichtete Größe ist und hier die Richtung und Größe einer Potenzialdifferenz darstellt, kann man auch sagen, die Einzelvektoren addieren sich zu einem Summen- oder Integralvektor. Erregte Herzmuskelzellen verhalten sich also zu unerregten wie ein Dipol, wobei die jeweilige Richtung durch die Lage des Vektors, seine Größe hingegen durch die Länge des Vektors symbolisiert wird. Der Vektorpfeil zeigt definitionsgemäß von Minus nach Plus, d. h. von erregtem zu unerregtem Gewebe. Wie Abb. 7.32 zeigt, entsteht um einen elektrischen Dipol ein elektrisches Feld. Unter der Annahme eines homogenen Leiters greifen die Feldlinien in typischer Weise in den Raum aus (schwarze Linien in Abb. 7.32).

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7.10 Grundlagen der Elektrokardiographie mV mV Feldlinie

mV mV

– 2 mV

+

–

+2 mV

–1,5 mV

mV mV

+1,5 mV Isopotenziallinie

–0,5 mV

+0,5 mV 0 mV

Abb. 7.32 Ausbreitung eines elektrischen Feldes in einem homogenen Leiter. In einem elektrischen Feld stehen die Linien gleichen Potenzials (Isopotenziallinien, rote Linien) senkrecht auf den Feldlinien (schwarze Linien). Liegt die Ableitungsebene (wie im hier gewählten Beispiel) parallel zum elektrischen Vektor, so ergibt sich, in Abhängigkeit von der Entfernung, eine Potenzialdifferenz von 1,0 bzw. 4,0 mV. Wird senkrecht zum Vektor abgeleitet, so liegen die Ableitungsorte auf der Isopotenziallinie, d. h. die Potenzialdifferenz ist gleich Null. Das Beispiel zeigt, dass sowohl die Lage als auch die Entfernung der Ableitelektroden die Größe des Ausschlages im EKG bestimmen.

Senkrecht auf den Feldlinien stehen die Linien gleichen Potenzials, d. h. die Isopotenziallinien (rot in Abb. 7.32). Die Größe der im elektrischen Feld messbaren Potenzialdifferenzen ist von folgenden Faktoren abhängig: – Spannung des Dipols. Je größer die Anzahl der erregten Muskelfasern (bei gleicher Richtung), desto größer ist die Potenzialdifferenz und der im EKG gemessene Ausschlag. – Lage der Ableitelektroden in Bezug auf den Dipol. Befinden sich beide Ableitelektroden parallel zum Dipol (Abb. 7.32, obere Ableitungen), so ist die gemessene Potenzialdifferenz am größten. Sie geht gegen null, wenn die Lage der Ableitelektroden senkrecht zum Dipol angeordnet ist (Abb. 7.32, rechte Ableitung). – Entfernung der Ableitelektroden vom Dipol. Je weiter vom Dipol entfernt die Messung erfolgt, desto kleiner sind die Werte für die dort vorherrschenden Isopotenziallinien, und desto geringer ist die gemessene Potenzialdifferenz (Abb. 7.32, obere Ableitungen). Die Amplitude des Potenzials fällt hierbei mit dem Quadrat der Entfernung vom Dipol. Die im normalen EKG registrierten Potenzialschwankungen müssen daher elektrisch verstärkt werden; sie betragen (unverstärkt) bei den Extremitätenableitungen (s. u.) ca. 1 mV.

Die bisherige Betrachtung ging davon aus, dass der Leiter, in dem sich das elektrische Feld ausbreitet, homogen ist. Übertragen auf den Körper des Menschen, ist diese Annahme aber nur z.T. gerechtfertigt. Die in Abb. 7.33 auf den Thorax projizierten Isopotenziallinien während der Phase der Ventrikeldepolarisation zeigen ein nicht völlig symmetrisches Feld. Dies beruht auf der Tatsache, dass Herz, Lunge und Leber sowie Binde- und Fettgewebe das elektrische Feld in seiner Ausbreitung unterschiedlich beeinflussen. Außerdem kommt es auch dadurch zu einer Randverzerrung des elektrischen Feldes, dass die Isopotenziallinien dort, wo die Extremitäten ansetzen, von der Rumpfwand in Arme und Beine hineinlaufen. Insbesondere bei starkem subkutanem Fettgewebe breitet sich das elektrische Feld nur schlecht aus und hat zur Folge, dass die im EKG gemessenen Potenzialschwankungen nur klein sind. Ein sog. Niederspannungs-EKG ist auch typisch für Perikarderkrankungen; es findet sich insbesondere beim Perikarderguss, dem Kurzschlusswirkung zukommt. Die Höhe der Ausschläge bei sonst normal konfiguriertem EKG lässt aber keine Rückschlüsse auf etwaige Störungen der Erregungsbildung und -ausbreitung zu. Das EKG erlaubt natürlich auch keine direkte Beurteilung der Kontraktionskraft des Herzens. Wie die Ausschläge im EKG im Einzelnen zustande kommen, ist in Abb. 7.34 verdeutlicht. Wenn die Erregung, ausgehend vom Sinusknoten, auf das Vorhofmyokard übergreift, entsteht ein herzspitzenwärts gerichteter Integralvektor. Die Projektion dieses Vektors auf eine Ableitungsebene, die als Beispiel derjenigen zwischen rechtem Arm und linkem Fuß entsprechen soll (Ableitung II nach Einthoven, Abb. 7.37, S. 168), ergibt einen positiven

–2,0 –1,5 –1,0 –0,5 0

+2,0 +1,5 +1,0 +0,5 0

Abb. 7.33 Isopotenziallinien. Projektion der Isopotenziallinien auf den Thorax während der Phase der Ventrikelerregung (R-Zacke im EKG) (nach 29).

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165

7 Das Herz SA-Knoten

–

1 +

–

–

linker Vorhof

2

AV-Knoten

EKG

PQ-Strecke

rechter Arm

P-Welle < 0,1 s

+

linker Ventrikel

P

+ Aktivierung Vorhof

–

linker Fuß

P

+

Q

Aktivierung Septum

– – +

–

P

T-Welle

R

+

T

–

QS

P

R

+

Q

Aktivierung Ventrikelmyokard

+

Repolarisierung Ventrikelmyokard

–

4

+

–

PQ-Intervall < 0,2 s

3

5 ST-Strecke

166

QRS-Komplex < 0,1 s

P

QS

+

Aktivierung posterobasaler Ventrikel (links)

Abb. 7.34 Sequenz der Vorhof- und Ventrikelerregung und die Entsprechung im EKG. Die in den einzelnen Phasen auftretenden Integralvektoren sind auf Ableitung II nach

Ausschlag. Im EKG entspricht dem ein Ausschlag nach oben, die P-Welle. Die P-Welle ist folglich Ausdruck der Vorhoferregung. Wenn die Vorhöfe vollständig erregt sind, besteht kein Potenzial mehr, die P-Welle ist zu Ende, das EKG befindet sich auf der Nulllinie (Isopotenziallinie; PQ-Strecke). In der sich anschließenden Phase wird die Erregung vom AV-Knoten auf den Ventrikel übergeleitet. Der atrioventrikulären Überleitungszeit entspricht im EKG das PQ-Intervall und umfasst den Zeitraum vom Beginn der Vorhoferregung bis zum Beginn der Kammererregung. Erst wenn die Erregung das Ventrikelmyokard erreicht hat, entsteht wieder ein messbares Potenzial. Die Erregung des Ventrikels beginnt auf der linken Seite des Septums und breitet sich zunächst herzbasiswärts aus. Dem entspricht in der genannten Ableitung ein Ausschlag nach unten, der Q-Zacke. Wenn weite Teile der Herzbasis erregt sind, dreht sich die Ausbreitungsrichtung der Erregungsfront und verläuft nun in Richtung Herzspitze. Da hierbei große Muskelmassen beteiligt sind, die bereits erregt sind bzw. noch erregt werden müssen, entsteht eine große Potenzialdifferenz, die R-Zacke im EKG. Die letzten Abschnitte des Ventrikels, die erregt werden, sind posterobasale Teile des linken Ventrikels. Aufgrund der Lage des Integralvektors in dieser Phase der Erregungsausbreitung resultiert in Ableitung II ein Ausschlag nach unten, die S-Zacke. Am Ende der S-Zacke ist das Ventri-

Einthoven (rechter Arm – linker Fuß) projiziert. Die angegebenen Zeiten gelten für eine Herzfrequenz von 70/min.

kelmyokard vollständig erregt. Die Repolarisation des Ventrikels, deren Ausdruck die T-Welle darstellt, beginnt an der Herzspitze und schreitet herzbasiswärts fort. Dem entspricht der positive Ausschlag der T-Welle im EKG. Der Grund, warum die Erregungsrückbildung in umgekehrter Reihenfolge wie die Erregungsausbreitung erfolgt, ist darin zu suchen, dass die Geschwindigkeit der Repolarisation in verschiedenen Ventrikelregionen ungleich ist. Die Repolarisation der Vorhöfe fällt in die Phase der Ventrikeldepolarisation (QRS-Komplex) und ist normalerweise nicht sichtbar. Hinzu kommt, dass der Spannungswert der Vorhofrepolarisation nur sehr gering ist. In elektrischer Hinsicht müssen Vorhöfe und Ventrikel getrennt gesehen werden. Sie sind nämlich voneinander durch elektrisch kaum leitendes Bindegewebe auf der Ebene der Herzklappen (Ventilebene) isoliert, so dass kein messbares Potenzial entsteht, wenn z. B. die Ventrikel erregt und die Vorhöfe unerregt sind.

Vektorkardiographie Die in Abb. 7.34 in Einzelphasen zerlegte Erregungsausbreitung besteht in Wirklichkeit aus einer Vielzahl von Summationsvektoren, die zu jeder Zeit der Herzaktion ihre Größe und Richtung ändern. Die Verbindungslinie der jeweiligen Spitze des Vektors zu jeder Phase der

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7.10 Grundlagen der Elektrokardiographie

Ableitung I P

QRS 1 cm

rechter Arm

+

–

–

linker Arm

–

1 mV

Herzachse

R

2m

90°

Ableitung III

mV

Ableitung II



V 2c m

1,0

0 ,9

180°

cm

T

+ + linkes Bein

Abb. 7.35 Vektordiagramm. Messanordnung zur Erfassung des Vektorkardiogramms mit Hilfe eines Kathodenstrahloszillographen. Die Lage des Vektors zum Zeitpunkt der R-Zacke im EKG ist eingezeichnet. (Der QRS-Vektor kann sich, individuell- und altersbedingt, u. U. auch gegen den Uhrzeigersinn bewegen.)

Abb. 7.36 EKG-Dreieck nach Einthoven. Die bipolaren Extremitätenableitungen I, II, III werden zur Bestimmung der elektrischen Herzachse herangezogen, indem die in jeder Ableitung gemessene Potenzialdifferenz zur Zeit der R-Zacke auf die entsprechende Seite des gleichseitigen Einthoven-Dreiecks aufgetragen werden (nach 22).

Herzerregung resultiert in einer dreidimensionalen Figur, der sog. Vektorschleife. Messtechnisch wird sie dadurch gewonnen, dass gegenüberliegende vertikal und horizontal angeordnete Paare von Ableitelektroden, die auf Höhe des Herzens angebracht sind, über einen Verstärker mit den entsprechenden Auslenkplatten eines Oszillographen verbunden werden (Abb. 7.35). Der Integralvektor projiziert sich hierbei auf die Ableitelektroden und bewirkt eine Auslenkung des Kathodenstrahls. Die Größe der Auslenkung hängt von der Größe und der Richtung des Integralvektors zu jedem Zeitpunkt ab. Die Vorhoferregung (P-Welle) manifestiert sich in der Vektorkardiographie als Vorhofschleife. Entsprechend ist die Ventrikeldepolarisation durch eine Ventrikelschleife charakterisiert. Die Repolarisationsschleife entspricht der T-Welle. Der Vorteil der Vektorkardiographie besteht darin, dass sie ein getreues Abbild der Erregungsausbreitung und -rückbildung zu jeder Phase der Herzaktion liefert. Auf der anderen Seite ist dieses Verfahren technisch aufwändig und erlaubt nicht ohne weiteres die Analyse der zeitlichen Abfolge mehrerer Herzaktionen, was insbesondere bei Rhythmusstörungen von praktischer Bedeutung ist.

seitigen Dreiecks, des Einthoven-Dreiecks, darzustellen (Abb. 7.37). Die beiden Arme und das linke Bein wirken in dieser Darstellung wie verlängerte Elektroden. Ableitung I betrifft die Verbindung zwischen rechtem und linkem Arm. Ableitung II bezieht sich auf die Verbindung zwischen rechtem Arm und linkem Fuß, Ableitung III auf die Verbindung zwischen linkem Arm und linkem Fuß. Bei den Standardableitungen nach Einthoven (I, II, III) handelt es sich also um bipolare Extremitätenableitungen. In den drei verschiedenen Ableitungen ändert sich nicht die zeitliche Abfolge der Potenzialschwankungen, wohl aber deren Amplitude und unter Umständen die Ausschlagrichtung. Aus den Extremitätenableitungen lassen sich Rückschlüsse auf die Herzlage ziehen. Während der Erregungsausbreitung in die Herzspitze zur Zeit der R-Zacke stimmt nämlich die elektrische Herzachse (R-Vektor) mit der Lage des Herzens im Thorax (anatomische Herzachse) normalerweise weitgehend überein. Daher kann man aus der Kenntnis der elektrischen Herzachse Schlüsse auf die anatomische Herzachse ziehen. Allerdings ist hier zu berücksichtigen, dass bei einer Hypertrophie des linken Ventrikels (z. B. beim Bluthochdruck) aufgrund der Zunahme der zu erregenden linksventrikulären Muskelmassen die Lage des R-Vektors entscheidend beeinflusst wird, ohne dass sich die Lage des Herzens im Thorax nennenswert ändert. Gleiche Überlegungen gelten auch für eine Hypertrophie des rechten Ventrikels, die z. B. durch eine Lumeneinengung (Stenose) der Pulmonalklappe oder durch einen zu hohen Druck im Lungenkreislauf ausgelöst werden kann. Als zusätzlicher Punkt muss be-

Bipolare Standardableitung Einthoven hat 1906 in Leiden das erste menschliche EKG abgeleitet. Auf ihn bezieht sich die heute noch geübte Konvention, die Ableitorte am rechten und linken Arm sowie am linken Fuß vereinfacht als Ecken eines gleich-

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167

168

7 Das Herz nach Einthoven rechter Arm

Brustwandableitung nach Wilson

linker Arm

–

+

–

–

+

linker Fuß

I

+

II

+

III

nach Goldberger

– V1 – V6

+

+

V1 aVR

–

aVL

–

V3

+

aVF

V2 V4 V 5 V6

–

Abb. 7.37 EKG: Extremitäten- und Brustwandableitungen. Messpunkte und Verschaltungen bei den EKG-Ableitun-

rücksichtigt werden, dass die R-Zacke definitionsgemäß der erste positive Ausschlag im EKG ist, so dass die RZacken in den verschiedenen Ableitungen nicht notwendigerweise synchron zueinander verlaufen. Die elektrische Herzachse wird mit Hilfe des Einthoven-Dreiecks bestimmt. Hierbei wird – wie Abb. 7.27 zeigt – vereinfachend so vorgegangen, dass man die Höhe der R-Zacken von mindestens zwei Ableitungen ausmisst und die ermittelte Lage auf die entsprechende Seite des Einthoven-Dreiecks aufträgt. Durch Fällung des Lots von den Anfangs- und Endpunkten der aufgetragenen Strecken entstehen Schnittpunkte innerhalb des Dreiecks, deren Verbindung die Richtung des resultierenden Vektors anzeigt (Abb. 7.36). Der Winkel α, den die elektrische Herzachse mit der Horizontalen einnimmt, bildet die Grundlage für die Einteilung der verschiedenen Lagetypen des Herzens. Beim Indifferenztyp beträgt der Winkel + 308 bis + 608. Beim Linkstyp (+ 308 bis – 308) ist die R-Zacke in Ableitung I am größten, während beim Rechtstyp (+ 908 bis + 1208) die Ableitung III die größten Werte aufweist. Beim Steiltyp (+ 608 bis + 908) sind die R-Zacken in Ableitung II und III etwa gleich groß (Gradeinteilung s. Abb. 7.38 B). Allgemein gilt: Ausschlag in Ableitung II = Ausschlag in Ableitung I + Ausschlag in Ableitung III (Vorzeichen beachten: Ausschlag nach oben +, nach unten –). Daraus folgt, dass für die Konstruktion der elektrischen Herzachse aus dem EKG mittels des Einthoven-Dreiecks zwei Ableitungen genügen. Der Lagetyp des Herzens ist atmungsabhängig. Bei starker Inspiration kommt es aufgrund eines Tiefertretens des Zwerchfells zu einer Versteilerung der Herzachse. Dieser Übergang (z. B. vom Indifferenz- zum Steiltyp)

gen nach Einthoven und Goldberger sowie bei der Brustwandableitung nach Wilson (nach 26).

lässt sich im EKG gut nachweisen. Außerdem kommt es atmungsabhängig zu einer deutlichen Veränderung des Herzrhythmus (s. u.).

Unipolare EKG-Ableitungen Die oben besprochenen bipolaren Standardableitungen messen die Potenzialdifferenzen zwischen zwei Punkten der Körperoberfläche und erfassen nur die frontale Projektionsebene der Vektorschleife. Schaltet man alle drei Extremitäten über hochohmige Widerstände zusammen, so entsteht eine indifferente Elektrode, gegen die verschiedene Orte der Körperoberfläche abgeleitet werden können. Diese Art der Ableitung nennt man unipolar oder V-Ableitung. Werden Ableitelektroden präkordial an genau definierten Stellen des Thorax angebracht (Abb. 7.37, rechts), so entstehen die sog. Brustwandableitungen nach Wilson V1 – V6. Diese Ableitungen geben Auskunft über die horizontale Vektorprojektion. Ein positiver Ausschlag im EKG wird dabei immer dann gemessen, wenn die Spitze des Vektors auf die Ableitelektrode hinzeigt, ein negativer Ausschlag, wenn die Vektorspitze von der Ableitelektrode wegzeigt. Mit der differenten V-Elektrode können auch die Potenziale gemessen werden, die an der Spitze des Einthoven-Dreiecks, d. h. am rechten Arm (VR), am linken Arm (VL) und am linken Fuß (VF), herrschen. Die resultierenden Amplituden von VR, VL und VF sind jedoch nur klein. Einem Vorschlag von Goldberger entsprechend, können die Amplituden jedoch um ca. 50 % vergrößert werden, wenn z. B. bei Ableitung VR der rechte Arm (differente Elektrode) gegen den Zusammenschluss der

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7.11 Aussagemöglichkeiten des EKG

–90º –120º rechter Arm

–

–

+

I

+

+

– aVR

linker Arm

–

–

–

–

–60º

aVR

aVL –30º

+

+

aVL

QRS-Schleife

II

–

–

+

III

–

T-Schleife

aVF

+30º +120º

+

I

– –

+ A

–0º

+ III

Fuß

+

+ +90º

+

+60º

II

aVF

B

Abb. 7.38 EKG: Richtung und Polarität der Extremitätenableitungen (nach 16). In A sind die unipolaren Ableitungen nach Goldberger (Abb. 7.37) in das Einthoven-Dreieck (Abb. 7.36) eingezeichnet. Durch Parallelverschiebung können nun die Ableitungslinien der bipolaren Ableitungen (Dreieckseiten) und der unipolaren Ableitungen (Winkelhalbierende) so gelegt werden, dass sie in einem Kreis (Cabrera) liegen (B), dessen Mittelpunkt dem Ursprung der Vektorschleifen (Abb. 7.35) entspricht. (Die P-Schleife ist hier weg-

beiden anderen Elektroden (indifferente Elektrode) abgeleitet wird (Abb. 7.37). Es entsteht ein verstärktes (augmented) Messsignal: aVR. Bei dieser Ableitungsart entspricht die Ableitungsrichtung der Winkelhalbierenden zwischen Ableitung I und II im Einthoven-Dreieck. In analoger Weise werden bei der heute gebräuchlichen unipolaren Ableitung nach Goldberger neben aVR die Ableitungen aVL und aVF gemessen. Messtechnisch erlauben moderne EKG-Geräte die gleichzeitige Registrierung der Standardableitungen, der Ableitungen nach Goldberger und der Brustwandableitungen nach Wilson. Auf den insgesamt 12 Kanälen kann ein Geübter einen umfassenden Überblick über die Erregungsausbreitung am Herzen und seine Störungen gewinnen.

7.11

gelassen.) Mit diesen sechs Ableitungen in der Frontalebene können die Vektorschleifen aus sechs um jeweils 308 versetzten „Blick“-Winkeln registriert werden. So wird z. B. ersichtlich, dass der Maximalvektor der T-Schleife (roter Pfeil, zeigt nach ca. + 358) als hohe T-Welle in aVR, I und II erscheint. In Ableitung III hingegen ist die T-Welle sehr flach, weil sie zu diesem Vektor fast senkrecht steht. (Die T-Welle in aVR zeigt nach unten, da aVR in Richtung + 308 negativ ist.)

fluss nehmen, können ebenfalls im EKG nachgewiesen werden, wie z. B. Elektrolytveränderungen, Arzneimittel (Digitalis) und Störungen der Myokarddurchblutung. Beim Myokardinfarkt gibt das EKG Anhaltspunkte über Lokalisation, Ausdehnung und Verlauf. Aus der Natur der EKG-Entstehung ergibt sich, dass mit Hilfe des EKG nur Störungen der Erregungsbildung und der Erregungsausbreitung diagnostiziert werden können. Das EKG ist also primär Ausdruck der Herzerregung, nicht aber der Herzkontraktion. Im Zusammenhang mit dem klinischen Bild erlauben aber EKG-Veränderungen auch Hinweise auf hämodynamische Veränderungen. Im Folgenden soll kurz auf einige klinisch relevante Veränderungen des EKG eingegangen werden.

Aussagemöglichkeiten des EKG

Das auf der Körperoberfläche ableitbare EKG erlaubt Aussagen über die Herzfrequenz (Tachykardie > 80/min, Bradykardie < 60/min) sowie über Veränderungen der Erregungsbildung und -ausbreitung. Bei Rhythmusstörungen kann zwischen ventrikulären und supraventrikulären Extrasystolen, Vorhof- und Kammerflimmern bzw. -flattern unterschieden werden. Nach Grad und Lokalisation differenziert man Störungen der Erregungsleitung in einen AV-Block 1., 2. und 3. Grades. Faktoren, die auf Erregungsbildung und -leitung Ein-

Der normale Sinus-Rhythmus Aus dem in Abb. 7.39 oben wiedergegebenen normalen EKG ist zu ersehen, dass jede Vorhoferregung (P-Welle) von einer Kammererregung (QRS-Komplex) gefolgt ist. Bei der gegebenen Registriergeschwindigkeit lässt sich die Herzfrequenz einfach aus dem Abstand der R-Zacken (R-R) bestimmen: f (min–1) = Registriergeschwindigkeit (cm/min)/R-R-Abstand (cm). Bei Frequenzen über 80/min spricht man von Sinustachykardie. Eine Sinustachykardie tritt z. B. bei sportlicher Belastung auf und ist Folge

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169

7 Das Herz RR-Intervall 2

3

3,5

50

registrierte Zeit: 3 s

normales EKG (Herzfrequenzberechnung)

1,1 60 0,9

–1

1

Herzfrequenz (min )

0

Alter: 22 Jahre 1,3

RR-Intervall (s)

170

70

x

x

P

Alter: 79 Jahre

< 2x

P

P

P

P

P

Ableitung II

supraventrikuläre Extrasystole

P

x P

15

30

Zeit (s)

45

60

Abb. 7.40 Respiratorische Arrhythmie bei einem jungen und einem älteren gesunden Mann. Die Atmungsfrequenz betrug 5/min. Bei jeder Inspiration nimmt das R-R-Intervall ab, d. h. die Herzfrequenz nimmt zu (aus 25).

Extrasystole

x

0

2x P

P

P

Ableitung I Extrasystole

ventrikuläre Extrasystole

Abb. 7.39 EKG: Herzfrequenzbestimmung, supraventrikuläre und ventrikuläre Extrasystole. Aus dem Abstand der R-Zacken (R-R) und der Registriergeschwindigkeit (cm/ min) lässt sich die Herzfrequenz f (min–1) errechnen. Im vorliegenden Fall beträgt sie 70 min–1. Bei den supraventrikulären Extrasystolen liegt der Reizbildungsort im Vorhof. Dabei ist der Abstand vom letzten normalen P zum P der Extrasystole kleiner als das normale P-P-Intervall (= x), und das nachfolgende P-P-Intervall ist vergrößert (postextrasystolische Pause). Insgesamt aber ist der Abstand zwischen dem P vor und dem nach der Extrasystole kleiner als normal, d. h. < 2 ×. Bei den ventrikulären Extrasystolen entsteht die Extrasystole in der Kammer (im Beispiel in der rechten Kammer) und ist von einer kompensatorischen Pause gefolgt, d. h. der Abstand zwischen dem R vor und dem nach der Extrasystole ist gleich 2 × (nach 23).

der positiv chronotropen Wirkung des Sympathikus am Sinusknoten. Auch bei Fieber beobachtet man eine Steigerung der Herzfrequenz um ca. 8 – 12 Schläge/min pro Grad Temperaturerhöhung. Von einer Bradykardie spricht man bei Frequenzen unter 60/min. Häufig findet man bei Sportlerherzen Frequenzen zwischen 40 und 50 Schlägen/min in Ruhe. Dies ist Folge der bei Sportlern erhöhten Aktivität des Parasympathikus (Vagotonus). Auch bei der respiratorischen Arrhythmie handelt es sich um ein physiologisches Phänomen. Während einer Inspiration steigt die Herzfrequenz an, bei Exspiration fällt sie ab (Abb. 7.40). Dies beruht auf atmungsabhängigen Veränderungen des Parasympathikus-Einflusses auf das Herz. Bei Inspiration kommt es nämlich über eine Dehnung der Lungen zu einer Hemmung des Vagotonus auf das Herz, was die Herzfrequenz ansteigen lässt.

Extrasystolen Bei Extrasystolen treten Herzschläge außerhalb des regulären Grundrhythmus auf, die ihren Ursprung nicht im Sinusknoten haben (ektopischer Herd). Nach dem Entstehungsort unterscheidet man supraventrikuläre und ventrikuläre Extrasystolen. Fällt bei sehr langsamem Grundrhythmus die Extrasystole zwischen zwei normale Sinusaktivierungen, so kommt es zu keiner Störung der Grundfrequenz. Es liegt eine sog. interponierte Extrasystole vor. Bei höherer Grundfrequenz folgt auf eine ventrikuläre Extrasystole eine kompensatorische Pause (Abb. 7.39, unten). Die nachfolgende reguläre Kammererregung fällt nämlich aus, da die vom Sinusknoten ausgehende Erregung in die absolute Refraktärzeit der Extrasystole fällt. Erst bei der nächsten regulären Sinusaktion ist die P-Welle von einem normalen QRS-Komplex gefolgt. Bei einer ventrikulären Extrasystole – z. B. im AV-Knoten oder im Kammermyokard – erfolgt die Erregungsausbreitung retrograd, d. h. vom Ventrikel über den AV-Knoten auf den Vorhof, so dass im EKG ein deformierter Kammerkomplex mit negativer P-Welle resultiert (Abb. 7.39, unten).

Atrioventrikuläre Leitungsstörungen Normalerweise stellt der AV-Knoten das Nadelöhr dar, in dem die Überleitung der Erregung vom Vorhof auf den Ventrikel stark verzögert wird. Von einem AVBlock 1. Grades spricht man, wenn im EKG das PQIntervall 200 ms überschreitet (Abb. 7.41). Klinisch macht dieser Block keine Symptome. Man findet ihn z. B. bei Sportlern, wo er Ausdruck der negativ dromotropen Wirkung der erhöhten Aktivität des Vagus ist. Ein AV-Block 1. Grades kann aber auch als Folge einer Infektion, bei degenerativen Veränderungen und bei Digitalisintoxikation auftreten.

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7.11 Aussagemöglichkeiten des EKG

Vorhofflimmern, Vorhofflattern verlängerte PQ-Dauer

> 0,2 s

Dem Vorhofflattern und -flimmern liegt eine unkoordinierte Erregungsausbreitung zugrunde. Der normale Ablauf der Erregung ist derart gestört, dass benachbarte Faserbezirke nicht mehr synchron, sondern unabhängig voneinander erregt werden. Von Flattern spricht man bei Frequenzen zwischen 220 – 350/min, von Flimmern, wenn die Frequenz zwischen 350 – 600/min liegt. Da der AV-Knoten, wie oben ausgeführt, als Frequenzsieb wirkt, werden bei Vorhofflattern und -flimmern die Vorhofaktionen nur in unregelmäßigen Abständen übergeleitet (Abb. 7.42). Es resultiert das Bild einer absoluten Arrhythmie. Diese ist durch einen irregulären Pulsrhythmus charakterisiert. Zusätzlich ist auch die Pulsamplitude irregulär, da es als Folge der Frequenzschwankungen zu einer wechselnden diastolischen Ventrikelfüllung kommt.

Erregungsbildung normal

Ableitung I

AV-Block 1.Grades

intermittierend fehlendes QRS

partieller AV-Block

P

P

P

P

P

P

Ableitung I

AV-Block 2.Grades

totaler AV-Block

Vorhöfe und Kammern schlagen getrennt R

R P

P T

Ableitung I

eigener Kammerrhythmus

R

P

P

P

P

T

AV-Block 3.Grades

Abb. 7.41 Atrioventrikulärer Block. Bei normaler Reizbildung im Sinusknoten ist die PQ-Dauer entweder verlängert (AV-Block 1. Grades), es fehlt intermittierend ein Kammerschlag (AV-Block 2. Grades) oder Vorhöfe und Kammern schlagen getrennt voneinander (AV-Block 3. Grades). Wird nur jede zweite oder dritte Vorhoferregung übergeleitet, spricht man von einem 2 : 1- bzw. 3 : 1-Block.

Bei einem AV-Block 2. Grades liegt ein partieller Leitungsblock vor (Abb. 7.41). Wenn die Blockade jede zweite oder dritte Vorhoferregung betrifft, spricht man von einem 2 : 1- bzw. 3 : 1-Block. Bei einem AV-Block 3. Grades liegt eine vollständige Blockierung der atrioventrikulären Überleitung vor. Vorhof und Kammer schlagen unabhängig voneinander mit der für sie jeweils typischen Eigenfrequenz (Abb. 7.41). Der Eintritt eines AV-Blocks 3. Grades ist klinisch ein sehr dramatisches Ereignis. Nach akuter Blockierung der Überleitung kommt es vorübergehend zum Herzstillstand mit Kreislaufkollaps, bis ein tertiäres Zentrum z. B. im Ventrikel mit einer Frequenz von 25 – 40/min erneut Schrittmacherfunktion übernimmt (Adams-Stokes-Anfall). Ein AV-Block 3. Grades ist Indikation für das Legen eines künstlichen Herzschrittmachers.

Kammerflimmern Im EKG manifestiert sich Kammerflimmern als irreguläre Ausschläge ohne erkennbare EKG-typische Form (Abb. 7.42). Hämodynamisch entspricht Kammerflimmern einem Herzstillstand. Da keine wirksame Füllung und Entleerung des Ventrikels mehr zustande kommt, resultiert daraus ein sofortiger Kreislaufstillstand. Kammerflimmern kann als Komplikation bei einem Herzinfarkt (s. u.) auftreten. Eine sehr häufige Ursache ist auch der Elektrounfall, z. B. durch Kontakt mit dem Haushaltsstromnetz (50 Hz, 220 V). Fällt der Stromstoß in die aufsteigende Flanke der T-Welle, so trifft er das Herz in der sog. vulnerablen Phase, und Kammerflimmern ist die Folge. Von selbst wandelt sich Kammerflimmern nicht in einen normalen Herzrhythmus zurück. Eine Normalisierung des Rhythmus ist nur durch elektrische Defibrillierung möglich. Hierbei wird über zwei großflächige Elektroden, die über dem Herzen auf den Thorax aufgelegt werden, ein kurzer Stromstoß (einige tausend Volt für einige wenige Millisekunden) durch Kondensatorentladung appliziert. Dadurch kommt es zu einer momentanen Depolarisierung des gesamten Herzens, und normalerweise übernimmt dann der Sinusknoten als primärer Schrittmacher wieder die Erregung. Defibrillatoren befinden sich innerhalb des Krankenhauses auf jedem „Notfallwagen“ und nahezu jeder Station. Ferner werden diese heute auch zunehmend in Flughäfen und öffentlichen Gebäuden aufgestellt, damit Laien im Notfall Patienten mit Kammerflimmern defibrillieren und reanimieren können. Patienten mit rezidivierenden ventrikulären Tachykardien und Kammerflimmern können diese Systeme heute auch in miniaturisierter Form implantiert werden, so dass der interne automatische Defibrillator (ICD) den Patient nach spezifischer Detektion der Rhythmusstörungen therapieren kann. Als Ursache für die Entstehung von Kammerflimmern werden zwei Hypothesen diskutiert: – Es liegt eine Störung der automatischen Erregungsbildung dadurch vor, dass mehrere ektopische Automatiezentren aktiv sind.

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171

172

7 Das Herz kreisende Erregung

bei rascher Kammerreaktion

bei langsamer Kammerreaktion

Vorhofflimmern Frequenzsieb

hämodynamische Folge ist, dass das Herzzeitvolumen absinkt und das Bild des kardiogenen Schocks resultiert (S. 209). Eine weitere Gefahr bei einem Herzinfarkt ist die Entstehung von Arrhythmien. Im Ischämiegebiet kommt es zur Akkumulation von extrazellulärem K+ und dadurch zur Depolarisation. In diesem Gebiet können insbesondere unter dem Einfluss von Adrenalin und Noradrenalin (Stress) Aktionspotenziale ausgelöst werden, die von Ca2+-Ionen getragen werden. Es entsteht eine Arrhythmie, durch die die Pumpleistung des Infarktherzens weiter eingeschränkt wird.

7.12

Kammerflimmern multifokale Reizbildung

Abb. 7.42 EKG bei Vorhof- und Kammerflimmern. Bei Vorhofflimmern durch regellose kreisende Erregung in den Vorhöfen wirkt der AV-Knoten als Frequenzsieb und lässt nur in unregelmäßigen Abständen eine Erregung zu den Ventrikeln durch. Wegen der hohen Vorhoffrequenz verschmelzen im EKG die P-Wellen zu einem breiten Band. Bei Kammerflimmern durch multifokale Erregungsbildung in heterotopen ventrikulären Zentren kommt es zu unregelmäßigen Ausschlägen im EKG.

– Die Störung betrifft die Erregungsausbreitung. Durch Verkürzung der Refraktärzeit des Aktionspotenzials und Verlangsamung der Leitungsgeschwindigkeit kommt es zu einem Wiedereintritt (Reentry) der Erregung. Die Erregung im Ventrikel kommt von selbst nicht zum Stillstand, es resultiert ein Kreisen der Erregung.

Herzinfarkt Bei einem Herzinfarkt kommt es durch Verschluss eines Astes einer Koronararterie zu einem Durchblutungsstopp im Versorgungsgebiet des betreffenden Koronargefäßes. Da im ischämischen Myokardgewebe die Energie zur Aufrechterhaltung der transmembranalen Ionengradienten fehlt, vermindert sich das Membranruhepotenzial. Infolgedessen fließt ein Verletzungsstrom von den umliegenden, normal durchbluteten Myokardgeweben in das ischämisch geschädigte Myokard. Im EKG manifestiert sich eine derartige Störung in einer Veränderung des QRS-Komplexes, wobei insbesondere ein hoher ST-Abgang für einen frischen Infarkt typisch ist (Abb. 7.43). Für eine genaue Lokalisation des Herzinfarkts sind insbesondere die Brustwandableitungen des EKG hilfreich. Fällt bei einem größeren Infarkt ein wesentlicher Teil des Myokards für die Kontraktion aus, so kann das verbleibende Restmyokard diesen Ausfall nicht kompensieren, und die Pumpleistung des Gesamtherzens fällt ab. Die

Molekulare Ursachen von Herz-Kreislauferkrankungen

Lediglich 30 000 Gene sind für die Kodierung der Proteine verantwortlich, welche letztlich die Funktionstüchtigkeit eines so komplexen Organismus wie dem Menschen garantieren. Die hohe biologische Komplexität von Organ- und Körperfunktionen bei vergleichbar geringer Zahl von Genen lässt sich wahrscheinlich auf drei grundsätzliche Mechanismen zurückführen. 1. Durch differenzielles Spleißen können aus einem Gen mehrere Proteine gebildet werden. 2. Proteine können vielfältig posttranslational modifiziert werden (z. B. durch Phosphorylierung, Nitrosylierung) wodurch eine neue Funktionalität entsteht. 3. Proteine treten untereinander in vielfältige Wechselwirkungen (Protein-Protein-Interaktion) wodurch ebenfalls neue funktionelle Eigenschaften auftreten. Allerdings sind die zugrunde liegenden molekularen Regelkreise und ihre Verknüpfung mit der jeweiligen Organfunktion noch weitgehend unverstanden. Ihre Aufklärung ist ein wichtiges Ziel in allen Biowissenschaften nachdem das humane Genom im Jahre 2001 vollständig sequenziert wurde. Darüber hinaus haben genetische Studien an Tieren den überraschenden Befund erbracht, dass der Verlust eines Gens (Knockout-Mutante) häufig nicht zu funktionellen Veränderungen führt, weil kompensatorische Mechanismen den Genverlust ausgleichen können. Dies hat zu dem Konzept geführt, dass wichtige Organfunktionen häufig durch eine große Zahl von Genen getragen und abgesichert sind. Verlust eines Gens z. B. durch Mutation führt also nicht notwendigerweise zu einer funktionellen Einschränkung. Erst wenn mehrere Gene mutiert sind, d. h. wenn mehrere Regelkreise ausfallen, tritt mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Funktionsdefizit auf, das wir Krankheit nennen. Darüber hinaus können Umweltfaktoren wie z. B. Ernährung und Sport eine Genfunktion beeinflussen ebenso wie andere, vom Genort entfernte genomische Abschnitte (genetic modifiers). Typisch für Herz-Kreislauferkrankungen ist es, dass sie meist eine polygenetische Ursache haben. Durch moderne Genotypisierungstechniken (genomweite Suche nach Einzelnukleotid-Polymorphismen, Expressionsanalyse von Genen) konnten in jüngster Zeit GenPolymorphismen aufgedeckt werden, die eine Zuord-

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7.12 Molekulare Ursachen von Herz-Kreislauferkrankungen

anterobasaler Infarkt

4

12 24 Stunden nach Infarkt

48

Abb. 7.43 EKG bei akutem Myokardinfarkt. Bei einem akuten Myokardinfarkt, z. B. durch Verschluss eines Seitenastes der linken Koronararterie (anterobasaler Infarkt), kommt es in der ersten Stunde zu einer Hebung der STStrecke. In den folgenden 24 Stunden entwickelt sich eine tiefe Q-Zacke, die meist dauerhaft bestehen bleibt. Wenige Tage nach dem Infarkt kehrt die ST-Strecke zur Nulllinie zurück, und es kann eine T-Negativierung auftreten.

nung von sog. Kandidatengenen zu einem Herzinfarkt, der koronaren Herzkrankheit (KHK) und der Herzinsuffizienz erlauben. Allerdings müssen diese sog. Assoziationsstudien vorsichtig interpretiert werden, da sie keine unmittelbaren mechanistischen Einsichten in das Krankheitsgeschehen vermitteln. Eine detaillierte krankheitsbezogene Genotypisierung ist jedoch eine wichtige Grundlage für zukünftige molekulare Diagnosen und neue Behandlungsstrategien. In den letzten Jahren wurden eine Reihe monogenetischer Krankheiten des Herzens identifiziert, die in der Regel selten sind, aber dennoch erste wichtige Einsichten in verschiedene Herzkrankheiten gestatten. Bei dem Krankheitsbild der hypertrophen Kardiomyopathie (HCM), die durch ventrikuläre Hypertrophie, Septumsverdickung und Vorhofvergrößerung charakterisiert ist, wurden bisher mehr als 130 Mutationen in 9 Genen, die für unterschiedliche kontraktile Proteine kodieren, beschrieben. Sie betreffen u. a. das Troponin T und I, Aktin, α-Tropomyosin, Titin und den Kopf des β-Myosins. Je nach Lokalisation der Mutation sind der Beginn der Symptome und die Schwere des Krankheitsverlaufes unterschiedlich. Die hypertrophe Kardiomyopathie, die autosomal dominant vererbt wird, ist die häufigste monogenetische Erkrankung des Herzens und für den plötzlichen Herztod, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, verantwortlich. Auch bei Genen, die für Ionenkanäle kodieren und für das Aktionspotenzial am Herzen verantwortlich sind, wurden Mutationen identifiziert, die für einige seltene Rhythmusstörungen verantwortlich sind. Für die Repolarisation des Aktionspotenzials nach der Plateauphase ist bekanntlich der K+-Auswärtsstrom (IK) verantwortlich, wobei die entsprechenden Ionenkanäle durch drei Gene kodiert werden (HERG, minK, KVLQT1α). Mutationen dieser Gene führen zu einer verlangsamten Repolarisation und zu schnellen Kam-

mertachykardien (sog. Langes QT-Syndrom). In ähnlicher Weise wurden Mutationen in dem für die αUntereinheit des schnellen Natriumkanals kodierenden Gens (SCN5A) beschrieben. Da dieses Genprodukt für das Auslösen des Aktionspotenzials verantwortlich ist, erklärt seine Mutation verschiedene Formen von familiär auftretenden Überleitungsstörungen. Schließlich kommt es durch Mutationen des Gens für den Ryanodin-Rezeptors (RyR2) zu Störungen der elektromechanischen Kopplung, was klinisch einige seltene Formen der ventrikulären Tachykardie erklärt. Es ist davon auszugehen, dass in Zukunft weitere Gendefekte von Herz-Kreislauferkrankungen aufgedeckt werden, die die Diagnose verbessern und bessere prognostische Aussagen erlauben sowie langfristig auch neue Therapieoptionen, z. B. durch Gentransfer, eröffnen.

Zum Weiterlesen … 1 Berne RM, Levy MN. Cardiovascular Physiology. 8th ed. St. Louis: Mosby; 2001 2 Page E, Fozzard HA, Solaro RJ. The Cardiovascular System. Oxford: Oxford University Press; 2002 3 Hille B. Ionic Channels of Excitable Membranes. 3nd ed. Sunderland: Sinauer; 2001 4 Levick, JR. An Introduction to Cardiovascular Physiology. 4rd ed. London: Butterworths; 2004. In deutscher Übersetzung: Seller H. Physiologie des Herz-Kreislauf-Systems. Heidelberg: Hüthig/Barth; 1998 5 Marcus ML. The Coronary Circulation in Health and Disease. New York: McGraw-Hill; 1983 6 Opie LH. The Heart Physiology: From Cell to Circulation. Philadelphia: Lippincott-Raven; 2003 7 Nabel EG. Genomic Medicine: Cardiovascular disease. N Engl J Med. 2003; 349: 60 – 72

… und noch weiter 8 Anderson RH, Brown NA. The anatomy of the heart revisited. Anat Rec. 1996; 246: 1 – 7 9 Boyden PA. Cellular electrophysiologic basis of cardiac arrhythmias. Am J Cardiol. 1996; 78: 4 – 11 10 Canale ED, Campbell GR, Smolich JJ, Campbell JH. Cardiac Muscle. Berlin: Springer; 1986 11 Chilian WM. Coronary microcirculation in health and disease. Summary of an NHLBI workshop. Circ. 1997; 95: 522 – 528 12 Dhein S. Gap junction channels in the cardiovascular system: pharmacological and physiological modulation. Trends Pharmacol Sci. 1998; 19: 229 – 241 13 DiFrancesco D. The contribution of the “pacemaker” current (if) to generation of spontaneous activity in rabbit sinoatrial node myocytes. J Physiol. 1991; 434: 23 – 40 14 Feigl E. Coronary physiology. Physiol Rev. 1983; 43: 1 – 203 15 Frey N, McKinsey TA, Olson EN. Decoding calcium signals involved in cardiac growth and function. Nature Medicine. 2000; 6: 1221 – 1227 16 Harris DA, Das AM. Control of mitochondrial ATP synthesis in the heart. Biochem J. 1991; 280: 561 – 573 17 Heusch G. Hibernating myocardium. Physiol Rev. 1998; 78: 1055 – 1083 18 Hoffmann BF, Cranefield PF. Electrophysiology of the Heart. New York: McGraw-Hill; 1960

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7 Das Herz 19 Hutter OF, Trautwein W. Vagal and sympathetic effects on the pacemaker fibers in the sinus venosus of the heart. J Gen Physiol. 1956; 39: 715 20 Little RC. Physiology of the Heart and Circulation, 4th ed. Chicago: Yearbook Medical Publishers, Inc; 1989 21 Mitcheson JS, Hancox JC, Levi AJ. Cultured adult cardiac myocytes: future applications, culture methods, morphological and electrophysiological properties. Cardiovasc Res. 1998; 39: 280 – 300 22 Mohrman DE, Heller J. Cardiovascular Physiology. New York: McGraw-Hill; 2002 23 Netter FH. Farbatlas der Medizin, Bd. 1: Herz. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 1990 24 Niggli E. Localized intracellular calcium signaling in muscle: calcium sparks and calcium quarks. Annu Rev Physiol. 1999; 61: 311 – 335 25 Pfeifer MA, Weinberg CR, Cook C, Best JD, Reenan A, Halter JB. Differential changes of autonomic nerves system function with age in man. Am J Med. 1983; 75: 249 – 258 26 Schaub FA. Grundriss der klinischen Elektrokardiographie. Basel: Documenta Geigy; 1965 27 Sheu SS, Jou MJ. Mitochondrial free Ca2+ concentration in living cells. J Bioenerg Biomembr. 1994; 26: 487 – 493 28 Sonnenblick EH. Implications of muscle mechanics in the heart. Fed Proc. 1962; 21: 975

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Danksagung Den Herren Professoren Isenberg, Halle, Busse, Frankfurt, Priv.-Doz. Decking, Düsseldorf, möchte ich für die konstruktive Kritik bei der Revision dieses Kapitels danken.

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Das Kreislaufsystem P. Gaehtgens, H. Ehmke

8.1

Funktion des Kreislaufsystems. Eine Übersicht ··· 176

8.5

Was passiert, wenn der Kreislauf versagt? ··· 176 Zwei Transportmechanismen arbeiten Hand in Hand: Konvektion und Diffusion ··· 176 Was leistet der Kreislauf: Eine quantitative Betrachtung · · · 176 Funktionsprinzip des Kreislaufsystems · ·· 177

8.2

8.3

Die Regulation des arteriellen Blutdrucks bedient sich nicht nur der Stellglieder des Kreislaufsystems selbst · ·· 198 Regulation der Durchblutung: Ergebnis zahlreicher konkurrierender Einflüsse auf die Widerstandsgefäße · ·· 202 Regulation und Verteilung des Blutvolumens · · · 207

Das geschlossene Gefäßsystem und seine Funktionselemente · · · 178 Zelluläre und nichtzelluläre Bestandteile der Gefäßwand · · · 179 Die Innervation der Gefäße: Übermittler zentraler Steuerkommandos ··· 181 Die Verzweigung des Gefäßbaums · ·· 182 Gefäßwandmechanik: passives und aktives Dehnungsverhalten von Blutgefäßen ··· 182

8.6

Ohm, Poiseuille, Newton: drei wichtige Gesetze für die Blutströmung · ·· 184

8.7

Der Lungenkreislauf ··· 215 Gefäßarchitektur und Hämodynamik der Lunge unterscheiden sich stark vom Körperkreislauf · · · 215 Regulation der pulmonalen Strombahn: überwiegend druckpassiv ··· 217 Austauschfläche und Flüssigkeitsbalance: wichtige Voraussetzungen für den Gasaustausch ··· 218

8.8

Kreislauffunktion und Lebensalter ··· 218 Eine ganz andere Blaupause: der fetale Kreislauf · ·· 219 Kreislaufumstellung während der Geburt ··· 219 Vom Neugeborenen zum Erwachsenen: postnatale Anpassung der Kreislauftätigkeit ··· 220 Der schleichende Strukturumbau bestimmt den Kreislauf im höheren Lebensalter · · · 221

Der arterielle Blutdruck: Antrieb für die Blutströmung · ·· 184 Blutdruckmessung: eine der wichtigsten Methoden der Kreislaufuntersuchung · ·· 185 Der zentralvenöse Druck ist eine wichtige Größe zur Beurteilung von Blutvolumen und Herzleistung ··· 186 Der totale periphere Widerstand ist der Gesamtwiderstand aller Gefäßgebiete im Körperkreislauf ··· 187 Pulsation von Druck und Strömung im Gefäßsystem · ·· 192

8.4

Kreislaufregulation: zentrale Steuerung, Verbraucherkontrolle und langfristige Adaptation ··· 198

Stofftransport in Austauschgefäßen · · · 193 Wichtigste Barriere für den Stoffaustausch zwischen intra- und extravasalem Raum ist das Gefäßendothel ··· 195 Wasser und wasserlösliche Stoffe werden durch sog. Porensysteme der Endothelbarriere ausgetauscht · · · 196 Filtration von Flüssigkeit: hydrodynamische Strömung durch die poröse Kapillarwand · · · 196 Stofftransport im Interstitium · ·· 197 Drainage des Interstitiums: Bildung und Transport der Lymphe · · · 198

Kreislauffunktion unter Belastung: der Härtetest · ·· 208 Der Preis für den aufrechten Gang: Kreislaufbelastung bei Lagewechsel ··· 210 Kreislauffunktion bei körperlicher Arbeit ··· 212 Hitze und Kälte: Kreislauffunktion bei thermischer Belastung ··· 214

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8 Das Kreislaufsystem

8.1

Funktion des Kreislaufsystems. Eine Übersicht Was passiert, wenn der Kreislauf versagt?

Ein funktionierendes Kreislaufsystem ist für das Überleben unabdingbar. Mit seiner Hilfe werden Sauerstoff (O2) und Nährsubstrate zu den Körperzellen angeliefert und die Abfallprodukte des Zellstoffwechsels sowie Kohlendioxid (CO2) wieder abtransportiert. Wie lebensnotwendig diese Versorgungs- und Entsorgungsleistung ist, wird deutlich, wenn der Kreislauf einmal versagt: Nach nur wenigen Sekunden einer unzureichenden Blutversorgung des Gehirns verlieren wir das Bewusstsein. Dies kann zum Beispiel nach einem plötzlichem Aufstehen aus dem Liegen passieren. Langes, bewegungsloses Stehen kann ebenfalls einen solchen orthostatischen Kollaps hervorrufen. Weitaus gefährlicher ist es, wenn die Minderversorgung des Gehirns länger bestehen bleibt. Ursache hierfür ist meist ein akuter Verschluss einer Hirnarterie, in deren Versorgungsgebiet es dann zu einem ischämischen Insult (Schlaganfall) kommt, oder ein plötzlicher Herzstillstand mit einer globalen Minderversorgung des Gehirns. In beiden Fällen können sich bereits nach 3 – 4 min irreversible Hirnschäden einstellen. Häufig ist das Herz auch selbst von einer Minderversorgung mit Blut über die Koronararterien betroffen. Es kommt dann zu den typischen Zeichen einer Angina pectoris oder sogar zum Herzinfarkt. Im Prinzip ist aber jedes Organ in seiner Funktion bedroht, wenn auf Dauer keine ausreichende Durchblutung gewährleistet ist. Tatsächlich führen Herz-Kreislauf-Erkrankungen weltweit die Todesursachenstatistik an. Hieran sind nicht zuletzt die Zivilisationskrankheiten hoher Blutdruck (Hypertonie) und Arteriosklerose beteiligt. Neben der Versorgungs- und Entsorgungsfunktion dient das Kreislaufsystem auch der interzellulären Kommunikation. So werden mit dem zirkulierenden Blut Hormone vom Ort ihrer Bildung zum Ort ihrer Wirkung transportiert und vermitteln auf diese Weise die chemische Kommunikation zwischen den spezialisierten Organen. Schließlich ist das Kreislaufsystem insbesondere über die Regulation der Hautdurchblutung ganz entscheidend an der Temperaturregulation beteiligt. Versagt diese, kann es zu lebensbedrohlichen Hyper- oder Hypothermien kommen. Um seine physiologischen Funktionen zu erfüllen, ist das Kreislaufsystem seinerseits von der normalen Funktion einer Vielzahl von Organen abhängig. Unmittelbar einleuchtend ist hierbei der Beitrag einer intakten Pumpfunktion des Herzens. Kommt es zum Herzstillstand, bleibt auch der Kreislauf stehen. Eine schleichende Abnahme der Pumpfunktion des Herzens, z. B. bei Vorliegen einer chronischen Herzinsuffizienz, lässt den Kreislauf ebenfalls nicht unbeeinflusst, woran auch das Nervensystem mit seinen Kreislaufreflexen beteiligt ist. Durch die Kombination von abnehmender Pumpfunktion, erhöh-

ter Aktivität des autonomen Nervensystems und des Renin-Angiotensin-Systems sowie einer renalen Retention von Kochsalz und Wasser kann es zu einer erheblichen Zunahme des Plasmavolumens und damit des venösen Druckes kommen. Der dadurch erschwerte Rückstrom von Lymphflüssigkeit und der erhöhte Filtrationsdruck in den Gewebskapillaren kann zu extravasalen Flüssigkeitsansammlungen in verschiedenen Geweben führen (sog. Ödeme, z. B. „geschwollene Beine“, „Wasser in der Lunge“). Schließlich existiert ein enges Wechselspiel zwischen der Niere und der Kreislauffunktion. Dies betrifft nicht nur die Regulation des Salz- und Volumenhaushalts, sondern auch des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems und des arteriellen Blutdrucks.

Zwei Transportmechanismen arbeiten Hand in Hand: Konvektion und Diffusion Um besser zu verstehen, wie das Kreislaufsystem seine Hauptaufgabe, den schnellen Substanztransport über lange Wege, erfüllt, müssen wir zunächst die physikalischen Prinzipien betrachten, auf denen dieser Transport beruht. Über kurze Distanzen (µm-Bereich) ist die Diffusion der Haupttransportmechanismus. Sie ist unabhängig von der Zufuhr von Stoffwechselenergie, wobei der Transport immer vom Ort der höheren zum Ort der niedrigeren Konzentration eines Stoffes erfolgt. Diffusionsprozesse sind zum Beispiel entscheidend für den Austausch von O2 und CO2 zwischen dem Alveolarraum und den Lungenkapillaren sowie für den Stoffaustausch zwischen Zellen und Kapillaren. Die pro Zeiteinheit transportierte Stoffmenge nimmt jedoch mit der Strecke, über die der Transport erfolgt, stark ab. Dies hat zur Folge, dass für Entfernungen von mehr als 0,1 mm ein anderes physikalisches Prinzip benötigt wird, die Konvektion. Beim konvektiven Transport werden die Teilchen in einem Trägermedium durch externe Energiezufuhr bewegt. Im menschlichen Körper finden wir Konvektion zum Beispiel beim Zu- und Abstrom der Atemluft während der Ventilation des Alveolarraums und beim Gas- und Stofftransport mit dem Blutstrom. Wie wichtig der konvektive Transport für das Überleben ist, wird bei seinem Versagen deutlich: sowohl ein Ausfall der Ventilation (z. B. Atemstillstand oder vollständige Verlegung der Atemwege durch einen Fremdkörper) als auch ein Versagen des Kreislaufsystems (z. B. durch Herzstillstand) sind akut lebensbedrohlich, weil die O2-Versorgung sowie die Zu- und Abfuhr von Substraten und Produkten des Stoffwechsels durch Diffusion über die große Distanz zwischen Außenwelt und dem Intrazellularraum allein nicht ausreicht.

Was leistet der Kreislauf: Eine quantitative Betrachtung Das Herz eines gesunden Menschen befördert in körperlicher Ruhe 3,4 (2,8 – 4,2) Liter Blut pro min und m2 Körperoberfläche (Herzzeitvolumen) durch die Gefäße des „großen Kreislaufs“ (zwischen linkem Ventrikel und rechtem Vorhof). Das gleiche Herzzeitvolumen durchströmt auch den „kleinen Kreislauf“ (zwischen rechtem Ventrikel und linkem Vorhof), wobei die in den Körper-

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8.1 Funktion des Kreislaufsystems. Eine Übersicht

Windkessel Aorta und große Arterien

Hochdrucksystem

Niederdrucksystem

variable Pumpleistung Herzkammern

variabler Widerstand

variable Kapazität

kleine Arterien und Arteriolen

Venen und Lungengefäße

Austauscher Kapillaren und Venolen

Abb. 8.1 Allgemeiner Funktionsplan des Blutkreislaufs (ohne Unterscheidung von „großem“ bzw. „kleinem“ Kreislauf). Die Gliederung orientiert sich an der Höhe des intra-

organen dem Blut entnommene (extrahierte) O2-Menge aus der eingeatmeten Luft wieder zugeführt wird. Bei einer O2-Konzentration im arteriellen Blut von etwa 0,2 l O2/l Blut ergibt sich eine O2-Transportleistung von etwa 1 l O2/min. Da ein erwachsener Mensch in körperlicher Ruhe etwa 0,25 l O2 pro Minute verbraucht, bedeutet dies, dass etwa drei Viertel des aufgenommenen O2 „ungenutzt“ zur rechten Herzkammer zurückkehren. Die sog. O2-Extraktion beträgt daher unter Ruhebedingungen nur etwa 25 %. Bei körperlicher Arbeit wird die O2-Extraktion dagegen deutlich größer und kann Werte von 75 % erreichen, was wesentlich zur Deckung des erhöhten O2-Bedarfs beiträgt, der auf das 10 – 20fache des Ruhewertes ansteigen kann. Gleichzeitig steigt das Herzzeitvolumen beim Gesunden um das 3 – 4fache des Ruhewertes an. Die Bedarfssteigerung erfolgt allerdings nicht in allen Organen und Geweben, sondern vor allem in der Skelettmuskulatur. Diese Überlegung macht deutlich, dass neben einer raschen Steigerung der globalen Transportleistung und einer erhöhten O2-Extraktion als dritter Faktor eine gezielte Verteilung der Blutströmung wichtig ist für die Kreislaufanpassung bei körperlicher Belastung. Hierfür stehen dem Körper mehrere Mechanismen zur Verfügung, die gemeinsam eine äußerst flexible Kreislaufregulation ermöglichen.

Funktionsprinzip des Kreislaufsystems Das Blutgefäßsystem umschließt ein Blutvolumen von etwa 5 l unter einem Innendruck, der bei stillstehendem Herzen in allen Gefäßen etwa 6 – 8 mm Hg (ca. 1 kPa) betragen würde (sog. statischer Blutdruck). Das Herz

vasalen Drucks und den wesentlichen Funktionen der verschiedenen Abschnitte des Gefäßsystems.

entnimmt unter Ruhebedingungen mit jeder Diastole etwa 80 ml Blut, das Schlagvolumen, aus den herznahen Venen und drückt es mit jeder Systole in die Arterien. In den Arterien des großen Kreislaufs steigt dadurch der Druck auf über 100 mm Hg (ca. 13 kPa) an. Dies ist Folge der relativ geringen Dehnbarkeit der Arterien und des hohen Strömungswiderstandes in den peripheren Abschnitten des Arteriensystems. Nach Passage dieser Widerstandsgefäße kehrt das vom Herzen geförderte Volumen über die kleinsten Gefäße des Austauschsystems (Kapillaren) wieder in das venöse System zurück, in dem der Druck durch die Entnahme des Schlagvolumens nur wenig (auf etwa 5 mm Hg = ca. 0,7 kPa) abgesunken ist. Dieser Vorgang, durch den die für den „Kreislauf“ des Blutes notwendige Druckdifferenz zwischen Arterien und Venen erzeugt wird, wiederholt sich bei körperlicher Ruhe etwa 70-mal in der Minute (Herzfrequenz). Der in Abb. 8.1 schematisch dargestellte, vereinfachte Funktionsplan enthält somit ein sog. Hochdrucksystem, das aus dem Windkessel1 zur Dämpfung der rhythmischen Druck- und Stromschwankungen sowie einem variablen Widerstand besteht. Daran schließt sich das System der Austauschgefäße an, in dem der für die Verund Entsorgung der Organzellen wesentliche Stoffaustausch stattfindet. Darauf folgt das sog. Niederdrucksystem mit seiner großen Kapazität. 1

Ein Windkessel war ein luftgefüllter Aufsatz auf dem Wassertank früherer Feuerwehrwagen. Die Luft darin wurde bei jedem Pumpstoß komprimiert, um sich zwischen zwei Pumpstößen wieder auszudehnen, so dass trotz der nur stoßweisen Druckerhöhung ein kontinuierlicher Strahl des Löschwassers erreicht wurde.

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8 Das Kreislaufsystem Der relativ hohe arterielle Blutdruck ermöglicht eine schnelle, bedarfsorientierte und damit ökonomische Umverteilung des Herzzeitvolumens zugunsten einzelner Organe durch gezielte Änderungen der lokalen Widerstände. Dennoch ließe sich das gleiche Herzzeitvolumen im Prinzip auch mit einem viel niedrigeren Druck und damit geringeren energetischen Anforderungen an das Herz fördern, wenn der periphere Widerstand insgesamt deutlich niedriger wäre. Tatsächlich ist der arterielle Blutdruck nicht bei jedem Menschen gleich hoch, sondern zeigt selbst innerhalb der Normgrenzen eine beachtliche Variabilität. Dabei können aber nicht beliebig niedrige Blutdruckwerte ohne Funktionseinbußen toleriert werden. Zum einen erfordert der aufrechte Gang, dass das Herz einen ausreichend hohen arteriellen Druck erzeugt, um das Blut gegen die Schwerkraft zum Gehirn zu pumpen. Zum anderen wird für die Aufrechterhaltung einer normalen Filtrationsleistung der Niere (glomeruläre Filtrationsrate, S. 336 f) ebenfalls mindestens ein mittlerer arterieller Druck von 50 – 60 mm Hg benötigt. Interessanterweise befinden sich, wie wir noch später sehen werden, genau an diesen kritischen Stellen des Kreislaufs (Karotissinus, afferente Arteriole) Blutdrucksensoren, die einer zu starken Drucksenkung sehr effektiv entgegenwirken können (S. 198 f. und S. 369 f.). Der hohe Blutdruck im Arteriensystem bringt allerdings auch eine erhebliche Belastung des Wandmaterials der Arterien mit sich. Das damit verbundene Risiko zeigt sich daran, dass die Todesursachenstatistik an erster Stelle kardiovaskuläre Störungen (z. B. Herzinfarkt, Schlaganfall) nennt, die als Folge von Wandveränderungen auftreten und mit der Höhe des arteriellen Drucks zunehmen. Daher treten sie besonders häufig bei Men-

Wandstärke (w)

schen mit dauerhafter Blutdruckerhöhung (arterielle Hypertonie) auf.

8.2

Das geschlossene Gefäßsystem und seine Funktionselemente

Die Gliederung des Kreislaufs in ein Hochdrucksystem, ein Niederdrucksystem und die Mikrozirkulation folgt aus den Funktionen dieser Teilsysteme als Druck- bzw. Volumenreservoir und als Austauschersystem. Diesen Funktionen sowie der Höhe des Innendrucks entspricht auch der Wandaufbau der Gefäße. Die zellulären Bauelemente der Gefäßwände, vor allem Endothel und glatte Gefäßmuskulatur, regulieren Weite und Durchlässigkeit der Gefäße. Das geschieht durch die vegetative Innervation sowie durch Freisetzung chemischer Wirkstoffe. Das Hochdrucksystem umfasst den linken Ventrikel (in Systole), die großen Arterien, die als Windkessel und als Zuleitungen für die Organe und Gewebe dienen (sog. Leitarterien), und die kleinen Arterien und Arteriolen, die den größten Teil des Strömungswiderstandes bedingen (Widerstandsgefäße). Im gesamten arteriellen System herrscht ein hoher Innendruck („Druckreservoir“); dementsprechend sind die arteriellen Gefäße relativ dickwandig (Abb. 8.2). Wegen des relativ niedrigen Innendrucks werden die Venen, die gesamte Lungenstrombahn, beide Herzvorhöfe, der rechte Ventrikel und der linke Ventrikel (in Diastole) als Niederdrucksystem zusammengefasst. Dieses System repräsentiert ein „Volumenreservoir“, dessen

Aorta

Arterie

Arteriole

Venole

1 mm

20 µm

10 µm

Vene 0,5 mm

V. cava

2,5 mm

1,5 mm

w ri

Innenradius (ri ) relative Wanddicke (w/ri )

12,5 mm

2 mm

20 µm

30 µm

2,5 mm

15 mm

0,2

0,5

1,0

0,3

0,2

0,1

Kollagen

relative Wandzusammensetzung

glatte Muskulatur

Elastin

Abb. 8.2 Schematische Darstellung der relativen Wanddicke und der relativen Wandzusammensetzung verschiedener Blutgefäße (w/ri, Verhältnis zwischen Gefäß-

wanddicke und Innenradius). Arterien sind relativ dickwandig (besonders die kleinen) und muskelstärker als Venen (nach 2).

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8.2 Das geschlossene Gefäßsystem und seine Funktionselemente relativ dünnwandige Gefäße (Abb. 8.2) den größten Teil (etwa 85 %) des Blutvolumens enthalten. Unter dem Begriff der Mikrozirkulation fasst man Arteriolen, Kapillaren, kleine Venolen und Venen sowie die im Gewebe liegenden Lymphgefäße zusammen. Hier findet der weitaus überwiegende Teil des Stoffaustauschs zwischen Blut und Interstitium statt (Austauschgefäße).

Zelluläre und nichtzelluläre Bestandteile der Gefäßwand Aufbau und Zusammensetzung der Gefäßwand variieren in den verschiedenen Abschnitten des Gefäßsystems. Während das Endothel eine überall einschichtige „Zelltapete“ darstellt, sind die Dicke der Muskelschicht und der Gehalt der Gefäßwand an Faserstrukturen sehr unterschiedlich (Abb. 8.2). Zwischen dem Endothel und der glatten Gefäßmuskulatur besteht eine enge funktionelle Beziehung. Der Tonus der glatten Gefäßmuskulatur wird durch Signalübermittlung an myoendothelialen Kontaktstellen (Gap Junctions) und durch eine Vielzahl von Substanzen beeinflusst, die von Endothelzellen gebildet werden (Abb. 3.3, S. 60).

Das Endothel: eine aktive Barriere In allen Blutgefäßen hat das Endothel die Funktion einer regulierbaren Barriere zwischen Intravasalraum und Gefäßwand bzw. interstitiellem Raum. Die Barrierenfunktion beruht auf seiner selektiven Permeabilität, die die Passage insbesondere von großmolekularen oder von wasserlöslichen Substanzen nur begrenzt zulässt. Die Ursache hierfür liegt in dem strukturellen Aufbau von Endothelzellen und ihrer Verknüpfung zu einem einschichtigen Verband (strukturelle Barriere), aber auch in der hohen Stoffwechselaktivität von Endothelzellen, die permeationsfähige Substanzen um- und abbauen können (metabolische Barriere). Das normale Endothel bildet Substanzen, die die Adhäsion und Aggregation von Thrombozyten sowie die Blutgerinnung hemmen, z. B. PGI2, NO, Heparin, tPA (S. 245 ff.). Dadurch wird normalerweise eine spontane Thrombusbildung verhindert (Antithrombogenität). Lokale Schädigung, erst recht aber Verlust der „Endotheltapete“, kann daher zu lokalen Hämostasevorgängen (Thrombose) führen. Endothelschäden begünstigen auch die Entwicklung einer Arteriosklerose. Das Endothel ist durch einen regulierbaren Oberflächenbesatz von Rezeptoren und Adhäsionsmolekülen auch an vielen physiologischen und pathophysiologischen Reaktionen aktiv beteiligt. Dass das Endothel an der Regulation des Gefäßtonus teilnimmt und dabei z. B. auch auf die mechanische Stimulation durch den Blutstrom aktiv antwortet, wird weiter unten (S. 206) besprochen. Endotheliale Adhäsionsmoleküle vermitteln z. B. im Rahmen von Entzündungsvorgängen (S. 252 f.) die Adhäsion der weißen Blutzellen vor allem in postkapillären Venolen, von wo diese Zellen schließlich in das umgebende Gewebe emigrieren. Die daran beteiligten Adhäsionsmoleküle werden bei Bedarf in den Endothelzellen neu gebil-

det oder aus intrazellulären „Vorräten“ entnommen und an die luminale Oberfläche transportiert und/oder auf ihrer Oberfläche aktiviert; dies geschieht unter dem Einfluss lokal – aus dem Endothel selbst (autokrin) oder aus Zellen des umgebenden Gewebes (parakrin) – freigesetzter Zytokine und Entzündungsmediatoren. Man kennt mehrere Klassen von adhäsionsvermittelnden Molekülen, unter denen die vaskulären (endothelialen) Selektine (Pund E-Selektin) für die frühe, reversible Anheftung von Leukozyten („Leukozytenrollen“), die leukozytären Integrine (vor allem β2-Integrine) für ihre anschließende feste Adhäsion verantwortlich sind. Von einigen dieser Moleküle weiß man bereits, dass ihre Bindung an entsprechende Liganden nicht nur die mechanische Adhäsion vermittelt, sondern auch eine Signaltransduktionskaskade auslöst, die zu biologischen Antworten der beteiligten Zellen führt, z. B. der Freisetzung von Inhaltsstoffen intrazellulärer Granula, der Bildung reaktiver Sauerstoffspezies, oder gesteigerter Phagozytoseaktivität. Bestimmte Klassen von endothelialen Integrinen (vor allem β1- und β3-Integrine) sind aber auch an der Haftung der Endothelzellen an der Basalmembran beteiligt und spielen eine Rolle bei der Angiogenese und Wundheilung. Die Kenntnis dieser komplizierten molekularen Mechanismen ist von großer klinischer Bedeutung. Zum Beispiel geht eine fehlende Expression von β2-Integrinen mit einer stark reduzierten Adhäsion und Chemotaxis von Neutrophilen und Monozyten einher. Entsprechend kommt es bei Patienten mit Mutationen im Bereich des CD-18-Gens, welches für β2-Integrine kodiert, zum Auftreten sehr schwerer bakterieller und Pilzinfektionen im Bereich der Haut und der Schleimhäute, die nur langsam abheilen. Ein Fehlen von Selektin-Liganden (CD 15) führt neben Immundefekten zusätzlich zu neurologischen Symptomen mit psychomotorischen Störungen und einer Wachstumsverlangsamung. Umgekehrt begünstigt eine übermäßige Expression von Adhäsionsmolekülen die Einwanderung von Entzündungszellen in die Gefäßwand. So ist beim Menschen wahrscheinlich eine gesteigerte endotheliale Expression von P-Selektin maßgeblich an der Pathogenese der Atherosklerose beteiligt.

Motor der Gefäßwand: die glatte Gefäßmuskulatur Die glatte Muskulatur der Gefäße reguliert durch aktive Spannungsentwicklung (Tonus) die Gefäßweite. Der Ruhetonus der Gefäßmuskulatur wird durch den konkurrierenden Einfluss von zahlreichen Wirkstoffen bestimmt, die mit dem Blut zirkulieren oder aus den vegetativen Gefäßnerven und den Endothelzellen freigesetzt werden. Der Ruhetonus der Widerstandsgefäße bestimmt die Größe der sog. Durchblutungsreserve (S. 202). Selbst in Abwesenheit aller äußeren Einflüsse ist die Gefäßmuskulatur jedoch nicht völlig erschlafft, sondern besitzt einen sog. myogenen Basistonus. Auf zellulärer Ebene wird der Tonus des glatten Gefäßmuskels durch den Phosphorylierungsgrad der leichten Kette des Myosins (MLC) bestimmt (Abb. 8.3). Je höher der Anteil an phosphoryliertem MLC ist, um so

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8 Das Kreislaufsystem Noradrenalin (a1-Rez.) Dehnung (Depolarisation)

EDHF NO

Endothelin (ETA-Rez.)

Venolen

ATP

Innenradius (%)

glatte Gefäßmuskelzelle

Adenosin Angiotensin II

2+

[Ca ]i glattes ER (Ca2+-Speicher)

Histamin (H2-Rez.) VIP

100

(Hyperpolarisation)

maximal dilatiert

50

Arteriolen

2+

Ca -CalmodulinKomplex

Adrenalin (b2-Rez.)

mäßig kontrahiert

NO

PGF2

Proteinkinase A

0

Kontraktion

Proteinkinase G 3000

MLC-Kinase

MLC-P

MLC P

Kraft

Kraft

P

NO

Rho/Rho-Kinase MLC-Phosphatase

Abb. 8.3 Zelluläre Mechanismen der Regulation des glatten Gefäßmuskeltonus. Der Tonus der glatten Gefäßmuskulatur ist umso größer, je höher der Phosphorylierungsgrad der leichten Kette des Myosins (MLC) ist. Dieser wird durch die Myosin-Leichte-Ketten-Kinase (MLC-Kinase) erhöht und die Myosin-Leichte-Ketten-Phosphatase (MLCPhosphatase) vermindert. Sämtliche physiologischen Regulationsprozesse, die den glatten Gefäßmuskeltonus betreffen, entfalten ihre Wirkung letztlich über eine Veränderung der Aktivität dieser beiden Enzyme.

größer ist die von der glatten Gefäßmuskelzelle entwickelte Kraft. Das Verhältnis von phosphorylierter und dephosphorylierter MLC wird durch die Aktivität zweier Enzyme geregelt, der Myosin-Leichte-Ketten-Kinase (MLC-Kinase) und der Myosin-Leichte-Ketten-Phosphatase (MLC-Phosphatase). Sämtliche physiologischen Regulationsprozesse, die den glatten Gefäßmuskeltonus betreffen, entfalten ihre Wirkung letztlich über eine Veränderung der Aktivität dieser beiden Enzyme. Die MLCKinase wird durch Ca2+-Calmodulin aktiviert und ist damit abhängig von der zytosolischen Ca2+-Konzentration. Ein physiologisch sehr wichtiger Modulator der zytosolischen Ca2+-Konzentration im glatten Gefäßmuskel ist das Membranpotenzial: Je stärker die Membran depolarisiert ist, desto mehr Ca2+ strömt in die Zelle. Darüber hinaus kann Ca2+ aus intrazellulären Speichern freigesetzt werden. Schließlich ist auch die Aktivität von Ca2+-Pumpen an der Regulation der zytosolischen Ca2+-Konzentration beteiligt. Zahlreiche Modulatoren des Gefäßmuskeltonus (z. B. Noradrenalin, Angiotensin II, Stickoxid, EDHF, Prostacyclin, Endothelin; S. 204) entfalten ihre Wirkung über die Beeinflussung der zytosolischen Ca2+-Konzentration.

Strömungswiderstand (%)

180

Arteriolen

maximal kontrahiert

2000

1000

Venolen 0

25

50

75

100

Länge der Muskelzellen (%)

Abb. 8.4 Eine Verkürzung der Muskelzellen in der Gefäßwand hat wegen der unterschiedlichen Wandstärken einen größeren Einfluss auf Innenradius (oben) und Strömungswiderstand (unten) von Arteriolen als von Venolen. Aus diesem Grund ist der „Motor der Gefäßwand“ in arteriellen Gefäßen wirkungsvoller als in venösen (nach 3).

Erst seit kurzem ist deutlich geworden (34), dass auch die Aktivität der MLC-Phosphatase einer physiologischen Regulation unterliegt. So wird sie über den Rho/Rho-KinaseSignalweg gehemmt (Tonuszunahme) und durch Stickoxid stimuliert (Relaxation). Das Lumen einer relativ wandstarken Arteriole verengt sich bei Kontraktion der Gefäßmuskulatur deutlich stärker als das einer dünnwandigen Venole (Abb. 8.4). Daher steigt der Strömungswiderstand von Arteriolen selbst bei gleicher Verkürzung der glatten Muskelzellen viel stärker an als der von Venolen. Kleine Arteriolen können sogar bis zu völligem Verschluss konstringieren, weil sich dabei die im Übrigen sehr dünne Endothelschicht erheblich verdickt und schließlich das verbleibende Lumen völlig ausfüllt (Abb. 8.5). Ein kompletter Verschluss ist sonst nur bei den sehr dickwandigen arteriovenösen Anastomosen der Haut möglich. Die Gefäßmuskulatur vor allem der kleineren Arterien und Arteriolen zeigt eine spontane Kontraktionsrhythmik (Vasomotion), die auf der Tätigkeit lokaler Schrittmacherzellen beruht und durch das Entladungsmuster der vegetativen Gefäßnerven moduliert werden kann.

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8.2 Das geschlossene Gefäßsystem und seine Funktionselemente Endothel

Erythrozyten

Lumen

Endothel

Restlumen

4 mm

zunehmende Konstriktion

Abb. 8.5 Arteriolen des Skelettmuskels in von links nach rechts zunehmendem Kontraktionszustand der glatten Muskulatur. Die Lumeneinengung kommt in diesen kleinen

Die Gefäßwand besteht nicht nur aus Zellen Die nichtzellulären Bestandteile der Gefäßwand, also Basalmembran, elastische und kollagene Fasern, Grundsubstanz, sind für das mechanische Verhalten der Gefäßwand und für die Versorgungsbedingungen der eingebetteten Gefäßwandzellen wesentlich. Während zumindest für die äußeren Wandschichten der großen Arterien ein eigenes Versorgungssystem (Vasa vasorum) besteht, werden die kleineren Gefäße wie auch die Innenschichten der größeren nur durch Diffusion vom Lumen her versorgt. Die Diffusionsbedingungen innerhalb der Gefäßwand hängen von der Durchlässigkeit von Endothel und Basalmembran sowie von den physikochemischen Eigenschaften der interzellulären Grundsubstanz ab. Funktionsstörungen der Gefäßwandzellen können daher als Folge ungünstiger Versorgungsbedingungen auftreten, wenn Zusammensetzung und Eigenschaften der nichtzellulären Wandbestandteile altersbedingt oder durch krankhafte Prozesse verändert sind.

Die Innervation der Gefäße: Übermittler zentraler Steuerkommandos Alle Anteile des Gefäßsystems sind von Fasern des vegetativen Nervensystems innerviert, die zum Teil an den Gefäßwänden entlangziehen und an zahlreichen Kontaktstellen dort gespeicherte Transmitter freisetzen können. In der terminalen Strombahn nimmt der Einfluss vasomotorischer Fasern auf den Gefäßtonus von proximal nach distal ab, so dass die neurogene Beeinflussbarkeit der präkapillären Gefäße hier geringer wird (S. 202 f.). Eine besonders hohe Innervationsdichte findet sich an den arteriovenösen Anastomosen der Haut, die bei der Thermoregulation eine große Rolle spielen. Über die efferente Gefäßinnervation wird der Tonus der glatten Muskulatur gesteuert; daher bezeichnet man die entsprechenden Nervenfasern auch als Vasomotoren. Sie gehören überwiegend dem sympathischen Nervensystem an und bewirken eine Vasokonstriktion. Daneben gibt es in einigen Gefäßprovinzen eine sympathische

Gefäßen vor allem durch die sich nach innen vorwölbenden Endothelzellen zustande (nach 28).

Innervation mit dilatierender Wirkung. In einigen Organen (äußeres Genitale, Pia mater, Drüsen des Verdauungstrakts) wirken auch cholinerge Fasern des Parasympathikus gefäßerweiternd. Einige vasomotorische Nerven schließlich sind weder dem adrenergen (sympathischen) noch dem cholinergen (parasympathischen) System zuzuordnen. Diese als NANC (non-adrenergic, non-cholinergic) Nerven bezeichneten Fasern wirken ebenfalls vasodilatatorisch und verwenden unter anderem Stickstoffmonoxid oder ATP als Neurotransmitter. Bei akuter Unterbrechung der sympathischen Innervation (z. B. durch chirurgische oder pharmakologische Denervierung) nimmt die Ruhedurchblutung der meisten Organe zu (deutlich in der Haut, weniger im Skelettmuskel, praktisch nicht im Myokard). Dies weist auf den anhaltenden, konstriktorischen Einfluss der sympathischen Gefäßnerven auf den Ruhetonus der Gefäße hin. Dem entspricht eine tonische Aktivität in Form von Aktionspotenzialen niedriger Frequenz (1 – 3/s), die bei sympathischer Aktivierung bis auf etwa 20/s zunehmen oder bei Deaktivierung völlig verschwinden kann. Die Gefäßnerven beeinflussen den Gefäßtonus durch Freisetzung verschiedener Transmitter. Aus Varikositäten und Endigungen der postganglionären sympathischen Axone wird Noradrenalin freigesetzt. Seine kontraktionsauslösende Wirkung wird durch die Bindung an 1-Adrenozeptoren in der Membran der Gefäßmuskelzellen eingeleitet. Der Rezeptorbindung folgt eine Aktivierung mehrerer paralleler Signaltransduktionswege – Stimulation von Phospholipase C mit vermehrter Bildung der Second Messenger Inositoltrisphosphat (IP3) und Diacylglycerat (DAG; S. 38), Öffnung von Rezeptor-gesteuerten Kationenkanälen in der Zellmembran sowie Aktivierung des Rho/ Rho-Kinase-Signalwegs –, die zusammen schließlich eine Kontraktion infolge eines Anstiegs der intrazellulären Ca2+-Konzentration und einer Hemmung der Myosinleichtketten-Phosphatase auslösen. Bei starker Aktivierung bindet Noradrenalin außerdem an 2-Adrenozeptoren der präsynaptischen Membran (cAMP sinkt) und hemmt dadurch seine eigene Freisetzung. Das aus dem Nebennierenmark stammende Adrenalin hingegen för-

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181

Gesamtoberfläche (%)

40

Gesamtvolumen (%)

20

Oberfläche

30 20 10 0

Volumen

10

0

30

Querschnitt

20 10 0

kle i un ne d Art Ar er te ie rio n le n K ap po illa st ka re p n un illä r d e kle Ve in no e le Ve n ne gr n un oße d V Vv en . c en av ae

d

gr



e Ao Ar r te ta rie n

Gesamtquerschnitt (%)

relativer Anteil an

8 Das Kreislaufsystem

un

182

Abb. 8.6 Verteilung von Gesamtoberfläche, -volumen und -querschnitt in den verschiedenen Abschnitten des Gefäßsystems. Die Oberflächenzunahme findet sich vor allem in den Gefäßen des Austauschsystems, das Kapillaren und Venolen umfasst.

dert durch Bindung an präsynaptische 2-Adrenozeptoren die Freisetzung von Noradrenalin und kann in niedrigen Konzentrationen durch Bindung an postsynaptische 2-Adrenozeptoren zu einer Abnahme des Gefäßtonus führen, wobei beide Effekte durch einen Anstieg der intrazellulären cAMP-Konzentration vermittelt werden. An den Gefäßnerven werden neben Noradrenalin auch andere Transmitter sowie Kotransmitter gefunden, deren Freisetzung zu spezifischen lokalen Wirkungen führen kann; hierzu zählen neben ATP auch Neuropeptid Y, Substanz P, Kinine und Serotonin. In fast allen Anteilen des Gefäßsystems findet sich auch eine afferente Innervation, deren physiologische Funktion allerdings weitgehend unbekannt ist.

in den Kapillaren und postkapillären Venolen ein Maximum von etwa 1000 m2. Diese für den Stoffaustausch zwischen Blut und Gewebe wichtige Fläche ist damit etwa 8-mal größer als die des Epithels im Magen-DarmTrakt, etwa 12-mal größer als die aller Alveolen und etwa 500-mal größer als die äußere Körperoberfläche. Die Verzweigung des arteriellen Gefäßbaums führt in verschiedenen Organen zu unterschiedlicher Gefäßdichte. Diese ist ein indirektes Maß für die maximal mögliche Durchblutung und die maximal mögliche Größe des Sauerstoffaustauschs: Gewebe mit hohem Stoffwechsel zeigen meist eine größere Kapillardichte als solche mit geringerer Stoffwechselaktivität. Wird ein Organ oder Gewebe über längere Zeit funktionell stark beansprucht, so findet eine Wachstumsveränderung des Gefäßsystems statt. So beobachtet man eine vermehrte Kapillarsprossung in Herz- und Skelettmuskel bei gesteigerter Aktivität, aber auch bei relativem O2-Mangel, z. B. während eines längeren Aufenthalts in großen Höhen. Neben der Wirkung lokal freigesetzter Wirkstoffe, so genannter Angiogenesefaktoren wie VEGF und Angiopoietin-1, ist auch die längerfristig gesteigerte Durchblutung selbst ein Reiz für das Gefäßwachstum. Diese Wachstumsantwort ist beispielsweise für die Wirkung körperlichen Trainings, aber auch für die Entwicklung von Kollateralgefäßen nach einem lokalen Gefäßverschluss von großer Bedeutung. Die Beeinflussung des Gefäßwachstums ist aus therapeutischer Sicht, z. B. bei der Behandlung von Durchblutungsstörungen, Tumoren oder chronischen degenerativen Erkrankungen, von großem Interesse (14).

Gefäßwandmechanik: passives und aktives Dehnungsverhalten von Blutgefäßen Entsprechend ihrem unterschiedlichen Wandaufbau verhalten sich arterielle und venöse Gefäße bei passiver Dehnung verschieden. Die Volumenänderungen der dünnwandigeren Venen bei Änderungen des transmuralen Drucks sind größer als die von Arterien; dies spielt für die Blutvolumenverteilung im Niederdrucksystem eine große Rolle. Arteriolen reagieren auf passive Dehnung mit einer myogenen Kontraktion; dies ist die Grundlage der Autoregulation der Durchblutung, die besonders in Niere, Gehirn und Darm ausgeprägt ist. Der passive Dehnungszustand eines Gefäßes wird von der Differenz zwischen intra- und extravasalem Druck (Pi bzw. Pe) bestimmt, die als transmuraler Druck Ptm bezeichnet wird: Ptm = Pi

Die Verzweigung des Gefäßbaums Das dichotome Verzweigungsmuster des arteriellen Gefäßbaums führt zu einer Zunahme des Gesamtquerschnitts (Abb. 8.6). Besonders groß ist der Gesamtquerschnitt in den postkapillären Venolen und kleinen Venen, in denen sich auch der größte Anteil des Blutvolumens befindet. Die gewaltige Zunahme der Oberfläche, die durch die Gefäßverzweigung zustande kommt, erreicht

Pe

(8.1)

Änderungen des transmuralen Drucks beruhen meist auf Änderungen des Innendrucks Pi, während der außerhalb der Gefäße wirkende Druck (Gewebedruck Pe) sich in der Regel nur wenig ändert. Funktionell wichtige Ausnahmen von dieser Regel sind die Gewebe von Lunge und Muskel. In den Lungengefäßen kommt es zu großen Änderungen des transmuralen Drucks (und damit der regionalen Durchblutung), da der Druck im Alveolarraum, der als

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8.2 Das geschlossene Gefäßsystem und seine Funktionselemente Außendruck für die Gefäßmechanik wirksam wird, erheblich variieren kann (S. 215 ff.). In der Muskulatur entstehen während der Muskelkontraktion so hohe Gewebedrücke, dass die transmurale Druckdifferenz negativ wird und die Gefäße daher zeitweilig komprimiert werden können. Aus diesem Grund wird z. B. das Myokard praktisch nur während der Diastole durchblutet (S. 144). Der transmurale Druck Ptm erzeugt eine tangentiale Spannung St in der Gefäßwand, die umso größer ist, je größer der Innenradius ri und je kleiner die Wanddicke w ist: (8.2)

Diese Spannung müssen die Gefäßwandelemente auffangen, wenn das Gefäß dem dehnenden Einfluss des transmuralen Drucks nicht nachgeben soll. Arterielle Gefäße, die wegen ihres hohen Innendrucks unter großer Dehnungsbelastung stehen, haben daher eine dickere Wand als Venen, deren Innendruck gering ist. Innerhalb des arteriellen Gefäßbaums nimmt die Dehnbarkeit von den großen Leitungsarterien in Richtung auf die Arteriolen ab. Dies entspricht dem von proximal nach distal abnehmenden Gehalt an elastischen Fasern und dem Zuwachs an glatter Muskulatur und Kollagen (Abb. 8.2). Die passive Dehnbarkeit der Aorta spielt für die Dämpfung des Druck- und Strompulses, der durch die rhythmische Tätigkeit des linken Ventrikels entsteht, eine große Rolle (Windkesselfunktion; Abb. 8.10). Dehnungsabhängige Änderungen von Gefäßdurchmesser und -länge werden zusammengefasst beschrieben durch die Compliance, d. h. die Volumenänderung ∆V bei Änderung des transmuralen Drucks, ∆Ptm; ihr Kehrwert ist der Volumenelastizitätskoeffizient E′: Compliance =

relative Volumenänderung DV/V

St = Ptm 

ri w

3

1 V = E0 Ptm

ð8:3Þ

Das passive Dehnungsverhalten der Blutgefäße spiegelt die für jeden Gefäßabschnitt typische Zusammensetzung der Gefäßwand aus den drei mechanisch wesentlichen Bestandteilen Kollagen, elastischen Fasern und glatter Muskulatur wider (Abb. 8.2); die Gefäßdehnung ist aber auch stark von der aktiven Spannung der glatten Gefäßmuskulatur abhängig: je höher der Muskeltonus, desto geringer die Compliance. Mit steigender Wandspannung St nimmt der Gefäßradius durch Dehnung zu; dabei wird die Gefäßwand zunehmend steifer. Bei länger anhaltender Druckbelastung kann es vor allem in Venen zu einem langsamen Nachgeben der Gefäßwand und damit zu einer wachsenden Volumenspeicherung im Gefäß kommen. Dies ist eine der Ursachen für die „ausgeleierten“ Hautvenen des Unterschenkels bei Menschen („Krampfadern“), die aus z. B. beruflichen Gründen lange stehen müssen. Die Compliance der Venen ist bei niedrigen physiologischen Innendrücken größer als die der Arterien, die des gesamten venösen Systems etwa 25-mal größer als die des arteriellen. Dies beruht weniger auf der elastischen Dehnbarkeit der Venenwand als auf einer Formänderung

2

1

Pi –20

Pe

–10 10

20

transmuraler Druck Ptm (mmHg)

–1

Abb. 8.7 Beziehung zwischen transmuralem Druck Ptm (Pi-Pe) und der relativen Volumenänderung ∆V/V der V. cava. Die Zeichnungen neben der Kurve verdeutlichen die Formveränderungen des Gefäßquerschnitts. Ein großer Teil des Volumenzuwachses kommt dadurch zustande, dass der ovale Querschnitt zunehmend kreisrund wird (nach 28).

des zunächst elliptischen Venenquerschnitts (Abb. 8.7). Die große Compliance der Venen ist für den Kreislauf deswegen wichtig, weil selbst bei relativ geringen Änderungen des Venendrucks erhebliche Blutvolumina im Niederdrucksystem (einschließlich der Lungenstrombahn) ge- bzw. aus ihm entspeichert werden können. Aus dem gleichen Grund führt eine Vergrößerung (z. B. durch Infusion) oder Verminderung (z. B. bei Blutspende) des Blutvolumens zu einer viel größeren Änderung des Volumens im Niederdruck- als im arteriellen System. Ohne Beteiligung der Gefäßnerven, d. h. als direkte Folge der Dehnung der glatten Muskelzellen, reagieren vor allem arterielle Gefäße bei Erhöhung von Ptm mit einer Kontraktion. Auf zellulärer Ebene kommt es dabei durch die Öffnung von mechanosensitiven Kationenkanälen zu einer Depolarisation, die ihrerseits einen Einstrom von Ca2+-Ionen über spannungsgesteuerte Ca2+-Kanäle auslöst. Diese aktive, myogene Tonusentwicklung verringert den Gefäßradius u.U. sogar unter seinen Ausgangswert. Damit wird die tangentiale Wandspannung wieder in die Nähe ihres Anfangswerts zurückgeführt (Abb. 8.8). Diese als Bayliss-Effekt bezeichnete myogene Antwort von Widerstandsgefäßen findet nur in einem mittleren Dehnungsbereich statt und ist nicht in allen Gefäßprovinzen gleich ausgeprägt. Die Vasa afferentia der Niere und die arteriellen Gefäße des Gehirns und des Darms zeigen diese myogene Reaktion auf Änderung der transmuralen Druckdifferenz besonders deutlich. Sie ermöglicht die sog. Autoregulation der Durchblutung in diesen Organen (S. 189) und ist u. a. auch für die lokale Durchblutungsregulation bei Änderungen der Körperlage von Bedeutung (S. 210).

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183

8 Das Kreislaufsystem Nach dem Ohm-Gesetz

A

transmuraler Druck Ptm

P Q_ = R

Erhöhung Senkung Gefäßradius r i

Zeit

Zeit Gefäßmuskeltonus hoch mittel gering

B passive Dehnung bzw. Entdehnung

Wandspannung

184

1a

aktive myogene Antwort

2

Ptm = 120 mmHg

1 3

100 mmHg 80 mmHg

1b

Gefäßradius

Abb. 8.8 Passive und aktive Antwort eines Gefäßes auf Dehnung. A Einer plötzlichen Erhöhung des transmuralen Drucks Ptm (links) folgt nach vorübergehender passiver Zunahme des Gefäßradius ri eine aktive Verringerung unter den Ausgangswert. Das Umgekehrte geschieht bei Senkung von Ptm (rechts). Die Darstellung B zeigt die Beziehung zwischen Gefäßradius und Wandspannung für drei verschiedene Tonuslagen der glatten Muskulatur. Vom Ausgangspunkt 1 führt Hebung bzw. Senkung des Drucks passiv zu den Punkten 1a bzw. 1b und die anschließende myogene Antwort zu den Endpunkten 2 bzw. 3. Dieser zweite Schritt führt die Wandspannung des Gefäßes wieder in die Nähe ihres Ausgangswertes zurück.

8.3

Ohm, Poiseuille, Newton: drei wichtige Gesetze für die Blutströmung

Für die Strömung des Blutes durch das Gefäßsystem gelten die allgemeinen Strömungsgesetze der Physik. Das vom Herzen ausgeworfene Blut fließt infolge der arteriovenösen Druckdifferenz durch den peripheren Widerstand ab und wird entsprechend den regionalen Strömungswiderständen auf die Organe verteilt. Der arterielle Druck (im Mittel etwa 100 mm Hg = 13,3 kPa) zeigt charakteristische Pulsationen, wobei der systolische Druck vor allem durch das Schlagvolumen, der diastolische vor allem durch den peripheren Widerstand bestimmt wird. Der zentralvenöse Druck (etwa 3 mm Hg = 0,4 kPa) hängt vor allem vom Füllungsvolumen des Niederdrucksystems ab.

ð8:4Þ

nimmt das Stromzeitvolumen (Stromstärke Q˙) linear mit der treibenden Druckdifferenz ∆P zu und mit dem Strömungswiderstand R ab. Der bei der Strömung zu überwindende Widerstand entsteht durch die innere Reibung der strömenden Flüssigkeit. Die Tätigkeit des linken Ventrikels, der in Ruhe etwa 70-mal pro Minute ein Schlagvolumen von etwa 80 ml und damit ein Herzzeitvolumen (HZV) von etwa 5,6 l/ min (3,4 l/min pro m2 Körperoberfläche) auswirft, erzeugt in der Aorta einen Druck (Pa) von im Mittel etwa 100 mm Hg (= 13,3 kPa), durch den der Strömungswiderstand des Gefäßsystems des Körperkreislaufs (totaler peripherer Widerstand, TPR) überwunden wird. Das Blut kehrt unter einem sehr niedrigen Druck (zentralvenöser Druck Pv) von etwa 2 – 4 mm Hg (0,3 – 0,5 kPa) in den rechten Vorhof zurück. Die für den Körperkreislauf entscheidende Druckdifferenz zwischen Aorta und rechtem Vorhof beträgt somit etwa 97 mm Hg (ca. 12,9 kPa). Für den großen Kreislauf gilt demnach HZV =

Pa PV TPR

ð8:5Þ

Für den totalen peripheren Widerstand ergibt sich ein Wert von etwa 17,3 mm Hg · l–1 · min (2,3 kPa · l–1 · min). Die analoge Berechnung für den Lungenkreislauf (S. 215 ff.) ergibt bei einem mittleren Druck in der Pulmonalarterie von etwa 15 mm Hg (2,0 kPa) und im linken Vorhof von etwa 5 mm Hg (0,7 kPa) einen Gesamtwiderstand von etwa 1,8 mm Hg · l–1 · min (0,24 kPa·l–1 · min). Der linke Ventrikel fördert also das gleiche Blutvolumen pro Zeit wie der rechte Ventrikel, aber gegen einen rund 10-mal höheren Strömungswiderstand und daher auch mit wesentlich höherem Energieaufwand; dem entspricht auch seine größere Muskelmasse.

Der arterielle Blutdruck: Antrieb für die Blutströmung Der Druck in der Aorta zeigt entsprechend der zeitlichen Abfolge von Systole und Diastole des linken Ventrikels deutliche Pulsationen (Abb. 8.9). Dem steilen Druckanstieg bei Auswurf des Schlagvolumens folgt nach Überschreiten eines Druckmaximums (systolischer Blutdruck PS) die durch den plötzlichen Schluss der Aortenklappen verursachte Inzisur. Nach einem zweiten kleinen Druckanstieg (Dikrotie), der durch die Reflexion der Druckwelle in der Kreislaufperipherie verursacht wird, fällt der Druck infolge des Abströmens des Blutes aus dem arteriellen Windkessel bis auf ein Minimum (diastolischer Blutdruck PD) ab. Die Amplitude des Druckpulses beträgt beim gesunden Jugendlichen in körperlicher Ruhe etwa 40 mm Hg = 5,4 kPa (PS ca. 120, PD ca. 80 mm Hg). Der über die Zeit gemittelte Druck (arterieller Mitteldruck) liegt, wie Abb. 8.9 zeigt, nicht genau in der Mitte zwischen PS und PD, sondern ist wegen der Asymmetrie des Druckpulses etwas niedriger.

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8.3 Ohm, Poiseuille, Newton: drei wichtige Gesetze für die Blutströmung

B

bei erhöhtem Schlagvolumen

Klappe offen

Druck in der Aorta

Klappe geschlossen

120

80

A

140

arterieller Druckpuls

arterieller Blutdruck (mmHg)

120 100

systolischer Druck arterieller Mitteldruck diastolischer Druck

80 60

Entdehnung: Abstrom in die Peripherie

40 20 0

Austreibung des Schlagvolumens: Ausdehnung

C Zeit

bei erhöhtem peripheren Widerstand 120

80

Abb. 8.9 Schematische Darstellung des arteriellen Druckpulses. A Definition des arteriellen Mitteldrucks (violette Flächen über der Mitteldrucklinie gleich groß wie die darunter), des systolischen und des diastolischen Blutdrucks. B Erhöhung des Schlagvolumens führt überwiegend zur Steigerung des systolischen Blutdrucks (Pfeil). C Erhöhung des totalen peripheren Widerstandes steigert überwiegend den diastolischen Blutdruck (Pfeil).

Der Druck in der Aorta hängt von der Größe des Schlagvolumens und des totalen peripheren Widerstandes ab. Eine Steigerung des Schlagvolumens führt zu einer Zunahme besonders des systolischen Drucks, während eine Steigerung des peripheren Widerstandes vor allem den diastolischen Druck erhöht (Abb. 8.9). Form und Amplitude des Druckpulses in der Aorta werden auch von der Dehnbarkeit des arteriellen Gefäßsystems beeinflusst. Aorta und große Arterien wirken während der Ventrikelsystole wie ein Windkessel (Abb. 8.10), indem sie die durch das Herz erzeugten Druckschwankungen dämpfen. Je steifer daher die Arterien, desto größer ist die Blutdruckamplitude und um so höher ist die Belastung des Herzens, das eine größere Beschleunigungsarbeit leisten muss (S. 192). Da sich die Dehnbarkeit der Arterien nicht akut ändert, kann die Blutdruckamplitude als ein qualitatives Maß des Schlagvolumens des Ventrikels gelten. Bei vermindertem Herzschlagvolumen findet man daher auch eine verminderte Blutdruckamplitude, z. B. nach einem Blutvolumenverlust.

Abb. 8.10 Windkesselwirkung der Aorta. Der ansteigende Druck während der Austreibung des Schlagvolumens führt zu passiver (hier übertrieben gezeichneter) Dehnung der Aorta (links). Das dabei gespeicherte Volumen fließt nach Schluss der Aortenklappe weiter in die Kreislaufperipherie (rechts). Die Windkesselwirkung erstreckt sich über die gesamte Aorta und die großen Arterien, nicht nur (wie hier gezeichnet) über den Aortenbogen.

Blutdruckmessung: eine der wichtigsten Methoden der Kreislaufuntersuchung Mit der klinisch üblichen, indirekten Methode wird der Blutdruck nicht in der Aorta, sondern in einer großen Leitarterie (A. brachialis, A. femoralis) gemessen (Abb. 8.11). Eine um den Oberarm (Oberschenkel) gelegte Manschette wird aufgeblasen, bis der Manschettendruck M sicher über dem erwarteten systolischen Druck liegt (Verschwinden des Radialis-Pulses), und dann langsam (2 – 4 mm Hg/s) wieder abgelassen. Liegt der Manschettendruck zwischen PS und PD, so hört man bei der gleichzeitigen Auskultation der Brachial-Arterie distal der Manschette charakteristische Klopfgeräusche (sog. Korotkoff-Geräusche), weil nur während der arteriellen Druckspitzen Blut in die peripheren Gefäße einströmen kann. Unterschreitet der Manschettendruck den diastolischen Druck, so verschwinden die Geräusche oder werden merklich leiser (sofern man nicht durch zu festes Andrücken des Stethoskops das Gefäß komprimiert). Aus Gründen, die auf S. 210 besprochen werden, sollte dabei der Messort etwa in Herzhöhe liegen; wenn man am Oberschenkel misst, sollte der Patient daher liegen. Die ambulante 24-h Blutdruckmessung spielt für die klinische Diagnostik der arteriellen Hypertonie eine große Rolle, denn wie viele andere physiologische Größen unterliegt auch der arterielle Blutdruck einer

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185

186

8 Das Kreislaufsystem

Manschettendruck M > PS PS

M = PS

PD keine Geräusche Stethoskop

Geräusche treten auf

PD

Manschette Pumpe

A Aufblasen der Manschette

B PS ³ Manschettendruck >> PD

PS

Geräusche sehr deutlich

M > PD PD

PS PD M < PD kaum noch Geräusche

C PS > Manschettendruck > PD D Manschettendruck < PS und PD

Abb. 8.11 Indirekte Blutdruckmessung nach Riva-Rocci. Geräusche entstehen, wenn der Manschettendruck M den systolischen Blutdruck (PS) unterschreitet (B), und werden

circadianen Rhythmik (Abb. 8.12 A; vgl. S. 518 f.). Dabei sinkt der Blutdruck nachts deutlich ab. In der Frühphase der Entwicklung einer Hypertonie ist insbesondere diese Nachtabsenkung abgeschwächt oder fehlt ganz (Abb. 8.12 B). Die dargestellte indirekte Methode wird nach ihrem Beschreiber Riva-Rocci benannt; daher werden im klinischen Sprachgebrauch die Angaben des systolischen und diastolischen Drucks meist mit „RR“ abgekürzt (typische Eintragung im Krankenblatt: „RR 120/ 80“). Präziser als diese indirekte sind die direkten Methoden, bei denen eine Kanüle in eine Arterie eingestochen und mit einem Druckmessgerät verbunden oder ein sog. Kathetertipmanometer in das Gefäß eingeführt wird. Diese invasiven Verfahren sind jedoch besonderen Situationen (z. B. Intensivmedizin) vorbehalten.

Der zentralvenöse Druck ist eine wichtige Größe zur Beurteilung von Blutvolumen und Herzleistung Als zentralvenöser Druck wird der im rechten Vorhof herrschende Blutdruck bezeichnet; er ist dem Druck in den großen herznahen Venen praktisch gleich und be-

wieder leiser oder verschwinden, wenn der diastolische Blutdruck (PD) unterschritten wird (D).

trägt etwa 2 – 4 mm Hg (0,3 – 0,5 kPa). Der zentralvenöse Druck zeigt wegen der rhythmischen Tätigkeit des Herzens (Abb. 8.31, S. 199) und der Atmung charakteristische Schwankungen. Wenn der Druck im Thorax bei Inspiration abfällt, so führt dies auch zu einer Senkung des Drucks im rechten Vorhof; umgekehrt ist es bei Exspiration. Diese atemabhängigen Druckschwankungen werden bei forcierter Atmung (gegen erhöhten Atemwiderstand) deutlicher. Daher schwellen die großen sichtbaren Halsvenen beim Oboisten im Orchester ebenso wie beim schreienden Säugling sichtbar an. Darüber hinaus hängt die Höhe des zentralvenösen Drucks vor allem vom Füllungsvolumen des venösen Systems ab, d. h. von der Größe des Blutvolumens. Übermäßige Transfusion führt zu einer Zunahme, Blutvolumenverlust zu einer Abnahme des zentralvenösen Drucks. Die kontinuierliche Beobachtung des Drucks in den zentralen Venen, z. B. über einen Katheter in der V. cava thoracalis, ermöglicht daher auch eine indirekte Überwachung des sog. präkordialen Blutvolumens. Ein erhöhter Füllungszustand der großen Halsvenen kann den aufmerksamen Beobachter auch auf das Vorliegen einer Herzinsuffizienz hinweisen. Ein erhöhtes Füllungsvolumen im venösen System

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8.3 Ohm, Poiseuille, Newton: drei wichtige Gesetze für die Blutströmung A normal

B Frühstadium Hypertonie

arterieller Blutdruck (mmHg)

240

240

tagsüber

210

nachts

180

150

PS

120 90

120

60

30

30 1200

1500

1800

2100

000

300

600

900

Normalbereich

90

PD

60

Uhrzeit

0 900

1200

1500

1800

Nachtabsenkung

PS 127 PD 69

nachts

180

150

0 900

tagsüber

210

127 70

20% 19%

101 57

Abb. 8.12 Ambulante 24-Stunden Blutdruckmessung. Dargestellt sind zwei typische 24-Stunden-Blutdruckprofile einer Person mit normalem systolischen (PS) und diastolischen (PD) arteriellen Blutdruck (A) und einer Person im Frühstadium einer Hypertonie (sog. „borderline“ Hypertonie;

und damit ein erhöhter zentralvenöser Druck ist eine typische Begleiterscheinung der chronischen Herzinsuffizienz. Ursache für die Volumenzunahme ist dabei nicht so sehr die Stauung des Blutes vor dem geschwächten Herz, sondern vielmehr eine gesteigerte renale Flüssigkeitsretention, die durch eine erhöhte Aktivität des Nierensympathikus und des Renin-Angiotensin-Systems ausgelöst wird.

Der totale periphere Widerstand ist der Gesamtwiderstand aller Gefäßgebiete im Körperkreislauf Der Strömungswiderstand beruht auf der inneren Reibung des durch die Gefäße strömenden Blutes. Infolge der Verzweigungsarchitektur des Gefäßsystems entsteht der größte Teil des gesamten Widerstandes in den Arteriolen. Daher sind diese Gefäße die wesentlichen Regulatoren für Durchblutung und Kapillardruck. Der Strömungswiderstand und damit auch die Durchblutung sind ferner von der scheinbaren Viskosität des Blutes abhängig, die infolge des ungewöhnlichen rheologischen Verhaltens nicht konstant, sondern strömungsabhängig ist. Gegen den totalen peripheren Widerstand (TPR) wirft der linke Ventrikel das Herzzeitvolumen aus, das sich dann entsprechend den recht unterschiedlichen regionalen Strömungswiderständen auf die verschiedenen Organe verteilt. In körperlicher Ruhe (Abb. 8.13 links) entfallen die größten Anteile auf Leber- und Darmkreislauf (20 – 25 %), Niere (20 %) und Skelettmuskel (15 – 20 %). Diese Verteilung verändert sich bei körperlicher Arbeit (Abb. 8.13 rechts), weil der Strömungswiderstand in der

2100

000

300

600

900

Nachtabsenkung fehlt

PS 154 PD 100

150 95

–1% 1%

152 94

B). Der Verlust des circadianen Rhythmus und damit der Nachtabsenkung des Blutdrucks geht häufig der Entwicklung eines dauerhaft erhöhten arteriellen Blutdrucks voraus (nach 11).

Lunge Lunge

100%

rechtes Herz

14%

Gehirn

Gehirn Herz Darm

linkes Herz

5% 25%

Herz

19%

Darm

Niere 22% Skelettmuskel Haut

Niere

6%

Skelettmuskel

sonstige

in Ruhe

Haut sonstige bei körperlicher Arbeit

Abb. 8.13 Verteilung des Herzzeitvolumens (HZV) in Ruhe und bei körperlicher Arbeit auf die verschiedenen Organe. Die Flächen der Pfeile entsprechen dem prozentualen Anteil der Organdurchblutung am gesamten HZV. Die Fläche „Lunge“ macht deutlich, dass das HZV bei Arbeit natürlich viel größer ist als in Ruhe. Der Löwenanteil des HZV fließt nun durch die arbeitende Skelettmuskulatur, und auch die Herz-(Koronar-) und Hautdurchblutung sind angestiegen, während die Nieren- und Darmdurchblutung abgesunken ist (→ Abb. 8.34, S. 202).

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187

8 Das Kreislaufsystem

Blutdruck

Regulation der Durchblutung. Erst in zweiter Linie hängt die Durchblutung von der Viskosität des Blutes ab.

Anteil am Widerstand

20

80

60

15

40

10

20

5

0

0

Anteil am Gesamtwiderstand (%)

100

intravasaler Druck (mmHg)

188

n n n n e en en rta rien re rie le ne va ol en lla te rio Ao rte Ve . ca en e V pi Ar rte A V e v a e A e K re lein oß V in d oß gr und illä k kle un gr ap und d k st un po

Abb. 8.14 Die Verteilung des Blutdrucks in den verschiedenen Abschnitten des Gefäßsystems (rote Kurve) ist ein Spiegelbild des jeweiligen Anteils am gesamten Strömungswiderstand. Der größte Druckabfall findet sich in den Gefäßabschnitten mit dem höchsten Teilwiderstand.

arbeitenden Muskulatur stark abfällt, in anderen Organen dagegen u. U. sogar zunimmt (S. 212 f.). Der Widerstand der einzelnen Organkreisläufe hängt von dem Verzweigungsgrad des arteriellen und venösen Gefäßbaums und von dem Tonus der glatten Gefäßmuskulatur ab. Nach den Kirchhoff-Regeln addieren sich für hintereinander geschaltete Gefäßabschnitte die Einzelwiderstände, für parallel geschaltete Gefäßabschnitte die Leitwerte (Kehrwerte der Widerstände). Der Gesamtwiderstand eines Gefäßbaums lässt sich daher ermitteln, wenn man die Einzelwiderstände aller Gefäßsegmente kennt. In jedem einzelnen Gefäßabschnitt mit dem Radius r und der Länge l errechnet sich der Strömungswiderstand R, der durch die innere Reibung (Viskosität h) der strömenden Flüssigkeit entsteht, nach R=

8 l  4  r

ð8:6Þ

Durch Kombination mit dem Ohm-Gesetz (Q˙ = ∆P/R) ergibt sich das Hagen-Poiseuille-Gesetz: 4

 1 r Q_ = P    8  l

ð8:7Þ

Die wesentliche Aussage dieser Gleichung ist, dass bei einer gegebenen Druckdifferenz ∆P die Höhe der Durchblutung vor allem vom Gefäßradius (r4) bestimmt wird. Damit erhält die Regulierung des Gefäßradius durch die glatte Muskulatur eine dominierende Bedeutung für die

Strömungswiderstand und intravasaler Druck sind im Gefäßsystem nicht gleichmäßig verteilt Nicht alle Abschnitte des Gefäßsystems liefern den gleichen Beitrag zum totalen peripheren Widerstand (Abb. 8.14). Vielmehr ist der größte Teil des Widerstandes in den präkapillären Arteriolen und kleinen Arterien lokalisiert, die daher auch als Widerstandsgefäße bezeichnet werden. Der Anteil insbesondere der venösen Gefäße am totalen peripheren Widerstand des Kreislaufsystems ist vergleichsweise gering. Wenn daher der Strömungswiderstand in verschiedenen Organen unterschiedlich ist, so ist dies zwar auch Folge der unterschiedlichen Gefäßdichte dieser Gewebe, vor allem aber Folge eines unterschiedlichen Tonus der präkapillären Widerstandsgefäße. Die Durchblutung und ihre Verteilung innerhalb eines Gewebes wird somit weitgehend durch Veränderung des Arteriolendurchmessers reguliert. Durchblutungsregulation heißt im Wesentlichen Regulation des Muskeltonus kleiner Arterien und Arteriolen. Da die Stromstärke in allen hintereinandergeschalteten Abschnitten des Gefäßsystems gleich (Kontinuitätsprinzip), der Strömungswiderstand aber verschieden ist, muss sich nach dem Ohm-Gesetz auch eine typische Verteilung der intravasalen Drücke im Kreislaufsystem ergeben (Abb. 8.14). Erwartungsgemäß findet in den großen Leitarterien nur ein relativ geringer, in den kleinsten Arterien und Arteriolen jedoch ein sehr großer Druckabfall statt. Während in kleinen Arterien von etwa 100 µm Innendurchmesser noch ein Druck von etwa 70 – 80 mm Hg (9 – 10 kPa) herrscht, beträgt er in den Kapillaren noch ungefähr 20 – 25 mm Hg (2,5 – 3 kPa); für das gesamte venöse System steht dementsprechend nur noch ein sehr geringer treibender Druck zur Verfügung. Diese Druckverteilung ist allerdings eine Idealisierung, da infolge lokaler Unterschiede im Strömungswiderstand innerhalb eines Gefäßgebietes der intravasale Druck in den einzelnen Kapillaren sehr unterschiedlich ist. Darüber hinaus gibt es in einigen Organen typische Abweichungen von der Druckverteilung in Abb. 8.14. So ist beispielsweise der Druckabfall in den großen Arterien, die das Gehirn versorgen, deutlich größer (etwa 35 % des gesamten arteriovenösen Druckgefälles) als in den großen Arterien anderer Organe.

Passive und aktive Änderungen der Gefäßweite bestimmen Druck- und Widerstandsverteilung in einem Gefäßgebiet Wir haben schon auf S. 183 erörtert, dass passives Dehnungsverhalten und aktive, myogene Antwort die Änderung des Gefäßradius bei Änderungen des transmuralen Drucks Ptm bestimmen. Dies hat natürlich Folgen für den Strömungswiderstand des Gefäßes (s. Gleichung 8.6). Steigt Ptm, so nimmt der Radius dehnbarer Gefäße bei ausschließlich passivem Verhalten zu und der Strömungswiderstand dementsprechend ab (Abb. 8.15 A) – der Widerstand verhält sich somit dem transmuralen

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8.3 Ohm, Poiseuille, Newton: drei wichtige Gesetze für die Blutströmung

2

B passives Verhalten bei erhöhtem transmuralen Druck

2

1

1

0

0

3 2

3 Widerstand sinkt

1 0

dehnbares, aber druckpassives Gefäßsystem (z. B. Lunge, Skelettmuskel)

aktives Verhalten bei erhöhtem transmuralen Druck

Widerstand sinkt kurzzeitig, steigt dann über Ausgangswert: myogene Antwort

starres Rohr

Durchblutung

Strömungswiderstand

Gefäßradius

A

dehnbares, aber autoregulierendes Gefäßsystem (z. B. Gehirn, Darm, Niere)

„kritischer Verschlussdruck“

2 1

Zeit

0

Zeit

Abb. 8.15 Wirkung des transmuralen Drucks auf Gefäßradius und Strömungswiderstand. Eine Erhöhung des transmuralen Drucks bewirkt bei rein passivem Dehnungsverhalten eines Gefäßes eine Abnahme (A), bei aktiver myogener Antwort der Gefäßmuskulatur eine Zunahme des Strömungswiderstandes (B).

Druck entgegengesetzt. Bei aktivem Verhalten der Gefäßmuskulatur sind die Widerstandsänderungen hingegen – nach Abschluss des vorübergehenden Einstellungsvorgangs – gleichsinnig wie die Druckänderungen, d. h. bei Druckzunahme resultiert eine Widerstandszunahme (Abb. 8.15 B). Daher wird auch die Durchblutung Q eines Organs von der arteriovenösen Druckdifferenz ∆P in einer Weise abhängen, die davon bestimmt wird, ob sich die durchströmten Widerstandsgefäße passiv oder mehr oder weniger aktiv verhalten. In jedem Falle wird die Beziehung zwischen ∆P und Q bei einem Gefäßgebiet nicht linear sein, wie sie es bei einem nicht dehnbaren Rohr wäre (schwarze Kurve, Abb. 8.16). Vielmehr steigt die Durchblutung bei rein druckpassivem Verhalten der Widerstandsgefäße überproportional an, wenn ∆P erhöht wird (orange Kurve, Abb. 8.16); dieses Verhalten findet sich typischerweise in der Lunge. Im Gegensatz dazu ändert sich die Durchblutung von Niere, Gehirn und intestinalem Gefäßsystem, in denen die myogene Gefäßantwort ausgeprägt ist, bei Änderungen der arteriovenösen Druckdifferenz zumindest in einem begrenzten Druckbereich nur wenig (blaue Kurven, Abb. 8.16). Diese Unabhängigkeit der lokalen Durchblutung von der treibenden Druckdifferenz wird als Autoregulation bezeichnet. Der Druckbereich, in dem die Autoregulation stattfindet, liegt beim Gehirn etwa zwischen 50 und 120 mm Hg (6,5 – 16 kPa), bei der Niere zwischen 60 und 180 mm Hg (8 – 24 kPa; Abb. 12.11, S. 334). Außerhalb dieser Druckbereiche verhalten sich die Gefäße auch dieser Organe druckpassiv. Bei vielen Organen zeigt die Druck-Stromstärke-Beziehung einen charakteristischen Schnittpunkt mit der Abszisse (Abb. 8.16). Die Durchblutung fällt auf Null, obwohl noch eine Druckdifferenz zwischen Arterie und

0

0

arteriovenöse Druckdifferenz

Abb. 8.16 Druck-Stromstärke-Beziehungen für ein starres Rohrsystem, passiv dehnbare Gefäßsysteme und verschieden stark autoregulierende Gefäßsysteme, die sich durch die Grenzen des Autoregulationsbereichs und das Ausmaß der Konstanterhaltung der Durchblutung unterscheiden.

Vene besteht. Die Ursache dieses Phänomens ist nicht ganz geklärt. Sowohl ein Kollaps von Widerstandsgefäßen bei niedrigem Innendruck („kritischer Verschlussdruck“) als auch die Fließeigenschaften des Blutes (S. 190 f.) sind zur Erklärung herangezogen worden. Besonders groß ist diese Druckdifferenz im intrarenalen Gefäßbett. Vermutlich ist dies vor allem die Folge des hohen Gewebedrucks im renalen Interstitium, der durch die feste Nierenkapsel aufrechterhalten wird (S. 333). Konstriktion oder Dilatation der Widerstandsgefäße führt nicht nur zu einer Veränderung des Gesamtwiderstandes und damit der Durchblutung, sondern auch zu einer veränderten Druckverteilung im Gefäßsystem (Abb. 8.17). Bei Dilatation der Arteriolen steigt der Druck in allen distal davon gelegenen Gefäßabschnitten an und umgekehrt. Daher reguliert der Arteriolentonus nicht allein die Größe der Organdurchblutung, sondern auch die Höhe des Drucks in den Kapillaren. Trotz der überragenden Bedeutung der Arteriolen für den Gesamtwiderstand des Gefäßsystems ist auch der Widerstand der größeren Leitarterien, vor allem bei einer Durchblutungszunahme, nicht zu vernachlässigen. Bei maximaler Arteriolendilatation kann somit der normalerweise nur geringe Widerstandsanteil der großen Leitarterien oder auch der Venen eine Durchblutungssteigerung begrenzen. Dies ist besonders dann wichtig, wenn, wie etwa bei einer krankhaften Verengung (Stenose) der Leitarterien, deren Widerstand noch zunimmt. Es kommt dann zu einer Einschränkung der Durchblutungsreserve, d. h. bei gesteigerter Beanspruchung des betroffenen Organs kann die Durchblutung nicht angemessen erhöht werden.

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189

8 Das Kreislaufsystem 100

Fläche (F) maximale Konstriktion der Widerstandsgefäße

intravasaler Druck (mmHg)

80

Kraft (K) dr = Schichtdicke

normaler Gefäßtonus

ebene Strömung

maximale Dilatation der Widerstandsgefäße

60

dv = relative Verschiebung Schubspannung t = K/F Schergrad g = dv/dr Viskosität h = t/g

40

Kapillardruck

Druck

20

dr = Schichtdicke

0

d

gr un oße d V Vv en . c en av ae

gr



e Ao Ar rt te a rie kle n in e un A d rt Ar er te ien rio le n Ka pi lla po re st n ka pi l l ä un re d kle Ven in ol e en Ve ne n

Röhrenströmung

un

190

Abb. 8.17 Druckverteilung im Gefäßsystem im Normalzustand sowie bei maximaler Dilatation bzw. Konstriktion. Bei maximaler Dilatation der Arteriolen wird der größte Druckabfall nach distal verschoben, bei Konstriktion nach proximal. Damit steigt bzw. fällt der Kapillardruck.

Einschränkung der Funktion und plötzliche Schmerzen im betroffenen Organ sind die typischen Folgen dieser Situation, die bei Koronararterienstenose oder Stenose einer großen Extremitätenarterie auftreten können.

Das ungewöhnliche Fließverhalten des Blutes Das Hagen-Poiseuille-Gesetz (Gl. 8.7, S. 188) ist nur für sog. Newtonsche Flüssigkeiten gültig, deren Viskosität η eine konstante Materialeigenschaft ist und nur von der Temperatur abhängt. Für solche Flüssigkeiten, z. B. für Wasser, gilt das Newton-Gesetz  =

(8.8)

demzufolge eine lineare Beziehung zwischen der auf die strömende Flüssigkeit einwirkenden Schubspannung τ und dem daraus resultierenden Schergrad γ besteht (Abb. 8.18). Das Blut ist jedoch eine nichthomogene Suspension von Zellen in Plasma, deren Viskosität von der Größe der einwirkenden Schubspannung abhängt; man spricht daher von der sog. apparenten oder scheinbaren Viskosität (ηapp). Diese beträgt bei hohen Schubspannungen (schneller Strömung) etwa 3,5 mPa · s und nimmt mit abnehmender Schubspannung, d. h. bei verlangsamter Strömung, deutlich zu (Abb. 8.19). Im Gegensatz dazu ist das Plasma eine Newtonsche Flüssigkeit mit einer Viskosität von etwa 1,2 mPa · s. Bei der Beschreibung des Fließver-

dv = relative Verschiebung = Geschwindigkeitsdifferenz

Abb. 8.18 Definition der Schubspannung und des Schergrades in der ebenen Strömung (oben) bzw. der Röhrenströmung (unten). Das Ausmaß der relativen Verschiebung der gedachten Flüssigkeitslamellen hängt nach Newtons Gesetz von dem Zähigkeitskoeffizienten der Flüssigkeit, d. h. ihrer Viskosität ab. In der Röhrenströmung entsteht ein Geschwindigkeitsprofil, weil die Reibungsfläche zwischen zwei benachbarten Flüssigkeitslamellen nicht wie in der ebenen Strömung überall gleich groß ist, sondern zur Rohrachse hin kleiner wird.

haltens des Blutes wird oft auch die sog. relative Viskosität angegeben, d. h. der Quotient aus der scheinbaren Blutviskosität und der Plasmaviskosität. Ursachen für das rheologische Verhalten (Fließverhalten) des Blutes sind Deformierung und Orientierung der Erythrozyten in schneller Strömung sowie die Bildung von vernetzten Erythrozytenaggregaten (Geldrollen, Rouleaux) bei langsamer Strömung (Abb. 8.19). Bei extrem niedriger Schubspannung steigt die scheinbare Viskosität gegen Unendlich an; das bei höheren Schubspannungen dünnflüssige Blut wird nun zu einem gelartigen Festkörper. Bei künstlich hergestellten Suspensionen ist dieses Fließverhalten vielfach erwünscht. So sollen Dispersionsfarben während des Streichens (hohe Schubspannungen) möglichst dünnflüssig sein, aber dann, wenn man sie in Ruhe lässt (niedrige Schubspannungen), zähflüssig werden und nicht spontan wieder ablaufen. Beim Ketchup ist es weniger erwünscht als überraschend, wenn aus der umgedrehten Flasche spontan nichts herausläuft (Festkörperverhalten bei geringer Schubspannung), nach dem Faustschlag auf den Flaschenboden (hohe Schubspannung) sich aber unerwünscht viel in Bewegung setzt. Die Viskosität des Blutes ist ferner von dem Durchmesser des durchströmten Gefäßes abhängig (Fåhraeus-Lindqvist-Effekt, Abb. 8.20). Dies ist eine Folge der sog. Axialmigration, d. h. der Eigenschaft deformierbarer Erythrozyten, sich in einem durchströmten Gefäß in

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8.3 Ohm, Poiseuille, Newton: drei wichtige Gesetze für die Blutströmung

relative Viskosität

1000

100

Hämatokrit 0,95 0,75 0,60 0,40

10

0,25 1

Plasmaviskosität 0,1 0,1

1

10

100

1000

Schubspannung (Pa)

niedrige Schubspannung: Bildung von vernetzten Erythrozytenaggregaten

hohe Schubspannung: Desaggregation und Deformierung

Abb. 8.19 Die scheinbare Viskosität des Blutes steigt mit abnehmender Schubspannung und mit zunehmendem Hämatokrit deutlich an. Hier dargestellt ist die relative Viskosität, d. h. der Quotient aus der scheinbaren Viskosität

4

relative Viskosität

3

2

1

Plasmaviskosität 0

1

10

100

1000

Abb. 8.20 Mit Fåhraeus-Lindqvist-Effekt wird die Abnahme der Viskosität des Blutes mit sinkendem Gefäßdurchmesser bezeichnet. Ursache ist die Axialmigration der Erythrozyten. In Gefäßen mit Durchmessern < 10 µm wird allerdings bald die Verformbarkeitsgrenze der Erythrozyten erreicht, und die Viskosität steigt wieder stark an. Dargestellt ist auf der Ordinate die relative Viskosität, d. h. der Quotient aus scheinbarer Viskosität des Blutes und Plasmaviskosität.

Richtung auf die Gefäßmitte zu bewegen. Dieser Effekt wird erst in Blutgefäßen mit Durchmessern von weniger als etwa 300 µm deutlich. Daher ist die effektive Viskosität des Blutes im Gefäßsystem der Mikrozirkulation geringer (etwa nur halb so groß!) wie in den großen Leitarterien oder -venen.

des Blutes und der des Plasmas. Die wesentlichen Ursachen dieses Fließverhaltens sind die Aggregation von Erythrozyten bei niedrigen Schubspannungen und ihre Deformierung bei hohen Schubspannungen.

Von großer, auch klinischer Bedeutung ist die starke Abhängigkeit der scheinbaren Blutviskosität vom Hämatokrit (Abb. 8.19). Dementsprechend ist der periphere Widerstand bei Anämie erniedrigt und bei Polyzythämie erhöht. Beides bedeutet eine Mehrbelastung für das Herz, weil im einen Fall das Herzzeitvolumen wegen der verminderten Nachlast (S. 156) bei gleichzeitig reduziertem Sauerstoffgehalt des Blutes deutlich steigt, im anderen der vom Herzen zu überwindende periphere Widerstand zunimmt (siehe auch mittel- und langfristige Blutdruckregulation; S. 201). Bei Abweichungen vom normalen Hämatokrit ändern sich das Herzzeitvolumen (wegen der Viskositätsänderung) und die O2-Kapazität des Blutes (wegen der veränderten Hämoglobinkonzentration) gegensinnig. Daher ergibt sich für die globale O2-Transportleistung (HZV × arterielle O2-Konzentration) ein Hämatokritoptimum, das leicht unter dem normalen Hämatokrit des Blutes liegt (Abb. 8.21). Bei einem nichttrainierten Menschen führt deshalb – normale Leistungsfähigkeit des Herzens vorausgesetzt – eher eine künstliche Blutverdünnung bei konstantem Blutvolumen (isovolämische Hämodilution) als eine Transfusion von Erythrozytenkonzentrat zu einer Steigerung der Organdurchblutung. Für einen trainierten Sportler andererseits kann eine Hämatokriterhöhung – etwa durch ein (erlaubtes) Höhentraining oder die (unerlaubte) Verwendung von Erythropoetin (S. 227) – leistungssteigernd wirken, weil das gut trainierte Sportlerherz den durch die Bluteindickung erhöhten peripheren Widerstand verkraften kann. Das Hagen-Poiseuille-Gesetz (Gl. 8.7, S. 188) besagt, dass der Strömungswiderstand linear von der Blutvisko-

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191

8 Das Kreislaufsystem

h app

Blutviskosität

O2-Transportleistung 120

Hämatokrit

100

80

60 O2 -Konzentration im Blut 40

[O2]

transportierte O2 - Menge (%)

192

normaler Hämatokritwert

20

Hämatokrit 0

0

0,2

0,4

0,6

0,8

Hämatokrit

Abb. 8.21 Einfluss des Hämatokrits auf den O2-Transport. Die mit dem Herzzeitvolumen durch das gesamte Gefäßsystem transportierte O2-Menge nimmt bei hohem Hämatokrit wegen der Steigerung der scheinbaren Blutviskosität und bei niedrigem Hämatokrit wegen der Verminderung der O2-Konzentration im Blut deutlich ab. Die maximale O2-Transportleistung (Hämatokritoptimum) liegt leicht unterhalb des normalen Hämatokritwertes (nach 26).

sität abhängig ist. Dies trifft nur dann zu, wenn die Strömung laminar ist, weil nur dann die potenzielle Druckenergie ausschließlich durch innere Reibung in Wärme überführt wird. Bei turbulenter Strömung entstehen zusätzliche Energieverluste durch die Trägheit der Flüssigkeit, weil Flüssigkeitsbewegungen nicht allein in Stromrichtung, sondern auch quer zu ihr erfolgen und daher ständige Beschleunigung bzw. Abbremsung von Flüssigkeitselementen stattfindet. Die Strömung im Gefäßsystem ist jedoch unter physiologischen Bedingungen weitgehend laminar. Turbulenz tritt normalerweise nur kurzfristig (während der Austreibung des Schlagvolumens) im Anfangsteil des Aortenbogens auf, kann aber auch in weiteren Anteilen des arteriellen Systems entstehen, wenn, etwa bei hohem Herzzeitvolumen und stark erniedrigter Blutviskosität (z. B. bei Anämie), sehr hohe Strömungsgeschwindigkeiten auftreten. Unter solchen Bedingungen, ebenso wie bei pathologischen Gefäßveränderungen (Stenosen), macht sich die turbulente Strömung gelegentlich durch mit dem Stethoskop hörbare Strömungsgeräusche bemerkbar.

Pulsation von Druck und Strömung im Gefäßsystem Druck und Strömung im Arteriensystem zeigen charakteristische Pulsationen, deren Form und Amplitude von der Dehnbarkeit (Windkesselwirkung) der Gefäße bestimmt und durch Palpation von Arterien untersucht werden können. Venöse Druck- und Strömungsschwankungen werden von der Sogwirkung des Herzens und der Atmung verursacht. Die Form des Druckpulses in der Aorta (Abb. 8.9, S. 185), der sich als Druckwelle auch in die peripheren Gefäße fortpflanzt, ändert sich wegen der nach distal abnehmenden Dehnbarkeit der Gefäßwände und wegen der Überlagerung mit reflektierten Druckwellen, die aus der Kreislaufperipherie zurückkehren (Abb. 8.22). In den großen muskulären Arterien (A. femoralis, A. subclavia etc.) nimmt die Druckpulsamplitude zunächst zu, wird dann aber in noch weiter peripheren Arterien zunehmend gedämpft. In den Kapillaren finden sich nur relativ geringe pulsatorische Druckschwankungen, die bei maximaler Vasodilatation deutlicher werden. Die vom linken Ventrikel erzeugte Druckwelle läuft mit einer Geschwindigkeit von etwa 3 – 5 m/s in der Aorta und von etwa 5 – 10 m/s in den großen Leitarterien, aber nur von etwa 1 – 2 m/s in den Venen über das Gefäßsystem. Diese Geschwindigkeiten der Druckpulswelle sind deutlich höher als die in den gleichen Gefäßen herrschenden Strömungsgeschwindigkeiten (Abb. 8.23). Durch Betasten (Palpation) einer Arterie (z. B. der A. radialis) kann man Form und Amplitude des sich über das Arteriensystem ausbreitenden Druckpulses untersuchen. Anhand der sog. Pulsqualitäten lässt sich neben der absoluten Höhe des Innendrucks auch die Geschwindigkeit des Druckanstiegs sowie die Druckamplitude und damit indirekt das Schlagvolumen und die Dehnbarkeit des arteriellen Windkessels qualitativ bewerten. Diese einfache Untersuchungsmethode ist auch an anderen peripheren Arterien, z. B. bei Verdacht auf das Vorliegen einer durchblutungsmindernden Gefäßstenose, aufschlussreich. Die diskontinuierliche Fördertätigkeit des Herzens erzeugt im Gefäßsystem auch eine pulsierende Strömung, die infolge der Windkesselfunktion elastischer Gefäße von zentral nach peripher zunehmend gedämpft wird (Abb. 8.23). Schon in den peripheren Arterien fällt die „diastolische“ Stromgeschwindigkeit daher nicht mehr auf Null, und in den Kapillaren ist die Strömung praktisch kontinuierlich. Der linke Ventrikel muss in der Austreibungsphase nicht das gesamte Blutvolumen, sondern nur das Schlagvolumen und den Inhalt des Anfangsteils der Aorta von einer Geschwindigkeit von nahe Null auf einen Spitzenwert von etwa 1,5 m/s beschleunigen. Die mit zunehmendem Lebensalter auftretende Versteifung der großen arteriellen Gefäße (Abb. 8.56, S. 220) hat daher auch Folgen für die Leistungsanforderung an das Herz. Je geringer die Dehnbarkeit und daher die Windkesselwirkung der Gefäße, desto größer ist das vom linken Ventrikel mit jedem Schlag zu beschleunigende Blutvolumen und damit die zu leistende Beschleunigungsarbeit (S. 143 f, S. 221).

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8.4 Stofftransport in Austauschgefäßen werden. Daher ist die Form venöser Strompulse von denjenigen im Arteriensystem sehr verschieden (vgl. Aortendruck und zentralvenösen Druck in Abb. 8.31, S. 199).

160

systolische Maxima

Druck (mmHg)

120

8.4

Die wichtigste Barriere für die überwiegend passiven Austauschvorgänge durch die Gefäßwand ist das Endothel, dessen Struktur und Durchlässigkeit in verschiedenen Organen sehr unterschiedlich ist. Ist die Permeabilität des Endothels für einen Stoff hoch, wird die austauschbare Stoffmenge durch die Durchblutung begrenzt; ist sie gering, so wirkt die Diffusion begrenzend. In jedem Fall ist die riesige Oberfläche (im Wesentlichen der Kapillaren und postkapillären Venolen) bestimmend für die Größe des Stoffaustauschs.

80

Mitteldruck diastolische Minima 40

0

Ao

r ta

e asc

nd

en

s

Ao

r ta

th o

rac

i ca Ao

r ta

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om

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li s

A.

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ra mo

li s A.

ti b

sa ia li

n te

r io

r

Abb. 8.22 Änderung des Druckpulses im Verlauf der großen Leitarterien. Die Zunahme der Druckamplitude ist Folge des Anstiegs des systolischen (PS) und der (geringeren) Abnahme des diastolischen Drucks (PD). Der arterielle Mitteldruck, der sich annäherungsweise aus PD + 1⁄3 (PS – PD) errechnet, fällt entlang dieser Leitarterien nur wenig ab (nach 9).

Die Abschwächung der Druck- und Strompulse in den peripheren Abschnitten des Gefäßsystems wird von der Höhe des Strömungswiderstandes bestimmt. Bei hoher Durchblutung und niedrigem Widerstand können Druckbzw. Strompulse beispielsweise in den Fingerspitzen deutlich subjektiv wahrnehmbar sein. In den größeren Venen überlagert sich der durch den linken Ventrikel erzeugte, schon stark abgeschwächte Strompuls mit den Druckschwankungen, die durch die rhythmische Ansaugung des Blutes in den Thorax, durch die Atmung und durch die Pumptätigkeit des rechten Herzens erzeugt

Der Stoffaustausch durch die Wand der Blutgefäße dient der Versorgung der Organzellen mit Stoffwechselsubstraten und ihrer Befreiung von Stoffwechselendprodukten, aber auch der Verteilung von Wirkstoffen, sowohl körpereigenen (z. B. den Hormonen) als auch zugeführten (z. B. Medikamenten), zwischen intra- und extravasalem Raum. Der größte Teil des Stoffaustauschs erfolgt in den Kapillaren und postkapillären Venolen (Austauschsystem, Abb. 8.1) wegen der dort sehr großen Austauschfläche, die sich durch die starke Verzweigung ergibt (S. 182 f. und Abb. 8.6). Für gut lipidlösliche Stoffe wie etwa die Atemgase CO2 und O2 ist die Gefäßwand praktisch kein Hindernis, so dass solche Stoffe auch durch die Wand der Arteriolen ins Gewebe diffundieren können. Die entscheidenden Austauschvorgänge durch die Gefäßwand sind überwiegend passiv. Aktive Transportmechanismen, die an Epithelien (z. B. der Darmschleimhaut oder der Nierentubuli) eine große Rolle spielen, finden zwar auch am Endothel statt. Sie sind jedoch für den Stoffaustausch durch die Gefäßwand nur dort wesentlich, wo, wie im Gehirn, wegen besonders ausgeprägter Undurchlässigkeit der Gefäßwand (Blut-Hirn-Schranke, S. 850 f.) der passive Transport stark behindert ist.

150 4 100

3

50

(cm/s)

Strömungsgeschwindigkeit (cm/s)

Stofftransport in Austauschgefäßen

2 1

0 0 – 50

A

ort

sc aa

en

de

ns A

ort

ho at

ra c

ic a A

o rt

b aa

do

m in

a li s

A

. fe

ra mo

li s A

.t

l is ib ia

an

te r

io r

Abb. 8.23 Strompulse im arteriellen System. Die am Eingang des arteriellen Systems noch pulsierende Strömung nimmt mit zunehmender Entfernung von der Aortenklappe

A rt

o le e ri

60

µm A rt

o le eri

30

µm A rt

o le eri

20

µm A rt

o le eri

µ 12

m Ka

ar p i ll

e7

µm

immer mehr kontinuierlichen Charakter an. In den Kapillaren ist der Strompuls fast völlig gedämpft (nach 9 und 19).

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193

8 Das Kreislaufsystem dünnes Endothel

dickes Endothel

Kapillarwand

ci

ca

co

cv Interstitium kontinuierlich (z. B. Skelettmuskel)

ca 1 diffusionslimitierter Stoffaustausch 2

Stoffkonzentration c

194

fenestriert (z. B. Niere) durchblutungslimitierter Stoffaustausch

3 4 co Kapillarlänge

Abb. 8.24 Diffusion eines Stoffes aus einer Kapillare. Die Konzentration des Stoffes innerhalb der Kapillare (ci) nimmt in deren Längsrichtung ab. Ist die Gefäßwand nur wenig für den Stoff durchlässig, so wird dessen Konzentration am venösen Ende (cv) sich kaum von der am arteriellen (ca) unterscheiden (Diffusionslimitierung; Kurve 1). Je höher die Wanddurchlässigkeit ist (Kurven 2 – 4), desto schneller sinkt die Innenkonzentration auf die Konzentration im umgebenden Interstitium (co) ab. Bei hoher Durchlässigkeit der Wand wird ein Austauschäquilibrium erreicht (Kurven 3 und 4); der Stofftransport ist dann nur noch durchblutungslimitiert.

Sowohl durch die Gefäßwand als auch innerhalb des interstitiellen Raumes werden Wasser und alle gelösten Stoffe durch Diffusion transportiert. Dies geschieht nach dem Fick’schen Diffusionsgesetz dn c c0 =DA i dt x

ð8:9Þ

Dabei ist dn/dt die Zahl der pro Zeiteinheit diffundierenden Moleküle, D der Diffusionskoeffizient des gelösten Stoffes, (ci – co) die Konzentrationsdifferenz zwischen der Innenseite (i) und der Außenseite (o) der Gefäßwand, x deren Dicke und A die Größe der Austauschfläche1. Diffundiert ein bestimmter Stoff aus einem Blutgefäß in das umgebende Gewebe, so fällt bei gegebener Stoffkonzentration im Interstitium (co) die Stoffkonzentration

1

Ersetzt man ci – co durch ∆c, dn/dt durch JDiff. und D/x durch die Permeabilität P und bringt man A auf die linke Seite, ergibt sich die auf S. 21 gezeigte Form des Fick’schen Diffusionsgesetzes.

diskontinuierlich (z. B. Leber)

Abb. 8.25 Schematische Darstellung verschiedener Typen des Kapillarendothels. Die Darstellungen rechts und links unterscheiden sich im Wesentlichen durch die Dicke des Endothels. Als äußerste Wandschicht ist hier die Basalmembran dargestellt (nach 5).

im Gefäß (ci) exponentiell über die Gefäßlänge ab (Abb. 8.24). Ist die Durchlässigkeit der Gefäßwand für einen Stoff hoch, so kann bis zum Kapillarende ein Austauschäquilibrium erreicht werden (cv = co). In diesem Fall wird die maximal austauschbare Stoffmenge vom „Nachschub“, d. h. von der Durchblutung begrenzt; man nennt den Transport solcher Stoffe daher perfusionsoder durchblutungslimitiert (Kurve 3 und 4 in Abb. 8.24). Dies gilt für alle lipidlöslichen und kleine wasserlösliche Moleküle (O2, Glucose, Na+ und andere Elektrolyte). Ist dagegen die Gefäßwand für einen Stoff wenig durchlässig, so wird die ausgetauschte Stoffmenge im Verhältnis zu ihrer Nachlieferung im Blutstrom gering sein; ein Austauschäquilibrium wird nicht erreicht (cv >> co). In diesem Fall hängt die Menge des austauschbaren Stoffes vor allem von seiner Diffusionsgeschwindigkeit durch die Wand ab; man nennt den Transport solcher Stoffe diffusionslimitiert (Kurve 1 und 2 in Abb. 8.24). Dies gilt für wasserlösliche großmolekulare Stoffe, z. B. die Plasma-Proteine. Durch Diffusion werden im gesamten Kreislaufsystem etwa 75 000 l Wasser pro Tag in beiden Richtungen durch die Gefäßwand ausgetauscht, ebenso etwa 20 000 g Glucose. Die Nettobewegung dieser beiden Stoffe von der

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8.4 Stofftransport in Austauschgefäßen Blutbahn ins Gewebe, also die Differenz zwischen „Einwärts-“ und „Auswärts“diffusion, ist hingegen vergleichsweise sehr klein (für Glucose etwa 400 g pro Tag). Wasser kann allerdings auch durch Filtration durch die Gefäßwand ins Gewebe übertreten.

Wichtigste Barriere für den Stoffaustausch zwischen intra- und extravasalem Raum ist das Gefäßendothel Dicke, Kontinuität und Feinstruktur des Endothels können in verschiedenen Organen sehr unterschiedlich sein, so dass man verschiedene Typen des Kapillarendothels differenziert (Abb. 8.25), die sich durch die Größe und Häufigkeit von potenziellen Durchtrittsstellen (Interzellularfugen, Fenestrationen, intraendotheliale Lücken) unterscheiden. Da Zellmembranen zu wesentlichen Teilen aus Lipiden bestehen, können lipidlösliche Stoffe relativ leicht durch die luminale und abluminale Membran der Endothelzellen (transzellulär) hindurchdiffundieren (Abb. 8.26); ihrem Austausch steht daher auch die gesamte Gefäßoberfläche zur Verfügung. Für wasserlösliche Stoffe hingegen ist nur ein sehr kleiner Teil (< 0,5%) der Gefäßoberfläche durchlässig; diese Stoffe werden überwiegend durch die Interzellularfugen (parazellulär) ausgetauscht (Abb. 8.26). Als weitere, jedoch umstrittene Passagewege gelten die membranumschlossenen Vesikel (Durchmesser etwa 50 nm), die mit der luminalen und abluminalen Zelloberfläche, teilweise aber auch miteinander in Verbindung stehen (Abb. 8.26).

Wasser und wasserlösliche Stoffe werden durch sog. Porensysteme der Endothelbarriere ausgetauscht Je größer das Molekulargewicht eines Stoffes, desto mehr ist seine Passage durch die Poren behindert (molekulare Siebung). Die Filtration von Wasser wird von hydrostatischen und kolloidosmotischen Druckdifferenzen sowie von der Größe der Oberfläche und von der hydraulischen Leitfähigkeit der Gefäßwand bestimmt. Ein Filtrationsäquilibrium wird nur annähernd erreicht, und die Differenz zwischen Auswärts- und Einwärtsfiltration (etwa 10 %) wird durch den Lymphstrom ausgeglichen. Da die Zellmembran für wasserlösliche Substanzen sehr wenig durchlässig ist, können diese Stoffe nur durch „Lücken“ passieren. Man stellt sich dabei zwei verschiedene funktionelle „Porensysteme“ vor: kleine Poren (2 – 5 nm Durchmesser) und wesentlich weniger zahlreiche, große Poren (Durchmesser 20 – 80 nm), deren Anzahl in Richtung auf das venöse Kapillarende zunimmt (Permeabilitätsgradient). Es ist wahrscheinlich, dass die kleinen Poren im Wesentlichen den Interzellularfugen entsprechen, während Fenestrationen und Vesikel wahrscheinlich das große Porensystem darstellen (Abb. 8.26). Je nach der Größe der diffundierenden Moleküle (Tab. 12.3, S. 338) kann ihre Diffusion durch die Poren mehr oder weniger stark behindert sein. Kleine Moleküle, z. B. Glucose (Radius etwa 0,4 nm) zeigen weitgehend

Passage durch Fenestrationen mit Diaphragma transzelluläre Diffusion (lipidlösliche Stoffe)

transzellulärer Kanal durch Vesikelfusion Passage durch Interzellularfuge (parazellulär)

Basalmembran Gefäßendothel

Abb. 8.26 Wege für die Stoffpassage durch das Gefäßendothel. Die Verfügbarkeit dieser Passagewege im Endothel einer Gefäßprovinz bestimmt dessen Leitfähigkeit.

freie Diffusion durch die Membranporen; bei Albumin (Radius 3 – 4 nm) ist die Behinderung schon erheblich und bei noch größeren Proteinen so stark, dass sie die Endothelbarriere kaum passieren können. Das Ausmaß der Passagebehinderung verschiedener Stoffe in ein und demselben Gefäßgebiet wird in Abb. 8.27 durch den Permeabilitätskoeffizienten P P=

D FP  x F

ð8:10Þ

ausgedrückt, wobei der Anteil der gesamten Querschnittsfläche der Poren (Fp) an der gesamten Austauschfläche (F) berücksichtigt ist (x = Dicke der Gefäßwand, D = Diffusionskoeffizient).

Filtration von Flüssigkeit: hydrodynamische Strömung durch die poröse Kapillarwand Das Endothel verfügt über so große Poren, dass Wasser und darin gelöste niedermolekulare Stoffe weitgehend ungehindert hindurchfließen können. Da der intravasale Druck meist höher ist als der extravasale Druck im Interstitium, würde die Blutflüssigkeit völlig durch die undichte Gefäßwand in das extravasale Gewebe versickern, wenn der hydrostatischen Druckdifferenz ∆P zwischen Innen- und Außenseite der Kapillarwand nicht eine osmotische Druckdifferenz ∆π entgegenstünde. Da die Gefäßwand Proteine je nach Molekulargewicht in begrenztem Umfang passieren lässt, muss die gesamte osmotische Druckdifferenz mit dem sog. osmotischen Reflexionskoeffizienten σ korrigiert werden (S. 866 f.). Dieser hat den Wert 1 für Moleküle, die von der Gefäßwand zurückgehalten (reflektiert) werden, und den Wert 0 für solche, die frei passieren können. Der tatsächliche Wert für Plasmaproteine liegt im Mittel aller Gewebe etwa bei 0,85. Die transmurale Flüssigkeitsströmung

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195

8 Das Kreislaufsystem 40 +

Na , Cl

–

30 30

Druck (mmHg)

Harnstoff

20

Hexosen

DP–Dp =0 3

Dp Filtrationsgleichgewicht

10

0

1

2

Albumin 3

4

Molekülradius (nm)

Abb. 8.27 Durchlässigkeit (Permeabilität) der Kapillarmembran. Sie nimmt mit steigendem Molekülradius verschiedener wasserlöslicher Stoffe stark ab; dies beruht auf der zunehmenden Behinderung des Stoffdurchtritts bei der Passage durch die Porensysteme (molekulare Siebung; s. a. Tab. 12.3, S. 338).

kann je nach Höhe der hydrostatischen und osmotischen Drücke entweder gewebewärts (Auswärtsfiltration) oder lumenwärts (Einwärtsfiltration = Reabsorption) gerichtet sein (Abb. 8.28). Nach dem sog. Starling-Gesetz ist der effektive Filtrationsdruck Peff, der die Filtration treibt, gleich der Differenz von hydrostatischen (P) und osmotischen (π) Drücken innerhalb (i) und außerhalb (o) des Gefäßes: Peff = P

   = ðPi

Po Þ

  ð i

o Þ

ð8:11Þ

Das filtrierte Flüssigkeitsvolumen Q˙ f hängt außerdem von der hydraulischen Leitfähigkeit der Gefäßwand und von der Filtrationsfläche ab. Das Produkt dieser beiden Größen wird durch den Filtrationskoeffizienten Kf beschrieben: Q_ = K  P = K  ðP   Þ ð8:12Þ f

eff

Filtrationskoeffizient (rel. Einheiten)

Myoglobin

filtriertes Volumen

Inulin

f

DP

2 1

Saccharose

10

0

20

DP–Dp >0

Druck (kPa)

6

Permeabilitätskoeffizient (10 cm/s)

196

0

0

2

1

auswärts 0 einwärts

.

Qf

Kapillarlänge

Abb. 8.28 Flüssigkeitsaustausch entlang eines Austauschgefäßes nach dem Starling-Prinzip. Der hydrostatische Druck in der Kapillare fällt kontinuierlich ab. Gleichzeitig nehmen in der Längsrichtung sowohl die hydraulische Leitfähigkeit der Gefäßwand (wegen der Dichte und Größenverteilung hydrophiler Durchtrittsporen) als auch die Austauschoberfläche vor allem im venösen Kapillarschenkel stark zu. Dennoch kommt es nach Erreichen des Filtrationsgleichgewichts (im gezeigten Fall nach etwa 2⁄3 der Kapillarlänge) nicht zu einer Umkehr des Flüssigkeitsaustausches, da parallel zum Absinken des hydrostatischen Kapillardrucks der interstitielle kolloidosmotische Druck ansteigt, weshalb ∆π ebenfalls absinkt und der effektive Filtrationsdruck (∆P – ∆π) bei Null bleibt.

f

In der Niere (S. 336) und im Dünndarm ist Kf besonders hoch (fenestriertes Endothel), im Skelettmuskel (kontinuierliches Endothel) etwa 100fach niedriger. Der hydrostatische Druck in den Kapillaren (Pi; für den Körperkreislauf im Mittel etwa 25 mm Hg = 3,3 kPa, für den Lungenkreislauf etwa 10 mm Hg = 1,3 kPa) ändert sich bei Änderungen des Arteriolentonus (Abb. 8.17, S. 190). Daher hat eine Durchblutungssteigerung durch Dilatation der Arteriolen auch eine vermehrte Filtration ins Gewebe zur Folge. Da der postkapilläre Strömungswiderstand meist niedrig und nur wenig veränderlich ist, beeinflussen vor allem venöse Druckänderungen den Kapillardruck und daher die Filtration. Dies kann z. B. bei manchen Menschen, selbst bei gesunden, zum Anschwellen der Füße nach langem

Stehen, vor allem bei warmem Wetter (hoher venöser Druck, niedriger arterieller Widerstand) führen und macht verständlich, dass z. B. bei Patienten mit Herzinsuffizienz (S. 186 f.) Ödeme vor allem an den Beinen entstehen können. Der hydrostatische Druck im Interstitium (Po) ist normalerweise sehr gering; die Werte variieren je nach Messmethode zwischen + 5 und – 6 mm Hg. Der Druck im Interstitium ist auch wegen der großen Compliance des interstitiellen Gewebes relativ konstant. Ausnahmen hiervon sind in feste Kapseln eingeschlossene Organe (Gehirn, Niere, Knochenmark), in denen der Gewebedruck sich proportional den intravasalen Drücken ändern kann. Der kolloidosmotische Druck des Plasmas (πi) ist im Wesentlichen von der Plasmaproteinkonzentration ab-

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8.4 Stofftransport in Austauschgefäßen

Wir haben schon gesehen, dass am Anfangsteil der Kapillaren eine Auswärtsfiltration stattfindet, weil hier die hydrostatische Druckdifferenz die kolloidosmotische übersteigt. Nun könnte man erwarten, dass sich dies mit weiter abfallendem hydrostatischem Druck in der Kapillare am venösen Ende und in den postkapillären Venolen umkehrt und es zu einer Reabsorption von Flüssigkeit kommt, so dass proximale Auswärtsfiltration und distale Reabsorption im Gleichgewicht stehen. Genaue Messungen zeigen aber, dass in der Regel in allen Gefäßen praktisch nur eine Auswärtsfiltration stattfindet (Abb. 8.28). Die Erklärung hierfür ist, dass bei Unterschreiten einer bestimmten Höhe des Kapillardrucks durch die zunächst einsetzende minimale Reabsorption sofort der interstitielle kolloidosmotische Druck lokal ansteigt, ∆π deshalb ebenfalls sinkt und eine weitere Reabsorption verhindert wird (∆P – ∆π = 0). Die Proteine im Interstitium sammeln sich insbesondere am äußeren Ende der Durchtrittsporen für das Wasser an, so dass dort lokal ein hoher kolloidosmotischer Druck herrscht, der die weitere Reabsorption verhindert. Wie aber gelangt nun die filtrierte Flüssigkeit wieder aus dem Interstitium in das Gefäßsystem zurück? Hierfür ist einerseits der Lymphfluss verantwortlich; seine Bedeutung für die Flüssigkeitshomöostase des Gewebes wird besonders bei Störungen der Lymphdrainage deutlich, die z. B. bei metastasierenden Tumoren gehäuft auftreten und zu starken Schwellungen der betroffenen Gewebsareale führen. Ein weiterer wichtiger Mechanismus der Flüssigkeitshomöostase ist die rhythmische Kontraktion der Arteriolenmuskulatur (Vasomotion). Damit wird der Kapillardruck intermittierend auf die Höhe des venösen Drucks abgesenkt und ermöglicht so kurzfristig eine Reabsorption, bevor der bereits beschriebene Anstieg des kolloidosmotischen Drucks im Interstitium eingesetzt hat (Abb. 8.29). Diese für eine effektive Volumenregulation wichtigen Mechanismen der Selbstregulation funktionieren weit weniger gut, wenn etwa bei übermäßiger Flüssigkeitsansammlung im Interstitium dessen Compliance durch Nachgeben des interstitiellen Fasergerüsts zunimmt. Wie wir schon gesehen haben, kann ein solcher Zustand, der als Ödem bezeichnet wird, durch Erhöhung des Kapillaroder venösen Drucks, durch Behinderung des Lymphabflusses oder durch die Kombination von Vasodilatation und Permeabilitätssteigerung zustande kommen, die das

auswärts

40

Steady state: Messung einige Minuten nach Einstellung des Drucks: Filtration, aber keine Reabsorption

20

Filtrationsrate/Fläche, nm · s–1

Filtrationsgleichgewicht und Filtrationsbilanz

60

0 10

20

30

40

Kapillardruck, cmH2O

–20

einwärts

hängig (Abb. 31.1, S. 867). Als normaler Mittelwert gilt ein Druck von etwa 25 mm Hg (3,3 kPa). Bei Proteinmangel im Plasma ist der kolloidosmotische Druck vermindert und die Auswärtsfiltration daher gesteigert (Ödeme bei Eiweißmangelernährung). Der kolloidosmotische Druck im Interstitium (πo) ist entsprechend der unterschiedlichen Eiweißpermeabilität der Austauschgefäße in verschiedenen Organen sehr variabel. Da mit Ausnahme der Leber und (bedingt) auch des Magen-Darm-Trakts nur wenig Protein im Interstitium enthalten ist (etwa 10% der Plasmakonzentration), wird der kolloidosmotische Druck des Interstitiums meist als nahe Null angesetzt.

–40

initiale Antwort: Messung unmittelbar nach Einstellung des Drucks: Filtration und Reabsorption

Abb. 8.29 Beziehung zwischen Kapillardruck und Flüssigkeitsfiltration. Sind arterieller Druck und präkapillärer Widerstand konstant (steady state), so erfolgt eine auswärtsgerichtete Flüssigkeitsbewegung (Filtration) ausschließlich in den frühen Kapillarabschnitten mit einem hohen Kapillardruck. Eine einwärtsgerichtete Flüssigkeitsbewegung (Reabsorption) findet lediglich initial nach einer Absenkung des hydrostatischen Drucks durch dem Kapillarbett vorgeschaltete Prozesse statt, z. B. bei einem Abfall des arteriellen Blutdrucks, einer Sympathikusaktivierung mit Konstriktion der Arteriolen oder durch Vasomotion (nach 27).

typische Wirkungsspektrum von Entzündungsstoffen (Histamin, Bradykinin, bestimmte Eikosanoide) kennzeichnen.

Stofftransport im Interstitium Das Interstitium ist kein homogenes Kompartiment, sondern stellt ein Sol-Gel-Gemisch dar, dessen wesentliche Bestandteile das kollagene und elastische Fasermaterial sowie die makromolekularen Komponenten (Proteoglykane) der sog. Grundsubstanz sind. Infolge der hohen Wasserbindungskapazität dieser Makromoleküle ist nur wenig „freies Wasser“ verfügbar; daher ist sowohl die Diffusion (vor allem von großen Molekülen) als auch die konvektive Strömung von Wasser stark behindert. Die Beweglichkeit von gelösten Teilchen in den wassergefüllten Kanälchen (Mikrocanaliculi) zwischen den Gel-Inseln ist sehr eingeschränkt und nicht homogen verteilt. Bei Steigerung des interstitiellen Wassergehalts (z. B. durch vermehrte Auswärtsfiltration) wird der Diffusionswiderstand des Interstitiums geringer. Im Einzelnen ist die Bedeutung der physikochemischen und strukturellen Organisation des Interstitiums für den Substanztransport aber nicht geklärt.

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197

198

8 Das Kreislaufsystem Hoch- und Niederdrucksystems ausgelöst und über das vegetative Nervensystem vermittelt. Die längerfristige Blutdruckregulation umfasst Veränderungen des Flüssigkeits- und Elektrolythaushalts, die durch verschiedene Hormonsysteme gesteuert werden.

Drainage des Interstitiums: Bildung und Transport der Lymphe Die Gesamtfördermenge des Lymphgefäßsystems beträgt etwa 2 – 3 l pro Tag; sie nimmt bei Zunahme der Auswärtsfiltration erheblich, u. U. auf das 20- bis 100fache zu. Die Strömung im Lymphgefäßsystem entsteht durch rhythmische Kontraktionen der glatten Wandmuskulatur der größeren Lymphgefäße; die Strömungsrichtung wird durch Klappen festgelegt. Da die Passage aus dem Intravasalraum durch die Kapillarwand in das Interstitium für Proteine eine Einbahnstraße ist, stellt der Lymphfluss die einzige Möglichkeit für deren Rückführung dar; eine Behinderung des Lymphflusses führt daher auch zu Proteinverlust aus dem Plasma. Die Proteinkonzentration in der Lymphe ist in den verschiedenen Organen entsprechend der Eiweißpermeabilität der Austauschgefäße sehr verschieden: etwa 60 g/l in der Leber, weniger als 5 g/l im Skelettmuskel. Die Lymphe ist wegen ihres Gehalts an Fibrinogen und anderen Gerinnungsfaktoren gerinnungsfähig.

8.5

Unter Kreislaufregulation versteht man die Summe aller Vorgänge, durch die alle für die Organdurchblutung wesentlichen hämodynamischen Größen (arterieller Blutdruck, Herzzeitvolumen, totaler und regionaler Strömungswiderstand, Blutvolumen) aufeinander abgestimmt werden. Eine Kreislaufregulation ist schon in Ruhe ständig erforderlich, verlangt aber vor allem bei verändertem Bedarf (z. B. Stoffwechselsteigerung bei Muskelarbeit) oder veränderten Umgebungsbedingungen (z. B. Temperatureinwirkungen) eine gezielte Anpassung. Sie umfasst eine Reihe von zentralen Steuerungsvorgängen, die neurogen (über die vegetativen Nerven) oder hormonal (über zirkulierende Hormone) übermittelt werden. In der Peripherie des Kreislaufsystems werden diese Vorgänge ergänzt durch humorale (mit Hilfe von lokal gebildeten Wirkstoffen) oder myogene Einflüsse.

Kreislaufregulation: zentrale Steuerung, Verbraucherkontrolle und langfristige Adaptation

Die Regulation des arteriellen Blutdrucks bedient sich nicht nur der Stellglieder des Kreislaufsystems selbst

Die Ver- und Entsorgung der Gewebe wird dem aktuellen Bedarf durch eine Vielzahl von Regulationsmechanismen angepasst, durch die der arterielle Druck, das Herzzeitvolumen und der periphere Widerstand eingestellt werden. Die kurzfristige Regulation des arteriellen Blutdrucks erfolgt reflektorisch; sie wird durch Dehnungsrezeptoren in den zentralen Abschnitten des

Im Allgemeinen dominiert bei schnellen und kurzfristig (Sekunden bis Minuten) erfolgenden Regulationsvorgängen die neurogene Signalvermittlung, während eine Regulation durch fern vom Wirkort gebildete Hormone längere Zeit (Minuten bis Stunden) benötigt. An mittelfristigen (Stunden bis Tage) Regulationsvorgängen sind in

Regelgröße arterieller Mitteldruck

Stellglieder Zunahme

Gefäße totaler Herz peripherer Widerstand

Abnahme

Karotissinus

Schlagvolumen

venöser Rückstrom

Verlust von Blutvolumen

Frequenz Steigerung

Messfühler verminderte Erregung

Steigerung

Pressorezeptoren

Aortenbogen

Regler

verminderte Hemmung vegetative Strukturen im Hirnstamm „Kreislaufzentren“

Abb. 8.30 Regelkreis für die kurzfristige Regulation des arteriellen Mitteldrucks. Der primäre Abfall des arteriellen Drucks, der hier als Folge eines Blutverlustes angenommen wurde, setzt eine Kette von Regulationsvorgängen in Gang,

die über die Pressorezeptoren zur Sympathikusaktivierung und damit zu vermehrter Herztätigkeit und Gefäßkonstriktion führen.

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der Regel nicht allein die Effektoren des Kreislaufsystems (Herz, Gefäßsystem), sondern auch andere Funktionssysteme (z. B. Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt, Atmung, Thermoregulation) beteiligt. Sehr langfristige (Wochen und Monate) Regulationsvorgänge umfassen zusätzlich Wachstumsveränderungen von Gefäßsystem und Herzmuskulatur.

mmHg

8.5 Kreislaufregulation: zentrale Steuerung, Verbraucherkontrolle und langfristige Adaptation 120

Aortendruck 100

80

Die kurzfristige Blutdruckregulation beruht weitgehend auf reflektorischer Veränderung von Herztätigkeit und Gefäßtonus

zentralvenöser Druck

6

mmHg

Dies geschieht über sog. Kreislaufreflexe, die nach Erregung von Rezeptoren (z. B. Dehnungsrezeptoren der Gefäßwand) über afferente Nerven, vegetative Kerngebiete im Zentralnervensystem und efferente Nerven schließlich zu einem Effektor (glatte Gefäßmuskulatur, Herzmuskulatur) führen (Prinzip eines Regelkreises mit negativer Rückkopplung; Abb. 8.30). Dabei spielen die sog. Presso- (oder Baro-)rezeptoren, die sich im Hochdrucksystem im Bereich des sog. Karotissinus, nahe der Teilungsstelle der Aa. carotides communes, und am Aortenbogen finden, eine besonders wichtige Rolle. Diese sinoaortalen Pressorezeptoren liegen als freie Nervenendigungen in der Media und Adventitia, wo sie in Abhängigkeit von der Gefäßdehnung erregt werden. Die Impulsfrequenz der hier beginnenden afferenten Neurone, die sich über den Karotissinus- bzw. den Aortennerv dem N. glossopharyngeus bzw. dem N. vagus anschließen, wird sowohl vom absoluten Dehnungszustand des Gefäßes als auch von seinen zeitlichen Änderungen bestimmt. Man bezeichnet dies auch als PD-Verhalten, wobei P die proportionale Antwort auf die absolute Größe des Dehnungszustandes der Gefäße beschreibt, während D der differentiellen Antwort bei Änderungen des Dehnungszustandes entspricht (S. 619). Der pulsatile Druck in den großen Arterien führt daher zu rhythmischen Impulsmustern der afferenten Nerven (Abb. 8.31 oben). Die mittlere Impulsfrequenz steigt dabei mit der Höhe des arteriellen Mitteldrucks, aber auch mit der Druckamplitude, der Herzfrequenz und der Anstiegssteilheit des systolischen Druckpulses. Da kurzfristige Schwankungen der Druckamplitude vor allem durch Änderungen des Schlagvolumens bedingt sind und die Anstiegssteilheit des systolischen Druckpulses daher auch die Kontraktionskraft des linken Ventrikels abbildet, werden im Impulsmuster der Pressorezeptorafferenzen Informationen über alle wichtigen physiologischen Größen der Herzfunktion – Herzfrequenz, Schlagvolumen, Schlagkraft und erzeugter mittlerer arterieller Blutdruck – kodiert und an das Gehirn weitergeleitet. Die Pressorezeptorenafferenzen üben einen ständigen hemmenden Einfluss auf diejenigen vegetativen Kerngebiete im Hirnstamm aus, die die tonische sympathische Innervation bestimmen (s. Kap. 27.5, S. 798). Werden die Pressorezeptoren weniger erregt, wie etwa bei einem Abfall des arteriellen Drucks oder des Schlagvolumens, kommt es also zu einer Disinhibition der im Hypothalamus gebildeten und zur Medulla oblongata weitergeleiteten Sympathikusaktivität. Als Folge dieser Disinhibition nimmt der periphere Sympathikotonus zu, und es kommt sowohl zu einer Zunahme von Schlagvolumen

sinoaortale Pressorezeptoren

c

a

v

3

y x

0

A-Rezeptoren der Herzvorhöfe

B- Rezeptoren der Herzvorhöfe

Abb. 8.31 Phasische Erregungsmuster der sinoaortalen Pressorezeptoren sowie der Vorhofrezeptoren und ihre zeitliche Beziehung zu dem Druck in der Aorta bzw. dem zentralvenösen Druck. Dessen typische Wellen haben folgende Ursachen: Die c-Welle entsteht v. a. durch die Vorwölbung der Trikuspidalklappe während der Anspannungsphase, die Drucksenkung x durch die Verschiebung der Ventilebene (Abb. 7.6, S.142). Die v-Welle spiegelt die Vorhoffüllung während der Entspannungsphase der rechten Kammer wider, die y-Senke den Druckabfall im Vorhof nach Öffnen der Trikuspidalklappe, und die a-Welle entsteht durch die Vorhofkontraktion.

und Frequenz des Herzens als auch zu einer Zunahme des peripheren Widerstands. Die neurogene Konstriktion der Widerstandsgefäße findet vor allem im Skelettmuskel und im Mesenterialkreislauf, weniger in der Haut statt (differenzierte sympathische Aktivierung). Bei starker Sympathikusaktivierung kann es auch zu einer Konstriktion vor allem der kleinen Kapazitätsgefäße des Niederdrucksystems kommen, die zu Blutvolumenverlagerung nach zentral und damit zu einem größeren venösen Angebot an das Herz führt. In der Summe wirken diese Veränderungen dem auslösenden arteriellen Druckabfall entgegen und stellen damit den normalen Mitteldruck weitgehend wieder her (Abb. 8.30). Neben dem hemmenden Einfluss auf die Sympathikusaktivität übt der Zustrom aus den Pressorezeptorafferenzen zusätzlich einen direkt stimulierenden Einfluss auf die Motoneurone der zum Herzen ziehenden vagalen Efferenzen aus, die sich im Ncl. ambiguus befinden. Diese reziproken Effekte auf Vagus und Sympathikus wirken bei der reflektorischen Regulation der Herzfrequenz synergistisch. Ein weiterer wichtiger Aspekt des vagalen Schenkels des Pressorezeptorenreflexes ist seine besonders schnelle Wirkung auf die Herzfrequenz (innerhalb von 1 – 2 Sekunden; s. Abb. 7.29 B, S. 163). Die oben genannten sympathischen Effekte entfalten dagegen erst

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199

8 Das Kreislaufsystem

A

B

12

+

normal nach Denervierung der sinoaortalen Pressorezeptoren

3

relatives Vorkommen (%)

6

relatives Vorkommen (%)

200

9

normal

nach zusätzlicher Denervierung der Afferenzen aus dem Niederdrucksystem

6

3

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50

100

150

200

arterieller Blutdruck (mmHg)

Abb. 8.32 Auswirkung der Blockade der sinoaortalen Pressorezeptoren. Nach isolierter Ausschaltung der sinoaortalen Pressorezeptoren (rote Kurve in A) zeigt die Häufigkeitsverteilung (Histogramm) der Blutdruckwerte eine ver-

nach frühestens 5 – 10 Sekunden ihre volle Wirkung. Vagal vermittelte Einflüsse auf die Herzfrequenz sind beispielsweise in der frühen Phase der Orthostase (S. 211) oder bei plötzlichen Blutdruckanstiegen funktionell von großer Bedeutung. Der Pressorezeptorenreflex ermöglicht somit eine schnelle, kontrollierte Gegenregulation bei kurzfristigen Veränderungen des Drucks in den großen Leitungsarterien. Trotz dieses reflektorisch ablaufenden Regulationsvorgangs kann der arterielle Druck durchaus auch größere Veränderungen zeigen, z. B. bei körperlicher Arbeit oder psychischer Erregung. Solche Veränderungen können entweder über nichtpressorezeptorische Afferenzen (z. B. Propriozeptoren des Bewegungsapparats, Chemorezeptoren, Schmerzrezeptoren) oder auch von höher gelegenen Hirnstrukturen (Limbisches System, Kortex) ausgelöst werden. Umgekehrt beeinflusst eine Änderung der Pressorezeptorenafferenzen auch andere vegetative Funktionen (z. B. Atmung, Schweißsekretion, Darmmotilität) ebenso wie höhere Funktionen des Zentralnervensystems (Skelettmuskeltonus, Wachheitszustand). Dies zeigt, dass der Pressorezeptorenreflex keineswegs ein isolierter, in sich geschlossener Regelmechanismus ist, sondern in einen Zusammenhang mit anderen Regulations- und Steuerungsvorgängen gestellt ist. Ob die sinoaortalen Pressorezeptoren auch an der langfristigen Regulation des Blutdrucks beteiligt sind, ist bis heute umstritten. So wurde nach vollständiger Durchtrennung des Reflexbogens zwar eine starke Zunahme der Blutdruckvariabilität, jedoch keine Änderung des arteriellen Mitteldrucks beobachtet (Abb. 8.32 A). Mögli-

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0

50

100

150

200

arterieller Blutdruck (mmHg)

größerte Schwankungsbreite, aber einen unveränderten mittleren Blutdruck. Das mittlere Blutdruckniveau steigt erst nach zusätzlicher Denervierung der Afferenzen aus dem Niederdrucksystem an (B; nach 16 und 31).

cherweise können unter diesen Umständen Afferenzen aus dem Niederdrucksystem einen Teil der Aufgaben der sinoaortalen Pressorezeptoren übernehmen (Abb. 8.32 B). Außerdem kommt es bei dauerhaften Veränderungen des mittleren arteriellen Blutdrucks (z. B. bei arterieller Hypertonie) zu einer Anpassung des Arbeitspunktes des Pressorezeptorenreflexes an das neue Blutdruckniveau (sog. „Resetting“). Dies ermöglicht, dass der Pressorezeptorenreflex auch bei einem dauerhaft veränderten Druckniveau seine volle Wirkung beibehält. Ein Resetting des Pressorezeptorenreflexes spielt auch bei der Anpassung des Kreislaufs bei körperlicher Arbeit eine wichtige Rolle (Abb. 8.33 u. S. 214).

Weitere Dehnungs- und Chemorezeptoren finden sich im Herzen, in den Lungengefäßen und in den Glomera carotica und aortica Reflektorisch wird der arterielle Blutdruck auch bei Erregung von Dehnungsrezeptoren im Niederdrucksystem beeinflusst, die sich in der Wand der großen, in das Herz einmündenden Venen, der A. pulmonalis, der Vorhöfe und Ventrikel selbst befinden. Die Vorhofrezeptoren werden je nach der zeitlichen Lage der Maxima ihrer stark phasischen Entladungsmuster als A-Rezeptoren (während der Vorhofsystole) oder als B-Rezeptoren (während der Vorhoffüllung) bezeichnet (Abb. 8.31). Ihrer Lokalisation entsprechend stellen sie Messfühler für den Füllungszustand der herznahen Anteile des Niederdrucksystems und damit indirekt für die Größe des Blutvolumens dar. Die Erregung vor allem der B-Rezeptoren führt

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8.5 Kreislaufregulation: zentrale Steuerung, Verbraucherkontrolle und langfristige Adaptation

200

mittelschwere Arbeit 150

Herzfrequenz (min–1)

– ähnlich wie die der sinoaortalen Dehnungsrezeptoren – zu einer Hemmung des Sympathikotonus. Eine Erregung der Chemorezeptoren in den Glomera carotica und aortica (s. a. S. 297 f.) beeinflusst ebenfalls kurzfristig den arteriellen Blutdruck. Sinkt der arterielle PO2, so kommt es zu einer reflektorischen Konstriktion der Widerstandsgefäße, die jedoch meist durch die direkte dilatierende Wirkung der Hypoxie sowie durch die Wirkung des aus dem Nebennierenmark freigesetzten Adrenalins auf die Gefäße überspielt wird. So ist, auch infolge einer Zunahme des Herzzeitvolumens, der arterielle Blutdruck in akuter Hypoxie zunächst gesteigert, fällt dann jedoch bei anhaltender Hypoxie wegen der hypoxischen Vasodilatation ab.

leichte Arbeit 100

Ruhe 50

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Die mittel- und langfristige Blutdruckregulation hängt eng mit Veränderungen des extrazellulären Volumens zusammen Wir haben gesehen, dass bei akuter Änderung des arteriellen Blutdrucks die Herztätigkeit und der periphere Widerstand reflektorisch beeinflusst werden. An der mittelfristigen Regulation des Blutdrucks ist darüber hinaus auch der Renin-Angiotensin-Mechanismus beteiligt, durch den bei Blutdruckabfall eine periphere Vasokonstriktion bewirkt wird (S. 369 f.). Änderungen des arteriellen Blutdrucks und anhaltende Änderungen des peripheren Widerstandes haben aber auch einen Einfluss auf die Größe des intravasalen Volumens. Zunächst erfolgt eine Flüssigkeitsverschiebung zwischen Intra- und Extravasalraum. Eine Abnahme des hydrostatischen Kapillardrucks (bei Zunahme des peripheren Widerstandes) vermindert die Filtration und vergrößert so das intravasale Volumen und umgekehrt. Eine Zunahme des Volumens und damit des Füllungszustandes des Niederdrucksystems fördert ihrerseits das venöse Angebot und damit das Herzzeitvolumen. Zur langfristigen Einstellung des arteriellen Blutdrucks sind aber vor allem die funktionellen Beziehungen zwischen Blutdruckregulation und Salz-Wasser-Haushalt wesentlich (S. 385 f.). In diesen Zusammenhang gehören alle Vorgänge, die die gesamte Na+- und Flüssigkeitsaufnahme und -ausscheidung aufeinander abstimmen; dazu gehören die Nierenfunktion und ihre Beeinflussung durch den arteriellen Blutdruck (Druckdiurese) sowie die Hormone Adiuretin (antidiuretisches Hormon = ADH = Vasopressin), Aldosteron und Atriopeptin (atriales natriuretisches Peptid = ANP). Berücksichtigt man den Zusammenhang dieser Einzelmechanismen, so wird die langfristige Adaptation der Kreislauffunktion verständlich: Bei anhaltender Steigerung des peripheren Widerstandes nimmt der arterielle Blutdruck zwar zunächst zu, kehrt aber schon nach Stunden bzw. Tagen zum Ausgangswert zurück. Dies ist Folge einer Abnahme des Herzzeitvolumens, die ihrerseits durch ein vermindertes venöses Angebot entsteht, weil durch Druckdiurese (siehe S. 334) eine erhöhte Flüssigkeitsausscheidung zustande kommt. Umgekehrt führt die bei anhaltender Senkung des peripheren Widerstandes (z. B. bei Anämie) zunächst auftretende Abnahme des arteriellen Blutdrucks zu einer Volumenretention, und die daraus entstehende Zunahme des Blutvolumens bewirkt über Steigerung von Herzfüllung

0

50

100

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200

250

Carotissinus-Blutdruck (mmHg) mittlere Herzfrequenz vor experimenteller Isolation des Carotissinus (reversibler Gefäßverschluss)

Abb. 8.33 Resetting des Pressorezeptorenreflexes. Dargestellt ist die Beziehung zwischen dem arteriellen Blutdruck im Karotissinus und der Herzfrequenz in Ruhe, bei leichter und bei mittelschwerer körperlicher Arbeit (Laufband) am wachen Hund. In Abhängigkeit von der Stärke der körperlichen Arbeit kommt es zu einer zunehmenden Verschiebung der Beziehung zwischen Karotissinusdruck und Herzfrequenz. Diese Verschiebung dokumentiert eine Anpassung des Funktionsbereichs (Resetting) des Pressorezeptorenreflexes an die jeweilige neue physiologische Situation. Das Resetting stellt sicher, dass der Pressorezeptorenreflex auch bei veränderten physiologischen Bedingungen (erhöhtes Schlagvolumen, erhöhte Herzfrequenz, erhöhter arterieller Blutdruck) seine Wirksamkeit beibehält.

und Herzzeitvolumen eine Normalisierung des Blutdrucks. Die chronische Adaptation der Kreislauffunktion ist somit durch das reziproke Verhalten von peripherem Widerstand und Herzzeitvolumen bei praktisch konstantem Blutdruck gekennzeichnet. Dies setzt allerdings eine normale Nierenfunktion voraus. Bei gestörter Nierenfunktion oder anhaltend vergrößertem Extrazellulärvolumen (etwa infolge anhaltend hoher Kochsalzzufuhr mit der Nahrung) kann es zu einer merklichen Steigerung des arteriellen Mitteldrucks über den Normalwert hinaus kommen (Hypertonie). Dies ist weniger Folge einer reflektorischen Beeinflussung von Herzzeitvolumen oder Gefäßtonus als Folge von Verschiebungen in Stoffwechsel und Elektrolytbilanz der Herz- sowie vor allem der Gefäßmuskulatur, die einen anhaltend erhöhten Tonus aufweist (S. 385 f.). Bei langanhaltender Erhöhung des arteriellen Drucks kommt es zu trophischen Veränderungen sowohl im Myokard als auch in den Gefäßen, deren Wandstärke zunimmt (Hypertrophie). Dabei steigt im Allgemeinen der periphere Widerstand weiter an. Solche strukturellen Veränderungen können daher eine zunächst nur funktionelle Blutdrucksteigerung dauerhaft fixieren. Der genaue Mechanismus dieser

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8 Das Kreislaufsystem Die große Zahl der Mechanismen, die den Tonus der Gefäßmuskulatur beeinflussen und dadurch die regionale und lokale Durchblutung regulieren, ist in Abb. 8.35 auszugsweise dargestellt. Diese Einflüsse wirken nicht auf alle Abschnitte des Gefäßbaums in gleichem Maße. Die lokalchemischen (humoralen) Regulationsvorgänge, die auch die sog. metabolische Dilatation bei Steigerung des Gewebestoffwechsels hervorrufen, werden vor allem an den kleinsten präkapillären Arteriolen wirksam, während die neurogenen Einflüsse wohl mehr an den kleinen Arterien und größeren Arteriolen überwiegen.

1000

Ruhedurchblutung = 100 %

maximale Durchblutung (%)

2000

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Durchblutungssteuerung durch Gefäßnerven 250 80 – 90

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l l ke ke us s u tm et e zm el er er Sk H Ni

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19

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4

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1000

400

(A .h ep at ic a) F

0

2–4

% des Herzzeitvolumens

Ruhedurchblutung (ml/min pro 100 g)

0

Ruhedurchblutung (ml/min)

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r be Le

Abb. 8.34 Ruhedurchblutung und Durchblutungsreserve verschiedener Organe und Gewebe. Die Zahlen im untersten Diagramm geben den ungefähren prozentualen Anteil am Herzzeitvolumen an.

druckabhängigen Vorgänge, die bei bestimmten Formen der Hochdruckkrankheit bedeutsam werden, ist nicht bekannt.

Regulation der Durchblutung: Ergebnis zahlreicher konkurrierender Einflüsse auf die Widerstandsgefäße Die Durchblutungsregulation beruht auf Veränderungen des Muskeltonus der arteriellen Widerstandsgefäße und wird durch neurogene, myogene, humoralhormonale und endothelvermittelte Mechanismen bewirkt. An physiologischen Durchblutungsänderungen sind meist mehrere dieser Vorgänge beteiligt. Dies gilt vor allem für die funktionelle Hyperämie (bei Steigerung der Stoffwechselaktivität) und für die reaktive Hyperämie (im Anschluss an eine Unterbrechung der Durchblutung). Die Ruhedurchblutung des Gewebes ist in verschiedenen Organen sehr unterschiedlich (Abb. 8.34). Eine hohe Durchblutung zeigen Gewebe mit hohem Ruhestoffwechsel, aber auch solche, deren Durchblutung spezifischen Funktionen und nicht allein der Gewebeversorgung dient (z. B. Niere; S. 332). Die maximal mögliche Durchblutungssteigerung (Durchblutungsreserve) ist ebenfalls von Organ zu Organ verschieden (Abb. 8.34).

Eine Erregung postganglionärer sympathischer Neurone bewirkt im Allgemeinen eine Durchblutungsabnahme durch Konstriktion arterieller Widerstandsgefäße. Die Kontraktion der Gefäßmuskulatur ist in erster Linie Folge der Freisetzung von Noradrenalin aus terminalen Varikositäten und seiner Bindung an postjunktionale α1-Adrenozeptoren. Daneben werden ATP und Neuropeptid Y (NPY) als sog. Kotransmitter freigesetzt und reagieren mit entsprechenden postsynaptischen Rezeptoren. Die Freisetzung aller dieser Transmitter und damit ihre Wirkung auf die Gefäßmuskulatur wird modifiziert durch ihre Bindung an präsynaptischen Rezeptoren sowie durch andere Neuromodulatoren, zu denen auch lokal freigesetzte Hormone gehören (Autakoide, Kap. 3). Daher hängt die Wirksamkeit einer neurogenen Stimulation stark von dem lokalen Milieu im Gewebe ab. Wegen der charakteristischen Verteilung der sympathischen Gefäßnerven ist ihre konstriktorische Wirkung an den großen Leitarterien und an den terminalen Arteriolen relativ geringer als in den dazwischenliegenden Abschnitten des arteriellen Gefäßbaums. Da im Allgemeinen nur Spuren des aus sympathischen Nervenendigungen freigesetzten Noradrenalins in die Blutbahn gelangen, bleiben neurogene Durchblutungsänderungen meist auch lokal begrenzt. Stärkere sympathische Aktivierung bewirkt auch eine, wenn auch geringere, Konstriktion von Venolen und Venen; dies führt zwar zu einer Verminderung des Volumens dieser Kapazitätsgefäße, hat aber nur geringen Einfluss auf die Durchblutung. Eine Vasodilatation wird im Zusammenhang mit Schmerzempfindungen in der Haut beschrieben; hier sind wahrscheinlich Substanz P und CGRP (calcitonin gene-related peptide) als Transmitter beteiligt (S. 641). Eine allgemeine parasympathische Gefäßinnervation mit physiologischer Funktion gibt es nicht. Neurogene Durchblutungszunahmen sind daher im Allgemeinen auf ein Nachlassen der tonischen sympathischen Innervation zurückzuführen. Ausnahmen von dieser Regel sind die Speichel- und Schweißdrüsen sowie die Genitalorgane; hier kommt es bei Stimulation parasympathischer Fasern zu einer Erweiterung der Gefäße, die durch Acetylcholin, aber auch durch andere Transmitter vermittelt wird (z. B. NANC Transmitter; S. 181). Eine cholinerge parasympathische Innervation mit bislang unbekannter Funktion gibt es auch in den Gehirngefäßen. Die physiologische Bedeutung der vegetativen Innervation ist vor allem in der Haut, in den Nieren, im Gastrointestinaltrakt und im Skelettmuskel groß, wäh-

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8.5 Kreislaufregulation: zentrale Steuerung, Verbraucherkontrolle und langfristige Adaptation

aszendierende Dilatation

vasodilatorische Gefäßnerven

vasokonstriktorische Gefäßnerven

endotheliale Wirkstoffe

myogene Antwort auf Dehnung

Erregungsübertragung an myoendothelialen Kontaktstellen

Metaboliten aus Parenchymzellen

Gewebe- bzw. Blut- PO , - PCO , 2

+

+

2



H , K , Osmolarität, PO4 myogene Aktivität (Schrittmacherzellen) im Blut zirkulierende Wirkstoffe (Hormone)

Abb. 8.35 Schematische Übersicht über die zahlreichen Regulationsmechanismen des Tonus der Widerstandsgefäße. Diese sind annähernd nach ihrer Bedeutung den großen und kleinen Arterien sowie den Arteriolen zugeordnet.

rend sie im Koronarsystem und im Gehirn relativ gering zu sein scheint. Im Gegensatz zur Haut wird die Durchblutungsabnahme in Muskel und Darm bei länger anhaltender Sympathikusstimulation nach einiger Zeit schwächer (sog. Escape-Phänomen). Diese Reaktion, der eine langsame Zunahme des Gefäßdurchmessers der Arteriolen zu Grunde liegt, wird vor allem durch eine starke Abnahme des lokalen PO2 ausgelöst. Die ausgeprägte und differenzierte Beeinflussbarkeit der Hautdurchblutung durch neurogene Mechanismen bei emotionalen Erregungen findet ihren beredten Niederschlag in den zahlreichen literarischen Beschreibungen des Wechsels der Hautfarbe (von „puterrot“ über „apfelblütenrosa“ bis zu „wachsbleich“).

Beeinflussung der Durchblutung durch endokrine und parakrine Hormone Zu den gefäßaktiven Hormonen, die mit dem Blutstrom zirkulieren und daher systemische Wirkung erzielen, zählt in erster Linie das Catecholamin Adrenalin, das bei starker sympathischer Erregung aus dem Nebennierenmark (zusammen mit geringen Mengen Noradrenalin) freigesetzt wird. Eine Erhöhung des zirkulierenden Adrenalins wirkt sich insbesondere auf die Herzfunktion aus.

Dort bewirkt Adrenalin über eine Aktivierung von β1Adrenozeptoren eine Zunahme von Herzfrequenz und Inotropie. Die Wirkung von Adrenalin auf die Widerstandsgefäße ist dagegen komplexer. Dies hat sowohl mit den Bindungseigenschaften von Adrenalin an den adrenergen Rezeptoren als auch mit deren sehr variabler lokaler Verteilung zu tun. Adrenalin besitzt eine deutlich höhere Affinität zu den vasodilatierenden β2-Adrenozeptoren, kann aber bei hohen Konzentrationen auch α1-Adrenozeptoren aktivieren. Daher ist die Wirkung von Adrenalin stark dosisabhängig, wobei niedrige Konzentrationen eine Durchblutungssteigerung und hohe Konzentrationen eine Durchblutungsabnahme hervorrufen. Die Abhängigkeit der physiologischen Wirkung des Adrenalins von der lokalen Verteilung und Dichte der α1- bzw. β2-Adrenozeptoren erklärt auch, weshalb seine Effekte in verschiedenen Organen unterschiedlich sind. In den Hautgefäßen sowie in der Niere überwiegen die α1-Adrenozeptoren. In diesen Gefäßprovinzen verursacht Adrenalin praktisch nur eine Vasokonstriktion (Abb. 27.2, S. 788). In Koronargefäßen überwiegen dagegen die β2-Adrenozeptoren, weshalb eine mäßige Erhöhung des zirkulierenden Adrenalins die Koronardurchblutung steigern kann – eine physiologisch sehr sinnvolle Reaktion, da Adrenalin gleichzeitig die Herzfrequenz und die Inotropie, also den Sauerstoffbedarf des Myokards erhöht. In Gefäßen der Muskulatur und des Darmes finden sich schließlich sowohl α1- wie β2-Adrenozeptoren, die physiologischen Anworten sind hier entsprechend variabel. Eine genaue Kenntnis dieser Unterschiede ist von klinischer Bedeutung, da man durch unselektive oder selektive Stimulation oder Blockade von α- und βAdrenozeptoren die Organdurchblutung pharmakologisch gezielt beeinflussen kann. Hierbei muss natürlich immer berücksichtigt werden, dass bei einer Rezeptorblockade auch die nerval vermittelten Effekte des Sympathikus beeinflusst werden. Die konstriktorische Wirkung von Angiotensin II, Adiuretin (antidiuretisches Hormon = ADH = Vasopressin) und Atriopeptin (atriales natriuretisches Peptid = ANP) auf die Widerstandsgefäße wird im Zusammenhang mit der Blutvolumenregulation dargestellt (S. 207 f.). Lokal begrenzte Durchblutungsänderungen können nach mechanischen Reizen (Druck, Verletzung), Temperatureinwirkung, im Zusammenhang mit der Blutstillung oder mit entzündlichen Vorgängen auftreten. Dabei spielen sog. lokal (parakrin) freigesetzte Hormone eine Rolle, die aus Zellen des Stützgewebes, aus Makrophagen oder auch aus Parenchymzellen freigesetzt werden, aber nicht zu systemischer Wirkung kommen. Diese Signalstoffe werden auch Autakoide genannt. Ihre Wirkung ist unter physiologischen Umständen auf spezielle Gefäßprovinzen begrenzt. So ist etwa ein Teil der Vasodilatation in der Haut bei Temperaturerhöhung ebenso wie die physiologische Durchblutungsregulation der Drüsen des Verdauungstrakts im Zusammenhang mit ihrer sekretorischen Aktivität auf die Wirkung von Bradykinin und Kallidin zurückzuführen, die durch das Enzym Kallikrein aus Kininogenen des Blutplasmas abgespalten werden

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8 Das Kreislaufsystem maximale Arbeit Maximaldurchblutung

400

schwere Arbeit

Koronar(fluss)reserve

Durchblutung (ml/min pro 100 g Myokardgewebe)

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300

mäßige Arbeit 200

leichte Arbeit 100

Ruhedurchblutung Ruhezustand

0

0

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O2-Verbrauch (ml/min pro 100 g)

Abb. 8.36 Beziehung zwischen O2-Verbrauch und Durchblutung des Myokards. Vom Ruhezustand über leichte, mäßige, schwere und schließlich maximale, nur Hochleistungsathleten mögliche körperliche Arbeit nimmt der O2-Verbrauch des Herzens zu. Ein präziser Regulationsmechanismus passt die Koronardurchblutung dem gesteigerten Bedarf so an, dass über einen weiten Arbeitsbereich die myokardiale O2-Extraktion nur wenig geändert wird (s. a. Kap. 7.4, S.143).

und durch Peptidasen abgebaut werden. Diese Stoffe bewirken ebenso wie das bei entzündlichen Reaktionen aus Gewebezellen freigesetzte Histamin nach Bindung an entsprechende Membranrezeptoren nicht nur eine Durchblutungszunahme, sondern führen auch zur Steigerung der lokalen Kapillarpermeabilität und damit zur Entstehung lokaler Ödeme. Unter den Metaboliten der Arachidonsäure, die durch die Wirkung der Cyclooxygenasen entstehen, wirken die Prostaglandine PGE2 und Prostacyclin (PGI2), das aus Endothelzellen freigesetzt wird und überdies hemmend auf die Thrombozytenaggregation wirkt, stark vasodilatierend. Umgekehrt sind die Prostaglandine der FGruppe (PGF2) ebenso wie die aus den Thrombozyten stammenden Thromboxane (TXA2, TXB2) stark vasokonstriktorisch wirksam. Ob und in welchem Umfang und Zusammenhang diese Substanzen an der physiologischen Durchblutungsregulation beteiligt sind, ist nur zum Teil bekannt; ihre Beteiligung an den Gefäßreaktionen im Rahmen der Hämostase (S. 245 ff.) und bei entzündlichen Durchblutungsänderungen ist gesichert.

Lokalchemische Einflüsse auf die Gewebedurchblutung Die Spannungsentwicklung der glatten Gefäßmuskulatur ist stark von der Zusammensetzung des extravasalen Milieus abhängig, die durch die Stoffwechselaktivität der Parenchymzellen verändert werden kann. Dilatierende

Produkte des Energiestoffwechsels, wie die Nucleotide ADP, AMP und Adenosin, werden in einigen Gefäßprovinzen, z. B. im Myokard, als wichtige Mediatoren der Durchblutungsregulation angesehen. Dies erklärt die enge Korrelation zwischen Stoffwechselaktivität und Durchblutung (Abb. 8.36), die nicht nur in diesem Organ dafür sorgt, dass das O2-Angebot mit dem erhöhten Bedarf über einen weiten Bereich Schritt hält. Vasodilatierende Wirkung hat auch die Erhöhung der interstitiellen Konzentration von K+- und H+-Ionen, die bei Aktivitätszunahme von Parenchymzellen zu erwarten ist (Abb. 18.12, S. 601), sowie eine Steigerung der Gewebeosmolalität, eine Zunahme des PCO2 oder eine Abnahme des PO2 im Gewebe.

An der regionalen Durchblutungsregulation ist auch das Endothel beteiligt Endothelzellen setzen zahlreiche Stoffe frei, die einen dilatierenden Einfluss auf die Blutgefäße ausüben. Dazu gehört vor allem NO (= Stickstoffmonoxid = endothelium derived relaxing factor = EDRF), das aus Arginin entsteht und extrem kurzlebig (Sekunden) ist. Über eine cGMP-Erhöhung in den Gefäßmuskelzellen löst es deren Erschlaffung aus. Die Bildung von NO aus Endothelzellen ist abhängig von der Wandschubspannung (s. u.) und wird durch eine Vielzahl von physiologischen Agonisten und Antagonisten moduliert (Acetylcholin, Bradykinin, Serotonin, Endothelin [s. u.], ADP, ATP und viele andere mehr) (S. 40). Unabhängig von endothelialen Prozessen wird NO auch aus einer Bindung an das Hämoglobin (Snitroso-Hämoglobin) freigesetzt. Physiologisch wichtig ist ferner die Bildung und Freisetzung von Prostacyclin (PGI2), das die Adenylylzyklase aktiviert und über die Erhöhung von cAMP eine Relaxation der glatten Gefäßmuskulatur bewirkt. Ein weiteres vasodilatierendes Prinzip ist der „Endothelium-derived hyperpolarizing factor“ (EDHF). Dabei handelt es sich wohl nicht um eine definierte chemische Substanz, sondern vielmehr um eine Folge von zellulären Reaktionen, die im Endothel ihren Ausgang nehmen und an deren Ende eine Relaxation von glatten Gefäßmuskelzellen steht. Ausgelöst wird die EDHF-Antwort durch einen Anstieg der endothelialen Ca2+-Konzentration, die über eine Öffnung von Ca2+-aktivierten Kaliumkanälen eine endotheliale Hyperpolarisation induziert. Diese Hyperpolarisation wird dann je nach Gefäßabschnitt über verschiedene Wege – Freisetzung von EETs (Epoxyeicosatrienate = Cytochrom P450-abhängige Metabolite der Arachidonsäure), Anstieg der lokalen extrazellulären K+-Konzentration, elektrotonische Weiterleitung der Hyperpolarisation über Gap Junctions – an die glatte Gefäßmuskulatur weitergegeben und führt dort zum Schließen spannungsabhängiger Ca2+-Kanäle. Der verminderte Ca2+Strom in die glatte Gefäßmuskelzelle lässt schließlich das zytosolische Ca2+ absinken und induziert somit eine Relaxation. Das Endothel setzt auch vasokonstriktorische Autakoide frei, zu denen die Endotheline (ET) gehören. Die Peptide ET-1, ET-2 und ET-3 haben außer einer sehr starken konstriktorischen Gefäßwirkung verschiedene andere Effekte in vielen Organen (z. B. Proliferation glatter Gefäßmuskelzellen, Wachstum von Herzmuskelzel-

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len). ETs üben über ETA-Rezeptoren der Gefäßmuskulatur in vielen Gefäßabschnitten einen tonischen vasokonstringierenden Einfluss aus, nehmen aber auf Grund ihrer langen biologischen Halbwertszeit nicht an der schnellen physiologischen Regulation der Durchblutung teil. Indirekt kann ET-1 über ETB-Rezeptoren des Endothels auch NO freisetzen und damit vasodilatorisch wirken. ETs spielen bei vielen Erkrankungen eine große pathophysiologische Rolle (pulmonale Hypertonie, Herzhypertrophie, Urämie). In den letzten Jahren ist deutlich geworden, dass an der physiologischen Regulation des Gefäßmuskeltonus durch das Endothel auch Metaboliten des Sauerstoffs, die sog. „reactive oxygen species“ (ROS), beteiligt sind. ROS, zu denen unter anderem O2– und Wasserstoffperoxid (H2O2) zählen, entstehen durch die Aktivität einer Vielzahl von zellulären Enzymen, so z. B. der NADPH-Oxidase und der Cyclooxygenase. Im glatten Gefäßmuskel bewirken sie eine Tonuserhöhung, können allerdings auch die Freisetzung von NO aus Endothelzellen stimulieren. Ein wichtiger Stimulus für die Generierung von ROS in Endothelzellen ist die Wandschubspannung, weshalb man annimmt, dass sie an der Regulation des Gefäßmuskeltonus durch hämodynamische Faktoren beteiligt sind. Eine Störung der Endothelfunktion (endotheliale Dysfunktion) ist pathophysiologisch von größter Bedeutung. Eine Vielzahl kardiovaskulärer Erkrankungen wie Atherosklerose, Hypertonie, diabetische Angiopathie und Herzinsuffizienz gehen mit einer endothelialen Dysfunktion einher. Hierbei lässt sich insbesondere eine verminderte Freisetzung von NO aus dem Endothel nachweisen. Der Mangel an NO hat nicht nur einen gesteigerten Gefäßmuskeltonus (Vasokonstriktion) zur Folge, sondern führt auch über eine Abnahme der Unterdrückung des proinflammatorischen Transkriptionsfaktors NF-κB zu einer vermehrten Expression von Adhäsionsmolekülen (z. B. Interleukin-1, PSelektin; S. 179) und begünstigt damit die Bildung von Thromben und die Einwanderung von Monozyten in die Gefäßwand (Entzündungsreaktion). Auch eine vermehrte Bildung von ROS, die durch Rauchen und erhöhte Cholesterinwerte im Blut verursacht werden kann, führt zu einer Abnahme des biologisch aktiven NO. Es ist zu erwarten, dass die Bestimmung der endothelialen Funktion in der klinischen Routine eine zunehmende Bedeutung erlangen wird.

Das Zusammenspiel verschiedener Mechanismen der Durchblutungsregulation Wie wir gesehen haben, folgt die Durchblutung in Organen mit stark wechselnder Stoffwechselaktivität (Herzund Skelettmuskel, Drüsen) weitgehend dem aktuellen Bedarf (Abb. 8.36). Für diese funktionelle Hyperämie sind zunächst überwiegend die lokalchemischen Dilatationsmechanismen verantwortlich, wahrscheinlich jedoch nicht ein einzelner, sondern mehrere chemische Wirkstoffe („metabolischer Cocktail“). Dabei überspielt die direkte Wirkung der humoralen Gefäßdilatatoren den neurogenen konstriktorischen Einfluss der sympathischen Gefäßinnervation (Abb. 8.37). Dies erklärt das

Strömungswiderstand –1 (mmHg · ml · min · 100g)

8.5 Kreislaufregulation: zentrale Steuerung, Verbraucherkontrolle und langfristige Adaptation 80

initial Skelettmuskel in Ruhe

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bei anhaltender Reizung

initial

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arbeitender Skelettmuskel

20

bei anhaltender Reizung 0

0

4

8

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–1

16

20

Impulsfrequenz (s )

Abb. 8.37 Konkurrenz zwischen neurogener Vasokonstriktion und lokalchemischer Dilatation. Reizung der sympathischen Fasern eines Skelettmuskels in Ruhe (oben) mit steigender Impulsfrequenz führt zunächst zu deutlichem Anstieg des Strömungswiderstandes (blaue gestrichelte Kurve), der dann bei anhaltender Reizung wieder etwas abfällt („Escape“ rote Pfeile). Beim arbeitenden Muskel (unten) ist die initiale Widerstandserhöhung durch die Nervenreizung geringer (blaue durchgezogene Linie) und lässt dann schnell und erheblich (rote Pfeile) nach, so dass die Wirkung anhaltender Reizung letztlich nur sehr schwach ist. Dies zeigt, dass die lokalchemische Dilatation eine neurogene Konstriktion sehr wirksam überspielen kann (nach 22).

scheinbare Paradox einer maximalen Durchblutung des Muskels während körperlicher Arbeit trotz maximaler Steigerung des Sympathikotonus. An der Koordinierung von lokaler Durchblutung (Sauerstoffzufuhr) und lokalem Metabolismus (Sauerstoffbedarf) ist wahrscheinlich auch die erhöhte Freisetzung von NO aus Hämoglobin bei Erniedrigung des Sauerstoffpartialdrucks beteiligt. Dies bedeutet, dass in Geweben mit einem hohen Sauerstoffverbrauch NO aus dem Blut in die glatte Gefäßmuskulatur diffundiert und dort gezielt eine Vasodilatation und damit eine Erhöhung der Blutzufuhr hervorruft. Das Hämoglobinmolekül fungiert hier also als „Sauerstoffsensor“. Dieser Mechanismus scheint bei einigen wichtigen Erkrankungen gestört zu sein (33). So zeigen Patienten mit Diabetes und pulmonaler Hypertonie eine abgeschwächte Hämoglobin-abhängige Vasodilatation, die mit einer verminderten Bindung von NO an Hämoglobin (pulmonale Hypertonie) oder Freisetzung von NO aus Hämoglobin (Diabetes) einhergeht. Eine gestörte Interaktion von NO und Hämoglobin wurde auch bei herzinsuffizienten Patienten gefunden. Um die volle Durchblutungsreserve z. B. des Skelettmuskels auszuschöpfen, genügt jedoch nicht die Dilatation der terminalen Widerstandsgefäße. Vielmehr werden auch vorgeschaltete größere Arterien, die dem direkten Einfluss dilatierender Metaboliten nicht unmittelbar zugänglich sind, erweitert. Dazu können zwei unterschiedliche Mechanismen beitragen. Zum einen führt die Stei-

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0

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Einzelkapillare

3s

1

0

Unterarm

30

Durchblutung (ml/min pro 100 g Gewebe)

1

Durchblutungs - Stopp

8 Das Kreislaufsystem

Strömungsgeschwindigkeit (mm/s)

206

30 s

1

10 0

3 min

30 20 10 0

10 min

30 20 10

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120

Zeit (s)

Abb. 8.38 Reaktive Hyperämie im Anschluss an eine Ischämie. Links: Verhalten der Strömungsgeschwindigkeit in einer einzelnen Kapillare nach Durchblutungsstopp verschiedener Dauer. Rechts: Durchblutung des menschlichen Unter-

gerung der Stromstärke infolge der Dilatation terminaler Widerstandsgefäße zu einer erhöhten Wandschubspannung in den vorgeschalteten zuführenden Arterien. Durch die mechanische Endothelstimulation kommt es zur vermehrten Bildung von NO und PGI2 und damit zur sog. flussabhängigen Dilatation. Ein davon unabhängiger zweiter Mechanismus ist die fortgeleitete Antwort, bei der sich die zunächst nur lokal ausgelöste Dilatation nach stromaufwärts ausbreitet, so dass größere Abschnitte des Gefäßnetzwerks erfasst werden. Dies ist wohl Folge einer elektrotonisch vermittelten Hyperpolarisation, die sich über Gap Junctions (S. 54) auf dem Endothelzellverband ausbreitet und über myoendotheliale Gap Junctions auf die glatte Gefäßmuskulatur übergeleitet wird. Durch flussabhängige und/oder fortgeleitete Mechanismen entsteht so eine aszendierende Vasodilatation. Diese ermöglicht eine koordinierte Reaktion auf einen zunächst nur örtlich begrenzten Stimulus und bewerkstelligt durch Einbeziehung vorgeschalteter, u. U. sogar außerhalb des Organparenchyms liegender Widerstandsgefäße eine wirksame Mehrdurchblutung. Der normalerweise geringe, bei distaler Dilatation aber zunehmende Anteil vorgeschalteter Arterien am Gesamtwiderstand wird auf diese Weise gesenkt und eine maximale Durchblutungssteigerung ermöglicht. Eine Störung dieses komplexen Zusammenspiels zwischen verschiedenen Mechanismen an verschiedenen Gefäßabschnitten kann Ursache einer ungenügenden Durchblutungssteigerung sein und dadurch bei Mehrbelastung Schmerzen (Muskelschmerzen, Angina pectoris) infolge der Erregung von Nozizeptoren durch ungenügend entsorgte Gewebemetaboliten auslösen.

0

15 min 0

1

2

3

4

5

Zeit (min)

arms nach Unterbrechung der Durchblutung durch Aufblasen einer Manschette um den Oberarm. Dauer und Ausmaß der postokklusiven Mehrdurchblutung nehmen mit steigender Ischämiedauer zu (nach 23 und 29).

Im Anschluss an eine Unterbrechung der Durchblutung (Ischämie) kommt es zu einer vorübergehend überschießenden Durchblutungssteigerung, deren Ausmaß mit der Dauer der Durchblutungsunterbrechung zunimmt (Abb. 8.38). Auch diese reaktive (postokklusive) Hyperämie ist überwiegend Folge einer Dilatation der Widerstandsgefäße durch die lokale Metabolitenanhäufung und den PO2-Abfall im Gewebe während der Ischämie. Zusätzlich sind, vor allem nach kurzdauernder Ischämie, eine myogene Tonusabnahme, die durch die verminderte Gefäßdehnung während der Ischämie entsteht, sowie eine endothelvermittelte Dilatation infolge der erhöhten Stromstärke (s. o.) beteiligt. Da die Durchblutung während einer reaktiven Hyperämie Maximalwerte erreichen kann, ist diese zur Beurteilung der Durchblutungsreserve eines Gewebes geeignet. Als venovasomotorische Reaktion bezeichnet man die Konstriktion präkapillärer Widerstandsgefäße bei einer Erhöhung des venösen Drucks. Hierbei ist auf Grund des Anstiegs des venösen Drucks der Druckabfall über den arteriellen Gefäßbaum geringer, was zu einem Druckanstieg in den Arteriolen führt. Die daduch ausgelöste Zunahme der Gefäßwanddehnung löst schließlich eine myogene Antwort der Widerstandsgefäße (S. 183 f.) mit Abnahme ihres Durchmessers aus. Auch lokale neurogene Mechanismen im Sinne eines sog. Axonreflexes, die auf der Stimulation hypothetischer Dehnungsrezeptoren an peripheren Venen beruhen sollen, werden zur Erklärung herangezogen. Die venovasomotorische Reaktion ist wesentlich an der physiologischen Durchblutungsregulation in den Extremitäten bei Auftreten hydrostatischer Drücke beim Lagewechsel beteiligt (S. 210).

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8.5 Kreislaufregulation: zentrale Steuerung, Verbraucherkontrolle und langfristige Adaptation

Regulation und Verteilung des Blutvolumens Die Leistungsbreite des Kreislaufsystems hängt wesentlich von der präzisen Regulation des Blutvolumens ab, und damit kurzfristig von den Mechanismen, die das Filtrationsgleichgewicht zwischen intra- und extravasalem Volumen steuern. Längerfristig wird das Blutvolumen über eine hormonelle Steuerung der Flüssigkeits- und Elektrolytbilanz reguliert. Dabei sind vor allem das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System, das antidiuretische Hormon (ADH) und das Atriopeptin (ANP) beteiligt. Das Blutvolumen korreliert mit der fettfreien Körpermasse und beträgt etwa 3,6 l bei Frauen und 4,5 l bei Männern. Der weitaus größte Teil dieses Volumens, etwa 85 %, befindet sich beim Gesunden im Niederdrucksystem (Abb. 8.39), in dem bei Änderung der Druckverteilung oder des Venentonus erhebliche Volumenverschiebungen stattfinden können. Die Regulation des Blutvolumens beruht einerseits auf Veränderungen des Plasmavolumens. Wir haben schon gesehen, dass Flüssigkeitsverschiebungen zwischen intravasalem und interstitiellem Raum ziemlich rasch auftreten können. Daneben aber folgt die Größe des Plasmavolumens auch den Änderungen des gesamten extrazellulären Flüssigkeitsbestands. Dabei sind die Regulationsvorgänge des Salz-Wasser-

8% Kapillaren

7%

Arterien

Venen

Niederdrucksystem

15% große Venen

Hochdrucksystem

2%

2%

rechtes Herz

linkes Herz

100

10%

große Arterien

11%

27%

kleine Arterien und Arteriolen

12% kleine Venen und Venolen

mittlere Impulsfrequenz (%) (normal: 100%)

6%

Haushalts beteiligt, d. h. die Steuerung der Zufuhr durch die Nahrungsaufnahme ebenso wie die der Ausscheidung durch die Nieren (s. Kap. 13.3). Schließlich wird das Blutvolumen bestimmt durch Mechanismen der Erythropoiese, durch die das gesamte Erythrozytenvolumen reguliert wird (S. 227 f.). Eine akute Verminderung des Blutvolumens (z. B. bei einer Blutung) führt zu einer über venöse Dehnungsrezeptoren und arterielle Pressorezeptoren ausgelösten Sympathikusaktivierung (Abb. 8.40). Die reflektorisch eintretende Widerstandserhöhung durch Arteriolenkonstriktion hat eine Abnahme des effektiven Kapillardrucks zur Folge, so dass kurzfristig eine Reabsorption von Flüssigkeit aus dem Interstitium stattfindet („innere Infusion“). Dies ermöglicht eine relativ schnelle (in Minuten), wenn auch nicht unbedingt vollständige Ergänzung des intravasalen Volumens (bei gleichzeitiger Blut„verdünnung“). Die Sympathikusaktivierung kann auch mit einer Drosselung der Nierendurchblutung und damit mit einer Verminderung der Wasserausscheidung verbunden sein. Bei akutem Volumendefizit begrenzten Ausmaßes wird die Sympathikusaktivierung vor allem durch die venösen Dehnungsrezeptoren (Volumenrezeptoren) ausgelöst. Bereits relativ geringfügige Volumenmangelzustände verursachen jedoch, bedingt durch die Reduktion des kardialen Füllungsdrucks, über den Frank-Starling-Mechanismus auch eine Abnahme des Schlagvolumens. Die damit verbundene verminderte Stimulation der arteriellen Pressorezeptoren führt zu einer Abnahme des hemmenden Einflusses des Pressorezeptorenreflexes auf die Sympathikusaktivität (Disinhibition), die Sympathikusaktivität steigt also an. Dies macht deutlich, dass bei einem langsam zunehmenden Volumenverlust auch auf der arteriellen Seite gegenregulatorische Vorgänge bereits lange stattfinden, bevor der arterielle Blutdruck erheblich abfällt. Mittel- bis langfristig werden Veränderungen des Blutvolumens über verschiedene Hormonsysteme korrigiert (Abb. 8.41). Hierzu zählt das Adiuretin (antidiuretisches

arterielle Pressorezeptoren

50

Vorhofrezeptoren

0

0

– 10

– 20

– 30

Blutvolumenänderung (%) Kapillaren

Abb. 8.39 Verteilung des Blutvolumens in den Gefäßen des großen und kleinen Kreislaufs. Der weitaus größte Teil des Blutvolumens befindet sich im Niederdrucksystem (violett).

Abb. 8.40 Bei Verminderung des Blutvolumens nimmt die Impulsfrequenz der arteriellen (sinoaortalen) und die der Vorhofrezeptoren ab. Dabei sprechen zunächst die Dehnungsrezeptoren in den Vorhöfen an und erst bei stärkerer Abnahme des Blutvolumens auch die arteriellen (nach 4).

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207

208

8 Das Kreislaufsystem

verminderte Dehnung herznaher Anteile des Niederdrucksystems

Dehnungrezeptoren: verminderte Erregung

Sympathikotonus: Steigerung ADH: vermehrte Freisetzung aus Hypophysenhinterlappen

Niere: Vasokonstriktion

ANP: Hemmung der Freisetzung aus Vorhöfen

Renin: gesteigerte Freisetzung

Angiotensin I und II: vermehrte Bildung

Aldosteron: vermehrte Freisetzung aus der Nebennierenrinde

+

Na und H2O: gesteigerte Retention

Abb. 8.41 Hormonale Mechanismen der Blutvolumenregulation, die bei Volumenverlust von Dehnungsrezeptoren im Niederdrucksystem ausgelöst werden.

Hormon = ADH = Vasopressin), dessen Freisetzung aus dem Hypophysenhinterlappen bei Erregung der Dehnungsrezeptoren in den Herzvorhöfen gehemmt wird, so dass eine gesteigerte Wasserausscheidung durch die Nieren die Folge ist (zum Einfluss der Plasmaosmolalität auf die ADH-Sekretion siehe S. 389). Über diesen sog. GauerHenry-Reflex wird umgekehrt bei verminderter Füllung der Vorhöfe Flüssigkeit vermehrt zurückgehalten. ADH hat neben seiner Wirkung auf die Wasserpermeabilität der Sammelrohre der Niere (V2-Rezeptoren; S. 390) bei höherer Konzentration auch eine konstriktorische Wirkung (V1-Rezeptoren) auf die Widerstandsgefäße sowie auf die kleinen Gefäße des Niederdrucksystems (daher der Name Vasopressin, von dem auch die Rezeptorenbezeichnung abgeleitet ist). Bei verminderter Vorhoffüllung kommt es folglich auch zu einer Umverteilung des Blutvolumens von peripher nach zentral. Wir haben schon gesehen, dass es bei Volumenmangel zu einer besonders ausgeprägten Aktivierung der Nierensympathikusaktivität kommt. Diese Sympathikusaktivierung ist ein starker Stimulus für die Freisetzung des Enzyms Renin aus den Zellen des juxtaglomerulären Apparats (S. 369 f.). Renin spaltet aus Angiotensinogen (einem α2-Globulin des Blutplasmas) Angiotensin I ab,

aus dem wiederum durch ein im Plasma und in Endothelzellen (vor allem der Lunge) vorhandenes „converting enzyme“ (ACE) Angiotensin II entsteht (S. 369 f.). Neben einer starken vasokonstriktorischen Wirkung fördert Angiotensin II vor allem die Freisetzung von Aldosteron aus der Nebennierenrinde. Da Aldosteron die Resorptionsmechanismen für Na+ in den Hauptzellen von Verbindungstubulus und Sammelrohr der Niere stimuliert, trägt auch dieser Vorgang zur Wiederauffüllung des Extrazellulärvolumens bei (s. a. S. 384 f.). Schließlich wird in besonderen Zellen der Wand der Herzvorhöfe Atriopeptin (atriales natriuretisches Peptid = ANP) gebildet und gespeichert, das bei vermehrter Dehnung der Vorhöfe (erhöhtes Extrazellulärvolumen) freigesetzt wird und durch Förderung der Nierenmarkdurchblutung und Hemmung der Na+Resorption in den Verbindungstubuli und den Sammelrohren der Niere den extrazellulären Flüssigkeitsbestand senkt. Alle erwähnten Hormone sind darüber hinaus wohl auch an der Entstehung des Durstgefühls beteiligt, so dass nicht allein die Flüssigkeitsausscheidung, sondern auch die Zufuhr beeinflusst wird. Diese hormonellen Mechanismen führen zu Veränderungen des gesamten Extrazellulärvolumens und sind nicht speziell auf die Erhaltung oder Regulierung des Plasmavolumens gerichtet. Dieses ergibt sich aber indirekt aus dem Filtrationsgleichgewicht zwischen Intra- und Extravasalraum. Wichtig ist, dass nicht die absolute Größe des Blutvolumens, sondern der Dehnungszustand der zentralen Abschnitte des Niederdrucksystems die beschriebenen Regulationsmechanismen in Gang setzt. Dieser Dehnungszustand ist aber kein eindeutiges Maß für die Größe des Blutvolumens. Daher kommt es durch die dargestellten Regulationsvorgänge auch dann zu einer Volumenverminderung, wenn z. B. infolge verminderter Leistungsfähigkeit des rechten Herzens (Rechtsinsuffizienz) der zentralvenöse Druck angestiegen ist. Da im Liegen das Blutvolumen zugunsten der dann gut gefüllten herznahen Abschnitte des Niederdrucksystems verteilt ist, vermindert sich das Blutvolumen auch nach langer Bettlägerigkeit; dass dies die Kreislaufregulation im Stehen beeinträchtigt, werden wir noch sehen (S. 210 f.).

8.6

Kreislauffunktion unter Belastung: der Härtetest

Es sind im Wesentlichen zwei Arten von Zuständen, in denen es einer integrativen Abstimmung lokaler und systemischer Regulationsmechanismen bedarf, um die Funktionstüchtigkeit des gesamten Kreislaufsystems zu erhalten. Dies ist einmal erforderlich, wenn das venöse Angebot an das Herz so vermindert ist, dass das Herzzeitvolumen zur Erhaltung des arteriellen Blutdrucks nicht ausreicht. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn bei orthostatischer Belastung, d. h. bei einem Wechsel von der horizontalen in die vertikale Körperstellung, ein erheblicher Teil des verfügbaren Blutvolumens in die peripheren Abschnitte des Niederdrucksystems „versackt“. Zum anderen ist eine integrierende Abstimmung von Kreislauffunktionen erforderlich, wenn infolge maximaler Dilatation der Gefäße in einem oder mehreren Orga-

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8.6 Kreislauffunktion unter Belastung: der Härtetest –r·g·h –h

Indifferenzebene

0

r = Dichte der Flüssigkeit (Blut ~ 1,06 kg/l ) g = Erdbeschleunigung 2 (9,81m/s ) h = senkrechte Höhe der Flüssigkeitssäule

venöser Kollaps Herz

+h +r·g·h A starres Gefäß –r·g·h –h

wenig dehnbare Arterien stark dehnbare Venen

0

+h

starke venöse Füllung

Indifferenzebene +r·g·h B dehnbares Gefäß

Abb. 8.42 Hydrostatische Drücke bei Lagewechsel führen zu Volumenverschiebungen. A In einem mit Flüssigkeit gefüllten Hohlkörper mit starrer Wand treten beim Wechsel von der horizontalen zur vertikalen Lage Druckveränderungen an allen Stellen auf, die sich unterhalb (+ h) oder oberhalb (–h) der Indifferenzebene befinden: Darunter erhöht sich, darüber erniedrigt sich der Druck um den hydrostatischen Druck der Flüssigkeitssäule (± ρ · g · h). Achtung: Der intravasale Druck muss in Höhe der Indifferenzebene keineswegs Null sein; tatsächlich ist er in den Venen geringfügig, in den Arterien erheblich höher. Entscheidend ist nur, dass er sich durch den Lagewechsel in der Indifferenzebene nicht

nen der totale periphere Widerstand stark abfällt. Dies würde zu einem für die Durchblutung lebenswichtiger Organe (z. B. Gehirn oder Myokard) bedrohlichen Abfall des arteriellen Drucks führen, wenn nicht durch abgestimmte Vasokonstriktion in anderen Organen und/oder durch Steigerung des Herzzeitvolumens gegengesteuert würde. Eine solche Situation ist z. B. gegeben, wenn bei maximaler Muskelarbeit die Durchblutung der Skelettmuskulatur, des nach Gewicht größten Organs des Körpers, so stark gesteigert wird, dass sie etwa 80 % des Herzzeitvolumens ausmacht (Abb. 8.13, S. 187). Eine solche Situation ist auch gegeben, wenn im Rahmen der Thermoregulation die Durchblutung der Haut zur Steigerung der Wärmeabgabe erheblich zunimmt. Lagewechsel, Muskelarbeit und thermische Belastung stellen somit physiologische Belastungen des Kreislaufsystems dar, die alle Regulationsmechanismen maximal fordern. Mäßige Störungen der Kreislaufregulation machen sich daher zunächst unter diesen Belastungsbedingungen, nicht aber in körperlicher Ruhe, bei Indifferenztemperatur oder im Liegen bemerkbar. Die massivste und dann lebensbedrohliche Störung liegt vor, wenn die Kreislaufregulation entweder unzureichend ist oder trotz maximaler Rekrutierung aller Teilmechanis-

C Kreislaufsystem

ändert. B Sind die Wände des Hohlkörpers (wie die der Blutgefäße) dehnbar, so kommt es zu einer Volumenverschiebung von den oberen in die unteren Partien; in Letzteren ist der transmurale Druck Ptm um den Betrag ρ · g · h gestiegen. In den oberen Partien ist Ptm gleichzeitig um ρ · g · h abgefallen. C Besteht der Hohlkörper aus zwei unterschiedlich dehnbaren Anteilen (wie die Venen und Arterien des Kreislaufsystems), die miteinander kommunizieren, so findet die Volumenverschiebung in die abhängigen Partien vorwiegend in dem leichter dehnbaren Venensystem (violett) statt.

men nicht genügt, um den Perfusionsdruck wenigstens für die unmittelbar lebenswichtigen Organe (Gehirn, Herz) zu gewährleisten. So ist es im sog. Kreislaufschock, bei dem entsprechend massive Veränderungen der zentralen hämodynamischen Größen (arterieller Druck, Herzzeitvolumen, peripherer Widerstand) auftreten. Man unterscheidet nach ihrer Entstehung verschiedene Schockformen: kardiogen (bei plötzlicher Einschränkung der kontraktilen Leistungsfähigkeit des Herzens), hämorrhagisch oder hypovolämisch (bei plötzlichem Volumenverlust, z. B. infolge einer Blutung oder große intestinaler Flüssigkeitsverluste), septisch (bei bakterieller Infektion), traumatisch (bei ausgedehnten Verletzungen) und anaphylaktisch (bei massiv auftretenden Antigen-Antikörper-Reaktionen). Wenngleich die hämodynamischen Veränderungen bei diesen Schockformen durchaus unterschiedlich sein können (hoher peripherer Widerstand und niedriges Herzzeitvolumen beim hypovolämischen, niedriger Widerstand und eher hohes Herzzeitvolumen beim septischen Schock), ist ihnen letztlich eine kritische Minderung der Organversorgung und ein Regulationsversagen infolge maximaler Aktivierung vieler Mediatorsysteme (Sympathikusaktivierung, Kininsystem, Gerinnungskaskade, Eikosanoide,

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209

8 Das Kreislaufsystem

arteriell

venös

46 – 41

(–49) Indifferenzebene

arterieller Druck

95 95

100

95

–2 (+83)

210

venöser Druck

91

178 8

3

im Liegen

8 Drücke in mmHg

im Stehen

Abb. 8.43 Arterielle und venöse Drücke (in mm Hg) beim liegenden und stehenden Menschen mit einer Körperlänge von etwa 180 cm. In allen Gefäßen ändert sich der Druck im Stehen entsprechend der Entfernung von der Indifferenzebene. Der venöse Druck im Kopfbereich ist allerdings wegen des Venenkollapses am Hals (Unterbrechung der Blutsäule) weniger negativ als aufgrund der Höhe über der Indifferenzebene zu erwarten wäre (nach 2).

Komplementsystem etc.) gemeinsam, die Herzleistung, Gefäßtonus und Fließfähigkeit des Blutes beeinflussen. Man spricht bei diesen lebensbedrohlichen Zuständen daher heute von einem Multi-Organ-Versagen (MOV), mehr mit Blick auf die kompromittierte Gewebefunktion als auf die zentrale Hämodynamik.

Der Preis für den aufrechten Gang: Kreislaufbelastung bei Lagewechsel Die Kreislaufbelastung im Stehen gegenüber dem Liegen ist Folge der veränderten Blutvolumenverteilung im Niederdrucksystem, der Verminderung des venösen Rückstroms und damit des Schlagvolumens. Die über den Pressorezeptorenreflex vermittelte Erhöhung der Sympathikusaktivität bestimmt die Veränderung der zentralen Hämodynamik; sie dient der Aufrechterhaltung des arteriellen Blutdrucks. Änderungen von lokaler Durchblutung und Filtrationsgleichgewicht sind Folge der veränderten intravasalen Druckverteilung.

Druck und Volumen verteilen sich im Stehen anders als im Liegen Wir haben auf S. 184 ff. gesehen, dass in jedem Gefäß des Kreislaufsystems ein hydrodynamischer Druck herrscht, der eine Folge der Pumptätigkeit des Herzens und des ihr entgegenstehenden Strömungswiderstandes ist. Als Folge des Einwirkens der Schwerkraft treten bei einem Wechsel der Körperlage zusätzlich hydrostatische Drücke auf, die der Höhe der Flüssigkeitssäule relativ zu der sog. hydrostatischen Indifferenzebene entsprechen; diese ist da-

durch definiert, dass der Druck sich hier auch bei Lageänderung nicht ändert (Abb. 8.42). Die Indifferenzebene liegt beim Menschen kurz unterhalb des Zwerchfells. Da das Blutgefäßsystem ein System kommunizierender Röhren ist, wird beim Aufrichten aus der Horizontalen in den unterhalb der Indifferenzebene liegenden Gefäßen der jeweils herrschende Innendruck um eine hydrostatische Druckkomponente vermehrt, in den oberhalb liegenden vermindert (Abb. 8.43). Wegen der sehr verschiedenen Compliance der arteriellen und venösen Gefäße (S. 183 f.) führen die lageabhängigen Änderungen des Innendrucks zu starken Veränderungen der Volumenverteilung im venösen Gefäßsystem, jedoch nur unwesentlich in den Arterien. Dies ist an den Hautvenen der Hand deutlich zu sehen. Die oberflächlichen Venen können beim Anheben über die Indifferenzebene unter fast völliger Entleerung kollabieren, während sie an der herabhängenden Hand prall gefüllt sind. Diese sichtbaren Änderungen der Gefäßfüllung spielen sich in gleicher Weise an den tiefer liegenden Venen ab. Bei negativem transmuralen Druck kollabieren auch die Venen oberhalb etwa des Halsbereichs, so dass die Kontinuität der Blutsäule unterbrochen wird. Daher ist der intravasale Druck in den Venen der erhobenen Hand oder des Kopfbereichs höher (weniger negativ) als nach der Höhe über der Indifferenzebene zu erwarten wäre. Beim Aufrichten des Körpers aus der Horizontalen findet der größte Volumenzuwachs (etwa + 500 ml) natürlich in den unteren Extremitäten statt, wo auch der Druckanstieg am größten ist. Umgekehrt wird das sog. intrathorakale Blutvolumen zugunsten des extrathorakalen um etwa 600 ml vermindert. An dieser Umverteilung ist das Blutvolumen in der Lunge entscheidend beteiligt. Dies hängt mit der großen Compliance der Lungenstrombahn zusammen, die zwar wegen des elastischen Zugs des Lungengewebes nicht völlig kollabieren kann, aber wegen der geringen interstitiellen Strukturfestigkeit sehr große Volumina bei schon geringen Druckänderungen aufnehmen bzw. entspeichern kann (S. 215).

Wie reagiert die Kreislaufregulation auf die veränderte Körperlage? Die Verminderung des kardialen Füllungsdrucks beim Übergang vom Liegen zum ruhigen Stehen verursacht initial über den Frank-Starling-Mechanismus eine Abnahme des Schlagvolumens. Die dann einsetzende verminderte Erregung der arteriellen Pressorezeptoren führt zu einer Steigerung des Sympathikotonus, deren Wirkung wir schon kennen (S. 199). Neben einer Zunahme der Herzfrequenz (+ 25 %) findet eine Erhöhung des peripheren Widerstandes (+ 40%) statt, vor allem in der Muskulatur, aber auch in der Haut und im Splanchnikusgebiet. Wegen der Lage der sinoaortalen Pressorezeptoren oberhalb der Indifferenzebene kann der arterielle Mitteldruck leicht über den Normalwert im Liegen erhöht sein. Während der systolische in der Regel kaum verändert ist, findet sich ein Anstieg des diastolischen Drucks (+ 10%), der zu der anhaltenden Verminderung des Schlagvolumens (– 40%) infolge Erhöhung der Nachlast (S. 156) beiträgt.

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8.6 Kreislauffunktion unter Belastung: der Härtetest Umgebungstemperatur:

900

44°C

35°C 100

Volumenzuwachs (ml)

Kippversuch normal mit aufgeblasener Oberschenkelmanschette

–1

Herzfrequenz (min )

80

600

18°C

300

60

Beinvenendruck im Liegen

40

0 0

20

0

20

40

Zeit (min)

Abb. 8.44 Lageabhängigkeit der Herzfrequenz. Herzfrequenz eines gesunden, gut trainierten Probanden im Liegen, beim ruhigen Stehen, bei Kopftieflagerung und wieder im Liegen. Während des zweiten Kippversuchs wurde die Verlagerung von Blutvolumen aus den Beinen durch Aufblasen von Manschetten um die Oberschenkel verhindert. Die deutlich geringere Änderung der Herzfrequenz zeigt die Bedeutung der Volumenverschiebung entlang der Körperachse für die Reflexantwort beim Lagewechsel (nach 1).

Diese Schilderung der Kreislaufbelastung in Orthostase gilt allerdings für einen eigentlich unphysiologischen, sog. passiven Lagewechsel. Das normale Aufstehen aus dem Liegen ist meist mit mehr oder minder großer Muskeltätigkeit verbunden, die ohnehin zur Aktivierung des Sympathikotonus führt (S. 213). Herzfrequenz, peripherer Widerstand und Blutdruck zeigen daher beim Übergang vom Liegen zum Stehen im täglichen Leben häufig noch deutlichere Änderungen. Auch das sog. ruhige Stehen ist eigentlich unphysiologisch, da jeder Mensch im Stehen unwillkürlich von einem Bein auf das andere tritt (aktive Orthostase) und so durch die Muskelpumpe den venösen Rückstrom des Blutes zum Herzen fördert, wie wir noch sehen werden. Das Ausmaß der Kreislaufbelastung durch Orthostase hängt vor allem von der Minderung des venösen Angebots an das Herz ab. Neben der Größe des Blutvolumens ist dafür die Volumenverlagerung in die abhängigen Gefäßabschnitte entscheidend (Abb. 8.44). Diese hängt auch stark vom Venentonus ab, der seinerseits von der Umgebungstemperatur beeinflusst wird. Mit zunehmender Temperatur sinkt der Venentonus, und damit

0

20

40

Beinvenendruck im Stehen

60

80

100

venöser Druck (mmHg)

Abb. 8.45 Blutvolumenzuwachs der unteren Extremitäten bei verschiedenen Umgebungstemperaturen. In der Wärme wird bei venöser Druckerhöhung ein wesentlich größeres Volumen in den Beinvenen gespeichert als in der Kälte, weil der Venentonus mit steigender Temperatur nachlässt. Wenn beim Übergang vom Liegen zum ruhigen Stehen der Venendruck in den Beinen von etwa 10 auf etwa 70 mm Hg steigt, so würde ein Volumen von 400 ml (bei 18 8C) bzw. 650 ml (bei 44 8C) in den abhängigen Partien „versacken“ (nach 4).

nimmt die Compliance des Venensystems zu (Abb. 8.45). Da zusätzlich die durch die Pressorezeptoren ausgelöste Vasokonstriktion in der Haut mit steigenden Umgebungstemperaturen an Wirksamkeit verliert, kann die Kombination von orthostatischer und Wärmebelastung leicht die Regulationsbreite des Kreislaufs übersteigen. Die Folge kann ein sog. orthostatischer Kollaps (ungenügende Hirndurchblutung infolge Blutdruckabfalls) mit plötzlichem Tonusverlust der Skelettmuskulatur, u. U. sogar Bewusstlosigkeit, sein. Es gibt viele Menschen, die – ohne gleich zu kollabieren – längeres Stehen „kreislaufmäßig“ nicht gut vertragen, vor allem bei auch sonst beeinträchtigter Gesundheit und mangelndem körperlichen Training. Infolge einer „orthostatischen Dysregulation“ neigen sie zur arteriellen Hypotonie.

Durchblutung und Flüssigkeitsfiltration in abhängigen Körperpartien Die lageabhängigen Änderungen des Innendrucks der Gefäße sollten für die Durchblutung des Gewebes eigentlich unerheblich sein, da sie sowohl auf der arteriellen als auch auf der venösen Seite auftreten und daher die treibende Druckdifferenz nicht beeinflussen. Tatsächlich

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211

150

arterieller Druck

SV (%)

8 Das Kreislaufsystem

Schlagvolumen 40

–1

Herzfrequenz (min )

100

100

200

Kapillardruck

intravasaler Druck (mmHg)

venöser Druck

Herzfrequenz 100

50 0

0

20

40

60

80

100

O2-Verbrauch (%)

Männer Frauen

30

0

0

50

100

Höhe unter der Indifferenzebene (cm)

Abb. 8.46 Erhöhung des transmuralen Drucks in einem Gefäßgebiet führt zu einer myogenen Steigerung des Strömungswiderstandes. Dies hat zur Folge, dass der Kapillardruck in abhängigen Körperpartien weniger stark als der arterielle oder venöse Druck ansteigt, wenn das Gefäßgebiet beim Aufstehen wachsenden hydrostatischen Drücken ausgesetzt wird (nach 8 und 24).

Herzzeitvolumen (l/min)

212

20

Herzzeitvolumen

10

0

0

1

2

3

4

5

O2-Verbrauch (l/min)

bleibt aber die Durchblutung nicht konstant, weil der veränderte transmurale Druck zu myogener Tonusveränderung der Arteriolen führt und sich damit der Strömungswiderstand ändert (s. Abb. 8.15, S. 189). Daher nimmt z. B. bei Hängenlassen der Arme zwar die Blutfülle der Hand zu, die Durchblutung der Haut jedoch eher ab. An der erhobenen Hand sinkt andererseits die arteriovenöse Druckdifferenz durch den Venenkollaps, so dass die Durchblutung trotz myogener Tonusverminderung nicht erheblich gesteigert, sondern sogar vermindert ist. Trotz einer hydrostatischen Druckzunahme in den Gefäßen der abhängigen Körperpartien kommt es beim Gesunden dort in der Regel nicht zu Ödemen. Das wird einerseits dadurch verhindert, dass der Kapillardruck bei Lageänderung nicht in gleichem Maße ansteigt wie der arterielle und venöse Druck (Abb. 8.46), weil die myogene Arteriolenkonstriktion immer dann den hydrodynamischen Druck in den Kapillaren senkt, wenn der hydrostatische zunimmt, und umgekehrt. Andererseits bewirkt die Arteriolenkonstriktion eine Abnahme des kapillären Filtrationskoeffizienten durch Verminderung der Austauschoberfläche. Ein weiterer, für die lokale Homöostase in den abhängigen Geweben und für die Gesamtfunktion des Kreislaufs wesentlicher Mechanismus ist die sog. Muskelpumpe. Rhythmische Kontraktionen der Skelettmuskulatur fördern den venösen Rückstrom, so dass der Druck in den Venensegmenten zwischen den Venenklappen in der Erschlaffungsphase der Muskulatur deutlich abfällt. Dieser Vorgang trägt ebenfalls dazu bei, den Anstieg des effektiven Filtrationsdrucks und damit die Auswärtsfiltration in Grenzen zu halten.

Abb. 8.47 Bei körperlicher Arbeit nimmt das Herzzeitvolumen fast linear mit dem O2-Verbrauch zu (unten, rote Kurve). Dies beruht auf dem linearen Anstieg der Herzfrequenz und der Steigerung des Schlagvolumens SV (oben, violette bzw. blaue Kurve). In den oberen beiden Teilabbildungen ist der O2-Verbrauch in % des Maximalwerts jedes einzelnen Probanden dargestellt, unten in Absolutwerten. Die Ordinate in der obersten Teilabbildung gibt die % des maximalen Schlagvolumens der jeweiligen Versuchsperson an (nach 1).

Sowohl die Zunahme des Arteriolenwiderstandes als auch die Funktion der Venenklappen bei der Muskelpumpe sind bei bestimmten Formen chronischer Gefäßerkrankungen (z. B. chronische venöse Insuffizienz) deutlich gestört. Dann tritt bei gesteigerter Füllung der häufig ausgeweiteten Beinvenen („Krampfadern“) auch eine vermehrte Schwellung der Füße infolge erhöhter Filtration auf.

Kreislauffunktion bei körperlicher Arbeit Die Kreislaufanpassung bei körperlicher Arbeit (s. a. Kap. 18) erfordert eine Abstimmung zwischen lokalen und systemischen Regulationsmechanismen. Die allgemeine sympathische Aktivierung durch die zentrale Mitinnervation wird durch Rückmeldungen aus der arbeitenden Skelettmuskulatur so präzise ergänzt, dass das Herzzeitvolumen annähernd proportional mit dem gesteigerten O2-Verbrauch zunimmt. Begrenzend für

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8.6 Kreislauffunktion unter Belastung: der Härtetest die Steigerung der Kreislauftätigkeit ist das venöse Angebot, das durch Muskelpumpe und Sogwirkung der Atmung gefördert, bei vermindertem Blutvolumen, Flüssigkeitsverlust oder extrathorakaler Blutvolumenspeicherung reduziert ist. Bei körperlicher Arbeit nimmt das Herzzeitvolumen von in Ruhe rund 5 l/min auf 20 – 25 l/min (also auf das 4- bis 5fache!) zu (s. Abb. 8.47); seine Verteilung ist zugunsten der arbeitenden Skelettmuskulatur verändert (s. Abb. 8.13, S. 187). Dabei steigt die Durchblutung nicht nur in der Skelettmuskulatur (s. Abb. 8.37, S. 205), sondern auch im Myokard (s. Abb. 8.36, S. 204) und in der Haut an, während sie in anderen Organen abnehmen kann (Niere, Darm) oder unverändert bleibt (Gehirn). Die Herzfrequenz steigt mit zunehmender Leistung fast linear bis auf maximal etwa 200/min an, das Schlagvolumen wird bis auf maximal das Doppelte erhöht (s. Abb. 8.47). Der arterielle Mitteldruck steigt bei stark vergrößerter Blutdruckamplitude um 20 – 50 mm Hg an. Diese Veränderungen sind das Resultat von lokalen Regulationsvorgängen in der arbeitenden Muskulatur und einer differenzierten, neurogenen Steuerung durch das vegetative Nervensystem. Beim Zusammenwirken dieser Regulationsmechanismen finden aus dem arbeitenden Gewebe über afferente Nervenfasern Rückmeldungen statt, die die erstaunliche Präzision ermöglichen, mit der die Kreislauftätigkeit auf die Steigerung des Stoffwechsels abgestimmt ist.

Skelettmuskeldurchblutung bei Arbeit: O2 für den Motor Wir hatten schon gesehen, dass die mindestens 10- bis 15fache Zunahme der Skelettmuskeldurchblutung bei maximaler Arbeit auf der lokalchemischen Dilatation der Widerstandsgefäße beruht, durch die der konstriktorische Einfluss der sympathischen Innervation völlig überspielt wird (s. Abb. 8.37, S. 205). Daran sind viele Mediatoren beteiligt, so z. B. Adenosin, H+, K+, Histamin, CO2, Lactat, sowie möglicherweise auch NO, das durch das Enzym nNOS (NOS-1 = neuronaler Typ der NO-Synthase) in der arbeitenden Muskulatur entsteht. Die Durchblutung der Beinmuskulatur nimmt bei Arbeit in senkrechter Körperstellung (z. B. Rad fahren) besonders deutlich zu (s. Abb. 8.48), weil der arterielle Druck um die hydrostatische Komponente erhöht ist, der venöse Druck aber wegen der verstärkten Tätigkeit der Muskelpumpe niedrig bleibt. Die Muskelpumpe wirkt allerdings auch schon bei der Arbeit im Liegen durchblutungsfördernd, weil sie die treibende arteriovenöse Druckdifferenz steigert. Der O2-Bedarf des arbeitenden Skelettmuskels wird allerdings nicht allein durch die Mehrdurchblutung gedeckt, sondern auch durch eine Steigerung der O2-Extraktion, die von etwa 30% in Ruhe auf etwa 90 % zunehmen kann. Während der O2-Verbrauch der Muskulatur in körperlicher Ruhe etwa 2 – 5 ml min–1 kg–1 beträgt (etwa 15 – 20% des gesamten Ruhe-O2-Verbrauchs), kann er bei maximaler Arbeit auf das 20- bis 50fache (über 90 % des gesamten, stark erhöhten O2-Verbrauchs) ansteigen.

0 50 100 Muskeldurchblutung der Beine (ml/min pro 100 g Muskulatur)

Abb. 8.48 Durchblutung der Beinmuskulatur in Ruhe (oben), bei Muskelarbeit im Liegen (Mitte) und in vertikaler Körperlage (unten). Der Durchblutungsanstieg in vertikaler gegenüber horizontaler Körperlage ist Folge der unterhalb der Indifferenzebene erhöhten arteriovenösen Druckdifferenz.

Die Anpassung der Kreislauftätigkeit bei Muskelarbeit geschieht auch durch neurogene Steuerungsvorgänge Schon vor Beginn einer körperlichen Arbeit findet eine Veränderung der vegetativen Innervation statt („Startreaktion“). Dabei kommt es zu einer Hemmung des in Ruhe überwiegenden Parasympathikotonus bei einer gleichzeitigen Steigerung des Sympathikotonus. Während dadurch am Herzen schon alle auch für die tatsächliche Körperarbeit typischen Veränderungen auftreten, nimmt der totale periphere Widerstand wegen der Vasokonstriktion vor allem in der Haut und wohl auch im Darm zunächst eher zu. Daher ist auch der arterielle Blutdruck meist erhöht. Mit Beginn der Körperarbeit nimmt infolge zentraler Mitinnervation der sympathische Kreislaufantrieb deutlich zu. Dabei steigt auch die Konzentration von Adrenalin im Blut, das aus dem Nebennierenmark freigesetzt wird. Die jede motorische Aktivierung begleitende sympathische Stimulation ist nicht durch die tatsächlich geleistete Muskelarbeit, sondern durch den Umfang des Erregungsprogramms motorischer Neurone bestimmt; daher tritt sie auch bei nur intendierter Muskelarbeit auf, z. B. bei Vorliegen einer Muskellähmung. Die neurogene Vasokonstriktion betrifft nicht das Gehirn und die arbeitende Herz- und Skelettmuskulatur, aber fast alle anderen Organe. Sie wird als kollaterale Vasokonstriktion bezeichnet, weil sie den Widerstand der der Muskulatur parallel geschalteten Organkreisläufe erhöht und so die arteriovenöse Druckdifferenz aufrecht

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8 Das Kreislaufsystem erhält. Von dieser Widerstandserhöhung wird auch die Haut ausgenommen, wenn die Thermoregulation eine Mehrdurchblutung der Haut erzwingt. Die Venokonstriktion in der Haut bleibt jedoch auch dann erhalten; dies verhindert eine übermäßige Blutvolumenspeicherung und erleichtert den venösen Rückstrom zum Herzen. Die genaue Korrelation zwischen Kreislaufantrieb und geleisteter Arbeit setzt eine Abstimmung zwischen lokalen und systemischen Regulationsmechanismen voraus. Die aus der arbeitenden Muskulatur stammenden Informationen über die Stoffwechselaktivität des Gewebes und über die Muskelmechanik werden über afferente Nerven an das Zentralnervensystem zurückgemeldet. Dort werden sie für die Steuerung der efferenten vegetativen Aktivität verwertet. Dabei scheinen neben den Afferenzen der motorischen Steuerung (Muskelspindeln und Sehnenorgane) auch bisher nicht eindeutig identifizierte, durch Metaboliten im Muskelgewebe erregbare sog. Stoffwechselrezeptoren beteiligt zu sein; deren Aktivität wird überwiegend über C-Fasern nach zentral vermittelt. Die genauen Mechanismen dieser Rückmeldung sind im Einzelnen nur ungenügend aufgeklärt; doch müssen die vegetativen Steuerungszentren ein recht präzises Bild der peripheren Stoffwechselsituation haben, um die lineare Steigerung etwa der Herzfrequenz mit der geleisteten Arbeit (Abb. 8.47) zu ermöglichen. Entsprechend dem Sauerstoffbedarf der arbeitenden Muskeln kann es bei schwerer körperlicher Arbeit zu einer Vervielfachung des Herzzeitvolumens kommen. Obwohl der mittlere arterielle Blutdruck bei nicht erschöpfender körperlicher Arbeit meist unverändert ist, könnte man erwarten, dass es auf Grund der Zunahme von Blutdruckamplitude (großes Schlagvolumen), Herzfrequenz und Anstiegssteilheit des systolischen Druckpulses (erhöhte Inotropie) zu einer Aktivierung des Pressorezeptorenreflexes und daraus resultierend zu einer Hemmung der Sympathikusaktivität kommen. Tatsächlich wird jedoch der Funktionsbereich des Pressorezeptorenreflexes bei körperlicher Arbeit zu deutlich höheren Werten verschoben (Resetting; s. Abb. 8.33, S. 201). Das Resetting verhindert eine reflektorische Limitierung der Sympathikusaktivität und erhält gleichzeitig die Wirksamkeit des Pressorezeptorenreflexes auch bei starker körperlicher Arbeit.

Was bestimmt die Grenzen der Kreislaufleistung bei körperlicher Arbeit? Die Steigerungsfähigkeit der Herzleistung wird u. a. von einer ausreichenden Füllung der Ventrikel begrenzt. Daher ist sowohl das absolute Blutvolumen als auch seine Verteilung im Niederdrucksystem (das venöse Angebot) für ein maximales Herzzeitvolumen wesentlich. Zur beschleunigten Rückkehr des Blutes in das intrathorakale Reservoir trägt die Muskelpumpe ebenso bei wie die Sogwirkung der Atmung und der Ventilebenenmechanismus (s. Abb. 7.6, S. 142). Da der Füllungsdruck des Herzens von der Größe des Blutvolumens abhängt, wird verständlich, dass das erhöhte Blutvolumen des trainierten Sportlers der Steigerungsfähigkeit seines Herzzeitvolumens zugute kommt oder umgekehrt ein Volumendefizit diese einschränkt. Hieraus ergibt sich die Bedeutung

eines ausgeglichenen Flüssigkeitshaushalts für die Leistungsfähigkeit des Kreislaufsystems. Wie schon betont wurde, deckt die Zunahme der globalen Transportleistung durch das Kreislaufsystem nur einen Teil des gesteigerten O2-Bedarfs bei Arbeit ab. Der gesamte O2-Verbrauch des Körpers bei schwerer Arbeit kann etwa auf das 10- bis 20fache ansteigen, das Herzzeitvolumen jedoch „nur“ um einen Faktor 4 – 5. Ebenso wesentlich wie die Begrenzung der Herzförderleistung ist also die der O2-Extraktion. Im arbeitenden Gewebe ist diese maximal erhöht, so dass für die Gesamtbilanz das Ausmaß der Vasokonstriktion in den nicht arbeitenden Geweben entscheidend ist. Die Mehrdurchblutung der Haut bei der thermoregulatorischen Wärmeabgabe stellt einen Links-rechts-Kurzschluss für den O2Transport dar, der die Förderleistung des Herzens beansprucht, ohne das O2-Angebot an den entscheidenden Verbraucher, den arbeitenden Muskel, zu erhöhen. Dies macht verständlich, dass die Leistungsgrenzen des Kreislaufs während körperlicher Arbeit bei hoher Umgebungstemperatur, vermindertem Blutvolumen und bei Flüssigkeitsverlust sehr viel enger sind.

Hitze und Kälte: Kreislauffunktion bei thermischer Belastung Die Veränderungen der Kreislauffunktion bei veränderter Umgebungs- oder Körperkerntemperatur spielen sich vor allem in der Haut als dem für den Wärmeaustausch mit der Umgebung wichtigsten Organ ab. Sie umfassen lokale, auf direkter Gefäßwirkung beruhende und systemische, über das vegetative Nervensystem vermittelte Veränderungen der Durchblutung.

Lokale und neurogene Regulation der Hautdurchblutung Die Haut ist ein poikilothermes Organ, das Änderungen der Umgebungstemperatur zwischen etwa 0 8C und 45 8C bei kurzer Exposition ohne dauernden Schaden toleriert, wenn auch unterhalb von etwa 8 8C und oberhalb von etwa 44 8C Schmerzempfindungen als Warnsignale auftreten. Eine lokale Temperaturabnahme senkt die Durchblutung infolge der unmittelbaren Wirkung der Kälte auf die glatte Gefäßmuskulatur („Kältekonstriktion“) und der Zunahme der Blutviskosität (bei 8 8C etwa doppelt so hoch wie bei 32 8C). Die Durchblutungsabnahme kann die Dauer der lokalen Kälteeinwirkung überdauern und benachbarte Hautregionen erfassen; so kommt es bei manchen Menschen zu anhaltender Vasokonstriktion („abgestorbene Finger“) beim Anfassen eines Glases mit Eiswasser. Bei Temperaturen unter etwa 10 8C kann es, bevorzugt an den Akren, zu einem oft von Schmerzempfindungen begleiteten Durchblutungsanstieg kommen, der im Wesentlichen auf der Dilatation von arteriovenösen Anastomosen beruht. Die Mechanismen dieser Kältedilatation sind nicht genau bekannt; als Mediatoren werden aus Gewebezellen oder Nervenendigungen freigesetzte Stoffe (Kinine, Substanz P, ATP, Prostaglandine, Histamin) diskutiert. Hier ist es schwierig, klare Grenzen zu der sog. entzündlichen Mehrdurchblutung zu ziehen, an der die gleichen Mediatoren beteiligt sind. Erhöhung der lokalen

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8.7 Der Lungenkreislauf Hauttemperatur führt zu lokaler Gefäßdilatation und Mehrdurchblutung des nutritiven Kapillarsystems der Haut. Alle lokalen Temperaturwirkungen sind wesentlich deutlicher an der Haut der Extremitäten (Akren) als am Rumpf. Der Umfang der durch lokale Kühlung oder Erwärmung eintretenden Durchblutungsänderungen ist relativ begrenzt (etwa 50 – 500 ml · min–1 · kg–1). An ihrem Zustandekommen werden neben der direkten Temperatureinwirkung auf die Gefäßmuskulatur auch lokale neurogene Mechanismen in Form sog. Axonreflexe (S. 206) angenommen. Weit größere Änderungen der Hautdurchblutung treten auf, wenn bei veränderter Umgebungsoder Körperkerntemperatur thermoregulatorische Veränderungen in Gang gesetzt werden. Diese in Kap. 15 näher besprochenen Vorgänge führen zu einer veränderten vegetativen Innervation der Hautgefäße. Die vor allem an den Akren sehr zahlreichen arteriovenösen Anastomosen werden überwiegend durch die sympathische Innervation kontrolliert. Ihre Dilatation bzw. Konstriktion (wegen der großen Wanddicke bis zum völligen Verschluss) macht extreme Änderungen der Durchblutung möglich. Maximale sympathische Konstriktion bei niedriger Umgebungstemperatur reduziert die Durchblutung der Haut (Gesamtgewicht etwa 2 kg) auf Minimalwerte von 20 ml/min; umgekehrt kann die Durchblutung bei hoher Umgebungstemperatur bis auf etwa 3 – 4 l/min ansteigen. Die bei Überwärmung auftretende Mehrdurchblutung ist größer als durch Wegnahme der sympathischen Innervation allein erklärbar; hier wird eine zusätzlich dilatierende Wirkung lokaler Mediatoren, u. a. des Kininsystems, angenommen, die bei der sympathisch-cholinergen Stimulation der Schweißdrüsen entsteht. Die lokal differenzierte sympathische Innervation der Haut beeinflusst nicht nur die arteriovenösen Anastomosen und die Arteriolen des nutritiven Gefäßsystems der Haut, sondern auch den Tonus der Kapazitätsgefäße und bestimmt damit das nicht unerhebliche Blutvolumen in den ausgedehnten oberflächlichen und tiefen Venenplexus der Haut.

Zentrale Hämodynamik bei hoher Umgebungstemperatur Die extreme Widerstandsabnahme in der Haut bei hoher Umgebungstemperatur bedeutet eine erhebliche Belastung für die Kreislauffunktion, zumal die gleichzeitige Verlagerung von Blutvolumen in die Hautvenen auch das intrathorakale Blutvolumen vermindert. Die thermoregulatorische Sympathikusaktivierung bewirkt eine deutliche Zunahme der Herzfrequenz und des Herzzeitvolumens (bis auf Werte von etwa 15 l/min). Durch die Senkung des Strömungswiderstandes in der Haut, die durch eine gleichzeitige geringe Vasokonstriktion im Darm, u. U. sogar in der Muskulatur, nicht aufgewogen wird, nimmt der totale periphere Widerstand deutlich ab, so dass der diastolische Blutdruck sinkt. Da die Hautdurchblutung über den Pressorezeptorenreflex nur wenig beeinflusst werden kann, ist die Funktion des Kreislaufsystems bei thermischer Belastung weit mehr gefährdet als etwa bei körperlicher Arbeit oder in Orthostase allein.

So kann es zu einem „Hitzekollaps“ insbesondere dann kommen, wenn bei hoher Umgebungstemperatur zusätzlich eine orthostatische Belastung den venösen Rückstrom zum Herzen mindert. Langes Stehen an der Kasse des Kaufhauses im Sommerschlussverkauf oder ein ausgedehntes Ortsgespräch in der durch Sonneneinstrahlung erwärmten Telefonzelle sind typische Beispiele für diese Belastung.

8.7

Der Lungenkreislauf

Die Hämodynamik der pulmonalen Strombahn, die Teil des Niederdrucksystems ist, zeichnet sich durch eine starke Abhängigkeit der Gefäßmechanik von der Höhe des intraalveolären Drucks, durch einen niedrigen, weitgehend druckpassiven Strömungswiderstand und durch eine relativ geringe Tonusentwicklung der spärlichen Gefäßmuskulatur aus. Die Lungendurchblutung ist stark inhomogen und lageabhängig. Unter den Regulationsvorgängen in der pulmonalen Strombahn ist die Vasokonstriktion bei alveolärer Hypoxie von großer Bedeutung. Das Filtrationsgleichgewicht im pulmonalen Kapillargebiet ist durch ständige Drainage des für den Gasaustausch wichtigsten Gewebes gekennzeichnet.

Gefäßarchitektur und Hämodynamik der Lunge unterscheiden sich stark vom Körperkreislauf Das Herzzeitvolumen wird vom rechten Ventrikel mit einer im Vergleich zum Körperkreislauf geringen treibenden Druckdifferenz durch die Lungenstrombahn gefördert. Systolischer und diastolischer Druck in der A. pulmonalis betragen in Ruhe etwa 20 bzw. 7 mm Hg, der Mitteldruck etwa 12 mm Hg (1,6 kPa). Der geringe Strömungswiderstand im pulmonalen Gefäßsystem ist auf die arteriellen und venösen Gefäßabschnitte ziemlich gleich verteilt. Der Kapillardruck liegt daher mit etwa 7 – 8 mm Hg (1 kPa) ungefähr in der Mitte zwischen arteriellem Zustrom (13 mm Hg) und venösem Abstrom (5 mm Hg). Die im Vergleich zum Körperkreislauf deutlich kürzeren Gefäße sind dünnwandiger und weisen weniger glatte Muskulatur auf. Der arterielle Gefäßbaum versorgt ein ausgedehntes Kapillarnetzwerk in den interalveolären Septen (Abb. 8.49), dessen Oberflächen wie Decke und Boden einer Parkhausetage mit Pfeilern verbunden sind, zwischen denen das Blut seinen Weg nimmt (Abb. 8.50 Mitte). Das hydrodynamische Verhalten dieser Art von Blutströmung wird nicht angemessen durch die Hagen-Poiseuille-Gleichung beschrieben. Man spricht von einer sog. Schichtenströmung im Gegensatz zu der Röhrenströmung in den zylindrischen Kapillaren anderer Organe. Eine für die Hämodynamik wesentliche Eigenschaft des pulmonalen Gefäßsystems ist neben seinem niedrigen Strömungswiderstand die große Dehnbarkeit. Diese beruht darauf, dass die pulmonalen Gefäße, vor allem das Kapillarsystem in den interalveolären Septen, nicht oder fast nicht von einem mechanisch stützenden Interstitium umgeben sind. Daher wird der transmurale Druck und

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8 Das Kreislaufsystem

Kapillare „Pfeiler“

30 µm

Venole „Pfeiler“ Kapillare

Abb. 8.49 Interalveolarsepten der Lunge. Querschnitt (oben) und Flachschnitt (unten). Länge und Durchmesser einer „Kapillare“ im Interalveolarseptum sind etwa gleich; daher gleicht die Strömung des Blutes in diesem „Kapillar“netzwerk eher dem Verkehr von Autos in einer Parkhausetage (s. Abb. 8.50) als der Strömung in zylindrischen Röhren (aus 7 [oben] und 34 [unten]).

Interalveolarseptum

transmuraler Druck erhöht

Blutstrom transmuraler Druck normal

transmuraler Druck erniedrigt

Abb. 8.50 Schichtenströmung in den Interalveolarsepten. Schematische Darstellung der Geometrie bei unterschiedlichem transmuralen Druck. Sie soll anschaulich machen, dass sowohl das intrapulmonale Blutvolumen als auch der pulmonale Strömungswiderstand stark von Änderungen des transmuralen Drucks beeinflusst werden.

damit der Dehnungszustand der Lungenkapillaren erheblich vom Druck im Alveolarraum beeinflusst. Pulmonaler Strömungswiderstand und pulmonales Blutvolumen hängen stark von der Ventilation ab. Das Absinken des Pleuradrucks während einer normalen Inspiration bewirkt daher einen Anstieg des transmuralen Drucks (Ptm; S. 182) und somit einen Kapazitätszuwachs des intrathorakalen Niederdrucksystems, also auch der Herzvorhöfe und der Ventrikel in Diastole. Daher steigt der venöse Rückstrom in den Thorax und infolge vermehrter Vor- und verminderter Nachlast das Schlagvolumen des rechten Ventrikels. Anders ist die Situation des linken Ventrikels, dessen Schlagvolumen bei Inspiration abnimmt. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens steigt die diastolische Füllung des linken Ventrikels nicht wesentlich an, weil die gesteigerte Füllung des rechten Ventrikels dies verhindert (Interdependenz der beiden Herzventrikel) und die Volumendehnbarkeit (Compliance) der Lungengefäße größer ist als die des erschlafften linken Ventrikels. Zweitens und vor allem wirkt der niedrige Pleuradruck bei der Inspiration wie eine Erhöhung der Nachlast des linken Ventrikels, weil er dessen Volumenabnahme in der Systole behindert. Da der rechte Ventrikel somit mehr auswirft als der linke, kommt es bei der Inspiration zu einer gesteigerten Blutfülle in den Lungengefäßen. Bei Exspiration (und damit Steigerung des Pleuradrucks) treten diese Effekte in umgekehrter Richtung auf. Solange normale Atemdrücke und -widerstände herrschen, sind die Wirkungen der Atmung auf Herz und Kreislauf gering; sie nehmen aber deutlich zu, wenn z. B. wegen erhöhter Atemwegswiderstände In- und Exspiration forciert und die Schwankungen aller Drücke im Thorax größer werden. So hat auch der Alveolardruck, der z. B. beim sog. Valsalva-Versuch (S. 268) oder bei positiver Druckbeatmung erhöht ist, eine deutliche Wirkung auf die pulmonale Kapazität und damit auf intrathorakales Blutvolumen, venösen Rückstrom, Herzzeitvolumen und arteriellen Blutdruck. Änderungen des Innendrucks der Pulmonalgefäße sind in analoger Weise wirksam. Dies ist wichtig, weil es dazu führt, dass bei Steigerung des Herzzeitvolumens (z. B. bei Arbeit), d. h. bei Steigerung der treibenden Druckdifferenz (zwischen A. pulmonalis und linkem Vorhof), der pulmonale Strömungswiderstand geringer wird (Abb. 8.51). Auch hydrostatische Drücke sind für die Gefäßweite und damit für Strömungswiderstand und intrapulmonales Blutvolumen bestimmend. Daher ist die Durchblutung bei aufrechter Körperhaltung nicht in allen Lungenabschnitten gleich, sondern zwischen Lungenspitzen und Lungenbasis sehr verschieden, und das ist wichtig für den Gasaustausch (S. 277). Man unterscheidet mehrere Zonen, die sich durch die Höhe der Durchblutung und ihre Abhängigkeit vom alveolären Druck unterscheiden (Abb. 8.52). In Zone I, den Lungenspitzen, sind die pulmonalen Gefäße praktisch völlig kollabiert, weil der alveoläre Druck fast während des gesamten Herzzyklus größer ist als der um die hydrostatische Komponente verminderte pulmonalarterielle Druck (Abb. 8.52 oben). Die Durchblutung ist sehr gering und findet ausschließlich während der systolischen Druckspitze in den Pulmonalarterien statt.

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Druck in der A. pulmonalis 0,6

Ppa

0,4

0,2

0 10

Druck in der V. pulmonalis

Druck im Alveolarraum

PA

Zone I Kapillardurchmesser (mm)

pulmonaler Strömungswiderstand –1 (mmHg · ml · min)

8.7 Der Lungenkreislauf

Ppv

PA > Ppa > Ppv

10

5

Ppa 0

0 20 transmuraler Druck (mmHg) 12

14

PA

Zone II 16

18

Ppv

20

Ppa > PA > Ppv

pulmonaler Perfusionsdruck (mmHg)

Abb. 8.51 Schon bei geringen Änderungen des pulmonalen Perfusionsdrucks kommt es zu erheblichen Änderungen des Strömungswiderstandes, weil, wie die kleine Zeichnung zeigt, der Durchmesser der interalveolären Kapillaren stark vom transmuralen Druck Ptm abhängt (nach 6 und 18).

Ppa Zone III

Ppv PA Ppa > Ppv > PA

In Zone II ist der pulmonalarterielle Druck größer als der alveoläre, dieser aber größer als der pulmonalvenöse (Abb. 8.52 Mitte); die Differenz von Alveolardruck und Gefäßinnendruck (= transmuraler Druck, Ptm) bestimmt die Höhe des Strömungswiderstandes. Daher hängt die Höhe der Durchblutung von der Druckdifferenz zwischen Pulmonalarterie und Alveolarraum ab, während sie vom pulmonalvenösen Druck praktisch unbeeinflusst ist. Diese ungewöhnliche hämodynamische Situation wird mit der eines Wasserfalls verglichen, dessen Stromstärke ebenfalls unabhängig ist von der Tiefe der Schlucht, in die das Wasser fällt. Innerhalb der Zone II nimmt die Durchblutung von oben nach unten zu, da der Gefäßinnendruck mit abnehmender Höhe ansteigt, während der Alveolardruck überall gleich ist. In Zone III, den untersten Lungenpartien, ist der pulmonalvenöse Druck größer als der Alveolardruck (Abb. 8.52 unten), so dass alle Gefäße eröffnet sind und der Strömungswiderstand gering ist. Hier ist die Durchblutung von der arteriovenösen Druckdifferenz abhängig, die innerhalb der ganzen Zone III gleich ist. Dennoch steigt die Durchblutung auch innerhalb dieser Zone von oben nach unten an, da mit wachsendem Innendruck der Strömungswiderstand sinkt. Eine Erhöhung des Alveolardrucks führt zu einer Vergrößerung der Zone I auf Kosten der Zone II und umgekehrt. Bei körperlicher Arbeit steigt der Druck in der A. pulmonalis bis auf maximal das Doppelte. Damit nimmt die ungleichmäßige Verteilung der Lungendurchblutung ab, da Zone I verschwindet und Zone II in Richtung auf die Lungenspitzen vergrößert ist. Auch im Liegen besteht ein, wenn auch geringer, intrapulmonaler Durchblutungsgradient, dem eine ungleichmäßige Verteilung des intrapulmonalen Blutvolumens entspricht. Dass die Lungendurchblutung insgesamt im Liegen größer ist als im Stehen, ergibt sich aus der lageabhängigen Veränderung des Herzzeitvolumens (S. 210 ff.).

Abb. 8.52 Die drei Zonen der Lunge. Sie unterscheiden sich durch die relative Höhe des Drucks in der A. pulmonalis (Ppa), V. pulmonalis (Ppv) und im Alveolarraum (PA). In Zone I ist die Durchblutung Null, weil der Strömungswiderstand infolge der Kompression der Lungengefäße hoch ist; in Zone II hängt die Durchblutung im Wesentlichen von der Druckdifferenz Ppa–PA ab; in Zone III findet sich die höchste Durchblutung und das größte intravasale Volumen.

Regulation der pulmonalen Strombahn: überwiegend druckpassiv Sowohl die arteriellen als auch die venösen Gefäße der pulmonalen Strombahn sind reichlich efferent innerviert. Zu dem in Ruhe vorhandenen, nur geringen Tonus der Pulmonalgefäße trägt diese Innervation jedoch nur wenig bei. Stimulation konstriktorischer sympathischer Fasern bewirkt unter Freisetzung von Noradrenalin über α1Adrenozeptoren-Erregung zwar eine Abnahme des Lungengefäßvolumens, aber kaum eine wesentliche Widerstandszunahme. Die physiologische Bedeutung der sympathischen Stimulation liegt daher eher in einer verminderten Volumenspeicherung und in dem damit erhöhten Füllungsangebot an das Herz. Eine große Zahl von Substanzen, die an den Gefäßen des Körperkreislaufs wirksam sind, erzeugen auch in der Lungenstrombahn konstriktorische oder dilatierende Wirkungen. Ob und inwieweit sie auch bei physiologischen Regulationsvorgängen beteiligt sind, ist unklar. Die Größe des Strömungswiderstandes ist somit weitgehend von druckpassiven Änderungen der Gefäßweite bestimmt. Von physiologischer Bedeutung ist die Zunahme des pulmonalen Strömungswiderstandes, die durch aktive Gefäßkonstriktion bei alveolärer Hypoxie ausgelöst wird. Senkung des PO2 in der Alveolarluft, entweder als Folge eines erniedrigten PO2 in der Einatmungsluft oder einer verminderten Ventilation von Alveolen, führt zu deutlicher pulmonaler Vasokonstriktion. Diese auch als Lilje-

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217

8 Das Kreislaufsystem abnehmende Kontaktzeit

1,2

mittlere Kontaktzeit des Blutes in den Lungenkapillaren (s)

218

0,9

0,6

zunehmende Arbeit

0,3

0

0

5

10

15

20

25

Herzzeitvolumen (l/min)

Abb. 8.53 Die mittlere Kontaktzeit im pulmonalen Kapillarbett nimmt mit steigendem Herzzeitvolumen (bei körperlicher Arbeit) deutlich ab. Bliebe das intrapulmonale Volumen konstant, so wäre dieser Abfall, der im Übrigen die volle O2-Sättigung des Blutes normalerweise nicht in Frage stellt, noch erheblich größer (nach 21).

strand-Euler-Effekt bezeichnete hypoxische Vasokonstriktion wird bei Unterschreitung eines alveolären PO2 von etwa 60 – 70 mm Hg wirksam (S. 276). Die hypoxische Vasokonstriktion wird wahrscheinlich durch das Schließen von O2-sensitiven K+-Kanälen ausgelöst, wodurch es zu einer Reduktion des Kaliumausstroms aus der glatten Muskulatur der Lungengefäße und damit zu einer Depolarisation mit nachfolgender Öffnung von spannungsgesteuerten Ca2+-Kanälen kommt. Die erhöhte zytosolische Ca2+-Konzentration führt schließlich zu einer Zunahme des Gefäßtonus. Betrifft die Vasokonstriktion die gesamte Lunge, so führt dies zu einem deutlichen Anstieg des Pulmonalarteriendrucks. Dies wird bei Aufenthalt in großen Höhen beobachtet und kann akut zu einem Lungenödem und nach längerem Aufenthalt zu einer deutlichen Vermehrung der glatten Gefäßmuskulatur der Pulmonalarterien mit chronischem pulmonalen Hochdruck führen.

Austauschfläche und Flüssigkeitsbalance: wichtige Voraussetzungen für den Gasaustausch Der pulmonale Gasaustausch findet in den interalveolären Septen statt, deren Kapillarsystem insgesamt eine Austauschfläche von ewa 70 – 80 m2 in Ruhe und etwa 100 m2 bei maximaler Durchblutung, d. h. bei Verschwinden der Zone I (S. 216), aufweist. Dies sind nur etwa 10% der Fläche, die für den Austausch der gleichen Menge von O2 oder CO2 in den systemischen Kapillaren zur Verfügung steht. Hieran wird die große Bedeutung der Diffusionsstrecken erkennbar, die in den peripheren Organen bei Kapillarabständen zwischen 20 µm (Myokard) und 80 µm (Skelettmuskel) um mehrere Größenordnungen über denen der Lunge liegen, wo nur die außerordentlich

dünne (0,1 – 1 µm) Alveolarmembran zu überwinden ist (S. 289 f.). Das in den Lungenkapillaren enthaltene Blutvolumen entspricht mit etwa 100 – 150 ml ungefähr 20 – 30 % des Lungenblutvolumens von etwa 500 ml. Im Vergleich enthält das gesamte Kapillarsystem des Körperkreislaufs etwa 4 – 5 % des gesamten Blutvolumens oder 200 – 250 ml. Diese Zahlenangaben weisen noch einmal auf die verschiedene Struktur der Kapillarsysteme in Lungenund Körperkreislauf hin. Für die Dynamik des O2-Austauschs nimmt man vereinfachend eine funktionelle Kapillarlänge von etwa 350 µm (etwa der halbe Umfang einer Alveole) an. Dies ergibt rechnerisch eine Kontaktzeit von etwa 0,7 – 0,8 s, die bei körperlicher Arbeit auf 0,3 s verkürzt sein kann (Abb. 8.53), ohne dass darunter der Gasaustausch leidet (Perfusionslimitierung; S. 194). Unter Arbeitsbedingungen wird der O2-Austausch außerdem durch die Vergrößerung der Austauschfläche infolge der Homogenisierung der Durchblutungsverteilung erleichtert (S. 291 ff.). Die Aufrechterhaltung des normalen Filtrationsgleichgewichts in der Lunge ist für den physiologischen Gasaustausch sehr wichtig, weil eine vermehrte Ansammlung von Flüssigkeit in dem spärlichen Interstitium oder in den Alveolen zu zusätzlichen Diffusionswiderständen führt. Trotz der eminenten Bedeutung der Flüssigkeitsbalance ist ihr Zustandekommen nicht völlig geklärt. Da der kolloidosmotische Druck des Plasmas etwa 3-mal höher ist als der Druck in den pulmonalen Kapillaren, ist anzunehmen, dass das pulmonale Interstitium durch einen negativen effektiven Filtrationsdruck ständig drainiert wird. Eine Flüssigkeitsansammlung in den Interalveolarsepten bei geringer Erhöhung des Drucks im pulmonalen Kapillarsystem wird durch den Flüssigkeitsstrom aus dem septalen in das extraalveoläre (perivaskuläre) Interstitium sowie durch Steigerung des Lymphstroms verhindert. Ein stärkerer Anstieg des pulmonalen Kapillardrucks (z. B. bei Insuffizienz des linken Ventrikels) führt jedoch trotz erhöhten Lymphabstroms zum manifesten Lungenödem, bei dem vermehrte Flüssigkeitsansammlungen in allen Teilen des Interstitiums und sogar in den Alveolen auftreten. Hiervon sind die basalen Lungengebiete der Zone III stets stärker betroffen als die apikalen.

8.8

Kreislauffunktion und Lebensalter

Die dramatischsten Änderungen der Kreislauftätigkeit während eines Menschenlebens spielen sich am Übergang vom intra- zum extrauterinen Leben ab (s. a. Kap. 17). Dabei vollzieht sich eine Veränderung des Funktionsplans des Kreislaufsystems, die eng mit der Übernahme des Gasaustauschs durch die Lunge und dem Wegfall der Plazenta zusammenhängt; es differenziert sich das Hoch- und Niederdrucksystem, und beide Ventrikel werden in Serie geschaltet. Mit dem Wachstum des Organismus nimmt das extrazelluläre Flüssigkeitsvolumen relativ zum Körpergewicht ab, das Gefäßsystem wird zunehmend „wasserdicht“, der Strö-

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8.8 Kreislauffunktion und Lebensalter Lunge (nicht entfaltet)

Lunge (entfaltet)

Ductus arteriosus Botalli

Foramen ovale

rechte Kammer

linke Kammer

obere Körperhälfte untere Körperhälfte Ductus venosus Arantii

Ductus arteriosus Botalli

Leber Plazenta

Körperorgane Körperorgane Körperorgane Körperorgane Körperorgane 3 Endzustand: Herzhälften in Serie

Körperorgane 2 Kreislauf nach der Geburt

1 fetaler Kreislauf: Herzhälften parallel

Abb. 8.54 Entwicklung des Blutkreislaufs. Im fetalen Blutkreislauf (1) sind beide Herzventrikel noch teilweise parallel geschaltet. Unmittelbar nach der Geburt (2) schließt sich das

mungswiderstand im Körperkreislauf steigt. Dieser Prozess setzt sich mit zunehmendem Lebensalter fort und wird durch den Umbau der Gefäßwand sowie durch arteriosklerotische Veränderungen verstärkt.

Eine ganz andere Blaupause: der fetale Kreislauf Die beiden Ventrikel des fetalen Herzens sind funktionell nicht in Serie, sondern parallel geschaltet (Abb. 8.54) (1). Der rechte Ventrikel, dessen Zeitvolumen etwa um 20 % größer ist als das des linken, versorgt zu etwa einem Drittel die Lungenstrombahn. Der linke Ventrikel versorgt die Organe der oberen Körperhälfte (vor allem Myokard und Gehirn) mit Blut relativ hoher O2-Sättigung. Arterielles Mischblut von linkem und (über den Ductus arteriosus Botalli) rechtem Ventrikel strömt in den Körperkreislauf. Das Zeitvolumen beider Ventrikel beträgt gegen Ende der Schwangerschaft zusammen etwa 600 ml/min. Davon fließen etwa 55 % in die Plazenta, in der das Blut erneut oxygeniert wird. Etwa 10% (aus dem rechten Ventrikel) fließen zur Lunge, die restlichen 35 % zu den Körperorganen. Der Strömungswiderstand der noch nicht entfalteten Lunge ist hoch, der der Plazenta sehr gering. Das aus der Plazenta über die Umbilikalvene zurückkehrende, arterialisierte Blut fließt zu einem kleineren Teil direkt zur Leber, zum größeren Teil durch den Ductus venosus Arantii über die V. cava inf. in den rechten Vorhof und von dort durch das Foramen ovale in den linken Vorhof. Nieren, Darm, Milz und Lunge werden im Vergleich zum Kreislauf des Erwachsenen geringer

Sauerstoffgehalt des Blutes: hoch

mittel

niedrig

Foramen ovale, die Strömungsrichtung im Ductus arteriosus Botalli wird umgekehrt. Erst nach dessen Verschluss (3) sind beide Herzhälften funktionell in Serie geschaltet.

durchblutet, während Myokard und Gehirn deutlich höhere Durchblutungswerte aufweisen. Der mittlere arterielle Blutdruck beträgt gegen Ende der Schwangerschaft etwa 40 – 60 mm Hg, die Herzfrequenz 140 – 160/min. Die Entwicklung der reflektorischen Steuerung des fetalen Kreislaufs über die vegetative Innervation zeigt sich an der Reaktion auf eine durch plazentare Minderperfusion oder Nabelschnurabklemmung entstehende Asphyxie (Anstieg von PCO2 und Abfall von PO2). Gegen Ende der Schwangerschaft führt eine Asphyxie zu Blutdruckerhöhung beim Fetus, die ihrerseits über Erregung der Pressorezeptoren eine deutliche fetale Bradykardie bewirkt. Durch die gleichzeitige Vasokonstriktion im Körperkreislauf wird die fetusseitige Plazentadurchblutung erhöht. Regelmäßige, vorübergehende Bradykardien („dips“) sind während der Geburtsphase bei jeder Wehe der Uterusmuskulatur zu beobachten.

Kreislaufumstellung während der Geburt Die entscheidende Veränderung der Kreislauffunktion durch die Geburt besteht in der plötzlichen Umverteilung der Strömungswiderstände zwischen Lungen- und Körperkreislauf. Durch diese Veränderung entsteht die Differenzierung von Hoch- und Niederdrucksystem. Auf das Körpergewicht bezogen, entspricht das vom linken Ventrikel unmittelbar nach der Geburt ausgeworfene Zeitvolumen von etwa 540 – 600 ml/min dem eines Erwachsenen bei mittelschwerer Arbeit.

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8 Das Kreislaufsystem 150

150

Druck und Volumen in der Aorta mit 30 50 60 80 Jahren 200

–1

systolischer Blutdruck diastolischer 50

50

Blutdruck (mmHg)

100

100

Aortendruck (mmHg)

Herzfrequenz

Herzfrequenz (min )

220

DP

100

DV

0

0

100

200

300

Aortenvolumen (ml) = altersgemäßer Mitteldruck

G

u eb

0 rt

5

Jah

re 10

Jah

re 15

Jah

re E rw

h ac

se

ne

0

Abb. 8.55 Altersabhängigkeit von systolischem und diastolischem Blutdruck und Herzfrequenz. Von der Geburt bis zum Erwachsenenalter steigt der arterielle Druck als Folge schleichender Widerstandszunahme und Elastizitätsverlustes stetig an.

Die Unterbrechung der Umbilikalarterien beim Abnabeln erhöht plötzlich den Strömungswiderstand und hat daher eine Drucksteigerung in der Aorta zur Folge. Die Asphyxie, die durch den Wegfall der Plazentafunktion entsteht, bewirkt einen Atemantrieb, so dass mit den ersten Atemzügen die Lunge entfaltet wird. Wegen des noch großen Atemwegswiderstandes entsteht bei der Inspiration ein starker Unterdruck im Thorax und damit ein starker Sog auf das Blut in den Vv. cavae. Der Druck in diesen Gefäßen sinkt – auch infolge der Unterbrechung der Umbilikalvenen – deutlich ab, so dass das Foramen ovale funktionell verschlossen wird. Die Entfaltung der Lunge senkt den pulmonalen Strömungswiderstand auf weniger als 20 %, so dass die Lungendurchblutung auf etwa das Fünffache zunimmt. Der erniedrigte pulmonale Widerstand senkt den Druck in der Pulmonalarterie unter den Aortendruck, so dass sich die Strömungsrichtung im Ductus arteriosus Botalli umkehrt. In dieser Situation (Abb. 8.54) (2) versorgt der linke Ventrikel auch teilweise die Lungenstrombahn. Innerhalb von 10 – 30 Minuten kontrahiert sich die starke Wandmuskulatur des Ductus arteriosus als Folge des ansteigenden arteriellen PO2 und einer Synthesehemmung von dilatierenden Prostaglandinen im Gefäßendothel. Der völlige Verschluss tritt erst nach mehreren Stunden oder Tagen ein. Damit ist die Parallelschaltung der beiden Herzventrikel endgültig aufgehoben (Abb. 8.54) (3).

Abb. 8.56 Druck-Volumen-Beziehung der Aorta. Mit zunehmendem Alter steigt ihr Volumen. Im Bereich des altersgemäßen Innendrucks (Pfeile) nimmt auch die Steilheit der Kurven, d. h. die Steifheit der Gefäßwand, zu. Das bewirkt eine abnehmende Windkesselfunktion mit Folgen für Herzarbeit und arteriellen Blutdruck (nach 12).

Vom Neugeborenen zum Erwachsenen: postnatale Anpassung der Kreislauftätigkeit Die langsame Veränderung zahlreicher hämodynamischer Größen in den Wochen und Monaten nach der Geburt zeigt, dass der Übergang aus dem intrauterinen in das extrauterine Leben manche Ähnlichkeit mit dem Landgang der Säugetiere in der Phylogenese widerspiegelt. Kreislauf- und Volumenregulation des im Uterus schwimmenden Fetus („niedriger Druck, großes Volumen“) verändern sich in der postnatalen Periode zunehmend, bis die Verhältnisse denen des adulten Systems („hoher Druck, geringes Volumen“) entsprechen. Nicht allein das Blutvolumen, das beim Neugeborenen bis zu 120 ml/kg betragen kann, sondern das gesamte extrazelluläre Flüssigkeitsvolumen nehmen relativ zum Körpergewicht ab. Gleichzeitig wird das noch relativ „undichte“ Gefäßendothel zunehmend „dichter“. Der totale periphere Widerstand nimmt zu, und der arterielle Blutdruck steigt an, während Herzfrequenz und Herzzeitvolumen absinken (Abb. 8.55). Die neurogene, insbesondere die reflektorische Steuerung von Kreislauffunktionen ist schon beim Neugeborenen weitgehend vollständig ausgebildet; dies gilt zumindest für die Presso- und Chemorezeptorenreflexe. Allerdings ist die Beeinflussung der Herzfrequenz, obwohl deutlich geringer als beim Erwachsenen, sowohl beim Fetus als auch beim Neugeborenen stets stärker als die des peripheren Widerstandes. Erst mit dem altersabhängig zunehmenden peripheren Gefäßtonus steigt dann auch die Beteiligung von Durchblutungsreaktionen an der reflektorischen Kreislaufsteuerung.

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8.8 Kreislauffunktion und Lebensalter 60

Blutdruck

10 bis 29 Jahre

40

Medianwert der Verteilung

20

systolischer diastolischer Blutdruck

0

Häufigkeit (%)

40

30 bis 49 Jahre 20

0

50 bis 69 Jahre 20

0

älter als 70 Jahre 20

0

40

80

120

160

200

240

Blutdruck (mmHg)

Abb. 8.57 Häufigkeitsverteilung des systolischen (orange) und diastolischen (blau) Blutdrucks mit zunehmendem Lebensalter. Der zunehmende periphere Widerstand und die abnehmende Gefäßdehnbarkeit sind die Ursachen für die deutliche Altersabhängigkeit des arteriellen Blutdrucks (nach 4).

Der schleichende Strukturumbau bestimmt den Kreislauf im höheren Lebensalter Die physiologischen Änderungen der Kreislauffunktion im höheren Lebensalter beruhen weitgehend auf den Strukturveränderungen in Gefäßwänden und Herzmuskulatur, die im Prinzip schon mit der Geburt einsetzen. In der postnatalen Wachstumsphase kommt die langsam abnehmende Elastizität des Gefäßsystems der Erhöhung der Strömungsgeschwindigkeit zugute, so dass die mittlere Transitzeit des gesamten Körperkreislaufs (Kreislaufzeit) trotz erheblichen Längenzuwachses des Gefäßsystems etwa konstant bleibt. Infolge des physiologischen Umbaus der Gefäßwand (Zunahme des Kollagens, Fragmentierung elastischer Fasern) sowie durch arteriosklerotische Veränderungen werden Aorta und große Arterien mit zunehmendem Alter steifer. Damit ändert sich auch die charakteristische Wellenform von Druck und Strömung im Arteriensystem (S. 192 f.). Die typische Altersveränderung der Aorta besteht in einer Zunahme der Steifheit und einer Vergrößerung des Volumens (Abb. 8.56). Mit zunehmendem Lebensalter finden sich daher charak-

teristische Veränderungen des arteriellen Blutdrucks: Die Blutdruckamplitude wird größer, und der arterielle Mitteldruck steigt an (Abb. 8.57). Die verminderte Windkesselwirkung der großen Leitarterien erhöht die Beschleunigungsarbeit des Herzens. Die Mehrbelastung des Herzens trifft ein Organ, dessen kontraktile Leistungsfähigkeit durch den gleichen Prozess, nämlich Ersatz von Myozyten durch kollagenes Bindegewebe, ebenfalls abnimmt. Die Erhöhung des arteriellen Drucks führt zu einer gleichförmigeren Perfusion auch der apikalen Lungenpartien, was sich jedoch wegen der altersveränderten Lungengewebestruktur (Emphysem) eher negativ auf die Arterialisierung des Blutes auswirkt. Entscheidende Altersveränderungen des Kreislaufsystems resultieren aus der zunehmenden Arteriosklerose der großen arteriellen Gefäße, die zur Unterversorgung der Gewebe führen kann, wenn in zuführenden Leitarterien eine wesentliche Gefäßverengung auftritt. Die offenbar genetisch programmierte Abnahme der Wachstumsund Regenerationsfähigkeit lässt die Entwicklung überbrückender Kollateralgefäße im hohen Alter nicht mehr im gleichen Maße zu. Darüber hinaus kommt es zu einer Abnahme der Gefäßdichte im Gewebe, wodurch die Versorgungsbedingungen weiter eingeschränkt werden.

Zum Weiterlesen … 1 Astrand PO, Rodahl K. Textbook of Work Physiology. New York: McGraw-Hill; 1986 2 Burton AC. Physiology and Biophysics of the Circulation. Chicago: Year Book; 1966 3 Folkow B, Neil E. Circulation. London: University Press; 1971 4 Gauer OH. Kreislauf des Blutes. In: Gauer OH, Kramer K, Jung R. Physiologie des Menschen, Bd. 3. München: Urban & Schwarzenberg; 1972 5 Hammersen F. Bau und Funktion der Blutkapillaren. In: Meesen H. Handbuch der allgemeinen Pathologie, Bd. III/7. Berlin: Springer; 1977 6 Johnson PC. Peripheral Circulation. New York: Wiley; 1978 7 Kaley G, Altura BM. Microcirculation. Baltimore: University Park Press; 1977 8 Levick JR. An Introduction to Cardiovascular Physiology. London: Arnold; 2003 9 McDonald D. Blood Flow in Arteries. London: Arnold; 1960 10 Rowell LB. Human Cardiovascular Control. Oxford: Oxford University Press; 1993 11 Swales JD (Editor). Textbook of Hypertension. Oxford: Blackwell; 1994

… und noch weiter 12 Bader H. Dependence of wall stress in the human thoracic aorta on age and pressure. Circ Res. 1967; 20: 354 – 361 13 Busse R, Fleming I. Regulation of endothelium-derived vasoactive autacoid production by hemodynamic forces. Trend Pharmacol Sci. 2003; 24: 24 – 29 14 Carmeliet P. Angiogenesis in health and disease. Nat Med. 2003; 9: 653 – 660 15 Cowley AW. Long-term control of arterial blood pressure. Physiol Rev. 1992; 72: 231 – 300

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8 Das Kreislaufsystem 16 Cowley AW, Liard JF, Guyton AC. Role of baroreceptor reflex in daily control of arterial blood pressure and other variables in dogs. Circ Res. 1973; 32: 564 – 576 17 Eckberg DL. Carotid baroreflex function in young men with borderline blood pressure elevation. Circulation. 1979; 59: 632 – 636 18 Edwards WS. The effects of lung inflation and epinephrine on pulmonary vascular resistance. Amer J Physiol. 1951; 167: 756 – 762 19 Gaehtgens P. Pulsatile pressure and flow in the mesenteric vascular bed of the cat. Pflügers Arch. 1970; 316: 140 – 151 20 Guyton AC. Blood pressure control – special role of the kidneys and body fluids. Science. 1991; 252: 1813 – 1816 21 Johnson RL, et al. Pulmonary capillary blood volume, flow and diffusing capacity during exercise. J Appl Physiol. 1960; 15: 893 – 902 22 Kjellmer I. Studies on exercise hyperemia. Acta Physiol Scand. 1965; 64 (Suppl. 244): 1 – 27 23 Klabunde RE, Johnson PC. Reactive hyperemia in capillaries of red and white skeletal muscle. Amer J Physiol. 1977; 232: H411-H417 24 Levick JR, Michel CC. The effects of position and skin temperature on the capillary pressures in the fingers and toes. J Physiol. (Lond.) 1978; 274: 97 – 109 25 Melcher A, Donald DE. Maintained ability of carotid baroreflex to regulate arterial pressure during exercise. Amer J Physiol. 1981; 241: H838 – H849 26 Meßmer K, et al. Circulatory significance of hemodilution: rheological changes and limitations. Advanc Microcirc. 1972; 4: 1 – 77

27 Michel CC, Philips ME. Steady-state fluid filtration at different capillary pressures in perfused frog mesenteric capillaries. J Physiol. (Lond.) 1987; 388: 421 – 435 28 Moreno AH, et al. Mechanics of distension of dog veins and other very thinwalled tubular structures. Circ Res. 1970; 27: 1069 – 1080 29 Patterson GC, Whelan RF. Reactive hyperaemia in the human forearm. Clin Sci. 1955; 14: 197 – 211 30 Persson PB. Modulation of cardiovascular control mechanisms and their interaction. Physiol Rev. 1996; 76: 193 – 244 31 Persson P, Ehmke H, Kirchheim H, Seller H. Effect of sinoaortic denervation in comparison to cardiopulmonary deafferentiation on long-term blood pressure in conscious dogs. Pflügers Arch. 1988; 411: 160 – 166 32 Segal SS. Integration of blood flow control to skeletal muscle: key role of feed arteries. Acta Physiol Scand. 2000; 168: 511 – 518 33 Singel DJ, Stamler JS. Blood traffic control. Nature. 2004; 430: 297 34 Somlyo AP, Somlyo AV. Ca2+ sensitivity of smooth muscle and nonmuscle myosin II: modulated by G proteins, kinases, and myosin phosphatase. Physiol Rev. 2003; 83: 1325 – 1358 35 Weibel ER. Morphometry of the Human Lung. Berlin: Springer; 1963

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223

Blut: Ein flüssiges Organsystem C. Bauer und B. Walzog

9.1

Die Untersuchung des Blutes – Ein Grundbaustein der ärztlichen Diagnostik · ·· 224

9.2

Zusammensetzung und Volumen des Blutes · · · 224 Das Blutvolumen ist eine Funktion des Körpergewichts · ·· 224 Blutplasma ist aus vielen Komponenten zusammengesetzt ··· 225 Plasmaelektrolyte · ·· 226

9.3

9.4

Abwehrmechanismen des Körpers · ·· 233 Wichtige Abwehrmechanismen sind bereits bei der Geburt voll ausgebildet · · · 233 Die Merkmale des spezifischen Abwehrsystems · ·· 237

9.5

Blutstillung und Wundheilung ··· 245 Thrombozytenfunktion ··· 245 Die Gerinnung des Blutes führt zu einem stabilen Wundverschluss ··· 249 Die Wundheilung wird von Entzündungszeichen begleitet · · · 252

Zelluläre Bestandteile des Blutes · · · 227 Aus einer hämatopoietischen Stammzelle entstehen verschiedene Blutzelltypen · · · 227 Erythrozyten dienen vor allem dem Gastransport · · · 229

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224

9 Blut: Ein flüssiges Organsystem

9.1

Die Untersuchung des Blutes – Ein Grundbaustein der ärztlichen Diagnostik

Das Leben eines Menschen hängt kritisch davon ab, dass sein Blut unablässig durch den Körper zirkuliert und somit mit sämtlichen Organen in Verbindung steht. Die Organe entnehmen dem Blut Substanzen, die sie für ihre geregelte Funktion benötigen (Sauerstoff, Nährstoffe, hormonelle Botenstoffe) und geben an das Blut sowohl Stoffwechselprodukte als auch Hormone ab. Auch Wärme wird mit dem Blut transportiert. Es ist also ein Transport- und Kommunikationssystem, das für die Aufrechterhaltung der normalen Körperfunktionen unerlässlich ist. Obwohl das Blut mit allen Organen in ständiger Wechselwirkung steht, ist seine Zusammensetzung normalerweise relativ konstant: Abweichungen von der Norm deuten daher auf krankhafte Veränderungen einzelner Organe (z. B. Niereninsuffizienz) oder des Blutes selbst (z. B. Anämie, Leukämie) hin. Während jedoch die inneren Organe einer Funktionsuntersuchung nicht direkt zugänglich sind, kann eine Blutprobe schnell und problemlos entnommen werden. Eine sorgfältige Analyse des Blutes kann Rückschlüsse auf eine gestörte Funktion verschiedenster Organe wie der Lunge, der Niere und des endokrinen Systems liefern. So sind die Veränderungen der Partialdrücke von O2 und CO2 im arteriellen Blut ein Indikator für eine gestörte Lungenfunktion, die Erhöhung der Konzentration von Kreatinin im Plasma deutet auf eine eingeschränkte Nierenfunktion hin, und veränderte Hormonkonzentrationen im Blut zeigen endokrinologische Störungen an. Neben diesen Transport- und Kommunikationsaufgaben hat das Blut aber auch Abwehrfunktionen gegen Viren, Bakterien, Pilze und pathologisch veränderte Körperzellen. Eine hochspezialisierte Gruppe von Blutzellen, die Leukozyten, erkennt über spezifische Signalsysteme fremde Eindringlinge oder entfremdete Körperzellen und macht sie in der Regel durch ausgeklügelte Abwehrmaßnahmen bereits im Gewebe unschädlich. Sollten diese Eindringlinge es dennoch schaffen, sich bis ins Blut „vorzuarbeiten“, kann es zur lebensbedrohlichen Sepsis kommen, bei der sich die Bakterien mit dem Blutstrom (hämatogen) im gesamten Organismus verteilen. Überschießende oder fehlgeleitete Abwehrreaktionen sind für Allergien, Autoimmunerkrankungen und chronisch entzündliche Erkrankungen verantwortlich. Fallen wichtige Abwehrfunktionen aus (z. B. Acquired Immune Deficiency Syndrome, AIDS), können an sich harmlose Infektionen zum Tode führen. Das Gerinnungssystem schützt vor Blutverlusten bei Verletzungen, indem es für die Reparatur der Blutgefäße sorgt. Dies wird durch die Zusammenarbeit von plasmatischen Gerinnungsproteinen und Thrombozyten bewerkstelligt. Patienten mit krankhaften Veränderungen der Blutgefäße (z. B. Arteriosklerose) erhalten zur Vorbeugung von Thrombosen und koronaren Gefäßverschlüssen (z. B. Herzinfarkt) Medikamente, die die Gerinnungsneigung des Blutes vermindern.

9.2

Zusammensetzung und Volumen des Blutes Das Blutvolumen ist eine Funktion des Körpergewichts

Blut besteht hauptsächlich aus Wasser, in dem Elektrolyte, wasserlösliche Nährstoffe und Vitamine sowie Gase gelöst sind. Diese wässrige Lösung enthält außerdem Proteine, an die z. T. schlecht wasserlösliche Stoffe angelagert sind, sowie verschiedene Zellpopulationen: – Erythrozyten (rote Blutkörperchen), – Leukozyten (weiße Blutkörperchen) und – Thrombozyten (Blutplättchen). Der Anteil des Blutvolumens am Körpergewicht beträgt beim Erwachsenen 6 – 8 % der fettfreien Körpermasse, bei kleineren Kindern sind es wegen des geringeren Fettanteils 8 – 9 % (1). Ein normales Blutvolumen ist zur Aufrechterhaltung des Blutkreislaufes erforderlich, da die Größe des Blutvolumens den Druck in den zentralen Venen und dadurch das Füll- und Auswurfvolumen des Herzens bestimmt. Die Messung des Blutvolumens erfolgt nach dem Prinzip der Indikatorverdünnung (Verteilungsvolumen = injizierte Menge bzw. Gesamtradioaktivität/Konzentration im Blut), entweder direkt durch 51Cr markierte Erythrozyten oder indirekt durch Bestimmung des Plasmavolumens mit 131J markiertem Albumin und des Hämatokrits nach der Formel: Blutvolumen = Plasmavolumen/(1 – Hämatokrit). Als Hämatokrit bezeichnet man den Volumenanteil der Blutzellen pro Gesamtvolumen Blut. Da die Erythrozyten ungefähr 99 % des Hämatokrits ausmachen, wäre die Bezeichnung Erythrokrit treffender. Der Normbereich dieses Wertes beträgt für Frauen 0,37 – 0,47 und für Männer 0,40 – 0,54 (Tab. 9.1).

Tabelle 9.1 Normbereich für Erythrozytenparameter und Hämoglobin Frauen

Männer

Hämoglobinkonzentration (g/l Blut)

120 – 160

140 – 180

Hämatokrit

0,37 – 0,47 0,40 – 0,54

Erythrozytenzahl (1012/l Blut = 106/µl Blut)

4,2 – 5,4

mittlere Hb-Konzentration der Erythrozyten (MCHC) (g/l Erythrozyten)

4,6 – 5,9

320 – 360

mittlere Hb-Masse eines Erythrozyten (MCH) (pg = 10–12 g)

27 – 32

mittleres Volumen eines Erythrozyten (MCV) (fl = 10–15 l)

80 – 100

Retikulozytenanteil

0,5 – 2%

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9.2 Zusammensetzung und Volumen des Blutes Infolge ihrer hohen Konzentration bestimmen die Erythrozyten die Fließ- (rheologischen) Eigenschaften des Blutes, die wiederum für sein Strömungsverhalten im Gefäßsystem wichtig sind. Die Blutviskosität wird vor allem vom Hämatokrit bestimmt und steigt bei einer Hämatokritzunahme überproportional an. Da der Strömungswiderstand linear mit der Viskosität zunimmt (Hagen-Poiseuille-Gesetz; s. S. 188), bedeutet eine Erhöhung des Hämatokritwertes eine Mehrbelastung des Herzens und kann zu einer Verminderung der O2-Transportleistung führen (Kap. 8).

Blutplasma ist aus vielen Komponenten zusammengesetzt Blutplasma besteht zu 90 % aus Wasser und zu 10 % aus gelösten Substanzen. Von den festen Substanzen machen die Proteine ca. 2⁄3 aus, der Rest sind niedermolekulare Stoffe und Elektrolyte. Hinter diesen nüchternen Zahlen verbirgt sich eine erstaunliche Funktionsvielfalt. Die größte Vielfalt weisen dabei die Plasmaproteine auf. Sie sind beteiligt an Transportvorgängen sowie an der Abwehr- und Gerinnungsfunktion des Blutes und mitbestimmend für die Größe des Plasmavolumens. Neben den Plasmaproteinen gibt es Hormone und Nährstoffe, die sich auf dem Weg zwischen verschiedenen Organen befinden. Zu den Stoffwechselendprodukten gehören u. a. stickstoffhaltige Substanzen (Harnstoff, Harnsäure, Kreatinin) und organische Säuren. Schließlich gibt es noch Elektrolyte, deren unterschiedliche Verteilung zwischen dem Extrazellulärraum und dem Intrazellulärraum die notwendige Voraussetzung für das Entstehen des Membranpotenzials der Zellen sowie für ihre Volumenkonstanz darstellt. Blutplasma erhält man durch Zentrifugieren von ungerinnbar gemachtem Blut. Die Proteinkonzentration dieser Flüssigkeit beträgt ca. 70 g/l. Lässt man Blut gerinnen und zentrifugiert dann, so erhält man Blutserum. Es unterscheidet sich vom Plasma durch das Fehlen von gerinnungsaktiven Proteinen, hauptsächlich Fibrinogen. Die Proteine des Plasmas sind sehr heterogen; bis jetzt wurden mehr als hundert verschiedene molekulare Spezies nachgewiesen. Eine Trennung dieser verschiedenen Proteine durch Trägerelektrophorese liefert fünf Grobfraktionen: Albumin, α1- und α2-Globuline, β-Globuline und γ-Globuline. In Tab. 9.2 sind einige Vertreter dieser klassischen Proteinklassen aufgeführt. Die folgende Besprechung der Plasmafunktion wird sich auf die Bedeutung der Plasmaproteine für die Aufrechterhaltung des Plasmavolumens und auf ihre Transportfunktion beschränken. Die Abwehr- und Gerinnungsfunktionen des Plasmas werden in späteren Abschnitten dieses Kapitels behandelt. Für den kolloidosmotischen (onkotischen) Druck des Plasmas, der für die Konstanthaltung des Plasmavolumens wichtig ist, sorgt vor allem das Albumin. Wegen seiner im Verhältnis zu anderen Plasmaproteinen relativ niedrigen Molekülmasse (66 kD) und hohen Konzentration (45 g/l Plasma) ist Albumin ungefähr zu 80 % am kolloidosmotischen Druck (KOD) des Plasmas beteiligt. Bei normaler Proteinkonzentration beträgt der KOD des Plasmas ca. 25 mm Hg (3,3 kPa). Da die

Tabelle 9.2 wahl)

Proteine des menschlichen Blutplasmas (Aus-

Protein

KonzentFunktionen ration (g/l Plasma)

Albumin

35 – 55

kolloidosmotischer Druck, Transportfunktion (z. B. Fettsäuren, Ca2+)

α1-Antitrypsin (α1-Antiprotease)

2–4

Proteasehemmer (Thrombin, Plasmin, Elastase, Trypsin, Chymotrypsin)

α1-Lipoprotein (= HDL = high density lipoprotein)

3–8

Lipidtransport (bevorzugt Phosphoglyceride)

α1-Globuline

Prothrombin 0,05 – 1 (= Gerinnungsfaktor II)

Proenzym des Thrombins (Gerinnung)

α2-Globuline α2-Makroglobulin

2–3

Proteasehemmer (Thrombin, Plasmin)

α2-Antithrombin III

0,2 – 0,3

Thrombininhibitor

α2-Haptoglobin

1–3

Hämoglobinbindung

Plasminogen

0,1 – 0,2

Proenzym des Plasmins

3–8

Lipidtransport (bevorzugt Cholesterin und Cholesterinester)

β-Globuline β-Lipoprotein (= LDL = low density lipoprotein) Apo-Transferrin

2–4

Eisentransport

Hämopexin

0,5 – 1,0

Hämbindung

Fibrinogen (= Gerinnungsfaktor I)

2 – 4,5

Blutgerinnung

C-reaktives Protein

< 0,01

Phagozytoseförderung

γ-Globuline

7 – 15

Immunglobuline (IgG, IgM, IgA, IgE, IgD)

Proteinkonzentration im Interstitium wegen der geringen Proteindurchlässigkeit der Kapillaren viel geringer ist als im Plasma, beträgt der KOD des Interstitiums im Mittel nur 5 mm Hg (0,7 kPa). Die daraus resultierende Differenz des KOD zwischen Plasma und Interstitium ist entscheidend für die Flüssigkeitsverteilung zwischen intravasalem und interstitiellem Raum, da der KOD dem hydrostatischen Druck entgegenwirkt und so die Flüssigkeit im Kreislaufsystem zurückhält (Abb. 8.28, S. 196). Ist die Albuminkonzentration im Plasma vermindert, so wird auch der KOD abfallen, was wiederum zu einer vermehrten Flüssigkeitsansammlung im Interstitium, einem Ödem führt. Solche pathologischen Abnahmen der Albuminkonzentration im Plasma findet man z. B. bei erhöhten Verlusten durch die Niere (Ödem beim Nephrotischen Syndrom) oder bei Proteinmangel-Ernährung (Hungerödem, s. a. Kap. 8, S. 196 f.).

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9 Blut: Ein flüssiges Organsystem Spezifische Transportproteine, wie z. B. das Apo-Transferrin (Eisen-bindendes Protein), Transcobalamin (Vitamin-B12-bindendes Globulin), oder Transcortin (Cortisol-bindendes Globulin), stellen nicht nur einfache Vehikel dar, mit deren Hilfe die zu transportierende Substanz zu den Zielzellen befördert wird. Transportproteine sind auch ein Vorratssystem, aus dem bei akutem Bedarf die benötigte Substanz entnommen werden kann. Von großer physiologischer und medizinischer Bedeutung sind die Lipoproteine, die am Transport von Cholesterin, Cholesterinestern, Phosphoglyceriden und Triacylglycerinen beteiligt sind (s. S. 457). Man kennt verschiedene Klassen von Lipoproteinen, deren Lipid- und Proteinanteil jeweils unterschiedlich ist. Anhand der unterschiedlichen Dichte kann man Lipoproteine mit sehr geringer Dichte (Very Low Density Lipoproteins, VLDL), mit etwas geringerer Dichte (Intermediate Density Lipoproteins, IDL), mit geringer Dichte (Low Density Lipoproteins, LDL) und mit hoher Dichte (High Density Lipoproteins, HDL) unterscheiden. Eine Dichte noch unterhalb der VLDL zeigen die besonders lipidreichen Chylomikronen. Die unterschiedlichen Dichten beruhen darauf, dass der Massenanteil der Lipide (der Rest sind Proteine) bei den VLDL hoch (ca. 90 %) und bei den HDL niedrig (ca. 50 %) ist. Chylomikronen und VLDL sind besonders reich an Triacylglycerinen. Die Chylomikronen besorgen den Transport v. a. dieser Lipide vom Dünndarm ins periphere Blut (Nahrungsfett), während die VLDL die endogen in der Leber gebildeten Triacylglycerine in die Peripherie exportieren. Dort laden sie v. a. ihre Triacylglycerine ab, und aus VLDL entstehen so IDL und LDL. Von den Lipoproteinen im Plasma enthält LDL am meisten Cholesterin und Cholesterinester, die, so verpackt, zur Leber und zu anderen Körperzellen gelangen, wo sie z. B. in Plasmamembranen eingebaut werden. Die Aufnahme von LDL in das Zellinnere erfolgt über den LDL-Rezeptor, der auf der Zelloberfläche sitzt. HDL schließlich besorgt den umgekehrten Transport von „überschüssigem“ Cholesterin zu demjenigen Leberkompartiment, in dem der Umbau von Cholesterin zu Gallensäuren stattfindet. Von großer pathologischer Bedeutung ist die hochsignifikante Korrelation zwischen der Höhe des Cholesterinspiegels und dem Auftreten von Arteriosklerose und koronarer Herzkrankheit. In diesem Zusammenhang sind besonders die LDL von Bedeutung, deren Plasmakonzentration eng mit der Arteriosklerose korreliert. Bei der sog. familiären Hypercholesterinämie ist der LDL-Rezeptor defekt, wodurch das im Blut zirkulierende LDL nicht mehr von den Leber- und anderen Zellen aufgenommen werden kann. Ein solcher Rezeptordefekt führt bereits im Kindesalter zu einer Hypercholesterinämie mit schon früh einsetzenden arteriosklerotischen Gefäßveränderungen.

Plasmaelektrolyte Die Gesamtheit der Elektrolyte, die im Plasmawasser gelöst sind, haben eine osmolale Konzentration von 290 mosm/kg H2O (Osmolarität und Osmolalität, s. S. 866). Kationen und Anionen sind im Extrazellulärraum und im Intrazellulärraum in charakteristischer Weise verteilt (Tab. 13.1, S. 380). Die hohe extrazelluläre Natriumkonzentration ist von Bedeutung für die Aufrechterhaltung des Extrazellulärvolumens, während die hohe intrazelluläre Kaliumkonzentration gemeinsam mit ungleichen Leitfähigkeiten für Na+ und K+ an der Plasmamembran die Voraussetzung für das Entstehen eines Membranpotenzials darstellt (Kap. 2 und 4). Osmotisch wirksame Teilchen (Osmolyte) erzeugen an Membranen, die nur für Wasser durchlässig sind (semipermeable Membranen), einen osmotischen Druck, der nach dem Van’t-Hoff-Gesetz bei 37 8C (310 8K) 5800 mm Hg (770 kPa) beträgt (S. 866 f.). An den Kapillaren wird dieser Druck jedoch nicht wirksam, da das Kapillarendothel für Elektrolyte gut durchlässig ist. Für die Plasmaproteine trifft dies jedoch nicht zu, so dass nur die mittlere kolloidosmotische Druckdifferenz von 25 – 5 = 20 mm Hg über die Kapillarmembran hinweg wirksam wird (S. 195 u. 380). Werden Salzlösungen für Infusionen hergestellt, so müssen sie den selben osmotischen Druck haben wie das Plasma, sie müssen isoton sein. Ist nämlich der osmotische Druck der Infusionslösung höher (hyperton) als derjenige des Plasmas, so kommt es bei Infusion zu einem Austritt von Wasser aus den Körperzellen. Bei Verwendung von hypotonen Lösungen strömt Wasser in die Zellen ein, es kommt zu einem Zellödem. Es sei in diesem Zusammenhang betont, dass eine Lösung mit gleicher Osmolalität wie das Blutplasma nur dann isoton ist, wenn die Zellmembran für das betrachtete Teilchen praktisch impermeabel ist. Dies trifft z. B. für Na+-Ionen weitestgehend zu, nicht jedoch etwa für eine isoosmolale Harnstofflösung (S. 866 f.). Eine 0,9%ige NaCl-Lösung (9 g NaCl/l Wasser) ist isoton und wird daher auch als physiologische Kochsalzlösung bezeichnet. Bei lebensbedrohlichen Blutverlusten kommen isotone Plasmaersatzflüssigkeiten zum Einsatz (z. B. Ringer-Laktat-Lösung), die zur Aufrechterhaltung des kolloidosmotischen Drucks mit Kolloiden wie Hydroxiäthylstärke (HAES) versetzt werden können. Als Plasmaexpander werden Lösungen bezeichnet, deren kolloidosmotischer Druck höher ist als der des Plasmas. Die Infusion dieser Lösungen führt zu einer Flüssigkeitsverschiebung vom interstitiellen in den intravasalen Flüssigkeitsraum und ergänzt somit das verloren gegangene Volumen besonders effektiv.

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9.3 Zelluläre Bestandteile des Blutes

9.3

Zelluläre Bestandteile des Blutes

Blutzellen lassen sich nach morphologischen und funktionellen Kriterien einteilen in Erythrozyten (rote Blutkörperchen), Leukozyten (weiße Blutkörperchen) und Thrombozyten (Blutplättchen). Erythrozyten sind rot, weil sie den roten Blutfarbstoff Hämoglobin enthalten. Sie sind zahlenmäßig allen anderen Blutzellen weit überlegen, ihre Hauptaufgabe ist der Gastransport zwischen Lunge und Gewebe. Die Leukozyten hingegen sind eine äußerst heterogene Zellpopulation. Sie sind wesentlicher Teil des spezifischen und unspezifischen Abwehrsystems des Körpers, das Fremdes im Körper erkennen und meistens eliminieren kann. Thrombozyten sind kleine unscheinbare Plättchen, die äußerst aktiv und zielsicher ein breites Spektrum an Reaktionen aktivieren, wenn es gilt, verletzte Gefäße abzudichten und dauerhaft zu reparieren.

Aus einer hämatopoietischen Stammzelle entstehen verschiedene Blutzelltypen Blutzellen stammen aus hämatopoietischem Gewebe, das sich beim Feten in Leber und Milz und beim Erwachsenen im roten Mark der flachen Knochen befindet. Das hämatopoietische Gewebe enthält Stammzellen, aus denen sämtliche Blutzelltypen gebildet werden, also Erythrozyten, alle Formen der Leukozyten sowie die Thrombozyten. Die Stammzellen haben zwei hervorstechende Eigenschaften, die in dieser Kombination bei anderen Körperzellen nicht vorkommen: sie sind pluripotent, d. h. sie können sich zu verschiedenen Formen von Blutzellen entwickeln, und sie haben die Fähigkeit zur Selbsterneuerung, d. h. sie können identische Kopien von sich selbst herstellen (19). Aufgrund dieser Eigenschaften erhofft man sich von der Erforschung der hämatopoietischen Stammzellen neue Perspektiven für die Gentherapie bisher unheilbarer Erkrankungen wie schwere angeborene Immundefekte oder bestimmte Tumorerkrankungen. Da jeder Mensch über einen bestimmten Stammzellpool verfügt, könnten solche hämatopoietischen Stammzellen aus jedem Organismus zu therapeutischen Zwecken gewonnen werden (6). Im Knochenmark werden aus pluripotenten Stammzellen durch zum Teil noch unbekannte Differenzierungsschritte die hämatopoietischen Vorläuferzellen, die sich schließlich zu den reifen Zellformen weiterentwickeln wie sie im Blut oder Gewebe vorkommen (Abb. 9.1). Die Gesamtheit aller hämatopoietischen Vorläuferzellen, die sich unter dem Einfluss von hämatopoietischen Wachstumsfaktoren teilen und weiter differenzieren können, wird als Proliferationspool bezeichnet. Das Teilungspotenzial dieser Zellpopulationen kann bei Bedarf enorm gesteigert werden; z. B. erlaubt die erythropoietische Reservekapazität des Knochenmarks eine Zunahme der Erythrozytenproduktion auf das 5 – 10fache. Die Lebenszeit der reifen Blutzellen in der Körperperipherie ist unterschiedlich. Erythrozyten verbringen ca. 120 Tage in der Zirkulation, bevor sie nach einer

300 km langen Reise vom mononukleären Phagozytensystem der Milz und Leber aufgenommen und abgebaut werden. Bei einer Umsatzrate von 1 % Erythrozyten/Tag kann man berechnen, dass bei einem Erwachsenen in einer Sekunde ca. 3 Millionen Erythrozyten neu gebildet werden, um die Erythrozytenzahl des Blutes konstant zu halten (2). Um diese erstaunliche Neubildungsrate am Laufen zu halten, ist eine entsprechend hohe Syntheserate von DNA und Hämoglobin notwendig. Die wichtigsten Cofaktoren für die DNA-Bildung sind Cobalamin (Vitamin B12) und Folsäure, während der geschwindigkeitsbestimmende Schritt für die Hämoglobinbildung die Eisenverfügbarkeit darstellt. Fehlt einer dieser Stoffe, so kommt es zum Erythrozytenmangel (Anämie), wobei die verbleibenden Erythrozyten je nach Ursache charakteristische Veränderungen aufweisen (S. 232 f.). Die Lebenszeit der übrigen, nicht erythrozytären Blutzellen ist sehr variabel: Lymphozyten, die im Knochenmark gebildet und in den lymphatischen Geweben ihre Prägung erhalten, zirkulieren in ihrer Wächterfunktion mit dem Blut- und Lymphstrom während vieler Monate zwischen den lymphatischen Geweben hin und her. Demgegenüber sind die Granulozyten sehr viel kurzlebiger, ihre Lebenszeit beträgt nur 1 – 2 Tage, bis sie durch Apoptose (S. 50) „programmiert“ sterben (23). Monozyten und Thrombozyten bleiben 7 – 10 Tage in Zirkulation.

Hämatopoietische Wachstumsfaktoren sind auch therapeutisch einsetzbar Zahlreiche hämatopoietische Wachstums- und Differenzierungsfaktoren sind isoliert worden, und z. T. ist auch das kodierende Gen bereits kloniert. Nur wenige dieser Faktoren wirken auf eine spezifische Population von hämatopoietischen Vorläuferzellen, zu ihnen gehören z. B. die Hormone Erythropoietin (Bildungsort v. a. Niere) und Thrombopoietin (Bildungsort v. a. Leber). Viele hämatopoietisch wirksame Faktoren werden jedoch lokal im Knochenmark gebildet und wirken parakrin auf benachbarte Zellen. Zu diesen parakrinen Faktoren gehören die Interleukine und sog. Colony Stimulating Factors (CSF). Ein breites Wirkungsspektrum hat Interleukin 3, das vor allem auf die frühen Phasen der Hämatopoiese, einschließlich der Stammzellen, wirkt. Zu einem späteren Differenzierungsstadium kommen spezifischere Wachstumsfaktoren ins Spiel, so z. B. Erythropoietin, das vor allem den programmierten Zelltod von Proerythroblasten (erythroide Vorläuferzellen) signifikant vermindert. Proerythroblasten sind eine „blutjunge“ Zellpopulation, aus der in weiteren Differenzierungs- und Teilungsschritten Normoblasten entstehen. Diese Normoblasten stoßen dann ihren Zellkern aus, wodurch zunächst Retikulozyten entstehen, welche die allerjüngsten Vorgänger der roten Blutkörperchen (Erythrozyten) darstellen. Die Bildung von Erythropoietin in der Niere ist streng an das renale O2-Angebot gekoppelt: je weniger Sauerstoff angeliefert wird, desto mehr wird von diesem Hormon gebildet. Wie wird dieses verminderte O2-Angebot in eine verstärkte Genaktivität übersetzt? Eine zentrale Rolle spielt hier der Transkriptionsfaktor HIF-1 (Hypoxie-induzierbarer Faktor 1), der aus zwei Untereinheiten besteht: einer HIF-1α-Untereinheit, die O2-abhängig reguliert wird, und einer HIF-1β-Untereinheit, welche mit anderen

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9 Blut: Ein flüssiges Organsystem

Thrombozyten Erythrozyten eosinophile Granulozyten T-Zellen neutrophile Granulozyten

Megakaryozyten

Thymus erythroide Vorläuferzellen lymphoides Gewebe (Knochenmark)

basophile Granulozyten

myeloide Vorläuferzellen

lymphoide Vorläuferzellen B-Zellen

Monozyten Mastzellen Stammzellen

Gewebemakrophagen

Stromazellen des Knochenmarks

Abb. 9.1 Stammbaum der Entwicklung und Differenzierung von Blutzellen. Ausgangspunkt der Blutzelldifferenzierung ist die pluripotente Stammzelle, die identische Kopien von sich selbst herstellen kann (Selbstreplikation). Dieser Vorgang der Selbstvermehrung wird u. a. von Faktoren reguliert, welche von noch wenig differenzierten Stammzellen (6) des Knochenmarks abgegeben werden (gestrichelte Pfeile). Aus den pluripotenten Stammzellen entstehen zunächst drei Formen von weiterdifferenzierten myeloiden, erythroiden und lymphoiden Vorläuferzellen, die sich ihrerseits durch weitere Differenzierungsschritte zu reifen Blutzellen entwickeln. Diese Entwicklungsschritte werden unter dem Begriff

Kernproteinen das HIF-1α an den entsprechenden Zielgenen verankert (21). Mit diesem Mechanismus wird auch eine große Anzahl von anderen O2-abhängigen Genen in Zellen kontrolliert, z. B. solche, die für die Angiogenese (20) oder für die Glykolyse zuständig sind. Der zelluläre Gehalt an HIF-1α wird streng kontrolliert und zwar durch die O2-abhängige Hydroxylierung von HIF-1α durch O2-abhängige Hydroxylasen (Abb. 9.2). Diese Enzyme „messen“ den zellulären PO2 und „markieren“ HIF-1α mit mehr (normaler PO2) oder weniger (niedriger PO2) Hydroxylresten. Bei starker Hydroxylierung (hoher PO2) verschwindet HIF-1α rasch in der zellulären „Müllabfuhr“, dem Proteasom, während sich HIF-1α bei geringer Hydroxylierung (niedriger PO2) anhäuft und somit in allen bisher untersuchten Körperzellen Hypoxieabhängige Gene aktivieren kann (21).

„terminale Differenzierung“ zusammengefasst, da sie unumkehrbar sind und nur in die Richtung der Weiterentwicklung zu reifen Blutzellen ablaufen können. Die lymphoiden Vorläufer erfahren eine weitere Prägung im Thymus (T-Lymphozyten) oder im Knochenmark (B-Lymphozyten). Mitose und Ausreifung der Vorläuferzellen werden durch lokal gebildete hämatopoietische Wachstumsfaktoren (colony stimulating factors, CSF) sowie durch Interleukine (z. B. Interleukin 3) gesteuert. Als Hormone wirken außerdem Erythropoietin auf erythroide Vorläuferzellen und Thrombopoietin auf Megakaryozyten.

Andere „Geschwister“ des Erythropoietins sind die so genannten Colony-Stimulating-Factors (GM-CSF und GCSF), welche die myeloiden (Myeloblasten) bzw. lymphoiden (Lymphoblasten) Vorläuferzellen zur Teilung anregen sowie Thrombopoietin, das mitogen auf Megakaryozyten wirkt, aus denen sich die Thrombozyten abschnüren (Abb. 9.1). Diese hämatopoietischen Wachstumsfaktoren können mit gentechnischen Rekombinationsverfahren hergestellt werden und finden therapeutischen Einsatz z. B. bei der Anämie des chronischen Nierenversagens (Erythropoietin) und bei Leukozytopenien (GM-CSF, G-CSF), die nach Knochenmarktransplantationen oder Chemotherapie bei Tumorpatienten vorkommen können.

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9.3 Zelluläre Bestandteile des Blutes

Hypoxie

Normoxie Erythrozytenstrom

HIF-1a

O2 -abhängige Hydroxylasen

Plasmasaum

OH HIF-1a HIF-1b

Transkription von Zielgenen

Kapillarlumen

HIF-1a

Durchmesser: ca. 5µm

OH

OH

Endothelzellen

Ubiquitinierung

Abbau im Proteasom

Abb. 9.2 Sauerstoff-Messung durch die Hydroxylierung von HIF-1 . Links: Bei erniedrigtem PO2 (Hypoxie) ist der Transkriptionsfaktor HIF-1α stabil und wandert in den Zellkern. Dort aktiviert er, zusammen mit HIF-1β und anderen zellulären Proteinen, die Transkription einer großen Anzahl von O2-abhängigen Genprodukten, wie z. B. Erythropoietin, angiogenetisch wirksame Faktoren und glykolytische Enzyme. Rechts: Bei normalem PO2 (Normoxie) wird HIF-1α in Minutenschnelle durch O2-abhängige Hydroxylasen mit OHGruppen versehen. Diese „Markierung“ macht HIF-1α dann kenntlich für den Ubiquitin-abhängigen Abbau in der zellulären Entsorgungseinheit, dem Proteasom. Somit steht HIF1α bei Normoxie für eine Gen-Aktivierung kaum mehr zur Verfügung.

Erythrozyten dienen vor allem dem Gastransport Unter Ruhebedingungen verbraucht der Mensch täglich etwa 400 Liter Sauerstoff. Dieser wird in der Lunge aufgenommen und im Blut an Hämoglobin gebunden, das in hoher Konzentration in den Erythrozyten vorhanden ist. Der gebundene Sauerstoff wird zu den Geweben transportiert; auf dem Rückweg zur Lunge ist Hämoglobin auch beim CO2-Transport beteiligt. Zudem ist Hämoglobin ein wichtiger pH-Puffer. Erythrozyten haben ein besonders aufgebautes Membranskelett (Zytoskelett), das für die Deformierbarkeit in den engen Gewebskapillaren und damit für die Mikrozirkulation von Bedeutung ist. Auf der Außenseite der Erythrozytenmembran befinden sich charakteristische Komponenten, die Blutgruppenantigene, welche von praktischer Bedeutung bei der Durchführung von Bluttransfusionen sind.

In den engen Kapillaren müssen Erythrozyten ihre Form verändern Erythrozyten sind kleine, bikonkave Scheiben, die einen Durchmesser von 7,5 µm und eine mittlere Dicke von 1,5 µm haben. Für den Gastransport sind die Erythrozyten gut geeignet, weil die bikonkave Scheibenform ein hohes

Abb. 9.3 Reversible Verformung von Erythrozyten im Kapillarbereich.

Oberflächen/Volumenverhältnis besitzt und weil sie sich bei der Kapillarpassage gut deformieren können (Abb. 9.3), was die Fließeigenschaften des Blutes aufgrund des Fåhraeus-Lindqvist-Effektes (S. 190 f.) signifikant verbessert. Für die besondere Form der Erythrozyten sowie für ihre außerordentlich gute Verformbarkeit ist das Membran- oder Zytoskelett der Erythrozytenmembran von großer Bedeutung, welches im Folgenden genauer besprochen wird. Die Erythrozytenmembran besteht aus einer Lipiddoppelschicht, die mit Glykophorin sowie verschiedenen Kanalproteinen durchzogen ist, wie der Glucosetransporter GLUT1, der Wasserkanal Aquaporin oder der Cl–/ HCO3–-Austauscher (Bande-3-Protein). Auf der dem Zytosol zugekehrten Seite der Membran befindet sich ein molekulares Maschenwerk, das Membranskelett. Die Hauptkomponente dieses Maschenwerkes bilden die fadenförmigen Spectrinmoleküle, die untereinander durch Ankyrin und weitere Verbindungsproteine (Bande4.1-Protein, Aktin) verknüpft sind (Abb. 9.4). Welche dieser verschiedenen Komponenten des erythrozytären Zytoskeletts im Einzelnen für die Deformierbarkeit der roten Blutzellen zuständig ist oder sind, ist nicht genau bekannt. Immerhin ist es möglich, eine spezielle Form von Anämie auf einen Defekt des erythrozytären Membranskelett-Proteins Ankyrin zurückzuführen, der zu einer angeborenen (kongenitalen) kugelförmigen Auftreibung der Erythrozyten (Sphärozyten) führt. Diese Sphärozyten sind mechanisch sehr instabil, wodurch ihre Lebenszeit so stark verkürzt ist (< 10 Tage), dass eine Anämie entsteht, weil die gesteigerte Erythrozytenneubildung den vermehrten Abbau nicht kompensieren kann. Diese besondere Form des Erythrozytenmangels wird als sphärozytäre Anämie bezeichnet. Da die Elimination gealterter Erythrozyten oder solcher mit Membrandefekten vor allem durch das mononukleäre phagozytische System (MPS) der Milz erfolgt, steigt nach einer Milzentfernung die Lebensdauer der Sphärozyten bis auf 80 Tage an, wodurch die Anämie deutlich gebessert wird.

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9 Blut: Ein flüssiges Organsystem bildet (Sensibilisierung) und ein weiteres Rh+-Kind bereits im Uterus geschädigt wird.

Lipiddoppelschicht Bande - 3 -Protein – – (Cl /HCO3 - Austauscher) Ankyrin Spectrindimer Bande-4.1-Protein Aktin Glykophorin

Abb. 9.4 Anordnung der wichtigsten Bestandteile des Zytoskeletts der Erythrozytenmembran. Die fadenförmigen Spectrindimere bilden ein Maschenwerk, das durch Ankyrin und Bande-4.1-Protein miteinander verknüpft ist. Die Anheftung des Cl–/HCO3–-Austauschers (Bande-3-Protein) an die Spectrindimere erfolgt durch Ankyrinmoleküle (rot). Glykophorin ist ein Membranprotein, das die Erythrozytenmembran in ihrer ganzen Länge durchspannt. Es steht innerhalb der Membran mit dem Bande-3-Protein und dem Bande-4.1-Protein in Verbindung. (Die Zahlen an den Namen der Proteine beziehen sich auf die Nummerierung von Elektrophoresebanden bei der Auftrennung von Eiweißkomponenten der Erythrozytenmembran.)

Oberflächenantigene auf der Erythrozytenmembran bestimmen die Blutgruppen Die Blutgruppenantigene auf der Erythrozytenoberfläche (AB0-, Rhesus- u. a. Systeme) können mit entsprechenden Antikörpern im Serum reagieren, was zur Agglutination der Erythrozyten führt (Blutgruppen-Unverträglichkeit). Normalerweise geschieht dies nicht, weil im Blut der Blutgruppe A nur Anti-B-Antikörper, in dem der Blutgruppe B nur Anti-A-Antikörper und in dem der Blutgruppe AB keine dieser Antikörper vorkommen. Blut der Blutgruppe 0 enthält sowohl Anti-A- als auch Anti-B-Antikörper, aber keine A- oder B-Antigene. Blut mit dem Rhesus-Blutgruppen-Antigen D (Rh+) agglutiniert mit Anti-D-Antikörpern (IgG, plazentagängig). Bei der Geburt eines Rh+-Kindes können dessen Erythrozyten in den Kreislauf seiner Rh-negativen Mutter gelangen, so dass diese plazentagängige Anti-D-Antikörper

Auf der Membranoberfläche der Erythrozyten befinden sich Glykolipide, die als Antigene wirken können. Sie heißen Antigene, weil sie in einem fremden Organismus das Immunsystem zur Bildung von Antikörpern veranlassen. Diese Blutgruppenantigene werden durch Serumantikörper entdeckt, die die Erythrozyten zur Agglutination (Zusammenballung) bringen. Blutgruppenantigene kommen nicht nur auf den Erythrozyten, sondern auf vielen anderen Körperzellen vor (Endothelzellen, Epithelzellen, Thrombozyten, Leukozyten). Sie sind in ihrem Aufbau genetisch festgelegt und stellen somit einen Teil der immunologischen Identität des Menschen dar. Nur eineiige Zwillinge haben ein völlig identisches Muster von Zelloberflächenantigenen und damit auch von Blutgruppen. Da die Blutgruppen spezifischen Membrankomponenten entsprechen und die Übertragung von Fremdproteinen eine Reaktion des Immunsystems wie die Bildung von Antikörpern hervorruft, muss bei Blutübertragung zwischen menschlichen Individuen die Verträglichkeit der Blutgruppen unter allen Umständen berücksichtigt werden. Für die tägliche Transfusionspraxis sind das AB0-System und das Rhesus-System von besonderer Bedeutung und sollen deshalb näher besprochen werden. AB0-System. Das AB0-Blutgruppensystem wird nach den Mendel-Gesetzen kodominant vererbt. Der Begriff „kodominant“ bedeutet eine gleich wirksame (ko-dominante) Allelstruktur bezüglich des Blutgruppensystems, die also beide gleichberechtigt exprimiert werden. Ein Beispiel: Wenn jemand das Allel A/B besitzt, ist er Träger der Blutgruppe AB, da die Allele A und B kodominant vererbt werden. Die Gene A und B kodieren für die Blutgruppe A und B, denen ein spezifischer Zuckerrest am Ende des Glykolipidmoleküls entspricht. Man unterscheidet also zwischen Personen, auf deren Erythrozyten die Antigene A, B oder beide, AB vorkommen. Bei Menschen mit der Blutgruppe 0 (Blutgruppe H) fehlt der endständige Zuckerrest, der die Blutgruppe A oder B bestimmt. Diese Grundstruktur ist jedoch nicht antigen wirksam und hat deshalb die anschauliche Bezeichnung Blutgruppe 0 (Null) erhalten, obwohl es kein eigentliches „0-Antigen“ gibt. Im Serum finden sich Antikörper gegen das jeweils fehlende Antigen, also: Anti-B bei Blutgruppe A, Anti-A bei Blutgruppe B, Anti-A und Anti-B bei Blutgruppe 0 und keine Anti-A bzw. Anti-B-Antikörper bei Blutgruppe AB (Abb. 9.5). Diese Antikörper gehören zu den Immunglobulinen der Klasse M (IgM). Rh-System. Serum von Kaninchen, die mit Erythrozyten von Rhesusaffen immunisiert wurden, führt bei den Erythrozyten von ca. 85 % aller Europäer zu einer Agglutination. Dieses Rhesus-Blutgruppen-System besteht beim Menschen aus drei unterschiedlichen Antigenen, die mit C, D und E bezeichnet werden. Das Antigen D hat die stärkste antigene Wirkung, so dass man Personen, welche das Antigen D besitzen, als Rhesus-positiv (Rh+) bezeichnet. Bei Rhesus-negativen (Rh–) Personen fehlt das Antigen D auf der Erythrozytenoberfläche. In Europa finden sich die Rh-positive Eigenschaft bei 85 % und die Rh-negative Eigenschaft bei 15 %

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9.3 Zelluläre Bestandteile des Blutes

Serum

A Anti- B Anti-

A

B Anti-

Anti-

Blut

A

? ?

A

0

?

0

B

? 1 unbekannte Blutprobe

Erythrozytenantigen

Blutgruppe

AB 2 Agglutinationsreaktion

3 Diagnose

Abb. 9.5 Die Blutgruppen des Menschen im AB0-System. Blutproben, deren Blutgruppen unbekannt sind (1), werden entweder mit Anti-A-, mit Anti-B- oder mit Anti-A plus AntiB-Antiseren vermischt. Je nach dem Auftreten oder dem Ausbleiben einer Agglutination (2) kann die Diagnose der

der Bevölkerung. Im Unterschied zum AB0-System kommen Antikörper gegen die Rhesus-Antigene natürlicherweise nicht vor. Sie entstehen erst dann, wenn Blut von einem Spender, welcher Rhesus-positiv ist, auf einen Rhesus-negativen Empfänger übertragen wird. Das Immunsystem des Empfängers wird in einem solchen Fall gegen das Rhesus-Antigen sensibilisiert, d. h. es bildet Antikörper gegen das Rhesus-Antigen. Eine besondere Form der Sensibilisierung gegen RhAntigene wird bei Schwangerschaften beobachtet, wenn die Mutter Rh-negativ und der Vater Rh-positiv ist, das Kind also ebenfalls Rh-positiv sein kann. Beim Geburtsvorgang treten im Allgemeinen größere Volumina (10 – 15 ml) fetaler Erythrozyten in den mütterlichen Kreislauf über. Die Rh-Antigene auf den fetalen Erythrozyten sensibilisieren das Immunsystem der Mutter und rufen die Bildung von Anti-D-Antikörpern hervor. Die Anti-D-Antikörper gehören zu den Immunglobulinen der Klasse G, die ein viel kleineres Molekulargewicht haben als die Immunglobuline der Klasse M, zu denen z. B. die Antikörper im AB0-System gehören (Tab. 9.4, S. 236). Diese Antikörperbildung bleibt für die erste Schwangerschaft ohne Folgen. Bei nachfolgenden Schwangerschaften mit Rh-positiven Kindern reichen jedoch kleinste Mengen von fetalen Erythrozyten, die während der Schwangerschaft in den mütterlichen Kreislauf übertreten, um das bereits sensibilisierte Immunsystem der Mutter zu einer massiven Produktion von Anti-D-Antikörpern anzuregen (Booster-Effekt; Abb. 9.11, S. 241). Diese können, wie alle IgG-Antikörper, durch die Plazenta in den kindlichen Kreislauf übertreten und führen dort zu Agglu-

B

AB

Plasmaantikörper

möglicher Genotyp

Anti-A +Anti-B

kein Anti-A kein Anti-B

44

AA/A0

Anti-B

Anti-A

Häufigkeit in %

42

00

10

BB/B0

AB

4

4 Tabelle

Blutgruppe (3) gestellt werden. In der Tabelle (4) sind die zu jeder Blutgruppe gehörenden Erythrozytenantigene, die im Plasma vorhandenen Antikörper, der mögliche Genotyp sowie die mittlere Häufigkeit der Blutgruppen in Mitteleuropa wiedergegeben.

tination und Hämolyse der fetalen Erythrozyten. Das beim Feten auftretende Krankheitsbild heißt Morbus haemolyticus neonatorum oder Erythroblastosis fetalis und ist durch eine schwere Anämie gekennzeichnet, die mitunter tödlich sein kann. Es muss deshalb versucht werden, die Antikörperbildung der Rh-negativen Mutter durch die sog. Anti-D-Prophylaxe zu verhindern. Diese Prophylaxe wird vorgenommen, indem man der Rh-negativen Mutter sofort nach der Geburt des ersten Rhesus-positiven Kindes Serum injiziert, das hohe Konzentrationen von Antikörpern gegen das Antigen D enthält. Hierdurch werden fetale Erythrozyten, die das D-Antigen tragen, entsprechend markiert und durch das Makrophagensystem abgebaut (Abb. 9.8, S. 237), bevor sie das mütterliche Immunsystem sensibilisieren können. Vor jeder Bluttransfusion muss die genaue Blutgruppenkonstellation von Spender und Empfänger bestimmt werden, um Transfusionszwischenfälle zu vermeiden. Darüber hinaus muss für jede zu transfundierende Blutkonserve die große Kreuzprobe und die kleine Kreuzprobe durchgeführt werden, um Antigene oder Antikörper zu entdecken, die durch Testseren des AB0- oder Rhesussystems nicht erfasst werden. Bei der großen Kreuzprobe werden Spendererythrozyten und Empfängerserum gemischt und auf Agglutination hin beobachtet. Bei der kleinen Kreuzprobe werden Spenderserum und Empfängererythrozyten gemischt. Beim Auftreten von Agglutinationsphänomenen darf die Transfusion nicht durchgeführt werden. Wird nämlich Blut mit der falschen Blutgruppe transfundiert, kann es im Empfänger zur intravasalen Hämolyse kommen, weil die auf den Erythrozyten verankerten Antikörper

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9 Blut: Ein flüssiges Organsystem klassischer Reaktionsweg:

alternativer Reaktionsweg:

Immunglobuline z.B. IgG

opsonisierte Bakterien, virusinfizierte Körperzellen

Aus der Erythrozytenzahl pro Blutvolumen (Ery) und der Hämoglobinkonzentration (Hb) im Blut sowie dem Hämatokrit (Hkt) werden die Erythrozyten-Indices MCV (= Hkt/Ery), MCH (= Hb/Ery) und MCHC (= Hb/Hkt) errechnet. Sie geben Aufschluss über die Art einer Anämie: Bei Cobalamin- oder Folsäuremangel sind MCV und MCH erhöht (makrozytäre, hyperchrome Anämie), bei Störungen der Hb-Synthese (z. B. Eisenmangel) sind MCV und MCH erniedrigt. Der Anteil an neu gebildeten Erythrozyten (Retikulozyten) im Blut ist bei Proliferationsstörungen im Knochenmark (z. B. Strahlenschaden) erniedrigt, bei hoher Neubildungsrate (z. B. Höhenaufenthalt oder verkürzter Ery-Lebensdauer) erhöht.

C1q-Komponente

schnelle Reaktion C1q

des Komplementsystems

langsame Reaktion C3

B C4 D

C2

P C3b

2+

Ca H2O

2+

+

Na

C6

C7

C8

H2O Ca + Na

C9

C5

Über mögliche Ursachen von Anämien kann man mit einfachen Methoden Aufschluss erhalten

Membranangriffskomplex

Zell-Lyse

Abb. 9.6 Die Aktivierung des Komplementsystems führt zur Auflösung (Lyse) von Fremdzellen und virusinfizierten Körperzellen. Eine Fremdzelle ist entweder durch Besatz mit Immunglobulinen „gekennzeichnet“ (opsonisiert) (links: klassischer Weg der Komplementaktivierung) oder durch besondere Membranstrukturen (z. B. Lipopolysaccharide, virusinduzierte Membranantigene) für das Komplementsystem „auffällig“ gemacht (rechts: alternativer Reaktionsweg). Die beiden Reaktionswege gehen am Reaktionsprodukt C3b ineinander über. C3b spaltet C5 in C5a und C5b. Die Komponenten C5b-8 polymerisieren mit C9 und bilden einen röhrenförmigen Membranangriffskomplex, der durch die Membran der Zielzelle hindurchgeht und zum Einstrom von Ca2+ (bei hohen intrazellulären Konzentrationen zytotoxisch!) sowie von Na+ und H2O führt. Die Aktivierung der Komplementkaskade umfasst sehr viel mehr Teilschritte, als in der schematischen Zeichnung aufgeführt wurden. Insbesondere fehlen auch verschiedene Hemmfaktoren, die, wie beim Gerinnungs- und Fibrinolysesystem, eine überschießende Reaktion kontrollieren helfen.

das Komplementsystem aktivieren (Abb. 9.6), wodurch die Erythrozyten zerstört werden. Solche Transfusionszwischenfälle sind gekennzeichnet durch das Auftreten von freiem Hämoglobin in Blut und Urin sowie durch Kreislaufschock und Nierenversagen.

Die quantitative Bewertung der roten Blutkörperchen umfasst die Bestimmung der Erythrozytenkonzentration oder -zahl, des Hämatokritwertes und der Hämoglobinkonzentration. Die Normbereiche für diese Parameter sind in Tab. 9.1, S. 224 aufgeführt. Aus diesen gemessenen Größen können die Erythrozytenindices berechnet werden: – MCV (Mean Cellular Volume – mittleres Erythrozytenvolumen [fl]) = Hämatokrit/(Erythrozytenzahl pro Blutvolumen), – MCH (Mean Cellular Hemoglobin – mittlere Hämoglobinmasse pro Erythrozyt [pg]) = Hämoglobinkonzentration/(Erythrozytenzahl pro Blutvolumen), – MCHC (Mean Cellular Hemoglobin Concentration – mittlere Hämoglobinkonzentration der Erythrozyten [g/l] Erythrozyten) = Hämoglobinkonzentration/Hämatokrit. Eine Anämie liegt vor, wenn Hämoglobinkonzentration, Erythrozytenzahl und Hämatokrit unterhalb des in Tab. 9.1 (S. 224) aufgeführten Normbereichs liegen. Die Parameter MCV und MCH werden benutzt, um eine Anämie weiter zu klassifizieren: bei erhöhtem bzw. erniedrigtem Zellvolumen (MCV) spricht man von einer makrozytären bzw. mikrozytären Anämie, ist die Hämoglobinmasse/Erythrozyt (MCH) verändert, so liegt eine hyperchrome (MCH erhöht) oder hypochrome (MCH vermindert) Anämie vor. Eine makrozytäre, hyperchrome Anämie tritt nach monate- bzw. jahrelangem Mangel von Folsäure bzw. Cobalamin (Vitamin B12) auf. Beide Substanzen sind für die normale Synthese von DNA unerlässlich, so dass es bei einer Verminderung des Angebots dieser Stoffe zu einer Mitosestörung kommt, die sich besonders in den sich schnell teilenden Knochenmarkszellen bemerkbar macht. Die Hämoglobinsynthese im Zytoplasma der erythroiden Vorläuferzellen verläuft währenddessen normal weiter, so dass übergroße Erythrozyten (MCV > 100 fl) ins Blut gelangen. Eine makrozytäre, hyperchrome Anämie geht in aller Regel auch mit einer Störung der Granulopoiese und Thrombozytopoiese einher (Panzytopenie). Diese Anämieform kann u. a. dadurch zustande kommen, dass zu wenig Cobalamin in der Nahrung vorhanden ist, z. B. nach jahrelanger

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9.4 Abwehrmechanismen des Körpers rein pflanzlicher Ernährung, oder dass es ungenügend resorbiert wird. Die häufigste Ursache für eine solche Resorptionsstörung ist der Mangel an sog. Intrinsic Factor, einem von den Belegzellen der Magenschleimhaut gebildeten, proteaseresistenten Glykoprotein, das für die Resorption des Cobalamins (Extrinsic Factor) im unteren Ileum unerlässlich ist (S. 458). Bei chronischem Eisenmangel ist die DNA-Replikation normal, aber es kommt zu einer Verminderung der Hämoglobinsynthese und in der Folge zu einer mikrozytären, hypochromen Anämie. Die häufigste Ursache für eine solche Eisenmangelanämie sind vermehrte Blutverluste durch starke Menstruationsblutungen oder Blutungen im Bereich des Magen-Darmtraktes. Dass selbst relativ geringe Blutverluste zu einem Eisenmangel führen können, wird aus der Eisenbilanz des Körpers deutlich: vom Gesamteisenbestand des Körpers (Frauen: 2 g; Männer 5 g) sind ca. 1⁄3 an Speichereisen (Ferritin, Hämosiderin), Myoglobin und eisenhaltige Enzyme gebunden, während 2⁄3 als Hämoglobineisen vorliegen. Da 1 g Hämoglobin 3,4 mg Eisen besitzt und pro Tag 1 bis maximal 5 mg Eisen im Darm resorbiert werden können, führt ein dauernder Blutverlust von nur wenigen Millilitern pro Tag zu einer negativen Eisenbilanz (2). Bei akuten Blutverlusten, etwa nach einem Unfallereignis, tritt eine normozytäre, normochrome Anämie auf, welche durch die „Blutverdünnung“ durch einströmende interstitielle Flüssigkeit entsteht. Retikulozytenzahl und Knochenmarksaktivität. Neben den oben genannten Parametern ist die Bestimmung der Retikulozytenzahl (in % der Gesamt-Erythrozytenzahl) von diagnostischer Bedeutung. Retikulozyten sind die jüngsten Erythrozytenformen, die das Knochenmark verlassen. Durch geeignete Färbemethoden lässt sich im Blutausstrich in den Retikulozyten eine netzartige Struktur (Retikulum) nachweisen, die aus mRNA mit assoziierten Ribosomen besteht und 2 – 3 Tage nach der Ausstoßung des Kerns aus den Normoblasten nachweisbar ist. Der Anteil der Retikulozyten an der gesamten Erythrozytenzahl beträgt normalerweise 0,5 – 2 %. Da jeder Erythrozyt das Knochenmark als Retikulozyt verlässt, ist die Bestimmung der Retikulozytenzahl im Blut ein Maß für die erythropoietische Leistung des Knochenmarks. Verminderungen der Retikulozytenzahl findet man folglich bei Proliferationsstörungen, die hervorgerufen sein können durch Knochenmarkschädigungen (Zytostatika, Röntgenstrahlen), Störung der Hämoglobinsynthese (Eisenmangel) oder der Zellproliferation (Cobalaminmangel, Erythropoietinmangel). Erhöhungen des Retikulozytenanteils werden beobachtet bei einer Steigerung der erythropoietischen Knochenmarksaktivität, z. B. bei der Kugelzellanämie und anderen hämolytischen Anämien, nach größeren Blutverlusten oder bei Höhenaufenthalten.

9.4

Abwehrmechanismen des Körpers

Unsere Umgebung enthält eine große Anzahl von infektiösen Organismen, wie Viren, Bakterien, Pilze und Parasiten, die Krankheiten auslösen können. Unter Infektion versteht man das Eindringen von solchen pathogenen Mikroorganismen in den Körper und ihre dortige Vermehrung. Die ersten Barrieren, die das Eindringen verhindern, sind die Deckflächen der Haut und der Schleimhäute. Ist dieses mechanische Hindernis nach Verletzungen durchbrochen, so steht den eingedrungenen Mikroorganismen eine zweite Abwehrfront im Gewebe entgegen, die aus Lymphozyten, Granulozyten und Makrophagen besteht. Die durch das Eindringen der Krankheitserreger aktivierten spezifischen und unspezifischen Abwehrmaßnahmen haben das Ziel, fremde Pathogene zu erkennen und zu zerstören. Bei den meisten dieser „Abwehrkämpfe“ sind Abwehrzellen und Zytokine beteiligt. Sie sorgen dafür, dass die überwiegende Mehrheit aller Infektionen kurzzeitig ist und keinen dauernden Schaden hinterlässt. Die erworbene Immunität beruht auf einer „Lernphase“, auf körperfremde Strukturen mit einer spezifisch angepassten Immunantwort zu reagieren und die einmal gewonnene Information über die Struktur des Pathogens in einem immunologischen Langzeitgedächtnis abzulegen. Dagegen beruht die angeborene Immunität auf schnellen „Eingreiftruppen“, die mit schlagkräftigen Reaktionen körperfremde Organismen abtöten kann.

Wichtige Abwehrmechanismen sind bereits bei der Geburt voll ausgebildet Die angeborenen Immunantworten sind gegenüber einem weiten Spektrum von Mikroorganismen wirksam und zeigen Speziesunterschiede gegenüber verschiedenen Krankheitserregern, d. h., dass ein Krankheitserreger bei einer Spezies pathogen (krankheitserregend) ist, nicht jedoch bei einer anderen Spezies. Beim Menschen sind die Träger der angeborenen Immunität humorale Faktoren wie das Lysozym und das Akutphaseprotein CRP (C-reaktives Protein), die Interferone und das Komplementsystem. Zum zellulären Abwehrsystem der angeborenen Immunität gehören natürliche Killerzellen, Makrophagen, Granulozyten und dendritische Zellen. Einige dieser Systeme (dendritische Zellen, Interleukin 12, Interferone) haben eine wichtige Vermittlerrolle zwischen angeborener und erworbener Immunität.

Dialoge zwischen angeborenem und erworbenem Abwehrsystem Auch die Zellen der angeborenen Immunität sind in der Lage, körperfremde Strukturen sehr schnell zu erkennen und von körpereigenen Strukturen zu unterscheiden. Für diese wichtige Eigenschaft ist die Familie der so genannten „Toll-Rezeptoren“ (Toll-like Receptors, TLRs) verantwortlich. Diese Rezeptoren, die u. a. auf dendritischen Zellen, Makrophagen und Granuloyzten vorkommen, erkennen spezifische virale oder bakterielle Fremdstruktu-

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9 Blut: Ein flüssiges Organsystem ren wie die Lipopolysaccharide gramnegativer Bakterien oder die Peptidoglycane grampositiver Bakterien (5, 11). Nach der Bindung solcher Fremdstrukturen an einen TLRezeptor wird z. B. in dendritischen Zellen (16) eine Vielzahl von gezielten Abwehrmaßnahmen gegen die Eindringlinge in Gang gesetzt. Hierzu gehört die Aktivierung des NFκ-B-Signalwegs, der eine zentrale Rolle bei der angeborenen Immunantwort spielt. Weiterhin werden Zytokine freigesetzt, von denen das Interleukin-12 (IL-12) besonders wichtig ist, da es einen „Sprachvermittler“ zwischen der angeborenen Immunität (dendritische Zellen) und der erworbenen Immunität (TH1-Zellen) darstellt (13, 22).

Schutzwirkung durch körpereigene „Antibiotika“ Das Enzym Lysozym spaltet Bruchstücke aus der Zellwand grampositiver Bakterien und – zusammen mit Komplement – auch aus der Zellwand gramnegativer Bakterien; als Folge davon wird die Zellwand undicht und die Zelle platzt. Lysozym kommt im Gewebe und in so gut wie allen Körperflüssigkeiten vor, mit besonders hohen Konzentrationen in der Tränenflüssigkeit und im Speichel. C-reaktives Protein ist bei normalen Individuen nur in Spuren nachweisbar (Tab. 9.2, S. 225), steigt jedoch stark bei Patienten an, die z. B. an einer Pneumonie oder an rheumatischem Fieber erkrankt sind. C-reaktives Protein gehört zur Gruppe der Akutphaseproteine, die aus der Leber stammen und bei systemischen entzündlichen Reaktionen vermehrt gebildet werden (9). Seinen Namen hat das C-reaktive Protein von seiner Funktion: es präzipitiert C-Polysaccharide von Pneumokokken. C-reaktives Protein bindet an Oberflächenstrukturen, die sich auf vielen Bakterien befinden. Es ist in der Lage, das Komplementsystem zu aktivieren (Abb. 9.6, S. 232) und es kennzeichnet die Bakterien für die Phagozytose (Abb. 9.8, S. 237), indem es die Anlagerung der Komplementfaktoren begünstigt. Generell bezeichnet man die Markierung von Antigenen mit Antikörpern oder Komplementfaktoren als Opsonisierung. Dieser Vorgang erhöht die „Fressgier“ von Phagozyten ganz beträchtlich; z. B. wird die Aufnahme von Antigenen durch neutrophile Zellen und Makrophagen um das 5000fache gesteigert, wenn ein Krankheitserreger durch Antikörper oder Komplementfaktoren markiert (opsonisiert) wurde. Interferone (IFN) sind Signalsubstanzen, die von virusinfizierten Zellen gebildet werden und die Virusvermehrung und -ausbreitung im Wirtsorganismus hemmen. Man unterscheidet Interferon-α (IFN-α) und Interferon-β (IFN-β) von Interferon-γ (IFN-γ). IFN-α und IFN-β werden von Leukozyten oder Fibroblasten gebildet und hemmen generell die zelluläre Proteinbiosynthese in Zellen, wodurch die Vermehrung von Viren in der Zelle eingedämmt wird. IFN-γ ist hingegen ein Produkt von Abwehrzellen wie CD4+-TH1-Zellen, CD8+-T-Zellen und NK-Zellen. Die wichtigste Aufgabe von IFN-γ ist die Aktivierung von Makrophagen, die dann sofort Bakterien aufnehmen und vernichten können.

Das Komplementsystem: Eine Proteinfamilie, die Zellmembranen durchlöchert Als Komplementsystem wird eine Familie von ca. 20 Proteasen bezeichnet, die komplementär zu spezifischen Antikörpern wirken und mit diesen zusammen Fremdzellen durch Lyse (Zellauflösung) abtöten können (Abb. 9.6, S. 232). Die Proteine des Komplementsystems bilden zwei miteinander verbundene Enzymkaskaden und zeigen von ihrem Reaktionsablauf her Ähnlichkeit mit anderen Proteasesystemen wie dem BlutgerinnungsSystem (Abb. 9.16, S. 248). Die Komplementkaskade beginnt damit, dass eine erste Komponente gespalten wird, wodurch Proteasen entstehen, welche die nachfolgenden C-Komponenten spalten. In der Folge wird ein Membranangriffskomplex gebildet, der aus den Komponenten C5 – C9 besteht und mit dessen Hilfe die Membran von Bakterien durchlöchert wird, was diese nicht überleben. Das Komplementsystem kann durch Immunglobuline (IgG, IgM) in Gang gesetzt werden; in diesem Fall spricht man vom klassischen Aktivierungsweg. Beim alternativen Aktivierungsweg erfolgt das „Startsignal“ durch Membranpolysaccharide (Lipopolysaccharide, LPS), die für bestimmte Mikroorganismen charakteristisch sind, aber auch durch C-reaktives Protein, mit dem die Membranoberfläche für das Komplementsystem opsonisiert wird. Einige intermediäre Spaltprodukte, die bei der Komplementaktivierung entstehen, haben auch andere biologische Funktionen bei der Infektabwehr. Das Spaltprodukt C3a des Komplementsystems ist ein chemotaktischer und aktivierender Faktor für neutrophile Granulozyten und erhöht die Permeabilität der Gefäßendothelien, wodurch der Austritt von Plasmaproteinen aus dem Blut ins Gewebe erleichtert wird. Diese Wirkungen von C3a werden durch die Freisetzung von vasoaktiven und permeabilitätssteigernden Substanzen wie z. B. Histamin aus Mastzellen vermittelt. Ein genetisch bedingter C3-Mangel führt zu hartnäckigen, wiederkehrenden Infektionen mit verschiedenen pyogenen (eitererregenden) Bakterien wie Pneumokokken und Meningokokken. Sie verursachen Lungen- bzw. Hirnhautentzündungen, die schon in sehr jungem Alter auftreten. Dies macht deutlich, dass die Opsonisierung von Bakterien mit dem Komplementfaktor C3 und ihre nachfolgende Phagozytose durch Makrophagen einen überaus wichtigen Abwehrmechanismus gegen pyogene Erreger darstellen.

Unspezifische Abwehrzellen fressen und verdauen fremde Eindringlinge In den Körper eingedrungene Mikroorganismen werden in den Körperflüssigkeiten rasch von phagozytierenden Zellen aufgenommen. Zu ihnen gehören die polymorphkernigen, neutrophilen Granulozyten des Blutes und die in Blut und Geweben vorkommenden mononukleären Phagozyten (Monozyten, Makrophagen). Die verschiedenen Leukozytenformen, ihre Aufteilung und ihre Funktion sind in Tab. 9.3, S. 235 aufgeführt; ihre Morphologie ist in Abb. 9.1, S. 228 dargestellt. Wenn bei einer Verletzung pathogene Keime in Körpergewebe einge-

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9.4 Abwehrmechanismen des Körpers drungen sind, so müssen die Leukozyten zunächst aus der Blutbahn auswandern (Extravasation) und zum Ort des Gewebeschadens gelockt werden. Die Extravasation ist ein mehrstufiger Prozess, bei dem es zunächst zur Freisetzung von Entzündungsmediatoren wie Interleukin-1 (IL-1) und Tumornekrosefaktor-α (TNF-α) durch ortsständige Gewebemakrophagen im Bereich des betroffenen Gewebeareals kommt. Diese Faktoren vermitteln die Aktivierung des Endothels, das nun seinerseits mit der Expression von Adhäsionsmolekülen und Entzündungsmediatoren reagiert. Dies ist die Voraussetzung für die gezielte Leukozyten-Endothel-Interaktion, bei der es zunächst unter Vermittlung von Adhäsionsmolekülen, den Selektinen, zum so genannten Leukozytenrollen auf dem Endothel kommt. Dies ermöglicht die Aktivierung der Leukozyten durch die vom Endothel produzierten Entzündungsmediatoren wie den Plättchen-aktivierenden Faktor (PAF). Hierdurch wird unter Beteiligung von weiteren Adhäsionsmolekülen, den Integrinen, die feste Adhäsion der Leukozyten an das Endothel induziert. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für die sich anschließende, transendotheliale Diapedese, bei der die Leukozyten die Gefäßwand aktiv durchdringen. Im Gewebe wandern die Leukozyten chemotaktisch gesteuert zum Entzündungsort. Unter Chemotaxis versteht man eine gerichtete Wanderung der Leukozyten, die von so genannten Chemokinen eingeleitet und aufrechterhalten wird. Chemokine sind Proteine die ihren Namen nach ihrer Funktion erhalten haben: sie bewirken die Wanderung und Aktivierung von Phagozyten und Lymphozyten und können deshalb auch als biochemische „Lockstoffe“ bezeichnet werden (14). Zu dieser mehr als 30-köpfigen Familie gehört z. B. das Interleukin-8, das neutrophile Granulozyten anlockt, das MakrophagenChemoattraktorprotein-1 (MCP-1) oder das Eotaxin, welTabelle 9.3

ches eosinophilen Granulozyten den „Marschbefehl“ gibt. Des Weiteren werden die verschiedenen Leukozytenpopulationen auch von weniger spezifischen Mediatoren wie Leukotrien B4 und dem Komplementfaktor C5a angelockt und aktiviert. Bei der Vielzahl der Mediatoren, die in vivo auf einzelne Leukozytenpopulationen einwirken, ist der Nachweis der funktionellen Bedeutung eines einzelnen Faktors oft schwer zu erbringen. Gleichwohl ermöglicht die genauere Kenntnis der molekularen Grundlagen der Leukozytenaktivierung die Entwicklung neuer therapeutischer Ansätze, die darauf beruhen, die Wirkung eines Faktors gezielter ausschalten zu können und somit die Aktivierung einer bestimmten Leukozytenpopulation selektiv zu unterbinden (z. B. Blockierung der Wirkung von Eotaxin und die damit verbundenen Hemmung von eosinophilen Granulozyten bei allergischen Reaktionen). Ist ein Phagozyt (neutrophiler Granulozyt, Makrophage) am Ort der Bakterieninvasion angelangt, fängt er an, die Eindringlinge zu phagozytieren. Die Phagozytose beginnt mit dem Einfangen von Mikroorganismen (Abb. 9.7) und ihrer Bindung an die Membranoberfläche der Phagozyten. Die Fähigkeit zur Bindung und Phagozytose wird wesentlich erleichtert, wenn die Pathogene durch Komplementfaktoren oder durch Antikörper molekular gekennzeichnet (opsonisiert) wurden. Die mit Komplement C3b oder mit Antikörpern beladenen Partikel (Bakterien, geschädigte Körperzellen) werden über C3b- bzw. FcRezeptoren an die Phagozytenmembran gebunden (Abb. 9.8). Nach der Anlagerung bilden die Phagozyten Pseudopodien, welche den Fremdkörper umschließen (Phagosomenbildung). Der eigentliche Abbau des Fremd-

Leukozytenzahl und -funktion

Leukozyten gesamt

Anzahl/µl Blut (Normbereich)

% der Leukozyten

5 000 – 10 000

100

Funktionen

Granulozyten Neutrophile

2 000 – 6 000

40 – 60

Phagozytose und Lyse von Parasiten (Viren, Bakterien), Freisetzung von leukotaktisch wirksamen Stoffen (Leukotriene), Bildung von „Antibiotika“ (Lysozym, Laktoferrin, O2-Radikale)

Eosinophile

50 – 300

1–3

Abwehr von parasitären Würmern, z. B. Fadenwürmern (Nematoden), Synergie mit Mastzellen und basophilen Granulozyten

Basophile

0 – 50

0–1

Freisetzung von Histamin und Heparin, Rolle bei der Abwehr von einzelligen Mikroorganismen (Protozoen) und Würmern (Helminthen, histaminabhängige Allergiesymptome, Freisetzung chemotaktischer Lockstoffe für Eosinophile

Monozyten

200 – 800

4–8

Vorläuferzellen des mononukleären Phagozytensystems (MPS); MPS-Zellen: Phagozytose, Antigenpräsentation, Freisetzung von Proteasen, O2-Radikale, NO, Interleukine

1000 – 4 000

20 – 40

Lymphozyten

B- und T-Lymphozyten, humorale und zellvermittelte Immunität

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9 Blut: Ein flüssiges Organsystem Hydroxylradikale (OH ). Sie helfen bei der Abtötung von Bakterien, indem sie die Bakterienmembran schädigen und so den Zugriff der lysosomalen Enzyme erleichtern. Viele Krankheitserreger haben allerdings Strategien entwickelt, mit denen sie die Abwehr unterwandern (12). So entziehen sich einige Mikroorganismen der Phagozytose oder der Verdauung in Makrophagen. Erreger der Tuberkulose, des Typhus, der Gonorrhoe und der Lepra gehören beispielsweise dazu. Einige können sich, einmal phagozytiert, sogar im Makrophagen vermehren, sie werden also weder vom Makrophagen verdaut noch von den ausschließlich extrazellulär zirkulierenden Immunglobulinen entdeckt. Die letzte Möglichkeit für den Makrophagen, sich dieser Eindringlinge doch zu erwehren, ist dann die Kooperation mit den inflammatorischen CD4+T-Helferzellen (siehe S. 242 f.). Deren aktivierter Subtyp TH1 (S. 243) ist nämlich in der Lage, Zytokine wie INF-γ und TNF-α freizusetzen, welche bei der Aktivierung von Makrophagen helfen (Abb. 9.12, S. 242). Die Aktivierung der Makrophagen führt u. a. zur Synthese zytotoxischer Peptide, sog. Defensine, die in der Bakterienwand Ionendurchlässige Kanäle bilden und die Erreger damit abtöten können, sowie zur Expression hoher Aktivitäten von NOSynthase, die aus L-Arginin das sehr reaktive Stickstoffmonoxid (NO) abspaltet. NO selbst wirkt bereits antimikrobiell, doch kann es mit O2– zu noch wirksameren Substanzen wie Peroxinitrit (ONOO–) reagieren, so dass neben zahlreichen Bakterien auch Pilze, Protozoen und sogar parasitäre Würmer erfolgreich angegriffen werden können (3). Sind die in den Körper eingedrungenen Parasiten zu groß um direkt phagozytiert zu werden (z. B. Wurmlarven), übernehmen die eosinophilen und basophilen Granulozyten eine wichtige Rolle bei der Infektabwehr. Eosinophile Granulozyten können nach Anlagerung von IgG- und IgE-opsonisierten Antigenen zytotoxisch wir●

Makrophage

Pseudopodium

Bakterien

Abb. 9.7 Ein Makrophage auf Bakterienfang. Auf der rasterelektronenmikroskopischen Aufnahme sind die langen „Fangarme“ (Pseudopodien) zu erkennen, die Kontakt zu Bakterien aufnehmen, ein früher Schritt bei der Phagozytose (Aufnahme: Lennart Nilsson; Copyright by Boehringer Ingelheim International GmbH).

körpers findet statt, wenn die Phagosomen mit Lysosomen zum Phagolysosom verschmelzen und der Enzyminhalt der Lysosomen mit dem phagozytierten Material in Kontakt kommt. Die lysosomalen Enzyme umfassen Proteasen, Peptidasen, Oxidasen, Desoxyribonukleasen und Lipasen. Außerdem bilden Phagozyten (v. a. neutrophile Granulozyten) noch reaktive Sauerstoffmetabolite wie Wasserstoffperoxid (H2O2), Peroxidanionen (O2–) und Tabelle 9.4

Menschliche Immunglobuline

Ig-Klasse

Molekülmasse (Dalton)

Normbereich Prozent der (g/l Serum) Immunglobuline

Halbwertszeit (Tage)

Funktionen

IgG

150 000 (Monomer)

8 – 16

80

20

Plazentagängig (passive Immunisierung des Neugeborenen), Kennzeichnung von Fremdzellen, Komplementaktivierung (klassischer Weg), Bindung an Fc-Rezeptoren auf Makrophagen, Granulozyten, NK-Zellen

IgM

900 000 (Pentamer)

0,5 – 2

6

5

Komplementaktivierung (klassischer Weg), Oberflächenrezeptor auf reifen B-Zellen (als Monomer), Agglutination von Fremdzellen und Viren

IgA

300 000 (Dimer)

1,4 – 4

13

6

Sekretorisches Immunglobulin (Tränenflüssigkeit, Milch, Sekrete des Respirations-, Gastrointestinal- und Genitaltraktes)

IgE

190 000 (Monomer)

0,02 – 0,5

0,002

2

Aktivierung von Mastzellen sowie basophilen und eosinophilen Granulozyten, Beteiligung bei allergischen Reaktionen, Abwehrfunktion bei Wurminfekten

IgD

150 000 (Monomer)

0 – 0,4

0,1

3

Oberflächenrezeptor auf reifen B-Zellen, Aktivierung von B-Zellen durch Antigene

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9.4 Abwehrmechanismen des Körpers

Lysosom FcRezeptor

AntigenAntikörper-Komplex

C3 bRezeptor

z. B. neutrophiler Granulozyt

opsonisierter Fremdkörper

Phase 1: Fremdkörpererkennung

Phase 2: Pseudopodienentwicklung

rezirkulierte Rezeptoren

Phase 5: Exozytose der Reste, Rezirkulation der Rezeptoren

Phagosomen

Phase 3: Phagosombildung Auflösung und Verdauung

Phase 4: Bildung von Phagolysosomen und Lyse des Antigens

Abb. 9.8 Phagozytose durch neutrophile Granulozyten oder Makrophagen. Phase 1: Der mit Antikörpern (z. B. IgG) oder dem Komplementfaktor C3b bedeckte (opsonisierte) Fremdkörper ist durch die entsprechenden Rezeptoren der Phagozyten (Fc- und C3b-Rezeptoren) als etwas Fremdes „gekennzeichnet“. Phase 2: Nach Kontaktnahme mit dem Fremdkörper bilden die Phagozyten Pseudopodien, mit denen sie den Fremdkörper „umarmen“. Phase 3: Nach voll-

kende Substanzen aus ihren Granula freisetzen. Hierzu zählen das Neurotoxin, das die Parasiten lähmt und das „Major Basic Protein“, das sie abtötet. Die basophilen Granulozyten enthalten ebenfalls Granula und sind in vielen Eigenschaften den Mastzellen verwandt. Die Degranulation der Basophilen erfolgt nach Kontakt mit IgE (Tab. 9.4) und dem Antigen, das die IgE-Bildung ausgelöst hat. Ein Inhaltsstoff dieser Granula, das Histamin, ist beteiligt an allergischen Reaktionen wie dem Bronchialasthma. Zudem wirkt Histamin als Lockstoff für eosinophile Granulozyten, womit die basophilen Granulozyten indirekt auch an der Abwehr von Parasiten beteiligt sind.

Die Merkmale des spezifischen Abwehrsystems Das spezifische Abwehrsystem des Körpers ist in der Lage, fremde Molekülstrukturen (Antigene) mit hoher Präzision zu erkennen und zu eliminieren. Diese erwor-

ständiger Aufnahme des Fremdkörpers (Phagozytose im eigentlichen Sinn) kommt es zur Bildung von Phagosomen. Phase 4: Die hydrolasenreichen Lysosomen verschmelzen mit Phagosomen und bilden Phagolysosomen, in denen der Fremdkörper verdaut wird. Phase 5: Unverdaubares Material wird nach außen abgegeben; auf der Zelloberfläche erscheinen wieder die Fc- und C3b-Rezeptoren, die vor der Bildung der Phagosomen abgespalten worden sind (Recycling).

bene Immunität ist charakterisiert durch hohe Spezifität der Erkennung, enorme Antikörpervielfalt, ein immunologisches Gedächtnis und ein genaues Unterscheidungsvermögen zwischen körpereigenen und körperfremden Molekülstrukturen. So ist eine gezielte Antwort gegen Milliarden verschiedener Antigene möglich, wobei oft kleinste Unterschiede zwischen Molekülstrukturen ausreichen, um spezifische Immunreaktionen auszulösen. Ist ein Antigen einmal vom Immunsystem erkannt, so kann es diese Information über mehrere Jahrzehnte in einer Art von zellulärem Gedächtnis behalten, um bei einer nächsten Antigenexposition schneller und stärker zu antworten. Die Fähigkeit des Immunsystems, zwischen den vielen Fremdantigenen mit hoher Genauigkeit unterscheiden zu können, bedingt eine ebenso hohe Fähigkeit, zwischen körpereigenen und körperfremden Molekülstrukturen unterscheiden zu können. Werden körpereigene Strukturen als etwas Fremdes erkannt, so kann dies zu schweren

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9 Blut: Ein flüssiges Organsystem Autoimmunkrankheiten führen. Gegen ein Fremdantigen hochspezifisch zu reagieren, stellt für das Immunsystem also eine genau so anspruchsvolle Aufgabe dar, wie gegen ein körpereigenes Antigen nicht zu reagieren.

Zellen des lymphatischen Systems vermitteln Immunreaktionen Die ersten Barrieren, die das Eindringen von pathogenen Mikroorganismen in den Körper verhindern, sind die Deckflächen der Haut und der inneren Schleimhäute (Bronchialepithelien, Darmepithelien). Sind diese Hindernisse aber einmal durchbrochen, so stehen den eingedrungenen Mikroorganismen weitere Abwehrfronten entgegen, die aus angelockten Lymphozyten, Granulozyten und Makrophagen besteht. Die wichtigste Abfangstation für pathogene Mikroorganismen sind jedoch die sekundären lymphatischen Organe, zu denen die Milz, die Lymphknoten sowie das bronchus- und darmassoziierte Lymphgewebe gehören, die darauf spezialisiert sind, T- und B-Zellen mit „ihrem“ Antigen zusammenzubringen. Hierbei gelangen die Antigene entweder mit dem afferenten Lymphstrom in die sekundären lymphatischen Organe oder sie werden bereits im Gewebe von umherstreifenden dendritischen Zellen aufgenommen, die, mit den Antigenen beladen, in die sekundären lymphatischen Organe einwandern. Es gibt verschiedene Gruppen dendritischer Zellen, zu denen u. a. die Langerhans-Zellen der Haut gehören. Die dendritischen Zellen verarbeiten (prozessieren) die Antigene und präsentieren sie in den sekundären lymphatischen Organen den immunkompetenten Lymphozyten, von denen die T-Zellen die wichtigsten „Gesprächspartner“ sind (16) (Abb. 9.12, S. 242). Die Proliferation (Vermehrung) der immunkompetenten Lymphozyten in diesen Organen führt dann zu der auch makroskopisch beobachtbaren Lymphknotenschwellung bzw. Milzvergrößerung bei einer Infektion. Beteiligt am Aufspüren von fremden Antigenen sind auch die Makrophagen des mononukleären phagozytischen Systems (MPS), welches in vielen exponierten Organen stationiert ist, so etwa in den Lungenalveolen (Alveolarmakrophagen), den Gelenkspalten (synoviale A-Zellen), der Milz und den Lymphknoten sowie im Gehirn (Mikroglia). Das MPS ist demnach ein wichtiger Träger sowohl der erworbenen als auch der angeborenen Immunität (s. S. 233). Als Antigene werden Stoffe bezeichnet, die fähig sind, im Organismus eine angepasste Immunreaktion auszulösen und als immunogen bezeichnet werden. Der Bereich an der Oberfläche des Antigenmoleküls, gegen den spezifische Antikörper gebildet werden, wird als antigenes Epitop oder antigene Determinante bezeichnet. Die Immunogenität eines Stoffes hängt stark von dem Molekulargewicht eines antigenen Epitops ab, wobei vor allem große Proteine starke Immunogene darstellen. Proteine mit einer Molekülmasse von weniger als 10 000 Dalton sind meist nicht oder nur geringfügig immunogen, es sei denn, sie sind an höhermolekulare Trägerstrukturen gebunden. Stoffe, die erst nach Anlagerung z. B. an große Proteine eine Immunreaktion hervorrufen, werden als Haptene bezeichnet. Ein klassisches Beispiel einer sol-

chen Immunreaktion ist die Nickelallergie. Zusammen mit Nickel werden körpereigene Antigene von T-Zellen erkannt und es kommt zu dramatischen Hautreaktionen. „Maßgeschneiderte“ Immunreaktionen sind eine Leistung der spezifischen Lymphozyten, die sowohl bei der Antikörperproduktion als auch bei der spezifischen Lyse von virusinfizierten Zellen eine entscheidende Rolle spielen. Die Lymphozyten entwickeln sich aus lymphatischen Stammzellen im Knochenmark, die zu Lymphozytenvorläuferzellen differenzieren und dann in den primären lymphatischen Organen (Thymus, lymphatische Anteile des Knochenmarks) weiter reifen. Dort werden sie geprägt, d. h., unter dem Einfluss lokaler Faktoren entstehen spezifische Lymphozyten. Die T-Zellen werden im Thymus geformt, die B-Zellen beim Menschen in den lymphatischen Anteilen des Knochenmarks (Bone marrow). Vom Thymus oder den lymphatischen Anteilen des Knochenmarks wandern die so geprägten Lymphozyten mit dem Blutstrom in die sekundären lymphatischen Organe ein. Beim ersten Kontakt mit „ihrem“ Antigen proliferieren sie und differenzieren zu den endgültigen Effektorzellen. So reifen B-Zellen zu Plasmazellen, CD8+ (Cluster of differentiation = Cluster determinant 8-positive)-TZellen zu zytotoxischen CD8+-T-Zellen und CD4+-T-Zellen differenzieren entweder zu TH1-Helferzellen (Makrophagenaktivierung) oder zu TH2-Helferzellen, welche die BZellen bei ihrer Weiterentwicklung zu antikörperbildenden Plasmazellen unterstützen. Sowohl T-Zellen als auch B-Zellen differenzieren auch noch zu langlebigen Gedächtniszellen, die sich bei einem erneuten Antigenkontakt noch nach vielen Jahrzehnten zu T-Effektorzellen (26) (s. S. 242) und zu Plasmazellen weiter entwickeln (s. S. 239 f.). Ein weiteres und funktionell äußerst wichtiges Unterscheidungsmerkmal ist die Ausstattung der Lymphozyten mit membranständigen Antigenrezeptoren. Bei den BZellen sind diese Oberflächenrezeptoren Immunglobuline (IgM-Monomer, IgD), die nur darauf warten, ein passendes Antigen einzufangen. Die T-Zellrezeptoren teilen viele Ähnlichkeiten mit dem molekularen Aufbau der Immunglobuline, so zum Beispiel die Anordnung in eine leichte und eine schwere Molekülkette (α/β-Dimer). All diese Rezeptoren besitzen zwar eine ähnliche Grundstruktur, jedoch weisen die antigenerkennenden Abschnitte durch genetische Rekombination eine riesige Vielfalt auf. So gibt es potenziell 1011 verschiedene Immunglobuline (Antikörper) und 1015 verschiedene αβ-T-Zell-Rezeptoren (3). Daneben existieren sowohl auf den B-Zellen als auch auf den T-Zellen weitere Rezeptoren, die bei der Adhäsion an Zielzellen und der nachfolgenden zellulären Signaltransduktion eine wichtige Rolle spielen. Auf T-Zellen kommen z. B. CD4- und CD8-Rezeptoren vor (s. o.). CD4+T-Zellen sind Helferzellen, die bei der Differenzierung von B-Zellen (s. S. 242) und bei der Makrophagenaktivierung mitwirken (s. S. 236). CD8+-T-Zellen wiederum wirken zytototoxisch auf Zellen, in die sich z. B. Viren zwar erfolgreich „eingeschmuggelt“ haben, die sich aber durch Veränderungen der Zelloberflächenstruktur selbst verraten (s. S. 242 f.) (13). Beide Rezeptoren, CD4 und CD8, verstärken die spezifische Wechselwirkung zwischen TZellen und ihren jeweiligen Zielzellen, wobei CD8 als Corezeptor mit dem MHC-I-Proteinkomplex auf der Zell-

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9.4 Abwehrmechanismen des Körpers oberfläche in Wechselwirkung tritt und CD4 dieselbe Funktion beim MHC-II-Proteinkomplex erfüllt (Abb. 9.12, S. 242).

Plasmazellen produzieren Immunglobuline Die von den Plasmazellen (ausdifferenzierten B-Zellen) produzierten Antikörper (Immunglobuline), binden an pathogene Mikroorganismen und dienen somit der Zielmarkierung für die zellulären und humoralen Abwehrsysteme des Körpers (Makrophagen, natürliche Killer-[NK-]Zellen und klassischer Aktivierungsweg des Komplementsystems). Weiterhin verhindern Antikörper das Eindringen eines Mikroorganismus in die Wirtszelle durch Bindung an Membranstrukturen, welche für die Rezeptor-vermittelte Endozytose des „Eindringlings“ wichtig sind. Darüber hinaus werden auch bakterielle Toxine durch Antikörper neutralisiert. Nach einem Zweitkontakt mit einem bestimmten Antigen reagiert das spezifische Immunsystem mit seinem „Immun-

gedächtnis“ schneller und stärker auf einen Antigenkontakt und die gebildeten Antikörper sind viel genauer an die Struktur des Antigens angepasst. Immunglobulinmoleküle, die die Träger der humoralen Immunantwort sind, werden von Plasmazellen synthetisiert. Diese entstehen aus B-Zellen, die membranständige Immunglobuline (IgM-Monomer, IgD) als Rezeptormoleküle auf der Oberfläche tragen. Ein antigenes Epitop (s. S. 238) wird in aller Regel nur von denjenigen B-Zellen erkannt, die über einen passenden Immunglobulinrezeptor (Paratop) verfügen (V-Abschnitt der Fab-Region; Abb. 9.10). Durch die Antigenbindung wird also aufgrund der Passform zwischen Epitop und Paratop eine Sorte von Zellen selektioniert und aktiviert, die sich danach vermehren (Proliferation) und eine große Anzahl identischer Tochterzellen, Zellklone, bilden. Dieser Vorgang der klonalen Selektion und Proliferation von Antikörper produzierenden Zellen führt über ein Zwischenstadium, den B-Lymphoblasten, zur Bildung von Plasmazellen.

Antigen

Antigenkontakt

Epitop Paratop B-Lymphozyt

B-Lymphozyt klonale Selektion

(3)

(1)

B-Lymphozyt (2)

(2)

(2)

klonale Expansion (2)

(2)

(2)

(2)

(2)

(2)

(2)

(2)

(2) (2)

(2)

Zelldifferenzierung und Synthese von Immunglobulinen

Antikörper bildende Plasmazellen

Abb. 9.9 Klonale Selektion und Differenzierung von BLymphozyten. Es sind drei verschiedene Typen von B-Lymphozyten dargestellt, die durch jeweils einen spezifischen IgG-Rezeptor (Paratop) gekennzeichnet sind (Zellklone 1, 2, 3). Nur der Zellklon 2 hat den zu dem antigenen Epitop passenden Rezeptor. Diese spezifische Merkmalserkennung führt zur klonalen Selektion mit nachfolgender Vermehrung des Zellklons 2 (klonale Expansion). Die nachfolgende Differenzierung des expandierten Klons bewirkt die Bildung von

„Gedächtniszellen“

Antikörper bildenden Plasmazellen und von B-Gedächtniszellen. Die Plasmazellen sezernieren Immunglobuline mit einem dem B-Zell-Rezeptor identischen Paratop (s. Ausschnittsvergrößerung des sezernierten Immunglobulins). Die B-Gedächtniszellen speichern die Information über den stattgefundenen Antigen-Antikörper-Kontakt, so dass bei einer zweiten Exposition mit diesem Antigen eine schnellere und verstärkte Antikörperbildung stattfindet (siehe Abb. 9.11).

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239

240

9 Blut: Ein flüssiges Organsystem

Fab

Fc

VL VH

CL

Kohlenhydrat

CH1 CH2

CH3

CH2

CH3

„Scharnier“ schwere Ketten

CH1 CL

VH VL

leichte Ketten

bindet an den Fc - Rezeptor von Makrophagen

bindet an das Antigen bindet an die C1q - Komponente des Komplementsystems

Abb. 9.10 Grundstruktur des Immunglobulins G und funktionelle Zuordnung der molekularen Abschnitte. Die leichten Ketten (VL + CL) und die schweren Ketten (VH + CH1, 2, 3) sind über nichtkovalente Bindungen sowie Disulfidbrücken miteinander verbunden. Nach proteolytischer Spaltung mit Papain zerfällt das Molekül in ein antigenbindendes Fragment (Fab) und ein Fragment, das leicht kristallisiert (Fc). (Diese proteolytische Spaltung des IgG-Moleküls durch Papain dient nur der strukturellen Untersuchung; sie findet in vivo nicht statt.) Zwischen dem Fab- und dem Fc-Teil befindet sich ein Abschnitt, der besonders gut beweglich ist (Schar-

Die Plasmazellen unterscheiden sich von ruhenden BZellen dadurch, dass sie ganz darauf ausgerichtet sind, Immunglobuline in die Umgebung zu sezernieren (Abb. 9.9). Jeder Antikörper produzierende Zellklon bildet also nur eine einzige Sorte von Antikörpern. Die genetische Entscheidung, welcher Antikörper gebildet werden kann ist zwar schon getroffen, bevor die Zelle je mit einem Antigen in Berührung gekommen ist. Der Antigenkontakt bewirkt jedoch die massenhafte Vermehrung desjenigen Zelltyps, der mit dem entsprechenden Antigen in Kontakt getreten ist und dann die passenden Antikörper produziert. Für die „Erkennung“ des Antigens durch die B-Zellen und die danach erfolgende Umwandlung in Antikörper sezernierende Plasmazellen sind in den allermeisten Fällen noch antigenpräsentierende Zellen und CD4+-TH2Helferzellen erforderlich (Abb. 9.13, S. 243). Wird eine B-

bindet an den Fc - Rezeptor von Neutrophilen und Killerzellen

nierabschnitt, „hinge region“), so dass die Fab-Teile des Yförmigen Moleküls mehr oder weniger stark auseinanderklappen und sich dadurch an unterschiedliche räumliche Distanzen von antigenen Epitopen anpassen können. Die verschiedenen Aminosäureabschnitte der H-Ketten und der L-Ketten weisen eine charakteristische Raumstruktur auf; sie werden als Domänen bezeichnet. Im dargestellten IgG-Molekül gibt es insgesamt 12 solcher Domänen (VL und CL sowie VH und CH1, 2, 3). Die Bindungseigenschaften des Moleküls werden durch Domänen bestimmt, die in den entsprechenden Ausschnitten verschiedenfarbig gekennzeichnet sind.

Zelle von einer TH2-Zelle „geküsst“, so kann auch ein so genannter Klassenwechsel der Immunglobuline erfolgen. Statt Antikörper vom IgM-Typ zu produzieren, sezerniert die Plasmazelle nun IgG, IgE oder IgA. Darüber hinaus kann die Aminsosäuresequenz des Antikörpers durch den Prozess der so genannten somatischen Hypermutation verändert werden (24). Hierbei entstehen Antikörper, die ihr Antigen noch besser erkennen können (Affinitätsreifung). Insgesamt wird so die spezifische humorale Abwehr effizienter (siehe auch „Booster-Effekt“, Abb. 9.11, S. 241). Neben den Plasmazellen entstehen beim Antigenkontakt auch B-Gedächtniszellen, die keine Immunglobuline sezernieren und in der Milz oder den Lymphknoten ruhig verweilen. Bei einem erneuten Antigenkontakt differenzieren die B-Gedächtniszellen zu antikörperproduzierenden Plasmazellen (3). Durch die B-Gedächtniszellen kön-

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9.4 Abwehrmechanismen des Körpers erste Antigenbelastung

zweite Antigenbelastung

Sekundärreaktion

Primärreaktion

100 000 10 000

Antikörperkonzentration (relative Einheiten)

nen damit bei erneutem Antigenkontakt besser angepasste Antikörper äußerst schnell erzeugt werden. Die „Erinnerung“ an den ersten Antigenkontakt nennt man „immunologisches Gedächtnis“, das von T- und B-Lymphozyten getragen wird, die diese Begegnung in vivo oft lebenslang in Erinnerung behalten (26).

1000

Humorale Antikörper: Variationen über ein Thema Das von den Plasmazellen gebildete humorale Abwehrsystem besteht aus Immunglobulinen (Ig), die in die Klassen IgG, IgM, IgE, IgA und IgD eingeteilt werden (Tab. 9.4, S. 236). Jedes Immunglobulin besitzt die gleiche Grundkonfiguration: Es besteht aus zwei identischen leichten (light) L-Ketten und zwei identischen schweren (heavy) H-Ketten (Abb. 9.10). Jeder dieser Antikörper ist bivalent und monospezifisch, wobei die Bildung eines spezifischen Antikörpers durch somatische Rekombination des Genmaterials erfolgt (24). Die dreidimensionale Gestalt des Ig-Moleküls ist dem Buchstaben „Y“ vergleichbar, wobei die beiden kurzen Arme, Fab genannt, die Antigen bindende Region des Moleküls darstellen. Diejenigen Anteile der H- und LKetten, die den distalen Teil des Moleküls des FabAbschnittes bilden (V-Region), sind variabel in ihrer Aminosäuresequenz. Jeder spezifische Antikörper, der gegen ein bestimmtes antigenes Epitop gerichtet ist, hat eine jeweils unterschiedliche V-Region in der H- und LKette, während der Rest innerhalb der jeweiligen IgKlasse gleich ist und die Ig-Klassenzugehörigkeit bestimmt (Tab. 9.4, S. 236). Die Fc-Region, die nach der Bindung der Fab-Domäne an ein Antigen in die Umgebung ragt, führt zur Anlagerung an diejenigen unspezifischen Abwehrzellen, die das Gewebe durchstreifen und auf ihrer Oberfläche einen Fc-Rezeptor tragen, wie z. B. neutrophile Granulozyten, natürliche Killerzellen (NKZellen) und Makrophagen. Daraufhin werden die Fremdzellen durch Oxidantien (O2–, OH ), NO und Perforine geschädigt, die Bruchstücke phagozytiert und durch lysosomale Enzyme „verdaut“ (S. 233 ff.). Auch der klassische Weg der Komplementaktivierung wird durch den FcAbschnitt der Ig eingeleitet (S. 234). Antigene und ihre molekularen „Gegenspieler“, die Antikörper, lagern sich in großen Immunkomplexen zusammen, die dann später von Monozyten entsorgt werden. Primär- und Sekundärreaktion. Vergleicht man die Antikörperbildung im Anschluss an einen ersten und zweiten Kontakt mit demselben Antigen, so wird eine Anzahl von Unterschieden deutlich, die die Lern- und Anpassungsleistung des spezifischen Immunsystems deutlich machen (Abb. 9.11). Nach einem ersten Antigenkontakt steigt mit einer Latenz von ungefähr einer Woche die Antikörperkonzentration, typischerweise IgM, exponentiell über die Zeit an (Primärantwort). Wenn jedoch nach einem Intervall von Wochen, Monaten oder manchmal sogar Jahren das Immunsystem erneut auf dieses Antigen trifft, so ist die jetzt auftretende Sekundärantwort von der Primärreaktion quantitativ und qualitativ unterschiedlich (Booster-Effekt): ●

IgG

100 10

IgM

1 0

7

14

21

28

35

42

Tage

Abb. 9.11 Primär- und Sekundärreaktion bei der humoralen Immunantwort. Auf der logarithmisch eingeteilten Ordinate ist die Antikörperkonzentration angegeben. Die Abszisse entspricht der Zeitachse in Tagen. Der nach einem Intervall von Tagen, Monaten oder sogar Jahren erfolgende Zweitkontakt mit demselben Antigen führt zu einer zeitlich schnelleren und quantitativ intensiveren Antwort bezüglich der Antikörperbildung („Booster-Effekt“). Außerdem sind die gebildeten Antikörper im Fab-Teil (Abb. 9.10) besser an die molekularen Epitope des Antigens angepasst.

1. Die initiale Latenzphase ist kürzer; bereits nach wenigen Tagen beginnt die Antikörperkonzentration anzusteigen. 2. Die Antikörperbildung ist wesentlich stärker und bleibt über längere Zeit bestehen. 3. Die Antikörper sind besser auf das entsprechende Antigen ausgerichtet, d. h. sie „erkennen“ die molekulare Struktur des Antigens mit größerer Präzision. 4. Bei der Sekundärantwort finden sich fast ausschließlich Antikörper der Klasse IgG, während die Primärantwort vor allem durch Antikörper der Klasse IgM geprägt ist und 5. bekommt man Kinderkrankheiten wie Masern oder Scharlach nur einmal im Leben, was eine überaus erstaunliche Leistung der immunologischen Gedächtnisfunktion (s. S. 239 ff.) darstellt. Immunisierung. Der menschliche Körper kann gegen gefährliche Infektionskrankheiten durch Impfungen (Immunisierung) geschützt werden. Bei der aktiven Immunisierung bzw. Schutzimpfung werden inaktivierte Krankheitserreger oder gereinigte mikrobielle Immunantigene (Proteine, Polysaccharide) in geeigneter Form verabreicht. Das Immunsystem wird gegen diese antigenen Epitope im Sinne einer Primärreaktion „vorgewarnt“. Eine zweite und dritte Impfung verstärkt diese Wirkung (Booster-Effekt). Auch beim Kontakt mit dem pathogenen Krankheitserreger wird ein Booster-Effekt auftreten, wodurch die Krankheitserreger unschädlich gemacht werden, bevor sie sich im Körper ausgebreitet haben. Bei unmittelbar drohender oder bereits eingetretener Infektion kann durch Zufuhr von Immunserum oder Immunglobulinen (passive Immunisierung bzw. Schutzimpfung) ein zeitlich begrenzter Schutz erzielt werden. Eine besondere Form der passiven Immunisierung findet man beim Neugeborenen. Diese Immunität wird durch den Transport von mütterlichen Immunglobulinen (Typ IgG)

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241

9 Blut: Ein flüssiges Organsystem Antigen antigene Epitope

durch die Plazenta erzielt (übertragene Immunität). Da die Bildung von Immunglobulinen beim Neugeborenen noch nicht entwickelt ist, stellt diese Form der Versorgung mit Immunglobulinen aus dem mütterlichen Blut einen wichtigen Infektionsschutz während der ersten Lebenswochen dar. Zusätzlich werden mit der Muttermilch sekretorische Immunglobuline des Typs A (Tab. 9.4, S. 236) übertragen, die eine wichtige Infektionsbarriere im Darm der Säuglinge bilden.

antigenpräsentierende Zelle (Makrophage)

spezifische Rezeptoren für HLA-II + Antigen TH

HLA-II präsentiertes Antigen

Aufnahme

TH1-Zelle

T-Zellen helfen, töten und haben ein Gedächtnis

Interferon g

Präsentation

Interleukin 2

Kooperation Epitop des Antigens

CD4

TH

(bzw.CD8)

T-ZellRezeptor

Interleukin 2

242

HLA-IIMolekül (bzw. HLA-I)

Interleukin 2 TH

Proliferation der TH1-Zellen

TH

TH TH

Abb. 9.12 Stimulierung von T-Lymphozyten durch antigenpräsentierende Zellen (APCs). Antigene bestehen aus Abschnitten, die sowohl nach außen gerichtet sind (äußeres Epitop) als auch im Inneren des Moleküls liegen können (inneres Epitop). Eine antigenpräsentierende Zelle (z. B. Makrophagen, dendritische Zellen der Lymphknoten oder der Milz) fängt das Antigen unspezifisch ein, verdaut es zu Peptiden und befördert das entstandene Antigenpeptid, eingebettet in die MHC-Tasche, auf die Zelloberfläche. Eine „naive“ T-Helferzelle, die einen Rezeptor für den Komplex, bestehend aus Antigenpeptid und MHC-I bzw. MHC-II erkennt, lagert sich an. Nach der Komplex-Rezeptor-Interaktion kommt es unter Freisetzung von Interleukin 2 zur TZell-Proliferation (klonale Expansion und Differenzierung). Aus T-Lymphozyten, die den T-Zell-Rezeptor mit dem Corezeptor CD8 exprimieren, werden zytotoxische T-Zellen; ist der Corezeptor vom CD4-Typ, so entstehen T-Helferzellen. In der Ausschnittsvergrößerung ist beispielhaft die Interaktion zwischen CD4+-Zellen und dem MHC-II/Antigenpeptid-Komplex dargestellt; CD8+-Zellen erkennen den MHC-IKomplex.

B-Zellen sind die Träger der humoralen spezifischen Immunabwehr, während T-Zellen die Träger der zellulären spezifischen Immunreaktion darstellen. Man unterscheidet zwischen CD4+-T-Zellen und CD8+-T-Zellen. Zusammen mit antigenpräsentierenden Zellen (APCs) sind CD4+-T-Helferzellen bei der Differenzierung von BZellen zu antigenproduzierenden Plasmazellen mitbeteiligt. Weiterhin ist die „T-Hilfe“ für die Makrophagenaktivierung unentbehrlich. CD8+-T-Zellen können virusinfizierte Zellen erkennen und töten. CD4+-T-Zellen erkennen Antigene, die von den sog. „Histokompatibilitätsantigenen der Klasse II (MHC-II)“ auf Zelloberflächen präsentiert werden. Demgegenüber erkennen CD8+-T-Zellen Antigene, die zusammen mit Histokompatibilitätsantigenen der Klasse I (MHC-I) präsentiert werden. T-Zellen befinden sich, wie die B-Zellen, zum Teil im Blut und zum Teil in den sekundären Lymphorganen. Nach antigener Stimulation vermehren sie sich (Proliferation) und differenzieren zu den T-Effektorzellen und auch zu langlebigen T-Gedächtniszellen, die charakteristischerweise das Zelloberflächenprotein CD44 tragen. Die Ausstattung mit CD44 besitzen sowohl CD4+- als auch CD8+T-Gedächtniszellen (3, 17), jedoch ist dieses Konzept nicht unumstritten (26). T-Effektorzellen lassen sich unterteilen in zytotoxische T-Zellen (s. S. 244) und T-Helferzellen. Die T-Helferzellen lassen sich aufgrund unterschiedlicher Funktionen und ihres Zytokinmusters in T-Helfer1-(TH1-) und T-Helfer-2-(TH2-)Zellen einteilen. Inflammatorische TH1-Zellen helfen bei der Aktivierung von Makrophagen durch freigesetztes Interferon γ, während TH2Zellen z. B. Interleukin-4 abgeben und für die B-ZellAktivierung notwendig sind (S. 239 f.). Die sog. Histokompatibilitätsantigene sind von zentraler Bedeutung für passgenaue Immunreaktionen. Diese Zelloberflächenmoleküle (Rezeptoren) werden durch einen Genkomplex kodiert, der üblicherweise als Haupthistokompatibilitätskomplex (Major Histocompatibility Complex, MHC) bezeichnet wird. Die Genprodukte, MHCProteine, werden beim Menschen auch HLA (Human Leucocyte Antigen) genannt, da man sie aufgrund von Unterschieden in den Oberflächenantigenen weißer Blutzellen bei verschiedenen Individuen entdeckte (3). Sie bestimmen den Grad der Gewebeverwandtschaft zwischen Organspendern und Organempfängern, was für die Organverträglichkeit bei Transplantationen von großer Wichtigkeit ist. (In diesem Text wird aus Gründen der Vergleichbarkeit mit den Lehrbüchern der Immunologie die MHC-Nomenklatur benutzt.)

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9.4 Abwehrmechanismen des Körpers Die MHC-Proteine wurden ursprünglich im Rahmen der Abstoßung von Gewebetransplantaten entdeckt, jedoch besteht ihre eigentliche Funktion in der korrekten „Identifizierung“ von körpereigenen Zellen, die ein fremdes Antigen auf ihrer Oberfläche tragen. MHC-Proteine sind also Zelloberflächenrezeptoren, die in zahlreichen Variationen (Polymorphismus) vorkommen. Die für die MHC-Proteine kodierenden Genabschnitte werden in zwei Gruppen eingeteilt (MHC-I und MHC-II), die zur Bildung der MHC-I- und MHC-II-Proteine führen (3). Die Rezeptoren der T-Zellen sind nicht imstande, lösliche, d. h. frei umherschwimmende Antigene zu erkennen. Vielmehr erkennt der T-Zellrezeptor „sein“ Antigen-Epitop erst dann, wenn es ihm, eingebettet in einer molekularen Tasche oder Rinne von MHC-Proteinen, zur Erkennung „vorgeführt“, d. h. präsentiert wird. Man bezeichnet dieses hochspezifische molekulare Auswahlverfahren deshalb als T-Zell-Restriktion (25). MHC-I-Proteine kommen auf praktisch allen Körperzellen vor und sind bei der Vernichtung z. B. von virusinfizierten Körperzellen durch zytotoxische T-Zellen wesentlich beteiligt. Sie präsentieren intrazelluläre endogene Antigene auf der Zelloberfläche. Diese endogenen Antigene stammen aus abgebauten intrazellulären Proteinen, die durch Proteasen im sog. Proteasom in kleine Peptidfragmente zerlegt wurden. Ist nun eine Körperzelle mit einem Virus infiziert, werden auch Virusproteine mit den MHC-I-Molekülen präsentiert, und somit erkennt eine CD8+-T-Zelle, dass eine Körperzelle virusinfiziert ist. Die MHC-II-Proteine kommen hauptsächlich auf antigenpräsentierenden Zellen sowie B-Zellen und Makrophagen vor. Hier spielen sie eine wesentliche Rolle bei der Zusammenarbeit zwischen TH2-Zellen und B-Zellen, wobei ein kurzes Stück des von den B-Zellen oder Makrophagen aufgenommenen, exogenen Antigens zusammen mit dem MHC-II-Protein auf der Zelloberfläche erscheint (Abb. 9.13). Neben den MHC-Molekülen spielen hormonähnliche Signalstoffe, die Zytokine, bei der Zusammenarbeit zwischen T-Helferzellen und B-Zellen eine wichtige Rolle. Zytokine haben meistens pleiotrope Wirkungen, d. h. sie entfalten mehrere gleiche oder ungleiche Wirkungen bei einer bestimmten Zielzelle. Sie werden u. a. von Lymphozyten und mononukleären Phagozyten lokal gebildet und wirken über Oberflächenrezeptoren entweder zurück auf die Produzentenzelle (autokrin) oder auf die Nachbarzellen (parakrin). Der Begriff Interleukine wird für Zytokine verwendet, die hauptsächlich Zellinteraktionen beeinflussen und somit den „Gesprächsstoff“ zwischen lokalen Zellpopulationen darstellen. Von den mehr als 30 Zytokinen, die bis jetzt isoliert wurden, ist das von T-Helferzellen gebildete Interleukin 2 (IL-2) wichtig für ihre eigene Proliferation und die Interleukine 4, 5, 6 und 13 sind von großer Bedeutung für die Aktivierung von B-Zellen und ihre Differenzierung zu Plasmazellen (3). Die Entwicklung „naiver“ T-Helferzellen (TH0-Zellen) kann, je nach dem in ihrer Umgebung vorherrschenden Zytokinmuster, zu zwei T-Helfer-Zelltypen verlaufen, den TH1- oder den TH2-Zellen. Die TH1-Helferzellen (auch inflammatorische T-Zellen genannt) sezernieren u. a. Interferon γ, das die Makrophagen aktiviert, so dass diese mit im Zellinnern überle-

antigene Epitope IgD, IgM-Monomer

B

TH

B-Lymphozyt CD40 präsentiertes Antigen

TH

TH

HLA-II

B

Präsentation

TH2-Zellen

Rezeptorkomplex CD40Ligand

TH

Kooperation

Interleukin 4

B B

Proliferation

B

B

Differenzierung Plasmazellen

Synthese der Immunglobuline

Abb. 9.13 Stimulierung von B-Lymphozyten durch THelferzellen. Präsentation: Ein B-Lymphozyt erkennt spezifisch das Epitop eines Antigens über IgD und monomeres IgM, fängt das Antigen ein, verdaut es und befördert das Antigenpeptid im MHC-II-Komplex auf seine Zelloberfläche. Kooperation: Diese wird spezifisch von den sich mittlerweile vermehrenden T-Helferzellen vom Typ TH2 erkannt, die auf der Zelloberfläche genau den passenden Rezeptorkomplex tragen, der aus Antigen-Epitop und MHC-II besteht. Proliferation: Durch die Wechselwirkung zwischen diesen beiden Zelltypen und unter der stimulierenden Wirkung von Interleukin 4 kommt es zur Vermehrung und Differenzierung der B-Lymphozyten zu Plasmazellen, die Immunglobuline (Antikörper) gegen das antigene Epitop bilden. Differenzierung: Der Vorteil der spezifischen Erkennung eines antigenen Epitops durch TH2-Zellen (nach Präsentation durch antigenpräsentierende Zellen) und der Epitoperkennung durch BLymphozyten liegt in der erhöhten Zuverlässigkeit, mit der die Epitope eines Antigens durch immunkompetente Zellen identifiziert werden können. Das CD40-Protein stabilisiert die Bindung zwischen den beiden Zelltypen. Auf die besondere Funktion der TH2 für die Proliferation und Differenzierung der B-Zellen ist im Text verwiesen.

benden Erregern, z. B. Mykobakterien, besser fertig werden können. Mit der Makrophagenaktivierung startet die Reaktion auf den Erreger also in Richtung Entzündung. Der zweite Zelltyp, die TH2-Zellen, sezernieren u. a. Interleukin 4 und 10. IL-4 ist ein Wachstumsfaktor für die TH2Zellen, die für die B-Zell-Aktivierung und damit für die Immunglobulinbildung wichtig sind (Abb. 9.13); das

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243

244

9 Blut: Ein flüssiges Organsystem gleichzeitig ausgeschüttete Interleukin 10 hemmt die Aktivierung der Makrophagen. Umgekehrt unterdrückt Interferon γ die Vermehrung und Differenzierung der TH2Zellen. Ist also die Weiche durch TH1-Zellaktivierung einmal in Richtung Entzündung gestellt, werden kaum mehr Immunglobuline gebildet. Umgekehrt fehlt die Makrophagenaktivierung, wenn durch TH2-Zellaktivierung die Reaktion in Richtung Immunglobulinbildung gelenkt wird. So kann derselbe Erreger, z. B. Mycobacterium leprae, entweder die entzündliche Form der Krankheit (im Beispiel: tuberkuloide Lepra mit starker Gewebereaktion) oder die Form mit geringer Gewebereaktion auslösen (sog. lepromatöse oder Knotenlepra), bei der die Erreger in den Phagozyten überleben. Dort können sie von den Immunglobulinen nicht erkannt werden, so dass die Knotenlepra nicht nur die gefährlichere, sondern auch die ansteckendere Form der Krankheit ist.

Antigenpräsentation auf Zielzellen und deren Zerstörung Die Aufgabe von CD8+-T-Zellen ist die Erkennung und die Lyse von virusinfizierten Zellen und auch von Tumorzellen. Enthält eine Zelle z. B. ein virales oder ein anderes Fremdprotein, so wird dieses im Zellinneren in kleine Bruchstücke von ca. 10 Aminosäuren zerlegt und gelangt zusammen in der individuumsspezifischen MHC-I-Proteintasche auf die Zelloberfläche. Dort sind diese Antigene dann den CD8+-T-Zellen zugänglich und werden daher von den CD8+-T-Zellen als körperfremd erkannt. Beim Erstkontakt mit dem Antigen muss eine T-Zelle „ihr“ Antigen im Kontext von MHC-I-Proteinen von einer professionellen antigenpräsentierenden Zelle vorgezeigt bekommen. Nur dies führt zu einer Kostimulation der TZellen, die die Differenzierung der T-Zellen zu reifen zytotoxischen T-Zellen ermöglicht (Abb. 9.12). Trifft die zytotoxische T-Zelle nun auf eine körpereigene Zelle, die „ihr“ Antigen vorzeigt, setzt die T-Zelle Enzyme (Perforine) frei, die Membranen der „Opferzelle“ durchbohren und in die entstandenen Löcher noch Proteasen (Granzyme) „nachschieben“, die in den Zielzellen die programmierte Zelltötung (Apoptose, S. 50) auslösen. Zusätzlich wird über den sog. Fas-Liganden, der auf aktivierten TZellen exprimiert wird und an den CD95-Rezeptor der Zielzellen bindet, die Apoptose der als fremd erkannten Zelle ausgelöst. Auf diese Weise fallen den zytoxischen TZellen auch transplantierte Gewebe zum Opfer, die durch die gewebespezifischen MHC-I-Proteine aktiviert wurden und deshalb auch Transplantationsantigene genannt werden.

Entscheidende Abschnitte von Antigenen werden auf Zelloberflächen präsentiert Antigenpräsentierende Zellen (APCs) haben ihren Namen von einer wichtigen Funktion erhalten: sie können aus aufgenommenen Antigenen Peptidfragmente herstellen und diese, eingebettet in MHC-Oberflächenproteine, auf der Zelloberfläche den vorbeikommenden „naiven“ TH0-Zellen „vorzeigen“ oder präsentieren. Als APCs kön-

nen funktionieren: die Makrophagen des mononukleären phagozytischen Systems (S. 238), die dendritischen Zellen in den Keimzentren der sekundären Lymphorgane (S. 238) sowie B-Zellen (3, 16). Der Vorgang der Antigenpräsentation erfolgt nach einem gewissen Schema, das sich am Beispiel der B-Zellen in groben Zügen folgendermaßen darstellen lässt (Abb. 9.13). Eine „naive“ BZelle bindet das immunogene Antigen über die an der Membranoberfläche verankerten IgDs und IgM-Monomere, wobei mehrere Immunglobulin-„Rezeptoren“ mit ihren Fab-Abschnitten an das Antigen binden. Hierdurch werden die Immunglobulin-„Rezeptoren“ quervernetzt und der so entstandene Antigen-Antikörper-Komplex wird von den B-Zellen aufgenommen und im Zellinneren weiter verarbeitet. Bei dieser Verarbeitung wird das Antigen in Peptide zerlegt und dann zusammen mit MHC-IIProteinen auf die Zelloberfläche gebracht. Eine vorbeikommende TH2-Zelle (CD4+-Typ) erkennt mit ihren CD4assoziierten T-Zell-Rezeptoren die in einer MHC-II-Proteintasche präsentierten Peptide des ursprünglichen Antigens. Dieser Erkennungsvorgang führt bei den TH2-Zellen zur Expression des CD40-Liganden (der an das CD40Protein auf den B-Zellen bindet) und zur Sekretion von IL-4. Durch den CD40-Liganden und IL-4 (später auch IL5 und IL-6) ist nun der „Startschuss“ gegeben für die klonale Selektion der B-Zelle und ihre weitere Differenzierung zu den sich vermehrenden Plasmazellen (S. 239 f.). Diese produzieren nun die löslichen IgM-Pentamere, welche gegen die antigenen Epitope des ursprünglichen Antigens gerichtet sind. Während der BZelldifferenzierung kann durch den Vorgang des unterschiedlichen „DNA-Splicing“ auch auf die Bildung von anderen Fc-Abschnitten der Immunglobuline umgeschaltet werden (Klassenwechsel), wodurch IgG, IgA oder IgE entstehen können (Abb. 9.10, S. 240 und Tab. 9.4, S. 236). Hat innerhalb eines B-Zellklons ein solcher Typenwechsel der Fc-Domäne einmal stattgefunden, so bleibt es auch dabei, d. h. die ausdifferenzierten Plasmazellen sezernieren nur einen spezifischen Ig-Typ (24).

Die Unterscheidung zwischen Selbst und Fremd Um zwischen körpereigenen und körperfremden Molekül-Strukturen unterscheiden zu können, werden reifende T-Zellen im Thymus nach positiven und negativen Kriterien aussortiert. Dort werden alle T-Zellen positiv ausgewählt, deren Rezeptoren die körpereigenen MHCProteine erkennen (positive Selektion), alle anderen TZellen fallen der Apoptose anheim. Vom gleichen Schicksal werden T-Zellen ereilt, die auf APCs die Kombination von körpereigenem MHC mit darin eingebettetem, körpereigenem Antigenpeptid erkennen (negative Selektion). Positive Selektion: Vorläuferzellen der Prä-T-Lymphoblasten wandern aus dem Knochenmark in die Thymusrinde ein, wo sie eine riesige Anzahl von individuumsspezifischen MHC-Proteinen antreffen (3, 10). Da diese MHC-Präsentiermoleküle entsprechend große Unterschiede in der Aminosäuresequenz aufweisen (Polymorphismus), kann das Repertoire an T-Zellrezeptoren nicht

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9.5 Blutstillung und Wundheilung fix vorherbestimmt sein. Sie werden vielmehr nach Zufallsprinzipien umgeordnet und übrig bleiben nur diejenigen T-Zellen, deren Rezeptoren die körpereigenen MHC-Moleküle eindeutig erkennen. Selektioniert wird also nach folgenden molekularen Erkennungsprozessen: T-Zell-Rezeptoren erkennen positiv körpereigene MHCMoleküle ohne Antigenpeptid als „Eigen“. Alle anderen TZellen, die Rezeptoren tragen, welche die eigenen MHCMoleküle nicht deutlich identifizieren können, gehen nach wenigen Tagen durch Apoptose zugrunde (s. S. 50). Die noch übrig bleibenden T-Zellen sind nun in der Lage, körpereigene MHC-Moleküle, die ein Fremdpeptid in ihrer Tasche tragen, als „entfremdet“ zu erkennen und die notwendigen Abwehrmaßnahmen einzuleiten. Negative Selektion: Während der T-Zellreifung kann es auch vorkommen, dass T-Zellen auf APCs (s. S. 244) treffen, welche zufällig ein körpereigenes Molekül aufgenommen haben und die dann entstehenden „Selbstpeptide“ zusammen mit körpereigenen MHC-Proteinen präsentieren. All diejenigen T-Zellen, deren Rezeptoren die Kombination von MHC-Protein plus zufällig entstandenem „Selbstpeptid“ erkennen, werden dann durch apoptotische Todessignale aus dem Verkehr gezogen (10). In diesem Fall wird also gegen die Kombination von körpereigenem MHC plus Selbstpeptid ausgesucht, es wird negativ selektioniert. Versagen diese ausgefeilten Unterscheidungsmechanismen zwischen körpereigenen und körperfremden Molekülstrukturen, so kann es zu Autoimmunerkrankungen kommen. Bei solchen Krankheiten werden körpereigene Moleküle vom Immunsystem fälschlicherweise als fremd erkannt und bekämpft. Zu den häufigen Autoimmunkrankheiten gehört z. B. der jugendliche Typ-I-Diabetes mellitus, bei dem die Insulin produzierenden B-Zellen des Pankreas durch CD8+-TZellen zerstört werden. Interessanterweise korreliert die Prädisposition (Anfälligkeit) für Typ-I-Diabetes mit bestimmten Aminosäuresequenzen im peptidbindenden Spalt eines MHC-I-Proteins, welches dadurch immunologisch etwas „fremder“ zu werden scheint (3).

Immunsuppression und Immundefizienz Unter bestimmten Bedingungen ist es wünschenswert, die Aktivität der T-Zellen zu unterdrücken. Eine solche therapeutische Immunsuppression ist notwendig, wenn das Immunsystem gegen Antigene auf transplantierten Organen oder gegen körpereigene Antigene (z. B. bei Autoimmunkrankheiten) reagiert. Als Immunsuppressiva werden Glucocorticoide, Antimetabolite und das sehr viel spezifischer wirkende Cyclosporin A eingesetzt. Cyclosporin A hemmt die Freisetzung von Interleukin 1 aus Makrophagen und von Interleukin 2 und Interleukin 4 aus T-Helferzellen, Zytokine die für die Aktivierung von T- und B-Zellen sehr wichtig sind. Ein drastisches Beispiel für eine erworbene Immunschwäche ist AIDS (Acquired Immunodeficiency Syndrome). Die häufigste Todesursache von AIDS-Patienten ist eine durch Protozoen (Pneumocystis carinii) verursachte Lungenentzündung und eine relativ

seltene Form von Hautkrebs, dem Kaposi-Sarkom. AIDS kann durch verschiedene Retroviren verursacht werden, die die Bezeichnung HIV (Human Immunodeficiency Virus) erhalten haben. Die für AIDS charakteristische Immunschwäche beruht darauf, dass durch den Befall mit HIV bevorzugt T-Helferzellen (CD4+Zellen) dezimiert werden, wodurch sowohl die zellvermittelte als auch die antikörpervermittelte Immunantwort gestört ist. Beeinträchtigt in ihrer Funktion sind aber auch andere Abwehrzellen wie Monozyten und natürliche Killerzellen. Diese schwere Krankheit veranschaulicht in tragischer Weise die Bedeutung des Immunsystems für die Erhaltung der Integrität des Organismus.

9.5

Blutstillung und Wundheilung

Verletzungen im Blutgefäßsystem müssen rasch und zuverlässig abgedichtet werden, um Blutverluste so gering wie möglich zu halten. Die Hämostase (Blutstillung) umfasst Wechselwirkungen zwischen dem Gefäßendothel und Thrombozyten sowie Gerinnungsfaktoren, die aus dem Blutplasma und aus verletztem Gewebe stammen. Die Thrombozyten sind diejenigen Blutzellen, die bei Gefäßverletzung innerhalb kürzester Zeit aggregieren und einen ersten Wundverschluss herbeiführen. Die Aktivierung des plasmatischen Gerinnungssystems führt dann zu einer Konsolidierung des Verschlusses durch das bei der Gerinnung entstehende Fibrin. Aufgelöst werden Fibringerinnsel durch das fibrinolytische System (Plasmin) des Plasmas. Die Reparatur des verletzten Gewebes, die Wundheilung, wird durch lokal freigesetzte Wachstumsfaktoren in Gang gesetzt, die von Thrombozyten, Makrophagen und Endothelzellen abgegeben werden. Die Thrombozyten (TZ), welche aus den Megakaryozyten entstehen, sind entscheidend an der primären Blutstillung beteiligt. Sie werden durch Endothelverletzungen aktiviert und binden an darunter liegendes Gewebe, wobei sie ihre Form verändern, aneinander haften und Klebstoffe, Wachstumsfaktoren sowie einige Gerinnungsfaktoren sezernieren. Aktivierte TZ locken weitere TZ an und aktivieren auch diese, so dass ein vorläufiger (weißer) Thrombus entsteht. Die TZ sezernieren auch Stoffe, die vasokonstriktorisch wirken und Entzündungsvorgänge einleiten.

Thrombozytenfunktion Thrombozyten entstehen durch Abschnürungen aus den Megakaryozyten des Knochenmarks, wobei jede dieser größten aller Knochenmarkszellen etwa 500 Thrombozyten (Blutplättchen) hervorbringt. Die normale Thrombozytenzahl beträgt 170 000 – 400 000/µl Blut; bei einem Abfall unter 50 000/µl (Thrombozytopenie) ist mit Störungen der initialen Phase der Blutstillung zu rechnen.

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9 Blut: Ein flüssiges Organsystem

Normalerweise haften Thrombozyten nicht an Endothelzellen Die Tatsache, dass Thrombozyten durch unverletztes Endothel nicht aktiviert werden, ist auf die besonderen Eigenschaften der Glykokalix der Endothelzellmembran zurückzuführen, für die die Thrombozyten keinen Rezeptor besitzen. Hinzu kommt, dass Endothelzellen Faktoren in das Gefäßlumen hinein abgeben, die einer Aktivierung der Thrombozyten entgegenwirken. Eine direkte Hemmwirkung auf die Thrombozytenaktivierung haben Prostacyclin (= Prostaglandin I2), ein Eicosanoid, das von Endothelzellen gebildet und freigesetzt wird, sowie das Stickstoffmonoxid, NO (s. S. 204 f.). Ein drittes Endothelzellprodukt, das indirekt die Aggregation der Thrombozyten hemmt, ist Heparin. Heparin hemmt die Bildung und Aktivität von Thrombin (via Antithrombin, S. 251) und damit die Thrombin-induzierte Thrombozytenaktivierung (8).

Tabelle 9.5 Inhaltsstoffe der Thrombozytengranula und -lysosomen α-Granula

Elektronendichte Granula

Fibrinogen (Gerinnungsfaktor I) Gerinnungsfaktoren V + VIII

ATP, ADP, Serotonin Ca2+

Plättchenfaktor 4 (PF 4)

Lysosomen

von Willebrand-Faktor (vWF)

Heparatinase

Thrombospondin

saure Hydrolasen

Fibronektin Transforming Growth Factor β (TGF β) basic Fibroblast Growth Factor (bFGF) Platelet Derived Growth Factor (PDGF) Vascular Endothelial Growth Factor (VEGF)

Thrombozyten werden klebrig, wenn sie mit Kollagenfasern in Berührung kommen Bei einer Gefäßverletzung werden subendotheliale Kollagenfasern freigelegt, an denen sich die Thrombozyten sofort anheften. Die Anheftung (Adhäsion, Abb. 9.15 B) erfolgt mit Hilfe eines von Endothelzellen (und Megakaryozyten; s. Tab. 9.5) gebildeten Proteins, dem vonWillebrand-Faktor (vWF), der zusammen mit Fibronektin und Laminin eine molekulare Brücke zwischen den Kollagenfasern und einem spezifischen Rezeptorkomplex (GP Ib/IX) auf der Thrombozytenmembran bildet. Ist dieser Glykoproteinkomplex (GP) defekt, so ist die normale Anheftung der Thrombozyten an das Kollagen nicht mehr möglich. Dies ist bei einer seltenen Blutstillungsstörung der Fall, dem Bernard-Soulier-Syndrom. Die betroffenen Patienten weisen eine Thrombozytopenie auf und leiden an schweren Blutungen im Bereich der Haut- und Schleimhäute.

Unmittelbar nach der Anlagerung der Thrombozyten kommt es zu deren Aktivierung (Abb. 9.15 C). Dieser Aktivierungsprozess besteht im Wesentlichen aus drei Ereignissen: Sekretion verschiedener Stoffe, Formveränderung und Aggregation der Blutplättchen. Der erste Schritt ist die Sekretion von Agonisten (ADP, Thromboxan A2, Serotonin), wodurch weitere Thrombozyten aktiviert werden. Diese aktivierten Thrombozyten werden klebrig und bilden ein Aggregat, den Thrombozytenpfropf (weißer Thrombus). Das morphologische Äquivalent der Plättchenaktivierung ist die dramatische Formänderung (Abb. 9.14).

0,5 µm

Abb. 9.14 Ruhender und aktivierter Thrombozyt. Die ruhenden Thrombozyten (links) haben eine typische Linsenform mit glatter Oberfläche und einzelnen kraterförmigen Öffnungen des internen Kanalsystems. Nach Stimulierung

0,5 µm

z. B. mit Kollagen bildet der aktivierte Thrombozyt (rechts) lange Pseudopodien, mit deren Hilfe sich die aktivierten Thrombozyten untereinander verzahnen (rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen: Prof. P. Groscurth, Zürich).

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9.5 Blutstillung und Wundheilung

A Ruhephase D Thrombusbildung

Verletzung Thrombozytenpfropf Thrombospondin Bindung an Fibrinogen

B Anlagerungsreaktion Kollagenfreilegung von Willebrand-Faktor (vWF) (aus Endothel) Fibronektin (aus Endothel)

vWF

(aus Thrombozyten)

Exposition von GP IIb/IIIa

Adhäsion via GP Ib aktivierte Thrombozyten

Aktivierung

Aggregation

Formänderung

Sekretion Vasokonstriktion

Thrombin Rezeptor 2+

Ca PLA2

C Thrombozytenaktivierung

TXA2 PAF

Abb. 9.15 Aktivierung von Thrombozyten. Morphologische Veränderungen: A Ruhephase der Thrombozyten/unverletzte Kapillare; B Anlagerungsreaktion der Thrombozyten an Kollagen nach Gefäßverletzung (Adhäsion an Kollagen vermittels thrombozytärem Glykoprotein GP Ib und endothelialem vWF); C Thrombozytenaktivierung: Nach Anlagerung an verletztes Endothel erfolgt die Aktivierung von Phospholi-

Aktivierte Thrombozyten sind stachelig und setzen Signalmoleküle frei Aus den glatten, scheibenförmigen Thrombozyten werden bei der Aktivierung kugelige Gebilde mit langen Fortsätzen (Pseudopodien), die es den aggregierten Thrombozyten ermöglichen, in einen verzahnten Kontakt zu treten. Ausgelöst wird die Pseudopodienbildung durch einen Ca2+-induzierten Übergang von globulärem Aktin in langgestrecktes, fibrilläres Aktin. Die Formänderung wird begleitet von der Sekretion des Inhalts der elektronendichten Granula und der α-Granula (Tab. 9.5). Die αGranula enthalten Gerinnungsfaktoren (Fibrinogen, Faktor V, Faktor VIII), „Klebstoffe“ (vWF, Fibronektin, Throm-

PLC

Aggregationsförderung Wachstumsfaktoren

IP3

fibrilläres Aktin Vasokonstriktion Phagozyten

pase C (PLC), die Freisetzung von Inositoltrisphosphat (IP3) mit nachfolgender Ca2+-vermittelter Umwandlung von globulärem in fibrilläres Aktin; D Thrombusbildung: Nach Exposition von Glykoprotein IIb/IIIa aus aktivierten Thrombozyten erfolgt die Bildung eines Thrombozytenaggregates (weißer Thrombus) mit Hilfe von Fibrinogen. (Farbbilder: Copyright by Boehringer Ingelheim International GmbH.)

bospondin) und Wachstumsfaktoren (GF = Growth Factor: TGF-β [Transforming GF], PDGF [Platelet-derived GF], VEGF [Vascular Endothelial GF], bFGF [basic Fibroblast GF]). Außerdem bilden alarmierte Thrombozyten durch die Aktivierung spezieller Stoffwechselwege noch weitere Substanzen. Die beiden wichtigsten sind das Thromboxan A2, ein Gewebehormon, das zur Gruppe der Eicosanoide gehört, und der Platelet Activating Factor (PAF), ein biologisch hochaktives Phosphoglycerin. Thromboxan A2 ist stark vasokonstriktorisch und bewirkt synergistisch mit Serotonin eine Verengung der verletzten Gefäße. Außerdem verstärkt Thromboxan A2 zusammen mit PAF und ADP die durch Kollagen und Thrombin induzierte Throm-

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9 Blut: Ein flüssiges Organsystem bozytenaktivierung. PAF ist ein interessantes Beispiel für die funktionelle Kopplung zwischen dem thrombozytären Anteil des Gerinnungssystems und den phagozytierenden Abwehrzellen, die im vorherigen Abschnitt besprochen wurden. PAF aktiviert nämlich nicht nur Thrombozyten, sondern wirkt auch chemotaktisch und aktivierend auf Phagozyten, d. h. auf Makrophagen und Granulozyten. Umgekehrt wird PAF nicht nur von Thrombozyten, sondern auch von Makrophagen freigesetzt und kann deshalb als Entzündungsmediator angesehen werden, der gleichzeitig eine Thrombozytenaggregation verursacht. Durch die Freisetzung von PAF aus verschiedenen Zellen, die entweder für die Blutstillung oder die Infektabwehr zuständig sind, können sich die beteiligten Zelltypen also über unmittelbar bevorstehende Aufgaben gegenseitig „in Kenntnis setzen“.

Wie entsteht ein Thrombozytenpfropf? Wesentliche Kennzeichen der Aggregation sind (a) die Umorganisation der Thrombozytenmembran und (b) die Kontraktion der Aktin-Myosinkomponenten des thrombozytären Zytoskeletts. Die Aktivierung der Thrombozyten führt zur Bereitstellung eines Rezeptorkomplexes, des Glykoprotein (GP) IIb/IIIa auf der Thrombozytenmembran. Plasmafibrinogen sowie die aus den aktivierten Thrombozyten freigesetzten „Klebstoffe“ Fibrinogen und Thrombospondin (Tab. 9.5, S. 246) binden an GP IIb/IIIa und führen so zu einem Thrombozytenaggregat (Abb. 9.15 D). Bei einer seltenen hereditären Erkrankung, der Thrombasthenie Glanzmann, fehlt das Glykoprotein IIb/IIIa. Die Thrombozyten dieser Patienten können deshalb nicht richtig aggregieren: es kommt zu lang anhaltenden Blutungen nach Banalverletzungen im Bereich der Haut und der Schleimhäute. Bevor Thrombozyten miteinander verkleben können, müssen sie erst in genügender Anzahl zur verletzten Stelle herbeigelockt werden. Wie geschieht das? Diejenigen Thrombozyten, welche durch die Anheftung an subendotheliales Kollagen aktiviert wurden, setzen Stoffe frei, durch welche Thrombozyten, die noch im Blut schwimmen, „zu Hilfe gerufen“ werden. Die Gesamtheit der aktivierten Thrombozyten lagert sich zusammen und bildet innerhalb von kurzer Zeit (< 1 min) den weißen Thrombus. Mit der Aggregation und Kontraktion ist die primäre Hämostase, d. h. die Bildung eines weißen Thrombozytenthrombus, abgeschlossen. Unter normalen Bedingungen dauert dieser Vorgang 2 – 4 Minuten (Blutungszeit). Eine Verlängerung der Blutungszeit findet man bei Funktionsuntüchtigkeit der Thrombozyten (Thrombozytopathie), einer pathologischen Verminderung ihrer Zahl (Thrombozytopenie; < 50 000/µl Blut) oder bei einem vWF-Mangel (v. Willebrand-Jürgens-Syndrom). Unter bestimmten Bedingungen kann es angezeigt sein, die Aggregationsfähigkeit der Thrombozyten therapeutisch zu vermindern, z. B. zur Prävention (Verhütung) von Gefäßverschlüssen. Dies geschieht z. B.

endogene Aktivierung

exogene Aktivierung=„Startreaktion“ VIIa (im Blut)

VII

TF (im Gewebe)

durch aktivierende Fremdoberflächen

2+

XIIa

VIIa–TF–Ca – P- Lip

XIa IX

VIII

IXa

X

XII

XI

Xa

2+

VIIIa – IXa – Ca – P- Lip geringe Thrombin-(und Fibrin-)Bildung 2+

Va – Xa – Ca – P-Lip IIa Thrombin enzymatisch aktiviert inaktive ruhende Profaktoren

II Prothrombin Aktivierung

enzymatisch aktive aktivierte Faktoren

bei der Aktivierung mitwirkende Komplexe

Abb. 9.16 Auslösung der Blutgerinnung. Bei der exogenen (extravaskulären) Aktivierung nach Gefäßverletzungen bindet der im Gewebe vorkommende Tissue Factor (TF, ein integrales Membranprotein) an den im Blut bereits vorliegenden F. VIIa und bildet zusammen mit Ca2+ und Phospholipiden (P-Lip) den F. VIIa-TF-Komplex, der F. VII, F. IX und F. X und aktiviert. Bei dieser „Startreaktion“ werden zunächst nur geringfügige Mengen an Thrombin (und Fibrin) gebildet, eine wirksame Gerinnung kommt erst durch positive Rückkoppelungsschleifen zustande (s. Abb. 9.17). Die endogene (intravaskuläre) Aktivierung wird eingeleitet durch die Aktivierung von F. XII (Hageman-Faktor) an negativ geladenen Oberflächen. Dabei sind noch andere Proteine wie hochmolekulares Kininogen, Präkallikrein und Kallikrein beteiligt. In der Folge wird F. XI aktiviert und durch diesen dann F. IX. Das endogene System spielt jedoch normalerweise keine wesentliche Rolle für die Auslösung der Blutgerinnung, es sei denn, dass das Blut mit körperfremden Oberflächen in Berührung kommt (Laboratoriumsmedizin, künstliche Herzklappen etc.).

durch medikamentöse Hemmung des für die Thromboxan-A2-Bildung verantwortlichen Enzyms CycloOxigenase 2 (COX-2) in den Thrombozyten. Acetylsalicylsäure (Aspirin) und spezifische COX-2-Hemmer sind solche Medikamente. Im klinischen Einsatz sind auch Hemmstoffe von GP IIb/IIIa, die zu einer kurzfristigen und hocheffektiven Hemmung der Thrombozytenaggregation führen.

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9.5 Blutstillung und Wundheilung

Die Gerinnung des Blutes führt zu einem stabilen Wundverschluss

Blutgerinnung und Fibrinolyse VIIa (im Blut)

VII

TF (im Gewebe)

2+

VIIa– TF – Ca – P- Lip TFPI XI

XIa IX

IXa

X

Xa

2+

VIIIa – IXa – Ca – P- Lip

VIII

starke Thrombin- und Fibrinbildung 2+

V

Va – Xa – Ca – P-Lip IIa Thrombin

II Prothrombin XIIIa

XIII Fibrinogen

Fibrinmonomer

vernetztes Fibrin Fibrinolyse

Plasminogen Streptokinase enzymatisch aktiviert inaktive ruhende Profaktoren

Plasmin Kallikrein, Urokinase, t-Pa Aktivierung enzymatisch aktive aktivierte Faktoren

Fibrinopeptide

Hemmung bei der Aktivierung mitwirkende Komplexe

Abb. 9.17 Blutgerinnung und Fibrinolyse. Kurze Zeit nach Auslösung der Blutgerinnung über den exogenen Weg (Abb. 9.16) hemmt der TFPI (Tissue factor pathway inhibitor) die weitere, durch den F. VIIa-TF-Komplex vermittelte Bildung von F. IXa und F. Xa. Somit hängt die weitere Blutgerinnung davon ab, ob es bis dahin zu einer ausreichenden Bildung von Thrombin gekommen ist, das nun die Fibrinbildung unterhält, indem es F. V, VIII und XI aktiviert. Der F. VIIIa bildet mit F. IXa einen Aktivatorkomplex, der jetzt große Mengen von F. Xa erzeugt. Dieser und der F. Va bilden nun vermehrt den Prothrombinaktivatorkomplex, der für die Bildung großer Mengen an Thrombin sorgt. Somit entstehen durch die Thrombin-vermittelte Aktivierung von F. V und VIII positive Rückkopplungsschleifen, die die Gerinnung erst so richtig in Gang setzen. In diesem Sinne wirkt auch die Aktivierung von F. XI durch Thrombin. Auf die Fibrinbildung wirkt Thrombin, indem es Fibrinogen und F. XIII aktiviert. Im unteren Teil der Abbildung sind Faktoren eingezeichnet, die bei der Fibrinolyse das Plasminogen zu Plasmin aktivieren. Plasmin ist eine Protease, die vernetztes Fibrin, das Endprodukt der Gerinnung, wieder auflösen kann. Die Streptokinase ist ein bakterieller Aktivator des Plasminogens, der therapeutisch zur Thrombolyse eingesetzt wird.

Der nach Gefäßverletzung initial gebildete Thrombozytenthrombus ist kein sehr stabiles Gebilde und somit in Gefahr, weggeschwemmt zu werden. Der Gefahr einer erneuten Blutung wird vorgebeugt durch die Bildung eines Maschenwerkes aus Fibrinfäden, in das auch Erythrozyten eingelagert sind (roter Thrombus). Diese sekundäre Hämostase ist vor allem gekennzeichnet durch die Bildung von mechanisch stabilem Fibrin. Die Bildung des roten Thrombus verläuft in drei Phasen: Der Aktivierungsphase, in der aus Prothrombin das Thrombin entsteht, der Koagulationsphase, in der durch Abspaltung von Fibrinopeptiden aus Fibrinogen lösliche Fibrinmonomere entstehen, welche zu unlöslichem Fibrin polymerisieren. In der Retraktionsphase kommt es zu einer Volumenverminderung und Verfestigung des Blutgerinnsels. Die Retraktion wird ausgelöst durch die Kontraktion der Thrombozyten, unter deren Zug am Fibrinfadennetz sich der Thrombus auf einen Bruchteil seines ursprünglichen Volumens zusammenzieht. Die bei der Gerinnungskaskade beteiligten Faktoren (F.) werden übereinkunftsgemäß mit römischen Zahlen bezeichnet, wobei der aktivierte Zustand der betreffenden Komponente durch ein indexiertes „a“ gekennzeichnet ist. Früher wurden oft Eigennamen gebraucht, die zusammen mit der Zahlen-Nomenklatur in Tab. 9.6 aufgeführt sind. Wie beim Komplementsystem handelt es sich auch beim Gerinnungssystem um eine Kaskade von Enzymaktivierungen, in dessen Zentrum der F. X steht. In der aktivierten Form (F. Xa) bildet er zusammen mit F. Va, Phospholipiden und Ca2+ den Enzymkomplex Prothrombinase, der das inaktive Prothrombin in aktives Thrombin überführt (Abb. 9.16). Das Ca2+ hat hierbei die wichtige Aufgabe, den Prothrombinasekomplex an negativ geladene Phospholipide auf Zellmembranen zu fixieren, wodurch die Aktivität um ein Vielfaches gesteigert wird.

Aktivierungsphase Die Aktivierung des F. X (s. Abb. 9.16) kann durch ein exogenes System und ein endogenes System von Faktoren geschehen. Der F. Xa bildet also die gemeinsame Endstrecke beider Aktivierungsschritte. Der exogene Mechanismus wird durch Gewebethromboplastin (Tissue Factor, TF) aus verletztem Gewebe in Gang gesetzt. Der TF ist ein membranständiges Protein, das im extravasalen Raum insbesondere in der Adventitia der Blutgefäße vorkommt. Von Endothelzellen und Monozyten wird TF nur nach Aktivierung gebildet. Normalerweise hat das Blut also keinen Kontakt zu TF. Durch Verletzung eines Blutgefäßes und dem Austritt von Blut in den extravasalen Raum treten TF und der bereits im Blut vorliegende aktivierte F. VIIa in Kontakt und bilden zusammen mit Ca2+ und Phospholipiden einen Komplex, der F. X aktiviert. Der endogene Mechanismus wird dadurch gestartet, dass Faktor XII mit negativ geladenen Oberflächen und in Gegenwart von hochmolekularem Kininogen und Kallikrein in Berührung kommt. In der Folge werden die Faktoren XI und IX aktiviert. F. IXa bildet zusammen mit

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9 Blut: Ein flüssiges Organsystem Phospholipiden, Ca2+ und F. VIIIa einen Komplex, der F. X zu F. Xa aktiviert, wodurch dann schließlich Prothrombin zu Thrombin aktiviert wird (s. Abb. 9.17). Da Patienten mit einem genetischen Mangel an F. XII keine erhöhte Blutungsneigung zeigen, nimmt man inzwischen an, dass der endogene Mechanismus praktisch keine Bedeutung bei der Aktivierung der Gerinnungskaskade unter physiologischen Bedingungen hat. Demnach kommt dem exogenen Mechanismus die entscheidende Rolle bei der Initiierung der Gerinnungskaskade zu (8,15). Hierbei geht man davon aus, dass die Aktivierung von F. X und F. IX (!) durch den TF-F. VIIa-Komplex vermittelt wird (Abb. 9.17). Dieser Weg wird nach kurzer Zeit durch den Tissue Factor Pathway Inhibitor (TFPI) blockiert (7). Die Bildung von Thrombin (s. u.) hängt in der ersten Phase also entscheidend von F. X und IX ab. Das Thrombin wandelt allerdings nicht nur Fibrinogen in Fibrinmonomere um (s. u.), sondern es aktiviert u. a. auch F. V, F. VIII, F. XI und F. XIII. Durch die Aktivierung von F. V und F. VIII und XI entstehen positive Rückkopplungsschleifen, die die Gerinnungsaktivität entscheidend verstärken. Zusammen mit VIIIa bildet F. IXa einen Aktivatorkomplex, der nun substanziell zur Aktivierung von Faktor X beiträgt. Dieses Modell erklärt, warum die Gerinnung u. a. maßgeblich von F. VIII und F. IX (s. u.), nicht jedoch von F. XII abhängt.

Die Serinprotease Thrombin reguliert zudem die Thrombozytenaktivierung (s. o.) und wirkt über Protease-aktivierte Rezeptoren auch als effizientes Mitogen von Endothelzellen und glatten Muskelzellen sowie als potenter Aktivator von Lymphozyten. Auch bei diesen „Zusatzfunktionen“ des Thrombins zeigt sich, dass ein biologisches Prinzip, in diesem Fall die Proteasefunktion, zur Erfüllung anderer biologischer Aufgaben gebraucht wird, wie dies auch bei den vielfältigen Funktionen des PAF besprochen wurde.

Tabelle 9.6

Wie wichtig der Komplex aus Faktor VIIIa und IXa für die Blutgerinnung ist, kann aus den Symptomen abgeleitet werden, die beim Fehlen einer dieser beiden Faktoren auftreten. Bei der klassischen Hämophilie A, fehlt der Faktor VIII, bei der Hämophilie B der Faktor IX. Die Symptome sind bei beiden Formen der Hämophilie gleich, die Hämophilie A ist jedoch 5-mal häufiger als die Hämophilie B. Die Patienten leiden an ausgedehnten Blutergüssen (Hämatomen) vor allem im Bereich der Extremitäten und des Kopfes, an lang andauernden Blutungen nach Verletzungen, aber auch an Blutungen in die Gelenke (Hämarthrosen), besonders des Ellbogen- und Kniegelenkes, die im Lauf der Zeit zu Gelenkversteifungen führen. Eine Langzeitbehandlung der Hämophilie ist entweder mit aus Plasma gewonnenem oder mit rekombinantem Faktor VIII bzw. Faktor IX möglich (8).

Koagulationsphase Die Aktivierungsphase ist mit der Bildung von enzymatisch aktivem Thrombin beendet. In der nachfolgenden Koagulationsphase spaltet Thrombin aus Fibrinogen niedermolekulare Peptide (Fibrinopeptide) ab. Hierdurch werden Fibrinmonomere gebildet, die sich über nichtkovalente Bindungen (z. B. Wasserstoffbrücken) zu einem Fibrinpolymer zusammenlagern (koagulieren). Das so entstandene Gerinnsel ist jedoch noch recht instabil. Erst durch die Wirkung des Faktors XIII, der durch Thrombin aktiviert wird, kommt es zur Bildung von kovalenten Bindungen zwischen den Fibrinmonomeren, die den Thrombus stabilisieren.

Gerinnungsfaktoren

Faktor Nr.

Name

Halbwertszeit (h)

Synthese Vitamin-Kabhängig

I

Fibrinogen

96



II

Prothrombin

72

+

III

Gewebethromboplastin





IV

Ionisiertes Ca2+





V

Akzeleratorglobulin

20



VII

Proconvertin

VIII

Antihämophiles Globulin A

5 12



IX

Antihämophiles Globulin B (Christmas-Faktor)

24

+

X

Stuart-Prower-Faktor

30

+

XI

Plasma-ThromboplastinAntecedent (PTA)

48



XII

Hageman-Faktor

50



XIII

Fibrinstabilisierender Faktor (FSF)

250





Präkallikrein (PKK; Fletcher-Faktor)







Hochmolekulares Kininogen (HMK; Fitzgerald-Faktor)





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9.5 Blutstillung und Wundheilung

Retraktionsphase Die Fibrinfäden legen sich über den Thrombozytenthrombus und verbinden sich über den Membranrezeptor Glykoprotein IIb/IIIa mit den Thrombozyten. Bei der Adhäsion des Fibrins an die Thrombozyten und das umgebende Gewebe wirkt auch noch das „Verankerungsprotein“ Fibronektin (Tab. 9.5, S. 246) mit. Das bei der sekundären Hämostase entstehende Thrombin fördert nicht nur die Aggregation der Thrombozyten, sondern auch die Aktivierung ihres kontraktilen Aktin-MyosinSystems. Unter dem Zug der sich kontrahierenden Thrombozyten am Fibrinfadennetz zieht sich der Thrombus bis auf einen kleinen Bruchteil seines ursprünglichen Volumens zusammen (Retraktion). Hierdurch kommt es zu einer weiteren Verfestigung des Thrombus und zu einem mechanischen Wundverschluss von innen her.

Hemmstoffe der Blutgerinnung in vivo und in vitro Blutplasma enthält normalerweise verschiedene Proteaseinhibitoren, welche die Fibrinbildung verzögern. Auf einer frühen Stufe der Gerinnungskaskade hemmt der C1-Hemmer die Faktoren XIa, XIIa und Kallikrein. Dieser C1-Inhibitor hemmt, wie der Name besagt, auch die erste Komponente (C1) des klassischen Weges des Komplement-Systems (S. 234). Antithrombin III (Tab. 9.1, S. 224) ist der wichtigste Hemmer verschiedener Gerinnungsproteasen sowohl in der Aktivierungsphase (F. IXa) als auch in der Koagulationsphase (F. Xa und Thrombin). Diese inhibitorische Wirkung von Antithrombin III kann durch einen Antithrombin-Kofaktor, das Heparin, massiv verstärkt werden. Heparin wird endogen z. B. von Endothelzellen und Mastzellen gebildet und hat damit eine wichtige „Bremsfunktion“ bei der lokalen Steuerung der Gerinnung. Ein zusätzlicher Thromboseschutz wird durch das Thrombomodulin des Endothels erzielt: Nach Bindung von Thrombin aktiviert es Protein C, das nach Anlagerung an das Protein S die Faktoren Va und VIIIa inaktiviert. Diese negative Kontrollschleife der Thrombinbildung „überwacht“ also zusammen mit Antithrombin III die positiven Kontrollschleifen, d. h. die Thrombin-induzierte Aktivierung von F. V, F. VIII und F. XI (Abb. 9.17). Weitere Gegenspieler von Thrombin sind α2-Makroglobulin und das α1-Antitrypsin (Tab. 9.2, S. 225), welches die Proteasefunktion von Thrombin hemmt. Das zu therapeutischen Zwecken als Antikoagulans (Gerinnungshemmer) verwendete Heparin stammt aus tierischen Geweben. Es muss intravenös verabreicht werden und wirkt sofort, nachdem es in die Blutbahn kommt. Cumarine wirken in vivo gerinnungshemmend, indem sie in der Leber die Bildung intakter Vitamin-K-abhängiger Gerinnungsfaktoren (II, VII, IX, X) verhindern. Die volle Wirkung von CumarinDerivaten setzt erst mit einer gewissen Verzögerung ein, die durch die Halbwertszeit der Vitamin-K-abhängigen Faktoren gegeben ist (Tab. 9.6, S. 250). Im Gegensatz dazu wirkt Heparin sofort und ist auch in vitro gerinnungshemmend. Für die Gerinnungshemmung in

vitro werden außer Heparin v.a. Komplexbildner für Ca2+ (Citrat, Oxalat, EDTA) verwendet, die die Konzentration freier Ca2+-Ionen vermindern.

Gerinnungsteste Bei einer Therapie mit Gerinnungshemmern, wie sie z. B. nach einer Lungenembolie angezeigt ist, müssen sorgfältige Prüfungen der Gerinnungsfunktion des Blutes durchgeführt werden. Bei den praktisch gebräuchlichsten Verfahren wird in einer Plasmaprobe unter standardisierten Bedingungen die Zeit gemessen, die zur Bildung eines Fibringerinnsels benötigt wird und mit der Gerinnungszeit gesunder Kontrollen verglichen. Beim Quick-Test (Thromboplastinzeit) wird Plasma mit Ca2+-Komplexbildnern vorübergehend ungerinnbar gemacht. Anschließend wird Ca2+ und Gewebsthromboplastin im Überschuss zugegeben und die resultierende Gerinnungszeit mit Verdünnungsreihen von normalen Plasmen verglichen. Ein Quick-Wert von 50 % heißt, dass das Probandenplasma die gleiche Zeit zur Gerinnung braucht wie ein 1 : 1 verdünntes Normalplasma. Die Thromboplastinzeit ist verlängert (Quick-Wert erniedrigt) nach Gabe von Vitamin-K-Antagonisten, z. B. Cumarinderivaten (Antikoagulanzientherapie), bei Störungen von F. VII (exogenes System) oder der Kaskade ab F. X. Wegen der fehlenden Vergleichbarkeiten von Quick-Werten aus verschiedenen Laboratorien hat die WHO vorgeschlagen, den Quick-Wert durch die International Normalized Ratio (INR) zu ersetzen, bei dem auf Standardreagenzien Bezug genommen wird (18). Dabei wird jedem auf dem Markt befindlichen Quick-Reagenz eine Sensitivitätszahl (ISI = international sensitivity index) zugeordnet, die die relative Empfindlichkeit des Reagenz im Vergleich zu einem von der WHO deklarierten Standard-Reagenz angibt: INR =



Patientengerinnungszeit Normalperson - Gerinnungszeit

ISI

Ein INR-Wert von 1,0 ist normal (entspricht einem QuickWert von 100%). Bei einem INR von 2,0 (entspricht einem Quick-Wert von etwa 30%) ist die ISI-standardisierte Gerinnungszeit verdoppelt. Zur Antikoagulanzientherapie werden, je nach Indikation, INR-Werte zwischen 2,0 und 3,5 eingestellt. Bei zu niedrigen Werten wird das Therapieziel, also die Verminderung der Thrombosegefahr, verfehlt, bei zu hohen steigt das Blutungsrisiko. Die aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT) erfasst Störungen entweder in der endogenen Aktivierung oder wieder in der gemeinsamen Endstrecke ab F. X. Zur Messung der Thrombinzeit (TZ) wird dem Citratplasma Thrombin zugegeben und die Gerinnungszeit gemessen; hiermit kann ein Fibrinogenmangel aufgedeckt oder eine Therapie mit Heparin überwacht werden. Die üblichen Gerinnungstests und ihre Interpretation sind in Abb. 9.18 zusammengestellt.

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251

9 Blut: Ein flüssiges Organsystem A Gerinnungstests

B Interpretation

exogenes System: Faktor VII Quick-Wert (oder INR)

endogenes System: Faktor VIII, IX, XI, XII sowie HMK und Präkallikrein

Blutungszeit

PTT

normal

normal

normal

normal

vaskuläre Ursache, Faktor-XIII-Mangel

normal

normal

normal

Faktor-VII-Mangel

normal

normal

normal

TZ-Zahl

normal

normal

normal

(gilt für mittelschwere bis schwere Störungen)

Heparingabe, Faktormangel VIII, IX, XI, XII, HMK, Präkallikrein Thrombozytopenie

normal

normal

Cumaringabe, Vitamin-K-Mangel, Faktormangel I, II, V, X v. Willebrand-Jürgens-Syndrom

partielle Thromboplastinzeit (PTT)

Abb. 9.18

wahrscheinliche Ursachen einer Blutungsneigung

QuickWert

normal verlängert

gemeinsame Endstrecke beider Systeme: Faktor II, V, X sowie Thrombinzeit (PTZ) Fibrinogen

erniedrigt

252

Leberschaden, Verbrauchskoagulopathie, Sepsis

Gerinnungstests zur Erfassung hämorrhagischer Diathesen (nach 4).

Einmal gebildetes Fibrin kann auch wieder aufgelöst werden: das Plasminsystem Dem Prozess der Blutgerinnung steht ein ähnlich komplexer Vorgang gegenüber, der zur Fibrinolyse, also zur Auflösung von gebildetem Fibrin führt. Auch im intakten Organismus entstehen ständig kleine Mengen an Fibrin, die jedoch durch die ebenfalls kontinuierlich ablaufende Fibrinolyse wieder entfernt werden. Nur wenn das Gerinnungssystem bei Verletzungen zusätzlich aktiviert wird, kommt es am Ort der Verletzung zu einem Überwiegen der Fibrinbildung und damit zum Gerinnen des Blutes. Der fibrinolytisch wirksame Faktor Plasmin ist eine Serinprotease, welche die Faktoren V und VIII, Fibrinogen und Fibrin spaltet (Abb. 9.17, S. 249). Aktives Plasmin entsteht aus einer inaktiven Vorstufe, dem Plasminogen, durch die Wirkung von Blutaktivatoren (endogenes System) und Gewebeaktivatoren (exogenes System). Der wichtigste Plasminogenaktivator des Blutes ist F. XIIa (Hageman-Faktor). F. XIIa setzt aus Präkallikrein das Kallikrein frei, welches Plasminogen in Plasmin überführt. Der F. XIIa hat also eine entscheidende physiologische Bedeutung bei der Fibrinolyse und nicht, wie bereits oben erwähnt, bei der Initiierung der Gerinnungskaskade unter physiologischen Bedingungen. Die Prozesse, die zur Freisetzung des Gewebeaktivators (t-Pa = tissue plasminogen activator) aus Endothelzellen führen, sind Gefäßdehnung und Katecholamine, die z. B. bei körperlicher Anstrengung erhöht sind. Das von Makrophagen freigesetzte t-Pa hilft bei der lokalen Beseitigung von Fibrin und schafft damit eine der Voraussetzungen für die nachfolgende Gewebereparatur. Von den Epithelien der ableitenden Harnwege wird der Plasminaktivator Urokinase (uPa) gebildet. Sowohl Plasminogen als auch Plasminogenaktivatoren haben eine hohe Affinität zu

polymerisiertem Fibrin. Wenn sich Fibrinfäden gebildet haben, so wirken sie wie eine „biochemische Falle“ für Plasminogen und den Plasminogenaktivator mit dem Resultat, dass die Fibrinfäden durch das entstehende Plasmin aufgelöst werden. Die Neubildung von Fibrin wird dadurch gebremst, dass die entstehenden Fibrinspaltprodukte die Thrombinaktivität hemmen. Analog zu anderen Proteasekaskaden (Komplementsystem, Gerinnungssystem) wird auch das Plasminsystem durch negative Kopplungsschleifen in Schach gehalten. Ein wichtiger plasmatischer Fibrinolysehemmer ist α2-Antiplasmin (Tab. 9.2, S. 225). Therapeutische Beeinflussung der Fibrinolyse. Wenn ein frischer Thrombus (z. B. in einer Koronararterie) aufgelöst werden soll, kann das Fibrinolysesystem auch therapeutisch aktiviert werden. Dies geschieht mit der Streptokinase oder heute in erster Linie mit rekombinantem t-Pa (rt-Pa). Streptokinase aktiviert sowohl freies als auch an Fibrin gekoppeltes Plasminogen, während rt-Pa selektiv an Fibrin bindet und somit die lokalen Thromben gezielter als Streptokinase auflösen kann.

Die Wundheilung wird von Entzündungszeichen begleitet Das Ziel der Wundheilung ist die Wiederherstellung der Integrität und vollen Funktionsfähigkeit des Gewebes nach einer Verletzung (Restitutio ad integrum). Ist die vollständige Regeneration nicht möglich, bleibt eine Narbe zurück. Die Wundheilung geschieht durch Zellen, die eine „Aufräumfunktion“ erfüllen und durch Zellen, die mit „Reparaturaufgaben“ beschäftigt sind. Nur einige Stunden nach einer Verletzung wandern in das betroffene

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9.5 Blutstillung und Wundheilung Gebiet Lymphozyten, Granulozyten und Makrophagen ein. Sie phagozytieren Bakterien, Zelltrümmer und abgestorbene Gewebezellen. Die bei diesen Vorgängen freiwerdenden Substanzen führen zu einer lokalen Entzündung, die gekennzeichnet ist durch vier Kardinalsymptome: Erwärmung (Calor), Rötung (Rubor), Schwellung (Tumor) und Schmerz (Dolor). Erwärmung und Rötung entstehen durch eine erhöhte Blutzufuhr zu dem Gebiet, in dem die phagozytäre Aufräumarbeit geleistet wird. Sie wird ausgelöst durch die lokale Freisetzung von gefäßerweiternden Substanzen (z. B. Prostaglandin E2, Histamin) aus Granulozyten und Makrophagen. Die lokale Gefäßerweiterung führt zur Verlangsamung des Blutstromes in den Kapillaren, wodurch das Anheften der Granulozyten und ihr Durchtritt durch die Kapillarwand begünstigt wird. Als chemotaktische „Lockstoffe“ für die Granulozyten sind u. a. Komplementfaktoren (S. 234), der Platelet Activating Factor PAF (S. 247 f.) und zahlreiche Chemokine (S. 234) identifiziert worden. Die Schwellung entsteht durch den erhöhten Austritt von Flüssigkeit und Plasmaproteinen von der Blutbahn in das Gewebe. Einige der permeabilitätssteigernden Faktoren (z. B. Histamin, Bradykinin, Prostaglandin E2) sind auch beteiligt bei der lokalen Auslösung von Schmerzen beim Entzündungsgeschehen (lokale Sensibilisierung der Nozisensoren). Wenn die Bakterieninvasion abgewehrt und die Zelltrümmer phagozytiert sind, kommt es zur Wundheilung. Sie ist gekennzeichnet durch die Neubildung von Blutgefäßen (Angiogenese), die Vermehrung (Proliferation) von und die verstärkte Kollagenbildung durch Fibroblasten sowie die Vermehrung der epidermalen Keratinozyten, welche die Wunde definitiv abdecken. Die bei der Fibrinolyse freiwerdenden Fibrinspaltprodukte (Abb. 9.17, S. 249) locken Fibroblasten an. Die Teilung und verstärkte Kollagenbildung dieser Bindegewebszellen wird u. a. von dem lokal freigesetzten Wachstumsfaktor bFGF (basic Fibroblast Growth Factor) angeregt, der aus Thrombozyten (Tab. 9.5, S. 246) und Makrophagen stammt. Durch die Vermehrung der Fibroblasten und die verstärkte Bildung von Faserproteinen des Bindegewebes beginnt sich die Wunde zu schließen. Die Gefäßneubildung wird gefördert von F. Xa und FGF, die zusammen mit spezifischen angiogenen Polypeptiden wie VEGF (Vascular Endothelial Growth Factor), Angiopoietin und Ephrin die Proliferation und röhrenförmige Anordnung von Endothelzellen in Gang setzen und unterhalten, wobei der lokale PO2 eine wichtige Rolle spielt (Abb. 9.2, S. 229) (20, 21). Für das Neuwachstum von glatten Gefäßmuskelzellen ist der PDGF (Platelet Derived Growth Factor) von besonderer Bedeutung. Epidermale Keratinozyten wandern von den Wundrändern her in das Wundgebiet ein und bedecken es in zeitlicher und räumlicher Koordination mit der Fibroblastenproliferation und der Gefäßneubildung. Diejenigen Faktoren, die die Anheftung der epidermalen Keratinozyten an das Kollagenmaschenwerk erleichtern und gleichzeitig auch ihre Teilung beschleunigen, wurden schon erwähnt: es handelt sich u. a. um FGF und Thrombospondin aus Thrombozyten, die somit Wachstumsfaktoren für ektodermale Keratinozyten und mesenchymale Fibroblastenzellen sind. Wundheilung und Angiogenese werden also durch die koordinierte Freisetzung einer ganzen Familie von Signal-

stoffen kontrolliert, von denen nur einige erwähnt wurden. Als „Architekturvorlage“ für die komplexe Wechselwirkung zwischen Wachstumsfaktoren, Zytokinen und Zellen dient die extrazelluläre Matrix (s. S. 56). Die Moleküle, welche diese Matrix aufbauen, haben selbst Einfluss auf die Differenzierung und Wanderung von Zellen bei der Wundheilung und stellen darüber hinaus „Architekturvorlagen“ dar, an denen verschiedene Angiogenesefaktoren und andere Mitogene in einem räumlichen Ordnungsmuster gebunden werden können.

Zum Weiterlesen … 1 Ellis KJ, Eastman JD. Human Body Composition: In vivo Methods, Models, and Assessment. New York: Plenum Press; 1993 2 Hoffman R, Benz EJ, Shattil SJ, Furie B, Cohen HJ. Hematology. Basic Principles and Practice. New York: Churchill Livingstone; 2005 3 Janeway ChA, Travers P, Walport M, Shlomchik M. Immunologie. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag; 2002 4 Silbernagl S, Lang F. Taschenatlas der Pathophysiologie, 2. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2005

… und noch weiter 5 Akira S, Takeda K, Kaisho T. Toll-like receptors: critical proteins linking innate and acquired immunity. Nature Immunol. 2001; 2: 675 – 680 6 Bordignon C, Roncarolo MG. Therapeutic applications for hematopoietic stem cell gene transfer. Nature Immunol. 2002; 3: 318 – 321 7 Broze GJ. Tissue factor pathway inhibitor and the revised theory of coagulation. Annu Rev Med. 1995; 46: 103 – 112 8 Butenas S, Mann KG. Blood Coagulation. Biochemistry (Moscow). 2002; 67: 3 – 12 9 Gabay C, Kushner I. Acute-phase proteins and other systemic responses to inflammation. The New Engl J Med. 1999; 340: 448 – 454 10 Green DR. The suicide in the thymus, a twisted trail. Nature Immunol. 2003: 4: 207 – 208 11 Heine H, Lien HE. Toll-like receptors and their function in innate and adaptive immunity. Int Arch Allergy Immunol. 2003; 130: 180 – 192 12 Hornef MW, Wick MJ, Rhen M, Normark St. Bacterial strategies for overcoming host innate and adaptive immune responses. Nature Immunol. 2002; 3: 1033 – 1040 13 Kourilsky P. Die Bodyguards des Körpers. Spektrum der Wissenschaft. November 2003; S28 – S33 14 Mackay CR. Chemokines: immunology’s high impact factors. Nature Immunol. 2001; 2: 95 – 101 15 Mann KG, Butenas S, Brummel K. The Dynamics of Thrombin Formation. Arterioscler Thromb Vasc Biol. 2003; 23: 17 – 25 16 Mempel TR, Henrickson SE, von Andrian UH. T-cell priming by dendritic cells in lymph nodes occurs in three distinct phases. Nature. 2004: 427: 154 – 159 17 Messi M, Giacchetto I, Nagata K, Lanzavecchia A, Natoli G, Sallusto F. Memory and flexibility of cytokine gene expression as separable properties of human TH1 and TH2 lymphocytes. Nature Immunol. 2003; 4: 78 – 86 18 Moll St, Dietz R. Quick-Wert und INR. Dt Aerzteblatt. 1999; 96: A2902 – A2904

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254

9 Blut: Ein flüssiges Organsystem 19 Orkin SH, Zon LI. Hematopoiesis and stem cells: plasticity versus developmental heterogeneity. Nature Immunol. 2002; 3: 323 – 328 20 Pugh ChW, Ratcliffe PJ. Regulation of angiogenesis by hypoxia: role of the HIF system. Nature Med. 2003; 9: 677 – 683 21 Semenza, GL. Hydroxylation of HIF-1: Oxygen sensing at the molecular level. Physiology. 2004; 19: 176 – 182 22 Taniguchi M, Seino KI, Nakayama T. The NKT cell system: bridging innate and acquired immunity. Nature Immunol. 2003: 4: 1164 – 1165 23 Weinmann P, Scharffetter-Kochanek K, Bradley Forlow S, Peters T, Walzog B. A role for apoptosis in the control of neutrophil homeostasis in the circulation: insights from CD18-deficient mice. Blood. 2003; 101: 739 – 746 24 Zhang Z, Burrows PD, Cooper MD. The molecular basis and biological significance of VH replacement. Immunol Rev. 2004; 197: 231 – 242 25 Zinkernagel RM, Doherty PC. MHC-restricted cytotoxic Tcells: Studies on the biological role of polymorphic major transplantation antigens determining T-cell restriction specificity, function and responsiveness. Adv Immunol. 1979; 27: 52 – 142 26 Zinkernagel RM. On differences between immunity and immunological memory. Curr Opinion in Immunol. 2002; 14: 523 – 536

Danksagung Für viele Anregungen und Verbesserungsvorschläge danken wir Frau Brigitte Egli und den Herren Karl Lang und Walter Wuillemin.

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Atmung P. Scheid

10.8 Diffusion durch die Alveolarmembran

10.1 Einleitung und Überblick

· · · 289 Diffusiver Gastransport durch die Alveolarmembran · ·· 289 Partialdruckverlauf in der Lungenkapillare · ·· 290

· ·· 256 Morphologische Vorgaben der Lunge · ·· 256 Schutz und Abwehr in der Lunge ··· 258

10.2 Physik der Gase

· · · 259 Druck, Volumen und Temperatur eines Gases ··· 259 Wasserdampf ··· 259 Druck und Partialdruck · ·· 259 Volumen ··· 260 Gase in Flüssigkeiten · ·· 260 Gasmenge · · · 260 Atmosphärische Luft ··· 260

10.3 Lungenvolumina und Atemvolumina

· ·· 261 Das mobilisierbare Lungenvolumen kann mit dem Pneumotachographen erfasst werden · · · 261 Mit dem Ganzkörper-Plethysmograph kann man das intrathorakale Gasvolumen erfassen · · · 261 Messwerte · ·· 262

10.4 Atemmechanik

· ·· 262 Elastizität und Dehnbarkeit des Atemapparats · · · 263 Ursachen der Elastizität der Lunge · · · 266 Atemmuskeln · · · 267 Atemwegswiderstand, treibende Drücke · ·· 269 Die forcierte Exspiration · ·· 271 Atemarbeit und ihre Kosten · ·· 272 Restriktive und obstruktive Lungenfunktionsstörungen · ·· 274

10.5 Perfusion der Lunge

· ·· 274 Intravasale und perivaskuläre Drücke bestimmen die Gefäßweite · · · 274 Strömungswiderstand der Lungengefäße ··· 275 Regionale Unterschiede der Lungenperfusion · ·· 276

10.9 Verteilung von Ventilation und Perfusion

· ·· 290 Ventilation und Perfusion sind in der Lunge ungleichmäßig verteilt · ·· 291 ˙ -Inhomogenität bedeutet regionale ˙A/Q Regionale V Unterschiede der alveolären Partialdrücke · · · 291 ˙ -Inhomogenität mindert die ˙A/Q Regionale V Gasaustauschleistung der Lunge · ·· 292 Die hypoxische Vasokonstriktion in der Lunge ˙ -Inhomogenität · · · 292 ˙A/Q reduziert die V ˙ -Inhomogenität sind für O2 ˙A/Q Die Effekte der V viel größer als für CO2 ··· 293 Hyperventilierte Bereiche und alveolärer Totraum, hypoventilierte Bereiche und venöse Beimischung · · · 293

10.10 Blutgase: Normalwerte und Störungen

· ··

294

Normalwerte · · · 294 Wie lassen sich die Ursachen einer arteriellen Hypoxämie unterscheiden? · ·· 295

10.11 Atmungsregulation

· · · 296 Zentrale Rhythmogenese · · · 296 Rückgekoppelte Atemreize: 1. Mechanorezeptoren des Atemapparats · · · 297 Rückgekoppelte Atemreize: 2. Chemische Atemreize · ·· 297 Nicht rückgekoppelte Atemantriebe ··· 300 Zusammenspiel der Atemantriebe · ·· 300 Verschiedene Atmungsformen · ·· 301

10.12 Gewebeatmung 10.6 Ventilation, Perfusion und Gasaustausch

···

276 Analyse der ausgeatmeten Luft lässt O2-Aufnahme und CO2-Abgabe berechnen · · · 276 Mit dem Fick’schen Prinzip lässt sich das Herzzeitvolumen messen · · · 277 Respiratorischer Quotient ··· 278 Totraum und alveoläre Ventilation · ·· 279 Messung der alveolären Partialdrücke · ·· 281 Idealalveolärer O2-Partialdruck · · · 281 Kennzeichnung normaler und veränderter Ventilation · · · 281

10.7 Atemgastransport im Blut

···

282 Physikalische Lösung als Durchgangsstufe · ·· 282 Chemische Bindung von O2 im Blut ··· 282 Chemische Bindung von CO2 im Blut · ·· 286 Die CO2-Bindungskurve verläuft steiler als die O2-Bindungskurve · · · 288

··· 301 Diffusion von O2 im Gewebe · ·· 301 Antransport von O2 mit dem Blutstrom · · · 301 Störungen der O2-Versorgung ··· 303 Im O2-Mangel werden Energiereserven mobilisiert · ·· 304 Funktionsstörungen und Tod der Zelle bei akutem O2-Mangel ··· 304 Auch zuviel O2 ist schädlich ··· 305

10.13 Atmung unter ungewöhnlichen Bedingungen · · · 305 Aufstieg in große Höhe ··· 305 Tauchen ··· 306

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10

10 Atmung

Einleitung und Überblick

Morphologische Vorgaben der Lunge

Die Zellen unseres Organismus benötigen Sauerstoff (O2) zur Energiegewinnung, und dabei entsteht im Stoffwechsel Kohlendioxid (CO2). Der Austausch dieser Gase mit der Umgebung ist die Aufgabe der Lunge; man bezeichnet diesen Vorgang als äußere Atmung, im Unterschied zur inneren Atmung, mit der die Atmung in den Geweben gemeint ist (Abb. 10.1). Erkrankungen der Lunge sind häufig; doch das klinische Erscheinungsbild ist zunächst sehr eintönig: Meist ist es die Atemnot, die den Patienten einen Arzt aufsuchen lässt; vielleicht gesellen sich Husten, Auswurf oder Schmerzen im Brustkorb hinzu. Hinter dieser einförmigen Symptomatik können sich nun eine Unzahl von unterschiedlichsten Erkrankungen verbergen, wie z. B. bei akuter Atemnot ein Lungenödem, eine Asthmaattacke oder ein Pneumothorax. Hat die Atemnot bereits einige Tage oder Wochen bestanden, mag der Schub einer chronischen Bronchitis die Ursache sein; oder bei bereits seit Jahren bestehender Atemnot eine chronisch-obstruktive Erkrankung. Um dies alles richtig zu diagnostizieren, muss nun der Arzt neben der Anamnese vielfältige diagnostische Maßnahmen ergreifen, zu denen Inspektion, Palpation, Perkussion ebenso gehören wie Lungenfunktionstests und ggf. bildgebende Verfahren.

Um aber all diese Verfahren richtig einzusetzen und aus den Ergebnissen die richtigen Schlüsse zu ziehen, bedarf es einer sehr genauen Kenntnis der physiologischen Grundlagen der Atmung und des Gasaustausches. Dies ist der Gegenstand des vorliegenden Kapitels.

inspiratorisch äußere Atmung alveolär

Blut-Gas-Barriere Die Gewebeschicht, die das Gas im Alveolarraum vom Blut in den Lungenkapillaren trennt (Abb. 10.2 u. 10.4 rechts), ist hauchdünn. Ihre Dicke stellt den Kompromiss dar zwischen einer ausreichenden mechanischen Schutzfunktion, die eine Blutung in die Alveolen verhindert, und einer möglichst kurzen Diffusionsstrecke für O2 und CO2. Die Gesamtfläche dieser Diffusionsbarriere ist mit 50 – 100 m2 (etwa die Größe eines Tennisplatzes) ungefähr 50-mal so groß wie die äußere Körperoberfläche. Eine so enorme Austauschfläche findet nur deshalb im Thoraxraum Platz, weil die Lunge in eine große Anzahl (ca. 300 Millionen) feiner Alveolen (Durchmesser etwa 1⁄3 mm) gekammert ist. Das Gas gelangt durch die Luftwege hindurch zur einen Seite dieser Austauschfläche, das Blut erreicht die andere Seite über die Lungenkapillaren.

Luftwege und Ventilation Wie ein Baum verzweigen sich die Luftwege in mehrere Generationen (Abb. 10.3), wobei die proximalen (Mund, Nase, Rachen, Trachea bis zum Bronchiolus terminalis) lediglich der Zuleitung und Verteilung der Atemluft dienen. Ihre Bezeichnung als anatomischer Totraum weist zwar darauf hin, dass hier kein Gasaustausch stattfindet; dennoch erfüllen diese Atemwege neben ihrer Zuleitungsfunktion wichtige Aufgaben bei der Anwärmung,

O2-Partialdruck

10.1

CO2-Partialdruck

256

Ventilation Lunge

CO2

CO2 O2

O2

Perfusion Diffusion

arteriell Herzzeitvolumen

Kreislauf gemischtvenös

Perfusion innere Atmung Diffusion

mitochondrial

Gewebe 0

5

CO2

O2

Stoffwechsel

10

0

PCO (kPa) 2

Abb.10.1 Transportsystem der Atmung mit äußerer Atmung, Kreislauf und innerer Atmung. Die wesentlichen Teile des Transportsystems sind Ventilation, Diffusion und Perfusion für die äußere Atmung; Herzzeitvolumen (und Transporteigenschaften des Blutes für O2 und CO2) für den

10

20

PO (kPa) 2

Kreislauf; Gewebedurchblutung, Diffusion und Stoffwechsel (O2-Verbrauch, CO2-Bildung) für die innere Atmung. Entlang dieser Transportkette steigt der CO2-Partialdruck (PCO , links) an, und der PO (rechts) fällt ab. 2

2

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10.1 Einleitung und Überblick Anfeuchtung und Reinigung der Atemluft. Auch eine sehr kalte, trockene Einatmungsluft ist körperwarm und feucht, bevor sie das zarte Alveolarepithel erreicht. Nur die letzten ca. sieben Verzweigungsgenerationen (Bronchiolus respiratorius bis Saccus alveolaris) tragen Alveolen und dienen somit dem Gasaustausch. Dem Totraum werden sie als Alveolarraum gegenübergestellt, dessen Volumen (Alveolarvolumen, etwa 3000 ml am Ende einer normalen Exspiration) weit größer ist als das anatomische Totraumvolumen (etwa 150 ml; also etwa 5 % des endexspiratorischen Alveolarvolumens). Das Atemzugvolumen (V T für Tidal Volume) ist etwa dreimal so groß wie das Totraumvolumen (VD für Dead Space Volume), so dass etwa zwei Drittel der Frischluft eines jeden Atemzugs den Alveolarraum erreichen. Somit wird die Luft mit dem Inspirationsstrom dicht an die Austauschfläche herangetragen; den Rest des Weges legen die Gase durch Diffusion zurück. Am Ende einer Einatmung befindet sich also im Alveolarraum ein weitgehend durchmischtes Gas, während im Totraum der luftleitenden Wege die Frischluft undurchmischt bleibt.

0

Trachea

Epi II Epi II

5 µm

Abb.10.2 Alveolaroberfläche der menschlichen Lunge. Die rasterelektronenmikroskopische Aufnahme zeigt die geschlossene Wand aus Epithelzellen vom Typ I, die die Alveolarkapillaren umhüllt. Die Pfeile zeigen auf die Grenzen dieser Zellen und machen deutlich, wie weit sich jede einzelne Zelle ausbreitet: Auf dem Bild ist nur ein einziger Kern einer Typ-I-Zelle zu sehen (mit * gekennzeichnet). Weit weniger ausladend sind die Epithelzellen vom Typ II (Epi II), die den Surfactant produzieren. Die gesamte Anzahl der Typ-II-Zellen übertrifft diejenige der Typ-I-Zellen (aus 26).

versorgter Bezirk

50

mm

0

Atemtrakt

10 mm

1

Hauptbronchus

Lungenhälfte

2

Lappenbronchus

Lobus

3

Segmentbronchus

Segment

4

Subsegmentbronchus

Subsegment

5

kleiner Bronchus

10

Bronchiolus

16

Bronchiolus terminalis

17

Bronchiolus respiratorius

x10

Lobulus

anatomischer Totraum

Atemwegs- Atemwege generation

*

5

Azinus mm

Ductus alveolaris 0

Saccus alveolaris

Abb.10.3 Verzweigungen der Atemwege. Der Azinus ist der Gesamtbereich der von einem Bronchiolus terminalis versorgten Atemwege; diese tragen Alveolen. Die proximaler

1 mm

Alveolus

Alveolarraum

18 19 20 21 22 23

gelegenen Atemwege haben luftleitende Funktion (anatomischer oder serieller Totraum). Beachte den 10-mal vergrößerten Maßstab in den peripheren Atemwegen.

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257

258

10 Atmung

Schleimschicht und Flimmerhärchen

Alveolargas

Epithel

Kern der Typ-l-Zelle Typ-II-Zelle

Basalmembran glatte Muskelzelle Blutgefäß

Mukusdrüse Interstitium Knorpelspange

Alveolargas Bronchus

Bronchiolus

Abb.10.4 Epithel der Atemwege. Bronchus: Flimmerepithel mit exokrinen (mukösen) Zellen und Drüsen. Bronchiolus: Die Epithelzellen flachen ab. Alveole: Alveolarepithel-

Blutgefäße und Blutstrom Auch die Äste der A. pulmonalis verzweigen sich vielfältig, wobei sie den Verzweigungen der luftleitenden Atemwege folgen. Danach spalten sie sich auf in ein kapilläres Netz, das die Alveolen umspinnt und so auch auf der Blutseite eine sehr große Austauschfläche für das Alveolargas bildet (Abb. 10.2). Die Venen treffen erst wieder im Zentrum der Lunge auf den Arterien-Bronchien-Stamm.

Schutz und Abwehr in der Lunge Die Luft, die wir atmen, enthält neben den Atemgasen eine große Zahl anderer Gase, die zumeist schon in geringen Konzentrationen toxisch wirken (NO2, SO2, CO, O3 u. a.). Auch unter den Fremdkörpern in der Atemluft befinden sich toxische Substanzen und schädliche Mikroorganismen. Größere Partikel bleiben in den oberen Atemwegen (Nasen-Rachen-Raum) hängen, kleinere sedimentieren in den Atemwegen. Das schleimbedeckte Flimmerepithel der Luftwege und die alveolären Makrophagen sorgen für die Entfernung dieser Eindringlinge. Die luftleitenden Atemwege sind mit einem zilientragenden Flimmerepithel und mukösen Drüsen ausgestattet (Abb. 10.4). Ein zusammenhängender Teppich viskösen Schleims wird vom raschen Zilienschlag des Flimmerepithels oralwärts getrieben, wobei er die auf ihm haftenden Teilchen wie auf einem Förderband zum Pharynx befördert (mukoziliärer Transport), wo sie dann mit dem Schleim abgehustet und verschluckt werden.

Alveole

zellen vom Typ I (bilden große Fläche) und Typ II (sezernieren Bestandteile des Surfactant).

Bei der chronischen Bronchitis sind die mukösen Drüsen hypertrophiert, und das exzessiv gebildete Sekret verursacht Husten, im Verlauf der Krankheit dann Atemwegsobstruktion und Atemnot (Dyspnoe). Eine Hauptursache für diese Krankheit ist das Zigarettenrauchen, doch können auch die oben erwähnten toxischen Gase, insbesondere das Schwefeldioxid (SO2) zur chronischen Bronchitis führen. Dagegen beruht die Mukoviszidose oder zystische Fibrose (CF) auf autosomal rezessiv vererbten Mutationen in einem Gen des Chromosoms 7. Dabei ist das CFTR-Protein (cystic fibrosis transmembrane regulator) gestört, das einen apikalen Cl–-Kanal auf verschiedenen Ionen-transportierenden Epithelien (z. B. Atemwege, Darm, Pankreas, Schweißdrüsen) darstellt. Bei nahezu allen Patienten sind die Atemwege betroffen, und es kommt zu Husten mit zähem Bronchialsekret, das dann oftmals bakteriell infiziert ist. Dieses Beispiel zeigt, dass für die Zusammensetzung des Bronchialsekrets neben den Bronchialdrüsen auch das Bronchialepithel verantwortlich ist.

Flimmerepithel und Schleim finden sich nicht in den Alveolen, wo sie ja die Gasaustauschbarriere unzulässig verdicken würden. Aber auch und gerade diese zarte Alveolaroberfläche muss von eindringenden Fremdsubstanzen gereinigt werden, und diese Funktion erfüllen wie Staubsauger die Alveolarmakrophagen (Abb. 10.5). Sie phagozytieren Fremdstoffe und bauen diese enzymatisch ab (organisches Material); wo der Abbau nicht gelingt (z. B. Staubpartikel aus Kohle und Quarz, Asbestfasern etc.), schirmen sie die phagozytierten Fremdstoffe vom umgebenden Gewebe ab. Durch ihre amöboide Beweglichkeit wandern sie auch bis in die luftleitenden Wege, wo sie mukoziliär aus der Lunge geschafft werden. Ein Teil der phagozytierten Substanzen gelangt ins peribronchiale und interlobäre Gewebe, wo sie in Histiozyten deponiert werden und dort z. T. lebenslang liegen bleiben

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10.2 Physik der Gase des Système International des Unités (SI-Maßeinheiten S. 862 ff.) wird P in kPa, V in l, M in mol gemessen. Die allgemeine Gaskonstante, R, hat für alle idealen Gase den gleichen Wert von 8,31 (l · kPa) · (mol · K)–1. Die ideale Gasgleichung gilt für reine Gase sowie für Mischungen idealer Komponenten. Das Molvolumen ist dasjenige Volumen, das 1 mol eines idealen Gases bei „physikalischen Normalbedingungen“ (P0 = 101 kPa = 760 mmHg, T0 = 0 C = 273 K) einnimmt:

Alveolarmakrophage

Typ-I-Zelle

V T0 =R  = 22; 4 l  mol P0 M 5 µm

Abb.10.5 Alveolarmakrophage. Er kriecht über das Alveolarepithel, indem er eine Zytoplasmalamelle (mit Zellmembran) ausstülpt, die sich auf der Unterlage vorschiebt (Pfeile). Raster-EM-Aufnahme (aus 25).

1

ð10:2Þ

Unter den meisten Bedingungen verhalten sich alle physiologisch wichtigen Gase wie ideale Gase; die Abweichungen des CO2 (Molvolumen 22,3 l · mol–1) sind quantitativ unbedeutend. Die einzige beachtenswerte Ausnahme stellt der Wasserdampf dar.

Wasserdampf und für bestimmte Krankheiten verantwortlich sind (z. B. Silikose, Asbestose). Die Lunge besitzt besonders in den oberen Atemwegen auch Zellen der spezifischen Infektabwehr, hauptsächlich Lymphozyten und Plasmazellen (bronchusassoziiertes lymphatisches System). Plasmazellen kommen außer in den Lymphknoten besonders in der Nähe der Bronchialdrüsen vor. Plasmazellen sowie Epithelzellen sezernieren in den oberen Atemwegen Immunglobulin A (IgA); in geringer Konzentration kommt auch IgG im Sekret vor. In den unteren Atemwegen und im Alveolarraum überwiegt IgG. Die genaue Funktion von IgA bei der Immunabwehr ist nicht bekannt (38).

10.2

Physik der Gase

Während in den Alveolen der Sauerstoff, das Kohlendioxid und alle anderen Komponenten der Luft in der gasförmigen Phase vorliegen, sind sie in den Körperflüssigkeiten gelöst. (Die chemische Bindung der Atemgase im Blut wird in Abschnitt 10.7 behandelt.) Da alle physiologisch bedeutsamen Gase – mit Ausnahme von Wasserdampf – als ideale Gase angesehen werden können, lassen sich die meisten quantitativen Zusammenhänge für die Gasphase aus dem idealen Gasgesetz herleiten. In der flüssigen Phase gilt hingegen das Henry-Gesetz. Eine wichtige Größe zur Beschreibung insbesondere der Übergänge zwischen gasförmiger und flüssiger Phase ist der Partialdruck einer Komponente.

Druck, Volumen und Temperatur eines Gases Die meisten Berechnungen beruhen auf der idealen Gasgleichung, die Druck (P), Volumen (V) und Temperatur (T) einer Gasmenge (M) miteinander verbindet: P·V=M·R·T

(10.1)

Dabei ist die absolute Temperatur T (in Kelvin, K) = t (in C) + 273. In den in Europa verbindlichen Maßeinheiten

Wasserdampf ist das gasförmige, unsichtbare Wasser in der Gasphase. (Der sichtbare Wasser„dampf“ ist eine Suspension von flüssigem Wasser in der Luft.) Sein Partialdruck (s. u.) hat einen oberen Grenzwert, den Sättigungsdruck, der von der Temperatur abhängt und bei dem der Wasserdampf im Gleichgewicht steht mit flüssigem Wasser. Das Gas in den Atemwegen der Lunge und insbesondere in den Alveolen ist körperwarm und mit Wasserdampf gesättigt; der H2O-Partialdruck ist also gleich dem Sättigungsdruck bei 37 C, der den Wert PH O = 6,3 kPa (47 mmHg) besitzt. 2

Druck und Partialdruck Der Partialdruck eines Gases x in einem Gasgemisch ist derjenige Druck, der allein von der Molekülart x ausgeübt wird, der also bei Entfernen aller anderen Gaskomponenten übrigbliebe. Nach dem Dalton-Gesetz ergibt die Summe der Partialdrücke aller Komponenten eines Gasgemisches (auch H2O) den Gesamtdruck: P = P1 + P2 + ::: + Pn + PH2 O

(10.3)

Das ideale Gasgesetz gilt für das in einem Volumen V eingeschlossene Gasgemisch (Gl. 10.1) ebenso wie für jede seiner idealen Gaskomponenten: Px  V = Mx  R  T

(10.4)

Fx = Mx =M

(10.5)

wobei Mx die Menge (Anzahl Mole) der Gasart x bedeutet. Der fraktionelle Anteil von x an der Gesamtmenge der Gasmoleküle

wird als Fraktion oder (sprachlich nicht korrekt) fraktionelle Konzentration von x bezeichnet (dimensionslos). Für sehr geringe Konzentrationen sind auch noch die Nicht-SI-Einheiten ppm (parts per million) und ppb (parts per billion) in Gebrauch; dabei entspricht 1 ppm einer Fraktion von 10– 6, 1 ppb einer solchen von 10–9 (S. 866). Für PH O gilt die ideale Gasgleichung nicht. Wenn diese auf das feuchte Gasgemisch angewendet werden soll, so 2

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259

260

10 Atmung muss der PH O zunächst (rechnerisch) entfernt werden, was mit Gl. 10.3 durch einfache Subtraktion gelingt: 2

PH2 O Þ  V = M  R  T

ðP

(10.6)

In dieser Gleichung ist (P – PH O) der Gesamtdruck des Trockengasgemischs (Gemisch der idealen Gaskomponenten) und M die Menge dieser Trockengase. Aus den Gleichungen 10.4 bis 10.6 ergibt sich die wichtige Beziehung zwischen Fraktion und Partialdruck einer Gaskomponente:

Als Richtwerte kann man sich merken, dass VBTPS etwa 10% höher, VSTPD etwa 10% niedriger ist als das spirometrisch gemessene Volumen VATPS.

Gase in Flüssigkeiten

2

Px = Fx  ðP

(10.7)

PH2 O Þ

wobei der PH O bei gegebener Temperatur unabhängig vom Gesamtdruck einen konstanten Wert hat; bei 37 C beträgt er 6,3 kPa (s. o.). Werte für die Partialdrücke der Atemgase O2 und CO2 in der Alveolarluft sind in Tab. 10.3 (S. 281) und für das Blut in Tab. 10.5 (S. 295) dargestellt. 2

Volumen

Cx = x  Px

(10.12)

Der (Bunsen-)Löslichkeitskoeffizient αx hängt dabei ab von der Art der Moleküle x, der Art der Flüssigkeit sowie der Temperatur. Der Flüssigkeitspartialdruck Px ist definitionsgemäß dem Gaspartialdruck von x gleich, wenn Gas und Flüssigkeit im Gleichgewicht miteinander stehen. Im Plasma bei 37 C ist αO = 0,211 und αCO = 5,06 mlSTPD · l–1 · kPa–1; oder ausgedrückt in mmol (Gl. 10.2): αO = 0,00943 und αCO = 0,226 mmol · l–1 · kPa–1. Die Löslichkeit für CO2 ist also mehr als 20-mal so hoch wie die für O2. 2

2

Nach der idealen Gasgleichung (Gl. 10.1) ändert sich das Volumen eines Gases (oder Gasgemischs) mit P und T; Erhöhung des Drucks vermindert, Erhöhung der Temperatur erhöht das Volumen. Zusätzlich beeinflusst die Wasserdampfmenge bzw. der PH O das Volumen. Es ist daher von Bedeutung, die Bedingungen (P, T, PH O) anzugeben, unter denen ein bestimmtes Gasvolumen gemessen wurde. Die Umrechnung von einer auf eine andere Messbedingung folgt aus der idealen Gasgleichung für Trockengase (Gl. 10.6): 2

2

M  R  T V= P PH2 O

ð10:8Þ

Gebräuchliche Messbedingungen sind: BTPS (body temperature pressure saturated = Körperbedingungen): T = 37 C = 310 K, P = Umgebungsluftdruck PB, PH O = 6,3 kPa. ATPS (ambient temperature pressure saturated = Spirometerbedingungen): T = Spirometertemperatur TS, P = PB, PH O = Sättigungsdruck des Wassers bei TS. STPD (standard temperature pressure dry = Standardbedingungen): T = 0 C = 273 K, P = 101 kPa, PH O = 0. 2

2

2

Setzt man diese Werte für T, P und PH O in Gl. 10.8 ein, so erhält man die folgenden Umrechnungen zwischen den Gasvolumina: 2

VBTPS 310 PB PH2 O  1,10 =  PB 6,3 VATPS TS

ð10:9Þ

VSTPD 273 PB PH2 O  0,89  = TS 101 VATPS

ð10:10Þ

VBTPS 310 101 115  =  1,17 = VSTPD 273 PB 6,3 PB 6,3

ð10:11Þ

Der Zahlenwert von 115 ergibt sich bei Messung von PB in kPa. Die ungefähren Zahlenwerte gelten für mittleren Luftdruck (100 kPa ≈ 747 mmHg) und mittlere Zimmertemperatur (20 C; PH O = 2,3 kPa). 2

Wird ein Gas z. B. in der Lunge in Kontakt mit einer Flüssigkeit gebracht, so werden Gasmoleküle in der Flüssigkeit gelöst (physikalische Lösung). Im Gleichgewicht hängt die Menge der pro Volumen in der Flüssigkeit gelösten Gasmoleküle x, also die Konzentration Cx, vom Partialdruck Px ab (Henry-Gesetz):

2

2

Gasmenge Die Gasmenge ist das Produkt aus Konzentration Cx und Volumen V. Für die flüssige Phase ergibt sich daher mit Gl. 10.12: (10.13)

Mx = αx · V · Px

wobei Mx die Menge nur der physikalisch gelösten Moleküle darstellt und nicht die chemisch gebundenen Moleküle umfasst. In der Gasphase wird die Gasmenge üblicherweise als ein Volumen (Vx) des Gases (z. B. l O2) angegeben: Vx = Fx · V

(10.14)

wobei verabredungsgemäß Vx auf STPD-Bedingungen umgerechnet wird (z. B. lSTPD). Üblicherweise wird V in BTPS (Gl. 10.11) ausgedrückt und statt der Fraktion Fx eines Gases wird sein Partialdruck Px verwendet (Gl. 10.7). Damit ergibt sich Vx =

1  Px  V 115

ð10:15Þ

Hierin ist Px in kPa einzusetzen.

Atmosphärische Luft Die trockene atmosphärische Luft hat die folgende Zusammensetzung: 78,1 % N2; 20,9% O2; 0,9% Argon; 0,03% CO2 und Spuren anderer Edelgase. Für die Medizin kann der CO2-Anteil der Umgebungsluft vernachlässigt werden. Argon wird mit N2 und den übrigen chemisch inerten Edelgasen summarisch als „Stickstoff“ zusammengefasst. Damit ergibt sich für die atmosphärische Luft 20,9% Sauerstoff: FO = 0,209 0,0% Kohlendioxid: FCO = 0,000 79,1 % Stickstoff: FN = 0,791 2

2

2

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10.3 Lungenvolumina und Atemvolumina Diese Zusammensetzung ist von der Höhe über dem Meeresspiegel weitgehend unabhängig. Mit Gl. 10.7 (S. 260) lässt sich daher errechnen, dass die bei Körpertemperatur angefeuchtete Luft bei einem typischen Barometerdruck von 100 kPa folgende Partialdrücke (in kPa) besitzt: PO = 19,6, PCO = 0, PN = 74,1 und PH O = 6,3. Nach Gl. 10.15 sind in einem Liter Frischluft unter BTPS-Bedingungen, d. h. so wie er in die Lunge eingeatmet wird, 0,17 lSTPD O2 enthalten. Der atmosphärische Druck hängt neben witterungsbedingten Schwankungen von der Höhe h über dem Meeresspiegel ab (s. a. S. 305 f.): 2

2

PB ðhÞ ¼ PB ð0Þ  e

2

0;127  h

Luft



2

(10.16)

In dieser barometrischen Höhenformel sind PB(h) und PB(0) der Luftdruck in der Höhe h (km) und auf Meereshöhe (h = 0). Pro 5,5 km Höhenaufstieg halbiert sich demnach der Luftdruck.

10.3

Strömungswiderstand

A

Lungenvolumina und Atemvolumina

Zwei Größen werden klinisch-diagnostisch zur Bestimmung des Gasgehalts in der Lunge herangezogen, die totale Lungenkapazität (TLC) und das Residualvolumen (RV). Während TLC das gesamte Gasvolumen in der Lunge bezeichnet, ist das RV dasjenige Gasvolumen, das am Ende einer tiefen Exspiration in den Lungen verbleibt. Zur klinischen Beurteilung ist ferner das Atemzugvolumen VT von Bedeutung. Eine Reihe von pathologischen Zuständen kann diese Größen verändern; zu ihnen gehören sowohl Krankheiten der Lunge selbst als auch solche des Thorax und der Atemmuskeln. Darauf wird im Laufe dieses Kapitels bei den einzelnen Abschnitten zurückzukommen sein. Als Lungenvolumen bezeichnet man das Gasvolumen, das sich in der Lunge befindet, als Atemvolumen das einoder ausgeatmete Gasvolumen. Am Ende einer normalen Ausatmung verbleibt ein Gasvolumen von etwa 3 l in der Lunge. Dieses dient als Gaspuffer, begrenzt die atemzyklischen Schwankungen der alveolären Konzentrationen der Atemgase und stellt eine Sauerstoffreserve für besondere Bedingungen wie Sprechen, Singen, Atemanhalten dar. Auch nach maximaler Ausatmung verbleibt noch Gas in der Lunge. Es gibt also ein mit Hilfe der Atemmuskeln mobilisierbares und ein nichtmobilisierbares Lungenvolumen. Die Messung beider Anteile erfordert unterschiedliche Methoden.

Das mobilisierbare Lungenvolumen kann mit dem Pneumotachographen erfasst werden Ein Pneumotachograph (Abb. 10.6) misst die Atemstromstärke. Aus ihr kann durch Integration während Ein- bzw. Ausatmung das eingeatmete bzw. ausgeatmete Volumen errechnet werden. So erhält man die folgenden Atemvolumina (s. auch Abb. 10.8): – Atemzugvolumen, V T = ein- und ausgeatmetes Volumen (Index T für engl. tidal); – exspiratorisches Reservevolumen, ERV = das Volumen, das nach normaler Ausatmung (Atemruhelage) noch ausgeatmet werden kann;

Druckmesser B Pneumotachograph maximale Inspirationslage inspiratorisches Reservevolumen

Atemzugvolumen

Atemruhelage maximale Exspirationslage

exspiratorisches Reservevolumen

C Atemvolumina

Abb.10.6 Pneumotachographie. Zur Messung von Atemstromstärke und geatmeten Volumina wird ein Pneumotachograph verwendet (B). Er besteht aus einem Rohr, durch das der Proband (A) atmet. In dem Rohr sind Lamellen so angeordnet, dass sie einen sehr geringen Strömungswiderstand erzeugen, der zu einem ebenfalls geringen Druckabfall in dem Rohr führt. Da der Druckabfall (bei laminarer Strömung) der Stromstärke proportional ist (s. Abb. 8.16, S. 189), ergibt sich aus ihm (nach vorheriger Eichung) die Stromstärke. Ihre Integration während der Ein- bzw. Ausatmung ergibt dann das eingeatmete bzw. ausgeatmete Volumen (C).

– inspiratorisches Reservevolumen, IRV = das Volumen, das nach normaler Einatmung noch zusätzlich eingeatmet werden kann; – Vitalkapazität VC = maximales Atemzugvolumen = IRV + V T + ERV.

Mit dem Ganzkörper-Plethysmograph kann man das intrathorakale Gasvolumen erfassen Nach maximaler Ausatmung verbleiben beim Gesunden noch etwa 1,5 l Gas in der Lunge; doch kann dieses Volumen bei verschiedenen Lungenkrankheiten stark verändert sein, so dass seine Erfassung klinisch von großer Bedeutung ist. Dieses Residualvolumen (RV) kann nicht ausgeatmet, also auch nicht pneumotachographisch erfasst werden. Man kann es aber durch Messung des intrathorakalen Gasvolumens (ITG, das angenähert dem Alveolarvolumen VA gleicht) bestimmen. Hierzu bedient man sich in der Klinik eines Ganzkörperplethysmographen (Abb. 10.7). Wird hierbei das Ventil vor einer Inspiration geschlossen, so ist das gemessene Volumen die funktionelle Residualkapazität (FRC), also das gesuchte Residualvolumen plus das exspiratorische Reservevolumen (Abb. 10.8). Damit wird die Liste der Atemvolumina um die folgenden Lungenvolumina ergänzt (Abb. 10.8):

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10 Atmung

Kammervolumen,VK

Pa DPK

8 4 0 –4 –8

2

Kammerdruck

Abb.10.7 Messung des intrathorakalen Gasvolumens (ITGV) mit Hilfe der Ganzkörperplethysmographie. Der Proband sitzt in der luftdicht verschlossenen Kammer und atmet durch ein Rohr, das durch ein elektrisches Ventil für einige Sekunden verschlossen werden kann. Da der Proband nach Schluss des Ventils zunächst seine Atemanstrengung gegen den Atemwegsverschluss fortführt, erweitert er das Gasvolumen (VA bzw. ITGV) in der Lunge um einen kleinen Betrag (∆V), wodurch der intrathorakale Druck um einen ebenfalls kleinen Betrag (∆PA) abfällt. Dadurch ändern sich aber auch Volumen (VK) und Druck (PK) des Gases in der Kammer: Das Kammervolumen sinkt um eben den Betrag ∆V, und der Kammerdruck steigt um einen Betrag ∆PK. Aus dem Boyle-Mariottschen Gesetz ergibt sich, dass die Produkte von Volumen und Druckänderung in der Lunge und in der Kammer gleich sind: VA · (–∆PA) = VK · ∆PK. VK ist eine Konstante des Plethysmographen (Volumen groß gegenüber dem Körpervolumen des Probanden), und die Druckänderungen ∆PK und ∆PA können direkt gemessen werden. Daher kann das intrathorakale Gasvolumen ITGV bzw. VA aus der Gleichung unmittelbar errechnet werden: VA = (–∆PK/∆PA) · VK.

Alle Lungen- und Atemvolumina werden unter Körperbedingungen (BTPS) angegeben (S. 260).

Messwerte Obwohl Residualvolumen, Vitalkapazität und totale Lungenkapazität von Körpergröße, Geschlecht, Alter und Trainingszustand abhängen, ist der Anteil, den RV und VC

40

20

Vitalkapazität

inspiratorische Kapazität

inspiratorisches Reservevolumen

Abb.10.8 Lungenvolumina. Aus den pneumotachographischen und plethysmographischen Messungen (Abb.10.6 und Abb.10.7) ergeben sich alle Lungenvolumina. Linke Ordinate: absolute Werte für einen lungengesunden jungen Mann; rechte Ordinate: Lungenvolumina in Prozent der totalen Lungenkapazität (s. auch Tab. 10.1, S. 263).

an TLC haben, von Größe und Geschlecht weitgehend unabhängig. In Abb. 10.8 und in Tab. 10.1 sind daher auch diese Prozentualwerte angegeben. Die Veränderungen von RV, VC und TLC mit dem Alter zeigt Abb. 10.9. Beim Erwachsenen nimmt RV zu Lasten von VC zu. Dies liegt im Wesentlichen am Verlust der Elastizität des Thorax (Abnahme von VC) und an einem Schwund von Lungengewebe mit Minderung der elastischen Retraktion der Lunge (Vergrößerung von RV). Richtwerte der Lungenvolumina und ihrer Abhängigkeit von Alter, Geschlecht etc. findet man für den klinischen Bedarf z. B. bei Tammeling u. Quanjer (19) und Ulmer u. Mitarb. (21).

10.4 – funktionelle Residualkapazität, FRC = endexspiratorisches Lungenvolumen (RV + ERV). Dieses ist normalerweise gleich dem Lungenvolumen bei Atemruhelage, d. h., wenn die Atemmuskeln nicht aktiv sind; – totale Lungenkapazität, TLC = maximales Lungenvolumen (RV + VC).

60

0

0

Ganzkörperplethysmograph

totale Lungenkapazität

intrathorakaler Druck

80

funktionelle Residualkapazität

Alveolarvolumen,VA

4

exspirator. Reservevolumen

Ventil „zu“

Residualvolumen

DPA

4 2 0 –2 –4

Atemzugvolumen

6

kPa

Lungenvolumen in % der totalen Lungenkapazität

100

Lungenvolumen (l BTPS)

262

Atemmechanik

Die Aktivität der Atemmuskeln führt zu den rhythmischen Volumenveränderungen der Lunge, durch die die Atemluft ein- und ausgeatmet wird. Die Tiefe der Atemzüge wird dabei aber nicht nur von der Stärke der Muskelkraft bestimmt, sondern auch von der Elastizität der Lunge und des sie umgebenden Thorax, der aus Knochen, Muskeln und Bindegewebe besteht. Verschiedene Krankheiten können daher die Atemmechanik – und damit die Atmung selbst – beeinträchtigen; hierzu zählen nicht nur Veränderungen des Lungengewebes selbst (z. B. Lungenemphysem), sondern auch Veränderungen der Wirbelsäule und des Brustkorbs sowie Beeinträchtigungen der Atemmuskulatur. Eine Diagnostik der zugrunde liegenden Ursachen erfordert eine genaue Analyse der Elemente der Atemmechanik.

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10.4 Atemmechanik Tabelle 10.1 Normalwerte atemmechanischer Parameter für etwa 25-jährige, 1,80 m große Männer und Frauen. Alle Volumenangaben in BTPS. Die Werte der Compliance gelten im Bereich um die Atemruhelage. Einige der aufgeführten Größen werden weiter unten besprochen (nach 19) Parameter

Symbol

Totale Lungenkapazität (oder Totalkapazität)

TLC

Vitalkapazität

VC

Forcierte Vitalkapazität Residualvolumen Funktionelle Residualkapazität

Normalwert (relativ)

Normalwert Männer Frauen

Einheit

7,0

6,2

I

80% von TLC =

5,6

5,0

I

FVC

80% von TLC =

5,6

5,0

I

RV

20% von TLC =

1,4

1,2

I

FRC

45% von TLC =

3,2

2,8

I

Einsekundenkapazität

FEV1

80% von FVC =

4,5

Maximale exspiratorische Atemstromstärke

˙ Emax V

4,0

Atemgrenzwert (bei einer Frequenz von 30 min–1)

110

I I · s –1

10 100

I · min–1

Compliance des Atemapparats (Lunge + Thorax)

CL + Th

1,3

I · kPa–1

Compliance des Thorax

CTh

2,6

I · kPa–1

Compliance der Lunge

CL

2,6

I · kPa–1

Atemwegswiderstand

RL

0,13

kPa · I–1 · s

8

Lungenvolumen (l)

6 totale Lungenkapazität 4

Vitalkapazität

2

Transmurale Druckdifferenz und Elastizität bestimmen das Füllungsvolumen eines Ballons

Residualvolumen 0

0

20

40

dieser Ruhedehnungskurve (∆V/∆Ptm), Compliance genannt, ist ein Maß für die Dehnbarkeit. Um die Atemruhelage herum ist der Atemapparat am dehnbarsten, d. h. die Compliance ist am größten. Der Pleuradruck ist bei ruhiger Atmung negativ (d. h. niedriger als der Umgebungsdruck) und wird nur bei exspiratorischer Anstrengung gegen die geschlossene Glottis (ValsalvaManöver) oder bei Ausatmung gegen erhöhten Atemwiderstand positiv.

60

Lebensalter (Jahre)

Abb.10.9 Residualvolumen und Vitalkapazität ändern sich mit dem Lebensalter. Einem Anstieg bis zum Abschluss der Wachstumsphase folgt eine Abnahme der Vitalkapazität und eine Zunahme des Residualvolumens. Die totale Lungenkapazität bleibt beim Erwachsenen weitgehend konstant. Der Kurvenverlauf gilt für Männer und Frauen, die Absolutwerte der Ordinate gelten für Männer, deren Körpergröße im Erwachsenenalter etwa 1,80 m beträgt (s. Tab. 10.1).

Elastizität und Dehnbarkeit des Atemapparats Der Atemapparat besteht aus zwei ineinandergeschachtelten Hohlgebilden, Lunge und Thorax. Das passiv-elastische Verhalten dieser Gebilde wird durch die Ruhedehnungskurven bestimmt, die die Abhängigkeit des Volumens V vom dehnenden Druck (transmurale Druckdifferenz Ptm) beschreiben. Die Steilheit

Wird ein Ballon schrittweise mit Luft gefüllt, so entwickelt sich in seinem Innern ein Druck (Pi), der höher ist als der Außendruck (Po) (Abb. 10.10 links). Man kann den Ballon auch dadurch füllen, dass man ihn in eine gasdichte Flasche steckt, in der man einen Unterdruck erzeugt (Abb. 10.10 rechts). In beiden Fällen hängt der Dehnungszustand des Ballons nur von der Druckdifferenz über seiner Wand, der transmuralen Druckdifferenz Ptm, ab: Ptm = Pi – Po

(10.17)

Registriert man bei jedem Aufblaseschritt Ptm und V, so erhält man die Druck-Volumen-Kurve oder Dehnungskurve (Abb. 10.10). Die Krümmung dieser Kurve zeigt an, dass der Zuwachs der transmuralen Druckdifferenz (∆Ptm), der zur Dehnung (∆V) benötigt wird, mit zunehmender Füllung immer größer wird. Das Verhältnis C = ∆V/∆Ptm

(10.18)

wird als Dehnbarkeit oder Compliance bezeichnet. Der Reziprokwert, 1/C, wird auch Elastance (Steifigkeit) genannt. Mit steigender Dehnung nimmt die Dehnbarkeit (Compliance) ab, die Steifigkeit (Elastance) also zu.

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263

10 Atmung subatmosphärisch. Mit diesen Drücken ergeben sich die gesuchten transmuralen Druckdifferenzen (Innendruck minus Außendruck): – Lunge: PA – Ppl transpulmonale Druckdifferenz, – Thorax: Ppl transthorakale Druckdifferenz, – Atemapparat: PA „Transatemapparat“-Druckdifferenz, also die Druckdifferenz zwischen dem Inneren der Lunge und der Thoraxaußenfläche.

Ballon

Innendruck Pi

Außendruck: Po = PB

P i = PB Volumenänderung DV Po

Pi

transmurale Druckdifferenz Ptm = P i – Po

Po

DV D Ptm Volumen, V

264

transmurale Druckdifferenz, Ptm

Compliance DV C= D Ptm

Abb.10.10 Transmurale Druckdifferenz Ptm. Links oben wird der Innendruck (Pi) erhöht, während der Außendruck (Po) atmosphärisch bleibt (PB). Rechts oben wird Po erniedrigt und Pi bleibt atmosphärisch. In beiden Fällen wird der Ballon gedehnt, weil die transmurale Druckdifferenz, Ptm = Pi – Po, ansteigt. Die Dehnungskurve zeigt, dass mit zunehmendem Volumen (V) der zur Dehnung (∆V) benötigte Anstieg der transmuralen Druckdifferenz (∆Ptm) größer wird. Das Verhältnis ∆V/∆Ptm, also die Dehnbarkeit oder Compliance, nimmt mit steigendem Volumen ab.

Transmurale Druckdifferenzen im Atemapparat Man kann sich den Atemapparat vereinfachend als zwei ineinander geschachtelte elastische Hohlgebilde vorstellen: Lunge im Thorax. Als Thorax sollen dabei im Folgenden alle die Lunge umgebenden Gewebe einschließlich der Rippen, der Rippenmuskulatur und des Zwerchfells bezeichnet werden. Die elastischen Eigenschaften von Lunge und Thorax sind sehr unterschiedlich; man kann sie jedoch mit Hilfe der jeweiligen transmuralen Druckdifferenz ermitteln. Der Innendruck der Lunge, also der Druck in den Alveolen, wird als intrapulmonaler Druck oder Alveolardruck (PA) bezeichnet; der Druck an der Lungenoberfläche und an der Thoraxinnenfläche, also der Druck im Pleuraspalt, wird intrapleuraler oder Pleuradruck (Ppl) genannt. An der Thoraxaußenfläche herrscht im Allgemeinen der Barometerdruck (PB), auf den in der Atemmechanik alle Drücke bezogen werden. Druck null heißt somit atmosphärischer Druck; ein negativer Druck ist

Den Alveolardruck (PA) kann man bei geöffneter Glottis als Munddruck messen, vorausgesetzt, es strömt keine Luft, so dass entlang den Atemwegen kein Druckabfall auftritt (S. 269). Um den Pleuradruck zu messen, kann man den Pleuraspalt mit einer Kanüle anstechen oder eine Ösophagussonde verwenden. Bei aufrechtem Thorax gleicht nämlich der im unteren Ösophagusdrittel gemessene Druck weitgehend dem Pleuradruck.

Passive Druck-Volumen-Beziehungen im Atemapparat Während die Dehnbarkeit der Lunge von passiven Strukturelementen bestimmt wird (s. S. 266), also nicht aktiv (z. B. durch Muskelkraft) verändert werden kann, gilt dies für den Thorax nicht: Die Dehnbarkeit der Muskeln der Brustwand und des Zwerchfells ändern sich bei Aktivierung – wie dies bei jedem Skelettmuskel der Fall ist (Kap. 6). Die Dehnbarkeit der Lunge kann daher bei entspannten oder angespannten Atemmuskeln gemessen werden (S. 269 f.); Messung der passiven Dehnbarkeit des Thorax erfordert jedoch entspannte Atemmuskeln. Wie man die Messung durchführt, zeigt Abb. 10.11. Dort sind die Druck-Volumen-Kurven für Thorax und Lunge getrennt sowie für den gesamten Atemapparat aufgezeichnet, wie sie sich aus den jeweiligen transmuralen Druckdifferenzen ergeben. Sie sind bei entspannter Atemmuskulatur registriert und werden daher als Ruhedehnungskurven bezeichnet. (Während der Zusatz „Ruhe“ für die so erhaltene Ruhedehnungskurve des Thorax auf die entspannte Atemmuskulatur hinweist, ist dieser Zusatz für die Lunge nicht nötig, da nach dem oben Gesagten die elastischen Eigenschaften der Lunge unabhängig sind vom Spannungszustand der Atemmuskeln.) Bei Atemruhelage ist der Alveolardruck (PA), d. h. die transmurale Druckdifferenz des gesamten Atemapparats, null: Der Atemapparat ist im Gleichgewicht. Dabei ist der Pleuradruck (Ppl) negativ (etwa – 0,5 kPa); die transmurale Druckdifferenz der Lunge, PA – Ppl, ist um den gleichen Betrag positiv (+ 0,5 kPa). Die Lunge ist also gedehnt und hat das Bestreben, sich zusammenzuziehen, während der Thorax gestaucht ist und das Bestreben hat, sich zu erweitern. Die Retraktionskraft der Lunge und die Rückstellkraft des Thorax halten sich in Atemruhelage genau die Waage und bewirken, dass der Pleuradruck negativ ist. Lunge und Thorax folgen diesen Kräften deshalb nicht, weil sich im Pleuraspalt Flüssigkeit befindet, gerade genug, um ein reibungsloses Übereinandergleiten der Pleurablätter zu ermöglichen. Da Flüssigkeit jedoch nicht dehnbar ist, haften Lunge und Thorax ebenso fest zusammen wie zwei feuchte Glasscheiben, die sich zwar leicht gegeneinander verschieben, aber nur schwer trennen lassen.

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10.4 Atemmechanik Ösophagussonde

V PA

Ppl PA – Ppl

Ppl Lunge: Alveolardruck PA Thorax: Pleuradruck Ppl außen: Barometerdruck PB

PA

TLC

Thorax 6

Lunge

Hahn

Ppl PB

PA

Weitstellung des Thorax beim Pneumothorax

Ppl

transthorakale Druckdifferenz Ppl – PB

transpulmonale Druckdifferenz PA – Ppl

4

Gleichgewichtslage des Atemapparates (PA = 0)

Atemruhelage

Retraktion der Lunge beim Pneumothorax

Lungenvolumen V (l)

Thorax + Lunge Gleichgewichtslage des Thorax (Ppl = 0)

2

RV Gleichgewichtslage Minimalvolumen der Lunge (PA – Ppl = 0):

Thorax Lunge Retraktionskräfte –4

–2

0

+2

+4

0

transmurale Druckdifferenz (kPa)

Abb.10.11 Passive Druck-Volumen-Beziehung von Lunge, Thorax und Atemapparat. Der Proband atmet ein bestimmtes Volumen ein, schließt den Hahn am Spirometer und entspannt dann seine Atemmuskulatur. Da er seine Glottis geöffnet lässt, kann der Alveolardruck (PA) am Verbindungsschlauch zum Spirometer gemessen werden. Der Pleuradruck (Ppl) wird mit einer Ösophagussonde ermittelt, und aus beiden Drücken ergeben sich die transmuralen Druckdifferenzen von Lunge (PA – Ppl), Thorax (Ppl) und gesamtem Atemapparat (PA). Die Messung kann dann nach Ein- oder Ausatmen weiterer Volumina wiederholt werden; das Spiro-

Dieser Zusammenhalt wird aufgehoben, wenn Luft in den Pleuraspalt eintritt, wie es bei Verletzungen der Thoraxwand oder der Lunge geschehen kann. Es entsteht ein Pneumothorax, bei dem die Lunge bis auf ein Minimalvolumen kollabiert und der Thorax sich in seine Ruhelage erweitert. (Die transmuralen Druckdifferenzen sind jetzt null; senkrechte gestrichelte Pfeile in Abb. 10.11.) Atmet der Proband nun, wie in Abb. 10.11 dargestellt, ein Volumen aus der Atemruhelage ein, schließt dann den Hahn zum Spirometer und entspannt die Atemmuskulatur, so entsteht in der Lunge ein erhöhter Druck (PA, violette Kurve); die gedehnte Lunge hat ebenfalls einen erhöhten transmuralen Druck (PA – Ppl, gelbe Kurve) und auch der Pleuradruck verschiebt sich zu positiveren Werten (Ppl, braune Kurve). Entsprechendes gilt für den Fall, dass zunächst von der Atemruhelage aus ein bestimmtes Volumen ausgeatmet wird, bevor der Hahn verschlossen und die Atemmuskulatur entspannt wird.

meter dient dabei lediglich der Bestimmung dieser ein- oder ausgeatmeten Volumina. Trägt man Lungenvolumen (Ordinate) gegen die jeweilige transmurale Druckdifferenz (Abszisse) auf, so erhält man die drei Ruhedehnungskurven, für Thorax (braune Kurve), Lunge (gelbe Kurve) und Thorax + Lunge (= Atemapparat; violette Kurve). Die Gleichgewichtslage der Lunge befindet sich dort, wo ihre transmurale Druckdifferenz (PA – Ppl) gleich Null ist; entsprechend ist die Gleichgewichtslage des Thorax bei Ppl = 0. Die Einsatzfiguren zeigen schematisch Größe und Richtung der Retraktionskräfte von Lunge (rote Pfeile) und Thorax (schwarze Pfeile).

Wiederholt man diese Manöver bei verschiedenen einund ausgeatmeten Volumina, so erhält man die Druckwerte der gesamten Ruhedehnungskurve von Lunge (PA – Ppl) und Thorax (Ppl). Die Ruhedehnungskurve des gesamten Atemapparats (PA) wird sowohl oberhalb als auch unterhalb der Atemruhelage flacher, sie hat einen S-förmigen Verlauf (Abb. 10.11, violette Kurve). Da bei normaler Atmung die Atemruhelage am Ende der Ausatmung erreicht wird, also wenn das Lungenvolumen der funktionellen Residualkapazität (FRC) gleicht, bedeutet dies, dass der Atemapparat bei FRC seine größte Dehnbarkeit aufweist und nach beiden Seiten hin steifer wird: Unterhalb von FRC nimmt die Rückstellkraft des gestauchten Thorax zu, oberhalb von FRC und oberhalb der Gleichgewichtslage des Thorax werden mit zunehmender Dehnung sowohl Lunge als auch Thorax steifer, d. h. die Compliance wird kleiner.

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265

10 Atmung Ppl

tiefe Einatmung: FRC+1l

PA Pleuradruck beim Atemanhalten

Dehnungskurve der Lunge: Pleuradruck beim Atemanhalten

–Ppl Dehnungskurve der Lunge

Lungenvolumen

266

Atemruhelage: FRC

–1

–0,5

0

0,5

1

transmurale Druckdifferenz (kPa)

Abb.10.12 Dehnungskurve der Lunge und Pleuradruck beim Atemanhalten. Die Kurven wurden ähnlich wie in Abb. 10.11 registriert, nur dass hier nach dem Einatmen von der Ruhelage (FRC) der Atem angehalten wird, also die Atemmuskeln nicht entspannt werden. Auch ist in dieser Darstellung nur der Bereich von Atemruhelage (FRC) bis zur Einatmung von einem Liter (FRC + 1 l) aufgezeichnet. Da die Glottis geöffnet ist, ist der Alveolardruck bei jedem Lungenvolumen gleich dem Atmosphärendruck, PA = 0 (violette Gerade). Da die angespannten Atemmuskeln keinen Einfluss auf die Dehnbarkeit der Lunge haben, ist die Dehnungskurve der Lunge (rechte, gelbe Kurve) die gleiche wie die Ruhedehnungskurve (PA – Ppl) in Abb.10.11. Da aber hier PA = 0 ist, entspricht diese Dehnungskurve der Lunge dem Verlauf von – Ppl, also dem negativen Verlauf des Pleuradruckes. Die an der Vertikallinie gespiegelte Kurve entspricht dann + Ppl, also dem Verlauf des Pleuradruckes selbst. Man sieht, dass der Pleuradruck bei FRC negativ ist, etwa – 0,5 kPa, und nach Einatmung noch stärker negative Werte annimmt, was von der stärkeren Dehnung der Lunge und ihrer steigenden Rückstellkraft herrührt.

Compliance des Atemapparats

V V ; CTh = ; ðPA PplÞ Ppl

CL + Th =

V PA

ð10:19Þ

Hieraus ergibt sich, dass sich die Werte der Elastance (Steifigkeit, 1/C) von Lunge und Thorax zur Gesamt-Elastance des Atemapparats addieren:

1 1 1 = + CL þ Th CL CTh

Ursachen der Elastizität der Lunge Drei Faktoren bestimmen die Elastizität der Lunge: – die elastischen Fasern der Lunge und ihre geometrische Anordnung, – Oberflächenkräfte in den Alveolen und ein Film oberflächenaktiver Substanzen, – die Verankerung jeder Alveole im umgebenden Lungengewebe.

Elastische Fasern und Oberflächenkräfte

Die Compliance von Lunge (CL), Thorax (CTh) und Atemapparat (CL + Th) kann als Steilheit aus der jeweiligen Ruhedehnungskurve abgelesen werden (Gl. 10.18): CL =

Mit der gleichen Apparatur, mit der wir in Abb. 10.11 die elastischen Eigenschaften von Lunge und Thorax gemessen haben, können wir nun die Druck-Volumen-Beziehung beim Atemanhalten untersuchen. Atmen wir ein bestimmtes Volumen (gemessen mit dem Spirometer) ein und halten den Atem bei geöffneter Glottis an (d. h. lassen die Atemmuskeln angespannt), so ist der Alveolardruck 0 (also atmosphärisch; Abb. 10.12). Wie oben ausgeführt, ist die Dehnungskurve der Lunge hierbei die gleiche wie bei entspannter Atemmuskulatur; nur ist jetzt der transmurale Druck der Lunge (PA – Ppl) gleich – Ppl, da ja PA = 0 ist. Mit der Ösophagussonde wird aber nicht – Ppl, sondern Ppl selbst gemessen; sein Verlauf ist der gleiche wie der von – Ppl, nur an der Ordinate gespiegelt. Diese Kurve, die also der Dehnungskurve der Lunge entspricht, zeigt, welche Werte der Pleuradruck während des Atemanhaltens bei verschiedenen Lungenvolumina annimmt: Schon bei Atemruhelage ist Ppl negativ, da die Lunge sich zusammenziehen möchte; und er wird noch stärker negativ nach Einatmung, weil dann die Dehnung der Lunge dieses Retraktionsbestreben verstärkt. Übrigens gilt die Beziehung der Abb. 10.12 auch noch bei langsamer Atmung, wenn die Atemstromstärke so gering ist, dass kein nennenswerter Druckunterschied zwischen Alveolarraum und Umgebungsluft besteht. Erst bei vermehrter Atmung weichen die Messwerte von Ppl von der Kurve bei Atemanhalten deutlich ab.

ð10:20Þ

Bei Atemruhelage haben CL und CTh etwa den gleichen Wert von 2,6 l · kPa–1, CL + Th ist also halb so groß (Tab. 10.1). Diese Zusammenhänge sind ganz analog denen der Gefäße im Kreislauf .

Nicht nur die Dehnbarkeit der einzelnen elastischen Fasern, sondern auch ihre geometrische Anordnung sind für die Elastizität des Lungengewebes verantwortlich (27). Dies ist das gleiche Prinzip, das an den Arterienwänden verwirklicht ist. Eine mit Flüssigkeit gefüllte Lunge ist erheblich dehnbarer als eine luftgefüllte. Dies beruht darauf, dass neben dem elastischen Fasermaterial auch Oberflächenkräfte einer Dehnung der Lunge entgegenwirken. Diese Kräfte entstehen an gekrümmten Grenzflächen zwischen flüssiger und gasförmiger Phase, also in den Alveolen, die die am stärksten gekrümmten Strukturen in der Lunge darstellen. Nach dem Laplace-Gesetz entsteht in einer von Flüssigkeit umgebenen Gasblase eine transmurale Druckdifferenz (Ptm), deren Größe vom Radius der Blase (r) und von der Oberflächenspannung der Flüssigkeit an der Grenzfläche (γ) abhängt: Ptm =

2 r

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ð10:21Þ

10.4 Atemmechanik

Die Oberflächenspannung in den Alveolen wird durch Surfactant vermindert Für Wasser hat γ den Wert 0,072 N · m–1. Für eine Alveole mit einem Radius von 48 µm (48 · 10–6 m) ergäbe sich damit im Gleichgewicht eine transmurale Druckdifferenz der Lunge von 2 · 0,072/(48 · 10–6) = 3000 Pa = 3 kPa. Bei Atemruhelage beträgt die transpulmonale Druckdifferenz aber nur etwa 0,5 kPa (Abb. 10.12). Tatsächlich wird nämlich in der Lunge die Oberflächenspannung durch einen Film oberflächenaktiver Substanzen oder Surfactant (surface active agents) vermindert, die ähnlich wie ein Detergens wirken. Der Surfactant ist ein Gemisch, das im Wesentlichen aus Phospholipiden (90 – 95 %), und hier insbesondere Phosphatidylcholin (Lecithin), besteht; daneben enthält es vier spezifische Surfactant-Proteine (SP-A, SP-B, SP-C und SP-D) sowie einen geringen Kohlenhydratanteil. Surfactant wird in Typ-II-Alveolarzellen (Abb. 10.2, 10.4, S. 257 f.) gebildet, in deren sekretorischen Vesikeln, den Lamellarkörperchen, gespeichert und auf verschiedene Reize hin in eine wässrige Randschicht des Alveolarraums (Hypophase) abgegeben (13). Dort wird Surfactant, unter Mithilfe von SP-A, in tubuläres Myelin umgewandelt, und Lipid- und Proteinanteile werden getrennt: Die Lipide lagern sich, gefördert von SP-B und SP-C, als monomolekulare Tapete in die Grenzschicht Flüssigkeit/Gas so ein, dass sie mit ihren hydrophilen Anteilen in der wässrigen Phase verankert sind und dass ihre lipophilen Bestandteile in die Gasphase hineinragen. Die oberflächenaktive Wirkung des Surfactant wird den abstoßenden intermolekularen Kräften dieser lipophilen Teile zugeschrieben. Diese tapezierte Flüssigkeitsschicht glättet alle Ecken und Zwickel der Alveolarwand (Abb. 10.13).

Störungen der Surfactantbildung führen zur Vergrößerung der Retraktionskraft der Lunge (CL sinkt) mit der Folge, dass die zur Dehnung benötigten Kräfte ansteigen. Beim Frühgeborenen ist die Surfactantbildung noch nicht ausgereift, was zum Atemnotsyndrom des Frühgeborenen führt (infant respiratory distress syndrome, IRDS). Auch beim akuten Lungenversagen (acute respiratory distress syndrome, ARDS) ist die Wirkung des Surfactant gestört. Pränatale Gabe von Glucocorticoiden (und anderen Hormonen) an die Mutter vermag das IRDS zu mildern, da Glucocorticoide die fetale Bildung des Surfactant fördern. Künstliche Surfactants werden mit Erfolg bei IRDS und ARDS eingesetzt.

Die Alveolen halten sich gegenseitig offen Als dritter Faktor bestimmt die Verankerung jeder Alveole im umgebenden Gewebe die Elastizität der Lunge. Der Kollaps einer Alveole wird dabei durch die Retraktion der umgebenden Alveolen verhindert. Dieser elastische Zug des Lungengewebes ist auch für die Weite der kleinen Bronchien (und Gefäße) im Lungengewebe von großer Bedeutung (Abb. 10.17, S. 271). Vermindert sich dieser Zug, so kann es zu Verengung oder Kollaps kleiner Bronchien kommen mit dem Erfolg, dass der Atemwegswiderstand zunimmt (S. 269). Derartige Verminderung der elastischen Retraktion (Zunahme von CL) findet man beim Lungenemphysem, bei dem es aus unterschiedlichen Gründen zu einer Überblähung der Lunge mit

Kapillare

Alveolarraum

Surfactant Interstitium Surfactant

Kapillare

Alveolarraum

Interstitium

Surfactant Kapillare

1 µm

Abb.10.13 Surfactant. Ausschnitt aus einem Alveolarseptum mit Ansammlung von Surfactant, besonders in den Ecken. So werden starke Krümmungen (kleine Krümmungsradien) vermieden, die nach dem Laplace-Gesetz hohe Retraktionskräfte (Entfaltungsdrücke) erzeugen würden (aus 1).

Schwund von Gewebe in den peripheren Lungenabschnitten kommt. Die Retraktionskraft darf also weder zu hoch sein (steife Lunge; Entfaltungsschwierigkeiten, z. B. bei Surfactantmangel), noch darf sie zu niedrig sein (schlaffe Lunge; Bronchiolenkollaps, z. B. bei Emphysem).

Atemmuskeln Die Atemmuskeln bilden den Motor der Ventilation. Bei Ruheatmung ist das Zwerchfell der wichtigste Inspirationsmuskel, und Exspirationsmuskeln werden nicht aktiviert. Bei vermehrter Atmung werden weitere inspiratorische und auch exspiratorische Atemmuskeln aktiv.

Inspiration Bei normaler Ruheatmung wird die Atemruhelage am Ende der Exspiration erreicht (FRC, S. 261 f.). Während der Inspiration lenken die Inspirationsmuskeln den Atemapparat aus seiner Gleichgewichtslage aus; die Exspiration erfolgt dagegen passiv durch die elastischen Rückstellkräfte, so wie eine gedehnte Feder von selbst zur Ruhelage zurückkehrt. Die wichtigsten Atemmuskeln bei Ruheatmung sind das Zwerchfell, die Mm. scaleni und die Mm. intercartilaginei. Ein erhöhter Tonus in den Mm. intercostales externi dient lediglich der Stabilisierung der Thoraxwand; als Inspiratoren treten sie erst bei starker Inspirationsanstrengung in Aktion, etwa bei körperlicher Arbeit, will-

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267

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10 Atmung kürlicher Mehratmung, oder bei pathologisch erschwerter Atmung; dann werden auch weitere akzessorische Inspiratoren aktiv. Das Zwerchfell ist eine nach kranial gewölbte Muskelplatte, die an den unteren Rippen ansetzt. Bei Aktivierung flacht sie sich ab, wobei die Abdominaleingeweide nach kaudal gedrückt werden und dabei die Bauchwand nach außen wölben; dadurch wird der Thorakalraum nach kaudal vergrößert. Gleichzeitig hebt das Zwerchfell die Rippen und erweitert auch so den Thorax (Abb. 10.14 A). Die Mm. intercostales externi (Abb. 10.14 B) verlaufen schräg von dorsokranial nach ventrokaudal. Ihre Kontraktion wirkt zwar mit gleicher Kraft auf die benachbarten Rippen, doch ist das Drehmoment auf die kaudale Rippe (längerer Hebelarm) größer als auf die kraniale. Daher werden die Rippen gehoben, und der laterale sowie der sagittale Durchmesser des Thorax werden erweitert (Abb. 10.14 C). Gleiche Wirkung haben die Mm. intercartilaginei.

Exspiration Sie erfolgt normalerweise passiv. Zu Beginn der Exspiration sind sogar die Inspiratoren noch aktiv und bewirken so eine sanfte Rückführung zum Gleichgewicht (so wie man ein Gewicht vorsichtig zu Boden setzt, anstatt es fallen zu lassen). Bei vermehrter Atmung wird jedoch auch die Exspiration aktiv unterstützt, in erster Linie von den Bauchwandmuskeln (Mm. obliqui abdominis externi und interni, Mm. transversus und rectus abdomi-

maximale Ausatmung

nis), die die Baucheingeweide nach oben und damit das Zwerchfell wieder in den Thorax drängen. Hinzu kommen die Mm. intercostales interni, die antagonistisch zu den Mm. intercostales externi wirken (Abb. 10.14 B). Zwerchfell und Bauchmuskeln wirken zusammen, wenn ein hoher Abdominaldruck erzeugt werden soll, etwa bei der Defäkation. Auch beim Pressen während des Geburtsaktes wird ein hoher Abdominaldruck durch gleichzeitige Aktivierung sowohl inspiratorischer als auch exspiratorischer Muskeln erreicht.

Maximale statische Kraft der Atemmuskeln Als Valsalva-Versuch wird die maximale exspiratorische Anstrengung gegen die verschlossenen Atemwege bezeichnet. Die Höhe des dabei entstehenden alveolären Drucks ist ein Maß für die Kraftentfaltung der exspiratorischen Muskeln. Aus der Atemruhelage heraus kann ein Druck von etwa 15 kPa (112 mmHg) entwickelt werden, bei höherem Lungenvolumen mehr, bei geringerem Lungenvolumen weniger (höhere Kraftentfaltung bei Vordehnung der Muskeln). Das Aufblasen eines Luftballons gelingt daher leichter nach vorheriger tiefer Inspiration. Bei dem umgekehrten Manöver einer maximalen inspiratorischen Anstrengung gegen verschlossene Atemwege (Müller-Versuch) kann PA auf Werte um – 10 kPa gesenkt werden. Stärker negative (subatmosphärische) Drücke werden von einem kleineren, weniger starke von einem höheren Lungenvolumen aus erreicht. Diese Zahlen zeigen, dass mit einem zur Wasseroberfläche offenen

Einatmungsstellung

tiefe Einatmung

Rotationsachse

Ausatmungsstellung

A Diaphragma

Mm. intercostales interni (Rippensenkung) Mm. intercostales externi (Rippenhebung)

B Interkostalmuskeln C Rippenbewegung und Thoraxerweiterung

Abb.10.14 Wirkung der Atemmuskeln. A Bei Abwärtsbewegung des Zwerchfells (Diaphragma) wird der Thorax erweitert; gleichzeitig bewirkt diese Abwärtsbewegung ein Heben der unteren Rippenränder, was den Thoraxraum zusätzlich erweitert. B Die Innervation der Mm. intercostales externi hebt die Rippen und vergrößert aufgrund der schrä-

gen Rotationsachse der Rippen an den Wirbeln sowohl den sagittalen als auch den transversalen Durchmesser des Thorax (C), d. h. diese Muskeln dienen der Inspiration. Die Mm. intercostales interni haben den gegenteiligen Effekt, sie wirken exspiratorisch.

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10.4 Atemmechanik

Beim Valsalva-Versuch steigt zwar der Pleuradruck ebenso wie der Alveolardruck an; die transpulmonale Druckdifferenz bleibt jedoch unverändert, da sie nur von den elastischen Eigenschaften der Lunge abhängt und sich somit nur mit dem Lungenvolumen ändert, das ja weitgehend unverändert bleibt (s. S. 269). Analoges gilt für den Müller-Versuch.

Nasenklemme

Atemwegswiderstand,VA

Fluss-Druck-Kurve



Inspiration

Kammervolumen,VK

Exspiration

Schnorchel (PA = 0) schon bei ca. 100 cm Wassertiefe (Umgebungsdruck 10 kPa) der Atemapparat mit den Inspiratoren nicht mehr wirkungsvoll erweitert werden kann und das Atmen somit unmöglich wird (S. 307). Beim Valsalva- und Müller-Versuch kommt es außerdem zu Rückwirkungen auf den Kreislauf (S. 216 f.). So wird durch den hohen Intrathorakaldruck beim Valsalva-Manöver der venöse Rückstrom zum Herzen behindert, so dass das Herzzeitvolumen und damit die Hirndurchblutung absinkt, was zum Bewusstseinsverlust führen kann.

Atemwegswiderstand DPK RL = c · · V VK c= VA

0

DPK

DPK

Atemwegswiderstand, treibende Drücke Luftströmung im Atemtrakt erfordert eine treibende Druckdifferenz: Beim Einatmen ist PA niedriger, beim Ausatmen höher als der Druck am Mund. Das Verhältnis von dieser Druckdifferenz zur Atemstromstärke ist der Atemwegswiderstand, der zum größten Teil in den oberen Atemwegen lokalisiert ist. Er sinkt mit zunehmendem Lungenvolumen und steht unter der Kontrolle des vegetativen Nervensystems: Der Sympathikus senkt, der Parasympathikus erhöht ihn. Wie in jedem Rohrsystem, so kann eine Luftströmung im Atemtrakt nur dann erfolgen, wenn eine treibende Druckdifferenz, kurz ein Strömungsdruck, besteht. Bei Einatmung muss der Alveolardruck (PA) niedriger sein als der Druck am Mund (Pao; ao steht für airway opening), und umgekehrt bei Ausatmung. Dies gilt für jede Strömungsform, sei sie nun laminar oder turbulent, und für jede Verzweigungsform der Atemwege.

Atemwegswiderstand In Anlehnung an die Definition des Strömungswiderstands bezeichnet man als Atemwegswiderstand oder Resistance (RL) das Verhältnis der treibenden Druckdifferenz zur Atemstromstärke (V˙): RL = (PA – Pao)/V˙

(10.22)

Je höher V˙, je stärker wir also atmen, desto höher muss die treibende Druckdifferenz sein (bei konstantem RL). Je höher andererseits der Atemwegswiderstand, desto höher muss die treibende Druckdifferenz zur Erzeugung einer gegebenen Atemstromstärke sein. Die Gl. 10.22 ist analog dem Ohmschen Gesetz der Elektrizitätslehre: Der treibenden Druckdifferenz entspricht dort eine Potenzialdifferenz (elektrische Spannung), der Gasstromstärke eine elektrische Stromstärke.

Der Atemwegswiderstand kann mit dem Ganzkörperplethysmographen gemessen werden Nachdem wir mit dem Ganzkörperplethysmographen das Alveolarvolumen (oder intrathorakale Gasvolumen) VA bestimmt haben, können wir mit Hilfe dieses Wertes

Pa 8 4 0 –4 –8

Kammerdruck

Ganzkörperplethysmograph

Abb.10.15 Messung des Atemwegswiderstandes mit dem Ganzkörperplethysmographen. Wie bei der Messung des Alveolarvolumens VA in Abb.10.7, sitzt der Proband im geschlossenen Plethysmographen. Wie dort dargestellt, ist VA gemessen worden. Zur Messung des Atemwegswiderstandes RL atmet der Proband jetzt durch einen Pneumotachographen (Abb.10.6), der sich in die Plethysmographen˙ misst (hier wird kammer öffnet und die Atemstromstärke V ˙ während der Inspiration wie bei der klinischen Messung V als positiv angenommen). Zwar kann in dieser Situation der Druck im Alveolarraum PA nicht mehr dem Munddruck gleichgesetzt werden. Nimmt man aber vereinfachend an, dass sich bei der Atmung VA nur wenig ändert, so dass das Verhältnis VA/VK konstant bleibt, so kann aus der in Abb.10.7 abgeleiteten Formel jetzt die jeweilige Druckdifferenz ∆PA gegenüber dem Munddruck aus dem gemessenen Kammerdruck ∆PK und dem zuvor ermittelten VA berechnet werden: ∆PA = –(VK/VA) · ∆PK. Hieraus ergibt sich dann der gesuchte Atemwegswiderstand als Verhältnis der (gleichzeitig mit dem Pneumotachographen gemessenen) Atem˙ und ∆PA: RL = –∆PA/V ˙ = (VK/VA) · ∆PK/V ˙. In der stromstärke V ˙ (Ordinate) gegenüber ∆PK (Abszisse) ist Auftragung von V der Atemwegswiderstand RL dann der Kehrwert der Steigung.

auch recht einfach den Atemwegswiderstand ermitteln. Wie in Abb. 10.15 dargestellt, atmet der Proband jetzt durch einen Pneumotachographen (s. Abb. 10.6), wodurch die Atemstromstärke V˙ gemessen wird. In dieser Situation sind nun Munddruck und Alveolardruck nicht mehr gleich; die durch den Atemwegswiderstand verursachte Druckdifferenz ∆PA zwischen diesen Werten kann aber aus dem Kammerdruck ermittelt werden, wie in Abb. 10.15 dargestellt. So erhält man in guter, für die Klinik ausreichender Annäherung den Atemwegswiderstand. Bei Ruheatmung beträgt der Strömungsdruck entlang den Atemwegen maximal nur etwa 0,1 kPa, doch kann

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269

10 Atmung

5

10

15

20

80

60

Bronchioli terminales

Bronchioli terminales

Segmentbronchien 0

Segmentbronchien

100

B Strömungswiderstand bis zur Generation N (%)

A

Strömungswiderstand pro Generation N

270

40 Durchmesser der Bronchien unter 2 mm 20

0

0

5

10

15

20

Generation der Atemwegsverzweigung, N

Abb.10.16 Strömungswiderstand im Atemtrakt. A Der Strömungswiderstand aller (parallel angeordneten) Bronchien einer gegebenen Verzweigungsgeneration N nimmt zur Peripherie hin ab. Etwa 80% des gesamten Strömungs-

dieser Wert bei vermehrter Atmung, z. B. bei Arbeit oder in Hypoxie, stark zunehmen. Es müssen dann bei der Inspiration entsprechend stärker negative, bei der Exspiration stärker positive Drücke im Alveolarraum erzeugt werden. Bei unveränderter Elastizität der Lunge, bei unveränderten transpulmonalen Drücken (s. Abb. 10.12), wird dann auch der Pleuradruck bei Inspiration stärker negativ und bei Exspiration weniger stark negativ; er kann bei Exspiration sogar positiv werden mit der Gefahr der Kompression von Atemwegen (Abb. 10.21, S. 273). Dies kommt bei Patienten mit erhöhtem Atemwegswiderstand schon bei Ruheatmung vor. Bei verschiedenen Erkrankungen ist der Atemwegswiderstand erhöht; man nennt sie kollektiv auch obstruktive Lungenfunktionsstörungen (s. S. 274). Bei ihnen ist die durch die Erhöhung des Atemwegswiderstandes verursachte erschwerte Atmung ein Leitsymptom.

Der Atemwegswiderstand ist in den oberen Atemwegen lokalisiert Da die Atemwege zur Peripherie hin immer enger werden, könnte man vermuten, dass dort auch der hauptsächliche Sitz des Atemwegswiderstands sei. Die zur Peripherie hin stark anwachsende Anzahl von Bronchien jeder Generation führt jedoch zu einem immer größer werdenden Gesamtquerschnitt, so dass der Atemwegswiderstand – trotz des stark zunehmenden Widerstands der einzelnen Bronchien – im Wesentlichen in den oberen Atemwegen lokalisiert ist: in Mund, Nase und Rachen sowie in der Trachea, den Stamm-, Lappen- und Segmentbronchien bis hin etwa zur sechsten Verzweigungsgeneration (Abb. 10.16). In den peripheren Atemwegen mit

widerstands liegen also in Atemwegen mit einem Durchmesser über 2 mm (B). (Zur Verzweigungsgeneration s. Abb.10.3, S. 257; nach 29.)

Durchmessern unter 2 mm findet man weniger als 20 % des Widerstands; dafür ist hier der wesentliche Teil der Compliance (CL) lokalisiert. Dies ist klinisch deshalb bedeutsam, weil Lungenkrankheiten oft in der Peripherie beginnen. Die Messung des Atemwegswiderstands ist dann kein gutes diagnostisches Mittel zur Erkennung von Frühstadien, und es müssen spezielle diagnostische Maßnahmen ergriffen werden (31).

Lungenvolumen und Bronchialmuskulatur beeinflussen den Atemwegswiderstand Die elastische Retraktion zieht auch an den im Lungengewebe gelegenen Bronchien (und Gefäßen) und bestimmt so ganz wesentlich ihre Weite (Abb. 10.17). Da im Wesentlichen die größeren und mittelgroßen Bronchien den Atemwegswiderstand (RL) bestimmen (Abb. 10.16), nimmt RL mit zunehmendem Lungenvolumen stark ab (Abb. 10.18). In Atemruhelage beträgt RL etwa 0,13 kPa · l–1 · s (Tab. 10.1, S. 263). Bei sehr kleinem Lungenvolumen kommt es andererseits zum Kollaps kleiner Bronchien (s. u.), was für den starken Anstieg von RL mitverantwortlich ist. Patienten mit erhöhtem RL atmen oft bei vergrößertem Lungenvolumen, da dies hilft, RL zu senken. Die Abhängigkeit vom Volumen verursacht also passive atemzyklische Schwankungen von RL; daneben gibt es eine aktive Kontrolle des Atemwegswiderstands, die eine Anpassung an unterschiedlichen Bedarf gewährleistet. Die glatte Bronchialmuskulatur steht nämlich unter dem Einfluss des vegetativen Nervensystems. Der Parasympathikus (Acetylcholin) kontrahiert, der Sympathikus (Noradrenalin) und zirkulierendes Adrenalin relaxieren (über β2-Adrenozeptoren). So werden die Bronchien bei

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0,1

0

0

2

–1

RL = 0,13 kPa· l · s totale Lungenkapazität

Blutgefäß

0,2

Residualvolumen

Retraktion

Atemwegswiderstand R L (kPa · l

–1

· s)

Atemruhelage

10.4 Atemmechanik

4

6

8

Lungenvolumen (l) Bronchus

Lungengewebe

Abb.10.18 Erhöhtes Lungenvolumen senkt den Atemwegswiderstand. Wegen der Verstärkung des elastischen Zugs nimmt der Atemwegswiderstand (RL) mit dem Lungenvolumen ab.

glatte Muskulatur

Abb.10.17 Retraktion des Lungengewebes. Das elastische Alveolargewebe übt einen Zug auf die intrapulmonalen Bronchien und Gefäße aus, der durch die Federn symbolisiert ist. Dieser Zug nimmt mit dem Lungenvolumen zu (Retraktionskraft verstärkt).

Arbeit weiter gestellt. Auch eine Abnahme des CO2Partialdrucks in den Atemwegen führt zu Bronchokonstriktion, was zusammen mit der hypoxischen Vasokonstriktion der Lungengefäße eine Verminderung von Verteilungsstörungen zur Folge hat (S. 292 f.).

Die forcierte Exspiration Die mit maximaler Anstrengung ausgeführte oder forcierte Exspiration erlaubt wichtige diagnostische Rückschlüsse auf den Funktionszustand des Atemapparats. Am Ende der Exspiration wird die Atemstromstärke durch Kompression der kleinen Atemwege begrenzt.

Das forcierte Exspirogramm Das Verfahren, auch Atemstoßtest oder Tiffeneau-Test genannt, ist einfach und schnell durchführbar. Der Proband atmet durch einen Pneumotachographen (Abb. 10.6). Nach ruhiger Atmung exspiriert er von maximaler Inspirationsstellung aus mit maximalem Kraftaufwand so tief wie möglich (Abb. 10.19). Aus der gegen die Zeit registrierten Volumenkurve können unmittelbar zwei diagnostisch wichtige Größen abgelesen werden: die forcierte Vitalkapazität FVC sowie das forcierte exspiratorische Volumen in der ersten Sekunde oder die Einsekundenkapazität FEV1, d. h. das in der ersten Sekunde maximal exspirierbare Volumen. Die Werte von FVC und VC (Vitalkapazität bei langsamer Exspiration) sind normalerweise weitgehend gleich (Tab. 10.1, S. 263). Dass FVC oft etwas kleiner ist als VC, liegt am Verschluss der Atemwege bei forcierter

Exspiration (dynamische Atemwegskompression, s. u.). Der Wert von FEV1 ist genau wie VC (und FVC) von Alter, Körpergröße, Geschlecht und Trainingszustand abhängig (S. 262). Die Verhältnisse FEV1/TLC und FEV1/FVC sind aber weitgehend unabhängig von diesen Faktoren (Tab. 10.1, S. 263). Als Richtwert kann man sich merken, dass der Lungengesunde in einer Sekunde etwa 80 % seiner Vitalkapazität ausatmen kann (die ihrerseits 80 % der totalen Lungenkapazität beträgt). Des Weiteren lässt sich die exspiratorische Atemstromstärke als die Steilheit des Exspirogramms ablesen. Ihr Wert im mittleren Bereich des forcierten Exspirogramms (zwischen 25 und 75 % des ausgeatmeten Volumens; s. Abb. 10.19) hat in der Klinik als mittlerer exspiratorischer Fluss (FEF25 – 75 %) diagnostische Bedeutung.

Fluss-Volumen-Kurve Die im forcierten Exspirogramm gemessenen Werte der exspiratorischen Atemstromstärke (V˙E) und des Volumens (V) können auch direkt gegeneinander aufgetragen werden; man erhält die Fluss-Volumen-Kurve (Abb. 10.20, grüne Kurve 1). Schon kurz nach Beginn der Exspiration (ausgehend von maximaler Inspiration = TLC) erreicht V˙E ein Maximum (maximale exspiratorische Atemstromstärke, V˙Emax, Tab. 10.1, S. 263). Danach fällt V˙E nahezu linear mit dem Volumen bis zum Residualvolumen ab. Misst man nun die Fluss-Volumen-Kurve bei anderen Exspirationsformen, z. B. mit weniger Anstrengung oder bei zunächst langsamer und dann forcierter Exspiration (Kurven 2 und 3 in Abb. 10.20), so findet man durchaus unterschiedliche Kurven, doch ist der letzte Anteil von der Atemanstrengung weitgehend unabhängig. Dies liegt daran, dass der bei der forcierten Ausatmung positiv werdende Pleuradruck kleine Atemwege komprimiert, so dass eine Erhöhung der exspiratorischen Anstrengung die exspiratorische Stromstärke nicht erhöht. Beim Lungengesunden tritt diese dynamische Atemwegskompression (Abb. 10.21) nur bei forcierter Exspiration auf. Normalerweise werden ja die Atemwege durch

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271

10 Atmung Lungenvolumen in % von TLC

· =V òVdt

100

75

50

6

Einsekundenkapazität (FEV1) forcierte Vitalkapazität (FVC)

10

2 5

0

3

6

2

RV

0

Zeit

Abb.10.19 Forcierte Exspiration (Tiffeneau-Test). Der Proband atmet durch einen Pneumotachographen; die ge˙ wird integriert, so dass man messene Atemstromstärke V das geatmete Volumen erhält. Trägt man dieses gegen die Zeit auf, so erhält man das Spirogramm. Nach ruhiger Atmung atmet der Proband so tief wie möglich aus (bis zum Residualvolumen, RV), dann so tief wie möglich ein (bis zur totalen Lungenkapazität, TLC); sodann atmet er so rasch wie möglich und so tief wie möglich aus, und dieses forcierte Exspirogramm wird mit schnellem Vorschub registriert (violetter Kurvenabschnitt). Danach folgt wieder ruhige Atmung. Aus diesem mit maximaler Anstrengung ausgeführten Exspirogramm von TLC bis RV können die Einsekundenkapazität (FEV1) und die forcierte Vitalkapazität (FVC) abgelesen werden. Die Steilheit im mittleren Teil der Kurve ergibt die exspiratorische Atemstromstärke (mittlerer exspiratorischer Fluss, FEF25 – 75 %).

die Retraktion der Lunge (Abb. 10.17) offen gehalten; als Ausdruck der Retraktion ist der Pleuradruck (Ppl) negativ. Bei starker Exspirationsanstrengung wird aber Ppl positiv und höher als in den kleinen Atemwegen, die er dann komprimiert. Dies tritt besonders auf bei verminderter Retraktion des Lungengewebes (CL erhöht) und bei erhöhtem Atemwegswiderstand, bei dem die treibende Druckdifferenz zunimmt. Dynamische Atemwegskompression gibt es aber nur bei Exspiration, nicht bei Inspiration, bei der ja Ppl stärker negativ wird und die Atemwege offen hält. Beim Husten wird die Atemwegskompression sinnvoll ausgenutzt; denn die hierbei eingeengten Bronchien bilden eine Düse, durch die eine hohe „Windgeschwindig-

2

4

TLC

Steilheit . = VEmax

Atemstromstärke unabhängig von Atemanstrengung

. exspiratorische Atemstromstärke VE ( l/s)

normal: ca. 80% von FVC

1s

4

0

RV

1

· V

TLC

25

FVC

. VEmax

Lungenvolumen (l)

272

Lungenvolumen V ( l)

0

RV

Abb.10.20 Fluss-Volumen-Kurven der Lunge. Bei forcierter Exspiration (ausgehend von 100% der totalen Lungenkapazität, TLC) bis zum Residualvolumen RV (grüne Kurve 1) wird eine maximale exspiratorische Atemstromstärke ˙ Emax) erreicht. Der rechte Teil der Kurve ist unabhängig (V von der Atemanstrengung, ist also auch bei anderen Exspirationsformen (blaue Kurven 2 und 3) gleich wie bei maximaler Exspirationsanstrengung.

keit“ erzeugt wird, die einen Fremdkörper mechanisch mitreißen kann. Als Atemgrenzwert bezeichnet man die maximal mögliche willkürliche Ventilation. Dabei atmet der Proband mit einer Atemfrequenz von z. B. 30 min–1 so tief er kann. Da dabei der arterielle PCO sinkt (Hyperventilation, S. 281), was schädliche Folgen hat, wird das Manöver auf etwa 10 s begrenzt, die Ventilation aber auf 1 min umgerechnet. Für den lungengesunden Jugendlichen ergibt sich ein Wert von etwa 110 l · min–1 (Tab. 10.1, S. 263). Bei höherer Atemfrequenz (40 – 60 min–1) können höhere Werte erreicht werden (120 – 170 l · min–1). Vermindert ist der Atemgrenzwert sowohl bei restriktiven als auch obstruktiven Lungenfunktionsstörungen (S. 274). 2

Atemarbeit und ihre Kosten Die von den Atemmuskeln geleistete Arbeit ist nur schwer zu messen. Abschätzungen zeigen aber, dass die Atemarbeit normalerweise gering ist, so dass ihr Energiebedarf nur etwa 1 % des gesamten Energiebedarfs in Ruhe oder bei körperlicher Arbeit darstellt. Unter pathologischen Bedingungen kann dieser Wert allerdings deutlich ansteigen. Die Atemmuskeln leisten physikalische Arbeit gegen eine ganze Reihe von Kräften, von denen die wichtigsten sind

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10.4 Atemmechanik A Atemruhe

B forcierte Exspiration

PA Ppl (>0) PA

Paw

Paw

Pel

+

+ Druck

Ppl 0

0

EPP (Paw = Ppl)

Pel

–

– Alveole

intrathorakale Atemwege

Abb.10.21 Dynamische Atemwegskompression. A Schema der Lunge mit den intrathorakalen Atemwegen beim Atemanhalten. Der Druck in den Alveolen (PA) und den Atemwegen (Paw) ist Null (= atmosphärisch). Aufgrund des elastischen Zugs der Lunge ist der Pleuradruck (Ppl) um einen Betrag Pel niedriger als PA; diese transmurale Druckdifferenz der Lunge Pel = PA – Ppl hält die Atemwege offen. B Bei forcierter Exspiration nehmen sowohl PA als auch Ppl positive Werte an, wobei auch hier PA um Pel über Ppl liegt, die Alveolen also aufgrund der elastischen Refraktion nicht kollabieren. Entlang den Atemwegen mit ihrem Strömungs-

– die elastischen Kräfte, die zur elastischen Verformung von Lunge und Thorax überwunden werden müssen, – die viskösen Kräfte, die bei der Hin- und Herbewegung der Atemluft durch den Bronchialbaum auftreten. Die Inspirationsarbeit setzt sich also zusammen aus der Arbeit gegen elastische Widerstände bei der Dehnung von Lunge und Thorax und der viskösen Arbeit (= Reibungsarbeit), die zur inspiratorischen Bewegung der Luft aufgebracht werden muss. Die inspiratorisch geleistete Arbeit gegen die elastischen Kräfte wird (wie bei einer Metallfeder) „gespeichert“ und zur Ableistung der Exspirationsarbeit wiederverwendet. Dabei reicht die inspiratorisch gespeicherte potenzielle Energie in Ruhe auch aus, den Bedarf für die auch exspiratorisch aufzubringende visköse Arbeit zu decken. Daher müssen die Exspirationsmuskeln bei ruhiger Atmung keine Arbeit leisten, d. h. die Exspiration ist bei Ruheatmung passiv. Anders ist es aber bei vermehrter Atmung. Hier kann die zur Bewegung der Atemluft erforderliche Arbeit so groß werden, dass die Exspirationsarbeit nicht mehr allein aus der elastischen Energie der Lungendehnung bereitgestellt werden kann. Hier müssen die Exspirationsmuskeln unterstützend eingreifen. Dieser Fall tritt auch bei obstruktiven Atemwegskrankheiten (s. S. 274) ein.

intrathorakale Atemwege

Alveole

widerstand fällt der Druck jedoch ab („Strömungsdruck“). An einem Punkt entlang den Atemwegen kann dann der Druck in den Atemwegen den Pleuradruck erreichen (Paw = Ppl; equal pressure point, EPP). Mundwärts von EPP wird dann Ppl höher als der Druck in den Atemwegen und diese werden komprimiert (dynamische Atemwegskompression). Erhöhung der Exspirationsanstrengung führt jetzt nicht zur Erhöhung der Exspirationstärke. EPP wird umso eher erreicht, je geringer die Retraktion des Lungengewebes (Pel vermindert) und je höher der Atemwegswiderstand ist (Druckabfall in den Atemwegen vergrößert).

Der für die Atemmuskeln erforderliche Energiebedarf kann abgeschätzt werden, wenn man die Ventilation steigert, ohne andere Skelettmuskeln zu aktivieren, und dabei die Zunahme der O2-Aufnahme misst. Dies kann durch willkürliche Mehratmung erfolgen oder dadurch, dass man die Atmung mit CO2 (S. 298) oder einem apparativen Totraum (Rohr, durch das man ein- und ausatmet) antreibt. Unter normalen Bedingungen stellt die Atemarbeit und ihr O2-Bedarf einen nur geringen Anteil am Energieumsatz des ruhenden und des arbeitenden Menschen dar. So beträgt bei ruhiger Atmung durch die Nase die ˙ m(resp), mechanische Leistung der Atemmuskulatur, W nur etwa 0,7 W. Entsprechend ist auch der für die Atemarbeit benötigte O2-Bedarf V˙O (resp) bei Ruheatmung gering; er wurde auf 2 – 4 ml · min–1 geschätzt, was einem ˙ e(resp) von 0,7 – 1,4 W entspricht (15). Energiebedarf W Damit stellt der O2-Bedarf der Atmung unter Ruhebedingungen einen Anteil von etwa 1 % des gesamten O2Bedarfs (Tab. 10.3, S. 281) dar. Sowohl die geleistete Atemarbeit wie der hierfür benötigte O2-Bedarf steigen jedoch mit der Ventilation mehr als proportional an (7). Aber auch unter hypoxischen Bedingungen, z. B. in großer Höhe, scheinen die Atemmuskeln nicht zum begrenzenden Faktor zu werden. Allerdings kann unter pathologischen Bedingungen die Atemarbeit so groß werden, dass 2

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273

10 Atmung sie das Atemzeitvolumen begrenzt, so dass es zur CO2Retention kommt. Zu nennen sind z. B. Entfaltungsstörungen der Lunge (Lungenfibrose, Pleuraverwachsungen, Lungenemphysem) und Verwachsungen im Bereich des Thorax.

Nach den atemmechanischen Veränderungen (Lungenvolumina, forciertes Exspirogramm) kann man pathophysiologisch zwei große Gruppen atemmechanischer Funktionsstörungen unterscheiden, wobei jedoch klinisch häufig Mischformen beobachtet werden. Restriktive Lungenfunktionsstörung. Hierbei ist stets die Expansionsfähigkeit des Atemapparats eingeschränkt, d. h. Vitalkapazität und totale Lungenkapazität sind vermindert. Dies kann am Lungenparenchym (z. B. Verlust von Lungengewebe, Lungenfibrose), an der Pleura (z. B. Verwachsungen) oder an der Beweglichkeit des Thorax (z. B. Skoliose) liegen. Die Compliance des Atemapparats ist dabei erniedrigt. Obstruktive Lungenfunktionsstörung. Hierbei ist der Atemwegswiderstand erhöht. Dies kann durch Fremdkörper oder Sekret in den Atemwegen erzeugt sein (z. B. chronische Bronchitis), durch verminderten Zug des umgebenden Gewebes (z. B. Emphysem, Abb. 10.17, S. 271) oder durch einengenden Druck von außen (z. B. Ödem, Tumoren). Beim Asthma, der anfallsweise auftretenden Atemnot, ist neben der Wandverdickung durch hypertrophierte Schleimdrüsen und eine übermäßige Schleimsekretion noch der Tonus der Bronchialmuskulatur erhöht. Im forcierten Exspirogramm sind FEV1/FVC sowie FEF25 – 75 % erniedrigt (Abb. 10.20). Bei länger andauernder Obstruktion findet man ein erhöhtes Residualvolumen sowie eine verminderte Vitalkapazität.

10.5

Perfusion der Lunge

Der niedrige Blutdruck im Lungenkreislauf und der Pleuradruck bestimmen die Weite der Lungengefäße. Der Widerstand der gesamten Lungenstrombahn hängt im Wesentlichen von passiven Faktoren ab; regional bewirkt alveoläre Hypoxie eine Vasokonstriktion. Wegen des niedrigen Blutdrucks sind bei aufrechtem Thorax die apikalen Lungenbezirke weniger durchblutet als die basalen.

Intravasale und perivaskuläre Drücke bestimmen die Gefäßweite Im Gegensatz zum Systemkreislauf sind die intravasalen Drücke in der Lungenstrombahn sehr niedrig (Abb. 10.22). Der Druckabfall entlang der Lungenstrombahn ist nach heutiger Kenntnis viel gleichmäßiger als im Systemkreislauf; es fehlen ausgeprägte Widerstandsgefäße, die den Arteriolen vergleichbar wären. Wegen des niedrigen intravasalen Drucks ist die Strömung stark von hydrostatischen Effekten und von den perivaskulären Drücken abhängig.

1,0

Lungenkreislauf

Restriktive und obstruktive Lungenfunktionsstörungen

Druckabfall 2,7/1,2 (kPa)

Lunge

rechter Vorhof

0,9

linker Vorhof

Arterie

Vene

Arterie

Mitteldruck: 1,7

Mitteldruck: 13

rechte Kammer

Herz

linke Kammer

Vene Systemkreislauf

274

Gewebe (kPa) 16/11

2,6 0,5

Druckabfall

Abb.10.22 Intravasale Drücke im Lungen- und Systemkreislauf (in kPa). Während der hauptsächliche Druckabfall im Systemkreislauf präkapillär erfolgt (Arteriolen), ist er im Lungenkreislauf gleichmäßiger auf die Strombahnabschnitte verteilt. Für die Aorta und die Pulmonalarterie sind neben den Mitteldrücken auch die systolischen und diastolischen Druckwerte angegeben. Die Werte für das Lungengefäßbett sind geschätzt.

Entlang der Strombahn kann man bezüglich des perivaskulären Druckes drei Gefäßabschnitte unterscheiden. – Die großen extrapulmonalen Gefäße liegen zusammen mit dem Herzen und den großen Körpervenen im Mediastinum, wo der Pleuradruck (Ppl) herrscht. Da er meist negativ ist (Abb. 10.12, S. 266), „zieht“ er von außen an den Gefäßen und hilft so, sie offen zu halten. Während einer Inspiration wird der Pleuradruck noch negativer, die Gefäße werden weiter, und die Strömung in ihnen wird begünstigt. – Die die Bronchien begleitenden Arterien- und Venenäste sind, ebenso wie die Bronchien selbst, von Lungengewebe mit seinem elastischen Zug umgeben (Abb. 10.17, S. 271). Der perivaskuläre Druck dieser Gefäße ist daher weitgehend dem Pleuradruck gleich, so als verliefen auch sie im Pleuraraum. – Die alveolären Kapillaren schließlich sind vom Alveolardruck umgeben, wenn man den zusätzlichen Zug der Oberflächenkräfte vernachlässigt.

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10.5 Perfusion der Lunge

alveoläre Kapillare Alveolarseptum

totale Lungenkapazität

Alveole

Atemruhelage

extraalveoläres Gefäß

Residualvolumen

Retraktionszug

total hohes Lungenvolumen

pulmonaler Gefäßwiderstand

niedriges Lungenvolumen

alveolär extraalveolär 0

Lungenvolumen

Abb.10.23 Abhängigkeit des pulmonalen Gefäßwiderstands der Lungengefäße vom Lungenvolumen. Während die extraalveolären Gefäße mit zunehmendem Lungenvolumen gedehnt werden, werden die in der Alveolarwand

Strömungswiderstand der Lungengefäße Die Lunge ist das am stärksten durchblutete Organ des Körpers, da sie vom gesamten Herzzeitvolumen durchströmt wird. Die niedrige treibende Druckdifferenz (Druck im rechten Ventrikel minus Druck im linken Vorhof; Tab. 10.2, S. 276) zeigt an, dass der pulmonale vaskuläre Widerstand (PVR) viel niedriger ist als der totale periphere Widerstand TPR des Systemkreislaufs. In Analogie zur Gl. 10.22 (S. 269) berechnet sich der PVR als Verhältnis von treibender Druckdifferenz zu Durchblutung in Ruhe zu 7,7 kPa · l–1 · s. Das ist etwa 16-mal niedriger als der TPR (Tab. 10.2). Bei körperlicher Arbeit steigt zwar, je nach Trainingszustand, das Herzzeitvolumen und damit die Lungendurchblutung auf das Drei- bis Sechsfache des Ruhewerts an; der Druck in der A. pulmonalis steigt aber viel weniger, höchstens auf das Doppelte. Da also die treibende Druckdifferenz weniger ansteigt als die Durchblutung, muss der PVR abgesunken sein. Welche Faktoren bestimmen den PVR?

Passive Beeinflussung des Strömungswiderstands Erniedrigung des Strömungswiderstands erfolgt zum einen durch Erweiterung von bereits durchströmten Gefäßen und zum anderen durch Eröffnung zuvor nicht durchströmter Gefäße (Rekrutierung). Beides sind fast ausschließlich passive Änderungen der Gefäßweite; die im Körperkreislauf so wichtige aktive Regulation ist, mit Ausnahme der hypoxischen Vasokonstriktion (s. u.), im Lungenkreislauf von untergeordneter Bedeutung.

gelegenen Kapillaren gequetscht. Der sich ergebende totale Widerstand (blaue Kurve) hat demnach im Bereich der Atemruhelage ein Minimum und nimmt zu kleineren wie zu größeren Volumina zu.

Eine Erhöhung des intravasalen (Blut-)Druckes, sowohl der Pulmonalarterie wie der Pulmonalvene, dehnt die Pulmonalgefäße und führt so zur Senkung des PVR. Mit zunehmendem Lungenvolumen erhöht sich einerseits der öffnende Retraktionszug auf die extraalveolären Gefäße (Abb. 10.17, S. 271), und ihr Widerstand sinkt ganz ähnlich wie derjenige der kleinen Bronchien (Abb. 10.18, S. 271). Gleichzeitig werden aber die Kapillaren in den Alveolarsepten gequetscht, wodurch sich ihr Widerstand erhöht. Insgesamt ergibt sich so ein Minimum des pulmonalvaskulären Widerstandes im Bereich normaler Atmung (Abb. 10.23).

Aktive Beeinflussung des Strömungswiderstands Sympathische und parasympathische Einflüsse auf den Strömungswiderstand sind, im Gegensatz zur Innervation der Bronchien (S. 270 f.), kaum nachweisbar. Hingegen führt eine Senkung des O2-Partialdrucks in den Alveolen zur Konstriktion der sie versorgenden Blutgefäße: hypoxische pulmonale Vasokonstriktion (HPV). Verantwortlich hierfür sind die kleinen Arterien der Lungenstrombahn, mit Durchmessern zwischen 200 und 400 µm. Nach neueren Befunden wirkt die Hypoxie unmittelbar auf die glatten Muskelzellen in den Wänden dieser Gefäße (28). Der Mechanismus der Hypoxieantwort dieser Zellen hat bemerkenswerte Ähnlichkeit mit demjenigen der Typ-I-Zellen im Glomus caroticum (Abb. 10.51, S. 300). Wie dort hemmt Hypoxie einen K+Kanal in der Zellmembran, wodurch es zur Membrandepolarisation kommt (52). Dadurch wird die Leitfähigkeit eines spannungsgesteuerten Ca2+-Kanals erhöht, so dass

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275

276

10 Atmung Tabelle 10.2

Druck und Strömung im Lungen- und Systemkreislauf. Mittlere Werte (s. auch Abb.10.22)

Parameter

Lungenkreislauf

Symbol

Wert

Körperkreislauf

Mittlere Drücke (kPa)

A. pulmonalis V. pulmonalis = linker Vorhof

Ppa Ppv

1,7 0,9

Ppa – Ppv

0,8

Aorta Paorta 13 rechter Vorhof ZVD 0,5 (zentraler Venendruck) Paorta – ZVD 12,5

Strömungsdruck (kPa)

Symbol

Durchblutung (l · min–1)

Herzzeitvolumen

HZV

6,2

Herzzeitvolumen

HZV

Strömungswiderstand (kPa · l–1 · s)

pulmonaler vaskulärer Widerstand

PVR

7,7

totaler peripherer Widerstand

TPR

Ca2+ aus dem Extrazellulärraum einströmt. Die erhöhte intrazelluläre Ca2+-Konzentration führt zur Kontraktion der glatten Muskelzelle. Wahrscheinlich ist der K+-Kanal selbst hypoxieempfindlich und reagiert auf hypoxiebedingte Veränderungen seines Redoxzustandes. Die HPV ist eine Besonderheit der Lungenstrombahn. In den arteriellen Gefäßen des großen Kreislaufs führt Hypoxie im Gegenteil zur Vasodilatation, die von einem ATP-abhängigen K+-Kanal vermittelt wird (Hypoxie öffnet diesen Kanal und bewirkt so eine Hyperpolarisation). Besondere Bedeutung hat die HPV für den Embryonalkreislauf, da sie dort wesentlich am Zustandekommen des hohen pulmonalen Strömungswiderstandes beteiligt ist. Für das spätere Leben ist die HPV aber auch sinnvoll, da sie verhindert, dass schlecht belüftete Alveolarbezirke zu viel Blut bekommen; sie dient also der Anpassung der regionalen Durchblutung an die regionale Ventilation in der Lunge (S. 291 ff.). Der Strömungswiderstand in der Lunge wird noch durch eine Reihe von Substanzen beeinflusst, z. B. Histamin, Serotonin, Angiotensin II, Prostaglandine und Stickstoffmonoxid. Alle diese Substanzen haben beim Gesunden allenfalls modulierenden Einfluss, sind jedenfalls nicht ursächlich an der HPV beteiligt. Das Stickstoffmonoxid (NO) ist allerdings von praktisch-klinischem Interesse, da es als potenter Vasodilatator therapeutisch eingesetzt werden kann; im Endothel gebildet, führt es zur Erhöhung des cGMP auch in den benachbarten glatten Gefäßmuskeln, die somit relaxieren (S. 40). Auch eingeatmetes NO relaxiert die Lungengefäße, insbesondere wenn sie zuvor kontrahiert waren, z. B. durch Hypoxie (s. o.). NO kommt als sehr geringe Fraktion von unter 10–6 schon in der Umgebungsluft vor; bei Werten über etwa 10–4 (100 ppm) wirkt es toxisch. NO ist in jüngster Zeit mit sehr gutem Erfolg therapeutisch beim akuten Lungenversagen (ARDS, S. 267) eingesetzt worden, wo es den stark erhöhten PVR zu senken vermochte und den Gasaustausch verbesserte (14).

Regionale Unterschiede der Lungenperfusion Die Schwerkraft bewirkt, dass der Blutdruck in den oben gelegenen Lungenbezirken geringer ist als unten (Abb. 10.24). Bei aufrechtem Thorax gibt es daher Bereiche nahe der Lungenspitze, in denen der kapilläre Blutdruck niedriger ist als der alveoläre Druck (PA), der normalerweise weitgehend atmosphärisch ist. In dieser so genannten Zone I drückt daher der alveoläre Druck die Kapilla-

Wert

6,2 120

ren zusammen, so dass sie nicht durchblutet werden. Demgegenüber sind die Kapillaren an der Basis, wo nicht nur der pulmonalarterielle (Ppa), sondern auch der pulmonalvenöse Druck (Ppv) höher ist als PA, stets durchblutet (Zone III). In dem Bereich dazwischen, in dem PA zwar niedriger ist als Ppa, aber höher als Ppv (Zone II), kommt es zum Kollaps der Kapillaren an der Stelle, wo ihr Blutdruck den alveolären Druck unterschreitet. Es gibt also einen starken vertikalen Durchblutungsgradienten in der aufrechten Lunge (Abb. 10.24). Auch in waagerechter Körperlage sind die unten liegenden Abschnitte mehr durchblutet als die oben liegenden, jedoch sind die Unterschiede wegen der geringeren Höhenunterschiede weniger ausgeprägt. Die Erhöhung des Drucks in der A. pulmonalis bei körperlicher Arbeit (S. 275) führt zur Verkleinerung der Zone I und damit zur Abnahme des Durchblutungsgradienten. Diese regionalen Durchblutungsunterschiede beeinflussen die Effizienz des pulmonalen Gasaustauschs (S. 291 f.).

10.6

Ventilation, Perfusion und Gasaustausch

Pulmonale O2-Aufnahme und CO2-Abgabe können aus der Ventilation und der Zusammensetzung der ausgeatmeten Luft bestimmt werden. Mit der O2-Aufnahme und der O2-Konzentration in arteriellem und gemischtvenösem Blut lässt sich das Herzzeitvolumen errechnen.

Analyse der ausgeatmeten Luft lässt O2-Aufnahme und CO2-Abgabe berechnen Mit jedem Liter Luft atmen wir etwa 170 ml O2 (STPD) ein (S. 260). Ein Teil des Sauerstoffs gelangt in den Alveolarraum und von dort ins Blut, so dass die ausgeatmete Luft bei normaler Atmung in Ruhe noch etwa 130 ml O2 je Liter enthält. Wird die Ventilation bei unveränderter O2Aufnahme ins Blut gesteigert, so wird sogar noch mehr O2 wieder ausgeatmet. Wird umgekehrt der O2-Bedarf des Organismus gesteigert, ohne dass die Ventilation in gleichem Maß erhöht wird, so wird auch mehr O2 aus der Atemluft ausgeschöpft. Die wichtige Beziehung zwischen (exspiratorisch gemessener) Ventilation V˙E, O2-Aufnahme V˙O (aufgenommene O2-Menge pro Zeit) und exspiratorischer Gaszusammensetzung lässt sich durch die folgende Bilanzgleichung ausdrücken (Abb. 10.26, S. 279):

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2

10.6 Ventilation, Perfusion und Gasaustausch Druck im Alveolarraum (PA) Druck in der A. pulmonalis (Ppa)

Zone I

Druck in der V. pulmonalis (Ppv)

Höhe

Zone II

PA > Ppa > Ppv

Zone III

Ppa > PA > Ppv

Ppa > Ppv > PA Durchblutung

Abb.10.24 Schwerkraftabhängige Durchblutungsverteilung in der aufrechten Lunge. Der Perfusionsdruck erreicht die Spitze nicht (Zone I). In Zone II kommt es zur Kompression der Kapillare, so dass die Perfusion von der Differenz

V˙O = V˙E · (FI – FE)O 2

(10.23)

2

FI und FE sind hier die O2-Fraktionen in der Inspirationsluft bzw. Exspirationsluft. Für die CO2-Abgabe (abgegebene CO2-Menge pro Zeit, V˙CO ) gilt eine analoge Beziehung (wobei die inspiratorische CO2-Fraktion FICO null ist; S. 260): 2

(Ppa – PA) abhängt, von Ppv aber unabhängig ist. In Zone III herrschen normale Perfusionsverhältnisse; der relativ hohe Blutdruck dehnt die Kapillaren.

diese Umrechnungen in die Gleichungen 10.23 und 10.24 eingeführt werden, und es kann die Fraktion F ersetzt werden durch den Partialdruck P (der bei der weiteren Betrachtung des Gasaustausches vorgezogen wird). Daher ergibt sich:

2

V˙CO = V˙E · FECO 2

2

(10.24)

Die Ventilation, auch Atemzeitvolumen genannt, wird meist aus Atemzugvolumen (V T) und Atemfrequenz (fR) bestimmt: V˙E = VT · fR

(10.25)

Inspiratorisches und exspiratorisches Atemzugvolumen (unter BTPS-Bedingungen) sind nahezu gleich groß; geringfügige Unterschiede ergeben sich daraus, dass die CO2-Abgabe in der Regel etwas niedriger ist als die O2-Aufnahme (RQ < 1; S. 278), so dass insgesamt etwas weniger Volumen aus- als eingeatmet wird. Für die weitere Betrachtung sollen diese Unterschiede, die durch Einführung der sog. Stickstoffkorrektur berücksichtigt werden können, vernachlässigt werden, und das Symbol VT kennzeichnet das (exspiratorisch gemessene) Atemzugvolumen. Entsprechende Unterschiede gibt es zwischen der inspiratorischen und der exspiratorischen Ventilation, die jedoch auch als gering vernachlässigt werden sollen. Statt des Symbols V˙ T für die Ventilation hat sich allgemein als Symbol V˙E eingebürgert; es trägt der Tatsache Rechnung, dass die Ventilation meist exspiratorisch, z. B. durch Sammeln im Spirometer, gemessen wird (Abb. 10.25).

Bei der Verwendung der Gleichungen 10.23 und 10.24 müssen die Messbedingungen beachtet werden. So sind V˙O und V˙CO in STPD, V˙E aber in BTPS einzusetzen. Mit den Gleichungen 10.7, 10.9 und 10.11 auf S. 260 ff. können 2

2

V_ O2 =

V_ CO2 =

1  V_ E  ðPI 115

PEÞO2

ð10:26Þ

1  V_ E  ðPEÞCO2 115

ð10:27Þ

(V˙O und V˙CO in lSTPD; V˙E in lBTPS; P in kPa; die Zahl 115 hat die Dimension kPa [S. 260] und besitzt einen anderen Wert, wenn P in anderen Einheiten gemessen wird). Die Gleichungen 10.26 und 10.27 zeigen einen einfachen Weg auf, die wichtigen Größen der pulmonalen O2-Aufnahme (V˙O ) und CO2-Abgabe (V˙CO ) zu messen. Hierzu muss man lediglich die Ausatemluft sammeln (gemischt-exspiratorisches Gas) und hierin die O2- und CO2-Fraktion oder deren Partialdruck messen. Die Ventilation (Atemzeitvolumen) V˙E ergibt sich als gesammeltes Gasvolumen pro Zeit. 2

2

2

2

Mit dem Fick’schen Prinzip lässt sich das Herzzeitvolumen messen Der in die Lungen eingeatmete Sauerstoff wird von dem die Lungenkapillaren durchströmenden Blut aufgenommen (Abb. 10.25); nur ein sehr kleiner Anteil von höchstens einigen Prozent wird vom Lungengewebe selbst

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277

278

10 Atmung eingeatmete O2-Menge: V· l · Fl O

FI O V· I

2

2

ausgeatmete O2-Menge: V· E · FEO

HZV = FEO V· E

2

2

von der Lunge entnommene O2-Menge: ·V = V· E · (FI – FE) O O 2

2

O2-Beladung: V· O 2

fließendes Blutvolumen · Q O2-Konzentration im gemischtvenösen Blut Cv- O 2

O2-Konzentration im arteriellen Blut Ca O 2

ins Kapillarblut aufgenommene O2-Menge: · · VO = Q · (Ca – Cv- )O 2

2

Abb.10.25 Bilanzen der O2-Aufnahme mit der Atmung und der O2-Beladung des Lungenkapillarblutes. Die von der Lunge aus der Atemluft pro Zeit entnommene O2˙O ) ergibt sich als Differenz zwischen eingeatmeter Menge (V ˙ E · FEO ). ˙ I · FIO ) und ausgeatmeter O2-Menge (V O2-Menge (V ˙ I) und ausgeatmete Ventilation (V ˙ E) Da eingeatmete (V nahezu gleich sind, kann diese Differenz durch die vereinfachte Beziehung der Gl. 10.23 (S. 277) dargestellt werden. ˙ O belädt das pro Zeit durch die Lungenkapillaren fließende V ˙ = Herzzeitvolumen), so dass dessen O2-KonBlutvolumen (Q zentration vom gemischt-venösen (C¯vO ) zum arteriellen ˙ O und (Ca – C¯v)O , so lässt Wert (CaO ) ansteigt. Misst man V ˙ bestimmen (Fick’sches Prinzip, sich das Herzzeitvolumen Q Gl. 10.30). 2

2

2

2

2

2

2

2

verbraucht (S. 301). Wegen der O2-Aufnahme in den Alveolen hat das Blut in den Pulmonalvenen eine höhere O2-Konzentration als in der Pulmonalarterie. Letzteres entsteht im rechten Herzen als Mischung des venösen Rückstroms aus allen Organen: gemischt-venöses Blut (Index v¯, s. u.). Die Zusammensetzung des Blutes in den Pulmonalvenen ist nahezu gleich derjenigen in irgendeiner peripheren Arterie (Index a). Ist also Q˙ die Lungenkapillardurchblutung und sind CaO und Cv¯O arterielle und gemischt-venöse O2-Konzentration, so gilt die folgende Massenbilanz (Abb. 10.25): 2

V˙O = Q˙ · (Ca – Cv¯)O 2

2

2

2

ð10:30Þ 2

Bei bekannter Herzfrequenz (Puls) lässt sich aus Gl. 10.30 auch das Herzschlagvolumen ermitteln. (Mit dieser Methode gelang es Adolf Fick 1872 erstmalig, das Herzschlagvolumen mit hinreichender Genauigkeit zu messen; s. a. Legende zu Abb. 12.7, S. 330.) Zur Messung von Ca kann arterielles Blut irgendeiner Arterie des Systemkreislaufs entnommen werden, da sich ja die O2-Konzentration des Blutes auf dem Weg von der Lunge zu den Arterien nicht ändert. Anders ist es mit dem gemischt-venösen Blut. Da die einzelnen Organe eine sehr unterschiedliche O2-Ausnutzung haben (Tab. 10.7, S. 302), ist die Zusammensetzung des venösen Blutes von Organ zu Organ sehr verschieden. Das Blut von all diesen Organen mischt sich erst im rechten Ventrikel, und daher muss gemischt-venöses Blut zur Messung von Cv¯ aus dem rechten Ventrikel, besser noch aus der A. pulmonalis entnommen werden. Typische Werte für das HZV bei körperlicher Ruhe finden sich in Tab. 10.2 (S. 276) und für die O2-Konzentrationen in Tab. 10.5 (S. 295). Die Massenbilanz des Fick’schen Prinzips kann auch zur Messung der O2-Aufnahme eines einzelnen Organs verwendet werden (S. 301 f.), wobei statt der gemischt-venösen die organ-venöse O2-Konzentration einzusetzen ist. Gleichung 10.30 setzt voraus, dass alle Messgrößen zum gleichen Zeitpunkt gemessen werden; wenn das nicht möglich ist, dürfen sich die Größen während der gesamten Messung nicht nennenswert ändern. Diese Forderung nach einem wirksamen Gleichgewichtszustand der Messgrößen (steady state) ist für O2 recht gut zu erfüllen, da die Kapazität der O2-Speicher sehr gering ist (S. 304), deren Auffüllen oder Entleeren beim Übergang zu einem neuen Gleichgewichtszustand also rasch erfolgt. Für CO2 ist die Speicherkapazität sehr viel höher, und das Erreichen eines Steady State dauert daher auch sehr viel länger (S. 289); man kann daher nicht sicher sein, dass sich die Messgrößen im Verlauf der Messung nicht noch ändern. Aus diesem Grund verwendet man das Fick’sche Prinzip für O2 und nicht für CO2.

Respiratorischer Quotient Das Verhältnis von CO2-Abgabe zu O2-Aufnahme wird respiratorischer Quotient, RQ, genannt:

Für CO2 gilt entsprechend: V˙CO = Q˙ · (Cv¯ – Ca)CO

V_ O2 CvÞO2

Wenn die Sauerstoffaufnahme V˙O in mlSTPD · min–1 gemessen wird und das HZV in l Blut pro min (kurz: l · min–1) errechnet werden soll, so sind die Konzentrationen Ca und Cv¯ in mlSTPD pro l Blut (mlSTPD · l–1) einzusetzen.

(10.28)

2

ðCa

(10.29)

RQ =

V_ CO2 V_ O

ð10:31Þ

2

Die Lungenkapillardurchblutung Q˙ ist normalerweise etwa gleich dem Herzzeitvolumen HZV. Die praktische Bedeutung der Gl. 10.28 liegt daher darin, dass sie das Herzzeitvolumen aus der Messung von O2-Aufnahme und arteriovenöser Konzentrationsdifferenz zu messen gestattet (Fick’sches Prinzip):

Man kann den RQ in Gas- oder Blutproben bestimmen; denn mit den obigen Bilanzbeziehungen (Gl. 10.23, 24, 28) ist RQ =

ðCv ðCa

CaÞCO2 CvÞO2

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ð10:32Þ

10.6 Ventilation, Perfusion und Gasaustausch

gemischt-exspiratorisches Gas

Totraumvolumen VD Alveolarvolumen VA

Atemzugvolumen VT

VT Alveolargas

nach Durchmischung

6

Frischluft

Exspiration

Inspiration

Alveolargas

VTA

Frischluft

VD

(an den Lippen gemessen)

VD

5

1 vor Inspiration = 4 nach Exspiration

VD VT + VA

VA + VT

Durchmischung

2 nach Inspiration, vor Durchmischung

3 nach Durchmischung

Abb.10.26 Alveolargas und exspiriertes Gasgemisch. Vor der Inspiration (1) sind Alveolar- und Totraum (von der letzten Exspiration) mit Alveolargas gefüllt. Nach der Inspiration (2) des Atemzugvolumens VT hat sich der Alveolarraum um VT erweitert. Der Anteil VT – VD = VTA der inspirierten Frischluft hat den Alveolarraum erreicht, der Rest (VD) befindet sich im Totraum. Der in den Alveolarraum gelangte Frischluftanteil vermischt sich (schon während der Inspiration) mit dem Alveolargas (3), was dieses auffrischt. Bei der

Nur wenn sich der Organismus im Fließgleichgewicht (steady state) befindet, sind pulmonale O2-Aufnahme und CO2-Abgabe dem O2-Verbrauch bzw. der CO2-Bildung im Stoffwechsel gleich; nur dann ist also der im Atemgas gemessene Lungen-RQ gleich dem durch die Zellatmung bestimmten Stoffwechsel-RQ. Abweichungen des Lungen-RQ vom Stoffwechsel-RQ ergeben sich besonders bei Veränderung der Ventilation (S. 288 f.).

Totraum und alveoläre Ventilation Nicht die gesamte Ventilation dient der Auffrischung des Alveolargases und damit dem Gasaustausch, da auch der Totraum ventiliert wird, der ja nicht am Gasaustausch teilnimmt. Der alveoläre Anteil der Ventilation ist nicht leicht zu messen; seine Wirkung für den Gasaustausch kann aber aus den Partialdrücken im arteriellen Blut, besonders dem arteriellen PCO , abgeschätzt werden. 2

Die luftleitenden Wege bilden den anatomischen Totraum Zu den luftleitenden Atemwegen, in denen kein Gasaustausch stattfindet, gehören Mundhöhle, Nase, Pharynx, Larynx, Trachea, Bronchien bis zu den Bronchioli terminales. Sie werden als anatomischer oder serieller Totraum bezeichnet; seriell deswegen, weil seine Atemwege

Exspiration wird zunächst Totraumgas (VD, Frischluft) ausgeatmet, dann Alveolargas (VTA) (5). Die Mischung beider Anteile ergibt gemischtexspiratorisches Gas (6). Die Gaskonzentration in der Lunge ist am Ende der Exspiration (4) die gleiche wie vor der Inspiration (1) (Abb. 10.28, S. 282); denn während des gesamten Atemzyklus diffundiert O2 ins Blut und CO2 aus diesem in den Alveolarraum, so dass das aufgefrischte Alveolargas (3) wieder O2 verliert und mit CO2 angereichert wird.

in Serie liegen mit dem gasaustauschenden Alveolarraum. Wenn auch der anatomische Totraum für den Gasaustausch „tot“ ist, so erfüllt er doch wesentliche Aufgaben bei der Erwärmung und Anfeuchtung sowie der Reinigung der Einatmungsluft (S. 256 f.).

Nur die alveoläre Ventilation dient dem Gasaustausch Es soll jetzt betrachtet werden, was bei der Einatmung eines Atemzugvolumens geschieht (Abb. 10.26). Vor der Inspiration sind die Atemwege von der letzten Exspiration her mit Gas aus dem Alveolarraum (Alveolargas) gefüllt (Abb. 10.26/1). Wird nun ein Atemzugvolumen V T mit Frischluft eingeatmet, so gelangt in den Alveolarraum zunächst das Alveolargas, das sich noch im Totraum befindet (Volumen VD), und nur mit dem Rest, V T – VD, kommt Frischluft in die Alveolen (Abb. 10.26/2); der übrige Teil der Frischluft bleibt im Totraum liegen. Nur dieser alveoläre Teil des Atemzugvolumens, V TA = V T – VD, wird mit dem Alveolargas durchmischt (Abb. 10.26/3) und dient so der Frischgasbelüftung des Alveolarraums; das Totraumvolumen wird unverändert wieder ausgeatmet (Abb. 10.26/4). Die alveoläre Ventilation, V˙A, ist gleich der gesamten Ventilation (V˙E) abzüglich der Totraumventilation (V˙D = VD · fR), V˙A = V˙E – V˙D

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(10.33)

279

10 Atmung Je höher die alveoläre Ventilation, desto „frischer“ ist das Alveolargas, d. h., desto ähnlicher ist seine Zusammensetzung der eingeatmeten Luft. Diese einfache, aber für das Verständnis des Gasaustauschs äußerst wichtige Tatsache erkennt man besonders gut, wenn man die Gleichungen 10.34 und 10.35 nach den alveolären Partialdrücken auflöst:

20

P IO

2

O2

4a 15

alveolärer Partialdruck (kPa)

1a

PAO

2

2

2

PACO

2

(konstant durch Atmungsregulation)

0

1

0

3

CO2

2

10

P ICO

2

15

alveoläre Ventilation (l/min)

Abb.10.27 Alveoläre Partialdrücke, alveoläre Ventilation und Stoffwechsel. Die Kurven zeigen drei wichtige Fakten. – Bei konstantem Stoffwechsel (durchgezogene Linien, grün für CO2, rostbraun für O2) wird bei Erhöhung der alveolären Ventilation (Abszisse) die alveoläre Luft „frischer“, d. h., ihr PCO2 sinkt ab, ihr PO2 steigt an. Ausgehend vom Ruhewert (1 für CO2 und 1 a für O2), sinkt bei ˙A der alveoläre PCO2 auf die Hälfte Verdoppelung von V (1 → 4), und der alveoläre PO2 steigt so weit (1 a → 4 a), dass sich sein Abstand vom inspiratorischen Wert (PIO2) auf die Hälfte vermindert. – Bei Erhöhung des Stoffwechsels (gestrichelte grüne ˙CO2 auf das Doppelte erhöht) verdoppelt sich Kurve, V auch der alveoläre PCO2, wenn die alveoläre Ventilation unverändert bleibt (1 → 2). (Für O2 gilt Entsprechendes, das aber der Übersichtlichkeit halber nicht dargestellt ist.) – In vivo hingegen steigt bei Steigerung des Stoffwechsels ˙A aufgrund der Atmungsregulation etwa in gleichem V Maße wie die CO2-Produktion, so dass der alveoläre PCO2 weitgehend unverändert bleibt ( 1→ 3).

Die alveoläre Ventilation bestimmt die Zusammensetzung des Alveolargases Die Zusammensetzung des alveolären Gases hängt genauso von der alveolären Ventilation ab, wie es in Gl. 10.26 für exspiratorisches Gas und die gesamte Ventilation dargestellt ist: V_ O2 =

1  V_ A  ðPI 115

PAÞO2

ð10:34Þ

Und für CO2: V_ CO2 =

1  V_ A  PACO2 115

PACO = 115 · V˙CO /V˙A

(10.37)

2

In Abb. 10.27 sind diese hyperbolischen Beziehungen zwischen den alveolären O2- und CO2-Partialdrücken einerseits und alveolärer Ventilation andererseits graphisch dargestellt.

Bohr-Totraumformel

CO2

. 4 VCO = 0,26 l/min

5

(10.36)

2

2

2

10

5

PAO = PIO – 115 · V˙O /V˙A 2

. VCO = 0,52 l/min

Ruheventilation

280

ð10:35Þ

Abb. 10.26 zeigt, welche Gaskonzentrationen während der Exspiration an den Lippen eines Probanden gemessen werden können. Zunächst wird Frischluft (Konzentration FI, Volumen VD), dann Alveolarluft (Konzentration FA, Volumen V T – VD) ausgeatmet. Die Mischung beider Portionen verändert nicht die gesamte Gasmenge im Exspirat (Konzentration FE), so dass die folgende Massenbilanz gilt: VD · FI + (V T – VD) · FA = V T · FE

(10.38)

Unter Verwendung der CO2-Fraktion und aufgelöst nach dem Totraum gilt dann: VD = VT 

 FA

FE FA



ð10:39Þ

CO2

Diese sog. Bohr-Formel für das Volumen des anatomischen oder seriellen Totraums kann auch mit den O2-Fraktionen aufgestellt werden und gilt auch für die Partialdrücke, die ja den Fraktionen proportional sind (Gl. 10.7, S. 260):

 VD PE = VT PI

PA PA



= O2



PA

PE PA



CO2

ð10:40Þ

Zur Messung des anatomischen Totraums muss man also neben gemischt-exspiratorischem Gas auch Alveolargas gewinnen. Man erhält es angenähert als die letzte Portion des Ausatemstroms (endexspiratorisch, Abb. 10.26/5). Beim gesunden Menschen beträgt das Volumen des seriellen Totraums (VD) etwa 150 ml, das ist bei Ruheatmung (V T = 0,5 l) ein Anteil von 30 % am Atemzugvolumen (Tab. 10.3) oder 5 % von der funktionellen Residualkapazität (FRC, Tab. 10.1, S. 263). Aus dem Produkt der Normalwerte von Totraumvolumen VD und Atemfrequenz fR errechnet sich eine Totraumventilation von 2,4 lBTPS · min–1, also ebenfalls ca. 30 % der Gesamtventilation V˙E von ca. 8 l · min–1. Die normale alveoläre Ventilation ergibt sich dann als Gesamtventilation abzüglich Totraumventilation zu etwa 5,6 lBTPS · min–1 (Tab. 10.3). Das Totraumvolumen ändert sich geringfügig mit Atemtiefe und Atemfrequenz, was teils rein mechanische Ursachen hat, teils auf der nervösen Beeinflussung der Bronchienweite beruht (S. 270 f.). Wichtiger ist allerdings, sich zu vergegenwärtigen, dass jede Erhöhung der Atem-

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10.6 Ventilation, Perfusion und Gasaustausch frequenz (fR) die Totraumventilation erhöht. Bei konstanter Gesamtventilation (V˙E) heißt dies, dass die alveoläre Ventilation (V˙A) zugunsten der Totraumventilation absinkt (Gl. 10.33, S. 279), so dass PAO abfällt (Gl. 10.36) und PACO ansteigt (Gl. 10.37). Diese Form der schnellen, flachen Atmung oder Hechelatmung wird häufig bei Patienten mit akutem Lungenversagen oder solchen mit sehr schmerzhaften Rippenverletzungen beobachtet. Umgekehrt führt langsame und tiefe Atmung (bei gleichbleibendem V˙E) zur Steigerung der alveolären Ventilation (Hyperventilation, s. u.) mit Absinken des alveolären (und arteriellen) PCO . 2

2

alveolären PCO . Für O2 gilt dies nicht. Um dennoch einen verlässlichen (räumlichen und zeitlichen) Mittelwert auch für den alveolären PO zu erhalten, berechnet man den idealalveolären Partialdruck von O2 unter Zuhilfenahme des arteriellen PCO (PaCO ). Aus der Division der Gl. 10.35 durch Gl. 10.34 ergibt sich nämlich unter Berücksichtigung von Gl. 10.31 die sog. Alveolarluftgleichung: 2

2

2

2

P AO = P I O – 2

2

2

PAiO = PIO – 2

2

Sind V˙O und V˙CO sowie die alveoläre Ventilation gemessen, so können aus den Gleichungen 10.36 und 10.37 die alveolären Partialdrücke errechnet werden. Für körperliche Ruhe ergibt sich so aus den Normalwerten der Tab. 10.3: PA O = 13,3 kPa (100 mmHg) und PA CO = 5,3 kPa (40 mmHg). In der Regel ist aber die alveoläre Ventilation nicht genau genug messbar, so dass man vorzieht, die alveolären Partialdrücke direkt zu messen, z. B. am Ende einer normalen oder vertieften Ausatmung. 2

2

2

2

Idealalveolärer O2-Partialdruck

(10.41)

Ersetzt man hierin PACO durch PaCO , so erhält man den idealalveolären O2-Druck PAiO ,

2

Messung der alveolären Partialdrücke

PACO2 RQ

PaCO2 RQ

2

2

(10.42)

der einen repräsentativen Wert des alveolären PO2 darstellt. (Auch in dieser Gleichung ist die „Stickstoffkorrektur“ [S. 277] der Einfachheit halber vernachlässigt.)

Kennzeichnung normaler und veränderter Ventilation Nicht die gesamte Ventilation, sondern nur die alveoläre Ventilation (V˙A) bestimmt also die alveolären Partialdrücke von CO2 und O2 und damit auch die arteriellen Partialdrücke dieser Gase. Man charakterisiert die Zustände normaler oder veränderter alveolärer Ventilation daher auch nach dem Verhalten des arteriellen PCO (PaCO ): – Normoventilation. Normale alveoläre Ventilation, d. h. PaCO normal (Frauen 5,07 ± 0,3 kPa; Männer 5,47 ± 0,3 kPa). – Hyperventilation. Alveoläre Ventilation über die Stoffwechselbedürfnisse hinaus gesteigert, so dass PaCO unter den Normalbereich erniedrigt ist. – Hypoventilation. Gegenteil hiervon, d. h., PaCO ist über den Normalbereich erhöht. 2

Der so erhaltene Wert entspricht jedoch nicht einem repräsentativen alveolären Wert, da die alveolären Partialdrücke einerseits atemzyklischen Schwankungen unterliegen (Abb. 10.28) und andererseits in verschiedenen Regionen der Lunge unterschiedlich sind (S. 292). Im Folgenden ist ein Weg gezeigt, die mittleren alveolären Partialdrücke zu bestimmen. Wegen der guten Diffusionseigenschaften von CO2 und wegen der steilen CO2-Bindungskurve im Blut (S. 289) ist der arterielle PCO ein gutes Maß für den (räumlich und zeitlich) gemittelten

2

2

2

2

2

Tabelle 10.3 Normalwerte für Atmung und Gasaustausch bei lungengesunden jüngeren Menschen in körperlicher Ruhe. Die Werte unterliegen erheblicher Streuung. Luftatmung, PB = 100 kPa. Weitere Blutwerte s. Tab.10.5, S. 295. Parameter

Symbol

O2-Aufnahme

˙O V

CO2-Abgabe

Normalwert und Einheit 0,31

ISTPD · min–1 = 14 mmol · min–1

˙CO V

0,26

ISTPD · min–1 = 12 mmol · min–1

Respiratorischer Quotient

RQ

0,84



2

2

Atemzugvolumen

VT

0,5

IBTPS

Totraumvolumen

VD

0,15

IBTPS (in Ruhe: ≈ 30 % von VT)

Atemfrequenz

fR

16

Atemzeitvolumen (exspiratorisch gemessen)

˙E V

8

IBTPS · min–1

Alveoläre Ventilation

˙A V

5,6

IBTPS · min–1

Totraumventilation

˙D V

2,4

IBTPS · min–1

0,163



0,040



Gemischt-exspiratorische O2-Fraktion

FEO

Gemischt-exspiratorische CO2-Fraktion

FECO

Alveolärer PO

PAO

2

2

min–1

13,3

kPa = 100 mmHg

Alveolärer PCO

PACO

5,3

kPa = 40 mmHg

Herzzeitvolumen

˙ Q

6,2

l · min–1

2

2

2

2

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281

10 Atmung

14

Ruhe PA O2

Arbeit

Frischluft Einatmung

8

Totraumluft

10

Einatmung

12

alveolärer Partialdruck (kPa)

282

Arbeit Ruhe

6

PACO2 4

2

Inspiration 0

0 (0)

Exspiration

4 Ruhe (1,5) Arbeit

2

Zeit (s)

Abb.10.28 Zeitliche Schwankungen der alveolären Partialdrücke von CO2 und O2 im Atemzyklus. Am Ende der Exspiration verbleibt Alveolarluft im Totraum (Abb.10.26,1 und 4). Während der Inspiration steigt der PA CO wegen des Einatmens der Totraumluft daher zunächst an, sinkt dann aber ab, wenn Frischluft die Alveolen erreicht. Während der Exspiration steigt der PA CO an, da fortlaufend CO2 aus dem Blut in den Alveolarraum eintritt. Die Veränderungen des PA O sind spiegelbildlich zu denen des PA CO . Während in Ruhe die Amplitude der Schwankungen 0,3 – 0,4 kPa nicht überschreitet (gestrichelte Kurven), ist sie bei körperlicher Arbeit weit größer (durchgezogene Kurven), da die O2Aufnahme ins Blut und die CO2-Abgabe ins Alveolargas größer sind, wodurch sich die alveolären Gaskonzentrationen rascher ändern. Man beachte die unterschiedliche Zeitskala für Ruhe und Arbeit. 2

2

2

2

Rein beschreibend und ohne Bezug auf Gasaustausch oder Blutgase sind die Begriffe Eupnoe (normale Ruheatmung), Hyperpnoe (erhöhtes Atemzeitvolumen), Tachypnoe (Atemfrequenz gesteigert) und Apnoe (Atemstillstand). Dyspnoe und Orthopnoe bezeichnen subjektiv empfundene Atemnot. Hyper- und Hypoventilation lassen sich also erkennen an einem unter- bzw. übernormalen arteriellen PCO2. Dies bezieht sich natürlich auf eine Situation, in der der Patient Luft atmet. Eine Intoxikation mit flüchtigen Stoffen wird in der Klinik dadurch behandelt, dass die Atmung durch CO2-Gabe zur Einatmungsluft (s. S. 298) künstlich erhöht wird; diese CO2stimulierte Hyperpnoe wird in manchen Lehrbüchern der

Toxikologie als „Hyperventilationstherapie“ bezeichnet. Dieser Ausdruck ist deswegen missverständlich, weil eine Hyperventilation ja durch einen abgesenkten und nicht einen erhöhten PaCO2 gekennzeichnet ist. Die Ursachen der Hypoventilation lassen sich einteilen in Störungen der Atemmechanik (z. B. Kyphoskoliose oder Übergewicht; Erhöhung des Atemwiderstands; obstruktive Schlafapnoe), des neuromuskulären Systems der Atmung (Störungen im Bereich des Rückenmarks, der respiratorischen Nerven oder Muskeln) oder des Atemantriebs (Störung der peripheren Chemorezeptoren [S. 298 f.] oder im Bereich des Hirnstammes). Auch die Hyperventilation kann vielfältige Ursachen haben. Neben Entzündungen der Atemwege kommen Hypoxämie (S. 295 f.), Hypotension, Azidose (s. Kapitel 11.7), neurologische Erkrankungen und Intoxikationen sowie psychische Ursachen in Betracht. Eine genaue Abklärung der Ursachen ist also bei beiden Syndromen erforderlich.

10.7

Atemgastransport im Blut

Das Blut hat die wichtige Aufgabe, den Sauerstoff aus der Lunge in die Gewebe zu transportieren und von dort das Kohlendioxid zu entfernen. Wegen seiner geringen physikalischen Löslichkeit wird O2 im Wesentlichen mit seinem Transportprotein Hämoglobin (Hb) transportiert, an dessen vier EisenII-Atomen im Häm es reversibel anlagert (Hb + O2 Ð HbO2). Diese Anlagerung wird durch die O2-Bindungskurve beschrieben. Faktoren wie CO2, pH, Temperatur und 2,3-Bisphosphoglycerat beeinflussen die Affinität des O2 zum Hb. Auch CO2 wird chemisch gebunden transportiert, sowohl in Form des HCO3– als auch durch Carbamatbildung am Hb. Die Bindungskurve für CO2 strebt, im Unterschied zur HbO2Bindungskurve, jedoch keinem Maximum zu.

Physikalische Lösung als Durchgangsstufe Wegen der geringen Löslichkeit (S. 260) sind die Mengen von O2 und CO2, die physikalisch im Blut transportiert werden, sehr gering; quantitativ stehen sie hinter den chemisch gebundenen Mengen weit zurück. Trotzdem ist die physikalische Lösung unerlässlich; denn nur in dieser Form treten die Gase durch die Alveolarmembran, wandern sie zu ihren Reaktionspartnern im Blut; und nur in dieser Form werden sie in den Geweben mit dem Blut ausgetauscht. Die physikalische Lösung stellt also eine unerlässliche Durchgangsstufe für jedes Gasmolekül dar, das mit dem Blut transportiert wird.

Chemische Bindung von O2 im Blut Sauerstoff wird in den Erythrozyten des Blutes reversibel an Hämoglobin gebunden, das somit ein Transportprotein für O2 darstellt. Die O2-Bindungskurve hat einen charakteristisch S-förmigen Verlauf, der sowohl für die O2-Aufnahme in der Lunge als auch für die O2Abgabe in den Geweben günstig ist. Beim arteriellen O2-Partialdruck ist nahezu das gesamte Hämoglobin mit O2 beladen, beim venösen O2-Partialdruck nur zum Teil. Zahlreiche Faktoren können die O2-Affinität des Hämoglobins beeinflussen.

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O2

100

50

0

10

20

physikalisch gelöst (a O 2 · PO2 )

150

0

O2-Kapazität = Maximalwert des chemisch gebundenen Anteils

200

chemisch gebunden (HbO2)

O2-Konzentration im Blut, CO2 (ml STPD / l)

10.7 Atemgastransport im Blut

30

40

N N Fe N N

a -Ketten

N 50

O2-Partialdruck, PO2 (kPa)

Abb.10.29 O2-Bindungskurve des Blutes. Aufgetragen ist die O2-Konzentration CO gegen den O2-Partialdruck PO . Die O2-Konzentration setzt sich zusammen aus dem physikalisch gelösten und dem chemisch (an Hämoglobin) gebundenen Anteil, der einen oberen Grenzwert besitzt, die O2-Kapazität des Blutes.

O2-Bindungskurve des Blutes Setzt man eine Blutprobe mit einem Gas bei unterschiedlichen Werten des PO ins Gleichgewicht, so erhält man die O2-Bindungskurve des Blutes (Abb. 10.29), d. h. die Beziehung zwischen O2-Konzentration (Gesamtmenge O2 pro Volumen Blut) und O2-Partialdruck. Nur ein geringer Teil des gesamten O2 ist physikalisch gelöst; dieser Anteil nimmt linear mit dem PO zu (Henry-Gesetz, Gl. 10.12, S. 260). Der weit überwiegende Anteil ist hingegen chemisch gebunden. Der Maximalwert der Konzentration des chemisch gebundenen O2 wird als O2-Kapazität bezeichnet. Die chemische Bindung ist reversibel: Bei Senkung des PO wird O2 aus der Bindung freigesetzt, bis die Konzentration dem neuen PO gemäß der Kurve der Abb. 10.29 entspricht. 2

Globin

N Häm

Häm

B Häm an einer Globinuntereinheit

2

2

Häm

Häm

Häm

Globin

b -Ketten

A tetrameres Hämoglobin

Abb.10.30 Schema des Hämoglobinmoleküls. A Tetrameres Hämoglobin des Erwachsenen (HbA1) mit vier Untereinheiten, zwei α- und zwei β-Ketten, deren jede ein HämMolekül trägt. B Das Häm besteht aus einem Protoporphyrinring und dieser aus vier Pyrrolringen, die über Methinbrücken miteinander verbunden sind und charakteristische Seitengruppen tragen. Für die reversible O2-Anlagerung entscheidend ist das Eisenatom im Zentrum des Häms, das in der zweiten Oxidationsstufe (FeII) vorliegt. Das Häm ist in erster Linie über das Fe-Atom an einem Histidinrest des Globins verankert.

2

2

2

Das Hämoglobin bindet O2, ohne oxidiert zu werden Verantwortlich für die chemische Bindung des O2 ist das Hämoglobin. Es ist ein Chromoproteid, das aus dem Globin und vier Häm-Molekülen besteht (Abb. 10.30 A). Das Globin des Erwachsenen (HbA1) setzt sich zu 98 % aus je zwei α- und β-Untereinheiten zusammen, von denen jede ein Häm-Molekül trägt (Abb. 10.30 B). Die Molekularmasse jeder Kette beträgt etwa 16100 Dalton, die des tetrameren (aus vier Untereinheiten bestehenden) Hämoglobin-Moleküls also etwa 64 500 Dalton. Bei der reversiblen Anlagerungsreaktion im Häm wird das O2-Molekül an das Eisenatom gebunden, das in der zweiten Oxidationsstufe (FeII, kurz auch als zweiwertiges Eisen bezeichnet) vorliegt. Die Anlagerungsverbindung heißt Oxyhämoglobin (HbO2), das Hämoglobin ohne O2 heißt Desoxyhämoglobin (Hb). Diese O2-Anlagerung, die ohne Änderung der Oxidationsstufe des Fe erfolgt, heißt Oxygenation (nicht Oxidation), die O2-Abspaltung Des-

oxygenation. Das Globin des fetalen Hämoglobins (HbF) besteht im Unterschied zum HbA1 aus je zwei α- und γKetten (2 % des Erwachsenen-Hb ist HbA2, das aus 2 αund 2 δ-Untereinheiten besteht). Oxygeniertes Blut ist hellrot, desoxygeniertes bläulichdunkelrot. Ist die Absolutkonzentration des desoxygenierten Hämoglobins im Kapillarblut über etwa 50 g/l erhöht, so kommt es zu einer Blaufärbung von Haut und Schleimhäuten (Zyanose).

O2-Kapazität und Hämkonzentration Die O2-Kapazität (Abb. 10.29) ergibt sich aus der Konzentration an Hb mit zweiwertigem Hämeisen (FeII). Maximal kann 1 mol Hämoglobin an seinen 4 mol Hämeisen 4 mol O2 anlagern. Unter Berücksichtigung seiner Molekularmasse (64 500 Dalton) bindet daher 1 g Hämoglobin 4/ 64 500 = 0,062 mmol O2 = 1,39 ml O2 (Molvolumen idealer Gase: 22,4 l/mol; Gl. 10.2, S. 259). Messungen im Blut ergeben einen etwas geringeren Wert, da ein Teil des Hämoglobins in einer Form vorliegt, die nicht bindungsaktiv ist (MetHb, HbCO). Für praktische Zwecke verwendet man den als Hüfner-Zahl bekannten Wert von ca. 1,34 ml O2 pro Gramm Hämoglobin, mit dem sich aus der Hämoglobinkonzentration des Blutes die O2-Kapazität ergibt (Tab. 10.4).

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283

10 Atmung Tabelle 10.4 Mittlere Normalwerte von Blutparametern bei erwachsenen Männern und Frauen Parameter

Einheit

Hb-Konzentration des Blutes (Hb)

155

145

g · l–1

O2-Kapazität

9,4 210

8,7 195

mmol · l–1 ml O2 · l–1

3,6 27

3,6 27

2

98%

1,0

Normalwert Männer Frauen

PO bei Halbsättigung, P0,5

Hämoglobin

Myoglobin

kPa mmHg

0,8

75%

O2-Sättigung, SO2

284

normal: pH = 7,4 Temperatur = 37°C PCO = 5,3 kPa

0,6

50% 0,4

2

Halbsättigungsdruck: P0,5 = 3,6 kPa 0,2

O2-Sättigung des Hämoglobins

5,4 kPa

Um die Bindungseigenschaften des Hämoglobins für O2 besser darzustellen, betrachtet man nur die hämoglobingebundene O2-Konzentration, d. h. die Konzentration des oxygenierten Häms im Hämoglobin (HbO2). Diese kann man auf die O2-Kapazität, d. h. auf die gesamte bindungsfähige Hämoglobinkonzentration beziehen und erhält so die O2-Sättigung:

0

0

5

13,3 kPa 10

15

20

O2-Partialdruck, PO2 (kPa)

Abb.10.31 O2-Bindungskurve des menschlichen Blutes (rostbraune Kurve). Im Gegensatz zu Abb.10.29 ist hier die O2-Sättigung (SO ) gegen den PO aufgetragen, so dass die Kurve für jede O2-Kapazität gilt. Die Kurve ist S-förmig und hat einen Halbsättigungsdruck (P0,5) von 3,6 kPa. Ferner sind PO -Werte bei 75% und 98% O2-Sättigung hervorgehoben. Die Kurve gilt für die angegebenen Bedingungen, wie sie für arterielles Blut normal sind. Zum Vergleich ist die hyperbolische Bindungskurve des Myoglobins eingezeichnet (grüne Kurve), die im unteren Bereich bei gleichem SO kleinere PO -Werte, im oberen Bereich bei gleichem PO geringere SO -Werte aufweist. 2

2

2

SO 2

½HbO2 Š = ½HbŠ + ½HbO2 Š

ð10:43Þ

Hierin ist [Hb] die Konzentration an desoxygeniertem Häm im Hämoglobin. ([Hb] und [HbO2] werden auch kurz als Konzentrationen von desoxygeniertem und oxygeniertem Hämoglobin bezeichnet; man muss aber bedenken, dass jedes Mol Hämoglobin vier Mol O2 zu binden vermag.) SO kann Werte zwischen 0 (vollständig desoxygeniertes Hämoglobin) und 1,0 (vollständig oxygeniertes Hämoglobin) annehmen. Die Konzentration des chemisch gebundenen O2 im Blut ist das Produkt aus SO und O2Kapazität. Abb. 10.31 zeigt die Bindungskurve des Hämoglobins als Abhängigkeit der O2-Sättigung vom PO . Ein zur Beschreibung dieser Kurve wichtiger Parameter ist der P0,5, d. h. der PO bei Halbsättigung des Hämoglobins (SO = 0,5). Im menschlichen Blut beträgt P0,5 = 3,6 kPa = 27 mmHg (Tab. 10.4). Der S-förmige Verlauf der O2-Bindungskurve ist durch die kooperative Wechselwirkung der vier Untereinheiten des tetrameren Hämoglobins bedingt. Anlagerung von O2 an das Häm einer Untereinheit erhöht die Affinität für die O2-Anlagerung an die übrigen Untereinheiten. Die O2Bindungskurve des monomeren Myoglobins, eines O2bindenden Proteins in den Muskelzellen, ist hingegen hyperbolisch (Abb. 10.31), wie sich aus der einstufigen Reaktion Mb + O2 Ð MbO2 herleiten lässt (11). 2

2

2

2

2

2

2

2

bei einem Anstieg des alveolären PO (z. B. bei Atmung von O2-angereicherter Luft) nimmt das Blut nicht nennenswert mehr O2 auf, da es schon bei Luftatmung nahezu vollständig gesättigt ist (Abb. 10.60, S. 308). Der steile Abfall im unteren Bereich der Bindungskurve gewährleistet andererseits, dass der PO im kapillären Blut der peripheren Gewebe trotz der O2-Abgabe hoch genug bleibt, um die Gewebe durch Diffusion zu versorgen (S. 301). 2

2

2

Physiologisch günstige S-Form Die S-Form der O2-Bindungskurve ist von großer Bedeutung für die Transportfunktion des Blutes. Im PO -Bereich oberhalb etwa 8 kPa ist die Kurve flach, und Veränderungen des PO ändern an der O2-Sättigung nur wenig. Dies ist der Bereich des normalen alveolären PO , der also ein wenig abfallen kann, ohne dass das Blut der Lungenkapillaren merklich weniger O2-gesättigt ist; aber auch 2

2

2

Einflüsse auf die O2-Bindung Eine Reihe von Faktoren beeinflusst die O2-Affinität des Hämoglobins, d. h. die O2-Sättigung bei gegebenem PO (2). Dabei wird in erster Linie die Lage und viel weniger die Form der Kurve verändert. Daher lässt sich eine Affinitätsabnahme als Rechtsverschiebung der Bindungskurve (erhöhter P0,5) beschreiben, eine Affinitätszunahme als Linksverschiebung (erniedrigter P0,5). Erhöhung der Temperatur bewirkt eine Erniedrigung der Affinität, also eine Rechtsverschiebung der O2-Bindungskurve (Abb. 10.32). Umgekehrt bewirkt Abkühlung eine Linksverschiebung. Beim homöothermen Organismus ist die Bedeutung dieses Einflusses allerdings gering, obwohl die Temperatur des Blutes in der Körperperipherie deutlich von der Körperkerntemperatur abweichen kann. Wichtiger sind die Effekte der H+-Konzentration und des PCO . Erhöhung der H+-Konzentration (Erniedrigung des pH) bewirkt eine Affinitätsabnahme (Rechtsverschiebung), Erniedrigung der H+-Konzentration eine Affinitäts2

2

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10.7 Atemgastransport im Blut Affinitätszunahme = Linksverschiebung

200

normales Blut (0% HbCO)

0,5

O2-Konzentration (ml/l)

O2-Sättigung, SO2

1,0

+

H -Ionen-Konzentration CO2 -Konzentration Temperatur 2,3-BPG-Konzentration

Bohr-Effekt

0

5

10

50% CO-Beladung (50% HbCO) 100

halbierte O2-Kapazität (50% Anämie, 0% HbCO)

50

Affinitätsabnahme = Rechtsverschiebung 0

150

15

0

0

5

10

15

O2-Partialdruck, PO2 (kPa)

20

O2-Partialdruck, PO2 (kPa)

Abb.10.33 Einfluss von Kohlenmonoxid auf die O2-Bindung des Blutes. Bei Halbierung der O2-Kapazität (50% Anämie, blaue Kurve) ist die Bindungskurve in ihrer Höhe um einen Faktor zwei gestaucht, ihre Form ist aber sonst normal. Hingegen führt eine Beladung von 50% des Hämoglobins mit CO (50% HbCO, violette Kurve) zwar auch zu einer Halbierung der O2-Kapazität; darüber hinaus ist aber die Form der Bindungskurve stark verändert (Linksverschiebung), was zu einer Behinderung der O2-Abgabe im Gewebe führt.

Abb.10.32 Größen, die die O2-Affinität beeinflussen. Eine Affinitätsabnahme, d. h. bei gleichem PO wird weniger O2 an Hb gebunden, stellt sich als Rechtsverschiebung der Kurve dar. Sie wird durch Erhöhung der angegebenen Faktoren im Erythrozyten verursacht. Verminderung dieser Faktoren bewirkt umgekehrt eine Affinitätszunahme, also eine Linksverschiebung. 2

zunahme. Diese als Bohr-Effekt bekannte Abhängigkeit kommt zustande durch eine allosterische Wechselwirkung zwischen der H+- und der O2-Bindungsstelle. Der Bohr-Effekt ist auch durch Veränderung des PCO auslösbar: Erhöhung des PCO verschiebt die O2-Bindungskurve nach rechts, Erniedrigung nach links. Dieser Einfluss beruht in erster Linie darauf, dass Erhöhung des PCO zur Erniedrigung des pH führt und umgekehrt. Der Einfluss des CO2-Moleküls selbst auf die O2-Affinität ist dagegen gering. Der Bohr-Effekt begünstigt sowohl die O2-Aufnahme in der Lunge als auch die O2-Abgabe in den Geweben. In der Lunge wird nämlich durch die CO2-Abgabe der PCO des Blutes gesenkt und der pH erhöht; dadurch wird die Bindungsfähigkeit für O2 erhöht. In den Geweben wird durch die CO2-Aufnahme der PCO des Blutes erhöht und der pH erniedrigt; dadurch wird die O2-Freisetzung aus dem Blut begünstigt. Ganz allgemein begünstigt eine Linksverschiebung der O2-Bindungskurve die O2-Aufnahme in der Lunge, da bei gleichem PO eine höhere O2Sättigung erreicht wird; andererseits begünstigt Rechtsverschiebung die O2-Abgabe in den Geweben, da bei gleicher O2-Sättigung der die Diffusion treibende PO erhöht wird. Auch das intraerythrozytäre Milieu, insbesondere die Kationenkonzentration, hat eine Bedeutung für die O2Affinität des Hämoglobins. Besonders ausgeprägt aber ist der affinitätsmindernde Effekt des 2,3-Bisphosphoglycerats (2,3-BPG), dessen Konzentration in den Erythrozyten nahezu derjenigen des tetrameren Hämoglobins gleicht (ca. 2,5 mmol · l–1). In Abwesenheit von 2,3-BPG ist die O2-Affinität sehr hoch (P0,5 = 2 kPa); die Hauptfunktion des 2,3-BPG besteht mithin in einer Rechtsverlagerung der O2-Bindungskurve in einen Bereich, der den physio2

2

logischen Bedingungen entspricht. Ob darüber hinaus die O2-Affinität unter physiologischen Bedingungen über Konzentrationsänderungen von 2,3-BPG geregelt wird (z. B. bei Höhenanpassung), ist umstritten.

2

2

2

2

2

Inaktive Formen des Hämoglobins Die O2-Transportfähigkeit ist gestört, wenn das Hämoglobin nicht mehr zur O2-Anlagerung zur Verfügung steht. Hierbei sind zwei Formen praktisch wichtig. Kohlenmonoxid (CO) kann anstelle von O2 reversibel an das zweiwertige Hämeisen binden, wobei das Carboxyhämoglobin (HbCO) entsteht. Die Affinität des Hämoglobins für CO ist etwa 300-mal größer als für O2; CO bindet also sehr fest an Hämoglobin, das damit für den O2-Transport ausfällt. Die Bindung von CO an Häm-Eisen führt zur Zunahme der Affinität der übrigen Häm-Moleküle des tetrameren Hb zu O2; durch CO-Bindung wird also die O2Affinität erhöht, die O2-Bindungskurve mithin links verschoben (Abb. 10.33), was die O2-Abgabe in den Geweben behindert (s. o.). Wegen der hohen Affinität des Hämoglobins zu CO führen schon sehr niedrige CO-Partialdrücke zu nennenswerter HbCO-Sättigung. Dass im Straßenverkehr oder beim Rauchen CO-Vergiftungen nicht häufiger auftreten, liegt an dem nur langsamen Übertritt von CO aus dem Alveolargas ins Blut. Durch Oxidationsmittel kann das zweiwertige Eisen des Häms (FeII) zum dreiwertigen (FeIII) oxidiert werden. Das Hämoglobin mit dreiwertigem Eisen heißt Methämoglobin (MetHb, auch Hämiglobin); es kann O2 nicht reversibel anlagern und ist daher für den O2-Transport inaktiv (Abb. 10.34). Ganz ähnlich wie bei der Beladung

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285

286

10 Atmung

Oxygenation

oxidierende Gifte O2

Oxidation

O2

keine O2 O2-Bindung (Hb-Vergiftung)

FeII

Häm Globin

O2-Transport

Hb-Vergiftung FeIII

II

Fe

Hb(FeII) Desoxyhämoglobin

Hb(FeII)O2 Oxyhämoglobin

Desoxygenation

Hb(FeIII) Methämoglobin

Reduktion

Methämoglobinreduktase

O2

Abb.10.34 Oxygenation und Oxidation des Hämoglobins. Bei der Oxygenation (links) erfolgt eine reversible Anlagerung von molekularem O2 an das zweiwertige Hämeisen (O2-Transport). Bei Oxidation (rechts) hingegen wird das Hämeisen zur dreiwertigen Stufe oxidiert, wodurch das

mit CO führt die Oxidation von Häm-Eisen zu einer Zunahme der O2-Affinität der übrigen (nicht-oxidierten) Häm-Moleküle; die O2-Bindungskurve von partiell methämoglobinisiertem Hb ist also nach links verschoben. Durch Reduktionsmittel (z. B. Dithionit) kann MetHb wieder zu Hämoglobin reduziert werden (FeIII wird zu FeII). Im Organismus besorgt die Methämoglobinreduktase die Reduktion des MetHb, das spontan oder durch Gifte (z. B. Nitrate, Nitrite, anilinhaltige Stoffe) entsteht. Säuglinge sind gegen MetHb-bildende Gifte (z. B. Trinkwasser mit hoher Nitrat-Konzentration) besonders anfällig, da bei ihnen die MetHb-Reduktase noch nicht ausgereift ist.

Zum kleineren Teil ist CO2 als Carbamat an die freien Aminogruppen der Proteinenden (besonders des Hämoglobins) nach folgendem Summenschema gebunden: CO2 + R – NH2 Ð R – NH – COO– + H+

(10.45)

wobei R den Proteinrest bezeichnet. Aus beiden Bindungsgleichgewichten ist ersichtlich, dass die chemische CO2-Bindung mit der Bildung von H+-Ionen einhergeht. Um CO2 in größerer Menge chemisch zu binden, muss also für die Pufferung dieser H+-Ionen gesorgt sein, und bei dieser Pufferung spielen Histidinseitenketten des Hämoglobins die wichtigste Rolle (S. 313 ff.).

CO2-Bindungskurve

Chemische Bindung von CO2 im Blut Ähnlich wie O2 wird auch CO2 im Blut im Wesentlichen in chemischer Bindung, und zwar als HCO3– und Carbamat, transportiert. Die CO2-Bindungsfähigkeit ist im desoxygenierten Blut höher als im oxygenierten, was die CO2-Aufnahme in den Geweben und die CO2-Abgabe in der Lunge begünstigt.

CO2 liegt im Blut in drei Formen vor Wie O2 kommt auch CO2 im Blut sowohl physikalisch gelöst als auch chemisch gebunden vor. Die reversible chemische Bindung erfolgt zum größten Teil als Bicarbonat (in Erythrozyten und Plasma): CO2 + H2O Ð HCO3– + H+

Methämoglobin entsteht, das O2 nicht anlagern kann (HbVergiftung). Das Enzym Methämoglobinreduktase begünstigt die Rückwandlung von Methämoglobin zu (Desoxy-) Hämoglobin.

(10.44)

Analog zur O2-Bindungskurve beschreibt die CO2-Bindungskurve den Zusammenhang zwischen CO2-Konzentration (alle drei Formen) und CO2-Partialdruck des Blutes (Abb. 10.35). Wie bei dieser überwiegt die Konzentration des chemisch gebundenen CO2 (besonders HCO3–) den physikalisch gelösten Anteil. Im Gegensatz zur O2-Bindungskurve erreicht jedoch der chemisch gebundene CO2-Anteil keinen „Sättigungswert“, es gibt also keine „CO2-Kapazität“ des Blutes. Die CO2-Bindungskurve wird durch eine Reihe von Faktoren beeinflusst. Erniedrigung des pH wie Erhöhung der Temperatur verschieben die Bindungskurve nach rechts. Bei gleichem PCO bindet desoxygeniertes Blut erheblich mehr CO2 als oxygeniertes (Abb. 10.35). Dieses als Haldane-Effekt bezeichnete Phänomen beruht im Wesentlichen auf dem gleichen Mechanismus wie der Bohr-Effekt, nämlich auf der allosterischen Wechselwir2

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10.7 Atemgastransport im Blut „physiologische CO2-Bindungskurve“

O2-Sättigung 0%

ml/l mmol/l 30

400

0

10

0

0

2

4

–

+ HCO3

CO2 + H2O

+

H -Bindung

6

8

O2 O2-Bindung

CO2 in chemischer Bindung als Bicarbonat und Carbamat

CO2 in physikalischer Lösung (a CO2 · PCO2 )

CO2-Konzentration

arteriell

20

200

+

100%

gemischt-venös

600

H

Globin Häm

Häm O2-Affinität

O2

+

H -Bindung CO2 Bindung

A Bohr-Effekt

10

CO2-Partialdruck (kPa)

Abb.10.35 CO2-Bindungskurve des menschlichen Blutes. Die gesamte CO2-Konzentration setzt sich aus physikalisch gelöstem und chemisch gebundenem Anteil (HCO3–, Carbamat) zusammen. Aufgrund des Haldane-Effekts bindet desoxygeniertes Blut (O2-Sättigung SO = 0%) mehr CO2 als oxygeniertes Blut (SO = 100%). Die physiologische CO2-Bindungskurve, die die SO -Änderung in Lunge und Geweben berücksichtigt, verläuft daher steiler als die Bindungskurven bei konstantem SO . 2

2

2

2

kung der H+- und O2-Bindung am Hämoglobin (Abb. 10.36). Zusätzlich ist ein Teil des Carbamino-CO2 von der O2-Sättigung abhängig (oxylabile Carbamatbindung): Anlagerung von O2 vermindert die CO2-Bindungsfähigkeit als Carbamat. Wie der Bohr-Effekt ist auch der Haldane-Effekt von erheblicher physiologischer Bedeutung. Die Erhöhung des O2-Partialdrucks in der Lunge erleichtert die Freisetzung von CO2 aus der chemischen Bindung in die physikalische Lösung: Die Konzentrationen von HCO3– und Carbamat werden erniedrigt, der PCO steigt an, so dass das CO2 besser ins Alveolargas diffundieren kann (S. 289 f.). Umgekehrt bewirkt die O2-Entsättigung in den Geweben eine Zunahme der CO2-Bindung im Blut. 2

Bei den Bedingungen des arteriellen Blutes (pH = 7,4, PCO = 5,3 kPa) werden durch den Haldane-Effekt bei Bindung von 1 mol O2 0,28 mol CO2 freigesetzt, wovon etwa zwei Drittel durch die abdissoziierten H+-Ionen aus HCO3– entstehen, ein Drittel aus der Carbamatbindung. Bei einem RQ von 0,85 werden pro mol O2 0,85 mol CO2 gebildet, wovon demnach 0,28 mol, also ein Drittel, durch den Haldane-Effekt, d. h. ohne Veränderung des PCO im Blut, ausgetauscht werden (2). 2

2

Austauschvorgänge im Blut bei CO2-Beladung und -Entladung Abb. 10.37 zeigt die Vorgänge, die im Blut vor sich gehen, wenn es in den Geweben CO2 aufnimmt bzw. in der Lunge CO2 abgibt. Im Gewebe diffundiert CO2 ins Plasma und in die Erythrozyten. Wegen des hohen Diffusionsvermögens kommt es rasch zu einer vollständigen Partialdruckangleichung zwischen Erythrozyten und Plasma.

+

H

–

+ HCO3

CO2 + H2O

B Haldane-Effekt

Abb.10.36 Äquivalenz von Bohr- und Haldane-Effekt. A Der Bohr-Effekt beschreibt die Auswirkung einer Änderung der H+-Konzentration, und damit der H+-Bindung an Hämoglobin, auf die O2-Bindung. Die Änderung der H+Konzentration kann auch durch Veränderung von CO2 bewirkt sein, das seinerseits bei Bindung als Carbamat die O2Affinität beeinflusst. B Beim Haldane-Effekt beeinflusst die Änderung der O2-Beladung die H+-Bindung (Pufferung), die ihrerseits das Gleichgewicht von HCO3– und CO2 beeinflusst. Zusätzlich wird ein Teil der Carbamatbindung des CO2 von der O2-Sättigung beeinflusst (oxylabile Carbamatbindung).

Die Erhöhung des PCO führt zur Bildung von HCO3–, und zwar in dem Ausmaß, in dem Nichtbicarbonatpuffer die in der Reaktion CO2 + H2O Ð HCO3– + H+ entstehenden H+ abpuffern können (S. 312 ff.). Da die Pufferkapazität der Nichtbicarbonatpuffer in Erythrozyten (Hämoglobin, ca. 60 mmol · l–1 · pH–1) weit größer ist als die des Plasmas (Plasmaproteine, ca. 8 mmol · l–1 · pH–1), wird in den Erythrozyten mehr HCO3– gebildet als im Plasma. Hinzu kommt, dass die Einstellung des Gleichgewichts CO2 + H2O Ð HCO3– + H+ normalerweise langsam verläuft. In den Erythrozyten gibt es jedoch ein Enzym, die Carboanhydrase, das diese Reaktion erheblich beschleunigt, so dass das Gleichgewicht in den Erythrozyten sehr viel schneller erreicht wird als im Plasma (Abb. 10.38, Schritt 1 → 2). Insgesamt steigt daher die Konzentration von HCO3– in den Erythrozyten schneller und stärker an als im Plasma, und es entsteht ein chemischer Gradient, demzufolge Bicarbonat über einen elektroneutralen carriervermittelten Austausch gegen Cl– aus dem Erythrozyten ins Plasma gelangt (Hamburger-Shift). 2

Endgültig ist das Gleichgewicht jedoch erst erreicht, wenn auch die H+-Konzentration des Plasmas den geänderten Werten von HCO3– und CO2 entspricht. An dieser Einstellung des H+-Gleichgewichts ist weniger ein Austausch von H+ oder OH– über die Erythrozytenmembran beteiligt als vielmehr die (langsame) Reaktion von CO2 mit H2O zu H+ und HCO3– im Plasma (Abb. 10.37).

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287

10 Atmung

Gewebe bzw. Lunge

Plasma

1. Schritt: + – CO2 -HCO3 -H -Gleichgewicht im Erythrozyten

Erythrozyt O2

CO2

–

CO2 + Hb

CO2

OOC – Hb

+

+

+

H2O

H2O

H

+

– HCO3

– HCO3

+H

CO2

Gewebe

CO2

Kapillare Erythrozyt

+

+ Pr

Cl

–

Cl

–

–

CO2

+

+ H

+

–

HCO3 H

2

Carboanhydrase

PCO -Gleichgewicht

288

HCO3

CA

CO2

sehr schnell

+

2. Schritt: – HCO3 -Gleichgewicht Erythrozyt und Plasma

–

Hb

–

O2 (HaldaneEffekt) HHb

3. Schritt: – + CO2-HCO3 -H -Gleichgewicht im Plasma

–

CO2

HCO3 H+

CO2

HCO3

HPr CA

CO2

Abb.10.37 Reaktionen bei Aufnahme von CO2 ins Blut (Gewebe, blaue Pfeile) und bei Abgabe von CO2 aus dem Blut (Lunge, grüne Pfeile). Die gestrichelten Pfeile im Plasma deuten an, dass die Gleichgewichtseinstellung langsam erfolgt (Abb.10.38). Hb-COO– = Carbamat am Hämoglobin, HHb/Hb– deutet auf die puffernden Gruppen am Hämoglobin hin; das Minuszeichen steht für die Änderung der Ladung, nicht für die Nettoladung selbst. Der violett gezeichnete Carrier (Bande-3-Protein, s. Abb. 9.4, S. 230) besorgt den gekoppelten HCO–3 -Cl–-Austausch (HamburgerShift).

Nach neueren Befunden wird diese Reaktion durch Carboanhydrase beschleunigt, die im Endothel der Kapillaren verankert, aber dem Plasma zugängig ist (s. auch die intrazelluläre und membrangebundene Carboanhydrase der Niere, S. 365 ff.). Im Plasma reagiert somit ein Teil des CO2 und führt so zum Anstieg der H+Konzentration hin zu ihrem Gleichgewichtswert. Das dabei ebenfalls gebildete HCO3– gelangt wieder in den Erythrozyten und reagiert dort zu CO2 (Abb. 10.38/3). Dieser Ereigniskreis (JacobStewart-Zyklus; 37) verläuft also entgegengerichtet der primären Abfolge.

In Abb. 10.37 sind ferner die Reaktion von CO2 zu Carbamat und die Pufferung entstehender H+-Ionen durch Plasmaproteine und Hämoglobin dargestellt sowie die Einflüsse des Bohr-Haldane-Effekts. In der Lunge verlaufen alle Teilschritte in umgekehrter Richtung ab (grüne Pfeile in Abb. 10.37).

Die CO2-Bindungskurve verläuft steiler als die O2-Bindungskurve In Abb. 10.39 sind beide Bindungskurven im gleichen Maßstab dargestellt, und es sind die mittleren Werte im arteriellen und gemischt-venösen Blut bei körperlicher Ruhe angegeben. Die unterschiedliche Kurvenform hat einige wichtige Konsequenzen, von denen die auf den RQ sowie die auf Gasansammlungen in geschlossenen Körperhöhlen von besonderer Bedeutung sind.

–

–

+

HCO3 H

schnell

–

HCO3

CO2

langsam

Abb.10.38 Unterschiedlicher Zeitbedarf der Gleichgewichtseinstellung im CO2-HCO3–-H+-System des Blutes, wenn es CO2 im Gewebe aufnimmt. Der 1. Schritt verläuft sehr schnell: CO2 diffundiert aus dem Gewebe ins Plasma und in den Erythrozyten, wo sich dank der Carboanhydrase (CA) rasch ein neues Gleichgewicht mit HCO–3 (und H+) einstellt (roter Pfeil). Der 2. Schritt verläuft weniger schnell: HCO–3 gelangt (im Austausch gegen Cl–) aus dem Erythrozyten ins Plasma (roter Pfeil). Im Plasma ist das Gleichgewicht CO2 + H2O Ð HCO–3 + H+ noch nicht eingestellt, da die H+-Ionen noch nicht nennenswert vermehrt sind. Dies geschieht im sehr langsamen 3. Schritt durch Bildung aus CO2 im Plasma (roter Pfeil) unter Mithilfe der endothelständigen Carboanhydrase (CA). Das dabei gleichzeitig entstehende HCO3– gelangt in den Erythrozyten und wird dort teils wieder in CO2 verwandelt (Jacob-Stewart-Zyklus).

Steilheit der Bindungskurven und RQ Angenommen, es werde aufgrund einer Verdoppelung der alveolären Ventilation der alveoläre (und arterielle) PCO halbiert und der arterielle PO um den entsprechenden Betrag erhöht (Abb. 10.28, S. 282). Da schon normalerweise das Hämoglobin im arteriellen Blut nahezu vollständig gesättigt ist, führt die PO -Erhöhung zu keiner nennenswerten Erhöhung der O2-Aufnahme ins Blut (Abb. 10.31, S. 284). Andererseits wird aber die CO2-Konzentration im Blut und in allen CO2-Speichern des Körpers erheblich gesenkt, und dieses CO2 wird abgeatmet. So lange, bis die CO2-Speicher auf den neuen Wert entleert sind, wird also die pulmonale CO2-Abgabe die 2

2

2

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10.8 Diffusion durch die Alveolarmembran gemischt-venös

arteriell

600

entsprechender Unterdruck entstanden ist (starre Wände), der zu Schmerzen und Exsudation führt. Auf diese Weise entstehen auch Atelektasen (kollabierte Alveolen) in der Lunge in Alveolarbezirken, deren bronchialer Zugang verstopft ist (s. a. S. 307 f.). Man kann sich leicht ausmalen, dass derartige Gasansammlungen größer werden müssten, wenn die O2-Bindungskurve steiler verliefe als diejenige für CO2; ein stabiler Zustand wäre sogar überhaupt nicht erreichbar, da solche Gasansammlungen spontan entstünden und wüchsen.

400

RQ =

CO2

200

0

2

arteriell

10.8

50 ml/l

O2

0

43 = 0,86 50

gemischt-venös

Konzentration (ml/l)

43 ml/l 0,8 kPa

6,6 kPa

4

6

8

10

Abb.10.39 O2- und CO2-Bindungskurven im gleichen Maßstab. Dargestellt sind normale Werte für arteriellen PO (13,3 kPa) und PCO (5,3 kPa). Das Verhältnis der arteriovenösen Konzentrationsdifferenzen für CO2 und O2 ist gleich ˙O = (C¯v – Ca)˙ CO /V dem respiratorischen Quotienten, RQ = V v)O (Gl.10.34, S. 280). Wegen der unterschiedliCO /(Ca – C¯ chen Steilheit der Bindungskurven ist die zugehörige Partialdruckdifferenz für CO2 viel kleiner als für O2 (0,8 gegenüber 6,6 kPa). Das bedeutet, dass gegenüber dem arteriellen Blut im gemischt-venösen Blut der PCO weniger stark ansteigt, als der PO abfällt, so dass die Summe aller Gaspartialdrücke im gemischt-venösen Blut subatmosphärisch ist (im arteriellen Blut ist sie weitgehend atmosphärisch). Die Folge ist eine Resorption von Gasen ins Blut, z. B. aus der geschlossenen Paukenhöhle bei Tubenverschluss oder aus der Pleurahöhle bei Pneumothorax. 2

2

2

2

2

2

2

pulmonale O2-Aufnahme weit übersteigen, der pulmonale RQ also über 1,0 liegen und den Stoffwechsel-RQ (S. 278) übertreffen. Bei einer vorübergehenden Hypoventilation ist alles gerade umgekehrt. Nur im Zustand des Fließgleichgewichts (steady state) bezüglich O2- und (besonders) CO2-Austausch ist also der pulmonale RQ als Maß für den Stoffwechsel-RQ verwendbar. Diese transienten Effekte des CO2 sind auch der Grund dafür, dass die Bestimmung des Herzzeitvolumens nach dem Fick’schen Prinzip (Gl. 10.32, S. 278) mit O2 viel zuverlässiger ist als mit CO2. Gasansammlungen in geschlossenen Körperhöhlen (geschlossener Pneumothorax, Mittelohr bei geschlossener Tuba Eustachii und intaktem Trommelfell, Lungenbezirke hinter verschlossenen Atemwegen) stehen angenähert unter Atmosphärendruck. Die Summe aller Partialdrücke im Kapillarblut ist aber, ähnlich wie im gemischt-venösen Blut, subatmosphärisch, da die Abnahme des PO im Kapillarblut viel größer ist als die Zunahme des PCO (Abb. 10.39). Aufgrund dieser Druckdifferenz zwischen Gasansammlung und Kapillarblut wird laufend Gas aus der Gasansammlung resorbiert, bis diese entweder verschwindet (kollabierbare Wände) oder in ihr ein 2

2

Diffusion treibt O2 und CO2 durch die Alveolarwand, die so dünn ist und eine so große Fläche hat, dass sie nur ein geringes Diffusionshindernis darstellt. Ihre Leitfähigkeit, die Diffusionskapazität der Lunge, ergibt eine Maßzahl für die Durchlässigkeit der Diffusionsbarriere.

Diffusiver Gastransport durch die Alveolarmembran

12

Partialdruck (kPa)

2

Diffusion durch die Alveolarmembran

Die größten Strecken zwischen Umgebung und Geweben legen O2 und CO2 konvektiv zurück, d. h. durch Mitführung in den Transportmedien Atemgas (in der Lunge) und Blut (im Kreislauf). Es bleibt jedoch die, wenn auch dünne, alveoläre Trennwand zwischen Gas im Alveolarraum und Blut im Lumen der Lungenkapillaren, die die Gase durch Diffusion überwinden müssen (Abb. 10.40). Diese Wand ist zum größten Teil äußerst dünn, obwohl sie aus mehreren Schichten aufgebaut ist: Alveolarepithel, Interstitium und Kapillarendothel. Zusätzlich muss der Sauerstoff auf seinem Weg zum Hämoglobin noch Plasma, Erythrozytenmembran und Erythrozyteninneres durchdringen. Da die Reaktion von O2 mit Hämoglobin (und von CO2 zu HCO3–) sehr schnell verläuft, begrenzt sie den Transport dieser Gase nicht nennenswert. Es ist daher gerechtfertigt, den Übertritt von O2 und CO2 zwischen Alveolargas und Lungenkapillarblut als diffusiv anzusehen, und man fasst die gesamte Barriere mit ihren Gewebe- und Blutschichten zur „Alveolarmembran“ zusammen. Der Diffusionsstrom (V˙) durch diese Alveolarmembran ist der treibenden Druckdifferenz proportional, also der Differenz der Partialdrücke (∆P) zwischen Alveolargas und Lungenkapillarblut: V˙ = DL · ∆P (l/min)

(10.46)

Der Proportionalitätsfaktor DL heißt Diffusionskapazität der Lunge. Er hängt nach dem Fickschen Diffusionsgesetz ab von der Durchtrittsfläche (A) und der Dicke (x) der Membran sowie von der Löslichkeit (α) und dem Diffusionskoeffizienten (D) des diffundierenden Gases: DL = D · α · A/x

(10.47)

Das Produkt D · α wird auch als Krogh-Diffusionskonstante K bezeichnet. Die geometrischen Faktoren A und x sind in vivo kaum abzuschätzen; auch ist die Dicke x in verschiedenen Teilen der Alveole sehr unterschiedlich (Abb. 10.40). Ferner sind K und α nicht leicht zu messen, da ihre Werte in den einzelnen Schichten der Alveolarmembran durchaus unterschiedlich sein können. Dies ist der

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289

10 Atmung Erythrozyten

alveolokapilläre Membran

Alveolarraum

PA O2

Bindegewebsfasern

Alveolarraum

Epithelzelle

Endothelzelle

10

1 µm

Abb.10.40 Alveolarwand der menschlichen Lunge im Elektronenmikroskop. Die Kapillare (mit Erythrozyten) grenzt oben und unten an den Alveolarraum. Die Grenzbarriere wird von der Endothelzelle (Kern angeschnitten), der Alveolarepithelzelle und dem dazwischen liegenden Bindegewebe gebildet. Im oberen Teil ist die Epithelzelle äußerst dünn, so dass die gesamte Alveolarwand hier nicht dicker ist als etwa 0,2 µm (aus 26).

Grund, weshalb man all diese Faktoren zu der globalen, aber messbaren Größe der Diffusionskapazität DL zusammenfasst. Der Sauerstoff muss aber nicht nur durch die Alveolarmembran diffundieren, sondern auch noch durch eine Schicht im Blut, bis er zum Hb gelangt. In der Regel enthält der Wert von DL auch die Diffusion im Blut und wird somit von den Diffusionseigenschaften des Blutes mitbestimmt. Die Gl. 10.47 zeigt jedoch, wie sich DL für unterschiedliche Gase verhält. Da nämlich A/x für alle Gase gleich ist, beruhen Unterschiede der Diffusionskapazität einzelner Gase (O2, CO2, CO etc.) auf Unterschieden von D · α, wobei D für O2, CO2 und CO sehr ähnliche Werte besitzt. Sehr unterschiedlich ist hingegen der Wert von α, der für CO2 mehr als 20-mal so groß ist wie für O2 (S. 260); CO2 diffundiert daher erheblich leichter durch die Alveolarmembran als O2. Tatsächlich gibt es für CO2 keine messbare Diffusionsbehinderung in der Lunge.

Partialdruckverlauf in der Lungenkapillare

2

2

2

2

2

alveolärer PO2 kapillärer PO2 treibende Druckdifferenz

5

0 0%

100%

Kontaktstrecke

Abb.10.41 O2-Aufnahme aus dem Alveolargas ins Lungenkapillarblut. Zu Beginn der Kapillare ist die treibende Druckdifferenz hoch, und viel O2 diffundiert durch die alveolokapilläre Membran. Durch die O2-Aufnahme ins Blut steigt dessen PO entlang der Kapillare an, wodurch die treibende Druckdifferenz und damit der Diffusionsstrom absinken. Das endkapilläre Blut, das die Kapillare verlässt, hat praktisch denselben PO (und PCO ) wie das Alveolargas. Die Kurve des kapillären PO -Angleichs verläuft normalerweise noch steiler, als hier zur Verdeutlichung dargestellt; die gemittelte alveolokapilläre PO -Differenz beträgt normalerweise nur etwa 1 kPa (s. Text). 2

2

2

2

2

Lungenkapillaren nur wenig, so dass eine große Differenz zwischen PA O und Pc’O verbleibt. Wie Abb. 10.41 zeigt, ändert sich die treibende Druckdifferenz ∆PO entlang der Kapillare; ein mittlerer Wert zur Berechnung von DL für O2 nach Gl. 10.46 ist daher nicht einfach messbar. Mit besonderen Verfahren ist DL für O2 für die gesunde Lunge zu etwa 275 ml · min–1 · kPa–1 bestimmt worden. Mit der O2-Aufnahme in Ruhe, V˙O = 310 ml · min–1, ergibt sich daraus mit Gl. 10.46 eine mittlere alveolokapilläre PO -Differenz von etwa 1,1 kPa (8 mmHg). Obwohl in der einzelnen Alveole alveoläres Gas und endkapilläres Blut praktisch gleiche PO - und PCO -Werte haben, gibt es wegen der Inhomogenität der Lunge deutlich messbare PO -Unterschiede zwischen gemischtalveolärem Gas und arteriellem Blut, das sich aus dem endkapillären Blut aller Alveolen mischt (S. 292). 2

2

2

2

Im Kontakt mit der Alveolarmembran nimmt das Lungenkapillarblut fortlaufend O2 auf, wodurch der O2-Partialdruck entlang der kapillären Kontaktfläche vom gemischt-venösen Ausgangswert (Pv¯O ) zu einem höheren Wert am Ende der Kapillare ansteigt (Abb. 10.41). Dieser endkapilläre PO (Pc’O ) ist in der normalen Lunge bei Luftatmung praktisch gleich dem alveolären PO (PA O ), denn die Diffusionskapazität der normalen Lunge ist so hoch, dass die Alveolarmembran in Ruhe auch für O2 (wie für CO2) kein Diffusionshindernis darstellt. Erst bei stark erhöhter O2-Aufnahme (schwere Arbeit) oder in Hypoxie ist eine geringfügige Diffusionslimitierung für O2 festzustellen (22). In tiefer Hypoxie kann die Diffusionslimitierung erheblich werden; denn wegen des steilen Verlaufs der O2-Bindungskurve im hypoxischen PO -Bereich ändert sich bei der O2-Aufnahme der kapilläre PO entlang der 2

gemischt-venöser PO2

15

Fibroblast

endkapillärer PO2

Kapillarlumen

O2-Partialdruck PO2 (kPa)

290

2

2

2

2

2

10.9

Verteilung von Ventilation und Perfusion

Ventilation und Perfusion sind nicht gleichmäßig auf die verschiedenen Abschnitte der Lunge verteilt. So gibt es relativ hyperventilierte (= hypoperfundierte) und hypoventilierte (= hyperperfundierte) Alveolarbezirke. Diese

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10.9 Verteilung von Ventilation und Perfusion Ventilations-Perfusions-Inhomogenität führt dazu, dass die alveolären und kapillären Partialdrücke, insbesondere für O2, regional unterschiedlich sind. Dies hat zur Folge, dass die Effizienz der Lunge als Gasaustauschorgan beeinträchtigt ist. Die Grenzfälle sind die alveoläre Totraumbelüftung (Perfusion = 0) und der RechtsLinks-Shunt (= venöse Beimischung, Ventilation = 0). Die hypoxische Vasokonstriktion der Lungengefäße mildert die Auswirkung der Ventilations-PerfusionsInhomogenität, indem sie dafür sorgt, dass schlecht ventilierte Alveolarbezirke auch weniger perfundiert werden.

Ventilation und Perfusion sind in der Lunge ungleichmäßig verteilt Aufgrund der Schwerkraft ist die Perfusion (Q˙) nicht auf alle Lungenabschnitte gleichmäßig verteilt (Abb. 10.24, S. 277). Ähnliches gilt für die alveoläre Ventilation (V˙A, Abb. 10.42). Denn die unteren Lungenabschnitte hängen an den oberen, dehnen sie und machen ihre Alveolarwände steif. Daher werden die oberen Lungenabschnitte schlechter ventiliert als die unteren. Insgesamt ist der vertikale Gradient der Ventilation jedoch weniger stark ausgeprägt als derjenige für die Perfusion, so dass das V˙A/ Q˙-Verhältnis in den oberen Lungenabschnitten höher ist als in den unteren. Auch im Liegen gibt es solche schwerkraftbedingten vertikalen V˙A/Q˙-Gradienten, doch sind sie weniger ausgeprägt, da die vertikale Ausdehnung der Lunge im Liegen geringer ist. Neben diesen schwerkraftbedingten V˙A/Q˙-Gradienten gibt es eine zufällige Verteilung von V˙A/Q˙ in der Lunge, die auf der Variabilität von

Perfusionsverteilung

PO (kPa) 2

Bronchien- und Gefäßversorgung einzelner Regionen beruht. Es gibt also schon in der gesunden Lunge eine ungleichmäßige Verteilung von V˙A und Q˙ , die man V˙A/Q˙Inhomogenität nennt. Wie im Folgenden dargestellt, schränkt sie die Effizienz des pulmonalen Gasaustauschs ein, was besonders deutlich wird, wenn bei krankhaften Veränderungen der Lunge die V˙A/Q˙-Inhomogenität erheblich zunimmt. Den schwerkraftbedingten Anteil an der ungleichmäßigen Verteilung hat man durch Versuche in Schwerelosigkeit (während eines Parabelfluges bzw. auf der internationalen Raumstation) zu ermitteln versucht. Dabei hat sich überraschenderweise gezeigt, dass die Auswirkungen bei Schwerelosigkeit kaum von denen im Schwerefeld der Erde abwichen; man muss daraus schließen, dass der schwerkraftbedingte Anteil an der Verteilungsinhomogenität gering ist.

˙ -Inhomogenität ˙A/Q Regionale V bedeutet regionale Unterschiede der alveolären Partialdrücke Die alveoläre Ventilation (V˙A) führt den Alveolen O2 zu, die Lungenperfusion (Q˙) transportiert ihn von dort ab (Abb. 10.25, S. 278). Es ist daher leicht verständlich, dass die alveoläre O2-Konzentration bzw. der alveoläre O2Partialdruck (PA) sowohl von V˙A als auch von Q˙ abhängt: Je höher V˙A für einen Bereich und je niedriger Q˙ in diesem, desto höher ist der PA für O2, desto „frischer“ ist also das Alveolargas. Hoher V˙A/Q˙-Wert einer Region bedeutet also „frisches“ Alveolargas (Partialdrücke nahe dem inspiratorischen Wert), niedriger V˙A/Q˙-Wert bedeutet alveoläre Partialdrücke näher den venösen Werten

. . VA/Q

Ventilationsverteilung

PCO (kPa) 2

3,3 Bereich I

17,6

Bereich II

13,3

3,7

0,9 5,3

0,63 11,9

Bereich III

. Perfusion pro Volumen (Q)

0

Abb.10.42 Ventilations-Perfusions-Verteilung in der ˙, Lunge. Aufgrund der Schwerkraft nehmen Perfusion (Q ˙A, rechts) bei aufrechtem links) und alveoläre Ventilation (V Thorax von oben nach unten zu. Dargestellt sind Perfusion und Ventilation (pro Einheit des Lungenvolumens) in verschiedener Höhe der Lunge. Da die Perfusion stärker mit der

5,6

0

. Ventilation pro Volumen (VA)

Höhe variiert als die Ventilation, ist das Ventilations-Perfu˙ oben höher und unten niedriger als im ˙A/Q sions-Verhältnis V Mittel, d. h. höher bzw. niedriger als das Verhältnis von Gesamtventilation zu Gesamtperfusion. Die PO - und PCO ˙ -Inhomogenität ergeben, sind ˙A/Q Werte, die sich aus dieser V in drei Alveolarbereichen (I, II, III) exemplarisch gezeigt.

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2

2

291

10 Atmung

˙ -Inhomogenität mindert ˙A/Q Regionale V die Gasaustauschleistung der Lunge

. Ventilation (VA) besorgt O2-Zufuhr

Hyperventilierte Bereiche tragen mit ihrer „frischen“ Alveolarluft viel zum Gasaustausch bei, hypoventilierte Bereiche wenig. Man könnte also meinen, dass die V˙A/Q˙Inhomogenität die Gasaustauschleistung der Lunge gar nicht beeinträchtigt. Dass dies nicht zutrifft, zeigt Abb. 10.44, in der vereinfachend zwei Bereiche dargestellt sind, ein hyperventilierter (Alveolarbezirk 1) und ein hypoventilierter (Alveolarbezirk 2). Im ersten sind alveolärer und endkapillärer PO hoch, im zweiten niedrig. Das ausgeatmete Alveolargas ergibt sich nun als Mischung aus beiden Bereichen. Da der hyperventilierte Bezirk zur Ausatemluft mehr beiträgt als der hypoventilierte, liegt der gemischt-alveoläre PO näher am PO der hyperventilierten als an dem der hypoventilierten Region. Für das Blut ist es genau umgekehrt, da der hypoventilierte (hyperperfundierte) Bereich mehr zur Mischung beiträgt; der arterielle PO liegt näher an demjenigen des hypoventilierten Bezirks. Hieraus ergibt sich für die gesamte Lunge, dass der arterielle PO niedriger ist als der PO im gemischt-alveolären Gas; d. h., es entsteht eine alveolär-arterielle PO Differenz, kurz AaDO , für die gesamte Lunge, obwohl in jedem Bezirk Alveolargas und endkapilläres Blut gleichen Partialdruck haben, es also in keinem Bezirk eine alveolokapilläre PO -Differenz gibt. Dass diese AaDO Ausdruck einer eingeschränkten Gasaustauschleistung ist, versteht man bei Betrachtung des Extrems: Wenn ein Teil der Lunge alle Ventilation, der andere alle Perfusion bekommt, gibt es gar keinen Gasaustausch mehr. Was in Abb. 10.44 exemplarisch für zwei Alveolarbezirke dargestellt ist, gilt auch in der normalen Lunge mit ihrer sehr viel größeren Anzahl funktionell unterschiedlicher paralleler Alveolarbezirke. Für das Beispiel der Abb. 10.42 kann man eine AaDO von 0,5 kPa errechnen; trotz der großen regionalen Unterschiede des alveolären PO ist also der Gesamteffekt für die gesunde Lunge gering. Bei gestörter Lungenfunktion ist jedoch in der Regel die V˙A/Q˙-Inhomogenität verstärkt, und dies ist die häufigste Ursache für eine pathologisch eingeschränkte Gasaustauschleistung der Lunge (S. 294).

inspiratorischer PO

. . VA /Q erniedrigt . . VA /Q normal . . VA /Q erhöht

2

20

O2-Partialdruck, PO2 (kPa)

292

15

alveolärer PO

2

erhöht

arterieller PO

2

2

erniedrigt

10

. Perfusion (Q) besorgt O2-Abtransport

2

2

2

gemischt-venöser PO

5

2

Abb.10.43 Das Verhältnis von Ventilation und Perfusion ˙ ) einer Alveole bestimmt deren Gaszusammensetzung ˙A/Q (V ˙A) be(hier nur O2 gezeigt). Die alveoläre Ventilation (V ˙ ) den O2stimmt die O2-Zufuhr zur Alveole, die Perfusion (Q Abtransport aus ihr mit dem Blut. Der alveoläre PO ist durch ˙˙A/Q das Verhältnis von Zufuhr zu Abfuhr, also durch das V ˙ , wird also ˙A und/oder steigt Q Verhältnis bestimmt. Sinkt V ˙ erniedrigt, so verarmt das Alveolargas an O2, der ˙A/Q V alveoläre PO sinkt und mit ihm der arterielle PO . Umgekehrt ˙ ˙A/Q wird das Alveolargas frischer, also reicher an O2, wenn V ansteigt: Alveolärer und arterieller PO steigen an. Dies ist im rechten Teilbild dargestellt (linke Skala). Für CO2 gilt Ent˙ , so sinkt der alveoläre und arteri˙A/Q sprechendes: Steigt V ˙ heißt also „frisches ˙A/Q elle PCO , und umgekehrt. Hohe V ˙ „verbrauchtes Alveolargas“. Die ˙A/Q Alveolargas“, niedrige V ˙ = 0 (keine Ventilation, aber ˙A/Q Grenzen sind zum einen V Perfusion), der PO des Kapillarblutes bleibt gemischt-venös, ˙ →∞ ˙A/Q ebenso der PO des Alveolargases; zum anderen V (keine Perfusion, aber Ventilation), der alveoläre PO bleibt unverändert inspiratorisch.

2

2

2

2

2

2

2

2

2

2

(Abb. 10.43). Daher entspricht einer Ungleichmäßigkeit in V˙A/Q˙ eine solche der alveolären und der endkapillären Partialdrücke. Man nennt die Bereiche, in denen V˙A/Q˙ höher (bzw. niedriger) ist als im Mittel, hyperventilierte (bzw. hypoventilierte) Bezirke (nicht zu verwechseln mit der Hyper- oder Hypoventilation, die sich auf das Verhältnis der gesamten alveolären Ventilation zum Stoffwechsel bezieht, S. 282). Bereiche mit einem mittleren V˙A/Q˙-Wert, einem Verhältnis, das also ebenso hoch ist wie das Verhältnis von Gesamt-V˙A zu Gesamt-Q˙ , bezeichnet man als normoventiliert. Die oberen Bezirke der Lunge sind bei aufrechtem Thorax hyperventiliert, weil ihre Perfusion noch stärker eingeschränkt ist als ihre Ventilation. Ihr alveolärer PO ist etwa 6 kPa höher, ihr PCO etwa 2 kPa niedriger als in den basalen Abschnitten (Abb. 10.42). 2

2

2

2

2

2

2

2

Die hypoxische Vasokonstriktion in der ˙ -Inhomogenität ˙A/Q Lunge reduziert die V Die regionalen Unterschiede von V˙A/Q˙ und damit die regionalen Unterschiede des PO und des PCO im Alveolargas und im Lungenkapillarblut wären noch viel ausgeprägter, wenn es nicht die hypoxische Vasokonstriktion der Lungengefäße gäbe (S. 275). In den hypoventilierten (relativ hyperperfundierten) Alveolarbezirken, in denen ja der PO niedrig ist, kommt es nämlich zur Vasokonstriktion, wodurch die Perfusion gedrosselt wird und der V˙A/ Q˙-Quotient ansteigt. Dies wirkt dem Absinken des PO entgegen. Umgekehrtes gilt für die hyperventilierten Bezirke. Da eine ausgeprägte regionale Inhomogenität von V˙A/Q˙ die Gasaustauschfunktion der Lunge mindert (s.o.), ist also die hypoxische Vasokonstriktion für die Gasaustauschleistung günstig. Das Umgekehrte ist in den Kapillarbezirken des Systemkreislaufs der Fall, wo hypoxische 2

2

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10.9 Verteilung von Ventilation und Perfusion Vasodilatation das O2-Angebot an einen Gefäßabschnitt begünstigt (S. 303). Der Unterschied beruht darauf, dass O2 in das Kapillarblut der Lunge aufgenommen, aus dem Blut der Körperkapillaren hingegen abgegeben wird.

˙ -Inhomogenität ˙ A/Q Die Effekte der V sind für O2 viel größer als für CO2

2

2

Alveolarbezirk 1: . . VA/Q hoch

Alveolarbezirk 2: . . VA/Q niedrig

(hyperventiliert und/oder hypoperfundiert)

˙ -Inhomogenität ist für CO2 ˙A/Q Die Auswirkung der V geringer als für O2, da die Effekte einer venösen Beimischung (= hypoventilierte Bezirke) für CO2 geringer sind als für O2. Dies liegt daran, dass aufgrund der sehr steilen Blutbindungskurve von CO2 venöser und arterieller PCO2 nahe beieinander liegen. Es ist also im Wesentlichen die Mischung aus den unterschiedlichen V˙A/Q˙-Bereichen, die die AaDO verursacht. Natürlich gibt es diese Mischeffekte genauso für CO2, so dass auch eine aADCO entsteht. Ihr Wert ist allerdings geringer als der für O2; für das Beispiel der Abb. 10.43 beträgt die aADCO nur etwa 0,1 kPa. Dies liegt an der im Vergleich zu O2 viel steileren Blutbindungskurve für CO2 (Abb. 10.39, S. 289). Die Zusammensetzung des arteriellen Blutes wird ja im Wesentlichen von den hypoventilierten (hyperperfundierten) Bereichen bestimmt, in denen der Partialdruck zum gemischt-venösen Wert hin verschoben ist. Wegen der steilen CO2-Bindungskurve liegt aber dieser PCO nahe am arteriellen Wert, so dass der Zufluss von Blut aus hypoventilierten Bereichen in der inhomogenen Lunge den PCO nur wenig über den Wert erhöht, der in der Lunge bei gleichmäßiger V˙A/Q˙-Verteilung vorläge.

gemischtalveolärer PO = PAO

(hypoventiliert und/oder hyperperfundiert)

PA1 = PC1’

PA2 = PC2’

gemischtarterieller PO = PaO

2

2

2

2

2

O2-Partialdruck PO2

2

inspiratorischer PO PA1

PC1’

PA alveolär-arterielle PO -Differenz (AaDO ) 2

Pa

PA2

2

PC2’ gemischt-venöser PO

2

alv eo lär en dk ap illä r ge m i alv sc eo htlär ge m ar isc te ht rie ll

2

2

Hyperventilierte Bereiche und alveolärer Totraum, hypoventilierte Bereiche und venöse Beimischung Ausgehend vom mittleren V˙A/Q˙-Wert, den die Lunge hätte, wenn V˙A und Q˙ überall gleichmäßig verteilt wären (ideale Lunge), gibt es in der gesunden Lunge alle Grade von hyper- und hypoventilierten Bezirken (Abb. 10.45). Die Extreme sind zum einen die Bereiche mit V˙A/Q˙ = 0, die man auch als Rechts-links-Shunt bezeichnet, da sie venöses Blut dem arterialisierten beimischen, und zum anderen Bereiche mit V˙A/Q˙ ! ∞, alveolärer Totraum genannt. Da alle hypoventilierten Bezirke relativ (d. h. gemessen an ihrer alveolären Ventilation) zu stark durchblutet sind, sind sie an der venösen Beimischung ebenso beteiligt wie die hyperventilierten Bereiche am alveolären Totraum. Wie tragen alveoläre Totraumbelüftung und venöse Beimischung zur Differenz zwischen alveolären und arteriellen Partialdrücken (AaDO und aADCO ) bei? Die Abb. 10.46 zeigt, dass die venöse Beimischung sich stark auf den O2-Partialdruck, aber praktisch nicht auf den CO2Partialdruck auswirkt (s. o.). Die alveoläre Totraumbelüftung beeinflusst hingegen O2 und CO2 in etwa gleichem Ausmaß. Damit wird verständlich, dass viele Lungenfunktionsstörungen, die die V˙A/Q˙-Inhomogenität verstärken, eher zu arterieller Hypoxie führen als zu CO2-Retention mit arterieller Hyperkapnie (S. 295). 2

2

Abb.10.44 Ungleichmäßige Verteilung von Ventilation ˙ ) erzeugt Partialdruckdifferenzen ˙A) und Perfusion (Q (V zwischen alveolärem Gas und arteriellem Blut, obwohl sich in jeder Alveole die Gas- und Blutpartialdrücke (PA und Pc') einander angleichen. Als einfachstes Beispiel zur Verdeutlichung dieses Sachverhalts ist eine aus zwei Alveolarbezirken ˙ ˙A hoch und Q aufgebaute Lunge dargestellt. Im Bezirk 1 ist V ˙ also hoch (relativ hyperventilierter Bezirk) und ˙A/Q niedrig, V damit das Gas „frisch“ (relativ hoher PO , niedriger PCO ). Im Bezirk 2 ist es gerade umgekehrt (relativ hypoventilierter Bezirk). Das (gemischt-)alveoläre Gas, das z. B. am Ende einer Exspiration am Mund gesammelt werden kann, ist eine Mischung von viel Gas aus Bezirk 1 mit hohem PO und wenig Gas aus Bezirk 2 mit niedrigem PO ; der PO der Mischung ist also näher an PA1 als an PA2. Da mehr Blut aus Bezirk 2 als aus Bezirk 1 herrührt, ist der (gemischt-)arterielle PO näher an Pc'2 als an Pc'1. Im unteren Diagramm sind auf einer PO -Skala die alveolären Werte (PA1 und PA2) sowie die endkapillären Werte beider Bezirke (Pc'1 und Pc'2) dargestellt. Mischung auf der Gasseite führt zu dem näher an PA1 gelegenen gemischt-alveolären Wert PA (es kommt mehr Gas von Bezirk 1 als von Bezirk 2). Mischung auf der Blutseite führt zu dem näher an Pc'2 gelegenen arteriellen Wert Pa (es kommt mehr Blut von Bezirk 2 als von Bezirk 1). Insgesamt ergibt sich für die gesamte Lunge eine alveolärarterielle PO -Differenz (AaDO ). Für CO2 ergibt sich entsprechend eine (kleinere) aADCO . 2

2

2

2

2

2

2

2

2

2

An der venösen Beimischung sind nicht nur die hypoventilierten (bis hin zu den überhaupt nicht ventilierten) Bezirken der Lunge beteiligt; es gibt auch einen anatomischen Rechts-links-Shunt (Abb. 10.45). Er wird verur-

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293

sacht durch den Zufluss eines Teils des Bronchialvenenblutes zu den Pulmonalvenen (die arterialisiertes Blut führen!) und eines kleinen Teils der Myokardperfusion zum linken Herzen (Vv. Thebesii). Zusammen beträgt dieser Rechts-links-Shunt normalerweise etwa 2 % des Herzzeitvolumens. Vergrößert ist der intrapulmonale Shunt z. B. als Folge von pulmonaler Atelektase oder vaskulären Abnormalitäten. Pathologisch vergrößerten extrapulmonalen Shunt gibt es z. B. bei kongenitalen Herzbildungsstörungen (etwa der Transposition der großen Gefäße oder der sog. Fallotschen Tetralogie). Die alveoläre Totraumbelüftung als Ausdruck der relativ hyperventilierten Bezirke beträgt beim Gesunden 3 – 12 % der gesamten alveolären Belüftung. Der gesamte Totraum, auch physiologischer oder funktioneller Totraum genannt, setzt sich also zusammen aus dem anatomischen Totraum der luftleitenden Atemwege und dem alveolären Totraum der überbelüfteten Alveolarbereiche.

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A

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12

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alveolären Totraum

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5

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Partialdruck (kPa)

er

nd

ea



l

Abb.10.45 Ventilations-Perfusions-Verhältnis in der gesunden Lunge. Schon in der normalen Lunge gibt es ˙ . Als ˙A/Q Bereiche mit sehr unterschiedlichen Werten von V ideale Alveolen bezeichnet man alle diejenigen Bereiche, ˙ dem mittleren Wert gleicht (Gesamt-V ˙A/Q ˙A/Gederen V ˙ ; nach Tab. 10.3 [S. 281] ist dieser Wert in körpersamt-Q licher Ruhe 5,6/6,2 = 0,90). Bereiche mit höherem als die˙ -Wert sind relativ hyperventiliert, mit ˙A/Q sem mittleren V ˙ ! ∞; sie werden als alveoläre Tot˙A/Q dem Extrem von V raumbelüftung zusammengefasst. Demgegenüber sind Be˙ -Wert relativ hypoventiliert; ihr ˙A/Q reiche mit niedrigerem V ˙ = 0) ist der Rechts-links-Shunt; alle diese ˙A/Q Extrem (V Bereiche tragen zur venösen Beimischung bei. Blut, das mit Alveolen gar nicht in Berührung kommt, wird als anatomischer Rechts-links-Shunt bezeichnet; funktionell verhält es sich wie Blut, das an nichtventilierten Alveolen vorbeiströmt.

.

venöse Beimischung

lär

Perfusion

ai

alveolären Totraum

ar

anatomischer Rechts-links-Shunt

RechtslinksShunt

Ai

eo

0

id

relativ hyperventiliert ideale Alveole

13

alv

Mittelwert

relativ hypoventiliert

.

VA . Q

.

.

ale

alveolärer Totraum

¥

re

Ventilation

(k e L ei ne un VA ge /Q -In ho m og en itä Ve t)

10 Atmung

venöse Beimischung Totraumventilation

294

aADCO2

O2

CO2

Abb.10.46 Alveoläre und arterielle Partialdrücke für O2 und CO2 in der idealen Lunge und der realen Lunge. In ˙ -Inhomogenität, links) sind PA ˙A/Q der idealen Lunge (keine V und Pa gleich (ideale Werte Ai und ai). In der realen Lunge ˙ -Inhomogenität, rechts) ist der (gemischt-) ˙A/Q (normale V ¯ ) für O2 höher, für CO2 niedriger als alveoläre Partialdruck (A der Wert in der idealen Lunge (Ai). Für O2 ist der arterielle Partialdruck (a) niedriger als der idealalveoläre (Ai), für CO2 ¯ ist sind beide gleich (Ai = a). Die Differenz zwischen Ai und A das Resultat der alveolären Totraumbelüftung (die sich auf O2 und CO2 etwa gleich stark auswirkt); die Differenz zwischen Ai und a beruht auf der venösen Beimischung (die für CO2 praktisch nicht messbar ist). Daher ist auch die AaDO größer als die aADCO . 2

2

10.10 Blutgase: Normalwerte und Störungen Normalwerte Arterielle Blutgase, d. h. die Partialdrücke von O2 und CO2, die O2-Konzentration bzw. -Sättigung sowie der arterielle pH-Wert sind die klinisch wichtigsten Parameter zur Beurteilung der globalen Lungenfunktion. Arterielle Hypoxämie ist ein charakteristisches Merkmal von Lungenfunktionsstörungen. Ihre Ursache lässt sich vom Verhalten des arteriellen PCO2 (erhöht oder weitgehend normal) und von der Reaktion des arteriellen PO2 auf O2-Gabe zur Inspirationsluft abschätzen. In Tab. 10.5 sind Normalwerte in körperlicher Ruhe zusammengestellt. Die Partialdruckdifferenzen zwischen alveolärem Gas und arteriellem Blut (Blut der V. pulmonalis und der Arterien des Körperkreislaufs) sind im Wesentlichen durch V˙A/Q˙-Inhomogenitäten und Rechtslinks-Shunt bedingt, die ja auch in der gesunden Lunge stets vorhanden sind (S. 291 f.). Schon in der gesunden Lunge nimmt die V˙A/Q˙-Inhomogenität mit dem Alter zu.

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10.10 Blutgase: Normalwerte und Störungen Dies führt zu arterieller Hypoxämie (Erniedrigung des arteriellen PO und der arteriellen O2-Sättigung). Dabei ist der arterielle PCO praktisch unverändert. Denn einerseits wirkt sich die V˙A/Q˙-Inhomogenität auf den arteriellen PCO viel weniger aus als auf den arteriellen PO (Abb. 10.46); andererseits führen Veränderungen des arteriellen PCO zu Veränderungen der Ventilation, die über Chemosensoren den arteriellen PCO im Normbereich halten (S. 298). 2

2

Bei Vorliegen eines Rechts-links-Shunts verändert sich dagegen der arterielle PO nicht, da das Shuntblut mit gasaustauschenden Alveolen gar nicht in Kontakt kommt. 2

˙ -Inhomo˙A/Q Diffusionsstörungen sind von V genitäten schwer zu unterscheiden

2

2

2

2

Wie lassen sich die Ursachen einer arteriellen Hypoxämie unterscheiden?

Auch Diffusionsstörungen führen zu Hypoxämie mit erhöhter AaDO (Tab. 10.6). Die aADCO ist wegen des guten CO2-Diffusionsvermögens praktisch nicht erhöht. Inspiration von reinem O2 führt zur Erhöhung des arteriellen PO , da die treibende Partialdruckdifferenz in den Alveolen erhöht wird. Diffusionsstörungen und V˙A/Q˙-Inhomogenität haben also ein sehr ähnliches Erscheinungsbild und verhalten sich bei O2-Atmung gleich. Zu ihrer Unterscheidung muss das klinische Erscheinungsbild bzw. die Krankengeschichte herangezogen werden. 2

2

2

Arterielle Hypoxämie ist ein typisches Zeichen einer Funktionsstörung des respiratorischen Systems und daher Folge verschiedenster pulmonaler und extrapulmonaler Erkrankungen. Die Ursachen einer arteriellen Hypoxämie lassen sich aber weiter unterscheiden.

Hypoventilation Atmung von 100% O2 als Mittel ˙ -Inhomogenität ˙A/Q zur Unterscheidung von V und Rechts-links-Shunt Sowohl vermehrte V˙A/Q˙-Inhomogenität als auch gesteigerter Rechts-links-Shunt führen zur Hypoxämie mit weitgehend normalem arteriellen PCO ; dabei findet man eine erhöhte AaDO bei nur wenig erhöhter aADCO (Tab. 10.6, S. 296). Zur Unterscheidung beider Faktoren kann man den Patienten für kurze Zeit 100% O2 atmen lassen und den arteriellen PO beobachten. Liegt eine V˙A/ Q˙-Inhomogenität vor, so steigt der arterielle PO bei O2Atmung, da nun auch die schlecht ventilierten Alveolen genügend O2 zur Sättigung ihres Kapillarblutes erhalten. 2

2

2

2

2

Eine (globale) alveoläre Hypoventilation führt zu arterieller Hypoxämie und arterieller Hyperkapnie (Tab. 10.6, S. 296), wobei die Veränderungen des PO und PCO von ähnlicher Größe sind. Die Erhöhung des arteriellen PCO stellt einen starken Atemreiz dar (S. 298), so dass die Hypoventilation nur dann fortbesteht, wenn die Atmung durch CO2 nicht mehr angetrieben wird (z. B. zentrale Störung) oder wenn dieser Antrieb ohne Wirkung bleibt (z. B. Schwäche der Atemmuskeln, mechanische Verlegung der Atemwege). Erhöhung der inspiratorischen O2Konzentration kann die arterielle Hypoxämie leicht beheben, erhöht unter Umständen jedoch den arteriellen PCO noch weiter, da der hypoxische Atemantrieb (S. 298) 2

2

2

2

Tabelle 10.5 Mittlere Normalwerte arterieller und gemischtvenöser Blutgase für jüngere Menschen in körperlicher Ruhe. Für die Werte auf der Gasseite s. Tab. 10.3 (S. 281) Parameter

Symbol

Normalwert und Einheit

Arteriell (a) O2-Partialdruck

PaO

2

12,0 kPa

= 90 mmHg

CO2-Partialdruck

PaCO

5,3 kPa

= 40 mmHg

Alveolär-arterielle PO -Differenz

AaDO

1,3 kPa

= 10 mmHg

Arterio-alveoläre PCO -Differenz

aADCO

0,1 kPa

=

1 mmHg

197 ml · l–1

=

8,8 mmol · l–1

2

2

2

2

2

O2-Konzentration

CaO

O2-Sättigung

SaO

2

0,97

2

CO2-Konzentration*

CaCO

pH*

pHa

2

493 ml · l–1

= 22,0 mmol · l–1 7,40

Gemischtvenös (v ¯) O2-Partialdruck

P¯vO

2

5,3 kPa

= 40 mmHg = 46 mmHg

CO2-Partialdruck

P¯vCO

6,1 kPa

O2-Konzentration

C¯vO

147 ml · l–1

O2-Sättigung

S¯vO

2

2

=

6,6 mol · l–1

0,75

2

CO2-Konzentration*

C¯vCO

pH*

pH¯v

2

535 ml · l–1

= 23,9 mmol · l–1 7,37

* s. auch Kapitel 11

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295

296

10 Atmung Tabelle 10.6

Ursachen der Hypoxie und Auswirkung der Atmung reinen Sauerstoffs PaO

AaDO

2

2

PaCO

aADCO

PaO erhöht mit 100% O2

(↑)

ja

2

2

2

˙ -Inhomogenität ˙A/Q Zunahme der V







Zunahme des Rechts-links-Shunts









nein

Diffusionsstörung









ja

Hypoventilation









ja, aber Vorsicht

↑ = Zunahme, ↓ = Abnahme, – = unverändert

sammengestellt, die im Gefolge einer Hypoventilation auftreten können. Hypoventilation

10.11 Atmungsregulation

PA O

PA CO

2

hypoxische Vasokonstriktion

arterielle Hypoxämie

2

arterielle Hyperkapnie

Unter Atmungsregulation versteht man die Anpassung der Lungenbelüftung an die Stoffwechselbedürfnisse des Organismus. Medulläre respiratorische Neurone bilden einen rhythmischen Antrieb, der durch eine Reihe von Afferenzen in Zeitdauer und Intensität verändert werden kann. Besonders gut beschrieben sind die Afferenzen von Lungendehnungsrezeptoren und von arteriellen und zentralen Chemorezeptoren. Sie allein können aber weder die Einstellung der normalen Atmung noch die Atmungsanpassung bei Arbeit erklären.

Zentrale Rhythmogenese pulmonale Hypertension

O2Sättigung sinkt

Rechtsherzbelastung (Cor pulmonale) hypoxämische Gewebehypoxie

Dilatation der Hirngefäße

Hirnperfusion und Liquordruck erhöht respiratorische Azidose

Abb.10.47 Auswirkungen einer Hypoventilation. Sie führt zu alveolärer und arterieller Hypoxie (links) und Hyperkapnie (rechts). Pulmonale Hypertension (erhöhter Blutdruck in der arteriellen Lungenstrombahn als Folge der hypoxischen Vasokonstriktion der Lungengefäße, S. 275 f.) belastet das rechte Herz und führt bei längerem Andauern zur Rechtsherzinsuffizienz. Die hypoxämische Gewebehypoxie wird auf S. 303, die respiratorische Azidose auf S. 321 ff. behandelt. Die hypoxische und hyperkapnische Vasodilatation der Hirngefäße führt zu erhöhter Hirnperfusion (S. 857 ff.) mit ansteigendem Druck in den Hirnventrikeln und neurologischen Symptomen.

wegfällt. Da die inspiratorische CO2-Konzentration nicht gesenkt werden kann (sie ist bei Luftatmung ohnehin nahezu Null), ist die CO2-Retention (Erhöhung der arteriellen CO2-Konzentration) nur durch Behebung der Hypoventilation selbst zu beseitigen (evtl. künstliche Beatmung). In Abb. 10.47 sind die vielfältigen Störungen zu-

Die Atembewegungen werden von rhythmisch tätigen Neuronengruppen in der Medulla oblongata gesteuert. Bei Ableitung mit Mikroelektroden am Hund und an der Katze hat man in der Medulla oblongata Neurone gefunden, deren Tätigkeit streng an den Atemrhythmus gekoppelt ist. Dabei findet man inspiratorische Neurone, die in der Inspiration (und frühen Exspiration) aktiv sind, und exspiratorische Neurone, deren Entladung in die Exspiration fällt. Eine genauere Analyse hat noch zu weiteren Untergruppierungen geführt (12). Die inspiratorischen Neurone liegen im Kerngebiet des Tractus solitarius und nahe dem Nucleus ambiguus sowie im Zervikalmark der Segmente C 1 und C 2; exspiratorische Neurone finden sich neben dem Nucleus ambiguus und rostral am Nucleus retrofacialis (Abb. 10.48). Die rhythmische Aktivität beruht auf einer komplexen Verschaltung dieser medullären Atemneurone. Sie werden deshalb auch gemeinsam als Rhythmusgenerator bezeichnet, eine Bezeichnung, die dem Begriff Atemzentrum deshalb vorzuziehen ist, weil bei der verstreuten Lage der Neurone ein echtes Zentrum kaum zu erkennen ist. Gegenseitige Hemmung und Förderung der Neurone ist für die Rhythmogenese ebenso wichtig wie eine tonische (nicht atemrhythmische) Aktivierung aus der Formatio reticularis, die durch spezifische und unspezifische Afferenzen aus der Körperperipherie moduliert wird. Zu diesen modulierenden Einflüssen zählen insbesondere die im Folgenden beschriebenen rückgekoppelten und nicht rückgekoppelten Atemreize. Die medullären respiratorischen Neurone haben efferenten Kontakt nicht nur mit anderen respiratorischen Neuronen der Medulla, sondern auch mit den spinalen

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10.11 Atmungsregulation Motoneuronen der Atemmuskulatur. Bei normaler Ruheatmung reicht die Aktivität der exspiratorischen medullären Neurone nicht zur Erregung der exspiratorischen Motoneurone aus, und tatsächlich erfolgt ja in Ruhe die Exspiration passiv (S. 268). Der Rhythmusgenerator bewirkt einen basalen Atemrhythmus, der durch andere Einflüsse (Atemreize), teils von höheren Hirnzentren, teils aus der Körperperipherie, modifiziert und den jeweiligen Bedürfnissen angepasst wird. Diese Atemreize sind z. T. rückgekoppelt und wirken im Sinne einer Homöostase der Atmung (Regelung); z. T. sind sie nicht rückgekoppelt (Steuerung; s. a. S. 8 ff.).

Rückgekoppelte Atemreize: 1. Mechanorezeptoren des Atemapparats Langsam adaptierende Lungendehnungsrezeptoren und Dehnungsreflex Beim narkotisierten Tier hemmt Lungendehnung die Zwerchfellaktivität; Entdehnung fördert sie. Durchtrennung beider Nn. vagi eliminiert diese Effekte und führt gleichzeitig zur Vertiefung und Verlangsamung der Ruheatmung. Es handelt sich also um einen Lungendehnungsreflex mit hemmender Wirkung auf die Inspiration, der eine Lungenüberdehnung verhindern kann. Lungendehnung und Atemtiefe sind demnach Bestandteile eines geschlossenen Regelkreises (S. 9 ff.), und daher wird die Lungendehnung als rückgekoppelter Atemreiz bezeichnet. Dieser Hering-Breuer-Reflex wird von langsam adaptierenden Dehnungsrezeptoren in der Wand von Trachea und Bronchien ausgelöst (Lungendehnungsrezeptoren). Die afferenten Bahnen verlaufen im N. vagus und erreichen die respiratorischen Neurone in der Medulla oblongata. Beim Menschen ist der Hering-Breuer-Reflex für die Einstellung der normalen Ruheatmung wenig bedeutsam, wie Versuche mit reversibler Ausschaltung der Nn. vagi gezeigt haben. Bei vermehrter Atmung scheint er jedoch die Atemtiefe zu begrenzen. Die Lungendehnungsrezeptoren führen auch zu reflektorischer Bronchodilatation und zur Stimulation der Herzaktivität, was bei Arbeit von Bedeutung ist.

Andere Lungenrezeptoren Deflation der Lunge, z. B. beim Pneumothorax, führt zu erhöhter Atemfrequenz. An diesem Reflex sind schnelladaptierende Rezeptoren in der Schleimhaut des Bronchialbaums beteiligt, die auch Irritationsendigungen genannt werden, da sie durch schleimhautreizende Gase und Stäube erregt werden. Diese Endigungen sind für die reflektorischen Veränderungen des Atemmusters bei einer großen Zahl von Lungenerkrankungen verantwortlich und verursachen daneben bronchiale und laryngeale Konstriktion. Schnell adaptierende Rezeptoren in der Trachealwand lösen den Hustenreflex aus. Eine dritte Gruppe von Endigungen mit nichtmyelinisierten (C-Fasern) oder dünnen myelinisierten vagalen Afferenzen kommt in den Bronchial- und Alveolarwänden vor; letztere werden auch J-Rezeptoren genannt. Sie werden erregt durch Flüssigkeitsansammlung in der Al-

Pedunkulus I= inspiratorische Neuronengruppen

E

E

4. Ventrikel

I

I

I

E= exspiratorische Neuronengruppen

I

Nn. IX, X

Obex

Ncl. Tractus ambiguus solitarius Ncl. n. Xll

E

E I

I

I C1 Tractus pyramidalis

Abb.10.48 Verteilung respiratorischer Neurone im Hirnstamm. Links: Aufsicht auf die Medulla oblongata nach Abtrennung des Kleinhirns. Inspiratorische (I, orange) und exspiratorische Neuronengruppen (E, grün) in ihrer ungefähren Lage; in Wirklichkeit sind sie innerhalb der Formatio reticularis nur schwer abgrenzbar. Rechts: Querschnitt in angegebener Höhe mit inspiratorischen Neuronengruppen. Nn. IX, X = Austrittsstellen der Nn. glossopharyngeus und vagus. Ncl. n. XII = Hypoglossuskern.

veolarwand (Ödem) sowie durch eine Reihe von Mediatorsubstanzen (z. B. Histamin, Bradykinin, Prostaglandine), die bei Erkrankungen und Verletzungen der Lunge freigesetzt werden. Erregung dieser Endigungen führt zu Apnoe, zur Senkung der Herzfrequenz und des arteriellen Blutdrucks sowie zu laryngealer Konstriktion und Minderung der Skelettmuskelaktivität durch Hemmung der α-Motoneurone. Es handelt sich also um eine komplexe somatische und viszerale Reflexantwort.

Muskelspindeln An der Einstellung der Atmung sind weiterhin spinale Eigenreflexe der Atemmuskeln beteiligt. Mit Ausnahme des Zwerchfells enthalten die Atemmuskeln, wie andere quergestreifte Muskeln auch, Muskelspindeln, die ihre Afferenzen nicht nur den spinalen Motoneuronen der Atemmuskeln selbst, sondern auch den medullären respiratorischen Neuronen zuleiten. Auf diese Weise kann die Tätigkeit der Atemmuskeln an die Widerstände von Lunge und Thorax angepasst werden.

Rückgekoppelte Atemreize: 2. Chemische Atemreize Veränderung der alveolären Ventilation verändert die arteriellen Werte von PO , PCO und pH (Abb. 10.27, S. 280). Umgekehrt wirken aber auch Veränderungen der arteri2

2

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297

10 Atmung 80

Atemzeitvolumen (l/min)

298

B pH-Antwortkurve

A CO2-Antwortkurve

60

C O2-Antwortkurve

40

PaCO konstant

PaCO konstant

2

2

20

PaCO fallend

Ruhewert

Ruhewert

2

Ruhewert 0

4

PaCO fallend 2

6

8

10

arterieller PCO (kPa)

7,4

7,3

Abb.10.49 Chemische Atemreize. Veränderung des Atemzeitvolumens (Ventilation) bei Veränderungen der arteriellen Werte von PCO (A), pH (B) und PO (C). Diese Beziehungen werden Antwortkurven der Atmung für CO2, pH bzw. O2 genannt. Wird der arterielle PCO (etwa durch inspiratorische 2

2

2

ellen Blutgase und des arteriellen pH auf die respiratorischen Neurone der Medulla oblongata zurück und beeinflussen die Atmung. Auch arterielle Blutgase und Ventilation sind also Bestandteile eines geschlossenen Regelkreises; ebenso wie die Lungendehnung bezeichnet man daher die arteriellen Blutgase und den arteriellen pH als rückgekoppelte Atemreize. Wie der Lungendehnungsreflex ist auch dieser chemische Reflex sinnvoll, da er einer Veränderung der Sollwerte der arteriellen Blutgase entgegenwirkt (S. 300) und somit der Homöostase des Organismus bezüglich O2-Versorgung (S. 300 f.) und SäureBasen-Status (Kap. 11) der Gewebe dient.

Wirkung von CO2

2

2

Wirkung von H+-Ionen Sinkt der arterielle pH-Wert unter seinen Normalwert von etwa 7,4, so kommt es zur Atmungssteigerung; steigt er über diesen Wert, so vermindert sich die Ventilation (pH-Antwortkurve der Atmung, Abb. 10.49 B). Wird die pH-Senkung durch Aufnahme oder vermehrte Bildung von H+ erzeugt, so ist der Atemantrieb recht gering, da die schon geringfügig gesteigerte Ventilation den arteriellen PCO (PaCO ) senkt (Hypokapnie), was sich wiederum atmungshemmend auswirkt (Abb. 10.49 A). Tatsächlich 2

4

8

12

16

18

arterieller PO (kPa) 2

Gabe von CO2) konstant gehalten, so verlaufen die pH- und O2-Antwortkurven (rostbraun in B und C) viel steiler als ohne diese Manipulation (grüne Kurven). Der inspiratorische PO kann bei normaler Atmung sehr tief sinken, bevor es zu einer deutlichen Atemsteigerung kommt (S. 305 f.). 2

ist die pH-Antwortkurve wesentlich steiler, wenn der PaCO konstant gehalten wird. 2

Wirkung von O2 Auch O2-Verarmung im Blut treibt die Ventilation an (47). Jedoch führt erst eine starke Erniedrigung des arteriellen PO zu deutlicher Steigerung der Ventilation (O2-Antwortkurve der Atmung, Abb. 10.49 C grüne Kurve). Auch hier bewirkt die hypoxiebedingte Ventilationssteigerung eine Senkung des arteriellen PCO , so dass die O2-Antwortkurve einen Kompromiss zwischen hypoxischem Atemantrieb und hypokapnischer Atembremse darstellt. Experimentelle Konstanthaltung des arteriellen PCO führt denn auch zu einer steileren O2-Antwortkurve (rostrote Kurve). Die O2Antwortkurve verläuft im normoxischen Bereich recht flach: Oberhalb von etwa 8 kPa hat O2 fast keine Wirkung auf die Atmung, also auch nicht bei Hyperoxie. Allerdings kann eine erhöhte inspiratorische O2-Konzentration zu verschiedenen Funktionsstörungen in der Lunge und dem ZNS führen. Von den drei chemischen Atemreizen – CO2, H+ und O2 – hat also CO2 bei weitem die stärkste Wirkung. Jede Veränderung des arteriellen PCO2 führt daher zur Veränderung der Ventilation mit dem Ergebnis, dass der arterielle PCO2 nahe an seinen Normwert zurückgeführt wird. Daher führen auch Störungen der Lungenfunktion viel seltener zu Veränderungen des arteriellen PCO als zu Veränderungen des arteriellen PO (S. 293 ff.). 2

2

2

Wird die CO2-Konzentration in der Atemluft erhöht, so beobachtet man einen Anstieg des Atemzeitvolumens, vornehmlich durch Anstieg des Atemzugvolumens. Die Beziehung zwischen arteriellem PCO und Atemzeitvolumen, die sog. CO2-Antwortkurve der Atmung (Abb. 10.49 A), zeigt, dass bei Zunahme des arteriellen PCO die Ventilation um das 8- bis 10fache gesteigert werden kann. Oberhalb dieses Bereichs fällt die Ventilation wieder ab als Folge der narkotischen Wirkung von CO2.

2

7,2

arterieller pH-Wert

2

2

2

Periphere und zentrale Chemorezeptoren Die chemischen Atemreize werden von Chemorezeptoren vermittelt, die teils in der arteriellen Strombahn (periphere Chemorezeptoren), teils im Hirnstamm liegen (zentrale Chemorezeptoren). Die peripheren Chemore-

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10.11 Atmungsregulation N. IX A. carotis externa A. carotis interna

Glomus caroticum

Glomus caroticum

Sinus caroticus

KarotissinusNerv

N.X

A. subclavia sinistra A. carotis communis Truncus brachiocephalicus

pH Aktionspotenzial

PCO

2

Glomera aortica

Kapillare

Arcus aortae A. pulmonalis

O2 Typ- I-Zelle

Transmitterfreisetzung (Dopamin)

pHi

?

2+

Ca i

Typ-I-Zelle

Typ- II-Zellen +

KAusstrom

B

Depolarisation Ca2+-Einstrom

A

C

Abb.10.50 Periphere Chemorezeptoren. A Die Glomera carotica an der Karotisgabel werden mit Blut aus der A. carotis externa versorgt und vom N. glossopharyngeus (N. IX) innerviert. Die Glomera aortica werden von Blut aus der Aorta durchströmt und von Ästen des N. vagus (N. X) versorgt. Pressorezeptorische Gebiete im Karotisgebiet (Si-

zeptoren finden sich insbesondere in den Glomera carotica, daneben auch in den Glomera aortica (Abb. 10.50 A). Die Glomera carotica sind kleine, stark vaskularisierte Gebilde, die aus Ansammlungen von Typ-I-Zellen bestehen, die von gliaähnlichen Typ-II-Zellen umhüllt sind und engen Kontakt mit gefensterten Kapillaren haben; benachbarte Typ-I-Zellen sind über Gap Junctions (S. 54) miteinander gekoppelt (Abb. 10.50 B). Die Typ-I-Zellen sind sekundäre Sinneszellen, besitzen also kein Axon, haben aber synaptischen Kontakt mit den afferenten Endigungen des Karotissinus-Nervs. Ein und dieselbe Typ-I-Zelle reagiert mit Transmitterfreisetzung und Erregung dieser Afferenzen sowohl auf Hypoxie als auch auf Hyperkapnie und Azidose (9). Hypoxie vermindert auf noch nicht genau geklärte Weise die Leitfähigkeit eines K+-Kanals in der Zellmembran der Typ-I-Zelle, was zur Membrandepolarisation führt. Dadurch wird ein spannungsabhängiger Ca2+-Kanal geöffnet, und Ca2+ strömt aus dem Extrazellularraum in die Zelle (Abb. 10.50 C). Die Erhöhung der zytosolischen Ca2+-Konzentration (Ca2+i) bewirkt die Ausschüttung des Transmitters Dopamin, der Aktionspotenziale in den afferenten Fasern des Karotissinus-Nervs auslöst. Der zelluläre Reiz bei Veränderungen des extrazellulären pH oder PCO , wie sie bei respiratorischen und nichtrespiratorischen Störungen des Säure-Base-Status auftreten (Kap. 11), ist die Veränderung des intrazellulären pH (pHi) der Typ-I-Zelle (Abb. 10.50 C). Auf ebenfalls nicht genau bekannte Weise vermindert ein Abfall von pHi die Leitfähigkeit eines K+-Kanals, wodurch die gleiche Ereignisfolge wie bei Hypoxie zur Transmitterausschüttung führt. Ob es die gleichen K+- und Ca2+-Kanäle sind, die bei Hypoxie und intrazellulärer Azidose angesprochen werden, ist bisher nicht genau bekannt. Ebenso sind bislang die chemischen Ereignisse an der Synapse nicht völlig erforscht; es gibt nämlich sowohl eine efferente Kontrolle der Typ-I-Zelle durch die Nervenendigungen wie auch Autorezeptoren auf der Typ-I-Zellmembran, so

nus caroticus) und im Aortensystem sind dunkelbraun gezeichnet. B zeigt zwei Typ-I-Zellen mit ihren Synapsen zu den Endigungen des afferenten Karotissinusnervs, den umhüllenden Typ-II-Zellen und einer Kapillare. In C sind schematisch die Mechanismen der Transduktion der Signale auf die Transmitterfreisetzung dargestellt (Näheres im Text).

dass eine Modulation der Empfindlichkeit der chemischen Reize wahrscheinlich ist. Die Hypoxie-Antwort der Typ-I-Zelle hat große Ähnlichkeit mit derjenigen der glatten Muskelzelle in der Wand der kleinen Pulmonalarterien, die für die hypoxische Vasokonstriktion der Lungengefäße verantwortlich sind (S. 275 f.).

Schaltet man die peripheren Chemorezeptoren aus, so führt auch starke Hypoxie nicht mehr zur Atmungssteigerung, sondern eher zur Ventilationsabnahme (zentrale Depression). Erhöhung des arteriellen PCO und der arteriellen H+-Konzentration bleiben hingegen als starker Atemreiz erhalten. Dies ist auf die Wirkung zentraler Chemorezeptoren zurückzuführen, die sich an der Ventralseite der Medulla oblongata befinden. Nach neueren Befunden sind es u. a. inspiratorische und exspiratorische Neurone nahe der ventralen Oberfläche der Medulla selbst, die diese Chemosensibilität besitzen (6, 8, 34a, 50, 51). 2

2

Chemische Atmungsregulation Die chemischen Atemantriebe – Erhöhung von H+-Konzentration und PCO im arteriellen Blut und im Liquor sowie Erniedrigung von PO im arteriellen Blut – führen zur Zunahme der alveolären Belüftung, die ihrerseits eine Verminderung der chemischen Atemantriebe bewirkt. Es handelt sich also um einen Regelkreis mit negativer Rückkopplung (Abb. 10.51). Obwohl die chemischen Atemreize stets gemeinsam wirken, ist die führende Regelgröße normalerweise der arterielle PCO (s. o.). 2

2

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2

299

300

10 Atmung Sollwerte von PCO , pH, PO 2

Kortex (Arbeit, Willkür)

„Atemzentrum“ (Rhythmusgenerator)

2

Hirnstamm (Emotion, Temperatur) Chemorezeptoren

Atemmuskeln Rhythmusgenerator alveoläre Ventilation

arterielles Blut, Liquor cerebrospinalis

PCO2, pH, PO2

Änderung von Stoffwechsel, Atemluft

Atemmuskeln

Abb.10.51 Regelkreis der chemischen Atmungsregulation. Die Werte von PCO , pH und PO im arteriellen Blut und von PCO und pH im Liquor cerebrospinalis werden von den peripheren bzw. zentralen Chemorezeptoren fortlaufend gemessen und im „Atemzentrum“ mit den Sollwerten verglichen. Abweichungen, ausgelöst z. B. durch Veränderungen im Stoffwechsel oder der Zusammensetzung der Atemluft, vermitteln über die Aktivität der Atemmuskeln Anpassungen der alveolären Ventilation mit dem Ziel, die Werte von PCO , pH und PO wieder auf ihre Sollwerte zurückzuführen. 2

2

Mechanorezeptoren in Lunge und Thorax

2

2

2

Subjektiv ruft eine Erhöhung des arteriellen PCO ein beklemmendes Gefühl des Erstickens hervor; der hierdurch ausgelöste Fluchtreflex ist physiologisch sinnvoll. Im scharfen Gegensatz hierzu löst Hypoxie nicht nur eine schwache Ventilationsantwort aus; Hypoxie wird subjektiv sogar als angenehm empfunden. Diese hypoxische Euphorie kann äußerst gefährlich werden, da die Gefahr des Sauerstoffmangels nicht wahrgenommen wird und ein sinnvolles Verhalten (Fluchtreflex) ausbleibt. So besteht bei Drachen- oder Segelfliegern die Gefahr, dass sie im Höhenrausch so weit aufsteigen, dass sie die Kontrolle über ihr Fluggerät verlieren. 2

Chemorezeptoren Mechanorezeptoren im Bewegungsapparat

Atemreize: rückgekoppelt nicht rückgekoppelt

Abb.10.52 Zusammenwirken der verschiedenen Atemantriebe, die z. T. rückgekoppelt, z. T. nicht rückgekoppelt sind (s. Text).

unter Umgehung des medullären Rhythmusgenerators direkt zu den spinalen Motoneuronen. Bei Patienten mit Zerstörung dieser Willkürbahn, z. B. nach einem Schlaganfall, ist die unwillkürliche Atmung meist weitgehend normal, doch sind Sprechen, willkürliches Husten etc. nicht möglich. Das Umgekehrte findet man selten einmal bei Hirnstammläsionen; bei dieser Erkrankung, die nach J. Giraudoux’ Erzählung Ondine (41) auch als „Undines Fluch“ benannt ist, fehlt jeder unwillkürliche Atemantrieb, und die Patienten müssen im Schlaf beatmet werden.

Zusammenspiel der Atemantriebe Nicht rückgekoppelte Atemantriebe Obwohl ein Grundrhythmus der Atmung und die chemische Atmungsregulation auch bei Funktionsausfall höherer Hirnzentren (Kleinhirn, Hypothalamus, Cortex cerebri) fortbestehen, üben diese Areale wichtige modulierende Einflüsse auf die Atmung aus. Warm- und Kaltreize der Haut sowie Veränderungen der Körpertemperatur führen über hypothalamische Schaltzentren der Temperaturregulation (Kap. 15) zu Veränderungen des medullären Rhythmusgenerators. Ebenso beeinflusst eine veränderte Emotionslage das Muster der Atmung. Weitere Atemreize werden von Nozizeptoren, den arteriellen Pressorezeptoren und von verschiedenen Hormonen (z. B. Adrenalin, Progesteron) vermittelt. Die Atmung kann von bisher nicht näher bekannten Feldern des Cortex cerebri aus willkürlich verändert werden, z. B. beim Sprechen, Singen, Husten und beim willkürlichen Atemanhalten. Diese willkürliche Beeinflussung der Atemmuskeln ist stets bilateral, die neuronalen Verbindungen verlaufen in der Pyramidenbahn und ziehen

Abb. 10.52 zeigt die verschiedenen Atemreize. Ihr Zusammenspiel bei der Einstellung der Ruheatmung ist komplex und heute noch weitgehend ungeklärt; über die chemische Atmungsregulation allein lässt sie sich nicht erklären. Das Gleiche gilt für die Steigerung der Atmung bei mittelschwerer körperlicher Arbeit (Arbeitshyperpnoe), bei der PCO und H+-Konzentration im arteriellen Blut eher niedriger und der arterielle PO eher höher als normal sind, so dass die chemischen Atemreize nicht als Auslöser der Atemsteigerung in Betracht kommen. Wahrscheinlich sind neuronale Faktoren bei der Arbeitshyperpnoe wichtig, z. B. Kollateralen der kortikalen motorischen Efferenzen, die zu direkter Mitinnervation des Rhythmusgenerators führen. Ferner könnte über Mechanorezeptoren des Bewegungsapparats eine Mitinnervation der medullären Neurone durch Rückmeldung erfolgen. Bei schwerer körperlicher Arbeit mit Milchsäureproduktion (S. 304) führt die Laktazidose zu zusätzlicher Atmungssteigerung mit Hyperventilation (Abnahme des arteriellen PCO , S. 281). Die Atmungssteigerung bei Hyp2

2

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10.12 Gewebeatmung normal Inspiration Atemzugvolumen Exspiration 1 min

Kussmaul-Atmung

Schlaf, Sedierung

Seufzeratmung

Cheyne-Stokes-Atmung

metabolische Azidose

Abb.10.53 Unterschiedliche Atmungsformen. Zu verschiedenen, teils pathologischen Zuständen gehören charakteristische Atmungsformen (nach 17).

oxie lässt sich im Unterschied zur normoxischen Ruheatmung und zur Arbeitshyperpnoe gut durch die Wirkung chemischer Atemantriebe verstehen (S. 305 f.).

– Diffusion aus dem Kapillarblut in die Zellen und deren Mitochondrien, – chemische Reaktion mit dem mitochondrialen Cytochromsystem zur Bildung von ATP.

Verschiedene Atmungsformen Schon bei normaler Atmung zeigen Atemzugvolumen und Frequenz erhebliche Variabilität (Abb. 10.53). Bei starker metabolischer Azidose, etwa beim diabetischen Koma, kommt es zur vertieften Atmung, der sog. Kussmaul- oder großen Atmung. Schon beim Gesunden beobachtet man bei Höhenaufenthalt eine als CheyneStokes-Atmung bezeichnete periodische Atemform, die man auch bei Patienten mit Vergiftungen oder Urämie findet. Eine weitere Variante pathologischer periodischer Atemformen ist die Seufzeratmung (z. B. bei Ausfall höherer Atemzentren in der Agonie). Eine besondere Form pathologischer Atmung stellt die Schlaf-Apnoe dar, die durch 10 oder mehr intermittierende (10 s bis einige Minuten währende) Apnoe-Phasen im Schlaf gekennzeichnet ist. Nach der Ursache unterscheidet man die obstruktive von der zentralen Schlafapnoe. Während Letztere auf einem aussetzenden zentralen Atemantrieb beruht, ist die obstruktive Schlafapnoe durch einen Verschluss der oberen Atemwege charakterisiert. Ursache hierfür ist ein subatmosphärischer inspiratorischer Druck, gegen den die Dilatoren der Atemwege diese nicht offenhalten können. Die obstruktive Schlafapnoe findet man gehäuft bei Übergewichtigen; Alkoholgenuss erhöht das Risiko. Schlafapnoiker werden durch ihre Tagesmüdigkeit auffällig. Die Behandlung ist sehr schwierig (46, 54).

10.12 Gewebeatmung Unter Gewebeatmung versteht man die Mechanismen von Antransport und Verbrauch des Sauerstoffs sowie die von Bildung und Abtransport des CO2 innerhalb der Gewebe. Bei Störungen der Gewebeatmung führt in erster Linie der O2-Mangel zur Funktionsminderung. Der Weg des Sauerstoffs umfasst drei Abschnitte: – Antransport mit dem Blutstrom,

Diffusion von O2 im Gewebe Der O2 gelangt durch Diffusion entlang einem Partialdruckgefälle aus dem Blut der Gewebekapillaren in die Zellen und zu den Mitochondrien. Dieser Transport folgt den gleichen Diffusionsgesetzen wie in der Lunge. Während dort jedoch eine sehr dünne Membran, die selbst kaum O2 verbraucht, das Blut vom Alveolargas trennt, grenzen an die Gewebekapillaren in der Regel mehrere Zellschichten, die zudem selbst O2 verzehren. Die Diffusionsstrecke ist im Gewebe demzufolge relativ groß, und der O2-Verbrauch jeder einzelnen Zelle führt zu einem PO -Abfall mit zunehmendem radialen Abstand von der Kapillare. Ferner verarmt das Blut an O2, während es durch die Kapillaren strömt, so dass es im Allgemeinen auch einen longitudinalen PO -Abfall im Kapillarblut entlang der Kapillare gibt. Diese PO -Gradienten sind im Krogh-Zylindermodell erkennbar, das schematisch eine Kapillare mit den umgebenden Zellen darstellt (Abb. 10.54). Der PO am venösen Kapillarende muss nun noch so hoch sein, dass er für die Versorgung der kapillarfernen Zellen an diesem Ende ausreicht. Unter O2-Versorgungsmangel entstehen gerade dort anoxische Bereiche (Abb. 10.54 B, violett). Wichtig für die oxidative Energiegewinnung der Zelle ist der PO im Bereich ihrer Mitochondrien. Der niedrigste mitochondriale PO , bei dem die Cytochromoxidase den O2 noch zu reduzieren vermag, liegt jedoch sehr niedrig (0,01 – 0,1 kPa). Erst unterhalb dieses Wertes wird die oxidative Energiegewinnung der Zelle eingeschränkt. 2

2

2

2

2

2

Antransport von O2 mit dem Blutstrom Die pro Zeiteinheit mit dem Blutstrom ins Gewebe transportierte O2-Menge oder das O2-Angebot ergibt sich als Produkt von Durchblutung des Gewebes und arterieller O2-Konzentration (CaO ). 2

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301

302

10 Atmung arterielles Ende

O2-Angebot = Durchblutung · CaO

venöses Ende

Da der O2 größtenteils an Hämoglobin gebunden ist, ist CaO in guter Näherung gleich dem Produkt aus O2Kapazität und arterieller O2-Sättigung (SaO , S. 283 ff.):

O2-Partialdruck (kPa)

98 10

6

7

4

5

3

2

1

2

(10.48)

2

2

O2-Angebot = Durchblutung · O2-Kapazität · SaO

(10.49)

2

Kapillare versorgtes Gewebe

A normale Versorgungsbedingungen

1

2

Diese Beziehung ist wichtig für das Verständnis der O2Versorgungsstörungen des Gewebes (S. 303). Das O2-Angebot stellt das Maximum des O2-Verbrauchs des Gewebes dar. Jedoch wird es praktisch nie ausgenutzt, so dass im venösen Blut, das die Gewebe verlässt, stets noch O2 enthalten ist. Der O2-Verbrauch ist die Differenz zwischen O2-Angebot und O2-Abtransport, der seinerseits das Produkt aus Durchblutung und (organ)venöser O2-Konzentration (Cv) ist:

0

3

4

O2-Verbrauch = Durchblutung · (Ca – Cv)O

(10.50)

Diese Massenbilanz ist als Fick’sches Prinzip bekannt (vgl. Gl. 10.28, S. 278). Sie erlaubt, aus den Messungen von Durchblutung und arteriovenöser O2-Konzentrationsdifferenz eines Organs dessen O2-Verbrauch zu berechnen. In der Lunge wird das Ficksche Prinzip zur Messung des Herzzeitvolumens aus den Messgrößen von O2-Aufnahme und arterio(gemischt)venöser O2-Konzentrationsdifferenz angewandt (S. 278). Die O2-Ausschöpfung oder -extraktion errechnet sich aus dem Verhältnis O2-Verbrauch/O2-Angebot:

anoxische Bezirke

B mangelhafte O2-Versorgung

2

Abb.10.54 Radiales und longitudinales PO -Profil im Krogh-Gewebszylinder. Eine zentrale Kapillare sei von einem homogenen Gewebezylinder umgeben, der im Schnitt dargestellt ist. Blut strömt von links (arterielles Ende) nach rechts (venöses Ende). Die Zahlen sind Werte des PO (in kPa), die Linien verbinden Punkte mit gleichem PO . Unter normalen Versorgungsbedingungen (A) werden alle Bereiche des Gewebes ausreichend versorgt. Der zunächst rasche, dann geringere PO -Abfall im Blut beruht auf der in ihrem oberen Bereich flachen O2-Bindungskurve (Abb.10.29, S. 283). (Der Abfall der O2-Konzentration entlang der Kapillare ist linear, da angenommen ist, dass das Gewebe einen überall gleichen O2-Verbrauch hat.) Bei arterieller Hypoxie kommt es zur Gewebehypoxie (B), bei der anoxische Bereiche („tödliche Ecken“, violetter Bereich) an charakteristischer Stelle auftreten. 2

2

2

2

(10.51)

O2-Ausschöpfung = (Ca – Cv)O /CaO 2

2

O2-Verbrauch und O2-Ausschöpfung sind von Organ zu Organ verschieden (Tab. 10.7). Besonders hohe Ausschöpfung (niedrige Durchblutung pro O2-Verbrauch) haben der Herzmuskel sowie der Skelettmuskel bei Arbeit. Niedrig sind die O2-Extraktions-Werte für Haut und Niere, jedoch steht hier die Durchblutung auch im Dienst weiterer Funktionen. Auch innerhalb der Organe gibt es regionale Unterschiede von O2-Bedarf und O2-Ausnutzung. Die graue Substanz des Gehirns (Nervenzellen) hat beispielsweise einen höheren O2-Bedarf und eine höhere Durchblutung als die weiße Substanz (Nervenfasern);

Tabelle 10.7 O2-Verbrauch (-Bedarf) und O2-Ausschöpfung einzelner Organe. Mittlere Werte eines normalen Erwachsenen unter Ruhebedingungen (außer dem Wert für arbeitende Skelettmuskulatur). O2-Verbrauch und Durchblutung sind pro Gramm Organgewebe (Feuchtgewicht) angegeben Organ

Masse (kg)

O2-Verbrauch* (mmol · min–1 · kg–1)

Durchblutung (l · min–1 · kg–1)

(Ca – Cv)O (mmol · l–1)

O2-Ausschöpfung** (%)

2

Herz

0,3

4,0

0,8

5,0

57

Nieren

0,3

2,4

4,0

0,6

7

Leber

1,5

2,5

1,0

2,5

28

1,5 30

1,5

0,5

3,0

34

0,1 7,0 0,04

0,04 1,0 0,1

2,5 7,0 0,14

28 80 4

Gehirn Skelettmuskel bei Ruhe bei Arbeit Haut

0,5

* O2-Verbrauch (normalerweise = O2-Bedarf) = Durchblutung · (Ca – Cv)O , wobei Cv die O2-Konzentration im organvenösen Blut ist. ** ([Ca – Cv] / Ca)O ; berechnet für CaO = 8,8 mmol · l–1 (Tab. 10.5, S. 295). 2

2

2

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10.12 Gewebeatmung

O2-Bindungskurve

a’ 100

a

a

organvenöse O2-Sättigung

200 O2-Konzentration im Blut (ml/l)

arterielle O2-Sättigung

O2-Kapazität

arterielle O2-Sättigung

v

a



v

v Organdurchblutung

v’ 0

v’ v’

0

4

8

12

0

4

12

0

4

B anämische Gewebehypoxie

Abb.10.55 Formen der O2-Versorgungsstörung (der Gewebe-Hypoxie). Arterieller (a) und organvenöser Punkt (v) sind durch rötliche Kreise auf der normalen O2-Bindungskurve (rostbraun, s. a. S. 283 f.) gekennzeichnet, die pathologischen Punkte durch a’, v’ und violette Kreise. Bei der hypoxämischen (A) und anämischen Gewebehypoxie (B) ist die

ebenso sind die O2-Verbrauchswerte und die Durchblutung der Nierenrinde höher als diejenigen der äußeren Markzone, und diese sind wiederum höher als in der inneren Markzone. Gesteigerter O2-Bedarf bei gesteigerter Organleistung wird im Allgemeinen durch Erhöhung der Durchblutung (Steigerung des O2-Angebots) und der O2-Ausschöpfung gedeckt. Die Anpassung der O2-Versorgung an den Bedarf ist also Aufgabe der lokalen Durchblutungsregulation (S. 203 f.).

Störungen der O2-Versorgung Störungen der O2-Versorgung des Gewebes (Gewebehypoxie) können auf einer Minderung des O2-Angebots beruhen, wie sie bei arterieller Hypoxie, Anämie oder Durchblutungsstörung auftritt. Sie können aber auch durch Störung der O2-Verwertung verursacht sein, z. B. bei Vergiftung der Enzyme der Atmungskette. In all diesen Fällen kann die Energie kurzzeitig aus Energiespeichern oder aus dem anaeroben Stoffwechsel bereitgestellt werden. Bei kompletter Unterbrechung der O2Zufuhr kann allerdings der Organismus nur wenige Minuten überleben. Als Gewebehypoxie bezeichnet man eine Störung der O2-Versorgung, bei der sich einzelne Geweberegionen im O2-Mangel befinden. Als Ursache kommen in erster Linie Störungen des O2-Angebots in Betracht, wobei nach Gl. 10.49 drei Gruppen von Ursachen unterschieden werden können (Abb. 10.55). Hypoxämische Gewebehypoxie (Abb. 10.55 A). Hierbei ist das O2-Angebot durch erniedrigte arterielle

8

12

PO (kPa)

2

2

A hypoxämische Gewebehypoxie

8 PO (kPa)

PO (kPa)

2

C ischämische Gewebehypoxie

arteriovenöse Konzentrationsdifferenz (Doppelpfeile) normal, bei der ischämischen Gewebehypoxie (C) ist sie wegen der verminderten Durchströmung vergrößert (violetter Pfeil im Vergleich mit blauem Pfeil). Nur in B ist die Bindungskurve verändert (violett).

O2-Sättigung vermindert. Als Ursache kommen Lungenfunktionsstörungen (z. B. V˙A/Q˙-Inhomogenität oder Hypoventilation, S. 295 f.) oder inspiratorische Hypoxie (z. B. Höhenaufenthalt, S. 305 f.) in Frage. Bei länger anhaltender arterieller Hypoxie kommt es durch vermehrte renale Erythropoetinbildung (S. 370) zur Stimulierung der Erythropoese und damit zu einer Erythrozytenvermehrung im Blut (S. 227) mit Anstieg der O2-Kapazität, die die Störung zum Teil kompensiert. Anämische Gewebehypoxie (Abb. 10.55 B). Hierbei ist das O2-Angebot durch erniedrigte O2-Kapazität vermindert. Ursächlich kommen alle Faktoren in Frage, die zu einer Anämie führen (z. B. Blutverlust, Blutbildungsstörungen etc.). Auch bei CO-Vergiftung oder vermehrter Methämoglobinbildung ist die O2-Bindungsfähigkeit des Blutes eingeschränkt (funktionelle Anämie), und es kann zur anämischen Gewebehypoxie kommen (Abb. 10.33, S. 285). Ischämische Gewebehypoxie (Abb. 10.55 C). Hierbei ist die Organdurchblutung vermindert. Dabei ist die arteriovenöse O2-Konzentrationsdifferenz des betroffenen Gewebes erhöht, so dass der O2-Verbrauch nicht in gleichem Ausmaß absinkt. Während die ersten beiden Störungen stets den gesamten Organismus betreffen, kann die ischämische Gewebehypoxie auch in einzelnen Organen isoliert auftreten (z. B. Thrombose, Embolie, Arteriosklerose). Ferner ist bei der Ischämie auch der An- und Abtransport anderer Stoffe betroffen. Umgekehrt führt die hypoxische Vasodilatation zur Erhöhung der Perfusion und damit des O2-Angebots an hypoxische Gewebebezirke. Auch gestörte O2-Diffusion in den Geweben kann Anlass einer Gewebehypoxie sein, etwa bei Gewebe-

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303

304

10 Atmung Wiederbelebungszeit O2-Speicher

Überlebenszeit völlige Lähmung

O2 physikalisch gelöst O2 an Hb, O2 an Mb

O2-Aufnahme

Beginn Funktionsstörung

O2-Verbrauch

4–6 s

freies Intervall anaerobe Glykolyse

ATP Kreatinphosphat

Beginn Anoxie

anoxidative Energielieferung

3 – 5 min

0

Zelltod

Abb.10.57 Funktionsstörungen und Tod der Zelle bei akutem O2-Mangel am Beispiel der Großhirnrinde. Die angegebenen Zeitwerte sind grobe Richtwerte.

chemische Energiespeicher

Energieverbrauch

irreversible Schädigung

10 – 20 s

oxidative Energielieferung

Stoffwechsel

Abb.10.56 Energieversorgung im O2-Mangel. Sind O2Aufnahme und O2-Verbrauch nicht gleich, so werden O2Speicher gefüllt oder entleert (rot). Sind oxidative Energielieferung und Energieverbrauch ungleich, so werden chemische Energiespeicher (ATP, Kreatinphosphat) gefüllt oder geleert, die auch aus anoxidativer Energielieferung (anaerobe Glykolyse) beschickt werden können. Mb = Myoglobin.

ödem oder schlecht vaskularisierten, schnell wachsenden Tumoren. In allen diesen Fällen ist der venöse PO erniedrigt, und die Zellen in den „tödlichen Ecken“ (Abb. 10.54 B) werden als erste anoxisch. Anders ist es, wenn die O2-Versorgung und damit die oxidative Energiegewinnung der Zelle durch spezifische Gifte gestört ist (z. B. HCN oder ihr Kaliumsalz Cyankali). Hierbei ist die venöse O2-Konzentration hoch, weil sich der O2 nicht verwerten lässt. 2

Im O2-Mangel werden Energiereserven mobilisiert Bei Unterbrechung des O2-Angebots hat die Zelle noch drei Möglichkeiten, für kurze Zeit Energie zu gewinnen und somit jedenfalls die Anforderungen des Erhaltungsumsatzes aufzubringen (Abb. 10.56): – Nutzung des gespeicherten O2, – Milchsäurebildung durch anaerobe Glykolyse, – Spaltung energiereicher Phosphate (ATP, Kreatinphosphat). Insgesamt sind etwa 1,5 l O2 im Organismus gespeichert (etwa 400 ml in der Lungenluft; 50 ml physikalisch gelöst in den Geweben; 800 ml gebunden an Hämoglobin, 250 ml an Myoglobin). In einigen Organen kann Stoffwechselenergie anaerob, d. h. ohne O2-Verbrauch und CO2-Bildung, durch Bildung von Milchsäure aus Glucose freigesetzt werden. Hierbei kommt es zu einer nicht-

respiratorischen Azidose (Laktazidose, S. 321 ff.). Bei allen Arten der Gewebehypoxie können die energiereichen Phosphate (z. B. ATP, Kreatinphosphat) als Energiereserve dienen. Zu Beginn einer auch leichten Muskelarbeit hinkt die Erhöhung des O2-Angebots dem gesteigerten O2-Bedarf hinterher; es werden dann alle drei Energiereserven mobilisiert. Das O2-Defizit zu Beginn der Arbeit wird nach ihrer Beendigung wieder ausgeglichen. Bei leichter und mittelschwerer Arbeit kann die Steigerung des O2-Angebots den O2-Bedarf decken. Übersteigt die Arbeitsleistung den Wert, bis zu dem genügend O2 angeliefert werden kann (sog. anaerobe Schwelle), so wird auch im Steady State Milchsäure gebildet, was die Gesamtdauer der Arbeit begrenzt (S. 593 f.).

Funktionsstörungen und Tod der Zelle bei akutem O2-Mangel Bei akuter Unterbrechung der O2-Anlieferung treten eine Reihe von Veränderungen der Funktionsfähigkeit der Zelle auf, die schließlich mit ihrem Tod enden. Eine Zeit lang nach Beginn der Anoxie bleibt die Funktionsfähigkeit voll erhalten: freies Intervall. Danach beginnen Funktionsstörungen, die bis zur vollständigen Funktionslähmung führen: Überlebenszeit. Auch über diese Zeit hinaus ist eine Wiederbelebung der Zelle ohne irreversible Schädigung möglich, sofern die Anoxie behoben wird: Wiederbelebungszeit. Dauert die Anoxie länger an, so ist eine Wiederbelebung nur mit bleibender Zellschädigung möglich, bis schließlich der Zelltod eintritt. Die Werte für Überlebenszeit und Wiederbelebungszeit sind von Organ zu Organ sehr verschieden und hängen vom Verhältnis des Energiebedarfs zur ausnutzbaren Energiereserve der Zelle ab. Besonders empfindlich gegen Anoxie sind die Zellen des Gehirns und hier besonders diejenigen der Großhirnrinde (Abb. 10.57). Weit länger sind die Zeiten für den Skelettmuskel. Das Schicksal des Gesamtorganismus ist jedoch bestimmt von der O2-Empfindlichkeit seiner lebenswichtigen Organe (insbesondere Gehirn und

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Auch zuviel O2 ist schädlich Nicht nur Hypoxie, sondern auch Hyperoxie ist für den Organismus schädlich, so dass eine therapeutische Erhöhung der inspiratorischen O2-Konzentration nur mit Vorsicht angewandt werden darf (Abb. 10.59, S. 307). Neben allgemeinen Symptomen (Unruhe, Lethargie, Anorexie) treten früh Funktionsstörungen der Lunge auf (Dyspnoe, Entzündung der Atemwege mit Husten und Schmerzen). Bei längerer Exposition entwickelt sich eine Permeabilitätssteigerung von alveolärem Endothel und Epithel mit Flüssigkeitsansammlung im Interstitium (interstitielles Ödem) oder in den Lungenalveolen (alveoläres Ödem). Als Ausdruck dieser Störungen beobachtet man bei Patienten, die länger als 36 Stunden mit reinem O2 beatmet wurden, einen Abfall des arteriellen PO . Bei hyperbarem O2-Angebot (reiner O2 bei erhöhtem Druck; s. a. S. 306 f.) treten auch zentralnervöse Symptome auf, insbesondere Krämpfe. Um die O2-Vergiftung zu vermeiden, sollten inspiratorische O2-Fraktionen über 0,5 nicht länger als zwei Tage ohne Unterbrechung verabfolgt werden. Bei Neugeborenen führt Beatmung mit reinem Sauerstoff zu einer Veränderung der Gefäße des Auges (retrolentale Fibroplasie), die Blindheit zur Folge haben kann. 2

6

akut

A

N

1

5 B

8848 m

4

adaptiert 1,5

C

3

2

2

3 4

4807 m

1 0

. Faktor, um den VA ansteigt

Herz). Eine Verlängerung der Überlebenszeit einzelner Organe kann durch Perfusion mit Lösungen erreicht werden, die den Stoffwechsel reversibel reduzieren (z. B. kardioplege Lösung zur Verwendung bei offener Herzoperation). Aus dem Gesagten wird deutlich, dass ein Herzstillstand weit bedrohlicher ist als ein Atemstillstand; denn bei Letzterem können noch die O2-Speicher in Blut und Lungengas genutzt werden, während bei Unterbrechung der Durchblutung lediglich die äußerst mageren O2-Speicher im Gewebe zur Verfügung stehen.

alveolärer (»arterieller) PCO2 (kPa)

10.13 Atmung unter ungewöhnlichen Bedingungen

3000 m Meereshöhe 0

2

4

6

8

10

12

14

16

18

20

alveolärer PO (kPa) 2

Abb.10.58 Alveoläre Partialdrücke in großer Höhe. Auf der Abszisse und der linken Ordinate sind die alveolären Partialdrücke von O2 bzw. CO2 aufgetragen. Die Geraden zeigen die nach der Alveolarluftgleichung (Gl.10.41 u.10.42, S. 281) zusammengehörenden Werte (RQ = 0,8). Normoventilation in Meereshöhe wird durch den Punkt N dargestellt; wird in dieser Höhe hyperventiliert, so fällt der PCO und steigt der PO entlang der Geraden „Meereshöhe“. Aufstieg in große Höhen ohne Hyperventilation führt andererseits zum Abfall des PO ohne Änderung des PCO (horizontaler Pfeil von N nach A). In der Höhe des Montblanc (4807 m) würde dies zum stark hypoxischen Punkt A führen. Die reflektorisch ausgelöste Hyperventilation von Nichtakklimatisierten führt hingegen zu Punkt B, der auf einer Kurve liegt, die die Messwerte bei akuter Höhenexposition verbindet (violette Kurve „akut“). Die rechte Ordinate zeigt, ˙A) in der Höhe um wieviel die alveoläre Ventilation (V ˙A zur Redukangestiegen ist, z. B. führt Verdopplung von V tion des alveolären PCO um den Faktor 2. Man beachte, dass beim akuten Aufstieg des Nichtangepassten bis zur Höhe von etwa 3000 m die Atmung nicht ansteigt, der alveoläre PCO also nicht abfällt. Adaptierte Individuen hyperventilieren hingegen früher und stärker (Punkt C; s. Text); ihre PO und PCO -Werte verbindet die blaue Kurve „adaptiert“. Die höchste Erhebung auf der Erde (Mount Everest) beträgt 8848 m; sie ist selbst nach Adaptation nur von wenigen Menschen ohne zusätzlichen O2 in der Einatmungsluft erklommen worden (nach 30). 2

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10.13 Atmung unter ungewöhnlichen Bedingungen Die Mehrzahl der Menschen lebt in Gegenden unterhalb von 3000 m über dem Meeresspiegel. Doch auch in größere Höhen kann der Mensch ohne technische Hilfsmittel aufsteigen, und selbst unter der Wasseroberfläche kann er mit bestimmten Hilfsmitteln atmen. Leben in großer Höhe und Aufenthalt unter Wasser stellen besondere Anforderungen an die Atmung, und die Reaktionen des Organismus können als Anpassung an diese ungewöhnlichen Bedingungen verstanden werden. Als ungewöhnliche Bedingung mag auch das Atmen verschmutzter Luft gelten; die Abwehrmechanismen sind kurz auf S. 258 f. erwähnt. Ferner ist auch die mechanische Beatmung von Patienten eine Form der Atmung unter ungewöhnlichen Bedingungen (s. Lehrbücher der Anästhesiologie und Intensivmedizin).

Aufstieg in große Höhe Inspiratorische Hypoxie mit ihren Folgen für den Gewebestoffwechsel begrenzt den Aufstieg in große Höhe. Der Organismus reagiert mit Anpassungsreaktionen, die teils rasch einsetzen (Steigerung der Atmung), teils längere Zeit benötigen (z. B. Polyglobulie) und die auf eine Verbesserung der O2-Versorgung der Gewebe abzielen.

In der Höhe wird der O2 knapp Da die fraktionelle Konzentration der Gase in allen Luftschichten etwa gleich ist, nimmt der Partialdruck von O2 in der Luft ebenso exponentiell mit der Höhe über dem Meeresspiegel ab wie der Luftdruck (Gl. 10.16, S. 261). Auf

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10 Atmung dem Montblanc (4807 m) z. B. beträgt der Barometerdruck etwa 54 kPa, woraus sich nach Gl. 10.7 (S. 260) der PO der angefeuchteten Atemluft zu etwa 10 kPa errechnet. Bliebe nun die alveoläre Ventilation bei Aufstieg vom Meeresspiegel in diese Höhe unverändert, so dass der alveoläre PCO weiterhin 5,3 kPa betrüge, so würde nach der Alveolarluftgleichung (10.41 u. 10.42, S. 281) der alveoläre PO bei einem RQ von 0,8 nur noch etwa 3,4 kPa betragen (Punkt A in Abb. 10.58). Der arterielle PO wäre wegen der in Hypoxie wirksamen Diffusionsbarriere (S. 289 f.) sogar noch etwa 0,5 kPa niedriger als dieser alveoläre Wert, so dass sich eine erhebliche hypoxämische Hypoxie entwickelte (S. 303). Um diese Bedrohung der Körpergewebe abzuwenden, kommt es zu Anpassungsreaktionen des Organismus, die teils rasch, teils langsam einsetzen. 2

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bei einem arteriellen PO von nur 6,0 kPa und einer O2Sättigung von 81 % eine O2-Konzentration im Blut von etwa 10 mmol · l–1 gefunden. Dieser Wert ist trotz verminderter O2-Sättigung höher als der Normalwert für Bewohner der Niederungen, da die Hb-Konzentration von 150 auf nahe 200 g · l–1 angestiegen war (Tab. 10.4, S. 284). 2

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Rasch kommt es in der Höhe zur Hyperventilation

Grenzen der Höhentoleranz Da das Zentralnervensystem die höchste Hypoxieempfindlichkeit von allen Organen besitzt (S. 304), dominieren neurologische Störungen beim Aufstieg in hohe Höhen und bestimmen die ohne zusätzlichen O2 maximal erreichbare Höhe. Dafür ist die Hypoxieempfindlichkeit der Nervenzellen nicht allein verantwortlich; es treten auch starke Veränderungen der Hirndurchblutung auf, die die O2-Versorgung des ZNS beeinflussen (S. 855). So führt Hypoxie unterhalb eines arteriellen PO von etwa 10 kPa zur Zunahme der Hirndurchblutung, und bei 3,5 kPa wurde bei Ratten eine Steigerung auf das Fünffache gemessen (23). Demgegenüber führen der aufgrund der Hyperventilation verminderte arterielle PCO und der erhöhte pH-Wert zu starker Minderung der Hirndurchblutung. Es gibt im Gehirn also einen Wettstreit zwischen hypoxischer Vasodilatation und hypokapnischer Vasokonstriktion. Welcher Faktor beim Menschen in großer Höhe die Oberhand gewinnt, ist nicht genau bekannt. Eine (partielle) renale Kompensation der respiratorischen Alkalose, somit eine Minderung der konstriktorischen Komponente, wird jedenfalls für die bessere Höhentoleranz nach Akklimatisation mitverantwortlich gemacht. 2

Arterielle Hypoxie stimuliert die Atmung über die peripheren, arteriellen Chemorezeptoren (S. 298 ff.). Dadurch wird zwar der O2-Antransport verbessert, jedoch wird auch vermehrt CO2 abgeatmet, was zu einer respiratorischen Alkalose führt. Im arteriellen Blut ist dann der PCO erniedrigt (Hyperventilation) und der pH-Wert erhöht (S. 320 ff.). Beides bremst nun die Atmung, so dass die Höhenatmung einen Wettstreit darstellt zwischen hypoxischem Atemantrieb und hypokapnischer Atembremse. Man findet bei dieser akuten Anpassung im Beispiel des Montblanc einen alveolären (≈ arteriellen) PCO von etwa 4,1 kPa und daher nach Gl. 10.41 u. 10.42 (S. 281) bei einem RQ von 0,8 einen alveolären PO von 4,9 kPa (Punkt B in Abb. 10.58), eine deutliche Milderung der Hypoxie gegenüber der Situation mit unveränderter Ventilation (s. o.). In Flugzeugen der zivilen Luftfahrt wird der Kabinendruck auf Werten gehalten, die einer Höhe von weit weniger als 3000 m entsprechen. Daher muss beim Gesunden nicht mit reflektorischer Atmungssteigerung gerechnet werden. Für den Lungenkranken hingegen kann die geringfügige Hypoxie den Zusatz von O2 zur Einatmungsluft erfordern. 2

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Die langsame Akklimatisation an große Höhe führt zur weiteren Verbesserung der O2-Versorgung Nach einem Aufenthalt von einigen Tagen bis Wochen in der Höhe wird die respiratorische Alkalose durch renale Ausscheidung von HCO3– (S. 322) großteils kompensiert, wodurch ein Teil der Atembremse wegfällt, so dass sich die alveoläre Hyperventilation verstärkt. Im Beispiel der Abb. 10.58 würde, nach experimentellen Untersuchungen, der alveoläre (und arterielle) PO auf etwa 5,9 kPa ansteigen, wobei der arterielle PCO weiter bis auf etwa 3,3 kPa abfiele (Punkt C in Abb. 10.58). Die Akklimatisation beeinhaltet außerdem eine Polyglobulie (sekundäre Polyzythämie), die durch die hypoxische Stimulation der renalen Erythropoietinbildung ausgelöst wird (S. 227 f. und 370 f.). So hat man bei Andenbewohnern, die permanent in einer Höhe von 5000 m leben,

2

Als akute Bergkrankheit werden einige Symptome wie Kopfschmerz, Müdigkeit, Nausea bezeichnet, deren Ursachen noch nicht genau bekannt sind (23, 30). Häufig tritt auch ein Lungenödem bei Bergsteigern auf (High Altitude Pulmonary Edema, HAPE), das wenigstens zum Teil auf eine Erhöhung des pulmonalen Gefäßwiderstands zurückzuführen ist. Hierfür wird einerseits die hypoxische Vasokonstriktion der Lungengefäße (S. 292 f.), andererseits die mit der Polyglobulie einhergehende Erhöhung der Blutviskosität verantwortlich gemacht. Unterhalb von 4500 m treten gravierende Störungen seltener auf, wenngleich kleine Funktionseinbußen nicht auszuschließen sind. Die höchste tolerierte Höhe hängt einerseits von der Akklimatisation ab, ist andererseits auch individuell verschieden. Die höchste Erhebung auf der Erde, der Gipfel des Mount Everest (8848 m), ist bisher nur von wenigen Menschen ohne zusätzlichen Sauerstoff (natürlich nach Akklimatisation) erreicht worden. Es ist interessant, dass Vögel in Höhen bis über 11000 m fliegen können, und dies sogar ohne vorherige Adaptation. Die Gründe hierfür sind noch nicht im Einzelnen bekannt (16).

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Tauchen Längeres Tauchen ist nur möglich, wenn komprimiertes Gas geatmet wird, dessen Druck dem hydrostatischen Umgebungsdruck gleicht. Wegen der Gefahr der O2Vergiftung muss das Atemgas viel Inertgas enthalten, dessen Lösung in den Körpergeweben jedoch seiner-

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10.13 Atmung unter ungewöhnlichen Bedingungen führt. Tauchen mit verlängertem Schnorchelrohr ist daher höchst gefährlich. Ein längeres Verweilen in größerer Tauchtiefe erfordert komprimierte Atemgase.

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Schäden des ZNS

600

inspiratorischer PO2 (kPa)

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Grenze für Lunge

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4 3

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Grenze für ZNS 100

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Expositionszeit (Stunden)

Tauchen mit komprimierten Gasen

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Lungenschäden

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einige Tage

inspiratorischer PO2 (bar)

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Üblicherweise nimmt der Sporttaucher das komprimierte Gas in Flaschen mit in die Tiefe, und Ventile sorgen dafür, dass der Druck des eingeatmeten Gases recht genau dem hydrostatischen Druck in der Tauchtiefe entspricht. Beim längeren Tauchen drohen dennoch zwei Gefahren: die O2Vergiftung und die Inertgasnarkose, denen sich die Dekompressionskrankheit beim Wiederauftauchen hinzugesellt.

O2-Vergiftung

Abb.10.59 Grenzen für den inspiratorischen PO in Abhängigkeit von der Expositionszeit. Bei Überschreiten der Grenzen bilden sich zentralnervöse (ZNS) bzw. pulmonale Störungen (Lunge) aus. Hohe Werte des inspiratorischen PO (über 200 kPa) führen rasch zu Störungen des ZNS. Bei längerer Exposition treten pulmonale Symptome auf, und zwar schon bei PO -Werten von etwa 50 kPa, d. h., wenn das bei normalem Druck geatmete Gasgemisch einen O2-Anteil von 50% hat (normal etwa 21%). 2

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seits zu Schwierigkeiten führen kann. So kann es in der Tiefe zur Inertgasnarkose kommen und beim Wiederauftauchen zur Dekompressionskrankheit.

Beim Abstieg in z. B. 150 m Tiefe wird Luft auf 1600 kPa komprimiert (1500 kPa hydrostatischer Druck plus 100 kPA Luftdruck an der Wasseroberfläche), so dass der PO etwa 300 kPa beträgt. Dieser hohe PO kann zu Schäden des Lungengewebes, aber auch zu Konvulsionen führen (S. 305). Die Ausprägung dieser Symptome hängt von der Höhe des PO und der Expositionszeit ab (Abb. 10.59). Bei 400 kPa PO treten Konvulsionen häufig schon nach 30 Minuten auf. Daher muss der O2 des Tauchgases mit zunehmender Tiefe des geplanten Tauchausflugs durch inerte Gase ersetzt werden, was jedoch die beiden anderen Gefahren heraufbeschwört: Inertgasnarkose und Dekompressionskrankheit (s. u.). Eine weitere Gefahr bei Atmung von Gasen mit erhöhtem PO betrifft die Entwicklung von Atelektasen in der Lunge (S. 289). Bei Erhöhung des arteriellen PO wird die arterielle O2-Konzentration nur wenig erhöht, so dass auch O2-Konzentration und PO im gemischtvenösen Blut nur wenig ansteigen (Abb. 10.60). Es entsteht daher eine große Partialdruckdifferenz für O2 von der Alveole zum Kapillarblut der Lunge und somit ein starker O2-Diffusionsstrom (Abb. 10.61). Ist nun der bronchiale Zugang zu einem Alveolarbezirk teilweise oder vollständig blockiert, so wird das Alveolargas resorbiert, und der Bereich wird atelektatisch. Dies geschieht auch bei Luftatmung, jedoch viel langsamer, da der N2 die PO -Differenz klein hält (N2 ist ein „Antiatelektasefaktor“). Erhöhter PO kommt nicht nur beim Tauchen vor. Gelegentlich wird hyperbarer O2 als Therapeutikum verwendet, so z. B. bei der Therapie der Dekompressionskrankheit (s. u.) oder bei einigen Formen der Hypoxämie (S. 303). Gerade bei der klinischen Anwendung muss neben der O2-Toxizität auch auf die Gefahr der Atelektasebildung mit der damit verbundenen Zunahme der Verteilungsstörungen geachtet werden, die ja den alveolären Gasaustausch beeinträchtigen (S. 290 f.). 2

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Der hydrostatische Druck nimmt mit der Tauchtiefe zu Der hydrostatische Druck nimmt pro 10 m Wassertiefe um etwa 100 kPa zu. Bis zu Tiefen von 300 – 500 m ist der erhöhte Druck per se für die Funktion des Organismus weitgehend unschädlich. Wenn jedoch eine gasgefüllte Körperhöhle mit dehnbarer Wandung, z. B. die Lunge, keine offene Verbindung mit der Außenwelt hat, so kommt es beim Abstieg in die Tiefe zu Kompression, beim Aufstieg zu Dekompression des Gases. Wenn ein Sporttaucher in der Tiefe komprimiertes Gas atmet (s. u.) und dann mit geschlossener Glottis auftaucht, kann es daher zur Überblähung der Lunge mit Ruptur der Alveolarwände kommen (Barotrauma).

Tauchen mit Schnorchel Beim Schnorcheln atmet der Taucher Luft von der Wasseroberfläche; der intrapulmonale Druck bleibt also atmosphärisch, während der hydrostatische Druck zusätzlich auf der Körperoberfläche lastet. Schon bei etwa 1 m Wassertiefe kann die Atemmuskulatur keine wirkungsvolle Inspiration mehr erzeugen (S. 267 f.). Zudem werden die Venen beim Übergang in den Thorax komprimiert, und der venöse Rückstrom zum rechten Herzen wird vermindert, was zum Abfall von arteriellem Blutdruck und Herzzeitvolumen bis zum Verlust des Bewusstseins

2

2

Inertgasnarkose Obwohl der Stickstoff (N2) biochemisch und physiologisch inert ist, führt er doch ab Drücken von etwa 500 kPa zu zentralnervöser Symptomatik, die in Euphorie und abnehmender Koordination bis hin zum Koma besteht. Auch andere Inertgase lösen diese

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10 Atmung



O2-Konzentration im Blut (ml STPD/l)

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a

200

v’ ¯ 150 v¯

zusätzliche venöse Beladung

zusätzliche arterielle Beladung

100

O2-Bindungkurve 50

0 0

20

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80

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Blut-PO2 (kPa)

Abb.10.60 Erhöhung des inspiratorischen PO (hier auf 100 kPa) erhöht die arterielle O2-Beladung des Blutes nur wenig, obwohl der PO vom Punkt a zum Punkt a’ stark ansteigt. Der Grund hierfür ist, dass das Hb schon normalerweise nahezu vollständig beladen und die physikalische O2Löslichkeit im Blut sehr gering ist. Wenn sich Kreislauf und Stoffwechsel durch diese O2-Atmung nicht ändern, so ist die gemischt-venöse O2-Konzentration um den gleichen Betrag erhöht wie die arterielle (O2-Ausschöpfung unverändert), was wegen der steilen O2-Bindungskurve zu nur geringer Zunahme des gemischt-venösen PO führt (von Punkt v zum Punkt v’). Die Körpergewebe, außer der Lunge, „sehen“ also nur wenig von der Erhöhung des PO und sind daher auch mehr vor der O2-Toxizität geschützt. Erst bei noch höheren Werten des inspiratorischen PO kommt es auch dort zu Störungen, wobei das empfindlichste Organ das ZNS ist (Abb.10.59). 2

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Symptome aus, und dies um so mehr, je höher ihre Lipidlöslichkeit ist. Besonders hohe Lipidlöslichkeit haben Narkosegase. Andererseits kann die Inertgasnarkose bei Verwendung von Gasen mit geringerer Lipidlöslichkeit wie H2 oder Helium (He) deutlich verringert werden; He wird daher oft als „Füllgas“ beim Tauchen verwendet.

(„bends“); im Lungenkreislauf führen sie zu Atemnot und Husten („chokes“). Auch eine zentralnervöse Symptomatik (Taubheit, Seh- und Gleichgewichtsstörungen) kommt vor. Die Dekompressionskrankheit kann in schweren Fällen zu Kollaps und Tod führen. Die Dekompressionskrankheit kann durch langsames Auftauchen vermieden werden, da dann genügend Zeit zur Abgabe von N2 ohne Bläschenbildung gewährt wird. Es gibt Tabellen, die in Abhängigkeit von Tauchtiefe und Verweildauer angeben, in welcher Tiefe beim Aufstieg wie lange gewartet werden muss. Dass diese Tabellen recht kompliziert sind, hängt damit zusammen, dass die einzelnen Körpergewebe aufgrund unterschiedlicher spezifischer Durchblutung auch unterschiedliche Halbwertszeiten für das Einwaschen und Auswaschen von N2 besitzen. Auch das Risiko der Dekompressionskrankheit kann durch Ersatz des N2 durch das geringer fettlösliche He vermindert werden. He vermindert also sowohl die Gefahr der Inertgasnarkose (s. o.) als auch diejenige der Dekompressionskrankheit. Reiner O2, bei dem es keine Dekompressionssymptomatik gibt, scheidet wegen seiner Toxizität aus. Zur Therapie wird der Dekompressionskranke in einer Überdruckkammer rekomprimiert, wodurch die Bläschen eliminiert werden. Atmen von reinem O2 beschleunigt das Inertgasauswaschen; es muss allerdings wegen der O2-Toxizität mit Perioden niedrigen inspiratorischen Sauerstoffs abgewechselt werden.

Tauchunfälle auch im Schwimmbecken Auch in seichtem Wasser kommt es zu Tauchunfällen. Ein Grund hierfür kann sein, dass der Schwimmer vor einem Streckentauchen hyperventiliert in der Absicht, seine O2-Reserve zu vergrößern. Wegen des ohnehin nahezu voll gesättigten Hämoglobins ist der Erfolg nicht groß (Abb. 10.60); dafür wird aber CO2 abgeatmet, und es dauert viel länger, bis der hyperkapnische Atemreiz zum Auftauchen zwingt. Denn Hypoxie wirkt euphorisierend statt beängstigend, und erst tiefe Hypoxie stellt einen ausreichenden Atemreiz dar (S. 297 ff.). In dieser Zeit bis zum Einsetzen des Auftauchreizes kann es zu kritischer Hypoxie kommen. Beim Auftauchen fällt der Umgebungsdruck, mit ihm der alveoläre PO , und die Hypoxie kann rasch so stark werden, dass es zum Verlust des Bewusstseins kommt. 2

Dekompressionskrankheit Der erhöhte Druck während des Tauchens mit Luft treibt N2 in die Körpergewebe, besonders in das Fettgewebe, dessen N2-Löslichkeit höher ist als diejenige von Wasser. Das Gleichgewicht für den gesamten Organismus ist zwar erst nach Stunden erreicht, da das Blut nur wenig N2 transportieren kann; dennoch befindet sich in einer Tauchtiefe von 100 m schließlich etwa 10-mal so viel N2 in den Geweben wie beim Aufenthalt an der Wasseroberfläche. Beim Auftauchen lässt der hydrostatische Druck nach, die Körperflüssigkeiten sind mit N2 übersättigt, und es entstehen in ihnen Gasblasen wie beim Öffnen einer Sektflasche (dort ist es CO2). In großer Zahl verursachen die Bläschen Schmerzen, besonders in den Gelenken

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Literatur Luft

100% O2

A Luftatmung B Sauerstoffatmung

Blockade

O2 13,5 CO2 5,2 N2 75,0 H2O 6,3

5,2

H2O

6,3

Summe 100,0

Summe 100,0

O2 5,3 CO2 6,1 N2 76,4 H2O 6,3 Summe 94,1

O2 88,5 CO2

O2 O2 PO -Differenz normal

7,3

CO2

6,1

H2O

6,3

Summe 19,7

2

O2

PO -Differenz groß 2

mäßige O2-Aufnahme: Alveole schrumpft langsam

Abb.10.61 Atelektasebildung bei Atmung von 100 % O2. Wird N2 in der Atemluft durch O2 ersetzt, so ist der alveoläre PO um den Betrag des fehlenden PN erhöht, da die Partialdrucksumme stets atmosphärisch ist (vgl. A und B; die Werte der Partialdrücke und Totaldrücke sind in kPa angegeben; sie gelten auch für die übrigen Alveolen). Da der venöse PO bei O2-Atmung nur wenig ansteigt (Abb.10.60), entsteht eine hohe PO -Differenz zwischen Alveolargas und Lungenkapillarblut, entlang der es zu einem hohen Diffusionsstrom von O2 aus der Alveole kommt. Wird jetzt die bronchiale Gaszufuhr 2

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2

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Zum Weiterlesen … 1 Bachofen H, Schürch S, Urbinelli M, Weibel ER. Relations among alveolar surface tension, surface area, volume, and recoil pressure. J Appl Physiol. 1987; 62: 1878 – 1887 2 Bauer C. On the respiratory function of haemoglobin. Rev Physiol Biochem Pharmacol. 1974; 70: 1 – 31 3 Gilbert DL. Oxygen and Living Processes. An Interdisciplinary Approach. Berlin: Springer; 1981 4 Hierholzer K, Schmidt RF. Pathophysiologie des Menschen. Weinheim: Edition Medizin; 1991 5 Jones NL. Blood Gases and Acid-base Physiology. 2nd ed. Stuttgart: Thieme; 1987 6 Kawai A, Ballantyne D, Mückenhoff K, Scheid P. Chemosensitive medullary neurons in the brainstem-spinal cord preparation of the neonatal rat. J Physiol (London). 1996; 492: 277 – 292 7 Milic-Emili G, Petit JM. Mechanical efficiency of breathing. J Appl Physiol. 1960; 15: 359 – 362 8 Oyamada Y, Ballantyne D, Mückenhoff K, Scheid P. Respiration-modulated membrane potential and chemosensitivity of locus coerulens neurones in the in vitro brainstemspinal cord of the neonatal rat. J Physiol (London). 1998; 513: 381 – 398 9 Peers C, Buckler KJ. Transduction of chemostimuli by the type I carotid body cell. J Membrane Biol. 1995; 144: 1 – 9 10 Perkins JF jr. Historic development of respiratory physiology. In: Fenn WO, Rahn H, section eds. Handbook of

hohe O2-Aufnahme: Alveole schrumpft rasch

blockiert (wie jeweils in der rechten Alveole dargestellt), so schrumpft die Alveole und wird atelektatisch (ohne Gas), und dies geschieht schneller bei Atmung von 100% O2 (B) als bei Atmung von Luft (A). Ist die Blockade nur partiell, so kommt es zu Atelektase, sobald die bronchiale Gasnachlieferung die Nettogasaufnahme ins Blut unterschreitet. Dies erfolgt bei O2-Atmung eher als bei Luftatmung, so dass bei O2-Atmung größere Bereiche der Lunge atelektatisch werden.

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… und noch weiter 33 Acker H. Mechanisms and meaning of cellular oxygen sensing in the organism. Respir Physiol. 1994; 95: 1 – 10 34 Adnot S, Raffestin B, Eddahibi S. NO in the lung. Respir Physiol. 1995; 101: 109 – 120 34a Ballantyne D, Scheid P. Mammalian brainstem chemosensitive neurones: linking them to respiration in vitro. J Physiol (London). 2000; 525: 567 – 577 35 Bonham AC. Neurotransmitters in the CNS control of breathing. Respir Physiol. 1995; 101: 219 – 230 36 Coleridge HM, Coleridge JCG. Neural regulation of bronchial blood flow. Respir Physiol. 1994; 98: 1 – 13 37 Crandall ED, Bidani A, Forster RE. Postcapillary changes in blood pH in vivo during carbonic anhydrase inhibition. J Appl Physiol. 1977; 43: 582 – 590 38 Crystal RG, West JB, Weibel ER, Barnes PJ. The Lung, Scientific Foundations. 2nd ed. Philadelphia: LippincottRaven; 1997 39 Donnelly DF. K+ currents of glomus cells and chemosensory functions of carotid body. Respir Physiol. 1999; 115: 151 – 160 40 Fandrey J. Hypoxia-inducible gene expression. Respir Physiol. 1995; 101: 1 – 10 41 Giraudoux J. Ondine. (Dtsch. Übersetzung: Undine, Reclam; 1964) 42 González C, López-López JR, Obeso A, Pérez-Garcia P, Rocher A. Cellular mechanisms of oxygen chemoreception in the carotid body. Respir Physiol. 1995; 102: 137 – 147

43 Scheid P, Piiper J. Diffusion. In: Crystal RG, West JB, Barnes PJ, Cherniack NS, Weibel ER. The Lung: Scientific Foundations, 2nd ed. Philadelphia, New York: Lippincott-Raven; 1997: 1681 – 1691 44 Sant’Ambrogio G, Tsubone H, Sant’Ambrogio FB. Sensory information from the upper airway and its role in the control of breathing. Respir Physiol. 1995; 102: 1 – 16 45 Widdicombe JH, Widdicombe JG. Regulation of human airway surface liquid. Respir Physiol. 1995; 99: 3 – 12

… und noch einige neuere Spezialpublikationen Es handelt sich um neuere Sonderhefte zu verschiedenen Themen der Physiologie und Pathophysiologie der Atmung. Angegeben sind jeweils die Gastherausgeber sowie die Titel der Sonderhefte. 46 Remmers J, Surratt P. Cardiorespiratory control during sleep. Respir Physiol. 2000; 119: 99 – 217 47 Dick TE, Mitchell GS. Mechanisms and variables determining the cardiopulmonary responses to hypoxia. Respir Physiol. 2000; 121: 85 – 276 48 Canning BJ, Widdicombe JG. Innervation of the airways. Respir Physiol. 2001; 125: 1 – 154 49 Seagrave J. Susceptibility factors of respiratory diseases. Respir Physiol. 2001; 128: 1 – 130 50 Putnam RW, Dean JB, Ballantyne D. Central chemosensitivity. Respir Physiol. 2001; 129: 1 – 277 51 Funk GD, Ramirez JM. Neural control of breathing. 2002; 131: 1 – 153 52 Peers C, Ward JPT. Oxygen Sensing in the pulmonary vasculature. Respir Physiol Neurobiol. 2002; 132: 1 – 130 53 Prabhakar NR, Champagnat J. Genomics of respiration. Respir Physiol Neurobiol. 2003; 135: 107 – 261 54 Kubin L, Gozal D. Sleep and Breathing: From molecules to patient populations. Respir Physiol Neurobiol. 2003; 136: 89 – 263 55 Fredberg J, Seow CY. Airway smooth muscle and airway narrowing in asthma. Respir Physiol Neurobiol. 2003; 137: 107 – 372

Danksagung Ich danke meinen Kollegen und Freunden Prof. Dr. J. Piiper, Prof. Dr. P. Haab und Prof. Dr. H. Shams für viele wichtige Anregungen zu diesem Kapitel. Herrn Prof. E. Weibel sei Dank für seine vorzüglichen mikroskopischen Bilder. Meiner Sekretärin Frau M. Duparc gilt mein besonderer Dank für die geduldige Betreuung des Manuskriptes in all seinen Versionen.

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311

Säure-Basen-Gleichgewicht P. Scheid

11.1 Einleitung und Überblick

· ··

11.6 Diagnostik des Säure-Basen-Status im Blut und Normalwerte · · · 319

312

11.2 Chemische Pufferung

Messparameter · ·· 319

· · · 312 Pufferung bei Veränderung der H+-Konzentration · ·· 312 Wirksamkeit der Pufferung: Pufferkurven und Pufferkapazität ··· 312 Physiologisch wichtige Puffersysteme des Körpers · ·· 313

11.3 Die Besonderheiten des Bicarbonatpuffers

11.7 Primäre Störungen des Säure-BasenGleichgewichts und chemische Pufferung als Sofortmaßnahme · · · 320 Primär respiratorische Störungen · ·· 321 Primär nichtrespiratorische Störungen · · · 321 · ··

Warum puffert Bicarbonat im physiologischen pH-Bereich? · · · 314 Bei respiratorischen Veränderungen puffern nur die Nichtbicarbonatpuffer ··· 315

11.4 Bilanz von Säuren und Basen im Organismus · ·· 316

Bildung von H+ und OH– im Stoffwechsel · ·· 316 Ausscheidung von H+ in der Niere ··· 317 Ausscheidung von OH– in der Niere · ·· 318

314

11.8 Antwort des Organismus auf primäre Störungen · · · 322 Gegenregulation und Kompensation bei nichtrespiratorischen Störungen · ·· 322 Gegenregulation und Kompensation bei respiratorischen Störungen ··· 322 Endgültige Normalisierung ··· 323

11.9 Säure-Basen-Status des gesamten Organismus ··· 323

11.5 Blut als Indikator für den Säure-Basen-Status des Organismus · ·· 318 Warum misst man im Blut? · · · 318 Die Pufferfähigkeit des Blutes · ·· 318

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312

11 Säure-Basen-Gleichgewicht

11.1

Einleitung und Überblick

11.2

Die Homöostase des pH-Werts der Gewebe ist ein wichtiges Regulationsziel des Organismus. Denn die Funktion der Proteine – mit ihr die Aktivität der Enzyme, die Struktur der Zelle und die Permeabilität ihrer Membranen – wird von Veränderungen des pH-Werts beeinflusst. Die Lunge als Organ der CO2-Ausscheidung und die Niere als Organ der H+- bzw. HCO3–-Ausscheidung sorgen zwar für eine langfristig ausgeglichene H+-Bilanz und somit für die pH-Homöostase (Abb. 11.1). Ort der Bildung und der Ausscheidung von Säuren bzw. Basen sind aber im Allgemeinen verschieden, und die Anpassung der Ausscheidung an Schwankungen der Bildung benötigt Zeit. Um temporale und lokale pH-Schwankungen gering zu halten, bedient sich der Organismus der Mechanismen der chemischen Pufferung, die auch bei Funktionsstörungen allzu große pH-Veränderungen verhindert.

CO2 Gewebe

Blut

CO2 Lunge

CO2

+

H

+

+

H +

–

B

HB Niere +

–

H oder HCO3 Bildung

Pufferung und Transport

Pufferung bei Veränderung der H+-Konzentration Werden einer Lösung H+-Ionen zugegeben (z. B. durch Zugabe einer starken, vollständig dissoziierten Säure), so steigt ihre H+-Konzentration [H+], der pH-Wert sinkt ab.* Das Ausmaß der pH-Änderung pro zugegebener H+(oder OH–-)Menge ist in reinem Wasser oder in ungepufferten Lösungen besonders groß, wird jedoch wesentlich verringert, wenn Substanzen in der Lösung vorhanden sind, die die zugegebenen H+- oder OH–-Ionen zu binden vermögen. Diese Eigenschaft wird als Pufferung bezeichnet; die sie bewirkenden Substanzen heißen Puffer. Als Puffer wirkt prinzipiell jedes konjugierte SäureBasen-Paar (Brønsted-Definition), das gemäß dem Reaktionsschema (11.1)

H+ aufzunehmen bzw. abzugeben in der Lage ist. Hierin ist A– die Basenform (Protonenakzeptor), HA die Säureform (Protonendonator) des Puffers. Bei Zugabe von H+ wird A– in HA umgewandelt; bei Verlust von H+ (Zugabe von OH–) reagiert HA zu A– unter Nachlieferung von H+. Im Organismus können Veränderungen der H+- und OH–-

–

–

Puffer sind Substanzen, die H+- oder OH–-Ionen zu binden oder abzugeben vermögen und dadurch die pHVeränderungen bei Zugabe oder Verlust von H+- oder OH–-Ionen gering halten. Jeder Puffer wirkt in einem bestimmten pH-Bereich, der von seinem pK-Wert abhängig ist. Physiologisch wichtige Puffer sind die Proteine (im Blut v. a. Hämoglobin), Phosphate und das CO2-/Bicarbonat-System.

H+ + A– Ð HA

HCO3 OH

Chemische Pufferung

Ausscheidung

Abb.11.1 Bilanz im Säure-Basen-Haushalt des Organismus. Im Stoffwechsel der Gewebe entstehen neben CO2 auch H+ und OH–, die an Puffer der Gewebe gebunden werden. Mit dem Blut gelangen sie zum Ort der Ausscheidung: Lunge bzw. Niere. B–/HB = System der Nichtbicarbonatpuffer.

Konzentration durch Zufuhr von außen (exogen, z. B. alimentär oder iatrogen), durch Verlust nach außen (Erbrechen, Durchfall) oder durch Bildung im Stoffwechsel (endogen = metabolisch) entstehen.

Wirksamkeit der Pufferung: Pufferkurven und Pufferkapazität Das Ausmaß der Pufferung von H+-Ionen hängt nur von der vorhandenen Menge von Pufferbase A–, das Ausmaß der OH–-Pufferung von der Menge der Puffersäure HA ab. Die Menge der einzelnen Komponenten A– und HA wird zum einen von der Gesamtkonzentration des Puffers, [A–] + [HA], zum anderen vom Dissoziationsgrad des Puffers bestimmt, d. h. vom Verhältnis [A–]/[HA]. Dieses Verhältnis ergibt sich aus dem Massenwirkungsgesetz der Reaktion der Gl. 11.1: ½Hþ Š  ½A Š ¼ K0 ½HAŠ

* In wässriger Lösung liegt H+ als Hydroniumion H3O+ vor; der Einfachheit halber sprechen wir von freien H+-Ionen.

ð11:2Þ

Hierbei ist K' die (scheinbare) Gleichgewichtskonstante oder Dissoziationskonstante des Säure-Basen-Paares. (Im Unterschied zur wahren Dissoziationskonstante K berücksichtigt K', dass die Lösung nicht unendlich verdünnt ist und dass in Gl. 11.2 die Konzentrationen statt der

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11.2 Chemische Pufferung Aktivitäten der Reaktionspartner eingesetzt werden.) In der logarithmierten Form pH = pK0 + log

½A Š ½HAŠ

ð11:2aÞ

ist pK' = – logK'. In Abb. 11.2 sind die prozentualen Anteile der Pufferbase (A–) und der Puffersäure (HA) gegen die Abweichung des pH vom pK' aufgetragen. Für pH = pK' ist [A–] = [HA]; bei pH < pK', wenn also die Lösung saurer ist als beim pK', überwiegt die Puffersäure (HA); bei pH > pK', wenn die Lösung alkalischer ist als beim pK', überwiegt die Pufferbase. Werden dieser Pufferlösung H+ (bzw. OH–) zugegeben, so werden diese nahezu vollständig an A– (bzw. an H+, die von HA freigegeben werden) gebunden. Daher ist die Änderung der freien H+-Konzentration, die sich als Änderung des pH darstellt, sehr gering. (Bei Änderung des pH von 7,0 auf 6,0 beispielsweise beträgt die Änderung der freien H+-Konzentration nur 10–6 – 10–7 = 9 · 10–7 mol · l–1 = 0,0009 mmol · l–1.) Die Pufferkapazität β, die definitionsgemäß angibt, wie viel H+ (bzw. OH–) je Liter einer Lösung pro Änderung des pH zugegeben werden kann, ist daher praktisch gegeben als

100

[A ] [HA]

–

Base, A (%)

–

pH = pK’ + log

75 50

91

25

50 1

0

(%) Säure, HA

1

50

Säure

ð11:3Þ

Die Pufferkapazität ergibt sich somit als die Steilheit der Pufferkurve (Abb. 11.2); sie hängt ab von der Gesamtkonzentration des Puffers, [A–] + [HA], und von der Abweichung des pH vom pK’. Eine hohe Pufferkapazität (pro Mol Puffer) besitzen Puffer im Bereich pK' ± 1 pH-Einheit; jenseits von pK' ± 1,5 pH-Einheiten ist eine Pufferung kaum vorhanden, da die Pufferkurve zu flach verläuft. Abb. 11.3 zeigt die Pufferkurven von drei biologischen Säure-Basen-Paaren. Im Gegensatz zum System H2PO4–/ HPO42– ist das System Milchsäure/Lactat– als physiologischer Puffer nicht geeignet, da der pH-Bereich der wirksamen Pufferung zu niedrig ist; Milchsäure liegt, wie die meisten organischen Säuren, bei physiologischem pH dissoziiert (als Lactat –) vor. Auch das Paar NH3/NH4+ wirkt unter physiologischen Bedingungen nicht als Puffer, da bei physiologischem pH praktisch nur das NH4+ vorliegt (s. a. S. 368 f.).

Physiologisch wichtige Puffersysteme des Körpers Der pH-Wert des Blutplasmas und des übrigen Extrazellularraumes liegt bei 7,4, der des Intrazellularraumes zwischen etwa 6,8 und 7,2. Nur in den Körpersekreten und in der Tubulusflüssigkeit der Niere (transzellulärer Raum) kommen pH-Werte außerhalb dieses engen Bereichs vor. Physiologisch wirksame Puffer des intra- und extrazellulären Raumes müssen daher einen pK' zwischen 6,0 und 8,0 besitzen und in ausreichender Konzentration vorhanden sein. Diese Bedingungen erfüllen organische und anorganische Phosphate, Proteine und das Bicarbonat/CO2-System.

75

pK’ –1

pH = pK’

Phosphatpuffer

H2PO4– Ð H+ + HPO42 –

Pufferkapazität –D [HA] b= D pH

99

pK’–2

½HAŠ pH

Das System primäres/sekundäres Phosphat

91

50

½A Š ¼ pH

9 9

25

100

99

Base

Pufferkapazität – D [A ] b= D pH

β¼

pK’+1

pK’+2

Abb.11.2 Pufferkurve eines Säure-Basen-Paares, HA/A–. Die S-förmige Pufferkurve ist zweimal dargestellt, um das Verhältnis von Base (A–, blaue Kurve und blaue senkrechte Linien) zu Säure (HA, violette Kurve und violette senkrechte Linien) besser darstellen zu können; die Summe von [A–] und [HA] ist überall 100%. Auf der Abszisse ist die Abweichung des pH vom pK' aufgetragen. Die Steilheit der Kurve ist gleich der Pufferkapazität, β; sie kann nach Gl. 11.3 wahlweise aus der oberen oder unteren Kurve abgelesen werden. Die Pufferkapazität hat ihren größten Wert bei pH = pK', also dort, wo [A–] = [HA]. Für pH-Werte, die um mehr als etwa 1,5 Einheiten von pK' abweichen, ist die Pufferkapazität praktisch null (flache Kurvenabschnitte). Man beachte, dass die Pufferkapazität, d. h. die Fähigkeit, eine begrenzte Menge an H+ oder OH– abzupuffern, weniger vom Absolutwert von A– oder HA abhängt, als vielmehr von der Steilheit der Pufferkurve.

(11.4)

hat einen für die physiologische Pufferung günstigen pK' von 6,8 (Abb. 11.3). Im Blut und im Extrazellularraum spielt es wegen der geringen Konzentration (etwa 1 mmol · l–1) nur eine geringe Rolle als Puffer. Intrazellulär (mit Ausnahme der Erythrozyten) ist die Konzentration jedoch viel höher, und auch die organischen Phosphate (ATP, Kreatinphosphat, Phosphatide, Nucleinsäuren, phosphorylierte Intermediärprodukte) unterstützen die Pufferung. Anorganisches Phosphat ist besonders als Puffer bei der H+-Ausscheidung im Harn beteiligt (S. 317 f. und S. 367).

Proteine Sie spielen eine wichtige Rolle für die intrazelluläre Pufferung. Nicht nur die endständige Amino- und Carboxylgruppe, sondern auch Seitengruppen der Aminosäuren können H+ reversibel binden. Allerdings sind die pK'Bereiche, die sich für die einzelnen Gruppen im Proteinverband ergeben, sehr unterschiedlich. Physiologisch wirksam sind nur drei Gruppen: der Imidazolring des

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313

11 Säure-Basen-Gleichgewicht pK’ 6,8

3,9

9,4

–

–

HLa

+

H2PO4

NH4

50



–

La

0

3

HPO4

5

NH3

7

+

–

50

Zugabe von H » Zunahme von HA (mmol/l)

0

100

Zugabe von OH » Zunahme von [A ] (mmol/l)

314

9

100

11

pH

Abb.11.3 Pufferkurven von drei biologisch wichtigen Säure-Basen-Paaren. Im biologischen pH-Bereich puffert hiervon nur der Phosphatpuffer. Dort liegen die Milchsäure vollständig dissoziiert (La–) und Ammoniak vollständig protoniert (NH4+) vor. Der Einfachheit halber ist die Konzentration

Histidins, die Sulfhydrylgruppe des Cysteins und die terminale NH2-Gruppe. Da Proteine in der Regel mehrere Histidin- und Sulfhydrylgruppen mit jeweils unterschiedlichem pK' enthalten, ist ihre Pufferkurve komplex, jedenfalls nicht S-förmig wie bei einfachen Puffersystemen (Abb. 11.3). In den Erythrozyten ist das Hämoglobin der wichtigste Puffer; seine Pufferkurve ist im physiologischen pH-Bereich durch Überlagerung verschiedener pK'Werte nahezu linear (konstante Pufferkapazität).

für alle drei Puffer zu 100 mmol · l–1 angenommen worden, so dass die Ordinaten auch, wie in Abb.11.2, als % gelesen werden können. Beachte die identische Form aller drei Kurven.

Die Henderson-Hasselbalch-Gleichung besagt, dass in einer gegebenen Flüssigkeit (pK' gegeben) nur jeweils zwei der drei Größen PCO , pH und [HCO3–] unabhängig verändert werden können; die dritte ist dann gegeben und kann aus Gl. 11.6 berechnet werden. Dies ist die Grundlage des Diagramms in Abb. 11.4, in dem log PCO gegen pH aufgetragen ist (log PCO /pH-Diagramm). Dieses Diagramm liefert das Grundgerüst für das Siggaard-Andersen-Diagramm, das sehr nützlich ist zur Diagnose von Veränderungen im Säure-Basen-Gleichgewicht (S. 319 ff.). 2

2

2

Bicarbonatpuffer Diesem System liegt die Reaktion zugrunde: CO2 + H2O Ð H+ + HCO3–

11.3 (11.5)

Die logarithmierte Form der Massenwirkungsgleichung (Gl. 11.2 a, S. 313) wird Henderson-Hasselbalch-Gleichung genannt: pH = pK0 + log

½HCO3 Š ½CO2 Š

ð11:6Þ

Im Blutplasma ist bei 37 C der pK' = 6,1. Für den normalen pH-Wert des arteriellen Plasmas von 7,4 (s. o.) errechnet sich daraus ein Verhältnis [HCO3–]/[CO2] von 20 : 1. Für die Konzentration des physikalisch gelösten CO2 gilt das Henry-Gesetz (S. 260), [CO2] = α CO · PCO , wobei der Löslichkeitskoeffizient α CO = 0,226 mmol · (l · kPa)–1 beträgt. Beim arteriellen PCO von 5,3 kPa (40 mmHg) ist daher [CO2] = 1,2 mmol · l–1, und daraus ergibt sich für das arterielle Plasma [HCO3–] = 24 mmol · l–1. 2

2

2

2

Die Besonderheiten des Bicarbonatpuffers

Im Organismus gebildete oder von außen zugeführte H+ (bzw. OH–) werden sowohl an HCO3– (bzw. CO2) als auch an die Basen (bzw. Säuren) der Nichtbicarbonatpuffer gebunden. Dabei wird die Pufferkapazität des CO2/HCO3–-Systems dadurch besonders erhöht, dass die Konzentration von CO2 mit der Lungenbelüftung eingestellt werden kann (sog. offenes System). Im Gegensatz hierzu werden die bei Erhöhung des PCO entstehenden H+ nur von den Nichtbicarbonatpuffern abgefangen. 2

Warum puffert Bicarbonat im physiologischen pH-Bereich? Mit 6,1 ist der pK' des Bicarbonatpuffers so niedrig, dass man eine schlechte Pufferung bei pH 7,4 erwartet (Abb. 11.2). Dass die Pufferung dennoch sehr gut ist, ist nicht allein mit der im Vergleich zu den anderen Puffern hohen

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11.3 Die Besonderheiten des Bicarbonatpuffers Konzentration des HCO3–/CO2-Systems ([HCO3–] + [CO2] = 25,2 mmol · l–1 im Extrazellularraum) zu erklären. Es ergibt sich vielmehr eine zusätzliche Besonderheit für dieses Puffersystem daraus, dass mit der alveolären Belüftung eine der Pufferkomponenten, die CO2-Konzentration, im Blut und damit im ganzen Organismus eingestellt und konstant gehalten werden kann (offenes System). Abb. 11.5 A und B zeigt schematisch die Pufferung von vermehrt anfallenden H+-Ionen. Sie binden sowohl an HCO3– als auch an die Basen der Nichtbicarbonatpuffer (B–); es entstehen HB und CO2. Im geschlossenen System (Abb. 11.5 A), in dem das bei H+-Zugabe gebildete CO2 ebensowenig entweichen kann wie das HB, ist der Beitrag von HCO3– zur H+-Bindung wegen der geringen Pufferkapazität gering (s. o.). Kann jedoch das gebildete CO2 über die Lungen entweichen (Abb. 11.5 B), so können weitere H+ mit HCO3– zu CO2 reagieren, d. h., die Pufferung von H+ durch das HCO3–/CO2-Puffersystem wird verstärkt. Dieses offene System des HCO3–/CO2 hat mithin eine höhere Pufferkapazität als das geschlossene; d. h., die gleiche Zugabe von H+ hat eine geringere pH-Abnahme zur Folge. Zugabe von OH– verhält sich wie eine Abnahme von H+, da OH– mit H+ zu H2O reagiert. Entstehen nun in einem Organ H+-Ionen (z. B. in der Leber oder im arbeitenden Skelettmuskel), so verhält sich dieses Organ zunächst wie das geschlossene System (Abb. 11.5 A): Die HCO3–-Konzentration fällt ab, die CO2-

20

60 50

10 9 8

40 30 24 20

2

PCO (kPa)

7

15

6 5

10

4

7

3

[HCO3 ] (mmol/l)

2

Bei respiratorischen Veränderungen puffern nur die Nichtbicarbonatpuffer Veränderungen des PCO können also die Auswirkungen von Zugabe oder Verlust von H+- oder OH–-Ionen auf den pH-Wert merklich abmildern. Umgekehrt folgt jedoch auch der pH-Wert jeder primären Änderung des PCO , bedingt etwa durch Veränderungen der alveolären Ventilation. Hierbei verhält sich das HCO3–/CO2-Puffersystem nun aber ganz anders (Abb. 11.5 C) als oben geschildert. Es entstehen nämlich bei [CO2]-Erhöhung in stöchiometrisch gleichen Mengen H+ und HCO3–, und die entstehenden H+-Ionen können nur von den Nichtbicarbonatpuffern gepuffert werden. Das CO2/HCO3–-System vermag also nicht, die durch Veränderung des PCO entstehenden H+- (oder OH–-)Ionen zu puffern, da sie ja gerade durch die Reaktion in diesem System gebildet wurden. Wegen dieser grundsätzlichen Unterschiede im Pufferungsverhalten unterscheidet man folgende zwei Veränderungen im Säure-Basen-Gleichgewicht: – Nichtrespiratorische Veränderungen. Sie entstehen dadurch, dass primär H+ oder OH– vermehrt anfallen, die jedoch nicht in der Reaktion CO2 + H2O Ð HCO3– + H+ gebildet wurden; – Respiratorische Veränderungen. Sie sind durch eine primäre Veränderung des PCO verursacht, wodurch H+ bzw. OH– in der Reaktion CO2 + H2O Ð HCO3– + H+ gebildet werden. 2

2

2

–

–

log PCO = –pH + (pK’ + log 2

[HCO3 ]

a CO

)

2

6,8

2

2

15

2

Konzentration (also der PCO ) steigt an, und der pH-Wert sinkt. Diese Veränderungen können im venösen Blut des betreffenden Organs gemessen werden. Wenn das Blut in die Lunge gelangt, wird das System „geöffnet“: CO2 wird abgegeben, der PCO sinkt und die Konzentration des HCO3– fällt noch weiter, da es ja mit H+ zu CO2 reagiert und entweicht (Abb. 11.5 B). Die ursprüngliche pH-Abnahme wird hierdurch vermindert. Trotzdem bleibt der pH-Wert noch etwas erniedrigt (unter dem Ausgangswert vor H+-Zugabe), da das Verhältnis [HCO3–]/[CO2] abgesunken ist. Durch diesen verminderten pH-Wert wird nun die Atmung stimuliert (S. 298), was zu einer weiteren Milderung der pH-Abweichung führt (respiratorische Kompensation einer nichtrespiratorischen Azidose, S. 322).

7,0

7,2

pH

7,4

7,6

7,8

Abb.11.4 Diagramm zur Darstellung der HendersonHasselbalch-Gleichung (log PCO /pH-Diagramm). Die Beziehung von PCO (Ordinate, logarithmische Teilung) zu pH (Abszisse) ergibt sich durch Umformung der HendersonHasselbalch-Gleichung (Gl. 11.6). In diesem Diagramm sind die Linien konstanter Bicarbonatkonzentration Geraden, die beim gewählten Koordinatenmaßstab (eine pH-Einheit ist ebenso groß wie eine Einheit von log PCO ) einen Winkel von 458 zu den Koordinaten bilden (Steigung: – 1). 2

2

2

Typische Ursachen solcher Störungen sind auf S. 320 ff. dargestellt. Die Besonderheiten im Pufferungsverhalten rechtfertigen auch die Unterscheidung des CO2/HCO3–Puffers von den Nichtbicarbonatpuffern. Die Unterschiede bei nichtrespiratorischer und respiratorischer Veränderung sind in Tab. 11.1 (S. 316) für den Fall einer pH-Erniedrigung (Azidose, S. 321) zusammengestellt. Bicarbonat ist für die Unterscheidung beider Azidoseformen besonders wichtig, da es im einen Fall erhöht, im anderen erniedrigt ist. In einer reinen Bicarbonatlösung, die keine Nichtbicarbonatpuffer enthält, führt hiernach eine Veränderung der CO2-Konzentration (des PCO ) nicht zu nennenswerten Veränderungen der HCO3–-Konzentration. Nehmen wir das Beispiel einer Bicarbonatlösung mit [HCO3–] = 25 mmol/l und pH = 7,4. Zwar läuft, z. B. bei Erhöhung des PCO , die Reaktion CO2 + H2O → HCO3– + H+ (Gl. 11.5) 2

2

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315

11 Säure-Basen-Gleichgewicht unter Bildung stöchiometrisch gleicher Mengen von H+ und HCO3– ab (Abb. 11.5 C), jedoch ist das neue Gleichgewicht sehr bald erreicht; denn schon geringe Mengen von H+ verändern die im Vergleich zur HCO3–-Konzentration (~ 25 mmol/l) sehr geringe H+-Konzentration ([H+] = 10–7,4 mol/l = 0,00004 mmol/l) so sehr, dass die Gleichgewichtskonzentrationen der Massenwirkungsbeziehung wiederhergestellt sind. Im log PCO /pH-Diagramm (Abb. 11.4) erfolgen demnach die pH-Veränderungen bei Veränderung des PCO entlang der Geraden praktisch konstanter HCO3–-Konzentration. Enthält die Bicarbonatlösung hingegen Nichtbicarbonatpuffer, so ergibt sich im log PCO /pH-Diagramm bei Veränderung des PCO (respiratorische Veränderung) eine Linie, die steiler verläuft als die Linien konstanter HCO3–Konzentration: CO2-Äquilibrierungslinie (Abb. 11.6). In der solcherart gepufferten Lösung verändert sich mit dem PCO auch die HCO3–-Konzentration, und die pH-Veränderungen fallen geringer aus als in der reinen HCO3–Lösung. Bei einer respiratorischen Veränderung (Abb. 11.5 C) entstehen praktisch so viele HCO3–-Ionen, wie H+-Ionen durch Nichtbicarbonatpuffer gepuffert werden:

+

H -Zugabe

+

Nichtbicarbonatpuffer

316

H

–

+ HCO3

+ B

H2O +

Bicarbonatpuffer

CO2

– +

A Pufferung von H im geschlossenen System

2

HB

2

+

H -Zugabe CO2-Abatmung

2

+

H

+

– HCO3

H2O +

2

CO2

+ –

B

+

B Pufferung von H im offenen System

2

HB

CO2-Abatmung vermindert +

H

–

+ HCO3

H2O +

∆[HCO3–] = – ∆ [B–] = ∆ [HB]

CO2

(11.7)

(gilt nur für respiratorische Veränderungen). Die Pufferkapazität der Nichtbicarbonatpuffer, β NB, lässt sich nach Gl. 11.7 aus der [HCO3–]-Differenz bei respiratorischen Veränderungen berechnen. Mit Gl. 11.3 (S. 313) ist nämlich

+ –

B

C Pufferung bei CO2-Erhöhung HB

Abb.11.5 Pufferung bei Zugabe (oder Bildung) von H+Ionen und bei Erhöhung des PCO . Die Pufferungsfähigkeit des HCO3–/CO2-Puffersystems bei Zugabe von H+ ist größer, wenn das in den Körpergeweben gebildete CO2 über die Lunge abgegeben werden kann (offenes System, B), als wenn es im Organismus verbleibt (geschlossenes System, A). Bei C steigt primär die CO2-Konzentration, z. B. weil die Abatmung von CO2 behindert ist. Die Reaktion im HCO3–/ CO2-System verläuft daher in Richtung HCO3–, und die hierbei gebildeten H+-Ionen werden von den Nichtbicarbonatpuffern (B–) gebunden. Netto entstehen dabei gerade soviel HCO3–-Ionen wie B–-Ionen zur Pufferung der H+ verbraucht werden; die Gesamtkonzentration der Pufferbasen, [HCO3–] + [B–], bleibt in diesem Fall also unverändert. 2

Tabelle 11.1 Unterschiedliche Auswirkungen von nichtrespiratorischer und respiratorischer Azidose. Dem Wesen der Azidose entsprechend ist in beiden Fällen [H+] erhöht, d. h. der pH-Wert erniedrigt. (Bei Alkalosen ist die Richtung aller Veränderungen umgekehrt wie bei Azidosen.) Man beachte besonders das unterschiedliche Verhalten von [HCO3–]. B– = Nichtbicarbonatpufferbase. Die wesentlichen Unterschiede zwischen beiden Azidoseformen sind kursiv hervorgehoben Nichtrespiratorische Azidose

Respiratorische Azidose

Primäre Ursache

[H+] erhöht

PCO erhöht

Pufferung durch

B– und HCO3–

nur B–

Aktuelles [HCO3–]

erniedrigt

erhöht

2

βNB =

[HCO3 ] pH

ð11:8Þ

(gilt nur für respiratorische Veränderungen). Somit kommt der Analyse des CO2/HCO3–-Systems eine Schlüsselrolle auch für die Nichtbicarbonatpuffer zu.

11.4

Bilanz von Säuren und Basen im Organismus

Im Gegensatz zu Kohlenhydraten und Fetten entstehen beim Ab- und Umbau der Aminosäuren (vor allem in der Leber) sowohl H+- als auch OH–-Ionen. Die täglich gebildete H+-Menge von netto etwa 50 mmol wird über die Niere ausgeschieden: teils gebunden an Puffer wie Phosphat, teils über die Bildung von NH4+.

Bildung von H+ und OH– im Stoffwechsel H+-Ionen werden im Stoffwechsel immer dann gebildet, wenn beim Abbau oder Umbau der Nahrungsstoffe Metaboliten entstehen, deren Nettoladung negativer ist als die des Ausgangsstoffs. Umgekehrt entstehen OH–, wenn die Nettoladung positiver wird. Daher werden normalerweise weder aus Kohlenhydraten noch aus Fetten H+ oder OH– gebildet. Es entstehen bei der Endoxidation zwar große Mengen von CO2 (mehr als 15 000 mmol pro Tag), die aber in der Lunge abgeatmet werden und daher netto den Säure-Basen-Haushalt nicht belasten. H+ und OH– entstehen aber beim Abbau einiger Aminosäuren oder bei ihrem Umbau (zu Glucose oder Tri-

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11.4 Bilanz von Säuren und Basen im Organismus

20

CO2-Äquilibrierungslinie

–

15

D [HCO3 ] = 6 mmol/l

2 K+ + –OOC-CHOH-CH2-COO– + 3 O2 → 4 CO2 + H2O + 2 K+ + 2 OH–

A

10 9 8



7

PCO (kPa)

6

N

2

5

Normalwert: 5,3 kPa PCO pH 7,4 – [HCO3 ] 24 mmol/l 2

4

30 24 20

3

15 10

2

6,8

7,0

7,2

Hinzu kommen Salze organischer Säuren, die mit der Nahrung aufgenommen und zu ungeladenen Stoffen abgebaut werden (Acetat, Lactat, Malat, Citrat, Gluconat etc.). Am Beispiel des Malats:

pH

7,4

7,6

7,8

Abb.11.6 CO2-Äquilibrierungslinie einer Lösung, in der Nichtbicarbonatpuffer vorhanden sind, dargestellt im log PCO /pH-Diagramm (Abb.11.4). Die Form dieser Linie (grün) und ihre Steilheit hängt von der Konzentration der Nichtbicarbonatpuffer und ihrer Pufferkapazität ab. Dargestellt ist die Situation im Vollblut, in dem die CO2-Äquilibrierungslinie angenähert linear verläuft. Punkt N bezeichnet den Normalwert im arteriellen Blut (bzw. in dessen Plasma). Punkt A ist durch Äquilibrierung mit hohem PCO (10 kPa) entstanden, wobei sich die aktuelle HCO3–-Konzentration um 6 mmol · l–1 erhöht (von 24 auf 30 mmol · l–1) und der pHWert auf 7,23 erniedrigt hat. Ohne Nichtbicarbonatpuffer wäre bei gleichem PCO Punkt A' erreicht worden, bei dem [HCO3–] bei 24 mmol · l–1 geblieben, dafür aber der pH-Wert auf etwa 7,12 abgesunken wäre. Dieses geringere Absinken des pH bei Vorhandensein von Nichtbicarbonatpuffern ist Ausdruck der Pufferung. 2

Entscheidend für die Säure-Basen-Bilanz des Organismus ist also die Nettoladung der aufgenommenen Nahrungsstoffe im Vergleich zu derjenigen der ausgeschiedenen Stoffwechselendprodukte. Welche Nettoladung eine Substanz trägt, hängt dabei vom Protonierungsgrad ab, also vom pK' der Substanz im Vergleich zum pH der Körperflüssigkeit (S. 312 ff.). Bei der normalen proteinreichen Mischkost der Bewohner westlicher Länder entstehen pro Tag etwa 70 mmol H+-Ionen aus den schwefelhaltigen und weitere etwa 140 mmol aus den kationischen Aminosäuren. Demgegenüber werden pro Tag etwa 100 mmol OH– aus den anionischen Aminosäuren gebildet und etwa 60 mmol aus den Salzen organischer Säuren. Netto verbleiben also 70 + 140 – 100 – 60 = 50 mmol H+ pro Tag, die ausgeschieden werden müssen (2). In der Leber müssen sie zunächst gepuffert werden, wobei die HCO3–-Konzentration vermindert wird. Im Lebervenenblut findet man diese Verminderung sowie einen erhöhten PCO . Aufgabe der Niere ist es, die überschüssigen H+-Ionen auszuscheiden und damit auch die Puffer, also auch die HCO3–-Konzentration, zu regenerieren. 2

2

2

glyceriden), vor allem in der Leber. Aus den (ungeladenen) S-haltigen Aminosäuren (Methionin, Cystein, Cystin) entstehen H+ wie am Beispiel des Cysteins (Cys) gezeigt: Cys → Glucose (oder Triglyceride oder CO2 ) + Harnstoff + SO42– + 2 H+ (Der Superskript kennzeichnet, dass die Substanz keine Nettoladung trägt.) Ebenfalls entstehen H + aus den kationischen Aminosäuren (Lysin, Arginin, ein Teil des Histidins), wie für Arginin (Arg+) dargestellt: Arg+ · Cl– → Glucose (oder Triglyceride oder CO2 ) + Harnstoff + H+ + Cl– Umgekehrt entstehen OH– aus dem Ab- und Umbau anionischer Aminosäuren (Glutamat, Aspartat) zu neutralen Endprodukten. Am Beispiel des Glutamats (Glu–): Na+ · Glu– → Glucose (oder Triglyceride oder CO2 ) + Harnstoff + Na+ + OH–

Ausscheidung von H+ in der Niere Das wichtigste Organ der H+-Ausscheidung ist die Niere (S. 365 ff.). Die Tubuluszellen der Niere sezernieren H+ ins Tubuluslumen (Abb. 11.7). Diese werden aus der Reaktion CO2 + H2O Ð H+ + HCO3– bereitgestellt, die durch das Enzym Carboanhydrase (CA) katalysiert wird. Die sezernierten H+-Ionen dienen größtenteils der Resorption der glomerulär gefilterten HCO3–-Ionen (ca. 5000 mmol pro Tag), deren Ausscheidung ja die Bilanz zur Seite überschüssiger H+ verschärfen würde. Wirksam im Sinne der Säure-Basen-Bilanz ist nur die der Tubulusflüssigkeit zugeführte Menge an H+, die mit dem Endharn an Puffer gebunden ausgeschieden wird, sowie die HCO3–-Menge, die in der Leber dadurch eingespart wird, dass sie nicht für den NH4+-Einbau in den Harnstoff verbraucht wird (Abb. 12.43, S. 367). Ein Maß für die HCO3–-Einsparung ist die NH4+-Ausscheidung im Urin.

Die gepufferten H+-Ionen bilden die Titrationsazidität des Harns Die sezernierten H+-Ionen können an Säureanionen der Tubulusflüssigkeit binden, zu denen vor allem sekundäres Phosphat (neben Urat, Citrat etc.) gehört (Abb. 11.7). Die Menge der freien H+-Ionen im Harn ist selbst bei niedrigstem Harn-pH (pH 4,5) verschwindend gering (S. 313, S. 365 f.). Die Menge der gepufferten H+-Ionen kann durch Rücktitration des Harns zum pH des Plasmas bestimmt werden (titrierbare Säure oder Titrationsazidität, S. 367 f.). Im Blut und im Primärharn liegt Phosphat

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317

318

11 Säure-Basen-Gleichgewicht HCO3– eingespart (s. S. 368 f.). Die tägliche HCO3–-Einsparung (= „indirekte H+-Ausscheidung“) in Form der NH4+Ausscheidung im Harn beträgt 20 – 50 mmol (S. 367). 2–

HPO4 + H

+

Ausscheidung von OH– in der Niere

–

HCO3 + H

+

+

H

+

CA

–

H2PO4

Überschüssige OH–-Ionen (alkalotische Stoffwechsellage) werden in der Niere als HCO3– ausgeschieden. Hierzu wird die Menge der in der Tubuluszelle sezernierten H+Ionen gedrosselt, so dass nicht alles HCO3– aus der Tubulusflüssigkeit resorbiert wird (S. 366).

–

HCO3 CA

CO2 + H2O

CO2 + H2O Glutamin

11.5

+

2NH4

2NH3 + + 2H

aKG



+

2NH4

Tubuluslumen

Tubuluszelle

Blut

im Harn: + NH4 Titrationsazidität

Renale Mechanismen der H+-Ausscheidung

Abb.11.7 und HCO3–-Resorption. Die ins Tubuluslumen sezernierten H+-Ionen binden an HCO–3 , das somit als CO2 resorbiert wird, sowie an HPO42– (und andere Pufferbasen des Primärharns). Die H+-Ionen, die an Pufferbasen gebunden in den Endharn gelangen, sind durch Rücktitration des Harns auf den Wert des Plasma-pH messbar (Titrationsazidität). Aus Glutamin, das in der Leber synthetisiert wird (Abb.12.43, S. 367) und der Nierenzelle mit dem Blut zugeführt wird, entsteht NH4+, das (zusammen mit NH3 und begleitendem H+) in die Tubulusflüssigkeit gelangt. Eine der NH4+-Elimination entsprechende Zahl von HCO–3 wird in der Leber eingespart (S. 368). Die Gleichgewichtseinstellung H+ + HCO–3 Ð CO2 + H2O wird von der Carboanhydrase (CA) beschleunigt.

zu etwa 80 % als HPO42– vor, bei einem Harn-pH-Wert unterhalb von 5 jedoch nahezu vollständig als H2PO4– (Abb. 11.3, S. 314, und 12.42, S. 367). Die Titrationsazidität beträgt normalerweise 10 – 40 mmol pro Tag.

Die Niere bildet NH4+ Die Tubuluszelle kann aus der ungeladenen Aminosäure Glutamin Ammonium bilden, wobei pro Glutamin zwei NH4+ sowie das zweiwertig negative α-Ketoglutarat (αKG2– = 2-Oxoglutarat2–) entstehen (Abb. 11.7). NH4+ wird, z. T. über nichtionische Diffusion als NH3, z. T. als NH4+ über den Na+/H+-Austausch-Carrier (NH4+ statt H+) in die Tubulusflüssigkeit abgegeben und erscheint im Harn. Für jedes ausgeschiedene NH4+ wird in der Leber ein

Blut als Indikator für den Säure-Basen-Status des Organismus

Blut ist ein brauchbarer Indikator für Störungen des Säure-Basen-Gleichgewichts, da es leicht zu entnehmen ist und da es einen mittleren Zustand aller Körpergewebe anzeigt. Als Pufferbasen bezeichnet man die Summe der Konzentrationen der puffernden Anionen im Blut. Hämoglobin ist der quantitativ wichtigste Nichtbicarbonatpuffer des Blutes. Obwohl es in den Erythrozyten lokalisiert ist, bestimmt es durch ionalen Austausch auch die Pufferkapazität des Plasmas („wahres“ Plasma; im Unterschied zum Plasma, das nicht in Kontakt mit Erythrozyten steht).

Warum misst man im Blut? Bei Störungen des Säure-Basen-Gleichgewichts sind in der Regel alle Gewebe des Körpers betroffen, doch ist eine getrennte Analyse aller betroffenen Organe im Allgemeinen nicht durchführbar. Man hilft sich stattdessen mit der Analyse des „Gewebes“ Blut, das alle Organe durchströmt und verbindet und somit einen mittleren Zustand aller Gewebe erkennen lässt. Darüber hinaus ist Blut leicht zu gewinnen und zu analysieren.

Die Pufferfähigkeit des Blutes Die Puffer des Blutes Die wichtigsten Puffer des Blutes sind CO2/HCO3–, Hämoglobin und Plasmaproteine (S. 313 ff.). Phosphatverbindungen spielen daneben nur eine untergeordnete Rolle im Blut. Die genannten Puffersysteme sind sehr unterschiedlich auf Plasma und Erythrozyten verteilt. Wegen des niedrigeren pH-Wertes (bei gleichem PCO ) ist die HCO3–-Konzentration in den Erythrozyten niedriger als im Plasma. Hämoglobin findet sich nur im Erythrozyten, die Plasmaproteine nur im Plasma. Als Pufferbase (Buffer base, BB) bezeichnet man die Summe der Konzentrationen der puffernden Anionen des Blutes. Sie setzen sich zusammen aus der [HCO3–] des Plasmas und der Erythrozyten sowie aus den Pufferanionen der Plasmaproteine und des Hämoglobins. Die Verteilung der Pufferbasen auf HCO3– und die Nichtbicarbonatpuffer ist allerdings nicht konstant, sondern hängt vom herrschenden PCO ab (Abb. 11.8). Beim PCO des arteriellen Blutes beträgt die [HCO3–] des Plasmas etwa 24 mmol · (l Plasma)–1, die [HCO3–] der Erythrozyten 14 mmol · 2

2

2

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11.6 Diagnostik des Säure-Basen-Status im Blut und Normalwerte (l Erythrozyten)–1; die Konzentration der Nichtbicarbonatpuffer beläuft sich im Plasma auf etwa 18 mmol · (l Plasma)–1 und in den Erythrozyten auf 42 mmol · (l Erythrozyten)–1. Die Gesamtkonzentration der Pufferbasen hängt von der Hämoglobinkonzentration (als wichtigstem Nichtbicarbonatpuffer), nicht jedoch vom PCO ab (Abb. 11.8), da ja bei einem PCO -Anstieg ebenso viel HCO3– entsteht wie Nichtbicarbonatpufferbasen verbraucht werden (Abb. 11.5 C u. Gl. 11.7, S. 316). Bei einem Hämatokrit von 0,45 ergibt sich hieraus [HCO3–] = 0,55 · 24 + 0,45 · 14 = 19 mmol · (l Vollblut)–1 und eine Konzentration der Nichtbicarbonatpufferbasen von 0,55 · 18 + 0,45 · 42 = 29 mmol · (l Vollblut)–1. Der Normalwert der Pufferbasen (HCO3– und Nichtbicarbonatpufferbasen) im arteriellen Blut beträgt also 48 mmol · l–1. Für die Pufferung wichtiger als die Konzentration der Pufferbasen (oder Puffersäuren) im Blut ist aber ihre Veränderung mit dem pH, also die Pufferkapazität (S. 313). 2

2

Pufferkapazität des Vollblutes Die Pufferkapazität der Nichtbicarbonatpuffer im Blut, βNB, beträgt etwa 28 mmol · (l · pH)–1 (nicht zu verwechseln mit der Konzentration der Nichtbicarbonatpuffer von 29 mmol · l–1, s. o.). An dieser Pufferkapazität ist im Wesentlichen das Hämoglobin beteiligt [βNB = 60 mmol · (l Erythrozyten)–1 · pH–1] zum einen wegen seiner hohen Konzentration, zum anderen wegen der großen Zahl seiner puffernden Gruppen. Die Pufferkapazität des von den Erythrozyten abgetrennten Plasmas ist weit geringer [≈ 8 mmol · (l Plasma)–1 · pH–1]. Der Wert der im Plasma des Vollblutes (Plasma in Kontakt mit Erythrozyten oder wahres Plasma) gemessenen Pufferkapazität wird auch von der intraerythrozytären Pufferung mitbestimmt, da die Komponenten des Puffersystems CO2/HCO3–/H+ über die Zellmembran zwischen Erythrozyt und Plasma ausgetauscht werden (S. 287 ff.). Daher vermittelt die mit den gängigen Methoden durchgeführte Messung im

Pufferbasen des Blutes (mmol/l)

50

(wahren) Plasma einen Einblick in den Säure-BasenStatus des Vollblutes einschließlich der Erythrozyten.

11.6

Diagnostik des Säure-Basen-Status im Blut und Normalwerte

Zur Erhebung des Säure-Basen-Status im Blut werden der pH-Wert und der PCO einer Blutprobe gemessen, und hieraus wird die aktuelle HCO3–-Konzentration oder der Basenüberschuss (BE) berechnet. Der BE gibt an, wie viel Säure oder (bei negativem BE) wie viel Base zur Rücktitration des Blutes auf den normalen pH-Wert bei normalem PCO benötigt wird. 2

2

Messparameter Da respiratorische und nichtrespiratorische Einflüsse auf das Säure-Basen-Gleichgewicht einwirken, müssen zur Charakterisierung des Säure-Basen-Status des Blutes die Werte von drei Parametern angegeben werden: – 1. Parameter zur Kennzeichnung der freien H+-Konzentration: pH; – 2. Parameter zur Kennzeichnung respiratorischer Einflüsse: PCO ; – 3. Parameter zur Kennzeichnung nichtrespiratorischer Einflüsse: z. B. die Konzentrationen des aktuellen Bicarbonats, des Standardbicarbonats, der Pufferbasen oder der Basenüberschuss. 2

Während pH und PCO eindeutige Parameter darstellen, die zudem heute mit Routineverfahren messbar sind, gibt es mehrere Möglichkeiten für die Wahl des dritten Parameters. Das aktuelle Bicarbonat ist die HCO3–-Konzentration im Plasma des Vollblutes. Es verändert sich bei respiratorischen wie auch bei nichtrespiratorischen Veränderungen, was seinen differenzialdiagnostischen Wert einschränkt. Das Standardbicarbonat ist die HCO3–-Konzentration im wahren Plasma einer volloxygenierten Blutprobe beim normalen PCO von 5,3 kPa (40 mmHg) und bei 37 C. Es ist vom aktuellen PCO unabhängig, seine Abweichung vom Normalwert kennzeichnet somit eine nichtrespiratorische Störung sowie eine renale Kompensation einer respiratorischen Störung. Auch die Pufferbasen (Buffer base, BB) des volloxygenierten Blutes sind vom PCO unabhängig (Abb. 11.8) und nur bei nichtrespiratorischen Störungen verändert: erniedrigt bei Azidosen, erhöht bei Alkalosen. Jedoch kann beispielsweise eine Minderung der Pufferbasen auch durch erniedrigte Hämoglobinkonzentration des Blutes bei regelrechtem Säure-Basen-Status bedingt sein. Die Basenabweichung (oder der Basenüberschuss, engl. Base excess, BE) ist die Differenz zwischen aktueller Pufferbase und Pufferbase nach Rücktitration des Blutes mit starker Säure bzw. Base zum pH = 7,40 bei PCO = 5,3 kPa und 37 C. Sie ist von der Hämoglobinkonzentration und vom PCO unabhängig und gibt am direktesten an, wie viel Säure- oder Basenäquivalente eine gegebene Störung des Gleichgewichtes im Blut verursacht haben. Da sich der BE einer Blutprobe bei Veränderung des PCO nicht 2

2

2

40

29

Nichtbicarbonatpuffer

30

2

20 –

19

10

0

20

HCO3

40

60

80

PCO2 (mmHg)

normal

Abb.11.8 Abhängigkeit der Pufferbasen des Blutes vom PCO . Bei Erhöhung des PCO wird die HCO3–-Konzentration vermehrt, jedoch die Konzentration der Nichtbicarbonatpufferbasen im gleichen Maß vermindert, so dass die Gesamtkonzentration an Pufferbasen vom PCO unabhängig ist. 2

2

2

2

2

2

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319

11 Säure-Basen-Gleichgewicht

Symbol

normale CO2-Äquilibrierungslinie 20

Pufferbasen (BB) 45 D 50 55 60 65 (mmol/l) 40 35 30

10 9

E

–

–

mmol/l

mmol/l

BE

BB

mmol/l mmol/l

normal

70

0 100 300 [Hb] (g/l)

–

pHPl [HCO3 ]Pl [HCO3 ]St

PaCO2

Einheit kPa mmHg

[Hb] 15

75

von

4,3

32

7,37

20

21

–3

42

bis

6,0

45

7,45

27

26

+3

54

Mittelwert

5,3

40

7,40

24

24

0

48

80

A

8

25 Blutprobe 20

15 6,8

7,0

7,2

pH

7,4

7,6

7,8

Abb.11.9 Siggaard-Andersen-Diagramm zur Analyse des Säure-Basen-Status des Blutes. Das Diagramm entspricht Abb.11.6, jedoch sind zusätzlich die Kurven zur Ermittlung der Pufferbasenkonzentration (BB) und der Basenabweichung (BE) eingezeichnet. Die Iso-HCO3–-Geraden sind hier nur noch in den Schnittpunkten mit diesen Kurven und mit der Horizontalen bei PCO = 5,3 kPa angedeutet. Die untere gebogene Linie gibt die Werte von BE an; sie sind unabhängig von der absoluten Pufferbasenkonzentration der Blutprobe. Die obere Kurve zeigt die Konzentration der Pufferbasen und enthält eine Skala der Hämoglobinkonzentration, die den Normalwert der Pufferbasenkonzentration des Blutes beeinflusst. Es sei in einer Blutprobe ein PCO von 8,2 kPa, ein pH von 7,11 (Punkt A) und eine Hb-Konzentration von 160 g · l–1 gemessen worden. Die aktuelle [HCO3–] ergibt sich aus dem Schnittpunkt der Isobicarbonatgeraden (458Gerade) durch A mit der Horizontalen bei PCO = 5,3 kPa zu 19 mmol · l–1 (Punkt B). Zur Bestimmung von BE und BB wird zunächst an der oberen Kurve – mittels der (in der gleichen Blutprobe gemessenen) Hb-Konzentration – die entsprechende Soll-Pufferbasenkonzentration der Blutprobe abgelesen (hier 48 mmol · l–1; Punkt D). Die Verbindungslinie von D mit dem Normalpunkt C (PCO = 5,3 kPa, BE = 0) ist die normale CO2-Äquilibrierungslinie. Die tatsächliche CO2-Äquilibrierungslinie der Blutprobe ist diejenige Gerade durch A, für die die Differenz der aktuellen zur normalen Pufferbasenkonzentration (E – D) gleich ist der Basenabweichung (F – C, BE = – 12 mmol · l–1). Der Schnittpunkt dieser CO2-Äquilibrierungslinie (Iso-BE-Linie) mit der Horizontalen bei PCO = 5,3 kPa ergibt die Standard-[HCO3–] (Punkt G); sie beträgt hier 15,0 mmol · l–1. Es handelt sich hier also um die Kombination einer respiratorischen (PCO erhöht) mit einer nichtrespiratorischen Azidose (BE negativ; Standard-[HCO3–] erniedrigt). Die Berechnung des BE aus den genannten Messdaten erfolgt heutzutage in der Klinik nach diesem Diagramm mit Hilfe von Computerprogrammen. 2

2

2

2

2

2

n

as rb ffe

Pu

ei bw

Ba

se

na

en

g un ch

tra en nz

at on rb ca bi

rd da an St

–20

ko

on tk na

ic m as Pl

2

ab

Basenabweichung (BE) (mmol/l)

tio

n tio ze

m

nt

a-

ra

pH

k ar

–15

+20 CO2-Äquilibrierungslinie der Blutprobe

bo

3

F

as

–

aktuelle [HCO3 ]

+10 +15 Normalpunkt

–10

uc

Standard [HCO3 ]

+5

–5

Pl

–

4

50

dr

B

40

al

G

20

30

rti

5

15

Pa

10

–

[HCO3 ] (mmol/l)

C

2-

6

CO

7

PCO2 (kPa)

320

Abb.11.10 Mittlere Normalwerte und Normalbereiche wichtiger Parameter des Säure-Basen-Status im arteriellen Blut oder dessen Plasma (nach 5).

verändert (die Summe der Pufferbasen bleibt ja bei respiratorischer Veränderung konstant; Abb. 11.8), stellt die CO2-Äquilibrierungslinie des Blutes (Abb. 11.6, S. 317) gleichzeitig eine Iso-BE-Linie dar, entlang derer der BE der Blutprobe also konstant ist. Der BE ist der heute in der Klinik am weitesten verbreitete Parameter zur Kennzeichnung einer nichtrespiratorischen Störung des SäureBasen-Haushalts des Blutes. Pufferbase und Basenabweichung können aus den Messwerten von pH und PCO errechnet werden, wenn die Hämoglobinkonzentration der Blutprobe bekannt ist. Man verwendet jedoch zur Bestimmung in der Regel Nomogramme, z. B. das auf dem log PCO /pH-Diagramm aufgebaute Siggaard-AndersenNomogramm (Abb. 11.9). Normalwerte und Normalbereiche der wichtigsten Parameter des Säure-Basen-Status des arteriellen Blutes sind in Abb. 11.10 zusammengestellt. 2

2

11.7

Primäre Störungen des Säure-BasenGleichgewichts und chemische Pufferung als Sofortmaßnahme

Ist der pH-Wert im Organismus unter den Normwert erniedrigt, so liegt eine Azidose vor, ist er über die Norm erhöht, eine Alkalose. Je nach der primären Ursache unterscheidet man respiratorische von nichtrespiratorischen Azidosen oder Alkalosen. In einer passiven Sofortmaßnahme verhindert die chemische Pufferung zu starke pH-Veränderungen. Ist der pH-Wert niedriger als normal (Abb. 11.11), so spricht man von einer Azidose; ist er höher, von einer

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11.7 Primäre Störungen des Säure-Basen-Gleichgewichts und chemische Pufferung als Sofortmaßnahme

20

15

2

10 9

20

8

15

renal

nichtrespiratorisch

ch ris ato pir res

5,3 10 – [HCO3 ] (mmol/l)

ch ris ato pir res

PCO2 (kPa)

6

4

60

CO2Äquilibrierungslinie

7

5

Alkalose 50

24

3

renal

Störungen

Primär respiratorische Störungen

Kompensationen

2

Bei der respiratorischen Azidose ist primär der PCO im arteriellen Blut (und im Organismus) erhöht, und die aktuelle Bicarbonatkonzentration des Plasmas, [HCO3–]Pl, folgt dieser Erhöhung entlang der CO2-Äquilibrierungslinie (Abb. 11.11). Die Konzentration der Pufferbasen bleibt unverändert (Abb. 11.8, S. 319), so dass der BE (und das Standardbicarbonat) unverändert sind (s. o.; Tabelle in Abb. 11.11). Als Ursache kommen alle Zustände in Frage, die mit einer CO2-Retention einhergehen (S. 281, 295 f.): Störungen des zentralen Atemantriebes, der peripheren Nerven und der Atemmuskeln, der Atemwege, der Beweglichkeit des Thorax oder der Mechanismen des Gasaustauschs. Bei der respiratorischen Alkalose ist primär der arterielle PCO erniedrigt, und alle weiteren Störungen sind in ihrer Richtung gerade umgekehrt wie bei der respiratorischen Azidose (Tabelle in Abb. 11.11). Ursache dieser Störung kann eine direkte oder reflektorische Reizung der Atemzentren sein, z. B. bei Hirnschädigung, oder eine verstärkte Atmung in großer Höhe (S. 281, 305 f.).

40

ch ris ato pir res

2

Azidose 30

ch ris ato pir res

Alkalose. Diese rein beschreibende Definition der Azidose und Alkalose ist unabhängig von der Ursache der Störung. Beruht die Abweichung primär auf einer Veränderung des PCO , ist es eine respiratorische Störung; beruht sie primär auf Veränderungen der H+- oder OH–Konzentration, so ist es eine nichtrespiratorische oder metabolische Störung (S. 315). Man unterscheidet mithin eine respiratorische Azidose (Alkalose) von einer nichtrespiratorischen Azidose (Alkalose). Azidose und Alkalose werden im arteriellen Blut diagnostiziert, da nur hier definierte und messbare Werte des PCO vorliegen. Die Auswirkung dieser primären Störungen wird durch die Pufferung gemildert, wie dies schematisch in Abb. 11.5 (S. 316) dargestellt ist. Die Pufferung stellt somit eine physikochemische Sofortmaßnahme zur Begrenzung der pH-Veränderungen bei respiratorischen und nichtrespiratorischen Störungen dar. Sie ist passiv und bedeutet noch keine Anpassungsreaktion des Organismus.

7,4

2

2

Primär nichtrespiratorische Störungen Bei der nichtrespiratorischen Azidose ist primär die Konzentration der H+-Ionen im Blut (und im Organismus) erhöht. Dies führt zu einer Abnahme sowohl der aktuellen HCO3–-Konzentration wie auch der Basen der Nichtbicarbonatpuffer. Pufferbasen und Standardbicarbonat sind also ebenfalls erniedrigt, und BE ist negativ (Abb. 11.11). Da der arterielle PCO primär nicht verändert ist, verläuft die Veränderung im logPCO /pHDiagramm horizontal. Ursachen für eine nichtrespiratorische Azidose sind eine vermehrte Zufuhr oder Bildung fixer Säuren (Additionsazidose; z. B. Milchsäurebildung bei schwerer körperlicher Arbeit oder in Hypoxie [Laktazidose], Bildung von β-Hydroxybuttersäure und Acetessigsäure bei Diabetes mellitus), eine verminderte Ausscheidung von H+ in der Niere (Retentionsazidose bei Störung der Nierenfunktion) oder ein vermehrter Verlust von HCO3– (Subtraktionsazidose),

7,0

7,2

7,4

Azidose respiratorisch

nichtrespiratorisch

pH

7,6

7,8

Alkalose respiratorisch

nichtrespiratorisch

pH PCO2 –

aktuelle [HCO3 ] BE – Standard [HCO3 ]

Abb.11.11 Primäre Störungen und Kompensationen im log PCO /pH-Diagramm. Ausgehend vom Normalwert (blauer Punkt) verlaufen primär respiratorische Veränderungen entlang der CO2-Äquilibrierungslinie (grüne durchgezogene Pfeile), primär nichtrespiratorische Veränderungen verlaufen horizontal (braune durchgezogene Pfeile). Die Kompensationen zielen auf die Rückführung des pH-Wertes zur Norm: Die renale Kompensation (braun gestrichelt) der primär respiratorischen Veränderungen verläuft horizontal (wie die primär nichtrespiratorische Veränderung); die respiratorische Kompensation (grün gestrichelt) der primär nichtrespiratorischen Veränderung verläuft entlang der CO2-Äquilibrierungslinien (wie die primär respiratorische Veränderung). Die angegebenen Pfeile gelten streng nur für die Veränderungen in einer Blutprobe in vitro. Bei Veränderungen in vivo kommen Abweichungen durch die Austauschvorgänge zwischen Blut und den übrigen Körperflüssigkeiten zustande. In der Tabelle sind die entsprechenden Veränderungen in den Parametern des Säure-Basen-Gleichgewichts dargestellt; in ihr geben die Pfeile Erhöhung oder Erniedrigung an; ● = keine Veränderung. 2

2

2

z. B. Verlust alkalischen Darmsaftes bei Diarrhö oder bei proximaler renal-tubulärer Azidose. Bei der nichtrespiratorischen Alkalose ist primär die Konzentration der OH–-Ionen im Blut (und im Organismus) erhöht, d. h. diejenige der H+-Ionen vermindert. Die Veränderungen der Parameter des SäureBasen-Status im Blut sind in ihrer Richtung gerade umgekehrt wie bei der nichtrespiratorischen Azidose

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321

322

11 Säure-Basen-Gleichgewicht (Abb. 11.11). Als Ursache kommt neben einer überhöhten Zufuhr alkalischer Substanzen (Additionsalkalose, z. B. Bicarbonat, Lactat) insbesondere ein Verlust von H+-Ionen in Betracht (Subtraktionsalkalose). Dieser tritt z. B. bei Erbrechen auf (Verlust von saurem Magensaft), aber auch bei vermehrtem H+-Verlust über die Niere. Eine solche renal bedingte nichtrespiratorische Alkalose kann v. a. folgende Ursachen haben (6): 1. Hyperaldosteronismus bei gleichzeitig erhöhtem „distalen“ Na+-Angebot (d. h. an Verbindungstubulus und kortikalem Sammelrohr), 2. Hypokaliämie (s. a. S. 395). Besteht ein primärer Hyperaldosteronismus (durch einen Aldosteron-produzierenden Nebennierenrindentumor, Conn-Syndrom), so wird Na+ retiniert, das Extrazellulärvolumen erhöht sich, und in der Folge steigt auch das distale Na+-Angebot (Teilursache 1). Gleichzeitig steigt die K+-Ausscheidung, und eine Hypokaliämie entwickelt sich (Ursache 2). Auch die Gabe von Diuretika wie Furosemid und Thiaziden steigert das distale Na+-Angebot (Teilursache 1) sowie die K+Ausscheidung (Ursache 2; S. 354 f.) und erhöht gleichzeitig die Na+- und Wasserausscheidung. Diese Diurese kann zur Hypovolämie führen, was dann über den Renin-Angiotensin-Aldosteron-Mechanismus einen sekundären Hyperaldosteronismus auslöst (Teilursache 1; S. 369).

11.8

Antwort des Organismus auf primäre Störungen

Neben der chemischen Pufferung beantwortet der Organismus Störungen des Säure-Basen-Haushaltes mit aktiven Maßnahmen. Zum einen wird eine direkte, gegenregulatorische Korrektur der primären Störung dadurch angestrebt, dass bei (extrarenalen) nichtrespiratorischen Störungen die renale Ausscheidung von NH4+ und titrierbarer Säure (bzw. die von HCO3–) sowie bei respiratorischen Störungen die Alveolarventilation den veränderten Bedürfnissen angepasst wird. Zum anderen kommt es zu respiratorischer Kompensation bei primär nichtrespiratorischen Störungen und zu renaler Kompensation bei primär respiratorischen Störungen. Dabei handelt es sich um Teilkompensationen, die auf ein nahe der Norm liegendes Verhältnis von [HCO3–] zu [CO2] abzielen, also auf einen nahezu normalen pH-Wert, wobei verstärkte Abweichungen in der HCO3–-Konzentration oder im PCO in Kauf genommen werden. 2

Isolierte respiratorische oder nichtrespiratorische Störungen des Säure-Basen-Gleichgewichts werden selten beobachtet, da der Organismus die Störung mit aktiven Kompensationsmaßnahmen beantwortet. Ziel dieser Kompensation ist die Wiederannäherung des pH an seinen normalen Wert. Nach der Henderson-HasselbalchGleichung (Gl. 11.6, S. 314) ist dies gleichbedeutend mit einer weitgehenden Normalisierung des Verhältnisses von [HCO3–]/[CO2], das im arteriellen Blut normalerweise bei 20 : 1 liegt (Abb. 11.12).

Gegenregulation und Kompensation bei nichtrespiratorischen Störungen Bei einer extrarenal verursachten nichtrespiratorischen Azidose, bei der sowohl die HCO3– als auch die Nichtbicarbonatbasen-Konzentration im Blut vermindert ist (Subtraktions- oder Additionsazidose), hat die Niere die gegenregulatorische Aufgabe, H+-Ionen vermehrt zu verbrauchen bzw. auszuscheiden, d. h. die Pufferbasen wieder aufzufüllen. Dazu fällt der Harn-pH-Wert auf ein Minimum von ca. 4,5 (erhöhte H+-Sekretion), so dass die Titrationsazidität (S. 317 f.) ihr Maximum erreicht. Quantitativ noch wichtiger ist die Erhöhung der Glutaminaseaktivität im proximalen Tubulus innerhalb von 1 – 2 Tagen, so dass der an die tubuläre NH4+-Sekretion gekoppelte H+-Verbrauch der Niere (Abb. 11.7, unten S. 318) erheblich ansteigt. Diese Gegenregulation ist natürlich dann nicht möglich, wenn die Azidose durch eine Fehlfunktion der Niere selbst verursacht ist (Azidose durch Störung der proximal- oder distal-tubulären H+-Sekretion, S. 366 u. 369). In diesen Fällen erzeugt die Niere sogar eine Azidose. Beim proximal-tubulären Defekt kommt es zur Bicarbonaturie, beim distal-tubulären Defekt leidet v. a. die H+-Ausscheidung (Titrationsazidität und NH4+-Ausscheidung), weil der Harn im Sammelrohr nicht mehr ausreichend angesäuert werden kann (S. 366 bzw. 369). Zusätzlich beteiligt sich die Lunge daran, die pHAbweichung zu begrenzen (respiratorische oder pulmonale Kompensation). Der verminderte pH-Wert wird nämlich von den Atemzentren mit vermehrter alveolärer Ventilation beantwortet (S. 297), so dass der arterielle PCO sinkt. Zwar sinkt hierdurch die aktuelle HCO3–-Konzentration entlang der CO2-Äquilibrierungslinie noch weiter ab (Abb. 11.11), doch wird damit ein zu starkes Absinken des pH-Wertes verhindert (Abb. 11.12). Bei nichtrespiratorischer Alkalose ist alles gerade umgekehrt: die Niere scheidet gegenregulatorisch HCO3– aus (S. 318); solange der pH-Wert noch zu hoch ist, wird die Atmung gehemmt (alveoläre Hypoventilation), der PCO steigt an, mit ihm die aktuelle HCO3–-Konzentration, und die pH-Abweichung wird begrenzt (respiratorische Kompensation; Abb. 11.11, 11.12). 2

2

Gegenregulation und Kompensation bei respiratorischen Störungen Bei der primär respiratorischen Azidose, bei der der PCO (und die aktuelle, nicht aber die Standard-HCO3–-Konzentration) erhöht sind, kommt es zur Stimulation der Atmung (S. 297), und die erhöhte alveoläre Ventilation wirkt der primären Störung entgegen. Ist diese gegenregulatorische Anpassung nicht möglich, z. B. bei verlegten Atemwegen oder Lungenfunktionsstörungen, so scheidet die Niere vermehrt H+- und NH4+-Ionen aus und hilft damit, den pH-Wert zu normalisieren (renale Kompensation). Bei der respiratorischen Alkalose ist alles umgekehrt: Gegenregulatorisch vermindert sich die alveoläre Ventilation (limitiert, da sonst Hypoxiegefahr), und die Niere kompensiert die pH-Erhöhung durch Ausscheidung von HCO3– (Abb. 11.11, 11.12).

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2

11.9 Säure-Basen-Status des gesamten Organismus primäre Abweichung des pH

Restabweichung des pH

renal

21 1,25

< 20 Azidose

re s

1,25 p ir

a to

r is

24

1,25

» 20 kompensiert

» 20 kompensiert

26

ch

respiratorisch

–

pH = pK’ + log

[HCO3 ] [CO2 ]

Azidose

Alkalose nichtrespiratorisch

15 1

nichtrespiratorisch

CO2

–

HCO3

1 1

< 20 Azidose

20

> 20 Alkalose

–

[HCO3 ] = 20 [CO2 ]

respiratorisch

re s

p ir

a to

ris

24

ch

renal

14

0,75

» 20 kompensiert

0,75

0,75 » 20 kompensiert

Abb.11.12 Azidosen und Alkalosen als Imbalance zwischen [HCO3–] und [CO2] und deren Kompensation. Die Anzahl der Kugeln rechts auf der Waage entspricht der HCO3–-Konzentration, die der Kugeln links auf der Waage der CO2-Konzentration. Durchgezogene Pfeile kennzeichnen die primären Störungen, gestrichelte Pfeile deren (Teil-)Kompensation. In der Mitte sind normale Verhältnisse dargestellt. Bei der nichtrespiratorischen Störung ist primär nur die [HCO3–]

Endgültige Normalisierung Man beachte also, dass die durch primär nichtrespiratorische Störungen bewirkte Veränderung der HCO3–Konzentration durch die respiratorischen (pulmonalen) Kompensationsmechanismen noch weiter verändert wird. Auch respiratorische Störungen werden dadurch kompensiert, dass die primär normale Standard-[HCO3–] verändert wird (Abb. 11.11). Die Kompensation zielt also auf die pH-Homöostase ab, nicht auf die Konstanterhaltung der normalen CO2- und HCO3–-Konzentration. Eine endgültige Normalisierung ist erst dann erreicht, wenn auch PCO und [HCO3–] ihre Normwerte wiedererlangt haben. 2

16

> 20 Alkalose

19

verändert, bei der primär respiratorischen Störung ist neben [CO2] aufgrund der Pufferung (durch Nichtbicarbonatpuffer) auch die aktuelle [HCO3–] verändert (entlang der CO2-Äquilibrierungslinie des log PCO /pH-Diagramms, Abb.11.9). Ziel der Kompensation ist es, die Balance durch weitgehende Herstellung des normalen [HCO3–]/[CO2]-Verhältnisses wiederherzustellen. Es bleibt jedoch stets eine Restabweichung des pH. 2

11.9

Säure-Basen-Status des gesamten Organismus

Aus der Diagnostik im Blut können nur bedingt quantitative Rückschlüsse auf Ort und Ausmaß einer Störung des Säure-Basen-Gleichgewichts im Organismus gezogen werden, da Austauschvorgänge zwischen Blut und übrigem Körper den Status im Blut beeinflussen. Streng genommen werden bei primären Störungen, respiratorischen und nichtrespiratorischen, die geschilderten Veränderungen im Blut nur dann beobachtet, wenn Blut in vitro diesen Störungen unterworfen wird. Treten die Störungen hingegen in vivo auf, so kommt es zu Austauschvorgängen zwischen Blut und den übrigen Räumen (Interstitium, Intrazellularraum), die insbesondere die HCO3–-Konzentration des Plasmas verändern. Bei einer respiratorischen Azidose ist der PCO in allen Körperflüssigkeiten erhöht, doch ist der Anstieg der HCO3–-Konzentration je nach dem Nichtbicarbonatpuf2

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323

324

11 Säure-Basen-Gleichgewicht ferwert (βNB) der einzelnen Kompartimente unterschiedlich stark ausgeprägt (Gl. 11.8, S. 316). Da βNB im Interstitium besonders niedrig ist, fällt der Bicarbonatanstieg dort gering aus, und ein Teil des im Blut gebildeten HCO3– verlässt das Blut ins Interstitium. Bei der Analyse einer Blutprobe scheint daher ein negativer BE vorzuliegen (HCO3–-Verminderung wie bei nichtrespiratorischer Azidose). Bei nichtrespiratorischen Veränderungen sind die Änderungen der Pufferbasen und damit die BE-Werte in den einzelnen Kompartimenten unterschiedlich, so dass aus dem im Blut gemessenen Wert des BE nicht einfach auf einen BE des gesamten Organismus geschlossen werden darf. Als Faustregel für den Basenbedarf des Organismus bei einer nichtrespiratorischen Azidose, bei der im Blut ein Basendefizit (BE negativ) festgestellt wurde, gilt die folgende Formel (5): Basenbedarf (mmol) = BE (mmol · l–1) · 0,3 · Körpergewicht (kg) Jedoch sind derartige, rein empirische Formeln mit Vorsicht anzuwenden, da sie die Gefahr einer iatrogenen Überkompensation beinhalten. Insgesamt liegt die große Bedeutung der Analyse des Blutes darin, dass sie Störungen im Säure-Basen-Gleichgewicht zu erkennen gestattet, dass sie differenzialdiagnostische Kriterien liefert und dass sie den Erfolg der Therapie zu überwachen erlaubt.

Zum Weiterlesen … 1 Davenport HW. Säure-Basen-Regulation, 2. Aufl. Stuttgart: Thieme; 1979 2 Halperin ML, Goldstein MB, Stinebaugh BJ, Jungas RL. Biochemistry and physiology of ammonium excretion. In: Seldin DW, Giebisch G. The Kidney. Physiology and Pathophysiology, Vol. 2. New York: Raven Press; 1985: 1471 – 1490 3 Heisler N. Buffering and transmembrane ion transfer processes. In: Heisler N. Acid-base Regulation in Animals. Amsterdam: Elsevier; 1986: 3 – 47 4 Jones NL. Blood Gases and Acid-base Physiology. 2nd ed. Stuttgart: Thieme; 1987 5 Müller-Plathe O. Säure-Basen-Haushalt und Blutgase. Pathobiochemie, Klinik, Methodik. 2. Aufl. Stuttgart: Thieme; 1982 6 Palmer BF, Alpern RJ. Metabolic alkalosis. J Am Soc Nephrol. 1997; 8: 1462 – 1469 7 Piiper J. Physiologie der Atmung. In: Gauer OH, Kramer K, Jung R. Physiologie des Menschen. Bd. 6 (2): Atmung. München: Urban & Schwarzenberg; 1975 8 Siggaard-Andersen O. The Acid-base Status of the Blood. Copenhagen: Munksgaard; 1974 9 Silbernagl S, Scheller D. Formation and excretion of NH3 Ð NH4+. New aspects of an old problem. Klin Wschr. 1986; 64: 862 – 870

… und noch weiter 10 Fencl V, Leith DE. Stewart’s quantitative acid-base chemistry: Applications in biology and medicine. Respir Physiol. 1993; 91: 1 – 16 11 Jennings DB. Breathing for protein function and [H+] homeostasis. Respir Physiol. 1993; 93: 1 – 12

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Die Funktion der Nieren S. Silbernagl

12.1 Ein Überblick

· · · 326 Was passiert, wenn die Nieren versagen? · · · 326 Ein kurzer Blick auf die Anatomie · · · 327 Wie entsteht der Harn? ··· 327 Woher weiß man, was in der Niere vorgeht? · · · 328

12.2 Menge ist Volumen mal Konzentration: die Clearance · ·· 329 12.3 Die Nierendurchblutung

· · · 331 Das Wundernetz · · · 331 Die Nierenrinde ist stark durchblutet ··· 332 Durchblutungsmessung mit PAH · · · 333 Blutdruckabfall entlang der Nierengefäße · · · 333 Autoregulation im Dienst von Filtration und Salzausscheidung · · · 334

12.4 Die Filtration des Primärharns · · · 336 Kapillarendothel, Basalmembran und Fußfortsätze bilden das Filter · ·· 336 Ohne Druck kein Filtrat ··· 337 Das Filter als Barriere für Makromoleküle und Erythrozyten · ·· 339

12.5 Aktive Na+-Resorption und die Folgen

· · · 339 Proximaler Tubulus: Massentransport durch nicht ganz dichte Wände · ·· 340 Die erste Phase der proximalen Resorption: Na+-Symport und Na+-Antiport · ·· 341 Die zweite Phase der proximalen Resorption: Chlorid, Natrium und andere Kationen · ·· 343 Konzentrierung schafft Triebkräfte für passive Resorption · · · 344 Die Kapillarwand als letzte Hürde der Resorption ··· 344 Resorption in der Henle-Schleife ··· 345 Distal wird über die Na+-Ausscheidung entschieden · · · 347

12.7 Tubulärer Transport organischer Stoffe

···

355

Carrier lassen sich sättigen und sind spezifisch: Glucose und Aminosäuren · ·· 355 Peptide werden gespalten und ungespalten resorbiert ··· 358 Eiweiß im Urin? · · · 358 Proximale Sekretion als Ausscheidungsmechanismus · ·· 359 Harnsäure ist harnpflichtig · · · 361

12.8 Phosphat-, Ca2+- und Mg2+-Ausscheidung

· · · 361 Phosphat-Resorption im proximalen Tubulus · · · 361 Ca2+ und Mg2+ werden überwiegend parazellulär resorbiert ··· 361 Kristalle und Steine im Harn, ein Löslichkeitsproblem · ·· 363

12.9 Die Niere im Dienst des Säure-Basen-Haushalts ··· 365 H+-Sekretion, proximal und distal · · · 365 Ohne H+-Sekretion keine HCO3–-Resorption ··· 366 Phosphat als Harnpuffer: titrierbare Säure · ·· 367 Die verschlungenen Wege des Ammoniaks ··· 368

12.10 Renin und Nierenhormone 12.11 Nierenstoffwechsel

···

···

369

370

12.12 Nierenversagen und künstliche Niere

· · · 372 Nierenversagen, akut und chronisch · ·· 372 Was ist und was kann die künstliche Niere? · ·· 373

12.6 Harnkonzentrierung und Diurese

··· 349 Der Gegenstromtrick ··· 349 Der Motor im dicken Schleifenende · · · 350 Recycling von Harnstoff spart Kochsalz · · · 350 Konzentriert wird im Sammelrohr ··· 352 Diurese und Diuretika ··· 352 Die Flexibilität der Kaliumausscheidung · ·· 354

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12 Die Funktion der Nieren

12.1

Ein Überblick

Wenn etwas „an die Nieren geht“, wird es ernst, ja bedrohlich. Noch vor wenigen Jahrzehnten war ein völliges Versagen der Nieren gleichbedeutend mit einem Todesurteil. Glücklicherweise können heute maschinelle Dialyse („künstliche Niere“), Peritonealdialyse oder die Transplantation einer Niere das Schicksal solcher Patienten fast immer zum Besseren wenden (S. 373 f.). Festzuhalten ist jedoch: Unsere Nieren haben offenbar lebensnotwendige Aufgaben. Welche sind das?

Was passiert, wenn die Nieren versagen? Die meisten Aufgaben der Nieren (Tab. 12.1) lassen sich an den Folgen einer Niereninsuffizienz (S. 372 f.) ablesen. Bei solchen Patienten kommt es zur Ansammlung (Retention) von Harnstoff, Kreatinin, Harnsäure, Ammoniumionen, Polyaminen und anderen Stoffwechsel-Endprodukten im Organismus. Ohne Urinausscheidung können solche Substanzen den Körper offenbar nicht verlassen; man spricht daher von harnpflichtigen Substanzen, für die die Nieren also die entscheidende Entsorgungsfunktion haben. Ein Nierenversagen ist weiterhin von einer Entgleisung des Elektrolyt- und Wasserhaushalts begleitet, insbesondere wenn die Zufuhr von Wasser und Salzen nicht strikt reglementiert wird. Bei hoher Kochsalzzufuhr etwa vergrößert sich der Extrazellulärraum durch die Einlagerung großer Wassermengen, d. h., es kommt zu Ödemen (vor allem in der Lunge). Bei starker Kaliumbelastung entwickelt sich rasch eine bedrohliche Hyperkaliämie, und Ähnliches gilt für Magnesium und Phosphat. Je nach Bedarf des Körpers regulieren die Nieren also den Wasser- und Elektrolythaushalt. In dieser, großteils hormongesteuerten Bilanzierungsfunktion sind sie z. B. für die Größe des Extrazellulärvolumens, für die Sicherung des SäureBasen-Gleichgewichts, für die Konstanz der Osmolalität im Plasma und für die Homöostase des extrazellulären Ionenmilieus verantwortlich (Kap. 1, 11 und 13).

Tabelle 12.1

Nierenpatienten leiden oft an einer Erhöhung des arteriellen Blutdrucks (Hypertonie), d. h., die Nierenfunktion hat auch etwas mit der Einstellung des arteriellen Blutdrucks zu tun. Daran beteiligt ist das Renin, das die Bildung des vasoaktiven Angiotensins II und in der Folge auch die Ausschüttung von Aldosteron auslöst (S. 369 und Kap. 13). Eine Niereninsuffizienz geht weiterhin mit einem Mangel an bestimmten Hormonen einher, so etwa von Erythropoietin, was schließlich zu einer Anämie führt (S. 227), oder von Calcitriol, so dass solche Patienten von einer Hypokalzämie und, als Reaktion darauf, von einem sekundären Hyperparathyreoidismus bedroht sind (S. 370 u. Abb. 13.27, S. 403). Die Nieren sind also ein wichtiger Produktionsort für Hormone. Andererseits erhöht sich bei Niereninsuffizienz die Konzentration extrarenal gebildeter Hormone, was z. T. darauf beruht, dass die Niere Abbauort von Peptidhormonen ist (S. 358 f.).

Niere Kelche Nierenbecken Ureter

Aufgaben der Niere

– Ausscheidung harnpflichtiger Substanzen, z. B. Harnstoff, Harnsäure, Kreatinin – Homöostase: Na+ [EZV], K+, Ca2+, Mg2+, Phosphat, H+, HCO3– u. a. – Langfristige Blutdruckregulation – Metabolismus: Proteine, Peptidhormone, Gluconeogenese, Toxine u. a. – Hormonbildung: Calcitriol, Erythropoietin; Renin (Enzym) → Angiotensin – Hormonwirkungen: Antidiuretisches Hormon (ADH), Aldosteron, Adrenalin, Atriopeptin (ANF), Calcitriol, Parathyrin (PTH), Prostaglandine u. a.

Harnblase

Abb.12.1 Harnwege. Sie werden in einem Urogramm dadurch sichtbar gemacht, dass dem Patienten eine röntgendichte (meist jodhaltige) Substanz injiziert wird, die die Nieren durch tubuläre Sekretion (S. 359 f.) rasch ausscheiden. Der Harn wird von den Nierenkelchen aufgefangen und gelangt über Nierenbecken und Ureter zur Harnblase. Der Harnabfluss wird durch die Peristaltik des Ureters gefördert; sie ist beim linken Ureter (rechts im Bild) als Konturunterbrechung erkennbar (Röntgenbild: G. Schindler).

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12.1 Ein Überblick

Nierenrinde

Schließlich haben die Nieren weitere wichtige Aufgaben im Zwischenstoffwechsel des Gesamtorganismus. Gluconeogenese (aus Glutamin u. a.) und Argininsynthese (aus Citrullin) sind zwei Beispiele dafür (S. 370 f.).

Ein kurzer Blick auf die Anatomie Nierenmark

A. renalis

Kelch

V. renalis Nierenbecken

Ureter

Abb.12.2 Bau der Niere. Die Rückseite der rechten Niere ist hier abgetragen, um die Schichten des Nierenparenchyms (Nierenrinde und -mark) sowie das Kelchsystem und das Nierenbecken sichtbar zu machen. Die gesamte Niere ist von einer widerstandsfähigen Kapsel umgeben.

Glomeruli

BowmanKapsel-Raum

peritubuläre Kapillaren

Um zu beantworten, wie die Nieren ihre Aufgaben bewältigen, müssen wir uns kurz mit dem Bau dieses paarigen Organs beschäftigen (Abb. 12.1 u.12.2). Jede Niere hat einen arteriellen Zufluss (A. renalis), einen venösen Abfluss (V. renalis), Lymphgefäße und einen Harnleiter (Ureter), in dem der in der Niere gebildete Urin kontinuierlich abfließt. Über den linken und rechten Ureter gelangt der Urin in die Harnblase, sammelt sich dort an, um schließlich von Zeit zu Zeit über die Harnröhre (Urethra) ausgeschieden zu werden (Miktion; Steuerung Kap. 27). Im histologischen Schnitt unter dem Mikroskop (Abb. 12.3) sieht man in der oberflächennahen Nierenrinde (Kortex) ein Gewirr von Kanälchen, die Tubuli, und dazwischen ab und zu ein rundes Nierenkörperchen, in das ein Knäuel von Blutkapillaren, der Glomerulus, eingestülpt ist. Der Glomerulus samt dort entspringendem Tubulus wird Nephron genannt. Jede Niere besitzt mehr als 1 Million solcher Nephrone.

Wie entsteht der Harn? Diese Frage hat der deutsche Physiologe Carl Ludwig (Abb. 12.4) in der Mitte des vorigen Jahrhunderts erstmals richtig beantwortet (44). Er postulierte, dass der Harn primär durch Filtration in den Glomeruli entsteht, wobei es der Blutdruck in den glomerulären Kapillaren sei, der den Primärharn aus diesen abpresst. Danach entspräche der dabei gebildete Primärharn (Ultrafiltrat) in seiner Zusammensetzung weitgehend dem Plasmawasser. Der endgültige Urin ist allerdings ganz anders zusam-

größeres Blutgefäß proximaler Tubulus (Pars convoluta)

Abb.12.3 Feinbau der Niere. In diesem Schnitt durch die Nierenrinde sind drei Glomeruli (Durchmesser ca. 0,2 mm) sichtbar, um die sich die Konvolute proximaler und distaler Tubuli knäueln (s. auch Abb.12.10, S. 332; histologischer Schnitt: U. Pfeifer). Dazwischen verlaufen die peritubulären Kapillaren. Ein Teil dieser Strukturen ist zur Verdeutlichung dunkelgrau hervorgehoben.

Abb.12.4 Carl F. Ludwig (1816 – 1895; Physiologe in Marburg, Zürich, Wien und Leipzig) stellte 1842 erstmals die Hypothese auf (44), dass der Harn durch Ultrafiltration am Glomerulus entsteht und anschließend durch tubuläre Resorption modifiziert wird (Lithographie von M. Brödel nach einer Zeichnung von Ludwig Knaus, 1867).

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327

12 Die Funktion der Nieren Glomerulus

1,0 »

geregelte Ausscheidung

1,5

= fraktionelle Ausscheidung (FE) 0

Abb.12.5 Filtriert wird (fast) alles; über die Ausscheidung entscheiden Tubulus und Sammelrohr. Wird weder resorbiert noch sezerniert, was z. B. (mit kleinen Einschränkungen) für Kreatinin zutrifft, so gilt: filtrierte Menge/Zeit = ausgeschiedene Menge/Zeit, d. h., die fraktionelle Ausscheidung (FE) beträgt 1,0 oder 100%. Harnstoff wird teilweise

mengesetzt. Das erklärte Ludwig damit, dass die Stoffe, die im Endurin fehlen, entlang des Tubulusrohres resorbiert werden, d. h. vom Tubuluslumen in die peritubularen Kapillaren und damit wieder zurück ins Blut gelangen. Er machte dafür Diffusionsvorgänge verantwortlich, doch wissen wir heute, dass dies nur teilweise richtig ist und eine Reihe von Stoffen mittels aktiver Transportmechanismen (S. 28 f.) aus dem Tubuluslumen entfernt wird. Bleibt noch zu erklären, warum die Menge einiger Stoffe im Endurin größer ist als die im glomerulären Filtrat: Tubuluszellen resorbieren nicht nur, sondern sie können zusätzlich bestimmte Stoffe in der Gegenrichtung aktiv sezernieren, d. h. aus dem peritubulären Blut ins Tubuluslumen schaffen. Damit ergibt sich folgendes Bild: Sieht man von Makromolekülen ab, enthält das Glomerulusfiltrat alle im Plasma gelösten Stoffe, und zwar in praktisch der gleichen Konzentration.* Da die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) beider Nieren rund 180 l pro Tag beträgt (Tab. 12.2, S. 333), filtrieren unsere Nieren die im Filtrat gelösten Stoffe in riesigen Mengen. (Die filtrierte Menge/Zeit errechnet sich aus der jeweiligen Plasma(-Wasser)-Kon*

Wegen des Gibbs-Donnan-Potenzials von ca. 1,5 mV (Blutseite negativ), das durch die ungleiche Verteilung der zumeist anionischen Proteine am glomerulären Filter entsteht, enthält das Filtrat im Vergleich zum Plasma eine um ca. 5 % höhere Konzentration an filtrierbaren Anionen (z. B. Cl–, HCO3–) und eine um ca. 5 % niedrigere Konzentration an filtrierbaren Kationen (z. B. Na+, K+).

Kreatinin 1,0

ausgeschiedene Menge/Zeit

0,5

Glucose » 0

Ausscheidung

Harnstoff 0,4

keine Ausscheidung

p-Aminohippurat 5,0

hohe Ausscheidung

2,0

1,0

glomerulär filtrierte Menge/Zeit

20 mmol/d

+

Sammelrohr

1.000 mmol/d

extrem hohe Ausscheidung

K 0,03 – 1,5

Sekretion

800 mmol/d

4,5

+

geregelte Resorption

26.000 mmol/d

Na 0,002 – 0,07

Resorption

180 l/d

5,0

Tubulus

geregelte Sekretion

800 mmol/d

Wasser 0,003 – 0,1

Filtration

fraktionelle Ausscheidung (FE)

328

resorbiert (FE = ca. 0,4; s. auch Legende zu Abb.12.27), Glucose praktisch vollständig (FE = 0,0005) und Wasser, Na+, K+ und andere nach Bedarf (Regelung u. a. durch Hormone). Durch tubuläre Sekretion kann die FE auf über 1 steigen, im Extremfall (Hippurat, p-Aminohippurat) sogar auf etwa 5.

zentration mal GFR; s. u.) Für Na+ z. B. sind das täglich etwa 26 000 mmol, für Glucose und Harnstoff rund 800 bzw. 1000 mmol! Davon erscheinen allerdings ganz unterschiedliche Anteile im Endurin (fraktionelle Ausscheidung = fraktionelle Exkretion, FE, Abb. 12.5). Mit dieser Kombination von immens hoher Filtrationsrate und mehr oder minder stark ausgeprägter Resorption sind alle Anforderungen an die Niere erfüllt: „Harnpflichtige“ Stoffwechsel-Endprodukte wie Kreatinin, Sulfat und Harnstoff können den Körper in großen Mengen verlassen, während die Ausscheidung von Wasser und Elektrolyten je nach Bedarf in einem weiten Ausmaß variiert werden kann. Für Stoffe, die entlang des Tubulus zusätzlich sezerniert werden (z. B. Hippurat), bietet das hohe Filtrat zudem ein großes Lösungsvolumen, was ihrer raschen Ausscheidung im Urin zugute kommt (Abb. 12.5).

Woher weiß man, was in der Niere vorgeht? Unzugänglich, wie das Innere der Niere ist, war man bei ihrer Erforschung bis ins 17. Jahrhundert auf die Untersuchung des Urins angewiesen. Ihr Ergebnis bildete dann zusammen mit histologischen Erkenntnissen in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Grundlage, eine fundierte Hypothese über die intrarenale Urinbildung aufzustellen (44). Erst im 20. Jahrhundert wurden moderne Untersuchungstechniken entwickelt, die ein besseres Verständnis der Nierenfunktion ermöglichten. So wurde um 1930 mit der Clearancemessung eine noch heute benützte Methode zur quantitativen Erfassung dessen entwickelt, was die ganze Niere leistet. Die ersten Versuche zu erfahren, was in dieser Black

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12.2 Menge ist Volumen mal Konzentration: die Clearance

Nierenoberfläche

und Mikroperfusion (75) einzelner Nierentubuli der Ratte in vivo (Abb. 12.6) brachten dann eine Fülle neuer Erkenntnisse über die Niere und zeigten andererseits, wie heterogen die Tubulusabschnitte arbeiten. Später wurden isolierte Tubuli in vitro perfundiert, die Bürstensaum- und Basolateralmembranen in Form von Vesikeln isoliert und getrennt untersucht sowie Nierenzellen in Kultur gezüchtet (Abb. 1.4, S. 7). Es gelang auch, die durch einzelne Membrankanäle fließenden Ionenströme mit der Patchclamp-Methode zu messen (Abb. 2.8 u. 2.9, S. 26 f.), für deren Entwicklung 1991 der Nobelpreis für Physiologie an E. Neher und B. Sakmann verliehen wurde. Schließlich konnten kürzlich Kanalund Carriermoleküle isoliert und deren molekulare Struktur bestimmt werden. Das Wissen über tubuläre, zelluläre, subzelluläre und molekulare Mechanismen der Nierenfunktion wuchs dadurch in den letzten Jahrzehnten immens, doch sind integrative Leistungen der Niere wie z. B. die Blutdruckregulation nach wie vor nur am intakten Organ im lebenden Tier zu untersuchen. Moderne, empfindliche und gleichzeitig schonende Messmethoden haben auch hier große Fortschritte gebracht (z. B. 23, 24, 38). Leider ist in einem solchen Lehrbuch kein Platz, die Geschichte und die Methoden der Nierenforschung ausführlicher zu schildern, so dass dem interessierten Leser dafür die spannende Schilderung der Historie (7) und die methodischen Kapitel in ausführlicheren Werken (9,11, 13) empfohlen werden.

1 Glaskapillare

Öl

Glomerulus

2

Tubulus 3

Nierenrinde

12.2 peritubuläres Kapillarnetz

4

Abb.12.6 Die Mikropunktion einzelner Nierentubuli (beim narkotisierten Versuchstier, meist bei der Ratte; s. Foto) erlaubt es, die Funktion des einzelnen Tubulus in vivo in der intakten Niere zu untersuchen. Unter dem Mikroskop wird mit feinen Glaskapillaren (Kapillare Nr. 1 – 4 im Bild, Spitzendurchmesser ca. 10 µm) in oberflächliche Tubuli eingestochen. (Das Foto zeigt die Aufsicht auf die Nierenoberfläche.) Eine in Kapillare 1 gesammelte Probe z. B. gibt, verglichen mit dem Plasma, Aufschluss darüber, wie sich die Zusammensetzung des Primärharns zwischen Glomerulus und Punktionsstelle geändert hat (z. B. Abb.12.19/1, 12.21, 12.22, 12.27, 12.32 und 12.36). Kapillare 2 ist mit einer Mikroperfusionspumpe verbunden (75). Damit kann dem Tubulus eine Flüssigkeit angeboten werden, die eine vorgewählte Zusammensetzung hat und deren Veränderung nach der Tubuluspassage (Probe wird in Kapillare 3 gesammelt) analysiert wird (z. B. Konzentrationsabfall eines Stoffes im Vergleich zu mitperfundiertem Inulin = Resorption dieses Stoffes). Ein stromaufwärts der Kapillare 2 injizierter Ölblock (im Foto schwarz) verhindert dabei die Vermischung mit dem natürlichen Tubulusharn. Mit Kapillare 4 kann schließlich auch das peritubuläre Kapillarnetz durchströmt werden, so dass z. B. die Sekretion eines Stoffes vom Blut ins Tubuluslumen verfolgt werden kann.

Box vor sich geht, wurden bereits in den 20er Jahren gemacht, als am Frosch das erste Mal einzelne Nierentubuli punktiert wurden (55). Dass diese Methode erst 40 Jahre später wirkliche Früchte brachte, lag daran, dass dazu Ultramikromethoden entwickelt werden mussten, mit denen man in den winzigen Harnproben von einigen Nanolitern (10– 9 l!) Stoffe wie Na+, Glucose, Inulin usw. quantitativ messen konnte. Mikropunktion, Mikroinfusion

Menge ist Volumen mal Konzentration: die Clearance

Für die inerte Substanz Inulin ist die Tubuluswand dicht, so dass die filtrierte Inulinmenge gleich der ausgeschiedenen Menge ist. Aus dieser Bilanz folgt: GFR = Inulin˙ U · U/P (ml/min). Da die endogene KreatiClearance = V nin-Clearance ≈ GFR, ist die Kreatininplasmakonzentration theoretisch ein reziprokes Maß für die GFR, hat aber praktisch nur eine beschränkte Aussagekraft. Die Clearance (C) kann für jeden frei filtrierten Stoff (X) bestimmt werden. Ist CX/GFR < 1, wird der Stoff nettoresorbiert (z. B. Na+, Glucose), gilt CX/GFR > 1, wird er nettosezerniert (z. B. PAH). Der Quotient CX/GFR ist identisch mit der fraktionellen Ausscheidung (FE). Die fraktionelle Resorption = 1 – FE. Nach dem im vorigen Abschnitt Gesagten ist eine ausreichend hohe glomeruläre Filtrationsrate (GFR) für eine normale Nierenfunktion entscheidend. Normalerweise beträgt die GFR 85 – 135 ml/ min pro 1,73 m2 Körperoberfläche. Viele Nierenerkrankungen werden vor allem deshalb gefährlich, weil in ihrem Verlauf die GFR auf zu geringe Werte abzusinken droht (S. 372). Die GFR-Bestimmung steht daher im Zentrum, wenn die Nierenfunktion beurteilt werden soll. Wie aber lässt sich die intrarenal ablaufende Filtration beim Patienten von außen messen? Nach einem von Adolf Fick eingeführten Prinzip kann aus der Mengenbilanz eines Indikators, dessen Konzentrationen an den Ein- und Ausgängen des jeweiligen Organs gemessen werden, auf die Flussraten der Medien geschlossen werden, in denen der Indikator gelöst ist (Abb. 12.7). Was heißt das im Fall der Niere? Prinzipiell sind es drei Arten, auf die sich die Menge einer Substanz im Tubuluslumen erhöhen kann, nämlich durch Filtration, Sekretion und metabolische Bildung, sowie drei Wege, auf denen die Menge im Lumen verringert werden kann, nämlich Resorption, Ausscheidung (Exkretion)

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329

12 Die Funktion der Nieren

H2O

filtrierte Inulinmenge Zeit

= ausgeschiedene Inulinmenge Zeit

Inulinkonzentration im Plasma

GFR

×

GFR

Pin

=

=

V×U Uin

×

× VU Uin

×

Pin

Kreatininkonzentration im Plasma (mg/dl)

H2O

keine Sekretion, keine Resorption

9

800 untere Normgrenze für die GFR

8

700

7

600

6

500

5 400 4 obere Normgrenze für Kreatininkonzentration

3

300 200

2

Kreatininkonzentration im Plasma (µmol/l)

Adolf Fick

Inulin

Inulinkonzentration steigt wegen H2O-Resorption

330

100

1

„blinder“ Bereich 0

0

20

40

60

80

100

120

140

0 180

160 2

Inulin-Clearance = GFR (ml/min pro 1,73 m )

Inulinkonzentration im Endurin

Endurin

Urinzeitvolumen

Abb.12.7 Inulin-Clearance = glomeruläre Filtrationsrate (GFR), da Inulin frei filtriert, aber weder resorbiert noch sezerniert wird. Die GFR errechnet sich aus einer Mengenbilanz, wie sie Adolf Fick (1829 – 1901, Physiologe in Marburg, Zürich und Würzburg) 1872 erstmalig für die unblutige Bestimmung des Herzzeitvolumens angewandt hat (Fick’sches Prinzip). Die normale GFR beträgt ca. 85 – 135, durchschnittlich rund 125 ml/min pro 1,73 m2 Körperoberfläche (nach 67).

und metabolischer Abbau. Kreist nun im Blut ein Stoff, z. B. das Polysaccharid Inulin, der – frei filtriert, – nicht resorbiert, – nicht sezerniert und – weder im Tubuluslumen gebildet noch abgebaut wird, so kann er nur durch Filtration ins Tubuluslumen gelangen und aus diesem nur durch Ausscheidung mit dem Urin wieder verschwinden. Es muss also gelten: filtrierte Inulin-Menge/Zeit = ausgeschiedene Inulin-Menge/Zeit

(12.1)

Da Menge/Zeit = (Volumen/Zeit) mal Konzentration und außerdem die Konzentrationen eines frei filtrierbaren Stoffes wie Inulin in Plasma und Filtrat praktisch gleich groß sind (PIn [g/l]), lautet Gleichung 12.1 nun: GFR · PIn = V˙u · UIn

(12.2)

wobei GFR in ml/min, V˙u = Urinzeitvolumen (ml/min) und UIn = Inulinkonzentration im Endurin (g/l) ist. Praktisch infundiert man dazu Inulin und misst anschließend (z. B. photometrisch) seine Konzentrationen in Plasma und Urin. Für die Bestimmung von V˙u wird initial die Harnblase geleert (und dieser Harn verworfen: Volumen = 0, Zeit = 0) und anschließend möglichst lange (12 – 24 Stunden) der Urin gesammelt. Aus dem gesammelten Urinvolumen geteilt durch den Zeitabstand zur initialen

Abb.12.8 Die Kreatininkonzentration im Plasma (PKr) ist ein einfacher, aber nur relativ ungenauer Indikator für die GFR. Bei konstanter Kreatininbildung (in den Muskeln) ist PKr theoretisch umgekehrt proportional der GFR. Allerdings streuen die Einzelwerte um diese hyperbolische Funktion so stark, dass die obere Normgrenze von PKr (waagrechte, gestrichelte Linie) im Durchschnitt erst bei einer GFREinschränkung auf 40 – 50% und im Einzelfall sogar erst bei 20% überschritten wird. Ein Absinken der GFR unter ihre untere Normgrenze (senkrechte gestrichelte Linie) wird also bei allen Patienten nicht erkannt, deren PKr-Werte im linken unteren Quadranten liegen: „blinder“ Bereich (nach 43).

Blasenentleerung ergibt sich V˙u. Mit dieser Anwendung des Fick’schen Prinzips lässt sich so erstaunlicherweise die auf direktem Wege praktisch unbestimmbare Größe GFR aus der umgeformten Gleichung 12.2 berechnen: GFR = V˙u · UIn/PIn

(12.3)

Man nennt die rechte Seite der Gleichung 12.3 auch Clearance, so dass festzustellen ist: Inulin-Clearance = GFR. Da die Infusion von Inulin ein relativ aufwendiges Verfahren ist, wird die Inulin-Clearance nur ausnahmsweise bestimmt. Einfacher ist die GFR-Messung mit einem Indikator, der normalerweise schon im Plasma vorhanden ist, dem Kreatinin; es entsteht im Muskelstoffwechsel aus Phosphokreatin. Endogenes Kreatinin erfüllt die oben genannten Kriterien (vor allem die der Nichtsekretion) nicht so streng wie Inulin, doch ist die endogene Kreatinin-Clearance für die Routineüberprüfung der renalen Filtrationsleistung völlig ausreichend. Angenommen, die Kreatininproduktion im Körper ist konstant (was außer nach starker Muskeltätigkeit meist der Fall ist), so steigt die Kreatininkonzentration im Plasma (PKr) bei einer abfallenden GFR so lange an, bis die filtrierte (Menge/Zeit) (GFR · PKr) wieder der der produzierten Menge/Zeit gleicht. Je niedriger die GFR, desto höher steigt also PKr . Kann

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12.3 Die Nierendurchblutung man sich also die Clearancebestimmung sparen und schon allein aus der PKr eines Patienten auf die Höhe seiner GFR schließen? Wie Abb. 12.8 zeigt, geht dies leider nur ungenau, es sei denn, die GFR ist schon auf etwa ein Viertel ihrer normalen Größe abgesunken. Einen größeren Aussagewert hat die (einfach zu messende) PKr allerdings dann, wenn bei ein und demselben Patienten der Verlauf seiner Nierenfunktion in engen Zeitabständen verfolgt werden soll.

12.3

ungesättigt 0

p-Aminohippurat-Konzentration im Plasma (mmol/l) 2

4

6

8

10

700 5

4

500

p-Aminohippurat (PAH) 400

3

300 2 200

Inulin

fraktionelle Ausscheidung

600

Clearance (ml/min)

1

100

Glucose 0

0

ungesättigt

Auch für einen x-beliebigen Stoff im Filtrat lässt sich eine Clearance (Cx) bestimmen, wobei jede renale Clearance formal das bei der Nierenpassage vom Stoff X völlig befreite oder „geklärte“ Plasmavolumen/Zeit ist (daher der Name Clearance). Anschaulicher ist wohl der Clearancequotient (CX/CIn). Er ist identisch mit der Fraktion der filtrierten Stoffmenge/Zeit, die ausgeschieden wird. Man nennt ihn daher auch fraktionelle Ausscheidung oder fraktionelle Exkretion, kurz FE. Bei Inulin und Kreatinin wird die gesamte filtrierte Menge ausgeschieden: FE = 1. Ist FE < 1, wird der betreffende Stoff entlang des Tubulus und des Sammelrohrs nettoresorbiert. (Eine solche Netto- oder Per-saldo-Resorption kann u. U. auch das Ergebnis einer Resorption in einem Tubulusabschnitt und einer im Vergleich dazu geringeren Sekretion in einem anderen Tubulusabschnitt sein; s. u.) Der Teil der filtrierten Menge/Zeit, der wieder resorbiert wird, heißt fraktionelle Resorption; sie errechnet sich aus 1 – FE (Abb. 12.5, S. 328). Für bestimmte Substanzen wird eine FE > 1 gefunden. Wenn ein solcher Stoff nicht im Tubuluslumen gebildet wird, muss daraus geschlossen werden, dass er durch Sekretion ins Lumen gelangt ist (Abb. 12.5). Das ist typisch für Substanzen, die besonders rasch aus dem Organismus entfernt werden sollen. Bestimmte Abfall-, Gift- und Fremdstoffe, z. B. Hippurat oder Penicillin, gehören dazu. Aber auch schon bei einer FE von 0,2 – 0,7, wie sie für Harnstoff gemessen wird (Abb. 12.5, S. 328), ist die absolute Ausscheidung bereits sehr hoch, da ja die Bezugsgröße (filtrierte Menge/Zeit = GFR · Harnstoffplasmakonzentration = 180 l/d · 5 mmol/l = 900 mmol/d) so gewaltig ist. Die FE von p-Aminohippurat (PAH) beträgt, als Extremfall, sogar rund 5 oder 500%, d. h., die sezernierte PAH-Menge/Zeit ist rund viermal so groß wie die filtrierte Menge/Zeit. 100% Filtration + 400% Sekretion ermöglichen eine so schnelle Ausscheidung, dass in der Nierenvene kaum mehr PAH zu finden ist (s. u.). Da die Sekretion von PAH und anderen organischen Säuren und Basen durch sättigbare Carrier vermittelt wird (Abb. 12.35, S. 350 f.), sinkt die FE dieser Stoffe allerdings, wenn ihre Plasmakonzentration ansteigt (Abb. 12.9, obere Kurve).

Sekretion zunehmend gesättigt

20

40

60

80

100

120

0

Glucosekonzentration im Plasma (mmol/l) Resorption zunehmend gesättigt

Abb.12.9 Hohe Plasmakonzentrationen sättigen die tubulären Carrier. Im Falle der Glucose (Resorptionscarrier) steigt dadurch die fraktionelle Ausscheidung (FE) von praktisch 0 bei normalen Plasmawerten gegen 1 an. Beim pAminohippurat (PAH; Sekretionscarrier) hingegen, das zur Bestimmung des renalen Plasmaflusses infundiert wird, fällt die FE von ca. 5 (bei niedriger Plasmakonzentration) in Richtung 1 ab. Die PAH-Clearance ist daher nur bei ungesättigter Sekretion als Maß für den renalen Plasmafluss gültig (nach 54).

die GFR der meisten Glomeruli weitgehend blutdruckunabhängig ist und ganz den Anforderungen des SalzWasser-Haushalts angepasst werden kann. Als Mechanismen liegen der Autoregulation die myogene Reaktion der präglomerulären Gefäße und ein tubuloglomeruläres Rückkopplungssignal im juxtamedullären Apparat sowie der Renin-Angiotensin-Mechanismus zugrunde. Eine Blutdruckabhängigkeit der Nierenmarkdurchblutung ist Ursache der Druckdiurese, die für die Langzeitregulation des Blutdrucks wichtig ist.

Die Nierendurchblutung

Die hohe renale Durchblutung (RBF ≈ 1,2 l/min) kommt zu 90 % der Rinde zugute, wo O2 größtenteils für Resorptionsprozesse verbraucht wird. Da PAH von der Niere fast vollständig extrahiert wird, ist die PAHClearance ein Maß für den renalen Plasmafluss (RPF), aus dem sich mit dem Hämatokrit der renale Blutfluss (RBF) errechnet. RBF und GFR sind autoreguliert, so dass

Das Wundernetz Jede der beiden Nieren bekommt ihr arterielles Blut durch die A. renalis, das über die Aa. interlobares in die Aa. arcuatae gelangt. Aus ihnen zweigen senkrecht in Richtung Nierenoberfläche die Aa. interlobulares ab, von denen während des ganzen Verlaufs durch die Rinde allseits afferente Arteriolen abgehen, an denen die Glo-

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331

332

12 Die Funktion der Nieren B Rinde Vas afferens peritubuläres Kapillarnetz

Bürstensaum Verbindungsstück

A. interlobularis

distaler Tubulus (Konvolut)

Glomerulus A. arcuata

®F

proximaler Tubulus (Konvolut)

kortikales Nephron

äußeres Mark

®D juxtamedulläres Nephron

Vasa recta proximaler Tubulus (Pars recta)

inneres Mark

D proximaler Tubulus (Konvolut)

distaler Tubulus (dicker, aufsteigender Teil der Henle-Schleife) Henle-Schleife

E

Papille

dünner Teil der Henle-Schleife

Mark

®E

Rinde

A A. renalis

Schaltzelle

dünner Teil der Henle-Schleife

Hauptzelle

C

Sammelrohr

F kortikales Sammelrohr

Abb.12.10 Feinstruktur der Niere. Die Nierenrinde enthält pro Niere ca. eine Million Glomeruli, die großteils kortikal (C links) und zu rund 20% marknah (juxtamedullär, C rechts) angeordnet sind. Zu jedem Glomerulus gehört ein Tubulus (zusammen Nephron genannt), dessen Henle-Schleife bei juxtamedullären Nephronen bis ins innere Nierenmark hinab-

meruli wie Äpfel am Stiel hängen (Abb. 12.10). Die afferente Arteriole (Vas afferens) verzweigt sich im Glomerulus in die glomerulären Kapillaren. Im Unterschied zu anderen Organkreisläufen schließen sich jetzt keine Venolen an, sondern die Glomeruluskapillaren treten wieder zu einer efferenten Arteriole (Vas efferens) zusammen, die sich in den oberflächlichen und mittelkortikalen Glomeruli anschließend erneut zu den peritubulären Kapillaren verzweigt (daher die alte Bezeichnung „Wundernetz“). Sie versorgen vor allem die Tubuluszellen der Nierenrinde. Das Nierenmark wird nicht durch Arterien, sondern durch die efferenten Arteriolen der marknahen, sog. juxtamedullären Glomeruli versorgt. Diese Arteriolen verzweigen sich im Mark in die absteigenden Vasa recta (Abb. 12.10). Von den peritubulären Kapillaren (Nierenrinde) sowie über aufsteigende Vasa recta (Nierenmark) gelangt das venöse Blut nacheinander in die Vv. arcuatae, die Vv. interlobares und die V. renalis und erreicht schließlich die V. cava.

reicht. Der distale Tubulus mündet über ein Verbindungsstück in ein Sammelrohr. Das Kapillarnetz der Rinde wird von den Vasa efferentia der kortikalen Glomeruli, die Vasa recta des Marks von den Vasa efferentia juxtamedullärer Glomeruli gespeist (B) (elektronenmikroskopische Aufnahmen: W. Kriz).

Die Nierenrinde ist stark durchblutet Zu den Nieren fließen etwa 15 – 25 % des Herzzeitvolumens (im Mittel rund 1,2 l/min, s. Tab. 12.2, S. 333), eine enorm starke Durchblutung (renaler Blutfluss, RBF) also, wenn man bedenkt, dass sie am Körpergewicht nur mit ca. 0,4% beteiligt sind. Ihre auf das Organgewicht bezogene Durchblutung von 3 – 5 ml/min pro g Gewebe wird z. B. vom Myokard nur bei maximaler Koronardilatation erreicht. Während es beim Herzmuskel aber der Sauerstoffbedarf ist, der die hohe Durchblutung erfordert, steht die hohe renale Durchblutung ganz im Dienste der Filtratbildung und damit letztendlich in dem der Regulations- und Ausscheidungsaufgaben der Nieren. Da die Filtratbildung eine Aufgabe der Rinde ist, verwundert es nicht, dass diese rund 90 % des RBF erhält, während das äußere Mark ca. 10% und das innere Mark gar nur 1 – 2 % bekommt. Die renale arteriovenöse O2-Differenz beträgt wegen der vergleichsweise extrem hohen Durchblutung nur etwa 14 ml/l Blut, d. h., dem arteriell herangeführten Blut (mit ca. 200 ml O2/l Blut) werden nur 7 % seines O2 entnommen

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12.3 Die Nierendurchblutung Tabelle 12.2

Voraussetzung für die Bestimmung des RBF mit der PAHClearance ist, dass die Nieren auch wirklich die oben genannten 90 % des arteriellen PAH extrahieren. Das tun sie allerdings nur bei relativ niedriger PAH-Plasmakonzentration (KM ≈ 10 µmol/l), bei der die PAH-Sekretion noch nicht gesättigt ist (Abb. 12.9, obere Kurve). Wird der Urin nicht durch Miktion aus der Harnblase, sondern mittels eines Katheters aus einem der beiden Ureteren gesammelt, kann die Nierendurchblutung mit der PAH-Clearance auch seitengetrennt bestimmt werden. Mit Radioisotopen oder Röntgenkontrastmitteln, die sich in der Niere ähnlich wie PAH verhalten, ist es möglich, die Nierendurchblutung auch mit Scannern bzw. am Röntgenschirm abzuschätzen und vor allem einen Vergleich zwischen den beiden Nieren anzustellen.

Globale Funktionswerte der Nieren

– Renaler Plasmafluss (RPF, autoreguliert): 480 – 800 ml/min pro 1,73 m2 KO* – Renale Durchblutung (RBF) = RPF/(1 – Hkt**) = 870 – 1540 ml/min pro 1,73 m2 KO* – Glomeruläre Filtrationsrate (GFR, autoreguliert): ca. 120 ml/min pro 1,73 m2 KO* – Filtrationsfraktion (FF = GFR/RPF): ca. 0,19 (u. a. Atriopeptin-abhängig) ˙ U): 0,7 – 1,8 l/d – Urinzeitvolumen (V – Harnosmolalität: Normalbereich ca. 250 – 1000 mosm/kgH2O – Harn-pH-Wert: 4,5 – 8,2 – Fraktionelle Ausscheidung im Harn (FE): s. Tab.12.3 (S. 338) und Abb.12.5 (S. 328)

Blutdruckabfall entlang der Nierengefäße

* Körperoberfläche ** Hämatokrit, hier 0,45 eingesetzt

(s. a. Tab. 10.7, S. 302). Benötigt wird der Sauerstoff hauptsächlich für die primär-aktive, d. h. ATP-verbrauchende Resorption des filtrierten Na+. In einer nicht filtrierenden und daher nicht resorbierenden Niere sinkt der O2Verbrauch auf einen basalen Wert von etwa 10% des normalen Wertes. Das heißt, wenn RBF und GFR kleiner werden, sinkt die Na+-Resorption und folglich auch der O2-Bedarf. Hier bestimmt also die Durchblutung den O2-Verbrauch und nicht umgekehrt – wie etwa beim Myokard – der O2-Bedarf die Durchblutung. Damit wird auch klar, dass die renale Durchblutung nicht (wie etwa die von Herz und Gehirn) metabolisch geregelt sein kann, sondern im Dienste der spezifischen Nierenfunktionen, nämlich Filtration, Resorption und Ausscheidung, steht.

Durchblutungsmessung mit PAH Wie bereits oben erwähnt, wird p-Aminohippurat (PAH) nicht nur filtriert, sondern auch sehr stark sezerniert, so dass fast die gesamte (90 %) arteriell ankommende PAHMenge mit dem Urin ausgeschieden wird. Setzt man also die arteriell ankommende mit der ausgeschiedenen PAHMenge/Zeit (ungefähr) gleich, so ergibt sich: RPF · PPAH ≈ V˙u · UPAH RPF ≈ (V˙u · UPAH)/PPAH

oder

(12.4) (12.5)

Mit anderen Worten: Der renale Plasmafluss (RPF) entspricht in etwa der PAH-Clearance (S. 331). Das heißt, nach Messung der drei Größen auf der rechten Seite der Gleichung 12.5 kann der RPF errechnet werden. Wird auch noch berücksichtigt, dass im Urin nicht 100%, sondern nur 90% des arteriell herangeführten PAH erscheinen, so muss die PAH-Clearance noch durch 0,9 geteilt werden, um den RPF zu erhalten. Und nun der letzte Schritt, die Umrechnung von renalem Plasmafluss (RPF) in renale Durchblutung (renaler Blutfluss, RBF) mit Hilfe des Hämatokrits (Hkt; S. 224): RBF = RPF/(1 – Hkt)

Der Druck am Ende der Aa. arcuatae beträgt rund 96 mmHg. Wie groß der Druckabfall in den anschließenden Aa. interlobulares ist, hängt nun von deren einbezogener Länge ab, d. h., wie früh die betrachtete afferente Arteriole abzweigt: 90 mmHg marknah und 67 mmHg unter der Nierenoberfläche sind Werte, die bei der Ratte gemessen wurden. Ändern sich diese unterschiedlichen Werte entlang dieses Gefäßes absolut und/oder relativ zueinander, sei es durch Widerstandsänderung entlang der A. interlobularis selbst oder im Verlauf der nachgeschalteten Gefäße, so wird sich der Druck in den marknahen und markfernen Glomeruli unterschiedlich ändern. Dies ist eine der Möglichkeiten, wie sich der Anteil der Markdurchblutung an der gesamten Nierendurchblutung sowie der jeweilige Beitrag der kortikalen und der juxtamedullären Glomeruli zur gesamten glomerulären Filtrationsrate (GFR) verändern kann. In den glomerulären Kapillaren herrscht ein Druck von ca. 48 mmHg. (Dieser Druck wurde an der Ratte direkt gemessen und dürfte beim Menschen sehr ähnlich sein.) Dieser Kapillardruck ist die treibende Kraft für die glomeruläre Filtration (S. 337 f.). Der Druckabfall innerhalb der Glomeruluskapillaren ist sehr gering (ca. 1 – 2 mmHg). Ändert sich der präglomeruläre Widerstand (A. interlobularis und Vas afferens) alleine, so variieren Durchblutung und GFR gleichsinnig, während eine gleichzeitige Änderung des postglomerulären Widerstands (v. a. Vas efferens) eine weitgehend unabhängige Regulation der beiden Größen ermöglicht (S. 338 f.). Zum postglomerulären Widerstand tragen auch die intrarenalen Venen bei. Während die Gefäßweite der A. interlobularis und der Arteriolen vorwiegend durch deren glatte Muskulatur eingestellt wird, ist die Weite der intrarenalen Venen sehr stark vom interstitiellen Druck in der Niere abhängig. Eine Abflussbehinderung z. B. in den ableitenden Harnwegen (S. 363 f.) oder eine osmotische Diurese (S. 353), bei der die Lumina der Tubuli vergrößert sind, erhöhen diesen Druck in der gesamten Niere, weil sie von einer widerstandsfähigen Kapsel umgeben ist.

(12.6)

Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! R. Klinke, H-C. Pape, St. Silbernagl: Physiologie (ISBN 3-13-796005-3) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2005

333

GFR 4 2 3

1

4

3

5

6

7 0,4

Autoregulationsbereich

2

0,2

RBF 1

0

GFR (ml/min pro g Gewebe)

0,6

0 0

40

80

120

160

200

240

mittlerer arterieller Blutdruck (mmHg) 180

7 6

Blutdruck (mmHg)

150

5

120

Kapillardruck konstant

4 3

90

2 60

1

Harnzeitvolumen in % der GFR

12 Die Funktion der Nieren

RBF (ml/min pro g Gewebe)

40

30

20

Druckdiurese 10

Anurie 0

0

80

160

240

320

mittlerer arterieller Blutdruck (mmHg)

Abb.12.12 Druckdiurese. Trotz Autoregulation von RBF und GFR (Abb.12.11) steigt bei einer Blutdruckerhöhung die fraktionelle Wasserausscheidung (Harnzeitvolumen/GFR) (54). Verantwortlich dafür ist eine druckabhängige Änderung der Nierenmarkdurchblutung. Obwohl die Mechanismen der Druckdiurese nicht ganz geklärt sind (u. a. Beteiligung vasodilatatorischer Prostaglandine?), spielt sie eine entscheidende Rolle bei der langfristigen Blutdruckregulation (23, 29). Zu beachten ist auch, dass die Urinproduktion versiegt (Anurie), wenn der arterielle Mitteldruck auf ca. 50 mmHg abgesunken ist.

Glomerulus

Vas afferens

0

A. interlobularis

30 A. arcuata

334

Abb.12.11 Autoregulation der Niere. Die Nieren(rinden)durchblutung (RBF) bleibt bei Schwankungen des systemischen mittleren Blutdrucks im Bereich von ca. 80 – 170 mmHg weitgehend konstant. Die Folge davon ist eine ebenfalls konstante glomeruläre Filtrationsrate (GFR). Diese autoregulatorische Änderung der intrarenalen Strömungswiderstände scheint bei kleinen Abweichungen (3 und 5) vom Normaldruck (4) in den Aa. interlobulares und bei stärkeren Änderungen (2 und 6) zusätzlich in den Vasa afferentia zu geschehen. Bei noch größeren Druckabweichungen fällt bzw. steigt RBF (1 und 7). (Der hier im Tierversuch gefundene Ausgangsdruck bei 4 von 120 mmHg beträgt beim Menschen normalerweise ca. 100 mmHg) (nach 52 und 64).

Autoregulation im Dienst von Filtration und Salzausscheidung Die Nierendurchblutung (RBF) steigt zwar mit dem mittleren Blutdruck bis etwa 80 mmHg linear an, bleibt dann aber trotz weiterer Steigerung des Mitteldrucks bis ca. 170 mmHg weitgehend konstant. Ähnliches gilt für die GFR, doch steigt diese, im Gegensatz zum RBF, auch bei sehr hohem Blutdruck kaum weiter an (Abb. 12.11), weil es entlang der Glomeruluskapillaren dann frühzeitig zum Filtrationsgleichgewicht kommt (Abb. 12.14, S. 337). Die zunehmende Drucksteigerung zwischen 80 und 170 mmHg wird also offenbar mit einer zunehmenden Erhöhung des renalen Strömungswiderstands beantwortet. Da diese Regulation auch ohne Innervation und ohne extrarenale Hormone funktioniert, ist sie ein intra-

renaler Prozess: Autoregulation der Nierendurchblutung (S. 189). Dass trotz der im Regelbereich konstanten GFR die renale Ausscheidung von Salz und Wasser mit dem Blutdruck etwas ansteigt (Druckdiurese, Abb. 12.12), wird damit erklärt, dass die juxtamedullären Glomeruli – und damit deren GFR sowie die von ihnen ausgehende Markdurchblutung – nicht oder nicht im gleichen Umfang wie die kortikalen Glomeruli autoreguliert sind (s. o.). Eine Verminderung der renalen Konzentrierungsfähigkeit (unter eventueller Mitwirkung von Angiotensin II und Prostaglandinen) ist daran beteiligt. Die Druckdiurese spielt eine entscheidende Rolle bei der Langzeitregulation des Blutdrucks. Steigt er volumenbedingt an, wird der Extrazellulärraum via Druckdiurese verkleinert, was den Blutdruck wieder senkt usw. (S. 385). Die Mechanismen der renalen Autoregulation sind noch nicht völlig geklärt. Sicher daran beteiligt sind zwei Prozesse: 1. Die myogene Reaktion (Bayliss-Effekt) der präglomerulären Nierengefäße. Die Aa. interlobulares und die afferenten Arteriolen beantworten eine Blutdruckerhöhung mit einer Konstriktion. Bei nur geringer Druckerhöhung reagieren von diesen in Serie geschalteten Gefäßabschnitten die am weitesten stromaufwärts liegenden, so dass die Druckerhöhung gar nicht bis zu den afferenten Arteriolen durchdringt. Steigt der Blutdruck stärker an, werden zunehmend auch die weiter stromabwärts liegenden Gefäßabschnitte in die Reaktion mit einbezogen. Erst bei Drücken jenseits der Autoregulationsgrenze von ca. 170 mmHg schlägt die Druckerhöhung auf Glomerulus und postglomeruläre Gefäße durch (Abb. 12.11). 2. Der tubuloglomeruläre Rückkopplungs-(Feedback-) Mechanismus (TGF; S. 338 f.). Voraussetzung für ihn

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12.3 Die Nierendurchblutung

Vas afferens distaler Tubulus

Nervenfasern

Vas efferens

Macula densa

granulierte Zellen

Mesangiumzellen Endothel dreischichtige Basalmembran Endothelpore

Epithelzelle

Filtration

BowmanKapsel-Raum Schlitzmembran Fußfortsatz

proximaler Tubulus Fußfortsatz Filtrat

Abb.12.13 Glomeruläres Filter und juxtaglomerulärer Apparat. Das glomeruläre Filter besteht aus drei Schichten, dem gefensterten Kapillarendothel, der Basalmembran und dem harnseitigen Epithel mit Podozyten, zwischen deren Fußfortsätzen Schlitzmembranen mit kleinen Poren ausgespannt sind. Durch dieses Filter werden pro Glomerulus ca. 70 µl/d und in beiden Nieren zusammen 180 l/d abfiltriert (GFR). Zum juxtaglomerulären Apparat (JGA) gehören die

ist die anatomische Tatsache, dass die in der Wand des distalen Tubulus gelegene Macula densa innerhalb des juxtaglomerulären Apparats mit dem eigenen Glomerulus in direktem Kontakt steht (Abb. 12.13). Informationen über die Zusammensetzung des distalen Tubulusharns könnten somit, so besagt eine 50 Jahre alte Idee, über Macula-densa- und Mesangiumzellen v. a. die afferente Arteriole erreichen und dort den Strömungswiderstand verändern. Tatsächlich konnte dann (viel später) gezeigt werden, dass eine Erhöhung der luminalen NaCl-Konzentration an der Macula densa die Filtrationsrate am zugehörigen Glomerulus senkt. Da die distale NaCl-Konzentration (unter anderem) von der filtrierten NaCl-Menge/Zeit (= GFR · Plasma-Na+-Konzentration) und somit von der Filtrationsrate des eigenen Glomerulus abhängt, kann diese Rückkopplungsschleife der Autoregulation von RBF und GFR dienen.

reninhaltigen, sog. granulierten Zellen (in der Wand des Vas afferens), die Macula-densa-Zellen des zu diesem Glomerulus gehörigen distalen Tubulus und die extraglomerulären Mesangiumzellen (Polkissen). Der JGA bietet die Möglichkeit, die GFR der Zusammensetzung (NaCl!) des frühdistalen Tubulusharns anzupassen: tubuloglomerulärer Rückkopplungsmechanismus (nach 10 und 47; rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen: W. Kriz).

Trotz einiger noch offener Fragen lässt sich über die physiologische Bedeutung der beiden Mechanismen vereinfachend Folgendes sagen: Der myogene Mechanismus hält über eine Widerstandsänderung präglomerulärer Gefäße den RBF und (davon abhängig) die GFR trotz stark wechselndem (vor allem erhöhtem) systemischen Blutdruck konstant (Reaktionszeit ca. 1 s). Der TGF-Mechanismus hingegen passt im normalen Blutdruckbereich die GFR den Salz-Wasser-Ausscheidungsbedürfnissen an, wobei die Gefäßweite v. a. der afferenten Arteriole verstellt wird (Reaktionszeit ca. 10 s). Sind diese Bedürfnisse konstant, werden GFR und RBF durch den TGF-Mechanismus stabilisiert (s. a. S. 338 f.). Zu den beiden genannten Mechanismen kommt ein weiterer Regelkreis hinzu: der Renin-Angiotensin-Mechanismus (S. 369 f. und S. 384 f.). Zusammen mit den beiden obigen Mechanismen verhindert er am unteren Ende des Autoregulationsbereichs (80 – 90 mmHg) wahrscheinlich dadurch ein Absinken der GFR, dass er den Widerstand in der efferenten Arteriole erhöht, wobei die Filtrationsfraktion (s. u.) ansteigt.

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335

336

12 Die Funktion der Nieren

12.4

Die Filtration des Primärharns

Rund ein Fünftel des renalen Plasmaflusses (RPF) wird filtriert (Filtrationsfraktion = GFR/RPF), da die Glomeruluskapillaren eine sehr hohe Wasserdurchlässigkeit besitzen, die, mit der Filterfläche und dem effektiven Filtrationsdruck multipliziert, die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) ergibt. Im Plasma gelöste Stoffe werden mit Ausnahme von Makromolekülen und Blutzellen mitfiltriert. Das Filter hat drei Schichten (Endothel, Basalmembran und Epithel). Seine Durchlässigkeit wird durch die Porenweite und durch Wandladungen bestimmt. Der intrakapilläre Blutdruck (abzüglich des onkotischen Drucks im Plasma und des Drucks im Bowman-Kapsel-Raum) bestimmt den effektiven Filtrationsdruck. Die Filtrationsfraktion kann durch unabhängige Änderung von prä- und postglomerulärem Widerstand variiert werden. Durch tubuloglomeruläre Rückkopplung wird die GFR des einzelnen Nephrons an seine NaCl-Resorptionsfähigkeit angepasst. Von den Glomeruli beider Nieren werden pro Minute im Mittel 125 ml Primärharn abfiltriert (GFR, Tab. 12.2, S. 333). Bei einem durchschnittlichen renalen Plasmafluss (RPF; s. u.) von 620 ml/min heißt das, dass die Filtrationsfraktion (GFR/RPF, hier 125/620) 0,2 beträgt; im Glomerulus wird dem Blut also ein Fünftel seines Plasmawassers entzogen. Diese Filtrationsfraktion ist ca. 70-mal größer als die in den Kapillaren anderer Organe (0,003; Kap. 8). Es sind drei Faktoren, die die GFR bestimmen: – die (vergleichsweise hohe) Wasserdurchlässigkeit oder hydraulische Leitfähigkeit (k), – die Filterfläche (F) und, – als treibende Kraft, der mittlere effektive Filtrationsdruck (P¯eff), d. h. der nutzbare Druckunterschied zwischen dem Kapillarlumen und der Harnseite des Filters. Aus dem Produkt dieser drei Größen errechnet sich die Einzelnephron-GFR, wobei k · F gewöhnlich als Ultrafiltrationskoeffizient Kf zusammengefasst wird: Einzelnephron-GFR = Kf · P¯eff ≈ 50 nl/min

(12.7)

Bei Betrachtung der GFR der ganzen Niere ist diese Größe natürlich mit der Anzahl intakter Glomeruli zu multiplizieren. Musste z. B. einem Patienten eine Niere entfernt werden (Nephrektomie), so sinkt die GFR zwar akut auf die Hälfte, doch kann er trotzdem mit nur einer Niere leben, da Kompensationsmechanismen in der verbliebenen Niere diesen Ausfall funktionell weitgehend wettmachen. Sinkt die GFR allerdings auf weniger als 10% ab, entsteht in kurzer Zeit eine lebensbedrohliche Urämie (S. 372). Mit dem Wasser werden die darin gelösten Stoffe filtriert. Welche von ihnen ins Filtrat gelangen, hängt von ihrer Molekülgröße und, bei bestimmten Molekülen, von ihrer Ladung ab (s. u.).

Kapillarendothel, Basalmembran und Fußfortsätze bilden das Filter Im engeren Sinn umfasst der Glomerulus nur das Kapillarknäuel zwischen afferenter und efferenter Arteriole (Abb. 12.13). Zusammen mit der Bowman-Kapsel bildet er das Nierenkörperchen (Abb. 12.3, S. 327), das einen Durchmesser von 0,2 mm hat. (Zumindest die Physiologen sind da meist etwas ungenau und nennen das Ganze Glomerulus; auch dieses Buch macht davon keine Ausnahme.) In der Abb. 12.13 ist die Struktur des Glomerulus schematisch an einem Querschnitt gezeigt (nach 10). Die (parallel geschalteten) Kapillarschlingen haben als Zufluss das Vas afferens (afferente Arteriole) und als Abfluss das Vas efferens (efferente Arteriole). An die dazwischenliegenden Mesangiumzellen schmiegt sich der Macula-densa-Bereich des distalen Tubulus desselben Nephrons an. Das Kapillarkonvolut ragt in den Innenraum der Bowman-Kapsel hinein, gegenüber beginnt der proximale Tubulus (Abb. 12.16, S. 340). Vom Kapillarlumen ist der Raum der Bowman-Kapsel durch eine Filterbarriere mit drei Schichten getrennt (Abb. 12.13). Es sind dies – das Endothel der Glomeruluskapillaren, dessen Kontinuität durch Poren mit einem Durchmesser von 50 – 100 nm unterbrochen ist, – die ihrerseits dreischichtige Basalmembran, die ein als Filter wirkendes Netzwerk aus Collagen IV, Laminin und Nidogen enthält, in das negativ geladene Glykosaminglykane eingelagert sind (Anionenbarriere, Abb. 12.15, S. 339), und schließlich – das „viszerale“ Blatt des Epithels der Bowman-Kapsel. Auch das „viszerale“ Blatt ist im Querschnitt diskontinuierlich, was dadurch zustande kommt, dass die Fußfortsätze der Epithelzellen (Podozyten) miteinander interdigitierend verzahnt sind und dabei Schlitze freilassen. Bei noch höherer Vergrößerung ist schließlich zu erkennen, dass die Schlitze weitgehend mit einer Schlitzmembran überbrückt sind und nur rund 4 ×14 nm weite Durchlässe besitzen. Die Schlitzmembran enthält ein für die Dichtigkeit des Filters entscheidendes Protein, Nephrin (77), das über ein zweites Protein, CD2AP, an den beiden benachbarten Podozytenausläufern verankert ist (61). Von beiden Seiten her in den Schlitz hineinragend, greifen die Nephrinmoleküle reißverschlussartig ineinander und lassen zwischen sich die Schlitzporen frei, die einen kleinen Anteil der Albuminmoleküle gerade noch durchlassen (S. 358 f.). Auf die Spur von Nephrin kam man, als man bei einem finnischen Baby, das Unmengen von Protein mit dem Urin verlor (Kongenitales nephrotisches Syndrom), einen Defekt in einem Gen fand, dessen Genprodukt in der Schlitzmembran lokalisiert ist. Die Rolle von CD2AP (CD2-associated Protein) war eine Überraschung, da es bei der T-Zell-Aktivierung eine Rolle spielt. Als man das zugehörige Gen in der Maus entfernte (knock out), war zwar, wie erwartet, die TZell-Aktivierung herabgesetzt, aber die Mäuse verstarben an Nierenproblemen, und ihre Glomeruli hatten kaum mehr Schlitzmembranen (51).

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12.4 Die Filtration des Primärharns Die Blutzellen werden schon von der ersten Schicht des Filters, dem Endothel, zurückgehalten. Da dessen Poren in vivo wahrscheinlich mit einer (negativ geladenen) Proteinschicht bedeckt sind, gilt dies auch für größere Proteine. Für die Filtrierbarkeit der Makromoleküle (Molekülmasse ca. 10 – 70 kDa) auch durch die nächsten beiden Schichten spielen nicht nur die Porenweite der Filterkomponenten, sondern auch deren elektrische Wandladungen eine Rolle (Abb. 12.15, S. 339). Für die Reinigung des Filters sorgen Mesangiumzellen und die Podozyten des Glomerulus, die in der Lage sind, großmolekulare Ablagerungen durch Phagozytose und anschließende lysosomale Verdauung zu entfernen. Kommt es allerdings pathologisch zu sehr massiven Ablagerungen (z. B. von Antigen-Antikörper-Komplexen), so proliferiert kompensatorisch das Mesangium. Wegen der beengten Platzverhältnisse hat das nun allerdings zur Folge, dass Kapillaren verdrängt werden und somit das Filtrat absinkt.

Blut

Anfang

pkap – PBow

Peff = Pkap –

Ende

Glomeruluskapillare

50

Peff = Pkap – PBow – π kap = 48 – 13 – 25 = ca. 10 mmHg

(12.8)

Dieser Wert, der an der Ratte gemessen wurde und beim Menschen nicht wesentlich verschieden sein dürfte, herrscht also am afferenten Ende der Glomeruluskapillare. Was sich nun entlang der Kapillare wesentlich ändert, ist nicht etwa P kap, sondern π kap, und zwar deswegen, weil dem Plasma während der Kapillarpassage ja durch die Filtration laufend Wasser entzogen wird. Dadurch steigt π kap überlinear an (Abb. 31.1, S. 867) und erreicht bei 20 % Wasserentzug (Filtrationsfraktion) schließlich Werte um 35 mmHg, die Peff nach obiger Gleichung auf 0 schrumpfen lassen (Abb. 12.14 A). Damit versiegt die Filtration. Wird dieser Punkt schon vor dem Ende der Glomeruluskapillare erreicht, begrenzt dieses Filtrationsgleichge-

40

Filtrationsgleichgewicht

30

20 10 0

A effektiver Filtrationsdruck

Filtrat

Der effektive Filtrationsdruck ist die treibende Kraft der Filtration, wobei der Blutdruck in den Glomeruluskapillaren die wesentliche Komponente darstellt. Der Filtrationsprozess selbst ist zwar ein passiver Vorgang, doch muss natürlich in die Aufrechterhaltung des treibenden Druckgradienten laufend Energie gesteckt werden. Das geschieht, fernab von der Niere, im Herzen, wo ATP für die blutdruckerzeugende Kontraktion der Ventrikel verbraucht wird. Bis zu den Glomeruluskapillaren fällt der Blutdruck auf ca. 48 mmHg ab (Pkap; Abb. 12.14 A). Er kann allerdings nicht voll für die Filtration genutzt werden, da ihm zweierlei Drücke entgegengerichtet sind. Zum einen ist dies der Druck in der Bowman-Kapsel (PBow) von etwa 13 mmHg, so dass sich aus Pkap minus PBow eine hydraulische Druckdifferenz (∆P) von 35 mmHg errechnet. Zum anderen können Plasmaproteine das Filter kaum passieren, so dass sie auf der Blutseite einen kolloidosmotischen (onkotischen) Druck (π kap) erzeugen, der ∆P entgegenwirkt. Im systemischen Plasma beträgt π kap im Mittel etwa 25 mmHg. (Der onkotische Druck im Filtrat ist vernachlässigbar, da es nur sehr wenige Makromoleküle enthält; daher auch der Name Ultrafiltrat.) Zusammengefasst errechnet sich der initiale effektive Filtrationsdruck (Peff) also aus:

Druck (mmHg)

Ohne Druck kein Filtrat

Anfang

Einzelnephron: GFR = Peff × Kf

Glomeruluskapillare

Ende

B glomeruläre Filtrationsrate

Abb.12.14 Effektiver Filtrationsdruck (Peff). Er treibt das Filtrat durch das Filter (Abb.12.13). Peff beinhaltet den Kapillardruck Pkap abzüglich des onkotischen Drucks im Plasma (πkap) und des Drucks auf der Harnseite (PBow). Da der hohe Wasserausstrom aus dem Plasma (Filtrationsfraktion = 0,2 = 20%) die Plasmaproteinkonzentration und damit π kap entlang der Kapillare erhöht (Abb. 31.1, S. 867), wird Peff immer kleiner, um evtl. sogar Null zu erreichen (Filtrationsgleichgewicht; A). Das Produkt aus mittlerem effektiven ¯eff, Wasserdurchlässigkeit des Filters und Filtrationsdruck P seiner Fläche (zusammen Kf) ergibt schließlich die glomeruläre Filtrationsrate eines Glomerulus (B). Wird das Filtrationsgleichgewicht ans Ende der Kapillare verschoben, wie etwa bei einer erhöhten renalen Durchblutung, kann mehr Filterfläche genutzt werden, und die GFR steigt an (elektronenmikroskopische Aufnahme: W. Kriz).

wicht die Filtration (Abb. 12.14 B). Erhöht sich in diesem Fall die Nierendurchblutung, so verschiebt sich der Ort des Filtrationsgleichgewichts ans Ende der Kapillare, so dass jetzt mehr Filterfläche genutzt wird. Dies ist evtl. der Grund dafür, dass die GFR von der Nierendurchblutung abhängig ist.

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337

338

12 Die Funktion der Nieren Tabelle 12.3 Die Molekülgröße bestimmt die Filtrierbarkeit. Im Glomerulus werden mit dem Wasser auch gelöste Stoffe abfiltriert (Solvent Drag). Frei filtrierbar sind solche mit einem Molekülradius r < ca. 1,5 – 1,8 nm. Ihr Siebkoeffizient, d. h. das Verhältnis ihrer Konzentration im Filtrat zu der im Plasmawasser, ist daher ca. 1. Bei größeren Molekülen sinkt der Siebkoeffizient zunehmend unter 1, um bei r > ca. 4,4 nm Null zu erreichen. Bei 1,8 < r < 4,4 nm ist der Siebkoeffizient zusätzlich von der Ladung des Moleküls abhängig (Abb.12.15) (nach 54). Substanz

Molekülmasse (Dalton)

Radius (nm)

Dimensionen (nm)

Siebkoeffizient

Wasser

18

0,10

1,0

Harnstoff

60

0,16

1,0

180

0,36

1,0 1,0

Glucose Rohrzucker Inulin Myoglobin

342

0,44

5 500

1,48

17 000

1,95

5,4

0,98

Eieralbumin

43 500

2,85

8,8

Hämoglobin

68 000

3,25

5,4

3,55

15,0

Serumalbumin

69 000

Für eine normale GFR sind also nicht nur intakte Glomeruli (Filterfläche, hydraulische Leitfähigkeit, Anzahl), sondern auch – ein normaler Kapillardruck Pkap, – ein normaler Proteingehalt und somit ein normaler onkotischer Druck des Plasmas (π kap) sowie – ein normaler Druck im Tubulus (PBow) vonnöten. Änderungen der GFR können daher u. a. durch Variation dieser drei Drücke verursacht werden. So sinkt die GFR z. B. bei einem Abfall des mittleren systemischen Blutdrucks unter ca. 75 mmHg, etwa im Schock (Pkap sinkt), sowie bei einer pathologisch erhöhten Proteinkonzentration im Plasma (z. B. beim multiplen Myelom; π kap steigt) oder wenn ein Abflusshindernis im Harntrakt (z. B. ein Tumor oder ein Nierenstein) den Harn staut (PBow steigt). Umgekehrt wird die GFR erhöht, wenn Pkap ansteigt (z. B. bei einer Hypertonie mit Blutdruckwerten oberhalb des Autoregulationsbereichs; Abb. 12.11, S. 334) oder wenn π kap sinkt (z. B. bei einer Hypalbuminämie durch Unterernährung). Die GFR ist aber auch unabhängig vom RPF variierbar und umgekehrt, d. h. auch die Filtrationsfraktion (GFR/RPF) kann geändert werden. Dies wird dadurch ermöglicht, dass die Weite der prä- und postglomerulären Widerstandsgefäße getrennt voneinander regelbar ist. Sinkt z. B. der präglomeruläre Strömungswiderstand (R prä) um den gleichen Betrag, wie der postglomeruläre (R post) ansteigt, so bleibt der Gesamtwiderstand (R prä + R post) und daher auch RPF unverändert. Pkap hingegen ist wegen des kleineren R prä angestiegen, so dass sich die GFR (und gleichzeitig die Filtrationsfraktion) erhöht. Eine hormonelle oder neuronale Steuerung dieser beiden Widerstände bietet also die Möglichkeit, die GFR unabhängig von der Nierendurchblutung (und umgekehrt) regulatorisch zu verändern. Vasopressorische Plasmakonzentrationen von Angiotensin II (S. 369) oder aus Sympathikusfasern freigesetztes Noradrenalin z. B. sen-

0,8

0,75

2,2

0,22

3,2

0,03

3,6

< 0,001

ken den RPF sehr viel stärker als die GFR. Diese Mechanismen tragen bei verminderter Nierendurchblutung zur Aufrechterhaltung, d. h. zur Autoregulation der GFR, bei. Wie auf S. 335 bereits beschrieben, bietet der juxtaglomeruläre Apparat (Abb. 12.13) zusätzlich die Möglichkeit, die GFR-Regelung dem Ausmaß der NaCl-Resorption und damit der Salzausscheidung des einzelnen Tubulus unterzuordnen: tubuloglomeruläre Rückkopplung oder TGF(eedback). Da die tägliche GFR rund 10-mal so groß ist wie das ganze Extrazellulärvolumen, würden selbst kleinere „ungewollte“ (z. B. blutdruckbedingte) Änderungen der GFR die filtrierte NaCl-Menge/Zeit (= GFR · Na+Plasmakonzentration) und damit die NaCl-Ausscheidung in einem Ausmaß variieren lassen, das die Homöostase des NaCl-Haushaltes und damit auch des Extrazellulärvolumens akut gefährden würde. In Ergänzung zur Regelung durch Aldosteron innerhalb von Stunden (S. 383) ist es Aufgabe des relativ rasch reagierenden TGF-Mechanismus (10 s), die Filtrationsrate des Einzelnephrons, ENGFR, (und damit die dort filtrierte NaCl-Menge/Zeit) auf der Ebene des einzelnen Tubulus akut zu regulieren. Das Ausmaß der NaCl- und H2O-Resorption im proximalen Tubulus bestimmt, wie schnell der Tubulusharn durch die HenleSchleife fließt. Je weniger stromaufwärts resorbiert worden ist, desto schneller fließt er durch den dicken aufsteigenden Schleifenschenkel, desto weniger wird dort NaCl resorbiert (S. 346 f.) und desto höher ist an der Macula densa (Abb. 12.13) die NaClKonzentration, [NaCl]MD. Steigt [NaCl]MD zu hoch an, sei es weil die Filtration von NaCl zu hoch oder die proximale NaCl-Resorption zu niedrig ist, wird die GFR dieses Nephrons innerhalb von 10 s durch Konstriktion des Vas afferens gedrosselt und umgekehrt (negative Rückkopplung). Die Signaltransduktion von [NaCl]MD auf die Konstriktion ist noch unklar, doch sind AT-IIRezeptoren (Typ AT1A) dazu essenziell. Eine starre Koppelung der ENGFR an die [NaCl]MD durch den TGF wäre allerdings fatal, wenn sich die [NaCl]MD wegen chronischer Störungen des NaCl-Bestands und damit des Extrazellulärvolumens (EZV) verändert hat: Längerfristige EZV-Erhöhung vermindert nämlich die proximale NaCl-Re-

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12.5 Aktive Na+-Resorption und die Folgen

Das Filter als Barriere für Makromoleküle und Erythrozyten Im Glomerulus entsteht ein Ultrafiltrat, das neben dem Lösungsmittel Wasser fast nur kleine Moleküle enthält (Tab. 12.3). Frei filtriert werden nur Stoffe, deren Molekülradius kleiner als 1,6 – 1,8 nm ist, was einer Molekülmasse von 6 – 15 kDa entspricht. Inulin z. B., das zur Bestimmung der GFR verwendet wird (S. 329 f.), gehört mit rund 5 kDa noch zu dieser Gruppe. Für Globuline mit einem Radius von > 4,4 nm (> 80 kDa) ist das Filter normalerweise dicht, und das Gleiche gilt natürlich auch für die noch viel größeren Erythrozyten. Stoffe, deren Molekülradius zwischen diesen Grenzen liegt, werden nur teilweise filtriert: Myoglobin (17 kDa) zu 75 % und Albumin (69 kDa) nur noch zu ca. 0,03% (Siebkoeffizient = 0,75 bzw. < 0,001; Tab. 12.3, S. 338). Schlecht filtrierbar sind auch kleinmolekulare Stoffe, wenn sie an Plasmaproteine gebunden sind. Ca2+ z. B. kann wegen seiner Proteinbindung im Plasma (ca. 40 %) nur zu 60% filtriert werden. Viele Medikamente, z. B. die meisten Sulfonamide oder das Herzglykosid Digitoxin, haben eine noch viel stärkere Proteinbindung, so dass sie renal nur sehr langsam ausgeschieden werden. Aus Experimenten mit Ratten weiß man, dass Makromoleküle, die genauso groß sind wie (das negativ geladene) Albumin, immer dann stärker filtriert werden, wenn sie ungeladen, und noch stärker, wenn sie positiv geladen sind (17), d. h., die Durchlässigkeit des Filters für Makromoleküle mit einem Radius < 4,4 nm ist ladungsabhängig (Abb. 12.15 A). Grund dafür sind die fixen negativen Wandladungen im Filter (s. o.), für die anionische Glykosialoproteine verantwortlich sind. Sie finden sich in den beiden Außenschichten der Basalmembran sowie auf der Oberfläche der Podozytenfortsätze. Diese Tatsache ist auch pathophysiologisch wichtig, da eine Verminderung dieser Wandladungen die Filtration von Albumin steil ansteigen lässt (Abb. 12.15 B), so dass große Mengen dieses Plasmaproteins mit dem Urin verloren gehen: Albuminurie. Ein Beispiel ist die sog. Minimal-change-Nephropathie, bei der, wie der Name schon sagt, nicht die (morphologisch sichtbaren) mechanischen Eigenschaften des Filters, sondern seine Wandladungen

glomerulärer Filter mit negativer Wandladung

– + 1,0

+ -Ladung Siebkoeffizient

+

A normal

0,5

n eutral

– -Ladung 0 1,8

3,0

4,2

Molekülgröße (nm)

– + 1,0

– +

Siebkoeffizient

sorption, [NaCl]MD steigt daher, was die GFR drosseln und das EZV noch weiter erhöhen würde. Umgekehrtes gilt für einen EZV-Mangel. Um dies zu verhindern, wird in solchen Fällen die Antwortkurve [NaCl]MD/ENGFR verschoben, und zwar bei zu hohem EZV durch NO in die eine (erhöhte ENGFR bei gleicher [NaCl]MD) und bei EZV-Mangel durch lokales Angiotensin II in die andere Richtung (59). Der TGF-Mechanismus hat auch bei einer Schädigung der proximalen Tubulusabschnitte eine wichtige gegenregulatorische Funktion. Proximal wird nämlich normalerweise der Großteil des filtrierten NaCl resorbiert. Ist der geschädigte Tubulus dazu nicht mehr in der Lage, würden bei unverminderter GFR große NaCl-Mengen verloren gehen, da die Resorptionskapazität des distalen Tubulus und des Sammelrohres damit völlig überfordert wäre. Die Reduktion der GFR mittels tubuloglomerulärer Rückkopplung verhindert also auch in diesem Fall einen sonst unvermeidlichen Salzverlust.

B bei Verlust von Filterladungen

Nephritis

0,5

+

–

0 1,8

3,0

4,2

Molekülgröße (nm)

Abb.12.15 Die Filterdurchlässigkeit ist ladungsabhängig. Das gilt für Makromoleküle mit einem Molekülradius von ca. 1,8 nm < r < 4,4 nm (s. a. Tab. 12.3, S. 338). Bei gleichem Radius werden Moleküle mit negativer Ladung wesentlich schlechter durchgelassen als neutrale oder gar solche mit positiver Ladung (A). Die Ursache dafür ist, dass auch die Schichten des glomerulären Filters Ladungen tragen. Gehen diese, wie bei glomerulären Entzündungsprozessen, verloren, erhöht sich die Filterdurchlässigkeit für anionische Makromoleküle (B), was zu einer vermehrten Filtration der negativ geladenen Plasmaproteine (Albumin!) und zu einer Proteinurie führt (nach 17).

verändert sind. Erhöht sich bei einer glomerulären Erkrankung hingegen die Porenweite des Filters, so werden auch große Globuline, ja u. U. sogar Erythrozyten mitfiltriert und über den Harn ausgeschieden.

12.5

Aktive Na+-Resorption und die Folgen

Tubulus und Sammelrohr bestehen aus Epithelzellen, in deren luminaler und basolateraler Membran Pumpen, Carrier und Kanäle asymmetrisch eingebaut sind, was einen vektoriellen transzellulären Transport ermöglicht. Die Na+-K+-ATPase in der basolateralen Membran senkt unter ATP-Verbrauch die intrazelluläre Na+-Konzentration (primär-aktiver Transport) und verursacht durch primär-aktive K+-Akkumulation in der Zelle und nachfolgende K+-Auswärtsdiffusion ein Membranpotenzial. Damit entsteht ein hoher elektrochemischer

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340

12 Die Funktion der Nieren

Lumen

Bürstensaum Vakuolen

Zellkern

Abb.12.16 Blick in den proximalen Tubulus. In den Ecken des Bildes ist die Wand der Bowman-Kapsel zu sehen, an die das proximale Tubulusepithel mit seinem dichten Bürstensaum anschließt (rasterelektronenmikroskopische Aufnahme: W. Kriz). Interdigitation mit Nachbarzelle

Na+-Gradient, der die Triebkraft bildet für den sekundär-aktiven Transport anderer Stoffe (mittels Na+-Symport- oder Na+-Antiport-Carrier) und für eine Na+Diffusion (via Na+-Kanäle im Sammelrohr) vom Lumen in die Zelle. Die Resorption von Stoffen zieht aus osmotischen Gründen eine Resorption von Wasser nach sich (leckes Epithel, v. a. im proximalen Tubulus), wodurch kleine gelöste Stoffe mitgerissen werden (Solvent Drag). Durch die Wasserresorption wiederum werden für zahlreiche Stoffe chemische (und z. T. auch elektrische) transepitheliale Triebkräfte aufgebaut, so dass diese Stoffe dann passiv – entweder transzellulär oder durch die Schlussleisten zwischen den Zellen (parazellulär) – resorbiert werden können.

Proximaler Tubulus: Massentransport durch nicht ganz dichte Wände Blickt man von der Bowman-Kapsel aus in den Anfangsteil des proximalen Tubulus (Abb. 12.16), so fällt auf, dass seine Innenwand mit einem dichten Bürstensaum besetzt ist, d. h. mit fingerförmigen Ausstülpungen der Tubuluszellmembran. Durch diese Vergrößerung der luminalen Zelloberfläche auf etwa das 30- bis 60fache sowie dank ihrer Länge von 10 mm besitzen die proximalen Konvolute beider Nieren zusammengenommen eine luminale Membranfläche von 40 – 80 m2. Diese gewaltige Fläche erlaubt es, in diesem Tubulusabschnitt sehr große Salz- und Wassermengen zu resorbieren (pro Tag ca. 900 g Kochsalz und 110 l Wasser!). Da transzellulär transportierte Stoffe ja auch die basolaterale Membran überwinden müssen, ist deren Oberfläche durch tiefe, mit den Nachbarzellen interdigitierende Faltenbildung ebenfalls enormvergrößert: basolateraleEinfaltungen(Abb.12.17). Der „Brennstoff “ für die Na+-K+-ATPase, das ATP, wird in den Mitochondrien (vor allem aus Fettsäuren) produziert, mit denen die proximale Tubuluszelle wegen ihrer großen Transportaufgaben besonders reichlich ausgestattet ist. Der enge Kontakt zwischen Mitochondrien und

Mitochondrien Basalmembran

Abb.12.17 Der proximale Tubulus, insbesondere der Großteil des Konvoluts (Segment S1) besteht aus hohen, miteinander verzahnten Epithelzellen, die lumenseitig einen dichten Bürstensaum tragen und basalseitig tief eingefaltet sind (basales Labyrinth). Diese beidseitige Oberflächenvergrößerung (Faktor 30 – 60!) spiegelt die quantitativ hohen Transportaufgaben des proximalen Tubulus wider. In der Pars recta (Segment S2 und S3) sind diese Charakteristika weniger stark ausgeprägt. Die eng an die basalen Einfaltungen angeschmiegten Mitochondrien versorgen die Na+-K+ATPase der basolateralen Membran auf kurzem Weg mit ATP (Foto: W. Kriz).

basolateraler Membran macht die Wege der ATP-Zufuhr vom Erzeuger zum Verbraucher extrem kurz (Abb. 12.17). Die Wand des proximalen Tubulus ist ein sog. leckes Epithel (Kap. 3), so dass dort zwischen Lumen und peritubulärem Interstitium praktisch keine Tonizitätsunterschiede aufrechterhalten werden können und die Resorption von gelösten Stoffen zwangsläufig die Resorption von Wasser zur Folge hat. Dies ist die Ursache für die enge Koppelung der Wasser- und Salzresorption in diesem Nephronabschnitt. Aus dem gleichen Grund behält die Tubulusflüssigkeit entlang des proximalen Tubulus praktisch die gleiche Osmolalität wie sie im Plasma der peritubulären Kapillaren (und im Glomerulusfiltrat) herrscht (isosmolale Resorption), in der Nierenrinde also rund 290 mosm/kgH2O. Weitere Konsequenzen der Leckheit des proximalen Tubulus sind, (a) dass dort die transepithelialen Potenziale max. nur + oder – 2 mV betragen (Abb. 12.19/1, S. 342) und dass (b) derart geringe transepitheliale Potenziale ausreichen, relativ große Ionenmengen parazellulär durch das Epithel zu treiben. Es genügen ja auch kaum messbare Tonizitätsunterschiede, um große Wasservolumina durch das Epithel zu transportieren. All dies sind wesentliche Eigenschaften eines Massentransport-Epithels.

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12.5 Aktive Na+-Resorption und die Folgen

+

[K ]

–

Cl

+

+

[K ]

[K ]

mV

–

HCO3 2+

Ca

mV

+

Na

+ 2 D[K ] erzeugt

4 Em– Ex = elektrische Triebkraft

Blut

Lumen

Membranpotenzial Em

K

6 Na+-Transport

+

durch Kanäle

+

Na

ATP

K

+

+

Em und D[Na ] treiben + Na in die Zelle

+

Na

1 Na+-K+-ATPase

Antiport

+

+

[Na ]

[Na ]

145 mmol/l

+

[Na ]

145 mmol/l

15 mmol/l

H



Dicarboxylat Glucose°

+ +

Na

+

Na

–

Cl Symport

+

3 Na

+

Na

7 elektrogener, sekundär+ +

3 D[Na ] = chemische + Triebkraft für Na

Abb.12.18 Triebkräfte des tubulären Transports. Der primär-aktive Transport von Na+ aus der Zelle und von K+ in die Zelle (1) erzeugt chemische (3), elektrische (2) und osmotische Triebkräfte für fast alle anderen Transportmechanismen, ein Umstand, der die Effizienz der Na+-K+-ATPase und

Die hohe Wasserpermeabilität des proximalen Tubulus beruht nur zum kleineren Teil auf der Leckheit seiner Tight Junctions. Entscheidender ist, dass sowohl in der luminalen als auch in der basolateralen Zellmembran Wasserkanäle (AQP1, Aquaporin 1) eingebaut sind (14). Nach seinen vielfachen Windungen (Pars convoluta, engl.: proximal convoluted tubule, PCT) durch die Nierenrinde steigt der proximale Tubulus mit seiner Pars recta (engl.: proximal straight tubule, PST) in den äußeren Streifen des Nierenmarks ab (Abb. 12.10, S. 332). Dass die Zellgröße, die Dichte und Höhe des Bürstensaums, die Tiefe der basolateralen Einfaltungen sowie die Mitochondriendichte entlang des proximalen Tubulus abnehmen, ist ein Zeichen dafür, dass die Transportaufgaben entlang des proximalen Tubulus quantitativ abnehmen. Man unterscheidet die Segmente S1 (Großteil des Konvoluts) und S2 (spätes Konvolut und erster Teil der Pars recta) sowie das ausschließlich medullär gelegene Segment S3 (Rest der Pars recta).

5 elektroneutraler sekundär-

aktiver Na -Kotransport

aktiver Transport

damit des ATP-Verbrauchs stark erhöht. Das Minuszeichen bei den mV-Werten in 2 heißt, dass das Zellinnere negativ ist. Ex in 4 ist das Gleichgewichtspotenzial für das betreffende Ion (s. S. 24 f.) (elektronenmikroskopische Aufnahme: W. Kriz).

Die erste Phase der proximalen Resorption: Na+-Symport und Na+-Antiport Im frühproximalen Tubulus verlässt Na+ das Lumen über diverse Symportcarrier (Glucose, Aminosäuren, Phosphat u. a.) sowie über einen Na+-H+-Austauschcarrier, der hier vor allem für die Bicarbonatresorption sorgt. Die meisten Symportcarrier sind elektrogen, so dass sich ein lumennegatives transepitheliales Potenzial entwickelt, mit dessen Hilfe CI–-Ionen parazellulär resorbiert werden. Der durch die Resorption jedweder Substanz ausgelöste osmotische Wasserstrom kann wiederum gelöste Stoffe mitreißen (konvektiver Transport oder Solvent Drag), was eine weitere Form des passiven Transports darstellt (s. a. Tab. 12.4, S. 343). Das Ultrafiltrat enthält ca. 145 mmol/l Natriumionen und als begleitende Anionen vor allem Chlorid (115 mmol/l) und Bicarbonat (27 mmol/l), aber auch kleinere Konzentrationen von Phosphat, Lactat, Acetat, Citrat u. a. Dazu kommen je etwa 5 mmol/l Glucose und Aminosäuren sowie K+, Ca2+ usw. Die Resorption fast aller genannten Stoffe ist in einer ersten, frühproximalen Phase der

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341

12 Die Funktion der Nieren

proximaler Tubulus

0% –

[Cl ]

H2O 2,0

–

–

[Cl ]

mV

Cl

mV

Inulin

1,6

100%

Cl

Blut +

Na 0

Glucose u.a. +

Na

ATP

2

Tubulusharn- /Plasma-Konzentration

1,4

mV –

–

Cl

Cl

1,2

parazellulär

4

–

D[Cl ]

1,0 mV

0,8 0,6

+

K

0,4

+

Na

0,2

Glucose, Aminosäuren u.a.

0

2+

Ca

2+

Mg transepitheliales Potenzial

+2 0

5

–2 0

3

–

Blut

mV

Lumen

1,8

Lumen

342

25 50 75 Länge des proximalen Tubulus (%)

100

1

Abb.12.19 Transepitheliales Potenzial und parazelluläre Resorption von Cl–, Na+, K+, Ca2+ und Mg2+ entlang des proximalen Tubulus. Frühproximal werden Glucose und Aminosäuren durch elektrogenen Na+-Symport rasch resorbiert (1, 2). Dabei wird die luminale Tubuluszellmembran depolarisiert, so dass ein lumennegatives transepitheliales Potenzial von 1 – 2 mV entsteht (1), das kleine Anionen wie Cl– parazellulär aus dem Lumen treibt (3). Durch die frühproximale Resorption von Na+, Glucose, HCO3– (Abb.12.22, 12.32, 12.41) etc. baut sich ein (winziger) osmotischer Gradient auf, der Wasser aus dem Lumen treibt (ersichtlich

am Anstieg des TF/P-Werts für Inulin (1), so dass die luminale Konzentration von Stoffen wie Cl–, die langsamer als Wasser resorbiert werden, über die des Plasmas ansteigt (1) und Cl– nun mit einer chemischen Triebkraft ( [Cl–]) das Lumen verlassen kann: parazelluläre Diffusion durch die Schlussleisten (4). Mittel- bis spätproximal entsteht dadurch nun ein lumenpositives transepitheliales Diffusions-Potenzial (Potenzialumkehr in 1), das seinerseits für die parazelluläre Resorption von Kationen wie Na+, K+, Ca2+ und Mg2+ sorgt (5) (elektronenmikroskopische Aufnahme: W. Kriz).

Resorption direkt an die des Na+ gekoppelt. Frühproximal geschieht die Na+-Resorption nämlich auf folgenden Wegen: a) über einen (elektroneutralen) Na+/H+-Austausch-(Antiport-)Carrier, so dass für jedes resorbierte Na+- ein H+-Ion (sekundär-)aktiv sezerniert wird (Abb. 12.18/5), das frühproximal fast ausschließlich dazu verwendet wird, filtriertes Bicarbonat zu resorbieren (Abb. 12.41, S. 366); b) über eine Reihe von Na+-Symportcarriern, die DGlucose (Abb. 12.19/1 u. 2), neutrale oder saure L-Aminosäuren, Phosphat, Sulfat, Galactose, Vitamin C, Lactat, Acetat, Citrat, Acetoacetat, Succinat oder andere Stoffe sekundär-aktiv in die Zelle schaffen.

sezernieren und die unter b) genannten Stoffe mittels Na+-Symport (sekundär-)aktiv zu resorbieren. Dabei gibt es auch Symportcarrier, die an den Einstrom von zwei oder mehr Na+-Ionen gekoppelt sind. Dadurch erhöht sich die Triebkraft für die sekundär-aktiv transportierte Substanz, und zwar bei zwei Na+-Ionen auf das Doppelte.

Der Na+-Einstrom in die Zelle ist dabei passiv. Die Energie des hohen elektrochemischen Na+-Gradienten (Kap. 2 u. 3) wird also dazu benützt, die unter a) genannten H+Ionen im Austausch gegen Na+-Ionen (sekundär-)aktiv zu

Während es bei a) zum Austausch zweier positiver Ladungen kommt (elektroneutraler Transport), werden bei b) in den meisten Fällen positive Ladungen (z. B. Na+ + neutrale Glucose) in die Zelle geschleust. Ein solcher

Ein Beispiel dafür ist der in der Kaninchenniere gefundene, hochaffine luminale Glucosecarrier SGLT1 am Ende des proximalen Tubulus (S3-Segment). Wegen der Verdoppelung der Triebkraft (und auch wegen der hohen Affinität zu Glucose) kann dieser Carrier die luminale Glucosekonzentration auf wesentlich niedrigere Werte senken als dies der frühproximale, niedrigaffine SGLT2-Carrier vermag, der pro Glucosemolekül nur ein Na+-Ion transportiert (s. a. S. 355).

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12.5 Aktive Na+-Resorption und die Folgen elektrogener oder rheogener Transport depolarisiert die luminale (aber kaum die basolaterale) Zellmembran und ruft durch diese elektrische Asymmetrie ein lumennegatives transepitheliales Potenzial hervor (1 – 2 mV; Abb. 12.19/1), das nun in der Folge einen Teil des filtrierten Chlorids auf parazellulärem Weg aus dem Lumen treibt (Abb. 12.19/3). Die Resorption all dieser im Filtrat gelösten Stoffe verursacht schließlich aus osmotischen Gründen die Resorption von Wasser (relativ leckes Epithel, s. o.), und dieser Wasserfluss reißt wiederum gelöste Stoffe mit: konvektiver Transport oder Solvent Drag. Dies ist ein passiver Transportmechanismus, der dann zum Tragen kommt, wenn der Reflexionskoeffizient · des betreffenden Stoffes kleiner als 1 ist. Für Na+ und Harnstoff z. B. beträgt · im proximalen Tubulus 0,68, so dass diese beiden Stoffe (ebenso wie einige andere) das Lumen auch per Solvent Drag passiv verlassen können. Die Bilanz der frühproximalen Phase lautet, dass mehr als 80 % des Bicarbonats und mehr als 90% der Glucose und der meisten Aminosäuren sowie die Hauptmasse der anderen zusammen mit Na+-kotransportierten Substanzen resorbiert worden sind. Die luminale Konzentration dieser Stoffe sinkt daher trotz der gleichzeitigen Wasserresorption im ersten Drittel des proximalen Tubulus sehr stark ab (Abb. 12.19/1 u.12.31, S. 355). Auch ein Teil des Na+ und des Cl– hat das Lumen verlassen, doch ist dort die Konzentration von Na+ praktisch unverändert geblieben und die von Cl– sogar deutlich angestiegen (Abb. 12.19/1).

Die zweite Phase der proximalen Resorption: Chlorid, Natrium und andere Kationen Im frühproximalen Tubulus war die CI–-Konzentration im Lumen über die des Plasmas angestiegen. Dieser chemische Gradient treibt CI– in späteren Abschnitten des proximalen Konvoluts parazellulär aus dem Lumen, so dass jetzt ein lumenpositives transepitheliales Potenzial entsteht, also eine Triebkraft für die parazelluläre Resorption von Kationen wie Na+, K+, Mg2+ und Ca2+. Zusätzlich wird Na+ weiter aktiv resorbiert (s. a. Tab. 12.4). Frühproximal hinkte die Resorption von Chlorid der von Wasser hinterher, so dass sich bis zum Beginn der zweiten Phase, d. h. nach etwa einem Viertel des proximalen Tubulus, die luminale CI–-Konzentration gegenüber der im peritubulären Interstitium erhöht hat (Abb. 12.19/1). Diese Konzentrationsdifferenz ist nun die Triebkraft für die parazelluläre CI–-Diffusion von der Lumen- auf die Blutseite des Epithels (Abb. 12.19/4). Auf diesem Weg wird ein weiterer Teil des filtrierten CI– resorbiert, doch entwickelt sich jetzt, da CI– ja negativ geladen ist, ein lumenpositives transepitheliales Potenzial von bis zu 2 mV (Potenzialumkehr; Abb. 12.19/1). Dieses treibt Kationen aus dem Lumen, so dass es jetzt zu einer passiven parazellulären Resorption von Na+, K+, Mg2+ und Ca2+ kommt (Abb. 12.19/5). Festzuhalten ist, dass die Triebkräfte für den parazellulären Transport durch die aktive Na+-Resorption in der ersten und zweiten Phase aufgebaut werden. Die passiven Folgemechanismen erhöhen also die Anzahl der

Tabelle 12.4 Transportprozesse im proximalen Tubulus („leckes“ Epithel, „Massentransport“; s. a. Tab. 12.7, S. 356) Resorption von – Na+: transzellulär (basolateral: Na+-K+-ATPase, Na+-HCO3–-Symport; luminal: Na+-Symport mit Glucose u. v. a., Na+/H+-Antiport) sowie parazellulär; – Cl–, K+, Ca2+, Mg+: v.a. parazellulär – HCO3–: sezerniertes H+ + filtriertes HCO3– Ð CO2 (wird resorbiert) + H2O – Wasser: osmotische Triebkraft (proximaler Tubulusharn bleibt isosmolal) – Phosphat (PTH-abhängig), Glucose, Aminosäuren, Harnsäuren u. a. (Na+-Symport) – Peptide (luminaler Abbau zu Aminosäuren oder H+-Symport) – Proteine (Endozytose) – Harnstoff (Diffusion) Sekretion von – H+ (Na+/H+-Antiport, H+-ATPase) – NH3, NH4+ – div. organischen Säuren und Basen

transportierten Na+-Ionen pro verbrauchter ATP-Menge und damit die Effizienz der Na+-K+-ATPase. Während diese nämlich nur 3 mol Na+/mol ATP durch die basolaterale Membran pumpen kann, erhöht sich dieses Verhältnis durch die passiven Folgemechanismen auf fast 10 mol Na+/mol ATP. Die passive Resorption von CI– und Na+ in der zweiten Phase reicht allerdings nicht aus, um das „Klassenziel“ des proximalen Konvoluts, die Resorption von ca. 60 % des filtrierten Na+ und gut die Hälfte des CI–, zu erreichen. Deshalb wird auch in der zweiten Phase Na+ aktiv resorbiert. Was jetzt allerdings fehlt, sind die bereits frühproximal resorbierten Partner für den luminalen Symport, und auch der Na+/H+-Austausch wird kaum mehr für die Titration von Bicarbonat gebraucht, da es ja großteils bereits stromaufwärts resorbiert worden ist. Der wahrscheinlichste Mechanismus der Na+-Resorption im mittel- und spätproximalen Tubulus ist ein Na+/H+-Austausch (NHE3-Carrier), gepaart mit einem parallelen CI–/ OH–-Austausch (PDS-Carrier = Pendrin), wobei OH– mit H+ im Lumen zu Wasser reagieren und somit Na+ und CI– äquimolar in die Zelle eintreten (15, 74). Dies zeigt, dass Chlorid im proximalen Tubulus auch transzellulär transportiert werden kann. Für den Cl–-Eintritt in die Zelle wurden darüber hinaus zwei weitere Mechanismen gefunden, bei denen ein Recycling von Formiat– (Abb. 12.20) bzw. die Sekretion von Oxalat2– involviert ist (15). Den Cl–/Formiat–-Austausch besorgt ebenfalls der o. g. PDS-Carrier. Für den (passiven) Austritt von Cl– an der basolateralen Zellseite kommen Cl–-Kanäle, ein K+Cl–-Symporter (Abb. 12.20) und ein Cl–/HCO3–-Austauscher in Frage.

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343

344

12 Die Funktion der Nieren

parazellulär –

–

Cl

pH » 6,5

Cl

NHE3 +

HCOOH –

Na +

H

Cl -Resorption im proximalen Tubulus

pH »7,2

Ähnlich wie oben für Cl– besprochen, hat die Wasserresorption entlang des Tubulus zur Folge, dass sich die tubuläre Konzentration (TF) aller Filtratbestandteile, die nicht rasch aktiv resorbiert werden, im Vergleich zur Plasmakonzentration (P) laufend erhöht, d. h., ihr TF/PQuotient steigt über 1 an. Entlang dieses Konzentrationsgefälles können solche Stoffe folglich das Lumen durch Diffusion dann verlassen, wenn das Epithel für sie permeabel ist. Neben Chlorid (Abb. 12.19/1 u. 4), Mg 2+ und Ca2+ (Abb. 12.36, S. 362) gehört dazu auch der Harnstoff, von dessen filtrierter Menge im proximalen Tubulus etwa die Hälfte auf diesem Weg resorbiert wird (Abb. 12.27, S. 352).

–

HCOO –

Cl

–

PDS

Cl

–

Cl + K

–

Cl -Kanal

–

Cl

Abb.12.20 Cl–-Resorption im proximalen Tubulus. Cl– wird wohl vorwiegend parazellulär (Abb.12.19, S. 342), aber auch transzellulär resorbiert. An der luminalen Membran wurde ein Carrier (Pendrin = PDS) nachgewiesen, der Cl– u. a. gegen Formiat– (HCOO–) austauscht (15, 74); außerdem ist die Zellmembran für Ameisensäure (HCOOH) gut durchlässig (nichtionische Diffusion). Unter Hinzunahme des Na+/H+-Austauschcarriers (NHE3) könnte Cl– somit sekundär-aktiv in der Zelle akkumuliert werden. Dazu muss allerdings das Lumen saurer als die Zelle sein, damit das sezernierte HCOO– im Lumen zu HCOOH titriert werden kann. Erst nachdem frühproximal das filtrierte Bicarbonat resorbiert worden ist, sinkt der pH-Wert in mittleren und späten Teilen des proximalen Tubulus auf 6,4 – 6,6, so dass die formiatvermittelte Cl–-Aufnahme, deren quantitative Bedeutung noch unklar ist, auch erst hier zum Zuge käme. Basolateral könnte Cl– die Zelle passiv über Cl–-Kanäle und einen K+-Cl–-Symportcarrier verlassen.

Konzentrierung schafft Triebkräfte für passive Resorption Durch die Wasserresorption erhöht sich die luminale Konzentration aller Filtratbestandteile, die langsamer als Wasser resorbiert werden. Harnstoff, Cl– und Mg2+ gehören dazu. Für sie entsteht also eine chemische Triebkraft, die die parazelluläre Resorption dieser Stoffe durch Diffusion ermöglicht. Für Inulin ist die Tubuluswand undurchlässig (S. 329 f.). Aus dem Quotienten der Inulinkonzentration im Plasma zu der in der Tubulusflüssigkeit (P/TFIn) an irgendeiner Stelle des Nephrons lässt sich daher direkt die bis dorthin abgelaufene fraktionelle Wasserresorption ablesen. So hat die Analyse von (mit Mikropunktion gewonnener) Tubulusflüssigkeit am Ende des proximalen Konvoluts eine ca. 2,5fach höhere Inulinkonzentration als im Plasma ergeben (so dass sich ein P/TFIn von 1/2,5 = 0,4 errechnet), was heißt, dass dort nur noch 40% des Filtrats fließen und folglich bereits 60 % des Wassers resorbiert sind (s. a. Tab. 12.7, S. 356).

Die Kapillarwand als letzte Hürde der Resorption Für den Übertritt der resorbierten Flüssigkeit vom Interstitium ins Blut ist die Summe von interstitiellem Druck und onkotischem Druck im Plasma (der postglomerulär erhöht ist) abzüglich des Blutdrucks in den peritubulären Kapillaren die treibende Kraft. Die vorigen Abschnitte zeigen bereits, dass die Wasserresorption durch die Tubuluswand eine Folge der Salzresorption ist. Für den anschließenden Übertritt des Wassers vom basolateralen Interstitium in die peritubulären Kapillaren sind, wie an allen Kapillaren (S. 195 f.), die dort herrschenden Druckverhältnisse maßgebend. Schon der relativ hohe hydraulische interstitielle Druck Pint treibt das Resorbat ins Kapillarlumen; er entsteht dadurch, dass sich die resorbierten Stoffe im basolateralen Raum anhäufen, Wasser aus dem Lumen mit sich ziehen und so diesen Raum ausweiten. Das peritubuläre Kapillarblut hat – wegen der glomerulären Abfiltration von Wasser (Abb. 12.14, S. 337) – zudem einen stark erhöhten onkotischen Druck π kap, was den Druckgradient in Richtung Kapillarlumen weiter erhöht (der interstitielle onkotische Druck soll hier einfachheitshalber vernachlässigt werden). Resorptionshemmend wirkt der hydraulische Kapillardruck Pkap, doch ist dieser bei der Passage des Vas efferens im Vergleich zum Glomerulus deutlich abgefallen. Summa summarum existiert also ein hoher effektiver Druck in Richtung Kapillarlumen. Alle drei Drücke variieren mit der Filtrationsfraktion (S. 336 f.). Steigt sie, so erhöhen sich π kap (erhöhter glomerulärer Wasserentzug) und Pint (vermehrtes Resorbat). Da eine vergrößerte Filtrationsfraktion meist durch eine Widerstandserhöhung im Vas efferens verursacht ist, sinkt außerdem Pkap. Jede dieser drei Druckänderungen erhöht also die Flüssigkeitsaufnahme ins Kapillarlumen und gleicht diese sozusagen automatisch an das vergrößerte Filtrat an. Diese Anpassung ist eine wichtige Komponente der glomerulotubulären Balance, d. h. einer konstanten fraktionellen Resorption bei wechselnder GFR. Ob diese Balance noch durch weitere, etwa humorale Signale gehalten wird, ist nicht eindeutig geklärt.

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12.5 Aktive Na+-Resorption und die Folgen Tabelle 12.5

Resorption in der Henle-Schleife

Transportprozesse in der Henle-Schleife

– dicker absteigender Teil: s. Tab.12.4 – dünner absteigender Teil*: Resorption von Wasser Sekretion von Harnstoff (Recycling, s. u.) – dünner aufsteigender Teil*: Resorption von NaCl (passiv) – dicker aufsteigender Teil: Resorption von Na+ + Cl– → Harnosmolalität sinkt (luminal: Na+-2 Cl–-K+Symport; basolateral: Na+-K+-ATPase und Cl–-Kanäle) Resorption von Na+, K+ (parazellulär) Resorption von Ca2+, Mg2+ (parazellulär; PTH-abhängig) Resorption von NH4+ (Na+-2 Cl–-NH4+-Symport)

In der Henle-Schleife werden ca. ein Viertel des filtrierten Wassers (vor allem im absteigenden Schleifenschenkel) und ein Drittel des filtrierten NaCl resorbiert, und zwar vor allem im dicken aufsteigenden Teil der Schleife (TAL), dessen Wand relativ wasserdicht ist und dessen luminale Membran einen Na+-K+-2 Cl–-Symportcarrier (BSC1) besitzt, der durch Schleifendiuretika wie Furosemid gehemmt werden kann. In Kooperation mit der basolateralen Na+-K+-Pumpe resorbiert dieser Carrier aktiv NaCl, so dass der Tubulusharn hypoton, das Interstitium dagegen hyperton wird. Das lumenpositive transepitheliale Potenzial sorgt für die parazelluläre Resorption von Na+, K+, Ca2+ und Mg2+ (s. a. Tab. 12.5). Die Hauptaufgabe der Henle-Schleife, die haarnadelförmig von der Rinde ins Mark und wieder zurück zieht, ist die Etablierung osmotischer Gradienten; sie sind die Voraussetzung für die Konzentrierung des Urins, eine gemeinsame Leistung von Henle-Schleife, Sammelrohr und Vasa recta. Im nächsten Abschnitt dieses Kapitels wird davon eingehend die Rede sein. Hier soll nur kurz betrachtet werden, was sich am Tubulusharn zwischen Beginn („spätproximal“) und Ende („frühdistal“) der Henle-Schleife ändert: – Der Quotient P/TFIn (S. 344) ist auf etwa 0,14 abgesunken, d. h., frühdistal kommen nur noch rund 14 % des filtrierten Wassers an (endproximal waren es noch etwa 40 %; Abb. 12.21). – Die Konzentration von Natrium und Chlorid ist frühdistal fast auf die halbe Plasmakonzentration abgesun-

Macula densa: Überprüfung des NaCl-Gehalts im Tubulusharn: → Tubulo-glomeruläre Rückkopplung (TGF) * Die beiden dünnen Teile der Henle-Schleife werden intermediärer Tubulus genannt.

ken (TF/PNa = 0,6). Berücksichtigt man die Wasserresorption bis zu diesem Punkt, so lässt sich errechnen (TF/PNa mal P/TFIn = 0,6 · 0,14 = 0,08), dass frühdistal nur noch 8 % der filtrierten Na+-Menge ankommen,während es spätproximal noch rund 40 % waren (Abb. 12.22). – Auch die Osmolalität des Urins ist von den isosmolalen Werten des spätproximalen Tubulus (290 mosm/ kg H2O) frühdistal auf rund 70 – 150 mosm/kg H2O gesunken.

Filtrat H2O

H2O

unter ADH-Kontrolle H 2O

H2O

tubulärer Wasserfluss in % der GFR

100

80

60

40

ca. 40%

ohne ADH

20

14%

wasserdicht 0

5 –10%

0,5 –7%

mit ADH

Endurin

Abb.12.21 Wasserresorption: Sie ist am Ende der HenleSchleife zu ca. 86% abgeschlossen. Verbindungstubulus und Sammelrohr stehen unter der Kontrolle von ADH, in dessen Anwesenheit (bei Wassermangel) bis auf wenige Bruchteile

eines Prozents auch der Rest des filtrierten Wassers resorbiert wird (Antidiurese). Bei Wasserüberfluss (keine ADHAusschüttung) kann die fraktionelle Wasserausscheidung andererseits 7% und mehr betragen (Wasserdiurese).

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345

12 Die Funktion der Nieren Filtrat +

Na

+

Na

100 150

Plasmakonzentration +

Na

+ +

Na

unter Atriopeptinund PGE2-Kontrolle +

Na

+

Na -Konzentration 100

+

Na -Menge

+

Na

75

50

ca. 40% 50 25

+

unter Aldosteronkontrolle

Na -Konzentration (mmol/l)

+

Na

% der filtrierten Na -Menge

346

mit Atriopeptin und PGE2

8% mit Aldosteron 0

0,5–5% 0

Endurin

Abb.12.22 Die Na+-Resorption ist Aufgabe des ganzen Nephrons und des Sammelrohrs, wobei dieses und der Verbindungstubulus unter der Kontrolle von Aldosteron (steigert Na+-Resorption) sowie von Atriopeptin und Prostaglandin E2 (senken Na+-Resorption) stehen; somit kann die fraktionelle Na+-Ausscheidung zwischen ca. 0,5 und 5%

Diese Zahlen zeigen, dass die Henle-Schleife rund ein Viertel der filtrierten Menge an Wasser, ca. ein Drittel des Natriums und Chlorids resorbiert und einen hypotonen Tubulusharn in Richtung distales Konvolut entlässt (daher auch der Name „Verdünnungssegment“ für diesen Tubulusabschnitt). Neben den bereits besprochenen Resorptionsmechanismen des proximalen Tubulus, die qualitativ auch für dessen Pars recta gelten, ist an diesen Resorptionsleistungen ein Symportcarrier in der luminalen Membran der dicken, aufsteigenden Schleife (TAL = Thick Ascending Limb) beteiligt, der gleichzeitig 1 Na+, 1 K+ und 2 Cl– transportiert, wobei es wieder die Na+-K+ATPase ist, die den treibenden Na+-Gradienten aufrechterhält (Abb. 12.23/1). Cl– wird so sekundär-aktiv in der Zelle akkumuliert und verlässt diese basolateral durch Cl–-Kanäle vom Typ CLC-Kb (78) (Abb. 12.23/2). Medikamentös gehemmt werden kann der luminale Na+-K+2 Cl–-Carrier (NKCC2) durch die nach dem Wirkort benannten Schleifendiuretika (S. 352 f.), z. B. Bumetanid. Deswegen wird der Carrier auch BSC1 (Bumetanid-sensitiver Kotransporter) genannt. Statt K+ kann dieser Carrier auch NH4+-Ionen resorbieren (S. 369). Wichtig ist, dass diese NaCl-Resorption in erster Linie durch den von ihr geschaffenen NaCl-Gradienten von ca. 200 mmol/l limitiert ist (Abb. 12.26, unten; S. 351), so dass bei einem höheren Harnstrom (und unverändertem Gradienten) mehr resorbiert wird. Diese Harnstromabhängigkeit der Na+-Resorption gilt für den gesamten distalen Tubulus ebenso wie für das Sammelrohr. Ein Absinken der NaCl- und Wasserresorption in stromauf-

variieren. Während die proximal-tubuläre Na+-Konzentration praktisch nicht von der im Plasma abweicht, wird ab der Henle-Schleife ein zunehmender Teil der luminalen Osmolalität durch Harnstoff ersetzt (Abb.12.24 u. 12.27), so dass die Na+-Konzentration im Harn bei Na+-Mangel auf wenige Prozent der Plasmakonzentration absinken kann.

wärts gelegenen Tubulusteilen erhöht den Harnstrom in distaleren Abschnitten und wird daher dort durch eine vermehrte Resorption zumindest teilweise wettgemacht. Das von beiden Seiten in die Zelle geschaffte K+ (BSC1Symporter bzw. Na+-K+-ATPase) verlässt die Zelle wieder über ebenfalls beidseitig lokalisierte K+-Kanäle. Während aber die K+-Diffusion basolateral durch die dortige Cl–Auswärtsdiffusion (s. o.) elektrisch neutralisiert wird, gibt es in der luminalen Membran keine Cl–-Kanäle, so dass die ins Lumen diffundierenden K+-Ionen (K+-Recycling) eine Hyperpolarisierung der luminalen Membran und damit ein lumenpositives transepitheliales Potenzial verursachen. Dieses treibt nun Na+, K+, Ca2+ und Mg2+ passiv durch die Schlussleisten, die in diesem Tubulusteil besonders für Kationen durchlässig sind (Abb. 12.23/3) (26, 28). Chronische orale NaCl-Belastung sowie längerfristig gesteigerte ADH-Konzentration (V2-Rezeptoren) erhöhen die Carrierdichte (22,35). Genetische Defekte von einem der drei an der NaClResorption im beteiligten Transporter (BSC1, ClC-Kb, luminaler K+-Kanal) führen zum Bartter-Syndrom [20, 72]. Dabei ist die Na+-, Cl–-, Ca2+- und Mg2+Resorption im dicken aufsteigenden Teil der HenleSchleife vermindert (also ganz ähnlich wie bei Gabe eines Schleifendiuretikums, S. 353), was durch daraufhin vermehrte Resorption von Na+, Cl– und Mg2+ in stromabwärts gelegenen Tubulus- und Sammelrohrsegmenten für Mg2+ ganz, für Na+ und Cl– aber nur teilweise wettgemacht werden kann; für Ca2+ sinkt

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im dicken aufsteigenden Teil der Henle-Schleife

12.5 Aktive Na+-Resorption und die Folgen

Schlussleisten +

K – 2Cl

+

Na Na+-K+ATPase

+

Na

–

2Cl

–

2Cl

ATP

BSC1

1

+

–

+

kann durch Schleifendiuretika gehemmt werden

+

Na - 2 Cl - K - Kotransport

Cl–-Kanal (CLC-Kb)

+

Na

Na

K+-Kanal (ROMK)

+

parazellulär

+

K +

K

+

Na 2+ Mg + K 2+ Ca

Cl–-Kanal (CLC-Kb)

–

2 Cl

–

2 Cl

+

Na

mV mV

mV mV

2 + K -Rezirkulation

K 2+ Ca 2+ Mg

3 transepitheliales Potenzial

4 Endeffekt: + – + 2+ 2+ Resorption von Na , Cl , K , Ca , Mg

Kationenresorption

Lumen-positives Potenzial

Abb.12.23 Die Resorption im dicken aufsteigenden Teil (= TAL = Thick Ascending Limb) der Henle-Schleife ist durch eine hohe Na+-Pumpaktivität gekennzeichnet (dichtgepackte, ATP-liefernde Mitochondrien, s. Foto). Lumenseitig wird der Na+-Gradient zur sekundär-aktiven, elektroneutralen Aufnahme von Cl– und K+ genutzt (1). Durch Kanäle (ROMK) diffundiert K+ zurück ins Lumen (Rezirkulation), Cl– hingegen durch ClC-Kb-Kanäle auf die Blutseite (2). Die Diffusion von K+ hyperpolarisiert dabei die luminale Membran, so dass ein hohes, lumenpositives transepitheliales Potenzial entsteht (2), entlang dessen nun Na+, K+, Ca2+ und

dort sogar die Resorption (s. a. S. 362). Die erhöhte Na+-Resorption im Sammelrohr lässt dort zudem die K+- und H+-Sekretion steigen. Die Folgen sind daher u. a. Hypovolämie (Na+-Verlust) mit sekundär erhöhter Aldosteronausschüttung (sekundärer Hyperaldosteronismus), Hypokalzämie und hypokaliämische Alkalose (s. Kap. 13).

Distal wird über die Na+-Ausscheidung entschieden Hormone (ADH, Aldosteron, Atriopeptin) und andere Signale passen die NaCl-Resorption in distalem Konvolut (DCT), Verbindungsstück (CNT) und Sammelrohr (CD) sowie die Wasserresorption in CNT und CD an den Bedarf an. In Anwesenheit von Adiuretin wird der Harn im Sammelrohr hyperton. Dabei werden weiterhin Na+ und Cl– resorbiert und als wichtigste Osmolalitätskomponente zunehmend durch den aus dem Mark herangeführten Harnstoff ersetzt. In die Zellen des distalen Konvoluts gelangt NaCl über einen Na+-Cl–-Symportcarrier (TSC) und in die Hauptzellen von Verbindungsstück und Sammelrohr durch einen Na+-Kanal (Tab. 12.6). Letzteres depolarisiert die luminale Zellmembran, was dort die K+-Sekretion erhöht, und er-

Mg2+ durch die kationenpermeablen Schlussleisten resorbiert werden können (3). Im Endeffekt wird hier also aktiv NaCl resorbiert, dem Kationen (inkl. Na+) passiv folgen (4); der transmembranale K+-Transport durch basolaterale Kanäle (der dort den Cl–-Ausstrom elektrisch neutralisiert) und mittels Na+-K+-ATPase ist hier der Übersichtlichkeit wegen nicht mit eingezeichnet. Für Wasser ist dieses Tubulussegment weitgehend dicht, so dass der aktive NaCl-Transport einen transepithelialen osmotischen Gradienten schafft (Abb.12.26, S. 351) (elektronenmikroskopische Aufnahme: W. Kriz).

zeugt damit ein lumennegatives transepitheliales Potenzial, mit dessen Hilfe parazellulär Cl– resorbiert werden kann. Im Sammelrohr kann NaCl gegen einen chemischen Gradienten resorbiert werden, so dass die NaCl-Konzentration im Endharn bei Bedarf auf wenige mmol/l absinken kann (s. a. Tab. 12.7, S. 356). An die Henle-Schleife schließt sich die Pars convoluta des distalen Tubulus (distal convoluted tubule, DCT) an, die über ein Verbindungsstück (connecting tubule, CNT) in das Sammelrohr (collecting duct, CD) mündet. Dieses beginnt als kortikales Sammelrohr (CCD), in das etwa 10 Tubuli einmünden, und zieht als medulläres Sammelrohr (MCD) durchs Nierenmark. Auf diesem Weg treten die Sammelrohre zu immer dickeren Röhren zusammen, so dass schließlich an der Papille der Harn von gut einer Million Nephrone in rund 350 papillären Sammelrohren das Nierenbecken erreicht.

Die Schlussleisten des distalen Konvoluts sind mehrfach gestaffelt, so dass es sich hier um ein relativ dichtes Epithel handelt (Kap. 3). In den Verbindungsstücken tauchen erstmalig sog. Schaltzellen (intercalated cells) auf, die in den Epithelverband der Hauptzellen (Principal Cells) einzeln eingestreut sind (Abb. 12.30, S. 355, u. Abb. 12.10 F, S. 332). Die Schaltzellen finden sich auch im kortikalen und frühmedullären Sammelrohr. Sie haben zwei Funktionszustände (Abb. 12.40, S. 365): Entweder

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347

348

12 Die Funktion der Nieren ragen sie mit einer großflächigen, mikrovillibesetzten luminalen Zellseite in das Lumen vor (Funktionstyp A), oder die luminale Zellmembran ist kleinflächig retrahiert (Funktionstyp B). Typ A sezerniert H+-Ionen, während Typ B HCO3– sezerniert. Die „Umschaltung“ von A nach B beinhaltet also u. a. einen „seitenverkehrten“ Einbau von H+- und HCO3–-Transportproteinen. Dies zeigt, dass die Regelung der distal-tubulären Transporteigenschaften sogar einen morphologisch sichtbaren Umbau der Epithelzellen einschließen kann. Der Harn, der ins distale Konvolut eintritt, ist hypoton (Abb. 12.26, S. 351). Da das Epithel dieses Tubulussegments nur sehr wenig wasserdurchlässig ist, NaCl dort aber weiter resorbiert wird (s. u.), sinkt die NaCl-Konzentration und damit die Osmolalität des Harns weiter ab. Erreicht dieser hypotone Harn dann den Verbindungstubulus und das kortikale Sammelrohr, so kommt es so lange zum Wasserausstrom ins isotone Interstitium der Nierenrinde, bis der Harn wieder isoton ist. (Voraussetzung für diesen Wasserausstrom ist die Anwesenheit von ADH; S. 352). Trotz dieser Isotonizität des Harns bleibt dessen Na+- und Cl–-Konzentration aber relativ gering (Abb. 12.22, S. 346), da ein wachsender Anteil der luminalen Osmolalität vom Harnstoff bestritten wird (Abb. 12.24 u.12.27, S. 352). Im distalen Konvolut (= DCT = distal convoluted tubule) wird NaCl über einen luminalen Na+-Cl–-Symportcarrier resorbiert, wobei es wieder die Na+-K+-ATPase ist, die den Na+-Gradienten über die luminale Membran aufrechterhält (Abb. 12.18/5, S. 341) (27). Dieser elektroneutrale Na+-Cl–-Transporter kann durch Aldosteron induziert (36) sowie durch Thiazide gehemmt werden (s. S. 353) und wird daher TSC (Thiazid-sensitiver Kotransporter) genannt. Cl– verlässt die Zelle über Cl–Kanäle (Typ ClC-Kb) (78). Genetische Defekte des TSC führen zum GitelmanSyndrom (72). Dabei ist die Resorption von Na+, Cl– und Mg2+ im distalen Konvolut vermindert und die von Ca2+ erhöht. Wie beim Bartter-Syndrom (s. o.) wird daraufhin im Sammelrohr zwar Na+ und Cl– vermehrt resorbiert (und K+ und H+ sezerniert), doch gehen neben Mg2+, K+ und H+ auch Na+ und Cl– mit dem Harn verloren. So entsteht eine Hypovolämie mit sekundär erhöhtem Aldosteron sowie eine hypokaliämische Alkalose und eine Hypomagnesiämie. Im Verbindungsstück (= CNT = connecting tubule) sowie im gesamten Sammelrohr (= CD = collecting duct) wird Na+ von den Hauptzellen resorbiert, die in ihrer luminalen Membran einen amiloridempfindlichen (S. 353) und durch Aldosteron steuerbaren Na+-Kanal (ENaC = Epithelial Na+-Channel) besitzen (Abb. 12.18/6, S. 341) (53). Da die Schlussleisten des Sammelrohrs für Kationen relativ dicht sind, depolarisiert das in die Zelle einströmende Na+ die luminale Membran. Die Folge ist ein lumennegatives transzelluläres Potenzial, das (a) den Ausstrom von K+ ins Lumen fördert (S. 354 f.) und (b) eine Triebkraft für die Cl–-Resorption darstellt. Der Na+Transport durch die luminale Membran von Verbindungsstück- und Sammelrohrhauptzellen ist elektrogen und daher vom Membranpotenzial getrieben. Folglich ist hier

Tabelle 12.6 Transportprozesse in distalem Konvolut, Verbindungstubulus und Sammelrohr Distales Konvolut (DCT = distal convoluted tubule) – Resorption von Na+ + Cl– (luminal: Na+-Cl–-Symport; basolateral: Na+-K+-ATPase und Cl–-Kanäle) – Resorption von Ca2+, Mg2+ (PTH-abhängig; luminal: Kanäle; basolateral : ATPasen, 3Na+/Ca2+-Antiport) Verbindungstubulus (CNT) und Sammelrohr (CD) Hauptzellen (CNT und CD): – Resorption von Na+: Aldosteron-, Atriopeptin- und ADH-abhängig (luminal: Na+-Kanäle; basolateral: Na+-K+-ATPase) – Sekretion von K+: Abhängig von Na+-Resorption und damit Aldosteron etc. (luminal: K+-Kanäle; basolateral: Na+-K+-ATPase) Schaltzellen (CNT und kortikaler CD): Zelltyp A: – Sekretion von H+ (luminal: H+/K+-ATPase; basolateral: HCO3– /Cl–-Antiport durch AE1) – Resorption von K+ (luminal H+/K+-ATPase) Zelltyp B: – Sekretion von HCO3– (luminal: HCO3–/Cl–-Antiport durch PDS (Pendrin); basolateral: H+-ATPase) Medullärer CD: – Resorption von Wasser: ADH-abhängig – Resorption von Harnstoff (Recycling, s. o.): ADH-abhängig – Sekretion von NH3 (+ H+ Ð NH4+)

ein ins Zellinnere gerichteter chemischer Na+-Gradient für die Resorption nicht nur unnötig, sondern die luminale Na+-Konzentration kann im Sammelrohr sogar unter die in der Zelle herrschenden Werte (10 – 30 mmol/l) abgesenkt werden. Damit können im Harn extrem niedrige Na+-Konzentrationen erreicht werden, bei Na+-Mangel bis herab auf wenige mmol/l. Aldosteron stimuliert nicht nur den ENaC (vermehrter Einbau und erhöhte Offenwahrscheinlichkeit), sondern auch andere Komponenten der Na+-Resorption durch die Hauptzellen, so die aplikalen K+-Kanäle, die basolaterale Na+-K+-ATPase (Abb. 12.29 rechts; S. 354) sowie den mitochondrialen Stoffwechsel. ADH stimuliert ebenfalls den ENaC (erhöhte Offenwahrscheinlichkeit). Eine autosomal dominant vererbte Mutation der βUntereinheit des ENaC (59) führt dazu, dass dieser Kanal auch bei sehr niedrigen Aldosteronkonzentrationen dauernd offen ist. Die Folgen sind eine ungeregelte Na+-Retention mit Hypervolämie und Volumenhochdruck sowie K+-Verluste, die zu einer Hypokaliämie führen: Liddle-Syndrom. Diese Symptome gleichen denen bei zu hoher Aldosteronsekretion, doch ist diese beim Liddle-Syndrom extrem niedrig, so dass das Syndrom auch Pseudoaldosteronismus genannt wurde. Behandelt werden kann die Störung mit Hemmern des ENaC (Amilorid, Triamteren; s. Diuretika, S. 353 f.). Natriuretisch wirken das am medullären Sammelrohr angreifende Atriopeptin (= ANF = ANP; s. S. 160 f. u. 382), das intrarenal gebildete Prostaglandin E2, das am TAL und im Sammelrohr die Na+-Resorption hemmt, sowie das

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12.6 Harnkonzentrierung und Diurese

mosm/kg H2O

Rinde:

290

ADH-Kontrolle Blut

H2O

NaCl

Vasa recta

H2O

äußeres Mark:

800

HenleSchleife

aufsteigendes Vas rectum

Harnstoff

absteigendes Vas rectum Sammelrohr

inneres Mark:

ADH-Kontrolle

1200

dünner Teil der Henle-Schleife

Sammelrohr

Abb.12.24 Das Nierenmark wird von fünf eng benachbarten Strukturen durchzogen, die in kortikomedullärer Richtung parallel verlaufen: ab- und aufsteigender Teil der HenleSchleife, ab- und aufsteigende Vasa recta sowie das Sammelrohr. Aktiver NaCl-Transport (Abb.12.23), Harnfluss im Gegenstrom (Abb.12.26) in der Henle-Schleife sowie das Kreisen des Harnstoffs im Nierenmark sorgen für einen kortikomedul-

wahrscheinlich in der Nebennierenrinde gebildete Ouabain, ein Hemmer der Na+-K+-ATPase (S. 30 f.). Weitgehend unabhängig von der Na+-Resorption kann in Verbindungstubulus und Sammelrohr die Resorption von Wasser geregelt werden. Soll sie, wie etwa bei Wassermangel, erhöht sein, setzt Adiuretin Wasserkanäle (AQP2 = Aquaporin 2) in die apikale (luminale) Membran der Epithelwand ein (S. 390). Im Verbindungstubulus und im Sammelrohr werden von den dortigen Schaltzellen (Typ A) außerdem H+-Ionen sezerniert (s. o.), was für die Säureausscheidung eine wichtige Rolle spielt (S. 317 u. 365).

12.6

Harnkonzentrierung und Diurese

Je nach Wasseraufnahme können die Nieren 0,3 – 20 % der GFR ausscheiden, also etwa 0,35 ml/min (Antidiurese; Urinosmolalität ca. 1300 mosm/kg H2O) bis maximal 25 ml/min (Wasserdiurese; 50 mosm/kg H2O). Voraussetzungen für die Urinkonzentrierung sind – ein kortikomedullärer osmotischer Gradient, dessen Motor der NaCl-Transport im dicken aufsteigenden Teil der Henle-Schleife (TAL) ist und der durch Gegenstrom-„Multiplikation“ aufrechterhalten wird; – eine Blutversorgung im Gegenstrom (Gegenstromaustausch in den Vasa recta); – eine Rezirkulation von Harnstoff: medulläres Sammelrohr → dünner Teil der Henle-Schleife → TAL → distales Konvolut → medulläres Sammelrohr;

interstitielle Zelle

lären osmotischen Gradienten (290 → ca. 1200 mosm/kg H2O) im Interstitium, der die Wasserresorption aus der HenleSchleife und aus dem medullären Sammelrohr antreibt. Da ab der Henle-Schleife NaCl im Lumen zunehmend durch rezirkulierenden Harnstoff ersetzt wird (Abb.12.27), kann im Nierenmark prozentual mehr NaCl als Wasser resorbiert werden (vgl. Abb.12.21 mit 12.22; S. 345 f.) (Foto: W. Kriz).

– eine (durch ADH verursachte) Wasserdurchlässigkeit des Sammelrohrs. Ohne ADH sind Verbindungstubulus und Sammelrohr wasserdicht, so dass der am Ende des TAL bereits hypotone Urin durch NaCl-Resorption noch hypotoner wird: Wasserdiurese. Eine osmotische Diurese wird durch Nichtresorption filtrierter Stoffe ausgelöst, während Diuretika die Na+-Resorption in unterschiedlichen Tubulusabschnitten hemmen. Die Niere ist für die Bilanzierung des Wasserhaushalts verantwortlich (Kap. 13). Bei hoher Wasseraufnahme wird ein großes Volumen hellen Harns (maximales Harnzeitvolumen = 25 ml/min = 20% der GFR) mit geringer Osmolalität (minimal ca. 50 mosm/kg H2O) ausgeschieden (Osmolalität s. S. 866). Bei Wassermangel kann die Osmolalität des (nun dunklen) Urins auf rund 1300 mosm/kg H2O ansteigen. Da pro Tag etwa 600 mosm harnpflichtige Substanzen (Harnstoff u. a.) ausgeschieden werden müssen, genügt dazu also ein minimales Harnzeitvolumen von ca. 0,35 ml/min oder 0,5 l/d, was nur etwa 0,3% der GFR entspricht. Wie Harn einmal konzentriert und einmal verdünnt wird, ist Thema der folgenden Abschnitte.

Der Gegenstromtrick Warum kühlt ein Vogel nicht aus, wenn er auf dem Eis steht? Weil in seinen Beinen das Blut in den Venen in entgegengesetzter Richtung zu den eng benachbarten

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350

12 Die Funktion der Nieren Arterien fließt, so dass das in den Füßen abgekühlte venöse Blut auf jeder Ebene wieder vom arteriellen Blut aufgewärmt wird. Gleichzeitig kühlt das Arterienblut Schritt für Schritt ab und hat an der Fußsohle nur noch wenige 8C. In diesem Gegenstrom-Austauschsystem entsteht also auf jeder Ebene ein Wärmekurzschluss zwischen Arterie und Vene (Abb. 12.25 C). Mit den langgestreckten arteriellen und venösen Vasa recta besitzt auch das Nierenmark ein Gegenstrom-Austauschsystem, doch wird es in Richtung Schleifenscheitel natürlich nicht kälter, sondern es steigt die Osmolalität kontinuierlich an, und zwar von 290 mosm/kg H2O in der Rinde bis auf ca. 1300 mosm/kg H2O in der Papillenspitze. Dieser kortikomedulläre osmotische Gradient entzieht dem papillenwärts fließenden arteriellen Blut zunehmend Wasser, welches gleich wieder in das von der Papille kommende, hyperosmolale Blut der venösen Gefäße aufgenommen wird (Abb. 12.24 u.12.25 D). Ein Großteil des Wassers kehrt also sozusagen schon im äußeren Markbereich wieder um, so dass die Konzentration der meisten gelösten Stoffe im Gefäßlumen papillenwärts laufend ansteigt. Mit diesem Gegenstromaustausch wird die notwendige Durchblutung erreicht, ohne dass der für die Harnkonzentrierung wichtige osmotische Gradient im Nierenmark ausgewaschen wird. Wie dieser Gradient entsteht, schildert der nächste Abschnitt.

Der Motor im dicken Schleifenende Auch der Harn in der Henle-Schleife fließt im Gegenstrom von der Rinde zum Mark und wieder zurück (Abb. 12.10, S. 332). Die dabei unterwegs ablaufende aktive NaCl-Resorption im dicken aufsteigenden Schleifenschenkel (Abb. 12.23/4, S. 347) ist der „Motor“ des Konzentrierungsmechanismus. Der ganze aufsteigende Schleifenschenkel ist außerdem weitgehend wasserdicht. Das hinausgepumpte NaCl hinterlässt daher nicht nur einen verdünnten Schleifenurin im Lumen (S. 346), sondern erhöht jenseits der Epithelwand die Osmolalität des Interstitiums, so dass jetzt aus dem dünnen absteigenden Schleifenschenkel, der (im Gegensatz zum aufsteigenden Schenkel) dank seiner AQP1-Wasserkanäle sehr gut wasserdurchlässig ist, osmotisch Wasser abgezogen werden kann (Abb. 12.24). Dieser Effekt wird dadurch vervielfacht, dass der Tubulusharn im absteigenden Schenkel an einem zunehmend hypertoneren Interstitium und im aufsteigenden Schenkel an einem solchen mit abnehmender Osmolalität vorbeifließt, d. h., es kann Schritt für Schritt weiter Wasser resorbiert bzw. NaCl nachgepumpt werden. Diese Kombination von Gegenstrom und einzelnem Pumpeffekt wird Gegenstrom-„Multiplikation“ genannt (Abb. 12.26). Sie treibt indirekt auch die passiven Transportvorgänge bei der Harnkonzentrierung an. Auch der dünne aufsteigende Schleifenschenkel (den nur juxtamedulläre Nephrone besitzen) ist praktisch wasserdicht. Hier findet zwar kein aktiver NaCl-Transport statt, doch ist dieser Nephronabschnitt sehr gut durchlässig für NaCl. Wegen des Wasserentzugs entlang des absteigenden Schenkels ist die NaCl-Konzentration am Schleifenscheitel außerdem sehr hoch, so dass im anschließenden aufsteigenden dünnen Schleifenteil passiv NaCl resorbiert werden kann. Wie gleich anschließend





100°

Wärmeaustausch

50°

10°

20°

30°

50°

60°

70°

80°

90°

50°

100°

B Gegenstromaustauscher

A gleichlaufendes Austauschsystem

H2 O 37°

35°

27°

25°

17°

15°





400

500 450

600

Wärme

700 650

800 2°

900 850

1000



1100 1050

0° Eis

Eis

1200

C Gegenstromaustausch mit Schleife (Wärme)

1200 mosm/kg H2O

D Gegenstromaustausch mit Schleife (Wasser)

Abb.12.25 Gegenstromsysteme erhöhen die Effizienz von Austauschprozessen (vergleiche Wärmeaustausch in B mit dem in A). Der arteriovenöse Wärmeaustausch im Gegenstrom einer Schleife erlaubt es, die Temperatur der Körperschale unter die des Körperkerns abzusenken (S. 494 f.), so dass z. B. Vögel auf Eis stehen können (C), ohne dass ihr Körperkern abkühlt. In der Niere versorgen die Gegenstromschleifen der Vasa recta das Nierenmark mit Blut, ohne dass dadurch der kortikomedulläre osmotische Gradient ausgewaschen wird (Wasser„kurzschluss“ durch Gegenstromaustausch; D) (nach 67). Auch in der HenleSchleife findet eine Art Gegenstromaustausch statt, doch befindet sich in ihrem aufsteigenden dicken Teil gleichzeitig der „Motor“ des osmotischen Ungleichgewichts: Gegenstrom-Multiplikation (Abb.12.26).

zu sehen sein wird, tritt hier zwar Harnstoff ins Lumen über, doch ist diese Harnstoffaufnahme geringer als die NaCl-Abgabe, so dass der Harn der juxtamedullären Nephrone bereits in diesem Schleifenabschnitt (relativ zur Umgebung) durch rein passiven Transport verdünnt wird. Hier wird also bereits Vorarbeit geleistet für die „aktive Verdünnung“ im dicken aufsteigenden Schleifenteil (s. o.).

Recycling von Harnstoff spart Kochsalz Bis zum Ende des proximalen Tubulus wird etwa die Hälfte des filtrierten Harnstoffs (passiv) resorbiert (Abb. 12.27). Da die anschließende Henle-Schleife in das

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12.6 Harnkonzentrierung und Diurese Füllung

300

300

300

300

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300

300

Strömung

Strömung

Strömung

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200

dicker, aufsteigender Schenkel wasserdicht

usw.

aktive NaCl-Resorption

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425

425

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700

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Resorption

Abb.12.26 Schema der Gegenstrom-Multiplikation in der Henle-Schleife. In der Henle-Schleife fließt der Harn von der Nierenrinde ins Mark und parallel dazu wieder zurück. Aus dem (dicken) aufsteigenden Teil (hier rechts) wird aktiv NaCl resorbiert (Abb.12.23, S. 347), dem Wasser nicht folgen kann (weitgehend wasserdichtes Epithel). Der aktive NaClTransport (untere Reihe) senkt daher die luminale und erhöht gleichzeitig die interstitielle Osmolalität; er erzeugt dabei an jeder Stelle des aufsteigenden Schleifenschenkels einen maximalen osmotischen Gradienten (hier 200 mosm/kg H2O). Der absteigende Schleifenschenkel hingegen steht mit dem

harnstoffreiche Interstitium des Nierenmarks eintaucht (s. u.), kann Harnstoff von dort ins Lumen der absteigenden dünnen Schleifenteile diffundieren, die in ihrer Wand Harnstoff-Carrier (UT2 = Urea Transporter, Typ 2) besitzen. Im weiteren Verlauf sind der gesamte distale Tubulus sowie das kortikale und äußere medulläre Sammelrohr praktisch undurchlässig für Harnstoff, so dass er durch die in Verbindungstubulus und Sammelrohr ablaufende Wasserresorption (Abb. 12.21, S. 345) sehr stark konzentriert wird. Er löst dabei sogar NaCl als wichtigste Osmolalitätskomponente des Harns ab. Erst die Wände des papillären Sammelrohrs sind (in Gegenwart von ADH) wieder für Harnstoff durchlässig (Carriertyp UT1), der nun entlang seines hohen chemischen Gradienten ins Interstitium des inneren Marks ausströmt (Abb. 12.24, S. 349). Im Endeffekt kreist also der Harnstoff von der Henle-Schleife über den distalen Tubulus und das Sam-

Resorption

Resorption

Interstitium an jeder Stelle osmotisch im Gleichgewicht (waagrechte, schwarze Pfeile). In Kombination mit der axialen Strömung (obere Reihe), die hier der Übersichtlichkeit halber als zeitlich getrennter Schritt eingezeichnet ist, resultiert ein in kortikomedullärer Richtung zunehmend hyperosmolales Interstitium, die entscheidende Voraussetzung für die Harnkonzentrierung. Die damit verbundene Wasserresorption findet (in Anwesenheit von ADH) allerdings erst im medullären Sammelrohr statt, das in seinem kortikomedullären Verlauf ja von dem zunehmend hyperosmolalen Milieu des Marks umgeben ist (s. auch Abb.12.24, S. 349).

melrohr zum papillären Interstitium. Dort (wo es im Gegensatz zum dicken aufsteigenden Teil der HenleSchleife ja keine aktive NaCl-Resorption gibt) dient Harnstoff der Harnkonzentrierung, bevor er letztendlich als harnpflichtige Substanz ausgeschieden wird (Abb. 12.27). Da der Harnstoff auch im medullären Interstitium wesentlich zur Gesamtosmolalität beiträgt, kann dort die NaCl-Konzentration relativ niedrig gehalten werden, was, wie oben erwähnt, die passive NaCl-Resorption im inneren Mark ermöglicht. Die fraktionelle Ausscheidung von Harnstoff ist diureseabhängig und beträgt in Antidiurese (V˙u = 0,2 – 0,4 ml/min) ca. 0,2 – 0,4, bei Diurese (V˙u = 5 – 12 ml/min) ca. 0,6 – 0,7. Vermehrte Aufnahme von Proteinen erhöht die Harnstoffbildung (S. 368) und -ausscheidung, was die Konzentrierungsfähigkeit der Nieren ansteigen lässt.

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351

12 Die Funktion der Nieren

dicht für Harnstoff

Resorption ADHabhängig Rezirkulation

100

500

80

400

300

60

Harnstoffmenge 200

40

Harnstoffkonzentration 100

20

Endurin

0

0

Abb.12.27 Harnstoff ist ein Stoffwechsel-Endprodukt, wird aber, etwa im Gegensatz zu Kreatinin, wegen der Harnstoffdurchlässigkeit des proximalen Tubulus, des absteigenden Teils der Henle-Schleife und des papillären Sammelrohrs teilweise (passiv) resorbiert. Bevor Harnstoff die Niere verlässt, wird seine osmotische Wirksamkeit für den Konzentrierungsprozess und für die Einsparung von Na+ im Urin verwendet (Abb.12.24, S. 349). Ab Beginn des dicken aufsteigenden Teils der Henle-Schleife bis zum Beginn des papillären Sammelrohrs kann Harnstoff den Urin nämlich nicht

Konzentriert wird im Sammelrohr Der im letzten Abschnitt der Henle-Schleife und im DCT verdünnte Urin wird (in Anwesenheit von ADH, s. u.) in CNT und kortikalem Sammelrohr wieder isoton. Er erreicht schließlich das medulläre Sammelrohr, in dem er nun erneut von der Rinde in Richtung Papille fließt. Was auf diesem Weg passiert, hängt ebenfalls von der Plasmakonzentration von ADH ab. Ist sie hoch, wie bei Wassermangel, werden Wasserkanäle (AQP2) in die luminale Membran der Hauptzellen eingebaut, was einen osmotischen Wasserausstrom ermöglicht (S. 389 f.). Der Harn kann damit auf seinem Weg zur Papille laufend an die immer höher werdende Osmolalität des Interstitiums angepasst werden und erreicht schließlich hochkonzentriert (maximal ca. 1300 mosm/kg H2O) das Nierenbecken. ADH erhöht nicht nur die Wasserdurchlässigkeit von CNT und Sammelrohr, sondern verstärkt außerdem den kortikomedullären Osmolalitätsgradienten und damit indirekt die Wasserretention dadurch, dass es die Na+-Resorption im TAL verstärkt (Stimulation des Na+-2Cl–-K+-Symporter und der K+-Kanäle in der apikalen Membran). Unter diesen Bedingungen wird also Wasser im Körper konserviert. Wie der Harn verdünnt wird (Wasserdiurese), steht im nächsten Abschnitt.

Harnstoffkonzentration (mmol/l)

Filtrat

% der filtrierten Harnstoffmenge

352

verlassen, so dass er luminal durch Wasserentzug hochkonzentriert wird und, in Anwesenheit von ADH, erst in diesem innermedullären Sammelrohrsegment z. T. ins Interstitium ausströmt. Dort macht er einen wesentlichen Teil der hohen Osmolalität aus. Er tritt dann großteils wieder in die HenleSchleife ein (medullomedulläre Rezirkulation), der Rest wird über Vasa recta im Blut abtransportiert. (Die im Bild gezeigte fraktionelle Harnstoffausscheidung von 40% gilt für ein Harnzeitvolumen von ca. 2 ml/min; ein höherer Harnfluss lässt diesen Prozentsatz ansteigen, ein niedrigerer abfallen.)

Diurese und Diuretika Das Harnzeitvolumen beträgt bei Männern im Mittel 1,35 l/d und bei Frauen 1,15 l/d, wobei ein interindividueller Streubereich von ca. 0,5 bis ca. 2,0 l pro Tag zu beobachten ist. Werte im unteren Bereich (hochkonzentrierter Urin) werden Antidiurese, im oberen Bereich Diurese genannt. Bei Harnmengen über 2 l/d spricht man von Polyurie, bei weniger als 0,5 bzw. 0,1 l/d von Oligurie bzw. Anurie. Außerdem existiert eine ausgeprägte Tagesperiodik, in deren Verlauf der individuelle 24-h-Mittelwert frühmorgens um 40 % unter- und mittags um 40 % überschritten wird. Wasserdiurese. Bei Wasserüberschuss im Körper versiegt die ADH-Ausschüttung, und das Sammelrohr wird, ebenso wie der CNT, undurchlässig für Wasser. Damit bleibt der Harn so hypoton, wie er den DCT verlässt, ja er wird durch die aktive NaCl-Resorption im CNT und im Sammelrohr noch hypotoner (minimal ca. 50 mosm/kg H2O). Diese Urinverdünnung macht also die Ausscheidung großer Wassermengen möglich, ohne dass gleichzeitig NaCl oder andere Stoffe verloren gehen. Bei der Wasserdiurese spricht man auch von der Ausscheidung „freien“ Wassers. Damit ist die Wassermenge gemeint, die einem Urin entzogen werden könnte, bis er die gleiche Osmolalität wie das Plasma (Posm = 290 mosm/ kg H2O) annimmt. Der relative Anteil freien Wassers am Urinvolumen errechnet sich aus 1 – (Uosm/Posm), wobei

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12.6 Harnkonzentrierung und Diurese Uosm die Urinosmolalität ist. Beträgt letztere z. B. 145 mosm/kg H2O, so macht der Anteil freien Wassers 0,5 oder 50% aus. Pathologisch tritt eine Wasserdiurese (erworben oder hereditär) als Diabetes insipidus dann auf, wenn selbst bei Wassermangel kein ADH ausgeschüttet werden kann (zentrale Form) oder die Niere auf ADH nicht anspricht (nephrogene Form). Solche Patienten scheiden bis über 20 l Harn pro Tag aus, wovon rund 80 % freies Wasser sind. Osmotische Diurese. Eine ganz andere Form der Diurese ist häufig bei Patienten mit Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit; S. 556 ff.) zu beobachten, bei denen die Glucosekonzentration im Plasma (Pglc) auf das Vielfache der Norm erhöht ist. Dies führt zwangsläufig auch zu einem Anstieg der glomerulär filtrierten Glucosemenge (GFR · Pglc), so dass die Resorptionskapazität der Tubuli rasch überfordert wird und Glucose im Harn erscheint (Abb. 12.31, S. 355). Diese nichtresorbierte Glucose behindert aus osmotischen Gründen die Resorption von Wasser, und eine osmotische Diurese ist die Folge. Für andere Stoffe tritt sie auch physiologisch auf, z. B., wenn bei einem Höhenaufenthalt vermehrt Bicarbonat ausgeschieden wird (Kap. 11). Schließlich kann sie auch therapeutisch durch Infusion von tubulär nicht resorbierbarem Mannit(ol) ausgelöst werden. Druckdiurese. Wie oben bereits erwähnt, löst ein erhöhter Blutdruck eine vermehrte Wasser- und Salzausscheidung aus (Abb. 12.12, S. 334). Eine der möglichen Erklärungen dafür ist, dass die juxtamedullären Glomeruli nicht streng autoreguliert werden, so dass ein erhöhter Blutdruck eine vermehrte Markdurchblutung und damit eine Auswaschung des medullären osmotischen Gradienten verursacht, dessen Existenz ja Voraussetzung für die Harnkonzentrierung ist. (Die Druckdiurese spielt möglicherweise bei der längerfristigen Blutdruckregulation eine wichtige Rolle; S. 385.) Diuretika. Therapeutisch wird eine Diurese zumeist durch diuretisch wirksame Medikamente erzeugt, wobei es häufig Ziel der Therapie ist, das Extrazellulärvolumen zu verringern. Hypertonie und Ödeme sind dabei die Hauptindikationen. Das Wirkungsprinzip der Diuretika ist primär die Hemmung der tubulären Na+-Resorption (daher auch der Name Saluretika; Abb. 12.28), da sie nicht nur das Primum movens der Wasserresorption darstellt, sondern auch, weil der Na+-Bestand des Körpers das extrazelluläre Volumen bestimmt (S. 381 f.). Im proximalen Tubulus wirken die Hemmer der Carboanhydrase (z. B. Acetazolamid). Ohne Hilfe dieses Enzyms stehen dem proximal-tubulären Na+/H+Austauschcarrier (S. 365 f.) nicht genug H+-Ionen zur Verfügung, so dass die Na+-Resorption sinkt. Die erzielte Diurese ist allerdings nicht sehr stark, da distalere Nephronabschnitte jetzt einem erhöhten Harnstrom ausgesetzt sind und daher vermehrt NaCl resorbieren (S. 346). Außerdem wird durch die Carboanhydrasehemmer gleichzeitig die proximale Bikarbonatresorption gehemmt, so dass diese Pharmaka als Diuretikum

Carboanhydrasehemmer (Acetazolamid u. a.)

Thiazide

distaler Tubulus proximaler Tubulus

Amilorid Triamteren Aldosteronantagonisten

Schleifendiuretika (Furosemid, Bumetanid u. a.)

Henle-Schleife

Sammelrohr

Diurese

Abb.12.28 Tubuläre Wirkorte der Diuretika. Diuretika werden meist dazu eingesetzt, das Extrazellulärvolumen zu vermindern. Sie wirken vor allem über eine Hemmung der tubulären Na+-Resorption. Die Carboanhydrasehemmer vermindern indirekt den proximal-tubulären Na+/H+-Austausch dadurch, dass sie die Bereitstellung von H+-Ionen in der Zelle vermindern. Besonders wirksam sind die sog. Schleifendiuretika, die den Na+-2Cl–-K+-Symport im dicken aufsteigenden Schenkel der Henle-Schleife inhibieren (Abb.12.23/4, S. 347). Im distalen Konvolut sind die Thiazide wirksam, die dort den Na+-Cl–-Symport hemmen. Amilorid blockiert die Na+-Kanäle der Hauptzellen des Sammelrohrs, während die Aldosteronantagonisten die intrazellulären Aldosteronrezeptoren von Verbindungsstück und Sammelrohr hemmen (nach 67).

nur noch dann eingesetzt werden, wenn mit der Bikarbonaturie eine gleichzeitig bestehende Alkalose behandelt werden soll. Furosemid, Bumetanid, Piretanid und andere Schleifendiuretika hingegen hemmen die NaCl-Resorption im dicken aufsteigenden Schenkel der Henle-Schleife (S. 346 f.). (Bei maximaler Dosierung sind sie in der Lage, eine Diurese auszulösen, die ein Viertel der GFR ausmacht!) Auch in diesem Falle gilt, dass ein Teil des Effekts durch eine erhöhte NaClResorption stromabwärts rückgängig gemacht wird, was mit einer gesteigerten K+-Sekretion (und H+-Sekretion) verbunden ist; Hypokaliämie und Azidose können daher unerwünschte Nebenwirkungen sein. Da diese Diuretika proximal-tubulär sezerniert werden, kommen sie am Wirkort hochkonzentriert an (s. o.), was auch für die beiden folgenden Diuretika gilt. Thiazide (z. B. Hydrochlorothiazid, Metolazon) hemmen den Na+-Cl–-Symport im distalen Konvolut, während therapeutische Dosen von Amilorid oder Triamteren die Na+-Kanäle der Hauptzellen in Verbindungsstück und Sammelrohr blockieren. Aldosteronantagonisten, wie z. B. Spironolacton, verhindern die Na+-retinierende Wirkung des Aldosterons durch Kompetition um

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353

354

12 Die Funktion der Nieren den zytoplasmatischen Aldosteronrezeptor. Da Amilorid, Triamteren und Spironolacton die elektrogene Na+Resorption vermindern, wird gleichzeitig die Triebkraft für die K+-Sekretion kleiner (s. u.): K+-sparende Diuretika.

Die Flexibilität der Kaliumausscheidung Der K+-Haushalt wird renal bilanziert. Die fraktionelle K+-Ausscheidung beträgt im Mittel 5 – 15 %, doch variiert sie bei Kaliummangel bzw. bei starker Hyperkaliämie zwischen 1 – 3 und 150 – 200 %. Da die fraktionelle Resorption im proximalen Konvolut und in der HenleSchleife konstant 85 – 90 % beträgt, ist die Flexibilität der K+-Ausscheidung eine Leistung von Verbindungsstück und Sammelrohr. Hier kann eine sehr starke K+Sekretion stattfinden, die eng an die Na+-Resorption der Hauptzellen gekoppelt ist, oder K+ primär-aktiv durch eine H+-K+-ATPase in der luminalen Membran der Schaltzellen resorbiert werden. Die Einhaltung einer nur in engen Grenzen variierenden K+-Konzentration im Plasma ist lebensnotwendig (normal 4,1 ± 0,6 mol/l). Da die Niere für die K+-Ausscheidung hauptverantwortlich ist, muss sie in einem weiten Bereich auf Hyper- und Hypokaliämien reagieren können. Die Regulation des K+-Haushalts, vor allem mit Hilfe des Aldosterons, wird in Kap. 13 ausführlich besprochen (S. 394 ff.). Hier soll nur kurz auf den tubulären K+-Transport eingegangen werden (Abb. 12.29).

Lumen

filtrierte Menge: 100% ca. 30% spätproximal: der filtrierten Menge ca. 10% frühdistal:

Blut

Resorption (ohne Aldosteron)

+

K +

K

K

?

Die fraktionelle K+-Ausscheidung beträgt im Mittel 5 – 15 %, doch finden sich bei K+-Mangel auch Werte von 1 – 3 %, bei sehr hoher K+-Aufnahme oder -freisetzung hingegen solche von 150 – 200%. K+ kann also sowohl nettoresorbiert als auch nettosezerniert werden. Diese Flexibilität ist eine Eigenschaft des distalen Nephrons und des Sammelrohrs, da, unabhängig von den Bedürfnissen der K+-Bilanz, im proximalen Tubulus und in der Henle-Schleife zusammengenommen konstant 85 – 90 % der filtrierten Menge resorbiert werden. Dies geschieht zumindest großteils durch passiven, parazellulären Transport. (Die durch die Na+-K+-ATPase basolateral in die Zelle gepumpten K+-Ionen verlassen die Zelle auf der gleichen Seite wieder über K+-Kanäle; Abb. 12.29, links.) Treibende Kräfte für die parazelluläre Resorption sind der durch Wasserresorption etablierte chemische Gradient, das lumenpositive, transepitheliale Potenzial (im späten proximalen Tubulus und im dicken aufsteigenden Schenkel der Henle-Schleife) sowie der Solvent Drag (S. 343). Darüber hinaus scheint es evtl. auch im proximalen Tubulus eine aktive K+-Resorption zu geben („?“ in Abb. 12.29). Von den Hauptzellen des Verbindungsstücks und des Sammelrohrs wird K+ wegen der Depolarisierung der luminalen Membran sezerniert. Da diese Verminderung des Potenzials von der aldosterongesteuerten, elektrogenen Na+-Resorption herrührt (S. 348), ist die K+-Sekretion hier eng an die Na+-Resorption gekoppelt und aldosteronabhängig (Abb. 12.29). Darüber hinaus ist die K+-Permeabilität der luminalen Zellmembran und damit

Lumen

oder

+

Sekretion (mit Aldosteron)

+

K

+

Na

+

K

proximaler Tubulus Lumen

+

Na

Blut +

K

+

K

–

Cl dicker, aufsteigender Teil der Henle-Schleife

Abb.12.29 K+-Transport. Im proximalen Tubulus und im aufsteigenden Teil der Henle-Schleife werden (weitgehend konstant) bis zu 90% des filtrierten K+ resorbiert; dies geschieht großteils parazellulär. Die Verbindungsstücke und das Sammelrohr sind durch eine besonders starke Anpassungsfähigkeit an die Bedürfnisse der K+-Homöostase ge-

Endurin: 3 – 200%

Hauptzelle des Sammelrohrs

kennzeichnet. Sie können bei K+-Überfluss (und daher hoher Aldosteronausschüttung) mit ihren Hauptzellen große K+Mengen sezernieren oder bei K+-Mangel (keine Aldosteronausschüttung) mit ihren Schaltzellen vom Typ A K+ resorbieren (Abb.12.40, S. 365).

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12.7 Tubulärer Transport organischer Stoffe

3

Schaltzelle

Glucosemenge (mmol/min)

Hauptzelle

filtrierte Glucose resorbierte Glucose

Resorptionsmaximum

2

ausgeschiedene Glucose 1

(GFR =120 ml/min) 0

Abb.12.30 Hauptzellen und Schaltzellen bilden das Epithel des spätdistalen Tubulus (Verbindungsstück) und des Sammelrohrs (Abb.12.29 u.12.40) (rasterelektronenmikroskopische Aufnahme: W. Kriz).

0

Glucosekonzentration:

10

20 30 40 Glucosekonzentration im Plasma (mmol/l)

normal

mäßig erhöht

stark erhöht

frühproximale Resorption

die K+-Sekretion um so höher, je alkalischer der intrazelluläre pH-Wert ist (Abb. 13.21; S. 397) (51). Für die bei K+-Mangel notwendige K+-Resorption in Verbindungsstück und Sammelrohr sind wahrscheinlich die Schaltzellen (Abb. 12.30) verantwortlich, die in ihrer luminalen Membran, ähnlich wie die Belegzellen des Magens, eine H+-K+-ATPase besitzen, die primär-aktiv K+ resorbiert und H+-Ionen sezerniert (Abb. 12.40, rechts, S. 365).

12.7

Tubulärer Transport organischer Stoffe

In den vorangehenden Abschnitten wurde der tubuläre Transport in erster Linie unter dem Blickwinkel der Kochsalz-, Wasser- und Kaliumresorption besprochen (s. a. Tab. 12.7, S. 356). Zu kurz gekommen sind dabei die anderen Elektrolyte und eine Reihe von organischen Substanzen, auf die in diesem und den nächsten Abschnitten eingegangen wird.

Carrier lassen sich sättigen und sind spezifisch: Glucose und Aminosäuren Im proximalen Tubulus werden Glucose und Aminosäuren praktisch vollständig resorbiert. Verantwortlich dafür sind diverse Na+-Symportcarrier in der luminalen Membran, die für eine sekundär-aktive Akkumulation von Glucose und (der meisten) Aminosäuren in den Tubuluszellen sorgen. Für den passiven Ausstrom an der Blutseite der Zellen sorgen eine Reihe von Uniportcarriern in der basolateralen Membran. Die luminalen Carrier werden dann gesättigt, wenn die filtrierte Menge an Glucose bzw. Aminosäuren stark ansteigt (z. B. bei erhöhter Plasmakonzentration). Eine prärenale Glukosurie (z. B. beim Diabetes mellitus) bzw. prärenale Hyperaminoazidurie sind die Folge. Eine solche Mehrausscheidung kann auch renal, etwa durch einen Carrierdefekt (spezifisch) oder durch eine generelle Tubulusstörung (unspezifisch), bedingt sein. Es gibt eine Reihe verschiedener Aminosäurecarrier. Ist einer davon

spätproximale Resorption

Glucoseausscheidung:

Blut

fast 0

fast 0

erhöht

Abb.12.31 Transportmaximum (Tm) als Ausdruck der Carriersättigung. Bei normaler Glucoseplasmakonzentration von ca. 5 mmol/l ist der Harn praktisch glucosefrei, d. h. die resorbierte Glucosemenge ist so groß wie die filtrierte (links). Das beginnt sich zu ändern, wenn sich die Plasmakonzentration mehr als verdoppelt (Mitte). Bei noch höheren Konzentrationen (rechts) laufen schließlich die Kurven für die filtrierte und die ausgeschiedene Glucosemenge zueinander parallel. Ihr senkrechter Abstand ist die resorbierte Glucosemenge, die bei Plasmakonzentrationen zwischen 10 und 20 mmol/l ein Resorptionsmaximum, das Tm, erreicht. (Bei Änderungen der GFR bleibt Tm nicht konstant.) Wie im unteren Teil des Bildes schematisch an einem Förderband gezeigt, liegt diesem Verhalten die zunehmende Sättigung des Glucose-Resorptionscarriers im frühproximalen Tubulus zugrunde. Bei mäßiger Erhöhung der Plasmakonzentration werden zunehmend weiter stromabwärts gelegene Tubulusabschnitte einbezogen, bis schließlich auch diese gesättigt sind und Glucose im Urin erscheint. Ähnliche Kurven lassen sich für Aminosäuren und Phosphat ermitteln, wobei letzteres schon bei einem geringen Überschreiten seiner normalen Plasmakonzentration vermehrt ausgeschieden wird („Schwellensubstanz“; S. 361) (nach 54).

defekt, umfasst die Hyperaminoazidurie nur eine chemisch verwandte Gruppe von Aminosäuren. D-Glucose wird in der Niere normalerweise praktisch vollständig resorbiert (Abb. 12.31 u. Tab. 12.7). Ort der Resorption ist der proximale Tubulus. Die dafür verant-

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355

12 Die Funktion der Nieren Fraktionelle Resorption und fraktionelle Ausscheidung (aus 67)

% in der Henle-Schleife (TF/P-Wert)

% total

H2O

---

65 %

10 %

93 % – 99,5 %

0,5 % – 7 %

ADH:

153

65 % (1,0)

25 % (0,4)

95 % – 99,5 %

0,5 % – 5 %

Aldosteron: ADH: ANP:

4,6

65 % (1,0)

10 % – 20 %

u.U. Sekretion

2 % – 150 %

Aldosteron:

2+

frei: 1,6

60 % (1,1)

30 %

95 % – 99 %

1%–5%

PTH: Azidose:

2+

frei: 0,6

15 % (2,5)

ca. 70 %

80 % – 95 %

5 % – 20 %

P steigt:

112

55% (1,3)

ca. 20 %

95 % – 99,5 %

0,5 % – 5 %

24

93 % (0,2)

98 % – 99 %

1% – 2 %

Alkalose:

2,2

65 % (1,0)

15 %

80 % – 97 %

3 % – 20 %

P steigt: PTH: Ca2+ sinkt: Azidose:

Glucose

5

96% (0,1)

4%

»100 %

»0 %

Harnstoff

5

50% (1,4)

Sekretion

ca. 60 %

ca. 40 %

Kreatinin

0,1

0% (2,9)

0%

0%

100 %

+

Na

K

+

Ca

Mg

–

Cl

–

HCO3

Phosphat

wortlichen Carrier wurden inzwischen molekularbiologisch charakterisiert: In der luminalen Membran der Pars convoluta gibt es einen elektrogenen Symportcarrier mit niedriger Affinität, aber hoher Kapazität, der Na+ und Glucose (nicht aber Galactose) im Verhältnis 1 : 1 transportiert (sodium-glucose transporter, Typ 2: SGLT2) (30). Mit einem solchen Carrier werden bis zum Ende des proximalen Konvoluts (der Ratte) ca. 95 % der filtrierten Glucosemenge resorbiert (6). Im Segment S3 der Pars recta des proximalen Tubulus ließ sich ein weiterer luminaler Symporter nachweisen (SGLT1), der mit hoher Affinität pro Glucosemolekül zwei Na+-Ionen kotranspor-

P = Plasmakonzentration TF = Konzentration im Tubulusharn

Einflüsse

fraktionelle Ausscheidung (FE) [% der filtrierten Menge]

% im proximalen Tubulus (TF/P-Wert)

fraktionelle Resorption (FR) [%]

Konzentration im Plasmawasser (P) [mmol/l]

Tabelle 12.7

Stoff

356

steigert FE senkt FE

---

P steigt stark:

Diurese:

---

tiert (30, 41), so dass dort eine doppelt so hohe Triebkraft zur Verfügung steht wie bei SGLT2 (s. a. S. 342). Mit diesem Carrier, den auch das Dünndarmepithel besitzt (S. 449), kann offenbar die Glucosekonzentration im Lumen der Pars recta so weit gesenkt werden, dass im Endurin nur noch rund 1/1000 der filtrierten Glucosemenge erscheint (FE ≈ 0,1 %). Der Übertritt der luminal aufgenommenen Glucose ins peritubuläre Blut ist ein passiver Schritt, der durch einen (ionenunabhängigen) Uniportcarrier (glucose transporter 2; GLUT2) vermittelt und vom chemischen Glucosegradienten getrieben wird (sog. „erleichterte Diffusion“). GLUT2 transportiert auch

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12.7 Tubulärer Transport organischer Stoffe Filtrat

100

% der filtrierten Menge

80

Valin

60

Glucose 40

Glycin

20

0

Endurin

Abb.12.32 Resorption von Glucose und Aminosäuren. Sie findet großteils frühproximal statt; erhöht sich die filtrierte Menge, so kommt es dort zwar zur Carriersättigung, doch übernehmen dann mittel- und spätproximale Segmente ver-

Galactose und Fructose, wobei erstere über SGLT1 sekundär-aktiv und letztere über den Uniporter GLUT5 passiv vom Tubuluslumen in die Zelle aufgenommen werden (32). Weiter oben (S. 353) haben wir bereits gesehen, dass eine starke Erhöhung der Glucoseplasmakonzentration zu einer erheblichen Ausscheidung von Glucose führt: Glukosurie. Wie die Abb. 12.31 zeigt, beginnt die Glukosurie bei einer Plasmakonzentration um die 10 mmol/l (180 mg/dl), ab der die Niere offenbar überfordert ist, die gesamte filtrierte Glucosemenge zu resorbieren. Dabei wird das sog. (GFR-abhängige) Transportmaximum (Tm) der Niere für Glucose überschritten, was auf Tubulusebene bedeutet, dass zuerst die Carrier am Anfang des proximalen Tubulus und dann auch die Resorptionsorte am Ende dieses Nephronabschnitts gesättigt werden (Abb. 12.31 u.12.32; Sättigungskinetik Kap. 2). (Diese Sättigung betrifft die luminalen Carrier, weil der basolaterale GLUT2-Carrier mit seiner Km von ca. 30 mmol/l kaum zu sättigen ist.) Da die Ursache einer solchen Glukosurie nicht in, sondern „vor“ der Niere liegt, spricht man von einer prärenalen Glukosurie. Bei der familiären renalen Glukosurie (FRG) ist die fraktionelle Ausscheidung (FE) von Glucose von normal 0,1 – 0,2 % auf 14 bis über 90 % erhöht, was einer Glucoseausscheidung von bis zu 130 g/d pro 1,73 m2 Körperoberfläche entspricht. Im differenzialdiagnostisch wichtigen Unterschied zum Diabetes mellitus haben diese Patienten eine normale Plasma-Glucosekonzentration. Der FRG liegen unterschiedliche Muta-

mehrt die Aufgabe, diese für den Organismus so wertvollen Stoffe praktisch vollständig zu resorbieren (s. a. Abb.12.31) (nach 67).

tionen des SGLT2 zugrunde (57), also des Carriers, der normalerweise die Hauptmasse der filtrierten Glucose im proximalen Konvolut resorbiert. Darüber hinaus kann es bei generellen Tubulusstörungen zu einer Glukosurie kommen, z. B. dann, wenn die Pumprate der Na+-K+-ATPase verringert ist und so der Na+-Gradient über die Bürstensaummembran zu niedrig ist, die Na+-Glucose-Symporter in vollem Ausmaß anzutreiben. Im Falle eines solchen (Debré-Toni-) Fanconi-Syndroms werden dann auch vermehrt Bicarbonat, Aminosäuren, Phosphat und andere Stoffe ausgeschieden, da ja auch deren Resorption Na+abhängig ist. Aminosäuren werden zu > 98 % resorbiert (manche essenziellen Aminosäuren wie etwa L-Valin zu > 99,8 %; Abb. 12.32). Ausnahmen sind Glycin (96 %), Histidin (94 %) sowie Taurin (rund 90 %), das ein Endprodukt des Schwefelstoffwechsels darstellt. Steigt die renale Ausscheidung von Aminosäuren (Hyperaminoazidurie), so kann das wie bei einer Glukosurie prärenal bedingt sein (Carriersättigung durch erhöhte Plasmakonzentration einer Aminosäure) oder aber der Carrier im proximalen Tubulus ist defekt: renale Hyperaminoazidurie z. B. Zystinurie. Sieht man vom Fanconi-Syndrom ab (s. o.), sind in beiden Fällen nicht alle Aminosäuren, sondern nur bestimmte Gruppen betroffen. Daraus hat man schon früh geschlossen, dass es mehrere Carrier für Aminosäuren gibt, die jeweils eine bestimm-

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12 Die Funktion der Nieren te Spezifität für eine Gruppe strukturell verwandter LAminosäuren besitzen. So gibt es (ähnlich wie im Dünndarmepithel) in der luminalen Membran des proximalen Tubulus Na+-gekoppelte Symportcarrier für a) anionische Aminosäuren wie L-Glutamat– und L-Aspartat– (transportiert 2 Na+/Aminosäure–), für b) die meisten neutralen L-Aminosäuren (1 Na+/Aminosäure0; hohe Kapazität), für c) sekundäre Aminosäuren wie L-Prolin, für d) β-Aminosäuren wie Taurin und β-Alanin u. a. Dadurch werden die intrazellulären Aminosäurekonzentrationen auf das Vielfache der jeweiligen Plasmakonzentrationen angehoben, z. B. Taurin auf das 30fache und L-Glutamat– auf das 50fache (71), so dass der Ausstrom auf der Blutseite der Zelle passiv erfolgen kann („erleichterte Diffusion“ durch verschiedene Uniporter). Die kationischen Aminosäuren L-Arginin+, L-Lysin+ und L-Ornithin+ können luminal wahrscheinlich sowohl passiv in die Zelle aufgenommen werden (Membranpotenzial als Triebkraft!) als auch u. U. sekundär-aktiv zusammen mit Na+ transportiert werden. Letzterer Carrier (D2H genannt) akzeptiert auch Cystin und andere neutrale Aminosäuren. Wie kationische Aminosäuren die Zelle auf der Blutseite trotz des an dieser Stelle gegengerichteten Membranpotenzials verlassen, ist ungeklärt. Beim Salamander wurde dort ein Austausch von Lysin+ gegen Na+ beschrieben (49). Mit einigen Ausnahmen, z. B. D-Aspartat beim Carrier (a), sind die Aminosäurecarrier stereospezifisch. Ist es beim Glucosecarrier nur die D-, aber nicht die L-Glucose, die akzeptiert wird, sind es die L- und nicht die DIsomeren der Aminosäuren, die von den Carriern transportiert werden. Da ähnliche Aminosäuren vom gleichen Carrier transportiert werden, kann eine solche Aminosäure (z. B. Arginin+) die Resorption einer anderen (im Beispiel Lysin+) kompetitiv hemmen. So führt z. B. eine angeborene Hyperargininämie nicht nur zu einer Mehrausscheidung von Arginin+ selbst, sondern auch von Lysin+ und Ornithin+, obwohl deren Plasmakonzentrationen normal oder sogar erniedrigt sind.

Peptide werden gespalten und ungespalten resorbiert Größere Peptide mit Disulfidbrücken wie Insulin und Proteine wie Albumin werden im proximalen Tubulus endozytiert und lysosomal zu Aminosäuren gespalten. Für lineare Peptide gibt es einen weiteren Resorptionsmodus. Der Bürstensaum des proximalen Tubulus besitzt nämlich neben einer Reihe von anderen Enzymen (z. B. Maltase, Trehalase) hohe Aktivitäten von Aminopeptidasen, Endopeptidase und γ-Glutamyltransferase (γ-GT), die ihre katalytische Wirkung lumenwärts ausüben. Sie sind in der Lage, filtrierte Peptide intraluminal so rasch zu spalten, dass innerhalb der Kontaktzeit des Harns im proximalen Tubulus (ca. 12 s) noch genug Zeit bleibt, die entstehenden Spaltprodukte, d. h. die freien Aminosäuren, zu resorbieren (Abb. 12.33 A; 66). Bestimmte Di- und Tripeptide (z. B. Carnosin) sind resistent gegen die luminalen Peptidasen. Für sie gibt es im proximalen Tubulus zwei Peptid-H+-Symportcarrier (21, 60, 68), PEPT1 (S1-Segment) und PEPT 2 (S3-Segment), mit dem Dipeptide (und bestimmte Antibiotika,

Peptidhormone (z.B. Angiotensin II) Peptide (z.B. Glutathion) +

Na luminal wirksame Peptidasen

Aminosäuren Aminosäuren

+

Na A

Lumen

Blut

bestimmte Di- und Tripeptide (z. B. Carnosin)

Aminosäuren

+

Peptid-H Symport H

zytoplasmatische Peptidasen

+

+

Na +

Na

B

Abb.12.33 Tubuläre Resorption von Peptiden. Proteine wie Lysozym, β2-Mikroglobulin und Albumin sowie disulfidbrückenhaltige Peptide wie Insulin werden vom proximalen Tubulus durch rezeptorvermittelte Endozytose resorbiert und lysosomal hydrolysiert (Abb. 2.5, S. 19). Die meisten linearen Peptide hingegen, wie z. B. Glucagon, Angiotensin II, Releasingfaktoren und Glutathion, werden von luminal wirksamen Peptidasen so rasch hydrolysiert, dass die entstehenden freien Aminosäuren noch vor dem Ende des proximalen Tubulus resorbiert werden können (A). Bestimmte Di- und Tripeptide (z. B. Carnosin) sind gegen die Peptidasen weitgehend resistent. Sie benützen daher einen PeptidH+-Symportcarrier im proximalen Tubulus und werden erst intrazellulär abgebaut (B) (nach 66).

Aminocephalosporine) entlang des in die Zelle gerichteten H+-Gradienten („tertiär“) aktiv über die Bürstensaummembran transportiert werden können (Abb. 12.33 B). Solche Peptide werden dann meist intrazellulär in ihre Aminosäuren gespalten.„

Eiweiß im Urin? Trotz der weitgehenden Undurchlässigkeit des glomerulären Filters für Makromoleküle gelangen täglich doch einige Gramm an Albumin sowie eine ins Gewicht fallende Menge kleinerer Proteine ins Filtrat. Diese Proteine werden zu mehr als 96 % durch rezeptorvermittelte Endozytose im proximalen Tubulus resorbiert und lysosomal abgebaut. Eine Proteinurie entsteht dann, wenn eine zu hohe Proteinmenge filtriert wird, sei es – durch eine zu hohe Plasmakonzentration (Überlauf-Proteinurie) oder – wegen eines undichten Filters (glomeruläre Proteinurie) oder wenn ein geschädigter Tubulus zu wenig resorbiert (tubuläre Proteinurie); u. U. kann das Eiweiß im Urin auch postrenalen Ursprungs sein.

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12.7 Tubulärer Transport organischer Stoffe Für größere Proteine ist das glomeruläre Filter weitgehend dicht, insbesondere wenn sie, wie Albumin, negativ geladen sind (S. 339 f.). Das quantitativ wichtigste Plasmaprotein Albumin hat daher im Filtrat nur 0,01 – 0,05% der Konzentration, die im Plasma (ca. 40 g/l) herrscht. Trotz dieser sehr kleinen Durchlässigkeit des Filters lässt sich bei einer GFR von 180 l/d mit (180 · 40 · 0,0001 bzw. 0,0005 =) 0,75 – 4 g/d allein für Albumin eine doch erhebliche filtrierte Menge errechnen, zu der sich andere, insbesondere kleinmolekulare Plasmaproteine wie Lysozym, Immunglobulinbruchstücke, α1- und β2-Mikroglobulin etc. hinzuaddieren. Im Harn dagegen erscheinen normalerweise maximal nur 35 mg Albumin pro Tag, was bedeutet, dass mehr als 96 % des filtrierten Albumins (und Ähnliches gilt für andere Proteine) im Tubulus resorbiert werden. Mechanismus der Proteinresorption. Während lineare Peptide bereits im Tubuluslumen hydrolysiert werden, werden disulfidhaltige Peptide (Insulin, β2-Mikroglobulin) und Proteine wie Albumin im proximalen Tubulus durch spezifische, rezeptorvermittelte Endozytose, die ATP-abhängig ist, resorbiert (25). Das an Rezeptoren (= Megalin-Cubilin-Komplex) der Bürstensaummembran angedockte Protein wandert anschließend in der Membran an die Basis der Mikrovilli, wo sich endozytotische Vesikel abschnüren, die im Zellinneren zu Endosomen umgewandelt werden, welche dann auf Lysosomen treffen, mit denen sie verschmelzen und deren Proteasen die endozytierten Proteine abbauen. (Manche Proteine werden bereits in den Endosomen hydrolysiert.) Die entstehenden Aminosäuren werden über Carrier der Vesikelmembran ins Zytoplasma transportiert, und die Vesikelmembran samt den Rezeptoren wird wieder in die luminale Plasmamembran eingebaut (Membranrecycling). Über die Megalin-Cubilin-vermittelte Endozytose werden auch einige proteingebundene Vitamine resorbiert, so z. B. Retinol (am Retinol-Bindungsprotein), Cobalamin (am Transcobalamin) und 25-OH-Cholecalciferol (= Calcidiol; am Vitamin-D-Bindungsprotein, DBP). Letzteres erreicht so die tubuläre 1-α-Hydroxylase, die es zu Calcitriol umwandelt (S. 400 f.). Ist der lysosomale Aminosäurentransport für Cystin defekt, akkumuliert diese schwer lösliche Aminosäure intravesikulär, es bilden sich Kristalle, was schließlich zu schweren Zellschäden führt (Zystinose). Bei Niereninsuffizienz treten ähnliche Zellschäden auch in anderen Organen auf, da das β2Mikroglobulin (11800 Da) renal nicht mehr ausreichend filtriert, endozytiert und abgebaut werden kann, so dass seine Konzentration im Plasma bis auf das 50fache der Norm anwächst und es zur Ablagerung des β2-Mikroglobulins in Leber, Gefäßen u. a. m. kommt: Amyloidose.

Proteinurie. Bei einer Eiweißausscheidung von mehr als 200 mg/d spricht man von einer Proteinurie. Sie kann mehrere Gründe haben: – Prärenale oder Überlaufproteinurie. Die Konzentration bestimmter Proteine (z. B. Hämoglobin, Myoglobin, Paraproteine) im Plasma ist krankhaft erhöht, so dass die Endozytose mit der gesteigerten Menge im Filtrat überfordert wird.

– Glomeruläre Proteinurie. Das glomeruläre Filter ist geschädigt (meist entzündlich) und damit durchlässig, so dass vor allem hohe Albuminmengen ins Filtrat gelangen und ebenfalls die Resorptionskapazität erschöpfen. – Tubuläre Proteinurie. Hier ist die Tubuluszelle geschädigt (z. B. bei Fanconi-Syndrom, Zystinose, Cadmiumvergiftung, Entzündung), so dass auch normale Proteinmengen im Filtrat der Resorption entgehen. – Postrenale Proteinurie. Hier stammt das Protein nicht aus der Niere, sondern z. B. von Blutungen oder Bakterien in den abführenden Harnwegen. Als Folge, zumindest der glomerulären Proteinurie, bei der bis zu 50 g/d an Proteinen verloren gehen können, tritt häufig ein Albuminmangel im Plasma auf, was den onkotischen Druck senkt und daher den effektiven Filtrationsdruck in den Kapillaren steigert (Nephrotisches Syndrom). Plasmawasser strömt daraufhin ins Interstitium, so dass Ödeme entstehen und sich gleichzeitig die Viskosität des Blutes erhöht.

Proximale Sekretion als Ausscheidungsmechanismus Der proximale Tubulus besitzt Carrier, die organische Säuren und Basen aktiv ins Tubuluslumen sezernieren. Damit kann eine weite Palette von Abfall-, Fremd- und Giftstoffen rasch ausgeschieden werden. Diese Sekretion kann so wirksam sein, dass die sezernierte Menge viermal so hoch wie die filtrierte ist (z. B. PAH). Zu den Aufgaben des proximalen Tubulus gehört auch die Sekretion von organischen Stoffen. Diese Sekretion kann die Ausscheidung von Stoffen (im Vergleich zu solchen, die nur filtriert werden) sehr stark beschleunigen, da sich zur filtrierten Menge ja die (oft sogar wesentlich größere) sezernierte Menge hinzuaddiert (Abb. 12.34, vgl. linke Teile der roten und blauen Kurve). Für die Sekretion organischer Anionen, OA– (Ð organischer Säuren), wie z. B. p-Aminohippurat (PAH; s. a. S. 333), Urat, Hippurat, Östronsulfat, Methotrexat, Penicillin, Furosemid, Indomethacin und diverse Toxinkonjugate (Polyspezifität) existiert in der basolateralen Membran mindestens ein basolateraler Carrier (hOAT1 = human Organic Anion Transporter Typ 1), der diese Anionen in der Tubuluszelle im Austausch gegen Dicarboxylate (2-Oxoglutarat2–, Succinat2–) sekundär-aktiv akkumuliert (Abb. 12.35/A1 [18, 31, 46]). Der OA–-Ausstrom ins Lumen ist passiv (chemischer und elektrischer Gradient; Abb. 12.35/ A3). Die Dicarboxylate stammen entweder aus dem Stoffwechsel der proximalen Tubuluszelle oder werden von extrazellulär mittels eines Na+-Dicarboxylat-Symport-Carriers (hNaDC1) sekundäraktiv in die Zelle aufgenommen (Abb. 12.35/A2). Im letzteren Fall ist die OA–-Aufnahme also ein „tertiär“-aktiver Transport. Für die Sekretion von amphiphilen Konjugaten (z. B. Glutathion-gekoppelte lipophile Toxine) existiert in der luminalen Membran zusätzlich eine ATP-abhängige Konjugatpumpe (MRP2 = Multi-drugresistance protein, Typ 2; Abb. 12.25/A4).

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359

12 Die Funktion der Nieren 1,00

PAH-Menge/Zeit (mmol/min)

360

A

Lumen

ausgeschiedenes PAH

proximale Tubuluszelle

0,75

Blut Probenecid

OA– OAT1

3

sezerniertes PAH 0,50

1

2-Oxoglutarat

Sättigung

hNaDC1

OA–

0,25

2

filtriertes PAH

ATP

4 0

1

2

3

4

Abb.12.34 Sekretion und Ausscheidung von p-Aminohippurat (PAH). Organische Anionen, OA– (hier als Beispiel PAH), und Kationen, OK+, können nicht nur durch glomeruläre Filtration (blaue Kurve), sondern zusätzlich durch aktive Sekretion ins Lumen des proximalen Tubulus gelangen. Da die OA– und OK+ kaum resorbiert werden, können durch eine solche Sekretion enorm große Mengen dieser Stoffe mit dem Harn ausgeschieden werden (rote Kurve bei einer PAH-Plasmakonzentration 0,6 mmol/l). Harnsäure und ihre Salze, wie Natrium-Urat, sind schlecht löslich. Sie fallen daher bei Hyperurikämie im Körper als Kristalle aus; eine Reihe gravierender Organschäden ist die Folge, die als Gicht bekannt sind. Folgen der Hyperurikämie. Durch die zusätzliche Uratkonzentrierung im Harntrakt bilden sich Harnsteine (S. 363 f.) und Urat fällt im Nierenmark aus. Zusätzlich entsteht eine interstitielle Nephropathie. Wegen der noch geringeren Löslichkeit des Urats bei den tieferen Temperaturen in den Akren (0,27 mmol/l bei 30 8C gegenüber 0,4 mmol/l bei 37 8C) fallen Uratkristalle bevorzugt am Ohrläppchenrand und an peripheren Gelenken aus (Tophi). An besonders beanspruchten Gelenken (z. B. großer Zeh) führt dies akut zu Entzündungen (Gichtanfall) und chronisch zu Verkrüppelungen. Von den Uratkristallen werden nämlich Leukozyten chemotaktisch angelockt, die die (mit Immunglobulinen opsonisierten) Natriumuratkristalle phagozytieren. Auch Synovialzellen beteiligen sich an dieser Phagozytose. Die Kristalle zerstören die Phagolysosomen, lysosomale Enzyme ergießen sich ins Zytoplasma, und die Zellen sterben ab, was in der Folge die gesamte Entzündungskaskade auslöst (S. 252 f.).

12.8

Phosphat-, Ca2+- und Mg2+-Ausscheidung

Die Niere ist wesentlich an der Bilanzierung des Phosphat-, Ca2+- und Mg2+-Haushalts beteiligt, wobei die Exkretion aller drei Ionen unter hormonaler Kontrolle steht. Parathyrin (PTH) z. B. steigert die Ausscheidung von Phosphat und senkt die von Ca2+ und Mg2+ (S. 398 ff.).

Phosphat-Resorption im proximalen Tubulus Anorganisches Phosphat (Pi) liegt im Plasma (pH 7,4) als HPO42– und als H2PO4– im Verhältnis 4 : 1 vor. Beide Formen werden frei filtriert und im proximalen Tubulus durch Na+-Symport großteils resorbiert. Die fraktionelle Ausscheidung (FE) von Phosphat (meist 10 – 20 %) erhöht sich bei steigender und sinkt bei fallender Plasmakonzentration; letztere wird also renal geregelt. Parathyrin (PTH) erhöht die Phosphatausscheidung. Die Ausscheidung von H2PO4– trägt zur H+-Ausscheidung bei. Phosphat wird – ähnlich wie Glucose, Aminosäuren und andere organische Substanzen (s. o.) – im proximalen Konvolut sekundär-aktiv durch den luminalen Na+-Symportcarrier NaPi-IIa zu ca. zwei Dritteln resorbiert, wobei 3 Na+-Ionen pro Phosphatmolekül (sowohl als HPO42– als auch als H2PO4–) in die Zelle geschafft werden (Abb. 12.37) (48). PTH, das sowohl über cAMP als auch über IP3/DAG (S. 36 ff.) wirkt, sowie ein Phosphatüberschuss, eine Azidose und eine Hypokalzämie vermindern die Anzahl dieser Carrier in der Membran, während niedrige PTH-Konzentrationen, Phosphatmangel, Alkalose und Hyperkalzämie sie erhöhen (Abb. 12.37). Diese Resorption ist elektrogen, so dass das Zellpotenzial Triebkraft für die Phosphataufnahme in die Zelle ist. Der Transport ist außerdem pH-abhängig. Der Ausstrom von Pi auf der basolateralen Zellseite ist passiv, wobei der/die dafür verantwortlichen Carrier noch nicht sicher identifiziert sind. Auch weiter distal wird Phosphat noch resorbiert, so dass seine fraktionelle Ausscheidung 10 – 20 % beträgt (Abb. 12.36). Im Gegensatz etwa zur Glucose (s. o.) erhöht sich die Phosphatausscheidung bereits dann erheblich (Erreichen der sog. „Nierenschwelle“), wenn die normale Plasmakonzentration von 0,8 – 1,4 mmol/l (und damit die normalerweise filtrierte Menge) überschritten wird. Die renale Resorptionskapazität von Phosphat ist (ähnlich übrigens wie die von Bicarbonat und Sulfat) also so ausgelegt, dass die Niere schon unter normalen Bedingungen quasi als „Überlauf“ funktioniert und einen erhöhten Phosphatbestand sogleich ausscheidet. Phosphat liegt in Plasma und glomerulärem Filtrat (pH 7,4) zu 80 % als HPO42– und nur zu 20% als H2PO4– vor (pKa' = 6,8). Während der Tubulus- und Sammelrohrpassage wird das nicht-resorbierte HPO42– durch sezernierte H+-Ionen zu H2PO4– titriert, was wesentlich zur renalen Ausscheidung von H+-Ionen beiträgt (S. 365 f.).

Ca2+ und Mg2+ werden überwiegend parazellulär resorbiert Ca2+ und Mg2+ sind im Plasma z. T. proteingebunden, d. h. sie werden nur z. T. filtriert. Ca2+ wird in mehreren Tubulusabschnitten para- und transzellulär resorbiert, so dass seine fraktionelle Ausscheidung (FE) meist nur 1 – 2% beträgt. Für Mg2+, das parazellulär hauptsächlich in der Henle-Schleife resorbiert wird, liegt dieser Wert bei 5 – 20 %. PTH und Calcitriol senken, Schleifendiuretika erhöhen die FE von Ca2 + und Mg2+.

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361

12 Die Funktion der Nieren Filtrat

2+

Ca Phosphat

2+

100

Mg

2+

Mg 80

% der filtrierten Menge

362

2+

Ca 60

Phosphat 40

3 – 20%

20

3 – 20% 1– 5% 0

Endurin

Abb.12.36 Resorption von Ca2+, Phosphat und Mg2+. Sie erstreckt sich über das ganze Nephron, doch wird der Löwen-

Calcium. Die Calcium-Konzentration im Plasma beträgt rund 2,5 mmol/l und, wegen der Proteinbindung, im Glomerulusfiltrat ca. 60% davon, also rund 1,5 mmol/l (freies Ca2+). Vom filtrierten Ca2+ werden im proximalen Tubulus ca. 60%, in der Henle-Schleife ca. 30% und in weiter distal gelegenen Nephronabschnitten 5 % bis über 9 % resorbiert, so dass die fraktionelle Ausscheidung meist nur 1 – 2 %, max. 5 %, beträgt (Abb. 12.36). Wesentlicher Resorptionsmodus im proximalen Tubulus und im dicken aufsteigenden Schenkel der HenleSchleife ist der passive, parazelluläre Transport von Ca2+ (Abb. 12.19/5, S. 342, u. Abb. 12.23/4, S. 347). Da das lumenpositive transzelluläre Potenzial dafür die Triebkraft darstellt und Schleifendiuretika (S. 353) dieses im dicken aufsteigenden Schleifenschenkel vermindern, erhöhen solche Diuretika auch die Ca2+- (und Mg2+-)Ausscheidung. Der transzelluläre Transport von Ca2+ (Abb. 12.38 B) setzt sich zusammen aus einem passiven Einstrom (Ca2+-Kanäle, ECaC) und einem aktiven Transportschritt (gegen einen sehr hohen elektrochemischen Gradienten) durch die basolaterale Membran. Im distalen Konvolut arbeiten dort ein sekundär-aktiver 1 Ca2+/3 Na+Antiportcarrier und eine primär-aktive Ca2+-Pumpe (Ca2+-ATPase). Auf dem Weg zwischen luminaler und basolateraler Membran wird Ca2+ an das zytosolische, calciumbindende Protein, auch Calbindin genannt, gebunden. Damit können erhebliche Mengen von Calcium durch die Zelle geschleust werden, ohne dass sich im Zytosol die Konzentration freier Ca2+-Ionen erhöht, die ja Träger der intrazellulären Signalgebung sind (S. 38 ff.). Das Hormon Calcitriol, das die renale Ca2+-Resorption steigert, stimuliert die Calbindinsynthese. Da Parathyrin (PTH) wiederum die renale Calcitriolsynthese erhöht, könnte die Ca2+-retinierende Wirkung von Parathyrin zumindest z. T. über diesen indirekten Weg laufen (S. 398).

anteil von Ca2+ und Phosphat im proximalen Konvolut, der von Mg2+ hingegen erst in der Henle-Schleife resorbiert.

Lumen

Blut

proximaler Tubulus Pi

?

3Na+ Pi -Überfluss, Azidose, Hypokalzämie, PTH-Sekretion

Down Regulation von NaPi -IIa

Pi

Einbau von NaPi -IIa Pi -Mangel, Alkalose, Hyperkalzämie, PTH

Abb.12.37 Anorganisches Phosphat (Pi) wird im proximalen Tubulus v. a. mittels eines Na+-Pi-Symportcarrier (NaPiIIa) sekundär-aktiv in die Zelle aufgenommen, der sowohl HPO42– als auch H2PO4– akzeptiert. Dabei werden 3 Na+ mit 1 Pi transportiert. Pi-Mangel, Alkalose, Hyperkalzämie und niedrige PTH-Spiegel werden durch vermehrten Einbau von NaPi-IIa-Transportern beantwortet, während Pi-Überfluss, Azidose, Hypokalzämie und erhöhte PTH-Sekretion eine Internalisierung (Down-Regulation) und anschließend den lysosomalen Abbau von NaPi-IIa auslösen (aus 67).

Eine erhöhte Na+-Resorption im distalen Konvolut (z. B. bei verminderter NaCl-Resorption im stromaufwärts gelegenen TAL) erhöht die NaCl-Resorption im DCT, lässt die zytosolische Na+Konzentration ansteigen und mindert daher die Triebkraft für den 1Ca2+/3Na+-Austauscher. Das könnte erklären, warum beim Bartter-Syndrom (S. 346) oder bei Gabe von Schleifendiuretika die Ca2+-Resorption im distalen Konvolut absinkt.

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12.8 Phosphat-, Ca2+- und Mg2+-Ausscheidung Magnesium. Im Plasma finden sich 0,7 – 1,1 mmol/l Magnesium (z. T. proteingebunden), im Glomerulusfiltrat ca. 0,5 – 0,9 mmol/l Mg2+. Die fraktionelle Ausscheidung beträgt 3 – 5 % (Abb. 12.36) und steigt bei erhöhtem Extrazellulärvolumen, Hypermagnesiämie und Hyperkalzämie sowie durch Schleifendiuretika auf max. 20 %, während Volumen-, Mg2+- und Ca2+-Mangel sowie einige cAMP-vermittelte Hormone (Parathyrin, Calcitonin u. a.) die Mg2+-Ausscheidung herabsetzen. Im proximalen Tubulus wird Mg2+ wesentlich langsamer als Wasser (und auch als Ca2+) resorbiert (Tab. 12.7, S. 356), so dass die luminale Mg2+-Konzentration über die des (nicht proteingebundenen) Mg2+ im Plasma ansteigt (TF/PMg = 1,5), was zusammen mit dem lumenpositiven transepithelialen Potenzial des mittel- und spätproximalen Tubulus die parazelluläre Mg2+-Resorption antreibt (Abb. 12.38 A). Am Ende des proximalen Tubulus sind etwa 15 – 20 % resorbiert. Den Löwenanteil der Mg2+-Resorption (ca. 70%, durch Regulation variabel) übernimmt der dicke aufsteigende Schenkel der Henle-Schleife (parazellulärer Transport). Da dessen transepitheliales Potenzial eng an die dort stattfindende aktive NaCl-Resorption gekoppelt ist (Abb. 12.23, S. 347), beeinflussen Änderungen dieser NaCl-Resorption, z. B. durch Schleifendiuretika oder einen erhöhten Harnstrom, auch in erheblichem Umfang die Mg2+-Resorption. Schließlich resorbiert das distale Konvolut (Abb. 12.38B) weitere 2 – 8 % der filtrierten Menge. Regelung der Ca2+- und Mg2+-Resorption (s. a. S. 398 ff.). Mehrere Hormone (PTH, Calcitonin u. a.) steuern sowohl die transzelluläre Ca2+- und Mg2+-Resorption im distalen Konvolut als auch die parazelluläre Resorption im dicken aufsteigenden Schenkel (TAL) der HenleSchleife. Der parazelluläre Transport wird sowohl durch Änderungen des lumenpositiven transepithelialen Potenzials (= Triebkraft) als auch durch Regelung der Permeabilität der Tight Junctions beeinflusst. Das Protein Claudin-16 (= Paracellin-1) spielt bei Letzterem eine Schlüsselrolle (Mutation führt zu Mg2+- und Ca2+-Verlust; s. S. 59). Für diese Regelung wird die Plasmakonzentration von Ca2+ und Mg2+ sowohl in den Hormondrüsen als auch in der basolateralen Membran von TAL und distalem Konvolut gemessen: Ca2+/Mg2+-Sensor (CaSR = Ca2+/Mg2+-sensing receptor).

Kristalle und Steine im Harn, ein Löslichkeitsproblem Substanzen, die schlecht löslich sind und im Urin hoch konzentriert werden, bilden dann Kristalle, wenn ihre kritische Übersättigungsgrenze überschritten wird. Eine Aggregation solcher Kristalle führt zu Harnsteinen, die u. U. den Harnabfluss gefährden. Sie bestehen meist aus Calciumoxalat oder Calciumphosphat, seltener aus Harnsäure oder Cystin. Der Harn enthält Substanzen, die die Löslichkeit und die kritische Übersättigungsgrenze erhöhen sowie die Kristallaggregation hemmen. Eine Reihe von schlecht löslichen Stoffen wird von Tubulus und Sammelrohr im Harn so hoch konzentriert, dass die Grenze ihrer Löslichkeit, d. h. diejenige Konzentration, bei der gerade noch eine stabile Lösung möglich ist, überschritten wird. Das führt normaler-

A

Lumen

Blut Paracellin-1

Ca2+ Mg2+ CaSR (nur TAL)

proximaler Tubulus und TAL B

Lumen

CaSR ECaC

Blut

2+

Ca 3Na+ Ca2+

Ca2+ Ca2+

CaSR

TRPM6

Mg2+

Mg2+

?

3Na+

distales Konvolut

Abb.12.38 Ca2+ und Mg2+ werden im proximalen Tubulus (Ca2+ > Mg2+) und im dicken aufsteigenden Teil der HenleSchleife, TAL (Mg2+ > Ca2+; s. a. Abb.12.36) parazellulär, d. h. passiv resorbiert, wobei das dort lumenpositive transzelluläre Potenzial die Triebkraft ist (A). Zusätzlich findet im distalen Konvolut (DCT) eine aktive transzelluläre Resorption statt (B). Ca2+ wird über Ca2+-Kanäle des Typs ECaC in die Zelle aufgenommen (Triebkraft: hoher chemischer und elektrischer Gradient) und verlässt diese über einen 3 Na+/ Ca2+-Austauscher und eine Ca2+-ATPase. Mg2+ gelangt über einen Mg2+-Kanal vom Typ TRPM6 in die Zelle (Triebkraft: elektrischer Gradient einwärts > chemischer Gradient auswärts) und verlässt diese wahrscheinlich über einen 3 Na+/ Mg2+-Austauscher. Auf der basolateralen Seite von TAL und DCT sitzt der Ca2+/Mg2+-Sensor CaSR, der das Ausmaß der Resorption der beiden Ionen steuert.

weise nicht automatisch zur Ausfällung, da der Harn bis zu einer kritischen Grenze (z. B. mit Calciumoxalat 2- bis 10fach) übersättigt werden kann (metastabile Lösung). Normaler Harn enthält Inhibitoren der Kristallbildung (Nephrocalcin, Tamm-Horsefall-Protein, Pyrophosphat), die eine hohe kritische Übersättigungsgrenze aufrechterhalten. Darüber hinaus enthält der Harn Ca2+-Komplexbildner wie Citrat sowie Proteine mit zahlreichen Ca2+-bindenden γ-Carboxyglutamyl-Resten, die die Konzentration freier Ca2+-Ionen im Harn niedrig halten und damit der Ausfällung von Calciumsalzen entgegenwirken. Kristalle im Harn können sich dann bilden, – wenn sich die Harnkonzentration der ausfällungsgefährdeten Stoffe bzw. die ihrer Komponenten erhöht (Ca2+, Oxalat, Phosphat, Harnsäure, Cystin), sei es a) durch eine erhöhte Bildung (und somit vermehrte Filtration), b) durch eine verminderte Resorption dieser Stoffe, oder c) durch ein vermindertes Harnvolumen (z. B. bei Dehydratation);

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364

12 Die Funktion der Nieren – wenn Harnbestandteile (Zelltrümmer, andere Kristalle etc.) und die Wände des Harntrakts (z. B. bei Entzündungen) Kristallisationskeime bieten, welche die kritische Übersättigungsgrenze herabsetzen; – wenn die Harnkonzentration der Ca2+-Komplexbildner (Hypozitraturie) oder die der Kristallisationsinhibitoren erniedrigt ist; – wenn die Löslichkeit der kritischen Stoffe herabgesetzt ist, etwa durch Verschiebungen des Harn-pHWerts. pH-Werte über 6,7 vermindern die Löslichkeit von Calciumphosphat, während tiefe pH-Werte die Cystinlöslichkeit senken und Urate in die noch schlechter lösliche Harnsäure umwandeln (pKa = 5,46). Harnkristalle, deren Anzahl bei potenziellen Harnsteinträgern oft 107/l Harn beträgt, sind so klein, dass sie mit dem Urin ausgeschieden werden können. Ihre Aggregation und ihr Wachstum zu größeren Konkrementen werden in einem gewissen Umfang durch physiologische Aggregationshemmer verhindert (Proteinüberzug der Kristalle u. ä.). Harnsteine können aber dann entstehen (Urolithiasis), wenn – die Kristalle im Harntrakt zurückgehalten werden und so genug Zeit zum Wachstum solcher Steine zur Verfügung steht; – sich die Kristalloberflächen oder die Zelloberflächen im Harntrakt in einer Weise verändern, die die Aggregation begünstigt; oder – die physiologische Aggregationshemmung gestört ist. Kleinere Nierenbeckensteine werden durch die Ureterperistaltik zur Blase transportiert, was oft sehr schmerzhafte Koliken auslöst. Größere Steine blockieren u. U. den Urinabfluss (Abb. 12.39); die vorerst weiterlaufende Filtration erhöht anschließend den Druck in der von einer Kapsel umgebenen Niere so weit, bis das Filtrat versiegt (effektiver Filtrationsdruck wird null). Der Tubulusapparat wird geschädigt und atrophiert: hydronephrotische Schrumpfniere. Da es vor allem die Höhe der Konzentration eines Stoffes ist, die seine Löslichkeit begrenzt, kann der Harnsteinbildung durch eine ununterbrochene Wasserdiurese vorgebeugt werden (häufiges Trinken von Wasser!). Calciumoxalatsteine. Oxalsäure stammt aus dem Aminosäurestoffwechsel und wird im proximalen Tubulus sezerniert, aber kaum resorbiert, so dass die fraktionelle Ausscheidung rund 130 % beträgt. Das lässt in einem hochkonzentrierten Harn die Oxalatkonzentration auf das mehr als 200fache der Plasmakonzentration anwachsen. Erhöht sich die Oxalatkonzentration im Plasma über den Normalwert (wegen eines angeborenen Enzymdefekts, eines Vitamin-B6-Mangels oder, als häufigste Ursache, wegen einer vermehrten Oxalatabsorption im Darm), so steigt auch die Oxalatkonzentration im Urin an: Hyperoxalurie. Eine Ausfällung von Calciumoxalat ist die Folge. Eine Hyperkalzurie, mit der z. B. eine erhöhte Ca2+-Resorption aus dem Darm bilanziert wird (S. 403), kann sowohl für die Ausfällung von Calciumoxalat- als auch für die von Calciumphosphatkristallen bzw. -konkrementen die Ursache sein. (Rund 80 % der Harnsteine bestehen aus Calciumoxalat und/oder Calciumphosphat.)

Abb.12.39 Harnsteine entstehen durch Ausfällung von Harnbestandteilen wie Calciumoxalat, Calciumphosphat, Harnsäure oder Cystin. Verlegt ein solcher Stein die Harnwege, so kommt es zum Rückstau des Harns, und die Druckerhöhung schädigt schließlich die betroffene Niere. Im hier gezeigten Pyelogramm (s. a. Abb.12.1, S. 326) staut sich das Kontrastmittel in Ureter und Nierenbecken der rechten Niere (im Bild links). Ursache dafür ist ein in der Röntgenleeraufnahme sichtbarer Ureterstein in der Nähe der Blase (Pfeil) (Röntgenbilder: G. Schindler).

Calciumphosphatsteine. Die fraktionelle Phosphatausscheidung beträgt 10 – 20 % (S. 361). Ein relativ saurer Harn-pHWert erhöht die Löslichkeit von Calciumphosphat. Da die entscheidende Ansäuerung des Harns im Sammelrohr stattfindet (S. 366), können z. B. eine distale renal-tubuläre Azidose (S. 369) oder dort ablaufende Entzündungen einen pHAnstieg im Urin (evtl. durch bakterielle Ammoniakproduktion verstärkt) verursachen, so dass schließlich Calciumphosphatkristalle ausfallen. Harnsäuresteine und Uratsteine sind häufig Folge einer Hyperurikämie (S. 361), die vor allem bei proteinreicher Nahrung gehäuft vorkommt, die – wie Fleisch – meist auch purinreich ist. Eine hohe Eiweißzufuhr säuert gleichzeitig den Harn stark an (Kap. 11), so dass sich aus Urat vermehrt die besonders schlecht lösliche Harnsäure bildet (s. o.). Cystinsteine. Bei der erblichen, „klassischen“ Zystinurie werden sowohl die kationischen („basischen“) Aminosäuren Arginin+, Lysin+ und Ornithin+ als auch die neutrale Aminosäure Cystin stark vermehrt ausgeschieden. (Auch die Absorption im Darm ist gestört). Den Namen dieser Aminosäure trägt diese Fehlfunktion zu Recht, da es die schlechte Löslichkeit von Cystin ist, die den genetischen Defekt zur Krankheit macht: Das im proximalen Tubulus nichtresorbierte Cystin wird stromabwärts durch die Wasserresorption so hoch konzentriert, dass es ausfällt und Harnsteine bildet. Eine der möglichen Erklärungen für die Resorptionsstörung könnte ein Defekt des Carriers D2H sein (S. 358).

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12.9 Die Niere im Dienste des Säure-Basen-Haushalts

Lumen

Blut

pH 7,4 pH 6,6 pH 6,6

Lumen

H

CAII H

Blut

+

HATPase

CAII

+

HCO3– ATP

CO2 H

+

Na

NBC-1

NHE3 +

HCO3–

AE1

–

Cl

–

Cl HCO3–

+

CO2

–

HCO3–

H2O

+

–

H + OH

Cl ATP

+

min. Urin-pH: 4,5

–

+

+

Na

ATP

+

H -K ATPase

+

K

H + OH H

+

+

Na +

HATPase

H2O

ATP

+

ATP

Sammelrohr

Schaltzelle Typ B

+

Na -K ATPase

Schaltzelle Typ A pH 4,5– 8,2

max. Urin-pH: 8,2

HCO3– PDS

proximale Tubuluszelle

H –

Cl

ATP Lumen

Abb.12.40 H+-Sekretion. Im proximalen Tubulus titrieren ins Lumen sezernierte H+-Ionen glomerulär filtriertes Bicarbonat– und Phosphat2– (Abb.12.41 u. 12.42), so dass luminal der pH-Wert auf ca. 6,4 – 6,8 absinkt. Die H+-Sekretion in der Henle-Schleife hält diesen transepithelialen H+-Gradienten aufrecht. In beiden Tubulusabschnitten sorgt dafür hauptsächlich der Na+-H+-Austauschcarrier (NHE3), im proximalen Tubulus zusätzlich eine H+-ATPase in der luminalen Membran (links oben). Weiter stromabwärts kann der luminale pHWert im Verbindungsstück sowie im kortikalen und medullären Sammelrohr dann durch die primär-aktive H+-Sekretion

12.9

Die Niere im Dienst des Säure-Basen-Haushalts

Im proximalen Tubulus werden H+-Ionen sezerniert (Na+/H+-Austausch und H+-ATPase), so dass der luminale pH-Wert bis auf 6,5 – 6,8 abfällt. Pro sezerniertem H+-Ion bleibt in der Zelle ein OH–-Ion zurück, das dort, katalysiert durch Carboanhydrase II, mit CO2 zu HCO3– reagiert, welches die Zelle basolateral verlässt. Im Sammelrohr kann der luminale pH-Wert durch eine H+-ATPase und eine H+-K+-ATPase der Schaltzellen sogar auf unter 5 gesenkt werden. Die sezernierten H+-Ionen wandeln im Lumen des frühproximalen Konvoluts das filtrierte HCO3– mit Hilfe der Carboanhydrase IV zu CO2 um, das in die Zelle diffundiert (HCO3–Resorption), und titrieren entlang des Tubulus und des Sammelrohrs HPO42– zu H2PO4–, das als sog. titrierbare Säure im Urin erscheint. Der proximale Tubulus bildet aus Glutamin 2 NH4+ und 2-Oxoglutarat2–, bei dessen Umwandlung zu Glucose0 2 H+-Ionen verbraucht (d. h. 2 HCO3–-Ionen gebildet) werden. Der Anteil des so gebildeten NH4+, der den Körper mit dem Harn verlässt, ist ein indirektes Maß für die H+-Eliminierung bei diesem Prozess. Eine Alkalose vermindert die H+-Sekretion, während eine Azidose nicht nur den Na+/H+Austauschcarrier aktiviert, sondern auch die NH4+-Aus-

+

+

HATPase Blut

der Typ-A-Schaltzellen noch wesentlich weiter gesenkt werden, bei Azidose bis herab auf ca. 4,5! (Ob, wie hier rechts oben gezeichnet, H+-K+-ATPase und H+-ATPase in der gleichen A-Zelle kolokalisiert sind und welchen quantitativen Beitrag sie jeweils zur H+-Sekretion leisten, ist nicht eindeutig geklärt.) Bei alkalotischer Stoffwechsellage kann von den Schaltzellen (statt H+-Ionen) Bicarbonat sezerniert werden (Funktionszustand B, rechts unten, bei dem die H+-ATPase „seitenverkehrt“ und luminal Pendrin [PDS] eingebaut sind), so dass der Urin-pH auf Werte bis zu 8,2 ansteigt. CAII = zytoplasmatische Carboanhydrase II.

scheidung und damit zusätzlich „indirekt“ die H+Eliminierung erhöht.

H+-Sekretion, proximal und distal Im Anfangsteil des proximalen Tubulus wird ein Großteil der aus dem Lumen in die Zelle resorbierten Na+-Ionen von einem Antiportcarrier (NHE3 = Na+/H+ exchanger, Typ 3) gegen intrazelluläre H+-Ionen ausgetauscht, der elektroneutral arbeitet (1 : 1-Austausch) und vom chemischen Na+-Potenzial angetrieben wird. Dabei werden H+Ionen also sekundär-aktiv ins Lumen sezerniert. Ein Absinken des intrazellulären pH-Wertes aktiviert diesen Na+/H+-Antiporter, so dass bei einer Azidose vermehrt H+-Ionen sezerniert werden; umgekehrt werden bei einer Alkalose vermindert H+-Ionen sezerniert. Neben diesem Carrier besitzen besonders spätproximale Tubuluszellen auch eine primär-aktive H+-Pumpe (H+-ATPase) in ihrer Bürstensaummembran, die es ermöglicht, H+-Ionen auch unabhängig von der Na+-Resorption zu sezernieren (Abb. 12.40 links). Die H+-Sekretion senkt den luminalen pH-Wert bereits im ersten Drittel des proximalen Tubulus von ca. 7,4 im Filtrat auf Werte von 6,5 – 6,8 (45). Jedes H+-Ion, das aus der Zelle geschafft wird, stammt aus der Dissoziation von H2O, lässt also ein OH–-Ion zurück. Katalysiert von der zytoplasmatischen Carbo-

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366

12 Die Funktion der Nieren anhydrase II (auch Carbonatdehydratase II genannt), reagiert OH– mit CO2 zu HCO3–, das evtl. zu Carbonat (CO32–) weiterreagiert. Schließlich verlassen 1Na+ zusammen mit 3HCO3– oder, alternativ (73), Na+, HCO3– und CO32– (im Verhältnis 1 : 1 : 1) die Zelle über einen gemeinsamen, elektrogenen Symportcarrier (NBC-1 = Na+-Bicarbonat-Kotransporter, Typ 1) (73) auf der basolateralen Seite. In spätproximalen Tubulusabschnitten verlässt HCO3– die Zelle auch durch einen Cl–/HCO3–-Antiporter. Auch dort wird Na+ natürlich durch die Na+-K+-ATPase hinausgepumpt (Abb. 12.41). Im dicken aufsteigenden Teil der Henle-Schleife gibt es luminal ebenfalls den Na+/H+-Austauschcarrier. Er verhindert einen Wiederanstieg des proximal auf 6,5 – 6,8 gesenkten pH-Wertes im Tubulusharn, zumal in diesem Nephronabschnitt das lumenpositive transepitheliale Potenzial eine treibende Kraft für eine parazelluläre H+Resorption darstellt. Außerdem dient der luminale Na+/ H+-Antiporter hier dazu, die H+-Ionen wieder ins Lumen zu schaffen, die dadurch entstehen, dass das resorbierte NH4+ (S. 368) intrazellulär zu NH3 + H+ dissoziiert. Im Verbindungsstück und im kortikalen und medullären Sammelrohr sitzen Schaltzellen, deren Typ A in der luminalen Membran, wie schon erwähnt, eine H+-K+ATPase und eine H+-ATPase besitzen (Abb. 12.40). Das Membranpotenzial ist für den Na+-H+-Austausch-Carrier keine Triebkraft, da dieser elektroneutral arbeitet. Wenn also die intrazelluläre Na+-Konzentration rund 1⁄10 der extrazellulären beträgt (Tab. 13.1, S. 380), reicht die Triebkraft des chemischen Na+-Potenzials höchstens dazu aus, die extrazelluläre H+-Konzentration auf das 10fache des intrazellulären Wertes anzuheben, was bei einem intrazellulären pH-Wert von ca. 7,2 einem luminalen pH-Wert von 6,2 entspricht (proximaler Tubulus). Soll der luminale pH-Wert, wie im Sammelrohr (s. o.) oder in den Magendrüsen (Kap. 14), weiter abgesenkt werden, muss eine H+-transportierende ATPase zur Verfügung stehen; in diesem Fall stört sogar ein Na+-H+-Austauscher in derselben Zellmembran, da der hohe chemische H+-Gradient den Austauscher dann rückwärts treiben und zur H+-Resorption führen würde.

Mit den H+-transportierenden ATPasen der A-Schaltzellen gelingt es, den pH-Wert in Sammelrohr und Endurin schließlich auf unter 5 zu senken. Das unter Mitwirkung der Carboanhydrase entstehende HCO3– wird basolateral über einen HCO3–/Cl–-Austauschcarrier (Typ AE1) aus der Zelle geschleust, wobei das dabei aufgenommene Cl– über Cl–-Kanäle wieder nach außen rezirkuliert (Abb. 12.40). Bei alkalotischer Stoffwechsellage können die Schaltzellen des Typs A zum Typ B umgebaut werden, der nun statt H+-Ionen HCO3– sezerniert (Abb. 12.40). Dazu wird die H+-ATPase in die basolaterale und ein Anionen-Austauscher (Typ PDS = Pendrin) in die luminale Membran eingebaut (56).

Ohne H+-Sekretion keine HCO3–-Resorption Frühproximal werden die H+-Ionen in ein Filtrat sezerniert, das rund 27 mmol/l HCO3– enthält (wegen des Gibbs-Donnan-Gleichgewichts etwas mehr als im Plasmawasser; S. 380 f.); das HCO3– wird von den sezernierten H+-Ionen rasch zu CO2 und H2O titriert; auch diese Reaktion wird katalysiert, diesmal von der außen am

100%

+

–

HCO3

H

+

H -ATPase + + Na -K ATPase

+

Na

H2O H

+

10%

NHE3 +

CA

Na

IV

H2O + CO2

–

CO2 + OH II CA –

–

OH HCO3

+



CO3

+

Na Lumen

Symport

proximaler Tubulus

Na 2– CO3 –

HCO3

NBC-1

Blut

< 1%

Abb.12.41 Die Resorption von Bicarbonat im frühproximalen Tubulus beträgt 90% der filtrierten Menge. Primum movens der Resorption ist die Sekretion von H+-Ionen (Abb. 12.40), die mit HCO3– zu CO2 reagieren, das in die Zelle diffundiert. Dort entsteht daraus wieder HCO3–, das evtl. z. T. mit OH– zu CO32– und H2O) weiterreagiert. Schließlich verlassen HCO3–, CO32– und Na+ (im Verhältnis 1 : 1 : 1) oder alternativ (nicht abgebildet) 3HCO3– zusammen mit 1 Na+ die Zelle über den gemeinsamen basolateralen Carrier NBC-1. Katalysiert wird die Umwandlung von HCO3– in CO2 (und umgekehrt) durch eine membranale (CAiV) bzw. zytoplasmatische (CAII) Carboanhydrase der Tubuluszelle. Zusätzlich verlässt HCO3– die Zelle im Austausch gegen Cl– (Antiporter; nicht abgebildet).

Bürstensaum sitzenden membranständigen Carboanhydrase IV. Das entstehende CO2 diffundiert in die Zelle und wird dort zu Bicarbonat (und evtl. z. T. zu Carbonat) umgewandelt, die anschließend die Zelle auf der anderen Seite über den NBC-1-Carrier verlassen (Abb. 12.41). Dieser Transport ist elektrogen und wird daher z. T. vom Membranpotenzial getrieben (passiver Transport). Bei einer Alkalose sinkt die H+-Sekretion (s. o.), so dass ein spürbarer Teil des HCO3– der Resorption entgeht und im Urin erscheint; der Blut-pH-Wert wird dadurch wieder der Norm genähert (Kap. 11). Eine Bikarbonaturie tritt auch dann auf, wenn die Carboanhydrase, z. B. mit dem Diuretikum Acetazolamid, gehemmt wird (S. 353) oder wenn die proximal-tubuläre HCO3–-Resorption defekt ist. Bei diesen Patienten gelangen so große Bicarbonatmengen ins Sammelrohr, dass auch die dortige H+-Sekretion einen Bicarbonatverlust nicht verhindern kann. Die Folge ist eine renal bedingte, nichtrespiratorische Absenkung des Blut-pH-Werts: proximale renal-tubuläre Azidose. Bei einer nichtrespiratorischen Azidose wird die transzelluläre NaCl-Resorption (Cl– via PDS-Carrier, Abb. 12.20, S. 343) herabgeregelt, so dass sich die NaHCO3-Resorption erhöht (79).

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12.9 Die Niere im Dienste des Säure-Basen-Haushalts

proximaler Tubulus

H

ca. 1000 mmol/d + – 2 NH4 + 2HCO3 Harnstoff

+ +

H

+

Sammelrohr

2NH4 + 2-Oxoglutarat

ca. 50 mmol/d Glutamin



Blut-pH = 7,4 spätproximaler pH-Wert ~6,6

8

pH-Wert

pK-Wert von Phosphat 7 = 6,8

minimaler Harn-pH-Wert ~4,5

6 „titrierbare Säure“ 5

Glutamin +

2 NH4

4

2-Oxoglutarat

0 > 0,99

0,8

0,6

0,4

0,2



< 0,01



NaOH

[HPO4 ]/Gesamtphosphat Blut-pH

Harn

Harn-pH

Titration Harn-pH zu Blut-pH

Abb.12.42 Renale Säureausscheidung. Ein Teil wird vom Phosphat getragen, dessen nichtresorbierter Anteil während des Absinkens des tubulären pH-Werts (von 7,4 bis herab auf 4,5; Abb.12.40) H+-Ionen aufnimmt; HPO42– + H+ Ð H2PO4–. Zusammen mit einigen anderen Substanzen im Harn (Citrat u. a.) kann man die während der Tubuluspassage aufgenommenen H+-Ionen dadurch messen, dass man den Harn mit NaOH auf den Blut-pH-Wert zurücktitriert („titrierbare Säure“).

Phosphat als Harnpuffer: titrierbare Säure Während also der Löwenanteil der tubulär sezernierten H+-Ionen der Bicarbonatresorption dient (rund 5000 mmol/d), wird ein kleiner, aber unverzichtbarer Teil (bei gemischter Kost 40 – 80 mmol/d) mit dem Harn ausgeschieden (Kap. 11). Selbst bei extrem saurem Harn (pH 4,5) tragen freie H+-Ionen dazu sehr wenig bei (ca. 0,1 mmol/d). Die Hauptmenge wird a) mit Hilfe von Nichtbicarbonatpuffern wie Phosphat ausgeschieden (sog. titrierbare Säure, meist 10 – 30 mmol/d) und b) durch eine Bicarbonateinsparung wettgemacht, die sich in der NH4+-Ausscheidung widerspiegelt (25 – 50 mmol/d; s. u.). Der quantitativ weitaus wichtigste Nichtbicarbonatpuffer im Glomerulusfiltrat ist das Phosphat (S. 361), also das Pufferpaar HPO42– Ð H2PO4– mit einem pKa-Wert von 6,8 (Abb. 12.42 und 11.3, S. 314).

Abb.12.43 Hepatorenale Kooperation bei der Ammoniakausscheidung. Aus dem Protein- bzw. Aminosäurenabbau fallen täglich rund 1000 mmol NH3 Ð NH4+ an, wovon, vereinfacht gesagt, in der Leber rund 95% mit ebensoviel Bicarbonat– zu Harnstoff umgewandelt werden, der renal ausgeschieden wird (2 NH4+ + 2 HCO3– Ð NH2–C (¼ O)–NH2 + CO2 + 3 H2O). Die restlichen 5% des NH3 Ð NH4+ (ca. 50 mmol/d) gelangen entweder als solches oder in Form von Glutamin in die Niere, wo daraus wieder NH3 Ð NH4+ abgespalten wird, das zum größeren Teil der Ausscheidung anheimfällt (Abb. 12.44). Für jedes NH3 Ð NH4+, das so ausgeschieden wird, wird in der Leber ein HCO3– weniger zur Harnstoffsynthese verbraucht. Damit ist die Menge des ausgeschiedenen NH3 Ð NH4+ ein Maß für die Bicarbonateinsparung in der Leber („indirekte“ H+-Ausscheidung; s. Text). Bei Azidose erhöht sich sowohl die renale Glutaminaseaktivität als auch die renale Glutaminaufnahme und damit die „indirekte“ H+-Ausscheidung.

Im Filtrat (pH 7,4) beträgt der Anteil des HPO42– am Gesamtphosphat rund 80%, spätproximal und frühdistal (pH um 6,6) knapp 40 % und im Endurin, wenn er extrem angesäuert ist (pH 4,5), weniger als 1 % (Berechnung nach Gl. 11.2 a auf S. 313). Rund die Hälfte des (nicht resorbierten) sekundären Phosphats wird also im proximalen Tubulus titriert, die andere Hälfte in distalem Tubulus und Sammelrohr. Bei höherem Urin-pH (bei gemischter Kost beträgt er meist 5,5 – 6,5) vermindert sich vor allem die distale Titration. Da täglich 140 – 250 mmol Phosphat filtriert werden, dessen fraktionelle Ausscheidung etwa 10 – 20 % beträgt, können ca. 10 – 30 mmol/d an H+-Ionen mit Hilfe des Phosphats ausgeschieden werden. Titriert man den Harn mit NaOH zurück auf den Blut-pH-Wert, kann man die H+-Menge bestimmen, die Phosphat (sowie etwas Urat, Citrat u. v. a.) in der Niere aufgenommen hat; diese Menge wird titrierbare Säure genannt (Abb. 12.42).

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368

12 Die Funktion der Nieren Sekretion von NH3

proximaler Tubulus

Rinde: 1 m2) mit einer Dialyseflüssigkeit im Gegenstrom (S. 350 f.) in Berührung gebracht wird, sowie eine Peritonealdialyse, für die der Peritonealraum des Patienten punktiert und mit Dialyseflüssigkeit durchspült wird, so dass deren diffusible Inhaltsstoffe über das Peritoneum und die Kapillarwand mit denen des Patientenblutes ausgetauscht werden (Abb. 12.48). Ähnlich wie das glomeruläre Filter ist die künstliche Membran bzw. die Peritonealwand für Makromoleküle (und daher natürlich auch für Blutzellen) dicht, lässt aber alle kleineren Moleküle und Ionen sowie Wasser durch. An diesem Austausch über die Membran sind zwei Mechanismen beteiligt: – Diffusion von Stoffen, für die eine Konzentrationsdifferenz über die Membran besteht, und – Ultrafiltration von Wasser inkl. der darin gelösten (und permeablen) Stoffe, wenn eine hydrostatische und/oder onkotische Druckdifferenz über die Membran hergestellt wird. Unabhängig davon, ob es sich um eine akute oder chronische Dialyse handelt, wird sowohl die Hämodialyse als auch die Peritonealdialyse eingesetzt, wobei beide Methoden jeweils ihre Vor- und Nachteile haben (5). Eine hohe Harnstoff- oder Kreatininkonzentration im Patientenblut z. B. kann also dadurch gesenkt werden, dass die Dialyseflüssigkeit diese harnpflichtigen Stoffe nicht enthält. Eine nichtrespiratorische Azidose des Patienten (dessen Nieren nicht mehr genug H+Ionen ausscheiden können) kann z. B. dadurch korrigiert werden, dass die Dialyseflüssigkeit 35 mmol/l Bicarbonat enthält, so dass während einer vierstündigen Hämodialysedauer das Plasmabicarbonat des Patienten von typischerweise 21 mmol/l auf 27 – 28 mmol/l ansteigt. Indikationen für eine akute Dialyse sind eine Urämie (Kreatinin-Clearance < 0,1 ml/min pro kg Körpergewicht), eine ernste Hyperkaliämie, eine schwere Azidose, eine Vergiftung (z. B. mit einem Barbiturat) sowie eine Hypervolämie. Um die Hypervolämie rasch zu beheben, wird bei der Hämodialyse der hydrostatische Druck des Dialysats weit unter den des Blutes im Dialysator gesenkt, so dass durch den entstehenden Druckgradienten dem Patienten durch Ultrafiltration rasch große Wassermengen entzogen werden. Bei der

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373

12 Die Funktion der Nieren

0

– Blutpumpe

+50

Dialysator

+

0 –200

Blutdruck (mmHg)

Dialysatpumpe

+

Dialysatdruck (mmHg)

Druckreglung

Luftblasenfalle

alt Arterie

neu

Dialyseflüssigkeit Membran

Vene

374

Blut

Dialysat

A Hämodialysator

Dialyseflüssigkeit Bauchraum

Füllung

Verweildauer 5 – 8 Stunden

B Peritonealdialyse 1

Abb.12.48 Dialyse als Nierenersatz. Mit der Dialyse werden harnpflichtige Stoffe aus dem Blut entfernt, die sich im niereninsuffizienten Patienten angesammelt haben (Harnstoff, Kreatinin, K+, H+, Na+, Wasser u. a.). Der Dialysator (Mitte oben) enthält eine großflächige Membran, auf deren einer Seite das Blut des Patienten, auf deren anderer Seite (im Gegenstrom; Abb.12.25 B) die Dialyseflüssigkeit entlangfließt. Die Membran lässt nur Wasser und kleine Moleküle durch, nicht jedoch Proteine, Bakterien oder Blutkörperchen. Die Entfernung des Stoffs aus dem Blut kann durch Diffusion

Peritonealdialyse wird ein Wasserentzug durch Ultrafiltration dadurch erreicht, dass statt des hydrostatischen ein osmotischer Druckgradient durch Zugabe hoher Glucosemengen zur Dialyseflüssigkeit hergestellt wird.

Zum Weiterlesen … 1 Brenner BM. Brenner and Rector’s The Kidney, Vol. I and II, 7th ed. Philadelphia: Saunders; 2004 2 Coe FL, Favus MJ. Disorders of Bone and Mineral Metabolism. 2nd ed. New York: Raven Press; 2002 3 Coward RA, Short CD, Mallick NP. Nephrologie – Fallbeschreibungen. Weinheim: Edition Medizin; 1989 4 Dantzler WH. Comparative Physiology of the Vertebrate Kidney. Berlin: Springer; 1989 5 Daugirdas JT, Blake PG, Ing TS. Handbook of Dialysis. 3rd ed. Brown, Boston: Little; 2000

2

3

Entleerung

(Stoffkonzentration im Dialysat < im Plasma!) oder durch Ultrafiltration geschehen; für letztere muss ein hydrostatischer (Dialysatdruck < Blutdruck; im Bild + 50-[– 200] = + 250 mmHg) oder onkotischer Druckunterschied (z. B. sehr hohe Glucosekonzentration im Dialysat) bestehen. Der dadurch ausgelöste Wasserausstrom reißt auch darin gelöste Stoffe mit sich (Solvent Drag). Statt der künstlichen Membran des Hämodialysators (A) wird bei der Peritonealdialyse (B) das Peritoneum (inkl. des Kapillarendothels) als natürliche Dialysemembran benützt (nach 5).

6 Deetjen P, Boylan JW, Kramer K. Niere und Wasserhaushalt, 3. Aufl. München: Urban & Schwarzenberg; 1976 7 Gottschalk CW, Berliner RW, Giebisch GH. Renal Physiology – People and Ideas. Bethesda: American Physiological Society; 1987 8 Greger R, Windhorst U. Comprehensive Human Physiology. Vol. 1 and 2. Berlin: Springer; 1996 9 Greger R, Lang F, Silbernagl S. Renal Transport of Organic Substances. Berlin: Springer; 1981 10 Koushanpour E, Kriz W. Renal Physiology. Principles, Structure and Function, 2nd ed. Berlin: Springer; 1986 11 Seldin DW, Giebisch G. The Kidney. Physiology and Pathophysiology, Vol. I – II, 3rd ed. Philadelphia: Lippincott, Williams & Wilkins; 2000 12 Silbernagl S, Lang F. Taschenatlas der Pathophysiologie. 2. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2005 13 Windhager EE. Handbook of Physiology, Section 8: Renal Physiology, Vol. I and II. London: Oxford University Press; 1992

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12 Die Funktion der Nieren 57 Santer R, Kinner M, Lassen CL, Schneppenheim R, Eggert P, Bald M, Brodehl J, Daschner M, Ehrich JHH, Kemper M, Li Volti S, Neuhaus T, Skovby F, Swift PGF, Schaub J, Klaerke D. Molecular analysis of the SGLT2 gene in patients with renal glucosuria. J Am Soc Nephrol. 2003; 14: 2873 – 2882 58 Schaub TP, Kartenbeck J, König J, Vogel O, Witzgall R, Kriz W, Keppler D. Expression of conjugate export pump encoded by the mrp2 Gene in the apical membrane of kidney proximal tubules. J Am Soc Nephrol. 1997; 8: 1213 – 1221 59 Schnermann J, Traynor T, Yang T, Arend L, Huang YG, Smart A, Briggs JP. Tubuloglomerular feedback: new concepts and developments. Kidney International. 1998; 54 (Suppl. 67): 40 – 45 60 Shen H, Smith DE, Yang T, Huang YG, Schnermann JB, Brosius FC III. Localization of PEPT 1 and PEPT 2 protoncoupled oligopeptide transporter mRNA and protein in rat kidney. Am J Physiol. 1999; 276: F 658 – F 665 61 Shih Neng-Yao, Li J, Karptiskii V, Nguyen A, Dustin ML, Kanagawa O, Miner JH, Shaw AS. Congenital nephrotic syndrome in mice lacking CD2-associated protein. Science. 1999; 286: 312–315 62 Shimada H, Moewes B, Burckhardt G. Indirect coupling to Na+ of p-aminohippuric acid uptake into rat renal basolateral membrane vesicles. Amer J Physiol. 1987; 253: F795 – F801 63 Shimkets RA, Warnock DG, Bositis CM, Nelson-Williams C, Hansson JH, Schambelan M, Gill JR jr, Ulick S, Milora RV, Findling JW et al. Liddle’s syndrome: heritable human hypertension caused by mutations in the β subunit of the epithelial sodium channel. Cell. 1994; 79: 407 – 414 64 Shipley RE, Study RS. Changes in renal blood flow, extraction of inulin, GFR, tissue pressure and urine flow with acute alterations of renal artery blood pressure. Amer J Physiol. 1951; 167: 675 – 688 65 Silbernagl S. Ammoniagenesis catalyzed by hippurateactivated γ-glutamyltransferase in the lumen of the proximal tubule. A microperfusion study in rat kidney in vivo. Pflügers Arch. 1986; 407: 72 –79 66 Silbernagl S. The renal handling of amino acids and oligopeptides. Physiol Rev. 1988; 68: 911 – 1007 67 Silbernagl S, Despopoulos A. Taschenatlas der Physiologie, 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; München: DTV; 2003 68 Silbernagl S, Ganapathy V, Leibach FH. H+ gradient-driven dipeptide reabsorption in the proximal tubule of rat kidney. Studies in vivo and in vitro. Amer J Physiol. 1987; 253: F 448 –F 457 69 Silbernagl S, Heuner A. Renal transport and metabolism of mercapturic acids and their precursors. Toxicol Lett. 1990; 53: 45 – 51 70 Silbernagl S, Scheller D. Formation and excretion of NH3 Ð NH4+. New aspects of an old problem. Klin Wschr. 1986; 64: 862 – 870 71 Silbernagl S, Völker K, Dantzler WH. Compartmentation of amino acids in the rat kidney. Am J Physiol. 1996; 270: F154 – F163

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Danksagung Meiner Frau, Dr. Heidi Silbernagl, sowie meinen Freunden und Kollegen Prof. Dr. Rainer Greger, Prof. Dr. Michael Gekle und Prof. Dr. Hans Oberleithner danke ich herzlich für die kritische Durchsicht dieses Kapitels für die 1. Auflage. Mein besonderer Dank geht auch an Herrn Prof. Dr. Wilhelm Kriz für die zahlreichen elektronenmikroskopischen Aufnahmen, an Herrn Prof. Dr. Ulrich Pfeifer für das Nierenschnittfoto sowie an Herrn Prof. Dr. Gerhard Schindler für die beiden Röntgenbilder.



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Salz- und Wasserhaushalt H. Oberleithner

13.1 Die Zelle und ihr Mantel

···

378

13.2 Das Medium Wasser

· · · 378 Die Flüssigkeitsräume · · · 378 Interstitielle Flüssigkeit: Wasser zwischen den Zellen · ·· 379 Transzelluläre Flüssigkeit: Wasser in Hohlräumen und an Oberflächen · · · 380 Intrazelluläre Flüssigkeit: Wasser, von der Zellmembran umschlossen · · · 381

13.3 Die Natriumbilanz

· · · 381 Das Körpernatrium ··· 381 Die Niere im Dienste der Natriumhomöostase ··· 382 Ödeme – Anhäufung von Salz und Wasser zwischen den Zellen ··· 383 Langzeitregulation des Blutdrucks durch die Niere · · · 385 Kochsalzkonsum und Bluthochdruck · · · 385 Mineralstoffarme Ernährung und Bluthochdruck · ·· 386 Aldosteron und Bluthochdruck ··· 387

13.5 Die Säurebilanz

· · · 392 Die Konstanz des Zell-pH-Werts: Voraussetzung zum Leben ··· 392 Azidose und Alkalose: Einfluss auf den Elektrolythaushalt ··· 393

13.6 Die Kaliumbilanz ··· 394 Hyper- und Hypokaliämie: Herz und Gefäße machen Probleme · ·· 396 Insulin und Catecholamine treiben K+-Ionen in die Zelle ··· 397 In der Niere wird Kalium sezerniert · ·· 397

13.7 Die Calcium- und Phosphatbilanz · · · 398 Calcium im Extrazellulärraum: nur die Hälfte ist biologisch wirksam ··· 398 Calcium: Aufnahme und Ausscheidung · ·· 399 Phosphat im Extrazellulärraum: Bindungspartner für Ca2+- und H+-Ionen ··· 399 Hormone regulieren den Calcium- und Phosphathaushalt ··· 400 Störungen der Calcium-PhosphatHomöostase · · · 402

13.4 Die Wasserbilanz

··· 388 Der zentrale Mechanismus: Osmorezeptoren steuern Durst und ADH-Freisetzung · · · 389 Der renale Mechanismus: Wasser verlässt „kontrolliert“ den Organismus · · · 389 ADH aktiviert Wasserkanäle · ·· 389 Hyponatriämie: ein Zeichen der Überwässerung · · · 390 Hypernatriämie: ungenügende Wasseraufnahme oder starker Wasserverlust · ·· 391

13.8 Die Magnesiumbilanz

··· 403 Magnesiumaufnahme und -ausscheidung ··· 404 Hypokalzämie: Folge einer Magnesiumverarmung ··· 404

13 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! R. Klinke, H-C. Pape, St. Silbernagl: Physiologie (ISBN 3-13-796005-3) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2005

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13 Salz- und Wasserhaushalt

13.1

Die Zelle und ihr Mantel

Der menschliche Organismus besteht aus einer Vielzahl verschiedener Zellen, die von einem bewegten Flüssigkeitsmantel umgeben sind. Eine hohe Kaliumkonzentration und polyvalente, impermeable Anionen (z. B. Proteine) charakterisieren die intrazelluläre Flüssigkeit, während hohe Konzentrationen von Na+- und CI–-Ionen die extrazelluläre Flüssigkeit kennzeichnen. Das Ungleichgewicht der diffusiblen Ionen zwischen Zellinnerem und Extrazellulärraum wird in der lebenden Zelle durch die ständig aktive Na+-K+-Pumpe aufrechterhalten. Inaktivierung dieses Transportsystems führt zu Zellschwellung und nachfolgendem Zelltod. Das Leben entwickelte sich vor einigen Milliarden von Jahren in Form winziger, einzelliger Organismen. Damals schwamm der Einzeller in einem großen Urmeer. Es bildete ein Milieu konstanter Zusammensetzung, Nährstoffe waren vorhanden, die ausgeschiedenen Abfallprodukte wurden unendlich verdünnt, und der osmotische Druck blieb unverändert. Dann wurden im Laufe der Zeit Gebirge gefaltet und Becken geformt, die der Regen mit salzarmem Wasser füllte. Der in einem so entstandenen Binnensee eingeschlossene Einzeller war durch den osmotisch bedingten Wassereinstrom in sein Zellinneres bedroht. Um der tödlichen Schwellung zu entgehen, bildete er z. B. kontraktile Vakuolen aus (Amöbe), um damit das ins Zellinnere strömende Wasser wieder los-

extrazelluläres Volumen

Atmung

Darm

intrazelluläres Volumen

Lunge

zuwerden. Umgekehrt schützte ein wasserdichter Mantel vor Austrocknung in Zeiten der Dürre. Der Preis für das Überleben in einer solch feindlichen Umgebung waren Immobilität und Inaktivität. „Vielzelligkeit“ wurde notwendig, um Mobilität und Aktivität wiederzugewinnen. Der Mensch, ein vielzelliges Lebewesen, trägt die Flüssigkeit, welche die Zellen wie ein maßgeschneiderter Mantel umgibt, ständig mit sich herum. Diese extrazelluläre Flüssigkeit (EZF) wird in ihrer Zusammensetzung genau reguliert und bietet den angrenzenden Zellen des Körpers das für ihr Überleben nötige konstante Milieu („inneres Milieu“). Zwei Eintrittspforten und vier Auslasswege charakterisieren dieses Kompartiment (Abb. 13.1). Während ein großer Teil der EZF, die interstitielle Flüssigkeit, die einzelnen Zellen direkt umgibt, zirkuliert ein kleiner Teil, das Blutplasma, im Gefäßsystem. Darin werden über weite Strecken metabolische Abfallprodukte rasch transportiert. Gleichzeitig wird die interstitielle Flüssigkeit mit Sauerstoff, Nährstoffen, Hormonen oder eventuell Medikamenten angereichert, mit Substanzen also, die dann über eine kurze Diffusionsstrecke (10 – 20 µm) aus den Blutkapillaren an die Zellmembran gebracht und in die Zellen eingeschleust werden können.

13.2

Das Medium Wasser

Der Mensch besteht zum überwiegenden Teil aus Wasser. Die Fettzellen bilden eine Ausnahme, ihr Wassergehalt beträgt nur etwa 20 %. Das bedeutet, dass ein „großer, magerer“ Mensch relativ zum Körpergewicht mehr Wasser enthält als der, der „klein und dick“ ist. Da die Frau durchschnittlich mehr Körperfett besitzt, ist ihr Wassergehalt niedriger als der des Mannes (Abb. 13.2). Dagegen besitzt der kindliche Organismus einen besonders hohen Wasseranteil. Ein gestörtes Verhältnis zwischen Wasseraufnahme und Wasserabgabe (Wasserbilanz) hat ernste Folgen. Ein unterernährtes Kind z. B. mit einem Gesamtkörperwasser von u. U. mehr als 80 % gerät sehr schnell in Lebensgefahr, sobald sein Organismus Wasser verliert (z. B. durch Durchfall, durch Erbrechen oder durch Schwitzen bei Fieber).

Die Flüssigkeitsräume Haut Niere

Verdunstung Urin

Abb.13.1 Wasser- und Stoffaustausch zwischen Außenund Innenwelt. Über den Darm werden Wasser, Salze und Nährstoffe dem Extrazellulärraum zugeführt. Über die Lunge erfolgt die O2-Zufuhr. Niere und Darm scheiden unbrauchbare bzw. schädliche Stoffe aus, und Wasser verlässt den Körper über Niere, Haut und Atmung. Der intrazelluläre Raum – die Summe der einzelnen Zellen – ist quasi geschlossen. Über die Zellmembran findet jedoch ein lebhafter Stoffaustausch mit dem zur Außenwelt offenen Extrazellulärraum statt.

Mehr als 60 % des Körperwassers befinden sich als sog. Intrazellulärflüssigkeit (IZF) im Innern der Zellen, der Rest, die oben bereits beschriebene EZF, außerhalb. Wie schon erwähnt, besteht die EZF aus einem ständig bewegten Anteil, dem Blutplasma, und einem weitgehend ruhenden Flüssigkeitsmantel, der die Zellen direkt umgibt, der interstitiellen Flüssigkeit. Beim Kind ist das Volumen der interstitiellen Flüssigkeit deutlich größer als beim Erwachsenen (Abb. 13.3). Ein 5 kg schwerer Säugling besitzt etwa 3,5 l Körperwasser. Ginge 1 l davon verloren, z. B. bei starkem Durchfall, so entspräche dieses Volumen bereits der gesamten EZF. Das verlorene Volumen müsste also sofort (durch Trinken oder durch Infusion) ersetzt werden, um das Überleben des Kindes zu sichern.

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13.2 Das Medium Wasser

Männer

Anteil am Körpergewicht

32 %

Fett

18 %

feste Substanz

50 %

Wasser

Frauen

Anteil am Körpergewicht

Anteil am Körpergewicht

Anteil am Körpergewicht

4%

Fett

18 %

Fett

42 %

Fett

26 %

feste Substanz

22 %

feste Substanz

16 %

feste Substanz

Wasser

60 %

Wasser

42 %

Wasser

70 %

Abb.13.2 Verteilung von Wasser, fester Substanz und Fett. Der relative Wassergehalt des Körpers hängt vom vorhandenen „Fettpolster“ und dem jeweiligen Geschlecht ab.

Das Raumvolumen wird gemessen Löst man 10 g Kochsalz in einem Topf Wasser und beträgt die Kochsalzkonzentration darin dann 5 g/l, so errechnet sich ein Wasservolumen von 2 l. Nach demselben Prinzip können wir die einzelnen Flüssigkeitsräume des Körpers berechnen. Wird z. B. eine kleine Menge von Antipyrin, einem ungiftigen Stoff, der sich im gesamten Körperwasser verteilt, in die Blutbahn gebracht, verteilt sich dieses Quantum im gesamten Körper. Aus der bekannten injizierten Menge (M) und der nach gleichmäßiger Verteilung gemessenen Konzentration des Antipyrins im Blutplasma (C) errechnet sich nach dem Grundsatz M = V · C das Volumen (V) des Verteilungsraumes, im Falle des Antipyrins das Gesamtkörperwasser. Eine wesentliche Voraussetzung ist die gleichmäßige Verteilung der Substanz in dem zu messenden (und keinem anderen) Raum. So wird z. B. 131J-Albumin verwendet, um das Plasmavolumen zu bestimmen. Der Farbstoff EvansBlau wird ebenfalls an Plasmaprotein gebunden und dient demselben Zweck. Inerte Zucker wie Inulin oder Mannitol werden verwendet, um das gesamte Extrazellulärvolumen (EZV) zu bestimmen, da solche Substanzen, in die Blutbahn injiziert, zwar das Gefäßbett verlassen können, nicht jedoch in Zellen aufgenommen werden. Das interstitielle Volumen wird schließlich indirekt aus der Differenz von Extrazellulärvolumen und Plasmavolumen ermittelt. Im Labor werden die verschiedenen Ionen des Plasmas in „mol/l Plasma“ gemessen (Tab. 13.1). Dabei sollten wir berücksichtigen, dass den Ionen von 1000 ml Plasma tatsächlich nur 930 ml Lösungsmittel zur Verfügung stehen, der Rest sind nämlich Proteine, Fette und Salze. Daran muss der Arzt bei der Beurteilung der Plasmawerte denken, denn eine krankhafte Veränderung der Plasmaproteinkonzentration (z. B. Hypoproteinämie bei Leberzirrhose oder Hyperproteinämie beim Plasmozytom) kann den Anteil des Wassers im Plasma erheblich verändern. Das heißt, wenn z. B. die Konzentration der Plasmaproteine pathologisch erniedrigt ist, so sinkt gleichzeitig der Lösungsraum für andere gelöste Stoffe (z. B. Ionen), wodurch eine erhöhte Konzentration dieser Substanzen im Plasma gemessen werden kann. Eine Konzentration ist eben eine „Menge pro Volumen“; das Volumen hat in dem geschilderten Beispiel aufgrund mangelnder Plasmaproteine abgenommen.

Kind

Erwachsener 5% Plasma

5%

25%

Interstitium

15%

40%

intrazellulär

40%

70% des Körpergewichts ist Wasser

60% des Körpergewichts ist Wasser

Abb.13.3 Verteilung der Flüssigkeitsvolumina beim Kind und Erwachsenen. Das interstitielle Volumen des Kindes ist im Vergleich zu dem des Erwachsenen deutlich größer. Dadurch liegt der Gesamtwassergehalt des kindlichen Organismus (ca. 70% des Körpergewichts) über dem des Erwachsenen (ca. 60%; s. auch Abb.13.2).

Interstitielle Flüssigkeit: Wasser zwischen den Zellen Aus der Tab. 13.1 erkennen wir, dass sich die Elektrolytkonzentration der interstitiellen Flüssigkeit von der des Plasmas unterscheidet. Das kommt dadurch zustande, dass die Wand der Blutkapillaren zwar alle kleinen Ionen und niedermolekularen organischen Substanzen durchlässt, jedoch nicht die großen, anionischen Proteine. Ein vereinfachtes Beispiel soll das verständlich machen (Abb. 13.4). Zwei Räume 1 und 2 (z. B. Interstitium und Intrazellulärraum) seien durch eine Membran getrennt, die nur kleine Ionen durchlässt. Füllen wir den Raum 1 mit reiner NaCl-Lösung, den Raum 2 aber mit proteinhaltiger Elektrolytlösung (Abb. 13.4, links), so werden sofort die permeablen Cl–-Ionen vom Raum 1 in den noch Cl–freien, aber proteinhaltigen Raum 2 einströmen. Dabei wird das negativ geladene Cl–-Ion von einem Kation – in

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380

13 Salz- und Wasserhaushalt Tabelle 13.1

Ionale Zusammensetzung der Körperflüssigkeiten (mmol/l bzw. mval/l**)

Ion

pro l Plasma

pro l Plasmawasser

Interstitielle Flüssigkeit

142

153

145

Zytosol***

Kationen Na+ K+

12

4,3

4,6

4,4

140

freies Ca **

2,6

2,8

2,5

< 0,001 (frei)*

freies Mg2+**

1,4

1,5

1,4

1,6 (frei)*

2+

Gesamt

150

162

153

154

104

112

117

4

24

26

27

12

Anionen Cl– HCO3– HPO42–/H2PO4– Proteine** organische Phosphate und sonstige** Gesamt

2 14 5,9 150

2,2 15 6,3 162

2,3

29

1

55

ca. 5

54

153

154

Die Konzentrationen im Plasmawasser sind 7,5 % höher als im Plasma, da das Plasmawasser nur 93% des Plasmavolumens ausmacht. Bei den Angaben für die interstitielle Flüssigkeit wurde der Gibbs-Donnan-Faktor berücksichtigt, nämlich 0,95 für 1-wertige Kationen, 0,90 für 2-wertige Kationen und 1,05 für 1-wertige Anionen. Die organischen Phosphatverbindungen im Zytosol wurden unter „sonstige“ eingeordnet.

* Anstelle der intrazellulären Gesamtkonzentrationen für Ca2+ und Mg2+ (inkl. der Ca2+-Speicher) sind die biologisch wichtigeren Größen, nämlich die Ionenaktivitäten im Zytosol angegeben (S. 864); sie sind für Calcium ca. 10 000-mal, für Magnesium ca. 10-mal niedriger als die jeweiligen Gesamtkonzentrationen. ** Bei Ca2+, Mg2+ und den Proteinen ist die Konzentration der Ladungsäquivalente (mval/l) und nicht die Stoffmengenkonzentration angegeben. *** Die zytosolischen Ionenkonzentrationen können je nach Zellart erheblich voneinander abweichen (s. a. Tab. 2.1, S. 15).

unserem Fall Na+ – begleitet, da in den einzelnen Räumen Elektroneutralität herrschen muss. Der Akkumulation von Na+-(bzw. Cl–-)Ionen im Raum 2 sind Grenzen gesetzt, weil gleichzeitig in zunehmendem Maße eine Na+und Cl–-Rückdiffusion einsetzt. Sobald die chemische („Bergab“-)Triebkraft der diffusiblen Ionen, d. h. das Verhältnis ihrer Konzentrationen im Raum 2 zu dem in Raum 1 (für Na+) bzw. dem in Raum 1 zu dem in Raum 2 (für Cl–), denselben Endwert erreicht hat (9 : 6 bzw. 6 : 4; Abb. 13.4), sistiert die Nettobewegung. Ein durch impermeable Proteine ausgelöster Zustand, das sog. Gibbs-DonnanGleichgewicht, ist erreicht. Was bedeutet diese etwas spröde Betrachtung für die Funktion unseres Organismus? Da in der Zelle hohe Konzentrationen polyvalenter Makromoleküle (Proteine) vorliegen, welche die Zellmembran nicht passieren können, würde Wasser, durch (kolloid-)osmotische Kräfte getrieben, aus dem Extrazellulärraum ins Zellinnere einströmen. Zellschwellung und Zelltod wären die Folge. Deshalb besitzt jede Zelle des menschlichen Organismus ein Ionentransportsystem (die sog. Na+-K+-Pumpe), das unter Verbrauch von Stoffwechselenergie die einströmenden Na+-Ionen ständig zurück in den Extrazellulärraum transportiert und gleichzeitig K+-Ionen in die Zelle schafft (Austausch von 3 Na+ gegen 2 K+; s. S. 30 ff.). Außerdem erzeugt das entlang seines chemischen Gradienten wie-

der aus der Zelle hinausdiffundierende K+ ein Membranpotenzial (innen negativ; Kap. 4), das Cl– aus der Zelle treibt, so dass die intrazelluläre Cl–-Konzentration weit unter die extrazelluläre abgesenkt wird (Tab. 13.1). Dies trägt zusätzlich dazu bei, die intrazelluläre Osmolalität der lebenden Zelle soweit zu verringern, dass es zu keinem Wassereinstrom kommt. Folglich wird sich das Gibbs-Donnan-Gleichgewicht mit Zellschwellung erst dann einstellen, wenn den Zellen die Energieversorgung entzogen wird und dadurch die Aktivität der Ionenpumpe ihren Dienst einstellt. Auch das Blutplasma ist im Vergleich zur interstitiellen Flüssigkeit proteinreich. Auch hier würden also kolloidosmotische Kräfte zum Wassereinstrom in den proteinhaltigen Intravasalraum führen, doch wirkt in diesem Fall der intravasale hydrostatische Druck dieser ins Blutgefäß gerichteten Wasserbewegung entgegen (S. 195 f.).

Transzelluläre Flüssigkeit: Wasser in Hohlräumen und an Oberflächen Epithelzellen sezernieren Flüssigkeiten, deren Ionengehalt sich von Plasma und interstitieller Flüssigkeit wesentlich unterscheiden kann. Tab. 13.2 gibt einen Überblick. Zwar sind diese transzellulären Räume normaler-

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13.3 Die Natriumbilanz

10 Na+ 10 Cl

–

Raum 1

5 Na+ 5 Pr– Raum 2

Einfüllen der Lösung: Start Abb.13.4 Entstehung des Gibbs-Donnan-Gleichgewichts. Sind zwei Flüssigkeitsräume durch eine Membran getrennt, die nur kleine Ionen durchlässt, stellt sich ein Ungleichge-

weise klein, doch das täglich dorthin sezernierte Volumen kann u. U. beträchtlich sein. Bereits unter physiologischen Bedingungen werden täglich rund 6 l in den Magen-Darm-Trakt sezerniert und danach wieder resorbiert. Erbrechen wie Durchfall können also zu großen Volumenverlusten führen und die Wasser- und Elektrolythomöostase empfindlich stören.

Intrazelluläre Flüssigkeit: Wasser, von der Zellmembran umschlossen Kalium ist das mengenmäßig dominierende Kation der Zelle. Die organischen Phosphate und Proteine bilden den Hauptanteil intrazellulärer Anionen (Tab. 13.1). Wie oben erwähnt, entstehen durch die Anwesenheit der nichtdiffusiblen, intrazellulären Proteine osmotische Kräfte, die einen Wassereinstrom in die Zelle zur Folge hätten, wenn nicht die Na+-K+-Pumpe für eine niedrige intrazelluläre Na+-Konzentration und – indirekt – Cl–-Konzentration sorgen würde. Wird die Pumpe gehemmt (z. B. durch Sauerstoffentzug), verbleibt das einströmende Na+ in der Zelle zusammen mit den (dem elektrischen Gradienten gehorchenden) Cl–-Ionen. Es kommt zur Zellschwellung und, bei vollständiger Blockierung der Na+K+-Pumpe, zum Zelltod.

13.3

6 Na+ 6 Cl–

Die Natriumbilanz

Die Nieren kontrollieren den Na+-Gehalt des Körpers. Natrium wiederum bestimmt als mengenmäßig wichtigstes extrazelluläres Kation das Volumen des Extrazellulärraumes. Rund 25 000 mmol Na+ werden täglich von beiden Nieren filtriert. Davon werden etwa 24 000 mmol im proximalen Tubulus und in der HenleSchleife resorbiert. An diesen Na+-Transport ist die Resorption und Sekretion verschiedener organischer und anorganischer Substanzen energetisch gekoppelt. Wieviel von den verbleibenden 1000 mmol Na+ letztlich im Endharn ausgeschieden wird, ist der Kontrolle des Aldosterons unterworfen. Dieses Steroidhormon passt die Ausscheidung von Na+ der mit der Nahrung aufge-

9 Na+ 4 Cl– 5 Pr–

Raum 1

Raum 2

etwas später: Gibbs-Donnan-Gleichgewicht wicht der Ionenkonzentration zwischen den beiden Räumen ein. Ursache dafür ist die Anwesenheit impermeabler Proteine in einem der beiden Räume (Näheres im Text).

Tabelle 13.2 (in mmol/l)

Elektrolyte der transzellulären Flüssigkeiten Cl–

HCO3–

Na+

K+

Speichel

33

20

34

23

Magensaft

60

9

84



Lebergalle

149

5

101

45

Pankreassaft

141

5

77

92

Dünndarmsaft

129

11

116

29

Sekret

Dickdarmsaft Hirnliquor Schweiß

80

21

48

22

141

3

127

23

45

5

58



nommenen Menge an. Ungenügende renale Natriumausscheidung kann zu arteriellem Bluthochdruck führen.

Das Körpernatrium Der durchschnittliche Na+-Gehalt des Erwachsenen beträgt ungefähr 4000 mmol. Davon sind ca. 40% im Knochen gelagert. Mehr als zwei Drittel von diesem Anteil sind an kristalline Strukturen des Knochens gebunden und daher nicht ohne weiteres austauschbar. Der Rest steht wie das Natrium des Plasmas, des Interstitiums und der Zelle zum Austausch zur Verfügung. Auf diese schnellverfügbaren Speicher greift der Organismus zurück, sobald die Na+-Homöostase in ein Ungleichgewicht zu kommen droht.

Natriumaufnahme und -ausscheidung Wir nehmen Na+-Ionen großteils in Form von Kochsalz zu uns. Die tägliche Na+-Aufnahme mit der Nahrung ist individuell sehr verschieden. Sie schwankt zwischen wenigen mmol bis zu 1000 mmol (1 mmol entspricht 58 mg NaCl). Da praktisch alle Lebensmittel Na+ enthalten, nimmt der

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381

382

13 Salz- und Wasserhaushalt Einzelne durchschnittlich mehr als 100 mmol/Tag zu sich. Für die Na+-Ausscheidung sorgt unter normalen Umständen hauptsächlich die Niere. Nur geringe Mengen werden über Stuhl und Schweiß eliminiert. Der menschliche Organismus kann jede Änderung des Körpernatriums und des Extrazellulärvolumens (EZV) registrieren. Beantwortet wird eine solche Änderung durch eine Zu- oder Abnahme der Na+-Ausscheidung durch die Nieren.

thalamus) produziert. Dort führt ANF zur Senkung des Blutdrucks, zur Hemmung der ADH-Freisetzung und der Sympathikusaktivität sowie zur Verminderung des Durstes und des Salzappetits. Die hier geschilderten und noch nicht eindeutig geklärten Mechanismen dienen offensichtlich dazu, einer Volumen- bzw. Drucküberlastung des Herzens und des Kreislaufs entgegenzuwirken.

Die Niere im Dienste der Natriumhomöostase Wo und wie misst der Organismus das Körpernatrium? Es ist weniger die Na+-Konzentration als vielmehr die Gesamtmenge des Körpernatriums, die „gemessen“ wird. Dazu eignet sich ganz besonders das Blutgefäßsystem. Es stellt selbst einen Teil des Extrazellulärraums dar, ist dehnbar und reichlich innerviert. Jede Änderung des Natriumgehalts des Extrazellulärraums zieht eine Volumenänderung desselben nach sich. Rezeptoren erkennen eine Änderung des Volumens über eine veränderte Wandspannung der Gefäße, hauptsächlich solchen des Niederdrucksystems. Zu diesem gehören u. a. die großen Hohlvenen im Thorax, die Portalvene der Leber wie auch die beiden Vorhöfe des Herzens. Über Erregung dieser Strukturen erreichen afferente Impulse das Zentralnervensystem, in dem die Eingangssignale verarbeitet werden. Efferente Impulse, welche den Transport von Natrium in der Niere beeinflussen, sind die Folge. So führt eine Zunahme des Blutvolumens zur verstärkten Erregung der Dehnungsrezeptoren der Herzvorhöfe. Afferente Nervenfasern melden dies an den Hypothalamus, und es resultiert eine Hemmung der zentralen Freisetzung von Adiuretin (ADH). Dieser als Gauer-Henry-Reflex bekannte Mechanismus führt innerhalb von Minuten zu verstärkter renaler Flüssigkeitsausscheidung. Ein weiterer Mechanismus wird seit einiger Zeit diskutiert: Ein in der Vorhofswand des Herzens gebildetes Peptidhormon, der sog. atriale natriuretische Faktor (ANF, Atriopeptin), wird bei Zunahme der Wandspannung freigesetzt; er führt in der Niere zur Natriurese und trägt dadurch auf noch nicht vollständig geklärte Weise zur Na+-Homöostase bei. Mit Hilfe molekularbiologischer Methoden konnte die chemische Struktur dieses Peptidhormons innerhalb von weniger als 2 Jahren nach der Entdeckung der natriuretischen Wirkung vollständig ermittelt werden (19). Atriopeptin fördert die NierenmarkDurchblutung und hemmt die Na+-Resorption im Sammelrohr, was beides zur Steigerung der Salz- und Wasserausscheidung führt. Die hormoninduzierte Diurese erfolgt bereits Sekunden bis Minuten nach Vorhofdehnung, so dass diesem Peptid eine unter Umständen bedeutende Rolle in der kurzfristigen Regulation von Extrazellulärvolumen und Blutdruck zukommen könnte. Darüber hinaus führt ANF zu einer Hemmung der Reninsekretion im juxtaglomerulären Apparat der Niere, einmal direkt und zum anderen indirekt über die vermehrte Natriumausscheidung. Hieraus resultiert letztlich eine erhebliche Unterdrückung der Aldosteronsekretion aus den Nebennieren. ANF hemmt aber auch direkt die Aldosteronsynthese und -freisetzung, so dass dadurch die Natriurese weiter verstärkt wird. Überraschenderweise wird ANF auch im Gehirn (besonders präoptische Region, Hypo-

25 000 mmol Na+ werden täglich durch die Glomeruli ins renale Kanälchensystem filtriert. Davon gelangt normalerweise weniger als 1 % zur Ausscheidung, d. h., mehr als 99 % werden vom Tubulusepithel wieder ins Blut resorbiert. Daraus leiten wir ab, dass jede Änderung der beiden Parameter Filtration und Resorption schwerwiegende Auswirkungen auf die Na+-Ausscheidung haben muss.

Das glomeruläre Filter: Zugang zu den Nierenkanälchen Die kleinen Na+-Ionen passieren das glomeruläre Filter problemlos (S. 336 ff.). Allerdings entgehen Na+-Ionen zunehmend der Filtration, wenn die gesamte Filterfläche (d. h. beispielsweise die Anzahl der Glomeruli bei chronischer Niereninsuffizienz) abnimmt. Na+ und damit Wasser werden im Organismus retiniert, der Extrazellulärraum expandiert, ein krankhafter Zustand tritt ein, der u. a. zum Bluthochdruck führt.

Der proximale Tubulus: Massentransport zurück ins Blut 60 – 70% der filtrierten Na+-Menge werden bereits in diesem Abschnitt des Nephrons resorbiert (Abb. 12.22, S. 346). Die sog. glomerulotubuläre Balance sorgt dafür, dass die Resorption der Filtration angepasst ist. Je mehr filtriert wird, um so geringer ist der hydrostatische Druck im nachgeschalteten Kapillarbett, das die einzelnen Nephrone umgibt. Gleichzeitig steigt auch der onkotische Druck in den Blutkapillaren. Beides sind wichtige Faktoren, welche die Flüssigkeitsresorption fördern (S. 344). Im proximalen Tubulus steuern diese physikalischen Triebkräfte den Na+-Transport. Zusätzliche nervale wie auch hormonelle Einflüsse sind bekannt, doch sind sie in ihrer Bedeutung noch unklar.

Die Henle-Schleife: Diuretika hemmen die Salzresorption Weitere 25 – 30 % des filtrierten Na+ werden in diesem Teil des Nierenkanälchens resorbiert (Abb. 12.22, S. 346). Mit sog. Schleifendiuretika (z. B. Furosemid) kann das dafür verantwortliche Transportsystem gehemmt werden (s. a. S. 346 u. 353). Dadurch werden große Mengen an Salzen durch die Nieren ausgeschieden. Auf diese Weise werden Ödeme beseitigt, d. h., die pathologische Ansammlung von Salz und Wasser im Extrazellulärraum wird verringert. Diuretika finden breite Anwendung bei der Therapie von Bluthochdruck und Herzinsuffizienz.

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13.3 Die Natriumbilanz

Knöchelödem

Ödemgefahr im Stehen an Unterschenkeln und Knöcheln

Abb.13.5 Ödeme – Salz- und Wasseransammlung im Interstitium. Die Lokalisation von Ödemen richtet sich nach der Körperlage. Der zusätzliche hydrostatische Druck der

Distaler Tubulus und Sammelrohr: das letzte Stellglied Die restlichen 4 – 5 % des filtrierten Na+ werden in diesen Abschnitten resorbiert (s. a. S. 347 f.). Unter physiologischen Bedingungen bestimmen letztlich diese Nephronabschnitte das genaue Ausmaß der Na+-Ausscheidung. Das Steroidhormon Aldosteron steuert in komplexer Weise Ionenpumpen, Kanäle und Carrier. Das sind jene molekularen Strukturen der Zellmembran, die unter anderem den Na+-Ionen als Transportwege vom Tubuluslumen in die Blutkapillaren zur Verfügung stehen. Auf diese Weise wird die jeweilige Natriummenge, die wir täglich mit der Nahrung zu uns nehmen, wieder ausgeschieden. Jede Anhäufung von Na+-Ionen im Extrazellulärraum – sei es durch exzessive Salzaufnahme oder durch pathologisch verminderte Ausscheidung (z. B. bei Niereninsuffizienz) – erweitert das Volumen des Plasmas mit der Folge des Volumenhochdrucks und der Vergrößerung des interstitiellen Raums (Ödem), vorausgesetzt, dass Wasser verfügbar ist. Umgekehrt führt Kochsalzverlust zur Einengung des Extrazellulärraumes, besonders bei zusätzlichem Wasserverlust. Abnahme des Plasmavolumens und dadurch verminderte Organperfusion sowie Zellschrumpfung führen sehr schnell zu lebensbedrohlichen Zuständen.

Lidödem

Ödemgefahr im Liegen Sakralödeme und Lidödeme

Blutsäule führt in den abhängigen Körperpartien zur vermehrten Filtration im Kapillarbett und dadurch zur Volumenzunahme des Interstitiums.

Ödeme – Anhäufung von Salz und Wasser zwischen den Zellen Die Vergrößerung des interstitiellen Volumens führt zum Ödem. Dabei muss das interstitielle Volumen um mindestens 2 l zunehmen, um klinisch sichtbar zu werden. 8 – 10 l können zusätzlich im Interstitium eingelagert werden. Da sich die Schwerkraft (d. h. in diesem Fall der Druck der Blutsäule) zum Blutdruck hinzuaddiert, ist der Schweregrad der Ödementwicklung in den einzelnen Körperteilen von der Körperlage abhängig (Abb. 13.5). Ein Ödem entsteht durch die Verlagerung von Plasmawasser ins Interstitium. Aufgrund der Tatsache, dass bis zu 10 l verschoben werden können, aber insgesamt nur etwa 3 l Plasmavolumen zur Verfügung stehen, können wir ableiten: Die Voraussetzung für die Ödementwicklung ist die Retention von Na+ und Wasser durch die Nieren. Im Gewebe entsteht das Ödem durch ein Ungleichgewicht der Starling-Ludwig-Kräfte (Abb. 13.6 u. S. 196). Ein erhöhter Druck im venösen Teil des Kapillarbettes (z. B. Herzschwäche), ein bei erniedrigter Plasmaeiweißkonzentration gesenkter kolloidosmotischer Druck (z. B. reduzierte Proteinsynthese bei Leberzirrhose) oder eine erhöhte Durchlässigkeit der Blutkapillaren für Proteine (z. B. Histaminausschüttung bei Anaphylaxie) verlagert Volumen aus dem Plasma ins Interstitium. Lokale Ödeme können durch Histamin (z. B. Insektenstich) oder durch Blockierung des Lymphabflusses (z. B. bei Lymphknotentumoren) entstehen.

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383

13 Salz- und Wasserhaushalt

Lymphabfluss

2

hydrostatische Druckdifferenz in mmHg (DP)

Venole

27 Arteriole

384

25 Kapillare

onkotische Druckdifferenz in mmHg (Dp) Peff = DP – Dp

Interstitium

normaler Flüssigkeitsaustausch

Lymphabfluss

Lymphabfluss

5

5

30 25

zu wenig Plasmaproteine

27

erhöhter Venendruck

22

Ödem Ödem Herzschwäche Eiweißmangel (z.B. bei Leberzirrhose)

Abb.13.6 Pathophysiologie des Flüssigkeitsaustausches im Kapillarbett. Die durch die hydrostatische bzw. kolloidosmotische Druckdifferenz (Starling-Ludwig-Kräfte) getriebene Flüssigkeits- und Elektrolytnettobewegung zwischen Blutkapillaren und Interstitium verlagert sich im Zuge mancher

Die Rolle der Niere bei der Ödementstehung Jede verstärkte Nettobewegung von Salz und Wasser aus dem Kapillarbett ins Interstitium reduziert das Plasmavolumen. Das hat eine verminderte Perfusion sämtlicher Organe zur Folge. Als Antwort auf die Minderperfusion der Niere wird dort umgehend das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System aktiviert. Das führt innerhalb kurzer Zeit (30 – 60 min) zu Natriumretention und Antidiurese. Salz und Wasser werden vor der Ausscheidung bewahrt, das Plasmavolumen wieder der Norm zugeführt. Das heißt, das beim Ödem im Interstitium angehäufte Volumen war ursprünglich zur Ausscheidung vorgesehen und wurde nur aufgrund der renalen Minderperfusion durch hormonellen Einfluss (Aldosteron) im Körper zurückbehalten. Die Nieren halten auf diese Weise das Plasmavolumen und damit Blutdruck und Organdurchblutung konstant. Das ist eine Voraussetzung für das Überleben des Organismus. Pathophysiologisch gesehen tragen sie aber dadurch zur Ödementwicklung bei (sekundärer Hyperaldosteronismus; s. a. S. 397). Daraus lässt sich ableiten: Neben der Behandlung der Grundkrankheit stellt die Hemmung der renalen Salzretention

Krankheiten zugunsten der Filtration, die ins Interstitium gerichtet ist. Der Lymphabfluss aus dem Zwischenzellraum ist überfordert – ein Ödem entsteht. Weitere Details zum kapillären Flüssigkeitsaustausch siehe S.193 ff.

(z. B. durch Diuretika, S. 352 f.) die wirksamste Therapie zur Ausschwemmung der Ödeme dar.

Natriumverlust Es gibt viele Möglichkeiten, dass Na+ aus dem Extrazellulärraum verloren geht (Erbrechen, Diarrhö, Schwitzen, Blutung, Diuretikabehandlung etc.). Solche Ereignisse führen zur Verkleinerung (Kontraktion) des Plasmavolumens und aktivieren neben dem subjektiven Durstgefühl ähnlich wie bei der Ödementstehung (s. o.) das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System. Auf diese Weise versucht der Organismus, den Volumenverlust zu kompensieren.

Der Mensch auf einer Insel im Ozean Nehmen wir an, ein Schiffbrüchiger strandet auf einer kleinen Insel inmitten der Südsee (Abb. 13.7). Trinkwasser ist nicht vorhanden. Durch starkes Schwitzen verliert sein Organismus hypotone Flüssigkeit (Schweiß). Ferner geht unaufhaltsam Wasser durch die Atmung verloren (Perspiratio insensibilis). Da das Wasser nicht ergänzt werden kann, steigt die Osmolalität des Plasmas über die Norm (> 285 mosm/kg H2O) an. Adiuretin

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13.3 Die Natriumbilanz (Vasopressin = antidiuretisches Hormon = ADH), ein im Hypothalamus gebildetes Peptidhormon, wird freigesetzt. Es führt zur maximalen Wasserretention durch die Nieren. Gleichzeitig werden Osmorezeptoren im Zentralnervensystem stimuliert, Durst setzt ein. Die Kontraktion des Plasmavolumens führt über das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System zur renalen Na+-Retention. Erfolgt keine Wasseraufnahme von außen, kann die erhöhte Osmolalität des Blutplasmas nicht normalisiert werden. Da prinzipiell keine osmotischen Gradienten aufrechterhalten werden können, steigt auch die Osmolalität des Interstitiums und des Zytoplasmas. Die Zellen schrumpfen und Funktionsstörungen treten auf; Verwirrung, Halluzinationen und Krämpfe (Schrumpfung der Nervenzellen) folgen. Was passiert, wenn nun dieser Mensch in seinem verzweifelten Bemühen, den Durst zu stillen, 1 l Meerwasser trinkt? Sein Zustand wird sich verschlechtern! Im Meerwasser sind nämlich ca. 450 mmol/l Na+ enthalten. Die Niere kann jedoch Na+ nur bis maximal 300 mmol/l im Harn konzentrieren. Das heißt, ein Harnvolumen von 1,5 l ist notwendig, um jene Salzmenge auszuscheiden, die in 1 l Meerwasser enthalten ist. Die Osmolalität im Organismus wird jetzt noch schneller steigen, die Überlebenszeit wird verkürzt.

Langzeitregulation des Blutdrucks durch die Niere Beim normalen Erwachsenen liegt der arterielle Blutdruck (S. 184 ff.) systolisch bei etwa 120 mmHg und diastolisch bei rund 80 mmHg. Wenn wir von Blutdruckregulation im Allgemeinen sprechen, meinen wir gewöhnlich nicht diese beiden Einzelwerte, sondern den mittleren (= über die Zeit gemittelten) arteriellen Blutdruck während des ganzen Herzzyklus. Dieser Druck liegt also bei ungefähr 100 mmHg. Er kann jedoch bei Patienten mit arteriellem Bluthochdruck auf über 160 mmHg ansteigen oder, wenn viel Blut verloren geht oder der Kreislauf auf andere Weise zusammenbricht, bis auf wenige mmHg absinken. Eine plötzlich auftretende Blutdruckschwankung löst innerhalb von Sekunden über die Reizung von Rezeptoren (Barorezeptoren, Chemorezeptoren) Reflexe aus, die der kurzfristigen Blutdruckregulation dienen (S. 98 ff.). Hormonsysteme (z. B. der Renin-AngiotensinMechanismus, S. 370 f.) reagieren innerhalb von Minuten. Schließlich gibt es noch ein weiteres System – von seinem Beschreiber, dem amerikanischen Physiologen Guyton, kurz als „Kidney-fluid“-System bezeichnet (20) –, welches erst in Stunden bis Tagen reagiert; letztlich aber ist sein Beitrag bei weitem am ausschlaggebendsten. Dieses „Kidney-fluid“-System funktioniert nach Guytons Vorstellung folgendermaßen: Sobald der arterielle Blutdruck über die Norm ansteigt, scheidet die Niere mehr Salz und Wasser aus, als der Organismus während desselben Zeitraums aufnimmt. Dadurch sinkt das Blutvolumen, das Herz pumpt weniger Blut, und der arterielle Blutdruck sinkt. Umgekehrt wird bei einem Blutdruckabfall mehr Flüssigkeit aufgenommen als renal ausgeschieden; der Blutdruck steigt folglich wieder an. Die Bedeutung des „Kidney-fluid“-Systems liegt wahrscheinlich in der Langzeitkontrolle des Blutdrucks. Dadurch, dass die gesamte Körperflüssigkeit in diesen Regulationsprozess mit einbezogen ist, führt dieses Kontrollsystem den arteriellen Blutdruck nur in sehr kleinen Schritten wieder der Norm zu. Sogar unter optimalen Bedingungen dauert es gewöhnlich mehrere Tage, bis der normale arterielle Blut-

Abb.13.7 Inadäquate Wasseraufnahme und Dehydratation. Ein Schiffbrüchiger strandet auf einer Insel ohne Trinkwasser. Durch Atmung und Schweiß geht unaufhörlich Wasser verloren. Die Osmolalität des Plasmas steigt, Durst setzt ein, die Niere retiniert Wasser maximal. Schließlich schrumpft auch der Intrazellulärraum. Schwere Funktionsstörungen treten auf, die sich nach Trinken von Meerwasser verschärfen (Näheres im Text).

druck wieder erreicht ist. Beim herzkranken Patienten, dessen Kreislaufsystem nicht stabil ist, kann die Normalisierung des Blutdrucks durch das „Kidney-fluid“-System Wochen dauern und unter Umständen nie abgeschlossen werden.

Kochsalzkonsum und Bluthochdruck Der tägliche Kochsalzverbrauch ist in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich, in Deutschland liegt er bei 12 – 15 g/Tag. NaCl wird im Darm praktisch vollständig resorbiert und gelangt zusammen mit Wasser ins Blutgefäßsystem. Werden große Mengen an Kochsalz (und über den Durstmechanismus dann auch Wasser) zugeführt, tritt eine von Individuum zu Individuum unterschiedlich stark ausgeprägte (Extrazellulär-) Volumenexpansion ein. Das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System wird supprimiert, und die renale Na+-Ausscheidung nimmt dadurch zu. Während jedoch die aldosteronabhängige Na+-Retention als lebenswichtiger Mechanismus bei jeder Art der Volumenkontraktion (Na+-Mangel) sehr schnell in Aktion tritt, benötigt die Ausscheidung von überschüssigem Kochsalz u. U. mehrere Stunden. Nehmen wir also ständig stark gesalzene Nahrungsmittel zu uns – eine weit verbreitete Gewohnheit in unserer Gesellschaft –, kann sich u. U. bei einem Teil der Bevölkerung ein sog. arterieller Bluthochdruck (arterielle Hypertonie) einstellen. Wir erkennen aus

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385

13 Salz- und Wasserhaushalt

Japaner (Nord-Japan)

20

Bantus (Südafrika)

Deutsche 10

Japaner (Süd-Japan)

Amerikaner Marshall-Insulaner (Pazifischer Ozean) Eskimos (Alaska)

0

0

10

20

30

40

Menschen mit Bluthochdruck (% der Bevölkerung)

Abb.13.8 Salz und Blutdruck. Positive Korrelation zwischen Kochsalzkonsum und Bluthochdruck (nach 11).

der Abb. 13.8, dass mit zunehmender Kochsalzzufuhr durch die Nahrung die Menschen in verstärktem Ausmaß einen Bluthochdruck entwickeln können, was ja bekanntlich zu schweren Gefäßschäden führt. Allerdings ist zu betonen, dass zwischen Kochsalzkonsum und Bluthochdruck lediglich eine positive Korrelation nachgewiesen wurde. Der kausale Zusammenhang, nämlich dass hohe Kochsalzzufuhr allein schon zu arterieller Hypertonie führen kann, wird gegenwärtig noch diskutiert (16). Der Mediziner Allen hat bereits im Jahre 1925 postuliert, dass „die Sterblichkeit aufgrund von Nieren- und Gefäßkrankheiten durch eine generelle Salzabstinenz erheblich reduziert werden könnte“ (6). Der Hypertonieforscher Dahl errechnete, dass eine tägliche Kochsalzzufuhr von 200 – 400 mg bei weitem ausreichend ist, was nur 1 – 10% der üblicherweise zugeführten Salzmenge entspricht (10). Im Gegensatz zum Salzhunger, dem bei extrem salzarmer Kost eine regulatorische Bedeutung zukommt (Pflanzenfresser; Vegetarier?), scheint der verbreitete Salzappetit eine erworbene Geschmacksgewohnheit zu sein. Mit Ausnahme von Obst und Gemüse enthalten sämtliche kommerziell erhältlichen Nahrungsmittel mehr oder weniger viel Salz. Das erklärt z. T. die Beobachtung, dass ein übergewichtiger Hochdruckpatient seinen Blutdruck durch verminderte Nahrungszufuhr und die damit verbundene reduzierte Kochsalzaufnahme häufig normalisieren kann.

Mineralstoffarme Ernährung und Bluthochdruck Hohe Kochsalzzufuhr allein führt normalerweise nicht zur arteriellen Hypertonie. Diese Erkenntnis setzt sich zunehmend durch. Sie gründet sich auf groß angelegte klinische Untersuchungen mit mehreren Tausenden von Personen mit normalem und erhöhtem Blutdruck

(33). Offensichtlich ist es weniger bedeutsam, wie viel Gramm NaCl der Mensch pro Tag aufnimmt, solange sich der Salzkonsum in seinen normalen Grenzen bewegt (ca. 5 bis 15 g/Tag). Zunehmend mehr Bedeutung bei der Prävention des arteriellen Bluthochdrucks erlangt gegenwärtig die fettarme, mineralstoffreiche Ernährung. Es wurde nämlich festgestellt, dass die gezielte Ernährung mit viel Gemüse, Früchten und fettarmen Milchprodukten (d. h. reich an Kalium, Calcium und Magnesium) einen erheblichen Beitrag dazu leisten kann, den arteriellen Blutdruck im Normbereich zu halten, und zwar weitgehend unabhängig von der jeweiligen Kochsalzzufuhr. Mineralstoffreiche Ernährung ist durch eine hohe Calciumzufuhr gekennzeichnet, welche tatsächlich mit der Höhe des arteriellen Blutdrucks korreliert (Abb. 13.9). Es sei aber davor gewarnt, diese (negative) Korrelation zwischen Blutdruck und Calciumkonsum als unmittelbar „kausal“ anzunehmen, da ja mit dieser Form der Ernährung auch andere Faktoren (Kalium, Magnesium, Spurenelemente etc.) ins Spiel kommen. Überträgt man das aus Tierexperimenten erworbene Wissen auf den Menschen, muss man annehmen, dass ca. ein Drittel der Erdbevölkerung die erbliche Anlage zur Ausbildung eines Bluthochdrucks in sich trägt. Wie die Abb. 13.10 verdeutlicht, hängt das unterschiedlich starke Auftreten der Hypertonie vom Zusammenspiel zwischen genetischen und erworbenen Faktoren ab. Hoher Kochsalzkonsum und Stress führen beim genetisch prädisponierten Menschen mit großer Wahrscheinlichkeit zum Bluthochdruck, während bei Menschen ohne Prädisposition die eben erwähnten hypertensiven Stimuli ziemlich wirkungslos bleiben (17).

133

Ca2+

131

systolischer Blutdruck (mmHg)

30

durchschnittliche NaCl-Aufnahme (g/Tag)

386

129

127

125

123

121 119

0

400

800

1200

1600

täglicher Calciumkonsum (mg)

Abb.13.9 Calcium und Blutdruck. Negative Korrelation zwischen Calciumkonsum und systolischem Blutdruck (nach 25).

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13.3 Die Natriumbilanz kardiovaskuläre System über Mineralocorticoidrezeptoren verfügt. Letztere befinden sich im Zytosol von Herzmuskelzellen, Herzbindegewebszellen und Endothelzellen, werden durch Aldosteron aktiviert und lösen physiologische Antworten aus, die erst jetzt im Detail erforscht werden. Fest steht, dass Hyperaldosteronismus zu Veränderungen des Herz-Kreislaufsystems führt. Das Herz lagert vermehrt Bindegewebe ein (cardiale Fibrose) und vergrößert sich dabei (cardiale Hypertrophie). Endothelzellen des Gefäßsystems schwellen an und verändern dabei vermutlich ihre Funktion (Abb. 13.11). Solche, durch ein Überangebot von Aldosteron ausgelösten Störungen lassen sich tatsächlich durch Medikamente beeinflussen, deren Wirkungen ursprünglich nur auf die Interaktion mit den Zielzellen der Niere erklärt wurden. So kommt es, dass nicht nur in der Nephrologie sondern auch in der Kardiologie Aldosteronantagonisten (z. B. Spironolacton oder Eplerenon) eingesetzt werden. Diese Therapie hat nicht ausschließlich das Ziel, die Natriumresorption im Sammelrohr der Niere zu drosseln (Reduzierung des Extrazellulärvolumens) sondern zusätzlich die Herzleistung direkt zu verbessern (Verringerung der Herzhypertrophie). Aufgrund jüngster Erkenntnisse, dass nämlich Aldosteron das Herz, die Gefäße und die Nieren in ihren Funktionen zu beeinflussen vermag, werden gegenwärtig neue Therapiekonzepte zur Bekämpfung von Bluthochdruck und seinen Folgen entwickelt.

Fall 1

erbliche Belastung

Bluthochdruck

normaler Blutdruck Fall 2

nichtererbte Einflüsse

Abb.13.10 Blutdruck und Vererbung. Dieses Diagramm veranschaulicht das mögliche Zusammenspiel erblicher und nichterblicher Faktoren (Stress, hoher Salzkonsum, mineralstoffarme Diät, Nierenschaden) bei der Entstehung des Bluthochdrucks. Im Fall 1 liegt eine erbliche Belastung vor. Das Ausmaß des Bluthochdrucks kann jedoch durch Reduzierung der nichterblichen Faktoren vermindert werden. Im Fall 2 liegt eine geringe erbliche Belastung für Bluthochdruck vor. Nur sehr starke nichterbliche Einflüsse lösen Bluthochdruck aus (nach 12).

Aldosteron und Bluthochdruck Es gilt als erwiesen, dass mehr als 10% der Bluthochdruckerkrankungen auf zu hohe Aldosteronspiegel (Hyperaldosteronismus) zurückzuführen sind. Dabei hat sich gezeigt, dass nicht allein die Nieren Zielgewebe des Aldosterons sind, sondern dass auch das

A Endothel: Aldosteron-verarmt

B Endothel: 3 Tage nach Aldosteronbehandlung

5 µm

5 µm

0

0 20

20 40

40 60 µm

Abb.13.11 Aldosteron lässt Endothelzellen anschwellen. Humane Endothelzellen aus der Nabelschnurvene von Neugeborenen wurden über 3 Tage in einem plasmaähnlichen Nährmedium gezüchtet. Wird kein Aldosteron zugesetzt (A), bleiben die Zellen klein. Zugabe von Aldosteron führt zu

60

µm

deutlicher Schwellung und Vergrößerung der Oberfläche einzelner Zellen (B). Die dreidimensionale Darstellung der Endothelzellen gelang mittels Rasterkraftmikroskopie direkt im Nährmedium (nach 28).

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387

388

13 Salz- und Wasserhaushalt

Hypothesen zur Entstehung der arteriellen Hypertonie Bereits 1969 wurde von Dahl und Mitarbeitern die Hypothese aufgestellt, dass der sog. primären oder essenziellen Hypertonie eine angeborene Ausscheidungsschwäche der Niere für Kochsalz zugrunde liegt (13). Die damit unausweichlich verbundene Expansion des Extrazellulärvolumens (Retention von Salz und Wasser) führt dabei wahrscheinlich zur Freisetzung eines sog. natriuretischen Hormons, das die Salzresorption in der Niere hemmt und dadurch das Extrazellulärvolumen wieder normalisiert (15). Man vermutet, dass das natriuretische Hormon (wahrscheinlich endogenes Ouabain), ähnlich den Herzglykosiden, die „Pumpe“ des renalen Salztransports, nämlich die Na+-K+-ATPase hemmt (S. 31), so dass eine Salz- und Wasserdiurese ausgelöst wird. Wodurch aber entsteht nun der arterielle Bluthochdruck? Offensichtlich besteht ja auch unter den Bedingungen des nunmehr normalisierten Extrazellulärvolumens ein Missverhältnis zwischen Plasmavolumen und arterieller Gefäßweite. Diesen Zusammenhang hat der amerikanische Physiologe Blaustein im Jahr 1977 erkannt (8). Hemmt nämlich das natriuretische Hormon die Na+-K+-ATPase auch in nichtrenalen Zellen, wie z. B. in den glatten Muskelzellen der Arteriolenwände, so wird dort in der Folge die intrazelluläre Na+-Konzentration ansteigen, was den Auswärtstransport von Ca2+-Ionen aus dem Zellinneren über den Na+-Ca2+-Austauschcarrier in der Plasmamembran dieser Zellen beeinträchtigt. Ähnlich wie im Herzmuskel digitalisbehandelter Patienten (S. 154) nimmt die intrazelluläre Calciumkonzentration zu. Das steigert den Tonus der glatten Muskelzelle und führt zur Vasokonstriktion – der Blutdruck steigt. Diese attraktive, wenn auch noch umstrittene Hypothese zur Entstehung der essenziellen Hypertonie ist in der Abb. 13.12 dargestellt. Die Entstehung eines Bluthochdrucks kann einerseits durch Expansion des Extrazellulärvolumens (primärer Volumenhochdruck, z. B. bei exzessiver Kochsalzzufuhr), andererseits durch den Einfluss von „Pressorsubstanzen“, zu denen Catecholamine und (indirekt wirkend) ein natriuretisches Hormon gehören (primärer Widerstandshochdruck), erklärt werden. Der primären Salz- und Wasserretention folgt initial in jedem Fall eine Expansion des Extrazellulärvolumens. Abb. 13.13 macht deutlich, dass der Organismus

offensichtlich versucht, das Volumen wieder zu normalisieren, allerdings auf Kosten eines erhöhten arteriellen Blutdrucks. Das heißt, bei der klinischen Diagnose des Bluthochdrucks hat sich das Plasmavolumen bereits wieder normalisiert. Wenn die Pressorsubstanzen die primäre Ursache des Bluthochdrucks darstellen, so schrumpft das anfänglich normale Plasmavolumen (Abb. 13.13). Der Organismus versucht offenbar, durch zunehmende Verminderung seines Extrazellulärvolumens die blutdrucksteigernde Wirkung der Pressorsubstanzen abzuschwächen. Aus der Tatsache jedoch, dass bei der essenziellen Hypertonie das Extrazellulärvolumen nicht reduziert ist, schließen wir: Die wahrscheinliche Ursache dieser Erkrankung liegt in einem Defekt der Salzund Volumenregulation der Niere und nicht in der primären, exzessiven Sekretion von Pressorsubstanzen. Es ist daher offensichtlich die renale Salzausscheidung, die beim Hochdruck-Patienten unzureichend ist.

13.4

Die Wasserbilanz

Der Wassergehalt des Organismus ist mit seinem Salzgehalt eng verbunden. Jeder Aufnahme von Salz folgt die Aufnahme von Wasser. Während Aldosteron die Aufrechterhaltung des Extrazellulärvolumens über die renale Na+-Retention reguliert, wird die Osmolalität durch das Adiuretin (ADH) gesteuert. Dabei kontrolliert der Durstmechanismus die Wasseraufnahme, während ADH mittels Einbau so genannter Wasserkanäle in die Hauptzellen des Sammelrohrs die renale Ausscheidung reguliert. Die physiologischen Grenzen der Plasmaosmolalität werden dadurch auf einen Bereich zwischen 280 und 295 mosm/kg Wasser eingestellt. Ungenügende ADH-Produktion im Hypothalamus oder mangelnde ADH-Empfindlichkeit der Sammelrohre führen zu Diabetes insipidus, d. h. zu Wasserverlust durch die Nieren.

unerwünscht:

erwünscht:

essenzielle Hypertonie

Defekt wird kompensiert: + Na -Resorption gedrosselt

+

Na -Aufnahme > 50 mmol/Tag

Konstriktion der Arteriolen Ursache: Na -Ausscheidung erblich defekt +

Niere

+

+

Na -K -ATPase wird gehemmt

Extrazellulärvolumen nimmt zu

natriuretisches Hormon wird freigesetzt

Abb.13.12 Hypothese zur Entstehung des essenziellen Bluthochdrucks. Eine erblich bedingte renale Ausscheidungsschwäche für Natrium stimuliert die Freisetzung eines bisher noch hypothetischen natriuretischen Hormons. Dieses unterdrückt über Hemmung der Na+-K+-ATPase die renale

Na+-Resorption und kompensiert dadurch den angeborenen Defekt. Gleichzeitig führt es aber – als „unerwünschte Nebenwirkung“ – zur Tonussteigerung der glatten Muskulatur der Arteriolen (Widerstandserhöhung) und damit zum Bluthochdruck.

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13.4 Die Wasserbilanz Noxe Blutdruck

erniedrigt

erhöht

EZV bei primärem Volumenhochdruck

EZV bei primärem Widerstandshochdruck Tage

Monate

Jahre

Abb.13.13 Extrazellulärvolumen (EZV) bei Volumenund bei Widerstandshochdruck. Ungenügende renale Salzausscheidung, unabhängig von der Genese (Noxe), führt zur Expansion des EZV (violette Kurve). Diese Erhöhung ist allerdings nur vorübergehend, denn in der Folge erhöht sich der Blutdruck (rotbraune Kurve), wodurch das EZV wieder normalisiert wird. Hingegen führt ein primäres Überangebot vasopressorisch wirksamer Substanzen zur unmittelbaren Einschränkung des EZV (blaue Kurve) und gleichzeitig zum Anstieg des arteriellen Blutdrucks. Das heißt, bei Volumenhochdruck ist der Blutdruck kompensatorisch, bei Widerstandshochdruck zwangsläufig erhöht (nach 21).

Der zentrale Mechanismus: Osmorezeptoren steuern Durst und ADH-Freisetzung Das zyklische Oktapeptid Adiuretin (ADH = antidiuretisches Hormon; Vasopressin) wird von Nervenzellen des Hypothalamus gebildet, im Golgi-Apparat in kleine Vesikel verpackt, in dieser Form entlang der Axone in die Neurohypophyse transportiert und dort in sog. Sekretgranula gespeichert (s. a. S. 523). Auf einen Nervenreiz hin fusionieren die Granula mit der Plasmamembran und stülpen ihren Inhalt, ADH, in den extrazellulären Raum. Diese Exozytose wird durch nervale Impulse ausgelöst, die ihren Ausgang von den Zellen der Kerngebiete des Hypothalamus nehmen (Nucleus supraopticus und paraventricularis). Die Zelldepolarisation führt in den Nervenenden zur Permeabilitätserhöhung der Zellmembran für Ca2+-Ionen; sie strömen ins Zytoplasma ein und aktivieren die Exozytose. ADH wird bereits bei einer Zunahme der Plasmaosmolalität um 1 mosm/kg Wasser vermehrt freigesetzt. Die maximale Stimulation der ADHAusschüttung ist dann erreicht, wenn die Plasmaosmolalität über 295 mosm/kg H2O angestiegen ist. ADH-vermittelt retiniert die Niere zu diesem Zeitpunkt bereits maximal Wasser. Nur der Durstmechanismus, gesteuert über Osmorezeptoren des Hypothalamus, kann jetzt noch die entgleiste Wasserbilanz dadurch ausgleichen, dass er zum Trinken „auffordert“ (Homöostase durch Verhalten). Zusätzlich wird die ADH-Freisetzung vom vorhandenen Blutvolumen bestimmt. Während ADH schon bei

sehr geringen Schwankungen der Plasmaosmolalität (um 1 %) vermehrt bzw. vermindert ausgeschüttet wird (ADH im Plasma 0 – 10 ng/l) und die Wasserpermeabilität des Sammelrohrs über hochaffine V2-Rezeptoren steuert (s. o.), führt eine starke Verminderung des Blutvolumens (10 – 20 %) über eine geringere Vorhofdehnung (GauerHenry-Reflex, S. 382) zu so hohen Plasmakonzentrationen von ADH (20 – 50 ng/l), dass es über die niederaffinen V1Rezeptoren der Gefäßmuskulatur zur Vasokonstriktion kommt (daher auch der Name Vasopressin, S. 207). Verstärkt wird dieser vasokonstriktorische Effekt von ADH dadurch, dass seine Ausschüttung durch Angiotensin II (das ja selbst schon stark vasokonstringiert) verstärkt wird. Im Gegensatz zur tagtäglichen Feinsteuerung der Plasmaosmolalität durch ADH hat die ADH-vermittelte Vasokonstriktion daher mehr den Charakter einer Notreaktion. Daneben modifiziert eine Reihe anderer Faktoren die ADH-Freisetzung. Beispielsweise stimulieren Nicotin und Narkotika die ADH-Sekretion, während Alkohol die ADH-Freisetzung hemmt und dadurch zur Wasserdiurese führt. Das ist wohl der Grund, warum Bier- und Weintrinker nach durchzechten Abenden am nächsten Morgen so durstig sind.

Der renale Mechanismus: Wasser verlässt „kontrolliert“ den Organismus Drei Faktoren bestimmen die Wasserausscheidung durch die Niere (s. a. S. 344 ff.): – Ca. 30% des filtrierten Wassers entgehen der proximalen Resorption und erreichen den aufsteigenden Teil der Henle-Schleife (Verdünnungssegment). – In diesem Verdünnungssegment wird Salz resorbiert, während Wasser im Tubuluslumen zurückbleibt. – Die intraluminale Flüssigkeit wird entlang des distalen Tubulus durch NaCl-Resorption weiter verdünnt. Die so gebildete hypotone Flüssigkeit passiert auf dem Weg in Richtung Nierenbecken das hypertone Nierenmark, ohne selbst hyperton zu werden. Das setzt ein wasserimpermeables Sammelrohr, d. h. eine geringe ADH-Aktivität im Plasma voraus, da ADH die Wasserdurchlässigkeit der Hauptzellen des Sammelrohrs steigert.

ADH aktiviert Wasserkanäle Die Abb. 13.14 illustriert den gegenwärtigen Wissensstand. Aus den Speichern der Neurohypophyse freigesetzt, gelangt ADH auf dem Blutweg in die Niere und bindet dort an die membranständigen V2-Rezeptoren der Zellen des Sammelrohrs. Daraufhin wird der intrazelluläre Botenstoff 3′5′-Cyclo-AMP gebildet, der die Wasserpermeabilität der luminalen Zellmembran steigert. Offensichtlich werden auf das hormonelle Signal hin in Bruchteilen von Sekunden sog. Wasserkanäle in die Plasmamembran eingebaut (36, 37). Jetzt kann Wasser entlang eines steilen osmotischen Gradienten von der Tubulusflüssigkeit der Sammelrohre in die Zelle und weiter ins hypertone Interstitium des Nierenmarks abströmen. Auf diese Weise kann der Harn maximal die Osmolalität des Nierenmarks erreichen, nämlich etwa 1200 mosm/kg H2O.

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13 Salz- und Wasserhaushalt H 2O

H2O

ADH ADH-V2Rezeptor

Sammelrohrlumen

ATP Sammelrohrzellen

Adenylylzyklase Blut

Sammelrohrlumen

390

ATP Sammelrohrzellen

Adenylylzyklase cAMP

„dicht“

Vesikel mit Wasserkanälen (AQP2)

Blut

H2O H 2O Lumen

AQP3, AQP4

AQP2 Zelle

H2O

Interstitium/Blut

hyperton

Lumen

Zelle

Interstitium/Blut

hyperton

Ohne ADH ist die luminale Membran der Sammelrohrzellen dicht für Wasser.

Abb.13.14 Wirkmechanismus von Adiuretin (ADH) in den Sammelrohrzellen der Niere. Vorgeformte Wasserkanäle (blaue Kreise) sind in der Membran intrazellulärer Vesikel gespeichert. ADH-Stimulation führt zur Freisetzung des intrazellulären Botenstoffes cAMP, wodurch in Sekundenbruchteilen die Vesikel mit der luminalen Zellmembran fusionieren (36, 37). Dadurch werden die Wasserkanäle (AQP2) in die

Die Wasserkanäle, Aquaporine benannt, wurden in den frühen 1990er Jahren als Eiweißmoleküle in der Plasmamembran vieler verschiedener Zellen (Erythrozyten, Kapillarendothel, Epithelien der Gallenblase, der Bauchspeicheldrüse, der Cornea, des Plexus chorioideus, der Lunge, der Schweißdrüsen, des Magens, der Niere, etc.) entdeckt und kloniert (5). Der amerikanische Biochemiker Peter Agre der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore wurde für die Entdeckung der Wasserkanäle im Jahr 2003 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet. Das für die ADH-induzierbare Wasserpermeabilität des Sammelrohrs der Niere verantwortliche Aquaporin, das sog. AQP2, ist ein je nach dem Grad seiner Glykosylierung unterschiedlich großes Porenprotein mit einer Molekularmasse zwischen 28 und 45 kDa. Es tritt ausschließlich in der luminalen Membran der Hauptzellen des Sammelrohrs auf und wird dort dann besonders stark exprimiert, wenn der Organismus Wasser einsparen muss, also im dehydrierten Zustand. (Die basolaterale Zellmembran ist dauernd wasserdurchlässig; sie besitzt Wasserkanäle vom Typ AQP3 und 4.)

Luminale Kanalproteine ermöglichen Wassereinstrom in die hypertone Umgebung (Zelle, Interstitium, Plasma).

luminale Zellmembran eingebaut. Die ursprünglich wasserundurchlässige Membran wird dadurch hydraulisch leitfähig. Wasser, von osmotischen Kräften getrieben, gelangt vom Tubuluslumen in die Zelle und von dort durch die permanent wasserdurchlässige basolaterale Zellmembran (enthält AQP3 und AQP4) ins Interstitium.

Es konnte kürzlich gezeigt werden, dass eine erbliche Form des sog. nephrogenen Diabetes insipidus (S. 391) auf eine Mutation jenes Gens zurückzuführen ist, welches für das AQP2-Protein kodiert (14). Ein gentherapeutischer Ansatz, nämlich die Einschleusung des gesunden Gens in das Genom der Sammelrohrzellen der Diabetes-insipidus-Patienten, könnte eine vollständige Wiederherstellung der ADH-induzierbaren Wasserpermeabilität für die betroffenen Nieren bedeuten.

Hyponatriämie: ein Zeichen der Überwässerung Hyponatriämie und Hypoosmolalität charakterisieren die sog. Wasserintoxikation. Sie tritt dann ein, wenn die Wasseraufnahme die Wasserausscheidung wesentlich übersteigt. Extra- wie auch Intrazellulärräume werden sich dann in ähnlichem Maße erweitern. Nicht das Zuwenig an Natrium, sondern das Zuviel an Wasser führt in der Folge zur Hyponatriämie. Der ADH-Plasmaspiegel sinkt unter die Nachweisgrenze. Die Aufnahme eines großen Wasservolumens innerhalb kurzer Zeit

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13.4 Die Wasserbilanz führt zu einem raschen Wasserübertritt vom Extra- in den Intrazellulärraum, was aufgrund der eingeschränkten Ausdehnungsmöglichkeiten des Gehirns besonders dort zu mehr oder minder schweren Ausfallerscheinungen führt (Abb. 13.15). Wird im Organismus hingegen langfristig Wasser über Gebühr retiniert, wie z. B. bei stark eingeschränkter Nierenfunktion, kann die Plasmanatriumkonzentration unter Umständen ohne besondere klinische Symptomatik bis 100 mmol/l absinken. Offensichtlich erlaubt eine langsame (chronische) Volumenretention die Anpassung des intrazellulären Milieus an die niedrigen Salzkonzentrationen im Extrazellulärraum (Volumenregulation der Zellen). Grundsätzlich kennen wir zwei Möglichkeiten, wie Wasser retiniert wird, nämlich abhängig oder unabhängig von der ADH-Sekretion. Während Letztere durch sekundären Hyperaldosteronismus zustande kommt (S. 384), wissen wir, dass sowohl Zunahme der Osmolalität wie auch Abnahme des Plasmavolumens die physiologischen Stimuli für die ADH-abhängige Wasserretention sind. Bei stark verkleinertem Plasmavolumen wird also in verstärktem Maß ADH freigesetzt und dadurch Wasser retiniert.

130

120

110

100

Kr äm pf e

Ko m a

St up or

Symptome

ve rw irr t

90 un au ffä lli g

+

Na -Konzentration im Plasma (mmol/l)

Das erklärt z. T. die Beobachtung, warum der Herzkranke zunehmend Wasser zurückhält. Aufgrund der verminderten Herzkraft verteilt sich nämlich sein Blut vermehrt im dehnungsfähigen Venensystem und nimmt daher in geringerem Maß an der Zirkulation teil. Sein sog. effektives Plasmavolumen sinkt, und ADH wird freigesetzt. Zugleich erhöht sich bei einer Herzinsuffizienz der Blutdruck im venösen Kapillarende (Rückstau!), so dass sich das Filtrations-Resorptions-Verhältnis im Kapillarbett zugunsten der Filtration verändert. Hierdurch fließt verstärkt Salz und Wasser ins Interstitium ab; kardiale Ödeme treten auf. Trotzdem ist in dieser Situation der ADH-Mechanismus dem physiologischen Stimulus noch angepasst.

Abb.13.15 Verschiedene Schweregrade der Hyponatriämie. Beziehung zwischen der Na+-Konzentration im Plasma und der Einengung des Sensoriums bei 65 Patienten mit einer Plasmanatriumkonzentration von 124 mmol/l und weniger (nach 7).

Im Gegensatz dazu findet man eine inadäquat erhöhte ADH-Sekretion bei manchen endokrin aktiven Tumoren (z. B. bei bestimmten Formen des Lungenkarzinoms). Durch die übermäßige Retention von freiem Wasser (frei = unabhängig von der Salzresorption; S. 352) im Organismus expandiert der Extrazellulärraum, was zur Hemmung der aldosteronabhängigen Salzresorption im distalen Nephron der Niere führt. Die dadurch entstandene Hyponatriämie lässt keine Ödembildung (Ablagerung von Salz und Wasser) zu, die Volumenexpansion entzieht sich der klinischen Beobachtung. Die ADH-unabhängige Wasserretention ist gewöhnlich die Folge eines akuten oder chronischen Nierenversagens (Niereninsuffizienz). Das vom Patienten aufgenommene Volumen kann renal nicht mehr ausgeschieden werden. In diesem Fall müssen Salz und Wasser auf extrarenalem Wege, nämlich durch das Dialyseverfahren, entfernt werden (S. 373).

Hypernatriämie: ungenügende Wasseraufnahme oder starker Wasserverlust Ein Wassermangel des Organismus ist gekennzeichnet durch erhöhte Natriumkonzentration und Osmolalität im Plasma, wobei letztlich eine zu geringe Wasseraufnahme die Ursache ist. Der Patient ist entweder zu jung, zu alt oder zu krank, um nach Wasser zu fragen, oder aber das einem Schwerkranken infundierte Volumen ist nicht ausreichend, um die physiologischen Wasserverluste zu decken. Verschlimmert wird die Situation, wenn Wasser zudem durch die Niere (renal) oder über andere Wege (extrarenal) verloren geht. Übermäßige renale Wasserausscheidung (Polyurie), Durst und dadurch erhöhte Wasseraufnahme (Polydipsie) kennzeichnen den sog. Diabetes insipidus. Liegt eine zentrale Störung in der ADH-Produktion oder ADH-Freisetzung vor (Tumor, Verletzung, Entzündung), so sinkt die Durchlässigkeit der renalen Sammelrohre für Wasser aufgrund des ADH-Mangels. Dabei können täglich mehr als 15 l Wasser verloren gehen, ein Volumen, das der stets durstige Patient durch Trinken ausgleichen muss. Im Gegensatz dazu ist beim sog. nephrogenen Diabetes insipidus der zentrale Anteil des ADH-Mechanismus intakt, die Zielstrukturen dieses Hormons, nämlich die Sammelrohre der Niere, sind jedoch defekt (krankhafte Veränderungen des Nierenmarks bzw. angeborener Defekt der Wasserkanäle; S. 390). Trotz hoher ADH-Plasmaspiegel bleibt die Harnkonzentrierung aus, und ein hypotoner Harn wird ausgeschieden. Eine Polyurie tritt auch bei osmotischer Diurese auf, einem häufigen Begleitsymptom des Diabetes mellitus. Dabei wird mehr Glucose in den Nieren filtriert, als tubulär resorbiert werden kann. Die der Resorption entgangene Glucose hält Wasser im Lumen des Nierentubulus zurück, so dass dieses Volumen ausgeschieden wird: osmotische Diurese (S. 353). Der normalerweise praktisch glucosefreie Enddarm enthält jetzt größere Mengen an Glucose. Der Patient hat (wegen des osmotischen Wasserverlustes) Durst und wird daher nach Möglichkeit trinken; der bewusst-

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13 Salz- und Wasserhaushalt seinsgetrübte, präkomatöse Diabetiker wird allerdings austrocknen (Dehydratation). Manchmal ist es aber auch von Nutzen, eine osmotische Diurese therapeutisch – durch die Infusion eines nicht metabolisierbaren und renal nicht resorbierbaren Zuckers (z. B. Mannitol) – herbeizuführen, um damit überflüssiges Wasser aus dem Organismus zu entfernen. Hypotone Flüssigkeit kann auch über den MagenDarm-Trakt (Erbrechen, Durchfall), über die Haut (Schwitzen) und über die Atmung (Hyperpnoe) verloren gehen. Bei solchen Zuständen ist das Harnzeitvolumen klein und die Harnosmolalität hoch, was zeigt, dass die Niere adäquat auf den dehydrierenden Stimulus reagiert. Außerdem ist die Natriumkonzentration im Harn niedrig (< 10 mmol/l). Über den ADHund den Aldosteron-Mechanismus spart sie also Wasser und Salz mit dem Ziel ein, Extrazellulärvolumen und Osmolalität wieder zu normalisieren.

–

organisches Anion + H

H

+

H

Die Säurebilanz

Alle Zellen des Organismus besitzen Regelmechanismen, welche die ständig drohende intrazelluläre Azidose verhindern. Die in den Extrazellulärraum transportierten H+-Ionen werden gepuffert, auf dem Blutweg in Niere und Lunge gebracht und dann in Form titrierbarer Säure und über den NH4+-Mechanismus durch die Niere ausgeschieden bzw. als CO2 durch die Lunge abgeatmet. Jede Azidose bzw. Alkalose führt zu Elektrolytverschiebungen zwischen Intra- und Extrazellulärraum. Besonders die K+-Homöostase wird dadurch erheblich gestört. Hyperkaliämische Azidose bzw. hypokaliämische Alkalose sind Ausdruck dieser Störungen.

+

+

Na

4 +

H + – Prot

+

Na

HProt +

+

Na - K -ATPase Zellinneres

Rasche Dehydratation hat schwere Folgen

13.5

2 Glucose

1

ATP

Osmotische Gradienten zwischen Extra- und Intrazellulärraum können längerfristig nicht aufrechterhalten werden, so dass der Dehydratation des Extrazellulärraums notgedrungen die Schrumpfung des Intrazellulärraums folgt. Die Funktion der Zellen des zentralen Nervensystems ist davon am stärksten beeinträchtigt. Neurologische Ausfallerscheinungen wie Lethargie, Muskelschwäche, Krämpfe und Koma treten auf. Glücklicherweise besitzt jedoch die Nervenzelle (wie andere Zellen auch) Mechanismen, ihr Zellvolumen wieder zu normalisieren. Das Hirnvolumen kann nämlich innerhalb von Stunden sein Ausgangsvolumen dadurch wieder erreichen, dass Elektrolyte (wie Kalium- und Bicarbonationen) oder auch Glucose im Innern der Zellen angehäuft werden (Volumenregulation der Zellen, S. 34). Für das Überleben des Organismus ist deshalb nicht nur entscheidend, wie stark die Dehydratation ist, sondern auch wie rasch sie auftritt. Rapide hypotone Flüssigkeitsverluste (z. B. Brechdurchfall des Säuglings) geben dem Gehirn wenig Zeit zur Volumenregulation, die Dehydratation wird lebensbedrohend. Umgekehrt betrachtet, muss ein stark dehydrierter Patient vom Arzt behutsam rehydriert werden. Das zugeführte Wasser wird nämlich die hyperosmolalen Nervenzellen anfänglich zum Schwellen bringen, was zum Hirnödem führen kann.

+

+

H + ADP Substrat

3

Abb.13.16 Das Schicksal der im Zellinneren entstehenden H+-Ionen. 1 Transport von H+-Ionen in den Extrazellulärraum. 2 Umwandlung organischer Anionen (z. B. Lactat–) in neutrale Metaboliten (z. B. CO2 oder Glucose). 3 Bildung von ATP (reversibel). 4 Pufferung durch zytoplasmatische Proteine und andere Puffer.

Die Konstanz des Zell-pH-Werts: Voraussetzung zum Leben Der menschliche Organismus ist ständig der Überflutung durch H+-Ionen ausgesetzt, die überwiegend aus dem Intermediärstoffwechsel stammen. Etwa 15 000 mmol CO2 entstehen täglich beim Abbau von Kohlenwasserstoffverbindungen. Dabei entstehen zwar vorübergehend H+-Ionen (CO2 + H2O Ð H+ + HCO3–) im venösen Blut, doch wird das CO2 gleich wieder von den Lungen ausgeschieden. Zusätzlich werden täglich ca. 50 – 100 mmol „fixe“ Säuren produziert, die nur über die Nieren ausgeschieden werden können. Damit ist auch die Niere wesentlich an der Säure-Basen-Balance des Organismus beteiligt (Kap. 11 und S. 365 ff.). Nun ist jede stoffwechselaktive Zelle mit einem Transportsystem ausgestattet, das die H+-Ionen aus dem Zytoplasma in den Extrazellulärraum transportiert. Die Abb. 13.16 zeigt jene Prozesse, die an der intrazellulären pHRegulation beteiligt sind. Der sog. Na+/H+-Antiporter, ein in der Zellmembran vorhandener Transportcarrier, sorgt dafür, dass die intrazelluläre H+-Ionen-Konzentration ähnlich niedrig wie im Extrazellulärraum bleibt, eine wesentliche Voraussetzung für die normale Funktion der einzelnen Zelle. Die Aktivität dieses Transportproteins ist von der Nachfrage abhängig. Entstehen beispielsweise bei physischer Belastung vermehrt H+-Ionen in Herz- und Skelettmuskelzellen, so wird der Na+/H+-Antiporter stimuliert. Fällt hingegen die intrazelluläre Säureproduktion ab, so inaktiviert der steigende pH-Wert dieses Transportprotein. Voraussetzung für die einwandfreie Funktion dieses Mechanismus ist allerdings ein von außen ins

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13.5 Die Säurebilanz

K

+

pH: 7,4

pH normal

K

K

+

IZF

–

HCO3

H

+

+

EZF

pH zu hoch

pH zu niedrig – HCO3

IZF

normal

H

+

–

HCO3

IZF

+

H

EZF

EZF

hyperkaliämische Azidose

Abb.13.17 Kaliumhomöostase und Säure-Basen-Gleichgewicht. Ein erniedrigter pH-Wert (erhöhte H+-Ionen-Konzentration) im Zellinneren stimuliert den Säuretransport in den Extrazellulärraum, während der Basentransport verlangsamt wird. Die Übersäuerung hemmt auch die Na+-K+ATPase, wodurch Kaliumionen in der Extrazellulärflüssigkeit (EZF) akkumulieren. Eine hyperkaliämische Azidose ist ent-

Zellinnere gerichteter elektrochemischer „Bergab“gradient für Na+-Ionen, der bei jeder gesunden Zelle vorhanden ist. Auf diese Weise hält die Zelle ihren intrazellulären pH-Wert konstant, unabhängig von ihrem metabolischen Zustand. In den polaren Epithelzellen (Niere, Darm, Pankreas etc.) tritt dieses Transportsystem hauptsächlich (wenn auch nicht ausschließlich) auf einer Seite der Zellmembran auf, so dass daraus ein gerichteter Säuretransport entsteht (9).

Azidose und Alkalose: Einfluss auf den Elektrolythaushalt Metabolismus und Ionentransport der einzelnen Zellen ändern sich, sobald der Organismus von Säure überflutet wird. Dabei ist es erst einmal nicht so wichtig, wodurch eine Azidose entsteht: ob durch eine eingeschränkte Atmung (respiratorische Azidose) oder durch gestörten Metabolismus (nichtrespiratorische oder metabolische Azidose). In jedem Fall werden Elektrolytverschiebungen zwischen Intra- und Extrazellulärraum stattfinden. (Quantitative Unterschiede s. S. 395.) Stellen wir uns das vereinfachte Modell einer Zelle vor, das mit den hier wesentlichen Ionentransportsystemen ausgestattet ist (Abb. 13.17). Beim Auftreten einer Azidose in der Zelle wird ein in der Zellmembran gelegenes Säuretransportvehikel (häufig der oben bereits genannte Na+/H+-Antiporter) aktiviert und gleichzeitig der Transport von Basen (OH–,

hypokaliämische Alkalose

standen. Das Gegenteil trifft auf die hypokaliämische Alkalose zu. Bei steigendem intrazellulärem pH-Wert wird der Säuretransport aus den Zellen reduziert, während der Basentransport stimuliert wird. Die Na+-K+-Pumpe arbeitet im alkalischen Milieu verstärkt, wodurch K+-Ionen vermehrt im Zellinnern angehäuft werden und außen fehlen.

HCO3–) gehemmt, wodurch eine Nettobewegung von H+-Ionen aus der Zelle in die extrazelluläre Flüssigkeit stattfindet. Lunge und Niere übernehmen dann die endgültige Ausscheidung der Säureäquivalente in Form des flüchtigen Kohlendioxids bzw. der fixen Säuren. Schwere, renal bzw. respiratorisch nicht mehr kompensierbare Azidosen beeinträchtigen allerdings zunehmend die Funktion der Na+-K+-Pumpe. Die intrazelluläre K+-Konzentration sinkt, und K+ akkumuliert im Extrazellulärraum. Eine mehr oder minder schwere Hyperkaliämie ist die Folge. Daraus erklärt sich, dass die systemische Azidose häufig mit der extrazellulären Anhäufung von K+-Ionen einhergeht (hyperkaliämische Azidose). Verliert der Organismus verstärkt Säureäquivalente, z. B. durch Hyperventilation (respiratorische Alkalose) oder durch Erbrechen (nichtrespiratorische Alkalose), treten die umgekehrten Ereignisse ein. Durch die intrazelluläre Alkalose wird der Säuretransport aus der Zelle zunehmend inaktiviert, während der Basentransport stimuliert wird. HCO3– fließt verstärkt vom Zytoplasma in den Extrazellulärraum und wird von der Niere ausgeschieden (renale Kompensation der respiratorischen Alkalose). Der basische pH-Wert aktiviert die Na+-K+-Pumpe, wodurch zunehmend mehr Kalium im Zellinnern akkumuliert wird, während der Extrazellulärraum an Kalium verarmt. Eine hypokaliämische Alkalose entsteht (Abb. 13.17).

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393

394

13 Salz- und Wasserhaushalt Diese Darstellung ist vereinfacht, denn die einzelnen Zellen sind je nach Zelltyp (polar – apolar, erregbar – unerregbar) mit spezifischen Transportsystemen und Enzymen ausgestattet. Die beschriebene „Grundausstattung“ an Ionentransportsystemen und deren Regulation trifft allerdings für beinahe jeden Zelltyp zu; das erlaubt uns, die H+-induzierten Ionenverschiebungen auf zellulärer Ebene weitgehend zu generalisieren.

Die Anionenlücke Bei der Beurteilung von Störungen des Säure-Basen-Haushalts verwendet der Arzt manchmal den Ausdruck der sog. Anionenlücke (engl. anion gap). Dieser Begriff ist definiert als die Konzentration von „Na+ – (Cl– + HCO3–)“ im Plasma. Der Normwert liegt zwischen 12 und 14 mmol/l. Diese Lücke kann unter pathophysiologischen Bedingungen beträchtlich schwanken, woraus diagnostische Schlüsse gezogen werden können. Die metabolische Azidose ist die häufigste Ursache für eine vergrößerte Anionenlücke. Dabei wird offensichtlich das Bicarbonat im Plasma durch die im Organismus verstärkt produzierten organischen Anionen (z. B. Milchsäure Ð H+ + Lactat–) ersetzt. Bei der sog. Lactatazidose (Laktazidose) kann das Plasma 10 – 30 mmol/l Lactat enthalten, Werte, die dem reziproken Abfall des Plasmabicarbonats entsprechen. Die Anionenlücke hat in diesem Fall also zugenommen. Dagegen erwartet der Arzt keine Veränderung der Anionenlücke, wenn Natriumbicarbonat, z. B. bei starker Diarrhö, verloren geht. Dabei führt nämlich die kompensatorische Retention von NaCl in der Niere (Erhaltung des EZV) zur sog. hyperchlorämischen metabolischen Azidose. Das Bicarbonat im Plasma ist durch Cl– ersetzt worden, so dass die Anionenlücke konstant bleibt.

13.6

Die Kaliumbilanz

Die K+-Homöostase des Organismus wird durch das Zusammenspiel von Na+-K+-Pumpe und K+-Permeabilität der Zellen aufrechterhalten. Wird die Funktion eines dieser beiden K+-Transportsysteme beeinträchtigt, treten u. U. lebensbedrohliche K+-Bewegungen zwischen Intra- und Extrazellulärraum auf. Änderungen der extrazellulären K+-Konzentration können am Herzen Rhythmusstörungen auslösen. Die Niere ist das entscheidende Kontrollorgan, das die K+-Ausscheidung den jeweiligen Bedingungen anpasst. Aldosteron fördert dabei die Kaliumausscheidung. Kalium ist als positiv geladenes Ion das Hauptkation in den Zellen unseres Organismus. Nur etwa 2 % des Gesamtkörperkaliums befinden sich im extrazellulären Raum. Die normale Kaliumkonzentration im Blutplasma schwankt zwischen 3,5 und 4,8 mmol/l. Die intrazelluläre Kaliumkonzentration ist mit etwa 150 mmol/l um einen Faktor von fast 40 höher. Wir wissen, dass für die Aufrechterhaltung dieses extremen Ungleichgewichts die Na+-K+-Pumpe verantwortlich ist, jenes ubiquitär in tierischen Plasmamembranen vorkommende Transportenzym (S. 32 ff.). Die K+-Aufnahme beträgt durchschnittlich 50 – 100 mmol pro Tag. Diese Zahlen können je nach Zusammensetzung der Nahrung um den Faktor 10 schwanken. Im Fleisch, in frischem Gemüse (z. B. Kartoffeln), in ungeschrotenem Getreide und Obst (besonders in Bananen,

extrazellulär 80mmol = (4 mmol /l) x 20 l

K+

intrazellulär 6000mmol = (150mmol/l) x 40l

K+

Membranporen

ATPase

Abb.13.18 Kalium im Intra- und Extrazellulärraum. Weitaus der größte Teil des Körperkaliums befindet sich im Zellinnern. Die hohe intrazelluläre K+-Konzentration wird unter Energieverbrauch durch die Na+-K+-Pumpe aufrechterhalten. Laufend strömen je nach den physiologischen bzw. pathophysiologischen Bedingungen mehr oder weniger K+-Ionen durch Membranporen (sog. Kaliumkanäle oder -poren) wieder zurück in den Extrazellulärraum. Das Verhältnis von Pumprate zu Ausstrom bestimmt somit die intrazelluläre bzw. extrazelluläre K+-Konzentration.

Aprikosen, Feigen) ist viel Kalium enthalten, das allerdings häufig durch zu langes Kochen aus den Zellen dieser Nahrungsmittel ausgewaschen wird und mit dem Kochwasser verloren geht. Ca. 90 % der durch die Nahrung aufgenommenen K+-Menge werden von den Nieren eliminiert, der Rest erscheint im Stuhl und im Schweiß. Stellen die Nieren ihre Funktion ein (Nierenversagen; S. 372), so kann das Epithel des Kolons mehr als ein Drittel der auszuscheidenden K+-Menge in den Stuhl sezernieren. Der Schweiß enthält durchschnittlich 9 mmol/l Kalium. Bei normaler Schweißbildung (100 – 200 ml/Tag) sind die Verluste also verhältnismäßig gering. Geht jedoch in trockener und heißer Umgebung oder bei schwerer körperlicher Anstrengung literweise Schweiß verloren, ist der Kaliumverlust beträchtlich. Das macht sich ganz besonders dann bemerkbar, wenn das durch den systemischen Flüssigkeitsverlust (Volumenkontraktion) vermehrt freigesetzte Hormon Aldosteron die Kaliumsekretion in den Schweißdrüsen und in der Niere noch zusätzlich stimuliert. Grundsätzlich ist zu bemerken, dass eine kaliumreiche, natriumarme Kost angestrebt werden soll. Sie verringert die Gefahr kardiovaskulärer Erkrankungen wie Herzinfarkt und Bluthochdruck.

Kalium pendelt zwischen zwei Räumen Leben und Funktion der einzelnen Zelle in unserem Organismus sind an die Aktivität der Na+-K+-Pumpe und an die passive K+-Permeabilität der Plasmamembran gebunden. Diese Situation ist in Abb. 13.18 schematisch dargestellt (s. a. S. 34 f.). Es wird deutlich, dass jede Beeinflussung von Pumpe oder Permeabilität (Leck) gezwungenermaßen zur Verschiebung von Kaliumionen zwischen

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13.6 Die Kaliumbilanz

+

K -Konzentration im Serum (mmol/l)

10

8

hyperkaliämische Azidose

Hyperkaliämie

normokaliämische Azidose

6

Alkalose vermindert die Hyperkaliämie

Normokaliämie 4

Azidose Alkalose

2

hypokaliämische Alkalose

Hypokaliämie nach normalisierter Azidose 0

–900

–600

–300

0

+300

Abweichungen von der normalen Kaliummenge im Körper (mmol) +

+

K -Verarmung

Abb.13.19 Körperkalium und Serumkonzentration von Kalium unter Berücksichtigung des Säure-Basen-Status. K+-Überschuss (z. B. durch eine gestörte renale Ausscheidung) führt sehr rasch zur Hyperkaliämie, die durch eine Alkalisierung des Organismus abgeschwächt werden kann. Umgekehrt wird das Auftreten einer Azidose die Hyperkali-

Intra- und Extrazellulärraum führt. Das mag bei schnellen Verschiebungen für den K+-Gehalt des Intrazellulärraums belanglos sein, nicht jedoch für den um ein Drittel kleineren und außerdem extrem „kaliumarmen“ Extrazellulärraum. Jede K+-Konzentrationsänderung im Blutplasma über oder unter die Norm führt zu beträchtlichen Funktionsstörungen der einzelnen Körperzellen (z. B. Herzrhythmusstörungen). So würde bereits bei einer Zunahme der intrazellulären Kaliumkonzentration von nur 1 % die Kaliumkonzentration im Plasma um mehr als 50% sinken. Eine lebensbedrohliche Hypokaliämie wäre die Folge.

Säure-Basen-Gleichgewicht und K+-Homöostase sind untrennbar miteinander verbunden Oben wurde bereits erwähnt, dass durch eine Azidose die Aktivität der Na+-K+-ATPase eingeschränkt wird, wodurch K+-Ionen im Zellinnern vermindert akkumuliert werden. Zwar wird durch die Azidose gleichzeitig mit der Na+-K+-Pumpe auch der Kaliumausstrom aus der Zelle über die Kaliumkanäle beeinträchtigt – die Kaliumkanäle sind nämlich ebenfalls pH-empfindlich (s. a. S. 396 f.) –, doch lässt sich dadurch eine Anhäufung von Kalium im Extrazellulärraum nicht vermeiden. Eine sog. hyperkaliämische Azidose entsteht. Die hypokaliämische Alkalose ist das umgekehrte Erscheinungsbild. Wie ausgeprägt allerdings die jeweilige Kaliumumverteilung zwischen den beiden Räumen

K -Überschuss

ämie verstärken. K+-Verarmung (z. B. durch chronische renale Kaliumverluste) führt allmählich zur Hypokaliämie. Der zelluläre Kaliumspeicher verhindert offensichtlich den raschen Abfall der Kaliumkonzentration im Serum. Natürlich müssen diese Speicher wieder gefüllt werden (z. B. durch kaliumreiche Diät) (nach 35).

ist, hängt von der Art der Säure-Basen-Störung ab. Die Tab. 13.3 zeigt, dass nichtrespiratorische Störungen die K+-Homöostase wesentlich stärker beeinflussen als respiratorische Störungen. Ein weiterer, besonders klinisch wichtiger Zusammenhang zwischen Gesamtkörperkalium, Plasmakalium und dem Säure-Basen-Status sei erwähnt. Wie wir aus der Abb. 13.19 entnehmen können, ist die Beziehung zwischen Plasmakalium und Gesamtkörperkalium keineswegs linear. Ist der Organismus, z. B. durch mangelhafte Kaliumaufnahme in der Nahrung oder durch exzessive Kaliumausscheidung im Zuge einer Entwässerungstherapie (Gabe von Diuretika), an Kalium verarmt, so wird das Plasmakalium zwar sinken, der Einfluss des Säure-Basen-Status aber mit zunehmender Hypokaliämie geringer werden. Wird hingegen, z. B. in der Folge einer renalen Ausscheidungsstörung, Kalium im Tabelle 13.3 Transzelluläre K+-Verschiebungen, die durch pH-Veränderungen hervorgerufen werden ∆ K+ pro ∆ pH (mmol/l pro 0,1 pH-Einheit) Nichtrespiratorische Azidose

+ 0,6

Respiratorische Azidose

+ 0,1

Nichtrespiratorische Alkalose

– 0,3

Respiratorische Alkalose

– 0,25

– = Abnahme, + = Zunahme der Plasmakaliumkonzentration pro Änderung des pH-Werts um 0,1 Einheit (nach 4).

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13 Salz- und Wasserhaushalt Körper retiniert, tritt unter Umständen sehr rasch eine schwere Hyperkaliämie auf, die ihrerseits durch den Säure-Basen-Haushalt stark beeinflusst werden kann. Diese Erkenntnis macht sich der Arzt zunutze, indem er eine lebensbedrohende Hyperkaliämie durch Natriumbicarbonatinfusionen (Alkalisierung des Blutplasmas) abschwächt.

Hyper- und Hypokaliämie: Herz und Gefäße machen Probleme Die Herzmuskelzellen reagieren in ganz besonderer Weise auf Veränderungen der K+-Konzentration im Plasma. Um die physiologische Basis solcher Störungen zu verstehen, machen wir einen kurzen Ausflug in die ionalen Mechanismen der Herzerregung und Impulsausbreitung (s. a. S. 149 ff.). Neben den Na+- und Ca2+-Kanälen besitzt eine Herzmuskelzelle noch mindestens fünf funktionell unterschiedliche Typen von K+-Kanälen in ihrer Plasmamembran. Sie sorgen für den reibungslosen Ablauf der rhythmisch wiederkehrenden Aktionspotenziale. Manche dieser Kaliumkanäle antworten empfindlich und scheinbar paradox auf Änderungen der extrazellulären Kaliumkonzentration. Abb. 13.20 soll diesen klinisch wichtigen Zusammenhang illustrieren. Nach der Nernst-Gleichung (S. 25) gibt es eine lineare Beziehung zwischen dem Membranpotenzial und dem Logarithmus des Ionenkonzentrationsverhältnisses außen/innen, die als grüne Linie in Abb. 13.20 eingezeichnet ist; diese Gerade gilt für eine theoretische Modellzelle, in deren Membran ausschließlich K+-Kanäle aktiv sind. Bei der normalen extrazellulären K+-Konzentration von etwa 4 mmol/l und einer intrazellulären K+-Konzentration von 150 mmol/l ergibt sich für diese Modellzelle ein Membranpotenzial von – 96 mV (K+-Gleichgewichtspotenzial). Die tatsächliche Membranspannung einer „echten“ Herzmuskelzelle weicht allerdings erheblich davon ab, weil ja auch in Ruhe, also im Zeitraum zwischen den einzelnen Aktionspotenzialen, andere Ionen (z. B. Na+, Ca2+) – wenn auch relativ schlecht – in die Zelle diffundieren können und dadurch das Ruhepotenzial abschwächen. Wenn sich nun eine Hypokaliämie entwickelt und die extrazelluläre K+-Konzentration unter 3,5 mmol/l sinkt, wird die Aktivität der Kaliumkanäle deutlich geringer. Die Kanäle verlieren also zunehmend die Funktion, Kalium durchtreten zu lassen. Die Zelle repolarisiert nicht mehr vollständig und das Ruhepotenzial ist weniger negativ (Abb. 13.20, rote Kurve). Das heißt, obwohl der Bergab-Gradient für Kalium von der Zelle ins Blut bei steigender Hypokaliämie zunimmt, depolarisiert die Myokardzelle. Die eine oder andere Zelle wird dabei vorschnell ihr Schwellenpotenzial erreichen und mit einer (teilweise unvollständigen) Erregung antworten. Hypoxische Myokardzellen, d. h. Zellen, die unter Sauerstoffmangel leiden, sind davon besonders betroffen. Die Folge ist, dass die Erregungsbildung und -ausbreitung im Myokard gestört wird, gekennzeichnet durch das gehäufte Auftreten von so genannten ventrikulären Extrasystolen. Bei schwerer Hypokaliämie (Plasmakalium-

+

extrazelluläre K -Konzentration (mmol/l) 2

3

Hypokaliämie

6

4

10

15

20

Hyperkaliämie

–40

–50

Ruhemembranpotenzial einer Herzmuskelzelle (mV)

396

–60

–70

Myokardzelle

–80

–90

KaliumGleichgewichtspotenzial –100

nach Nernst: + + EK+ = –61· log (Ki /Ka ) mV

–110

–120

Abb.13.20 Ruhepotenzial der Myokardzelle bei Hypo-, Normo- und Hyperkaliämie. Das diastolische Ruhemembranpotenzial einer Herzmuskelzelle ist in Abhängigkeit der extrazellulären K+-Konzentration (Ka+) dargestellt. Die grüne Linie gibt das der jeweiligen extrazellulären K+-Konzentration zugeordnete (nach der Nernst-Gleichung berechnete) K+-Gleichgewichtspotenzial unter der Annahme wieder, dass die intrazelluläre K+-Konzentration (Ki+) 150 mmol/l beträgt und konstant ist (34).

konzentration < 2,5 mmol/l) besteht deshalb Lebensgefahr. Steigt hingegen die Kaliumkonzentration im Plasma über 6 mmol/l, spricht man von Hyperkaliämie. Wie die Abb. 13.20 verdeutlicht, depolarisiert die Myokardzelle. Das entspricht durchaus der Theorie, denn der Bergab-Gradient für die Diffusion der Kaliumionen von der Zelle ins Blut sinkt mit steigendem extrazellulären Kalium. Die klinischen Folgen, nämlich das Auftreten von Extrasystolen, sind vorübergehend ähnlich wie bei der Hypokaliämie. Steigt jedoch die Plasmakaliumkonzentration über 8 mmol/l (schwere Hyperkaliämie), wird die Erregbarkeit der Myokardzellen wieder abnehmen, da dann die Schwellenpotenziale überschritten werden. Das Herz wird zunehmend unerregbar („wo keine Schwelle, dort keine Erregung”). In der Herzchirurgie macht man sich dieses Prinzip zunutze: Eine kaliumreiche Elektrolytlösung von etwa 30 mmol/l, kardioplege Lösung genannt, depolarisiert mehr oder weniger alle

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13.6 Die Kaliumbilanz

Im Übrigen besitzen die glatten Muskelzellen der kleinen Arterien und Arteriolen ganz ähnliche K+-Kanäle, so dass die eben am Myokard geschilderten elektrischen Phänomene grundsätzlich auch hier gelten (26). Den glatten Muskelzellen stehen zudem noch Mechanismen zur Verfügung, mit denen sie Cl– in der Zelle akkumulieren, sowie ziemlich aktive Cl–-Kanäle, so dass der ständige Efflux von Cl–-Ionen die Zelle depolarisiert. Eine Hypokaliämie kann die glatten Muskelzellen depolarisieren, d. h. ihre Erregbarkeit steigern. Der Gefäßtonus nimmt zu, der Blutdruck steigt, das Herz wird mechanisch belastet.

100

Durchlässigkeit der luminalen Zellmembran für Kaliumionen (%)

Myokardzellen und erlaubt dem Chirurg, am stillstehenden Herzen zu operieren („wo keine Erregung, dort keine Kontraktion“).

Aldosteron-stimuliert normal 50

Aldosteron-verarmt

0

Insulin und Catecholamine treiben K+-Ionen in die Zelle Der Arzt weiß, dass die Infusion größerer Mengen Insulin bei der Behandlung des Diabetes mellitus zu gefährlicher Hypokaliämie führen kann, wenn nicht gleichzeitig Kalium verabreicht wird. Insulin führt nämlich zu verstärkter intrazellulärer K+Akkumulation durch direkte Stimulation der Na+-K+Pumpe. Ferner stimuliert Insulin in seinen Zielzellen – Leber, Muskel, Fettgewebe – den Na+/H+-Antiporter, was zur intrazellulären Alkalose und Hyperpolarisation der Zellmembran führt, ein weiterer Mechanismus, der die intrazelluläre K+-Speicherung begünstigt. Da, unabhängig von der Blutglucosekonzentration, jede deutliche Erhöhung des Plasmakaliums zur Insulinfreisetzung aus den B-Zellen des Pankreas führt, existiert offenbar auch für K+-Ionen ein sog. Rückkopplungsmechanismus, an dem die Insulinausschüttung beteiligt ist. Der Organismus schwächt eine drohende Hyperkaliämie dadurch ab, dass er Insulin freisetzt, wodurch die im Überschuss vorhandenen K+-Ionen ins Zellinnere, insbesondere in die Leberzellen, abfließen. Ähnlich wie Insulin führen β-adrenerge Agonisten (z. B. Adrenalin) zur Stimulation der Na+-K+Pumpe und zur verstärkten intrazellulären Speicherung von Kalium. Hyperkaliämie bewirkt die Freisetzung von Adrenalin aus dem Nebennierenmark, was zu nachfolgender K+-Akkumulation besonders in den Muskelzellen führt. Wenn auch die Wechselwirkung zwischen Insulin bzw. Adrenalin und Kalium im physiologischen Schwankungsbereich des Plasmakaliums keine entscheidende regulatorische Rolle spielt, so erlangen diese Regelmechanismen bei pathologisch veränderter Plasmakaliumkonzentration durchaus Bedeutung.

In der Niere wird Kalium sezerniert Die einzelnen K+-Transportmechanismen und deren Lokalisation entlang des Nephrons sind auf S. 354 f. beschrieben. Das Ausmaß der K+-Sekretion in Verbindungstubulus und Sammelrohr ist entscheidend für die Eliminierung oder Retention von K+-Ionen. Tritt eine Hyperkaliämie akut auf, wird sie sofort mit einer dramatischen Stimulation der K+-Sekretion beantwortet. Bei chroni-

7,0

7,1

7,2

7,3

7,4

7,5

intrazellulärer pH-Wert im Aldosteronempfindlichen Sammelrohr der Niere

Abb.13.21 Zelluläre Basis der K+-Sekretion im Sammelrohr der Niere. Das Nebennierenrindenhormon Aldosteron führt durch Aktivierung des Säuretransports aus der Zelle zur Alkalisierung des Zytoplasmas, was zur Stimulation der basolateralen Na+-K+-Pumpe führt und die Durchlässigkeit der luminalen Zellmembran für Kaliumionen erhöht (d. h. die Kaliumkanäle werden durch die intrazelluläre Alkalisierung aktiviert), so dass Kalium ins Tubuluslumen sezerniert wird. Verminderte Aldosteronfreisetzung aus der Nebenniere (z. B. durch kaliumarme, kochsalzreiche Diät) reduziert umgekehrt die Aktivität der basolateralen Na+-K+-Pumpe und die passive Kaliumpermeabilität der luminalen Membran der Sammelrohrzellen, wodurch das lebensnotwendige Kalium im Organismus zurückgehalten wird (nach 29).

scher Kaliumbelastung ist die K+-Ausscheidung maximal sogar doppelt so groß wie die filtrierte K+-Menge. Bei einer akuten Hypokaliämie und bei chronischem K+Mangel wird die K+-Sekretion praktisch abgeschaltet, K+ wird (von anderen Sammelrohrzellen, S. 355) sogar resorbiert, so dass der Harn praktisch K+-frei ist. Steigt die tubuläre Flussrate in den Henle-Schleifen, wie z. B. bei der therapeutischen Anwendung von Schleifendiuretika oder der glucoseinduzierten osmotischen Diurese des Diabetikers, werden große Mengen von Kalium in das Tubulussystem sezerniert, was zu lebensgefährlicher Kaliumverarmung führen kann. Eine hohe Plasmakonzentration des Mineralkortikoids Aldosteron (Hyperaldosteronismus) stimuliert die renale K+-Ausscheidung und erhöht gleichzeitig die intrazelluläre K+-Aufnahme. Wahrscheinlich führt das Hormon ähnlich wie Insulin und Adrenalin (wenn auch bei grundsätzlich verschiedener Rezeptorlokalisation und intrazellulärer Signalkette) zur Stimulation der Na+-K+-Pumpe und in der Folge zu verstärkter intrazellulärer K+-Akkumulation in den Nierenepithelzellen. Da Aldosteron außerdem die Säureausscheidung der Niere durch Stimulation der Wasserstofftransportvehikel fördert, tritt gleichzeitig eine intrazelluläre Alkalisierung auf (31). Dadurch wird das

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397

13 Salz- und Wasserhaushalt Atomic Force Microscopy) nachgewiesen (27). Dazu wurden zuerst E.-coli-Bakterien veranlasst, das Kaliumkanalprotein in großer Menge zu exprimieren. Das Kanalprotein wurde isoliert und mit der Tastspitze eines Rasterkraftmikroskops in zytosolähnlicher Elektrolytlösung abgetastet. Auf diese Weise kann man einzelne Kaliumkanalproteine sichtbar machen (22). Abb. 13.22 zeigt solche Messungen. Wird nun der pH-Wert der umgebenden Elektrolytlösung in Richtung Alkalisierung verändert, so beginnt das Molekül zu „zittern“. Dieses molekulare Zittern, nimmt man gegenwärtig an, reflektiert die Aktivität des Kanalproteins (29). Was lernt man daraus? Ein Molekül ist ständig dynamischen Strukturänderungen unterworfen, während es seine spezifische Arbeit (hier: Kaliumsekretion) verrichtet.

einzelner Kaliumkanal

13.7

pH 6,8 5 nm

398

pH 7,6 25 ms

Abb.13.22 „Molekülzittern“ einzelner isolierter Kaliumkanalproteine. Die Proteine (gelbliche Erhebungen mit einer Höhe von etwa 3 bis 4 nm) sitzen auf einer atomar-flachen Glimmeroberfläche (blau) in zytosolischer Ringerlösung (oberer Abschnitt). Das einzelne Molekül „zittert“ mehr oder weniger stark, je nach pH-Wert (unterer Abschnitt) (nach 22 und 30).

extrazelluläre Kalium (messbar als Plasmakaliumkonzentration) weiter erniedrigt, denn die intrazelluläre Alkalose erleichtert den Durchtritt von K+-Ionen durch die Zellmembran ins Lumen der Nierenkanälchen (29; Abb. 13.21). Gleichzeitig stimuliert die Alkalose die Na+K+-Pumpe in der basolateralen Plasmamembran, so dass die ins Tubuluslumen sezernierten Kaliumionen ständig aus dem Blut nachgeliefert werden. Die so sezernierten K+-Ionen werden dann im Harn ausgeschieden.

Aus der Forschung: Regulation des Kaliumkanals im Sammelrohr der Niere Nachdem an einzelnen Zellen des isolierten Sammelrohrs der Ratte der Kaliumkanal direkt mit der sog. Patch-Clamp-Methode in seiner Funktion nachgewiesen worden war, erfolgte wenig später seine strukturelle Identifikation (23). Dieser in der apikalen Membran des Sammelrohrs gelegene Kanal öffnet sich häufiger bei Zellalkalisierung (38). Auf eher ungewöhnliche Art und Weise kann das Steroidhormon Aldosteron in kultivierten Zellen des Sammelrohrs eine solche Alkalisierung auslösen und dadurch die renale Kaliumsekretion fördern. Diese minutenschnelle Aldosteronwirkung lässt sich nicht über den klassischen Weg (d. h. über intrazelluläre Mineralkortikoidrezeptoren mit nachfolgender Genaktivierung) erklären, sondern ist offensichtlich eine Wirkung des Hormons auf den Na+/H+-Antiport der Plasmamembran (18). Die Empfindlichkeit des Kaliumkanalproteins auf Änderungen des pH-Wertes wurde kürzlich auch mit einer anderen Methode, der sog. Rasterkraftmikroskopie (englisch:

Die Calcium- und Phosphatbilanz

Die Calcium- und Phosphathomöostase wird durch die Hormone Parathyrin, Calcitriol („D-Hormon“) und Calcitonin reguliert. Die Konzentrationen der beiden Elektrolyte Ca2+ und HPO42– sind durch ein konstantes Löslichkeitsprodukt untrennbar miteinander verbunden. Im Knochen werden Calcium und Phosphat als Kristalle in großen Mengen gespeichert. Ein Ungleichgewicht von Aufnahme (über den Darm) und Ausscheidung (über die Niere) wird durch schnelle Einlagerung oder Entspeicherung von Calcium und Phosphat in den bzw. aus dem Knochen korrigiert, d. h., er hat für diese Ionen eine Art Pufferfunktion. Der menschliche Organismus enthält 25 000 mmol Calcium (1 kg). Beinahe die gesamte Menge liegt im Knochen in Form sog. Hydroxylapatitkristalle (Ca10[PO4]6[OH]2) vor, also in Verbindung mit Phosphat. Die hier eingelagerten Kristalle sorgen für die Steifigkeit der Knochenstruktur und dienen als reversibler Speicher, in den je nach Bedarf eingelagert oder aus dem Ca2+ und Phosphat mobilisiert werden können. Calcium wie auch Phosphat (damit sind alle PO4-haltigen Moleküle gemeint) nehmen in ganz entscheidender Weise an der Regulation der Zellfunktion teil. Während die Ca2+-Ionen selbst Ionenkanäle regulieren und dadurch die Funktion erregbarer und epithelialer Zellen bestimmen, dienen die Phosphate unter anderem dem Aufbau von Energiespeichern, wie z. B. von Adenosintriphosphat. Weniger als 1 % des Gesamtkörpercalciums befindet sich in der Extrazellulärflüssigkeit, mehr als 99 % im Knochen. Trotz dieser extrem ungleichen Verteilung ist es die Plasmakonzentration des Calciums, die in einem engen Bereich präzise reguliert wird.

Calcium im Extrazellulärraum: nur die Hälfte ist biologisch wirksam Die Gesamtkonzentration des Calciums im Plasma liegt im Mittel bei 2,5 mmol/l. Da ca. 38 % an Plasmaalbumin gebunden werden und etwa 12 % lösliche Komplexe mit anorganischen Anionen (Phosphat, Citrat, Sulfat) bilden, liegen nur 1,25 mmol/l Ca2+ in freier Form vor. Nur dieser Anteil ist biologisch aktiv. Wasserstoffionen kompetieren mit den Ca2+-Ionen um die Bindungsstellen am Plasmaalbumin. Wegen dieser pH-Abhängigkeit ist bei einer Alkalose die Konzentration freier Ca2+-Ionen im Plasma reduziert und bei einer Azidose erhöht. In beiden

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13.7 Die Calcium- und Phosphatbilanz

Calcium: Aufnahme und Ausscheidung

2+

Ca -Aufnahme: 20(12–35) mmol/Tag = 100%

gesamtes Calcium im Plasma ca. 2,5 mmol/l

Darm

3mmol /Tag

IZF

EZF

2+

Ca 1mmol/ Tag

Filtration: 225mmol/Tag Niere

Resorption: 98 – 99% der filtrierten Menge

ca.1% der filtrierten Menge 2+

Ca Ausscheidung im Stuhl ca. 18 90

im Urin 2 mmol/Tag 10 % der Aufnahme

Abb.13.23 Aufnahme und Ausscheidung von Calcium. Calcium wird im Darm „bidirektional“ transportiert, d. h. resorbiert und sezerniert. Die Summe beider Prozesse, die Nettobewegung, ist unter physiologischen Verhältnissen vom Darmlumen in den Extrazellulärraum gerichtet. Die Summe der ausgeschiedenen Menge über Stuhl und Urin entspricht der aufgenommenen Menge von Calcium. Der Transport der Ca2+-Ionen im Darm und in der Niere ist hormonell gesteuert und genau auf den Bedarf des Organismus abgestimmt.

Fällen jedoch ist die Gesamtkonzentration von Calcium im Plasma unverändert, sofern die Säure-Basen-Störung akut abläuft und die Pufferfunktion des Knochens (Bildung bzw. Auflösung der Hydroxylapatitkristalle) noch nicht zum Tragen gekommen ist. Ferner hängt der Anteil des gebundenen – also biologisch inaktiven – Calciums im Plasma direkt von der Konzentration der Plasmaalbumine ab. Je höher die Eiweißkonzentration im Plasma ist, umso größer ist der gebundene Anteil des Calciums im Plasma. Aus diesen Überlegungen schließen wir, dass die Bestimmung der Gesamtkonzentration von Calcium im Blutplasma keine klaren Rückschlüsse auf die Konzentration freier Ca2+-Ionen erlaubt. Entweder muss also der freie Anteil direkt gemessen werden (mit Hilfe Ca2+empfindlicher Elektroden), oder es müssen zumindest die Konzentration des Plasmaalbumins und der Blut-pHWert zur Abschätzung des freien Plasmacalciums berücksichtigt werden.

Der Mensch nimmt mit der Nahrung täglich im Mittel etwa 25 mmol Calcium auf. Davon werden im Darm 2 mmol/d nettoresorbiert, der Rest über den Stuhl ausgeschieden (Abb. 13.23). Der Calciumtransport durch das Darmepithel erfolgt in beiden Richtungen, d. h., er ist bidirektional. Calcium kann im oberen Dünndarm sowohl resorbiert als auch mit den Verdauungssäften sezerniert werden. Die Summe der beiden Vorgänge ergibt die Nettoresorption. Ist die Calciumbalance ausgeglichen, so scheiden die Nieren die gesamte im Darm nettoresorbierte Calciummenge aus (Abb. 13.23). Die mit der Nahrung aufgenommene Menge wird also mit Stuhl (90 %) und Harn (10%) wieder vollständig aus dem Organismus entfernt.

Phosphat im Extrazellulärraum: Bindungspartner für Ca2+- und H+-Ionen Weniger als die Hälfte des gesamten Phosphors im Blutplasma liegt in Form von anorganischem Phosphat vor (HPO42– . H2PO4–). Nur dieser Anteil ist gemeint, wenn wir nachfolgend von Plasmaphosphat sprechen. Der gesamte Körper enthält ca. 700 g Phosphor, davon 85 % im Knochen, 14 % in weichen Geweben und weniger als 1 % in der extrazellulären Flüssigkeit. Diese extrem ungleiche Verteilung führt zu einer ähnlichen Problematik, wie wir sie beim Kalium kennen gelernt haben. Kleinste Mengen, akut aus dem großen Phosphatspeicher des Knochens mobilisiert, führen bereits zu erheblicher Plasmaphosphaterhöhung mit u. U. ernsten Folgen (Kristallbildung in Gelenken, in der Niere etc.). Andererseits kann der Knochen chronisch an Phosphaten verarmen, ohne dass sich der Plasmaphosphatspiegel dabei wesentlich ändert, denn die gesunde Niere hat dabei Zeit, ihre Entsorgungsfunktion wahrzunehmen und das vermehrt freigesetzte Phosphat auszuscheiden. Die Komponenten des Pufferpaars HPO42–/H2PO4– (Abb. 11.3, S. 314) liegen bei einem Plasma-pH von 7,4 im Verhältnis 4 : 1 vor (Gesamtkonzentration ca. 1 mmol/l). Der pK0 a-Wert von 6,8 bedeutet, dass sich der Phosphatpuffer hervorragend zur Säureausscheidung im Harn eignet (S. 367). Im Blutplasma besitzt Phosphat wegen seiner geringen Konzentration nur eine geringe Bedeutung als Puffer. Phosphat wird in der Niere frei filtriert, wovon ein großer Anteil (etwa 80 %) entlang des proximalen Nephrons resorbiert wird (S. 361). Physikochemische Wechselwirkungen zwischen Ca2+und HPO42–-Ionen führen dazu, dass Hydroxylapatitkristalle innerhalb der Knochenmatrix präzipitieren. Da das Löslichkeitsprodukt von Ca2+ und HPO42– (das ist das Produkt der Konzentrationen von Ca2+ und HPO42–, das gerade noch die volle Löslichkeit des Salzes im Plasma erlaubt) annähernd konstant ist, wird eine Erhöhung des Phosphatspiegels im Plasma immer mit einer erniedrigten Konzentration von Calcium im Plasma einhergehen und umgekehrt. Wird das Löslichkeitsprodukt überschritten, lagern sich Kristalle (physiologischerweise) im Knochen ab, oder es treten bei starker Kristallisation (pathologi-

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399

400

13 Salz- und Wasserhaushalt

25

25

ultraviolettes Licht

Vitamin D3 in der Nahrung

1

CH2

HO 7-Dehydrocholesterin

1

HO

Cholecalciferol (Calciol)

2

Haut

1

Prävitamin D3 25

OH

25

Leber

3

CH2 Nieren

OH 25-Hydroxycholecalciferol (Calcidiol)

OH

CH2

4

1

OH

OH

1,25 Dihydroxycholecalciferol (D-Hormon, Calcitriol)

Abb.13.24 Vitamin-D-Metabolismus: Bildung des 1,25-Dihydroxycholecalciferols (Synonyme: Calcitriol, D-Hormon) aus seinen Vorstufen.

sche) Ablagerungen auch in anderen Geweben (Niere, Gelenke, Muskel etc.) auf. Entzündung und teilweise Zerstörung des betroffenen Gewebes sind die Folge.

Hormone regulieren den Calcium- und Phosphathaushalt Mindestens drei Hormone erhalten die Calcium-Phosphat-Homöostase; Parathyrin, Calcitriol und Calcitonin. Zielorgane sind Darm, Knochen und Niere.

Parathyrin verhindert die Hypokalzämie Fällt der ionisierte Anteil des Plasmacalciums unter die Norm, wird das Peptidhormon Parathyrin (Synonyme: Parathormon, PTH) aus den Epithelkörperchen, den sog. Nebenschilddrüsen, freigesetzt und gelangt in Sekundenschnelle über die Blutbahn an seine Zielzellen. PTH verhindert eine Hypokalzämie dadurch, dass es im Knochen zur raschen Mobilisierung der kristallinen Strukturen führt. Dabei gelangt das freigesetzte Calcium in die Blutbahn. Im proximalen Tubulus der Niere hemmt PTH die Resorption von Phosphat. Dadurch wird es vermehrt renal ausgeschieden, so dass das aus den abgebauten Hydroxylapatitkristallen ebenfalls freigewordene Phosphat die Löslichkeit der lebenswichtigen Ca2+-Ionen im Plasma nicht beeinträchtigen kann. Gleichzeitig führt PTH in der Henle-Schleife und im distalen Tubulus der Niere zu einer vermehrten Resorption von Calcium. Dadurch bleibt das aus dem Knochen mobilisierte Ca2+ dem Organismus erhalten.

Calcitriol entsteht aus Vitamin D und konserviert das Calcium im Körper Cholecalciferol, das sog. Vitamin D3 (Calciol), ist der wichtigste Vertreter der D-Vitamine. Es entsteht durch Ultraviolettbestrahlung in der Haut aus dem Provitamin, dem 7-Dehydrocholesterin. Genügend Sonnenbestrahlung sorgt für ausreichende Mengen von Vitamin D3, welches dann durch zwei Hydroxylierungsprozesse in der Leber bzw. der Niere zum wirksamen Hormon, dem 1,25(OH)2-Cholecalciferol (D-Hormon, Calcitriol) umgewandelt wird. Dabei steigert PTH die Aktivität der renalen 1α-Hydroxylase und fördert dadurch die rasche Bildung von Calcitriol. Abb. 13.24 zeigt die einzelnen Schritte der Hormonsynthese. Calcitriol beeinflusst den Calcium- und Phosphathaushalt v. a. am Darm, doch sind auch Wirkungen an der Niere nachgewiesen (Abb. 13.25). Wird einem Vitamin-D-verarmten Patienten Calcitriol verabreicht, vervielfacht sich bereits 30 – 60 min nach der Injektion der Ca2+-Einstrom vom Dünndarmlumen ins Blut. Der Mechanismus ist folgender: Calcitriol führt nach Bindung an spezifische, intrazellulär gelegene Rezeptoren zur Öffnung von Ca2+-Kanälen in der intestinalen Bürstensaummembran. Ca2+-Ionen strömen ins Zellinnere, werden sofort an spezifische Calcium-bindende Proteine (Calbindin) gebunden und in diesem biologisch inaktiven Zustand an die basolaterale Membran gebracht (S. 362 ). Hier werden die Ca2+-Ionen, wahrscheinlich im Austausch gegen Natrium (= Na+/Ca2+-Antiporter), ins Blut transportiert. Der daraus resultierende Ca2+-Einstrom vom Darm ins Plasma erhöht dort die Konzentration der freizirkulierenden Ca2+-Ionen, was zur Unterdrückung der Parathyrinsekretion führt. Dadurch verschiebt sich

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13.7 Die Calcium- und Phosphatbilanz

Ca10(PO4)6(OH)2 Auslagerung



HPO4

Ca10(PO4)6(OH)2 Einlagerung

2+

Ca

Parathyrin (PTH) Epithelkörperchen

Knochen

Hyperkalzämie Calcitonin

C-Zellen in Schilddrüse u.a.



HPO4

2+

Ca

sinkt

steigt

Knochen

Nierentubulus 1a-Hydroxylase



HPO4

2+

Ca

?

Calcitonin

PTH steigt

Hypokalzämie Niere

Calcitriol (D-Hormon) 2+

Ca

steigt

Auffüllung

2+

Ca



HPO4

Darm

Abb.13.25 Regulation der Calcium-Phosphat-Homöostase durch Parathyrin (PTH), Calcitriol (D-Hormon) und Calcitonin. Der entscheidende Stimulus für die Freisetzung bzw. Bildung dieser Hormone ist die Veränderung der Konzentration ionisierten („freien“) Calciums im Plasma. Hypokalzämie führt zur Parathyrin-Freisetzung aus den Epithelkörperchen. Das Hormon stimuliert den Hydroxylapatitabbau im Knochen, wobei Ca2+- und HPO42–-Ionen ins Blut gelangen. In der Niere stimuliert PTH die Calciumresorption und

das Gleichgewicht zwischen der Aktivität von Osteoklasten (Knochenabbau) und Osteoblasten (Knochenaufbau) zugunsten letzterer, die Knochenmatrix nimmt zu und wird durch das auf dem Blutweg heranflutende Calcium kalzifiziert. Calcitriol stimuliert auf noch nicht völlig geklärte Weise auch die intestinale HPO42–-Resorption und die renale Ca2+-Resorption, beides Mechanismen, die die Bildung von Hydroxylapatitkristallen (d. h. die Präzipitation von Ca2+ und HPO42–) im Knochen weiter begünstigen. Auf diese Weise führt Calcitriol zur maximalen Ca2+-Aufnahme in den Organismus, während die Ausscheidung auf ein Minimum gesenkt wird.

Calcitonin: Notbremse bei Hyperkalzämie? Das Peptidhormon Calcitonin wird in den sog. C-Zellen gebildet, die als parafollikuläre Zellen vor allem in der Schilddrüse, aber auch in Nebenschilddrüsen und Thymus vorkommen. Erhöhung des Plasmacalciumspiegels

2+

Ca

Nierentubulus

Knochen

fördert die Phosphatausscheidung. Durch Stimulation der renalen 1α-Hydroxylase lösen PTH und auch die Hypokalzämie selbst eine verstärkte Calcitriolsynthese aus. Letzteres steigert vor allem die Ca2+- und Phosphatresorption im Dünndarm, wodurch die Mineralspeicher der Knochen wieder aufgefüllt werden. Hyperkalzämie setzt Calcitonin aus den parafollikulären Zellen der Schilddrüse frei, was zur raschen Verlagerung von Calcium und Phosphat in den Knochen und zum Aufbau von Hydroxylapatitkristallen führt.

über die Norm setzt dieses Hormon frei, worauf Calcium im Skelett eingelagert wird (Abb. 13.25). Calcitonin ist also offensichtlich ein Gegenspieler des Parathyrins, was den Calciummetabolismus des Knochens betrifft. In der Niere jedoch wirken die beiden Hormone synergistisch. Sowohl Parathyrin wie auch Calcitonin finden an Zellen des proximalen Tubulus und der Henle-Schleife spezifische Membranrezeptoren vor und führen dort – nach Stimulation der jeweiligen hormonspezifischen Adenylylcyclase und der Bildung von cAMP – zur Phosphaturie (verstärkte Phosphatausscheidung) und Antikalzurese (verstärkte Calciumresorption). Wenn auch die physiologische Bedeutung des Calcitonins (besonders was die renalen Prozesse betrifft) noch nicht befriedigend geklärt ist, so kann es therapeutisch eingesetzt werden, um eine pathologisch stimulierte Osteoklastenaktivität zu unterdrücken, und damit die Kalzifizierung des Skeletts begünstigen.

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401

402

13 Salz- und Wasserhaushalt

Azidose Niere

PTH-Überschuss



HPO4 -Retention

Vitamin-DIntoxikation

Knochen



HPO4 2+ Ca

2+

Prot + Ca

Ca-Prot EZF

Vitamin-DMangel

2+

Ca

2+

Ca

2+

Ca

2+

Ca

IZF 2+

–

Ca

IZF 2+

EZF

2+

Ca

–

PTH-Mangel

Ca 2– HPO4

Knochen

Darm

2+

Prot + Ca

Ca-Prot

Darm 2+

Ca

renale Phosphaturie

Alkalose

Niere 2+

Ursachen verringerter Ca -Konzentration im Plasma

Abb.13.26 Störungen der Calciumhomöostase. Die Ca2+Konzentration im Plasma sinkt, wenn die renale Phosphatausscheidung ungenügend ist (Überschreiten des Löslichkeitsprodukts [Ca2+] · [HPO42–], z. B. bei Niereninsuffizienz), wenn PTH-Mangel die Calciummobilisation aus dem Knochen beeinträchtigt (z. B. nach Radikaloperation der Epithelkörperchen), wenn Vitamin-D-Mangel (z. B. ungenügende Zufuhr mit der Nahrung) die Calciumresorption im Darm verschlechtert oder wenn, bei normaler Gesamtcalcium-Konzentration, Alkalose zu erhöhter Proteinbindung von Calcium

Störungen der Calcium-PhosphatHomöostase Tetanie: eine Folge von Hypokalzämie oder Alkalose Verringert sich die Ca2+-Konzentration, d. h. die Konzentration des ionisierten Anteils des Plasmacalciums, unter die Norm, kommt es zunehmend zu neuromuskulärer Übererregbarkeit und Störungen der Sensorik: Tetanie. Das Spektrum der Symptome reicht von einzelnen Muskelzuckungen und Parästhesien über schmerzhafte tonische Krämpfe (Pfötchenstellung der Hände; Tetaniegesicht mit gespitzten Lippen) zu generalisierten Krampfanfällen. Ursache einer Tetanie kann entweder eine zu geringe Konzentration des Gesamtcalciums sein (Hypokalzämie), wobei sowohl das gebundene Calcium als auch das freie Ca2+ betroffen ist, oder, durch Alkalose bedingt, eine vermehrte Proteinbindung des Calciums, so dass zwar die Konzentration des Gesamtcalciums im Plasma kaum verändert (Normokalzämie), jedoch die des freien Ca2+ vermindert ist. In Abb. 13.26 (links) sind die Ursachen einer Verminderung der Ca2+-Konzentration im Plasma und damit einer möglichen Tetanie zusammengefasst. Die Calciumresorption im Darm ist ungenügend, wenn nicht ausreichend Vitamin D für die Calcitriol-

2+

Ursachen erhöhter Ca -Konzentration im Plasma

im Plasma führt (z. B. bei starker Hyperventilation). Die Ca2+Konzentration im Plasma steigt hingegen bei PTH-Überschuss (z. B. Adenom der Epithelkörperchen), wobei einerseits Calcium aus dem Knochen mobilisiert wird und andererseits wegen des renalen (PTH-bedingten) Phosphatverlusts die Ca2+-Konzentration ansteigt. Eine exzessive Vitamin-DAufnahme führt zu überschießender Calciumresorption aus dem Darm, was ebenfalls die Ca2+-Konzentration im Plasma erhöht.

synthese zur Verfügung steht. Daraufhin sinkt die Ca2+-Konzentration (Hypokalzämie), was ein Dauerstimulus für die Parathyrinfreisetzung und für die Hyperplasie der Epithelkörperchen ist. Parathyrin-induzierte Osteolyse und Entkalkung treten auf, das Knochenskelett wird deformierbar. Das heranwachsende Kleinkind entwickelt eine Rachitis, eine Krankheit, die durch Knochendeformierung, Tetanie und eingeschränktes Skelettwachstum gekennzeichnet ist. Beim Erwachsenen bildet sich eine sog. Osteomalazie aus; dieses Krankheitsbild ist vorwiegend durch Entkalkung des Skeletts und Knochenschmerz gekennzeichnet. Ferner kann operative Entfernung oder Schädigung der Epithelkörperchen zu ungenügender Parathyrinbildung führen (Hypoparathyreoidismus), wodurch dem Organismus weitgehend die Möglichkeit genommen ist, Calcium aus den großen Speichern des Skeletts zu mobilisieren. Ebenso wie bei der Rachitis kann sich bei diesem PTH-Mangel eine hypokalzämische Tetanie entwickeln. (Hierbei ist also die Konzentration des freien Ca2+ im Plasma erniedrigt, weil die des Gesamtcalciums abgesunken ist.) Auch jede Erhöhung des Plasmaphosphats wird mit einer Hypokalzämie einhergehen, weil ja das Löslichkeitsprodukt aus Ca2+ und HPO42– konstant ist. Schließlich wird eine Reduktion der renalen 1α-Hydroxylase-Aktivität (z. B. aufgrund eines Nierenparen-

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13.8 Die Magnesiumbilanz

Nierenschaden

Phosphatausscheidung der Niere nimmt ab renale Produktion von Calcitriol zu gering Hyperphosphatämie 2+

2+

Ca -Resorption gehemmt

Renaler Phosphatverlust: Ursache der Hypophosphatämie Zu geringe Zufuhr von Phosphaten über die Nahrung bzw. renale Verluste lassen die Plasmaphosphatkonzentration unter die Norm sinken (Hypophosphatämie). Während die Natur uns gewöhnlich ausreichend mit Phosphat versorgt, kann eine Hypophosphatämie entweder bei zu rigoroser Hemmung der intestinalen Phosphatresorption durch phosphatbindende Medikamente wie Aluminiumhydroxid oder als Folge der renalen Phosphaturie bei primärem Hyperparathyreoidismus eintreten.

Nierenschaden: eine Ursache der Hyperphosphatämie Übersteigt die Phosphataufnahme die renale Ausscheidung, so kommt es zur Hyperphosphatämie und, wegen des Löslichkeitsprodukts ([Ca2+] · [HPO42–] = konstant) in der Folge zur Hypokalzämie. Die Ursache dieser Hyperphosphatämie ist meist das inadäquate Filtrationsvermögen pathologisch veränderter Nieren (z. B. bei chronischem Nierenparenchymschaden). Diese komplexen pathophysiologischen Zusammenhänge einschließlich der Folgen des dabei entstehenden sekundären Hyperparathyreoidismus (s. a. S. 370) sind in Abb. 13.27 dargestellt.

Hypokalzämie

Darm

Epithelkörperchen

2+

Ca

Kristallisation: eine Folge der Hyperkalzämie Dem Anstieg der Plasmakonzentration des (Gesamt-) Calciums (Hyperkalzämie) sind durch seine begrenzte Löslichkeit Grenzen gesetzt. Werden also pathologisch hohe Mengen aus dem Darm resorbiert (z. B. nach exzessiver Zufuhr von Vitamin D) oder die schnell austauschbaren Calciumspeicher des Skeletts rigoros entleert, wie es bei der Überfunktion der Epithelkörperchen, dem sog. (primären) Hyperparathyreoidismus der Fall ist, fällt Calcium in den weichen Geweben aus (Abb. 13.26, rechts). Verkalkungsherde mit Funktionsverlust des betroffenen Organs (z. B. der Niere durch rezidivierende Calciumphosphatsteine, S. 363) sind die Folge.

Phosphat bindet Ca

sekundärer Hyperparathyreoidismus

Kalzifizierung der Niere

chymschadens) eine hypokalzämische Stoffwechsellage begünstigen, weil die Bildung des 1,25(OH)2-Cholecalciferols, also des Calcitriols, herabgesetzt ist, was die Ca2+-Resorption aus dem Darm ins Blut wesentlich verringert. Wie bereits mehrfach erwähnt, führt ein Anstieg des Plasma-pH-Werts über die Norm (Alkalose, z. B. bei Hyperventilation oder Erbrechen, S. 320 ff.) zu verstärkter Bindung von ursprünglich freien Ca2+-Ionen an Plasmaalbumine. Wenn auch die Gesamtkonzentration des Plasmacalciums dabei konstant bleibt („Normo“kalzämie), treten trotzdem die Symptome neuromuskulärer Übererregbarkeit ein, weil sich der freie Anteil der Ca2+-Ionen zugunsten der albumingebundenen Fraktion verringert hat (sog. normokalzämische Tetanie).

2+

Ca -Mobilisation

PTH 2+

Ca

2+



[Ca ] • [HPO4 ] Löslichkeitsprodukt überschritten!

Osteomalazie

Kalzifizierung nichtrenaler Gewebe

Abb.13.27 Pathophysiologie des Calcium-PhosphatHaushalts bei chronischer Niereninsuffizienz. Sind große Teile des Nierenparenchyms zerstört, so sinkt die Aktivität der 1α-Hydroxylase, des in der Niere lokalisierten Schlüsselenzyms des Vitamin-D-Metabolismus. Die mangelnde Calcitriol-Bildung zieht eine verminderte Ca2+-Resorption im Dünndarm nach sich. Gleichzeitig wird im Organismus anorganisches Phosphat, das aufgrund des Nierenschadens nicht mehr ausreichend eliminiert werden kann, retiniert. Es entsteht eine Hypokalzämie, die zur chronischen Stimulation der PTH-Freisetzung aus den Epithelkörperchen führt (sekundärer Hyperparathyreoidismus). Entkalkung des Knochenskeletts (Osteomalazie) und Präzipitation von CalciumPhosphat-Kristallen im weichen peripheren Gewebe sind die Folge (Überschreiten des Löslichkeitsprodukts).

13.8

Die Magnesiumbilanz

Die biologisch überaus wichtigen Magnesiumionen sind innerhalb des Organismus ungleich verteilt (hohe intrazelluläre bzw. niedrige extrazelluläre Konzentration), und, wie beim Calcium, ist ihre Bilanz von Calcitriol und Parathyrin reguliert. Magnesiummangel bewirkt Hypokalzämie einschließlich der klinischen Folgen. Ein 70 kg schwerer Mensch enthält ungefähr 900 mmol Magnesium. Im Extrazellulärraum befindet sich davon kaum mehr als 1 %, der Löwenanteil ist in den Zellen (31 %) und im Knochen (67 %) verteilt. Die Magnesiumkonzentration im Plasma des Erwachsenen beträgt

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403

404

13 Salz- und Wasserhaushalt durchschnittlich 0,85 mmol/l. Davon sind ca. 20 % an Plasmaeiweiße gebunden. Ihre große biologische Bedeutung erlangen die Mg2+-Ionen offensichtlich durch ihre Eigenschaft, mit Enzymen und anderen Stoffen (z. B. Proteinen, Nucleinsäuren, Phospholipiden) zu chelatieren. Das erklärt auch die Tatsache, dass ein Großteil (6 – 9 mmol/l) des intrazellulär vorliegenden Mg2+ an Membranstrukturen (z. B. Plasmamembran, Mitochondrien) gebunden ist, während das frei austauschbare, in ionisierter Form vorliegende Mg2+ nur einen bescheidenen Anteil (1 mmol/l) des gesamten intrazellulären Mg2+ ausmacht. Es sind jedoch die freien Mg2+-Ionen, die eine kritische Rolle als Katalysatoren jener enzymatischen Prozesse spielen, die für Transfer, Speicherung und Verbrauch von Stoffwechselenergie zuständig sind. Der tägliche Mg2+-Bedarf des Menschen wird auf 9 – 16 mmol geschätzt. Dieser Bedarf ist normalerweise durch eine gemischte Kost gedeckt. Ein Mg2+-Mangel tritt auf, wenn entweder durch falsche Nahrungsaufbereitung zu wenig Mg2+ aufgenommen wurde (z. B. gehen durch langes Kochen und Warmhalten von Fleisch und Gemüse in Großküchen intrazelluläre Elektrolyte ins Kochwasser verloren) oder wenn Resorptions- bzw. Ausscheidungsmechanismen in Darm und Niere gestört sind.

Magnesiumaufnahme und -ausscheidung Etwa 30 – 40 % des durch die Nahrung aufgenommenen Mg2+ werden im Darm resorbiert. Offensichtlich fördert Calcitriol die Resorption, ähnlich wie beim Calcium. Die Niere ist praktisch das einzige physiologisch relevante Ausscheidungsorgan (32). Der freie Anteil des PlasmaMg2+ (80 %) passiert ungehindert das glomeruläre Filter der Niere. Im Gegensatz zum Ca2+ und den meisten anderen Elektrolyten werden davon aber nur etwa 20 % im proximalen Tubulus resorbiert, während der Löwenanteil im Bereich der Henle-Schleifen das Tubuluslumen verlässt (S. 361). Parathyrin steigert, ähnlich wie beim Calcium, die renale Magnesiumresorption.

Hypokalzämie: Folge einer Magnesiumverarmung Ein ausgeprägter Magnesiummangel führt zum Absinken der Ca2+-Plasmakonzentration. Daraus dürfen wir allerdings nicht voreilig schließen, dass die Verarmung an Mg2+ den Ca2+-Gehalt des Organismus verringert hat. Im Gegenteil, die Ca2+-Speicher des Knochens sind sogar überfüllt. Offensichtlich führt der Magnesiummangel zur Störung der parathyrinabhängigen Freisetzungsmechanismen von Calcium aus seinen Speichern im Knochen. Obwohl die zugrunde liegenden Mechanismen noch nicht bekannt sind, wird also verständlich, warum die klinische Symptomatik des Magnesiummangels der der Hypokalzämie ähnlich ist: Es treten neuromuskuläre Übererregbarkeit und u. U. generalisierte Krampfanfälle auf.

Zum Weiterlesen … 1 Alberts B, Johnson A, Lewis I, Raff M, Roberts K, Walter P. Molecular Biology of the Cell. 4th ed. New York: Garland Science; 2002 2 Kokko JP, Tannen RL. Fluid and Electrolytes. Philadelphia: Elsevier; 1990 3 Seldin DW, Giebisch G. The Kidney: Physiology and Pathophysiology. 3rd ed. Philadelphia: Lippincott Williams & Wilkins; 2000

… und noch weiter 4 Adroque H, Madias NE. Changes in plasma potassium concentration during acute acid-base disturbances. Amer J Med. 1981; 71: 456 – 467 5 Agre P, Kozono D. Aquaporin water channels: molecular mechanisms for human diseases. FEBS Lett. 2003; 555 (1): 72 – 78 6 Allen FM. Treatment of Kidney Diseases and High Blood Pressure. Morristown/New Jersey: The Physiatric Institute; 1925 7 Arieff AI, Llach F, Massry SG. Neurological manifestations and morbidity of hyponatriemia: Correlation with brain water and electrolytes. Medicine. 1976; 55: 121 – 129 8 Blaustein MP. Sodium ions, calcium ions, blood pressure regulation, and hypertension: a reassessment and a hypothesis. Amer J Physiol. 1977; 232: C165 – C173 9 Boron W F. Intracellular pH regulation in epithelial cells. Ann Rev Physiol. 1986; 48: 377 – 388 10 Dahl LK. Salt in processed baby foods. Amer J Clin Nutr. 1968; 21: 787 11 Dahl LK. Salt and hypertension. Amer J Clin Nutr. 1972; 25: 231 – 244 12 Dahl LK, Heine M, Tassinari L. Effects of chronic salt ingestion. Further demonstration that genetic factors influence the development of hypertension: evidence from experimental hypertension due to cortisone and to adrenal regeneration. J Exp Med. 1965; 122: 533 13 Dahl LK, Knudsen KD, Iwai I. Humoral transmission of hypertension: evidence from parabiosis. Circulat Res. 1. 1969; Suppl. 24/25: 21 – 33 14 Deen PMT, Verdijk MAJ, Knoers NVAM, Wieringa B, Monens LAH, van Ost CH, van Ost BA. Requirement of human renal water channel aquaporin-2 for vasopressin-dependent concentration of urine. Science. 1994; 264: 92 – 95 15 De Wardener HE, Mac Gregor GA. Dahl’s hypothesis that a saluretic substance may be responsible for a sustained rise in arterial pressure: its possible role in essential hypertension. Kidney Int. 1980; 18: 1 – 9 16 De Wardener HE, He FJ, Mac Gregor GA. Plasma sodium and hypertension. Kidney Intern. 2004; 66: 2454 – 2466 17 Folkow B. Salt and hypertension. News Physiol Sci. 1990; 5: 220 – 224 18 Gekle M, Golenhofen N, Oberleithner H, Silbernagl S. Rapid activation of Na+/H+ exchange by aldosterone in renal epithelial cells requires Ca2+ and stimulation of a plasma proton conductance. Proc Natl Acad Sci USA. 1996; 93: 10 500 – 10 504 19 Genest J, Cantin M. Regulation of body fluid volume: the atrial natriuretic factor. News Physiol Sci. 1986; 1: 3 – 5 20 Guyton AC. Blood pressure control – Special role of the kidneys and body fluids. Science. 1991; 252: 1813 – 1816

Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! R. Klinke, H-C. Pape, St. Silbernagl: Physiologie (ISBN 3-13-796005-3) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2005

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Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung M. Gekle

14.1 Der Magen-Darm-Trakt: Ein komplexes Organsystem und häufige Arztbesuche

· ··

408

14.2 Einleitung und Orientierung: Ein kurzer Überblick ··· 408 14.3 Allgemeingültiges zum Magen-Darm-Trakt · ·· 410 Aufbau · · · 410 Epithelialer Transport, Absorption, Sekretion · · · 410 Die Funktion von Speicheldrüsen · ·· 410 Motilität des Magen-Darm-Trakts ··· 413 Regulationsmechanismen im Magen-Darm-Trakt · ·· 415 Abwehrfunktion des Magen-Darm-Trakts · · · 421

14.4 Mundhöhle und Mundspeicheldrüsen

···

422

Mundhöhle · ·· 422 Mundspeicheldrüsen · ·· 422

14.5 Ösophagus und Schlucken

14.10 Motorik von Dünn- und Dickdarm

···

460

Dünndarmmotorik · · · 460 Dickdarmmotorik · · · 461 Darmentleerung · · · 462

14.11 Physiologie der Leber ···

424

Ösophagus · · · 424 Schlucken · ·· 425

14.6 Magen

· ·· 426 Funktionelle Anatomie · · · 426 Säuresekretion · · · 428 Pepsinogen-Sekretion · · · 432 Schutz der Magenschleimhaut · ·· 432 Schutz der Duodenalschleimhaut ··· 433 Magenmotorik ··· 434

14.7 Pankreas

Kohlenhydratverdauung · · · 448 Kohlenhydratabsorption ··· 449 Proteinverdauung · ·· 450 Absorption von Proteinen, Peptiden und Aminosäuren ··· 451 Lipidverdauung · · · 452 Lipidabsorption · · · 455 Nukleinsäureverdauung und -absorption ··· 457 Vitaminabsorption · · · 457 Ca2+-Absorption ··· 459 Magnesiumabsorption ··· 459 Eisenabsorption · ·· 459 Phosphatabsorption ··· 460

···

437 Exokrine Funktion des Pankreas ··· 437 Funktion der Pankreasazini · · · 439 Funktion der Ausführungsgänge des Pankreas ··· 441

14.8 Dünn- und Dickdarm: Flüssigkeits- und Elektrolyttransport

··· 442 Aufbau und Vergleich von Dünn- und Dickdarm · ·· 442 Intestinaler Wasser- und Elektrolyttransport ··· 442 Zelluläre Mechanismen der Na+-Absorption · ·· 443 Zelluläre Mechanismen der Cl–-Absorption · ·· 445 Zelluläre Mechanismen der Cl–-Sekretion ··· 445 Zelluläre Mechanismen der K+-Absorption ··· 446 Zelluläre Mechanismen der K+-Sekretion · · · 446 Regulation des intestinalen Wasser- und Elektrolyttransports · ·· 447

··· 462 Allgemeines zur Leber ··· 462 Funktionelle Anatomie · · · 463 Transport und Stoffwechsel in Hepatozyten ··· 464 Gallenbildung · ·· 467 Enterohepatischer Kreislauf ··· 468 Die Leber als metabolisches Organ ··· 468

14.12 Die Anforderungen des Organismus an die Ernährung · · · 472 Bestandteile der Nahrung · · · 472 Bedarf an Nahrungsbestandteilen ··· 473

14.13 Energiehaushalt und Kontrolle des Körpergewichts · · · 477 Energiebilanz · ·· 477 Energiespeicher ··· 478 Energiefreisetzung · · · 479 Energieumsatz ··· 480 Energiegehalt der Nahrung ··· 481 Messung des Energiebedarfs ··· 482

14.14 Regulation der Nahrungsaufnahme

· ·· 483 Wasser und Salz · ·· 483 Energie · · · 483 Die Elemente der Regelkreise der Energiebilanz ··· 484 Kurzzeitregulation der Nahrungsaufnahme ··· 486 Langzeitregulation der Energiebilanz · ·· 489 Fettsucht · · · 490 Unterernährung ··· 490

14.9 Dünn- und Dickdarm: Nährstoffverdauung und -absorption · ·· 447 Übersicht · · · 447

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14

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14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung

14.1

Der Magen-Darm-Trakt: Ein komplexes Organsystem und häufige Arztbesuche

Dieses Kapitel beschreibt die Funktionen einer Vielzahl von Organen, die zusammen den Magen-Darm-Trakt darstellen. Diese Vielzahl erschwert die Übersichtlichkeit des Themas. Die behandelten Organe haben spezifische, eigene Funktionen, sind jedoch gleichzeitig in ihrer Gesamtfunktion durch das enterische Nervensystem und Hormone eng gekoppelt. Ohne diese Integration der Einzelfunktionen würde das komplexe Zusammenspiel des Magen-Darm-Trakts nicht funktionieren. Aus diesen Gründen wird im Abschnitt Einleitung und Orientierung ein kurzer Gesamtüberblick über den Magen-DarmTrakt und seine Bedeutung gegeben. Hier finden sich Verweise auf die Stellen des Kapitels, wo die einzelnen Organe spezifisch beschrieben sind (Abb. 14.1). Im Abschnitt „Allgemeingültiges zum Magen-Darm-Trakt“ werden generelle Prinzipien dargestellt, die für mehrere Abschnitte des Magen-Darm-Traktes gelten, wie zum Beispiel Motorik, Transport oder Regulation. Anschließend werden die einzelnen Komponenten des Magen-DarmTrakts in der Reihenfolge, in der sie es mit aufgenommener Nahrung zu tun bekommen, behandelt. Wir verfolgen sozusagen den Weg einer Portion „Schnitzel mit Pommes frites und Salat“. Schließlich wird das Hauptziel der Tätigkeit des Magen-Darm-Traktes, Ernährung und Energiehaushalt, behandelt. Hierbei sind Ernährungsbedarf, Aufrechterhaltung des Energiehaushaltes sowie Regulation der Nahrungsaufnahme als auch deren pathophysiologische Konsequenzen dargestellt. Störungen im Bereich des Magen-Darm-Traktes (Abb. 14.1) sind mit die häufigsten Ursachen, die einen Patienten zum Arzt führen. So klagen ca. 10% der Bevölkerung über ab und zu auftretendes Sodbrennen, aus dem sich im schlimmsten Fall ein Ösophaguskarzinom entwickeln kann. Praktisch jeder von uns hatte schon einmal eine akute Gastritis mit Erbrechen. Bei älteren Menschen findet sich in ca. 50 % der Fälle eine chronische Gastritis unterschiedlicher Ausprägung. Pro Jahr erkranken ca. 50 von 100 000 Menschen an einem Magengeschwür und ca. 150 von 100 000 an einem Zwölffingerdarmgeschwür. Durchfall ist ein allen bekanntes Leitsymptom, das vielfältige Ursachen haben kann: Infektionen (z. B. Reisediarrhö, Cholera), Lebensmittelvergiftungen (z. B. Staphylococcus aureus), Nahrungsmittelunverträglichkeit (Laktoseintoleranz, Zöliakie), Maldigestion (z. B. Pankreasinsuffizienz), Malabsorption (z. B. Gallensäuremangel), chronische Darmentzündungen (Morbus Crohn, Colitis ulcerosa), Tumoren des Kolons, Motilitätsstörungen, Hyperthyreose oder auch funktionelle Störungen ohne bekannt Ursache (Reizdarmsyndrom). Im Alter nimmt die Häufigkeit von Verstopfung zu (ca. 20 – 30 % aller Menschen > 60 Jahre). Gallenwegserkrankungen, Alkoholmissbrauch und Mukoviszidose können zu chronischer Pankreatitis mit massiven Verdauungsstörungen führen. Alkoholmissbrauch, virale Infektionen (Hepatitis) und Gallenwegsentzündungen haben eine chronische Schädigung der Leber zur Folge, die in einer Leberzirrhose (ca. 250

Neuerkrankungen pro 100 000 Menschen und Jahr) enden kann. Schließlich nimmt in den entwickelten Ländern die Zahl der Menschen mit starkem Übergewicht (Fettsucht) stetig zu (ca. 20 % der Erwachsenen), wodurch das Risiko z. B. für einen Schlaganfall oder einen Myokardinfarkt steigt. Im Gegensatz dazu leiden in unterentwickelten Ländern immer noch viele Menschen an Unterernährung. Schließlich können auch Störungen des Essverhaltens trotz ausreichenden Nahrungsangebots zu Unterernährung führen (Anorexia nervosa, Bulimie).

14.2

Einleitung und Orientierung: Ein kurzer Überblick

Der Magen-Darm-Trakt (MDT) hat die Aufgabe, für den selektiven und regulierten Austausch von nicht flüchtigen und nicht nierengängigen Stoffen mit der Umgebung zu sorgen. Zu diesem Zweck muss der Körper zunächst gegen die Außenwelt abgegrenzt werden, um das unkontrollierte Eindringen oder Austreten von Stoffen zu verhindern. Gleichzeitig müssen in diese Abgrenzung selektive und regulierbare Ein- und Austrittspforten eingebaut werden, um die Aufnahme von benötigtem und die Abgabe von nicht benötigtem oder sogar schädlichem Material zu ermöglichen. Vereinfacht gesagt, muss kontrollierter Transport möglich sein, wie er im Prinzip auch an der Membran einer einzelnen Zelle verwirklicht ist. Der MDT setzt sich aus aneinandergereihten Hohlorganen – vom Mund bis zum Anus – zusammen (Abb. 14.1), in welche verschiedene Drüsen Sekrete abgeben (Sekretion). Wir haben es also mit einem Schlauch zu tun, der durch Ventile (Sphinkter) in Abschnitte (Mundhöhle, Speiseröhre, Magen, Dünndarm, Dickdarm, Anus) unterteilt ist und an bestimmten Stellen Einmündungen von Drüsen (Speicheldrüsen, Magendrüsen, Bauchspeicheldrüse, Leber) aufweist. Die aufgenommene Nahrung „wandert“ diesen Schlauch von einem Ende (Mundhöhle) zum anderen Ende (Anus) entlang und wird dabei mit Hilfe der Drüsensekrete „verarbeitet“ (Verdauung). Diese Verarbeitung bringt die Nahrung in eine Form, in der sie aus dem Schlauch aufgenommen werden kann (Absorption), bevor der Anus erreicht ist. Der MDT ist der einzige Weg, über den der Mensch verwertbare Energie und andere notwendige Nährstoffe zu sich nehmen kann. Über die Haut und die Lungen gelangen lediglich immunologisch relevante Mengen z. B. an Proteinen in den Körper. Somit ist der MDT entscheidend an der Aufrechterhaltung der Energiehomöostase (S. 477) beteiligt. Ein ruhender Erwachsener benötigt pro Tag ca. 126 kJ (30 kcal) Energie pro kg Körpergewicht, die er sich in Form von Kohlenhydraten (z. B. Pommes frites), Proteinen (z. B. Schnitzel) und Fetten (z. B. Pommes frites und Schnitzel, je nach Qualität) per os zuführt. Diese Energieträger werden in der Mundhöhle durch Kauen mechanisch zerkleinert und durch Speichel gleitfähig gemacht. Über die Speiseröhre gelangt die Nahrung in den Magen, wo sich die mechanische Zerkleinerung fortsetzt und die Protein- und Fettverdauung beginnt. Sobald die festen Nahrungsbestandteile eine Größe unter

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14.2 Einleitung und Orientierung: Ein kurzer Überblick Beispiele für den klinischen Bezug Sjögren-Syndrom, gestörte Koordination, Dysphagie, Entzündungen

Funktionen Zerkleinern der Nahrung, Abwehrfunktion, Gleitmittel, Geschmack

Entleerungszeiten ab Nahrungsaufnahme Mundspeicheldrüsen Speiseröhre

10 s

Dysphagie, Sodbrennen, Motilitätsstörungen, Entzündungen, Sklerodermie

Schlucken

Gastritis, Magengeschwür, Erbrechen, Motilitätsstörungen, Zollinger-EllisonSyndrom, perniziöse Anämie

Mischen, Mahlen und Emulgieren der Nahrung, Proteinverdauung, Fettverdauung, Intrinsic Factor, Abwehrfunktion

Magen

Ausscheiden von Abfallstoffen, Galleproduktion, Stoffwechsel, Glucosehaushalt

Leber

Ikterus, Cholestase, Gallensteine, Fettabsorption, Morbus Wilson, Hypercholesterinämie

Speiseröhre (Ösophagus)

Speichern und Eindicken von Galle

Gallenblase

Bildung und Sekretion von Verdauungsenzymen, Sekretion von HCO3–, Hormonproduktion

Pankreas

Duodenalgeschwür, Durchfall, Lactoseintoleranz, Zöliakie, Malabsorption, Infektionen

Transport des Nahrungsbreis, Resorption von Nährstoffen, Abwehrfunktion

Dünndarm

Durchfall, Mukoviszidose, Cholera

Salz- und Wasserresorption, Salz- und Wassersekretion, Reservoir, kontrollierte Entleerung, Abwehrfunktion

Dickdarm

Pankreatitis, Pankreasinsuffizienz, Mukoviszidose

Magen

Dünndarm (Jejunum)

1– 3 h

7–9 h

Dünndarm (Duodenum) Dickdarm (Sigmoid)

Dickdarm (Kolon)

25 – 30 h Mastdarm

30 – 120 h

Abb.14.1 Übersicht über den Magen-Darm-Trakt. Funktion, klinischer Bezug und Passagezeiten. Die Entleerungszeiten sind individuell unterschiedlich und hängen vor allem von der Nahrungszusammensetzung ab.

2 mm erreicht haben, gelangen sie durch den Magenpförtner (Pylorus) in den Dünndarm. Hier findet die weitere Verdauung aller Bestandteile statt. Neben der mechanischen Zerkleinerung muss die Nahrung auch enzymatisch verdaut werden. Dies geschieht durch eine Reihe chemischer Reaktionen, die für die einzelnen Nahrungsbestandteile recht unterschiedlich sind. So werden Kohlenhydrate im Mund und im Dünndarm, Fette und Proteine dagegen im Magen und Dünndarm verdaut. Für die Verdauung ist die Sekretion von Verdauungsenzymen aus verschieden Drüsen notwendig: – Speicheldrüsen sezernieren in der Mundhöhle Enzyme für die Kohlenhydrat- (α-Amylase) und Fettverdauung (saure Lipase der Zungengrunddrüsen). – Die Zellen der Magendrüsen sezernieren Enzyme für die Protein- (Pepsinogen) und Fettverdauung (Magenlipase). – Die enzymatische Verdauung im Dünndarm findet zum einen durch Enzyme der Bauchspeicheldrüse (Verdauung im Darmlumen) und zum anderen durch Enzyme an der apikalen Membran von Enterozyten („Membranverdauung“) statt. Für die Verdauung von Fetten ist außerdem das Sekret der Leber, die Galle, notwendig.

Die bei der enzymatischen Verdauung entstehenden Endprodukte werden letztendlich im Dünndarm (nicht im Dickdarm!) absorbiert, um anschließend direkt (z. B. Glucose) oder nach weiterer Aufarbeitung (z. B. Lipide) in den Körper zu gelangen. Andere wichtige Nährstoffe, wie z. B. Vitamine (in Salat und Schnitzel), werden ebenfalls im Dünndarm absorbiert, d. h., der MDT ist für die gesamte Nährstoffversorgung (S. 472) des Körpers entscheidend. Im Dickdarm findet bei Erwachsenen normalerweise keine nennenswerte Resorption von Nährstoffen statt (Ausnahme: kurzkettige Fettsäuren, s. Tab. 14.6). Eine Störung der Verdauung oder Absorption der Nährstoffe kann zu Mangelernährung mit unterschiedlich schweren Folgen führen (S. 474). In bestimmten Situationen können die Nährstoffe dem Körper unter Umgehung des MDT, d. h. durch intravenöse Infusion, zugeführt werden. Dies geschieht bei der parenteralen Ernährung (z. B. bei schweren Darmerkrankungen oder bei Frühgeborenen). Hierbei müssen die Nahrungsbestandteile allerdings in ihrer vollständig „verdauten“ Form verabreicht werden (z. B. Glucose anstatt Stärke). Zusätzlich werden natürlich auch Wasser und Elektrolyte (z. B. NaCl) absorbiert. Dies geschieht sowohl im Dünn- als auch im Dickdarm. Bei der Wasser- und

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14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung Elektrolytabsorption müssen auch die Sekrete der Drüsen berücksichtigt werden. So werden mit der Nahrung pro Tag 1,5 bis 2,5 l Flüssigkeit aufgenommen, das tatsächlich im Darm zu absorbierende Volumen beträgt jedoch 8 bis 9 l pro Tag. Mit dem Stuhl werden nur ca. 0,1 l pro Tag ausgeschieden. Somit ist der MDT auch entscheidend an der Aufrechterhaltung der Wasser- und Elektrolythomöostase (S. 377 ff.) beteiligt. Ist diese Flüssigkeitsabsorption gestört oder wird im MDT zuviel Flüssigkeit sezerniert, so wird diese mit dem Stuhl ausgeschieden und es kommt zu Durchfall (Diarrhö), der zu einer Störung der Flüssigkeits- und Elektrolythomöostase des gesamten Körpers führen kann. Cholera, eine besonders schwere Form des Durchfalls mit bis zu 20 l Stuhlvolumen pro Tag, ist ohne wirksamen Flüssigkeits- und Elektrolytersatz tödlich. Neben diesen Versorgungsaufgaben spielt der MDT auch eine Rolle bei der Ausscheidung potenziell schädlicher Stoffe, wie Stoffwechselendprodukten (z. B. Bilirubin, Amine) oder Fremdstoffen (z. B. Medikamente, Pflanzenbestandteile aus der Nahrung, Schwermetalle). Das heißt, der MDT ist neben den Nieren das wichtigste Ausscheidungsorgan. Im Rahmen dieser Ausscheidungsfunktion ist besonders die Leber von Bedeutung. Sie extrahiert die auszuscheidenden Stoffe aus dem Blut, macht sie z. T. ausscheidungsfähig (z. B. wasserlöslich) und sezerniert sie in die Galle. Der MDT ist auch ein Teil des körpereigenen Abwehrsystems. Er trägt einerseits zum Schutz des Körpers vor Krankheitserregern bei und ermöglicht andererseits immunologische Toleranz. Immerhin stellt der MDT die größte Kontaktfläche mit potenziell schädlichem Material dar.

14.3

Allgemeingültiges zum Magen-Darm-Trakt Aufbau

Wie bereits zu Beginn erwähnt, kann der Magen-DarmTrakt (MDT) vereinfacht als Schlauch mit Ventilen beschrieben werden. Obwohl der Aufbau der Wände dieses Schlauches an verschiedenen Stellen Unterschiede aufweist, gibt es doch ein strukturelles Grundkonzept, das im Prinzip überall gültig ist (Abb. 14.2). Der Hohlraum (Lumen) wird durch eine Epithelschicht (Lamina epithelialis mucosae) begrenzt. Die Oberfläche dieser Epithelschicht wird durch verschiedene Mechanismen stark vergrößert: – viele Zellen haben apikale Mikrovilli, – das Epithel kann zu Drüsen (bzw. Krypten) eingestülpt oder zu Zotten ausgestülpt sein und – makroskopische Falten (Kerckringfalten oder Halbmondfalten) können sich ins Darmlumen vorwölben. Aufgaben der Epithelschicht sind Absorption und Sekretion von Nährstoffen, Elektrolyten, Wasser etc. Unter der Epithelschicht befindet sich lockeres Bindegewebe (La-

mina propria mucosae), das Kapillaren, enterische Neurone, Immunzellen und eine dünne Muskelschicht (Lamina muscularis mucosae) enthält. Diese Schicht ist wichtig für die Regulation der Funktionen des MDT sowie für dessen Immunfunktion. Eine weitere Schicht lockeren Bindegewebes mit größeren Gefäßen und kleineren Drüsen stellt die Submukosa dar. Zwei Muskelschichten, eine innere Ring- und eine äußere Längsmuskelschicht, bilden die Muscularis externa. Diese Schicht ermöglicht die Beweglichkeit (Motilität, Peristaltik). Nach außen wird die Wand durch eine Schicht Bindegewebe (Serosa) begrenzt. Abweichungen von diesem Aufbau werden, soweit notwendig, in den jeweiligen Abschnitten beschrieben.

Epithelialer Transport, Absorption, Sekretion Die allgemeinen Prinzipien der Transportphysiologie sind in Kapitel 2 und 3 im Detail beschrieben. An dieser Stelle erfolgt nur ein kurzer Überblick in Bezug auf den MagenDarm-Trakt. Epitheliale Transportprozesse können transzellulär (durch die Mukosazelle hindurch) oder parazellulär (durch den Spalt zwischen den Zellen) verlaufen. Wird eine Substanz gegen ihren elektrochemischen Gradienten transportiert, so ist der Transport aktiv. Solch ein Transport ist nur transzellulär möglich, da an mindestens einer Zellmembran (apikal oder basolateral) ein aktiver Transportschritt vorhanden sein muss (z. B. die basolateral Na+/K+-ATPase für die transzelluläre Na+-Resorption). Dieser Schritt bestimmt die Transportrichtung. Wird eine Substanz entlang ihres elektrochemischen Gradienten transportiert, so ist der Transport passiv und kann entweder trans- oder parazellulär verlaufen. Wassertransport ist an aktiven Substanztransport gekoppelt („osmotische Kopplung“) und verläuft entweder transoder parazellulär. Umgekehrt kann Substanztransport auch an Wassertransport gekoppelt sein. In diesem Fall reißt Wasser, wie ein Fluss, gelöste Teilchen mit („Solvent Drag“, z. B. Na+ und Harnstoff im Jejunum). Solvent Drag ist immer parazellulär und hängt von der Dichte der Schlussleisten ab (s. Kap. 3). In „lecken“ Epithelien kann ein größerer „Solvent Drag“ stattfinden. Ob ein Epithel generell dicht oder leck ist, lässt sich durch Bestimmung des transepithelialen Widerstandes (TER, R = resistance) ermitteln. Die Durchlässigkeit des Epithels ist umso niedriger, je höher der Widerstand. Dies schließt nicht aus, dass ein dichtes Epithel für eine ganz bestimmte Substanz besonders gut durchlässig ist. Dichte Epithelien können besonders gut „selektiv“ transportieren. Der TER setzt sich aus parazellulärem Widerstand (Rp, korreliert mit der Dichte der Schlussleisten), apikalem Widerstand (Ra), basolateralem (Rb) und intrazellulärem Widerstand (Rz) zusammen. Gemäß dem Kirchhoff-Gesetz gilt:

TER =

Rp  ðRa þ Rz þ Rb Þ Rp þ Ra þ Rz þ Rb

Wenn Rp klein ist (undichtes Epithel) hängt TER hauptsächlich von Rp ab.

Die Funktion von Speicheldrüsen Die Sekrete des Verdauungstrakts liefern die Enzyme für die Verdauung der Nahrung sowie den Schleim, der die Epitheloberflächen schützt und als Schmierfilm für feste Nahrungsbestandteile dient. Außerdem stellen die Sekrete die Flüssigkeit, in der die aufgenommene Nahrung gelöst wird; sie wird dadurch verdaubar und

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14.3 Allgemeingültiges zum Magen-Darm-Trakt A Bau des Dünndarms Blutgefäße Mesenterium

Serosa B Dünndarmzotte Längsmuskelschicht Plexus myentericus Nerven Ringmuskelschicht Plexus submucosa

Zellabstoßung

Zellwanderung

Blutkapillare Vene Arterie Lymphbahn Muskel siehe B

Schleim

KerckringFalten

Becherzelle

Krypte

Lieberkühn-Krypte Becherzelle

endokrine Zelle

Lamina muscularis mucosae Submukosa

siehe C

Paneth-Zelle

Mitose

C apikale Zellmembran mit Mikrovilli

D Bürstensaum im Querschnitt

Abb.14.2 Allgemeiner Aufbau des Magen-Darm-Traktes am Beispiel des Dünndarms: Die äußere Längsmuskulatur verkürzt den Darm, die Ringmuskulatur verengt das Darmlumen und die Lamina muscularis mucosae dient der Zottenbewegung. Die beiden Plexus bilden das darmeigene (enterische) Nervensystem, zu dem von außen sympathische und parasympathische Nervenfasern ziehen und das viszerale Afferenzen nach außen entlässt. Zur Förderung der Absorption ist die lumenseitige Oberfläche der Dünndarmschleimhaut (Mukosa) durch Falten und Zotten sowie durch den Bürstensaum ihres Epithels stark vergrößert. Die Zotten und die benachbarten Krypten sind mit Epithel überzogen. Es besteht größtenteils aus den absorbierenden Zellen, die luminal einen Bürstensaum besitzen. Dazwischen eingestreut sind Becherzellen, die Schleim bilden, sowie

absorbierbar. Manche Drüsen sezernieren ununterbrochen, die meisten jedoch nur nach Aktivierung, so dass eine neuronale und/oder hormonale Steuerung notwendig ist. Die Speicheldrüsen der Mundhöhle (Mundspeicheldrüsen) und die Bauchspeicheldrüse weisen prinzipielle Gemeinsamkeiten auf, die hier kurz dargestellt werden. Bei den Speicheldrüsen handelt es sich um in Läppchen

E Mikrovilli aus Gefrierbruch

Paneth-Zellen und verschiedene endokrine Zellen. Die Epithelzellen entstehen durch Teilung im Kryptenepithel, von wo sie innerhalb von 1 – 2 Tagen in Richtung Zottenspitze wandern und dort abgestoßen werden. A Die transmissionselektronenmikroskopische Aufnahme zeigt die apikale (luminale) Zellmembran mit ihren fingerartigen Ausstülpungen, den Mikrovilli. Im Innern der Mikrovilli liegt ein Bündel von Aktinmikrofilamenten, die im Zytoskelett des Zellleibs verankert sind. B Transmissionselektronenmikroskopische Aufnahme des Bürstensaums im Querschnitt. C Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme eines Gefrierbruchs, auf der die Mikrovilli von der Seite her zu sehen sind (aus J. A. Young, D. I. Cook, A. D. Conigrave, C. R. Murphy: Gastrointestinal Physiology, Rainforest Publication 1991).

organisierte, zusammengesetzte Drüsen, die aus Endstücken (Azini) und Ausführungsgängen bestehen. Mit ihrer regulierten Sekretion unterstützen sie die Verdauung, dienen der Abwehr potenzieller Krankheitserreger und machen die Nahrung gleitfähiger. Die kleinste funktionelle sekretorische Einheit besteht aus einem Azinus sowie dem zugehörigen Sekretgang (= Schaltstück) und produziert eine proteinreiche, plasmaähnliche Flüssigkeit, die in die intralobulären und dann in die interlobu-

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14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung B Proteinexozytose Lumen

C Proteinbiosynthese Exozytose

ribosomale Proteine

mRNA





tRNA

Zytosol

1 Polypeptid entsteht

Vesikel A-Seite

Signalpeptid

Signalerkennungspartikel (SRP)

2 signalpeptidabhängige Bindung von SRP hält die Translation an

A proteinsezernierende Zelle

4 SRP wird abgespalten und recycelt

apikal Sekretionsgranula kondensierende Vakuole Golgi-Komplex Vesikel

Zellinneres 3 SRP-gebundenes Ribosom bindet selektiv an SRP-Rezeptor

SRP-Rezeptor Membran des RER

basal

raues endoplasmatisches Retikulum

Abb.14.3 Allgemeine Mechanismen der Proteinsynthese und -sekretion. A Eine typische exokrine proteinsezernierende Zelle enthält auf ihrer Basalseite dicht gepackte Schichten von rauem endoplasmatischem Retikulum (RER), in dessen Ribosomen die zu exportierenden Proteine synthetisiert werden. An den glatten Enden des RER lösen sich proteinhaltige Vesikel ab, die zur cis-Region des Golgi-Apparats (posttranslationale Modifikation) gelangen, von dessen trans-Region sich kondensierende Vakuolen lösen. An der apikalen Zellseite liegen schließlich zahlreiche reife Sekretionsgranula zum exozytotischen Export bereit. B ProteinExozytose: Die drei unteren, membranumschlossenen Vesikel liegen noch frei im Zytosol, während sich das Vesikel links oben bereits an die Innenseite der Plasmamembran angelagert hat. Die Membran des Vesikels rechts oben ist schon mit der Plasmamembran verschmolzen, und der Vesikelinhalt

lären Ausführungsgänge abgegeben wird. Im Bereich der Azini und azinusnahen Gangabschnitte befinden sich myoepitheliale Zellen, die glatten Muskelzellen ähneln und kontraktil sind. Ihre Aufgaben bestehen wahrscheinlich in der Regulation des Flusswiderstandes im Gangsystem sowie einem Auspressen des Drüseninhaltes. Die Zusammensetzung des Speichels wird sowohl durch die Funktion der Azini als auch die der Ausführungsgänge bestimmt. Weiterhin finden sich in den Speicheldrüsen Blutgefäße und Nervenfasern. Ihre Tätigkeit wird durch das vegetative Nervensystem und durch Hormone regu-

5 die Translation geht weiter, und die Translokation beginnt

Zisterne des rauen endoplasmatischen Retikulums (RER)

entleert sich ins Lumen. C Proteinbiosynthese: (C1) Ein Ribosom hat sich an einer mRNA-Kette konstituiert, und die synthetisierte Peptidkette beginnt, aus dem Ribosom herauszuwachsen. Handelt es sich bei dem Peptidanfang um das Signalpeptid für den Protein-„Export“, bindet sich an dieses das Signalerkennungspartikel (SRP, signal recognition particle), so dass die Aminoacyl-tRNA-Bindungsstelle (A-Seite) im Ribosom blockiert wird. (C2) Dadurch wird die Translation angehalten, und (C3) das SRP mit dem daran hängenden Ribosom bindet so an den SRP-Rezeptor auf der Membran des rauen endoplasmatischen Retikulums (RER), dass das Peptidende über einer (hypothetischen) Pore der RER-Membran zu liegen kommt. (C4) Jetzt wird das SRP abgespalten, (C5) die Translation kann weitergehen, und die Peptidkette des Proteins wächst nun in die Zisterne des RER: Translokation (nach 1).

liert. Hierbei spielen Reflexbögen eine wichtige Rolle. So kann der Anblick von Speisen die Sekretion der Speicheldrüsen anregen (kephalische Verdauungsphase, S. 422).

Funktion der Azinuszellen In den Azinuszellen wird der Hauptteil der „Speichelproteine“ synthetisiert (z. B. α-Amylase, Mucin). Dies geschieht am rauen endoplasmatischen Retikulum (Abb. 14.3), von wo aus die Proteine in Transportvesikeln zum Golgi-Apparat gelangen. Dort werden sie bei Bedarf

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14.3 Allgemeingültiges zum Magen-Darm-Trakt noch modifiziert (z. B. glykosyliert) und anschließend in sekretorische Vesikel verpackt, deren Inhalt, wie bei den meisten Vesikeln, einen sauren pH-Wert hat. Im Golgi-Apparat müssen die Proteine sortiert werden, da nur ein Teil in den Speichel gelangen soll, andere dagegen z. B. in die Lysosomen. Dieses Sortieren geschieht durch die Bindung an noch nicht vollständig charakterisierte Rezeptoren, die dafür sorgen, dass die Proteine in die richtigen Vesikel gelangen. Lysosomale Proteine sind durch einen Mannose-6-Phosphat-Rest „adressiert“, der an den sog. Mannose-6-Phosphat-Rezeptor bindet und die Proteine in die Lysosomen leitet. Die sekretorischen Vesikel kondensieren anschließend zu den so genannten Zymogengranula, wobei das Volumen auf 30 % schrumpft. Diese wandern dann zur apikalen Membran. Erreicht nun ein sekretorischer Stimulus (hormonell oder nerval) die Zellen, so kommt es zu einer Zunahme der zytosolischen Ca2+-Konzentration, die den „Schalter“ dafür darstellt, dass Zymogengranula mit der Zellmembran fusionieren und ihren Inhalt nach außen entleeren: Exozytose. Bei der Exozytose (Abb. 14.3) spielt, ähnlich wie an Synapsen, der SNAP-SNARE-Mechanismus eine wichtige Rolle. Die Vesikelmembran wird anschließend durch Endozytose wieder in die Zelle aufgenommen und steht der Bildung neuer Vesikel zur Verfügung (Membranrezirkulation; s. a. S. 19). Der gesamte Vorgang hängt von der Integrität des Zytoskeletts ab, das sowohl die Wanderung zur apikalen Membran unterstützt (v. a. Mikrotubuli) als auch die regulierte Exozytose ermöglicht (v. a. apikales Aktinnetz).

Funktion der Gangzellen Die Gangzellen der Speicheldrüsen sind polarisierte Epithelzellen, die hauptsächlich am Transport von Wasser und Elektrolyten beteiligt sind. Zu diesem Zweck sind sie an der apikalen und basolateralen Membran mit speziellen Transportproteinen ausgestattet (z. B. Na+/H+-Austauscher, Cl–-Kanäle; s. Kap. 2). Reguliert wird ihre Funktion durch neurohumorale Stimuli über basolaterale Rezeptoren. Die Zellen zeigen eine gewisse Heterogenität entlang der Drüsengänge. Am Übergang vom Azinus zum Sekretgang finden sich Zellen mit hoher Carboanhydr(at) ase-Aktivität, die wahrscheinlich eine Rolle bei der HCO3–-Sekretion spielt. In den nachfolgenden Gangabschnitten zeigen sich vermehrt zytosolische Vesikel, die darauf hindeuten, dass hier nochmals Proteinsekretion stattfinden kann.

Funktion der „Goblet“-Zellen Neben Azinus- und Gangzellen gibt es in Speicheldrüsen auch „Goblet“-Zellen in den größeren Ausführungsgängen. Sie sezernieren Schleim (Muzin), der als Gleitmittel dient, die Epithelzellen schützt und Pathogene bindet.

Motilität des Magen-Darm-Trakts Der Magen-Darm-Kanal weist drei Schichten glatter Muskulatur auf: eine Längs- und eine Ringmuskelschicht sowie die Lamina muscularis mucosae. In jeder dieser Schichten sind die Muskelzellen in Bündeln zusammengefasst, die als mechanische und elektrische Einheiten funktionieren. Die Membranpotenziale der Muskelzellen schwanken in langsamen Wellen; sie bestimmen mit ihrer Amplitude und Frequenz den

Ruhetonus des Muskelbündels und lösen dort Aktionspotenzialsalven aus, die für die rhythmische Kontraktion verantwortlich sind. Im Magen-Darm-Trakt gibt es eine spontane, phasischrhythmische (von Schrittmacherzellen ausgehende) und eine anhaltend-tonische Kontraktion der glatten Wandmuskulatur, die auch kombiniert vorkommen. Durch die rhythmische Motorik des distalen Magens und die Segmentationsbewegungen des Darms wird der Inhalt aufgearbeitet und durchmischt. Die rhythmischen Kontraktionen werden u. a. durch die Wanddehnung oder durch Acetylcholin stärker und häufiger. Durch Wanderung von kombinierten Kontraktions-Erschlaffungs-Wellen wird der Darminhalt in Richtung Darmausgang vorangetrieben (Peristaltik), im Kolon auch in der Gegenrichtung. Die tonische Kontraktion ist im proximalen Magen (Speicherfunktion) und in den Sphinkteren (Verschlussfunktion) besonders deutlich; sie wird reflektorisch und hormonal geregelt (z. B. Akkomodationsreflex). Während der interdigestiven Phase läuft etwa alle 90 – 120 min eine charakteristische Peristaltikwelle (MMC = Migrating Motor Complex) vom Magen bis zum Ende des Dünndarms.

Die zwei Phasen der Motilität Bezüglich der Motilität müssen wir prinzipiell zwischen zwei Phasen unterscheiden. Mit der Nahrungsaufnahme beginnt die digestive (postprandiale) Phase der Motilität. Diese dient dazu, die aufgenommene Nahrung mechanisch zu verarbeiten (z. B. im Magen) und koordiniert – d. h. gemäß dem Verarbeitungszustand – weiterzutransportieren. Es können drei prinzipielle Funktionen in dieser Phase abgegrenzt werden. – Durch die Motilität kommt es zu einer Vermischung des Inhaltes der Hohlorgane, wodurch die Verdauung und Absorption der Nährstoffe unterstützt wird (der sog. „unstirred layer“ über der Schleimhaut wird „aufgemischt“). Hierbei spielen Segmentationen („stehende Wellen“, S. 461) eine wichtige Rolle. – Eine weitere Aufgabe der Motilität ist der Transport der Nahrung in aboraler Richtung (Propulsion), um letztendlich nicht absorbiertes Material auszuscheiden. Hierfür ist die Peristaltik von großer Bedeutung. – Schließlich muss die Nahrung zeitweise an bestimmten Stellen gespeichert werden (z. B. im Magen), bis sie aufbereitet und für den Weitertransport geeignet ist. Zu diesem Zweck müssen Sphinkter („Ventile“) den Weitertransport verhindern und das davor liegende Organ sollte relaxieren, um den Inhalt ohne allzu großen Druckanstieg speichern zu können (Akkommodation, z. B. im proximalen Magen). Die Ventilwirkung der Sphinkter beruht teilweise darauf, dass ihre Funktion mit den proximalen (davor liegenden) und distalen (dahinter liegenden) Abschnitten des MagenDarm-Kanals koordiniert ist. In der Regel führt ein proximaler Stimulus zur Öffnung des Sphinkters, ein distaler Stimulus zur Kontraktion. Der digestiven Phase schließt sich die interdigestive Phase an, deren Aufgabe darin besteht, unverdauliches Material, zu große Partikel (> 2 mm), sowie Sekrete des

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14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung nicht erregbar kontinuierliche Entladung 0

„spike“-Salven

–10

Membranpotenzial (mV)

414

– 20

4

Die zellulären Mechanismen der Motilität

– 30

3

– 40

Schwellenpotenzial

2

– 50

nicht erregbar, Atonie

1

– 60

langsame Wellen

– 70

5 0

6

12

18

24

30

Der Wechsel zwischen digestiver und interdigestiver Phase sowie die koordinierten Vorgänge während der beiden Phasen werden durch neurale und hormonelle Mechanismen eng reguliert. Hierbei spielen der Nervus vagus und der Energiegehalt der Nahrung eine wichtige Rolle.

36

42

48

54

Zeit (s)

Abb.14.4 Membranpotenzial der Muskulatur des Magen-Darm-Traktes. (1) Solange das wellenförmig schwankende Potenzial (ca. 10 min–1) unterhalb des Schwellenpotenzials von ca. – 40 mV bleibt, fehlen Aktionspotenziale (spikes). (2) Bei einer (z. B. durch Dehnung oder Acetylcholin) hervorgerufenen Depolarisation werden Spike-Salven jedesmal dann ausgelöst, wenn der Wellenberg des Membranpotenzials das Schwellenpotenzial überschreitet. Diese Salven sind von rhythmischen Kontraktionen gefolgt. (3) Liegt auch das Wellental über dem Schwellenpotenzial, werden ununterbrochen Spikes entladen, so dass es zur tonischen Dauerkontraktion kommt, während (4) bei noch stärkerer Depolarisation keine Aktionspotenziale mehr auslösbar sind. (5) Bei Hyperpolarisation flachen die langsamen Wellen ab, und der Muskel erschlafft völlig: Atonie (nach A. C. Guyton. Textbook of Medical physiology, 7th ed., Philadelphia: Saunders; 1986).

MDT (z. B. verschluckten Speichel) zu transportieren („Ausputzerfunktion“). Dies geschieht auch hier durch den Bewegungstyp der Peristaltik. Offenbar trägt die interdigestive Motorik auch dazu bei, die Bakterienvermehrung im Dünndarm unter Kontrolle zu halten, da sich bei Patienten mit gestörter interdigestiver Motorik dort ein überschießendes Bakterienwachstum entwickelt. Während der interdigestiven Phase beobachtet man rhythmische Kontraktionen, die meist im Magen, im Duodenum oder im proximalen Jejunum ihren Ursprung haben und anschließend nach aboral bis zum Beginn des Kolons wandern. Man nennt diese „wandernden“ Kontraktionen Migrating Motor Complex (= MMC). Diese Komplexe tauchen in Intervallen von 30 – 120 min auf und lassen vier Abschnitte erkennen. – Abschnitt 1 bezeichnet die Ruhephase vor der Kontraktion und macht ca. 50 – 60 % der Gesamtzeit eines MMC aus. – In Abschnitt 2 (10 – 20% der Zeit) beginnen langsam die Kontraktionen, – die dann in Abschnitt 3 (10 – 20 % der Zeit) maximal sind. – In Abschnitt 4 kehrt die Aktivität in die Ruhephase zurück. Der Übergang von Abschnitt 2 auf 3 scheint durch das Hormon Motilin aus den M-Zellen des Duodenums stimuliert zu werden. Möglicherweise ist Motilin auch der Auslöser der MMC.

Für die Motilität ist überwiegend glatte Muskulatur (S. 122) zuständig, wobei Depolarisation des Membranpotenzials zur Kontraktion der Muskelzellen führt (myoelektrische Aktivität). Die Muskulatur ist in der Lage ohne äußere Einflüsse adäquate Bewegungsmuster durchzuführen. Diese werden durch das enterische Nervensystem koordiniert. Das vegetative Nervensystem hat modulierende Wirkung und kann sowohl die Peristaltik als auch die Sphinkter beeinflussen. Die Muskulatur muss also in der Lage sein, in sinnvoller Abfolge tonische (z. B. Sphinkter) und rhythmische Kontraktionen (Peristaltik) durchzuführen. Diese intrinsische Motilität beruht auf entsprechenden Veränderungen des Membranpotenzials der glatten Muskelzellen. Wie wird nun sichergestellt, dass es zu sinnvollen Bewegungsabläufen kommt? Hierfür gibt es, ähnlich wie im Herzen, Schrittmacherregionen, die spontane Membranpotenzialschwankungen aufweisen, welche sich durch Gap Junctions über die glatte Muskulatur ausbreiten (s. Kap. 3). Wegen des exponentiellen Abfalls der Potenzialamplitude ist die Ausbreitungsdistanz begrenzt. In diesen Schrittmacherregionen sind Netzwerke der interstitiellen CajalZellen für die Potenzialänderungen verantwortlich. CajalZellen zeigen ständig rhythmische Schwankungen ihres Membranpotenzials und geben diese über Gap Junctions passiv an glatte Muskelzellen weiter, ohne dass es zunächst zur Muskelkontraktion kommt. Dies liegt daran, dass die Depolarisationen nicht stark genug sind (das Membranpotenzial bleibt negativer als – 40 mV). Diese „stillen“ elektrischen Wellen (die auch mit extrazellulären Elektroden registriert werden können) haben eine Frequenz von ca. 3 – 10 min–1 und werden als slow waves bezeichnet (Abb. 14.4). Die spontanen Depolarisationen in Cajal-Zellen während der slow waves werden, zumindest teilweise, durch Ca2+-Einstrom getragen (spannungsgesteuerte Ca2+-Kanäle, wahrscheinlich vom T- und vom L-Typ; S. 95). Möglicherweise schließt sich die Aktivierung eines Cl–-Ausstroms und eines nicht-selektiven Kationeneinstroms an. Die anschließende Repolarisation kommt durch das Öffnen von spannungsabhängigen und Ca2+-aktivierten K+-Kanälen zustande und wird durch Schließen der depolarisierenden Kanäle unterstützt. Überschreiten die Depolarisationen einen Schwellenwert, kommt es durch Aktivierung von LTyp-Ca2+-Kanälen zur Ausbildung von Ca2+-Aktionspotenzialen. Jetzt werden Ca2+-Aktionspotenziale auch in der glatten Muskulatur ausgelöst, und es folgt ein Anstieg der zytosolischen Ca2+Konzentration, wodurch schließlich die Kontraktion ausgelöst wird. Für die Repolarisation der Muskelzellen sind Ca2+-aktivierte K+-Kanäle zuständig. Wird das Schwellenpotenzial nur vorübergehend überschritten und nur eine begrenzte Anzahl an Aktionspotenzialen ausgelöst, spricht man von einer „SpikeSalve“ (Abb. 14.4). Das motorische Korrelat ist eine kurze phasische Kontraktion der Muskulatur. Die Abfolge mehrerer solcher phasischer Kontraktionen spielt z. B. bei Segmentationen oder

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14.3 Allgemeingültiges zum Magen-Darm-Trakt der Peristaltik eine Rolle. Eine lang anhaltende Überschreitung des Schwellenpotenzials führt hingegen zu einer kontinuierlichen Auslösung von Aktionspotenzialen und bewirkt so eine tonische Kontraktion. Diese spielt in Sphinktern eine wichtige Rolle. Tonische Kontraktionen können unter pathophysiologischen Bedingungen aber auch an anderen Stellen als Spasmus auftreten. Wird das Membranpotenzial dagegen zu stark depolarisiert, so sind keine Aktionspotenziale mehr auslösbar. Eine Hyperpolarisation über das physiologische Niveau hinaus führt dazu, dass die Schwelle kaum mehr erreicht wird und somit keine Muskelkontraktion stattfindet. Diesen Zustand bezeichnet man als Atonie.

Die Regulation der Motilität Die Regulation der Motilität dient – der Anpassung an lokale Bedingungen (z. B. vorhandene Nahrungsmenge), – der Koordination der unterschiedlichen Abschnitte untereinander, – der Koordination mit Verdauung und Resorption sowie – der Anpassung an den Wachheitsgrad. Die Eigenmotilität wird durch das enterische Nervensystem (und damit indirekt auch durch höhere Abschnitte des Nervensystems, v. a. Parasympathikus) sowie durch hormonelle Stimuli reguliert (durch Beeinflussung der zytosolischen Ca2+-Konzentration). – Das enterische Nervensystem koordiniert über lokale Reflexbögen (intestinale Reflexe) die Motilität und unterstützt damit z. B. die digestive Peristaltik. – Die Zusammensetzung des Nahrungsbreis beeinflusst über Mechano-, Osmo- und Chemorezeptoren die Motilität der betroffenen Abschnitte. – Der Parasympathikus kann, vermittelt durch das enterische Nervensystem, modulierend auf die Motilität einwirken und z. B. die Peristaltik fördern. – Hormone können direkt an ihre Rezeptoren auf glatten Muskelzellen binden und deren Kontraktilität beeinflussen (z. B. GIP, Gastrin, Enteroglukagon, Sekretin). Die Bedeutung des gastrointestinalen Nervensystems für eine normale Darmmotorik wird besonders bei der Betrachtung der Hirschsprung-Krankheit deutlich, einem angeborenen Fehlen beider enterischer Nervenplexus (s. u.) in einem meist nur kurzen Abschnitt des rektosigmoidalen Kolons. In unbehandelten Fällen kann der Säugling keinen Stuhl entleeren und die Folge ist ein massiv dilatiertes Kolon (Megacolon congenitum; Abb. 14.5). Eine Heraustrennung des erkrankten Darmabschnitts kann die Störung beheben. Eine Fehlfunktion der Cajal-Zellen spielt möglicherweise sowohl bei der Hirschsprung-Krankheit als auch bei schweren Fällen chronischer Verstopfung, bei Colitis ulcerosa sowie bei der hypertrophischen Pylorusstenose eine Rolle. Bei dieser verhindert die Verdickung der Wand des Magenpförtners (Abb. 14.11) den Übertritt von Mageninhalt in das Duodenum. Ist ein gewisser Grad der Überfüllung des Magens überschritten, kommt es zum „Erbrechen im Strahl“. Eine

Abb.14.5 Motilitätsstörung führt zum Darmverschluss. Das bei einem Säugling von der Seite aufgenommene Röntgenbild zeigt, dass der (mit einem Röntgenkontrastbrei gefüllte) Dickdarm eine Engstelle aufweist (roter Kreis), während er proximal davon stark ausgeweitet ist. Die (durch Biopsie gesicherte) Diagnose lautet Megacolon congenitum (Hirschsprung-Krankheit). Dieser angeborenen Störung liegt ein Fehlen der Ganglienzellen in Rektum und rektumnahem Dickdarm zugrunde (roter Kreis). Hier wird der Darminhalt nicht weitertransportiert, so dass er sich oral davon staut. Zur Therapie muss der aganglionäre Darmabschnitt entfernt werden (aus J. A. Young, D. I. Cook, A. D. Conigrave, C. R. Murphy: Gastrointestinal Physiology, Rainforest Publication 1991).

teilweise Durchtrennung der Pylorusmuskulatur behebt das Problem.

Regulationsmechanismen im Magen-Darm-Trakt Die Neurone des enterischen Nervensystems sind in der Wand von Ösophagus, Magen und Darm lokalisiert und in zwei größeren Plexus angeordnet: dem Plexus myentericus zwischen Längs- und Ringmuskelschlauch und dem Plexus submucosus zwischen Ringmuskulatur und der Lamina muscularis mucosae. Beide Plexus versorgen die glatte Muskulatur, die Blutgefäße sowie Epithelzellen des Magen-Darm-Rohres, werden vom parasympathischen und sympathischen Nervensystem von außen beeinflusst und schicken Impulse über viszerale Afferenzen zu den prävertebralen Ganglien und zum ZNS. Die präganglionären parasympathischen Fasern für den Großteil des Verdauungstrakts kommen mit dem N. vagus aus der Medulla oblongata, der Rest über die Nn. pelvici aus dem Sakralmark. Der Parasympathikus zieht zu erregenden (cholinergen) und zu hemmenden (peptidergen) Ganglienzellen der Plexus.

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14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung Tabelle 14.1 Eigenschaften und Wirkungen wichtiger gastrointestinaler endo- und parakriner Mediatoren (PLC = Phospholipase C, AC = Adenylylzyklase) Agonist

Syntheseort

Aminosäuren

Aktive Sequenz

Freisetzungsreize

Wirkung

Zellsignal

Gastrin

G-Zellen in Pylorusdrüsen und Duodenalmukosa

34, 17, 5

C-terminales Tetrapeptid (G4) (-Trp-MetAsp-Phe[NH2])

Peptide im Magen ↑ pH im Magensaft ↑ Vagusaktivität Catecholamine ↓ Somatostatin ↑ GRP (s. u.)

↑ HCl-Sekretion ↑ Pepsinogensekretion ↑ Magenmotilität trophisch für Magenepithel; CCK-ähnlich

↑ PLC

CCK (Cholecystokinin)

I-Zellen in Duodenum und Jejunum; Nervenendigungen

58, 33, (8 = Neurotransmitter)

C-terminales Octapeptid (CCK 8) (-Asp-Tyr-SO3Met-Gly-G4)

Fettsäuren, Aminosäuren und Peptide im Duodenum ↓ Trypsin im Duodenum

↑ PLC ↑ Pankreasenzymsekretion (Verstärkung der AcetylcholinWirkung); potenziert Sekretinwirkung; gastrinähnlich; ↑ Gallenblasenkontraktion ↓ HCl-Sekretion und Magenentleerung; trophisch für Pankreas; stimuliert Insulin-, Glukagon-, Somatostatin und PP-Freisetzung in Langerhans-Inseln; „Sattheitshormon“

Sekretin

S-Zellen in Duodenum und Jejunum

27

ganzes Peptid

↓ duodenaler pH-Wert; Gallensalze und Fettsäuren im Duodenum

↑ HCO3–-Sekretion im ↑ AC Pankreas; ↑ Gallengangssekretion; ↓ Gallenblase: NaCl-Transport; ↓ Magenentleerung und HCl-Sekretion; antitrophisch für Magenepithel

K-Zellen im GIP (glucoseJejunum dependent insulin-releasing peptide)

42

ganzes Peptid

Fettsäuren, Aminosäuren und Glucose im Duodenum; ↓ duodenaler pH-Wert

↑ Insulinsekretion ↓ HCl-Sekretion ↓ Magenmotilität

Enteroglucagon

L-Zellen in Ileum und Kolon

39

ganzes Peptid

Fettsäuren und Glucose im Ileum

↑ AC ↓ Magenmotilität ↓ Darmmotilität; tro↑ PLC phisch für Kryptenzellen

Somatostatin (SIH)

28, 14 D-Zellen in Langerhans-Inseln, im Magen und Dünndarm; Nervenendigungen

C-terminales Peptid mit 14 bzw. 28 Aminosäuren (SS 14, 28)

stark saurer Mageninhalt, Fettsäuren, Glucose, Peptide und Gallensäuren im Dünndarm

↓ AC ↓ Magensekretion ↓ Gastrinfreisetzung ↓ CCK-Wirkungen antitrophisch für Magenepithel ↓ Vagusaktivität ↓ interdigestive Motilität ↓ VIP- und Motilinfreisetzung ↓ Dünndarmabsorption

Motilin

M-Zellen im Duodenum

ganzes Peptid

Säure, Fettsäuren und Gallensäuren im Duodenum ↓ Somatostatin

↑ interdigestive Motilität ? ↑ Magenentleerung

22

↑ AC

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14.3 Allgemeingültiges zum Magen-Darm-Trakt Tabelle 14.1 Eigenschaften und Wirkungen wichtiger gastrointestinaler endo- und parakriner Mediatoren (PLC = Phospholipase C, AC = Adenylylzyklase, GC = Guanylylcyclase) (Fortsetzung) Agonist

Syntheseort

Neurotensin

Aktive Sequenz

Freisetzungsreize

Wirkung

N-Zellen im 13 Ileum, enterische Nervenendigungen

ganzes Peptid

Fettsäuren im Dünndarm

↓ Magensaftsekretion; ↑ PLC relaxiert Ringmuskulatur ↓ AC

PP (pancreatic polypeptide)

F-Zellen in den 36 Langerhans-Inseln

?

Peptide im Dünndarm; Vagusaktivität

↓ Pankreassekretion (Azini und Gänge)

?

Substanz P

Nervenendigungen

11

-Phe-Phe-GlyLeu-Met[NH2]

Neurotransmitter

sekretomotorischer Agonist; Kontraktion glatter Muskulatur

↑ PLC

GRP (Bombesin)

N. vagus

27

C-terminales Nonapeptid

Neurotransmitter

↑ Gastrinfreisetzung ↑ CCK-Freisetzung ↑ Azinussekretion im Pankreas

↑ PLC

Histamin (H2Rezeptoren)

ECL-Zellen in Magendrüsen; Mastzellen

Amin

dekarboxyliertes His

↑ Vagusaktivität

↑ HCl-Sekretion ↑ Pepsinogensekretion

↑ AC

Serotonin (5-OHTryptamin)

APUD-Zellen im ganzen Magen-DarmTrakt

Amin

dekarboxyliertes Trp

?

↑ cholinerge sekretomotorische Nervenaktivität

? ↑ AC

↓ HCl-Sekretion ↑ Schleim- und HCO3–-Sekretion

↓ AC ↑ AC

↑ GC

Prostaglandine

Aminosäuren

Arachidonsäuremetabolit

Guanylin

Ileum, Kolon

↑ Wasser- und Elektrolytsekretion

Peptid YY

Ileum und Kolon

↓ Sekretion im Pankreas, schwächt Vaguswirkung auf HCl-Sekretion ab

Die sympathischen Fasern entspringen aus dem thorakolumbalen Rückenmark. Viele von ihnen projizieren auf die Blutgefäße des Darms, andere hemmen erregende Neurone der Darmganglien. Die viszeralen Afferenzen der Darmwand verlaufen im N. vagus, in den Nn. splanchnici und in den Nn. pelvici zur Medulla oblongata, zu sympathischen Ganglien und zum Rückenmark. Über diese äußeren Nerven laufen zahlreiche Darmreflexe, einschließlich Akkommodation und Paralyse. Darüber hinaus enthält sowohl das Epithel der Mukosa als auch das der darin eingebauten Drüsen spezielle endokrine Zellen. Sie enthalten u. a. Gastrin, Cholecystokinin (CCK), Sekretin, GIP (glucose-dependent insulinreleasing peptide) und Somatostatin, die nach ihrer Ausschüttung ins Blut Motilität, Sekretion und Verdauung im Magen-Darm-Trakt steuern und koordinieren.

Zellsignal

Die Funktionen des Magen-Darm-Traktes müssen koordiniert werden Da die verschiedenen Komponenten des MDT auf ein Ziel hinarbeiten, ist es unerlässlich, dass ihre Funktionen eng koordiniert werden. Dies wird durch zwei Regulationssysteme, Nerven und Hormone, ermöglicht. Beide werden durch die aufgenommene Nahrung aktiviert (z. B. über Chemo- oder Osmorezeptoren) und dirigieren dann eine Serie von motorischen und sekretorischen Aktivitäten (z. B. Kontraktion des Magens, Sekretion von Magensaft), die dafür sorgen, dass die Bestandteile der Nahrung zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Form an der richtigen Stelle sind, um absorbiert zu werden (so werden die Pommes zu Glucose zerlegt, die dann im Dünndarm absorbiert wird). Anschließend müssen diese Aktivitäten wieder beendet werden (interdigestive Phase). Diese integrierte Antwort auf Nahrungszufuhr ist wie

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14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung Tabelle 14.2 Eigenschaften und Wirkungen wichtiger Neurotransmitter im Gastrointestinaltrakt (PLC = Phospholipase C, AC = Adenylylcyclase, GC = Guanylylcyclase, AR = Adrenozeptor) Name

Syntheseort

Aminosäuren

Aktive Sequenz

Acetylcholin

parasympathische Neurone





Noradrenalin

postganglionäre sympathische Neurone





Serotonin (5-OH-Tryptamin)

enterische Nervenfasern



Dopamin

Freisetzungsreize

Wirkung

Zellsignal

↑ PLC

↓ Darmmotilität ↑ Sphinktertonus

βAR: ↑ AC α1AR: ↑ PLC



Stimulation der Chemorezeptoren-Triggerzone; Hemmung der distalen Kolonmotilität

(5-HT3)





↑ AC Stimulation der Chemorezeptoren-Triggerzone; Hemmung des unteren Ösophagussphinkters der Korpus- und Darmmotilität

Acetylcholin

NO

NANC-Neurone





Acetylcholin

Hemmung der Darmmotorik

ATP

NANC-Neurone





Acetylcholin

Hemmung der Darmmotorik

VIP (vasoactive intestinal peptide)

NANC-Neurone

28

ganzes Peptid

Acetylcholin

Sekretinähnlich im Pankreas, relaxiert glatte Muskulatur; ↑ intestinale H2O- und Elektrolytsekretion

Galanin

enterische Nervenfasern

NPY (Neuropeptid Y)

Nervenendigungen 36

↑ GC

↑ AC

↑ Darmmotilität

25

ganzes Peptid 12-36-NH2

Neurotransmitter

potenziert Noradrenalin

↑ PLC ↓ AC

hemmt Calmodulin ↑ Gastrinfreisetzung ↑ CCK-Freisetzung ↑ Azinussekretion im Pankreas

↑ PLC

Acetylcholin

↓ Wasser- und Elektrolytsekretion im Darm ↑Sphinktertonus ↓Darmmotilität

↓ AC

NANC-Neurone

Acetylcholin

↓ Wasser- und Elektrolytsekretion im Darm ↑ Sphinktertonus ↓ Darmmotilität

↓ AC

CGRP

enterische Nervenfasern

Acetylcholin

↑ Somatostatinfreisetzung; afferenter Transmitter

Substanz P

enterische Nervenfasern

Neurotransmitter

sekretomotorischer Agonist; Kontraktion glatter Muskulatur; afferenter Transmitter

GRP (Bombesin)

N. vagus

Enkephaline

NANC-Neurone

Dynorphin

27

11

C-terminales NeurotransNonapeptid mitter

Phe-PheGly-LeuMet[NH2]

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↑PLC

14.3 Allgemeingültiges zum Magen-Darm-Trakt ca. 20 – 30 mm

4

3

2

ca. 2 mm

5

erregendes Motoneuron gehemmt: aufsteigende Hemmung

erregendes Motoneuron erregt: absteigende Erregung

erregendes Interneuron hemmendes Neuron

erregendes Neuron

hemmendes Interneuron

hemmendes Motoneuron erregt: absteigende Hemmung

lokale Reflexe

hemmendes Motoneuron gehemmt: aufsteigende Erregung

Kontraktion Erschlaffung

Längsmuskulatur Plexus myentericus Ringmuskulatur Erschlaffung

1 Akkommodation

Plexus submucosus Lamina muscularis mucosae Kontraktion

Dehnung

Epithel anal

oral Bolus

Transport

Lumen peristaltischer Reflex

Abb.14.6 Das enterische Nervensystem: Lokale Reflexe. Erregung eines afferenten Neurons (hellgrün) kann durch einen chemischen oder, wie in Bild 1 gezeigt, durch einen mechanischen Reiz (Dehnung durch Nahrungsbolus) zustande kommen. Beim peristaltischen Reflex z. B. erregt das Neuron, das die Dehnung meldet (hellgrün), aufsteigend (4) ein hemmendes Interneuron (violett), das wiederum (a) das erregende Motoneuron (dunkelgrün) der Längsmuskulatur hemmt (Erschlaffung) und (b) das hemmende Motoneuron

die Arbeit eines Orchesters, die durch den Dirigenten koordiniert werden muss, obwohl jedes Mitglied sein Instrument sehr wohl beherrscht. Im Fall des MDT wird die Koordination durch neurale Mechanismen (enterisches, vegetatives und zentrales Nervensystem mit den jeweiligen Transmittern) sowie durch endokrine (z. B. Gastrin, das über die Blutbahn an die Parietalzellen des Magens gelangt) und parakrine (z. B. Histamin, das durch Diffusion die Parietalzellen erreicht) Mechanismen bewerkstelligt. Tab. 14.1 gibt einen Überblick über parakrin und endokrin wirkende Hormone. Die Neurotransmitter und -modulatoren sind getrennt in Tab. 14.2 dargestellt.

(rot) der Ringmuskulatur enthemmt (Kontraktion). Gleichzeitig wird absteigend (5) ein erregendes Interneuron (blau) aktiviert, das über erregende bzw. hemmende Motoneurone im aboralen Darmteil die Längsmuskulatur kontrahieren und die Ringmuskulatur erschlaffen lässt (Nach L. Johnson, J. Christensen, M. Jackson, E. Jacobson, J. Walsh: Physiology of the Gastrointestinal Tract. 3rd ed. New York: Raven Press; 1994).

Das enterische Nervensystem Das enterische Nervensystem ähnelt den primitivsten bekannten Nervensystemen, wie z. B. dem neuronalen Netz einer Qualle, das ebenfalls für Bewegung und Materialaustausch mit der Umgebung zuständig ist. Damit steht das enterische Nervensystem in der Hierarchie der humanen Nervensysteme auf der niedrigsten Stufe und kann durch hierarchisch höhere Anteile, wie vor allem dem vegetativen Nervensystem, moduliert werden. Es ist jedoch in der Lage, völlig eigenständig seine Aufgaben zu erfüllen. So kann es angemessen auf lokale Stimuli reagieren, sowie die Tätigkeit des MDT regulieren und beherbergt komplette Reflexbögen (intestinale Reflexe, z. B. peristaltischer Reflex; Abb. 14.6). Man spricht deshalb auch vom „Minigehirn“ des MDT. Das enterische Nervensystem ist eine Ansammlung von ca. 100 Millio-

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14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung Nucleus dorsalis n. vagi Nucleus n. hypoglossi

Nucleus tractus solitarii Nucleus ambiguus N. vagus Ganglion nodosum

Medulla oblongata

viszeralafferente Fasern parasympathische Fasern N. laryngeus superior

N. hypoglossus

Abb.14.7 Vagale Reflexbögen. Die Zellkörper der viszeralen vagalen afferenten Fasern, die zur Medulla oblongata ziehen, liegen extrakranial im Ganglion inferius (nodosum). Die erste Umschaltung erfolgt im Nucleus tractus solitarii, die zweite im Nucleus dorsalis des N. vagus (parasympathische Vagusfasern) oder im Nucleus ambiguus (somatische Fasern des N. laryngeus superior).

nen Neuronen (d. h. mehr als im Rückenmark) die, organisiert in Plexus, den MDT inklusive Leber und Gallenblase umgeben. Die Plexus sind Systeme aus eng vernetzten Ganglien, und es werden grob zwei Plexus unterschieden. Zwischen der Ring- und der Längsmuskelschicht der Muscularis externa des gesamten MDT befindet sich der Plexus myentericus (Auerbach) während der Plexus submucosus (Meissner), wie sein Name schon sagt, in der Submukosa des Dünn- und Dickdarms liegt. Bedingt durch ihre Lokalisation ist die Hauptaufgabe des Plexus myentericus die Kontrolle der Motorik wohingegen der Plexus submucosus den epithelialen Transport (mit)reguliert. Beide Plexus werden von präganglionären Fasern des Parasympathikus (Nervus vagus und Sakralnerven) innerviert, so dass sie als großes parasympathisches Ganglion betrachtet werden können. Diese Fasern des enterischen Nervensystems sind also sozusagen postganglionäre parasympathische Fasern. Außerdem werden beide Plexus von postganglionären sympathischen Fasern innerviert (überwiegend hemmend). Allerdings kann der Sympathikus auch direkt Effektorzellen innervieren. Da Parasympathikus und Sympathikus unter der Kontrolle des Rückenmarks und letztendlich des Gehirns stehen, kann die Tätigkeit des MDT von verschiedenen Anteilen des Nervensystems beeinflusst werden. Im N. vagus verlaufen auch afferente Fasern aus dem MDT zum Zentralnervensystem. Dies ermöglicht die Ausbildung größerer Reflexbögen (MDT → Rückenmark → MDT), die man vagovagale Reflexe nennt,

da beide Schenkel im Nervus vagus verlaufen (Abb. 14.7). Ein Beispiel dafür ist der Akkommodationsreflex des Magens bei Nahrungsaufnahme. Es gibt jedoch auch Reflexbögen, die weitere Nerven miteinbeziehen. Hierzu gehört die rezeptive Relaxation (Abb. 14.10, S. 425), die während der Passage der Nahrung durch die Speiseröhre (S. 424) dafür sorgt, dass der proximale Magen erschlafft. Weitere komplexe Reflexe sind Kau-, Schluck-, Brech- und Defäkationsreflex, an denen auch das somatische Nervensystem beteiligt ist.

Die Werkzeuge des enterischen Nervensystems Die Neuronen lassen sich funktionell in afferente (oder sensorische) Neurone, Interneurone und efferente postganglionär-parasympathische (oder sekretomotorische) Neurone einteilen (Abb. 14.8). Diese können cholinerge oder sog. NANC-Neurone (s. u.) sein. Sensorische Neurone „messen“ Veränderungen im Magen-Darm-Kanal, wie z. B. Dehnung oder pH-Änderungen und aktivieren dann Interneurone, die die Aktivität der sekretomotorischen Neurone stimulieren oder hemmen. Schließlich kommt es dadurch zu Veränderungen der Muskelzellaktivität, des epithelialen Transportes, der Durchblutung und der Aktivität endokriner Zellen. Es scheint bestimmte vorprogrammierte Antwortmuster zu geben, die dazu führen, dass auf unterschiedliche Stimuli (z. B. Dehnung des Dünndarms und Freisetzung von Bakterientoxinen im Dünndarm) identische Antworten erfolgen (Flüssigkeitssekretion). Die Komplexität des enterischen Nervensystems wird durch die Vielzahl der dort vorhandenen Neurotransmitter und Neuromodulatoren erhöht (Tab. 14.2). Das Feld der enteralen Neurotransmitter expandiert zur Zeit rasch und ist dadurch mit einer gewissen Unübersichtlichkeit behaftet, die das Erkennen wichtiger Zusammenhänge erschwert. Ein wichtiger Transmitter ist Acetylcholin, das eine Vielzahl von sekretorischen und motorischen Funktionen reguliert. Acetylcholin ist der Transmitter präganglionärer parasympathischer und sympathischer Fasern sowie erregender postganglionär-parasympathischer Fasern (= erregende sekretomotorische Neurone des enterischen Nervensystems). Weitere Transmitter sekretomotorischer Neurone sind z. B. VIP, ATP, Substanz P, GRP, CGRP und Opioide. Diese können erregend oder hemmend wirken. Sie werden NANC-Neurone (nicht adrenerg, nicht cholinerg) genannt. Der Transmitter Noradrenalin findet sich in postganglionären Fasern des Sympathikus.

Gehirn und Immunsystem beeinflussen die Funktion des Magen-Darm-Traktes Wohlbekannt ist die Tatsache, dass das Gehirn die Tätigkeit des MDT beeinflusst. Physiologischerweise kommt es z. B. in Fluchtsituationen zu verminderter Darmdurchblutung und beim Anblick oder Geruch von Speisen zur Sekretion von Magensaft. Allerdings sind auch pathophysiologische Wechselwirkungen bekannt, wie z. B. Durchfall in Angstsituationen oder Verstopfung bei chronischer psychischer Belastung. Diese Verbindung zwischen Gehirn und MDT (Gehirn-Darm-Achse) wird – zumindest zum Teil – durch den Parasympathikus und Sympathikus hergestellt. Allerdings sind die zugrunde liegenden Mechanismen weitgehend unbekannt. Wie schon beim va-

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14.3 Allgemeingültiges zum Magen-Darm-Trakt präganglionär (cholinerg)

präganglionär (cholinerg)

präganglionär (cholinerg)

erregende Ganglienzelle

hemmende Ganglienzelle (NCNAerg)

postganglionär (cholinerg)

postganglionär (adrenerg)

parasympathisch erregend

parasympathisch hemmend sympathisch hemmend

Abb.14.8 Einfluss des vegetativen Nervensystems auf das enterische Nervensystem. Die präganglionären Fasern des Parasympathikus werden in den Plexus entweder auf erregende cholinerge oder hemmende nichtcholinerge-

govagalen Reflex erwähnt, kann der MDT auch das Zentralnervensystem beeinflussen. Ein Beispiel dafür ist Cholezystokinin (CCK), das über seine Wirkung im Gehirn zur Entwicklung des Sattheitsgefühls nach Nahrungsaufnahme beiträgt (S. 486). Somit ist die Gehirn-Darm-Achse bidirektional. Die Kommunikation zwischen Gehirn und MDT findet auch unter Einbindung des Immunsystems, hauptsächlich der Mastzellen und Makrophagen statt. Da die Funktion dieser Zellen durch Neurotransmitter beeinflusst wird, können sie Signale des Zentralnervensystems an den MDT vermitteln. Wird im Magen-Darm-Trakt vermehrt Interleukin-1 freigesetzt, wie dies z. B. bei Infektionen der Fall ist, so werden sensorische Fasern des N. vagus stimuliert. Dadurch wird zentralnervös eine Aktivierung efferenter Fasern des N. vagus, die das Entzündungsgebiet innervieren, ausgelöst, und es kommt zu vermehrter Freisetzung von Acetylcholin. Dies bindet an nikotinerge N7-Rezeptoren auf Immunzellen und hemmt dadurch die Freistzung weiterer proinflammatorischer Zytokine, wie TNFα. Außerdem steigt auch die ACTHFreisetzung. Durch diesen Regelkreis wird das Entzündungsgeschehen limitiert. Außerdem erklärt dieser Regelkreis, warum die Stimulation von Nervenfasern (z. B. bei Akupunktur) auch an entfernteren Orten entzündungshemmend wirken kann. Opiate binden an µ-Rezeptoren, die sich auf enterischen Neuronen befinden und hemmen die cAMPBildung. Dadurch drosseln sie die Flüssigkeitssekretion und die propulsive Motorik im Darm. Zusätzlich wird die Flüssigkeitsabsorption gefördert. Opiate kön-

nichtadrenerge (NCNAerge) Fasern umgeschaltet. Die postganglionären, adrenergen Neurone des Sympathikus wirken meist hemmend auf erregend-motorische und -sekretorische Neurone der Plexus.

nen aus diesem Grund für die Therapie starker Durchfälle genutzt werden. Als Nebenwirkung von Opiatzufuhr muss mit Verstopfung gerechnet werden und nach dem Absetzen kann es zu überschießender Darmmotorik und Sekretion kommen (Darmkrämpfe).

Abwehrfunktion des Magen-Darm-Trakts Mikroorganismen gelangen mit der Nahrung, aus der Mundhöhle und aus dem Respirationstrakt in den MDT und müssen dort unschädlich gemacht werden. Mechanismen der Erregerabwehr im Darm sind: – Immobilisation im oberflächlichen Schleim; – Abtötung durch die Magensalzsäure; – enzymatische Verdauung; – Bindung an sekretorisches Immunglobulin A (IgA) und anschließende Vernichtung durch Makrophagen oder Killer-T-Lymphozyten. Bei der Abwehrfunktion spielen zunächst nicht immunologische Mechanismen eine Rolle. Verschluckte Erreger werden durch den sauren Magensaft angegriffen und abgetötet. Sollte es den Eindringlingen dennoch gelingen, in den Dünndarm vorzudringen, so verhindern der intestinale Schleimfilm und die Epithelzellbarriere ein Eindringen in den Organismus. Die Epithelzellbarriere existiert entlang des ganzen MDT. Darüber hinaus führen die Bewegungen von Magen und Darm (Peristaltik) zum Abtransport der Erreger und letztendlich zu ihrer Ausscheidung mit dem Stuhl. Schließlich sorgen symbiotisch im Dickdarm lebende Bakterien (physiologische Keimflora) dafür, dass sich Fremderreger dort nicht ansiedeln.

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14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung Der MDT hat aber auch immunologische Funktion. So sezernieren die Mundspeicheldrüsen Eiweiße, die eindringende Krankheitserreger unschädlich machen sollen. Hierzu gehören Antikörper (IgA) und Lysozym, das Bakterienwände angreift (Kap. 9). Im Darm findet sich außerdem ein ausgedehntes, weitgehend eigenständiges Immunsystem, das sog. „gut-associated lymphoid tissue“ (GALT). Dieses besteht aus organisierten Aggregaten von Lymphgewebe (z. B. Peyer-Plaques) und diffus verteilten Immunzellen (Lymphozyten und Mastzellen unter den Epithelzellen und in der Lamina propria). Diese Immunzellen schützen gegen potenzielle Krankheitserreger (Baktieren, Viren, Protozoen) und tragen zur Entwicklung der Immuntoleranz gegen antigene Nahrungsbestandteile und die physiologische Keimflora bei. Dass dieses Abwehrsystem nicht immer funktioniert und es zu Reizungen oder Infektionen kommen kann, hat sicher jeder schon einmal am eigenen Leib erfahren. Die Zöliakie ist eine Darmerkrankung, die eng mit dem gastrointestinalen Immunsystem assoziiert ist. Sie ist durch starke Entzündungsvorgänge der Darmschleimhaut charakterisiert, die zur Atrophie der Zotten und damit zu schweren Absorptionsstörungen führt. Der Auslöser dafür ist eine Immunreaktion gegen Gliadine, d. h. bestimmte Glutenproteine im Weizenmehl oder ähnliche Proteine im Roggen- oder Gerstenkorn. Die Überempfindlichkeit gegen Gliadine fußt wahrscheinlich auf einer Kreuzreaktion mit Antikörpern, die an sich gegen Viren gerichtet sind. Nur die konsequente Vermeidung von Glutenen in der Nahrung vermag hier Abhilfe zu schaffen.

14.4

Mundhöhle und Mundspeicheldrüsen Mundhöhle

Die Mundhöhle ist der einzige Teil des MDT mit einem Knochenskelett. In der Mundhöhle kann die Nahrung durch Kauen (der erste und willkürliche Verdauungsakt) mechanisch zerkleinert werden. Hierzu besitzt der Erwachsene 32 permanente Zähne (im Ober- wie Unterkiefer je 4 Schneide-, 2 Eck-, 4 Backen- und 6 Mahlzähne). Diese dienen dem Reißen, Schneiden und Mahlen, wobei Kräfte bis zu 900 N entwickelt werden. Die Kaubewegungen (1 – 2 pro Sekunde) lassen sich in sagittale, laterale und rotatorische unterscheiden. Für einen effizienten Kauvorgang ist es notwendig, dass die Nahrung in adäquate Position zwischen die Zähne gebracht wird. Diese Aufgabe erfüllen Zunge sowie Wangen- und Lippenmuskulatur. Um nicht selbst zwischen die Zähne zu geraten, müssen die Bewegungen genau mit den Kaubewegungen koordiniert werden. Funktioniert diese Koordination einmal nicht, kann es leicht zu Verletzungen kommen, wie jeder weiß, der sich schon einmal in die Wange oder auf die Zunge gebissen hat. Die Zunge ist außerdem für das Fühlen des Zustandes der Nahrung (genug gekaut?) und für das Einleiten des Schluckaktes (S. 425) wichtig. Der so entstehende Nahrungsbrei wird durch Vermischen mit Speichel aus den Mundspeicheldrüsen (s. unten) gleitfähig gemacht. Das Vermischen mit Speichel fördert auch

den Kontakt der Nahrung mit den Geschmacksknospen auf der Zunge, wodurch reflektorisch die kephalische Verdauungsphase ausgelöst wird. Die Stimulation von Geruchsrezeptoren unterstützt dies.

Mundspeicheldrüsen Speichel ist vor allem notwendig für die Rezeption von Geschmacksreizen, für das Saugen (vor allem des Säuglings), für die orale Hygiene und um feste Bissen gleitund damit schluckfähig zu machen. Die Verdauungsenzyme des Speichels dienen hauptsächlich dazu, Speisereste an den Zähnen zu entfernen. Der Speichel wird in zwei Stufen gebildet: Zuerst produzieren die Endstücke einen isotonen Primärspeichel, der dann bei der Passage durch die Ausführungsgänge der Drüse sekundär modifiziert wird. Na+ und Cl– werden dort absorbiert, und K+ und HCO3– werden sezerniert. Normalerweise werden dabei mehr Ionen absorbiert als sezerniert, so dass der Speichel hypoton wird.

Die physiologische Bedeutung der Mundspeicheldrüsen Die basale (unstimulierte) Sekretionsrate an Speichel beträgt ca. 0,5 l pro Tag. Während der Stimulationsphasen (z. B. bei Nahrungaufnahme) steigt der Speichelfluss auf das 10fache an, so dass pro Tag insgesamt ca. 1,5 l Speichel sezerniert werden. 90 % des Speichels stammt aus den Glandulae parotis, submandibularis und sublingualis. Die Glandula parotis ist eine seröse Drüse, d. h. ihr Sekret hat einen geringen Glykoproteingehalt, ist jedoch reich an α-Amylase. Die beiden anderen Drüsen sind seromukös, d. h. ihre Sekrete haben einen höheren Glykoproteingehalt (Muzin). Weitere kleine Drüsen produzieren muköses Sekret. Die Speichelsekretion verhindert ein Austrocknen der Mundschleimhaut und dient der oralen Hygiene, weil das Sekret eingedrungene Pathogene unschädlich machen kann und Nahrungsreste „wegspült“. Eine Schutzwirkung resultiert auch daraus, dass der Speichel Nahrungsbestandteile, die die Mundschleimhaut schädigen können (wie z. B. Tannine im Tee), neutralisiert. Speichel schützt auch die Integrität der Zähne, dient als Gleitmittel für die Nahrung, unterstützt den Schluckakt (S. 425) sowie die Funktion der Geschmacksknospen (S. 715). Der größte Anteil der sezernierten Proteine sind so genannte – „Prolin-reiche“ Proteine (ca. 30 % der Aminosäuren sind Prolin). Man unterscheidet dabei saure, basische und glykosilierte Formen. Sie wirken antimikrobiell, neutralisieren Tannine, dienen als Gleitmittel, binden Ca2+ und schützen den Zahnschmelz. – Die Muzin-Glykoproteine wirken antimikrobiell, dienen als Gleitmittel und können vor Proteasen schützen. – Eine weitere Gruppe sind die Speichelenzyme: – -Amylase spaltet Kohlenhydrate, wird jedoch im Magen sofort inaktiviert (S. 448). – Saure Lipase spaltet Triacylglyzerine, allerdings erst im Magen (saurer pH).

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14.4 Mundhöhle und Mundspeicheldrüsen

Azinus

Lumen

Gangepithel

Blut

Primärspeichel +

H

+

Na -H Austauscher

+ +

Na

+

+

Na -K ATPase

K

+

Gang

Na

+

Komponente +

Na + K – Cl – HCO3 Osmolalität

Speichelbildung unstimuliert

stimuliert

15 30 15 15 ~80

90 10 50 30 200 –250

Sekundärspeichel

ENaC –

HCO3

Na

+

Na Zusammensetzung (mM bzw. mOsm)

+

H

–

–

Cl -HCO3 Austauscher

–

Cl

+

+

+

Na -H Austauscher –

Cl

–

Cl

–

Cl -Kanal

CFTR

K

+

+

H H2O

Abb.14.9 Transportvorgänge in Speicheldrüsengängen. In den Endstücken werden Anionen (Cl–, HCO3–) aktiv sezerniert, und Na+ und Wasser folgen passiv (Primärspeichel, s. Abb.14.18 A). Diese Flüssigkeit ist isoton und hat eine ähnliche Elektrolytzusammensetzung wie das Plasma. Entlang der Ausführungsgänge werden Na+ aktiv und Cl– passiv resorbiert sowie K+ und HCO3– aktiv sezerniert. Bei mittlerem Speichelfluss überwiegt die Resorption. Da die Aus-

– Eine Ribonuklease verdaut RNS. – Die Rolle von Kallikrein (S. 203 f.) im Speichel ist unklar. Es kann aus Kininogen vasodilatierendes Bradykinin freisetzen und damit evtl. die Durchblutung der Speicheldrüsen erhöhen. Die Verdauungsenzyme des Mundspeichels sind für den Erwachsenen nicht essenziell. Saure Lipase hilft jedoch Säuglingen bei der Verdauung von Milchfetten bereits im Magen. Zu den antimikrobiellen Proteinen gehören noch sekretorisches Immunglobulin A (IgA), Lysozym, Laktoperoxidase und Laktoferrin. Außerdem enthält der Speichel Wachstumsfaktoren (Nerve Growth Factor, Epidermal Growth Factor), die der Wundheilung dienen („Wunden lecken“), sowie Haptocorrin, das im Magen Vitamin B12 bindet (S. 458). Der von den Azini gebildete Primärspeichel hat eine plasmaähnliche Elektrolytzusammensetzung, mit dem Unterschied einer höheren K+-Konzentration (bis zu 10 mmol/l). Dieser Primärspeichel wird in den Ausführungsgängen zum Sekundärspeichel modifiziert. Im nicht stimulierten Zustand entsteht hierdurch eine NaCl-arme (ca. 15 mmol/l) und K+-reiche (ca. 30 mmol/l) hypotone (70 – 100 mosm/kg H2O) Flüssigkeit. Bei Stimulation der Drüse nähert sich die Zusammensetzung der des Plasmas an, ohne jedoch jemals gleiche Werte zu erreichen, d. h. Speichel ist immer hypoton (Abb. 14.9).

+

H -K ATPase

ACh

2+

[Ca ]

+

G

muskarinerger Acetylcholinrezeptor

führungsgänge relativ wasserdicht sind, sinkt die Osmolalität des Speichels, er wird hypoton. Der Elektrolyttransport im Gangepithel ist limitiert, so dass die Zusammensetzung des endgültigen Speichels von der Sekretionsrate des Primärspeichels abhängt (Nach: J. H. Thaysen, N. H. Thorn, I. L. Schwartz. Am J Physiol. 178: 155 – 159, 1954). Genauere Beschreibung s. S. 424.

Die NaCl-Konzentration steigt dabei an und die K+-Konzentration sinkt. Wichtig ist, dass die HCO3–-Konzentration über der Plasmakonzentration liegt und der pH-Wert auf 8 steigen kann (im nicht stimulierten Zustand liegt er zwischen 6 und 7). Das Speichel-HCO3– dient der pHClearance im unteren Ösophagus nach dem Schlucken (S. 426).

Die Kontrolle der Speichelsekretion Der wichtigste Regulator der Mundspeicheldrüsen ist der Parasympathikus, der die Efferenzen aus dem oberen und unteren Speichelkern im Hirnstamm zu den Speicheldrüsen führt. Sowohl lokale als auch zentrale Afferenzen können die Aktivität der Speichelkerne und damit der Speicheldrüsen beeinflussen. Die Speichelproduktion kann durch Berührung der Mundschleimhaut oder Erregung von Geschmacks- oder Geruchsrezeptoren ausgelöst werden. Auch der alleinige Anblick von oder Gedanken an Nahrung können in Form eines konditionierten Reflexes Speichelsekretion auslösen („den Mund wässrig machen“). Der Transmitter des Parasympathikus, Acetylcholin, stimuliert über M1-Cholinozeptoren die Sekretion und hat eine gewisse trophische Wirkung. Manche Medikamente, besonders in der Psychiatrie, haben anticholinerge Wirkung und führen beim Patienten als Nebenwirkung zu Mundtrockenheit. Im

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424

14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung Gegensatz dazu können Acetylcholinesterase-Hemmer zu Überstimulation der Speicheldrüsen führen, und die Patienten leiden unter dauerndem Speichelfluss. Speicheldrüsen unterliegen auch einer Kontrolle durch den Sympathikus (β2-Adrenozeptoren) aus den oberen Zervikalganglien. Der Transmitter des Sympathikus, Noradrenalin steigert den Speichelfluss und verschiebt die Zusammensetzung in Richtung eines wasserärmeren, viskösen Speichels (durch vermehrte Na+- und WasserResorption und Proteinexozytose in den Azini; besonders α-Amylase). Wahrscheinlich beeinflusst der Sympathikus die Speichelsekretion auch indirekt durch Regulation des Blutflusses. Sowohl Parasympathikus als auch Sympathikus können die myoepithelialen Zellen zur Kontraktion anregen und damit den Speichelfluss erleichtern. Einige Nervenfasern geben Substanz P und VIP ab, die ebenfalls die Speichelsekretion stimulieren. Zwei hormonelle Modulatoren der Speichelsekretion sind Aldosteron und Angiotensin II. Aldosteron führt, wie in der Niere (S. 348), zu Na+-Resorption und K+-Sekretion und sorgt damit für einen Na+-armen und K+-reichen Speichel. Bei Patienten mit Nebenniereninsuffizienz (Addison-Krankheit) lassen sich entsprechende Veränderungen der Speichelzusammensetzung nachweisen. Angiotensin II dagegen scheint die Na+-Resorption zu hemmen.

Die zellulären Mechanismen in den Azini Der Mechanismus der Primärspeichelbildung entspricht dem der Bauchspeicheldrüse und wird dort im Detail beschrieben (S. 439, Abb. 14.18). Der aktiven Sekretion von Cl– folgen Na+, Wasser, K+ und HCO3–. Bestimmend für das Ausmaß der Primärspeichelbildung ist die Aktivität apikaler Cl–- und basolateraler K+-Kanäle, an denen auch die Sekretionsregulation ansetzt. Stimulatoren der Speichelsekretion führen zu einer Erhöhung der zytosolischen Ca2+-Konzentration, wodurch Proteinkinasen aktiviert werden, die die Kanalaktivität sowie die Flüssigkeitssekretion stimulieren. Die Sekretion der Proteine (s. o.) geschieht durch Exozytose und ist auf Seite 412 beschrieben. Sie wird durch cAMP und Ca2+ stimuliert. Die Regulation der Azinusfunktion erfolgt hauptsächlich durch das vegetative Nervensystem. Acetylcholin und Substanz P lösen über Phospholipase C (S. 38) zytosolische Ca2+-Oszillationen aus, wodurch die Proteinexozytose und die Flüssigkeitssekretion ansteigt. ATP erhöht die zytosolische Ca2+-Konzentration durch Aktivierung eines Kationenkanals (= P2Z-Purinorezeptor) in der Zellmembran.

An der Cl–-Resorption sind apikal Cl–/HCO3–-Austauscher und Cl–-Kanäle (z. B. CFTR) sowie basolaterale Cl–Kanäle beteiligt. Der Cl–/HCO3–-Austauscher sorgt auch für die HCO3–-Sekretion. An der basolateralen Membran wird HCO3– möglicherweise über einen Na+-Kotransporter aufgenommen. Der apikale Schritt der K+-Sekretion ist noch unklar. Ein K+/H+-Austauschmechanismus wird postuliert. Manche der Gangzellen sezernieren auch Proteine (stimuliert über α1-Adrenozeptoren) wie Nerve Growth Factor, Epidermal Growth Factor, Kallikrein, Ribonuclease, IgA und Lysozym. Die Regulation der Funktion ist weniger gut untersucht als jene der Azinuszellen. Acetylcholin führt über einen zytosolischen Ca2+-Anstieg zu eine Abnahme von NaCl-Resorption und K+-Sekretion bei Zunahme der HCO3–-Sekretion. 2-Adrenozeptoren stimulieren die NaCl-Resorption (über CFTR). Aldosteron stimuliert die Na+-Resorption und K+-Sekretion. VIP und GIP hemmen die Na+-Resorption.

Bei chronischer Entzündung der Speicheldrüsen (Sjögren-Syndrom; auch Tränendrüsen und andere exokrine Drüsen sind evtl. betroffen) kommt es zur Mundtrockenheit (Xerostomie). Die Folge sind Infektionen und Geschwürbildung in der Mundhöhle sowie Schluckbeschwerden. Meist ist ein Autoimmungeschehen die Ursache. Allerdings kann Xerostomie auch durch Medikamente (Atropin, Antidepressiva), Bestrahlung oder Infektionen hervorgerufen werden.

14.5

Ösophagus und Schlucken

Der Ösophagus besteht in seinem oberen Drittel aus quergestreifter, ansonsten aus glatter Muskulatur. Die Wanddehnung beim Schlucken eines Bissens löst eine primäre peristaltische Welle aus, die von sekundären peristaltischen Wellen gefolgt sein kann. Dieser peristaltische Reflex bedarf im oberen Drittel der äußeren Innervation (N. vagus); im Bereich der glatten Muskulatur wird er von den Ganglienzellen der Ösophaguswand gesteuert. Beide Enden der Speiseröhre werden von Sphinktern „überwacht“, wobei sich der untere Sphinkter reflektorisch bereits dann öffnet (rezeptive Relaxation über vagusaktivierte NANC-Fasern), wenn der Schluckakt beginnt. Der untere Sphinkter schützt die Ösophagusschleimhaut vor dem Magensaft. Bei gastroösophagealem Reflux sorgen Peristaltikwellen für eine Wiederentleerung (Volumen-Clearance) und geschluckter Speichel (HCO3–-haltig) für eine Pufferung der Magensaftreste (pH-Clearance). Störung der rezeptiven Relaxation führt zur Achalasie.

Ösophagus Die zellulären Mechanismen in den Ausführungsgängen Die Wände der Ausführungsgänge sind relativ schlecht wasserdurchlässig, so dass Elektrolyte transportiert werden können (NaCl-Resorption und KHCO3-Sekretion, Abb. 14.9), ohne dass nennenswert Wasser folgt; dadurch entsteht ein hypotoner Sekundärspeichel. An der Na+-Resorption sind apikal Na+-Kanäle (ENaC) und Na+/H+-Austauscher (NHE-2/-3) sowie basolateral die Na+/K+-ATPase beteiligt.

Im Ösophagus werden drei Regionen unterschieden: Oberer Ösophagussphinkter (hauptsächlich M. cricopharyngeus), Ösophaguskörper und unterer Ösophagussphinkter. Die Motilität des Ösophagus und seiner Sphinkter ist eng mit der Motilität von Magen und Pharynx koordiniert. Zwischen den Schluckakten herrscht eine konstante cholinerg-nikotinerge Erregung, die den oberen Sphinkter geschlossen hält. Dieser Basaltonus wird durch Säurereflux reflexartig erhöht. Der Ösophaguskörper ist 20 – 22 cm lang und enthält im

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14.5 Ösophagus und Schlucken Schlucken Pharynx oberer Sphinkter

1 40

quergestreifte Muskulatur

2

glatte Muskulatur

0

3

cholinerge Fasern erregen: Verkürzung

0

Sphinkteröffnung unterer Sphinkter

(nach S. Cohen)

NCNA-Fasern hemmen: Öffnung

mmHg

N. vagus

Wanderung der Peristaltikwelle

40

Ösophaguslumen

40

4

Magen 0

Atmung

neuronale Sphinktersteuerung 0

Abb.14.10 Motorik des Ösophagus beim Schlucken. Unter Ruhebedingungen ist der untere Ösophagussphinkter geschlossen (hoher, mit Ösophagussonden gemessener Innendruck, s. 4 links). Während des Schluckens wandert eine Peristaltikwelle (hoher Innendruck, s. 2 → 3) vom Pharynx zur Kardia hin. Schon zu Beginn des Schluckens (1, grüne Linie)

oberen Drittel quergestreifte Muskulatur und in den unteren 2⁄3 glatte Muskulatur. Der Druck im Lumen des Ösophaguskörper wird in Ruhe hauptsächlich durch den Druck im Mediastinum bestimmt und folgt im Wesentlichen dem intrapleuralen Druck. Somit lässt sich der intrapleurale Druck durch Messung des intraösophagealen Drucks bestimmen. Im Ösophaguskörper wird die Nahrung durch propulsive Peristaltik (S. 413) zum Magen transportiert. Der untere Sphinkter liegt unterhalb des Zwerchfells und besteht aus einer speziellen Ringmuskelschicht. Der luminale Druck beträgt dort ca. 20 mm Hg und variiert mit dem intraabdominalen Druck sowie mit den MMC-Phasen (S. 414). Während des Schluckens kommt es durch die Dehnung des Ösophagus zur reflektorischen Relaxation (rezeptive Relaxation) und damit Öffnung des unteren Sphinkters (Abb. 14.10). In dieser Phase tritt meist auch etwas Magensaft in den unteren Ösophaguskörper über (physiologischer Reflux). pH-Messungen an dieser Stelle haben gezeigt, dass im Verlauf eines Tages der pH-Wert für insgesamt ca. 60 min Werte unter 4 erreicht. Inadäquate Relaxationen des unteren Ösophagussphinkters, nerval oder durch Magendehnung vermittelt, spielen bei der gastroösophagealen Refluxkrankheit (Sodbrennen) eine wichtige Rolle. Myenterische Plexus finden sich entlang des gesamten Ösophagus. Cholinerge Neurone wirken erregend, adrenerge Neurone modulierend, wogegen NANC-Neurone

10

20

30 s

wird reflektorisch der untere Sphinkter geöffnet, und der Druck in dessen Lumen sinkt auf ca. 0 mm Hg (s. 4 Mitte), so dass der Speisebrei in den Magen gelangen kann. (Aus: S. Silbernagl, A. Despopoulos: Taschenatlas der Physiologie, 6. Aufl. Thieme Verlag: Stuttgart 2003). Genauere Beschreibung s. S. 426.

(Transmitter: VIP, ATP; Tab. 14.2) hemmend wirken. Die äußere Innervation reguliert über große Reflexbögen den Schluckakt und koordiniert die Ösophagusmotorik mit der Magenmotorik. Sensible Fasern aus dem Oropharynx ziehen zum medullär-pontinen Schluckzentrum (Ncl. tractus solitarii, Abb. 14.7), von wo aus der Schluckakt koordiniert wird. Der stärkste Reiz für das Schluckzentrum ist die Berührung der Tonsillengegend und der hinteren Rachenwand. Substanzen, die den Tonus des unteren Sphinkter vermindern, wirken refluxfördernd. Hierzu gehören: VIP, ATP, β-Rezeptor-Agonisten, Sekretin, CCK, Progesteron (z. B. während der Schwangerschaft), GIP, NO, Prostaglandin E2, Dopamin, sowie Nahrungslipide. Im Gegensatz dazu sind Substanzen die den Tonus des unteren Sphinkter erhöhen, refluxhemmend: Acetylcholin, α-Rezeptor-Agonisten, Gastrin (Schutz des Ösophagus während der Verdauung), Motilin, Somatostatin, Substanz P, Histamin, Prostaglandin F2α, Nahrungsproteine und Anspannung des Zwerchfells.

Schlucken Der Schluckreflex wird dadurch ausgelöst, dass die Nahrung oder Speichel in den Oro- und Laryngopharynx geschoben wird. Pro Tag schlucken wir bis zu 1000-mal oder mehr. Insgesamt unterscheidet man 3 Phasen beim Schlucken (Abb. 14.10). – Während der ersten (oralen) Phase wird durch Willkürmotorik die Zunge gegen den harten Gaumen ge-

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425

426

14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung drückt, um anschließend durch Kontraktion der Zungenmuskulatur die Nahrung in den Pharynx zu schieben. Dort werden Mechanorezeptoren erregt, die durch Aktivierung des medullären Schluckzentrums (über den N. glossopharyngeus) den unwillkürlichen Schluckreflex auslösen. – Mit dem Schluckreflex beginnt die zweite (pharyngeale) Phase. Nachdem der Nasenraum durch Anheben des weichen Gaumens an die Hinterwand des Pharynx verschlossen wurde, beginnen peristaltische Kontraktionen im Pharynx die Nahrung durch den oberen Ösophagussphinkter zu schieben. Hierbei kann der Druck bis auf 100 mm Hg ansteigen. Der Larynx wird angehoben und die Epiglottis verschließt die Trachea. Gleichzeitig ist die Atmung bis zum Ende der zweiten Phase gehemmt (Schluckapnoe). Die peristaltischen Wellen greifen nun auf den Ösophagus über, und der obere Ösophagussphinkter schließt sich. – Dadurch beginnt die dritte (ösophageale) Phase. Jede Welle dauert ca. 7 – 10 s, die Zeit bis zum Erreichen des Magens (Wellengeschwindigkeit = 3 – 4 cm/s). Flüssigkeit erreicht den Magen schneller. Derart ausgelöste Bewegung wird primäre Peristaltik genannt. Bleibt die Nahrung „stecken“ so wird durch Dehnung des Ösophagus ein vago-vagaler Reflex ausgelöst und eine zweite Welle folgt (sekundäre Peristaltik). Drüsen in der Ösophaguswand erzeugen zusätzlichen Schleim, der die Nahrung gleitfähiger macht. 2 – 3 s nach Beginn der dritten Phase relaxiert der untere Sphinkter (aktive Hemmung durch NANC-Neurone und Wegfall der erregenden cholinergen Innervation) und die Nahrung gelangt in den Magen. Phase 2 und 3 werden durch das Schluckzentrum in Medulla und Pons, dessen Efferenzen in den Nn. glossopharyngeus und vagus verlaufen, koordiniert. Schädigungen in diesem Reflexbogen führen zu Schluckstörungen (Dysphagie, s. u.). Schluckstörungen (Dysphagie) kommen hauptsächlich durch eine gestörte Ösophagusfunktion zustande. Differenzialdiagnostisch kommen verschiedenste Ursachen in Frage: Entzündungen, Stenosen, Kompressionen, Divertikel, Motilitätsstörungen (Sklerodermie, Achalasie), Myasthenie, Bulbärparalyse, Tollwut sowie, als häufigste Ursache, die gastroösophageale Refluxkrankheit. Die wesentlichen funktionellen Störungen des Ösophagus sind zum einen dadurch verursacht, dass die Ösophagusmotorik abnorm ist. Wahrscheinliche Ursache der Achalasie sind eine verminderte Anzahl intramuraler NANC-Neurone sowie ein herabgesetztes Reaktionsvermögen dieser Neurone auf präganglionär freigesetztes Acetylcholin. Als Folge davon ist der Ruhedruck im unteren Ösophagussphinkter stark erhöht; die rezeptive Relaxation setzt spät ein und ist vor allem zu schwach ausgeprägt. Der Druck im Sphinkter lässt dadurch auch während der rezeptiven Relaxationsphase kaum nach. Folglich sammelt sich die verschluckte Nahrung im Ösophagus an, der sich dadurch enorm ausweitet. Eine Hypomotilität des Ösophagus hingegen (z. B.

bei der Sklerodermie), ein Überwiegen der refluxfördernden Einflüsse (s. o.) oder ein Versagen der o. g. Schutzmechanismen führt zur gastroösophagealen Refluxkrankheit mit Ösophagitis (Sodbrennen) und weitergehenden pathologischen Veränderungen der Ösophagusschleimhaut, die zu einem Karzinom entarten können.

14.6

Magen

Im Magen wird die feste Nahrung weiter zerkleinert und mit dem Magensaft gemischt, so dass eine Suspension entsteht (Chymus). Der Magensaft setzt sich aus den Sekreten des Oberflächenepithels und der tubulären Drüsen in Fundus, Korpus, Kardia und Pylorus zusammen. Die Wände der Fundus-Korpus-Drüsen enthalten Belegzellen, die Salzsäure und den Intrinsic Factor sezernieren, Hauptzellen, die Pepsinogene abgeben, sowie Nebenzellen, die, ebenso wie das Oberflächenepithel und die Kardia- und Pylorusdrüsen, Schleim sezernieren. Die von der Epitheloberfläche her mit HCO3– getränkte Schleimbarriere schützt das Epithel vor der Selbstandauung durch HCl und Pepsine. Aktivatoren der Belegzellen sind Acetylcholin (Parasympathikus), Gastrin (aus den G-Zellen von Magen und Duodenum) und Histamin (aus den H- oder ECL-Zellen der Magendrüsen). Die Hauptzellen werden vor allem durch Histamin und Acetylcholin zur Sekretion angeregt.

Funktionelle Anatomie Der Magen erfüllt seine wichtige Rolle im Rahmen der Ernährung durch – sekretorische (z. B. HCl, Pepsinogen, Lipase, HCO3–, Intrinsic factor), – motorische (mischen, zerkleinern, emulgieren) und – humorale (Gastrin, Somatostatin) Mechanismen. Allerdings ist der Magen nicht lebensnotwendig, so dass bei Bedarf eine vollständige Gastrektomie durchgeführt werden kann. Im Magen können vier Abschnitte unterschieden werden (Abb. 14.11): Kardia, Fundus, Korpus und Antrum. Funktionell spricht man auch von einem proximalen Magen (Kardia, Fundus und erstes Drittel des Korpus) und einem distalen Magen (restliche Drittel des Korpus und Antrum). Die Oberflächenzellen der Magenschleimhaut sezernieren Schleim sowie HCO3– und dienen dem Schutz der Magenschleimhaut vor dem aggressiven Magensaft. Die Fläche der Magenschleimhaut wird durch tiefe, tubuläre Magendrüsen vergrößert, deren Zellen sich in ihrer Funktion von den Oberflächenzellen unterscheiden. In der Wand der Drüsen (Abb. 14.11), bei denen man Grube (Foveola), Halsstück und Basis unterscheidet, befinden sich die „funktionellen“ Zellen des Magens: – Schleim- bzw. Nebenzellen (sezernieren Muzin und Pepsinogen), – Parietal- bzw. Belegzellen (sezernieren HCl und Intrinsic Factor), – Hauptzellen (sezernieren Pepsinogene und Lipase), – endokrine Zellen (sezernieren Gastrin und Somatostatin, kommen nur im Antrum vor).

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14.6 Magen Ringmuskulatur Mukosa SubLängsLumen mukosa muskulatur

Kardia Fundus

Ösophagus

1 Schnitt durch die Magenwand

proximaler Magen

Pylorus

distaler Magen 3 Magendrüse Schrittmacherzone

Nebenzelle

Hauptzelle

Belegzelle

Korpus Antrum PepsinoSchleim gene

Duodenum 2 Pylorus (Röntgenaufnahme)

4

HCl

b

HCl

Belegzelle apikal

histaminsezernierende Zelle

a leicht stimuliert

stärker stimuliert

Tubulovesikel Canaliculus

basal

Abb.14.11 Funktionelle Anatomie des Magens. 1 Neben der anatomischen Einteilung des Magens wird funktionell ein proximaler Magen (tonische Kontraktion: Speicherfunktion) von einem distalen Magen (Durchmischungs- und Aufbereitungsfunktion) unterschieden. Die peristaltischen Wellen des distalen Magens starten von einer Magenzone mit Muskelzellen, die vergleichsweise die höchste Frequenz der langsamen Erregungswellen besitzen und daher als Schrittmacher fungieren (S. 434). 2 Röntgenaufnahme des Pylorus: Magen und proximales Duodenum im Röntgenbild. Im Magenlumen kontrastieren Luft (schwarz) und bariumhaltiger Kontrastbrei (weiß) miteinander. Beachte die Einmündung des Ösophagus, der noch Kontrastbrei enthält, die J-Form des Magens und seine längsverlaufenden Falten im Lumen sowie den engen pylorischen Kanal (roter Kreis) mit anschlie-

Die Zellen des Magens produzieren ca. 2 l isotone Flüssigkeit pro Tag, deren pH-Wert zwischen 1 und 7 schwankt, je nachdem ob sich der Magen in der digestiven Phase (während der Verdauung, stimuliert) oder in der interdigestiven Phase (unstimuliert) befindet. In der interdigestiven Phase ist das Sekret Na+-reich (140 – 150 mmol/l) und H+-arm (Abb. 14.12), in der digestiven Phase dagegen Na+-arm (< 10 mmol/l) und H+-reich.

ßendem C-förmigem Duodenum (aus: J. A. Young, D. I. Cook, A. D. Conigrave, C. R. Murphy: Gastrointestinal Physiology, Rainforest Publication 1991). 3 Magendrüsen: Tubuläre Drüse des Magenkorpus. Meist münden etwa 5 – 7 solcher Drüsen in einem Grübchen der Magenschleimhautoberfläche. 4 Belegzellen: Belegzelle der Magendrüse vor (4 a) und nach (4 b) Stimulation. In der nur leicht stimulierten Belegzelle ist ein „intrazellulärer“ Canaliculus mit relativ glatter Wand von zahlreichen Tubulovesikeln umgeben. Nach starker Aktivierung der Drüse (durch Acetylcholin, Gastrin und/oder Histamin) werden die Tubulovesikel in die luminale Membran des Canaliculus eingebaut, so dass seine Wand stark gefaltet wird und für die HCl-Sekretion eine sehr große Oberfläche zur Verfügung steht.

Die Korpusdrüsen enthalten Beleg-, Haupt-, Schleimund Enterochromafine-like (ECL) Zellen (auch H-Zellen genannt). Letztere liegen unter der Mukosa und sezernieren Histamin, das die HCl- und möglicherweise die Pepsinogensekretion stimuliert. Außerdem gibt es in den Drüsen D-Zellen (Produktion von Somatostatin, das die Gastrin- und HCl-Sekretion hemmt).

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427

14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung A

200

z.B. Gastrin, Histamin –

Cl + H

150

Ionenkonzentration (mmol/l)

428

B Lumen

Zytosol

Interstitium –

–

Cl -HCO3 -Antiporter –

–

Cl

Cl 100

–

–

HCO3

–

Cl -Kanal

HCO3

Carboanhydrase

50

–

OH + CO2

+

0

K + Na 0

1

2

3

+

H

C

H2O

+

+

H -K -ATPase

Sekretionsrate (ml/min) stimulierend

+

H

ATP

Omeprazol

+

Na -H -Antiporter +

H

+

H

+

Na

+

K

GRP Acetylcholin Gastrin Histamin H

+

K +

+

+

H -K -ATPase

Abb.14.12 Magensaftsekretion: Zusammensetzung, allgemeine Regulation und zelluläre Mechanismen. A Die Ionenkonzentration im Magensaft hängt vom Stimulationszustand (d. h. der Sekretionsrate) ab. B HCl-Sekretion durch die Belegzellen der Magendrüsen. Die Sekretion hat zwei Komponenten, eine nichtstimulierbare, die von der basolateralen Na+-K+-ATPase in Gang gehalten, und eine stimulierbare, die durch die luminale H+-K+-ATPase angetrieben wird. 1. Die Na+-K+-ATPase sorgt für eine hohe intrazelluläre K+Konzentration, so dass K+-Ionen über Kanäle ins Lumen strömen können und schafft gleichzeitig das Na+ aus der Zelle, das über einen Na+/H+-Antiporter basolateral einströmt. Für jedes abgegebene H+-Ion bleibt ein OH–-Ion in der Zelle zurück, das, katalysiert durch Carbonanhydrase, mit CO2 zu HCO3– reagiert. Letzteres verlässt die Zelle basolate-

Die Antrumdrüsen enthalten Haupt- und endokrine Zellen. Bei den endokrinen Zellen handelt es sich um GZellen (Produktion von Gastrin, das die HCl-Sekretion und das Mukosawachstum stimuliert) und D-Zellen (Produktion von Somatostatin, das die Gastrin- und HClSekretion hemmt).

Säuresekretion Zelluläre Mechanismen der Säuresekretion Für die Säuresekretion im Magen sind die Parietalzellen der Korpusdrüsen verantwortlich. Unter der apikalen Membran finden sich viele tubulo-vesikuläre Strukturen, welche die H+/K+-ATPase (den Motor der Säuresekretion)

+

Na -K -ATPase +

K -Kanal

+

hemmend Somatostatin CCK Sekretin VIP GIP Neurotensin PYY Prostaglandin

+

+

Na ATP K

+

K

+

+

Na

–

= hemmt

+

ral im Austausch gegen Cl–, das damit zur Sekretion ins Lumen (Cl–-Kanäle) zur Verfügung steht. Im Ergebnis wird damit also KCl sezerniert. 2. An der luminalen Membran sorgt die K+-H+-ATPase dafür, dass die K+-Ionen im Sekret durch H+-Ionen ersetzt werden, so dass dort HCl angereichert wird. Für jedes der sezernierten H+-Ionen verlässt auch in diesem Fall ein HCO3– die andere Seite der Zelle. Das resorbierte K+ rezirkuliert. Beachte, dass die HCl-Sekretionsrate nur von der Aktivität der K+-H+-ATPase abhängt: Wird sie stimuliert, vermehrt sich die HCl-Sekretion, wird sie durch Omeprazol gehemmt, vermindert sie sich. Die Na+-K+-ATPase hat nur dafür zu sorgen, dass die mit dem Magensaft verloren gegangenen (nichtrezirkulierten) K+-Ionen wieder ersetzt werden. C Grobe Übersicht von Stimulatoren und Hemmern der HCl-Sekretion.

beinhalten (Abb. 14.11). Im unstimulierten Zustand ist die Säuresekretionsrate sehr niedrig. Bei Stimulation hingegen muss ein Lumen-zu-Zell-Gradient für H+-Ionen von bis zu 1000 000 : 1 über die apikale Membran aufgebaut werden. Hierzu vergrößert sich deren Fläche auf das 50100fache durch Fusion der Vesikel mit der apikalen Membran. Dadurch werden in großem Umfang H+/K+ATPase sowie Cl–- und K+-Kanäle in die Membran eingebaut. Die H+/K+-ATPase gehört zur Familie der P-Typ-ATPasen (S. 31) und besteht wie diese aus einer α- und einer β-Untereinheit. Die katalytische Funktion befindet sich in der α-Untereinheit. Die βUntereinheit sorgt für die apikale Lokalisation. Eine enge „Verwandte“ der gastrischen H+/K+-ATPase ist die H+/K+-ATPase im Kolon (S. 446).

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14.6 Magen Der entscheidende Schritt bei der Säuresekretion ist die Pumpfunktion der H+/K+-ATPase (Abb. 14.12), die primäraktiv H+ im Austausch gegen K+ in das Drüsenlumen sezerniert. Für die ausreichende Verfügbarkeit von K+ im Lumen sorgen K+-Kanäle in der apikalen Membran (K+Rezirkulation). Die sezernierten H+ stammen aus CO2, das im wässrigen Milieu des Zytosols zu HCO3– und H+ dissoziiert. Diese Reaktion wird durch das Enzym Carboanhydr(at)ase beschleunigt. Schließlich diffundiert noch Cl– über apikale Kanäle ins Magenlumen, so dass in der Summe Salzsäure (HCl) sezerniert wird. Durch die H+-Sekretion entsteht ein „Überschuss“ an zytosolischem HCO3– und der pH-Wert steigt. HCO3– verlässt die Zellen über einen basolateralen HCO3–/Cl–-Austauscher, der auch das nötige Cl– für die Sekretion ins Lumen liefert. Der zytosolische pH-Wert wird zusätzlich durch einen basolateralen Na+/H+-Austauscher reguliert. Ein klinisch wichtiger Hemmer der gastrischen H+/K+ATPase ist Omeprazol. Diese Substanz bindet kovalent an einen extrazellulären Cysteinrest der H+/K+-ATPase und hemmt die H+-Sekretion fast vollständig. Patienten mit H+-Übersekretion (Gastrinom, s. u.) oder mit starker Schädigung der Magenwand (Magengeschwür, s. u.) kann durch Omeprazol sehr gut geholfen werden. So kann unter Omeprazol ein Magengeschwür abheilen und eine Gastrektomie vermieden werden.

Stimulation der Säuresekretion Die Säuresekretion im Magen kann durch direkte Stimulation von Rezeptoren auf den Parietalzellen (Acetylcholin, Gastrin, Histamin) oder indirekt durch Stimulation der Histaminfreisetzung aus ECL-Zellen bzw. Mastzellen gesteigert werden (Abb. 14.12 und Abb. 14.11). Acetylcholin aus cholinergen Fasern des N. vagus bindet an M3Cholinozeptoren der Belegzellen. Die Besetzung des Rezeptors führt zur Aktivierung heterotrimerer G-Proteine vom Typ Gαq (S. 38 f.) wodurch das Enzym Phospholipase C in der Zellmembran stimuliert wird. Hierdurch entstehen in der Zelle Inositoltrisphosphat (IP3) und Diacylglycerol (DAG). DAG aktiviert direkt Proteinkinase C. IP3 führt zur Freisetzung von Ca2+ aus dem endoplasmatischen Retikulum, wodurch die zytosolische Ca2+-Konzentration ansteigt. Zusätzlich aktiviert der M3-Rezeptor Ca2+-Kanäle in der Zellmembran, so dass Ca2+ auch von außen einströmt. Ca2+ führt anschließend zur Aktivierung der Calmodulin-abhängigen Proteinkinase und unterstützt die Aktivierung bestimmter Typen der Proteinkinase C. Diese führen letztendlich zur Stimulation der H+-Sekretion durch Phosphorylierung verschiedender Proteine, inkl. der H+/K+-ATPase.

Histamin stammt hauptsächlich aus ECL-Zellen (Abb. 14.13) und zum Teil aus Mastzellen. Es bindet an den H2-Rezeptor der Belegzellen, wodurch es, vermittelt durch G-Proteine vom Typ Gαs, zur Aktivierung der Adenylylzyklase und Bildung von cAMP kommt. Dies führt zur Aktivierung der Proteinkinase A und schließlich zur H+-Sekretion. Die Freisetzung von Histamin wird durch Acetylcholin (M3-Rezeptoren) und Gastrin (CCKBRezeptoren) stimuliert.

Die Hemmung der H2-Rezeptoren durch „H2-Blocker“ (z. B. Cimetidin, Ranitidin) ist ein weiteres Prinzip, um die gastrale Säuresekretion zu vermindern. Allerdings kann hierdurch nur die stimulierte, nicht jedoch die basale Säuresekretion beeinflusst werden. Gastrin wird von G-Zellen in den Antrumdrüsen (2⁄3) sowie im Duodenum (1⁄3) sezerniert (Abb. 14.13). Seine Aufgaben sind – die direkte Stimulation der Säuresekretion, – Verstärkung der digestiven Peristaltik im Antrum, – Stimulation der ECL-Zellen (wodurch es zu vermehrter Histaminfreisetzung kommt) sowie – Stimulation des Mukosawachstums in Magen, Dünndarm und Dickdarm. Wegen seiner strukturellen Ähnlichkeit mit CCK (s. u.) kann Gastrin außerdem die Azini des Pankreas, die Gallensekretion sowie die Kontraktion der Gallenblase stimulieren. Bei der Synthese von Gastrin wird zunächst ein großes Peptid (101 Aminosäuren) gebildet. Durch posttranslationale Modifikation im trans-Golgiapparat entsteht letztendlich eines von zwei Endprodukten: Das „Kleine“ Gastrin besteht aus 17 Aminosäuren (G17) und wird sowohl im Antrum als auch im Duodenum gebildet. Das „Große“ Gastrin besteht aus 34 Aminosäuren (G34) und wird nur im Duodenum gebildet. Die biologische Aktivität beider Gastrine beruht auf dem C-terminalen Tetrapeptid -TrpMet-Asp-Phe-NH2. Das Hormon Cholecystokinin (CCK) besitzt das identische C-terminale Tetrapeptid, wodurch sich Überschneidungen bei der Bindung an Rezeptoren ergeben (s. u.). Die biologische Wirksamkeit von G17 ist größer als die von G34, allerdings hat G17 eine kürzere Halbwertszeit. Somit haben gleiche Mengen der beiden Gastrine vergleichbare Wirkungen. Der Tyrosinrest im Gastrin kann sulfatiert werden, wodurch Gastrin II entsteht, das genauso wirksam ist.

Die Freisetzung von Gastrin wird durch luminale Aminosäuren, Magendehnung und Gastrin-releasing peptide (GRP) stimuliert. GRP ist ein Peptid mit 27 Aminosäuren aus postganglionären Fasern des N. vagus. Kohlenhydrate, Fette und Proteine stimulieren die Gastrinfreisetzung nicht direkt, sondern dadurch, dass der Nahrungsbolus den Magen dehnt. Zusätzlich kann die Gastrinsekretion durch Ca2+ aus dem Plasma sowie durch Noradrenalin erhöht werden. Gehemmt wird die Gastrinfreisetzung vor allem durch Somatostatin (SIH) aus benachbarten DZellen sowie durch luminale Säure (Abb. 14.13). Beide Gastrine binden an den CCKB-Rezeptor, wodurch dieselbe Signalkaskade wie durch Acetylcholinbindung an den M3-Cholinozeptor aktiviert wird. Interessanterweise bindet an diesen Rezeptor, wie der Name schon vermuten lässt, auch CCK. Der CCKA-Rezeptor im Pankreas und in der Gallenblase ist eng verwandt, bindet jedoch praktisch nur CCK und kaum Gastrin.

Hemmung der Säuresekretion Der wichtigste Hemmer der Säuresekretion ist Somatostatin (SIH) aus den D-Zellen des Magens und Duodenums (Abb. 14.13). SIH wird außerdem noch von den D-Zellen der Langerhans-Inseln und von hypothalamischen Neuronen gebildet.

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429

14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung

Stimulation CCK-B

Hemmung

Transport G G-Protein-gekoppelter Rezeptor

N. vagus

G M3 G

ACh

Blutzirkulation

SIH G

Histamin ECL-Zelle

Proteinkinase C

Phospholipase C

+

CCK-B G

K

M3 +

Ca

+

Calmodulin-abhängige Kinase

+

2+

2+

Ca

Ca

H -K -ATPase

Proteinkinase A

ACh

G

2+

H

Adenylylzyklase

H2 G

Lumen

Prostaglandin G SIH

Belegzelle

G

Somatostatin Korpus

M3 G

ACh CGRP, Gastrin, Sekretin

D-Zelle

Antrum

430

H

G

+

Somatostatin M3 G

D-Zelle Proteinfragmente, Aminosäuren

ACh

CCK-B G

Gastrin SIH G

G-Zelle

Abb.14.13 Regulation der Magensaftsekretion im Detail. An der Regulation sind nervale Komponenten (N. vagus) sowie parakrine (z. B. Histamin) und endokrine (z. B. Gastrin)

Im Magenkorpus wird die Sekretion von SIH durch nervale Mechanismen (CGRP-[Calcitonin gene-related peptide]-Interneurone) sowie endokrin (Gastrin, Sekretin) stimuliert. In den Antrumdrüsen werden D-Zellen zusätzlich durch luminale Säure zur SIH-Sekretion angeregt.

GRP G

GRP

Mediatoren beteiligt. Die Wirkungen werden durch Bindung eines Botenstoffes an G-Protein-gekoppelte Rezeptoren vermittelt. Genauere Beschreibung s. S. 429.

SIH liegt in zwei Formen vor, einem Peptid mit 28 Aminosäuren (SS28) und einem mit 14 Aminosäuren (SS14), die identische C-Termini und identische Wirkungen haben. Bindet SIH an seinen Rezeptor auf Belegzellen, wird, vermittelt durch ein Gαi-Protein, die Adenylylzyklase und damit die cAMP-Bildung gehemmt. Dadurch ant-

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N.vagus Acetylcholin (ACh)

Histamin

lokale Reflexe H

Stimulation

+

Gastrin

Magendehnung Proteinspaltprodukte, Aminosäuren

+

K +

+

H /K -ATPase

Hemmung

Belegzelle

Somatostatin (SIH)

saurer pH im Magenlumen

Somatostatin (SIH) CCK, Sekretin VIP,GIP,PYY Neurotensin Prostaglandine

Abb.14.14 Die Phasen der Magensaftsekretion. Im Rahmen der Nahrungsaufnahme werden drei (digestive) Phasen unterschieden. In der kephalen Phase (z. B. Anblick, Geruch von Nahrung) wird die Sekretion stimuliert. In der gastralen

agonisiert es die Wirkung von Histamin (s. o.) und vermindert so direkt die stimulierte Säuresekretion. Neben dieser direkten Wirkung hat SIH auch indirekte Wirkungen auf die Säuresekretion: Es hemmt an ECLZellen die Histaminsekretion und an G-Zellen des Antrums die Gastrinsekretion (jeweils parakrine Wirkung). Cholinerge Agonisten scheinen die Sekretion von SIH zu hemmen, was bedeutet, dass der N. vagus indirekt die Säuresekretion stimuliert. SIH wiederum hemmt die Gastrinsekretion. Diese Wechselwirkung mit Gastrin stellt eine negative Rückkopplung dar. Insgesamt herrscht also eine redundante Kontrolle der Signalwege, wodurch die Zuverlässigkeit der Regulation erhöht wird. Zusätzlich gibt es eine Rückkopplungshemmung der Säuresekretion aus dem Duodenum und Jejunum (Abb. 14.12 und Abb. 14.14). Diese Hemmung wird durch Lipide, Säure und erhöhte Osmolalität im Dünndarm aktiviert. Hierbei spielen endokrine Mechanismen und Reflexe eine Rolle: – Sekretin aus den S-Zellen des Duodenums hemmt die Gastrin- und fördert die SIH-Freisetzung. – GIP (früher Gastric Inhibitory Peptide, jetzt Glucosedependent insulin-releasing peptide) aus den K-Zellen in Duodenum und Jejunum hemmt ebenfalls die Gastrinfreisetzung sowie möglicherweise direkt die Funktion der Belegzellen. Wahrscheinlich stimuliert es auch die SIH-Freisetzung. Wie der neuere Name schon sagt, ist GIP auch wichtig für ein adäquate Insulinsekretion bei Nahrungsaufnahme. Seine Freisetzung wird durch Kohlenhydrate und Lipide im Duodenum stimuliert.

Peptide/Aminosäuren im Dünndarm Fett, Säure, Osmolalität im Dünndarm

gastrale Phase

Gastrin-releasingpeptide (GRP)

intestinale Phase

Gastrin

kephale Phase

14.6 Magen

Phase findet eine Stimulation statt, die durch hemmende Mechanismen kontrolliert wird. In der intestinalen Phase findet je nach Zusammensetzung des Nahrungsbreis Stimulation oder Hemmung statt. Genauere Beschreibung s. S. 432.

– Prostaglandin E2 (PGE2) hemmt Parietalzellen nach Bindung an den EP3-Rezeptor direkt. Wie SIH vermindert es Gαi-vermittelt die Aktivität der Adenylylzyklase. Zudem reduziert PGE2 die Histamin- und Gastrinfreisetzung. Weitere Faktoren tragen zur Hemmung der Säuresekretion bei: CCK aus den I-Zellen von Duodenum und Jejunum scheint direkt die Parietalzellen zu hemmen. Dieser zunächst paradox erscheinenden Wirkung liegt wahrscheinlich die kompetitive Verdrängung von Gastrin am CCKB-Rezeptor zugrunde. CCK bindet an diesen Rezeptor, führt allerdings zu einer deutlich schwächeren Aktivierung der Zellen (partieller Antagonist). VIP (Vasoaktives intestinales Peptid) aus NANC-Neuronen des enterischen Nervensystems, (Entero-)Glukagon aus A-Zellen in Magen und Duodenum und L-Zellen in Ileum und Kolon sowie Calcitonin aus der Schilddrüse hemmen die Gastrinfreisetzung. Neurotensin aus N-Zellen im Ileum und Peptid YY aus Ileum und Kolon hemmen ebenfalls die Säuresekretion. Schließlich gibt es Hinweise auf lokale enterische Reflexbögen, die ebenfalls die Säuresekretion drosseln.

Die Gabe von PGE2- oder SIH-Analoga stellt ebenfalls ein Therapieprinzip zum Schutz der Magenschleimhaut dar.

Die vier Phasen der Säuresekretion Bei der Säuresekretion im Magen unterscheidet man die interdigestive (= nicht-parietale) Phase und drei digestive Phasen (kephal, gastrisch und intestinal; Abb. 14.14). Während der interdigestiven Phase findet eine kontinuierliche basale Säuresekretion statt, die einem zirkadianen Rhythmus unterliegt. Sie ist morgens am niedrigs-

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14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung ten und abends am höchsten. Der pH-Wert in dieser Phase kann interindividuell stark variieren und liegt zwischen 3 und 7. Die basale H+-Sekretionsrate hängt von der Anzahl an Belegzellen ab, die mit dem Körpergewicht zu korrelieren scheint. Dies ist eine mögliche Erklärung, warum Männer im Durchschnitt eine höhere Sekretionsrate haben. Der resultierende pH-Wert hängt natürlich auch davon ab, ob sich noch pufferndes Material im Magen befindet. Mit der Aufnahme von Nahrung beginnen die digestiven Phasen. Die kephale Phase (Abb. 14.14) kann bereits mit dem Gedanken an Nahrungsaufnahme und dem Anblick oder Geruch der Nahrung beginnen, spätestens jedoch beim Kontakt mit der Mundschleimhaut. Diese Stimuli führen zur Aktivierung des dorsalen vagalen Motorkerns, wodurch parasympathische Fasern aktiviert werden. Dies löst vier Mechanismen aus: – direkte Stimulation der Parietalzellen über cholinerge M3-Rezeptoren, – Stimulation der Histaminfreisetzung aus ECL-Zellen über cholinerge M3-Rezeptoren, – Stimulation der Gastrinfreisetzung durch GRP sowie – Hemmung der SIH-Freisetzung. Insulin-induzierte Hypoglykämie kann diesen Reflexbogen ebenfalls aktivieren. Die kephale Phase trägt ca. 30 % zur gesamten Säuresekretion bei. Chirurgische Durchtrennung des N. vagus (Vagotomie) ist eine (selten durchgeführte) Therapievariante zur Verminderung der Säuresekretion. Sie ist allerdings mit deutlichen Nebenwirkungen behaftet. Eine Variante ist die selektive proximale Vagotomie, bei der es zu keiner Einschränkung der Pylorusfunktion kommt. Die gastrale Phase beginnt mit der Dehnung des Magens durch die Nahrung. Zunächst aktivieren dehnungsempfindliche Afferenzen den dorsalen vagalen Motorkern, wodurch dieselben vier Mechanismen wie in der kephalen Phase (s. o.) ausgelöst werden. Außerdem werden lokale enterale Reflexbögen aktiviert, was letztlich zu Stimulation der Beleg- und ECL-Zellen durch postganglionäre cholinerge Neurone führt. Später stimulieren Produkte der Proteinverdauung vom Lumen aus die G-Zellen. Das freigesetzte Gastrin erhöht die Aktivität der Belegzellen und die Histaminfreisetzung aus ECL-Zellen. Da hierdurch die weitere Proteinverdauung gefördert wird, liegt eine positive Rückkopplung vor. Bestandteile von Wein, Bier und Kaffee stimulieren die Säuresekretion ebenfalls durch diesen Mechanismus. Außerdem wird durch den niedrigen pH-Wert die SIH-Freisetzung erhöht. Die gastrale Phase trägt ca. 50 – 60 % zur gesamten Säuresekretion bei. Mit dem Übertritt von Proteinabbauprodukten in das Duodenum beginnt die intestinale Phase. Peptide im Chymus stimulieren die Gastrinsekretion der duodenalen G-Zellen. Weiterhin wird die Säuresekretion durch ein noch nicht genau identifiziertes hormonelles Signal („Enterooxyntin“) sowie durch absorbierte Aminosäuren (Mechanismus unbekannt) stimuliert. Die intestinale Phase trägt ca. 10% zur gesamten Säuresekretion bei.

Pepsinogen-Sekretion Haupt- und Nebenzellen sezernieren durch Exozytose Pepsinogene – eine Gruppe proteolytischer Proenzyme, die zur Gruppe der Aspartatproteasen gehören. Sie werden durch Abspaltung eines N-terminalen Peptids zu Pepsin aktiviert. Pepsin ist eine Endopeptidase mit Aktivitätsoptimum im sauren Bereich (pH 1,8 – 3,5) und spaltet Nahrungsproteine im Magenlumen. Die Pepsinogene werden in drei Gruppen eingeteilt: – Gruppe I (aus den Hauptzellen der Korpusdrüsen), – Gruppe II (aus Hauptzellen und Nebenzellen) und – Cathepsin E. Die basale Sekretionsrate in der interdigestiven Phase beträgt ca. 20% der Maximalsekretion. Die beiden Second Messenger cAMP und Ca2+ steuern die Sekretion. Hierbei unterscheidet man eine erste „Peakphase“, die von einer „Plateauphase“ mit etwas geringerer Sekretionsrate gefolgt wird. Sekretin, VIP und β2-Adrenozeptor-Agonisten wirken über cAMP. PGE2 hemmt die Sekretion im niederen Konzentrationsbereich durch nicht bekannte Mechanismen und stimuliert die Sekretion im hohen Konzentrationsbereich über cAMP. Acetylcholin ist der wichtigste Stimulator und wirkt über Ca2+ (M3Cholinozeptor). Die Freisetzung von Acetylcholin wird durch vago-vagale und lokale Reflexe stimuliert. Hierbei scheint auch luminale Säure einen lokalen Reflexbogen zu aktivieren. Welche Rolle Gastrin und Histamin bei der Pepsinogensekretion spielen, ist unklar.

Die Aktivierung der sezernierten Pepsinogene wird durch den sauren pH-Wert im Magen initiiert. Bei einem pH-Wert zwischen 5 und 3 erfolgt die spontane aber langsame Aktivierung von Pepsinogen, die bei pH-Werten < 3 dramatisch an Geschwindigkeit zunimmt. Außerdem trägt bei diesen niedrigen pH-Werten das entstehende Pepsin zur Autoaktivierung bei, indem es Pepsinogen spaltet. Steigt der pH-Wert über 3,5 kommt es zu einer reversiblen und ab 7,0 zu einer irreversiblen Inaktivierung von Pepsin. Wie bereits oben beschrieben, stimulieren Proteinspaltprodukte die Säuresekretion, so dass Pepsin selbst für seinen optimalen pH-Wert sorgt. Die meisten Proteine gelangen als Peptide ins Duodenum, so dass selbst nach totaler Gastrektomie noch eine vollständige Proteinverdauung möglich ist. Kohlenhydratverdauung findet im Magen praktisch nicht statt. Dagegen beginnt die Lipidverdauung im Magen, vermittelt durch Zungengrund- und Magenlipase (S. 454). Die Magenlipase, die Triazylglyzerine zu Diglyzeriden und freien Fettsäuren spaltet, wird von Hauptzellen sezerniert. Gastrin scheint diesen Vorgang zu stimulieren.

Schutz der Magenschleimhaut Bei maximaler Stimulation sinkt der luminale pH-Wert im Magen auf Werte unter 1. Dies bedeutet, dass die Magenschleimhaut einem H+-Konzentrationsgradienten größer als 1000 000 : 1 standhalten muss. Der Na+Konzentrationsgradient dagegen beträgt lediglich 30 : 1. Andererseits muss sich die Magenschleimhaut gleichzeitig vor Schädigung durch Säure und Pepsin schützen. Zu diesem Zweck existiert eine so genannte Diffusionsbarriere, die aus einer morphologischen und einer funktionellen Komponente besteht. Die H+- und CO2-Undurch-

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14.6 Magen

Die Schleim-Gel-Schicht schützt vor Säure, Pepsin, Gallensäure und z. B. auch Ethanol. Außerdem wirkt sie als Gleitmittel für die Magenmotorik. Diese Schicht ist nicht statisch sondern befindet sich in einem ständigen Gleichgewicht zwischen Aufbau und Abschürfung sowie Präzipitation durch HCl. Der Aufbau wird durch Acetylcholin über Erhöhung der zytosolischen Ca2+-Konzentration (M3-Cholinozeptoren) gefördert. Physikalisch-chemische Irritationen der Magenwand wirken in die gleiche Richtung. Die Schleim-Gel-Schicht stellt auch eine Diffusionsbarriere für Pepsin dar.

Der zweite Anteil der funktionellen Komponente ist die Sekretion von HCO3– durch die Oberflächenzellen (Abb. 14.15). Zwischen der Schleim-Gel-Schicht und der Schleimhaut liegt eine dünne, statische Flüssigkeitsschicht (Unstirred Layer). In diese Schicht sezernieren die Oberflächenzellen HCO3– (wahrscheinlich über einen apikalen Kanal), das basolateral über einen Na+-HCO3–Kotransporter (NBC) in die Zellen aufgenommen wird. Na+ gelangt wahrscheinlich parazellulär nach apikal, so dass insgesamt NaHCO3 sezerniert wird. Durch diese HCO3–-Sekretion liegt der pH-Wert im Unstirred Layer bei ca. 7 und eindringendes Pepsin wird inaktiviert (s. o.). Dringen H+-Ionen in diese Schicht ein, werden sie sofort von HCO3– abgepuffert. Die HCO3–-Sekretion wird durch zwei Mechanismen dem Bedarf angepasst: – Acetylcholin aus parasympathischen Fasern verstärkt über einen Anstieg der zytosolischen Ca2+-Konzentration die Sekretion. – Drohende Ansäuerung bewirkt über lokale Reflexe und lokale PGE2-Produktion eine vermehrte HCO3–Sekretion. Substanzen, welche die Bildung von PGE2 durch Hemmung des Enzyms Cyclooxygenase (sog. COX-Hemmer) blockieren, vermindern die HCO3–-Sekretion und dadurch den Schutz der Magenschleimhaut. Dies kann zur Schädigung der Magenwand und schließlich zum Magengeschwür führen. Ein Beispiel für eine solche Substanz ist Acetylsalicylsäure. Die Frage, wie sich die Zellen in den Drüsen, dem Ort der Säuresekretion, schützen, ist noch nicht vollständig geklärt. Ein wichtiger Mechanismus ist die H+-Undurchlässigkeit der Schlussleisten und der apikalen Zellmembran. Eine Vorstellung ist, dass die saure Flüssigkeit, die von den Belegzellen sezerniert wird, unter Druck steht und zur Zentralachse der Magendrüse strömt, wo es durch den niedrigen pH-Wert zur lokalen Präzipitation des Schleims kommt und sich ein fingerförmiger Tunnel zur Drüsenöffnung hin bildet. Durch diesen Tunnel gelangt die Säure in das Magenlumen ohne den Unstirred Layer auf den Oberflächenzellen zu zerstören.

A Magen

Acetylcholin HCl Prostaglandin E2 +

Na H Schleimfilm

lässigkeit der Schlussleisten und der apikalen Zellmembran stellen die morphologische Komponente dar, die besonders in den Drüsen wichtig ist. Die funktionelle Komponente besteht einerseits aus einer 50 – 200 µm dicken Schleim-Gel-Schicht über den Oberflächenzellen. Der Schleim, der von Oberflächenzellen und Nebenzellen der Magendrüsen gebildet wird, setzt sich aus Muzin, Phospholipiden, Elektrolyten und Wasser zusammen (hydriertes Muzin = Schleim). Muzin ist ein hochmolekulares Glykoprotein, das durch Disulfidbrücken stabilisierte Tetramere bildet. Außerdem enthält Muzin lange sulfatierte Kohlenhydratseitenketten.

+

–

–

2 HCO3

HCO3

+

–

Na -HCO3 Symporter

CO2 + H2O +

Na

B Duodenum

H2O

+

+

Na -K -ATPase

K

+

+

Na –

CO2

H

OH

+

– HCO3

+

+

Na - H Austauscher

– HCO3

Prostaglandin E2 –

Cl

–

–

Cl -HCO3 Austauscher

Abb.14.15 HCO3–-Sekretion in Magen (Oberflächenzellen) und Duodenum. A Die Oberflächenzellen des Magens sezernieren HCO3–, das in die Schleimschicht vom Lumen her eindringende H+-Ionen puffert und dadurch die Magenschleimhaut schützt. Diese Sekretion wird durch Prostaglandin E2, Acetylcholin und einen niedrigen pH-Wert stimuliert. HCO3– wird mittels eines basolateralen Na+-2HCO3–-Symporters und eines apikalen Kanals transzellulär sezerniert, und Na+ folgt parazellulär. B Im Duodenum wird HCO3– dadurch bereitgestellt, dass H+-Ionen aktiv aus der Zelle geschafft werden (Na+/H+-Austauscher) und die dabei zurückbleibenden OH–-Ionen sich mit CO2 zu HCO3– verbinden, das über einen HCO3–/Cl–-Austauscher ins Lumen gelangt. Das verbleibende Na+ verlässt die Zelle in Richtung Blut über den Na+/H+-Austauscher.

Schutz der Duodenalschleimhaut Neben der Magenschleimhaut ist auch die Duodenalschleimhaut potenziell von der Säure bedroht. Hier haben sich zwei Schutzmechanismen herausgebildet. Sinkt der pH-Wert im Duodenum (≤ 4,5), so wird die Ausschüttung von Sekretin aus den S-Zellen stimuliert. Sekretin erhöht dann die Bildung von HCO3–-reichem Pankreassaft, der den pH-Wert im Duodenum neutralisiert, und hemmt die Parientalzellen. Weiterhin findet HCO3–-Sekretion durch Epithelzellen der Duodenal-

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14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung krypten statt. Diese wird, ähnlich wie im Magen, durch Prostaglandin E2 stimuliert. In den Zellen wird CO2 + OH– zu HCO3– umgewandelt. Während HCO3– die Zelle apikal über einen HCO3–/Cl–-Austauscher und über einen HCO3–-Kanal verlässt (Abb. 14.15), werden die entstehenden H+-Ionen über einen Na+/H+-Austauscher ins basolaterale Interstitium geschafft. Eine Störung dieser Schutzmechanismen trägt zur Entstehung von Duodenalgeschwüren mit bei.

Magenmotorik Funktionell kann man an der Muskulatur des Magens einen proximalen und einen distalen Teil unterscheiden. Im proximalen Magen wird unter dem Einfluss vagovagaler Reflexe eine gleichmäßige, tonische Wandspannung aufrechterhalten. Sie nimmt beim Schluckakt (rezeptive Relaxation) und wenn Nahrung in den Magen gelangt (Akkommodation) ab. Der distale Magen weist starke Peristaltikwellen auf, die von einem Schrittmacherzentrum an der großen Kurvatur ausgehen. Diese Wellen, die dazu dienen, die aufgenommene Nahrung zu homogenisieren, werden von Ganglienzellen der Magenwand beeinflusst. Vagovagale und enterogastrische Reflexe können hier ebenso wie Gastrin und einige andere Magen-Darm-Hormone modifizierend eingreifen. Der Pylorusschließmuskel wird unabhängig von der übrigen Magenmotorik gesteuert. An ihm setzt die Regulation der Magenentleerung an. Erbrechen ist das Ergebnis eines komplexen Zusammenwirkens viszeraler und somatischer Reflexe und ermöglicht eine orale Entleerung von Magen- (und u. U. Darm-)Inhalt. Bei der Magenmotorik müssen wir zwei Zustände unterscheiden. Interdigestiv sorgt die Motorik für den Weitertransport von Speichel und reinigt den Magen von unverdaulichen Resten. In der digestiven Phase muss der Magen geschluckte Nahrung speichern, mechanisch bearbeiten (mahlen, emulgieren, mischen) und kontrolliert an den Dünndarm weitergeben. Der proximale Magen dient als Reservoir für die aufgenommene Nahrung und trägt zum Weitertransport verdauter Bestandteile bei. Im distalen Magen verlaufen phasische Kontraktionen in aboraler Richtung. Diese dienen dem Mahlen, Emulgieren und Mischen. Die myoelektrischen Eigenschaften des Magens ähneln denen der anderen Abschnitte des Magen-DarmTraktes. Kontraktionen werden nur dann ausgelöst, wenn die Muskelzellen über eine Schwelle hinaus depolarisieren (Aktionspotenzial). Im proximalen Magen finden sich kaum spontane Depolarisationen, so dass dort ein relativ konstanter Druck herrscht. Im distalen Magen dagegen zeigen sich spontane Depolarisationen (slow waves, S. 414) ausgehend von den Cajal-Zellen im Schrittmacherzentrum an der großen Kurvatur. Diese Cajal-Zellen haben eine höhere Eigenfrequenz der Spontanerregung als andere Muskelzellen der Magenwand und dirigieren somit die Magenmotorik. Die Depolarisationen haben eine Frequenz von 3/min und bewegen sich mit 0,1 – 4 cm/s in aboraler Richtung. Erreichen die slow waves eine Schwelle, werden sie von Aktionspotenzialen überlagert (Spike bursts), und es entstehen Kontraktionswellen. Acetylcholin wirkt hier fördernd, βAgonisten hemmend. Störungen dieser physiologischen Rhyth-

men (z. B. durch Adrenalin, Glukagon, Metenkephalin, PGE2) können zu Dysrhythmien führen und die Verdauung und Magenentleerung behindern.

Bei der digestiven (postprandialen) Magenmotorik können wir fünf Komponenten unterscheiden (Abb. 14.16). Während des Schluckens erfolgt durch einen Reflexbogen (Dehnung von Pharynx und oberem Ösophagus → Schluckzentrum → Stimulation efferenter Vagusfasern) die Aktivierung postganglionärer NANC-Neurone und damit die Erschlaffung des proximalen Magens (rezeptive Relaxation). Beim Eintreten der Nahrung in den proximalen Magen führt dessen Dehnung über einen vago-vagalen Reflex ebenfalls zur Aktivierung der NANCNeurone. Dadurch ist es möglich, dass das Volumen des Magens zunimmt, ohne dass der Druck wesentlich steigt (Akkommodation). Bei Schädigung der Mageninnervation (z. B. diabetische Neuropathie) ist die Akkommodation gestört und es entsteht Völlegefühl. Anschließend wird im Magen durch tonische Kontraktion des proximalen Abschnitts ein gastroduodenaler Druckgradient aufgebaut, der dafür sorgt, dass die Nahrung allmählich in den distalen Magen gelangt. Hierfür sind postganglionäre cholinerge Neurone verantwortlich. Mit zunehmender Magenfüllung und Dehnung wird das oben erwähnte Schrittmacherzentrum aktiviert, es entstehen Aktionspotenziale, und schließlich verlaufen ringförmige Kontraktionswellen auf den Pylorus zu (Ringkontraktionen). Diese treiben die randständigen Anteile des Nahrungsbreis zum Pylorus hin, so dass im distalen Antrum der Druck bei geschlossenem Pylorus auf über 100 mm Hg ansteigen kann (terminale antrale Kontraktion). Im Zentrum des Antrumlumens wird der Nahrungsbrei nach proximal zurückgeworfen. Dieses Umwälzen sorgt zusammen mit den entstehenden Scherkräften im Nahrungsbrei für das Mahlen, Mischen und Emulgieren. Die mechanische Zerkleinerung sowie das Emulgieren von Lipiden sorgen für eine Oberflächenvergrößerung der Nahrungsbreibestandteile im Chymus, so dass später die Verdauungsenzyme effizienter arbeiten können. Während der Relaxationsphasen des Antrums öffnet sich der Pylorus, und Nahrungspartikel mit einer Größe < 1 – 2 mm können ihn passieren. Bei dieser Größenauswahl scheint das Antrum eine wichtige, wenn auch noch nicht ganz verstandene Rolle zu spielen. Antrum, Pylorus und Duodenum müssen als eine funktionelle motorische Einheit verstanden werden, deren Aktivitäten eng aufeinander abgestimmt sind. So reguliert das Duodenum den Pylorusdruck und kontrolliert damit den Übertritt von Nahrungsbestandteilen. Außerdem tragen Antrum, Pylorus und Duodenum zum Widerstand bei, der beim Verlassen des Magens überwunden werden muss.

Die Magenentleerung beginnt bereits, während im Antrum noch Nahrung mechanisch bearbeitet wird. Die treibende Kraft ist der Tonus des proximalen Magens. Bei Flüssigkeiten ist die Entleerungsrate (l/h) proportional dem Flüssigkeitsvolumen, so dass die Entleerung einen exponentiellen Zeitverlauf hat. Enthält die Flüssigkeit Fette, Monosaccharide oder Aminosäuren, so wird die

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14.6 Magen

Stimulation Hemmung

Sympathikus

Transport nervale Verbindung

viszeral-afferente Fasern Motilin

adrenerg N. vagus

CCK, GIP, Sekretin

cholinerg

Gastrin NANC

Schrittmacher ENS

NANC ENS

Abb.14.16 Regulation der Magenmotorik. Die Motorik des Magens wird nerval (N. vagus, Sympathikus, Enterisches Nervensystem = ENS) und endokrin (z. B. Gastrin, Sekretin, CCK, GIP, Motilin) gesteuert. Diese Steuerungselemente haben drei Hauptangriffspunkte, nämlich die Muskulatur des

Magenleerung verlangsamt. Feste Nahrung verlässt den Magen noch langsamer. Nach der Zerkleinerung findet eine lineare Entleerung statt (d. h. konstante Entleerungsrate pro Zeit). Dünndarmrezeptoren für Nährstoffe lösen eine reflektorische negative Rückkopplung aus. Im proximalen Dünndarm bewirken Glucose, Lipide und HCl eine Verlangsamung der Entleerung. Im distalen Dünndarm wirken Glucose und Lipide. Diese Rückkopplung kann an Ernährungsgewohnheiten adaptieren. So führt vorangegangene Glucosezufuhr zu einer schnelleren Entleerung Glucose-haltiger Nahrung, und frühere Lipidzufuhr beschleunigt die Entleerung fettreicher Nahrung. Bei der Magenentleerung kommt es zu einem gewissen physiologischen Reflux von Duodenalinhalt in den Magen (duodeno-gastrischer Reflux), der jedoch in der Regel den Magen nicht schädigt. Kommt es dagegen in der interdigestiven Phase zu Reflux in den leeren Magen, so kann dies zur Schädigung der Mukosa führen.

Die Motorik der interdigestiven Phase wird durch die Migrating Motor Complexes (= MMC, S. 414) bestimmt, die über proximalen und distalen Magen sowie den gesamten Dünndarm wandern.

proximalen Magens, das Schrittmacherzentrum des Magens sowie den Pylorus. Die viszeral-afferenten Fasern aus Ösophagus und proximalem Magen sind Teil der Reflexbögen für rezeptive Relaxation und Akkommodation.

Während der Phase 1 und 2 der MMC (s. o.) ist der Pylorustonus niedrig und Partikel bis zu einer Größe von 25 mm können transportiert werden (Ausputzerfunktion). Motilin, das in Phase 2 und 3 im Duodenum freigesetzt wird, stimuliert möglicherweise die interdigestive Motorik. Der Übergang zwischen der interdigestiven und der digestiven Motorik wird vom N. vagus koordiniert. Bei einer Schädigung des enterischen Nervensystems (vegetative Neuropathie, z. B. bei Diabetes mellitus) sind die MMC gestört, und es kann zur Ausbildung von Magensteinen (Gastrolithen) kommen.

Regulation der Magenmotorik Von größter Bedeutung für die Regulation ist der N. vagus (Abb. 14.16). Die postganglionären Neurone sind erregend (cholinerg) oder hemmend (NANC mit VIP, ATP, Opioiden oder Substanz P als Transmitter). Dadurch kann der N. vagus die Kontraktilität des Magens verstärken sowie die Pylorusrelaxation und Magenentleerung fördern. Die Afferenzen von Dehnungsrezeptoren der Schleimhaut so-

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14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung wie aus dem Plexus myentericus verlaufen mit dem N. vagus nach zentral und modulieren dessen efferente Aktivität. Der Sympathikus (aus T6 – T9) hemmt die Kontraktilität des Magens durch Modulation des Plexus myentericus. Neben dem vegetativen Nervensystem beeinflussen auch einige Peptidhormone die Magenmotorik: – CCK in niederen Konzentrationen bremst die Entleerung durch Stimulation von CCKA-Rezeptoren an der Pylorusmuskulatur, die sich daraufhin kontrahiert. Außerdem scheint CCK auch myenterische Ganglienzellen zu beeinflussen. – Sekretin hemmt die Entleerung durch Relaxation von Fundus und Antrum sowie durch Pyloruskontraktion. – Gastrin scheint die Entleerung durch Relaxation der Fundusmuskulatur zu hemmen. – Motilin wirkt direkt auf die Magenmuskulatur und beschleunigt die Entleerung, während GIP sie hemmt.

Erbrechen Erbrechen ist ein komplexer Schutzreflex. Es handelt sich um eine koordinierte Abfolge autonomer und willkürlicher Motorik. Auslöser für diesen Reflex können schädigende Stoffe (Toxine) im Darm sein, die zur Aktivierung viszeraler Afferenzen führen. Gelangen schädigende Stoffe in den Blutkreislauf, können sie Neurone in der Chemorezeptoren-Triggerzone (CTZNeurone; Area postrema der Medulla oblongata) stimulieren, die außerhalb der Blut-Hirn-Schranke liegen und aktivierende Verbindungen zum Brechzentrum in der Formatio reticularis der Medulla oblongata haben. Durch diesen Mechanismus können auch Substanzen, die bei Urämie, Diabetes oder bei Strahlentherapie entstehen, sowie Medikamente Erbrechen verursachen. CTZ- und Brechzentrum-Neurone besitzen Rezeptoren für Serotonin (5-HT3), Dopamin (D2), Histamin (H1), Opiate (NK1) und Acetylcholin (muskarinerg). Diese Rezeptoren und ihre Liganden spielen beim Auslösen von Erbrechen eine wichtige Rolle. Rezeptor-Antagonisten werden deshalb klinisch als Antiemetika eingesetzt (z. B. Tropisetron als 5-HT3Antagonist, Metoclopramid als D2-Antagonist oder Dimenhydrinat als H1-Antagonist). Weiterhin können Bewegungsreize über den Vestibularapparat, höhere Zentren des ZNS, bestimmte Wahrnehmungen (z. B. übelriechende Speisen, ekelerregender Anblick) sowie hormonelle Reize, z. B. in der Schwangerschaft, das Brechzentrum stimulieren. Der Brechvorgang wird in vier Phasen unterteilt. Zunächst senkt sich das Diaphragma bei geschlossener Glottis, wodurch der intrathorakale und intraösophageale Druck sinkt. Nach ca. 0,5 Sekunden erschlaffen der untere Ösophagussphinkter und der Magen, wobei sich gleichzeitig die Bauchwandmuskulatur anspannt. Anschließend kontrahiert sich die Längsmuskulatur im Ösophagus, wodurch der intraösophageale Druck weiter sinkt. Schließlich kontrahiert sich die Antrummuskulatur und der obere Ösophagussphinkter erschlafft, so dass der Mageninhalt oralwärts hinausbefördert wird. Während dieses Vorgangs kehrt sich die Peristaltik im Dünndarm teilweise um, sein Inhalt

wird pyloruswärts transportiert. Bei geöffnetem Pylorus kann also Darminhalt in den Magen gelangen und ebenfalls erbrochen werden (Erbrechen von Galle).

Dumpingsyndrom Die Folgen einer mangelnden Regulation der Magenentleerung zeigen sich deutlich bei Patienten nach einer totalen oder subtotalen Entfernung des Magens (Gastrektomie); sie leiden am sog. Dumpingsyndrom mit Übelkeit und Bauchkrämpfen nach den Mahlzeiten, begleitet von Herzklopfen, Schwindel und Schweißausbrüchen. Das rührt daher, dass der Mageninhalt unkontrolliert in den oberen Dünndarm stürzt, was zu einer beträchtlichen, osmotisch induzierten Flüssigkeitssekretion ins Jejunum und als Konsequenz zu einer plötzlichen Verringerung des Blutvolumens führt. Eine weitere Folge ist eine zu rasche Glucoseabsorption, die heftige Schwankungen der Insulinsekretion verursacht.

Gastritis und Magengeschwüre Bei Patienten mit atrophischer Gastritis werden die Belegzellen durch einen Autoimmunprozess zerstört, und es kommt zur Achlorhydrie, d. h. fehlender HClSekretion. (Wegen mangelnder Intrinsic-Factor-Bildung kommt es außerdem zu Cobalaminmangel mit der Folge einer perniziösen Anämie). Da die Rückkopplungshemmung der Gastrinsekretion über HCl nicht mehr greift, steigt die Gastrinausschüttung stark an (sekundäre Hypergastrinämie). Gastrin wirkt wachstumsfördernd auf die Magenschleimhaut, daher erhöht sich das Risiko eines Magenkarzinoms. Beim sog. Zollinger-Ellison-Syndrom bilden GZell-Tumoren hohe Mengen Gastrin (primäre Hypergastrinämie), so dass die Magensäuresekretion stark ansteigt und lange andauert. Die Tumoren reagieren nicht auf die physiologischen Regulationsmechanismen. Folge sind Ulzera (Geschwüre) der Magen- und Duodenalmukosa sowie Malabsorption und Durchfälle; letztere entstehen durch Inaktivierung der Pankreaslipase und der Präzipitation von Gallensalzen; für beides ist der bei diesen Patienten erniedrigte pHWert des Chymus verantwortlich. Die häufigste Ursache für Magengeschwüre ist die Besiedlung mit Helicobacter pylori. Durch diese chronische Entzündung kommt es zur Freisetzung von Entzündungsmediatoren in der Magenschleimhaut, die einerseits die Säuresekretion stimulieren können (z. B. Histamin aus Mastzellen) und andererseits die Schutzmechanismen der Magenschleimhaut hemmen (HCO3–-Sekretion ↓, Schleimbildung ↓, PGE2-Bildung ↓). Wird durch das Geschwür ein größeres Blutgefäß angegriffen, kann es zu lebensgefährlichen Blutungen kommen. Langfristig kann die Schleimhaut so stark geschädigt werden, dass das Bild einer atrophischen Gastritis entsteht.

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14.7 Pankreas

14.7

Pankreas

Die exokrinen Anteile des Pankreas sezernieren aus den Azinuszellen Verdauungsenzyme, die in einem Cl–-reichen Saft mit neutralem pH-Wert gelöst sind, und aus den Zellen der Ausführungsgänge eine proteinfreie, alkalische Flüssigkeit. Zu den Verdauungsenzymen gehören Amylasen, Lipasen und Proteasen. Das HCO3– des Sekrets der Ausführungsgänge wird zur Neutralisierung der Salzsäure benötigt, die mit dem Chymus aus dem Magen in das Duodenum gelangt. Acetylcholin aus den vagalen Nervenendigungen wirkt sekretionsaktivierend auf die Azinuszellen, während die Sekretion in den Ausführungsgängen vor allem vom Sekretin stimuliert wird, das aus den S-Zellen der Dünndarmschleimhaut stammt. CCK (Cholecystokinin) erhöht die Azinussekretion dadurch, dass es die cholinerge Stimulation moduliert. CCK potenziert auch die Sekretinwirkung am Pankreasgangepithel.

Exokrine Funktion des Pankreas Zusammensetzung des Pankreassekrets Die exokrine Funktion des Pankreas besteht in der Sekretion einer proteinreichen alkalischen Flüssigkeit (zur endokrinen Funktion s. S. 551 f.). Pro Tag werden ca. 1,5 l Pankreassaft gebildet. Dadurch werden 5 – 15 g Protein sezerniert, verglichen mit dem täglichen Proteinbe-

Tabelle 14.3

darf eines Erwachsenen von 70 g eine nicht unerhebliche Menge. Die Azinuszellen des Pankreas haben eine der höchsten Proteinsyntheseraten im Körper. Insgesamt werden über 20 verschieden Proteine (Tab. 14.3) sezerniert, die sich grob in drei Gruppen einteilen lassen. – Zymogene sind inaktive Vorstufen von Verdauungsenzymen (im wesentlichen Proteasen), die im Dünndarm durch Enteropeptidase und Trypsin proteolytisch aktiviert werden. – Weiterhin werden aktive Enzyme wie z. B. α-Amylase und Lipasen sezerniert. – Die dritte Gruppe besteht aus schützenden und regulatorischen Proteinen. Hierzu gehört Glykoprotein 2 (GP2), das an der Innenseite von Zymogengranula mittels Glykosyl-Phosphatidylinositol verankert ist und die Re-Endozytose der Vesikelmembran reguliert. GP2 kann sich auch aus der Membran lösen und lagert sich dann, ähnlich wie das Protein Lithostatin, an Verdauungsenzyme in den Ausführungsgängen an, wodurch möglicherweise die Bildung größerer, verstopfender Aggregate (Pankreassteine) verhindert wird. Trypsininhibitoren schützen vor Selbstverdau und das Pankreatitis-assoziierte Protein wird vermehrt unter pathologischen Bedingungen abgegeben und hat möglicherweise bakteriostatische Wirkung.

Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Pankreassekretes ist HCO3–, das im Duodenum den Magensaft neutralisiert und die Mizellenbildung (S. 455) erleichtert. Im unstimulierten Pankreas ist die HCO3–-Konzentration des Sekretes nur wenig höher und die Cl–-Konzentration nur wenig

Proteine im Pankreassekret

Gruppe

Name

Funktion

zymogene Proteinverdauung

Trypsin(ogen)e 1, 2, 3 Chymotrypsinogen (Pro)Elastasen 1, 2 Proprotease E (Pro)Carboxypeptidase A1, A2

Hydrolyse von Arg-, Lys-Peptidbindungen Hydrolyse von Phe-, Tyr-, Trp-Peptidbindungen Hydrolyse aliphatischer Peptidbindungen

(Pro)Carboxypeptidase B1, B2 Kallikrein(ogen)e 1, 2, 3

C-terminale Hydrolyse von Phe-, Tyr-, Trp-Peptidbindungen C-terminale Hydrolyse von Arg-, Lys-Peptidbindungen Hydrolyse von Arg-, Lys-Peptidbindungen

Kohlenhydratverdauung

α-Amylase

Hydrolyse α-1,4-glykosidischer Bindungen der Stärke

Lipidverdauung

Karboxylester-Lipase Pankreaslipase (Pro)Kolipase 1, 2 (Pro)Phospholipase A2

Hydrolyse aller Esterverbindungen Hydrolyse von C1- und C3-Glyzerinesterbindungen Kofaktor für Pankreaslipase Hydrolyse von 1,2-Diazylglyzerophosphocholin an Position 2

Nukleinsäureverdauung

DNase 1 DNase 2 RNAse

DNA-Hydrolyse am 3′-Ende der Phosphatesterbindung DNA-Hydrolyse am 5′-Ende der Phosphatesterbindung RNA-Verdauung

Sonstige

Trypsininhibitoren Glykoprotein 2 (GP2)

Schutz vor Selbstverdau Re-Endozytose, verhindert Pankreassteinbildung (?) verhindert Pankreassteinbildung (?) Bakteriostatisch (?)

Lithostatin Pankreatitis-assoziiertes Protein

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437

G

Azinus

Anblick, Geruch, Geschmack, Nahrung im Magen, Protein- und Fettspaltprodukte im Duodenum

G

= G-Proteingekoppelter Rezeptor

G G

ACh

Enzymsekretion: 25%

kephale Phase

14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung

N. vagus

GRP

Gastrin

G

Magendehnung saurer Mageninhalt ins Duodenum

G-Zelle

ACh G

gastrale Phase

schlucken

Enzymsekretion: 40%

Magenentleerung

Pankreas

Gang

G

Fettsäuren, Peptide, Aminosäuren

CCK

HCl, Gallensalze, Fettsäuren, saurer pH

Sekretin Enzymsekretion Duodenum

Abb.14.17 Regulation der exokrinen Sekretion im Pankreas. Die Regulation findet sowohl in den Azini als auch in den Ausführungsgängen statt und besteht aus nervalen und

niedriger als im Blutplasma. Wird das Pankreas aber zur Bildung eines flüssigkeitsreichen Sekretes angeregt (z. B. durch Sekretin), so steigt mit zunehmender Sekretionsrate auch die HCO3–-Konzentration an, wogegen die Cl–Konzentration sinkt (zelluläre Mechanismen S. 441). Die Konzentrationen von Na+ und K+ bleiben weitgehend konstant und unterscheiden sich kaum von denen im Plasma. Die Cl–-Konzentration kann auf 40 – 50 mmol/l fallen und die HCO3–-Konzentration auf über 120 mmol/l ansteigen, so dass der pH-Wert (nach Henderson-Hasselbalch, S. 312) auf ca. 8,1 ansteigt. Das Pankreassekret ist auch reich an Ca2+. Dieses stammt aus den Zymogengranula, in denen die Ca2+-Konzentration im millimolaren Bereich liegt. Dies scheint für adäquate Verpackung und zellulären Transport der Verdauungsenzyme notwendig zu sein.

Regulation der exokrinen Funktion des Pankreas Die beiden wichtigsten hormonellen Regulatoren sind CCK und Sekretin (Abb. 14.17). CCK aus den I-Zellen des Duodenums und Jejunums fördert hauptsächlich die Proteinsekretion in den Azini. Nach Nahrungsaufnahme stimulieren vor allem Lipide, Peptide und Aminosäuren die CCK-Freisetzung (CCK-58 und CCK-33), wodurch die CCK-Plasmakonzentration auf das 5 – 10fache ansteigt. Möglichweise unterstützen CCK-Freisetzungsfaktoren aus dem Duodenum (sezernierte Proteine) diesen Vorgang. Diese Faktoren könnten Teil eines Regelkreises sein, da sie im leeren Duodenum sofort abgebaut werden und dann keine stimulierende Wirkung entfalten können. CCK wirkt einerseits direkt auf die Azini und kann durch zentrale Stimulation des Parasympathikus auch indirekt

intestinale Phase

438

Enzymsekretion: max

endokrinen Komponenten. Wie bei der Magensaftsekretion unterscheidet man eine kephale, gastrale und intestinale Phase. Genauere Beschreibung s. S. 439.

wirken. Dies erklärt auch, warum Atropin die Wirkung von CCK auf das Pankreas abschwächt. Die Wirkung von CCK auf die HCO3–-Sekretion besteht wahrscheinlich in der Potenzierung der Sekretinwirkung. Ähnlich wie Gastrin, wirkt auch CCK wachstumsfördernd, vor allem auf das Pankreas. In Bevölkerungsgruppen, in denen Sojabohnen wesentlicher Nahrungsbestandteil sind, unterbricht der in diesen Bohnen enthaltene Trypsininhibitor den Abbau der CCKFreisetzungsfaktoren, so dass CCK ungebremst sezerniert wird. Dies kann zur Pankreashypertrophie führen, die mit erhöhten Vorkommen von Pankreaskrebs korreliert. Sekretin ist der wichtigste Stimulus für die Flüssigkeitsund HCO3–-Sekretion in den Ausführungsgängen. Es wird von S-Zellen im Duodenum und Jejunum freigesetzt. Stimuliert wird diese Freisetzung vor allem durch HCl und, zu einem geringeren Grad, durch Gallensalze und Fettsäuren. Der N. vagus (über Acetylcholin und möglicherweise GRP) stimuliert die Protein- und die HCO3–Sekretion. Man muss sich die Regulation der exokrinen Pankreasfunktion als integrierte Wirkung von CCK, Sekretin und N. vagus (sowie evtl. weiterer Faktoren) vorstellen, wobei die spezifischen Wirkungen durch die Anwesenheit der anderen Signale moduliert werden können.

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14.7 Pankreas

Die vier Phasen der exokrinen Pankreasfunktion Die exokrine Pankreasfunktion wird, wie auch die Säuresekretion im Magen, durch Verdauungsprozesse koordiniert, um eine möglichst hohe Effizienz zu erreichen. Interdigestiv herrscht eine niedrige basale Sekretion. Diese ist nicht konstant, sondern schwankt mit den MMC-Phasen im Dünndarm und Magen (S. 414). Dadurch wird gewährleistet, dass noch verdaubares Material aus dem Magen im Dünndarm weiterverarbeitet wird. Während der MMC-Phase 1 ist die Sekretionsrate minimal, steigt jedoch in Phase 2 mit der Motilität im Duodenum an. Hierbei spielt möglicherweise CCK eine Rolle. In Phase 3 ist die Sekretion maximal, um in Phase 4 wieder abzufallen. Wichtigster Regulator ist der Parasympathikus, da nach Denervierung diese Koordination fast vollständig verschwindet. Über α-adrenerge Wege wird die interdigestive Sekretion gehemmt.

Postprandial steigt die exokrine Pankreassekretion um den Faktor 5 – 20. Dabei können drei Phasen unterschieden werden (Abb. 14.17). – Die kurze kephale Phase kann bereits mit dem Gedanken an die Nahrungsaufnahme oder dem Anblick bzw. Geruch der Nahrung beginnen, spätestens jedoch beim Kontakt mit der Mundschleimhaut. Wahrscheinlich führt Stimulation hypothalamischer Areale zur Aktivierung eines Reflexbogens, der letztendlich über postganglionäre cholinerge Fasern des N. vagus und M3-Cholinozeptoren die Pankreasfunktion anregt. Hierdurch kommt es zu einem leichten Anstieg der Flüssigkeits- und HCO3–-Sekretion, und die Enzymsekretion steigt auf ca. 25 % ihres Maximalwertes. – Nach dem Schlucken beginnt die gastrale Phase (Enzymsekretion um weitere 10 – 20 % gesteigert), in der die Pankreasfunktion dadurch angeregt wird, – dass Gastrin freigesetzt wird (das ebenfalls an CCKA-Rezeptoren bindet, wenn auch mit geringerer Affinität als CCK), – dass die Magendehnung vago-vagale gastro-pankreatische Reflexe auslöst sowie – dass der Übertritt kleiner Mengen sauren Mageninhalts in das Duodenum beginnt. – Mit der eigentlichen Entleerung des Magens beginnt die intestinale Phase der Pankreassekretion, bei der die Enzymsekretion ihren maximalen Wert erreicht. Drei Mechanismen tragen dazu bei: – Durch HCl, Gallensalze und Fettsäuren wird an SZellen die Sekretinfreisetzung stimuliert. – Fettsäuren, Peptide und Aminosäuren stimulieren I-Zellen zu vermehrter CCK-Freisetzung. – Schließlich führen Lipide und Proteinspaltprodukte zur Aktivierung eines vago-vagalen entero-pankreatischen Reflexes. Ausmaß und Muster der Enzymsekretion hängen von der Nahrungszusammensetzung ab. Flüssige Nahrung führt zu einer eher kurz anhaltenden Stimulation auf bis zu 60%, wohingegen feste und kalorienreiche Nahrung eine langanhaltende, maximale Stimulation verursacht. Lipide, besonders Monoazylglyzerine und Fettsäuren sind sehr kräftige Stimuli, gefolgt von Proteinspaltprodukten und einigen Aminosäuren (z. B. Phenylalanin, Valin, Methionin). Fettsäuren verzögern gleichzeitig die Magenentleerung (wahrscheinlich über Sekretin, GIP, Prostaglandine und nerval) und tragen somit

zur Koordination der Verdauung bei. Selbst bei maximaler Stimulation wird nur ein Teil der im Pankreas vorhandenen Enzyme sezerniert, so dass eine große Enzymreserve besteht (besonders für Kohlenhydrat- und Proteinverdauung). Außerdem kann das Pankreas langfristig seine Enzymreserven an die Ernährungsgewohnheiten anpassen. Erst bei einem Verlust von 80 – 90 % des Pankreasgewebes (z. B. chronische Pankreatitis) setzt ein Verdauungsdefizit ein, beginnend mit Lipiden. Somit kommt es zuerst zu Fettstühlen (Steatorrhö). Die Sekretionsrate beginnt nach einiger Zeit zu sinken. Hierfür ist die Sekretion von Peptid YY (PYY) aus neuroendokrinen Zellen in Ileum und Kolon verantwortlich, das durch nervale Mechanismen und Durchblutungsveränderung die Pankreassekretion drosselt.

Schutz vor Selbstverdauung Das Pankreas schützt sich mit fünf Mechanismen vor der Selbstzerstörung durch die Verdauungsenzyme. – Zunächst werden die besonders gefährlichen Proteasen als inaktive Vorstufen (Zymogene) sezerniert. Die Aktivierung erfolgt im Duodenum, wo Enteropeptidase Trypsinogen zu Trypsin aktiviert, das dann alle weiteren Zymogene aktiviert. – Weiterhin sind die Membranen der Granula proteinundurchlässig, so dass ein schleichendes „Auslaufen“ verhindert wird. – Um Schaden durch „versehentlich“ aktivierte Enzyme zu vermeiden, befinden sich in den Granula auch Enzyminhibitoren (Trypsininhibitor). – Der saure pH-Wert in den Granula sowie die Kondensierung der Proteine und das Ionenmilieu (Ca2+) hemmen ebenfalls die Aktivität. – Schließlich werden „frühreife“ Enzyme, die bereits in der Zelle aktiviert wurden, erkannt und durch NichtVerdauungsproteasen oder nach Transfer in Lysosomen abgebaut.

Funktion der Pankreasazini Sekretion von Verdauungsenzymen In den Azini findet die regulierte Sekretion von Verdauungsenzymen durch Exozytose sowie Elektrolyt- und Wassersekretion statt. Im unstimulierten Zustand werden Verdauungsenzyme mit niedriger Rate konstitutiv sezerniert (Abb. 14.18). Nach Stimulation erhöht sich diese Sekretionsrate um das 5 – 10fache. Allerdings wird selbst bei längerer Stimulation nur ein Teil der vorhandenen Enzyme abgegeben (ca. 10 – 20% pro Stunde). Ein wichtiger Stimulator der Enzymsekretion ist CCK. Nach dessen Bindung an den CCKA-Rezeptor kommt es, vermittelt durch das G-Protein Gαq, zur Aktivierung von Phospholipase C, wodurch IP3 und DAG gebildet werden. IP3 führt zur Freisetzung von Ca2+ aus dem endoplasmatischen Retikulum und DAG aktiviert Proteinkinase C (PKC). Dieser Mechanismus sorgt dafür, dass es unter physiologischen Bedingungen (CCK im pikomolaren Bereich) zu rhythmischen Ca2+-Erhöhungen im Zytoplasma (Ca2+-Oszillationen) kommt. Eine dauerhafte Ca2+-Erhöhung (z. B.

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439

14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung

CaMK = Calmodulin-abhängige Kinase CFTR = cystic fibrosis transmembrane conductance regulator ORCC = outward rectifying chloride channel

ACh G

A

Phospholipase C Proteinkinase C

H 2O + Na

B

CCK Blut

G

H2O K

Ca

+

Na

G

Sekretin

CO2

G –

+

Lumen

G

–

CCK

+

Na

ORCC –

G

+

Phospholipase C +

Na

+

2Cl + K

Na -H Austauscher +

–

Cl

Na

+

HCO3

+

ACh

H +

–

HCO3

Na -K -2Cl Symporter

Ca2+

K

+

+

Cl

+

–

OH

CA

–

K + Na Na -K -ATPase

Kinasen

– 3

Cl -HCO Austauscher

Proteinkinase A

–

+

+

VIP

Adenylylzyklase

H 2O

+

Na -K -ATPase

2+

CaMK

Verdauungsenzyme

440

+

–

Na -HCO3 Symporter

–

Cl -Kanal G –

Cl

CFTR Lumen

Sekretin

ATP cAMP

G

Gangzellen

Blut

Azinizellen

Abb.14.18 Zelluläre Sekretionsmechanismen im Pankreas. A In den Azini findet die Sekretion der Verdauungsenzyme durch Exozytose statt (s. Abb.14.3). Sie kann sowohl über den Phospholipase-C-Weg als auch über den Adenylylcyclase-Weg stimuliert werden. Die transepitheliale NaCl-Sekretion in den Azini bedarf der aktiven Akkumulation von Cl– in der Zelle. Dafür sorgt ein basolateraler Na+-2Cl–-K+-Symporter. Angetrieben wird er durch den chemischen Na+-Gradienten, den wiederum die Na+-K+-ATPase aufrechterhält. Während die K+-Ionen, die sowohl mit dem Symportcarrier als auch mit der Na+-K+-ATPase in die Zelle gelangen, über basolaterale K+-Kanäle rezirkulieren, verlässt Cl– die Zelle über luminale Cl–-Kanäle. Ihre Öffnungswahrscheinlichkeit wird durch zytosolisches Ca2+ erhöht (= sekretionsstimulierende Wirkung von Acetylcholin und CCK). Es entsteht ein lumennegatives transepitheliales Potenzial, das für die parazelluläre Sekretion von Na+ sorgt. Mit 1 mol ATP können so 6 mol NaCl sezerniert werden, und Wasser folgt dem osmotischen

bei Verletzung der Zellen) würde letztendlich die Enzymsekretion hemmen, da sie die Architektur des Zytoskeletts zerstört. Durch die Ca2+-Oszillationen wird rhythmisch die Calmodulin-abhängige Proteinkinase (CaMKII) aktiviert. Die Frequenz der Ca2+-Oszillationen steuert das Ausmaß der Enzymsekretion, so dass hier ein Frequenz-modulierter Prozess vorliegt. Ca2+ fördert auch die Bildung von NO und moduliert dadurch indirekt die Enzymsekretion. Schließlich wird durch CCK auch die cAMP-Bildung und damit die Proteinkinase-A-(PKA-)Aktivität angeregt, welche ebenfalls die Enzymsekretion fördert.

Gradienten. B Der Mechanismus der NaHCO3-Sekretion im Pankreasgang ist von der Na+-K+-ATPase und dem Na+/H+Antiporter in der basolateralen Membran abhängig. HCO3– gelangt hauptsächlich über einen Anionen-Austauschcarrier ins Lumen. Damit dieser am Laufen bleibt, muss ein parallel geschalteter Cl–-Kanal für die Rezirkulation der Cl–-Ionen sorgen. Dieser Cl–-Kanal (CFTR = Cystic Fibrosis Transmembrane Conductance Regulator) ist bei Patienten mit Mukoviszidose (= Cystic Fibrosis) defekt, was das Pankreassekret zäh werden und an HCO3– verarmen lässt. Durch das lumennegative transepitheliale Potenzial, das durch den Cl–-Ausstrom ins Lumen (und den basolateralen K+-Ausstrom) entsteht, wird Na+ parazellulär ins Lumen getrieben. Die hohe HCO3–Sekretion wird zum einen dadurch ermöglicht, dass der hohe H+-Ausstrom (Na+/H+-Austausch und H+-ATPase) zur HCO3–Akkumulation im Zytosol führt, zum anderen dadurch, dass HCO3– über einen Na+-HCO3–-Symporter sekundär aktiv vom Interstitium her in die Zelle transportiert wird.

physiologische Rolle weiterer Hormone ist zum Teil noch nicht endgültig geklärt. Sekretin und VIP fördern möglicherweise die Enzymsekretion über cAMP. GRP (aus Fasern des N. Vagus) und Neurotensin dagegen durch die Phospholipase C. Insulin scheint besonders die α-Amylasesekretion zu erhöhen. Gehemmt wird die Enzymsekretion durch Somatostatin (durch Hemmung der cAMP-Bildung), Enkephaline und PP (Pankreatisches Polypeptid). PP wird durch CCK, Sekretin, Gastrin und den N. vagus aus den F-Zellen der Langerhans-Inseln freigesetzt und stellt einen wichtigen negativen Rückkopplungsmechanismus dar, der vor überschießender Enzymsekretion schützt.

Acetylcholin, der zweite wichtige Stimulator der Azini, führt nach Bindung an den M3-Cholinozeptor zur Ca2+Freisetzung über den selben Mechanismus wie CCK. Die

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14.7 Pankreas

Elektrolyt- und Wassersekretion Die Azini sezernieren eine plasmaähnliche, isotone Flüssigkeit, um die Verdauungsenzyme in Lösung zu halten. Treibende Kraft ist die sekundär-aktive, transzelluläre Cl–-Sekretion (Abb. 14.18). An der basolateralen Membran sorgt die Na+/K+-ATPase für den Na+-Gradienten, der einen Na+-K+-2Cl–-Symporter antreibt. Durch diesen werden Cl– und K+ sekundär-aktiv in die Zellen aufgenommen. K+ verlässt die Zellen sofort wieder über einen basolateralen Kanal (K+-Rezirkulation), während Cl– in der Zelle akkumuliert wird. Hierdurch entsteht ein auswärts-gerichteter Cl–-Gradient, der dafür sorgt, dass Cl– über einen Kanal in der apikalen Membran in das Azinuslumen diffundiert. Ob in manchen Azini auch HCO3– apikal ausströmt, ist umstritten, spielt jedoch sicher keine entscheidende Rolle. Durch den basolateralen K+-Ausstrom hyperpolarisiert hier das Membranpotenzial, während der apikale Cl–-Ausstrom zur Depolarisation führt. Diese beiden Mechanismen sorgen für ein Lumen-negatives transepitheliales Potenzial, das die Triebkraft für die parazelluläre Na+-Sekretion durch die Kationen-selektiven Schlussleisten darstellt. Die insgesamt resultierende NaCl-Sekretion erzeugt einen osmotischen Gradienten, der zum trans- und parazellulären Wassereinstrom in das Azinuslumen führt. Die Elektrolyt- und Wassersekretion wird vorwiegend durch CCK, Acetylcholin und GRP stimuliert. Diese drei Mediatoren führen, wie oben beschrieben, zur intrazellulären Ca2+-Freisetzung und zur Stimulation von PKC sowie CaMKII. Phosphorylierungsprozesse führen dann zur Aktivierung der apikalen Cl–- und der basolateralen K+-Kanäle.

Funktion der Ausführungsgänge des Pankreas Mechanismus der NaHCO3-Sekretion Die Hauptaufgabe der Ausführungsgänge ist die Sekretion von NaHCO3–-reicher, isotoner Flüssigkeit. HCO3– führt zur Alkalisierung des Pankreassekretes, das im Duodenum zur Neutralisierung der Magensäure beiträgt. Die zusätzliche Flüssigkeitssekretion verbessert die Hydrierung der Verdauungsenzyme. Sezerniertes HCO3– wird durch zwei Mechanismen bereitgestellt (Abb. 14.18): – Die Carboanhydr(at)ase in den Gangzellen fördert die Umwandlung von CO2 + OH– zu HCO3–. – An der basolateralen Membran wird HCO3– zusätzlich über einen Na+-HCO3–-Symporter (NBC) in die Zellen aufgenommen (die Na+/HCO3–-Stöchiometrie ist wahrscheinlich 1 : 2). Die entstehenden H+-Ionen verlassen die Zellen über eine basolaterale H+-ATPase und einen basolateralen Na+/H+Austauscher. Das HCO3– gelangt vorwiegend über einen apikalen HCO3–/Cl–-Austauscher und zum Teil über apikale Kanäle (CFTR) in das Ganglumen. Der Austauscher ist darauf angewiesen, dass extrazellulär ausreichend Cl– vorhanden ist. Dies wird durch die apikale Cl–-Sekretion über den CFTR-Kanal und Ca2+-aktivierte Cl–-Kanäle (ORCC, outward rectifying chloride channel) erreicht.

Dieser Mechanismus gewährleistet, dass jedes Cl–, das im Austausch mit HCO3– in die Zellen gelangt, sofort wieder sezerniert wird. Es findet somit keine Netto-Cl–-Resorption statt. Der Cl–-Ausstrom durch die apikalen Kanäle sorgt, wie in den Azini, für ein Lumen-negatives transepitheliales Potenzial, so dass auch in den Gängen parazellulär Na+ sezerniert wird. Schließlich folgt Wasser parazellulär entlang dem osmotischen Gradienten. In den Gängen wird also Na+, HCO3– und Wasser sezerniert. Dies bedeutet, dass die luminale HCO3–-Konzentration steigt und die luminale Cl–-Konzentration sinkt. Sie sinkt umso mehr, je stärker die HCO3–-Sekretion ist.

Regulation der NaHCO3-Sekretion Der wichtigste Stimulator der NaHCO3-Sekretion ist Sekretin, das in den Zellen über Stimulation der Adenylylzyklase zur Aktivierung der Proteinkinase A führt (Abb. 14.18). Hierdurch werden der apikale CFTR-Kanal und der basolaterale Na+-2HCO3–-Symporter stimuliert. Acetylcholin führt über M3-Rezeptoren und Phospholipase C zur Aktivierung der apikalen, Ca2+-aktivierten Cl–Kanäle und des basolateralen Na+/H+-Austauschers. GRP stimuliert die Sekretion über nicht bekannte Mechanismen. Die Rolle von CCK ist noch unklar, wahrscheinlich hat es stimulierende Wirkung. Substanz P hemmt die Sekretion. Die Ca2+-aktivierten Cl–-Kanäle (ORCC, outward rectifying chloride channel) werden, wie der Name schon sagt, durch Ca2+, aber auch durch cAMP stimuliert. Möglicherweise führt cAMP durch Aktivierung des CFTR zur apikalen ATP-Sekretion der Gangzellen, wodurch purinerge P2Y-Rezeptoren erregt werden, was zur Erhöhung der zytosolischen Ca2+-Konzentration führt. Parallel zu den Cl–-Kanälen werden durch Ca2+ und cAMP auch basolaterale K+-Kanäle häufiger geöffnet.

Proteinsekretion Manche der distalen Gangzellen („Goblet-Zellen“) können durch Exozytose hochmolekulare Proteoglykane sezernieren. Diese dienen als Gleitmittel und schützen vor Proteasen. Diese Sekretion wird ebenfalls durch Sekretin stimuliert.

Pathophysiologische Bedeutung der apikalen Cl–-Kanäle Sie sind das wichtigste Regulationsinstrument in den Gangzellen. Hierbei kommt dem CFTR-Kanal eine besonders wichtige Rolle zu, wie die Erbkrankheit Mukoviszidose (Zystische Fibrose, Inzidenz 1 : 2000) eindrucksvoll zeigt. Bei dieser Krankheit ist der CFTR(cystic fibrosis transmembrane conductance regulator-)Kanal defekt und die Sekretion in den Gängen dramatisch reduziert. Hierdurch wird das Sekret sehr zähflüssig, verstopft die Ausführungsgänge und führt zur Zystenbildung und zu bindegewebigem Umbau (daher der Name Zystische Fibrose). Schließlich entwickelt sich das Bild einer exokrinen Pankreasinsuffizienz. CFTR ist ein 170 kDa großes Membranprotein mit zwei Transmembrandomänen, das einen Cl–-Kanal niederer Leitfähigkeit bildet. Man unterscheidet im zytoplasmatischen Teil zwei Nukleotid-Bindungs-

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442

14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung domänen (NBC1 und 2, Bindung von ATP) und eine regulatorische Domäne (R-Domäne, Phosphorylierung durch PKA und PKC). Wird die PKA aktiviert (durch cAMP) führt dies zur teilweisen Phosphorylierung der R-Domäne, wodurch zuerst NBC1 und, bei weiterer Phosphorylierung, auch NBC2 für ATP zugänglich werden und dieses binden. Dadurch ändert sich das Öffnungsverhalten des Cl–-Kanals: Zunächst geht er in einen Zustand schnellen Öffnens und Schließens („flickery opening“) über, um bei Besetzung von NBC1 und 2 in den Zustand dauerhafter Öffnung („long opening“) zu gehen. Durch Hydrolyse von ATP an der Domäne NBC2 gelangt der Kanal wieder in den geschlossenen Zustand und geht durch Dephosphorylierung in den Ruhezustand über. PKC kann durch zusätzliche Phosphorylierung der R-Domäne die Wirkung von PKA positiv modulieren.

14.8

Dünn- und Dickdarm: Flüssigkeits- und Elektrolyttransport

Täglich werden ca. 8 – 9 l Wasser mit 50 – 100 g Elektrolyten im Dünndarm absorbiert, wovon nur etwa 2 l aus der Nahrung, der Rest aus Drüsensekreten stammt. Besteht eine osmotische Druckdifferenz durch NaClAbsorption oder Anionen- (und Na+-)Sekretion, diffundiert Wasser rasch durch das Dünndarmepithel. Der Darm sezerniert selbst ca. 1 l Flüssigkeit pro Tag. Diese Sekretion kann direkt durch den aktiven Transport von K+ getrieben werden, wobei das K+ über die basolaterale Na+-K+-Pumpe in der Zelle akkumuliert wird und durch Kanäle ins Lumen abfließt. Meist ist es aber so, dass Anionen (HCO3– oder Cl–) indirekt durch das von der Na+-K+-Pumpe erzeugte Na+-Gefälle in der Zelle angereichert werden, um diese dann passiv in Richtung Lumen zu verlassen. Der Na+/H+-Austauscher-1 bzw. der Na+-K+-2Cl–-Symporter in der basolateralen Zellmembran der sekretorischen Zellen ist für die Anionenakkumulation verantwortlich. Die Sekretionsvorgänge im Dünndarm werden neuronal und hormonal reguliert. Der Dickdarm absorbiert fast das gesamte NaCl und 80 – 90 % des Wassers, die in ihn eintreten. K+ wird sezerniert und reabsorbiert, wobei die K+-Homöostase des Körpers bestimmt, was überwiegt. Enterotoxine und Abführmittel hemmen die NaCl-Absorption oder lösen eine Flüssigkeitssekretion aus.

Tabelle 14.4

Vergleich von Dünn- und Dickdarm

Länge (m)

Dünndarm

Dickdarm

6

2,5

apikale Oberfläche (m )

∼ 200

∼ 25

Schleimhautfalten

ja

ja

Villi

ja

nein

Krypten bzw. Drüsen

ja

ja

Mikrovilli

ja

ja

2

Nährstoffabsorption

ja

nein

Aktive Na+-Absorption

ja

ja

Aktive K+-Sekretion

nein

ja

Toxine, die ausgewaschen werden. Stimuli, die die Sekretion anregen, fördern meist gleichzeitig die propulsive (forttreibende) Peristaltik, wodurch die Schutzfunktion verstärkt wird. Nährstoffe werden praktisch ausschließlich im Dünndarm absorbiert. Lediglich bei Neugeborenen findet Nährstoffabsorption auch im Dickdarm statt. Dünn- und Dickdarm haben eine spezialisierte Epithelstruktur, die zur Oberflächenvergrößerung führt (Abb. 14.2, S. 411). Dies ist wichtig für die Absorption. Auffaltungen der Submukosa führen zur Bildung von Kerckringfalten im Dünndarm bzw. von Haustren im Dickdarm. Hierdurch wird die Oberfläche um ca. 30 % vergrößert. Ausstülpungen der Mukosa (Villi oder Zotten) im Dünndarm und Einstülpungen der Mukosa (Lieberkühn-Krypten im Dünndarm und Kolondrüsen) im Dickdarm führen zu einer Oberflächenvergrößerung um ca. 500 – 600%. Die Villi sind überwiegend für die Absorption zuständig, wohingegen die Drüsen hauptsächlich Sekretion betreiben. Schließlich befinden sich an der apikalen Membran der Mukosazellen Mikrovilli, die die Oberfläche um ca. 3000% vergrößern. Die Darmschleimhaut ist eine höchst dynamische Struktur, die sich durch ständige Zellerneuerung ausgehend von der Kryptenbasis auszeichnet. Hier befinden sich Vorläuferzellen (Stammzellen), die zu absorptiven Villuszellen, Becherzellen oder Paneth-Körnerzellen differenzieren können. Eine Villuszelle hat eine Lebensspanne (Entstehung an der Kryptenbasis – Abschilferung an der Zottenspitze) von 48 – 96 Stunden.

Intestinaler Wasser- und Elektrolyttransport Aufbau und Vergleich von Dünn- und Dickdarm Dünn- und Dickdarm zeigen bezüglich Aufbau und Funktion viele Ähnlichkeiten, jedoch auch einige wichtige Unterschiede (Tab. 14.4). Vereinfacht handelt es sich beim Darm um eine Schlauch, dessen Wand aus Epithel und Muskelschichten besteht. Nerven und endokrine Zellen in der Wand sind wesentlich an der Regulation von Motorik und Transport beteiligt. Im Dünn- wie im Dickdarm werden Elektrolyte und Wasser sowohl absorbiert als auch sezerniert. Die Sekretion dient im Wesentlichen dem Schutz vor Schädigungen z. B. durch bakterielle

Pro Tag gelangen bei gesunden Erwachsenen ca. 8,5 l Flüssigkeit in Dünn- und Dickdarm. Diese Flüssigkeit setzt sich aus Nahrung (1,5 – 2,5 l), Speichel (1,5 l), Magensaft (2 l), Pankreassekret (1,5 l), Galle (0,5 l) und Darmsekret (1 l) zusammen. Hiervon werden im Dünndarm ca. 6,5 l und im Dickdarm ca. 1,9 l pro Tag (re)absorbiert. Die restlichen 0,1 l gelangen in den Stuhl. Die maximale Resorptionskapazität des Dünndarms liegt zwischen 15 und 20 l pro Tag, die des Dickdarms zwischen 4 und 5 l pro Tag. Somit hat der Dickdarm eine 2 – 2,5-fache Funktionsreserve und kann eine verminderte Resorption im Dünndarm bis zu einem gewissen Grad

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14.8 Dünn- und Dickdarm: Flüssigkeits- und Elektrolyttransport Tabelle 14.5

Übersicht über die hauptsächliche Lokalisation der verschiedenen Transportmechanismen

Transport

Na+-Resorption

Mechanismus

Duodenum

Jejunum

Ileum

+

+

+

+

nährstoffgekoppelt Na+/H+-Austausch (NHE2 und 3) NHE und Cl–/HCO3–-Austausch

+

Proximales Kolon

+

epithelialer Na+-Kanal (ENaC) Cl–-Resorption

+

transepitheliales Potenzial

+

Cl–/HCO3–-Austausch

K+-Resorption K+-Sekretion

Na+-K+-2Cl–-Symport

+ +

NHE und Cl–/HCO3–-Austausch Cl–-Sekretion

Distales Kolon

+

Solvent drag

+ +

+

+

+

+

+

+

+

+

H+/K+-ATPase (primär aktiv)

+

transepitheliales Potenzial

+

Na+-K+-2Cl–-Symport

kompensieren. Natürlich muss nicht nur Wasser absorbiert werden sondern auch Elektrolyte (Na+, K+, Cl–, HCO3– u. a. m.). So werden im Dünndarm ca. 600 mmol Na+ pro Tag absorbiert (= ca. 36 g NaCl). Wenn wir von Flüssigkeits- und Elektrolytabsorption im Darm sprechen, so handelt es sich hierbei um die Nettoabsorption. Dies bedeutet, dass nicht nur Absorption sondern auch Sekretion stattfindet, wobei physiologischerweise die Absorption überwiegt. Der Nettoflux einer Substanz über die Darmmukosa ist also die Differenz von [Fluxapikal → basolateral] – [Fluxbasolateral → apikal]. Hierbei unterscheiden sich einzelne Darmabschnitte (segmentale Heterogenität), da zum Beispiel im Dünndarm nur absorptiver K+-Flux stattfindet, wogegen im Kolon sekretorischer und absorptiver K+-Flux abläuft. Insgesamt findet im Dünndarm die Nettoresorption von Wasser, Na+, K+,Cl– und anderer Ionen sowie die Nettosekretion von HCO3– statt. Der Dickdarm sorgt für die Nettoresorption von Wasser, Na+ und Cl– sowie für die Nettosekretion von K+ und HCO3–. Daneben gibt es auch eine KryptenZotten-Heterogenität. An den Zotten wird vorwiegend absorbiert, in den Krypten vorwiegend sezerniert.

Zelluläre Mechanismen der Na+-Absorption Die Na+-Resorption wird an unterschiedlichen Stellen des Darms durch zum Teil unterschiedliche Mechanismen bewerkstelligt (Tab. 14.5). Sie findet an den Epithelzellen der Zotten und an den Oberflächenepithelzellen des Kolon statt. Ein entscheidender Schritt der Na+-Resorption ist die (primär-aktive) Pumpaktivität der basolateralen Na+/K+-ATPase, die für eine niedere zytosolische Na+Konzentration sorgt und damit die transzelluläre Resorption ermöglicht. Beim Transport über die apikale Membran lassen sich vier Mechanismen unterscheiden. – Na+ kann Nährstoff-gekoppelt absorbiert werden. In der apikalen Membran existieren Symporter, die Na+ zusammen mit Glucose bzw. Galactose (SGLT1-Transporter) oder zusammen mit Aminosäuren (verschiedene Aminosäuretransporter, S. 451) in die Zelle aufnehmen (Abb. 14.17). Die Triebkraft für diese Trans-

+

+

porter steckt im elektrochemischen Na+-Gradienten. Dies bedeutet, dass Na+ passiv transportiert wird (der Transporter „hilft“ Na+ nur die Lipidschicht zu überwinden), die Nährstoffe jedoch sekundär aktiv. Diese Art des Transporters ist im Jejunum am stärksten ausgeprägt, gefolgt vom Ileum. Im Kolon findet sich der Nährstoff-gekoppelte Transport nur bei Neugeborenen. Die Transporter werden in Epithelzellen der Zotten, nicht jedoch der Krypten, exprimiert. Da der Transporter nur funktioniert, wenn Na+ und Nährstoffe gleichzeitig vorhanden sind, spielt er in der digestiven, nicht jedoch in der interdigestiven Phase eine Rolle. Einige der Transporter sind elektrogen und führen zum Einstrom positiver Ladungen über die apikale Membran, die dadurch depolarisiert. Das transepitheliale Potenzial (s. a. S. 342) wird so negativer und treibt die parazelluläre oder transzelluläre Cl–Resorption an.

Eine wichtige Besonderheit dieser Art der Na+-Resorption mit klinischer Relevanz ist die Tatsache, dass der Transport nur wenig von Second Messengern wie Ca2+ oder cAMP beeinflusst wird und damit auch noch bei gastrointestinalen Infektionen mit Enterotoxin-bildenden Keimen funktioniert (s. S. 447). Dies ist eine der Grundlagen für das Konzept der „Oral Rehydration“. Viele Durchfallerkrankungen werden durch bakterielle Toxine verursacht, die die Wasser- und Elektrolytsekretion durch Beeinflussung physiologischer Signalwege stimulieren (s. u.). Da der SGLT1 durch solche Signalwege kaum beeinflusst wird, ist er auch unter diesen Bedingungen intakt. Die Gabe einer NaCl-Glucose-Lösung (Oral Rehydration Solution) ermöglicht somit, die Flüssigkeits- und Salzbilanz der Patienten ausgeglichen zu gestalten. Durch diese einfache aber effektive Methode konnten in den letzten Jahrzehnten viele Patienten in Entwicklungsländern gerettet werden. Bei der angeborenen Erkrankung Glucose-Galactose-Malabsorption ist die Resorption von Glucose und

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443

444

14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung Duodenum, Jejunum

Jejunum, Ileum Lumen

Zelle

Blut

Lumen

–

Cl

+

Zelle

–

Blut

+

Na -H Austauscher

H2O

+

Cl

Na

H K

Glucose

+

+

Na

+

Na -K -ATPase

K

+

+

Na

+

–

CO2

OH

SLGT1

+

+

Na

+

Na

+

+

Na /K -ATPase

–

HCO3

Aminosäuren

Ileum, proximales Kolon Lumen +

distales Kolon

Zelle

+

Na -H Austauscher

+

+

Na /K -ATPase

H2O

K

+

Na

H

Lumen

Blut

+

K

+

–

CO2

+

+

Na

+

Na

ENaC

–

–

+

Na -K -ATPase

Na

OH

Blut

+

+

DRA

Zelle

–

Cl

HCO3

Cl

–

–

Cl -HCO3 Austauscher

–

Cl

–

Cl

Abb.14.19 Zelluläre Mechanismen der intestinalen NaClResorption. NaCl kann an verschiedenen Stellen des Darms durch unterschiedliche Mechanismen resorbiert werden. Grundsätzlich gilt, dass Na+ transzellulär unter Beteiligung der basolateralen Na+-K+-ATPase resorbiert wird. Wie in der Abbildung dargestellt gibt es an der luminalen Membran vier

Galactose gestört, während die von Fructose nicht beeinträchtigt ist. Erhalten die davon betroffenen Kinder Milchzucker, Rohrzucker, Malzzucker, Stärke oder Glucose mit der Nahrung, entwickeln sich in kürzester Zeit ein (osmotischer) Durchfall und Bauchschmerzen, die mit Absetzen der Nahrung genauso schnell wieder verschwinden. Ursache für diese Erkrankung ist das Fehlen des SGLT1-Carriers in der Bürstensaummembran der Dünndarmmukosa. Mutationen im SGLT1Gen führen dazu, dass der Transporter im Zellinneren stecken bleibt und nicht in die Membran gelangt. Die Patienten müssen oben genannte Zucker vermeiden, doch können sie ihren Kohlenhydratbedarf durch Fructose decken. Umwandlung von Fructose zu Glucose gewährleistet dann auch z. B. die Glucoseversorgung von Gehirn und Erythrozyten. Im Gegensatz zur renalen Glukosurie (S. 357) kommt es bei obiger Erkrankung zu keinem bedrohlichen Glucoseverlust im Harn, da der SGLT2 des proximalen Tubulus nicht betroffen ist, der ja den allergrößten Teil der glomerulär filtrierten Glucose resorbiert.

Möglichkeiten des Transports von Na+. Cl– kann trans- oder parazellulär resorbiert werden. Wasser folgt dem dadurch entstehenden osmotischen Gradienten. Die NaCl-Resorption findet an den Zotten und an den Oberflächenzellen statt, nicht jedoch in den Krypten. Genauere Beschreibung s. S. 443.

– Eine weitere apikale Eintrittspforte für Na+ sind elektroneutrale Na+/H+-Austauscher (NHE, Abb. 14.19). Diese tauschen Na+ und H+ im Verhältnis 1 : 1 aus und werden durch luminale Alkalisierung (z. B. durch HCO3–) und intrazelluläre Ansäuerung stimuliert. In der apikalen Membran der Enterozyten des gesamten Darms finden sich die Isoformen NHE2 und NHE3. Im Duodenum und Jejunum arbeiten sie ohne parallelen Cl–/HCO3–-Austauscher (s. u.). Da sie durch cAMP gehemmt werden, können sie zur Entstehung von Durchfall beitragen (s. 447). In der basolateralen Membran aller Enterozyten findet sich eine weitere Isoform, der NHE1, der jedoch nicht direkt am transepithelialen Na+-Transport beteiligt ist, sondern den zellulären pH-Wert und das Zellvolumen kontrolliert. – In Ileum und Kolon arbeiten die Na+/H+-Austauscher (NHE2 und 3) parallel mit einem Cl–/HCO3–-Austauscher (DRA = downregulated in adenoma), der sich ebenfalls in der apikalen Membran befindet (Abb. 14.19). Mit diesen beiden Transportern wird also Na+ und Cl– in die Zelle aufgenommen, während HCO3– mit H+ zu CO2 und Wasser reagiert. Dieser

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14.8 Dünn- und Dickdarm: Flüssigkeits- und Elektrolyttransport Mechanismus benötigt keine Glucose oder Aminosäuren und ist daher besonders in der interdigestiven Phase wichtig. Allerdings wird er durch cAMP, cGMP und intrazelluläres Ca2+ gehemmt und spielt somit eine wichtige Rolle beim so genannten „Reisedurchfall“ (hervorgerufen durch E. coli Enterotoxine, s. u.). – Schließlich kann Na+ über den epithelialen Na+-Kanal (ENaC, Abb. 14.17) elektrogen in die Zellen gelangen. Dieser Kanal ist hochselektiv für Na+ und wird auch im Sammelrohr der Niere exprimiert. Im Darm spielt dieser Na+-Absorptions-Mechanismus im distalen Kolon eine Rolle und trägt zur Feineinstellung der Gesamt-Na+-Homöostase bei. Aldosteron fördert diese Art der Na+-Resorption durch Stimulation des ENaC (Erhöhung der Offenwahrscheinlichkeit, Einbau in die Membran und vermehrte Synthese) sowie der Na+/K+-ATPase. Na+-Einstrom über den ENaC sorgt für ein lumen-negatives transepitheliales Potenzial (– 15 bis – 25 mV), das bei der Cl–Absorption und K+-Sekretion eine Rolle spielt (s. u.).

Choleratoxin, Hitze-labiles E.coli-Toxin, VIP, Histamin, Prostaglandin Clostridium-difficile-Toxin, YersiniaToxin, Acetylcholin, Bradykinin, Serotonin, Gallensalze Lumen

Zelle

Blut +

Na

H 2O

cAMP

K

+ +

+

Na -K -ATPase

2+

Ca

–

Cl

K

+

K

+

cGMP +

+

–

Na -K -2Cl -Symporter +

K – 2Cl +

Zelluläre Mechanismen der Cl–-Absorption Cl– wird in Zotten des gesamten Darms absorbiert. Zunächst kann Cl– passiv im Gefolge der Nährstoff-gekoppelten oder ENaC-vermittelten (s. o.) Na+-Resorption absorbiert werden (Abb. 14.17). Die hierdurch aufgebauten elektrischen Gradienten (apikales Membranpotenzial, lumen-negatives transepitheliales Potenzial) treiben den Cl–-Transport. Es ist nicht klar, ob die parazelluläre oder die transzelluläre (apikaler und basolateraler Kanal) Route wichtiger ist. Die Kopplung an den Na+-Transport hat zur Folge, dass dessen Veränderungen auch zu Veränderungen der Cl–-Absorption führen. Der Cl–/HCO3–-Austauscher (DRA = downregulated in adenoma) trägt in Ileum und Kolon – zum Teil parallel mit den Na+/H+-Austauschern (s. o.) und zum Teil alleine – zur Cl–-Resorption bei. Hierbei werden Cl– und HCO3– im Verhältnis 1 : 1 ausgetauscht. Der Transport über die basolaterale Membran ist unklar. Durch diesen Mechanismus wird HCO3– ins Darmlumen sezerniert, so dass der Stuhl relativ HCO3–reich ist. Dies bedeutet, dass es bei Durchfällen zu HCO3–-Verlust, gefolgt von einer metabolischen Azidose, kommen kann (S. 321). Ein Fehlen des DRA führt zur angeborenen autosomal-rezessiven Chloridorrhö mit Cl–-haltigen Stühlen und einer metabolischen Alkalose.

Zelluläre Mechanismen der Cl–-Sekretion Im Gegensatz zu Na+ wird Cl– auch aktiv sezerniert und zwar transzellulär in den Krypten entlang des gesamten Darms. Unter basalen Bedingungen ist diese Sekretion gering, so dass Cl– netto-absorbiert wird. Die Sekretion kann jedoch stark stimuliert werden (z. B. durch Acetylcholin oder Choleratoxin), so dass es zur Nettosekretion mit sekretorischer Diarrhö (s. u.) kommt. Der geschwindigkeitsbestimmende Transportschritt der Sekretion ist der Efflux durch apikale Cl–-Kanäle (Abb. 14.20), zu denen auch CFTR (s. Kap. 14.7) gehört. Der aktive Aufbau des Cl–-Gradienten findet jedoch an der basolateralen

Na +

Na

=Stimulation

Hitze-labiles E.coli-Toxin Guanylin

Abb.14.20 Zelluläre Mechanismen der intestinalen NaCl-Sekretion. Die NaCl-Sekretion findet in den Krypten statt und ist ein streng regulierter Vorgang. Links: Die transepitheliale NaCl-Sekretion bedarf der aktiven Akkumulation von Cl– in der Zelle. Dafür sorgt ein basolateraler Na+2Cl–-K+-Symporter. Angetrieben wird er durch den chemischen Na+-Gradienten, den wiederum die Na+-K+-ATPase aufrechterhält. K+ rezirkuliert über die basolaterale Membran, während Cl– die Zelle apikal über einen Kanal (= CFTRKanal) verlässt. Rechts: Die Sekretion kann über cAMP, cGMP und Ca2+ stimuliert werden. Diese Signalwege werden nicht nur von physiologischen Stimuli benutzt, sondern können auch durch pathologische Stimuli angeregt werden, wodurch es zu Durchfall kommt.

Membran statt. Hier sorgt die Na+/K+-ATPase zusammen mit basolateralen K+-Kanälen für eine niedrige intrazelluläre Na+-Konzentration. Diese ist Voraussetzung für die Tätigkeit des basolateralen Na+-K+-2Cl–-Symporters, der die sekundär-aktive Aufnahme von Cl– bewirkt. Dadurch steigt die intrazelluläre Cl–-Konzentration über das elektro-chemische Gleichgewicht (das aufgenommene K+ verlässt die Zelle sofort über basolaterale Kanäle = K+-Rezirkulation) und Cl– verlässt die Zellen passiv über apikale Kanäle ins Lumen. Dieser Cl–-Ausstrom depolarisiert die apikale Membran, so dass das transepitheliale Potenzial lumen-negativer wird und Na+ parazellulär nachströmt. Wasser folgt dann dem osmotischen Gradienten. Die physiologische Bedeutung der Cl–-Sekretion zeigt sich bei manchen Neugeborenen mit defektem CFTR (Mukoviszidose), bei denen der Darminhalt so sehr eindickt, dass es zu einem Mekoniumileus (Darmverschluss durch Mekonium) kommen kann.

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446

14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung

Zelluläre Mechanismen der K+-Absorption

A Sekretion Lumen

Zelle

Blut +

Na

K K

+

+

+

Na -K -ATPase

+

K

+

–

2Cl + Na +

+

–

Na -K -2Cl -Symporter

B Resorption +

Na

H

K

+

K +

+

+

+

Na -K -ATPase

+

+

H -K -ATPase

K

Der Darm trägt durch seine Fähigkeit der K+-Resorption und -Sekretion zur K+-Homöostase bei – allerdings in geringerem Ausmaß als die Niere. Mit der Nahrung nehmen wir durchschnittlich 80 – 120 mmol K+ pro Tag auf. Außerdem gelangt mit den Magen-, Leber- und Pankreassekreten zusätzlich K+ in den Darm. Davon erscheinen ca. 10 mmol/d im Stuhl. D. h., der Großteil an K+ wird absorbiert. Nettoabsorption findet vor allem im Dünndarm statt, Nettosekretion hingegen im Dickdarm. Ein Mechanismus der Absorption ist passiver, parazellulärer Transport (Abb. 14.21) im Gefolge von Wasser (Solvent drag). Dieser findet in Jejunum und Ileum statt und wird nicht durch den K+-Gehalt der Nahrung beeinflusst. Er spielt für die Regulation des K+-Haushaltes keine Rolle. Im distalen Kolon kann K+ zusätzlich aktiv transzellulär absorbiert werden. Eine apikale H+/K+-ATPase transportiert dort K+ primär-aktiv in die Zellen hinein. Diese ATPase ist zu 60% identisch mit der gastralen H+/K+ATPase (S. 428). Wie K+ die Zelle dann basolateral verlässt, ist nicht geklärt (möglicherweise über Kanäle). Die aktive Resorption wird durch den K+-Gehalt der Nahrung in dem Sinne beeinflusst, dass geringe K+-Zufuhr die K+Resorption erhöht.

+

Abb.14.21 Zelluläre Mechanismen des aktiven intestinalen K+-Transports. K+ kann sowohl aktiv sezerniert als auch aktiv resorbiert werden. Dadurch trägt der Darm auch zur Regulation des K+-Haushaltes bei, wenn auch in geringerem Maße als die Nieren. Die aktive Sekretion wird durch einen basolateralen Na+-2Cl–-K+-Symporter (s. auch Abb.14.18) getrieben. Für die aktive Resorption ist eine apikale H+/K+-ATPase verantwortlich. Diese ist verwandt mit der H+/K+-ATPase der Belegzellen (Abb.14.12).

Durch die apikalen Kanäle kann auch HCO3– ins Darmlumen gelangen, so dass auch dieser Mechanismus zur relativ hohen HCO3–-Konzentration im Stuhl beiträgt.

Die Sekretion wird durch Aktivierung der apikalen Cl–Kanäle hochreguliert (s. Kap. 14.7). Hierbei können vorhandene Kanäle in der Membran oder der Einbau von neuen Kanälen in die Membran stimuliert werden. cAMP, cGMP und Ca2+ sind hierbei die intrazellulären Second Messenger (Abb. 14.20). Ihre Konzentration kann durch Hormone (z. B. Histamin), Transmitter (z. B. Acetylcholin, VIP), bakterielle Toxine oder Abführmittel erhöht werden. VIP wirkt über cAMP, Acetylcholin über Phospholipase C und Ca2+, E. coli-Enterotoxine über cAMP oder cGMP. Parallel zu den apikalen Cl–-Kanälen werden auch basolateral K+-Kanäle aktiviert, die die Rezirkulation von K+ ermöglichen. Hemmung dieser K+-Kanäle ist ein denkbares Therapieprinzip bei Durchfall.

Zelluläre Mechanismen der K+-Sekretion Bei einer durchschnittlichen Wasserausscheidung von 0,1 l pro Tag liegt die K+-Konzentration im Stuhl bei ca. 100 mmol/l (10 mmol/0,1 l) und ist damit 20 – 25 × höher als im Blutplasma. Ohne „K+-Einengung“ durch selektive Wasserresorption lässt sich dies nur durch Sekretion erklären. K+-Sekretion findet nur im Kolon statt, hier kommt es sogar zur Netto-Sekretion. Im distalen Kolon herrscht wegen der dortigen Na+-Absorption ein lumennegatives transepitheliales Potenzial, das die passive K+Sekretion antreibt (Abb. 14.21). Da diese Form der Sekretion von der Aldosteron-empfindlichen Na+-Absorption abhängt, ist sie selbst auch Aldosteron-empfindlich. So erhöht eine Abnahme des Extrazellulärvolumens (bei Dehydratation), die zu vermehrter Aldosteronfreisetzung führt (mit dem Ziel, die NaCl-Resorption zu stimulieren), gleichzeitig die K+-Ausscheidung. In der Folge kann es zu Hypokaliämie kommen. Im gesamten Kolon findet außerdem aktive K+-Sekretion statt, die durch den K+Gehalt der Nahrung beeinflusst wird. Angetrieben durch die geringe intrazelluläre Na+-Konzentration, schafft ein basolateraler Na+-K+-2Cl–-Kotransporter (zusätzlich zur Na+/K+-ATPase) K+-Ionen in die Zellen hinein. Das Verhältnis der apikalen und basolateralen K+-Leitfähigkeiten entscheidet nun, ob K+ nach basolateral rezirkuliert oder aber sezerniert wird. Gleichzeitig wird dieses Verhältnis zur Regulation verwendet. Aldosteron, das die apikale K+-Leitfähigkeit (und die Na+/ K+-ATPase, s. o.) stimuliert, erhöht somit die K+-Sekretion. Aldosteron kann also sowohl die passive wie auch die aktive K+Sekretion erhöhen. cAMP und intrazelluläres Ca2+ aktivieren die apikale Leitfähigkeit stärker als die basolaterale und erhöhen somit ebenfalls die Sekretion. Substanzen, die diese Signalwege aktivieren (z. B. VIP und Choleratoxin → cAMP, Serotonin → Ca2+), können zu starkem K+-Verlust führen, da sie gleichzeitig die Cl–-Sekretion akti-

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14.9 Dünn- und Dickdarm: Nährstoffverdauung und -absorption vieren und Durchfall hervorrufen. Es kann dann eine Hypokaliämie mit Azidose entstehen.

Regulation des intestinalen Wasser- und Elektrolyttransports Der intestinale Elektrolyttransport kann durch Mediatoren aus enterischem Nervensystem, endokrinen Zellen und Immunzellen der Lamina propria sowie durch Bakterientoxine und Laxantien (abführende Substanzen) beeinflusst werden. Der größte Teil dieser Substanzen stimuliert die Sekretion von Cl– und/oder K+, nur wenige stimulieren den absorptiven Transport. Mediatoren aus dem enterischen Nervensystem und aus endokrinen Zellen wirken als physiologische Regulatoren und spielen beim Gesunden eine wichtige Rolle, wogegen die anderen Mechanismen bei Durchfall eine Rolle spielen: – So kann der Parasympathikus über postganglionärcholinerge Neurone des enterischen Nervensystems die Ca2+-Konzentration in Kryptenzellen erhöhen und damit die Cl–- und K+-Sekretion fördern. – Serotonin übt die gleiche Wirkung aus. – VIP und Histamin führen über cAMP zu vermehrter Cl–- und K+-Sekretion. – Endokrin wirksam ist vor allem Aldosteron, das die Na+-Resorption und die K+-Sekretion stimuliert. – Bei Darmdehnung kann es zur Ausschüttung von Serotonin (durch Anstieg der zytosolischen Ca2+-Konzentration) aus endokrinen Zellen der Krypten (= APUD-Zellen) kommen, das parakrin die Sekretion stimuliert. – Die Wirkung von Immunzellen der Lamina propria ist ebenfalls parakrin. Diese Zellen geben Prostaglandine (cAMP-Anstieg) ab sowie andere Eicosanoide, Sauerstoffradikale, Bradykinin (durch Anstieg der zytosolischen Ca2+-Konzentration) und Histamin (cAMP-Anstieg). Angriffsziel sind dann entweder direkt die Epithelzellen, Neurone des enterischen Nervensystems oder aber die Darmdurchblutung. Die wichtigsten Second Messenger bei der Stimulation der Netto-Sekretion von Elektrolyten und Wasser sind Ca2+, cAMP und cGMP. cAMP und Ca2+ stimulieren die Cl–-Sekretion und hemmen die NaCl-Resorption. cGMP hemmt vor allem die NaClResorption (Abb. 14.19) und hat nur einen leichten Effekt auf die Cl–-Sekretion. Eine pathologisch vermehrte Nettosekretion führt zu sekretorischem Durchfall, verursacht z. T. auch durch Hormone und Neurotransmitter (Abb. 14.20), die sonst zur physiologischen Regulation beitragen. Hierzu gehören VIP, Guanylin aus den Paneth-Körnerzellen der Darmschleimhaut (Bindung an den apikalen Guanylylzyklase-Rezeptor) sowie Acetylcholin, Bradykinin und Serotonin. Eine pathophysiologisch äußerst wichtige Gruppe von Stimulatoren der Sekretion sind bakterielle Toxine (Enterotoxine; meist Substanzen, die von Bakterien nach außen abgegeben werden = Exotoxine!). Hierzu gehört Choleratoxin, das die αUntereinheit eines Gs-Proteins in der aktiven Form ribosyliert, so dass keine Inaktivierung eintritt und eine maximale Aktivierung der Adenylylzyklase erfolgt (cAMP steigt). Hitzelabiles E.-coli-Toxin bindet an einen apikalen Rezeptor, woraufhin es endozytiert wird und anschließend die basolaterale Adenylylzyklase aktiviert (cAMP steigt). Hitzestabiles E.-coli-Toxin bindet wie Guanylin an den apikalen Guanylylzyklase-Rezeptor und erhöht die cGMP-Bildung. Die beiden E.-coli-Toxine

sind die häufigsten Verursacher des „Reisedurchfalls“. Die Toxine von Clostridium difficile und Yersinien wirken über Ca2+. Schließlich gibt es noch Laxantien (abführende Substanzen), die durch vermehrte Sekretion wirken, z. B. Rhizinusöl oder Gallensalze (Anstieg der zytosolischen Ca2+-Konzentration) im Gegensatz zu z. B. osmotisch wirksamen Laxantien.

Wie bereits erwähnt, gibt es nur wenige Mechanismen, die zu einer vermehrten Netto-Resorption führen. – Am wichtigsten ist wahrscheinlich Aldosteron, das die Na+-Resorption vor allem in Ileum und Kolon durch Stimulation des ENaC, des NHE3 und der Na+/ K+-ATPase fördert. Indirekt kommt es dadurch zu vermehrter Cl–-Resorption und K+-Sekretion. – Glucocorticoide können in Dünn- und Dickdarm die NaCl-Resorption erhöhen (Stimulation von Na+/H+und Cl–/HCO3–-Austausch sowie ENaC). – Weitere Stimulatoren der Netto-Resorption sind wahrscheinlich Somatostatin, Noradrenalin und endogene Opiate (Enkephaline). Sie stimulieren die elektroneutrale NaCl-Resorption und hemmen die Cl–-Sekretion. Opiate binden an Gi-Protein-gekoppelte Rezeptoren, so dass die cAMP-Konzentration sinkt. Weiterhin wird vermutet, dass diese Stimulatoren die zytosolische Ca2+Konzentration senken. Die sekretionshemmende Wirkung der Opiate wird pharmakologisch genutzt, sie werden bei schweren Durchfällen verabreicht. Früher wurde Tinctura opii verwendet mit entsprechenden zentralnervösen Nebenwirkungen. Heutzutage verwendete Substanzen (z. B. Loperamid) haben nur periphere Wirkung.

14.9

Dünn- und Dickdarm: Nährstoffverdauung und -absorption

Hauptabsorptionsorte im Magen-Darm-Trakt sind das Jejunum, das Ileum und das obere Kolon. Die Spezialisierung von Jejunum und Ileum auf die Absorption zeigt sich darin, dass ihre luminale Oberfläche durch Ringfalten, Darmzotten und Mikrovilli der Epithelzellen im Vergleich zu einem zylindrischen Rohr gleichen Durchmessers auf das weit über Hundertfache vergrößert ist. Somit ist der Dünndarm der Hauptort für die Verdauung und Absorption von Nahrungsstoffen, Vitaminen, anorganischen Salzen und Wasser. Von den Verdauungsenzymen stammen viele aus dem Pankreas und sind im Darmlumen aktiv. Einige Enzyme sind in den Bürstensaum eingebaut und lumenwärts aktiv, andere sind im Zytoplasma gelöst und vollenden die Spaltung aufgenommener Nahrungsbestandteile. Auch Ca2+, Mg2+, Phosphat, Eisen und Gallensalze werden im Dünndarm absorbiert.

Übersicht Die mit der Nahrung aufgenommenen Nährstoffe müssen verdaut (im Fall von Kohlenhydraten, Proteinen und Fetten) und absorbiert werden. Sowohl die Verdauung als auch die Absorption finden überwiegend im Dünndarm statt. Die Verdauung kann entweder im Darmlumen

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14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung mit Hilfe von Enzymen aus dem Pankreas oder an der apikalen Membran der Enterozyten durch dort ansässige Enzyme stattfinden. Kohlenhydrate und Proteine, die in das Kolon gelangen, können dort von Bakterien zu kurzkettigen Fettsäuren verstoffwechselt und von den Enterozyten absorbiert werden. Tab. 14.6 gibt einen Überblick über die Hauptorte der Absorption.

Kohlenhydratverdauung Stärke und Disaccharide sind die wichtigsten Kohlenhydrate in der Nahrung. Stärke wird von der Amylase der Speicheldrüsen und des Pankreas gespalten. Die dabei entstehenden Oligosaccharide werden zusammen mit den Disacchariden aus der Nahrung von den Oligosaccharidasen der intestinalen Bürstensaummembran weiter zu Monosacchariden hydrolysiert. Für diese besitzt die Bürstensaummembran spezifische Carrierproteine, die die Absorption aus dem Darmlumen besorgen. Über 50 % der benötigten Energie nehmen wir in Form von Kohlenhydraten zu uns. In der Nahrung liegen Kohlenhydrate in Form von Monosacchariden (einzelne Zuckermoleküle wie z. B. Glucose), Oligosacchariden (kurze Polymere von zwei bis zu mehreren Monosacchariden) und Polysacchariden (lange Polymere aus 200 bis zu 1000 000 Monosacchariden) vor. Die Nahrungskohlenhydrate bestehen zu über 50 % aus Polysacchariden, zu 30 – 40 % aus Oligosacchariden und nur zu 5 – 10% aus Monosacchariden. Letztendlich können jedoch nur Monosaccharide absorbiert werden. Dies bedeutet, dass Poly- und Oligosaccharide erst verdaut werden müssen, um absorbierbar zu werden. Polysaccharide werden zunächst im Darmlumen zu Oligosacchariden gespalten, bevor sie an der apikalen Membran der Enterozyten in Monosaccharide zerlegt werden. Polysaccharide stammen überwiegend aus pflanzlicher Nahrung, in der sie als Stärke vorliegen, die sich aus Amylose (ca. 20 %) und Amylopectin (ca. 80 %) zusammensetzt. Beide Polysaccharide bestehen ausschließlich aus Glucosemonomeren, die entweder als lineare Kette (α-1,4-Bindungen) im Fall der Amylose oder als große verzweigte Ketten (α-1,4-Bindungen und α-1,6-Verzweigungen) im Fall von Amylopectin vorliegen. In tierischer Nahrung liegen Polysaccharide in Form von verzweigtkettigem Glykogen vor. Nicht-verdaubare Polysaccharide (z. B. Zellulose, Pektin) gehören zur Gruppe der Ballaststoffe, die im Magen das Sattheitsgefühl fördern, im Dünndarm die Resorption von Glucose und Cholesterin verlangsamen sowie im Kolon das Volumen des Darminhaltes erhöhen und durch Dehnung der Darmwand so die Passagezeit verkürzen. Dies fördert den Stuhlgang und die physiologische Keimflora. Ballaststoffe finden sich bevorzugt in Früchten, Getreide und Gemüse. Manche Ballaststoffe können durch Bakterien im Kolon metabolisiert werden. Ein Mangel an Ballaststoffen wird mit der Entstehung von Obstipation (Verstopfung), Kolondivertikeln (Darmwandausstülpungen) und Kolonkarzinomen in Verbindung gebracht.

Bei den Oligosacchariden dominieren Disaccharide und zwar hauptsächlich Saccharose (Tafelzucker) und Lactose (Milchzucker). Bei den Monosacchariden dominieren Glucose und Fructose.

Tabelle 14.6 Überblick über die Hauptorte der Nährstofffabsorption (+ = schwach, ++ = mittel, +++ = stark) Nährstoff

Duodenum

Jejunum

Ileum Kolon

Monosaccharide

++

+++

+

Aminosäuren

++

+++

+

Di-, Tripeptide

++

langkettige Fettsäuren +

++

+

kurzkettige Fettsäuren ++

++

++

Cholesterin

++

+

Nukleotide

+

+

Folsäure

++

++

Vitamin B12

+++

Vitamin C

++

Vitamine B1, H

++

++

Vitamine B2, B6,

+

+

+

Gallensalze

+

+

+++

2+

Ca

+++

++

+

Mg2+

+

+

+++

Fe2+

+++

+

+

Phosphat

++

++

Kohlenhydratverdauung im Darmlumen Im Darmlumen werden Polysaccharide durch das Enzym α-Amylase (aus dem Pankreas) verdaut (Abb. 14.22). Die Verdauung kann bereits in der Mundhöhle beginnen, da die Speicheldrüsen dort ebenfalls eine α-Amylase (94 % Aminosäurenidentität mit der Pankreasamylase) sezernieren. Allerdings wird diese α-Amylase im Magen inaktiviert (saurer pH-Wert) und ist bei Gesunden quantitativ unbedeutend. Sobald die Polysaccharide im Duodenum ankommen, wird durch CCK die α-Amylasesekretion (als aktives Enzym) in den Azini des Pankreas stimuliert. αAmylase spaltet innere α-1,4-Bindungen (durch Hydrolyse) von Stärke und Glykogen, nicht jedoch terminale oder α-1,6-Bindungen. Somit entstehen als Produkte der α-Amylasereaktion Maltose (Glucosedimer), Maltotriose (Glucosetrimer) und α-Grenzdextrin (verzweigtes Glucosepentamer), jedoch keine Glucose.

Kohlenhydratverdauung an der apikalen Enterozytenmembran Polysaccharidspaltprodukte sowie mit der Nahrung aufgenommene Di- oder Trisaccharide werden von verschiedenen Oligosaccharidasen, die in der apikalen Membran der Enterozyten (= Bürstensaum) verankert sind, zu Monosacchariden gespalten (Abb. 14.22). Man unterscheidet vier Oligosaccharidasen. – Lactase spaltet nur Lactose zu Glucose und Galactose. – Maltase spaltet Maltotriose, Maltose (zu Glucosemonomeren) und die α-1,4-Bindungen von α-Grenzdextrin.

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14.9 Dünn- und Dickdarm: Nährstoffverdauung und -absorption Stärke

a-Amylase

Amylose

Amylopectin

Maltotriose

Maltose

Maltase

Glykogen

a-Amylase

Grenzdextrine Saccharose Lactose

Isomaltase

Saccharase

Lactase K

Glucose

Fructose

Galactose

+

+

sekundär-aktiv

+

Na

2 Na

Galactose Glucose

+

+

Na -K -ATPase

SGLT1 passiv passiv

Fructose

GLUT2

GLUT5

Abb.14.22 Zelluläre Mechanismen der intestinalen Kohlenhydratabsorption. Mit der Nahrung aufgenommene Polysaccharide werden zunächst durch die α-Amylase aus dem Pankreas zu Di- bis Oligosacchariden gespalten. An der luminalen Membran der Enterozyten sorgen Bürstensaumenzyme für die weitere Spaltung zu den Monosacchariden

– Saccharase spaltet ebenfalls Maltotriose, Maltose sowie die α-1,4-Bindungen von α-Grenzdextrin und zusätzlich Saccharose (zu Fructose und Glucose). – Isomaltase, die mit Saccharase einen Komplex an der Membran bildet (ein Dimer, das α-Dextrinase genannt wird), spaltet Maltotriose, Maltose sowie die α-1,4Bindungen von α-Grenzdextrin und zusätzlich die α1,6-Bindungen von α-Grenzdextrin. Somit können zum Schluss die drei Monosaccharide Glucose, Fructose und Galactose entstehen. Die Aktivität der Enzyme nimmt in der Reihenfolge proximales Jejunum > distales Jejunum > Duodenum > Ileum ab, was mit dem aktiven Glucosetransport in Enterozyten korreliert (s. u.). Im Fall von Maltase, Saccharase und Isomaltase ist die Enzymaktivität höher als die Transportrate der entstehenden Monosaccharide, so dass diese Enzyme nicht den limitierenden Faktor für die Resorption darstellen. Die Aktivität der Lactase ist dagegen geringer als die Transportrate für Monosaccharide und bestimmt somit die Resorptionsgeschwindigkeit. Dies ist auch der Grund dafür, dass sich eine Abnahme der Lactaseaktivität bei Dünndarmerkrankungen viel früher klinisch bemerkbar macht (Milchzucker-Unverträglichkeit) als z. B. eine Abnahme der Saccharaseaktivität. Die Lactaseaktivität nimmt bei Kindern nach der Stillzeit ab. Das Ausmaß dieser Aktivitätsabnahme ist stark genetisch determiniert

Glucose, Galactose und Fructose. Die Monosaccharide werden transzellulär absorbiert, Glucose und Galactose sekundär-aktiv (SGLT1), Fructose passiv (GLUT5). Basolateral verlassen die Monosaccharide die Zellen passiv über den GLUT2Transporter.

und besonders ausgeprägt in manchen nicht-weißen ethnischen Gruppen. Diese Personen leiden an Lactasedefizienz, und Milchaufnahme führt zu intestinalen Beschwerden und Durchfall. Die Aktivität der anderen Enzyme sinkt nach der Stillzeit nicht ab, so dass möglicherweise Substratmangel (Milchzucker) für die Abnahme der Lactaseaktivität verantwortlich ist. Längere Fastenperioden können zu einer Abnahme der Saccharaseaktivität führen, wohingegen Saccharose-reiche Ernährung die Enzymaktivität verstärkt.

Kohlenhydratabsorption Wie bereits oben erwähnt, entstehen bei der Verdauung potenziell drei Monosaccharide, die absorbiert werden müssen: Glucose, Galactose und Fructose. Da die Absorption transzellulär stattfindet, müssen sowohl an der apikalen wie auch an der basolateralen Zellmembran Transporter vorhanden sein (Abb. 14.22). Glucose und Galactose werden sekundär-aktiv mit einem Na+-Symporter in die Zelle aufgenommen (Tab. 14.7). Dieser hochaffine Transporter (SGLT1) bindet 2 Na+- und ein Glucose- oder Galactosemolekül und transloziert sie in die Zelle. Dies bedeutet, dass auch zwei positive Ladungen transportiert werden. Die Triebkraft setzt sich daher aus dem Na+-Konzentrationsgradienten (erzeugt durch die basolaterale Na+/K+-ATPase) sowie dem apikalen Membranpotenzial zusammen und kann ca. 200 mV betragen (für jedes Na+ ca. 60 mV chemische und ca. 40 mV elektrische Triebkraft, S. 64 ff.).

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449

450

14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung Tabelle 14.7

Übersicht verschiedener Monosaccharidtransporter (Ms = Monosaccharid).

Transportart

Transporter

Expressionsort

Kopplung an Na+

Affinität

Bemerkung

aktiv

SGLT1

Dünndarm, proximaler Tubulus

2 Na+: 1 Ms

hoch

apikal, Resorption

SGLT2

proximaler Tubulus

1 Na+: 1 Ms

nieder

apikal, Resorption

passiv

GLUT1

viele Gewebe

nein

1 – 2 mM

Basisversorgung

GLUT2

β-Zellen, Dünndarm, Niere

nein

12 – 20 mM

wichtig für die Insulinausschüttung

GLUT3

viele Gewebe

nein

< 1 mM

Basisversorgung

GLUT4

Muskel, Fett

nein

5 mM

Insulinempfindlich

GLUT5

Dünndarm, Niere

nein

1 – 2 mM

Fructosetransporter

GLUT7

Endoplasmatisches Retikulum in Hepatozyten

nein

Daraus ergibt sich, dass Glucose so lange in die Zelle aufgenommen wird, bis die Konzentration im Lumen ca. 1900fach geringer ist als in der Zelle (bei einer angenommenen intrazellulären Konzentration von 6 mmol/l kann die Konzentration im Lumen daher auf 3 µmol/l sinken). Die hohe Affinität für Glucose und die enorme Triebkraft machen den SGLT1 zu einem äußerst effizienten Mechanismus für die Resorption. Die Affinität für Monosaccharide ist in Anwesenheit von Na+ (d. h. bei hoher Triebkraft) besonders hoch.

An der basolateralen Membran befindet sich ein weiterer Monosaccharidtransporter (GLUT2), der als Uniporter (Na+-unabhängig) den passiven Efflux („erleichterte Diffusion“) ins Blut erlaubt. Dieser Transporter ist niederaffin und akzeptiert sowohl Glucose und Galactose als auch Fructose. Schließlich gibt es in der apikalen Membran einen weiteren Uniporter für Fructose (GLUT5). Dieser ist ebenfalls Na+-unabhängig und vermittelt die passive Aufnahme von Fructose durch erleichterte Diffusion (entlang des chemischen Gradienten). Obwohl die Fructoseaufnahme passiv ist, könnte mit Fructose der gesamte Kohlenhydratanteil der Energieversorgung gedeckt werden (z. B. bei Glucose-Galactose-Malabsorption, S. 401). Dies funktioniert nur, weil die Fructosekonzentration im Blut niedrig gehalten wird (nüchtern < 300 µmol/l) und somit ein ausreichender chemischer Gradient besteht.

Kohlenhydrate, die im Dünndarm nicht absorbiert wurden, können durch die Bakterien im Dickdarm zu kurzkettigen Fettsäuren verstoffwechselt werden, die von der Dickdarmschleimhaut anschließend absorbiert werden.

Proteinverdauung Durch die Pepsine des Magensaftes werden Nahrungsproteine zu mittellangen und kurzen Peptiden gespalten. Dieser Prozess setzt sich im Dünndarm fort, wo Trypsin und Chymotrypsin Oligopeptide freisetzen, die schließlich durch Oligopeptidasen aus Pankreassaft und am Bürstensaum zu Aminosäuren, Di- und Tripeptiden abgebaut werden. Absorbiert werden sie durch die Dünndarmepithelzellen mit Hilfe von (meist) kationengetriebenen Transportern.

für Glukoneogenese

Pro Tag nimmt man mit einer durchschnittlichen „westlichen“ Diät ca. 70 – 100 g Protein zu sich. Zusätzlich fallen im Darm noch 30 – 50 g endogenes Protein an, das aus Drüsensekreten und abgeschilferten Zellen stammt. All diese Proteine setzen sich aus 21 Aminosäuren zusammen, wovon neun essenziell sind. Zum Teil können die Aminosäuren posttranslational noch modifiziert werden (z. B. Hydroxylierung oder γ-Karboxylierung). Wie gut ein Protein letztendlich verdaut werden kann, hängt von der Aminosäurenzusammensetzung, der Herkunft und der Behandlung vor dem Verzehr ab. Hydroxyprolin- und Prolin-reiche Proteine wie Kollagen werden schlecht verdaut. Insgesamt ist die Proteinverdauung jedoch sehr effizient, und weniger als 4 % des Protein-Stickstoffes der Nahrung gelangen in den Stuhl. Die Verdauung der Nahrungsproteine zu Oligopeptiden und Aminosäuren ist Voraussetzung für eine effiziente Resorption. Proteasen aus Magen und Pankreas spalten im Magen- und Darmlumen (luminale Verdauung) Proteine zu Oligopeptiden und Aminosäuren. Die Oligopeptide werden durch Amino- und Dipeptidasen in der apikalen Enterozytenmembran (Bürstensaum-Peptidasen) zu Di- und Tripeptiden oder zu Aminosäuren gespalten. Aminosäuren sowie Di- und Tripeptide gelangen über unterschiedliche Transporter in die Enterozyten. Erst hier werden auch die Di- und Tripeptide zu Aminosäuren gespalten. Anschließend verlassen die Aminosäuren die Enterozyten über basolaterale Transporter. Neugeborene können bis zum 6. Monat größere Mengen Protein durch Endozytose aufnehmen. Bei Erwachsenen ist dieser Transportweg fast vollständig verschwunden und spielt für die Nährstoffabsorption keine Rolle mehr. Allerdings können selbst kleinste Mengen an endozytiertem Protein Allergien auslösen.

Proteinverdauung im Darmlumen Die Proteasen von Magen und Pankreas werden als inaktive Proenzyme sezerniert. Die Hauptzellen des Magens sezernieren Pepsinogene, die zu Pepsin aktiviert werden (Kap. 14.6). Pepsin ist eine Endopeptidase (greift innere und keine terminalen Bindungen an), die bevorzugt Peptidbindungen spaltet, an denen aromatische oder

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14.9 Dünn- und Dickdarm: Nährstoffverdauung und -absorption Tabelle 14.8

Übersicht der fünf Pankreasproteasen

Proenzym

Aktivator

Aktives Enzym

Wirkung

Produkte

Trypsinogen

Enterokinase und Trypsin

Trypsin

Endopeptidase

Oligo peptide

Chymotrypsinogen

Trypsin

Chymotrypsin Exopeptidase

Aminosäuren

Proelastase

Elastase

Procarboxypeptidase A

Carboxypeptidase A

Procarboxypeptidase B

Carboxypeptidase B

große neutrale Aminosäuren beteiligt sind. Beim Gesunden trägt Pepsin 10 – 15 % zur Proteinverdauung bei und ist nicht essenziell. Entscheidend sind die fünf Pankreasproteasen. Zunächst wird Trypsinogen sezerniert, das im Jejunum durch die Enteropeptidase (eine Protease im Bürstensaum) zu aktivem Trypsin gespalten wird. Trypsin aktiviert dann durch partielle Proteolyse weiteres Trypsinogen sowie die anderen vier Pankreasproteasen. Die Charakteristika der Pankreasproteasen sind in Tab. 14.8 dargestellt. Letztendlich wird durch die luminale Verdauung 70% des Proteins zu Oligopeptiden und 30 % zu Aminosäuren gespalten.

Proteinverdauung an der apikalen Enterozytenmembran An der Bürstensaummembran befindet sich ein Vielzahl von Peptidasen, da das Spektrum möglicher Peptide natürlich sehr groß ist. Es handelt sich dabei um Endopeptidasen, Exopeptidasen (Aminopeptidasen) sowie Dipeptidasen. Bürstensaumpeptidasen haben die größte Affinität für Peptide aus 3 – 8 Aminosäuren. Diese werden zu Aminosäuren, Di-, Tri- und Tetrapeptiden gespalten (Abb. 14.23). Darüber hinaus finden sich auch im Zytosol viele Peptidasen, die die aufgenommenen Di-, Tri- und Tetrapeptide spalten.

Absorption von Proteinen, Peptiden und Aminosäuren Proteinabsorption durch apikale Endozytose Dieser Mechanismus spielt in Bezug auf die Nährstoffabsorption nur bei Neugeborenen bis zum 6. Monat eine gewisse Rolle. Endozytierte Proteine können anschließend in den Lysosomen zu Aminosäuren abgebaut werden. Von größerer Bedeutung ist die Endozytose für die Übertragung der angeborenen Immunität, da Enterozyten Neugeborener Antikörper (Ig) mittels Transzytose intakt aufnehmen können. Somit werden diese Antikörper von der Mutter über die Milch auf das Kind übertragen. An der apikalen Membran der Enterozyten befinden sich Rezeptoren für Antikörper, wodurch diese angereichert und sehr effektiv aufgenommen werden. Gelangen andere Proteine ebenfalls durch Transzytose in den Körper, können sie Allergien auslösen. Der ganze Prozess wird hormonell reguliert und nach dem 6. Lebensmonat praktisch völlig abgeschaltet. Enterozyten von Erwachsenen nehmen nur ganz kleine Mengen an Protein durch apikale Endozytose auf und bauen diese zu 90 % in den Lysosomen ab.

Einen Spezialfall stellen die M-Zellen der Darmschleimhaut dar, die sich oberhalb von Peyer-Plaques befinden. Diese Zellen haben einen ausgeprägten Apparat für Clathrin-vermittelte Endozytose von Proteinen. 50 % der Proteine gelangen durch Transzytose intakt zu den Peyer-Plaques, wo sie von immunkompetenten Zellen prozessiert und dann den Lymphozyten präsentiert werden. Anschließend kann eine Immunantwort ausgelöst werden. Dies ist ein wichtiger Vorgang für die Entwicklung von Immunität, kann aber möglicherweise auch zur Entstehung von Krankheiten (z. B. allergisch bedingt) beitragen (vgl. Zöliakie, Kap. 14.3).

Peptidabsorption durch apikalen H+-Peptidkotransport Di-, Tri- und zum Teil Tetrapeptide können durch einen H+-Peptidsymporter (PepT1) in Enterozyten aufgenommen werden (Abb. 14.23). Dieser Transporter ermöglicht einerseits den kleinen Peptiden das Überqueren der Zellmembran und koppelt zum anderen die Energie des einwärts gerichteten H+- und Ladungsgradienten an den Peptidtransport. Somit vermittelt PepT1 die tertiär-aktive Aufnahme kleiner Peptide. An der apikalen Membran befindet sich PepT1 meist in Nachbarschaft zu Na+/H+-Austauschern (NHE, sekundär-aktiv), die H+ nach außen schaffen und dadurch das Zytosol relativ alkalisch halten. Die Triebkraft des NHE ist der chemische Na+-Gradient, der durch die Na+/K+-ATPase (primär-aktiv) erzeugt wird. Im Zytosol werden die Peptide zu Aminosäuren hydrolysiert. Lediglich Prolin-haltige Dipeptide können im Portalblut erscheinen. Da PepT1 auch bestimmte Medikamente (z. B. Antibiotika der Cephalosporingruppe) transportiert, ist er auch für die Pharmakologie von Interesse.

Apikale Aminosäureaufnahme An der apikalen Aufnahme von Aminosäuren (den LStereoisomeren) sind mindestens sieben Transportsysteme beteiligt (Abb. 14.23), deren genauere Aufklärung und molekulare Charakterisierung noch im Gang ist. Die beiden vorherrschenden Transportsysteme sind System B und B0+, die sich lediglich dadurch unterscheiden, dass B0+ neben neutralen Aminosäuren auch einige basische Aminosäuren und Cystin transportiert. Beide Systeme sind Na+-gekoppelt und dadurch sekundär-aktiv sowie meist elektrogen. Ähnlich wie beim SGLT1 (S. 449) ist dadurch eine sehr effiziente Resorption möglich. System b0+ hat dasselbe Substratspektrum wie B0+ ist jedoch Na+-unabhängig und arbeitet als Austauscher. System y+ transportiert überwie-

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451

452

14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung Proteine

apikaler Transport von Di- und Tripeptiden +

+

Na -H -Austauscher

+

gastrale und pankreatische Proteasen

AS

Na H

+

H

+

Lumen

Enterozyt Peptidasen

PepT1

Blut

K

+

+

H

+

H

+

Na +

+

Na -K -ATPase

apikaler Transport von Aminosäuren +

Na

+

B ,B

0+

+

Na + H + K

+

X AG–

0+

b ,y

+

Na – Cl

Na

+

b

Abb.14.23 Zelluläre Mechanismen der intestinalen Aminosäurenabsorption. Mit der Nahrung aufgenommen Proteine werden zunächst durch Proteasen zu Oligopeptiden gespalten. An der luminalen Membran der Enterozyten sorgen Bürstensaumenzyme für die weitere Spaltung zu den Di- und Tripeptiden bzw. Aminosäuren. Di- und Tripeptide

gend basische Aminosäuren (Arginin, Lysin, Histidin, Ornithin) unabhängig von Na+. System XAG– transportiert anionische Aminosäuren (Glutamat, Aspartat) im Kotransport mit 2 Na+ und 1 H+ sowie im Austausch mit 1 K+. System Imino ist für die Aufnahme von Iminosäuren (Prolin) zuständig. Schließlich gibt es noch das System β für β-Aminosäuren (Betain, Taurin, GABA), die im Kotransport mit Na+ und Cl– aufgenommen werden.

Basolaterale Aminosäureabgabe Mehr als 90% der apikal aufgenommenen Aminosäuren (ob frei oder als Peptid) müssen die Enterozyten über die basolaterale Membran verlassen (Abb. 14.23). An dieser Membran befinden sich mindestens fünf Transportsysteme. Die Systeme A und ASC transportieren hauptsächlich neutrale Aminosäuren im Symport mit Na+. Sie stellen also sekundäraktive Transportsysteme dar, die Aminosäuren in die Zellen hineinschaffen. Somit haben sie nichts mit der Aminosäureabsorption zu tun, sondern versorgen die Enterozyten, wenn luminal keine Aminosäuren vorhanden sind. System asc transportiert neutrale Aminosäuren Na+-unabhängig und trägt somit zur Aminosäurenabgabe bei. System L vermittelt die Abgabe von neutralen, hydrophoben und großen Aminosäuren. Schließlich befindet sich noch System y+ in der basolateralen Membran und vermittelt dort den Auswärtstransport von basischen Aminosäuren. Die Charakterisierung dieses Transportsystems hat auch

können im Symport mit H+ tertiär-aktiv (PepT1) in die Zelle aufgenommen werden. Für die Aufnahme von Aminosäuren gibt es mehrere Transportsysteme, die zum Teil als Symporter und zum Teil als Austauscher funktionieren. An der basolateralen Membran befinden sich ebenfalls mehrere Transportsysteme, über die Aminosäuren ins Blut gelangen.

wesentlich zum Verständnis bestimmter Krankheiten, wie z. B. Cystinurie und Hartnup-Krankheit beigetragen.

Lipidverdauung Nahrungsfette bestehen zu 90 % aus Triacylglycerinen, der Rest aus Cholesterin, Cholesterinestern, Phospholipiden, Sphingolipiden und fettlöslichen Vitaminen. Die Fettverdauung beginnt im Magen mit Hilfe der von den von-Ebner-Zungengrunddrüsen sezernierten nichtspezifischen Lipase und wird im Duodenum fortgesetzt, wo die Pankreaslipase, die Phospholipase A2 und eine weitere, unspezifische Lipase aus dem Pankreas auf den Chymus einwirken. Gallensalze sind für die Fettverdauung essenziell; sie formen mit den Produkten der Triacylglycerinverdauung (freie Fettsäuren, 2-Monoacylglycerine) Mizellen, die darüber hinaus Cholesterin und fettlösliche Vitamine enthalten. Mizellen bringen die lipophilen Chymusbestandteile in den zur Absorption notwendigen engen Kontakt zu den intestinalen Epithelzellen. Von diesen aufgenommen, werden Fettsäuren, Monoacylglycerine und Cholesterin verestert, um mit Phospholipiden und Apoproteinen in Chylomikronen verpackt zu werden. Diese gelangen in die Darmlymphe, mit der sie unter Umgehung der Leber das systemische Blut erreichen. Für Gallensalze existiert

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14.9 Dünn- und Dickdarm: Nährstoffverdauung und -absorption Glycerin

H

H OH C

O

H

C

C

C

O

O

O

CH2

Triacylglycerin

Fettsäure

H

H

C O C O C O

CH2

CH2

H

CH2

CH2

CH2

CH2

CH3 N

CH3

CH2 CH3

Phosphat O O

H

C

C

C

O

O

OH

CH2

CH2

CH2

H

H

CH2

CH3 3HC

N

CH3

CH2 CH2 O O

P

H

H

O

C

C

C

O

O

H

–

O

–

H

C O

H

C O C O

CH2

Cholin

3HC

H

H

O

H

–

H

H

H

O

C

C

C

OH

O

OH

H

CH3 CH3 CH3 CH

C O CH2

CH2 CH2

Cholesterin

OH

CH2

CH3 3HC

CH2 H3C

CH CH3

Cholesterin-Esterase Milchlipase

N

CH3

CH2

Cholesterinester

OH

2-Monoacylglycerin

OH

Magenlipase, Pankreaslipase Chol-Esterase, Milchlipase

C

Lysophosphatidylcholin (= Lysolecithin)

H

C

Diacylglycerin

H

C

Magenlipase, Pankreaslipase Chol-Esterase, Milchlipase

H

Phosphatidylcholin (= Lecithin)

H

CH2

CH2 O O

H

P

H

H

O

C

C

C

O

OH

H

O

–

CH2 H

C O O

–

C O C O CH2

CH2

C O

PLA2

CH2

CH3 CH3 CH CH2 CH2 CH2 H3C

CH2

CH2

CH2

CH CH3

Abb.14.24 Übersicht der Lipide in der Nahrung. Genauere Beschreibung s. S. 454.

ein eigener Reabsorptionsmechanismus (enterohepatischer Kreislauf). Lipide sind sowohl in pflanzlicher als auch in tierischer Nahrung enthalten. Sie zeichnen sich durch ihre hohe Hydrophobizität aus (Octanol/Wasser-Koeffizient = 104 – 107). Nicht-polare Lipide wie z. B. Cholesterinester sind praktisch nicht wasserlöslich, wogegen polare Lipide (z. B. Phospholipide) feine Fettfilme an der Wasseroberfläche bilden können. Mit einer durchschnittlichen „westlichen“ Diät nehmen Erwachsene ca. 100 g Lipide pro Tag zu sich. Dies entspricht ca. 40 % des täglichen Energiebedarfs. Es wird allerdings empfohlen nur 30 % des Energiebedarfs mit Lipiden zu decken. Dies entspräche ca. 75 g. Der Lipidverbrauch pro kg Körpergewicht ist bei Neugeborenen 3 – 5 × größer.

90 % der Nahrungsfette sind Triacylglycerine, die aus langkettigen Fettsäuren und Glycerin bestehen (Abb. 14.24) und bei 37 8C kleine Fetttröpfchen bilden. Milchfett enthält dagegen mittel- und kurzkettige Fettsäuren. Das Verhältnis von gesättigten zu ungesättigten Fettsäuren ist in tierischen Triacylglycerinen höher als in pflanzlichen. Triacylglycerine liefern auch die essenziellen Fettsäuren (z. B. Linolsäure; spielt im Arachidonsäurestoffwechsel eine wichtige Rolle), die für eine ausgewogene Ernährung unabdingbar sind, da sie vom Körper nicht synthetisiert werden können. Außerdem dienen Triacylglycerine als „Träger“ für die fettlöslichen Vitamine A, D, E, K und tragen entscheidend zur postprandialen Sattheit bei. 5 % der Nahrungsfette sind Phospholipide, hauptsächlich Glycerophospholipide. Diese bestehen aus Glycerin, 2

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454

14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung langkettigen Fettsäuren und einem Phosphatester. Phosphatidylcholin (Lecithin) ist das vorherrschende Phospholipid. Die andere große Gruppe sind Sphingolipide, die anstelle von Glycerin Serin enthalten. Weiterhin enthält die Nahrung unverestertes Cholesterin (ca. 0,5%), geringe Mengen verestertes Cholesterin (aus Leber und Blutprodukten), fettlösliche Vitamine (s. o.) und lipophile Fremdstoffe, die auch gesundheitsschädlich sein können (z. B. Nitrosamine, Aflatoxine, polyzyklische Kohlenwasserstoffe). Neben den Nahrungsfetten gelangen auch endogene Lipide in den Darm und müssen verdaut werden. Mit der Galle werden ca. 10 – 15 g Lipide pro Tag sezerniert, wobei es sich hauptsächlich um Phosphatidylcholin (Lecithin) und unverestertes Cholesterin handelt. Abgeschilferte Zellen liefern 2 – 6 g und abgestorbene Bakterien ca. 10 g pro Tag.

Emulgierung und mechanische Verdauung von Lipiden Die Enzyme, die für die eigentliche Aufspaltung der Lipide zuständig sind (Lipasen, s. u.) arbeiten am besten an einer Fett-Wasser-Grenzfläche, da sie selbst hydrophil sind und Wasser für die Hydrolyse benötigen. Für eine effiziente Verdauung ist es daher notwendig, die Angriffsfläche für diese Enzyme so groß wie möglich zu machen. Dies geschieht durch Emulgierung. Bei der Emulgierung wird die Fettphase durch mechanische Bewegung (Umrühren beim Kochen, Kauen sowie durch die Magen-Darm-Motilität beim Verdauen) in einen feinen Verteilungszustand in der Wasserphase überführt. Hierdurch erhöht sich das Oberflächen-Volumen-Verhältnis dramatisch und die Angriffsfläche für Lipasen pro g Fett nimmt massiv zu. In den entstehenden Tröpfchen orientieren sich Phospholipide, Fettsäuren, Cholesterin sowie enthaltene Kohlenhydrate und Proteine an die Oberfläche (Abb. 14.25). Hierdurch entsteht eine Art stabilisierende „Membran“, die das Verschmelzen der Tröpfchen verhindert. Besonders Phospholipide und Cholesterin sind gute Stabilisatoren, da sie sich nur an der Grenzfläche aufhalten können. Im Inneren der Tröpfchen befinden sich Triacylglycerine und Cholesterinester.

großes Glykoprotein, dessen Sekretion durch Gastrin stimuliert wird. Bei gesunden Erwachsenen tragen saure Lipasen 15 – 30 % zur Fettverdauung bei. Ihre Funktion ist bei Gesunden nicht essenziell, jedoch können sie bei Pankreasinsuffizienz einen Teil von dessen Funktion bei der Fettverdauung übernehmen. Hierzu trägt auch die unter diesen Umständen verminderte Inaktivierung der sauren Lipasen bei. Wichtig sind die sauren Lipasen bei Neugeborenen, da sie im Gegensatz zu den Pankreaslipasen (deren Aktivität nach der Geburt vorübergehend auf ca. 10% sinkt) sofort sezerniert werden und somit wesentlich zur Fettverdauung beitragen. Bei Neugeborenen trägt außerdem die Gallensalz-stimulierte Milchlipase zur Fettverdauung bei. Diese gelangt aus der Brustdrüse der Mutter in die Milch, ist säurestabil und wird im Duodenum des Neugeborenen durch Gallensalze aktiviert. Hier spaltet sie Tri-, Di- und Monoacylglyzerine sowie Cholesterin- und Vitaminester. Trotzdem gehen beim Neugeborenen noch 25 % der aufgenommenen Fette mit dem Stuhl verloren. Beim Erwachsenen sind es lediglich 5 %.

Pankreaslipasen Pankreaslipasen sind die entscheidenden Enzyme für die Komplettierung der Fettverdauung im proximalen Dünndarm (Tab. 14.3). Sobald im Magen entstandene Fettsäuren das Duodenum erreichen, verursachen sie dort die Freisetzung von CCK und GIP. CCK stimuliert den Gallenfluss und die Enzymsekretion in den Azini des Pankreas. Zusätzlich wird durch Sekretin die Flussrate in den Pankreas- und Gallengängen erhöht. Das wichtigste fettspaltende Enzym des Pankreas ist die Pankreas- oder Triacylglycerinlipase, die für ihre vollständige Aktivierung das Protein Kolipase (ebenfalls aus dem Pankreas) benötigt. Man spricht deshalb auch von der Kolipase-abhängigen Lipase. Die Triacylglycerinlipase ist ein 48 kDa Protein mit Esteraseaktivität, das in aktiver Form in 1000fachem Überschuss (bei Erwachsenen) sezerniert wird. Es spaltet alle Triacylglycerine, die nach der Magenpassage noch vorhanden sind (hauptsächlich in 2-Monoglyzeride + 2 Fettsäuren). Die volle Aktivität der Triacylglycerinlipase wird bei leicht alkalischem pH, in Anwesenheit von Gallensalzen, Fettsäuren und der Kolipase erreicht. Diese Bedingungen sind im Duodenum und Jejunum gegeben.

Die Funktion der „sauren“ Lipasen Fett spaltende Enzyme (Lipasen) werden von den Sublingualdrüsen, den Pharyngealdrüsen und den Hauptzellen des Magens abgegeben. Diesen Lipasen ist ein pHOptimum von 4 gemeinsam und sie werden deshalb als „saure“ Lipasen bezeichnet. Sie sind resistent gegen Pepsin, nicht jedoch gegen Pankreasproteasen und spalten Lipide, solange diese sich noch im Magen befinden. Hierbei entstehen aus Triacylglycerinen langkettige Fettsäuren, die protoniert und unlöslich werden, so dass sie im Magen nicht absorbiert werden. Aus Milchfetten setzen saure Lipasen mittel- und kurzkettige Fettsäuren frei, die über die Magenmukosa ins Pfortaderblut gelangen. Nach der Neutralisierung des Magensafts im Duodenum und ihrer Spaltung durch Pankreasproteasen tragen saure Lipasen nicht mehr zur Fettverdauung bei. Die Lipase aus den Hauptzellen des Magens ist ein 42 kDa

Fettsäuren verbessern die Bindung der Lipase an die Grenzfläche der Fetttröpfchen und stimulieren dadurch indirekt die Aktivität. In Lösung ist das Enzym so gefaltet, dass das katalytische Zentrum verschlossen bleibt. Erst nach Bindung an die Grenzfläche der Fetttröpfchen wird das Zentrum entfaltet. Zusätzlich zur Lipase sezerniert das Pankreas das Protein Prokolipase, das im Duodenum zur Kolipase und dem Pentapeptid Enterostatin gespalten wird. Enterostatin spielt wahrscheinlich bei der Regulation des Sattheitsgefühls eine Rolle. Befindet sich die Lipase an der Grenzfläche, so wird sie durch Phospholipide, Proteine und Mizellen gehemmt. Aufgabe der Kolipase ist es, diese Hemmung zu verhindern, indem sie dafür sorgt (unterstützt von Gallensalzen), dass hemmende Lipolyseprodukte schnell weggeräumt werden. Außerdem dient sie als Anker für die Lipase am Fetttröpfchen.

Weiterhin sezerniert das Pankreas Carboxylester(hydrol) ase, ein Enzym, das der Milchlipase ähnelt. Es hat geringe

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14.9 Dünn- und Dickdarm: Nährstoffverdauung und -absorption kurz- und mittelkettige freie Fettsäuren Monoglycerid mittel- und langkettige freie Fettsäuren

OH C

O OH

CH2

apolare Lipide

C CH2

Gallensalze

O

CH2

Phospholipid Cholesterin

CH2

Bürstensaummembran

Mizelle

saures Milieu

Fettsäuren und Monoacylglycerine Phospholipide

Gallensalze

Cholesterin Lipase

apolare Lipide (fettlösliche Vitamine u. a.) Mikrovillus

Fetttröpfchen

Abb.14.25 Fettabsorption im Dünndarm. Bei der Fettverdauung durch die Lipase entstehen aus Triacylglycerinen freie Fettsäuren und 2-Monoacylglycerine, die in Anwesenheit von konjugierten Gallensalzen zusammen mit Cholesterin, Phospholipiden, fettlöslichen Vitaminen und anderen apolaren Lipiden Mizellen bilden. Gallensalze und die polaren Enden der Monoacylglycerine, der Phospholipide und des Cholesterins ordnen sich dabei nach außen zur wässrigen Phase hin an, während apolare Lipide wie fettlösliche Vitamine und Cholesterinester den Kern bilden. Mit ihrem Durchmesser von höchstens 50 nm sind Mizellen (im Gegensatz etwa zu

Substratspezifität und ist wahrscheinlich identisch mit den Enzymen Cholesterinesterase, Pankreasesterase bzw. Lysophospholipase. Durch seine Aktivität entstehen Cholesterin, Glycerin und Fettsäuren. Die Phospholipase A2 aus dem Pankreas wird als Proenzym sezerniert und spaltet Glycerophospholipide zu Lysophospholipiden + Fettsäuren. Ihre Aktivität entfaltet sie erst bei alkalischem pH und in Anwesenheit von Gallensalzen. Phospholipase A2 kann auch von den Paneth-Körnerzellen abgegeben werden. Bakterielle Lipasen im Kolon sind unspezifisch und haben neutrale bis leicht saure pH-Optima. Sie hydrolysieren Triacylglycerine und Phospholipide vollständig, so dass Fett im Stuhl überwiegend als Salze der Fettsäuren („Seifen“) und Sterole vorliegt.

den ca. 100-mal größeren Fettemulsionströpfchen) in der Lage, zwischen die Mikrovilli des Bürstensaums von Duodenum und Jejunum einzudringen und sich an dessen luminaler Membran anzulagern. Während sich die Lipide in der Membran lösen und somit absorbiert werden, steht für die Absorption der Gallensalze erst im Ileum ein Na+-Symportcarrier zur Verfügung: enterohepatischer Kreislauf. Kurz- und mittelkettige Fettsäuren können ohne die Hilfe der Mizellen resorbiert werden. Sie diffundieren zur luminalen Membran der Enterozyten und werden dann aufgenommen.

Lipidabsorption Transport im Darmlumen Die Hydrolyseprodukte der Lipidverdauung müssen verschiedene Barrieren durchqueren bevor sie absorbiert werden. Hierbei ist die Absorptionsrate im Jejunum am höchsten. Lipasen, Gallensalze, Lecithin und Cholesterin lagern sich im Darmlumen an die Fetttröpfchen an (Abb. 14.25). Monoacylglycerine, Fettsäuren, Lysolecithin und Cholesterin unterstützen die Emulgierung der Fetttröpfchen. Triacylglycerine wandern aus dem Inneren an die Oberfläche der Tröpfchen und werden dort gespalten, so dass die Tröpfchen zunehmend kleiner werden. An deren Oberfläche bildet sich eine mehrblättrige Phase aus Fettsäuresalzen, Monoacylglycerinen, Lysolecithin, Cholesterin und Gallensalzen. Schließlich lösen sich mehrschichtige Vesikel ab, die durch Gallensalzmizellen in einschichtige Vesikel mit einer Lipiddoppelmembran umgewandelt werden. Zuletzt lagern sich in diese Vesikel

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14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung ? Nahrung

Ch

Cholesterin (Ch)

Gallensalze

Ch

über Galle

Triacylglycerine (TG)

Leber

„Prä“-HDL Dünndarm

PL TG,Ch Ce VLDL

PL TG,Ch Ce ChyM

TG

Chylomikronen

Ch

Glucose

FFS

LCAT Cholesterin- im Plasma ester (Ce) im Kapillarendothel

Ch

Steroide

FFS LPL

PL Ce HDL

endokrine Zellen

ChyM-Reste freie Fettsäuren (FFS) Speicherung als TG im Fettgewebe

IDL

Energiestoffwechsel von Skelettmuskel, Herz, Niere u. a.

Abb.14.26 Funktion der Lipoproteine (rosa Kugeln). Die Triacylglycerine (TG, grüne Pfeile) aus der Nahrung werden vor der Resorption gespalten, in den Darmzellen jedoch wieder zu TG synthetisiert und zusammen mit anderen Lipiden (s. Abb.14.24, Tab.14.11, S. 470) in Chylomikronen eingebaut. Diese verlassen den Darm über die Lymphbahn, gelangen ins systemische Blut und verlieren im Kapillarbett (vor allem des Fettgewebes) den Teil ihrer TG, der von der endothelialen Lipoproteinlipase (LPL) in freie Fettsäuren (orange Pfeile) gespalten wird (Speicherung als TG in Fettzellen). Die Chylomikronenreste (remnants) erreichen die Leber, die spezifische Rezeptoren dafür besitzt, und laden dort ihren Inhalt (Tab.14.11) ab. Die Leber formt neue

freie Fettsäuren ein und bilden dadurch so genannte gemischte Mizellen mit einem Durchmesser von wenigen Nanometern. Fette können auch auf diesen Mizellen weiterverdaut werden. Bei den zu überquerenden Barrieren (Abb. 14.25) handelt es sich zunächst um eine Schleimschicht über den Enterozyten, die ein Diffusionshindernis darstellt und damit die Geschwindigkeit, mit der absorbiert wird, mitbestimmt. Unter der Schleimschicht befindet sich eine ca. 40 µm dicke wässrige Phase („unstirred layer“), die zwar die Diffusion nicht behindert, in der jedoch manche Lipide schlecht löslich sind. Kurz- und mittelkettige Fettsäuren lösen sich dort noch relativ gut und können frei zu den Enterozyten diffundieren. Eine ausreichende Löslichkeit und damit ausreichender Transport langkettiger Fettsäuren wird erst durch deren Verpackung in Mizellen erreicht. Man schätzt, dass hierdurch die Löslichkeit um bis zu 1000 000fach erhöht wird.

PL Ch,Ce

LDL

LDLRezeptor

PL Ch

Membranen

Ce (Speicher) alle Zellen

Lipoproteine, VLDL, von denen durch LPL in der Peripherie ebenfalls Fettsäuren abgespalten werden. Die VLDL-Reste (= IDL) beladen u. a. „Prä“-HDL mit Cholesterinestern (Ce, violette Pfeile), wobei die vorausgehende Veresterung des Cholesterins (Ch, blaue Pfeile) durch die Lecithin-Cholesterinacyl-Transferase (LCAT) des Plasmas katalysiert wird, und es entstehen HDL. IDL werden dabei zu LDL umgewandelt. LDL dienen vor allem der Versorgung der Zellen mit Cholesterin (Ch) und Phospholipiden (PL, blaugrüne Pfeile) (s. a. Abb.14.25). Die HDL, die auch vom Darm gebildet werden, dienen dem Ch-Transport von der Peripherie zur Leber sowie zu Steroidhormone produzierenden Drüsen.

Aufnahme in die Enterozyten In der wässrigen Phase an der Oberfläche der Enterozyten herrscht ein saures Milieu bedingt durch die Aktivität der Na+/H+-Austauscher (Abb. 14.25). Man geht davon aus, dass die Fettsäuren dadurch protoniert werden, die Mizellen dann verlassen und durch nicht-ionische Diffusion oder durch Inkorporation in die Zellmembran absorbiert werden. Auch Cholesterin und Phospholipide verlassen jetzt die Mizellen, um in die Zellen zu gelangen. Der überwiegende Teil der Gallensalze verbleibt zunächst im Darmlumen und wird erst im Ileum reabsorbiert (S. 468). Kurzkettige Fettsäuren können auch noch im Kolon absorbiert werden. Bisher ging man davon aus, dass Lipide überwiegend durch einfache Diffusion in die Zellen gelangen. In letzter Zeit wurden jedoch auch Transporter identifiziert, die den Transport von Fettsäuren, Monoacylglycerinen, Cholesterin und Lysophospholipiden in die Zellen hinein vermitteln können. Erst 2004 wurde das Niemann-Pick-C1-like-1-Protein als intestinaler Cholesterintransporter identifiziert, der wesentlich an der Cholesterin-Resorption beteiligt ist. Mäuse, die dieses Protein nicht exprimieren, zeigen eine deutlich reduzierte in-

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14.9 Dünn- und Dickdarm: Nährstoffverdauung und -absorption testinale Cholesterinresorption, wogegen die Triglyceridaufnahme nicht verändert ist.

Verpackung der Lipide für den Transport im Blut Für den Transport im wässrigen Milieu Blut müssen die aufgenommenen Lipide, besonders die langkettigen Fettsäuren, in den Enterozyten speziell „verpackt“ werden (Abb. 14.26). Dieser Prozess ist eine „Umkehrung“ der Verdauungsvorgänge: Lipide werden wieder verestert, Chylomikronen werden gebildet und anschließend in die Lymphe abgegeben, um schließlich ins venöse Blut zu gelangen. Chylomikronen sind 75 – 1200 nm große Lipoproteine, die viele Triacylglycerine und einige Phospholipide, Cholesterin und Cholesterinester enthalten. Außerdem finden sich in ihnen verschiedene Apolipoproteine (S. 470). In einem ersten Schritt binden langkettige Fettsäuren in den Enterozyten an Fettsäure-Bindungsprotein, wodurch der Reflux ins Darmlumen und toxische Wirkungen verhindert werden. Anschließend werden sie ins glatte endoplasmatische Retikulum transferiert. In einem zweiten Schritt werden sie dort in der postprandialen Phase mit 2-Monoacylglycerinen und in der interdigestiven Phase mit Glycerin-3-Phosphat zu Triacylglycerinen verestert. Cholesterin wird zu Cholesterinestern und Lysolecithin zu Phospholipiden umgewandelt. Anschließend assoziieren die Lipide mit Apolipoproteinen, die im rauen endoplasmatischen Retikulum synthetisiert wurden, und das Aggregat gelangt dann in den Golgi-Apparat. Hier findet im vierten Schritt Glykosylierung der Apolipoproteine und Verpackung der Chylomikronen in Vesikel statt. An der basolateralen Membran gelangen diese durch Exozytose aus den Zellen heraus und wandern in die Lymphe.

Kurz- und mittelkettige Fettsäuren gelangen ohne Mizellen zu den Enterozyten, werden dort absorbiert und ins Portalblut abgegeben. Diese Tatsache macht man sich bei Patienten zunutze, die an gestörter Fettabsorption leiden. Hier können in der Diät vermehrt kurz- und mittelkettige Fettsäuren angeboten werden. In Fastenzeiten können Enterozyten auch die Lipoproteine VLDL (Very low density lipoproteins) bilden und an die Lymphe abgeben. Diese enthalten dann hauptsächlich endogene Lipide.

Nukleinsäureverdauung und -absorption Nukleinsäuren werden durch die pankreatischen RNAsen und DNAsen zu Nukleotiden gespalten und diese durch Bürstensaumenzyme (u. a. 5′-Ektonukleotidase) in Phosphat, Zucker und Pyrimidin- bzw. Purinbasen zerlegt. Diese werden dann im Dünndarm absorbiert.

Vitaminabsorption Die fettlöslichen Vitamine A, D, E und K werden zusammen mit den Lipiden absorbiert. Sie gelangen in den Mizellen an die Enterozytenoberfläche, wo sie wahrscheinlich auf ähnliche Weise wie Cholesterin und Fettsäuren absorbiert werden.

Enterozyt

Lumen

Pte(Glu)n

Blut

Pteroylpolyglutamathydrolase

5

N -CH3-THF

Pte(Glu)

–

Pte(Glu) OH

–

–

Folattransporter

Abb.14.27 Folsäureabsorption. Folsäure bzw. Folat– (Pteroylglutamat, PteGlu–1) wird durch einen Carrier-vermittelten Prozess resorbiert. Pteroylpolyglutamat (PteGlun) muss zuvor enzymatisch gespalten werden.

Folsäure Folsäure (Folat) ist nach Umwandlung zu Tetrahydrofolat ein notwendiger Kofaktor für die Synthese von Thymin sowie Purinbasen und damit für die DNA-Synthese. Ist diese durch einen Folsäuremangel gestört, ist u. a. die Zellteilung und damit das Zellwachstum gestört. Dies trifft besonders für Zelltypen mit hohen Wachstumsraten zu. So ist eine Abnahme der Erythrozytenzahl (megaloblastäre Anämie) ein typisches Symptom bei Folsäuremangel. Außerdem ist Folsäure an der Methylierung von Homocystein zu Methionin beteiligt. Der tägliche Bedarf erwachsener Frauen liegt bei 180 µg, der von Männern bei 200 µg. Während der Schwangerschaft verdoppelt sich der Bedarf von Frauen und ein Mangel kann zu Neuralrohrdefekten des Kindes führen. In der Nahrung (z. B. Spinat, Bohnen, Leber) liegt Folsäure als Folat-Polyglutamat vor (Abb. 14.27). Durch Bürstensaumpeptidasen der Enterozyten findet die Dekonjugation zu Folat-Glutamat statt, das über einen Folattransporter in die Zellen gelangt. Dieser Transporter befindet sich hauptsächlich im proximalen Dünndarm und tauscht Folat-Glutamat gegen OH– aus. Sein Transportmaximum erreicht er bei einem extrazellulären pH von 5. Folat-Glutamat ist biologisch nicht aktiv und wird in Zellen (auch den Enterozyten) durch Difolatreduktase zunächst zu Dihydrofolat (DHF) und dann zum biologisch aktiven Tetrahydrofolat (THF) umgewandelt. Für seine Rolle als Kofaktor bei der Thymin-Synthese ist zusätzlich die Methylierung zu N5,N10-Methylen-THF, für die Purinsynthese zu N10-Formyl-THF und für die Synthese von Methionin zu N5-Methyl-THF notwendig. Bei der Synthese von Thymidin wird 5,10-Methyl-THF zu DHF umgewandelt. Die Leber ist der Hauptort der Verstoffwechselung von Folat-Glutamat. Im Blut zirkulieren verschiedene Metabolite von Folat. Wie Folat-Glutamat und THF über die basolaterale Membran der Enterozyten transportiert werden, ist noch nicht eindeutig geklärt.

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14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung

B12

Vitamin B12 in der Nahrung

Protein saures Milieu, Pepsin Haptocorrin (= R-Protein) Vitamin B12 (Cobalamin)

B12 Intrinsic Factor B12

Lysosom

B12 Megalin B12

B12

B12

Cubilin B12

Transcobalamin II

Endosom

B12

B12

B12

im Ileum

Abb.14.28 Vitamin B12-Absorption. Vitamin B12 (Cobalamin) wird im Ileum durch Rezeptor-vermittelte Endozytose absorbiert. Dazu muss es im Dünndarm an den Intrinsic

Vitamin B12 (Cobalamin) Vitamin B12 wird nur von Mikroorganismen gebildet und kommt z. B. in Fleisch, Fisch, Eier und Leber, nicht jedoch in Gemüse oder Früchten vor. Vitamin B12 dient ebenfalls als Koenzym bei der Umwandlung von Homocystein zu Methionin (einer essenziellen Aminosäure). Für diese Reaktion wird N5-Methyl-THF, das aus N5,N10-MethylenTHF gebildet wird (s. o.), als Methyl-Donor benötigt. Bei Vitamin-B12-Mangel akkumulieren die Zellen THF in Form von N5-Methyl-THF (dieses kann nur in Anwesenheit von Vitamin B12 weiterverstoffwechselt werden) wodurch die N5,N10-Methyl-THF-Spiegel fallen, so dass die DNA-Synthese abnimmt. Dies erklärt, warum ein Vitamin-B12-Mangel (z. B. bei Morbus Crohn oder atrophischer Gastritis) ebenfalls zu einer megaloblastären Anämie führt. Zusätzlich ist Vitamin B12 ein Kofaktor der Methylmalonyl-CoA-Mutase. Ein Mangel erhöht die Konzentration von Methylmalonylvorstufen und führt dadurch zu vermehrter Bildung unphysiolo-

Factor (aus den Magen-Belegzellen) binden, der dann an den Rezeptor Cubilin bindet. An Transcobalamin II gebunden gelangt es schließlich in den Kreislauf.

gischer Fettsäuren. Diese sollen durch Einlagerung in Zellmembranen zur Ausbildung der neurologischen Symptome bei Vitamin-B12-Mangel führen (z. B. Hinterstrangataxie mit Gangunsicherheit). Der tägliche Vitamin-B12-Bedarf beträgt 2 µg bei einer gespeicherten Gesamtmenge von 5 mg. Somit führt erst längerfristiger Mangel zu Symptomen. In der Nahrung liegt Vitamin B12 an Protein gebunden vor und wird im Magen durch das saure Milieu und Pepsin freigesetzt (Abb. 14.28). Es wird noch im Magen an das Protein Haptocorrin aus den Speichel- und Magendrüsen gebunden. Gleichzeitig wird von den Belegzellen das Protein Intrinsic Factor (IF, 45 kDa) sezerniert. Im Duodenum wird Haptocorrin durch Proteasen gespalten und IF übernimmt die Bindung von Vitamin B12. Dies ist erst bei neutralem pH möglich. Der IF-Vitamin-B12-Komplex wird im Ileum, in Anwesenheit von Ca2+, an den Rezeptor Cubilin (ein 460 kDa großes Protein) gebunden und durch Rezeptor-vermittelte Endozytose absorbiert.

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14.9 Dünn- und Dickdarm: Nährstoffverdauung und -absorption In den Endosomen löst sich Vitamin B12 vom IF und bindet an Transcobalamin II. Der Transcobalamin-II-B12-Komplex verlässt die Zelle basolateral durch Exozytose, wohingegen IF in den Lysosomen abgebaut wird. Ein Teil von Vitamin B12 gelangt in die Galle und unterliegt der entero-hepatischen Zirkulation. Die IFSekretion korreliert mit der HCl-Sekretion und wird ebenfalls durch Histamin, Gastrin und Acetylcholin stimuliert. Die Mechanismen dieser Stimulation sind noch nicht eindeutig geklärt, beeinflussen die IF-Synthese jedoch nicht.

Calcitriol

Na+-Ca2+Austauscher

Calbindin CaT1 +

3Na Ca2+

Ca2+

Ca2+

Calbindin

Wird die HCl-Sekretion durch H2-Blocker (S. 429) gehemmt, so sinkt auch die IF-Sekretion. Eine Hemmung der HCl-Sekretion durch H+/K+-ATPase-Blocker (z. B. Omeprazol) beeinflusst die IF-Sekretion dagegen nicht.

Ca2+

Ca2+

Calbindin 2+

Ca -ATPase

Ca2+

Vitamin C Vitamin C wird im Jejunum durch einen apikalen Na+Symporter (SVCT1 = Sodium-Vitamin-C-Transporter) sekundär-aktiv in die Enterozyten aufgenommen, ähnlich wie Glucose oder Aminosäuren.

Vitamine B1, B2, B6, H Für die Resorption dieser wasserlöslichen Vitamine sind Transporter in der Enterozytenmembran notwendig. Vitamin B1 (Thiamin) und Vitamin H (Biotin) werden im proximalen Dünndarm aktiv absorbiert. Vitamin B2 (Riboflavin) und B6 (Pyridoxin) werden im gesamten Dünndarm passiv absorbiert (erleichterte Diffusion).

Ca2+-Absorption Pro Tag nehmen wir durchschnittlich 1000 mg Ca2+ zu uns (hauptsächlich mit Milch und Milchprodukten). Ca2+ aus Blattgemüse wird schlecht absorbiert, da es als Oxalatsalz vorliegt. Im gesamten Dünndarm werden pro Tag ca. 500 mg Ca2+ absorbiert und 325 mg sezerniert, so dass die Nettoabsorption nur ca. 175 mg beträgt. Ca2+ wird im Duodenum aktiv transzellulär und im restlichen Dünndarm passiv parazellulär absorbiert (Abb. 14.29). Wegen der großen Gesamtoberfläche ist die passive Resorption jedoch größer als die aktive. Allerdings kann nur die aktive Resorption durch Calcitriol (1,25-(OH)2Cholecalciferol, Kap. 13) reguliert werden und ist deshalb von großer Bedeutung bei Bedarfsschwankungen. Bei der aktiven Resorption strömt Ca2+ entlang seinem elektrochemischen Gradienten über den apikalen Kanal CaT1 (Calcium Transport Protein Subtype 1) in die Zellen ein und lagert sich an das zytosolische Protein Calbindin an. Dieser Komplex wandert zur basolateralen Membran, wo Ca2+ durch den 3Na+/Ca2+-Austauscher sekundär-aktiv und über eine Ca2+-ATPase primär-aktiv aus der Zelle herausgeschafft wird. Calcitriol stimuliert alle drei Schritte durch vermehrte Proteinexpression (genomischer Effekt). Am wichtigsten ist die vermehrte Calbindinexpression. Die aktive Ca2+-Resorption steigt auch während der Schwangerschaft und bei verminderter basolateraler Ca2+-Konzentration an. Ein Mangel an Calcitriol kann zu gestörter Knochenmineralisierung führen (Osteomalazie, Rachitis, s. Kap. 13).

Lumen

Enterozyt

Blut

Abb.14.29 Ca2+-Absorption. Ca2+ gelangt über einen Kanal (CaT1) in die Enterozyten, wo es sofort von Calbindin gebunden wird, um die Konzentration an freiem Ca2+ gering zu halten. In dieser Form gelangt es an die basolaterale Membran. Dort wird es durch einen Na+-Ca2+-Austauscher und eine Ca2+-ATPase aus der Zelle heraustransportiert.

Magnesiumabsorption Mg2+ ist ein wichtiger Kofaktor für Enzyme, bei der Neurotransmission und Muskelkontraktion sowie für die Ausschüttung und Wirkung von Parathormon. Ein Magnesiummangel kann somit eine Hypokalziämie nach sich ziehen. Der tägliche Mg2+-Bedarf liegt bei 280 mg für Frauen und 350 mg für Männer. Es kommt in Gemüse, Getreide und Fleisch vor. Im Ileum wird Mg2+ aktiv absorbiert, im restlichen Dünndarm passiv. Die aktive Resorption wird scheinbar nicht von Calcitriol reguliert. Mg2+ kann parazellulär und transzellulär absorbiert werden. Transzellulär sind ein apikaler Kanal (TRPM6) und möglicherweise ein basolateraler Mg2+/Na+-Austauscher beteiligt.

Eisenabsorption Eisen spielt eine essenzielle Rolle für eine Vielzahl von „O2-tragenden“ Proteinen (z. B. Hämoglobin, Cytochrome). In der Nahrung (Fleisch und Gemüse) unterscheidet man zwischen Häm-Eisen (aus Hämoglobin und Myoglobin) und „sonstigem Eisen“, die über unterschiedliche Mechanismen absorbiert werden. Nur 10 – 20% des Eisens in der Nahrung werden aufgenommen, wobei die Aufnahme von Häm-Eisen effektiver ist als die von sonstigem Eisen. Mit Ausnahme der Menstruationsblutung ist der Eisenverlust bei Gesunden gering. Der tägliche Bedarf liegt bei 15 mg für Frauen und 10 mg für Männer. Häm-Eisen wird im Duodenum durch apikale Endozytose absorbiert (Abb. 14.30). Intrazellulär wird dreiwertiges Eisen (Fe3+) durch die Hämoxygenase freigesetzt, wobei auch CO und Biliverdin entstehen. Biliverdin wird über die Leber ausgeschieden, Fe3+ wird zu Fe2+ reduziert, basolateral in das Blut abgegeben und dann als Fe3+ an Transferrin gebunden im Körper verteilt (s. u.).

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14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung

Fe

Fe

durch dessen Anlagerung an bestimmte Basensequenzen (IRE = Iron Response Element) der Transferrin- bzw. Ferritin-mRNA. IRE-BP-Bindung stabilisiert die Transferrin-mRNA, so dass bei Eisenmangel mehr Transferrin gebildet wird. Im Gegensatz dazu wird durch IRE-BPBindung die Ferritin-Translation gehemmt, so dass bei Eisenmangel weniger Ferritin gebildet wird.

3+

Vitamin C

460

Transferrinrezeptor Transferrin

2+

Plasmatransferrin

Mobilferritin

H

+

Häm-Eisen

DCT1

Hämoxygenase

IREG1

Fe

2+

Fe

3+

Phosphatabsorption Phosphat (Tagesbedarf ca. 800 mg) wird, wie in der Niere (S. 361), sekundär-aktiv im Dünndarm absorbiert. Hierfür ist der apikale Na+-Phosphat-Symporter Typ II (NaPi-II) verantwortlich. Die Phosphatabsorption wird durch Calcitriol stimuliert.

14.10 Motorik von Dünn- und Dickdarm Dünndarmmotorik 2+

Abb.14.30 Eisen-Absorption. Freies Fe wird einerseits an sezerniertes Transferrin gebunden und in dieser Form durch Rezeptor-vermittelte Endozytose absorbiert, andererseits wird es durch den H+-Symporter DCT1 in die Zelle aufgenommen. Auch Häm-Eisen wird von den Zellen aufgenommen. In den Zellen wird Fe2+ an Mobilferritin gebunden. Es verlässt die Zelle basolateral über den Transporter IREG1.

Sonstiges Eisen liegt als Fe3+ oder Fe2+ in der Nahrung vor. Fe3+ bildet Salzkomplexe, die bei einem pH > 3 nicht löslich sind und kann deshalb nicht absorbiert werden. Fe2+ bildet keine Salze, ist bis pH 8 gut löslich und wird im Duodenum absorbiert. Vitamin C reduziert Fe3+ zu Fe2+ und fördert damit die Eisenabsorption. Tannine, die im Tee vorkommen, bilden unlösliche Eisenkomplexe und behindern dadurch die Absorption (Zitronensaft im Tee kann hier entgegenwirken). Fe2+ wird über den apikalen, sekundär-aktiven H+-Kationen-Symporter DCT1 (Divalent Cation Transporter 1) aufgenommen. Schwermetalle wie Cd2+ oder Pb2+ können Fe2+ von diesem Transporter verdrängen. Ein weiterer Absorptionsmechanismus besteht in der apikalen Sekretion einer Spezialform des Proteins Transferrin (Tf) durch Duodenalzellen. Tf bindet dann Fe2+, dieser Komplex lagert sich an den apikalen Transferrinrezeptor (TfR) der Enterozyten an und wird schließlich durch Rezeptor-vermittelte Endozytose aufgenommen. In den Endosomen löst sich Fe2+ von Tf und wird an zytosolisches Mobilferritin gebunden, während Tf erneut sezerniert wird. Häm-Eisen verbindet sich ebenfalls mit Mobilferritin. Nach dem Transfer zur basolateralen Membran wird Fe2+ wahrscheinlich über den Transporter IREG1 ans Blut abgegeben, wo es von Transferrin als Fe3+ gebunden und im Körper verteilt wird. In den Zielzellen wird Eisen an Ferritin und zu einem kleineren Teil an Hämosiderin gebunden. Die Beladung dieser Eisenspeicher scheint die Fe2+-Absorption durch Veränderung der DCT1- und IREG1-Expression zu beeinflussen. Eisen wird in den Zellen von IRE-BP (Iron Response Element-Binding Protein) gebunden und verhindert da-

Die Frequenz der Entladung von Schrittmacherzellen (Cajal-Zellen) und damit auch die der langsamen elektrischen Wellen der Dünndarmmuskulatur nimmt analwärts ab. Muskelbündel mit höherer Frequenz erregen benachbarte Bündel mit niedrigerer Frequenz über Gap Junctions, so dass proximalere Dünndarmabschnitte als Schrittmacher für distalere Abschnitte funktioniert und sich die Kontraktionswellen analwärts fortpflanzen. Die äußere nervale Versorgung bestimmt das mittlere Ruhepotenzial sowie die Amplitude der langsamen Wellen und damit den Tonus und das Auftreten rhythmischer Kontraktionen. Der Parasympathikus innerviert sowohl hemmende als auch fördernde Ganglienneurone, während der Sympathikus die Motorik (mit Ausnahme der Sphinkter) hemmt. Der Sympathikus ist auch der efferente Schenkel des Reflexes, der die Darmmotorik bei Darmverschluss, Peritonitis o. ä. stilllegt (Paralytischer Ileus). Die Aufgaben der postprandialen (digestiven) Motorik bestehen im – Vermischen der Nahrung mit den Verdauungsenzymen, – der Intensivierung des Kontaktes mit der Darmschleimhaut, – dem aboralen Transport der Nahrung sowie – der Beseitigung von Nahrungsresten im Darm. Im Ileum wird die Nahrung solange zurückgehalten, bis der Verdauungsvorgang abgeschlossen ist. Zu diesem Zweck kann der Darminhalt im Ileum (besonders Lipide) über enterische Reflexbögen die Transportmotorik im Jejunum hemmen. Die myoelektrische Aktivität der Darmmuskulatur verhält sich wie die im Magen (s. S. 414). Ausgehend von mehreren Schrittmachern breiten sich spontane Membranpotenzialschwankungen (slow waves) über eine gewisse Distanz aus und grenzen somit Bewegungssegmente ab. Die Frequenz nimmt vom Duodenum zum Ileum hin ab. Wird die Aktionspotenzialschwelle überschritten, bilden sich Aktionspotenziale aus und die Muskulatur kontrahiert sich.

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14.10 Motorik von Dünn- und Dickdarm Postprandial können drei Bewegungsarten unterschieden werden. – Segmentationen entstehen durch Kontraktionen der Ringmuskulatur und dienen dem Mischen der Nahrung sowie der Herstellung eines intensiven Kontaktes mit der Darmschleimhaut, d. h. durch Störung des Unstirred Layers über den Enterozyten. – Beim Pendeln wird durch Kontraktion der Längsmuskulatur der „Darm über den Darminhalt gezogen“ wodurch indirekt Propulsion (Weitertransport des Darminhaltes) erreicht wird. – Unter Peristaltik i. e. S. versteht man mehrere hintereinander abfolgende Kontraktionen und Erschlaffungen der Ring- und Längsmuskulatur, die in aboraler Richtung wandern und den wichtigsten Mechanismus für die Propulsion darstellen. Dieses komplexe Bewegungsmuster wird durch einen lokalen Reflexbogen (peristaltischer Reflex) gesteuert. Durch Wanddehnung (Abb. 14.7, S. 420) werden sensorische Neurone erregt, die über hemmende Interneurone die Längsmuskulatur oralwärts (aufsteigend) hemmen und die Ringmuskulatur enthemmen; gleichzeitig wird analwärts über erregende Interneurone die Längsmuskulatur erregt (Verkürzung) und die Ringmuskulatur entspannt. Bei diesem peristaltischen Reflex wird also eine komplexe Serie motorischer Ereignisse ausgelöst, sobald Nahrungsbrei ein Segment des Muskelschlauchs ausdehnt. Die Wanderung des Bolus verschiebt den Reflexort nach distal, was wiederum den Bolus weiterschiebt, so dass ein mehr oder weniger kontinuierlicher Transport in aboraler Richtung resultiert. Das Ausmaß der Peristaltik hängt von der Nahrungszusammensetzung ab. Fettreiche Nahrung wird langsamer transportiert als fettarme. In der interdigestiven Phase wandern MMCs (Migrating Motor Complex, s. S. 414) über den Dünndarm. Diese beginnen entweder im Magen oder im proximalen Dünndarm und erlöschen meist vor dem Kolon. Die Frequenz der MMCs unterliegt einer zirkadianen Rhythmik und ist nachts höher (alle 30 – 90 Minuten) als tagsüber (alle 90 – 120 Minuten). Außerdem ist nachts die Motilin-gesteuerte Phase 3 (Phase der stärksten Kontraktion) verstärkt. Die Frequenz der MMCs wird von den Cajal-Zellen (s. S. 414) im enterischen Nervensystem bestimmt und durch das vegetative Nervensystem (N. vagus) moduliert. Psychischer Stress kann die MMC-Bildung blockieren. Der Übergang von der interdigestiven zur postprandialen (digestiven) Motorik wird durch den N. vagus sowie die Hormone Gastrin, CCK und Sekretin eingeleitet. Die Ileozökalklappe ist eine ventilartige Struktur mit hohem Ruhedruck und kontrolliert den Übertritt von Darminhalt in das Kolon. Sie steht unter der Kontrolle des enterischen Nervensystems sowie des Parasympathikus (wahrscheinlich Erschlaffung) und Sympathikus (Kontraktion über α-Rezeptoren). Dehnung des Ileums führt zur Öffnung der Klappe, wogegen Dehnung des proximalen Kolons zum Verschluss der Klappe führt. Durch diesen Mechanismus wird gewährleistet, dass Darminhalt vom Ileum ins Kolon fließt und nicht umgekehrt.

Dickdarmmotorik Der Dickdarm befördert seinen Inhalt nicht nur weiter, sondern kann ihn auch dadurch speichern, dass Teile von ihm akkommodationsfähig sind und seine Schrittmacher im Colon transversum sitzen. Letzteres erlaubt auch eine retrograde Peristaltik und damit eine Stuhlspeicherung in Colon ascendens und Zäkum. 2 – 3-mal täglich befördert dann eine analwärts gerichtete Peristaltik die Fäzes ins Rektum (Massenbewegung), dessen Dehnung in der Folge den Defäkationsreflex auslöst. Wird er willentlich unterdrückt, akkommodiert das Rektum (Speicherung). Der Dickdarm führt durch Wasser- und Elektrolytresorption zur Eindickung des Darminhaltes, absorbiert kurzkettige Fettsäuren und dient als Reservoir, das eine regulierte und willkürlich kontrollierte Entleerung des Darmes ermöglicht. Mittlere Dickdarmpassagezeiten betragen im Mittel 33 Stunden bei Männern und 47 Stunden bei Frauen, sind jedoch sehr variabel. Die Grundmechanismen der Dickdarmmotilität entsprechen denen im Dünndarm. Ausgehend von Cajal-Zellen in Schrittmacherzentren und vermittelt durch das enterische Nervensystem breiten sich langsame Potenzialschwankungen (slow waves) über das Kolon aus. Das Hauptschrittmacherzentrum befindet sich in der Mitte des Colon transversum. Erst wenn durch diese slow waves ein Schwellenpotenzial überschritten wird, bilden sich Aktionspotenziale aus und es kommt zur Muskelkontraktion. Bei der Motilität des Dickdarms wird nicht zwischen postprandialen und interdigestiven Phasen unterschieden. Inwiefern MMCs im Kolon überhaupt eine Rolle spielen, ist noch nicht geklärt. Die Dickdarmmotorik unterliegt einer zirkadianen Rhythmik mit geringer Aktivität in der Nacht und hoher Aktivität am Vormittag.

Funktionell können wir zwei Abschnitte unterscheiden: Im proximalen Kolon (Colon ascendens und transversum) findet die überwiegende Absorption von Wasser und Elektrolyten sowie die bakterielle Fermentation von Darminhalt statt. Hier werden zwei Bewegungsarten unterschieden. Segmentationen kommen durch Ringmuskelkontraktion zustande und führen zur Haustrierung des Dickdarms. Sie mischen den Darminhalt und halten ihn zurück, so dass eine ausreichende Absorption stattfinden kann. Manchmal wird der Darminhalt auch gegen die Ileozökalklappe zurückgeworfen (retrograder Transport) und kann im Colon ascendens und Zäkum gespeichert werden. Massenbewegungen sind 2 – 3 Mal pro Tag auftretende peristaltische Kontraktionen, die den Darminhalt 20 – 30 cm weit vorantreiben. Sie können durch Nahrungsaufnahme stimuliert werden (gastrokolischer Reflex) und dann sogar zum Stuhldrang führen (s. u.). Während der Massenbewegungen verschwindet die Haustrierung. Das distale Kolon (Colon descendens und sigmoideum) dient der endgültigen Eindickung und als Reservoir. Auch hier finden sich Segmentationen sowie Massenperistaltik. Durch distale Massenbewegung wird das ansonsten leere Rektum mit Darminhalt gefüllt und dadurch gedehnt. Diese Dehnung löst dann den Defäkationsreflex (s. u.) aus.

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14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung Die Motilität des Dickdarms wird reflektorisch durch cholinerge Neurone stimuliert und durch NANC-Neurone sowie noradrenerge und somatostatinerge Neurone gehemmt. Serotonin scheint ebenfalls ein hemmender Transmitter zu sein. Über zentrale Mechanismen beeinflussen emotionale Faktoren und Stress die Dickdarmmotorik. Kurzzeitiger Stress stimuliert die Motilität im Sigmoid und kann dadurch zum Stuhldrang (s. u.) führen. Hierbei scheint CRH (S. 535 f.) eine Rolle zu spielen. Schließlich können CCK und Neurotensin die distale Kolonmotilität stimulieren, während Sekretin hemmt.

Darmentleerung Die Darmentleerung (Defäkation) ist wie das Erbrechen ein komplexer Reflex, bestehend aus der koordinierten Abfolge autonomer und willkürlicher Motorik. Der Darmausgang wird durch den Analsphinkter verschlossen. Dieser besteht aus dem unwillkürlich regulierten inneren Sphinkter (glatte Muskulatur) und dem willkürlich regulierten äußeren Sphinkter (quergestreifte Muskulatur). Die Grundaktivität des inneren Sphinkters wird durch den Sympathikus erhöht (α-Rezeptoren) und durch den Parasympathikus reduziert. Physiologischerweise herrscht im Analsphinkter ein gewisser Ruhetonus, der hauptsächlich durch unwillkürliche Kontraktion des inneren Sphinkters entsteht. Dieser Ruhetonus garantiert, dass der Darmausgang geschlossen ist. Kommt es durch Massenbewegungen des distalen Kolons (s. o.) zur Füllung und damit Dehnung des Rektums (mit Erregung von Dehnungsrezeptoren) wird der rekto-sphinkterische Defäkationsreflex ausgelöst. Zunächst wird hierdurch eine Erschlaffung des inneren und eine Kontraktion des äußeren Sphinkters bewirkt. Zusätzlich gelangen afferente Informationen zum Gehirn und erzeugen das Bewusstsein, dass Stuhl entleert werden muss (den. sog. Stuhldrang). Ist die Darmentleerung erwünscht, kommt es über lokale und sakrale Reflexe zur Relaxation des inneren und äußeren Sphinkters sowie der Beckenbodenmuskulatur. Kontraktion der Bauchmuskulatur und Exspiration gegen die geschlossene Glottis erhöhen den intraabdominellen Druck. Parallel dazu laufen peristaltische Wellen vom Sigmoid zum Rektum, und die Haustrierung des Sigmoids wird durch Kontraktion der Längsmuskulatur vermindert. Schließlich führt der Druckanstieg im Rektum zum Austritt des Darminhaltes. Beugung der Hüften und Absenken des Beckenbodens vermindern die Abwinkelung des Rektums gegenüber dem Anus und erleichtern dadurch die Darmentleerung. Diese Reflexkette kann willkürlich in Gang gesetzt werden. Ist die Darmentleerung nicht erwünscht, halten lokale und sakrale Reflexbögen die Kontraktion des äußeren Sphinkters aufrecht. Diese kann willkürlich unterstützt werden. Bleibt die Darmentleerung aus, passt sich das Rektum dem neuen Füllungszustand binnen 10 s an (Akkommodationsreflex) wodurch der Innendruck sinkt, so dass sich auch der innere Sphinkter wieder kontrahiert. Diese Kontrolle der Darmentleerung sorgt für Kontinenz.

14.11 Physiologie der Leber Gallensalze sind Cholesterinmetaboliten. Sie werden von den Hepatozyten aus dem Portalvenenblut aufgenommen oder intrazellulär synthetisiert, um nach Konjugierung mit Glycin oder Taurin anschließend über die apikale Membran primär-aktiv in die Gallenkanälchen sezerniert zu werden. Gallensalze bilden Mizellen, und zwar in der Galle zusammen mit Cholesterin und Lecithin (Phosphatidylcholin), im Darmlumen vor allem mit den ebenfalls schwer wasserlöslichen Produkten der Lipolyse, für deren Absorption die gallensalzvermittelte Mizellenbildung eine wichtige Voraussetzung ist. Bei der Lipidabsorption werden die Gallensalze wieder freigesetzt, im terminalen Ileum reabsorbiert und gelangen so wieder zurück zur Leber: enterohepatischer Kreislauf. Am Kolonepithel erhöhen Gallensalze die Wasserpermeabilität. Neben Lecithin und Cholesterin gehören zu den in die Galle sezernierten Stoffen auch Steroide, Bilirubin sowie Medikamente und andere Fremdstoffe. Bilirubin stammt vor allem aus dem Hämoglobinabbau. Dabei entsteht über die Zwischenprodukte Häm und Biliverdin unkonjugiertes Bilirubin, das von der Leberzelle aufgenommen, mit Glucuronsäure konjugiert und in dieser Form in die Galle sezerniert wird. Sowohl die Sekretion von Gallensalzen als auch die anderer Stoffe ist von osmotisch bedingten Wasserflüssen begleitet, die jeweils 40 % des primären Gallenflusses ausmachen. Die restlichen 20 % entstammen der von den Gallengangsepithelien sezernierten Flüssigkeit. Gesteuert wird die Gallensekretion von der Gallensalzkonzentration im Plasma sowie von Sekretin, CCK und anderen Hormonen. Die Lebergalle fließt entweder direkt ins Duodenum oder wird interdigestiv in der Gallenblase durch Resorption von NaCl und Wasser eingedickt und gespeichert. Signale für die Gallenblasenkonstriktion (bei gleichzeitiger Erschlaffung des Sphincter Oddi) sind CCK und Acetylcholin (N. vagus).

Allgemeines zur Leber Die Leber ist das zweitgrößte Organ und macht 2 – 5 % des Körpergewichtes aus. Da das nährstoffreiche Pfortaderblut zuerst durch die Leber fließt, ist ihre Funktion entscheidend für das weitere Schicksal der absorbierten Stoffe. Die Leber wird gerne als „biochemische Fabrik“ bezeichnet, da in ihr eine Vielzahl lebenswichtiger Stoffwechselreaktionen ablaufen (z. B. Harnstoffsynthese; s. Lehrbücher der Physiologischen Chemie), sie Nährstoffe speichern und kontrolliert abgeben kann (Kohlenhydrate, Lipide, Vitamine, Mineralien) sowie bestimmte Stoffe für den Körper herstellt (z. B. Synthese von Gerinnungsfaktoren, Glucose, Ketonkörper, Lipide). Darüber hinaus ist die Leber ein Ausscheidungsorgan (z. B. Bilirubin mit der Galle), eine exokrine Drüse (Gallebildung zur Fettverdauung und -absorption), eine endokrine Drüse (z. B. Vitamin-D3-Hydroxylierung) sowie eine „Entgiftungsstation“. Die Leber transformiert viele endogene und exogene Substanzen (Biotransformation) zu inaktiven Metaboliten, die anschließend mit der Galle ausgeschieden werden, oder zu aktiven Metaboliten, die dem Körper zu Verfügung gestellt werden. Hierzu gehören

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14.11 Physiologie der Leber Steroidhormone und Bilirubin (Konjugation und Ausscheidung), Medikamente und Toxine (Metabolisierung und Ausscheidung), Vitamin D3 und Thyroxin (→ Metabolisierung und Aktivierung). Durch ihre spezielle Feinstruktur und die Kupffer-Sternzellen wirkt sie auch als Blutfilter und entfernt Bakterien sowie deren Toxine, Parasiten und alte Erythrozyten.

Zentralvene Sinusoid Kupffer-Sternzelle

Funktionelle Anatomie Die Leber besteht zu 80% aus Hepatozyten, die ein einschichtiges polarisiertes Epithel ohne dichte Basalmembran bilden und durch Gap Junctions verbunden sind (Abb. 14.31). Die apikalen Membranen zweier Hepatozyten formen ein ca. 1 µm weites Gallenkanälchen (Canaliculus), das durch Tight Junctions und Desmosomen (s. Kap. 3, S. 53 ff.) abgedichtet ist. Diese Gallenkanälchen bilden ein Maschendraht-ähnliches Netzwerk mit einer Gesamtoberfläche von ca. 10 m2. Sie münden in größere Gallengänge mit eigenem Epithel (Cholangiozyten) und diese schließlich in den Ductus choledochus. Die basolaterale Membran der Hepatozyten ist den Sinusoiden (bzw. dem Disse-Raum) zugewandt. Durch diese Architektur ist ein vektorieller Transport zwischen Blut und Galle möglich. Endothelzellen machen ca. 3 % der Zellen aus. Sie bilden ein fenestriertes Epithel, das, mit Ausnahme der Zellen, für sämtliche Blutbestandteile durchlässig ist. Die bereits erwähnten Kupffer-Sternzellen sind ortsständige Makrophagen im Disse-Raum und stellen ca. 2 % der Zellen dar. Ein weiterer Zelltyp im DisseRaum sind die fettspeichernden Ito-Zellen, die auch als Vitamin-A-Speicher dienen. Unter pathologischen Bedingungen können sie sich zu Fibroblasten umwandeln und so zur Entstehung einer Leberfibrose beitragen. 75 % des Blutes, das in die Leber fließt, stammt aus der Pfortader, 25 % aus der A. hepatica. Das Blut fließt durch die Sinusoide zu den Zentralvenen und schließlich in die untere Hohlvene. Ein Teil des Blutes der A. hepatica zweigt vor den Sinusoiden ab, versorgt die größeren Gallengänge und gelangt anschließend in die Pfortader. Hierdurch kann ein porto-biliärer Kreislauf entstehen. Das klassisch-anatomische Leberläppchen umfasst die zu einer Zentralvene gehörenden Hepatozyten. Pathophysiologisch relevanter ist jedoch die Gliederung der Hepatozyten gemäß ihrer Versorgung mit arterialisiertem Blut, da sie die Zellschädigung unter pathologischen Bedingungen bestimmt. Die hierbei entstehende funktionelle Einheit wird Portalazinus genannt. Sie entspricht einem Viereck mit je zwei Eckpunkten an benachbarten Zentralvenen und an benachbarten Leberarteriolen. Im Verbindungsstreifen zwischen den Leberarteriolen (= Zone 1) herrscht ein relativ hoher O2-Partialdruck und die Zellen sind sehr robust bei Schädigung und regenerieren rasch. Im Bereich um die Zentralvenen (= Zone 3) herrscht ein geringer O2-Partialdruck und Nährstoffgehalt im Blut, so dass diese Zellen bei Schädigungen am empfindlichsten reagieren. Der nicht ganz klar abgrenzbare Bereich dazwischen wird Zone 2 genannt. Möglicherweise verursacht durch dieses Mikroklima, unterscheiden sich die Zonen auch hinsichtlich der Enzymaktivitäten. In Zone 1 überwiegen Aminosäurenabbau, Glukoneogenese, Glykogenabbau, Cholesterinsynthese, Harnstoffsynthese, β-Oxidation und oxidativer Energiestoffwechsel. In Zone 3 überwiegen Glykolyse, Glykogensynthese, Liponeogenese, Gallensalzbildung, Ketogenese, Glutaminsynthese sowie Biotransformation von Medikamenten und Toxinen (z. B. Ethanol).

Hepatozyten Gallekanälchen

Gallengang Ast der V. portae Ast der A. hepatica

Abb.14.31 Feinbau der Leber. Die Leber ist aus Leberläppchen aufgebaut (Durchmesser 1 – 1,5 mm), die an der Peripherie von Ästen der V. portae und der A. hepatica versorgt werden. Deren Blut durchströmt die den Hepatozyten anliegenden Sinusoide und fließt dann in die Zentralvene ab. Zwischen den Hepatozyten liegen röhrenförmige, durch Tight Junctions seitlich verschlossene Spalten ohne eigene Wand, die Gallenkapillaren oder -kanälchen, Canaliculi biliferi. Dort hinein wird die Galle sezerniert (Abb.14.33, S. 465), die die Leber über das Gallengangsystem verlässt. Das Hepatozytenepithel entspricht den Endstücken konventioneller exokriner Drüsen (z. B. Speicheldrüsen), die Gallenkanälchen den Lumina der Endstücke, die Gallengänge den Drüsenausführungsgängen und die Sinusoide den Blutkapillaren. Ungewöhnlich ist in der Leber, dass die Sinusoide ein Gemisch aus arteriellem Blut (O2-reich) und portalvenösem Blut (O2-arm, aber reich an Nähr- und anderen Stoffen aus dem Darm) enthalten. Kupffer-Sternzellen sind Makrophagen (Kap. 9).

Die in den Gallenkanälchen gebildete Primärgalle fließt durch verschiedene Abschnitte des Gallengangbaumes, bis sie schließlich durch den Ductus choledochus die Leber verlässt (ca. 900 ml pro Tag). Die Gallengänge sind mit einem eigenen Epithel aus Cholangiozyten ausgekleidet und modifizieren die Primärgalle zur Sekundär- oder Lebergalle (z. B. HCO3–-Sekretion). 50% der Lebergalle gelangt direkt ins Duodenum und 50 % fließen in die Gallenblase, wo sie 10 – 20fach konzentriert werden (S. 468).

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14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung

Cholesterin

sekundäre Gallensalze

H3C

Di-OH

H3C

HO –

COO

HO

enterohepatischer Kreislauf

Deoxycholat (pKa’= 5)

HO

primäre Gallensalze konjugierte Gallensalze

Konjugation mit

Taurin:

–

COO

HO

OH

Chenodeoxycholat (pKa’= 5)

HO CH 3

O R

C

N H

Tri-OH

HO –

COO

HO

OH

O

–

+

NH3 (CH2 )2 SO2O

C

N H

CH2

–

CH2

SO3

H3C

–

(CH2 )2 SO2O

Taurodeoxycholat Taurochenodeoxycholat HO Taurocholat (pKa’=1,5)

OH

Taurocholat

oder mit O

Glycin: – + NH3 CH2COO

Cholat (pKa’= 5)

HO

O R

C

N H

Glykodeoxycholat Glykochenodeoxycholat Glykocholat (pKa’= 3,7)

Transport und Stoffwechsel in Hepatozyten Die Tätigkeit der Hepatozyten im Rahmen ihrer physiologischen Funktionen können wir in drei Schritte einteilen: basolaterale Aufnahme, Verstoffwechselung und apikale Abgabe von Substanzen.

Basolaterale Aufnahme Wie bei vielen anderen Epithelzellen auch, befinden sich an der basolateralen Membran der Hepatozyten eine Vielzahl von Transportern, von denen einige eine ganz spezielle Transportfunktion haben (Abb. 14.33) und andere die Aufrechterhaltung der Hepatozytenhomöostase unterstützen. Zu den Letzteren gehören die Na+/K+-ATPase, Ca2+-ATPasen, Na+/H+-Austauscher, Na+-HCO3–-Kotransporter, Aminosäuretransporter, GLUT2 (Tab. 14.7) sowie K+- und Cl–-Kanäle. Das Membranpotenzial liegt dadurch bei – 30 bis – 40 mV.

N H

CH2

H3C

–

CH2COO

Abb.14.32 Synthese der Gallensalze in der Leber. Ausgehend vom Cholesterin bilden die Hepatozyten die Gallensalze, vor allem Chenodeoxycholat und Cholat. Jedes dieser (primären) Gallensalze kann nun mit einer Aminosäure, vor allem Taurin oder Glycin, konjugiert werden, was unter anderem den pKa'-Wert der Salze von 5 auf 1,5 bzw. 3,7 absenkt und das rechte Molekülende hydrophiler macht (Mitte). Von den sechs verschiedenen konjugierten Gallensalzen sind rechts die beiden Cholatkonjugate mit ihrer

C CH3

HO

OH

–

COO

Dekonjugierung und 7a-Dehydroxylierung durch Bakterien im unteren Dünndarm

464

Glykocholat

vollständigen Formel gezeigt. Die konjugierten Gallensalze werden im unteren Dünndarm z. T. bakteriell dekonjugiert und anschließend am C-Atom 7 dehydroxyliert, so dass aus den primären Gallensalzen Chenodeoxycholat und Cholat die sekundären Gallensalze Lithocholat (nicht im Bild gezeigt) bzw. Deoxycholat entstehen. Letztere gelangen über den enterohepatischen Kreislauf wieder zur Leber und werden dort konjugiert, um, nach Sekretion in die Galle, ebenfalls der Fettabsorption zu dienen.

Eine wichtige Gruppe von zu transportierenden Substraten sind Gallensalze bzw. Gallensäuren. Gallensalz bezeichnet das Anion (BA–) der dissoziierten Gallensäure (HBA ↔ H+ + BA–). Da der pK-Wert der Gallensäuren in der Regel kleiner als 7 ist, liegen die Gallensäuren überwiegend dissoziiert, d. h. als gut wasserlösliche Gallensalze vor. Die primären Gallensalze Cholat und Chenodeoxycholat werden in Hepatozyten aus Cholesterin gebildet (Abb. 14.32). Anschließend werden sie mit Taurin, Glyzin, Glukuronat oder Sulfat konjugiert (wodurch sich die Wasserlöslichkeit verbessert, da der pK-Wert sinkt) und in die Primärgalle abgegeben. Die so sezernierten Gallensalze werden im Ileum wieder reabsorbiert (s. u.) und gelangen Albumin-gebunden über die Pfortader zurück zur Leber. Hier werden sie von Hepatozyten über die basolaterale Membran aufgenommen (Enterohepatischer Kreislauf). Wenn primäre Gallensalze im unteren Dünndarm durch Bakterien dekonjugiert und dehydroxyliert (7α-Dehydroxylase) werden, so nennt

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14.11 Physiologie der Leber OA– OK+ GSH GS– .. -X

= organische Anionen = organische Kationen = Glutathion = Gallensalze = konjugiert

BSEP MDR1 MDR3 MRP2 NTCP OATP1 OCT1

= Bile salt export pump = Multidrug resistance protein 1 = Multidrug resistance protein 3 = Multidrug resistance-associated protein 2 = Na+-taurocholate cotransporting peptide = Organic anion transporting peptide 1 = Organic cation transporter 1

Phospholipide MDR3

Translocase Transporter für – organische Anionen (OA ) und Bilirubin

Bilirubin

+

Na

OK

–

GS GS-X

NTCP GS

Transporter für + organische Kationen (OK )

BSEP

OCT1

OK

–

+

OK

+

+

MRP2 GS-X OA-X Bilirubin

+

+

H OATP1

H MDR1

–

Cl– GSH

OK

–

OA – GS Bilirubin(?) + OK

Gallekanälchen

Blutkapillare

Abb.14.33 Transportprozesse in Hepatozyten. Die Hepatozyten sezernieren Elektrolyte und Wasser in die Gallenkanälchen. Zusätzlich sezernieren sie primäre Gallensalze, die sie aus Cholesterin synthetisieren (Abb.14.32), sowie sekundäre Gallensalze und primäre Gallensalze, die sie aus den Sinusoiden aufnehmen (enterohepatischer Kreislauf).

man sie anschließend sekundäre Gallensalze (z. B. Deoxycholat). Auch diese gelangen über die Pfortader zurück zu den Hepatozyten, wo sie erneut konjugiert werden können. Die basolaterale Aufnahme der Gallensalze wird zu einem großen Teil vom Na+-Symporter NTCP (Na-taurocholate cotransporting polypeptide; 50 kDa) vermittelt. Konjugierte Gallensalze haben die höchste Affinität zu NTCP, jedoch akzeptiert er auch Steroide (z. B. Östrogensulfat, Progesteron), Toxine (z. B. Phalloidin) und Medikamente (z. B. Verapamil, Furosemid). Die Aktivität des NTCP ist bei Neugeborenen sehr gering, so dass hier die Sekretion und Rezirkulation der Gallensalze noch nicht vollständig ausgeprägt ist. Nicht-konjugierte Gallensalze (z. B. sekundäre) gelangen zur Hälfte durch nicht-ionische Diffusion in die Hepatozyten. Bei dieser Transportart diffundiert die lipophile, nicht-ionische Gallensäure (HBA) in den Hepatozyten, wodurch ihre extrazelluläre Konzentration sinkt. Verbleibende Gallensalze (BA–) verbinden sich extrazellulär mit H+ zu Gallensäure, die dann wieder in die Zellen diffundiert. Ein weiterer Transporter ist der OATP1 (organic anion transporting peptide 1, 75 kDa), der organische Anionen Na+-unabhängig gegen Cl– austauscht. Substrate sind Gallensalze und andere Anionen, wie z. B. Bromosulphalein (Testsubstanz bei Leberfunktionsprobe) und Toxine (z. B. der Schimmelpilzmetabolit Ochratoxin A). Ein verwandter Transporter ist OATP2, der die

+

Hepatozyt

Die Gallensalzsekretion ist von einer zusätzlichen Wassersekretion gefolgt. Bilirubin, Steroidhormone, Fremdstoffe u. a. m. werden, vor allem zur Erhöhung ihrer Wasserlöslichkeit, meist an Glutathion oder Glucuronsäure gekoppelt und in Form dieser Konjugate in die Galle sezerniert.

Aufnahme von Arachidonsäuremetabolite wie Prostaglandin E2, Prostaglandin F2α oder Thromboxan B2 vermittelt. Bilirubin, das beim Abbau alter Erythrozyten entsteht, gelangt Albumin-gebunden an die basolaterale Hepatozytenmembran. Nach Dissoziation von Albumin wird es wahrscheinlich durch den OATP1 (zu einem kleineren Teil) und durch die elektrogene Bilirubintranslokase (ein 37 kDa Membranprotein) aufgenommen. Diese Translokase transportiert auch das Antibiotikum Rifampicin, jedoch keine Gallensalze. Möglicherweise existiert noch ein dritter, nicht elektrogener Aufnahmemechanismus. Organische Kationen (z. B. Amine, Cholinergika, Lokalanästhetika, Antibiotika) werden durch den OCT1 (Organic Cation Transporter 1, akzeptiert kleinere Moleküle) oder durch einen zweiten, multispezifischen Transporter (Produkt des oatp1Gens, akzeptiert größere Moleküle) aufgenommen. Möglicherweise handelt es sich bei letzterem um einen H+/Kationen-Austauscher. Neutrale organische Substanzen (z. B. Cortisol, Aldosteron, Testosteron) werden durch bisher nicht bekannte, Na+-unabhängige Mechanismen aufgenommen. Proteine wie Insulin, IgA oder EGF (Epidermal Growth Factor) gelangen durch Rezeptor-vermittelte Endozytose in die Hepatozyten.

Intrazellulärer Transport In den Hepatozyten werden lipophile Substanzen (an Proteine gebunden) von basolateral nach apikal transportiert. Gallensalze binden an Dihydrodioldehydrogenase, Gluthation-S-Transferase

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14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung A Gallengänge

B Gallenblase

Lumen

Gangepithel

Blut

Lumen

Gangepithel

Blut

+

Na H2O +

+

H

K

+

– 3

Cl -HCO Austauscher

+

+

Na -H Austauscher

+

CO2

OH

H

H

+

–

HCO3

HCO3

+

–

HCO3

+

–

–

Cl

–

HCO3

ORCC

cAMP CFTR

–

–

Cl -HCO3 Austauscher

– 3

Na -HCO Symporter

+

Na -K -ATPase

+

Na

Cl

+

Na

+

Na -H -Austauscher

–

+

+

H

+

+

Na

Na –

K

+

+

Na

+

Na -H Austauscher –

+

+

G G

Sekretin, Glucagon, VIP

+

–

HCO3

Na -K -ATPase

H2O

Na

Somatostatin

466

Abb.14.34 Transportprozesse in Gallengängen und -blase. A In den Gallengängen wird, ähnlich wie im Pankreas, NaHCO3 sezerniert. Dieser Vorgang wird durch Sekretin, Glukagon und VIP stimuliert. HCO3– wird durch die Reaktion von CO2 mit OH– sowie durch einen basolateralen Na+HCO3–-Symporter zu Verfügung gestellt. Apikal verlässt

B und das Fettsäure-bindende Protein. Es wird vermutet, dass durch diese Bindung auch die Gallensäuresynthese reguliert wird. Möglichweise wird ein Teil der Gallensalze in Vesikeln transportiert. Unkonjugiertes Bilirubin gelangt spontan in das endoplasmatische Retikulum, da dessen Membran einen höheren Cholesteringehalt als die basolaterale Zellmembran besitzt. Dort wird es mit Glukuronsäure konjugiert und gelangt, wahrscheinlich durch direkten Transfer zwischen Phospholipidvesikeln, zur apikalen Membran. Auch der zytosolische Transport von Proteingebundenem Bilirubin (an Gluthation-S-Transferase B) ist möglich.

Intrazelluläre Metabolisierung (Biotransformation) Bei der Biotransformation werden die Phasen I und II unterschieden. In Phase I findet Oxidation oder Reduktion der Substanzen durch Cytochrom-P-450-Enzyme (Monooxygenasen) statt. Diese Enzyme befinden sich im endoplasmatischen Retikulum und katalysieren hauptsächlich Hydroxylierungen. Es gibt ca. 150 Isoformen mit unterschiedlicher Substratspezifität. Das gemeinsame Muster der verschiedenen Phase-I-Reaktionen ist die Einführung eines O-Atoms, wodurch die Substanzen polarer werden und in Phase II weiterverstoffwechselt werden können. In der Phase II werden die Phase-I-Produkte konjugiert, um hydrophile Moleküle zu erhalten, die anschließend in die Galle sezerniert werden (Abb. 14.33). Drei Konjugationsreaktionen sind quantitativ von großer Be-

H 2O

HCO3– die Zelle über einen Anionen-Austauscher. Cl–-Kanäle (CFTR und ORCC) sorgen für die nötige Cl–-Rezirkulation. Na+ und Wasser folgen parazellulär. B In der Gallenblase werden Na+, Cl– und HCO3– resorbiert. Entscheidend hierfür sind ein apikaler Na+/H+-Austauscher und ein apikaler Anionenaustauscher. Genauere Beschreibung s. S. 467.

deutung. Die Glukuronidierung wird durch Enzyme der Glukuronyltransferase-Familien im glatten endoplasmatischen Retikulum katalysiert. Enzyme der Familie 1 der Glukuronyltransferasen (auf Chromosom 2 lokalisiert) katalysieren die Konjugation von Bilirubin und Phenolen, Enzyme der Familie 2 (auf Chromosom 4 lokalisiert) die von Steroiden und Gallensalzen. Angeborener Mangel bestimmter Enzyme der Familie 1 (z. B. bei Patienten mit Crigler-Najjar-Syndrom1) führt zu gestörter Bilirubinausscheidung mit Gelbsucht (Ikterus) und Schädigung des Gehirns (Enzephalopathie). Zytosolische Sulfotransferasen katalysieren die Sulfatierung von Steroiden, Katecholaminen und exogenen Substanzen, wie Alkohol oder krebserregenden Kohlenwasserstoffen. Die Konjugation mit dem Tripeptid Glutathion (GSH = Glu-Cys-Gly) wird durch die zytosolische Glutathion-S-Transferasen katalysiert. Die Substanzen werden über eine Schwefelbrücke an Cystein gekoppelt und gelangen dann entweder in die Galle oder über das Blut in den Urin. Sowohl in den Gallengängen als auch im proximalen Tubulus der Niere werden die GSH-Konjugate durch γ-Glutamyltransferase (Abspaltung des Glutamat) modifiziert (S. 372). Andere Konjugate entstehen durch Kopplung an Glyzin, Taurin, Glutamin sowie durch Azetylierung oder Methylierung.

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14.11 Physiologie der Leber

Apikale Sekretion An der apikalen Membran der Hepatozyten wird in der Regel unidirektional (von innen nach außen) transportiert (Abb. 14.33). Lediglich einige „wertvolle“ Substanzen, wie Aminosäuren, können aus den Gallenkanälchen in die Zellen aufgenommen werden. Gallensalze werden durch den primär-aktiven Gallensalztransporter BSEP (Bile Salt Export Pump, manchmal auch SPGP = Sister of P-glycoprotein genannt) sezerniert. BSEP, der zur Gruppe der ABC-Proteine gehört, transportiert nur negativ geladene Moleküle und hat eine besonders hohe Affinität für Taurocholat. Er kann einen Zellzu-Lumen-Gradienten bis zu 1 : 1000 aufbauen. Ein weiterer Transporter für eine Vielzahl organischer Anionen ist MRP2 (Multidrug Resistance-associated Protein 2) auch cMOAT (Canalicular Multispecific Organic Anion Transporter) genannt. Die akzeptierten Substrate haben einen hydrophoben Kern und zwei negative Ladungen. Dazu gehören Bilirubin-Mono- und Diglukuronid, GSHKonjugate und sulfatierte Gallensalze. Ein MRP2-Defekt ist die Ursache des Dubin-JohnsonSyndroms, das mit leichter Hyperbilirubinämie und evtl. Lebervergrößerung einhergeht. Der primär-aktive MDR1 (Multidrug Resistance Protein 1, gehört zur Gruppe der ABC-Proteine) sezerniert organische Kationen wie Cholin sowie Medikamente (z. B. Verapamil, Cyclosporin) und Toxine (z. B. Colchizin). Phosphatidylcholin (Lecithin) gelangt durch die aktive Wirkung von MDR3 (Multidrug Resistance Protein 3, auch „Flippase“ genannt, Mitglied der ABC-Familie) in die äußere Schicht der Zellmembran, aus der es durch Gallensalze herausgelöst wird. Zusätzlich gibt es für organische Kationen noch einen, molekular nicht genau definierten, H+/ Kationen-Austauscher. Proteine (z. B. IgA zur Verhinderung von Bakterienwachstum) gelangen durch Exozytose in die Galle.

Gallenbildung Pro Tag bildet die Leber ca. 900 ml Galle, wovon 450 ml direkt ins Duodenum gelangen und 450 ml in der Gallenblase gespeichert werden. Bei geschlossenem Sphinkter Oddi herrscht in den Gallengängen ein leichter Überdruck von ca. 10 mm Hg, der dafür sorgt, dass die Galle in die Gallenblase fließt. In den Gallenkanälchen entsteht die isoosmotische Primär- oder Kanalikulärgalle. Diese wird in den Gallengängen vor allem durch HCO3–-Sekretion zur Lebergalle modifiziert. Die Gallengänge tragen ca. 180 – 200 ml zur Gallenbildung bei. In der Gallenblase wird die Lebergalle durch Konzentrierung zur Blasengalle.

Die Bildung „kanalikulärer“ Galle Die Bildung der Primärgalle ist ein aktiver Prozess, der durch die aktive Sekretion von überwiegend organischen Substanzen (s. o., über z. B. BSEP oder MRP2) angetrieben wird. Hierbei machen Gallensalze den größten Teil aus. Wasser folgt, osmotisch getrieben, durch die

Tight Junctions und führt Ionen mit sich (Solvent Drag). Die isoosmotische Primärgalle besteht aus Gallensalzen, Fettsäuren, Bilirubin, Phospholipiden, Cholesterin, Proteinen und enthält die Elektrolyte des Blutplasmas in vergleichbarer Konzentration (Na+, K+, Ca2+, Cl–, HCO3–, PO43–). Die Galle ist der Hauptausscheidungsweg für Cholesterin, sowohl in Form von Cholesterin selbst als auch von primären und sekundären Gallensalzen (z. B. Cholat, Desoxycholat). Phospholipide (z. B. Phosphatidylcholin) unterstützen die Lösung von Cholesterin in den Mizellen der Galle und verringern die toxische Wirkung der Gallensalze auf Hepatozyten. Kommt die Sekretion von Gallensalzen vollständig zum Erliegen, so nimmt die Menge an aktiv sezernierten Substanzen dramatisch ab. Die bedeutet, dass auch der osmotische Gradient und damit der Wassereinstrom in die Kanälchen geringer wird. Die Bildung an kanalikulärer Galle sinkt dann auf ca. 200 – 250 ml pro Tag. Dieser Teil der Gallensekretion wird als Gallensalz-unabhängig bezeichnet (er hängt von der Sekretion anderer Substanzen wie z. B. organischer Kationen oder GSH ab). Mit zunehmender Gallensalzsekretion steigt die Bildung kanalikulärer Galle und man nennt diesen Teil der Sekretion Gallensalz-abhängig. Gallensalze fördern auch die Sekretion von Cholesterin und Phospholipiden, indem sie diese in Mizellen „einfangen“. Neben Gallensalzen haben wahrscheinlich auch Sekretin, Glukagon und Insulin eine stimulierenden Einfluss auf die Bildung der Primärgalle. Die Funktion der Gallengänge wird durch Gallensalze kaum beeinflusst. Möglicherweise stimulieren manche Gallensalze intrazelluläre Signalkaskaden in Cholangiozyten und erhöhen dadurch die Sekretionsrate (z. B. stimuliert Urodeoxycholat die HCO3–-Sekretion).

Die Modifikation zur endgültigen Lebergalle In den Gallengängen wird die Primärgalle durch NaHCO3Sekretion zur endgültigen Lebergalle. Die Funktion der Gallengänge ähnelt der Funktion der Ausführungsgänge im Pankreas (Abb. 14.34). Sezerniertes HCO3– wird durch die Carboanhydr(at)ase in den Gangzellen (CO2 + OH– ↔ HCO3–) und einen basolateralen Na+-HCO3–-Symporter zur Verfügung gestellt. Die H+-Ionen verlassen die Zellen über einen basolateralen Na+/H+-Austauscher. HCO3– gelangt vorwiegend über einen apikalen HCO3–/Cl–-Austauscher und zum Teil über apikale Kanäle (CFTR) in das Ganglumen. In den Gängen wird also NaHCO3 und Wasser sezerniert, wodurch die luminale Cl–-Konzentration etwas sinkt und der pH-Wert auf ca. 7,5 ansteigt. Intrazelluläres cAMP aktiviert die NaHCO3-Sekretion durch seine Wirkung am CFTR sowie am HCO3–/Cl–-Austauscher. Über diesen Mechanismus stimulieren Sekretin, Glucagon und VIP die Gallensekretion. Somatostatin hemmt die cAMP-Bildung und damit die Gallensekretion. CCK kann über Ca2+ die Sekretion steigern. Unter pathologischen Bedingungen, vor allem bei Fehlen der Gallenblase, können Cholangiozyten nach einer Adaptationsphase Elektrolyte und Wasser auch absorbieren. Sie ersetzen dann zum Teil die Gallen-

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14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung blase und die Lebergalle ist wesentlich konzentrierter. Die von Cholangiozyten absorbierten Substanzen gelangen über Äste der A. hepatica in die Pfortader und rezirkulieren damit zwischen Leber und Galle.

Die Bildung von Blasengalle In der Gallenblase wird die Lebergalle um den Faktor 10 – 20 konzentriert und es entstehen dabei 20 – 50 ml Blasengalle pro Tag. Wird in der intestinalen Verdauungsphase CCK freigesetzt, so führt dieses nach Bindung an CCKARezeptoren zur Kontraktion der Gallenblasenmuskulatur bei gleichzeitiger Öffnung des Sphinkter Oddi. Dadurch wird die Blasengalle ins Duodenum entleert. Wahrscheinlich wird dieser Mechanismus durch Acetylcholin unterstützt. Die Gallenblase ist nicht essenziell und eine ausreichende Verdauung der Nahrung ist auch ohne sie gewährleistet. Die Konzentrierung der Lebergalle in der Gallenblase geschieht durch isotone Resorption von NaCl und NaHCO3 (Abb. 14.34). Ein Na+/H+- und ein HCO3–/Cl–-Austauscher in der apikalen Membran sowie die Na+/K+-ATPase und ein Cl–-Kanal in der basolateralen Membran sorgen zunächst für die Resorption von NaCl. Apikal verbinden sich H+ und HCO3– zu CO2, das in die Zelle zurückdiffundiert. Wasser wird trans- und parazellulär absorbiert. Die HCO3–-Konzentration der Galle sinkt, weil (1) HCO3– parazellulär aus der Galle herausgelangt und (2) der Na+/H+Austauscher etwas aktiver als der HCO3–/Cl–-Austauscher ist, so dass der Galle zusätzlich HCO3– entzogen wird. Durch die leichte Ansäuerung wird die Gefahr der Gallensteinbildung reduziert, da die Löslichkeit von Ca2+-Salzen bei Abnahme des pH-Wertes steigt. K+, Ca2+ und die organischen Komponenten verbleiben in der Galle und ihre Konzentration nimmt zu.

Tab. 14.9 vergleicht die Zusammensetzung von Leberund Blasengalle. Die Konzentrierung der Lebergalle wird durch VIP und Serotonin gehemmt.

Enterohepatischer Kreislauf Substanzen, die im Dünndarm absorbiert werden gelangen, mit Ausnahme der Chylomikronen, über die Pfortader zunächst zur Leber. Die Hepatozyten „verwenden“ das Portalblut für die Sekretion der Galle, die wiederum in den Dünndarm abgegeben wird. Es gibt Substanzen, die von Hepatozyten aus dem Portalblut extrahiert, in die Galle sezerniert und anschließend im Dünndarm wieder absorbiert werden. Dies bedeutet, dass diese Substanzen zwischen Dünndarm und Leber zirkulieren und man spricht deshalb vom enterohepatischen Kreislauf. Dieser Kreislauf spielt für dekonjugiertes Bilirubin, Vitamine (z. B. Folsäure, Vitamin B12) sowie für manche Medikamente (Herzglykoside) oder Toxine eine Rolle, ist jedoch von ganz besonderer physiologischer Bedeutung für Gallensalze. Die tägliche hepatische Gallensalzsekretion beträgt 12 – 36 g. Die tägliche hepatische Gallensalzsynthese beträgt dagegen nur ca. 0,6 g (d. h. höchstens 5 % der Sekretionsrate) und der gesamte Gallensalzgehalt des Körpers liegt bei nur 3 g. Das heißt, dass jedes Gallensalzmolekül pro Tag bis zu 12 Mal sezerniert und im Dünndarm zuverlässig wieder reabsorbiert wird. Ist die Reabsorption eingeschränkt, so kann die Leber die Gallensalzsynthese auf 4 – 6 g pro Tag steigern. Dies bedeutet, dass spätestens bei

Tabelle 14.9 galle

Zusammensetzung von Leber- und Blasen-

Einheit

Lebergalle

Blasengalle

Osmolalität

mmol/kg H2O

284

281

pH

mmol/l

7,1 – 7,8

7,1 – 7,3

Na+

mmol/l

141 – 165

bis zu 220

K+

mmol/l

2,7 – 6,7

12 – 14

Ca2+

mmol/l

1,2 – 3,2

10 – 15

Cl–

mmol/l

77 – 117

30 – 70

HCO3–

mmol/l

12 – 55

12 – 20

Gallensalze

mmol/l

10 – 20

50 – 200

Phospholipide

mmol/l

∼3

∼ 26 3–5

Bilirubin

mmol/l

1–3

Cholesterin

mmol/l

3–8

10 – 16

Proteine

g/l

2 – 20

5

einer Einschränkung der Gallensalzreabsorption auf 50 % ein Gallensalzmangel entsteht.

Zwar können Gallensalze im gesamten Dünndarm passiv reabsorbiert werden, jedoch ist dies für eine 95 %ige Resorption bei weitem nicht ausreichend. Die passive Reabsorption betrifft hauptsächlich unkonjugierte Gallensalze und geschieht durch nicht-ionische Diffusion (d. h. in der protonierten Form), die durch einen niederen pH-Wert gefördert wird. Zusätzlich zur passiven Resorption gibt es eine aktive Reabsorption im terminalen Ileum. Der Na+-Gallensalz-Symporter ASBT (Active Sodium Bile Salt Transporter, 50 kDa) vermittelt die sekundäraktive Aufnahme über die apikale Membran. Er transportiert negativ geladene, konjugierte Gallensalze am besten. Diese verlassen die Enterozyten basolateral über einen noch unbekannten Mechanismus (möglicherweise einen Anionenaustauscher) und gelangen mit dem Pfortaderblut, an Albumin gebunden, zurück zu den Hepatozyten. Nicht reabsorbierte Gallensalze werden im distalen Ileum oder Kolon durch Bakterien zu sekundären Gallensalzen, wie Desoxycholat und Lithocholat, dekonjugiert und dehydroxyliert (s. S. 464). Diese sekundären Gallensalze können im Kolon passiv reabsorbiert oder mit dem Stuhl ausgeschieden werden.

Die Leber als metabolisches Organ Die Leber ist metabolisch sehr aktiv, erhält ca. 28 % des Herzzeitvolumens und ist in körperlicher Ruhe für 20 % des gesamten O2-Verbrauchs verantwortlich.

Glucosestoffwechsel In der interdigestiven Phase, wenn der Insulinspiegel niedrig ist, versorgt die Leber den Organismus mit Glucose, indem sie Glukoneogenese und Glykogenolyse betreibt. Glucose kann im endoplasmatischen Retikulum aus Aminosäuren, Laktat, Fructose und Galactose hergestellt werden (Gluko-

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14.11 Physiologie der Leber Tabelle 14.10

Wichtige Proteine, die von der Leber synthetisiert und ins Blut sezerniert werden

Name

Funktion

Hauptplasmaproteine siehe Kapitel Blut Gerinnungsproteine siehe Kapitel Blut Trägerproteine Coeruloplasmin Transkortin GH-bindendes Protein Haptoglobin Hämopexin IGF-bindendes Protein Retinol-bindendes Protein Sexualhormon-bindendes Globulin Transthyretin Thyroxin-bindendes Globulin Transferrin Vitamin-D-bindendes Protein

Cu2+-Transport Cortisol-Transport Wachstumshormon-Transport Hämoglobin-Fe2+-Bindung Häm-Fe2+-Bindung Transport von Insulin-like-Growth-Factor Vitamin-A-Transport Östrogen- und Testosteron-Transport Transport von Thyroxin und Triiodthyronin Thyroxin-Transport Fe3+-Transport Vitamin-D-Transport

Prohormone Angiotensinogen

Vorstufe von Angiotensin II

Apolipoproteine Apo A-I Apo A-II Apo A-IV Apo B-100 Apo C-II Apo D Apo E

Bestandteil von Chylomikronen und HDL Bestandteil von Chylomikronen und HDL Bestandteil von HDL Bestandteil von HDL, IDL und LDL Bestandteil von Chylomikronen, VLDL und HDL Bestandteil von HDL Bestandteil von Chylomikronen, HDL, IDL und VLDL

neogenese). Sie gelangt anschließend über den Transporter GLUT-7 ins Zytosol und über GLUT-2 ins Blut. Ohne diesen Mechanismus ist die interdigestive Glucoseversorgung nicht gewährleistet. Glykogen macht maximal 10% des Lebergewichtes aus (entspricht 100 – 350 g Kohlenhydraten bei einem täglichen Bedarf von ca. 370 g) und wird zu Glucose gespalten (Glykogenolyse).

In der digestiven Phase, wenn der Insulinspiegel hoch ist, wird Glucose zu Glykogen, Pyruvat oder Fett verstoffwechselt. Pyruvat wird in den Zitratzyklus eingeschleust.

Proteinstoffwechsel Pro Tag synthetisiert die Leber 15 – 50 g an Proteinen, die zum Teil ins Blut abgegeben werden und für den gesamten Organismus von Bedeutung sind. Tab. 14.10 gibt eine Übersicht dieser Proteine. Die notwendigen Aminosäuren nehmen die Hepatozyten über Na+-abhängige und -unabhängige Transporter aus dem Blut auf, vergleichbar den Enterozyten. Außerdem verstoffwechselt die Leber auch Aminosäuren. Durch Deaminierung von Aminosäuren entstehen Ketosäuren (z. B. α-Ketoglutarat) und Ammonium (NH4+). NH4+ wird mit HCO3– zu Harnstoff verarbeitet, über den Transporter Aquaporin-9 ins Blut abgegeben und über die Niere ausgeschieden. Ein Teil des NH4+ wird auch als Glutamin zur

Niere transportiert und dort verstoffwechselt (s. S. 368). Die Ketosäuren werden zu Intermediärprodukten des Zitratzyklus umgewandelt und dienen der ATP-Synthese.

Schließlich ist die Leber der wichtigste Syntheseort für das Tripeptid Glutathion (GSH), das vor Sauerstoffradikalen schützt. GSH wird über den OATP1-Transporter (s. S. 465) ins Blut abgegeben.

Triacylglycerine und Lipoproteine Von Triacylglycerinen der Chylomikronen werden, durch die kapilläre Lipoproteinlipase in Fett- und Muskelgewebe (aktiviert durch Apo C-II), Fettsäuren abgespalten und in Fett- sowie Muskelzellen aufgenommen (Abb. 14.26, S. 456). Hepatozyten nehmen die verbleibenden Chylomikronenreste (Remnant Chylomicrons, enthalten aber noch Triacylglycerine und Cholesterin) durch Rezeptor-vermittelte Endozytose auf. Als Rezeptoren dienen der LDL-related Rezeptor sowie der LDL-Rezeptor (LDL = low density lipoprotein). Anschließend gelangen die Chylomikronenreste in die Lysosomen zum weiteren Abbau. In Hepatozyten werden Triacylglycerine zu freien Fettsäuren und Glycerin gespalten. Die freien Fettsäuren können nach Wiederveresterung zu Triacylglycerinen in

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14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung Tabelle 14.11 Eigenschaften der Lipoproteine im Plasma. Neben den aufgeführten Komponenten enthalten die Lipoproteine u. a. auch fettlösliche Vitamine. Freie (d. h. nicht triacylglyceringebundene) Fettsäuren werden im Plasma an Albumin gebunden oder, vor allem im Fall der kurzkettigen Fettsäuren, in freier Form transportiert Lipoprotein Dichte (g/cm3)

Größe (nm)

Zusammensetzung (%) Protein (Typ)

Chylomikronen

< 0,95

Chylomikronenreste

Herkunft

Ziel

Cholesterin

Cholesterinester

Triacylglycerine

Phospholipide

75 – 1200 1,5 – 2,5 (AI, AII, B48, CI, CII, CIII, E)

1–3

3–5

84 – 89

7–9

Darm

Kapillarbett

50 – 100

5 – 7 (E u. a.)

6

7

50 – 70

15 – 18

Chylomikronen

Leber

VLDL1

< 1,006

30 – 80

5 – 10 (B100, CI, CII, III, E)

5 – 10

10 – 15

50 – 65

15 – 20

Leber

IDL, LDL, HDL

IDL2

1,006 – 1,019

25 – 40

15 – 20 (B100, CIII, E)

8

22

30

22

VLDL

LDL, HDL

LDL3

1,019 – 1,063

17 – 25

20 – 25 (B100)

7 – 10

35 – 40

7 – 10

15 – 20

IDL

Leber u. a.

HDL4

1,063 – 1,210

2 – 10

40 – 55 (AI, AIII, AIV, CI, CII, CIII, D, E)

3–4

12

3–5

22 – 35

Leber, Darm

Kapillarbett? Leber

1 2 3 4

Very low density lipoproteins = Prä-β-Lipoproteine Intermediate density lipoproteins Low density lipoproteins = β-Lipoproteine High density lipoproteins = α1-Lipoproteine

Very Low Density Lipoproteine (VLDL, Tab. 14.11) eingebaut werden (zusammen mit Cholesterin, Cholesterinester und Phospholipiden). Weiterhin findet auch β-Oxidation statt, wobei Acetyl-CoA entsteht. Dieses wird entweder in den Citratzyklus eingeschleust oder zu Ketonkörpern (Acetoacetat, β-Hydroxybutyrat, Aceton) verstoffwechselt, die als Nährstoffe für Gehirn, Muskel und Niere dienen. Letzteres geschieht besonders beim Fasten oder bei schlecht eingestelltem Diabetes mellitus, bei dem diese Ketonkörper vermehrt gebildet werden.

VLDL gelangen durch Exozytose ins Blut. Die kapilläre Lipoproteinlipase (s. o.) spaltet die Triacylglycerine der VLDL und stellt dadurch freie Fettsäuren und Glycerin den Fett- und Muskelzellen zur Verfügung. Somit dienen VLDL als Träger endogener Triacylglycerine und Chylomikronen als Träger exogener Triacylglycerine. Durch den Verlust von Triacylglycerinen schrumpfen die VLDL zu LDL und in geringerem Ausmaß zu IDL (intermediate density lipoprotein). Deren relativer Cholesteringesamtgehalt ist wesentlich höher (s. Tab. 14.11), so dass sie als Cholesterinträger fungieren. Durch Rezeptor-vermittelte Endozytose wird vor allem LDL (über den LDL-Rezeptor) in Hepatozyten und, zu einem geringeren Teil, in extrahepatischem Gewebe aufgenommen. Dieser Mechanismus versorgt Zellen mit Cholesterin, das für den Aufbau von Membranen und für die Synthese von Steroidhormonen benötigt wird.

Peripheres freies Cholesterin, das durch extrahepatische Synthese und bei der Umwandlung von VLVD zu LDL anfallen kann, wird in HDL (high density lipoproteins) eingelagert. Die Lecithin-Cholesterin-Acetyltransferase (LCAT), die sich an HDL anlagert, wandelt Cholesterin in Cholesterinester um. Diese werden unter Mithilfe des Apolipoproteins D (CholesterinesterTransferprotein) auf VLDL, IDL und letztendlich LDL übertragen. Wie oben erwähnt, wird LDL dann von Hepatozyten aufgenommen. Somit sorgt HDL dafür, dass peripheres Cholesterin zur Leber zurücktransportiert wird. Langkettige freie Fettsäuren werden ebenfalls von Hepatozyten aufgenommen. Hierbei handelt es sich um erleichterte Diffusion und um einen unspezifischen „Flip-flop“-Mechanismus (= „Umklappen von einer Lipidschicht in die andere) über die Lipiddoppelschicht.

Die Cholesterinbilanz Cholesterin ist ein lebensnotwendiges Lipid, das jedoch auch eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Arteriosklerose spielt. Aus diesen Gründen ist eine angemessene Regulation des Cholesterinhaushaltes sowie eine differenzierte Betrachtung seiner biologischen Bedeutung notwendig. Es ist wichtiger Bestandteil der Galle, von Zellmembranen, Lipoproteinen (s. o.) und von Cholesterin-reichem Gewebe, wie z. B. der Nebennierenrinde (Synthese von Steroidhormonen). Pro Tag werden 0,1 – 0,5 g Cholesterin im Dünndarm absorbiert und ca. 1 g neu

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14.11 Physiologie der Leber synthetisiert (hauptsächlich in der Leber). Jeden Tag geht Cholesterin durch Gallensalze (s. S. 465), abgeschilferte Zellen in Darm und Haut sowie durch Steroidhormonausscheidung verloren (ca. 1 g pro Tag). Besonders die Galle spielt eine wichtige Rolle bei der Cholesterinbilanz, da pro Tag ca. 1,5 g Cholesterin in die Galle sezerniert werden. Die Leber ist das Hauptorgan für die Kontrolle des Cholesterinstoffwechsels. Sie bezieht Cholesterin durch die Aufnahme von Chylomikronenreste und LDL-Lipoproteinen sowie durch Neusynthese. Die Abgabe von Cholesterin erfolgt in die Galle (s. o.) sowie mittels VLDLLipoproteinen ins Blut. Obwohl die Leber der Hauptort der Cholesterinneusynthese ist, findet diese auch in vielen anderen Organen statt (z. B. in Enterozyten, Nebennierenrinde). Ausgangssubstrat der Synthese ist Acetyl-CoA. Das Geschwindigkeits-bestimmende Enzym ist die 3-Hydroxy-3-Methylglutaryl-CoA-(HMG-CoA-)Reduktase. Dieses wandelt HMG-CoA zu Mevalonat um, das dann weiter zu Cholesterin verstoffwechselt wird. Die Regulation der Cholesterinsynthese setzt an der HMG-CoA-Reduktase an, die im Sinne einer klassischen negativen Rückkopplung durch Cholesterin gehemmt wird. Diese Erkenntnis macht man sich auch pharmakologisch zunutze und setzt HMG-CoA-Reduktasehemmer (sog. Statine) zur Senkung der Cholesterinwerte im Blut ein.

Stoffwechsel und Speicherung fettlöslicher Vitamine Fettlösliche Vitamine befinden sich zum Teil in VLDL sowie in Chylomikronen und gelangen ähnlich wie Cholesterin in die Leber. Außerdem werden sie auch an Transportproteine (Tab. 14.10) gebunden im Blut transportiert und können dadurch anderen Geweben zur Verfügung gestellt werden. Vitamin A (aus tierischer Nahrung, Früchten, Gemüsen) wird in Hepatozyten an Retinol-bindendes Protein (RBP) bzw. Präalbumin gebunden oder direkt gespeichert. Protein-gebundenes Vitamin A gelangt nach Abgabe aus den Hepatozyten zu den Itozellen der Leber, die 80 % des gesamten Vitamin A speichern, oder zu anderen Geweben (z. B. Retina, Knochen). In den Hepatozyten kann Retinsäure auch mit Glutathion konjugiert und über die Galle ausgeschieden werden. Unter dem Einfluss von UV-Strahlung können Hautzellen Vitamin D3 aus 7-Dehydrocholesterin synthetisieren. Außerdem findet sich Vitamin D3 in tierischer Nahrung (Lebertran, Milch, Eigelb). Vitamin D2 wird mit pflanzlicher Nahrung (Gemüse) aufgenommen. Allerdings ist Vitamin D in dieser Form biologisch inaktiv und muss in einem ersten Schritt durch hepatische Cytochrom-P-450-Enzyme an Position 25 zu 25-OH-D3 hydroxyliert werden. Anschließend erfolgt die Hydroxylierung an Position 1 zu biologisch voll aktivem 1,25-OH-D3 (Calcitriol) in den proximalen Tubuli der Niere (s. S. 359 u. 400). Die Inaktivierung erfolgt wiederum in der Leber durch Hydroxylierung an Position 24. Vitamin E wird als α- und γ-Tocopherol im Dünndarm absorbiert und in Chylomikronen verpackt. Vor Erreichen der Leber kann Vitamin E bereits an periphere Gewebe abgegeben werden. Nachdem die Chylomikronenreste dann von den Hepatozyten aufgenommen wurden, findet der Transfer von α-Tocopherol auf VLDL (und evtl. HDL) statt, während γ-Tocopherol wahrscheinlich metabolisiert und ausgeschieden wird.

Vitamin K wird von Darmbakterien gebildet und kommt in Gemüse sowie Leber vor. Es kommt in zwei Formen vor (K1 = Phyllochinon, K2 = Farnochinon) und wird nach der Absorption im Darm in Chylomikronen zur Leber transportiert. Dort ist es für die Synthese der funktionsfähigen Gerinnungsfaktoren II, VII, IX, und X essenziell. Es ist ein essenzieller Kofaktor bei deren γKarboxylierung.

Kupfer Die tägliche Kupferaufnahme beträgt 1,5 – 3 mg. 50 % davon wird im Jejunum absorbiert und, überwiegend an Albumin gebunden, zur Leber transportiert. 60 – 90% gelangen durch nicht genau bekannte Mechanismen über die basolaterale Membran in die Hepatozyten. Cu2+ wird anschließend an kleinmolekulare Proteine gebunden (Cu2+-Chaperone) und in der Zelle zu Cu2+-haltigen Enzymen, Mitochondrien (Cytochrom-C-Oxidase) und Superoxiddismutase transportiert. Überschüssiges Cu2+ gelangt zur kanalikulären Membran und wird in die Galle ausgeschieden. Übersteigt die Cu2+-Aufnahme diesen Ausscheidungsmechanismus, werden in den Hepatozyten Metallothionine (kleinmolekulare Proteine) gebildet, die Cu2+ binden und anschließend durch Exozytose in die Galle abgeben.

Für den Transport in der systemischen Zirkulation bindet Cu2+ an Coeruloplasmin (α2-Globulin) und gelangt durch Exozytose über die basolaterale Membran in das Blut. Insgesamt werden mehr als 80 % des absorbierten Cu2+ wieder mit der Galle ausgeschieden. Enterohepatische Zirkulation findet kaum statt. Bei gestörter Cu2+-Ausscheidung findet zunächst eine Akkumulation in den Lysosomen der Hepatozyten statt, bevor dann die Plasmaspiegel und die Werte in anderen Organen ansteigen. Bei der Wilson-Krankheit, die autosomal-rezessiv vererbt wird, ist eine Cu2+-transportierende ATPase defekt, die möglicherweise für den Cu2+-Transport in die Galle zuständig ist. Außerdem ist die Coeruloplasminkonzentration im Serum vermindert und die Konzentration an freiem Cu2+ erhöht. Es kommt schließlich zur Akkumulation von Cu2+ in verschiedenen Geweben mit Schädigung von Leber, Niere, Kornea und Stammganglien.

Eisen Fe2+ wird hauptsächlich im Duodenum absorbiert und, in Form von Fe3+ an Transferrin (Tf) gebunden, zur Leber transportiert (S. 460). Hepatozyten nehmen Tf-Fe3+ durch Rezeptor-vermittelte Endozytose auf und speichern es, hauptsächlich an das Protein Ferritin gebunden. Die Konzentration an freiem Eisen wird gering gehalten, da es für die Zelle toxisch ist. Wird die Bindungskapazität in den Hepatozyten überstiegen, kommt es zu einer Schädigung der Hepatozyten, die zur Leberzirrhose führen kann. Ursachen hierfür können angeborene Defekte mit überschießender intestinaler Fe2+-Aufnahme (primäre Form = Hämochromatose, häufigste autosomal-rezessive Erbkrankheit) oder sekundäre Überladung z. B. nach Transfusionen (Sekundäre Siderosen) sein.

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14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung

Gallensteine und Gelbsucht Wenn die Cholesterinkonzentration in der Galle zu stark ansteigt (erhöhte Synthese oder Hemmung der hepatischen Veresterung) oder die Konzentration der Gallensalze oder von Phosphatidylcholin absinkt (verkleinerter Gallensalzpool, z. B. bei parenteraler Ernährung; verminderte Phosphatidylcholinsekretion bei einseitiger Ernährung), so fällt Cholesterin aus der Lösung aus und bildet Kristalle, so dass es zur Bildung von Gallensteinen kommen kann (75 % der Gallensteine sind Cholesterinsteine, der Rest Pigmentsteine). Dies geschieht bevorzugt in der Gallenblase, da dort die spezifischen Gallenbestandteile stark konzentriert werden. Gallenblasensteine führen zu Entzündungen, was häufig mit chronischen Oberbauchbeschwerden einhergeht. Wenn die Steine die Gallenblase verlassen, kann der Ductus choledochus verlegt und somit auch der Abfluss der Lebergalle blockiert werden; ein Verschlussikterus ist die Folge. Ist der Gehalt der Galle an dem schlecht wasserlöslichen, unkonjugierten Bilirubin erhöht (normal 1 – 2 %, in mizellärer „Lösung“), sei es durch Überforderung der Glucuronyltransferase (Hämolyse), durch einen Leberschaden oder bakterielle Dekonjugierung in der Galle, so bilden sich sog. Pigmentsteine (Calciumbilirubinat). Die normale Plasmakonzentration von Bilirubin ist geringer als 0,2 mmol/l. Steigt sie auf Werte über 0,3 – 0,5 mmol/l, sieht das Plasma gelb aus und das Bindegewebe (zuerst die Skleren, dann die Haut) färbt sich gelb, d. h., es kommt zu einer Gelbsucht (Ikterus). Eine erhöhte Plasmakonzentration von Bilirubin kann mehrere Ursachen haben: – Ein vermehrter Untergang von Erythrozyten, aus welchem Grund auch immer, erhöht auch bei normaler Leberfunktion die Plasmakonzentration von unkonjugiertem („indirektem“) Bilirubin: hämolytischer Ikterus. Eine häufige Ursache sind angeborene hämolytische Anämien, wie z. B. die Thalassämie, bei der rezessiv erblich ein abnormales Hämoglobin gebildet wird und die Erythrozyten sehr fragil sind. – Ein Defekt des Enzyms Glucuronyltransferase hat ebenfalls ein erhöhtes unkonjugiertes Plasmabilirubin zur Folge: hepatozellulärer (hepatischer) Ikterus. Eine häufigere Ursache dafür ist eine akute Hepatitis. – Ein posthepatischer Ikterus entsteht, wenn die Gallenwege verlegt sind, sei es innerhalb der Leber (Cholestase) oder außerhalb, etwa durch einen Tumor oder durch einen Stein im Ductus choledochus: Verschlussikterus. Vor dem Abflusshindernis staut sich die Galle; sie wird nun mit bereits konjugiertem Bilirubin aus den Gallenkanälchen durch die Desmosomen in extrazelluläre Räume gepresst, die mit den Lebersinus und damit auch mit den Lebervenen in Verbindung stehen.

14.12 Die Anforderungen des Organismus an die Ernährung Leben ist untrennbar mit der Zufuhr von Energie verbunden. Im Stoffwechsel wird die chemische Energie aus Nahrungsstoffen oder Körperdepots zur Erzeugung von Konzentrationsgradienten (vor allem für Ionen) und für Synthesearbeit genutzt, beides Voraussetzung dafür, dass auch mechanische Arbeit innerhalb und außerhalb des Körpers geleistet werden kann. Bei diesen Energieumwandlungen entsteht in jedem Fall auch Wärme. Neben Kohlenhydraten, Proteinen und Fetten muss die Nahrung auch eine Minimalmenge an Wasser, Mineralstoffen, Spurenelementen, Vitaminen und einigen anderen essenziellen Substanzen enthalten, wenn der Organismus normal funktionieren soll. Ballaststoffe, eine heterogene Gruppe kaum verdaubarer Substanzen pflanzlichen Ursprungs, sind für die Verdauung wichtig, weil sie u. a. durch ihre Masse den Weitertransport des Stuhls durch das Kolon beschleunigen.

Bestandteile der Nahrung Die Ernährung muss dem Organismus die für Gesundheit und Wohlbefinden notwendigen Komponenten in ausreichender Menge zur Verfügung stellen. Wichtig sind also sowohl die qualitative als auch die quantitative Zusammensetzung der Nahrung. Es gibt bestimmte Substanzen, die auf jeden Fall mit der Nahrung aufgenommen werden müssen, da sonst Mangelerscheinungen auftreten, und die nicht durch andere Substanzen ersetzt werden können (z. B. Vitamine, manche Amino- und Fettsäuren). Diese Substanzen nennt man essenzielle Nahrungsbestandteile. Andere Bestandteile der Nahrung, wie z. B. Kohlenhydrate, können sich gegenseitig ersetzen. Bei diesen ist nur wichtig, dass eine bestimmte Gesamtmenge aus der Gruppe dieser Nahrungsbestandteile aufgenommen wird. Wir können die notwendigen Bestandteile der Nahrung in 7 Gruppen einteilen: Wasser (Kap. 13), Energie („Kalorien“, in Form von Kohlenhydraten, Proteinen und Fetten), Fette, Proteine, Mineralien, Vitamine und Ballaststoffe. Die Zufuhr einer ausreichenden Menge jeder dieser 7 Gruppen ist für Gesundheit und Wohlbefinden notwendig. Ist dies gewährleistet, so spricht man von einem ausgeglichenen Haushalt. Dieser Haushalt entspricht dem Haushalt einer Familie oder eines Staates, der dann im Gleichgewicht ist, wenn die Ausgaben den Einnahmen gleichen. Sind die Ausgaben größer als die Einnahmen entsteht ein Defizit, das zu Mangelerscheinungen führt. Größere Einnahmen als Ausgaben sind zwar beim Privat- oder Staatshaushalt gerne gesehen, können jedoch in Bezug auf die Ernährung ebenfalls schädlich sein (s. u.). Ziel der Ernährung ist also immer ein ausgeglichener Haushalt.

Eine gestörte Nährstoffverfügbarkeit spielt bei vielen Krankheitsbildern eine Rolle. Hierzu zählen Übergewicht und Fettsucht (= Risikofaktor für Arteriosklerose und Diabetes mellitus Typ 2), Unterernährung und Mangelernährung, Stoffwechselstörungen (z. B. Hyperlipidämie, Diabetes mellitus) sowie verschiedene Formen von Essstörungen (Anorexia nervosa, Buli-

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14.12 Die Anforderungen des Organismus an die Ernährung mie, Hyperphagie, Aphagie). Kenntnisse über Art und Menge der notwendigen Bestandteile sind auch bei der Diätberatung und bei der parenteralen Therapie wichtig.

Bedarf an Nahrungsbestandteilen Energiebedarf Der Energiebedarf hängt vom individuellen Grund- und Arbeitsumsatz ab. Diese Größen werden später (S. 480) näher dargestellt. Der individuelle Energiebedarf hängt außerdem vom Körpergewicht, von der Effizienz der Energienutzung und -speicherung (hierbei spielen genetische Faktoren sowie die relative Muskelmasse eine Rolle) sowie vom körperlichen Aktivitätsniveau ab. Letzteres ist der entscheidende Faktor für interindividuelle Variationen des Energiebedarfs. Fettgewebe hat eine geringere spezifische Stoffwechselrate (Energieumsatz pro Gramm Gewebe) als die Skelettmuskulatur in Ruhe. Aus diesem Grund benötigen Menschen mit großer Fettmasse weniger Energie pro kg Körpergewicht als schlanke Menschen. Durchschnittlich beträgt die Fettmasse bei Normalgewichtigen 20 % des Körpergewichts. Bei Frauen liegt dieser Wert im Durchschnitt etwas höher (∼ 25 %) als bei Männern. Dies ist mit ein Grund, warum der Energiebedarf in Ruhe pro kg Köpergewicht bei Frauen etwas geringer ist als bei Männern. Aus demselben Grund müssen Athleten selbst in Ruhe mehr Energie pro kg Körpermasse zu sich nehmen als Nicht-Athleten. Dieser Wert steigt natürlich bei körperlicher Aktivität noch einmal deutlich an.

Der Energiebedarf kann durch Kohlenhydrate, Fette, Proteine und Aminosäuren gedeckt werden. Idealerweise werden 55 – 60 % des Energiebedarfs durch Kohlenhydrate, 25 – 30 % durch Fett und 10 – 15 % durch Proteine gedeckt. In vielen entwickelten Ländern ist dieses Verhältnis in der Realität allerdings etwas anders. In Deutschland liegen die geschätzten Werte bei 45 – 50 % für Kohlenhydrate, 38 – 40 % für Fette und 12 – 15 % für Proteine. Dies bedeutet, dass in der Regel zuviel Fett und zuwenig Kohlenhydrate in der Nahrung sind. Im Prinzip gibt es für Kohlenhydrate keine absolute Bedarfsgrenze, im Gegensatz zu Proteinen und Fetten (s. u.). Theoretisch könnte der Energiebedarf vollständig durch Proteine und Fette gedeckt werden. Allerdings würde eine solche Diät zu einer ungünstigen Verschiebung der Gesamtstoffwechsellage führen. „NiederKohlenhydrat“-Diäten (z. B. Atkins) können zu einem vermehrten Abbau von Gewebsproteinen und damit zu Verlust von wichtigem Gewebe führen. Außerdem kommt es zu vermehrter Lipolyse. Beide Mechanismen können zur Anreicherungen von Ketonkörpern und zu einer azidotischen Stoffwechsellage führen. Dies bedeutet, dass die Austauschbarkeit von Kohlenhydraten in der Nahrung praktisch begrenzt ist. Außerdem kann eine vermehrte Fettzufuhr das Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen, Diabetes mellitus Typ 2, Darmkrebs und Gallensteine erhöhen.

Fettbedarf Nahrungsfette sind einerseits wichtige Energielieferanten, können aber andererseits das Risiko für bestimmte Erkrankungen erhöhen (s. o.). Letzteres führte zu dem Bestreben, fettfreie bzw. fettarme Ernährungsweisen zu entwickeln. Der Reduktion des Fettgehaltes in der Nahrung sind jedoch Grenzen gesetzt, da verschiedene Fettbestandteile nicht nur Energielieferanten sind, sondern andere wichtige Funktionen erfüllen und nicht vom Körper selbst synthetisiert werden können (sie sind also essenziell). Bei diesen essenziellen Bestandteilen handelt es sich hauptsächlich um Fettsäuren und lipophile Vitamine. Essenzielle Fettsäuren sind vor allem als Vorläufer von Signalmolekülen (z. B. Diacylglycerin, Eicosanoide) und Membranbestandteilen von Bedeutung. Die Fettsäuresynthase des Menschen kann Palmitinsäure (16 CAtome, gesättigt; = 16 : 0) und Ölsäure (18 C-Atome, Doppelbindung zwischen C-9 und C-10; = 18 : 1 cis-∆9) herstellen. Für die Synthese der lebenswichtigen Prostaglandine, Thromboxane und Leukotriene (= Botenstoffe) wird jedoch Arachidonsäure (= 20 : 4 cis-∆5,8,11,14) benötigt. Entweder muss in der Nahrung Arachidonsäure selbst enthalten sein oder eine der beiden anderen essenziellen Fettsäuren (Linolsäure = 18 : 2 cis-∆9,12 bzw. Linolensäure = 18 : 3 cis-∆9,12,15), die durch Kettenverlängerung in Arachidonsäure umgewandelt werden können.

Andere Bestandteile des Nahrungsfetts, die zwar nicht essenziell sind, deren Aufnahme jedoch die Aufrechterhaltung einer ausgeglichenen Bilanz erleichtern sind Cholesterin (Steroidhormonvorläufer und Bestandteil von Zellmembranen) und Phospholipide (Vorläufer von Botenstoffen und Bestandteil von Zellmembranen). Der Fettgehalt der Nahrung kann also solange gesenkt werden, solange die Zufuhr an essenziellen Bestandteilen gewährleistet ist. Bei der Zusammensetzung der Nahrungsfette wird folgendes Mengenverhältnis empfohlen: Mehrfach ungesättigte Fettsäuren : einfach ungesättigten Fettsäuren : gesättigten Fettsäuren = 1 : 1 : 1.

Besonders 3-ungesättigte Fettsäuren (z. B. Linolensäure) sollen einen gefäßschützenden Effekt haben. Eine exzessive Zufuhr von Fettsäuren (ungesättigt oder gesättigt) kann zu verminderter Zell-vermittelter Immunität führen.

Proteine Der geregelte Auf- und Abbau körpereigener Proteine ist von entscheidender Bedeutung für die Gesundheit. Proteine sind essenziell für alle Strukturen (z. B. Zytoskelett) und Funktionen (z. B. Enzyme, Transporter) in unserem Körper, besonders für die Muskel- und Nervenfunktion und das Immunsystem. Zur Synthese unserer Proteine werden 21 verschiedene proteinogene Aminosäuren benötigt (Selenocystein ist die 21. proteinogene Aminosäure), von denen der Mensch 9 nicht selbst herstellen kann. Diese werden essenzielle Aminosäuren genannt (Histidin, Isoleucin, Leucin, Lysin, Methionin, Phenylalanin, Threonin, Tryptophan, Valin). Außerdem finden sich noch vier posttranslational modifizierte Aminosäuren in Proteinen (γ-Karboxyglutamat, Hydroxylysin, 4-Hydroxyprolin, 3-Hydroxyprolin). Aminosäuren sind auch noch bei anderen Prozessen von Bedeu-

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14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung Tabelle 14.12

Mineralien und Spurenelemente. Wichtige Funktionen, Mangelsymptome, Hauptquellen und täglicher Bedarf*

Element

Funktion

Mangelsymptome

Calcium

Knochen- und Zahnbildung; Blutgerinnung, Signalübertragung

Chlor

Quellen

Täglicher Bedarf (Erwachsene)

Weitere Informationen auf Seite

Osteoporose, Milchprodukte Rachitis; neuromuskuläre Übererregbarkeit

800 mg

398 ff.

extrazelluläres Anion, exokrine Sekretion, Zell-pH-Regulation

nicht bekannt

Kochsalz

2,0 g

340 ff.

Chrom

Glucosestoffwechsel Insulinwirkung

Glucosestoffwechsel gestört

Hefe, Nüsse

< 50 µg

485

Eisen

Hämoglobin- und Cytochrombestandteil, Mitochondrienfunktion

Anämie

Fleisch, Getreide

10 mg

192

Fluor

Knochen- und Zahnbildung

Zahnschäden

Tee, Seetiere

2 mg

Jod

Schilddrüsenhormonbestandteil

Hypothyreoidismus, Kropf

Seetiere, Milchprodukte

140 µg

546 ff.

Kalium

Zellvolumen, Zellpotenzial

intrazelluläre Azidose, Fleisch, Früchte neuromuskuläre Erregung

2,5 g

354 f., 394 ff.

Kobalt

Cobalaminbestandteil

nicht bekannt

Leber, Fleisch

0,1 µg

458

Kupfer

Enzymbestandteil, Mitochondrienfunktion

Anämie

Fleisch

2 mg

471

Magnesium

Enzymaktivator

neuromuskuläre Übererregbarkeit

Getreide, grünes Gemüse

350 mg

363, 404

Mangan

Enzymbestandteil

nicht bekannt

weit verbreitet

< 6 mg

Molybdän

Enzymbestandteil

bei Patienten mit ausschließlich parenteraler Ernährung

Gemüse, Getreide

< 40 µg

Natrium

Extrazellulärvolumen, Zellpotenzial

Hypotonie, Hypovolämie

Kochsalz

2,5 g

340 ff.

Phosphor

Knochen- und Zahnbildung

Knochenentkalkung, Hypophosphatämie

Milchprodukte, Getreide

800 mg

398 ff.

Schwefel

Bestandteil von Proteinen

nicht bekannt

Cystin, Cystein, Methionin

300 mg

Selen

an Vitamin-E-Wirkung beteiligt, Antioxidant

Anämie, Kardiomyopathie, Myopathie

Seetiere, Fleisch, Getreide

< 50 µg

Zink

Enzymbestandteil, Insulinspeicherung, Antioxidant

weit verbreitet verzögerte Sexualentwicklung, Hautläsionen, Immunstörungen, Geschmacksstörungen

15 mg

* Silicium, Vanadium, Zinn, Nickel und Arsen werden auch für essenzielle Nahrungsbestandteile gehalten, doch sind der tägliche Bedarf beim Menschen sowie spezifische Mangelsymptome nicht bekannt.

tung, wie z. B. als Transmitter (Glutamat, Glycin), als Vorläufer für die NO-Bildung (Arginin) sowie für die NH3-Ausscheidung über die Nieren (Glutamin). Glutamin scheint außerdem den Proteinumsatz der Skelettmuskulatur zu regulieren und ein Glutaminmangel führt zur Einschränkung der Muskelfunktion.

Es gibt bezüglich des Proteingehalts der Nahrung eine Bedarfsgrenze, die nicht unterschritten werden darf (die Zufuhr freier Aminosäuren fällt bei normaler Ernährung nicht ins Gewicht, spielt jedoch bei parenteraler Ernäh-

rung eine wichtige Rolle). Der Bedarf kann anhand der Stickstoffbilanz ermittelt werden. Ausgeschiedener Stickstoff (in Form von z. B. NH3 oder Harnstoff) stammt aus dem Abbau von Aminosäuren und lässt somit einen Rückschluss auf den „Verbrauch“ von Aminosäuren (und damit auch von Proteinen) zu. Die empfohlene tägliche Proteinzufuhr für einen Erwachsenen liegt bei 0,8 g/kg Körpergewicht, die Mindestzufuhr gemäß Stickstoffbilanz bei 0,6 g/kg. Neugeborene bis zum 6. Lebensmonat haben einen Bedarf von 2 g/kg, Heranwachsende einen von

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14.12 Die Anforderungen des Organismus an die Ernährung 1 g/kg. Der Proteinbedarf erhöht sich besonders nach größeren Operationen, während der Schwangerschaft und bei Verbrennungsopfern. Athleten haben ebenfalls einen höheren Proteinbedarf. Der Anteil an essenziellen Aminosäuren sollte mindestens 40 % bei Kindern und ca. 20% bei Erwachsenen betragen, um eine adäquate Gewebsstruktur und -funktion zu gewährleisten.

Der Proteinbedarf kann prinzipiell durch pflanzliche oder tierische Proteine gedeckt werden. Tierische Proteine entsprechen bezüglich der Zusammensetzung an Aminosäuren am besten den Bedürfnissen des Menschen und werden manchmal als Proteine 1. Grades bezeichnet. Pflanzliche Proteine (2. Grades) haben eine etwas ungünstigere Zusammensetzung, können jedoch den Proteinbedarf auch decken. Allerdings ist die benötigte Gesamtproteinzufuhr dann höher. Mangelnde Proteinzufuhr führt zu einer Schwächung der körpereigenen Abwehr. Strukturelle Schwächung der Haut und der Schleimhäute (inkl. verminderter Schleimbildung) erleichtert Krankheitserregern das Eindringen über Haut, Atemwege und den Gastrointestinaltrakt. Der Proteinmangel behindert auch die Funktionsfähigkeit von Phagozyten und Lymphozyten sowie die Bildung von Antikörpern und Zytokinen. Dadurch können sich eingedrungene Erreger leichter vermehren und im Körper verteilen. Dieser Pathomechanismus ist z. B. bei AIDS-Patienten in schlechtem Ernährungszustand von Bedeutung.

Mineralien und Spurenelemente Über die Bedeutung der Mineralien und Spurenelemente gibt Tab. 14.12 Auskunft. Spurenelemente zeichnen sich dadurch aus, dass sie nur in geringen Mengen in unserem Körper vorkommen (im Gegensatz zu Mineralien wie Ca2+, K+ oder Na+). Sie spielen eine wichtige Rolle bei verschiedensten Stoffwechselprozessen als Enzymkofaktoren und bei Signalkaskaden. Dies wird zumindest zum Teil durch die jeweiligen Mangelsymptome belegt. Der genaue Bedarf von Spurenelementen ist aus methodischen Gründen oftmals schwer zu bestimmen. Nicht nur ein Mangel an Mineralien oder Spurenelementen sondern auch ein Überschuss kann funktionelle Konsequenzen haben. So kann sich eine leicht erhöhte Aufnahme von Selen oder Zink mit der Nahrung positiv auf das Immunsystem auswirken. Eine exzessiv erhöhte Zufuhr könnte sich evtl. aber negativ auswirken, da für die Abwehr wichtige Sauerstoffradikale weggefangen werden. Exzessive Calcium-Zufuhr kann die Verwertung von Eisen, Zink und Magnesium stören. Exzessive Kupferzufuhr stört die Zinkresorption. Eine Eisenüberladung des Körpers kann zur Einlagerung von Eisen und Gewebeschädigung führen (Hämochromatose). Kupferüberladung führt ebenfalls zu schädigender Gewebseinlagerung in z. B. Leber, Niere und Stammganglien (M. Wilson). Schließlich kann eine Überladung mit Aluminium (z. B. bei Dialysepatienten) zu einer progressiven Demenz mit ähnlichen Symptomen wie bei der Alzheimer-Demenz führen.

Vitamine Vitamine sind essenzielle Nahrungsbestandteile unterschiedlicher chemischer Struktur. Sie werden grob in zwei Gruppen gemäß ihrer Löslichkeit eingeteilt: fettlösliche und wasserlösliche Vitamine. Zur Deckung des Bedarfs an fettlöslichen Vitaminen muss die Nahrung einen Mindestfettanteil enthalten. Wasserlösliche Vitamine dienen vor allem als Kofaktoren von Enzymen. Die Tabellen 14.13, und Tab. 14.14 geben einen Überblick über Funktion, Bedarf und Quellen. Bezüglich des Vitaminstatus können fünf Kategorien unterschieden werden: defizient, grenzwertig, ausreichend, überschüssig und toxisch. Für die Klinik sind nur die Stadien defizient und toxisch von Bedeutung. Die möglichen Folgen von Vitamindefizienz sind ebenfalls in den Tabellen 14.13 und Tab. 14.14 dargestellt. Eine leicht über den Bedarf hinausgehende Vitaminzufuhr (überschüssig) kann positive Effekt haben. So kann der vermehrte Verzehr von Früchten und Gemüse das Risiko für verschiedene Krebsarten senken. Allerdings sind die genauen Mechanismen nicht geklärt. Vitamin A und E können das Immunsystem stimulieren, besonders bei Patienten mit z. B. starken Verbrennungen oder Sepsis. Die Vitamine A, C und E können in ihrer Eigenschaft als Radikalfänger das Arterioskleroserisiko und möglicherweise das Tumorwachstum reduzieren. Eine zu stark erhöhte, toxische Vitaminzufuhr ist potenziell gesundheitsschädigend. Bei fettlöslichen Vitaminen ist die Gefahr größer, da überschüssige wasserlösliche Vitamine mit dem Urin ausgeschieden werden können. Stark überschießende Vitamin-A-Aufnahme, wie sie bei Polarexpeditionen nach dem Verzehr von Polarbärleber auftrat, führt im Extremfall zu akuter Hypervitaminose A und Tod. Ansonsten beobachtet man Symptome wie Kopfschmerz, Anorexie, Reizbarkeit, Leber- und Milzvergrößerung (Hepatosplenomegalie), Hautentzündungen (Dermatitis), Haarausfall, Knochenschmerzen und Durchfall. Vitamin-E-Exzess kann zu einer Hemmung der Abwehr führen (überschießende Radikalfängertätigkeit?), während Hypervitaminose D (wie sie z. B. bei Selbstbehandlung von Kindern durch die Eltern beobachtet wurde) zu Gewebsverkalkungen, Nierenversagen und Gewichtsverlust führt. Bei Hypervitaminose K werden Störungen im Magen-Darm-Trakt beobachtet und bei Hypervitaminose B6 kann es zu Störungen der Funktion peripherer Nerven kommen. Die empfohlenen Mengen basieren oftmals auf dem Bedarf für normales Wachstum und normale Entwicklung. In den letzten Jahren ist jedoch der Einfluss von Vitaminen und Spurenelementen auf Alterungsprozesse vermehrt in das Interesse gerückt. Bei älteren Menschen findet sich zum Teil ein Mangel an Vitamin C und D sowie an Zink und Eisen. Eine Korrektur solcher Mängel (durch adäquate Ernährung) wirkt sich positiv auf das Immunsystem und den Knochenhaushalt aus.

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14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung Tabelle 14.13

Fettlösliche Vitamine. Wichtige Funktionen, Mangelsymptome, Hauptquellen und täglicher Bedarf

Vitamin

Funktion

Mangelsymptome

Quellen

Retinol (Vitamin A)

Rhodopsinbestandteil; reguliert Epithelwachstum und -differenzierung

Nachtblindheit, Xerophthalmie, trockene Haut

gelbe(s) Gemüse 1 mg und Früchte; Leber

Calciol (Vitamin D)

erhöht Ca2+- und PO4–-Absorption im Darm

Rachitis, Osteomalazie

Fischöl2

5 µg

Tocopherol (Vitamin E)

Antioxidanz, schützt Membranproteine

Muskelschwäche

grünes Gemüse, Pflanzenöle

10 mg

Menachinon (Vitamin K)

Kofaktor bei der γ-Karboxylierung der Gerinnungsfaktoren II, VII, IX und X

Gerinnungsstörungen

grünes Gemüse3

0,03 mg

1 2

3

Täglicher Bedarf1

Empfohlene Menge für einen 70 kg schweren Mann. Die Werte für Frauen sind sehr ähnlich. Calciol kann im Körper aus Cholesterin gebildet werden, vorausgesetzt, die Haut ist ausreichend der UV-Strahlung ausgesetzt, die in den Keratinozyten 7-Dehydrocholesterin zu Prävitamin D3 umwandelt. Vitamin K wird von den Bakterien im Kolon synthetisiert, so dass normalerweise eine Zufuhr mit der Nahrung unnötig ist.

Tabelle 14.14

Wasserlösliche Vitamine. Wichtige Funktionen, Mangelsymptome, Hauptquellen und täglicher Bedarf

Vitamin

Funktion

Mangelsymptome

Quellen

Täglicher Bedarf1

Thiamin (Vitamin B1)

Dekarboxylierungskofaktor

Beriberi; WernickeEnzephalopathie

Schweinefleisch, unbehandeltes Getreide

1,4 mg

Riboflavin2

Flavoproteinbestandteil

Glossitis; Lippenschrunden

Leber, Hefe, Milch, Weizenkeime

1,6 mg

Nicotinamid und -säure3

Bestandteil von NAD+ und NADP+

Pellagra

Leber, Nahrungstryptophan

18 mg

Pantothensäure2

CoA-Bestandteil

Burning-foot-Syndrom

Eier, Leber, Hefe

5 – 10 mg

Folsäure2

Koenzym bei der Fettsynthese

Sprue; megaloblastische Anämie

grünes Gemüse, Leber, Getreide

0,4 mg

Pyridoxol (Vitamin B6)

Bestandteil von Pyridoxalphosphat

Krämpfe (Kinder), periphere Neuropathie (Erwachsene)

Hefe, Weizen, Leber, Fleisch

2,2 mg

Cobalamin (Vitamin B12)

Koenzym für Homocystinmethylierung

perniziöse Anämie

Leber, Fleisch, Eier

0,003 mg

Ascorbinsäure (Vitamin C)

Redoxsystem

Skorbut

Zitrusfrüchte, Obst und Gemüse

60 mg

Biotin (Vitamin H)

Koenzym bei der Fettsynthese

Dermatitis, Hypercholesterinämie

Eigelb, Leber, Hefe

0,2 mg4

1 2 3 4

Empfohlene Menge für einen 70 kg schweren Mann. Die Werte für Frauen sind sehr ähnlich. Gehört zum Vitamin-B2-Komplex (Mangelerscheinungen wurden früher auf ein Vitamin B2 zurückgeführt). Eigensynthese. Pellagra tritt nur bei verminderter Tryptophanbereitstellung auf. Bedarf unbekannt. Diese Menge ist etwa in der normalen Nahrung enthalten.

Ballaststoffe Der Ausdruck Ballaststoffe beschreibt eine Gruppe mehr oder weniger inerter, aber trotzdem wichtiger Nahrungsbestandteile pflanzlichen Ursprungs. Dazu gehören Cellulose, eine Reihe von anderen Polysacchariden und Lignin, ein Bestandteil höherer Pflanzen mit einer steroidähnlichen Struktur. Obwohl Ballaststoffe durch körpereigene Enzyme nicht angreifbar sind, kann Cellulose durch die Darmbakterien zu kurzkettigen, im Darm absorbierbaren Fettsäuren abgebaut werden. Aber auch

unverdaute Ballaststoffe haben eine ganze Reihe von Effekten auf die Verdauung: – Im Magen fördern sie das Gefühl der Sattheit dadurch, dass sie sein Füllvolumen erhöhen und seine Entleerung verlangsamen. – Sie stimulieren zudem die Magensaftresektion. – Im Dünndarm verlangsamen visköse Ballaststoffe, wie z. B. Pektin (aus Haferkörnern und Gemüsen), die Absorption von Glucose und verringern die von Cholesterin. Konsequenterweise werden solche Ballaststoffe bei der Behandlung des Diabetes mellitus und in

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14.13 Energiehaushalt und Kontrolle des Körpergewichts Fällen benützt, bei denen Lipid- und LDL-Konzentrationen im Plasma erhöht sind. – Im Kolon erhöhen die Ballaststoffe das Volumen des Darminhalts, was über eine Dehnung der Darmwand zu einer Verkürzung der Passagezeit in diesem Darmabschnitt führt. Man nimmt an, dass Darmdivertikel (Ausstülpungen) besonders dann entstehen, wenn zu wenig Ballaststoffe aufgenommen werden. Auch das Kolonkarzinom scheint bei den Personengruppen weniger häufig aufzutreten, die in Ländern mit einem hohen Ballaststoffanteil in der Nahrung leben. Darüber hinaus erhöhen Ballaststoffe die Ausschüttung von GIP (glucose-dependent insulin-releasing peptide) und Glucagon.

14.13 Energiehaushalt und Kontrolle des Körpergewichts Wie die Haushalte der Nährstoffe, so muss auch der Energiehaushalt ausgeglichen sein, d. h. die zugeführte Energie muss der benötigten Energie entsprechen. Unter Energiestoffwechsel versteht man die Umwandlung der Energie von einer Form (z. B. Glucose) in eine andere (z. B. Wärme). Die Energiestoffwechsellage kann anabol sein, dies bedeutet, dass aufgenommene Energie zur Herstellung großer, komplexer organischer Moleküle (Fette, Proteine, Kohlenhydrate) verwendet wird (Aufbaustoffwechsel). Werden diese Moleküle zur Leistung von Arbeit oder Erzeugung von Wärme abgebaut, so ist die Stoffwechsellage katabol (Abbaustoffwechsel). Auf Seite 473 wurde beschrieben, in welcher Form dem Körper Energie zugeführt wird. In diesem Abschnitt stellen sich nun die Fragen, wo diese Energie benötigt wird, wie sie umgesetzt wird und welche quantitativen Aussagen wir dazu machen können. Energie wird zuallererst zur Strukturerhaltung des Körpers benötigt, wie z. B. zur Aufrechterhaltung der Zellarchitektur oder der Gewebeorganisation. Der Körper ist ein hoch geordnetes Gebilde und strebt wie alle geordneten Gebilde (denken Sie an Ihre Wohnung) stets einem Zustand geringerer Ordnung zu (Zunahme der Entropie, 2. Hauptsatz der Thermodynamik). Um eine mit dem Leben nicht vereinbare Zunahme der Unordnung des Körpers zu verhindern, muss ihm ständig Energie zur Verfügung gestellt werden. Die Energie, die in die Struktur hineingesteckt wird, kann nicht für andere Zwecke verwendet werden, es handelt sich um nicht verwertbare Energie. Im Gegensatz dazu findet sich verwertbare Energie in „chemischen Speichern“ (ATP, Kreatinphosphat, Glykogen, Fette, etc.) und in Konzentrationsgradienten (z. B. Na+-Gradient über die Zellmembran) oder elektrischen Spannungen (Membranpotenzial). Doch bei den beiden zuletzt genannten Fällen verwertbarer Energie handelt es sich um potenzielle Energie, die letztendlich aus der Umwandlung der Energie chemischer Speicher durch primär-aktive Transportvorgänge (Na+-K+-ATPase, H+-ATPase, Ca2+-ATPase) entstand. Die verwertbare Energie wird benötigt für – die Grundfunktionen zur Lebenserhaltung, die eng mit der Strukturerhaltung wechselwirken (z. B. Herz-

tätigkeit, Atmung, Drüsentätigkeit, Resorptions- und Sekretionsvorgänge, Verdauung); – das Wachstum, vor allem bei Kindern. Allerdings benötigt auch das Tumorwachstum Energie und kann dadurch zur Auszehrung der anderen Gewebe führen (Kachexie); – nach außen geleistete Arbeit (Motorik, auch Stützmotorik); – Erzeugung von Wärme zur Aufrechterhaltung der Körpertemperatur (Thermoregulation). Schließlich geht Energie durch die Ausscheidung energiehaltiger Substanzen verloren. Hierzu gehört Harnstoff. Spricht man in der Medizin von „Energieverbrauch“, so ist damit die Umwandlung von gespeicherter verwertbarer Energie (= Energiestoffwechsel) gemeint.

Energiebilanz Der erste Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass die Gesamtenergie eines geschlossenen Systems konstant ist und die Änderung der Gesamtenergie eines offenen Systems dem Energieaustausch mit der Umgebung (Aufnahme oder Abgabe) entspricht. Beim menschlichen Körper handelt es sich natürlich um ein offenes System. Die allgemeine Energiebilanz lautet also Energieaufnahme = Energieabgabe + Energiespeicherung Ist die Energieaufnahme größer als die Energieabgabe, so spricht man von einer positiven Energiebilanz (Energiespeicherung > 0), wie sie während des Wachstums physiologischer Weise vorliegt. Nach Abschluss des Wachstums führt eine dauerhafte positive Energiebilanz zur Zunahme des Körpergewichts, bis hin zum Übergewicht. Eine negative Energiebilanz führt zu vermehrter Fettverbrennung und der Abnahme des Körpergewichtes. Voraussetzung für die Konstanthaltung des Körpergewichtes ist also eine ausgeglichene Energiebilanz (Energieaufnahme = Energieabgabe). Reduktion des Körpergewichts ist nur bei negativer Energiebilanz möglich.

Wie bereits beschrieben, wird verwertbare Energie nur in Form von Kohlenhydraten, Fetten und Proteinen aufgenommen. Energieabgabe geschieht in Form von mechanischer Arbeit, Ausscheidung von energiehaltigen Substanzen sowie als Wärme (die letztendlich bei jeder Energieumwandlung entsteht). Jede Umwandlung von Energie führt zum Verlust an „freier“ (= nutzbarer) Energie, da es stets zu einer Entropiezunahme kommt (Zunahme der Unordnung, s. o.). Im menschlichen Körper drückt sich diese Entropiezunahme als Entstehung von Wärme aus. So kann z. B. aufgenommene Glucose unter Wärmeentstehung zu Glykogen umgewandelt werden. Die im Glykogen gespeicherte Energie ist nun geringer als die Gesamtenergie der aufgenommen Glucose, d. h. der Wirkungsgrad dieser Umwandlung ist < 100% (wie übrigens bei allen Vorgängen in unserem Körper). Auch bei der Nutzung chemischer Energie entsteht ein Verlust durch Wärmebildung. So ist der Gesamtenergiegehalt von 1 mol Glucose 2780 kJ. Bei der aeroben Glykolyse können daraus maximal 38 mol ATP mit einem Gesamtenergiegehalt von 1824 kJ entstehen. D. h. 956 kJ oder 34 % gehen als Wärme „verloren“.

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14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung

Energiespeicher In der Leber entsteht aus Monosacchariden, die im Darm aufgenommen wurden oder durch Gluconeogenese aus Lactat oder Aminosäuren erzeugt wurden, Glucose-6-Phosphat. Dieses kann – in Glucose-1-Phosphat und Glykogen umgewandelt, – für die ATP-Produktion verbraucht oder – in der Form von Glucose in andere Organe des Körpers exportiert werden. Darüber, welcher dieser Wege vorzugsweise eingeschlagen wird, entscheiden die Stoffwechselhormone. Lipide zirkulieren im Organismus als an Albumin gebundene Fettsäuren oder als Lipoproteine. Letztere sind winzige „Tröpfchen“, in deren „Kern“ sich die stark hydrophoben Triacylglycerine, Cholesterinester und fettlösliche Vitamine, in deren „Schale“ sich jedoch Cholesterin und Phospholipide befinden, worin Apoproteine eingebettet sind. Die Triacylglycerine der Lipoproteine werden im Kapillarbett durch die Lipoproteinlipase abgebaut. Die dabei freigesetzten Fettsäuren werden entweder von Fettzellen aufgenommen und zu Triacylglycerinen resynthetisiert oder als Energiesubstrat, z. B. in Muskelzellen, oxidiert. Fettsäuren, die aus Fettgewebe wieder freigesetzt werden, zirkulieren, an Albumin gebunden, im Blut und werden besonders von der Leber aufgenommen und metabolisiert. Der Stoffwechsel der Fettsäuren läuft in den Mitochondrien ab, wo AcetylCoA durch -Oxidation gebildet wird. Die Lipide der Nahrung müssen auch die essenziellen Fettsäuren enthalten, die als Vorläufersubstanzen für die Synthese von Prostaglandinen dienen. Unser Körper benötigt ständig Energie und produziert ständig Wärme (kontinuierliche Energieabgabe). Da wir eine ausgeglichene Energiebilanz anstreben, aber nicht ständig Energie zuführen können (stellen Sie sich die Folgen für unseren Alltag vor: den ganzen Tag essen!), muss Energie zwischengespeichert werden für eine mittelfristig ausgeglichene Energiebilanz (intermittierende Energieaufnahme). Diese Speicherung von Energie ist allerdings auch von Wärmebildung begleitet, sie „kostet“ also Energie. So steigt der Energieumsatz (s. u.) nach Aufnahme einer gemischten Mahlzeit für ca. 90 Minuten um ca. 20 – 25 % des Grundumsatzes (s. u.) an. Ursache dafür sind die Verdauungs-, Resorptions- und Speicherarbeit. Man nennt dies spezifisch-dynamische Wirkung. Bei der Speicherung von Kohlenhydraten (als Glykogen) oder Fetten (als Triacylglycerine) gehen 3 – 7 % der Energie als Wärme verloren. Bei der Speicherung von Aminosäuren (als Proteine), von überschüssigen Kohlenhydraten (als Triacylglycerine) oder von überschüssigen Aminosäuren (als Glykogen bzw. Triacylglycerine) gehen ∼ 25 % der Energie verloren. (Das Verspeisen eines Schnitzels ist also auch eine angenehme Form sich aufzuwärmen!). Fette können nur als Fett gespeichert werden!

Glykogen als Energiespeicher Eine wichtige Speicherform ist das Kohlenhydrat Glykogen (S. 448) in Leber und Skelettmuskel. Glucose wird nach Phosphorylierung zu Glucose-6-Phosphat und Um-

wandlung in Glucose-1-Phosphat zu dem großen (> 5000 kDa), verzweigtkettigen Glykogen aufgebaut und in Speichergranula „gelagert“. Dadurch können große Mengen Kohlenhydrate gespeichert werden, ohne dass der osmotische Druck in der Zelle stark ansteigt. Die Leber verwendet auch Aminosäuren und Laktat zur Glykogensynthese. In der Leber eines Erwachsenen können 75 – 120 g (maximal 10% des Lebergewichtes) und in der Skelettmuskulatur 300 – 600 g (maximal 3 % des Muskelgewichtes) Glykogen gespeichert werden. Ein 70 kg schwerer Erwachsener hat also maximal ∼ 700 g Glykogen (= 1 % des Körpergewichtes). In jedem Gramm Glykogen „stecken“ 17,2 kJ Energie (= physiologischer Brennwert, S. 482), so dass ∼ 12 000 kJ Energie als Glykogenspeicher vorliegen können. Diese Energiemenge könnte den Ruheenergiebedarf (leichte sitzende Tätigkeit) eines 70 kg schweren Erwachsenen maximal 33 Stunden lang decken (allerdings wird ein Teil anaerob in Erythrozyten verbraucht).

Fette als Energiespeicher Die zweite wichtige Energiespeicherform sind Fette, vor allem Triacylglycerine (S. 453). Die Lipoproteinlipase der Endothelzellen spaltet in Herz, Skelettmuskel und Fettgewebe Triacylglycerine zu freien Fettsäuren und Glyzerin. Die Expression der Lipoproteinlipase wird durch Insulin stimuliert, was die Fettspeicherung fördert. Glyzerin kann in der Leber zu Glucose umgewandelt und in die Glykolyse eingeschleust werden. In Fett- und Muskelzellen werden freie Fettsäuren als Triacylglycerine sowie in geringerem Maße als Phospholipide gespeichert (s. S. 453). In Hepatozyten werden freie Fettsäuren zur „Energiegewinnung“ durch -Oxidation verwendet oder aber als Triacylglycerine gespeichert. Lipide haben die höchste Energiedichte, mit einem physiologischen Brennwert (S. 482) von 39,5 kJ/g. Außerdem ist Fettgewebe relativ wasserarm. Ein 70 kg schwerer Erwachsener hat ca. 14 kg Fettgewebe, d. h. 20 % des Körpergewichtes. Somit liegen ca. 553 000 kJ Energie als Fettspeicher vor. Diese Energiemenge könnte den Ruheenergiebedarf (leichte sitzende Tätigkeit) eines 70 kg schweren Erwachsenen maximal 63 Tage lang decken. Bei normalgewichtigen Personen befindet sich der größte Teil des Körperfettes unter der Haut (subkutanes Fettgewebe).

Proteine als Energiespeicher Eine dritte, unter physiologischen Bedingungen weniger wichtige Energiespeicherform, sind Proteine (s. S. 450). Man unterscheidet Strukturproteine (z. B. Kollagen) und Funktionsproteine (z. B. Enzyme). Energiespeicherung ist also nicht die Hauptaufgabe von Proteinen. Der physiologische Brennwert von Proteinen liegt bei 18,1 kJ/g. Somit speichern die Proteine eines 70 kg schweren Erwachsenen (ca. 14 % des Körpergewichtes = ca. 10 kg) ungefähr 180 000 kJ Energie. Allerdings ist hiervon im Bedarfsfall nur die Hälfte mobilisierbar, so dass der Ruheenergiebedarf maximal 10 Tage lang durch körpereigene Proteine gedeckt werden könnte.

In der Regel tragen Proteine nur ∼ 5 % zum Ruheumsatz bei. Beim Fasten, wenn die Kohlenhydratreserven aufgebraucht sind, steigt der Beitrag von Proteinen zum Ruheumsatz auf ∼ 15 %. Das Ausmaß der Verwendung von Proteinen zur Deckung des Energiebedarfs kann anhand der Stickstoffbilanz abgeschätzt werden, die Auskunft über Veränderungen der Gesamtproteinspeicher des Kör-

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14.13 Energiehaushalt und Kontrolle des Körpergewichts pers gibt. Bei der Stickstoffbilanz werden Stickstoffaufnahme (= Proteinaufnahme) mit der Nahrung und Stickstoffabgabe mit dem Urin verglichen. Während des Wachstums ist die Bilanz positiv (Aufnahme > Abgabe), bei gesunden Erwachsenen ist sie ausgeglichen. Bei langem Fasten oder bei Verbrennungsopfern ist die Bilanz negativ.

Energiefreisetzung Der Hauptteil der potenziellen chemischen Energie, die die Nahrung enthält, wird im Körper in die hochenergetische, universell „konvertierbare“ Energie„währung“ Adenosintriphosphat (ATP) umgewandelt, das in der Folge die Energie für eine Unzahl zellulärer Prozesse liefert. Chemische Energie wird von der Leber zu anderen Geweben in Form von Glucose und von den Fettspeichern zur Leber in Form von albumingebundenen Fettsäuren oder von Lipoproteinen transportiert. Ist der momentane Energiebedarf größer als die momentane Energiezufuhr, so muss Energie aus Speichern freigesetzt werden. Dies ist besonders während Hungerphasen, bei Schilddrüsenüberfunktion (Hyperthyreose = Zunahme des Grundumsatzes) und bei länger anhaltender physischer Aktivität der Fall. Im Körper liegt ein Teil der Energie ständig „frei“ vor (d. h. sofort nutzbar, z. B. als ATP). Diese „freie“ Energie steht im Fließgleichgewicht mit der gespeicherten Energie, so dass ein vermehrter Verbrauch der „freien“ Energie zum Abbau gespeicherter Energie in Leber, Skelettmuskel und Fettgewebe führt.

Energiefreisetzung aus Glykogen Das in der Skelettmuskulatur gespeicherte Glykogen wird unter Einwirkung von Glykogenphosphorylase zu Glucose-1-Phosphat abgebaut, welches nach Umwandlung zu Glucose-6-Phosphat in die Glykolyse eingeschleust wird. Dieser Vorgang wird durch Adrenalin, nach Bindung an β1-Adrenozeptoren, stimuliert. Aktivierte β-Adrenozeptoren führen zu vermehrter Adenylylzyklaseaktivität, wodurch die intrazelluläre cAMP-Konzentration ansteigt. Dies führt zur Aktivierung der Proteinkinase A, die Phosphorylasekinase aktiviert, welche letztendlich die Glykogenphosphorylase in ihre aktive Form umwandelt (jeweils durch Phosphorylierung). Ein zweiter Weg, den Glykogenabbau zu stimulieren, besteht in der direkten Bindung von AMP an die Glykogenphosphorylase (allosterische Aktivierung). ATP wirkt hier antagonistisch. Schließlich kann der Glykogenabbau durch Zunahme der zytosolischen Ca2+-Konzentration gesteigert werden. Ca2+ aktiviert die Phosphorylasekinase allosterisch. Da die AMP- und Ca2+-Konzentration bei Muskelaktivität steigen, sind durch diese Mechanismen Energiebedarf und -bereitstellung direkt miteinander gekoppelt.

Der Abbau des in der Leber gespeicherten Glykogen geschieht durch dieselben Mechanismen wie in der Skelettmuskulatur. Hauptstimulus ist Glucagon, jedoch wirkt auch Adrenalin. Im Gegensatz zur Skelettmuskulatur kann Glucose-6-Phosphat in der Leber zu Glucose dephosphoryliert werden, die dann ins Blut abgegeben wird und dem Organismus zur Verfügung steht. Nach 12stündigem Fasten (wie z. B. vor einem oralen Glucose-

toleranztest) trägt hepatische Glykogenolyse ca. 50 % zur abgegebenen Glucose bei. Den Rest liefert die Glukoneogenese (aus Laktat, Glycerin, Aminosäuren).

Energiefreisetzung aus Fettgewebe Die im Fettgewebe gespeicherten Triacylglycerine werden dort durch die hormonsensitive Lipase zu freien Fettsäuren und Glycerin gespalten. Die freien Fettsäuren, die 95 % der Triacylglycerin-Energie enthalten, werden ins Blut abgegeben und dort an Albumin gebunden transportiert. Adrenalin stimuliert durch β1-Adrenozeptorvermittelte Aktivierung der Proteinkinase A die hormonsensitive Lipase (im braunen Fettgewebe wirkt Adrenalin über β3-Adrenozeptoren). Außerdem kann die Lipase durch Glucagon stimuliert werden. Zwar wirken auch ACTH, TSH, LH, Serotonin und Vasopressin über cAMP stimulierend, doch ist deren physiologische Bedeutung unklar. Ein wichtiger Stimulator der hormonsensitiven Lipase ist das Wachstumshormon (GH, STH, S. 529 ff.). GH bindet an seinen Tyrosinkinase-assoziierten Rezeptor, woraufhin Tyrosinkinasen der JAK2-Familie aktiviert werden, die wahrscheinlich die Expression eines Proteins stimulieren, das die Empfindlichkeit für Adrenalin erhöht. Glucocorticoide und Schilddrüsenhormone können über einen genomischen Weg ebenfalls die hormonsensitive Lipase stimulieren, während Insulin und Prostaglandin E2 sie hemmen. Es ist zu berücksichtigen, dass nicht alle Fettgewebe des Körpers das selbe Expressionsmuster an Rezeptoren aufweisen und somit unterschiedliche Empfindlichkeit für Hormone haben. So ist die lipogenetische Wirkung von Insulin am Stamm stärker als an den Extremitäten. Dies führt dazu, dass Glucocorticoide, die über eine Hyperglykämie die Insulinfreisetzung stimulieren, besonders an den Extremitäten lipolytisch wirken (dies führt zu Stammfettsucht). Außerdem haben Fettzellen an der Oberschenkel- und Gesäßregion der Frau mehr Rezeptoren für die antilipolytischen Hormone NPY und PYY (S. 488).

ATP-Erzeugung aus Glucose und freien Fettsäuren Die in Form von Glucose bereitgestellte Energie muss durch Glykolyse, Citratzyklus und oxidative Phosphorylierung zu verwertbarem ATP umgewandelt werden. Zunächst wird Glucose zu Pyruvat und ATP abgebaut (2 mol ATP = 96 kJ pro mol Glucose). Dieser Prozess ist sehr schnell und läuft auch ohne Sauerstoff oder Mitochondrien ab (anaerobe Glykolyse). Als Endprodukt entsteht Milchsäure, die zu Laktat + H+ dissoziiert und damit das Gewebe ansäuert (Laktazidose, s. a. S. 311 ff.). Physiologischerweise findet anaerobe Glykolyse in Erythrozyten (keine Mitochondrien) und schnellen Muskelfasern vom Typ IIb (schnelle ATP-Bildung) statt. In Anwesenheit von Sauerstoff und Mitochondrien wird Pyruvat in den anderen Geweben über einen H+-Pyruvat-Transporter in die mitochondriale Matrix transportiert, zu Acetyl-CoA dekarboxyliert, welches dann in den Citratzyklus eingeschleust wird. Im Citratzyklus entstehen NADH, FADH2 und GTP. Im Rahmen der oxidativen Phosphorylierung wird die in NADH und FADH2 enthaltene Energie zur Bildung von ATP unter Sauerstoffverbrauch verwendet. Pro mol NADH entstehen 3 mol und pro mol FADH2 2 mol ATP. Die Gesamtbilanz für Glucose lautet also: Glucose + 6 O2 + 38 ADP + 38 Pi → 6 CO2 + 6 H2O + 38 ATP + Wärme

Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! R. Klinke, H-C. Pape, St. Silbernagl: Physiologie (ISBN 3-13-796005-3) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2005

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14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung Werden Proteinspeicher zur Energiebereitstellung verwendet, so entsteht beim Abbau von Aminosäuren ebenfalls Acetyl-CoA, welches dann gleichermaßen in den Citratzyklus eingeschleust wird.

Die in Form von freien Fettsäuren bereitgestellte Energie muss durch -Oxidation zu verwertbarem ATP umgewandelt werden. Hierfür werden die Fettsäuren zunächst durch Kopplung an CoA unter ATP-Verbrauch aktiviert. Das entstehende Acyl-CoA wird an der inneren Mitochondrienmembran durch die Carnitinacyltransferase I zu Acylcarnitin umgewandelt und durch das Carnitincarrier-Protein (Acylcarnitin/Carnitin-Austauscher) in die Mitochondrien hineintransportiert. Anschließend wird Acylcarnitin durch die Carnitinacyltransferase II zu Acyl-CoA zurückverwandelt. Schließlich werden schrittweise Acetyl-CoA-Moleküle abgespalten (pro Acetyl-CoA ist je ein Zyklus der β-Oxidation notwendig) und in den Citratzyklus eingeschleust. Pro Zyklus entstehen 17 Moleküle ATP. Im Gegensatz zur Glucose ist ATPGewinnung aus Fettsäuren nur aerob möglich. Das bei der Lipolyse ebenfalls entstehende Glycerin wird nach Umwandlung zu Pyruvat in den Citratzyklus eingeschleust.

Da die Zelle die ATP-Konzentration möglichst konstant halten möchte, sind Glykolyse und Citratzyklus eng durch negative Rückkopplung von Schlüsselenzymen kontrolliert: – Die Hexokinase wird durch Glucose-6-Phosphat gehemmt, – Phosphofruktokinase durch ATP und Citrat, – Pyruvatkinase durch ATP und Acetyl-CoA, – Citratsynthase durch ATP sowie – die Pyruvatdehydrogenase durch ATP, NADH und Acetyl-CoA.

Energieumsatz Der Energieumsatz im Körper hängt in erster Linie von der körperlichen Tätigkeit ab, doch spielt u. a. auch die Umgebungs- und Körpertemperatur eine Rolle. Wird der Energieumsatz unter standardisierten Ruhebedingungen gemessen, so spricht man vom Grundumsatz. Nachdem wir die qualitativen Aspekte des Energiehaushaltes betrachtet haben, wollen wir uns nun den quantitativen Aspekten zuwenden: Wieviel Energie benötigen wir und wie lässt sich dies messen? Wieviel Energie steckt in der Nahrung? Wieviel sollen wir essen? Die Menge an Energie, die wir verbrauchen bzw. benötigen, wird Energieumsatz genannt. Dieser ist natürlich keine feste Größe, sondern kann durch viele Faktoren beeinflusst werden. Um trotzdem vergleichbare und zuverlässige Aussagen bzw. Messungen machen zu können, wurden verschiedene Umsatzgrößen definiert: Ruhe-, Grund- und Arbeitsumsatz. Unter Ruheumsatz versteht man den Energieumsatz bei geistiger und körperlicher Ruhe. Da dieser Begriff individuell unterschiedlich ausgelegt werden kann, wurde eine weitere Definition eingeführt, der Grundumsatz. Der Grundumsatz entspricht dem Ruheumsatz unter Standardmessbedingungen: unbekleidet, morgens, nüchtern, ruhig und entspannt liegend, bei thermoneutraler Umgebungstemperatur (27 – 32 8C, weder darf es zu Kältezittern noch zum

Schwitzen kommen). Die benötigte Energie dient zur Aufrechterhaltung der Grundfunktionen (Herztätigkeit, Atmung, etc.) sowie der Strukturerhaltung und der unvermeidlichen Wärmeabgabe (die ca. 40 W/m2 Körperoberfläche [KO] praktisch nie unterschreitet). Der Grundumsatz liegt für junge Erwachsene bei ca. 45 W/m2 KO. Ein 70 kg schwerer Erwachsener hat eine Körperoberfläche von ca. 1,73 m2 und damit einen Grundumsatz von ca. 80 W. Dies entspricht dem Energieumsatz einer mittelhellen Glühbirne („jeder ist ein kleines Licht“). Kenntnisse des Grundumsatzes sind z. B. für die Intensivmedizin von Bedeutung, da er die Mindestenergiezufuhr bestimmt und bei vermehrter Wärmeproduktion (Fieber) natürlich ansteigt. Der Grundumsatz steigt um ca. 14 % pro 8C Anstieg der Körpertemperatur. Aus dem bisher Geschilderten lässt sich der Mindestenergiebedarf an Energie pro Tag für einen jungen 70 kg schweren Erwachsenen abschätzen: 80 W × 60 s × 60 min × 24 h = 6,9 Millionen J = 6900 kJ

Warum wird der Grundumsatz pro m2 Körperoberfläche (KO) angegeben? Grund dafür ist die Tatsache, dass der Grundumsatz wesentlich besser mit der KO als mit dem Körpergewicht korreliert. Vergleicht man den Grundumsatz pro kg KO von Mensch (70 kg), Hund (15 kg), Meerschweinchen (0,5 kg) und Maus (0,018 kg) so ergeben sich Werte (W/kg KG) von ca. 1,25, 2,06, 7,58 und 21,6. Wird der Grundumsatz pro m2 Körperoberfläche bestimmt, so ergeben sich Werte (W/m2 KO) von ca. 47, 50, 60 und 57. Die Körperoberfläche (m2) ergibt sich aus Körpergewicht (kg)0,425 × Körpergröße (cm)0,725 × 0,007184.

Verantwortlich für diese Abhängigkeit von der Körperoberfläche ist zum Teil die Wärmeabgabe, die proportional zur KO ist (je größer die Austauschfläche ist, umso mehr Wärme wird an die Umgebung abgegeben). Da 80 – 90 % des Grundumsatzes von der Wärmeabgabe bestimmt werden (s. o.), ist folglich auch der Grundumsatz von der Körperoberfläche abhängig. Zusätzlich nimmt der spezifische Umsatz pro Gramm Gewebe mit abnehmendem Körpergewicht zu. Die Gründe dafür sind nicht geklärt. Die Abhängigkeit des Grundumsatzes von der Körperoberfläche bedeutet, dass Kleinkinder (großes Oberflächen-Volumen-Verhältnis) relativ hohe Energieverluste durch Wärmeabgabe erfahren und damit die Gefahr des Auskühlens größer ist als bei Erwachsenen. Der Grundumsatz hängt auch vom Alter ab (Abb. 14.35). Während der Wachstumsphase ist er höher als im Erwachsenenalter. Zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr ist der Umsatz relativ konstant, um anschließend kontinuierlich abzunehmen. Bleiben die Ernährungsgewohnheiten mit zunehmendem Lebensalter konstant, entsteht eine positive Energiebilanz mit Zunahme des Körpergewichts (wie es häufig zu beobachten ist). Wie Abb. 14.35 zeigt, ist der Umsatz bei Männern höher als bei Frauen, hängt also auch vom Geschlecht ab. Eine Ursache dafür ist der höhere Anteil an Fettgewebe bei Frauen. Fettgewebe hat einen geringeren Energieumsatz pro Gramm Gewebe im Vergleich zur Skelettmuskulatur. Eine wichtige Einflussgröße auf den Energieumsatz (nicht den Grundumsatz!) ist die Umgebungstemperatur, wobei ein „U-förmiger“ Zusammenhang besteht. In

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14.13 Energiehaushalt und Kontrolle des Körpergewichts keltonus und den Sympathikotonus verändern können. Adrenalin und Noradrenalin sowie Schilddrüsenhormone (Trijodthyronin) steigern den Energieumsatz ebenso wie eine Schwangerschaft. Eine ganz wichtige Einflussgröße ist natürlich die körperliche Tätigkeit. Im Schlaf beträgt der Grundumsatz ca. 90 % des Tagesgrundumsatzes. Jede Zunahme an Muskelarbeit erhöht den Energieumsatz. Dies gilt nicht nur für isotone Kontraktionen, bei denen äußere Arbeit verrichtet wird (z. B. das Hochheben eines Bierkruges), sondern auch für isometrische Kontraktionen (z. B. das Halten des Bierkruges, ohne ihn zu bewegen). Bei isometrischen Kontraktionen werden nämlich auch ständig Aktin-Myosin-Brücken gebildet und wieder gelöst. Dies erklärt warum eine nach außen nicht sichtbare Erhöhung des Muskeltonus den Energieumsatz steigert. Verschiedene Beispiele für den Energieverbrauch bei körperlicher Tätigkeit sind in Tab. 14.15 dargestellt.

62,5

2

Grundumsatz (W/m )

55,5

48,6

männlich 41,7 Wachstumsphase

weiblich

34,7 0

20

40

60

80

Alter (Jahre)

Abb.14.35 Altersabhängigkeit des Grundumsatzes. Zu beachten ist, dass der Grundumsatz am höchsten im Kleinkindalter ist, in dem das rascheste Wachstum stattfindet (nach R. L. Vick: Contemporary Medical Physiology. Reading/Mass., Addison-Wesley 1984).

thermoneutraler Umgebung (Bedingung für die Grundumsatzbestimmung, s. o.) ist der Temperatur-bedingte Energieumsatz am geringsten. Bei höheren Temperaturen steigt er einerseits auf Grund der allgemeinen Zunahme der Reaktionsgeschwindigkeiten (Q10-Wert = Verdopplung der Geschwindigkeit bei Temperaturzunahme um 10 8C) und andererseits auf Grund der vermehrten Hautdurchblutung und Schweißdrüsentätigkeit. Sinkt die Umgebungstemperatur unter die Thermoneutralzone so führt die (zum Ausgleich des Wärmeverlustes) vermehrte Thermogenese zu einer Zunahme des Energieumsatzes. Wie bereits auf Seite 496 erwähnt, ist die Aufnahme von Nahrung mit einem zusätzlichen Energieverbrauch verbunden (spezifisch-dynamische Wirkung), wodurch sich auch erklärt, dass es einem beim Essen warm wird (eine angenehme Form der Aufwärmung). Diese Energie wird für Verdauung, Absorption und Speicherung der Nahrung benötigt. Dagegen kann lang anhaltendes Fasten den Grundumsatz um bis zu 40 % reduzieren. Emotionen erhöhen den Energieumsatz, indem sie den Mus-

Tabelle 14.15

Der über den ganzen Tag gemittelte Energieverbrauch ist selbst bei schwerst arbeitenden Männern wesentlich geringer: Beträgt er an Einzeltagen noch bis max. = 350 W/m2 KO, so sind über Jahre hinweg im Mittel nur = 130 W/m2 KO möglich. Kenntnisse über den Energieverbrauch in Abhängigkeit von körperlicher Tätigkeit sind auch im Rahmen von Diätberatungen notwendig. Allerdings sind die Berechnungen für die Betroffenen oftmals recht ernüchternd. Beispiel: Wie lange muss ein 70 kg schwerer Erwachsener Rad fahren, um die Energie eines halben Liters Bier zu verbrauchen? Der Energieumsatz beim Radfahren mit 20 km/h beträgt ca. 550 J/s. 0,5 l Bier haben einen Energiegehalt von ca. 820 kJ. Dies bedeutet dass er 820 000 J/550 J/s ∼ 1500 s ∼ 25 min lang Rad fahren muss. Bei einer Geschwindigkeit von 20 km/h muss er für das Bier also 8,3 km weit Rad fahren! 0,5 l Fruchtsaft haben ca. 1000 kJ, die nach 10 km Radfahren verbraucht sind. Zum Vergleich: Wenn er knapp 5 Stunden im Bett sitzt und liest, hat er ebenfalls 820 kJ verbraucht.

Energiegehalt der Nahrung Wie obiges Beispiel zeigt, ist es für die Ernährungsplanung notwendig, den Energiegehalt unserer Nahrung zu kennen. Der Energiegehalt kann durch „Verbrennung“ der Nahrung und Messung der entstehenden Wärme bestimmt werden. Wird die Nahrung in einem Kalorimeter vollständig verbrannt so erhält man den physikalischen Brennwert. Die Maßeinheit ist kJ pro Gramm. Wird die Nahrung im Körper „verbrannt“ (d. h. durch oxidative Phosphorylierung umgewandelt), so erhält man den physiologischen Brennwert. Dieser entspricht mit Ausnahme von Proteinen dem physikalischen Brennwert und ist in Tab. 14.16 aufgeführt.

Ungefährer mittlerer Energieverbrauch (W/m2 KO) bei verschiedenen Tätigkeiten (Mann mit 70 kg)

Tätigkeit

W/m2 KO

Tätigkeit

Sitzen im Bett

47

Rasieren

W/m2 KO 76

Tätigkeit

W/m2

Boden wischen

147

Lesen im Sitzen

49

Schuhe putzen

120

Treppen abwärtsgehen

268

Essen im Sitzen

56

Duschen

128

Treppensteigen

708

(Daten aus R. L. Vick. Contemporary Medical Physiology. Reading/Mass.: Addison-Wesley; 1984.)

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14 Funktion des Magen-Darm-Trakts, Energiehaushalt und Ernährung Tabelle 14.16

Physiologische Brennwerte (kJ/g) üblicher Nahrungsstoffe

Nahrungsstoff

kJ/g

Nahrungsstoff

kJ/g

Nahrungsstoff

kJ/g

Stärke

17,6

Triacylglycerin

38,9

tierisches Eiweiß

17,2

Glucose

15,5

Stearinsäure

39,8

Glycin

8,8

Äthanol

29,7

Essigsäure

14,7

Leucin

24,7

Kohlenhydrate, Äthanol und Fette werden im Körper vollständig oxidiert (d. h. zu CO2 + H2O abgebaut), wohingegen beim Abbau von Proteinen CO2 + H2O + Harnstoff entsteht. Der Harnstoff wird mit dem Urin ausgeschieden, so dass dem Körper hierdurch Energie verloren geht. Man beachte, dass der Brennwert für Äthanol höher ist als der für Kohlenhydrate. Die unterschiedlichen Brennwerte bedingen, dass die zugeführte Energie von der Menge und der Art der aufgenommenen Nahrung abhängt. Die Energiemenge in 1 l Bier entspricht ungefähr der in 150 g Brot oder in 570 g Kartoffeln (gekocht) oder in 175 g Fleisch (gegart).

Messung des Energiebedarfs Bei der indirekten Kalorimetrie wird der Energieverbrauch aus dem O2-Verbrauch, dem kalorischen Äquivalent (19 – 20 kJ/l O2) und dem respiratorischen Quotienten (0,7 – 1,0) ermittelt. Letzterer entspricht dem Quotienten aus CO2-Abgabe und O2-Verbrauch. Nun können wir zwar den Energiegehalt einer Mahlzeit berechnen, wir wissen jedoch noch nicht, wie hoch der aktuelle Bedarf eines Menschen für einen ausgeglichenen Energiehaushalt ist. Den Energieumsatz eines Menschen kann man mit Hilfe der direkten oder der indirekten Kalorimetrie bestimmen. Das Prinzip der direkten Kalorimetrie beruht auf der Messung der gesamten Wärmeproduktion des Körpers, der Bestimmung der äußeren Arbeit und der Berücksichtigung des Wirkungsgrades. Dieses Verfahren ist technisch äußerst schwierig und außerdem sehr unflexibel. Es wird deshalb nicht verwendet.

Die indirekte Kalorimetrie lässt sich dagegen relativ einfach durchführen. Wie auf Seite 479 geschildert, wird die verwertbare Energie (ATP) im Wesentlichen durch oxidative Phosphorylierung bereitgestellt, d. h. unter Verbrauch von Sauerstoff. Dies gilt für Kohlenhydrate, Fette und Proteine. Außerdem wird der aufgenommene Sauerstoff (= eingeatmeter O2 minus ausgeatmeter O2) im Wesentlichen für oxidative Phosphorylierung verbraucht. Somit ist die Menge an aufgenommenem Sauerstoff ein Maß für den Energieumsatz. Der Sauerstoffverbrauch reagiert sofort auf einen veränderten Energiebedarf. Wie lässt sich nun quantifizieren, wie viel Energie pro aufgenommenem Sauerstoff umgesetzt wird? Zunächst muss die Menge an Sauerstoff bekannt sein, die bei der Oxidation der Nährstoffe verbraucht wird. Da Proteine nur eine geringe Rolle spielen, beschränkt man sich im Wesentlichen auf Glucose und Fettsäuren. Die Reaktionsgleichung für Glucose lautet: Glucose + 6 O2 + 38 ADP + 38 Pi → 6 CO2 + 6 H2O + 38 ATP + Wärme

Für die Oxidation von 1 mol Glucose werden also 6 mol O2 benötigt. Dies entspricht 134 l O2. Dabei entstehen 38 mol ATP mit einem Gesamtenergiegehalt von 1824 kJ sowie 956 kJ Wärme. Bei der Oxidation von Glucose werden also 2780 kJ unter Verwendung von 134 l Sauerstoff verbraucht. Die Aufnahme von 1 l O2 zeigt uns somit den Verbrauch von 20,7 kJ an (2780 kJ/134 l). Diese Größe nennt man kalorisches Äquivalent (KÄ; kJ/l O2). Pro l O2 wurden 13,6 kJ nutzbare Energie „gewonnen“. D. h. der Wirkungsgrad dieser Energieumwandlung beträgt 66 %. Die Oxidation von Glucose ist dadurch gekennzeichnet, dass genau soviel CO2 entsteht wie O2 verbraucht wird. Die Kenngröße CO2-Bildung/O2-Verbrauch nennt man metabolischen respiratorischen Quotienten (RQ). Stellt man bei einem Probanden einen RQ = 1 fest, so kann man davon ausgehen, dass nur Glucose verbrannt wird. Multipliziert man nun den O2-Verbrauch mit dem kalorischen Äquivalent, so erhält man den aktuellen Energieumsatz. Dies ist das Prinzip der indirekten Kalorimetrie, das sich auch auf Fettsäuren anwenden lässt. Die Reaktionsgleichung z. B. für Palmitinsäure lautet: C13H31COOH + 23 O2 + 129 ADP + 129 Pi → 16 CO2 + 16 H2O + 129 ATP + Wärme Für die Oxidation von 1 mol Palmitinsäure werden also 23 mol O2 benötigt. Dies entspricht 514 l O2. Dabei entstehen 129 mol ATP mit einem Gesamtenergiegehalt von 6192 kJ sowie 3766 kJ Wärme. Bei der Oxidation von Palmitinsäure werden also 9958 kJ unter Verwendung von 514 l O2 verbraucht. Das kalorische Äquivalent für Fett beträgt also 19,4 kJ/l O2. Pro l O2 wurden 12,0 kJ nutzbare Energie „gewonnen“. D. h. der Wirkungsgrad dieser Energieumwandlung beträgt 62 % und ist somit etwas weniger effektiv als die Oxidation von Glucose. Der metabolische RQ bei Fettsäureoxidation beträgt 0,7 (16 CO2/23 O2) und unterscheidet sich vom RQ für Glucoseoxidation. Das kalorische Äquivalent für Proteine beträgt ca. 19,3 kJ/l O2 und der RQ für Proteine liegt zwischen 0,8 und 0,85.

Bei kurzfristiger maximaler Leistung mit limitiertem O2Angebot wird Energie überwiegend aus Kohlenhydraten gewonnen. Bei Dauerleistung mit ausreichendem O2-Angebot werden überwiegend Fette verwendet. Unter physiologischen Bedingungen wird die Energie zum Teil aus Kohlenhydraten und aus Fetten bereitgestellt. Soll anhand des O2-Verbrauches der Energieumsatz bestimmt werden, so muss zunächst der RQ bestimmt werden, um daraus das tatsächliche gemischte kalorische Äquivalent zu bestimmen. Dieser kann anhand der Formel KÄ = 4,33 × RQ + 16,37 abgeschätzt werden. Beispiel: Bei einem Probanden werden folgende Werte gemessen: 4,34 % CO2 exspiratorisch, 0,03% CO2 inspiratorisch, 20,89 % O2 inspiratorisch,

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14.14 Regulation der Nahrungsaufnahme 15,80 % O2 exspiratorisch, 8 l/min Atemzeitvolumen. Daraus ergibt sich ein RQ von 4;34% RQ ¼ 20;89%

0;03% 15;80%

¼ 4;31% 5;09% ¼ 0; 847

Das kalorische Äquivalent liegt somit bei ca. 20 kJ/l O2. Der Sauerstoffverbrauch ergibt sich aus: 0,05 l/l × Atemzeitvolumen (8 l/min) = 0,4 l O2/min = 576 l O2/Tag Der tägliche Energieumsatz beträgt somit 576 l O2 × 20 kJ/l O2 = 11520 kJ/d. Beispiel: Wieviel Fett wird bei einem O2-Verbrauch von 0,3 l/min an einem Tag „verbrannt“, wenn Energie nur aus Fettspeichern zur Verfügung gestellt wird? Die „verbrauchte“ Energie ergibt sich aus dem Produkt von O2-Verbrauch (432 l) und dem kalorischen Äquivalent für Fett (19,4 kJ/l O2) und beträgt 8381 kJ. Der Brennwert von Fett beträgt 39,5 kJ/g, so dass an einem Tag 212 g Fett verbrannt würden.

14.14 Regulation der Nahrungsaufnahme Neuronale Netzwerke im Hypothalamus regeln die längerfristige Energiehomöostase dadurch, dass sie Nahrungsaufnahme (Hunger, Appetit) und Energieverbrauch aufeinander abstimmen. Über die Größe der Fettdepots (Energiespeicher) wird der Nucl. arcuatus durch Hormone (Leptin, Insulin) informiert; bei Fetteinlagerung erhöht der Hypothalamus den Energieverbrauch (noradrenerge Entkoppelung der mitochondrialen Oxidation) und vermindert den Appetit. Bei schrumpfenden Fettdepots erhöht sich der Appetit und der Energieumsatz wird gedrosselt. Die Größe der Einzelmahlzeit wird vom Hirnstamm (v. a. Nucl. tractus solitarii) geregelt, der Signale sowohl aus der Peripherie („Sattheitsfaktoren“) als auch von Leptin-gesteuerten Hypothalamusneuronen erhält. Fehlregulation der Energiehomöostase führt zu Fett- oder Magersucht (Adipositas bzw. Anorexie).

Wasser und Salz Die Regulation der Wasser- und Salzhomöostase wird in Kapitel 13 dargestellt.

Energie Die Aufnahme an Energie muss mittel- bis langfristig dem Energieumsatz entsprechen, mit dem Ziel das Körpergewicht auf einem Sollwert („Set-Point“) zu halten. Wodurch dieser Sollwert genau determiniert wird, ist nicht geklärt. Man geht zur Zeit davon aus, dass er zu ca. 70% durch genetische Faktoren (z. B. Leptinempfindlichkeit, s. u.) und zu ca. 30 % durch Umweltfaktoren bestimmt wird. Werden Tiere stark zwangsüberfüttert (positive Energiebilanz) so nehmen sie natürlich an Gewicht zu. Sobald sie jedoch wieder selbstbestimmten Zugang zu Nahrung haben, fällt ihr Körpergewicht auf den Ursprungswert zurück. Durch Diäten (kontrollierte negative Energiebilanz) kann das Körpergewicht reduziert werden. Ist die Diätphase jedoch zu Ende, nähert sich das Körpergewicht bei 95 % der Menschen wieder dem Ursprungsgewicht an. Diese Beispiele gelten als Hinweise für die Existenz eines Sollwertes des Körpergewichtes.

Dieser Sollwert scheint bei Erwachsenen mit dem Alter leicht zu steigen. Es wurde berechnet, dass erwachsene Frauen zwischen dem 25. und 65. Lebensjahr im Mittel 11 kg an Gewicht zunehmen, wobei es sich hierbei hauptsächlich um Fettgewebe handelt. Diese Gewichtszunahme entspricht einem Energiegehalt von 434 500 kJ, d. h. über einen Zeitraum von 40 Jahren hat sich diese positive Energiebilanz eingestellt. Bei einem Körpergewicht von 60 kg im Alter von 25 Jahren ergibt sich ein täglicher Grundumsatz von ca. 6500 kJ. D. h. über die 40 Jahre beträgt die benötigte Energie für Strukturerhaltung und Grundfunktionen ca. 95 000 000 kJ. Die Abweichung der Energieaufnahme über 40 Jahre vom Grundumsatz beträgt also nur + 0,46%. Natürlich können diese Abweichungen im Einzelfall deutlich größer sein und führen dann zu Übergewicht. Diese Berechnung verdeutlicht (a) wie präzise die Energiezufuhr geregelt wird, (b) zeigt jedoch auch, dass selbst kleine Abweichungen von einer ausgeglichenen Energiebilanz das Körpergewicht langfristig stark verändern können. Soll das Köpergewicht langfristig gezielt verändert werden, so ist dies nur durch eine bewusste Veränderung der Nahrungszufuhr (und damit der Energiebilanz), die der unbewussten Regulation entgegenwirkt, zu erreichen. Sinnvollerweise wird diese Maßnahme durch eine Zunahme des Energieverbrauchs (körperliche Tätigkeit) unterstützt. Auch wenn dies langfristig für das Körpergewicht nicht so entscheidend ist, wirkt es sich doch positiv auf andere Parameter aus (wie z. B. Blutfettwerte, Blutdruck, Skelett).

Wie können wir nun die langfristige Energiebilanz eines Menschen beurteilen? Anders formuliert: Wie können wir nun beurteilen ob ein Mensch ein „normales“ bzw. „ideales“ Körpergewicht hat oder an Über- bzw. Unterernährung (= negative bzw. positive Energiebilanz) leidet? Man kann die Frauen, die Rubens gemalt hat, mit den Models von heute vergleichen und sich fragen, wann und zu welcher Zeit welche Körperfülle „normal“ oder „ideal“ war bzw. ist. Medizinisch gesehen wird heute gewöhnlich dasjenige als Idealgewicht bezeichnet, das mit der größten Lebenserwartung korreliert. Unter der Annahme, dass die meisten Änderungen der Körpermasse gleich großer Personen von Änderungen der Fettmasse verursacht sind, ist der sog. Body-Mass-Index (BMI) ein allgemein akzeptiertes Maß für Unter-, Normal- und Übergewicht. Der BMI wird folgendermaßen errechnet: BMI = (Körpermasse [kg])/(Körpergröße [m])2 Dabei gelten folgende BMI-Werte nach der WHO-Klassifikation – 30 beträgt (s. o.). Der Aufbau eines kg Körperfettes entspricht einer Energiezufuhr von ca. 65 000 kJ (unter Berücksichtigung des Wirkungsgrades bei Energieumwandlung). Dies bedeutet, dass eine Erhöhung der Energiezufuhr um 80% des Ruheumsatzes nach ca. 10 Tagen zum Aufbau von 1 kg Fett geführt hat. Sie müssten also zusätzlich (zu den Dingen, die Sie sowieso schon essen) 10 Tage lang, jeden Tag ca. 570 g Käsekuchen oder ca. 290 g Kartoffelchips oder ca. 650 g panierte Schweineschnitzel zu sich nehmen! Fettsucht entwickelt sich langsam und schleichend. Die Zunahme der Fettmasse kann mit einer Zunahme der Adipozytenzahl oder -größe einhergehen. Von einer hyperplastischen Fettsucht spricht man, wenn die Zahl der Adipozyten zunimmt. Dies geschieht meist in den ersten Lebensjahren, in denen auch die Adipozytenzahl für den Rest des Lebens festgelegt wird. Möglicherweise führt die vermehrte Adipozytenzahl zu einem erhöhten Sollwert des Körpergewichts („mehr Leptin für Sattheit“), so dass Diätmaßnahmen besonders schwierig sind. Bei Erwachsenen kommt es zur hypertrophen Fettsucht, die Größe der Adipozyten steigt. Manchmal spielt eine gestörte Fettmobilisierung bei verminderter Aktivität der Hormon-empfindlichen Lipase (S. 479) eine Rolle. In diesem Fall wirkt sich körperliche Aktivität besonders günstig aus, da sie diese Lipase stimuliert (über βAdrenozeptoren). Aber auch bei anderen Formen der Fettsucht wirkt sich körperliche Aktivität positiv auf die Stoffwechsellage aus. Entscheidend ist jedoch eine adäquate Ernährung. Liegen bei einem adipösen Menschen gleichzeitig noch ein Diabetes mellitus Typ 2, eine Hypertonie, erhöhte Harnsäurewerte (Hyperurikämie) und ein gestörtes Muster der Blutfette (erhöhte Triacylglycerine, vermindertes HDL-Cholesterin) vor, so sprechen wir von einem metabolischen Syndrom. Hierbei ist das Risiko, an einem Myokardinfarkt zu sterben, stark erhöht. Gewichtsreduktion und körperliche Aktivität führen zu einem Rückgang aller Symptome.

Unterernährung Unterernährung führt zur Mobilisierung von Energie aus Speichern (S. 478). Die Glykogenvorräte reichen für ca. 1,5 Tage, die Fettvorräte (bei Normalgewicht) für ca. 2 Monate und die nutzbaren Proteine für ca. 10 Tage. Die aus Proteinen gewonnenen Aminosäuren werden durch Glukoneogenese zu Glucose umgewandelt. Somit wäre bzgl. der Energievorräte eine Überleben für 2,5 Monate ohne Nahrungszufuhr möglich. Allerdings macht sich ein Mangel an Vitaminen und anderen essenziellen Nahrungsbestandteilen bereits nach ca. 2 Wochen bemerkbar. Bei der Fettoxidation entstehen als Nebenprodukte Ketonkörper (Acetacetat, β-Hydroxybutyrat, Aceton), die auch ins Blut abgegeben werden und dort den pH-Wert senken (Ketoazidose). Diese Ketonkörper können vom ZNS als Energielieferanten genutzt werden. Wenn die Nahrungsaufnahme willentlich eingeschränkt wird und sich für längere Zeit eine negative Energiebilanz entwickelt, spricht man vom Fasten. Zunächst wird der Energiebedarf durch Glykogenolyse gedeckt. Anschließend folgt eine Phase des raschen Verbrauchs leicht mobilisierbarer Proteine für die Glukoneogenese. Schließlich wird die Energie hauptsächlich aus der Lipolyse gewonnen und der Proteinabbau verlangsamt sich. Erst wenn die Fettspeicher aufgebraucht sind, werden Proteine wieder vermehrt abgebaut, sozusagen ale letzter Rettungsanker. Die Abnahme der Katecholamin- und T3,T4-Sekretion führt zu einer Reduktion des Grundumsatzes, so dass der Gewichtsverlust sich verlangsamt. Dem Fasten verwandt ist die medizinisch bedeutsame Anorexia nervosa (Magersucht). Bei dieser vorwiegend psychosomatischen Krankheit, die hauptsächlich bei jungen Frauen zu beobachten ist, wird die Nahrungsaufnahme abgelehnt, und/oder in Massen Gegessenes wird wieder erbrochen (Bulimia nervosa), so dass auch in diesem Fall die Symptome eines langdauernden Fastens entstehen. Zusätzlich zum Gewichtsverlust und der Ketose zeigen diese Patientinnen eine hypothalamische Fehlfunktion mit einer allgemeinen Unterfunktion der Hypophyse, die einen verminderten Energieumsatz, Amenorrhö und anderes beinhaltet. Offenbar wird in diesem Fall der „Schaltpunkt“ der Rückkopplungsfunktionen, die das Körpergewicht bestimmen, verändert, doch sind die Mechanismen, die dieser Störung zugrunde liegen, noch weitgehend unbekannt. Neuere Untersuchungen deuten darauf hin, dass die serotonerge Stimulation des Ncl. arcuatus pathologisch erhöht ist.

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Literatur

Zum Weiterlesen … 1 Alberts B, Bray D, Lewis J, Raff M, Roberts K, Watson JD. Molecular Biology of the Cell. 3rd ed. New York: Garland; 1994 2 Boron WF, Boulpaep EL. Medical Physiology. 1st ed. Philadelphia: Saunders; 2003 3 Ganong WF. Review of Medical Physiology. 17th ed. Engelwood Cliffs: Prentice Hall Int.; 1995 4 Greger R, Windhorst U. Comprehensive Human Physiology. Vol. 2. 1st ed. Berlin: Springer; 1996 5 Silbernagl S, Lang F. Taschenatlas der Pathophysiologie. Stuttgart : Thieme; 1998 6 Dixon M, Webb EC. Enzymes. 3rd ed. New York: Academic Press; 1979 7 Forte JG. Handbook of Physiology. The Gastrointestinal System. Washington: American Physiological Society; 1989 8 Johnson L, Christensen J, Jackson M, Jacobson E, Walsh J. Physiology of the Gastrointestinal Tract. Vol. 1 and 2, 3rd ed. New York: Raven Press; 1994 9 Farrugia G. Ionic conductances in gastrointestinal smooth muscles and interstitial cells of cajal. Annu Rev Physiol. 1999; 61: 45 – 84 10 Kunze WAA, Furness JB. The enteric nervous system and regulation of intestinal motility. Annu Rev Physiol. 1999; 61: 117 – 142

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491

493

Temperaturregulation und Wärmehaushalt M. Gekle, D. Singer, C. Jessen

15.1 Warum Temperaturregulation? 15.2 Was heißt Konstanz der Köpertemperatur? 15.3 Wärmebildung

···

···

· ··

494

494

495

15.4 Wärmetransfer im Körper

· ··

15.7 Physiologie und Umwelt

· ·· 503 Angenehmes Raumklima ··· 503 Ein Sauna-Besuch · ·· 503 Körperliche Arbeit/Training ··· 503 Neugeborene ··· 503 Alte Menschen · · · 504 Akklimatisation · · · 505

496

15.8 Hyperthermie, Hypothermie und Fieber 15.5 Wärmeaustausch mit der Umwelt

···

496

Wärmeleitung · · · 496 Wärmeströmung · · · 497 Wärmestrahlung · · · 497 Verdunstung · · · 498

· ··

505

„Gefahr von Außen“ · · · 505 „Gefahr von Innen“ ··· 506

15.6 Aktive Regulation

· ·· 499 Thermosensoren · · · 500 Regulationszentrum ··· 501 Effektoren ··· 502 Zusammenspiel der thermoregulatorischen Mechanismen · ·· 502

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494

15 Temperaturregulation und Wärmehaushalt Eine konstante Körpertemperatur setzt ein Gleichgewicht von Wärmebildung und Wärmeabgabe voraus. Unter Ruhebedingungen erfolgt die Wärmebildung vornehmlich im Körperkern; mit dem Blut wird die Wärme zur Haut transportiert (innere Wärmeübertragung), von wo aus die Wärmeabgabe an die Umgebung stattfindet. Wenn innere oder äußere Störungen eine dieser beiden Größen verändern, wird die andere so nachgeführt, dass sich ein neues Gleichgewicht einstellt.

15.1

Warum Temperaturregulation?

Die Körpertemperatur stellt im klinischen Alltag eine der am häufigsten erhobenen Messgrößen dar. Ein entzündlich bedingter Temperaturanstieg (Fieber) gilt als Symptom und Verlaufsparameter zahlreicher mikrobiell oder autoimmunologisch bedingter Erkrankungen. Der bei Unfällen (Schiffbruch, Lawinen) drohende Abfall der Körpertemperatur (akzidentelle Hypothermie) kann durch die anfängliche Gegenwehr des Organismus und die anschließende Drosselung aller Lebensvorgänge zu schwerwiegenden Komplikationen führen. Andererseits erhöht eine unter Narkose vorgenommene Abkühlung (induzierte Hypothermie) die Toleranz gegenüber Sauerstoffmangel und erlaubt dadurch operative Eingriffe mit vorübergehender Unterbrechung der Durchblutung an Herz und Gehirn.

36° 37°

32°

37°

28°

34°

31°

20°C

Lufttemperatur

30°C

Abb.15.1 Temperaturfeld des Körpers. Nur der Kern ist im eigentlichen Sinn homöotherm, da seine Temperatur bei mäßigen Änderungen der Lufttemperatur konstant bleibt. Demgegenüber bilden sich bei Kältebelastung in den peripheren Schichten radiale und axiale Gradienten aus, so dass sich eine isolierende Schale von variabler Dicke ergibt (nach 2).

Aus physiologischer Sicht stellt die autonome Regulation der Körpertemperatur (Homöothermie) einen zentralen Aspekt der Homöostase dar. Die Geschwindigkeit chemischer Reaktionen und damit letztendlich alle Vorgänge in unserem Körper hängen von der Temperatur ab. Nach dem van’t Hoffschen Gesetz oder der sog. Reaktions-Geschwindigkeit-Temperatur-(RGT-)Regel variiert die Reaktionsgeschwindigkeit pro 10 C Temperaturänderung um den Faktor 2,0 – 2,5 (sog. Q10-Wert). Im Gegensatz zu „wechselwarmen“ (poikilothermen) Organismen, deren Körpertemperatur weitgehend von den Umweltbedingungen abhängt, vermögen „gleichwarme“ (homöotherme) Lebewesen (Säugetiere, Vögel) eine konstant hohe „Betriebstemperatur“ aufrecht zu erhalten und sind dadurch unabhängiger von der Umgebung und deren Temperaturschwankungen. Dies setzt ein Gleichgewicht von Wärmebildung und Wärmeabgabe (Kap. 15.2 – 15.5) voraus, welches durch komplexe Mechanismen (Kap. 15.6) reguliert wird. Die biomedizinische Bedeutung dieser Regulation ist in Kap. 15.7 und 15.8 dargestellt.

15.2

Was heißt Konstanz der Körpertemperatur?

Wenn wir von „Konstanz“ der Körpertemperatur sprechen, so meinen wir damit vor allem die Temperatur der inneren Organe („Körperkern“); dagegen kommen in den peripheren Geweben („Körperschale“) größere Temperaturschwankungen vor. Diese Begriffe kennzeichnen das Temperaturfeld des Körpers. Der Kern besteht aus dem Gehirn und dem Inneren des Rumpfes. Hier befinden sich stoffwechselintensive Organe, in denen unter Ruhebedingungen etwa 70% der gesamten Wärme erzeugt werden. Wie Abb. 15.1 zeigt, ist eigentlich nur der Kern homöotherm. Seine Temperatur bleibt konstant, wenn die Umgebungsbedingungen sich von einer milden Wärmebelastung zu einer leichten Kältebelastung oder umgekehrt ändern. Demgegenüber nähert sich die Temperatur der Schale von ihren kernnahen Schichten nach außen immer mehr der Umgebungstemperatur an. Bei hoher Umgebungstemperatur ist die Schale dünn, so dass sich die 37 C-Isotherme bis in die distalen Extremitäten erstreckt. Bei niedriger Umgebungstemperatur wird die Schale dicker, so dass sich jetzt neben radialen auch axiale Temperaturgradienten im Inneren der Extremitäten aufbauen und Arme und Beine vom Körperkern „thermisch abgekoppelt“ werden (isolierende Schale, Abb. 15.1). In angenehmer Umgebung liegt die mittlere Hauttemperatur bei 32 – 34 C; dies gilt übrigens auch für die Testes, die wegen der Temperaturempfindlichkeit der Spermatogenese (vgl. S. 566) mit dem Scrotum nach außen verlagert sind und damit zur Körperschale gehören. Die Variationen der Körperschalentemperatur sind durch Veränderungen der Durchblutung bedingt (s. u.). So wird bei Kälteexposition die periphere Durchblutung gedrosselt und damit die Abkühlung zunächst auf die Körperperipherie beschränkt (Isolationseffekt). Allerdings geht dem Körper dennoch Wärme verloren,

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15.3 Wärmebildung Tabelle 15.1 Körpertemperaturbereiche und ihre Konsequenzen (Die Abweichungen von der Normothermie werden v. a. in Kap.15.7 und 15.8 besprochen.) Konsequenz

> 44 C

Denaturierung von Eiweißen, „Hitzetod“

40 – 44 C

Versagen der Thermoregulation, Hitzeschlag, Krämpfe

38 – 40 C

Fieber, Hyperthermie

36 – 38 C

Normothermie

33 – 36 C

Milde Hypothermie, Kältezittern, Stoffwechselsteigerung

30 – 33 C

Stoffwechselsenkung, Atemdepression, Bewusstseinstrübung

27 – 30 C

Tiefe Hypothermie, Versagen der Thermoregulation, Kammerflimmern

20 – 27 C

„Scheintod“, lichtstarre Pupillen, extreme Bradykardie

< 20 C

Asystolie, „Kältetod“

so dass, wenn die Vasokonstriktion plötzlich aufgehoben wird (beispielsweise durch Narkoseeinleitung nach längerer Wartezeit in einem kühlen OP-Vorbereitungsraum), der Wärmeverlust auf den Körperkern „durchschlagen“ kann (sog. Umverteilungshypothermie). Auch die Kerntemperatur ist räumlich nicht so gleichmäßig, wie in Abb. 15.1 dargestellt. Für praktische Zwecke genügt jedoch ein repräsentativer Wert, der näherungsweise durch Messung der rektalen, sublingualen oder – nach längerem „Anlegen“ des Oberarmes – axillären Temperatur bestimmt werden kann. Die besonders in der Pädiatrie zunehmend beliebte Tympanal-(Trommelfell-)Temperatur weicht im Allgemeinen nur wenig von der Rektaltemperatur ab, jedoch können sich wegen der übungsbedürftigen Infrarot-Technologie gerade bei sehr kleinen Kindern erhebliche Messfehler ergeben. Für ein kontinuierliches Monitoring, beispielsweise in der Chirurgie oder Intensivmedizin, sind außerdem die Ösophagus- und die Harnblasentemperatur gebräuchlich. Die Körperkerntemperatur wird oftmals mit 37 C angegeben. Doch wie konstant ist die Temperatur unter physiologischen Bedingungen? 95 % der Bevölkerung haben eine orale Temperatur zwischen 36,3 – 37,1 C (morgens gemessen), d. h. es gibt interindividuelle Schwankungen. Die Körpertemperatur schwankt außerdem mit der Tageszeit und ist abends um ca. 0,5 – 0,7 C höher als morgens (zirkadiane Schwankungen, abgestimmt auf den Hell-Dunkel/Schlaf-Wach-Rhythmus, Abb. 15.2). Ein weiterer Einflussfaktor ist der Menstruationszyklus. Kurz nach dem Eisprung steigt die morgens unter Ruhebedingungen gemessene Basaltemperatur um ca. 0,5 C und bleibt bis zur nächsten Menstruation erhöht (Abb. 15.2). Bei starker körperlicher Aktivität kann die Temperatur kurzfristig auf bis zu 40 C steigen oder auch auf bis zu

Schlaf

nach der Ovulation

vor der Ovulation

37,0 Körperkerntemperatur

Temperatur

°C 37,5

36,5

36,0 12

oo

18

oo

24

oo

6

oo

12

oo

Tageszeit

Abb.15.2 Tagesgang der Körperkerntemperatur unter thermoneutralen Bedingungen als Ausdruck einer endogenen tagesrhythmischen Sollwertverstellung. Der Tagesgang an sich ist unabhängig von Alter und Geschlecht. Bei Frauen tritt eine weitere Form der Sollwertverstellung auf: Unter der Wirkung des Progesterons wird die Kerntemperatur in der zweiten Hälfte des Menstruationszyklus auf einem etwa 0,4 C höheren Niveau geregelt (nach 23).

35 C sinken (Schwimmen in kaltem Wasser). Schließlich können auch Emotionen zu Temperaturänderungen führen. Die Konstanz der Körpertemperatur wird also relativiert durch erhebliche physiologische Schwankungen sowohl in der räumlichen Verteilung als auch im Zeitverlauf. Werden die dadurch festgelegten Toleranzgrenzen bei Störungen der Wärmebilanz (Kap. 15.5 und 15.8) über- oder unterschritten, kommt es zu pathologischer Überwärmung (Hyperthermie) oder Unterkühlung (Hypothermie), wie in Tab. 15.1 dargestellt.

15.3

Wärmebildung

Konstanz der Körpertemperatur ist dann gegeben, wenn die Wärmeabgabe der Wärmebildung entspricht. Wie in Kapitel 14 (S. 477) dargelegt, ist die Wärmebildung eine Funktion des Energieumsatzes, dessen Wirkungsgrad ≤ 25 % ist. Die Thermoneutralzone (Abb. 15.3) ist als derjenige Bereich der Umgebungstemperatur definiert,

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495

15 Temperaturregulation und Wärmehaushalt Atmung sowie der Sekretion von Thyroxin und Adrenalin ab. In Ruhe entspricht die Wärmebildung ungefähr dem Ruheumsatz, der bei einer 70 kg schweren Person ca. 80 W beträgt (1 W = 1 J/s = 3600 J/h = 3,6 kJ/h).

(thermoneutrale Zone)

W/m

2

200

Wärmeproduktion

100

Wärmeabgabe durch Verdunstung 0

Bei Dauerleistungen ist eine Wärmeproduktion von ca. 700 W möglich. Wäre unter diesen Bedingungen keine Wärmeabgabe möglich, würde die Temperatur um ca. 1 – 2 C pro 10 Minuten ansteigen, bis ca. 40 C erreicht sind. Danach würde die Dauerleistung, wie auch andere Körperfunktionen, nachlassen. Wie man aus eigener Erfahrung weiß, tritt dieser Fall in der Regel nicht ein, da die Wärmeabgabe ansteigt, um die Temperatur auf einem neuen „steady-state“ (der allerdings etwas höher liegt) konstant zu halten (dieser Prozess ist Teil der Thermoregulation, siehe Kap. 15.7).

40 Kerntemperatur

Körpertemperatur (°C)

496

15.4

35

30

mittlere Hauttemperatur

25

20

Fingertemperatur

15 15

20

25

30

35

40

°C

Lufttemperatur

Abb.15.3 Wärmeproduktion und Wärmeabgabe durch Verdunstung bzw. Kern- und Hauttemperaturen bei verschiedenen Lufttemperaturen. Bitte beachten Sie, dass in diesem Fall Wärmeproduktion und Wärmeabgabe durch Verdunstung nur bei einer Lufttemperatur von etwa 31 C minimal waren! Das liegt wahrscheinlich daran, dass die Versuche bei einer Windgeschwindigkeit von 2 m/s und deshalb bereits bei erhöhter konvektiver Wärmeabgabe (Abb.15.6, S. 498) durchgeführt wurden. In ruhender Luft ergibt sich im Allgemeinen ein Bereich von etwa 4 – 5 C (thermoneutrale Zone), in dem kurz- bis mittelfristig weder Kältezittern noch Schwitzen auftreten und der Ausgleich der Wärmebilanz allein über Änderungen der Schalendurchblutung erfolgt (nach 13).

in dem die Gesamtwärmebilanz ohne zusätzlichen thermoregulatorischen Energieaufwand (d. h. mit minimaler Wärmeproduktion und Wärmeabgabe) aufrechterhalten werden kann; sie liegt beim unbekleideten Erwachsenen bei 28 – 30 C. Davon zu unterscheiden ist der „Interthreshold Range“, der den Bereich der Körperkerntemperatur angibt, in dem die Thermoregulation allein durch Variation der Hautdurchblutung (d. h. ohne Aktivierung von Kältezittern oder Schweißproduktion) erfolgt; er beträgt lediglich ± 0,1 C des aktuellen Sollwertes, was die „scharfe“ Einstellung der Körperkerntemperatur unterstreicht. Die Wärmebildung hängt z. B. vom spezifisch-dynamischen Effekt nach Nahrungsaufnahme („Schwitzen beim Essen“), der Aktivität von Skelettmuskulatur, Herz und

Wärmetransfer im Körper

Unter Ruhebedingungen ist die Temperatur in der Körperperipherie (z. B. Skelettmuskel, 33 – 35 C) niedriger als im Kern (s. o.). Unter diesen Bedingungen wird Wärme vom Körperkern durch das Blut in die Peripherie übertragen. Diese Art des Transfers nennt man Konvektion. Bei schwerer körperlicher Arbeit kann sich die Muskulatur über 37 C erwärmen und damit Wärme sowohl zum Körperkern hin als auch nach außen abgeben. Eine Möglichkeit der Wärmeabgabe zur Haut hin besteht in der Wärmeleitung durch das Gewebe. Der zweite, quantitativ wichtigere Weg ist der konvektive Transport über das Blut. Die Abgabe der Wärme aus dem Körper wird dadurch ermöglicht, dass sie durch Konvektion in die Haut und Lunge gelangt, zwei Organe mit Kontakt zur Umwelt und großer Oberfläche. Dieser Mechanismus wird dadurch verstärkt, dass die Muskeldurchblutung steigt (der Gefäßwiderstand sinkt) und das Herzzeitvolumen zunimmt. Mit dem Blutstrom gelangt Wärme natürlich auch in den Körperkern, so dass die Temperatur dort ebenfalls ansteigt. Zugleich kommt es jedoch durch Vasodilatation zu einer vermehrten Hautdurchblutung, während sonst das in die Extremitäten einströmende arterielle Blut überwiegend über die unmittelbar benachbarten Venen (Begleitvenen, Vv. concomitantes) zum Körperkern zurückgeleitet und dadurch periphere Wärmeverluste gering gehalten werden (Wärmerückgewinnung im Gegenstrom). Der über einen weiten Bereich regulierbare Wärmetransfer zur Haut (= Hautdurchblutung) ist deshalb einer der wichtigsten Schutzmechanismen gegen Überwärmung oder Unterkühlung (Abb. 15.4).

15.5

Wärmeaustausch mit der Umwelt

Der wichtigste Ort des Wärmeaustauschs mit der Umgebung ist die Haut. Zusätzlich wird Wärme über die Lunge/Atemwege abgegeben. Wärmeabgabe geschieht durch vier physikalische Mechanismen: Leitung, Strömung, Strahlung und Verdunstung.

Wärmeleitung Leitung (Konduktion) bezeichnet den Wärmetransport innerhalb eines unbewegten Mediums (z. B. entlang des Griffes einer Suppenkelle) oder durch unmittelbaren Kon-

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15.5 Wärmeaustausch mit der Umwelt 2 Wärmebelastung

1 Kältebelastung niedrige Durchblutung

30° 37°

hohe Durchblutung venöser Rückstrom über oberflächliche Venen: erhöhte Wärmeabgabe an die Haut

Arterie

28° 35° tiefe Venen oberflächliche Venen

26° 33° 24° 31°

38°

32° 38°

venöser Rückstrom über tiefe Venen: Gegenstromwärmeaustausch

33°

34°

22° 29°

38°

Bein 35°

A-V-Anastomosen geschlossen Zehen

Abb.15.4 Wärmestrom in den Extremitäten. Bei Kältebelastung (1) ist die Durchblutung niedrig und der venöse Rückstrom erfolgt über tiefe Venen, die den Arterien eng anliegen, was an jeder Stelle einen Wärmeübergang von Arterie zur Vene ermöglicht. Das venöse Blut führt also einen Teil der Wärme des arteriellen Blutes im Kurzschluss in den

takt zwischen verschiedenen Medien (z. B. von der Handfläche auf die Tischplatte). Sie folgt grundsätzlich dem Diffusionsgesetz (S. 21) und ist damit dem Temperaturgradienten sowie der Kontaktfläche proportional. Darüber hinaus wird sie maßgeblich von der Wärmeleitfähigkeit (Konduktivität) der Transportmedien beeinflusst (Edelstahl hat eine höhere Wärmeleitfähigkeit als Styropor und „fühlt sich daher kühler an“). Da die Konduktivität von Wasser etwa 25mal so hoch ist wie die von Luft, besteht im Wasser ein entsprechend höheres Unterkühlungsrisiko.

Wärmeströmung Wärmeübertragung durch Strömung (Konvektion) geschieht dann, wenn sich das Medium, in dem wir uns befinden (Luft oder Wasser), relativ zum Körper bewegt und damit an unserem Körper vorbeiströmt (Abb. 15.5). Ähnlich wie für die Konduktion gilt für die Konvektion folgende Gesetzmäßigkeit: Konvektive Wärmeübertragung (kJ · h–1) = WärmetransferkoeffizientKonvektion (kJ · m–2 · h–1 · C–1) × Temperaturdifferenz ( C) × Austauschfläche (m2) Dabei steigt der WärmetransferkoeffizientKonvektion mit zunehmender Strömungsgeschwindigkeit deutlich an (Abb. 15.6): Je

A-V-Anastomosen geöffnet: erhöhte Durchblutung

Rumpf zurück. Bei Wärmebelastung (2) ist die Hautdurchblutung hoch (unter anderem, weil jetzt die arteriovenösen Anastomosen in den Akren geöffnet sind), und der venöse Rückstrom erfolgt über oberflächliche Venen. Damit nehmen auch die proximalen Abschnitte der Extremitäten an der Wärmeabgabe nach außen teil (dicke rote Pfeile).

schneller die Luft an uns vorbeiströmt, desto mehr Wärme wird dem Körper – bei gleicher Lufttemperatur – entzogen. Dadurch sinkt die Hauttemperatur und wir empfinden die Umgebung kühler („gefühlte Temperatur“, „Wind-Chill-Faktor“). Allerdings findet auch bei Windstille Konvektion statt, indem erwärmte Luft (in stehender oder sitzender Position) an der Körperoberfläche entlang nach oben steigt (Abb. 15.5).

Wärmestrahlung Haben zwei Objekte unterschiedliche Temperatur, so wird Wärme vom wärmeren auf das kältere durch Strahlung (Radiation) übertragen (Abb. 15.7, S. 499). Sie bewirkt z. B. die wärmende Wirkung von Sonnenstrahlen an einem kalten Wintertag oder die kühlende Wirkung einer kalten Wand in relativ warmer Umgebung. Dies geschieht auch über große Entfernungen, ohne Vermittlung von Materie und unabhängig von der Temperatur zwischen den Objekten (Wärmetransport durch Sonnenstrahlung im Weltraum!). Der Wärmetransfer durch die Sonnenstrahlung auf unseren Körper kann erheblich größer sein als die Wärmeproduktion durch den Ruheumsatz. Wie Konduktion und Konvektion folgt auch die Radiation einem Temperaturgradienten, jedoch gehen hier die vierten Potenzen der absoluten Temperaturen (in Kelvin) ein:

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497

15 Temperaturregulation und Wärmehaushalt 40

konvektive Wärmeübergangszahl –1 –2 (W·m · °C )

498

20 frische Brise

0 0

C im Sitzen A im Stehen

B im Liegen

Abb.15.5 Konvektive Wärmeabgabe bei Windgeschwindigkeit Null. Die der Haut anliegende Luft übernimmt durch Leitung Wärme aus der Haut und steigt auf. Im Stehen (und z. T. im Sitzen) verläuft die Strömung parallel zur Längsachse des Körpers, so dass sich hier ein einerseits wärmeabführender, andererseits aber auch isolierender Luftmantel ergibt, dessen Dicke zum Kopf hin zunimmt. Im Liegen ist die Wärmeabgabe dementsprechend größer (nach 2).

Strahlung (kJ · h–1) ∼ (Temperatur14 – Temperatur24) × Austauschfläche Daher können schon relativ geringe Temperaturunterschiede zu einer wirksamen radiativen Wärmeabgabe („Wandkälte“ in beheizten Räumen) oder Wärmeaufnahme (Kachelofen) führen. Schon im Thermoneutralbereich (Abb. 15.3, S. 496) erfolgt ca. 60 % der Wärmeabgabe durch Strahlung. Da im physiologischen Bereich die Temperaturdifferenzen klein sind, kann die Wärmeabgabe durch Strahlung mit einer ähnlichen Formel wie bei der Konvektion abgeschätzt werden: Strahlung (kJ · h–1) = WärmetransferkoeffizientStrahlung (kJ · m–2 · h–1 · C–1) × Temperaturdifferenz ( C) × Austauschfläche (m2) Die Wellenlänge der Wärmestrahlung liegt im Infrarotbereich. Diese Tatsache machen sich Infrarotkameras zunutze, mit denen Personen auch in der Dunkelheit „gesehen“ werden können.

Verdunstung Wegen der hohen „spezifischen Verdampfungsenthalpie“ von Wasser (Frieren beim Ausstieg aus dem Schwimmbecken!) stellt die Verdunstung (Evaporation) einen außerordentlich wichtigen Mechanismus der Wärmeabgabe dar. Sie gewinnt mit zunehmender Wärmeproduktion an Bedeutung (Abb. 15.3, S. 496): In Ruhe werden unmerklich ca. 20 – 50 ml/h Wasser, entsprechend einer Wärmemenge von ca. 14 – 35 W, über die Atemwege und die Haut abgegeben (Perspiratio insensibilis); bei starker körperlicher Belastung erfolgt nahezu die gesamte Wärme-

stürmischer Wind

10

Windgeschwindigkeit (m/s)

20

Abb.15.6 Konvektive Wärmeabgabe als Funktion der Windgeschwindigkeit. Die Wärmeabgabe (W/m2) pro Grad Temperaturdifferenz zwischen Haut und Luft steigt mit der Windgeschwindigkeit. Man kann trotz Sonnenschein und angenehmer Lufttemperatur frieren, wenn ein Wind entsprechender Stärke weht! Eine gleichartige Abhängigkeit von der Windgeschwindigkeit besteht für die Wärmeabgabe durch Schweißverdunstung.

abgabe durch Verdunstung von sezerniertem Schweiß. Bei der Verdunstung von 1 g Wasser werden 2,5 kJ Wärme verbraucht. Da die maximale Schweißproduktion eines Erwachsenen bei ca. 2 kg/h liegt (sie kann nach Akklimatisierung auf 4 kg/h ansteigen), beträgt die maximale Wärmeabgabe theoretisch ca. 5000 kJ/h (∼ 1400 W). Allerdings muss berücksichtigt werden, dass unter diesen Bedingungen ein Teil des Schweißes abtropft und nicht zu Verdunstung beiträgt. Im Unterschied zu den übrigen Mechanismen des Wärmetransportes hängt die Verdunstung (Evaporation) nicht von der Temperatur-, sondern von der Wasserdampfdruckdifferenz zwischen Haut und Umgebung ab (Abb. 15.8): Wärmeübertragung durch Verdunstung (kJ · h–1) = WärmetransferkoeffizientVerdunstung (kJ · m–2 · h–1 · kPa) × Wasserdampfdruckdifferenz (kPa) × Austauschfläche (m2) Dies führt dazu, dass durch Evaporation auch noch Wärme abgegeben werden kann, wenn die Umgebungstemperatur über der Körpertemperatur liegt, solange nur der Wasserdampfdruck niedriger ist als an der Körperoberfläche (trockenes Wüstenklima). Umgekehrt kann schon bei Umgebungstemperaturen unterhalb der Körpertemperatur die Wärmeabgabe erschwert sein, wenn der Wasserdampfdruck sehr hoch ist (schwüles Urwaldklima). Wie bei der Konvektion steigt der WärmetransferkoeffizientVerdunstung mit der Strömungsgeschwindigkeit der umgebenden Luft, da diese dafür sorgt, dass der Wasserdampf von der Hautoberfläche entfernt wird.

Der menschliche Körper besitzt mehr als 106 Schweißdrüsen, die in Endstücke und Ausführungsgänge unterteilt werden. In den Endstücken wird Plasma-isotoner Primärschweiß durch NaCl-Sekretion, gefolgt von H2OSekretion, gebildet. Dieser Vorgang funktioniert im Prinzip wie die Bildung von Primärspeichel (S. 423). In den Ausführungsgängen wird das NaCl z. T. wieder resorbiert, und es entsteht hypotoner Schweiß. Voraussetzung für die Schweißproduktion ist ein ausreichender Wasserbe-

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Wärmeproduktion (W)

Wärmeproduktion des Körpers 70

70

trockene Wärmeabgabe 0

0

19

28

37

8

Wasserdampfdruck (kPa)

140

140

trockene Wärmeabgabe (W)

15.6 Aktive Regulation schweißbedeckte Haut, 37 °C

keine Wärmeabgabe durch Verdunstung möglich 6,3 kPa

6

100% 4

relative Feuchte der Luft

30%

2

°C

0

Umgebungstemperatur

Abb.15.7 Trockene Wärmeabgabe eines 37 C warmen Gegenstandes durch Strahlung, Leitung und Konvektion (rote Gerade) als Funktion der Umgebungstemperatur. Die Wärmeproduktion dieses thermisch idealisierten Körpers beträgt 70 W (orange Gerade) und steht damit nur bei einer Umgebungstemperatur von 28 C in einem passiven Gleichgewicht mit der trockenen Wärmeabgabe. Um das thermische Gleichgewicht auch in einem erweiterten Umgebungstemperaturbereich erhalten zu können, bedarf es zusätzlicher Mechanismen; sie stehen dem lebenden Homoiothermen zur Verfügung. Wenn die Temperatur des Körpers (37 C) auch bei Umgebungstemperaturen über 28 C nicht ansteigen soll, muss das Defizit der trockenen Wärmeabgabe (rote Fläche) durch Verdunstungskühlung ausgeglichen werden, während unterhalb einer Umgebungstemperatur von 28 C die Wärmeproduktion um den Betrag der blauen Fläche steigen muss, um ein Absinken der Körpertemperatur zu verhindern.

stand des Organismus; Dehydratation führt durch die resultierende Hypovolämie zu einer Abnahme der Hautdurchblutung und somit zu verminderter Schweißproduktion. Dies beeinträchtigt den evaporativen Wärmeabstrom. Die Regulation der Schweißproduktion findet überwiegend am Endstück statt. Der wichtigste Mechanismus ist die sympathisch-cholinerge Innervation. Acetylcholin führt über muskarinerge Cholinozeptoren zur Erhöhung der zytosolischen Ca2+Konzentration und damit zur Sekretion von Cl– (Kap. 14.3). βAdrenozeptoragonisten scheinen die Schweißproduktion auch zu stimulieren. Jedoch ist ihr Beitrag beim Menschen wesentlich geringer als der von Acetylcholin. Die Resorption wird durch einen apikalen Na+-Kanal (ENaC, S. 23) und einen apikalen Cl–Kanal (CFTR, Kap. 14.7) vermittelt. Die NaCl-Konzentration im Schweiß ist kleiner als die im Blut und beträgt normalerweise ca. 20 – 100 mmol/l, während die K+- und H+-Konzentration etwas höher ist als im Blut. Aldosteron führt über Stimulation des ENaC zu einer weiteren Absenkung der NaCl-Konzentration auf ca. 10 mmol/l. Auch im Rahmen der Hitzeakklimatisation (s. u.) sinkt der Salzgehalt des Schweißes, wodurch übermäßiger Salzverlust vermieden wird. Bei Lebewesen mit geringer oder fehlender Schweißdrüsen-Ausstattung erfolgt die evaporative Wärmeabgabe durch Hecheln; dabei wird die durch die Nase eingeatmete Luft umgehend durch das geöffnete Maul wieder ausgeatmet und so – ohne alveoläre Hyperventilation – eine maximale Flüssigkeitsverdunstung von den Schleimhäuten erzielt.

Bei Patienten mit Zystischer Fibrose (Mukoviszidose) ist die NaCl-Resorption in den Ausführungsgängen beeinträchtigt, da der CFTR-Kanal defekt ist. Sie sezer-

20

30

40

50

60 °C

Lufttemperatur

Abb.15.8 Wasserdampfdruck der Luft in Abhängigkeit von Temperatur und relativer Feuchte. Wärmeabgabe durch Verdunstung setzt voraus, dass der Wasserdampfdruck in der umgebenden Luft (blaugrüne Kurven) niedriger ist als auf der schweißbedeckten Haut, wo er bei 37 C Hauttemperatur 6,3 kPa beträgt (orange Linie). Deshalb geht die Wärmeabgabe in wasserdampfgesättigter Luft (100% relative Feuchte) bei einer Lufttemperatur von 37 C gegen Null (die blaugrüne 100%-Kurve schneidet die orange Linie), während relativ trockene Luft auch noch bei einer Lufttemperatur von 50 C eine erhebliche Wärmeabgabe möglich macht (die blaugrüne 30%-Kurve liegt bei 50 C deutlich unterhalb der orangen Linie).

nieren einen „salzigen“ Schweiß („salty babies“). Dieses Symptom ist so zuverlässig, dass die Bestimmung des Salzgehaltes im Schweiß (Schweißtest) ein wichtiges Werkzeug für die Diagnose dieser Erkrankung darstellt. Bei körperlicher Belastung verlieren diese Patienten über den Schweiß Wasser und Salz, wodurch es zu isotoner Dehydrierung kommen kann, im Gegensatz zur hypertonen Dehydrierung bei Gesunden. Gegenregulationsmechanismen wie Durstgefühl und ADH-Ausschüttung fallen dadurch schwächer aus. Nehmen diese Patienten nun reines Wasser zu sich, kann es zur hypotonen Dehydrierung kommen. Die Gesamtwärmebilanz des Körpers lautet also im steady state: Wärmebildung – L – K – S – V = 0 (L = Leitung, K = Konvektion, S = Strahlung, V = Verdunstung). Ist die Summe > 0, steigt die Körperkerntemperatur an (Wärmespeicherung). Unter Berücksichtigung der spezifischen Wärmekapazität des Körpers lässt sich der Anstieg der mittleren Körpertemperatur folgendermaßen abschätzen: Temperaturanstieg/Zeit ( C · h–1) = Wärmespeicherung (kJ · h–1) / [3,5 (kJ · kg–1 · C–1) × Körpergewicht (kg)] Würde bei einem Ruheumsatz von 80 W der Mensch thermisch vollständig isoliert, so würde seine mittlere Körpertemperatur eines 70 kg schweren Menschen um ca. 1 C/h ansteigen.

15.6

Aktive Regulation

Wenn Raumklima und Kleidung nicht ausreichen, müssen autonome Mechanismen den Körperkern thermostatisieren. Signale aus Temperaturmessfühlern im Körper-

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499

500

15 Temperaturregulation und Wärmehaushalt

Verhalten Körperschale

Wärmeproduktion Sollwert Isttemperatur = Solltemperatur

beim Säugling zitterfreie Wärmebildung

?

Kältezittern

Körperkern

Wärmeabgabe SchalenSchweißdurchblutung sekretion

Istwert

innere Störgrößen

Stellglieder

äußere Störgrößen

Messfühler Kerntemperatur

nichtthermische Faktoren

Hauttemperatur

Abb.15.9 Regelkreis der Temperaturregulation. Der Istwert der Körperkerntemperatur (gemessen an verschiedenen Orten im Kern) wird durch innere Störgrößen verändert, so dass der Regler (im Hypothalamus) eine Regelabweichung vom Sollwert registriert. Die daraus entstehenden Steuersignale aktivieren Stellglieder, die den Störgrößen entgegen-

kern, aber auch in der Körperschale bilden die Eingangsgrößen dieses Regelungsprozesses. Als Regelantwort kommt es zu einer Verminderung der Hautdurchblutung und Erhöhung der Wärmebildung bei Kälte bzw. zu einer Steigerung von Hautdurchblutung und Schweißsekretion bei Wärme. Voraussetzungen für die aktive Regulation der Körpertemperatur sind (a) Messfühler für die Temperatur (Thermosensoren), (b) ein zentrales Temperaturregulationszentrum zur Beurteilung der gemessenen Temperatur (Hypothalamus) und (c) Mechanismen zur Veränderung der Körpertemperatur (Effektoren bzw. Stellglieder = Wärmeabgabe und Wärmebildung). Diese Elemente müssen durch afferente und efferente Nervenfasern verbunden sein (Abb. 15.9).

Thermosensoren Periphere Thermosensoren sind freie Nervenendigungen. Welche Moleküle in diesen Endigungen für die Entstehung des Sensorpotenzials verantwortlich sind, ist noch nicht eindeutig geklärt (S. 634). Möglicherweise findet eine Ca2+-abhängige Modulation der K+-Leitfähigkeit statt. Thermosensoren befinden sich in der Haut (nahe den basalen Epidermiszellen, ca. 1 Sensor/mm2; periphere Thermosensoren), im Hypothalamus (v. a. im vorderen Hypothalamus und in der präoptischen Region; zentrale Thermosensoren) sowie in Abdominalorganen (z. B. Leber), Rückenmark (Abb. 15.10) und Hirnstamm.

wirken (negative Rückkopplung) und damit die Regelabweichung begrenzen. Äußere Störgrößen wirken primär auf die Haut. Änderungen der Hauttemperatur verstellen den Sollwert, so dass trotz eines unveränderten Istwerts eine Regelabweichung entsteht (s. a. S. 9 ff.).

Zumindest bei den peripheren Thermosensoren handelt es sich um sog. PD-(Proportional/Differenzial-)Rezeptoren mit tonischer und phasischer Antwort (S. 632), d. h. sie liefern Information über die Hauttemperatur an sich sowie über die Geschwindigkeit von Temperaturänderungen. Funktionell lassen sich in der Haut Kalt- und Warmrezeptoren unterscheiden. Der Messbereich der peripheren Kaltrezeptoren erstreckt sich von 15 – 32 C, die stärkste Antwort erhält man bei 25 C (Abb. 15.11). Manche der Kaltrezeptoren zeigen bei Temperaturen > 32 C ein zweites Aktivitätsmaximum, wodurch sich evtl. „paradoxe“ Kaltempfindungen bei hohen Temperaturen (heiße Badewanne!) erklären lassen. Die afferenten Fasern gehören zum Typ C und Aδ. Der Messbereich der peripheren Warmrezeptoren erstreckt sich von 30 – 45 C mit einem Aktivitätsmaximum bei ca. 43 C. Die afferenten Fasern sind vom C-Typ. Die peripheren Thermosensoren erfassen die Körperschalentemperatur und damit indirekt die Umgebungstemperatur (die Sensorendichte im Gesicht ist höher als jene an den Extremitäten). Sie bilden ein Frühwarnsystem, das drohende Störungen der Wärmebilanz bereits „ankündigt“, bevor es zu einer Veränderung der Körperkerntemperatur gekommen ist. Diese antizipatorische Regulation ist deshalb von Bedeutung, weil sie es – unter Verwertung von Informationen aus der Körperschale – erlaubt, kältegegenregulatorische Antworten bereits „prophylaktisch“ (d. h. bevor es zu Veränderungen der Körperkerntemperatur kommt) einzuleiten. Auf diese Weise kann die Solltemperatur (des Körperkerns!) über

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15.6 Aktive Regulation

lokale Wärmung des Rückenmarks

Aktionspotenziale/s

Wärmeabgabe 700

Watt

600 500 400 300 200

warm

kalt

40

30

im Rückenmark

20

10

Wärmeproduktion 0

in der Haut

Kerntemperatur 39

°C

20

37

30

40

50 °C

Temperatur des Rückenmarks bzw. der Haut

35 33

0

2

4

Stunden

6

8

10

Abb.15.10 Kerntemperaturmessfühler im Rückenmark. Die lokale Wärmung des Rückenmarks eines Ochsen erhöhte die Wärmeabgabe bei nahezu unveränderter Wärmeproduktion, so dass die Kerntemperatur auf etwa 34 C sank. Nach Beendigung der Rückenmarkswärmung stieg die Wärmeproduktion an und führte die Kerntemperatur auf ihren Ausgangswert zurück. Dieser Versuch beweist die Existenz von Kerntemperaturfühlern im Rückenmark.

längere Dauer „gehalten“ werden, wogegen die Regulation durch Rückkopplung die Abweichungen vom Sollwert nur minimiert aber nie vollständig aufhebt (siehe auch S. 502). Hautsensoren sind somit besonders für die Kältegegenregulation von Bedeutung. Die thermischen Afferenzen leiten die Information zum Rückenmark, wo sie über den kontralateralen Tractus spinothalamicus zum ventrobasalen Thalamus gelangen. Von dort werden sie zum Hypothalamus (Regulationszentrum), limbischen System und sensorischen Kortex (Temperaturwahrnehmung) weitergeleitet. Aktivierung von Warmrezeptoren oder Hemmung von Kaltrezeptoren können zusätzlich eine reflektorische Vasodilatation über den Sympathikus auslösen. Die zentralen Thermosensoren des Hypothalamus (eine relativ lose verteilte Zellpopulation) messen die Körperkerntemperatur. Etwa 10% der Hypothalamusneurone sind thermosensitiv, in dem Sinn, dass sie auf Kernkörpertemperaturschwankungen um ± 2 – 4 C reagieren. Insgesamt befinden sich im Hypothalamus mehr Warmals Kaltrezeptoren, und die zentralen Thermosensoren sind besonders für die Wärmegegenregulation von Bedeutung (z. B. bei körperlicher Belastung).

Abb.15.11 Temperaturempfindliche Neurone in Rückenmark und Haut. Die statische Entladungsfrequenz (Ordinate) einzelner afferenter Neurone ist temperaturabhängig. Es gibt sowohl kaltempfindliche (steigende Frequenz bei sinkender Temperatur) als auch warmempfindliche Einheiten. (Die Zuordnungen „kalt“ bzw. „warm“ beziehen sich dabei auf die Frequenzantworten im mittleren Temperaturbereich von 30 – 40 C.) Diese Neurone gelten als Afferenzen der Temperaturmessfühler des Körperkerns und der Haut. Hauttemperaturfühler besitzen außerdem eine ausgeprägte dynamische Empfindlichkeit gegenüber schnellen Temperaturänderungen (nach 7, 20).

Regulationszentrum Der Hypothalamus misst nicht nur die Temperatur, sondern stellt auch das Regulationszentrum dar. Durch bisher nicht bekannte Mechanismen ist hier eine Solltemperatur kodiert (ähnlich wie bei Thermostat-kontrollierten Zentralheizungen). Aufgabe dieses Zentrums ist es, die Ist-Temperatur mit der Soll-Temperatur zu vergleichen (Abb. 15.9) und bei Abweichungen von mehr als ± 0,1 C Effektormechanismen in Gang zu setzen (Regulation durch negative Rückkopplung). Der Sollwert kann schwanken, z. B. in Abhängigkeit von der Tageszeit, vom Menstruationszyklus (s. o.) oder bei Erkrankungen (Fieber, s. u.). Außerdem passt der Hypothalamus die thermoregulatorischen Antworten anderen Funktionen des Organismus (z. B. körperliche Arbeit, Blutdruckregulation) an („Vermaschung“ von Regelkreisen). Die Informationen der Thermosensoren gelangen praktisch in alle Regionen des Hypothalamus. Der laterale Hypothalamus ist für Verhaltenveränderungen von besonderer Bedeutung. Vorderer Hypothalamus und präoptische Region regulieren Blutfluss, Wärmebildung und die Schweißdrüsen. Bei Wärmebelastung scheint Noradrenalin und bei Kältebelastung Serotonin von Bedeutung zu sein. Der posteriore Hypothalamus scheint die Ausgangsstation der Efferenzen zu sein und spielt möglicherweise eine besondere Rolle bei der Einstellung des Sollwertes. Die Informationen, die der Hypothalamus erhält, werden gewichtet. So muss eine Temperaturänderung an peripheren Thermosensoren ca. 10-mal größer sein als an zentralen Thermosensoren, um eine gleich große Antwort auszulösen.

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501

502

15 Temperaturregulation und Wärmehaushalt

Effektoren Zu den Effektormechanismen der Thermoregulation gehören die überwiegend sympathisch vermittelten Veränderungen der Hautdurchblutung. Ausgehend von der Ruhedurchblutung kann diese im Bereich 0,5- bis 10fach reguliert werden. Hautgefäße besitzen überwiegend α1Adrenozeptoren, die vasokonstriktorisch wirken (S. 214 f.). Vasodilatation erfolgt also durch nachlassende Sympathikusaktivität an den Gefäßen. Schweißdrüsen geben zusätzlich vasodilatierende Faktoren (z. B. Bradykinin, VIP) ab, die zur maximalen Hautdurchblutung führen (aktive Vasodilatation). Weiterhin sind die Schweißdrüsen selbst wichtige Stellglieder (s. o.), deren Aktivität durch den Sympathikus cholinerg (!) stimuliert wird. Der dritte Effektor sind Muskelkontraktionen, wodurch der Energieumsatz kurzfristig vervierfacht und über Stunden verdoppelt werden kann. Hierzu zählen neben willkürlichen Bewegungen eine Erhöhung des Grundtonus („eingefrorener“ Unterkiefer bei Frost) sowie das Kältezittern, das jedoch wegen der Aufwirbelung der isolierenden Luftschicht an der Hautoberfläche eine recht unökonomische Form der Wärmebildung darstellt. Dagegen stellt die „zitterfreie Thermogenese“ (non-shivering thermogenesis, NST) im braunen Fettgewebe, die bei Neugeborenen wie bei den meisten kleinen Säugetieren an Stelle des Kältezitterns tritt, eine sehr wirksame Form der Wärmebildung dar. (Wahrscheinlich spielt diese Form der Wärmeproduktion auch noch bei Erwachsenen eine Rolle; s. Kap. 14.14.) Ein weiterer, auch bei Erwachsenen wirksamer „chemischer“ Effektormechanismus ist die Erhöhung des Grundumsatzes durch vermehrte Adrenalin- bzw. TSH-Sekretion (z. B. bei Kälteakklimatisation) (s. a. Kap. 14.14).

Zusammenspiel der thermoregulatorischen Mechanismen Bei der Thermoregulation handelt es sich um ein hierarchisch aufgebautes System, in dem verschiedene Effektorsysteme, die sich in der Evolution zunächst unabhängig voneinander entwickelt haben, unter der Führung einer zentralen Kontrollinstanz (Hypothalamus) zusammenarbeiten. Die erste Stufe der Thermoregulation ist die Beeinflussung des Wärmehaushaltes durch Verhalten. Sie umfasst die Einnahme bestimmter Körperhaltungen (Verkleinerung der effektiven Körperoberfläche durch Zusammenkauern bei Kälte, Vergrößerung der effektiven Körperoberfläche durch Ausstrecken der Extremitäten bei Hitze), den Einsatz der Willkürmotorik (Umhergehen bei Kälte, Stillhalten bei Hitze) sowie die Auswahl der Bekleidung und die Gestaltung der Behausung. Diese oder ähnliche Verhaltensmechanismen finden sich schon bei poikilothermen Organismen und werden daher oft – zu Unrecht – als „primitive“ Form der Thermoregulation eingestuft. Ein weiterer wichtiger Baustein der Thermoregulation ist die Variabilität der Hautdurchblutung. Sie hat sich in der Evolution ursprünglich bei den Amphibien als zusätzlicher Mechanismus des Gasaustausches („Hautat-

mung“) entwickelt, wird von den Reptilien jedoch hauptsächlich zur Wärmeaufnahme genutzt (sonnenbadende Krokodile!) und dient bei homöothermen Lebewesen zur Regulation der Wärmeabgabe. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Gegenstromprinzip, dem zufolge das in die Extremitäten strömende Blut normalerweise über die den Arterien direkt benachbarten Begleitvenen (Vv. concomitantes) zum Körperkern zurückgeleitet wird. Dadurch wird dessen Temperatur bereits vor dem Eintritt in den Körperkern wieder erhöht oder – anders ausgedrückt – die mit dem arteriellen Blut transportierte Wärme wird, noch bevor sie in der Körperschale verlorengehen kann, teilweise zurückgewonnen („Wärmekurzschluss“). Bei Wärmeexposition (z. B. sonnenbadende Touristen) kommt es dagegen zur peripheren Vasodilatation mit der Folge, dass das rückströmende Blut nun den Weg über oberflächliche Hautgefäße nimmt, wo es Wärme an die Umgebung verliert und ggf. durch die Schweißverdunstung „aktiv“ gekühlt wird (Abb. 15.4, S. 497). Eine verminderte Hautdurchblutung bei äußerer Kältebelastung wird auch durch einen direkten Temperatureffekt auf die Hautgefäße bewirkt („lokale Antwort“; möglicherweise werden die Gefäße empfindlicher für Adrenalin). Wenn die Hauttemperatur an den Akren jedoch unter + 10 C sinkt, wird die Vasokonstriktion im Abstand von etwa 20 min durch eine kurzdauernde Vasodilatation unterbrochen (Lewis-Reaktion). Sie beruht auf lokal-metabolischen Effekten und sog. Axonreflexen (ein afferenter Impuls der Haut geht noch in der Peripherie auf einen efferenten Gefäßnerven über). Ihr Ziel ist es, dem Auftreten lokaler Frostschäden entgegenzuwirken. Auch die Schweißsekretion hängt von lokalen Bedingungen ab; bei gegebenen Kerntemperaturen ist die Schweißsekretion in einem bestimmten Hautareal um so größer, je höher die lokale Temperatur ist.

Die „neue evolutive Errungenschaft“ der homöothermen Organismen (Säugetiere, Vögel) ist die Autonomie der Wärmebildung, d. h. dass zur Konstanthaltung der Körperkerntemperatur nicht nur die Wärmeabgabe, sondern auch die Wärmebildung unabhängig von der Willkürmotorik (s. o.) variiert werden kann (durch Kältezittern oder zitterfreie Thermogenese im braunen Fettgewebe). Durch die reziproke Steigerung der Wärmebildung bei Drosselung der Wärmeabgabe – und umgekehrt – wird die Wirksamkeit der Thermoregulation wesentlich erhöht. Hauptprinzip der autonomen Regulation ist die negative Rückkopplung (S. 9 ff.), bei der eine Differenz zwischen Istwert (zentralen Thermosensoren) und Sollwert der Kerntemperatur eine Regelantwort auslöst. Allerdings führt dies nie zu einer völligen Korrektur der geregelten Größe; dann nämlich wäre die Antwort beendet und der Störfaktor würde erneut eine Abweichung bewirken. Zur Erhöhung der Regelstabilität dient die antizipatorische (vorausschauende) Regulation (regeltechnisch auch als „Störgrößenaufschaltung“ bezeichnet), bei der durch Aktivierung peripherer Kaltrezeptoren thermoregulatorische Antworten bereits induziert werden, bevor es zu einer Absenkung der Körperkerntemperatur gekommen ist. Sie ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil der Körper aufgrund des hohen Energieaufwandes zur Erwärmung von Wasser („spezifische Wärmekapazität“) eine erhebliche „thermische Trägheit“ aufweist, die ohne einen solchen „vorausschauenden“ Regelmechanismus zu

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15.7 Physiologie und Umwelt stärkeren Schwankungen der Körperkerntemperatur führen würde. Eine weitere Besonderheit des hypothalamischen Thermostaten besteht schließlich darin, dass er Informationen von anderen Funktionssystemen des Organismus verarbeitet und bei seinen Regelantworten berücksichtigt. Durch diese Vermaschung von Regelkreisen wird etwa bei hypertoner Dehydratation die Schweißsekretionsrate auch um den Preis eines gewissen Anstiegs der Körperkerntemperatur vermindert (der Anstieg der Plasmaosmolalität senkt die Schweißsekretionsrate) oder bei Wärmegegenregulation der periphere Gefäßwiderstand nicht so weit gesenkt, dass es zu einem kritischen Blutdruckabfall kommt. Bei extremen thermischen Belastungen kann es durch Überforderung dieser gegenseitigen Abstimmung von Funktionssystemen zu Störungen kommen (Kap. 15.8).

15.7

Physiologie und Umwelt Angenehmes Raumklima

Ein Klima wird als komfortabel definiert, wenn man kein anderes vorziehen würde. Die Faktoren der physikalischen Wärmebilanz (s. o.) bestimmen auch die Komfortempfindung. Da sich Kleidung und Wärmeproduktion dem Einfluss einer Klimaanlage entziehen, erscheint es verständlich, dass auch ein optimal klimatisierter Raum nicht alle Bewohner thermisch zufrieden stellt. Bei einem Kollektiv normal gekleideter Büromenschen erreicht die Quote der Zustimmung ihr Maximum (95 %), wenn die Luft- und Strahlungstemperatur 23 C beträgt, die Windgeschwindigkeit sehr niedrig (< 0,1 m/s) ist und die relative Feuchte bei etwa 50 % liegt. Im Wasser liegt die Behaglichkeitstemperatur eines ruhenden Erwachsenen zwischen 35 und 36 C, da – bei der hohen Wärmeleitfähigkeit des Wassers – die Temperaturen von Wasser und Haut um nur 1 – 2 C niedriger als die Kerntemperatur sein müssen, um einen ausreichenden inneren und äußeren Wärmetransport aufrechtzuerhalten. Bei körperlicher Betätigung (Schwimmen) sind entsprechend niedrigere Wassertemperaturen angemessen.

Ein Sauna-Besuch In einer typischen finnischen Sauna liegt die Lufttemperatur bei etwa 80 C. Zwar ist die relative Feuchte der Luft niedrig, aber dennoch ist der Wasserdampfdruck der Luft in der Regel höher als der maximale Wasserdampfdruck, der auf der Haut eingestellt werden kann (Abb. 15.8, S. 499), so dass keine Verdunstung mehr stattfindet und der Schweiß in Tropfenform abfließt. Damit sind alle Wege der Wärmeabgabe blockiert. Als entscheidender Faktor kommt eine erhebliche Wärmeaufnahme durch Strahlung hinzu. Unter diesen Bedingungen steigt die Kerntemperatur innerhalb der üblichen 10 Minuten auf etwa 39 C an. Aus entsprechenden Untersuchungen lässt sich abschätzen, dass die gesamte Hautdurchblutung unter diesen Umständen eine Größenordnung von etwa 5 l/min erreicht, so dass sich das Herzzeitvolumen gegenüber Ruhebedingungen nahezu verdoppeln muss. Die Herzfrequenz liegt dann bei etwa 130 min–1, und der diastolische Blutdruck sinkt aufgrund des niedrigeren peripheren

Widerstands leicht ab. Diese Belastungen erfordern ein intaktes Herz-Kreislauf-System. Die Dehydratation ist in der Regel vergleichsweise gering, besonders dann, wenn die Phase der erhöhten Körpertemperatur und des Schwitzens durch ein anschließendes kühles Bad schnell beendet wird.

Körperliche Arbeit/Training Wie bereits erwähnt, steigt bei körperlicher Arbeit die Wärmebildung und dadurch die Körperkerntemperatur an. Der Wirkungsgrad körperlicher Arbeit übersteigt nur selten 20 %. Damit liegt etwa bei einer Dauerleistung von 100 W eine zusätzlich produzierte Wärme von mindestens 400 W vor, die zur Haut transportiert und dort an die Umgebung abgegeben werden muss, wenn sich eine stabile Kerntemperatur einstellen soll. Die „Abfallwärme“ bei Arbeit stellt für das Regelsystem eine innere Störgröße dar, deren Auswirkung die Merkmale einer Proportionalregelung durch Rückkopplung besonders deutlich werden lässt: Bei Arbeitsbeginn ist die Wärmeproduktion zunächst größer als die Wärmeabgabe. Die deshalb steigende Kerntemperatur aktiviert die Stellglieder der Wärmeabgabe, so dass Wärmeproduktion und Wärmeabgabe wieder gleich werden und sich die Kerntemperatur auf einem erhöhten Niveau stabilisiert (höherer „steady-state“-Wert). Der neue „steady-state“ liegt umso höher, je höher die Leistung ist. Wenn die Leistung für die gegebenen Bedingungen der Wärmeabgabe (Lufttemperatur, Luftfeuchte, Windgeschwindigkeit) zu groß ist, wird der innere Wärmetransport kritisch. Die hohe Durchblutung der arbeitenden Muskulatur begrenzt den für die Hautdurchblutung zur Verfügung stehenden Anteil des Herzzeitvolumens, so dass sich ein Gleichgewicht von Wärmeabgabe und Wärmeproduktion nicht einstellen lässt. Dann steigt die Kerntemperatur ständig weiter, sofern nicht – was freilich in der Regel geschieht – die Leistung zurückgenommen wird. Der aktivitätsbegleitende Temperaturanstieg kann durch Training vermindert werden: Die „Schwitzschwelle“ wird abgesenkt, wodurch die Schweißproduktion bereits bei einer geringeren Erhöhung der Körperkerntemperatur einsetzt (Abb. 15.12). Außerdem ist die Zunahme der Schweißproduktion bei steigender Körpertemperatur erhöht. Durch diese Mechanismen muss die Hautdurchblutung weniger stark ansteigen und ein größerer Teil des Herzzeitvolumens steht der Muskulatur zur Verfügung. Dehydrierung (Abb. 15.13) hat einen gegenteiligen Effekt wie Training, da weniger Schweiß produziert werden kann.

Neugeborene Reife Neugeborene sind, obwohl sie bereits über alle thermoregulatorischen Mechanismen verfügen, durch ihre geringe Körpergröße und ihr entsprechend großes Oberflächen/Volumen-Verhältnis in stärkerem Maße von Wärmeverlusten bedroht als Erwachsene. In Anpassung daran verfügen sie über einen um den Faktor 2,5 höheren Grundumsatz, so dass die Thermoneutraltemperatur mit rund 32 C nicht so weit über dem Er-

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503

15 Temperaturregulation und Wärmehaushalt 300

400

Training und Akklimatisation

Gewichtsverlust durch Dehydratation: 0% 3% 5% 7%

Training

200

Ausgangslage 100

0 37

37,5

38

°C

Kerntemperatur (°C)

Abb.15.12 Beziehung zwischen Kerntemperatur und Wärmeabgabe durch Verdunstung. Durch schweißtreibendes Training und wiederholte äußere Wärmebelastungen wird die Kennlinie der Schweißsekretion in einen niedrigeren Kerntemperaturbereich verschoben, so dass der Akklimatisierte eine zum Ausgleich der Wärmebilanz erforderliche Verdunstungswärmeabgabe bereits bei einer niedrigeren Körpertemperatur erreicht (nach 17).

wachsenenwert von 28 C liegt, wie man allein aufgrund der Körpergröße erwarten würde. Allerdings erfolgt der Umsatzanstieg erst innerhalb einiger Stunden bis Tage, so dass unmittelbar nach der Geburt noch sorgfältigere Schutzmaßnahmen erforderlich sind. Außerdem vermögen Neugeborene ihre Wärmebildung bei absinkenden Umgebungstemperaturen durch die chemische Thermogenese im braunen Fettgewebe stärker zu steigern als Erwachsene. Jedoch ist der maximale thermoregulatorische Stoffwechselanstieg („summit metabolism“), der beim unbekleideten Erwachsenen erst bei Umgebungstemperaturen zwischen 5 und 0 C erreicht wird, bei Neugeborenen bereits bei 23 C ausgeschöpft, so dass sie über einen schmaleren Regelbereich verfügen. Mit anderen Worten: Wird ein Neugeborenes bei einer Raumtemperatur von 23 C ausgezogen, so bedeutet dies einen vergleichbaren (oder größeren) thermischen Stress, wie wenn ein Erwachsener sich bei Außentemperaturen von 0 C unbekleidet im Freien aufhalten würde (Abb. 15.14). Der Unterschied besteht darin, dass der Erwachsene mit heftigem Kältezittern reagieren würde, während man die zitterfreie Thermogenese dem Neugeborenen nicht ansieht und nur durch Sauerstoffverbrauchsmessung registrieren könnte. Gerade der stark ansteigende O2-Verbrauch kann aber zu einem relativen Sauerstoffmangel mit metabolischer Azidose und sekundärer Verschlechterung der Lungendurchblutung führen, woraus sich die erhebliche Gefahr einer Unterkühlung (Hypothermie) für Neugeborene erklärt (vgl. Kap. 17.10). Bei Frühgeborenen ist dieses Risiko noch höher, weil sie kleiner sind und über geringere isolierende Fettpolster verfügen, weil der postnatale Stoffwechselanstieg länger dauert und das braune Fettgewebe spärlicher ausgebildet ist und weil durch die unverhornte Haut ein zusätzlicher evaporativer Wärmeverlust auf-

Wärmeabgabe durch Verdunstung (W/m2)

Wärmeabgabe durch Verdunstung 2 (W/m )

504

300

200

100

0 37

38

39

Kerntemperatur (°C)

Abb.15.13 Dehydratation hemmt das Schwitzen und erhöht damit den Kerntemperaturanstieg bei Wärmebelastung. Die Werte wurden bei akklimatisierten Versuchspersonen erhoben, die bei Wärmebelastung arbeiteten und die Aufnahme von Flüssigkeit variierten, so dass sich am folgenden Versuchstag unterschiedliche Grade von Dehydratation (Gewichtsverlust in % des Körpergewichts) ergaben. Zunehmende Dehydratation verschob die Beziehung zwischen Kerntemperatur und Wärmeabgabe durch Verdunstung nach rechts. Wie die gestrichelten Linien zeigen, reichte bei normalem Wasserbestand z. B. eine Kerntemperatur von 37,3 C aus, um eine Wärmeabgabe von 230 W/m2 einzustellen. Bei einer Dehydratation von 7% musste die Kerntemperatur dagegen auf 38,8 C steigen, um die gleiche Wärmeabgabe zu erzielen (nach 19).

treten kann. Zur Vermeidung einer Hypothermie muss nicht nur die Wärmezufuhr gesteigert werden (durch Wärmeleitung von beheizten Unterlagen, durch Infrarotstrahlung von Wärmelampen oder durch befeuchtete Warmluft in Inkubatoren), sondern vor allem auch der Wärmeverlust eingeschränkt werden (durch Einwickeln in warme Tücher zur Vermeidung der Konvektion und/oder Plastikfolien zur Minderung der Evaporation); dabei sind auch Strahlungsverluste (durch „Wandkälte“ – auch kalte Inkubatorwände – in ungenügend beheizten Räumen) zu bedenken, die erheblich zur negativen Wärmebilanz beitragen können.

Alte Menschen Bei alten Menschen ist die Thermoregulation ebenfalls eingeschränkt. Hierfür werden eine beeinträchtigte Temperaturmessung (durch Nachlassen der peripheren Thermosensorenfunktion mit verminderter antizipatorischer Regulation), eine verminderte Wärmebildung (durch den reduzierten Grundumsatz) sowie eine verminderte Wärmeabgabe bei Belastung (durch eine geringere kardiovas-

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15.8 Hyperthermie, Hypothermie und Fieber 10 maximale Thermogenese

5

Erwachsene

Neugeborene

–1

Energieumsatz (W·kg )

spezifischer Grundumsatz (kJ/kg Körpergewicht)

0 35

30

25

20

15

10

5

0

Umgebungstemperatur (°C)

Abb.15.14 Beziehung zwischen Umgebungstemperatur und Energieumsatz bei Neugeborenen und Erwachsenen: Beim (unbekleideten) Erwachsenen liegt die thermische Neutralzone, in der die Körpertemperatur allein durch den Grundumsatz aufrechterhalten werden kann, bei 28 – 30 C. Mit sinkender Umgebungstemperatur kommt es zu einer Stoffwechselsteigerung (durch Kältezittern), die ihr Maximum (etwa das Fünffache des Grundumsatzes) bei Werten zwischen 5 und 0 C erreicht. Beim Neugeborenen ist schon der spezifische (auf das Körpergewicht bezogene) Grundumsatz in Anpassung an das ungünstige OberflächeVolumen-Verhältnis etwa 2,5 mal so hoch wie beim Erwachsenen, die zugehörige thermische Neutralzone liegt bei 32 – 33 C. Mit sinkender Umgebungstemperatur kommt es wegen der höheren Wärmeverluste zu einem steileren Stoffwechselanstieg (durch chemische Thermogenese im braunen Fettgewebe), der sein Maximum (etwa das Dreifache des erhöhten Grundumsatzes) bereits bei rund 23 C erreicht. Neugeborene haben also eine höhere Thermogenesekapazität, aber dennoch eine schmalere Regulationsbreite als Erwachsene (nach 21).

chen, während der Akklimatisierte bereits bei einer Kerntemperatur von 37,2 C im Gleichgewicht sein könnte und sich entsprechend wohler fühlen würde (Abb. 15.12). Außerdem kommt es zu gleichmäßigerer Schweißbildung am gesamten Körper. Alle diese Mechanismen steigern die Verdunstungsrate. Zusätzlich nimmt durch Hitzeakklimatisation auch die NaCl-Konzentration des Schweißes ab, so dass sich die Verluste mehr und mehr auf leichter ersetzbares „freies Wasser“ beschränken und das Risiko von Elektrolytstörungen abnimmt. Akklimatisation kann nicht nur durch Aufenthalt in heißen Gegenden der Erde, sondern auch durch wiederholte willkürliche Erhöhung der Körpertemperatur (z. B. auf 38 C für 1 – 2 Stunden) erreicht werden. Die Kälteakklimatisation des zivilisierten Menschen beschränkt sich im Wesentlichen auf das Nachlassen der Kaltempfindung bei wiederholter Kältebelastung durch entsprechende Empfindlichkeitsverstellung der Temperatursensoren; dies gilt etwa für Berufsgruppen, die ihre Hände häufig in kaltes Wasser eintauchen (Fischer). Bei bestimmten Naturvölkern ist darüber hinaus eine Toleranzentwicklung gegenüber einer intermittierenden leichten Absenkung der Körperkerntemperatur (z. B. in kalten Wüstennächten) beobachtet worden.

15.8

Hyperthermie, Hypothermie und Fieber

Störungen der Wärmebilanz können aus zwei Gründen auftreten: entweder durch extreme Umweltbedingungen, die sich trotz maximaler Gegenregulation nicht kompensieren lassen, oder durch innere Einflüsse, die zu einer „Verstellung“ des zentralen Thermostaten führen. Der resultierende Anstieg oder Abfall der Körpertemperatur kann seinerseits zu Störungen weiterer physiologischer Funktionen führen.

„Gefahr von Außen“ Hyperthermie/Hitzschlag

kuläre Reserve und durch Schweißdrüsenatrophie) verantwortlich gemacht. Wenngleich sich hieraus gewisse Änderungen im subjektiven Komfortempfinden (leicht erhöhte Präferenztemperatur) und eine leichtere Störanfälligkeit durch extreme Umweltbedingungen ergeben (geringere Regulationsreserve), ist das Thermoregulationsvermögen im Alter jedoch nicht grundsätzlich eingeschränkt, solange es nicht durch akute (Dehydratation) oder chronische Erkrankungen (Herzinsuffizienz, Bettlägerigkeit) zusätzlich beeinträchtigt wird.

Akklimatisation Durch Wärmeakklimatisation wird der Anstieg der Körperkerntemperatur bei gegebener Belastung in heißer Umgebung kleiner. Wie beim Training (s. o.) wird die „Schwitzschwelle“ reduziert, d. h. die Schweißproduktion setzt bereits bei einer geringeren Erhöhung der Körperkerntemperatur ein. Wenn beispielsweise eine bestimmte Situation eine Verdunstungswärmeabgabe von 100 W/ m2 erfordert, würde ein Nichtakklimatisierter diesen Wert etwa bei einer Kerntemperatur von 37,8 C errei-

Die Thermoregulation hat ihre Grenzen. Bei körperlicher Belastung in hoher Umgebungstemperatur und hoher Luftfeuchtigkeit ist die Wärmeabgabe durch Konvektion, Strahlung und Verdunstung vermindert. Eine entscheidende Ursache für eine pathologische Überwärmung ist jedoch meist ein Flüssigkeitsmangel, der nicht nur die Fähigkeit zur Schweißsekretion einschränkt, sondern auch die Kreislaufregulation beeinträchtigt. Verschlimmert wird die Situation, wenn die Fähigkeit des Körpers zur Wärmeabgabe ohnehin gestört ist, wie z. B. im höheren Lebensalter oder bei kardiovaskulären Erkrankungen. Die unphysiologische Zunahme der Körperkerntemperatur führt zu einer starken peripheren Vasodilatation und relativen Hypovolämie, die durch die Kreislaufregulationsmechanismen nicht mehr kompensiert werden kann, so dass schließlich die Durchblutung des Zentralnervensystems nachlässt (Hitzeerschöpfung, Hitzekollaps). Ab ca. 41 C treten Verwirrtheit und Bewusstlosigkeit auf (Hitzschlag). Am Ende können schwere Durchblutungsstörungen und thermische Schäden aller großen Organe (z. B. Nierenversagen) einschließlich des Ge-

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505

506

15 Temperaturregulation und Wärmehaushalt hirns auftreten. Eine solche unregulierte Erhöhung der Körperkerntemperatur durch „Wärmestau“ wird als Hyperthermie bezeichnet, im Gegensatz zum Fieber, welches als Folge einer Sollwertverschiebung auftritt (s. u.). Hyperthermie auf Grund von Wärmeaufnahme durch Strahlung oder Konvektion (z. B. in der Wüste) ist selten. Schatten und lockere Kleidung bieten hier einen guten Schutz.

Hypothermie Als Hypothermie wird ein Abfall der Körperkerntemperatur unter 36 C bezeichnet. Die häufigste Ursache der „unfallbedingten“ akzidentellen Hypothermie ist der Sturz in kaltes Wasser (Schiffbruch, Bade- und Schlittschuhunfälle). Die meisten Titanic-Opfer sind nicht ertrunken, sondern „erfroren“! Hierfür verantwortlich ist vor allem die hohe Wärmeleitfähigkeit von Wasser, die etwa 25 mal so hoch ist wie diejenige von Luft (s. o.). In Ruhe liegt der Wärmeverlust bei ca. 800 kJ/m2 Körperoberfläche in der Stunde bei einer Temperaturdifferenz von 1 C. Bei kräftiger Strömung (z. B. in einem Wildbach) oder zügigem Schwimmen kann dieser Wert durch zusätzliche Konvektion auf ca. 2000 kJ/m2 steigen. Beispiel: Wenn ein 70 kg schwerer Mensch sich bei leichter körperlicher Betätigung (Energieumsatz 150 W = 540 kJ/h) in 32 C „warmem“ Wasser befindet, gehen pro Stunde mindestens 1450 kJ Wärme verloren (Hauttemperatur = 33 C). Unter Berücksichtigung der spezifischen Wärme des Körpers ergibt sich daraus ein theoretischer Abfall der Körpertemperatur um rund 1 C pro 15 min. Allerdings führt die drohende Abnahme der Kerntemperatur zu einer entsprechenden Zunahme der körpereigenen Wärmebildung (der Energieumsatz steigt), so dass Schiffbrüchige in 32 C warmem Wasser durchaus für mehrere Tage überleben könnten. Auf eine sich entwickelnde Hypothermie reagiert der Körper zunächst mit einer peripheren Vasokonstriktion (zur Minderung der Wärmeabgabe) und einer Erhöhung des Energieumsatzes (zur Steigerung der Wärmebildung). Sinkt die Körpertemperatur trotzdem weiter ab, kommt es zu einer Erschöpfung der Kältegegenregulation mit Dämpfung des Atemantriebes und zunehmender Bewusstseinstrübung. Unterhalb von 30 C können Herzrhythmusstörungen bis hin zum Kammerflimmern auftreten. Bleibt dieses aus, entwickelt sich ein „Scheintod“-ähnlicher Zustand (mit lichtstarren Pupillen und stark verlangsamter Herzund Atemfrequenz), bevor bei Temperaturen um 20 C der endgültige kältebedingte Herzstillstand (Asystolie) eintritt (vgl. Tab. 15.1, S. 495). Bemerkenswerterweise haben Kinder nach Ertrinkungsunfällen in kalten Gewässern ungewöhnlich gute Wiederbelebungsaussichten, offenbar weil bei ihnen das Herz eine geringere Flimmerneigung aufweist, die Durchblutung rasch auf die lebenswichtigen Organe beschränkt wird („Tauchreflex“) und vor allem die Kältegegenregulation rascher überwunden wird. Fällt die Kältegegenregulation nämlich aus, so kommt es mit sinkender Körpertemperatur zu einer

Drosselung der Stoffwechselrate (RGT-Regel, S. 494). Die kältebedingte Umsatzreduktion senkt den Sauerstoffverbrauch und erhöht damit die Hypoxietoleranz. Zur gezielten Ausnutzung dieses Effektes wird in der Herzchirurgie und neurochirurgischen Intensivmedizin gelegentlich die Kältegegenregulation mittels geeigneter Narkoseverfahren gezielt ausgeschaltet und eine induzierte Hypothermie eingeleitet; darüber hinaus bildet die Abkühlung einen wichtigen Faktor der Organkonservierung zu Transplantationszwecken. Die bei Hypothermie ablaufenden Pathomechanismen sind teilweise widersprüchlich und daher nicht leicht zu verstehen. Während eine massive Kältegegenregulation einerseits zu einer Hypoxie führen kann, bietet die Abkühlung selber andererseits einen gewissen Schutz vor Hypoxie. Der Anstieg der physikalischen Löslichkeit von CO2 bei Temperaturabnahme kann zu einer relativen Azidose trotz konstanter PCO2Werte führen. Die Ursache des gefährlichen Kammerflimmerns ist ebenfalls nicht genau bekannt. Möglicherweise bewirkt eine Verlangsamung der Erregungsausbreitungsgeschwindigkeit (verbreiterte QRS-Komplexe im EKG), dass die Ausbreitung der Erregung über die Kammern länger dauert als die Refraktärzeit der Herzmuskelzellen (S. 152), wodurch es zu kreisenden Erregungen im Ventrikelmyokard kommt (Re-EntryMechanismus).

„Gefahr von Innen“ Fieber Bei Fieber handelt es sich um eine regulierte Hyperthermie, ausgelöst durch verschiedenste Erkrankungen. Der Grundmechanismus besteht in einer Erhöhung des Sollwertes der Körperkerntemperatur durch Botenstoffe des Immunsystems (Zytokine) (Abb. 15.15). Stimulation von Makrophagen oder Lymphozyten durch Krankheitserreger oder andere Fremdstoffe („Pyrogene“) führt zur vermehrten Freisetzung solcher Zytokine (hauptsächlich Interleukin-1β, aber auch andere, wie z. B. Interleukin-6, Tumornekrosefaktor-α, Interferon-α, u. v. m.), die neben der Immunantwort auch die Temperaturregulation beeinflussen. Interleukin-1β bindet an Rezeptoren im Organum vasculorum laminae terminalis (OVLT; in der Wand des III. Ventrikels, oberhalb des Chiasma opticum) und führt zur Freisetzung von Prostaglandin E2 (PGE2). PGE2 gelangt in den Hypothalamus (vorderer Hypothalamus und präoptische Region), wo es zu einer Erhöhung des Temperatursollwertes führt. Möglicherweise steigt auch der Interleukin-1β-Spiegel im Hypothalamus selbst und erhöht dort ebenfalls die Freisetzung von Prostaglandin E2. Bei Infektionen im Gehirn kann ebenfalls die lokale Interleukin-1β-Synthese zunehmen. Möglicherweise kommt die Erhöhung des Temperatursollwertes durch Hemmung von Warmrezeptoren und Stimulation von Kaltrezeptoren zustande. Sobald der Sollwert erhöht ist, wird die zuvor „normale“ Körperkerntemperatur als „zu kalt“ empfunden („Frösteln“) und die Wärmeabgabe vermindert

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15.8 Hyperthermie, Hypothermie und Fieber Kältegefühl, geringe Hautdurchblutung, Schüttelfrost

entgleisung äußert sich noch vor dem Anstieg der Körperkerntemperatur in einer dramatischen Zunahme des O2-Verbrauches und der CO2-Produktion und führt nicht nur zu lokalen Schäden der Skelettmuskulatur (Rhabdomyolyse), sondern auch – gemeinsam mit der vergeblichen Wärmegegenregulation – zu einer kritischen Herz-Kreislauf-Belastung. Die entscheidende Therapie besteht neben der sofortigen Beendigung der Narkose und aktiven Kühlmaßnahmen in der Gabe von Medikamenten, die den zytosolischen Ca2+Spiegel senken (Dantrolen).

Hitzegefühl, starke Hautdurchblutung, Schwitzen

°C 39

Sollwert

Zum Weiterlesen …

Istwert

38

37 0

1

2

Pyrogen

3

4

Stunden

5

Antipyretikum

Abb.15.15 Sollwertverstellung im Fieber. Durch Pyrogene wird der Sollwert auf einen höheren Wert verstellt. Die resultierende Regelabweichung (dunkelblaue Fläche) aktiviert die Stellglieder der Kältegegenregulation. Vereinfachend nehmen wir an, dass die Einnahme eines fiebersenkenden Medikaments (Antipyretikum) den Sollwert schnell normalisiert. Dann ergibt sich wiederum eine Regelabweichung (dunkelrote Fläche), aus der eine Aktivierung der Wärmeabgabe folgt.

(periphere Vasokonstriktion, „eiskalte Finger“) sowie die Wärmebildung gesteigert (Kältezittern, „Schüttelfrost“), um den neuen Sollwert zu erreichen. Nach Abklingen der Entzündungsreaktion und Normalisierung des Sollwertes löst die erhöhte Körperkerntemperatur dann entsprechende Gegenreaktionen (periphere Vasodilatation, „Schweißausbruch“) aus, um wieder zum Ausgangswert zurückzukehren. Hat Fieber einen Sinn? Diese Frage kann zur Zeit nicht eindeutig beantwortet werden. Da bekannt ist, dass Fieber das Überleben von Infektionen bei manchen Tierarten erhöht, wird vermutet, dass es die Infektabwehr fördert, möglicherweise durch Stimulation der Lymphozytenproliferation und der Antikörperbildung. Evtl. wird auch das Bakterienwachstum gehemmt. Allerdings kann hohes Fieber, besonders bei raschen Schwankungen der Körpertemperatur, zu erheblichen Kreislaufbelastungen und bei Überschreiten einer Obergrenze (ca. 42 – 43 C) auch zu zerebralen Schäden führen.

Maligne Hyperthermie Eine gefährliche Form der gestörten Thermoregulation ist die (seltene) maligne Hyperthermie. Hierbei liegen Mutationen des Ryanodin-Rezeptors-1 in der Skelettmuskulatur vor (S. 108). Bei bestimmten Narkoseformen kommt es zu unkontrollierter Ca2+-Freisetzung aus Speichern, gefolgt von aktivem Rücktransport, in der Skelettmuskulatur und damit zu stark überschießender Wärmebildung. Die Stoffwechsel-

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15 Temperaturregulation und Wärmehaushalt 20 Simon E, Pierau FK, Taylor DCM. Central and peripheral thermal control of effectors in homeothermic temperature regulation. Physiol Rev. 1986; 66: 236 – 300 21 Brück K. Heat production and temperature regulation. In: Stave U (ed.). Perinatal Physiology. New York: Plenum 1978 22 Okken A, Koch J (eds.). Thermoregulation of Sick and Low Birth Weight Neonates: Temperature Control, Temperature Monitoring, Thermal Environment. Berlin: Springer 1995 23 Schmidt TH. Thermoregulatorische Größen in Abhängigkeit von Tageszeit und Menstruationszyklus. München: Diss. 1972

24 Singer D. Thermoregulation. In: Schulte am Esch J, Scholz J, Wappler F (eds.). Malignant Hyperthermia. Lengerich: Pabst Science Publishers 2000 25 Singer D, Bretschneider HJ. Metabolic reduction in hypothermia: pathophysiological problems and natural examples. Thorac Cardiovasc Surgeon. 1990; 38: 205 – 219

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Endokrines System K. Voigt

16.1 Die Störung hormoneller Systeme führt zu Krankheiten ··· 510 16.2 Allgemeine Endokrinologie: Hormone sind Signalstoffe · ·· 510 Was sind Hormone, wozu dienen sie und wo werden sie gebildet · · · 510 Die Signalübermittlung durch Hormone: endokrin, neuroendokrin, parakrin und autokrin ··· 513 Vom Gen zum Hormon · ·· 514 Hormone im Blut: Transportproteine, Halbwertszeit, Metabolismus · ·· 515 Hormone wirken über Rezeptoren · · · 516 Wie werden hormonelle Systeme reguliert? · · · 517 Wie werden Hormone gemessen? · · · 518

16.3 Der Hypothalamus als neuroendokrine Schaltstelle

· ··

519

Funktionelle Organisation: humorale und nervale Signale · · · 520 Die Hormone der Neurohypophyse: Adiuretin (ADH, Vasopressin) und Oxytocin ··· 522 Hypothalamische Neuropeptide wirken im ZNS und beeinflussen Verhaltensmuster · ·· 524 Releasing- und Inhibiting-Hormone aus dem Hypothalamus steuern die Adenohypophyse · ·· 526 Die Adenohypophyse steuert endokrine Drüsen und das Wachstum ··· 526 Glandula pinealis: Melatonin, das Dunkelhormon · ·· 534

16.4 Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden-System: Mineralo- und Glucocorticoide

··· 535 Die hypothalamische Ebene: Neurotransmitter, CRH und ADH · ·· 535 Die hypophysäre Ebene: Proopiomelanocortin (POMC) und seine Hormone (ACTH, β-Endorphin, MSH) · · · 536 Die Hormone der Nebennierenrinde (Corticoide): Aldosteron, Cortisol, Androgene · ·· 538 Die Funktionen der Corticoide sind vielfältig · ·· 539 Wie werden die Nebennierenrindenhormone reguliert? ··· 542

16.5 Hypothalamus-HypophysenSchilddrüsen-System · ·· 544 Die hypothalamische Ebene: Neurotransmitter und TRH · ·· 545 Die hypophysäre Ebene: TSH · ·· 545 Die Hormone der Schilddrüse: T3 und T4 · · · 545 Regulation der Schilddrüsenhormone · ·· 550 Schilddrüsenerkrankungen · · · 551

16.6 Der Inselapparat des Pankreas: Insulin und Glucagon ··· 551 Die Hormone des Pankreas: Insulin, Glucagon, Somatostatin, pankreatisches Polypeptid, Amylin · ·· 552 Nahrungsaufnahme und Hormone regeln den Blutzucker · ·· 556 Diabetes mellitus · · · 557

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16 Endokrines System

16.1

Die Störung hormoneller Systeme führt zu Krankheiten

Die meisten endokrinen Erkrankungen beruhen entweder auf einer Überfunktion mit pathologisch erhöhten Hormonwerten (z. B. Hypophysenadenome) oder einer Minderfunktion mit erniedrigten oder fehlenden Hormonen (z. B. Diabetes mellitus, Typ 1). Durch das Wirkungsprofil des gestörten Hormonsystems ist auch die Symptomatik der jeweiligen endokrinen Erkrankung bestimmt. Hypo- und Hyperfunktion können durch Störungen auf allen Ebenen der Hormonphysiologie verursacht werden.

Die Klinik der Endokrinologie bietet besonders anschauliche Beispiele dafür, wie Störungen der normalen Funktion zu Krankheiten führen, wie diese diagnostiziert und schließlich auch therapiert werden können. Als Hypofunktion wird ein Zustand bezeichnet,

Überfunktion Biosynthese Adenom Hyperplasie Gendefekt Regulationsdefekt paraneoplastische Produktion

Zerstörung Gendefekt Regulationsdefekte Prohormon

Vorstufen

Enzymdefekte

Enzymdefekte Transport und Aktivierung

Hormon Hormonantikörper Aktivierung Blockade (Enzymdefekt)

Abbau Wirkung

aktivierende Rezeptorantikörper

Defekte nach Rezeptor (z.B. G-Protein) Stimulation

2nd messenger

510

Enzymblock Stimulation

Rezeptordefekte inaktivierende Rezeptorantikörper

bei dem das entsprechende Hormon (oder Hormonsystem) in verminderter Quantität oder Qualität an der Effektorzelle zur Verfügung steht (Biosynthesestörung oder Zerstörung von endokrinen Zellen) oder hier eine verminderte Wirkung hervorruft (Rezeptordefekt). Die mannigfaltigen Ursachen hierfür sind in Abb. 16.1 aufgeführt. Von einer endokrinen Hyperfunktion spricht man, wenn der Hormoneffekt pathologisch gesteigert auftritt. Hyperfunktionen werden meist verursacht durch eine vermehrte Hormonproduktion in gutartigen Tumoren (Adenomen) und seltener in Karzinomen endokriner Drüsen. Eine Sonderform ist die Überfunktion der Schilddrüse, die durch stimulierende Autoantikörper hervorgerufen wird (S. 551). Überfunktionen und auch Unterfunktionen bestimmter Hormonsysteme können schwere Krankheiten hervorrufen. So sind sowohl die Unterfunktion (Morbus Addison) der Nebennierenrinde als auch deren erhebliche Überfunktion (Cushing-Syndrom) lebensbedrohliche Erkrankungen. Fehlende Hormone bei einer Hypofunktion können heute durch synthetische Präparate ersetzt werden; diese erlauben die erfolgreiche Substitutionstherapie wie die Injektion von Insulin beim Diabetes mellitus. Andere endokrine Störungen haben ihre Ursache in einer pathologischen Regulation ihrer Sekretion. So kommt es beim Fehlen der typischen pulsatilen Sekretion des hypothalamischen Releasing-Hormons GnRH, das die Gonadotropine LH und FSH stimuliert, nicht zu einer Ovulation, obwohl die Hormonspiegel „normal hoch“ erscheinen. Diese Fehlfunktion kann durch Injektion von GnRH mit einer dem endogenen Rhythmus folgenden Pumpe behoben werden. Ein Defekt in der Feedback-Hemmung der ACTH-Sekretion durch Cortisol ist eine der Ursachen der pathologisch vermehrten Sekretion dieses Glucocorticoids beim Morbus Cushing (S. 541) und wahrscheinlich auch bei Patienten mit einer häufigen psychiatrischen Erkrankung, der endogenen Depression (S. 536).

16.2

Defekte nach Rezeptor Zellwirkung

Unterfunktion

Abb.16.1 Pathogeneseprinzipien bei Überfunktion und Unterfunktion von hormonellen Systemen. Auf allen Ebenen der Hormonwirkung, vom Gen bis zum Abbau des Hormons, können klinisch wichtige Störungen eintreten. Diese Störungen unterliegen dann meist nicht mehr der Regulation in den Hormonsystemen und führen so entweder zu einer Überfunktion oder Unterfunktion des geschädigten hormonellen Systems. Eine besondere Form der Störung im endokrinen System ist die Hormonproduktion durch Zellen maligner Tumoren (paraneoplastische Hormonsekretion).

Allgemeine Endokrinologie: Hormone sind Signalstoffe Was sind Hormone, wozu dienen sie und wo werden sie gebildet?

Hormone sind chemische Signalsubstanzen und damit Nachrichtenüberträger. Sie werden in endokrinen Drüsenzellen gebildet (Biosynthese) und in den Blutkreislauf sezerniert (Sekretion), um an ihren Wirkort zu gelangen (Transport). Diese „klassische“ Definition bedarf nach heutigen Kenntnissen einer wesentlichen Erweiterung, wie schon die folgende Vorstellung der verschiedenen Signalsubstanzen zeigen wird. (Die gebräuchlichen Abkürzungen der Hormonnamen sind mit ihren Synonymen in Tab. 16.1 aufgeführt.) Die hormonproduzierenden Zellen können entweder eine endokrine Drüse bilden oder als Einzelzellen in verschiedenen Organen verteilt sein. Im letzteren Falle spricht man von diffusen endokrinen Systemen. „Klas-

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16.2 Allgemeine Endokrinologie: Hormone sind Signalstoffe Tabelle 16.1

Abkürzungen der Hormonnamen und deren Synonyme

Abkürzung

Bezeichnung

Synonyme

ACTH ADH AGRP ANF ANP AVP CART CCK CGRP CLIP CRH DA DHEA DHT FSH GH GHRH GIP

Corticotropin Adiuretin, AVP

GLP 1 GnRH GRH GRP HCG HCS HGH HPL IGF IL 1 LH MC MCH MSH NA NPY PACAP PIH POMC PRG PRL PTH SIH SRIH STH

adrenocorticotropes Hormon antidiuretisches Hormon Agouti-related protein atrialer natriuretischer Faktor atriales natriuretisches Peptid Arginin-Vasopressin Cocain and amphetamin related transcript Cholecystokinin Calcitonin gene-related peptide Corticotropin-like intermediate lobe peptide Corticotropin-releasing hormone Dopamin Dehydroepiandrosteron 5a-Dihydrotestosteron follikelstimulierendes Hormon Growth hormone (Wachstumshormon) Growth hormone-releasing hormone Glucose-dependent insulin-releasing peptide (früher: Gastric inhibitory peptide) Glucagon-like peptide 1 Gonadotropin-releasing hormone Growth hormone-releasing hormone Gastrin-releasing peptide Human chorionic gonadotropin Human chorionic somato(mammo)tropin Human growth hormone Human placental lactogen Insulin-like growth factors Interleukin 1 luteinisierendes Hormon Melanocortine Melanin concentrating hormone melanozytenstimulierendes Hormon Noradrenalin Neuropeptid Y (Y = Tyrosin) Pituitary adenylate cyclase activating polypeptide Prolactin-inhibiting hormone Proopiomelanocortin Progesteron Prolactin Parathormon Somatotropin-inhibiting hormone Somatotropin-release inhibiting hormone somatotropes Hormon

T3 rT3 T4 TNF TRH TSH VIP

Triiodthyronin reverse T3 Tetraiodthyronin Tumor necrosis factor Thyreotropin-releasing hormone thyreoideastimulierendes Hormon vasoactive intestinal peptide

Atriopeptin, ANP Atriopeptin, ANF Adiuretin, ADH Pankreozymin

Corticoliberin PIH, Prolactostatin

Follitropin STH, HGH, Somatotropin GRH, Somatoliberin

Gonadoliberin, LHRH Somatoliberin, GHRH Bombesin HPL GH, STH, Somatotropin HCS Somatomedine, NSILA Luteotropin

Melanotropin Norepinephrin

Prolactostatin

Parathyrin Somatostatin, SRIH Somatostatin, SIH Somatotropin, GH, HGH, Wachstumshormon

Thyroxin Thyroliberin Thyreotropin

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16 Endokrines System Tabelle 16.2 Die wichtigsten Hormone bzw. Neuropeptide und ihre Syntheseorte. Neuropeptide können in vielen Geweben synthetisiert werden. Mit * sind auch Vorstufen und mit ** Aktivierungssysteme von Hormonen gekennzeichnet (Abkürzungen s. Tab.16.1) Organe/Gewebe

Hormone/Neuropeptide

Klassische endokrine Drüsen Adenohypophyse

LH, FSH, ACTH, TSH, STH, Prolactin

Schilddrüse

Thyroxin (T4), Triiodthyronin (T3)

Nebenschilddrüse

Parathormon

Langerhans-Inseln (Pankreas) Insulin, Glucagon, Somatostatin, pankreatisches Polypeptid Nebennierenrinde

Mineralocorticoide, Glucocorticoide, Androgene

Nebennierenmark

Adrenalin, Noradrenalin, Enkephaline

Ovar

Östrogene, Gestagene, Inhibin, Relaxin, Activine, Follistatin

Testis

Androgene, Inhibin

Plazenta

hCG, hPL, Progesteron, Östrogene

Hormonproduzierende Gewebe und dispergierte endokrine Zellen Glandula pinealis

Melatonin

Hypothalamus

a) Releasing- und InhibitingHormone (GnRH, GHRH, CRH, TRH, Somatostatin) b) Vasopressin/Adiuretin (ADH), Oxytocin (werden in der Neurohypophyse sezerniert)

Andere ZNS-Regionen

alle Neuropeptide (Tab. 16.4)

C-Zellen der Schilddrüse

Calcitonin

Lungenepithel

fast alle Neuropeptide (Tab.16.4)

Herzvorhöfe

Atriopeptin = atriales natriuretisches Peptid (ANP)

Leber

Angiotensinogen*, IGF I, IGF II („Somatomedine“)

Gastrointestinaltrakt

Gastrin, Cholecystokinin, Sekretin, GIP, VIP, Motilin, Somatostatin, Enkephaline, Tachykinine, Ghrelin, PYY

Niere

Renin**, Erythropoietin, Calcitriol

Fettzellen

Leptin

Immunsystem

Thymushormone, Cytokine

„Gewebehormone“ oder Mediatoren

Eikosanoide, Histamin, Serotonin, Bradykinin

sische“ Hormondrüsen sind die Adenohypophyse, die Schilddrüse, die Epithelkörperchen (oder Nebenschilddrüse), die Nebennierenrinde, das endokrine Pankreas sowie die Gonaden Ovar und Testis. Die Produkte dieser endokrinen Drüsen werden als glanduläre Hormone bezeichnet. Sämtliche Steroid- und Schilddrüsenhormone sowie viele Peptidhormone gehören hierzu. Die aglandulären Hormone sind, mit Ausnahme des steroidähnlichen Calcitriols, Peptide. Da ihre Synthese meist in nichtendokrinen Organen erfolgt (Abb. 16.2), sind ihre Wirkungsweise und Regulation in den entsprechenden anderen Kapiteln dieses Buches beschrieben und werden hier nur aufgelistet. Der größte Hormonproduzent im Körper ist der Gastrointestinaltrakt mit seinen diffus verteilten endokrinen Zellen. Neben den seit längerem bekannten Gastrointestinalhormonen Gastrin, Cholecystokinin und Sekretin werden hier auch vasoaktives intestinales Polypeptid (VIP), Motilin, Somatostatin, Neuropeptid Y, Tachykinine, Enkephaline und andere Peptide synthetisiert (Tab. 14.1 u. 2, S. 416 ff.). Auch die Vorhöfe des Herzens produzieren ein Peptidhormon, das atriale natriuretische Peptid (ANP) oder Atriopeptin, das wesentliche Funktionen in der Homöostase von Natrium und des Extrazellulärraums hat (S. 382). In der Niere werden Erythropoietin für die Blutbildung (S. 227 f.) und aus dem Vitamin-D-Metaboliten Calcidiol das Steroid Calcitriol gebildet (S. 400 f.). Schließlich ist auch die Leber an der Hormonproduktion beteiligt, und zwar mit dem Vorläufermolekül für das Hormon Angiotensin II, dem Angiotensinogen, und mit den beiden für die Wirkung von Wachstumshormon (STH) wichtigen Somatomedinen (Insulin-like Growth Factors, IGF 1 und 2). Auch das Bronchialepithel und die Haut sind potenzielle Syntheseorte für eine Vielzahl von Peptidhormonen. Eine wichtige Quelle für Hormone sind die Neurone des zentralen und des vegetativen Nervensystems. Die bekanntesten von ihnen werden als neurosekretorische Hormone des Hypothalamus auf S. 522 ff. vorgestellt, während die Produkte des Nebennierenmarks (Adrenalin, Noradrenalin und Neuropeptide) und anderer Anteile des vegetativen Nervensystems in Kapitel 27 behandelt werden. Auch im Immunsystem werden einige Substanzen produziert, die nach der klassischen Definition als Hormone gelten könnten. So wird im Thymus das für die Differenzierung von Lymphozyten wichtige Thymosin synthetisiert, und die Signalstoffe von immunkompetenten Zellen, Cytokine, greifen auch direkt in die Regulation von endokrinen Systemen ein (S. 543 u. S. 233 ff.). In Tab. 16.2 sind die Signalstoffe aufgeführt, die man heute dem endokrinen System zuordnen kann. Allerdings ist die Einteilung der Signalsubstanzen nach ihren Hauptsyntheseorten nur ein Versuch einer Systematisierung. So können fast sämtliche in der Tabelle aufgeführten Peptidhormone außer in den entsprechenden peripheren Geweben auch im ZNS, im vegetativen Nervensystem und von Immunzellen synthetisiert werden. Ebenso können Organe wie das Ovar, die Nebenniere, Drüsenzellen des Magen-Darm-Trakts und Nervenzellen des vegetativen Nervensystems auch jene Peptide synthetisieren, die zuerst im Nervensystem gefunden worden sind und daher Neuropeptide genannt werden.

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16.2 Allgemeine Endokrinologie: Hormone sind Signalstoffe

Adenohypophyse

diffuses endokrines System ZNS (Hypothalamus, Corpus pineale u. a.)

Makrophage

endokrin

endokrine Drüsen

Interleukin 1

Effektorzelle

Effektorzelle T-Helferzelle

C-Zellsystem der Schilddrüse Thymus und Immunzellen

parakrin

Schilddrüse, Nebenschilddrüse

synaptisch Interleukin 4

Lungenepithel Vorhof des Herzens

Pankreas (Inselapparat)

Niere Gastrointestinaltrakt

T-Helferzelle

autokrin

Nebennierenrinde, Nebennierenmark

B-Zelle

Interleukin 2

endokrines System

Immunsystem

Nervensystem

Hormone

Cytokine

Neurotransmitter

Fettzellen Ovar

Testis

Abb.16.2 Die „klassischen“ endokrinen Drüsen (blaugrün) und eine Auswahl von Organen des diffusen endokrinen Systems (violette Punkte). Die endokrinen Zellen des diffusen Systems befinden sich in vielen nichtendokrinen Geweben und auch in endokrinen Drüsen, hier zusätzlich zu den eigentlichen Drüsenzellen (z. B. die C-Zellen der Schilddrüse, die Calcitonin synthetisieren).

Die Signalübermittlung durch Hormone: endokrin, neuroendokrin, parakrin und autokrin Die Signalsubstanzen des endokrinen Systems, des ZNS und des autonomen Nervensystems sowie des Immunsystems bedienen sich dreier unterschiedlicher Prinzipien der Signalübertragung. Beim endokrinen Prinzip erreichen die Signalsubstanzen über das Blut ihre entfernten Erfolgszellen (-organe). Die Signalstoffe wirken nach diesem Prinzip als: – „klassische“ Hormone endokriner Drüsen, – Hormone von diffus verteilten endokrinen Zellen in nichtendokrinen Organen, – Neurotransmitter des ZNS und des autonomen Nervensystems, – Cytokine des Immunsystems. Alle Signalsubstanzen können nach Diffusion zu ihren Nachbarzellen auch parakrine Effekte ausüben und auf autokrine Weise direkt auf die Zellen ihrer eigenen Produktion einwirken.

Abb.16.3 Formen der chemischen Signalübertragung. Die prinzipiellen Mechanismen der Signalübertragung im Nervensystem, im Immunsystem und im endokrinen System sind entweder endokrin, parakrin oder autokrin. Diese Prinzipien sind in allen drei Systemen analog. Die chemischen Signale hierfür werden im endokrinen System Hormone, im Nervensystem Neurotransmitter und unkonventionelle Transmitter und im Immunsystem Cytokine genannt.

In Abb. 16.3 sind die Prinzipien der chemischen Signalübermittlung für die drei Kommunikationssysteme dargestellt. Die Terminologie der Signalsubstanzen orientiert sich jeweils an dem System, in dem sie hauptsächlich vorkommen. Im vorausgehenden Abschnitt ist schon dargestellt worden, dass für viele Signalpeptide das Vorkommen nahezu ubiquitär ist. Im endokrinen System werden die Signalsubstanzen Hormone, im Nervensystem Neurotransmitter und unkonventionelle Transmitter (NO, CO, Neurosteroide, Wachstumsfaktoren) und im Immunsystem Cytokine genannt. Es ist bekannt, dass die endokrinen Zellen und die Zellen des Nervensystems auch Cytokine produzieren können und dass bei besonderen Stimulationen die Immunzellen neben den Cytokinen auch Hormone und Neuropeptide synthetisieren.

Im Bereich des endokrinen Systems ist die parakrine Signalvermittlung in allen Drüsen nachgewiesen, sie ist besonders wichtig bei der Regelung der Funktionen des Gastrointestinaltrakts. Auch die chemische Signalübertragung in den Synapsen des Nervensystems erfolgt auf parakrine Weise. Hier wirken die Neurotransmitter oder Neuromodulatoren gerichtet, von den präsynaptischen Endigungen zu ihren spezifischen Rezeptoren an der postsynaptischen Membran. Darüber hinaus ist auch eine parasynaptische Signalvermittlung bekannt, die durch Dif-

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16 Endokrines System

Funktion

Struktur

DNA

DNA

Zellkern

Transkription

mRNA-Vorläufer

Entfernung der Introns 5’ 5’

Translation

mRNA

Zisterne

Synthese der Peptidkette Abspaltung der Signalsequenz, Core-Glykosylierung

Produkt

Ribosom

posttranslationale Modifikation Proteinfaltung

mRNA

3’ endoplasmatisches Retikulum Ribosom Zisterne

Präprohormon

Prohormon



Disulfidbrücken, Glykosylierung Abspaltung der Endprodukte Amidierung Azetylierung

GolgiApparat

Speicherung

Granula

Sekretion

Zellmembran

Abb.16.4 Prinzipien der Biosynthese von Peptidhormonen. Die Peptidhormone werden nach den allgemeinen Regeln der Biosynthese von sezernierten Peptiden über ein Präprohormon synthetisiert. Dieses enthält eine Signalse-

fusion von Neuropeptiden zu Neuronen der Synapsenumgebung bewirkt wird. Im Immunsystem ist die parakrine Signalübertragung sogar das wesentliche Funktionsprinzip. Hier steuern die Cytokine die differenzielle Entwicklung der Immunzellen (S. 233 ff.). Auch die chemischen Botenstoffe, die als Mediatoren oder Gewebehormone bezeichnet werden, wie Prostaglandine, Bradykinin, Serotonin, Histamin u. a., entfalten ihre Wirkung auf parakrine Weise, z. B. bei der Entstehung von Entzündungen. Die Spezifität der parakrinen Signalübertragung hängt von der Art der erreichten Rezeptoren in der Nachbarschaft der Zelle ab; im Nervensystem wird die Spezifität durch die synaptische Organisation zusätzlich topographisch erhöht. Die regulatorische Wirkung einer Signalsubstanz auf die Zellen ihrer eigenen Synthese wird als autokrine Signalübertragung bezeichnet. So können etliche Peptide des Magen-Darm-Trakts ihre eigene Sekretion direkt beeinflussen. Im Nervensystem sind die Autorezeptoren der präsynaptischen Membran, z. B. α2-adrenerge Rezeptoren, ebenfalls der autokrinen Signalübertragung zuzuordnen.

Vom Gen zum Hormon Die Biosynthese aller Hormone läuft über eine Kaskade von Syntheseschritten ab. Die Peptidhormone sind direkte Expressionsprodukte ihrer Gene. Ihre Biosynthese folgt den allgemeinen Prinzipien für sezernierte Peptide über Präpro- und Prohormone. Die Synthese von Steroidhormonen, von Schilddrüsenhormonen und von Katecholaminen erfolgt durch die enzymatische Modifikation von Vorläufermolekülen.

Hormon Hormon und gesamter Inhalt der Sekretgranula

quenz, die den weiteren Syntheseweg über das endoplasmatische Retikulum und den Golgi-Apparat bestimmt (Einzelheiten s. Text und Abb.16.26, S. 536, in der die Biosynthese von POMC-Peptiden ausführlich dargestellt ist).

Nach ihrer chemischen Zusammensetzung werden die Hormone in drei Klassen eingeteilt: Peptidhormone, Lipide (Steroide) und Analoga von Tyrosin (Schilddrüsenhormone und Katecholamine). Dementsprechend sind ihre Biosynthesewege deutlich unterschiedlich. Die Hormonbiosynthese ist abgeschlossen, wenn das aktive Hormon vorliegt. Die meisten Hormone werden in ihrer aktiven Form sezerniert; andere werden erst später im Blut, im Gewebe oder in ihren Erfolgszellen „aktiviert“. Das gilt für die Bildung von Angiotensin II aus Angiotensinogen und von Calcitriol aus Vitamin D, für die Deiodierung von Thyroxin (T4) zu dem wirksameren Triiodthyronin (T3) und für die Umwandlung von Testosteron zu 5α-Dihydrotestosteron. Die Einzelheiten der Syntheseschritte sollten in den Lehrbüchern für Biochemie nachgelesen werden. Die Prinzipien der Biosynthese sind jedoch auch für die physiologische Wirkung der Hormone und für das Verständnis der Regulationsprinzipien im endokrinen System bedeutsam und werden daher hier kurz behandelt. Bei der Biosynthese der Peptidhormone (Abb. 16.4) enthält die an Ribosomen neu synthetisierte Polypeptidkette am aminoterminalen Teil eine hydrophobe Signalsequenz. Das Translationsprodukt mit dem Signalpeptid wird Präprohormon genannt. Mit Hilfe ihrer Signalpeptide werden die Vorläufermoleküle all der Peptide, die später sezerniert werden, in das endoplasmatische Retikulum eingeschleust (Abb. 16.16, S. 526) und dort in Mikrovesikeln zum Golgi-Apparat weitertransportiert. Nach enzymatischer Abspaltung des Signalpeptids im endoplasmatischen Retikulum wird das hierdurch entstandene Prohormon in Sekretgranula „verpackt“. Schon in den Mikrovesikeln und im Golgi-Apparat werden durch spezifische Peptidasen aus den größeren Prohormonen die biologisch aktiven Peptidhormone oder Neuropeptide abgespalten. Bei der sog. posttranslationalen

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16.2 Allgemeine Endokrinologie: Hormone sind Signalstoffe Modifikation werden auf dem Wege der Sekretgranula zur Peripherie der endokrinen Zelle oder, bei Neuronen, zu ihren Terminalen einige Peptide zusätzlich verändert, z. B. durch Amidierung, Glykosylierung oder Azetylierung. Hierdurch werden ihre Spezifität für den Rezeptor und die Kinetik ihres proteolytischen Abbaus charakteristisch verändert. Die große Zahl von Peptidhormonen und Neuropeptiden kann durch drei besondere Prinzipien ihrer Biosynthese erklärt werden: – Im Verlauf der Evolution haben Duplikation, Rekombination und Mutation zur Bildung von ähnlichen Genen geführt, deren Expressionsprodukte zu „Peptidfamilien“ zusammengefasst werden können (Tab. 16.4, S. 527). – Bei dem Schritt vom primären Transkriptionsprodukt (unreife RNA) zur mRNA können verschiedene Gensegmente unterschiedlich genutzt werden, wodurch aus einem Gen unterschiedliche Endprodukte entstehen können (alternatives Splicing). So wird durch Expression des Calcitonin-Gens in den C-Zellen der Schilddrüse Calcitonin und in ZNS-Neuronen das Neuropeptid CGRP (Calcitonin Gene-Related Peptide) synthetisiert. – Posttranslationale Modifikation: Durch unterschiedliche proteolytische Spaltungen und zusätzliche Modifikationen können nach der Translation aus einem Propeptid mehrere bioaktive Endprodukte entstehen. So entstammen die Melanocortine ACTH, MSH und β-Endorphin dem gemeinsamen Vorläuferpeptid POMC (Proopiomelanocortin). Die Peptidhormone werden in Sekretgranula in der Zelle gespeichert. Nach einem adäquaten Reiz wird jeweils nur ein kleiner Teil von ihnen durch Exozytose sezerniert. Neben der stimulierten gibt es auch eine basale „konstitutive“ Sekretion. Ob auch in endokrinen Zellen wie in einigen Neuronen unterschiedliche Sekretgranula für die basale und die stimulierte Sekretion existieren, ist noch nicht bekannt. Bei der Exozytose verschmelzen die Membranen der Sekretgranula mit der Zellmembran, und ihr gesamter Inhalt wird ausgestoßen. Die Steuerungen der Sekretion und der Biosynthese von Peptidhormonen sind offenbar miteinander gekoppelt; so beeinflussen einige hypothalamische Releasing-Hormone auch die Transkription des entsprechenden Hypophysenhormons. Auch die Katecholamine des Nebennierenmarks und alle anderen Neurotransmittersubstanzen werden durch Exozytose ihrer Vesikel sezerniert. Die meisten Neurone, auch die Zellen des Nebennierenmarks, synthetisieren und sezernieren gemeinsam sowohl Neuropeptide als auch „klassische“ Neurotransmitter („costorage“, „corelease“). Während die Proteinbiosynthese im Soma der Nervenzelle abläuft, werden die Neurotransmitter in den Terminalen der Nerven durch enzymatische Reaktionen aus den Aminosäurevorläufern synthetisiert und hier in Vesikeln gespeichert. Im Gegensatz zu den Peptiden können manche Neurotransmitter oder deren Metaboliten nach erfolgter Sekretion an der präsynaptischen Membran durch spezifische Transportproteine wieder aufgenommen und zur erneuten Synthese benutzt werden (Recycling). Die Steroidhormone aus der Nebennierenrinde und aus den Gonaden werden auf eine grundsätzlich andere Weise synthetisiert. Hier bildet Cholesterin den Vorläufer, aus dem in mehreren enzymatischen Schritten schließlich die drei Hauptsteroidgruppen entstehen: Mit 21 C-Atomen Aldosteron und Cortisol in der Nebennierenrinde und Progesteron im Ovar, mit 19 C-Atomen Androgene aus der Nebenniere und aus den Testes sowie mit 18 C-Atomen die Östrogene im Ovar. Calcitriol entsteht aus Calcidiol in der Niere (S. 400). Es ist ein Secosteroid, und auch seine Wirkungsweise entspricht den Steroiden. Eine wichtige weitere Steroidgruppe sind die Ecdysteroide, die das Kohlenstoffgrundgerüst von Cholesterin beibehalten und bei den Invertebraten als Hormone mit multiplen Funktionen vorkommen. Die Einzelheiten der Steroidbiosynthese werden in den entsprechenden Kapi-

teln näher behandelt. Die Steroidhormone werden im Gegensatz zu den Peptidhormonen und den Katecholaminen nicht gespeichert. Nach spezifischer Stimulation der steroidproduzierenden Drüse wird hier die enzymatische Synthese bis zum aktiven Hormon induziert. Dann diffundiert das Steroidhormon auf eine bisher noch nicht bekannte Weise, jedenfalls nicht in Sekretgranula verpackt, zur Zellperipherie und wird hier ausgeschleust.

Hormone im Blut: Transportproteine, Halbwertszeit, Metabolismus Das Schicksal von Peptid- und Steroidhormonen nach ihrer Sekretion in die Blutbahn ist grundsätzlich unterschiedlich und bestimmend für die jeweilige Halbwertszeit. Als Halbwertszeit im Plasma bezeichnet man jene Zeitdauer, nach der 50% eines Hormons (oder eines Pharmakons) aus dem Plasma eliminiert sind. Dies kann durch Metabolisierung, durch Ausscheidung und/oder durch Internalisierung des Hormons in seine Zielzelle geschehen. Peptidhormone haben im Allgemeinen eine sehr kurze Halbwertszeit im Blut (einige Minuten bis Stunden), da sie schnell durch Peptidasen zerstört werden. So gelangt nur ein kleiner Teil der sezernierten Hormone zu den Erfolgsorganen. Die Konzentration eines Peptidhormons im Plasma spiegelt also die Sekretionsleistung der entsprechenden Zellen mit einer nur geringen zeitlichen Verzögerung wider. Steroidhormone und Schilddrüsenhormone werden im Blut an größere, meist für das jeweilige Hormon spezifische Transportproteine gebunden (z. B. Steroidhormonbindendes Globulin, SHBG), wodurch sie vor schnellem Abbau und rascher Ausscheidung geschützt werden. Da nur das freie, ungebundene Hormon bioaktiv ist und ein Gleichgewicht zwischen dem gebundenen und dem freien Anteil besteht, kann das proteingebundene Hormon auch als eine zirkulierende Speicherform dienen. Dementsprechend betragen die Halbwertszeiten dieser Hormone Stunden bis mehrere Tage (Tab. 16.3). Die Inaktivierung der Hormone führt über ihren Abbau zur Ausscheidung. Peptidhormone werden inaktiviert durch Peptidasen, vor allem in der Niere (S. 371 f.) und im Plasma, durch Enzyme der Zielzelle nach Bindung des Hormons an seinen Rezeptor, durch Internalisierung des Hormon-Rezeptor-Komplexes (vor allem Insulin) und durch enzymatische Spaltung von Disulfidbrücken (z. B. ADH, Insulin). Glykoproteinhormone werden deutlich langsamer metabolisiert; so beträgt die Halbwertszeit von HCG ca. 4 Stunden. Die Steroidhormone werden hauptsächlich in der Leber durch Reduktion und Konjugatbildung mit Sulfaten und Glucuronsäure inaktiviert und so durch Verminderung ihrer Hydrophobizität zur Ausscheidung durch die Niere und die Galle vorbereitet. Der Abbau der Schilddrüsenhormone findet ebenfalls vorwiegend in der Leber statt. Er wird eingeleitet durch Deiodierungen, der sich Sulfatierungs- und Glukuronierungsschritte anschließen. Für die Diagnostik in der Klinik sind die Hormonkonzentrationen im Blut von großer Bedeutung. Sie sind sehr gering und betragen für Steroid- und Schilddrüsenhormone zwischen 10–6 und 10–11 mol/l und für Peptid- und Glykoproteinhormone zwischen 10–9 und 10–12 mol/l. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass für die meisten Hormone nicht ein stabiler Basalwert besteht wie bei der Homöostase von Ionen und Flüssigkeiten (Kap. 13),

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16 Endokrines System Tabelle 16.3 Zusammenfassung der wichtigsten Eigenschaften der drei großen Hormongruppen: Peptidhormone, Tyrosinabkömmlinge (Catecholamine und Schilddrüsenhormone) und Steroidhormone

Chemie

Peptidhormone

Catecholamine

Schilddrüsenhormone

Steroidhormone

3-191 Aminosäuren

Tyrosin-Abkömmlinge, OH in ortho-Stellung

Tyrosin-Abkömmlinge, Tri- und Tetraiodthyronine

Sterane mit 18 – 27 C-Atomen

hydrophil

hydrophil

hydrophob

hydrophob

Syntheseorte

ZNS, autonomes NS, Hypophyse, MagenDarm-Trakt u. a.

ZNS, autonomes NS

Schilddrüse

Nebennierenrinde, Ovar, Testis, Plazenta

Biosynthese

Proteinsynthese

enzymatisch aus Vorläufern

enzymatisch aus Vorläufern

enzymatisch aus Vorläufern

Sekretion

Exozytose von Sekretgranula

Exozytose von Sekretgranula

Diffusion

Diffusion

Transport

meist frei

meist frei

gebunden an Plasmaproteine und spezielle Transportproteine

gebunden an Plasmaproteine und spezielle Transportproteine

Blut-Hirn-Schranke

nicht (oder fraglich) permeabel

nicht (oder fraglich) permeabel

permeabel/Transporter? permeabel/Transporter?

Halbwertszeit im Blut

Minuten bis Stunden

Sekunden

Tage

Stunden

Abbau

Proteolyse in Plasma und Niere

enzymatisch, MAO, COMT

in der Leber durch Glukuronierung, Sulfatierung

in der Leber durch Glukuronierung, Sulfatierung

Rezeptoren

Zellmembran

Zellmembran

Zellkern

Zellkern, Zytosol

Wirkung

Aktivierung von Second-MessengerSystemen

Aktivierung von Second-MessengerSystemen

Kontrolle der Transkription und mRNAStabilität

Kontrolle der Transkription und mRNA-Stabilität

Wirkungsdauer

Minuten bis Stunden

Sekunden bis Minuten

Tage

Stunden bis Tage

sondern eine Sekretionsdynamik. Diese repräsentiert sowohl die langfristigen (z. B. Menstruation) als auch die schnelleren (z. B. pulsatile Sekretion) endogenen Rhythmen der Hormonsekretion und auch die aktuelle hormonelle Reaktion auf eine Belastung. Ein einzelner Hormonwert im Plasma ist somit nur dann aussagekräftig, wenn auch der Anteil von freiem und gebundenem Hormon (bei Steroid- und Schilddrüsenhormonen) und die Abnahmebedingungen (z. B. Tageszeit etc.) bekannt sind. Daher werden in der Klinik häufig Funktionstests mit mehreren Blutabnahmen durchgeführt.

Hormone wirken über Rezeptoren Zur Vermittlung der Hormonwirkung müssen die Signalsubstanzen ihre Erfolgszelle erreichen und von dieser „erkannt“ werden. Dies geschieht bei allen Hormonen durch hochmolekulare Rezeptoren. Erst nach Bindung an diese Rezeptoren werden die Hormonwirkungen in der Zelle induziert. Wie bei der Biosynthese und beim Transport benutzen auch hier die beiden großen Hormonklassen unterschiedliche Mechanismen, die als „Peptidrezeptortyp“ (gilt auch für Neurotransmitter) und als „Steroidrezeptortyp“ (gilt auch für T3, T4 und Calcitriol) bezeichnet werden. Peptidhormonrezeptoren befinden sich in der Zellmembran und induzieren nach Bindung des Hormons an ihre extrazelluläre Domäne intrazelluläre Systeme von Botenstoffen (Second Messenger), die die Hormonwirkungen hervorrufen.

Steroidrezeptoren dagegen binden nach Aktivierung durch das Hormon an spezifische DNA-Sequenzen und beeinflussen so direkt die Transkription. Rezeptoren sind durch zwei Eigenschaften charakterisiert: Sie erkennen die dreidimensionale Struktur der aktiven Substanz (hier das Hormon) und binden diese reversibel und nicht-kovalent. Hierfür ist die Interaktion von spezifischen Domänen des Rezeptors mit den entsprechenden Epitopen des Liganden verantwortlich (als „Ligand“ werden alle an Rezeptoren spezifisch bindende Substanzen bezeichnet). Zellmembranständige Rezeptoren binden Glykoprotein- und Peptidhormone, Katecholamine und andere Neurotransmitter sowie Wachstumsfaktoren. Die Bindung des Liganden an diese Rezeptoren induziert die Aktivierung einer für die jeweiligen Rezeptoren typischen Kaskade von Botenstoffen (metabotrope Rezeptoren, Second Messenger, S. 35 ff.). Für viele Peptidhormon- und Transmitterrezeptoren ist inzwischen das Muster „ihrer“ Second Messenger bekannt, ihre Liste wird durch neue Forschungsergebnisse laufend umfangreicher. Einige Neurotransmitter binden an Rezeptoren, die Ionenkanäle bilden (ionotrope Rezeptoren), deren Öffnung oder Schließung durch den Liganden aktiviert wird. Ganz anders ist das Wirkungsprinzip der Steroid- und Schilddrüsenhormone. Nach Durchtritt des Hormons

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16.2 Allgemeine Endokrinologie: Hormone sind Signalstoffe Schilddrüsen- und Steroidhormone

Peptidhormone

Biosynthese

Vorstufe

Enzyme

mRNA

Transport

Exozytose

freier Transport

Transportprotein

Wirkungsweise

Membranrezeptor

intrazellulärer Rezeptor

nd

2 messenger RNA

Protein

Zellwirkung

Abbau

durch die Zellwand und Bindung an einen nukleären oder zytoplasmatischen Rezeptor bindet dieser aktivierte Hormon-Rezeptor-Komplex an spezifische DNA-Sequenzen und beeinflusst so die Transkription. Durch Translation der hierdurch induzierten mRNA werden spezifische Proteine synthetisiert, welche dann die eigentliche Hormonwirkung hervorrufen (Abb. 16.42, Abb. 16.43, S. 549). Neuerdings gibt es auch Hinweise für die Existenz von membranständigen Steroidrezeptoren, die einerseits den Eintritt des Hormons in die Zelle vermitteln, in anderen Fällen auch eigenständige Hormonwirkungen auslösen können (nichtgenomische Steroidwirkungen). Regulierung der Rezeptoren: Die „Aktivität“ der Rezeptoren unterliegt einer fein regulierten Dynamik sowohl der Anzahl der Rezeptoren (Rezeptordichte) in einer Zelle als auch ihrer Bindungsstärke (Rezeptoraffinität). Das hauptsächliche Prinzip der Regulierung der Rezeptoren besteht in einer Aktivitätsverminderung der Rezeptoren (Down-Regulation) nach längerer Exposition mit Liganden. Bei einigen Peptidhormon- und Transmitterrezeptoren wird nach Bindung des Liganden der Rezeptor-HormonKomplex durch Transport in die Zelle (Internalisierung) inaktiviert (z. B. Insulinrezeptor und β-Adrenozeptor). Da die meisten Hormone eine Vielzahl von biologischen Funktionen haben und da zusätzlich unterschiedliche Hormone ähnliche oder gleiche Wirkungen hervorrufen können, wäre eine Einteilung der Hormone nach dem jeweiligen spezifischen Rezeptortyp sehr hilfreich. Bisher wird eine solche Klassifizierung erfolgreich bei den verschiedenen Steroidhormonen angewendet (z. B. Mineralocorticoid- und Glucocorticoidrezeptoren). Bei den Peptidhormonen gibt es wahrscheinlich für jedes Peptid mehrere unterschiedliche Rezeptortypen, ähnlich wie es bisher von Transmittersubstanzen bekannt ist. So sind für ADH (Vasopressin) V1- und V2-Rezeptoren bekannt, über die jeweils unterschiedliche biologische Effekte dieses Hormons vermittelt werden (Abb. 16.15, S. 525). Daher auch die beiden Namen für dieses Hormon: Adiuretin (V2-Rezeptoren in der Niere) und Vasopressin (V1-Rezeptoren an der Gefäßmuskulatur). In Abb. 16.5 sind die wesentlichen Merkmale der Hormonklassen noch einmal zusammengefasst.

Peptidasen in Niere und Plasma

DNA

Zellwirkung

Leber: Glukuronierung und Sulfatierung Blut

Abb.16.5 Biosynthese, Transport und Wirkungsweise von Peptid-(Proteo-)Hormonen sowie von Schilddrüsenund Steroidhormonen. Die prinzipiellen Unterschiede beider Hormongruppen beruhen hauptsächlich auf dem Maß ihrer Hydrophilität (s. Text und Tab. 16.3, S. 516).

Wie werden hormonelle Systeme reguliert? Die Hormonwirkung muss entsprechend den endogenen Rhythmen und den jeweiligen akuten Anforderungen des Organismus reguliert werden. Dies geschieht auf allen Ebenen der endokrinen Systeme, also der Hormonsynthese, der Sekretion, des Transports, des Rezeptors, der Wirkung und des Hormonmetabolismus. Hierbei ist die negative Rückkopplung die häufigste Regelart. Die „basale“ Hormonsekretion folgt bei den meisten endokrinen Systemen spezifischen endogenen Rhythmen: Sie ändert sich im Verlauf vieler Jahre (Alterungsprozesse, z. B. STH und Testosteron), mehrerer Wochen (Menstruationszyklus, z. B. Östrogen und Progesteron), eines Tages (circadian, z. B. Cortisol) oder in noch kürzeren Zeitabständen (ultradian und pulsatil, z. B. GnRH).

Hormone steuern ihre eigene Sekretion: negative und positive Rückkopplung Bei einer Rückkopplungs- oder Feedback-Regulation (S. 10 ff.) beeinflusst ein Hormon (oder ein von ihm gesteuerter Metabolit) auf direktem oder indirektem Wege seine eigene Sekretion (z. B. Glucagon-Regulation, Abb. 16.6). Funktionell ist die Feedback-Regulation in neuroendokrinen Systemen besonders wichtig. Bei einer funktionellen Verbindung von verschiedenen endokrinen Drüsen spricht man von einer „Hormon-Achse“. In Abb. 16.7 sind die allgemein gültigen Verhältnisse für die Achsen Hypothalamus – Hypophyse – periphere Drüsen dargestellt. Das regulierte periphere Hormon (Steroide und Schilddrüsenhormone) bewirkt über eine negative Rückkopplung die Verminderung der Sekretion des entsprechenden glandotropen Hormons der Hypophyse.

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16 Endokrines System

Leber

Synthese

Glucagon Glucose A-Zellen Pankreas

Blut Blutglucose

Abb.16.6 Regulation der Glucagonsekretion durch Glucose. Bei Erniedrigung der Glucosekonzentration im Plasma wird die Sekretion von Glucagon stimuliert, wodurch Synthese und Freisetzung von Glucose aus der Leber angeregt werden. Beim Anstieg der Blutglucosekonzentration wird die Glucagonsekretion gehemmt. Diese Regulation kann als einfache Form einer Rückkopplung gelten.

Hierbei kann der Angriffspunkt direkt in der Hypophysenzelle, in hypothalamischen neurosekretorischen Neuronen und in höheren Zentren wie im limbischen System (bei Glucocorticoiden und Sexualsteroiden) liegen. Die Besonderheiten einzelner Regelkreise werden auf S. 530 und 543 besprochen. Neben diesem negativen Feedback-Mechanismus sind auch Beispiele einer positiven Rückkopplung bekannt. So wird der zur Auslösung der Ovulation notwendige steile Anstieg der Gonadotropinsekretion (LH u. FSH) durch einen vorausgehenden Sekretionsschub des Sexualhormons Östrogen vom Tertiärfollikel induziert. In allen anderen Phasen des Menstruationszyklus unterliegt dieses System jedoch einer negativen Rückkopplung durch Östrogen und Progesteron (S. 564 ff). Neben der Rückkopplung auf humoralem Wege werden einige endokrine Systeme über nervale Afferenzen von peripheren Rezeptoren bzw. Sensoren gesteuert. So werden durch Stimulation der Brustwarze die Laktationshormone Prolactin und Oxytocin vermehrt sezerniert (S. 583 u. Abb. 16.16, S. 526) und über Osmorezeptoren und Pressorezeptoren die Sekretion von Adiuretin, Angiotensin II oder Atriopeptin (ANF) reguliert (Kap. 13).

Die Sekretion vieler Hormone erfolgt rhythmisch Die oben geschilderten Verhältnisse gelten für die Regulation der akuten Hormonsekretion gemäß den aktuellen Anforderungen. Neben dieser Kontrolle der Hormonsek-

retion durch ihre Effekte gibt es jedoch einige übergeordnete Regulationsprinzipien. Hierzu zählen die Regulation über die Höhe des Hormonspiegels (Amplitudenregulation) und über die Anzahl von Sekretionsepisoden in einer bestimmten Zeit (Frequenzmodulation). In Abb. 16.8 sind die entsprechenden zeitlichen Verhältnisse dargestellt. Innerhalb von Millisekunden erfolgt die Nachrichtenübermittlung im nervalen System. Die messbaren Regulationen in endokrinen Systemen dagegen spielen sich in viel längeren Zeiträumen ab. Nach ihrem zeitlichen Ablauf können verschiedene endokrine Rhythmen charakterisiert werden: – Bei einer Frequenz der Hormonsekretion von einigen Minuten und Stunden spricht man von episodischer oder, bei einem spezifischen Rhythmus, von pulsatiler Sekretion. Die pulsatile Sekretion von GnRH hat eine Rhythmusperiode von ca. 90 Minuten und ist ein wichtiges Frequenzsignal beim Ovulationszyklus und bei den Reifungsprozessen in der Pubertät. Dieser 90Minuten-Rhythmus findet sich auch in der basalen Aktivität anderer physiologischer Systeme (z. B. im vegetativen Nervensystem) und wird als Basic Rest Activity Cycle (BRAC) bezeichnet. – Endogene Rhythmen mit einer 24-Stunden-Periodik werden als circadian oder diurnal bezeichnet. Sie sind besonders ausgeprägt bei der Sekretion von Cortisol und Testosteron. Die Sekretion von Wachstumshormon wird besonders aktiviert in der ersten Tiefschlafphase. Melatonin ist das Hormon der Dunkelheit und wird nur nachts ausgeschüttet. – Eine weitere zeitliche Dimension von endogenen Rhythmen und Sekretionsmustern stellt der Ovulationszyklus dar, der nach einem stabilen Muster über jeweils rund 28 Tage abläuft (Kap. 17). – Einige Hormonsysteme folgen über viele Monate oder Jahre und sogar lebenslang wichtigen endogenen Rhythmen. Das gilt insbesondere für die neuronalen und endokrinen Mechanismen der Einleitung der Pubertät, für die Schwangerschaft (Kap. 17) und für Veränderungen der Hormonsekretion beim Altern (Kap. 2.8).

Wie werden Hormone gemessen? Für die physiologische Forschung, für die klinische Diagnostik und für die Beurteilung des Therapieverlaufs bei vielen Krankheiten ist es notwendig, die Plasmahormonkonzentrationen exakt zu bestimmen. Rein chemische Methoden haben sich dabei wegen der sehr geringen Hormonkonzentrationen (S. 515) nicht bewährt. Jedoch werden mit neueren Technologien wie der Hochleistungs-Flüssigkeitschromatographie und anschließender Detektion über UV-Adsorption, über Fluorimetrie nach Derivatisierung oder über elektrochemische Detektion zunehmend auch solche Methoden für Hormonbestimmungen im Plasma verwendet werden können (z. B. Catecholamine und Steroide). Die ersten Hormonbestimmungen beruhten auf dem Nachweis ihrer biologischen Wirkung. Für die daraus entwickelten Bioassays wurden bei In-vivo-Methoden Versuchstiere benutzt, bei denen die Drüse für jenes Hormon, dessen Aktivität im menschlichen Plasma bestimmt werden sollte, entfernt werden musste. So kann z. B. die Aktivität von Gonadotropinen, etwa im Urin von Schwangeren, durch das Wachstum von Sexualorganen

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16.3 Der Hypothalamus als neuroendokrine Schaltstelle ZNS-Strukturen und Hypothalamus Neuropeptide Neurotransmitter Releasing-Hormone (CRH, GHRH, GnRH, TRH) Inhibiting-Hormone (SIH, Dopamin)

ZNS

Adenohypophyse (HVL) nichtglandotrope Hormone (STH, PRL) glandotrope Hormone (ACTH, TSH, LH, FSH)

„kurzes“ Feedback

periphere Drüsen (Schilddrüse, NNR und Gonaden) periphere Hormone (T4 , T3 und Steroide)

langer FeedbackMechanismus

Hormone Stoffwechselprodukte

Zielgewebe metabolische Wirkung

Abb.16.7 Regulation in neuroendokrinen Hormonsystemen. Die neuroendokrinen Regelkreise bestehen aus den Ebenen Hypothalamus, Hypophyse und periphere Drüsen. Die Hormone der peripheren Drüsen hemmen über einen negativen Feedback-Mechanismus die Sekretion der hypothalamischen und hypophysären Hormone ihrer „HormonAchse“. Das „nichtglandotrope“ Hypophysenhormon STH

bei hypophysektomierten Mäusen bestimmt werden. Für die biologische Testung können auch sehr sensible In-vitro-Modelle verwendet werden, bei denen die zu untersuchende Probe zum Medium von Zellkulturen entsprechender Effektorzellen gegeben wird. Der hierdurch hervorgerufene biologische Effekt auf die Zellkultur gilt als Maß für die Hormonaktivität. So wird z. B. die Produktion von Corticosteron durch Nebennierenrindenzellen der Ratte als Parameter der ACTH-Aktivität in einer Probe verwendet. Große Bedeutung haben sehr empfindliche und spezifische Methoden erlangt, bei denen Antikörper gegen Hormone benutzt werden. Zur besseren Messbarkeit der Reaktionsprodukte werden hierbei markierte Hormonmoleküle benutzt, die entweder aufgrund ihrer Radioaktivität (Radioimmunoassays, RIA) oder durch eine Kopplung an ein Enzym (Enzyme-linked immunosorbent assay, ELISA) gemessen werden können. Das Prinzip radioimmunologischer Methoden ist in Abb. 16.9 gezeigt. Hier konkurriert ein radioaktiv markiertes Hormon, das dem Assaysystem zugesetzt worden ist, mit dem zu bestimmenden gleichartigen Hormon aus dem Plasma um Bindungsstellen am Antikörper. Bei diesen Reaktionen stellt sich ein Gleichgewicht ein. Der Zustand dieses Gleichgewichts wird nach der Trennung des an Antikörper gebundenen (B) von dem „freien“ Hormon (F) gemessen. Daraus kann auf Standardkurven die Konzentration des Hormons in der Testprobe abgelesen werden. Es gibt inzwischen viele Variationen dieser grundlegenden Technik, die zur schnellen Entwicklung der Endokrinologie und Immunologie beigetragen hat. Zur Bestimmung von Hormonen werden neuerdings auch Rezeptorassays verwendet, bei denen die Bindung an den spezifischen Rezeptor zur Quantifizierung des Hormons gemessen wird. Nach einem ähnlichen Prinzip kann auch die spezifische Bindungsfähigkeit von aus einem Patienten isolierten Rezeptoren

wird durch Produkte seiner metabolischen Wirkung (z. B. Aminosäuren und Glucose) reguliert. (Neben den hier geschilderten Prinzipien des negativen Rückkopplungsmechanismus werden die endokrinen Systeme auf allen Ebenen der Biosynthese, der Sekretion, des Transports, der Wirkung und der Ausscheidung spezifisch reguliert.)

bestimmt werden. Zum Beispiel dient die Bestimmung von Östrogenrezeptoren in einer Präparation aus Gewebe maligner Tumoren der Brustdrüse zur Beurteilung der Prognose einer entsprechenden Hormontherapie. Neuerdings gibt es auch die Möglichkeit, Hormone durch auf Ziellinien basierenden rekombinanten Rezeptor-Assays zu messen. Ebenso sind Bestimmungen entwickelt worden, bei denen die Signalintensität, im Gegensatz zum RIA, proportional zur Menge des zu messenden Hormons ist (z. B. IRMA und IFMA).

16.3

Der Hypothalamus als neuroendokrine Schaltstelle

Der Hypothalamus ist mit bidirektionalen Verbindungen zu anderen ZNS-Arealen, den Hormonen der Neurohypophyse, der humoralen Steuerung der Adenohypophyse und Interaktionen mit dem Immunsystem der Integrationsort hormonaler und nervaler Systeme. Er kontrolliert somit vitale Körperfunktionen. So reguliert er z. B. das körperliche Wachstum, die Homöostase der Osmolarität und der Energiebilanz, Sexualfunktionen und -verhalten. Auch höhere Hirnfunktionen wie Aufmerksamkeit und Schlaf-Wach-Rhythmus (in Interaktion mit der Zirbeldrüse) u. a. m. werden vom Hypothalamus beeinflusst. Wegen dieser engen Verknüpfung des endokrinen Systems mit dem Nervensystem kommt der funktionellen Einheit Hypothalamus – Hypophyse eine besondere

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16 Endokrines System Minuten Insulin Ovulation

Minuten

40

60

80

GnRH (pg/ l)

GnRH

LH

20

20 10

10

0

2

4

Stunden

6

diurnal/zirkadian 20

20

Cortisol STH 10

10

00

8

12

00

16

00

20

00

00

24

4

00

STH (ng/ml)

24 Stunden

Schlaf

50

LH (mU/ml)

Stunden 90 min

LH

1

Monate 0,4

Östradiol 0,2

Tage

12 –14

Östradiol (ng/ml)

20

100

Menstruation

0

LH (mU/ml)

4

28

Lebenszeit Testosteron 10

500

STH 5

STH (ng/ml)

8

Testosteron (ng/dl)

Insulin (mU/l)

12–15 min

Cortisol (pg/ l )

520

100 0

Jahre

20

40

60

80

00

8

Tageszeit

Abb.16.8 Sekretionsdynamik in Hormonsystemen. Viele Hormone werden in für sie typischen Rhythmen sezerniert, die als „Frequenzmodulation“ ein wichtiges Regelprinzip für Hormone darstellen. Die zeitlichen Dimensionen dieser

Bedeutung zu. Sämtliche hypothalamischen hormonproduzierenden Neurone stehen nicht nur unter der Feedback-Kontrolle der entsprechenden Hormon-Achsen, sondern sie werden auch durch vielfältige Einflüsse des ZNS reguliert. Dies wird besonders sichtbar bei der zentral gesteuerten Regulation der Hormonsekretion in endogenen Rhythmen und beim Einfluss von starken emotionalen Belastungen auf die Hormonsekretion. Die Neuropeptide des Hypothalamus beeinflussen nicht nur die Sekretion der Hypophyse, sondern sie haben auch wichtige Einflüsse auf ZNS-Prozesse (z. B. Temperaturregulation und zentrale Kontrolle des sympathischen Nervensystems). Sie werden außerdem in Neuronen extrahypothalamischer Regionen synthetisiert. So ist das Gehirn nicht nur ein wichtiger Syntheseort für Hormone (das Gehirn als „endokrine Drüse“), sondern auch ein Zielorgan für Hormone aus dem Hypothalamus und auch aus der Körper-Peripherie. Mit der zunehmenden Kenntnis von ZNS-Effekten, die durch im Blut zirkulierende Hormone und andere Signalsubstanzen hervorgerufen werden, ist es angebracht, in Analogie zum Nervensystem die Definition von humoralen Afferenzen und Efferenzen einzuführen. In diesem Kontext sind die Hormone des Hypothalamus humorale Efferenzen und die zirkulierenden

Rhythmen erstrecken sich von einigen Minuten wie beim Insulin bis zu solchen, die Lebensabschnitte bestimmen, wie bei den Sexualsteroiden. (Alle Ordinaten sind Plasmakonzentrationen.)

Hormone humorale Afferenzen. Solche humoralen Afferenzen, insbesondere der Steroidhormone und der Schilddrüsenhormone, entfalten wichtige Effekte bei der Differenzierung und Entwicklung des Gehirns und bei vielen anderen ZNS-Funktionen (z. B. Beeinflussung der Empfindlichkeit für zahlreiche sensorische Reize, Regulation vieler Verhaltensmuster, Beeinflussung so komplexer Vorgänge wie Aufmerksamkeit, Lernen, Gedächtnis, Schlaf und Altern).

Funktionelle Organisation: humorale und nervale Signale Die Hypophyse ist ein wichtiges Steuerorgan im endokrinen System. Sie liegt im Türkensattel der Schädelbasis und ist nach kranial durch ein Diaphragma cerebri gegenüber dem Gehirn abgegrenzt. Die Adenohypophyse bildet den deutlich größeren Hypophysenvorderlappen (Pars anterior), die Neurohypophyse den Hypophysenhinterlappen. Beide Hypophysenanteile sind unterschiedlichen embryonalen Ursprungs. Die Adenohypophyse entwickelt sich aus der sog. Rathke-Tasche, die dem ektodermalen epithelialen Teil entstammt. Dagegen ist die Neurohypophyse ein Teil des Gehirns (S. 522). Die

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16.3 Der Hypothalamus als neuroendokrine Schaltstelle

gebundene, markierte Moleküle (

)

kein Hormon in der Probe

Hormon Tracer Antikörper

+

limbisches System zirkumventrikuläre Organe

Thalamus

8

+

7

Hypothalamus ventromedial, lateral: rostral vegetative Zentren

6 5 4

III.Ventrikel 3 2

+

1 0

0

1

10

100

Moleküle in der Probe ( )

Abb.16.9 Prinzipien einer radioimmunologischen Hormonmessung (RIA). Auf der rechten Seite sind die Reaktionspartner „Antikörper“ und markiertes Hormon (Tracer) in ihrem jeweiligen Bindungsverhältnis dargestellt. Durch Zugabe von definierten Mengen von nichtmarkiertem Hormon wird der Anteil des am Antikörper gebundenen Tracers konzentrationsabhängig vermindert (Verdrängungskurve oder Standardkurve). Die Hormonkonzentration in einer Probe, z. B. Blutplasma, verändert das Bindungsverhältnis in einem RIA in gleichem Maße wie das Standardhormon und kann so von der Standardkurve „abgelesen“ werden.

Hypophyse wiegt beim Menschen ca. 1 g und produziert sechs lebenswichtige Hormone, die nahezu das gesamte periphere endokrine System steuern. Die zwischen beiden Hypophysenanteilen liegende Pars intermedia (Hypophysenzwischenlappen) ist beim Menschen nur in der fetalen Periode ausgebildet. Bei anderen Vertebraten enthält der Zwischenlappen POMC-Zellen, die als ihr Hauptprodukt αMSH sezernieren (S. 536).

Die topographische Lage des Hypothalamus prädestiniert dieses Gebiet als Schaltstelle verschiedener humoraler und nervaler Funktionskreise (Abb. 16.10). Der Hypothalamus ist ein nur kleiner ventraler Teil des Dienzephalons, in der Nähe des dritten Ventrikels. In seiner medialen, ventrikelnahen Region enthält er mehrere Kerngebiete, in deren Neuronen Peptidhormone synthetisiert werden, die die Funktion der Adenohypophyse steuern. Es wird daher auch als hypophyseotropes Areal bezeichnet. Die Axone projizieren zur Eminentia mediana an der rostralen Seite des Hypophysenstiels und geben hier ihr Neurosekret in das hypothalamohypophysäre Portalkreislaufsystem ab. Durch dieses spezielle Blutgefäßsystem werden auf einem kurzen (schnellen) Weg die Neurosekrete der rostralen Hypothalamuskerne zu den Zellen der Adenohypophyse transportiert. Das Portalgefäßsystem beginnt im Bereich der medianen Eminenz als primärer Kapillarplexus, der in kurze sinusoide Portal-

Portalkreislauf Adenohypophyse

Eminentia mediana Releasing-Hormone, Inhibiting-Hormone

Neurohypophyse

ACTH, TSH, STH, Oxytocin, LH/FSH, Prolactin ADH

nerval humoral

Abb.16.10 Hypothalamohypophysäres System. Die Hormone des hypophyseotropen Hypothalamus werden an der Eminentia mediana sezerniert und über das hypophysäre Portalgefäßsystem zur Adenohypophyse transportiert. In der Neurohypophyse enden hypothalamische Neurone, die hier ADH und Oxytocin ins Blut sezernieren (grüne Pfeilspitze; an der Eminentia mediana wird ADH auch ins Portalgefäßsystem abgegeben). Die bidirektionalen Verbindungen des Hypothalamus mit anderen Teilen des ZNS sind durch blaue Pfeile angedeutet.

gefäße mündet. Diese ziehen durch den Hypophysenstiel und enden schließlich als Kapillaren, die die Hypophysenzellen umgeben. Die neurosekretorischen Neurone aus dem magnozellulären Bereich des Nucleus paraventricularis und des Nucleus supraopticus ziehen größtenteils über die Eminentia mediana hinweg und enden in der Neurohypophyse. Ihre neurosekretorischen Produkte, Adiuretin (ADH, Vasopressin) und Oxytocin, werden hier in den Körperkreislauf abgegeben. (Ein kleinerer Teil der Axone endet an der Eminentia mediana, um hier Adiuretin auch in den Portalkreislauf abzugeben.) Neben der neurosekretorischen Funktion haben die gleichen Neurone und solche aus anderen hypothalamischen Kerngebieten enge nervale Verbindungen zu wichtigen Zentren des vegetativen Nervensystems im lateralen Hypothalamus, zum limbischen System, zum Thalamus und anderen Hirngebieten.

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522

16 Endokrines System Zentralnervensystem Hypothalamus

Subfornikalorgan Glandula pinealis

4 1

III. Ventrikel

zirkumventrikuläres Organ

Blut-HirnSchranke

6

5

3

Portalgefäß

Hypothalamus

IV. Ventrikel

Organum vasculosum laminae terminalis

Adenohypophyse

Eminentia mediana

Neurohypophyse 2

Neurohypophyse

z.B. Angiotensin II z. B.

Area postrema

Abb.16.11 Topographie der zirkumventrikulären Organe (CVO). Die zirkumventrikulären Organe liegen außerhalb der Blut-Hirn-Schranke, so dass z. B. Peptidhormone hier als humorale Afferenzen wirken können.

Einige hypophysäre Hormone können über einen retrograden Blutfluss zum Hypothalamus transportiert werden und dienen so wahrscheinlich der Regelung von hypophysiotropen Faktoren in der „kurzen“ Rückkopplungsschleife (Abb. 16.7, S. 519). Der Hypothalamus liegt in enger topographischer Beziehung zu den (weniger als 0,1 % der gesamten Kapillaroberfläche ausmachenden) Anteilen des Hirngefäßsystems, bei denen die Blut-Hirn-Schranke nicht ausgebildet ist: zirkumventrikuläre Organe (Abb. 16.11). Die Strukturen Eminentia mediana, Organum vasculosum laminae terminalis (OVLT) und das Subfornikalorgan sowie die Neurohypophyse sind solche zirkumventrikulären Organe, die in der Nähe des Hypothalamus liegen. Über Rezeptoren in den zirkumventrikulären Organen können auch Hormone und andere Signalsubstanzen, für die sonst die Blut-Hirn-Schranke eine Barriere darstellt, als humorale Afferenzen hypothalamische Neurone erreichen (Abb. 16.12). Während Steroid- und Schilddrüsenhormone (wegen ihrer Lipophilität) die Blut-Hirn-Schranke überwinden können, stellt sie für Peptidhormone und Cytokine eine Barriere dar. Einige Peptide können aber über Rezeptoren an den zirkumventrikulären Organen (z. B. Angiotensin II) oder über eine rezeptorvermittelte Transzytose (selten, für Insulin nachgewiesen) die Blut-HirnSchranke überwinden. Bisher sind unsere Kenntnisse auf diesem Gebiet trotz der medizinischen Relevanz (z. B. bei der Fieberentstehung durch Cytokine) noch relativ begrenzt.

ACTH

Oxytocin

Steroide

Peptide Insulin

Peripherie humorale Efferenzen

humorale Afferenzen

Abb.16.12 Humorale Verbindungen des ZNS mit der Körperperipherie. Auf der linken Seite sind die humoralen Efferenzen dargestellt (s. a. Abb.16.10). 1 Sekretion der hypophyseotropen Hormone in den Portalkreislauf, wodurch die adenohypophysären Hormone freigesetzt werden. 2 Direkte Neurosekretion der neurohypophysären Hormone in die Zirkulation. Auf der rechten Seite sind die verschiedenen Möglichkeiten der Interaktion der humoralen Afferenzen mit der Blut-Hirn-Schranke dargestellt. 3 Blut-HirnSchranke als Barriere für hydrophile Substanzen (z. B. Peptidhormone und Cytokine); 4 Diffusion durch die Blut-HirnSchranke von lipophilen Substanzen (z. B. Steroide und Schilddrüsenhormone); 5 Interaktion von Peptiden mit ZNS-Rezeptoren in den zirkumventrikulären Organen (z. B. Angiotensin II); 6 Substanzen, die über eine rezeptorvermittelte Transzytose die Blut-Hirn-Schranke überwinden (z. B. Insulin).

Die Hormone der Neurohypophyse: Adiuretin (ADH, Vasopressin) und Oxytocin Oxytocin und Adiuretin werden in Neuronen der magnozellulären Hypothalamuskerne synthetisiert, zu ihren Axonterminalen in der Neurohypophyse transportiert und hier durch Neurosekretion als Homone in den Körperkreislauf abgegeben. Adiuretin reguliert die Wasserrückresorption in der Niere, wirkt vasokonstriktorisch und setzt in der Adenohypophyse ACTH frei. Patienten mit einem Adiuretinmangel (Diabetes insipidus centralis) scheiden ca. 20 l Urin pro Tag aus. Oxytocin verstärkt beim Geburtsvorgang die Kontraktion der Uterusmuskulatur und fördert beim Stillen die Ejektion der Milch. Die Neurohypophyse ist eine Erweiterung des ventralen Hypothalamus und bildet den Hinterlappen der Hirnanhangdrüse, während die Adenohypophyse deren Vorderlappen darstellt (Abb. 16.10). Die Neurohypophyse wird aus marklosen Nervenfasern und deren neurosekretori-

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16.3 Der Hypothalamus als neuroendokrine Schaltstelle schen Terminalen gebildet (Abb. 16.13). Die Zellkörper dieser Neurone liegen im vorderen Hypothalamus in den magnozellulären Neuronen des Nucleus paraventricularis und des Nucleus supraopticus. So ist die Neurohypophyse eine spezialisierte neurosekretorische Einheit hypothalamischer Neurone, deren Hormone in den Körperkreislauf abgegeben werden. Ihre Hormone, Adiuretin und Oxytocin, werden daher auch als neurohypophysäre Hormone bezeichnet. Biosynthese und Sekretion. Adiuretin und Oxytocin werden in Neuronen des Nucleus paraventricularis und des Nucleus supraopticus synthetisiert. (Sie können auch in der Körperperipherie, nämlich im Nebennierenmark, in den Ovarien und Testes synthetisiert werden.) Beide Peptidhormone bestehen aus 9 Aminosäuren (Nonapeptide) in einer deutlichen Sequenzhomologie. Sie haben sich in der Evolution der Vertebratenhormone aus einer gemeinsamen Vorstufe, dem Vasotocin, entwickelt. Daher sind die Gene für ihre Prohormone sehr ähnlich (Abb. 16.14). Nach der Signalsequenz folgen jeweils das Nonapeptidhormon und ein größeres Peptid, das Neurophysin genannt wird. Neurophysin I wird zusammen mit Oxytocin, Neurophysin II zusammen mit Adiuretin synthetisiert. Das Adiuretin-Prohormon enthält zusätzlich ein Glykoprotein, das jedoch dem Oxytocinvorläufer fehlt. Ob die Neurophysine und das Glykoprotein eine eigene biologische Bedeutung haben, ist nicht bekannt.

Die Sekretion von Adiuretin und Oxytocin erfolgt über weitergeleitete Aktionspotenziale, die in den neuronalen Terminalen die zytosolische Ca2+-Konzentration erhöhen und so die Exozytose auslösen. Die Wirkungen von Adiuretin sind vielfältig, sowohl in seiner Funktion als peripheres Hormon als auch als Neurotransmitter/Modulator im ZNS (Abb. 16.15). – Die physiologisch wichtigste Funktion von Adiuretin ist die Regulation der Rückresorption von Wasser am Sammelrohr der Niere (V2-Rezeptoren); es ist das antidiuretische Hormon (ADH) des Körpers und wird daher in den Kapiteln 12 und 13 näher beschrieben (S. 352 ff. und 388 f.). – Adiuretin hat neben seiner antidiuretischen Funktion an der Niere in höherer Konzentration auch eine deutliche vasokonstriktorische Aktivität (V1-Rezeptoren) und wird daher auch als „Vasopressin“ (AVP = Arginin-Vasopressin) bezeichnet. Diese Wirkung ist bisher nur als pathophysiologisch bedeutsamer Effekt (hoher Blutverlust) angesehen worden, da nur mit einer vielfach höheren Konzentration als beim antidiuretischen Effekt ein systemischer Blutdruckanstieg erreicht werden konnte. Neuere Untersuchungen zeigen jedoch, dass Vasopressin auch physiologischerweise die lokale Gewebedurchblutung in verschiedenen Körperregionen beeinflusst. – Adiuretin wird nicht nur aus den Terminalen in der Neurohypophyse sezerniert, sondern gelangt über Axon-Endigungen im Bereich der Eminentia mediana auch in den hypophysären Portalkreislauf. Über diesen Weg wirkt es zusammen mit CRH als ein wichtiges hypophyseotropes Releasing-Hormon zur Stimulation der ACTH-Sekretion (S. 535 ff.). – Zusätzlich werden Adiuretin auch ZNS-Funktionen zugeschrieben, wie Beteiligung an der Temperaturregu-

Adiuretin

Oxytocin

Abb.16.13 Adiuretin- und Oxytocinsekretgranula in der Neurohypophyse. Die Identifikation der Hormone in den Granula erfolgte durch spezifische Antikörper mit der Technik der Immunzytochemie. Im elektronenmikroskopischen Bild sind die Terminalen der Adiuretin- (Vasopressin-) und Oxytocinneurone des magnozellulären Hypothalamus auch morphologisch zu differenzieren. (Neben den hier dargestellten hauptsächlichen Sekretionsprodukten enthalten die Terminalen auch noch andere regulative Peptide, wie z. B. Enkephaline und CCK.)

lation, am Trinkverhalten und an Gedächtnisprozessen. Der zelluläre Mechanismus der Adiuretinwirkung hängt von seinen Rezeptortypen ab. Der V2-Rezeptor der Niere ist mit dem cAMP-System gekoppelt, während die V1Rezeptoren der Blutgefäße hauptsächlich über das Phosphatidylinositolsystem wirken (S. 38 f.). Die unterschiedlichen Wirkungen von Adiuretin werden in der Klinik auch therapeutisch genutzt, da neuerdings synthetisch hergestellte Analoga zur Verfügung stehen, die eine hohe Spezifität für eine der Partialfunktionen des Hormons besitzen. Für die Wirkung beim Menschen sind die Amidierung der carboxyterminalen Aminosäure (-Gly-NH2) und die Ringbildung über die Schwefelbrücken der beiden Cysteinmoleküle essenziell. So gibt es ein hochpotentes antidiuretisches Präparat, das über den spezifischen Adiuretin-V2-Rezeptor an der Niere wirkt. Es wird bei Patienten mit Diabetes insipidus centralis als Substitutionstherapie eingesetzt. Solche Patienten haben einen Mangel an Adiuretin. Daher ist die renale Rückresorption von Wasser reduziert oder aufgehoben, so dass Urinmengen bis 24 l pro Tag ausgeschieden werden (Kap. 12 u. 13). Für die Blutstillung und Vasokonstrik-

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523

524

16 Endokrines System P 2

1

Tyr

Cys

3 Phe

S

Glu

S

4

NH2

r

p

r

o

a

d

i

u

r

e

t

i

n

Signalpeptid –19

Adiuretin (ADH)

ä

COOH 1

9

107

147

N e u r o p h y s i n II 5 Asn

Cys

Pro

Arg

Gly

6

7

8

9

NH2 Glykoprotein

Adiuretin P r ä p r o o x y t o c i n 2

1

Tyr

Cys

3

Ile

S

4

Glu

S

5 Asn

NH2

COOH 1

9

106

Oxytocin

N e u r o p h y s i n I

Cys

Pro

Leu

Gly

6

7

8

9

NH2

Abb.16.14 Struktur von Adiuretin und Oxytocin und ihrer Präprohormone. Beide Hormone haben eine starke Strukturhomologie (nur 2 Aminosäuren sind unterschiedlich), und ihre Vorläufermoleküle sind ähnlich aufgebaut. Die aktive Hormonsequenz folgt, an der aminoterminalen Seite

tion in besonderen Gebieten (z. B. bei Ösophagusvarizenblutung) sind Adiuretinanaloga entwickelt worden, die am Adiuretinrezeptor V1 angreifen und keine antidiuretische Partialwirkung mehr haben. Wirkungen von Oxytocin. Oxytocin hat wichtige Funktionen beim Geburtsvorgang und beim Stillen (s. a. Kap. 17). Es wirkt auch lipolytisch und hat (parakrine) Effekte auf die Corpus-luteum-Funktion. Die Bedeutung von Oxytocin als Hormon beim Mann ist noch nicht bekannt. Die Oxytocinsekretion wird während des Geburtsvorgangs durch nervale Afferenzen aus dem Uterus und der Vagina deutlich stimuliert (Ferguson-Reflex). Durch Oxytocin kommt es in dieser Phase zu heftigen Kontraktionen der Uterusmuskulatur, die als „Wehen“ bekannt sind. Schon während der Schwangerschaft werden die Oxytocinrezeptoren der Uterusmuskulatur zahlreicher, und durch Östrogeneinfluss wird das Membranpotenzial der glatten Muskelzellen gesenkt. Diese zellulären Veränderungen sind offenbar notwendig für das Entstehen der starken Uteruskontraktionen durch Oxytocin während der Geburt. In der Laktationsphase führt der mechanische Saugreiz an der Mamille zu einem neurohumoralen Reflex, bei dem durch Oxytocin die Muskulatur der Milchgänge kontrahiert wird, was zur Ejektion von Milch führt. Die Regulation der Sekretion von Oxytocin und von Prolactin beim Stillen ist in Abb. 16.16 dargestellt. Hier ist auch zu sehen, dass der Saugreiz zu einer synchronisierten Aktivierung von Oxytocinneuronen (70 – 80 Aktionspotenziale in 3 – 4 s) führt, die wiederum die Sekretion von (ca. 1 – 2 pmol) Oxytocin bewirken. Den Aktivierungsphasen fol-

Oxytocin

des Prohormons, unmittelbar nach dem Signalpeptid. Prooxytocin enthält im Unterschied zu Adiuretin kein Glykoprotein. Die strukturhomologen Anteile der Neurophysine sind grau gefärbt.

gen Ruheperioden, auch wenn der Reiz fortbesteht (Bursting). Auch ein konditionierter Reiz, wie das Schreien des Säuglings, kann eine Oxytocinsekretion auslösen.

Hypothalamische Neuropeptide wirken im ZNS und beeinflussen Verhaltensmuster Neuropeptide und einige Neurotransmitter hypothalamischer Neurone steuern als hypophyseotrope Faktoren die Funktion der Adenohypophyse, oder sie dienen als Transmitter der Kommunikation zwischen dem endokrinen Hypothalamus und anderen Bereichen des Gehirns. Im vorangehenden Abschnitt ist schon kurz erwähnt worden, dass die hypothalamischen Hormone ADH/Vasopressin und Oxytocin neben ihrer peripheren Hormonfunktion auch Effekte auf das ZNS ausüben. Eine ähnliche funktionelle Vielfalt gilt für die anderen hypothalamischen Peptide, die durch Projektionen in bestimmte ZNSGebiete ihre zentralen Wirkungen entfalten. Außerdem werden viele Neuropeptide, auch die Releasing- und Inhibiting-Hormone, in Neuronen extrahypothalamischer Regionen des ZNS synthetisiert. Unsere Kenntnisse über die Beeinflussung von ZNS-Funktionen durch hypothalamische Peptide sind noch nicht sehr umfangreich. Wir müssen jedoch annehmen, dass sie – wie im Folgenden gezeigt – an sehr vielen Prozessen beteiligt sind, so bei der Steuerung des vegetativen Nervensystems und des spezifischen Verhaltens im Rahmen homöostatischer Reaktionen, aber auch bei assoziativen ZNS-Funktionen wie Lernen, Gedächtnis und Aufmerksamkeit.

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16.3 Der Hypothalamus als neuroendokrine Schaltstelle

limbisches System Gedächtnis Lernverhalten

vegetative Zentren Trinkverhalten Sympathikotonus Antipyrese Sexualverhalten

Nucleus paraventricularis ADH

Adiuretin-V2 -Rezeptor

H 2O

Nucleus supraopticus cAMP

H 2O

Lumen

Sammelrohr der Niere Portalkreislauf Adiuretinfreisetzung

POMCZellen

Adiuretin-V1-Rezeptor ADH

systemischer Kreislauf

Muskelzelle

Neurohypophyse IP3 DAG Adenohypophyse

Kontraktion der Gefäßmuskulatur ACTH

Abb.16.15 Funktion von Adiuretin (Vasopressin). Adiuretin wirkt als Neurotransmitter und Neuromodulator im ZNS, als hypophyseotropes Hormon für die POMC-Zelle an der

Eine wichtige Rolle spielt CRH (Corticoliberin) bei der Aktivierung des sympathischen Nervensystems. So wird bei besonderen Belastungen (Stress) über CRH der Sympathikus und damit die Ausschüttung von Catecholaminen aus dem Nebennierenmark stimuliert. An der zentralen Regulation des Blutdrucks sind daneben auch hypothalamische Peptide wie NPY, VIP, CGRP, Opioide und andere beteiligt. Die Verhaltensprozesse bei homöostatischen Reaktionen werden von vielen Neuropeptiden beeinflusst, möglicherweise gibt es dafür jeweils spezifische Muster. Hierbei ist bemerkenswert, dass Neuropeptide häufig die Steuerung solcher Prozesse im ZNS beeinflussen, die sie in der Peripherie als Hormone mitregulieren. So wird das Trinkverhalten im ZNS durch Angiotensin II und Adiuretin gesteuert. Einige Aspekte des Sexualverhaltens stehen unter dem Einfluss der Sexualsteroide und von GnRH im ZNS. Beim Menschen ist die Bedeutung von Hormonen für das Sexualverhalten nicht so klar, es ist jedoch von einer normalen Hormonsekretion abhängig. Am meisten ist bisher bekannt über die analgetische Wirkung der endogenen Opioide, die auch mit ihren drei PrecursorSystemen (POMC, Proenkephalin A und B) in hypothalamischen Neuronen synthetisiert werden (Kap. 21). Die Opioide haben neben der analgetischen Wirkung multip-

Gefäßmuskulatur

Adenohypophyse und als neurosekretorisches Peptidhormon über den Blutweg am Sammelrohr der Niere (s. a. Abb.13.14, S. 390) sowie an der Gefäßmuskulatur.

le Effekte auch auf andere ZNS-Prozesse und die Regulation des vegetativen Nervensystems. In den letzten Jahren ist besonders durch die Entdeckung eines Hormons der Fettzellen, dem Leptin, die hypothalamische Regulation der Nahrungsaufnahme in das Zentrum der wissenschaftlichen und medizinischen Diskussion gerückt (s. S. 489). Leptin ist ein Proteohormon von 146 Aminosäuren und regelt das Körpergewicht über die Nahrungsaufnahme und über den Energieverbrauch. Die Konzentrationen von Leptin im Blutplasma fallen bei Gewichtsverlust ab und steigen bei Gewichtsanstieg an. Leptin gelangt über den Plexus chorioideus in das Gehirn und hemmt über Rezeptoren am Nucleus arcuatus des Hypothalamus durch Hemmung von Neuropeptid Y und Stimulation von α-MSH die Nahrungsaufnahme und erhöht den Energieumsatz (Abb. 14.36, S. 484). Hieran sind noch andere hypothalamische Neuropeptide wie GLP1, CRH, MCH, Orexin, AGRP, CART und Cytokine sowie Faktoren aus der Körperperipherie wie Insulin, CCK, PYY, Cortisol und Ghrelin beteiligt. Die komplexen Prozesse Aufmerksamkeit, Lernen und Gedächtnis sollen neben anderen von Adiuretin und Oxytocin sowie von Peptiden, die in POMC enthalten sind, beeinflusst werden. Es wurde insbesondere über gedächtniskonsolidierende Effekte von Adiuretin und

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16 Endokrines System Stillen

Oxytocin

10

Prolactin 8

5

0

4

0

10

20

Prolactin im Plasma (mE/ml)

Aktivität im Oxytocin-Neuron Oxytocin im Plasma (pg/ml)

526

30 40 Zeit (min)

Druck im Milchgang

Abb.16.16 Sekretion von Oxytocin und Prolactin beim Stillen. Nervale Afferenzen aus der Mamille führen zur Impulssteigerung in den Oxytocinneuronen, durch die die Ausschüttung von Oxytocin in das Blut bewirkt wird. Oxytocin löst schließlich die Kontraktion der Muskulatur in den Milchgängen aus, was zur Ejektion der Milch führt. (Diese Vorgänge können auch konditioniert werden und schon vor dem eigentlichen Stillen, etwa durch Schreien des Säuglings, ausgelöst werden.) Über die gleichen nervalen Afferenzen wird auch die Sekretion von Prolactin stimuliert (s. Abb.16.23, S. 533).

über Verbesserungen des Lernverhaltens durch die Gabe von ACTH-ähnlichen Peptiden (ACTH 4 – 9) berichtet.

Releasing- und Inhibiting-Hormone aus dem Hypothalamus steuern die Adenohypophyse Spezifische hypophyseotrope Peptide regeln Synthese und Freisetzung der adenohypophysären Hormone. Sie werden im Bereich der Eminentia mediana in den hypothalamo-hypophysären Portalkreislauf sezerniert. Releasing-Hormone (RH), auch Liberine genannt (CRH, TRH, GnRH, Somatoliberin), stimulieren die Synthese und Freisetzung von Hypophysenhormonen, die Inhibiting-Hormone (IH), auch Statine genannt (Somatostatin, Dopamin = PIH), hemmen deren Sekretion. Die Releasing- und Inhibiting-Hormone des Hypothalamus steuern die Biosynthese und Ausschüttung aller Hormone der Adenohypophyse und werden daher hypophyseotrope Hormone genannt. Aufgrund ihrer Wirkung auf die Sekretion eines bestimmten Hormons wurden auch ihre Bezeichnungen ausgewählt (Tab. 16.4, S. 527). Beim Gebrauch dieser Terminologie sollte jedoch bedacht werden, dass nur eine relative Spezifität dieser Faktoren für bestimmte Hypophysenzellen besteht und dass sie darüber hinaus auch Wirkungen im ZNS und in anderen Organsystemen haben. Zum Verständnis dieser kompli-

zierten Verhältnisse können die folgenden Hinweise beitragen: – Hypophyseotrope Hormone wirken auf mehr als nur einen Zelltyp der Hypophyse: TRH stimuliert die thyreotropen, aber auch die mammotropen und die somatotropen Zellen. Somatostatin hemmt nicht nur die Sekretion von STH, sondern auch die von ACTH, Prolactin und TSH. GnRH fördert die Sekretion der beiden Gonadotropine LH und FSH. – Daraus folgt, dass ein Hypophysenhormon auch durch mehrere hypophysiotrope Faktoren beeinflusst werden kann. Zu diesen Faktoren gehören nicht nur die hier genannten Releasing- und Inhibiting-Hormone, sondern auch andere Neuropeptide (z. B. Opioide) und Neurotransmitter (z. B. Dopamin) des Hypothalamus. Für die regelrechte Kontrolle der Sekretion einer Hypophysenzelle ist also eine bestimmte Kombination von Faktoren notwendig (siehe z. B. Abb. 17.24, S. 534). – Die Funktion von zahlreichen, bisher nicht genannten hypothalamischen Neuropeptiden (Tab. 16.4) ist nicht ausreichend bekannt. Einige von ihnen besitzen neben ihren ZNS-Effekten (s. u.) auch wichtige Funktionen bei der Regulation der Adenohypophyse, sie sind also hypophyseotrope Faktoren. Hierzu zählen Angiotensin II, das vasoaktive intestinale Peptid (VIP), Neurotensin, Neuropeptid Y (NPY), Substanz P, Opioide und Cholecystokinin (CCK). – Wahrscheinlich sind bisher einige wichtige Faktoren noch gar nicht entdeckt worden (siehe Ghrelin). So wird nach einem Releasing-Hormon gesucht, das spezifisch die FSH-Sekretion (und nicht die von LH) fördert. Auch wird zusätzlich zum Katecholamin Dopamin die Existenz eines Peptids mit prolactininhibierender Aktivität vermutet (S. 533). Ebenso wird ein CRH-antagonistisches Peptid gesucht, das wahrscheinlich ANP (atriales natriuretisches Peptid) sein könnte. Aus den geschilderten Verhältnissen erklärt sich auch die Unsicherheit in der Terminologie dieser Faktoren: Sie werden sowohl als Hormone als auch als Faktoren bezeichnet. So werden auch Namen verwendet wie „PRH“ für Prolactin-Releasing-Hormone, obwohl hiermit nicht die Struktur eines Hormons, sondern das physiologische Prinzip der Stimulation der Freisetzung durch die Kombination mehrerer Faktoren gemeint ist. Biosynthese, Sekretion und Wirkungen der einzelnen Releasing-Hormone werden ausführlich in den Abschnitten und Kapiteln besprochen, in denen die jeweiligen Hormon-Achsen vorkommen: CRH S. 535 f., TRH S. 544 ff., Somatostatin und GHRH S. 530 und GnRH Kap. 17, S. 562 ff.

Die Adenohypophyse steuert endokrine Drüsen und das Wachstum Die adenohypophysären Hormone werden für jedes Hormon in spezifischen Zellen synthetisiert (Abb. 16.17). Sie können aufgrund ihrer chemischen Struktur eingeteilt werden in Peptidhormone und Glykoproteinhormone. Die Peptidhormone ACTH, STH und Prolactin bestehen aus Aminosäurenketten unterschiedlicher Länge; ihre Biosynthese wird in den folgenden Abschnitten dargestellt. TSH, FSH und LH sind Glykoproteine, die jeweils aus zwei Untereinheiten, einer α- und einer β-Kette,

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16.3 Der Hypothalamus als neuroendokrine Schaltstelle Tabelle 16.4 Hypothalamische Neuropeptide. Aufgelistet sind alle Neuropeptide, die bisher in hypothalamischen Neuronen nachgewiesen worden sind. Neben der biochemischen Charakterisierung durch die Anzahl ihrer Aminosäuren und die möglichen Modifikationen an den amino- und carboxyterminalen Enden der Aminosäurekette ist auch ihr Vorkommen in anderen Geweben und Zellen sowie eine Auswahl ihrer Funktionen aufgeführt Bezeichnung

Biochemische Charakterisierung

Vorkommen in anderen Geweben

Funktionen (Auswahl)

CRH – Corticoliberin

42 AS, NH2

MDT

ACTH-Freisetzung, Aktivierung des Sympathikus

GnRH – Gonadoliberin

10 AS, pGlu

Ovar

LH- und FSH-Freisetzung

GHRH – Somatoliberin

44 AS, NH2

einige Tumoren

GH-Freisetzung

Somatostatin

14 AS 12 AS, S-S 28 AS

MDT, Pankreas

Hemmung von GH und vieler cAMP-vermittelter Effekte

TRH – Thyreoliberin

3 AS, pGlu

Retina

Freisetzung von TSH, PRL

DA* – Dopamin

Catecholamin

DA-Neurone

Hemmung von PRL

AVP/ADH – Arginin-Vasopressin/antidiuretisches Hormon

9 AS, S-S, NH2

Ovar, Gefäßsystem

Antidiurese, Gefäßmuskelkontraktion, ACTH-Freisetzung

OX – Oxytocin

9 AS, S-S, NH2

Ovar

Uteruskontraktion, Milchejektion

CCK 8 – CholecystokininOctapeptid

8 AS, NH2

MDT

Essverhalten s. MDT

NT – Neurotensin

13 AS, pGlu

MDT

Nahrungsaufnahme

CGRP – Calcitonin gene-related peptide

37 AS

MDT

Kontraktion glatter Muskulatur, Transmitter in sensorischen Afferenzen

NPY – Neuropeptid Y

36 AS, NH2

MDT

Mitfreisetzung mit Noradrenalin im sympathischen NS, Steigerung der Nahrungsaufnahme

α-MSH

13 AS, NH2

Hypophyse, Haut

Hemmung der Nahrungsaufnahme, Hautpigmentierung

AGRP – Aouti related protein

132 AS, NH2

Haut

α-MSH-Rezeptor Antagonist, stimuliert Nahrungsaufnahme, Hautpigmentierung

CART – Cocain and amphetamin related transcript

116 AS

Hemmung der Nahrungsaufnahme

MCH – Melanin concentrating hormone

165 AS

stimuliert Nahrungsaufnahme, Hautpigmentierung

Orexin A, B oder Hypercretin 1, 2

A: 33 AS, pGlu, NH2, S-S B: 28 AS, NH2

stimuliert Nahrungsaufnahme, Schlaf-Regulation

Methionin-Enkephalin Met-Enk-Heptapeptid Met-Enk-Octapeptid

5 AS 7 AS 8 AS

NNR, MDT

endogene Schmerzhemmung, Hemmung der Kontraktion glatter Muskulatur

5 AS 8 AS 17 AS 10 AS 9 AS

(MDT)

Katalepsie, spinale Analgesie

SP – Substanz P Neurokinin A Neuropeptid K Neuropeptid g

11 AS, NH2 7 – 10 AS, NH2 35 AS, NH2 21 AS, NH2

(MDT)

Transmitter sensorischer Afferenzen (Schmerz), Mediatorfreisetzung bei Entzündung

Neurokinin B (nur in Protachykinin II enthalten)

10 AS, NH2

MDT

Proenkephalin-A-Peptide

Proenkephalin-B-Peptide Leucin-Enkephalin Dynorphin 8 Dynorphin 17 a-Neoendorphin b-Neoendorphin Protachykinin-Peptide

* kein Peptid, aber PRL-inhibiting factor, AS = Aminosäure, NH2 = carboxyterminale Amidierung, MDT = Magen-Darm-Trakt, pGlu = pyro-Glutamat am aminoterminalen Aminosäurenende, NNR = Nebennierenrinde.

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528

16 Endokrines System bestehen. Die α-Ketten der drei Hormone sind strukturhomolog, die β-Ketten sind für jedes Hormon spezifisch. Die Besonderheiten ihrer Biosynthese werden im Abschnitt über TSH (S. 545) beschrieben. Nach funktionellen Gesichtspunkten werden die adenohypophysären Hormone auch als glandotrope und nichtglandotrope charakterisiert. Die glandotropen Hormone stimulieren die Funktion „ihrer“ peripheren Drüsen: Steuerung der Nebennierenrinde durch ACTH, der Schilddrüsenfunktion durch TSH und der Gonadenfunktion durch die Gonadotropine LH und FSH. Die nichtglandotropen Hormone Wachstumshormon (STH) und Prolactin wirken auf viele Zellen des Körpers: STH ist ein essenzieller Faktor für das Längenwachstum, durch Prolactin wird die Milchbiosynthese stimuliert. Die Sekretion der hypophysären Hormone wird durch die hypophyseotropen Peptide des Hypothalamus reguliert (Abb. 16.18). Die glandotropen Hormone werden daneben über Feedback-Mechanismen durch die Hormone ihrer peripheren Drüsen (Steroide und Schilddrüsenhormone) kontrolliert. Die klinisch wichtigsten Störungen im hypothalamohypophysären Bereich werden durch Tumoren der Adenohypophyse hervorgerufen. Einige Tumoren produzieren auch Hormone (STH, ACTH, Prolactin) und führen zu Krankheiten, bei denen die Hormoneffekte pathologisch verstärkt sind und so eine eindrucksvolle Symptomatik der Hormonwirkungen zeigen (z. B. Akromegalie, Morbus Cushing, Prolaktinom). Die Prinzipien der neuroendokrinen Regulation der Hypophysenhormone sind im vorausgehenden Abschnitt dargestellt worden. Die Biosynthese und Sekretion von Hypophysenhormonen wird jedoch nicht nur durch die hypothalamischen Hormone, durch

Neuropeptide und Neurotransmitter sowie durch die FeedbackSignale peripherer Hormone reguliert, sondern auch durch parakrine Effekte in der Adenohypophyse. Die parakrine Modulation der Hormonsekretion wird durch viele Neuropeptide, durch Interleukin 6, durch Wachstumsfaktoren (z. B. EGF, TGFα und β) sowie von dem Peptid PACAP (pituitary adenylate cyclase activating polypeptide) hervorgerufen. Diese Faktoren werden meist von Hypophysenzellen zusätzlich zu ihrem jeweiligen Hauptprodukt synthetisiert oder durch peptiderge Nerven zur Hypophyse transportiert.

Im folgenden Abschnitt wird die Physiologie der Hypophysenhormone nicht in allen wichtigen Aspekten ausführlich dargestellt, da die Beschreibung der Hormone LH, FSH und Prolactin im Kapitel 17 sowie die von ACTH und TSH in den folgenden Abschnitten über ihre „Hormon-Achsen“ enthalten ist (S. 535, 544).

Glandotrope Hormone: ACTH, TSH, LH, FSH Die glandotropen Hormone regulieren die Hormonproduktion einer peripheren endokrinen Drüse und häufig auch deren Metabolismus und Wachstum. Diese Funktionen haben auch ihre Namen geprägt: Corticotropin oder adrenocorticotropes Hormon (ACTH) steuert die Sekretion der Nebennierenrindensteroide. Thyreotropin oder thyreoideastimulierendes Hormon (TSH) reguliert die Schilddrüsenfunktion. Die beiden gonadotropen Hormone LH (luteinisierendes Hormon) und FSH (follikelstimulierendes Hormon) beeinflussen die Gonadenfunktion bei der Frau (Follikelreifung, Ovulation, Sexualhormonsekretion und Schwangerschaft) und beim Mann (Spermiogenese, Testosteronsynthese) (Kap. 17). Die meisten Steroidhormone und die Schilddrüsenhormone werden von den glandotropen Hormonen gesteuert.

3 gonadotrope Zelle: LH/FSH

1 thyreotrope Zelle: TSH

5 POMC-Zelle: ACTH, b-Endorphin

2 somatotrope Zelle: STH

Abb.16.17 Hypophysenzellen im elektronenmikroskopischen Bild. Die für jedes adenohypophysäre Hormon typischen Zellen sind durch ihre Form und die Größe ihrer

2 mm

4 mammotrope Zelle: Prolactin

Sekretgranula (intensive Schwarzfärbung) gekennzeichnet. Die gonadotrope Zelle produziert sowohl LH als auch FSH. Die Zellen sind auf den Fotos 3000- bis 5000fach vergrößert.

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16.3 Der Hypothalamus als neuroendokrine Schaltstelle Releasing-Hormone CRH+GHRH+GnRH+TRH

Ein STH-Mangel in der Wachstumsphase führt zu einem hypophysären Zwergwuchs, eine Überproduktion (durch STH-Tumoren) zum Riesenwuchs (Gigantismus). Nach der Pubertät und abgeschlossenem Längenwachstum entwickeln Patienten mit STH-produzierenden Tumoren eine Akromegalie. STH wird in den somatotropen Zellen der Hypophyse synthetisiert. Sie sind mit 40% die häufigste Zellart in der Hypophyse und enthalten 5 – 10 mg STH pro Hypophyse (Abb. 16.17). STH weist eine deutliche Sequenzhomologie zu Prolactin und zu Human chorionsomato(mammo)tropin (HCS oder HPL) auf, das in der Plazenta gebildet wird (S. 574 f.). Im Gegensatz zu den anderen Protein- und Peptidhormonen hat STH eine ausgeprägte Speziesspezifität, so dass beim Menschen nur menschliches Wachstumshormon wirksam ist. Versuche, in diesem großen Molekül ein kleines Epitop zu finden, das die biologische Aktivität vermittelt, waren bisher erfolglos und STHPräparate mussten aus menschlichen Hypophysen extrahiert und isoliert werden. Daher ist für die Therapie von STH-Mangelzuständen (z. B. hypophysärer Zwergwuchs; Hypophyseninsuffizienz) ein gentechnisch synthetisiertes humanes STH entwickelt worden und als Therapeutikum seit 1988 im Handel.

(pg/ml)

80 40

STH 20 10 0

(mU/ml)

STH steuert das Längenwachstum

20

TSH

10

(ng/ml)

0

LH

200 100

(ng/ml)

0

FSH

700 500 300

(ng/ml)

Das nichtglandotrope Hormon STH (Wachstumshormon, GH = Growth hormone) wirkt ohne Vermittlung einer endokrinen Drüse auf seine peripheren Zielzellen ein. Als wichtigste Funktion reguliert STH langfristig Wachstum und Entwicklung und ist auch an der Steuerung des Protein- und Kohlenhydratstoffwechsels beteiligt. Insbesondere ist das Längenwachstum des Menschen in der juvenilen Phase abhängig von der STHSekretion. STH stimuliert auch die Synthese der Wachstumsfaktoren IGF 1 und IGF 2 (Insulin-like Growth Factor) in der Leber. Die STH-Sekretion wird durch Somatoliberin stimuliert und durch Somatostatin gehemmt. Die Synthese dieser hypophyseotropen Faktoren und ihre Wirkung an den somatotropen Zellen der Adenohypophyse werden durch IGF 1 und periphere Stoffwechselprodukte beeinflusst. Auch ein Hormon der Magenschleimhaut (Ghrelin) kann die STH-Sekretion stimulieren.

ACTH

120

(ng/ml)

Nach ihrer Sekretion erreichen die Hormone auf dem Blutweg ihre Erfolgsorgane und induzieren über die Bindung an ihre spezifischen Rezeptoren in der endokrinen Drüse die Biosynthese und die Ausschüttung der peripheren Hormone. Über verschiedene Second-Messenger-Systeme werden von den Hypophysenhormonen die für die Synthese notwendigen Enzyme aktiviert. Ob die glandotropen Hormone der Adenohypophyse neben ihrer Wirkung auf ihre endokrinen Drüsen noch andere Effekte in der Körperperipherie haben, ist nicht geklärt, aber wahrscheinlich. So ist die Bräunung der Haut infolge Bestrahlung durch Sonnenlicht von einer regelrechten ACTHSekretion abhängig (S. 536).

PRL

80 40 0

800

900

1000

1100

1200

Tageszeit

Abb.16.18 Stimulationstest zur Beurteilung der Globalfunktion der Adenohypophyse. Die gleichzeitige Injektion der Releasing-Hormone CRH (Corticoliberin), GHRH (Somatoliberin), TRH (Thyroliberin) und GnRH (Gonadoliberin) führt bei intakter Funktion der Adenohypophyse zur Erhöhung aller Hormonplasmakonzentrationen (Ordinaten). Bei pathologischen Störungen der Hypophysenfunktion sind die entsprechenden Hormonsekretionen charakteristisch verändert.

Biosynthese, Sekretion und Transport von STH. Das menschliche STH hat eine Molekülmasse von 21,5 kDa und besteht aus einer Peptidkette mit 191 Aminosäuren und zwei Disulfidbrücken. Das menschliche Genom enthält auf dem Chromosom 17 mehrere Gene, die verschiedene STH-Moleküle kodieren (Abb. 16.19). Jedoch wird hiervon hauptsächlich jenes für das normale 21,5-kDaSTH exprimiert. Durch alternatives Splicing entsteht das 20-kDa-STH, dessen Konzentration im Serum ca. 10% des Gesamt-STH beträgt. Eine vom 21,5-kDa-STH unabhängige Funktion ist bisher nicht sicher bekannt. Die Transkription des STH-Gens und die Synthese des Hormons werden durch Somatoliberin (GHRH) und Östrogene stimuliert. Das biosynthetisierte STH wird in den somatotropen Zellen in großen Granula (350 – 500 nm) gespeichert (Abb. 16.17). Die basale STH-Sekretion erfolgt in

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529

16 Endokrines System Hypothalamus

Prä-Pro-GHRH

Signal 20 11 1 21

GHRH 44 (40, 37)

33 108

Prä-Pro-SIH SIH 14 (28)

25

116

Chromosom 20

1

64

Chromosom 3

24

Hypophyse Wachstumshormon (STH) 1

191 27

217

Chromosom 17

Leber

Prä-Pro-IGF-1

Chromosom 11

26

Chromosom 12

530

IGF 1 25 1

70 26

35 96

113

Prä-Pro-IGF-2 IGF 2 24 1

67 25

89 92

180

Abb.16.19 Struktur der am Längenwachstum beteiligten Hormonsysteme. Im Hypothalamus werden Somatoliberin (GHRH) und Somatostatin (SIH), in der Hypophyse STH und in der Leber die Wachstumsfaktoren IGF 1 und IGF 2 (Somatomedine) synthetisiert. Nur bei der regulierten Koordination von Biosynthese und Sekretion dieser unterschiedlichen Systeme ist das regelrechte Längenwachstum gewährleistet. Beim Menschen ist auch die Topographie der entsprechenden Gene auf den verschiedenen Chromosomen bekannt. (Die Zahlen in den Vorläufermolekülen entsprechen der Anzahl von Aminosäuren dieser Peptidfragmente. Die aktiven Hormone entstehen durch Abspaltung der Signalsequenz [rosa] und anderer Peptidfragmente [grau]).

sekretorischen Episoden (Abb. 16.7, S. 519), die in der Nacht häufiger sind und auch höhere Amplituden haben. Der Beginn der ersten Tiefschlafphase ist offensichtlich ein wichtiges Signal für die Stimulation der STH-Sekretion. Für die Entstehung der STH-Sekretionspulse scheint eine gleichzeitige Reduktion der Somatostatinsekretion und ein Anstieg von Somatoliberin notwendig zu sein (Abb. 16.20). Die Plasmahalbwertszeit von STH beträgt ca. 20 min. Etwa die Hälfte des zirkulierenden STH bildet mit einem Bindungsprotein (BP) ein „Hormon-Reservoir“. Das Bindungsprotein ist der lösliche, von der Plasmamembran abgetrennte extrazelluläre Teil des STH-Rezeptors (s. u.).

Regulation der STH-Sekretion. Die STH-Sekretion (Exozytose) wird durch viele Faktoren beeinflusst (Abb. 16.21). Hierzu zählen die hypothalamischen Peptide Somatoliberin (GHRH), Somatostatin (SIH) und Thyroliberin (TRH), das Katecholamin Dopamin sowie die zirkulierenden Wachstumsfaktoren IGF 1 und IGF 2 und die stoffwechselaktiven Faktoren Glucose, Fettsäuren und Aminosäuren. Bevor die komplexe Regulation des Längenwachstums und der STH-Sekretion weiter besprochen wird, werden die beiden für die Regulation wichtigen hypothalamischen Peptide Somatoliberin und Somatostatin vorgestellt. Somatoliberin (Growth Hormone-Releasing Hormone, GHRH oder GRH) ist ein hypothalamisches Peptid, das in unterschiedlichen homologen Formen mit 40 und 44 Aminosäuren vorkommt (Abb. 16.19). Es stimuliert spezifisch die Synthese und Freisetzung von STH. Interessanterweise ist es zuerst aus einem Pankreastumor isoliert worden. Die Somatoliberin-Aktivität des Tumors wurde bei einem Patienten mit Akromegalie (s. u.) entdeckt, bei dem eine paraneoplastische Sekretion von Somatoliberin zur STH-Überproduktion aus der Hypophyse und damit zur Akromegalie geführt hat. Somatoliberin wirkt an der somatotropen Zelle über die Aktivierung des cAMP-Systems. Dieser Effekt wird durch Somatostatin inhibiert, das hier hauptsächlich über das hemmende Gi-Protein wirkt (S. 36 f.). Kürzlich ist ein zusätzliches STH-freisetzendes Peptid gefunden worden: Ghrelin, das in endokrinen Zellen des Magens synthetisiert und auf dem Blutweg zur Adenohypophyse transportiert wird. Ghrelin stimuliert über hypothalamische Mechanismen auch die Nahrungsaufnahme. Somatostatin (STH-inhibierendes Hormon, SIH) ist ein zyklisches Peptid mit 14 Aminosäuren. Es kommt außer in hypothalamischen Neuronen in vielen sezernierenden Zellen vor, besonders im Magen-Darm-Trakt (Tab. 14.1, S. 416) und im Pankreas (S. 556). Seinen Namen hat Somatostatin von seiner zuerst entdeckten biologischen Wirkung, die STH-Sekretion zu hemmen. Somatostatin ist darüber hinaus ein wichtiger Regulator bei sehr vielen Sekretionsprozessen (Abb. 16.22); wahrscheinlich werden dabei „überschießende“ Reaktionen inhibiert. An der Hypophyse hemmt Somatostatin nicht nur die STHSekretion, sondern auch die von TSH und Prolactin. Der zelluläre Mechanismus der multiplen Somatostatinwirkungen ist in den verschiedenen Erfolgszellen unterschiedlich, jedoch ist an Hypophysenzellen die Hemmung von cAMP-abhängigen Prozessen wohl der wichtigste Mechanismus. Funktionen von STH. STH ist vor allem ein anaboles Hormon, d. h., es führt zu einer vermehrten Aufnahme von Aminosäuren in die Zellen und erhöht hier die Proteinsynthese. In der Leber wird die Produktion von IGF 1 stimuliert, mit dem zusammen STH in der juvenilen Phase das Längenwachstum des Knochens hervorruft. Auch die Weichteile und Muskeln nehmen durch vermehrte Proteinsynthese unter dem Einfluss von STH an Größe zu. Daher wird STH auch als Muskelwachstum stimulierendes Doping-Mittel missbraucht. In letzter Zeit ist auch der Wirkungsmechanismus von STH weiter aufgeklärt worden. Der Rezeptor wird nach Bindung an STH durch Dimerisierung aktiviert. Die folgenden intra-

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16.3 Der Hypothalamus als neuroendokrine Schaltstelle

Konzentration im hypophysären Portalblut

Somatostatin

Acetylcholin, Serotonin, Dopamin, Adrenalin

Vererbung, körperliche Leistung, Schlafphase, Emotionen

Östrogene, Androgene, Cortisol

Hypothalamus

Somatoliberin Somatoliberin

Glucose, Aminosäuren, freie Fettsäuren

Somatostatin Magen

Konzentration im peripheren Plasma

STH

Ghrelin somatotrope Zelle Leber

STH 0

2

4

Stunden

IGF 1

6

Abb.16.20 Sekretionsrhythmus von Somatostatin, Somatoliberin und STH. Somatostatin und Somatoliberin sind im Portalsystem der Hypophyse und STH im peripheren Plasma gemessen worden. Die Sekretionspulse von STH treten dann auf, wenn ein Anstieg der GHRH-Freisetzung mit einer verminderten Somatostatinsekretion koordiniert ist.

zellulären Mechanismen bestehen in der Produktion von DAG und der Aktivierung von Proteinkinase C (PKC), die zur Phosphorylierung des Rezeptors führt (Abb. 2.17, S. 39). Die Wachstumsfaktoren IGF 1 und IGF 2 (auch Somatomedine genannt) sind Peptide mit einer Molekülmasse zwischen 7000 und 8000 Dalton und haben eine partielle Strukturhomologie mit Proinsulin (Abb. 16.45, S. 552). Der Rezeptor für IGF 1 (Somatomedin C) ist dem Insulinrezeptor sehr ähnlich (Abb. 2.18, S. 39). IGF 1 ist offenbar der wichtigste Faktor für das Längenwachstum. Es stimuliert zusammen mit dem STH an der Knorpel-Knochen-Wachstumszone den Sulfateinbau und gilt auch als mitogener Faktor für andere somatische Zellen. In den Chondrozyten werden die Synthese von Protein, von RNA und DNA sowie die Zellproliferation und die Aufnahme von Aminosäuren stimuliert. Im Gegensatz zu STH ist die Sekretion von Somatomedinen relativ gleichmäßig und ohne akute Fluktuationen. IGF 1 und IGF 2 sind im Plasma an spezifische Proteine gebunden (IGF-BP 1 – 6). In der Klinik wird bei Kindern das Bindungsprotein 3 (IGF-BP 3) für IGF 1 wegen seiner guten Messbarkeit als ein wichtiger Parameter für die Funktion von STH und IGF 1 angesehen. Das physiologische Längenwachstum ist ein komplexer Vorgang (Abb. 16.19); daran sind beteiligt: – die Hormone Somatoliberin (GHRH), Somatostatin (SIH) und IGF 1,

stimuliert Lipolyse, Glykogenolyse, Proteinsynthese

Wachstumszone im Knochen

Abb.16.21 Funktionen und Regulation des Wachstumshormons STH. STH stimuliert die Sekretion von IGF 1 (Somatomedin C) in der Leber und bewirkt mit diesem zusammen an der Wachstumszone des Knochens das Längenwachstum. Die multiple Regulation von STH durch externe und interne Stimuli sowie Rückkopplung über Aminosäuren und Glucose. Wahrscheinlich entfaltet auch IGF 1 eine negative Feedback-Wirkung auf die STH-Sekretion.

– die Interaktion mit anderen Hormonen, Neuropeptiden und Transmittersubstanzen sowie – endogene (z. B. genetische) und exogene (z. B. Ernährung, psychische Einflüsse) Faktoren. Durch diese Faktoren werden sowohl das Wachstumstempo als auch die Endgröße bestimmt. Eine besondere Bedeutung haben hierbei die Sexualsteroide während der Pubertät. So ist auch die Stimulierbarkeit der STH-Sekretion beim Heranwachsenden deutlich höher als beim erwachsenen Menschen. STH-Mangel beim juvenilen Menschen führt zu Minderwuchs (s. u.), ein Mangel im Erwachsenenalter hat Effekte auf die Entwicklung einer Arteriosklerose, auf die Muskulatur, auf die Fettverteilung, den Fettstoffwechsel und die Befindlichkeit. Neben der Stimulation der Proteinsynthese hat STH auch Effekte auf den Kohlenhydrat- und Fettstoffwechsel. Am Fettgewebe wirkt STH lipolytisch, die dadurch freigesetzten Fettsäuren wer-

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531

532

16 Endokrines System ZNS

EEG-Aktivität ACh-Freisetzung

1

NH2

Ala

Gly

Cys S

Lys

Asn

Phe

Somatostatin (SIH)

Cys

Trp Lys

S COOH

Phe

Ser

Thr

Phe

Thr

14

Pankreas

Hypophyse Magensäure Pepsin Motilität Gastrin Sekretin Cholecystokinin

STH TSH ACTH Renin Niere

Insulin Glucagon Enzyme

Bicarbonat pankreatisches Polypeptid

Blut Durchblutung Nahrungsabsorption

Thrombozytenaggregation

Magen-Darm-Trakt

Abb.16.22 Multiple Funktionen von Somatostatin. Somatostatin kommt in vielen Geweben vor. Es wirkt als Hormon auf dem Blutweg, auf parakrine Weise in den Organen, in denen es auch synthetisiert wird (violette Punkte) wie im Pankreas und im Magen-Darm-Trakt, oder als

den als Energieträger für die Proteinsynthese benötigt. Außerdem sensibilisiert STH die Fettzellen gegenüber der lipolytischen Wirkung von Katecholaminen. Die Wirkungen von STH auf den Kohlenhydratstoffwechsel sind bimodal: STH kann direkt die BZelle des Pankreas und damit die Insulinsekretion stimulieren. So sind in dieser ersten Phase insulinähnliche Effekte auf den Kohlenhydratstoffwechsel zu beobachten. In der zweiten Phase jedoch hat STH antagonistische Wirkungen zu Insulin: Die Glucoseaufnahme und der Glucoseverbrauch werden gehemmt, die Gluconeogenese gefördert. Diese Effekte wirken zusammen mit der Steigerung der Lipolyse einer Verminderung der Glucosespiegel im Plasma durch Insulin entgegen. Daher wird STH auch zu den diabetogenen Hormonen gezählt. Während des Tages schwankt die STH-Sekretion relativ stark in Abhängigkeit von der Nahrungsaufnahme und von besonderen Belastungen. Eine Verminderung des Plasmaglucosespiegels induziert einen deutlichen Anstieg von STH. Diese Regulation wird in der Klinik auch zur Diagnostik der hypophysären STH-Sekretion in einem Insulinhypoglykämietest ausgenutzt. Während eine durch Insulin induzierte Hypoglykämie eine vermehrte STHSekretion auslöst, wird die normale STH-Produktion durch hohe Plasmaglucosespiegel unterdrückt. Aminosäuren im Plasma, vor allem Arginin, stimulieren die STH-Sekretion. Neben dieser Steuerung durch Stoffwechselprodukte wird STH auch vermehrt ausgeschüttet bei körperlicher Arbeit und bei verschiedenen Formen von Stress.

Die Störungen der STH-Sekretion manifestieren sich in der Klinik als charakteristische Krankheitsbilder. Ein hypophysärer Minderwuchs (Zwergwuchs) wird verursacht durch einen Defekt der STH-Biosynthese. Der STH-Mangel kann isoliert bei sonst intakter Hypophysenfunktion auftreten oder im Rahmen einer allgemei-

Neuromodulator und Neurotransmitter im ZNS und im vegetativen Nervensystem. Die in den Kästchen angegebenen Hormone oder Funktionen werden durch Somatostatin gehemmt (ACh = Acetylcholin).

nen Hypophyseninsuffizienz (Panhypopituitarismus). Hier spielen die Hypophysen-spezifischen Transkriptionsfaktor-Gene, Pit-1 und Prop-1, eine besondere Rolle, indem sie die embryonale Differenzierung und Entfaltung der Funktion von Wachstumshormon, von Prolactin und von TSH-produzierenden Zellen regulieren. Auch Störungen der peripheren STH-Wirkung wie solche der Synthese von Somatomedinen, der Intaktheit der STH- oder der Somatomedinrezeptoren können einen Minderwuchs verursachen. Durch eine Substitutionstherapie mit STH (gentechnologisch synthetisiert) ist bei Patienten mit hypophysärem Minderwuchs ein zusätzliches Wachstum bis zur „Normalgröße“ möglich. Bei einem seltenen, genetisch bedingten Krankheitsbild, den Laron-Zwergen, fehlt der Rezeptor für das Wachstumshormon. Diese Personen sind also zwergwüchsig trotz eines normalen/hohen STH-Spiegels im Plasma. Die Konzentrationen von IGF 1 und IGF 2 sind wegen der fehlenden STHWirkung erniedrigt.

Adenome von somatotropen Zellen mit einer STHÜberproduktion führen bei Personen vor der Pubertät zu einem Riesenwuchs (Gigantismus) und bei Personen im Erwachsenenalter zu Wachstum an den noch nicht verknöcherten Zonen in den Akren wie Nase, Kinn, Finger und dem Schädelknochen sowie bei allen Weichteilen (z. B. Kardiomegalie). Dieses Krankheitsbild wird dementsprechend Akromegalie genannt.

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16.3 Der Hypothalamus als neuroendokrine Schaltstelle

Prolactin, wichtig für Laktation und Ovulation Prolactin ist ein wichtiges Hormon für die Steuerung des Reproduktionssystems und wirkt ohne Vermittlung einer endokrinen Drüse direkt auf seine Zielzellen ein. Syntheseort sind die mammotropen Zellen der Hypophyse. Beim Menschen wirkt Prolactin vor allem an der Brustdrüse, wo es die Proliferation der Milchgänge stimuliert und die Laktation steuert. Daneben ist Prolactin an der Steuerung der Pubertät und des Ovulationszyklus beteiligt. Biosynthese und Freisetzung. Prolactin wird in den lakto- oder mammotropen Zellen erzeugt, die 20 – 30% der Zellen der Adenohypophyse ausmachen (Abb. 16.17, S. 528). Es ist ein Peptidhormon von 199 Aminosäuren und einer Molekülmasse von ca. 23 kDa; seine Aminosäurenketten werden stabilisiert durch drei Disulfidbrücken. Prolactin hat deutliche Sequenzhomologien mit STH und dem humanen plazentaren Lactogen (HPL, S. 575). Die Prolactinbiosynthese wird im Laufe der Schwangerschaft und während der Laktation deutlich gesteigert, die mammotropen Zellen nehmen in Anzahl und Größe zu. Die Transkription des Prolactin-Gens wird durch TRH und Östradiol stimuliert und durch Dopamin gehemmt.

Funktionen. Prolactin bewirkt zusammen mit Sexualhormonen und STH das Wachstum der Brustdrüse und die Differenzierung der Milchgänge, ein Effekt, der während der Schwangerschaft besonders ausgeprägt ist. In der Laktationsphase stimuliert Prolactin die Synthese der Milch und auch deren Sekretion. Die Prolactinsekretion während der Laktation wird durch nervale Afferenzen von den Brustwarzen aufrechterhalten (Abb. 16.16, S. 526). Prolaktin induziert die Transkription der mRNA für das Milchprotein Casein und wichtige Milchsyntheseenzyme. Auch auf den weiblichen Reproduktionszyklus übt Prolactin einen wichtigen Einfluss aus. So wird bei Patientinnen mit einer Hyperprolactinämie die Ovulation gehemmt. Über eine biologische Bedeutung von Prolactin beim Mann ist nur wenig bekannt. Prolactin ist wahrscheinlich ein Modulator von immunologischen Prozessen. So besitzen viele immunkompetente Zellen Prolactinrezeptoren, und die Abstoßungsreaktion nach Organtransplantationen wird von einer Erhöhung der Prolactinkonzentration im Plasma begleitet. Auch bei verschiedenen Formen von körperlichen und psychischen Belastungen kann regelmäßig ein deutlicher Anstieg von Prolactin beobachtet werden. Eine biologische Funktion für dieses „stressinduzierte“ Prolactin ist noch nicht bekannt. Regulation der Prolactinsekretion. Prolactin wird in einem nicht sehr ausgeprägten circadianen Rhythmus vermehrt während der zweiten Nachthälfte sezerniert. Die Prolactinsekretion bei der Frau ist deutlich abhängig vom physiologischen Status ihres Reproduktionssystems: – niedrige Prolactinspiegel vor der Pubertät, – leichte Erhöhung während des Ovulationstermins und in der Lutealphase, – deutlicher Anstieg der Prolactinsekretion zum Ende der Schwangerschaft und erhöhte Spiegel bis zu mehreren Wochen post partum und während der Laktation.

Schlafperioden Stress Hypothalamus

VIP, Opioide Dopamin

TRH Glucocorticoide

mammotrope Zelle

Östrogene nervale Stimulation kurzer Feedback Prolactin

Brustdrüse

Lymphozyt

Abb.16.23 Funktion und Regulation von Prolactin. Prolactin wird durch externe und interne Reize, wie bei Stress, oder durch nervale Afferenzen aus der Mamille beim Stillen (Abb.16.16, S. 526) vermehrt ausgeschüttet. Eine direkte Feedback-Kontrolle der Prolactinsekretion ist nicht bekannt, jedoch kann Prolactin durch Hemmung des Dopaminumsatzes im Hypothalamus die eigene Sekretion indirekt hemmen (kurzer Rückkopplungsweg).

Die Regulation der Prolactinausschüttung durch Neuropeptide und Transmitter sowie durch Östrogene ist sehr komplex (Abb. 16.23). Die wesentliche Kontrollfunktion besteht in der tonischen Hemmung der Prolactinsekretion durch Dopamin aus Neuronen des tuberoinfundibulären Hypothalamus. Die Verminderung dieser dopaminergen Inhibition führt zu einem Anstieg der Prolactinsekretion. Dopamin wirkt auf die mammotrope Zelle über D2-Rezeptoren, die das cAMP-System hemmen. Bei prolactinproduzierenden Tumoren werden Dopaminagonisten eingesetzt, die auch das Tumorwachstum hemmen. Andere hypothalamische Faktoren wie TRH, VIP, Angiotensin II und endogene Opioide stimulieren die Prolactinfreisetzung. Bei einer Hypothyreose erhöht sich gegenregulatorisch die TRH- und TSHSekretion, was die Prolactinkonzentration im Plasma relevant ansteigen lässt. Auch hohe Östrogenspiegel im Plasma stimulieren die Prolactinsekretion, wahrscheinlich über eine Desensibilisierung der Dopaminrezeptoren an den mammotropen Zellen. Es handelt sich hierbei um einen positiven Rückkopplungsmechanismus durch ein peripheres Hormon. Prolactin selbst kann seine eigene Sekretion durch eine kurze Rückkopplungsschleife (short feedback) über eine Erhöhung des Dopaminumsatzes im Hypothalamus inhibieren. Das feine Zusammenspiel der Gonadotropine und des Prolactins beim Menstruationszyklus wird auch verdeutlicht durch die neuere Entdeckung eines (neben Dopamin) zusätzlichen Prolactin-Inhibiting-Hormons (PIH). Das Vorläufermolekül für GnRH enthält eine Peptidsequenz, die eine starke prolactininhibierende Aktivität besitzt und vielleicht das endogene PIH darstellt. Es wird als GAP (GnRH-associated peptide) bezeichnet.

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534

16 Endokrines System Prolaktinome. Der größte Teil der Tumoren der Hypophyse ist endokrin inaktiv (chromophobe Adenome) oder wird durch Adenome von mammotropen Zellen, die Prolactin produzieren, gebildet. Die Hyperprolaktinämie führt bei den Frauen zu Amenorrhö und Galaktorrhö und bei Männern zu Libidoverlust und manchmal zur Gynäkomastie. Diese beiden Krankheitssymptome haben ihre Entsprechung in den physiologischen Funktionen von Prolactin. So hat die erhöhte Prolactinsekretion bei stillenden Müttern einen hemmenden Effekt auf die LH/FSH-Sekretion, wodurch eine anovulatorische Phase entsteht (Amenorrhö) und eine Konzeption während der Stillzeit verhindert werden kann.

Glandula pinealis: Melatonin, das Dunkelhormon Die Glandula pinealis, auch Corpus pineale, Epiphysis cerebri oder Zirbeldrüse genannt (Abb. 16.11, S. 522), ist in alten medizinischen Schriften als Organ beim Menschen beschrieben und als „Sitz der Seele“ betrachtet worden (Herophilus, ca. 300 v. Chr.). In der neueren biologischen Forschung gilt das Pinealorgan beim Menschen und bei vielen Tierspezies als ein wesentlicher Bestandteil des photoneuroendokrinen Systems. Hier vermitteln retino-hypothalamische Bahnen Informationen über die Tageslänge an den Nucleus suprachiasmaticus, wo sie der Synchronisation der endogenen circadianen Aktivierung dienen und von hier schließlich in die Epiphyse gelangen. Das Prinzip der biologischen Uhr folgt einem molekula-

cAMP-System

CRH

ren Mechanismus, der heute nahazu vollständig aufgeklärt ist. Vereinfacht dargestellt, tickt unsere molekulare Uhr in einem Zyklus von 24 Stunden, weil die präzise Abfolge von Stimulation und Hemmung in einem Zusammenspiel von zwei Genpaaren und ihren exprimierten Proteinen genau 24 Stunden dauert. Solche „Gen-Uhren“ befinden sich in vielen, auch peripheren Körperzellen und sind besonders gut untersucht im Nucleus suprachiasmaticus. Das Pinealorgan zählt aufgrund seiner Morphologie zu den zirkumventrikulären Organen (s. o.), sein Hormon, Melatonin, wird in den Pinealozyten aus Serotonin synthetisiert. Melatonin ist eine sehr lipophile Substanz und kann daher die Zellen des Organismus ohne Barrieren erreichen. Die Sekretion von Melatonin wird stimuliert durch Dunkelheit und gehemmt durch Licht; sie ist zur Nachtzeit um ein Vielfaches höher als während des Tages. Die mögliche physiologische Bedeutung von Melatonin scheint in einer Synchronisation entsprechend der unterschiedlichen Lichtintensität beim Tag/Nacht-Rhythmus und bei Jahreszeiten für verschiedene biologische Prozesse, v. a. solchen im Reproduktionssystem zu bestehen. So misst man dem Melatonin eine besondere Bedeutung bei der Induktion der Pubertät bei. Darüber hinaus gibt es Berichte über die Beeinflussung von sämtlichen hypothalamo-hypophysären Hormonen sowie der gastrointestinalen Hormone und auch des Immunsystems durch Melatonin. Die vielfältigen Funktionen von Melatonin, die ihm in jüngster Zeit den Ruf einer „Wunderdroge“ eingebracht

SIH

Phosphatidylinositolsystem

ADH

Zellmembran Gs-Protein

G i -Protein

G-Protein Phospholipase

Adenylylcyclase ATP

cAMP

DAG

Proteinkinase A

Proteinkinase C

PIP2

IP3

Ca2+-Kanal

2+

Ca

Ca2+ Protein PO4

Protein

Protein PO4

intrazellulärer Ca2+-Speicher

Protein Exozytose

Glucocorticoide

ACTH (b-Endorphin, a-MSH)

POMC-Synthese endoplasmatisches Retikulum

Abb.16.24 Regulation der Synthese und Freisetzung von POMC-Peptiden in einer Adenohypophysenzelle. Der wesentliche Stimulator ist CRH (cAMP als Second Messenger), welches synergistisch mit Adiuretin (ADH) wirkt, das das Phosphatidylinositolsystem aktiviert. Zusätzlich beeinflussen

verschiedene andere hypothalamische (z. B. Hemmung durch SIH) und hypophysäre Faktoren die ACTH-Sekretion. Die Hemmung von Synthese und Freisetzung der POMC-Peptide wird hauptsächlich durch Glucocorticoide bewirkt (negative Rückkopplung).

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16.4 Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-System: Mineralo- und Glucocorticoide haben, sind möglicherweise durch seinen Wirkungsmechanismus als Antioxidans begründet. Die künftige Forschung wird zeigen, ob dieses für lange Zeit fast vergessene Organ in der Physiologie und in der klinischen Medizin eine bedeutende Rolle spielen wird.

16.4

Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden-System: Mineralo- und Glucocorticoide

Die Regulation im Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-System dient der Bereitstellung von Cortisol für viele Stoffwechselprozesse unter Basalbedingungen und auch für starke akute Anforderungen (Stress), bei körperlicher Arbeit, bei emotionalen und mentalen Belastungen sowie bei Krankheiten. Seine spontane Sekretion folgt einem stabilen circadianen Rhythmus. Die an dieser Regulation beteiligten Hormone und anderen Signalsubstanzen, ihre Biosynthese und die Feinabstimmung in Rückkopplungssystemen sind besonders gut erforscht und können auch als Paradigma für andere neuroendokrine Regulationskreise gelten (Abb. 16.33, S. 543). Die Steuerung der Nebennierenfunktion ist hierarchisch organisiert, jedoch spielt die negative Rückkopplung durch Cortisol im Blut eine wesentliche Rolle. Eine der wichtigsten Medikamentengruppen in der modernen Medizin konnte aufgrund der Erfolge bei der Erforschung der Nebennierenrindenphysiologie entwickelt werden. Das beruht zum einen auf den multiplen Wirkungen des Steroidhormons Cortisol auf den Stoffwechsel, auf das Immunsystem und auf alle Entzündungsvorgänge und zum anderen auf den Wirkungen von Aldosteron auf den Mineralhaushalt (S. 348 und 383). Dagegen war noch um 1900 in Anatomie-Lehrbüchern folgende Beschreibung der Nebennieren zu finden: „Die unbekannte Funktion der Nebenniere sichert dieses Organ vor lästigen Nachfragen in der Heilswissenschaft“. Im Folgenden werden die funktionellen Ebenen der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse und ihre wichtigsten Hormone CRH, ACTH und Cortisol vorgestellt. Hierbei werden auch jeweils die Biosynthese und Sekretion sowie die Funktion und der molekulare/zelluläre Mechanismus ihrer Wirkung näher beschrieben.

Die hypothalamische Ebene: Neurotransmitter, CRH und ADH Die ACTH-Sekretion der Hypophyse wird durch mehrere hypothalamische Peptide und Neurotransmitter reguliert. Stimulatorisch wirken vor allem CRH (Corticoliberin) und ADH (Adiuretin), aber auch Noradrenalin, CCK (Cholecystokinin), Angiotensin II und VIP (Vasoaktives intestinales Peptid), während Somatostatin (SIH) hemmend wirken kann. CRH beeinflusst als Neurotransmitter/Neuromodulator auch die zentrale Steuerung des autonomen Nervensystems und andere ZNS-Prozesse. Die CRH-Synthese und -Freisetzung wird durch Cortisol gehemmt (lange Feedback-Schleife). Das Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH, Corticoliberin) ist ein Peptid mit 41 Aminosäuren und wird im

Nahrungsaufnahme Flüssigkeitsaufnahme

Lokomotion Schlafphasen

ZNS

CRH Neurotransmitter

endokrin Hypophyse

Sympathikus„Zentren“

ACTH b-Endorphin

Nebenniere Mark Adrenalin Noradrenalin

Leber Glucose Lipide

Rinde Cortisol

Herz-KreislaufSystem Blutdruck Herzfrequenz Herzzeitvolumen

Magen-DarmTrakt Magensaft + H Motilität

Abb.16.25 Multiple Wirkungen von CRH. CRH wirkt als Neurotransmitter/Neuromodulator im ZNS und bei der Steuerung von Zentren des vegetativen Nervensystems. Zusammen mit seiner Wirkung als Releasing-Hormon für ACTH ist CRH somit ein wichtiger Faktor bei der Steuerung vieler Reaktionen des Organismus auf Stress.

kleinzelligen Anteil des Nucleus paraventricularis, aber auch im Hirnstamm und anderen ZNS-Regionen sowie in mehreren peripheren Organen wie Lunge, Nebenniere und Gastrointestinaltrakt synthetisiert. Die Biosynthese von CRH und seine Freisetzung am Axonterminal in den hypophysären Portalkreislauf stehen unter der multiplen Kontrolle von Neuronen mit Corticoidrezeptoren für die negativen Feedback-Signale von Cortisol. Die „basale“ CRH-Sekretion ist abhängig von endogenen Rhythmen, möglicherweise vermittelt durch Verbindungen zum benachbarten Nucleus suprachiasmaticus. Eine besondere Bedeutung für die Aktivität der CRHNeurone haben Projektionen vom limbischen System, dem eine Beteiligung an vielen assoziativen ZNS-Funktionen wie Lernen, Gedächtnis und Emotionen zugeschrieben wird. Es ist interessant, dass ADH und CRH in identischen Zellen des Nucleus paraventricularis synthetisiert werden können. Bei bestimmten Belastungen verändert sich hier das Verhältnis von ADH zu CRH. An der Hypophysenzelle wirken CRH und ADH synergistisch (Abb. 16.24): CRH aktiviert die cAMP-abhängige Proteinkinase A, und durch

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535

536

16 Endokrines System ADH wird die Proteinkinase C über das Phosphatidylinositolsystem aktiviert. Beide Neuropeptide stimulieren die Freisetzung der POMC-Hormone aus den Sekretgranula (s. u.) und haben auch Einflüsse auf die Synthese durch eine Aktivierung des POMC-Gens. CRH hat neben seiner hypophyseotropen Wirkung auf die POMC-Zelle auch eine besondere Schlüsselstellung in der Koordinierung von ZNS-Vorgängen, die mit der Antwort eines Organismus auf Stress verbunden sind. Die Zentren des sympathischen Nervensystems werden erregt, Noradrenalin und Adrenalin im Blut steigen an, dagegen werden Verdauungsvorgänge und (beim Tier) die sexuelle Rezeptivität gehemmt (Abb. 16.25 u. Abb. 16.33, S. 543). Es wird vermutet, dass eine gestörte Funktion von CRH in der Pathogenese der endogenen Depression und der Anorexia nervosa eine besondere Rolle spielt.

Die hypophysäre Ebene: Proopiomelanocortin (POMC) und seine Hormone (ACTH, β-Endorphin, MSH) POMC ist das Produkt der kortikotropen Zellen der Adenohypophyse, aus dem durch posttranslationales Processing ACTH als Hauptprodukt sowie - und -MSH, -Endorphin und andere Teilpeptide entstehen. ACTH steuert v. a. die Enzyme der Glucocorticoid-Synthese in der Nebennierenrinde; es wirkt zudem lipolytisch und intensiviert die Hautpigmentation. ACTH wird von den kortikotropen Zellen synthetisiert, die nur ca. 3 % der Zellen der Adenohypophyse ausmachen (Abb. 16.17, S. 528). Da aus dem Vorläufermolekül für ACTH, dem Proopiomelanocortin (POMC), auch zwei andere aktive Hormone, α-MSH und β-Endorphin, synthetisiert werden können, ist es zutreffender, diese Zellen in POMC-Zellen umzubenennen. ACTH ist das entscheidende Hormon für die Cortisolproduktion der Nebennierenrinde; die Funktion der beiden anderen Peptide in der Körperperipherie ist beim Menschen noch nicht geklärt. Biosynthese und Freisetzung. In Abb. 16.26 sind die Vorgänge der Biosynthese der dem POMC entstammenden Peptide näher erläutert. Die Synthese von ACTH wird hier ausführlicher beschrieben, weil sie sich als Beispiel auch für andere Peptidhormone besonders gut eignet. POMC gehört zu den am besten untersuchten Precursor(Vorläufer-)Molekülen in der molekularen Endokrinologie. Es ist auch deswegen besonders interessant, weil in diesem Precursor mindestens drei Hormone mit jeweils unterschiedlichen biologischen Funktionen enthalten sind. Das POMC-Gen wird nicht nur in den Zellen des Hypophysenvorderlappens, sondern auch im ZNS, und hier vor allem im Nucleus arcuatus, im Nebennierenmark, in den Gonaden und im Bronchialepithel exprimiert. Das POMC-Gen ist auf dem menschlichen Chromosom 2 lokalisiert. Es enthält drei Exons, von denen das größte für alle bioaktiven Peptide und den Hauptteil des aminoterminalen Bereichs des Propeptids kodiert. Über die Zwischenstufe des primären RNA-Transkriptes (in Abb. 16.26 nicht dargestellt) wird durch Herausschneiden des Introns (splicing) und das Markieren der Termina-

87

Exon 1

Intron A

151

Exon 2

5'

834 Basenpaare

Intron B

Poly A....3'

~1000 Nucleotide

Initiation

POMC-Gen (Doppelstrang)

Exon 3

Translation

mRNA

Termination 236

Prä-POMC Signal

b-LPH

ACTH 39

1

16-K-Fragment

ACTH

g-LPH

b-Endorphin

Posttranslationsfragmente in: Adenohypophyse

a-MSH 1

Ac –

13

– NH2 CLIP

Ac – b-Endorphin

Pars intermedia

19 39

Hormon/Neuropeptid g1-MSH

Stimulation der Zona glomerulosa ( Aldosteron)

g4 -MSH

Ac –

Funktionen

– NH2 a-MSH

ACTH4 – 9 ACTH1–39 b-Endorphin

ZNS: Neuromodulator Peripherie: Melanozytenstimulation ZNS: Neuromodulator Stimulation der Nebennierenrindenhormone und Lipolyse ZNS: Analgesie Peripherie: Immunmodulation

Abb.16.26 Biosynthese und Funktion von POMC-Peptiden. Vom Gen bis zu den bioaktiven Endprodukten sind die einzelnen Strukturen und Schritte dargestellt. Im unteren Teil sind die bisher bekannten Struktur-Funktions-Beziehungen für einzelne Sequenzabschnitte beschrieben. Die Partialfunktionen sind an bestimmte Strukturdomänen der POMC-Peptide gebunden. Die Pfeile kennzeichnen Stellen im Propeptid, an denen Endopeptidasen die Hormone abspalten. Die repetitive Sequenz, die ACTH 4 – 9 entspricht, kommt dreimal im Prohormon vor und ist dunkelviolett gekennzeichnet.

tionsstelle die „reife“ mRNA hergestellt. Die mRNA gelangt durch Poren in der Kernhülle in das Zytoplasma (Abb. 2.3, S. 17). Für POMC wie für alle Peptidhormone ist die Translation einer (ca. 25 – 35 AS) langen Signalsequenz charakteristisch. Über die Signalsequenz wird das PräPOMC in das endoplasmatische Retikulum eingeschleust. Hier wird die Signalsequenz abgespalten, wodurch aus dem kurzlebigen Präpeptid das Propeptid POMC entsteht. POMC wird in Mikrovesikeln zum cis-Teil des GolgiApparats transportiert und hier in den Sekretgranula durch Proteinasen in seine Peptidfragmente geteilt. Dieser als posttranslationales Processing bezeichnete Vorgang ist in unterschiedlichen Geweben für POMC ver-

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Cortisol (20 mg/d)

Medulla

Zona fasciculata

Aldosteron (0,15 mg/d)

Zona reticularis

Zona glomerulosa

Cortisol

Struktur der Nebenniere

Die posttranslationalen Vorgänge haben auch eine Bedeutung für die Physiologie, weil hierdurch zusätzliche Peptide mit einem spezifischen Wirkprofil entstehen können. Die Struktur-Wirkungs-Beziehungen (Abb. 16.26) von POMC-Peptiden bieten hierfür interessante Beispiele: Am bekanntesten und am wichtigsten ist die Sequenz ACTH 1 – 39 mit seiner Wirkung auf die Nebennierenrinde (s. u.). Innerhalb des ACTH-Moleküls sind spezifische Sequenzen für bestimmte Partialfunktionen essenziell: ACTH 1 – 13 für die MSH-Aktivität, 4 – 9 für neuromodulatorische Effekte im ZNS, 1 – 24 für die biologische Aktivität an der Nebennierenrinde und an der Fettzelle, 25 – 39 für die Speziesspezifität. Die biologisch wichtigste Aminosäurensequenz ACTH 1 – 24 ist bei allen untersuchten Vertebraten identisch. Im POMC kommt dreimal eine Aminosäurensequenz vor, die der von ACTH 4 – 9 entspricht und in α-, β- und γMSH enthalten ist. Diese Sequenz ist für die moderne Neurobiologie deswegen interessant, weil bei Versuchstieren Einflüsse auf Lernprozesse nachgewiesen werden konnten. Beim Menschen hat ACTH 4 – 9 wahrscheinlich eine Wirkung auf die selektive Aufmerksamkeit und das Essverhalten. ACTH/MSH-Rezeptoren (= Melanocortin-Rezeptoren = MC-R) sind inzwischen mit ausschließlicher Spezifität für ACTH (MC-R2) oder weniger spezifisch für α-MSH, γ-MSH oder ACTH-Peptide (MC-R1, MC-R3-5) entdeckt worden. Die Rezeptoren MC-R1 und MC-R3-5 kommen vor allem im Gehirn vor und weisen auf die wichtige Rolle von POMC-Peptiden als Neuropeptide im ZNS hin. Kürzlich ist auch ein Protein entdeckt worden (Agouti-related Protein, AGRP), das für MSH-Rezeptoren als endogener Antagonist bei der Appetit-Regulation wirken kann. -MSH wird bei vielen Vertebraten und Amphibien in der Adenohypophyse oder im Hypophysenzwischenlappen synthetisiert. (Beim Menschen kommt α-MSH im Hypothalamus und in einer frühen fetalen Phase im Hypophysenzwischenlappen vor.) MSH wirkt stark bräunend durch eine Dispersion von Melaninpigment in den Melanozyten. Im Hypothalamus wirkt α-MSH als Neuropeptid (über MC-R4), als wichtiger Gegenspieler von NPY im anorexigenen Netzwerk (s. S. 484 ff.).

Sympathikus (ACh)

ACTH

Kapsel

Im Zwischenlappen der Hypophyse und auch im Gehirn werden POMC-Peptide noch zusätzlich modifiziert. So wird von ACTH die aminoterminale Sequenz 1 – 13 abgespalten und zusätzlich azetyliert und amidiert. Das so entstandene -MSH (Melanozytenstimulierendes Hormon) ist hierdurch an beiden Seiten der Peptidkette vor Exopeptidasen geschützt (Ac-ACTH-1-13-NH2). Der karboxyterminale Teil von ACTH 19 – 39 wird CLIP (Corticotropin-like Intermediate Lobe Peptide) genannt. Auch an anderen Stellen des POMC-Moleküls werden zusätzliche bioaktive Peptide abgespalten und modifiziert. Hierbei entstehen γ- und β-MSH und azetyliertes β-Endorphin.

Plasma-K+ Angiotensin II ANF

Hormon

schieden. Wahrscheinlich wird diese Gewebespezifität durch unterschiedliche Enzymaktivitäten in den Sekretgranula verursacht. Das Hauptprodukt der POMC-Zellen der Adenohypophyse ist ACTH, daneben entstehen durch Spaltung an basischen Aminosäuren noch die Fragmente -LPH (lipotropes Hormon) und -Endorphin sowie ein größeres aminoterminales Fragment (16-kDa-Peptid).

Regulator

16.4 Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-System: Mineralo- und Glucocorticoide

Adrenalin (80%) Androgene (» 30 mg/d) Noradrenalin (20%) Neuropeptide

Abb.16.27 Struktur und Funktion der Nebenniere. Die drei Schichten der Nebennierenrinde haben jeweils eine spezifische Ausstattung mit Enzymen, die die Synthese ihrer charakteristischen Endprodukte, Mineralocorticoide, Glucocorticoide und Androgene, gewährleisten (Abb.16.29, S. 539). Die Bildung aller Corticoide wird durch ACTH stimuliert, jedoch stehen die Mineralocorticoide hauptsächlich unter der Kontrolle von Angiotensin II. Das Nebennierenmark wird neuronal gesteuert. Cortisol, das auf dem Blutweg innerhalb des Organs zum Mark gelangt, erhöht die Adrenalinausschüttung.

-Endorphin ist ein wichtiges endogenes Opioid (S. 655). Es entsteht nach Abspaltung der letzten 31 Aminosäuren aus POMC. Es enthält an seiner aminoterminalen Seite die Sequenz von Metenkephalin, die jedoch von β-Endorphin nicht als eigenständiges Peptid abgespalten wird. Aufgrund der gemeinsamen Biosynthese werden ACTH und β-Endorphin auch gemeinsam sezerniert. β-Endorphin scheint in der Peripherie desensibilisierend auf Nozirezeptoren (Nozisensoren) zu wirken. Da viele Lymphozyten Opioidrezeptoren haben, ist β-Endorphin in der Peripherie wahrscheinlich auch als Immunmodulator wirksam. Funktionen von ACTH. ACTH reguliert die Synthese und Sekretion aller Nebennierenrinden-Steroide, aber insbesondere die der Glucocorticoide aus der Zona fasciculata (Abb. 16.27). Der zelluläre Mechanismus der ACTHWirkung ist nur zum Teil bekannt. Nach der Bindung an einen spezifischen membranständigen Rezeptor wird über cAMP-abhängige Gen-Aktivierungen die Synthese einiger für die Steroidproduktion wichtiger Enzyme reguliert. Vor allem wird durch ACTH der für die Biosynthese limitierende Schritt, die Abspaltung der Seitenkette von Cholesterin und damit die Synthese von Pregnenolon, stimuliert (Abb. 16.28). Diese Reaktion ist jedoch nicht nur vom cAMP-System abhängig. Die Synthese von Pregnenolon ist besonders bei akuten Anforderungen wichtig, um genügend Precursor-Moleküle für die weiteren (nur

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537

538

16 Endokrines System

Die Hormone der Nebennierenrinde (Corticoide): Aldosteron, Cortisol, Androgene

ACTH

LDL

Zellmembran

Rezeptoren

Gs-Protein Adenylylcyclase

Lipidtröpfchen

ATP

cAMP

Cholesterinester Proteinkinase A Cholesterin Neusynthese

StAR

Cholesterin 1

Pregnenolon

2

Progesteron 7

17a-OHProgesteron 3

Cortisol

4

Mitochondrium

11-DesoxyCortisol

Progesteron

17a-OHProgesteron

Cortisol

Abb.16.28 Wirkung von ACTH auf die Corticoidsynthese. Die Corticoidsynthese findet in verschiedenen Zellkompartimenten statt. Der wichtigste Schritt (1) ist die Umwandlung von Cholesterin zu Pregnenolon in den Mitochondrien durch eine Desmolase. Auch die daran anschließende Synthesekaskade wird durch ACTH stimuliert. Bei ausreichender Bereitstellung von Pregnenolon kann sie ohne ACTH-Einwirkung weiterlaufen (Enzyme der Schritte 2 – 4 und 7, s. Abb.16.29).

teilweise von ACTH abhängigen) Biosyntheseschritte von Cortisol bereitzustellen (s. u.). Die wichtigsten extraadrenalen Funktionen von ACTH beim Menschen sind die Stimulation der Lipolyse (durch Aktivierung der Adenylylcyclase in Fettzellen) sowie die Intensivierung der Hautpigmentierung durch Erhöhung der Melaninsynthese in den Melanozyten und Beschleunigung des Pigmentstofftransports in die epidermalen Zellen. In der Klinik ist eine starke Bräunung der Haut und einiger Schleimhäute durch eine massiv erhöhte ACTH-Sekretion ein wichtiges diagnostisches Zeichen bei der primären Nebennierenrindeninsuffizienz bei Morbus Addison und bei einigen Bronchialkarzinomen, die paraneoplastisch große Mengen ACTH produzieren.

Die Nebennierenrinde besteht morphologisch und funktionell aus drei Schichten (Abb. 16.27). In der Zona glomerulosa werden Mineralocorticoide (vor allem Aldosteron), in der Zona fascicularis Glucocorticoide (vor allem Cortisol) und in der Zona reticularis Androgene (vor allem Dehydroepiandrosteron, DHEA) gebildet. Alle Corticosteroide oder kurz Corticoide entstammen dem Vorläufer Cholesterin. Sie werden hieraus durch spezifische Enzymsysteme zu den unterschiedlichen bioaktiven Endprodukten synthetisiert. Die hauptsächlichen Wirkungen der drei Corticoidgruppen sind schon in ihren Namen enthalten: Mineralocorticoide erhöhen die Na+-Retention und die K+-Sekretion in der Niere. Glucocorticoide haben wichtige Effekte auf fast alle Stoffwechselvorgänge. Die Androgene wirken als männliche Geschlechtshormone und sind Vorläufersubstanzen für Östrogene. Die Corticoide werden im Blut an verschiedene Transportproteine gebunden. Ihr molekularer Wirkungsmechanismus besteht in einer Beeinflussung der Transkription nach Bindung des Steroids an seinen spezifischen intrazellulären Rezeptor in der Zielzelle. Die Sekretion der Glucocorticoide und der Androgene wird durch das Hypophysenhormon ACTH kontrolliert, während die Mineralocorticoide hauptsächlich über das Renin-Angiotensin-System reguliert werden. In der Klinik werden synthetische Corticoide und Aldosteronantagonisten als Therapeutika bei vielen Indikationen angewendet. Ein nahezu vollständiges Fehlen der Corticoidproduktion wie bei der AddisonKrankheit muss durch die Gabe von Präparaten mit Mineralocorticoid- und Glucocorticoid-Wirkung substituiert werden. Eine massive Überproduktion von Cortisol (Cushing-Syndrom) ist eine lebensbedrohliche Erkrankung mit unterschiedlichen pathologischen Ursachen. Auch die isolierte Vermehrung der Mineralocorticoid-Produktion (Conn-Syndrom) oder die kompensatorische Stimulation der Nebennierenandrogene (Adrenogenitales Syndrom, AGS) führen zu schweren Erkrankungen. Die Biosynthese der drei wichtigsten Corticoide wird hier nur kurz vorgestellt und sollte in Lehrbüchern für Biochemie intensiver studiert werden. In diesem Abschnitt wird besonders die Wirkung des Glucocorticoids Cortisol besprochen, während der Mechanismus der Mineralocorticoidwirkung von Aldosteron im Kapitel 13 geschildert wird.

Corticoide werden aus Vorläufermolekülen synthetisiert Der Vorläufer für alle Corticoide ist Cholesterin. Die hauptsächliche Quelle für Cholesterin sind die im Blut zirkulierenden Lipoproteine (S. 456 f.); daneben gibt es auch eine De-novoSynthese in der Nebennierenrinde aus Acetyl-Coenzym A. Die meisten Enzyme für die Biosynthese der Corticosteroide gehören zur großen Familie der Cytochrom-P-450-Mischoxygenasen und

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16.4 Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-System: Mineralo- und Glucocorticoide Cholesterin 1

Mineralocorticoide

Pregnenolon 2

7 7

Progesteron

Glucocorticoide 17a-OH-Pregnenolon 2

17a-OH-Progesteron

18-OH-Corticosteron

DHEA-Sulfat

Cortisol

6

Zona glomerulosa

Aldosteron

20,20-Desmolase [P450 scc] 18-Hydroxylase

Androstendion

4

A II

5

2

8

11-Desoxycortisol

5

Corticosteron

1

Androgene Dehydroepiandrosteron (DHEA)

3

3

11-Desoxycorticosteron 4

8

6

2

Zona fasciculata

Zona reticularis

3b-Hydroxysteroid-Dehydrogenase

18-Dehydrogenase

7

3

Abb.16.29 Synthese der Corticoide. Hierbei sind die Enzyme 5 und 6 spezifisch für die Aldosteronsynthese und dementsprechend in der Zona glomerulosa enthalten, das

katalysieren die verschiedenen Hydroxylierungen am Vorläufermolekül. Die entscheidende, die Syntheserate limitierende Reaktion ist die Umwandlung von Cholesterin zu Pregnenolon in drei Schritten, wobei nach C20- und C22-Hydroxylierung durch eine Desmolase (Cyt P-450 scc [side-chain cleavage]) in den Mitochondrien die Seitenkette von C20 abgespalten wird. Der wichtige Transport von Cholesterin zur inneren Mitochondrienmembran wird stimuliert durch ein kürzlich entdecktes Protein (StAR, steroidogenic acute regulatory protein), welches nach Stimulation durch ACTH akut synthetisiert wird. Die Corticoide werden innerhalb von 15 – 30 Minuten nach Stimulation durch ACTH direkt in die Blutbahn sezerniert. Ein intrazellulärer Transport- oder Speichermechanismus mit Sekretgranula ist für Steroidhormone bisher nicht bekannt. In Abb. 16.29 sind die Syntheseschritte und die beteiligten Enzyme dargestellt. Cortisol macht 95 % und Corticosteron 5 % der Glucocorticoid-Aktivität beim Menschen aus (bei einigen Labortieren, z. B. Nagetieren, ist dieses Verhältnis umgekehrt). Der Hauptvertreter der Nebennierenandrogene aus der Zona reticularis ist Dehydroepiandrosteron-Sulfat (DHEAS); daneben werden auch sehr kleine Mengen von Testosteron und Östrogen synthetisiert. Die Aldosteronsynthese in der Zona glomerulosa ist bis zum Corticosteron identisch mit der für Cortisol in der Zona fasciculata. Der spezifische Syntheseschritt für Aldosteron ist die Oxidierung der Methylgruppe am C18-Atom. Aldosteron wird nach Stimulation durch Angiotensin II oder durch eine Hyperkaliämie synthetisiert und ausgeschüttet, jedoch haben hierbei ACTH und eventuell andere POMC-Peptide einen zusätzlichen Effekt. Atriopeptin (ANF) hemmt als Gegenspieler von Angiotensin II direkt und indirekt die Aldosteronsekretion (S. 382). An allen Stellen der komplizierten Synthesekaskade in der Nebenniere können pathologische Störungen durch Enzymdefekte auftreten. Das adrenogenitale Syndrom (AGS) ist die bekannteste Enzymstörung. Die Entdeckung verschiedener zur Biosynthese von Corticoiden wichtiger Enzyme ist vor allem durch seltene, allerdings sehr charakteristische Krankheitsbilder ermöglicht worden. Den verschiedenen Formen des adrenogenitalen Syndroms ist eine verminderte Cortisolproduktion gemeinsam. Diese führt kompensatorisch zu einer stark erhöhten ACTH-Sekretion, wodurch wiederum die Sekretion aller Corticosteroide, deren Synthese nicht gestört ist, z. B. der Androgene, pathologisch stimuliert wird. Besonders gefährdet sind Patienten, bei denen auch die Synthese von Aldosteron durch Enzymdefekte gehemmt ist, wodurch ein

4

21-Hydroxylase [P450c21]

17a-Hydroxylase

8

11b-Hydroxylase [P450 cll]

17,20-Lyase (Desmolase)

Enzym Nr. 7 ist für die Zona fasciculata (Cortisolbildung) und Nr. 8 für die Zona reticularis charakteristisch.

lebensbedrohlicher Natriumverlust entstehen kann. Die angeborenen Enzymdefekte werden bei weiblichen Neugeborenen besonders deutlich sichtbar an den Zeichen einer Maskulinisierung der äußeren Geschlechtsmerkmale, die durch die erhöhten Nebennierenandrogene hervorgerufen werden. Durch eine Substitutionstherapie mit Glucocorticoiden wird bei diesen Patienten auch die vermehrte ACTH-Sekretion gehemmt, so dass dadurch auch die Synthese der unerwünschten Vorstufen (besonders der Androgene) normalisiert werden kann.

Transportproteine schützen Corticoide im Blut Nach der Sekretion werden die Corticoide zu über 90% an spezifische Transportporteine im Plasma (cortisolbindendes Globulin, CBG) oder an Albumin gebunden (S. 515). Bei Konformationsänderungen des Bindungsproteins, z. B. in der Umgebung von Entzündungen, wird hieraus dann Cortisol freigesetzt. Die Bindung von Aldosteron an Proteine ist weniger fest als die von Cortisol. Vor der Ausscheidung der Corticoide in der Niere können sie in der Leber durch Reduktion des A-Ringes des Steroidmoleküls und durch Derivatisierung zu Glucuroniden inaktiviert werden. Die Messung verschiedener Corticoidmetaboliten im Urin von Patienten wird als wichtiges Diagnostikum für funktionelle Störungen der Nebennierenrinde benutzt.

Die Funktionen der Corticoide sind vielfältig Corticoide diffundieren aufgrund ihrer Lipophilität durch die Membran ihrer Zielzelle. In der Zelle binden die Corticoide an spezifische Rezeptoren, die sich im Zytosol und im Zellkern befinden, und werden vielleicht zusätzlich an membranständige Rezeptoren gebunden, wie neuere Untersuchungen zeigen. Die Rezeptoren im Zellinneren gehören zu der Superfamilie von ligandeninduzierten Proteinen, die nach Bindung an spezifische DNA-Sequenzen die Transkription aktivieren können (Abb. 16.42, S. 549). Der Typ I der Rezeptoren ist für Mineralocorticoide spezifisch und der Typ II für Glucocorticoide (Abb. 16.43, S. 549). Sie werden in der Niere (Typ I), der Leber (Typ II), in vielen anderen Organsystemen und im

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539

540

16 Endokrines System

Hypophyse

ACTH Sympathikus (ACh)

Sympathikus Nebennierenrinde

Cortisol ACh

Cortisol

Tyrosin TH

Dopa

Dopamin DBH

Noradrenalin PNMT

Adrenalin Nebennierenmark

Adrenalin

Abb.16.30 Parakrine Effekte von Cortisol auf die Catecholaminsynthese im Nebennierenmark. Während der wichtige Syntheseschritt von Tyrosin zu Dopa hauptsächlich abhängig ist von der Freisetzung von Acetylcholin (ACh) aus präganglionären Sympathikusfasern, wird der für das Nebennierenmark charakteristische Schritt der Methylierung von Noradrenalin, der zu Adrenalin führt, hauptsächlich durch den parakrinen Effekt von Cortisol stimuliert. TH = Tyrosinhydroxylase, DBH = Dopamin-b-Hydroxylase, PNMT = Phenyläthanolamin-N-Methyltransferase.

Gehirn gefunden. Natürlich vorkommende Glucocorticoide in erhöhter Konzentration können auch als Mineralocorticoide wirken. Dagegen gibt es hochspezifische, synthetische Glucocorticoidpräparate (z. B. Dexamethason), die keinen Mineralocorticoideffekt haben. Interessanterweise hängt die Spezifität der Mineralocorticoidrezeptoren von der Aktivität des Enzyms 11Hydroxysteroid-Dehydrogenase in den Zielzellen ab (Abb. 16.43, S. 549). Dieses Enzym dehydriert die für die Rezeptorbindung essenzielle β-OH-Gruppe am C11-Atom zur Keto(Oxo)gruppe, wodurch Corticoide wie das Cortisol am Rezeptor unwirksam werden. Die Struktur des Aldosteronmoleküls verhindert eine solche Dehydrierung, so dass Aldosteron vom Rezeptor gebunden werden kann. Eine Hemmung dieser Dehydrogenase (z. B. durch exzessiven Genuss von Lakritze) führt zu massiven Mineralocorticoideffekten durch die nun wirksamen Glucocorticoide, die beim Menschen in viel höheren Konzentrationen als Aldosteron vorkommen.

Glucocorticoide (Cortisol) regeln vitale Funktionen Die Glucocorticoide beeinflussen den Stoffwechsel von Kohlenhydraten, Fetten und Eiweißen. Sie wirken auf bestimmte Organsysteme und auf das Gehirn.

Stoffwechselwirkungen. Glucocorticoide fördern die Gluconeogenese aus Aminosäuren in der Leber, daher stammt auch ihr Name. Daneben werden auch der Glucosetransport und die Glucoseverwertung gehemmt. Diese Mechanismen führen zur Erhöhung des Blutzuckerspiegels und können so auch diabetogen wirken. Eiweiß abbauend, katabol, wirken Glucocorticoide auf die Muskulatur, auf das lymphatische Gewebe, auf die Haut und auf den Knochen. Die dadurch freigesetzten Aminosäuren werden in der Leber zur Gluconeogenese genutzt. Durch Cortisol werden als weitere Energiespender freie Fettsäuren im Fettgewebe lipolytisch freigesetzt. Außerdem wird der Einbau von Glucose in die Fettzellen und damit die Lipogenese gehemmt. Mineralhaushalt. Bei hohen Glucocorticoidkonzentrationen wird in der Niere Natrium retiniert und Kalium vermehrt ausgeschieden (Aldosteronwirkung, s. Kap. 12 u. 13). Immunprozesse. Glucocorticoide hemmen eine Vielzahl von Immunprozessen. Sie führen zur Verringerung des Thymusgewebes und der Lymphknoten. Sie senken die Anzahl der zirkulierenden eosinophilen und basophilen Granulozyten und der Lymphozyten. Sie vermindern die zelluläre Immunität und blockieren die Freisetzung und den Effekt der meisten Cytokine (Kap. 9). Bei längerer therapeutischer Anwendung hemmen Glucocorticoide auch die Antikörperproduktion. Entzündungsprozesse. Glucocorticoide hemmen alle Prozesse einer Entzündung. Diese Funktion wird wahrscheinlich vermittelt durch die Hemmung der Cytokinfreisetzung und der Synthese von Abkömmlingen der Arachidonsäure, wie den Prostaglandinen, indem ein durch Cortisolwirkung exprimiertes Protein, „Lipocortin“ oder „Lipomodulin“, das Syntheseenzym Phospholipase A2 inaktiviert. Permissiver Effekt. Glucocorticoide erhöhen die Potenz der Wirkung einiger wichtiger endogener Signalsubstanzen. Dies wird permissiver Effekt genannt. So wird die Empfindlichkeit von Adrenozeptoren gegenüber Katecholaminen und anderen vasokonstriktorischen Substanzen durch Glucocorticoide deutlich erhöht. Ähnliches gilt für die Wirkung der Katecholamine an der Fettzelle. Die Glucocorticoide stimulieren auf parakrine Weise auch die Synthese der Katecholamine im benachbarten Nebennierenmark durch Enzyminduktion auf allen Ebenen der Biosynthese, insbesondere den charakteristischen Syntheseschritt zu Adrenalin. Die beiden Nebennierensysteme – die Corticoide und die Katecholamine – interagieren hier wie bei vielen anderen wichtigen Körperfunktionen (Abb. 16.30 u. Abb. 16.33, S. 543). Zentralnervensystem. Neben ihrer Feedback-Wirkung im neuroendokrinen System (s. u.) haben Glucocorticoide auch andere Effekte auf das Zentralnervensystem. Sie erhöhen die Wahrnehmung von akustischen, taktilen, olfaktorischen und gustativen Reizen. Sie scheinen deutliche Effekte auf die Generierung von Emotionen zu haben und beschleunigen während chronischer Exposition bei Labortieren Alterungsprozesse im ZNS, vor allem im Hippokampus. Da jede Zelle des Körpers Glucocorticoid-Rezeptoren besitzt, sind die Reaktionen jeweils von der spezifischen Funktion dieser Zellen abhängig: in der Niere wird die

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16.4 Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-System: Mineralo- und Glucocorticoide glomeruläre Filtrationsrate gesteigert, im Knochen wird der Abbau gefördert, sein Aufbau dagegen gehemmt. Der Proteinkatabolismus wirkt sich besonders auf die Muskulatur und den Knochen aus, ebenso kommt es zu einer Verminderung der Fibroblasten und der Kollagensynthese im Bindegewebe.

Mineralocorticoide (Aldosteron) steuern die Ausscheidung von Kalium und Natrium Die Funktion des Hauptvertreters der Mineralocorticoide, Aldosteron, an der Niere (und am Kolon) und seine Regulation durch das Renin-Angiotensin-System sind in Kapitel 13 beschrieben.

Anwendung von Steroidhormonen in der Klinik Die Kenntnis der multiplen Wirkungen von Cortisol ist in der klinischen Medizin von besonderer Bedeutung. Dies gilt insbesondere für die weit verbreitete Therapie mit Glucocorticoiden bei nichtendokrinen Krankheiten und für die Diagnostik und Therapie pathologischer Störungen der Cortisolsekretion. Durch Veränderung am Steroidmolekül ist es möglich, hochspezifische Glucocorticoide und Mineralocorticoide zu synthetisieren. Der therapeutische Einsatz von Glucocorticoiden ist sehr breit: Substitutionstherapie bei endokrinen Erkrankungen, Behandlung von Entzündungen (z. B. Rheumatismus), Unterdrückung der Abwehrreaktionen des Körpers bei Organtransplantation, Blockade überschießender Immunprozesse (z. B. Allergie) und Chemotherapie einiger maligner Tumoren. Jeder Einsatz dieser Steroide ist mit dem Risiko von erheblichen Nebenwirkungen verbunden. Da es sich bei den meisten Indikationen um schwere Grundkrankheiten handelt, müssen die Nebenwirkungen in Kauf genommen werden. Diese sind Folge einer Aktivierung von Glucocorticoidrezeptoren und zeigen damit das ganze Spektrum dieses potenten Hormons. Eine gefährliche Komplikation der Behandlung mit Glucocorticoidpharmaka kann durch das zu schnelle Absetzen der Therapie entstehen; wegen der „negativen Feedback“-Wirkung des Medikaments auf die ACTH-Ausschüttung während der Therapie kann es nämlich zur Atrophie der Nebennierenrinde kommen. Ein zu plötzliches Absetzen der Glucocorticoidpharmaka wird dann zu einer sekundärer Insuffizienz der Nebennierenrinde, in schweren Fällen zu einer Addison-Krise (s. u.) führen (S. 476).

Androgene sind männliche Sexualsteroide Das hauptsächliche Androgen der Nebenniere ist Dehydroepiandrosteron (DHEA, Abb. 16.29), von dem täglich ca. 30 mg produziert werden und dessen größter Teil als Sulfat vorliegt. DHEA ist ein relativ schwach wirkendes männliches Sexualsteroid (S. 580). Ein Teil wird in seinen Zielgeweben enzymatisch zu Testosteron, Dehydrotestosteron und zu Östrogenen umgewandelt. Bei der Frau stellen die Androgene aus der Nebenniere den Hauptteil der männlichen Geschlechtshormone dar, ein kleiner Teil wird in den Ovarien synthetisiert. Im Alter verringert sich die DHEA-Produktion deutlich auf ca. 30 %. Eine hierauf beruhende ,Anti-aging‘-Therapie mit DHEA ist jedoch derzeit wissenschaftlich nicht gerechtfertigt.

Cushing-Syndrom und Morbus Addison Eine länger anhaltende Übersekretion von Cortisol führt zu einem schweren Krankheitsbild, dem Hyperkortisolismus (auch Cushing-Syndrom genannt). Hier sind alle auf S. 540 f. aufgelisteten Wirkungen von Cortisol in einem pathologischen Maße überhöht ausgeprägt: Hyperglykämie mit diabetischer Stoffwechsellage, Hypertonie mit Hypernatriämie und Hypokaliämie, Osteoporose aufgrund des Calciumverlustes und des Katabolismus, Atrophie der Muskulatur und spezifische Fettumverteilung (Facies lunata, Stammfettsucht) wegen der katabolen Effekte von Cortisol. Die Ursachen der Erkrankung können in einer vermehrten Produktion von ACTH durch hypophysäre Mikroadenome liegen (Morbus Cushing) oder in der autonomen Hormonproduktion durch Tumoren der Nebenniere (Abb. 16.34). Bei hypophysärer Ursache ist ACTH im Plasma erhöht, der circadiane Cortisolrhythmus ist aufgehoben. Die längerfristige Stimulation der Nebennierenrinde durch ACTH führt zu einer beiderseitigen Hyperplasie. Neben Cortisol werden außerdem die Nebennierenandrogene pathologisch vermehrt gebildet und sezerniert. Die Androgeneffekte sind daher bei weiblichen Patienten mit Morbus Cushing häufig ein erstes klinisches Zeichen der Erkrankung. Wenn Adenome der Nebennierenrinde den Hyperkortisolismus verursachen, ist die ACTH-Konzentration im Plasma sehr niedrig, die Adenome (und Karzinome) produzieren ihre Steroide ohne ACTHKontrolle (autonom). Durch neurochirurgische Entfernung der Hypophysentumoren bzw. durch Adrenalektomie können die Patienten geheilt werden, ohne diese Eingriffe führt extremer Hyperkortisolismus zum Tode. Eine nicht seltene Sonderform des CushingSyndroms wird hervorgerufen durch die paraneoplastische ACTH-Synthese in einigen Malignomen, vor allem kleinzelligen Bronchialkarzinomen. Bei einer Zerstörung beider Nebennieren, meist durch Autoimmunprozesse hervorgerufen, spricht man von einer primären Nebenniereninsuffizienz oder einem Morbus Addison (Abb. 16.34, S. 544). Das klinische Bild dieser Erkrankung ist gekennzeichnet durch den Ausfall aller Corticosteroide. Der Mangel an Mineralocorticoiden führt zu Hyponatriämie, Hyperkaliämie und zu einer nicht-respiratorischen Azidose. Die Patienten sind schwach und leicht ermüdbar. Schon bei geringen zusätzlichen Belastungen ihrer Wasser- und Elektrolytbalance, z. B. bei Schwitzen, Fieber oder Diarrhö, kann es zu sog. Addison-Krisen kommen, die durch einen lebensbedrohlichen Schockzustand gekennzeichnet sind. Wegen Ausfalls des negativen Feedback-Mechanismus durch Cortisol steigt die ACTH-Sekretion sehr deutlich an, wodurch wegen

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541

1600

Ergometer

20

1200

2000

2400

400 800 Tageszeit

ACTH

60

Cortisol 40

10

20 4 5 Stunden

60

1

2

3

4 5 Stunden Sepsis

3

2

Operation

1

Cortisol

100

Cortisol 50 50

ACTH

0 –15

0

30

60

90

ACTH im Plasma (% des Basalwertesl)

20

Cortisolinjektion

100

Fast feedback

ACTH

ACTH im Plasma (pg/ml)

10

40

Cortisol im Plasma (mg/dl)

Cortisol

800

Cortisol im Plasma (mg/dl)

60

Mahlzeiten

ACTH im Plasma (pg/ml)

Schlaf

20

Examen

Cortisol im Plasma (mg/dl)

16 Endokrines System

Cortisol im Plasma (mg/dl)

542

120

Minuten

Abb.16.32 Feedback-Mechanismen von Cortisol auf die ACTH-Sekretion. Man unterscheidet ein kurzdauerndes, von der Anstiegssteilheit der Cortisolplasmakonzentration abhängiges Feedback (Differenzial- oder Fast-Feedback) von einem späteren, von der Sekretionsrate abhängigen Feedback (integrales oder Delayed-Feedback).

40

Wie werden die Nebennierenrindenhormone reguliert?

20

Basalsekretion 1

2

3

4 5 Stunden

1

2

3

4

5 Tage

Abb.16.31 ACTH- und Cortisolsekretion unter Ruhebedingungen und bei Belastungen. Unter Basalbedingungen (oben) folgt die Sekretion von ACTH und Cortisol einem circadianen Rhythmus mit unregelmäßigen Sekretionsepisoden, die verstärkt in den Morgenstunden auftreten. Die Sekretion wird stimuliert durch körperliche Arbeit, wie z. B. am Fahrradergometer, oder durch psychische Belastungen, z. B. bei einem Examen. Schwere akute Belastungen oder Krankheiten führen zu einem deutlich höheren Anstieg der Cortisolsekretion, der auch, abhängig von der Dauer der Erkrankung, länger anhalten kann.

der im ACTH-Molekül enthaltenen MSH-Partialfunktion eine charakteristische starke Pigmentierung von Haut und Schleimhäuten hervorgerufen wird (S. 537). Der Morbus Addison kann heute gut durch Substitution synthetischer Cortisolpräparate und evtl. zusätzlicher Gabe eines Mineralocorticoids behandelt werden. Diese Therapie ist lebenslang notwendig. Die für die Diagnose und Differenzialdiagnose der wichtigsten Störungen der Cortisolsekretion angewendeten Funktionstests sind in Abb. 16.34 dargestellt.

Die Cortisolsekretion folgt einem stabilen circadianen Rhythmus mit sekretorischen Episoden, die in den frühen Morgenstunden eine höhere Frequenz und Amplitude haben, während sie über den Tag hinweg abnehmen. Unter Ruhebedingungen wird Cortisol hauptsächlich während etwa 6 Stunden am Tagesbeginn sezerniert, danach ist das System für 18 Stunden nahezu inaktiv. Ziemlich regelmäßig tritt noch eine zusätzliche Cortisolsekretion zur Mittagszeit, in Abhängigkeit vom Essen auf (Abb. 16.31). Der Beginn der morgendlichen Cortisolsekretion ist eng gekoppelt an die EEG-Phasen, die das Erwachen charakterisieren (Kap. 29). Der circadiane Rhythmus von Cortisol ist sehr stabil und wird nur langsam von äußeren Verhältnissen beeinflusst, so dass sich erst mehrere Tage nach einem Wechsel des Tag-NachtRhythmus eine neue 24-Stunden-Rhythmik aufbaut. (Dieses Phänomen ist nach Flugreisen über mehrere Längengrade als Jetlag bekannt.)

Stimulierte Sekretion von Cortisol Bei körperlicher Arbeit, bei psychischen Belastungen (z. B. Angst) und bei vielen Krankheiten wird vermehrt Cortisol produziert. Bei akuten körperlichen Belastungen (z. B. im Sport) ist ca. 20 Minuten nach dem stimulierenden Reiz ein Sekretionsgipfel von Cortisol zu beobachten. Wenn die belastungsinduzierte Mehrsekretion längere Zeit anhält, wie bei schweren körperlichen (z. B. Sepsis) und psychischen Krankheiten (z. B. Depression), wird auch während der zweiten Tageshälfte Cortisol sezerniert und damit der circadiane Sekretionsrhythmus abgeschwächt oder aufgehoben (Abb. 16.31).

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16.4 Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-System: Mineralo- und Glucocorticoide

Glucocorticoidpräparate (am bekanntesten ist Prednisolon) wirken in gleicher Weise wie das endogene Hormon auf den Regelkreis ein. Die Gabe des Hormonpräparats wirkt also wie ein negatives Feedback-Signal und führt zur Hemmung der ACTH-Sekretion und damit der körpereigenen Cortisolproduktion (s. auch S. 540.) Die anderen, strukturell ähnlichen Corticoide der Nebennierenrinde haben hingegen keine Hemmwirkung auf die ACTH-Sekretion. Aldosteron ist wegen seiner sehr niedrigen Konzentration nicht an der Feedback-Regulation beteiligt. Die β-Hydroxy-Gruppe am C-Atom 11 und die OH-Gruppe an der Seitenkette (C21) von Cortisol sind für die Rezeptorbindung essenziell. Das gilt nicht nur für die Feedback-Effekte im ZNS und in der Hypophyse, sondern auch für die Glucocorticoidwirkungen in der Peripherie.

Interaktion mit dem Immunsystem. Auf verschiedenen Ebenen der Regulation ist eine Interaktion des Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Systems mit dem Immunsystems beobachtet worden (Abb. 16.33). Der Mechanismus dieser gegenseitigen Beeinflussung ist bis auf die immunsuppressive Wirkung von Cortisol jedoch bisher nur unzureichend bekannt. Mehrere Substanzen, die von immunkompetenten Zellen gebildet werden, vor allem die Cytokine Interleukin 1 und 2 sowie TNF (tumor necrosis factor), scheinen wichtige Signalpeptide auch für die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse zu sein. Der Anstieg von Interleukin 1 und von anderen Faktoren im Plasma bei Infektionen führt zu einer vermehrten Freisetzung von CRH aus dem Hypothalamus und damit schließlich über ACTH auch zu einer Stimulation der Cortisolsekretion. Da andererseits die Produktion der Cytokine durch Cortisol gehemmt wird, schließt sich hier ein „systemübergreifender“ Rückkopplungsmechanismus zwischen dem endokrinen und dem Immunsystem.

Diagnostik der Nebennierenrindenfunktion Bei einigen Krankheiten der Nebennierenrindenfunktion, insbesondere bei der Differenzialdiagnose des Cushing-Syndroms, sind die allgemeinen klinischen Befunde und die basalen Hormonwerte für die Diagnosestellung nicht ausreichend. In Abb. 16.34 sind die in der Klinik gebräuchlichen Funktionstests und ihr pa-

limbisches System

medialer, rostraler Hypothalamus

lateraler vegetative Hypothalamus Zentren

Hypothalamus

CRH

POMCZellen

Hypophyse ACTH

Interleukine

Cortisol

Feedback-Hemmung. Das Hauptprodukt der Nebennierenrinde, Cortisol, kann aufgrund seiner Lipophilität ungehindert die Blut-Hirn-Schranke durchdringen und an spezifische Glucocorticoidrezeptoren (Typ II) im Bereich des Hypothalamus, des Hippokampus und der Hypophyse gelangen. Über diesen Weg hemmt Cortisol die Sekretion von CRH und ACTH nach dem Prinzip der negativen Rückkopplung (Abb. 16.33). Die besondere Dynamik in diesem wichtigen Feedback-System wird durch zwei unterschiedliche Mechanismen realisiert: Eine in wenigen Minuten wirksame schnelle Rückkopplung (über einen membranständigen Rezeptor?) reagiert auf die Steilheit des Cortisolanstiegs im Plasma, und eine zweite, später einsetzende Phase der Feedback-Hemmung wird aktiviert durch den erhöhten Cortisolspiegel (integrales Feedback; Abb. 16.32).

ACTH immunkompetente Zellen

Nebenniere

?

Immunsystem

Cortisol Adrenalin, sympathisches Noradrenalin Nervensystem

Abb.16.33 Regulation der Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden-Achse. Neben der neuroendokrinen Achse Hypothalamus-Hypophyse-Nebennierenrinde und der Feedback-Wirkung durch Cortisol sind auch die Interaktionen mit dem Immunsystem und dem sympathischen Nervensystem auf allen Ebenen dargestellt (s. a. Abb.16.25, S. 535, Abkürzungen in Tab. 16.1, S. 511).

thophysiologischer Mechanismus schematisch dargestellt. Die Funktionstests haben jeweils unterschiedliche Angriffspunkte und so auch charakteristische Indikationen. Insulinhypoglykämie. Hier wird durch die Injektion von Insulin eine Hypoglykämie herbeigeführt, die als ein unspezifisches, am Hypothalamus ansetzendes Stimulans für die Sekretion der hypophyseotropen Hypothalamushormone benutzt wird. Bei regelrechter Antwort wird auf diesen Reiz hin die Sekretion von CRH und damit von ACTH und Cortisol, aber auch von Somatoliberin und STH ansteigen. Dieser Test wird daher für die gleichzeitige Funktionsprüfung von ACTH und STH durchgeführt. Bei Hypophysenvorderlappen-Insuffizienz und beim Cushing-Syndrom jeglicher Ätiologie bleibt ein Anstieg dieser Hormone aus. (Bei Patienten mit einer Insuffizienz der Nebennierenrindenfunktion darf dieser Test nicht angewendet werden, da es hier wegen der eingeschränkten Cortisolsekretion zu starken hypoglykämischen Reaktionen mit Schock kommen könnte.)

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543

Metopyron

ACTH

DST

normal

CRH/ADH

Insulinhypoglykämie

16 Endokrines System

Hypothalamus CRH Adenohypophyse ACTH Nebennierenrinde

Plasma-ACTH

Cortisol

Plasmacortisol

544

11-Desoxyc.

hypothalamohypophysäres Cushing-Syndrom

0

paraneoplastisches Cushing-Syndrom

0

0

0

Cushing-Syndrom bei autonomem Adenom

0

0

0

(8mg)

0 (2mg)

primäre NNR-Insuffizienz (Morbus Addison) sekundäre (hypophysäre) NNR-Insuffizenz tertiäre (hypothalamische) NNR-Insuffizienz ,

0 0(

)

0

0

0

erhöht erniedrigt normale Reaktion von ACTH und/oder Cortisol

0( )

0( ) 0 keine Reaktion pathologische Reaktion

Abb.16.34 Funktionsdiagnostik der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse. Die durch den jeweiligen spezifischen Funktionstest hervorgerufenen Veränderungen im System sind durch entsprechende Stärke der Pfeile für die beeinflussten Signale angegeben. In der unteren Tabelle ist das für die Differenzialdiagnose charakteristische Muster der Funktionstests aufgeführt. Bei alleiniger Betrachtung der Basalsekretion von ACTH und Cortisol ist in vielen Fällen die Differenzialdiagnose nicht zu stellen, so dass für jede Diagnose ein bestimmtes Muster von Funktionstests indiziert ist (nähere Erklärungen s. Text).

Als Stimulationstest für die ACTH-Sekretion wird die kombinierte Gabe von CRH und Adiuretin (ADH) angewendet. Mit diesem, die physiologischen Verhältnisse simulierenden Reiz kann die Intaktheit der ACTH-(POMC-)Zellen getestet werden. Wenn das Plasma-ACTH vom Patienten nicht aus der Hypophyse, sondern von hormonproduzierenden Tumoren stammt, wird die Stimulation mit CRH keinen Effekt haben, während bei Patienten mit einem hypothalamo-hypophysären Cushing-Syndrom eine maximale Ausschüttung von ACTH zu beobachten ist. Die negative Feedback-Wirkung der Glucocorticoide wird beim Dexamethasontest ausgenutzt. Dexamethason ist ein synthetisches reines Glucocorticoid. Die Gabe von 2 mg Dexa-

methason zur Sekretionspause von Cortisol am Abend führt bei Gesunden zu einer Suppression des Cortisolanstiegs am folgenden Morgen. Bei Patienten mit Cushing-Syndrom ist diese Dexamethasondosis zur Suppression nicht ausreichend, jedoch sind höhere Dosierungen (z. B. 8,0 mg) in der Lage, die hypophysäre ACTH-Sekretion partiell zu blockieren. Dagegen ist bei einer ACTH-Produktion aus Karzinomen auch durch die Gabe von großen Dexamethasonmengen keine Suppression zu erzielen, da die Hormonsynthese und -sekretion bei Malignomen autonom sind. Die exogene Gabe von ACTH führt beim Gesunden zu einem adäquaten Anstieg von Cortisol im Plasma mit einem Maximum nach ca. 25 Minuten. Bei einer primären Nebennierenrindeninsuffizienz (Morbus Addison) wird eine solche Antwort reduziert sein oder ausbleiben, bei einer sekundären Nebennierenrindeninsuffizienz (Mangel an hypophysärem ACTH) ist der Effekt wegen der eingetretenen funktionellen Atrophie abgeschwächt. Mit dem Metopyrontest wird die Reagibilität des Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Systems beim Wegfall der Feedback-Kontrolle durch Cortisol getestet. Metopyron wird als ein Enzymblocker für die Synthese von Cortisol und Corticosteron angewendet. Bei einer regelrechten Funktion wird die Blockade durch Metopyron zu einem kompensatorisch starken Anstieg von ACTH und damit zur Stimulation der Nebennierenrinde führen. Dadurch werden solche Corticoidvorstufen vermehrt sezerniert, deren Synthese durch Metopyron nicht blockiert worden sind. Ähnliche Steroidmuster sind auch bei einigen Patienten mit einem endogenen Enzymmangel, wie beim adrenogenitalen Syndrom (S. 539), zu beobachten.

Sicherlich werden bei einem einzelnen Patienten nicht sämtliche Tests angewendet, jedoch ist die Auswahl des geeigneten Funktionstests nur bei Kenntnis der Pathophysiologie der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse möglich.

16.5

Hypothalamus-HypophysenSchilddrüsen-System

Die Hormone der Schilddrüse sind Triiod- und Tetraiodthyronin, T3 und T4. Beim heranwachsenden Menschen sind sie entscheidend an normalen Entwicklungsprozessen wie Differenzierung und Wachstum beteiligt. Beim Erwachsenen greifen sie stabilisierend in alle metabolischen Prozesse ein, Rezeptoren für T3 finden sich daher in nahezu allen Zellen des Organismus. Die Schilddrüsenhormone sind die einzigen biologisch aktiven Substanzen, die Iod enthalten. Pathologische Störungen der Schilddrüsenfunktion (z. B. Struma, Morbus Basedow, Hypothyreose) gehören zu den häufigsten endokrinen Erkrankungen. Neben der Regelung über die neuroendokrine Achse „Hypothalamus-HypophyseSchilddrüse“ mit den Hormonen Thyreotropin-Releasing-Hormon (TRH, Thyreoliberin), thyreoideastimulierendes Hormon (TSH) sowie T3 und T4 wird die Aktivität der Schilddrüsenhormone auch durch andere periphere Mechanismen bestimmt. Hierzu gehören die Balance des Iodhaushalts über das Hormonreservoir (Kolloid) und die Iodzufuhr in der Nahrung sowie die Aktivierung und Inaktivierung der Schilddrüsenhormone in der Peripherie durch differenziell regulierte Deiodase-Isoenzyme.

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16.5 Hypothalamus-Hypophysen-Schilddrüsen-System

Die hypothalamische Ebene: Neurotransmitter und TRH Die Steuerung durch den neuroendokrinen Regelkreis ist bei der Schilddrüsenfunktion nicht so ausgeprägt wie bei den anderen endokrinen Drüsen (S. 517 f.). Die Stimulation der hypophysären TSH-Sekretion durch das hypothalamische Thyreotropin-Releasing-Hormon (TRH, Thyreoliberin) ist hier das wichtigste Prinzip. TRH ist als erstes hypothalamisches Releasing-Hormon isoliert worden. Es ist ein Tripeptid mit der Struktur (pyro-) Glu-His-Pro-NH2 und so durch Modifikationen an der amino- und der carboxyterminalen Aminosäure vor dem Abbau durch Peptidasen geschützt. TRH wird nicht nur in hypothalamischen Neuronen synthetisiert (vor allem im Nucleus paraventricularis), sondern ein größerer Anteil ist auch in den Amygdalae, im Hirnstamm und anderen ZNS-Strukturen zu finden. Das deutet darauf hin, dass TRH neben seiner Wirkung als glandotropes Hormon zur Steuerung der hypophysären TSH-Sekretion auch Funktionen als Transmitter und Modulator im ZNS besitzt. TRH wird aus seinem größeren Vorläufermolekül ProTRH, in dem es in fünf Kopien enthalten ist, durch Peptidasen abgespalten und dann enzymatisch modifiziert. Die Synthese und Sekretion von TRH in den hypothalamischen Neuronen wird hauptsächlich durch noradrenerge Verbindungen reguliert und scheint (im Gegensatz zu anderen Releasing-Hormonen) nur in geringem Maße unter der Feedback-Kontrolle von zirkulierenden Hormonen (T3, T4) zu stehen. An der Hypophyse stimuliert TRH nicht nur die Biosynthese und Sekretion von TSH (Thyrotropin), sondern beeinflusst auch die Sekretion von Prolactin. TRH induziert nach der Bindung an seinen membranständigen Rezeptor der Hypophysenzelle eine Ca2+-Ausschüttung aus intrazellulären Speichern sowie den Einstrom von Ca2+ in die Zelle. Der initiale Prozess ist die Hydrolyse von Phosphatidylinositol 4,5bisphosphat (S. 38 f.). Hierdurch wird die Freisetzung von TSH oder Prolactin stimuliert. TRH hat auch direkte Effekte auf die Transkription von β-TSH- und α-TSHUntereinheiten. Die extrahypophysären Effekte von TRH sind mannigfaltig, jedoch ist ihre biologische Bedeutung noch nicht ausreichend gesichert; neben einem schon therapeutisch genutzten tropen Effekt von TRH auf die Regeneration von Nervengewebe zählen dazu auch Einflüsse auf die Temperaturregulation und die Funktion der Retina.

Die hypophysäre Ebene: TSH Das thyreoideastimulierende Hormon (TSH, Thyreotropin) ist ein glandotropes Hormon der Adenohypophyse. Es steuert sämtliche Synthese- und Sekretionsprozesse der Schilddrüse und auch deren Metabolismus. Die TSHSekretion wird von TRH stimuliert und durch negative Feedback-Regulation von T4 und T3 gehemmt. Biosynthese und Sekretion. TSH ist ein Glykoprotein mit einer Molekülmasse von 28,3 kDa, bestehend aus der für alle hypophysären Glykoproteinhormone einheitlichen -Untereinheit und der für TSH spezifischen 1-Untereinheit (Abb. 16.35). Das Gen für die α-Untereinheit ist beim Menschen auf dem Chromo-

Kohlenhydratseitenketten

a

a

a

a

b1

b2

b3

b4

TSH

FSH

LH

HCG

Abb.16.35 Glykoproteinhormone. Die Glykoproteine sind heterodimere Proteine mit einem ca. 16%igen Anteil an Kohlenhydraten. Sie bestehen aus einer für alle Glykoproteine gemeinsamen α-Untereinheit von 89 Aminosäuren und einer β-Untereinheit, die für jedes Hormon charakteristisch ist (β1 – β4).

som 6 lokalisiert. Für die Synthese von TSH und der anderen Glykoproteinhormone LH, FSH und HCG muss die Aktivierung der Gene für die α-Untereinheit und für die jeweils spezifische βUntereinheit koordiniert werden. Die beiden Untereinheiten werden jeweils getrennt synthetisiert und assoziieren danach in der Zelle zu den aktiven Hormonen. Die α-Untereinheiten werden im Überschuss produziert und gelangen sogar als freie α-Untereinheiten in das Blut (eine eigene Funktion ist jedoch nicht bekannt). Die Synthese der β-Untereinheit für TSH wird direkt vom aktivierten T3-Rezeptor gehemmt und von TRH über regulative Proteine stimuliert.

Wirkung: Durch TSH werden sämtliche Funktionen der Schilddrüse kontrolliert. TSH erhöht die Blutversorgung, stimuliert alle Schritte der Biosynthese und der Sekretion von Schilddrüsenhormonen sowie die Aufnahme von Iodid (Abb. 16.37) und beeinflusst auch Wachstum und Metabolismus des follikulären Epithels. Die zelluläre TSH-Wirkung wird nach Bindung der TSH-β1-Untereinheit an den spezifischen Rezeptor der follikulären Zellen hauptsächlich durch die Aktivierung des cAMP-Systems vermittelt, wodurch vor allem die schnell eintretenden TSH-Effekte, wie die Endozytose der Schilddrüsenhormonvorstufen aus dem Kolloid, die Sekretion von T4 und T3 sowie die Oxidationsprozesse in den Mitochondrien stimuliert werden. Andere TSH-abhängige, vorwiegend metabolische Prozesse in der Schilddrüse, wie die Iodidaufnahme und die Eiweißsynthese, haben eine Latenz von 8 – 15 Stunden. Diese Effekte werden wahrscheinlich zusätzlich über andere Second-Messenger-Systeme als cAMP induziert, sie sind jedoch noch nicht so gut untersucht.

Die Hormone der Schilddrüse: T3 und T4 Biosynthese und Sekretion der Schilddrüsenhormone sind komplizierte Vorgänge, von denen ein Teil, ebenso wie die Speicherung des Hormons, extrazellulär im Kolloid des Follikels stattfindet. Es gibt drei Schilddrüsenhormone mit unterschiedlicher biologischer Aktivität und Bedeutung: T4 ist das Hauptprodukt der Schilddrüse. Es wird nur in dieser synthetisiert, im Blut fast vollständig an Plasmaproteine gebunden und extrathy-

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545

546

16 Endokrines System

Blutgefäß

Speicherung

O2 H O 2 2



Kolloid

Nerv

T4

Thyreoglobulin MIT,DIT T3 T4

Cl–

TPO Pendrin H2O2Generator

Lymphgefäß

Endozytose Exozytose

Thyreoglobulin

Schilddrüsenfollikel Basalmembran Thyreozyt Kolloid



Schilddrüsenkapsel

I

Proteolyse

–

s. 16.37

Phagosom 5‘-Deiodase

Abb.16.36 Aufbau eines Schilddrüsenfollikels. Der Follikel besteht aus einer einzelligen Lage von Thyreozyten, in deren Mitte sich das Kolloid befindet. Diese Topographie ist für die komplizierte Biosynthese der Schilddrüsenhormone bedeutsam. Die Schilddrüse ist dicht innerviert und hoch vaskularisiert und enthält viele Lymphozyten und ein eigenes Lymphsystem.

2Na+ cAMP

Sekretion NIS

TSHRezeptor

Bindungsproteine Blut

TSH

reoidal durch Deiodierung umgewandelt zum aktivenT3 oder zum biologisch nicht wirksamen, reversen T3 (rT3). T3 entsteht zum größten Teil intrazellulär in seinen Zielzellen aus T4 und wirkt nach Bindung an einen T3Rezeptor direkt auf die Transkription ein. In vielen Organen und Geweben des Organismus existieren verschiedene, spezifische Deiodase-Isoenzym-Systeme, welche die Aktivierung und Inaktivierung der Schilddrüsenhormone in der Körperperipherie regulieren. Die Schilddrüse befindet sich etwas unterhalb des Kehlkopfes und besteht aus zwei Lobi, die neben der Trachea liegen und durch einen schmalen Isthmus verbunden sind. Die funktionelle Einheit ist der Schilddrüsenfollikel, in dessen Mitte sich das Kolloid, die Speicherform der Schilddrüsenhormone, befindet (Abb. 16.36). Die eigentlichen Drüsenzellen umgeben dieses Kolloid als einschichtiges Epithel, dessen apikale Seite dem Kolloid zugewandt ist. Zwischen den Follikeln liegen vereinzelt parafollikuläre C-Zellen, die das Peptidhormon Calcitonin produzieren (S. 401). Die Schilddrüsenfunktion ist von der Iodzufuhr und von der Effizienz des Iodstoffwechsels abhängig. Iod muss mit der Nahrung aufgenommen werden und dient im menschlichen Organismus ausschließlich der Synthese der Schilddrüsenhormone. Eine normale Schilddrüsenfunktion wird trotz der individuell und topographisch (in der Nähe von Meeren ausreichend, in Gebirgsgegenden häufig zu wenig Iod in der Nahrung) sehr unterschiedlichen Iodzufuhr durch Autoregulation und ein System der Iodökonomie gewährleistet. Durchschnittlich werden pro

I

T4 T3

–

TBG Transthyretin Albumin

Abb.16.37 Biosynthese der Schilddrüsenhormone. Aus dem Blut aktiv aufgenommenes Iodid (NIS = Natrium-IodidSymporter) erreicht das Kolloid über den Anionenaustauscher Pendrin. Neu synthetisiertes Thyreoglobulin (TG) erreicht das Kolloid durch Exozytose. Mit Hilfe von H2O2 und Thyreoperoxidase (TPO) werden die Tyrosin-Reste des TG an der apikalen Membran zu Mono- oder Diiodtyrosin (MIT, DIT) iodiert und zu Tri- oder (größtenteils) Tetraiodthyronin (T3, T4) gekoppelt (Abb.16.38). Wieder endozytiertes TG wird lysosomal hydrolysiert, T3 und T4 gelangen ins Blut. Hypophysäres TSH stimuliert alle Synthese- und Sekretionsprozesse (z. T. gezeigt, grüne Pfeile).

Tag in Deutschland, als Iodmangelgebiet, 70 – 90 µg Iod aufgenommen, ideal wären 110 µg. Fast die gesamte Menge wird über Urin und Fäzes ausgeschieden. Ein Teil des beim Hormonabbau freiwerdenden Iodids wird zur erneuten Biosynthese verwendet.

Die Biosynthese von Schilddrüsenhormonen geschieht in mehreren Kompartimenten Für das Verständnis der T3/T4-Synthese ist neben der Kenntnis der biochemischen Vorgänge auch die der jeweiligen Lokalisation dieser Prozesse innerhalb der Zelle und des Kolloids notwendig (Abb. 16.37). Iodid (I–) wird durch ein Na+-Iodid-Symporterprotein (NIS) gegen einen 20- bis 40fachen Gradienten an der basolateralen Mem-

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16.5 Hypothalamus-Hypophysen-Schilddrüsen-System Thyreoglobulin (monomer)

0

2700 COOH

NH2

Asn Ile Phe Glu

T4 T4 T3 MIT DIT

Glu CH CH2

NH2 HO

O

I

COOH

Tyrosin I

I

T4

OH

I

HO

I

NH2 CH2 CH

O I

e- D se 5’ da io

COOH

I

3, 5, 3’, 5’-Tetraiodthyronin (T4 ) I

I

HO

NH2 CH2 CH

O

COOH

I

3, 5, 3’-Triiodthyronin (T3 ) I

HO

I

O I

De e 5- das io

I

CH2 CH

NH2 CH2 CH COOH

3, 3’, 5’-Triiodthyronin (rT3 )

Abb.16.38 Thyreoglobulinmolekül und Struktur der wichtigsten Schilddrüsenhormone. An drei charakteristischen Stellen des Thyreoglobulinmoleküls werden bestimmte Tri- oder Tetraiodthyronine sowie Mono- und Diiodtyrosin (MIT, DIT) synthetisiert. Die Schilddrüsenhormone unterscheiden sich durch Anzahl und Stellung der Iodierungen.

T3

T4

rT3

Produktionsrate (nmol/d) aus der Schilddrüse aus Gewebsmetabolismus

45–60 15% 85%

110 100% –

50 –70 ~2% 98%

Konzentration im Plasma gesamt (nmol/l) frei (pmol/l)

1,5 – 2,0 6,0

80–100 20,0

0,4– 0,7 2,5

1

7

0,8

20–25

1,2

90–150

40 25 35

70 10 20

1

126 mg%) und der Zustand entspricht dem eines Typ-2-Diabetes-mellitus. Anstrengungen zur Prävention oder Behandlung der Adipositas und Typ-2-Diabetes-mellitus können nur dann erfolgreich sein, wenn diese spezifischen Aspekte berücksichtigt werden. Bei beiden Diabetestypen können nach langjähriger Krankheit schwere Spätfolgen auftreten. Diese werden besonders durch Makro- und Mikroangiopathien (z. B. Diabetische Retinopathie, Nephropathie, Neuropathie, Koronare Herzkrankheit, Arterielle Hypertonie, Diabetisches Fuß-Syndrom) verursacht. Bisher sind auch einige monogenetische Diabetesformen beschrieben worden (z. B. MODY 1 – 4), durch die vielleicht die Bedeutung der genetischen Komponenten der Pathogenese des Diabetes mellitus besser verstanden werden. Neuroglucopenisches Koma: Es gibt auch pathologische Zustände, bei denen es durch Glucosemangel im Gehirn (Neuroglucopenie) zu kognitiven Einschränkungen oder Bewusstseinsverlust kommt (auch hypoglykämischer Schock genannt). Neuroglucopenische Komata können bei Patienten mit Typ-1-Diabetes-

Rezeptordefekt

Zellantwort

Zielzelle

Wirkung von Insulin in der Zielzelle liegen (möglicherweise beruht die Pathogenese von Typ-2-Diabetes auch auf einer kompensatorischen Sollwertverstellung der Blutglucose durch das Gehirn; siehe Text).

mellitus im Rahmen ihrer Therapie mit Insulin-Substitution auftreten. Wiederholte neuroglucopenische Komata führen zu einer Abschwächung der gegenregulatorischen Hormone (Adrenalin, ACTH, Cortisol) und begünstigen damit ein erneutes Koma. Dadurch ergibt sich ein Circulus vitiosus, bei dem neuroglucopenische Komata die Gegenregulation und Symptomwahrnehmung abschwächen – und diese Abschwächung ein erneutes Auftreten weiterer Komata zur Folge hat. Man nennt dieses Syndrom „HypoglykämieWahrnehmungsstörung“. Von diesem Problem ist eine Vielzahl der Patienten mit Typ-1-Diabetes betroffen, welche ohne Warnsymptome im Alltag plötzliche Bewusstseinsverluste erleiden. Dieses Wahrnehmungsproblem kann heutzutage mit verhaltensmedizinischen Programmen behandelt werden. Eine seltene Hypoglykämieart wird verursacht durch Insulin produzierende Tumoren (Insulinome).

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559

561

Sexualfunktionen, Schwangerschaft und Geburt H.-P. Leichtweiß, H. J. Schröder, D. Singer

17.1 Trotz Kinderwunsch keine Schwangerschaft: was nun?

17.6 Plazentafunktion ···

562

17.2 Sexualentwicklung. Eine Übersicht

···

562

· ·· 570 Bau der Plazenta · ·· 570 Durchblutung der Plazenta · · · 571 Stoffaustausch zwischen Mutter und Fetus ··· 571 Die Plazenta als Hormondrüse · ·· 574

17.3 Reifung der Gameten

· · · 562 Der weibliche Zyklus ··· 563 Bildung und Reifung der männlichen Gameten ··· 566

17.7 Physiologie des Fetus

· · · 574 Wachstum ··· 574 Entwicklung einzelner Organe · · · 575

17.4 Geschlechtsakt (Kohabitation)

· · · 567 Reflexe und Ablauf der Phasen beim Mann ··· 567 Reflexe und Ablauf der Phasen bei der Frau ··· 567

17.5 Befruchtung und Implantation der Eizelle ··· 568 Spermatozoenaszension ··· 569 Befruchtung der Eizelle · · · 569 Wanderung und Implantation der befruchteten Eizelle · · · 569 Hormonale Empfängnisverhütung (Kontrazeption) und In-vitro-Fertilisation (IVF) · · · 570 Fehlgeburt (Abort) ··· 570 Schwangerschaftsdauer ··· 570

17.8 Physiologie der Schwangeren

···

578

Stoffwechsel ··· 578 Herz und Kreislauf · · · 578 Atmung ··· 579 Niere ··· 579

17.9 Geburt und Milchproduktion (Laktation) ··· 579 Geburt · ·· 579 Laktation ··· 582

17.10 Anpassung des Neugeborenen an das extrauterine Leben ··· 582 Beginn der Lungenatmung · · · 582 Aktivierung der Thermoregulation ··· 585 Umstellung der Stoffwechselfunktionen ··· 585 Besonderheiten bei Frühgeborenen ··· 586

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562

17 Sexualfunktionen, Schwangerschaft und Geburt

17.1

Trotz Kinderwunsch keine Schwangerschaft: was nun?

In einem „Behandlungszentrum für kinderlose Paare“ stellen sich ein 52-jähriger Mann und seine Ehefrau vor (36 Jahre). Da trotz eines seit drei Jahren bestehenden Kinderwunsches keine Schwangerschaft eingetreten ist, sucht das Ehepaar jetzt den Frauenarzt auf. Die Zyklusanamnese der Frau ist unauffällig, und auch der Verlauf ihrer morgendlichen Körpertemperatur, die zur Erfassung der „fruchtbaren“ Tage gewissenhaft gemessen wird, ist regelhaft. Im Spermiogramm findet sich eine deutlich verminderte Anzahl beweglicher Spermatozoen (< 1 × 106/ml) mit zahlreichen morphologischen Abnormitäten. Mit hoher Wahrscheinlichkeit liegt daher eine „männliche Infertilität“ vor. Dem Ehepaar wird vorgeschlagen, eine In-vitro-Fertilisation (IVF) mit intrazytoplasmatischer Spermieninjektion (ICSI) vornehmen zu lassen, weil aufgrund des Spermiogrammbefundes eine spontane Befruchtung der Eizelle unwahrscheinlich sei. Zur Vorbereitung der Behandlung wird die Ovulation stimuliert (GnRH-Agonisten und FSH), was die gleichzeitige Entwicklung von zwei Oocyten in Gang setzt. Die reifenden Follikel können im Ultraschall-B-Bild dargestellt werden. Nach Auslösung der Ovulation mit hCG werden die Follikel unter Ultraschallkontrolle transvaginal punktiert und die Eizellen mit ihren Begleitzellen aufgenommen. In einem Kulturmedium wird mittels feiner Glaspipetten direkt in jede Eizelle jeweils ein Spermium injiziert; die Spermien wurden aus dem angereicherten Ejakulat des Ehemannes gewonnen. Da während der folgenden drei Tage die Entwicklung einer der beiden Zygoten deutlich zurückbleibt, wird nur der andere Embryo durch den Zervikalkanal in die Uterushöhle verbracht. Die hormonell und durch Ultraschall überwachte Schwangerschaft verläuft normal. Die auf den ausdrücklichen Wunsch der Ehefrau in der 16. Schwangerschaftswoche durchgeführte Amniozentese zur Gewinnung fetaler Zellen ergibt keinen Anhalt für das Vorliegen einer Trisomie 21 oder anderer chromosomaler Besonderheiten. In der 38. Woche entschließt sich das Paar auf Anraten des Geburtshelfers (in Würdigung der Gesamtsituation und wegen eines randständigen Sitzes der Plazenta) die Schwangerschaft mit einem primären Kaiserschnitt zu beenden. Die Operation verläuft ohne Komplikationen und das Ehepaar verlässt mit einem gesunden, reifen Neugeborenen die Klinik, dankbar für diesen ungewöhnlich erfolgreichen Verlauf der Behandlung.

17.2

Sexualentwicklung. Eine Übersicht

Das Geschlecht eines Menschen wird festgelegt durch – die Geschlechtschromosomen (XX oder XY) (chromosomales Geschlecht), – die Gonaden (Hoden oder Ovar) (gonadales Geschlecht) und – die inneren und äußeren Geschlechtsorgane (somatisches Geschlecht). Normalerweise stimmen chromosomales, gonadales und somatisches Geschlecht überein.

Das Erreichen der Geschlechtsreife wird als Pubertät bezeichnet. Ursache dafür ist ein allmählicher Anstieg der Freisetzung von gonadotropen Hormonen aus der Hypophyse mit nachfolgender Wirkung auf die Gonaden, die vermehrt Geschlechtshormone bilden. Dies führt zur Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale (Körperbau, Behaarung, Stimme) sowie zum Abschluss des Längenwachstums. Die Geschlechtsorgane erlangen neben der Fähigkeit zum Geschlechtsverkehr (Potentia coeundi) auch die vollständige Funktionsfähigkeit für die Fortpflanzung (Potentia generandi). Wichtigste Voraussetzung für die Fortpflanzung ist die Herstellung befruchtungsfähiger Gameten. Bei Mädchen beginnt im 11. Lebensjahr zunächst die Ausbildung der Schambehaarung (Pubarche) und dann die Brustentwicklung (Thelarche), bevor es mit ca. 13 Jahren zur ersten Monatsblutung (Menarche) kommt. Das Ziel, während eines Zyklus eine reife Eizelle (weiblicher Gamet) zu bilden, wird dabei nicht sofort erreicht; die ersten Zyklen verlaufen zumeist ohne Eisprung, d. h. anovulatorisch. Bei Jungen setzt im 12. Lebensjahr das Hoden- und Peniswachstum ein, es folgt die Schambehaarung. Eine mature Genitalentwicklung einschließlich der Fähigkeit, reife Samenzellen – die Spermatozoen (männliche Gameten) – zu bilden, ist mit etwa 15 Jahren erreicht. Abgesehen von dem Zeitversatz zwischen den Geschlechtern unterliegt die Pubertätsentwicklung erheblichen individuellen Schwankungen. Bei „Spätentwicklern“ (konstitutionelle Entwicklungsverzögerung) kommt es mit dem verzögerten Einsetzen der Pubertät auch zu einem verspäteten, letztlich aber regulären Wachstumsschub. Dagegen führt eine pathologisch verfrühte Pubertät (Pubertas praecox) zu einer vorzeitigen Verknöcherung der Wachstumsfugen, so dass nach einer vorübergehenden Beschleunigung des Wachstums eine zu geringe Endlänge resultiert. Mit der physiologischen Reifung ist auch eine psychologische Umstellung (psychisches Geschlecht) verbunden. Die Zuwendung zum „anderen Geschlecht“ wächst, der Trieb zur geschlechtlichen Betätigung und die Lust auf geschlechtliche Vereinigung (Libido) entwickeln sich. Die Verfolgung geschlechtsbezogener Ziele, verbunden mit Vorstellungen und Wünschen, die Sexualität also, stellt einen bedeutenden emotionalen Faktor im Leben geschlechtsreifer Menschen dar. Damit gewinnt die Sexualität einen eigenen Wert, sie ist nicht mehr allein auf das Ziel der Fortpflanzung gerichtet.

17.3

Reifung der Gameten

Bei der Frau reift alle 28 Tage eine Eizelle (Oozyt) mit ihrem Begleitgewebe als Follikel heran (Menstruationszyklus). Die Follikelwand bildet Steroidhormone (Östrogene, Gestagene), welche die Eireifung unterstützen und den Uterus für eine Schwangerschaft vorbereiten. Diese Follikelfunktion wird durch Hormone des Hypothalamus und der Hypophyse (Gonadotropine) gesteuert; über eine Rückkopplung der Steroidhormone mit dem Hypothalamus-Hypophysen-System wird diese

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17.3 Reifung der Gameten

Der Ovarialzyklus der Frau beginnt mit dem ersten Tag der Menstruation (Abb. 17.1, Abszisse: 1) und dauert im Allgemeinen 28 Tage; er dient der Bereitstellung einer einzelnen befruchtungsfähigen Eizelle und der Vorbereitung des Uterus für die Implantation der befruchteten Eizelle (Zygote). Der Zyklus wird in eine erste FollikelPhase (Abb. 17.1, 1 + 2) und eine nachfolgende LutealPhase (Corpus luteum, Gelbkörper; Abb. 17.1, 4) von annähernd gleicher Länge eingeteilt, der Eisprung (Ovulation) findet zwischen beiden Phasen statt (follikularluteale Übergangsphase, Dauer 2 – 3 Tage, Abb. 17.1, 3). Der Zeitraum der Menstruation (Dauer 4 – 6 Tage) wird als luteal-follikuläre Übergangsphase aufgefasst. Die zyklischen Veränderungen entstehen durch das Wechselspiel zentraler (GnRH: gonadotropin releasing hormone), gonadotroper (FSH: follikelstimulierendes Hormon; LH: luteinisierendes Hormon) und im Ovar gebildeter Hormone (Inhibin, Progesteron, Östradiol), deren Konzentrationen im Plasma sich in charakteristischer Weise ändern (Abb. 17.1) und die damit die Zielorgane, vor allem die Uterusschleimhaut, beeinflussen. Die Gonadotropine FSH und LH sind heterodimere glykosylierte Proteine mit identischen α- und wirkungsspezifischen β-Ketten. Sie werden von Zellen des Hypophysenvorderlappens gebildet und in das Blut abgegeben. Ihre Freisetzung wird vom Dekapeptid GnRH kontrolliert, das in einem Netz von 1500 – 2000 Neuronen des Hypothalamus (Nucleus arcuatus) gebildet und über das hypophysäre Portalkreislaufsystem (s. S. 521) auf dem Blutweg zum Hypophysenvorderlappen transportiert wird. Die basale Körperkerntemperatur steigt 1 – 2 Tage nach der Ovulation um etwa 0,5 8C an, erreicht innerhalb von 1 – 2 Tagen ein Plateau und fällt am Ende des Menstruationszyklus wieder ab (Abb. 17.1). Die mittzyklische Erhöhung der Basaltemperatur (morgens nüchtern und in Ruhe gemessen) wird als Indikator für die abgelaufene Ovulation benutzt.

Ovar In der Fetalzeit entstehen aus den Stammzellen, den Oogonien, etwa 2 – 4 Millionen Eizellen, die Oozyten, von denen der größte Teil bis zur Geburt wieder zugrunde geht. Etwa 250 000 Oozyten bleiben übrig. Sie verharren in einem Stadium der Reifeteilung (Meiose), die mit der

FSH und LH (µg/l)

300

FSH LH

200 100 0

Follikel, Corpus luteum Lutealphase

Follikelphase

100

Inhibin

1600

80

1200

Östradiol

60

800

40

400

20 Progesteron

0 37,5

°C

0

Progesteron (nmol/l)

Der weibliche Zyklus

Ovulation

400

Östrradiol (pmol/l), Inhibin (U/l)

Steuerung beeinflusst. Mit dem Eisprung (Ovulation) verlässt die Eizelle das Ovar und gelangt in die Tube, wo sie befruchtet werden kann. Bleibt die Befruchtung aus, wird die Schwangerschaftsvorbereitung mit der monatlichen Blutung abgebrochen. Beim Mann wachsen in den Hodenkanälchen fortwährend Spermatozoen heran, die in den Nebenhoden reifen. In den Leydigzellen des Hodens wird das Testosteron synthetisiert, das die Spermatozoenbildung fördert und die Drüsen der Prostata und der Samenbläschen aktiviert. Gonadotrope Hormone der Hypophyse steuern die Hodenfunktion. Eine Rückkopplung des Testosterons mit dem Hypothalamus-Hypophysen-System beeinflusst diese Steuerung.

Basaltemperatur

37,0 36,5

Muttermundweite Zervixschleim zyklische Veränderung des Endometriums Mensesblutung 1

2

3

4

2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 Zyklustag

Abb.17.1 Menstruationszyklus der Frau. Die Plasmakonzentrationen der Hormone (oben) sind zeitgleich mit der Ovarfunktion, den Änderungen des Uterus und der basalen Körperkerntemperatur dargestellt.

Halbierung des Chromosomensatzes (Haploidie) erst nach dem Eindringen des haploiden Spermatozoenkopfes in die Eizelle abgeschlossen wird. Neben der Eizelle enthält ein Follikel ab dem Stadium des „Sekundärfollikels“ (ca. 0,1 mm Durchmesser) Granulosazellen als innere und Thekazellen als äußere Zellschicht(en), wobei die äußere Schicht gut vaskularisiert und von der inneren durch eine Basalmembran getrennt ist. Ei- und Granulosazellen sind durch „Gap Junctions“ miteinander verbunden und bilden ein funktionelles „Synzytium“. Größe und Entwicklungszustand eines Follikels sind streng korreliert. Es gibt keine Follikel ohne Eizelle. In allen Stadien ihrer Entwicklung können Follikel in einem apoptotischen Prozess (Atresie) zugrunde gehen. Im Leben einer Frau reifen nur 300 – 400 Follikel vollständig heran. Die Ovarien enthalten nach dem 45. – 50. Lebensjahr keine Follikel mehr, und der Ovulationszyklus bleibt aus. Die Zeit danach wird als Menopause bezeichnet. Der Übergang von regelmäßigen Zyklen zur Menopause (Klimakterium) ist häufig von vegetativen Beschwerden (wie Hitzewallungen, plötzliche Gesichtsrötungen) begleitet, die durch eine Abnahme der Plasmakonzentrationen der Sexualhormone verursacht werden.

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17 Sexualfunktionen, Schwangerschaft und Geburt

Zusammenspiel zwischen Hypothalamus, Hypophyse und Ovar Grundzüge der Wechselwirkung: 1. Die Abgabe von GnRH und damit auch die der Gonadotropine erfolgt in Stößen (pulsatil), wobei Amplitude und Frequenz der Pulse sich während des Zyklus ändern (S. 518 ff.). In der frühen Follikelphase wird etwa alle 60 – 90 Minuten einmal GnRH freigesetzt. Eine kontinuierliche Gabe von GnRH bringt die Freisetzung von FSH und LH ebenso zum Erliegen wie das Fehlen von GnRH; in beiden Fällen sinken die Plasmakonzentrationen von FSH und LH auf Werte nahe Null ab. Mit zunehmender Frequenz der GnRH-Ausschüttung wird der LH-Anteil erhöht. 2. Die Wirkungen von FSH und LH hängen von der Dichte und Verteilung ihrer Rezeptoren und vom Entwicklungsstand der Follikel ab. In der Follikelphase sind auf den Granulosazellen FSH-, auf den Thekazellen LH-Rezeptoren ausgebildet. Bereits einige Tage vor der Ovulation treten LH-Rezeptoren zunehmend auf den Granulosazellen auf, während die Dichte der FSHRezeptoren zurückgeht. FSH und LH wirken überwiegend auf Follikel, die einen Durchmesser von mindestens 2 – 5 mm haben (rekrutierte Follikel). Die Eizelle selbst trägt keine Gonadotropinrezeptoren. 3. Progesteron und Östrogene (Östradiol, Östron, Östriol) wirken im Allgemeinen hemmend auf die Abgabe von Gonadotropinen in das Plasma (negative Rückkopplung; Abb. 17.3). In der Zyklusmitte führen jedoch sehr hohe Östradiolplasmaspiegel zum plötzlichen Anstieg von LH im Plasma (LH surge). Die Sexualsteroide üben auch autokrine und parakrine Wirkungen aus und beeinflussen die Gonadotropineffekte im Ovar. Dies gilt vor allem für die Interaktion von Granulosaund Thekazellen. 4. Das in den Granulosa-Luteinzellen unter dem Einfluss von LH gebildete Inhibin, ein heterodimeres Glykoprotein, hemmt die Synthese und Freisetzung von FSH in der Hypophyse. Die Zykluslänge wird durch die Vorgänge im Ovar und nicht von einem zentralen „Zeitgeber“ bestimmt. Nach Eintritt einer Schwangerschaft werden die zyklischen Abläufe unterbrochen, sie setzen nach dem Abstillen (Ende der Milchbildungsphase) wieder ein.

Der Ovarialzyklus Die Entwicklung einer befruchtungsfähigen Eizelle aus dem Stadium eines ruhenden Follikels (Größe 0,03 mm) beginnt mit der „Initiation“ etwa 6 Monate vor der angestrebten Ovulation. Dieses frühe Wachstum ist zunächst unabhängig von den Gonadotropinen, die jedoch mit der Entwicklung von Granulosa- bzw. Thekazellen und der Ausbildung ihrer membranständigen Rezeptoren zunehmend an Einfluss gewinnen. Beide Rezeptoren benutzen vor allem den Gs-Protein-gekoppelten Signalweg mit cAMP als „Second Messenger“ (Abb. 2.16, S. 38). Etwa 2 Monate vor seiner Ovulation hat der Follikel eine Größe von 0,2 mm erreicht, und er befindet sich mit der Aus-

Progesteron CH3 CH3

Testosteron

Androstendion

OH CH3

O

O CH3

CH3

CH3

CH3

O

O

O Aromatase

OH CH3

O CH3

OH CH3 OH

HO

HO

Östriol

HO

Östradiol

Östron

Abb.17.2 Strukturformeln der wichtigsten Sexualhormone. Die Androgene, hauptsächlich das Androstendion, werden unter der Einwirkung des Enzyms Aromatase in Östrogene umgewandelt. Dabei entstehen zunächst Östradiol und zudem geringe Mengen Östron. Östradiol kann zu dem biologisch weniger wirksamen Östriol umgewandelt werden.

bildung von Hohlräumen in der Granulosazellschicht im frühen „antralen Stadium“. Follikelphase. Etwa 7 – 10 Tage vor Beginn desjenigen Zyklus, in dem der betrachtete Follikel zur Ovulation gebracht werden soll, beginnt ein Prozess, bei dem aus hunderten von antralen Follikeln eine Gruppe (10 bis 20, je ca. 2 – 5 mm Durchmesser) „rekrutiert“ wird und einer zum „dominanten“ und später ovulierenden Follikel „selektiert“ wird. Rekrutierung und Selektion sind die Folge des FSH- und LH-Anstieges am Ende des vorangegangenen Zyklus (Abb. 17.1, ca. 23. Tag). Dieser Anstieg, der sich in der frühen Follikelphase des folgenden Zyklus fortsetzt, beruht auf der Verringerung der Progesteron-, Östradiol- und Inhibinbildung des vorangegangenen Corpus luteum und der dadurch zurückgehenden Hemmung (Abb. 17.3) der FSH- und LH-Abgabe an das Plasma (Abb. 17.1, ca. 22. Tag). Stimulation durch LH bewirkt in den Thekazellen eine Steigerung der Bildung von Androgenen, vor allem von Androstendion, die in die benachbarten Granulosazellen diffundieren. Hier werden die Androgene durch eine Aromatase, deren Bildung und Aktivität durch FSH erhöht wird, in Östrogene, überwiegend Östradiol (Abb. 17.2), umgewandelt, die das Ovar mit dem venösen Blut verlassen. FSH und LH gemeinsam ermöglichen daher eine gesteigerte Östradiolbildung. FSH erhöht zusätzlich die Teilungsrate der Granulosazellen (möglicherweise vermittelt durch IGF-1 und -2), deren Anzahl vor allem in der Gruppe der rekrutierten Follikel auf das 5 – 6fache zunimmt, und es induziert die Ausbildung von LH-Rezeptoren auf diesen Zellen. Diese Wirkungen sind vor allem an demjenigen Follikel zu beobachten, der zur Ovulation gebracht wird. Mit dem nachfolgenden Anstieg der Plasmaöstrogene sinkt die Konzentration von FSH im Plasma ab (Abb. 17.1, ab Tag 4), und die rekrutierten Follikel stellen mit Ausnahme des dominanten Follikels ihr Wachstum ein.

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17.3 Reifung der Gameten Letzterer dagegen reagiert zunehmend empfindlich auf FSH und auch LH (u. a. infolge gesteigerter Vaskularisierung der Theka), so dass trotz weiter sinkender FSHSpiegel seine Östradiolbildung ansteigt; mehr als 95 % der kurz vor der Ovulation zirkulierenden Östradiolmenge stammen aus dem dominanten (Graaf-)Follikel (Durchmesser 20 mm). Obwohl er weiterhin auf FSH und LH angewiesen ist, hat er sich der zentralen Kontrolle weitgehend entzogen. Er stellt die befruchtungsfähige Eizelle und das nachfolgende Corpus luteum bereit, und er kontrolliert mit seiner Bildung und Freisetzung von Östradiol, Progesteron und Inhibin den weiteren Verlauf des Zyklus. Der vorübergehende spätfollikuläre InhibinAnstieg (Abb. 17.1, ab 9. Tag) soll zur Androgensynthese in den Theka-Zellen beitragen. Ovulation. Die hohen Östradiolkonzentrationen im Plasma, die etwa 24 h vor der Ovulation erreicht werden, lassen die bisher wirksame negative Rückkopplung auf die Gonadotropine kurzzeitig in eine positive Rückkopplung umschlagen. Diese Umstellung erfolgt im Hypothalamus (Frequenzzunahme der GnRH-Pulse) und in der Hypophyse, die empfindlicher auf GnRH reagiert als vorher. An dieser Empfindlichkeitssteigerung ist möglicherweise auch Progesteron beteiligt. Das Ergebnis ist ein plötzlicher, starker Anstieg der Plasmakonzentration vor allem von LH („LH surge“), dem 36 h später (bzw. 12 h nach dem LH-Gipfel) die Ovulation folgt (Abb. 17.1, 3). Die Aktivierung von Kollagenasen in der Wand des Graaf-Follikels und andere Vorgänge führen zur Eröffnung des Follikels und dem Austritt der Eizelle, die mit einer Hülle von Granulosazellen (Corona radiata) umgeben ist. Die hohe LH-Konzentration bewirkt eine Verringerung der LH-Empfindlichkeit der Thekazellen, damit sinken die Androgen- und Östradiolbildung sowie die Östradiolplasmakonzentration auf Werte ab, mit denen wieder die typische negative Rückkopplung auf die Gonadotropine wirksam wird: deren Konzentrationen im Plasma sinken innerhalb weniger Tage ab (beim FSH unter Beteiligung von Inhibin). Die zunehmende Ausbildung von LH-Rezeptoren auch auf den Granulosazellen bei gleichzeitigem Verlust der FSH-Rezeptoren leitet den Prozess der Luteinisierung oder Gelbkörperbildung ein. Lutealphase. Die Trennschicht der Basalmembran zwischen Granulosa- und Thekazellen geht mit der Einsprossung von Blutgefäßen in die Granulosazellschicht (Stadium des Corpus rubrum) verloren, und damit entwickelt sich ein weitgehend einheitlicher Zelltyp (Granulosa-Lutein- bzw. Theka-Lutein-Zellen), der vorwiegend über LH-Rezeptoren verfügt. Diese Zellen (deren hoher Lipoid-Gehalt zur Gelbfärbung führt: Corpus luteum) bilden bei LH-Stimulation neben Östradiol vor allem Progesteron; die Plasmakonzentrationen beider Steroide steigen daher an (Abb. 17.1, S. 563 und Abb. 17.3). Progesteron senkt die Frequenz der hypothalamischen GnRHPulse bis auf 1 Puls pro 6 h. Der Anstieg beider Sexualsteroide führt zur niedrigsten LH-Plasmakonzentration etwa am 23. Zyklustag. Das FSH-Minimum am gleichen Tag ist Folge der erhöhten Östradiol- und Inhibinkonzentrationen. Dabei ist die Atresie-Rate rekrutierter Follikel hoch und die Entwicklung von kleineren Follikeln ist vorübergehend gebremst. Die niedrigen LH-Konzentrationen leiten das Ende der Phase des Gelbkörpers ein

Hypothalamus Androgen

Progesteron

GnRH Hypophyse

Inhibin

FSH LH

Inhibin

Östrogen

Follikelphase Hoden

Ovar

Lutealphase

Abb.17.3 Hormonelle Beziehung zwischen Hypothalamus, Hypophyse und Gonaden. GnRH aus dem Hypothalamus aktiviert den Hypophysenvorderlappen; Synthese und Freisetzung von FSH und LH sind die Folge. Die Gonadotropine bewirken im Hoden die Freisetzung von Androgenen und im Ovar die von Östrogenen und Progesteron. Diese Gonadenhormone hemmen Hypothalamus und Hypophyse durch ihre nun erhöhten Blutkonzentrationen (negative Rückkopplung). Inhibine hemmen die FSH-Sekretion ebenfalls.

(Luteolyse), der allmählich die Bildung von Progesteron, Östradiol und Inhibin verringert. Mit der „Enthemmung“ der zentralen Gonadotropinbildung und dem nachfolgenden Wiederanstieg vor allem des FSH beginnt die Rekrutierung der Follikel für den nächsten Zyklus. Das Corpus luteum bildet sich schließlich zum narbigen Corpus albicans um. Die geschilderten Abläufe geben den Rahmen wieder, in dem nach gegenwärtigem Kenntnisstand die Zyklussteuerung erfolgt. Eine genauere Betrachtung legt die Mitwirkung zahlreicher anderer Faktoren nahe wie FGF (Fibroblast Growth Factor), EGF (Epidermal Growth Factor), TGF (Transforming Growth Factor), angiogenetische Faktoren und Prostaglandinen vor allem auf lokaler Ebene im Ovar bzw. im Follikel. In der Kindheit reicht die Menge an hypophysären Gonadotropinen für die Stimulation der Follikelreifung und der Hormonbildung im Ovar nicht aus. Die Zunahme der Plasmakonzentration dieser Substanzen in der Pubertät beginnt mit dem Auftreten der pulsatilen GnRHSekretion, die wiederum ausreichend hohe Plasmaspiegel von IGF-1 und Leptin voraussetzt. In der Menopause sind die Plasmakonzentrationen von FSH und LH hoch, da die negative Rückkopplung der Sexualhormone wegen ihrer geringeren Konzentration (s. o.) nur noch schwach ist.

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Uterus Die Hormone des Follikels und des Gelbkörpers haben wichtige Wirkungen auf den Uterus. In der Follikelphase induzieren die Östrogene das Wachstum des uterinen Schleimhautepithels (Proliferationsphase des Uterus). Das Endometrium verdickt sich bis zur Ovulation auf etwa 6 mm (Abb. 17.1, S. 563). Die Endometriumdrüsen wachsen zu länglichen Schläuchen aus, und zwischen ihnen entwickeln sich aus kleineren Arterien die relativ großen Spiralarterien. In der Lutealphase führt Progesteron zur Zunahme der Durchblutung, zu weiterem Wachstum der Drüsen und zur Sekretion von glykogenhaltigem Schleim (Sekretionsphase). Am 21. Tag ist das Endometrium auf die Implantation (Einnistung) der befruchteten Eizelle vorbereitet. Dieser Zustand hält an, solange die Plasmakonzentrationen von Östrogenen und Progesteron hoch bleiben. Wenn sie absinken, reagieren die Spiralarterien mit Vasokonstriktion, und es kommt zum proteolytischen Abbau des Stratum functionale des Endometriums. Derart verflüssigt, wird es mit dem Menstruationsblut ausgeschieden (Mensesblutung, Abb. 17.1, 1, S. 563). Die basalen Teile der Drüsen im Stratum basale bleiben erhalten. Da auch die Gerinnungsfaktoren der Proteolyse anheim fallen und die Fibrinolyse durch Gewebefaktoren aktiviert wird, ist die Gerinnungsfähigkeit des Menstruationsbluts gering. Progesteron hemmt durch Hyperpolarisation der Muskelzellen die Kontraktionen des Uterus; die Östrogene bewirken das Gegenteil. Wenn am Ende der Lutealphase der Progesteronspiegel sinkt, ist die Erregbarkeit der Uterusmuskulatur besonders groß. Deshalb können zu Beginn der Menstruation spontane Kontraktionen auftreten, die häufig Schmerzen verursachen. Der Zervikalkanal weitet sich in der Follikelphase und sezerniert in der Zyklusmitte zunehmend Schleim von geringer Viskosität. Damit wird der Durchtritt der Spermatozoen begünstigt. Nach der Ovulation verengt sich der Zervikalkanal wieder, die Viskosität des Schleims nimmt zu.

Bildung und Reifung der männlichen Gameten Anders als bei der Frau werden beim Mann, beginnend mit der Pubertät, während des ganzen Lebens durch Teilung der gonadalen Stammzellen Gameten neu gebildet.

Hodenfunktionen Die Spermatozoen werden in den Hodenkanälchen gebildet. Die Innenwand dieser Kanälchen ist von Keimzellen (Spermatogonien, Spermatozyten, Spermatiden) und Stützzellen (Sertoli-Zellen) ausgekleidet. Nach mitotischer Teilung der Spermatogonien bleibt jeweils die eine Hälfte im Speicher als Stammzellen zurück, so dass deren Anzahl nicht verändert wird. Die andere Hälfte durchläuft mehrere mitotische Teilungen und entwickelt sich dabei zu den primären Spermatozyten. Durch Meiose entstehen aus diesen die sekundären Spermatozyten und schließlich die Spermatiden. Aus einem primären Spermatozyten

entwickeln sich 4 Spermatiden, von denen 2 je ein X- und 2 je ein Y-Chromosom besitzen. Die Spermatiden differenzieren sich ohne weitere Teilung zu Spermatozoen, die in das Zentrum der Hodenkanälchen abgegeben werden. Die Entstehung der Spermatozoen aus den Spermatogonien dauert etwa 65 Tage, sie sind aber in diesem Stadium noch nicht befruchtungsfähig (s. u.). Die Sertoli-Zellen haben innigen Kontakt zu den Spermatozyten und Spermatiden, deren Teilung und Differenzierung sie fördern (s. u.). Im Bindegewebe zwischen den Hodenkanälchen befinden sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu Blutgefäßen die Leydig-Zellen. Sie synthetisieren hauptsächlich das männliche Sexualhormon Testosteron (Abb. 17.2, S. 564). Ebenso wie die Spermatozoenbildung wird die Hormonproduktion von der Hypophyse gesteuert.

Zusammenspiel zwischen Hypothalamus, Hypophyse und Hoden Die Funktionen des Hodens werden durch die hypophysären Gonadotropine FSH und LH reguliert. Ihre Synthese und Freisetzung wird (wie bei der Frau) durch die pulsatile Abgabe von GnRH aus dem Hypothalamus veranlasst. FSH stimuliert die Spermatogenese und fördert außerdem die Ausstattung der Leydig-Zellen mit LHRezeptoren. LH induziert dort die Synthese und Freisetzung von Testosteron. Testosteron unterstützt wahrscheinlich das FSH bei der Bildung von spezifischen Proteinen in den Sertoli-Zellen. Diese Proteine regulieren die Meiose sowie die Differenzierung der Spermatozyten und der Spermatiden. Außerdem hemmt Testosteron die hypophysäre Freisetzung von LH, wahrscheinlich über eine Hemmung der GnRH-Abgabe. Mit Hilfe dieser Rückkopplung wird der Testosteronspiegel reguliert. Er schwankt tagesrhythmisch mit einem Maximum am Morgen. Das von den Sertoli-Zellen gebildete Inhibin hemmt hauptsächlich die FSH-Freisetzung. Diese Rückkopplung zwischen Hodenkanälchen und Hypophyse reguliert die Spermatogenese (Abb. 17.3, S. 565). Beim Knaben reichen GnRH-Freisetzung und Gonadotropinspiegel für die Stimulation der Hodenfunktion nicht aus. In der Pubertät erhöht sich dann die Freisetzung von FSH und LH, die allmählich die pulsatile Form erreicht (S. 518 f.). Unter der Wirkung von FSH wachsen die Hodenkanälchen aus, und die Produktion von Testosteron beginnt. Die Hodenfunktionen nehmen nach dem 50. Lebensjahr ab, ohne jedoch auch im hohen Alter vollständig zu erlöschen. Eine Abnahme der Plasmakonzentration von Testosteron kann Beschwerden hauptsächlich psychischer Art verursachen (sog. Climacterium virile).

Weitere Reifung der Spermatozoen bis zur Befruchtungsfähigkeit Im Nebenhoden werden unter dem Einfluss von Testosteron Stoffe synthetisiert, die die Befruchtungsfähigkeit herstellen. Dazu gehören Proteine, die an Oberflächenmembranen der Spermatozoen gebunden werden. Sie fördern deren Eigenbeweglichkeit und sollen ihre Bindung an die Eizelle ermöglichen. Im Nebenhoden bleiben die Spermatozoen wegen des niedrigen pH-Werts unbe-

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17.4 Geschlechtsakt (Kohabitation) weglich. Ihre Passage durch den Nebenhoden dauert etwa 12 Tage. Anschließend werden sie bis zur Ejakulation (s. u.) im Ductus deferens gespeichert. Am Ausgang des Nebenhodens entfernen Makrophagen abgestorbene Spermatozoen. Nach einem Verschluss des Ductus deferens (z. B. nach Vasektomie für eine Sterilisation) wird auf diese Weise der größte Teil der produzierten Spermatozoen beseitigt. Um eine Befruchtung zu erzielen, müssen die Spermatozoen mit dem Ejakulat beim Geschlechtsakt in das weibliche Genitale befördert werden.

Das Ejakulat Das Ejakulationsvolumen beträgt 2 – 6 ml mit 35 – 200 Millionen Spermatozoen pro Milliliter. Bei einem Gehalt von weniger als 20 Millionen/ml nimmt die Wahrscheinlichkeit der Befruchtung ab, obwohl nur ein einziges Spermatozoon zur Befruchtung benötigt wird (s. u.). Zeugungsunfähigkeit (Impotentia generandi) kann auch durch einen zu hohen Anteil von missgebildeten Spermatozoen (Doppelköpfigkeit, Fehlen von Akrosom oder Schwanz u. a.) im Ejakulat verursacht sein. Das Samenplasma wird durch die Sekrete verschiedener Drüsen gebildet. Das alkalische Sekret der Prostata liefert Citrat, Magnesium, Zink, saure Phosphatase und Plasmin in einer kalium- und calciumreichen Salzlösung. Aus den Drüsen der Samenbläschen stammen Fructose, Prostaglandine und Fibrinogen. Die Fructose ist die Energiequelle für die Spermatozoen, die Prostaglandine fördern die Kontraktionen der Muskulatur des weiblichen Genitaltrakts. Die verschiedenen Proteine des Samenplasmas, darunter Proteasehemmer und ein Dekapazitationsfaktor (s. u.), heften sich an die Membran der Spermatozoen. Dort sollen sie eine vorzeitige Abnutzung von Proteinasen verhindern, die später für die Vereinigung mit der Eizelle benötigt werden. Mit einem pH-Wert von 7,5 kann das Samenplasma das saure Scheidenmilieu (pH 3,5 – 5,5) alkalischer machen, so dass die Spermatozoen in der Scheide beweglicher werden.

17.4

Geschlechtsakt (Kohabitation)

Sexuelle Erregung führt bei Mann und Frau zur Erektion von Penis bzw. Klitoris, die über das Erektionszentrum vermittelt wird. Impulse, ausgelöst durch weitere mechanische Reizung (nach Einführen des Penis in die Scheide), steigen in das Ejakulationszentrum auf. Von dort werden die Reaktionen der Orgasmusphase gesteuert. Die Reflexe des Geschlechtsaktes werden von höheren Zentren entscheidend beeinflusst.

Reflexe und Ablauf der Phasen beim Mann Die erste Phase sexueller Erregung führt zur Erektion, die durch efferente parasympathische Impulse über die Nn. erigentes (Nn. splanchnici pelvici) aus den sakralen Rückenmarksegmenten S2, S3 und S4 ausgelöst wird (blau in Abb. 17.4, links). Ursache für diese Impulse sind

taktile Reize der Haut der Genitalien (u. a. Glans penis) und verschiedener Hautareale, der „erogenen Zonen“, die über afferente Fasern (grün in Abb. 17.4) in das Sakralmark geleitet und dort auf die efferenten Fasern umgeschaltet werden (Erektionszentrum). Dieser Reflex wird durch absteigende Bahnen aus höher gelegenen Arealen des ZNS entscheidend gebahnt oder gehemmt, wobei Sinneseindrücke und psychische Faktoren von großer Bedeutung sind. Die Impulse der Nn. erigentes führen über eine Dilatation der Arteriolen zu einer Zunahme des Blutvolumens der Kavernen der Schwellkörper im Penis. Seine fibröse Hülle wird damit gespannt, und der Druck in den Kavernen nimmt stark zu. Dadurch wird der venöse Abstrom aus dem Penis gedrosselt, so dass er größer und steifer wird und sich aufrichtet. Die Erektion hält so lange an, wie die arterielle Dilatation dauert. Parasympathische Impulse fördern außerdem die Sekretion von muköser Flüssigkeit aus den bulbourethralen und urethralen Drüsen. Der Blutstrom durch die Kavernen wird dabei nicht angehalten, sondern stark verlangsamt. Bei krankhaften Veränderungen kann Gerinnung in den Kavernen auftreten; dann bleibt der Penis im erigierten Zustand (Dauererektion: Priapismus). Bei zunehmender mechanischer Reizung der Glans penis gelangen die Erregungen vom Sakralmark aufsteigend in das Lendenmark (L2, L3; Ejakulationszentrum), wo sie auf sympathische Fasern umgeschaltet werden. Die efferenten Impulse (violett in Abb. 17.4) verursachen Kontraktionen der glatten Muskulatur von Nebenhoden, Ductus deferens, Prostata und Samenblasen. Dadurch werden deren Sekrete in die hintere Urethra befördert (Emission). Die hierdurch hervorgerufene Dehnung der Urethrawand führt zur reflektorischen Erregung der perinealen Muskulatur. Die Antwort dieser Muskulatur, hauptsächlich des M. bulbocavernosus, besteht aus 3 – 10 rhythmischen Kontraktionen, mit denen das Ejakulat aus der Urethra herausbefördert wird (Ejakulation). Eine gleichzeitige Kontraktion des Anfangsteils der Urethra verhindert den Übertritt des Ejakulats in die Harnblase. Die Ejakulation ist von starker psychisch-sexueller Erregung begleitet (Orgasmus). Dabei treten Zeichen sympathischer Stimulationen auf (erhöhter Skelettmuskeltonus, Schweißsekretion, Tachykardie, Hyperventilation und Pupillendilatation). In der Rückbildungsphase nehmen alle vegetativen Reaktionen ab, und der Penis erschlafft. Gewöhnlich ist dann die erneute Auslösung der Kohabitationsreflexe vorübergehend gehemmt.

Reflexe und Ablauf der Phasen bei der Frau Mechanische Reize und psychische Faktoren führen in der Erektionsphase über reflektorische Erregungen der Nn. erigentes zu vermehrter Blutfülle der Schwellkörper des Vestibulums und der Klitoris (blau in Abb. 17.4, rechts). Dabei werden auch die Drüsen der kleinen Labien aktiviert und die Haut der Vagina wird gleitfähiger. Zusätzlich veranlasst mechanische Reizung des äußeren Scheidenabschnitts eine seröse Transsudation. Der einge-

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17 Sexualfunktionen, Schwangerschaft und Geburt

höhere Zentren

Skelettmuskulatur

motorische Nerven

Ejakulationszentrum lumbal 2,3

Skelettmuskulatur

sympathische Nerven

Ovar Uterus

Glandula vesicalis Prostata

Rückenmarksfasern

Glandula bulbourethralis Hoden

Erektionszentrum Zervix sakral 2,3,4

Penis

parasympathische Nerven

Rückenmark

sensorische Nerven

Haut Haut erogene Zonen

Abb.17.4 Bahnen der Kohabitationsreflexe bei Mann (links) und Frau (rechts). Die gestrichelten Bahnen des Rückenmarks deuten die Einflüsse von höheren Zentren auf das Erektionszentrum und das Ejakulationszentrum an. Genitale Stimulation, afferent zum Erektionszentrum geleitet, bewirkt durch efferente Impulse die Erektion. Dazu bedarf es

führte Penis wird von den Schwellkörpern umschlossen und reizt Rezeptoren der Vaginalhaut, was zu größerer Blutfülle und damit zur Schwellung der unteren Scheidenwand sowie zur Verlängerung der ganzen Scheide führt. Bei anhaltender Reizung wächst die Frequenz der Erregungen, die in das Lendenmark aufsteigen, wo sie auf sympathische Fasern umgeschaltet werden („Ejakulationszentrum“, Abb. 17.4). Über diese efferenten Bahnen wird dann eine Kontraktion der unteren Scheidenwand vermittelt; es bildet sich die orgastische Manschette. In der Orgasmusphase (Klimax), die von rhythmischen Kontraktionen der perinealen Muskulatur begleitet sein kann, richtet sich der kontrahierte Uterus auf, so dass zwischen Zervix und hinterer Scheidenwand Raum für die Aufnahme des Ejakulats entsteht. Der Muttermund öffnet sich. Diese Aktivität des Uterus wird wahrscheinlich über eine reflektorische Freisetzung von Oxytocin bewirkt. Die Orgasmusphase zeigt eine geringere Automatie als beim Mann. Die vegetativen Begleitreaktionen (Schweißsekretion, Tachykardie s. o.) sind jedoch ähnlich. In der Rückbildungsphase bleibt der Muttermund noch für etwa 30 Minuten erweitert, so dass das Aufsteigen der Spermatozoen begünstigt wird. Bei der Frau tritt an-

Vagina

Klitoris

erogene Zonen

auch bahnender Impulse, die von höheren Zentren stammen. Weitere Stimulation führt im Ejakulationszentrum zu einer Aktivierung efferenter Nerven und damit zur Ejakulation bzw. zum Orgasmus. Auch hierbei wirken hemmende oder bahnende Einflüsse aus höheren Zentren mit.

schließend gewöhnlich keine Hemmphase der Kohabitationsreflexe auf. Sexuelle Erregung und Reflexablauf sind bei der Frau keine notwendigen Voraussetzungen für die Empfängnis (Konzeption).

17.5

Befruchtung und Implantation der Eizelle

Die in den hinteren Scheidenabschnitt eingebrachten Spermatozoen müssen bis in den Eileiter aufsteigen; dort findet normalerweise die Vereinigung der Gameten statt (Konzeption). Während der Aszension erlangen die Spermatozoen erst die vollständige Befruchtungsfähigkeit. Nur eines von ihnen gelangt zur Befruchtung. Die befruchtete Eizelle wandert durch den Eileiter und erreicht die Gebärmutterhöhle. Dabei teilt und differenziert sie sich zum Trophoblasten und Embryoblasten. Am 7. Tag post conceptionem (p.c.) pflanzt sich die Eizelle in die Gebärmutterschleimhaut ein (Implantation). Eine Konzeption kann durch Stoffe verhindert werden, die den Sexualhormonen ähnlich sind.

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17.5 Befruchtung und Implantation der Eizelle

Spermatozoenaszension Die Spermatozoen dringen nach dem Geschlechtsverkehr rasch in den Schleim des Zervikalkanals ein, dessen Viskosität während der Zyklusmitte herabgesetzt ist (Abb. 17.1, S. 563). Der Zervixschleim bildet ein Reservoir für die Spermatozoen, aus dem sie in den folgenden 3 – 4 Tagen in die Uterushöhle einwandern. Das einzelne Spermatozoon erreicht bei einer Fortbewegungsgeschwindigkeit von etwa 35 µm/s nach 4 – 6 Stunden die Tube (langsame Phase). Einzelne Spermatozoen können in den Ampullen der Tuben bereits 5 Minuten nach der Kohabitation erscheinen (schnelle Phase). Sie sind aber nicht befruchtungsfähig (s. u.) und müssen durch orgastische Uteruskontraktionen befördert worden sein, da sie aufgrund ihrer eigenen Bewegungsgeschwindigkeit in dieser kurzen Zeit nur 1 cm weit hätten wandern können. Von den etwa 400 Millionen Spermatozoen des Ejakulats erreichen nur einige hundert die Ampullen der Eileiter. Der größte Teil geht bei der Aszension zugrunde und wird von Leukozyten im Uterus phagozytiert. Während des Aufstiegs werden die Spermatozoen befruchtungsfähig (Kapazitation). Dabei werden die Proteasehemmer und der Dekapazitationsfaktor von der Membranhülle wieder abgelöst (s. u.).

Befruchtung der Eizelle Beim Eisprung gelangt die Eizelle mit der Corona radiata aus dem Ovar in den Bauchraum. Sie wird in die abdominale Öffnung der gleichseitigen (u. U. auch der gegenseitigen) Tube aufgenommen und beginnt die Wanderung zur Uterushöhle. Auf ihrem Weg kann sie nun auf befruchtungsfähige Spermatozoen treffen. Die Schicht der Corona radiata ist ein Passagehindernis für die Spermatozoen, sie verlangsamt das Durchdringen zum weiblichen Gameten. Das Durchdringen wird ermöglicht durch das bei der akrosomalen Reaktion aktivierte Acrosin, das die Eigenschaft einer Hyaluronidase besitzt. Das Spermatozoon muss über spezifische Rezeptoren an die Zona pellucida gebunden werden; damit wird eine speziesfremde Befruchtung ausgeschlossen. Das aktivierte Acrosin bahnt auch den Weg durch die Zonaschicht, wobei es Phospholipasen aktiviert, die dem Spermatozoon das Eindringen in die Plasmamembran der Eizelle ermöglichen. Die Membranfusion zwischen den Gameten löst die Freisetzung von trypsinähnlichen Enzymen aus den kortikalen Granula der Eizelle aus. Diese Enzyme zerstören die spezifischen Rezeptoren der Zona pellucida und verändern die Beschaffenheit der Eizellmembran, so dass weitere Spermatozoen nicht mehr mit ihr verschmelzen könnten (Zonareaktion). Dies verhindert weitgehend eine polysperme Befruchtung. Nach der Verschmelzung der Plasmamembranen inkorporiert die Eizelle den Kopf des Spermatozoons; gleichzeitig wird die 2. Reifeteilung der Eizelle abgeschlossen. Aus dem Spermatozoenkopf entsteht der männliche Vorkern. Die je 23 Chromosomen von väterlichem und mütterlichem Vorkern ergeben die 46 Chromosomen der befruchteten Eizelle. Das 23. Chromosom ist im Vorkern der Eizelle stets ein X-Chromosom, im männlichen Vorkern entweder ein X- oder ein Y-Chromosom. Damit entsteht

nach der Befruchtung mit XX die weibliche, mit XY die männliche Keimanlage.

Die Befruchtung (Konzeption) erfolgt mit der größten Wahrscheinlichkeit am 1. Tag nach der Kohabitation, sie ist aber noch am 3. Tag möglich. Die Eizelle lässt sich am sichersten in den ersten 12 Stunden nach der Ovulation, in Ausnahmen bis zur 24. Stunde befruchten. Das Alter der Leibesfrucht wird für die frühen Entwicklungsphasen häufig post conceptionem (p. c.) angegeben; für die klinische Bestimmung des Schwangerschaftsalters gilt der erste Tag der letzten Regelblutung als Beginn (post menstruationem: p. m.).

Wanderung und Implantation der befruchteten Eizelle Die befruchtete Eizelle, die Zygote, wird von den Zilien der Tubenschleimhaut in Richtung der Uterushöhle bewegt, die sie etwa am 4. Tag p. c. erreicht. Inzwischen hat sie durch Teilung das Morulastadium (etwa 60 Zellen) erreicht. Bestandteile des Tubensekrets wie Pyruvat, Lactat und Aminosäuren dienen der Ernährung der Zygote. Am 7. Tag hat sich die Blastozyste, die aus dem Trophoblasten und dem Embryoblasten besteht, entwickelt. Sie heftet sich am Uterusepithel fest und dringt mit Hilfe proteolytischer Enzyme in das Endometrium ein. Während dieser Einnistung (Implantation) werden die Nährstoffe für die Blastozyste der zur Dezidua umgewandelten Uterusschleimhaut entnommen. Im wachsenden Trophoblasten entstehen Trabekel und Hohlräume, die Lakunen, durch die nach Eröffnung von Kapillaren zunächst zellarmes mütterliches Blut fließt, das für die weitere Ernährung sorgt (12. – 15. Tag p. c.). Bis zu diesem Zeitpunkt gelangen die Nährstoffe im Embryo nur durch Diffusion zu den Zellen. Die mit dem Wachstum länger werdenden Diffusionsstrecken werden nach der Ausbildung von Blutgefäßen im Embryoblasten und im Trophoblasten, in denen ab dem 20. Tag p. c. fetales Blut zu strömen beginnt, zunehmend durch Konvektion überbrückt. Von den Trophoblaststrängen (villöser Trophoblast) wachsen kapillarisierte Zotten (Villi) aus, die von mütterlichem Blut der Lakunen (intervillöse Räume) umgeben sind. Damit bildet sich die Plazenta aus, deren Größe und Leistung bis zur 36. Woche zunehmen. Die Aufnahme von Stoffen aus der Dezidua durch den Trophoblasten wird ab der 8. Woche p. c. vollständig durch den plazentaren Transport zwischen mütterlichem und fetalem Blut abgelöst (S. 571 ff.). Von deziduanahen Trophoblastabschnitten (Haftzotten) wandern Trophoblastzellen (extravillöser Trophoblast) in die Uterusschleimhaut und vor allem in die Spiralarterien ein, die im 2. Monat zu weiten Gefäßen umgebaut werden. Die Störung dieses Vorganges kann zu einer Wachstumshemmung des Feten (intrauterine Wachstumsrestriktion: IUGR) führen. Auch die Wanderung der Zygote kann bereits gestört sein, so dass sich die Blastozyste in der Bauchhöhle oder in der Tube einnistet (Abdominal- bzw. Tubenschwangerschaft). Dies kann für die Frau wegen der Möglichkeit starker Blutungen lebensgefährlich sein.

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569

570

17 Sexualfunktionen, Schwangerschaft und Geburt Die Entwicklung der Blastozyste und ihre Implantation hängen von der Zusammensetzung des Sekrets der umgebenden Schleimhaut ab. Diese Sekretion bedarf ausreichender Konzentrationen von Progesteron und Östrogenen. Für die Weiterentwicklung des Embryos nach dem 14. Tag p. c. ist eine fortbestehende Sekretion von Progesteron aus dem Gelbkörper notwendig. Da die hypophysären Gonadotropinspiegel postovulatorisch abnehmen, übernimmt diese Aufgabe ein Gonadotropin aus dem Trophoblasten, das Human chorionic gonadotropin (HCG, Abb. 17.9, S. 574). Mit der Implantation dringen immunologisch wirksame Stoffe in den mütterlichen Organismus ein. Da Mutter und Fetus genetisch verschieden sind, können diese Stoffe antigene Eigenschaften haben. Deshalb würde man immunologische Reaktionen erwarten, die zur Abstoßung der Frucht führen müssten. Solche Reaktionen fehlen jedoch, wobei die Ursachen für die immunologische Toleranz der Schwangeren gegenüber dem Embryo erst im Ansatz bekannt sind.

Hormonale Empfängnisverhütung (Kontrazeption) und In-vitro-Fertilisation (IVF) Mit von außen zugeführten Substanzen, die wie Progesteron und die körpereigenen Östrogene wirken, kann durch Hemmung von Hypothalamus und Hypophyse die Freisetzung von Gonadotropinen gehemmt und damit der ovarielle Zyklus unterdrückt werden (Abb. 17.3, S. 565). Es fehlen dann der mittzyklische LH/FSH-Peak und die Ovulation (Ovulationshemmer). Üblicherweise handelt es sich bei diesen Stoffen, die oral zugeführt werden und damit zunächst in das Pfortaderblut gelangen, um chemisch modifizierte Sexualhormone, die durch die Leber nicht so schnell umgebaut werden wie die körpereigenen Steroide. Mit geringen Mengen an synthetischen Hormonen mit Progesteronwirkung (Gestagene) allein lässt sich die Aszension der Spermatozoen durch die Veränderung der Beschaffenheit des Zervixschleims hemmen, ohne dass die Ovulation regelmäßig unterdrückt wird („Minipille“). Hohe Dosen von Östrogenen können in einem Zeitraum bis zu 2 Tagen nach der Konzeption die Einnistung des befruchteten Eies verhindern (Nidationshemmer, Postkoitalpille: „morning after pill“), da sie das für die Implantation entscheidende Konzentrationsverhältnis von Progesteron zu Östrogenen verändern (s. o.). Bei unerfülltem Kinderwunsch kann der Vorgang der Fertilisation außerhalb des Körpers der Frau („in vitro“) vollzogen werden. Die Eizelle, deren „Befruchtung“ u. U. durch direkte Injektion eines Spermatozoenkopfes (intracytoplasmic sperm injection, ICSI) erreicht wurde, wird als „Embryo“ („embryo transfer“: ET) in den Uterus gesetzt. Die „take-home“-Rate dieser Verfahren liegt bei etwa 20%.

Fehlgeburt (Abort) Die Frucht wird nach der Implantation bis zur 10. Woche p. c. als Embryo und danach als Fetus bezeichnet. Der Abgang der Frucht bis zu einem Gewicht von 500 g, entsprechend der 20./21. Woche p. m., wird als Abort (Fehlgeburt) bezeichnet. Bei einem Geburtsgewicht über 500 g wird von einer Frühgeburt (S. 586 f.) bzw. Totgeburt gesprochen. Von 100 befruchteten Eizellen gehen etwa 45 bereits in den ersten 4 Wochen verloren, ohne dass dies im Allgemeinen bemerkt wird (subklinische Aborte). Von den verbleibenden 55 Schwangerschaften enden fünf mit einer spontanen Fehlgeburt. Die Ursachen für Aborte sind Anlagestörungen der Zygote, der Blastozyste oder des Fetus (chromosomale Anomalien haben 50 % der Fehlgeburten, aber nur 0,5% der lebend Geborenen). Außerdem können immunologische Faktoren, Progesteronmangel sowie Anomalien des inneren Genitales der Schwangeren zum Verlust der Frucht führen. Nach groben Schätzungen werden in Westeuropa von den überlebensfähigen Schwangerschaften ein Drittel artifiziell beendet (Abtreibung, Interruptio) und zwei Drittel ausgetragen.

Schwangerschaftsdauer Die Geburt eines reifen Kindes findet 38 Wochen (± 10 Tage) nach der Konzeption (p. c.) statt. In der Klinik gilt jedoch eine Schwangerschaftsdauer von 40 Wochen p. m. Im Folgenden sprechen wir von der Schwangerschaftsdauer p. m.

17.6

Plazentafunktion

Das Bauprinzip der Plazenta dient dem An- und Abtransport von Stoffen mit dem Blut des mütterlichen und fetalen Kreislaufs sowie dem Austausch dieser Stoffe zwischen Mutter und Fetus. Die Plazenta besteht aus Blutgefäßen, Bindegewebe und den Zellen des Trophoblasten, die die Barriere zwischen mütterlichem und fetalem Blut darstellen. Die Plazenta bildet große Mengen an Hormonen, die helfen, die Schwangerschaft zu erhalten. In der Fetalzeit hat die Plazenta Funktionen inne, die nach der Geburt des Kindes von dessen Lungen, Nieren, Darm, Leber und Haut übernommen werden.

Bau der Plazenta Aus den Stammzotten wachsen weitere Zotten aus, so dass sich Zottenbäume entwickeln, die die intervillösen Räume weitgehend ausfüllen. Diese Räume sind auf der basalen (dem Uterus zugewandten) Seite von einer Schicht aus miteinander verschmolzenem Gewebe von fetalen Trophoblastzellen und Uterusschleimhaut (Dezidua) begrenzt. In die vom Trophoblasten umschlossenen Räume fließt über ca. 100 Spiralarterien mütterliches Blut ein, das durch die basalen Venen wieder abströmt. Die Zotten enthalten fetale Blutgefäße, die an zwei Arterien und eine Vene der Nabelschnur angeschlossen sind. In der reifen Plazenta des Menschen besteht die

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17.6 Plazentafunktion

Nabelvene Nabelarterien Nabelschnur

fetale Kapillare Zytotrophoblast O2 und Nährstoffe

CO2 und Abfallstoffe Synzytium Plazentazotte intervillöser Raum

Basalplatte

Basalvene

Zottenquerschnitt

Spiralarterie Plazenta

Abb.17.5 Bau der Plazenta. Schematische Darstellung von zwei Zottenbäumen im intervillösen Raum (links). Die Ausschnitte zeigen die Endaufzweigung einer Zotte mit den fetalen Blutgefäßen (Mitte) sowie einen Schnitt durch die Grenzschicht zwischen mütterlichem und fetalem Blutraum

Barriere zwischen mütterlichem und fetalem Blut aus dem Synzytium des Trophoblasten (Synzytiotrophoblast) und der fetalen Kapillarwand (hämochoriale Plazenta, Abb. 17.5). Eine bis zur 16. Woche p. m. vollständig erhaltene subsynzytiale zweite Schicht, der Zytotrophoblast, dient der Regeneration des Synzytiums. Die wesentliche Barriere für den Stoffaustausch ist das Synzytium. Die Stoffe müssen die multivillöse Membran der mütterlichen Seite und die basale Zellmembran der fetalen Seite passieren. Der Sauerstoffverbrauch der Plazenta ist, bezogen auf die Gewichtseinheit, dem der fetalen Körpergewebe ähnlich.

Durchblutung der Plazenta Die mütterliche Plazentadurchblutung beträgt etwa 1 ml/min pro g Gewebe, am Geburtstermin sind das 500 ml/min für die ganze Plazenta. Die Gefäße haben keine Fähigkeit zur Autoregulation; deshalb sinkt die Durchblutung bei jeder Abnahme des Blutdrucks. Kontraktionen des Uterus können ebenfalls die materne Durchblutung mindern. Kreislaufkollaps der Schwangeren, falsche (Rücken-)Lagerung und vorzeitige Wehen können deshalb den Fetus gefährden. Die fetale Plazentadurchblutung beträgt mit 0,7 ml/ min pro g Gewebe am normalen Geburtstermin etwa 350 ml/min und macht damit nahezu 50% des fetalen Herzzeitvolumens aus. Der mittlere Blutdruck in den Nabelschnurgefäßen beträgt 50 – 60 mm Hg in den Arterien und 10 – 20 mm Hg in der Vene. Die Gefäße in der Plazenta sind nicht innerviert und können nur durch

(rechts). Mütterliches Blut strömt durch die Spiralarterie in den intervillösen Raum. In diesen taucht die Plazentazotte ein, deren Innenwand die fetale Kapillare anliegt. Damit ist die Austauschstrecke zwischen dem fetalen Blut in der Kapillare und dem mütterlichen Blut relativ kurz.

Hormone (u. a. Adrenalin, Prostaglandine) beeinflusst werden. Kompressionen der Nabelschnur können die Gefäße ganz oder teilweise verschließen und damit die Durchblutung stören. Der Fetus kann sich selbst gefährden, wenn er z. B. nach einem vorzeitigen Blasensprung mit dem Kopf die Nabelschnur gegen einen Beckenknochen der Mutter drückt.

Stoffaustausch zwischen Mutter und Fetus Beim Stofftransport durch die Membranen des Trophoblasten kann man, wie in anderen Organen, folgende Mechanismen unterscheiden (s. a. Kap. 2): – einfache Diffusion, – durch Carrier erleichterter passiver Transport, – carriervermittelter aktiver Transport, – Endozytose.

Einfache Diffusion Die Atemgase werden mit Hilfe einfacher Diffusion zwischen mütterlichem und fetalem Blut über den Trophoblasten ausgetauscht. Die treibende Kraft ist die Partialdruckdifferenz zwischen mütterlichem und fetalem Blut. Wie aus den Werten der Abb. 17.6 zu ersehen ist, beträgt sie für Sauerstoff zwischen den Arterien von Uterus und Nabelschnur etwa 10 kPa. Nach der Plazentapassage ist die O2-Partialdruckdifferenz zwischen den Venen von Uterus und Nabelschnur auf ca. 0,7 kPa abgesunken. Als

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571

572

17 Sexualfunktionen, Schwangerschaft und Geburt

PO

2

SO

2

O2

Nabelvene

Nabelarterie

(kPa)

2,9 – 4,7

1,9 – 3,3

(%)

45 – 70

20 – 30

0,11 – 0,16

0,05 – 0,10

(l/l Blut)

PCO

2

(kPa)

CO2 (l/l Blut) BE

(mmol/l)

pH

5,2 – 6,0

5,9 – 6,9

0,40 – 0,50

0,45 – 0,55

–1 – –7

–2 – –8

7,32 – 7,38

7,24 – 7,34 Zottenkapillare

intervillöser Raum

2

(kPa)

12,7

SO

(%)

97

50 – 70

(l/l Blut)

0,14 – 0,17

0,08 – 0,11

(kPa)

3,7 – 4,8

5,6 – 7,7

0,43 – 0,50

0,48 – 0,58

PO

2

O2 PCO

2

CO2 (l/l Blut) BE pH

(mmol/l)

4,0 – 5,3

0 – –6

–2 – 6

7,4 – 7,45

7,35 – 7,4

Uterusarterie

Uterusvene

Abb.17.6 Mütterliches und fetales Blut. Werte der Atemgase, des pH und der Basenüberschüsse (BE) vor und nach der Passage durch das plazentare Austauschgebiet. Auch nach der Plazentapassage ist der relative Sauerstoffgehalt des fetalen Blutes vergleichsweise gering, er entspricht, in Sättigung ausgedrückt, etwa der des mütterlichen Venenblutes. Der pH-Wert des fetalen Blutes bleibt niedrig, während der Gesamt-CO2-Gehalt (inkl. HCO3–- und carbamatgebundenem CO2) nicht weit von den mütterlichen Werten entfernt liegt. Das fetale Blut zeigt eine geringgradige nichtrespiratorische Azidose. (Der relativ niedrige O2-Gehalt des Blutes in der Uterusarterie ist hier Folge einer niedrigen Hb-Konzentration; s. Text.)

mittlere O2-Partialdruckdifferenz im Kapillarbereich werden 2,7 kPa angenommen. Bei einer Diffusionskapazität von 7 – 11 ml/(min · kPa) nimmt der Fetus am normalen Geburtstermin etwa 20 ml O2/min auf. Trotz des geringen PO2 im Nabelvenenblut (ca. 3,8 kPa) kann diese Sauerstoffmenge transportiert werden, weil – der Fetus einen höheren Hb-Gehalt hat als die Mutter, – die O2-Affinität des fetalen Hämoglobins (HbF) größer ist als die des mütterlichen Blutes und – durch Alkalisierung des fetalen Blutes während der Plazentapassage dessen O2-Sättigung verbessert wird (Linksverschiebung der O2-Bindungskurve). Im Beispiel der Abb. 17.7 soll der Hb-Gehalt des fetalen Blutes 170 g/l, der des mütterlichen 118 g/l betragen. Damit kann das fetale Blut maximal 230 ml O2/l, das mütterliche 160 ml O2/l binden (Hüfner-Zahl, s. S. 283). Als Maß für die Affinität gilt der Halbsättigungsdruck P50 (S. 282 ff.). Ist dieser niedrig, so wird

(bei geringem Sauerstoffdruck) eine höhere Sättigung erreicht, als wenn der P50 größer ist. Der P50 des Erwachsenenhämoglobins (HbA) liegt bei 3,6 kPa = 27 mm Hg, der des fetalen Hämoglobins (HbF) bei 3,1 kPa = 23 mm Hg. Das HbF enthält im Globinanteil γKetten anstelle der β-Ketten. Die γ-Ketten binden weniger 2,3Bisphosphoglycerat (2,3-BPG) als die β-Ketten. Da 2,3-BPG die Sauerstoffaffinität herabsetzt (S. 285), ist die Affinität des HbF größer als die des HbA. Beim Gasaustausch in der Plazenta gibt das fetale Blut H+-Ionen und CO2 an das mütterliche Blut ab. Die O2-Bindungskurve der Mutter wird damit nach rechts, die des Fetus zusätzlich nach links verschoben. Dieser „doppelte BohrEffekt“ verschiebt die Kurven im steilen Bereich jeweils um 0,13 kPa, so dass der fetale P50 bei 2,9 kPa und der mütterliche P50 bei 3,7 kPa liegen. Bei einem Partialdruck von 4 kPa bindet das fetale Blut 140 ml O2/l Blut. Das entspricht einer O2-Sättigung des mütterlichen Blutes von über 80%, das hierfür jedoch einen O2Druck von etwa 8 kPa benötigen würde.

Bei erheblicher Abnahme der Plazentadurchblutung auf der mütterlichen Seite sinkt die O2-Transferrate. Als Folge davon fallen O2-Druck und O2-Sättigung im Fetus ab. Wenn dabei der Wert von 2 kPa (kritischer Versorgungsdruck) unterschritten wird, erhalten nicht mehr alle fetalen Mitochondrien genügend Sauerstoff. Hält eine solche Hypoxie länger an, kommt es zur Bradykardie des Fetus. In der Klinik wird deshalb die fetale Herzfrequenz gemessen (Kardiotokographie). Bei länger dauernder Absenkung der Frequenz bzw. Hypoxie kann das Gehirn irreversibel geschädigt werden. Das im Stoffwechsel gebildete Kohlendioxid (CO2) gibt der Fetus über die Plazenta ebenfalls durch Diffusion an die Mutter ab. Die relativ kleine CO2-Partialdruckdifferenz von etwa 0,7 kPa reicht aus, da CO2 aufgrund seiner guten Löslichkeit leichter diffundieren kann als O2. Außerdem ist der PCO2 des mütterlichen Arterienblutes durch eine in der Schwangerschaft auftretende Hyperventilation der Mutter erniedrigt (Abb. 17.6). Der größte Teil des auszutauschenden CO2 liegt im fetalen Plasma als Bicarbonat vor. Ebenso wie in der Lunge des Erwachsenen (S. 286 ff.) geht der CO2-Abgabe eine Umwandlung dieses Bicarbonats zu CO2 im Erythrozyten voraus (vgl. Abb. 10.38, S. 288). Das fetale Nabelvenenblut ist gegenüber dem arteriellen Blut der Mutter leicht metabolischazidotisch. Ursache hierfür ist die Bildung saurer Valenzen im fetalen Stoffwechsel. Alle fettlöslichen Stoffe können die Plazentamembranen durch einfache Diffusion überwinden. Dies gilt auch für die Vitamine A, D, E und K sowie für viele Pharmaka. Die Transferraten der Fettsäuren sind jedoch klein, da der größte Teil von ihnen an Proteine gebunden ist, die nicht permeieren können. Der wasserlösliche Harnstoff wird ebenfalls durch Diffusion an die Mutter abgegeben.

Durch Carrier erleichterter passiver Transport In beiden Membranen des Synzytiums befinden sich Transportproteine mit begrenzter Kapazität, die den Stofftransport spezifisch fördern. Glucose als der wichtigste Energielieferant des Fetus gelangt mit Hilfe des nicht-insulinabhängigen GLUT-1-Uniport-Carriers in großen Mengen durch die Plazenta. Der ständige Glucoseverbrauch führt dazu, dass die Glucosekonzentration im Blut

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17.6 Plazentafunktion 250

Transportmechanismus

O2-Konzentration im Blut (ml/l)

O2 200

Fetus

fetales Nabelschnurvenenblut

150

mütterliches Arterienblut Sättigung

100

einfache Diffusion

CO2

D-Glucose

Entsättigung

mütterliches Uterusvenenblut fetales Nabelschnurarterienblut

Lactat

50

passiv durch Carrier

Mutter

L-Alanin 0

0

1,34

2,67

4,00

5,34

6,67

8,00

9,34 10,67 12,00 13,34

PO2 (kPa)

Abb.17.7 Sauerstoffbindungskurven des mütterlichen (blau) und des fetalen (rot) Blutes. Der Hb-Gehalt betrage im mütterlichen Blut 118 g/l und im fetalen 170 g/l. Die durchgezogenen Linien geben die Kurven wieder, die den tatsächlichen Änderungen während der Plazentapassage entsprechen. Beachte die größere Affinität des fetalen Blutes zum Sauerstoff und seinen höheren Hb-Gehalt. Dies unterstützt die Sauerstoffaufnahme aus dem mütterlichen Blut. pH-bedingte Verschiebungen beider Kurven haben tendenziell den gleichen Effekt, bewirken jedoch quantitativ nicht viel.

der Nabelarterien um 1 – 2 mmol/l niedriger ist als im Blut der Schwangeren. Die Folge ist ein „Bergab“transport in Richtung Fetus (Abb. 17.8). Der Transport von Lactat vom Fetus zur Mutter wird ebenfalls durch Carrier gefördert (Abb. 17.8), was eine stärkere Lactatanreicherung im Fetus verhindert. Unter der Geburt kann ein Anstieg der Milchsäurekonzentration im Plasma der Mutter auch zu einer Laktazidose des Kindes („Leihazidose“) führen. Auch der Transport von Dehydroascorbinsäure, der oxidierten Form des Vitamins C, wird durch Carrier erleichtert. Ascorbinsäure selbst kann die Plazentaschranke nicht passieren. Die Dehydroascorbinsäure wird im Anschluss an die Plazentapassage im fetalen Gewebe wieder zu Ascorbinsäure reduziert. Damit wird die Konzentration der Ascorbinsäure im fetalen Blut höher als im mütterlichen.

Aktiver Transport und Endozytose Aminosäuren werden von der Mutter zum Fetus „bergauf“ transportiert. Verantwortlich dafür sind verschiedene Na+-Symportcarrier in der Synzytiummembran auf der mütterlichen Seite, mit denen die Aminosäuren sekundär-aktiv im Trophoblasten intrazellulär akkumuliert werden. Die Triebkraft dafür ist auch in diesem Fall der hohe elektrochemische Na+-Gradient, der durch die Na+K+-ATPase aufrechterhalten wird (s. S. 30 und Abb. 17.8). In einem zweiten Schritt gelangen die Aminosäuren dann aus dem Synzytium „bergab“ in das fetale Blut. Auch dieser Ausstrom durch die basale Membran des Synzytiums wird durch Carrier vermittelt (passiver Transport

+

Na

Na

+

K +

K

intervillöser Raum

Na

+

+

+

Na

+

+

K Na

Synzytium

+

aktiv

K

Fetus

Abb.17.8 Transportmechanismen in den Membranen des plazentaren Synzytiums. O2 gelangt entsprechend des Partialdruckgefälles mittels einfacher Diffusion durch die Barriere. D-Glucose benötigt für ihren passiven Transport die Förderung durch Carrier, die in beiden Zellmembranen lokalisiert sind. L-Alanin gelangt gemeinsam mit Natriumionen durch die multivillöse Membran in das Synzytium (sekundär-aktiver Symport). Auf der basalen Seite wird der „Bergab“strom der Aminosäure durch passive membranständige Uniportcarrier gefördert. Na+-Ionen werden durch die Na+-K+-ATPase aus dem Synzytium herausbefördert.

durch Uniporter). Die B-Vitamine sollen auf ähnliche Weise transportiert werden. Ca2+-Ionen werden aktiv aus dem mütterlichen Blut in den Trophoblasten transportiert und gelangen von dort in das fetale Blut, wo ihre Konzentration höher ist als im mütterlichen Blut. Endozytose ist am Eisen- und Proteintransport beteiligt. Das Eisen ist im mütterlichen Blut an Transferrin gebunden. Dieser Komplex haftet an der multivillösen Membran fest und wird endozytiert. In der Zelle wird das Eisen von dem Protein abgespalten und gelangt durch die basale Membran in das fetale Blut. Das im Synzytium zurückgebliebene Apotransferrin wird über Exozytose in das mütterliche Blut zurückgegeben. Die Endozytose großer Eiweißmoleküle durch die Synzytiummembran ist selektiv. Die Immunglobuline der IgG-Gruppe werden bevorzugt aufgenommen und an das fetale Blut abgegeben. Daher besitzt der Fetus einen ähnlichen immunologischen Schutz gegen Infektionen wie die Mutter (materno-fetaler „Nestschutz“ oder „Leihimmunität“). Er kann aber auch Schaden nehmen, wenn bei einer Rhesus-Inkompatibilität von einer (durch vorangegangene Schwangerschaften vorimmunisierten) rhnegativen Mutter anti-D-Antikörper auf einen Rh-positiven Feten übertragen werden (vgl. S. 230). Die größeren, pentameren IgM-Moleküle (Tab. 9.4, S. 236), zu denen die

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573

17 Sexualfunktionen, Schwangerschaft und Geburt

100

40

80

30

60

35

Kopfumfang 30 40

Östrogene

30

20

40

1100

8 6

20

4 2 0

10

4.

8.

12.

16.

20.

24.

28.

32.

36.

40.

HPL (µg/ml)

10

10

10

HPL

2200

Körperlänge

20

Progesteron 20

3300

Gewicht (g)

50

50

HCG

Kopfumfang (cm)

120

Körperlänge (cm)

60

HCG (IE/ml)

Progesteron, Östrogen (ng/ml)

574

Gewicht

0

0

0

10.

Embryo

20.

30.

Woche

40.

0

Fetus

Woche

Abb.17.9 Verlauf der Konzentrationen der Plazentahormone im Plasma der Mutter während der Schwangerschaft (Zeitangabe in Wochen post menstruationem). HCG = humanes Choriongonadotropin, HPL = humanes Plazentalactogen.

Isohämagglutinine des AB0-Systems gehören, werden dagegen in weit geringerem Maße transportiert und erreichen im fetalen Blut im Allgemeinen keine wirksamen Konzentrationen.

Die Plazenta als Hormondrüse Die Plazenta produziert verschiedene Hormone, die die Schwangerschaft erhalten helfen und z. T. auch in das mütterliche Blut gelangen, wo sie nachgewiesen werden können. Die wichtigsten Hormone sind das Human Chorionic Gonadotropin (HCG), Östrogene, Progesteron und das Human Placental Lactogen (HPL) oder Human Chorionic Somatomammotropin (HCS). Der Verlauf der mütterlichen Plasmakonzentrationen während der Schwangerschaft ist in Abb. 17.9 dargestellt. HCG ist 6 – 8 Tage nach der Befruchtung im Blut der Schwangeren nachweisbar (Schwangerschaftsnachweis 3. – 4. Wochen p. m.). Die HCG-Konzentration erreicht in der 9. – 10. Woche ein Maximum und nimmt dann bis zur 20. Woche wieder ab. HCG übernimmt in den ersten 3 Monaten der Schwangerschaft (1. Trimenon) die Funktion des LH und stimuliert den Gelbkörper dazu, große Mengen an Progesteron und Östrogenen zu bilden. Diese Hormone fördern die Umwandlung des Endometriums in die nährstoffreiche Dezidua, die zunächst den Embryo ernährt. Ab der 12. Woche bildet sich der Gelbkörper zurück. Die Plazenta ist dann in der Lage, Progesteron und Östrogene (hauptsächlich Östriol) in ausreichenden Mengen zu bilden. Beide Hormone dienen der Entwicklung eines geburtsfähigen mütterlichen Genitales; außerdem hemmt Progesteron die Muskelaktivität des Uterus und verhindert so Kontraktionen. HPL kann in hohen Konzentrationen, ähn-

Abb.17.10 Körperlänge, Gewicht und Kopfumfang von Embryo bzw. Fetus im Verlauf der Schwangerschaft (Wochen p. m.).

lich wie Prolactin, Wachstum und Milchproduktion der Brustdrüse induzieren. Es fördert wie das hypophysäre Wachstumshormon die Entwicklung und das Wachstum von Gewebe. Wichtiger scheinen die allgemeinen Wirkungen auf den Kohlenhydrat- und Fettstoffwechsel der Mutter zu sein. HPL erhöht die Glucosekonzentration im Blut der Mutter, so dass mehr Glucose für die Versorgung des Fetus bereitsteht.

17.7

Physiologie des Fetus

In der Embryonalperiode (3. – 12. Woche p. m.) entwickeln sich die einzelnen Organe (Organogenese) und nehmen die ersten Funktionen auf. In der folgenden Fetalperiode reift der Fetus, die Funktionen seiner Organe differenzieren sich und erreichen bis zur Geburt eine Leistungsfähigkeit, die das Leben nach der Abnabelung ermöglicht. Das Herz-Kreislauf-System arbeitet in der Fetalzeit anders als später. Es muss sich mit der Geburt umstellen. Störungen der Organogenese in der Embryonalperiode (Embryopathie) können Fehlbildungen hervorrufen. In der Fetalperiode können Wachstum und Funktion gestört werden (Fetopathie).

Wachstum Am Ende der 12. Woche wiegt der Embryo 100 g und ist 10 cm lang. Zwischen der 12. Woche und dem normalen Geburtstermin in der 40. Woche p. m. wächst der Fetus auf eine Länge von etwa 50 cm heran (Abb. 17.10). Das Längenwachstum verlangsamt sich in den letzten 4 Wochen etwas, die Gewichtszunahme bleibt jedoch unverändert steil. Bis zur 28. Woche werden hauptsächlich Strukturproteine aufgebaut, danach bilden sich zusätzlich

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17.7 Physiologie des Fetus Fettspeicher aus, deren Gewichtsanteil auf 15 % ansteigt. Der Anteil von braunem Fettgewebe ist mit 1,5% hoch. Bei der Geburt beträgt das fetale Körpergewicht bei Einlingen 3000 – 4000 g.

obere Körperhälfte

Anteil am HZV in % O2-Sättigung in %

Ductus arteriosus Aorta

30 37

10

Entwicklung einzelner Organe Gehirn Bis zur 28. Woche wird die endgültige Gesamtzahl der Neurone erreicht, die bis zum 4. Lebensjahr wachsen und sich weiter differenzieren (s. a. Kap. 28, S. 802 ff.). Auch die Proliferation der Gliazellen hält bis zu dieser Zeit an. Die Myelinisierung der Neuriten beginnt in der 24. Woche und wird erst im 6. Lebensjahr abgeschlossen. Wegen der unvollständigen Myelinisierung treten beim Neugeborenen physiologischerweise Reflexe auf (z. B. BabinskiReflex), die im späteren Lebensalter pathologisch sind. Ab der 20. Woche lassen sich typische EEG-Muster nachweisen. In der späten Schwangerschaft treten Augenbewegungspotenziale (REM) auf, es lassen sich dann auch evozierte Potenziale ableiten. Diese erlauben z. B. im akustischen System eine objektive Prüfung des Hörvermögens bei Neugeborenen.

Herz und Kreislauf Das Herz beginnt in der 5. Woche zu schlagen. Seine Frequenz steigt von anfänglich 65/min bis zur 20. Schwangerschaftswoche auf 120 – 160/min an. Mit dem Abschluss der Herzentwicklung in der 11. Woche lässt sich der Kreislauf wie in Abb. 17.11 beschreiben. In der Fetalzeit wird das Blut beider Herzventrikel weitgehend direkt dem Körperkreislauf zugeführt, da sich auch der rechte Ventrikel überwiegend durch den Ductus arteriosus Botalli in die Aorta entleert. Das Zeitvolumen beider Ventrikel zusammen wird deshalb als fetales Herzzeitvolumen (HZV) bezeichnet. Das sauerstoffreiche Blut aus der Plazenta (ca. 50 % des HZV) gelangt über die Nabelvene zur Leber. Hier wird ein Teil (ca. zwei Drittel) auf dem Umweg durch das Lebergewebe über Lebervenen in die V. cava inferior geleitet, der andere Teil strömt durch den Ductus venosus (Arantii) direkt dorthin. Das Blut der V. cava inferior (70% des HZV) ist deshalb im herznahen Teil sauerstoffreicher als das der V. cava superior (30 % des HZV). Etwa die Hälfte des Blutes der V. cava inferior gelangt durch das offene Foramen ovale direkt in den linken Vorhof. Dagegen wird das Blut aus der oberen Hohlvene von einer Gewebeleiste am Foramen ovale vorbei und gemeinsam mit einem Teil des Blutes der oberen Hohlvene in die rechte Kammer geleitet. Von dort strömt wegen eines hohen pulmonalen Strömungswiderstandes weniger als ein Zehntel durch die Lungen in den linken Vorhof, neun Zehntel werden durch den Ductus arteriosus Botalli in die Aorta descendens geleitet. Die linke Kammer treibt 40 % des gesamten HZV in die Aorta, drei Viertel davon werden an die obere Körperhälfte abgegeben. Der Rest vermischt sich mit dem sauerstoffärmeren Blut aus dem Ductus Botalli. Damit erhalten Kopf und Myokard besser oxygeniertes Blut als der kaudale Körperabschnitt mit Ausnahme der Leber, die überwiegend vom Blut der Nabelschnurvene mit dem höchsten Sauerstoff-

40 37 30 16

Foramen ovale

Lunge

5 16

35 40 40 37

70 40

30 36 25 60

60 29

65 29 rechte Kammer

Leber

25 60

Darm

15 15

Ductus venosus Nabelvene

5 30 50 30

50 60

Nabelarterien

50 30 Plazenta

70 30

15 30 untere Körperhälfte

Abb.17.11 Fetales Herz-Kreislauf-System. Das sauerstoffreiche Blut aus der Plazenta gelangt vom rechten Vorhof zum Teil (35%) durch das Foramen ovale in das linke Herz. Das Blut aus der rechten Kammer (65%) wird durch den Ductus arteriosus in die absteigende Aorta befördert (60%), lediglich 5% gelangen in die Lungen. Das in das linke Herz (durch das Foramen ovale) eingeströmte Blut wird in die Aorta ausgeworfen und dient zum größten Teil der Durchblutung der oberen Körperregion (Kopf!). Etwa zwei Drittel des durch die absteigende Aorta strömenden Blutes werden der Plazenta zugeführt. Durch das Foramen ovale und den Ductus arteriosus wird die Lungenstrombahn weitgehend kurzgeschlossen. Die Werte für die O2-Sättigung zeigen, dass die Kopfregion das Blut mit dem höchsten Sauerstoffgehalt bekommt.

und Nährstoffgehalt durchströmt wird. 70% des HZV werden durch die Aorta descendens geleitet, davon gelangen zwei Drittel zur Plazenta. Das auf das Körpergewicht bezogene HZV beträgt mindestens 200 ml/min pro kg Körpergewicht und damit das 3fache des HZV des ruhenden Erwachsenen. Der arterielle Blutdruck beträgt etwa 50 – 60 mm Hg. In den letzten 3 Monaten (3. Trimenon) bildet sich die vegetative Innervation der Gefäßmuskulatur aus; deshalb steigen der periphere Widerstand und damit der Blutdruck bis zur Geburt etwas an. Zu diesem Zeitpunkt treten auch die Kreislaufreflexe (z. B. Barorezeptorenreflex) in Funktion.

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17 Sexualfunktionen, Schwangerschaft und Geburt

Abb.17.12 B-(Brightness)Bild (oben) und Doppler-Profil (unten) der Aorta descendens eines gesunden Feten in der 35. Schwangerschaftswoche. Die Rippenanschnitte im B-Bild sind deutlich zu erkennen. Bei dieser Farb-DopplerDarstellung ist die Aorta als blauer Streifen rechts eines Feldes von Farbflächen zu erkennen, die der Blutbewegung in den Herzhöhlen und in den großen Zentralgefäßen entsprechen. Die Blaufärbung der Aorta deutet an, dass der Blutstrom sich vom Schallkopf wegbewegt, die Geschwindigkeitsachse des Doppler-Profils ist daher negativ skaliert (rechts unten). Die eingeblendeten Linien zeigen die Richtung des Schallstrahles (nahezu senkrecht) und der Gefäßachse an (weiße Linie im blauen Aortabild; Doppler-Winkel – 388) sowie die Position des „Doppler-Gate“ (= zwischen den

Ultraschall-Diagnostik Geräte, die Ultraschall zur Erzeugung von Schnittbildern durch den Körper oder zur Erfassung der Blutströmung nutzen, werden in vielen Fachrichtungen der modernen Medizin verwendet. In der Geburtshilfe ermöglicht diese Technik die Beurteilung des fetalen Körpers und seiner Entwicklung (Fetometrie, Fehlbildungsdiagnostik) sowie der Funktion des Kreislaufes (Doppler-Geschwindigkeitsmessungen). Das Verfahren ist nicht invasiv und unschädlich bei bestimmungsgemäßem Gebrauch. Auf die Körperoberfläche wird ein Schallkopf gesetzt, der Schallwellen von etwa 2 bis 12 MHz in den Körper aussendet. Sie werden im Körper und an den Oberflächen innerer Strukturen reflektiert und gelangen zum Schallkopf zurück, der Schallwellen auch empfangen kann. Aus den Signalen wird ein zweidimensionales Bild mit unterschiedlichen Grautönen erzeugt (Brightness-Bild, vgl. Abb. 17.12), das einem Schnitt durch den Körper im Bereich des Schallstrahles entspricht. Wenn die Schallwellen auf die Oberflächen der Zellen des strömenden Blutes treffen, hat nach dem Doppler-Prinzip der reflektierte Schall eine andere Frequenz als der einfallende Schallstrahl. Diese Frequenzdifferenz wird als Doppler-Verschiebungsfrequenz (DS) bezeichnet. Sie ist der Strömungsge-

kurzen horizontalen Linien an der Unterbrechung der senkrechten Linie). Es werden nur Blutstromlinien erfasst, die innerhalb des „Gate“ liegen. Das Doppler-Profil (Hüllkurve) der fetalen Bauchaorta (unten) weist in der Systole eine Blutstromspitzengeschwindigkeit (PSV = Peak Systolic Velocity) von (–)95 cm/s, in der Diastole eine diastolische Minimalgeschwindigkeit (EDV = End-Diastolic Velocity) von (–)19,9 cm/s und im zeitlichen Mittel (TAP = Time Average Peak) eine Geschwindigkeit von (–)47,5 cm/s auf. Ein Absinken des EDV auf die Nulllinie oder darunter (hier Pluswerte) würde einen retrograden Fluss anzeigen, was ein Zeichen für eine stark verringerte Plazentadurchblutung wäre. In der Aorta des Erwachsenen ist eine retrograde diastolische Strömung hingegen normal (vgl. Abb. 8.23 links, S. 193).

schwindigkeit des Blutes (V in m/s) proportional. Der Zusammenhang wird durch die Doppler-Gleichung beschrieben:

V=

DS  c ½m=sŠ 2  f  cos α

Mit c = 1540 m/s (Schallleitungsgeschwindigkeit im Körper) und einer Ultraschallfrequenz f von einigen Megahertz treten (hörbare) Doppler-Verschiebungsfrequenzen bis zu etwa 8 KHz auf. Der Winkel α (Doppler-Winkel) wird zwischen der Bewegungsrichtung des Blutes und der Richtungslinie des Doppler-Schallstrahles gebildet. Da die Blutströmung in einer Arterie im Herzzyklus schwankt, ändert sich auch die Verschiebungsfrequenz zyklisch, und es entstehen „Doppler-Profile“ (Abb. 17.12 unten), die für einige Gefäßabschnitte und für bestimmte krankhafte Veränderungen im Kreislauf kennzeichnend sind. Die Blutzellen bewegen sich in einem Gefäßquerschnitt in jedem Augenblick mit unterschiedlicher Geschwindigkeit (am schnellsten im Zentrum des Gefäßes), daher entspricht dem Doppler-Profil ein Spektrum von Verschiebungsfrequenzen, dessen „oberer“ Rand (hohe Frequenzen) die Geschwindigkeit der Blutzellen im Zentralstrom wiedergibt. Die obere Begrenzungslinie wird häufig als „Hüllkurve“ des Spektrums verwendet und zur Charakterisierung des Doppler-Profils herangezogen (Abb. 17.12).

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17.7 Physiologie des Fetus Eine besondere Bedeutung erhält das Ultraschall-Doppler-Verfahren dadurch, dass in geeigneten Fällen Stromstärken (ml/min) und damit Organdurchblutungen wie beispielsweise der Plazenta bestimmt werden können. Hierzu wird im B-Bild der Gefäßradius gemessen und daraus die Querschnittsfläche (πr2) abgeleitet. Aus dem Doppler-Spektrum wird die über den Querschnitt und den Herzzyklus gemittelte Strömungsgeschwindigkeit berechnet. Das Produkt aus Querschnittsfläche (cm2) und mittlerer Strömungsgeschwindigkeit ergibt dann die mittlere Stromstärke. Ein weiteres bildgebendes Verfahren, das zunehmend in die Geburtshilfe mit einbezogen wird, ist die Kernspintomographie.

Lunge In der 12. Woche treten die ersten Atembewegungen auf. Sie erlangen bis zur 34. Woche einen typischen periodischen Verlauf, halten 2 – 5 Minuten an und wiederholen sich mehrmals in einer Stunde. Diese Atmung ist sehr flach. Im 7. Monat treten Schnappatmungsbewegungen hinzu, die durch das unreife Atemzentrum ausgelöst werden und mit zunehmender Reife wieder verschwinden. Die Typ-II-Pneumozyten der Alveolarwand beginnen ab der 26. Woche Surfactant (s. S. 267) zu sezernieren. Die Lunge ist im Fetalleben nicht kollabiert, sondern mit Alveolarsekret gefüllt. Dieses Sekret ist Bestandteil des Fruchtwassers und für die reguläre Lungenentwicklung erforderlich (Lungenhypoplasie bei Fruchtwassermangel).

Blut Die ersten Erythrozyten treten in der 4. Woche auf, sie werden zunächst in Mesenchym und Blutgefäßen, später in Leber und Milz und schließlich auch im Knochenmark gebildet. Sie haben ein größeres Volumen als die des Erwachsenen, und bei einer Anzahl von 5 – 6 · 106/µl beträgt die Hämoglobinkonzentration bei der Geburt etwa 160 – 200 g/l Blut. Granulozyten und Lymphozyten treten ab der 8. Woche auf. Die Zahl der Leukozyten bleibt zunächst gering und steigt erst kurz vor der Geburt auf 20 000/µl an. Die Gerinnungsfähigkeit ist noch wenig ausgeprägt, weil die Anzahl der Thrombozyten und die Konzentration der Gerinnungsfaktoren gering sind. Ein besonderes Plasmaprotein ist das in der Leber gebildete „unreife“ α-Fetoprotein. Es wird im Verlauf der Schwangerschaft zunehmend durch Albumin ersetzt, so dass am normalen Geburtstermin nur noch ein Anteil von etwa 1 % übrig ist. α-Fetoprotein kann auch im mütterlichen Blut auftreten, in das es wahrscheinlich durch kleinste Läsionen der Plazenta gelangt. Eine hohe Konzentration dieses Proteins im mütterlichen Blut wird bei Störungen des Verschlusses des fetalen Neuralrohrs gefunden. Der Gehalt des fetalen Blutes an IgG nimmt bis zur Geburt zu und liegt dann sogar über dem des mütterlichen Blutes. Es handelt sich dabei in der Regel um Antikörper der Mutter (S. 573), die über die Plazenta aufgenommen wurden.

Eine Infektion des Feten im Mutterleib (z. B. bei Röteln-Erkrankung der Mutter während der Schwangerschaft) führt dagegen zum Auftreten von IgM-Antikörpern, die nicht über die Plazenta transportiert werden und daher den Fetus nicht schützen können.

Niere Um die 10. Schwangerschaftswoche beginnen die ersten Nephrone zu filtrieren. Ihre Anzahl nimmt bis zur 36. Woche zu, und die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) steigt an. Auch die Filtratmenge des einzelnen Glomerulus nimmt zu, da dessen Ultrafiltrationskoeffizient (S. 336) größer wird und der Blutdruck ansteigt. Trotzdem ist die GFR relativ klein, da die Durchblutung der Nieren mit etwa 2 % des HZV (Erwachsener 25 %) gering bleibt. Die Tubuli können bereits Stoffe aktiv transportieren. Die Resorption entlang des Nephrons ist noch nicht von einer isoosmotischen Wasserreabsorption begleitet. Deshalb wird ein hypotoner, glucose- und eiweißfreier Harn ausgeschieden, der wesentlich zur Fruchtwasserbildung beiträgt. Anlagestörungen der Niere und der harnableitenden Wege äußern sich häufig in einer Verringerung der Fruchtwassermenge (Oligohydramnion). Die Fähigkeit des Nierenmarks zur Harnkonzentrierung entwickelt sich erst in den ersten beiden Lebensmonaten nach der Geburt. Die Beteiligung der fetalen Nieren an der Regulation des Wasser- und Salzhaushalts ist gering, da diese Aufgabe die Plazenta erfüllt.

Magen-Darm-Trakt In der 30. Woche erreicht der Verdauungstrakt den Funktionszustand, wie er bei der Geburt besteht. Die Darmmukosa sezerniert Verdauungsenzyme und resorbiert u. a. auch Proteinmoleküle. Der Darm enthält Mekonium (s. Abschnitt 17.10, S. 586).

Leber Die Leber ist bereits in der 8. Woche stoffwechselaktiv, ihre funktionelle Reife erreicht sie jedoch erst nach der Geburt. Das die Leber versorgende Blut wird überwiegend durch die Nabelvene beiden Leberlappen zugeführt. Dabei wird dem rechten Lappen auch Blut aus der Pfortader beigemischt; die Blutversorgung über die A. hepatica ist gering. Der linke Lappen erhält O2- und nährstoffreicheres Blut als der rechte. Mit der Abnabelung verliert er diese günstige Versorgung, er bildet sich deshalb zurück. Die Leistung der Leber ist nach der Geburt vorübergehend reduziert, bis sich der rechte Lappen vergrößert hat. Die Leber baut Glykogenspeicher auf und trägt maßgeblich zur Eiweißsynthese und zur Anlage von Fettgewebe bei. Das Fett stammt größtenteils aus dem Glucosestoffwechsel. Die Entgiftungs- und Ausscheidungsfunktion der Leber nimmt in der Fetalzeit die Plazenta wahr.

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17 Sexualfunktionen, Schwangerschaft und Geburt

Endokrines System Hormone können mit Ausnahme der Steroidhormone (z. B. Geschlechtshormone) und des Thyroxins (T4) bzw. des Trijodthyronins (T3) die Plazenta nicht in wirksamen Mengen passieren. Das Hormonsystem des Fetus ist deshalb weitgehend von der Mutter isoliert. Die Hypophysenhormone bewirken ab Mitte der Schwangerschaft die Entwicklung der nachgeordneten Drüsen. Da die Neurohypophyse noch unreif ist, wird nur wenig ADH freigesetzt; es hat keinen Einfluss auf den Wasserhaushalt. Das Wachstumshormon scheint nur geringe Wirkung zu haben, da anenzephale Feten, die keine Hypophyse besitzen, zu normaler Größe heranwachsen können.

Insulin und Glucagon treten in der 8. Schwangerschaftswoche auf. Die Inselorgane entwickeln sich schneller als der exokrine Teil des Pankreas; deshalb ist der Anteil von Inselzellen an der Gesamtdrüse wesentlich größer als beim Erwachsenen. Das fetale Insulin hat wahrscheinlich die Funktion eines Wachstumshormons. Rasche regulative Änderungen der Freisetzung fehlen; der Fetus benötigt sie nicht, da sein Glucosespiegel über den der Mutter konstant gehalten wird. Chronische Erhöhung des Glucosespiegels beim Diabetes mellitus der Mutter führt zu höherem fetalen Insulinspiegel. Dieses verursacht nicht nur eine vermehrte Umwandlung von Kohlenhydraten in Fette, sondern auch ein ausgeprägtes fetales Wachstum (Makrosomie) mit möglicher Geburtserschwernis. Die Schilddrüsenhormone (T3, T4) werden bereits in der 10. Woche gebildet. Eine unzureichende fetale Produktion kann teilweise durch mütterliches T3 und T4, die in geringen Mengen die Plazenta passieren, kompensiert werden. Bei vollständigem Fehlen der fetalen Schilddrüse treten jedoch Zeichen des Hormonmangels auf (Kretinismus), die sich bei rechtzeitiger Therapie zurückbilden. Die Nebennieren wachsen bis zur 16. Woche auf Nierengröße heran. Bei der Geburt sind sie im Verhältnis zur Körperoberfläche noch immer 20fach größer als beim Erwachsenen. Das Nebennierenmark kann erst gegen Ende der Schwangerschaft Adrenalin freisetzen (z. B. bei Hypoxie, und unter der Geburt). Die dicke Nebennierenrinde produziert das androgene Steroidhormon Dehydroepiandrosteron (DHEA). In der Plazenta wird DHEA zu Östrogenen umgewandelt, die in das mütterliche Blut gelangen. Im letzten Trimenon wird in der fetalen Nebennierenrinde zunehmend plazentares Progesteron zu Cortisol umgewandelt. Es induziert die Proliferation von Typ-II-Pneumozyten der Alveolarwand der Lunge (S. 266). Sie sind für die Produktion der Phospholipide des Surfactant verantwortlich (s. o.). Cortisol fördert außerdem die Bildung von Leberenzymen. Die Funktion der reifenden Nebennierenrinde wird vom Hypophysenvorderlappen durch Corticotropin (fetales ACTH) stimuliert. Östrogene und Progesteron werden leicht zwischen der Plazenta und dem Blut von Mutter und Fetus ausgetauscht. Im fetalen Plasma sind sie in hoher Konzentration vorhanden. Sie fördern die Proliferation des fetalen Brustdrüsengewebes, so dass bei Neugeborenen die vergrößerten Brustdrüsen mitunter ein wässriges Sekret („Hexenmilch“) absondern.

Genetisch männliche Embryonen entwickeln Hoden, die unter dem Einfluss des hohen HCG-Spiegels Testosteron produzieren (12. – 16. Woche), das zusammen mit dem Anti-Müller-Hormon (AMH), einem Peptidhormon aus den Sertoli-Zellen, die Entwicklung des männlichen Genitales induziert. Wenn der in allen Embryonen angelegte Müller-Gang erhalten bleibt, entwickelt sich ein weiblicher Genitaltrakt. Wenn jedoch dieser Gang durch Testosteron und AMH zurückgebildet wird, entsteht der männliche Genitaltrakt. In den Ovarien genetisch weiblicher Embryonen wird kein Testosteron gebildet, auch der Anti-Müller-Faktor fehlt. Deshalb entwickelt sich bei ihnen das weibliche Genitale.

17.8

Physiologie der Schwangeren

Die Schwangere muss sich mit vielen ihrer Organfunktionen an die wachsende Frucht anpassen. Manche der bekannten Parameter des Kreislaufs, der Atmung, des Stoffwechsels und der Nierenfunktion werden dabei verändert. Außerdem muss die werdende Mutter auf den Geburtsvorgang vorbereitet werden (z. B. Wachstum der Uterusmuskulatur, Auflockerung von Bindegewebe im Beckenbereich). Häufig sind neben dem Ausbleiben der monatlichen Regelblutung Unwohlsein und Erbrechen die ersten Zeichen einer beginnenden Schwangerschaft (Vomitus gravidarum; pathologisch: Hyperemesis gravidarum).

Stoffwechsel Unter dem Einfluss von Progesteron und Östrogenen nimmt die Masse der Uterusmuskulatur von etwa 50 g auf 1000 g zu und die der Brustdrüsen verdoppelt sich. Die Zunahme des Körpergewichts wird erst im 2. Trimenon mit etwa 450 g pro Woche deutlich, am Termin beträgt sie etwa 12 kg. Mit 40 % sind daran Fetus, Plazenta und Fruchtwasser beteiligt. Der Gewichtszuwachs und eine hormonell bedingte Steigerung des Energieumsatzes erhöhen den Energiebedarf der Schwangeren dann um etwa 10 – 20 %. Für die zusätzliche Hämoglobinbildung wird 1 mg Eisen pro Tag benötigt (0,4 mg für den Fetus, 0,6 mg für die Mutter). Ausreichende Zufuhr von Vitamin D wird für die vermehrte Calciumabsorption gebraucht, die dem fetalen Knochenaufbau entsprechen muss.

Herz und Kreislauf Der zusätzliche Blutraum in Plazenta und Uterus erfordert eine Anpassung des Kreislaufs der Mutter. Das Blutvolumen steigt in der zweiten Schwangerschaftshälfte um etwa 30 % an. Das Plasmavolumen nimmt um 40 %, das Erythrozytenvolumen um 20 % zu. Daher sinkt der Hämatokritwert von 40 % auf 33 % und die Hämoglobinkonzentration von 135 g/l auf 115 g/l ab. Das Herzzeitvolumen in Ruhe steigt schon in den ersten 27 Wochen um 30 – 40 % an und bleibt dann bis zur Geburt gleich. Dabei nehmen die Herzfrequenz von 70 auf 85/min und das Schlagvolumen um 10% zu. Der mittlere arterielle Blutdruck fällt im Verlauf der Schwangerschaft zunächst etwas ab und steigt dann bis zur Geburt wieder auf normale Werte an. Der periphere Widerstand ist während der ganzen Schwangerschaft herabgesetzt.

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17.9 Geburt und Milchproduktion (Laktation) Der wachsende Uterus kann Venen im Beckenbereich komprimieren, so dass im Liegen der Venendruck in den Beinen bis auf 25 mm Hg erhöht ist. Dabei können Ödeme der Beine und Varizen (Krampfadern) sowie Hämorrhoiden entstehen. Außerdem kann es bei Rückenlage zu einer Drosselung des venösen Rückstromes zum Herzen mit der Folge eines Blutdruckabfalles und uteriner Minderdurchblutung (Gefährdung des Feten!) kommen (Cava-Kompressions-Syndrom), weshalb hochschwangere Frauen stets seitlich (links) gelagert werden sollten.

Atmung O2-Bedarf und CO2-Produktion steigen bis zur Geburt um etwa 20 % an. Die alveoläre Ventilation nimmt aber überproportional zu, weil der hohe Progesteronspiegel die Empfindlichkeit des Atemzentrums gegenüber dem PCO2 erhöht. Daher nimmt der arterielle PCO2 der Mutter ab (3,7 – 4,8 kPa), was die CO2-Abgabe des Fetus verbessert (S. 572). In der späten Schwangerschaft hemmt der große Uterus die Zwerchfellbewegungen. Deshalb tritt die Brustkorbatmung in den Vordergrund. Die Vitalkapazität ist erst im letzten Monat eingeschränkt.

Niere Die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) nimmt bis zur 32. Woche um 50% zu und bleibt dann bis zur Geburt konstant. Ursache dafür sind eine Zunahme des renalen Plasmaflusses (RPF) infolge des niedrigeren Hämatokrits und ein Anstieg der Filtrationsfraktion infolge der erniedrigten Konzentration der Plasmaproteine. Mit der GFR nimmt auch die Ausscheidung von Kreatinin, Harnsäure und Harnstoff zu, so dass deren Plasmakonzentrationen absinken. Da auch die Clearance für Na+ ansteigt, wird das Renin-Angiotensin-System aktiviert und in der Folge Aldosteron vermehrt freigesetzt, das einem größeren Na+-Verlust entgegenwirkt. Die erhöhten Plasmakonzentrationen von Angiotensin II und Aldosteron können gegen Schwangerschaftsende zu einer pathologischen Retention von NaCl und Wasser führen, so dass Ödeme auftreten; dabei kann sich die Schwangerschaftskrankheit (Gestose) mit Bluthochdruck, Proteinurie und Krämpfen (Eklampsie) entwickeln. 80 % der Schwangeren scheiden mit dem Harn mindestens 100 mg/Tag Glucose aus, weil wegen der erhöhten GFR tubulär mehr Glucose angeboten wird und (aus unbekannten Gründen) die tubuläre Transportkapazität abnimmt. Entsprechendes gilt für Proteine und Aminosäuren, von denen täglich bis zu 2 g ausgeschieden werden können. Diese Ausscheidung bedeutet keinen wesentlichen Verlust an wichtigen Energieträgern, doch gedeihen in diesem Harn Bakterien, so dass die Infektionsgefahr für die Harnwege der Schwangeren erhöht ist.

17.9

Geburt und Milchproduktion (Laktation)

Am Ende der Schwangerschaft muss der Uterus geburtsbereit sein. Dazu gehören seine erhöhte Erregbarkeit, die Fähigkeit zu koordinierter Kontraktion und eine erhöhte Kontraktionskraft. Es ist nicht geklärt, welches Ereignis die Geburt auslöst. Die Uteruskontraktionen bei der Geburt sind schmerzhaft; deshalb nennt man sie Wehen (das „Weh“). Zum Geburtstermin bewirken die Eröffnungswehen die Eröffnung des Geburtskanals, anschließend befördern die Austreibungswehen das Kind auf die Welt. In der Nachgeburtsphase wird die Plazenta geboren. Nach der Geburt setzt die Milchproduktion (Laktation) ein, die, ebenso wie die Ausschüttung der Milch, reflektorisch durch den Stillvorgang gefördert wird.

Geburt Entwicklung der motorischen Uterusaktivität Unter dem zunehmenden Einfluss des fetalen ACTH bzw. Cortisols werden in der Plazenta vermehrt Östrogene gebildet (Abb. 17.13 und Abb. 17.14). Dadurch nehmen der Quotient Östrogen-/Progesteron-Konzentration zu und die von Progesteron zuvor verursachte Hyperpolarisation der Uterusmuskelzellen ab. Östrogene fördern die Synthese von Proteinen, die Gap Junctions (S. 54) zwischen den Muskelzellen bilden, über die Erregungen weitergeleitet werden. Außerdem werden zunehmend Rezeptoren für Oxytocin- und α-adrenerge Hormone gebildet, so dass die Empfindlichkeit des Uterus gegenüber diesen Hormonen ansteigt. Alle diese Veränderungen erhöhen die Erregbarkeit und die koordinierte Aktivität der Muskulatur (Abb. 17.13 und Abb. 17.14). Unter der Östrogeninduktion nehmen die Anzahl der Muskelzellen und deren Gehalt an Actin, Myosin, ATP und Phosphokreatinin zu. Dadurch wird die Kontraktionskraft erhöht. Wachstum und Bewegungen des Fetus dehnen die Uterusmuskulatur. Dies führt zu deren Depolarisation und damit zu Kontraktionen, die den vorangehenden Teil des Fetus (meistens den Kopf) gegen die Zervix drücken. Dadurch werden Dehnungsrezeptoren gereizt, deren Impulse zum Hypothalamus gelangen und die Freisetzung von Oxytocin aus dem Hypophysenhinterlappen verursachen (Ferguson-Reflex; s. a. S. 520 ff.). Oxytocin erregt die Uterusmuskulatur stoßartig, da es durch die Oxytocinase (eine spezifische Peptidase) rasch abgebaut wird. Oxytocin stimuliert außerdem die Synthese von Prostaglandinen, die dann die Muskulatur zusätzlich aktivieren. Prostaglandine werden auch unter dem Einfluss der Östrogene gebildet. Das erklärt, warum auch ohne Oxytocin (bei Frauen mit Unterbrechung der Rückenmarksbahnen [d. h. bei Fehlen des Ferguson-Reflexes] oder mit einer Störung der Neurohypophyse) eine Geburt, wenn auch verzögert, möglich ist. Mithin hat Oxytocin nur unterstützende, aber keine entscheidende Wirkung auf die Uterusmotorik. Von Beginn der Geburtsperiode an steht die Mutter unter erhöhtem Sympathikotonus, der sie an die gewaltige Wehen„arbeit“ (engl. „labour“) anpassen soll (Arbeitsanpassung, Kap. 18).

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579

17 Sexualfunktionen, Schwangerschaft und Geburt

250

150

Uterusaktivität

15

50

mmHg

Progesteron

100

30

–7

–6

–5

–4

20

–3

–2

–1

0

5

10 min

40 20 0

0

10 min

5

Vorwehe

40 20 0

0

40

Eröffnungswehe

60

mmHg

200

20

40

60

0

Östrogene Montevideo-Einheiten (ME)

25

Progesteron (ng/ml)

50

mmHg

Austreibungswehe

Östrogene (ng/ml)

580

0

5

10 min

0 0 Tage (vor der Geburt)

fetales Cortisol mütterliche Prostaglandine

Abb.17.13 Änderungen der Plasmakonzentrationen der Plazentahormone in den letzten Tagen vor der Geburt (s. a. Abb.17.9, S. 574) und Zunahme der motorischen Uterusaktivität. Die Wehenaktivität ist in Montevideo-Einheiten (ME) angegeben (Druckmaximum [mm Hg] der Wehe

Wehen Alle Uterusmuskelzellen können spontan aktiv sein. Wenn die Voraussetzung für die interzelluläre Erregungsleitung (Gap Junctions) geschaffen ist, besitzen diejenigen spontan aktiven Zellen, bei denen die Erregungsschwelle am schnellsten erreicht wird, Schrittmacherfunktion für den gesamten Uterus. Gewöhnlich befindet sich ein Schrittmacherbezirk (Erregungszentrum) im Fundusbereich. Von hier breiten sich die Erregungen und Kontraktionen mit einer Geschwindigkeit von etwa 2 cm/s zur Zervix hin aus. Wenn ein solcher Schrittmacher fehlt, kommt es nur zu unkoordinierten Kontraktionen, die die Geburt nicht fördern können. In der zweiten Schwangerschaftshälfte treten lokal begrenzte Kontraktionen auf. Ab der 35. Woche kontrahieren sich größere Teile des Uterus, da sich die Weiterleitung der Erregungen verbessert hat. Die Kontraktionen verstärken und häufen sich bis zum Geburtstermin. Sie treten dann im Abstand von 10 – 20 Minuten auf, dauern 1 – 2 Minuten und erzeugen einen intrauterinen Druck von bis zu 20 mm Hg (Abb. 17.13). Durch diese Vor- oder Senkwehen wird die Einstellung des „vorangehenden Teils“, gewöhnlich des kindlichen Kopfes, im mütterlichen Beckeneingang begünstigt. Am Geburtstermin, mit Beginn der Eröffnungsperiode, kontrahiert sich der Uterus regelmäßig etwa 3-mal pro 10 Minuten. Durch diese Kontraktionen wird ein intrauteriner Druck von 30 – 50 mm Hg erzeugt und der Kopf des Kindes immer wieder gegen die Zervix gedrückt. Sie wird dabei wie ein Rollkragenpullover über den Kopf

× Anzahl der Wehen in 10 Minuten). Die Darstellungen der Konzentrationen von fetalem Cortisol und von mütterlichen Prostaglandinen im Blut geben Tendenzen wieder und keine exakten Messwerte.

gezogen und der Zervixkanal öffnet sich allmählich (Eröffnungswehen; Abb. 17.13). Die erhöhte Wandspannung und die dadurch verursachte intermittierende Minderdurchblutung des Uterus sowie Dehnung der Zervix und der Gewebe des kleinen Beckens verursachen Schmerzen. Die Eröffnungsperiode dauert bei Erstgebärenden 8 – 12 Stunden; sie ist bei nachfolgenden Geburten kürzer. Wenn der Muttermund vollständig eröffnet ist, beginnt die Austreibungsperiode. Die Dehnung der Zervix führt über sensorische Afferenzen zu weiterer Freisetzung von Oxytocin (Ferguson-Reflex, Abb. 17.14). Die Erregungen aus der Zervix werden auch auf motorische Bahnen umgeschaltet, die die Bauchmuskulatur und das Zwerchfell innervieren, d. h., die Uteruskontraktionen werden durch diese reflektorische Pressmotorik unterstützt (Press- oder Austreibungswehen). Dieser Vorgang kann willkürlich gefördert werden. Wegen der dabei auftretenden Kreislaufeffekte (Valsalva-Manöver, S. 268) können allerdings Blutungen in den Konjunktiven auftreten. Bei den Presswehen werden intrauterine Druckwerte von 40 – 80 mm Hg erreicht. Die Wehenfrequenz steigt auf 4 – 5/10 min an. Die Austreibungsperiode dauert bei Erstgebärenden (Primiparae) etwa 50 Minuten; sie ist bei Mehrgebärenden kürzer.

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17.9 Geburt und Milchproduktion (Laktation)

Uterusmuskulatur

Hypothalamus Hypophyse

Prostaglandinbildung

Oxytocin

mütterliches Blut Östrogene

Östrogene Progesteron

gesteigerte Erregbarkeit

Erregung

Depolarisation

Plazenta spinale Afferenzen

Cortisol

Ausbildung von Gap Junctions

Erregungsleitung

positive Rückkopplung

Rezeptorenbildung

Oxytocin

NNR ACTH Zervixdehnung

erhöhte Kontraktionskraft

Wehe

Hypophyse Zervixdehnung

Abb.17.14 Steuerung der motorischen Uterusaktivität. Der Quotient der Konzentrationen von Östrogenen (Zunahme) und Progesteron (Abnahme) im mütterlichen Blut nimmt zu (Abb.17.13). Diese Änderung führt im Uterus zu gesteigerter Erregbarkeit und Kontraktionskraft sowie zu

erhöhter Prostaglandinbildung und -freisetzung. Auf dieser Basis fördert das durch Zervixdehnung reflektorisch freigesetzte Oxytocin (Ferguson-Reflex) Erregung, Erregungsleitung, Wehen und damit weitere Zervixdehnung. Letzteres vermehrt die Oxytocinfreisetzung (positive Rückkopplung).

Geburtsmechanik Am Ende der Eröffnungsphase reißt die Fruchtblase ein und das Fruchtwasser geht ab (Blasensprung). Üblicherweise tritt der Kopf, der das größte Geburtshindernis darstellt, mit seinem größeren frontookzipitalen Durchmesser (Pfeilnaht) quer gestellt in den querovalen Beckeneingang ein (Abb. 17.15). In Beckenmitte dreht er sich um 908, so dass er mit sagittal gerichteter Pfeilnaht im längsovalen Beckenausgang erscheint. Der Hinterkopf liegt dabei normalerweise der Symphyse an, um die dann der ganze Kopf durch Dorsalflexion gelenkt wird. Der leicht verformbare Schultergürtel und das Becken des Kindes machen nachfolgend dieselben Drehungen durch, wobei sie gegenüber dem Kopf um 908 versetzt sind. Dementsprechend wird das Kind über eine der Symphyse zugewandte Schulter „entwickelt“. Erscheint der Kopf mit dem Gesicht zur Symphyse, ist der Austritt erschwert, da durch das Kinn die dann erforderliche Ventralflexion eingeschränkt ist. Andere Lageeinstellungen, wie z. B. vorangehendes Becken (Beckenendlage, Steißlage), können die Geburt verzögern oder komplizieren; außerdem kann dadurch, dass der Kopf zuletzt durch das Becken tritt, die Nabelschnur komprimiert werden und die O2-Versorgung des Kindes vorübergehend eingeschränkt sein.

Eintrittsposition

Austrittsposition

Durchtrittsposition

Abb.17.15 Drehung und Dorsalflexion des kindlichen Kopfes während der Wanderung durch das mütterliche Becken bei der Geburt. Beim Durchtritt durch den Geburtskanal erfährt das Kind eine Drehung und anschließend eine Dorsalflexion des Kopfes.

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581

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17 Sexualfunktionen, Schwangerschaft und Geburt

Nachgeburtsperiode Mit der Geburt verringert sich der Uterusinhalt um 85 %, er besteht dann noch aus der Plazenta. Die Wehen verursachen bei abnehmender Frequenz und geringerer Dehnung intrauterine Drücke von 250 – 300 mm Hg. Die Kontraktionen sind wenig schmerzhaft, sie bewirken die Verkleinerung der Wandflächen und scheren die Plazenta von der Haftstelle ab. Aus den eröffneten Spiralarterien blutet es. Weitere Kontraktionen komprimieren die Gefäße, die sich dann verschließen. Der Blutverlust beträgt normalerweise bis zu 350 ml. Er kann jedoch bei mangelnder Uteruskontraktion (atonische Nachblutung) innerhalb von Sekunden ein lebensbedrohliches Ausmaß annehmen. Die Plazenta wird 5 – 10 Minuten nach der Geburt des Kindes ausgestoßen. Danach nimmt die Uterusaktivität ab. 12 Stunden lang tritt noch etwa alle 10 Minuten eine Wehe auf. In den folgenden Tagen verliert der Uterus die Fähigkeit zu koordinierter Kontraktion, da die Erregungsleitung infolge des Abbaus der Gap Junctions wieder abnimmt. Die Uterusmasse verringert sich in etwa 4 Wochen nahezu auf das Maß, das sie vor der Schwangerschaft hatte.

Laktation Unter dem Einfluss von Östrogenen, Progesteron, Wachstumshormon, Prolactin, Glucocorticoiden und Insulin hat sich während der Schwangerschaft das alveoläre Gewebe und das Gangsystem der mütterlichen Brustdrüse entwickelt. Vor der Geburt wird die Milchsekretion durch Östrogene und Progesteron gehemmt. Danach wird zunächst in geringen Mengen ein fettarmes Sekret, das Kolostrum („Vormilch“), gebildet. Nach dem Ausfall der Plazentahormone fördert hypophysäres Prolactin die Produktion der Milch, die nach 2 – 5 Tagen in ausreichenden Mengen gebildet wird („Einschießen der Milch“). Wird nicht gestillt, so fällt der Prolactinspiegel rasch ab, und die Milchproduktion wird eingestellt. Für die Erhaltung der Sekretion ist ein neurohormonaler Reflex verantwortlich (Abb. 16.16, S. 526). Die mechanische Reizung der Brustwarzen beim Stillen bewirkt reflektorisch im Hypothalamus eine verminderte Ausschüttung von Dopamin und des (hypothetischen) Prolactin-InhibitingHormons (PIH) (s. a. Abb. 16.23, S. 533), das bei nichtstillenden Frauen die Prolactinbildung und -ausschüttung hemmt. Zusätzlich kommt es wahrscheinlich zur Freisetzung von TRH im Hypothalamus. TRH u. a. Neuropeptide (s. S. 533) fördern die Abgabe von Prolactin aus dem Hypophysenvorderlappen. Bald nach Beendigung des Stillvorgangs fällt der Prolactinspiegel ab. Die mit jedem Stillen um das 10fache erhöhte Konzentration von Prolactin stimuliert die Milchproduktion für das folgende Stillen. Über den gleichen Reflexbogen wird auch Oxytocin freigesetzt, das den Austritt der Milch (Milchejektion) durch Kontraktionen der Milchgänge fördert. Oxytocin bewirkt auch nach der Geburt noch weitere Kontraktionen des Uterus, die die Ausscheidung von Sekret begünstigen, das beim Abbau der Uterusmasse entsteht (Lochien, „Wochenfluss“). Prolactin und Oxytocin hemmen die Freisetzung von GnRH. Deshalb fehlt bei etwa jeder zweiten stillenden Mutter der normale Zyklus;

Stillen gewährleistet jedoch keine sichere Empfängnisverhütung (Kontrazeption). Die Drüsen der Warzenvorhöfe bilden Geruchsstoffe (Pheromone), die dem Säugling die Orientierung zur Brust (Suchreflex) und möglicherweise die Wiedererkennung der Mutter („bonding“) erleichtern.

17.10 Anpassung des Neugeborenen an das extrauterine Leben Mit der Geburt geht die zuvor weitgehend vom mütterlichen Organismus gewährleistete Kontrolle der Homöostase auf den kindlichen Organismus über. Der Beginn der Lungenatmung führt zu einer verbesserten O2-Versorgung und schafft damit die Voraussetzung für energieaufwändige Leistungen wie die autonome Thermoregulation. Die Verdauungs- und Ausscheidungsfunktionen müssen mit dem ansteigenden Energieumsatz Schritt halten, um ein weiteres Wachstum zu ermöglichen. Die Geburt stellt den wohl dramatischsten physiologischen Umstellungsprozess im Laufe des Lebens dar: Mit der Abnabelung geht der Gasaustausch von der Plazenta auf die Lunge über. Dadurch kommt es zu einer verbesserten O2-Versorgung, die nicht nur Veränderungen im Blut bildenden System nach sich zieht, sondern auch den nach der Geburt erfolgenden Anstieg des Energieumsatzes begünstigt. Dieser kommt wiederum der autonomen Thermoregulation zugute, die die passive Thermostatisierung des Feten im Fruchtwasser ablöst und an die geringe Körpergröße des Neugeborenen angepasst ist. Der steigende Energiebedarf wird zunächst aus endogenen Reserven gedeckt, bevor die einsetzende Nahrungsaufnahme ein weiteres Wachstum ermöglicht. Hierzu müssen auch die körpereigenen Verdauungs- und Ausscheidungsfunktionen aktiviert werden. Die Gesamtheit der bei der Geburt ablaufenden Umstellungsvorgänge wird als „perinatale Adaptation“ bezeichnet.

Beginn der Lungenatmung Voraussetzung für einen erfolgreichen Übergang vom diaplazentaren zum pulmonalen Gasaustausch sind zwei Faktoren: zum einen die Belüftung der zuvor mit Flüssigkeit gefüllten Alveolen und zum anderen die Zunahme der Lungendurchblutung durch Absinken des pulmonalen Gefäßwiderstandes. Mit dem Beginn der Lungenatmung ist eine deutliche Verbesserung der O2-Versorgung verbunden.

Belüftung der Alveolen Bei der Geburt wird die Lunge nicht „entfaltet“, sondern die in ihr enthaltene Flüssigkeit wird durch Luft ersetzt. Das pränatal in den Alveolen enthaltene Flüssigkeitsvolumen entspricht etwa der postnatalen funktionellen Residualkapazität (ca. 100 ml bzw. 30 ml/kg). Die Entfernung des Fruchtwassers aus der Lunge beruht auf einer Vielzahl von Mechanismen, die sich gegenseitig ergänzen: Bei der Passage durch den Geburtskanal

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17.10 Anpassung des Neugeborenen an das extrauterine Leben

Nach Kaiserschnittentbindungen kommt es oft zu einer Flüssigkeitsretention in der Lunge („wet lung“), die die Atmung in den ersten Lebensstunden beeinträchtigt („transitorische Tachypnoe“). Ursache hierfür ist weniger die (früher angeschuldigte) fehlende Thoraxkompression als vielmehr die mangelnde Adrenalinausschüttung; sie hat zur Folge, dass der Na+-Ausstrom ungenügend stimuliert wird. Wegen der hohen Oberflächenspannung wäre ein Ersatz des Fruchtwassers durch Luft nicht möglich, wenn sich im Fruchtwasser nicht eine oberflächenaktive Substanz (surface active agent = Surfactant) befände, die eine „Geschirrspülmittel“-ähnliche Wirkung hat und tatsächlich aufgrund der nach der Geburt regelmäßig zu beobachtenden „Schaumentwicklung“ vor den Atemwegen entdeckt wurde. Bei dem in den Pneumozyten Typ II von der 24. Schwangerschaftswoche an produzierten Surfactant handelt es sich um einen Phospholipidfilm mit eingelagerten Proteinen, die nicht nur seine Ausbreitung auf den Alveolarwänden begünstigen, sondern auch wichtige immunmodulatorische Wirkungen aufweisen (vgl. S. 266 f.).

Zunahme der Lungendurchblutung Der pränatal hohe Lungengefäßwiderstand (vgl. S. 574 f.) beruht zumindest teilweise auf den niedrigen O2-Partialdrücken von ca. 3,5 kPa (25 – 30 mm Hg) im fetalen Blut

60

1. Atemzug

40 20 0 60

2. Atemzug

40 20 0 60

Atemzugvolumen (ml)

wird durch die mechanische Thoraxkompression und das anschließende eigenelastische Zurückfedern in Atemmittellage bereits ein Teil der Flüssigkeit gegen Luft ausgetauscht. Von entscheidender Bedeutung sind jedoch die Atembemühungen, die das Neugeborene – ausgelöst durch die Hypoxie und Hyperkapnie bei nachlassender Plazentaperfusion und zusätzlich verstärkt durch den Kältereiz der Geburt – unternimmt: Durch eine tiefe Inspiration mit anschließender Exspiration gegen die geschlossene Stimmritze wird zunächst weitere Luft in die Atemwege gesaugt und dann ein intrapulmonaler Druck von 40 cmH2O aufgebaut (Abb. 17.16), durch den ein großer Teil des Fruchtwassers durch die Alveolarwände in das Lungeninterstitium gepresst wird. Unterstützt wird die Flüssigkeitsresorption durch aktiven Na+-Transport aus den Alveolen ins Blut. Die Triebkraft für diesen transzellulären Transport wird durch Na+-K+-ATPasen in der basolateralen (der Alveole abgewandten) Pneumozytenmembran aufgebaut, während die in der apikalen (der Alveole zugewandten) Pneumozytenmembran gelegenen Na+-Kanäle durch die physiologische Adrenalinausschüttung während der Geburt aktiviert werden. Dieser Na+Transport wird von einem osmotisch bedingten Wasserausstrom begleitet, der offenbar durch Aquaporine vermittelt ist. Die weitere Entfernung der Flüssigkeit aus dem Lungeninterstitium erfolgt dann teils auf dem Blut-, teils auf dem Lymphweg, wobei der mit abnehmendem pulmonalem Gefäßwiderstand absinkende hydrostatische Kapillardruck die Reabsorption fördert und der infolge der Kreislaufumstellung verringerte zentralvenöse Druck den Lymphabfluss in das zentrale Venensystem erleichtert (vgl. S. 195 ff.).

3. Atemzug

40 20 0 60

nach 45 s

40 20 0 60

nach 40 min

40 20 0 +40

+20

0

–20

–40

–60

Druck im Interpleuralspalt (cm H2O)

Abb.17.16 Pleuradruck und Atemzugvolumen bei den ersten Atemzügen des Neugeborenen. Die blaue Fläche entspricht der Ventilationsarbeit, die zunächst sehr groß ist, dann rasch abnimmt und erst nach 40 Minuten konstante Werte erreicht. Beachte die relativ große Atemarbeit des ersten Atemzugs (nach 22).

und damit auf der auch vom Erwachsenen bekannten „hypoxischen pulmonalen Vasokonstriktion“ (HPV; vgl. S. 274 ff.). Mit der Belüftung der Alveolen und dem resultierenden Anstieg des Sauerstoffangebotes wird eine pulmonale Vasodilatation ausgelöst, die zu einer entsprechenden Zunahme der Lungendurchblutung führt. Ursächlich hierfür scheint die Öffnung O2-abhängiger K+-Kanäle zu sein, die indirekt (über die resultierende Membranhyperpolarisation und Schließung spannungsabhängiger Ca2+-Kanäle) zu einer Verminderung der Ca2+-Konzentration in den glatten Gefäßmuskelzellen führt; dieser Effekt wird durch verminderte Freisetzung von (vasokonstriktorisch wirksamem) Endothelin bei gleichzeitig vermehrter Bildung von (vasodilatatorischem) Prostazyklin und Stickstoffmonoxid (NO) in den Endothelzellen unterstützt (Abb. 17.17).

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17 Sexualfunktionen, Schwangerschaft und Geburt Mit dem Absinken des Lungengefäßwiderstandes wird nicht nur die Lungendurchblutung, sondern auch der pulmonalvenöse Rückstrom in die linke Herzhälfte gesteigert, die nach Durchtrennung der Nabelarterien das Blut gegen einen erhöhten peripheren Gefäßwiderstand auswerfen muss. Dadurch kommt es zu einem Druckanstieg im linken Vorhof, dem – bedingt durch den abgesunkenen Lungengefäßwiderstand und den nach Abklemmung der Nabelvene vorübergehend verminderten venösen Rückstrom – ein Druckabfall im rechten Vorhof gegenübersteht. Hierdurch wird der funktionelle Verschluss des Foramen ovale und damit die Kreislauftrennung eingeleitet. Der Ductus arteriosus Botalli, über den im fetalen Kreislauf das Blut an der Lunge vorbei in die untere Körperhälfte geleitet wurde, wird nun aufgrund der geänderten Druckverhältnisse (Druckanstieg in der Aorta, Druckabfall in der Arteria pulmonalis) „von links nach rechts“ durchblutet, bis er sich zunächst funktionell und innerhalb einiger Wochen schließlich bindegewebig verschließt. Maßgeblich hierfür ist der nach Beginn der Lungenatmung deutlich gesteigerte O2-Partialdruck im arterialisierten Blut, der ebenfalls über einen O2-sensitiven K+-Kanal, jedoch mit umgekehrtem Vorzeichen wie in der Lungenstrombahn, zu einer Vasokonstriktion führt;

A pränatal

Wenn durch eine schwere Störung der Lungenbelüftung mit Hypoxie (z. B. bei Infektionen) der pulmonale Widerstandsabfall ausbleibt, wird der Ductus arteriosus weiter „von rechts nach links“ perfundiert, so dass, wie im Fetalleben, die untere Körperhälfte eine geringere O2-Sättigung aufweist als die obere. Bei dieser „persistierenden fetalen Circulation“ (PFCSyndrom) kann eine Beatmung mit Stickstoffmonoxid (NO) eingesetzt werden, um den pulmonalen Gefäßwiderstand abzusenken. Beim persistierenden Ductus arteriosus (PDA) dagegen besteht wegen eines ausbleibenden Spontanverschlusses ein anhaltender Links-Rechts-Shunt, der einerseits zu einer Lungenüberflutung und andererseits – wegen des „Lecks im Windkessel“ – zu einer Minderperfusion der unteren Körperhälfte führt. Hier kann durch eine medikamentöse Therapie mit Prostaglandinsynthese-Inhibitoren (z. B. Indometacin) ein Verschluss induziert und damit ein chirurgischer Eingriff vermieden werden. Bei be-

B perinatale Umstellung PO

Alveolarflüssigkeit

PO

begünstigt wird der Ductus-Verschluss durch eine sinkende Konzentration von Prostaglandin E2, vor allem aber durch eine abnehmende Empfindlichkeit gegenüber diesem Hormon, welches intrauterin für das Offenbleiben des Ductus arteriosus verantwortlich war.

2

K+-Ausstrom steigt

Ca2+-Einstrom sinkt

Membranhyperpolarisation

5‘GMP

2

5‘AMP PDE

PDE

PVR

GTP

[Ca2+]i

cGMP sGC

glatte Gefäßmuskelzelle

cAMP

ETA-R

C postnatal ATP

Vasodilatation

AC

PVR

Prostazyklin

Luft

ET-1 Endothelzellen

NO NOS

PVR =Pulmonary Vascular Resistance

ECE Pro-ET-1

L-Arginin PO

2

COX

PO

2

Abb.17.17 Perinatale Umstellung der Lungendurchblutung. A Pränatal enthalten die Lungenbläschen fetale Alveolarflüssigkeit, der O2-Partialdruck ist niedrig, und der Lungengefäßwiderstand (PVR) hoch. B Der perinatalen Umstellung liegen eine Reihe O2-abhängiger Reaktionen in den Arteriolen zugrunde (rote Pfeile): Im pulmonalen Gefäßendothel werden vermehrt Prostazyklin und Stickstoffmonoxid (NO) freigesetzt (COX = Cyclooxygenase, NOS = NO-Synthase), die in der glatten Gefäßmuskulatur über eine membranständige Adenylylcyclase (AC) bzw. über eine lösliche Guanylylcyclase (sGC) zur Umwandlung von ATP in cAMP bzw. von GTP in cGMP und dadurch zur Absenkung der zytosolischen Ca2+-Konzentration, [Ca2+]i, führen. (Sowohl cAMP als auch cGMP werden über Phosphodiesterasen, PDE, abgebaut.)

PO

2

Arachidonsäure PO

2

Zugleich vermindert sich die Bildung des aus einer Vorstufe entstehenden Endothelin-1 (ET-1, ECE = endothelin converting enzyme), welches beim Feten über EndothelinA-Rezeptoren (ETA-R) die [Ca2+]i erhöht hatte. Darüber hinaus bewirkt der PO2-Anstieg die vermehrte Öffnung eines O2-sensitiven, auswärts gleichrichtenden K+-Kanals in der GefäßmuskelZellmembran, und die daraus resultierende Membranhyperpolarisation vermindert den Ca2+-Einstrom in die Zelle über spannungsabhängige Ca2+-Kanäle. All diese Reaktionen senken also [Ca2+]i, was schließlich zur Vasodilatation führt. C Postnatal sind die Alveolen mit Luft gefüllt, der PO2 ist angestiegen, der PVR ist abgefallen, und die Lungendurchblutung ist erhöht.

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17.10 Anpassung des Neugeborenen an das extrauterine Leben stimmten Herzfehlern wiederum kann der spontane Verschluss des Ductus arteriosus die Durchblutung der Lunge oder des Körpers gefährden; in diesen Fällen wird Prostaglandin E2 infundiert, um den Ductus offen zu halten.

Umstellung der Sauerstoffversorgung Mit dem Beginn der Lungenatmung kommt es zu einem Anstieg des arteriellen O2-Partialdruckes von ca. 3,5 kPa (25 – 30 mm Hg) auf ca. 11 kPa (80 – 100 mm Hg) und der O2-Sättigung von ca. 70% auf ca. 95 % im arterialisierten Blut. Damit werden die Linksverschiebung der O2-Bindungskurve (zur Erleichterung des Sauerstoffübertritts in der Plazenta) und der erhöhte Hämoglobingehalt (zur Kompensation der erniedrigten Sättigung im fetalen Blut) entbehrlich (vgl. S. 572). Tatsächlich sinkt der Hämoglobingehalt von 16 – 20 g/dl bei Geburt auf 10 – 12 g/dl im dritten Lebensmonat ab („Trimenon-Reduktion“). Erst dann kommt – erkennbar an dem Anstieg der Retikulozytenzahlen im peripheren Blut – die Erythropoese wieder in Gang, wobei das zur Neusynthese von Hämoglobin erforderliche Eisen aus den im letzten Schwangerschaftsdrittel angelegten Reserven stammt („Eisen-Mitgift“). Mit der einsetzenden Neusynthese wird zudem bis zum Ende des ersten Lebenshalbjahres das fetale (HbF) weitgehend durch adultes Hämoglobin (HbA, mit geringerer O2-Affinität) ersetzt. Durch Störungen im Geburtsverlauf (z. B. vorzeitige Plazentalösung, Nabelschnurumschlingung) oder in der Kreislaufumstellung kann es zu einem vorübergehenden Sauerstoffmangel (perinatale Asphyxie) kommen. In Anpassung an dieses Risiko verfügen Neugeborene über eine gesteigerte Hypoxietoleranz, die unter anderem auf der Fähigkeit beruht, auf eine Mangelsituation – anders als Erwachsene – nicht mit einer energieaufwändigen Gegenregulation, sondern mit einer „Sparschaltung“ (Verlangsamung der Herzfrequenz, Beschränkung der Durchblutung auf die lebenswichtigen Organe, Unterdrückung der Kältegegenregulation) zu reagieren. Wird diese Reaktion ausgelöst, ist dennoch sofortiges Eingreifen gefordert, anderenfalls drohen lebenslange, durch Sauerstoffmangel und Minderdurchblutung bedingte Hirnschäden (hypoxisch-ischämische Enzephalopathie).

Aktivierung der Thermoregulation Die fetale Körpertemperatur liegt um 0,3 bis 0,5 8C über der mütterlichen Kerntemperatur und beträgt damit 37,5 – 38,0 8C. Während der Fetus sich poikilotherm verhält und passiv der Temperatur der Mutter folgt (bei Fieber der Mutter kommt es zu einer Beschleunigung der fetalen Herzfrequenz), wird mit der Geburt vermutlich durch entfallende humorale Suppressionsfaktoren im Zusammenwirken mit dem ansteigenden Sauerstoffangebot die autonome Thermoregulation „eingeschaltet“. Innerhalb der ersten Lebenstage kommt es zu einem Anstieg des neonatalen Energieumsatzes auf das 2 – 2,5fache des adulten Niveaus und damit auf einen der Körpergröße angemessenen Wert: Entsprechend ihres größeren Ober-

fläche/Volumen-Verhältnisses sind reife Neugeborene mit einer „stärkeren Heizung“ ausgestattet. Darüber hinaus verfügen sie über eine wirksame Möglichkeit, die mit absinkenden Umgebungstemperaturen weiter ansteigenden Wärmeverluste zu kompensieren. Dies geschieht im Unterschied zu Erwachsenen nicht durch Kältezittern, sondern durch chemische Wärmebildung im braunen Fettgewebe, welches sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu großen Gefäßen (im Mediastinum und Retroperitoneum sowie in den Axillae und zwischen den Scapulae) befindet und noradrenerg stimuliert wird. Die „zitterfreie Thermogenese“ ist jedoch mit einem steilen Anstieg des Sauerstoffverbrauches verbunden und erreicht ihr Maximum bereits bei Raumtemperaturen, die von Erwachsenen noch als angenehm empfunden werden. Daher ist die Thermoregulationsfähigkeit bei Neugeborenen zwar vorhanden, ihre Thermoregulationsbreite aber stark eingeschränkt (vgl. S. 503 f.). Während der vorübergehende Kältereiz der Geburt einen Beitrag zur Stimulation des Atemantriebs leistet, führt ein unbeabsichtigtes Absinken der Körperkerntemperatur (Hypothermie) wegen der verschlechterten Haut- und Lungendurchblutung bei gleichzeitig gesteigerter Stoffwechselrate zu Gewebshypoxie und metabolischer Azidose. Bei vorbestehendem Sauerstoffmangel und/oder medikamentöser Unterdrückung kann die Kältegegenregulation auch ausbleiben, so dass die Abkühlung dann eine direkte Stoffwechseldrosselung verursacht und einen gewissen Schutz vor hypoxischen Hirnschäden bietet. Wegen überwiegender Risiken gilt jedoch die Vermeidung einer Hypothermie als essenziell in der Betreuung von Neugeborenen. Hierzu kommen je nach den Umständen beheizte Unterlagen, Infrarotstrahler oder Inkubatoren („Brutkästen“) mit befeuchteter Warmluft zum Einsatz.

Umstellung der Stoffwechselfunktionen Mit dem Fortfall der Plazenta muss die neu einsetzende Nahrungsaufnahme zunächst den ansteigenden Energiebedarf „überholen“, um ein weiteres Wachstum zu ermöglichen. Gleichzeitig müssen die zuvor von der Mutter gewährleisteten Ausscheidungsfunktionen vom neonatalen Organismus selber übernommen werden.

Substratzufuhr und Wachstum Nach der Geburt wird der Glucosebedarf zunächst durch Mobilisierung der Glykogenreserven in der Leber gedeckt, welche durch die physiologische Adrenalinausschüttung unter der Geburt begünstigt wird; erst danach findet bis zur ausreichenden Verfügbarkeit von Muttermilch eine vorwiegende Fettverbrennung statt. Besteht ein relativer Hyperinsulinismus, weil die Mutter während der Schwangerschaft zu hohe Blutzuckerspiegel hatte (Gestationsdiabetes) und der Fetus dadurch einem Überangebot an Glucose ausgesetzt war, so kann diese Umschaltung gestört sein. Daher sind besonders gut gediehene (makrosome) Neugebo-

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17 Sexualfunktionen, Schwangerschaft und Geburt rene paradoxerweise ebenso von einer postnatalen Unterzuckerung bedroht wie mangelernährte oder unreife. Im Alter von einer Woche ist die Trinkmenge im Allgemeinen hoch genug (ca. 150 ml/kg pro Tag), um nicht nur den erhöhten Energiebedarf zu decken, sondern auch ein weiteres Wachstum zu ermöglichen. Menschliche Muttermilch unterscheidet sich von Kuhmilch – bei annähernd gleichem Energiegehalt (um 70 kcal bzw. 300 kJ pro 100 ml) – vor allem durch einen höheren Fettund Kohlenhydrat- sowie einen niedrigeren Proteingehalt (vgl. S. 453 f.). Außerdem bestehen Besonderheiten in der chemischen Zusammensetzung der Eiweiße und Fette, die in modernen Säuglingsnahrungen teilweise imitiert werden. Anders als Säuglingsnahrungen enthält Muttermilch jedoch eine Reihe von unspezifischen (Lysozym, Makrophagen) und spezifischen (sekretorisches IgA) Schutzfaktoren, die zusätzlich die Infektabwehr des gestillten Säuglings unterstützen. Mit einer Gesamtenergiezufuhr von ≥ 420 kJ/kg (100 kcal/kg) wird in den ersten Lebenswochen ein Gewichtszuwachs von 25 – 30 g pro Tag erzielt. Voraussetzung für ein gutes Gedeihen und insbesondere für eine ungestörte Hirnentwicklung ist neben der ausreichenden Energiezufuhr auch eine regelrechte Funktion der Schilddrüse, die bei der Geburt, bedingt durch einen steilen Anstieg des TSH-Spiegels, erstmals kräftig stimuliert wird und einen Großteil des pränatal in den Follikeln eingespeicherten Kolloids freisetzt (vgl. S. 544 ff.). Falls nicht genügend funktionsfähiges Schilddrüsengewebe vorhanden ist (konnatale Hypothyreose), bleibt der TSH-Spiegel wegen fehlender negativer Rückkoppelung auch nach der Geburt erhöht. Dadurch kann eine angeborene Schilddrüsenunterfunktion frühzeitig erkannt werden (sog. TSH-Screening). Wird nicht innerhalb des ersten Lebensmonates mit einer ThyroxinSubstitution begonnen, ist mit bleibenden geistigen Behinderungen zu rechnen.

Ausscheidungsfunktionen und Wasserbilanz Ausdruck der einsetzenden Darmtätigkeit ist die Entleerung des Mekoniums (wegen seiner grünschwarzen Färbung und teerartigen Konsistenz auch „Kindspech“ genannt), welches aus verschluckten Schwebeteilchen des Fruchtwassers, abgeschilferten Darmschleimhautzellen und eingedickten Verdauungssekreten besteht und sich während der intrauterinen Entwicklung im terminalen Ileum und Dickdarm ansammelt. Wird das Mekonium – z. B. bei vermehrtem Geburtsstress – bereits intrauterin abgesetzt, kommt es zu einer Grünfärbung des Fruchtwassers mit der Gefahr einer aspirationsbedingten chemischen Lungenentzündung (Mekoniumaspirationssyndrom). Eine ausbleibende Entleerung mit mechanischem Darmverschluss (Mekoniumileus) kann das erste Symptom einer erhöhten Viskosität der Verdauungssekrete bei der Mukoviszidose (Cystic fibrosis; S. 441 f.) sein.

Bedingt durch die verkürzte Lebensdauer fetaler Erythrozyten (80 – 100 Tage im Gegensatz zu 120 Tagen bei adulten Erythrozyten) kommt es nach der Geburt zu einem vermehrten Anfall von wasserunlöslichem („indirektem“) Bilirubin, welches, an Albumin gebunden, zur Leber transportiert wird. Wegen der Unreife der Bilirubin-Diglucuronidase, die für die Umwandlung in wasserlösliches („direktes“) Bilirubin vor dessen Ausscheidung in die Galle verantwortlich ist, entwickelt sich bei der Mehrzahl der Neugeborenen ein vorübergehender „Rückstau“ mit der Folge einer Gelbsucht (physiologischer Neugeborenen-Ikterus). Die Bilirubinspiegel können dabei auf Werte um 270 µmol/l (16 mg/dl) ansteigen (oberer Normwert des Erwachsenen 20 µmol/l = 1,2 mg/dl; s. a. S. 472). Bei gesteigertem Zerfall von Erythrozyten (Hämolyse, z. B. infolge Rhesus-Blutgruppenunverträglichkeit zwischen Mutter und Kind) oder vermehrter Unreife der Leber (Frühgeburt) kommt es zu einer Hyperbilirubinämie, die durch Ablagerung von Bilirubin in den Basalganglien des Gehirns (sog. Kernikterus) zu bleibenden zerebralen Schäden führen kann. Um dies zu verhindern, wird durch Bestrahlung mit blauem Licht (Phototherapie) eine Aufspaltung des Bilirubins in wasserlösliche Bestandteile bewirkt, die dann über die Niere ausgeschieden werden können. Bis zum Einsetzen einer ausreichenden mütterlichen Milchproduktion nimmt in den ersten Lebenstagen das Körpergewicht des Neugeborenen um bis zu 10% des Geburtsgewichtes ab. Hierbei handelt es sich vorwiegend um Wasserverluste, die zu einer „Einengung“ des extrazellulären Volumens führen. Auch danach ist der Wasseranteil am Körpergewicht mit ca. 80% noch deutlich höher als beim Erwachsenen mit ca. 60%; bei einem Körpergewicht von 3,5 kg sind das etwa 2,8 l, wovon sich im intrazellulären und im extrazellulären Raum je etwa 1,4 l befinden (vgl. S. 378 f.). Das neonatale Blutvolumen beträgt 8 – 10% des Körpergewichtes bzw. rund 300 ml. Bei einer durchschnittlichen Trinkmenge um 150 ml/kg (s. o.) entspricht der tägliche Wasserumsatz eines Neugeborenen 10 – 20% des Körpergewichtes (umgerechnet auf einen Erwachsenen würde dies einer Wasseraufnahme von 10 Litern entsprechen!). Das Urinkonzentrationsvermögen ist nur etwa halb so groß wie bei Erwachsenen, was Neugeborene und Säuglinge anfälliger gegenüber Wasserverlusten macht.

Besonderheiten bei Frühgeborenen Kinder, die vor der vollendeten 37. Schwangerschaftswoche (post menstruationem) geboren werden, werden als Frühgeborene bezeichnet. Die unterste „Grenze der Lebensfähigkeit“ liegt gegenwärtig bei 23 – 24 Schwangerschaftswochen, entsprechend einem Geburtsgewicht von 400 – 500 g. Zu diesem Zeitpunkt geht die Lungenentwicklung von dem „kanalikulären“ in das „sakkuläre“ Stadium über, so dass Vorstufen von Alveolen entstehen. Dennoch ist die Lungenbelüftung durch die ungenügende Surfactant-Produktion erschwert, weshalb sich ein Atemnotsyndrom (Respira-

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Literatur tory Distress Syndrome, RDS; früher auch „Hyaline Membranen-Syndrom“ genannt) entwickelt. Dieses kann durch pränatale Corticosteroidgabe an die Mutter („Lungenreifungsbehandlung“), postnatale Substitution von tierischen Surfactant-Präparaten und maschinelle Beatmung behandelt werden. Problematischer sind die im Endstromgebiet der Aa. thalamostriatae entstehenden Hirnblutungen (intraventrikuläre Hämorrhagien, IVH), die je nach Ausbreitung entweder zu einer Erweiterung der inneren Liquorräume (posthämorrhagischer Hydrozephalus) oder zu einer Schädigung der Pyramidenbahnen mit nachfolgenden Lähmungen (spastische Zerebralparese, CP) führen können. Einen bedeutenden Risikofaktor hierfür bildet auch die Hypothermie, die durch das besonders ungünstige Oberfläche/Volumen-Verhältnis, den Mangel an isolierendem weißem und wärmebildendem braunem Fettgewebe, die vermehrten evaporativen Wärmeverluste über die unreife Haut und den verzögerten postnatalen Stoffwechselanstieg begünstigt wird. Daher kommt der Wärmetherapie (Erstversorgung unter Wärmestrahlern, Pflege in Inkubatoren) bei Frühgeborenen eine entscheidende Rolle zu. Wegen der mangelnden Aktivität der Bilirubin-Diglucuronidase in der Leber entwickelt sich regelmäßig eine Hyperbilirubinämie (S. 586). Auch ist das Infektionsrisiko deutlich erhöht, weil – neben der Unreife der Blutbildung – der Übertritt von IgG-Antikörpern von der Mutter auf das Kind bei der zu frühen Geburt noch nicht abgeschlossen war. Im Verlauf bildet sich oft ein persistierender Ductus arteriosus (PDA) aus, der medikamentös oder operativ verschlossen werden muss (S. 584 f.). Bedingt durch die noch bestehende Anpassung des Atemzentrums an das Leben im Mutterleib tritt außerdem ein Apnoe-Bradykardie-Syndrom auf („Aussetzer“ der Atmung mit begleitender Verlangsamung der Herzfrequenz, die durch „Stimulation“ durchbrochen werden können). Wenngleich die früher beschriebene „retrolentale Fibroplasie“ dank der Vermeidung toxischer Sauerstoffkonzentrationen in der Atemluft praktisch nicht mehr vorkommt, kann die allein unreifebedingte, mit Vaskularisationsstörungen einhergehende Frühgeborenenretinopathie (Retinopathy of Prematurity, ROP) dennoch zur Netzhautablösung und Erblindung führen. Während von solchen ernsten Komplikationen vor allem Frühgeborene vor der 30. Schwangerschaftswoche (Geburtsgewicht < 1500 g, very low birth weight, VLBW) bedroht sind, steht später (Geburtsgewicht 1500 – 2500 g, low birth weight, LBW) der Mangel an Reserven, die sonst im letzten Schwangerschaftsdrittel angelegt worden wären, im Vordergrund (mangelnde Glykogen-Speicher, mangelnde Fettdepots, mangelnde Eisen-Mitgift). Generell gilt jedoch, dass die Probleme der Frühgeburtlichkeit nicht nur vom Grad der Unreife, sondern auch von den Umständen abhängen, die zur Frühgeburt geführt haben und die die Frühgeborenen zusätzlich „mitbringen“ (z. B. Infektionen, intrauterine Mangelernährung etc.).

Zum Weiterlesen … 1 Baird DT. The Ovarian Cycle. In: Hillier SG (ed.): Ovarian Endocrinology. Oxford: Blackwell Scientific Publications; 1991: 1 – 24 2 Begley DJ, Firth JA, Hoult JRS. Human Reproduction and Developmental Biology. London: Macmillan; 1980 3 Blackburn ST. Maternal, Fetal, and Neonatal Physiology: A Clinical Perspective. 2nd ed. St. Louis: Saunders; 2003 4 Braendle W. Regulation der Ovarialfunktion. In: Diedrich K (ed.): Endokrinologie und Reproduktionsmedizin I. 4. Aufl. München: Urban und Fischer; 2001 5 Gougeon A. Regulation of ovarian follicular development in primates: facts and hypotheses. Endocrine Reviews. 1996; 17: 121 – 155 6 Gnuth SM. The endocrine system. The reproductive glands. In: Berne RM, Levy MN, Koeppen BM, Stanton BA (eds.). Physiology. 4th ed. St. Louis: Mosby; 1998: 965 – 1013 7 Guyton AC. Reproductive and Hormonal Functions of the Male – Female Physiology Before Pregnancy and the Female Hormones – Pregnancy and Lactation – Fetal and Neonatal Physiology. Textbook of Medical Physiology. 8th ed. Philadelphia: Saunders; 1991: 885 – 936 8 Harding R, Bocking AD (eds.) Fetal growth and development. Cambridge, UK: Cambridge University Press; 2001 9 Hinrichsen KV (Hrsg.) Human-Embryologie. Berlin: Springer-Verlag; 1990 10 Holstein AF, Roosen-Runge EC. Atlas of Human Spermatogenesis. Berlin: Grosse; 1981 11 Käser O, Friedberg V, Ober KG, Thomsen K, Zander J (Hrsg.). Gynäkologie und Geburtshilfe. Stuttgart: Thieme; 1981 12 Knobil E, Neill JD (eds). The Physiology of Reproduction. 2nd ed. 2 Vols. New York: Raven Press; 1994 13 Krebs D (Hrsg.). Reproduktions-Störungen in der Frühgravidität. München: Urban & Schwarzenberg; 1985 14 Labhard A (ed.). Clinical Endocrinology. Berlin: Springer; 1986 15 Moll W. Physiologie der Plazenta. In: Becker V, Schiebler TH, Kubli F. Die Plazenta des Menschen. Stuttgart: Thieme; 1981: 129 – 198 16 Polin RA, Fox WW, Abman SH (eds.) Fetal and Neonatal Physiology. 3rd ed., 2 Vols. Philadelphia: Saunders; 2003 17 Yeh J, Adashi EY. The ovarian life cycle. In: Yen SSC, Jaffe RB, Barbieri RL (eds.): Reproductive Endocrinology. Physiology, Pathophysiology and Clinical Management. 4th ed. Philadelphia: WB Saunders; 1999: 153 – 190 18 Yen SSC. The human menstrual cycle: Neuroendocrine regulation. In: Yen SSC, Jaffe RB, Barbieri RL (eds.): Reproductive Endocrinology. Physiology, Pathophysiology and Clinical Management. 4th ed. Philadelphia: WB Saunders; 1999: 191 – 217

… und noch weiter 19 Moffet A, Loke YW. The immunological paradox of pregnancy: A Reappraisal. Placenta. 2004; 25: 1 – 8 20 Schröder HJ. Comparative aspects of placental exchange functions. Eur J Obstet Gynecol Reprod Biol. 1995; 63: 81 – 90 21 Singer D. Neonatal tolerance to hypoxia: a comparativephysiological approach. Comp Biochem Physiol A. 1999; 123: 221 – 234 22 Smith CA. The first breath. Sci Amer. 1963; 209: 27 – 35

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17 Sexualfunktionen, Schwangerschaft und Geburt

Danksagungen Für die Hilfe bei der grafischen Entwicklung danken wir Herrn Ralf Christel. Herrn Prof. Dr. A. Bleichert und Herrn Prof. Dr. W. Braendle sind wir für wertvolle Anregungen und kritische Begleitung dankbar.

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Leistungsphysiologie K. Kirsch, H.-C. Gunga

18.1 Der Muskelapparat

· ·· 590 Arbeit – Leistung – Belastung – Beanspruchung – Talent ··· 590 Die Muskulatur ist das größte Körperorgan des Menschen · · · 590 Die Muskelfasertypen entscheiden über die Leistung · · · 591 Wie wird die körperliche Leistungsfähigkeit gemessen? ··· 591 Energiequellen und Energiespeicher der Muskelmaschine · · · 592 Bei anaerober Muskelarbeit entstehen Lactat und H+-Ionen · ·· 593 Warum ist die Lactatanhäufung schädlich? ··· 595

18.3 Leistung und Ausdauer

· ·· 603 Leistungstests · ·· 603 Training steigert und erhält die körperliche Leistungsfähigkeit · ·· 605 Die Ermüdung ist die notwendige Begleiterin körperlicher Arbeit · · · 607 Erholung ··· 608

18.2 Der Sauerstofftransport

· · · 595 Die tätige Muskulatur braucht Sauerstoff · ·· 595 Das sauerstofftransportierende System ··· 596 Atmung · · · 597 Der zentrale Kreislauf · · · 598 Die Herzfrequenz: die am einfachsten zu bestimmende Größe · ·· 598 Schlagvolumen ··· 599 Herzzeitvolumen ··· 599 Arterieller Blutdruck · · · 599 Arteriovenöse Sauerstoffdifferenz · ·· 600 Muskeldurchblutung ··· 600 Die Kreislaufregulation bei Arbeit · · · 601 Die maximale Sauerstoffaufnahme: ein Maß für die körperliche Leistungsfähigkeit · ·· 602 Hoher Sauerstoffverbrauch bedeutet oxidativen Stress · · · 603

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18 Leistungsphysiologie

18.1

Der Muskelapparat

Der Muskelapparat des Menschen ist, als Ganzes gesehen, das größte Organsystem. Er macht 36 – 44 % des Körpergewichts aus und unterliegt trainings-, geschlechts- und altersbedingten Veränderungen. Mit Hilfe der Ergometrie wird die menschliche Leistungsfähigkeit quantitativ erfasst, indem der physikalischen Leistung ein biologisches Äquivalent gegenübergestellt wird. Die Muskelzellen verfügen über drei verschiedene Energiequellen, die energiereichen Phosphate, das Glykogen und die Fette, die, je nach Dauer der Leistung nacheinander mobilisiert, chemische in mechanische Energie umwandeln. Der Wirkungsgrad der Muskulatur liegt etwa bei 25 %. Vom Beginn der Arbeit an bis hin zur 30. Sekunde können die chemischen Prozesse in der Muskulatur weitgehend ohne Zufuhr von Sauerstoff ablaufen (anaerobe Leistung); danach ist die Zufuhr von Sauerstoff (aerobe Leistung) notwendig.

Arbeit – Leistung – Belastung – Beanspruchung – Talent Physikalisch sind Arbeit und Leistung folgendermaßen definiert (s. a. S. 864): Arbeit (J) = Kraft (N) · Weg (m), Leistung (W = J/s) = Arbeit (J) pro Zeiteinheit (s). Das Verhältnis von erbrachter Leistung (W) zu der dafür aufgebrachten Energie/Zeit (J · s–1) ist der Wirkungsgrad η. Der Begriff Arbeit in der Physiologie bedarf einer etwas detaillierteren Erläuterung. Geht eine Muskelanspannung mit einer Längenänderung einher und ist sie von einer Erschlaffung gefolgt, liegt dynamische Arbeit vor. Fortgesetzte dynamische Arbeit besteht aus dem Wechsel zahlreicher Kontraktions- und Erschlaffungsphasen. Positive dynamische Arbeit liegt dann vor, wenn die Muskelkraft die äußere Kraft übersteigt und der Muskel sich verkürzt. Ist die Muskelkraft kleiner als die äußere Kraft, wird der Muskel gedehnt, was als negative dynamische Muskelarbeit („Bremsarbeit“) bezeichnet wird. Hält die Muskelkraft der äußeren Kraft das Gleichgewicht, so bleibt die Muskellänge konstant, und es liegt statische Arbeit vor. Man spricht hier auch von isometrischer oder Haltearbeit. Das Produkt aus Kraft · Weg ist in diesem Falle 0, es wird also keine äußere Arbeit im physikalischen Sinne geleistet. Im physiologischen Sinne wird jedoch alles als Arbeit bezeichnet, was einen erhöhten Energieumsatz im Muskel bedingt. Unter körperlicher Leistungsfähigkeit versteht man die Eigenschaft des Menschen, mit Hilfe seiner Muskeln anderen Kräften entgegenzuwirken (Gravitation), Widerstände zu überwinden (Türen öffnen) und schließlich mechanische Arbeit zu leisten (Wegstrecken mit Lasten zurückzulegen). Den Arzt interessiert zunächst nur, was bei der Muskeltätigkeit exakt quantifizierbar und messbar ist. Will man jedoch die Leistungsfähigkeit des menschlichen Körpers in einem größeren Umfang beschreiben, so werden dabei auch Begriffe wie Belastung und Beanspruchung verwendet, besonders in der Arbeitsmedizin, die auf andere Elemente hinweisen als auf die reinen Funktionsabläufe in der Muskulatur oder in den Kreislauforganen. Belastung und Beanspruchung bedeuten, dass Faktoren wie Klima und Tageszeit, aber auch psycho-

logische Faktoren bei der Beurteilung einer Leistung eine Rolle spielen. So kann eine physikalisch gesehen geringe Leistung, die unter Hitze oder Lärm erbracht wurde, eine hohe Belastung bedeuten. Ebenso müssen wir von einer hohen Beanspruchung ausgehen, wenn wenige Muskelgruppen für eine lange Zeit stets die gleiche Bewegung ausführen müssen, wie z. B. Schreibmaschine schreiben. Wenn also Leistungen im physikalischen Sinne bestimmt werden, enthalten sie immer auch Elemente dessen, was hier als Belastung und Beanspruchung bezeichnet wurde. Sie beeinflussen das biologische Ergebnis und führen daher zur Streuung der Messergebnisse. Andererseits können zahlreiche Funktionen des Organismus, die im Zusammenhang mit Körperarbeit von Bedeutung sind, sehr genau bestimmt werden, z. B. das Herzzeitvolumen sowie die Herz- und Atemfrequenz. Die Ergebnisse solcher Untersuchungsreihen können mit Ergebnissen, die an anderen Personen gewonnen wurden, verglichen werden, und man kann daraus Schlüsse ziehen, inwieweit Abweichungen von einer „Norm“ bestehen oder ob sich die Ergebnisse gleichen. Man wird dabei, selbst wenn viele Umgebungsbedingungen standardisiert wurden, immer bei einigen Probanden Abweichungen von einer Norm finden, die von biologischen Variablen bestimmt werden und die als Talent und Begabung bezeichnet werden. Die biologischen Variablen Talent und Begabung, die nur schwer quantifizierbar sind, machen den Reiz des Wettkampfsports aus. Wer die 100-mStrecke am gleichen Tage zur gleichen Stunde unter gleichen äußeren Bedingungen am schnellsten zurücklegt, lässt sich schwer vorhersagen, selbst dann, wenn alles, was messbar ist, wie Körpergewicht, Größe und die maximale Sauerstoffaufnahme, eindeutig für den einen oder anderen Kandidaten sprechen. Ferner sollte man bei der Beurteilung der menschlichen Leistungsfähigkeit immer die augenblicklich erbrachte Leistung in Relation zur tatsächlich möglichen maximalen Leistung sehen. Es ist dem Menschen nicht möglich, willentlich alle seine Leistungsreserven zu mobilisieren. Man spricht von einem autonom geschützten Bereich, der nur unter extremen Bedingungen (z. B. Wettkampf unter Verwendung von Dopingmitteln) angegriffen werden kann. Darunter liegt ein Bereich, der unter maximalem Willenseinsatz ausnahmsweise mobilisiert werden kann (Einsatzreserven), und schließlich der Bereich, mit dem wir das Alltagsleben bestreiten. Die menschliche Leistungsbereitschaft ist deutlich tagesrhythmischen Schwankungen unterworfen. Alle körperlichen Leistungen werden mit der quergestreiften Muskulatur erbracht. Deshalb wollen wir zuerst die Muskulatur als Organ kurz betrachten (s. a. Kap. 6).

Die Muskulatur ist das größte Körperorgan des Menschen Die quergestreifte Muskulatur macht beim Menschen 36 – 44 % des Körpergewichts aus (beim untrainierten Mann ca. 28 kg; Tab. 18.1). Zwei Drittel der Muskulatur sind um die Hüfte und in den Beinen lokalisiert und dienen der Aufrechterhaltung des Körpers im Schwerefeld der Erde (Antigravitationsmuskulatur) und der Fortbewegung (Lokomotion).

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18.1 Der Muskelapparat Der Muskelanteil am Körpergewicht ist geschlechts-, alters- und trainingsabhängig. Bei Frauen ist die Muskulatur weniger stark ausgebildet, besonders die Laufmuskulatur, die im Vergleich zum Mann etwa 10% geringer ist (Tab. 18.1). Im Alter vermindert sich der Muskelanteil, und der Fettanteil des Körpers erhöht sich, was auf körperliche Inaktivität und hormonale Faktoren zurückzuführen ist. Ein Trainierter hat mehr Muskulatur und dafür weniger Fett. Die Muskulatur und das Fettgewebe sind diejenigen Anteile an der Körpermasse, die im Leben eines Menschen den größten Schwankungen unterworfen sind. Die stoffwechselaktive, fettfreie Körpermasse („lean body mass“) ist bei Körperarbeit fast ausschließlich mit der Muskelmasse identisch, da außer Gehirn, Herz und Kreislaufsystem andere Organe ihre Funktionen drosseln. Der Fettanteil am Körpergewicht Ausdauer trainierter Frauen kann bis unter 12 % abfallen. In solchen Fällen setzt eine Amenorrhö ein. Wahrscheinlich wird dies dadurch verursacht, dass die Freisetzung von Leptin (S. 489) aus dem restlichen Fettgewebe zu gering ist, um die menstruationszyklische Hypothalamusfunktion aufrechtzuerhalten. Zudem verringert sich mit schwindender Fettmasse auch die Östrogenkonzentration im Plasma, da Fettgewebe normalerweise auch nennenswerte Östrogenmengen produziert. Solche Effekte auf den Hormonhaushalt sind reversibel. In Ruhe verbraucht die Muskulatur nur etwa 15 – 20 % der aufgenommenen Sauerstoffmenge und produziert dabei etwa 18 % der Körperwärme. Die Muskulatur enthält 55 – 60% des gesamten Körperwassers, also 20 – 25 l, in dem etwa 70% des gesamten Körperkaliums, vor allem intrazellulär, gelöst ist. Bei schwerer Körperarbeit, wenn etwa 80 % der gesamten Muskelmasse tätig sind, fließen 85 % des gesamten Herzzeitvolumens durch die Muskulatur, und auch 85 % der Wärmeproduktion finden dort statt. Dabei erwärmt sich die Muskulatur von 32 8C auf etwa 40 8C. Der Aktivitätszustand der Muskulatur bestimmt dann die Funktion zahlreicher anderer Organsysteme mit.

Die Muskelfasertypen entscheiden über die Leistung Histochemisch und biochemisch lassen sich drei Muskelfasertypen unterscheiden: die langsamen (tonischen, roten), die schnellen (phasischen, weißen) Fasern sowie ein intermediärer Fasertyp (Tab. 18.2). Die langsamen, tonischen, roten Fasern vom Typ I oder S (slow) finden sich vor allem dort, wo Haltefunktionen erforderlich sind. Sie ermüden nicht so schnell und sind von einem dichten Kapillarnetz umgeben. Die schnellen, weißen Fasern vom Typ II oder F (fast) zeichnen sich durch eine hohe Kontraktions- und Erschlaffungsgeschwindigkeit aus. Sie sind daher besonders für die Entwicklung von Schnellkraft geeignet. Unter den Fasern des Typs F gibt es auch solche, die sowohl eine hohe oxidative als auch glykolytische Kapazität besitzen. Dieser Muskelfasertyp ist gegen Ermüdung relativ resistent und wird intermediärer Fasertyp genannt. Fasern vom Typ S sind für Ausdauerleistung geeignet, während die Fasern vom Typ F für Schnellkraft-

Tabelle 18.1 und Frau

Die Körperzusammensetzung bei Mann

Mann

Frau

Alter Größe Gewicht

20 – 24 Jahre 1,74 m 70,0 kg

20 – 24 Jahre 1,64 m 56,9 kg

Fett Muskel

10,5 kg 15,0% 31,3 kg 44,7 %

15,3 kg 26,9 % 20,4 kg 35,9 %

Knochen Übrige Gewebe

10,4 kg 14,9% 17,8 kg 25,4%

6,8 kg 12,0% 14,4 kg 25,2%

Tabelle 18.2 Ein Vergleich „langsamer“ (Typ S) und „schneller“ Muskeln (Typ F) (nach 3) Langsam (rot)

Schnell (weiß)

Mitochondriendichte

hoch

niedrig

Cytochromaktivität

hoch

niedrig

Glykogengehalt

niedrig

hoch

Fettgehalt

hoch

niedrig

Myoglobingehalt

hoch

niedrig

Phosphorylaseaktivität

niedrig

hoch

Kreatinphosphatgehalt

niedrig

hoch

Kontraktionsgeschwindigkeit

langsam

schnell

Erregbarkeitszeit

groß

klein

Ermüdbarkeit

gering

groß

Lactatbildung

geringer

größer

Überwiegende Funktion

Ausdauer

Schnellkraft

übungen und Sprintleistungen zuständig sind. Der Fasertyp F kommt immer dann ins Spiel, wenn das Sauerstoffangebot begrenzt ist, wie z. B. bei Beginn einer Arbeit oder wenn in der Kontraktionsphase die Durchblutung so stark gedrosselt wird, dass auf den anaeroben Stoffwechsel zurückgegriffen werden muss. In einem Skelettmuskel finden sich meist beide, dicht beieinander liegende Fasertypen, S und F, jedoch mit unterschiedlichem Anteil: Bei weißen Muskeln, z. B. M. gastrocnemius, überwiegen die F-Fasern, bei roten Muskeln, z. B. M. soleus, die S-Fasern. Das Grundmuster der Verteilung ist genetisch festgelegt, die Aufspaltung erfolgt aber erst mit der Geburt. Entsprechendes Training (Schnellkrafttraining) fördert die ererbten Anlagen deutlich.

Wie wird die körperliche Leistungsfähigkeit gemessen? Werden standardisierte, wiederholbare und leicht zu messende Leistungen vollbracht, kann aus den begleitenden Veränderungen von Herz-Kreislauf-Größen auf die Leistungsfähigkeit des Menschen zurückgeschlossen werden. Die genaue Leistungsvorgabe bei annähernd konstantem Wirkungsgrad geschieht heutzutage auf einem Ergome-

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18 Leistungsphysiologie

9. Stufe 1,05 m

592

6. Stufe 3. Stufe

Kontaktmatten

6 m Anlauf A Stufentest nach Margaria

Einstellen der Bremskraft Riemen als Bremse B Fahrradergometer

Schwungrad

Steighöhe

a C Laufbandergometer

sin a = Steighöhe / Wegmeter

Abb.18.1 Ergometriemethoden. Bei allen Methoden wird dynamische Arbeit geleistet. Die Leistungen können in vergleichbaren physikalischen Größen angegeben werden. Es handelt sich aber dennoch um biologisch verschiedene Leistungen. A Stufentest nach Margaria. Die Versuchsperson nimmt einen Anlauf und läuft so schnell wie möglich die Treppen hoch, wobei drei Stufen auf einmal genommen werden (nach 4). Leistung = Körpermasse (kg) · g (m · s–2) · Höhe pro Zeit (m/s). B Fahrradergometer. Das Schwungrad wird von der sitzenden Versuchsperson über die Pedale mit variablen Drehzahlen angetrieben. Es kann entweder mechanisch, wie hier gezeigt, oder elektrisch gebremst werden. Die Leistung wird in Watt angegeben. C Laufbandergometer. Die Versuchsperson bewegt sich gegen die Bewegungsrichtung des Laufbandes und richtet die Laufgeschwindigkeit möglichst so ein, dass sie auf der Stelle bleibt. Leistung = Körpermasse (kg) · g (m · s–2) · Laufstrecke (m) · sin α pro Zeit (s–1).

ter. Das Verfahren wird Ergometrie genannt. Auf einem Ergometer wird in der Regel dynamische Arbeit geleistet. Dabei werden die während der Leistung gemessenen Reaktionen des Organismus, wie die Zunahme der Sauerstoffaufnahme, der Atem- und Herzfrequenz oder die veränderte Lactat- bzw. Ammoniakplasmakonzentration (im Vergleich zu den Ruhewerten), mit der jeweiligen physikalisch definierten Leistung in Beziehung gesetzt. Der physikalischen Leistung wird ein biologisches Äquivalent gegenübergestellt, was das Wesen der Ergometrie

ausmacht. Das Ziel der Ergometrie ist es, die Leistungsfähigkeit des Menschen im Alltagsleben möglichst genau physikalisch zu beschreiben oder bei Athleten das Training zu steuern und deren Wettkampfleistung vorherzusagen. Die üblichen Ergometrieverfahren sind in Abb. 18.1 dargestellt. Gegenüber dem Stufentest haben die Fahrradergometrie und die Laufbandergometrie den Vorteil, dass der Proband ortsgebunden ist, was das Anbringen von Messfühlern erleichtert. Blutentnahmen aus einer Armvene sind ebenfalls möglich. Durch Punktionen von Muskeln können kleine Gewebestückchen entnommen und histo- bzw. biochemisch untersucht werden. Neben den in Abb. 18.1 gezeigten Methoden sind auch sportartspezifische Ergometriemethoden im Gebrauch. Im Strömungsbecken können Probanden gegen die Strömung anschwimmen und bleiben dabei ortsgebunden wie auf dem Laufband; schrittmachergesteuerte Lauftests auf der Aschenbahn, bei denen das Tempo vorgegeben wird, sind für den Ausdauerläufer geeignet; Ballmaschinentests prüfen den Tennisspieler. Modifizierte Stufentests können an einer großen Zahl von Probanden unter Feldbedingungen einfach durchgeführt werden. Die Herzfrequenzüberwachung kann dabei telemetrisch geschehen, ebenso können während kurzer Pausen blutchemische Tests stattfinden. Der Nachteil dieser Tests ist die eingeschränkte Möglichkeit, eine exakte Leistung vorzugeben. Es muss aber hervorgehoben werden, dass für eine gleiche physikalische Leistung verschiedene biologische Leistungen erforderlich sind, weil der Wirkungsgrad von den mechanischen Verhältnissen am Ergometer und, wie oben bereits erwähnt, von exogenen und endogenen Faktoren abhängt. Die auf dem Ergometer erbrachten Leistungen werden in Watt bzw. in W/kg Körpergewicht angegeben.

Energiequellen und Energiespeicher der Muskelmaschine Der Körper verfügt über vier verschiedene chemische Energiequellen, die während körperlicher Arbeit mobilisiert werden können. Es handelt sich um die energiereichen Phosphate Adenosintriphosphat (ATP) und Kreatinphosphat (KP) sowie um die Kohlenhydrate und die Fette. Bei einem 75 kg schweren Mann, dessen Muskelmasse etwa 28 kg beträgt, stehen etwa 4 kJ an ATP, 15 kJ an KP, 4600 kJ an Glykogen und 300 000 kJ an Fett zur Verfügung. Diese Zahlen besagen, dass für langdauernde Leistungen die Kohlenhydrat- und Fettverbrennung von entscheidender Bedeutung ist. Die physiologische Bedeutung der beiden energiereichen Phosphate ATP und KP liegt in ihrer schnellen Aktivierbarkeit bei Arbeitsbeginn, d. h. noch bevor das Herz-Kreislauf-System energiereiche Substrate und vor allem Sauerstoff an die Muskelzellen heranbringen kann. Die energiereichen Phosphate sind also in der Lage, anaerob intrazellulär gespeicherte chemische Energie in mechanische Energie und Wärme umzusetzen. Nach wenigen Kontraktionen (2 – 3 s) ist der ATP-Speicher erschöpft, jedoch kann ATP wieder aus der Übertragung energiereicher Phosphatgruppen des KP auf Adenosindiphosphat resynthetisiert werden. Das KP kann somit für

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18.1 Der Muskelapparat A Energielieferung bei vorwiegend anaerober Kurzzeitbelastung

B Energielieferung bei aerober Ausdauerleistung

aerober Stoffwechsel

Muskeltriacylglycerine

Anteil der verfügbaren Energie (%)

100

75

anaerober Stoffwechsel freie Fettsäuren im Plasma

50

Muskelglykogen

25

Glucose im Plasma

schnell verfügbare Energiequelle 0 10 30s 1min

3min

Zeit

5min

0

30

60

90

25% VO2max

120 0

30

Zeit (min)

60

90

120

65% VO2max

Abb.18.2 Rekrutierung energieliefernder Systeme in der arbeitenden Muskulatur bei verschiedener Dauer und Arbeitsintensität (nach 16).

die nächsten 20 s Energie zur Verfügung stellen. Pro Mol ATP werden etwa 30 kJ an Energie freigesetzt. Auch die KP-Spaltung verläuft ohne Zufuhr von Sauerstoff. Das KPSystem kann sich während der Arbeit erschöpfen und damit ein begrenzender Faktor sein. Sind diese schnell verfügbaren Energiequellen erschöpft, muss auf die Energiereserven der Kohlenhydrate zurückgegriffen werden. Da die geringen Sauerstoffvorräte der Zelle (myoglobingebundener Sauerstoff) schnell aufgebraucht sind, sinkt der intrazelluläre Sauerstoffdruck rasch ab. Dies begünstigt die Umwandlung von Pyruvat in Lactat. Es hängt jetzt vom Schweregrad der Arbeit, der Art der rekrutierten Muskelfasern und vom Trainingszustand des Betreffenden ab, wieviel Lactat in dieser Phase gebildet wird. Das Lactat diffundiert aus der Zelle in benachbarte rote Muskelzellen (s. u.) und in die Blutbahn, von wo aus es in die Leber und zum Herzmuskel gelangt (Abb. 18.4, S. 595). In der Leber kann Lactat zu Glykogen resynthetisiert werden. Beim anaeroben Abbau von Glucose zu Lactat werden pro Mol Glucose nur 2 Mol ATP gewonnen, was einer Energieausbeute von ca. 61 kJ entspricht. Diese Möglichkeit der Energiegewinnung sichert für weitere 30 s die Energiezufuhr, bis über den Kreislauf genügend Sauerstoff herangeschafft wird, mit dessen Hilfe dann über den aeroben Glykogenabbau der Energiebedarf gedeckt werden kann. Die zeitliche Abfolge der kurzfristigen Rekrutierung der energieliefernden Systeme ist in Abb. 18.2 A dargestellt. Ist eine Ausdauerleistung gefordert, so kann aus den Vorräten an Glykogen und Fett durch oxidative Prozesse (aerob) ständig Energie nachgeliefert werden. Die Energieausbeute beträgt bei einem Mol Glucose, das vollständig zu CO2 und H2O abgebaut wird, 36 Mol ATP. Sie ist damit ungefähr 20-mal höher als beim anaeroben Abbau. Der aerobe Abbau kann praktisch unbegrenzt aufrechterhalten werden. Die intrazellulären Depots des Muskels wären aber schnell erschöpft, würde nicht durch Glucoseaufnahme aus dem Blut immer wieder Substrat zuge-

führt. Fällt der intrazelluläre Muskelglykogenvorrat ab, wird zusätzlich die Glykogenolyse in der Leber gesteigert. Der intravasale Vorrat wird also ständig aus der Leber erneuert. Auch durch Glucoseaufnahme über die Nahrung kann der muskuläre Energiebestand erhöht werden. Die intravasale Glucosekonzentration darf während Arbeit nicht unter ein gewisses Niveau absinken, damit die Glucoseversorgung des Gehirns gewährleistet bleibt. Die Bedeutung der Fettverbrennung für die Energiegewinnung bei körperlicher Arbeit hängt vom Arbeitstyp (statisch, dynamisch, aerob, anaerob), von der Arbeitsdauer, von der Art der beanspruchten Fasern (langsam, schnell) und vom Trainingszustand ab. Bei geringer Arbeitsintensität (25 % der V˙O2max) werden vorwiegend die freien Fettsäuren aus dem Plasma als Energieträger heran gezogen (Abb. 18.2 B links). Bei hoher Arbeitsintensität (65 – 85 % V˙O2max) werden neben freien Fettsäuren und Glucose aus dem Plasma besonders die Triacylglycerine und das Glykogen der Muskelzellen genutzt (Abb. 18.2 B rechts). Je besser der Trainingszustand, desto höher ist der Anteil der Fettverbrennung an der Energiegewinnung. Adrenalin, Noradrenalin, TSH, GH (STH) und ADH (Vasopressin) steigern die Lipolyse. Bei anaerober Leistung mit gesteigerter Lactat-Plasmakonzentration ist die Fettverbrennung gehemmt.

Bei anaerober Muskelarbeit entstehen Lactat und H+-Ionen Selbst bei geringer Belastung kommt es zu einem Anstieg der Lactatkonzentration im Blut (Abb. 18.3), die aus dem arterialisierten Blut des Ohrläppchens bestimmt werden kann. Sind etwa 60 – 65 % der maximalen Leistungsfähigkeit erreicht, steigt die Lactatkonzentration steil an, wobei Konzentrationen von 4 mmol/l schnell überschritten werden. Aus praktischen Gründen hat es sich als nützlich erwiesen, zwei Bereiche der Lactatkonzentration zu markieren. Den Anstieg des Lactats auf 2 mmol/l bezeichnet

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18 Leistungsphysiologie 10

Lactatkonzentration (mmol/l)

10

Lactatkonzentration (mmol/l)

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8

6

4

2

0

0

20

40

60

80

100

relative Belastung in % der maximalen O2-Aufnahme

Abb.18.3 Die Lactatkonzentration des Blutes (mmol/l) ist links in Abhängigkeit zur relativen Belastung in Prozent der maximalen Sauerstoffaufnahme (ein Maß für die maximale körperliche Leistungsfähigkeit, S. 602) aufgetragen. Ab 65% der maximalen Sauerstoffaufnahme beginnt die Lactatkonzentration steil anzusteigen. Das weist auf das baldige Erreichen der Leistungsgrenze hin. Rechts ist die Lactatkonzentra-

man als aerobe Schwelle. Solche Konzentrationsanstiege können lange toleriert werden. Zwischen 2 und 4 mmol/l liegt der aerob-anaerobe Übergangsbereich. Bei 4 mmol/l ist die anaerobe Schwelle erreicht. Ein größerer Leistungszuwachs ist nach Erreichen der anaeroben Schwelle nicht mehr zu erwarten, d. h. die Leistungsgrenzen sind annähernd erreicht (Abb. 18.3). Man ist geneigt, diesen Anstieg nur auf den Lactatzustrom aus dem anaeroben Stoffwechsel des Muskels zurückzuführen und übersieht dabei, dass der Lactatspiegel im Blut das Ergebnis des Zuund Abflusses auch aus anderen Kompartimenten wie der Leber oder des Herzmuskels ist (Abb. 18.4). Das Lactat sitzt an einer wichtigen Schlüsselposition im Stoffwechsel. Es steht (via Pyruvat) am Anfang des Citratzyklus, wo es schließlich zu CO2 und H2O oxidiert wird. Es kann aber auch gleichzeitig als Ausgangspunkt der Gluconeogenese betrachtet werden, wobei eine Passage des Lactats über das Blut zur Leber notwendig ist (Abb. 18.4). Die Verwertung des Lactats erfolgt 1. in der Skelettmuskulatur, 2. in der Leber und 3. im Herzmuskel. Die intramuskuläre Lactatverwertung geschieht über den sog. Lactat-Shuttle. Dabei gelangt das während Muskelarbeit vorwiegend in den weißen Fasern produzierte Lactat durch Diffusion in das Zytosol benachbarter roter Fasern. Von dort wird es über einen membranständigen Monocarboxylattransporter ins Innere der Mitochondrien geschleust (erleichterte Diffusion), wird zu Pyruvat oxidiert und kann dadurch energetisch genutzt werden. Dieser direkte Lactat-Shuttle nutzt den größten Teil des Lactats direkt, ohne dass Lactat ins Blut gelangt. Da im trainierten Muskel die Mitochondrienmasse erhöht ist, kann Lactat vermehrt genutzt werden, auch dasjenige, das über die Blutbahn wieder an den arbeitenden Muskel herantransportiert wird. Dieser Mechanismus erklärt mit den unterschiedlichen Verlauf der Lactatkonzentration bei Arbeit im Blut von Trainierten und Untrainierten

Verschiebung durch Training

8

6

4

anaerobe Schwelle

2

aerobe Schwelle

0

0

1

2

3

4

5

Belastung (Watt/kg)

tion des Blutes in Abhängigkeit zur Belastung in W/kg Körpergewicht notiert. Die anaerobe und aerobe Schwelle (s. Text) sind als unterbrochene Linie bei 4 bzw. 2 mmol/l eingetragen. Die Rechtsverschiebung der Blutlactatkurve kann als Maß für den Trainingserfolg bei einer gesunden Testperson angesehen werden.

(Abb. 18.3). Welchen Weg das Lactat schießlich einschlägt, hängt von der jeweiligen Stoffwechselsituation ab. Im Falle der Körperarbeit ist dies vom Grad der Erschöpfung abhängig. Hohe Lactatkonzentrationen bei annähernd normal gefüllten Glykogenvorräten und hohen Blutglucosespiegeln fördern die Oxidation über den Citratzyklus. Hohe Lactatkonzentrationen bei niedrigen Glykogenvorräten scheinen das Lactat bevorzugt der Gluconeogenese zuzuführen. Wenn ab einer gewissen Belastung ein Anstieg der Lactatkonzentration im Plasma beobachtet wird, wie in Abb. 18.3 (links) bei 65 % der maximalen Belastung, so muss zunächst eine vermehrte Zuflussrate aus den Muskeln angenommen werden. Unter solchen Belastungen müssen vermehrt weiße Fasern rekrutiert werden, die unabhängig von der augenblicklichen Sauerstoffversorgung viel Lactat produzieren. Gleichzeitig werden vermehrt Adrenalin und Glucagon ausgeschüttet, die die Glykolyse der Leber steigern. Dabei fällt dann so viel Pyruvat an, dass es nicht mehr vollständig in den Citratzyklus eingeschleust und daher zu Lactat umgewandelt wird, das im Plasma akkumuliert. Ein weiterer Faktor, der zur Erhöhung der Lactatkonzentration im Blut führen kann, ist die Umverteilung der Durchblutung weg von der Leber zum Muskel hin. Die intravasale Lactatanhäufung ist dann die Folge der ungenutzten Lactatklärfunktion der Leber. Die Lactatkonzentration im Blut steigt auch in Abhängigkeit von den Glycogenvorräten in der Muskulatur unterschiedlich an. Bei hohen intramuskulären Glykogenvorräten kommt es schneller zum Anstieg der Lactatkonzentration als bei glykogenverarmter Muskulatur, obwohl im ersteren Fall die Leistungsfähigkeit größer ist. Die Rate, mit der Lactat aus dem Plasma verschwindet (Clearancerate), ist auch eine Funktion des Trainingszustands eines Menschen. Die Clearanceraten bei Trainierten liegen höher als bei Untrainierten, so dass bei

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18.2 Der Sauerstofftransport Glykogenolyse Glucose Glucose Gluconeogenese

Magen-DarmTrakt

FFS Lactat

Glucose Glucose

FFS

Leber

Lipolyse

Adipozyten

Herzmuskelzelle

Glykogenolyse

Lactat Muskel

Blutbahn

Die tätige Muskulatur braucht Sauerstoff Gehirn

Abb.18.4 Transfermöglichkeiten der energiereichen Substrate Glucose, Lactat und freie Fettsäuren (FFS) während Körperarbeit. Die Glucose kann aus der Leber kommend in die tätige Muskulatur und das Gehirn transferiert werden. Das aus den tätigen Muskelzellen abgegebene Lactat kann entweder von der Leber oder von den Herzmuskelzellen aufgenommen und weiterverwertet werden. Den tätigen Muskelzellen werden freie Fettsäuren von den Fettzellen zur Verfügung gestellt.

Trainierten aerobe und anaerobe Schwellenwerte erst bei höheren absoluten Belastungen erreicht werden (Abb. 18.3, rechts). Trainierte setzen auch ihre Muskulatur ökonomischer ein, so dass die Lactat produzierenden weißen Fasern erst bei höheren Belastungen rekrutiert werden, und zudem weisen Trainierte (bezogen auf das Körpergewicht) höhere Lebergewichte auf, was u. a. auf eine erhöhte Zellzahl und damit auf eine verbesserte Klärfunktion dieses Organs schließen lässt.

Warum ist die Lactatanhäufung schädlich? Wird Glucose zu Milchsäure abgebaut, fallen bei deren Abpufferung neben Lactat auch H+-Ionen an. Dies hat eine pH-Verschiebung in den sauren Bereich zur Folge. Die Protonenanlagerung an anionische Gruppen führt zu Störungen des intrazellulären Stoffwechsels (Enzyme). Auch tritt eine Konkurrenz mit anderen Kationen auf (s. a. Kap. 11). Die Azidose ist letztlich für den Leistungsabbruch entscheidend.

18.2

mungsorganen, dem Herz-Kreislauf-System und dem Blut bestehende sauerstofftransportierende System kann den Sauerstofftransport je nach Bedarf um das bis zu 10- bis 20fache steigern. Diese Anpassung an die jeweiligen Erfordernisse ist deutlich trainingsabhängig. Kurzfristig kann die Steigerung des Sauerstoffantransports hauptsächlich über eine Steigerung des Herzzeitvolumens (Herzfrequenzerhöhung) und durch eine vermehrte Sauerstoffausschöpfung des Blutes erreicht werden. Langfristig und trainingsabhängig sind ein vergrößertes Blutvolumen und ein insgesamt leistungsfähigeres Herz-Kreislauf-System für den gesteigerten Sauerstofftransport mitverantwortlich. Die Muskeldurchblutung kann auf das 10- bis 15fache gesteigert werden. Die Kreislaufregulation bei Arbeit hat das Ziel, den Großteil des Herzzeitvolumens der tätigen Muskulatur zuzuführen und die Durchblutung der inaktiven Organe zu drosseln.

Der Sauerstofftransport

Zu Beginn der Arbeit entsteht ein Defizit an Sauerstoff, da davon mehr benötigt wird, als antransportiert werden kann. Nach Beendigung der Arbeit wird eine erhöhte Sauerstoffmenge nachgeatmet, um die entstandene Sauerstoffschuld abzutragen. Das aus den At-

Zu Beginn der Arbeit entsteht in der tätigen Muskulatur sofort ein erhöhter Energiebedarf. Er kann zunächst nicht von sauerstoffabhängigen Mechanismen gedeckt werden, da der Kreislauf und der aerobe Muskelstoffwechsel sich nur relativ träge den erhöhten Erfordernissen anpassen. Die Sauerstoffaufnahme steigt also nur relativ zögernd vom Ruhewert aus an, bleibt beim Erreichen der erforderlichen Höhe konstant und fällt nach Arbeitsende langsam wieder zum Ruhewert ab (Abb. 18.5 A). Die anfängliche Diskrepanz zwischen dem Sauerstoffbedarf, der für die vollständige Energiedeckung durch oxidative Prozesse notwendig wäre, und der tatsächlich aufgenommenen Menge wird als Sauerstoffdefizit bezeichnet. Diejenige Sauerstoffmenge, die nach Arbeitsende noch über den Bedarf hinaus aufgenommen wird, ist mit dem Begriff Sauerstoffschuld belegt. Zwischen Sauerstoffdefizit und Sauerstoffschuld liegt eine Gleichgewichtsphase, „Steady State“ genannt. Im Steady State entspricht die aufgenommene Sauerstoffmenge dem Bedarf für die oxidativen Prozesse. Bei leichter dynamischer Arbeit im Ausdauerbereich entsprechen sich annähernd Defizit und Schuld. Unter der Annahme, dass die nach Arbeitsende nachgeatmete Menge an Sauerstoff zur Wiederauffüllung der Speicher an energiereichem Phosphat dient, wurde sie als alaktazide Sauerstoffschuld bezeichnet, die bis zu 4 l Sauerstoff betragen kann. Wird dem Organismus jedoch eine sehr hohe Leistung abverlangt, zeigt die Dynamik der Sauerstoffaufnahme ein anderes Bild (Abb. 18.5 B). Die Sauerstoffaufnahme steigt zunächst steil, danach etwas flacher an, bis hin zum Abbruch der Arbeit. Ein Steady State kommt nie zustande. Der Sauerstoffbedarf war während der Arbeit stets größer als die aufgenommene Menge. Nach Arbeitsabbruch wird über lange Zeit eine große Sauerstoffmenge nachgeatmet. Sehr wahrscheinlich wird während der ganzen Arbeitsphase anaerob Energie bereitgestellt, die mit der Produktion von Lactat verbunden ist. In einem solchen Fall kann die Sauerstoffschuld bis zu 20 l betragen, was als laktazide Sauerstoffschuld bezeichnet wird. Bei dieser dynamischen maximalen Kurzzeitbelastung werden zahlreiche Fasern mit hoher glykolytischer Akti-

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595

18 Leistungsphysiologie

Arbeit 4

O2 -Aufnahme

3

0,75

O2 -Defizit Arbeitsverbrauch

0,50

0,25

O2 -Defizit

2

O2 -Bedarf Sauerstoffschuld

1

Sauerstoffschuld

Ruheverbrauch

„Steady state“

O2 -Bedarf maximales O2 -Aufnahmevermögen

l/min

Arbeit

l/min

0

Ruheverbrauch

1 min

Zeit

B erschöpfende Arbeit

0

A leichte Arbeit

Zeit

1 min

Abb.18.5 Sauerstoffaufnahme und -bedarf. A Bei leichter kurzdauernder dynamischer Arbeit und B bei kurzer erschöpfender Arbeit. Die orangen Flächen werden als Sauer-

Sauerstoffmangel

anaerober Stoffwechsel (Milchsäure)

Pufferung Lactat anaerobe Schwelle

Azidose + H

zunehmendes O2-Defizit

596

Steigerung des Atemantriebs

Abb.18.6 Sauerstoffmangel. Er führt über mehrere Stufen, die den Muskelstoffwechsel einbeziehen, letztlich zu einer Steigerung des Atemantriebs, der den Sauerstoffmangel beseitigen soll.

vität rekrutiert, so dass eine Situation entsteht, die in Abb. 18.6 beschrieben ist. Während der gesamten Muskelaktivität steigt das Sauerstoffdefizit an. Der damit verbundene ständige Anstieg der Lactat- und folglich der H+-Ionen-Konzentration führt schließlich zur Steigerung des Atemantriebs, die eine Sauerstoffmehraufnahme und gleichzeitig eine beschleunigte Ausscheidung des CO2 zur Folge hat. Das Ungleichgewicht zwischen Bedarf und Aufnahme zwingt schließlich trotzdem zum Abbruch der Arbeit, was auf die Übersäuerung der Muskulatur zurückzuführen sein dürfte. Die nach Arbeitsende nachgeatmete Sauerstoffmenge (Sauerstoffschuld) wird zur Wiederauffüllung der ver-

stoffdefizit, die grünen Flächen als Sauerstoffschuld bezeichnet.

brauchten Bestände an energiereichem Phosphat herangezogen. Allerdings werden zur Rephosphorylierung nur etwa 50 % der nachgeatmeten Sauerstoffmenge benötigt. Als weitere Ursache der Sauerstoffnachatmung kommt die intramuskuläre Temperaturerhöhung in Frage, die Folge der Umwandlung von chemischer in mechanische und Wärmeenergie ist. Die erhöhte Temperatur macht die Phosphorylierungsprozesse weniger effizient, so dass eine größere Sauerstoffaufnahme notwendig ist, um wieder die ursprüngliche Menge an energiereichen Phosphaten zu bilden. Ferner kommt es zu einem Austritt von Kalium aus den Zellen der tätigen Muskulatur und zu einem Eintritt von Natrium und Wasser in die Zellen. Nach Beendigung der Arbeit müssen daher die ATP-gespeisten Ionenpumpen in den Zellmembranen noch über eine längere Zeit erhöht aktiv sein, um das Ionengleichgewicht wiederherzustellen. Auch muss für die Resynthese von Glykogen aus Lactat sowie für die Oxidation von Lactat im Citratzyklus vermehrt Sauerstoff zugeführt werden. Diese Prozesse verlangen ebenfalls eine erhöhte Sauerstoffaufnahme.

Das sauerstofftransportierende System Der Sauerstoff muss, wie in der zusammenfassenden Darstellung Abb. 18.7 gezeigt, über die Lungen zum Blut und mit Hilfe des Kreislaufs zur tätigen Muskulatur transportiert werden. Auf diesem Transportweg sind Konvektion und Diffusion zweimal hintereinander geschaltet. Man kann die Teile des Transportweges wie Lunge und Herz mit den Gliedern einer Kette vergleichen, wobei das schwächste Glied – häufig der Kreislauf – den limitierenden Faktor darstellt. Die Transportkapazität ist zum einen durch die Dimensionen der Organe vorgegeben, wie z. B. durch die

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CO2

O2

Vitalkapazität (VC) totale Lungenkapazität (TLC) funktionelle Residualkapazität (FRC)

Gesamthämoglobin (THb) Hämoglobinkonzentration (Hb) Blutvolumen (BV) Herzvolumen (HV) maximale Herzfrequenz (fH max)

Diffusion

Diffusionskapazität (D L) maximales Herzzeitvolumen (Q max) maximale Sauerstofftransportkapazität (Q max · 1,34 · [Hb] ) Schlagvolumen (SV)

Diffusionskapazität (Dti)

Gewebe

ge s O amte 2 -T ran r sp ort

fun k Ka tione pa lle zitä ten maximales exspiratorisches Volumen (VEmax)

maximale Sauerstoffaufnahme (VO2 max)

Zirkulation

Herz-Kreislauf-System

Diffusion

Konvektion

ns i on

en

Ventilation

Dim e

Organ bzw. System

Lunge

Konvektion

ph ys Pro iolog zes isc he s r

ph y Prosikali ze s s c h s er

18.2 Der Sauerstofftransport

·

Körpergröße, -gewicht, -oberfläche, Mitochondriendichte

Abb.18.7 Schema des sauerstofftransportierenden Systems. Die angegebenen physiologischen Größen sind zur Beschreibung der gesamten körperlichen Leistungsfähigkeit notwendig. Die aufgeführten Komponenten des Atmungs-

Größe der Lungenvolumina, der Herzkammern oder des Blutvolumens. Zum anderen sind funktionelle Größen bestimmend, wie der Atemgrenzwert oder das maximale Herzzeitvolumen, das seinerseits wiederum von der Herzfrequenz und dem Schlagvolumen bestimmt wird. Die Diffusionsbarrieren stellen normalerweise keine nennenswerten Hindernisse dar. Durch das Epithel der Alveolen und die Wand der Muskelkapillaren diffundiert über die sehr kurzen Distanzen genug Sauerstoff. Für den Sauerstoff innerhalb der Zellen ist der Mitochondrienbesatz ausschlaggebend. Je dichter die Mitochondrien, um so mehr und schneller kann der Sauerstoff intrazellulär genutzt werden. Hier liegt ein limitierender Faktor für die Sauerstoffnutzung auf zellulärer Ebene. Die Dimensionen der Organe sind anlagebedingt vorgegeben, können aber durch Training variiert werden; dies gilt auch für die funktionellen Parameter. Das Blutvolumen kann bei Ausdauertraining von 5 l auf 6,5 l zunehmen, was mit einer Vergrößerung der Herzkammern einhergeht. Dabei nehmen sowohl das Plasmavolumen als auch die Anzahl der Erythrozyten zu, so dass dem Trainierten schließlich mehr Hämoglobin für den Sauerstofftransport zur Verfügung steht. Der lange Transportweg mit den vielen Organsystemen, die hintereinander geschaltet sind, macht verständlich, dass bei Arbeitsbeginn der Muskel mit seinen intrazellulären Energiereserven (ATP, KP; S. 592) auskommen muss, bis das Gesamtsystem, gesteuert durch das vegetative Nervensystem, an die Bedürfnisse der Peripherie angepasst ist.

und Kreislaufsystems müssen zusammenwirken, damit eine möglichst große Sauerstofftransportkapazität erreicht wird, mit deren Hilfe den tätigen Zellen der Sauerstoff zur Verfügung gestellt wird (nach 12).

Atmung Bei Arbeit kommt es zu einer Zunahme von Atemfrequenz und Atemtiefe (Kap. 10). Daraus resultiert bei leichter Arbeit zunächst eine Zunahme der Alveolarventilation, die der Sauerstoffaufnahme proportional ist (Abb. 18.8). Sind ca. 55 – 60 % der maximalen Sauerstoffaufnahmekapazität erreicht oder überschritten, ist eine überproportionale Zunahme der Alveolarventilation zu beobachten. Der überproportionale Anstieg der Atmung wird durch den Anstieg des Atemäquivalents erkenntlich (V˙E/V˙O ), das zu Beginn der Arbeit bei etwa 25 lag. Der Wert besagt, dass zur Aufnahme von 1 l Sauerstoff 25 l Atemluft bewegt werden. Das Atemäquivalent steigt oberhalb der Dauerleistungsgrenze auf 40 – 50 an. Der Wert kann zur Beurteilung herangezogen werden, inwieweit sich ein Proband bei der Arbeit voll verausgabt hat bzw. ob er durch die Arbeit voll belastet war. Die Atemfrequenz liegt bei schwerer Arbeit ungefähr bei 35 – 45 Atemzügen pro Minute, kann aber bei Hochleistungssportlern bis zu 60 Atemzüge erreichen. Das Atemzugsvolumen steigt bis etwa 2 l, dementsprechend haben wir es mit maximalen Atemzeitvolumina zwischen 90 und 120 l/min zu tun. Der Atemantrieb aus dem zentralen Nervensystem geschieht während der Arbeit über periphere und zentrale Anteile des Regulationssystems. Die Impulse aus den Mechanorezeptoren der Gelenke und die im Interstitium der Muskulatur vermuteten Chemorezeptoren sind als periphere Antriebe der Atmung zu bezeichnen, die dem Atemzentrum zugeleitet werden. Die über die Lungendehnungsrezeptoren vermittelte Bronchodilatation er2

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597

18 Leistungsphysiologie maximalen Herzzeitvolumens (Herzfrequenz HfH · Schlagvolumen SV) als auch der maximalen Ausschöpfung des arteriellen Blutes während der Passage durch die Muskulatur (AVDO max):

120

2

V˙O max = HfHmax · SVmax · AVDO max.

90

2

In Abb. 18.9 sind die Variablen aus dieser Gleichung in Abhängigkeit zur Sauerstoffaufnahme (l/min) aufgetragen. Man erkennt, dass sich die Herzfrequenz annähernd verdreifacht, die AVDO sich verdoppelt, während sich das Schlagvolumen nur um knapp 50 % erhöht. Die Herzfrequenz und die AVDO sind demnach die bestimmenden Größen in dieser Gleichung. Auch lässt sich aus den Kurven der Abb. 18.9 die Anpassungsbreite des Organismus ablesen. Die Sauerstoffaufnahme kann unter maximaler Belastung bei Hochtrainierten sogar um das 20fache gesteigert werden, d. h. von 0,25 l/min in Ruhe auf 5 l/ min bei Körperarbeit. Aus dem linearen Anstieg der Herzfrequenz bei Zunahme der Sauerstoffaufnahme ergibt sich auch die Möglichkeit, von der Herzfrequenz auf die O2-Aufnahme zurückzuschließen. Die im Routinebetrieb leicht zu bestimmende Herzfrequenz kann daher als Maß für die Sauerstoffaufnahme gelten. Das intrathorakale Blutvolumen ist bei der Kreislaufanpassung an Arbeit zwar in aufrechter Körperhaltung erniedrigt, aber nicht in dem Maße, dass es die Füllung der Ventrikel gefährden würde. Das Volumen ist in die Muskulatur und, aus thermoregulatorischen Gründen, in die Haut verlagert.

60

30

0

2

2

2

0

1

2

3

4

Sauerstoffaufnahme (l/min)

Abb.18.8 Alveoläre Ventilation in Abhängigkeit von der Sauerstoffaufnahme. Nur im unteren Bereich steigt die alveoläre Ventilation proportional zur Sauerstoffaufnahme; bei Steigerung der O2-Aufnahme über 65% der maximalen O2-Aufnahme nimmt die alveoläre Ventilation überproportional zu (Abweichung der roten Kurve von der extrapolierten Geraden).

leichtert die Ventilation während der Arbeit. Schließlich sind die zentralen Antriebe der aus dem Kortex absteigenden Bahnen zu erwähnen, die zusammen mit den peripheren Antrieben im Atemzentrum verrechnet werden und insgesamt die Ventilation während der Arbeit steuern. Die überproportionale Zunahme der Ventilation, wie sie in Abb. 18.8 (rechter Teil der roten Kurve) zu sehen ist, ist auf die Anhäufung von H+-Ionen zurückzuführen. Die metabolische Azidose wirkt als zusätzlicher Antrieb, wobei chemorezeptive Areale in der Medulla oblongata direkt beteiligt sind (S. 297 f.).

Die Herzfrequenz: die am einfachsten zu bestimmende Größe Wie in Abb. 18.10 oben zu sehen, kommt es bei leichten Belastungen zu einem Herzfrequenzanstieg. Er geht aber nicht über 130 Schläge pro Minute hinaus. Ein Steady State ist erkennbar, der über viele Stunden (Arbeitstag) aufrechterhalten werden kann. Nach Beendigung der Arbeit nähert sich die Herzfrequenz dem Ruhewert anfänglich schnell, danach langsam. Der Verlauf der Herzfrequenz ähnelt formal demjenigen, der bei der Sauerstoffaufnahme (Abb. 18.5 A) zu sehen war. Wird eine mittelschwere bis schwere Belastung vorgegeben (Abb. 18.10

Der zentrale Kreislauf Die Umstellung des Kreislaufs bei Arbeit hat zum Ziel, das Herzzeitvolumen zu vergrößern und durch eine Umverteilung des Blutflusses in die tätige Muskulatur deren Sauerstoffversorgung zu erhöhen. Die maximale Sauerstoffversorgung (V˙O2max) ist sowohl eine Funktion des

Herzfrequenz

240

untrainiert

Herzzeitvolumen

140

120

besser trainiert

30

120

l/min

ml/Schlag

160

15

100 80

80

0

1

2

A

3

4

5

60

0

1

2

B

3

4

5

0

0

1

Sauerstoffaufnahme (l/min)

Abb.18.9 Herzfrequenz (A), Schlagvolumen (B), Herzzeitvolumen (C) und arteriovenöse Sauerstoffdifferenz (D) in Abhängigkeit von der Sauerstoffaufnahme. Die

2

3

4

arteriovenöse Sauerstoffdifferenz

30

trainiert

200

40

Schlagvolumen

160

ml O2 /100ml Blut

Alveolarventilation (l/min BTPS)

150

Schläge/min

598

20

10

5

C

0

0

1

2

3

4

5

D

Unterschiede bei den Trainierten ergeben sich aus den unterschiedlichen Trainingszuständen der Versuchspersonen (nach 15).

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18.2 Der Sauerstofftransport

Schlagvolumen Die Steigerung des Schlagvolumens trägt ebenfalls zur Vergrößerung des Herzzeitvolumens bei. Allerdings ist schon bei niedrigen Belastungsstufen das Maximum dessen erreicht, was möglich ist (Abb. 18.9 B). Beim Untrainierten steigen die Werte von ca. 65 ml auf 80 ml an (1 : 1,4), beim Trainierten von 100 auf 150 ml (1 : 1,5). Entscheidend für die Steigerung des Schlagvolumens sind das Ausmaß der reflektorischen Konstriktion der kapazitiven Gefäße im Splanchnikusgebiet sowie die Effektivität der Muskel- und der Atempumpe. Sie erhöhen das intrathorakale Blutreservoir und garantieren damit einen ausreichenden Füllungsdruck des Herzens. Die hohen Schlagvolumina des Trainierten in Ruhe erklären, warum er selbst bei niedrigen Herzfrequenzen hohe Sauerstoffaufnahmen erzielen kann. Insgesamt trägt die Anpassung des Schlagvolumens nur relativ wenig (Faktor 1,5) zur Steigerung des Sauerstofftransports bei.

leichte Arbeit

Erholung

konstant 100 80

Pulsfrequenz

unten), steigt die Herzfrequenz kontinuierlich an, was als Ermüdungsanstieg bezeichnet wird. Ein wirklicher Steady State wird nicht erreicht. Nach Beendigung der Arbeit nähert sich die Herzfrequenz dem Ausgangspunkt, allerdings dauert dies länger als bei leichter Arbeit. Die Erholungspulssumme, d. h. die Gesamtzahl derjenigen Herzschläge, die nach der Arbeit noch über dem Ruhewert liegen, ist wesentlich höher als bei leichter Arbeit (Abb. 18.10) und kann als Maß für die vorangegangene Belastung angesehen werden. Natürlich ist auch die Pulssumme während Arbeit ein Maß für die Belastung, aber der Zeitgang während der Belastung (Ermüdungsanstieg) ist die entscheidende Information. Wie in Abb. 18.9 A gezeigt, steigt die Herzfrequenz in einem weiten Bereich proportional zur Sauerstoffaufnahme an. Lediglich auf der blauen Kurve ist im obersten Belastungsbereich noch eine Zunahme des Sauerstoffverbrauchs ohne eine entsprechende Herzfrequenzzunahme erkennbar. Dieses Abknicken der Kurve („levelling off“) ist als ein Zeichen der Ausbelastung anzusehen, d. h. als ein Zeichen, dass die volle Belastung erreicht ist. Die Kurve steigt umso steiler an, je geringer der Trainingszustand ist, d. h., schon bei geringen Belastungen werden hohe Herzfrequenzen erreicht. Umgekehrt verhält es sich bei den Trainierten, die in Ruhe die niedrigsten Herzfrequenzen zeigen und deren Kurve die geringste Anstiegssteilheit aufweist. Bei Höchstbelastungen werden Frequenzen zwischen 180 und 190 Schlägen pro Minute gemessen. Die Frequenz nimmt beim wenig Trainierten von 80 auf 180 zu (1 : 2,2), beim Trainierten von 60 auf 180 – 190 (1 : 3): Hochtrainierte Ausdauersportler wie Skilangläufer zeigen auch Werte über 200 Schläge pro Minute, allerdings nur kurzfristig. Die Reaktion der Herzfrequenz auf Arbeit ist darüber hinaus von Alter, Geschlecht und Art der Belastung abhängig. Im höheren Alter sind die Herzfrequenzanstiege geringer, da die β-adrenerge Beeinflussbarkeit abgeschwächt ist. Bei Armarbeit (z. B. Kurbeln) ist die Herzfrequenz bei vergleichbaren Belastungen (W/kg Körpergewicht) gewöhnlich höher als bei Beinarbeit. Die Ursache liegt in der hohen Sympathikusaktivierung und der relativ geringen Muskelmasse, die bei Armarbeit benutzt wird.

Ruhewert

60

mittelschwere Arbeit Ermüdungsanstieg

140 120 100 80

Ruhewert

60 0

20

40

60

Pulssumme während der Arbeit

80

100

120

Erholungspulssumme (EPS)

140 min

Arbeitspulssumme (APS)

Abb.18.10 Herzfrequenz bei körperlicher Arbeit. Bei leichter Arbeit im Ausdauerbereich bleibt die Pulsfrequenz konstant (oben), während bei schwerer Arbeit (unten) der Anstieg der Herzfrequenz ein Anzeichen zunehmender Ermüdung ist. Entsprechend ist die Erholungspulssumme stark erhöht (unten) im Vergleich zur Ausdauerbelastung (oben) (nach 14).

Herzzeitvolumen Das Herzzeitvolumen steigt proportional zur Sauerstoffaufnahme an (Abb. 18.9 C). Das gilt für Trainierte und Untrainierte. Je nach Trainingszustand werden dabei Werte zwischen 16 und 25 l/min erreicht. Hochtrainierte zeigen manchmal auch Werte über 30 l/min. Das Herzzeitvolumen kann demnach maximal um das 4- bis 5fache gesteigert werden, wozu die Herzfrequenz quantitativ mehr beiträgt als das Schlagvolumen. 85 % des Herzzeitvolumens kommen bei Arbeit der tätigen Muskulatur zugute. Bei einem Herzzeitvolumen von 25 l/min stehen demnach ca. 21 l/min für die tätige Muskulatur zur Verfügung.

Arterieller Blutdruck Bei zunehmender Arbeitsbelastung kommt es zu einem kontinuierlichen Anstieg des systolischen Blutdrucks, während der diastolische Druck weitgehend unverändert bleibt. Der arterielle Mitteldruck steigt mäßig an (Abb. 18.11). Wenn trotz des starken Anstiegs des Herzzeitvolumens der diastolische Druck kaum erhöht ist, kann dies nur auf eine drastische Verminderung des totalen peripheren Widerstands zurückzuführen sein. Die starke Vasodilatation in der arbeitenden Muskulatur ist die Ursache dafür. Bei Armarbeit sind die Druckanstiege höher als bei Beinarbeit (Abb. 18.11), da bei ersterer nur eine relativ kleine Muskelmasse aktiviert wird und infolgedessen die Dilatation der beteiligten Widerstandsgefäße den peripheren Widerstand weniger senkt als bei Beinarbeit.

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18 Leistungsphysiologie bestimmt wird. Letzterer wird durch Training erhöht, was als eine metabolische Adaptation zu verstehen ist, die die Oxidationskapazität der Zellen erhöht.

Armarbeit Beinarbeit

200

arterieller Blutdruck (mmHg)

600

systolisch Ruhe

150

Mitteldruck

100

diastolisch 50 0

20

40

60

80

100

maximale O2-Aufnahme (%)

Abb.18.11 Arterieller Blutdruck (systolisch, diastolisch, Mitteldruck) während Körperarbeit. Armarbeit und Beinarbeit wurden getrennt untersucht. Bei Armarbeit (Rasenmähen, Heckenschneiden) sind höhere Blutdruckanstiege zu erwarten als bei Beinarbeit (Radfahren, Joggen) (nach 1).

Der hohe Blutdruckanstieg ist in der Praxis von Bedeutung, weil z. B. bei älteren Menschen während Armtätigkeiten wie Rasen mähen oder Hecken schneiden häufig Herzinfarkte oder Schlaganfälle auftreten. Das Herz muss dabei gegen einen höheren Widerstand, der eine gesteigerte Herzmuskeldurchblutung erforderlich macht, anarbeiten, was aber häufig wegen verengter Herzkranzgefäße nicht möglich ist. Auch kann der gesteigerte Blutdruck zur Zerreißung von Hirngefäßen führen (Schlaganfall). Da bei Arbeit nennenswerte Anstiege der mittleren Venendrücke in den peripheren Kreislaufabschnitten nicht zu erwarten sind, ist der arteriovenöse Druckgradient und damit die treibende Kraft für die Herzfüllung und für das Herzzeitvolumen deutlich vergrößert.

Arteriovenöse Sauerstoffdifferenz Die Ausschöpfung des arteriellen Blutes, die in Ruhe 40 – 60 ml Sauerstoff pro 1 l Blut beträgt, steigt bei zunehmender Arbeitsbelastung zunächst stark an, um dann nur noch wenig zuzunehmen. Sie erreicht bei Untrainierten 120 – 140 ml/l Blut, ist jedoch beim Trainierten deutlich höher, wobei Werte von 170 – 180 ml Sauerstoff pro l Blut erreicht werden. Diese Werte übersteigen die Ruhewerte um das 3- bis 4fache (Abb. 18.9 D). Die Höhe der Sauerstoffausschöpfung ist von Faktoren bestimmt, die sich bei Muskeltätigkeit verändern: – von der kapillären Austauschfläche, die durch die Vasodilatation in den tätigen Bereichen vergrößert ist; – von der Temperatur im Muskelgewebe, die sich bei Arbeit erhöht, und dem pH-Wert, der sich nach unten verschiebt, was die Sauerstoffabgabe ins Gewebe erleichtert (Rechtsverschiebung der O2-Bindungskurve s. S. 284 f.); – von der O2-Aufnahmekapazität der einzelnen Muskelzellen, die durch den Enzymbesatz der Mitochondrien

Abschließend lässt sich sagen, dass zur Steigerung der Sauerstoffaufnahme bei körperlicher Arbeit die Herzfrequenzzunahme und die vermehrte Ausschöpfung des Blutes am meisten beitragen.

Muskeldurchblutung Bei der Kreislaufanpassung an körperliche Arbeit spielen die Faktoren, die die Muskeldurchblutung regulieren, eine zentrale Rolle. Zunächst werden aus den tätigen Muskelzellen lokal Metaboliten wie anorganisches Phosphat, Wasserstoff- und K+-Ionen freigesetzt. Gleichzeitig wandern Na+-Ionen und Wasser in die Zellen. Daraus resultiert eine Osmolalitätssteigerung im Interstitium. Alle Faktoren zusammengenommen (Abb. 18.12) hemmen die Noradrenalinfreisetzung aus den adrenergen Nervenendigungen in den glatten Gefäßmuskelzellen, so dass deren Fähigkeit zur Kontraktion vermindert bzw. ganz aufgehoben wird. Hinzu kommen noch endotheliale Faktoren, die über NO ebenfalls eine Dilatation einleiten. Die daraus resultierende Mehrdurchblutung hat stromaufwärts eine Dilatation der Arterien zur Folge (s. a. S. 145 und 213 f.). In der Beinmuskulatur des Menschen ist bei leichter und mittlerer Arbeit eine 3- bis 4fach höhere Durchblutung zu erwarten als in Ruhe. Unter schwerster Belastung kann das Gefäßbett der Streckmuskulatur des Kniegelenks beispielsweise bis zu 2,5 l Blut pro min aufnehmen, wobei 0,35 l Sauerstoff/min pro kg Muskulatur vom Gewebe extrahiert werden. Das wäre für das umschriebene Muskelgebiet eine Steigerung um das 10fache. Da das maximale Herzzeitvolumen ca. 25 l/min beträgt, kann man daraus schließen, dass höchstens etwa 10 kg, d. h. ein Drittel der gesamten Skelettmuskulatur, gleichzeitig maximal tätig sein kann. Mehr an Blutvolumen pro Zeit kann das Herz in der Regel nicht bereitstellen, womit ganz klar der zentrale Kreislauf, also das Herz und das Lungengefäßbett als Volumenreservoir, als ein limitierender Faktor für die körperliche Höchstleistung anzusehen ist. Auf der anderen Seite wird daraus auch erkennbar, wie wichtig die Kontrolle der vasokonstriktorischen Aktivitäten der nichtbeanspruchten Muskulatur ist. Das Fehlen extra-zellulärer Metabolite, die Anwesenheit von Adrenalin (präsynaptische β2-Rezeptoren) sowie von Angiotensin II sorgen dort für eine hohe Freisetzung von Noradrenalin und ATP aus den Nervenendigungen an der glatten Gefäßmuskulatur, was eine starke Vasokonstriktion garantiert (Abb. 18.12). Adrenalin kann aber auch über β2-Rezeptoren an den glatten Muskelzellen dilatatorisch wirksam werden. Welche Wirkung zum Tragen kommt, hängt von der Reizstärke ab. Der Sympathikus (Noradrenalin und ATP) und Adrenalin haben demnach eine zweifache Funktion: Sie fördern über eine Inotropieund Frequenzsteigerung des Herzens dessen Auswurfleistung und sorgen in der Peripherie für deren angemessene Verteilung auf die tätige Muskulatur. Überwiegt z. B. bei Armkurbelarbeit die Konstriktion in den großen Muskelmassen der Beine, kann die Vasodilatation in den

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18.2 Der Sauerstofftransport Muskelgewebe

adrenerge Faser

erregende Afferenzen: intrathorakale Rezeptoren Chemorezeptoren Ergorezeptoren

Arteriole

höhere Zentren

Hypothalamus

hemmende Afferenzen: arterielle Barorezeptoren intrathorakale Rezeptoren

Medulla oblongata Adrenalin Gefäßlumen

Ca

2+

Angiotensin ll Sympathikus

AP Osmolalität Kaliumionen + H -Ionen anorganische Phosphate

AT

b2

Noradrenalin

ATP

b2 a1

Vasodilatation

a2

P

glatte Gefäßmuskelzelle

Vasokonstriktion

Abb.18.12 Freisetzung von Noradrenalin und ATP in der glatten Gefäßmuskulatur von Skelettmuskeln. Die erhöhten Konzentrationen von K+-Ionen, H+-Ionen und anorganischen Phosphaten, die insgesamt zu einer erhöhten Osmolalität im Interstitium führen, wirken hemmend auf die Freisetzung der Transmitter Noradrenalin und ATP. Umgekehrt kann Angiotensin II die Freisetzung der Transmitter fördern.

kleinen Armmuskeln eine überschießende Blutdruckerhöhung nicht auffangen (Abb. 18.11). Wie wichtig diese periphere Widerstandsregelung ist, wird bei Patienten deutlich, die durch Erkrankungen des sympathischen Nervensystems nicht in der Lage sind, die notwendige Vasokonstriktion in den inaktiven Muskeln zu initiieren. Unter Belastung erhöht sich bei ihnen der Blutdruck nicht, sondern er fällt ab, so dass sie unfähig sind, die Arbeit zu verrichten. Ein Ergometertest kann solche Fehlleistungen des autonomen Nervensystems frühzeitig aufdecken.

Die Kreislaufregulation bei Arbeit Die Aufgabe der Kreislaufregulation bei körperlicher Arbeit ist es, die Ansprüche der Peripherie, d. h. der tätigen Muskeln, mit den Möglichkeiten des zentralen Kreislaufs in Übereinstimmung zu bringen (s. a. S. 212). Konkret heißt das, die Förderleistung des Herzens an die Erfordernisse des Stoffwechsels der tätigen Muskulatur anzupassen. Um diese Aufgabe zu erfüllen, bedarf es regulieren-

Sympathikus

Nebennierenmark

Adrenalin Noradrenalin

Noradrenalin, ATP

Herz: Frequenz Kontraktilität Zeitvolumen

Gefäße: nichtaktive Muskeln Niere Magen-Darm-Trakt

Abb.18.13 Reflektorische Anpassung von Herz und Kreislauf. Sie beinhaltet eine Vasokonstriktion der nichtaktiven Gebiete (Muskeln, Niere, N. splanchnicus) und dadurch eine Umleitung der Durchblutung in die aktive Muskulatur (nach 15).

der Zentren, die in der Medulla oblongata liegen (Abb. 18.13 Mitte; S. 198 f. u. 797 f.). Diese Zentren erhalten Informationen aus der Peripherie, d. h. aus den Kreislauforganen und den Muskeln. Die in Abb. 18.13 links oben eingetragenen Afferenzen vermitteln fördernde Impulse auf die Zentren, die Afferenzen rechts oben hemmen sie. Ferner beeinflussen höhere Zentren (Kortex) jene der Medulla oblongata stimulierend, die ihrerseits die hemmenden und fördernden Impulse verarbeiten und die Herztätigkeit sowie die nichtaktiven Gefäßgebiete kontrollieren. Adrenalin und Noradrenalin treiben das Herz an und bewirken die Vasokonstriktion in den nichtaktiven Gefäßgebieten (Abb. 18.12 und 18.13). Die stimulierenden Impulse aus den intrathorakalen Gefäßgebieten stammen von Rezeptoren in den Vorhöfen, in den herznahen Venen und im Lungengefäßbett (Niederdrucksystemrezeptoren). Sie informieren über den Volumengehalt dieser Gefäßabschnitte sowie über die mechanische Aktivität des Herzens selbst. Die Chemorezeptoren senden auch stimulierende Impulse aus. Unter Ergozeptoren versteht man freie Nervenendigungen, die auf die veränderte chemische Zusammensetzung der interstitiellen Flüssigkeit in den aktiven Muskeln ansprechen und fördernd wirken. Deren Existenz ist bislang morphologisch noch nicht nachgewiesen, aber zahlreiche Ergebnisse physiologischer Experimente machen sie sehr wahrscheinlich (17). Letztlich soll durch die Aktivierung eine Beseitigung von Metaboliten erreicht werden. Hemmende Impulse gehen von den auf der Hochdruckseite des Kreislaufs gelegenen Barorezeptoren aus, die sowohl intrathorakal im Aortenbogen gelegen sind als

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auch extrathorakal im Karotissinus. Intrathorakale hemmende Impulse können auch von Niederdrucksystemrezeptoren ausgelöst werden, wenn z. B. eine niedrige Volumenfüllung zentraler Kreislaufabschnitte ein hohes Herzzeitvolumen nicht zulässt. Aber auch ohne diese Rückmeldungen beeinflussen höhere Zentren von sich aus Herz und Gefäße. Diese Meldungen werden vom ZNS gleichzeitig mit den motorischen Impulsen zur Muskulatur abgeschickt. Es handelt sich also um eine zentrale Mitinnervation von Herz und Gefäßen, aber auch die Atmung wird dabei stimuliert. So sind beispielsweise Steigerungen der Herzfrequenz und des Blutdrucks bei Sportlern vor Beginn der Leistung als Startreaktion bekannt. In dieser Phase sind die Stoffwechselvoraussetzungen für eine Vasodilatation noch nicht gegeben, so dass das über die Herzfrequenz gesteigerte Herzzeitvolumen eine Blutdruckerhöhung auslöst. Sie kann erst dann zur erhöhten Perfusion genutzt werden, wenn die arbeitenden Muskelgefäßgebiete dilatiert sind. Den oben genannten Kurzzeitregulationen durch den Sympathikus und Adrenalin sind Langzeitregulationen zur Seite gestellt, deren Effekte durch Training ausgelöst und unterhalten werden. Diese garantieren durch zahlreiche Mechanismen ein adäquates Füllungsvolumen des Kreislaufs, ohne welches die Steigerung der Förderleistung des Herzens bei Arbeit nicht denkbar wäre. Die bereits erwähnte Vergrößerung des Blutvolumens bei Sportlern kann dazu gezählt werden. Die Lebervergrößerung sowie die Vergrößerung der Hormonproduktionsstätten (Nebennieren) sind ebenfalls als Langzeitanpassungen an Arbeit anzusehen, die die Kurzzeitregulationen erst voll zur Wirkung kommen lassen.

maximale O2-Aufnahme (l/min)

18 Leistungsphysiologie Männer

4

3

Frauen 2

1 10

20

30

40

50

60

60

70

Alter (Jahre)

A

6

maximale O2-Aufnahme (l/min)

602

4

3

untrainiert 2

B

trainiert

5

20

30

40

50

Alter (Jahre)

Abb.18.14 Maximale Sauerstoffaufnahme in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht und Trainingszustand. Durch Training kann die altersbedingte Abnahme der maximalen O2-Aufnahme auf ein höheres Niveau verschoben werden (A nach 11, B nach 1).

Die maximale Sauerstoffaufnahme: ein Maß für die körperliche Leistungsfähigkeit Bei der Beurteilung der Sauerstoffaufnahmefähigkeit des Organismus sind die Absolutwerte in l/min sowie, um verschiedene Probanden vergleichen zu können, die körpergewichtsbezogenen Werte in l/min pro kg zu berücksichtigen. Die genauesten Werte sind zu erhalten, wenn die gemessene O2-Aufnahme auf die fettfreie Körpermasse bezogen wird (lean body mass); das ist diejenige Körpermasse, die bei Körperarbeit den Sauerstoff verbraucht, also hauptsächlich die aktive Muskulatur (S. 590 f.). Vor der Pubertät sind geschlechtsspezifische Unterschiede der Sauerstoffaufnahme kaum feststellbar. Bei Kindern ist generell die aerobe Kapazität noch vermindert (Abb. 18.14 A). Vom 10. Lebensjahr an nimmt die aerobe Kapazität steil zu und erreicht bei 14- bis 16-jährigen Mädchen bereits ein Maximum von ca. 2,6 l/min, das dann bis zum 25. Lebensjahr erhalten bleibt. Die jungen Männer erreichen ihr Maximum erst 2 – 3 Jahre später, wobei die Werte ungefähr bei 3,6 l/min liegen. Vom 25. Lebensjahr an kommt es bei beiden Geschlechtern zum kontinuierlichen Abfall, so dass bis zum 60. Lebensjahr die maximale Sauerstoffaufnahme um ein Drittel reduziert ist (Abb. 18.14 A). Ausdauertraining kann diesen Alterungsprozess teilweise aufhalten (Abb. 18.14 B). Der geschlechtsspezifische Unterschied der absoluten maximalen Sauerstoffaufnahme ist auf die geringere Kör-

pergröße der Frau und das geringere Körpergewicht, aber auch auf die geringere Muskelmasse und den höheren Fettanteil am Körpergewicht zurückzuführen (Tab. 18.1; S. 591). Dies bedingt auch eine geringere körpergewichtsbezogene Sauerstoffaufnahme (Abb. 18.15). Weitere Ursachen dafür sind die bei den Frauen um 20 % niedrigere Mitochondrienvolumendichte in den Muskeln und die gegenüber dem Mann geringere Hämoglobinmenge. Durch Training können diese Unterschiede nicht aufgehoben werden. Alle Faktoren zusammengenommen tragen dazu bei, dass bei Frauen die Sauerstoffaufnahme (auf das kg Körpergewicht bezogen) im Vergleich zu den Männern 20 % niedriger ist (Abb. 18.15). Die höchsten absoluten und relativen Werte werden bei Skilangläufern und -läuferinnen gemessen. Bei ersteren wurden O2-Aufnahmen von mehr als 6 l/min (85 ml/ min pro kg) gefunden. In die gleiche Kategorie können auch die Radrennfahrer einbezogen werden. Bei diesen Sportarten werden über lange Zeit große Muskelmassen beansprucht. Dagegen zeigen Sportarten, bei denen das Reaktionsvermögen (z. B. Fechten), die Koordination (z. B. Turnen) oder Kraft (z. B. Ringen, Gewichtheben) im Vordergrund stehen, weit niedrigere Werte (Abb. 18.15). Die Tatsache allein, Ausdauersport betrieben zu haben, kann jedoch die hohen Werte der maximalen Sauer-

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18.3 Leistung und Ausdauer Männer

te zutrifft. Antioxidativ wirkende Substanzen wie Vitamin C, E und A wirken dem entgegen und sollten bei erhöhter körperlicher Belastung in ausreichender Menge aufgenommen werden.

Frauen Skilanglauf Lauf 800 – 1500 m

18.3

Schwimmen Lauf 200 – 400 m Ski alpin Eisschnellauf Fechten untrainiert 8 6 4

0

l/min

ml/min pro l/min ml/min pro kg Körpergewicht kg Körpergewicht maximale Sauerstoffaufnahme

40 60 80

4

3 2

40 60 80

trainiert

3,3

55

44

3,2

untrainiert

2,3

38

Ruhe

4,8

max. Leistung

67

max. Leistung

Frauen

Ruhe

Männer

0

Mittelwerte (ml/min pro kg Körpergewicht)

Abb.18.15 Maximale Sauerstoffaufnahme (absolut bzw. pro kg KG) von Männern und Frauen bei unterschiedlichen Sportarten. Darunter sind Mittelwerte der Sauerstoffaufnahme pro kg Körpergewicht in Ruhe und bei maximaler Leistung für trainierte und untrainierte Männer und Frauen aufgeführt (nach 1).

Leistung und Ausdauer

Die Testverfahren zur Beurteilung der körperlichen Leistungsfähigkeit setzen teilweise kurzfristige (bis zu 10 Sekunden) oder länger dauernde Belastungen ein, die bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit heranreichen, wobei entweder die Zeit zum Absolvieren des Tests oder der Lactatspiegel oder die aufgenommene Sauerstoffmenge als Maß für die Leistungsfähigkeit genommen werden. Andere Verfahren begnügen sich mit submaximalen Belastungen, um dann auf die maximale Leistungsfähigkeit zu extrapolieren, da eine bekannte Proportionalität zwischen Herzfrequenz und Sauerstoffaufnahme während Arbeit besteht. Das Ergebnis der Tests ist bei gesunden Probanden in jedem Fall trainingsabhängig. Je widerstandsfähiger sie gegen Ermüdung sind, um so größer ist ihre Ausdauer, wobei zwischen anaerober, statischer und dynamischer und zwischen Kurz- und Langzeitausdauer unterschieden werden muss. Trainingseffekte auf die Muskulatur machen sich zunächst in einer Kraft- und später in einer Dickenzunahme der Muskulatur bemerkbar. Die Ermüdung ist entweder die Folge einer Anhäufung von Stoffwechselprodukten in den Zellen oder die Folge einer Verarmung an energiereichen Substraten. In der Erholungsphase müssen zunächst die arbeitsinduzierten Veränderungen abklingen und danach die Energievorräte wieder aufgebaut werden. Besondere Ernährungsschemata können die Beladung der Muskelzellen mit Glykogen fördern.

Leistungstests stoffaufnahme bei Ausdauersportlern nicht begründen. Vielmehr ist auch die genetisch vorbestimmte Verteilung von roten, langsamen Typ-S-Fasern zu weißen, schnellen Typ-F-Fasern von Bedeutung. Ein hoher Mitochondrienbesatz, ein hoher Myoglobingehalt und andere biochemische Charakteristika prädestinieren zur Ausübung von Ausdauersportarten. Damit spielt die genetische Komponente eine bedeutende Rolle beim Erfolg in diesen Wettbewerben.

Hoher Sauerstoffverbrauch bedeutet oxidativen Stress Bei Körperarbeit kann die O2-Aufnahme des Organismus um das 10 – 15fache und die O2-Versorgung des Muskelgewebes um das 100fache gesteigert sein. (Trotzdem kann dort eine Hypoxie vorliegen.) Dies führt leicht zu vermehrter Bildung von Sauerstoffradikalen. Radikale enthalten auf ihrer äußeren Elektronenschale unpaare Elektronen, was ihre hohe oxidative Fähigkeit ausmacht. Sie führen zur Oxidation von ungesättigten Fettsäuren in den Phospholipiden der Zellmembranen. Die Folgen sind frühzeitige Muskelermüdung und Muskelatrophie, was oxidativen Stress bedeutet und besonders für Untrainier-

Zur Ermittlung der Leistungsfähigkeit (Fitness) wurden zahlreiche Testverfahren entwickelt, deren methodische Voraussetzungen auf Abb. 18.1 (S. 591) dargestellt wurden. Sie lassen sich in drei verschiedene Kategorien einteilen: Kurzzeittests, Mittelzeittests, Messung der maximalen Sauerstoffaufnahme. Kurzzeittests. Sie dauern zwischen 10 und 30 Sekunden und können mit dem auf Abb. 18.1 abgebildeten Stufentest absolviert werden oder in einem 30-m-SprintTest bestehen. Diese Kurztests nehmen nur das Adenosintriphosphat- und das Kreatinphosphatsystem als Energielieferanten in Anspruch. Gemessen wird nur die Zeit zur Bewältigung der zurückgelegten Strecke, beim Stufentest gehen noch die Treppenhöhe und das Körpergewicht ein. Je kürzer die benötigte Zeit, um so besser hat der Proband sein ATP-KP-System mobilisiert. Obwohl man damit das ATP-KP-System nicht direkt untersucht hat, wird doch ein Teil der anaeroben Kapazität erfasst. In das Ergebnis eines solchen Tests gehen auch noch die motorischen Fähigkeiten (Hebelwirkungen der Gelenke) und die Koordination der Bewegung ein (nervale Steuerung der Motorik). Allerdings wird dabei nur die Oberschenkel- und Wadenmuskulatur getestet. Der Vorteil ist, dass man in

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18 Leistungsphysiologie kürzester Zeit viele Probanden testen und den Test in kurzen Zeitabständen wiederholen kann. Der Leistungszuwachs infolge eines Trainings kann damit relativ einfach verfolgt werden (Stoppuhr!). Mittelzeittests. Diese Art von Tests dauern zwischen 30 und 180 Sekunden, werden auf dem Fahrradergometer durchgeführt und beanspruchen zur Energielieferung hauptsächlich das glykolytische System, das in dieser Zeit bis zu 70% der benötigten Energie zur Verfügung stellt. Die Aktivierung des glykolytischen Systems lässt sich am Anstieg der Lactatkonzentration im Plasma ablesen. Ein Proband wird während des Tests für etwa 2 – 3 Minuten bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit belastet. Am Ende der 3. Minute werden gewöhnlich die höchsten Lactatwerte beobachtet. Würde man den Verteilungsraum des Lactats kennen, so könnte man aus der Lactatkonzentration die gesamte während der Leistung produzierte Lactatmenge und daraus die freigesetzte Energie errechnen. Die bei einem solchen Test gemessene Sauerstoffschuld (S. 595 f.) kann hier als Maß der anaeroben Kapazität dienen. Messung der maximalen Sauerstoffaufnahme. Als ideales Maß für die Leistungsfähigkeit gilt die maximale Sauerstoffaufnahme pro Zeit (V˙O max), bezogen auf das Körpergewicht. Bei der Messung der V˙O max werden heutzutage außer der Sauerstoffaufnahme die CO2-Ausscheidung, die Herzfrequenz, die Ventilation und die Atemfrequenz gemessen und die daraus abgeleiteten Größen wie das Atemäquivalent (S. 597) errechnet. Mit einer niedrigen Belastung, entweder auf dem Laufband oder auf dem Fahrradergometer beginnend, wird nach jeweils 3 Minuten die Geschwindigkeit oder die Steigung des Laufbandes oder der Bremswiderstand des Fahrradergometers erhöht. Auf jeder Leistungsstufe sollen sich die Messgrößen, z. B. die Herzfrequenz oder die Sauerstoffaufnahme, auf den Folgewert einstellen, und der Ermüdungsrückstand aus der vorangegangenen Belastungsstufe sollte nicht zu hoch sein, so dass eine Weiterführung des Tests möglich ist. Erreichen die Sauerstoffaufnahme oder die Herzfrequenz auf einer Belastungsstufe einen Wert, der trotz einer weiteren Steigerung der Belastung nicht erhöht werden kann, ist der Proband ausbelastet. Das Atemäquivalent steigt dabei von etwa 20 – 25 auf 40 – 50 an. Ein solcher Test darf nur an gesunden Versuchspersonen vorgenommen werden. Er ist zeit-, personal- und kostenaufwändig und scheidet deshalb als Routinetest aus. Aus diesem Grund behilft man sich mit relativ einfach durchzuführenden submaximalen Testverfahren. Eine Kritik der Methoden ist angebracht: Bevor man irgendeinen Test anwendet, sollte man sich fragen, was man testen will und welchen Parameter man für die Leistungsfähigkeit gelten lassen möchte. Die Tests sollen objektiv, zuverlässig und aussagefähig, d. h. vom jeweiligen Prüfer unabhängig, genau, wiederholbar und auf möglichst viele Probanden anwendbar sein. Diese Kriterien sind häufig nicht mit einem einzigen Test zu erfüllen. Bei allen Tests ist man auf die aktive Mitarbeit der Testpersonen angewiesen; längerdauernde Tests, bei denen die Grenzen der Leistungsfähigkeit erreicht werden, können mit unangenehmen Begleiterscheinungen wie Muskelschmerzen und Übelkeit verbunden sein. Alter, 2

2

200

angenommene maximale Herzfrequenz: 195

180

Herzfrequenz (Schläge/min)

604

normal trainiert (1) 160

140

120

geschätzte V·O max 2

gut trainiert (2)

100

1 2

1

3

4

2 5

6

Sauerstoffaufnahme (l/min)

Abb.18.16 Herzfrequenz und Sauerstoffaufnahme zweier männlicher Probanden. Es wurde eine maximal erreichbare Herzfrequenz von 195 Schlägen/min angenommen und abszissenparallel eingetragen. Von deren Schnittpunkten mit den extrapolierten Messgeraden kann die maximale ˙O max auf der Abszisse abgeschätzt werden. O2-Aufnahme V ˙ O2max von 3,1 l/min, Proband 2 Proband 1 erreicht eine V eine von 4,6 l/min (nach 5). 2

Geschlecht, Tages- und Jahreszeit sowie Trainingszustand beeinflussen das Ergebnis erheblich. Testpersonen, die schon einen Herzinfarkt durchgemacht haben oder an anderen Erkrankungen leiden, dürfen bei den Untersuchungen nicht ausbelastet werden, da die Gefahr eines akuten Kreislaufversagens (Vorhof-, Kammerflimmern oder Reinfarkt) besteht. Während die Bestimmung der V˙O max meist auf sportphysiologische Fragestellungen beschränkt bleiben muss, haben die sog. submaximalen Testverfahren eine weite Verbreitung in der Arbeitsmedizin und in der Klinik gefunden. 2

Die submaximalen Testverfahren sind gute Hilfsmittel zur Überprüfung der Fitness Zwischen der arbeitsbedingten Sauerstoffmehraufnahme und der Herzfrequenz besteht in weiten Bereichen eine Proportionalität (Abb. 18.9 A, S. 598 u.18.16). Man kann diese Tatsache nutzen, um von submaximalen Werten der O2-Aufnahme auf die V˙O max zu extrapolieren. Obwohl die Vorhersagegenauigkeit mit einer gewissen Unsicherheit behaftet ist, hat sich dieses Verfahren bewährt. In einem anderen Verfahren verzichtet man ganz auf die Bestimmung der Sauerstoffaufnahme. Man trägt die im Dauerleistungsbereich ermittelten Herzfrequenzen gegen die entsprechenden Wattzahlen auf. In Analogie zu dem Verfahren auf Abb. 18.16 wird die Herzfrequenz auf einen Wert von 170 Schlägen/min hochextrapoliert und die entsprechende Wattzahl auf der Ordinate abgelesen. 2

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18.3 Leistung und Ausdauer Das Verfahren wird PWC170 (pulse work capacity) genannt. Man vergleicht lediglich Wattzahlen untereinander, wobei auch auf Herzfrequenzen von 150 oder 130 pro Minute extrapoliert werden kann (PWC150, PWC130). Die Normwerte für die PWC170 liegen bei Männern zwischen 2,4 und 2,8 W/kg, bei Frauen zwischen 2,2 und 2,4 W/kg. Die Vorteile dieser submaximalen Verfahren liegen darin, dass sie für die Testpersonen weniger belastend und daher risikoarm sind und dass in kurzer Zeit zahlreiche Testpersonen untersucht werden können. Nur ein Ergometer und ein Gerät zur Aufzeichnung der Herzfrequenz sind erforderlich.

Training steigert und erhält die körperliche Leistungsfähigkeit Training ist die Summe aller Maßnahmen, die zur Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit führt. Training besteht aus der mehr oder minder systematischen Wiederholung gezielter Muskelanspannungen, die morphologische und funktionelle Anpassungen der Muskulatur und ihrer Steuerung zur Folge haben. Die morphologischen Anpassungen können sich direkt an der beanspruchten Muskulatur manifestieren, aber auch an den Organen des sauerstofftransportierenden Systems, wenn z. B. beim Training große Muskelgruppen beansprucht werden. Zu den funktionellen Anpassungen zählt auch die bessere Koordination der Bewegung. Letztlich führt Training zur Ökonomisierung und Optimierung der Leistung bei einer Vergrößerung der Leistungsreserven. Das Training sollte möglichst 2- bis 3-mal wöchentlich durchgeführt werden, wobei große Muskelgruppen in verschiedener Form zu beanspruchen sind (Laufen, Gymnastik, Rudern, Rad fahren). Die Benutzung eines Heimtrainers in Form eines Fahrradergometers erhöht zwar auch die Leistungsfähigkeit des sauerstofftransportierenden Systems und die Kraft einiger Muskelgruppen, eine Verbesserung der Bewegungskoordination kommt jedoch wegen der Monotonie des Bewegungsablaufs nicht zustande.

Das Ausdauertraining Ausdauer kann als Widerstand gegen Ermüdung definiert werden. Im täglichen Sprachgebrauch wird die Fähigkeit, eine dynamische, allgemeine, aerobe Belastung über lange Zeit zu tolerieren, als Ausdauer bezeichnet. Es gibt aber genau genommen eine ganze Reihe verschiedener Ausdauerformen. Man unterscheidet folgende Formen der Ausdauer (nach Hollmann u. Hettinger): – Lokale Ausdauer, allgemeine Ausdauer. Wird weniger als ein Sechstel der Skelettmuskulatur eingesetzt, liegt eine lokale Beanspruchung vor; eine allgemeine Beanspruchung, wenn mehr als ein Sechstel aktiviert wird. – Statische, dynamische Ausdauer. Eine statische Ausdauerbelastung ist gegeben, wenn Kontraktionen ohne Entspannungsphasen auftreten. Eine dynamische Beanspruchung liegt vor, wenn sich Kontraktion und Erschlaffung schnell ablösen. – Aerobe, anaerobe Ausdauer. Wird die Energie unter Verbrauch von Sauerstoff bereitgestellt, spricht man

von aerober Belastung, ohne Inanspruchnahme von Sauerstoff ist eine anaerobe Belastung gegeben. – Ausdauer, gemessen an der Zeit der Belastung. Man unterscheidet eine Kurzzeitausdauer von 3 – 10 Minuten, eine Mittelzeitausdauer von 10 – 30 Minuten, eine Langzeitausdauer von 30 Minuten und länger sowie eine Ultralangzeitausdauer von mehr als 3 Stunden. Die bekannteste Trainingsform ist der Ausdauerlauf. Dabei sollte mit einer Geschwindigkeit von ca. 7 – 10 km/h gleichmäßig gelaufen werden (Trimmtrab) und die Herzfrequenz möglichst um oder unter 130 Schlägen pro Minute liegen. Natürlich hängt die dabei erreichte Geschwindigkeit vom Trainingszustand ab. Bei solchen Trainingsläufen sollten keine Rückstände des anaeroben Stoffwechsels in der Muskulatur akkumulieren und die Energie immer aerob aus dem Glykogen des Muskels und den Fettreserven gedeckt werden. Steigerungen der Atemfrequenz deuten auf Übersäuerung hin und sollten zur Drosselung des Lauftempos führen. Neben dem Marathonlauf (42,194 km) sind Langläufe über 100 km bekannt, ebenso Ausdauerleistungen, die sich über 10 – 15 Stunden erstrecken, wobei nacheinander 3,8 km geschwommen, 180 km Rad gefahren und 42,2 km gelaufen werden (Triathlon). Diese extremen Ausdauerleistungen zeigen, dass wahrscheinlich nicht die Substratverarmung in der Muskulatur, sondern andere Faktoren zur Beendigung solcher Extremleistungen zwingen.

Das Krafttraining führt zum Muskelwachstum Beim isometrischen Krafttraining kontrahiert sich der Muskel gegen einen Widerstand, ohne seine Länge zu ändern (S. 590). Der Vorteil des isometrischen Krafttrainings liegt darin, dass umschriebene Muskelgruppen gezielt trainiert werden können, was in der Rehabilitation nach Verletzungen wichtig ist. Ferner schont dieses Training die Gelenke. Nachteilig ist die mangelnde Übung der Koordination von Bewegungen. Täglich mehrmalige Wiederholung der Übungen über Tage und Wochen führt zur Zunahme der statischen Muskelkraft. Entscheidend für die Kraftzunahme ist die jeweils erzielte Spannung der Muskelfaser. Die aufgewendete Kraft pro Übung sollte mindestens 20 – 30 % der Maximalkraft betragen, um die bereits vorhandene Kraft beizubehalten; 60 % der Maximalkraft sollte eingesetzt werden, wenn optimale Ergebnisse erzielt werden sollen. Der Kraftzuwachs wird um so größer sein, je niedriger die Kraft zu Anfang war. Mit der Zeit nähert sich die Kraft einem Maximalwert. Der anfänglich erzielte Kraftzuwachs beruht auf der vermehrten Rekrutierung von vorher nicht aktivierten Fasern, was sich elektromyographisch nachweisen lässt. Nach einer gewissen Zeit setzt ein Dickenwachstum des Muskels ein, wobei der Zuwachs an Kraft/Querschnittsfläche nur noch gering ist (Abb. 18.17). Ein erfolgreiches Training geht auf die Dauer auch mit einer Zunahme des Faserquerschnitts einher. Es werden dabei vermehrt Aktin, Myosin, ATP und KP in die Zelle eingelagert, was als Hypertrophie bezeichnet wird. Vergrößert sich der Querschnitt, so vergrößert sich die Kraft. Die auf den Querschnitt bezogene Kraft beträgt 60 – 100 N/cm2. Wird ein Training abgebrochen, kommt es schnell zu einer Kraft-

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18 Leistungsphysiologie Training

Kraft/cm

2

Muskelquerschnittsfläche

statische Muskelkraft

Übung

integriertes EMG

606

Trainingsperiode Muskelquerschnitt kontrahierte Fasern

nichtkontrahierte Fasern

Abb.18.17 Auswirkungen eines längerdauernden Krafttrainings auf die statische Muskelkraft, auf die Muskelquerschnittfläche, auf Kraft/Muskelquerschnitt und auf das integrierte Elektromyogramm. In der ersten Trainingsphase ist die Zunahme der Kraft praktisch ausschließlich auf die verbesserte Rekrutierung bereits vorhandener Muskelfasern zurückzuführen. Erst zu einem späteren Zeitpunkt sind Querschnittvergrößerungen der einzelnen Muskelfasern, die sich dann in einer Umfangsänderung (Muskelquerschnittfläche) der Muskulatur bemerkbar machen, zu beobachten (nach 10).

abnahme. Hat das Training sehr lange gedauert, ist der anschließende Kraftverlust langsamer. Die Dauer des Trainings bestimmt also nicht nur die Maximalkraft, sondern auch, wie lange die Wirkungen des Trainings anhalten. Eine Sonderform des isometrischen Krafttrainings ist das isokinetische Training; dabei wird sowohl die Geschwindigkeit, unter der die Last bewegt wird, konstant gehalten als auch die Muskelkontraktion. Über den gesamten Bewegungsradius des Gelenks wird eine konstante Kraft eingesetzt, was eine gleichmäßige Kraftzunahme über alle Stellwinkel der Gelenke garantieren soll. Musterbeispiel: Klimmzug, Liegestütz. Diese Trainingsform wird z. B. beim Bodybuilding eingesetzt. Bei statischer Muskelarbeit besteht die Arbeit in einer einzigen ununterbrochenen Kontraktion, die unter Umständen lange anhalten kann. Die Muskelkontraktion bedingt einen erhöhten mechanischen Innendruck, der die Muskeldurchblutung behindert bzw. ganz unter-

bricht. Die Dauerleistungsgrenze für statische Muskelarbeit liegt bei weniger als 20 % der maximal möglichen Muskelkraft, weil dabei die Durchblutung völlig unterbrochen ist und der Muskel auf anaerobe Energiegewinnung umschalten muss, was schnell zur Anhäufung von Stoffwechselprodukten und damit zur Ermüdung führt. Die Auswirkungen statischer Arbeit werden häufig nur im Inneren des Körpers zur Stabilisierung der Gelenke wirksam (statische Haltearbeit). Im Verhältnis zur Größe des Energieumsatzes ist statische Haltearbeit wesentlich anstrengender als dynamische Arbeit. Die negativen Auswirkungen statischer Haltearbeit sind durch häufige, kurze Entspannungspausen zu beseitigen. Der Kraftzuwachs bei Krafttraining ist zumindest teilweise an die Neubildung von Muskelproteinen gebunden. Das Protein muss über die Nahrung zugeführt werden. Während normalerweise etwa 1 g/kg Körpergewicht am Tag als ausreichend angesehen wird, müssen beim Krafttraining täglich 2 – 3 g/kg Protein aufgenommen werden. Die in den Trainingspausen erhöhte Durchblutung der zuvor aktiven Muskulatur begünstigt den Muskelaufbau. Deshalb sollte die Proteinzufuhr kurz vor dem Training stattfinden. Die Trainierbarkeit der Muskulatur ist im Laufe des Lebens auch vom jeweiligen Angebot an männlichen Sexualhormonen abhängig. Vor der Pubertät ist die Trainierbarkeit, d. h. der Kraftzuwachs während des Trainings, bei beiden Geschlechtern gleich. Danach ist bei jungen Männern ein deutlich größerer Kraftzuwachs im Training feststellbar als bei Frauen. Nach dem 30. Lebensjahr kommt es bei beiden Geschlechtern zu einer Abnahme der Trainierbarkeit und damit zu einer Abnahme der Maximalkraft, und die geschlechtsspezifischen Unterschiede beginnen sich zu vermindern. Mit 65 sind Unterschiede kaum noch feststellbar. Durch Anabolika lässt sich das Muskelwachstum stimulieren. Sie werden verbotenerweise als Dopingmittel im Leistungssport eingesetzt. Es handelt sich um synthetische Substanzen, die vom Testosteron abgeleitet sind. Die sexualspezifische Wirkung ist dabei abgeschwächt und die anabole Wirkung verstärkt. Die Einnahme erhöht die trainingsbedingte proteinanbauende Muskelquerschnittzunahme. Allerdings ist die Zunahme des Gesamtquerschnitts des Muskels weniger ausgeprägt, als die Zunahme seiner Faserquerschnitte erwarten lässt, da der Bindegewebsapparat am Wachstum kaum teilnimmt. Die überproportionale Zunahme der Muskulatur ohne entsprechende Verstärkung des Stützgewebes erhöht die Verletzungsgefahr. Als weitere Nebenwirkungen sind beim Mann Leberschäden, Potenz- und psychische Störungen beschrieben worden, bei der Frau Maskulinisierungserscheinungen wie Bartwuchs und tiefe Stimme.

Training im Alter Nach dem 30. Lebensjahr setzt eine Reduktion der Skelettmuskulatur ein, die nach dem 50. Lebensjahr schneller voranschreitet und besonders die Antigravitationsmuskulatur betrifft. Sich Erheben und Aufrichten geschieht zunehmend unter Zuhilfenahme der Arme. Der Muskelschwund wird durch Querschnittsverminderung der einzelnen Muskelfasern verursacht sowie durch den

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18.3 Leistung und Ausdauer Abbau von schnellen Muskelfasern (Typ II). Durch Altersveränderungen an den motorischen Nervenfasern und durch Synapsenatrophie kommt es zu Koordinationsstörungen. Muskelschwäche und mangelnde Koordination der Bewegungen erhöhen die Sturzgefahr besonders beim Abwärtsgehen auf Treppen, da die geschwächte Muskulatur das Körpergewicht nicht abfangen kann (Antigravitation). Deshalb muss im Alter das Ausdauertraining durch ein Kraft- und Beweglichkeitstraining wie Gymnastik ergänzt werden, letzteres zum Erhalt der Koordinationsfähigkeit. Dadurch kann der aerobe Energiestoffwechsel auch im Alter verbessert und die maximale O2-Aufnahme gesteigert werden. Eine Zunahme der Muskelkraft ist durch Training auch bei älteren Menschen jenseits des 60. Lebensjahrs erreichbar.

Die Ermüdung ist die notwendige Begleiterin körperlicher Arbeit Als Ermüdung wird die vorübergehende Herabsetzung der Funktionstüchtigkeit eines Organs oder des gesamten Organismus bezeichnet. Grundsätzlich müssen die zur Ermüdung führenden Prozesse umkehrbar sein. Sie stehen damit im Gegensatz zu schädigenden Einflüssen, die zu langdauernden oder gar bleibenden Funktionseinbußen führen. Die Ermüdung kann zahlreiche Ursachen haben und sich verschiedenartig bemerkbar machen. Es kann sich um eine allgemeine Ermüdung handeln, die den ganzen Organismus betrifft, oder um eine partielle Ermüdung, z. B. einer umschriebenen Muskelgruppe, die einseitig stark beansprucht wurde. Man spricht auch von zentraler Ermüdung und meint damit die zentralnervösen Vorgänge wie mangelnde Aufmerksamkeit, die als Ermüdungsanzeichen auftreten, im Gegensatz zur peripheren Ermüdung, die sich auf in der Muskelzelle abspielende Prozesse bezieht. Sie spielt im Ermüdungsgeschehen wahrscheinlich die größere Rolle und wird zuerst behandelt.

Die Metabolitanhäufung in den Muskelzellen stört den Kontraktionsvorgang Während Arbeit werden je nach Belastung mehr oder weniger Lactat und H+-Ionen frei, die sich intrazellulär anhäufen. Der daraus resultierende erniedrigte pH-Wert hemmt die Phosphofructokinase und verlangsamt damit die Glykolyse. Dadurch wird die Substratbereitstellung verzögert. Ferner wird der Fettstoffwechsel beeinträchtigt, der hohe Energiemengen liefern könnte. Die freiwerdenden H+-Ionen verdrängen außerdem die Ca2+-Ionen vom Troponin und stören dadurch den Kontraktionsvorgang. Und nicht zuletzt kann die pH-Wert-Erniedrigung zur Stimulation von Nozizeptoren führen.

Sauerstoffversorgung Voraussetzung für eine weitgehend ermüdungsfreie Belastung ist die ausreichende Sauerstoffversorgung, die an einen intakten Kreislauf gebunden ist. Sie sollte so gesteigert werden, dass die Transportkapazität des Kreislaufs die respiratorische Kapazität der Mitochondrien in der Muskulatur übersteigt.

Störung der Homöostase Das „innere Milieu“ (Kap. 1) sollte auch bei körperlicher Arbeit wenig verändert werden. Diese Forderung würde voraussetzen, dass das Blutvolumen, die Osmolalität, die intra- und extrazellulären Ionenkonzentrationen, die Körpertemperatur sowie die Konzentrationen von Hormonen unverändert bleiben. Dies ist natürlich nicht der Fall. Überschreiten die Veränderungen ein bestimmtes Maß, kommt es zur Ermüdung, z. B. wenn bei Wassermangel das Blutvolumen abnimmt und sich damit die Sauerstofftransportkapazität vermindert. Ferner führen Temperaturanstiege in der tätigen Muskulatur zur Entkopplung von Oxidation und Phosphorylierung. In einem solchen Fall kann trotz unverminderter Sauerstofftransportkapazität das ATP in der Muskelzelle abfallen, und es kommt zu partieller peripherer Ermüdung.

Ermüdung des Muskels Funktionsuntüchtigkeit aufgrund von Ermüdung kommt immer dann zustande, wenn die Zeitspanne der Erschlaffungsphase nicht ausreicht, Defizite auszugleichen. Es muss dann zu einer Verarmung an energiereichen Substraten kommen. Zwar fallen bei Arbeitsbeginn sowohl die intramuskulären ATP- als auch die KP-Konzentrationen ab, aber der ATP-Spiegel bleibt auf einem erniedrigten Niveau konstant, da er sich aus den KP-Vorräten regeneriert. Sind die KP-Vorräte aufgebraucht, ist eine Kontraktion nicht mehr möglich. Bei statischer Haltearbeit ist dieser Punkt schnell erreicht. Bei dynamischer Arbeit, einen intakten Kreislauf vorausgesetzt, wird oxidativ aus den Glykogenvorräten Energie nachgeliefert, solange der Vorrat reicht. Fällt der Blutglucosespiegel bei langdauernder Belastung unter ein gewisses Niveau, das zur Normalfunktion des zentralen Nervensystems erforderlich ist, kommt es ebenfalls zur Ermüdung. Letztlich beruhen die oben geschilderten Formen der Ermüdung auf einer Verarmung an Substraten.

Einfluss extremer Umweltbedingungen Extreme Hitze oder Kälte kann sich ebenso nachteilig auswirken und zur Ermüdung führen wie Tätigkeiten in große Höhe (O2-Mangel). Ermüdung tritt dann früher ein.

Zentrale Ermüdung Bei körperlicher Arbeit müssen zahlreiche Organe und Organsysteme in ihrer Funktion aufeinander abgestimmt werden, was eine Aufgabe des zentralen Nervensystems ist. Die integrativen Zentren des zentralen Nervensystems, der sensorische Kortex, das Rückenmark, das Kleinhirn, die Motoneurone und schließlich die motorische Endplatte sind an diesen zentralnervösen Prozessen beteiligt. Das Zusammenspiel dieser Strukturen kann anfällig werden, z. B. durch Schmerzempfindungen, die aus den Muskeln und Gelenken kommen. Messungen der Körpertemperatur, des Lactatwerts und der Herzfrequenz können zur Beurteilung des Er-

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18 Leistungsphysiologie letztes hartes Training

hohe Kraftbelastung einzelner motorischer Einheiten

Auffüllen der Energiespeicher Risse in den Z-Scheiben

reflektorische Verspannung

schlechte Durchblutung Schmerzverstärkung

Abb.18.18 Mechanismen, die zur Entstehung eines Muskelkaters führen (nach 6).

müdungsgrades beitragen. Als ein relativ zuverlässiges Maß kann u. a. die Erholungspulssumme (S. 599) angesehen werden.

Muskelkater Unter Muskelkater versteht man Schmerzen, die frühestens mehrere Stunden nach einer ungewohnten Kraftbelastung in den Muskeln auftreten und einige Tage anhalten. Neuerdings konnten Zerreißungen von Z-Scheiben in einzelnen Fibrillen im Elektronenmikroskop nachgewiesen werden. Danach kommt es zum Abbau der zerstörten Faserstrukturen. Infolgedessen ist eine Wassereinwanderung in die Zellen zu erwarten, die eine Schwellung und Schmerzen verursacht. Die Durchblutung kann dadurch lokal gedrosselt werden, was die Schmerzen noch verstärkt. Der Ablauf des Geschehens ist in Abb. 18.18 dargestellt. Schulung der Koordination der Bewegung sowie passives Dehnen vor der Belastung wirken der Entstehung von Muskelkater entgegen. Besondere therapeutische Maßnahmen zur Behandlung sind nicht bekannt.

Erholung In der Erholungsphase nach Arbeit müssen zwei wichtige physiologische Abläufe voneinander getrennt betrachtet werden. Zum einen sind die Stoffwechselzwischenund -endprodukte aus den Muskeln abzutransportieren und auszuscheiden bzw. zu verstoffwechseln. Dabei muss in erster Linie an das Kohlendioxid, das Lactat und die H+-Ionen gedacht werden. Zum anderen sind die entstandenen Defizite in der Energie- und Wasserbilanz auszugleichen.

100

2/3 0

1.

2.

3.

4. Tag

Le is tu ng sp ha se

Wassereinwanderung Schwellung, Schmerz

1/3

Ru h Vo erb un er d ei tu ng sp ha se

Eiweißabbau zu kleineren Molekülen

Glykogenvorrat (%)

Kraftverlust

200

Ab kl i Au ngp fb ha au s ph e as e

608

Abb.18.19 Ablauf der Erholungsphase. Der kurzen Abklingphase folgen die Aufbau- und Ruhephase, in welchen, um einen optimalen Effekt zu erzielen, kein Training absolviert werden sollte. In dieser Erholungsphase kann bei kohlenhydratreicher Kost (gegenüber einer normalen Auffüllung = 100%) eine überproportionale Auffüllung (200%) der Glykogenvorräte erreicht werden, wenn das vorangegangene letzte Training erschöpfend war, d. h. die Energiespeicher völlig entleert wurden. Der Vorgang dauert etwa 2 Tage.

Unmittelbar an die Beendigung der Arbeit schließt sich die Abklingphase an (Abb. 18.19). Dabei kehren Herzund Atemfrequenz, die erhöhte Körperkerntemperatur, die erhöhten Evaporationsraten und die erniedrigten pHWerte wieder zur Norm zurück. Nach kurzdauernden Leistungen im Minutenbereich dauert dies 3 – 5 Minuten, bei Langzeitausdauerbelastungen 20 – 30 Minuten. Handelt es sich bei der vorangegangenen Belastung um eine Langzeitausdauerbelastung, die mehr als 30 – 40 Minuten dauerte, und wurde sie mit etwa 60 % der V˙O max durchgeführt, so kann man von erheblichen Defiziten in der Energiebilanz ausgehen. Die Glykogenvorräte in der Muskulatur und der Leber dürften nahezu völlig entleert sein. Damit wären günstige Voraussetzungen geschaffen, die Defizite nicht nur auszugleichen, sondern sie durch Einhaltung einer kohlenhydratreichen Kost überproportional aufzufüllen. Dies geschieht in der Aufbauphase. Der Vorgang wird Superkompensation genannt. Normalerweise enthält die Muskulatur etwa 300 – 400 g Glykogen. Nach Beendigung eines solchen Superkompensationsvorgangs können die Glykogenvorräte auf das Doppelte erhöht werden, nämlich bis zu 800 g (200%, Abb. 18.19). Dieser Vorgang dauert etwa 48 Stunden. Die kohlenhydratreiche Ernährung muss mit einer hohen Flüssigkeitszufuhr kombiniert werden, denn zum Aufbau von 1 g Glykogen sind 2,3 g Wasser notwendig. Das bedeutet eine zusätzliche Wasserspeicherung von fast 1 l, der beim Glykogenabbau in einer anschließenden Leistungsphase dem Extrazellulärraum wieder zur Verfügung steht. Man erkennt, wie in der Aufbauphase die

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Literatur Regulation des Energiehaushalts mit der des Wasserhaushalts abgestimmt sein muss. Die Anwendung dieser Erkenntnisse war unter anderem die Voraussetzung für die gesteigerten Ausdauerleistungen, die in den letzten Jahrzehnten beobachtet wurden.

Zum Weiterlesen … 1 Åstrand PO, Rodahl K, Dahl HA, Strømme SB. Textbook of Work Physiology. 4th ed. Champaign/Illinois: Human Kinetics; 2003 2 Brooks GA, Fahey TD, White TP. Exercise Physiology: Human Bioenergetics and its Applications. 2nd ed. Mountain View/California: Mayfield; 1996 3 Hollmann W, Hettinger TH. Sportmedizin – Grundlagen für Arbeit, Training und Präventionsmedizin. 4. Aufl. Stuttgart: Schattauer; 2000 4 de Marées H. Sportphysiologie. 9. Aufl. Köln: Sport und Buch Strauss; 2002 5 McArdle WD, Katch FI, Katch VL. Exercise Physiology: Energy, Nutrition, and Human Performance. 4th ed. Baltimore/Maryland: Williams & Wilkins; 1996 6 Sharkey BJ. Fitness and Health. 4th ed. Champaign/Illinois: Human Kinetics; 1997 7 Wilmore JH, Costill DL. Physiology of Sport and Exercise. Champaign/Illinois: Human Kinetics; 1994

… und noch weiter 8 Armstrong LE. Performing in Extreme Environments. Champaign/Illinois: Human Kinetics; 2000 9 Böning D. Muskelkater – Ursachen, Vorbeugung, Behandlung. Dtsch Z Sportmed. 1988; 39: 4 – 7 10 Fukunaga T. Die absolute Muskelkraft und das Muskeltraining. In: Hollmann W, Hettinger TH. Sportmedizin – Arbeits- und Trainingsgrundlagen. Stuttgart: Schattauer; 1976 11 Hermansen L. Individual differences. In: Larsen LA. Fitness, Health, and Work Capacity. International Standards for Assessment. New York: Macmillan; 1974 12 Holmgren A, Åstrand P-O. DL and the dimensions and functional capacities of the O2 transport system in humans. J Appl Physiol. 1966; 21: 1463 – 1470 13 Knechtle B. Aktuelle Sportphysiologie – Leistung und Ernährung im Sport. Basel: Karger; 2002 14 Larsen OA, Malmborg O. Coronary Heart Disease and Physical Fitness. Kopenhagen: Munksgaard; 1971 15 Müller EA. Die physische Ermüdung. In: Baader EW. Handbuch der gesamten Arbeitsmedizin, Bd. I. München: Urban & Schwarzenberg; 1961 16 Romijn JA, Coyle EF, Sidossis LS, Gastaldelli A, Horowitz JF, Endert E, Wolfe RR. Regulation of endogenous fat and carbohydrate metabolism in relation to exercise intensity and duration. Am J Physiol. 1993; 265: E380 – 391 17 Saltin B. Physiological effects of physical conditioning. Med Sci Sports Exerc. 1969; 1: 50 18 Sen CK. Oxidants and antioxidants in exercise. J Appl Physiol. 1995; 79: 675–686 19 Sheperd JT. Circulatory response to exercise in health. Circulation. 1987; 76 (Suppl. VI): VI 3 – VI 10

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611

Bauelemente des Nervensystems R. Klinke

19.1 Das zentrale Nervensystem – Grundlage bewussten Menschseins

···

19.2 Grundfunktionen des Nervensystems

612 ···

612

19.3 Nerven- und Gliazellen

· · · 612 Die Nervenzellen besitzen spezialisierte Fortsätze und spezialisierte Membranbezirke · · · 613 Im Axon können Stoffe transportiert werden · · · 614 Die Umgebung der Neurone: Gliazellen und Extrazellulärräume · · · 614

19.5 Reizverarbeitung in neuronalen Netzwerken · ·· 619 Es gibt myelinisierte und nichtmyelinisierte Nervenfasern · · · 619 Krankheiten können die Myelinscheiden angreifen · ·· 622 Synaptische Vorgänge leiten neuronale Verrechnungsprozesse ein · ·· 623 Neuronale Netzwerke können Informationen verteilen, sammeln, umpolen und extrahieren ··· 623

19.4 Initiale Schritte der Informationsverarbeitung ··· 616 Rezeptoren nehmen Umweltreize auf · · · 617 Im Transduktionsprozess wird der Reiz in ein körpereigenes Signal, das Rezeptorpotenzial, umgesetzt ··· 617 Aktionspotenziale dienen der Langstreckenübertragung von Informationen · · · 618 Manche Rezeptoren reagieren stärker auf die Änderung einer Zustandsgröße als auf die Größe selbst · · · 619

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19 Bauelemente des Nervensystems

19.1

Das zentrale Nervensystem – Grundlage bewussten Menschseins

Die bislang in diesem Lehrbuch vorgestellten Organfunktionen sind alle wichtige, ja meist unabdingbare Voraussetzungen für das Leben eines höheren Organismus. Dennoch, ein sinnvolles Verhalten ist damit noch nicht möglich. Es bedarf dazu einer übergeordneten Kontrollinstanz, die die vielen Organfunktionen koordiniert, Informationen aus der Umwelt aufnimmt und verarbeitet und schließlich eine zweckmäßige Beantwortung einleitet. Diese Kontrollinstanz ist unser Zentralnervensystem. Wir sind noch immer weit davon entfernt, dieses Organsystem zu verstehen, so komplex sind sein Aufbau und seine Funktion. Mindestens 1011 Nervenzellen bauen das zentrale Nervensystem auf; untereinander gehen diese Zellen mannigfaltigste Verknüpfungen ein; deren Zahl wird auf 1014 oder noch mehr geschätzt. Diese Verknüpfungen bilden die Grundlagen jeder von uns durchgeführten Aktion, von Sinnesempfindungen, von Erkenntnisprozessen und von Gefühlen wie Glück, Traurigkeit, Eifersucht. Da das zentrale Nervensystem also Grundlage jeden bewussten Menschseins ist, ergibt sich auch, dass krankhafte Veränderungen im Nervensystem gravierende Folgen für den betroffenen Menschen haben. Sie erzeugen oft erschütternde Krankheitsbilder, man denke z.B. an die tiefgreifenden Persönlichkeitsveränderungen beim Morbus Alzheimer.

19.2

Grundfunktionen des Nervensystems

Das zentrale und das periphere Nervensystem ermöglichen uns sinnvolles Verhalten. Grundlage sind die informationsverarbeitenden Prozesse, die in den neuronalen Netzwerken ablaufen. Unser Wissen über die Funktionen des menschlichen zentralen Nervensystems kommt insbesondere aus folgenden Quellen: – dem Studium von Funktionsausfällen bei umschriebenen Hirnläsionen; – sorgfältigen neuroanatomischen Studien; – Rückschlüssen aus Tierversuchen, insbesondere aus Versuchen an höheren Säugetieren; – dem Ergebnis elektrischer Reizungen während neurochirurgischer Eingriffe am wachen Patienten; – der Analyse der elektrischen und magnetischen Hirnaktivität; – modernen bildgebenden Verfahren. Gerade auf dem Gebiet der Neurowissenschaften ist eine stürmische Entwicklung zu konstatieren. Neue bildgebende Verfahren (S. 831) und Markierungstechniken erlauben es, nicht nur die Morphologie des lebenden Gehirns in hoher Auflösung darzustellen, wofür im Jahre 2003 der Nobelpreis für Medizin an Lauterbur und Mansfield verliehen wurde. Sie sind sogar geeignet, den Stoffwechsel am arbeitenden Gehirn zu messen und so die Aktivität bestimmter Hirnareale beim Ablauf kognitiver Prozesse darzustellen. Zu den schon klassischen elektrophysiologischen Methoden der Funktionsanalyse ist die Magnetenzephalographie getreten. Die durch Hirntätig-

keit erzeugten Magnetfelder können damit nachgewiesen und zur Funktionsanalyse herangezogen werden. Andererseits können durch magnetische Wechselfelder am intakten Kopf umgrenzte Hirnregionen gereizt werden (transkranielle Magnetstimulation). Die Wirkung beruht auf einer Induktion elektrischer Ströme durch das magnetische Wechselfeld. Hochspezifische Neuropharmaka wirken auf ganz bestimmte synaptische Prozesse ein und modifizieren das Verhalten oder kompensieren die Auswirkungen von neurologischen Erkrankungen. So sind einerseits tiefe Einblicke in die neuronalen Grundlagen des Verhaltens möglich geworden, andererseits haben sich breite therapeutische Möglichkeiten eröffnet. Es ist gut, sich schon jetzt vor Augen zu halten, dass Gehirn und Rückenmark keine statischen Organe sind, sondern einer ständigen Modifikation durch Umweltreize unterliegen. So bewirken Unterschiede in Erbgut und Erfahrung unter anderem, dass ganz unterschiedliche Fähigkeiten herausgebildet werden, vom begabten Mathematiker über den begnadeten Musiker zum wortgewandten Literaten. Lernvorgänge, wie (hoffentlich) das Lesen dieses Buches, verändern den Zustand des zentralen Nervensystemes ständig und passen unser Verhalten den Erfordernissen an. Bei Verletzungen peripherer Nerven oder von Sinnesorganen können ganz massive plastische Umordnungen im Gehirn vorkommen, die entstandene Defizite partiell kompensieren. Schließlich sei an die enge Verflechtung zwischen Nervensystem und endokrinem System (Kap. 16) erinnert. Beide Systeme haben ähnliche Aufgaben, nämlich periphere Organe über chemische Botenstoffe zu beeinflussen und sind somit gleichermaßen an Anpassungsvorgängen beteiligt. Das Nervensystem wird in das zentrale Nervensystem, bestehend aus Gehirn und Rückenmark, und das periphere Nervensystem eingeteilt. Letzteres besteht aus den Nerven, die Informationen vom Körper oder der Umwelt an das Gehirn oder Rückenmark melden oder umgekehrt vom Gehirn oder Rückenmark aus Organfunktionen beeinflussen. Dementsprechend enthält das periphere Nervensystem also afferente und efferente Systeme. In den folgenden Kapiteln 20 – 30 wird erst der afferente Informationsfluss zum Gehirn besprochen, danach werden die efferenten Effektorsysteme bzw. intrazerebralen Prozesse dargestellt.

19.3

Nerven- und Gliazellen

Das Nervensystem setzt sich in erster Linie aus Nervenund Gliazellen zusammen. Das Axon einer Nervenzelle leitet Informationen an Effektororgane und andere Neurone weiter. Die synaptischen Eingänge liegen an Zellsoma oder Dendriten. Der Zellkern eines Neurons steuert die Proteinsynthese. Zur Zellteilung ist das Neuron aber nicht mehr fähig. Aus dem Zellsoma können Stoffe entlang des Axons zu den Terminalen transportiert werden oder umgekehrt von dort zum Soma gelangen. Mechanismen dieses axonalen Transports sind möglicherweise auch an der Regeneration geschädigter peripherer Neuriten beteiligt. Die um die Neurone herumliegenden Gliazellen leisten wichtige Aufgaben für die Funktion von Nervenzellen.

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19.3 Nerven- und Gliazellen Sie greifen in die Entwicklung des ZNS ein, sie halten das Milieu um die Neurone konstant, modulieren synaptische Prozesse und bilden Markscheiden.

axodendritische Synapse

Wie schon gesagt, wird die Zahl der Neurone im menschlichen ZNS auf mindestens 1011 geschätzt. Sie können nur dann ordnungsgemäß arbeiten, wenn ihr Umgebungsmilieu in einem bestimmten Zustand gehalten wird. Dafür sorgen die Gliazellen, deren Zahl die der Neurone um das 10- bis 50fache übersteigt. Sie schaffen die Voraussetzungen für die Ontogenese und für eine dauerhafte Arbeitsfähigkeit der Neurone bzw. der daraus aufgebauten neuronalen Netzwerke, nehmen aber an den informationsverarbeitenden Prozessen nicht direkt teil. Die Fähigkeit der Neurone zu informationsverarbeitenden Prozessen beruht einmal auf ihren komplexen Verknüpfungen untereinander und mit Rezeptoren und Effektoren, zum anderen auf ihrer Möglichkeit, durch Änderung von Ionenflüssen an ihrer Zellmembran interne Reize (z. B. synaptische Transmitter) oder externe Reize (etwa Licht, Druck, Schall) in Änderungen des Membranpotenzials umzuformen. So bilden sie einerseits postsynaptische Potenziale oder Rezeptorpotenziale und andererseits Aktionspotenziale aus.

axosomatische Synapse

Zellkörper

initiales Segment Myelinscheide

Ranvier-Schnürring Axon

Der Zellkörper von Neuronen besitzt charakteristische Fortsätze: das Axon (Neurit) und die Dendriten. Das Axon kann in der Länge zwischen 100 µm und 1 m variieren. An seinem Ende ist es verzweigt und bildet dort die Axonterminalen aus; in vielen Fällen werden zuvor auch noch Kollateralen abgegeben (Abb. 19.1). In den meisten Fällen ist das Axon von einer Myelinhülle (Markscheide) umgeben. Diese Myelinscheide dient zur Erhöhung der Nervenleitungsgeschwindigkeit (s. S. 622), da der Neurit den Ausgang der Nervenzellen darstellt und die von dort ausgehenden Informationen schnell zu anderen Nervenzellen oder zu Effektororganen (z. B. Muskeln) gelangen sollen. Die Dendriten stellen die auffälligsten Eingänge einer Nervenzelle dar. Ausgestreckten Armen ähnlich nehmen die Dendriten über synaptische Kontakte, die axodendritischen Synapsen, Informationen von anderen Neuronen, evtl. auch von Sinneszellen, auf. Allerdings ist auch die Membran des Zellsomas im Allgemeinen zu einer derartigen Informationsaufnahme befähigt. Dazu sind Zellmembran von Soma und Dendriten mit unzähligen (Tausenden) von axosomatischen oder axodendritischen Synapsen bedeckt, an denen EPSP oder IPSP (exzitatorische oder inhibitorische postsynaptische Potenziale) entstehen, wenn das präsynaptische Axon aktiv ist. Die Zellmembran von Neuronen besteht wie bei anderen Zellen aus einer Lipiddoppelschicht, in der eine Reihe von Proteinen schwimmt, insbesondere solche, die Ionenkanäle bilden oder Rezeptoren für Transmittermoleküle darstellen. Diese sind nicht gleichmäßig über die Zellmembran verteilt, vielmehr gibt es spezialisierte Membranbereiche, in denen sie gehäuft vorkommen und dort über Verankerungen im Zytoskelett (S. 16) festgehalten werden. Die Membranproteine werden im

postsynaptische Zellen

Die Nervenzellen besitzen spezialisierte Fortsätze und spezialisierte Membranbezirke

präsynaptische Zelle

Axonterminale

Abb.19.1 Schematische Darstellung eines Neurons mit seinen funktionell wichtigen Teilen.

Soma produziert und sekundär in die Zellmembran eingebaut. Der Zellkern der Neurone enthält Desoxyribonucleinsäuren (DNA) und Ribonucleinsäuren (RNA), hat aber die Fähigkeit zur Mitose verloren. Eine spontane Regeneration findet im Nervengewebe daher und aus anderen Gründen (S. 616) nicht statt. Die funktionelle Bedeutung der im Hippokampus entdeckten Neubildung von Neuronen aus Stammzellen ist noch unklar. Der Kern steuert über Boten-RNA aber die Synthese von Zellbzw. Membranproteinen. Daran ist weiter noch das endoplasmatische Retikulum beteiligt, sowie zur Synthese von Glykoproteinen und Glykolipiden der Golgi-Apparat (S. 19). Für die Energiebereitstellung sind die Mitochondrien zuständig, die Adenosintriphosphat (ATP) für mannigfaltige Zwecke (z. B. Ionenpumpen) synthetisieren. Ihre Funktion hängt von der Anwesenheit von Glucose ab, da die Nervenzellen kein Glykogen speichern können. Deswegen führt kurzfristige Unterbrechung der Blutzufuhr zum Gehirn sogleich zu Bewusstlosigkeit, evtl. sogar zu irreversiblen Hirnschäden (Kap. 30.3).

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614

19 Bauelemente des Nervensystems

Im Axon können Stoffe transportiert werden Im Axon finden sich keine oder nur wenige Zellorganellen. Dennoch hat es, insbesondere in seinen Terminalen, einen hohen Bedarf an Substanzen, die im Zellsoma gebildet werden, etwa Transmittersubstanzen oder deren Vorstufen, Vesikelmembranen, Enzyme usw. Es gibt daher axonale Transportprozesse, die Substanzen sowohl vom Soma in Richtung Axonterminal (anterograd) als auch umgekehrt (retrograd) transportieren können. Der Transport geschieht entlang von Mikrotubuli bzw. von Neurofilamenten. Dabei werden Vesikel, die den zu transportierenden Stoff enthalten, aktiv entlang dieser Bahnen bewegt. Dafür gibt es die myosinähnlichen Makromoleküle, Kinesin bzw. Dynein, die diese Bewegungen unter ATPVerbrauch bewirken (s. Kap. 2). Der schnelle axonale Transport kann in anterograder und in retrograder Richtung erfolgen. Beim anterograden Transport, der Membranbestandteile und zur Sekretion bestimmte Moleküle in die Synapse bringt, werden Geschwindigkeiten von bis zu 400 mm/Tag erreicht. Der retrograde Transport bringt mit etwa 200 – 300 mm/Tag noch brauchbare Endprodukte aus dem Stoffwechsel der Axonterminalen wieder in das Soma zurück. Er transportiert auch den sog. Nerve growth factor (NGF) zum Soma, ein Protein, das von Zielzellen sezerniert wird und vor allem das Überleben der Neurone sicherstellt (Kap. 28). Manche solcher trophisch wichtigen Stoffe werden folglich sogar über den synaptischen Spalt, also transsynaptisch, transportiert. Neben den Substanzen, die für die Funktion der Neurone wichtig sind, werden bei intrazellulärer Injektion auch Fremdstoffe transportiert, z. B. pflanzliche Meerrettichperoxidase. Man kann dies ausnutzen, um damit Zellen für eine mikroskopische Analyse zu markieren. Auch manche neurotrope Viren, d. h. solche, die das Nervensystem attackieren, wie z. B. das Herpesvirus oder das Virus der Kinderlähmung, werden durch retrograden axonalen Transport an die Zellsomata gebracht. Ähnlich wird das Toxin des Wundstarrkrampfes (Tetanustoxin) entlang der Motoneurone transportiert. Es entfaltet dann fern von der Wunde an den Renshaw-Zellen des Rückenmarks seine Wirkung und unterdrückt dort die Transmitterausschüttung.

Neben dem beschriebenen „schnellen“ axonalen Transport gibt es noch einen langsamen Transportmechanismus in anterograde Richtung, der nur etwa 1 mm/Tag überwinden kann. Dies ist interessanterweise die Geschwindigkeit, mit der ein durchtrenntes und danach degeneriertes peripheres Axon wieder regeneriert und entlang liegengebliebener Schwann-Zellen auf sein zugehöriges Innervationsgebiet zuwächst. Anscheinend haben die Aufbaugeschwindigkeiten des Zytoskeletts mit diesem langsamen Transport Gemeinsamkeiten. Der Arzt kann aus diesen Geschwindigkeiten ausrechnen, wann nach einer fachgerechten Nervennaht mit dem Wiedererlangen motorischer Fähigkeiten oder der Sensibilität zu rechnen ist, wenn bei einem Unfall ein peripherer Nerv durchtrennt wurde. Verletzte zentrale Axone, also solche innerhalb von Gehirn und Rückenmark, können nicht regenerieren.

Der Neuaufbau der Axonmembran eines regenerierenden peripheren Neuriten ähnelt den Vorgängen der Fusion synaptischer Vesikel mit der präsynaptischen Membran (S. 82). Die Schwann-Zellen stellen dazu wichtige Wachstumsfaktoren bereit.

Die Umgebung der Neurone: Gliazellen und Extrazellulärräume Gliazellen strukturieren während der Ontogenese das Hirnwachstum. Am ausgereiften Gehirn dienen sie der Erhaltung des notwendigen Milieus um die Neurone: Sie regulieren pH, K+-Konzentrationen und bilden Markscheiden. Sie modulieren die neuronale Aktivität durch Abschirmung synaptischer Regionen, durch die Aufnahme von Transmittermolekülen, die Bereitstellung von Vorstufen zur Transmittersynthese und durch ihre Einflüsse auf den Ca2+-Gehalt von Neuronen. Jedes Neuron ist, wie jede andere Zelle, von Extrazellulärflüssigkeit umgeben, die gegenüber den übrigen Extrazellulärräumen des Körpers keine hervorstechenden Besonderheiten erkennen lässt. Obwohl der freie Raum zwischen den Neuronen im Wesentlichen mit Gliazellen angefüllt ist, deren Zahl die der Neurone um wenigstens das 10fache übersteigt, machen die Extrazellulärräume des ZNS noch immer 15 – 20 % des Gesamtvolumens aus. Nach anatomischen Kriterien werden die Gliazellen des ZNS in Astrozyten, Oligodendrozyten (Abb. 19.2), Ependymzellen und Mikroglia eingeteilt. Zunächst dienen die Gliazellen als Stützzellen für die Neurone, was ihnen den Namen Glia (Kitt) eintrug. Dieser Name ist eher unbefriedigend, weil man heute weiß, dass die Gliazellen weit vielfältigere Aufgaben erfüllen und das ZNS ohne Glia seine Funktion nicht wahrnehmen könnte. Die Astrozyten bilden Verbindungen zwischen Blutkapillaren und Neuronen und vermitteln den Stofftransport. Entgegen früherer Auffassung sind sie aber nicht am Aufbau der Blut-Hirn-Schranke beteiligt (s. S. 850 ff.). Bei Verletzungen des Zentralnervensystems räumen sie zusammen mit der Mikroglia verletzte Zellen durch Phagozytose weg und bilden Narben. Insbesondere sind Astrozyten in der Lage, K+-Ionen aus dem Extrazellulärraum aufzunehmen, wenn bei repetitiver neuronaler Aktivität Nervenzellen K+-Ionen in den Extrazellulärraum abgegeben haben. So halten die Astrozyten die K+-Konzentration im Extrazellulärraum konstant und stabilisieren so das Ruhemembranpotenzial der Neurone, das ja nach der Nernst-Gleichung (S. 64) von der extrazellulären K+-Konzentration abhängt. Eine Erhöhung der extrazellulären K+-Konzentration um nur 0,5 mmol/l würde das Membranpotenzial um etwa 3 mV reduzieren. Die Glia verhindert also eine unerwünschte Depolarisation der Neurone. Andere wichtige Aufgabenbereiche für die Astroglia sind deren Beiträge zur Sicherstellung und Modulation synaptischer Prozesse an den Neuronen. Zum einen schirmen Astrozytenfortsätze die synaptischen Regionen ab (Abb. 19.2). Dadurch beschränken sie die Transmitterwirkung auf den synaptischen Spalt. Andererseits können Astrozyten auch Transmittermoleküle wie Glutamat, GABA und 5-HT aufnehmen und dadurch Dauerwirkun-

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19.3 Nerven- und Gliazellen gen dieser Substanzen an der Synapse vermeiden. Sie bilden z. B. aus aufgenommenem Glutamat das Glutamin. Dieses wird an die präsynaptischen Terminale zurückgegeben und von ihnen zur Synthese von Glutamat oder GABA wiederverwendet. Viele Astrozyten besitzen regelrechte Rezeptoren für Transmittermoleküle und bilden postsynaptische Potenziale aus. Sie können, über sekundäre Botenstoffe, dann ihre Ca2+-Speicher zur Freisetzung von Ca2+ veranlassen. Dies wiederum kann die Astrozyten selbst zur Ausschüttung von Transmittersubstanzen veranlassen (s. Abb. 19.3), was benachbarte postsynaptische Areale von Neuronen beeinflussen kann. Das heißt also im Klartext, die Glia kann synaptische Prozesse modulieren. Bei erhöhtem Energiebedarf können sie sogar, durch Bereitstellung von Laktat, den Stoffwechsel der Neurone stützen. Da die Astrozyten über Gap Junctions miteinander vernetzt sind, bilden sie nicht nur einen Puffer für viele kleinmolekulare Substanzen. Es gibt über diese Verbindungen auch einen Informationstransfer von Astrozyt zu Astrozyt, z. B. zur Erhöhung oder Erniedrigung des Ca2+Gehalts. So können regelrechte Calciumwellen über ein Netz von Astrozyten laufen, die dann ihrerseits z. B. zu Glutamatausschüttungen führen. So kann über weite Hirnbereiche die Erregbarkeit von Neuronen beeinflusst werden. Auch bei der Bildung und Stabilisierung von Synapsen spielen Astrozyten eine wichtige Rolle (s. Kap. 5, S. 80). In manchen Hirnregionen (z. B. Locus coeruleus), der seinerseits modulierende adrenerge Axone in viele Hirnareale aussendet, bestehen sogar Gap Junctions zwischen Astrozyten und Neuronen. Man muss also feststellen, dass die Astrozyten die Aktivitäten der Neurone auf mannigfaltige Weise beeinflussen. Wir haben aber noch kein klares Bild davon, wie die Interaktionen von Glia und Neuronen im Einzelnen funktionieren. Die Vorstellung aber, dass Informationsverarbeitende Prozesse nur zwischen Neuronen ablaufen würden, ist überholt! Schließlich wird auch der interstitielle pH-Wert durch Astrozyten reguliert. Da die Astrozyten über Gap Junctions miteinander elektrisch leitend verbunden sind, können aufgenommene Ionen, aber auch andere kleinmolekulare Substanzen, entlang elektrochemischer Gradienten gut von Gliazelle zu Gliazelle weitergegeben werden und sich so verteilen. Während eines epileptischen Anfalls kommt es zu massiver Hyperaktivität kortikaler Neurone, gefolgt von einem Anstieg des extrazellulären K+, da die Glia diese großen K+-Mengen nicht mehr abfangen kann. Es wird für wahrscheinlich gehalten, dass die daraus folgende Depolarisation der Neurone und die dadurch bewirkte Absenkung der Exzitationsschwelle der Ausbreitung des Anfalls Vorschub leistet. So kommt es zu generalisierten Krämpfen. Ein ähnlicher Vorgang, allerdings mit anderen Konsequenzen, ist die sogenannte Spreading-Depression. Sie kann nach einer starken lokalen Reizung, z. B. durch ein mechanisches Trauma, auftreten. Wieder kann die Glia die großen Kaliummengen nicht mehr abfangen, und das Ruhemembranpotenzial der in dieser Region liegenden Neurone ist nicht mehr auf dem Normwert zu halten. Immer weitere Neurone werden depolarisiert, und es entsteht eine sich ausbreitende Zone unerregbar gewordener Nervenzellen. Es kann Minuten dauern, bis sich wieder eine normale Erregbarkeit einstellt.

Neuron

Endfüßchen Astrozyt Kapillare A

Oligodendrozyt

Synapse Dendrit Myelinscheide Axon

B

C

Abb.19.2 Gliazellen im ZNS. A, B Astrozyten sind vielgestaltig, sie bilden u. a. Verbindungen zwischen Blutkapillaren und Neuronen und schirmen synaptische Regionen von der Umgebung ab. C Oligodendroglia bildet die Markscheiden um zentrale Axone.

Die Oligodendrozyten bilden die Myelinscheide um die Axone des ZNS (Abb. 19.2). Ein solcher Oligodendrozyt kann mehrere Axone gleichzeitig umhüllen. An peripheren Nerven übernehmen die Schwann-Zellen die Funktion der Myelinbildung, aber eine Schwann-Zelle vermag nur ein Axon zu umscheiden. Myelin besteht aus äußerst hydrophoben Glykoproteinen. Als Konsequenz ist die elektrische Leitfähigkeit von mehreren übereinanderliegenden Myelinschichten extrem niedrig. Die genaue chemische Zusammensetzung im peripheren Nerv (Schwann-Zellen) und im zentralen Nervensystem (Oligodendrozyten) unterscheiden sich voneinander. Auf die physiologische Bedeutung dieser Myelinisierung wird später noch eingegangen werden (S. 619 ff.). Bei vielen Hirnerkrankungen (z. B. HIV) oder neurodegenerativen Erkrankungen hypertrophieren die Astrozyten. Sie und Oligodendrozyten bzw. deren Vorläuferzellen können Hirntumore bilden, die Gliome. In bösartigen dieser Tumore, den Glioblastomen, kommt es zu einer Entgleisung der Neurotransmitterwirkung und der Transportproteine in der Zellmembran. Dies scheint das Wachstum zu befördern. Auch an der Bildung von Blutgefäßen (Angiogenese) spielen Astrozyten eine, bisher unverstandene, Rolle.

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615

616

19 Bauelemente des Nervensystems

Glia präsynaptisches Neuron

Glia

ATP

Gap Junction

K+

Glu

IP3

Ca2+Speicher

GlutamatCarrier

Glu

IP3

GlutamatRezeptor K+ ATP

Ca

H+

2+

postsynaptisches Neuron (Spine)

Glu

Glia

Abb.19.3 Modulation synaptischer Übertragung durch Astrozyten. Der vom präsynaptischen Neuron ausgeschüttete Transmitter (z. B. Glutamat) beeinflusst nicht nur die postsynaptische Seite sondern auch Gliazellen, von denen einerseits der Transmitter aus dem synaptischen Spalt entfernt werden kann, bei denen andererseits aber der Transmitter den Ca2+-Spiegel verändern kann. Auch andere Sub-

Die Zellen der Mikroglia stellen die wichtigen Antigen präsentierenden Zellen des ZNS dar und haben außerdem Phagozytenfunktion. Sie spielen also die Rolle von „Makrophagen des Gehirns“. Bei Erkrankungen des zentralen Nervensystems ist die reaktive Mikroglia morphologisch zu erkennen. Die Zellen besitzen dann eine erhöhte phagozytotische Potenz. Die Ependymzellen bilden eine einschichtige Zellauskleidung der inneren Liquorräume. Bevor noch überhaupt die Gliazellen ihre oben beschriebenen Funktionen ausüben können, spielen sie eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des ZNS. In den frühen Entwicklungsstadien wandern Nervenzellen von ihren Ursprungsorten entlang eines Gerüstes aus Astroglia in ihre Bestimmungsgebiete (Kap. 28). Später sprossen nach ähnlichen Prinzipien Neuriten aus und wandern auf Zielzellen zu. Beide Vorgänge werden durch Wachstumsfaktoren gesteuert, die u. a. von den Gliazellen bereitgestellt werden. Im erwachsenen Gehirn andererseits konservieren die Gliazellen einen erreichten Funktionszustand. Dazu sezernieren sie Wachstumsinhibitoren, die Oligodendrozyten zum Bei-

stanzen, wie ATP, können ausgeschüttet werden, die die Synapsenfunktion modulieren. Über Gap Junctions kann das Kalziumsignal an ferne Glia weitergeleitet werden, was u. a. auch ferne Synapsen beeinflussen kann. Die mit K+ bzw. H+ bezeichneten Pfeile rechts unten symbolisieren die K+-Aufnahme durch die Astrozyten bzw. deren Rolle bei der pHRegulation. Nach (11), verändert.

spiel den Inhibitor Nogo. Er stoppt die Neubildung von Axonen So verhindern sie eine Neubildung von Axonen, die durch pathologische Vorgänge oder Verletzungen zerstört worden sind. Regenerationsvorgänge sind auf das Auswachsen von Axonkollateralen beschränkt. Dadurch ist in der Regel eine funktionelle Restitution nicht zu erreichen. Dies ist der Grund dafür, dass beispielsweise Rückenmarksverletzungen (z. B. Querschnittsverletzung) bislang nicht geheilt werden können.

19.4

Initiale Schritte der Informationsverarbeitung

Hochspezialisierte Zellen, die Sinneszellen oder Rezeptoren, sind besonders empfindlich für bestimmte Reize, etwa Licht, Schall, Duftstoffe. Für ihre jeweiligen „adäquaten“ Reize haben sie eine außerordentlich niedrige Reizschwelle. Der Reiz wird durch einen Transduktionsvorgang in ein körpereigenes Signal umgesetzt und mit einer Veränderung des Membranpotenzials der Sinneszelle beantwortet. Diese Veränderung, Rezeptorpotenzial genannt, kodiert die Reizstärke. Die Rezeptorpotenziale eignen sich aber aufgrund ihrer physikalischen

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19.4 Initiale Schritte der Informationsverarbeitung Eigenschaften nicht zur Übertragung auf langen Strecken. Deswegen werden sie in Aktionspotenziale umkodiert und so über afferente Nerven an das ZNS gemeldet.

+

Na

Rezeptoren nehmen Umweltreize auf Grundlage für ein sinnvolles Verhalten eines Organismus sind Kenntnisse über die Umwelt. Diese Kenntnisse gewinnt der Körper über eine Reihe von Sinneskanälen. Zusätzlich zu den klassischen „fünf Sinnen“ (Riechen, Fühlen, Hören, Sehen, Schmecken) gibt es eine Reihe weiterer Sinnesmodalitäten, etwa den Gleichgewichtssinn, den Schmerzsinn, sowie Sinnessysteme, die den Zustand des eigenen Körpers an das ZNS melden, z. B. Gelenkstellungen, Muskelkraft und -länge und andere Messgrößen. Sinneszellen oder Sinnesrezeptoren nehmen die Zustandsgröße der Umwelt oder des Körperinneren auf und verarbeiten diese sog. Reize. Es sind physikalischchemische Größen, etwa Licht, Temperatur, Schallwellen, Duftstoffe, denen gegenüber spezialisierte Sinnesrezeptoren besonders empfindlich sind. Man sagt, dieser Reiz sei der adäquate Reiz für diesen Rezeptor (z. B. Licht für die Rezeptoren des Auges), und man spricht dementsprechend von Mechano-, Thermo-, Chemo-, Photorezeptoren usw. Der adäquate Reiz erregt den zugehörigen Sinnesrezeptor mit minimaler Reizenergie, d. h., er verändert dessen Membranpotenzial. Beispielsweise benötigt ein Schallrezeptor im Innenohr etwa 10–20 J und ein Photorezeptor etwa 10–19 J für eine Erregung. Man kann einen Rezeptor auch durch andere Reizenergien, also inadäquat reizen, dann benötigt man aber wesentlich höhere Energien (z. B. Schlag aufs Auge und „Sternchensehen“). Aber auch gegenüber seinem adäquaten Reiz besitzt ein Rezeptor meist ein Bandpassverhalten. Dies besagt, dass etwa ein Photorezeptor im Auge nur für bestimmte Wellenlängen sichtbaren Lichts empfindlich ist oder eine Sinneszelle des Ohres nur von bestimmten Schallfrequenzen erregt werden kann. Rezeptoren, die auf Reize außerhalb unseres Körpers reagieren, nennen wir Exterozeptoren, solche, die Zustände innerhalb des Körpers messen, heißen Enterozeptoren. Je nach den Erfordernissen einer bestimmten Reizart sind die Rezeptoren ganz unterschiedlich angeordnet, z. B. über die ganze Körperoberfläche verteilt, wie bei den Hautsinnen, oder aber, versehen mit einem speziellen Reizleitungsapparat an bestimmten Körperstellen konzentriert, etwa im Auge oder im Ohr. Dies alles wird in den entsprechenden Kapiteln abgehandelt werden. Grundsätzlich ist allen Rezeptoren gemeinsam, dass sie den adäquaten Reiz umsetzen müssen in eine Sprache, die das Zentralnervensystem versteht. Dieser sog. Transduktionsprozess ist im prinzipiellen Ablauf bei allen Rezeptoren gleich, er soll hier vorgestellt werden. Im Detail gibt es natürlich bei den verschiedenen Rezeptortypen beträchtliche Unterschiede.

Zug

Zellinneres +

K

Einstrom

Abb.19.4 Ionenkanäle an einem Mechanorezeptor werden durch Zug am Zytoskelett bzw. an den Polysaccharidketten der Zelloberfläche geöffnet.

Im Transduktionsprozess wird der Reiz in ein körpereigenes Signal, das Rezeptorpotenzial, umgesetzt Für den adäquaten Reiz existiert am Rezeptor ein primärer Angriffsort. Dort findet die Reiztransduktion statt. Dieser Angriffsort kann ganz unterschiedlich realisiert sein. Bei einem Mechanorezeptor (Abb. 19.4) gibt es z. B. spezielle, dehnungsaktivierte Ionenkanäle. Bei der Dehnung der Rezeptorzelle wird über das Zytoskelett bzw. über die extrazellulär an der Membran liegenden Kohlenhydratketten der Durchmesser dieser Ionenkanäle vergrößert. Die elektrische Leitfähigkeit steigt, es fließt ein zusätzlicher Strom, der Transduktionsstrom (Generatorstrom). Dieser Strom führt zu einer Verringerung des Ruhemembranpotenzials der Rezeptorzelle, eine Änderung, die als Rezeptorpotenzial bezeichnet wird. Der Transduktionsprozess führt also über eine Änderung von Ionenleitfähigkeiten zu einer Verschiebung des Membranpotenzials. Welche Ionenkanäle im Einzelnen geöffnet werden, hängt vom jeweiligen Rezeptor ab. Im gezeigten Beispiel eines Mechanorezeptors führt die Öffnung eines unspezifischen Kationenkanals zu einem starken Einstrom von Na-Ionen und damit zur Depolarisation. Gleichzeitig erhöht sich auch der K+-Ausstrom, allerdings in deutlich geringfügigerem Maße, wodurch ein Netto-Einstrom positiv geladener Ionen resultiert. Im Allgemeinen führen die so entstehenden Ionenflüsse zu einer reizabhängigen Depolarisation. An den Photorezeptoren des Auges ist es jedoch umgekehrt (S. 693). Dort werden bei einem Lichtreiz über die Verringerung der Konzentration sekundärer Botenstoffe in Dunkelheit offene Ionenkanäle geschlossen, so dass sich der vorhandene Leckstrom verringert und das aktuelle Ruhemembranpotenzial vergrößert, also hyperpolarisiert wird. In diesem Fall besteht das Rezeptorpotenzial also aus

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einer Hyperpolarisation. Die Sinneszellen des Auges sind auch ein gutes Beispiel dafür, wie unterschiedlich der primäre Angriffsort realisiert sein kann. Am Auge ist ein spezielles Protein, der Sehfarbstoff, der Ort, an dem Lichtquanten auf ein biologisches Substrat einwirken. Erst über sekundäre Botenstoffe wird dann ein Rezeptorpotenzial generiert. Dennoch ist allen Transduktionsprozessen gemeinsam: Es entsteht ein Rezeptorpotenzial, dessen Größe die Stärke des Reizes widerspiegelt, also abbildet. Dabei ist es unwichtig, ob der adäquate Reiz Ionenkanäle direkt beeinflusst oder ob er die Verfügbarkeit von sekundären Botenstoffen erhöht oder verringert und so indirekt auf die vorhandenen Ionenkanäle wirkt. Die Übereinstimmung dieser Vorgänge mit der Ausbildung postsynaptischer Potenziale (S. 86) liegt auf der Hand. In der Tat ist ein postsynaptisches Neuron nichts anderes als ein hochspezifischer Enterorezeptor, dessen adäquater Reiz in bestimmten Transmittermolekülen, z. B. Acetylcholin, besteht. Man beachte, dass das Wort Rezeptor einmal eine spezialisierte Sinneszelle meint, zum anderen aber auch verwandt wird, um Moleküle zu bezeichnen, die eine hohe chemische Affinität zu irgendwelchen Botenstoffen, z. B. Transmittermolekülen, besitzen.

Aktionspotenziale dienen der Langstreckenübertragung von Informationen Rezeptorpotenziale wie postsynaptische Potenziale können sich elektrotonisch über die Oberfläche der Zellmembran ausbreiten, aber nur über kurze Strecken. Das heißt folgendes: Angenommen, man würde über eine eingestochene Mikroelektrode in eine kugelförmige Zelle einen positiven Strom einspeisen. Dann wird die Zelle depolarisiert. Der Einstrom positiver Ionen kann aber nur langsam die Ladung des durch die Zellmembran gebildeten Kondensators (S. 64) verändern. Die Veränderung des Membranpotenzials bildet sich also mit einer zeitlichen Verzögerung aus. Gleichzeitig erhöht die durch den Ioneneinstrom bewirkte Depolarisation der Zellmembran aber auch den K+-Ausstrom, so dass schließlich ein neues Gleichgewicht zwischen Ioneneinstrom und Ionenausstrom entsteht und sich ein neuer Endwert des Membranpotenzials einstellt. Die Änderung des Membranpotenzials nennt man elektrotonisches Potenzial. Handelt es sich um eine kugelförmige Zelle ohne Fortsätze, würde sich das Membranpotenzial dabei exponentiell ändern. Die Amplitude EA der Änderung zum Zeitpunkt t stellt sich nach der Formel EA = EAmax  ð1

t

e–  ) ein.

τ ist die Membranzeitkonstante, die bei biologischen Membranen Werte zwischen 5 und 50 ms besitzt. Nach der Zeit τ nimmt der Ausdruck –t/τ den Wert –1 an. Da e–1 = 1/e, ist also nach der Zeit τ die Amplitude EAmax zu 63 % erreicht (Abb. 19.5). Nun ist ein Rezeptor keine kugelförmige Zelle. Vielmehr soll die Information über das Rezeptorpotenzial an das Gehirn weitergeleitet werden, wozu lange Nervenfortsätze nötig sind (Abb. 19.6). Ein Transduktionsstrom und das resultierende Rezeptorpotenzial kann aber an

Strom

19 Bauelemente des Nervensystems

Zeit Membranpotenzial (mV)

618

–60

37%

63%

EAmax

–70

t

Zeit

Abb.19.5 Elektrotonische Potenzialverschiebung einer Zelle, in die ein positiver Strom eingespeist wird. Nach einer Zeit von τ ms hat sich das Membranpotenzial der Zelle dem neuen Endwert des Membranpotenzials um 63% (1 – 1/e) der Gesamtamplitude angenähert. τ ist die Membranzeitkonstante.

einem langgestreckten Neuron nicht die gesamte Axonmembran elektrotonisch depolarisieren. Mit zunehmender Entfernung vom Rezeptor wird nämlich der Effekt des Ioneneinstroms immer kleiner. Die Depolarisation nimmt über die Länge l exponentiell ab. Dies geschieht nach der l Formel e– . Die Konstante λ ist die Membranlängskonstante. In biologischen Geweben werden dafür Werte zwischen 0,1 und 5 mm gemessen. Die Formel ergibt, dass nach einer Entfernung von 5 λ die Amplitude eines elektrotonisch ausgebreiteten Potenzials nur noch etwa 1 % des Ausgangswertes beträgt. Dieser Wert zeigt klar, dass es unmöglich ist, Rezeptorpotenziale oder postsynaptische Potenziale durch elektrotonische Ausbreitung an das Gehirn weiterzuleiten. Vielmehr muss die Amplitude des Rezeptorpotenzials, die ja auf dieser Stufe der Signalleitung die Reizstärke kodiert, zur Weiterleitung in eine Sequenz von Aktionspotenzialen umkodiert werden (= Transformation). Aktionspotenziale können entlang der Nervenfasern zum Gehirn laufen, weil sie ständig regeneriert werden und sich dadurch ihre Amplitude entlang des Nervs nicht verändert. Bei primären Sinneszellen, also solchen, die selbst die afferenten Nervenfasern ausbilden, wie bei Dehnungsrezeptoren oder Muskelspindeln (S. 742) ergreift der sich ausbreitende Transduktionsstrom auch den ersten Ranvier-Schnürring. Es wird also auch dort das Ruhemembranpotenzial reduziert, bis ab einer bestimmten Schwelle ein Aktionspotenzial entsteht (S. 67 f.). Je stärker der Reiz, desto stärker der Generatorstrom bzw. das Rezeptorpotenzial, und um so mehr Aktionspotenziale pro Zeiteinheit werden dann ausgelöst (Abb. 19.6, 19.8). Die Reizstärke wird also durch die Häufigkeit der Aktionspotenziale kodiert. Handelt es sich bei dem Rezeptor um eine sekundäre Sinneszelle, wie etwa bei den Haarzellen des Innenohres, so werden die Aktionspotenziale über eine Transmitterausschüttung und nachfolgende EPSPs generiert, die Kodierungsstrategie in zugehörigen afferenten Nerven bleibt jedoch gleich. In beiden

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19.5 Reizverarbeitung in neuronalen Netzwerken Tabelle 19.1 Eigenschaften von Rezeptorpotenzialen und Aktionspotenzialen im Vergleich Rezeptorpotenziale, Postsynaptische Potenziale

Aktionspotenziale

abgestufte Antwort, die den Reiz analog abbildet

Alles-oder-nichts-Antwort; Amplitude unabhängig von auslösender Ursache; Amplitude des auslösenden Ereignisses kodiert in der Frequenz der Aktionspotenziale oder durch Entladungsmuster

keine Schwelle

definierte Schwelle

keine Refraktärzeit

Refraktärzeit

Summation möglich

keine Summation

Depolarisation oder Hyperpolarisation

immer Depolarisation

Weiterleitung in benachbarte Membranbezirke passiv mit Amplitudenabfall

aktive Regeneration an Membran führt zu verlustfreier Erhaltung der Amplitude

Auslösung an spezialisierten Membranbezirken, die den adäquaten Reiz beantworten

Auslösung an Membranen mit schnellen, spannungsgesteuerten Na+-Kanälen

Fällen wird die Reizstärke vom Rezeptor zunächst analog kodiert, dann aber in eine Folge von Aktionspotenzialen umkodiert, bei der die Frequenz der Aktionspotenziale die Größe des Rezeptorpotenzials wiedergibt. Dies wäre im nachrichtentechnischen Sinne eine Pulsfrequenzmodulation. Aber die Frequenz der Aktionspotenziale, obwohl im Organismus häufig benutzt, ist nicht die einzige Möglichkeit der Reizkodierung. Im Hörsystem spielt z. B. der genaue Zeitpunkt der Auslösung von Aktionspotenzialen eine Rolle; aus den sog. phasengekoppelten Entladungen kann das Gehirn dann die Schallfrequenz ausrechnen (Kap. 21). Auch Regelmäßigkeit bzw. Unregelmäßigkeit im Auftreten von Aktionspotenzialen kann Information übertragen. Schließlich kann die Stärke eines Reizes nicht nur über die Zahl der Aktionspotenziale pro Faser, sondern auch über die Zahl der aktivierten Fasern kodiert werden. Tab. 19.1 stellt noch einmal die Eigenschaften von Rezeptorpotenzialen bzw. postsynaptischen Potenzialen den Eigenschaften von Aktionspotenzialen gegenüber. Den Bereich (z. B. ein Hautareal), von dem aus man eine afferente Nervenfaser aktivieren kann, nennt man ganz allgemein das rezeptive Feld dieser Faser. Im visuellen System ist das rezeptive Feld eines Neurons der Bereich des Sehraumes, von dem aus das betreffende Neuron durch Lichtreize aktivierbar ist (s. S. 695 f.).

Manche Rezeptoren reagieren stärker auf die Änderung einer Zustandsgröße als auf die Größe selbst Wie man aus Abb. 19.6 und 19.7 ersieht, bildet das Rezeptorpotenzial aber die Reizstärke nicht genau, d. h. nicht proportional, ab. Am Beginn und Ende des Reizes gibt es Überschwinger. Je nach Rezeptortyp kann diese Eigenschaft stärker oder schwächer ausgeprägt sein. Man spricht von Differenzialrezeptoren (D-Rezeptoren), wenn der Rezeptor besonders stark auf die Änderung des Reizes anspricht (d. h. auf den Differenzialquotienten), und von Proportionalrezeptoren (P-Rezeptoren), wenn das Rezeptorpotenzial den Zeitverlauf des Reizes mehr oder minder genau wiedergibt. Die meisten Rezeptoren zeigen eine Kombination beider Eigenschaften (Abb. 19.6), man nennt sie dann PD-Rezeptoren. Langsam adaptierende (P-Rezeptoren) werden auch als tonische Rezeptoren, schnell adaptierende (D-Rezeptoren) als phasische Rezeptoren bezeichnet. Man darf aus dem Umstand, dass das Rezeptorpotenzial im Allgemeinen den Reizverlauf nicht exakt wiedergibt, nun keinesfalls schließen, die Rezeptoren würden fehlerhaft arbeiten. Meistens ist ja die Änderung eines Reizzustandes biologisch viel bedeutsamer als dessen Konstanz. Letztere hat praktisch keinen Informationsgehalt. So übermitteln die Rezeptoren durch ihr Verhalten besonders die biologisch bedeutsamen Parameter. Auch das bereits besprochene Bandpassverhalten von Rezeptoren hat ein ähnliches Ergebnis. Für die Bildung von Empfindungsstärken (Kap. 25) kommt es überdies nicht nur darauf an, was die Rezeptoren bzw. afferenten Nervenfasern melden, sondern wie höhere neuronale Zentren die Information extrahieren.

19.5

Reizverarbeitung in neuronalen Netzwerken Es gibt myelinisierte und nichtmyelinisierte Nervenfasern

Die Myelinscheide eines Axons stellt einen elektrischen Isolator dar. An den myelinisierten Bezirken können durch die Axonmembran keine Ionenströme fließen. So ist bei einer Erregung, d. h. Depolarisation, der Stromkreis erst über relativ weit entfernte Schnürringmembranen möglich. Dies führt zu einer beträchtlichen Erhöhung der Nervenleitungsgeschwindigkeit. Das Axon ist der Ausgang eines Neurons. Es kann mehr als 1 m Länge erreichen, die Durchmesser können zwischen 0,5 und 20 µm betragen. Die Axone sind von Schwann-Zellen bzw. Oligodendroglia umgeben. Dabei verlaufen dünne Axone bündelweise in einem Verband von Schwann-Zellen (Abb. 19.9), wobei um das Axon ein Spalt von Extrazellulärraum freibleibt. Diese Fasern sind also nicht myelinisiert. Um dickere Fasern wickeln sich Schwann-Zellen in mehrfachen Schichten (Abb. 19.9) und bilden die sog. Myelinscheide (Markscheide). Eine Schwann-Zelle umhüllt das Axon auf eine Länge von 1 – 2 mm, so dass viele Schwann-Zellen das Axon perlen-

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619

Reizstärke

19 Bauelemente des Nervensystems

Reiz

Haut

mV

Rezeptorpotenziale

Rezeptorpotenziale + Aktionspotenziale mV

Dehnungsrezeptor

mV

Aktionspotenziale

Zeit

Abb.19.6 Ausbildung von Rezeptorpotenzialen und Aktionspotenzialen an einem Dehnungsrezeptor der Haut. Man beachte den D-Anteil am Beginn und Ende des Reizes,

100 µm

Reiz

1 mV

Rezeptorpotenzial

Aktionspotenziale

1 mV

620

1s

Abb.19.7 Originalregistrierung von Rezeptorpotenzial und Aktionspotenzialen einer Muskelspindelafferenz bei rechteckförmiger Dehnung (Originalregistrierung von Dr. H. Querfurth). Die Registrierung des Rezeptorpotenzials wurde dadurch erhalten, dass die Entstehung von Aktionspotenzialen durch die Gabe eines Lokalanästhetikums unterdrückt wurde.

so dass der Rezeptor insgesamt als P-D-Rezeptor anzusprechen wäre.

schnurartig einhüllen. Zwischen den einzelnen SchwannZellen, am Ranvier-Schnürring, liegt die Axonmembran offen und ist von Extrazellulärflüssigkeit umspült. Die Myelinscheide besteht im Wesentlichen aus mehrfachen Lipiddoppelschichten der Zellmembran der Schwann-Zelle. So besitzt sie einen hohen elektrischen Widerstand. Dies hat für die Erregungsfortleitung an eine Nervenfaser beträchtliche Konsequenzen. Angenommen, an einer Stelle des Axons sei ein Aktionspotenzial entstanden, d. h., die Membran sei depolarisiert. Dann besteht gegenüber unerregten Nachbarbezirken ein Potenzialunterschied von ca. 100 mV. Entlang dieses Gefälles fließen vorhandene Ionen (Abb. 19.10). Dieser Ionenfluss verschiebt das dortige Membranpotenzial in Richtung Depolarisation. Hat diese lokale Depolarisation einen bestimmten Schwellenwert erreicht, so werden die spannungsabhängigen Na+-Kanäle geöffnet (Kap. 2). Der darauf entstehende schnelle Na+-Einstrom verstärkt den Vorgang, die Membran wird weiter depolarisiert, es entsteht auch dort ein Aktionspotenzial. Dies wiederum ist der Ausgangspunkt für ein erneutes Übergreifen der beschriebenen Prozesse auf den nächsten, noch unbeeinflussten Membranabschnitt etc. Der geschilderte Ionenstrom geht natürlich von der erregten Stelle des Axons in beide Richtungen, also auch entgegen der Ausbreitungsrichtung der Erregung. Die zuvor erregte und in der Repolarisation befindliche Stelle der Axonmembran ist aber noch refraktär, dort kann also kein neues Aktionspotenzial ausgelöst werden. Man sieht aus Abb. 19.10, dass an der marklosen Nervenfaser das Aktionspotenzial nur die unmittelbare Nachbarschaft beeinflussen kann und dass das Aktionspotenzial sich nur bis dorthin fortpflanzt. Die Erregung

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19.5 Reizverarbeitung in neuronalen Netzwerken kontinuierliche Fortleitung

Entstehung von Aktionspotenzialen

– – – –+ + + + – + –+ + – –+ + + + – – –

– + + –

+ –– +

– + + –

Rezeptormembran

+ + + + ++ – – – – – – – + + – – – – – – – + + + + ++

– + + –

– + + –

+ + – – – + + – – – + +

+ + + + + – – – – – – – – – – + + + + +

A nichtmyelinisierte Nervenfaser saltatorische Fortleitung

Myelin

Abb.19.8 Entstehung von Aktionspotenzialen aus einem Rezeptorpotenzial. Der Stromfluss depolarisiert die Membran am ersten Schnürring, es entsteht ein Aktionspotenzial.

++ ––

–– ++

–– ++

++ ––

+ –+ – – –+ – +

Internodium Schnürring B myelinisierte Nervenfaser

SchwannZellen

Markscheide

Abb.19.10 Fortpflanzung eines Aktionspotenzials entlang einer nichtmyelinisierten Nervenfaser (A) bzw. saltatorische Erregungsleitung entlang einer myelinisierten Nervenfaser (B). Die Fortpflanzungsrichtung geht von links nach rechts. Die linken Anteile der Nervenfasern sind refraktär. Legt man, wie in A gezeigt, Elektroden auf einen Nerv, kann man zwischen dem erregten und dem unerregten Bereich eine Potenzialdifferenz messen. Mit der Fortleitung des Aktionspotenzials entlang der Nervenfasern wird dadurch zunächst die Region unter der einen, dann unter der anderen Elektrode negativ. Die extrazelluläre Ableitung des Aktionspotenzials wird also biphasisch (s. a. Abb. 7.31, S.164).

RanvierSchnürring

Axone Kern der Schwann-Zelle

A nichtmyelinisierte Axone

Axon Kern der Schwann-Zelle

B myelinisiertes Axon

Abb.19.9 Schwann-Zellen und deren Beziehungen zu nichtmyelinisierten Nervenfasern bzw. Bildung von Markscheiden.

wird also kontinuierlich weitergeleitet. Bei der myelinisierten Faser dagegen kann der Stromkreis von einem erregten Schnürring nur über die nächste Schnürringmembran geschlossen werden. Die Myelinscheide im Bereich der Internodien stellt nämlich de facto einen elektrischen Isolator dar, wogegen der Widerstand über die

Schnürringmembran relativ klein ist. Außerdem enthält die Schnürringmembran besonders viele spannungsabhängige Na+-Kanäle, so dass nach Überschreiten der Schwelle dort der Na+-Einstrom ganz massiv erfolgen kann. So überbrückt an der markhaltigen Faser ein Aktionspotenzial eine größere Strecke, die Erregungsfortpflanzung ist sprunghaft, saltatorisch. Die Nervenleitungsgeschwindigkeit wird so wesentlich höher. Es können Leitungsgeschwindigkeiten bis zu 120 m/s (ca. 430 km/h) erreicht werden. Die dünnen, nichtmyelinisierten Nervenfasern bringen es dagegen nur auf 0,5 – 2 m/s. Bei der Leitungsgeschwindigkeit spielt aber auch noch der Axondurchmesser eine Rolle, denn mit zunehmendem Durchmesser sinkt der elektrische Längswiderstand. So steigt die Leitungsgeschwindigkeit, denn sie hängt vom Verhältnis von Membranwiderstand zu Innenwiderstand ab. Mit zunehmendem Alter nimmt die Nervenleitungsgeschwindigkeit ab, da die Myelinschichten dünner werden. Man teilt die Nervenfasern nach Leitungsgeschwindigkeiten und Durchmesser in mehrere Gruppen ein, wobei unglücklicherweise zwei verschiedene Einteilungen existieren. Die Klassifikationen nach Erlanger u. Gasser mit den Bezeichnungen A, B und C umfasst motorische, autonome und sensorische Fasern, wogegen die Eintei-

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622

19 Bauelemente des Nervensystems Tabelle 19.2 Klassifizierung der Nervenfasern nach Erlanger und Gasser sowie Lloyd und Hunt. Die angegebenen Werte wurden tierexperimentell an der Katze bestimmt. Beim Menschen sind die Leitungsgeschwindigkeiten der entsprechenden Fasern etwa um 25% geringer. Fasergruppe Myelinisiert

Nichtmyelinisiert

A α

Durchmesser (µm)

NLG

10 – 20

60 – 120

Efferent

Afferent

Fasergruppe

(m/s) motorisch zur Skelettmuskulatur (motorische Einheiten)

β

7 – 15

40 – 90

γ

4–8

30 – 50

δ

2–5

10 – 30

B

1–3

5 – 20

präganglionäre vegetative Fasern

C

0,5 – 1,5

0,5 – 2

postganglionäre vegetative Fasern: efferente Fasern zu Herzgefäßen usw.

Durchmesser (µm)

NLG

12 – 20

70 – 120

(m/s)

primäre Muskelspindelafferenzen Afferenzen von Sehnenorganen

Ia

sekundäre Muskelspindelafferenzen Mechanoafferenzen der Haut

II

7 – 12

40 – 70

dünne myelinisierte Mechanoafferenzen, Thermoafferenzen, nozizeptive Afferenzen aus Haut, Tiefensensibilität

III

2–7

10 – 40

viszerale Afferenzen nichtmyelinisierte mechano-, thermo-, und chemosensible Afferenzen aus Haut und tiefer gelegenen Strukturen

IV

0,5 – 1,5

Ib

statische und dynamische Efferenzen zur intrafusalen Spindelmuskulatur

Einteilung nach Erlanger u. Gasser

lung nach Lloyd u. Hunt die römischen Ziffern I – IV zur Unterteilung der sensorischen Fasern verwendet. Einzelheiten sind Tab. 19.2 zu entnehmen. Ähnlich der Depolarisation eines Schnürringes durch die bei der Erregungsfortleitung entstehenden Ströme (Abb. 19.10), kann ein Nerv oder eine Muskelfaser auch durch extern angelegte Ströme gereizt werden. Legt man über einen Nerv an zwei Elektroden eine Spannung an, dann wird an der Anode (positiv) durch den entstehenden Strom der Membrankondensator zusätzlich aufgeladen, an der Kathode (negativ) wird er teilweise entladen. Die Membran wird also an der Kathode depolarisiert. Diese Depolarisation kann zur Entstehung von Aktionspotenzialen führen. Bei künstlicher, elektrischer Reizung geht also die Erregung von der Kathode aus. An der Anode entsteht eine Hyperpolarisation. Sie erzeugt keine Nervenblockade, wenn die Anode eine große Fläche hat und vom Nerv weit entfernt ist. Dann werden nämlich die Stromdichten unter der Anode zu gering. Von der Möglichkeit zur elektrischen Erregung von Nerven und Muskeln wird in Diagnostik und Therapie häufig Gebrauch gemacht. Die Hirnrinde kann am unverletzten Schädel auch durch kurzdauernde (einige ms) Magnetimpulse gereizt werden. Dabei führen die durch die Änderung des Magnetfeldes induzierten Spannungen bzw. Ströme zur Reizung der Hirnsubstanz, ohne dass dabei Schmerzen entstünden.

0,5 – 2

Einteilung nach Lloyd u. Hunt

Krankheiten können die Myelinscheiden angreifen Die Fortleitung von Aktionspotenzialen kann durch Markscheidenerkrankungen oder Lokalanästhetika behindert oder ganz unterdrückt werden. Es gibt Erkrankungen des Zentralnervensystems oder der peripheren Nerven, bei denen die Myelinscheiden reduziert oder ganz abgebaut werden. Dies ist beispielsweise bei manchen Viruserkrankungen, bestimmten allergischen Erkrankungen und Stoffwechselerkrankungen und vor allem bei der multiplen Sklerose (einer Autoimmunkrankheit) der Fall. Dadurch sinkt der elektrische Querwiderstand in den Internodien, und die Membrankapazität steigt. Wird ein Aktionspotenzial entlang eines solchen Axons geleitet, so fließt der Strom nicht von einem erregten RanvierSchnürring zum unerregten Nachbar, sondern es geht viel Strom in den Internodien über die Axonmembran verloren. Die Schwelle wird daher am nächsten Schnürring später oder gar nicht mehr erreicht. Die Nervenleitungsgeschwindigkeit nimmt ab, oder es kommt überhaupt zu einem Leitungsblock. Klinisch

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19.5 Reizverarbeitung in neuronalen Netzwerken zeigen sich zunächst Zeichen einer Hyperexzitabilität und von Missempfindungen, die durch „Übersprechen“ der Erregung zwischen benachbarten Nervenfasern, also durch ephaptische Übertragung entsteht. Schließlich stellen sich sensorische und motorische Ausfälle ein. Eine örtliche Betäubung, die Lokalanästhesie, beruht ebenfalls auf einem bewusst herbeigeführten Leitungsblock. Die Lokalanästhetika blockieren nämlich die schnellen Na+-Kanäle am Schnürring, daher können sich keine Aktionspotenziale ausbilden und somit auch keine Meldungen an das Gehirn gelangen. Die Messung der Nervenleitungsgeschwindigkeit an oberflächlich gelegenen Nerven ist für den Kliniker ein wichtiges diagnostisches Hilfsmittel. Man legt dazu auf die Haut über einem peripheren Nerv ein Paar von Reizelektroden. Der elektrische Reiz löst in den Nervenfasern Aktionspotenziale aus, die mit Registrierelektroden als Summenaktionspotenziale durch die Haut abgeleitet werden können. Man legt ein Elektrodenpaar (Abb. 19.10 A) reiznah, ein zweites möglichst weit weg reizfern, um große Zeitunterschiede zwischen den registrierbaren Aktionspotenzialen zu erreichen. Von bipolarer Reizung bzw. Registrierung wird gesprochen, wenn, wie in Abb. 19.10, die Elektroden des Paares nahe beieinander über der zu reizenden bzw. registrierenden Struktur (Nerv, Muskel) liegen. Bei monopolarer Reizung bzw. Ableitung liegt eine aktive Elektrode über der fraglichen Struktur, die Gegenelektrode aber weit entfernt großflächig auf der Haut. Aus der Entfernung der beiden Registrierorte und der Zeitdifferenz zwischen den Summenaktionspotenzialen, die an den beiden Orten registriert wurden, kann man die Leitungsgeschwindigkeit errechnen. Man erhält Normwerte zwischen 40 und 75 m/s. Messwerte unter 40 m/s sind pathologisch. Je weiter Reiz- und Registrierelektrode auseinanderliegen, desto besser spalten sich im Summenaktionspotenzial die verschiedenen Faserpopulationen auf und erzeugen eine mehrgipflige Registrierung.

Neuronale Netzwerke können Informationen verteilen, sammeln, umpolen und extrahieren Die Informationsverarbeitung im Zentralnervensystem beruht auf komplizierten neuronalen Netzwerken, die Informationen sammeln, verteilen, vergleichen, unterdrücken. Die Grundprinzipien sind dabei einfach, durch die Vielzahl der beteiligten Neurone werden aber die Netzwerke sehr unübersichtlich. Obwohl, wie zuvor gesagt, der synaptische Prozess die Grundlage neuronaler Verrechnungen ist, kann eine kritische Informationsverarbeitung, die bestimmte Aspekte betont, andere unterdrückt und so schließlich zu Entscheidungen führt, nur über neuronale Netzwerke aufgebaut werden. Information muss daher von einem Neuron auf viele andere verteilt werden (Divergenz) oder umgekehrt erhält ein Neuron Informationen von vielen anderen Neuronen (Konvergenz; Abb. 19.11). Ein Neuron verrechnet also eine Vielzahl unterschiedlicher Eingänge. Die Zwischenschaltung eines einzigen Interneurons kann die einlaufende Information umpolen, also aus Erregung Hemmung produzieren und umgekehrt. Nur etwa 0,1 % der Neurone des Menschen sind unmittelbar afferent oder efferent. D. h. also, dass 99,9 % unserer Nervenzellen ausschließlich der Informationsverarbeitung dienen. Bei Verrechnungsvorgängen spielen Bahnung und Hemmung eine wichtige Rolle. Unter räumlicher oder zeitlicher Bahnung versteht man die Entstehung von Aktionspotenzialen nach einem an sich unterschwelligen Reiz, wenn an diesem Neuron noch weitere exzitatorische Synapsen anderen Ursprungs aktiviert werden und so schließlich eine überschwellige Depolarisation entsteht.

Synaptische Vorgänge leiten neuronale Verrechnungsprozesse ein

Konvergenz

Grundlage jeder neuronalen Verrechnung sind synaptische Prozesse. In Kapitel 5 ist dargestellt, wie EPSP und IPSP (exzitatorische und inhibitorische postsynaptische Potenziale) miteinander verrechnet werden, wobei einzelne EPSP im Allgemeinen zu klein sind, um ein Aktionspotenzial auszulösen. An einem Motoneuron z. B. muss die Depolarisation der Zellmembran am initialen Segment des Axons, also dort, wo die Schwelle am geringsten ist, etwa 10 mV betragen, damit ein Aktionspotenzial entsteht. Grundlage des neuronalen Verrechnungsprozesses ist also die Frage, ob die Hunderte von EPSP und IPSP, die am Neuron ausgelöst werden, am Initialsegment zu einer überschwelligen Depolarisation summiert werden oder nicht (Abb. 5.9 auf S. 90).

Divergenz

Abb.19.11 Konvergente und divergente Verschaltungen in neuronalen Netzen.

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19 Bauelemente des Nervensystems

Rückwärtshemmung

Vorwärtshemmung

Abb.19.12 Schema von Vorwärts- und Rückwärtshemmung. Der Querstrich vor einer Pfeilspitze bedeutet Hemmung.

nismus an vielen Stellen eingesetzt, wo Kontraste zwischen benachbarten Reizen betont werden sollen. Subjektiv entstehen dann die sog. Mach-Bänder (Kap. 25). Fällt in einem neuronalen Netzwerk der inhibitorische Einfluss auf ein Neuron von seiten hemmender Synapsen weg, weil deren zugehörige Neurone ihrerseits gehemmt wurden, so resultiert daraus eine relative Depolarisation, also evtl. eine Erregung. Den Vorgang nennt man Disinhibition (Enthemmung). Umgekehrt führt die Unterdrückung einer tonischen Exzitation eines Neurons zu einer relativen Hyperpolarisation seines Membranpotenzials, was als Disfazilitation bezeichnet wird. Diese beiden Mechanismen bieten zusätzliche Möglichkeiten der Kontrolle neuronaler Netzwerke. Man darf sich neuronale Netzwerke aber keinesfalls als starre Schaltkreise vorstellen. Durch Lernvorgänge (wahrscheinlich auch beim Vergessen) werden die Verknüpfungen ständig abgeändert (Kap. 28). Dies bezieht sich sowohl auf die Effektivität vorhandener Synapsen als auch auf die Ausbildung neuer oder die Rückbildung existierender Synapsen. Vorhandene Synapsen können durch Kotransmitter oder Neuromodulatoren auch in ihrer Leistung kurzfristig verändert werden (Kap. 5). Wie wir jetzt wissen, spielt auch die Glia dabei eine Rolle. Im alternden Gehirn nimmt weniger die Zellzahl als die Zahl neuronaler Verknüpfungen ab. Bei Deprivation eines Sinneskanals (etwa Taubheit) nimmt die Zellzahl in den zentralen Kernen dieser Sinnesmodalitäten in geringem Umfang ab. Insbesondere verringert sich aber die Zahl der synaptischen Kontakte. Domestizierte Wildtiere verlieren im Laufe weniger Generationen an Hirngewicht infolge einer Inaktivitätsatrophie des Zentralnervensystems.

Zum Weiterlesen … Hemmungen spielen eine große Rolle bei der Verhinderung von repetitiven Entladungen, die beispielsweise zu Krämpfen führen könnten. In neuronalen Netzwerken unterscheiden wir Vorwärtshemmung und Rückwärtshemmung (Abb. 19.12). Bei der Vorwärtshemmung hemmt ein Neuron andere Neurone, ohne selbst von ihnen abhängig zu sein. Bei der Rückwärtshemmung (z. B. an den Renshaw-Zellen des Rückenmarks) hemmt ein erregtes Neuron sich selbst über Interneurone. Die laterale Inhibition wird durch ein häufig vorkommendes einfaches Netzwerk erreicht (Abb. 19.13). Sie ermöglicht eine Kontrastverschärfung in parallel arbeitenden Kanälen. In Abb. 19.13 ist angenommen, die Haut würde an zwei Stellen punktförmig eingedrückt. Die Zahlen sollen die dadurch erreichte Erregung afferenter Fasern darstellen. Man sieht, dass die beiden Reizpunkte im ersten Verarbeitungsschritt nicht getrennt dargestellt werden. Im folgenden Verarbeitungsschritt hemmt jedes Neuron seinen Nachbarn, und es wird dadurch eine vollständige Trennung der beiden Reizpunkte erreicht. Hier wird also eine einfache Eigenschaft, die räumliche Trennung der beiden Reize, dargestellt. Zentrale neuronale Netzwerke sind in der Lage, sehr komplexe Eigenschaften aus einem Reiz zu extrahieren, also z. B. den Informationsgehalt aus einem Sprachlaut oder aus einer Schrift. Der Mechanismus der lateralen Hemmung wird im Orga-

1 Nicholls JG, Martin AR, Wallace BG. Vom Neuron zum Gehirn. Stuttgart: Fischer; 1995 2 Shepherd GM. Neurobiology. Oxford: Oxford University Press; 1994 3 Squire LR, Bloom FE, McConnell SK, Roberts JL, Spitzer NC, Zigmond MJ. Fundamental Neuroscience, 2nd ed. Amsterdam: Academic Press; 2003

… und noch weiter 4 Chang BS, Lowenstein DH. Epilepsy. The New England Journal of Medicine. 2003; 349: 1257 – 1266 5 Filbin MT. Myelin-associated inhibitors of axonal regeneration in the adult mammalian CNS. Nature Reviews Neuroscience. 2003; 4: 703 – 713 6 Haydon PG. Glia: Listening and talking to the synapse. Nature Reviews Neuroscience. 2001; 2: 185 – 193 7 Kandel ER, Schwarz JH, Jessel TH. Principles of Neural Science, 4th ed. New York: McGraw-Hill; 2000 8 Kettenmann H. Physiology of glial cells. Adv Neurol. 1999; 79: 565 – 571 9 Maurer K, Eckert J. Praxis der evozierten Potentiale. Stuttgart: Enke; 1999 10 Nedergaard M, Ransom B, Goldman SA. New roles for astrocytes: Redefining the functional architecture of the brain. Trends in Neuroscience. 2003; 26: 523 – 530

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19.5 Reizverarbeitung in neuronalen Netzwerken Reiz II

6 4 0 0

0

2 0

0

2

4

4 4

Reiz I

8

Reiz II

4 2

2

8

6

8

0

2 0

4

2

0 0

Haut

relative Erregung

Reiz I

0

Ort

Reiz I relative Erregung

Reiz II

0 (–1)

0

0

2

0

2

(–1) erregende Synapsen (Faktor 1)

Abb.19.13 Schema einer lateralen Inhibition. An zwei Stellen der Haut (I und II) werde je ein Druck (der Stärke 6 Einheiten) ausgeübt, der sich superponiert und gleichmäßig nach seitlich abfällt. Die Ziffern geben die relative Reizstärke bzw. relative Erregung wieder. Auf der Ebene der Druckrezeptoren können die beiden Reize nicht getrennt werden. Angenommen, die Erregung würde in die nächste neuronale

11 Newman EA. New roles for astrocytes: Regulation of synaptic transmission. Trends in Neuroscience. 2003; 26: 536 – 542 12 Pakkenberg B. Stereological quantitation of human brains from normal and schizophrenic individuals. Acta neurol scand. 1992; Suppl. 37: 20 – 33 13 Park HW, Wu J, Rao Y. Molecular control of neuronal migration. Bio Essays. 2002; 24 (9): 821 – 827 14 Slezak M, Pfrieger FW. New roles for astrocytes: Regulation CNS synaptogenesis. Trends in Neuroscience. 2003; 26: 531 – 535

0 (–1)

0

0 (–1)

Ort

hemmende Synapsen (Faktor 0,5)

Ebene mit dem Faktor 1 weitergegeben, die laterale Hemmung aber nur mit dem Faktor 0,5, wobei der resultierende Wert der Hemmung vom Wert der Erregung zu subtrahieren ist. Dann ist bereits nach einem einzigen derartigen Verarbeitungsschritt eine vollständige Trennung der beiden Reize erreicht. Die „negative“ Erregung, die in der zweiten Verarbeitungsebene entsteht, entspricht den sog. Mach-Bändern.

15 Sontheimer H. Malignant gliomas: perverting glutamate and ion homeostasis for selective advantage. Trends in Neuroscience. 2003; 26: 543 – 549 16 Sykova E. Glial diffusion barriers during aging and pathological states. Prog Brain Res. 2001; 132: 339 – 363 17 Volknandt W. Vesicular release mechanisms in astrocytic signalling. Neurochem Int. 2002; 41: 301 – 306

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Somatoviszerale Sensibilität K. Meßlinger 20.1 Wenn ich den Boden unter den Füßen nicht spüre ··· 628 20.2 Mechanische Oberflächensensibilität

··· 628 Die Oberflächensensibilität kann durch Schwellenmessung bestimmt werden · ·· 628 Die Sinnesrezeptoren der somatoviszeralen Sensibilität sind freie oder korpuskuläre Endigungen primärer Afferenzen ··· 630 Ein wichtiges Klassifikationsmerkmal für Mechanorezeptoren ist ihr Adaptationsverhalten · · · 631 Die histologisch und funktionell unterscheidbaren Mechanorezeptoren der Haut vermitteln auch unterschiedliche Empfindungen ··· 632 Die hohe Dichte von Mechanorezeptoren in den Fingern ist für den Tastsinn besonders wichtig · ·· 633

20.3 Thermosensibilität

· ·· 634 Das Temperaturempfinden spiegelt in erster Linie die phasische und tonische Aktivität der Thermorezeptoren wider ··· 634

20.4 Tiefensensibilität und Propriozeption · ·· 635 20.5 Viszerale Sensibilität

· · · 636 Ein Großteil der viszeralen Sensibilität wird durch Dehnungsrezeptoren vermittelt · · · 636 Viszerale Chemorezeptoren vermitteln homöostatische Reflexe und Schutzreflexe ··· 637

20.6 Nozizeption und Schmerzentstehung

· ·· 637 Die Begriffe Schmerz und Nozizeption sind nicht identisch ··· 638 Nozizeptoren werden nach ihren rezeptiven Eigenschaften klassifiziert · ·· 638 Bei Gewebsverletzungen und Entzündungen werden noxische Substanzen gebildet · · · 639 Die Transduktion noxischer Reize findet an den freien Endigungen der Nozizeptoren statt · ·· 640 Entzündungsmediatoren wirken durch die Aktivierung von Proteinkinasen · · · 640 Lokalanästhetika verhindern die Transformation und Erregungsleitung in nozizeptiven Nervenfasern · ·· 641 Durch Freisetzung von Neuropeptiden aus Nozizeptoren entsteht eine neurogene Entzündung · ·· 641

20.7 Spinale sensorische Systeme

· ·· 641 Schädigung von Hinterwurzeln führt zu Sensibilitätsstörungen in zugeordneten Dermatomen und Myotomen · ·· 641 Der übertragene Schmerz wird durch die Verschaltung viszeraler und somatischer Afferenzen auf gemeinsame spinale Neurone erklärt · ·· 643 Mechanorezeptive Afferenzen sind mit ihren Kollateralen im Rückenmark segmental verschaltet · · · 643

Thermorezeptive und nozizeptive Afferenzen sind mit ihren zentralen Endigungen im Hinterhorn verschaltet ··· 644 Mechanorezeptive und propriozeptive Afferenzen steigen ipsilateral im Hinterstrangsystem auf · ·· 644 Die Projektionsfasern der thermorezeptiven und nozizeptiven Neurone kreuzen segmental und steigen kontralateral im Vorderseitenstrangsystem auf · ·· 645 Durch Halbseitenläsion des Rückenmarks entsteht eine dissoziierte Empfindungsstörung ··· 646

20.8 Zerebrale sensorische Systeme

· ·· 646 Die Thalamuskerne vermitteln unterschiedliche Inhalte der somatoviszerosensorischen Information ··· 646 Der somatosensorische Kortex SI ist somatotopisch organisiert und dient der diskriminativen Wahrnehmung der kontralateralen Körperhälfte · · · 648 Im somatosensorischen Kortex werden die Informationen in Säulen mit Neuronen gleicher Funktion verarbeitet · · · 648 Der Gyrus postcentralis steht mit motorischen und assoziativen kortikalen Arealen in Verbindung · ·· 649 Der somatosensorische Kortex SII verarbeitet bilaterale Informationen, der anteriore Gyrus cinguli und die Insel vermitteln affektive und emotionale Inhalte · ·· 650 Reorganisation des somatosensorischen Kortex und Phantome sind Folgen veränderten afferenten Zustroms · · · 651

20.9 Schmerzformen und Schmerzhemmung

··· 651 Schmerz besteht nicht nur aus der diskriminativen Komponente · · · 652 Akuter und chronischer Schmerz unterscheiden sich nicht nur in der Dauer ··· 652 Neuropathische Schmerzen entstehen durch Schädigung von peripheren oder zentralen Leitungsbahnen ··· 653 Sekundäre Hyperalgesie und Allodynie entstehen durch Sensibilisierung zentraler Neurone · · · 654 In den absteigenden schmerzhemmenden Systemen wirken endogene Opioide als Neurotransmitter · ·· 655 Die Schmerztherapie durch Opiate beruht auf der Aktivierung der endogenen schmerzhemmenden Systeme · ·· 655

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20

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20 Somatoviszerale Sensibilität

20.1

Wenn ich den Boden unter den Füßen nicht spüre

Christina war siebenundzwanzig Jahre alt, … eine kräftige, selbstbewusste, körperlich wie geistig robuste Frau. … Im Laufe ihres Lebens war sie kaum jemals einen Tag krank gewesen. Es kam daher für sie etwas unerwartet, als man ihr nach heftigen anfallsartigen Leibschmerzen Gallensteine diagnostizierte und ihr riet, sich die Gallenblase entfernen zu lassen. Drei Tage vor der Operation gab man ihr ein Antibiotikum, um einer bakteriellen Infektion vorzubeugen. … Am Tag vor der Operation hatte Christina einen beunruhigenden, merkwürdig intensiven Traum. … Sie konnte kaum den Boden unter ihren Füßen spüren, hatte fast kein Gefühl in ihren Händen, … und konnte nichts festhalten. … Einige Stunden später wurde der Traum Wirklichkeit. Christina konnte sich nur sehr unsicher auf den Beinen halten. … Sie konnte nur stehen, wenn sie dabei auf ihre Füße sah. … Wenn sie etwas in die Hand nehmen oder etwas in den Mund stecken wollte, griff sie daneben … Ihr Gesicht war seltsam ausdruckslos …, und sogar ihre Stimmlage hatte sich verändert. „Es ist irgend etwas Furchtbares passiert“, stieß sie mit einer geisterhaft dünnen Stimme hervor. „Ich spüre meinen Körper nicht. Ich fühle mich wie verhext – als wäre ich körperlos.“ … Nun zogen wir eiligst einen Spezialisten hinzu, … einen Neurophysiologen. Er untersuchte sie rasch und gründlich und nahm anschließend einen Elektrotest der Nerven- und Muskelfunktionen vor. „Ein sehr außergewöhnlicher Fall“, murmelte er. … „Sie hat von Kopf bis Fuß jede Eigenwahrnehmung verloren. Sie spürt weder Muskeln noch Sehnen noch Gelenke. Außerdem sind noch andere Sinnesmodalitäten etwas in Mitleidenschaft gezogen – Berührungssinn, Temperatursinn, Schmerzempfinden – … Am schwersten aber ist die Wahrnehmung der Körperhaltung – die Eigenwahrnehmung – beeinträchtigt.“ (Aus: Oliver Sacks: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte. Rowohlt 1997.) Eine derartig schwere generelle Erkrankung des somatosensorischen Systems wie im vorliegenden Fall durch die Schädigung sämtlicher Hinterwurzeln kommt glücklicherweise sehr selten vor. Die Begriffe, mit denen die Störungen in dieser Fallschilderung erklärt werden, betreffen verschiedene Teile der somatoviszeralen Sensibilität, die im nachfolgenden Kapitel besprochen werden: „Gefühl in den Händen“ und „Berührungssinn“ gehören zur mechanischen Oberflächensensibilität, „Temperatursinn“ zum Abschnitt Thermosensibilität, „Eigenwahrnehmung“ zur Tiefensensibilität und „Leibschmerzen“ zu Nozizeption und Schmerz. Der Oberbegriff somatoviszerale Sensibilität umschreibt also Sinnesleistungen, deren Sinnesorgane im Gegensatz zu den spezifischen Sinnen Sehen, Hören, Gleichgewichts-, Geruchs- und Geschmackssinn nicht im Kopf konzentriert sondern meist über den gesamten Körper verteilt sind. Dabei sind auch die inneren Organe eingeschlossen, die man in der Regel nur bei Störungen bewusst – und dann meist schmerzhaft – wahrnimmt.

20.2

Mechanische Oberflächensensibilität

Bei der mechanischen Oberflächensensibilität können die Qualitäten Berührung, Druck, Spannung, Vibration und Kitzelempfindung unterschieden werden. Zur Untersuchung der Hautsensibilität wird die Absolutschwelle für Berührungsreize ermittelt, während die räumliche Auflösung von taktilen Reizen durch die Zweipunktschwelle definiert werden kann. Dabei gibt es große Unterschiede zwischen verschiedenen Körperregionen mit besonders kleinen Zweipunktschwellen an den Fingern und in der Mundregion. Eine orientierende Sensibilitätsprüfung ist klinisch für die Diagnose von Nervenerkrankungen wichtig. Die Sinnesrezeptoren der mechanischen Oberflächensensibilität werden von schnell leitenden afferenten Nervenfasern (A Fasern) mit korpuskulären Endigungen in der Haut und im Unterhautgewebe gebildet, welche histologisch unterschieden werden können. Diese Mechanorezeptoren unterscheiden sich funktionell neben anderen Merkmalen vor allem in ihrer Adaptationsgeschwindigkeit und vermitteln unterschiedliche Eigenschaften mechanischer Reize, wodurch die empfundenen Qualitäten der mechanischen Oberflächensensibilität entstehen: Die langsam adaptierenden Merkel-Zell- und Ruffini-Rezeptoren vermitteln vor allem Druck und Spannung, die schnell adaptierenden Meißner- und Pacini-Rezeptoren Berührung und Vibration. Die hohe Dichte der MerkelEndigungen und Meißner-Korpuskel in den Fingern ist wichtig für den empfindlichen Tastsinn der Hand.

Die Oberflächensensibilität kann durch Schwellenmessung bestimmt werden Die Sensibilität der Hautoberfläche, die Oberflächensensibilität, entspricht dem klassischen Berührungssinn („Fühlen“), dem fünften unserer Sinne nach der historischen Einteilung, die schon auf Aristoteles zurückgeht. Die Oberflächensensibilität beinhaltet verschiedene Sinnesmodalitäten: die mechanische Sensibilität der Hautoberfläche, daneben die Temperatur- und Schmerzempfindlichkeit, die in getrennten Kapiteln besprochen werden. Als Qualitäten der mechanischen Oberflächensensibilität kann man Berührung, Druck, Spannung und Vibration unterscheiden, außerdem die Kitzelempfindung (Tab. 20.1). Bei der Oberflächensensibilität können verschiedene Schwellen bestimmt werden, die in Kap. 25.3 näher definiert sind. Die Absolutschwelle ist die Reizstärke, bei der gerade eine Empfindung ausgelöst wird, zum Beispiel bei der Berührung mit einem Haar. Die Zweipunktschwelle ist ein Maß für die räumliche Auflösung der Berührungsempfindung. Zu ihrer Bestimmung werden zwei Spitzen (z. B. von einem Zirkel) gleichzeitig (simultan) oder kurz hintereinander (sukzessiv) auf einen Hautbezirk aufgesetzt. Der kleinste Spitzenabstand, der gerade noch den Sinneseindruck von zwei getrennten Spitzen vermittelt, ist die Zweipunktschwelle, allgemein Raumschwelle genannt. Hier gibt es eine interessante Parallele zum visuellen System: Die Raumschwelle ist dort als der Visus, d. h. als Sehschärfe im Gesichtsfeld, definiert (Kap. 23.4).

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20.2 Mechanische Oberflächensensibilität Tabelle 20.1

Oberflächensensibilität

Unterteilung der somatoviszeralen Sensibilität und der zugehörigen Sinnesrezeptoren

mechanische Sinne

Empfindungsqualität

Sensorische Endigung

Adäquater Reiz

Rezeptorbezeichnung

Afferente Faser

Druck

Merkel-Endigung, Tastscheibe

Hautdeformation

SA I



Spannung

Ruffini-Korpuskel

Hautdehnung

SA II



Berührung, Kitzelempfindung

Meißner-Korpuskel, Haarfollikelrezeptor

Hautberührung, Haarbewegung

RA



Vibration

Meißner-Korpuskel, Pacini-Korpuskel

Vibration (10 – 50 Hz) RA Vibration (50 – 400 Hz) PC



freie Nervenendigung

Kälte (10 – 35 C)

Kaltrezeptoren

A, C

Wärme

freie Nervenendigung

Wärme (30 – 45 C)

Warmrezeptoren C

scharfer stechender Schmerz

freie Nervenendigung

noxische Deformation, Mechano-, Gewebeschädigung Nozizeptoren

Aδ, C

dumpfer brennender Schmerz

freie Nervenendigung

mech. u. chem. Noxen, Hitze/ noxische Kälte

C

Jucken

freie Nervenendigung

Histamin

Bewegung

Muskelspindel

Muskeldehnung (Längenänderung)

Ia-Afferenz

Ia (Aα)

Stellung

Muskelspindel

Muskeldehnung (Länge)

II-Afferenz

II (Aβ)

Kraft

Golgi-Sehnenorgan

Muskeldehnung (Spannung)

Ib-Afferenz

Ib

mechanische Sinne

Druck, Spannung

Ruffini-Korpuskel

Bänder- und Kapselspannung

Mechanorezeptoren

II (Aβ)

Vibration

Pacini-Korpuskel

Vibration

PC

II (Aδ)

Schmerzsinn

Tiefenschmerz

freie Nervenendigungen

Gewebsdruck, Entzündungsmediatoren

verschiedene Nozizeptoren

III, (Aδ) IV (C)

chemische Sinne

keine

sekundäre Sinneszellen

Veränderung von O2, CO2, pH

Glomus caroticum, Gl. aorticum

keine

Glucoserezeptor

Glucosekonzentration

keine

Dehnungsrezeptoren (freie Endigungen)

Blutdruckanstieg, Blutvolumenanstieg

Druck, Völlegefühl, Blähung Kolik, viszeraler Schmerz Irritation

Dehnungsrezeptoren, (freie Endigungen)

Magendehnung, Darmmotilität u. -distension Distension von Hohlorganen SchleimhautIrritanzien

Temperatursinn Kälte Schmerzsinn

Tiefensensibilität

Viszerale Sensibilität

Propriozeption

mechanische Sinne

Schmerzsinn

Dehnungsrezeptoren, (freie Endigungen) freie Nervenendigung

polymodale Nozizeptoren

C

C Barorezeptor, Aδ, C Vorhofrezeptoren Aδ, C Mechano-, Aδ, C Nozizeptoren Chemo- u. Me- C chanorezeptoren

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629

fre ie en Ner d v (No igung enziz ep tor ) Me r k En eldig un g

fre ie en Ner dig ve (No ung nKa zizep ltre tor zep , tor ?) Pa c i n Kö irpe rch en fre ie N en d erv (No igung enWa zizep rm tor, rez ep tor ?) Me i ß Kö ner rpe rch en Ru ffin Kö irpe rch en

Tas tsc he ibe

20 Somatoviszerale Sensibilität

Ha rezarfol ep like tor l-

630

Stratum corneum

Epidermis

Ad-Faser

Ab-Faser 

Ab-Faser 

C-Faser 

C-Faser 

Dermis

subpapillärer Plexus

Ab-Fasern

Subkutis behaarte Haut

Abb. 20.1 Schnitt durch die behaarte und unbehaarte Haut mit den wichtigsten sensorischen Endigungen. Freie Nervenendigungen sind wesentlich häufiger als hier dargestellt. Die Funktion der schnell adaptierenden Meißner-Körperchen, die nur in der unbehaarten Haut vorkommen, wird

Bei der mechanischen Oberflächensensibilität stellt man drastische Unterschiede zwischen den Hautbezirken fest: Am kleinsten (unter 2 mm) ist die Zweipunktschwelle an der Zunge, den Fingerkuppen und den Lippen, besonders groß (über 50 mm) ist sie am Rücken und an den Oberschenkeln. Diese Unterschiede kommen zum einen dadurch zustande, dass die räumliche Dichte der maßgeblichen Hautrezeptoren sehr unterschiedlich ist, wie später näher erläutert wird (s. Abb. 20.2 A). Andererseits sind auch zentrale Verrechnungsvorgänge auf verschiedenen Ebenen des somatosensorischen Systems wesentlich an diesen Unterschieden beteiligt. Dabei können laterale Hemmung und Umfeldhemmung die räumliche Auflösung verbessern, worauf im Kapitel 20.8 näher eingegangen wird (vgl. auch Kap. 19.4, Abb. 19.13). Umgekehrt kann die Verschaltung mehrerer Eingänge auf ein zentrales Neuron (konvergente Verschaltung, s. Abb. 19.11) die räumliche Auflösung herabsetzen. Interessanterweise ist am gleichen Ort die sukzessive Raumschwelle (Unterscheidung zeitlich getrennter Reize) immer kleiner als die simultane Raumschwelle (Unterscheidung räumlich getrennter Reize), was ebenfalls auf die Beteiligung zentraler Verrechnungsvorgänge hindeutet. Empfindungsschwellen liegen auch der neurologischen Sensibilitätsprüfung zu Grunde. Dabei wird z. B. untersucht, ob ein Patient in einem erkrankten Hautareal noch Empfindungen für Berührung, Druck

unbehaarte Haut

in der behaarten Haut von den Haarfollikelrezeptoren übernommen. Statt der langsam adaptierenden Merkel-Endigungen finden sich in der behaarten Haut die in Struktur und Funktion ähnlichen Tastscheiben.

und leichte Nadelstiche hat, oder ob er „spitz“ von „stumpf“ unterscheiden kann. Andererseits kann die Sensibilität auch gesteigert bzw. die Absolutschwelle für bestimmte Reize herabgesetzt sein, wie dies häufig bei neuropathischen Schmerzen der Fall ist (vgl. Kap. 20.9). Ein weiteres wichtiges Werkzeug für den Neurologen ist die Stimmgabel, mit der das Vibrationsempfinden untersucht wird (s. S. 632). Die Abschwächung oder der Verlust der Vibrationsempfindung kann ein frühes Zeichen für eine Schädigung schnell leitender afferenter Nervenfasern sein.

Die Sinnesrezeptoren der somatoviszeralen Sensibilität sind freie oder korpuskuläre Endigungen primärer Afferenzen Die Sinnesorgane des somatoviszerosensorischen Systems werden allgemein als Sinnesrezeptoren bezeichnet. Die Funktion wird durch die vorangestellte Modalität zum Ausdruck gebracht. So sind Mechanorezeptoren Sinnesrezeptoren für die Aufnahme mechanischer Reize, und ihre Erregung führt normalerweise zur Empfindung eines mechanischen Reizes. Die Sinnesrezeptoren werden von afferenten Neuronen (primären Afferenzen) gebildet, deren Zellkörper (Somata) in der Regel in den Spinalganglien, im Kopfbereich im Ganglion trigeminale (Gasseri) liegen. Die peripheren Fortsätze der primären Afferenzen, die sensorischen Axone, bilden im innervierten Gewebe die sensorischen (sensiblen, rezeptiven) Endigungen aus.

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20.2 Mechanische Oberflächensensibilität A Mechanorezeptoren

) ) le x en en : ektor : tor mp I) I) n I o : t e n ren K ren n detek e h l e e d l c Ze kto erch tekto rper keits erchungs g el- ete p e p g ö ig un erkitätsd i-Kör itätsd er-K wind i-Kör leuni M h ind h n - ns s f n n c i c i n n ß f p s i f e c s o e e Ax (Int Ru (Int Me (G Pa (Be Em

Spannung Druck Berührung Vibration 160 2

Innervationsdichte (Einheiten/cm )

120

80

40

0

B Antwort auf mechanischen Reiz Reizstärke

Die sensorischen Nervenendigungen werden in die korpuskulären und die so genannten freien Nervenendigungen unterteilt (s. Tab. 20.1 und Abb. 20.1). Diese Einteilung ist sehr sinnvoll, da die Neurone der korpuskulären bzw. freien Endigungen zu unterschiedlichen zentralen sensorischen Systemen gehören, wie später erläutert wird (Kap. 20.7). Alle korpuskulären Endigungen vermitteln mechanische Sinneseindrücke, sind also Mechanorezeptoren, während die freien Nervenendigungen verschiedene Modalitäten vermitteln können. Korpuskuläre Endigungen werden von myelinisierten, schnell leitenden A -Fasern gebildet, freie Nervenendigungen von unmyelinisierten C-Fasern und dünn myelinisierten A -Fasern mit langsamer Leitungsgeschwindigkeit (s. Klassifikation von Erlanger und Gasser, Kap. 19.4, Tab. 19.2). Die morphologischen Bezeichnungen stammen aus der Lichtmikroskopie, bei der die korpuskulären Endigungen als auffällige Körperchen in Erscheinung treten (Abb. 20.1). Demgegenüber sind die verzweigten freien Nervenendigungen im Lichtmikroskop ohne spezielle Färbung kaum sichtbar. Die einzelnen unmyelinisierten Äste verteilen sich im Gewebe scheinbar ohne feste Beziehung zu anderen Strukturen. Die Myelinscheide der schnellen mechanorezeptiven Fasern endet vor den korpuskulären Endigungen (s. Abb. 20.1). Es wird angenommen, dass an der unmyelinisierten Endigung mechanisch empfindliche Rezeptorkanäle („stretch activated channels“) durch Deformation der Plasmamembran geöffnet werden und den mechanischen Reiz in ein Rezeptorpotenzial umsetzen (Mechanotransduktion). Die korpuskuläre Struktur ist wahrscheinlich nur erforderlich, um die spezifischen Eigenschaften der Mechanorezeptoren zu erzeugen oder zu verstärken.

Zeit

SAI-Rezeptor

Ein wichtiges Klassifikationsmerkmal für Mechanorezeptoren ist ihr Adaptationsverhalten

SAII-Rezeptor

Durch neurophysiologische Untersuchungen hat man entdeckt, dass die mechanorezeptiven Aβ-Fasern mit ihren korpuskulären Endigungen sehr unterschiedliche Eigenschaften aufweisen können. Dies betrifft neben dem adäquaten Reiz (s. Kap. 19.3) vor allem die Geschwindigkeit und das Ausmaß der Adaptation, d. h. wie schnell und wie stark die Antwort eines Mechanorezeptors (oder allgemein eines Sinnesrezeptors) bei anhaltendem Reiz abnimmt, was an der Frequenz der erzeugten Aktionspotenziale abgelesen werden kann (Abb. 20.2 B). Diese Eigenschaft ist so charakteristisch, dass sie von den Neurophysiologen zur Klassifikation der Mechanorezeptoren herangezogen wird. Langsam adaptierende Mechanorezeptoren werden dabei als SA bezeichnet (von slowly adapting), schnell adaptierende als RA (rapidly adapting). Bei einem statischen Reiz, wenn zum Beispiel ein stumpfer Gegenstand lange auf die Haut gedrückt wird, antworten die SA-Rezeptoren mit einer lang anhaltenden Entladungssalve, deren Frequenz kaum abnimmt, während die RA-Rezeptoren ihre anfängliche Aktivität schnell verringern oder gar einstellen (Abb. 20.2 B). Es ist damit klar, dass SA-Rezeptoren vor allem dazu geeignet sind, die Reizstärke und weniger die Reizveränderung zu kodieren, während RA-Rezeptoren vor allem auf die Veränderung

PC-Rezeptor

RA-Rezeptor

Abb. 20.2 Mechanorezeptoren der unbehaarten Haut. A Innervationsdichte der Mechanorezeptoren in verschiedenen Bereichen der Hand (unten) und zugehörige Empfindungen (oben). Die Empfindungen, die von den jeweiligen korpuskulären Endigungen (Mechanorezeptor-Typen) vermittelt werden, überlappen sich zum Teil. Die Innervationsdichte von SA-I- und RA-Rezeptoren ist in den Fingerkuppen am größten (nach 15). B Typisches Antwort- und Adaptationsverhalten der vier Mechanorezeptor-Typen bei einem rampenförmigen Anstieg der Reizstärke oder der Reizstrecke (Druck auf die Haut), dargestellt anhand der erzeugten Aktionspotenziale. Der SA-I-Rezeptor kodiert sowohl die Reizveränderung als auch die Reizstärke (Proportional-Differenzial-Verhalten), wobei er im tonischen Teil des Reizes mehr oder weniger schnell adaptiert. Beim SA-II-Rezeptor ist die proportionale Komponente stärker, d. h. er adaptiert noch langsamer und bildet vorwiegend die Reizstärke ab. Der RA-Rezeptor reagiert vor allem während der Reizveränderung und kodiert in erster Linie die Geschwindigkeit des Reizes (Differenzial-Verhalten). Der PC-Rezeptor (Beschleunigungsrezeptor) beantwortet nur den Beginn, manchmal auch das Ende des Druckreizes mit 1 – 2 Aktionspotenzialen.

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20 Somatoviszerale Sensibilität der Reizstärke, also die Geschwindigkeit eines mechanischen Reizes reagieren. Technisch ausgedrückt heißt das: Die SA-Rezeptoren zeigen ein ausgeprägtes Proportionalverhalten, die RA-Rezeptoren ein Differenzialverhalten. Die Wirklichkeit liegt aber meist dazwischen, was übrigens nicht nur für Mechanorezeptoren sondern für alle möglichen Arten von Sinnesrezeptoren gilt. Man spricht dann vom Proportional-Differenzial-(PD-)Verhalten. Bei solchen PD-Rezeptoren kann man zu Beginn des Reizes eine stärkere phasische Entladung beobachten (die differenzielle Komponente), die bei andauernder Reizung mehr oder weniger schnell in eine niedrigere tonische Entladung (den proportionalen Teil der Antwort) übergeht (Abb. 20.2 B; vgl. Abb. 19.6 im Kap. 19.4).

Die histologisch und funktionell unterscheidbaren Mechanorezeptoren der Haut vermitteln auch unterschiedliche Empfindungen Eine weitere wichtige Entdeckung für die Sinnesphysiologie war, dass man die neurophysiologisch unterscheidbaren Mechanorezeptoren sowohl unterschiedlichen Empfindungen als auch spezifischen korpuskulären Endigungen zuordnen konnte. Die wichtigsten korpuskulären Endigungen der Haut, die meist nach ihren Erstbeschreibern bezeichnet wurden, sind in Abb. 20.1 dargestellt und in Tab. 20.1 aufgelistet. Die Merkel-Endigungen (weitere Bezeichnungen sind Merkel-Scheiben, Merkel-Zell-Axon-Komplexe, MerkelRezeptoren) finden sich in der Basalschicht der Epidermis der unbehaarten Haut. Die rezeptive Endigung geht hier mit umgewandelten Epithelzellen, den Merkel-Zellen, eine synapsenähnliche Verbindung ein. Der Transduktionsprozess der Merkel-Zell-Rezeptoren ist bis heute nicht geklärt, doch sie werden am leichtesten schon durch schwache, senkrecht auf die Haut einwirkende mechanische Reize erregt. Dabei zeigen sie ein klassisches PD-Verhalten und werden aufgrund ihrer langsamen Adaptationsgeschwindigkeit funktionell als SA-IRezeptoren bezeichnet (Abb. 20.2). Es ist leicht ersichtlich, dass Merkel-Zell-Rezeptoren damit am besten die Stärke von länger dauernden leichten Druck- und Berührungsreizen kodieren können. In der behaarten Haut kommen statt der Merkel-Endigungen die ähnlich aufgebauten Tastscheiben vor. In der Dermis der behaarten und unbehaarten Haut finden sich Ruffini-Körperchen. Ähnliche Formen kommen auch im Zahnhalteapparat und in Gelenken vor. Es handelt sich hier um kolbenförmige, meist von einer Kapsel aus Perineuralzellen umgebene Gebilde, in die kollagene Fasern einstrahlen. Im Inneren des Korpuskels werden die Faserbündel von der verzweigten sensorischen Endigung umschlungen, die wahrscheinlich bei Dehnung des Korpuskels verformt wird. Die Ruffini-Rezeptoren werden funktionell als SA-II-Rezeptoren bezeichnet. Sie sind weniger empfindlich und adaptieren noch langsamer als die Merkel-Zell-Rezeptoren (Abb. 20.2). Sie werden am besten durch die tangentiale Dehnung der Haut erregt und sind in der Lage, entsprechend ihrer tonischen Entladung Empfindungen wie langdauernden Druck und Spannung zu vermitteln.

Meißner-Körperchen kommen nur in der unbehaarten Haut vor. Das Korpuskel besteht aus lamellenartig angeordneten Schwannzellen mit einer perineuralen Kapsel und wird meist von mehreren sensorischen Endigungen innerviert, deren Verzweigungen schraubenförmig zwischen die Schichten der Schwannzellen eingelagert sind. Die Körperchen sind durch kollagene Fibrillen an die basalen Epithelzellen angeheftet, wodurch wahrscheinlich die schnelle mechanische Übertragung ermöglicht wird. Meißner-Körperchen werden funktionell als RARezeptoren (manchmal auch als FA für „fast adapting“) bezeichnet. Sie sind hochempfindlich und bilden mit ihrer Entladungsfrequenz am besten die Geschwindigkeit eines Berührungs- oder Druckreizes ab (s. Abb. 20.2). Mit ihrem ausgeprägten Differenzialverhalten können sie schnell wechselnde Berührungsreize melden. In der behaarten Haut werden die Aufgaben der dort fehlenden MeißnerKörperchen von den Haarfollikelrezeptoren übernommen. Diese reagieren auf die Bewegung der Haare und sind auch dafür verantwortlich, dass leichte Objekte, die sich über die behaarte Haut bewegen (z. B. ein Insekt) eine Kitzelempfindung auslösen. Schließlich kommen im subkutanen Gewebe, auch in tiefen Geweben und im Mesenterium, die großen Pacini(oder Vater-Pacini-) Körperchen vor. Bei diesen ovalen Korpuskeln wird das Ende einer sensorischen Nervenfaser zwiebelartig von vielen Schichten umgewandelter Schwannzellen und Perineuralzellen eingehüllt (Abb. 20.3). Funktionell werden sie nach Pacini als PCRezeptoren bezeichnet. Es handelt sich um hochempfindliche Mechanorezeptoren mit extrem schneller Adaptation, die in erster Linie durch Beschleunigung, also den Geschwindigkeitswechsel von mechanischen Reizen, erregt werden. Daher antworten sie besonders gut auf Vibrationsreize und vermitteln auch diese Empfindung

100

Meißner-Körperchen (RA-Rezeptor) Amplitude (µm)

632

10

Wahrnehmungsschwelle Pacini-Körperchen (PC-Rezeptor)

1

0,1

10

100

Frequenz (Hz)

400

Abb. 20.3 Wahrnehmungsschwelle und Erregungsschwellen von Meißner- und Pacini-Körperchen für Vibrationsreize an der Hand. Die Wahrnehmungsschwelle (Absolutschwelle) des Menschen für Vibrationsreize stimmt im höheren Frequenzbereich (100 – 400 Hz) gut mit der Erregungsschwelle der PC-Rezeptoren (Pacini-Körperchen) überein, bei tiefen Frequenzen (5 – 50 Hz) am besten mit der Erregungsschwelle von RA-Rezeptoren (Meißner-Körperchen). Die maximale Empfindlichkeit der PC-Rezeptoren liegt bei einer Reizamplitude von weit unter 1 µm (nach 18).

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20.2 Mechanische Oberflächensensibilität (Abb. 20.3). Bei Vibration wird typischerweise jeweils nur ein (manchmal auch zwei) Aktionspotenziale phasenkonstant bei jedem Richtungswechsel ausgelöst (Abb. 20.2). Damit kann der PC-Rezeptor innerhalb eines bestimmten Bereichs die Frequenz eines vibrierenden taktilen Reizes abbilden. Wenn die Hülle von den Pacini-Korpuskeln experimentell entfernt wird, bleibt zwar die mechanische Empfindlichkeit der PC-Rezeptoren erhalten, sie verlieren aber ihre schnelle Adaptation und damit die Vibrationsempfindlichkeit. Dies zeigt, dass die Hüllstrukturen der korpuskulären Sinnesrezeptoren wesentlich zu deren Rezeptoreigenschaften beitragen. Die Erregungsschwelle der PC-Rezeptoren zeigt ein Minimum im Bereich von 150 – 200 Hz. Hier genügen sinusförmige Schwingungen (die z. B. von einer Lautsprechermembran erzeugt werden) mit Amplituden von weniger als 1 µm, um eine reizsynchrone Entladung auszulösen (Abb. 20.3). Interessanterweise stimmt diese Erregungsschwelle auch ziemlich gut mit der Empfindungsschwelle überein. Bei tieferen Frequenzen ist der PC-Rezeptor allerdings wesentlich unempfindlicher und seine Erregungsschwelle steigt über die Absolutschwelle der Vibrationsempfindung. Dieses Phänomen zeigt, dass im tieferen Frequenzbereich die Vibrationsdetektion vorwiegend durch einen anderen Mechanorezeptor, nämlich durch die RA-Rezeptoren geleistet wird, die ihr Empfindlichkeitsmaximum in einem Frequenzbereich von 20 – 50 Hz haben (Abb. 20.3). Woher weiß man eigentlich, welche Mechanorezeptoren welche Empfindungen vermitteln? Abgesehen von vielen Analogschlüssen aus tierexperimentellen Befunden hat dazu die Methode der Mikroneurographie beim Menschen wesentliche Erkenntnisse geliefert. Bei dieser Methode wird eine feine Mikroelektrode in einen peripheren Nerven eingeführt und die Aktivität einzelner afferenter Fasern registriert, wenn diese in ihrem rezeptiven Feld (vgl. Kap. 19.4) gereizt werden, in dem sich die sensorischen Endigungen dieser Afferenzen ausbreiten. Damit konnte man bei den Sinnesrezeptoren der menschlichen Haut die spezifischen adäquaten Reize identifizieren sowie die Beziehung von Reiz- und Erregungsstärke sowie das Adaptationsverhalten messen. Gleichzeitig, und das war der große Fortschritt, konnte man aber auch die Empfindung des Probanden oder Patienten erfragen und somit wesentliche Hypothesen bestätigen, die vorher auf der Grundlage tierexperimenteller Untersuchungen aufgestellt worden waren.

Die hohe Dichte von Mechanorezeptoren in den Fingern ist für den Tastsinn besonders wichtig Spricht man vom Berührungssinn, so denkt man in erster Linie an die mechanosensiblen Leistungen unserer Hand, den Tastsinn. Dieser Sinn ist so hoch entwickelt, dass er in gewisser Weise das Sehen ersetzen kann, zum Beispiel um sich im Raum zu orientieren oder mittels Blindenschrift zu lesen. Ein gemeinsames Merkmal dieser Sinne ist der explorative Charakter: Die Umwelt wird aktiv durch Bewegung der Sinnesorgane „erfasst“, ihre Struktur und Oberflächenbeschaffenheit wird wahrgenommen und als räumliches Bild im Gedächtnis niedergelegt. Dies

Braille-Muster Antworten: SA I (Merkel) RA (Meißner) SA II (Ruffini) PC (Pacini) 10 mm

Abb. 20.4 Aktivierung von Mechanorezeptoren durch Braille-Muster. Bei diesem Experiment wurde mit Hilfe einer drehbaren Trommel ein erhabenes Punktemuster, das den Buchstaben der Blindenschrift (Braille-Muster) entspricht, über die Fingerkuppe eines Primaten so hinwegbewegt, als würde der Finger über das Muster gleiten. Dabei wurden die Entladungen von verschiedenen Mechanorezeptoren mikroneurographisch registriert. Bei jeder Umdrehung wurde die Abfolge der ausgelösten Aktionspotenziale in einer neuen Zeile aufgezeichnet und danach die Trommel längs ihrer Achse ein Stück weit versetzt, so dass ein anderer Teil des Punktemusters die Fingerkuppe überstrich. Unten sind die verdichteten Entladungsmuster von vier verschiedenen Hautrezeptoren dargestellt. In diesem eleganten Experiment wird deutlich, dass das Punktemuster am besten durch Merkel-Endigungen (SA I) und MeißnerKörperchen (RA) kodiert wird, schlecht dagegen durch Ruffini- (SA II) und Pacini-Körperchen (PC) (nach 12).

wird ganz besonders deutlich, wenn man mit geschlossenen Augen einen Gegenstand ertastet und versucht, sich diesen vor dem „inneren Auge“ vorzustellen. Die korpuskulären Endigungen der Mechanorezeptoren sind über die Körperoberfläche sehr ungleich verteilt. Dies wird besonders an der Hand deutlich (Abb. 20.2 A). Beim Betasten von Gegenständen wird zwar eine ganze Reihe verschiedener Mechanorezeptoren einschließlich solcher aus tiefen Geweben (Propriozeptoren, s. Kap. 20.4) aktiv, aber für die Feinerkennung von Oberflächen spielen zwei korpuskuläre Rezeptoren in der Fingerbeere eine zentrale Rolle. Während die RuffiniKörperchen (SA II) in der Hand eine niedrige Innervationsdichte aufweisen und in der Handfläche sogar häufiger vorkommen als in den Fingern, besitzen die tastenden Fingerendglieder die höchste Dichte an Merkel-Endigungen (SA I) und Meißner-Körperchen (RA). Diese hohe Rezeptorendichte ist Voraussetzung, aber nicht der einzige Grund für die hohe räumliche Auflösung (oder geringe Zweipunktschwelle) der Fingerbeere (s. Kap.

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20 Somatoviszerale Sensibilität 20.8). Die SA-I- und RA-Rezeptoren sind aufgrund der hohen räumlichen Auflösung im Vergleich zu anderen Mechanorezeptoren auch am besten geeignet, das Punktemuster der Blindenschrift (Braille-Muster) zu kodieren, wenn die Finger darüber hinweggleiten (Abb. 20.4). Die Informationen aus diesen Mechanorezeptoren in Form von Aktionspotenzialsalven werden nahezu eins-zu-eins an die Großhirnrinde übermittelt (vgl. Kap. 20.8).

20.3 Thermosensibilität Der Temperatursinn umfasst die Qualitäten Wärme und Kälte. Starke Abweichungen von der normalen Oberflächentemperatur werden als unangenehm empfunden. Kalt- und Warmpunkte, diskrete Stellen für Temperaturempfindungen, finden sich in unterschiedlicher Dichte auf der Körperoberfläche. Die Sinnesrezeptoren des Kälte- und Wärmesinns in der Haut sind A - bzw. CFasern mit freien Nervenendigungen. Die Thermorezeptoren zeigen bei Temperaturänderungen ein typisches Proportional-Differenzialverhalten. Die Temperaturempfindung hängt vom Verhältnis der Aktivität von Kalt- und Warmrezeptoren ab. Im Bereich der Indifferenztemperatur empfindet man weder Wärme noch Kälte, solange sich die Temperatur nicht schnell ändert. Temperaturen außerhalb dieses Bereichs werden als dauerkalt bzw. dauerwarm empfunden. Durch inadäquate Reizung von Kaltrezeptoren bei hohen Temperaturen kann eine paradoxe Kältempfindung entstehen. Der Temperatursinn zeichnet sich durch einige Besonderheiten aus. Er gehört zur Oberflächensensibilität mit einer diskreten Rezeptorverteilung. Gleichzeitig ist er ein homöostatisch ausgerichteter Sinn: Der Temperatursinn wird erst dann bewusst, wenn der Organismus Umgebungstemperaturen ausgesetzt ist, denen er thermoregularisch entgegensteuern muss (vgl. Kap. 15). Eine Temperaturempfindung wird unwillkürlich auch affektiv beantwortet und hedonisch, d. h. als angenehm oder unangenehm, beurteilt. Durch angemessenes Verhalten strebt man danach, eine angenehme indifferente Oberflächentemperatur einzustellen. Schließlich enthält der Temperatursinn zwei gegensätzliche Qualitäten, die kontinuierlich ineinander übergehen, sich aber normalerweise gegenseitig ausschließen, die Wärme- und die Kälteempfindung. Der Temperatursinn als Oberflächensinn ist durch diskrete Kalt- und Warmpunkte auf der Haut gekennzeichnet, die z. B. mit Hilfe einer kalten oder warmen Metallspitze kartiert werden können. Diese Punkte sind unterschiedlich dicht über die Körperoberfläche verteilt, wobei die Kaltpunkte in der Regel häufiger vorkommen. Am Handrücken zum Beispiel findet man pro Quadratzentimeter etwa zwei Kaltpunkte, aber nur einen Warmpunkt. Im Gesicht sind Kalt- und Warmpunkte wesentlich häufiger; in der Mundregion sind sie so dicht konzentriert, dass sie sich kaum trennen lassen. Im Gesicht werden auch feinste Temperaturunterschiede wahrgenommen (Unterschiedsschwelle, s. S. 628): Eine Mutter drückt das erwärmte Trinkfläschchen an die Wange, um die Temperatur zu schätzen. Entsprechend der unterschiedlichen Dichte an Thermorezeptoren müssen auch

unterschiedlich große Hautbezirke gekühlt oder erwärmt werden, um eine minimale Temperaturänderung wahrzunehmen.

Das Temperaturempfinden spiegelt in erster Linie die phasische und tonische Aktivität der Thermorezeptoren wider Die Sinnesrezeptoren für Kalt- und Warmempfindungen (Thermorezeptoren) sind freie Nervenendigungen, wobei die Kaltrezeptoren überwiegend von Aδ-Fasern gebildet werden, während die Warmrezeptoren aus unmyelinisierten C-Fasern bestehen (s. Tab. 20.1 und Abb. 20.1). Charakteristisch für das Temperaturempfinden ist die ausgeprägte Adaptation, welche wahrscheinlich eine direkte Folge des Adaptationsverhaltens von Kaltund Warmrezeptoren ist. Die Rezeptoren sind spontan aktiv und besitzen eine typische PD-Charakteristik, d. h. sie reagieren bei Temperaturänderung mit einer kurzen phasischen Entladung, die von einer langdauernden tonischen Aktivität gefolgt wird (s. Abb. 20.5 A). Einen guten Beleg dafür bietet der klassische Zwei-Schalen-Versuch von Weber: Taucht man gleichzeitig die linke Hand in warmes Wasser von 38 C und die rechte Hand in deutlich kühleres Wasser von 26 C, so wird nach kurzer Zeit der Temperaturunterschied nicht mehr oder nicht mehr so stark wahrgenommen, weil die Thermorezeptoren adaptiert sind. Taucht man jetzt beide Hände in Wasser mit einer Temperatur von 33 C (Indifferenztemperatur), so erscheint die linke Hand deutlich kühler als die rechte: Die Thermorezeptoren sprechen vor allem auf die Änderung der Temperatur an. Jeder Kalt- und Warmrezeptor besitzt eine individuelle Antwortkurve mit einer optimalen Temperatur, bei der die tonische Aktivität (statische Entladungsfrequenz bei gleich bleibender Temperatur) am höchsten ist. Das Mittel dieser Antwortkurven ergibt sowohl für die Kalt- als auch für die Warmfasern eine charakteristische Funktion mit einem Maximum bei etwa 25 C bzw. 43 C (Abb. 20.5 B). Im Bereich der psychophysischen Indifferenztemperatur (etwa zwischen 31 C und 36 C) sind sowohl Kalt- als auch Warmfasern aktiv. In diesem Bereich nimmt man die Temperatur nicht bewusst wahr, solange sie sich nicht ändert. Die Aktivität der Kalt- und Warmrezeptoren wird also offensichtlich zentral miteinander verrechnet. Temperaturänderungen innerhalb der Indifferenzzone werden nur vorübergehend als Erwärmung bzw. als Abkühlung empfunden, solange der phasische Teil der Entladung von Warm- bzw. Kaltrezeptoren anhält. Erst bei statischen Temperaturänderungen über die Grenzen der Indifferenzzone hinaus entsteht die Empfindung Dauerwarm bzw. Dauerkalt. Im Bereich Dauerwarm wird interessanterweise eine zunehmende Erwärmung leichter erkannt als eine Abkühlung, die dann als „weniger warm“ empfunden wird. Bei langsamer Abkühlung (z. B. im Fahrtwind) kann es auf diese Weise zu einer unbemerkten Unterkühlung der Haut kommen. Entsprechend gilt im Bereich Dauerkalt, dass eine weitere Abkühlung leichter erkannt wird als eine Erwärmung. In Temperaturbereichen über 45 C bzw. unter 10 C, in denen die Aktivität der Warm- bzw. Kaltrezeptoren stark abnimmt, geht das Temperaturempfinden in Schmerz-

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20.4 Tiefensensibilität und Propriozeption Temperaturänderungen geöffnet werden. TRPM8, der wahrscheinlich in Kaltrezeptoren exprimiert ist, wird sowohl bei Abkühlung unter 27 C als auch durch einige Substanzen wie Menthol oder Eukalyptusöl aktiviert. Hierdurch wird erklärt, warum Menthol (z. B. mit dem Zigarettenrauch) oder Eukalyptusöl Kaltempfindungen auslösen können. Eine andere Hypothese der Kaltrezeption geht davon aus, dass durch Abkühlung spezifische Kaliumkanäle deaktiviert werden und dadurch zu einer Depolarisation beitragen.

A Rezeptorantworten 40

40

°C

°C

Erwärmung

30

Abkühlung

30

Haut

Warmrezeptor

Warmrezeptor

20.4 Tiefensensibilität und Propriozeption Kaltrezeptor

20

–1

Impulsfrequenz (s )

B

Unter Tiefensensibilität (Propriozeption) versteht man die Empfindungen aus den tieferen Geweben, den Muskeln, Sehnen, dem Bandapparat und den Gelenkkapseln. Sie umfasst den Stellungssinn des Körpers und der Extremitäten, den Bewegungssinn und den Kraftsinn. Propriozeptoren sind die Muskelspindeln mit Afferenzen der Gruppe Ia und II und Sehnenorgane mit Ib-Afferenzen, sowie weitere Dehnungsrezeptoren mit myelinisierten Nervenfasern in Bändern und Gelenken. Die Propriozeptoren steuern Reflexe und Bewegungsprogramme, ihre Leistungen führen nur selten zu bewussten Empfindungen.

Kaltrezeptor

Aktivität der Warmrezeptoren

Aktivität der Kaltrezeptoren 10

0 10

20

30

40

50 °C

Hauttemperatur

Abb. 20.5 Aktivität von Kalt- und Warmrezeptoren. A Antworten eines Warm- und eines Kaltrezeptors bei Erwärmung bzw. Abkühlung der Haut. Beide Thermorezeptoren zeigen PD-Verhalten mit Adaptation sowohl bei Erwärmung als auch bei Abkühlung. B Mittlere Aktivität von Kaltbzw. Warmrezeptoren bei unterschiedlicher Hauttemperatur. Einige Kaltrezeptoren werden bei Temperaturen über 45 C wieder aktiv und vermitteln dadurch wahrscheinlich die paradoxe Kälteempfindung.

empfinden (Hitze- oder Kälteschmerz) über, weil nun zunehmend Nozizeptoren aktiviert werden (vgl. Kap. 20.6). Im Bereich zwischen Warmempfindung und Hitzeschmerz gibt es das Phänomen der paradoxen Kälteempfindung. Steigt man z. B. in eine heiße Badewanne, so kann vorübergehend eine Kaltempfindung auftreten. Dieses Phänomen wird durch eine erneute Aktivierung einiger Kaltrezeptoren bei hohen Temperaturen erklärt (Abb. 20.5 B), ein bekanntes Beispiel für die inadäquate Reizung von Sinnesrezeptoren. Weitere Beispiele für inadäquate Reizung sind die Kalt- bzw. Warmempfindungen im Bereich der Mundschleimhaut, die durch Menthol bzw. scharf gewürzte Speisen ausgelöst werden können. Der molekulare Mechanismus der Thermorezeption wird derzeit wissenschaftlich untersucht. Sehr wahrscheinlich sind dabei Kationenkanäle aus der großen Familie der TRP-Rezeptorkanäle (transient receptor potential) beteiligt. Dies sind meist unspezifische Kationenkanäle, die durch verschiedene Stimuli (z. B. Liganden, Temperatur, Osmolarität) gesteuert werden können. Man nimmt an, dass thermorezeptive Afferenzen bestimmte TRP-Rezeptorkanäle exprimieren, die bei definierten

Das Zentralnervensystem wird über die Stellung des Körpers und der Extremitäten im Raum laufend informiert, ohne dass diese Leistungen bewusst werden. Mit Hilfe dieses Stellungssinns kann man aber auch mit geschlossenen Augen ohne weiteres die Lage des eigenen Körpers einschätzen und recht genau vorgegebene Winkel der Extremitäten einstellen. Die Leistungen des Stellungssinns werden von Muskel- und Sehnenrezeptoren vermittelt, die als Propriozeptoren bezeichnet werden (Tab. 20.1, S. 629). Besonders wichtig für die Aufrechterhaltung des Körpergleichgewichts sind die Propriozeptoren der Halsmuskulatur, die in die sensomotorische Kette von Vestibularorgan, Augenmotorik und Rumpfmuskulatur einbezogen sind, um Stell- und Haltereflexe zu steuern (s. Kap. 26.3). In den Gelenkkapseln kommen Mechanorezeptoren vor, die besonders bei Extrem- oder Endstellungen des Gelenks aktiviert werden. Ihnen wird eine Schutzfunktion zugesprochen, wobei nicht ganz klar ist, ob sie nur Reflexe steuern oder auch die Funktion von Nozizeptoren haben können. Der Bewegungssinn (Kinästhesie) informiert den Körper über die Richtung, Dauer und Geschwindigkeit von Bewegungen. Diese Leistung hängt maßgeblich von den dynamischen Eigenschaften der Propriozeptoren ab (Kap. 26.3). Der Bewegungssinn ist Teil eines besonders schnellen und effektiven sensomotorischen Kontrollsystems, das zum Teil spinal verschaltet ist, aber auch zerebelläre und kortikale Schleifen besitzt. Der Kraftsinn vermittelt die Kräfte, die auf die Muskulatur des Körpers, insbesondere der Extremitäten, einwirken. Dieser Sinn wird normalerweise nur bewusst, wenn man zum Beispiel ein Gewicht abschätzt oder ein unerwartet schweres oder leichtes Gewicht hebt. Der Kraftsinn wird hauptsächlich durch Muskel- und Sehnenrezeptoren vermittelt und nur zum geringen Teil durch Hautrezeptoren. Das wird zum Beispiel dadurch deutlich,

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20 Somatoviszerale Sensibilität dass man das Gewicht eines Gegenstandes in der Hand durch wiegende Bewegungen besser abschätzen kann als durch einfaches Legen auf die Hand. Propriozeptoren sind in erster Linie Muskelspindelrezeptoren und Sehnenrezeptoren (Tab. 20.1, S. 629), die in relativ großen eingekapselten Körperchen komplex geformte Endigungen ausbilden (Kap. 26.3). Die Muskelspindeln sind parallel zu der extrafusalen Muskulatur angeordnet. Sie enthalten zwei Typen von Dehnungsrezeptoren, die nach der Leitungsgeschwindigkeit ihrer sensorischen Axone unterschieden und vereinbarungsgemäß nach Lloyd und Hunt klassifiziert werden (s. Tab. 19.2). Der adäquate Reiz ist in beiden Fällen die Längendehnung des Muskels. Primäre Muskelspindelafferenzen mit ihren Ia-Fasern (Aα-Fasern) messen neben der Größe vor allem die Geschwindigkeit der Längenänderung, sind also typische PD-Rezeptoren. Durch ihre hohe dynamische Empfindlichkeit können sie auch durch Vibrationsreize erregt werden und die Illusion einer Bewegung vermitteln, wenn man z. B. eine angeschlagene Stimmgabel auf die Sehne setzt. Sekundäre Muskelspindelafferenzen mit den afferenten Fasern der Gruppe II (Aβ-Fasern) messen in erster Linie die statische Muskellänge, zeigen also eher ein Proportionalverhalten. Sehnenrezeptoren enden in den nach Golgi benannten Sehnenorganen, die in Serie zu den Muskelfasern zwischen Muskel und Sehnenansatz eingeschaltet sind. Sie werden von Nervenfasern der Gruppe Ib versorgt. Ihr adäquater Reiz ist die Sehnen- bzw. Muskelspannung. In Bändern und im Bindegewebe der Gelenkkapseln findet man korpuskuläre sensorische Endigungen, die den Muskelspindeln ähneln, allerdings keine direkte Verbindung zu Muskeln haben. Sie können als Dehnungsrezeptoren vom Ruffini-Typ bezeichnet werden. Im lockeren Bindegewebe der Gelenkkapseln kommen außerdem Pacini-Korpuskeln vor, die höchstwahrscheinlich das Vibrationsempfinden in Gelenken vermitteln. Die übrigen bewussten Empfindungen aus den tiefen Geweben wie das Druckempfinden in Gelenken und Muskeln und das Gefühl der Muskelermüdung gehen ohne klare Grenze in das Schmerzempfinden über (Kap. 20.6). Sie werden durch Ruffini-Körperchen und mechanisch hochschwellige freie Nervenendigungen mit Aδ- und C-Fasern in den bindegewebigen Anteilen der Muskulatur (Faszien, Perimysium, Endomysium) vermittelt. Bei Bewegungen im normalen Arbeitsbereich der Gelenke werden die Leistungen dieser Tiefenrezeptoren nicht bewusst (vgl. Kap. 26.3). Es ist jedoch bekannt, dass nach größeren Verletzungen oder Gelenkoperationen mit Ersatz von Bändern (z. B. Kreuzbandplastik) die Biomechanik des Gelenks beeinträchtigt sein kann, weil der afferente Zustrom zum sensomotorischen Bewegungskontrollsystem fehlt.

20.5 Viszerale Sensibilität Die sensorischen Vorgänge in den viszeralen Organen werden normalerweise erst unter pathophysiologischen Bedingungen bewusst wahrgenommen. Viszerale Dehnungsrezeptoren in den Hohlorganen sind an der Steuerung peristaltischer Reflexe beteiligt, bei starker

Dehnung vermitteln sie kolikartike Schmerzen. Arterielle Pressorezeptoren und Dehnungsrezeptoren in Herz und Lunge steuern Kreislaufreflexe, viszerale Chemorezeptoren beeinflussen weitere wichtige homöostatische Funktionen. Einige Chemorezeptoren in Schleimhäuten werden durch Irritanzien erregt, lösen Schutzreflexe aus und vermitteln Empfindungen der Irritation. Empfindungen aus den viszeralen Organen entstehen in der Regel nur bei Abweichungen von der normalen physiologischen Funktion und werden daher meist als unangenehm oder schmerzhaft empfunden. Im Gastrointestinaltrakt reichen solche Empfindungen vom Gefühl der lebhaften Peristaltik bis zu schmerzhaften Koliken. In manchen Fällen wie zum Beispiel beim pathologisch starken Herzklopfen (Palpitation) ist der Entstehungsort der Empfindung unklar. Etwas kurios mutet die Vibrationsempfindlichkeit des Intestinums an, die wahrscheinlich durch Pacini-Körperchen im Mesenterium zustandekommt.

Ein Großteil der viszeralen Sensibilität wird durch Dehnungsrezeptoren vermittelt In der Wand fast aller Hohlorgane befinden sich viszerale Dehnungsrezeptoren, deren Funktion im physiologischen Arbeitsbereich oft unbemerkt bleibt. Über ihre Struktur ist wenig bekannt. Sie werden häufig von myelinisierten afferenten Nervenfasern gebildet, die zusammen mit sympathischen und parasympathischen Nerven, insbesondere dem N. vagus, zum Rückenmark bzw. Hirnstamm ziehen. Die unmyelinisierten Endigungen sind wie bei den freien Nervenendigungen verzweigt und haben enge räumliche Beziehungen zu Bindegewebsstrukturen und glatten Muskelzellen. Im Gatrointestinaltrakt vom Ösphagus bis zum Rektum (Kap. 27.4, Abb. 27.10) sind Dehnungsrezeptoren in die Kontrolle der Peristaltik einbezogen, die zum großen Teil autonom vom Darmnervensystem reguliert werden (vgl. Kap. 14.3). Die Dehnungsrezeptoren dienen dabei zunächst der reflektorischen Steuerung der Organfunktionen, z. B. der Öffnung des unteren Ösophagussphinkters beim Schluckakt. Bei zunehmender Dehnung steigern sie ihre Aktivität und vermitteln über unangenehme Druckempfindungen (Völlegefühl, Blähungen) hinaus schließlich die krampfoder kolikartigen Schmerzen der Hohlorgane. In Abb. 20.6 ist die Funktion eines derartigen Dehnungsrezeptors im Ösophagus dargestellt, der bei geringer (physiologischer) Dehnung eine phasische und bei starker (schmerzhafter) experimenteller Dehnung eine tonische Antwort produziert. Ganz ähnliche Dehnungsrezeptoren kommen in den ableitenden Harnwegen, insbesondere auch in der Harnblase, vor (Kap. 27.4, Abb. 27.11) und vermitteln Empfindungen, die je nach Füllungsgrad vom Harndrang bis zum Blasenschmerz reichen. Die Verlegung der Harnwege durch einen Nieren- oder Blasenstein verursacht stärkste Koliken. Somit haben diese Dehnungsrezeptoren auch eine nozizeptive Funktion (s. Kap. 20.6).

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20.6 Nozizeption und Schmerzentstehung

C Versuch mmHg 120

Grenzstrang

Ballondruck

A leichte Dehnung

0

Ganglion nodosum

Ösophagus

Entladungen N. vagus

Ballondruck

B starke Dehnung

Ballon

mmHg 120

0

Entladungen 1 min

Ganglion coeliacum

Abb. 20.6 Aktivierung von Dehnungsrezeptoren im Ösophagus. A, B Entladungen (Aktionspotenziale) einer afferenten Faser aus dem Grenzstrang bei Dehnung des Ösophagus mit einer Ballonsonde (tierexperimentelle Daten). A Bei leichter Dehnung des Ösophagus durch geringen Ballondruck reagiert die afferente Faser nur für kurze Zeit mit wenigen Entladungen (schnelle Adaptation, phasische Antwort). Diese Antwort ist auch beim Schluckakt zu erwarten. B Bei starker Dehnung antwortet dieselbe Afferenz mit dauerhaften Entladungen (keine Adaptation, tonische Antwort) und verhält sich wie ein Nozizeptor. C Versuchsschema zu A und B. Der Ösophagus wird von sympathischen Nerven und vom N. vagus innerviert; mit beiden verlaufen auch afferente Fasern in das Rückenmark bzw. den Hirnstamm (nach 20).

Auch außerhalb des Gastrointestinaltrakts gibt es eine Vielzahl an Dehnungsrezeptoren, über die viszerale Reflexe gesteuert werden. Dazu gehören die arteriellen Pressorezeptoren (Barorezeptoren) in der Wand des Karotissinus und des Aortenbogens, über die der Pressorezeptorenreflex gesteuert wird, und Dehnungsrezeptoren in den Vorhöfen des Herzens (s. Kap. 8.5). Andere Beispiele sind langsam adaptierende Lungendehnungsrezeptoren in der Trachea und den Bronchien, die in die automatische Begrenzung der Atemtätigkeit einbezogen sind (Hering-Breuer-Reflex, s. Kap. 10.11). Der Milchejektionsreflex wird durch Stimulation von Mechanorezeptoren in den Mammillen der stillenden Mutter gesteuert und bewirkt die Freisetzung von Oxytocin und Prolactin aus dem Hypothalamus bzw. der Hypophyse (s. Kap. 16.3). Bereits während des Geburtsvorgangs wird die Oxytocinfreisetzung über einen ähnlichen Reflex (Fergusonreflex) durch den Druck des kindlichen Kopfes auf den Muttermund angeregt.

Viszerale Chemorezeptoren vermitteln homöostatische Reflexe und Schutzreflexe In viszeralen Organen existieren neben den Mechanorezeptoren auch Chemorezeptoren, die im Wesentlichen homöostatische Funktionen haben (Tab. 20.1, S. 629). Am bekanntesten sind die Chemorezeptoren der Glomera carotica und aortica, die Veränderungen des O2- und CO2-Partialdrucks und den damit zusammenhängenden pH-Wert registrieren (Kap. 10.11). Es sind allerdings keine primären sondern sekundäre Sinneszellen, die mit afferenten Fasern des IX. und X. Hirnnerven synaptisch verbunden sind. Zentrale Chemorezeptoren in der Medulla oblongata und der Area postrema messen den CO2Partialdruck und andere Milieuveränderungen. Sie nehmen eine Sonderstellung ein, insofern als sie nicht mit peripheren afferenten Bahnen in Verbindung stehen. Im Duodenum und im Dünndarm, ja bereits in der Mundhöhle gibt es Glucose-Rezeptoren, die über sympathische und vagale Efferenzen die Sekretion von Insulin und Glucagon im Pankreas beeinflussen (vgl. Kap. 16.6). Von den Rezeptoren, deren Struktur nicht bekannt ist, gehen langsam leitende viszerale Afferenzen aus, die meist mit dem N. vagus verlaufen. Vermutlich wird auf ähnliche Weise die Konzentration vieler anderer Substanzen durch Chemorezeptoren des Gastrointestinaltrakts registriert. Neben diesen unbewussten viszeralen Reflexen werden auch Schutzreflexe wie z. B. der Hustenreflex, Würgereflex und Niesreflex von Chemorezeptoren in der Schleimhaut der Bronchien bzw. des Pharynx und der Nase gesteuert. In der Lunge gibt es außerdem verschiedene, zum Teil schnell adaptierende Rezeptoren (Lungendehnungsrezeptoren), die durch inhalative Noxen oder Entzündungsmediatoren erregt werden und dadurch Lungenund Herzkreislauftätigkeit beeinflussen (vgl. Kap. 10.11). Die Erregung dieser Chemorezeptoren ist meist mit den bewussten Empfindungen von Irritationen verbunden, welche Ähnlichkeiten mit dem Schmerz haben. In der Mund- und Nasenschleimhaut werden diese Rezeptoren von marklosen Fasern des N. trigeminus gebildet.

20.6

Nozizeption und Schmerzentstehung

Die Empfindung Schmerz entsteht durch noxische (schmerzhafte) Reize, die den Organismus schädigen oder schädigen können. Der Begriff Nozizeption umschreibt die peripheren und zentralen Vorgänge, die im Gehirn zur Schmerzentstehung führen. Nozizeptoren sind die Sinnesrezeptoren für noxische Reize. Sie werden von Aδ- und C-Fasern gebildet und weisen gegenüber anderen Sinnesrezeptoren einige Besonderheiten auf: Die meisten sind polymodal (für mechanische, thermische und chemische Reize), viele können sensibilisiert werden, manche werden erst bei chronischer Reizung (Entzündung) aktivierbar. Eine Unterklasse von histaminempfindlichen C-Fasern verursacht vor allem Jucken. Chemische Substanzen wie Bradykinin und Prostaglandine, die bei Verletzungen oder Entzündungen gebildet werden, können Nozizeptoren aktivieren oder für andere Reize (Hitze, Druck) sensibilisieren. Periphere schmerztherapeutische Maßnahmen haben daher häufig die Entzündungshemmung zum Ziel.

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20 Somatoviszerale Sensibilität

Die Begriffe Schmerz und Nozizeption sind nicht identisch

Nozizeptoren werden nach ihren rezeptiven Eigenschaften klassifiziert

Schmerz ist nach der Definition der internationalen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (IASP) eine unangenehme Sinnesempfindung, die mit körperlicher Schädigung verbunden ist, oder die so beschrieben wird, als wäre sie damit verbunden. Diese Definition hebt absichtlich den subjektiven Charakter des Schmerzes als Phänomen der Wahrnehmung hervor. Es spielt dabei keine Rolle, ob eine körperliche Schädigung sichtbar oder nachweisbar ist, entscheidend ist die subjektive Wahrnehmung. Wie jede andere Wahrnehmung ist Schmerz also eine Leistung unseres Gehirns, die nicht unbedingt von den peripheren Vorgängen abhängt. Der akute Schmerz zeigt allerdings im Regelfall tatsächlich an, dass eine körperliche Verletzung vorliegt, oder, noch wichtiger, dass eine solche droht. Der „biologische Sinn“ des Schmerzes liegt in diesem Fall darin, die schädigende oder potenziell schädigende Einwirkung (Noxe) zu vermeiden. Im Prinzip kann jeder physikalische oder chemische Reiz zur Noxe werden, wenn seine Intensität groß genug ist. Deshalb ist es für den Organismus auch sinnvoll, dass Schmerz verschiedene Qualitäten haben kann, um Hinweise auf die Art der noxischen Reize zu erhalten. Zum Beispiel ist es kein Problem zu unterscheiden, ob man auf einen heißen Stein oder einen spitzen Gegenstand tritt. Die Tatsache, dass praktisch jeder Reiz ab einer bestimmten Intensität schmerzhaft wird, hat früher zu der Auffassung geführt, dass Schmerzen durch sehr starke Erregung von Thermo- oder Mechanorezeptoren zustandekommen (Intensitätstheorie). Heute besteht (im Sinne einer Spezifitätstheorie des Schmerzes) kein Zweifel mehr daran, dass Schmerz eine eigenständige Sinnesmodalität ist, denn man kennt nicht nur spezifische Sinnesrezeptoren, die erst bei noxischer Reizung aktiv werden, sondern auch spezifische Leitungsbahnen und zentrale Strukturen, die für die Entstehung und Verarbeitung von Schmerz zuständig sind (s. Kap. 20.7). Die spezifischen Sinnesrezeptoren für die Aufnahme noxischer Reize nennt man Nozizeptoren. Die Art des Schmerzes wird durch deren Eigenschaften, aber auch durch zentrale Mechanismen bestimmt. Außerdem kann die Modalität und Qualität des noxischen Reizes auch dadurch erkannt werden, dass verschiedene andere Sinnesrezeptoren miterregt werden, die in den vorigen Kapiteln besprochen wurden. Die objektiven peripheren und zentralen neuronalen Vorgänge, die zur Schmerzentstehung führen, werden zur Unterscheidung vom subjektiven Phänomen Schmerz als Nozizeption bezeichnet. Nozizeptive Vorgänge können auch ablaufen, ohne dass es zu Schmerzen kommt (z. B. bei Nervenblockade), oder ohne dass diese wahrgenommen werden (z. B. in der Narkose). Die nozizeptiven Vorgänge in den peripheren Geweben werden in diesem Kapitel besprochen, die zentralen Vorgänge in den Kapiteln 20.7 und 20.8. Die Einteilung und Erscheinungsformen des Schmerzes werden aufgrund ihrer klinischen Bedeutung in einem eigenen Kapitel behandelt (Kap. 20.9).

Die Eigenschaften von Nozizeptoren sind durch elektrophysiologische Untersuchungen an Tier- und Gewebepräparaten, beim Menschen durch die Mikroneurographie (s. Kap. 25.4), relativ gut bekannt. Nozizeptoren werden von dünnen myelinisierten Aδ-Fasern (Gruppe III) und von nicht-myelinisierten C-Fasern (Gruppe IV) mit freien Nervenendigungen gebildet (s. Abb. 20.1; Klassifikation s. Kap. 19.4 und Tab. 19.2). Die nozizeptiven C-Fasern sind bei weitem die häufigsten afferenten Nervenfasern überhaupt. Sie finden sich in fast allen Organen, vor allem in der Haut und im Bindegewebe. Zur funktionellen Einteilung der Nozizeptoren werden insbesondere ihre rezeptiven Eigenschaften herangezogen, die man am Entladungsverhalten der afferenten Fasern ablesen kann. Drei Hauptgruppen können dabei unterschieden werden (Tab. 20.1, S. 629): Erstens, mechanisch hochschwellige Nozizeptoren, die auf starke mechanische Reize ansprechen, langsam adaptieren und am häufigsten von Aδ-Fasern gebildet werden. Sie sind für die schnellen nozizeptiven Vorgänge verantwortlich, melden akute schmerzhafte Ereignisse und sind für die Auslösung von Schutzreflexen wichtig (vgl. Kap. 26.3, Fremdreflex). Bei oberflächlichen Verletzungen (z. B. Schnitt in den Finger) vermitteln sie den sofort auftretenden stechend-scharfen Schmerz, den sog. ersten Schmerz. Zweitens, polymodale Nozizeptoren, die sowohl durch noxische mechanische Reize als auch durch noxische Hitze bzw. Kälte und durch verschiedene chemische Substanzen erregt werden können. Polymodale Nozizeptoren sind am häufigsten unter den C-Fasern zu finden und bilden die zahlenmäßig stärkste Gruppe aller Afferenzen. Sie adaptieren langsam oder kaum und übermitteln vor allem länger dauernde schmerzhafte Ereignisse, z. B. nach Verletzungen. Bei Verletzungen der Haut sind sie für den verzögert auftretenden Schmerz verantwortlich, der brennenden oder bohrenden Charakter hat, den sog. zweiten Schmerz. Die dritte Gruppe bilden die schlafenden Nozizeptoren („silent nociceptors“), die im gesunden Gewebe mechanisch überhaupt nicht zu aktivieren sind. Die schlafenden Nozizeptoren „erwachen“ erst bei Entzündungen und sind dann z. B. schon durch schwache mechanische Reize erregbar. Auch bei anderen Nozizeptoren können unter solchen pathologischen Bedingungen die Reizschwellen gesenkt und die Antworten vergrößert sein. Dieses Phänomen ist ein Ausdruck der Sensibilisierung des nozizeptiven Systems und kann zur Entstehung von Schmerzüberempfindlichkeit (primärer Hyperalgesie) beitragen (s. Kap. 20.9). Auch die Sinnesempfindung Jucken (Pruritus) wird durch Hautafferenzen mit freien Nervenendigungen vermittelt (Tab. 20.1, S. 629). Nach neueren Untersuchungen handelt es sich dabei um besonders langsam leitende CFasern, deren Endigungen durch einige Entzündungsmediatoren, vor allem aber durch Histamin (vgl. Kap. 5.9) erregt werden können.

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20.6 Nozizeption und Schmerzentstehung A

B

Läsion

K+

Hitze

Epidermis Dermis

TRPV1-Rezeptorkanal (Capsaicin-Rezeptor)

H+ Capsaicin

P +

Ca2+ Na Mastzelle

Bradykinin

Histamin

PLA2

ATP, K+

nozizeptive Endigung

PGE2

Proteinkinase A

siehe B

ATP

Proteinkinase C

cAMP

DAG

+

H

ProstaglandinRezeptor

Neuropeptide Blutgefäß

PGE2

antidrome Erregung Makrophage

PLC Gq

Gs

Neuropeptide

Interleukine

Adenylylcyclase

Depolarisation

BradykininRezeptor

Bradykinin spannungsgesteuerter Na+-Kanal

Na+ Neuropeptide

Ad/C-Afferenz

Abb. 20.7 Entstehung noxischer Substanzen bei einer Verletzung und Mechanismen der Nozitransduktion. A Durch die Zerstörung der Gewebe entstehen noxische Substanzen wie Bradykinin, das über die Aktivierung der Phospholipase A2 (PLA2) die Synthese von Prostaglandinen (hauptsächlich PGE2) anregt. Diese Entzündungsmediatoren wirken zusammen mit den Protonen (H+) im Entzündungsgewebe auf die nozizeptive Endigung (Aktivierung, Sensibilisierung). Daneben können auch ATP und K+-Ionen aus den zerstörten Zellen den Nozizeptor aktivieren. Histamin, freigesetzt aus aktivierten Mastzellen, wirkt ähnlich wie Bradykinin. Makrophagen können noxische Interleukine wie z. B. IL-1 produzieren, das ebenfalls die PLA2 aktiviert. Nozizeptive Endigungen setzen Neuropeptide frei, die auf Blutgefäße

Bei manchen entzündlichen Erkrankungen der Haut (Dermatitis) leiden die Patienten so stark unter Jucken, dass im Vergleich dazu der Schmerz von großflächig aufgekratzten Hautwunden als erträglicher empfunden wird.

Bei Gewebsverletzungen und Entzündungen werden noxische Substanzen gebildet Akute Schmerzen entstehen in der Regel durch Verletzungen und Entzündungen. Viele der dabei gebildeten und freigesetzten Substanzen, darunter etliche Entzündungsmediatoren, können Nozizeptoren erregen oder sensibilisieren. Einen vereinfachten Überblick gibt die Abb. 20.7 A. Aus zerstörten Zellen werden ATP und K+Ionen freigesetzt, die bei hoher Konzentration Nozizeptoren aktivieren. Bradykinin entsteht im verletzten Gewebe und im austretenden Blutplasma von zerstörten Gefäßen. Es wirkt nicht nur direkt erregend auf einen Teil der Nozizeptoren, sondern regt durch die Aktivierung der Phosholipase A2 die Bildung von Prostaglandinen und anderen Arachidonsäureprodukten aus Phospholipiden der Zellmembranen an. Unter diesen Produkten ist Prostaglandin E2 (PGE2) am bedeutsamsten. Die Prostaglandinbildung wird ferner stimuliert durch Thrombin, das

Aktionspotenzial

wirken. Die Erregung kann auch antidrom (rücklaufend) in andere Äste der nozizeptiven Endigung geleitet werden (Axonreflex). B Zusammenspiel von ionotropen und metabotropen Transduktionsmechanismen in der nozizeptiven Endigung. Chemische Mediatoren (hier Bradykinin, Prostaglandin E2) aktivieren über klassische intrazelluläre Signalkaskaden Proteinkinasen und phosphorylieren Ionenkanäle (hier den TRPV1-Rezeptorkanal, der dadurch sensibilisiert wird). Hitze und Protonen tragen zur Öffnung des TRPV1-Rezeptorkanals bei. Der Kationenstrom depolarisiert die Membran, der Anstieg der intrazellulären Ca2+-Konzentration bewirkt die Freisetzung von Neuropeptiden. Schließlich werden durch die Aktivierung spannungsabhängiger Na+-Kanäle Aktionspotenziale ausgelöst.

in der Blutgerinnungskaskade entsteht, und durch Serotonin (5-Hydroxytryptamin, 5-HT) aus aktivierten Blutplättchen (vgl. Kap. 9.5). Prostaglandine wirken in der Regel nicht direkt erregend, sondern stellen die klassischen Entzündungsmediatoren dar, welche Nozizeptoren für andere Reize sensibilisieren und zur Hyperalgesie führen (vgl. Kap. 20.9). Eines der Wirkungsprinzipien der überwiegend peripher wirkenden sog. leichten Schmerzmittel, der nicht-steroidalen Antiphlogistika (z. B. Acetylsalicylsäure, Ibuprofen), ist die Hemmung der Cyclooxygenase (COX), einem Schlüsselenzym der Prostaglandinsynthese aus der Vorstufe der Arachidonsäure. Neuere Antiphlogistika zielen auf die selektive Hemmung der induzierbaren COX-2, die in pathophysiologisch wirksamer Aktivität erst im entzündeten Gewebe auftritt (COX-2-Inhibitoren). Einen Stoffwechselschritt früher setzen die ebenfalls antiphlogistisch wirkenden Glucocorticoide (steroidale Antiphlogistika) an. Sie hemmen die Aktivität der Phospholipase A2, welche aus Phospholipiden die Arachidonsäure freisetzt. In Stresssituationen trägt über diesen Mechanismus vermutlich auch Cortisol als wichtigstes endogenes Gluco-

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20 Somatoviszerale Sensibilität corticoid der Nebennierenrinde (s. Kap. 16.4) zur Schmerzreduktion bei. Im entzündeten Gewebe werden regelmäßig niedrige pH-Werte gefunden, so dass auch Protonen bei der Nozizeptoraktivierung eine wichtige Rolle spielen (Abb. 20.7). Werden bei Entzündungsvorgängen auch Mastzellen degranuliert, so wird Histamin als weiterer Mediator frei, der ähnliche Wirkungen wie das Bradykinin hat. Makrophagen und andere Immunzellen setzen im entzündeten Gewebe Zytokine frei, z. B. Interleukin-1 (IL-1) und Tumornekrosefaktor α (TNF ), die meist über den Weg der verstärkten Prostaglandinsynthese zur Sensibilisierung von Nozizeptoren beitragen. Die Beziehungen zwischen dem nozizeptiven System und dem Immunsystem sind insgesamt noch wenig erforscht, obwohl Entzündungsvorgänge die häufigste Ursache für Schmerzen sind (vgl. Kap. 9.5).

Die Transduktion noxischer Reize findet an den freien Endigungen der Nozizeptoren statt Die Transduktion noxischer Reize an den freien Nervenendigungen der Nozizeptoren beruht auf ionotropen und metabotropen Rezeptormechanismen. Ein für die Transduktion von thermischen und chemischen Reizen wichtiger Vertreter dieser Rezeptoren ist der CapsaicinRezeptor. Entzündungsmediatoren führen über intrazelluläre Signalkaskaden zur Sensibilisierung dieser Rezeptoren und anderer Ionenkanäle. Durch die Freisetzung von Neuropeptiden können aktivierte Nozizeptoren selbst eine neurogene Entzündung im Gewebe auslösen, wobei diese Wirkung über einen „Axonreflex“ in benachbarte Areale übertragen werden kann. Lokalanästhetika verhindern über die Blockade spannungsabhängiger Natriumkanäle die Erregungsleitung. Die verzweigten nicht-korpuskulären (freien) Endigungen der Nozizeptoren sind (auch bei den Aδ-Fasern) unmyelinisiert. Sie können bis zu mehreren mm lang sein, sind in der Regel allerdings dünner als 1 µm und lassen sich deshalb lichtmikroskopisch nur mit Hilfe spezieller Färbemethoden sichtbar machen. An den Endverzweigungen findet die Transduktion statt, die Umsetzung noxischer Reize in ein Rezeptorpotenzial (vgl. Kap. 19.3). Wie alle Nervenfasern bestehen auch die unmyelinisierten Endigungen aus dem Axon und umhüllenden Schwannzellen. Bei den C-Fasern sind häufig mehrere Axone in eine gemeinsame Schwannzelle eingesenkt (Remak-Bündel). Entlang der Endverzweigungen ist das sensorische Axon stellenweise nicht mehr vollständig von Schwannzellen bedeckt. Diese exponierten Axonflächen sind wahrscheinlich Transduktionsareale, in denen Membranrezeptoren für chemische Reize eingebaut sind. In anderen Fällen scheinen die Endäste im kollagenen Bindegewebe oder der Epidermis verankert zu sein, was auf eine mechanorezeptive Interaktion hindeutet. Die molekularen Prozesse der nozizeptiven Transduktion sind sehr komplex und noch nicht in allen Einzelheiten bekannt. Mechanorezeptive Endigungen sind wahrscheinlich mit scherkraft- oder dehnungsempfindli-

chen Ionenkanälen („stretch activated channels“) ausgestattet (vgl. Kap. 20.2). Die Chemosensibilität von polymodalen Nozizeptoren kommt durch spezifische Membranrezeptoren zustande, die entweder selbst Ionenkanäle sind (ionotroper Mechanismus) oder intrazelluläre Prozesse steuern (metabotroper Mechanismus), wie exemplarisch in Abb. 20.7 B dargestellt ist. Ein Rezeptor, der in den meisten Nozizeptoren exprimiert ist, ist der Capsaicin-Rezeptor. Es handelt sich um einen ionotropen Rezeptor, der einen unspezifischen Kationenkanal in der Zellmembran ausbildet. Der Kanal lässt im geöffneten Zustand vor allem Na+ und Ca2+ passieren. Seine Öffnung bewirkt nicht nur eine Depolarisation, sondern lässt auch die intrazelluläre Ca2+-Konzentration ansteigen, wodurch verschiedene Ca2+-abhängige Prozesse ausgelöst werden können: Enzymkaskaden werden beschleunigt (z. B. die Bildung von cAMP), weitere Ionenkanäle geöffnet, Neuropeptide freigesetzt. Der Capsaicin-Rezeptor ist der am längsten bekannte Rezeptor aus der Familie der bereits in Kapitel 20.3 erwähnten TRPRezeptorkanäle. Seinen ursprünglichen Namen hat er von dem ersten bekannten Liganden, Capsaicin, das den brennenden Charakter von einigen Paprika-Arten (Capsicum) ausmacht. Capsaicin gehört zu den pflanzlichen Vanilloiden (daher die Bezeichnung des Capsaicin-Rezeptors auch als TRPV1-Rezeptorkanal). Der Capsaicin-Rezeptor ist deshalb besonders interessant, weil er selbst das Prinzip der Polymodalität repräsentiert: Er wird nicht nur durch verschiedene noxische Liganden geöffnet, sondern auch durch Hitze über 43 C. Außerdem erleichtern Protonen (pH-Erniedrigung) die Aktivierung des TRPV1-Rezeptorkanals. Zu den Substanzen, welche den Capsaicin-Rezeptor aktivieren, zählen auch einige endogene Arachidonsäuremetaboliten, die z. B. im entzündlichen Gewebe durch Enzymkaskaden entstehen können, und kurzkettige Alkohole. (Deshalb verursachen alkoholhaltige Desinfektionsmittel brennende Schmerzen, wenn man sie auf offene Wunden gibt!).

Entzündungsmediatoren wirken durch die Aktivierung von Proteinkinasen Wirken gleichzeitig verschiedene noxische Substanzen, wie zum Beispiel die bereits genannten Entzündungsmediatoren, auf die Nozizeptormembran ein, so verstärken sich die Wirkungen gegenseitig (Abb. 20.7 B). Die meisten Entzündungsmediatoren wirken dabei über GProtein-gekoppelte Rezeptoren (s. Kap. 2.6). Wichtige Beispiele hierfür sind das Bradykinin, dessen Bindung an Nozizeptoren über die Aktivierung der Phospholipase C und Synthese von Diacylglycerin die Proteinkinase C aktiviert, oder die Prostaglandine wie das PGE2, das über den Adenylylcyclase-cAMP-Weg die Proteinkinase A aktiviert. Die Proteinkinasen können dann wiederum Ionenkanäle phosphorylieren und deren Aktivierbarkeit verändern, z. B. auch die Öffnung der Kanäle von CapsaicinRezeptoren erleichtern. Dies drückt sich in einer Sensibilisierung des Nozizeptors aus, die so weit gehen kann, dass z. B. die Capsaicin-Rezeptor-Kanäle schon bei Erwärmung, vielleicht durch die normale Körpertemperatur, aktiviert werden. (Man denke daran, dass bereits leichte Abkühlung entzündeter Areale den Schmerz lindern kann!)

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20.7 Spinale sensorische Systeme

Lokalanästhetika verhindern die Transformation und Erregungsleitung in nozizeptiven Nervenfasern Die Transduktionsvorgänge in der nozizeptiven Endigung können schließlich ein überschwelliges Rezeptorpotenzial erzeugen, das durch elektrotonische Ausbreitung die schnellen spannungsgesteuerten Na+-Kanäle erreicht und Aktionspotenziale auslöst (s. Abb. 20.7 B; vgl. Kap. 19.4). Der Ort der Erregungstransformation, an dem das Rezeptorpotenzial in fortgeleitete Aktionspotenziale umgewandelt wird, ist bei Nozizeptoren nicht sicher bekannt. Viele Nozizeptoren besitzen zusätzlich spannungsabhängige Natriumkanäle, die durch Tetrodotoxin, das Gift des japanischen Kugelfisches, nicht blockiert werden können (TTX-insensitive Na+-Kanäle; s. Kap. 4.4). Andererseits blockieren Lokalanästhetika (z. B. Lidocain) alle spannungsabhängigen Natriumkanäle sehr effektiv. Dies ist das wirksame Prinzip der Lokal- und Infiltrationsanästhesie, wobei nicht nur die Erregungstransformation, sondern auch die Fortleitung der Aktionspotenziale verhindert wird (vgl. Kap. 19.4).

Durch Freisetzung von Neuropeptiden aus Nozizeptoren entsteht eine neurogene Entzündung Ein großer Teil der nozizeptiven Afferenzen enthält Neuropeptide, wie zum Beispiel Substanz P, Neurokinin A, Calcitonin gene-related peptide (CGRP) und Somatostatin. Die Neuropeptide sind in Vesikeln gespeichert und werden bei Depolarisation der sensorischen Endigungen in das umliegende Gewebe freigesetzt (Abb. 20.7). Substanz P steigert in den meisten Geweben die Permeabilität von Kapillaren und postkapillären Gefäßen, so dass diese Blutplasma verlieren (Plasmaextravasation). Dadurch kommt es zu einem Ödem im Bereich der nozizeptiven Endigungen. CGRP wirkt relaxierend auf die glatte Gefäßmuskulatur, erweitert dadurch arterielle Blutgefäße (Vasodilatation) und bewirkt eine vermehrte Durchblutung des innervierten Areals. Beide Neuropeptide können in bestimmten Geweben Mastzellen degranulieren und dabei Histamin und andere Mediatoren freisetzen, welche die genannten Wirkungen verstärken. Für andere Neuropeptide wie das Somatostatin wurden entzündungshemmende Wirkungen festgestellt, die den pro-inflammatorischen Wirkungen der vorher genannten Vertreter entgegenwirken. Die meisten Neuropeptide haben auch im Zentralnervensystem und in viszeralen Organen weitere Funktionen (vgl. Tab. 16.2 und Abb. 16.22). Die gesamten entzündungsfördernden Vorgänge werden als neurogene Entzündung zusammengefasst. Wird ein Ast einer verzweigten nozizeptiven Endigung erregt, so breitet sich die Erregung zum einen nach proximal in der normalen Erregungsrichtung (orthodrom) aus. Zum anderen kann die Erregung an den Verzweigungsstellen in umgekehrter Richtung auch in die anderen Äste hineinlaufen und sich dort antidrom ausbreiten (Abb. 20.7 A). Damit werden auch die primär nicht erregten Teile der sensorischen Endigung aktiviert und setzen Neuropeptide frei. Die schnelle Rötung und

Schwellung, die sich um lokalisierte schmerzhafte Läsionen herum bildet, wird mit diesem Mechanismus erklärt, der auch Axonreflex genannt wird. Die neurogene Entzündung trägt auch bei chronischen Schmerzsyndromen zum Krankheitsbild bei. Zum Beispiel hat man festgestellt, dass im Frühstadium des komplexen regionalen Schmerzsyndroms (complex regional pain syndrome, CRPS), das auch durch schwere Durchblutungsstörungen und trophische Gewebsdefekte gekennzeichnet ist, die Rötung und Überwärmung im schmerzhaften Hautareal durch Neuropeptide bewirkt wird. Bei Anfällen von Migräne und anderen primären Kopfschmerzen sind freigesetzte Neuropeptide ebenfalls beteiligt. Bei solchen Schmerzanfällen hat man erhöhte CGRP-Spiegel im Plasma der V. jugularis interna gemessen, über die das Blut aus intrakraniellen Strukturen abgeführt wird. Es ist aber bislang unklar, wie dieses Neuropeptid in die nozizeptiven Vorgänge eingreift und welche Rolle dabei die Dilatation der intrakraniellen Blutgefäße spielt. Moderne Migränetherapeutika, die Triptane, welche an spezifische Serotonin-Rezeptoren binden, blockieren die Freisetzung von CGRP und wirken der intrakraniellen Gefäßerweiterung entgegen.

20.7

Spinale sensorische Systeme

Die zentralen Fortsätze der primären Afferenzen erreichen über die Hinterwurzeln das Rückenmark bzw. über den N. trigeminus den Hirnstamm. Durch den segmentalen Bau des Nervensystems sind dabei den einzelnen Hinterwurzeln definierte Hautbezirke (Dermatome) zugeordnet, in denen bei spinalen Läsionen Sensibilitätsstörungen diagnostiziert werden können. Übertragene Schmerzen werden durch die konvergente Verschaltung von viszeralen und somatischen Afferenzen auf spinale Neurone erklärt.

Schädigung von Hinterwurzeln führt zu Sensibilitätsstörungen in zugeordneten Dermatomen und Myotomen Die primären Afferenzen in den Spinalganglien senden ihre zentralen Fortsätze über die Hinterwurzeln in das Rückenmark (Abb. 20.8 A), während die trigeminalen Afferenzen über den N. trigeminus in den Hirnstamm eintreten. Die Afferenzen der einzelnen Hinterwurzeln innervieren in geordneter Weise begrenzte Bezirke der Haut, die Dermatome (Abb. 20.8 C) und entsprechende Muskelgruppen, die Myotome. Auch die viszeralen Organe gehören definierten Segmenten an. Bei Schädigung einer Hinterwurzel, zum Beispiel durch einen Bandscheibenvorfall mit Wurzelkompression, können neuropathische Schmerzen entstehen (s. Kap. 20.9), die charakteristischerweise in das zugehörige Dermatom oder Myotom projiziert werden. Auch der Herpes zoster ist eine neuropathische Erkrankung, bei der einzelne Spinalganglien von Her-

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20 Somatoviszerale Sensibilität Rückenmark Hinterwurzel

A

Spinalganglion

Dermatom

Spinalnerv

Segment

a

a b b c c

B

C

C2 C3 C4 T2 T3 T4 T5 T6 T7 T8 T9 T10 T11 T12 L1 S3 S4

C2 C3 C5

T1 C6

S1 S2 S4 S5

L2

C4

C4

T2 T3 T4 T5 T6 T7 T8 T9 T10 T11 T12 L1 L2 L3

T2

C5

T5

T10

C6 T1 C6

T1

T8

L1 C8

S3

L2 C8

C8

C7

C7

S2

L3

L5

L5

L4

L4

L4

L5

S1 S1

S1

L5

Abb. 20.8 Innervation der Haut und Dermatome des Menschen. A Die afferenten Fasern der Spinalnerven ziehen durch die Hinterwurzeln in das Rückenmark. Die sensorisch innervierten Hautbezirke einzelner Hinterwurzeln (Dermatome) überlappen sich. B Segmentale Anordnung der sensori-

pesviren befallen werden. Die peripheren Symptome, sehr schmerzhafte Hautbläschen, sind typischerweise auf die entsprechenden abgegrenzten Dermatome beschränkt. Sensibilitätsstörungen oder -ausfälle in einzelnen Dermatomen können somit die Höhe einer Hinterwurzel- oder Rückenmarksläsion anzeigen. Da es durch die Plexus an verschiedenen Stellen zu einer Vermischung der Afferenzen mehrerer benachbarter Segmente kommt, können sich Dermatome allerdings stark überlappen (Abb. 20.8 A, C). Die Schädigung einer Hinterwurzel führt deshalb nicht zu einem vollständigen Verlust der Empfindung (Anästhesie), sondern in der Regel nur zur Abnahme der Empfindlichkeit (Hypästhesie) im betroffenen Dermatom.

schen Innervation. C: Zervikalsegmente, T: Thorakalsegmente, L: Lumbalsegmente, S: Sakralsegmente. C Anordnung und Ausdehnung einiger Dermatome. Die Überlappung der Dermatome ist für die Berührungsempfindung größer als für die Temperatur- und Schmerzempfindung.

Die Ausdehnung der Dermatome hängt dabei auch davon ab, welche Sinnesmodalität getestet wird. Da sich die mechanorezeptiven Afferenzen benachbarter Segmente stärker vermischen als die nozizeptiven Afferenzen, sind die taktilen Dermatome größer als die Dermatome der Schmerzempfindlichkeit, und ein Sensibilitätsverlust für leichte Nadelstiche wird eher bemerkt als eine Hypästhesie für Berührungsreize.

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20.7 Spinale sensorische Systeme

Der übertragene Schmerz wird durch die Verschaltung viszeraler und somatischer Afferenzen auf gemeinsame spinale Neurone erklärt Bei Erkrankungen viszeraler Organe kommt es häufig zu übertragenen Schmerzen. Dabei wird der Schmerz nicht oder nicht nur in dem erkrankten Organ selbst empfunden, sondern er wird in die Dermatome oder Myotome der Rückenmarkssegmente übertragen, von welchen das Organ innerviert wird (Abb. 20.9). Häufig sind die Dermatome dabei nicht spontan schmerzhaft, sondern lediglich druckschmerzhaft oder verspannt. Solche Gebiete werden als Head-Zonen der entsprechenden Organe bezeichnet und geben dem Untersucher wertvolle Hinweise auf die Lokalisation und Ursache viszeraler Erkrankungen. Bekannte Beispiele sind der Herzinfarkt, bei dem die Schmerzen häufig (wenn auch nicht immer!) in die linke Schulter und den Arm übertragen werden („ausstrahlen“), oder die Appendizitis, bei der die Bauchdecke im rechten Unterbauch reflektorisch angespannt ist. Zwar gehen die übertragenen Schmerzen meist von viszeralen Organen aus, können aber auch bei Erkrankungen von Gelenken und Muskeln entstehen (Abb. 20.9). Selbst bei Kopfschmerzen wird der Schmerz von den Hirnhäuten auf Bereiche der Schädeloberfläche übertragen. Zur Erklärung des übertragenen Schmerzes nimmt man an, dass afferente Eingänge sowohl aus viszeralen Organen bzw. tiefen Strukturen als auch aus der Haut auf dieselben nozizeptiven Neurone im Rückenmark konvergieren. Solche Neurone können durch eine schmerzhafte Erkrankung des viszeralen Organs sensibilisiert sein (s. Kap. 20.9). Wenn diese sensibilisierten Neurone spontan aktiv sind oder durch Aktivierung der primären nozizeptiven Afferenzen aus der Haut aktiviert werden, so werden die Schmerzen auch in der Head-Zone empfunden, aus der nozizeptive Afferenzen auf diese Neurone konvergent verschaltet sind.

Die Verschaltung der primären Afferenzen im Rückenmark hängt von ihrer Modalität ab. Mechanorezeptive und propriozeptive Afferenzen projizieren mit Kollateralen in das Hinterhorn, während ihre Axone ipsilateral zu den Hinterstrangkernen aufsteigen. Die thermorezeptiven und nozizeptiven Afferenzen sind im Hinterhorn auf sekundäre Neurone verschaltet, deren Axone kreuzen und kontralateral zum Thalamus aufsteigen. Damit entstehen zwei grundsätzlich verschiedene spinale Bahnsysteme: das in der medialen Schleife kreuzende lemniskale Projektionssystem (Hinterstrangsystem), das taktile und propriozeptive Informationen zum Ventrobasalkomplex des Thalamus übermittelt, und das segmental kreuzende spinothalamische System (Vorderseitenstrangsystem), das die Informationen über schmerzhafte Reize und Temperaturreize in verschiedene Thalamuskerne überträgt (Abb. 20.10).

Mechanorezeptive Afferenzen sind mit ihren Kollateralen im Rückenmark segmental verschaltet Die zentralen Fortsätze der Mechanorezeptoren und Propriozeptoren aus der Haut und den tiefen Geweben (Aαund Aβ-Fasern) erreichen über die dorsomedialen Anteile der Hinterwurzeln die weiße Substanz des Rückenmarks. Dort teilen sie sich, und der Hauptast steigt ipsilateral in der Hinterstrangbahn auf. Ein zweiter Ast zieht am medialen Rand des Hinterhorns nach ventral und bildet mit seinen Verzweigungen zahlreiche synaptische Kontakte mit sekundären Neuronen in verschiedenen Schichten der grauen Substanz (Abb. 20.10 A, unteres Einsatzbild). Dabei können Afferenzen verschiedener Modalitäten auf gemeinsame multimodale Neurone konvergieren. Außerdem dient diese segmentale synaptische Verschaltung der mechanorezeptiven und propriozeptiven Afferenzen der Steuerung von spinalen Reflexen (vgl. Kap. 26.3). Der Neurotransmitter der primären mechanorezeptiven Afferenzen ist Glutamat (s. Kap. 5.9).

dorsale Gelenkkapsel

Tiefenschmerz

Triggerpunkte

mediales Seitenband

Oberflächenschmerz

laterale Gelenkkapsel

Eröffnungsphase der Geburt

M. quadratus lumborum

Abb. 20.9 Beispiele für Head-Zonen: Definierte Dermatome oder Myotome, in denen bei schmerzhaften Erkrankun-

Herzinfarkt

Kniegelenk

gen bestimmter viszeraler Organe oder tiefer Gewebe typischerweise übertragene Schmerzen auftreten (nach 8).

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20 Somatoviszerale Sensibilität Die graue Substanz wird nach Rexed zytoarchitektonisch in 10 Schichten (Laminae I – X) unterteilt, wobei die Laminae I–VI dem Hinterhorn entsprechen (Abb. 20.10 A, unteres Einsatzbild). Axonkollateralen von Mechanorezeptoren der Haut, die den Tastsinn vermitteln, enden vor allem in den Laminae III und IV nach Rexed (Nucleus proprius), während propriozeptive Afferenzen (Rezeptoren der tiefen Gewebe) mehr in tiefere Schichten (Laminae V – VII) projizieren. Die Kollateralen von Muskelspindelafferenzen bilden im Vorderhorn (Lamina IX) Synapsen mit Motoneuronen, über welche die monosynaptischen Dehnungsreflexe laufen (s. Kap. 26.3).

Thermorezeptive und nozizeptive Afferenzen sind mit ihren zentralen Endigungen im Hinterhorn verschaltet Die thermorezeptiven und nozizeptiven Afferenzen (Aδund C-Fasern) erreichen über die ventrolateralen Anteile der Hinterwurzeln das Rückenmark. Dort verzweigen sie sich in der weißen Substanz. Die Äste können im Lissauer-Trakt wenige Segmente auf- oder absteigen, sind dann aber alle in oberflächlichen und tiefen Laminae des ipsilateralen Hinterhorns mit sekundären Neuronen synaptisch verschaltet (Abb. 20.10 A, unteres Einsatzbild). Neben dem Haupttransmitter Glutamat tragen Neuropeptide (CGRP und Substanz P) als Kotransmitter wesentlich zur synaptischen Übertragung bei. Im trigeminalen System ist die zentrale Verschaltung ähnlich aufgebaut (Abb. 20.10). Der Nervus trigeminus erreicht den Hirnstamm im Bereich der Brücke. Die dicken myelinisierten mechanorezeptiven Afferenzen aus dem Gesichts- und Kopfbereich (mit Ausnahme der propriozeptiven Afferenzen) projizieren zum großen Teil in den Hauptkern (Nucleus principalis) des trigeminalen Kernkomplexes. Axonkollateralen der mechanorezeptiven Afferenzen ziehen im spinalen Trigeminustrakt zusammen mit den nozizeptiven und thermorezeptiven Afferenzen in die Medulla oblongata. Dort enden sie im spinalen Trigeminuskern (Nucleus tractus spinalis n. trigemini), der kaudal in das Hinterhorn der ersten Halssegmente übergeht. Die synaptische Verschaltung im Hinterhorn bzw. im spinalen Trigeminuskern ist wesentlich komplizierter, als hier dargestellt werden kann. Die synaptische Übertragung geschieht zum großen Teil über exzitatorische, wahrscheinlich auch inhibitorische Interneurone. In der oberflächlichen Lamina I nach Rexed existieren sekundäre Neurone, die ausschließlich afferente Eingänge von Nozizeptoren (C- und Aδ-Fasern) erhalten und nur bei noxischen Reizen aktiviert werden (nozizeptiv-spezifische Neurone). In den tieferen Schichten (vor allem Lamina V) liegen vorwiegend multimodale WDR-Neurone (von „wide dynamic range“), die Eingänge von Aβ-, Aδ- und C-Afferenzen erhalten (Abb. 20.10 A, Einsatzbilder) und über einen weiten Intensitätsbereich mechanischer Reize zunehmend stärker erregt werden. Beide Typen tragen zu den zentralen Vorgängen der Nozizeption bei, aber ihre Rolle bei diesen Vorgängen ist noch nicht vollständig geklärt. Es ist zum Beispiel noch unklar, ob und inwieweit die Verschaltung mit inhibitorischen Interneuronen dafür verantwortlich ist, dass bei Stimulation von mechanorezeptiven AβFasern die Durchschaltung nozizeptiver Impulse reduziert wird, wodurch eine gewisse Schmerzhemmung erzielt werden kann. Möglicherweise besteht eine Balance zwischen nozizeptiven und niederschwelligen afferenten Eingängen, die durch verstärkten nozizeptiven Einstrom gestört und durch Verstärkung des nieder-

schwelligen Eingangs wieder ins Gleichgewicht gebracht werden kann („gate control theory“).

Ohne den genauen Mechanismus zu kennen, nutzt man klinisch die segmentale Hemmung, indem man z. B. Hautnerven eines schmerzhaften Dermatoms mit geringen Reizstärken elektrisch stimuliert und dadurch Schmerzen reduziert (transkutane elektrische Nervenstimulation, TENS). Vibrationsreize wirken ähnlich. Wahrscheinlich benutzt man diesen Mechanismus sogar unwillkürlich, indem man z. B. die akut verletzte Hand heftig schüttelt, um den Schmerz zu lindern.

Mechanorezeptive und propriozeptive Afferenzen steigen ipsilateral im Hinterstrangsystem auf Das ipsilateral aufsteigende Hinterstrangsystem (Funiculus posterior, lemniskales Projektionssystem) enthält die mechanorezeptiven und propriozeptiven Afferenzen (Abb. 20.10). Die Hinterstrangbahn nimmt in kranialer Richtung mit jedem Segment weitere Axone auf, die sich jeweils lateral anlagern. Dadurch finden sich im Halsmark die Axone aus den sakralen, lumbalen und unteren thorakalen Segmenten nahe der Mittellinie und bilden den Fasciculus gracilis, die aus den oberen thorakalen und zervikalen Segmenten laufen lateral und bilden den Fasciculus cuneatus. Die aufsteigenden Axone enden in den Hinterstrangkernen der Medulla oblongata (Nuclei gracilis und cuneatus), wo sie mit den zweiten Neuronen synaptisch verschaltet sind (Abb. 20.10). Hinterstrangkerne sind typische Relaiskerne, in denen die afferente Information ohne Verlust der örtlichen und zeitlichen Auflösung oder Spezifität „durchgeschaltet“ wird. Durch laterale Hemmung (s. Kap. 19.4) und absteigende inhibitorische Fasern kann der Informationsfluss aber moduliert und die Auflösung sogar verbessert werden. Die von den Neuronen der Hinterstrangkerne ausgehenden Axone kreuzen im Lemniscus medialis (der medialen Schleifenbahn) auf die Gegenseite und enden im ventroposterolateralen Kern (Nucleus ventralis posterolateralis) des Thalamus, der die Informationen für taktile und spezifische sensorisch-diskriminative Leistungen vermittelt (Abb. 20.10 B). Die Axone der zweiten Neurone aus dem Hauptkern des Trigeminus kreuzen ebenfalls auf die Gegenseite, schließen sich dem Lemniscus medialis an und enden medial vom Nucleus ventralis posterolateralis im Thalamus (Abb. 20.10). Das gemeinsame Projektionsgebiet der spinalen und trigeminalen niederschwelligen Afferenzen im Thalamus wird auch Ventrobasalkomplex genannt. Durch diese Projektion in den Ventrobasalkomplex kommen bereits auf der thalamischen Ebene Neurone mit afferenten Eingängen aus der Hand und dem Gesicht in nachbarschaftliche Beziehung.

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20.7 Spinale sensorische Systeme

A

somatosensorischer Kortex

spinaler Trigeminustrakt

SI

Aufmerksamkeit, affektive Reaktionen

B

diskriminative Wahrnehmung

endokrine und vegetative Reaktionen

Thalamus: ventrobasaler Kernkomplex

Hypothalamus

Mittelhirn

Thalamus posterior medial ventrobasal

motorische und autonome Reaktionen, Weckreaktion TrigeminusHauptkern

Ganglion trigeminale

spinaler Trigeminuskern Aab

spinaler Trigeminustrakt

Ad, C

Laminae nach Rexed Hinterhorn im Rückenmark

S II Insel

Intensitätswahrnehmung emotionale Bewertung Leitungsbahn für Schmerz und Temperatur

mediale Schleife

rostrale Medulla

Formatio reticularis Hinterstrangkerne

kaudale Medulla

I

SI

vorderer zingulärer Kortex

Leitungsbahn für taktile Diskrimination, Vibration, Propriozeption

spinaler Trigeminuskern

II III

Hinterstrangbahn

IV V VI

zum Vorderseitenstrang

Spinalganglion

Vorderseitenstrangbahn

motorische Reaktionen, Reflexe Hinterhorn

Rückenmark

Abb. 20.10 Aufsteigende Bahnsysteme der somatoviszeralen Afferenzen und ihre Funktionen. A Die mechanorezeptiven afferenten Bahnen (Aα, Aβ) sind blau, die nozi- und thermorezeptiven (Aδ, C) rot dargestellt. Die Hinterstrangbahn, aus den aufsteigenden Fasern der mechanorezeptiven Afferenzen gebildet, wird in den Hinterstrangkernen umgeschaltet und projiziert über die mediale Schleife in den Ventrobasalkomplex des kontralateralen Thalamus. Kollateralen der niederschwelligen Afferenzen ziehen in die graue Substanz des Rückenmarks (unteres Einsatzbild). Die nozizeptiven und thermorezeptiven Afferenzen sind in oberflächlichen und tiefen Laminae des Hinterhorns mit sekundären Neuronen verschaltet, deren Axone nach Kreuzung auf die Gegenseite den Vorderseitenstrang bilden. Dieser besteht aus dem Tractus spinothalamicus, der zu ventrobasalen, medialen und posterioren Kerngebieten des Thalamus proji-

Die Projektionsfasern der thermorezeptiven und nozizeptiven Neurone kreuzen segmental und steigen kontralateral im Vorderseitenstrangsystem auf Die Axone der sekundären nozizeptiven und thermorezeptiven Neurone kreuzen innerhalb ihres Ursprungssegments auf die Gegenseite und bilden das aufsteigende Vorderseitenstrangsystem (Abb. 20.10). Die Axone der nozizeptiven Neurone aus dem spinalen Trigeminuskern

ziert, und aus den Tractus spinoreticularis und spinomesencephalicus, die in die Formatio reticularis ziehen. Die Afferenzen des trigeminalen Systems sind in ähnlicher Weise verschaltet wie die spinalen Afferenzen (oberes Einsatzbild) und schließen sich den entsprechenden aufsteigenden Bahnen an. B Die Ausgänge aus dem Ventrobasalkomplex projizieren in die somatosensorische Rinde SI und vermitteln die diskriminativen Leistungen der einzelnen Modalitäten. Der sekundäre somatosensorische Kortex SII wird vor allem indirekt über SI erreicht. Das „unspezifische“ System der medialen und posterioren Thalamuskerne projiziert in den anterioren zingulären Kortex und die Insel und vermittelt affektivemotionale Inhalte. Von der Formatio reticularis aus werden auch motorische Kerngebiete und der Hypothalamus erreicht, wodurch autonome motorische, endokrine und vegetative Reaktionen ausgelöst werden.

schließen sich nach ihrer Kreuzung im Hirnstamm dem Vorderseitenstrangsystem an. Im Unterschied zum Hinterstrangsystem besteht das Vorderseitenstrangsystem aus verschiedenartigen Bahnen und projiziert sowohl auf direktem als auch auf indirektem Wege zum Thalamus. Die Hauptbahn, der Tractus spinothalamicus, nähert sich im Hirnstamm dem Lemniscus medialis und zieht mit diesem direkt zum Thalamus. Der Tractus spinothalamicus ist hauptverantwortlich für die Vermittlung nozizeptiver Information.

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20 Somatoviszerale Sensibilität Durch eine Verletzung des Tractus spinothalamicus oder seiner Zielgebiete können zentrale Schmerzen ausgelöst werden, während seine operative Durchtrennung zu einer ausgeprägten Schmerzreduktion auf der kontralateralen Seite führt. Ein Teil des Tractus spinothalamicus, auch als neospinothalamische Bahn bezeichnet (weil sie phylogenetisch „jünger“, d. h. vor allem bei den Primaten gut entwickelt ist), endet wie das lemniskale Projektionssystem im Ventrobasalkomplex des Thalamus. Dieses Projektionssystem vermittelt spezifische Informationen über Ort, Intensität und Qualität von Schmerz- und Temperaturreizen und arbeitet damit analog zur Vermittlung der mechanorezeptiven Information durch das lemniskale System. Andere Faserbündel des Tractus spinothalamicus, auch als paläospinothalamische Bahn bezeichnet, enden in medialen, posterioren und intralaminären Kernen des Thalamus (Abb. 20.10 B). Diese Thalamuskerne sind auch das Zielgebiet für wenigstens zwei weitere Bahnsysteme des Vorderseitenstrangs: Die Tractus spinoreticularis und spinomesencephalicus projizieren in die Formatio reticularis der rostralen Medulla und der Brücke bzw. des Mittelhirns. Nach mehrfacher Umschaltung in den retikulären Kernen zieht ein Teil dieser Bahnen weiter zum Thalamus und zum Hypothalamus (Abb. 20.10 B). Dieses multifunktionale, so genannte „unspezifische“ Projektionssystem, steuert über das aufsteigende retikuläre Aufmerksamkeitssystem (ARAS, s. Kap. 29.4) Wachheit und Aufmerksamkeit und löst über den Hypothalamus vegetative und endokrine Reaktionen aus (s. Kap. 16.3). Über das limbische System (s. Kap. 28.4) ist dieses Projektionssystem eng mit emotionalen und affektiven Reaktionen verbunden. Neben dieser klassischen Unterteilung des Vorderseitenstrangsystems wurden weitere eigenständige Bahnen beschrieben und nach ihren Zielgebieten (Tectum, Nucleus parabrachialis, Hypothalamus) benannt. Diesen Bahnen werden entsprechende Steuerfunktionen für neurovegetative, neuroendokrine, affektive oder visuell geführte aversive Reaktionen beim Schmerzerleben zugeschrieben. Des Weiteren gibt es klare experimentelle und klinische Hinweise auf eine nozizeptive Bahn, die (nach Umschaltung im Hinterhorn) ipsilateral im dorsalen Funiculus parallel zur Hinterstrangbahn verläuft, mit dem Lemniscus medialis die Seite kreuzt und im medialen und lateralen Thalamus endet. Diese Bahn soll relativ spezifisch für viszeralen Schmerz sein, aber auch kinästhetische Leistungen (Stellungs- und Bewegungssinn) vermitteln. Neben den spinothalamischen Bahnsystemen werden auch über spinozerebelläre Bahnen taktile und kinästhetische Informationen übermittelt, die dem Kleinhirn zur automatischen Kontrolle der Sensomotorik dienen (vgl. Kap. 26.7).

Durch Halbseitenläsion des Rückenmarks entsteht eine dissoziierte Empfindungsstörung Der unterschiedliche Verlauf des Hinterstrang- und des Vorderseitenstrangsystems hat wichtige Konsequenzen bei einer unsymmetrischen Verletzung oder

gar halbseitigen (unilateralen) Durchtrennung des Rückenmarks. Eine solche Halbseitenläsion kann gelegentlich eine dissoziierte Empfindungsstörung verursachen, die auch als Brown-Séquard-Syndrom bezeichnet wird. Dabei ist in den Dermatomen kaudal von der Läsionsstelle auf der verletzten Seite (ipsilateral) die taktile Empfindung gestört, d. h. die Schwellen sind erhöht und die Lokalisation von Reizen erschwert. Auf der kontralateralen Seite sind kaudal von der Läsionsstelle die Temperaturempfindung gestört und die Schmerzschwellen erhöht. (Die genaue Höhe der Empfindungsstörung kann hier wegen des LissauerTrakts etwas abweichen.) Da auch die efferenten Bahnsysteme (Pyramidenbahn) betroffen sind, ist zusätzlich die Motorik auf der ipsilateralen Seite beeinträchtigt (vgl. S. 752). Diese klassische Symptomatik der dissoziierten Empfindungsstörung ist allerdings sehr selten.

20.8

Zerebrale sensorische Systeme

Der Thalamus bildet ein komplexes Umschaltsystem, das die afferenten Informationen auf verschiedene kortikale Areale verteilt. Der Ventrobasalkomplex des Thalamus ist somatotopisch organisiert. Er übermittelt die somatosensorischen Informationen aus der jeweils kontralateralen Körperseite. Seine Ausgänge enden überwiegend im primären somatosensorischen Kortex des Gyrus postcentralis, der für die Lokalisation und Diskrimination von Reizen hauptverantwortlich ist. Dort wird die Information in Neuronensäulen verarbeitet, die für verschiedene Submodalitäten spezifisch sind und in ihrer somatotopischen Anordnung die Körperoberfläche repräsentieren. Der primäre somatosensorische Kortex steht mit motorischen und assoziativen kortikalen Arealen in funktioneller Verbindung. Die medialen und posterioren Thalamuskerne integrieren somatische und viszerale sensorische Informationen. Ihre Ausgänge erreichen verschiedene kortikale Areale einschließlich Insel und Gyrus cinguli und sind für allgemeine affektive und emotionale Reaktionen verantwortlich, die mit Schmerz- und Temperaturempfindungen verbunden sind. Verstärkter oder fehlender afferenter Zustrom zum somatosensorischen Kortex führt zur Reorganisation der Somatotopie. Beim Verlust von Extremitäten können bei Reorganisationsvorgängen schmerzhafte Phantome entstehen.

Die Thalamuskerne vermitteln unterschiedliche Inhalte der somatoviszerosensorischen Information Der ventrobasale Kernkomplex des Thalamus ist das Hauptprojektionsgebiet des Lemniscus medialis und des Tractus spinothalamicus. Er enthält die Kerne des lateralen Systems, das die sensorisch-diskriminativen Inhalte der somatoviszeralen Sensibilität (Lokalisation, Modalität und Intensität) vermittelt. Der Ventrobasalkomplex einer Seite erhält und verarbeitet die Signale aus der jeweiligen kontralateralen Körperhälfte. Das rezeptive Feld eines Neurons ist das Körperareal, bei dessen Stimulation ein Neuron erregt oder auch gehemmt wird (Abb. 20.12 B,

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20.8 Zerebrale sensorische Systeme A Areale SI, SII und Assoziationskortex Sulcus centralis

Gyrus postcentralis

Genitalien Zehen Fuß Unterschenkel parietaler Assoziationskortex Oberschenkel Hüfte Bauch Brust Hals Kopf Schulter Hand Oberarm Finger 5 Finger 4 Unterarm Finger 3 Finger 2 Finger 1

primärer somatosensorischer Kortex (S I)

Sulcus postcentralis

1

2

4 3b

5

Oberflächensensibilität Propriozeption

3a

sekundärer somatosensorischer Kortex (S II)

Integration taktiler, propriozeptiver und visueller Information

Motorik

Gesicht F5 SA

RA

SA

Oberlippe

F4

Unterlippe

F3 RA SA

Zähne

F2 RA

SA

Zunge

I RA

Pharynx

II zu Area 1, 2 und SII

Larynx

III IV V Sternzelle Pyramidenzelle

VI

vom Thalamus Finger 5

zu Basalganglien, Hirnstamm, Rückenmark zum Thalamus

B Blockausschnitt von Area 3b

MeißnerKörperchen (RA)

Thalamus Finger 2

Abb. 20.11 Funktionelle Organisation des somatosensorischen Kortex. A Lage der Areale SI und SII sowie des parietalen Assoziationskortex. Rechts ist die somatotopische Zuordnung der Körperregionen zu SI aufgelistet. Das Einsatzbild zeigt einen Querschnitt durch den Gyrus postcentralis mit den angeschnittenen Brodmann-Arealen und den Submodalitäten, die dort verarbeitet werden. Die Pfeile deuten an, wie die Information von Area 3a und 3b zu Area 1 und 2 und schließlich zu Area 5 weitergegeben wird, worauf die in

Abb. 20.13 B). Die Neurone des Ventrobasalkomplexes besitzen kleine rezeptive Felder und sind somatotopisch angeordnet, wobei viele einzelne Neurone in funktionellen Säulen zusammengefasst sind (wie es nachfolgend auch für den somatosensorischen Kortex beschrieben wird). Somatotopie bedeutet, dass die Neurone wie Strukturen auf einer Landkarte in ähnlicher Nachbarschaftsbeziehung zueinander stehen wie die rezeptiven Felder ihrer primären Afferenzen in den peripheren Geweben. Die somatotopische Anordnung ist aber insofern verzerrt, als die Körperregionen unterschiedlich groß repräsentiert sind, je nachdem wie viele Afferenzen von dort Informationen in das Zentralnervensystem vermitteln. Die größten Areale werden von der Hand und von der Mundregion eingenommen, was die hohe Rezeptordichte in diesen Regionen widerspiegelt. Das Zentrum des Ventrobasalkomplexes („Kern“) erhält bevorzugt affe-

MerkelEndigung (SA)

dieser Richtung zunehmende Komplexität der neuronalen Eigenschaften beruht. B Blockausschnitt aus der Area 3b mit den kortikalen Säulen für die Verarbeitung der mechanosensorischen Information aus dem 2. – 5. Finger (F2 – F5). Bei jedem Fingerareal wechseln sich Säulen mit afferentem Zustrom von Merkel-Endigungen (SA) und von Meißner-Körperchen (RA) ab. Der Kortex besteht zytoarchitektonisch aus den Schichten I – VI, die Ein- und Ausgangsverbindungen sind rechts angegeben.

renten Zustrom aus Mechanosensoren der Haut, die Peripherie („Schale“) vor allem aus tiefen Geweben und Nozizeptoren. Die vom Ventrobasalkomplex aufsteigenden Neurone projizieren in somatotopischer Ordnung in die somatosensorischen Areale der ipsilateralen Großhirnrinde (s. Abb. 20.10 B, Abb. 20.11 A). Der posteriore Kernkomplex und die medialen Thalamuskerne bilden zusammen die Schaltkerne des medialen Systems. Sie erhalten ihre afferenten Eingänge zum Teil aus dem Tractus spinothalamicus und zum großen Teil indirekt über den Hirnstamm. Das mediale System integriert viszerale, vestibuläre und taktile Empfindungen, vermittelt emotional-affektive Inhalte, insbesondere beim Schmerz, und beeinflusst Aufmerksamkeit, Reaktionsbereitschaft und motorische Leistungen. Der posteriore Kernkomplex ist wenig somatotopisch gegliedert. Seine Neurone erhalten überwiegend multire-

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20 Somatoviszerale Sensibilität A sensorischer Homunculus

Genitalien Fuß

Brust

SI

Finger 5 Finger 4 Finger 3 Finger 2 Finger 1

Hand

Gesicht Oberlippe Unterlippe Zunge Larynx

B rezeptive Felder Armregion Handregion Fingerregion

Abb. 20.12 A Sensorischer „Homunculus“, der die Größenverzerrung der repräsentierten Körperoberfläche in den SI-Arealen darstellt. B Rezeptive Felder von Neuronen im somatosensorischen Kortex SI beim Primaten. Die Neurone in der Fingerregion haben kleine getrennte, die in der Hand- und Armregion größere überlappende rezeptive Felder (nach 3).

zeptive (mechano-, thermo- und nozizeptive) Signale und haben große, bilaterale rezeptive Felder. Sie projizieren zum sekundären somatosensorischen Kortex (SII) und vor allem zur Inselrinde (s. Abb. 20.10 B). Die medialen Thalamuskerne enthalten ebenfalls Neurone mit großen rezeptiven Feldern. Sie stehen mit subkortikalen Strukturen (z. B. Basalganglien) in Verbindung und projizieren vor allem zu limbischen Arealen des Kortex, insbesondere zum anterioren Gyrus cinguli und zur Insel, welche für die Schmerzverarbeitung und für die Thermosensibilität eine große Rolle spielen.

Der somatosensorische Kortex SI ist somatotopisch organisiert und dient der diskriminativen Wahrnehmung der kontralateralen Körperhälfte Die vom ventrobasalen Thalamus aufsteigenden Neurone enden überwiegend im primären somatosensorischen Kortex (SI) im Gyrus postcentralis (Abb. 20.11 A). In SI ist die kontralaterale Körperoberfläche vollständig repräsentiert, allerdings stark verzerrt. Die Mundregion ist lateral (temporal), die untere Extremität medial (apikal) abgebildet. Die Gesichts- und die Handregion liegen etwa in der Mitte des Gyrus postcentralis (parietal) direkt be-

nachbart. Sie sind beim Menschen entsprechend der hohen sensorischen Dichte dieser Körperteile übergroß repräsentiert. Die Neurone in diesen Regionen, welche die somatosensorische Information der Finger, der Lippen und der Zunge verarbeiten, haben zudem kleine rezeptive Felder, die sich nicht überlappen (Abb. 20.12 B). Die räumliche Auflösung für taktile Reize ist hier besonders hoch, was in geringen Zweipunktschwellen zum Ausdruck kommt (s. S. 628). SI-Neurone, die für proximale Regionen der Extremitäten oder für den Rumpf zuständig sind, haben entsprechend größere und überlappende rezeptive Felder (Abb. 20.12 B). Die menschliche Darstellung mit den verzerrten Proportionen der Körperoberfläche, wie sie den Verhältnissen im somatosensorischen Kortex entsprechen, wird sensorischer Homunculus („Menschlein“) genannt (Abb. 20.12 A, vgl. motorischer Homunculus Abb. 26.20). Die Darstellung des Homunculus wurde bereits in den 40erJahren des 20. Jahrhunderts durch den Neurochirurgen Penfield eingeführt, der die somatotopische Organisation der kortikalen Projektionsfelder entdeckte. Damals wurden bei Operationen am freigelegten Kortex bei wachen Patienten durch schwache elektrische Reize Empfindungen in entsprechenden Körperarealen ausgelöst und kartiert. Entsprechende Karten lassen sich auch für andere Spezies erstellen, wobei die funktionelle Bedeutung bestimmter Regionen für die Sensomotorik (bei der Katze z. B. die Pfoten) stets durch die Ausdehnung der entsprechenden Kortexareale deutlich wird. Bei den Primaten gewinnt die somatotopische Nachbarschaft von Hand und Mund durch ihre Interaktion bei der Nahrungsaufnahme eine besondere Bedeutung und könnte auch für die evolutionäre Entwicklung der menschlichen Sprache aus der Zeichensprache richtungsweisend gewesen sein.

Im somatosensorischen Kortex werden die Informationen in Säulen mit Neuronen gleicher Funktion verarbeitet Die somatosensorische Rinde besteht zytoarchitektonisch aus sechs Schichten (s. Abb. 20.11 B; vgl. Kap. 28.3). Zellen der Schicht IV empfangen und verteilen die Information vom Thalamus. Die Pyramidenzellen in den Schichten II und III übertragen die Ausgangsinformation zu benachbarten bzw. weiter entfernten Kortexarealen. Die Pyramidenzellen in Schicht V projizieren zu subkortikalen Strukturen, diejenigen in Schicht VI zurück zum Thalamus (Abb. 20.11 B). In horizontaler Ausdehnung besteht der somatosensorische Kortex aus senkrecht zur Oberfläche stehenden funktionellen Neuronensäulen oder Kolumnen, welche die Neurone aller Schichten enthalten. Die Säulen sind somatotopisch angeordnet, die Hand- und Gesichtsregion wird von überdurchschnittlich vielen Kolumnen kortikal repräsentiert. Jede Säule hat einen Durchmesser von etwa 300 – 600 µm und enthält mehrere Tausend Neurone mit afferentem Einstrom aus etwa dem gleichen rezeptiven Feld und einer homogenen Population von Mechanorezeptoren. Das heißt, dass alle Neurone einer Säule gleichartige Informationen von bestimmten Rezeptortypen verarbeiten. Im Handareal der Area 1 wechseln z. B. Säulen mit sensorischem Zustrom aus Merkel-Zell-Rezeptoren (SA I) mit anderen Säulen ab, welche die afferente Information aus Meißner-Körperchen (RA) verarbeiten (Abb. 20.11 B). Dementsprechend antworten die Zellen dieser Kolumnen in ganz ähnlicher

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20.8 Zerebrale sensorische Systeme Weise wie auch die SA-I- und RA-Rezeptoren, wenn die Finger z. B. über ein Braille-Muster gleiten (vgl. Abb. 20.4). Einen analogen Aufbau aus funktionell spezifischen Kolumnen findet man im primären visuellen Kortex (vgl. Kap. 23.6). Die Neurone in SI sind spontan aktiv und können deshalb durch die eingehenden afferenten Informationen entweder stärker aktiviert oder auch gehemmt werden. Betrachtet man eine Population von kortikalen Neuronen, die durch einen punktförmigen Reiz auf der Haut aktiviert werden, so werden die Zellen im Zentrum der Population am stärksten erregt (Abb. 20.13). Diese Neurone sind von einem Saum von Zellen umgeben, deren Aktivität durch laterale Inhibitionsvorgänge unter das normale Erregungsniveau gedrückt ist. Durch dieses Prinzip der Umfeldhemmung wird die Erregung räumlich konzentriert und die Kontur des rezeptiven Feldes verschärft (Abb. 20.13 B). Solche Inhibitionsvorgänge, die bereits auf der Ebene der Hinterstrangkerne und des ventrobasalen Thalamus stattfinden, tragen wesentlich zum hohen räumlichen Auflösungsvermögen von taktilen Reizen z. B. an den Fingern bei, wie dies im Kap. 20.2 besprochen wurde. Dieses Prinzip entspricht der Kontrastverschärfung im visuellen System, wo bereits bei den retinalen Ganglienzellen ein Zentrum-Umfeld-Antagonismus verwirklicht ist, der sich im Corpus geniculatum laterale und in der primären Sehrinde fortsetzt (vgl. Kap. 23.3 und 23.6).

A

Der Gyrus postcentralis ist in fronto-okzipitaler Richtung in vier zytoarchitektonisch unterschiedliche Felder unterteilt (Area 3a, 3b, 1 und 2 nach Brodmann, s. Abb. 20.11 A). Die Felder unterscheiden sich auch funktionell nach den Submodalitäten der einlaufenden Signale (von Rezeptoren der Oberflächen- bzw. Tiefensensibilität) sowie den Zielen der kortikalen Ausgänge. Die Hauptprojektion aus dem Ventrobasalkomplex des Thalamus erreicht die Areale 3a und 3b. In der Area 3a gibt es vorwiegend Zellen für die Verarbeitung propriozeptiver Information. Dieses Gebiet hat auch die dichteste Verbindung zu den somatotopisch entsprechenden Feldern der sich frontal anschließenden primären motorischen Rinde (Area 4, s. a. Kap. 28.3 und Abb. 26.19). Weiter posterior (Area 3b, 1) überwiegen Neurone, die Informationen aus Mechanorezeptoren der Haut verarbeiten. Dahinter (Area 2) finden sich Neurone mit komplexen Eigenschaften, die z. B. nur auf die Bewegung von Objekten über das rezeptive Feld in einer bestimmten Richtung oder mit einer bestimmten Geschwindigkeit oder beim Greifen einer bestimmten Form optimal antworten. An dieses Feld schließt sich der posteriore parietale Assoziationskortex (Area 5 und 7) an, in dem taktile, propriozeptive und visuelle Informa-

B Prinzip der Umfeldhemmung 1mm

neuronale Aktivität

Der Gyrus postcentralis steht mit motorischen und assoziativen kortikalen Arealen in Verbindung

1mm

sekundäres Neuron

Neurone im somatosensorischen Kortex

inhibitorisches Interneuron

Reizintensität

primäre Neurone

Haut der Fingerbeere rezeptive Felder der primären Neurone 10 mm 10 mm

Druckreiz

Abb. 20.13 Aktivierung und Hemmung kortikaler Neurone durch einen punktförmigen Druckreiz. A Die Aktivität von etwa 100 gereizten SA I-Rezeptoren in der Haut der Fingerbeere wird auf eine Zellsäule des primären somatosensorischen Kortex (Durchmesser etwa 600 µm, mehrere 10 000 Neurone) übertragen. Um die zentralen, stark aktivierten Neurone bildet sich ein Hof gehemmter Neurone. B Prinzip der Umfeldhemmung, verdeutlicht an einem Ein-

inhibitorisches Umfeld

exzitatorisches Zentrum

zelneuron: Das rezeptive Feld des großen sekundären Neurons umfasst die rezeptiven Felder zahlreicher primärer Neurone. Je randständiger die primären Neurone sind, umso weniger wirken sie erregend und desto mehr hemmen sie das sekundäre Neuron über Interneurone. Die Folge ist ein exzitatorisches Zentrum und ein inhibitorisches Umfeld des sekundären Neurons (nach 3).

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20 Somatoviszerale Sensibilität

frontaler Kortex

somatosensorischer Kortex (SI)

Abb. 20.14 Kortikale Aktivierung bei mechanischer Stimulation, sichtbar gemacht mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRI). Das linke Bild zeigt im Horizontalschnitt eine Aktivierung im linken Gyrus postcentralis, dem somatosensorischen Kortex SI, ausgelöst durch einen Berührungsreiz am rechten Unterarm. Im rechten Bild ist neben der Aktivierung von SI auch eine starke

tionen integrativ miteinander verarbeitet werden (s. Abb. 20.11 A). Ausfälle durch lokale Hirnschädigungen belegen die genannten spezifischen somatosensorischen Leistungen. Ausgedehnte Läsionen in der somatosensorischen Rindenregion SI führen zum Verlust der feinen taktilen Sensibilität in entsprechenden Körperarealen der kontralateralen Seite (taktile Agnosie). Druck- und Berührungsreize können dann nicht mehr richtig lokalisiert werden, Formen werden beim Betasten nicht mehr erkannt. In anderen Fällen ist auch der Stellungs- und Bewegungssinn stark beeinträchtigt (Störung der Kinästhesie). Schmerz- und Temperaturreize werden bei solchen Läsionen zwar unverändert stark empfunden, können aber nur grob lokalisiert werden.

Der somatosensorische Kortex SII verarbeitet bilaterale Informationen, der anteriore Gyrus cinguli und die Insel vermitteln affektive und emotionale Inhalte Der sekundäre somatosensorische Kortex (SII) ist ein kleineres Projektionsfeld im Bereich des parietalen Operculum, das seine Informationen zum großen Teil über SI und zum geringeren Teil diekt vom Thalamus erhält. (Abb. 20.10 B u. 20.11 A). SII ist weniger deutlich somatotopisch gegliedert als SI, und beide Körperhälften – das Gesicht frontal, die untere Extremität okzipital – sind hier repräsentiert. Dementsprechend besitzen die meisten Neurone bilaterale rezeptive Felder. Sie antworten auf komplexe Hautreize wie Bewegung und Richtung. Während in SI vor allem die Lokalisation von Reizen abge-

somatosensorischer Kortex (SI)

motorischer Kortex

Aktivierung des anterioren Gyrus cinguli und des frontalen Kortex zu sehen, außerdem ein kleines aktiviertes Areal im rechten Gyrus praecentralis (motorischer Kortex). Dieses Muster kam durch einen starken mechanischen (schmerzhaften) Reiz am rechten Handrücken zustande. (Experimente und Aufnahmen: Dr. C. Maihöfner, Neurologische Klinik der Universität Erlangen).

bildet wird, scheint SII insbesondere die Reizstärke zu kodieren. Der anteriore Gyrus cinguli, ein wichtiges Kortexgebiet für die Steuerung von Aufmerksamkeit und Reaktionsbereitschaft, bestimmt maßgeblich die affektive Komponente des akuten Schmerzes. Bildgebende Verfahren, wie zum Beispiel die funktionelle Kernspintomographie (fMRI, s. Kap. 28.10), zeigen bei starken Schmerzempfindungen eine Aktivierung sowohl der somatosensorischen Areale SI und SII, welche die Lokalisation und Intensität des Schmerzes angeben, als auch eine Aktivierung des anterioren Gyrus cinguli als Ausdruck für die affektive Schmerzkomponente (Abb. 20.14). Die Insel integriert nicht nur verschiedene Modalitäten der Somatosensorik, sondern stellt auch ein Projektionsgebiet von vestibulären Bahnen und Geschmacksafferenzen dar (s. Kap. 24.3, Abb. 24.2). Die Insel steht mit anderen höheren Strukturen des limbischen Systems (Amygdala, präfrontaler Kortex) in enger Verbindung und ist bestimmend für die emotionale Bewertung von Empfindungen, insbesondere beim Schmerz (vgl. Kap. 28.4). Bei einer Schädigung der Insel kann der Schmerz seine subjektiv erlebte emotionale Bedeutung verlieren (Asymbolie), während die Lokalisation und die empfundene Intensität von Schmerzreizen vollständig erhalten bleiben.

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20.9 Schmerzformen und Schmerzhemmung

Reorganisation des somatosensorischen Kortex und Phantome sind Folgen veränderten afferenten Zustroms

Area 3b Fingerregion

Die funktionelle Organisation des somatosensorischen Kortex SI hängt vom intakten afferenten Zustrom ab.

3

Wenn z. B. ein Finger denerviert oder amputiert wird, hinterlässt er eine „Lücke“ in der aktiven kortikalen Repräsentation. Nach einiger Zeit (viele Tage bis Wochen) erhalten die deafferentierten Gebiete funktionellen Anschluss an benachbarte, intakte Finger. Die Veränderungen beruhen sehr wahrscheinlich auf Prozessen der synaptischen Plastizität, vergleichbar denen bei Lern- und Entwicklungsvorgängen (s. Kap. 28.7, 28.8). Dabei werden nicht nur Rezeptoren und Ionenkanäle neu gebildet und in die erregbaren Membranen integriert, sondern die prä- und postsynaptischen Membranen vergrößern sich, ja es werden sogar neue dendritische Fortsätze mit synaptischen Verbindungen gebildet. Umgekehrt können synaptische Verknüpfungen auch abgebaut werden, wenn sie über längere Zeit nicht „benutzt“ werden. Es kommt dann zu einer Abschwächung der Sensibilität. Darüber hinaus kann auch bei intakter afferenter Innervation die kortikale Repräsentation einzelner Extremitäten durch selektives Training vergrößert werden, wie in dem experimentellen Beispiel von Abb. 20.15 dargestellt ist. Auch hierbei sind Mechanismen der synaptischen Plastizität beteiligt. Eine klinische Anwendung finden diese Prozesse bei Trainingsprogrammen zur funktionellen Restitution, zum Beispiel nach Verlust einer Extremität. Nach einer Amputation oder einem Unfall mit Verlust einer Extremität kann es vorkommen, dass die somatosensorische Repräsentation bestehen bleibt, so dass die Patienten in dem nicht mehr vorhanden Körperteil weiterhin Empfindungen haben. Man spricht dann von einem Phantom. Die meisten Phantome verschwinden nach einigen Tagen bis Wochen, können aber auch über Monate oder sogar Jahre hinweg bestehen bleiben. Häufig bleibt die Phantomextremität in der Stellung und wird so empfunden, wie sie zum letzten Mal real empfunden wurde, sie kann aber auch schrumpfen und in den Amputationsstumpf „hineinwachsen“. Leider sind viele dieser Phantome von Missempfindungen oder Schmerzen begleitet, die kaum zu therapieren sind und erst durch aufwändige Trainingsprogramme gebessert werden. Manchmal können Phantomempfindungen oder sogar solche Phantomschmerzen durch Reizung somatotopisch benachbarter Körperregionen ausgelöst werden, z. B. bei amputiertem Unterarm durch Stimulation des Oberarmstumpfes oder des Gesichts, dessen kortikale Repräsentation an die Handregion angrenzt (Abb. 20.16). Die Prozesse bei der Entwicklung von Phantomschmerzen sind bislang wenig verstanden. Der Zustrom nozizeptiver Information durch die Nerven des verlorengegangenen Körperteils sowie zentrale Sensibilisierungsund Reorganisierungsvorgänge, die auch durch eine Allgemeinnarkose nicht verhindert werden, sind hier

4

2

1

1

2

3

4

5

5

nach dem Training

vor dem Training 1

2

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4

5

1mm

Abb. 20.15 Kortikale plastische Veränderungen im Fingerareal von SI durch Übung. Die Fingerregion (dunkel) in der kortikalen Area 3b eines Primaten ist vor und nach der Trainingsphase dargestellt. Das Training bestand in einer täglichen einstündigen Fingerübung, bei der die Fingerkuppen von Zeige-, Mittel- und gelegentlich Ringfinger (2 – 4) sensorisch beansprucht wurden. Nach der Trainingsphase war die kortikale Repräsentation der benutzten Finger 2 – 4 und insbesondere der Fingerendglieder (dunkel) deutlich größer (nach 15).

von Bedeutung. Um der Bildung des „Schmerzgedächtnisses“ (s. Kap. 20.9) und einer eventuellen Phantombildung vorzubeugen, wird deshalb heute bei Amputationen und anderen großen Operationen am Bewegungsapparat häufig zusätzlich eine Lokal- oder Spinalanästhesie angewandt.

20.9

Schmerzformen und Schmerzhemmung

Schmerzen lassen sich nach ihrer Lokalisation, Intensität und Qualität beurteilen, messen und durch Fragebögen erfassen. Neben den diskriminativen Eigenschaften des Schmerzes kann man affektive, motorische und vegetative Komponenten unterscheiden, die unabhängig von der bewussten Schmerzempfindung entstehen. Klinisch bedeutsam sind nur chronische Schmerzen, die häufig mit Schmerzüberempfindlichkeit (Hyperalgesie und Allodynie) einhergehen. Neuropathische Schmerzen entstehen durch Schädigung von nozizeptiven peripheren oder zentralen Leitungsbahnen und sind häufig von zusätzlichen Sensibilitätsstörungen begleitet. Schmerzen sind der häufigste Grund für Patienten, einen Arzt aufzusuchen. In der Sprechstunde spielt die Schmerzanamnese die entscheidende Rolle für das

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20 Somatoviszerale Sensibilität belegt, dass Probanden oder Patienten die Qualität und Intensität von Schmerzen sehr genau und reproduzierbar angeben können. Man verwendet zur experimentellen und klinischen Schmerzmessung häufig Intensitätsskalen, z. B. eine „visuelle Analogskala“ mit mehreren Stufen in Form eines Zahlenstrahls, der z. B. den Intensitätsbereich von 0 („nicht schmerzhaft“) bis 10 („unerträglich schmerzhaft“) umfasst. 2

3,4 5

Schmerz besteht nicht nur aus der diskriminativen Komponente

1

Phantomhand im Oberarm

5 1

2

3

Abb. 20.16 Phantomempfindungen durch Berührung von Körperarealen. Nach Amputation des linken Unterarms entwickelte sich eine Phantomhand, die der Patient als gelähmt empfand. Bei der Berührung scharf abgegrenzter Areale im Gesicht (links) und am Oberarmstumpf (rechts) konnten über Monate hinweg Berührungsempfindungen in den Fingern 1 – 5 der Phantomhand ausgelöst werden. Diese Befunde deuten auf eine stabile kortikale Reorganisation hin, wobei Neurone des Gesichts und des Oberarms synaptischen Anschluss an das Handareal erhielten und dieses nun repräsentieren (nach 19).

weitere ärztliche Handeln. Dazu gehört zunächst die Frage, wo und seit wann die Schmerzen aufgetreten sind, ob sie gleich geblieben sind oder sich verändert haben. Schmerzen können in nahezu allen Körperregionen auftreten, werden aber unterschiedlich genau lokalisiert. Am besten gelingt die Lokalisation beim Oberflächenschmerz der Haut, weniger gut beim Tiefenschmerz von Muskeln, Bändern und Gelenken und meist relativ schlecht beim viszeralen Schmerz aus inneren Organen, bei dem sogar der übertragene Schmerz im Vordergrund stehen kann (s. Kap. 20.7). Bei der Anamnese wird auch erfragt, wie stark der Schmerz ist (Schmerzintensität) und welchen Charakter er hat (Schmerzqualität). Häufig ziehen die Patienten dabei Vergleiche heran („es schmerzt so, als ob…“). Alle schmerzbezogenen Eigenschaften, die der Patient beschreiben kann, werden als diskriminative Komponente des Schmerzes bezeichnet. In der schmerztherapeutischen Praxis werden diese Eigenschaften genau registriert und häufig auch quantifiziert. Der subjektive Charakter des Schmerzes bedeutet nicht, dass Schmerz nicht messbar wäre. Es ist vielfach

Schmerz besteht nicht nur aus der bewussten Schmerzempfindung. Schmerzen sind in der Regel auch mit negativen Emotionen verbunden, die zu unterschiedlichen affektiven Reaktionen führen können, z. B. zu psychischer Erregung oder Depressivität. Diese affektive oder emotionale Komponente des Schmerzes wird durch das „unspezifische“ mediale Projektionssystem vermittelt und tritt demzufolge unabhängig von der diskriminativen Komponente auf. Daneben kann Schmerz von charakteristischen motorischen (z. B. Schonhaltung), psychomotorischen (Gesichtsausdruck) und vegetativen (meist hypersympathischen) Reaktionen begleitet sein, die zur objektiven Schmerzdiagnostik mit herangezogen werden. Vor allem wenn Schmerzen lange andauern, immer wiederkehren oder sogar chronisch sind, wird der Schmerz zur Erfahrung, zum Erleben, das in die Biographie des Patienten eingebunden ist. Dabei spielt die Erinnerung und Bewertung der Schmerzerfahrung eine große Rolle, wenn die aktuellen Schmerzen geschildert werden („schlimmer denn je, kann damit nicht leben …“). Diese kognitive Komponente des Schmerzes, in die auch die soziale Situation des Patienten eingeht, kann für die Anamnese und die Beurteilung eines Schmerzleidens von größter Bedeutung sein. Um diese verschiedenen Komponenten des Schmerzes zu erfassen, haben sich in der klinischen Diagnostik Schmerzfragebögen bewährt.

Akuter und chronischer Schmerz unterscheiden sich nicht nur in der Dauer Der Akutschmerz ist häufig ein nützliches Warnsignal, um den Körper vor Beschädigung zu schützen. Auch Schmerzen aufgrund von Verletzungen, die spätestens mit der Heilung abklingen, können biologisch sinnvoll sein, indem sie zum Beispiel den Verletzten zu einer Schonhaltung zwingen. Diese Schmerzen sind meist unproblematisch, häufig nicht einmal behandlungsbedürftig. Hingegen stellt der wiederkehrende oder chronische Schmerz mit oder ohne erkennbare körperliche Schädigung die eigentliche klinische Problematik dar. Schmerzen zu mindern und chronische Schmerzen zu verhindern sind daher die wichtigsten Ziele der Schmerztherapie, wobei Analgesie (Schmerzfreiheit) nicht immer erreicht werden kann. Die klinische Bedeutung chronischer Schmerzen drückt sich in der Vielzahl der Begriffe aus, mit denen die unterschied-

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20.9 Schmerzformen und Schmerzhemmung lichen Schmerzphänomene unterschieden werden (s. Tab. 20.2). Chronische Schmerzen sind meist mit Hyperalgesie verbunden, d. h. übermäßiger Schmerzempfindung oder -empfindlichkeit. Bei Hyperalgesie werden normalerweise nicht oder kaum schmerzhafte Reize als schmerzhaft empfunden. So wird bei entzündeter hyperalgetischer Haut moderate Wärme als Hitzeschmerz empfunden, beispielsweise eine warme Dusche auf sonnenverbrannter Haut. Im tiefen Gewebe können gewöhnliche mechanische Reize schmerzhaft werden, wie zum Beispiel normale Bewegungen beim „Muskelkater“. Bei chronischen Schmerzen nach zentraler Sensibilisierung (s. unten) werden manchmal sogar leichte Berührungen als schmerzhaft empfunden, so dass Kleidungsstücke oder die Bettdecke auf der erkrankten Haut nicht mehr toleriert werden können. Dieses Phänomen wird als Berührungshyperalgesie bezeichnet, machmal auch als Allodynie (Vorsilbe allo = anders, fremd), weil nun niederschwellige Mechanorezeptoren eine andere Empfindung als Berührung hervorrufen. Hyperalgesie kann man auch quantifizieren, indem man die (dann erniedrigte) Schmerzschwelle bei definierten Reizen bestimmt (z. B. Temperatur, Druck). Das Gegenteil von Hyperalgesie ist die Hypalgesie, ein seltener Zustand verminderter oder fehlender Schmerzempfindung bei sonst erhaltener Sensibilität, der bei selektiver Schädigung nozizeptiver Nervenfasern vorkommen kann. Im Unterschied dazu ist bei der Hypästhesie die Berührungssensibilität vermindert, z. B. bei manchen Neuropathien (Nervenerkrankungen, s. u.). Bei der Anästhesie ist die Somato- und Viszerosensibilität lokal oder im ganzen Körper erloschen.

Neuropathische Schmerzen entstehen durch Schädigung von peripheren oder zentralen Leitungsbahnen Wenn periphere Nerven oder Nervenwurzeln verletzt sind oder komprimiert werden, können neurogene Schmerzen entstehen, die im chronischen Fall auch als neuropathische Schmerzen oder Neuralgien bezeichnet werden. Ein kurzer neurogener Schmerz ist der bekannte elektrisierende Schmerz durch (inadäquate) Reizung des N. ulnaris am Epicondylus medialis des Humerus („Musikantenknochen“). Wie alle neurogenen Schmerzen strahlt er in das afferente Versorgungsgebiet des Nervens aus, weil die Aktivierung der nozizeptiven Afferenzen eine noxische Reizsituation im Bereich der nozizeptiven Endigungen vortäuscht. Man spricht bei diesem Phänomen auch vom projizierten Schmerz. Bei Nervenverletzungen kommt es zu weit reichenden Veränderungen der Genexpression von Neuropeptiden und Rezeptorproteinen in den verletzten afferenten Neuronen. Bei chronischen Neuropathien (schmerzhaften Erkrankungen des Nervensystems) treten vielfältige Sensibilitätsstörungen auf. Der Beginn ist typischerweise durch Missempfindungen (Parästhesien) wie Kribbeln, Brennen oder andere unangenehme Empfindungen gekennzeichnet, die dann von Hyperästhesien

(übersteigerte Sensibilität für mechanische und thermische Reize) gefolgt werden. Später entwickeln sich häufig sehr schmerzhafte Missempfindungen (Dysästhesien), welche Hyperalgesien für Wärme-, Kälteund mechanische Reize einschließen können. Diese Sensibilitätsstörungen beruhen zum Teil auf plastischen (d. h. fortbestehenden) Veränderungen der nozizeptiven Übertragung im Rückenmark und wahrscheinlich auch in den höheren Stationen der Schmerzbahn (s. Kap. 20.7). Dies ist wahrscheinlich ein Grund dafür, dass chronische Neuropathien in der Regel nur durch langwierige Therapieverfahren zu bessern sind. Neuralgien können durch mechanische Schädigungen oder durch entzündliche oder degenerative Vorgänge bedingt sein. Ein Bandscheibenvorfall oder andere Druckschädigungen der Hinterwurzeln führen typischerweise zum Wurzelkompressionsschmerz, der in das Innervationsgebiet des zugehörigen Spinalnervens ausstrahlt. Wenn der N. trigeminus an seiner Eintrittsstelle in den Hirnstamm durch eine Gefäßschlinge chronisch gereizt wird, entsteht die Trigeminusneuralgie, die durch heftige einschießende Schmerzen im Gesicht gekennzeichnet ist. Neuropathische Schmerzen von meist brennendem Charakter entstehen häufig auch bei der diabetischen Neuropathie (Nervenerkrankung aufgrund lange bestehender Zuckerkrankheit) und bestimmten anderen Neuropathieformen, bei denen vorwiegend dünne Nervenfasern zugrunde gehen. Durch Schädigung zentraler Bahnsysteme, häufig im Rahmen eines Schlaganfalls, können zentrale Schmerzen entstehen. Wenn der Thalamus betroffen ist, besteht häufig eine Hyperpathie, eine schmerzhafte Überempfindlichkeit gegenüber somatosensorischen Reizen einschließlich Allodynie, wobei typischerweise die ausgelösten Schmerzen lange nachklingen. Im Gegensatz zur Hyperalgesie sind die Schmerzschwellen hier eher erhöht. Die Sensibilisierung zentraler Neurone im Rückenmark und auf höheren Ebenen der Schmerzbahn beruht auf Veränderungen der synaptischen Übertragung, bei denen NMDA-Rezeptorkanäle in postsynaptischen Neuronen eine besondere Rolle spielen. Plastische Veränderungen der synaptischen Übertragung kommen durch intrazelluläre Signalkaskaden mit Induktion von Enzymen und Genexpression zustande. Diese Veränderungen, die mit der Langzeitpotenzierung bei Lernvorgängen vergleichbar sind, werden für die Phänomene der sekundären Hyperalgesie und Allodynie verantwortlich gemacht. Die Weitergabe der afferenten Information wird im Thalamus, im Hirnstamm und im Rückenmark durch absteigende Bahnen kontrolliert. Die absteigenden antinozizeptiven Systeme benutzen Opioide als hemmende Transmitter und sind für die endogene wie für die medikamentöse Schmerzhemmung von großer Bedeutung.

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20 Somatoviszerale Sensibilität Tabelle 20.2

Schmerzphänomene und nozizeptive Vorgänge

Schmerzphänomen

Definition und zugrundeliegende nozizeptive Vorgänge

erster Schmerz

durch Aδ-Fasern vermittelter schneller stechend-scharfer Schmerz

zweiter Schmerz

durch C-Fasern vermittelter lang anhaltender brennender oder dumpfer Schmerz

Ruheschmerz

Schmerz durch spontane Aktivität nozizeptiver Neurone

Bewegungsschmerz

Schmerz durch mechanisch ausgelöste Erregung von Nozizeptoren

Entzündungsschmerz

Schmerz durch Erregung von Nozizeptoren, die durch Entzündungsmediatoren sensibilisiert sind

primäre Hyperalgesie

Schmerzüberempfindlichkeit durch Sensibilisierung von Nozizeptoren

sekundäre Hyperalgesie

Schmerzüberempfindlichkeit durch zentrale Sensibilisierung (meist spinaler Neurone)

Berührungshyperalgesie (Allodynie)

Schmerzempfindung bei nicht-noxischer mechanischer Reizung (Erregung von Aβ-Fasern)

Parästhesie

unangenehme Missempfindung (noch nicht schmerzhaft), häufig bei Neuralgien

Dysästhesie

schmerzhafte Missempfindung, vor allem bei Neuralgien

Neuralgie (neuropathischer Schmerz)

schmerzhafte Nervenerkrankung durch Schädigung (primärer oder sekundärer) nozizeptiver Neurone

zentraler Schmerz

Schmerzerkrankung durch Schädigung supraspinaler nozizeptiver Neurone

Hyperpathie

schmerzhafte Überempfindlichkeit mit nachklingenden Schmerzen, zentrale Schmerzform (meist Thalamus)

projizierter Schmerz

Ausstrahlung des Schmerzes in das Innervationsgebiet eines Nervens

übertragener Schmerz

Schmerzempfindung im zugehörigen Dermatom oder Myotom eines erkrankten Organs

Phantomschmerz

projizierte Schmerzempfindung (Illusion) in einem amputierten Körperteil

Sekundäre Hyperalgesie und Allodynie entstehen durch Sensibilisierung zentraler Neurone Chronische Schmerzzustände sind häufig durch Hyperalgesien gekennzeichnet, die nicht ausschließlich eine Folge der Sensibilisierung von Nozizeptoren sein können, sondern zentrale Ursachen haben. Wenn dies der Fall ist, spricht man von sekundärer Hyperalgesie. Charakteristisch dafür ist, dass sich die hyperalgetische Zone über den primär erkrankten und schmerzhaften Bereich hinaus ausdehnt. Für die Entstehung der sekundären Hyperalgesie werden zentrale Sensibilisierungsvorgänge verantwortlich gemacht. Auch die Allodynie, bei der niederschwellige Afferenzen (Aβ-Fasern) durch noch ungeklärte Vorgänge „Anschluss“ an das zentrale nozizeptive System erhalten, ist immer Ausdruck einer zentralen Sensibilisierung. Offensichtlich führt das Dauerbombardement der einlaufenden nozizeptiven Signale in den Hinterhornneuronen zu dauerhaften Veränderungen der synaptischen Übertragung. Solche Veränderungen, die man allgemein als synaptische Plastizität bezeichnet, können wahrscheinlich an allen synaptischen Übertragungsstellen in der Schmerzbahn stattfinden, also auch im Thalamus und im zerebralen Kortex. Dabei spielen Glutamatrezeptoren auf den postsynaptischen Neuronen eine entscheidende Rolle, insbesondere der NMDA-Rezeptor (s. Kap. 5.9, 28.7). Es handelt sich hier um einen Glutamat-gesteuerten Katio-

nenkanal, der bei negativen Membranpotenzialen nahe dem Ruhemembranpotenzial durch ein Mg2+-Ion blockiert ist. Bei hinreichend starker Depolarisation wird das Mg2+ aus dem Kanal entfernt, wodurch dessen Leitfähigkeit insbesondere für Ca2+ drastisch ansteigt. Eine solche postsynaptische Depolarisation könnte zum Beispiel die Folge einer verstärkten Freisetzung von Kotransmittern aus den präsynaptischen Endigungen der nozizeptiven Afferenzen sein (z. B. CGRP oder Substanz P). Diese Neuropeptide lösen über die Bindung an Membranrezeptoren im postsynaptischen Neuron intrazelluläre Signalkaskaden aus, wodurch spannungsabhängige Ionenkanäle wie auch der NMDA-Rezeptorkanal sensibilisiert werden. Durch den geöffneten NMDA-Kanal strömen Ca2+Ionen in die Zelle und können weitere Kaskaden Ca2+abhängiger intrazellulärer Prozesse aktivieren, zum Beispiel Induktion der Phospholipase A2 oder der NO-Synthase (vgl. Kap. 2.6). Des Weiteren wird die Genexpression aktiviert, wodurch das Neuron schließlich neue funktionsfähige Enzyme, Rezeptoren und Ionenkanäle produziert und in die Zellmembran integriert. Im Endergebnis wird die synaptische Übertragung auf das Neuron und seine Erregbarkeit dauerhaft verändert. Die langdauernde Verstärkung der synaptischen Transmission durch die beschriebenen Mechanismen wird auch als Langzeitpotenzierung (LTP, „long term potentiation“) bezeichnet (vgl. Kap. 28.7). Die Vorgänge sind den neuronalen Prozessen beim Lernen nicht unähnlich (vgl. Kap. 28.6, 28.7), ein Grund dafür, dass das Schlagwort vom „Schmerzgedächtnis“ geprägt wurde.

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20.9 Schmerzformen und Schmerzhemmung

In den absteigenden schmerzhemmenden Systemen wirken endogene Opioide als Neurotransmitter

zentrales Höhlengrau Mittelhirn

Locus coeruleus Brücke

dorsolateraler Funiculus

Ad, C

Raphé-Kerne

Medulla

I hemmende II Interneurone III IV Laminae V nach Rexed VI zum Vorderseitenstrang

dorsolateraler Funiculus Hinterhorn im Rückenmark

Vorderseitenstrangbahn

Die aufsteigenden somato- und viszerosensorischen Informationen werden durch verschiedene Systeme absteigender Bahnen kontrolliert und moduliert. Vom somatosensorischen Kortex absteigende Verbindungen modulieren im Thalamus, in den Hinterstrangkernen und im Hinterhorn die Informationsübertragung und dienen z. B. der Diskrimination von Reizen durch Kontrastverstärkung. Für die Kontrolle der nozizeptiven Information ist das Prinzip der absteigenden Hemmung besonders wichtig. Es bildet die physiologische Grundlage für die effektivsten schmerztherapeutischen Maßnahmen. Die wichtigsten hemmenden Bahnsysteme sind das lateral verlaufende noradrenerge System mit Ursprung im Locus coeruleus und das medial gelegene serotonerge System, das von den Raphé-Kernen, insbesondere dem Nucleus raphé magnus ausgehend, in den spinalen Trigeminuskern und das Hinterhorn des Rückenmarks absteigt (Abb. 20.17). Die hemmenden Systeme erhalten ihren Antrieb vom zentralen Höhlengrau (peri-aquäduktales Grau, PAG), das wiederum durch diejenigen kortikalen und subkortikalen Gebiete aktiviert wird, die das Ziel der aufsteigenden sensorischen Informationen sind (sensorische Kortexareale, limbisches System, Hypothalamus). Durch elektrische Stimulation dieser Kerngebiete kann eine Schmerzunempfindlichkeit (Analgesie) ausgelöst werden, ohne dass die anderen sensorischen Systeme dabei nennenswert beeinträchtigt sind. Die Mechanismen, über welche die absteigenden antinozizeptiven Systeme wirken, sind noch nicht in allen Einzelheiten geklärt. Zumindest im Rückenmark scheint die Hauptwirkung über hemmende Interneurone vermittelt zu werden, welche die nozizeptive Transmission sowohl über prä- als auch postsynaptische Mechanismen kontrollieren (Abb. 20.17, Einsatzbild; vgl. Kap. 5.10). Diese Interneurone enthalten als hemmende Neurotransmitter -Aminobuttersäure (GABA) und endogene Opioide. Zu letzteren zählen die Endorphine (Hauptvertreter Endorphin), die Enkephaline (Hauptvertreter Leu-Enkephalin) und das Dynorphin. Endorphin produzierende Neurone finden sich vor allem in hypothalamischen Neuronen, die zum PAG des Mittelhirns projizieren. Enkephalinerge und dynorphinerge Neurone sind im PAG, in der rostralen ventralen Medulla (Raphé-Kerne) und in der Substantia gelatinosa (Lamina II) des Rückenmarks lokalisiert. Rezeptoren für Opioide finden sich in allen Ursprungsgebieten der opioidergen Neurone, aber auch in vielen zerebralen Strukturen und in peripheren Organen, insbesondere im Gastrointestinalsystem. Endorphine binden vorwiegend an -Opioidrezeptoren, Enkephaline an Opioidrezeptoren und Dynorphin hauptsächlich an Opioidrezeptoren. Präsynaptische Opioidrezeptoren (z. B. auf den zentralen Endigungen der primären nozizeptiven Afferenzen) hemmen Ca2+-Kanäle und damit die Transmitterfreisetzung, postsynaptische Rezeptoren wirken vor allem über die Öffnung von K+-Kanälen hyperpolarisierend und damit hemmend (s. Kap. 5.9).

somatosensorischer Kortex limbisches System Thalamus Hypothalamus

Rückenmark

Abb. 20.17 Absteigende antinozizeptive Bahnsysteme und ihre spinale Verschaltung im Hinterhorn. Die aufsteigenden Bahnen der nozi- und thermorezeptiven Afferenzen (Aδ, C) sind rot dargestellt, die absteigenden hemmenden Systeme grün und blau. Die vom zentralen Höhlengrau (PAG) aus absteigende serotonerge Bahn (grün) wie auch die vom Locus coeruleus ausgehende noradrenerge Bahn (blau) werden von subkortikalen und kortikalen Arealen aktiviert. Die absteigenden Bahnen hemmen über opioiderge Interneurone die sekundären nozizeptiven Neurone im Hinterhorn über prä- und postsynaptische Mechanismen (Einsatzbild).

Die Schmerztherapie durch Opiate beruht auf der Aktivierung der endogenen schmerzhemmenden Systeme Die endogenen Rezeptormechanismen der Opioide werden für die Therapie von starken akuten und chronischen Schmerzen genutzt, wie zum Beispiel bei postoperativen Zuständen, Herzinfarkt oder Tumorleiden. Dabei kann man mit natürlich vorkommenden (z. B. Morphin) oder synthetischen Opioiden (z. B. Tramadol, Pethidin) eine sehr effektive Analgesie erzielen. Die weite Verbreitung der Opioidrezeptoren im Körper ist eine der Ursachen für die unerwünschten zentralen Effekte und die nicht unerheblichen Nebenwirkungen bei einer systemischen Opiattherapie, wie z. B. Obstipation (Stuhlverhalten) durch Lähmung der Darmmotilität oder Atemdepression. Um die Neben-

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20 Somatoviszerale Sensibilität wirkungen zu minimieren, werden Opioide bei längerdauernder Therapie oder postoperativ nach Möglichkeit peridural oder intrathekal (in den Rückenmarkskanal) verabreicht. Die weit verbreitete aber unbegründete Furcht vor einer Suchtentwicklung hat dazu geführt, dass diese wertvollen Therapeutika zu wenig eingesetzt werden und chronisch Schmerzkranke häufig unterversorgt sind. Es ist lange erwiesen, dass bei einer angepassten Dosierung der Opiate diese Problematik vernachlässigbar ist. Es wird immer wieder von schweren körperlichen Belastungssituationen und Unfällen berichtet, bei denen die Patienten trotz schwerer Verletzungen keine Schmerzen empfanden. Diese stressinduzierte Hypalgesie beruht wahrscheinlich zum Teil auf einer gesteigerten endogenen Opioidfreisetzung durch Glucocorticoide im Gehirn (vgl. Kap. 16.4). Auch der Schmerz reduzierende Plazeboeffekt wurde schon auf die Wirkungen endogener Opioide zurückgeführt.

Zum Weiterlesen … 1 Bear MF, Connors BW, Paradiso MA. Neuroscience. Baltimore: Lippincott Williams & Wilkins; 2001 2 Handwerker HO. Einführung in die Pathophysiologie des Schmerzes. Berlin: Springer Verlag; 1999 3 Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM (eds.). Neurowissenschaften (gekürzte und übersetzte Ausgabe). Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag; 1996 4 Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM (eds.). Principles of Neural Science. New York: McGraw-Hill; 2000 5 Kolb B, Wishaw IQ. Fundamentals of Human Neuropsychology. New York: WH Freeman & Co; 1996 6 Pinel JPJ. Biopsychologie. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag; 1997 7 Squire LR, Bloom FE, McConnell SK, Roberts JL, Spitzer NC, Zigmont MJ (eds.). Fundamental Neuroscience. Amsterdam: Academic Press; 2003 8 Wall PD, Melzack R (eds.). Textbook of Pain. Edinburgh: Churchill Livingstone; 1994

… und noch weiter 9 Belmonte C, Cervero F (eds.). Neurobiology of Nociceptors. Oxford: Oxford University Press; 1996 10 Darian-Smith I. Sensory processes. Handbook of Physiology. Vol. 3, Part 2. Bethesda: American Physiological Society; 1984 11 Gebhard GF. Visceral Pain. Progress in Pain Research and Management. Vol. 5. Seattle: IASP Press; 1995 12 Hendry SH, Hsiao SS. The somatosensory system. In: Squire LR, Bloom FE, McConnell SK, Roberts JL, Spitzer NC, Zigmont MJ (eds.). Fundamental Neuroscience. Amsterdam: Academic Press; 2003 13 Hensel H. Thermal Sensation and Thermoreceptors in Man. Springfield/III.: Thomas; 1982 14 Iggo A (ed.) Somatosensory System. Handbook of Sensory Physiology. Vol. 2. Heidelberg: Springer; 1973 15 Jenkins WM, Merzenich MM, Ochs MT, Allard T, GuicRobles E. Functional reorganization of primary somatosensory cortex in adult owl monkeys after behaviorally controlled tactile stimulation. J Neurophysiol. 1990; 63: 83 – 104 16 Johansson RS, Vallbo AB. Tactile sensibility in the human hand: relative and absolute densities of four types of mechanoreceptive units in glabrous skin. J Physiol. 1979; 286: 283 – 300 17 Mei N. Sensory structures in the viscera. Prog Sens Physiol. 1983; 4: 1 – 42 18 Mountcastle VB, LaMotte RH, Carli G. Detection thresholds for stimuli in humans and monkeys: comparison with threshold events in mechanoreceptive afferent nerve fibers innervating the monkey hand. J Neurophysiol. 1972; 35: 122 – 136 19 Ramachandran VS, Hirstein W. The perception of phantom limbs. Brain. 1998; 121: 1603 – 1630 20 Sengupta JN, Saha JK, Goyal RK. Stimulus-response function of esophageal mechanosensitive nociceptors in sympathetic afferents of opossum. J Neurophysiol. 1990; 64: 796 – 812 21 Willis WD, Coggeshall RE. Sensory Mechanisms of the Spinal Cord. New York: Plenum Press; 1991

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Hören und Sprechen: Kommunikation des Menschen R. Klinke

21.1 Basis menschlicher Kultur – die Sprache 21.2 Schall

···

···

658

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21.3 Hörempfindungen

··· 659 Auch das feinste Ohr hört nicht alles · · · 659 Mit zunehmendem Schalldruckpegel nimmt die Empfindung der Lautstärke zu ··· 660 Die Tonhöhenempfindung korreliert mit der Frequenz · · · 660

21.4 Schallleitung durch äußeres Ohr und Mittelohr · ·· 660 Die Gehörknöchelchen bilden eine Schallbrücke · · · 660 Das Mittelohr vermindert Reflexionsverluste ··· 661

21.6 Zentralnervöse Verarbeitung von Schallreizen ··· 668 Die Hörbahn wird zwischen Cochlea und Kortex durch fünf bzw. sechs Neurone aufgebaut ··· 668 Aufgaben des zentralen auditorischen Systems: Musteranalyse, räumliche Lokalisation und Rauschunterdrückung · · · 669

21.7 Hörschäden und Hörprüfungen

··· 669 Schwerhörigkeit kann ihre Ursache im Mittelohr oder im Innenohr haben · ·· 669 Audiometrische Verfahren messen die Hörfähigkeit ··· 670 Hörgeräte und Cochlea-Implantate restituieren verlorengegangenes Sprachverständnis · · · 672

21.8 Der periphere Sprechapparat 21.5 Funktion des Innenohres

···

662 Drei schneckenförmige Kanäle bauen die Cochlea auf · · · 662 Die Basilarmembran trägt die Sinneszellen · ·· 662 Der erste Schritt des Transduktionsvorgangs ist die Bildung von Wellen entlang der Basilarmembran · ·· 663 Der zweite Schritt besteht aus aktiven Längenänderungen der äußeren Haarzellen · · · 664 Im dritten Schritt werden die inneren Haarzellen indirekt erregt ··· 665 Der Hörnerv verwendet für die Schallfrequenz zwei Kodierungsstrategien: Ortsanalyse und Periodizitätsanalyse · ·· 666 Haarzellen und Hörnerv produzieren klinisch messbare Reizfolgepotenziale · · · 667

· · · 672 Hören und Sprechen bilden eine funktionelle Einheit ··· 672 Die Stimme entsteht durch Bernoulli-Schwingungen der Stimmbänder · ·· 672 Im Mund-Rachen-Raum werden verständliche Sprachlaute artikuliert ··· 673

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21 Hören und Sprechen: Kommunikation des Menschen

21.1

Basis menschlicher Kultur – die Sprache

Ein Blick in unseren Wortschatz illustriert die zentrale Bedeutung des Hörsinns für den Menschen. Die sprachlich verwandten Wörter „deaf“ und „doof“ sowie „stumm“ und „dumm“ belegen, welch geringe Bildungschancen angeboren gehörlose Kinder haben, wenn man sich nicht speziell um sie bemüht. Sie erlernen spontan keine Lautsprache, ihr zentrales auditorisches System reift ohne Hörerfahrung nicht zur Funktionstüchtigkeit heran (s. Kap. 28 u. [24]). So bleibt ihnen der Zugang zur Sprache und damit zu umfassender Bildung verschlossen. Konsequente Versorgung mit Hörgeräten oder CochleaImplantaten vom Kleinkindalter an vermag diese Folgen weitgehend zu beheben und eine Sprachanbahnung zu ermöglichen. Aus diesem Grund ist die frühzeitige Diagnose und Behandlung einer Hörbehinderung schon im ersten Lebensjahr von größter Wichtigkeit. Ein Verdacht auf eine frühkindliche Hörstörung muss aufkeimen, wenn nach dem 6. Lebensmonat das Babylallen weniger wird oder gar ganz verstummt. Im zweiten Lebenshalbjahr wird das Lallen abhängig vom Gehör. Das Baby beginnt zu imitieren, aber nur, wenn es Lohnenswertes hört. Wird in dieser Lebensphase ein Verstummen beobachtet, ist eine sofortige fachärztliche Untersuchung und gegebenenfalls eine Therapie nötig! In dieser frühkindlichen Phase wird nämlich der Grundstein für eine kompetente Sprachbeherrschung gelegt. Schon der Rhetoriker Quintilian im 1. Jh. n. Chr. wusste darum. Er schreibt in seiner Institutio oratoria „Vor allem darf die Sprache der Ammen nicht fehlerhaft sein … Ihr Sprechen wird der Knabe zuerst hören, ihre Worte nachzusprechen versuchen …“. Diese Weisheit wurde danach über Jahrhunderte vergessen. Aber auch für den Erwachsenen bedeutet Schwerhörigkeit oder gar Ertaubung eine belastende Erschwerung zwischenmenschlicher Kommunikation und damit einen massiven Verlust an Lebensqualität.

21.2

Schall

Schall besteht aus Schwingungen von Luftmolekülen, die von einer Schallquelle ausgehen und sich wellenförmig ausbreiten. Das Dezibel (dB) ist ein indirektes Maß zur Quantifizierung des Schalldrucks, der sich um eine Schallquelle aufbaut. Meist enthält ein Schall viele Frequenzkomponenten. Luft und andere Medien übertragen Schwingungsenergie von schwingenden Körpern (z. B. einer Violine) in Form von Schall. Dabei breiten sich wellenförmig Zonen von Überdruck und Unterdruck um die Schallquelle aus. Sie werden durch das Hin- und Herschwingen der schallabstrahlenden Flächen erzeugt, die dabei die Moleküle des Mediums verdichten und verdünnen (Abb. 21.1). Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Druckwellen beträgt in Luft ca. 335 m/s. Den entstehenden Wechseldruck nennt man Schalldruck. Er besitzt die Dimension N/m2 (= Pa) und kann mit Messmikrophonen gemessen werden. Da die Schalldruckwerte unhandliche Größenordnungen erreichen können, bevorzugt der Akustiker zur Quantifizierung ein anderes Maß, den Schalldruckpegel. Dieser wird in Dezibel (dB) angegeben. Es handelt sich um ein Verhältnismaß zu einem willkürlich festgelegten Bezugsschalldruck p0 von 2 · 10–5 N/m2. Die Definitionsgleichung für den Schalldruckpegel ist L = 2010 log

px ½dBŠ p0

px ist derjenige Schalldruck, dessen Pegel L zu berechnen ist. Beispielsweise besitzt ein Schall mit dem Schalldruck von px = 2 · 10–2 N/m2 den Schalldruckpegel L = 2010 log

2  10 2  10

2 5

= 2010 log 103

= 20  3 = 60 ½dBŠ Bei Verdoppelung des Schalldrucks wäre der Schalldruckpegel um 6 dB erhöht, bei Verzehnfachung um 20 dB.

Periode

Periode

Zeit

Druckamplitude

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Zeit

Klang

Ton

Zeit

Geräusch

Abb. 21.1 Schalldruckverlauf eines Tones, eines Klangs und eines Geräusches. Ton und Klang besitzen eine Periode, Geräusche nicht. Der Klang enthält zusätzlich zur Grundwelle noch so genannte Oberwellen.

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21.3 Hörempfindungen Phon =dB SPL bei 1kHz

Schalldruckpegel (dB SPL) 10.000.000

Düsentriebwerk

140

130

130 1.000.000

Schuss, Donner

lauter Industrielärm

120 110

lauter Straßenlärm

100 90

normales Gespräch

80 70

leises Gespräch

60 50

ländliche Ruhe

Bezugsschalldruck Zunahme des Schalldrucks um Faktor

50 40

30

30 20

20 10

10 1

Hauptsprachbereich

40 30

10

70

60 50

100

90

80 70

1.000

Unbehaglichkeitsschwelle: 110

100 90

10.000

Schmerzschwelle: 130

120 110

100.000

Lautstärkepegel (Phon)

10

0

normale Hörschwelle:

20 31,5

63

125

250

500

1000

2000

4000

4

8000 16000

Frequenz (Hz)

Abb. 21.2 Der Hörbereich des Menschen (nach DIN). Neben der Hörschwelle sind noch weitere Kurven gleicher Lautstärkepegel (Isophone) eingezeichnet. Bei 1000 Hz sind

Umgekehrt bedeutet eine Erhöhung des Schalldruckpegels um 80 dB eine 10 000fache Erhöhung des Schalldrucks usw. (siehe auch die linken Ordinaten der Abb. 21.2). Da es in Physik und Technik auch noch andere dB-Skalen gibt, bezeichnet man Werte des Schalldruckpegels oft als dB SPL (für „Sound Pressure Level“). Unter Schallintensität versteht man die pro Zeiteinheit durch eine Flächeneinheit hindurchtretende Schallenergie. Die Intensität ist dem Quadrat des Schalldrucks proportional und wird in Watt/m2 (= J/s · m2) angegeben. Wegen des quadratischen Zusammenhangs entsteht eine Verdoppelung der Schallintensität, wenn der Schalldruckpegel um 3 dB erhöht wird.

Die Schwingungsfrequenz des schwingenden Körpers bestimmt die Frequenz des Schalls, die in Hertz (Hz), also Schwingungen pro Sekunde, angegeben wird. Ein Ton enthält definitionsgemäß nur eine einzige Frequenz (Abb. 21.1). Seine Periodendauer ist 1/f. Meistens enthält ein Schall aber viele Frequenzkomponenten. Handelt es sich dabei um einen Grundton mit weiteren harmonischen Obertönen, spricht man von einem Klang (z. B. bei einem Klavier). Die Frequenzen der Obertöne sind Vielfache der Grundfrequenz. Ein Klang besitzt, wie ein Ton, einen periodischen Schalldruckverlauf. Dagegen enthält ein Geräusch viele regellos zusammengesetzte Frequenzanteile, so dass kein periodischer Schalldruckverlauf entsteht (Abb. 21.1). Schall umgibt uns jederzeit. Milliarden von Hörsystemen – von Mensch und Tier – fangen ihn auf, werten ihn aus und dienen so dem Überleben.

per definitionem Zahlenwerte für Lautstärkepegel und Schalldruckpegel identisch.

21.3

Hörempfindungen

Sehr leise Töne können wir nicht hören. Nach dem Überschreiten der Hörschwelle werden die Töne hörbar, und die Lautstärkeempfindung nimmt mit steigendem Schalldruck regelhaft zu, bis der Schall unbehaglich oder gar schmerzhaft wird. Sehr tiefe und sehr hohe Töne sind für den Menschen ebenfalls nicht hörbar.

Auch das feinste Ohr hört nicht alles Die Hörbarkeit eines Schalls hängt von seinem Schalldruckpegel und seiner Frequenz ab. Prüft man die Hörbarkeit einzelner Frequenzen, so ergibt sich die Hörschwellenkurve der Abb. 21.2. Die größte Empfindlichkeit besitzt das menschliche Gehör demnach im Bereich von 2 – 5 kHz. Bei niedrigeren und höheren Frequenzen benötigt man höhere Schalldrucke, um Hörempfindungen auszulösen. Sehr tiefe Frequenzen (Infraschall) und sehr hohe Frequenzen (Ultraschall) sind für den Menschen nicht hörbar. Viele Tiere aber können diese Frequenzen hören. Der normale Hörbereich eines jugendlichen Erwachsenen liegt zwischen 20 Hz und 16 kHz, Kinder, freilich, können auch Töne oberhalb von 16 kHz noch hören. Im Alter nimmt die Empfindlichkeit, besonders im hohen Frequenzbereich, ab, was als Altersschwerhörigkeit (Presbyakusis) bezeichnet wird. Die Bestimmung der Hörschwelle (Audiometrie) ist ein wichtiger klinischer Funktionstest (S. 670).

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21 Hören und Sprechen: Kommunikation des Menschen

Mit zunehmendem Schalldruckpegel nimmt die Empfindung der Lautstärke zu Hat ein Schall einmal die Hörschwelle überschritten, wird er mit zunehmendem Schalldruckpegel immer lauter empfunden. Um diese subjektive Lautstärke quantitativ festzulegen, hat man als Maß den Lautstärkepegel eingeführt (Abb. 21.2). Zu seiner Festlegung wird die Lautstärke eines beliebigen Testtones mit einem Vergleichston von 1000 Hz verglichen. Die Versuchsperson muss dazu den Schalldruckpegel des 1000-Hz-Tons so lange einregeln, bis ihr Testton und Vergleichston als gleich laut erscheinen. Der Wert des von der Versuchsperson eingestellten Schalldruckpegels des 1000-Hz-Tons dient dann als Zahlenangabe für den Lautstärkepegel des Testtones. Der Lautstärkepegel wird in phon angegeben. Alle Töne mit beispielsweise 80 phon Lautstärkepegel sind definitionsgemäß gleich laut, und zwar so laut wie ein 1000-Hz-Ton von 80 dB SPL. Kurven, die den Schalldruckpegel gleich laut empfundener Töne verschiedener Frequenz darstellen, nennt man Isophone (Abb. 21.2). Auch die Hörschwelle ist eine solche Isophone, die den Wert 4 phon besitzt. Mit zunehmendem Schalldruckpegel werden die Töne nicht nur lauter, ab bestimmten Pegeln werden sie auch unbehaglich (Unbehaglichkeitsschwelle), oder es entstehen sogar Ohrenschmerzen (Schmerzschwelle). Der für den Menschen nutzbare Hörbereich, die Hörfläche (Abb. 21.2), liegt also zwischen 4 und 130 phon einerseits und zwischen 20 Hz und 16 kHz andererseits. Die für das Verständnis von Sprache besonders wichtigen Frequenzen und Intensitäten werden als Hauptsprachbereich bezeichnet. Da der Lautstärkepegel eines Tons durch subjektive Beurteilung von Versuchspersonen festgelegt wird, kann er streng genommen nicht mit einem physikalischen Verfahren gemessen werden. Man kann aber Näherungswerte erhalten. Dazu wird ein Schallpegelmesser in seiner Empfindlichkeit so verändert, dass diese der menschlichen Hörschwelle entspricht. Das Messgerät wird dadurch für tiefe bzw. hohe Frequenzen weniger empfindlich und gibt näherungsweise den Lautstärkepegel wieder. Diese Meßwerte werden zur Unterscheidung vom Schalldruckpegel als dB(A) bezeichnet. Auf einem Kraftfahrzeugschein steht dann etwa „Fahrgeräusch 76 dB(A)“. Es gibt eine weitere Skala zur Quantifizierung von Hörempfindungen, die Lautheitsskala. Sie ist für die Medizin weniger bedeutsam, spielt dagegen bei der Lärmbeurteilung eine Rolle, Näheres auf S. 659. Im Bereich der Hörschwelle kann eine gesunde Versuchsperson zwei Töne gleicher Frequenz als unterschiedlich laut erkennen, wenn sich deren Schalldruckpegel um 3 – 5 dB unterscheidet (Unterschiedsschwelle). Bei höheren Intensitäten (40 dB über der Hörschwelle) verringert sich dieser Wert sogar auf 1 dB.

Die Tonhöhenempfindung korreliert mit der Frequenz Subjektiv erscheint uns ein Ton hoch, wenn er eine hohe Frequenz besitzt und umgekehrt. Die Grundtöne des musikalisch genutzten Bereichs liegen dabei etwa zwischen 50 Hz und 4 kHz. Musikinstrumente erzeugen

Klänge. Ihre Tonhöhe wird im Allgemeinen als ebenso hoch empfunden wie ein reiner Ton mit der gleichen Frequenz wie die Grundfrequenz des Klangs. Die Verdoppelung einer Frequenz wird als Oktave bezeichnet, die in der europäischen Musik inp12 ffiffiffi gleiche Tonschritte mit dem Frequenzverhältnis 1 : 12 2 = 1,09595 eingeteilt wird. Die Frequenzunterschiedsschwelle für die Unterscheidbarkeit zweier nacheinander dargebotener reiner Töne ist beträchtlich kleiner. Bei 1000 Hz beträgt sie etwa 0,3%, was also 3 Hz entspricht. Dennoch ist es interessant festzustellen, dass bei gleichzeitigem Erklingen zweier reiner Töne die Einzelkomponenten zu einer einheitlichen Tonhöhenempfindung zusammenfließen, wenn sie nicht wenigstens um eine Terz auseinanderliegen. Man beachte: Der Versuch gelingt nur mit reinen Tönen, nicht etwa mit den Klängen eines Klaviers. Diese Bereiche, in denen unser Ohr Teiltöne zusammenfasst, nennt man Frequenzgruppen (16). Der menschliche Hörbereich umfasst etwa 24 Frequenzgruppen. Maskierung nennt man den Umstand, dass die Hörbarkeit eines Tons oder Klangs verschlechtert wird, wenn außerhalb einer Frequenzgruppe gleichzeitig weitere Töne erklingen. Bei dem ständigen Lärmpegel, der uns umgibt, ist Maskierung von großer Bedeutung.

21.4

Schallleitung durch äußeres Ohr und Mittelohr

Bevor der Schall im Innenohr verarbeitet werden kann, muss er über das äußere Ohr und das Mittelohr an die Sinneszellen herangebracht werden. Trommelfell und Gehörknöchelchen übernehmen dabei nicht nur die Funktion einer Schallbrücke: durch ihre Konstruktionsweise vermindern sie auch Reflexionsverluste beträchtlich und verbessern so das Hörvermögen.

Die Gehörknöchelchen bilden eine Schallbrücke Wie ein Trichter fängt die Ohrmuschel den Schall auf und leitet die Schwingungen über den Gehörgang an das Trommelfell. Das Trommelfell bildet die Grenze zum Mittelohr (Abb. 21.3), das mit Luft gefüllt ist (Paukenhöhle). In der Paukenhöhle liegen die Gehörknöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel (Malleus, Incus und Stapes; Abb. 21.3). Sie sind gelenkig miteinander verbunden und bilden die sog. Gehörknöchelchenkette. Über diese Kette wird der Schall geleitet. Dazu liegt die Fußplatte des Steigbügels wie der Kolben einer Spritze beweglich in einer Öffnung (ovales Fenster) zum flüssigkeitsgefüllten Innenohr. Der Luftdruck in der Paukenhöhle wird beim Schlucken über die Tuba Eustachii an den Außendruck angeglichen. Beim Tauchen und Fliegen ist dies von besonderer Bedeutung. Gelingt der Druckausgleich nicht, etwa bei einer Erkältung, dann führt dies zu einer Auswölbung bzw. Eindellung des Trommelfells und damit zu einer Behinderung seiner Schwingungsfähigkeit. Die Folge ist Schwerhörigkeit, häufig auch Ohrenschmerzen.

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21.4 Schallleitung durch äußeres Ohr und Mittelohr Cochlea Struktur der „entrollten“ Cochlea

Steigbügel Amboss

Helikotrema

Hammer Trommelfell

Reißner-Membran siehe nächste Abb.

ovales Fenster

Basilarmembran und Corti-Organ (sog. cochleare Trennwand)

Scala tympani (Perilymphe) Scala media (Endolymphe) Scala vestibuli (Perilymphe)

rundes Fenster

Tuba Eustachii

äußeres Ohr

Mittelohr

Innenohr

Abb. 21.3 Schema von Mittelohr und Innenohr. Die Cochlea ist entrollt, um die Skalen besser darstellen zu können. Bewegungen des Steigbügels übertragen sich auf die Perilymphe der Scala vestibuli.

Das Mittelohr vermindert Reflexionsverluste Aufgabe der Gehörknöchelchen ist also die Übertragung der Schwingungsenergie des Schalls vom Trommelfell an das Innenohr. Weil Luftschall aufgenommen wird, nennt man diesen Übertragungsweg Luftleitung. Das physikalische Problem dabei ist, dass der Schall aus der Luft an die Flüssigkeiten des Innenohrs gelangen muss (Abschnitt 21.5). Der Schallwellenwiderstand (Impedanz) in Luft ist aber wesentlich geringer als in den Innenohrflüssigkeiten. Bei einem solchen Übertritt von Schall von einem Medium auf ein anderes geht, wenn Impedanzunterschiede bestehen, der größte Teil der Schallenergie durch Reflexion verloren, im konkreten Fall Mittelohr-Innenohr ca. 99 %. Eine solche Reflexion würde unser Hörvermögen beträchtlich verschlechtern. Der Trommelfell-Gehörknöchelchen-Apparat erreicht nun eine Impedanzanpassung von Luft an das Innenohr und reduziert so die Reflexionsverluste. Dadurch wird, je nach Frequenzbereich, ein Gewinn an Hörvermögen um 10 – 20 dB erzielt. Das ist fast so viel wie der Unterschied zwischen offenen und zugehaltenen Ohren! Näherungsweise kann man sagen, dass der Verlauf der menschlichen Hörschwelle durch die Übertragungseigenschaften des Mittelohrs bedingt ist. Die Impedanzanpassung wird im Wesentlichen durch zwei Mechanismen erreicht.

1. Da die Fläche vom Trommelfell erheblich größer ist als die der Stapesfußplatte, entsteht am ovalen Fenster ein höherer Druck. 2. Zusätzlich wird durch die unterschiedlichen Hebelarme der Gehörknöchelchen eine weitere Druckerhöhung am ovalen Fenster erreicht. Andererseits können die an Hammer und Steigbügel ansetzenden Mittelohrmuskeln, der M. tensor tympani und der M. stapedius, bei ihrer Kontraktion die Impedanzanpassung verschlechtern und die Schallübertragung reduzieren. Diese Muskeln kontrahieren sich reflektorisch bei lauten Schallreizen.

Aus dem Gesagten ergibt sich, dass Erkrankungen des Mittelohrs, die die Schwingungsfähigkeit der Gehörknöchelchen beeinträchtigen, zu Hörstörungen führen müssen. Man nennt sie Schallleitungsstörungen. Zu ihrer Diagnose ist auf S. 670 Weiteres gesagt. Auch die Messung der Trommelfellimpedanz und der Mittelohrreflexe gehören zum Repertoire des Hals-Nasen-Ohrenarztes. Versteifungen der Gehörknöchelchenkette oder das Fehlen der Gehörknöchelchen kann der Arzt mit großem Erfolg operativ behandeln. Außer durch Luftleitung kann Schallenergie auch an das Innenohr gelangen, wenn die Schädelknochen zu Schwingungen angeregt werden. Diesen Weg nennt man Knochenleitung. Außer beim Hören der eigenen Stimme spielt er beim normalen Hören kaum eine

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661

662

21 Hören und Sprechen: Kommunikation des Menschen

Stria vascularis Scala media

Scala vestibuli

Knochen

Ganglion Reißner-Membran spirale Tektorialmembran Lamina spiralis ossea

siehe nächste Abb.

Fasern des Hörnervs

innere äußere Haarzellen Basilarmembran

Scala tympani

Abb. 21.4 Querschnitt durch die Cochlea. Angedeutet sind die Auslenkungen von Reißner-Membran und Basilarmembran bei Beschallung. Scala vestibuli und Scala tympani enthalten Perilymphe (grün), die Scala media Endolymphe (rot).

Rolle. Für den Arzt ist die Knochenleitung als diagnostisches Hilfsmittel jedoch von großer Bedeutung (S. 670). Zunächst jedoch zur weiteren Verarbeitung der Schallreize.

21.5

eine feine Membran am runden Fenster. Alle Skalen sind mit Flüssigkeiten gefüllt, die Scala media mit Endolymphe, die beiden anderen mit Perilymphe. Die Perilymphe ist ein Ultrafiltrat des Blutplasmas. Sie ähnelt in ihrer Zusammensetzung also extrazellulären Flüssigkeiten und enthält dementsprechend viel Na+ (140 mmol/l) und wenig K +. Die Perilymphräume von Scala vestibuli und Scala tympani stehen an der Schneckenspitze, am Helikotrema, miteinander in Verbindung (Abb. 21.3). Die Endolymphe wird von der Stria vascularis, einem stoffwechselaktiven Bereich an der seitlichen Schneckenwand, sezerniert (Abb. 21.4). Für diesen Zweck existieren dort eine Reihe von K +-Carriern bzw. -Pumpen. Endolymphe enthält etwa 145 mmol/l K + und entsprechend wenig Na+ (ca. 15 mmol/l), ähnelt also einer intrazellulären Flüssigkeit. Durch die Ionenpumpen der Stria vascularis wird nicht nur das K + in den Endolymphraum sezerniert, sie laden dadurch gleichzeitig auch den Endolymphraum auf etwa + 80 mV positiv gegenüber dem Perilymphraum auf. Dieses funktionell wichtige Potenzial bezeichnet man als endolymphatisches Potenzial (Abb. 21.9). Schleifendiuretika (harntreibende Medikamente, s. S. 353) blockieren einen Ionencarrier, den Na +-K +2Cl–-Carrier, der Stria, der auch im dicken aufsteigenden Schenkel der Henle-Schleife vorkommt. Bei einer Überdosierung derartiger Schleifendiuretika bricht das endolymphatische Potenzial zusammen, und es entstehen Hörstörungen. Der Endolymphraum wird gegen die Scala vestibuli durch die Reißner-Membran begrenzt (Abb. 21.4). Diese hauchdünne Membran benötigt geradezu sensationelle Eigenschaften, denn sie muss Peri- und Endolymphe voneinander trennen, die fast diametrale Zusammensetzung und Ladung besitzen.

Funktion des Innenohres

Das Innenohr umfasst zwei Sinnesorgane, das Gleichgewichtsorgan und das Hörorgan, die Cochlea. Im Folgenden wird das cochleäre Labyrinth besprochen.

Drei schneckenförmige Kanäle bauen die Cochlea auf Das Innenohr besteht aus drei schneckenförmig gewundenen Kanälen, die mit zwei verschiedenartigen Flüssigkeiten, Perilymphe und Endolymphe, gefüllt sind. Die Basilarmembran trennt zwei der genannten Kanäle, nämlich scala media und scala tympani. Sie trägt das Corti-Organ. Letzteres enthält die als Haarzellen bezeichneten Sinneszellen. Die Haarzellen werden von Nervenfasern aus dem Ganglion spirale innerviert. Im harten Knochen des Felsenbeins liegt das innere Ohr. Es besteht aus drei schneckenförmig gewundenen Kanälen und wird deswegen auch Cochlea (Schnecke) genannt. Die drei Kanäle werden als Scala vestibuli, Scala media und Scala tympani bezeichnet (Abb. 21.3 u. 21.4). Abgeschlossen werden Scala vestibuli und Scala tympani durch die Stapesfußplatte am ovalen Fenster bzw. durch

Die Basilarmembran trägt die Sinneszellen Die Basilarmembran ist zwischen der knöchernen Lamina spiralis ossea und der lateralen Schneckenwand aufgespannt und bildet die Grenze zur Scala tympani. Sie trägt den sensorischen Apparat, das Corti-Organ (Abb. 21.4 u. 21.5). Umgeben von Stützzellen, finden sich dort zwei Arten von Rezeptorzellen, und zwar eine Reihe von inneren und drei Reihen von äußeren Haarzellen, insgesamt etwa 16 000 Sinneszellen. An ihrer freien Oberfläche tragen die Haarzellen feine Härchen, die Stereovilli, ca. 80 pro Zelle. Sie haben unterschiedliche Längen, ähnlich wie Orgelpfeifen (Abb. 21.6). Von den Spitzen der kleinen Villi ziehen zu den längeren feinste Eiweißfäden, etwa 10 nm dick, die so genannten „tip links“ (Spitzenverbindungen). Wo sie an den Stereovilli ansetzen, liegen Ionenkanäle. Hier wird bei der Transduktion der Schallreiz in ein Rezeptorpotenzial umgesetzt. Das Corti-Organ wird von der Tektorialmembran abgedeckt (Abb. 21.5). Es handelt sich um ein gallertiges Gebilde, an dessen Unterseite die Spitzen der längsten Stereovilli der äußeren Haarzellen angeheftet sind. Dies ist wichtig für die Schalltransduktion. Die Villi der inneren Haarzellen sind wahrscheinlich nicht an der Tektori-

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21.5 Funktion des Innenohres

Tektorialmembran

Stereovilli äußere innere Haarzellen Stützzellen Basilarmembran

afferente Nervenfasern

Abb. 21.5 Querschnitt durch das Corti-Organ, links im Schema, rechts in einer elektronenmikroskopischen Aufnahme (H. Spoendlin, Innsbruck).

des Ganglion spirale, etwa 30 000 bis 40 000, bilden den Hörnerv und ziehen zum Nucleus cochlearis. Auch efferente Fasern innervieren die Cochlea, die meisten enden an den äußeren Haarzellen. Wenn diese Fasern vom zentralen Nervensystem aktiviert werden, reduzieren sie die Empfindlichkeit des Ohres.

„tip links“

Der erste Schritt des Transduktionsvorgangs ist die Bildung von Wellen entlang der Basilarmembran Die Schallumsetzung im Innenohr ist ein dreistufiger Vorgang. Als Erstes lösen die Schwingungen des Stapes Schwingungen der Membranen des Innenohrs aus, die sich wellenförmig zur Schneckenspitze hin fortpflanzen (Wanderwellen). Die Amplitudenmaxima dieser Wellen liegen für jede Schallfrequenz an einem anderen Ort der Cochlea. So werden die spektralen Komponenten eines Schallreizes getrennt und an verschiedenen Orten der Cochlea repräsentiert.

200 nm

Abb. 21.6 Stereovilli und „tip links“ einer äußeren Haarzelle. Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme von D. Furness und C. Hackney, Keele.

almembran befestigt. Die Tektorialmembran und die freie Seite des Corti-Organs werden von Endolymphe umspült. Die Haarzellen sind sekundäre Sinneszellen, d. h., sie bilden selbst keine Nervenfortsätze aus. Stattdessen werden sie von den peripheren Dendriten der Bipolarzellen des Ganglion spirale innerviert. Etwa 90% der peripheren Dendriten sind myelinisiert und ziehen zu den inneren Haarzellen. Dabei ist jede innere Haarzelle mit vielen afferenten Fasern verbunden, die jeweils unverzweigt an nur einer einzigen Haarzelle enden. Die verbleibenden 10% der afferenten Fasern sind nicht myelinisiert, verzweigen sich vielfach und versorgen die äußeren Haarzellen. Ihre Funktion ist unbekannt. Die Axone der Zellen

Durch den Schallreiz gerät die Basilarmembran in Schwingung. Zunächst schwingt der Stapes. Seine Fußplatte bewegt sich dabei ein- und auswärts. Dadurch werden die Schallwellen auf die Innenohrflüssigkeiten und die Membranen der Cochlea (Basilarmembran, Reißner-Membran, Tektorialmembran) übertragen. Dies führt zu einer wellenförmigen Bewegung (Wanderwelle, Abb. 21.7) entlang der genannten Membranen, vergleichbar den Wellen entlang eines horizontal gehaltenen und an einem Ende auf und ab bewegten Seils. An sich haben die entstehenden Wellen eine winzige Amplitude. Es gibt jedoch für jede Frequenz zwischen Stapes und Helikotrema einen Ort, wo die Wellen eine wesentlich größere Amplitude erreichen. Grundlage dieses Schwingungsverhaltens ist die vom Stapes zum Helikotrema im Verhältnis 100 : 1 abnehmende Steife der Basilarmembran. Diese Steife bestimmt, zusammen mit den schwingenden Massen (von Basilarmembran etc.), an welchem Ort der Basilarmembran die Schwingungsfähigkeit für eine bestimmte Anregungsfrequenz optimal ist. Wo Anre-

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21 Hören und Sprechen: Kommunikation des Menschen Tektorialmembran

Stapes

Stereovilli äußere innere Haarzellen

Basilarmembran

rundes Fenster

afferente Hörnervfasern

Scala vestibuli Abscherung der Stereovilli

Wanderwelle

(sehr stark vergrößert)

Basilarmembran = cochleare Trennwand + Corti-Organ Scala tympani

Abb. 21.7 Die Wanderwelle in der Cochlea. Die Welle läuft entlang von Basilarmembran, Tektorialmembran und Reißner-Membran vom Steigbügel in Richtung auf die Schneckenspitze. Die Wellenamplitude ist aus didaktischen Gründen beträchtlich überhöht.

gungsfrequenz und Eigenfrequenz der Basilarmembran übereinstimmen, wird die Schwingungsamplitude am größten. Der Ort des Maximums hängt von der Schallfrequenz ab. Hohe Frequenzen bilden das Schwingungsmaximum in der Nähe des Stapes, niedrige in der Nähe des Helikotremas aus. Durch diese physikalische Eigenschaft der Basilarmembran führt also jede Frequenz an einem bestimmten Ort der Basilarmembran zu einem Schwingungsmaximum; jede Frequenz wird einem bestimmten Ort der Basilarmembran zugeordnet. Man spricht von einer Frequenz-Ortsabbildung oder der Ortstheorie. Der Schall wird so in seine spektralen Komponenten zerlegt. Der geschilderte Vorgang ist passiver Natur und findet auch noch am toten Ohr statt. An geschädigten Ohren ist aber die Frequenzselektivität schlecht, d. h., die Maxima der Wanderwellen sind nicht sehr scharf. Am intakten Ohr existiert nämlich ein im folgenden zu besprechender aktiver Mechanismus, der die Wanderwelle verstärkt und die Frequenzselektivität verbessert.

Der zweite Schritt besteht aus aktiven Längenänderungen der äußeren Haarzellen Im Bereich des Maximums der Wellenbewegung werden die Stereovilli der äußeren Haarzellen am stärksten abgebogen. Durch einen Zug an den „tip links“ werden Transduktionskanäle geöffnet, und es entstehen Rezeptorpotenziale. Die äußeren Haarzellen führen daraufhin aktive, oszillierende Längenänderungen durch und verstärken damit lokal die Wanderwelle. Erst durch diese verstärkten Schwingungen werden auch die Stereovilli der inneren Haarzellen abgebogen. Dies führt zu Rezeptorpotenzialen an den inneren Haarzellen. Diese Rezeptorpotenziale lösen eine Transmitterausschüttung aus, die den Hörnerv erregt.

Auslenkung

664

Abb. 21.8 Bewegungen der Stereovilli bei den Auf- und Abwärtsschwingungen von Basilarmembran und Tektorialmembran.

Die Wellenbewegungen führen zu gleichzeitigen Aufund Abbewegungen von Basilarmembran und Tektorialmembran. Dabei kommt es vor allem im Bereich des Maximums der Wellenbewegung zu Scherbewegungen zwischen beiden Membranen (Abb. 21.8), in deren Folge dort die Stereovilli der äußeren Haarzellen abgebogen werden. Bei einer Aufwärtsbewegung der Basilarmembran werden dadurch die „tip links“ gedehnt (man stelle sich bei Abb. 21.6 vor, die Villi würden in Richtung Buch gekippt), und Ionenkanäle (Transduktionskanäle) in der Membran der Villi öffnen sich. Bei Abwärtsbewegungen werden die Transduktionskanäle wieder geschlossen. Die äußeren Haarzellen besitzen ein normales Membranpotenzial von etwa – 70 mV. Dadurch entsteht zwischen dem + 80 mV positiv geladenen Endolymphraum und dem Zytoplasma der Haarzellen eine Potenzialdifferenz von etwa 150 mV. Da die K +-Konzentrationen in der Endolymphe und in den Haarzellen praktisch gleich sind, fließen entlang dieses Potenzialgefälles bei geöffneten Transduktionskanälen K +-Ionen in die Stereovilli und von dort weiter in die Somata der Haarzellen. Diese werden depolarisiert, es entsteht also ein Rezeptorpotenzial. Werden die Transduktionskanäle geschlossen, repolarisieren die Zellen wieder. Dazu öffnen sich an der seitlichen Zellwand gelegene spannungsabhängige bzw. calciumgesteuerte Kaliumkanäle (Abb. 21.9), und das K + wird über einen K +-Cl–-Kotransporter in bestimmte Stützzellen, die Deiters-Zellen, aufgenommen. Von dort wird es über Gap Junctions wieder der Stria vascularis zugeführt und so recycliert. Fehlt der oben genannte K +-Cl–-Kotransporter, entsteht eine Schwerhörigkeit bzw. Taubheit, die im Übrigen von einer Nierenfunktionsstörung begleitet ist.

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21.5 Funktion des Innenohres

„tip links“

Wanderwelle

+

K

1 2 Transduktionskanäle geschlossen

Transduktionskanäle offen

Länge nände rung

Energieübertragung auf innere Haarzelle

K

+ 2+

Ca

äußere Haarzellen

K

+

3 innere Haarzelle mV 2+

Ca

mV mV

mV

Afferenzen

Abb. 21.9 Gesamtschema des Transduktionsmechanismus. Die Wanderwelle führt zunächst zu einer Erregung der äußeren Haarzellen. Bei Abbiegung ihrer Stereovilli werden durch Zug an den „tip links“ Transduktionskanäle geöffnet (1). K+-Ionen fließen entlang des Potenzialgefälles vom Endolymphraum ins Innere der äußeren Haarzellen, die dadurch depolarisiert werden. Die Auslenkung der Villi in die Gegenrichtung entspannt die „tip links“ und schließt die

Die äußeren Haarzellen erfüllen nun bei der Transduktion eine Doppelfunktion: Zum einen wird an ihnen der mechanische Schallreiz transduziert. Zum anderen führt im Bereich des Schwingungsmaximums das oszillierende Membranpotenzial bei ihnen zu oszillierenden Längenänderungen. Dazu gibt es in ihrer Zellmembran spezialisierte Proteine, insbesondere ein spannungsunabhängiges Protein, Prestin genannt, dessen Konfiguration vom aktuellen Membranpotenzial abhängt. Durch Konfigurationsänderung verlängert bzw. verkürzt es die äußeren Haarzellen aktiv. Dadurch produzieren sie also zusätzliche Schwingungsenergie und verstärken die Wanderwelle (Abb. 21.9). Diese wird nur im Bereich des Maximums überhöht, dadurch wird die Frequenzselektivität verbessert.

Transduktionskanäle, die Zellen werden repolarisiert (2). Aufgrund der periodischen Veränderungen des Membranpotenzials beginnen die äußeren Haarzellen in ihrer Länge zu oszillieren und erzeugen damit mechanische Energie, die lokal die Wanderwelle verstärkt. Diese Schwingungsenergie wird an die inneren Haarzellen übertragen (3), die nun ihrerseits erregt werden und den Transmitter Glutamat ausschütten.

Im dritten Schritt werden die inneren Haarzellen indirekt erregt Die Oszillationen der äußeren Haarzellen besitzen die gleiche Frequenz wie der auslösende Schallreiz. Sie erhöhen also in einem lokal begrenzten Bereich der Basilarmembran die Schwingungsamplitude der Wanderwelle. Durch die verstärkte Schwingungsenergie werden nun auch die Stereovilli der inneren Haarzellen abgebogen. Ihre „tip links“ werden wiederum gedehnt bzw. entdehnt, und dadurch öffnen bzw. schließen sich die an den inneren Haarzellen befindlichen Transduktionskanäle. Bei geöffneten Transduktionskanälen fließen, ebenso wie bei den äußeren Haarzellen, K+-Ionen ins Zellinnere, wiederum getrieben von einem Potenzialgefälle vom positiven Endolymphraum zum negativen Inneren (– 40 mV) der inneren Haarzellen. Eine Depolarisation der inneren Haarzellen führt aber nicht zu aktiven Längenänderungen, sondern über einen Ca2+-Einstrom zu einer Ausschüttung von Transmitter, nämlich Glutamat, am basalen Pol der Haarzelle. Dadurch werden die affe-

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21 Hören und Sprechen: Kommunikation des Menschen

Trotz der geschilderten Verstärkung sind die Schwingungsamplituden der Basilarmembran winzig. Bei der Hörschwelle betragen die Auslenkungen 10–10 m, d. h., sie entsprechen etwa dem mittleren Durchmesser eines Wasserstoffatoms! Das Ohr ist also unvorstellbar empfindlich, es ist das empfindlichste Sinnesorgan des Menschen.

Die geschilderten aktiven Schwingungen im Innenohr führen auch zu einer Abstrahlung von Schallenergie nach außen. Wenige Millisekunden nach einem Schallreiz kann man vor dem Trommelfell einen aus dem Ohr kommenden Schall messen, die sog. evozierten otoakustischen Emissionen. Bei Innenohrstörungen fehlen sie. Deswegen hat sich die Messung von otoakustischen Emissionen zu einem wichtigen klinischen Test entwickelt, besonders bei Säuglingen, die keine Angaben über ihre Hörempfindungen machen können. In pathologischen Fällen kommen auch spontane otoakustische Emissionen vor. Dabei ist der geschilderte Verstärker der äußeren Haarzellen spontan aktiv, und es kommt immer Schall aus dem betroffenen Ohr, der sogar für andere hörbar sein kann. Umgekehrt beruhen viele Innenohrschwerhörigkeiten auf dem Ausfall des Verstärkermechanismus. Es resultieren dabei Hörverluste von 30 – 50 dB, auch das Frequenzauflösungsvermögen ist verschlechtert (Abb. 21.10 B und S. 670). Diese Verschlechterung der Frequenzdiskrimination hat zur Folge, dass bei Innenohrschwerhörigkeit der Schaden durch eine Erhöhung des Schalldrucks (Hörgerät) nur unbefriedigend kompensiert werden kann.

Der Hörnerv verwendet für die Schallfrequenz zwei Kodierungsstrategien: Ortsanalyse und Periodizitätsanalyse Auf zwei Weisen meldet der Hörnerv die Frequenzzusammensetzung eines Schallreizes an das Gehirn. Zum einen werden seine spektralen Komponenten durch die Aktivierung bestimmter Nervenfasern repräsentiert (Ortsprinzip). Zum anderen sind die Aktionspotenziale an die zeitlichen Strukturen (Periode) der Schallschwingungen gekoppelt, und das Gehirn wertet diese Zeitstruktur aus (Periodizitätsanalyse).

100 90 80 70 60 50 40 6

10

20

30

Frequenz (kHz)

40

charakteristische Frequenz (CF)

A gesundes Ohr

100

Schalldruckpegel (dB SPL)

renten Nervenfasern erregt, es werden Aktionspotenziale ausgelöst. Die präsynaptischen Strukturen an den Haarzellen der Cochlea (und des Vestibularraumes) bilden sog. Bandsynapsen (s. Abb. 21.9, 22.2 und 22.3). Es handelt sich dabei offenbar um Spezialisierungen, die schon unter Ruhebedingungen einen Transmitterfluss ermöglichen und damit im afferenten Nerv Spontanaktivität erzeugen. Der Transduktionsprozess im Innenohr ist somit ein dreistufiger Prozess: 1. Zunächst bildet sich durch die passiven Eigenschaften der Basilarmembran eine Wanderwelle aus. 2. Im Bereich des Wanderwellenmaximums werden die äußeren Haarzellen erregt und oszillieren aktiv. Dies verstärkt lokal die Wanderwelle, so dass nun auch 3. die inneren Haarzellen erregt werden.

Schalldruckpegel (dB SPL)

666

90 80 70

Verlust

60 50 40 6

10

B vergiftete Cochlea

20

Frequenz (kHz)

30

40

Abb. 21.10 Neuronale Antworten einer Hörnervenfaser. Das gesunde Ohr (A) einer Katze wird mit Tönen unterschiedlicher Frequenz und Intensität beschallt. Die Strichlänge gibt die Zahl der Aktionspotenziale pro Schallreiz wieder. Im unteren Intensitätsbereich wird der Ton nicht beantwortet, die Registrierung zeigt Spontanaktivität. Bei der charakteristischen Frequenz (CF) genügt schon ein geringer Schalldruckpegel, um die Faser zu aktivieren. In B ist dieselbe Faser gezeigt, nachdem die Cochlea mit einem ototoxischen Medikament vergiftet wurde. Der cochleäre Verstärker geht verloren, die Faser verliert ihre Empfindlichkeit und ihre Frequenzselektivität. Der Verlust in B ist durch die gestrichelte Linie angedeutet. Die übrig bleibenden neuronalen Antworten stammen wahrscheinlich von einer direkten Anregung der inneren Haarzellen bei hohen Schalldrucken (nach [20]).

Nach dem Ortsprinzip bildet jede Frequenz an einem anderen Ort der Basilarmembran ihr Schwingungsmaximum aus (Frequenz-Ortsabbildung). Dementsprechend werden die inneren Haarzellen an den zugehörigen Frequenzorten erregt und erregen ihrerseits die afferenten Nervenfasern. Jeder inneren Haarzelle, und somit jeder der von ihr ausgehenden Nervenfasern, ist also eine bestimmte optimale Reizfrequenz zugeordnet, die so genannte charakteristische Frequenz. Für diese Frequenz ist eine Nervenfaser am empfindlichsten (Abb. 21.10). Je weiter eine Reizfrequenz von der charakteristischen Frequenz abweicht, desto höhere Schalldrucke werden benötigt, um die Nervenfasern zu aktivieren. Es wird also eine

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21.5 Funktion des Innenohres

Aktionspotenziale

Schallreiz 10ms

Abb. 21.11 Phasengekoppelte Entladungen in einer Nervenfaser des Hörnervs. Aktionspotenziale treten immer zu bestimmten Zeiten des Schallreizes auf oder fehlen ganz. Bei hoher Schallintensität können gelegentlich auch mehrere Aktionspotenziale auftreten (ganz links). Die Zeitabstände zwischen den einzelnen Aktionspotenzialen betragen in der Regel ganzzahlige Vielfache der Schallperiode.

Ortsanalyse durchgeführt, die im Prinzip eine Spektralanalyse ist. Jede spektrale Komponente eines Schallreizes wird so bestimmten afferenten Fasern zugeordnet. Das Gehirn vermag festzustellen, welche Fasern aktiv sind, und dies als Tonhöhenempfindung zu interpretieren. Die Abb. 21.10 zeigt die neuronalen Antworten (Abstimmkurve) einer Einzelfaser des Hörnervs einer Katze auf Schallreize verschiedener Frequenz und Intensität. Die charakteristische Frequenz der Faser liegt bei ca. 25 kHz (im menschlichen Ultraschallbereich). Die Strichlänge symbolisiert die Zahl der ausgelösten Aktionspotenziale. Zusätzlich zeigt die Abbildung, wie sich die neuronalen Antworten derselben Faser ändern, wenn man den Verstärkermechanismus der äußeren Haarzellen ausschaltet. Die Faser wird weniger empfindlich und verliert an Frequenzselektivität – typische Eigenschaften eines geschädigten Innenohrs. Derartige Schäden kommen bei Vergiftungen mit ototoxischen Substanzen (Aminoglykosidantibiotika, Schleifendiuretika, Schalltraumata) zustande. Zur Erzeugung einer Tonhöhenempfindung nutzt das Gehrin neben der Ortsanalyse noch eine zweite Eigenschaft der im Hörnerv übertragenen Information aus, nämlich das zeitliche Muster der Aktionspotenziale. Es wurde schon gesagt, dass die Transduktionskanäle nur bei einer Aufwärtsbewegung der Basilarmembran geöffnet werden. Dementsprechend erfolgt auch die Transmitterausschüttung vorwiegend in dieser Phase der Bewegung, und nach einer Verzögerung aufgrund der Übertragung an der Synapse entstehen Aktionspotenziale. Die Zeitpunkte der Aktionspotenziale stehen also in bestimmter Beziehung zu den Schwingungen des Schallreizes. Man spricht von phasengekoppelten Entladungen (Abb. 21.11). Das Gehirn wertet die Zeitstruktur in Serien von Aktionspotenzialen aus und berechnet daraus die Schallfrequenz. Dieser Mechanismus arbeitet bis mindestens

5 kHz und wird als Periodizitätsanalyse bezeichnet. Er spielt eine große Rolle für die Bildung von Tonhöhenempfindungen. Nur scheinbar wird dieser Mechanismus durch die Refraktärzeit der Nervenfasern begrenzt. Es muss nämlich nicht in jeder Faser zu jeder Schallschwingung ein Aktionspotenzial ausgelöst werden. Es genügt, wenn die Aktionspotenziale, falls überhaupt welche auftreten, in bestimmten zeitlichen Intervallen oder einem Vielfachen dieser Intervalle auftreten (Abb. 21.11). Aus der Aktivität vieler paralleler Fasern kann das Gehirn dann die Schallfrequenz ausrechnen. Von besonderer Bedeutung ist dies bei elektronischen Hörprothesen, den so genannten Cochlea-Implantaten. Ihre Erfolge beruhen in erster Linie auf der Periodizitätsanalyse der elektrischen Reize. Cochlea-Implantate werden bei vollertaubten Patienten angewandt. Es handelt sich um elektrische Reizgeräte, die man in das Innenohr dieser Patienten einpflanzt. Von außen wird über ein induktives System ein elektrisches Reizmuster erzeugt, mit dem verschiedene Nervenfasergruppen des Hörnervs gereizt werden. Dieses Reizmuster ist den Folgen von Aktionspotenzialen angenähert, die im gesunden Ohr durch Schallreize ausgelöst werden. Die Patienten haben bei dieser elektrischen Reizung nicht nur Hörempfindungen, sie können sogar wieder Sprache verstehen. Der künstlich erzeugte neuronale Kode bildet also die Grundlage einer besonders hohen kognitiven Leistung! Die Intensität eines Schalls wird in den Hörnervenfasern durch die Häufigkeit der Aktionspotenziale kodiert. Gleichzeitig nimmt mit zunehmendem Schalldruck die Zahl der aktiven Fasern zu, da bei höherem Schalldruck auch Fasern mit anderen charakteristischen Frequenzen erregt werden.

Haarzellen und Hörnerv produzieren klinisch messbare Reizfolgepotenziale Anteile der Rezeptorpotenziale der Haarzellen kann man am runden Fenster als Mikrophonpotenziale messen; synchrone Aktivität der Nervenfasern führt zu messbaren Summenaktionspotenzialen. Bei mittleren und hohen Schallintensitäten werden immer viele Rezeptorzellen und viele afferente Nervenfasern aktiviert. Es nimmt nicht wunder, dass man die dabei entstehenden Potenziale auch messen kann. Der Kliniker kann mit feinen Nadelelektroden das Trommelfell durchstechen und die Spitze am Promontorium neben dem runden Fenster aufsetzen. Bei einem Schallreiz kann man damit zunächst die extrazellulär ableitbaren Anteile der Rezeptorpotenziale als so genannte Mikrophonpotenziale registrieren (Abb. 21.12). Diese Potenziale haben ihren Namen erhalten, weil sie den Schallreiz wie ein Mikrophon wiedergeben. Spricht man in ein Ohr, registriert die Mikrophonpotenziale mit einer Elektrode am runden Fenster und gibt diese nach Verstärkung auf einen Lautsprecher, so kann man das Gesprochene ohne weiteres verstehen.

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667

668

21 Hören und Sprechen: Kommunikation des Menschen

Summenaktionspotenzial 100 mV

Potenzialableitung am runden Fenster

primäre Hörrinde Mikrophonpotenzial

1 ms

Klick

Schallreiz

Colliculus superior Colliculus inferior

Corpus geniculatum mediale Nucleus lemnisci lateralis

Abb. 21.12 Mikrophonpotenzial und Summenaktionspotenzial nach Beschallung mit einem Klick, abgeleitet am runden Fenster.

Besteht der Schallreiz aus einem kurzen Impuls, einem Klick (Abb. 21.12), so werden viele Nervenfasern synchron erregt. Ihre Aktionspotenziale summieren sich, weil sie gleichzeitig auftreten, zu einem Summenaktionspotenzial. Es folgt mit kurzer Latenz dem Mikrophonpotenzial und ist ebenfalls registrierbar. Beide Potenziale werden vom Arzt diagnostisch genutzt.

21.6

Zentralnervöse Verarbeitung von Schallreizen

Erst das Gehirn analysiert die Aktivität des Hörnervs, seine Auswertungsstrategien führen zur Mustererkennung und zum Sprachverständnis. Die zentrale Hörbahn ist dazu aus Kernen spezifischer Funktionen aufgebaut, die eine Kette von 5 – 6 Neuronen bilden.

Die Hörbahn wird zwischen Cochlea und Kortex durch fünf bzw. sechs Neurone aufgebaut Genau genommen ist der Schallreiz im Hörnerv höchst einfach kodiert. Die im Schallreiz enthaltene Information wird nur umkodiert, aber nicht näher ausgewertet. Deswegen kann voll ertaubten Patienten durch eine Implantation eines Cochlea-Implantats, das die Fasern des Hörnervs elektrisch reizt, geholfen werden, und ein Sprachverständnis wird wieder möglich. Erst zentrale Teile des auditorischen Systems nämlich analysieren die neuronale Aktivität im Hörnerv genauer. Abb. 21.13 zeigt schematisch die aufsteigende zentrale Hörbahn, die mit dem Nucleus cochlearis beginnt. Nur die von einer Seite ausgehenden Bahnen sind eingezeichnet. Man sieht, dass es gekreuzte und ungekreuzte zentrale Fasern gibt und

Oliva superior: Nucleus lateralis Nucleus medialis

Cochlea

Nucleus cochlearis dorsalis Nucleus cochlearis ventralis Nucleus corporis trapezoidei

Abb. 21.13 Schema der Hörbahn. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurden nur die von einer Seite ausgehenden Bahnen eingezeichnet. Siehe jedoch die Andeutung von binauralen Verschaltungen in der oberen Olive.

dass von der Cochlea zur primären Hörrinde in der Heschl-Windung Ketten von fünf bis sechs Neuronen liegen. Auf diesem Weg bleiben die Fasern cochleotop geordnet, d. h., im gesamten Verlauf der Hörbahn werden Cochlea-Orte geordnet repräsentiert. In der oberen Olive enden gekreuzte und ungekreuzte Fasern. Die obere Olive enthält also Eingänge von beiden Ohren (binaurale Eingänge). Dem primären auditorischen Kortex (A1) nachgeordnet sind sekundäre auditorische Areale (A2) und Assoziationscortices (s. Kap. 28.3). Auch kortikale Areale, die an Sprachanalyse bzw. Sprachproduktion beteiligt sind (Broca, Wernicke, gyrus angularis), erhalten Eingänge von A1 bzw. A2 (s. Kap. 28.9). Neben den in Abb. 21.13 gezeigten ascendierenden Bahnen, gibt es im auditorischen System auch descendierende (kortikofugale) Systeme. Sie nehmen im auditorischen Kortex ihren Ursprung und beeinflussen alle Kerne der Hörbahn. Dadurch wird eine Kontrolle über den ascendierenden Informationsfluss ausgeübt.

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21.7 Hörschäden und Hörprüfungen

Aufgaben des zentralen auditorischen Systems: Musteranalyse, räumliche Lokalisation und Rauschunterdrückung Die zentrale Musteranalyse dient der Spracherkennung oder der Erkennung anderer Schalle. In der aufsteigenden Hörbahn werden dazu in immer steigendem Maße bestimmte Charakteristika des Schallreizes extrahiert, bis eine Schallerkennung möglich ist. Auch die Lokalisation von Schallquellen gelingt mit Hilfe zentraler Rechenprozesse, ebenso die Verbesserung der Hörbarkeit von Nutzsignalen in Lärm. Zum Sprachverständnis oder auch nur zum Erkennen bestimmter Geräusche müssen die im Schallreiz enthaltenen Charakteristika extrahiert werden. Dies geschieht durch einen mehrstufigen Verarbeitungsprozess in der zentralen Hörbahn. Im ventralen Nucleus cochlearis sind viele neuronale Aktivitätsmuster noch denen der primären Hörnervenfasern sehr ähnlich (deswegen als „primary like“ bezeichnet). Aber schon im dorsalen Kern befinden sich neuronale Netzwerke, die bestimmte Eigenschaften des Schallreizes herausrechnen, etwa Anfang oder Ende eines Reizes, Frequenzveränderungen, oder die über laterale Inhibition die spektralen Einzelkomponenten betonen. Die Ausgänge dieser Neurone gelangen direkt oder indirekt in den Colliculus inferior, der aus mehreren Schichten aufgebaut ist. Diese Schichten repräsentieren Frequenzbereiche. Andererseits werden hier aber auch zeitliche Strukturen eines Schallreizes ausgewertet und verarbeitet, also Auswertungsschritte zur Periodizitätsanalyse durchgeführt. Schließlich konvergieren auch somatosensorische Eingänge auf Zellen des Colliculus inferior. Der Kern dient damit der Koordination verschiedener Sinnessysteme. In ähnlicher Weise dienen die in Abb. 21.13 dargestellten Verbindungen vom Colliculus inferior zum Colliculus superior der koordinierten Abbildung des visuellen, taktilen und akustischen Raumes. Im frühen Kindesalter lernen wir, diese verschiedenen Raumabbildungen miteinander zur Deckung zu bringen, so dass etwa ein Wecker genau dort gefunden wird, wo der akustische Eindruck ihn lokalisiert (s. u.). Über das Corpus geniculatum mediale im Thalamus werden die vorverarbeiteten Meldungen an die Hörrinde weitergegeben, die schließlich die endgültige Mustererkennung vornimmt. Die kortikalen Neurone zeigen sehr unterschiedliches Verhalten und reagieren oft nur auf komplexe Schallmuster wie Frequenz- oder Intensitätsveränderungen, bestimmte spektrale Zusammensetzungen der Schallreize oder Ähnliches. Diese Komponenten eines Schallreizes sind insbesondere in arteigenen Lauten oder in der Sprache enthalten. So reagieren kortikale Neurone auch häufig nur auf solche Lautgebilde, Sprachelemente usw., die freilich erst im Verein mit weiteren kortikalen Feldern interpretiert werden können. Über zentrale Sprachverarbeitung s. S. 827 f. Auch die Richtung einer Schallquelle kann nur mit Hilfe zentraler Rechenvorgänge bestimmt werden. Dazu werden die von den beiden Ohren in der oberen Olive einlaufenden Serien von Aktionspotenzialen verglichen. An dem einer Schallquelle näheren Ohr kommt der Schall wegen der endlichen Schallgeschwindigkeit immer etwas

früher und etwas lauter an als am Gegenohr. Die Neurone der medialen bzw. lateralen oberen Olive werten mit Hilfe ihrer binauralen Eingänge diese winzigen Intensitätsund Laufzeitunterschiede aus. Dabei können noch Intensitätsunterschiede von nur 1 dB und Laufzeitunterschiede von nur 3 · 10–5 s erkannt werden. Dank dieser hohen Empfindlichkeit gelingt es, die Abweichung einer Schallquelle von der Mittellinie bereits ab 38 festzustellen. Eine zusätzliche Rolle für das räumliche Hören spielt die Ohrmuschel, mit deren Hilfe wir oben und unten sowie vorne und hinten unterscheiden können, insbesondere im Bereich der Mittenebene, wo Laufzeit- und Intensitätsunterschiede gleich null sind. Dies beruht darauf, dass durch die Falten der Ohrmuschel verschiedene Schallfrequenzen unterschiedlich reflektiert bzw. durch Resonanz verstärkt werden. Zentrale Neurone werten diese minimalen Unterschiede aus. Die Information über die räumliche Lokalisation einer Schallquelle wird in der Hörbahn an den Colliculus superior und den Kortex weitergegeben. Wie schon angedeutet, sind im Colliculus superior Karten des Hörraumes und des Sehraumes etabliert. Das binaurale Hören hat aber noch eine weitere sehr wichtige Bedeutung: Die zwischen beiden Ohren bestehenden interauralen Zeit- und Intensitätsdifferenzen von Schallsignalen verschiedener Ursprungsorte werden vom Gehirn auch dazu ausgenutzt, die Hörbarkeit einer Schallquelle bei Lärm (z. B. beim Gespräch in einer Kneipe) zu verbessern. Durch Rechenvorgänge wird die Stimme des augenblicklich interessierenden Sprechers herausgehoben, was die Hörbarkeit der Signale um bis zu 15 dB verbessern kann (so genannter Cocktail-Party-Effekt). Bei Schwerhörigen ist dieser Prozess gestört – oft die erste Klage des Betroffenen. Mit nur einem funktionsfähigen Ohr kann der Prozess nicht ablaufen, was man durch Zuhalten eines Ohres leicht überprüfen kann.

21.7

Hörschäden und Hörprüfungen

Zivilisationseinflüsse und davon unabhängige Erkrankungen können das Gehör schädigen. Die Schwellenaudiometrie prüft die Hörschwellen und differenziert zwischen Mittelohrschäden einerseits und Innenohrschäden und retrocochleären Schäden andererseits. Die Sprachaudiometrie erfasst die Gesamtleistung des Hörsystems, während die Computeraudiometrie schallevozierte Potenziale darstellt und zentrale (retrocochleäre) Störungen genauer differenziert.

Schwerhörigkeit kann ihre Ursache im Mittelohr oder im Innenohr haben Etwa 11 Millionen Menschen in Deutschland sind von Hörschäden betroffen. Die Zahl dürfte steigen, denn insbesondere viele Jugendliche malträtieren ihr Gehör durch Rockkonzerte und Walkmen. Langdauernder Schall von über 90 dB (A) führt im Laufe der Zeit zu Hörschäden, die man als Schalltraumen bezeichnet. Anfänglich erholt sich das Hörvermögen meist wieder (vorübergehender Schwellenanstieg, so genannter

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21 Hören und Sprechen: Kommunikation des Menschen

Hörverlust

8000 Hz

2000

4000

1000

0 20

Luftleitung

0

dB HV

20 Luftleitung

8000 Hz

4000

2000

1000

500

0 20

40

250

–20

Knochenleitung

40

Hörverlust

Knochenleitung

100

60

4000

8000 Hz

2000

500

1000

–20

250

60

60

125

Knalltrauma: Innenohrschaden

125

Otosklerose: Mittelohrschaden

40

80

500

–20

Knochenleitung

0 20

125

60

8000 Hz

4000

2000

500

250

125

1000

–20

250

Tragen von Gehörschutzstöpseln

normal 60

670

60 Luftleitung

60 80 80 100 dB HV

Abb. 21.14 Schwellenaudiogramme von normalen und geschädigten Ohren. Bei Innenohrschäden (z. B. Knalltrauma) sind die pathologischen Messwerte für Luft- und Knochenleitung gleich. Bei reinen Schallleitungsstörungen (z. B. Otoskle-

„temporary threshold shift“, TTS). Später kommt es aber zu bleibenden Schäden („permanent threshold shift“, PTS). Ein geschädigtes Ohr regeneriert also nicht! Besonders traumatisch wirksam sind laute Impulsgeräusche (z. B. Schlagzeug, Hammerschläge), die oft schon nach wenigen Minuten bleibende Schäden verursachen können. Es kommt dabei zu Zerstörungen der Villi der äußeren Haarzellen, zu Haarzellverlusten, zu Störungen der Mikrozirkulation im Innenohr und zu einer Schädigung der afferenten Nervenendigungen unter den inneren Haarzellen durch die hohe Transmitterausschüttung (Exzitotoxizität, S. 93). Es resultiert ein Innenohrschaden. Derartige Innenohrschäden können also durch Schalltraumata entstehen. Aber auch medikamente wie Aminoglykosid-Antibiotika oder genetische Faktoren können die Ursache sein. Die sogenannte Altersschwerhörigkeit (Presbyacusis) ist teilweise ein Altersleiden, bedingt durch Verlust von Haarzellen im hohen Frequenzbereich. Zum anderen ist sie aber ein zivilisationsbedingter Lärmschaden! Mittelohrschäden (Schallleitungsschäden) beziehen sich auf Trommelfell und Gehörknöchelchenkette. Die Schallübertragung ist entsprechend verschlechtert, z. B. bei Mittelohrentzündungen. Aber auch die mangelhafte Belüftung der Paukenhöhle durch Störungen der Tubenventilation (z. B. bei Schnupfen) verschlechtern die Schallleitung. Ein besonders krasser Fall für eine Schallleitungsstörung ist die Otosklerose. Durch Umbauprozesse des Knochens im Bereich des ovalen Fensters kommet es zu einer Fixierung der Stapesfußplatte. Damit

100 dB HV

rose) ist nur die Luftleitung verschlechtert. Rechts oben ist die Schutzwirkung von Gehörschutzstöpseln bei einer gesunden Person gezeigt. HV = Hörverlust.

kommt die Schallübertragung praktisch völlig zum Erliegen. Das Leiden ist otochirurgisch aber gut zu therapieren. Der Stapes wird entfernt und durch eine Prothese ersetzt. Retrocochleäre Schäden haben als Ursache krankhafte Veränderungen der zentralen Hörbahn.

Audiometrische Verfahren messen die Hörfähigkeit Der wichtigste Funktionstest für das Gehör ist die Schwellenaudiometrie. Man prüft jedes Ohr einzeln mit Kopfhörern, also die Luftleitung. Der Audiometrist stellt denjenigen Schalldruckpegel ein, den der Patient eben noch hört. Aus praktischen Gründen ist auf den Audiogrammformularen (Abb. 21.14) die normale Hörschwelle als gerade Linie (0 dB) dargestellt. Nach unten wird aufgetragen, um wie viel man den Schalldruck gegenüber der Norm erhöhen muss, bis der Patient den Ton hört. Dies ergibt den Hörverlust. Die Knochenleitung wird ähnlich geprüft, man setzt dafür statt des Kopfhörers einen Schwingkörper auf das Mastoid des Patienten. Die Prüfung von Luft- und Knochenleitung erlaubt eine Unterscheidung von Mittelohrschäden (Schallleitungsstörungen) einerseits und Innenohrschäden (Schallempfindungsstörungen) und retrocochleären Schäden andererseits. Bei Innenohr- und retrocochleären Schäden sind die Messwerte von Luft- und Knochenleitung im Audiogramm gleich, denn der Transduktionsprozess im Innenohr bzw. die zentrale Verarbeitung sind gestört. Dies ist unabhängig davon, auf

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21.7 Hörschäden und Hörprüfungen welchem Weg der Schall an die Sinneszellen gelangt. Bei Mittelohrschäden hingegen ist nur die Schallübertragung durch das Mittelohr betroffen, also sind nur die Messwerte für die Luftleitung verschlechtert (Abb. 22.14). Ein zusätzliches Symptom bei Innenohrschäden ist das so genannte Recruitment. Es besteht in einem unangenehm schnellen Anstieg der Lautheitsempfindung, so dass die Patienten laute Geräusche als quälend laut empfinden. Häufig sind Innenohrschäden auch von einem Tinnitus begleitet. Es handelt sich dabei um störende Empfindungen hoher Töne, für die sich objektiv keine Korrelate finden. Die genauen Ursachen sind unklar. Offenbar ist es aber so, dass der Tinnitus zunächst auf einen Innenohrschaden, z. B. Explosionstrauma, zurückgeht, durch den initial pathologische neuronale Aktivität entsteht. Durch eine Art Gedächtnisprozess werden daraufhin aber Neuronengruppen im zentralen Hörsystem daueraktiv. In ähnlicher Weise wie beim so genannten Phantomschmerz, bei dem Patienten Schmerzen in einem amputierten, also nicht mehr vorhandenen Glied empfinden, wird die geschilderte neuronale Aktivität im zentralen Hörsystem als Schallphänomen empfunden.

Eine Stimmgabel genügt, um sich über die Art einer Hörstörung zu orientieren. Beim Rinne-Versuch setzt man den Fuß der schwingenden Stimmgabel auf das Mastoid einer Seite. Sobald der Patient den Ton nicht mehr hört, hält man die Zinken der Stimmgabel vor das Ohr. Der Gesunde, aber auch der Innenohrgeschädigte hören den Ton nun wieder (Rinne positiv), Patienten mit Schalleitungsstörungen jedoch nicht (Rinne negativ). Dieser Test vergleicht Knochen- und Luftleitung, Letztere ist bei Schallleitungsstörungen verschlechtert. Beim Weber-Versuch setzt man den Fuß der Stimmgabel auf die Mitte des Schädels. Bei einem Mittelohrschaden lateralisiert der Patient den Ton auf das kranke (schwerhörige) Ohr, er glaubt also, der Ton käme von dieser Seite. Patienten mit Innenohrschaden hören den Ton auf der gesunden Seite. Die Erklärung für den Fall des Innenohrschadens liegt auf der Hand: Auf der geschädigten Seite wird der Ton leiser empfunden, das Gehirn interpretiert dies als Schallrichtung. Beim Schallleitungsschaden ist nicht nur der Schalltransport von außen nach innen, sondern auch der Schallabfluss von innen nach außen reduziert. Also erhalten die Sinneszellen im Falle eines Mittelohrschadens über Knochenleitung einen größeren Schallreiz. Außerdem sind auf der geschädigten Seite die Haarzellen auf einen geringeren Lärmpegel adaptiert, denn über das Mittelohr wird Störschall von außen schlechter transportiert. Die Rezeptoren sind also empfindlicher, die Lautstärkeempfindung nimmt zu, was wiederum als Richtungseindruck interpretiert wird. Neben den Hörschwellen interessiert den Kliniker (und den Patienten erst recht) auch die Gesamtleistung des auditorischen Systems. Besonders aufschlussreich ist dazu die Sprachaudiometrie. Dabei bietet man dem Patienten über ein Tonband genormte Worte an und prüft deren Verständnis. Schließlich besteht die Möglichkeit, mit Hilfe des Elektroenzephalogramms (EEG, S. 836 f.) die durch Schallreize ausgelöste Summenaktivität der zentralen

+ Schallreiz kurzer Ton: 70 dB SPL, 4 kHz

– Differenzverstärker

1000 Messungen

1. Messung 2. Messung 3. Messung 4. Messung

1000. Messung Auswertung 1000

å1

I II

III IV

V VI VII

1 mV

10 ms

Abb 21.15 Registrierung akustisch evozierter Potenziale. Das Elektroenzephalogramm wird zwischen Vertex und Ohrläppchen abgeleitet. Die Antworten auf 1000 Reize werden mit einem Computer summiert. Dabei mittelt sich die spontane EEG-Aktivität (schwarz) gegen 0, wogegen die auf jeden Reiz gleichen evozierten Potenziale (rot) sich addieren, dadurch größer und nach genügend vielen Summationsschritten sichtbar werden.

Hörbahn, so genannte evozierte Potenziale, abzuleiten. Die durch einen einzigen Reiz ausgelösten Potenziale sind aber so klein, dass man sie im EEG nicht sehen kann. Mit Hilfe eines Computers kann man jedoch durch Summierung und Mittelung zahlreicher evozierter Einzelpotenziale (z. B. 1000) die spezifische Reizantwort von Hörnerv und Hörbahn aus der unspezifischen Hirnaktivität des EEG herausheben (Abb. 21.15). Von den dabei sichtbar werdenden zahlreichen Potenzialschwankungen werden die im Bereich von 2 – 12 Millisekunden nach dem Reiz auftretenden Potenziale dem Hörnerv und den auditorischen Kernen bzw. Leitungsbahnen des Hirnstamms zugeordnet. Die Welle I z. B. ist identisch mit dem Summenaktionspotenzial des Hörnervs. Die evozierten Potenziale werden zur Diagnostik retrocochleärer Hörstörungen herangezogen, wobei als Charakteristikum Formveränderungen und Latenzverschiebungen dienen. Das Verfahren nennt man

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671

672

21 Hören und Sprechen: Kommunikation des Menschen „evoked response audiometry“ ERA (auch BERA). Allgemein versteht man unter evozierten Potenzialen gemittelte lokale EEG-Antworten auf wiederholte, sensorische Reize. Sie lassen sich z. B. durch Lichtreize oder Schmerzreize auslösen und heißen dann optisch evozierte Potenziale oder somatosensorisch evozierte Potenziale. Die einzelnen Wellen können je nach Ursprungsort unterschiedliche Latenzen haben, bis zu 300 ms, wenn sie aus kortikalen Bereichen stammen. Sie sind Ausdruck von zentralen Verarbeitungsprozessen und können auch bei Bewusstlosen, Säuglingen oder nicht kooperationswilligen Patienten registriert werden. Auch die bereits erwähnten Verfahren der Messung otoakustischer Emissionen (OAE) oder der Trommelfellimpedanz werden zur Funktionsprüfung des Ohres herangezogen.

Stimmbänder

Schildknorpel

Stimmritze (Glottis)

Drehachse

M. vocalis M. cricoarytaenoideus lateralis

Stellknorpel (Ary-Knorpel) Mm. arytaenoidei Mm. cricoarytaenoidei posteriores („Postici“) Kippachse

Mm. cricothyroidei

Ringknorpel

Hörgeräte und Cochlea-Implantate restituieren verlorengegangenes Sprachverständnis Hörstörungen sind zwar nicht tödlich, sie verringern die Lebensqualität aber dramatisch. Sofern Hörschäden nicht durch Mittelohrsanierung bzw. Mittelohrchirurgie zu behandeln sind, sind Hörgeräte das erste Mittel der Wahl. Sie verstärken den Schall und erregen so das Innenohr trotz Vorliegen von Hörverlusten. Bei weitgehender Ertaubung muss jedoch zum Cochlea-Implantat gegriffen werden. Hierbei wird ein Satz von Reizelektroden in das Innenohr implantiert. Diese Elektroden werden von einem subkutan implantierten Empfänger angesteuert, der wiederum umgeformte Sprachsignale von einem außerhalb des Körpers getragenen Schallprozessor erhält. Über diese Elektroden werden die verbleibenden Hörnervenfasern elektrisch gereizt. Die Patienten können in den meisten Fällen wieder lautsprachlich kommunizieren, ja sogar telefonieren.

21.8

Der periphere Sprechapparat

An der Formung von Sprache ist das zentrale Nervensystem und der periphere Sprechapparat beteiligt. Der Sprechapparat besteht aus dem Kehlkopf und dem Mund-Rachen-Raum. Im Kehlkopf wird durch Schwingungen der Stimmbänder die Stimme erzeugt (Phonation).

Hören und Sprechen bilden eine funktionelle Einheit Ohne Gehör würden wir Sprache nicht verstehen, noch sie je erlernen. Ohne Kontrolle des Gehörs könnten wir sie auch nicht fehlerfrei produzieren. Im Kortex bilden die auditorischen Zentren mit den Sprachzentren eine funktionelle Einheit, die sich beim Menschen während der letzten 300 000 Jahre entwickelt hat. Die Sprachsignale enthalten physikalische Charakteristika, denen wir eine bestimmte inhaltliche Bedeutung zugeordnet haben. Diesen „Kode“ können dann die Mit-

Trachea

Abb. 21.16 Kehlkopfmuskulatur und ihre Funktion. Die Stimmbänder setzen an Fortsätzen der Aryknorpel an, die sich um eine Längsachse drehen können. Auch die Kippachse des Schildknorpels ist angedeutet.

glieder einer Sprachgemeinschaft benutzen, um Nachrichten auszutauschen. Die genannten Charakteristika werden an zwei verschiedenen Orten im Sprechapparat weitgehend unabhängig voneinander produziert. Es handelt sich zum einen um die Stimme, die im Kehlkopf gebildet wird. Zum anderen werden im so genannten Ansatzrohr, dem MundRachen-Raum, durch Resonanz Frequenzanteile hervorgehoben, die als Formanten die Grundlage von erkennbaren Sprachlauten (Phonemen) bilden.

Die Stimme entsteht durch BernoulliSchwingungen der Stimmbänder Den schematischen Aufbau des Kehlkopfes zeigt die Abb. 21.16. Er liegt am oberen Ende der Trachea und ist aus Knorpeln aufgebaut, die gegeneinander beweglich sind. Vom Schildknorpel zu den Aryknorpeln spannen sich die Stimmbänder, die zwischen sich einen Spalt freilassen, die Stimmritze oder Glottis. Durch die Glottis muss die Luft sowohl beim Atmen als auch beim Sprechen hindurchtreten. Die Kehlkopfmuskulatur kann die Weite der Glottis beeinflussen. Aus der Zugrichtung der Muskeln ergibt sich, dass der M. crico-arytaenoideus posterior (Posticus) die Glottis erweitert. Dabei rotieren die Aryknorpel auf dem Ringknorpel und ziehen dadurch die Stimmbänder auseinander. Die Öffnung ist vor allem beim Atmen nötig. Dagegen wird die Stimmritze verengt durch die Mm. crico-arytaenoidei laterales, die die Aryknorpel in die Gegenrichtung rotieren, sowie die Mm. arytaenoidei, die sie aneinanderziehen. Schließlich kann die Spannung der Stimmbänder durch die Mm. vocales

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21.8 Der periphere Sprechapparat erhöht werden, die in den Stimmbändern selbst liegen, sowie durch den M. cricothyreoideus, der den Schildknorpel nach vorne kippt. Lähmungen der Kehlkopfmuskulatur, z. B. durch Nervenverletzungen bei Schilddrüsenoperationen, behindern Atmung und Stimmbildung und können bis zur Aphonie (Stimmlosigkeit) führen. Beim Sprechen und Singen schwingen die Stimmbänder. Die Kehlkopfmuskeln nähern sie zunächst einander, und die Exspirationsluft muss jetzt durch den verengten Spalt der Glottis strömen. In dieser Verengung ist die Strömungsgeschwindigkeit höher als in der Trachea. Nach den Gesetzen von Bernoulli (s. Lehrbücher der Physik) muss dort der Luftdruck kleiner werden. Dadurch werden die Stimmbänder noch näher aneinander geführt, und die Glottis schließt sich ganz. Jetzt ist die Strömungsgeschwindigkeit 0, und der beim Sprechen und Singen erhöhte Exspirationsdruck (400 – 600 Pa) drückt die Stimmbänder wieder auseinander; das Spiel beginnt von neuem. Diesen Vorgang nennt man Phonation. Der ständig unterbrochene Luftstrom stellt einen Klang dar, der über Mund und Nase abgestrahlt wird. Man nennt ihn Stimme. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass die Lautstärke des erzeugten Klanges vom erzeugten Exspirationsdruck abhängt. Die Höhe des Klanges wird durch die Länge und die Spannung der Stimmbänder bestimmt. Da ihre Spannung willkürlich beeinflussbar ist, kann man die Höhe der Stimme verändern, was besonders beim Singen von Bedeutung ist. Unterschiede im Bau des Kehlkopfes und damit vor allem unterschiedliche Längen der Stimmbänder verursachen die Unterschiede zwischen Männer- und Frauenstimme und die verschiedenen Stimmlagen, Bass, Tenor, Alt und Sopran. Die Grundfrequenzen der Sprechlagen bei Männern liegen etwa im Frequenzbereich von 100 bis 160 Hz, bei Frauen etwa zwischen 200 und 390 Hz. Tiefste Bässe erreichen Grundfrequenzen von etwa 80 Hz, höchste Sopranstimmen 1000 Hz („hohes“ c = 1097 Hz). Während des Stimmbruchs wird, vor allem bei Knaben, der Kehlkopf umgebaut, die Stimmbänder werden verlängert, und die hohe Kinderstimme geht verloren. Bei den berühmten Kastraten der Barockzeit wurde dieser Umbau verhindert. So behielten sie ihre hohe Stimme und entwickelten einen Tonumfang von 3 ½ Oktaven, wogegen der übliche Stimmumfang nur 1 ½ bis 2 ½ Oktaven beträgt.

Im Mund-Rachen-Raum werden verständliche Sprachlaute artikuliert Resonanzschwingungen im Ansatzrohr hängen von dessen augenblicklicher Konfiguration ab. Ändert sich seine Form, entstehen andere Resonanzräume. Die durch Resonanz entstandenen unterschiedlichen Frequenzkombinationen charakterisieren als Formanten die einzelnen Vokale. Auch die Konsonanten werden an bestimmten Strukturen des Ansatzrohres gebildet. Der Mund-Rachen-Raum kann durch die Zunge, die Mundmuskulatur und die Stellung des Gaumensegels in seiner Konfiguration erheblich variiert werden. Das Zäpfchen kann den Nasen-Rachen-Raum vom Mund-RachenRaum sogar völlig abschließen. Die genannten Räume

/a/

/i/ /u/

Abb. 21.17 Artikulationsstellungen im Ansatzrohr. Durch die verschiedenen Stellungen der Zunge entstehen unterschiedliche Räume mit verschiedenen Resonanzfrequenzen. Abgebildet sind die Zungenstellungen für die Bildung der Formanten der Vokale /a/, /i/ und /u/.

bezeichnet man als Ansatzrohr. Die Luft im Ansatzrohr wird durch die im Kehlkopf erzeugte Stimme zu Resonanzschwingungen angeregt, deren Frequenzen von der augenblicklichen Konfiguration abhängen, wie etwa die beim Anblasen einer Flasche entstehenden Resonanzfrequenzen je nach Füllung der Flasche unterschiedlich sind. Bei jeder Konfiguration des Ansatzrohres, z. B. charakterisiert durch eine bestimmte Zungenstellung, entstehen also zwangsläufig bestimmte Resonanzfrequenzen, andere kommen nicht vor, können aber bei anderen Mundoder Zungenstellungen auftreten. Den Vorgang nennt man Artikulation, die bei einer bestimmten Konfiguration auftretenden Resonanzfrequenzen Formanten. Diese sind die physikalischen Parameter, die Sprachlaute, z. B. Vokale, charakterisieren (Abb. 21.17). So interpretieren wir in einem Sprachlaut enthaltene Formantfrequenzen von 800 – 1100 Hz als ein /a/. Das gleichzeitige Auftreten von Frequenzen von 200 – 400 Hz, 1900 – 2100 Hz und 3000 – 3200 Hz hören wir als /i/, Frequenzen von 300 – 500 Hz als /u/. Neben den Vokalen gibt es Konsonanten, die als Reibelaute oder Explosionslaute an einer Verengung (z. B. /w/ an den Lippen) bzw. durch plötzliches Öffnen eines Verschlusses (z. B. /p/) entstehen. Bei den Nasalen (z. B. /n/) ist der Nasenraum an das Ansatzrohr angekoppelt, da das Zäpfchen dabei den Rachen nicht verschließt. Stimmbildung und Artikulation sind voneinander unabhängig. So können wir jeden Text (Ansatzrohr) auf die unterschiedlichsten Melodien (Kehlkopf) singen.

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21 Hören und Sprechen: Kommunikation des Menschen Bei der Flüstersprache schwingen die Stimmbänder nicht, das Ansatzrohr wird durch ein zwischen den Aryknorpeln erzeugtes Rauschen zur Resonanz angeregt. Eine ähnliche Sprache kann nach operativer Entfernung des Kehlkopfes entweder durch Andrücken einer „Schnarre“ an den Mundboden produziert werden oder durch Verschlucken und nachherige kontrollierte Freigabe von Luft aus dem Ösophagus (Ösophagus-Sprache). In beiden Fällen können Formanten gebildet werden. Dies ist jedoch nicht möglich bei einer Lähmung der Zungenmuskulatur oder bei Missbildungen, z. B. der Kiefer-Gaumen-Spalte. In diesen Fällen ist die Sprache also erheblich gestört. Zum einwandfreien Sprechen bedarf es selbstverständlich auch einer genauen Koordination von Atmung, Kehlkopfmuskulatur, Zungen- bzw. Mundmuskulatur und einer ständigen Überprüfung durch das Gehör. Die Sprachproduktion nimmt daher vom Broca-Sprachzentrum, meist links im Gyrus frontalis gelegen, ihren Ausgang und wird von dort koordiniert. Eine Schädigung dieser Region führt zu Sprachstörungen (motorische Aphasie). Weitere Ausführungen über zentrale Sprachproduktion auf S. 827 f.

Zum Weiterlesen … 1 Ashmore J. Biophysics of the Cochlea – Biomechanics and Ion Channelopathies. Brit Med Bull. 2002; 63: 59 – 72 2 Dallos P, Popper AN, Fay RR. The Cochlea. New York, Berlin: Springer; 1996 3 Dieroff H-G. Lärmschwerhörigkeit. Jena: Fischer; 1994 4 Ehret G, Romand R. The Central Auditory System. Oxford: Oxford University Press; 1997 5 Fay RR, Popper AN. The Mammalian Auditory Pathway: Neurophysiology. Berlin: Springer; 1992 6 Klinke R. Neurotransmission in the inner ear. Hear Res. 1986; 22: 235 – 243 7 Lass NJ. Principles of Experimental Phonetics. St. Louis: Mosby; 1996 8 Lenhardt E, Laszig R. Praxis der Audiometrie. 8. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2001 9 Maurer K, Eckert J. Praxis der evozierten Potentiale. Stuttgart: Enke; 1999 10 Møller AR. Hearing. New York: Academic Press; 2000 11 Moore BCJ. An Introduction to the Psychology of Hearing. Amsterdam: Academic Press; 2003 12 Oertel D, Fay RR, Popper AN. Integrative Functions in the Mammalian Auditory Pathway. New York: Springer; 2001 13 Raphael Y, Altschuler RA. Structure and innervation of the cochlea. Brain Res Bull. 2003; 60: 397 – 422 14 Rubel EW, Popper AN, Fay RR. Development of the Auditory System. New York: Springer; 1998 15 Wirth G. Stimmstörungen – Lehrbuch für Ärzte, Logopäden, Sprachheilpädagogen und Sprecherzieher. 3. Aufl. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag; 1991 16 Zwicker E. Psychoakustik. Berlin: Springer; 1982

… und noch weiter 17 Caird D, Pillmann F, Klinke R. Responses of single cells in the cat inferior colliculus to binaural masking level difference signals. Hear Res. 1989; 43: 1 – 23 18 Dallos P, Fakler B. Prestin, a new type of motor protein. Nature. 2002; 3: 104 – 111 19 Eggermont JJ, Ponton CW. The neurophysiology of auditory perception: From single untis to evoked potentials. Audiol Neurootol. 2002; 7: 71 – 99 20 Evans EF, Klinke R. The effects of intracochlear and systemic furosemide on the properties of single cochlear nerve fibres in the cat. J Physiol. 1982; 6: 409 – 427 21 Gitter AH, Klinke R. Die Energieschwellen von Auge und Ohr in heutiger Sicht. Naturwiss. 1989; 76: 160 – 164 22 Golestani N, Paus T, Zatorre RJ. Anatomical correlates of learning novel speech sounds. Neuron. 2002; 35: 997 – 1010 23 Grantham DW, Hornsby WY, Erpenbeck EA. Auditory resolution in horizontal, vertical, and diagonal planes. J Acoust Soc Am. 2003; 114: 1009 – 1022 24 Klinke R, Kral A, Hartmann R. Sprachanbahnung über elektronische Ohren – so früh wie möglich. Deutsches Ärzteblatt. 2002; 98: A3049 – A3052 25 Large EW, Crawford JD. Auditory temporal computation: Interval selectivity based on post-inhibitory rebound. J Comput Neurosci. 2002; 13: 125 – 142 26 Lenneberg EH. Biologische Grundlagen der Sprache. Frankfurt: Suhrkamp; 1973 27 Oertel D, Young ED. What’s a cerebellar circuit doing in the auditory system? Trends in Neurosc. 2004; 27: 104 – 110 28 Pujol R, Eybalin M, Puel J-L. Recent advances in cochlear neurotransmission. NIPS. 1995; 10: 178 – 183 29 Spoendlin H. Innervation densities of the cochlea. Acta Otolaryngol. 1972; 73: 235 – 248 30 Trussel LO. Cellular mechanisms for preservation of timing in central auditory pathways. Curr Opinion Neurobiol. 1997; 7: 487 – 492 31 Wangemann P. Der cochleäre Kalciumionenhaushalt. Z Audiol. 2000; Suppl. III: 7 – 10 32 Wendler J, Seidner W, Kittel G, et al. Lehrbuch der Phoniatrie und Pädaudiologie. Stuttgart: Thieme; 1996 33 Zeng F-G. Temporal pitch in electric hearing. Hear Res. 2002; 174: 101 – 106 34 Zenner HP. Motile responses in outer hair cells. Hear Res. 1986; 22: 493 – 497

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Gleichgewichts-, Lage- und Bewegungssinn R. Klinke

22.1 Seekrank im Weltraum

···

676

22.2 Physiologie des peripheren Vestibularorgans · ·· 676 Bewegungs- und Lagesinn ermöglichen Orientierung im Raum · · · 676 Das Vestibularorgan besteht beiderseits aus zwei Makulaorganen und drei Bogengangsorganen · · · 676 Der adäquate Reiz für die vestibulären Haarzellen ist eine Auslenkung der Stereovilli · ·· 678 Makulaorgane messen Translationsbeschleunigungen, insbesondere die Erdbeschleunigung ··· 679 Bogengangsorgane reagieren auf Drehbeschleunigungen ··· 679

22.3 Das zentrale vestibuläre System

· ·· 680 In den Vestibulariskernen enden vestibuläre, visuelle und somatosensorische Eingänge · · · 680 Ausgänge der Vestibulariskerne ermöglichen Raumempfinden und gleichgewichtserhaltende Reflexe ··· 681 Störungen des vestibulären Systems · · · 683

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22 Gleichgewichts-, Lage- und Bewegungssinn

Seekrank im Weltraum

Weltraummissionen mussten schon abgebrochen werden, weil Astronauten unter massiven Schwindelerscheinungen und Erbrechen litten. Schuld daran war ein Sinnessystem, dessen Existenz man vor ca. 150 Jahren noch nicht einmal erahnte, der Gleichgewichtssinn. Die von ihm ausgehenden Meldungen sind für uns so selbstverständlich, dass sich erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts mühsam die Erkenntnis duchsetzte, ein eigenes Sinnesorgan, das Vestibularorgan, informiere uns über die Stellung des Körpers im Raum. Zusammen mit dem visuellen und dem propriozeptiven System baut es den Lage- und Bewegungssinn auf. Forscher wie Flourens, Goltz und Mach haben zu dieser Erkenntnis wichtige Beiträge geleistet (14,15). Im Weltraum führen die fehlenden oder ungewöhnlichen Meldungen des Gleichgewichtsorgans ans Gehirn bei manchen Astronauten zu einer Art Seekrankheit, die sich auch mit Medikamenten nicht mehr beherrschen lässt. Das zwingt dann zum Rückzug. Aber auch auf der Erde macht ein gestörtes Gleichgewichtsorgan oft genug Schwierigkeiten, z. B. Schwindelerscheinungen (Vertigo), die von diesem System ihren Ausgang nehmen können und zu ärztlichen Eingriffen zwingen.

22.2

vestibulären Labyrinth im Felsenbein als Rezeptororgan. Wir können damit Bewegungen im dreidimensionalen Raum und die Orientierung des Körpers im Schwerefeld erfassen. Wegen der engen Beziehung zur Motorik, speziell der Stand- und Gangregulation und der reflektorischen Kontrolle der Augenbewegungen, werden viele Aspekte des efferenten Anteils des vestibulären Systems aber nicht hier, sondern erst später im Rahmen der Sensomotorik (Kap. 26, s. S. 774 ff.) besprochen werden. Hier wollen wir uns zunächst mit dem peripheren Gleichgewichtsorgan befassen, das enge räumliche Beziehungen, vor allem aber funktionelle Verwandtschaften zum Hörorgan besitzt.

Das Vestibularorgan besteht beiderseits aus zwei Makulaorganen und drei Bogengangsorganen Das Gleichgewichtsorgan liegt wie die Cochlea im Felsenbein und bildet das vestibuläre Labyrinth (Abb. 22.1). In einem knöchernen Hohlraumsystem, dem knöchernen Labyrinth, ist ein häutiges System, das häutige Labyrinth, ähnlicher Form aufgehängt, das den eigentlichen Sinnesapparat darstellt. Es ist mit einer Flüssigkeit, der Endo-

vertikal: hinterer Bogengang

Physiologie des peripheren Vestibularorgans

Das Vestibularorgan besteht beiderseits aus zwei Makulaorganen und drei Bogengangsorganen. Die Rezeptorzellen sind Haarzellen, die an ihrer freien Oberfläche Stereovilli und zusätzlich ein Kinozilium tragen. Bei Abbiegung der Villi in Richtung auf das Kinozilium wird die Entladungsrate in den afferenten Nervenfasern erhöht, bei der Ablenkung vom Kinozilium weg wird sie erniedrigt. Für die Makulaorgane sind Translationsbeschleunigungen der adäquate Reiz, bedingt durch die Einlagerung von Kalzitkristallen, die die Dichte erhöhen. Sie sprechen also insbesondere auf die Schwerkraft an. Die Bogengangsorgane sind unempfindlich gegenüber Translationsbeschleunigungen, sie sprechen auf Drehbeschleunigungen an. Wegen der mechanischen Eigenschaften der Bogengangsorgane gibt bei kurzen Drehbewegungen die afferente Entladungsrate aber die Drehgeschwindigkeit und nicht die Drehbeschleunigung an.

Bewegungs- und Lagesinn ermöglichen Orientierung im Raum Bei aufrechter Körperhaltung liegt der Schwerpunkt unseres Körpers oberhalb der Hüftgelenke. Physikalisch gleicht dies einem umgekehrten Pendel in einem labilen Gleichgewicht. Damit wir nicht fallen, muss daher die Bein- und Rumpfmuskulatur ständig Korrekturbewegungen ausführen. Dies erfordert, dass die Körperbewegungen gemessen werden und das dazu erforderliche Sinnessystem schnelle Verbindungen zur Motorik besitzt. Diese Voraussetzungen erfüllt das vestibuläre System mit dem

vertikal: vorderer Bogengang Saccus endolymphaticus

vestibuläres Labyrinth

22.1

Knochen Cupula horizontaler Bogengang Macula utriculi Macula sacculi

Cochlea

676

Perilymphe Endolymphe

Endolymphe Otolithen Cupula Kinozilien und Stereovilli Crista ampullaris

Abb. 22.1 Schema des Labyrinths im Innenohr. Die Endolymphe (rot) und die Perilymphe (grün) des vestibulären Labyrinths und der Cochlea stehen miteinander in Verbindung.

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22.2 Physiologie des peripheren Vestibularorgans

Cupulagallerte Kinozilium

„tip links“ gedehnt

Stereovilli „tip links“ gestaucht

Nervenaktionspotenziale

Zeit

afferente Synapse

Zeit

efferente Synapse

Zeit

Mikroelektrode afferente Nervenfaser Verstärker

1 Deaktivierung

2 Ruheaktivität

Abb. 22.2 Auslenkung der Stereovilli am Beispiel einer Cupula. In Ruhe nimmt die Cupula eine mittlere Stellung ein und die Stereovilli stehen aufrecht. Eine Mikroelektrode misst am afferenten Nerv eine mittlere Aktivität (2). Wird die Cupula in Richtung zum Kinozilium ausgelenkt, so nimmt die

lymphe, gefüllt und wird von einer andersartigen Flüssigkeit, der Perilymphe, umspült. Die Zusammensetzung dieser beiden Flüssigkeiten stimmt weitgehend mit derjenigen der cochleären Lymphen überein (S. 662), d. h., die Endolymphe ist kaliumreich, die Perilymphe natriumreich. Vestibuläre und cochleäre Peri- bzw. Endolymphräume stehen miteinander in Verbindung (Abb. 22.1). Die Perilymphe ist ein Ultrafiltrat des Blutplasmas. Die Perilymphräume werden über den Ductus perilymphaticus in die Subarachnoidalräume drainiert. Die vestibuläre Endolymphe wird von Zellen in den Wänden des häutigen Labyrinths sezerniert. Ihre Resorption erfolgt im Saccus endolymphaticus. Wie bei der cochleären Endolymphe ist der vestibuläre Endolymphraum positiv geladen (s. endolymphatisches Potenzial S. 662). Allerdings beträgt im vestibulären Endolymphraum das Potenzial nur einige mV. Das häutige Labyrinth umfasst zwei Makulaorgane (Macula sacculi und Macula utriculi) und drei Bogengänge, den horizontalen sowie den vorderen und hinteren vertikalen Bogengang. Macula sacculi und Macula utriculi stehen etwa senkrecht aufeinander, wobei die Macula utriculi bei aufrechter Kopfhaltung etwa horizontal liegt. Die fast kreisförmigen Bogengänge sind ebenfalls in drei senkrecht aufeinanderstehenden Ebenen angeordnet (Abb. 22.1). Dabei liegt der horizontale Bogengang bei normaler Kopfhaltung aber nicht genau horizontal, sondern sein Vorderrand ist um etwa 308 angehoben. Dies hat eine Bedeutung für klinische Vestibularisprüfungen (S. 680 u. 755).

3 Aktivierung

Aktivität in der afferenten Nervenfaser zu (3). Bei einer Cupulaauslenkung in die Gegenrichtung wird die afferente Nervenfaser deaktiviert, die Häufigkeit der Aktionspotenziale nimmt ab (1).

Makulaorgane und Bogengangsorgane enthalten in spezialisierten Bereichen ein Sinnesepithel, das sich aus einigen tausend Haarzellen und Stützzellen aufbaut. Wie bei den cochleären Haarzellen tragen die Haarzellen an ihrer freien Oberfläche feinste Stereovilli, etwa 60 bis 100 an der Zahl. Zusätzlich tragen die Haarzellen des Vestibularorgans aber auch noch ein langes Kinozilium. Die Villi und das Kinozilium ragen in eine gallertige Membran aus Mukopolysacchariden, die das Sinnesepithel bedeckt. Bei den Makulaorganen enthält diese Membran zusätzlich Calciumcarbonat in Form kleiner Kalzitkristalle, die man Otolithen (d. h. Ohrsteinchen) nennt. Diese Kristalle erhöhen die spezifische Dichte der Membran (Otolithenmembran) beträchtlich (Dichte ca. 2,2 gegenüber der Dichte der Endolymphe von ca. 1,0). Die Gallerte über dem Sinnesepithel der Bogengangsorgane nennt man Cupula. Sie setzt an der Crista ampullaris an. Die Cupula ist ein fahnenförmiges Gebilde, das keine Kalzitkristalle enthält. Deswegen besitzt die Cupula dieselbe spezifische Dichte wie die umgebende Endolymphe. Am oberen Ende ist die Cupula an das Dach der Bogengangswand flüssigkeitsdicht angeheftet. Die vestibulären Haarzellen kommen in zwei morphologisch unterschiedlichen Typen vor, die sich in ihrer Funktion aber nicht grundsätzlich unterscheiden. Wenn man davon absieht, dass diese Haarzellen zusätzlich ein Kinozilium tragen, ähneln sie den cochleären Haarzellen, mit denen sie auch entwicklungsgeschichtlich verwandt sind. Die Spitzen der längeren Stereovilli sind über feine Eiweißfäden mit dem jeweils kleineren nächsten Villus verbunden. Diese sog. „tip links“ sind auch im Vestibularorgan für den Transduktionsvorgang an den Rezeptor-

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678

22 Gleichgewichts-, Lage- und Bewegungssinn +

K

„tip links“

Auslenkung

Depolarisation

Ca

2+

Ca

2+

synaptische Vesikel („synaptic bars“)

Transmitter

synaptischer Spalt

EPSP

efferente Synapse

Zeit

1 Auslenkung

Zeit

2 Depolarisation

Abb. 22.3 Transduktionsvorgang in vestibulären Haarzellen. Eine Auslenkung der Stereovilli in Richtung auf das Kinozilium führt zu einer Dehnung der „tip links“. Dadurch werden Transduktionskanäle geöffnet. Endolymphatisches Kalium fließt in die Haarzelle (1). Der Kaliumeinstrom depo-

zellen verantwortlich (s. S. 662 f. zum Transduktionsvorgang in cochleären Haarzellen). Wie in der Cochlea sind die Haarzellen auch im Vestibularorgan sekundäre Sinneszellen, die von den peripheren Dendriten der Zellen des Ganglion scarpae innerviert werden. Die zentralen Axone dieser Ganglienzellen bilden den N. vestibularis, der afferent zu den Vestibulariskernen läuft. Einige wenige seiner Fasern ziehen direkt ins Kleinhirn. Auch efferente Nervenfasern ziehen in das Sinnesepithel und bilden an den Haarzellen bzw. an den afferenten Nervenfasern Synapsen. Durch diese efferente Innervation wird die Empfindlichkeit der Rezeptoren zentral beeinflusst, möglicherweise besonders während aktiver Körperbewegungen. Im Verband des Sinnesepithels liegen die Haarzellen wohlgeordnet. In den Bogengangsorganen sind alle Haarzellen innerhalb eines Epithels so orientiert, dass die Kinozilien alle in dieselbe Richtung zeigen. In den Makulaorganen gibt es Bereiche verschiedener Zellorientierungen, innerhalb derer aber wieder eine feste Ordnung herrscht.

Der adäquate Reiz für die vestibulären Haarzellen ist eine Auslenkung der Stereovilli Wie in der Cochlea (S. 664) wird auch an den vestibulären Haarzellen durch einen Zug an den „tip links“ ein Transduktionskanal geöffnet. Der Zug an den „tip links“ wiederum kommt durch eine Auslenkung der Villi in Richtung auf das Kinozilium zustande (Abb. 22.2). Bei einer Abbiegung der Villi auf die Gegenseite werden die „tip links“ gestaucht bzw. entlastet und die Transduktions-

Zeit

3 Transmitterfreisetzung

larisiert die Zelle und führt über einen Einstrom von Kalzium (2) zu einer Transmitterausschüttung (3), die postsynaptisch an der afferenten Endigung EPSPs auslöst, welche die Aktivität der Nervenfasern erhöhen.

kanäle schließen sich. Durch einen geöffneten Transduktionskanal fließen, ebenfalls wie in der Cochlea, Kaliumionen in die Haarzellen. Dieser Einstrom von K+-Ionen wird durch das Potenzialgefälle zwischen dem positiv geladenen Endolymphraum und dem Membranpotenzial der Sinneszellen getrieben. Bei einem Strom durch die Transduktionskanäle wird die Haarzelle depolarisiert (Abb. 22.3), es entsteht ein reizstärkeabhängiges Rezeptorpotenzial. Umgekehrt wird die Zelle durch Schließung der Transduktionskanäle hyperpolarisiert. In Abhängigkeit vom tatsächlichen Membranpotenzial wird dann am basalen Pol der Haarzelle der Transmitter Glutamat freigesetzt. Postsynaptisch wird durch das Glutamat die afferente Nervenfaser aktiviert. Auch dies entspricht den Vorgängen bei den cochleären Haarzellen. Die einzige Besonderheit bei vestibulären Rezeptoren ist eine stetige Transmitterausschüttung, auch in Ruhelage der Stereovilli. Dies führt zu einer ständigen Ruheaktivität in den Fasern des N. vestibularis, die etwa 50 – 90 Aktionspotenziale pro Sekunde beträgt. Offenbar ist an den vestibulären Haarzellen auch in Ruhelage immer ein Teil der Transduktionskanäle geöffnet. Das Vorhandensein der hohen Ruheaktivität hat einen großen funktionellen Vorteil. Dadurch können nämlich Bewegungen der Stereovilli in beide Richtungen kodiert werden: Bei einer Abbiegung der Villi in Richtung Kinozilium nimmt die neuronale Aktivität zu, bei einer Auslenkung in die Gegenrichtung nimmt sie ab (Abb. 22.2). Die Ruheaktivität in den afferenten Nervenfasern wird durch den adäquaten Reiz also moduliert. Dabei ist nicht nur die Bidirektionalität dieser Kodierungsform von biologischem Vorteil. Für eine Änderung der Entladungsrate

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22.2 Physiologie des peripheren Vestibularorgans existiert auch praktisch keine Schwelle. Schon kleine Änderungen in der Stellung der Stereovilli führen bereits zu (einer kleinen) Änderung der afferenten Entladungsrate. Das System ist also sehr empfindlich. Dieser grundsätzliche Transduktionsmechanismus an den vestibulären Haarzellen ist für Makula- und Bogengangsorgane gleich. Dennoch besitzen beide Organtypen aufgrund des vor den Sinneszellen gelegenen sensorischen Apparates unterschiedliche Eigenschaften und Aufgaben.

Makulaorgane messen Translationsbeschleunigungen, insbesondere die Erdbeschleunigung Grundlage der Funktion der Makulaorgane ist die Einlagerung von Kalzitkristallen in die Otolithenmembran. Dadurch wird ihre spezifische Dichte auf ungefähr das 2,2fache von Endolymphe angehoben. Diese schwere Membran rutscht unter dem Einfluss der Erdanziehung (Gravitation) immer dann ein klein wenig über dem Sinnesepithel ab, wenn das Sinnesepithel dieser Makula sich nicht genau waagerecht befindet. Da Macula utriculi und Macula sacculi im Schädel etwa senkrecht zueinander angeordnet sind, wobei in normaler Kopfstellung die Macula utriculi fast waagerecht liegt, muss immer mindestens in einem Sinnesepithel die Otolithenmembran einen Zug auf die Stereovillibündel ausüben. Dementsprechend werden immer irgendwelche Haarzellen des Verbandes erregt bzw. gehemmt, je nachdem, ob an der betreffenden Haarzelle die Villi in Richtung des Kinoziliums oder vom Kinozilium weg gebogen werden. Die zugehörigen afferenten Nervenfasern melden durch ihre Aktivität den Erregungszustand der einzelnen Haarzellen über den Vestibularnerv an das Gehirn. Das zentrale vestibuläre System wertet die Aktivitäten aus, die bei jeder Schädelstellung unterschiedlich, aber für die jeweilige Stellung charakteristisch sind. So kann das Gehirn die jeweilige Stellung des Kopfes im Raum berechnen. Die Bereitstellung dieser Information ist die wichtigste Aufgabe der Makulaorgane. Darüber hinaus werden die Otolithenmembranen natürlich auch durch jede andere Art von Translationsbeschleunigungen (Linearbeschleunigungen) über dem Sinnesepithel verschoben, also durch Anfahren oder Bremsen im Auto, im Fahrstuhl usw. Beim Bremsen im Auto rutscht ein beweglicher Gegenstand in ähnlicher Weise nach vorne, wie die Otolithenmembran sich über dem Sinnesepithel der Maculaorgane verschiebt. Die Erdbeschleunigung ist nichts anderes als eine ständig vorhandene und besonders starke Form einer Translationsbeschleunigung.

Bogengangsorgane reagieren auf Drehbeschleunigungen Da Cupula und Endolymphe die gleiche Dichte besitzen, reagieren die Cupulae der Bogengänge nicht auf Linearbeschleunigungen. Hingegen werden die Cupulae durch Winkelbeschleunigungen (Drehbeschleunigungen) aus ihrer Ruhelage ausgelenkt. Bei einer Drehbeschleunigung, die auf den Kopf einwirkt, werden die Wände der Bogen-

Kopfdrehung nach links

horizontale Bogengänge

N.vestibularis

Endolymphe Utrikulus

Cupulaauslenkung

Abb. 22.4 Auslenkung einer Cupula im Schema. Bei Kopfdrehung (Pfeil) drehen sich auch die Bogengänge mit. Die Endolymphe bleibt jedoch wegen ihrer Trägheit zunächst in Ruhe und lenkt die Cupula in Gegenrichtung aus. Dies führt zu einer Abbiegung der Stereovilli. Eine ähnliche Auslenkung entsteht, wenn man bei vertikal gestelltem Bogengang bei X den Bogengang erwärmt. Hierbei besteht die Ursache für den Druck auf die Cupula in der Abnahme der spezifischen Dichte der Endolymphe, die dann nach oben steigt.

gänge zwar wie der Knochen von der Bewegung erfasst, die Endolymphe bleibt zunächst aber wegen ihrer Trägheit in Ruhe (Abb. 22.4). Dadurch entsteht ein Druckunterschied zwischen beiden Seiten der Cupula. Durch diesen Druck wird die elastische Cupula entgegen der Drehrichtung ausgelenkt. Damit werden auch die Kinozilien und Stereovilli der Haarzellen abgebogen, die in die Cupulagallerte ragen. Dies führt zu einer adäquaten Reizung der Haarzellen. Beim horizontalen Bogengang liegen im Sinnesepithel die Kinozilien auf der Seite des Utrikulus. Also werden bei einer utrikulopetalen Auslenkung (hin zum Utrikulus) die afferenten Nervenfasern aktiviert, bei einer utrikulofugalen (weg vom Utrikulus) hingegen wird die Entladungsrate reduziert. Eine Drehbeschleunigung nach links führt dadurch am linken horizontalen Bogengang zu einer Aktivierung der Nervenfasern, am rechten führt dieselbe Drehung zu einer Hemmung (s. Abb. 22.4 und 23.7). Umgekehrt führt eine Drehung nach rechts zu einer Aktivierung der Nervenfasern des rechten horizontalen Bogengangs. In den vertikalen Bogengängen ist die Orientierung der Haarzellen umgekehrt, weswegen hier eine utrikulofugale Auslenkung zu einer Aktivierung der Nervenfasern führt.

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22 Gleichgewichts-, Lage- und Bewegungssinn Da wir auf jeder Seite drei senkrecht aufeinanderstehende Bogengänge besitzen, können alle drei möglichen Rotationsebenen des Raumes erfasst werden. Dabei repräsentiert ein vorderer vertikaler Bogengang der einen Seite näherungsweise dieselbe Raumebene wie der hintere vertikale Bogengang der Gegenseite. Diese Paare sind also funktionell synergistisch. Das zentrale vestibuläre System wertet die Aktivität aus allen Bogengängen aus und berechnet daraus, welche Drehbeschleunigung auf den Kopf einwirkt. Eine Cupulaauslenkung im horizontalen Bogengang kann auch erzwungen werden, wenn man die laterale Wand des Bogengangs, die nahe dem äußeren Gehörgang liegt, durch Spülen des Gehörgangs mit kaltem oder warmem Wasser abkühlt oder erwärmt (kalorische Reizung). Dazu bringt man in Rückenlage des Patienten den horizontalen Bogengang durch Anheben des Kopfes um 30 in eine vertikale Lage und spült den äußeren Gehörgang mit warmem Wasser (etwa bei X in Abb. 22.4). Im Falle der angegebenen Warmspülung wird dort die Dichte der Endolymphe geringer, sie steigt auf und drückt auf die Cupula, die sich dann, genau wie bei einer Rotationsbeschleunigung, in Pfeilrichtung auslenkt. Diese Methode wird zur klinischen Funktionsprüfung des Vestibularapparates eingesetzt. Man erzeugt dadurch Augenbewegungen, die als Nystagmus bezeichnet werden (S. 774). Grundlage einer klinischen Beurteilung ist die Zahl der Nystagmusschläge und insbesondere die Frage, ob links- bzw. rechtsseitige kalorische Reizung dieselbe Nystagmusaktivität auslöst oder Seitenunterschiede bestehen. Allerdings scheinen bei einer kalorischen Reizung eines Bogengangs neben den Dichteunterschieden zwischen kalter und warmer Endolymphe auch noch andere Faktoren eine Rolle zu spielen. Ein kalorischer Nystagmus lässt sich nämlich auch im Weltraum unter Schwerelosigkeit auslösen. Ursache könnte z. B. ein direkter Temperatureffekt auf die Haarzellen bzw. die Transmitterausschüttung sein, von denen die neuronale Entladungsrate abhängt.

Eine Besonderheit der Cupulamechanik muss noch erörtert werden: Normalerweise erregen wir die Bogengänge durch kurz dauernde Kopfbewegungen, die kürzer als 0,3 s andauern. Diese Bewegungen bestehen aus einer initialen Drehbeschleunigung, die direkt in eine Abbremsung übergeht. Bei dieser Art von physiologischen Drehbewegungen wird während der Beschleunigungsphase die Cupula in eine Richtung ausgelenkt und während der unmittelbar folgenden Verzögerung (negative Beschleunigung) wieder in die Ruhelage zurückgeführt. Deswegen entspricht bei kurz dauernden Drehbewegungen die Cupulaauslenkung nicht der Drehbeschleunigung, sondern näherungsweise der Drehgeschwindigkeit, auch wenn physikalisch betrachtet die Beschleunigung der wirksame Reiz ist! Entsprechend spiegelt bei kurz dauernden Drehbewegungen auch die neuronale Aktivität im Vestibularnerv näherungsweise den Verlauf der Drehgeschwindigkeit wider. Dementsprechend besitzen die Nervenfasern des Vestibularnervs nach Ende der kurzen Kopfbewegung wieder ihre Ausgangsaktivität.

Anders ist es bei unphysiologisch lang dauernden Drehbewegungen, z. B. auf einem Drehstuhl. Während der initialen Drehbeschleunigung wird die Cupula ausgelenkt und verharrt beim Übergang in eine lang dauernde gleichförmige Drehbewegung zunächst in ihrer ausgelenkten Position. Wegen ihrer Eigenelastizität schwingt sie aber mit einer Zeitkonstante von 5 – 6 s in ihre Ruhelage zurück, in der sie auch während der weiteren Drehung verbleibt. Wird nach lang andauernder gleichförmiger Drehung diese Drehung nun wieder gestoppt, wirkt die zum Bremsen notwendige negative Beschleunigung auf die Cupula in Ruhelage ein. Diese wird daher zur Gegenseite ausgelenkt. Also kommt es bei einem Stopp aus einer lang dauernden gleichförmigen Drehbewegung wiederum zu einer Cupulaauslenkung und dementsprechend zu einer Aktivitätsänderung im Vestibularnerv. Wirkte die Andrehphase etwa auf die Fasern vom horizontalen Bogengang aktivierend, so wird beim Bremsen die Aktivität dieser Nervenfasern reduziert. Diese Aktivitätsänderungen werden natürlich vom ZNS ausgewertet und als Andrehung in Gegenrichtung fehlinterpretiert. Es kommt daher zum postrotatorischen Nystagmus (S. 777) und evtl. auch zu Schwindelerscheinungen. Beteiligt daran sind die im nächsten Abschnitt und bei den Augenbewegungen (S. 774 f.) beschriebenen Neurone in den Vestibulariskernen, die Geschwindigkeitsinformation speichern und nach zentral weitergeben. Es soll schließlich noch erwähnt werden, dass die geschilderten Bewegungen der Otolithenmembranen bzw. die Auslenkung der Cupula winzig sind. Cupulaauslenkungen in der Größenordnung von 1/1000 Grad können die Aktivität der afferenten Nervenfasern bereits ändern.

22.3

Das zentrale vestibuläre System

Die Afferenzen aus dem Vestibularorgan projizieren in die Vestibulariskerne der Medulla oblongata. Diese Kerne enthalten außerdem noch Afferenzen von den Halsrezeptoren. Die Ausgänge aus den Vestibulariskernen projizieren ins Halsmark, die Formatio reticularis, zu Augenmuskelkernen und Kleinhirn, zum Thalamus und weiter zum Kortex. Diese Verbindungen dienen der Gleichgewichtserhaltung bei Stand und Gang, der Steuerung von Augenbewegungen, der Feinabstimmung der Motorik und der bewussten Empfindung von Körperstellungen.

In den Vestibulariskernen enden vestibuläre, visuelle und somatosensorische Eingänge Die primären afferenten Nervenfasern des N. vestibularis projizieren hauptsächlich in die Medulla oblongata in das Gebiet der Vestibulariskerne. Auf jeder Seite gibt es vier verschiedene Kerne, die sich anatomisch und funktionell voneinander abgrenzen, die Nuclei superior (Bechterew), medialis (Schwalbe), lateralis (Deiters) und inferior (Roller). Die Zuflüsse vom Vestibularapparat reichen jedoch nicht aus, um dem ZNS eine eindeutige Information über die Stellung des Kopfes im Raum oder stattfindende Bewegungen zu vermitteln, da der Kopf in den Halsgelenken unabhängig vom Rumpf beweglich ist. Daher muss das ZNS über die Stellung des Kopfes gegenüber

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22.3 Das zentrale vestibuläre System Kortex (Raumempfinden)

Drehung (°/s)

120 120

neuronale Aktivität (Impulse/s)

Thalamus 60

Hypothalamus (veget. Symptome)

0

Blickmotorik

Zeit

A Drehung des Tieres Kleinhirn (motor. Feinkontrolle)

Auge

Drehung (°/s) 120 120

neuronale Aktivität (Impulse/s)

60

Labyrinth

0

Vestibulariskerne Propriozeption Halsmark, Rückenmark (Stützmotorik)

Abb. 22.5 Schema der Eingänge und Ausgänge der Vestibulariskerne.

dem Rumpf informiert werden. Hierfür erhalten die Vestibulariskerne weitere afferente Zuflüsse von den Muskeln, Sehnen und Gelenken des Halsbereichs und vom visuellen System (s. Abb. 22.5). Außerdem gibt es (hemmende) Eingänge von den Purkinje-Zellen des Kleinhirns. Registriert man die Aktivität einer Zelle in den Vestibulariskernen und vergleicht sie mit der Aktivität der entsprechenden afferenten Faser von einem Bogengang des Vestibularnervs, so findet man, dass die Zellaktivität auch im Vestibulariskern über einen weiten Bereich sowohl Betrag als auch Richtung der Geschwindigkeit der Kopfbewegung kodiert. Nach einer Beschleunigung ist die Zelle jedoch länger aktiv als die primäre afferente Faser. Die Zellen speichern damit über einen längeren Zeitraum ein Geschwindigkeitssignal. Außerdem führt auch eine Drehung der visuellen Umgebung um das Versuchstier (sogenannte optokinetische Stimulation; s. Kap. 26) zu einer Aktivitätsänderung (Abb. 22.6). Die vestibulären Kerne sind also eine Summationsstelle auch für nichtlabyrinthäre Bewegungssignale. Entsprechendes gilt für Neurone in den Vestibulariskernen, die afferente Informationen von den Makulaorganen erhalten (Näheres im Kap. 26.7). Unser Bewegungssinn benutzt also Informationen verschiedener Sinnesorgane, wobei eine erste Konvergenz in den vestibulären Kernen nachweisbar ist. Diese Konvergenz bewirkt, dass Zellen in den Vestibulariskernen über einen weiten Bereich exakt die momentane Kopfgeschwindigkeit in den drei Raumebenen kodieren. Normalerweise beruht die Spezifität eines Sinnessystems auf dem Bau der zugehörigen Rezeptoren, wobei die spezifische Sinnesempfindung mit einer Läsion verloren geht. Ausfall eines Auges führt zu Blindheit, Schädigung des Corti-Organs zur Schwerhörigkeit usw. Hingegen verlie-

20 s

Zeit

B Drehung der visuellen Umgebung

Abb. 22.6 Aktivität einer Zelle im Vestibulariskern, die vom horizontalen Bogengang aktiviert wird. In A wird das Tier im Dunkeln gedreht. In B wird nur die Umgebung um das ruhig sitzende Tier bewegt (drehbare Trommel). Angegeben sind die Entladungsraten eines sekundären vestibulären Neurons, die Geschwindigkeit des Drehstuhls (A) und die Drehgeschwindigkeit der visuellen Umgebung (B). A Während der Drehbeschleunigung kommt es zur Aktivierung der Zelle, während der Rotation mit gleichbleibender Geschwindigkeit zur langsamen Abnahme der Aktivität. Beim Abbremsen der Drehbewegung wird die Zelle gehemmt. B Bei optokinetischer Stimulation (Drehung des Umfeldes) ist die gleiche Zelle während der Gesamtdauer der Bewegung aktiv (aus 18).

ren wir auch bei ein- und doppelseitiger Läsion des Labyrinths unseren Bewegungssinn nur teilweise, da Eingänge aus anderen Sinnessystemen noch aktiv bleiben. Somit ist der Bewegungssinn kein übliches Sinnessystem. Zu den „klassischen“ fünf Sinnen gehört er ohnehin nicht. Dennoch ist er sehr wichtig und wir könnten ohne ihn nicht existieren. Häufig treten auch Störungen auf, die sich klinisch als „Schwindel“ ausdrücken. Schwindel (Vertigo) ist eines der häufigsten Symptome, derentwegen der Patient einen Arzt aufsucht. Dem Schwindel kann u. a. eine Störung des vestibulären Systems zugrunde liegen.

Ausgänge der Vestibulariskerne ermöglichen Raumempfinden und gleichgewichtserhaltende Reflexe Es gibt neuronale Verbindungen, sog. Kommissurenfasern, zwischen den Vestibulariskernen beider Seiten, mit deren Hilfe Meldungen von den beiden Vestibularorganen miteinander verrechnet werden (Abb. 22.7). Diese Verrechnungen erhöhen die Sensitivität des zentralen vestibulären Systems insbesondere gegenüber kleinen Beschleunigungen. Dies beruht darauf, dass sich über inhibitorische Zwischenneurone die Neurone der Vesti-

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22 Gleichgewichts-, Lage- und Bewegungssinn

resultierende Ausgangsaktivität

Kopfdrehung

Kopfdrehung

horizontaler Bogengang

„tip links“ gedehnt Kommissurenfasern

hemmendes Interneuron „tip links“ gestaucht

sekundäres Neuron im Vestibulariskern

Eingangsaktivität

links

Abb. 22.7 Schema der Kommissurenfasern zwischen den Vestibulariskernen. Angenommen ist eine Drehung, bei der die primären Afferenzen des linken horizontalen Bogengangs erregt, die des rechten gehemmt werden. Die Aktivitätserhöhung von der linken Seite führt über Interneurone zu einer

bulariskerne wechselseitig hemmen können. Besteht nun bei einer horizontalen Rotationsbeschleunigung auf einer Seite eine erhöhte Aktivität der primären Vestibularisafferenzen, dann werden die sekundären Neurone der Vestibulariskerne der anderen Seite stärker gehemmt und umgekehrt. Im Endergebnis werden die Seitenunterschiede in den sekundären Vestibularisneuronen akzentuiert. Über diese Kommissurenbahnen können aber andererseits bei einem Labyrinthausfall über plastische Veränderungen der Schaltkreise auch Kompensationsvorgänge eingeleitet werden (s. später). Darüber hinaus haben die Vestibulariskerne folgende Ausgänge (vgl. auch Abb. 22.5): – Verbindungen zu den Motoneuronen des Halsmarks und der Extremitätenmuskulatur. Die letzteren Verbindungen laufen über den Tractus vestibulospinalis insbesondere zu den γ-Motoneuronen der Extensoren. – Verbindungen zur Formatio reticularis, von dort in den Tractus reticulospinalis. – Fasern, die über das mittlere Längsbündel monosynaptisch zu den Augenmuskelkernen führen. – Verbindungen zum Kleinhirn als Moosfasern, insbesondere zu Flokkulus Nodulus und Uvula. – Verbindungen zum Thalamus. Von dort verlaufen Projektionen zu mehreren Arealen des Kortex u. a. in die hintere Zentralwindung, die Brodmann Areale 2 und 7 und in den parietoinsulären Kortex. Diese Verbindungen dienen der bewussten Raumorientierung.

rechts

Eingangsaktivität

Hemmung der sekundären Vestibulariskernneurone der rechten Seite und umgekehrt. Die auf der linken Seite wirkende Hemmung ist aber gering. Die Ausgänge aus den sekundären Vestibulariskernneuronen links werden dadurch noch höher und die auf der rechten Seite noch geringer.

– Fasern zum Hypothalamus, die insbesondere für das Zustandekommen von Bewegungskrankheiten (s. später) eine Rolle spielen. Die Stütz- und Blickmotorik basiert auf obigen Verschaltungen des vestibulären Systems und den dadurch ermöglichten Reflexen, die man in statische und statokinetische Reflexe einteilt. Statische Reflexe bewirken bestimmte Haltungen der einzelnen Glieder zueinander oder bestimmte Stellungen des Körpers im Raum. Es sind also Haltungs- und Stellreflexe. Die statokinetischen Reflexe stellen Antworten auf Bewegungsreize dar und führen selbst wieder zu Bewegungen. Ein Beispiel ist etwa das Umdrehen (einer Katze) im freien Fall oder Abfangbewegungen beim Stolpern. Einzelheiten werden aus didaktischen Gründen im Zusammenhang mit der Motorik dargestellt (s. S. 755 f.). Grundsätzlich garantieren Eingänge von Makulaorganen über die Vermittlung der Tractus vestibulospinalis und reticulospinalis in erster Linie den aufrechten Stand und Gang, während die Bogengangsorgane hauptsächlich der Blickführung dienen. Zusammen mit optokinetischen Mechanismen (S. 774 ff.) bewirken Bogengangsafferenzen, dass bei Kopfbewegungen der Blickkontakt zur Umwelt nicht verloren geht. Bei Kopfbewegungen werden die Augenachsen der Bewegung entgegengeführt. So bleibt das Bild auf der Retina stabil. Man spricht von vestibulookulären Reflexen (VOR), deren wichtigster der vestibuläre Nystagmus ist. Bei einer Drehbewegung des Kopfs werden die Nervenfasern des einen horizonta-

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Literatur len Bogengangs (auf der Seite in Drehrichtung) aktiviert. Auf der anderen, der Drehrichtung abgewandten Seite, werden sie gehemmt. Diese Aktivitätsänderungen werden über die Vestibulariskerne zu den Abduzens-, von denen zu den Okulomotoriuskernen gemeldet und an beiden Orten verrechnet. Es entstehen so kompensatorische Augenbewegungen (s. Abb. 26.35). Da der corneale Pol des Auges positiv geladen ist, kann man derartige Augenbewegungen durch seitlich angelegte Elektroden leicht registrieren. Derartige Registrierungen werden als Nystagmogramm bezeichnet (Näheres über Nystagmus S. 777 f.). Das Kleinhirn greift ebenfalls in Stütz- und Blickmotorik ein. Dorthin projizieren neben den schon genannten sekundären Vestibularisneuronen auch einige primäre Vestibularisafferenzen (direkte sensorische Kleinhirnbahn). Durch Rückprojektion zum Zerebellum in Form der Purkinje-Fasern in die Vestibulariskerne wird ein Regelkreis aufgebaut, der die Feinabstimmung der Vestibularisreflexe gewährleistet (S. 769 f.). Beim Ausfall des Kleinhirns kommt es zu einer Enthemmung dieser Reflexe und damit z. B. zu einer Verstärkung des Nystagmus bzw. zu einem SpontanNystagmus und zu Gleichgewichtsstörungen. Diese äußern sich in Fallneigung, breitbeiniger Schrittführung und überschießenden Bewegungen. Diese Symptome sind Bestandteil der zerebellären Ataxie (S. 773 f.). Kortikale Projektionen über den Thalamus führen zur bewussten Wahrnehmung von Körperstellung und Bewegung. Die Projektionen von den Vestibulariskernen über den Thalamus zum parietalen Kortex und den Brodmannfeldern 2 und 7 werden zentral mit anderen sensorischen Eingängen zusammengeschaltet. Diese multiplen kortikalen Repräsentationen und die engen Verknüpfungen verschiedener sensorischer Eingänge führen dazu, dass auch kortikale Läsionen normalerweise nicht zu einem Verlust der subjektiven Bewegungsempfindung führen. Andererseits laufen die zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts notwendigen Reflexe ohne Beteiligung des Bewusstseins ab.

Störungen des vestibulären Systems Der akute einseitige Ausfall eines Labyrinths, z. B. wegen einer Neuritis (Nervenentzündung) des Vestibularnervs, führt zu Übelkeit, Erbrechen, Schweißausbrüchen und ähnlichen Symptomen, zu einem Drehschwindel in die Richtung der gesunden Seite sowie zu einem Nystagmus zur gesunden Seite bzw. zu einer „Ocular-Tilt-Reaction“ (s. S. 755). Ferner besteht eine Fallneigung zur kranken Seite. Diese Symptome kann man leicht verstehen: Das zentrale System interpretiert das Fehlen von Aktionspotenzialen aus dem „stummen“ horizontalen Bogengang wie einen extrem starken Drehreiz, bei dem die Cupula stark nach utriculopetal ausgelenkt wurde (auf Abb. 22.4, also ein Drehreiz nach links). Dementsprechend entsteht eine Drehempfindung und ein Nystagmus zur gesunden Seite. Zur Kompensation der vermeintlichen Drehung

wird eine der Drehung entgegengesetzte Bewegung induziert, die die Fallneigung zur kranken Seite verursacht. Bei manchen Erkrankungen, z. B. dem Morbus Ménière, s. u., bei dem es zu einem Überdruck im Endolymphraum eines Innenohres kommt, entsteht anfänglich eine Reizung der Sinneszellen, dies verursacht natürlich entgegengesetzte Symptome wie einen Ausfall. Im Gegensatz zur dramatischen Symptomatik bei akutem Vestibularisausfall, kann der chronische Ausfall eines Labyrinths relativ gut kompensiert werden. Es kommt im Laufe einiger Wochen zu Umorganisationen im zentralen vestibulären System (neuronale Plastizität, s. Kap. 28). So wird erreicht, dass die neuronale Information, die von der gesunden Seite ausgeht, zur Reflexsteuerung und Raumwahrnehmung mehr oder minder ausreicht. Bei der zentralen neuronalen Auswertung gewinnen dann aber die ohnehin vorhandenen Eingänge von Seiten des visuellen Systems und der Somatosensorik an Bedeutung. Sie tragen also mehr zur Raumorientierung bei. Daher werden die Symptome eines chronischen einseitigen Vestibularisausfalls im Dunkeln wieder stärker. Starke Erregung des Vestibularsystems geht wiederum mit Unwohlsein, Schwindel, Erbrechen, Schweißausbrüchen, Pulsanstieg etc. einher. Dies kommt z. B. bei der Seekrankheit vor. Ganz allgemein werden derartige Bewegungskrankheiten als Kinetosen bezeichnet. Kinetosen entstehen besonders dann, wenn ungewohnte Reizkonstellationen auf den Organismus einwirken. Auch Diskrepanzen zwischen optischen Eindrücken und Meldungen aus dem Vestibularapparat führen leicht zu derartigen Kinetosen. Bei der Ménière-Erkrankung ist primär anscheinend die Rückresorption von Endolymphe gestört. Das häutige Labyrinth erscheint im mikroskopischen Bild aufgebläht, die Haarzellen sind pathologisch verändert. Durch die Verformungen des häutigen Labyrinths werden auch die Stereovilli ausgelenkt, was die Aktivität in den afferenten Nervenfasern ganz wesentlich verändert. Die Patienten leiden an minuten- bis stundenlangen Schwindelanfällen, die oft von massiver Übelkeit begleitet sind. Häufig bestehen zusätzlich auch Hörstörungen, die darauf hinweisen, dass auch die Rückresorption von Endolymphe aus der Scala media betroffen ist.

Zum Weiterlesen … 1 Baloh, RW, Honrubia V. Clinical Neurophysiology of the Vestibular System, 2nd ed. Philadelphia: Davis; 1990 2 Brandt T. Vertigo. 2nd ed. Berlin, Heidelberg, New York: Springer; 1999 3 Hudspeth AJ. Hair-bundle mechanics and a model for mechanoelectrical transduction by hair cells. Soc Gen Physiol Ser. 1992; 47: 357 – 370 4 Guldin WO, Grüsser O-J. Is there a vestibular cortex? TINS. 1998; 21: 254 – 259 5 Guth PS, Perin P, Norris CH, Valli P. The vestibular hair cells: post-transductional signal processing. Prog Neurobio. 1998; 54: 193 – 247

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22 Gleichgewichts-, Lage- und Bewegungssinn 6 Kandel ER, Schwartz JH, Jessel TM. Principles of Neural Science. 4th ed. New York: McGraw Hill; 2000

… und noch weiter 7 Allum JH, Honegger F. Interactions between vestibular and proprioceptive inputs triggering and modulating human balance-correcting responses differ across muscles. Exp Brain Res. 1998; 121: 478 – 494 8 Barmack NH. Central vestibular system: Vestibular nuclei and posterior cerebellum. Brain Res Bull. 2003; 60: 511 – 541 9 Colclasure JC, Holt JR. Transduction and adaption in sensory hair cells of the mammalian vestibular system. Gravitational and Space Biology Bulletin. 2003; 16: 61 – 70 10 Dieringer N. Activity-related postlesional vestibular reorganization. Ann NY Acad Sci. 2003; 1004: 50 – 60 11 Goldberg JM. Afferent diversity and the organization of central vestibular pathways. Exp Brain Res. 2000; 130: 277 – 297 12 Goto F, Straka H, Dieringer N. Postlesional vestibular reorganization in frogs: Evidence for a basic reaction pattern after nerve injury. J Neurophysiol. 2001; 85: 2643 – 2646 13 Hartmann R, Klinke R. Discharge properties of afferent fibres of the goldfisch semicircular canal with high frequency stimulation. Pflügers Arch. 1980; 388: 111 – 121

14 Hawkins JE, Schacht J. Sketches of otohistory, part 8: The emergence of vestibular science. Audiol Neurotol. 2005; 10: 185 – 190 15 Henn VE. Mach on the analysis of motion sensation. Hum Neurobiol. 1984; 3: 145 – 148 16 Pozzo T, Papaxanthis C, Stapley P, Berthoz A. The sensorimotor and cognitive integration of gravity. Brain Res Rev. 1998; 28: 92 – 101 17 Rohregger M, Dieringer N. Principles of linear and angular vestibuloocular reflex organization in the frog. J Neurophysiol. 2002; 87: 385 – 398 18 Waespe W, Henn V. Neuronal activity in the vestibular nuclei of the alert monkey during vestibular and optokinetic stimulation. Exp Brain Res. 1977; 27: 523 – 538 19 Westhofen M. Vestibuläre Untersuchungsmethoden. Ratingen: PVV Science Publications; 2001 20 Yokota J-I, Reisine H, Cohen B. Nystagmus induced by electrical stimulation of the vestibular and prepositus hypoglossi nuclei in the monkey: Evidence for site of induction of velocity storage. Exp Brain Res. 1992; 92: 123 – 138

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Sehsystem U. Eysel

23.1 Das Auge als Fenster zur Welt

···

686

23.2 Auge und optische Abbildung

· ·· 686 Das Sehen beginnt mit dem Lichteintritt ins Auge · ·· 686 Auf der Netzhaut entsteht ein verkleinertes Bild der Umwelt · · · 686 Fehler im optischen Apparat führen zu Abbildungsfehlern ··· 687 Nahe Gegenstände werden durch verstärkte Linsenkrümmung scharf abgebildet ··· 689 Die Pupille reguliert den Lichteinfall ins Auge · ·· 690 Das Kammerwasser baut den Augeninnendruck auf · ·· 690 Tränen bilden einen Schutzfilm für das Auge ··· 691

23.3 Netzhaut und primäre sensorische Prozesse · · · 691 Die Ophthalmoskopie macht den Augenhintergrund sichtbar · ·· 691 Die Netzhaut enthält Sinneszellen, Nervenzellen und Gliazellen · · · 692 Es gibt zwei Arten von Photorezeptoren · · · 693 Die Photorezeptoren übersetzen den Lichtreiz in eine Änderung ihres Membranpotenzials · ·· 693 Netzhautfunktionen passen sich an die Helligkeit an · · · 694

23.4 Signalverarbeitung in der Netzhaut

··· 695 Heller- und Dunklersehen wird durch verschiedene Ganglienzellen vermittelt ··· 695 Hemmende Umfelder verstärken den visuellen Kontrast ··· 696 Elektrische Signale ermöglichen objektive Bestimmungen der Netzhautfunktion ··· 697

23.5 Sehschärfe

··· 698 Das Mosaik der Photorezeptoren und die rezeptiven Felder bestimmen die Sehschärfe · · · 698

23.6 Topographie der zentralen Sehbahn

··· 699 Benachbarte Orte der Netzhaut werden im Gehirn benachbart abgebildet · · · 699 Bei der Perimetrie entstehen Karten des Gesichtsfeldes ··· 700

23.7 Neurophysiologie des zentralen Sehsystems · ·· 701 Unterschiedliche Zellklassen verarbeiten Detail-, Farb- und Bewegungsinformation · ·· 701 Die getrennte Verarbeitung von Bewegungs-, Farb- und Mustersehen bleibt im Verlauf der subkortikalen Sehbahn erhalten ··· 702 Orientierung, Größe und Bewegungsrichtung der Reize bestimmen die Antwort von Zellen in der primären Sehrinde · ·· 703 Form, Farbe und Bewegung werden parallel weiterverarbeitet · · · 705 Die Leitungsfunktion der Sehbahn lässt sich mit visuell evozierten Potenzialen prüfen ··· 706

23.8 Räumliches Sehen

··· 708 Räumliche Disparitäten sind die Grundlage der binokularen Tiefenwahrnehmung · · · 708 Das Sehsystem nutzt unterschiedliche Hinweise zur monokularen Tiefenwahrnehmung · · · 709 Beim Schielen liegt eine Fehlstellung der Sehachsen vor · · · 709

23.9 Farbensehen

··· 709 Das Farbensehen vervielfacht die Möglichkeiten zur visuellen Unterscheidung ··· 709 Drei Zapfentypen werden von Licht verschiedener Wellenlängen angeregt · ·· 709 Im Gehirn werden Wellenlänge und Helligkeit des Lichts in Farbwahrnehmung umgesetzt · ·· 710 Farbensinnstörungen betreffen meist das Rot- oder Grün-Sehen der Männer ··· 711

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23 Sehsystem

23.1

Das Auge als Fenster zur Welt

Häufig klagen ältere Menschen über Blendung, nachts stören sie die Scheinwerfer entgegenkommender Fahrzeuge, tags bevorzugen sie Hüte mit breiten Krempen, um die direkte Sonneneinstrahlung zu vermeiden. Sie klagen über eine schneller abnehmende Sehschärfe, verschwommene Bilder und zunehmenden Verlust der Farbwahrnehmung. Bei meiner Mutter zum Beispiel war es so. Die augenärztliche Untersuchung des vorderen Augenabschnitts mit der Spaltlampe zeigte eine fortgeschrittene Trübung der Linse, die Untersuchung der Netzhaut ergab eine ungestörte Netzhautfunktion. Die notwendige Kataraktoperation war einfach und komplikationsarm, die getrübte Linse wurde entfernt und durch eine Kunststofflinse mit angepasster Brechkraft ersetzt. Für die Patientin war der Erfolg überwältigend: von einem Tag auf den anderen wieder leuchtende Farben und eine scharfe Abbildung – vielleicht zu scharf: „Ich habe gar nicht gewusst, dass Du schon so viele graue Haare hast.“

23.2

auf Missverhältnissen zwischen der Brechkraft des Auges und Länge des Augapfels. Die Pupille wirkt als variable Blende, verringert Abbildungsfehler und reguliert den Lichteinfall. Die Form des Auges wird durch den Augeninnendruck aufrechterhalten, der durch Produktion und Abfluss von Kammerwasser bestimmt wird. Tränenflüssigkeit und Lidschlag schützen die Hornhaut vor Austrocknung.

Das Sehen beginnt mit dem Lichteintritt ins Auge Die Augen zeichnen sich unter den Sinnesorganen durch größte Reichweite und Adaptationsfähigkeit aus, sie sind durch einen eigenen Bewegungsapparat selbstbeweglich und zielgerichtet. Elektromagnetische Strahlen mit Wellenlängen zwischen 400 und 750 nm sind der adäquate Reiz für die Photorezeption im Auge. Die zweidimensionale Abbildung auf der Netzhaut ermöglicht eine massive Parallelverarbeitung im nachgeschalteten Nervennetzwerk. Die Netzhaut selbst ist entwicklungsgeschichtlich ein Teil des Zentralnervensystems.

Auge und optische Abbildung

Elektromagnetische Strahlung mit Wellenlängen von 400 – 750 nm empfinden wir als Licht. Die Lichtstrahlen müssen zur Bildentstehung im Auge gebrochen und auf der Netzhaut scharf abgebildet werden. Dazu trägt die Hornhaut den größten Teil der Brechkraft bei, die Linse ermöglicht zusätzlich durch Änderung ihrer Krümmung die Scharfeinstellung auf verschiedene Entfernungen. Fehlsichtigkeiten (Kurz- und Weitsichtigkeit) beruhen

Auf der Netzhaut entsteht ein verkleinertes Bild der Umwelt Funktionell kann man das Auge aufteilen in den physikalisch-optischen Teil (dioptrischer Apparat) und die Rezeptorfläche der Netzhaut, in der die Umsetzung des optischen Reizes in Erregung neuronaler Elemente erfolgt (Transduktion). Abb. 23.1 und 23.2 zeigen den Aufbau des Auges. Der Augapfel (Bulbus) eines rechten Auges ist

Kornea vordere Augenkammer

Iris Schlemm-Kanal

hintere Augenkammer Linse

Ziliarkörper Zonulafasern

Musculus rectus medialis

Ora serrata Musculus rectus lateralis

Sklera Chorioidea

Licht

Äquator

Pigmentepithel Glaskörper Retina

vergrößerter Ausschnitt der Retina

Papille Nervus opticus

nasal

5° Sehachse optische Achse

Abb. 23.1 Horizontalabschnitt durch das menschliche Auge. Die Schnittebene verläuft durch die Fovea und den austretenden N. opticus. Die optische Achse des Auges verläuft durch die Mitte der Pupille, die Krümmungsmittelpunkte der Linse und den Augenmittelpunkt. Sie weicht um

Fovea

temporal

einen Winkel von 58 von der Sehachse ab, die durch die Fovea verläuft und die Blickrichtung angibt. Der vergrößerte Ausschnitt zeigt die Schichten der Netzhaut im Auge mit der lichtabgewandten Orientierung der Photorezeptoren.

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Brechungsindices Krümmungsradien (mm)

Glaskörper

Distanz vom Hornhautscheitel (mm)

1,336 –6,0

0 3,6 7,2

24,4

B

Sklera M. rectus lateralis M. rectus medialis N. opticus

Retina

Glaskörper

optische Achse

Linse

Chorioidea und Retina

Linse

Ziliarkörper

10,0 1,414

Kornea vordere Augenkammer

Kornea

A

nasal

7,7 1,376 6,8 1,376

23.2 Auge und optische Abbildung

Bild 2,992 mm hoch 17 mm

1000 mm Gegenstand 176 mm groß

K (Knotenpunkt)

Abb. 23.2 Kernspintomographisches Bild des rechten Auges im Horizontalschnitt zum Vergleich mit der schematischen Darstellung in Abb. 23.1 (Aufnahme: Prof. Dr. R. Heckemann).

Abb. 23.3 Der optische Apparat des Auges (Vertikalschnitt). A Wichtige Maße und Werte des menschlichen Auges (nach 5). B Konstruktion der Abbildung im reduzierten Auge.

horizontal durch den Ort des schärfsten Sehens (Fovea) und den nasal austretenden Sehnerv (N. opticus) geschnitten. Das Licht tritt durch die Kornea ein und erreicht über vordere Augenkammer, Linse und Glaskörper die Netzhaut. Der dioptrische Apparat entwirft im Auge ein verkleinertes, umgekehrtes Bild. Dabei stellt die scharfe Abbildung auf der Netzhaut hohe Anforderungen an eine genaue Abstimmung zwischen Brechkraft der optischen Medien und Abmessungen des Auges. Bereits eine Abweichung des Augapfeldurchmessers von 0,1 mm stellt einen Fehler dar, der durch Vorsetzen korrigierender Linsen (Brille) ausgeglichen werden muss. Für die Abbildung eines Gegenstandes gilt bei achsennahen Strahlen und Winkeln unter 108 vereinfacht:

Der dioptrische Apparat des Auges ist ein zusammengesetztes optisches System, bei dem mehrere Übergangsflächen zwischen brechenden Medien verschiedener Dichte n (für Luft gilt n = 1,0) aufeinander folgen (Abb. 23.3 A). Zur leichteren Konstruktion der Abbildung auf der Netzhaut kann dieses komplexe System näherungsweise auf ein wassergefülltes System (n = 1,333) mit nur einer brechenden Oberfläche (Krümmungsradius 5,5 mm) vereinfacht werden („reduziertes Auge“‚ Abb. 23.3 B).

1/B + 1/G = 1/f

[1/m]

Dabei ist B die Bildweite, G die Gegenstandsweite und f die Brennweite, jeweils in Metern. Bei einem sehr weit entfernten Gegenstand geht 1/G gegen 0, und die Bildweite wird damit gleich der Brennweite. So kann man die Brennweite eines optischen Systems bestimmen, indem man die Bildweite eines unendlich entfernten Gegenstandes misst. Der Brechwert einer Linse in Dioptrien ergibt sich aus dem Kehrwert der Brennweite in Metern: D [dpt] = 1/f [1/m] Eine Linse mit einer Brennweite von 0,2 m hat demnach einen Brechwert von 5 dpt. Das fernakkommodierte Auge hat einen Gesamtbrechwert von rund 59 dpt, der sich aus den Brechwerten der Kornea (43 dpt, Brechwert von Vorderfläche minus Hinterfläche) und der Linse (19 dpt) zusammensetzt (vermindert um 3 dpt, die sich aus dem optischen Beitrag des Kammerwassers in der vorderen Augenkammer zwischen Kornea und Linse ergeben).

Der für die Berechnung wichtige Knotenpunkt (K) liegt 7,4 mm hinter dem Korneascheitel nahe dem hinteren Linsenpol und 17 mm vor der Netzhaut. Die Größe einer Abbildung auf der Netzhaut kann abgeschätzt werden, wenn man entweder Bildund Gegenstandsweite (für die Berechnung nach dem Strahlensatz) oder die Bildweite und den Sehwinkel α (für die Berechnung nach dem Tangens) kennt (Abb. 23.3 B). Ein Gegenstand von 176 mm Größe in 1000 mm Entfernung vor dem Auge erzeugt bei der Bildweite von 17 mm ein Bild von 2,992 mm Größe. (Führt man eine beispielhafte Berechnung nach dem Tangens mit α = 108 durch, ergibt sich [tg α = 176/1000 = 0,176] als Bildgröße B = tg 108 × 17 mm = 0,176 × 17 mm = 2,992 mm). Aus der Bildgröße von etwa 3 mm bei 108 Sehwinkel folgt, dass 1 Sehwinkel auf der Netzhaut 0,3 mm = 300 µm entspricht.

Fehler im optischen Apparat führen zu Abbildungsfehlern Bei der Bildentstehung im Auge treten verschiedene optische Abbildungsfehler auf, die im Prinzip alle dazu führen, dass keine genau punktförmige Abbildung erfolgt. Strahlen aus der Nähe der optischen Achse werden schwächer gebrochen als achsenferne Strahlen (Randstrahlen), die stärker gebrochen werden. Dies führt zur sphärischen Aberration. Durch Verkleinerung der Blendenöffnung (Pupille) wird die sphärische Aberration verringert. Die chromatische Aberration beruht auf der Abhängigkeit der Brechung von der Wellenlänge, wobei

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23 Sehsystem kurzwelliges Licht stärker gebrochen wird als langwelliges. Beugung an den Rändern der Pupille und Schatten von Glaskörpertrübungen, die als „fliegende Mücken“ („mouches volantes“) gesehen werden, verschlechtern ebenfalls die Abbildung. Eine schwere Form der Störung der Optik des Auges ist die Katarakt (Linsentrübung, grauer Star), die am häufigsten als Altersstar (Cataracta senilis) auftritt. Tritt ein Star bei Kindern auf, muss er bereits in den ersten Lebensmonaten operiert werden, da sonst schwere Entwicklungsfehler der zentralen Sehbahn zu erwarten sind. Durch physikalische Einwirkung von Infrarotstrahlen kann auch schon früher im Erwachsenenalter eine Katarakt entstehen (Glasbläser- oder Feuerstar), diese arbeitsplatzbedingten Erkrankungen sind durch vorgeschriebene Maßnahmen am Arbeitsplatz (Schutzbrillen) sehr selten geworden. Der relativ häufige Altersstar (20 – 30 % der über 60-Jährigen) beruht vermutlich auf Enzymdefekten, Mangelernährung und Einfluss von UV-Licht. Radiäre Wasserspalten in der Rinde führen zu diffuser Lichtbrechung, die Patienten sind oft geblendet, die Farbwahrnehmung verblasst und es tritt eine zunehmend verschwommene

Bulbus zu lang: Kurzsichtigkeit

Korrektur: Zerstreuungslinse

Bulbus zu kurz: Weitsichtigkeit

Korrektur: Sammellinse

falsche Hornhautkrümmung: Astigmatismus

Korrektur: zylindrisch konvexe Linse

Abb. 23.4 Refraktionsanomalien. Oben: Myopie mit Korrektur durch eine Zerstreuungslinse. Mitte: Hypermetrie mit Korrektur durch eine Sammellinse. Unten: Astigmatismus mit zu schwacher Brechung in der horizontalen Achse und Korrektur durch eine zylindrische, konvexe Linse mit entsprechend stärkerer Brechung in der Horizontalebene.

Abbildung auf. Bei intakter Netzhautfunktion ist die komplikationsarme Staroperation die einzige wirksame Behandlung. Bei der Operation wird die Linse entfernt und durch eine in der Brechkraft entsprechend angepasste Kunststofflinse ersetzt. Refraktionsanomalien führen zu Abweichungen von der Normalsichtigkeit (Emmetropie). Am häufigsten sind Myopie („Kurzsichtigkeit“), Hypermetropie („Weitsichtigkeit“) und Astigmatismus. Bei Kurz- und Weitsichtigkeit besteht ein Missverhältnis zwischen Bulbuslänge und Brennweite des dioptrischen Apparates des Auges. Bei der Myopie ist der Bulbus im Verhältnis zu lang (Abb. 23.4 oben). Es entsteht ein unscharfes Bild, weil die Bildebene vor der Netzhaut liegt. Bei der Hypermetropie ist der Bulbus zu kurz (Abb. 23.4 Mitte), und die Abbildung entsteht hinter der Netzhaut. Die Hypermetropie kann durch Erhöhung der Brechkraft des Auges selbst (Nahakkommodation) kompensiert werden, deshalb kann der Hypermetrope – solange seine Refraktionsanomalie kleiner als seine Akkommodationsbreite ist (s. später) – ohne Korrektur ferne Gegenstände scharf sehen. Demgegenüber kann der Myope zwar sehr nahe liegende Gegenstände scharf abbilden, sieht in der Ferne jedoch immer unscharf. Die Refraktionsanomalien werden durch Brillengläser korrigiert. Die bei Myopie relativ zu starke Brechkraft wird durch Vorsetzen von Zerstreuungslinsen (negative Dioptrienzahl) ausgeglichen (Abb. 23.4 oben). Die zu niedrige Brechkraft bei Hypermetropie wird durch Sammellinsen mit positiver Brechkraft korrigiert (Abb. 23.4 Mitte). Der Astigmatismus (Brennpunktlosigkeit) beruht auf unterschiedlich starker Brechung in verschiedenen Ebenen des dioptrischen Apparates (Abb. 23.4 unten). Dabei wird ein Punkt nicht punktförmig, sondern als Linie abgebildet. Normalerweise ist durch die dauernde Krafteinwirkung der Lider die vertikale Krümmung der Hornhaut stärker als die horizontale (Astigmatismus nach der Regel). Weichen die Brechwerte der Achsen nicht über 0,5 dpt voneinander ab, handelt es sich um einen physiologischen Astigmatismus, der keiner Korrektur bedarf. Wenn der Astigmatismus höhere Werte erreicht und die Achsen maximaler und minimaler Brechkraft senkrecht zueinander stehen (regulärer Astigmatismus), so muss und kann er durch zylindrische Korrekturlinsen ausgeglichen werden (Abb. 23.4 unten). Der irreguläre Astigmatismus ist in der Regel durch Verletzungen bedingt und beruht auf einer unregelmäßigen Korneaoberfläche. Hier kann nur die Korrektur durch eine Kontaktlinse helfen, die wieder eine gleichmäßige optische Oberfläche herstellt. Refraktionsanomalien werden von Umwelteinflüssen mitbestimmt. Bei der Geburt ist das Auge zu klein, es liegt eine Hyperopie vor, die normalerweise in der frühkindlichen Entwicklung durch Bulbuswachstum ausgeglichen wird; das Auge „wächst in Fokus“ und wird damit emmetrop. In der Entwicklung wird dieses Wachstum des Auges besonders durch unscharfe Abbildung naher Gegenstände ausgelöst und erfolgt nur in Helligkeit. Die letztgenannte, experimentelle Beob-

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23.2 Auge und optische Abbildung

Ziliarmuskel entspannt

Fernpunkt

Zonulafasern gespannt

hyperop 1/D m normal

Nahpunkt in m

myop

14

Linse

0,08

12

A Fernakkommodation

0,10

Ziliarmuskel kontrahiert Zonulafasern entspannt

Nahpunkt

normal

hyperop 3dpt

myop 2dpt

B Nahakkommodation

Abb. 23.5 Mechanismus der Nah- und Fernakkommodation und Altersabhängigkeit der Akkommodationsbreite. A Fernakkommodation mit Strahlengang für einen Normalsichtigen (schwarz), für einen um D (dpt) Myopen (vor der Hauptebene rote, unterbrochene Linie), für einen Hypermetropen („hyperop“, rote durchgezogene Linie hinter der Hauptebene). Fernpunkt beim Normalsichtigen im Unendlichen und beim Myopen 1/D m vor der vorderen Hauptebene. Der Fernpunkt des Hypermetropen liegt „jenseits des Unend-

achtung wird durch ein höheres Vorkommen von Myopie bei Kindern bestätigt, bei denen nachts das Licht im Schlafzimmer angelassen wurde. Neben Störungen des Wachstums, die zur Hyperopie oder Myopie führen, kann häufige und extreme Nahakkommodation auch später noch einen Wachstumsreiz darstellen, der zur Ausprägung einer Myopie führen kann (z. B. Uhrmacher-Myopie).

Nahe Gegenstände werden durch verstärkte Linsenkrümmung scharf abgebildet Die Fokussierung von Gegenständen auf der Retina (Akkommodation) erfolgt durch Änderung der Linsenbrechkraft (Abb. 23.5). Die Linse ist elastisch und nimmt, wenn keine äußeren Zugkräfte auf sie einwirken, eine mehr kugelförmige Gestalt an. Am Linsenäquator setzen jedoch die Zonulafasern an, die ihrerseits indirekt an Sklera bzw. Chorioidea aufgehängt sind. Der Augeninnendruck spannt die Sklera und damit die Zonulafasern und flacht dadurch die Linse ab. Dies ist der Zustand der Fernakkommodation (Abb. 23.5 A). Die Aufhängung der Zonulafasern an der Sklera wird aber über den Ciliarmuskel vermittelt. Dieser Muskel kann durch parasympathische Innervation zur Kontraktion gebracht werden. Dabei verkleinert sich seine Öffnung schließmuskelartig. Dadurch werden die Zonulafasern entspannt (Abb. 23.5 B), die Linsenkrümmung nimmt zu, besonders an der Linsenvorderfläche.

Dioptrien

10

0,12

8

0,15

6 4

0,25

2

0,50 1,00

0

10

20

30

40

50

60 70

Alter in Jahren

C Akkommodationsbreite

lichen“, parallel einfallende Strahlen werden hinter der Netzhaut vereinigt. B Entsprechende Darstellung bei Nahakkommodation um 8 dpt. Die Nahpunkte liegen für Hypermetrope, Emmetrope und Myope bei gleicher Akkommodationsbreite in unterschiedlichen Entfernungen vor dem Auge (s. Text). C Die Akkommodationsbreite in Dioptrien ist mit ihrer Streubreite (grün) über dem Lebensalter aufgetragen. Die entsprechenden Nahpunkte in m sind für den Normalsichtigen (oder vollständig korrigierten Fehlsichtigen) angegeben.

Dies ist der Zustand der Nahakkommodation. Bei maximaler Nahakkommodation wird ein Gegenstand, der sich im Nahpunkt befindet, scharf abgebildet. Die mögliche Veränderung des Brechwerts bei Akkommodationsvorgängen wird als Akkommodationsbreite (A) bezeichnet. A = Dn – Df [dpt] (dabei ist Dn = 1/Nahpunkt und Df = 1/Fernpunkt, jeweils gemessen in m) Diese in Dioptrien angegebene Differenz der Brechwerte bei Nah- und Fernpunkteinstellung kann beim jugendlichen Auge bis 14 dpt betragen. Das entspricht beim normalsichtigen Auge einem Bereich scharfer Abbildung von 7 cm bis unendlich (Akkommodationsbereich). Bei Refraktionsanomalien treten unterschiedliche Lagen von Fern- und Nahpunkt auf (Abb. 23.5 A, B), das verändert den Akkommodationsbereich, jedoch nicht die Akkommodationsbreite. Bei einem Normalsichtigen liegt der Fernpunkt im Unendlichen, bei einer Myopie von 2 dpt aber bei 1/D = 0,5 m (Abb. 23.5 A). Bei Nahakkommodation um 8 dpt hat der Normalsichtige einen Nahpunkt bei 0,125 m, der um 2 dpt Myope bei 0,1 m und ein um 3 dpt Hypermetroper bei 0,2 m (Abb. 23.5 B). In dem gewählten Beispiel beträgt also der Akkommodationsbereich beim Normalsichtigen von 0,125 m bis Unendlich, während er beim Myopen von 0,1 m bis 0,5 m reicht und damit stark reduziert ist. Die Akkommodationsbreite ist in beiden Fällen gleich (nach obiger Gleichung: A = 8 – 0 dpt bzw. 10 – 2 dpt). Um dieselbe Bestim-

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23 Sehsystem mung für den um 3 dpt Hypermetropen vornehmen zu können, muss zuerst sein Fernpunkt in einen messbaren Bereich gebracht werden. Durch Vorsetzen einer + 5 dpt Linse machen wir ihn um 2 dpt kurzsichtig, sein Fernpunkt liegt nun bei 0,5 m, sein Nahpunkt bei 0,1 m und die Berechnung der Akkommodationsbreite ergibt wiederum 8 dpt. Zusätzlich zur parasympathischen Innervation besitzt der Ciliarmuskel noch eine schwache sympathische Innervation, die antagonistisch wirkt. Im Ruhezustand (bei völliger Dunkelheit) ist der Ciliarmuskel leicht kontrahiert und das Auge eines Normalsichtigen ist auf eine Entfernung von etwa 0,5 – 2 m eingestellt (Nachtmyopie, 2 – 0,5 dpt).

Mit zunehmendem Alter nimmt die Elastizität des Linsenkerns ab. Dabei verringert sich die Akkommodationsbreite bei über 40-Jährigen auf unter 3 dpt (Abb. 23.5 C). Bei dieser Alterssichtigkeit (Presbyopie) liegt der Nahpunkt bei 33 cm oder noch weiter entfernt, und müheloses Lesen von Kleingedrucktem ist nicht mehr möglich. Zur Unterstützung der Nahakkommodation werden Lesebrillen mit Sammellinsen verwendet, die den Nahpunkt wieder in den Bereich von 25 cm bringen.

Die Pupille reguliert den Lichteinfall ins Auge Die Iris stellt eine Blende dar, die Blendenöffnung ist die Pupille. Helligkeitszunahme führt zur Verkleinerung der Pupille im Sinne einer Konstanterhaltung der Leuchtdichte auf der Netzhaut. Dieser Pupillenreflex ermöglicht auch einen relativ schnellen Schutz vor Blendung (die Verkleinerung beginnt nach 0,2 – 0,5 s und dauert je nach Größe des Helligkeitssprunges zwischen 0,5 und über 1 s). Die ins Auge eintretende Lichtmenge hängt linear von der Pupillenfläche (π r2) und damit quadratisch vom Radius ab. Bei Verminderung des Pupillendurchmessers von 7,5 auf 1,5 mm nimmt die einfallende Lichtmenge demzufolge um den Faktor 25 ab. Bei Beleuchtung nur eines Auges verengt sich nicht nur die beleuchtete Pupille (direkte Lichtreaktion), sondern auch die Pupille des anderen Auges (konsensuelle Lichtreaktion). Bei der Naheinstellungsreaktion verringert sich die Pupillenweite ebenfalls. Die Nahakkommodation ist also gekoppelt mit einer Pupillenverengung und einer Konvergenzstellung der beiden Augenachsen (s. Optomotorik, S. 774 f.). Dabei bedingt die geringere Pupillenweite eine Erhöhung der Tiefenschärfe. Die Rezeptoren für den Pupillenreflex sind die Photorezeptoren der Netzhaut. Die Signale werden über Abzweigungen aus dem Tractus opticus zur prätektalen Region (s. Abb. 23.16) fortgeleitet (tonische Reizantworten). Von dort verläuft eine parasympathische, pupillenkonstriktorische Bahn über den Edinger-Westphal-Kern und das Ganglion ciliare zum M. constrictor pupillae. Eine sympathische, dilatatorische Bahn geht vom Hypothalamus aus und zieht über das ziliospinale Zentrum des Rückenmarks und das Ganglion cervicale superius zum M. dilatator pupillae. Die neuronale Kontrolle der Lichtreaktion der Pupille hängt maßgeblich von den parasympathischen Fasern ab, bei deren Erregung sich die Pupille verengt (Miosis) und bei deren Hemmung sie sich, unterstützt durch die sympathische Innervation, erweitert (Mydriasis). Die Sym-

pathikuserregung (abhängig vom Wachheitsgrad sowie von psychischen oder emotionalen Reizen) gibt dabei zugleich die maximale Pupillenweite vor, die bei Hemmung des Parasympathikus erreicht werden kann. Bei einer Blockade des Sympathikus im Bereich des Ganglion cervicale superius, von dem aus auch die Öffnung der Lidspalte innerviert wird, tritt das Horner-Syndrom auf, das mit einer Verengung von Pupille und Lidspalte (Ptosis) einhergeht. Der Pupillenreflex bleibt dabei jedoch erhalten. Eine wichtige klinische Rolle spielt die Pupillenreaktion für die objektive Prüfung der afferenten Leitung im ersten Abschnitt der Sehbahn vom Auge bis zum Zwischenhirn und für die Beurteilung von Narkosestadien oder der Tiefe einer Bewusstlosigkeit. Weite reflexlose Pupillen sind dabei, außer bei Unterkühlung, ein alarmierendes Zeichen.

Das Kammerwasser baut den Augeninnendruck auf Im Bereich der hinteren Augenkammer wird vom Epithel des Ziliarkörpers das Kammerwasser gebildet. Es tritt durch die Pupille in die vordere Augenkammer über, wo es im Kammerwinkel durch das Trabekelwerk und den Schlemm-Kanal in den intra- und episkleralen Venenplexus abfließt. Wenn sich Produktion und Abfluss (etwa 2 mm3/min) die Waage halten, besteht ein konstanter Augeninnendruck. Er kann mit einem Tonometer festgestellt werden, dessen Funktionsprinzip auf der Messung der Verformbarkeit des Auges beruht. Dazu wird bei der Applanationstonometrie die Kraft gemessen, die aufgewendet werden muss, um eine definierte Korneafläche abzuflachen. Bei der Impressionstonometrie wird der Grad der Korneaeindellung bei Aufsetzen eines Stiftes (definierter Druck) ermittelt. Normale Augeninnendruckwerte liegen zwischen 10 und 20 mmHg (1,33 – 2,66 kPa). Beim Krankheitsbild des Glaukom (grüner Star) ist der Augeninnendruck durch eine Abflussbehinderung am Kammerwinkel oder eine gesteigerte Kammerwasserproduktion pathologisch erhöht, was zur Schädigung der Sehnervenfasern im Bereich der Papilla nervi optici führen kann. Eine Behinderung des Abflusses durch eine Verlegung des Kammerwinkels (Winkelblockglaukom) kann zu einem akuten Glaukomanfall führen. Hierbei spielt die Weite der Pupille eine wichtige Rolle: die Verdickung der Iris bei Pupillenerweiterung ist ein Faktor der Abflussbehinderung beim Winkelblockglaukom. Deshalb ist eine medikamentöse Pupillenerweiterung bei Patienten mit flacher Vorderkammer ein ärztlicher Kunstfehler. Als Therapie werden lokal Miotika (0,5 % – 1 % Pilocarpinlösung) zur Pupillenverengung und systemisch Karboanhydrasehemmer (z. B. Acetazolamid) zur Hemmung der Kammerwasserproduktion eingesetzt. Anders als das durch Anfälle gekennzeichnete akute Glaukom verläuft das chronische Offenwinkelglaukom (Glaucoma simplex) schleichend. Hier ist der Abflusswiderstand andauernd erhöht, und der N. opticus wird durch langzeitige Augeninnendruckerhöhung an seinem Austrittsort geschädigt. Es treten typische Gesichtsfeld-

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23.3 Netzhaut und primäre sensorische Prozesse

aufrechtes Bild

Augenspiegel

kleiner Ausschnitt Auge des Patienten

Papilla nervi optici

Licht

Auge des Beobachters, fernakkommodiert

B Schema der direkten Ophthalmoskopie Fovea centralis

umgekehrtes Bild

ophthalmoskopische Linse

K

nasal A Augenhintergrund eines linken Auges

temporal

größerer Ausschnitt Auge des Patienten

C Schema der indirekten Ophthalmoskopie

Abb. 23.6 Augenhintergrund und Grundlagen der Ophthalmoskopie. A Photographie eines normalen, linken Augenhintergrundes (Fundusphotographie: Prof. Dr. F. Grehn). Erheblich größerer Ausschnitt (508) als im Bildfeld des Augenspiegels sichtbar. In der Mitte erkennt man die pigmentierte Macula lutea, in deren Bereich sich die Fovea centralis befindet, links (nasal) die Papilla n. optici mit ausund eintretenden Gefäßen (Arterien hellrot, Venen dunkel-

ausfälle auf, die erst spät bemerkt werden, weil sie in der mittleren Peripherie liegen und die Sehschärfe primär nicht beeinträchtigen (S. 700). Als Therapie werden primär Augeninnendruck-senkende Medikamente (Miotika, Beta-Blocker, Karbonhydrasehemmer) verwendet. Auch Operationen zur Wiederherstellung des Kammerwasserabflusses kommen in Betracht.

Tränen bilden einen Schutzfilm für das Auge Die Tränenflüssigkeit wird von den Tränendrüsen sezerniert (je Auge etwa 1 ml/Tag). Sie tritt durch deren Ausführungsgänge aus und wird durch Lidschläge mit dem Schleim aus den Becherzellen der Bindehaut vermischt und gleichmäßig verteilt. Der entstehende, dünne Flüssigkeitsfilm schützt die Kornea vor dem Austrocknen. Die Tränenflüssigkeit ist leicht hyperton (salziger Geschmack) mit einem höheren Kalium- und niedrigerem Natriumgehalt als das Blutplasma. Fremdkörper zwischen Augenlidern und Kornea regen über Rezeptoren des N. trigeminus die Tränensekretion reflektorisch an, was zum Ausspülen des Fremdkörpers beiträgt. Die zentralen Neurone dieses Reflexes liegen im pontinen Bereich des Hirnstamms, von wo auch die emotionale Auslösung der Tränen über Verbindungen mit dem limbischen System möglich ist. Der pontine Hirnstamm innerviert das Ganglion pterygopalatinum, dessen parasympathische Fasern die Tränensekretion an den Tränendrüsen auslösen.

rot). B Direkte Ophthalmoskopie. Konstruiert ist das Bild eines Retinapunktes oberhalb der optischen Achse auf dem Arztauge. Aus dem Punkt entsteht ein paralleles Lichtbündel, das das Arztauge wieder zu einem Lichtbündel unterhalb der optischen Achse vereinigt. C Indirekte Ophthalmoskopie. Die ophthalmoskopische Linse (+15 dpt) wird vor das Beobachterauge gehalten. Es entsteht ein reelles umgekehrtes Bild, das sich der Arzt betrachtet.

23.3

Netzhaut und primäre sensorische Prozesse

Mit dem Augenspiegel kann man durch die Pupille den Augenhintergrund beobachten. Sichtbar sind die Netzhaut mit der Blutversorgung der inneren Schichten, die Fovea und der Austritt des Sehnervs. Mikroskopisch lassen sich in der Netzhaut Photorezeptoren (Stäbchen und Zapfen) und vier nachgeschaltete Nervenzellklassen sowie Stützzellen und Pigmentepithel erkennen. Stäbchen und Zapfen enthalten verschiedene Sehfarbstoffe, deren Anregung durch Licht durch Vermittlung intrazellulärer Überträgersysteme den Erregungsvorgang einleitet. Die Menge an verfügbarem Sehfarbstoff bestimmt maßgeblich die Lichtempfindlichkeit bei der Dunkelanpassung.

Die Ophthalmoskopie macht den Augenhintergrund sichtbar Die Untersuchung des Augenhintergrundes (Fundus oculi) mit dem Augenspiegel wird Ophthalmoskopie genannt. Bei der direkten Ophthalmoskopie blickt der Untersucher fernakkommodiert direkt in das ebenfalls fernakkommodierte Patientenauge (Abb. 23.6 B). Die Retina des Patienten liegt dann genau in der Brennebene des brechenden Systems des Patientenauges. Jeder Punkt der Retina erzeugt also nach dem Austritt aus dem Auge ein paralleles Lichtbündel. Diese parallelen Lichtbündel be-

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23 Sehsystem Bruchsche Membran Pigmentepithel Rezeptoraußenglieder (Stäbchen und Zapfen)

äußere Körnerschicht (Rezeptorkerne) Rezeptorinnenglieder synaptische Endigungen äußere plexiforme Schicht innere Körnerschicht (Horizontale, Bipolare, Amakrine) innere plexiforme Schicht

direkten Anblick. Die Vergrößerung ist also kleiner als bei der direkten Ophthalmoskopie, der Arzt sieht dafür aber einen größeren Bereich der Patientenretina. Beim Betrachten des Augenhintergrunds fällt basal in der rötlichen Netzhaut (Abb. 23.6 A) der blassgelbe Bereich der Papilla nervi optici auf, wo der Sehnerv das Auge verlässt und die Gefäße (A. und V. centralis retinae) ein- und austreten. Temporal der Papille liegt die Fovea centralis inmitten eines gefäßfreien Bezirks mit stärkerer Pigmentierung (der Macula lutea). Die sichtbaren Netzhautarterien versorgen die inneren zwei Drittel der Netzhaut, die direkt unter den Gefäßen liegen. Das äußere Drittel der Netzhaut wird durch Diffusion aus dem Chorioidalkreislauf versorgt. Dem entsprechen zwei Arten von Netzhautschädigungen. Man unterscheidet die Schädigung der Netzhaut bei Zentralarterienverschluss (Degeneration der inneren Netzhautschichten bei erhaltener Rezeptorschicht) von der bei Netzhautablösung (Degeneration der nach außen zur Chorioidea weisenden Rezeptorschicht und primär überlebende innere Schichten).

Ganglienzellen

Die Netzhaut enthält Sinneszellen, Nervenzellen und Gliazellen Nervenfaserschicht

Glaskörper (Lichteinfall)

Membrana limitans int.

Abb. 23.7 Histologisches Bild eines Querschnitts durch die menschliche Netzhaut (von Prof. B. Boycott; zum Vergleich Abb. 23.8). Einfallsrichtung des Lichts von der Glaskörperseite aus (unten).

sitzen für jeden Ausgangspunkt eine andere Austrittsrichtung. Das Auge des Arztes fängt diese parallelen Lichtbündel auf. Da es fernakkommodiert ist, wird jedes dieser Lichtbündel auf der Retina des Arztes wieder zu einem Punkt vereinigt. Im Endresultat wird also die Patientenretina in natürlicher Größe und umgekehrt auf der Arztretina abgebildet. Deswegen hat der Arzt erstens den Eindruck, die Patientenretina aufrecht zu sehen. Zum zweiten ist bei diesem Untersuchungsverfahren das Bild auf seiner Retina etwa 15-mal größer, als wenn er die Patientenretina aus der üblichen Nahentfernung von 25 cm ohne brechenden Apparat des Patientenauges ansehen würde. Der Nachteil ist, dass der vom Arzt einsehbare Bereich relativ klein ist. Bei der indirekten Ophthalmoskopie (Abb. 23.6 C) wird eine Linse von + 15 dpt vor das Patientenauge gehalten. Deren Brechkraft addiert sich zur Brechkraft des Patientenauges, die Gesamtbrechkraft wird größer. Die Patientenretina befindet sich nun zwischen der einfachen und doppelten Brennweite des Gesamtsystems. Es entsteht daher von der Patientenretina ein umgekehrtes, vergrößertes Bild (Luftbild), das sich der Arzt mit seinem Auge anschaut. Insgesamt erscheint ihm die Patientenretina in etwa 4fach größer als bei einem hypothetischen

Die Netzhaut hat eine mittlere Dicke von etwa 200 µm und besteht aus einem vielschichtigen neuronalen Netzwerk mit Stütz- und Pigmentepithelzellen (Abb. 23.7). Das Pigmentepithel und die Rezeptoren liegen außen im Anschluss an die Chorioidea. Überraschenderweise trifft das Licht die Netzhaut von innen an der den Rezeptoren abgewandten, an den Glaskörper anschließenden Seite. Von außen nach innen sehen wir folgende Schichten: Pigmentepithelzellen, Photorezeptorzellen (Zapfen und Stäbchen), Horizontalzellen, Bipolarzellen, amakrine Zellen und Ganglienzellen. Die Axone der Ganglienzellen bilden den N. opticus. Von den Zapfen bestehen direkte synaptische Verbindungen über die On- und Off-Bipolarzellen zu den Ganglienzellen, von denen aus die Signale über die Fasern des N. opticus zentralwärts geleitet werden (Abb. 23.8). Die Stäbchen sind indirekt über stäbchenamakrine Zellen mit den Zapfenbipolarzellen verbunden. Anatomisch bilden die Kerne der Rezeptorzellen die äußere Körnerschicht, die Bipolar-, Horizontal- und amakrinen Zellen die innere Körnerschicht und die Ganglienzellen die nach ihnen benannte Ganglienzellschicht. Zwei laterale Interneuronsysteme ermöglichen eine Modulation und Weiterverarbeitung der Signale schon innerhalb der Netzhaut, die Horizontalzellen mit Synapsen im Bereich der äußeren plexiformen Schicht und die amakrinen Zellen mit Synapsen im Bereich der inneren plexiformen Schicht. Die Horizontalzellen bieten die Möglichkeit zur horizontalen Ausbreitung von Hemmung und zur Rückkopplung des Signalflusses auf die Photorezeptoren. Die amakrinen Zellen weisen einen besonders großen Typenreichtum auf und wirken in der Regel ebenfalls hemmend. Die Gliazellen der Retina (Müller-Zellen) erstrecken sich durch alle retinalen Schichten.

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23.3 Netzhaut und primäre sensorische Prozesse Stäbchen

Zapfen Pi gm en te pi th el

Plasmamembran Außenglied

Re ze pt or en Innenglied

synaptische Endigung

Stäbchenbipolare

ON

OFF

Zapfenbipolare Stäbchenamakrine

e

Müller-Zelle

äu ß pl ere ex ifo rm H e or Sc izo hi nt ch alz t Bi el po le n lar ze lle am n ak rin e Ze in ne lle n pl re ex ifo rm e Sc hi ch t G an gl ie nz el le n

Ne s c rv e n h ic fa ht ser -

Axone Glaskörper

Lichteinfall

Abb. 23.8 Schematische Darstellung der Netzhautzellen mit synaptischen Verbindungen. Der Übergang vom Außen- zum Innenglied und die homologen Strukturbestandteile der Zapfen und Stäbchen sind durch Vergrößerung im oberen Bildteil herausgehoben. Zapfen (rot) und Stäbchen (grün) sind auf unterschiedlichen Wegen über Zapfenbipolarzellen oder stäbchenbipolare und stäbchenamakrine Zellen mit denselben Ganglienzellen verbunden. Zwischen stäbchenamakriner Zelle und On-Bipolarzelle befindet sich, abweichend von allen anderen Synapsen in der Netzhaut, eine elektrische Synapse (e). Die Glia (Müller-Zelle) erstreckt sich über alle Netzhautschichten.

Es gibt zwei Arten von Photorezeptoren In jedem Auge finden wir etwa 110 Millionen Stäbchen und 6 Millionen Zapfen, die auf 1 Million Ganglienzellen (und ebenso viele Fasern im N. opticus) konvergieren. Stäbchen und Zapfen haben einen typischen Aufbau, mit einem Außenglied, das über ein dünnes Zilium mit dem Innenglied des Photorezeptors verbunden ist (Abb. 23.8). In den Netzhautbezirken größter Rezeptordichte (foveal für Zapfen, parafoveal für Stäbchen) beträgt der Zapfendurchmesser etwa 2 µm, der Stäbchendurchmesser etwa

3 µm. In den Stäbchenaußengliedern liegen etwa 1000 Membranscheibchen geldrollenförmig angeordnet. Bei den Zapfen sind die entsprechenden Strukturen Membraneinfaltungen im Außenglied. In der Scheibchenmembran findet man den Sehfarbstoff der Stäbchen, das Rhodopsin. Dies besteht aus dem Glykoprotein Opsin und einer chromophoren Gruppe, dem 11-cis-Retinal, einem Aldehyd des Vitamins A1. In den Membraneinfaltungen der Zapfen findet man die Zapfensehfarbstoffe, die sich durch andere Opsine auszeichnen. Sie besitzen die gleiche Grundstruktur wie das Rhodopsin, unterscheiden sich jedoch in der Aminosäurensequenz. Die Rezeptoraußenglieder unterliegen einer fortwährenden Erneuerung. Die Rezeptorscheibchen wandern von der Basis zur Spitze, wo sie schließlich abgestoßen werden. Die retinalen Pigmentepithelzellen phagozytieren die abgestoßenen Membranscheiben. Dabei erfolgt die Phagozytose für die Stäbchen durch Helligkeit ausgelöst morgens, für die Zapfen bei Dunkelheit in den Abendstunden. Beim Krankheitsbild der Retinitis pigmentosa ist die phagozytotische Aktivität des Pigmentepithels gestört, was schließlich zu einer Zerstörung der Photorezeptoren führt.

Die Photorezeptoren übersetzen den Lichtreiz in eine Änderung ihres Membranpotenzials Beim Phototransduktionsprozess an den Stäbchen werden Lichtquanten von der chromophoren Gruppe des Rhodopsins absorbiert (Absorptionsmaximum bei 500 nm, Abb. 23.27, S. 710) und bewirken innerhalb weniger Pikosekunden die Stereoisomerisation des Retinals von der 11-cis- zur All-trans-Form. Es folgen Veränderungen des Rhodopsins über mehrere, schnelle Zwischenprodukte (Prälumirhodopsin, Lumirhodopsin, Metarhodopsin I) im Millisekundenbereich zum Metarhodopsin II. Auf diese Konformationsänderung des Rhodopsins folgt eine Verminderung der Permeabilität der äußeren Stäbchenmembran für Natrium- und Calciumionen. So führt im Gegensatz zu fast allen anderen Rezeptoren die Erregung durch den adäquaten Reiz beim Photorezeptor zu einer Hyperpolarisation (von – 30 auf – 70 mV bei maximaler Reizung). Als Folge wird vermindert Transmitter (Glutamat) an den Synapsen der Photorezeptoren abgegeben. Während die etwa 109 Rhodopsinmoleküle in monomolekularen Schichten vorwiegend in den Scheibchen lokalisiert sind, findet die Veränderung der Membranleitfähigkeit an der Stäbchenaußenmembran statt. Als intrazellulärer Überträgerstoff wirkt dabei das zyklische Guanosinmonophosphat (cGMP) als „Second Messenger“ (Abb. 23.9). Das cGMP hält Natrium-CalciumKanäle in der Membran der Außenglieder im Dunkeln offen (Dunkelstrom, Abb. 23.9 A) und bedingt damit eine Dauerdepolarisation in Ruhe (deshalb ist das Ruhemembranpotenzial der Photorezeptoren weniger negativ als bei anderen Sinnes- oder Nervenzellen). Nach Belichtung (Abb. 23.9 B) induziert das aktivierte Rhodopsin (R* = Metarhodopsin II) mit GTP die Aktivierung von Transducin (einem G-Protein aus der Scheibchenmembran). Dies wiederum aktiviert eine Phosphodiesterase (PDE), was eine Hydrolyse von cGMP zu 5'GMP einleitet. Diese

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693

23 Sehsystem

Plasmamembran

694

Rhodopsin

R*=Metarhodopsin II

R*

Scheibchenmembran

g

b a

b

g +

+

Phosphodiesterase

cGMP

GDP

Na -Kanäle offen

GTP

a

Phosphodiesterase

Na -Kanäle geschlossen

cGMP

+

Na

Transducin (G-Protein)

Guanylylcyclase

GDP 2+

Ca

5’GMP 2+

Ca

im Dunkeln

Belichtung

+

Na

GDP

Innenglied

Membran depolarisiert

A

+

–

Außenglied

Innenglied

+

+

+

K

+

Transmitterfreisetzung

Abb. 23.9 Phototransduktion. Wirkungsmechanismus des zyklischen Guanosinmonophosphats (cGMP) am Na+-Ca2+Kanal im Außenglied eines Stäbchens im Dunkeln (A) und bei Belichtung (B). Rhodopsin, Transducin und die Phosphodiesterase befinden sich in der Scheibchenmembran. Die

Signalkaskade beinhaltet eine etwa 106fache Verstärkerfunktion, die die besondere Empfindlichkeit der Phototransduktion erklärt. Ein Molekül R* aktiviert rund 500 G-Proteine (Transducine), die je ein PDE-Molekül aktivieren, das jedoch seinerseits wieder etwa 2000 cGMPMoleküle hydrolysieren kann. Die durch Lichteinfall verminderte Konzentration von cGMP führt zur Schließung der Na+-Ca2+-Kanäle in der Stäbchenmembran und damit zur Hyperpolarisation. Ca2+ hemmt die Guanylylcyclase zur enzymatischen Synthese von cGMP. Der Na+-Ca2+-Austauscher in der Plasmamembran verringert nach dem Kanalanschluss die Ca2+-Konzentration im Zytoplasma, die Guanylylcyclase wird aktiviert und die Produktion von cGMP erhöht. So kommt es wieder zur Öffnung der Na+Ca2+-Kanäle, zur Depolarisation und zur Rückkehr zum Ruhezustand der Photorezeptormembran. All-trans-Retinal und Opsin liegen nach dem Phototransduktionsprozess getrennt und inaktiv vor. Bei dauernder Helligkeit wird die Aktivierbarkeit der Guanylylcyclase reduziert, viele Na+-Ca2+-Kanäle bleiben geschlossen. So verringert sich die Empfindlichkeit für eine neue Lichtantwort. Dies ist eine Grundlage von Helladaptation.

+

Na

Hyperpolarisation

B

+

–

Außenglied

Na

Na - K ATPase

+

Na

GTP

+

+

+

Na - K ATPase

K

Transmitterfreisetzung

Membran des Außenglieds enthält einen Na+-Ca2+-Austauscher, die Membran des Innenglieds die Na+-K+-ATPase. 5'GMP = 5'Guanosinmonophosphat, GDP = Guanosindiphosphat, GTP = Guanosintriphosphat, GC = Guanylylcyclase (nach 18).

Ähnliche Vorgänge spielen sich an den Membraneinfaltungen der Zapfenaußensegmente ab, wobei 11-cis-Retinal wie bei den Stäbchen als lichtabsorbierendes Molekül und „Zapfenopsin“ als Protein beteiligt sind. Im Vergleich zu den Stäbchen antworten die Zapfen schneller, jedoch mit geringerer Empfindlichkeit. Es gibt drei verschiedene Zapfentypen mit jeweils verschiedenen Arten von Zapfenopsin, wodurch verschiedene Absorptionsmaxima bei 420 nm, 535 nm und 565 nm entstehen (Abb. 23.27, S. 710). Zerfall und Resynthese der Zapfenpigmente verlaufen ebenfalls schneller als beim Rhodopsin.

Netzhautfunktionen passen sich an die Helligkeit an Das All-trans-Retinal muss in die 11-cis-Form zurückgeführt werden, um erneut für die Photoreaktion zur Verfügung zu stehen. Im Pigmentepithel der Netzhaut wird das All-trans-Retinal zu All-trans-Retinol (Vitamin A) reduziert, in die 11-cis-Form überführt und steht dann als Ester wieder zur Bildung von 11-cis-Retinal zur Verfügung. Bei der photochemischen Adaptation verschiebt starker Lichteinfall das Gleichgewicht weit auf die Seite

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23.4 Signalverarbeitung in der Netzhaut die Erregung aus dem Zapfensystem erhalten und bei Tagessehen die Stäbchenamakrinen (Abb. 23.8) hemmen und damit die Fortleitung der Stäbchenantwort unterbrechen. Eine weitere neuronale Komponente der Dunkeladaptation ist die Zunahme der erregenden Konvergenz im rezeptiven Feld (s. u.).

log relative Sensitivität

0

Stäbchenmonochromat

1 2

Kohlrausch-Knick 3

5

23.4

Nachtblindheit

4

normale Dunkeladaptation

6 0

5

10

15

20

25

30

35

40

Adaptationszeit (min)

Abb. 23.10 Dunkeladaptation. Normale Dunkeladaptationskurve (schwarz), Verlauf bei Nachtblindheit (rote unterbrochene Linie) und beim Stäbchenmonochromaten (blaue gepunktete Linie). In Abwesenheit der Zapfen verläuft die Dunkeladaptation schneller, der Beginn der Messungen liegt in diesem Fall bei t = 6 min.

des nicht lichtempfindlichen All-trans-Retinals (Helladaptation), während längerer Aufenthalt im Dunkeln zu einem Überwiegen der 11-cis-Form und damit zu einer hohen Photosensibilität der Stäbchen führt (Dunkeladaptation). hell

11-cis-Retinal Ð All-trans-Retinal

Signalverarbeitung in der Netzhaut

Die Hyperpolarisation des Photorezeptors nach Belichtung wird im retinalen Netzwerk durch synaptische Übertragung an Folgeneuronen entweder als Hyperpolarisation weitergeleitet oder in eine Depolarisation umgekehrt. Unter den Bipolar- und Ganglienzellen entstehen dadurch lichterregte und lichtgehemmte Neurone (on- bzw. off-Neurone). Sie können als Hellund Dunkelsystem betrachtet werden. Laterale Hemmungsmechanismen beeinflussen benachbarte Netzhautzellen. Dadurch entstehen die rezeptiven Felder der Ganglienzellen bzw. der Fasern des N. opticus mit erregenden Zentren und hemmenden Umfeldern. Der Mechanismus führt zu einer Kontrastverschärfung in der Netzhaut. Je eine Klasse großer und kleiner Ganglienzellen sind Ausgangspunkte eines magnozellulären und eines parvozellulären Systems für eine im Gehirn zunehmend spezialisierte Weiterverarbeitung von Bewegungs- und Tiefenwahrnehmung (magnozellulär) und Farb- und Formwahrnehmung (parvozellulär).

dunkel

Nach einer kurzen, sehr hellen Beleuchtung der Netzhaut dauert der Resyntheseprozess (photochemischer Anteil der Dunkeladaptation) über 1 Stunde. Bei der Dunkeladaptation (Abb. 23.10) nimmt die Empfindlichkeit des Auges in 30 – 50 min um 6 – 7 Zehnerpotenzen zu. Das photopische Sehen (Tagessehen) der Zapfen geht am Ende der Zapfenadaptation nach etwa 8 – 10 min am Kohlrausch-Knick in das skotopische Sehen (Dämmerungs- und Nachtsehen) der Stäbchen über. Die Stäbchenadaptation trägt dann den Hauptanteil zur Empfindlichkeitszunahme bei. Da 11-cis-Retinal ein Aldehyd des Vitamin A1 ist, lässt sich die durch Vitamin-A-Mangel bedingte Nachtblindheit erklären. Durch die unterschiedlichen Absorptionsmaxima der Zapfenpigmente (555 nm) und des Stäbchenpigments (500 nm) ergibt sich bei der Dunkeladaptation eine Empfindlichkeitsverschiebung zum kurzwelligeren Lichtbereich hin (Purkinje-Verschiebung). Neben der photochemischen Adaptation und der oben beschriebenen Helladaptation der enzymatischen Produktion von cGMP tragen auch neuronale Komponenten zur Adaptation bei. Die bereits beschriebene Pupillenreaktion wirkt als schnellerer Schutz gegen Blendung bei Helladaptation. Die Umschaltung vom Zapfen- auf das Stäbchensehen ist ein weiterer neuronaler Mechanismus. Beim photopischen Sehen wird das Stäbchensystem durch das Zapfensystem unterdrückt. Dies geschieht durch einen Typ dopaminerger, amakriner Zellen,

Heller- und Dunklersehen wird durch verschiedene Ganglienzellen vermittelt Die Signalverarbeitung in Rezeptoren und Bipolarzellen (auch in Horizontalzellen und in amakrinen Zellen) erfolgt über fein abgestufte Änderungen des Membranpotenzials, synaptische Übertragung und postsynaptische Potenziale. An den Ganglienzellen treten innerhalb der Retina erstmalig Aktionspotenziale auf. Durch die Verschaltung der retinalen Zellen entstehen rezeptive Felder (Abb. 23.11). Als rezeptives Feld eines Neurons, z. B. einer Faser des N. opticus, wird derjenige Bereich der Netzhaut bzw. des Gesichtsfeldes bezeichnet, von dem aus seine Aktivität beeinflusst werden kann. Auf der Netzhaut entspricht das der Photorezeptorenfläche, die mit der Zelle verbunden ist. Entsprechend dieser Definition gibt es rezeptive Felder bei Bipolarzellen ebenso wie bei Ganglienzellen. Die rezeptiven Felder der Ganglienzellen bestehen aus einem Zentrum und einem Umfeld. On-Zentrum- und Off-Zentrum-Zellen bilden zwei getrennte Systeme für die Hell- und Dunkelwahrnehmung bei gegebener Adaptation. Abb. 23.11 A zeigt, wie auf dem Weg zwischen Zapfen und Ganglienzellen (Abb. 23.8) die On- und Off-Zentrum-Eigenschaften entstehen. Der durch den Dunkelstrom ausgelöste, kontinuierliche Transmitterfluss des Glutamats vom Photorezeptor zur Bipolarzelle wird durch Lichtreize moduliert. Erregende Synapsen geben die Signale zu den Off-Bipolaren gleichsinnig weiter, die invaginierenden, hemmenden Synapsen kehren die Signale an den On-Bipolaren um. Während die Depolarisation an den Off-Bipolaren durch das Glutamat über ligandengesteuerte Kationenka-

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695

23 Sehsystem rezeptives Feld

Licht

Zentrum

Licht

Umfeld

Rezeptor Depolarisation Hyperpolarisation

Hyperpolarisation

mGLUR

iGLUR

iGLUR Horizontalzelle Bipolarzellen

A Beleuchtung im Zentrum

Abb. 23.11 On- und Off-Zentrum-Antworten im retinalen Netzwerk und Verschaltung des antagonistischen Umfeldes. A Oben ist das rezeptive Feld mit Zentrum und Umfeld auf der Netzhaut dargestellt. Der Photorezeptor hyperpolarisiert bei Licht im Zentrum. Die invaginierte, hemmende Synapse zur On-Bipolarzelle invertiert das Signal.

näle und einen Na+-Einwärtsstrom vermittelt wird, erfolgt die Hyperpolarisation durch Glutamat an den OnBipolaren über einen metabotropen Glutamatrezeptor und eine intrazelluläre Signalkaskade ähnlich wie im Photorezeptor: Ein Na+-Kanal wird geschlossen, der in Abwesenheit von Glutamat geöffnet ist. Glutamat löst über ein G-Protein das Schließen dieser Kanäle aus und führt damit zur Hyperpolarisation der Bipolarzelle. Ein Lichtreiz hyperpolarisiert den Photorezeptor, vermindert die Glutamatausschüttung und bedingt so eine Depolarisation der On-Bipolaren und eine Hyperpolarisation der Off-Bipolaren, die diese Signale dann über erregende Synapsen gleichsinnig an die On-Zentrum- und Off-Zentrum-Ganglienzellen weitergeben. Die Hyperpolarisation der Rezeptoren wird für das On-System bereits im Auge in eine Depolarisation von Bipolar- und Ganglienzellen umgesetzt. Diese Darstellung gilt so für die Zapfen und das photopische Sehen. Die Stäbchenantwort beim skotopischen Sehen verwendet dagegen einen Umweg zu den On- und Off-Zapfenbipolarzellen (Abb. 23.8): Spezielle Stäbchenbipolarzellen werden zunächst durch Lichtreize depolarisiert. Sie erregen Stäbchenamakrine, die dann On-Bipolare über eine elektrische Synapse erregen

OFF-Zellen

Axone im N. opticus

ON-Zellen

OFF-Zellen

Ganglienzellen ON-Zellen

696

B Beleuchtung im Umfeld

B Licht im Umfeld wirkt auf den Photorezeptor im Zentrum über die laterale Horizontalzellverschaltung hemmend (negative Rückkoppelung auf den Photorezeptor, Transmitter unbekannt); das Signal wird invertiert und führt zu einer Depolarisation am Photorezeptor, die im On-Kanal hemmend, im Off-Kanal erregend wirkt (nach 16).

und Off-Bipolare über eine chemische Synapse hemmen. Damit lösen sie an den Ganglienzellen dieselben Lichtantworten aus wie das Zapfensystem.

Hemmende Umfelder verstärken den visuellen Kontrast Die Horizontalzellen spielen eine wichtige Rolle bei der Signalverarbeitung in der Netzhaut. Sie sind an der Entstehung des retinalen Zentrum-Umfeld Antagonismus beteiligt, der auf einer lateralen Hemmung zwischen Umfeld und Zentrum beruht (Abb. 23.11 B). Seitlich gelegene Photorezeptoren übertragen ihre Signale gleichsinnig über erregende Synapsen auf die Horizontalzellen. Diese hemmen über invertierende Synapsen benachbarte Photorezeptoren. Somit löst ein Lichtreiz in der Peripherie am Photorezeptor im Zentrum umgekehrte Effekte aus als ein Licht im Zentrum. Durch die lateralen Hemmungsmechanismen entstehen in der Netzhaut konzentrische, antagonistische rezeptive Felder, die kontrastverstärkend wirken. Man findet sie bereits bei den Bipolarzellen, besonders ausgeprägt aber bei den On- und Off-Zentrum-Feldern der

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23.4 Signalverarbeitung in der Netzhaut

Elektrische Signale ermöglichen objektive Bestimmungen der Netzhautfunktion

A Simultankontrast

– – + –

– – +– –

B Hermann-Gitter

– – + – –

– + –

C Erregungsmuster im rezeptiven Feld

Abb. 23.12 Psychophysische Beispiele lateraler Hemmung: Simultankontrast und Hermann-Gitter. A Beide Kreisflächen haben die gleiche Graustufe, dennoch erscheint das Grau im hellen Umfeld dunkler und im dunklen heller. B Die Kreuzungsstellen im Gitter erscheinen dunkler als die Streifen. Das gilt bei zentraler Fixation nicht für die Kreuzung in der Mitte (wegen der zentral kleineren rezeptiven Felder). C Erklärung der Täuschungen durch Hemmung aus der RF-Peripherie von On-Zentrum-Neuronen. In beiden Fällen führt die stärkere Reizung der hemmenden Peripherie (am Rand des hellen Umfeldes in A und an den Kreuzungsstellen in B) zu einer geringeren Helligkeitswahrnehmung.

retinalen Ganglienzellen. Bei einer On-Zentrum-Zelle führt „Licht an“ im Zentrum zu einer erhöhten Impulsrate (On-Erregung), „Licht aus“ im Zentrum führt zu einer verminderten Impulsrate (Off-Hemmung). Entgegengesetzt wirkt sich die Reizung des Umfeldes derselben OnZentrum-Zelle aus. „Licht an“ im Umfeld führt zu einer verringerten Impulsrate (On-Hemmung), während „Licht aus“ zu einer erhöhten Impulsrate führt (Off-Erregung). Genau spiegelbildlich verhalten sich die Off-ZentrumZellen. Eng verbunden mit den funktionellen Eigenschaften der Netzhaut sind einige bekannte psychophysische Beobachtungen. Nach längerer Fixation eines visuellen Musters entstehen Nachbilder (Sukzessivkontrast). Sie beruhen auf lokaler, photochemischer und neuronaler Adaptation. Demgegenüber sind sofort sichtbare Phänomene wie der visuelle Simultankontrast, bei dem die Wahrnehmung einer Fläche durch die Umgebung beeinflusst wird (Abb. 23.12 A, B), eine Folge lateraler Hemmung. Durch die Wirkung der hemmenden Umfelder rezeptiver Felder werden hier Kontraste überhöht und Helligkeitswahrnehmungen verändert. Solche psychophysischen Beobachtungen sind auch Beispiele dafür, dass die dem Sehen zugrunde liegenden photochemischen und neurophysiologischen Mechanismen unter speziellen Bedingungen zu Täuschungen führen können.

Bestimmte Funktionen der Netzhaut können mit klinisch-neurophysiologischen Methoden gemessen werden. So beruht das Elektrookulogramm auf einer Potenzialdifferenz zwischen Pigmentepithel und Rezeptoraußengliedern und spiegelt mögliche Funktionsstörungen in diesem Bereich wider. Das Elektroretinogramm kann der Funktion von Photorezeptoren und dem folgenden neuronalen Netzwerk zugeordnet und entsprechend interpretiert werden. Die klassischen Untersuchungen des Sehsystems beruhen auf subjektiven Aussagen des Patienten. Durch klinischneurophysiologische Messungen können jedoch auch einige objektive Aussagen gemacht werden. Zwischen dem Pigmentepithel und den Rezeptoraußengliedern besteht eine Potenzialdifferenz, das korneoretinale Bestandspotenzial, das zu einer relativen Positivität des vorderen Augenabschnitts gegenüber dem hinteren führt. Das Elektrookulogramm (EOG) (Kap. 22 und 26) entsteht als Folge dieses elektrischen Dipols und kann mit Elektroden beiderseits an den Schläfen zur Darstellung von Augenbewegungen genutzt werden. Das Bestandspotenzial ist belichtungsabhängig. Bei Dunkeladaptation fällt es ab, bei Helladaptation steigt es auf den doppelten Wert. Dieses Phänomen wird diagnostisch genutzt. Bei Störungen des Stoffwechsels zwischen Pigment- und Sinnesepithel, wie z. B. fortgeschrittener diabetischer Retinopathie, ausgedehnter Netzhautablösung oder Medikamentenvergiftungen (z. B. durch Chloroquin) ist der Anstieg des Potenzials bereits vermindert, bevor irgendwelche subjektiven oder ophthalmoskopisch sichtbaren Veränderungen auftreten.

Zur Ableitung von Signalen aus der Netzhaut liegt eine ringförmige, differente Elektrode in einer Kontaktlinse eingebettet auf der Kornea, die indifferente Elektrode an der Stirn. Das frühe Rezeptorpotenzial (early receptor potential – ERP) und das Elektroretinogramm (ERG) stehen im direkten Zusammenhang mit dem photorezeptorischen Prozess und der Signalverarbeitung im neuronalen Netzwerk der Retina (Abb. 23.13). Das ERP tritt nach einem kurzen Lichtblitz mit einer Latenz unter 1 ms und einer Dauer von 1,5 ms auf und stellt das bioelektrische Äquivalent der primären Rezeptorprozesse in den Photorezeptoren (lichtinduzierter Abbau der Sehfarbstoffe) dar. Trotz der geringeren Zapfenzahl in der Netzhaut beruht dieses Potenzial zu 70% auf der Zapfenantwort. Das Elektroretinogramm zeichnet sich durch verschiedene Komponenten aus, die der zeitlich aufeinander folgenden Aktivität von Netzhautstrukturen zugeordnet werden können. Die negative a-Welle entspricht der elektrischen Aktivierung der Photorezeptoren. Es wird auch als spätes Rezeptorpotenzial (late receptor potential – LRP) bezeichnet. Die Latenz dieser Welle beträgt zwischen 10 und 15 ms und liegt damit weit hinter dem ERP, das nach 2 ms abgeschlossen ist. Die aufwärts gerichtete positive b-Welle entspricht der Aktivität der

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697

698

23 Sehsystem

ERP (early receptor potential)

a=1’(1/60°)

ERG (Elektroretinogramm)

K

d



c-Welle

b-Welle

A Visusbestimmung mit Landolt-Ring x a »10’’ d-Welle OFF-Effekt = LRP (late receptor potential)

C foveales Zapfenmosaik

Lichtreiz 1

2

3

4

Zeit (s)

Abb. 23.13 Frühes Rezeptorpotenzial (ERP) und Helligkeitselektroretinogramm (ERG) in Beantwortung eines Ganzfeldlichtreizes von 1 s Dauer (gelber Balken, unten). ERP und die reizabhängigen Wellen (a – d) des ERG lassen sich bestimmten retinalen Funktionen zuordnen (s. Text).

nachgeschalteten Netzhautzellen. Parallel zur b-Welle ändert sich auch das Membranpotenzial der Glia (MüllerZellen). Mit einer Verzögerung von etwas über 1 s beginnt die langsame c-Welle. Sie wird der Reaktion der Pigmentepithelzellen zugeordnet. Bei Licht-aus entsteht die dWelle (Off-Effekt), die durch das Ende der a-Welle mitbedingt wird. Nur a-, b- und d-Wellen sind Ausdruck intraretinaler Informationsverarbeitung. Bei akutem Zentralarterienverschluss fallen die inneren Netzhautschichten aus, während durch die getrennte Blutversorgung die Rezeptorschicht funktionell intakt bleibt. In diesem Fall zeigt das ERG nur noch die a-Welle. Demgegenüber fällt bei Netzhautablösung wegen der fehlenden Blutversorgung der Rezeptorschicht das gesamte ERG aus. Eine klinische Bedeutung des ERG liegt in der Beurteilung der Netzhautfunktion bei Trübungen der brechenden Medien zur Bestimmung der Operationsindikation (z. B. bei intraokular liegenden Metallfremdkörpern wie Eisen, Kupfer). Eine wichtige Rolle spielt das ERG bei erblichen degenerativen Netzhauterkrankungen (Retinitis pigmentosa S. 693). Hier kann bereits lange vor Auftreten klinischer Symptome eine Voraussage über die mögliche Manifestation oder das Ausbleiben dieser erblichen Krankheit gemacht werden.

23.5

x

B Noniussehschärfe

a-Welle

0

x » 2,4 – 2,6 mm

Sehschärfe

Die Sehschärfe (Visus) ist der Kehrwert des räumlichen Auflösungsvermögens des Auges in Winkelminuten. Die normale Sehschärfe (Visus = 1) liegt vor, wenn Einzelheiten eines Zeichens erkannt werden, die 1 Winkelminute Sehwinkel entsprechen. Die Noniussehschärfe, bei der ein Kontursprung erkannt wird, ist 5 – 10fach größer. Die Grundlage der Sehschärfe ist das Photorezeptormosaik der Netzhaut sowie die Größe und Funktion der weiterverarbeitenden rezeptiven Felder.

x d’

x

x » 2,5 mm

D maximale Auflösung

Abb. 23.14 Grundlagen der Sehschärfe. A Landolt-Ring mit Lücke d und Abbildung d' im Auge. B Kontursprung zur Prüfung der Noniussehschärfe. C Rezeptormosaik in der Primatenretina mit Zapfenreihenabstand x (schematisch nach 28). D Interpretation der maximalen räumlichen Auflösung in Bezug auf den mittleren Zapfenreihenabstand x in der Fovea (nach 25).

Die Sehschärfe ist vom retinalen Ort und der Helligkeit abhängig, sie verringert sich mit Abstand von der Fovea und bei abnehmender Helligkeit.

Das Mosaik der Photorezeptoren und die rezeptiven Felder bestimmen die Sehschärfe Die Bestimmung der Sehschärfe (Visus) ist eine der wichtigsten Kontrollen für die Funktion des Auges. Die Sehschärfe ist der Kehrwert des in Winkelminuten angegebenen räumlichen Auflösungsvermögens des Auges. Visus = 1/α (Winkelminuten–1) Wenn eine Lücke (d) im Landolt-Ring (Abb. 23.14 A) unter einem Sehwinkel von 1 Winkelminute von der Netzhaut aufgelöst wird, beträgt der Visus 1. Das ist (zufälligerweise) der Wert für die normale Sehschärfe unter derart standardisierten Testbedingungen. Der Visus kann besser als 1 sein, Jugendliche erreichen oft Werte von 1,2 – 1,6. 5 – 10fach größer als der normale Visus ist die Noniussehschärfe (5 – 10 Winkelsekunden Auflösung), bei der ein Sprung im Verlauf einer Kontur wahrgenommen wird (Abb. 23.14 B). Die Sehschärfe ist in der Fovea am größten und nimmt zur Peripherie der Netzhaut hin ab. Sie spiegelt die räumliche Verteilung der Netzhautzellen mit ihrer höchsten Dichte in der Fovea centralis wider. Das trianguläre foveale Zapfenmosaik (Abb. 23.14 C) hat einen minimalen Zapfenmittenabstand von 2,8 – 3,0 µm und einen Zapfen-

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23.6 Topographie der zentralen Sehbahn

23.6 Topographie der zentralen Sehbahn Benachbarte Orte der Netzhaut werden auch im weiteren Verlauf der Sehbahn benachbart abgebildet. Dabei wird der Bereich um die Fovea centralis im Vergleich zur Peripherie vergrößert repräsentiert. Durch die Kreuzung der nasalen Nervenfasern von beiden Augen in der Sehnervenkreuzung ist die linke Gesichtsfeldhälfte beider Augen in der rechten Gehirnhälfte und die rechte Gesichtsfeldhälfte entsprechend in der linken Gehirnhälfte abgebildet. Mit der Perimetrie werden die monokularen Gesichtsfelder der Augen bestimmt. Dabei können mögliche Gesichtsfeldausfälle festgestellt werden, deren Lage und Form Rückschlüsse auf den Ort der zugrunde liegenden Schädigungen zulassen.

Sehschärfe

1,0

Papilla nervi optici (blinder Fleck)

–1

Sehschärfe (Winkelminuten )

0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3

photopisch (Licht)

skotopisch (Dämmerung)

0,2 0,1 0

Rezeptordichte

160 2

Rezeptordichte (1000 mm )

reihenabstand von 2,4 – 2,6 µm. Das Auflösungsvermögen der Netzhaut von 1 Winkelminute (60 Winkelminuten = 1 Grad) entspricht der Trennung von Punkten mit einem retinalen Abstand von 5 µm (18 = 300 µm, 300 : 60 = 5 µm). Es können demnach gerade zwei Punkte aufgelöst werden, die zwei Zapfen erregen, denen ein weiterer, unerregter Zapfen zwischengelagert ist (Abb. 23.14 D). Die oben erwähnte Noniussehschärfe („hyperacuity“) bei Betrachtung eines Kontursprungs kann nur durch komplexe Weiterverarbeitung in den nachgeschalteten neuronalen Netzwerken erklärt werden. Bei Helladaptation können wir davon ausgehen, dass in der Fovea centralis rezeptive Felder existieren, bei denen funktionell ein Zapfen das rezeptive Feldzentrum einer Ganglienzelle repräsentiert, während die umliegenden Zapfen zum hemmenden Umfeld beitragen (vgl. Abb. 23.11 B). Zur Netzhautperipherie hin werden die rezeptiven Feldzentren, die die funktionelle Grundlage der Sehschärfe darstellen, größer. Es konvergieren immer mehr Rezeptoren auf das Feldzentrum. Zugleich nimmt die Rezeptordichte ab und der Rezeptorabstand zu (bereits 48 extrafoveal beträgt der mittlere Zapfenabstand etwa 10 µm). Entsprechend nimmt die Sehschärfe zur Netzhautperipherie hin ab (Abb. 23.15). Überdies verringert sich für jeden retinalen Ort die Sehschärfe bei abnehmender Leuchtdichte, weil die rezeptiven Feldzentren zur effektiven Erregungssummation funktionell größer werden, während sich ihre hemmende Peripherie verkleinert. Beim Übergang zum skotopischen Sehen verringert sich die Sehschärfe weiter und ist bei völliger Dunkeladaptation am kleinsten. Dann ist nämlich der rezeptive Feldantagonismus aufgehoben. Die für das Tagessehen zuständigen Zapfen haben die größte Dichte in der Fovea centralis, während die beim Dämmerungs- und Nachtsehen aktiven Stäbchen in der Fovea fehlen. Sie sind stattdessen parafoveal (15 – 208 Sehwinkel außerhalb der Fovea) am häufigsten (Abb. 23.15 unten). Die Fovea ist beim skotopischen Sehen „blind“. Deshalb werden schwache Sterne am Nachthimmel nur beim Vorbeiblicken gesehen, während sie bei genauer Fixation verschwinden.

120 Stäbchen 80

Zapfen

40

0

60° 50° 40° 30° 20° 10°

nasal



10° 20° 30° 40°

Fovea

50°

temporal

Abb. 23.15 Photopische und skotopische Sehschärfe und Zapfen- und Stäbchendichte in der Netzhaut. Die orange bzw. rote Kurve gibt die photopische Sehschärfe bzw. Zapfendichte mit dem Maximum in der Fovea wieder. Die schwarze bzw. blaue Linie zeigt die skotopische Sehschärfe und die retinale Verteilung des dazugehörigen Stäbchensystems. Unterbrechung der Kurven im rezeptorfreien Bereich der Papilla n. optici (blinder Fleck).

Benachbarte Orte der Netzhaut werden im Gehirn benachbart abgebildet Die Nervenfasern der retinalen Ganglienzellen verlassen gemeinsam durch die Papilla n. optici das Auge und ziehen zur Sehnervenkreuzung (Chiasma opticum), wo die nasalen Fasern der Netzhaut kreuzen, während die temporalen ungekreuzt zentralwärts ziehen. Wegen der Bildumkehr bei der optischen Abbildung repräsentieren die nasalen Fasern der Netzhaut die temporale und die temporalen Fasern die nasale Gesichtsfeldhälfte. Auf diese Weise entsteht die gekreuzte Projektion der beiden Gesichtsfeldhälften in die beiden Hemisphären des Gehirns (Abb. 23.16 A, 23.18). Eine Ausnahme dabei bildet nur der innerste Bereich des zentralen Gesichtsfeldes, der beiderseitig repräsentiert wird. Nach dem Chiasma opticum verlaufen die gekreuzten Fasern des kontralateralen und die ungekreuzten Fasern des ipsilateralen Auges gemeinsam im Tractus opticus, geben Abzweigungen zur prätektalen Region und zu den Colliculi superiores ab und erreichen das Corpus geniculatum laterale (CGL). In dieser im Thalamus gelegenen Schaltstation der Sehbahn

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699

700

23 Sehsystem

Zentrum Peripherie: zentrumnah außen

A B

C D

Gesichtsfeld

links

rechts

Nervus opticus Chiasma opticum Prätektum

Tractus opticus

Corpus geniculatum laterale Colliculi superiores

Radiatio optica

zentrale Sehbahn dorsal

primäre Sehrinde (Area 17),

B A

D C

„auseinander geklappt“ Sulcus calcarinus

ventral

Abb. 23.16 Topographie der Sehbahn. Halbschematische Darstellung der zentralen Sehbahn und Topographie der Projektion der rechten (rot) und linken (grün) Gesichtsfeldhälften. Oben: Gesichtsfeld in Sektoren unterteilt und mit A – D gekennzeichnet. A, B = zentrales Gesichtsfeld (dunkle Farbe), C, D = zentrumnahe Peripherie (mittlere Farbe) und die anschließende äußere Peripherie des Gesichtsfeldes (blasse Farbe). Unten wurde die Projektion des Gesichtsfeldes in der primären Sehrinde durch Auseinanderklappen der Hemisphären am Okzipitalpol sichtbar gemacht (nach 8).

erfolgt eine monosynaptische Übertragung von den Sehnervenfasern auf die genikulären Schaltzellen, deren Axone ohne weitere Verschaltung als Radiatio optica in die Eingangsschichten der primären Sehrinde (Area 17) ziehen. Benachbarte Orte der Netzhaut werden in Corpus geniculatum laterale und Sehrinde benachbart abgebildet (retinotope Abbildung). Bedingt durch ihre höhere Ganglienzelldichte und die daraus resultierende große Zahl afferenter Fasern nehmen dort zentrale Netzhaut-

bereiche, insbesondere die Fovea centralis, eine überproportional große Projektionsfläche ein, während die Peripherie in der zentralen Sehbahn kleiner repräsentiert ist. Abb. 23.16 B veranschaulicht die topographische Projektion des Gesichtsfeldes auf die primäre Sehrinde. Dort ist die Fovea centralis auf dem hinteren Okzipitalpol abgebildet, mit der unteren Gesichtsfeldhälfte oberhalb der Fissura calcarina (Sulcus calcarinus) und der oberen Gesichtsfeldhälfte darunter. Wegen der gekreuzten Abbildung des Gesichtsfeldes auf der Netzhaut heißt das, dass von beiden Augen Projektionsfasern aus der unteren Netzhaut unterhalb und aus der oberen Netzhaut oberhalb der Fissura calcarina innervieren. Die Peripherie des rechten Gesichtsfeldes ist rostralwärts auf der medialen Seite der linken Hemisphäre repräsentiert. Hier werden temporal gelegene Netzhautorte des gleichseitigen Auges und nasal gelegene Netzhautorte des gegenseitigen Auges gemeinsam rostralwärts abgebildet (s. a. Abb. 23.18).

Bei der Perimetrie entstehen Karten des Gesichtsfeldes Die Perimetrie dient der klinischen Prüfung des Gesichtsfeldes. Dazu werden Karten der Gesichtsfelder beider Augen aufgenommen. Perimeter und normale Gesichtsfeldkarten sind in Abb. 23.17 dargestellt. Zur Perimetrie wird das Zentrum der Perimeterhalbkugel mit einem Auge genau fixiert. Dann werden definierte Lichtreize langsam aus der Peripherie ins Zentrum des Gesichtsfeldes bewegt (Kinetische Perimetrie, Abb. 23.17 A). Die erste Wahrnehmung des Reizes entspricht der Gesichtsfeldgrenze; weicht diese vom Normalverlauf ab oder wird der Reiz bei weiterer Bewegung zur Mitte des Gesichtsfeldes hin wiederum nicht mehr gesehen, handelt es sich um die Grenze eines Gesichtsfeldausfalls (Skotom). Durch Wiederholung dieses Messvorgangs in verschiedenen Meridianen wird das gesamte monokulare Gesichtsfeld bestimmt (Abb. 23.17 B). Das Gesichtsfeld für unbunte Reize ist am größten, das Gesichtsfeld für die Farbwahrnehmung ist eingeschränkt (die Zapfendichte ist in der Peripherie viel geringer als die Stäbchendichte; dabei ist das Gesichtsfeld für Blau größer als das Gesichtsfeld für Rot). Eine zweite Perimetriemethode ist die statische Perimetrie, bei der die Intensitätsschwelle für unbewegte, definierte Reize im Gesichtsfeld bestimmt wird. 158 temporal des Fixationspunktes misst man auf dem horizontalen Meridian einen Gesichtsfeldausfall von etwa 58 Durchmesser (23.17 B). Es handelt sich um den blinden Fleck, ein physiologisches Skotom, das als Folge der rezeptorfreien Papilla n. optici in der nasalen Netzhauthälfte entsteht (Abb. 23.1, 23.6 A). Der Arzt kann bei vielen Gesichtsfeldausfällen die Orte der Schädigung durch die genaue Kenntnis der Topographie der Sehbahn voraussagen (Abb. 23.18). So liegen monokulare Ausfälle immer vor der Sehnervenkreuzung (Netzhaut oder N. opticus), in beiden Augen temporale (bitemporale) oder seltene binasale Schäden im Chiasmabereich, und homonyme (im Ge-

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23.7 Neurophysiologie des zentralen Sehsystems 360

Gesichtsfeld des linken Auges

Gesichtsfeld des rechten Auges

80 60 40

R

F

blinder Fleck

20

blinder Fleck

90

270

A Schema des Hohlkugelperimeters B typische Gesichtsfeldkarten

Abb. 23.17 Perimetrie und Gesichtsfeldkarten. A Hohlkugelperimeter mit Kinnstütze und Stirnband zur Positionierung des Kopfes. F = Fixationspunkt, R = Reizmarke, entlang des rot unterbrochen gekennzeichneten Meridians bewegt.

sichtsfeld gleichseitige) Ausfälle beruhen auf Ausfällen der Sehbahn hinter der Sehnervenkreuzung (Tractus opticus, Corpus geniculatum laterale, Sehstrahlung und Sehrinde). Weitere Aufschlüsse gibt die Form der Skotome: Posthornund strahlenförmige Ausfälle spiegeln den Verlauf der Fasern innerhalb der Netzhaut wider und deuten auf retinale Schädigungen; parazentrale, fleck- oder bogenförmige Skotome sind typisch für die Schädigung der Nervenfasern an der Papille beim Glaukom. Ringförmige Skotome treten im Spätstadium des Glaukoms und bei toxischen Schädigungen des N. opticus auf. Homonyme Teilausfälle mit größeren Unterschieden zwischen den beiden Augen weisen auf den Tractus opticus oder die Radiatio optica hin (geringere topographische Ordnung in den Faserbahnen), während deckungsgleiche, homonyme Ausfälle die genaue retinotope Ordnung der Zellen in der primären Sehrinde zeigen. Infarkte am Okzipitalpol betreffen nur das kontralaterale, zentrale Gesichtsfeld (Abb. 23.18 e), lokalisierte Schädigungen an der Innenseite der Hemisphäre (Abb. 23.18 f) sparen gerade diesen zentralen Bereich aus und bedingen periphere Skotome.

23.7

Neurophysiologie des zentralen Sehsystems

Die direkte Projektion von der Retina zur primären Sehrinde im okzipitalen Kortex zieht über das Corpus geniculatum laterale (CGL). Vor dem CGL zweigen Fasern zur prätektalen Region und zu den Colliculi superiores ab. Die Colliculi superiores sind an der Steuerung der Blickmotorik beteiligt, die prätektale Region ist Zentrum des Pupillenreflexes. Im CGL erfolgt die getrennte Verschaltung eines schnellen, großzelligen Systems für

180

B Gesichtsfeld des linken Auges (violett) und des rechten Auges (blau). Die jeweiligen blinden Flecken sind entsprechend dargestellt. Die Summe beider monokularer Gesichtsfelder ergibt das binokulare Gesichtsfeld.

das Bewegungssehen und eines langsameren, kleinzelligen Systems für die Farb- und Musteranalyse. Hier werden die Zellen auch durch Einflüsse aus dem Hirnstamm moduliert. Im visuellen Kortex enden die Axone aus dem CGL in den Schichten IV und VI. Intrakortikale Verarbeitung führt zu höherer Komplexität und Spezifität der Zelleigenschaften. Spezielle neuronale Substrukturen verarbeiten parallel Form, Farbe und Bewegung von gesehenen Dingen. Die unteren Kortexschichten projizieren zurück zu den subkortikalen Zentren, die oberen leiten weiter zu visuellen Kortexarealen höherer Ordnung. Dort wird durch zunehmende Spezialisierung der Neurone eine Analyse hochkomplexer Muster oder Bewegungsabläufe durchgeführt.

Unterschiedliche Zellklassen verarbeiten Detail-, Farb- und Bewegungsinformation In der Retina werden drei Hauptganglienzellklassen unterschieden (Abb. 23.19), die magnozellulären Ganglienzellen (M-Zellen) mit großen Zellkörpern und Dendritenfeldern (10%), die parvozellulären Zellen (P-Zellen) mit kleineren Zellkörpern und kleinen Dendritenfeldern (80 %) und eine heterogene Gruppe retinaler Zellen mit kleinen Somata, aber großen, spärlich verzweigten Dendritenfeldern (10%). Mit dieser unterschiedlichen Häufigkeit sind die Zellklassen sowohl in der Fovea wie in der Peripherie zu finden. Die P-Zellen antworten eher tonisch auf konstante Lichtreize, sind farbempfindlich, haben kleine rezeptive Felder und bieten damit eine hohe räumliche Auflösung für die Musteranalyse und die Grundlage für das Farbensehen. Die M-Zellen haben

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701

702

23 Sehsystem links

rechts

Gesichtsfeld

Ausfälle

Ausfälle

kontralaterales Auge

ipsilaterales Auge

P

Abbildung in der Retina

8,5 mm

P

a

Repräsentation in allen 6 Schichten

a b

b

M

Zelltypen in der Retina

1,6 mm

a

N. opticus

M

dorsal

b

1 mm

Chiasma

c

d

c

Tractus opticus

5 4 6 3 parvozellulär

d

CGL

Modulationen vom Hirnstamm

Radiatio optica

e

c

ventral

2 1 magnozellulär

d

e

f

Corpus geniculatum laterale vom zum visuellen Kortex

f

e Area 17

f

Abb. 23.18 Gesichtsfeldausfälle bei Läsionen der Sehbahn. Schema der Sehbahn mit Läsionsorten a – f und den dazugehörigen Gesichtsfeldausfällen im rechten und linken Auge (nach 2). d betrifft die Sehstrahlung, e und f die primäre Sehrinde. Zum genaueren Verständnis sei auf Abb. 23.16 verwiesen. CGL = Corpus geniculatum laterale.

größere rezeptive Felder, sie antworten phasisch auf Leuchtdichteänderungen im rezeptiven Feld und sind so besonders zum Bewegungssehen geeignet. In der zentralen Projektion wird diese Unterteilung in anatomischfunktionellen Klassen aufrechterhalten: M- und P-Zellen projizieren über den Thalamus zur primären Sehrinde, die heterogene Gruppe mit kleinen Zellkörpern sendet ihre Fasern vorwiegend ins Mittelhirn (prätektale Region, Colliculi superiores). Die heterogene Gruppe enthält auch die blaufarbempfindlichen Ursprungszellen des sog. koniozellulären (K-) Systems, das über das Corpus geniculatum laterale (s. u.) zur primären Sehrinde projiziert.

Die getrennte Verarbeitung von Bewegungs-, Farb- und Mustersehen bleibt im Verlauf der subkortikalen Sehbahn erhalten Das dorsale Corpus geniculatum laterale (CGL) ist die beiderseitig angelegte thalamische Schaltstation der Sehbahn zwischen Retina und visuellem Kortex. Durch retinotope Abbildung entsteht hier gleichsam eine innere

Abb. 23.19 Die thalamische Verschaltung der Sehbahn. Projektion in das sechsschichtige Corpus geniculatum laterale des Primaten. Ipsi- und kontralaterales Auge mit Strahlengang der Abbildung eines Punktes aus dem kontralateralen Gesichtsfeld. Vergrößerungen zeigen die M- und PZellen des Primaten foveanah (1,6 mm entfernt) und etwas weiter peripher (8,5 mm entfernt) in jeweiliger Größenrelation (nach Perry). Im Corpus geniculatum laterale: 1 und 2 = magnozelluläre Schichten, 3 – 6 = parvozelluläre Schichten. Eine dorsoventrale Projektionslinie zeigt die Repräsentation des abgebildeten Punktes durch alle Schichten. Modulatorische Eingänge aus dem Hirnstamm, kortikopetale und kortikofugale Verbindungen sind durch Pfeile angedeutet (nach 6 und 9).

Netzhaut, in der die Signale auf dem Weg zur Hirnrinde weiterverarbeitet und moduliert werden können. In sechs im Wechsel von beiden Augen innervierten Schichten ist das kontralaterale Gesichtsfeld retinotopisch in dorsoventralen Säulen repräsentiert (Abb. 23.19). Die großen Zellen in den magnozellulären ventralen Schichten 1 und 2 haben größere rezeptive Felder, höhere Leitungsgeschwindigkeit und sind besonders zur Bewegungsanalyse geeignet. Sie erhalten ihre Eingänge von den M-Zellen aus der Retina. Demgegenüber haben die Zellen in den parvozellulären, dorsalen Schichten 3 – 6 kleinere, farbempfindliche rezeptive Felder, geringere Leitungsgeschwindigkeit und stärkeren Zentrum-Umfeld-Antagonismus. Sie erhalten ihren retinalen Eingang von den PGanglienzellen der Netzhaut und können eher zur Feinanalyse von Farbe und Form beitragen. Zwischen den parvo- und magnozellulären Schichten befinden sich

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23.7 Neurophysiologie des zentralen Sehsystems jeweils schmale koniozelluläre Schichten, in denen die blauempfindlichen K-Zellen der Netzhaut zur Sehrinde weiterverschaltet werden. Einflüsse nichtvisueller Regionen des Hirnstamms, interne Hemmnetzwerke sowie Rückprojektionen vom Kortex ermöglichen im CGL vielfältige Interaktionen. Die zusätzlich vorhandenen nichtretinalen modulatorischen Eingänge des CGL dienen einer verhaltensadäquaten Anpassung der visuellen Signalübertragung. Kortikofugale Eingänge ermöglichen durch eine topographisch spezifische Rückkopplung, die Übertragung in bestimmten Gesichtsfeldregionen besonders hervorzuheben oder zu unterdrücken. Laterale Hemmung durch lokale Interneurone führt im CGL zu weiterer Kontrastverschärfung. Ein Teil der Ganglienzellaxone zweigt nach der Sehnervenkreuzung zu den Colliculi superiores und in die prätektale Region im Mittelhirn ab (Abb. 23.16). Sie stammen von M-Zellen und von der kleinen, heterogenen Gruppe von Netzhautzellen, die bei Primaten nicht zum CGL projizieren. In den Colliculi superiores sind die rezeptiven Felder groß, reagieren bevorzugt auf bewegte Reize mit bestimmter Richtung und sind deshalb mehr zur Bewegungs- als zur Musteranalyse geeignet. Wie im CGL liegt auch in den Colliculi superiores eine retinotope Abbildung der kontralateralen Gesichtsfeldhälften vor. Neben visuellen Eingängen sind auch somatosensorische und auditorische Eingänge (s. S. 668) mit entsprechender topographischer Zuordnung des Raumes in vertikalen Säulen repräsentiert. Außerdem finden sich in den tiefen Schichten Zellen, die einen direkten Einfluss auf die Blickmotorik haben (Kap. 26). Nervenzellen der Colliculi superiores adaptieren schnell auf gleichartige Reize, wohingegen das Auftreten neuartiger Reize starke Antworten auslöst. So werden in der Peripherie auftauchende Reize erkannt und können mit einer Sakkade in den fovealen Bereich zentriert werden. Damit sind die Colliculi superiores eine Art Reflexzentrum für einen „visuellen Greifreflex“, der auch durch Schallreize ausgelöst werden kann. Die prätektale Region rostral der superioren Colliculi ist das visuelle Reflexzentrum für den Pupillenreflex (S. 690).

Orientierung, Größe, Bewegungsrichtung und Farbe der Reize bestimmen die Antwort von Zellen in der primären Sehrinde Der primäre visuelle (striäre) Kortex (Area 17), auch V 1 genannt, befindet sich im Okzipitallappen des Gehirns. In einer Dicke von etwa 3 mm liegen sechs Schichten, in denen Signale aufgenommen, intrakortikal verarbeitet und an andere Rindengebiete oder subkortikale Strukturen weitergegeben werden (Abb. 23.20 B). Die Haupteingangsschichten für die Axone aus dem CGL in den primären Kortex sind die Schichten 4 und 6 (Abb. 23.20). Die intrakortikale Informationsverarbeitung erfolgt innerhalb eines kortikalen Moduls in erster Linie in den Schichten 2 und 3 (Abb. 23.20 B). Ausgänge bilden die Pyramidenzellen der Schichten 5 und 6, die in die Colliculi superiores und das CGL projizieren. Verbindungen zu anderen Kortexarealen entspringen der Schicht 3 und 4. In Schicht 1 befinden sich weitere kortiko-kortikale Verbindungen.

In ihren neuronalen Antworten sind nur bestimmte Zellen der Schicht 4 mit den subkortikalen Zellen der Retina und des CGL vergleichbar. Sie haben konzentrische rezeptive Felder, die durch kleine Lichtpunkte optimal erregt werden können. Die übrigen Zellen des primären visuellen Kortex zeichnen sich durch eine höhere Reizantwortspezifität aus (Abb. 23.21). Die Mehrzahl der kortikalen Zellen antworten spezifisch auf Reize (z. B. Lichtbalken) bestimmter Orientierung im Raum (Orientierungsspezifität, Abb. 23.21 B). Viele Zellen bevorzugen dabei bewegte Reize, und oft ist auch die Richtung der Bewegung noch für die Auslösung einer Antwort entscheidend (Richtungsspezifität, Abb. 23.21 C). Richtungsselektive Zellen antworten bei optimaler Reizorientierung nur bei Bewegungen in eine Richtung, nicht jedoch in die entgegengesetzte. Eine weitere Spezifität, die Endhemmung, führt zu optimalen Antworten nur bei einer bestimmten Länge eines Lichtbalkens. Reize, die diese Länge überschreiten, werden aufgrund starker Hemmung nicht oder stark vermindert beantwortet (Abb. 23.21 D). Man unterscheidet einfache Zellen mit kleinen rezeptiven Feldern, die wegen ihrer getrennten erregenden und hemmenden Subfelder auf die exakte Lokalisation eines Reizes reagieren. Ferner gibt es komplexe Zellen. Sie haben größere rezeptive Felder ohne getrennte Subfelder und sind von der exakten Position des Reizes relativ unabhängig (Ortsinvarianz). Drittens gibt es hyperkomplexe Zellen. Sie zeigen die o. g. Endhemmung und können ansonsten einfache und auch komplexe Feldeigenschaften besitzen. Intrakortikale, inhibitorische Schaltkreise sind an den kortikalen Spezifitäten maßgeblich beteiligt. Dazu enthalten ca. 20 % der kortikalen Zellen den Transmitter GABA. Im primären visuellen Kortex sind Zellen mit einander ähnlichen Eigenschaften nach ganz bestimmten topographischen Regeln angeordnet (Abb. 24.20 C). Dabei ist ein wichtiges Ordnungsprinzip die bevorzugte Erregung der Zellen vom rechten oder linken Auge, die so genannte Okularität. Die vom linken und die vom rechten Auge dominierten Zellen liegen jeweils in etwa 0,5 mm breiten okulären Dominanzsäulen (Abb. 23.22 A, B, Abb. 23.20 C). Die Orientierungsspezifität folgt einem ähnlichen Organisationsprinzip. Orientierungssäulen enthalten Zellen gleicher Orientierungsspezifität (z. B. Antwort nur auf horizontale oder vertikale Reize). Diese schmaleren Säulen (etwa 50 µm) befinden sich innerhalb der okulären Dominanzsäulen (Abb. 23.20 C). Die gleiche Orientierung kehrt ebenso wie die okuläre Dominanz jeweils nach etwa einem Millimeter wieder (Abb. 23.20 C und 23.22). Dies beruht auf der Organisation des visuellen Kortex in so genannten Hyperkolumnen. In den Schichten 2/3 und 5/6 sind farbspezifische Zellen ohne Orientierungs- und Richtungsspezifität in zylindrischen, regelmäßig angeordneten Strukturen („blobs“, Abb. 23.20 C) zusammengefasst, die sich bei der Anfärbung des Mitochondrienenzyms Cytochromoxidase als besonders aktive Gebiete darstellen. Eine Hyperkolumne ist ein Teil des visuellen Kortex mit einer Oberfläche von rund 1 × 1 mm, der sich über sämtliche Schichten in die Tiefe erstreckt (Abb. 23.20 C). Die Hyperkolumne ist ein kortikales Analysemodul, das sämtliche Orientierungsspezifitä-

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703

1 2 3

Lichtbalken

5

Zellschichten 12 3 4 5 6

Dominanzsäulen kontralaterales Auge ipsilaterales Auge kontralaterales Auge

6

Gesichtsfeld rechts

zu anderen Kortexarealen zu den Colliculi superiores

P

parvozellulär

M

P magnozellulär

Orientierungssäulen

links

4

Zellschichten

23 Sehsystem

Area 17, V1

704

Corpus geniculatum laterale (CGL)

B Ein- und Ausgänge des visuellen Kortex

Colliculi superiores

CGL weiße Substanz

Hyperkolumne

siehe C

primärer visueller Kortex

Cytochromoxidaseflecken („blobs“)

siehe B

A Sehbahn (Gehirn von unten)

C Hyperkolumne als kortikales Analysemodul

Abb. 23.20 Projektion der Sehbahn in die primäre Sehrinde. A Darstellung der Sehbahn. Ein orientierter Lichtreiz wird kontralateral in V1 verarbeitet. B Signalverarbeitung innerhalb einer kortikalen Kolumne mit der spezifischen Verschaltung der magnozellulären (M) und parvozellulären

hemmend A

B

Reiz

(P) Afferenzen aus dem CGL. C Hyperkolumne mit okulären Dominanzsäulen, Orientierungssäulen und den nicht orientierungsspezifischen Cytochromoxidasezylindern („blobs“; nach 19).

rezeptives Feld

Lichtreiz

erregend

spezifisch für Orientierung

spezifisch für Richtung

C

Antwort

Reiz

D

Antwort

Dauer

spezifisch für Länge

Reiz

Antwort

neuronale Antworten im Kortex

Dauer

Dauer

Abb. 23.21 Kortikale Antwortspezifitäten am Beispiel einer einfachen Zelle. A Erregende (rote) und hemmende (blaue) Bereiche sind im rezeptiven Feld dieser Zelle getrennt. Die neuronalen Antworten (Aktionspotenziale) zeigen die Reaktionen auf Lichtbalken verschiedener Orientierungen

(B), Bewegungsrichtungen (C) und Länge (D). Dabei zeigen sich maximale Antworten nur unter optimalen Reizbedingungen. Die verschiedenen Spezifitäten können gemeinsam in einer Zelle, aber auch getrennt auftreten.

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23.7 Neurophysiologie des zentralen Sehsystems

2 mm

C A

5 mm

B

1 cm

Abb. 23.22 Okuläre Dominanz- und Orientierungssäulen in der primären Sehrinde. A und B Okuläre Dominanzsäulen bei einem monokular enukleierten Patienten. A Histologisches Originalpräparat aus Area 17. Die Färbung der Cytochromoxidase (Enzym der Atmungskette) markiert die Zellen mit stärkerer Aktivität vom gesunden Auge. B Muster der rekonstruierten, okulären Dominanzsäulen, auf die mediale Kortexoberfläche projiziert. Ansicht der rechten Hemisphäre (Okzipitalpol mit Area 17 ober- und unterhalb des Sulcus calcarinus; nach 17). C Orientierungssäulen in Area 17 der Katze. Ein Auge wurde mit einem Streifenmuster fester Orientierung gereizt. Die computergestützte optische Darstellung zeigt die aktivierten Gebiete als dunklere Flecken auf der Gehirnoberfläche. Grundlage der Darstellung ist die stärkere Lichtabsorption von deoxygeniertem Hämoglobin, das in Bereichen mit höherem O2Verbrauch überwiegt.

ten (ebenso wie Farb-, Richtungs- und andere Spezifitäten) und beide okulären Dominanzen für einen Ort im Gesichtsfeld enthält. Benachbarte Hyperkolumnen repräsentieren benachbarte Orte des Gesichtsfeldes. So wird durch die verschiedenen in den Hyperkolumnen vorhandenen Antwortspezifitäten die visuelle Welt zur Vorbereitung weiterer Analysen in verschiedene Teilaspekte zerlegt. V 1 besitzt die Funktion eines „Flaschenhalses“ für die bewusste Wahrnehmung. Eine Schädigung in dieser Region führt zu keinen hochspezifischen Funktionsausfällen, wie im Falle des Ausfalls hierarchisch höherer visueller Areale, sondern zu einer kortikalen Erblindung aller Funktionen bewusster visueller Wahrnehmung.

Form, Farbe, Bewegung und Tiefe werden parallel weiterverarbeitet In den visuellen Kortexregionen von Primaten finden wir eine Parallelverarbeitung von Farb-, Muster- und Bewegungsreizen in getrennten Strukturen, die die getrennte Repräsentation des parvozellulären und des magnozellu-

lären Systems aus Retina und Corpus geniculatum laterale fortsetzen (Abb. 23.24). Die Weiterverarbeitung erfolgt in hierarchisch aufeinander aufbauenden visuellen Zentren, die jeweils reziprok miteinander verbunden sind und auch Querverbindungen aufweisen. Dabei wird das „Wo?“ aus unserer visuellen Welt parietal, das „Was?“ temporal weiterverarbeitet. Die parietale Bahn für das „Wo?“ geht über den mediotemporalen Kortex (MT) in den parietalen Kortex nach präzentral zur Motorik („Aktion“), die temporale Bahn des „Was?“ führt über V4 zum inferotemporalen Kortex (IT) und zu bewusster Wahrnehmung („Perzeption“) und frontobasalen Gedächtnisstrukturen (Abb. 23.23 B). Damit vermitteln die beiden spezialisierten Verarbeitungswege einerseits den Anschluss zur bewussten Wahrnehmung und Speicherung der analysierten Bilder über das Gedächtnissystem mit basalem Vorderhirn, Amygdala, Hippokampus, Thalamus und primären Rindenregionen; andererseits wird über multimodale Regionen auf dem parietofrontalen Weg über postzentrale zu präzentralen Arealen ein fließender Übergang von Sensorik zu Motorik ermöglicht.

Die systematische Einteilung der visuellen Hirnrindenareale in Area 17 (primäre Sehrinde) und Area 18 – 21 (höhere Assoziationsgebiete) folgt der älteren, zytoarchitektonisch begründeten Nomenklatur von Brodmann (s. Abb. 26.18). Die hierarchische Benennung der primären Sehrinde als V1 mit den nachfolgenden Assoziationskortizes V2 – V5 (MT) basiert auf neueren neuroanatomischen Verfahren zur Bestimmung von Projektionsgebieten und auf funktionellen Gesichtspunkten. Im Verlauf der visuellen Signalanalyse erfolgt im primären, visuellen Kortex (Area 17, V1) eine räumliche Trennung von Farb-, Form-, Tiefen- und Bewegungsverarbeitung (Abb. 23.23 A). Das Farbsystem projiziert aus den farbspezifischen Substrukturen („blobs“) der Schichten 2/3 von V1 in schmale, cytochromoxidasereiche, streifenförmige Gebiete von V2 (Area 18), in denen Farbe wiederum getrennt von Bewegung und Form repräsentiert ist. Im weiteren Verlauf werden farbspezifische Zellen insbesondere in V4 (ebenfalls ein Teil von Area 18) beobachtet. Das Formsystem der orientierungsspezifischen Zellen, die außerhalb der „blobs“ in den Schichten 2/3 zu finden sind, setzt sich in cytochromoxidasearme Gebiete von V2 und von dort weiter über V4 nach IT fort. Hochspezifische Leistungen in der Verarbeitung von Form- und Musterdetails werden dann an Einzelzellen im inferotemporalen Kortex (IT, Area 20, 21) gefunden. Die Fortsetzung des magnozellulären Systems (Bewegung, Tiefe) aus Schicht 4 von V1 erfolgt in breiten Cytochromoxidasestreifen in V2 und von dort in den weiter parietal gelegenen Bereichen von V5 (mediotemporaler Kortex, MT, Area 19) und mediosuperiortemporal (MST). In MT und MST findet man Zellen, die bevorzugt auf Bewegung im Raum reagieren. Diese Areale, die bis in das frontale Augenfeld (Area 8) weiterverschaltet sind, dienen der Analyse von Bewegungen und Tiefe sowie zur Steuerung der visuellen Aufmerksamkeit. Die parallele Verarbeitung im Sehsystem wird besonders bei Patienten mit Funktionsausfällen deutlich, die selektiv einen Aspekt der Wahrnehmung, nicht aber andere betreffen (Agnosien) (s. Kap. 28). Bei lokalisier-

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705

23 Sehsystem

V2 primäre Sehrinde V1 1 2 3

MST

Bewegung/Tiefe Form Farbe Form

Farbe Form Bewegung

parietal

FAF

A

MT (V5)

Bewegung/Tiefe

4 5 6 Colliculus superior

Cy toc hro mo xida seStr eife n

kortikale Zellschichten

Form Farbe Form

V3

Bewegung/Tiefe

Form Farbe Form

Bewegung/Tiefe

V4

magnozellulär parvozellulär

IT

CGL

temporal

706

B Pulvinar

parietaler Kortex

extrastriäre Sehbahn

Retina

Colliculus superior

Motorik parietaler Weg „wo?“ Gedächtnis

temporaler Weg „was?“

CGL striäre Sehbahn

inferotemporal

primäre Sehrinde

Abb. 23.23 Übersicht über die Sehbahn und ihre kortikalen Verschaltungen. A Detaillierte Verschaltung des magnozellulären und des parvozellulären Signalstromes in der striären Sehbahn (nach 20). Die Zellschichten in V1 liegen übereinander, die Cytochromoxidasestreifen in V2 sind nebeneinander angeordnet. MT (V5) = mediotemporal,

MST = medial superior temporal, FAF = frontales Augenfeld, IT = inferotemporal (nach 3). B Übersicht über die striäre und extrastriäre Sehbahn mit Aufzweigung der striären Bahn in den parietalen und temporalen Verarbeitungsweg (nach 1).

ten Schädigungen von V4 können isolierte Verluste des Farbensehens, bei Läsionen von MT des Bewegungssehens, beobachtet werden. Dabei sind die Form- und Musterwahrnehmung jedoch ungestört erhalten. Bei beidseitigen, medial gelegenen okzipitotemporalen Läsionen tritt eine isolierte Unfähigkeit der Gesichtererkennung (Prosopagnosie) auf.

Die Leitungsfunktion der Sehbahn lässt sich mit visuell evozierten Potenzialen prüfen Das mit Oberflächenelektroden über der Sehrinde ableitbare visuell evozierte Potenzial hat einen typischen Potenzialzeitverlauf; Veränderungen können auf Leitungsstörungen in der Sehbahn hinweisen. Messungen von evozierten Potenzialen mit Mustern zunehmender räumlicher Feinheit ermöglichen eine objektive Visusbestimmung.

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23.7 Neurophysiologie des zentralen Sehsystems Affe

Mensch

Hand

Hand

Attrappe

Zelle des inferotemporalen Kortex

Gesicht

Zelle des inferotemporalen Kortex

Impulsrate

Reizdauer

A gesichterspezifische Zelle

Als Antwort auf einen Lichtreiz entsteht in der Sehrinde das visuell evozierte Potenzial (VEP), das mit einer differenten Elektrode vom Schädel okzipital abgeleitet werden kann (indifferente Elektrode an Mastoid, Ohr oder Stirn, Abb. 23.25 oben). Das VEP ist Ausdruck des Eintreffens und der Weiterverarbeitung visueller Signale in der Hirnrinde. Nach Lichtblitz oder Schachbrettmusterwechsel (schwarze Felder werden weiß, weiße schwarz) treten typische Wellen auf (Abb. 23.25 unten). Bereits nach etwa 25 – 30 ms ist die erste negative Welle (N1) sichtbar. Besonders wichtig für die Diagnostik ist die ausgeprägte positive Welle P2 („P100“), deren Gipfellatenz im Bereich von 90 – 120 ms liegt und am besten reproduzierbar ist. Während die frühen Wellen die primäre Verarbeitung und Musteranalyse widerspiegeln, korrelieren spätere Wellen, z. B. die ebenfalls ausgeprägte P300, mit höheren Verarbeitungsprozessen, die mit Entscheidungen oder motorischen Antworten verbunden sind. Als pathologisch sind Latenzverlängerungen zu werten, z. B., wenn die P2-Welle signifikant vom Mittelwert der Normalpopulation abweicht. Interokulare Latenzdifferenzen, die um einen signifikanten Betrag voneinander abweichen, können ebenfalls als pathologisch interpretiert werden. Einseitig verlängerte Latenzen und Verkleinerung der Amplituden treten bei Entzündungen des N. opticus hinter dem Augapfel auf (retrobulbäre Neuritis n. optici, in 30 –40 % im Zusammenhang mit einer multiplen Sklerose). Durch die musterevozierten Potenziale lassen sich bei Wahl verschiedener Größen von Schachbrettmustern auch objektive Visusbestimmungen vornehmen, da das VEP sofort abfällt, wenn ein Muster nicht mehr scharf gesehen wird (Visusprüfung bei kleinen Kindern oder zur Kontrolle von subjektiven Angaben in Begutachtungsfällen).

B „Hand“-Zelle

spezifische Zelle, die nicht auf eine Hand antwortet. B „Hand“-Zelle, die weder auf die Handattrappe noch auf das Gesicht antwortet (nach 15).

indifferente Elektrode

Ableitung von V1

Abb. 23.24 Analyse komplexer Formen im parvozellulären System. Zellen aus dem inferotemporalen Kortex des Affen. Unter den jeweiligen Reizsituationen sind die Antworten als Impulsrate gegen die Zeit dargestellt. A Gesichter-

N4

visuell evoziertes Potenzial N3

N2 N1

P0

P1 P3

0

50

P2 100

150

200

250

Zeit (ms)

Abb. 23.25 Das visuell evozierte Potenzial (VEP). Reizung mit Schachbrettmuster, Ableitung von der primären Sehrinde und Zeitverlauf des visuell evozierten Potenzials mit Bezeichnung der negativen (N) und positiven (P) Wellen und Angabe der Latenz in Millisekunden (nach 5).

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707

708

23 Sehsystem Diplopie

A

Stereoskopie Fusionsbereich

Fixationspunkt F Horopter

Diplopie

links

rechts K

K

Verkleinerung und bei Eigenbewegung geringere parallaktische Verschiebung weiter entfernter Objekte genutzt. Monokulare und binokulare Mechanismen ermöglichen die Tiefenwahrnehmung. Grundlage des stereoskopischen Sehens sind die horizontalen Unterschiede der von beiden Augen gesehenen Bilder, die auf dem Augenabstand (ca. 60 – 70 mm) beruhen. Beim Sehen in Entfernungen über 100 m sind die Bilder auf beiden Netzhäuten praktisch als gleich zu betrachten, da Abweichungen zwischen den Bildern mit dem Auflösungsvermögen der Netzhaut (s. S. 698) nicht mehr ausgewertet werden können. Deshalb beruht die Tiefenwahrnehmung über größere Entfernungen auf monokularen Mechanismen (die z. T. auch im Nahbereich wirksam sind).

Räumliche Disparitäten sind die Grundlage der binokularen Tiefenwahrnehmung F’

F’ „ferner“ B

F

„näher“

links

rechts

temporal

temporal nasal Querdisparation

nasal Querdisparation

Abb. 23.26 Binokulare Tiefenwahrnehmung. A Bereiche des binokularen Tiefensehens. B Tiefenwahrnehmung durch Querdisparation.

23.8

Räumliches Sehen

Verschiedene binokulare und monokulare Mechanismen ermöglichen die Tiefenwahrnehmung. Das genauere, binokulare Tiefensehen ist auf den Nahbereich (< 100 m) beschränkt und beruht auf der Verrechnung von horizontalen Bildunterschieden. Die neuronalen Grundlagen des Tiefensehens beruhen auf kortikalen Neuronen, die auf bestimmte Querdisparationen abgestimmt sind. Beim Schielen weichen die Augenachsen voneinander ab, fixierte Gegenstände werden nicht auf korrespondierenden Netzhautstellen abgebildet, eine Fusion der Bilder und die stereoskopische Tiefenwahrnehmung sind nicht möglich. Zur monokularen Tiefenwahrnehmung werden Verdeckung, geringere Farbsättigung, scheinbar geringere Größe, perspektivische

Die binokulare stereoskopische Tiefenwahrnehmung beruht auf der seitlichen Verschiebung von Bildpunkten bei der Abbildung derselben Szene auf den beiden Netzhäuten. Ein fixierter Punkt (F) wird in beiden Augen in der Fovea abgebildet (Abb. 23.26 A). Die beiden Abbildungspunkte haben in den unterschiedlichen Augen den gleichen Ortswert und werden deshalb korrespondierende Netzhautstellen genannt (zu jedem Ort auf einer Netzhaut gibt es eine entsprechende korrespondierende Stelle auf der anderen Netzhaut). Zusätzlich zum Fixationspunkt wird demnach eine bestimmte Klasse von Sehdingen auf korrespondierende Netzhautstellen abgebildet. Diese Klasse von Sehdingen liegt auf einer geometrischen Figur im Raum, die als Horopter (H) bezeichnet wird. Definitionsgemäß verläuft der Horopter durch den Fixationspunkt (F) und durch die Knotenpunkte (K) beider Augen. Je nach Entfernung des jeweils fixierten Punktes hat der Horopter einen unterschiedlichen Radius. Bei der binokularen Tiefenwahrnehmung wird ein Gegenstand als näher im Vergleich zum Horopter interpretiert, wenn die horizontale Abweichung (Querdisparation) auf der Netzhaut nach temporal gerichtet ist, und als entfernter, wenn die Querdisparation nach nasal gerichtet ist (Abb. 23.26 B). Die Schwelle der Querdisparation für die Tiefenwahrnehmung liegt bei 20 Winkelsekunden (Summe der Abweichungen im rechten und linken Auge). Durch den zentralen Mechanismus der Fusion werden im fovealen Bereich vergleichsweise große Querdisparationen von 12 – 16 Winkelminuten zu einem Sinneseindruck verschmolzen (Abb. 23.26 A, Fusionsbereich); zum Vergleich: die maximale Sehschärfe beträgt 0,5 – 1 Winkelminute, die Noniussehschärfe 5 – 10 Winkelsekunden. Foveale Netzhautbilder, die weiter als 16 Winkelminuten voneinander abweichen, werden doppelt gesehen (Diplopie). Zur Tiefenwahrnehmung ist die Fusion allerdings nicht unbedingt notwendig; so reicht der Bereich der Stereoskopie über den Fusionsbereich in den Bereich des Doppeltsehens (Abb. 24.26 A). Es gibt Zellen in den magnozellulären Anteilen von V1, V2 und in MT/MST (s. S. 706), die bei binokulärer Reizung selektiv auf bestimmte hori-

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23.9 Farbensehen zontale Disparitäten antworten und sich so als Tiefendetektoren eignen.

Das Sehsystem nutzt unterschiedliche Hinweise zur monokularen Tiefenwahrnehmung Auch wenn nur ein Auge zur Verfügung steht, kann ein Tiefeneindruck entstehen. Dazu gibt es fünf Mechanismen der monokularen Tiefenwahrnehmung: 1. Wenn ein Gegenstand einen anderen teilweise verdeckt, können wir aus der Verdeckung schließen, dass dieser Gegenstand näher ist. 2. Wenn wir uns relativ zur Umwelt bewegen (Kopf- oder Körperbewegungen), verschieben sich nahe Gegenstände schneller und stärker als ferne (Bewegungsparallaxe). 3. Parallele Linien, z. B. Eisenbahnschienen, laufen in der Ferne zusammen und gleich große Gegenstände erscheinen in größerer Entfernung kleiner (lineare und Größen-Perspektive). Aus dem Grad der Konvergenz und Verkleinerung schließen wir auf die Entfernung. 4. Die Verteilung von Licht und Schatten erzeugt Tiefeneindrücke. Hierzu gehört auch die Interpretation stärker gesättigter Farben als näher. 5. Wenn wir die Größe eines Objekts (z. B. einer Person) kennen, können wir aus der scheinbaren Objektgröße die Entfernung abschätzen. Bewegungsparallaxe und Verdeckung sind die wichtigsten unter diesen Mechanismen, weil sie sehr robust sind. Perspektive, scheinbare Objektgröße sowie Licht und Schatten können leicht zu Täuschungen führen.

Beim Schielen liegt eine Fehlstellung der Sehachsen vor Weicht eine der Sehachsen vom fixierten Punkt ab, nennt man das Schielen (Strabismus). Man unterscheidet Einwärtsschielen (Esotropie, Strabismus convergens), Auswärtsschielen (Exotropie, Strabismus divergens) und Höhenschielen (Hypertropie – rechtes Auge höher, Hypotropie – rechtes Auge tiefer). Pathologische Grundlage für akut auftretendes Schielen kann die Lähmung eines Augenmuskels sein. Entzieht man einem Patienten die Fixationsmöglichkeit (z. B. durch Darbietung getrennter Vorlagen für jedes Auge), tritt aber bereits bei vielen Gesunden ein latentes Schielen auf. Der zentrale Mechanismus der Fusion korrigiert diese Fehlstellung durch entsprechende Innervation der Augenmuskeln (s. Kap. 26). Bei extremer Müdigkeit oder nach Alkoholgenuss kann dieses latente Schielen manifest werden. Fusion und binokulare Fixation sind dann aufgehoben. Subjektiv tritt Doppeltsehen auf, objektiv kann die Divergenz oder Konvergenz der Augen beobachtet werden. Während im ausgereiften Sehsystem des Erwachsenen beim Schielen Doppeltsehen auftritt, führt unbehandeltes Schielen während der Entwicklung des Sehsystems (vor dem 7. Lebensjahr) zur Ausprägung eines dominanten Auges, das die Wahrnehmung des anderen Auges unterdrückt. Als Folge dieser in der Sehrinde lokalisierten Unterdrückung kann eine irreversible

monokulare Sehschwäche, die Amblyopie, entstehen (s. S. 825). Durch alternierende Exposition der Augen (um die Dominanz eines Auges zu verhindern) und Behebung der Schielursache (Korrektur einer Hypermetropie, operative Korrektur an den Augenmuskeln) sowie unterstützendes Fixationstraining kann die Amblyopie als schwerwiegendste Folge des frühkindlichen Strabismus oft verhindert werden.

23.9

Farbensehen

Unser Farbsinn ist kein physikalisches Messsystem für Wellenlängen. Erst die neuronale Verarbeitung auf verschiedenen Stationen der Sehbahn führt zu Farbempfindungen. Grundlage ist zunächst die Existenz dreier Zapfentypen in der Retina, die für kurz-, mittelund langwelliges Licht empfindlich sind. Die Antworten dieser verschiedenen Zapfentypen werden von Neuronen in der Retina, im Thalamus und im visuellen Kortex weiterverarbeitet. Rezeptive Felder in diesen Strukturen reagieren dort spezifisch auf Gegenfarben oder gar Doppelgegenfarben. Erst bestimmte Zellen des Kortex sind wirklich farbspezifisch. Der Kortex trägt auch zum Farbkontrast bei und gewährleistet vor allem die Farbkonstanz bei den unterschiedlichsten Beleuchtungen. Es gibt Farbsinnstörungen, bei denen die mittel- oder langwelligen Zapfentypen unempfindlicher sind oder ausfallen. Männer sind häufiger betroffen als Frauen.

Das Farbensehen vervielfacht die Möglichkeiten zur visuellen Unterscheidung Die Wahrnehmung von Farben basiert auf den Komponenten Farbton, Sättigung und Helligkeit. Der Farbton hat dabei den stärksten Einfluss. Etwa 200 Farbtöne können psychophysisch unterschieden werden. Die Sättigung gibt an, inwieweit der Farbton durch Beimischung von Graustufen „verdünnt“ worden ist. Wir unterscheiden 20 Sättigungsstufen. Farbton und Sättigung gemeinsam bestimmen die Farbart. Die Helligkeit schließlich lässt sich in etwa 500 Schritte auflösen. Während beim achromatischen Sehen nur diese 500 Stufen zur Verfügung stehen, kann das Farbensehen die drei Qualitäten Farbton, Sättigung und Helligkeit multiplikativ nutzen und erhält damit zwei Millionen Unterscheidungsmöglichkeiten.

Drei Zapfentypen werden von Licht verschiedener Wellenlängen angeregt Der spektrale Empfindlichkeitsbereich des Auges umfasst die Wellenlängen von 400 – 750 nm. Dies entspricht den Farbempfindungen von Blau über Grün und Gelb bis Rot. Kürzere Wellenlängen bezeichnen wir als ultraviolett, längere als infrarot. Diese Wellenlängen sind nicht sichtbar. In Extremfällen kann ultraviolette Strahlung zu einer Trübung der Linse führen (Katarakt) oder die Hornhaut schädigen („Schneeblindheit“ im Hochgebirge), ebenso kann infrarote Strahlung Linsentrübungen („Glasbläserstar“) bedingen. Grundlage der Farbempfindungen ist die neuronale Verarbeitung von Licht verschiedener Wellenlängen. Ihre

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709

23 Sehsystem Unterscheidung wird ermöglicht durch die drei verschiedenen Photopigmente der Blau-, Grün- und Rot-Zapfen mit Absorptionsmaxima im kurz- (420 nm), mittel(535 nm) und langwelligen (565 nm) Bereich (Abb. 23.27). Damit folgen die peripheren Mechanismen des Farbsehens der trichromatischen Theorie von Young, Helmholtz und Maxwell aus dem 19. Jahrhundert, die davon ausgeht, dass sich jede beliebige Farbe durch die additive Mischung von drei monochromatischen Lichtern erzeugen lässt. Dieser Farbtheorie stellte Hering seine Gegenfarbentheorie gegenüber, die postuliert, dass drei Gegenfarbenpaare, Rot und Grün, Blau und Gelb, Weiß und Schwarz, sich jeweils gegenseitig hemmen und im Zusammenspiel ebenfalls alle Farben ergeben können. Dieser Theorie folgen die Verarbeitungsmechanismen zentraler Nervenzellen (s. u. Gegenfarbenneurone).

Im Gehirn werden Wellenlänge und Helligkeit des Lichts in Farbwahrnehmung umgesetzt Die Wahrnehmung von Farben beruht auf der neuronalen Verarbeitung von Antworten der verschiedenen Zapfentypen auf Licht verschiedener Wellenlängen. Diese Verarbeitung stellt eine Form „physiologischer Farbmischung“ dar, d. h. es handelt sich um einen Prozess in unserem Körper. Dieser Prozess wird additive Farbmischung genannt. Bei der additiven Farbmischung interagieren Lichtreize verschiedener Wellenlänge auf einem Netzhautort. Ein Beispiel ist der Farbfernseher, bei dem in der üblichen Entfernung des Betrachters die einzelnen Farbpunkte (rot, grün, blau) auf der Retina nicht mehr aufgelöst werden können. Sie interagieren, indem sie zwei oder alle drei Zapfentypen gleichzeitig, aber unterschiedlich erregen. Dies ist etwas grundsätzlich anderes als die subtraktive Farbmischung, die beim Mischen von Malerfarben vorliegt. Die subtraktive Farbmischung beruht auf rein physikalischen Grundlagen. Farbpigmente von Malerfarben absorbieren bestimmte Wellenlängenbereiche des Lichts wie Filter, und es treffen nur die verbleibenden Wellenlängen auf das Auge. Gelb und blau ergeben subtraktiv die Farbe grün, da die gelbe Farbe die kurzwelligen Anteile und die blaue Farbe die langwelligen Anteile des weißen Lichts absorbieren. Die verbleibenden, mittleren Wellenlängen erzeugen dann den Farbeindruck grün. Die Farbmischung wirkt vor dem Auftreffen des Lichtreizes auf die Netzhaut. Die Grundregeln der additiven Farbmischung sind in der Normfarbtafel (Abb. 23.28) dargestellt. Komplementärfarben sind solche Farben, die sich auf einer Geraden durch den Weißpunkt auf der Normfarbtafel gegenüberliegen. Mischt man Paare dieser Farben additiv, so ergibt sich weiß (z. B. blau und gelb ergeben additiv weiß, rot und grün ergeben gelb etc.). Als neuronale Grundlage der Verrechnung von Komplementärfarben findet man bereits unter den Ganglienzellen der Netzhaut Gegenfarbenneurone, die in Zentrum und Umfeld die Zapfensignale antagonistisch verarbeiten. Dies ist für eine Grün-On-Zentrum- und eine Rot-OnZentrum-Zelle mit Grün- oder Rot-Erregung im Zentrum

Zapfen, mittelwellig Zapfen, kurzwellig

Stäbchen

Zapfen, langwellig

100

normierte Absorption

710

maximale Absorption 50

0 400

500

Wellenlänge (nm)

600

700

UV

Abb. 23.27 Normierte Absorptionskurven der menschlichen Photopigmente. Absorptionskurven für die vier verschiedenen Photopigmente des Menschen wurden mikrospektrophotometrisch an isolierten identifizierten Stäbchen und Zapfen bestimmt. Die Farben unter der Abszisse ordnen das Spektrum des sichtbaren Lichts den Wellenlängen zu. Das ultraviolette Licht (UV) unterhalb 400 nm erreicht unter natürlichen Bedingungen nicht die Netzhaut, da es bereits im dioptrischen Apparat (von Kornea und Linse) absorbiert wird (nach 13).

und antagonistischer Hemmung durch die Gegenfarbe in der Peripherie in Abb. 23.29 schematisch dargestellt. Es gibt auch die entsprechenden Off-Zentrum-Zellen, bei denen dann eine Grün- oder Rot-Hemmung im Zentrum einer Erregung durch die Gegenfarbe in der Peripherie gegenübersteht. Bei den Blau-Gelb-Gegenfarbenneuronen steht bei der Blau-On-Zelle eine Erregung durch Blau im Zentrum einer gemeinsamen Hemmung durch Rot- und Grün-Zapfen in der Peripherie gegenüber, bei der BlauOff-Zelle wird die Blau-Hemmung im Zentrum von RotGrün-Erregung in der Peripherie antagonisiert. Solche Gegenfarbenneurone werden in der Netzhaut (P- und K-Zellen) und in den parvozellulären und koniozellulären Schichten des Corpus geniculatum laterale gefunden, sie reagieren jedoch noch ähnlich auf Helligkeits- und Farbunterschiede. Die eigentlich farbspezifischen Doppelgegenfarbenneurone, bei denen die Gegenfarben sowohl innerhalb von Zentrum und Peripherie als auch zwischen Zentrum und Peripherie antagonistisch verschaltet sind (Abb. 23.29 rechts), findet man erst in den farbspezifischen Unterstrukturen von V1 und V2 („blobs“ und schmale Cytochromoxidasestreifen, s. S. 705 und Abb. 23.20 C, 23.23 A). Diese Neurone kann man als Konvergenz von On- und Off-Gegenfarbenneuronen eines Gegenfarbenpaares verstehen: durch Konvergenz einer Rot-On- und einer Grün-Off-Zelle entsteht ein Doppelgegenfarbenneuron (Abb. 23.29 rechts unten), das im Zentrum durch Rot erregt und durch Grün gehemmt wird, während es aus der Peripherie durch Rot gehemmt

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23.9 Farbensehen rezeptive Felder

+ Grün –

0,8

Grün

0,7

Rot

0,6 y

Rot

+ –

0,5

+ Rot –

Grün

+ Grün – Rot

Grün Rot Grün Rot

+ – – +

+ – Rot – Grün + Rot Grün

0,4

Neuronentyp Breitband

0,3

Gegenfarben

Doppelgegenfarben

0,2

Information

0,1

0

0

Helligkeit

0,1

0,2

0,3

0,4

x

0,5

0,6

0,7

Abb. 23.28 Normfarbtafel (nach DIN 5033). Die Randkurve wird von den Spektralfarben gebildet. Additive Mischfarben liegen auf Geraden zwischen den beteiligten Spektralfarben. Der Punkt E in der Mitte des Weißbereichs liegt auf der Verbindungslinie zwischen den Komplementärfarben. Ein Punkt Px,y stellt eine Farbart dar, wobei die Sättigung des durch die Spektralfarbe bestimmten Farbtons mit der Entfernung vom Weißbereich zunimmt. In dieser geometrischen Darstellung der subjektiv wahrgenommenen, additiven Mischfarben entspricht x dem Rotanteil und y dem Grünanteil: der Blauanteil (z = 1 – [x + y]) ist jeweils der Rest zur Summe von 1 = x + y + z. Die für die Mischung international festgelegten monochromatischen Primärfarben sind Rot = 700 nm, Grün = 546 nm, Blau = 435 nm.

und durch Grün erregt wird. Solche Neurone antworten spezifisch auf Farbkontrast, in diesem Fall optimal auf die Grenze zwischen einer roten und grünen Fläche, durch die sowohl Zentrum wie Peripherie erregt werden. Die Farbzellen der hierarchisch höheren Sehrindenabschnitte tragen mehr zur Farbwahrnehmung bei, als bisher angenommen wurde. Wir müssen uns von der physikalisch geprägten Vorstellung lösen, dass die Wellenlänge des Lichts, das von einem Körper ausgehend auf unser Auge trifft, dessen Farbe bestimmt. Wir können an uns selbst die relativ konstante Wahrnehmung von Farben (Farbkonstanz) aus einer vielfarbigen Szene bei Beleuchtung mit Licht sehr unterschiedlicher spektraler Zusammensetzung (Morgen-, Mittags- oder Abendsonne) beobachten, während ein Farbphoto unter gleichen Bedingungen jeweils einen entsprechenden „Farbstich“ zeigt. Anders als beim Film, der Wellenlängen wiedergibt, wird im zentralen Sehsystem die wahrgenommene Farbe eines Gegenstands errechnet, indem das Signal der von einem bestimmten Ort ausgehenden Wellenlängen in Relation zur Umgebung im Gesichtsfeld gesetzt wird. So können wir unter dauernd wechselnden Beleuchtungsbedingungen die Farbe der Dinge relativ unverändert wahrnehmen. Hierzu kann bereits die Funktion der Doppelgegenfarbenneurone (Abb. 23.29) einen ersten Beitrag liefern: z. B. aktiviert eine allgemeine

Helligkeit + Farbe

Farbkontrast

Abb. 23.29 Verschiedene Arten von wellenlängenempfindlichen rezeptiven Feldern. Die hier für Rot und Grün dargestellten Feldtypen werden auch für die Gegenfarben Blau und Gelb gefunden. Nur die Doppelgegenfarbenzellen sind farbspezifisch (nach 4).

Zunahme von langen Wellenlängen in der Beleuchtung, die zu einem „Rotstich“ führen müsste, die gegensinnigen Rotmechanismen in Zentrum und Peripherie (Rot + und Rot -) gleichermaßen, so dass sich der Einfluss der Beleuchtungsänderung aufhebt.

Damit ist aber nicht vollständig erklärt, wie das Sehsystem das Phänomen der Farbkonstanz realisiert, da hierbei weiterreichende Interaktionen über ein gesamtes Bild hinweg wirksam werden. Viele Zellen in der farbspezifischen Region V4 zeigen Farbkonstanz in ihren Antworteigenschaften. Sie können offenbar in einer bisher unbekannten Weise die Informationen der Doppelgegenfarbenzellen aus V1 und V2 aus einem großen Gesichtsfeldbereich nutzen, um Farbkonstanz in einer gesehenen Szene zu gewährleisten. Experimentelle Schädigung der Region V4 bei Affen führt tatsächlich zum Verlust der Farbkonstanz bei erhaltener Fähigkeit zur Diskrimination verschiedener Wellenlängen.

Farbensinnstörungen betreffen meist das Rot- oder Grün-Sehen der Männer Menschen, denen ein Zapfenpigment fehlt, sind nicht vollständig farbenblind; da die Farbwahrnehmung auf der Verrechnung der Erregung verschiedener Rezeptortypen beruht, ist auch mit zwei Zapfensystemen noch eine gewisse Farbwahrnehmung möglich. Man unterscheidet Rotblinde (Protanope, bei denen das langwellige Zapfenpigment fehlt), Grünblinde (Deuteranope, denen das Zapfenpigment für die mittlere Wellenlänge fehlt) und Blauviolettblinde (Tritanope, denen das kurzwellige Zapfenpigment fehlt). Vollständig farbenblind sind nur die Monochromaten,

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711

712

23 Sehsystem bei denen im typischen Fall alle Zapfenpigmente fehlen (Stäbchenmonochromasie). Hier ist Sehen auch bei Tageslicht nur mit dem Stäbchensystem möglich, und diese Menschen leiden wegen der höheren Empfindlichkeit der Stäbchen unter Blendung. (In sehr seltenen Fällen fehlen auch zwei Zapfenmechanismen, so dass das monochromatische Sehen bei Tageslicht mit dem verbleibenden Zapfentyp erfolgt). Der Farbenblindheit steht die etwas häufigere Farbenschwäche gegenüber, bei der bei Anwesenheit aller drei Farbpigmentsysteme eines schwächer ausgeprägt ist (Protanomale sind rotschwach, Deuteranomale grünschwach, Tritanomale blauviolettschwach). Die gemeinsame Grundstruktur der verschiedenen Sehfarbstoffe von Stäbchen und Zapfen (s. S. 693) deutet daraufhin, dass sie von der gleichen Genfamilie codiert werden. Die Gene für das Opsin der mittel- und langwelligen Zapfen befinden sich auf dem X-Chromosom. Farbsinnstörungen werden daher rezessiv-geschlechtsgebunden vererbt. Deshalb kommen Störungen des Rot-Grün-Sehens bei Männern viel häufiger vor (insgesamt 8 %, davon Deuteranomalie 4,2 %, Protanomalie 1,6 %, Deuteranopie 1,5 %, Protanopie 0,7 %) als bei Frauen (insgesamt nur 0,4 %). Die übrigen Farbensinnstörungen sind extrem selten: Triptanopie und Tritanomalie (1/ 100 000) und Stäbchenmonochromasie (1 : 1 Million).

Farbsinnstörungen lassen sich einfach mit pseudoisochromatischen Testreizen erfassen. Die Figuren und Zahlen auf den verwendeten, pseudoisochromatischen Tafeln (z. B. nach Ishihara) sind aus Punkten zusammengesetzt, die sich nur durch ihre Farbart (Farbton und Sättigung), nicht aber durch die Helligkeit unterscheiden lassen. Deshalb können die Muster auf den Tafeln von Menschen mit Farbensinnstörungen nicht richtig erkannt werden.

Zum Weiterlesen … 1 Eysel U. Zentrale Anteile der Sehbahn. In: Huber A, Kömpf D. Klinische Neuroophthalmologie. Stuttgart: Thieme; 1998: 10 – 22 2 Grehn F. Augenheilkunde. Berlin: Springer; 2003 3 Jörg J. Visuell evozierte Potentiale (VEP) in der neurologischen Diagnostik. In: Jörg J, Hielscher H. Evozierte Potentiale. Berlin: Springer; 1999: 24 – 61 4 Lennie P. Color vision. In: Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM: Principles of Neural Science. New York: McGraw-Hill; 2000: 572 – 589 5 Ogle KN. Optics: An Introduction for Ophthalmologists. Springfield: Thomas; 1961 6 Parent A. Carpenter’s Human Neuroanatomy. Baltimore: Williams & Wilkins; 1996 7 Tessier-Lavigne M. Phototransduction and information processing in the retina. In: Kandel ER, Schwartz JH, Jessel TM. Principles of Neural Science. New York: McGraw-Hill; 2000: 507 – 522 8 Walsh FB, Hoyt WF. Clinical Neuroophthalmology. Vol. 1. Baltimore: Williams & Wilkins; 1969 9 Wurtz RH, Kandel ER. Central visual pathways. In: Kandel ER, Schwartz JH, Jessel TM. Principles of Neural Science. New York: McGraw-Hill; 2000: 523 – 547

10 Wurtz RH, Kandel ER. Processing of motion, depth, and form. In: Kandel ER, Schwartz JH, Jessel TM. Principles of Neural Science. New York: McGraw-Hill; 2000: 548 – 571

… und noch weiter 11 Albright TD. Cortical processing of visual motion. Rev Oculomot Res. 1993; 5: 177 – 201 12 Andersen RA, Shenoy KV, Crowell JA, Bradley DC. Neural mechanisms for self-motion perception in area MST. Int Rev Neurobiol. 2000; 44: 219 – 233 13 Bowmaker JK, Dartnall HJA. Visual pigments of rods and cones in human retina. J Physiol. 1980; 298: 501 – 511 14 Boycott BB, Dowling JE. Organization of the primate retina: light microscopy. Phil Trans Roy Soc Lond. (B 255) 1969; 255: 109 – 184 15 Desimone R, Albright TD, Cross C, Bruce C. Stimulus selective properties of inferior temporal neurons in the macaque. J Neurosci. 1984; 4: 2051 – 2062 16 Dowling JE. Organization of vertebrate retinas. The Jonas M. Friedenwald memorial lecture. Invest Ophthalmol. 1970; 9: 655 – 680 17 Horton JC, Hedley-Whyte ET. Mapping of cytochrome oxidase patches and ocular dominance columns in human visual cortex. Phil Trans Roy Soc Lond. (B 255) 1984; 304: 255 – 272 18 Liebmann PA. The molecular mechanism of visual excitation and its relation to the structure and composition of the rod outer segment. Ann Rev Physiol. 1987; 49: 765 – 791 19 Livingstone MS, Hubel DH. Anatomy and physiology of color system in the primate visual cortex. J Neurosci. 1984; 4: 309 – 356 20 Livingstone MS, Hubel DH. Segregation of form, color, movement and depth: anatomy, physiology, and perception. Science. 1988; 240: 740 – 749 21 Lund JS, Angelucci A, Bressloff PC. Anatomical substrates for functional columns in macaque monkey primary visual cortex. Cereb Cortex. 2003; 13: 15 – 24 22 Martin PR, White AJ, Goddchild AK, Wilder HD, Sefton AE. Evidence that blue-on cells are part of the third geniculocortical pathway in primates. Eur J Neurosci. 1997; 9: 1536 – 1541 23 Maunsell JHR, Newsome WT. Visual processing in monkey extrastriate cortex. Ann Rev Neurosci. 1987; 10: 363 – 401 24 Müller F, Wässle H, Voigt T. Pharmacological modulation of the rod pathway in the cat retina. J Neurophysiol. 1988; 59: 1657 – 1672 25 Snyder AW, Bossomaier TRJ, Hughes A. Optical image quality and the cone mosaic. Science. 1986; 231: 499 – 501 26 Tootell RBH, Silverman MS, Switkes E, DeValois RL. Deoxyglucose analysis of retinotopic organization in primate striate cortex. Science. 1982; 218: 902 – 904 27 van Essen DC. Behind the optic nerve: An inside view of the primate visual system. Trans Am Ophthalmol Soc. 1995; 93: 123 – 133 28 Williams DR. Seeing through the photoreceptor mosaic. Trends Neurosci. 1986; 9: 193 – 198

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713

Geschmack und Geruch A. Draguhn

24.1 Was Schiller inspirierte

···

24.2 Die Bedeutung der Chemosensibilität 24.3 Der Geschmackssinn

24.4 Der Geruchssinn

714 ···

714

· ·· 714 Geschmackssinneszellen sind durch chemische Reize elektrisch erregbare Epithelzellen · ·· 715 Die zentrale Geschmacksbahn teilt sich in eine thalamokortikale und eine limbische Projektion · · · 716 Die Transduktion von Geschmacksreizen erfolgt über Ionenkanäle und G-Protein-aktivierende Rezeptoren ··· 717 Die Sinneswahrnehmung des Geschmacks entsteht aus einem komplexen räumlichen und zeitlichen Muster der Aktivierung von Afferenzen ··· 718 Störungen des „Schmeckens“ sind oft auf olfaktorische Erkrankungen zurückzuführen · · · 720

· ·· 721 Die Erregung der Riechsinneszellen erzeugt im Bulbus olfactorius ein komplexes Muster von Aktivität ··· 721 Die Transduktion von Geruchsreizen erfolgt mittels G-Proteinen und cAMP-gesteuerten Ionenkanälen · · · 724 Die Geruchswahrnehmung entsteht aus einer komplexen Mustererkennung und kann nur schwer auf abgegrenzte Geruchsqualitäten zurückgeführt werden ··· 724

24 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! R. Klinke, H-C. Pape, St. Silbernagl: Physiologie (ISBN 3-13-796005-3) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2005

714

24 Geschmack und Geruch

24.1

Was Schiller inspirierte

Friedrich Schiller bewahrte in seiner Schreibtischschublade stets überreife Äpfel auf, deren Geruch ihn beim Schreiben inspirierte. Dieses Beispiel zeigt, wie stark der Geruchssinn mit Emotionen und Erinnerungen verknüpft ist – anatomisch spiegelt sich das in der engen Verbindung von Riech- und Geschmacksbahn mit dem limbischen System wider (vgl. Kap. 28.4). Der Verlust des Riechsinnes vermindert die Lebensqualität sehr stark, da der „Geschmack“ von Speisen wesentlich über das Riechen wahrgenommen wird. Hinzu kommt der Verlust des sozialen Signals Körpergeruch, dessen Wichtigkeit den Betroffenen erst im Krankheitsfall deutlich wird. Die molekularen Mechanismen des Riechens stellen durch die zugrunde liegende riesige Familie verwandter Rezeptormoleküle einen Sonderfall der Sinnessysteme dar. Für die Erforschung der Geruchsrezeptoren und der Organisation des Geruchssinnes erhielten die amerikanischen Wissenschaftler Linda B. Buck und Richard Axel 2004 den „Nobelpreis für Physiologie oder Medizin“.

24.2

Die Bedeutung der Chemosensibilität

Die Wahrnehmung chemischer Merkmale der Umwelt ist eine phylogenetisch alte Funktion, die bereits in der Chemotaxis einzelliger Organismen anzutreffen ist. Dort dient sie – wie auch bei uns – der Orientierung auf „lohnende“ Nahrungsquellen bzw. dem Vermeiden gefährlicher Umgebungen. Neben der Steuerung unseres Ess- und Trinkverhaltens erfüllen die chemischen Sinne durch die Wahrnehmung des Körpergeruches wichtige soziale Funktionen, etwa in der Mutter-Kind-Bindung, aber auch bei der Partnerwahl. Sie prägen tief greifend unser Gedächtnis – wir alle reagieren unmittelbar und emotional auf die „Gerüche unserer Kindheit“! Die weitreichenden Verbindungen des Geruchs- und Geschmackssinnes zum limbischen System und Neokortex bedingen umfassende vegetative, emotionale und kognitive Effekte von Gerüchen und Geschmäckern, die sich gezielt zur Verhaltenssteuerung nutzen (und missbrauchen) lassen. Einschränkungen des Geschmacks- und Geruchssinnes führen zu einer deutlichen Reduktion der Lebensqualität, wie wir alle durch den faden Geschmack des Essens bei einem starken Schnupfen nachempfinden können. Dieses Beispiel zeigt auch, dass subjektiv berichteten „Schmeckstörungen“ tatsächlich oft Erkrankungen des Riechorgans zugrunde liegen, welches eine zentrale Rolle bei der Wahrnehmung und Bewertung von Speisen spielt. Dauerhafte Störungen des Riechsinnes führen daher zu ungenügender Ernährung sowie zu einer erhöhten Gefährdung durch verdorbene Lebensmittel oder durch Gifte. Daher sind solche Erkrankungen immer einer adäquaten Diagnostik und Therapie zuzuführen! Die spezifische Chemosensibilität umfasst den Geschmacks- und Geruchssinn. Beide Sinnesleistungen kommen durch die Interaktion chemischer Substanzen mit Membranmolekülen zustande, die ein Rezeptorpotenzial der Sinneszellen in den Geschmackspapillen bzw. dem Riechepithel auslösen. Dabei verfügt der Geruchssinn über mehrere hundert verschiedene Rezeptormoleküle, die eine hochdifferenzierte Analyse der Riechstoffe

erlauben. Der Geschmackssinn erlaubt hingegen nur die Unterscheidung von etwa fünf Grundqualitäten – tatsächlich ist die Vielfalt der Sinneseindrücke beim Schmecken einer Speise eine Gesamtleistung von Geschmack, Geruch und der so genannten unspezifischen Sensibilität der Zunge sowie der Schleimhäute von Mund, Nase und Rachen. Die unspezifischen Reize werden hauptsächlich durch den Nervus trigeminus vermittelt und schützen vor dem Kontakt und der Aufnahme schädigender Substanzen. Eine solche unspezifische Sensibilität besteht daher auch an anderen Körperöffnungen und Schleimhäuten. Die Erregung trigeminaler Fasern durch potenziell schädliche „Reizstoffe“, aber auch durch starke taktile oder thermische Stimuli führt zu lebhaften Schutzreflexen wie Niesen, Husten, Würgen, Erbrechen und vermehrte Speichel- und Tränensekretion. Zum normalen Erlebnis des Essens tragen unspezifische chemische Stimuli ebenfalls bei, etwa durch den scharfen Geschmack von Paprika oder den beißenden Geruch von Meerrettich. Hinzu kommen Informationen über Konsistenz und Temperatur der Speisen, die durch taktile und thermosensitive Afferenzen ins Gehirn gelangen. Bei vielen Organismen trägt der Geruchssinn auch zur Erkennung von Artgenossen, zur Partnerwahl und zur Steuerung des Sexualverhaltens bei. Das vomeronasale Organ (VNO) der Säuger ist auf die Erkennung entsprechender Signalduftstoffe (Pheromone) spezialisiert, allerdings ist fraglich, ob es beim Menschen eine Rolle spielt.

24.3

Der Geschmackssinn

„Schmecken“ im engeren Sinne ist eine Funktion spezialisierter epithelialer Sinneszellen der Zunge und benachbarter Strukturen von Mundhöhle und Pharynx. Wir können lediglich fünf klar abgegrenzte Geschmacksqualitäten unterscheiden (sauer, salzig, süß, bitter, Umami), die durch ganz verschiedene molekulare Mechanismen der Signaltransduktion vermittelt werden. Der Geschmack einer Speise ergibt sich aus dem komplexen Muster unterschiedlich starker Erregungen der afferenten Fasern des VII., IX. und X. Hirnnerven. Zum eigentlichen Geschmackserlebnis tragen jedoch auch andere Sinne wesentlich bei: die allgemeine chemische Sensibilität, Mechano- und Thermosensoren und ganz besonders der über den Nasopharynx aufgenommene Geruch der Speisen. Das „Schmecken“ einer Speise oder eines Getränkes ist ein komplexer Vorgang, bei dem taktile, thermische, allgemein-chemische, gustatorische und olfaktorische Afferenzen zusammenwirken. Tatsächlich differenzieren die eigentlichen Geschmacksrezeptoren nur zwischen fünf unterschiedlichen Qualitäten: süß, sauer, salzig, bitter und „Umami“ (japanisch für wohlschmeckend), einem besonders durch Glutamat auslösbaren Geschmack. Diese Kategorien weisen bereits auf die biologische Steuerungsfunktion des Geschmackssinnes für die Nahrungsaufnahme hin: er warnt uns vor Nahrungsgiften, die häufig bitter schmecken (dies gilt insbesondere für viele pflanzliche Alkaloide) und unterstützt die Aufnahme von Aminosäuren, Salzen und Kohlenhydraten. Diese Funktionen sind in biologisch sinnvoller Weise in unser Verhalten

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Gaumen

N. vagus (X)

N. facialis (VII)

N. glossopharyngeus (IX)

24.3 Der Geschmackssinn Geschmacksporus

Rachen

Spüldrüsen

Epithelzellen

Wallpapille

helle Geschmackszelle Spüldrüsen Zunge

A Innervation und Lage der Papillen

dunkle Geschmackszelle Synapse Basalzelle

Blattpapille

Pilzpapille

Abb. 24.1 Geschmack. A Innervation, relative Anzahl und Lage der Papillen, die Geschmacksknospen tragen. Auf der Zunge befinden sich etwa 3000– 3500 Geschmacksknospen, von denen die Hälfte in den Gräben um die Wallpapillen und je ein Viertel zwischen den Blatt- und auf den Pilzpapillen

integriert. So löst zum Beispiel ein Mangel an NaCl ausgesprochenen „Salzhunger“ aus, während die Aufnahme stark bitter schmeckender Stoffe alters- und kulturinvariant Aversion gegen die Speise bedingt. Leider ist in Zeiten des Nahrungsüberflusses und der industriellen Vermarktung von Genussmitteln die früher nützliche Vorliebe für stark kohlenhydrathaltige, also süße Speisen ein häufiger Grund für Fehlernährung und Übergewicht.

Geschmackssinneszellen sind durch chemische Reize elektrisch erregbare Epithelzellen Die Geschmackssinneszellen liegen in Geschmacksknospen eingebettet, die ihrerseits in Papillen zusammengefasst sind. Sie werden ständig aus Basalzellen regeneriert. Nach Erregung durch eine chemische Substanz bilden sie Rezeptorpotenziale und nachfolgend Aktionspotenziale aus, die zur Freisetzung von Glutamat führen. Dadurch wird der Reiz auf die afferenten Fasern der Geschmacksnerven übertragen. Geschmackssinneszellen sind im Unterschied zu anderen Rezeptorzellen spezialisierte Epithelzellen, also keine eigentlich neuronalen Zellen. Dennoch exprimieren sie spannungsgesteuerte Na+- und K+-Kanäle in ausreichender Dichte, um bei überschwelligen Rezeptorpotenzialen Aktionspotenziale generieren zu können (vgl. Kap. 19.3). Die Zellen sind polar: an ihrer apikalen Membran bilden sie Mikrovilli aus (Abb. 24.1) und ragen mit dieser vergrößerten Oberfläche in den flüssigkeitsgefüllten Porus der Geschmacksknospe hinein. An den Mikrovilli entsteht durch Interaktion von Substanzen mit Ionenkanälen oder Rezeptoren das Rezeptorpotenzial. Die Transformation des Reizes in Aktionspotenziale erfolgt dagegen an der basolateralen Membran. Dies führt zur Öffnung von spannungsgesteuerten Kalziumkanälen und nachfolgend zur Exozytose (vgl. Kap. 5.4) des Transmitters Glutamat (vgl. Kap. 5.9). Die apikalen und basalen Membranbezirke sind durch Tight Junctions (Schlussleisten, vgl. Kap. 3.2) zwi-

B Aufbau einer Geschmacksknospe

liegen. Die Pilzpapillen der Zungenspitze sind mit dem bloßen Auge gut zu erkennen. Zwischen den Wallpapillen und Blattpapillen befinden sich Spüldrüsen. B Aufbau einer Geschmacksknospe.

schen den Sinneszellen getrennt. Postsynaptisch finden sich basal die Endigungen afferenter Fasern der Geschmacksnerven, die zum VII., IX. und X. Hirnnerven gehören. Dort löst Glutamat erneut eine Depolarisation aus, die wiederum zur Bildung von Aktionspotenzialen führt. Typische Geschmackssinneszellen werden von mehreren Axonen innerviert, umgekehrt verzweigt sich jede afferente Nervenfaser und nimmt Kontakt zu mehreren Sinneszellen (oft sogar aus verschiedenen Geschmacksknospen) auf. Die Spezifität unserer Geschmackswahrnehmungen entsteht also offenbar nicht dadurch, dass einzelne Sinneszellen ihre Erregung mit einer separaten „Leitung“ in das Gehirn melden – vielmehr ergibt sich aus der Konvergenz und Divergenz der Innervation ein jeweils reizspezifisches Muster von Aktivität in den afferenten Nervenfasern, aus dem die Information über die anwesenden Geschmacksstoffe extrahiert werden muss. Jede Geschmacksknospe (Abb. 24.1) enthält etwa 10 – 50 Sinneszellen. Sie werden ständig aus den am Fuß der Geschmacksknospen gelegenen Basalzellen regeneriert und sterben nach 10 – 15 Tagen ab. Auch nach Läsionen können sie gut regenerieren und neue Kontakte zu afferenten Nervenfasern ausbilden. Lichtmikroskopisch lassen sich in den Geschmacksknospen dunkle, intermediäre und helle Zellen unterscheiden, die möglicherweise unterschiedlichen Reifestadien im Lebenszyklus dieser Zellen entsprechen. Zusätzlich finden sich in den Geschmacksknospen noch so genannte Stützzellen, die möglicherweise zur Sensitivität gegenüber Anionen in Salzen beitragen. Der Erwachsene besitzt ca. 3000 bis 5000 Geschmacksknospen, beim Neugeborenen sind es vermutlich wesentlich mehr, beim alternden Menschen sinkt die Zahl auf Werte um 2000. Genetisch bestimmte „Superschmecker“ mit verminderter Reizschwelle haben eine deutlich überdurchschnittliche Anzahl von Geschmacksknospen. Die Knospen finden sich eingebettet in Geschmackspapillen (Abb. 24.1), von denen man vier Bautypen unterscheidet. Pilzpapillen bilden die größte

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715

716

24 Geschmack und Geruch Gruppe (200 – 400) und sind besonders in den vorderen zwei Dritteln der Zunge zu finden. Sie enthalten jeweils wenige (< 10) Knospen. Im hinteren Bereich der Zunge liegen die großen Wallpapillen, von denen der Mensch nur etwa 10 besitzt. Dafür kann eine Wallpapille hunderte von Geschmacksknospen enthalten. Am seitlichen hinteren Zungenrand finden sich beiderseits noch 15 – 20 Blattpapillen mit jeweils ca. 50 Knospen. Entgegen tradiertem Lehrbuchwissen kann man die einzelnen Geschmacksqualitäten nicht bestimmten Bereichen der Zunge zuordnen – fast alle Qualitäten können in jedem Bereich der Zunge erkannt werden, wenn auch mit leicht unterschiedlicher Empfindlichkeit (zum Beispiel werden salzige Stoffe besonders gut in den vorderen zwei Dritteln der Zunge wahrgenommen). Lediglich die Rezeptoren für bittere Stoffe sind fast ausschließlich am Zungengrund lokalisiert. Neben den oben genannten Formen von Papillen befinden sich noch Fadenpapillen auf der Zunge, deren verhornte apikale Spitzen taktile Reize übermitteln ohne spezifisch zur Chemosensitivität beizutragen. Nur etwa zwei Drittel der Geschmackspapillen befinden sich auf der Zunge. Die anderen Geschmackspapillen sind in Gaumen, Epiglottis und Pharynx angesiedelt, die demzufolge erheblich zur Geschmackswahrnehmung beitragen. Beim Säugling und Kleinkind befinden sich zahlreiche Geschmackspapillen auch auf den Schleimhäuten der Wangen.

Gyrus postcentralis Insel

Thalamus: Nucleus ventralis posterior

Nucleus solitarius

N. X N. IX

Gaumen Rachen

N.VII N. petrosus major Chorda tympani

Die zentrale Geschmacksbahn teilt sich in eine thalamokortikale und eine limbische Projektion Die bewusste Wahrnehmung eines Geschmackes wird durch Projektionen in den Gyrus postcentralis ermöglicht, nachdem die primären Afferenzen zuvor im zugehörigen Kerngebiet des Thalamus umgeschaltet werden. Im orbitofrontalen Kortex konvergieren die Geschmacksreize mit Afferenzen aus dem olfaktorischen und visuellen System. Daneben besteht eine Bahn vom Nucleus tractus solitarii zu limbischen und vagalen Kerngebieten, die unter anderem zur affektiven Bewertung eines Geschmackes und zu vagalen Reflexen beitragen. Die afferenten Fasern des Geschmackssinnes gehören zu pseudounipolaren Neuronen des VII., IX. und X. Hirnnervens. Diese innervieren jeweils unterschiedliche Bereiche der Zunge, was diagnostisch für die Lokalisation einer Läsion von Bedeutung sein kann. Der Nervus facialis versorgt über die Chorda tympani die Pilzpapillen der vorderen zwei Drittel der Zunge (Geschmacksstörungen nach Mittelohr-Operationen!) sowie über den Nervus petrosus major die Papillen am Gaumen. Die im hinteren Zungengrund gelegenen Wallpapillen und einige Blattpapillen werden von Fasern des Nervus glossopharyngeus erreicht, die restlichen, besonders die tief im Gaumen und Pharynx liegenden Papillen, vom Nervus vagus. Nicht zu vergessen ist, dass die Wahrnehmung von Speisen in der Mundhöhle ganz wesentlich von deren Temperatur, mechanischen Konsistenz und eventuellen Beimischungen reizender Stoffe (z. B. Capsaicine in Paprika; vgl. S. 640) geprägt ist – alle diese Empfindungen

Zunge

Abb. 24.2 Lage und Kerngebiete der Geschmacksbahn im Zentralnervensystem (nach 3).

werden von zahlreichen Fasern des Nervus trigeminus in das ZNS gemeldet, der somit entscheidend zur Beurteilung einer Speise beträgt! Die efferenten Anteile der Hirnnervenfasern projizieren auf Zellsäulen im rostralen und lateralen Teil des Nucleus tractus solitarii des Hirnstamms (Abb. 24.2). Die von dort ausgehenden Axone teilen sich in zwei funktionell und anatomisch unterschiedliche zentrale Wege, die einerseits zum Neokortex und andererseits zu Kerngebieten des limbischen Systems führen (vgl. Kap. 28.3, 28.4). Wie bei anderen Sinnesqualitäten werden die Bahnen zum Neokortex zuvor in einem thalamischen Projektionskern (dem parvozellulären Anteil des Nucleus ventralis posterior) umgeschaltet. Die gustatorischen Eingänge erreichen den Kortex ohne Kreuzung. Das primäre Projektionsfeld der Geschmacksbahn (Abb. 24.2) liegt am Fuß des Gyrus postcentralis, unmittelbar hinter der somatosensorischen Zungenregion. Es erstreckt sich von dort über das Operculum bis zur Insel. Höhere („sekundäre“) Geschmacksareale befinden sich im orbitofrontalen Kortex . Dort konvergieren gustatorische, olfaktorische und visuelle Informationen, deren Einflüsse gemeinsam das Essverhalten beeinflussen.

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24.3 Der Geschmackssinn Läsionen der geschmackssensitiven Areale des Neokortex führen zum Verlust der bewussten Geschmackswahrnehmung (Ageusie), jedoch bleiben zahlreiche emotionale vegetative und motorische Reaktionen erhalten. Diese werden über Projektionen zu Kerngebieten der orofazialen Motorik im Hirnstamm vermittelt sowie über aufsteigende Bahnen zum Hypothalamus, der Amygdala und der Stria terminalis (vgl. Kap. 28.4). Es ist noch unklar, ob ähnlich wie in anderen Sinnessystemen gustatorische Reize nach Seiten getrennt und kontralateral verarbeitet werden.

Die Transduktion von Geschmacksreizen erfolgt über Ionenkanäle und G-Protein-aktivierende Rezeptoren Die fünf Grundqualitäten des Geschmacks (sauer, salzig, süß, bitter, Umami) werden durch spezialisierte Moleküle in der apikalen Membran der Sinneszellen vermittelt. Diese erzeugen das depolarisierende Rezeptorpotenzial durch den Einstrom von Kationen, Blockade von Kaliumkanälen und durch Aktivierung von G-Proteinen. Möglicherweise gibt es weitere Geschmacksqualitäten, deren molekulare Transduktionsmechanismen noch nicht aufgeklärt sind. Neuere Studien haben ein recht detailliertes Verständnis der Vorgänge ermöglicht, die von der Bindung eines spezifischen Stoffes zur Ausbildung des Rezeptorpotenzials in einer Geschmackssinneszelle führen. Dabei zeigt sich, dass für die unterschiedlichen Geschmacksqualitä-

A sauer

Im Detail müssen wir fünf Teilsysteme für die fünf klar unterscheidbaren Geschmacksqualitäten betrachten (Abb. 24.3): Sauer: Die Erkennung eines verminderten pH-Wertes (also erhöhter H+-Konzentration) erfolgt über mehrere parallel wirksame molekulare Mechanismen. Es gibt spezialisierte Ionenkanäle, die durch H+-Ionen geöffnet wer-

Zucker H

Mikrovilli

Die Exozytose von Vesikeln kann auch ohne Aktionspotenziale durch alternative Signalwege gefördert werden, indem Inositoltrisphosphat (IP3) erzeugt wird, welches Kalzium aus intrazellulären Speichern des endoplasmatischen Retikulums freisetzt. Diese Freisetzung von Kalzium wird durch IP3-Rezeptoren vermittelt, die demzufolge ligandengesteuerte Kalziumkanäle darstellen (vgl. Kap. 2.6). Auch eine Senkung der Konzentration von cAMP führt zu verstärkter Transmitterfreisetzung, wobei die Mechanismen noch nicht genau verstanden sind.

C süß

+

Na

Transduktion

ten ganz unterschiedliche molekulare Mechanismen genutzt werden, anders als im olfaktorischen System (vgl. Kap. 24.4). Die Mechanismen und intrazellulären Signalwege ähneln aber denen aus vielen anderen Sinnessystemen – die Natur bedient sich also prototypischer Moleküle, die durch divergente Evolution jeweils einer bestimmten Funktion angepasst wurden. Auch der Endpunkt der meisten gustatorischen Signalwege ist einheitlich: es kommt zu überschwellig depolarisierenden Rezeptorpotenzialen, die in den Sinneszellen Aktionspotenziale auslösen. Dies führt wiederum zur Öffnung spannungsgesteuerter Kalziumkanäle an der basolateralen Membran, und nachfolgend zur Ausschüttung Glutamatgefüllter Vesikel.

+

T1-R G

Adenylylcyclase K

ASIC ATP

Geschmackssinneszelle

B salzig

+

Na glutamaterge Vesikel

cAMP

+

Proteinkinase A

D bitter T2-R

Gustducin

G

ZNS

ENaC

Phospholipase C

IP3 2+

2+

DAG

Abb. 24.3 Transduktionsmechanismen des Geschmackssinnes. Die Umsetzung der chemischen Reize in elektrische Signale erfolgt an den Mikrovilli der polaren Sinneszellen. Letztlich kommt es zur Ca2+-vermittelten Ausschüttung von Glutamat. A: Sauer. H+-Ionen erhöhen den Einstrom von Kationen durch ASIC Kanäle. B: Salzig. Direkter Einstrom von Na+ durch ENaC Kanäle. C: Süß. Bindung von süß schmeckenden Molekülen an T1-Rezeptoren führt zur Aktivierung

Ca Speicher

Ca

der Adenylatcyclase. Blockade von Kaliumkanälen durch aktivierte Proteinkinase A führt zur Depolarisierung. D: Bitter. Aktivierung des G-Proteins Gustducin durch T2-Rezeptoren führt über Aktivierung der Phospholipase C und IP3 zur Ausschüttung glutamaterger Vesikel. L-Glutamat (Umami) aktiviert einen ähnlichen T1-Rezeptor vermittelten Signalweg wie süße Stoffe.

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717

718

24 Geschmack und Geruch den und Kationen (Na+, Ca2+) passieren lassen. Dies führt zur Depolarisierung der Sinneszelle (Rezeptorpotenzial). Die Kanäle werden als ASIC (acid-sensing ion channels) bezeichnet und sind homolog zu den unten beschriebenen epithelialen Natriumkanälen (ENaC). Letztere sind in manchen Spezies auch mitverantwortlich für einen direkten Einstrom von H+-Ionen, spielen beim Menschen aber vermutlich nur eine untergeordnete Rolle für die Wahrnehmung saurer Valenzen. Säure-sensitive Sinneszellen exprimieren auf der apikalen Membran Kaliumkanäle, die zum Ruhemembranpotenzial beitragen und durch H+-Ionen blockiert werden. Auch diese Reduktion der Kaliumleitfähigkeit führt aufgrund des verminderten Auswärtsstromes von K+-Ionen zu einer Depolarisation. Salzig: Salzige Speisen zeichnen sich durch einen hohen Gehalt an NaCl aus. Das zugehörige Rezeptorpotenzial entsteht durch Natriumkanäle der so genannten ENaC-Familie (epitheliale Natriumkanäle). Andere Vertreter dieser Kanäle finden sich an Natrium-resorbierenden Epithelien, z. B. in Niere und Darm (vgl. Kap. 12.5, 14.8). Die Kanäle sorgen für einen permanenten Einstrom von Na+-Ionen aus der Speichelflüssigkeit, der sich bei der Aufnahme salziger Speisen erhöht und somit ein depolarisierendes Rezeptorpotenzial erzeugt. Um das Ruhemembranpotenzial gegen diesen Einstrom zu stabilisieren, exprimieren die Zellen basolateral reichlich Na+/ K+-ATPasen (vgl. Kap. 2.4, 4.3). Die ENaC sind besonders stark in den Rezeptorzellen der Pilzpapillen exprimiert. Der unterschiedliche Geschmack verschiedener Natriumsalze legt nahe, dass auch Anionen zur Salzerkennung beitragen. Möglicherweise spielen Chloridkanäle in Stützzellen hierbei eine Rolle, die ihre Potenzialänderungen durch „Gap Junctions“ auf Geschmackssinneszellen übertragen (vgl. Kap. 3.2).

Süß: Zucker und süß schmeckende Substanzen (z. B. DAminosäuren, nicht aber L-Aminosäuren) binden an T1Rezeptoren. Diese Proteine gehören zu der großen Klasse der G-Protein-gekoppelten, metabotropen Rezeptoren (vgl. Kap. 5.5). Bisher wurden die drei Isoformen T1R1, T1R2 und T1R3 identifiziert. Die Rezeptoren funktionieren wahrscheinlich als Dimere, wobei die Qualität „süß“ vor allem der Kombination T1R2 + T1R3 zugeschrieben wird. In der Sinneszelle aktivieren sie ein G-Protein (Gs), das wiederum den Signalweg über die Adenylatcyclase, cAMP und die Proteinkinase A in Gang setzt (vgl. Kap. 2.6). In der Folge werden K+-Kanäle geschlossen, wodurch die Zelle depolarisiert wird. Ein zusätzlicher, Kalzium-vermittelter Signalweg wird diskutiert – dieser soll besonders durch die sehr potenten künstlichen Süßstoffe aktiviert werden.

Bitter: Die Rezeptoren für bitter schmeckende Substanzen sind phylogenetisch mit den Süß-Rezeptoren verwandt, bilden jedoch die größere Familie der T2-Rezeptoren. Beim Menschen umfasst sie mindestens 25 Proteine, die teilweise sehr spezifisch auf bestimmte Substanzen reagieren. Dadurch wird wohl der Vielfalt potenziell gefährlicher Stoffe Rechnung getragen, die keinesfalls durch mangelnde Sensitivität eines Rezeptors „überschmeckt“ werden dürfen. T2-Rezeptoren aktivieren ein für das gustatorische System spezifisches G-Protein, das analog zum Transducin des Auges Gustducin heißt (vgl.

Kap. 23.2). Gustducin aktiviert die Phospholipase C, die über eine intrazelluläre Signalkaskade letztlich eine Erhöhung der Kalziumkonzentration bewirkt (vgl. Kap. 2.6). Hinzu kommt die Aktivierung einer Phosphodiesterase, die die Konzentration von cAMP senkt. Einzelne Sinneszellen können mehrere verschiedene Subtypen von T2-Rezeptoren exprimieren, jedoch nicht gleichzeitig Mitglieder der T1-Rezeptor-Familie, die ja für süße Stoffe kodieren würden. Die T2-Rezeptoren werden nur in den posterioren Zungenanteilen exprimiert, wodurch die Beschränkung der Qualität „bitter“ auf diese Region erklärt wird.

Umami: Schließlich bleibt noch der charakteristische Fleisch- oder Glutamat-Geschmack Umami. Hier gibt es eine Verwandtschaft zur Süß-Wahrnehmung: Rezeptoren für Glutamat sind ebenfalls die G-Protein-gekoppelten Proteine der T1-Rezeptor-Familie. Die Spezifität für die Qualitäten Umami oder süß resultiert aus einer jeweils anderen Kombination verschiedener Isoformen. Rezeptoren für Umami entstehen aus der Kombination T1R1 + T1R3. Hinzu kommt ein metabotroper Glutamatrezeptor (mGluR4), dessen intrazelluläre Signalwege noch nicht vollständig aufgeklärt sind (vgl. Kap. 5.5 u. 5.9). Es ist offen, ob noch andere Geschmacksqualitäten mit eigenen Signalwegen existieren. Dies wäre insbesondere für die postulierte eigenständige Qualität eines Fettgeschmackes von erheblicher ernährungsphysiologischer Bedeutung.

Die Sinneswahrnehmung des Geschmacks entsteht aus einem komplexen räumlichen und zeitlichen Muster der Aktivierung von Afferenzen Die Reizschwelle für verschiedene Geschmacksstoffe ist sehr unterschiedlich. Potenziell toxische Substanzen werden in besonders geringer Konzentration als bitter erkannt. Die Wahrnehmungsschwelle, bei der man einen Stoff identifizieren kann, liegt generell bei höheren Konzentrationen als die Reizschwelle, bei der man „etwas“ schmeckt. Die Geschmackswahrnehmung entsteht durch ein komplexes Muster von unterschiedlich starker Erregung verschiedener afferenter Fasern, die jeweils auch zu ganz anderen Geschmäckern beitragen können. Die Qualität und affektive Bewertung von Substanzen kann sich konzentrationsabhängig deutlich verändern. Das eigentliche Schmecken, also die Funktion des Geschmackssinns auf der Ebene des Gesamtorganismus, ist Resultat der oben beschriebenen molekularen, zellulären und funktionell-anatomischen Mechanismen. Allerdings lassen sich bisher nicht alle Eigenschaften dieses Sinnes kausal erklären – einiges muss empirisch ermittelt werden. Wie alle Sinnesqualitäten lässt sich die Empfindlichkeit des Geschmackssinnes durch Schwellenwerte des Reizes beschreiben, hier also durch Schwellenkonzentrationen bestimmter Substanzen. Sie werden im Wesentlichen von der spezifischen Sensitivität der Rezeptoren bestimmt. So ist z. B. die Schwellenkonzentration von Zucker (D-Glukose) etwa 10 000-mal so hoch wie die von Zuckerersatzstoffen wie Saccharin (Tab. 24.1). Leicht ein-

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24.3 Der Geschmackssinn

Geschmacksstoff

Konzentration (mol/l)

süß

Glucose

10–1

Saccharose

10–2

Saccharin

10–5

sauer

HCl und andere Säuren

10–3

salzig

NaCl und andere Salze

10–2

bitter

Coffein

10–3

Chinin

10–5

Strychnin

10–6

L-Glutamat

10–3

Umami

sehbar ist, dass Bitterstoffe als potenzielle Gefahrenquellen die empfindlichsten Rezeptoren und somit die niedrigsten Schwellenkonzentrationen besitzen. Denatonium, ein besonders potenter Ligand der T2-Rezeptoren, wird als Warnsubstanz zum Beispiel giftigen Haushaltsmitteln zugesetzt. Beim Geschmack liegt die Wahrnehmungsschwelle oft deutlich unter der Erkennungsschwelle, d. h. es wird zunächst bemerkt, dass die Substanz nach etwas schmeckt, der Geschmack kann aber erst bei höherer Konzentration identifiziert werden. Zudem kann die Steigerung der Konzentration die Geschmacksqualität beeinflussen. Bestimmte Salze werden zum Beispiel in niedriger Konzentration zunächst als süß empfunden! Wie bei den meisten Sinnesqualitäten hängt die Stärke der Empfindung nicht linear von der Reizstärke, also der Konzentration einer Substanz, ab (vgl. Kap. 25.3). Tatsächlich wächst die Entladungsrate der afferenten Fasern bei fortlaufender Steigerung der Konzentration einer Testsubstanz immer weniger steil an, so dass die Empfindlichkeit für kleine Konzentrationsunterschiede zwar geringer wird, dafür der Messbereich aber groß ist. Letztlich ist die Stärke der Erregung eines sensorischen Einganges durch die Anzahl der aktivierbaren Fasern sowie durch die maximal mögliche Frequenz von Aktionspotenzialen limitiert. Charakteristisch für den Geschmack ist überdies, dass fast alle Geschmacksstoffe in extrem hoher Konzentration unangenehm schmecken (Abb. 24.4) – dies schützt uns vor einer biochemischen oder osmotischen Überlastung unseres Verdauungstraktes. Viele Sinneszellen exprimieren mehrere verschiedene Rezeptoren, und afferente Fasern erhalten Informationen von vielen Sinneszellen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass nur eine Minderheit der gustatorischen Fasern spezifisch durch eine einzige Geschmacksqualität erregt wird. Die meisten Afferenzen werden durch verschiedene Qualitäten erregt, allerdings in verschiedener Empfindlichkeit. So erzeugen eine Substanz oder das Substanzgemisch einer Speise ein komplexes Aktivierungsmuster in den verschiedenen afferenten Fasern. Die Identifizierung eines Geschmackes ist also eine aktive Interpretationsleistung unseres Gehirns im Sinne einer Mustererkennung (Abb. 24.5).

Wie viele andere Sinnesleistungen zeigen Geschmackswahrnehmungen eine ausgeprägte Adaptation, d. h. bei konstanter Konzentration einer Substanz auf der Zunge nimmt die empfundene Intensität des Geschmackes ab. Gleichzeitig steigt die Empfindlichkeit für andere Geschmacksqualitäten, so dass neutrales Wasser nach Adaptation auf Säure leicht süßlich schmeckt usw. (dies entspricht dem Betrachten eines farbigen Bildes, das ein Nachbild in der Gegenfarbe entstehen lässt; vgl. Kap. 23.8). An der Adaptation sind verschiedene Mechanismen beteiligt, die schon in der Peripherie des Sinnesorgans mit Spüldrüsen beginnen, die die Konzentration der Geschmacksstoffe senken. Auch die molekularen Mechanismen der Transduktion tragen zur Adaptation bei. So werden zum Beispiel die an der Salzwahrnehmung beteiligten Natriumkanäle durch intrazellulär erhöhtes Natrium inaktiviert, so dass sich ihre Aktivität nach längerer Exposition gegenüber NaCl selbst begrenzt. Hinzu kommen zentralnervöse Prozesse der Adaptation in den höheren Abschnitten der Geschmacksbahn.

Die starke Einbindung limbischer Strukturen (vgl. Kap. 28.4) in die Geschmacksbahn legt nahe, dass zahlreiche unbewusste Reaktionen durch Geschmacksreize gesteuert werden. Dies beginnt bei der Mimik (kleine Kinder zeigen bereits dieselben mimischen Reaktionen wie Erwachsene, um Abscheu oder Genuss zu demonstrieren). Des Weiteren lösen Geschmacksreize über den

100

Geschmack angenehm (%)

Qualität

Die Alternative wäre die Kodierung durch spezifische Fasern, die jeweils einem ganz bestimmten Geschmack zugeordnet wären. Diese Form der Informationsübertragung wird im englischen Schrifttum als „labeled line“ bezeichnet und erlaubt nicht dieselbe Vielfalt von Wahrnehmungen wie eine kombinatorische Signalverarbeitung.

0

Reizkonzentration

süß

max

angenehm

50

sauer 0

Geschmack unangenehm (%)

Tabelle 24.1 Bereiche der Absolutschwellen für einige Geschmacksstoffe bei Reizung der gesamten Mundhöhle

unangenehm – 50

salzig bitter

– 100

0 0 0 0

1,17 mol/l

Rohrzuckerlösung

0,75 mol/l

Weinsäure

1,71 mol/l

Kochsalzlösung

–5

Chininsulfatlösung

5,1 ·10 mol/l

Abb. 24.4 Angenehmer oder unangenehmer Geschmack einer Reizlösung in Abhängigkeit von ihrer Konzentration (nach 10).

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719

24 Geschmack und Geruch

0,1 mol/l NaCl

20

0

0,5 mol/l Saccharose 20

Aktionspotenziale/s

720

0

0,01 mol/l HCl 20

0

0,02 mol/l Chininhydrochlorid 20

0

50 Geschmacksaxone

Abb. 24.5 Anzahl der Aktionspotenziale von 50 Geschmacksaxonen der Chorda tympani der Ratte während der ersten 5 s einer Reizung mit jeweils einer von vier Geschmackslösungen. Die Axone sind nach fallender Salzempfindlichkeit geordnet. Es gibt keine zwei Axone, die dasselbe Geschmacksprofil haben (nach 11).

Nucleus tractus solitarii autonome Reflexe aus (vagalcephalische Phase der Nahrungsaufnahme). Schließlich zeigt unser Geschmackssinn eine charakteristische Entwicklung: Säuglinge und Kleinkinder haben bereits Vorlieben für Süßes und eine Aversion gegen Bitterstoffe – offenbar handelt es sich hier um lebenswichtige angeborene Reaktionen. Innerhalb des vorgegebenen Rahmens verändert sich kultur- oder altersabhängig die Bewertung von Geschmäckern. So lernen viele Menschen den leicht bitteren Geschmack von Bier schätzen. Schlechte Esser unter den älteren Babies essen häufig williger, wenn die Mutter die Speisen pikanter würzt. Im Alter sinkt die Schmeckempfindlichkeit (es steigt also die Wahrnehmungsschwelle), woran vermutlich eine abnehmende Zahl von Rezeptorzellen beteiligt ist. Allerdings ist dieser Effekt wohl bei der Riechempfindlichkeit noch ausgeprägter. Beides zusammen kann zu der oft unzureichenden Nahrungsaufnahme alter Menschen beitragen. Da nur in Wasser gelöste Substanzen geschmeckt werden können, ist auch ein geringer Speichelfluss, etwa durch unzureichende Trinkmenge, hinderlich für den Geschmack von Speisen.

Störungen des „Schmeckens“ sind oft auf olfaktorische Erkrankungen zurückzuführen Eine subjektiv empfundene verminderte oder veränderte Geschmackswahrnehmung darf nicht isoliert betrachtet werden, da zum Schmecken allgemeine sensorische und besonders olfaktorische Reize beitragen! Diagnostisch werden definierte Testlösungen auf die Zunge gebracht, mit denen man die Wahrnehmung der Qualitäten des Schmeckens im engeren Sinne systematisch testen kann. Das Wichtigste zuerst: wenn ein Patient unter Störungen des Geschmacks leidet, so ist zu bedenken, dass „Schmecken“ eine Synthese von eigentlicher Geschmackssensorik, somatosensorischen Leistungen (Konsistenz, Temperatur) und vor allem Geruch beinhaltet – jeder kennt die deutliche Einschränkung des Schmeckens bei einem starken Schnupfen! Die Störung muss also keineswegs im engeren Bereich der Geschmacksrezeptoren oder der Geschmacksbahn liegen – tatsächlich sind spezifische Störungen des Geschmackssinnes viel seltener als solche des olfaktorischen Systems. Gezielte Nachfrage zur Wahrnehmung der Grundqualitäten sauer, süß, salzig und bitter führt hier diagnostisch weiter. Eine Einschränkung der Geschmackswahrnehmung lässt sich schließlich durch das Aufbringen definierter Testlösungen auf die Zunge objektivieren. Läsionen einzelner Nervenäste verlangen die lokale Applikation der Substanzen. Die gezielte Induktion gustatorischer Reize durch lokale Reizung der Rezeptoren mit anodischem (negativem) Gleichstrom wird als „Elektrogustometrie“ bezeichnet, ist jedoch keine Standardmethode. Noch weniger gilt dies für die an wenigen Zentren durchführbare Ableitung gustatorisch evozierter Potenziale. Dennoch zeigt diese Möglichkeit anschaulich, dass der Geschmackssinn als typischer Nahsinn ähnlichen Prinzipien folgt wie die Somatosensorik (vgl. Kap. 20.2). Als Ageusie wird die fehlende Geschmackswahrnehmung bezeichnet. Die häufigere spezifische Ageusie liegt beim Ausfall der Wahrnehmung einzelner Qualitäten vor. Eine verminderte bzw. vermehrte Geschmackswahrnehmung heißt Hypogeusie bzw. Hypergeusie. Die häufigste Störung des Geschmackssinnes ist die Dysgeusie, also die abweichende Wahrnehmung von Schmeckreizen, z. B. durch einen metallischen oder bitteren Beigeschmack. Ursachen von Schmeckstörungen können genetische Erkrankungen sein, die bestimmte Rezeptoren betreffen. Dies ist allerdings sehr selten. Häufig erklärt sich ein gestörter Geschmackssinn durch die Nebenwirkung eines Medikamentes (bestimmte Antibiotika, L-Dopa, Schmerzmittel u.v. a.), oder sie entstehen durch Entzündungen im Bereich der Mundhöhle, Erkrankungen der Speicheldrüsen (verminderter Speichelfluss!) oder Schädigungen eines Hirnnerven (meist VII) durch Trauma oder Entzündung. Auch viele Stoffwechselerkrankungen (z. B. Diabetes mellitus) sowie Vergiftungen (etwa mit Schwermetallen) können Geschmacksstörungen verursachen. Schließlich sollte nicht vergessen werden, dass die

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24.4 Der Geruchssinn Wahrnehmung eines Geschmacks im Zentralnervensystem entsteht – neben Tumoren oder Hirninfarkten ist hier auch an gustatorische Halluzinationen bei einer Schizophrenie oder an die „Aura“ (charakteristisch veränderte Wahrnehmung) vor epileptischen Anfällen zu denken.

24.4

Der Geruchssinn

Der Geruchssinn informiert uns als Fernsinn über chemische Bestandteile unserer Umwelt, trägt aber – auf dem Umweg über Mundhöhle und Pharynx – auch wesentlich zum Erlebnis des Schmeckens bei. Die häufigen Störungen des Geruchssinns fallen daher oft zunächst als Einschränkung des Schmeckens auf. Die primären Sinneszellen des Riechepithels exprimieren eine große Vielzahl verschiedener Rezeptoren, die nach Bindung spezifischer Substanzen G-Proteine aktivieren und die Transduktion einleiten. Die Axone der Riechzellen erzeugen im Bulbus olfactorius ein komplexes, substanz- und konzentrationspezifisches Aktivitätsmuster. Die Weiterleitung zum primären Riechhirn erfolgt ohne Umschaltung im Thalamus, parallel wird auch eine Vielzahl von anderen Kerngebieten erreicht, die zu den starken emotionalen und vegetativen Reaktionen auf Gerüche sowie zum Riechgedächtnis beitragen. Ähnlich wie der Geschmack dient der Geruchssinn der Identifizierung chemischer Substanzen. Dennoch weist er gegenüber dem Geschmack charakteristische Unterschiede auf: – der Mensch kann mehrere tausend Gerüche unterscheiden, während nur fünf echte Geschmacksqualitäten bestehen; – der Geruchssinn ist sehr empfindlich, so dass typische Schwellenkonzentrationen aromatischer Stoffe um

viele Zehnerpotenzen unter denen von Geschmacksstoffen liegen; – der Geruchssinn ist ein typischer Fernsinn, er erfüllt viel weitergehende Aufgaben als der auf die Nahrung beschränkte Geschmack (insbesondere soziale Funktionen); – die Riechsinneszellen sind primäre Sinneszellen, d. h. sie bilden Axone aus und leiten Aktionspotenziale zum Gehirn; – die Entstehung der Rezeptorpotenziale ist beim Riechen einheitlicher als beim Schmecken. Die Vielfalt homologer Rezeptormoleküle setzt über die Aktivierung von G-Proteinen in den Riechsinneszellen jeweils die gleiche molekulare Signalkaskade in Gang.

Die Erregung der Riechsinneszellen erzeugt im Bulbus olfactorius ein komplexes Muster von Aktivität Jeder Duftstoff aktiviert eine besondere Auswahl von Riechrezeptoren. Die Axone von Riechsinneszellen mit gleichen Rezeptoren konvergieren im Bulbus olfactorius auf die gleichen Glomeruli, so dass dort ein substanzspezifisches Aktivitätsmuster entsteht. Im orbitofrontalen Kortex konvergiert die Riechbahn mit der Geschmacksbahn und anderen, z. B. visuellen Afferenzen und trägt damit zur Steuerung unseres Verhaltens bei. Die weitverzweigten Projektionen in subkortikale Kerngebiete sind unter anderem für die starke affektive Komponente von Gerüchen verantwortlich, aber auch dafür, dass wir vertraute Gerüche lebenslang erinnern. Das Riechepithel der Nase ist auf einen kleinen (bis 400 mm2) Bereich am Dach der oberen Concha nasi sowie an der Nasenscheidewand beschränkt (Abb. 24.6). Da wir im Wesentlichen durch die untere Concha atmen, gelangt nur ein kleiner Anteil der Atemluft an die Sinneszellen,

Bulbus olfactorius Tractus olfactorius

submuköse Drüse

Fila olfactoria Riechschleimhaut Septum

Axone

Lamina cribrosa

Basalzelle BowmanDrüse Riechzellen

VNO

Stützzellen

A Lage der Riechschleimhaut

Zilien der Riechzellen

C zelluläre Struktur der Riechschleimhaut B Aufbau der Riechschleimhaut

Abb. 24.6

Lage und Aufbau der Riechschleimhaut und des vomeronasalen Organs (VNO).

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721

722

24 Geschmack und Geruch Lebenszyklus ca. 30 Tage

Reifung

Schleimhaut

Schleimschicht

Abb. 24.7

Lebenszyklus einer Riechzelle (nach 5).

der bei Bedarf durch „Schnüffeln“ erhöht werden kann. Wie bereits bei der Beschreibung des gustatorischen Systems erläutert, sind über den Nasopharynx aufsteigende Aromate aus der Mundhöhle beim Essen eine wesentliche Quelle des empfundenen „Geschmacks“ einer Speise. Die zelluläre Zusammensetzung des Riechepithels ähnelt vordergründig derjenigen des gustatorischen Systems: neben den eigentlichen Riechsinneszellen finden sich sog. Stützzellen sowie Basalzellen, aus denen sich die Riechsinneszellen mit einem Lebenszyklus von 3 – 6 Wochen ständig regenerieren (Abb. 24.7). Allerdings sind die (geschätzten) etwa 20 Millionen Riechsinneszellen neuronalen Ursprungs, während die Geschmackssinneszellen epitheliale Zellen sind. Sie bilden damit eines der wenigen Beispiele regenerationsfähiger Neurone des Menschen – angesichts der generell sehr geringen Regenerationsfähigkeit bei Läsionen des zentralen Nervensystems ist dies eine herausragend interessante Eigenschaft! Das Riechepithel ist von Schleim überzogen, der von Stützzellen sowie von den in die Nasenschleimhaut eingelagerten Bowman-Drüsen gebildet wird. Die Aromate müssen sich zunächst in dem Schleim lösen, bevor sie ihren Weg zu den eigentlichen Rezeptorproteinen finden. Einige Substanzen werden auch an spezielle Proteine gebunden. Die Rezeptoren sind in die Membran der 5 – 30 Zilien der Riechsinneszellen integriert, die in den Schleim hineinragen und dort ein verfilztes Geflecht mit einer sehr großen Oberfläche chemosensibler Membranen bilden (Abb. 24.6). Die Zilien entspringen aus einer Verdickung am einzigen Stammdendriten der Riechsinneszellen, dem so genannten Riechkegel. Die um Stützzellen herum angeordneten Dendriten durchspannen die Schleimhaut, um am Fuß ins Soma überzugehen, aus dem ein dünnes markloses Axon entspringt. Die Axone der Riechsinneszellen vereinigen sich unterhalb der Lamina cribrosa, die sie gebündelt als Fila olfactoria durchziehen (Abb. 24.6). Hierbei wirken Gliazellen vom Schwann-Typ mit (vgl. Kap. 19.2.), die jedoch keine Markscheide um die Axone bilden. Die gebündelten Axone ziehen als Nervus olfactorius zum Bulbus olfactorius, einer phylogenetisch

alten Ausstülpung des Vorderhirns. Die Sinneszellen des Riechepithels sind also primäre Sinneszellen, die Axone besitzen, Aktionspotenziale generieren und in das Gehirn weiterleiten. Der Bulbus olfactorius ist in einige hundert diskrete Zonen aus wenigen Nervenzellen, so genannte Glomeruli, aufgeteilt. Jeder Glomerulus enthält afferente Fasern von Riechsinneszellen, die alle denselben Rezeptortyp besitzen. Da es etwa 350 verschiedene Rezeptortypen gibt und Sinneszellen mit gleichem Rezeptortyp verstreut liegen, kommt es hierbei zu einer erstaunlichen Ordnung der Axone. Die Ontogenese des Bulbus olfactorius ist daher ein Modellsystem für die axonale Wachstumssteuerung, deren genaue Mechanismen noch unbekannt sind. Auffällig ist, dass die Rezeptoren eines bestimmten Typs bei allen Individuen einer Art jeweils auf Glomeruli gleicher Lage verschaltet sind – offenbar gibt es ein genetisch festgelegtes Programm für diese Sortierung (dies wurde allerdings bisher nur für Insekten strikt bewiesen, deren Riechsystem dem unseren in vieler Hinsicht ähnelt). Zur Hypothese eines festen Programms der Verschaltung im Bulbus olfactorius passt auch, dass Glomeruli gleicher Sinnesqualität bilateral symmetrisch angeordnet sind. Eine sehr grobe Vorsortierung der Axone ergibt sich daraus, dass gleichartige Sinneszellen typischerweise in einem von vier Quadranten des Epithels angeordnet sind. Dies reicht aber bei weitem nicht aus, um die Ontogenese des Systems zu erklären, das zudem ja täglich tausende neuer Sinneszellen generieren und in die bestehende Ordnung einbauen muss. In jüngerer Zeit mehren sich die Zweifel, ob wirklich alle Zellen einer Geruchsqualität strikt auf ein Glomerulum projizieren. Vielmehr scheinen bei vielen Spezies einige wenige Glomeruli von den Axonen eines Rezeptortyps angesteuert zu werden. Außerdem scheint es möglich, dass einzelne Riechsinneszellen doch mehrere Rezeptortypen exprimieren. Dennoch bleibt das grundlegende Prinzip einer hochgradigen Ordnung nach Zellen und Axonen gleicher olfaktorischer Spezifität unwidersprochen.

Im Glomerulus kontaktieren die Axone der Sinneszellen die Dendriten von Mitral- und Büschelzellen (Abb. 24.8). Daneben aktivieren sie auch periglomeruläre Zellen, die inhibierend wirken. Es kommt also bei einer Riechwahrnehmung im Glomerulus zu erregenden und hemmenden Signalen, so dass die Ausgangsleistung „netto“ sowohl stimuliert als auch gehemmt werden kann. Ein Gleichgewicht von Hemmung und Erregung besteht schon im Ruhezustand, da die Fasern des Nervus olfactorius spontan aktiv sind. Ein weiterer Zelltyp sind die inhibitorischen Körnerzellen des Bulbus olfactorius. Durch rekurrente Verschaltung hemmen sie Mitralzellen, außerdem vermitteln sie eine Hemmung benachbarter Glomeruli. Dieses Prinzip der lateralen Hemmung existiert in vielen Sinnessystemen (vgl. Kap. 19.4) und dient der Kontrastverschärfung, indem aktuell aktivierte Glomeruli die Aktivität benachbarter, nicht aktivierter Glomeruli unterdrücken. Die hemmenden Körnerzellen des Bulbus olfactorius haben eine Reihe besonderer Eigenschaften: sie formen mit den Mitral- und Büschelzellen dendro-dendritische Synapsen, bilden kein Axon aus und sind, wie die Sinnenszellen des Riechepithels, zur Regeneration fähig. Der biologische Nutzen der letztgenannten Eigenschaft ist unklar, sie könnte jedoch mit dem ständigen Einbau afferenter Fasern von neu gebildeten Sinneszellen in die synaptischen Netzwerke des Bulbus zusammenhängen.

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24.4 Der Geruchssinn A Musterbildung

B Verschaltung vom und zum primären olfaktorischen Kortex

vom anderen Nucl. olfactorius anterior zum anderen Bulbus olfactorius Nucleus olfactorius anterior

Tractus olfactorius

Bulbus

Bulbus olfactorius Körnerzelle

+

Fila olfactoria

+ –

–

Mitralzelle

– –

+

+

– – Glomerulus periglomeruläre Zellen

Riechsinneszellen

Abb. 24.8 Musterbildung und Verschaltung des neuronalen Netzwerkes im Bulbus olfactorius. A Verstreut liegende Riechsinneszellen mit gleicher Rezeptorspezifität projizieren in gleiche Glomeruli. Die Aktivität der Fasern des Tractus olfactorius bildet ein komplexes Muster, welches die unterschiedlich starke Aktivierung der Riechrezeptoren durch eine

Im eigentlich zentralnervösen Teil der Riechbahn (Abb. 24.9) ziehen die Axone der Mitral- und eines Teils der Büschelzellen als Tractus olfactorius (teilweise kreuzend) zum primären Riechhirn. Der Tractus olfactorius gibt Kollateralen zum Nucleus olfactorius ab, der eine Hemmung des kontralateralen Tractus olfactorius vermittelt. Dem Riechhirn ordnet man den präpiriformen Kortex, das Tuberculum olfactorium sowie Areale der Amygdalae zu. Hier projiziert also ein Sinnessystem ohne vorherige synaptische Umschaltung im Thalamus in den Kortex! Von den primären Rindenarealen gibt es Verbindungen zum Hypothalamus, zur Amygdala, sowie zum orbitofrontalen Kortex und zur Insel. Dort konvergieren Riech- und Geschmackseindrücke. Über Verbindungen aus der Amygdala wird der entorhinale Kortex erreicht, der ein wichtiger polymodal integrierender Assoziationskortex des limbischen Systems ist. Vom Tuberculum und dem primären Riechhirn ziehen Fasern zur Habenula sowie zur Formatio reticularis des Mittelhirns. Die Vielfalt der Verbindungen lässt sich vereinfachend in folgendes funktionelle Schema bringen: Riecheindrücke erzeugen Aufmerksamkeit bis hin zu Weckreaktionen (Formatio reticularis), sie greifen in die Steuerung der

Fila olfactoria

Substanz widerspiegelt. B Afferente Verschaltung und laterale Hemmung im Glomerulus. Die apikalen Dendriten der Mitralzellen erhalten Afferenzen vieler gleichartiger Sinneszellen. Die laterale Hemmung durch Körner- und periglomeruläre Zellen wird teilweise über dendro-dendritische Synapsen vermittelt.

Nahrungsaufnahme ein (Hypothalamus), sie vermitteln emotionale Reaktionen (Amygdala) und können lang anhaltende Gedächtnisspuren hinterlassen (entorhinaler Kortex, limbisches System). Die auffallend enge funktionelle Verbindung mit dem limbischen System (vgl. Kap. 28.4) erklärt wahrscheinlich den starken Einfluss olfaktorischer Reize auf emotionale Verhaltenskomponenten. Der orbitofrontale Kortex ist schließlich für die bewusste Wahrnehmung eines Geruches notwendig, trägt aber auch zur Bewertung in angenehm oder unangenehm (Hedonik) bei. Die verschiedenen Charakteristika von Geruchsstoffen (Art, Stärke, Hedonik) werden also in ganz verschiedenen Hirnregionen ausgewertet, deren parallele Aktivierung sich mit modernen bildgebenden Verfahren wie der funktionellen Kernspintomographie (fMRI) erfassen lässt. Ein weiteres mit dem Riechsystem zusammenhängendes Organ ist das so genannte Vomeronasalorgan (VNO), das bei Tieren der Wahrnehmung von Pheromonen dient und Sexualfunktionen steuert. Beim Menschen scheint sich die Anlage zu diesem Organ aber bereits embryonal zurückzubilden und es ist unbekannt, ob das VNO eine bleibende Funktion hat.

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24 Geschmack und Geruch

Thalamus

Neokortex

dorsomedialer Kern

orbitofrontaler Kortex Insel

Hypothalamus Mandelkerne

Nucleus olfactorius anterior

primärer olfaktorischer Kortex

zum anderen Bulbus olfactorius vom anderen Nucleus olfactorius ant. vordere Kommissur

Bulbus olfactorius

präpiriformer Kortex Tuberculum olfactorium Nucleus corticalis amygdalae Tractus olfactorius

N. olfactorius

Riechepithel

Abb. 24.9 hirn.

Signallaufplan der Geruchsinformation im Ge-

Die Transduktion von Geruchsreizen erfolgt mittels G-Proteinen und cAMP-gesteuerten Ionenkanälen Die Riechrezeptoren werden durch etwa 350 verwandte Gene kodiert, die eine der größten Familien homologer Gene des Menschen bilden. Obwohl Beziehungen zwischen der Struktur von Duftstoffen und ihrer Rezeptor-Spezifität bestehen, kann man den Duft einer Substanz bis heute nicht vorhersagen. Die Rezeptoren aktivieren spezielle G-Proteine, wodurch es zum Einstrom von Kationen in die Sinneszellen und zur Ausbildung von Rezeptorpotenzialen kommt. Diese lösen bei überschwelliger Erregung Aktionspotenziale aus. Es erscheint trivial, dass es einen Zusammenhang zwischen der Struktur von Molekülen und ihrer Bindung an Rezeptoren des Riechepithels geben muss. Trotzdem ist dieser Zusammenhang bis heute Gegenstand der Forschung, und aus der Kenntnis der chemischen Struktur kann die Rezeptorspezifität einer Substanz noch immer nicht sicher vorhergesagt werden. Als Grundregel gilt jedoch, dass die Molekülstruktur (z. B. die Kettenlänge des Kohlenstoffgerüsts) über die Bindung an Riechrezeptoren entscheidet, und damit über die Erregung des nachgeschalteten Glomerulus. Viele organische Moleküle haben mehrere Bereiche, die mit verschiedenen Rezeptoren interagieren können. Sie erzeugen somit schon als Einzelmolekül ein komplexes Erregungsmuster im Riechsystem. Die Rezeptoren für Geruchsstoffe werden durch homologe Gene kodiert, die eine der größten Genfamilien des Menschen bilden (vergleichbar nur den Immunglobulinen; vgl. Kap. 9.4). Sie machen etwa 1 % des Genoms aus.

Etwa 1000 Gene für homologe Riechrezeptoren sind bekannt, von denen die meisten allerdings beim Menschen als Pseudogene nicht mehr aktiv sind. Etwa 350 verschiedene Riechrezeptoren werden tatsächlich exprimiert – wovon jede Zelle nach vorherrschender Meinung jeweils nur eine Isoform (also einen Vertreter dieser homologen Proteine) besitzt. Die Mechanismen, die zur Auswahl des zu exprimierenden Rezeptortyps und zur Suppression anderer Rezeptortypen führen, sind noch unklar. Die Riechrezeptoren gehören in die Klasse der GProtein-gekoppelten Proteine (vgl. Kap. 2.6). Sie aktivieren in den olfaktorischen Sinneszellen ein besonderes GProtein, dessen α-Untereinheit ihrereits die Adenylylcyclase aktiviert (Abb. 24.10). Diese produziert zahlreiche Moleküle des zyklischen AMP, welche einen durch zyklische Nukleotide aktivierbaren unspezifischen Kationenkanal öffnen. Die Öffnung der Ionenkanäle führt zu einem depolarisierenden Rezeptorpotenzial und – nach elektrotonischer Leitung zu Soma und Axonursprung – zur Genese von Aktionspotenzialen. Die Kanäle werden anschließend durch das einströmende Kalzium geschlossen, so dass sie ihre Aktivität selbst begrenzen. Dies trägt zur Adaptation an anhaltende Gerüche bei. Es scheint, dass Geruchsstoffe auch andere molekulare Signalwege aktivieren können, die jedoch weniger gut aufgeklärt sind.

Die Geruchswahrnehmung entsteht aus einer komplexen Mustererkennung und kann nur schwer auf abgegrenzte Geruchsqualitäten zurückgeführt werden Die Vielfalt der wahrnehmbaren Geruchsqualitäten ist schwer zu systematisieren. Man verwendet daher ein pragmatisches Schema aus sechs Grundqualitäten. Neben dem wichtigen Beitrag zum „Schmecken“ erfüllt der Geruchssinn auch soziale Funktionen, zum Beispiel bei der Erkennung des individuellen mütterlichen Körpergeruchs durch den Säugling. Die Geruchsempfindlichkeit und -bewertung ändert sich beim Erwachsenen durch Lernvorgänge, aber auch durch hormonelle Mechanismen. Ob es beim Menschen ein eigenes Organ zur Wahrnehmung von Pheromonen (spezifischer Signalduftstoffe) gibt, ist umstritten. Die in der Sinnesphysiologie übliche Beschreibung des adäquaten Reizes nach Qualität und Intensität (vgl. Kap. 25) ist in der Physiologie des Riechens erschwert, da sich zwar verschiedene Intensitäten vergleichen lassen, qualitativ unterschiedliche Gerüche aber schwer in ein System zu bringen sind. Ein seit Aristoteles bekanntes Schema der Einteilung von Gerüchen in wenige Klassen ist in einer modernisierten Version bis heute gebräuchlich. Darin unterscheidet man: blumig, ätherisch, moschusartig, campherartig, schweißig, faulig, stechend. Für klinische Tests verwendet man mangels brauchbarer Alternativen bis heute prototypische Standardsubstanzen dieser Qualitäten.

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Aktionspotenzial

24.4 Der Geruchssinn

Axone

Rezeptorpotenzial

Stützzellen

Dendrit Riechkegel Zilien

A Riechschleimhaut

B Transduktion ATP

K+

cAMP

Rezeptorpotenzial

Adenylylcyclase

Kationenkanal G

Duftstoff

Na+

Ca2+

Abb. 24.10 Transduktionsprozess beim Riechen. A Riechsinneszelle mit Zilien, Riechkegel, Stammdendrit und Axon. Die Transduktion findet in den Zilien statt, die Entstehung von Aktionspotenzialen (Transformation) erfolgt am Axonursprung. B Transduktionsprozess. Die Aktivierung eines olfaktorischen Rezeptors führt über ein G-Protein und die Adenylatcyclase zur Öffnung von Kationenkanälen.

Neuere Versuche einer Klassifizierung bemühen sich um eine objektive Basis. So kann man Gerüche in eine gemeinsame Klasse einteilen, wenn sie zur Kreuzadaptation führen (also der Geruch einer Substanz A die Wahrnehmungsschwelle für die Substanz B erhöht). Substanzen können auch dann zusammengefasst werden, wenn sie bei Tieren ein einheitliches Verhalten auslösen oder wenn ihre Erkennung bei genetisch determinierten partiellen Anosmien (Ausfall bestimmter Geruchswahrnehmungen) gemeinsam ausgefallen ist. Ein alternativer Ansatz, nämlich die Molekülform zur Grundlage der Klassifizierung zu machen, scheitert daran, dass es zwar Gesetzmäßigkeiten, aber in jeder Qualität auch krasse „Ausreißer“ gibt. So riecht zum Beispiel Benzaldehyd, das aus einem Phenolring und einer Aldehydgruppe besteht, nach bitteren Mandeln. Bekanntlich trifft dies jedoch auch für Blausäure (HCN) zu, die eine völlig andere Molekülstruktur besitzt.

Ähnlich dem Geschmackssinn liegt die Wahrnehmungsschwelle für Gerüche unter der Erkennungsschwelle, bei der der Duft konkret benannt werden kann. Insgesamt ist die zur Identifizierung notwendige Konzentration der Moleküle pro Kubikmeter Luft wesentlich geringer als die zur Geschmackserkennung benötigte Konzentration wässrig gelöster Moleküle. Sinneszellen mit glei-

chen Rezeptoren projizieren auf gemeinsame Glomeruli. Die meisten Substanzen können aber verschiedene Rezeptoren aktivieren. Daraus ergibt sich, dass ein konkreter Geruch zu einer gemischten Aktivierung vieler Glomeruli in charakteristisch unterschiedlicher Stärke führt. Dieses (übrigens interindividuell weitgehend konstante) Muster wird vom Gehirn als „Geruch“ erkannt – entweder unbewusst, etwa in limbischen Strukturen oder bewusst, wenn es zur Aktivierung des präfrontalen Kortex kommt. Man nimmt also eine „Geruchsgestalt“ wahr (Abb. 24.8) – es handelt sich wie beim Geschmack um einen Ensemble-Code, nicht um eine anatomisch getrennte „Leitung“ für jeden unterscheidbaren Geruch. Dementsprechend wird das komplexe Duftgemisch eines Parfums oder eines Gerichtes ganzheitlich wahrgenommen – es fällt schwer, die einzelnen Komponenten zu identifizieren. Während bestimmte emotionale Reaktionen auf Gerüche offenbar angeboren sind (etwa die negative Bewertung fauligen Geruchs) wird die „Hedonik“ (Lust-UnlustEmpfindung) von Gerüchen auch stark durch Lernen geprägt und ist somit kulturabhängig. Ein besonders wichtiger Lernvorgang ist die Prägung des Säuglings auf den Körpergeruch der Mutter. Jeder Mensch ist durch einen individuellen Körpergeruch identifizierbar, der wahrscheinlich durch Zerfallsprodukte von Molekülen des MHC (major histocompatibility complex; vgl. Kap. 9.4) entsteht. Dieser Eigengeruch wird in unserer Gesellschaft zwar oft durch parfümierte Seifen und Kosmetika überdeckt, stellt bei engem Körperkontakt aber immer noch ein wichtiges soziales Signal dar. Möglicherweise gilt dies auch für sexuelle Partnerschaften. So ändert sich die Geruchsempfindlichkeit und -bewertung von Frauen durch hormonelle Steuerung mit dem Zyklus. Wie oben erwähnt besitzen wir jedoch im Unterschied zu vielen Tieren vermutlich kein VNO und damit kein funktionelles Riechorgan für Pheromone. Bei alten Menschen nimmt die Sensibilität für Duftstoffe stark ab. Man schätzt dass etwa 50% der über Achtzigjährigen an einer Anosmie (weitgehender Verlust der Riechfähigkeit) leiden. Neben hormonellen Mechanismen trägt hierzu wahrscheinlich eine verminderte Fähigkeit der Riechrezeptorzellen zur Regeneration bei. Der abnehmende Geruchssinn senkt nicht nur die Lebensqualität, sondern kann durch den mangelnden Appetit zu einer unzureichenden Ernährung beitragen und verlangt daher die Aufmerksamkeit des Arztes. Eine Störung der chemischen Sensibilität verlangt die getrennte Prüfung von Geschmack, allgemeiner Chemosensorik und des Geruchssinns. Ursachen von Störungen des Geruchssinnes und der Geschmackswahrnehmung liegen häufig in der Nase oder im Bereich der Fila olfactoria. Untersuchungen der chemischen Sinne erfolgen durch die Applikation spezieller Testsubstanzen auf die Zunge oder über die Nase. Dazu gehört stets auch die Testung der Trigeminus-vermittelten allgemeinen Sensibilität. Auch Erkrankungen höherer Abschnitte des Gehirns können jedoch zu Fehlwahrnehmungen oder veränderter Bewertung von Gerüchen führen. Dies kann sogar den

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24 Geschmack und Geruch ersten diagnostischen Hinweis auf neurodegenerative Erkrankungen oder psychotische Störungen geben. Patienten, die über einen gestörten Geschmackssinn klagen, leiden oft tatsächlich an einer Anosmie oder Hyposmie, da der Geruchssinn ja wesentlich zum empfundenen „Geschmack“ einer Speise beiträgt. Zur Anamnese gehört die Frage nach Erkrankungen des oberen Respirationstraktes und nach Schädeltraumata, die auch nach einiger Zeit durch Narbengewebe im Bereich der Lamina cribrosa Riechstörungen verursachen können. Die eigentliche Prüfung der Riechfunktion erfolgt mit standardisiert dargebotenen Testsubstanzen, die bestimmten Geruchsqualitäten entsprechen. Darunter sollten sich auch solche Reizstoffe befinden, die hauptsächlich durch den Nervus trigeminus wahrgenommen werden – dies dient der Differenzierung einer eigentlichen Hyposmie von psychogenen oder gar simulierten Geruchsstörungen. Als objektivierende Methoden kommen Messungen des Hautwiderstandes in Frage, die unbewusste vegetative Reaktionen auf Gerüche anzeigen und auch bei Ausfall der Verarbeitung im Neokortex erhalten bleiben. Potenziale der Riechschleimhaut lassen sich als Elektroolfaktogramm aufzeichnen, selten werden auch olfaktorisch evozierte Potenziale gemessen. In neuerer Zeit lassen sich Geruchswahrnehmungen mit funktionell-bildgebenden Verfahren (z. B. funktioneller Magnetresonanztomographie) objektivieren, die gegebenenfalls sogar eine Ortsdiagnose der Störung erlauben. Neben Traumata und entzündlichen Erkrankungen der oberen Luftwege können Riechstörungen auch erstes Zeichen eines Hirntumors oder einer anderen zentralnervösen Erkrankung sein. Im Frühstadium neurodegenerativer Erkrankungen (Morbus Alzheimer, Morbus Parkinson) kommt es oft zu einer Hyposmie. Eine vom Temporallappen ausgehende Epilepsie kann mit Dysosmien, also verfremdeten, meist unangenehmen Geruchswahrnehmungen, einhergehen, Schizophrenien können olfaktorische Halluzinationen (als real empfundene Geruchswahrnehmungen in Abwesenheit von Duftstoffen) auslösen. Angeborene Störungen (etwa die Hypoplasie [Unterentwicklung] des Bulbus olfactorius bei hypogonadotropem Hypogonadismus = Kallmann-Syndrom) sind selten.

Zum Weiterlesen … 1 Firestein S. How the olfactory system makes sense of scents. Nature. 2001; 413: 211 – 218 2 Gilbertson TA, Boughter JD. Taste transduction: appetizing times in gestation. Neuroreport. 2003; 905 – 911 3 Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM. Principles of Neural Science. 4th ed. New York: McGraw Hill; 2000 4 Korsching SI. Odor maps in the brain: Spatial aspects of odor representation in sensory surface and olfactory bulb. Cell Mol Life Sci. 2001; 58: 520 – 530 5 Lindemann B. Receptors and transduction in taste. Nature. 2001; 413: 219 – 225

… und noch weiter 6 Buck L, Axel R. A novel multigene family may encode odorant receptors: a molecular basis for odor recognition. Cell. 1991; 65: 127 – 133 7 Freeman WJ. Spatial properties of an EEG event in the olfactory bulb and cortex. Electroencephalography Clin Neurophys. 1978; 44: 586 – 605 8 Leon M, Johnson BA. Olfactory coding in the mammalian olfactory bulb. Brain Research Reviews. 2003; 42: 23 – 32 9 Mann, NM. Management of smell and taste problems. Cleveland Clinic Journal of Medicine. 2002; 69: 329 – 336 10 Engel R. Experimentelle Untersuchungen über die Abhängigkeit der Lust und Unlust von der Reizstärke beim Geschmackssinn. Arch ges Psychol. 1928; 64: 1 – 36 11 Ogawa H, Sato M, Yamashita S. Multiple sensitivity of chorda tympani fibers of the rat and hamster to gustatory and thermal stimuli. J Physiol. 1968; 204: 223 – 240 12 Constanzo RM, Graziadei PPC. Development and plasticity of the olfactory system. In: Finger TE, Silver WL. Neurobiology of Taste and Smell. New York: Wiley; 1987: 233 – 250

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Empfindungen – Wahrnehmungen Die Verarbeitungsprinzipien in Sinneskanälen R. Klinke

25.1 Die Sinne – Eingang zum Bewusstsein 25.2 Die Vielzahl der Sinneskanäle 25.3 Objektive Sinnesphysiologie

· ··

25.4 Subjektive Sinnesphysiologie 25.5 Kognitionsphysiologie

· ··

···

···

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···

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25 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! R. Klinke, H-C. Pape, St. Silbernagl: Physiologie (ISBN 3-13-796005-3) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2005

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25 Empfindungen – Wahrnehmungen

25.1

Die Sinne – Eingang zum Bewusstsein

Unsere Sinne, Fühlen, Hören, Sehen, führen im Körper nicht primär zu unbewussten Prozessen, wie ohne unser Zutun Kreislaufregulation oder Atmungsregulation ablaufen. Dort ermöglichen Pressorezeptoren die Konstanterhaltung des Blutdrucks, Chemorezeptoren sind Voraussetzung für eine Atmungsregulation. Zwar können unsere Sinnessysteme Reflexe auslösen, sie führen aber insbesondere zu bewussten Erfahrungen, zu Empfindungen bzw. Wahrnehmungen. Dabei beschäftigt die Frage, was denn Bewusstsein sei, seit einiger Zeit Neurobiologen und Geisteswissenschaftler gleichermaßen. Zu einer einheitlichen Auffassung sind wir bisher nicht gelangt. Es ist auch nicht die Absicht des folgenden Kapitels, diese Frage zu diskutieren. Dennoch, in den Grenzbereichen zwischen Neurobiologie und Geisteswissenschaften soll es einführen.

25.2

Die Vielzahl der Sinneskanäle

Der Organismus besitzt eine Vielzahl von Sinneskanälen, deren periphere Rezeptoren Zustandsgrößen in der Außenwelt oder innerhalb des Körpers messen können. Die Funktionsweise dieser Rezeptoren und der nachfolgenden neuronalen Verarbeitung sind der naturwissenschaftlichen Analyse zugänglich, also objektivierbar. Meistens führen diese Verarbeitungsprozesse letztlich zu Empfindungen und Wahrnehmungen, die einem Beobachter nur über die Auskünfte von Versuchspersonen zugänglich sind. Diese Prozesse sind also subjektiv. Die moderne Kognitionsphysiologie schlägt eine Brücke zwischen objektiven und subjektiven Untersuchungsverfahren. In unserer Umwelt gibt es eine Vielzahl physikalischer Parameter – Temperatur, elektromagnetische Wellen, Schallwellen, Schwerefeld, Magnetfeld und andere. Ein großer Teil von ihnen kann vom Organismus „gemessen“ werden. Dafür sind Mensch und Tier mit speziellen Sinnesorganen ausgerüstet, von denen viele in den vorangegangenen Kapiteln vorgestellt wurden. Dabei kann der Organismus wesentlich mehr Reize verarbeiten als die Sinnesmodalitäten der klassischen „fünf Sinne“ – Gehör, Gesicht, Geruch, Geschmack und Getast – benennen. Der Gleichgewichtssinn, der Schmerzsinn, der Vibrationssinn, Kälte- und Wärmesinn wären hinzuzufügen, aber die Liste wäre damit noch nicht erschöpft. Es gibt viele zusätzliche Sinnesorgane, die Messgrößen innerhalb des Körpers registrieren und daher Enterozeptoren genannt werden. Sie messen etwa Blutdruck, CO2-Gehalt des Blutes bzw. Liquors, den osmotischen Druck von Körperflüssigkeiten und vieles mehr. Eine ähnliche Gruppe, die sog. Propriozeptoren, messen, ebenfalls im Körper, Länge und Spannung von Muskeln, die Stellungen von Gelenken usw. Die meisten der Meldungen von Entero- und Propriozeptoren sind dem Bewusstsein nicht zugänglich. Im Gegensatz zu diesen beiden Rezeptorenklassen verarbeiten die klassischen fünf Sinne Reize aus der Umwelt und stellen so Beispiele für Exterozeptoren dar. Ihre Meldungen werden bewusst verarbeitet. Viele Tiere besitzen Sinnesorgane, die dem Menschen nicht zur Verfügung stehen. Das an der Körperoberfläche

von Fischen und manchen Amphibien liegende Seitenlinienorgan misst Wasserströmungen und dient zur Orientierung und zur Lokalisation von Beutetieren. Verschiedene Fische oder auch das australische Schnabeltier besitzen Elektrorezeptoren, mit deren Hilfe sie die durch Beutetiere oder andere Gegenstände verursachten Störungen elektrischer Felder auswerten oder die von Beutetieren verursachten Muskelaktionspotenziale entdecken können. Auch zur Kommunikation können solche elektrischen Felder verwendet werden. Manche Schlangen besitzen ein Organ, das Grubenorgan, mit dem sie die Wärmestrahlung ihrer Beute wahrnehmen. Tauben und viele Zugvögel können sich nach dem Magnetfeld der Erde orientieren. Oft sind bestimmte Sinne bei Tieren leistungsfähiger als beim Menschen, wie z. B. der Geruchssinn beim Hund. Das Gehör bei Fledermäusen vermag Ultraschall zu verarbeiten, manche Vögel hören Infraschall. Die Sinnessysteme der Arten sind den Erfordernissen und Möglichkeiten ihres jeweiligen Lebensraumes evolutionär angepasst. Der Mensch kann sich fehlende Sinnessysteme „borgen“, indem er Messgeräte baut, die ihm den Reiz in einen vorhandenen Sinneskanal transponieren (z. B. Anzeige von Magnetfeldern mit einem Messinstrument). Man muss sich andererseits darüber im Klaren sein, dass die durch Sinneskanäle erzeugten Empfindungen qualitativ etwas anderes sind als die auslösenden Reize. Elektromagnetische Wellen empfinden wir entweder gar nicht oder als Licht unterschiedlicher Farben. Die Wellenlängen selbst bleiben uns verborgen. Die Schwingungen mancher Oberflächen empfinden wir als Töne, manche chemische Verbindungen als Gerüche. Die Empfindungen sind also Konstrukte des Gehirns, auch wenn regelhafte Beziehungen zu den physikalischen Ursachen bestehen. Abb. 25.1 gibt ein Schema der Verarbeitungsschritte in einem Sinneskanal. Die ersten Schritte sind der naturwissenschaftlichen Analyse zugänglich. Sinneszellen werden durch den adäquaten Reiz erregt, Rezeptorpotenziale, Aktionspotenziale usw. können mit geeigneten Methoden registriert und analysiert werden. Diese Untersuchungen gehören daher dem Bereich der objektiven Sinnesphysiologie an. Meistens ruft der sensorische Prozess bei einer wachen Versuchsperson schließlich Sinneseindrücke, Empfindungen und Wahrnehmungen hervor, so etwa elektromagnetische Wellen der Wellenlänge 500 nm den Sinneseindruck „grün“ und von 650 nm den Sinneseindruck „rot“. Eine Empfindung könnte dann sein „rote Punkte in einer grünen Fläche“. In der Regel wird diese Empfindung geradezu zwanghaft gedeutet, was zur Wahrnehmung führt. Eine Versuchsperson könnte also mit Freuden wahrnehmen „rote Mohnblumen auf einer grünen Wiese“. Je nach Bezug der Versuchsperson zum Gesehenen könnte die Wahrnehmung aber auch ganz anders sein, etwa, dass es „höchste Zeit sei, den Rasen zu mähen“. Wie schon gesagt, bleibt häufig das Wirken von Rezeptorsystemen, besonders das der Proprio- und Enterozeptoren, unbemerkt.* * Es sei darauf hingewiesen, dass entsprechend der obigen Definition eine Rezeptorzelle durch einen Reiz zwar erregt werden kann, niemals aber eine Reiz „empfindet“ oder „wahrnimmt“.

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25.3 Objektive Sinnesphysiologie

Körperoberfläche

zentralnervöse Verstellung Vigilanz, Stimmungen, Gedächtnis, Erwartungen, Aufmerksamkeitszuwendung oder -abwendung

Reiz

Außenwelt

Abb. 25.1

Adaptation

Habituation

reizleitender Apparat

Rezeptor

afferente Nerven

1

2

3

sensorische Zentren im Gehirn 4

Sinneseindruck

Wahrnehmung

5

objektive Sinnesphysiologie

6

subjektive Sinnesphysiologie

Schematische Darstellung der Strukturen, die an einem Wahrnehmungsprozess beteiligt sind.

Die Empfindungs- und Wahrnehmungsprozesse sind einer direkten naturwissenschaftlichen Analyse nicht zugänglich. Auf sie kann nur durch die Angabe von Versuchspersonen zurückgeschlossen werden, wobei natürlich auch Tiere im Verhaltensexperiment indirekt Auskünfte über ihre Wahrnehmung geben. Diesen Bereich nennt man subjektive Sinnesphysiologie. Wenngleich sich die Grenzen des objektiv Beobachtbaren im Laufe der Wissenschaftsentwicklung immer weiter zugunsten der objektiven Sinnesphysiologie verschoben haben, sind in der Regel aber nur Korrelationen zwischen objektiven und subjektiven Beobachtungen aufzuzeigen. Der Nachweis von Kausalzusammenhängen ist schwierig. Die quantitativen Beziehungen zwischen Reiz und subjektiver Empfindung hat die Wissenschaft seit etwa 160 Jahren stark beschäftigt. Diese Forschungsrichtung wird Psychophysik genannt, wenn Reiz und Empfindung zueinander in Beziehung gesetzt werden, und Psychophysiologie, wenn die Empfindungsgröße mit Aktivitätszuständen der Rezeptoren oder afferenten Nervenbahnen korreliert werden. Letztlich ist dies natürlich der Versuch eines Zugangs zum Leib-Seele-Problem mit naturwissenschaftlichen Methoden. Zu dieser, an sich philosophischen, Frage haben die Neurowissenschaften in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten aber wichtige Beiträge leisten können. Moderne Methoden der Neurobiologie (s. Kap. 19.1) haben unser Wissen über zerebrale Prozesse wesentlich erweitert. Auf der Grundlage der Überzeugung, dass jeder psychische Vorgang auf physiologischen Abläufen beruht, hat die Kognitionsphysiologie mannigfaltige Hinweise darauf geben können, welche Hirnstrukturen bei der Bearbeitung von Wahrnehmungsprozessen ihre Beiträge liefern. Vereinzelt konnten sogar Kausalzusammenhänge bewiesen werden (s. Kap. 25.5).

25.3

Objektive Sinnesphysiologie

Rezeptoren setzen den physikalischen oder chemischen Reiz im Transduktionsprozess in Rezeptorpotenziale um. Es folgt eine Umkodierung dieses Rezeptorpotenzials in eine Serie von Aktionspotenzialen. Die Aktionspotenziale geben die Information zur weiteren Verarbeitung an das Zentralnervensystem weiter. Die allgemeinen Funktionsprinzipien eines Sinneskanals wurden bereits in Kapitel 19 besprochen. Die danach folgenden Kapitel haben konkrete Beispiele gegeben. Insofern ist die Abb. 25.1 bis einschließlich Schritt 4 zunächst eine Zusammenfassung und Abstraktion des bisher Gesagten: Im Schritt 1 wird der Reiz durch einen reizleitenden Apparat an die Rezeptoren herangebracht, dabei häufig umgeformt (transformiert), aber der Reiz behält seine ursprüngliche physikalische Dimension bei. Schallwellen werden z. B. über den Trommelfell-Gehörknöchelchen-Apparat ans Innenohr gebracht. Dieser Übertragungsweg hat Bandpasscharakter, für das Ohr ebenso wie für alle anderen Sinneskanäle. Für das Ohr heißt dies, dass das Mittelohr nur mittlere Frequenzen passieren lässt, tiefe und vor allem sehr hohe Frequenzen werden nicht übertragen. Zum zweiten bewirken das Verhältnis der Flächen von Trommelfell und Stapesfußplatte sowie die Hebelarme der Gehörknöchelchen überdies, dass aus dem Luftschall mit Teilchenbewegungen großer Amplitude und geringen Drucks Schwingungen der Endolymphe geringer Amplitude, aber höheren Drucks werden. Schließlich werden durch die hydromechanischen Eigenschaften des Innenohres bestimmte Teilfrequenzen eines Schallreizes auf bestimmte örtliche Bereiche der Basilarmembran verteilt. Erst nach Ablauf dieser Vorgänge kann die so transformierte Schallenergie mit den Rezeptoren, in diesem Fall einem Teil der Haarzellen, interagieren (Transduktion). In ähnlicher Weise verteilt der dioptrische Apparat des Auges die einfallenden Lichtstrahlen auf bestimmte Retinabezirke und entwirft dort ein reelles Bild. Erst danach kommt es zur adäquaten Reizung der belichteten Rezeptoren, der Transduktionsvorgang (Schritt 2) läuft ab, als dessen Konsequenz Rezeptorpotenziale entstehen.

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729

25 Empfindungen – Wahrnehmungen Diese Rezeptorpotenziale bilden zwar den Reiz in analoger Form ab, aber nicht mehr in der physikalischen Dimension des Reizes. Der Transduktionsvorgang macht also aus dem externen Reiz ein internes Signal. Dieses Signal kann aber nicht in analoger Weise an das Zentralnervensystem weitergegeben werden. Es wird in eine Folge von Aktionspotenzialen kodiert, durch einen Mechanismus, der zuweilen auch als Encoder bezeichnet wird (Schritt 3). Über afferente Nervenbahnen gelangt die informationstragende Folge von Aktionspotenzialen dann ans Gehirn und wird dort mit Hilfe synaptischer Prozesse evaluiert und weiter verarbeitet. Wichtig ist an dieser Stelle die Feststellung, dass praktisch alle der genannten Schritte durch zentralnervösen Einfluss modifiziert werden können. Der reizleitende Apparat kann verändert werden über Innervation der Mittelohrmuskulatur, der Irismuskulatur oder des M. ciliaris, durch Veränderung der Blickrichtung, durch willkürliches Schnüffeln oder das Abtasten einer Oberfläche mit den Fingern etc. Zusätzlich sind Rezeptoren häufig efferent innerviert, wie z. B. die Haarzellen des Gleichgewichtsorgans oder des Corti-Organs. Über diese efferente Innervation kann deren Empfindlichkeit modifiziert werden. Erst recht sind praktisch alle neuralen Strukturen des Zentralnervensystems zentrifugal beeinflusst. Diese zentrifugalen Bahnen sind meistens hemmend; sie dienen der Steuerung des Aufmerksamkeitsverhaltens und können u. U. bestimmte Sinneskanäle weitgehend abschalten. Schließlich tun Adaptationsvorgänge ein übriges, um neuronale Antworten auf definierte physikalische Reize zu verändern. Dabei versteht man in der Physiologie unter Adaptation im Allgemeinen Anpassung der Rezeptoren an die vorhandene Reizstärke. Einen Vorgang mit ähnlichem Endergebnis, der aber im Zentralnervensystem über neuronale Rückkoppelungsschleifen zustande kommt, nennt man Habituation. In den sensorischen Zentren des Gehirns wird die einlaufende Information durch neuronale Netzwerke kritisch verarbeitet (Schritt 4). Dabei kommt es insbesondere auf die Extraktion wichtiger Eigenschaften des Reizes aus dem Muster der Aktionspotenziale an (Feature Extraction). Eine grundlegende Eigenschaft dieser Netzwerke ist die Kontrastverschärfung mit Hilfe der lateralen Inhibition (Kap. 19, Abb. 19.12), die nicht nur die Reizmaxima heraushebt, sondern auch ein hemmendes Umfeld zur Folge hat. Diese hemmenden Umfelder können von einer Versuchsperson auch subjektiv wahrgenommen werden, z. B. an Hell-dunkel-Grenzen (Kap. 23). Sie werden nach ihrem Erstbeschreiber Mach-Bänder genannt. Selbstverständlich aber lösen die neuronalen Netzwerke weit kompliziertere Aufgaben als die der Kontrastverschärfung. Man denke etwa an die Extraktion von Eigenschaften eines Sprachlautes, die dann bis zum Sprachverständnis führen, oder an die Analyse von Schriftzeichen, mit der Sie soeben befasst sind.

25.4

Subjektive Sinnesphysiologie

Quantitative Angaben über die Stärke von Empfindungen sind im modernen Leben an vielen Stellen von Wichtigkeit, z. B. bei der Beurteilung störenden Lärms, geeigneter Helligkeit am Arbeitsplatz u. a. Es hat daher verschiedene Versuche gegeben, Empfindungen zu quantifizieren und in einfache mathematische Formeln zu fassen. Allen ist gemeinsam, dass die Formeln nur über einen begrenzten Intensitätsbereich gültig sind, also zur Beschreibung des gesamten Empfindungsraumes nicht ausreichen. Dennoch sind Angaben über die Empfindungsstärken in verschiedenen Sinnesmodalitäten durchaus möglich und sinnvoll. Die Psychophysik beschreibt die Beziehungen zwischen Reiz und Empfindung und unternimmt den Versuch einer Quantifizierung. Zunächst hat schon Johannes Müller 1837 erkannt, dass die Empfindung einer bestimmten Sinnesmodalität (S. 617) nicht von der Art des Reizes abhängt, sondern nur vom gereizten Sinneskanal. Auch ein überschwelliger inadäquater Reiz führt zu Empfindungen, die für den betreffenden Kanal spezifisch sind, also etwa zum „Sternchensehen“ beim Schlag aufs Auge oder zum Kribbeln im Kleinfingerbereich beim Druck auf den N. ulnaris am Ellenbogen. Johannes Müller nannte diese Tatsache seinerzeit das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien, eine Terminologie, die sich erhalten hat, obwohl sie nach heutigem Sprachgebrauch nicht sehr glücklich ist. Therapeutisch wird dieser Sachverhalt ausgenutzt, etwa wenn durch elektrische Reizung des Hörnervs bei voll ertaubten Patienten wieder Hörempfindungen bis hin zum Sprachverständnis möglich werden. Innerhalb einer Sinnesmodalität unterscheidet man verschiedene Qualitäten, z. B. rot-grün, rau-glatt etc. Schließlich haben wir noch die Dimension Intensität einer Empfindung. Zunächst können Absolutschwellen gemessen werden. Ein Beispiel ist die Hörschwellenkurve der Abb. 21.2 (S. 659), in der der zu einer Hörempfindung notwendige Mindestschalldruck über die verschiedenen

300

Reizzuwachs, Dj (mN)

730

Weber-Beziehung

200

100

0

2

4

6

8

10

Reizkraft, j (N)

Abb. 25.2 Weber-Beziehung. Zusammenhang zwischen Kraft und notwendigem Reizzuwachs, der zur Überschreitung der Unterschiedsschwelle nötig ist. Es ergibt sich die Weber-Beziehung.

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25.4 Subjektive Sinnesphysiologie Zahl der überschrittenen Differenzlimen

10

Fechner-Beziehung

8

j

6

Dj 4

2

0

5

Schwelle

10

relative Reizstärke, j

15

Abb. 25.3 Fechner-Beziehung. Schematische Darstellung der Reizstärken, die jeweils zur Überschreitung eines Differenzlimens nötig sind. Die entstehenden Punkte liegen auf einer Kurve, die der Fechner-Beziehung gehorcht.

Frequenzen des Hörbereichs dargestellt wird. Neben der Absolutschwelle ist aber auch die Frage interessant, wie die Empfindungsstärke mit zunehmender Reizstärke anwächst. Es ist eine triviale Erfahrung, dass Empfindungen stärker oder schwächer sein können. Die Frage ist, ob man diese Empfindungsstärken in reproduzierbarer Weise quantifizieren kann, wo doch die Empfindungen subjektiv und nur über die Aussage des Wahrnehmenden einer Analyse zugänglich sind. In der Tat können aber Empfindungsstärken allgemeingültig quantifiziert werden. Zunächst kann man sich fragen, wie groß der Unterschied zwischen zwei Reizstärken sein muss, damit die beiden Reize überhaupt als unterschiedlich empfunden werden. Man bestimmt so die Unterschiedsschwellen, auch Differenzlimen genannt. Erste Versuche dieser Art hat Weber 1834 vorgenommen, indem er bestimmte, um wieviel sich zwei Gewichte voneinander unterscheiden müssen, damit sie als unterschiedlich schwer eingeschätzt werden. Es zeigte sich, dass sich große Gewichte um einen größeren absoluten Betrag voneinander unterscheiden müssen als kleine, dass aber der notwendige prozentuale Zuwachs in einem mittleren Gewichtsbereich konstant bleibt. Mathematisch formuliert ergibt dies das sogenannte Weber-Gesetz, wonach ’ =c ’

bzw:

’=c  ’

ð25:1Þ

Dabei bezeichnet ϕ das Ausgangsgewicht, ∆ ϕ die eben wahrnehmbare Änderung des Gewichtes und c eine Konstante. Abb. 25.2 zeigt eine solche Abhängigkeit. Einschränkend wurde schon gesagt, dass das Weber-Gesetz nur im mittleren Bereich die experimentellen Daten befriedigend beschreibt. Besonders in Nähe der Absolutschwelle kommen nennenswerte Abweichungen vor, die man durch die Einführung eines Korrekturterms in Gleichung (25.1) zu kompensieren versuchte. Selbstverständlich wurde auch untersucht, inwiefern das Weber-Gesetz auch für andere Sinnesmodalitäten gilt. In vielen Fällen

lässt sich ein Bereich finden, in dem diese Beziehung gilt, in anderen Fällen gilt sie nicht. Zum Beispiel gehorcht die Lautheitsempfindung von Rauschen der Weber-Beziehung über einen engeren Intensitätsbereich als die von reinen Tönen. Fechner versuchte aus der Weber-Beziehung ein allgemeines Gesetz über die Empfindungsstärke zu formulieren. Er unterstellte, dass die Unterschiedsschwellen, das Differenzlimen, sozusagen die Grundeinheiten der Empfindungsstärken darstellen. Abb. 25.3 zeigt unter der Annahme einer Weber-Beziehung, wie über einen Intensitätsbereich eines Reizes die verschiedenen Unterschiedsstufen überschritten werden. Nimmt man die Zahl der überschrittenen Unterschiedsstufen als Maß für die Empfindungsstärke ψ, so lässt sich aus dem Weber-Gesetz die Empfindungsstärke berechnen: = k  log

’ ’o

ð25:2Þ

wobei ϕo die Schwellenreizstärke darstellt. Sicher hat Fechner damit das Verdienst, allgemeine quantitative Betrachtungen und Modellbildungen in die experimentelle Psychologie eingeführt zu haben. Die Gültigkeit seiner Formel ist jedoch sehr begrenzt. Zum einen ist sie grundsätzlich auf den Gültigkeitsbereich der Weber-Beziehung beschränkt. Zum zweiten stellt die Addition von Differenzlimen kein allgemeines Maß für eine Empfindungsstärke dar. Die Fechner-Beziehung hat schließlich vielfach zu Missverständnissen geführt. Die dB-Skala oder die Phonskala der Hörphysiologie (S. 659) sind z. B. keine Resultate der Fechner-Beziehung. Die dBSkala ist eine logarithmische Darstellungsweise physikalischer Größen, gänzlich unabhängig von ihrer Verwendung in der Physiologie. Sie hat mit Empfindungen nichts zu tun. Bei der Gewinnung der Skala der Lautstärkepegel (Phonskala) werden darüber hinaus die Versuchspersonen nicht nach der Beurteilung einer Empfindungsstärke befragt. Vielmehr soll lediglich die Gleichheit der subjektiven Lautstärke von Testtönen mit der eines Vergleichstons eingestellt werden. Die Intensität dieser Vergleichstöne wird (zufällig) nach der physikalischen dBSkala vorgegeben und liefert sozusagen der Phonskala die Zahlenwerte. Dadurch wird auch in die Phonskala eine logarithmische Darstellung eingeführt, mit einer Quantifizierung der Lautstärkeempfindungen hat dies aber nichts zu tun (s. dagegen Abb. 25.5). Es muss schließlich noch darauf hingewiesen werden, dass Angaben einer Versuchsperson über Empfindungsgrößen einer statistischen Schwankung unterliegen und ein Signal, etwa ein Ton im Bereich der Hörschwelle, nicht immer zuverlässig detektiert werden kann. Mit Hilfe geeigneter Verfahren aus der Informationstheorie, der „Signal Detection Theory“, können dennoch zuverlässige Daten erhoben werden. Hier kann aber darauf nicht eingegangen werden. Um zu befriedigenderen Angaben über Empfindungsstärken zu gelangen, führte Stevens die Methode der quantitativen Abschätzung der Empfindungsstärke ein. Die Versuchspersonen sollen dabei innerhalb einer Sinnesmodalität angeben, wann ein Reiz, etwa ein Ton, doppelt so laut oder viermal so laut ist wie ein Vergleichston.

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25 Empfindungen – Wahrnehmungen

Schmerz (Elektroschock)

Gewicht

a = 2,13

Lautheit, Rauschen

Vibration

a = 0,79

a = 0,41

a = 0,56

Lautheit, 1000-Hz-Ton a = 0,35 500

200

Handkraft (N)

Helligkeit, weißes Licht a = 0,21

100 50

20 10 5

102

10

103

104 relative Reizintensität

Abb. 25.4 Intermodaler Vergleich. Bewertung der Empfindungsstärken in verschiedenen Sinnesmodalitäten über die Handkraft, gemessen mit einem Dynamometer. Die einzelnen Modalitäten unterscheiden sich im Exponenten a der

Diese Wertungen der Versuchsperson sind nicht direkter Messung zugänglich, aber die Versuchsperson macht nun wirklich direkte Angaben über die Stärke ihrer Empfindungen. Eine andere Methode ist der sog. intermodale Intensitätsvergleich. Hier soll die Versuchsperson ihre Empfindungsstärke in einer Sinnesmodalität durch Angaben in einer anderen Sinnesmodalität ausdrücken. Zum Beispiel soll die Versuchsperson so stark an der Feder eines Kraftmessers (Dynamometers) ziehen, wie sie einen Ton laut oder ein Licht hell empfindet. Obwohl diese Aufgabe zunächst als absurde Zumutung erscheint, lassen sich damit dennoch quantitativ auswertbare Angaben gewinnen, ja die Angaben werden sogar wieder einer direkten Messung zugänglich. Um diese Angaben in einer einfachen Formel zusammenzufassen, die die Empfindungsstärke ψ in Abhängigkeit von der Reizstärke ϕ beschreibt, wählte Stevens eine Potenzfunktion: = k  ð’

’o Þa

(25.3)

ϕo ist die Absolutschwelle und a ein Exponent, der von der jeweiligen Sinnesmodalität abhängt, k ist eine Konstante. Eine Potenzfunktion hat den Vorteil, dass sie fast alle monotonen Zusammenhänge befriedigend darstellen kann. Somit ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass sich der Zusammenhang zwischen Reizstärke und Empfindungsstärke als Potenzfunktion darstellen lässt. Logarithmiert man diese Beziehung, so entsteht: log

= log k þ a  log ð’

’o Þ:

(25.4)

Dies vereinfacht die Darstellung, denn in einem Koordinatensystem, in dem beide Achsen logarithmisch geteilt sind, stellt dies eine Gerade dar (S. 870). Die Steigung a ist für die spezifische Sinnesmodalität charakteristisch. Abb. 25.4 gibt ein Beispiel für verschiedene Sinnesmodalitäten im intermodalen Intensitätsvergleich. Man sieht, dass

105

106

107

Stevens-Potenzfunktion (nach Stevens in 5). Unterschiede in der Steigung von Rauschen und 1000-Hz-Ton gegenüber Abb. 25.5 sind methodisch bedingt.

Schmerzempfindungen am schnellsten anwachsen und innerhalb derselben Sinnesmodalität die Zunahme der Empfindungsstärke immer noch von der genauen Reizart abhängt (Rauschen – 1000-Hz-Ton). Um Verwirrungen zu vermeiden: Allgemeine Angaben über die Empfindungsstärken in den verschiedenen Sinnesmodalitäten lassen sich zuverlässig machen, gegründet auf psychophysische Experimente an vielen Versuchs-

100 50

Rauschen

20 10

Lautheit (sone)

732

5

1000-Hz-Ton

2 1 0,5 0,2 0,1

0,05 0,02

0

20

40

60

80

100

Schalldruckpegel (dB SPL)

Abb. 25.5 Lautheitsempfindung und Schalldruckpegel. Subjektive Lautheit eines 1000-Hz-Tones und eines bestimmten Rauschens. Die Lautheit des 1000-Hz-Tones von 40 dB SPL (Kreuz) ist gleich 1 Sone gesetzt. Entsprechende Stevens-Potenzfunktionen stellen sich als Geraden dar (nach 21).

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25.5 Kognitionsphysiologie personen. Werden diese Angaben in Form von Diagrammen oder Wertetabellen dargestellt, gibt es keine Einwände gegen ihre Gültigkeit. Es gelingt aber nicht, die verschiedenen experimentell bestimmten Zusammenhänge durch eine allgemeingültige mathematische Formel zu beschreiben. Auch die Stevens-Potenzfunktion ist nur eine mehr oder weniger gute Approximation in einem begrenzten Intensitätsbereich. Dies zeigt Abb. 25.5. Dargestellt ist die subjektive Lautheit eines 1000Hz-Tones und eines bestimmten Rauschens über einen Intensitätsbereich von fast 100 dB. Dabei ist die Lautheit eines Tones von 1000 Hz und 40 db-SPL willkürlich gleich 1 Sone gesetzt. Verdoppelt sich die empfundene Lautheit, so wird dem der Wert 2 Sone, halbiert sie sich, der Wert 0,5 Sone zugeordnet usw. Die Stevens-Potenzfunktionen sind als Geraden eingezeichnet. Die Abweichungen sind nicht zu übersehen. Für praktische Zwecke der Lärmbeurteilung gilt dennoch: Oberhalb 40 dB SPL entspricht eine Schallpegelzunahme von 10 dB einer Verdoppelung der Lautheit (vgl. Kap. 21).

25.5

Kognitionsphysiologie

Auch mentale Prozesse sind mit modernen neurobiologischen Methoden einer Analyse zugänglich. Der zunehmende Erkenntnisgewinn in den Neurowissenschaften ermöglicht es nun, nach den neurobiologischen Grundlagen mentaler Prozesse zu fragen. Auf diese Prozesse wie Wahrnehmung, Vorstellung, Handlung, Sprache usw., die bislang nur mit philosophischen oder psychologischen Termini beschreibbar waren, wird nunmehr eine neurowissenschaftliche Untersuchungstechnik angewandt. Diese zerebralen Prozesse nennt man kognitive Funktionen oder neuropsychologische Funktionen. Die zur Analyse notwendigen Untersuchungsmethoden sind nach wie vor schwierig. Man will einerseits von Versuchspersonen subjektive Angaben über Empfindungen und Wahrnehmungen erhalten, andererseits soll gleichzeitig die Funktion von Nervenzellen oder Nervenzellkomplexen registriert und analysiert werden. Letzteres ist im Tierversuch zwar leichter möglich, hier sind allerdings nur indirekte Aussagen über mögliche Empfindungen, Wahrnehmungen, Motive und Stimmungen zu machen. Andererseits bieten moderne bildgebende Verfahren (S. 811 u. 857) die Möglichkeit, beim Menschen die Beteiligung bestimmter Hirnstrukturen an kognitiven Prozessen nachzuweisen. Die folgenden Kapitel, besonders die Kapitel 28 und 29, werden eine Reihe von Einzelheiten über kognitive Funktionen darstellen. Auch der Frage der in diesem Kapitel behandelten psychometrischen Funktionen hat sich die Psychophysiologie angenommen. Dabei sind im Einzelfall sogar kausale Beziehungen zwischen Erregung afferenter Sinnesnerven und subjektiven Empfindungen nachweisbar gewesen. Demnach ist es möglich, ein einziges (!) Aktionspotenzial an der afferenten Nervenfaser eines Meißner-Körperchens als zarten Berührungsreiz zu empfinden. Experimentell hat man hierzu an einem Hautnerv einer wachen Versuchsperson einzelne Nervenfasern isoliert, funktionell identifiziert und elektrisch gereizt (20). Bei diesen Mechanorezeptoren ist also die Schwelle für die Aktivierbarkeit

einer afferenten Nervenfaser und die Empfindungsschwelle gleich, das einzelne Aktionspotenzial ist nachweislich Ursache für die von der Versuchsperson berichteten Empfindung. Darüber hinaus wird die empfundene Berührung auch zuverlässig in das Gebiet des rezeptiven Feldes dieser Afferenz lokalisiert. Somit ist auch zur Lokalisation der Empfindung auf der Haut in diesem Falle ein einziges Aktionspotenzial ausreichend (s. a. Kap. Somatoviszerale Sensibilität, S. 633). Auch im visuellen System reicht die Aktivität weniger Nerven zur Auslösung von Empfindungen aus. Derartige Kausalbeziehungen lassen sich derzeit aber nur in Ausnahmefällen nachweisen. Im Allgemeinen weichen Abbildungen von Reizen in der Sinnesafferenz beträchtlich von zentralen Repräsentationen, erst recht von Empfindungen, ab. Dies spricht nicht gegen das Vorhandensein von Kausalbeziehungen, es zeigt aber, dass diese nur sehr schwierig aufzudecken sind. Insbesondere muss auch an die Variabilität kognitiver Prozesse unter dem Einfluss von Motivation, Aufmerksamkeitsverhalten, Vigilanz usw. erinnert werden (Abb. 25.1). Auf weitere Einzelheiten kann im Rahmen dieses Buches nicht eingegangen werden, und es sei insbesondere auf die zusammenfassende Darstellung von Gazzaniga (8) hingewiesen. Doch sei wenigstens noch hinzugefügt, dass einfache neuronale Kodes von der Wissenschaft nicht nur verstanden, sondern auch erfolgreich imitiert werden können. Zumindest in einem Fall können sie künstlich erzeugt und in einen Sinnesnerv eingespeist werden, was dann zu den erwünschten Wahrnehmungen führt. Gemeint sind die elektronischen Hörprothesen für vollertaubte Patienten, die Cochlea-Implantate (S. 658 u. 667). Selbst Sprachverständnis ist damit möglich.

Zum Weiterlesen … 1 Berkley MA, Stebbins WC. Comparative Perception I: Basic Mechanisms. New York: Wiley; 1992 2 Hensel H. Allgemeine Sinnesphysiologie. Berlin: Springer; 1966 3 Kandel ER, Schwartz JH, Jessel TM. Principles of Neural Science. 4th ed. New York: McGraw Hill; 2000 4 Moore BCJ. An Introduction to the Psychology of Hearing. 5th ed. London: Academic Press; 2003 5 Stevens SS. Psychophysics. New York: Wiley; 1975

… und noch weiter 6 Damper RI, Harnad SR. Neural network models of categorical perception. Percept Psychophys. 2000; 62: 843 – 867 7 Dehaene S. The neural basis of the Weber-Fechner law: A logarithmic mental number line. Trends Cogn Sci. 2003; 7: 145 – 147 8 Gazzaniga MS, ed. The New Cognitive Neurosciences. Cambridge, Mass.: MIT Press; 2000 9 Guski R. Wahrnehmen – ein Lehrbuch. Stuttgart: Kohlhammer; 1996 10 Hugdahl K. Psychophysiology. Cambridge (Mass.): Harvard University Press; 1995 11 Johnson KO, Hsiao SS, Yoshioka T. Neuronal coding and the basic law of psychophysics. Neuroscientist. 2002; 8: 111 – 121

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733

734

25 Empfindungen – Wahrnehmungen 12 Lee BB. Single units and sensation: A retrospect. Perception. 1999; 28: 1493 – 1508 13 Lockhead GR. Psychophysical scaling: Judgement of attributes of objects? Behavioral and Brain Sciences. 1992; 15: 543 – 601 14 Logothetis NK. Single units and conscious vision. Philos Trans R Soc Lond B Biol Sci. 1998; 353: 1801 – 1818. 15 Mc Closkey I, Cross MJ, Honner R, Potter EK. Sensory effects of pulling or vibrating exposed tendons in man. Brain. 1983; 106: 21 – 37 16 Roth G. Aus Sicht des Gehirns. Frankfurt: Suhrkamp; 2003 17 Sarris V. Methodologische Grundlagen der Experimentalpsychologie. Band 1. München: Reinhardt; 1990

18 Snook SH. Future directions of psychophysical studies. Scand J Work Environ Health. 1999; Suppl. 4: 13 – 18 19 Treisman M. Is signal detection theory fundamentally flawed? A response to Balakrishnan. Psychon Bull Rev. 2002; 9: 845 – 857 20 Vallbo Å, Olsson K, Westberg K, Clark F. Microstimulation of single tactile afferents from the human hand. Brain. 1984; 107: 727 – 749 21 Zwicker E. Psychoakustik. Berlin: Springer; 1982

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735

Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik G. ten Bruggencate, N. Dieringer

26.6

26.1

Lou Gehrigs Schicksal

26.2

Sensomotorik im Überblick

26.3

Spinalmotorische Elemente und ihre Funktionen · · · 738

···

736 · ··

736

26.3.1 Segmentale Organisation und Neuronentypen des Rückenmarks · ·· 738 26.3.2 Motorische Ausgangsfunktionen des Rückenmarks · ·· 738 26.3.3 Afferenzen der Spinalmotorik · · · 742 26.3.4 Spinalmotorische Reflexe und Rhythmusgeneratoren · · · 744 26.3.5 Integration absteigender und Transfer aufsteigender Information ··· 750

26.4

Supraspinale Kontrolle spinaler Verschaltungen ··· 752

26.4.1 Medial und lateral absteigende Verbindungen · · · 753 26.4.2 Ventromediale Systeme der Haltungsmotorik · · · 754 26.4.3 Dorsolaterale Systeme der Zielmotorik · · · 757

26.5

Motorische Areale der Großhirnrinde ··· 758 26.5.1 Aufbau und Neuronentypen der Großhirnrinde · · · 759 26.5.2 Der primäre motorische Kortex ··· 760 26.5.3 Supplementär-motorische und prämotorische Rindenfelder · ·· 761 26.5.4 Pathophysiologie absteigender Projektionen ··· 761

Basalganglien: Struktur, Funktion und klinische Zeichen

· ·· 762 26.6.1 Subkortikale Strukturelemente und Organisationsprinzipien · ·· 762 26.6.2 Funktionelle Anatomie und externe Verbindungen ··· 763 26.6.3 Zelluläre Funktionsabläufe und interne Verbindungen ··· 764 26.6.4 Klinische Symptome und Pathophysiologie ··· 766

26.7

Kleinhirn: Struktur, Funktion, Symptome ··· 769

26.7.1 26.7.2 26.7.3 26.7.4

Funktionelle Anatomie · · · 769 Feinstruktur und synaptische Verschaltung ··· 769 Erregungsmuster zerebellärer Neurone · · · 771 Extrazerebelläre Projektionen und motorische Funktionen · · · 772 26.7.5 Motorisches Lernen · · · 773 26.7.6 Zerebelläre Funktionsstörungen · ·· 773

26.8 Augen- und Blickbewegungen · · · 774 26.8.1 Augenmuskeln und ihre Zugrichtungen ··· 774 26.8.2 Typen von Augenbewegungen · · · 775 26.8.3 Orientierung mit kombinierten Augen- und Kopfbewegungen ··· 781 26.9

Ein Gesamtkonzept der Motorik · ·· 782

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26 Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik

26.1

Lou Gehrigs Schicksal

Lou Gehrig war ein begnadeter Baseballspieler der New York Yankees: phänomenal schnell im Lauf und unübertroffen beim Schlagen, Werfen und Fangen. Relativ jung noch, ließ bei ihm zuerst die Präzision beim Werfen und Fangen nach, anschließend auch die Schnelligkeit beim Laufen und die Kraft beim Ballschlagen. Neurologisch hatte er gesteigerte Reflexe kombiniert mit motorischer Schwäche und Muskelschwund (Atrophie). Unter stetiger Verschlechterung starb er nach wenigen Jahren an einer Atem- und Schlucklähmung. Die Symptome der Erkankung – amyotrophe Lateralsklerose (ALS) –, in den USA auch häufig Gehrig’s Disease genannt, beruhen auf einer kombinierten Degeneration von motorischen Zellen (α-Motoneurone) in Rückenmark und Hirnstamm sowie von Neuronen der motorischen Großhirnrinde, die die vorgenannten α-Motoneurone innervieren. Die entsprechenden neurophysiologischen Grundlagen werden im folgenden Kapitel besprochen. Die Krankheit ist insofern besonders belastend, als Intellekt und Kognition erhalten bleiben und der Patient sein Sterben bewusst miterlebt. Die Krankheitsursache ist unklar, etwa 10 % der Fälle sind familiär. Auch eine Therapie fehlt. Allerdings arbeitet man in den USA an genetisch veränderten Mäusestämmen, die die Symptome einer ALS zeigen. Es ist zu hoffen, dass mit Hilfe dieses Modells nicht nur die Ursachen aufgeklärt, sondern auch wirksame gentherapeutische Verfahren entwickelt werden können.

26.2

Sensomotorik im Überblick

Bestimmte Anteile des Nervensystems, die motorischen Systeme, bewirken über den Muskeltonus eine aufrechte Körperhaltung (Stützmotorik) und über die Aktivierung von Muskeln bzw. Muskelgruppen Bewegungen (Zielmotorik). Beibehalten und richtiges Abstimmen der Körperhaltung erfordern ebenso wie die korrekte Ausführung vonzielgerichteten Bewegungen den ständigen Zustrom sensorischer Information über die aktuelle motorische Situation. Diesem engen Zusammenhang trägt der zusammenfassende Begriff Sensomotorik Rechnung. Stützmotorik, Lauf- und Zielbewegungen erfordern Interaktionen und situationsabhängige Nutzungen von Verschaltungen auf verschiedenen Ebenen (Rückenmark, Hirnstamm, Großhirnrinde [Kortex], Basalganglien, Kleinhirn). Das Rückenmark vermittelt unter Beteiligung verschiedener Neuronentypen elementare motorische Muster (z. B. Reflexe, Rhythmen für die Fortbewegung). Der Hirnstamm nutzt somatosensorische, vestibuläre und visuelle Information für die Erzeugung einfacher motorischer Programme. Mit deren Hilfe werden Augen und Kopf bewegt, die Körperhaltung gegen die Schwerkraft stabilisiert und der Rhythmus für die Lokomotion aktiviert. Der motorische Kortex gibt diesen Bewegungen ein Ziel. Arm- und Fingerbewegungen werden mit orientierenden AugenKopfbewegungen zu visuell geführten Greifbewegungen koordiniert. Die Großhirnrinde enthält Zonen unterschiedlicher motorischer Funktion. Der Plan z. B. für eine Zielbewegung

wird in Assoziationsarealen erstellt. Unter Beteiligung von Basalganglien und Kleinhirn wird er in der prämotorischen Rinde in ein motorisches Programm umgesetzt. Der primärmotorische Kortex wird durch diese Programme aktiviert und übermittelt als kortikal-motorische Efferenz absteigende Kommandos sowohl direkt als auch indirekt über den Hirnstamm an das Rückenmark. Motorische Kommandos in ventromedialen Bahnen regulieren die Stützmotorik, solche in dorsolateralen Verbindungen die Zielmotorik. Läsionen in unterschiedlichen Anteilen der motorischen Systeme führen zu unterschiedlichen klinischen Symptomen. Stark vereinfachend kann man sie nach dem Ort der Läsion einordnen in: a) Lähmungen durch Störungen im spinalmotorischen Bereich (Motoneuron, Muskel); b) Lähmungen durch Schädigung absteigender Bahnen; c) Unfähigkeit, trotz erhaltener Beweglichkeit zweckmäßige Handlungen auszuführen (Apraxie, bei Beeinträchtigung von neokortikalen Assoziationsarealen); d) ungewollte oder auch erschwerte Bewegungen sowie Haltungsanomalien bei Erkrankungen der Basalganglien; e) Störungen der Haltungs- oder Bewegungskoordination durch Schädigung des Kleinhirns oder aufsteigender sensorischer Bahnen.

Motorische Funktionen umfassen Halten und Bewegen von Körper und Augen Muskeltonus und Bewegungsabläufe der Sensomotorik sind an Kontraktionen der quergestreiften Muskulatur gebunden. Die Aktivierung von Muskeln durch das Zentralnervensystem (ZNS) bezeichnen wir als Motorik, und die verantwortlichen Komponenten des ZNS als motorische Systeme. Eine Bewegung resultiert aus der zeitlichen Abfolge, in der Muskeln aktiviert werden. Je nach Aufgabe und Situation werden verschiedene Kombinationen von Muskeln (Muskelgruppen) in unterschiedlicher zeitlicher Reihenfolge zu einer funktionellen Synergie zusammengeführt. Voraussetzung eines planmäßigen Bewegungsablaufs ist eine gegen die Schwerkraft aktiv unterstützte Haltung des Körpers. Sie wird durch anhaltende tonische Aktivität der Muskulatur gewährleistet. Haltung und Bewegung sind innerhalb der Motorik zwei Funktionskomplexe, die stets gleichzeitig ablaufen und sich wechselseitig ergänzen. Mechanismen der Körperhaltung werden als Haltungs- oder Stützmotorik zusammengefasst. Die primär statische Bezeichnung Stützmotorik schließt allerdings die dynamischen Aspekte der Anpassung der Körperhaltung an Bewegungsabläufe ein. Die Stützmotorik und ihre Anpassung beruhen beim Menschen in erster Linie auf Aktivitäten der Muskulatur von Rumpf und proximalen Abschnitten der unteren Extremitäten. Die für Bewegungen verantwortlichen Mechanismen werden Zielmotorik genannt. Wesentliche Teile unseres Verhaltens beruhen darauf, durch Änderungen der Körperhaltung oder Bewegungen bestimmte Ziele zu erreichen. Stütz- und Zielmotorik des Körpers fassen wir als Skelettmotorik zusammen und stellen sie der Augenmotorik, der Okulomotorik, gegenüber. Auch diese Komponenten der Moto-

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26.2 Sensomotorik im Überblick rik gehen im Verhalten Hand in Hand. Ein Beispiel ist die Koordination der Fingermotorik mit Kopf- und Augenbewegungen beim Ergreifen eines Gegenstandes. Einwandfreie motorische Funktionen sind u. a. von Informationen über die Vorgänge in der Peripherie abhängig; es sind somatosensorische Meldungen, die Körperhaltung und Bewegung größtenteils selbst hervorrufen. Die enge Verknüpfung von motorischen Befehlen und sensorischen Meldungen findet ihren Ausdruck in der zusammenfassenden Bezeichnung Sensomotorik. Ein Beispiel für die Bedeutung sensorischer Information ist der Ausfall großkalibriger propriozeptiver Afferenzen (Tiefensensibilität, Kap. 20). Derartige Patienten haben bei geschlossenen Augen eine Falltendenz und beim Gehen Störungen der motorischen Koordination (sog. spinale Ataxie). Beispiele dafür, dass auch andere Sinnessysteme (visuell, vestibulär) für die Motorik wichtig sind, stellen die statischen und dynamischen Störungen bei akutem Ausfall eines der Gleichgewichtsorgane dar (s. Abschnitte 26.4.2 und 26.8.2).

Motorische Strukturen sind auf verschiedenen Ebenen somatotop angeordnet und interagieren wechselseitig Motorisches Verhalten reicht von unbewussten Automatismen bis zur Willkürmotorik, von groben Schleuderbewegungen bis zu subtilen Feinbewegungen. Die beteiligten motorischen Systeme benutzen Verschaltungen auf unterschiedlichen Ebenen des ZNS: Rückenmark, Hirnstamm und Großhirnrinde mit Basalganglien und Kleinhirn als zusätzlichen Regulationssystemen (Abb. 26.1). Daher spricht man häufig von einer hierarchischen Anordnung, in der das Rückenmark supraspinalen Strukturen untergeordnet sei. Diese Auffassung ist insofern nicht völlig korrekt, als die betroffenen Strukturen wechselseitig miteinander verbunden sind und interaktiv miteinander kommunizieren. Die wechselseitige Interaktion ermöglicht die Nutzung existierender Verschaltungen in Hirnstamm und Rückenmark durch die motorische Großhirnrinde. Die verschiedenen Komponenten der Sensomotorik werden im Folgenden kurz vorgestellt. Rückenmark. Im Rückenmark vermitteln neuronale Verschaltungen einfache, teilweise aber auch recht komplexe Bewegungsmuster. Beispiele sind die in der Klinik geprüften Reflexe, oder das Beugen einer Extremität bei Schmerzreizen. Bei vielen Wirbeltierarten können spinale Verschaltungen als Rhythmusgenerator wirken und alternierende Laufbewegungen erzeugen. Auch manche querschnittsgelähmte Patienten können unter sensomotorischer Elektrostimulation auf dem Laufband rudimentär gehen. Hirnstamm. Im Hirnstamm liegen Neuronensysteme, die motorische Information höherer Abschnitte mit Signalen aus dem Rückenmark, dem Vestibularorgan und dem visuellen System verrechnen. Dies ist von grundlegender Bedeutung für die Haltungs- und Gangmotorik, für kompensatorische Reflexe der Augen sowie für die Koordination von Augen- und Kopfbewegungen. Alle unmittelbar in das Rückenmark absteigenden motorischen

Großhirnrinde (s.26.5)

Thalamus

Basalganglien (s.26.6)

Okulomotorik (s.26.8)

Hirnstamm

Kleinhirn (s.26.7)

(s.26.4)

Rückenmark (s.26.3)

motorische Information (s.26.3)

Skelettmotorik (s.26.2)

Abb. 26.1 Komponenten der Sensomotorik und einige ihrer Verbindungen. Drei Kontrollebenen (Rückenmark, Hirnstamm, Großhirnrinde) interagieren untereinander sowie mit Basalganglien und Kleinhirn. Information aus Peripherie, Kleinhirn und Basalganglien erreicht den Kortex über den Thalamus. Nicht alle Verbindungen sind dargestellt. Die Zahlen entsprechen Abschnitten des Kap. 26.

Bahnen entstammen dem Hirnstamm, mit Ausnahme des Kortikospinaltrakts. Medial absteigende Verbindungen (vestibulo-, retikulo-, tektospinal) enden ventromedial und betreffen in erster Linie die Aufrechterhaltung und Anpassung der Körperhaltung. Eine dorsolateral absteigende Komponente kooperiert mit dem Kortikospinaltrakt im Rahmen von Bewegungen distaler Extremitätenabschnitte. Großhirnrinde. Die motorisch wichtigen Areale der Großhirnrinde (primärer motorischer und prämotorischer Kortex) arbeiten eng zusammen mit Assoziationsarealen, die außerhalb der primären Projektionsfelder liegen. Für Zielbewegungen erstellt der Assoziationskortex in Zusammenarbeit mit limbischen Strukturen (subkortikale Motivationsareale) einen Bewegungsplan. Unter Beteiligung von Kleinhirn und Basalganglien wird dieser Plan im prämotorischen Kortex in ein Bewegungsprogramm umgesetzt, das dem primären Motorkortex zugeleitet wird. Dieser übermittelt derartige Programme in Form motorischer Kommandos an Hirnstamm und Rückenmark und leitet damit die Ausführung der Bewegung in die Wege. Der Motorkortex ist also für motorische

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26 Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik Bewegungsmuster, die die Hirnrinde ausarbeitet, eine nachgeschaltete efferente Station. Zusätzlich regulieren noch zwei weitere Strukturen motorische Abläufe. Das Kleinhirn erhält Information von der Großhirnrinde, vom Vestibularorgan, von somatosensorischen Afferenzen und über die aktuelle spinalmotorische interneuronale Aktivität. Damit kann es die zahlreichen an einer Bewegung beteiligten Muskeln koordinieren und auf die motorische Situation abstimmen. Erkrankungen des Kleinhirns äußern sich als Instabilität von Haltung und Bewegung (Ataxie). Die Basalganglien empfangen Signale von fast allen Großhirnregionen und projizieren über den Thalamus vorzugsweise zum frontalen Kortex, der sich besonders mit dem Planen motorischer Aktionen befasst. Da die Basalganglien intendierte Bewegungen ermöglichen (und ungewollte hemmen), kommt es bei Störungen – z. B. bei der Parkinson-Erkrankung – zum Verlust von Spontanbewegungen und zu Problemen beim Starten von Bewegungen und Gehen. Bei der sog. Chorea entstehen hingegen spontane, unbeherrschbare Bewegungen. Alle sensomotorischen Systeme sind somatotop angeordnet. Darunter versteht man, dass bestimmte Körperlokalisationen in bestimmten Neuronengruppen des ZNS „repräsentiert“ sind. Primärafferenzen der Haut z. B. sind Punkt zu Punkt verbunden mit säulenartig angeordneten Neuronen des Gyrus postcentralis (Kap. 20). Entsprechend sind bestimmte Areale des Motorkortex Motoneuronen zugeordnet, die spinal in motorischen Kernen angeordnet sind und die einen bestimmten Muskel innervieren. Neurone des Motorkortex, die über spinale Motoneurone die Fingermotorik kontrollieren, erhalten sensorische Information speziell aus den zugehörigen Fingerregionen (Substrat klinisch wichtiger transkortikaler oder Long-loop-Reflexe, S. 760). Erkrankungsherde im ZNS äußern sich daher oft in somatotopen Ausfallerscheinungen.

26.3

Spinalmotorische Elemente und ihre Funktionen

26.3.1

Segmentale Organisation und Neuronentypen des Rückenmarks

Der segmental-radikuläre Aufbau des Rückenmarks wurde schon in Kap. 21 beschrieben. In Primärafferenzen der Hinterwurzeln laufen somatosensorische Informationen ein; über die Vorderwurzel senden efferente Motoaxone motorisch wirksame Impulse zum Erfolgsorgan. Wenn eine afferente Erregung zu einer stereotyp-efferenten Reaktion (Kontraktion von Skelettmuskel oder glatter Muskulatur, Drüsensekretion) führt, wird dies als Reflex bezeichnet. Die beteiligten Strukturen (Primärafferenz, spinale Verschaltung, motorische Efferenz) bilden den Reflexweg. Dem radikulären Aufbau des Rückenmarks entspricht nicht nur eine segmentale Gliederung der

Hautsensibilität in Dermatome (Kap. 20), sondern auch der Muskulatur in Myotome. Daher sind auch Reflexe segmental gegliedert. Dies ist von Bedeutung für die Höhendiagnostik spinaler Krankheitsprozesse. In diesem Zusammenhang sind die Muskeldehnungsreflexe (S. 745 f.) wichtig, die z. B. durch einen Schlag mit dem Reflexhammer auf die Sehne eines Muskels ausgelöst werden können (Aktivierung von Muskelspindeln mit I a-Afferenzen, S. 744 f.). I a-Afferenzen sind über nur eine Synapse (monosynaptisch) mit α-Motoneuronen verbunden. Muskeldehnungsreflexe sind relativ eng auf das jeweilige Segment beschränkt und haben damit eine verhältnismäßig hohe klinische Aussagekraft. In die meisten Reflexwege sind allerdings weitere intraspinale Neurone eingeschaltet (Interneurone). Je nach Synapsenzahl resultieren dioder polysynaptische Reflexe, die häufig mehrere Segmente umfassen (S. 747 f.). Das Verhältnis von Interneuronen zu Motoneuronen im Rückenmark beträgt etwa 30 : 1. Abb. 26.2 A illustriert die wichtigsten spinalen Neuronentypen. Die verschiedenen Fasergruppen der Afferenzen (Kap. 20) vermitteln detaillierte Information von Rezeptoren in Haut, Weichgeweben (wie Faszien) und Muskulatur. Diese Information wird an unterschiedliche nachgeschaltete Strukturen übertragen: an efferente Neurone (Motoneurone zur Skelettmuskulatur, präganglionäre Neurone des autonomen Systems), an Interneurone und an Neurone aufsteigender Trakte. Die Auslösung von Reflexen ist demnach nur eine Funktion der Afferenzen. Umgekehrt hängt die Aktivität der Interneurone nicht nur vom afferenten Eingang ab, sondern auch von anderen Interneuronen und von absteigenden Bahnen. Letzteres ist insofern wichtig, als sich damit absteigende Verbindungen die Funktionen spinaler Verschaltungen zunutze machen können (S. 751). -Motoneurone mit den von ihnen innervierten Muskeln sind das Vollzugssystem der Motorik. Sie sind säulenförmig in Kernen angeordnet. Ventromedial gelegene Kerne versorgen Muskeln des Rumpfes und der proximalen Extremitätenabschnitte (Abb. 26.2 B). In erster Linie sind sie mit der Regulation von Gleichgewicht und Körperhaltung befasst. Die dorsolateralen Kerne der distalen Muskeln spielen eine Rolle für die manipulatorischen Fähigkeiten der Hand. 26.3.2

Motorische Ausgangsfunktionen des Rückenmarks

Physiologische Kontraktionseinheit der Arbeitsmuskulatur ist die motorische Einheit, d. h. ein -Motoneuron samt den von ihm innervierten Muskelfasern. Schwerpunktmäßig können bestimmte motorische Einheiten mit niedriger Schwelle tonisch aktiviert werden (langsam-kontrahierende Typ-S-Einheiten [slow]). Sie haben relativ niedrige Entladungsraten und bilden die Basis der Stützmotorik. Andere motorische Einheiten kommen mit höherer Schwelle und höheren Entladungsraten bei dynamischer zielmotorischer Aktion ins Spiel

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26.3 Spinalmotorische Elemente und ihre Funktionen weiße Substanz

Hinterhorn

Rückenmarksquerschnitt Segment C8 Hinterwurzel (Primärafferenzen)

graue Substanz

Interneurone

dorsolaterale Bahnsysteme

Interneurone

spinozerebelläre Neurone (aufsteigend)

präganglionäre Neurone

zu Flexoren distal zu Extensoren

Motoneurone (in Kernen)

A

axial

Vorderwurzel (Efferenzen)

ventromediale Bahnsysteme Vorderhorn

Abb. 26.2 Typen von Neuronen und Verbindungen im Rückenmark. A Querschnitt (halbseitig) mit den wichtigsten Neuronentypen, grauer (zellreicher) und weißer (zellarmer, Axone) Substanz. Segmentaler Eingang in Hinterwurzeln (afferent), Ausgang durch die Vorderwurzeln (efferent). Absteigende motorische Bahnen vorwiegend ventromedial

(schnell-kontrahierende Typ-F-Einheiten [fast]). Die Kraftentwicklung eines Muskels ist durch Variation der Entladungsfrequenz und der Zahl der aktivierten motorischen Einheiten gleichmäßig regulierbar (tetanische Kontraktion). Mit dem Elektromyogramm (EMG) kann der Kliniker die Muskelaktivität diagnostisch erfassen. Bei einem Ausfall der α-Motoneurone entsteht eine schlaffe Lähmung.

-Motoneurone innervieren die Arbeitsmuskulatur Motoneurone sind funktionell uneinheitlich. Histologisch sind ihre Axondurchmesser zweigipflig verteilt mit Maxima bei 10 bzw. 5 µm, denen mittlere Leitungsgeschwindigkeiten von 60 bzw. 30 m/s entsprechen. Da diese Werte in den Aα- bzw. Aγ-Bereich peripherer Nervenfasern (Kap. 19) fallen, bezeichnet man die zugehörigen Neurone als α- bzw. γ-Motoneurone. Motoneurone versorgen die quergestreifte Skelettmuskulatur, d. h. die Arbeitsmuskulatur (Skeletomotoneurone), γ-Motoneurone innervieren die Muskelspindeln (Fusimotoneurone, S. 743).

proximal

zu axialen Muskeln

B

bzw. dorsolateral. Spinozerebelläre Neurone sind ein Beispiel für aufsteigende Bahnen. B Anordnung der Motoneuronenkerne (und zugehöriger Interneurone, links) im Querschnitt. Motoneurone zu axialen Muskeln ventromedial, zu distalen lateral gelegen.

Physiologisches Kontraktionselement ist die motorische Einheit Physiologische Kontraktionseinheit ist nicht die einzelne Muskelfaser (Muskelzelle), sondern die motorische Einheit. Darunter versteht man die funktionelle Einheit von α-Motoneuron, seinem Axon und den von ihm innervierten Muskelfasern. Die Zahl der Muskelfasern pro Neuron (Innervationsverhältnis) variiert von Muskel zu Muskel; es beträgt bei Muskeln, deren Kontraktionskraft fein reguliert werden muss, 5 – 10 (z. B. äußere Augenmuskeln) und in Muskeln, die grobe Kraft entwickeln, bis zu 1000 (z. B. M. glutaeus). Auch motorische Einheiten sind funktionell inhomogen. In unterschiedlicher Mischung bauen sie die Skelettmuskeln auf. Man unterscheidet langsam kontrahierende Einheiten (Typ S, slow) von schnellen, nicht ermüdbaren (Typ FR, fatigue-resistant) und schnellen, ermüdbaren (Typ FF, fast-fatiguable). S-Einheiten werden bei Haltefunktionen bzw. Ausdauerleistungen eingesetzt, FF-Einheiten hingegen, wenn es um Schnellkraft und ballistische Bewegungen geht. FR-Einheiten werden dann wichtig, wenn bei einer kräftigen Kontraktion die Durchblutung mechanisch so stark gedrosselt wird, dass der anaerobe Stoffwechsel in Anspruch genommen werden muss. Zytochemische, stoffwechselbestimmende Charakteristika der Muskelfasern entsprechen den kontraktilen Funktionsunterschieden (Tab. 26.1). Der myoglobinreiche und daher rote Typ S

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26 Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik Tabelle 26.1 Eigenschaften motorischer Einheiten. Das Motoneuron induziert die Enzymeigenschaften der Muskelfasern der motorischen Einheit (S. 113, 591). Davon hängen ab: Kontraktionszeit (Myosin-ATPase), Ermüdungsresistenz (oxidative Enzyme) und Ausmaß kurzdauernder Kraftentwicklung in Abwesenheit von O2 (glykolytische Enzyme). Physiologische und biochemische Eigenschaften sind einander angepasst, d. h. S, FR und FF entsprechen I, II A bzw. II B. Parameter

Einteilung

α-Motoneurone αZellgröße

klein

mittel

groß

monosynaptischer I a-Eingang

kräftig

mittel

schwächer

Rekrutierungsschwelle

niedrig

mittel

hoch

Entladungsverhalten im Muskeldehnungsreflex

tonisch

phasisch/ tonisch

phasisch

Typ

S

FR

FF

Zuckung

langsam

schnell

schnell

Ermüdbarkeit

sehr gering gering

Motorische Einheiten

groß

Zytochemie der Muskelfaser Typ

I

II A

II B

Myosin-ATPase

niedrig

hoch

hoch

glykolytische Enzyme

niedrig

hoch

hoch

oxidativer Metabolismus

hoch

mittelhoch

gering

(zytochemisch Typ I) ist enzymatisch auf die Ausnutzung von oxidativen Stoffwechselprozessen ausgerichtet; FF-Einheiten (zytochemisch Typ II B) hingegen auf die anaerobe Glykolyse. Sie enthalten wenig Myoglobin und Mitochondrien und erscheinen daher weiß. FR-Fasern nehmen eine Mittelstellung ein (vgl. S. 591). Die Zytochemie der Muskelfasern ist diagnostisch wichtig (Muskelbiopsie) bei Muskelerkrankungen (Myopathien). TypI-Fasern sind überwiegend bei metabolischen Erkrankungen betroffen, Typ-II-Fasern mehr bei degenerativen (Muskeldystrophien) oder entzündlichen (Myositiden).

Haltung und Bewegung entstehen durch stufenlos regulierbare Kontraktionen Eine einzelne elektrische Reizung eines Muskels löst eine Einzelzuckung des Muskels aus, d. h. eine Kontraktion mit nachfolgender Erschlaffung. Der Zeitverlauf der Einzelkontraktion ist bei verschiedenen Skelettmuskeln unterschiedlich. Im Falle der äußeren Augenmuskeln beträgt die Anstiegszeit bis zum Maximum der Kontraktion nur 5 – 10 ms, beim M. gastrocnemius 25 – 40 ms und beim M. soleus etwa 100 ms. Diese Differenzen beruhen auf prozentual unterschiedlichen Anteilen rascher bzw. langsamer motorischer Einheiten. Beispielsweise hat der M. soleus als physiologischer Streckmuskel am Unterschenkel einen hohen Anteil an S-Einheiten; dies prädestiniert ihn für Dauerleistungen (Haltemuskel entgegen der Schwerkraft).

Physiologisch ist die Kraft eines Muskels fein und praktisch stufenlos regulierbar. Dies wird durch zwei sich ergänzende Mechanismen erreicht: – Eine gegebene motorische Einheit wird bei zunehmender Kraftentfaltung mit steigender Frequenz aktiviert. Dadurch kommt es zu einer vermehrten Überlagerung von Einzelzuckungen (Kap. 6) und damit immer gleichmäßigerer Kontraktion. Langsame Einheiten erreichen eine gleichmäßige Kontraktion mit niedrigeren Entladungsfrequenzen als schnelle. – Mit wachsender Kraftentwicklung wird eine zunehmende Zahl motorischer Einheiten aktiviert („rekrutiert“). Dabei gilt ein Größenprinzip: je kleiner der Zellkörper eines Motoneurons, desto eher wird es rekrutiert (Tab. 26.1). Allerdings ist dieses Prinzip durch supraspinale Einflüsse wandelbar. Eine physiologische Bewegung (z. B. Ergreifen eines Gegenstandes) bedeutet mehr als den Einsatz bestimmter motorischer Einheiten. Sie erfordert das geordnete und komplexe Zusammenspiel zahlreicher Muskeln und Muskelgruppen. Bestimmte Motoneurone werden aktiviert, andere aber auch gehemmt.

-Motoneurone reagieren tonisch oder phasisch auf Muskeldehnung Untersucht man, wie α-Motoneurone reflektorisch auf längerdauernde Muskeldehnung antworten, so findet man in einem weiten Spektrum zwei extreme Reaktionstypen. Motoneurone mit tonischem Entladungscharakter bilden vorwiegend langsam kontrahierende motorische Einheiten vom Typ S, die wegen besonders intensiver I a-Verbindungen (S. 744) mit niedriger Schwelle aktiviert werden (Tab. 26.1) und sich schon bei niedriger Entladungsfrequenz tetanisch kontrahieren. Damit steht dem Körper ein empfindliches System für die Stützmotorik zur Verfügung. Wegen der niedrigen Schwelle kann es auch für Feinbewegungen eingesetzt werden. Andererseits werden rasch kontrahierende Einheiten der phasisch reagierenden -Motoneurone (Tab. 26.1) zusätzlich, und dann mit höheren Entladungsfrequenzen, bei dynamischen Vorgängen, z.B. raschen Zielbewegungen, eingesetzt. Tonische bzw. phasische Erregungseigenschaften sind nicht unveränderlich festgelegt, sondern durch Einsatz supraspinaler und segmentaler Einflüsse variabel. Haltungs- und Bewegungsmotorik sind demnach nicht ohne weiteres voneinander trennbar.

Die Elektromyographie erfasst die Aktivität von Skelett- und Augenmuskeln und hat diagnostische Bedeutung Das Elektromyogramm (EMG). Die Aktivität motorischer Einheiten kann mit in den Muskel eingestochenen Nadelelektroden, zu bestimmten Zwecken auch mit Oberflächenelektroden, elektrisch abgegriffen werden. Das resultierende Elektromyogramm (EMG) kann zur Analyse komplexer Bewegungen und ihrer Störungen herangezogen werden (Abb. 26.17). Vor allem aber hat es diagnostische Bedeutung (Abb. 27.3), weil Erkrankungen peripherer Nerven ohne Einsatz des EMG, d. h. rein klinisch nur

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26.3 Spinalmotorische Elemente und ihre Funktionen A normales Aktivitätsmuster im gesunden Muskel (Interferenzbild, geringe Zeitauflösung)

schwache Willkürinnervation 500mV 1s

mittelkräftige Willkürinnervation 500mV

maximale Willkürinnervation 500mV

B Potenziale einzelner motorischer Einheiten (abgeleitet mit konzentrischen Nadelelektronen, hohe Zeitauflösung) 1

a-Motoneurone 1

2

2 Polyphasie, Regeneration (chronisch neurogene Läsion)

2

1 normale Potenziale des gesunden Muskels

100 mV

Reinnervation der denervierten Muskelfasern

100 mV

1

2

10 ms

3 myopathische Potenziale (Muskeldystrophie)

10 ms

100 mV degenerierte Muskelfasern

Abb. 26.3 Normale und pathologische Aktivität im Elektromyogramm. Ableitung mit Nadelelektroden aus dem Muskel. A Beispiele unterschiedlich großer Kraftanstrengung. B Beispiele von Einzelpotenzialen wie angegeben.

schwer von solchen der Skelettmuskulatur zu unterscheiden sind. Ein gesunder, völlig entspannter Muskel erhält physiologischerweise keine Erregungszuströme von α-Motoneuronen und zeigt daher in Ruhe keine Aktionspotenziale motorischer Einheiten. Diese treten erst bei Willkürinnervation auf. Bei geringem Innervationsaufwand werden Potenziale einzelner motorischer Einheiten sichtbar. Es sind Summenpotenziale der die Einheit bildenden Muskelzellen. Ihre Amplitude beträgt bis ca. 200 µV; Größe und Form schwanken je nach Lagebeziehung der Elektrode zur motorischen Einheit. Die Dauer liegt um 10 ms bei Skelettmuskeln des Körpers und um 2 ms bei Augenmuskeln. Zunehmender Innervationsaufwand geht einher mit zunehmender Frequenz und Zahl entladender motorischer Einheiten (s. oben) bis zum sog. Interferenzmuster, in dem sich die hochfrequenten Potenziale zahlreicher motorischer Einheiten so überlagern, dass Beiträge einzelner Einheiten nicht mehr erkennbar sind (Abb. 26.3).

10 ms

Beachte die unterschiedliche Zeitschreibung in A verglichen mit B sowie die unterschiedlichen Spannungskalibrierungen (Potenzialamplituden in B2 etwa 6fach denjenigen in B1).

Pathologische EMG-Veränderungen. Bestimmte Kriterien im EMG lassen zwischen neuronalen und muskulären Krankheitsursachen differenzieren. Bei Degeneration von Motoneuronen oder -axonen gehen mit den degenerierenden Nervenfasern ganze motorische Einheiten zugrunde. Dieser Prozess geht anfangs mit Erregbarkeitssteigerungen einher, die sich in abnormer Ruheaktivität äußern. Später können benachbarte, noch intakte Motoaxone Aussprossungen bilden, die kompensatorisch Muskelzellen degenerierender motorischer Einheiten reinnervieren (Abb. 26.3B, 2). Dadurch entstehen vergrößerte Einheiten, die im EMG Summenpotenziale erhöhter Amplitude und aufgesplitterter Form (Dauer verlängert) bilden. Wegen der verminderten Gesamtzahl der Einheiten wird bei maximalem Innervationsaufwand nur ein „gelichtetes“ Interferenzmuster erreicht. Bei primärer Degeneration von Muskelfasern (Myopathie) hingegen bleibt die Zahl motorischer Einheiten unverändert. Das dementsprechend erhaltene Interferenzmuster tritt schon

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26 Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik

Muskel

freie Nervenendigungen

Nervenfasertyp: III II Ia Ib

passive Dehnung

B

0,1 s

1

Pacini-Körperchen 2

aktive Kontraktion

C

Muskelspindel

0,2 s

p

Sehnenorgan 1

A

2 Sehne

Abb. 26.4 Anatomische Anordnung und Entladungsmuster von Sehnenorgan und Muskelspindel. A Anordnung verschiedener Rezeptortypen im Muskel. Sehnenorgane (mit I b-Fasern) liegen seriell zur Arbeitsmuskulatur, Muskelspindeln hingegen parallel. Freie Nervenendigungen und Pacini-

bei relativ geringem Kraftaufwand auf, weil eine größere Zahl von Einheiten für die gleiche Kraftentfaltung aktiviert werden muss. Da innerhalb der motorischen Einheiten Muskelfasern ausgefallen sind, ist aber die Amplitude der Summenpotenziale vermindert und ihre Dauer verkürzt (Abb. 26.3B, 3).

Schädigungen von Motoneuronen führen zu schlaffen Lähmungen Bei einem Ausfall von α-Motoneuronen können absteigende willkürmotorische Kommandos nicht mehr wirksam werden: es resultiert eine Lähmung (komplett = Paralyse oder Plegie, teilweise = Parese). Zusätzlich sind die nicht funktionsfähigen Motoneurone von segmentalen Afferenzen nicht mehr erregbar. Daraus ergibt sich eine Kombination von Lähmung mit Reflexabschwächung, die man als schlaffe Lähmung bzw. schlaffe Parese bezeichnet. Bei Schädigung supraspinal-motorischer Strukturen dagegen geht eine Lähmung meist mit Reflexmustern im Sinne einer Spastik einher (spastische Parese, S. 751). Die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine Systemerkrankung, bei der sowohl α-Motoneurone als auch absteigende supraspinalmotorische Neurone degenerieren (vgl. 26.1).

Körperchen sind Rezeptoren im bindegewebigen Anteil des Muskels. B und C Antworten von Muskelspindel (1) und Sehnenorgan (2) bei Dehnung (B) bzw. Einzelzuckung (C) eines Muskels.

26.3.3

Afferenzen der Spinalmotorik

Rezeptoren der Somatosensorik informieren das ZNS über motorische Abläufe. Muskelrezeptoren messen Muskelspannung (Sehnenorgane mit I b-Afferenzen) bzw. Muskellänge (Muskelspindeln mit I a- und II-Afferenzen). Da sich Muskelspannung und -länge unabhängig voneinander ändern, sind Informationen über beide Größen notwendig. Muskelspindeln besitzen eine eigene motorische Innervation durch -Motoneurone. Über sie kann das ZNS die Länge der Muskelspindeln ändern und damit ihre Empfindlichkeit regulieren.

Sehnenorgane messen die Muskelspannung Golgi-Sehnenorgane sind Bindegewebskapseln von etwa 1 mm Länge und 0,1 mm Durchmesser, die von jeweils einer afferenten Nervenfaser der Gruppe I b (vgl. Tab. 19.2) mit mehreren rezeptiven Endigungen versorgt werden. Jedes Sehnenorgan liegt seriell (Abb. 26.4 A) zu 20 – 25 Skelettmuskelfasern aus 5 – 15 motorischen Einheiten, die mit ihren terminalen Sehnen die Kapsel des Sehnenorgans durchdringen und dort mit fächerförmigen Faserbündeln ansetzen. Adäquater Reiz für die I b-Endigungen ist die Muskelspannung. Bei aktiven Kontraktionen motorischer Einheiten komprimieren die kollagenen Faserbündel die I bTerminalen und erregen sie dadurch. Aktiv entwickelte Kräfte werden daher besonders effektiv auf den Rezeptor

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26.3 Spinalmotorische Elemente und ihre Funktionen a-Motoneuron aktiv a-Motoneuron

Muskelfasern kontrahiert

Ia-Afferenzen

Muskelspindel entlastet

statisches g-Motoneuron dynamisches g-Motoneuron

Aktionspotenziale der Ia-Afferenz

Spindelpause B a-Motoneuron aktiv

+

g-Motoneuron aktiv

Kernsackfaser Kernkettenfasern

Rezeptorvorspannung

Muskelfaser Muskelspindel A

C

Abb. 26.5 Fusimotorische Innervation der Muskelspindel. A Anatomische Anordnung von Intrafusalfasern, Afferenzen und Efferenzen. Rezeptorendigungen in der Mitte, Endigungen der γ-Axone mehr lateral an den Intrafusalfasern.

übertragen (Abb. 26.4 C, 2). I b-Afferenzen reagieren insofern sogar auf die Kontraktionen einzelner motorischer Einheiten. Weil die Muskelfasern, die das Sehnenorgan penetrieren, aus verschiedenen motorischen Einheiten stammen, kann die Afferenz auch die Rekrutierung einer zunehmenden Zahl motorischer Einheiten feststellen. Bei passiver Dehnung des Muskels wird ebenfalls Spannung entwickelt und die I b-Afferenz aktiviert (wie ein PDRezeptor) (Abb. 26.4 B, 2).

Muskelspindeln messen die Muskellänge Muskelspindeln (Abb. 26.4 A) bestehen aus spindelförmigen Bindegewebskapseln, die 3 – 10 dünne, spezialisierte Muskelfasern umschließen. Diese Muskelfasern werden intrafusale Muskelfasern (lat. fusus = Spindel) genannt, im Gegensatz zu den „extrafusalen“ Fasern der Arbeitsmuskulatur. Um die mittleren („äquatorialen“) Anteile der Intrafusalfasern winden sich spiralförmig die rezeptiven Endigungen der Spindelafferenzen. Adäquater Reiz für die Rezeptorendigungen ist eine Verlängerung der (elastischen) äquatorialen Teile der Intrafusalmuskeln. Daher bilden die Muskelspindelafferenzen – ähnlich wie I bAfferenzen – bei Muskeldehnung Impulse (Abb. 26.4 B,1). Der funktionelle Unterschied zu den Sehnenorganen besteht darin, dass die Muskelspindeln im inneren Bindegewebe des Muskels ansetzen und somit parallel (und nicht seriell) zu den extrafusalen Muselfasern liegen. Daher werden sie bei Verkürzung des Muskels entspannt und reduzieren ihre Impulsrate („Spindelpause“, Abb. 26.4 C,1). Insofern messen Muskelspindeln die Muskellänge, I b-Afferenzen hingegen die Muskelspannung

Aktionspotenziale der Ia-Afferenz

Kompensation der Spindelpause

Zwei Typen von γ-Axonen (dynamisch bzw. statisch wirksam). B Entlastung der Muskelspindel mit Aufhören der Entladungen (Spindelpause) bei reiner α-Aktivität. C Überbrückung der Spindelpause durch zusätzliche γ-Aktivität.

(Muskelkraft). Passive Dehnung eines Muskels vergrößert seine Spannung und seine Länge; bei aktiven Kontraktionen nimmt die Spannung zu, die Länge jedoch ab. Um das ZNS mit eindeutiger Information zu versorgen, müssen beide Größen simultan erfasst werden. Intrafusalfasern können anhand der Anordnung ihrer Zellkerne in Fasern mit Kernsack (Nuclear-bag-Fasern) bzw. Kernketten (Nuclear-chain-Fasern) unterteilt werden (Abb. 26.5 A). Auch bei den Afferenzen gibt es zwei Typen. Sie unterscheiden sich im Faserdurchmesser und in der räumlichen Zuordnung zu den Intrafusalfasern. Die kollateralen Endigungen der dickeren I a-Fasern umschlingen beide Typen von Intrafusalfasern, während sich die Rezeptorendigungen der dünneren Gruppe-II-Fasern überwiegend an Kernkettenfasern finden.

Die Messfunktion der Spindelafferenz ist efferent reguliert Muskelspindeln werden von γ-Motoaxonen efferent innerviert, die mit neuromuskulären Synapsen an den quergestreiften, kontraktilen Außenzonen (Polen) der Intrafusalfasern ansetzen (Abb. 26.5 A). Da sie ausschließlich die Muskelspindeln versorgen, nennt man die -Motoneurone auch Fusimotoneurone. Bei Entladungen der γ-Fasern kontrahieren sich die polaren Zonen der Intrafusalfasern; damit wird die Äquatorialzone gedehnt und die Rezeptorendigung aktiviert. Spindelafferenzen können also sowohl durch passive Muskeldehnung als auch durch fusimotorische Impulse erregt werden. Fusimotorische Erregung der Muskelspindel kann über die in I a-Endigungen entstehenden Impulse

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743

744

26 Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik („γ-Spindelschleife“) auch die Erregbarkeit der α-Motoneurone erhöhen. Ohne Aktivität der γ-Motoneurone werden die Spindelafferenzen bei Muskelverkürzung entlastet (Abb. 26.4 C, 26.5 B). In dieser „Spindelpause“ können Längenänderungen des Muskels nicht erfasst werden. Wenn aber Fusimotoneurone gleichzeitig mit den α-Motoneuronen entladen (α-γ-Koaktivierung), führt dies während der Skelettmuskelverkürzung zu einer gleichzeitigen Kontraktion der polaren Abschnitte der Intrafusalfasern und damit zur Rezeptorvorspannung. Je nach Umfang der γ-Aktivität kann so die Spindelpause mehr oder weniger kompensiert werden (Abb. 26.5 C). Mit Hilfe der γ-Motoneurone kann also die Empfindlichkeit der Längenrezeptoren auch während Kontraktionen der Skelettmuskelfasern erhalten bleiben (physiologische Bedeutung s. S. 745). Auch das γ-System ist nicht homogen (Abb. 26.5 A). Bestimmte γ-Fasern greifen vorwiegend an Kernsackfasern an und erhöhen die Empfindlichkeit der Spindel für dynamische Prozesse (dynamische -Motoneurone). Andere innervieren vorwiegend Kernkettenfasern und erhöhen die statischen Messfunktionen (statische -Axone). Die unterschiedlichen Wirkungen beruhen vor allem darauf, dass die beiden intrafusalen Muskelfasertypen unterschiedliche kontraktile und elastische Eigenschaften besitzen. Im Endeffekt kann das ZNS die Empfindlichkeit der Messfühler für absolute Muskellänge und für Längenänderungen separat regulieren. 26.3.4

Spinalmotorische Reflexe und Rhythmusgeneratoren

Wenn Erregungen von Primärafferenzen über spinale Verschaltungen stereotype motorische Reaktionen auslösen, bezeichnen wir dies als Reflexe. Reflexe kann man unterscheiden nach Art der beteiligten Afferenzen, nach Art der motorischen Reaktionen und nach Zahl der Synapsen bzw. Interneurone in den betroffenen Verschaltungen. Die einfachste Verschaltung, der monosynaptische Reflexweg, ist die unmittelbare Verbindung von Afferenz und Motoneuron. Dieser Reflex wird durch Muskeldehnung ausgelöst, d. h. der Muskeldehnungsreflex ist monosynaptisch verschaltet. Den Eingang bilden die I a-Afferenzen der Muskelspindeln. Reflexwege mit mehreren Interneuronen bzw. Synapsen werden als polysynaptisch bezeichnet. Beispiele sind die Reflexwege der I b-Afferenzen und der Afferenzen der Gruppe III. Da der Reflexerfolg der III-Afferenzen in einer Beugebewegung besteht, bezeichnet man den Ablauf als Beugereflex. Neuronengruppen des Rückenmarks können rhythmisch aktiv sein und bilden damit die Grundlage der Gangmotorik (Fortbewegung, Lokomotion). Wahrscheinlich entsprechen sie den Interneuronen des Beugereflexes und agieren als variabel schaltbare Halbzentren für jede Extremität. Hinzukommende reflektorische Effekte von I b-Afferenzen und von Flexorreflexafferenzen sind wichtig für lokomotorische Reaktionen auf äußere Störeinflusse. Spinale Reflexabläufe werden auf der Eingangsseite durch die präsynaptische Hemmung und auf der Ausgangsseite durch die Renshaw-Hemmung kontrolliert;

über absteigende Bahnen werden sie von supraspinal angesteuert und im Rahmen der Stütz- und Zielmotorik eingesetzt.

I a-Afferenzen vermitteln den längenstabilisierenden Muskeldehnungsreflex Der Begriff des Reflexes wurde bereits einleitend eingeführt (S. 738). Sherrington, Physiologe in Oxford, untersuchte als erster spinale Reflexe quantitativ. Er zeigte, dass die Dehnung eines Muskels reflektorisch zu seiner Kontraktion führt und dass dieser Muskeldehnungsreflex ein längenstabilisierender Regelkreis ist, der die aufrechte Haltung des Körpers entgegen der Schwerkraft ermöglicht. In Abb. 26.6 A ist dargestellt, dass bei einem gravitationsbedingten Absinken des Körpers beispielsweise das Sprunggelenk gebeugt wird. Dies führt zur Dehnung des M. triceps surae (und anderer physiologischer Strecker), zu erhöhter Spindelaktivität in diesen Muskeln und damit zur kompensatorischen Kontraktion der Strecker. Insofern kann dieser Reflex die Muskellänge konstant halten und Halteleistungen erbringen. Strukturelles Korrelat ist eine monosynaptische Verbindung der I a-Afferenzen mit α-Motoneuronen (Abb. 26.6 A), die denjenigen Muskel (oder Synergisten) innervieren, in dem die betreffende I a-Endigung liegt (Agonist). Dehnungsreflexe gibt es sowohl in Flexor- als auch in Extensormuskeln. In Letzteren sind sie stärker ausgeprägt, weil – Strecker relativ viele Typ-S-Einheiten enthalten (die mit niedriger Schwelle aktiviert werden) und – die Synapsendichte der I a-Projektion auf tonische αMotoneurone besonders groß ist (Tab. 26.1). Funktionell erscheint dies für die Körperhaltung sinnvoll. Die Tatsache, dass die I a-Endigung für Dehnungen kleiner Amplitude besonders empfindlich ist (Abb. 26.4 B), legt nahe, dass der Muskeldehnungsreflex vor allem Störeffekte kleiner Amplitude kompensiert und keine größeren Längenänderungen.

I a-Afferenzen wirken auf Antagonisten hemmend I a-Afferenzen haben nicht nur monosynaptischen Kontakt mit Motoneuronen des Agonisten, sondern über Kollateralen auch mit bestimmten Interneuronen. Diese hemmen α-Motoneurone von Muskeln, die Gegenspieler (Antagonisten) zu dem Muskel sind, aus dem die I aAfferenz stammt (inhibitorische I a-Interneurone, Abb. 26.6 B). Funktionell bedeutet dies, dass mit Aktivierung der Spindelafferenz Agonisten monosynaptisch gefördert und deren Antagonisten disynaptisch gehemmt werden (reziproke Hemmung). Wichtig ist die reziproke Hemmung bei alternierenden Bewegungen (z. B. Wechsel von Flexion und Extension). In diesen Fällen kann sie dazu beitragen, dass keine bremsenden Dehnungsreflexe im Antagonisten entstehen (der ja durch die Kontraktion des Agonisten gedehnt wird). Die Unterdrückung des Antagonisten ist demnach in Form einer Vorwärtshemmung automatisch an Impulse in I a-Afferenzen des Agonisten gebunden, bei-

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26.3 Spinalmotorische Elemente und ihre Funktionen

absteigende Antriebe Aktivierung der Spindel erhöhte Ia-Aktivität

hemmendes Ia-Interneuron

erhöhte a-Aktivität (Muskeldehnungsreflex) Ia-Afferenz g-Motoneuron

Dehnung der Muskelspindel

Kontraktion des M. triceps surae

a-Motoneurone

Muskelspindel Strecker

Kraftvektor nach vorne

Beuger Rückkehr zur Normalstellung

A B

Abb. 26.6 Muskeldehnungsreflex, reziproke Hemmung und -Muskelspindelschleife. A Schema des längenstabilisierenden Regelkreises. B Reziproke Hemmung antagonistischer Motoneurone über das inhibitorische I a-Interneuron

spielsweise beim Einsatz der γ-Spindelschleife (s. unten und Abb. 26.6 B). Bei spastischen Lähmungen (S. 751) scheint die reziproke Hemmung abgeschwächt zu sein, so dass Willkürbewegungen mit interferierenden Dehnungsreflexen in Antagonisten einhergehen. Für die Stützmotorik spielt die reziproke Hemmung keine wesentliche Rolle; in derartigen Situationen (z. B. Heben von Lasten im Stehen) werden Flexoren zusätzlich zum Extensordehnungsreflex aktiviert. Diese Koaktivierung von Extensoren und Flexoren stabilisiert die Gelenke und verleiht der Extremität die erforderliche pfeilerartige Stützfunktion. Unter derartigen Umständen ist es sogar nützlich, den inhibitorischen I a-Weg deszendierend abzuschalten, z. B. über Renshaw-Interneurone (S. 748).

-Motoneurone werden bei langsamen Bewegungen mit aktiviert Die Bedeutung der I a-Afferenz für den Muskeldehnungsreflex und damit für die Körperhaltung ist offensichtlich. Schwierig ist hingegen zu beurteilen, ob die Muskelspindeln über ihre mono- und disynaptischen Verbindungen auch eine Rolle bei der Zielmotorik spielen, weil genaue Messungen der Interaktion spinaler Elemente bei gleichzeitig ablaufenden natürlichen Bewegungen fast unmöglich sind. Entsprechend dem Größenprinzip (S. 740) sind die kleinen γ-Motoneurone relativ leicht aktivierbar. Daher

(disynaptische Verbindung). Außerdem ist dargestellt, dass absteigende Aktivierung der γ-Motoneurone über die Spindelschleife α-Motoneurone indirekt erregt (Summation mit direkt absteigenden Effekten zu α-Motoneuronen).

nahm man früher an, dass bei Willkürbewegungen zunächst das γ-System erregt würde und dieses in erster Linie über die γ-Spindelschleife die α-Motoneurone aktivieren würde („Servomodell“). Später wurde allerdings entdeckt, dass die Intensität des Erregungszustroms über die γ-Spindelschleife allein nicht ausreicht, α-Motoneurone überschwellig zu erregen; hierzu ist die räumliche Summation mit absteigender, die α-Motoneurone direkt aktivierender Erregung nötig. Ableitungen von Spindelafferenzen bei Menschen haben in der Tat gezeigt, dass γund α-Systeme bei manchen Bewegungen absteigend parallel aktiviert werden ( - -Koaktivierung). Die simultane Aktivierung bedeutet, dass Entlastungseffekte auf die Muskelspindeln, die bei reinen α-Effekten auftreten würden, fusimotorisch kompensiert werden (Abb. 26.5 B, C). Die α-γ-Koppelung bedeutet weiterhin, dass bei Willkürbewegungen die reziproke Hemmung mit den I aInterneuronen automatisch angekoppelt ist (Abb. 26.6 B). Es gibt sogar Motoneurone, die über Kollateralen sowohl motorische Einheiten bilden als auch Spindeln innervieren (Skeletofusimotoneurone, β-Motoneurone); sie sind sozusagen der Extremfall einer strikten α-γ-Koppelung.

Eine völlig rigide Koppelung würde allerdings der Vielfalt fusimotorischer Einflussmöglichkeiten (S. 743) nicht gerecht. Messungen an einem größeren Spektrum natürlicher Bewegungen haben gezeigt, dass der Grad der α-γKoppelung aufgabenbezogen variieren kann. Zur Mitaktivierung des γ-Systems kommt es bevorzugt bei langsamen, weniger bei raschen Bewegungen. Offenbar existiert eine - -Balance, die funktionsabhängig variiert

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745

26 Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik dorsal

Ia-Afferenzen

Reflexhammer

a-Motoneuron A

ventral

T-Reflex-Registrierung 4S

2S

1

40 ms

10S

3

2

S = Vielfaches der Schwellenreizstärke

Reizung des N. tibialis

H-Reflex M-Welle B 35V

1

Ableitung M. triceps surae 50 ms

H

40V

2

60V

H

3

95V

M H

4

samen Muskeldehnungen über entsprechende Gelenkbewegungen, die der Arzt durchführt.

T-Reflex

T-Reflex

3 mV

746

M max

Abb. 26.7 Charakteristika des phasischen Muskeldehnungsreflexes bei adäquater und elektrischer Reizung. A Auslösung des T-Reflexes und Potenziale bei zunehmender Stärke des Hammerschlags. B Auslösung von H-Reflex, M-Welle und entsprechenden Potenzialen bei zunehmender elektrischer Reizstärke.

wird. Wenn sich im Rahmen eines komplexen Bewegungsablaufs die Funktion eines Muskels von Bewegen in Halten ändert, läuft die Balance von reinen α-Effekten in Richtung auf γ-Ankoppelung. Letzteres gilt auch für langsame Präzisionsbewegungen, die oftmals durch stabilisierende Aktivität in Antagonisten mit kontrolliert werden und die volle Präzision der Spindelkontrolle benötigen. Rasche, sog. ballistische Bewegungen hingegen sind komplett vorprogrammiert und laufen so schnell ab, dass eine Überwachung durch den Längenrezeptor wegen der benötigten Laufzeit zu spät käme und keinen sinnvollen Beitrag liefern könnte.

Dehnungsreflexe sind durch mechanische oder elektrische Reizung auslösbar Muskeldehnungsreflexe haben phasische und tonische Anteile. Den phasischen Reflex kann man adäquat (Reizung der Ia-Rezeptoren, T-Reflex) oder inadäquat (elektrische Reizung der Ia-Fasern, H-Reflex) auslösen. Die tonische Komponente testet man mit relativ lang-

Durch einen Schlag mit einem Reflexhammer auf eine Muskelsehne kann man eine kurzdauernde Kontraktion auslösen, ähnlich einer Einzelzuckung (T-Reflex, von „tendon“). Der Hammerschlag dehnt den Muskel kurzfristig und aktiviert synchron die Muskelspindeln. Es handelt sich also bei der Reflexzuckung um die phasische Komponente des Muskeldehnungsreflexes. Die korrekte Bezeichnung ist daher „Dehnungsreflex“ und nicht „Sehnenreflex“. Neben der rein klinischen Beobachtung kann man mit Hilfe geeigneter Verstärker und Registriergeräte über dem Muskel wie beim EMG (S. 740) auch ein Reflexpotenzial messen (Abb. 26.7 A). Beim gesunden Erwachsenen beträgt die Latenzzeit, d. h. die Zeit zwischen Reizung und Auftreten des Reflexpotenzials bei den Unterschenkelstreckern 30 – 40 ms. Sie ist vor allem abhängig von der Länge des Leitungsstrangs (Größe der Versuchsperson, Distanz zwischen Muskel und Rückenmark) und der Temperatur. Die Amplitude des Reflexpotenzials ist Ausdruck der Zahl synchron aktivierter α-Motoneurone; sie ist damit abhängig von der Reizstärke, von der Empfindlichkeit der Spindelrezeptoren und von der Summation von Erregung und Hemmung unterschiedlichen Ursprungs am α-Motoneuron.

H-Reflex Der Reflexweg des Muskeldehnungsreflexes kann auch durch elektrische Reizung der I a-Fasern aktiviert werden. Nach dem Entdecker, dem Freiburger Physiologen Paul Hoffman, bezeichnet man dies als H-Reflex. Abb. 26.7 B zeigt die experimentelle Anordnung und Potenzialregistrierungen bei Reizung des N. tibialis mit zunehmender Reizstärke. Bei geringer Reizstärke werden nur die dicken I a-Fasern erregt; es tritt eine reflektorische EMG-Welle mit einer Latenz von 32 ms auf (Abb. 26.7 B,1, H-Reflex). Steigerung der Reizstärke erhöht die Amplitude des Reflexsummenpotenzials, weil eine größere Zahl von I aFasern erregt wird (Abb. 26.7 B, 2). Sobald die Reizung nicht nur die I a-Fasern, sondern auch α-Motoaxone aktiviert (Abb. 26.7 B, 3), erscheint mit kürzerer Latenz eine „M“-Welle, die dadurch zustande kommt, dass Aktionspotenziale der Motoaxone den Muskel über die neuromuskuläre Synapse unmittelbar erregen. Parallel zum Anwachsen der M-Welle nimmt mit steigender Reizstärke die H-Reflex-Amplitude ab, bis schließlich nur noch die maximale M-Welle (Mmax) übrig bleibt (Abb. 26.7 B, 4). Die Amplitudenabnahme des Reflexpotenzials beruht darauf, dass es durch die rückläufige, „antidrome“ Erregung der Motoaxone ausgelöscht wird (Kollision der Aktionspotenziale und Refraktärität). Mit Hilfe des HReflexes kann man die Intaktheit des monosynaptischen Reflexbogens relativ unabhängig von Rezeptoreinflüssen testen.

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26.3 Spinalmotorische Elemente und ihre Funktionen

Tonischer Muskeldehnungsreflex Beim entspannten Gesunden ist die Erregbarkeit spinaler Reflexwege gering, so dass tonische Dehnungsreflexe nicht ausgelöst werden können. Nur bei Vordepolarisation der α-Motoneurone (z. B. bei Halteinnervation), vibrationsinduziert oder bei pathologischer Steigerung des Muskeltonus werden sie nachweisbar. Die Rigidität des Parkinson-Kranken (S. 767) äußert sich in erhöhten tonischen Muskeldehnungsreflexen (im Gegensatz zur Spastik [S. 751] unabhängig von der Geschwindigkeit der Dehnung).

Vibrationsreflex Vibration (100 Hz) eines Muskels löst eine verzögert einsetzende reflektorische Kontraktion aus. Im EMG findet man asynchrone Entladungen wie bei tonischen Dehnungsreflexen. Daher wird der Reflex auch als „tonischer Vibrationsreflex“ bezeichnet. In Wirklichkeit werden die extrem vibrationsempfindlichen I a-Afferenzen erregt. Die Antwort erfolgt nicht synchron zur Vibrationsfrequenz, weil Motoneurone einem Eingangssignal von 100 Hz nicht zeitgetreu folgen können (Nachhyperpolarisation des Aktionspotenzials und Renshaw-Hemmung, S. 748).

I b-Afferenzen rufen autogene Hemmung in Extensoren hervor I b-Afferenzen haben keine monosynaptischen Verbindungen zu Motoneuronen, sondern hemmen agonistische Motoneurone di- und trisynaptisch (autogene Hemmung). Diesem Reflexweg kann man eine spannungsstabilisierende Funktion zuschreiben: Erhöhung der Muskelspannung bei Kontraktionen führt zur Aktivierung von Sehnenorganen, deren Entladung zur Hemmung der Motoneurone und damit zum Nachlassen der Spannung. Bei aktiver Muskelkontraktion werden Sehnenorgane schon von einzelnen motorischen Einheiten „rekrutiert“. Daher ist es wahrscheinlich, dass das I b-System ähnlich wie die I a-Afferenz feinmotorische Funktionen hat. I b-Afferenzen wirken nicht nur hemmend, sondern auch erregend. Die exzitatorischen Verbindungen des I bSystems sind asymmetrisch und bevorzugen die Flexoren. I b-Afferenzen der Extensoren kommen beim Gehen und Laufen am Ende der Standphase ins Spiel. Ihre asymmetrisch verteilten Wirkungen tragen dazu bei, dass die Standphase (Extension) beendet und die Schwungphase (Flexion des Beins) eingeleitet wird.

Fremdreflexe sind polysynaptisch verschaltet Neben den bisher besprochenen Verbindungen gibt es Reflexwege, die über längere Ketten von Interneuronen und mehrere Rückenmarksegmente laufen (Abb. 26.8 A, 26.11). Bekanntestes Beispiel eines derartigen polysynaptischen Reflexes ist der Beugereflex. Der Reflexerfolg besteht aus einer geordneten Abfolge von Kontraktionen mehrerer Beugemuskeln an mehreren Gelenken, die zur Beugebewegung einer ganzen Extremität führt. Dieser Reflex, der durch schmerzhafte Reize ausgelöst werden kann, ist ein nozizeptiver Schutzmechanismus, da er die Entfernung eines bedrohten Körperteils von der Noxe

oder eine Fluchtbewegung ermöglicht. Für eine koordinierte Fluchtbewegung ist wichtig, dass der Beugereflex nicht nur ein reziprokes Muster erkennen lässt, d. h. dass während der Beugung die Strecker gehemmt werden. Darüber hinaus erfasst ein umgekehrt reziprokes Muster auch die Gegenseite: Kontralateral werden die Strecker aktiviert und die Beuger gehemmt (gekreuzter Streckreflex). Damit kann – funktionell mit der Beugebewegung abgestimmt – der Rumpf über das gegenseitige Bein abgestützt werden. Beugereflex und gekreuzter Streckreflex werden nicht nur über nozizeptive Afferenzen ausgelöst, sondern auch durch Mechanoafferenzen der Fasergruppen III und IV. In diesem Fall erhalten die Reflexmuster besondere Bedeutung für Gangmotorik und Laufbewegungen (Lokomotion, s. u.). Neben dem Beugereflex gibt es eine große Zahl weiterer polysynaptischer Reflexe (z.B. Bauchhaut-, Husten-, Nies-, Schluck-, Saugreflex). Auch Reflexe im vegetativen Nervensystem können durch somatische Afferenzen ausgelöst werden (somatovegetative Reflexe, z. B. Erhöhung der Herzfrequenz bei Schmerzreizen). Polysynaptische Reflexe zeigen oft ausgeprägte Summation (erst mehrere, einzeln unterschwellige Reize führen zum Reflexerfolg; die Reflexzeit verkürzt sich bei weiteren Reizen), aber auch Habituation (Verminderung des Reflexerfolgs bei gleichförmigen, aufeinanderfolgenden Reizen). Diese Eigenschaften erklären sich durch räumliche und zeitliche Summation an den zahlreichen erregenden bzw. hemmenden Interneuronen. Im klinischen Sprachgebrauch werden polysynaptische Reflexe meist als Fremdreflexe zusammengefasst und den (monosynaptischen) Eigenreflexen gegenübergestellt. Bei Eigenreflexen sind Auslöse- und Erfolgsorgan identisch (Muskel), bei Fremdreflexen nicht (z. B. Auslösung von der Haut, Reflexerfolg im Muskel). Vom akademischen Standpunkt aus ist diese Einteilung insofern nur teilweise richtig, als es auch polysynaptische „Eigenreflexe“ gibt, die allerdings klinisch bedeutungslos sind. Diagnostisch wichtig ist, dass sich bei Schädigung absteigender Bahnen Eigenund Fremdreflexe invers verändern, d. h. gesteigerte Muskeldehnungsreflexe gehen mit abgeschwächten Bauchhautreflexen einher (S. 752). Als pathologische Reflexe bezeichnet man reflektorische Antworten, die beim Gesunden nicht vorkommen. Bekanntestes Beispiel ist das Babinski-Zeichen, das aus einer Dorsalflexion der Großzehe beim Bestreichen des seitlichen Fußsohlenrandes besteht, typischerweise verbunden mit Spreizung der übrigen Zehen. Säuglinge zeigen ähnliche Reflexantworten, während gesunde Erwachsene auf diesen Reiz hin die Zehen plantarflektieren oder den Fuß wegziehen.

Spinale Eingangs- und Ausgangsfunktionen werden spezifisch reguliert Auf der Eingangsseite des Rückenmarks aktivieren Primärafferenzen außer den bisher beschriebenen Reflexverbindungen noch Verschaltungen, die den spinalafferenten Eingang hemmen (präsynaptische Hemmung, Kap. 5). Auf der Ausgangsseite geben Motoaxone intra-

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747

748

26 Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik

Segment L3

+

––

supraspinales Kommando: „Extension“

Afferenzen III, IV

kontralaterale Afferenzen II, III, IV

Motoneurone Segment L5

–

Vestibulospinaltrakt

+

Interneurone

Beuger Strecker

Interneuron letzter Ordnung

Haut

Extension

Flexion Extensormotoneuron

A B

Abb. 26.8 Verschaltung von Beugereflex und gekreuztem Streckreflex. A Polysynaptisches Muster mit Aktivierung von Flexoren ipsilateral und von Extensoren kontralateral bei Reizung von Afferenzen der Gruppen III und IV. B Konvergenz erregender Zuströme vom Vestibulospinal-

spinal Kollateralen ab, die Interneurone aktivieren. Diese Interneurone hemmen rückläufig Motoneurone. Daher bezeichnet man diesen Typ postsynaptischer Hemmung als rekurrente Hemmung (nach ihrem Entdecker, einem New Yorker Neurophysiologen, auch als Renshaw-Hemmung). Präsynaptische und rekurrente Hemmung wirken als Erregungsbegrenzer am spinalen Eingang bzw. Ausgang.

Präsynaptische Hemmung Die Reflexwege der präsynaptischen Hemmung (Abb. 26.9) laufen von Primärafferenzen über Interneurone und axoaxonale Synapsen zu afferenten Terminalen, sowohl in Form einer Vorwärts- als auch einer Rückwärtshemmung. Die Rückwärtshemmung erfasst den gleichen, bereits erregten Informationskanal und dient als Umfeldhemmung der Kontrastverschärfung. Die Vorwärtshemmung betrifft andere Informationsqualitäten als den erregten Informationskanal (z. B. I b-Afferenzen hemmen I a-Afferenzen) und schaltet störende segmentale Eingangssignale ab. Die präsynaptische Hemmung unterliegt absteigenden Kontrollmechanismen, deren funktionelle

trakt und von kontralateralen Afferenzen auf ein vor dem Extensormotoneuron liegendes Interneuron (Interneurone letzter Ordnung, auch Bestandteil des gekreuzten Streckreflexes). Vgl. multimodale Konvergenz (S. 749).

Bedeutung allerdings ungeklärt ist. Pathophysiologisch gibt es Hinweise, dass die präsynaptische Hemmung beim spinalen Schock gesteigert und bei der Spastik herabgesetzt ist.

Renshaw-Hemmung Inhibitorische I a-Interneurone projizieren auf antagonistische Motoneurone (Abb. 26.6 B, 26.9) und vermitteln eine reziproke Hemmung (S. 744). Im Gegensatz dazu findet man die Renshaw-Hemmung (rekurrente Hemmung) vor allem zwischen agonistischen und synergistischen Motoneuronen. Da sie außerdem vorwiegend von phasischen auf tonische α-Motoneurone gerichtet ist, hat sie vermutlich Bedeutung für die Regulierung der Kraftentwicklung im Rahmen der Stützmotorik. Parallel zu agonistischen Motoneuronen hemmen Renshaw-Zellen auch die inhibitorischen I a-Interneurone (Abb. 26.9) und damit die reziproke Hemmung (auch dies ist wichtig für die Stützmotorik). Wesentlich ist in diesem Zusammenhang die zentrale Kontrolle der Renshaw-Zellen. Mit ihrer Hilfe kann die Muskelkraft an funktionell unterschiedliche Erfordernis-

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26.3 Spinalmotorische Elemente und ihre Funktionen zentrale Kontrolle der präsynaptischen der RenshawHemmung Zellen Ib-Afferenz

Ia-Afferenz

Rückwärtshemmung Interneurone der präsynaptischen Hemmung

inhibitorische Ia-Interneurone

Vorwärtshemmung RenshawZellen

RenshawZellen

a-Motoneurone Flexor

a-Motoneuron Extensor

erregend hemmend erregend oder hemmend

Abb. 26.9 Verschaltung von präsynaptischer und rekurrenter Hemmung. Interneurone der präsynaptischen Hemmung hemmen den afferenten Eingang an den Terminalen. Als Beispiel gezeichnet: präsynaptische Hemmung der I bAfferenzen (Rückwärtshemmung) bzw. I a-Afferenzen (Vorwärtshemmung), ausgelöst vom I b-Eingang (unterschiedliche Interneuron-Populationen). Renshaw-Zellen werden von Motoneuronen aktiviert und hemmen diese sowie inhibitorische I a-Interneurone rückläufig. Präsynaptische Hemmung und Renshaw-Zellen werden absteigend kontrolliert.

se angepasst werden. Zentrale Aktivierung der RenshawZellen bedeutet vermehrte Hemmung des motorischen Ausgangs. In dieser Situation werden nur geringe Kräfte entwickelt, welche aber fein abgestimmt werden können. Bei Hemmung der Renshaw-Zellen kann umgekehrt der Ausgang wesentlich größere Kräfte produzieren. Untersuchungen an Menschen haben gezeigt, dass zentrale Antriebe zu Renshaw-Zellen in unterschiedlichen motorischen Situationen variieren, und es gibt Hinweise, dass bei spastischen Lähmungen die Fähigkeit verloren gegangen ist, die Renshaw-Hemmung absteigend zu modulieren.

Spinale Verschaltungen vermitteln mehr als nur Reflexe Reflexe werden durch selektive Erregung bestimmter Afferenzen ausgelöst. Darüber hinaus sind Reflexverschaltungen der supraspinalen Motorik zugängig. Ein bereits behandeltes Beispiel ist die γ-Spindelschleife mit ihrer monosynaptischen Verknüpfung mit Motoneuronen

(S. 745). Genauso wichtig ist die Nutzung polysynaptischer spinaler Verschaltungen durch absteigende Bahnen. Ein wesentliches Prinzip dabei ist, dass Entladungen der Interneurone davon abhängen, dass sich an ihnen EPSP und IPSP (exzitatorische und inhibitorische postsynaptische Potenziale) unterschiedlicher segmentaler und supraspinaler Herkunft räumlich und zeitlich summieren. Auf diese Weise werden verschiedenartige spinalafferente Informationen (multisensorische Konvergenz) automatisch in den motorischen Ablauf einbezogen. Jede Bewegung aktiviert Rezeptoren in Muskeln, Gelenken, Faszien und Haut. Deren Erregungsmuster können je nach Stand des Bewegungsablaufs die Bewegung unterstützen oder (bei hemmenden Einflüssen) abschalten. Der motorische Vorgang selbst erzeugt also positive oder negative Rückkopplungen, die unmittelbar, d. h. ohne dass supraspinale Erregungsschleifen benutzt werden, wirksam werden können. Das Prinzip der interneuronalen multisensorischen Konvergenz erläutert Abb. 26.8 B am Beispiel des gekreuzten Streckreflexes. Ein absteigendes Kommando „Abstützen des nicht gebeugten Beins“ aktiviert mit Hilfe des vestibulospinalen Trakts (Tab. 26.3) Extensormotoneurone dieses Beins. Die gleichzeitige Beugung des kontralateralen Beins ruft Entladungen in Mechanoafferenzen hervor, die die absteigende Erregung am Interneuron unterstützen. Die multisensorische Konvergenz (bei Beteiligung nichtafferenter Quellen auch multimodale Konvergenz genannt) macht deutlich, warum es von Vorteil ist, dass das Bewegungsmuster des Beugereflexes nicht nur nozizeptiv, sondern auch durch Mechanoafferenzen der Fasergruppen II, III, IV ausgelöst werden kann. Alle diese Afferenzen konvergieren auf Interneurone, die Bestandteil der Beugereflexverschaltung sind. Damit kann ein und derselbe interneuronale Baustein einmal für nozizeptive Reflexe und zum anderen für Willkürbewegungen und Lokomotion benutzt werden.

Spinal-rhythmische Aktivität wird für die Lokomotion genutzt Die multisensorische Konvergenz und ihre Integration mit absteigenden Einflüssen zeigt, dass das Rückenmark mehr als Reflexe vermittelt. Ein wichtiges Beispiel ist die Fortbewegung des Körpers – die Lokomotion – in Form von rhythmischem Gehen, Laufen oder Schwimmen (Abb. 26.10 A). Tierexperimentelle Untersuchungen haben gezeigt, dass spinale Verschaltungen in der Lage sind, rhythmische Aktivitätsmuster zu erzeugen (Rhythmusgenerator). Jede Extremität hat als Teil des Rhythmusgenerators ein „Zentrum“ bzw. Halbzentrum, das mit den Zentren der anderen Extremitäten wechselseitig und variabel verbunden ist. Damit wird bei Vierbeinern die Koordination der Extremitäten an die Geschwindigkeit der Fortbewegung angepasst. Beim langsamen Gehen erfolgt ein rhythmischer Wechsel rechts/links und hinten/vorne, während im Galopp die Hinter- bzw. Vorderbeine synchron laufen. Neuronales Element ist wahrscheinlich die Verschaltung des Beugereflexes, die eine geordnete Kontraktion aller Beugemuskeln einer Extremität ermöglicht – und als gekreuzter Streckreflex eine Streckbewegung auf der

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749

750

26 Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik A Schrittzyklus in %

B lokomotorische Aktivität Stand (Extension)

Schwung (Flexion)

tonischer Eingang

hemmende Interneurone

EMG-Aktivität (rechtes Bein)

erregende Interneurone

Beuger

Hüfte Flexormotoneuron

Strecker Beuger

Knie

Strecker Beuger

Fuß

Strecker

Extensormotoneuron 0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

Abb. 26.10 Schrittzyklus und Halbzentrenmodell der Lokomotion. A Phasen des Schrittzyklus beim Gehen. Zyklus unterteilt in Standphase mit Extension (Bodenkontakt) und Schwungphase mit Flexion. Zeitpunkt und Dauer der EMGAktivität in Flexoren und Extensoren (des rechten Beines) durch Balken angezeigt. B Alternierende lokomotorische Aktivität in Flexor- und Extensormotorneuronen. Rhythmi-

Gegenseite. Zum einen hat der Reflex die oben erläuterte nozizeptive Funktion. Zum anderen ist er aber auch Bestandteil des spinalen Rhythmusgenerators. Dieser ist in seinem Rhythmus veränderlich, und seine Funktion kann durch absteigende monoaminerge Systeme des Hirnstamms mitbestimmt werden. Außerdem kann Lokomotion durch elektrische Reizung einer umschriebenen Region im Mittelhirn (lokomotorisches Zentrum) ausgelöst werden. Da die ausgelösten Laufbewegungen nicht im Rhythmus der Reizfrequenz erfolgen, müssen die absteigenden, gleichmäßigen Impulsmuster spinal in rhythmische motorische Ausgangssignale umgesetzt werden (Abb. 26.10 B). Die multisensorische Konvergenz im Beugereflex stellt sicher, dass neben den absteigend-aktivierenden Einflüssen auch segmental kontrollierende Mechanismen automatisch wirksam werden (beispielsweise beim Stolpern). Im Rahmen der neurologischen Rehabilitation hat man sich in letzter Zeit den spinalen Komponenten der Lokomotion zugewendet. Vermutlich wegen des Zweifüßlerganges (erhöhte Abhängigkeit der Körperhaltung von höheren Zentren) sind beim Menschen die Freiheitsgrade des Rhythmusgenerators allerdings eingeschränkt. Trotzdem sind bei Patienten mit partiellen zentralen Lähmungen lokomotorische Bewegungen unter elektrischer Nervenreizung und Laufbandtraining möglich und eröffnen neue medizinische Aspekte.

100%

sche Muster durch gegenseitige Hemmung von Halbzentren (bestehend aus Inter- und Motoneuronen) verursacht. Umsetzen eines tonischen Eingangs in Rhythmik erfolgt durch spinalen Schaltmechanismus, der Entladungen des aktiven Halbzentrums zeitlich begrenzt. Aufgrund der damit nachlassenden Hemmung kann das andere Halbzentrum aktiv werden, usw. …

26.3.5

Integration absteigender und Transfer aufsteigender Information

Supraspinale Strukturen kontrollieren über absteigende Bahnen die Aktivierbarkeit spinaler Neuronensysteme und übermitteln motorische Programme. Dazu benutzen sie spinale interneuronale Verbindungen, an denen sie mit segmentalen Eingängen konvergieren (Zusammenführen unterschiedlicher Information). Daneben gibt es absteigende monosynaptische Verbindungen zu Motoneuronen, mit denen die interneuronalen „Bausteine“ des Rückenmarks zu bestimmten Zwecken (z. B. feinmotorische Fingerbewegungen) umgangen werden können. Um ihre Funktion erfüllen zu können, benötigen die supraspinalen motorischen Systeme genaue Information über Art, Umfang und zeitliche Verhältnisse von Erregungseinstrom und -verarbeitung im Rückenmark. Zu diesem Zweck werden Impulse der Primärafferenzen und der Interneurone – parallel zu den Reflexabläufen – auf Zellen übertragen, deren Axone als aufsteigende motorische Bahnen zum Kleinhirn und zur Retikulärformation ziehen. Sie ergänzen die Trakte der somatischen Sensibilität.

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26.3 Spinalmotorische Elemente und ihre Funktionen

Absteigende Verbindungen benutzen spinale Verschaltungen Die absteigenden motorischen Bahnen sind Gegenstand von Kap. 26.4. Vorab soll hier das Prinzip der Integration dieser absteigenden Information mit spinalen Mechanismen erläutert werden. Typischerweise werden absteigende Impulsmuster mit segmentalen Informationen an spinalen Interneuronen verrechnet, die ihrerseits nachgeschaltete Zellen spezifisch beeinflussen. Auf diese Weise können bestimmte Populationen von Interneuronen als funktionelle Bausteine eingesetzt und dem motorischen Kommando angepasst werden. Letztlich werden auf diese Weise Muskeln oder Muskelgruppen in funktionell sinnvollen Mustern „angewählt“. Die relativ seltene absteigende monosynaptische Verbindung ist qualitativen Spezialaufgaben vorbehalten. Angriff an Interneuronen (Abb. 26.11,1 a, b). Über sie werden bestimmte Motoneurone (ein Muskel) oder Gruppen von Motoneuronen (Muskelgruppen, z. B. Kommando „Supination der Hand“) angesteuert. Je weiter entfernt vom Motoneuron die Ansteuerung erfolgt, desto komplexer sind die resultierenden Bewegungsmuster. Durch die Konvergenz mit afferenten Informationen wird der aktuelle Ablauf der Bewegung automatisch mitberücksichtigt. Direkter Angriff an Motoneuronen (Abb. 26.11, 2). Eine monosynaptische Ansteuerung von Motoneuronen erfolgt, wenn die absteigenden Kommandos von peripher nicht modifiziert werden dürfen. In zwei Fällen ist dies besonders wichtig: – wenn eine bestimmte Körperhaltung als absolut zuverlässige Voraussetzung einer Bewegung benötigt wird (z. B. Einflüsse auf Motoneurone des Rumpfes und der proximalen Extremitäten durch den Vestibulospinaltrakt), – wenn ein spezieller Muskel aus einer umfassenden Bewegung selektiv herausgelöst werden soll (z. B. Bewegung individueller Finger, Innervation von Motoneuronen distaler Extremitätenabschnitte durch den Kortikospinaltrakt). Verstellmöglichkeiten am Eingang (Abb. 26.11, 3) und am Ausgang (Abb. 26.11, 4) erlauben eine Einstellung der Eingangs- bzw. Ausgangsempfindlichkeit der spinalen Informationsübertragung (S. 747).

Läsionen absteigender Bahnen führen zu Spinalisierungssyndromen Durchtrennung des Rückenmarks führt zum Querschnittsyndrom. Die Unterbrechung der langen Leitungsbahnen bewirkt einen bleibenden Ausfall von Willkürmotorik und somatischer Sensibilität unterhalb der Läsion. Außerdem sind kaudal des betroffenen Segments die motorischen und vegetativen Reflexe zunächst nicht mehr auslösbar: Querschnittsareflexie (sog. spinaler Schock). Im weiteren Verlauf werden manche Reflexe wieder auslösbar (insbesondere phasische Beugereflexe), und das Babinski-Zeichen (s. S. 747) taucht auf. Über Wochen und Monate steigert sich die Reflexerregbarkeit zu Massenreflexen:

absteigende Bahnen

Afferenzen der Gruppen II,III,IV

3

1b 1a

Ia-Afferenz von der Muskelspindel des Extensors

Interneuron erster Ordnung

2 4

Interneuron präsynaptischer Hemmung

Interneuron letzter Ordnung RenshawZelle g-Motoneuron zur Muskelspindel

Extensormotoneuron Flexormotoneuron

erregend hemmend erregend oder hemmend

Abb. 26.11 Spinale Angriffsmöglichkeiten absteigender Bahnen. Interneuronale Konvergenz absteigender Effekte und afferenter Signale nahe (1 a) am Eingang oder (1 b) nahe am Flexormotoneuron. 1 a hat wegen kollateraler Verschaltung der Interneurone wesentlich komplexere Wirkungen als 1 b. Andere Möglichkeiten sind spezielle Effekte auf Motoneurone (2), Eingangs- (3) und Ausgangskontrolle (4).

Reflexentladungen in zahlreichen Beugemuskeln, später auch in Extensoren und im somatovegetativen Bereich (Blasen- und Mastdarmentleerung), die vor allem durch Hautreize auslösbar sind. Phasische Muskeldehnungsreflexe sind in diesem Stadium ebenfalls gesteigert. Ursache dieser Querschnittshyperreflexie ist vermutlich eine Übererregbarkeit spinaler Interneurone, verursacht durch Aussprossungen erregender segmentaler Afferenzen, die die „herrenlosen“ Synapsen der degenerierten absteigenden Bahnen übernehmen und innervieren. Dadurch werden die Interneurone extrem abhängig vom primärafferenten Eingang. Unvollständige Querschnittlähmungen führen zu variantenreichen Symptomen, z. B. zu vorzugsweisen Sensibilitätsstörungen. Eine spastische Parese (Spas-

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751

752

26 Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik Neuron des aufsteigenden Traktes (spinozerebellär)

Ia-Afferenz

erregend hemmend

a-Motoneuron A

absteigende Bahn

aufsteigende Bahn

Afferenzen II, III, IV Interneurone

a-Motoneuron Flexor a-Motoneuron Extensor

B

Abb. 26.12 Beispiele aufsteigender Bahnen der Sensomotorik. A Aufsteigende Neurone werden monosynaptisch von I a-Afferenzen angesteuert, d. h. sie vermitteln Informationen über den spinalafferenten Eingang. B Interneurone mit aufsteigender Kollaterale informieren über multisensorische Konvergenz im Beugereflexweg.

Tabelle 26.2

tik), d. h. eine Lähmung mit gesteigerten phasischen Dehnungsreflexen aber abgeschwächten Bauchhautreflexen, weist auf eine Läsion absteigender Bahnen hin. Absteigende Bahnen sind etwa bei der amyotrophen Lateralsklerose (ALS) betroffen (s. S. 736). Bei halbseitiger Rückenmarkläsion entsteht das Brown-Séquard-Syndrom (S. 646). Zusätzlich zu den dort beschriebenen Sensibilitätsstörungen (auf der Höhe der Läsion komplette Anästhesie, darunter ipsilateral Ausfall der Tiefensensibilität, kontralateral Ausfall der Schmerz- und Temperaturempfindung) fallen auf der Höhe der Läsion alle Reflexe aus, unterhalb der Läsion finden sich gesteigerte Eigenreflexe und pathologische Reflexe (Babinski), die Bauchhautreflexe erlöschen.

Aufsteigende sensomotorische Bahnen

Typ der Verbindung

Typ der Information

Tractus spinocerebellaris dorsalis (Flechsig): Moosfasern zum Kleinhirn

qualitätsspezifische spinalafferente Informationen; Unterpopulationen von Neuronen monosynaptisch aktiviert von Muskel- bzw. Hautafferenzen

Tractus spinocerebellaris ventralis (Gowers); Moosfasern zum Kleinhirn

Information über I b-Afferenzen; Konvergenz von I a- und I b-Eingängen; multisensorische Konvergenz von Propriozeption, Flexorreflexafferenzen und deszendierenden Aktivitäten

Tractus spinoreticulocerebellaris: vom Nucleus reticularis lateralis als Moosfasern zum Kleinhirn

Information über Interneurone des Beugereflexes; multisensorische Konvergenz

Tractus spinoolivocerebellaris: Kletterfasern zum Kleinhirn

multisensorische Konvergenz an Interneuronen; spezifische

Aufsteigende Bahnen informieren über den Erregungszustand von Afferenzen und Interneuronen Tab. 26.2 und Abb. 26.12 geben eine Übersicht über die verschiedenen Bahnen und Prinzipien aufsteigender Information. Eine schnellleitende, ipsi- und dorsolateral im Rückenmark aufsteigende spinozerebelläre Bahn informiert das Kleinhirn sehr spezifisch über die afferenten Eingänge in das Rückenmark (Abb. 26.12 A). Daneben gibt es mehrere Bahnen, die vor allem den Aktivitätszustand spinaler Interneurone erfassen. Sie informieren höhere Abschnitte auch über die Ergebnisse der interneuronalen multisensorischen/multimodalen Konvergenz und damit über die erfolgreiche oder nicht erfolgreiche Ausführung eines motorischen Kommandos. Am einfachsten geschieht dies über eine aufsteigende Kollaterale des betreffenden Interneurons (Abb. 26.12 B). Beispielsweise befinden sich Gehen und Stehen unter Kontrolle des Kleinhirns, das aus der parallelen Information über die Aktivität von Propriozeptoren und des Lokomotionsnetzwerks ein Korrektursignal entwickelt. Bei Kleinhirnläsionen ist diese Korrektur nicht möglich; es resultieren Instabilitäten des Stehens und Fehler in Geschwindigkeit und Ausmaß der Schritte.

26.4

Supraspinale Kontrolle spinaler Verschaltungen

Die Mechanismen der Stütz-, Gang- und Zielmotorik sind primär im Rückenmark angelegt, benötigen aber für ihren korrekten Einsatz supraspinale Signale. Dafür sind absteigende Bahnen verantwortlich, die die Aktivierbarkeit der spinalen Neuronensysteme kontrollieren und motorische Programme an sie übermitteln. Zwei Projektionen sind für diese Kontrolle der Motorik entscheidend: das ventromediale und das dorsolaterale System. Das ventromediale System geht von den Vestibulariskernen und Teilen der Retikulärformation des Hirnstamms, in geringem Umfang auch vom Kortex aus und ist im Rückenmark ventromedial angeordnet. Es reguliert die Körperhaltung und ihre Anpassung an Bewegungserfordernisse. Vestibulo- und retikulospinale Verbindungen ermöglichen sowohl Feedbackkontrollen (Hal-

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26.4 Supraspinale Kontrolle spinaler Verschaltungen Tabelle 26.3

Supraspinale Kontrolle der Spinalmotorik

Typ der Verbindung

Spinale Effekte und Funktion

Ventromediale Bahnen lateraler Vestibulospinaltrakt vom Deiters-Kern, schnellleitend

Förderung Extensorentonus (mono- und polysynaptische EPSP in Motoneuronen), Regulation Stützmotorik

Retikulospinaltrakt aus Retikulärformation

Modulation Haltemotorik (Erregung von Motoneuronen zu proximalen Muskeln)

ventraler Kortikospinaltrakt von Kortexarealen für Rumpf und proximale Extremitäten

Extensorenförderung, Regulation Stand- und Gangmotorik

medialer Vestibulospinaltrakt aus medialem Vestibulariskern

Regulation Kopfhaltung, Halsreflexe, Auge-Kopf-Koordination

Dorsolaterale Bahnen Rubrospinaltrakt vom Nucleus ruber

zielmotorische Kooperation mit lateralem Kortikospinaltrakt, polysynaptische Aktivierung v. a. von Flexor-Motoneuronen zu distalen Muskeln

Retikulospinales System vom Magoun-Zentrum

Hemmung interneuronaler Reflextransmission

Lateraler Kortikospinaltrakt von motorischen Arealen des Kortex

Kooperation mit Rubospinaltrakt: polysynaptische Aktivierung v. a. von Flexor-Motoneuronen. Schnellleitende Komponente distale Feinmotorik, Unabhängigkeit der Fingerbewegungen; monosynaptische EPSP in Motoneuronen distaler Muskeln

Modulatorische Bahnen Serotoninerges System aus Raphekernen, unmyelinisiert

Hemmung polysynaptischer Reflexübertragung, Tonusregulation, Schmerzkontrolle, Lokomotion

Noradrenerges System vom Locus coeruleus, unmyelinisiert

Hemmung polysynaptischer Reflexübertragung, absteigende nozizeptive Kontrolle, Lokomotion

tungskorrektur auf periphere Signale hin) als auch Vorwärtsregulationen (zentrale Antizipation einer Haltungsinstabilität). Die supraspinale Modulation wird erkennbar z. B. an tonischen Hals- und Labyrinthreflexen, an der Anpassungsfähigkeit von Lokomotionsmustern und – bei entsprechenden Hirnstammläsionen – an der Dezerebrierungsstarre. Das dorsolaterale Projektionssystem entstammt dem motorischen Kortex, dem N. ruber des Mittelhirns und retikulären Strukturen des Hirnstamms. Der motorische Kortex überträgt seine Wirkungen einerseits direkt ins Rückenmark bzw. zu motorischen Hirnnervenkernen (lateraler kortikospinaler Trakt, kortikobulbäre Verbindungen), andererseits indirekt, z. T. kollateral, über rubrospinale und retikulospinale Bahnen. Die Komponenten des dorsolateralen Systems kooperieren miteinander und beeinflussen bevorzugt die distalen Extremitätenmuskeln im Rahmen der Zielmotorik. Eine monosynaptische kortikomotoneuronale Verbindung zeichnet dabei für die Einsatzmöglichkeit und Präzision einzelner Finger verantwortlich. 26.4.1

Medial und lateral absteigende Verbindungen

Spinale „Bausteine“ ermöglichen wie besprochen die Umsetzung motorischer Programme für Haltung und Bewegung. Dabei spielen sensorisch-kommunikative Rückmel-

dungen als Erfolgskontrolle auf allen Ebenen der Motorik eine Rolle. Insofern ist jede Unterteilung in spinale und supraspinale Motorik artefiziell. Dies bedenkend, behandeln wir nachfolgend die von supraspinal absteigenden Verbindungen mit ihren spinalen Effekten (Tab. 26.3). Ihre Funktionen ergeben sich oft tierexperimentell aus gezielten Läsionen. Dabei haben sich zwei Schwerpunkte herausgeschält: ventromedial bzw. dorsolateral absteigende Systeme. Sie entstammen dem Hirnstamm und dem motorischen Kortex (Abb. 26.13). Der Rotterdamer Neuroanatom Henricus Kuypers untersuchte bei Affen die Ausfallerscheinungen nach einer Durchtrennung im ventromedialen unteren Hirnstamm. Die Tiere hatten große Schwierigkeiten sich aufzurichten, das Gleichgewicht zu halten oder zu laufen. Greifbewegungen hingegen waren relativ gut und unter Einsatz einzelner Finger möglich, sofern sich die Hand a priori in der Nähe des Ziels befand. Bei dorsolateral gelegenen Läsionen hingegen waren gezielte Bewegungen einzelner Finger nicht möglich. Zusätzliche morphologische Studien zeigten, dass im ersteren Fall ventromedial im Vorderstrang absteigende Verbindungen durchtrennt waren, die spinal auch ventromedial endigen. Die Terminalen finden sich im Bereich der Kerne der Motoneurone (und von funktionell zugehörigen Interneuronen), die Muskeln von Rumpf und proximalen Extremitätenabschnitten versorgen (vgl. Abb. 26.2). Die Axone der Interneurone laufen über meh-

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753

26 Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik

Okulomotorik Kleinhirn

Kortex

Läsion

Labyrinth

Vierhügelplatte

Nucleus vestibularis

Kleinhirnvorderlappen

lateralis

Purkinjezellen

Nucleus ruber

mediale pontine Formatio reticularis

superior

vestibulärer Eingang

medialis inferior

Nucleus fastigii

Medulla

Nucleus vestibularis propriozeptiver Eingang

laterale Formatio reticularis

Vestibularapparat

medialer vestibulospinaler Trakt (bilateral)

Rückenmark zervikal

Halsmuskulatur

lateraler vestibulospinaler Trakt (ipsilateral)

spinoretikulär spinovestibulär

754

Rückenmark lumbal

Extensoren der unteren Extremität

Flexoren-Aktivierung nach Läsion vermindert

Extensoren-Aktivierung nach Läsion erhöht

Abb. 26.13 Absteigende motorische Bahnsysteme und Komponenten der Dezerebrierungsstarre. Ursprungsneurone verschiedener Trakte im Kortex bzw. Hirnstamm und ihre Funktionen (vgl. Tab. 27.3). Flexorenfördernde, dorsolaterale Verbindungen im Rückenmark links, extensorenfördernde, ventromediale rechts dargestellt (im Organismus bilateral-symmetrisch vorhanden). Interkollikuläre Hirnstammdurchtrennung führt zur Dezerebrierungsstarre: übermäßige Aktivität der spinalen Extensormotoneurone durch Fortfall retikulospinaler und zerebellofugaler Hemmung sowie durch aufsteigende Aktivierung der exzitatorischen pontinen Retikulärformation.

rere Segmente und oft kollateral zum medialen Vorderhorn der Gegenseite. Dies ergänzt sich mit der teilweise bilateralen Endigung des ventralen Kortikospinaltrakts (S. 761). Das Arrangement ermöglicht die Koordination von Muskelgruppen an Rumpf und proximalen Extremitäten, die für die aufrechte Haltung (insbesondere die auf zwei Beinen fußende) und ihre Anpassung an Bewegungen erforderlich ist. Im Gegensatz dazu nehmen dorsolateral absteigende Systeme Kontakt mit lateral gelegenen Motoneuronen auf

Abb. 26.14 Vestibuläre und propriozeptive Komponenten von Stell- und Haltereflexen. Medialer und lateraler Vestibulariskern sind Ursprung von medialem (bilateral) bzw. lateralem (ipsilateral) vestibulospinalem Trakt. Sie projizieren zu zervikalen bzw. lumbalen Inter- und Motoneuronen. Deszendierende (inferiore) und superiore Kerne haben supraspinale Ziele (u. a. Okulomotorik, vestibulookulärer Reflex). Vestibuläre Information läuft zu allen Kernen; Verschaltungen der propriozeptiven Afferenzen aus Halsmuskeln und Wirbelgelenken sind nicht genau bekannt.

(vor allem über lateral liegende, umschrieben endigende Interneurone), die Muskeln der distalen Extremitätenabschnitte versorgen. Dieses Arrangement ist Basis einer feineren Kontrolle der Hand- und Fingermotorik. 26.4.2

Ventromediale Systeme der Haltungsmotorik

Die Stabilisierung der Körperhaltung entgegen der Schwerkraft – z. B. beim Ballfangen aus dem Lauf heraus – ist ein aktiver Prozess, der auf einem Haltungskontrollsystem basiert, dessen Neurone auf allen Ebenen des ZNS zu finden sind. Besonders wichtig sind dabei Hirnstammstrukturen (Vestibulariskerne, Retikulärformation, Tektum), die multiple Information integrieren und das Resul-

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26.4 Supraspinale Kontrolle spinaler Verschaltungen

rechts

links

C normaler Augenhintergrund

A

rechts

B

links

D Augenhintergrund mit konjugierter Torsion

Abb. 26.15 Symptome bei akutem Ausfall des linken Vestibularnervs (N VIII). „Ocular-Tilt-Reaction“: der Kopf (A) zeigt eine Neigung um 258 nach links. Bei Fixation mit dem rechten Auge (A, B) weist das linke Auge eine abwärts gerichtete vertikale Schielstellung auf. Im Vergleich zum

tat in Form von supraspinalen Reflexen oder modifizierten Programmen bzw. Subprogrammen für die Haltungsregulation nutzen.

Stell- und Haltereflexe stabilisieren die Blickstellung und halten den Körper im Gleichgewicht Die Makulaorgane (Utrikulus und Sakkulus, S. 677) sind Ursprung statischer vestibulärer Reflexe. Die vestibuläre Information wird in vestibulären und retikulären Kernen des Hirnstamms mit propriozeptiver (aus Muskeln, Wirbelgelenken und -bändern des Halses) und optokinetischer Information zusammengefasst. Diese Information über die Position der Augen in der Orbita, des Kopfes im Raum sowie von Rumpf und Extremitäten gegenüber der Schwerkraft wird für posturale Reaktionen genutzt. Posturale Reaktionen sind unbewusst ablaufende Teile motorischen Verhaltens, die auf abgestimmten motorischen Programmen bzw. Subprogrammen basieren. Sie beeinflussen die Stellung des Kopfes, des Rumpfes und der Extremitäten und sichern kontinuierlich Balance und aufrechte Haltung. Teile dieser Programme sind unter der Bezeichnung Stell- und Haltereflexe bekannt. Stellreflexe haben die Funktion, den Blick (Summe aus Kopf- und Augenposition) unabhängig von der Körperlage parallel zum Horizont zu orientieren. Haltereflexe regeln den Muskeltonus an Rumpf und Extremitäten entsprechend der Kopfposition und bereiten durch diese tonische Aktivierung die Körperhaltung auf die nächste Bewegung vor.

Gesunden (C) ist am Augenhintergrund der Patientin in D eine konjugierte Torsion (Zyklorotation) beider Augen im Uhrzeigersinn erkennbar. Modifiziert nach Halmagyi & Gipson, Ann Neurol. 1979; 6: 80 – 83.

Abb. 26.14 zeigt die vestibulären und propriozeptiven Ein- sowie die Ausgänge der Stell- (Okulomotorik) und Haltereflexe (Stützmotorik) aus den Vestibulariskernen. Die vestibuläre Komponente der Haltereflexe bezeichnet man auch als tonische Labyrinth-, die propriozeptive als tonische Halsreflexe. Deutliche Störungen der tonischen Stellreflexe ergeben sich beim akuten Ausfall eines der beiden Gleichgewichtsorgane. Es resultiert eine „Ocular-Tilt-Reaction“ mit Neigung des Kopfes zur kranken Seite sowie vertikaler Divergenz und Zyklorotation der Augen in Richtung der Kopfneigung (Abb. 26.15). Beim Stehen und Gehen (v. a. mit geschlossenen Augen bzw. auf unebenem Boden) besteht eine Fallneigung zur kranken Seite. Die Symptome verlieren sich innerhalb von 2 – 3 Wochen (sog. vestibuläre Kompensation) aufgrund einer zentralnervösen funktionellen Reorganisation der verbliebenen vestibulären, visuellen und propriozeptiven Information. Vestibuläre und propriozeptive Komponenten der statisch-tonischen Reflexe wirken im Halsbereich synergistisch. Wird z. B. der Kopf passiv nach links gekippt, werden die Halsmuskeln der rechten Seite gedehnt und der Kopf über Dehnungsreflexe genauso wieder aufgerichtet wie über vestibuläre Reflexe. Beides sind typische negative Feedback-Reflexe. Bei der Patientin der Abb. 26.15 richtet der rechtsseitige propriozeptive Dehnungsreflex den Kopf nicht auf, weil die höhere Vestibularis-

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755

26 Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik

Hals dorsal flektiert

Halsreflexe

Labyrinthreflexe Hals normal

1

4

2

Hals ventral flektiert

756

5

3

Kopf nach oben

Kopf normal

Kopf nach unten

Abb. 26.16 Gegensinnige Wirkungen tonischer Halsund Labyrinthreflexe auf die Extremitäten. Unterschiedliche Halsbeugungen bei Normalposition des Kopfes zeigen Effekte der tonischen Halsreflexe (1, 3). Unterschiedliche Kopfposition bei neutraler Halsstellung machen Labyrinthreflexe deutlich (4, 5). Gegensinnige Effekte in 1 und 4 bzw. 3 und 5, gleichmäßige Tonusverteilung in 2. In Positionen 1 und 3 befindet sich der Kopf in Normalposition, d. h. keine Eingänge von Seiten des Vestibularapparates, aber Eingänge von den Halsrezeptoren. In Positionen 4 und 5 Hals gestreckt, d. h. Eingänge nur vom Vestibularsystem.

aktivität der rechten Seite (Labyrinthausfall links) vom ZNS als Kopfneigung nach rechts interpretiert wird und einen kompensatorischen, zervikal absteigenden Otolithenreflex nach links auslöst. Andererseits aktivieren die relativ erhöhten Vestibularisentladungen vestibulospinale Neurone, die ipsilateral (d. h. rechts) die Extensoren antreiben. Die tonischen Halsreflexe hingegen erhöhen den Extensortonus der linken und den Flexortonus der rechten Extremitäten. D. h., in den Extremitäten sind die Reflexerfolge von vestibulären und hals-propriozeptiven Eingängen einander entgegengerichtet (Abb. 26.16).

Posturale Programme ermöglichen Stehen und Gehen auf zwei Beinen Noch deutlicher als bei den Stell- und Haltereflexen werden posturale Programme bei Feedforward-Regulationen der Stützmotorik. Hat eine stehende Person die Aufgabe, auf ein Signal hin einen vor ihr befindlichen Handgriff zu ziehen, aktiviert sie etwa 200 ms nach dem Signal den Bizeps, aber schon 70 ms vorher die Strecker am Unterschenkel (Abb. 26.17 A). Das bedeutet, dass die Stützmotorik auch über vorwegnehmende (feedforward) Mechanismen verfügt. Die wegen des Armzugs zu erwartende Vorwärtsbewegung des Körpers wird durch die

Kontraktion des Gastroknemius vorab antagonisiert. Kortikal deszendierende Verbindungen veranlassen sowohl die Kontraktion der Armbeuger als auch der Unterschenkelstrecker. Dabei scheint insbesondere das früher wirksame Kommando zu den unteren Extremitäten indirekt über die Retikulärformation zu laufen. Stützmotorische Abläufe kann man auch mit Hilfe einer beweglichen Plattform und der Registrierung von bewegungsausgelösten EMG-Entladungen verschiedener Muskeln analysieren (Posturographie). Auf eine ruckartige Verschiebung der Plattform hin findet man Entladungen mit Latenzen von 100 – 150 ms, wobei Muskelgruppen an unterschiedlichen Gelenken in geordneter Abfolge sukzessiv aktiviert werden (Abb. 26.17 B). Zuerst werden die distalen Gelenke stabilisiert (d. h. die Aktivität erfasst zuerst Muskelgruppen am Unterschenkel), dann der Oberschenkel, später die Hüfte. Bei Rotationen kann die Hüfte die Führung übernehmen und Ober- und Unterkörper können sich entgegengesetzt bewegen. Wahrscheinlich ist die erste Antwort ein Long-LoopReflex (s. S. 760), der von sequenziell abgerufenen Subprogrammen der Haltungsmotorik gefolgt ist. Abhängig von Situation und Erfahrung ist ein großes und komplexes Spektrum von Subprogrammen variabel einsetz- und kombinierbar.

Die Dezerebrierungsstarre ist Ausdruck einer unkontrolliert gesteigerten Körperhaltung Der britische Physiologe Charles Sherrington hat schon um die Jahrhundertwende im Rahmen grundlegender Reflexstudien die Haltungskontrolle im Tierexperiment mittels Hirnstammläsionen untersucht. Eine Durchtrennung in Höhe der Vierhügel ruft einen exzessiven Muskeltonus in den Extensoren hervor, d. h. in den Muskeln, die der Schwerkraft entgegenwirken. Die Tiere vermögen zu stehen, verlieren aber schon bei leichtem Anstoßen das Gleichgewicht und fallen stocksteif um. Offenbar kontrollieren Strukturen im unteren Hirnstamm und im Pons die spinalen Mechanismen der Stützmotorik. Nach einer rostralen Hirnstammläsion werden sie übermäßig aktiv und von motorischen Programmen des Mittelhirns losgelöst, die normalerweise die Stützmotorik in Bewegungsabläufe und Gleichgewichtsreaktionen einbinden. Das tierexperimentelle Bild hat Ähnlichkeit mit der Dezerebrationshaltung bei manchen Formen des apallischen Syndroms (bei dem der Hirnstamm mit seinen vegetativen Funktionen vom Hirnmantel, Pallium, abgetrennt ist.) Eine Dezerebrationshaltung ist in der Klinik allerdings selten, weil dem apallischen Syndrom meistens ein diffuser Prozess (Hypoxie, Entzündungen) und keine umschriebene Durchtrennung zugrunde liegt. Aus Abb. 26.13 sind die Strukturen ersichtlich, die am Zustandekommen der Dezerebrierungsstarre beteiligt sind. Neurone im Pons (Ursprung des medialen retikulospinalen Trakts) und Neurone des vestibulospinalen Trakts aus dem Deiterskern erregen Extensormotoneurone; medulläre Retikularisneurone hemmen sie und fördern Flexormotoneurone. Die interkollikuläre Läsion

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26.4 Supraspinale Kontrolle spinaler Verschaltungen B 1

Latenzzeit

paraspinale Muskeln

A Rektus abdominis

1 Tonsignal

Hamstring-Muskeln

Ton Rektus femoris

2 EMG

Gastroknemius

Bizeps

Tibialis anterior

Ruck nach hinten 0

200

400 ms

0

100

2

200

ms 300

paraspinale Muskeln

Ton Rektus abdominis Hamstring-Muskeln

3

3

Gastroknemius Rektus femoris Gastroknemius

0

200

400 ms

Tibialis anterior

Ruck nach vorne

Abb. 26.17 Antizipierende Stabilisierung der Körperhaltung und sequenzielle posturale Reaktionen bei externer Störung des Stehens. A Durch Tonsignal (1) ausgelöstes Ziehen am Handgriff ist von Entladungen des M. biceps brachii begleitet (2, gleichgerichtetes EMG, Beginn 200 ms nach dem Ton). Entladungen im Gastroknemius (3) setzen bereits 70 ms vor denjenigen des Bizeps ein. B Ruckartige Rückwärts- (B1) bzw. Vorwärtsbewegung (B2) einer Plattform mit Aufzeichnung des gleichgerichteten EMG (erste

unterbricht kortikale und subkortikale Verbindungen, die die Extensoren-hemmende Retikulärformation normalerweise funktionsfähig machen. Spinale Extensoren erhalten dadurch ein Übergewicht, das sich insofern noch verstärkt, als die pontine Retikulärformation vorwiegend von aufsteigenden Impulsen aktiviert wird, die von der Läsion nicht beeinflusst werden. In die gleiche Richtung geht eine Disinhibition der Deiters-Neurone aufgrund fehlender neokortikaler Antriebe zu den Purkinjezellen der Kleinhirnrinde (vgl. Kap. 26.7). 26.4.3

Dorsolaterale Systeme der Zielmotorik

Sherrington’s interkollikuläre Durchtrennung zeigt, dass mit Hilfe des Hirnstamms Elemente der Körperhaltung aktiv sein können, wenn auch übertrieben stark und ohne Bezug zur physiologischen Situation. Intendierte zielmotorische Bewegungen sind demgegenüber auf höher gelegene Strukturen des ZNS angewiesen. Beispielsweise ist für die Ausführung derartiger Bewegungen die motorische Großhirnrinde erforderlich (Kap. 26.5).

0

100

200

ms 300

80 ms grau unterlegt) von Muskeln auf der dorsalen (EMGSpur nach oben, rot) und ventralen (EMG-Spur nach unten, blau) Körperseite. Start der Plattformbewegung bei 0 ms, erste EMG-Aktivität am Ende der Grauzone. Dorsale Muskeln bei Vorwärtsbewegung, ventrale bei Rückwärtsbewegung des Körpers aktiv. Distale Muskeln entladen als erste, proximale und axiale folgen („Fußknöchel-Strategie“, besonders deutlich in B1). Hamstring-Muskeln = Flexoren am Oberschenkel.

Kortikale Efferenzen projizieren in spinale Regionen Die Efferenzen der Großhirnrinde haben eine große Zahl neuronaler Strukturen als Ziel (Abb. 26.18), darunter in Form des Kortikospinaltrakts (CST) Verbindungen zum Rückenmark. Die Ursprungsneurone sind v. a. in den Areae 4 und 6 des motorischen Kortex zu finden. (Entsprechende kortikospinale Neurone im somatosensorischen und im posterioren Parietalkortex projizieren ins Hinterhorn und beeinflussen die spinal eingehende sensorische Information; damit haben sie keine unmittelbare efferentmotorische Funktion.) Nach Passage der inneren Kapsel kreuzen die meisten kortikospinalen Fasern in der Pyramide der Medulla oblongata auf die Gegenseite und deszendieren dorsolateral im Rückenmark (lateraler CST). Sie endigen lateral im intermediären Rückenmarksgrau und bilden in erster Linie Synapsen mit den schon erwähnten zirkumskripten prämotoneuronalen Interneuronen. Ein kleiner Teil der Axone (etwa 3 %) hat monosynaptische Verbindungen mit

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26.5 Motorische Areale der Großhirnrinde Systems und mit der Ausführung von Bewegungen befasst. Eine kortikomotoneuronale Komponente ist für die Feinbewegungen der Finger verantwortlich. In der inneren Kapsel führen Läsionen zu spastischen Lähmungen, in der Pyramidenbahn zu Defiziten der Feinmotorik der Finger. Prämotorische und supplementär-motorische Areale sowie der posteriore Parietalkortex mit umfangreichen intra- und subkortikalen Verbindungen sind M1 vorgeschaltet und in die Entwicklung von Bewegungsprogrammen eingebunden.

26.5.1

Aufbau und Neuronentypen der Großhirnrinde Der Kortex ist schichtförmig strukturiert und regional unterschiedlich zusammengesetzt

Die Großhirnrinde (Kortex) verfügt wie andere ZNSStrukturen über afferente Fasern, efferente Neurone und zwischengeschaltete, lokale Interneurone. Letztere können erregen (u. a. Körner-, Sternzellen) oder hemmen (u. a. Korb-, Kronleuchter-, Doppelbukettzellen). Anhand der Lokalisation und Präsenz der verschiedenen Neuronentypen sowie der Faserverläufe kann man im Kortex 6 Schichten abgrenzen. Regionale Unterschiede dieser Kriterien haben den Berliner Neurologen Brodmann dazu geführt, den Kortex in etwa 50 Areae aufzuteilen, die er durchnummerierte (s. Kap. 28, Beispiele in Abb. 26.19). Erregende Stern- bzw. Körnerzellen finden sich vorzugsweise in Schicht IV. Als erster Ansprechpartner der spezifischen afferenten Systeme sind sie in den primären sensorischen Projektionszonen besonders zahlreich, und die Schicht IV ist dort stark ausgeprägt (granulärer Kortex). In Zonen, die von motorischen Efferenzen geprägt sind, fällt die Schicht IV entsprechend dünner aus, weil Körnerzellen spärlicher sind (agranulärer Kortex).

Funktionell, morphologisch und klinisch sind mehrere motorische Areale definierbar Abb. 26.19 gibt einen Überblick über den Neokortex mit den an der Planung, Programmierung und Ausführung willkürlicher Bewegungen beteiligten Regionen. Motorische Areale sind Zonen, deren elektrische Reizung Muskelkontraktionen bzw. Bewegungen auslöst und deren Schädigung die Motorik beeinträchtigt. Nach diesen und zytoarchitektonischen Gesichtspunkten sind der Gyrus praecentralis (= Area 4) und die sich rostral anschließende Area 6 die eigentlichen motorischen Hirnrindenareale. Area 4 ist der primäre motorische Kortex und wird auch als M1 bezeichnet. In Area 6 kann man funktionell eine medial liegende supplementär-motorische Area (SMA) von einer mehr lateral gelegenen prämotorischen Area (PMA) abgrenzen. Beide werden auch als prämotorischer Kortex (= Area 6) zusammengefasst. Angrenzend (Area 8) und teilweise überlappend findet sich das für Augenbewegungen wichtige frontale Augenfeld. Motorisch wichtige Assoziationsareale sind: der okzipital an den primären somatosensorischen Kortex (S 1) grenzende posteriore Parietalkortex (PPCx, Areae 5 und 7) sowie der präfrontale Kortex.

Kortikale Efferenzen projizieren in unterschiedliche Regionen Die Efferenzen der Großhirnrinde haben pyramidenförmige Zellköper (Pyramidenzellen) und liegen vorwiegend in den Schichten III und V. In Schicht III sind sie relativ klein und senden Assoziationsfasern zu anderen Abschnitten der ipsilateralen bzw. Kommissurenfasern zur kontralateralen Hirnrinde. Pyramidenzellen der Schicht V projizieren, z. T. als Fasertrakte, zu subkortikalen Kerngebieten (Striatum, Thalamus, Nucleus ruber, pontine Kerne) und zum Rückenmark (Kortikospinaltrakt, CST, Abb. 26.18). Beim Menschen stammen etwa je 30 % der Traktneurone aus Area 4 und 6, die restlichen 40% aus parietalen Zonen, v. a. S 1. Die Pyramidenbahn einer Seite enthält etwa 106 Axone. Nur 3 % sind dicke myelinisierte Fasern mit Durchmessern von über 10 µm. Sie entstammen den nach dem russischen Anatomen Vladimir Betz benannten Riesenpyramidenzellen der Schicht V und sind Korrelat der schon beschriebenen monosynaptischen Verbindung zu Motoneuronen (s. Kap. 26.4.3). Fast alle Pyramidenbahnaxone sind demnach dünn (etwa die Hälfte unmyelinisiert) mit geringen Leitungsgeschwindigkeiten.

primärer Zentralfurche motorischer Kortex (M1) primärer somatosuppl.-motorischer sensorischer Kortex (S1) Kortex prämotorischer posteriorer Kortex parietaler frontales 3 1 Kortex 4 2 5 Augenfeld

6

8

7

9 10

22

44

39

27 18

11 präfrontaler Kortex

21

17

38 20 temporaler Kortex

Abb. 26.19 Hirnrindenfelder mit motorischen Funktionen. Ziffern geben Brodmann-Areale an. Der primäre motorische Kortex (M 1) ist ausführender Teil und entspricht dem Gyrus praecentralis (Area 4). Rostral anschließend liegen der prämotorische Kortex (Area 6, bestehend aus prämotorischer [lateral] und supplementärmotorischer Area [medial]) und das frontale Augenfeld (Area 8). Enge Beziehungen zur Motorik haben der primäre somatosensorische Kortex (S 1, auch SM 1 [von sensomotorisch] genannt) mit Area 3, 1, 2 und assoziativ-motorische Zonen (posteriorer parietaler Kortex, Area 5 und 7). Alle Areale sind über Assoziationsfasern eng miteinander verbunden. Weitere Zahlen kennzeichnen andere Brodmann’sche Areale (insgesamt 52).

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26 Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik 26.5.2

Der primäre motorische Kortex Der primär-motorische Kortex ist somatotop gegliedert

M 1 im Gyrus praecentralis ist identisch mit der Area 4. Schon im vorigen Jahrhundert konnte der Londoner Neurologe Hughlings Jackson zeigen, dass umschriebene Läsionen dieser Region ortsabhängig zu unterschiedlichen motorischen Ausfällen auf der Gegenseite führen, d. h., dass in Area 4 die Körpermuskulatur der Gegenseite topographisch repräsentiert ist. Dies wurde mit elektrischer Reizung tierexperimentell genauer analysiert und später am Patienten bestätigt. Der kanadische Neurochirurg Wilder Penfield und sein Breslauer Lehrer Otfried Foerster reizten intraoperativ die Kortexoberfläche (um funktionell intaktes von Narbengewebe zu unterscheiden). Umschriebene Muskelzuckungen ergaben sich mit der geringsten Reizstärke in Area 4. Die Beinmuskulatur war auf der Medianfläche der Hemisphäre, diejenige von Rumpf und proximalen Extremitäten medial am Vertex repräsentiert; lateral schlossen sich Hand, Gesicht, Zungen- und Schlundmuskulatur an (Abb. 26.20). Da sich so der menschliche Körper am Kortex abbildet, bezeichnet man diese Abbildung als Homunkulus (Menschlein). Generell hat die Somatotopie klinische Bedeutung. Bei einem Meningeom der Falx cerebri beispielsweise können die Medianflächen beider Areae 4 geschädigt werden mit Lähmungen beider Beine als Folge (sog. Mantelkantensyndrom). Die Somatotopie des Motorkortex bleibt auch in kortikofugalen Projektionen erhalten; beispielsweise sind Axone mit lumbosakralem Ziel kaudal und solche mit zervikaler Destination rostral im hinteren Schenkel der inneren Kapsel angeordnet (wichtig, weil die innere Kapsel häufig Ort von Schlaganfällen ist). Eine somatotope Differenzierung findet sich auch im spinalen Bereich. Ein kleiner Teil der Fasern aus den Repräsentationszonen von Hals, Rumpf und Hüfte deszendiert ipsilateral im ventralen CST (Abb. 26.20) und ist Teil des Haltungskontrollsystems (26.4.2). Etwa 90 % der Fasern kreuzen und bilden den lateralen CST als Teil des dorsolateralen Systems (26.4.3). Ihr Ursprung ist aus Abb. 26.20 zu ersehen. Kortikobulbäre Projektionen betreffen Neurone der Hirnnerven (z. B. Trigeminus, Fazialis, Hypoglossus). Sie kontrollieren (Abb. 26.20) Muskeln, die der Kommunikation (Mimik, Sprache) und der Nahrungsaufnahme dienen. Ihre zentrale Innervation ist bilateral, abgesehen vom unteren Fazialisanteil, der Mund und Wange versorgt. Bei einer einseitigen Schädigung oberhalb der Hirnnervenkerne ist daher Stirnrunzeln noch möglich, Lächeln fällt dagegen asymmetrisch aus. Maßgebend für den Umfang der Repräsentation ist nicht die periphere Größe des Körperteils, sondern die Zahl der Neurone, die seine Funktion bestimmen. Die Innervationszonen von Muskeln der Feinmotorik, z. B. der Hand, nehmenweit mehr Raum ein als die des Rumpfes (Abb. 26.20).

Dies ist z. B. wichtig in Zusammenhang mit der transkraniellen Magnetstimulation. Dabei wird mit einer Magnetspule über dem Vertex ein Magnetfeld erzeugt, das zu einem Stromfluss führt, der als Reiz wirkt. Erregt werden die dichtesten Neuronenpopulationen. Gemessen wird der Reizeffekt in Form des EMG, z. B. über dem Kleinfingerballen. Mit der Spule kann auch die Vorderwurzel C 7 magnetstimuliert werden; Subtraktion der Latenzen beider EMG-Antworten ergibt die sog. zentrale motorische Latenz. Sie ist erhöht z. B. bei Multipler Sklerose oder amyotropher Lateralsklerose (Schädigung der Pyramidenbahn).

Neurone der Area 4 sind vor einer Bewegung aktiv M 1-Neurone beginnen etwa 50 – 150 ms vor einer Bewegung zu entladen. Dieses Intervall schließt zentrale und periphere Leitungszeiten, synaptische Übertragungen mit räumlichen Summationen und die elektromechanische Kopplung ein. Insofern ist das Intervall relativ kurz und spricht dafür, dass die Neurone der Pyramidenbahn mit der Einleitung der Bewegung befasst sind. Je nach Neuron kodieren sie die Richtung, die Geschwindigkeit oder die Kraftentwicklung einer Bewegung.

Transkortikale Reflexe haben funktionelle und diagnostische Bedeutung M 1-Neurone werden – ähnlich wie andere supraspinale Strukturen – durch kutane und propriozeptive Afferenzen über den Ablauf der ausgelösten Bewegung – und damit auch über einen eventuellen Misserfolg – informiert. Beispielsweise erhöhen M 1-Neurone ihre kraftkorrelierte Entladungsfrequenz, wenn eine unerwartete Last die intendierte Bewegung bremst. Abgesehen von der kognitiven Komponente ist Information von den Fingern und Fingerspitzen extrem wichtig für die geordnete Kraftentwicklung und das räumliche Manipulieren beim Greifen. Sie ermöglicht einerseits eine unmittelbare Fehlerkorrektur. Andererseits hat sie Verbindung mit Programmen, die die erforderlichen Muskelsynergien besorgen. Diese Programme werden durch die periphere Information kontinuierlich justiert („Updating“), so dass die Eigenschaften des zu ergreifenden Objekts antizipatorisch erfasst werden können (ähnlich wie bei der Haltemotorik, Abb. 26.17). Interessanterweise gewinnt die antizipatorische Feedforward-Komponente im Verlauf der Kindheit, d. h. vom 2. bis 10. Lebensjahr an Bedeutung. Möglicherweise finden diese Verbindungen ihren Ausdruck in klinisch testbaren, über das lemniskale System geleiteten long-loop oder transkortikalen Reflexen. Sie werden durch abrupte Bewegung oder elektrische Reizung von Fingern ausgelöst und als EMG an den Handmuskeln registriert. Die Reflexzeiten liegen zwischen 30 und 90 ms und damit deutlich über rein spinalen Werten. Verlängert sind sie bei Läsionen der Afferenzen, des sensomotorischen Kortex und der Pyramidenbahn.

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26.5 Motorische Areale der Großhirnrinde

Hüfte

HandRumpf Schulter Ellbogen gelenk

Hand

offenbar Bedeutung für beidhändiges Manipulieren (Verbindung beider Hirnhälften über das Corpus callosum), und das Zusammenspiel PMA/SMA für das Heranführen des Arms an ein Objekt, das ergriffen werden soll.

Finger

Knie

Supplementär-motorische und prämotorische Areae entwickeln Bewegungsprogramme

Hals Zehen

Braue Auge Gesicht Lippen

Kiefer Zunge Schlucken

Kortikobulbärtrakt lateraler Kortikospinaltrakt ventromedialer Kortikospinaltrakt

Abb. 26.20 Somatotope Repräsentation der Skelettmotorik im Gyrus praecentralis (Frontalschnitt). „Homunculus“ mit Projektionen motorischer Ausführung wie angegeben: spinal über lateralen oder ventromedialen Kortikospinaltrakt, zum Hirnstamm über Kortikobulbärtrakt (zu dessen Kollateralen vgl. Abb. 26.18).

Klinische Daten lassen auch eine Beteiligung der Basalganglien möglich erscheinen, eventuell durch Disinhibition im Thalamus (S. 765).

Wahrscheinlich erstellt Area 6 Bewegungsprogramme, z. T. in Zusammenarbeit mit den Basalganglien (Abb. 26.23), die von M 1 „in die Tat“ umgesetzt werden. Diese Vorstellung steht im Einklang mit Messungen der neuronalen Aktivität bei trainierten Affen. Neurone in SMA erhöhen ihre Entladungen etwa eine Sekunde vor einer Handbewegung, unabhängig davon, welche Hand bewegt wird. Die frühen Entladungen (verglichen mit M 1) entsprechen Abläufen bei der Programmentwicklung. Ähnlich sieht das Aktivitätsmuster von PMA-Neuronen aus, wenn eine Bewegung bevorsteht, deren Ausmaß und Richtung geplant wird. Die Entladungen, etwa zeitgleich mit Aktivitäten in den Basalganglien, hören auf, sobald die geplante Bewegung ausgeführt wird. Diese Aufgabenverteilung der motorischen Areale wird auch durch Daten der Positronenemissionstomographie (PET) gestützt, mit der man den lokalen zerebralen Blutfluss, der mit dem Umfang der neuronalen Aktivität korreliert, messen kann (s. Kap. 28.10). Bei einer sehr einfachen motorischen Aufgabe, z. B. Pressen eines Fingers gegen eine Feder, erhöht sich der Blutfluss in der Handregion der Area 4 und in der entsprechenden Zone von S 1 (sensorische Rückmeldung über den motorischen Akt). Bei komplizierten Bewegungen, z. B. einer Abfolge verschiedener Fingerbewegungen, erhöht sich die Durchblutung zusätzlich in SMA. Wenn man sich die Abfolge nur vorstellt, ohne sie wirklich auszuführen, steigt der Blutfluss lediglich in SMA, nicht aber in M 1 und S 1. Dies zeigt, dass SMA unabhängig von der Bewegungsdurchführung vermutlich im Rahmen der Programmgestaltung aktiv ist, M1 hingegen bei der eigentlichen Ausführung. Außerdem wird klar, dass an komplexen Fingerbewegungen SMA beteiligt ist, nicht aber PMA, und dass sehr einfache motorische Akte offenbar wenig kortikale Vorbereitung benötigen. 26.5.4

26.5.3

Supplementär-motorische und prämotorische Rindenfelder Supplementär-motorische und prämotorische Areae haben andere motorische Funktionen als M 1

Elektrische Reizung von Area 6 – auch als sekundärer oder „höherer“ motorischer Kortex bezeichnet – führt ebenfalls zu somatotop organisierten Bewegungen. Allerdings sind höhere Reizstärken nötig, was nahelegt, dass die Verbindungen zum motorischen Ausgang weniger direkt sind als im Falle von M 1. Außerdem sind die Bewegungen wesentlich komplexer als bei M 1-Reizung. Eine Aktivierung der prämotorischen Area (PMA) erfasst mehr Rumpf und proximale Extremitätenabschnitte, der supplementär-motorischen Area (SMA) mehr distale. Vor allem SMA-Effekte äußern sich häufig bilateral, und einseitige Läsionen von SMA gehen mit Störungen des gemeinsamen Gebrauchs beider Hände einher. SMA hat

Pathophysiologie absteigender Projektionen

Unsere derzeitigen Kenntnisse über das Zusammenspiel motorischer Systeme genügen selten, Ausfallerscheinungen genau zu erklären. Überdies betreffen klinische Prozesse fast nie Einzelkomponenten des Motorkortex oder seiner Efferenzen. Eine einseitige Unterbrechung der Pyramidenbahn kann zwar experimentell bei Primaten gesetzt werden (definitionsgemäß nur in der Pyramide selbst), kommt aber in der Klinik de facto nicht vor. Sie geht mit eher diskreten Symptomen einher, jedenfalls nicht mit massiven Lähmungen. In erster Linie sind Feinmotorik und Geschicklichkeit der kontralateralen Hand beeinträchtigt. Präzise Bewegungen einzelner Finger sind nicht möglich. Insofern wird statt eines Präzisionsgriffs mit Opposition von Daumen und Zeigefinger der sog. Massengriff eingesetzt, d. h. es werden alle Finger gemeinsam gebeugt. Dies und eine generelle Verlangsamung von Bewegungen werden verständlich als

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26 Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik Mobilisierung von Motoneuronen durch den indirekten Hirnstammweg (26.4.3) und über polysynaptische spinale Verschaltungen (26.3.5). Als klinisch bekannte Symptome entwickeln sich nach einem Ausfall der Pyramidenbahn auch das von dem Pariser Neurologen Babinski beschriebene Zeichen, sowie abgeschwächte (polysynaptische) Bauchhautreflexe. Das Babinski’sche Zeichen besteht aus einer Dorsalbewegung der Großzehe und Spreizen der anderen Zehen bei mechanischer Reizung des äußeren Fußsohlenrandes. Wahrscheinlich handelt es sich um einen phylogenetisch alten Teil eines Greifreflexmusters, der normalerweise durch die Pyramidenbahn gehemmt ist. Schädigungen im Bereich der inneren Kapsel oder der kortikalen Regionen zeigen dagegen meistens eine facettenreichere Symptomatik. Eine zunächst schlaffe Lähmung der Gegenseite geht im Verlauf von Tagen in eine spastische Lähmung (S. 751) über. In Einklang mit dem Vorstehenden sollte die Spastik kein Symptom einer Pyramidenbahnläsion sein, sondern anderer ausgefallener Strukturen, u. U. sogar thalamokortikaler Verbindungen.

prämotorischer Kortex Assoziationskortex

primärer sensomotorischer Kortex Assoziationskortex

Efferenzen zu Hirnstamm und Rückenmark

pontine Kerne motorischer Thalamus

Striatum Pallidum Kortex

Kerne

26.6

Basalganglien: Struktur, Funktion und klinische Zeichen

Pars externa Pars interna Basalganglien

Die Basalganglien und das Kleinhirn sind neuronale Strukturen, die in die Verarbeitung komplexer motorischer Information eingebunden sind. Sie erhalten Eingänge von assoziativen und sensomotorischen Kortexarealen und projizieren in erster Linie zu motorischen Rindenfeldern. Funktionell sind beide Strukturen mit der Planung und Programmierung komplexer Bewegungen befasst. Das Kleinhirn ist außerdem für die ordnungsgemäße Durchführung und Koordination von Bewegungen sowie die Kontrolle der Köperhaltung verantwortlich. Erkennbar wird diese Aufgabenteilung an klinischen Symptomen. Bei Läsionen der Basalganglien sind Start und Ablauf von Bewegungsprogrammen gestört (z. B. Bewegungsarmut bei Parkinson’scher Erkrankung). Zerebelläre Erkrankungen zeichnen sich durch unkoordinierte und fahrige Bewegungen aus, die das angesteuerte Ziel nicht oder erst nach Korrekturen erreichen. 26.6.1

Subkortikale Strukturelemente und Organisationsprinzipien Basalganglien und Kleinhirn sind parallele subkortikal-motorische Systeme

Die Basalganglien und das Kleinhirn haben gewisse Ähnlichkeit in der prinzipiellen Anordnung ihrer Elemente (Abb. 26.21). Beide erhalten massive neokortikale Eingänge und erreichen mit ihren Ausgängen über den Thalamus schleifenartig die motorischen Abschnitte der Großhirnrinde. Beide besitzen eine „Recheneinheit“ (Striatum bzw. Kleinhirnrinde) und nachgeschaltete Integrationseinheiten (Pallidum bzw. Kleinhirnkerne). Dennoch sind sie in ihren internen und externen Verschaltungen verschieden. Zellphysiologisch wirken die

Kleinhirn Tegmentum

Nucleus ruber

Abb. 26.21 Vergleich der kortikalen Verbindungen von Basalganglien und Kleinhirn. Basalganglieneingang direkt zum Striatum (links), beim Kleinhirn über pontine Kerne (rechts). Separater Moosfaser- und Kletterfasereingang zum Zerebellum, interne Basalganglien-Verschaltungen sowie Erregung/Hemmung nicht berücksichtigt.

Ausgangsneurone der Kleinhirnkerne erregend, die der Basalganglien hingegen hemmend. Extern kommunizieren Teile des Kleinhirns intensiv mit dem Rückenmark, was bei den Basalganglien weniger der Fall ist. Kortikal hat das Kleinhirn besonders enge Verbindungen mit sensomotorischen Rindenfeldern, die Basalganglien mehr mit assoziativen. Insofern liegt das Gewicht des Kleinhirns mehr auf der koordinierten und zeitlich präzisen Durchführung von Bewegungen, das der Basalganglien vor allem auf der Vorausplanung komplexer Bewegungen, also der Frage, welche Art von Bewegung ist angemessen?

Die Basalganglien sind kein extrapyramidales System Die Bezeichnung „extrapyramidalmotorisches System“ wird klinisch häufig als Synonym für Basalganglien verwendet. Dies stammt aus einer Zeit, in der man den Basalganglien die eigenständige Vermittlung von Automatismen und der Pyramidenbahn die Verantwortung

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26 Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik Mobilisierung von Motoneuronen durch den indirekten Hirnstammweg (26.4.3) und über polysynaptische spinale Verschaltungen (26.3.5). Als klinisch bekannte Symptome entwickeln sich nach einem Ausfall der Pyramidenbahn auch das von dem Pariser Neurologen Babinski beschriebene Zeichen, sowie abgeschwächte (polysynaptische) Bauchhautreflexe. Das Babinski’sche Zeichen besteht aus einer Dorsalbewegung der Großzehe und Spreizen der anderen Zehen bei mechanischer Reizung des äußeren Fußsohlenrandes. Wahrscheinlich handelt es sich um einen phylogenetisch alten Teil eines Greifreflexmusters, der normalerweise durch die Pyramidenbahn gehemmt ist. Schädigungen im Bereich der inneren Kapsel oder der kortikalen Regionen zeigen dagegen meistens eine facettenreichere Symptomatik. Eine zunächst schlaffe Lähmung der Gegenseite geht im Verlauf von Tagen in eine spastische Lähmung (S. 751) über. In Einklang mit dem Vorstehenden sollte die Spastik kein Symptom einer Pyramidenbahnläsion sein, sondern anderer ausgefallener Strukturen, u. U. sogar thalamokortikaler Verbindungen.

prämotorischer Kortex Assoziationskortex

primärer sensomotorischer Kortex Assoziationskortex

Efferenzen zu Hirnstamm und Rückenmark

pontine Kerne motorischer Thalamus

Striatum Pallidum Kortex

Kerne

26.6

Basalganglien: Struktur, Funktion und klinische Zeichen

Pars externa Pars interna Basalganglien

Die Basalganglien und das Kleinhirn sind neuronale Strukturen, die in die Verarbeitung komplexer motorischer Information eingebunden sind. Sie erhalten Eingänge von assoziativen und sensomotorischen Kortexarealen und projizieren in erster Linie zu motorischen Rindenfeldern. Funktionell sind beide Strukturen mit der Planung und Programmierung komplexer Bewegungen befasst. Das Kleinhirn ist außerdem für die ordnungsgemäße Durchführung und Koordination von Bewegungen sowie die Kontrolle der Köperhaltung verantwortlich. Erkennbar wird diese Aufgabenteilung an klinischen Symptomen. Bei Läsionen der Basalganglien sind Start und Ablauf von Bewegungsprogrammen gestört (z. B. Bewegungsarmut bei Parkinson’scher Erkrankung). Zerebelläre Erkrankungen zeichnen sich durch unkoordinierte und fahrige Bewegungen aus, die das angesteuerte Ziel nicht oder erst nach Korrekturen erreichen. 26.6.1

Subkortikale Strukturelemente und Organisationsprinzipien Basalganglien und Kleinhirn sind parallele subkortikal-motorische Systeme

Die Basalganglien und das Kleinhirn haben gewisse Ähnlichkeit in der prinzipiellen Anordnung ihrer Elemente (Abb. 26.21). Beide erhalten massive neokortikale Eingänge und erreichen mit ihren Ausgängen über den Thalamus schleifenartig die motorischen Abschnitte der Großhirnrinde. Beide besitzen eine „Recheneinheit“ (Striatum bzw. Kleinhirnrinde) und nachgeschaltete Integrationseinheiten (Pallidum bzw. Kleinhirnkerne). Dennoch sind sie in ihren internen und externen Verschaltungen verschieden. Zellphysiologisch wirken die

Kleinhirn Tegmentum

Nucleus ruber

Abb. 26.21 Vergleich der kortikalen Verbindungen von Basalganglien und Kleinhirn. Basalganglieneingang direkt zum Striatum (links), beim Kleinhirn über pontine Kerne (rechts). Separater Moosfaser- und Kletterfasereingang zum Zerebellum, interne Basalganglien-Verschaltungen sowie Erregung/Hemmung nicht berücksichtigt.

Ausgangsneurone der Kleinhirnkerne erregend, die der Basalganglien hingegen hemmend. Extern kommunizieren Teile des Kleinhirns intensiv mit dem Rückenmark, was bei den Basalganglien weniger der Fall ist. Kortikal hat das Kleinhirn besonders enge Verbindungen mit sensomotorischen Rindenfeldern, die Basalganglien mehr mit assoziativen. Insofern liegt das Gewicht des Kleinhirns mehr auf der koordinierten und zeitlich präzisen Durchführung von Bewegungen, das der Basalganglien vor allem auf der Vorausplanung komplexer Bewegungen, also der Frage, welche Art von Bewegung ist angemessen?

Die Basalganglien sind kein extrapyramidales System Die Bezeichnung „extrapyramidalmotorisches System“ wird klinisch häufig als Synonym für Basalganglien verwendet. Dies stammt aus einer Zeit, in der man den Basalganglien die eigenständige Vermittlung von Automatismen und der Pyramidenbahn die Verantwortung

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26.6 Basalganglien: Struktur, Funktion und klinische Zeichen für die Willkürmotorik zuschrieb. Diese Vorstellung ist nicht haltbar, u. a. weil die Pyramidenbahn über Kollateralen mit zahlreichen „extrapyramidalen“ Strukturen verbunden ist (s. Abb. 26.18). Außerdem beeinflussen die Basalganglien über thalamokortikale Neurone unmittelbar auch die Zellen der Pyramidenbahn. Eine unabhängige (willkürmotorische) Pyramidenbahn oder unabhängige Basalganglien gibt es nicht. Der Begriff extrapyramidal ist daher irreführend und nicht gerechtfertigt. 26.6.2

motosensorischer Kortex

Thalamus Striatum

externa

Funktionelle Anatomie und externe Verbindungen Die Basalganglien bestehen aus mehreren Kernen

Die Basalganglien setzen sich aus vier intern verbundenen Kernen zusammen (Abb. 26.22), von denen drei funktionell und morphologisch zweigeteilt sind: – Das Striatum als Eingangs- und Verrechnungsstation. Seine Anteile, der Nucleus caudatus und das Putamen sind durch streifenförmige (striatale) Fasertrakte verbunden, die die innere Kapsel überbrücken. Funktionell ist das Putamen mehr skelettmotorisch, das Caudatum mehr kognitiv und okulomotorisch ausgerichtet. – Der Globus pallidus („Pallidum“) mit einer lateral gelegenen Pars externa und einer medialen Pars interna. – Die Substantia nigra mit der Pars compacta und der Pars reticulata. Der Name („schwarze Substanz“) ist Ausdruck des hohen Melaningehalts dopaminerger Neurone der Pars compacta. Neurone der Pars reticulata sind zytologisch denen des inneren Pallidumteils ähnlich. – Der Nucleus subthalamicus.

Die Basalganglien haben Eingänge vom Kortex und Ausgänge zum Thalamus Das Striatum erhält erregende Afferenzen von so gut wie allen Kortexgebieten und dem intralaminären Thalamus, sowie einen heterogenen (erregend/hemmend) dopaminergen Eingang von der Pars compacta. Daneben empfängt der Nucleus subthalamicus kortikale Information (von M 1, prämotorischem Kortex und vom frontalen Augenfeld). Die Ausgangssysteme der Pars interna des Pallidums und der Pars reticulata der S. nigra sind GABAerg-hemmend. Sie innervieren u. a. ventrolaterale und ventroanteriore Kerngruppen des Thalamus, die ihrerseits u. a. zum prämotorischen Kortex bzw. frontalen Augenfeld projizieren. Damit werden kortiko-thalamo-kortikale, die Basalganglien einschließende Rückkoppelungsschleifen gebildet.

Rückkoppelungssysteme sind funktionsspezifisch Wegen der umfangreichen kortikalen Eingänge und der fokussierten Ausgänge war man lange Zeit der Ansicht, dass die vielfältige kortikale Information in den Basalganglien wie in einem Trichter integriert (und damit

Assoziationskortex

Assoziationskortex

Globus pallidus

interna

Nucleus subthalamicus compacta Substantia nigra reticulata

Basalganglien Transmitter

Glutamat

Dopamin

erregend

Colliculus superior

GABA hemmend

Abb. 26.22 Schematische Darstellung der wichtigsten Basalganglienverbindungen mit ihren Transmittern. Striatum zweigeteilt in Caudatum und Putamen (s. Text), ebenso wie Globus pallidus und Substantia nigra.

unspezifisch) würde. Neuere Studien haben aber gezeigt, dass das Striatum eine äußerst differenzierte Struktur mit einer großen Zahl unterschiedlicher Kompartimente darstellt. Diese gewährleisten sowohl qualitativ-funktionell als auch topographisch (parallel somatotop angeordnete Systeme) eine hohe Spezifität, die im Verlauf der nachfolgenden Verschaltungen erhalten bleibt. Ausdruck der funktionellen Spezifität ist eine Reihe schleifenartig angeordneter Systeme, die Information parallel und spezifisch verarbeiten (Abb. 26.23). Skelettmotorisches System. Es spielt für die Körpermotorik eine entscheidende Rolle und „beginnt“ in der supplementären motorischen Area (SMA), d. h. bereits mit komplexer Information (26.5.3). Über das Putamen, die Ausgangsneurone der Basalganglien und den Thalamus geht es zurück zur SMA. Zusätzlich wird in das Putamen multiple kortikal-motorische Information eingespeist (Abb. 26.23 A). Innerhalb der Schleifenstationen sind die Neurone somatotop organisiert und z. B. im Putamen säulenförmig angeordnet („Kolumnen“, ähnlich wie im Kortex, S. 803). Sie sind spezifisch nur bei Bewegungen z. B. des Handgelenks aktiv, Bewegungen des Beines spiegeln sich in anderen Kolumnen wider. Okulomotorisches System. Prinzipiell entsprechend aufgebaut geht diese Schleife vom frontalen Augenfeld (Area 8, Abb. 26.23 B, vgl. S. 780) aus, läuft dann aber über eine Okulomotorikzone des Caudatums und hat die Pars reticulata der S. nigra als überwiegenden Ausgang (kollateral wird der für Sakkaden wichtige Colliculus superior

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763

764

26 Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik A skelettmotorisch

B okulomotorisch

prämotorische Area M1, S1

C kognitiv

präfrontaler Kortex posteriorer Parietalkortex

posteriorer Parietalkortex prämotorische Area

Kortex supplementärmotorische Area

Striatum

Pallidum Substantia nigra

Thalamus

präfrontaler Kortex

Caudatum

Caudatum

Pars interna

Pars interna

Putamen

Pars interna Pars reticulata

Pars reticulata

Pars reticulata

Nucleus ventralis lateralis oralis

Nucleus ventralis anterior

Nucleus ventralis anterior parvocellularis

Nucleus ventralis lateralis medialis

Nucleus mediodorsalis

Nucleus mediodorsalis parvocellularis

Abb. 26.23 Funktionsspezifische parallele schleifenförmige Verbindungen vom Kortex über Basalganglien und Thalamus zum Kortex. Rückkoppelungssysteme funktionell bezeichnet. Neben dem kortikalen Schleifeneingang existie-

[S. 778] angesteuert). Die zugehörigen thalamischen Bezirke sind andere als diejenigen der Skelettmotorik. Weiteres zur Okulomotorik S. 774. Assoziativ-kognitives System. Die Bedeutung kognitiver Information für den Menschen ergibt sich daraus, dass bei Primaten mindestens drei Schleifen höheren Funktionen und der Motivation dienen. Im dargestellten Beispiel (Abb. 26.23 C), das vom präfrontalen Assoziationskortex ausgeht, sind die beteiligten Zonen von Caudatum, Pallidum, S. nigra und Thalamus anatomisch verschieden von denen der skelettmotorischen und okulomotorischen Rückkoppelung.

26.6.3

frontales Augenfeld

Zelluläre Funktionsabläufe und interne Verbindungen Neuronale Funktionen werden durch Transmitter und Kotransmitter mitbestimmt

Die Basalganglien enthalten zahlreiche neuroaktive Substanzen, die (auch in unterschiedlichen Kombinationen) neuronspezifisch exprimiert werden und funktionelle Subsysteme definieren. Striatale Efferenzen nutzen neben dem Transmitter GABA projektionsspezifisch noch Neuropeptide als Kotransmitter. Die Kombinationen sind genetisch determiniert und bei Erkrankungen der Basalganglien unterschiedlich betroffen. Wichtigste Neuropeptide sind Substanz P, Enkephalin und Dynorphin. Kotransmitter bestimmen die synaptischen Funktionen der „Elternneurone“ mit. Die klassischen Aminosäuretransmitter sind für die Auslösung schneller postsynaptischer Potenziale verantwortlich, die z. B. nach 10 ms abgeklungen sind. Wirkungen der Neuropeptide, auf die

ren zusätzliche kortikale Eingänge ins Striatum wie angegeben. M 1, S 1 = primär motorischer bzw. somatosensorischer Kortex.

sich die Effekte der Aminosäuretransmitter aufsetzen, dauern wesentlich länger (z. B. 100 – 200 ms); während dieser Zeit können die Wirkungen z. B. von GABA je nach Peptid verstärkt oder abgeschwächt werden. Peptide werden nur durch Aktionspotenzialsalven freigesetzt, quantitativ abhängig von der Frequenz innerhalb der Salve. Damit wird die Synapsenfunktion frequenzabhängig und projektionsspezifisch moduliert. Die wichtigsten Transmittersysteme sind (Abb. 26.22): – Glutamat (erregend) in kortikostriatalen, thalamostriatalen und Subthalamicus-Neuronen. – GABA (hemmend) in striatalen Projektionsneuronen, in Neuronen der Pars externa und der Pars interna des Pallidums sowie der Pars reticulata der S. nigra. – Dopamin in Pars compacta-Neuronen. Bei Freisetzung im Striatum wirkt Dopamin über D1-Rezeptoren (an GABA/Substanz P-Neuronen) fördernd. Über D2-Rezeptoren an GABA/Enkephalin-Neuronen vermindert es hingegen deren Erregbarkeit. – Acetylcholin in striatalen Interneuronen.

Striatale Projektionsneurone integrieren in geordneter Weise komplexe Information Innerhalb des Striatums werden nach Transmittern, Zellgröße und Vorhandensein dendritischer Dornfortsätze (Spines) drei Neuronentypen unterschieden. Neurone ohne Spines sind Interneurone. Die GABAergen Projektionsneurone (95 %) sind mittelgroße Zellen mit ausgedehnten spinebesetzten Dendritenbäumen (ausgeprägte Informationsverarbeitung). Über lokale Axonkollateralen

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26.6 Basalganglien: Struktur, Funktion und klinische Zeichen

Glutamat Neokortex

prämotorische Area, supplementär-motorische Area, M1

Interneurone Spines

GABA

striatales Projektionsneuron

Axon

Striatum

Pars compacta

+ Substanz P

Kollateralen anderer Projektionsneurone

indirekter Weg

D1-Rezeptoren

Acetylcholin

+ Enkephalin

D2-Rezeptoren

Dopamin Putamen

motorischer Thalamus Substantia nigra

Globus pallidus

Pars compacta

Pars externa

Nucleus subthalamicus

Pars reticulata

können sie auch benachbarte Projektionsneurone hemmen (vgl. Abb. 26.42). Die zahlreichen Eingänge der Projektionsneurone sind nicht zufällig, sondern höchst spezifisch angeordnet (Abb. 26.24). GABAerge Synapsen (= Axonkollateralen anderer Projektionsneurone) in Somanähe haben dort einen ausgeprägten Hemmeffekt. Auffallend ist die Position der dopaminergen Synapsen am Schaft der Dornfortsätze, wo sie speziell den kortikalen Eingang modulieren, der über die Spitzen der Spines einläuft. Entsprechend den Dopaminrezeptoren und Peptiden kann man im Striatum zwei Populationen GABAerger Projektionsneurone unterscheiden: – Neurone, die D1-Rezeptoren, Substanz P und Dynorphin exprimieren, mit Axonen zur Pars interna des Pallidums und zur Pars reticulata der S. nigra. – Neurone, die D2-Rezeptoren und Enkephalin exprimieren, mit Axonen zur Pars externa des Pallidums.

Disinhibition ist das Funktionsprinzip im direkten und im indirekten Basalganglienweg Abb. 26.25 zeigt, dass das Striatum (Putamen) mit dem Ausgang der Basalganglien über zwei alternative Wege verbunden ist. Die monosynaptische Projektion zu Pars interna/ reticulata von Pallidum bzw. S. nigra bildet einen direkten Weg. In ihm sind zwei hemmende Neurone hintereinander geschaltet. Das heißt: Aktivität des Putamen macht sich im Thalamus als Disinhibition, also erregbarkeitsfördernd bemerkbar. Parallel dazu läuft eine indirekte Verbindung über Pars externa des Pallidums und den Nucleus subthalamicus. Auch hier führen zwei sukzessiv-hemmende Neurone zur erregbarkeitssteigernden Disinhibition, in diesem Fall der Neurone des Nucleus

direkter Weg

Substantia nigra

Abb. 26.24 Anordnung afferenter Synapsen an striatalen Projektionsneuronen. 2% der Striatumneurone sind cholinerge Interneurone, 95% Projektionsneurone.

Pars interna Globus pallidus

Pars reticulata Substantia nigra

Hirnstamm und Rückenmark Transmitter:

GABA

Glutamat erregend

Dopamin hemmend

Abb. 26.25 Schematische Darstellung der kortikalen Verbindungen mit dem Thalamus über den direkten und indirekten Basalganglienweg.

subthalamicus. Infolgedessen wirken die erregenden Nucleus subthalamicus-Neurone des indirekten Weges am Ausgang Pars interna/reticulata der Hemmung des direkten Weges entgegen. Wie zwei Zügel können die alternativen Wege die Erregbarkeit des Ausgangs und damit der thalamokortikalen Neurone steuern. Das Prinzip der Disinhibition in den Basalganglien soll kurz skizziert werden (Abb. 26.26). Ohne Aktivität am Eingang entlädt das Putamenneuron nicht, das Pallidum hingegen ist tonisch aktiv (wegen hoher intrinsischer Erregbarkeit und fehlender striataler Hemmung). Thalamusneurone sind gehemmt. Dies entspricht der Ruhesituation in den Basalganglien (hohe Spontanaktivität in Pars interna-Neuronen, keine in Putamen und im VA/ VL-Komplex, Reihe 1). Werden Putamenneurone durch kortikale Impulse vorübergehend aktiviert (Reihe 2), resultiert eine transiente Hemmung der Pars interna-Zellen. Damit steigt die Erregbarkeit der vorher tonisch gehemmten Thalamusneurone für erregende, in diesem Fall kortikothalamische, Information. Das gleiche Prinzip findet sich im indirekten Weg, wo bei einer Disinhibition die Nucleus subthalamicus-Neurone vom Kortex her erregbar werden (beim „schlafenden“ Putamen sind sie dies wegen der dann vorherrschenden tonischen Pars-externa-Hemmung nicht).

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26 Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik Die Disinhibition führt primär nicht zu Entladungen des nachgeschalteten Neurons, sondern macht es anderen Quellen zugängig. Sie entscheidet, welche Neurone aktiviert werden können und nicht, wie kräftig Neurone aktiviert werden sollen. Die Basalganglien starten die Bewegung nicht selbst, sie erlauben den Start durch Freigabe kortikothalamischer Kommandos. So können durch „Gating“ der ausführenden Elemente diejenigen ausgewählt werden, die die Bewegung in räumlicher Beziehung bestimmen sollen. Dies gilt sinngemäß auch für den indirekten, kortiko-subthalamischen Weg.

Dopamin beeinflusst den Zugang zum direkten und indirekten Weg Dopamin ist der Transmitter der nigrostriatalen Neurone der Pars compacta. Der Dopamineffekt auf die striatalen Projektionsneurone hängt vom beteiligten, G-Protein-gekoppelten Rezeptortyp ab. Dopamin-D1-Rezeptoren erhöhen die cAMP-Bildung und wirken erregend, D2-Rezeptoren hingegen hemmend. D1-Rezeptoren sind vorzugsweise im direkten und D2-Rezeptoren im indirekten Weg exprimiert (Abb. 26.25). Daher fördern Pars compactaNeurone die Disinhibition im direkten Weg und damit den thalamokortikalen Zugang. Umgekehrt wird der Zugang zum indirekten Weg und letztlich die Hemmung thalamokortikaler Elemente über die Pars interna erschwert. Insgesamt verschiebt Dopamin die Balance zwischen den beiden Basalganglienwegen zugunsten der Pars interna-vermittelten Disinhibition und erleichtert diesen thalamischen Zugang zum Motorkortex. Bei Dopaminmangel ist die Aktivierbarkeit der thalamokortikalen Strukturen herabgesetzt, was Startschwierigkeiten und Bewegungsarmut der Parkinsonpatienten erklärt.

Neuronale Aktivität in unterschiedlichen Kernen ist heterogen Die Interpretation der neuronalen Entladungen (intraoperativ am wachen Patienten, aber auch am Tier) ist dadurch erschwert, dass die genaue Verschaltung der jeweils untersuchten Zelle nicht bekannt ist. Neurone der nigralen Pars compacta sind insofern ungewöhnlich, als sich ihre Ruheentladungen von etwa 2/s bei Bewegungen oder passiven Körpermanipulationen nicht ändern. Reaktionen erfolgen allenfalls bei Ereignissen, die eine Änderung im Verhalten nach sich ziehen, z. B. einer bewegungsauslösenden Instruktion. Dies spricht für eine tonische Dopaminfreisetzung und dafür, dass Dopamin kortikale Aktivität moduliert, die mit Verhalten (nur motorisch?) korreliert ist. Im Gegensatz zur Pars compacta zeigen Neurone der übrigen Basalganglienkerne Aktivitätsänderungen bei Bewegungen. Während striatale Projektionsneurone keine Ruheentladungen aufweisen, sind Zellen in den Pars externa und interna des Pallidums sowie im Nucleus subthalamicus tonisch aktiv. Sie ändern ihre Aktivität vor Beginn, oftmals aber auch erst während einer Bewegung. Dies kann davon abhängig sein, ob die gleiche Bewegung langsam oder schnell ausgeführt wird. 26.6.4

Den verschiedenen Rückkoppelungssystemen entsprechend können bei Erkrankungen der Basalganglien skelett- und okulomotorische, assoziativ-kognitive und emotionale Funktionen gestört sein. Motorische Störungen äußern sich als Hypokinesen, Hyperkinesen

2

1 inaktiv

Kortex

transient aktiv

unerregt

transient aktiviert

spontan aktiv

transient gehemmt

gehemmt

transient aktivierbar von erregendem Eingang

Putamen

Pallidum Pars interna

Klinische Symptome und Pathophysiologie

Thalamus Nucleus ventralis anterior Nucleus ventralis lateralis

Abb. 26.26 Disinhibition in den Basalganglien. Links: Hintereinanderschaltung zweier hemmender Neurone: Putamen und Pallidum-Neuron mit kortikalem Eingang und Verbindung zum Thalamus, vgl. Abb. 26.25, direkter Weg. Bei fehlendem kortikalen Eingangssignal sind Neurone im Puta-

men inaktiv und Pallidum-Neurone hemmen den Thalamus (Reihe 1). Kortikale Aktivität (Reihe 2 oben) erregt Putamenneurone, die Pallidum-Zellen hemmen. Dadurch wird der Thalamus für andere Eingänge (z. B. vom Kortex) geöffnet (Reihe 2 unten).

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26.6 Basalganglien: Struktur, Funktion und klinische Zeichen 1

2

Kortex

Kortex

Putamen

Putamen

Thalamus

Thalamus

Dopaminausfall

Pars externa

Substantia nigra Pars compacta

indirekter Weg

indirekter Weg

Chorea Huntington Globus pallidus

Parkinson

Globus pallidus

Pars externa

Pars interna Globus pallidus

Substantia nigra Pars reticulata

hypokinetische Störung

Nucleus subthalamicus

Ballismus direkter Weg

direkter Weg

Nucleus subthalamicus

Pars interna Globus pallidus

Substantia nigra Pars reticulata

hyperkinetische Störung erregend

Abb. 26.27 Aktivitätsschema bei hypokinetischen (links) und hyperkinetischen (rechts) Bewegungsstörungen. Anordnung analog Abb. 26.25. Dopaminausfall (links) enthemmt den indirekten und disfaziliert (Wegfall der Förderung) den direkten Weg. Nettomäßig resultiert verstärkte Hemmung thalamokortikaler Neurone mit reduzierten Bewegungen. Umgekehrte Effekte bei Hyperkinesen (rechts):

oder Dystonien, u. U. verbunden mit abnormem Muskeltonus.

Schädigungen der Pars compacta der Substantia nigra führen zur Parkinson-Erkrankung Die von dem britischen Arzt James Parkinson 1817 beschriebene Erkrankung ist gekennzeichnet durch Bewegungsarmut (Akinese, Hypokinese), verlangsamte Bewegungen (Bradykinese), erhöhten Muskeltonus (Rigor), regelmäßiges (3 – 5/s) Zittern in Ruhe (Ruhetremor) und veränderte posturale Reflexe. Den Symptomen liegt eine Degeneration der dopaminergen nigrostriatalen Neurone zugrunde. Durch den Ausfall dieser Verbindung wird der direkte Basalganglienweg weniger gefördert und der indirekte weniger gehemmt. Netto resultiert eine verstärkte Hemmung von ventrolateralen und ventroanterioren Kerngruppen des Thalamus mit dem Resultat, dass die Funktion der skelettmotorischen Schleife (Abb. 26.23) im Thalamus beeinträchtigt ist (Abb. 26.27). Dieser Effekt kann die Bewegungsarmut und die Startschwierigkeiten des Parkinson-Kranken erklären.

hemmend

herabgesetzte Aktivierung der pallidalen Pars interna und der nigralen Pars reticulata führt zur Öffnung der thalamokortikalen Verbindung und Spontanbewegungen (Chorea). Prinzipiell ähnliche Effekte durch Ausfall subthalamischer Neurone (Ballismus). Erhöhte Aktivität durch breitere, verminderte durch schmalere Pfeile und Linien angedeutet.

Die Erklärung anderer Symptome, z. B. des Tremors, ist allerdings weniger evident. Den Tremor verursachen könnten tierexperimentell nachgewiesene spezielle Eigenschaften thalamischer Neurone, die je nach Membranpotenzial völlig unterschiedliche Entladungsmuster zeigen. Bei einer Depolarisation kommt es zu regelmäßigen Einzelaktionspotenzialen, während eine Hyperpolarisation rhythmische Ca2+-Schrittmacherpotenziale auslöst (s. S. 843), denen Aktionspotenzialsalven aufgesetzt sind, die die rhythmischoszillierende Tremoraktivität hervorrufen könnten. Die Hyperpolarisation würde ihrerseits auf der beschriebenen (Abb. 26.27,1) verstärkten Hemmung des Thalamus bei Parkinson-Patienten beruhen. Die Aufklärung der pathophysiologischen Mechanismen der Basalganglienerkrankungen war dadurch erschwert, dass es keine den Erkrankungen entsprechenden Tiermodelle gab. Wegen der strukturellen und funktionellen Komplexität der beteiligten Systeme resultierten stereotaktische oder pharmakologische Eingriffe nur in Teilbildern. „Parkinson“ ist assoziiert mit höherem Lebensalter. In den 80er Jahren fanden sich in Kalifornien jedoch Jugendliche, die akut das Vollbild der Parkinsonsymptomatik boten. Man fand als Ursache, dass sie ein Verunreinigungsprodukt der Heroinsynthese zu sich ge-

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26 Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik

spinale Eingänge Spinozerebellum Vermis

pontine Eingänge

Nucleus fastigii Nucleus Deiters Lobus anterior

mediale deszendierende Systeme

Pars intermedia

Nucleus interpositus

laterale Hemisphäre

Zerebrozerebellum

768

laterale deszendierende Systeme Ausführung Lobus posterior

Lobus flocculonodularis vestibuläre Eingänge

Nucleus dentatus M1, prämotorischer Kortex

Vestibulariskerne Nodulus

Gleichgewicht Okulomotorik

Planung Programm

Vestibulozerebellum

Abb. 26.28 Funktionelle Anatomie des Kleinhirns. Entsprechend den Eingängen (links) Einteilung in Vestibulo-, Spino- und Zerebrozerebellum (zusätzliche visuelle Eingänge im Vermis des rostralen Hinterlappens nicht dargestellt). Efferente Projektionen und motorische Funktionen rechts: nommen hatten, MPTP. Die Substanz wird im Gehirn durch die Monoaminooxidase B in MPP + überführt, das durch Dopamintransporter in dopaminerge Neurone aufgenommen wird und diese durch mitochondriale Interferenz zerstört. MPTP wird inzwischen als Hilfsmittel der Parkinsonforschung eingesetzt, erzeugt bei Primaten das Vollbild der Erkrankung und ermöglicht genauere Untersuchungen der pathophysiologischen Zusammenhänge.

Seit langem ist bekannt, dass der Mangel am endogenen Transmitter Dopamin durch Zufuhr von L-Dopa (einer liquorgängigen Vorstufe in der Biosynthese von Dopamin) ausgeglichen werden kann. Die Symptomatik und damit die Lebensqualität bessert sich deutlich. Allerdings kann mit dieser symptomatischen Therapie der degenerative Prozess nicht gestoppt werden, d. h. die therapeutischen Erfolge sind vorübergehend (LDopa muss zur Synthese in noch vorhandene dopaminerge Neurone aufgenommen werden können). Daher untersucht man in jüngster Zeit mit Hilfe des MPTPModells, ob die Transplantation dopaminproduzierenden embryonalen Gewebes ein sinnvolles Therapiekonzept darstellt. In den letzten Jahren hat man sich wieder der neurochirurgisch-stereotaktischen Ausschaltung bestimmter Basalganglienabschnitte zugewendet, einem bereits vor mehr als 40 Jahren eingesetzten therapeutischen Verfahren. Sowohl bei MPTP- als auch bei Parkinson-Patienten führt die Koagulation des inneren Pallidum zur Besserung der Akinese, die von einer Aktivierungserhöhung in der supplementär bzw. prä-

über mediale Kerne und Deiters zu medialen, über Interpositus zu lateralen absteigenden Systemen (Ausführung von Bewegungen); über Dentatus zum Motorkortex (Programmierung von Bewegungen); über Vestibulariskerne Gleichgewichtsregulation und Augenbewegungen.

motorischen Area begleitet ist (Nachweis mit bildgebenden Verfahren, s. Kap. 28.10). Der Effekt dürfte auf einer Reduktion der gesteigerten Thalamus-Hemmung (Abb. 26.27,1) beruhen, auch wenn es bei der Komplexität der Systeme nahezu unmöglich ist, einen Zielort ohne Schädigung benachbarter oder gar hindurchziehender Fasern zu lädieren. Entsprechendes gilt für die relativ neue eletrische Reizung von Basalganglienanteilen über stereotaktisch implantierte Elektroden („deep brain stimulation“). Sowohl Reizung des Nucl. subthalamicus als auch des inneren Pallidum können die Symptome von Parkinson und Dystonien bessern. Der Mechanismus ist ungeklärt, muss aber wohl auch auf einer verminderten Hemmung im Thalamus beruhen. In Frage kommt eine reizinduzierte Aktivierung der hemmenden Afferenzen dieser Strukturen oder eine Inaktivierung der Efferenzen, z. B. durch einen elektrisch ausgelösten Depolarisationsblock (Inaktivierung von Na+-Kanälen, s. S. 76).

Ungewollte Bewegungen kennzeichnen hyperkinetische Syndrome Hyperkinetische Erkrankungen zeigen unkontrollierte, überschießende rasche Bewegungen, die als unerwünscht abgerufene Fragmente motorischer Programme imponieren. Die nach George Huntington (1872), Arzt auf Long Island, benannte Chorea beruht auf einer Degeneration striataler Zellen, insbesondere der

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26.7 Kleinhirn: Struktur, Funktion, Symptome GABA/Enkephalin-Neurone (s. Abb. 26.25 und 26.27, 2). Dadurch wird die Funktion des indirekten Weges eingeschränkt und die Disinhibition des direkten Wegs überwiegt. Als Folge wird die thalamokortikale Verbindung erregenden Eingängen vermehrt zugängig. Der Symptomatik des Ballismus (proximal betonte ausfahrende Schleuderbewegungen) liegt eine Schädigung des Nucleus subthalamicus oder seiner efferenten Fasern zugrunde. Dadurch werden die hemmenden Neurone der Pars interna des Pallidums nicht mehr aktiviert. Auch dies führt letztlich dazu, dass die thalamokortikale Verbindung für andere erregende Eingänge geöffnet wird (Abb. 26.27, 2). Dystonien gehen mit langsamen Steigerungen des Muskeltonus einher, die zu abnormen Bewegungen und bizarren Haltungen führen. Ihnen verwandt sind Athetosen, langsame wurmartige Hyperkinesen vor allem distaler Extremitätenabschnitte.

26.7

Kleinhirn: Struktur, Funktion, Symptome

Im Kleinhirn ist aufgrund spinaler und kortikaler Informationszuflüsse der gesamte Körper sensomotorisch mehrfach repräsentiert (Homunkuli). Trotzdem manifestieren sich zerebelläre Erkrankungen nicht in Sensibilitätsausfällen oder Lähmungen, sondern in Koordinationsstörungen von Stütz- und Zielmotorik. Normalerweise ist das Kleinhirn für den präzisen zeitlich-räumlichen Einsatz von Muskeln und Muskelgruppen zuständig. Dazu entwickelt es zeit- und ortsabhängige Erregungsmuster. Diese Muster dienen dazu, die Aktivität verschiedener Muskelgruppen aufeinander und auf die Erfordernisse der Bewegung abzustellen. Zytoarchitektur und Verschaltungsprinzipien sind in allen Abschnitten des Zerebellums gleichartig, was nahelegt, dass generell das gleiche Arbeitsprinzip eingesetzt wird. Insofern sind Funktionsstörungen vor allem Ausdruck der afferenten und efferenten Verbindungen. Diese sind in verschiedenen Abschnitten des Kleinhirns unterschiedlich und betreffen die Okulomotorik, die Stabilisierung von Gleichgewicht und Körperhaltung, die Abstimmung von Haltung und Bewegung sowie die Zielmotorik. 26.7.1

Funktionelle Anatomie Das Kleinhirn besteht aus Kortex, Kernen und weißer Substanz

Das Kleinhirn hat sich phylogenetisch vor allem in den lateralen Abschnitten stark vergrößert (bei 10% des Volumens enthält es über 50 % der Neurone des Gehirns). In die Faserverbindungen des zerebellären Kortex sind auf jeder Seite drei Kerne eingelagert (Nucleus fastigii, interpositus und dentatus). Die Efferenzen (Purkinje-Zellen) der Rinde hemmen die Kern-Neurone, deren erregende Axone das Kleinhirn verlassen. Schmale Faltungen („Folien“) bilden die Basis der Mikroanatomie. Aufgefaltet würde die Rindenoberfläche 20 × 100 cm betragen.

Das Kleinhirn lässt sich anatomisch, phylogenetisch oder funktionell gliedern Unterschiedliche Kriterien resultieren in unterschiedlichen Einteilungsweisen, wobei sich die entsprechenden Begriffe teilweise überlappen. Makroanatomie. Ein Lobus anterior (Vorderlappen) kann vom großen Lobus posterior (Hinterlappen) und dieser vom relativ kleinen Lobus flocculonodularis abgegrenzt werden (Abb. 26.28). Zwei parasagittale Furchen trennen einen zentralen Streifen, den Vermis (Wurm), von den Hemisphären. Bei letzteren unterscheidet man auf jeder Seite einen großen lateralen Teil und eine schmale, an den Wurm grenzende Pars intermedia. Der Vermis und die beiden Hemisphärenabschnitte projizieren jeweils auf unterschiedliche zerebelläre Kerne und damit auf unterschiedliche efferente Systeme; insofern hat die sagittale Einteilung auch funktionelle Bedeutung. Phylogenetische Aspekte. Der entwicklungsgeschichtlich älteste Teil, das Archizerebellum, entspricht dem Lobus flocculonodularis. Phylogenetisch jünger ist das Paläozerebellum, das im Wesentlichen den Vermis des Vorderlappens, aber auch den kaudalen Teil des Hinterlappenwurms und den Paraflokkulus umfasst. Den weitaus größten Teil bildet beim Menschen das Neozerebellum, auf das die Hemisphären und der mittlere Anteil des Vermis entfallen. Funktionell-anatomische Kriterien. Teilweise folgt die phylogenetische Unterteilung den afferenten Eingängen des Kleinhirns. Das Vestibulozerebellum, das dem Lobus flocculonodularis entspricht, erhält Eingänge vom Vestibularsystem (Axone von N. VIII und aus den Vestibulariskernen) und projiziert zu den Vestibulariskernen. Funktionell kontrolliert es Augenbewegungen, deren Abstimmung mit der Stellung von Kopf und Hals sowie das Gleichgewicht. Das Spinozerebellum umfasst den anterioren und posterioren Vermis und die Intermediärzone. Es erhält somatosensorische Information aus der Peripherie und projiziert auf den Nucleus fastigii und den Nucleus interpositus. Allerdings projiziert auch die Großhirnrinde in die Pars intermedia, d. h. das Spinozerebellum ist nicht rein spinal verschaltet. Das Zerebrozerebellum (= Pontozerebellum) ist weitgehend identisch mit den lateralen Hemisphärenanteilen. Eingänge laufen über pontine Kerne und entstammen dem Großhirn. Der Ausgang erfolgt über den Nucleus dentatus und den Thalamus zu M 1 und Area 6. 26.7.2

Feinstruktur und synaptische Verschaltung

Die Kleinhirnrinde enthält fünf Typen von Neuronen mit gleichförmiger mikroanatomischer Anordnung in allen Rindenabschnitten.

Der Kortex des Zerebellum ist in drei Schichten angeordnet Die Kleinhirnrinde lässt drei Schichten erkennen (Abb. 26.29 A). Die außen gelegene Molekularschicht enthält die aufsteigenden Axone der Körnerzellen (Parallelfasern), Dendriten der Purkinje-Zellen und eingelagerte hemmende Interneurone (Stern- und Korbzellen). Darunter schließt sich die Purkinjezellschicht mit den großen Purkinje-Zellen an. Deren ausgedehnter Dendritenbaum erstreckt sich in die Molekularschicht und ist spalierbaumartig senkrecht zur Längsachse des Foliums und zu den T-förmig verzweigten Parallelfasern angeordnet. Pur-

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26 Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik

Parallelfasern Purkinje-Zelle Sternzelle

Molekularschicht Purkinjezellschicht Körnerschicht

weiße Substanz Korbzelle Golgizelle

Körnerzelle

A

Parallelfasern

Glut

Moosfaser

Sternzelle Korbzelle GABA

Kletterfaser

GABA PurkinjeZelle

B

Kletterfaser

Golgizelle Körnerzelle

GABA

Zelle der Kleinhirnkerne

5HT

NA

Asp 0 – 3 Hz

Transmitter:

Moosfasern ACh? 10 –100 Hz

exzitatorisch inhibitorisch

Abb. 26.29 Zelluläre Anordnung und synaptische Verschaltung im Kleinhirn. A Schichtförmiger Aufbau der Kleinhirnrinde (Molekular-, Purkinjezell- und Körnerschicht) mit Anordnung von fünf Zelltypen (Purkinje-, Körner-, Golgi-, Stern- und Korbzellen) und zwei Afferenzen (Moos- und

kinje-Zellen sind die Efferenzen der Kleinhirnrinde; ihre Axone ziehen durch die weiße Substanz zu den zerebellären Kernen und dem lateralen Vestibulariskern (Deiters). Die Körnerschicht enthält die Körnerzellen (mit 3 × 1010 größte homogene Neuronenpopulation des ZNS) als Ursprung der Parallelfasern sowie einige Golgizellen.

Purkinje-Zellen werden über zwei unterschiedliche Systeme erregt Die Eingangssignale der Kleinhirnrinde wirken erregend und entstammen (Abb. 26.29 B) zwei unterschiedlichen Quellen. Sie endigen an Purkinje-Zellen in unterschiedlicher Weise und haben unterschiedliche Funktion. Moosfasern (50 Millionen) sind Axone von Neuronen in Hirn-

untere Raphe- Locus Olive Kerne coeruleus

Pons, Rückenmark, Vestibularsystem

Kletterfasern). B Synaptische Verschaltung von Parallelfasern und einer Kletterfaser sowie monoaminerge Projektionen. Transmitter wie angegeben, 7 = hemmende, ⊕ = erregende Wirkung.

stammkernen und Rückenmark (spinozerebelläre Trakte). Sie vermitteln Information aus Großhirnrinde (über pontine Kerne) und Peripherie und aktivieren die Körnerzellen, die ihrerseits über ihre Axone, die Parallelfasern, Purkinje-Zellen erregen. Eine Parallelfaser hat jeweils nur eine Synapse pro Purkinje-Zelle. Kletterfasern (Climbing fibers) entspringen einem Kernkomplex im Hirnstamm, der unteren Olive. Sie ranken sich wie Efeu am Dendritenbaum der Purkinje-Zelle empor; eine einzelne Kletterfaser bildet etwa 200 erregende Synapsen pro PurkinjeZelle. Die Auslösung eines Aktionspotenzials einer Purkinje-Zelle über den Parallelfaser-Eingang benötigt erhebliche räumliche Summation; dagegen erregt schon ein einzelnes Kletterfaser-Aktionspotenzial die PurkinjeZelle überschwellig. Eine Purkinje-Zelle hat synaptische

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26.7 Kleinhirn: Struktur, Funktion, Symptome Kontakte mit nur einer Kletterfaser; hingegen konvergieren auf sie etwa 100 000 Parallelfasern.

GABA ist der Transmitter der zerebellären Kortexneurone mit Ausnahme der Körnerzellen Die Neuronentypen der Kleinhirnrinde sind in Abb. 27.29 A dargestellt, die Verschaltungen mit den Transmittern in Abb. 26.29 B. Purkinje-Zellen benutzen GABA als Transmitter und hemmen die tonisch entladenden Neurone der Kerne. Beide zerebellären Eingänge erregen außer den Purkinje-Zellen über Kollateralen auch die Kleinhirnkerne. Hemmende Interneurone werden vor allem über den Moosfaser-Weg aktiviert, sowohl in Form einer Vorwärtshemmung der Purkinje-Zellen als auch einer Feedbackhemmung am Körnerzelleingang (Golgizellen). Purkinje-Zellen kontrollieren die Erregung der nukleären Ausgangsneurone, werden aber selbst auch hemmend kontrolliert (Disinhibition der Kernneurone, s. Abb. 26.30 am Beispiel Deiters-Neurone)). Monoaminerge Einflüsse aus Raphekernen und Locus coeruleus modulieren die Verschaltung auf im Einzelnen noch ungeklärte Weise.

26.7.3

Erregungsmuster zerebellärer Neurone Entladungsmuster am Kleinhirnausgang drücken Disinhibition und laterale Hemmung aus

Die kortikale Verschaltung des Moosfaser/ParallelfaserWegs bedeutet, dass Purkinje-Zellen zunächst erregt und anschließend gehemmt werden, z. B. durch die Korbzellen. Dieses Zeitmuster von Erregung/Hemmung der Purkinje-Zellen wird als Hemmung/Disinhibition an die Ausgangsneurone weitergegeben und kann sich z. B. auf spinaler Ebene auswirken (Abb. 26.30 A). Daneben ist die räumliche Anordnung der Kleinhirnneurone wichtig. Axonkollateralen der Korbzellen laufen senkrecht zu den Parallelfasern und parallel zu den Dendritenbäumen der Purkinje-Zellen. Werden sie aktiviert, hemmen sie über ca. 1 mm beidseits in der Sagittalebene lateral gelegene Purkinje-Zellen. Das heißt, diese laterale Hemmung fokussiert die Erregung auf die im zentralen ParallelfaserStrahl liegenden Purkinje-Zellen (Abb. 26.30 B).

Körnerzellen sind Teil eines Netzwerks der Bewegungskoordination Die Ortsmuster der Erregung deuten an, wie das Zerebellum seine Funktionen erfüllt. In diesem Zusammenhang sind zwei neuere Ergebnisse wichtig:

A Parallelfasern

B Korbzelle

Korbzelle

Purkinje-Zelle

hemmende Korbzellen

PurkinjeZelle Körnerzelle

Purkinje-Zellen

C

Moosfaser

Deiters-Zellen

Körnerzelle

aufsteigender Trakt vestibulospinaler Trakt Korbzelle Hinterwurzel

Purkinje-Zelle

Motoneuron 0

100

200

300 ms

Abb. 26.30 Zeitliche und räumliche Erregungsmuster im Kleinhirn. A Aufsteigende Aktivierung von Purkinje- und Korbzellen über den Parallelfaserweg. Entladungen der Purkinje-Zellen verstärken die Hemmung im nachgeschalteten Deiterskern (Abwärtspfeil). Unterbrechung der tonischen Purkinje-Zellen-Entladungen durch Korbzellaktivität führt zu disinhibitorischen Entladungen im Deiters (Aufwärtspfeil).

Übertragung des Musters auf spinale Extensormotoneurone. B, C Schema eines Foliums in Querschnitt (B) und Aufsicht (C). Erregung von Purkinje-Zellen über Körnerzellen und Parallelfasern führt zum räumlich zentrierten Aktivitätsgipfel (rote Punkte in B, helle Zone in C). Simultane Erregung hemmender Neurone führt zur Hemmung benachbarter Purkinje-Zellen (graue Zonen in C).

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26 Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik B

A

Area 4, M1

Area 6, 4

Thalamus

Pons Hemisphären Kortex

Nucleus dentatus

Nucleus interpositus

Nucleus fastigii

Nucleus Deiters

Nucleus ruber

Nucleus ruber

Rückenmark

Rückenmark

Rückenmark

Rezeptoren

Rezeptoren

Rezeptoren

Effektor

Abb. 26.31 Verschaltungsschemata der Elemente von Stützmotorik, geregelter Zielmotorik und ballistischen Bewegungen. A Neuronaler Regelkreis der Köperhaltung. Verbindung vom Fastigius zum Motorkortex (nur geringgradig zu Neuronen des ventralen Kortikospinaltrakts) sowie Zusammenhänge mit Okulomotorik nicht dargestellt.

– Nicht nur in der Kleinhirnrinde, sondern auch in jedem Kern existieren mehrere sensomotorische „Homunkuli“. – Parallelfasern sind mit etwa 6 mm deutlich länger als bisher angenommen. Im Rahmen eines „Homunkulus“ sind Myotome parallel zum Verlauf der Parallelfasern angeordnet, d. h. ein Parallelfaser„Strahl“ kontrolliert über einen entsprechenden Purkinje-ZellStrahl und einen Strahl nukleärer Neurone die Innervation synergistischer Muskeln an mehreren Gelenken. Je länger die Parallelfaser, desto größer die Zahl der nukleären Zellen, die funktionell zusammengefasst werden (6 mm Parallelfaser „bestreichen“ 3 mm Kernzone, d. h. ziemlich genau den Kerndurchmesser). Entsprechend der Orientierung der Folia innerhalb der Homunkuli koordiniert der Parallelfaser-induzierte „Kernstrahl“ Muskeln mehrerer Gelenke des Armes, der Wirbel etc. ParallelfaserStrahlen können auch zwei Kerne erfassen und damit unterschiedliche oder bilaterale Funktionen (z. B. Stehen im Falle der Nuclei fastigii) kombinieren. Ein Parallelfaser-Strahl mit den nachgeschalteten Elementen (Purkinje-Zell-Strahl, Kernstrahl) wäre somit ein Element, das komplexe, mehrere Gelenke umfassende Bewegungen koordiniert. 26.7.4

Assoziationskortex

intermediär Kortex

Kortex

Formatio reticularis

Thalamus

Pons

Vermis

C

Extrazerebelläre Projektionen und motorische Funktionen

Das Kleinhirn ist afferent und efferent mit motorisch aktiven Strukturen in Form von Rückmeldekreisen, aber auch von Neuronenketten verknüpft.

Effektor

Effektor

B Eingänge vom Motorkortex (M1, Area 4) ermöglichen über Pars intermedia Zielmotorik, die über periphere Rückkopplung geregelt werden kann. C Zuströme von Assoziationsarealen zu den Hemisphären/Dentatus werden in Programme für ballistische, nicht rückgekoppelte Bewegungen umgesetzt.

Das Kleinhirn hat Verbindungen mit Rückenmark, Hirnstamm und Neokortex Moos- und Kletterfaser-Afferenzen sind beschrieben. Spinozerebelläre (Moosfasern) und spinoolivozerebelläre (Kletterfasern) Trakte vermitteln Information über somatosensorische Abläufe (statisch, dynamisch, proprio- und exterozeptiv), aber auch über die Aktivität spinaler Interneurone (Abb. 26.12). Beides spielt für die Motorik eine Rolle. Darüber hinaus werden beide Eingänge vom Neokortex angesteuert (Moosfasern über pontine Kerne vom Assoziationskortex, Kletterfasern über die untere Olive vom Motorkortex). Analog sind die Ausgänge des Kleinhirns mit Vestibulariskernen, Rückenmark, Hirnstamm und Neokortex verbunden, wobei Vermis, Pars intermedia und laterale Hemisphären parallel unterschiedlich verschaltet sind (Abb. 26.28, 26.31).

Separate Abschnitte kontrollieren Augenbewegungen, Stütz- und Zielmotorik sowie ballistische Abläufe Der Vermis des Vorderlappens ist mit den zugehörigen Kernen in die spinale Stützmotorik integriert (Abb. 26.31 A). Aufsteigende spinozerebelläre Information und absteigende Effekte (retikulospinal, vestibulospinal) bilden ein peripheres Rückkoppelungssystem. Damit wird Information über die Körperhaltung unmittelbar in Akti-

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26.7 Kleinhirn: Struktur, Funktion, Symptome vitäten von Bahnen umgesetzt, die die axiale Muskulatur kontrollieren und damit Körperhaltung, Muskeltonus und stützmotorische Bewegungen nahezu reflektorisch steuern. In enger Zusammenarbeit mit dem Vestibulozerebellum wird das Gleichgewicht gesichert und die Okulomotorik in Zusammenhang mit Körperhaltung und AugeKopf-Koordination reguliert (vgl. S. 781). Die Pars intermedia ist im peripheren Teil ähnlich verschaltet (Abb. 26.31 B). Hinzu kommt eine zentrale Schleife mit dem Motorkortex. Sie ermöglicht der Pars intermedia eine Komparatorfunktion: die Pars intermedia erhält über Kollateralen vom Motorkortex eine „Kopie“ des endgültigen Bewegungsprogramms (= Efferenzkopie) und über spinozerebelläre Trakte die Information über die Durchführung der Bewegung. So werden Absicht (Soll) und Wirklichkeit (Ist) verglichen und Differenzen (= Fehlersignale) führen zur Kurskorrektur. Dies ist für die Kombination von Stütz- und Zielmotorik wesentlich, aber auch eine Zusammenarbeit mit der lateralen Hemisphäre ist möglich. Die lateralen Hemisphären sind Bestandteil von Verbindungen zwischen assoziativen Kortexarealen und dem Motorkortex (Abb. 26.31 C). Der Bewegungsplan des Assoziationskortex wird in den lateralen Abschnitten des Kleinhirns (parallel zu den Basalganglien) in motorische Programme umgesetzt und über den ventrolateralen Thalamus dem Motorkortex zur Ausführung übermittelt. Diese Kleinhirnabschnitte sind entscheidend für den korrekten Ablauf schneller, ballistischer Zielbewegungen, die keinen zeitlichen Spielraum für Rückkoppelungen bieten. Die kortikalen Projektionen von Interpositus und Dentatus haben zu der in Abb. 26.32 gezeigten Vorstellung über die Rolle des Kleinhirns bei Willkürbewegungen geführt. Sie geht von einer Kooperation dieser Kleinhirnabschnitte bei nicht-ballistischen Zielbewegungen aus. Bei ballistischen Bewegungen (Rückmeldung zu spät) könnte sie sich als Programmverbesserung bemerkbar machen, wenn die motorischen Abläufe wiederholt werden (motorisches Lernen). 26.7.5

Motorisches Lernen

Motorische Abläufe (u. a. Subprogramme, S. 755) muss man als Kleinkind erlernen oder man kann sie verbessern (Geschicklichkeitsspiele). Im ersten Fall begleiten strukturelle Änderungen das Lernen (z. B. Myelinisierung des Kortikospinaltrakts), im zweiten sind sie vermutlich mehr funktioneller Natur. Mit zunehmender Bedeutung der neurologischen Rehabilitation hat man vermehrt die Grundlagen motorischen Lernens untersucht. Dabei fand das Kleinhirn besonderes Interesse, auch wenn motorisches Lernen, ähnlich wie das Gedächtnis, wahrscheinlich an keine spezielle ZNS-Struktur („Lernzentrum“) gebunden ist. Ausgangspunkt war der vestibulookuläre Reflex, mit dessen Hilfe das Auge Objekte auch bei Kopfbewegungen fixieren kann (S. 776). Mit einer gesichtsfeldverändernden Prismenbrille wird der Reflex zunächst unterdrückt; nach einiger Zeit aber erholt er sich. Dieser

Assoziationskortex

planen

Basalganglien

Kleinhirnhemisphären

programmieren prämotorischer Kortex

M1 ausführen Kleinhirn intermediär

somatosensorische Information

Bewegung

kontrollieren

Abb. 26.32 Flussdiagramm geregelter Zielmotorik. Beteiligung der lateralen Hemisphären an Planung und Programmierung sowie der Pars intermedia an der kontrollierten Durchführung von Zielbewegungen. Verschaltungen im Thalamus, Ruber, Brücken- und Kleinhirnkernen nicht abgebildet.

Lernvorgang ist an die Intaktheit des Vestibulozerebellums gebunden. In tierexperimentellen Studien zum zerebellären Mechanismus wurde die Aktivierung von Purkinje-Zellen über den Parallelfaser- bzw. Kletterfaser-Weg bei wiederholten Handbewegungen untersucht. Eine Bewegung gegen eine unerwartet eingeführte Last führte zu vorübergehend unkorrekten Bewegungen im Handgelenk, die sich nach kurzer Zeit normalisierten. Parallel dazu stieg nach der Lastvergrößerung die Kletterfaser-Aktivität deutlich an, begleitet von einer Abnahme der Parallelfaser-induzierten Purkinje-Zell-Entladungen. Mit Normalisierung der Bewegungen „normalisierte“ sich die Kletterfaser-Aktivität, während die Parallelfaser-induzierten Purkinje-Zell-Entladungen vermindert blieben (verstärkte disinhibitorische Kraftentwicklung entgegen der erhöhten Last). Als Hintergrund dieses Lernprozesses nimmt man eine Interaktion der Kletter-/Parallelfaser-Synapsen an der Purkinje-Zelle an. 26.7.6

Zerebelläre Funktionsstörungen

Der regelmäßige Aufbau der Kleinhirnrinde lässt vermuten, dass in allen Abschnitten die gleichen „Rechenoperationen“ durchgeführt werden und dass sich die Ausfallsymptomatik in erster Linie aus den externen Verbindungen ergibt. Tab. 26.4 ordnet die wichtigsten Symptome den betroffenen Kleinhirnregionen zu. Die große Zahl von Symptomenbezeichnungen schließt nicht aus, dass sie lediglich unterschiedliche Aspekte der gleichen grundlegenden Fehlfunktion beschreibt. Gemeinsam ist allen das mangelhafte Zusammenspiel

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26 Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik Tabelle 26.4

Zerebelläre Verbindungen, Funktionen und Funktionsstörungen

Funktionelle Anatomie; Eingang/Ausgang Phylogenese

Funktion

Erregungskreis

Symptomatik

Vestibulo-Zerebellum: Lob. flocculonodularis; Archi-Zerebellum

Vestibularapparat/ Vestibulariskerne, tektospinal

reflektorisch Kontrolle vestibulookulärer Reflex sowie Kopf- und Halsstellung, Gleichgewicht

Störungen von Okulomotorik und Gleichgewicht: Rumpf- und Standataxie (posturaler Tremor, visuell nicht kompensierbar).

Spino-Zerebellum: Vermis anterior; Archi/PaläoZerebellum

Vestibularapparat, Propriozeption Hals, Rumpf, proximale Extremitäten/Fastigius und Deiters, ventromediale Systeme, M 1, ventraler Kortikospinaltrakt

Kontrolle Stützmotorik, peripher axialer und proximaler (zentral) Muskelgruppen

Störung der Stützmotorik: Stand- und Gangataxie, visuell kompensierbar.

Spino-Zerebellum: Pars intermedia; Paläo-Zerebellum

Somatosensorik Extremitäten, Efferenzkopie M 1/Interpositus, dorsolaterale Systeme, M 1, lateraler Kortikospinaltrakt

Kontrolle distaler Muskeln, Regelung Zielmotorik, Kurskorrektur

peripher/ zentral

Störung Zielmotorik : Extremitätenataxie, Asynergie, Dysarthrie. Beginn Eingelenkbewegung verzögert (M 1 zeitlich gestört).

Zerebro-Zerebellum: laterale Hemisphären; Neo-Zerebellum

Assoziationskortex über Brückenkerne/ Dentatus, Area 6, 4, lateraler Kortikospinaltrakt

Programme und Timing Zielmotorik und Ballistik

zentral

Störung Zielmotorik: Extremitätenataxie, Dysdiadochokinese, Dysmetrie, Asynergie. Beginn und vorausschauende Abstimmung Mehrgelenkbewegung gestört.

von Muskelgruppen, insbesondere bei Bewegungen, die mehrere Gelenke betreffen. Prozesse im Archizerebellum führen zu okulomotorischen Symptomen und zur Ataxie (schwankende Bewegungen) der axialen und proximalen Körperabschnitte. Zugrunde liegen gesteigerte Reflexabläufe. Lateral gelegene Erkrankungsherde äußern sich in Extremitätenataxie und Asynergie (fehlende Koordination von Muskelgruppen) bei Bewegungen. Diese werden in Einzelkomponenten zerlegt (Dekomposition), ein rascher Wechsel von Agonisten und Antagonisten ist nicht mehr möglich (Adiadochokinese) und das Ausmaß von Bewegungen ist falsch (Dysmetrie). Ein Intentionstremor (Wackeln bei Zielbewegungen) ist Ausdruck der Extremitätenataxie.

26.8

Augen- und Blickbewegungen

Die Stellung und Bewegung des Auges wird von drei Muskelpaaren gesteuert. Die Zugrichtungen dieser Augenmuskeln liegen etwa in den Ebenen der Bogengänge des Innenohres. Verschiedene Typen von Augenbewegungen unterstützen das visuelle System entsprechend dem jeweiligen Kontext. Reflektorische Augenbewegungen werden im Hirnstamm generiert. Der Kortex lenkt die Fovea auf ausgewählte stationäre oder bewegte Ziele.

26.8.1

Augenmuskeln und ihre Zugrichtungen

Sechs Muskeln bewegen das Auge: vier gerade (M. rectus superior und inferior; M. rectus lateralis und medialis) und zwei schräg verlaufende (M. obliquus superior und inferior). Diese Muskeln werden durch den N. oculomotorius, den N. trochlearis (M. obliquus superior) und den N. abducens (M. rectus lateralis) innerviert. Ein Motoneuron innerviert ca. 5 – 10 Muskelfasern, d. h. die motorischen Einheiten sind relativ klein. Diese kleinen motorischen Einheiten erlauben eine feine Regulation der Kontraktionskraft, wie sie für die Ausführung der äußerst präzisen Augenbewegungen notwendig ist. Die Kontraktionskraft wird durch Rekrutierung von motorischen Einheiten reguliert. Da eine veränderliche externe Last fehlt, gibt es an den Augenmuskeln keinen Muskeldehnungsreflex, obwohl Muskelspindeln vorhanden sind. Augenbewegungen werden klinisch in einem Bezugssystem beschrieben (Abb. 26.33), dessen Koordinaten mit den von der Natur gewählten nur teilweise übereinstimmen. Die Zugrichtungen der medialen und lateralen geraden Augenmuskeln liegen etwa in der Ebene der beiden horizontalen Bogengänge (Abb. 26.34) und die Kontraktion dieser Muskeln bewirkt eine Adduktion bzw. Abduktion des Bulbus. Die Zugrichtungen der oberen und unteren geraden bzw. schrägen Augenmuskeln entsprechen näherungsweise der Ebene der vertikalen Bogengänge (Abb. 26.34). Die vertikalen Bogengänge sind aber nicht in der frontalen bzw. sagittalen Ebene des Kopfes angeordnet, sondern nehmen eine um 458 gedrehte Stel-

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26.8 Augen- und Blickbewegungen optische Achse

Abduktion

Zugrichtung des M. obliquus superior

M. obliquus superior Elevation Extorsion

Intorsion

M. rectus medialis M. rectus superior M. rectus inferior M. rectus lateralis

optische Achse linkes Auge

Depression

linkes Auge von oben

Zugrichtung des M. rectus superior Adduktion

linkes Vestibularorgan von oben

Abb. 26.33 Koordinatensystem zur Benennung von Augenbewegungen um 3 Achsen. Die Torsionsachse entspricht der optischen Achse des Auges, die Horizontalachse und die Vertikalachse stehen im Drehmittelpunkt jeweils senkrecht zueinander und zur optischen Achse.

lung ein. Dementsprechend bewirkt eine Kontraktion dieser Augenmuskeln keine reine Hebung/Senkung bzw. Extorsion/Intorsion des Bulbus, sondern Bewegungen, die eine Kombination aus Drehung (Torsion) und vertikalen Komponenten darstellen. Die Anordnung von Bogengängen und Augenmuskeln in näherungsweise gleichen Raumebenen vereinfacht die Übertragung von sensorisch-vestibulären in okulomotorische Koordinaten. Da sich die Lagebeziehungen zwischen den Gleichgewichtsorganen und den Augenmuskeln nie verändern, kommt die basale Verschaltung des vestibulo-okulären Reflexes in jeder der drei Raumebenen mit jeweils drei Neuronen aus (siehe z. B. Abb. 26.36). 26.8.2

Typen von Augenbewegungen

Augenbewegungen können 1. kompensatorisch sein, 2. ruckartig visuelle Ziele erfassen (Sakkaden), 3. bewegte Ziele ruckfrei verfolgen (Zielfolgebewegungen), und 4. die Sehachsen gegeneinander verändern (Vergenzbewegungen). Augenbewegungen unterstützen die visuelle Orientierung und Wahrnehmung. Beim Gehen und Laufen halten Augenbewegungen das Abbild der Umwelt auf der Netzhaut dadurch stabil, dass Bildverschiebungen aufgrund von passiven Kopfbewegungen durch entgegengerichtete Augenbewegungen kompensiert werden. Diese kompensatorischen Augenbewegungen stellen vestibuläre und visuelle (optokinetische) Reflexe dar. Foveales Sehen und Explorieren wird ermöglicht durch motorische Programme, welche die Fovea rasch auf einen ausgewählten

horizontaler Bogengang

anteriorer vertikaler Bogengang

posteriorer vertikaler Bogengang

Abb. 26.34 Lagebeziehungen zwischen den Zugrichtungen der Augenmuskeln und den Ebenen der Bogengänge im Innerohr. Die Zugrichtungen der Mm. rectus lateralis und medialis liegen ebenso in der Ebene des Papiers wie der horizontale Bogengang des ipsilateralen und (nicht gezeigt) des kontralateralen Labyrinths. Senkrecht dazu und näherungsweise in einer gleichen Ebene liegen die Zugrichtungen der Mm. rectus superior und inferior, der anteriore vertikale Bogengang des ipsilateralen und der posteriore vertikale Bogengang des kontralateralen Labyrinths. Eine entsprechende räumliche Orientierung existiert für die Zugrichtungen der Mm. obliquus superior und inferior mit der Ebene des ipsilateralen posterioren bzw. des kontralateralen anterioren vertikalen Bogengangs. Allgemein ergibt sich daraus, dass die Zugrichtungen von funktionellen Augenmuskelpaaren und die Ebenen der entsprechenden funktionellen Bogengangspaare näherungsweise jeweils die gleiche Orientierung aufweisen.

Fixationspunkt lenken (Sakkade) bzw. die Fovea einem bewegten Objekt unseres Interesses ruckfrei nachführen (Zielfolgebewegung). Solange sich die Distanz zwischen dem betrachteten Gegenstand und den Augen nicht ändert, bewegen sich beide Augen konjugiert, d. h. gleich schnell und in die gleiche Richtung. Beim Blickwechsel auf einen näher oder ferner gelegenen Punkt müssen die Sehachsen der beiden Augen stärker konvergieren bzw. divergieren, damit der fixierte Gegenstand auf den Foveae beider Augen abgebildet bleibt. Das Entstehen von Doppelbildern wird durch diese Vergenzbewegungen der Augen verhindert.

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26 Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik passive Kopfdrehung

90° rechts

0° geradeaus

kompensatorische Augenbewegung

0° geradeaus 20° links kompensatorische langsame Phase schnelle Rückstellphase

Abb. 26.35 Vestibulo-okulärer Nystagmus bei einer Kopfdrehung um 908 nach rechts (im Uhrzeigersinn). Alternierend bewegen sich die Augen langsam nach links (langsame Phase) und schnell nach rechts (schnelle Phase). Die Richtung des Nystagmus wird nach der Richtung der leichter erkennbaren schnellen Phasen bezeichnet. Registrierungen dieser Art nennt man Nystagmogramm.

Kompensatorische und zielfolgende Augenbewegungen werden oft miteinander verwechselt, sind aber sehr verschieden: kompensatorische Reflexe werden im Hirnstamm, Zielfolgebewegungen werden im Kortex generiert. Dieser Unterschied ist klinisch von Bedeutung, da selbst bei Patienten in tiefer Bewusstlosigkeit noch kompensatorische Augenreflexe auslösbar sind, solange der Hirnstamm intakt ist. Auslenkungen der Augen in der Orbita sind anatomisch auf etwa ± 55 Winkelgrad begrenzt. Um ein mechanisches Anschlagen der Augen bei kompensatorischen Bewegungen zu verhindern, werden die Augen immer wieder mit einer schnellen Bewegung in die Nähe ihrer Primärposition in der Orbita (d. h. Blick geradeaus) zurückgestellt (Abb. 26.35). Daraus ergibt sich eine rhythmische Abfolge von relativ langsamen, kompensatorischen Bewegungen in die eine und von raschen, sakkadischen Rückstellbewegungen in die entgegengesetzte Richtung, die man als Nystagmus bezeichnet. Die beiden alternierenden Komponenten stellen die langsame bzw. schnelle Phase des Nystagmus dar. Klinisch wird die Richtung eines Nystagmus nach der leichter erkennbaren schnellen Phase benannt (z. B. als Rechtsnystagmus in der Abb. 26.35).

Kompensatorische Augenbewegungen stabilisieren das Abbild der Umwelt auf der Netzhaut Bei der Lokomotion treten passive Bewegungen des Kopfes auf. Damit besteht die Gefahr, dass sich das Bild der stationären Umwelt über die Netzhaut bewegt und wir deshalb die Umwelt nur noch bewegungsunscharf

wahrnehmen. Kompensatorische Augenbewegungen sind daher diesen passiven Kopfbewegungen entgegengerichtet. Sie reduzieren die Bildbewegung auf der Netzhaut (den sog. optischen Fluss) und ermöglichen die visuelle Orientierung während der Fortbewegung. Kompensatorische Augenbewegungen werden reflektorisch ausgelöst und zwar visuell durch den optischen Fluss bzw. vestibulär durch Drehbeschleunigungen des Kopfes. Beide Reflexe werden im Hirnstamm generiert, laufen unbewusst ab und ergänzen sich bei der Bildstabilisierung. Wären die Augen fest mit der Orbita verbunden, so entstünde während jeder Kopfbewegung eine entgegengerichtete Verschiebung des Bildes der stationären Umwelt auf der Netzhaut. Dies würde dazu führen, dass wir die Umwelt während Eigenbewegungen nur bewegungsunscharf sehen könnten. Um dies zu verhindern, müssen die jeweiligen Bewegungen des Kopfes durch entgegengerichtete Augenbewegungen so kompensiert werden, dass das Bild der Umwelt auf der Netzhaut stabil bleibt. Diese kompensatorischen Augenbewegungen werden durch vestibuläre und optokinetische Reflexe ausgelöst. Auslösende Reize des vestibulo-okulären Reflexes sind Dreh- bzw. Linear-Beschleunigungen des Kopfes (S. 679). Die basale Verschaltung des vestibulo-okulären Reflexes ist einfach und kommt mit drei Neuronen aus. Vestibuläre Afferenzen aus dem linken horizontalen Bogengang (Abb. 26.36) aktivieren z. B. vestibuläre Kernneurone und diese wiederum Abduzens-Motoneurone auf der Gegenseite. Eine konjugierte Bewegung beider Augen kommt durch die Mitbeteiligung von Interneuronen im Abduzenskern zustande. Diese erhalten das gleiche Geschwindigkeitssignal wie die Motoneurone (Abb. 26.36), erregen aber über ihre Axone jene Motoneurone im gegenüberliegenden Okulomotoriuskern, die den linken M. rectus medialis innervieren. Auf diese Weise erhalten der rechte laterale und der linke mediale gerade Augenmuskel das gleiche erregende Signal, während die Motoneurone der antagonistischen Muskeln gehemmt werden. Die Interneurone im Abduzenskern sind auch an konjugierten raschen Augenbewegungen (Sakkaden) beteiligt. Ein Ausfall ihrer Projektionen über den medialen longitudinalen Faszikel zum kontralateralen Okulomotoriuskern (z. B. wegen eines Tumors oder einer Demyelinisierung) führt zu einer sog. internukleären Ophthalmoplegie: nach der Aufforderung „Blick nach rechts“ schaut der Patient mit dem rechten Auge nach rechts und mit dem linken Auge weiterhin geradeaus. Genau spiegelbildliches Verhalten tritt nach der Aufforderung „Blick nach links“ auf.

Wenn wir langsam den Kopf nach rechts drehen, so bewegt sich der gesamte visuelle Hintergrund nach links. Die zugrunde liegende großflächige Bewegung des Bildes auf der Netzhaut wird als optischer Fluss bezeichnet und stellt den auslösenden Reiz für den optokinetischen Reflex der Augen dar. Richtung und Geschwindigkeit der Bildverschiebung werden von bewegungsempfindlichen retinalen Ganglienzellen kodiert. In der prätektalen Region aktivieren diese Eingangssignale richtungsspezifische Neurone im Kern des optischen Trakts sowie in den akzessorischen optischen Kernen. Der Ausgang dieser

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26.8 Augen- und Blickbewegungen Neurone erreicht u. a. über das Kleinhirn die vestibulären Kerne, wo sie mit vestibulären Signalen konvergieren. Diese optokinetisch-vestibulären Signale aktivieren die langsame Phase des optokinetischen Nystagmus (in die Richtung des optischen Flusses, also entgegen der Kopfdrehung) und die langsame Phase des vestibulo-okulären Reflexes (ebenfalls entgegen der Kopfdrehung). Vestibulär und optokinetisch ausgelöste Augenbewegungen arbeiten also synergistisch. Optokinetische und vestibuläre Reflexe der Augen ergänzen sich auch im Zeit-, Geschwindigkeits- und Frequenzbereich. Die Latenz des optokinetischen Nystagmus ist wegen des langsamen Informationsflusses in der Retina lang (150 – 200 ms) verglichen mit der des vestibulo-okulären Reflexes (ca. 15 ms). Bei einer Kopfdrehung mit konstanter Geschwindigkeit klingt der vestibulo-okuläre Reflex wegen der fehlenden Beschleunigung über die Zeit ab, während der optokinetische Nystagmus durch den optischen Fluss kontinuierlich aktiviert bleibt. Bei rhythmischen, passiven Bewegungen des Kopfes (z. B. beim Joggen) sind optokinetische Reflexe im Frequenzbereich bis etwa 0,5 Hz am deutlichsten, vestibuläre Reflexe hingegen zwischen 0,5 und 5 Hz. Beide Reflexe ergänzen sich also mit dem Ziel, die Geschwindigkeit des optischen Flusses vorübergehend soweit zu reduzieren, dass der visuelle Kortex ein praktisch stationäres Bild der Umwelt genügend lange (mindestens 0,2 s) analysieren kann.

Kopfdrehung Augendrehung

M. rectus lateralis

M. rectus medialis

N. III

Okulomotoriuskerne

N. VI

mediales Längsbündel

ipsilateraler Abduzenskern Cupulaauslenkung im linken horizontalen Bogengang

Interneuron Motoneuron

kontralateraler Abduzenskern

Das neuronale Korrelat realer oder scheinbarer Drehgeschwindigkeit wird gespeichert Eine getrennte Simulation der auslösenden vestibulären oder optokinetischen Reize tritt bei Passivbewegungen auf (z. B. in der Eisenbahn oder im Auto) oder wird aus diagnostischen Gründen herbeigeführt. Die vorbeiziehende Landschaft beim Blick aus dem fahrenden Zug oder die Bewegung eines reich strukturierten Musters vor einem stationären Beobachter führen zu einem optischen Fluss auf der Retina, simulieren eine Eigenbewegung und lösen kompensatorische optokinetische Reflexe aus (z. B. den sog. Eisenbahnnystagmus). Beim Andrehen oder Abbremsen einer Versuchsperson auf einem Drehstuhl wird eine Kopfdrehung simuliert, die von den horizontalen Bogengangsorganen erfasst und kodiert wird. Um bei derartigen Tests die visuelle Fixation zu erschweren, setzt man der Versuchsperson eine sog. Frenzelbrille auf. Mit dieser vom Göttinger Otologen Frenzel entwickelten Brille wird die Brechkraft der Augen so stark erhöht, dass die Umgebung nicht mehr fixiert werden kann. Andererseits erlaubt diese Brille die Beobachtung der Augen. Beim plötzlichen Stopp aus einer Drehbewegung zeigt die Versuchsperson einen Nystagmus, bei dem die schnelle Phase entgegen der früheren Drehrichtung schlägt. Dieser postrotatorische Nystagmus zeigt die gleichen Eigenschaften wie der Nystagmus beim Andrehen (letzterer erfolgt aber in Drehrichtung). Die Dauer des postrotatorischen Nystagmus ist mit ca. 30 – 40 s wesentlich länger als die reizbedingten Änderungen der Entladungsrate von vestibulären Afferenzen (ca. 15 – 18 s). Ursache hierfür ist ein Netzwerk im Hirnstamm, das die neuronale Entladungsrate als Korrelat einer scheinbaren Drehgeschwin-

vestibuläre Kernneurone

Abb. 26.36 Verschaltungsschema des horizontalen vestibulo-okulären Reflexes (VOR) bei einer Kopfdrehung nach links. Utrikulopetale Auslenkung der Haarzellbüschel im linken horizontalen Bogengang führt zu einer erhöhten Entladungsrate in den afferenten Fasern aus diesem Bogengang und in vestibulären Kernneuronen der gleichen Seite. Hemmende vestibuläre Kernneurone projizieren in den ipsilateralen, erregende in den kontralateralen Abduzenskern und innervieren Motoneurone und Interneurone. Abduzens-Motoneurone aktivieren den lateralen geraden Augenmuskel auf der ipsilateralen Seite. Abduzens-Interneurone erreichen über das mediale Längsbündel den kontralateralen Okulomotoriuskern und erregen jene Motoneurone, die den medialen geraden Augenmuskel innervieren.

digkeit vorübergehend speichert und nur langsam (über 30 – 40 s) wieder verliert. Das gleiche Netzwerk speichert auch optokinetisch ausgelöste neuronale Aktivität. Deshalb tritt im Dunkeln nach einer optokinetischen Reizung ebenfalls ein Nachnystagmus auf. Wegen der Speicherung in einem gemeinsamen Netzwerk haben postrotatorischer Nystagmus und optokinetischer Nachnystagmus den gleichen Zeitverlauf. Der optokinetische Nachnystagmus klingt aber im Dunkeln ohne Änderung seiner Richtung aus, während der postrotatorische, vestibuläre Nystagmus dem Nystagmus während der Rotation entgegengerichtet ist. Die langsamen Phasen der beiden Nachnystagmen haben also entgegengesetzte Richtungen und heben sich deshalb gegenseitig auf. Nach einer einzelnen raschen Kopfbewegung tritt kein postrota-

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26 Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik torischer Nystagmus auf, da nach Beendigung einer kurzen Kopfbewegung die Cupula wieder in Ruhelage ist (S. 679 f.). Die Speicherung neuronaler Aktivität zur Generierung der momentanen Augengeschwindigkeit erleichtert einen Wechsel zwischen fixierenden und kompensatorischen Augenbewegungen. Während der Lokomotion unterdrücken wir z. B. zeitweilig die kompensatorischen Augenbewegungen, um einen Gegenstand zu fixieren. Danach kann der Hirnstamm sofort wieder kompensatorische Augenbewegungen aktivieren, indem er auf den gespeicherten Wert zugreift. Ohne diesen Rückgriff müssten kompensatorische Augenbewegungen über optokinetische Signale erst wieder generiert werden.

Drehschwindel und spontaner Nystagmus sind Symptome einer vestibulären Störung Stimmen vestibuläre und optokinetische Information nicht überein, so kann dieser sensorische Konflikt schwindelerregend wirken. Zu dramatischen akuten Symptomen kommt es beim Ausfall oder bei pathologischen Reizzuständen in einem der beiden Gleichgewichtsorgane. Mit einem kalorischen Test kann die betroffene Seite festgestellt werden. Vestibuläre, optokinetische und somatosensorische Reize lösen jeweils bewusste Lage- und Bewegungs-Empfindungen aus, die über Projektionen der vestibulären Kerne zum parietalen und retroinsulären vestibulären Kortex zustande kommen. Normalerweise stimmen bei einer Bewegung die zeitlich-räumlichen Informationen aus den verschiedenen Sinnesorganen überein. Es gibt aber Situationen, bei denen ein sensorischer Konflikt zu einer Kinetose (Bewegungskrankheit) führen kann, die mit Schwindelgefühl, Übelkeit, Erbrechen und Schweißausbruch einhergehen kann. So z. B., wenn wir im fahrenden Auto die Zeitung lesen und vestibuläre Information über Dreh- und Linearbeschleunigungen des Kopfes nicht mehr mit der optokinetischen Information zusammenpasst. Ein Blick aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft löst diesen sensorischen Konflikt in der Regel wieder auf. Akute einseitige Störungen der Labyrinthorgane führen neben den ungerichteten Symptomen einer Kinetose zu einem gerichteten Drehschwindel, Änderungen der Augenstellung in der Orbita (z. B. Abb. 26.15), einer Stand- und Gangunsicherheit sowie einer Fallneigung (siehe unten). Ein Spontannystagmus ist in dieser Situation ein wichtiger diagnostischer Hinweis auf eine Vestibulopathie (Einsatz einer Frenzelbrille, um Fixation zu unterdrücken). Die Symptomatik des Krankheitsbildes beruht auf einer Seitendifferenz der Ruheentladungen der afferenten vestibulären Neurone, die über die vestibuläre Kommissurenbahn (S. 601 ff.) neuronal verstärkt wird. Die Differenz wird zentral so interpretiert, als wäre sie durch eine Kopfbewegung ausgelöst worden, die zur Seite mit der höheren afferenten Aktivität gerichtet ist. Bei einer reduzierten neuronalen Aktivität auf der erkrankten Seite sind der Drehschwindel und die schnelle Phase des Spontannystagmus zur gesunden Seite gerichtet, die Fallneigung hingegen zur kranken Seite.

Um die erkrankte Seite bei einer peripheren vestibulären Erkrankung festzustellen, wird durch Spülung des äußeren Gehörgangs ein kalorischer Nystagmus ausgelöst. Hierbei wird die Wirksamkeit einer Warmbzw. Kaltspülung auf jeder Seite getrennt überprüft, um die Seite einer Über- oder Untererregung feststellen zu können (S. 680).

Sakkaden: blitzschnell und treffsicher Beim Blickwechsel lenken wir die Fovea ruckartig auf einen ausgewählten Punkt. Durch die hohe Geschwindigkeit dieser sakkadischen Augenbewegungen wird die Dauer der Augenbewegung und damit auch die Zeit kurz gehalten, während der unsere visuelle Wahrnehmung eingeschränkt ist. Horizontale und vertikale Komponenten einer Sakkade werden im Hirnstamm von verschiedenen Netzwerken generiert. Das motorische Kommando besteht aus einer kurzen Salve von Aktionspotenzialen, mit der das Auge auf das Ziel bewegt wird und aus einer langanhaltenden tonischen Aktivität, mit der die neue Position in der Orbita gehalten wird. Wir verlagern das Ziel unseres Blickes mit Hilfe von Sakkaden. Zum gleichen Typ von Augenbewegungen gehören die schnellen Phasen des Nystagmus. Diese Bewegungen sind vorprogrammiert, d. h. während ihres Ablaufs nicht mehr veränderlich (ballistisch). Sie gehören zu den schnellsten Bewegungen, die wir ausführen können (bis 7008/s), sind aber dennoch sehr präzise (auf 1 – 28 genau). Durch die hohe Geschwindigkeit wird die Dauer einer Sakkade (30 – 70 ms) kurz gehalten und damit auch die Zeit, in der die visuelle Bewegungswahrnehmung eingeschränkt ist (sog. sakkadische Suppression). In der Retikulärformation des Hirnstamms entstehen horizontale und vertikale Komponenten von Sakkaden an getrennten Stellen (Abb. 26.37). Horizontale Komponenten werden in der paramedianen pontinen retikulären Formation (PPRF) programmiert, vertikale und torsionale Komponenten hingegen in der mesenzephalen retikulären Formation (MRF). Die beteiligten Neurone der PPRF und der MRF sind über den medialen longitudinalen Faszikel (MLF) miteinander verbunden. Bei einer Sakkade werden die geforderten Augenmuskeln mit einer hochfrequenten Salve (engl. burst) von Aktionspotenzialen zur Kontraktion gebracht, während gleichzeitig die Antagonisten gehemmt werden. Diese Salven entstehen in einem neuronalen Netzwerk, dem Sakkaden-Generator. Der neuronale Generator für horizontale Sakkaden setzt sich aus unterschiedlichen Neuronenpopulationen zusammen, von denen die Burst-Neurone und die sog. Pausen-Neurone von besonderer Bedeutung sind. Das Startsignal für eine Sakkade kommt vom Colliculus superior oder aus dem frontalen Augenfeld (siehe unten). Etwa 16 ms vor Beginn einer Sakkade werden BurstNeurone von dort aktiviert und Pausen-Neurone gehemmt. Das pulsförmige Erregungsmuster der Burst-Neurone erreicht als Geschwindigkeitskommando für die Augen ipsilaterale Motoneurone und Interneurone im Abduzenskern (siehe Abb. 26.36) und resultiert in einer konjugierten horizontalen Sakkade beider Augen. Die Dauer der Salve kodiert die Amplitude einer Sakkade. Da diese Amplitude auf 1 – 28 genau sein muss, wird die Dauer einer Salve durch vorgeschaltete Pausen-Neurone präzise begrenzt.

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26.8 Augen- und Blickbewegungen

Thalamus Edinger-Westphal-Kern rostraler interstitieller Kern des MLF

Okulomotoriuskern (III)

mesenzephale retikuläre Formation (MRF)

Zerebellum

Trochleariskern (IV) Mesenzephalon

medialer longitudinaler Faszikel (MLF)

N III pontine Kerne Pons

paramediane pontine retikuläre Formation (PPRF)

Abduzenskern (VI)

N VI Medulla oblongata

Oliva inferior

motorische Kerne

Nucleus praepositus hypoglossi

prämotorische Kerne

Abb. 26.37 Medianansicht der blickmotorischen Kerne im Hirnstamm des Menschen. Horizontale Komponenten von Sakkaden werden in der paramedianen pontinen retikulären Formation generiert, vertikale und torsionelle Komponenten im rostralen interstitiellen Kern des medialen longitudinalen Faszikels in der mesenzephalen retikulären Formation. Der mediale longitudinale Faszikel stellt reziproke Verbindungen zwischen diesen beiden Kerngebieten sowie zwischen dem Abduzens- (VI), dem Trochlearis- (IV) und dem Okulomotoriuskern (III) her. (Modifiziert nach Horn und Büttner-Ennever, Neuroanatomie der okulomotorischen Kerne, Hirnstammzentren und -bahnen. In: Huber, A., D. Kömpf. Klinische Neuroophthalmologie. Stuttgart: Thieme; 1998: 34 – 47).

Die hohe Entladungsfrequenz während des Bursts sorgt dafür, dass das Auge mit hoher Geschwindigkeit eine neue Position in der Orbita erreicht. Diese neue Position in der Orbita muss aktiv gegen den Zug von elastischen Rückstellkräften aufrecht gehalten werden, um ein Zurückdriften der Augen in der anschließenden Fixationsperiode zu verhindern. Die Signale für den Haltetonus, der für die neue Augenposition erforderlich ist, kommen aus dem Nucleus praepositus hypoglossi (Abb. 26.37). Diese Neurone erhalten eine Kopie des Sakkadenkommandos. Am Ausgang tritt dann ein tonisches Signal auf, bei dem die Frequenz der Aktionspotenziale der jeweiligen Augenposition proportional ist.

Das entsprechende Netzwerk im Nucleus praepositus hypoglossi wird daher als der neuronale Integrator des Hirnstamms angesehen. Die Geschwindigkeitskommandos bei anderen Augenbewegungen behandelt der gemeinsame neuronale Integrator entsprechend dem Sakkadenburst. Die neuronalen Signale für eine Sakkade bestehen also aus einem Burst (Geschwindigkeitskommando) und aus einer tonischen Impulsrate (postsakkadisches Positionskommando), und beide Signale konvergieren auf die entsprechenden Motoneurone. Die Präzision einer sakkadischen Augenbewegung hängt damit von der korrekten Dauer des Bursts und von der Abstimmung im Verhältnis zwischen Geschwindigkeits- und Positionskommando ab. Die Burstdauer wird vom Vermis und das Verhältnis der Kommandos vom Flokkulus des Kleinhirns kontrolliert.

Sakkaden werden reflektorisch oder willkürlich ausgelöst Sakkaden treten zum einen reflektorisch beim Auftauchen eines bewegten Gegenstands in der Peripherie des Gesichtsfelds auf. Beim willkürlichen Explorieren der Umgebung oder eines Objekts lenkt der zerebrale Kortex die visuelle Aufmerksamkeit mit Hilfe von Sakkaden auf markante Stellen, wählt diese also als Ziel für die Fovea aus und unterdrückt gleichzeitig das Auftreten von reflektorischen Sakkaden. Patienten mit einem Ausfall bestimmer kortikaler Areale können reflektorische Sakkaden nicht mehr unterdrücken oder vernachlässigen Teile ihres Gesichtsfelds bei der sakkadischen Exploration. Direkte Verbindungen von der Retina über den kontralateralen Colliculus superior zu den blickmotorischen Kernen in der PPRF und MRF stellen die anatomische Basis für reflektorische Sakkaden dar. Diese Sakkaden entstehen, wenn plötzlich ein bewegtes Objekt in der Peripherie des Gesichtsfelds auftaucht. Mit diesem sog. visuellen Greifreflex wird das Objekt zur genaueren Identifikation auf die Fovea abgebildet. Entsprechend den zusätzlichen auditorischen und somatosensorischen Eingängen des Colliculus superior können plötzliche Geräusche oder Berührungen ebenfalls einen sakkadischen Greifreflex auslösen. Beim Explorieren unserer Umgebung machen wir ca. 3 Sakkaden pro Sekunde, an die sich eine Fixationsperiode von mindestens 0,2 s anschließt. Die Sakkaden werden auf Objekte gerichtet, die vom zerebralen Kortex als Ziele für die Fovea ausgewählt wurden. Die effiziente Exploration einer visuellen Szene, wie z. B. in der Abb. 26.38 A, erfordert, dass die visuelle Aufmerksamkeit auf markante Objekte (z. B. Köpfe bei Personen, Augen-Mund bei Gesichtern) gelenkt wird (Abb. 26.38 B), um möglichst rasch die wesentlichen Details zu erfassen. Bei dieser Orientierung der visuellen Aufmerksamkeit spielt der posteriore parietale Kortex (Area 7) mit seinen Projektionen zum Colliculus superior wie auch zum frontalen Augenfeld eine wichtige Rolle. Diese Bedeutung wird deutlich bei Patienten mit einem größeren Ausfall im Bereich des rechten parietookzipitalen Kortex (z. B. nach einem Hirninfarkt). Ein solcher Patient beachtet kaum noch die gegenüberliegende, linke Hälfte seines Gesichtsfelds (Abb. 26.38 C).

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26 Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik

Blickbewegungen

A Bildvorlage

B gesund (Betrachtungsdauer 12 Sekunden)

C mit visuellem Hemineglekt-Syndrom (60 Sekunden)

D mit visueller Agnosie (50 Sekunden)

Abb. 26.38 Physiologische und pathologische Augenbewegungsmuster beim Abtasten einer Szene. Ein gesunder Proband tastet die gesamte Szene auf dem Foto mit wenigen Fixationen (Punkte in B) ab und kann die wesentlichen Details der Szene nach einer kurzen Betrachtungszeit (12 Sekunden) korrekt wiedergeben. C Die Blickbewegungen eines Patienten mit einem visuellen Hemineglekt-Syndrom (nach einem parieto-okzipitalen Infarkt auf der rechten Seite; s. Text) bleiben auf den rechten Teil der Szene beschränkt.

Diese halbseitige Vernachlässigung des Gesichtsfelds (visueller Hemineglekt; S. 805) beruht nicht auf einer sensorischen Einschränkung des Gesichtsfeldes oder auf einer Störung der Okulomotorik, sondern auf der Unfähigkeit, die visuellen (aber auch akustischen und somatosensorischen) Informationen aus dem gegenüberliegenden Halbfeld für die Planung von Zielbewegungen zu nutzen. In Abb. 26.38 C kommt dieses Neglekt-Syndrom dadurch zum Ausdruck, dass die Sakkaden des Patienten auf den rechten Teil der Szene beschränkt bleiben und dass er auf Befragen nur von drei Männern und einem Hund zu berichten weiß (vgl. Abb. 28.7). Das frontale Augenfeld (Area 8) ist an der Planung von Augenbewegungen beteiligt. Es erhält Eingänge u. a. vom posterioren parietalen Kortex und projiziert direkt zu den blickmotorischen Kernen des Hirnstamms (PPRF und MRF). Eine weitere direkte erregende Verbindung erreicht den Colliculus superior, der darüber hinaus noch über den Nucleus caudatus und die Substantia nigra vom frontalen Augenfeld aus enthemmt werden kann.

Nach einer selbstgewählten Betrachtungszeit von 60 Sekunden berichtet er, nur 3 Männer und einen Hund gesehen zu haben. D Ein Patient mit einer visuellen Agnosie (nach okzipitotemporalem Infarkt links, vgl. S. 725) tastet die Szene sorgfältig ab und berichtet nach einer Beobachtungszeit von 50 Sekunden von Menschen und einem Tier, ist aber unsicher, ob es sich bei den Personen um Männer oder Frauen und bei dem Tier um einen Hund oder um eine Katze handelt (Foto und Daten von J. Zihl, München).

Trotz dieser mehrfachen Einflüsse auf die blickmotorischen Kerne äußert sich eine einseitige Läsion im Bereich des frontalen Augenfelds nur in einer vorübergehenden Beeinträchtigung der Blickverlagerung zur intakten Seite. Vermutlich wird in dieser Situation der ipsilaterale Colliculus superior von der Substantia nigra tonisch inhibiert und kann wegen der fehlenden Eingänge aus dem frontalen Augenfeld über den Nucleus caudatus nicht enthemmt werden. Viel aufschlussreicher ist bei solchen Patienten ein Test, bei dem der Patient aufgefordert wird, jeweils den visuellen Greifreflex beim Auftauchen eines visuellen Reizes zu unterdrücken und stattdessen in die entgegengesetzte Richtung zu schauen. Nach einer einseitigen Läsion des frontalen Augenfelds kann der Patient reflektorische Sakkaden zur intakten Seite nicht mehr unterdrücken und kann auch keine prädiktiven, willkürlichen Sakkaden zur intakten Seite machen. Das frontale Augenfeld generiert unter Mithilfe der Basalganglien motorische Programme für Willkürbewegungen der Augen (Abb. 26.23 B) und diese Programme haben Vorrang vor reflektorischen Sakkaden aus dem Colliculus superior.

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26.8 Augen- und Blickbewegungen

Zielfolgebewegungen werden vom Kortex gesteuert Kleine bewegte Objekte verfolgen wir foveal mit glatten, ruckfreien Folgebewegungen. Diese Zielfolgebewegungen werden kortikal gesteuert. Ändert sich bei diesen Folgebewegungen die Distanz zwischen dem bewegten Objekt und unseren Augen, so verändern wir den Sehwinkel der Augen, damit die Foveae beider Augen auf das gemeinsame Objekt ausgerichtet bleiben. Durch diese Vergenzbewegungen wird das Auftreten von Doppelbildern vermieden und die Tiefenwahrnehmung gefördert. Zur genauen Inspektion eines kleinen bewegten Objekts muss die Fovea den Bewegungen des Objekts ruckfrei und präzise folgen können. Diese fovealen Folgebewegungen stellen keinen optokinetischen Reflex des Hirnstamms dar, sondern werden kortikal gesteuert, denn: 1. muss aus mehreren bewegten Objekten (Fußballspiel) oft eines ausgewählt werden; 2. muss das Objekt für die Verfolgung interessant sein; 3. muss der optokinetische Reflex während der Verfolgung unterdrückt werden. Letzteres ergibt sich aus der Tatsache, dass sich bei einer Augenfolgebewegung z. B. nach rechts das Bild des stationären Hintergrunds nach links bewegt. Ein dadurch ausgelöster optokinetischer Reflex würde eine Verfolgung des Ziels verhindern. Information über eine Objektbewegung im Gesichtsfeld gelangt über das magnozelluläre System in die Colliculi superiores und über das Corpus geniculatum laterale in den visuellen Kortex. In der parietalen Großhirnrinde (Area 7), im medio-temporalen (Area 19) und im mediosuperior-temporalen Kortex (S. 705) wird diese Information zur Unterscheidung zwischen Eigen- und Fremdbewegung, zur Abschätzung von Distanzen und zur Planung von komplexen Zielbewegungen ausgewertet (z. B. Augen-Hand-Koordination bei Greifbewegungen). Blickmotorische Zentren des Hirnstamms werden dann über parietopontine Bahnen aktiviert, um zunächst die Fovea rasch (sakkadisch) auf das Ziel auszurichten und danach dem Ziel glatt folgen zu können. Essenziell für Folgebewegungen der Augen ist eine Mitbeteiligung von Purkinje-Zellen des Flokkulus im Kleinhirn und ihren hemmenden Verbindungen zu den Vestibulariskernen. Läsionen des Flokkulus führen dazu, dass die Augen einem Ziel nicht mehr ruckfrei folgen können. Die Bewegungen sind zu langsam geworden und die Fovea muss das Ziel immer wieder mit einer Korrektur-Sakkade einholen. Verkürzt sich die Distanz zwischen einem betrachteten Objekt und unseren Augen, so müssen die Sehachsen unserer Augen stärker konvergieren, damit die Abbildung auf beiden Foveae erhalten bleibt. Durch die Vergenzbewegungen der Augen wird die Tiefenwahrnehmung gefördert und das Auftreten von Doppelbildern vermieden (S. 775 f.). Die Einstellung des jeweiligen Sehwinkels der Augen ergibt sich aus dem Verhältnis der tonischen Akivität der beiden medialen und lateralen geraden Augenmuskeln. Vergenzbewegungen werden von Neuro-

nen in der mesenzephalen retikulären Formation (Abb. 26.37) gesteuert. In der gleichen Region befinden sich parasympathische Neurone im Edinger-WestphalKern, die im Ganglion ciliare auf postganglionäre Fasern umgeschaltet werden und deren Aktivierung zu einer Kontraktion des M. sphincter pupillae und des M. ciliaris führt (S. 689). So treten Pupillen-, Linsen- und Vergenzbewegungen jeweils gekoppelt auf, so dass z. B. beim Blick auf einen nahen Gegenstand die Pupille verengt wird (Ausblendung von Randstrahlen, damit Erhöhung der Tiefenschärfe), der Ziliarmuskel gespannt wird (Erhöhung der Linsenbrechkraft) und die Sehachsen beider Augen konvergieren (Abbildung eines Punktes auf korrespondierenden Stellen der Netzhaut.) In einer natürlichen Situation, insbesondere während der Lokomotion, wechseln wir zwischen dem fovealen Fixieren und Verfolgen von Objekten bei unterdrücktem optokinetischen Nystagmus und der Stabilisierung der visuellen Umgebung auf der Netzhaut durch den optokinetischen Nystagmus. Bei der klinischen Untersuchung von visuell ausgelösten Augenbewegungen wird meist ein kontrastreiches Muster mit konstanter Geschwindigkeit um den sitzenden Patienten bewegt, was einen optokinetischen Reflex auslöst. Zusammen mit dem Pupillenreflex und dem kalorisch ausgelösten vestibulären Nystagmus spielt das Auftreten bzw. Erlöschen dieses Augenreflexes sowie anderer Hirnstammreflexe (Atmung) eine wichtige Rolle bei der Feststellung des Hirntods. 26.8.3

Orientierung mit kombinierten Augen- und Kopfbewegungen

Größere Blickbewegungen bestehen in der Regel aus einer Kombination von Augen- und Kopfbewegungen. Beide Bewegungen treten zeitlich koordiniert auf und ergänzen sich in ihrem Arbeitsbereich und in ihrer Dynamik. Durch die Kombination der beiden Bewegungen treten zeitlich optimierte Orientierungsbewegungen auf. Rasche Blickbewegungen von mehr als 108 setzen sich in der Regel aus kombinierten Augen- und Kopfbewegungen zusammen. Der unterschiedlichen Masse von Auge und Kopf entsprechend setzt die Kopfbewegung gegenüber der sakkadischen Augenbewegung etwas später ein, ist langsamer und dauert länger (Abb. 26.39). Die Fovea erreicht deshalb das Blickziel bereits zu einem Zeitpunkt, zu dem der Kopf noch beschleunigt wird. Diese Beschleunigung des Kopfes löst einen vestibulo-okulären Reflex aus, der die Augen gleich schnell, aber in die der Kopfbewegung entgegengesetzte Richtung führt (Abb. 26.39). Mit dieser Koordination von sakkadischen Augen- und Kopfbewegungen und integrierter, kompensatorischer Augenbewegung wird erreicht, dass – die Fovea das Ziel sehr rasch erreicht, – das Ziel danach auf der Fovea fixiert bleibt, obwohl sich Augen und Kopf noch über einen längeren Zeitraum bewegen, – sich die Augen am Ende wieder in ihrer Primärposition (geradeaus) befinden, – durch die Kopfwendung die Sinne (Augen, Ohren und Nase) auf das Blickziel ausgerichtet werden.

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26 Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik Ziel

Idee, Handlungsantrieb

subkortikale Motivationsareale

rechts

Blick 40°

Kopfbewegung 100 ms

limbischer Kortex

Handlungsplan, Bewegungsentwurf 800ms

Augenbewegung

Abb. 26.39 Koordination einer sakkadischen AugenKopfbewegung zu einem Ziel, das 408 rechts vor dem Probanden aufleuchtet. Die Bewegung der Augen setzt früher ein als die des Kopfes. Sobald der Blick das Ziel erreicht hat (gestrichelte vertikale Linie) bleibt die Fovea darauf ausgerichtet, obwohl sich Augen und Kopf noch weiter bewegen. (Modifiziert nach Guitton and Volle, J Neurophysiol. 1987; 58: 427 – 459.)

Augen- und Kopfbewegungen ergänzen sich nicht nur bei Sakkaden, sondern auch bei der visuellen Verfolgung eines bewegten Objekts oder bei der Stabilisierung des Abbildes auf der Netzhaut während der Lokomotion. Bewegte Objekte werden jeweils durch eine Augensakkade foveal eingefangen und danach mit dem Kopf weiter verfolgt. Andererseits werden passive Bewegungen des Kopfes gegenüber dem Rumpf während der Lokomotion durch absteigende vestibuläre Halsreflexe in ihrer Amplitude reduziert.

26.9

Ein Gesamtkonzept der Motorik

Abläufe im Rahmen der Motorik sind komplex integriert, aufeinander abgestimmt und rückgekoppelt. Um das Ganze überschaubar zu halten, wurden vorstehend die verschiedenen Komponenten in separaten Abschnitten beschrieben. Der Preis der so gewonnenen Ordnung besteht darin, dass Einzelteile beginnen, ein pointiertes Eigenleben zu führen. In diesem Schlussabschnitt soll daher eine ganzheitliche Sicht der Sensomotorik entwickelt werden. Dabei zeigt sich, dass selbst alltägliche motorische Abläufe – wie der Griff nach einer Kaffeetasse oder das Leisten einer Unterschrift – fast die gesamte Großhirnrinde, die Basalganglien und Teile des Kleinhirns beschäftigen, bevor die Bewegung überhaupt beginnt. Abb. 26.40 und Abb. 26.41 zeigen die funktionellen Einzelschritte bei zielgerichteten Bewegungen mit den beteiligten Strukturen bzw. die elektrophysiologischen Daten, die – gemeinsam mit psychologischen und klinischen Beobachtungen – zu diesen Schlussfolgerungen geführt haben. Drei oder vier voneinander abgrenzbare, aber doch miteinander verwobene Schritte folgen aufeinander. Elektrophysiologisch manifestieren sie sich als kortikale Bereitschafts-, prämotorische und motorische Potenziale (Abb. 26.41). Erste Voraussetzung einer Bewegung ist eine innere Motivation, unter Einsatz der Motorik etwas erreichen zu wollen (Abb. 26.40 oben). Um diesen Antrieb, diese Idee („ergreife das Glas und trinke einen Schluck Wein“ oder „unterschreibe diesen Kaufvertrag“) in die Tat umzusetzen, muss ein Bewegungsplan erstellt werden. Dabei geht es vor allem um die äußeren

frontaler Kortex

assoziativer Kortex somatosensorische Informationen Neurone aufsteigender Trakte

prämotorischer Kortex

Programm 100ms

Kleinhirn

Basalganglien

motorischer Thalamus

Motorkortex Hirnstamm Kommando und Ausführung 50ms

Rückenmark

Rezeptor

Muskel

Abb. 26.40 Vereinfachtes Schema funktioneller Schritte und Strukturen der Zielmotorik. Pfeile bedeuten Wirkungen und nicht direkte Verknüpfungen. Außerdem beinhalten die Pfeile wechselseitige Verbindungen und damit interaktive Abläufe (Überlappungen) zwischen den Prozessschritten. Zeitangaben für Entschluss („ob“), Plan und Programm („wie am besten“) und Ausführung („so“) nicht exakt möglich bzw. approximativ.

und inneren Umstände, zu denen die als Idee geborene Handlung in Bezug gesetzt werden muss. Vermutlich wird der Bewegungsbeginn verschoben, wenn gerade vor dem Trinken des Weins eine Aufforderung zum Tanz ergeht oder wenn beim Nachdenken der Vertrag suboptimal erscheint. Klinische Beobachtungen geben Hinweise, dass der Handlungsantrieb in phylogenetisch alten, zentralen Hirnstammregionen entsteht, eventuell in Verbindung mit limbischen und orbitofrontalen Kortexabschnitten. Der akinetische Mutismus beispielsweise ist durch Fehlen motorischer Funktionen bei erhaltenem Bewusstsein gekennzeichnet und durch pathologische Prozesse im zentralen Höhlengrau oder im zingulären Kortex verursacht. Für die Umsetzung des Antriebs in einen Bewegungsplan spielen dann die assoziativen Rindenfelder eine entscheidende Rolle. Besonders wichtig unter ihnen sind der posteriore parietale Kortex (Area 5 und 7) und der

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26.9 Ein Gesamtkonzept der Motorik präfrontale Kortex. Beide Kortexabschnitte stehen in engem wechselseitigen Kontakt miteinander und sind an Basalganglienschleifen beteiligt (Abb. 26.23). Das Schwergewicht des posterioren parietalen Kortex liegt in der Verarbeitung und Integration multisensorischer, teilweise schon komplex vorverarbeitet ankommender Information (somatosensorisch, visuell, vestibulär) zu einem Abbild des eigenen Körpers und zur Einordnung des Körpers in den Raum. Für den präfrontalen Kortex gibt es Hinweise, dass er – die facettenreiche Information des posterioren parietalen Kortex heranziehend – von Bedeutung ist für die Einschätzung eventueller Konsequenzen motorischer Akte und für das Finden einer Entscheidung. Dazu ein weiteres Beispiel: um beim Tennis einen Punkt zu machen, muss ein Handlungsplan erstellt werden, mit dem das Ziel bestmöglich erreicht werden soll. Dazu muss man die eigene Körperstellung im Raum, die eigene Position auf dem Platz, die Geschwindigkeit und Richtung des Laufs „im Kopf haben“. Die gleichen Parameter des Gegenspielers sollte man natürlich ebenfalls parat haben, genauso wie Ort, Flugbahn und Geschwindigkeit des von ihm gespielten Balles. Dieses Abbild von Körper und Umwelt resultiert aus der erwähnten multisensorischen Konvergenz und Integration im posterioren parietalen Kortex. Gemeinsam mit ihm definiert dann der präfrontale Kortex die Bewegungsstrategie, d. h. welche motorische Aktivität die besten Erfolgschancen hat; im Tennisbeispiel situationsabhängig eine Vorhand long-line oder einen Stoppball. Die Entscheidung über den Handlungsplan beschäftigt viele Strukturen und muss zahlreiche Parameter in Rechnung stellen, d. h. sie nimmt einige Zeit in Anspruch. Dies äußert sich in der Dauer des Bereitschaftspotenzials, das als Negativität an der Schädeloberfläche im Falle einer Fingerbewegung (Abb. 26.41) nahezu eine Sekunde vorher beginnen kann. Selbstverständlich dauert die Vorbereitungsphase unterschiedlich lange, je nachdem, ob sich in gemütlicher Kaffeerunde die Hand langsam der Tasse nähert oder die Vorhand maximal peitschend gespielt werden muss. In jedem Fall muss der Handlungsplan in ein Bewegungsprogramm umgesetzt werden. Oder es müssen aus erlernten und prinzipiell verfügbaren Subprogrammen (ähnlich wie bei der posturalen Kontrolle, S. 755 f.) diejenigen ausgewählt werden, die der äußeren und inneren Situation am besten entsprechen. Gleichzeitig müssen reflektorische und der Situation nicht adäquate Bewegungsmuster ausgeschlossen werden. Auch dieser Prozess des Entwerfens, Verwerfens und Programmierens beschäftigt Teile von Assoziationsarealen, Basalganglien und Kleinhirn und ist am Schädel als Prämotorpotenzial etwa 100 ms vor Beginn der Bewegung ableitbar. Die Programmauswahl geht einher mit den Sequenzen der Ausführung. Beim Beispiel Kaffeetasse wird der posteriore parietale Kortex visuelle Information über die Tasse (wie weit entfernt, wie groß, wie stark gefüllt?) mit kognitiven Leistungen integrieren, um zu einer Abschätzung des Gewichts und damit der benötigten Kraft für das Greifen und Anheben zu kommen. Damit sich die Hand der Tasse nähern kann, müssen Rumpf-, Schulterund Armmuskeln im richtigen Zusammenspiel und im richtigen Zeitablauf aktiviert werden. Für die notwendige

somatosensorische Rückkoppelung

Prämotorpotenzial 100ms A L präzentral

B R präzentral

C M parietal

– Bereitschaftspotenzial 800ms

5mV + D L/R präzentral

–1,5 s

–1

– 0,5

0 Motorpotenzial 50ms

Abb. 26.41 Kortikal abgeleitete gemittelte neuronale Aktivität vor und während einer Fingerbewegung. Bewegungsbeginn (EMG-Messung) zum Zeitpunkt Null. Jede einzelne Spur ist Ergebnis von 1000 Mittelungen (insgesamt 8000 Messungen) bei der gleichen willkürlichen Zeigefingerbewegung. Monopolare Ableitungen über Area 4/6 (A, B) bzw. dem posterioren Parietal-Kortex (C); bipolare Ableitung (D) über dem motorischen Handareal mit Subtraktion der präzentralen Signale rechts/links. Negatives Bereitschaftspotenzial (Start 0,5 – 1,0 s vor Bewegungsbeginn) als Ausdruck des Handlungsantriebs diffus über dem Kortex messbar; ebenso das Prämotorpotenzial (Positivierung, Latenz 100 ms) als Ausdruck von Plan- und Programmerstellung. Ein negatives Motorpotenzial ist 50 ms vor Bewegungsbeginn nur über dem kontralateralen Handareal messbar (D). Späte Potenzialauslenkungen durch somatosensorische Rückmeldungen. Aus: Kornhuber, H. H. Cerebral cortex, cerebellum, and basal ganglia: An introduction to their motor functions. In: Schmitt, F. O., F. G. Warden (eds.). The Neurosciences, 35 d Study Program. Cambridge, Mass.: MIT Press; 1984: 267 – 280.

Programmauswahl und die richtige Selektion der erforderlichen Synergien spielen die Basalganglien mit der inhibitorischen Verschaltung des Striatums eine wichtige

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783

26 Sensomotorische Systeme: Körperhaltung, Bewegung und Blickmotorik

Zum Weiterlesen … motosensorischer Kortex motorischer Kortex

assoziativer Kortex

Bewegungsprogramm „Flexion“ Extension unterdrückt

Extension

Flexion

Bewegungsentwurf „Flexion“

Abduktion

784

Flexion enthemmt (Thalamusschleife offen) Abduktion unterdrückt

Putamen

1 Brooks VB. Handbook of Physiology. Section 1: The Nervous System, Vol. II: Motor Control. Bethesda, MD: American Physiological Society; 1981 2 Eccles JC, Ito M, Szentágothai J. The Cerebellum as a Neuronal Machine. Berlin: Springer; 1967 3 Kandel ER, Schwartz JH, Jessel TM. Principles of Neural Science. 4th ed. New York: McGraw-Hill; 2000 4 Matthews PBC. Mammalian Muscle Receptors and Their Central Actions. London: Arnold; 1972 5 Zigmond MJ et al. Fundamental Neuroscience. 2nd ed. San Diego: Academic Press; 2002

… und noch weiter VA/VL Thalamus Globus pallidus int.

fördert Ablauf

Aktivierung

Pars compacta Substantia nigra

unterdrückt

Hemmung

unterdrückt

Abb. 26.42 Selektion von Bewegungsmustern durch laterale Hemmung im Striatum. Monosynaptisch-rekurrente Hemmung (vgl. Abb. 26.24) striataler Projektionsneurone funktionell unterschiedlicher Zellkompartimente. Strichdicke proportional der Entladungsrate. Durch Disinhibition im Thalamus Öffnung der kortiko-thalamokortikalen Schleife für das Subprogramm „Flexion“. Förderung durch Neurone der nigralen Pars compacta über D1-Rezeptoren (vgl. Abb. 26.25).

Rolle (Abb. 26.42). Den endgültigen Einsatz veranlasst der Motorkortex, dessen Aktivität als Motorpotenzial 50 ms vor Bewegungsbeginn messbar ist (Abb. 26.41). Die Ausführung wird im Hirnstamm und unter Mithilfe des Kleinhirnwurms überwacht (z. B. kompensatorische Änderungen im Tonus der Halte- und Stützmotorik). Feine, vor allem langsame Bewegungen der Finger werden über die Pyramidenbahn mit Hilfe der α-γ-Koaktivierung (S. 745) in Form des Präzisionsgriffs verwirklicht. Über zerebelläre Strukturen, v. a. der Pars intermedia, erfolgt die Kontrolle der Durchführung, die sich in der kortikalen Ableitung (Abb. 26.41) als somatosensorische Rückkoppelung äußert. Das Entladungsverhalten einzelner Neurone sensomotorischer Strukturen steht in Einklang mit den kortikalen Messungen der Abb. 26.41. Entladungen in S 1 erfolgen als Ausdruck der somatosensorischen Rückmeldung erst nach Bewegungsbeginn. Neurone im Kleinhirn und im posterioren parietalen Kortex haben bei erheblicher Überlappung doch die Tendenz, um 40 – 50 ms früher zu entladen als solche in M 1. Dieser Unterschied entspricht etwa der Differenz zwischen Prämotor- und Motorpotenzial.

6 Adams RD, Victor M. Principles of Neurology. 6th ed. New York: McGraw-Hill; 2000 7 Berthoz A, Graf W, Vidal PP. The Head-neck Sensory Motor System. New York: Oxford University Press; 1992 8 Büttner-Ennever JA. Neuroanatomy of the oculomotor system. Rev. of Oculomot Res 2. Amsterdam: Elsevier; New York: Oxford; 1988 9 Carpenter RH. Movements of the Eyes. London: Pion Limited; 1988 10 Delong MR. Primate models of movement disorders of basal ganglia origin. Trends Neurosci. 1990; 13: 281 – 285 11 Kuypers HGJM. Some aspects of the organization of the output of the motor cortex. In: Bock G et al. (eds.). Motor Areas of the Cerebral Cortex. New York: Wiley; 1987: 63 – 82 12 Llinás R, Ribary U, Jeanmonod D, Mitra PP. Thalamocortical dysrhythmia: A neurological and neuropsychiatric syndrome characterized by magnetoencephalography. PNAS. 1999; 96: 15 222 – 15 227 13 Lundberg A. Multisensory control of spinal reflex pathways. Prog Brain Res. 1979; 50: 11 – 28 14 Nicola SM, Surmeier DJ, Malenka RC. Dopaminergic modulation of neuronal excitability in the striatum and nucleus accumbens. Ann Rev Neurosci. 2000; 23: 185 – 215 15 Penfield W, Rasmussen T. The Cerebral Cortex of Man. New York: Macmillan; 1950 16 Penney JB, Young AB. Speculations on the functional anatomy of basal ganglia disorders. Ann Rev Neurosci. 1983; 6: 73 – 94 17 Phillips CG, Porter R. Corticospinal Neurones: Their Role in Movement. London: Academic Press; 1977 18 Phillips CG. Movements of the Hand. Liverpool: Liverpool Univ Press; 1986 19 Reichmann H (ed.). Future therapy in idiopathic Parkinson’s disease. J Neurol. 2003; 250: Suppl 1 20 Thach WT, Goodkin HP, Keating JG. The cerebellum and the adaptive coordination of movement. Ann Rev Neurosci. 1992; 15: 403 – 442 21 Vallbo AG, Hagbarth KE, Torebjörk HE, Wallin BG. Somatosensory, proprioceptive, and sympathetic activity in human peripheral nerves. Physiol Rev. 1979; 59: 919 – 957

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785

Neurovegetative Regulationen H. Seller

27.1 Das Vegetativum – Wirkungen und Nebenwirkungen

27.5 Funktionen des Rückenmarks ···

27.2 Peripherer Aufbau und Transmitter

786

· ··

786

27.3 Rezeptoren der postsynaptischen Membran ··· 787 27.4 Organeffekte

· · · 789 Der Sympathikus kontrahiert die glatte Gefäßmuskulatur · ·· 789 Sympathikus und Parasympathikus regulieren die Pupillenweite · ·· 790 Sympathikus und Parasympathikus steuern die Herzfrequenz · ·· 791 Der Parasympathikus kontrahiert die Bronchialmuskulatur ··· 791 Parasympathikus und Sympathikus kontrollieren das intramurale Gangliensystem im Darm · · · 792 Die verschiedenen Organreaktionen bilden eine funktionelle Einheit · · · 793

··· 793 Im Rückenmark werden spinale, vegetative Reflexe übertragen ··· 794 Stuhlkontinenz und Darmentleerung · · · 795 Harnkontinenz und Blasenentleerung · · · 796

27.6 Kerngebiete in der Medulla oblongata · · · 797 27.7 Hypothalamus und limbisches System – homöostatische Regulationen und emotionelle Verhaltensweisen ··· 799

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786

27 Neurovegetative Regulationen

27.1

Das Vegetativum – Wirkungen und Nebenwirkungen

Erröten, Leichenblässe, Schweißausbrüche, Herzklopfen, Magenschmerzen und Haaresträuben – all dies kennen wir, es geschieht gelegentlich mit uns und wir haben kaum einen Einfluss darauf. Das vegetative Nervensystem regelt fast alle Körperfunktionen ohne unser bewusstes Zutun und zu unserer Zufriedenheit. Aber es kann auch entgleisen. Die dabei auftretenden Symptome sind anfänglich harmlos. Oben sind einige Beispiele genannt. Aber Funktionsstörungen des Vegetativums beeinflussen das Leiden von Kranken beträchtlich und stellen den Arzt vor ernste Probleme. Alle Organe des Körpers, außer der Skelettmuskulatur, sind von dem vegetativen oder, wie es im englischen Sprachgebrauch heißt, autonomen Nervensystem innerviert. Neben dem Einfluss auf die Funktion der inneren Organe über Hormone auf dem humoralen Weg besteht damit ein zweiter Weg zur Steuerung der Zellfunktionen. Gegenüber den humoralen Einflüssen hat das vegetative Nervensystem dabei die Möglichkeit des schnelleren, direkteren Zugriffs auf eine Änderung von Organfunktionen, wie sie z. B. zur Anpassung des Kreislaufs bei schnellen motorischen Aktionen – etwa beim Lagewechsel (Orthostase) oder in der Startreaktion bei Arbeit – notwendig ist. Neben dieser schnellen, motorische Leistungen unterstützenden Funktion wirkt das vegetative Nervensystem auch mit als organspezifisch differenziertes Instrument im Rahmen homöostatischer Regulationen, z. B. durch Regulation der Hautdurchblutung und der Schweißsekretion bei der Thermoregulation. Weiterhin können durch viszerale Afferenzen schnelle, organspezifische Regulationen als vegetative Reflexe wie Kreislaufreflexe, intestinale Reflexe, der Blasenentleerungsreflex durch das vegetative Nervensystem übertragen werden. Durch eine enge Verbindung des vegetativen Nervensystems mit den Zentren psychomotorischer Aktivitäten ist es auch ein wichtiges Übertragungsinstrument für Fehlsteuerungen von Organen bei psychosomatischen Erkrankungen.

27.2

Peripherer Aufbau und Transmitter

Eine Besonderheit des vegetativen Nervensystems ist die in Ganglien außerhalb des Zentralnervensystems erfolgende Umschaltung auf ein zweites, postganglionäres Neuron. Nach Lage der zu den Ganglien ziehenden präganglionären Neurone im Zentralnervensystem wird zwischen dem Sympathikus und dem Parasympathikus unterschieden. Die präganglionären Neurone des Sympathikus liegen in den thorakolumbalen Segmenten des Rückenmarks, die des Parasympathikus liegen im Hirnstamm und im sakralen Teil des Rückenmarks. In allen Ganglien sowie in den postganglionären Neuronen des Parasympathikus ist der Transmitter Acetylcholin. Die postganglionären Neurone des Sympathikus besitzen Noradrenalin und bei der Innervation der Schweißdrüsen Acetylcholin als Transmitter. Das vegetative Nervensystem ist in dem peripheren Aufbau dadurch charakterisiert, dass die Axone, die das

Zentralnervensystem in Hirnstamm und Rückenmark verlassen, nicht ohne Unterbrechung zu den Effektororganen ziehen, sondern vorher noch einmal außerhalb des Zentralnervensystems in Ganglien mit einem weiteren Neuron synaptisch verschaltet sind. Die Neurone innerhalb des Zentralnervensystems werden deshalb als präganglionäre Neurone, die Neurone in den Ganglien, die mit ihren Axonen die Erfolgsorgane innervieren, als postganglionäre Neurone bezeichnet. Je nach Lage der präganglionären Neurone wird das vegetative Nervensystem in einen thorakolumbalen Anteil, den Sympathikus, und einen kraniosakralen Anteil, den Parasympathikus, unterteilt (Abb. 27.1). Die präganglionären Neurone des Sympathikus liegen im Seitenhorn des Rückenmarks vom ersten Thorakal- bis zum zweiten Lumbalsegment. Die postganglionären Neurone liegen beidseitig der Wirbelsäule in der paravertebralen Ganglienkette, dem Grenzstrang, und in den unpaarigen prävertebralen Ganglien, dem Ganglion coeliacum sowie dem Ganglion mesentericum superius und inferius. Die Axone der postganglionären Neurone innervieren die glatte Muskulatur aller Organe, das Herz und die endound exokrinen Drüsen. Die präganglionären Neurone des Parasympathikus liegen in den Kerngebieten der Hirnnerven des N. oculomotorius, des N. facialis, des N. glossopharyngeus und des N. vagus sowie in dem Seitenhorn der ersten vier Sakralsegmente des Rückenmarks. Die postganglionären Neurone liegen in Ganglien sehr nahe an oder direkt in dem innervierten Erfolgsorgan. Die Erfolgsorgane sind das Auge, die Tränen- und Speicheldrüsen, die Lunge, das Herz, der Magen-Darm- und der Urogenitaltrakt. Der Transmitter aller präganglionären Neurone im vegetativen Nervensystem, sowohl des Sympathikus wie des Parasympathikus, ist das Acetylcholin. In allen postganglionären Neuronen des Parasympathikus ist ebenfalls einheitlich Acetylcholin der Transmitter. Im Sympathikus ist in den postganglionären Neuronen zu allen Organen bis auf die Schweißdrüsen Noradrenalin als Transmitter vorhanden. Die sympathische Innervation der Schweißdrüsen ist cholinerg. In der sympathischen Innervation der Organe haben weiterhin die Zellen des Nebennierenmarks eine Sonderstellung. Sie sind direkt von präganglionären Neuronen und damit cholinerg innerviert. Da die Zellen das synthetisierte Adrenalin oder Noradrenalin an die Blutbahn abgeben, können diese Zellen als endokrin wirksame postganglionäre Neurone angesehen werden. In den letzten Jahren wurden bei der Erregungsübertragung im vegetativen Nervensystem Effekte beschrieben, die nicht durch die bekannten Transmitter Acetylcholin oder Noradrenalin erklärbar waren. Diese Erregungsübertragung wurde als nichtcholinerg-nichtadrenerg bezeichnet. Als mögliche Kandidaten für diese unbekannten Transmitter konnten bisher einige Peptide in den Terminalen postganglionärer Neurone nachgewiesen werden. Von diesen Peptiden scheint das vasoaktive intestinale Polypeptid (VIP) besonders in postganglionären parasympathischen Neuronen in Kolokalisation mit dem Acetylcholin vertreten zu sein (Kap. 5), während in den postganglionären Neuronen des Sympathikus, vor allem in der Herz- und Gefäßinnervation, das Neuropeptid Y

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27.3 Rezeptoren der postsynaptischen Membran vegetatives Nervensystem kranialer Teil

III Kerngebiete der VII Hirnnerven IX X

Auge

Tränendrüse Speicheldrüsen

Thorakalsegment 1

Organe im Thorax und Abdomen thorakolumbaler Teil

Grenzstrangganglien

Nebennierenmark Blutgefäße

Transmitter: Noradrenalin (adrenerg)

Acetylcholin (cholinerg)

Schweißdrüsen

Lumbalsegment 2 distales Kolon sakraler Teil

Sakralsegment 1 Sakralsegment 4

Urogenitaltrakt

Sympathikus

Parasympathikus

präpostganglionär

präpostganglionär

Abb. 27.1 Gliederung des peripheren vegetativen Nervensystems in Sympathikus und Parasympathikus. Die Ziffern im kranialen Teil bezeichnen die Kerngebiete der

gemeinsam mit Noradrenalin nachgewiesen wurde. Die Bedeutung dieser Peptide als Kotransmitter ist gegenwärtig noch nicht genügend geklärt.

27.3

Rezeptoren der postsynaptischen Membran

Die Effekte in postganglionären Neuronen und den Erfolgsorganen werden über Rezeptoren vermittelt. Die für Acetylcholin spezifischen cholinergen Rezeptoren sind in den Ganglien (nicotinartig) und an den Erfolgsorganen (muscarinartig) unterschiedlich. Die beiden Typen von Rezeptoren an den Erfolgsorganen für den Transmitter Noradrenalin werden als - und adrenerge Rezeptoren bezeichnet. In die rezeptorübermittelten Effekte kann mit rezeptorstimulierenden (Agonisten) und -blockierenden (Antagonisten) Substanzen pharmakologisch eingegriffen werden. Der bei Aktivität der sympathischen und parasympathischen Neurone freigesetzte Transmitter verbindet sich an der postsynaptischen Membran mit spezifischen Rezeptoren (Kap. 5). Durch die Reaktion zwischen Transmitter und Rezeptor werden entweder in der Membran bestimmte ionale Leitfähigkeiten verändert, oder es werden

Hirnnerven N. oculomotorius (III), N. facialis (VII), N. glossopharyngeus (IX) und N. vagus (X).

über mehrere membrangebundene Reaktionsschritte intrazellulär Veränderungen der Konzentration zyklischer Nucleotide (z. B. zyklisches Adenosinmonophosphat, cAMP; Abb. 27.2) ausgelöst. Durch beide Vorgänge werden intrazellulär weitere Reaktionen aktiviert oder gehemmt, wie z. B. die Kontraktion einer glatten Muskelzelle. Die Rezeptoren für die cholinerge Erregungsübertragung an den postganglionären Neuronen in den Ganglien des sympathischen und parasympathischen Nervensystems sind nicotinartige (oder n-cholinerge) Rezeptoren, da durch Nicotin dieselben Reaktionen ausgelöst werden können wie durch Acetylcholin. Die cholinergen Rezeptoren in den postsynaptischen Membranen der parasympathisch innervierten Erfolgsorgane – sowie in den sympathisch innervierten Schweißdrüsen – sind muscarinartige (oder m-cholinerge) Rezeptoren, da hier Muscarin die gleiche Wirkung wie Acetylcholin ausübt. Substanzen, mit denen die parasympathische cholinerge Erregungsübertragung auf die Erfolgsorgane in gleicher Weise wie mit Acetylcholin ausgelöst werden kann, heißen Parasympathikomimetika oder m-Rezeptoren-Agonisten. Zu diesen Substanzen gehören z. B. das Muscarin und das Pilocarpin. Bei einer Blockierung der Erregungsübertragung durch Parasym-

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787

788

27 Neurovegetative Regulationen Noradrenalin Adrenalin

Rezeptor

2+

Ca

G

2+

PIP2

2+

Ca a2

G ATPase

PLC

IZR

IP3

b2 Gi

b1

Gs

Gs

Adenylylcyclase

Adenylylcyclase ATP

cAMP

sarkoplasmatisches Retikulum

Noradrenalin

Ca

a1 Membran

Adrenalin

ATP

cAMP

2+

Ca

glatte Gefäßmuskulatur

P

2+

Ca

Herzmuskel

2+

2+

Ca

Calmodulin

Inaktivierung MLK-Kinase

Pi

Ca Troponin C G-Aktin

MLK-Kinase

ATP Pi ADP

Myosin Kontraktion

Abb. 27.2 Aktivierung der verschiedenen adrenergen Rezeptoren führt zu unterschiedlichen Reaktionen in den Zellen der glatten Gefäßmuskulatur (links) und des Herzmuskels (rechts). Aktivierung der α2-, β1- und β2-Rezeptoren führt zu einer Veränderung der intrazellulären cAMP-Konzentration: die β-Rezeptorenaktivierung erhöht die cAMPKonzentration über ein in die Adenylylcyclase stimulierendes G-Protein (Gs), während die α2-Rezeptoraktivierung über ein inhibitorisches G-Protein (Gi) den gegenteiligen Effekt aus-

pathikolytika oder m-Rezeptoren-Antagonisten werden die Rezeptoren durch die entsprechenden Substanzen besetzt, doch kommt es dabei nicht zu den nachfolgenden Reaktionsschritten. Die am längsten bekannte Substanz zur Blockierung der m-Rezeptoren ist das Atropin. Blockierungen oder Stimulationen der n-cholinergen Rezeptoren in den vegetativen Ganglien können klinisch therapeutisch i. A. nicht genutzt werden, da dabei jeweils unspezifisch das gesamte sympathische und parasympathische Nervensystem mit erfasst wird (s. a. Kap. 5). Bei der sympathischen Innervation sind bisher zwei adrenerge Rezeptortypen in der subsynaptischen Membran der Erfolgsorgane nachgewiesen worden, die und Rezeptoren. Durch unterschiedliche Affinität zu adrenergen Rezeptoragonisten und -antagonisten sind beide Rezeptortypen weiter in zwei Unterklassen differenziert, die α1-, α2- und β1-, β2-Rezeptoren. Die α1- und α2adrenergen Rezeptoren unterscheiden sich außerdem in den nachfolgenden membrangebundenen und intrazellulären Reaktionsschritten. Die Aktivierung der α1-Rezeptoren führt über mehrere Mechanismen zur Erhöhung der intrazellulären Calciumkonzentration, während die α2Rezeptor-Aktivierung die intrazelluläre cAMP-Konzentration vermindert. β1- und β2-Rezeptor-Aktivierung führt

Dilatation

Kontraktilität erhöht

löst. Die Aktivierung der α1-Rezeptoren führt über einen verstärkten Calciumeinwärtsstrom und einen IP3-vermittelten verstärkten Calciumauswärtsstrom aus dem sarkoplasmatischen Retikulum (SR) zu einer Erhöhung der intrazellulären Calciumkonzentration. Die Dilatation in der glatten Muskulatur durch β2-Rezeptoraktivierung erfolgt über die Inaktivierung der Myosinleichtkettenkinase (MLK-Kinase) durch Phosphorylierung (grüne Pfeile). PLC = Phospholipase C.

einheitlich zu einer Erhöhung der intrazellulären cAMPKonzentration. Die nachfolgenden intrazellulären Reaktionen sind durch diese chemischen Veränderungen bestimmt. So führt die Erhöhung der intrazellulären Calciumkonzentration ebenso wie die Abnahme der cAMPKonzentration durch Aktivierung der α-Rezeptoren in der glatten Muskulatur zu einer Kontraktion, die durch β2Rezeptoren vermittelte Erhöhung der cAMP-Konzentration dagegen zu einer Dilatation (Abb. 27.2). Aufgrund der anderen molekularen Mechanismen der Kontraktion in der quergestreiften Muskulatur des Myokards (Kap. 6) führt die durch β1-Rezeptor übertragene Erhöhung der cAMP-Konzentration am Herzen zu einer Steigerung der Kontraktionskraft (Abb. 27.2). Das von den synaptischen Terminalen freigesetzte Noradrenalin und das aus dem Nebennierenmark in das Blut abgegebene Adrenalin unterscheiden sich in ihrer Affinität zu den verschiedenen adrenergen Rezeptoren. Noradrenalin hat eine höhere Affinität zu den α- und Adrenalin zu den β-Rezeptoren. Es sind zahlreiche mehr oder weniger spezifische α1-, α2-, β1-, β2-adrenerge Rezeptoragonisten (Sympathikomimetika) und -antagonisten (Sympathikolytika) bekannt. Unter den agonistischen Substanzen ist klinisch besonders bedeutsam die spezifische Wirkung auf β2-adrenerge Rezeptoren der Bronchialmuskulatur,

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27.4 Organeffekte die zu einer Dilatation der Bronchien im Asthma bronchiale führen, ohne dabei gleichzeitig über eine Wirkung auf β1-Rezeptoren am Herzen eine Steigerung von Frequenz und Kontraktionskraft auszulösen (Tab. 5.2, S. 96). Adrenerge Rezeptorantagonisten („Rezeptorblocker“) werden als spezifische α1-Antagonisten zur Verminderung der Vasokonstriktion bei Durchblutungsstörungen oder zur Reduktion des gesamten peripheren Gefäßwiderstands und Senkung des Blutdrucks bei einer Hypertonie eingesetzt. Spezifische β1-adrenerge Rezeptorantagonisten finden ihren Einsatz bei der Reduzierung der Belastung des Herzens durch Verhinderung stärkerer Anstiege der Herzfrequenz und der Kontraktionskraft (s. a. Kap. 5). Auch an den präsynaptischen Endigungen der sympathischen und parasympathischen postganglionären Neurone finden sich sowohl adrenerge (α2-) als auch cholinerge (m-)Rezeptoren. Ihre Aktivierung führt jeweils zur Hemmung der Transmitterfreisetzung (Abb. 27.4). Neue Aspekte der Rezeptorphysiologie befassen sich mit der Regulation der Rezeptoren, womit eine veränderte Stärke der Effektororganreaktion auf das Angebot von Transmittern oder entsprechenden Rezeptoragonisten gemeint ist. Die Empfindlichkeit kann abnehmen („Down-Regulation“) oder als Hypersensitivität gesteigert sein („Up-Regulation“). Bei diesen Effektorreaktionsänderungen ist nicht genau geklärt, wie weit sie im Bereich einer veränderten Rezeptoraffinität, der Rezeptorzahl oder -dichte oder einer Veränderung der nachfolgenden biochemischen Rezeptorreaktionsschritte liegen. Man spricht von einer homologen Regulation, wenn diese durch Konzentrationsveränderungen der eigenen Rezeptoragonisten verursacht wird, und von einer heterologen Regulation, wenn sie ausgelöst wird durch nicht mit den Rezeptoren direkt reagierende Hormone, z. B. Schilddrüsenhormone oder Corticosteroide. Ein Beispiel für eine homologe Regulation der adrenergen Rezeptoren ist die Denervierungshypersensitivität, eine Empfindlichkeitssteigerung der Erfolgsorganreaktionen auf Noradrenalin und Adrenalin, die nach Durchtrennung der postganglionären Nerven zu beobachten ist. Die Hypersensitivität tritt nicht auf nach Durchtrennung der präganglionären Nerven. Auch bei einigen Erkrankungen wird heute eine Veränderung an den Rezeptoren diskutiert, z. B. wird eine Abnahme der β2-adrenergen Rezeptoren als eine mögliche Ursache für das Asthma bronchiale angesehen.

27.4

Organeffekte

Zu den verschiedenartigen Mechanismen, mit denen der Sympathikus und der Parasympathikus die Organfunktionen regulieren können, werden einige Beispiele dargestellt: Die glatte Muskulatur der Gefäße wird in ihrem Kontraktionszustand allein durch die Aktivität des Sympathikus reguliert. Die Weite der Pupille wird durch zwei glatte Muskeln, den M. dilatator pupillae mit sympathischer und den M. sphincter pupillae mit parasympathischer Innervation, reguliert. Die Herzfrequenz

wird mit prä- und postsynaptischer Interaktion durch den Sympathikus erhöht und durch den Parasympathikus gesenkt. Die Bronchial- und die Darmmuskulatur werden durch die parasympathische Innervation kontrahiert, während der Sympathikus die Erregungsübertragung in den parasympathischen Ganglien hemmt. Das vegetative Nervensystem hemmt oder fördert die Aktivität der inneren Organe. Dabei bestehen für Sympathikus und Parasympathikus von Organ zu Organ unterschiedliche Angriffsmöglichkeiten. In den meisten Fällen führen die beiden Teilsysteme dabei zu gegensätzlichen Reaktionen, z. B. bei der Steuerung der Herzfrequenz, doch hat häufig ein System das Übergewicht in der Einflussmöglichkeit. Im Extremfall kann die Regulation auch durch die Innervation eines Systems allein erfolgen, wie bei der Regulation der Gefäßweite, die ausschließlich durch den Sympathikus bewerkstelligt wird. Im Fall der Speicheldrüseninnervation können sich beide Systeme auch funktionell ergänzen und nicht antagonistisch wirken. So führt die parasympathische Innervation zur verstärkten Produktion eines serösen Speichels, während der Sympathikus die Bildung geringer Mengen mukösen Speichels anregt. Die durch den Sympathikus oder den Parasympathikus in den einzelnen Organen ausgelösten Reaktionen werden erst verständlich, wenn sie in ihrer Gesamtheit gesehen werden; dort haben sie ihre Bedeutung in einer gemeinsamen Unterstützung einer homöostatischen Regulation oder einer bestimmten Leistung des Gesamtorganismus. Im Folgenden sollen einige klinisch wichtige Beispiele für die Regulation der Effektororgane durch das vegetative Nervensystem in der Reihenfolge zunehmender Komplexität der Interaktionen zwischen Sympathikus und Parasympathikus dargestellt werden.

Der Sympathikus kontrahiert die glatte Gefäßmuskulatur Die nervale Regulation der Gefäßweite geschieht allein durch den Sympathikus (Kap. 8). Die glatte Muskulatur der Gefäße ist ausschließlich von postganglionären sympathischen Neuronen innerviert. Die weitverzweigten Endigungen der postganglionären Neurone, die zwischen Adventitia und Media der Gefäßwand verlaufen, bilden in bestimmten Abständen bläschenförmige Auftreibungen, sog. Varikositäten, in denen der Transmitter Noradrenalin in Vesikeln gespeichert ist (Abb. 27.3). Diese Varikositäten bilden mit der glatten Muskelzellmembran die eigentliche neuromuskuläre Synapse. Das freigesetzte Noradrenalin führt über Aktivierung von 1Rezeptoren zu einer Kontraktion (Abb. 27.2) der glatten Muskulatur. Damit kann der Kontraktionszustand bzw. die Gefäßweite allein durch die Aktivität des Sympathikus reguliert werden. Zunahme der Aktivität führt zur Vasokonstriktion, und Abnahme der Aktivität führt zur Erschlaffung der glatten Gefäßmuskulatur und Erweiterung der Gefäße, indem der intravasale hydrostatische Druck die Gefäße dehnt. Die Regulation der Gefäßweite in beide Richtungen spielt sich auf einem bestimmten Niveau der Ruheentladungsfrequenz der postganglionären Neurone von etwa zwei Impulsen pro Sekunde ab.

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27 Neurovegetative Regulationen

sympathische Faser, postganglionär

Noradrenalin

Arteriole

a1-Rezeptoren Konstriktion C

A

100

Adrenalin Blut

b2-Rezeptoren Dilatation

B

Abb. 27.3 Regulation der Gefäßweite durch den Sympathikus und durch Adrenalin. A Elektronenmikroskopisches Bild von der Außenseite glatter Muskelzellen einer Arteriole. Auf den Muskelzellen verläuft eine sympathische Nervenfaser mit Varikositäten (nach 15). B Der Sympathikus führt über den Transmitter Noradrenalin und Aktivierung der α1-Rezep-

Dies ist die kontinuierliche, tonische Grundaktivität des Sympathikus, der Sympathikotonus, der, von zentral gesteuert, erhöht oder erniedrigt werden kann (Abb. 27.3). Außer durch eine Abnahme des Sympathikotonus kann eine Vasodilatation auch über zahlreiche humorale Faktoren erfolgen (Kap. 8), z. B. über Adrenalin aus dem Nebennierenmark, das über seine hohe Affinität zu den 2-Rezeptoren zur Erschlaffung der glatten Gefäßmuskulatur führt (Abb. 27.3 B). Bei länger bestehendem erhöhten Sympathikotonus kann durch eine allgemeine verstärkte arterielle Vasokonstriktion ein Bluthochdruck (Hypertonie) entstehen. Eine mögliche Therapie ist in solchen Fällen die Blockade der α1-Rezeptoren mit spezifischen α1-Rezeptor-Antagonisten, wie z. B. Prazosin. Das vorübergehende Auftreten starker Vasokonstriktionen in den Fingern – seltener in den Zehen – wird als Morbus Raynaud oder Raynaud-Syndrom bezeichnet. Diese anfallartigen Gefäßspasmen werden häufig durch Kältereize oder emotionale Belastungen ausgelöst. Die Ur-sachen der Erkrankung sind unbekannt. Wenn in schweren Fällen dieser peripheren Durchblutungsstörungen, die zu Gewebeschädigungen führen können, jede medikamentöse Therapie versagt, kann eine Durchtrennung der sympathischen Nerven zu diesen Extremitäten, eine Sympathektomie, erfolgreich sein. Diese muss jedoch wegen der Gefahr der Denervierungshypersensitivität (s. o.) an den präganglionären Nerven durchgeführt werden.

Konstriktion (%)

790

glatte Gefäßmuskulatur

50

physiologische Entladungsfrequenz 0

0

10

Impulse · s–1

20

toren zur Kontraktion, das von der Blutseite an die Muskulatur gelangende Adrenalin wirkt über β2-Rezeptoren dilatorisch. C Die Stärke der Gefäßkonstriktion hängt ab von der Entladungsfrequenz der postganglionären sympathischen Neurone.

Sympathikus und Parasympathikus regulieren die Pupillenweite Die Weite der Pupillen wird durch den Sympathikus und den Parasympathikus geregelt (Kap. 23). Beide Nerven ziehen jedoch zu verschiedenen Effektoren. Der Sympathikus innerviert die radiär angeordneten Muskelfasern des M. dilatator pupillae, der Parasympathikus den zirkulär verlaufenden M. sphincter pupillae. Das Funktionsziel – die für den bestimmten Lichteinfall adäquate Pupillenweite – wird also über die Steuerung antagonistisch wirkender Muskeln erreicht, wodurch eine besonders schnelle und präzise Einstellung ermöglicht wird. Fällt in diesem fein abgestuften Kräftespiel die Innervation eines Muskels aus, so kommt es durch Überwiegen der Kontraktion des antagonistischen Muskels zu einer veränderten Pupillenweite. Wenn beispielsweise die cholinerge Übertragung des Parasympathikus durch Atropin blockiert wird, erfolgt durch die Kontraktion des M. dilatator pupillae eine Pupillenerweiterung, eine Mydriasis. Ist der Halssympathikus geschädigt oder die Übertragung im Ganglion stellatum blockiert, so entsteht das Horner-Syndrom. Die überwiegende Kontraktion des Sphincter pupillae führt dann zur Pupillenverengung, zur Miosis. Der Ausfall des Halssympathikus bewirkt durch eine Lähmung der glatten Muskelfasern des M. levator palpebrae sowie der glatten retrobulbären Muskulatur ein hängendes Oberlid, eine Ptosis, und ein Zurücksinken

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27.4 Organeffekte

parasympathisch

sympathisch

parasympathisch präganglionär

sympathisch postganglionär

postganglionäre Nervenendigungen Ganglion

a2 a2

–

m

m

Noradrenalin

Acetylcholin

m-Rezeptor

b1-Rezeptor

hemmt

fördert Reaktion der Effektorzelle

Abb. 27.4 Prä- und postsynaptische Interaktionen zwischen sympathischer und parasympathischer Innervation einer Effektorzelle. Die Transmitter können nicht nur postsynaptisch gegensätzliche Effekte auslösen, sondern auch präsynaptisch gegenseitig ihre Freisetzung hemmen.

des Augapfels, einen Enophthalmus. Weiterhin fehlt in der Gesichtshälfte auf der Seite des Sympathikusausfalls die Schweißsekretion (Anhidrosis).

+

glatte Muskulatur

Adrenalin

+

Blutbahn

– Schleimdrüse

Kontraktion Schleimsekretion

Dilatation

Abb. 27.5 Sympathische und parasympathische Innervation von Trachea und Bronchien. Der bronchokonstriktorische und die Sekretion stimulierende Effekt des Parasympathikus kann durch die sympathische Innervation der Ganglien blockiert werden. Durch Adrenalin aus der Blutbahn kann eine β2-rezeptorisch übermittelte Bronchodilatation ausgelöst werden.

Sympathikus und Parasympathikus steuern die Herzfrequenz Bei der vegetativen Innervation des Herzens werden bestimmte Funktionen, z. B. die Herzfrequenz, durch den direkten synaptischen Kontakt der postganglionären Nervenendigungen des Sympathikus und des Parasympathikus an derselben Effektorzelle gesteuert (Abb. 27.4; Kap. 7). Bei der Steuerung der Herzfrequenz wird auf einem bestimmten Niveau der Eigenaktivität der Effektorzelle – Eigenfrequenz des Sinusknotens – postsynaptisch durch die Transmitter Noradrenalin und Acetylcholin eine gegensätzliche Reaktion ausgelöst. Noradrenalin erhöht und Acetylcholin erniedrigt die Frequenz. Zusätzlich bestehen aber präsynaptische Interaktionen zwischen den adrenergen und cholinergen Terminalen: Das freigesetzte Noradrenalin hemmt über α2-Rezeptoren an den cholinergen Terminalen die Freisetzung von Acetylcholin, und umgekehrt hemmt das Acetylcholin über m-Rezeptoren aus den adrenergen Terminalen die Freisetzung von Noradrenalin (Abb. 27.4). Neben diesen präsynaptischen Wechselwirkungen zwischen cholinerger und adrenerger Innervation besteht – wie auch in anderen Synapsen – noch eine negative Rückkopplung der Transmitter auf ihre eigene Freisetzung: Noradrenalin und Acetylcholin wirken über α2- bzw. m-Rezeptoren

hemmend auf ihre eigene Freisetzung zurück (Autorezeptoren, s. Abb. 27.4 und Kap. 5).

Der Parasympathikus kontrahiert die Bronchialmuskulatur Die Kontraktion der glatten Muskulatur in Trachea und Bronchien sowie die Produktion des serösen und mukösen Sekrets der Glandulae bronchiales wird durch die Innervation des Parasympathikus und Sympathikus gesteuert (Abb. 27.5). Die präganglionären, zum Vagus gehörenden Neurone innervieren kleine Ganglienzellen nahe der Wand der Bronchien. Ihre Aktivierung führt über eine cholinerge Erregungsübertragung zur Kontraktion der Bronchialmuskulatur und zu einer verstärkten Schleimsekretion. Die gegensätzliche, hemmende Wirkung des Sympathikus erfolgt hier nicht direkt am Erfolgsorgan, sondern über einen Einfluss auf die parasympathische, ganglionäre Erregungsübertragung (Abb. 27.4). Der Sympathikus kann dadurch nur eine parasympathisch ausgelöste Bronchokonstriktion aufheben oder blockieren, aber nicht durch einen direkten Angriff an der Muskulatur zur Dilatation führen.

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792

27 Neurovegetative Regulationen Die glatte Muskulatur der Bronchien ist jedoch dicht besetzt mit β2-Rezeptoren, so dass β2-Rezeptor-Agonisten wie Adrenalin, die über den Kreislauf an die Bronchien gelangen, zu einer starken Bronchodilatation führen können. Über diesen Mechanismus kann auch das Asthma bronchiale sehr wirksam behandelt werden. Das Bronchialasthma ist eine mit Anfällen verbundene, generalisierte Obstruktion der Atemwege, ausgelöst durch eine starke Kontraktion der Bronchialmuskulatur und begleitet von einer Absonderung viskösen Sekrets. Dadurch ist die Ein- und Ausatmung erschwert. Zur Dilatation der Bronchien können hier zuverlässig β2-Sympathikomimetika eingesetzt werden.

Parasympathikus und Sympathikus kontrollieren das intramurale Gangliensystem im Darm Die Kontrolle der Motilität und Sekretion in Ösophagus, Magen und Darm geschieht im Wesentlichen durch die eigenständige, peripher regulierte Aktivität des enteralen Nervensystems (Kap. 14). Das enterale oder intrinsische

parasympathisch, präganglionär

sympathisch, postganglionär

postganglionäre Neurone

+

Längsmuskulatur

–

Plexus myentericus

– +

Ringmuskulatur

– +

Plexus submucosus Muscularis mucosae Arteriole

– Mukosa

+

erregend

–

hemmend

Abb. 27.6 Sympathische und parasympathische Innervation des Darms. Die motilitätssteigernde Wirkung des Parasympathikus über die intramuralen Ganglien kann an dieser Stelle durch die sympathische Innervation gehemmt werden. Die Gefäße des Darms sind adrenerg konstriktorisch innerviert. In der Muskulatur und in der Mukosa sind nur wenige sympathische Nervenendigungen vorhanden.

Nervensystem besteht aus den Ganglienzellen im Plexus myentericus (Auerbach) und im Plexus submucosus (Meißner) (Abb. 27.6). Die extrinsische Innervation durch den Parasympathikus erfolgt vom Ösophagus bis zum proximalen Kolon durch den Vagus und im distalen Kolon und Rektum aus den sakralen Rückenmarksegmenten. Die postganglionäre sympathische Innervation hat ihren Ursprung in den prävertebralen Ganglien. Die eigenständige Tätigkeit des enteralen Nervensystems kann durch die extrinsische Innervation in beide Richtungen beeinflusst werden. Der Einfluss des Parasympathikus besteht dabei grundsätzlich in einer Erhöhung des Muskeltonus sowie einer Verstärkung der Peristaltik und der Drüsensekretion, während der Sympathikus alle diese Funktionen hemmt und zusätzlich durch eine Vasokonstriktion zu einer Abnahme der Durchblutung führt. Diese antagonistische Steuerung erfolgt überwiegend durch einen Angriff an den Ganglienzellen des enteralen Nervensystems, vor allem an den Neuronen des Plexus myentericus. Die cholinergen präganglionären parasympathischen Neurone aktivieren die Ganglienzellen, die wiederum über den Transmitter Acetylcholin die glatte Muskulatur aktivieren. Daneben werden über den Parasympathikus aber auch Ganglienzellen erregt, die über einen nichtcholinergen-nichtadrenergen Transmitter einen hemmenden Einfluss ausüben. Der Sympathikus innerviert überwiegend die enteralen Ganglienzellen und die glatte Muskulatur der Gefäße, während in der Ringmuskulatur und in der Mukosa nur sehr wenig Sympathikusefferenzen nachgewiesen werden konnten (Abb. 27.6). Noradrenalin aus den Terminalen des Sympathikus hemmt über α-Rezeptoren sowohl die Aktivität der Ganglienzellen als auch über axoaxonische Synapsen die Acetylcholinfreisetzung dieser Neurone. Durch beide Mechanismen werden der Muskeltonus und die Peristaltik vermindert. Dieses Innervationsmuster ist anders in den Sphinkteren des Magen-Darm-Trakts. Hier besteht eine direkte, über α-Rezeptoren konstriktorisch wirkende sympathische Innervation der glatten Muskulatur, die an der Regulation des Sphinktertonus mitbeteiligt ist (S. 795). Aus diesem Ansatz der extrinsischen Innervation wird verständlich, dass bei Motilitätsverlust des Darms, einer Darmatonie, die postoperativ nach Eröffnung der Bauchhöhle oder bei entzündlichen Prozessen im Bauchraum auftreten kann, mit einer Unterstützung der motilitätssteigernden cholinergen Innervation durch direkte oder indirekte Parasympathikomimetika geholfen werden kann. Die tonische Motilitätssteigerung durch die extrinsische parasympathische (vagale) Innervation ist vor allem in den oberen Abschnitten des Verdauungstrakts – besonders im Ösophagus – von Bedeutung. Fällt diese Innervation durch Läsion des N. vagus oder durch degenerative Veränderungen der Ursprungsneurone im dorsalen Vaguskern aus, so kommt es zu schweren Störungen im Transport der Nahrung durch mangelnde Peristaltik in den unteren Ösophagusabschnitten. Die heruntergewürgten Speisen stauen sich vor der Kardia, der Eintrittsöffnung zum Magen, so dass es zur Erweiterung der davor liegenden Ösopha-

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27.5 Funktionen des Rückenmarks gusabschnitte kommt (Megaösophagus). Das Krankheitsbild heißt Achalasie.

Die verschiedenen Organreaktionen bilden eine funktionelle Einheit

Die präganglionären Neurone des Sympathikus liegen im Nucleus intermediolateralis (Seitenhorn) des Rückenmarks vom obersten Thorakal- bis zum zweiten Lumbalsegment. In jedem Segment liegen auf einer Seite mehr als 2000 Sympathikusneurone, so dass insgesamt etwa 30 000 – 35 000 Zellen in einer Kernsäule vorhanden sind. Es sind Krankheitsfälle beschrieben, in denen ganz spezifisch diese präganglionären Sympathikusneurone in größerer Zahl durch degenerative Prozesse unbekannter Ursache zugrunde gehen. Ist die Anzahl dieser Neurone auf weniger als 50 % der Norm reduziert, so kommt es neben Problemen der Inkontinenz von Harn und Stuhl und sexueller Impotenz zu schweren orthostatischen Kreislaufregulationsstörungen. Wegen die-

Arme

T2 T3 T4 T5 T7 T8 T9 T10

Kolon, Rektum, Urogenitaltrakt

T6

Beine

Für die Innervation der Erfolgsorgane durch den Sympathikus besteht eine bestimmte segmentale Anordnung der präganglionären Neurone im Rückenmark. Die tonische Grundaktivität der präganglionären Neurone wird durch absteigende Bahnen supraspinalen Ursprungs unterhalten. Somatische und viszerale spinale Afferenzen können über segmentale Verschaltungen im Rückenmark reflektorische Aktivitätssteigerungen auslösen. Diese spinalen Reflexe stehen unter supraspinaler Kontrolle. Darm- und Blasenentleerung laufen über ein Zusammenwirken von spinalen sympathischen, parasympathischen und somatischen Reflexen mit supraspinaler Kontrolle ab. Nach Rückenmarksläsionen können diese Funktionen durch eine Automatie der spinalen Reflexe aufrechterhalten werden.

T1

Niere, Nebenniere

Funktionen des Rückenmarks

Abb. 27.7 Lokalisation und Ausdehnung eines präganglionären Sympathikusneurons im Rückenmark. Die Ausdehnung der Dendriten ist streng auf das Seitenhorn begrenzt.

Oberbauchorgane

27.5

Seitenhorn

Kopf, Nacken Herz, Lunge

Die beschriebenen Beispiele der Reaktionen in den verschiedenen Organen, die durch den Sympathikus und den Parasympathikus gegensätzlich ausgelöst werden, erscheinen äußerst sinnvoll, wenn sie im Hinblick auf die Reaktionslage des gesamten Organismus betrachtet werden. Der Sympathikus bewirkt zusätzlich zu den genannten Einflüssen auf Organaktivitäten auch eine Verbesserung der Energieversorgung im Stoffwechsel, imdem er direkt die Glykogenolyse in der Leber und die Lipolyse im Fettgewebe aktiviert. Durch die Innervation des Nebennierenmarks wird bei der Sympathikusaktivierung Adrenalin freigesetzt, das auf humoralem Wege alle durch den Sympathikus nerval induzierten Reaktionen unterstützt. Mit der Summe dieser Reaktionen – verbesserte Bronchialdilatation, Erhöhung des Herzzeitvolumens durch Steigerung der Herzfrequenz und der Kontraktionskraft, Hemmung der Magen-Darm-Tätigkeit – wird durch den Sympathikus insgesamt eine Reaktionslage eingeleitet, die als sinnvolle Unterstützung einer leistungsbezogenen ergotropen Reaktionslage des Gesamtorganismus gesehen werden kann.

T11 T12 L1 L2

Rückenmarksegmente

Abb. 27.8 Segmentale Anordnung der präganglionären Sympathikusneurone. Die präganglionären Sympathikusneurone sind je nach Innervation der Organe in den verschiedenen Körperregionen in verschiedenen Rückenmarksegmenten von thorakal (T1) bis lumbal (L 2) angeordnet.

ses letzten, auffallenden Symptoms heißt dieses Krankheitsbild die idiopathische orthostatische Hypotension. In seltenen Fällen ist mit der Degeneration der präganglionären Neurone ein Zellverlust der Basalganglien verbunden, so dass es zusätzlich zu motorischen Störungen kommt. Diese Krankheit wird als Shy-Drager-Syndrom bezeichnet. Die präganglionären Neurone zeigen eine typische Aufzweigung ihrer Dendriten – der synaptischen Kontakt-

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27 Neurovegetative Regulationen zone für spinale und supraspinale Afferenzen – in kraniokaudaler Ausdehnung mit strenger Begrenzung auf die intermediolaterale Kernsäule (Abb. 27.7). In Bezug auf die Innervation der Erfolgsorgane besteht eine grobe segmentale Anordnung: Neurone für die Innervation der Effektororgane im Kopf- und Thoraxbereich sowie für die Arme liegen in den oberen Rückenmarksegmenten, diejenigen für die Organe im Bauchraum und die unteren Extremitäten in den unteren Segmenten (Abb. 27.8).

Im Rückenmark werden spinale, vegetative Reflexe übertragen Die präganglionären Neurone im Rückenmark sind ohne spinale und vor allem supraspinale Zuströme nicht aktiv. Neben der kontinuierlich von supraspinal unterhaltenen Grundaktivität (Spontanaktivität, Tonus; s. u.) können jedoch auch rein spinal übertragene reflektorische Aktivitätssteigerungen des Sympathikus auftreten (Abb. 27.9). Derartige Reflexe können z. B. bei der normalen Motilitätsregulation des Magen-Darm-Trakts ablaufen. Bei starken Dehnungen des Darms kann über viszerale Afferenzen die efferente Sympathikusaktivität verstärkt und die Darmmuskulatur relaxiert werden. Derartige intestinointestinale, intestinokolonische oder kolokolonische Reflexe können im Sinne von Schutzreflexen gesehen werden. Sie können auch ausgelöst werden durch mechanische Manipulationen am Darm bei Operationen im Bauchraum und dann die Ursache sein für eine Darmatonie oder einen adynamen Ileus. Sympathische und parasympathische spinale Reflexe im Lumbal- und Sakralmark spielen eine wichtige Rolle bei der Steuerung der Harn- und Stuhlentleerung. Auf beide Regulationsabläufe wird weiter unten ausführlich eingegangen.

aufsteigende Schmerzbahn

Bei starker Aktivierung viszeraler Afferenzen können neben den spinal übertragenen vegetativen Reflexen zusätzlich auch Schmerzempfindungen ausgelöst werden (Abb. 27.9; Kap. 20). So können z. B. die Ischämie oder die Hypoxie eines begrenzten Myokardareals kardiale Afferenzen aktivieren, die einerseits über spinale Reflexübertragungen zu einer Steigerung der efferenten Sympathikusaktivität zum Herzen, andererseits aber auch zu dem bewusst wahrgenommenen Schmerzgefühl im Thorax, der Angina pectoris, führen. In diesem Fall der reduzierten Leistungsfähigkeit des Myokards wirkt sich die reflektorisch gesteigerte Sympathikusaktivität durchaus ungünstig für das Herz aus und kann nicht im Sinne eines Schutzreflexes verstanden werden. Nach Verletzung peripherer Nerven an den Extremitäten kann es in manchen Fällen zu spinalen Fehlregulationen der Sympathikusaktivität kommen, die mit besonderen Schmerzzuständen, Hyperpathien und Kausalgien an diesen Extremitäten verbunden sein können. Die veränderte Sympathikusaktivität kann bei längerem Bestehen zu trophischen Störungen an den distalen Enden der betroffenen Extremitäten führen. Dabei findet sich eine dünne, glattglänzende Haut mit atrophiertem Unterhautfettgewebe. Zusätzlich können Gelenkkontrakturen und Demineralisationen der Knochen auftreten. Der gesamte Symptomenkomplex wird als sympathische Reflexdystrophie oder als SudeckSyndrom bezeichnet. Es ist ungeklärt, durch welchen Mechanismus die veränderte Sympathikusaktivität zu diesen trophischen Störungen und Schmerzzuständen führt, aber eine Unterbrechung der Sympathikusinnervation durch eine Leitungsanästhesie oder durch chirurgische Maßnahmen kann in vielen Fällen die Symptome beseitigen.

Hinterwurzel Spinalganglion Grenzstrang

Rückenmark Ramus communicans albus Ramus communicans griseus

sympathische, präganglionäre Faser

postganglionäre, adrenerge Faser

peripherer Nerv

afferente Faser

Abb. 27.9 Verschaltung eines somato- oder viszerosympathischen spinalen Reflexbogens.

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27.5 Funktionen des Rückenmarks Rückenmark

Ganglion mesentericum inferius

sympathisch (L1 – L2) parasympathisch (S2 – S4)

–

Rektum M. sphincter ani internus

somatisch (S2 – S4)

N. splanchnicus pelvinus

+ M. sphincter ani externus

– +

Afferenz

+

N. pudendus

Analkanal

Abb. 27.10 Sympathische, parasympathische und somatomotorische Innervation des Rektums und der Sphinktermuskeln.

Die spinalen somato- und viszerosympathischen Reflexe stehen bei intaktem Zentralnervensystem unter einer tonischen inhibitorischen Kontrolle, die im unteren Hirnstamm ihren Ursprung hat. Nach Querschnittdurchtrennungen des Rückenmarks kommt es unterhalb der Läsion zunächst für mehrere Wochen – in der Phase des „spinalen Schocks“ (Kap. 20, 26) – zu einem kompletten Ausfall der spinalen vegetativen Reflexe. Die sympathische Grundaktivität ist durch die Unterbrechung der absteigenden, tonisch aktivierenden Bahnen ebenfalls erloschen. Nach dieser Phase der Areflexie entstehen im chronischen Stadium der Querschnittläsion dauerhaft gesteigerte Reflexe, eine autonome Hyperreflexie. Neben anderen Faktoren ist dafür der Ausfall der deszendierenden, reflexinhibitorischen Bahnen verantwortlich, wenn die Läsion oberhalb des 5. Thorakalsegments liegt. In diesen Fällen können Hautreize, deren afferente Projektion unterhalb der Rückenmarkläsion liegt, zu derart starken Aktivierungen der Sympathikusaktivität führen, dass es über eine Vasokonstriktion zu Blutdruckanstiegen über 200 mmHg und damit zu der Gefahr zerebraler Blutungen kommen kann. Neben den Kreislaufveränderungen können auch länger anhaltende Kontraktionen der Beugemuskulatur sowie der Blasen- und Darmentleerung auftreten, ein Zustand, der insgesamt als Massenreflex bezeichnet wird.

Stuhlkontinenz und Darmentleerung Die Fähigkeit, den Stuhl zurückzuhalten, die Darmkontinenz, wird gewährleistet durch die Kontraktion des M. sphincter ani internus, der aus glatter Muskulatur besteht, und den M. sphincter ani externus mit quergestreifter Muskulatur. Die Kontraktion des M. sphincter externus kann willkürlich über Motoneurone im Sakralmark (S2 – S4) und die Nn. pudendi kontrolliert werden. Der innere Sphinktermuskel, der die verdickte Fortsetzung der Ringmuskulatur des Rektums darstellt, ist sympathisch von präganglionären Neuronen im Lumbalmark (L1 – L2) und parasympathisch von präganglionären Neuronen im Sakralmark (S2 – S4) über die Nn. splanchnici pelvini (oder Nn. pelvici) innerviert (Abb. 27.10). Die Umschaltung auf postganglionäre Neurone erfolgt für den Sympathikus im Ganglion mesentericum inferius und für den Parasympathikus in den intramuralen Ganglien. Beide Sphinktermuskeln sind tonisch kontrahiert, wobei aber der Dauertonus des inneren Sphinkters höher ist und er damit für die Kontinenz eine größere Rolle spielt. Der Tonus des M. sphincter internus wird z. T. allein peripher (myogen), z. T. durch die extrinsische, über αRezeptoren konstriktorisch wirkende Innervation des Sympathikus unterhalten. Das vor den Sphinkteren liegende Rektum ist sehr dehnbar und dient als Reservoir für die auszuscheidenden Stuhlmengen. Bei den in Schüben erfolgenden Füllungen (Kap. 14) treten zunächst jeweils phasische rektosphinkterische Reflexe auf, wobei durch die plötzliche Dehnung des Rektums eine Erschlaffung des M. sphincter internus und eine verstärkte Kontraktion des externen Sphinktermuskels ausgelöst wird. Nach etwa 10 s ist das Rektum relaxiert und dem neuen Füllungszustand ange-

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27 Neurovegetative Regulationen Kerngebiete in der Pons Reflexbogen

–

M. detrusor vesicae

Ganglion mesentericum inferius

+ Afferenz M. sphincter vesicae int. N. splanchnicus pelvinus

+ +

sympathisch (L1 – L2) parasympathisch (S2 – S4) somatisch (S2 – S4)

M. sphincter vesicae ext.

+

Abb. 27.11

Rückenmark

N. pudendus

Sympathische, parasympathische und somatomotorische Innervation der Harnblase und ihrer Sphinkteren.

passt. Gleichzeitig stellt sich in beiden Sphinkteren der ursprüngliche, tonische Dauerkontraktionszustand wieder ein. Dieser Reflex läuft überwiegend intrinsisch über das enterale Nervensystem ab; er hat aber auch über Afferenzen aus dem Rektum, die über die Nn. splanchnici pelvini verlaufen, eine extrinsische Komponente mit einem spinalen Reflexbogen. Bei stärker werdender Füllung des Rektums wird über Afferenzen, die durch die Dehnung aktiviert werden, ein vermehrter Stuhldrang wahrgenommen, und es kann willkürlich eine komplette Reflexkette, die als Defäkationsreflex bezeichnet wird, in Gang gesetzt werden. Durch Anspannung der Bauchdecken und Zwerchfellkontraktion wird der intraabdominale Druck erhöht, und der M. sphincter externus und die Beckenmuskulatur erschlaffen. Reflektorisch relaxiert der M. sphincter internus, und über Afferenzen aus dem Rektum wird ein spinaler parasympathischer Reflex aktiviert, der zur Kontraktion des Colon descendens, des Sigmoids und des Rektums führt. Alle diese Aktivitäten gemeinsam führen zur Ausstoßung des Stuhls. Diese überwiegend peripher myogen, im intrinsischen Nervensystem sowie spinalreflektorisch organisierten Aktivitäten für Kontinenz und Defäkation sind auch im chronischen Stadium nach Rückenmarkläsionen oberhalb des Lumbalmarks erhalten. Es fehlt dann jedoch die Wahrnehmung des Stuhldrangs und die Möglichkeit zur Unterstützung des Ablaufs durch die Willkürmotorik.

Harnkontinenz und Blasenentleerung Der kontinuierlich gebildete Harn wird von den Nierenbecken über die Harnleiter zur Blase geleitet. Hier können bis zu 500 ml Harn gesammelt werden, ehe über supraspinale und spinale Reflexe mit willkürlicher Kontrolle eine Entleerung der Blase, die Miktion, einsetzt. Die Blase besteht aus drei Schichten glatter Muskulatur, die durch ihre Kontraktion zur Entleerung der Blase führen und daher in ihrer Gesamtheit als M. detrusor bezeichnet werden. Der Verschluss der Blase ist durch einen inneren, glatten und einen äußeren, quergestreiften Sphinktermuskel gewährleistet. Die wichtigste, auf den M. detrusor konstriktorisch wirkende Innervation erfolgt über die parasympathischen Nn. splanchnici pelvini (Nn. pelvici), die aus dem 2. – 4. Sakralsegment kommen. Die präganglionären Neurone schalten in Ganglien der Blasenwand (Plexus vesicalis) auf postganglionäre Neurone um (Abb. 27.11). Die sympathische Innervation hat ihren Ursprung in präganglionären Neuronen der beiden obersten Lumbalsegmente. Die postganglionären Neurone liegen in der Mehrzahl im Ganglion mesentericum inferius, einige auch im Plexus vesicalis. Die Sympathikusaktivität führt zur Erschlaffung des M. detrusor und zur Kontraktion des M. sphincter internus. Der N. pudendus mit seinem Ursprung im 2. – 4. Sakralsegment innerviert den willkürlich kontrollierbaren M. sphincter externus. Alle Nervenäste, die sympathischen, parasympathischen und somatomotorischen, enthalten afferente Fasern von Rezeptoren in der Blasenwand und der Harnröhre. Die wichtigste Afferenz zur Auslösung des Blasenentleerungsreflexes verläuft jedoch über die Nn. splanchnici pelvini. Die Speicherfunktion der Blase kann dadurch erfüllt werden, dass bei jeder kleineren Volumenzunahme der Druck zunächst ansteigt, durch eine Relaxation des Detrusors aber nach wenigen Sekunden wieder auf einen

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27.6 Kerngebiete in der Medulla oblongata tonischen Dauerwert abfällt. Dieser Vorgang wird als Akkommodation bezeichnet. Auf diesem tonischen Druckplateau sind durch regelmäßige rhythmische Kontraktionen der Blase kleine Druckwellen aufgesetzt. Dauertonus und rhythmische Kontraktionen sind allein durch den intrinsischen Nervenplexus verursacht und auch in einer völlig denervierten Blase vorhanden. Die extrinsische Innervation kann diese Abläufe nur fördernd durch den Parasympathikus oder hemmend durch den Sympathikus modulieren. Die Harnkontinenz wird gesichert durch ein Zusammenspiel zwischen der tonischen Kontraktion der glatten Muskulatur des M. sphincter internus und der Kontraktion des aus quergestreiften Muskelfasern bestehenden M. sphincter externus. Der Tonus des M. sphincter internus wird über den Sympathikus und α1-adrenerge Rezeptoren aufrechterhalten.

Pyramide

Wird bei Querschnittläsionen des Rückenmarks dieser Reflexbogen unterbrochen, so kann nach der Phase des spinalen Schocks (Kap. 26) mit einer atonischen, areflektorischen Blase der Miktionsreflex über rein spinale Reflexe wieder in Gang kommen. Es besteht dann der Zustand einer sog. Reflexblase, die aber nicht vollständig entleert werden kann, wodurch über den verbleibenden Restharn die Gefahr einer Infektion gegeben ist.

Tractus solitarii

Nucl. olivaris

dorsal

+ – ventral

von den Pressorezeptoren

Bei einer Inkontinenz kann durch Gabe von α1-Rezeptor-Agonisten eine Tonisierung des intrinsischen Sphinktermechanismus versucht werden. Umgekehrt kann bei Problemen der Harnentleerung durch eine funktionelle Blasenhalsenge mit α1-Rezeptor-Antagonisten diese glatte Muskulatur relaxiert werden. Der weiter distal gelegene M. sphincter externus besteht aus den quergestreiften periurethralen Muskeln des Beckenbodens (M. transversus perinei und M. levator ani). Diese sind aus langsamen und schnellen Zuckungsfasern (s. Kap. 6, S. 113) aufgebaut. Die ersteren erhalten durch einen Dauertonus die Kontinenz in Ruhe, die letzteren sichern die Kontinenz bei plötzlicher intraabdomineller Druckerhöhung, wie z. B. beim Husten, durch eine schnelle Kontraktion mit Harnröhrenverschluss. Bei einem bestimmten Grad der Blasenfüllung, dem Schwellendruck, tritt plötzlich ein steiler Druckanstieg auf, der den Beginn des Miktionsreflexes einleitet. Im weiteren Verlauf werden dabei über Dehnungsrezeptoren der Blase Afferenzen aktiviert, die reflektorisch die parasympathische Aktivität verstärken und dadurch zur Kontraktion des Detrusors führen. Der M. sphincter internus wird durch den weiteren Druckanstieg überwiegend mechanisch geöffnet, und der externe Sphinktermuskel erschlafft reflektorisch über Afferenzen im N. pudendus. Diese Vorgänge laufen kontinuierlich so lange ab, bis die Blase vollständig entleert ist. Die entscheidende Komponente des Blasenentleerungsreflexes, die Aktivierung des Parasympathikus, erfolgt über einen supraspinalen Reflexweg. Die Umschaltung der Afferenzen auf spinal absteigende Efferenzen erfolgt in einem Kerngebiet in der ventrolateralen Formatio reticularis des Pons in Höhe des Locus coeruleus.

Medulla oblongata

sympathoexzitatorische Neurone

+ Hinterseitenstrang zu para- und prävertebralen Ganglien

Rückenmark (T1 – L2)

Abb. 27.12 Lokalisation der sympathoexzitatorischen Neurone in der ventrolateralen Medulla oblongata. Die Axone dieser Neurone verlaufen im Hinterseitenstrang zu den präganglionären Neuronen im Seitenhorn des Rückenmarks. In der Medulla oblongata ist der Verlauf des pressorezeptorischen Reflexbogens mit Umschaltung auf sekundäre Neurone in medialen Kerngebieten des Tractus solitarii und ihrer Projektion zu den sympathoexzitatorischen Neuronen eingezeichnet.

27.6

Kerngebiete in der Medulla oblongata

Die Steuerung der Grundaktivität im Sympathikus erfolgt von einem Kerngebiet in der ventrolateralen Medulla oblongata. Diese Aktivitätssteuerung ist eng an die Tätigkeit der Atemzentren gekoppelt. Hemmende und fördernde supraspinale Sympathikusreflexe sind über dieses medulläre Kerngebiet verschaltet. Die präganglionären Neurone des Vagus liegen im Nucleus dorsalis n. vagi und im Nucleus ambiguus. Auch ihre Aktivität ist eng an die zentrale Atemtätigkeit gekoppelt. Die präganglionären Neurone des Sympathikus im Rückenmark sind ohne Zuströme aus der Medulla oblongata nicht aktiv. Die in den peripheren prä- und postganglionären sympathischen Nerven ableitbare Grundaktivität, der Symphatikotonus, entsteht durch die Aktivierung der präganglionären Neurone über Bahnen, die in den Hinterseitensträngen (Abb. 27.12) in das Rückenmark absteigen. Diese Bahnen haben ihr Ursprungskerngebiet in der ventrolateralen Medulla (VLM) dicht unter der

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27 Neurovegetative Regulationen Hypothalamus arterielle Chemorezeptoren

zerebrale Ischämie inspiratorische Neurone

spinale Afferenzen PCO2- Anstieg Pressorezeptoren

+

–

ventrolaterale Medulla oblongata

sympathoexzitatorische Neurone

Abb. 27.13 Hemmende und aktivierende Zuströme zu den sympathoexzitatorischen Neuronen in der Medulla oblongata.

ventralen Oberfläche. In der ventralen Aufsicht liegt dieses Kerngebiet direkt kranial von den Austrittswurzeln des N. hypoglossus. Reizungen oder Ausschaltungen dieses Steuerzentrums der Sympathikusaktivität führen zu Aktivierungen oder Hemmungen der Aktivität in sympathischen Nerven und zu entsprechenden Effektororganreaktionen, wie z. B. Anstieg oder Abfall im Blutdruck. Es ist bisher nicht geklärt, wodurch die kontinuierliche Grundaktivierung dieses Sympathikuszentrums erfolgt. Sicher ist jedoch, dass sie nicht entsteht durch Zuströme von höher gelegenen Regionen im Zentralnervensystem, da eine vollständige Durchtrennung des Hirnstamms direkt oberhalb dieses Areals in der VLM zu keiner Veränderung der Grundaktivität führt. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Neurone in der VLM nicht im Rahmen bestimmter homöostatischer Regulationen (s. u.) von höheren Zentren aus in ihrer Grundaktivität verändert werden können. Von den zahlreichen Zuströmen in dieses Areal (Abb. 27.13) hat jedoch nur einer eine inhibitorische Wirkung, nämlich die Afferenz aus den Pressorezeptoren. Eine Aktivierung der Pressorezeptoren in Karotissinus und Aortenbogen (Kap. 8) führt über die synaptische Schaltstelle in medialen Anteilen des Nucleus tractus solitarii (Abb. 27.12) zur Hemmung der Neurone in der VLMRegion und damit zu einer Abnahme der efferenten Sympathikusaktivität. Alle anderen Zuströme aktivieren die Neurone der VLM (Abb. 27.13). Dazu gehören z. B. spinale Afferenzen von Mechano- und Nozirezeptoren; ebenso die Afferenzen der peripheren, arteriellen Chemorezeptoren (S. 299). Außerdem erfolgt über intramedulläre Verbindungen eine Aktivierung der VLM-Neurone durch die inspiratorischen Neurone im Hirnstamm. Dies bedingt atemsynchrone Schwankungen der Sympathikusaktivität während der Phrenikusaktivität in der Inspirations-

phase. Ein Anstieg des arteriellen CO2-Partialdrucks hat über bislang unbekannte chemorezeptive Mechanismen in der Medulla oblongata (Kap. 10) einen besonders starken tonisch aktivierenden Einfluss auf die Neurone in der VLM und damit auf die Sympathikusaktivität. Auch eine Durchblutungsabnahme in diesem Areal, die im Rahmen einer zerebralen Ischämie auftritt, führt zu einer Aktivierung. Über den gleichen Mechanismus kann es bei intrakranieller Drucksteigerung infolge von plötzlichen raumfordernden Prozessen im Gehirn (z. B. Blutungen) zu einem starken Anstieg der Sympathikusaktivität und des Blutdrucks kommen. Dieser Vorgang ist als Cushing-Reflex beschrieben. Die präganglionären, parasympathischen Neurone des N. vagus liegen in der Medulla oblongata in zwei Kerngebieten: im Nucleus dorsalis n. vagi und im Nucleus ambiguus. In Bezug auf die innervierten Erfolgsorgane zeigen die Kerngebiete nur eine grobe Gliederung mit Überlappungen, die bei verschiedenen Spezies unterschiedlich sein kann. So werden vom dorsalen Vaguskern überwiegend die Organe im Abdomen und vom Nucleus ambiguus vor allem die Organe im Thorax innerviert. Vagale Neurone, die das Herz mit negativ chronotroper Wirkung innervieren (Kap. 7), erhalten zahlreiche afferente Zuströme. Einen besonders stark aktivierenden Einfluss haben die Afferenzen von Pressorezeptoren und arteriellen Chemorezeptoren, die damit beide eine sehr ausgeprägte Bradykardie auslösen können. Der Grundtonus des Parasympathikus ist ebenso wie im Sympathikus in einigen Efferenzen atemsynchron moduliert. In den kardialen Vagusfasern findet sich eine Aktivitätszunahme mit der Exspiration, die zu der respiratorischen Arrhythmie führt, einer unregelmäßigen Herzschlagfolge mit einer Verlangsamung in der Ausatmungsphase. Vagale Efferenzen zu den Ganglien der Bronchialmuskulatur zeigen Aktivitätssteigerungen mit der Inspirationsphase, so dass es mit Beginn der Inspiration zur Konstriktion der Bronchien kommt. Aufgrund der langsamen Kontraktionsgeschwindigkeit der glatten Muskulatur wird das Maximum der Konstriktion jedoch erst während der Exspiration erreicht. Dadurch ist der Atemwegswiderstand während der Einatmung am niedrigsten und er erhöht sich während der Exspiration. Bei einer insgesamt verstärkten Bronchokonstriktion während eines Asthmaanfalls führt die besonders erschwerte Exspiration zu einer Überblähung der Lungen mit Verschiebung der Atemruhelage.

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27.7 Hypothalamus und limbisches System – homöostatische Regulationen und emotionelle Verhaltensweisen

27.7

Hypothalamus und limbisches System – homöostatische Regulationen und emotionelle Verhaltensweisen

Mechanismen zur Konstanterhaltung der Körpertemperatur sowie zum Gleichgewicht in Energie- und Wasserhaushalt werden von Kerngebieten des Hypothalamus reguliert. Hypothalamus und limbisches System sind an der Steuerung emotionaler Verhaltensweisen, die mit neurovegetativen, motorischen Reaktionen und entsprechenden subjektiven Empfindungen ablaufen, beteiligt. Für die Auslösung der neurovegetativen Reaktionen im Rahmen der Abwehrreaktion (Defence Reaction) stellt der Hypothalamus ein wichtiges Integrationszentrum dar. Mit der tonischen und reflektorischen Kontrolle von Atmung und Kreislauf durch die Medulla oblongata (Abb. 27.14) werden bereits auf dieser Ebene des Zentralnervensystems zwei lebenswichtige Funktionen schnell geregelt, die der Konstanterhaltung des „inneren Milieus“ (C. Bernard 1878) oder der Stabilisierung der physikochemischen Zustände im Körper, der Homöostase (3), dienen. Der Hypothalamus ist das wichtigste Zentrum für homöostatische Regulationen, die ohne Gefahr für den Organismus wesentlich langsamer ablaufen können, als es bei der Atmungs- und Kreislaufregulation der Fall ist. Daher können bei diesen Regulationen auf der rezeptiven wie auf der effektorischen Seite neben der schnellen nervalen auch humorale und endokrine Mechanismen eingesetzt werden. Zu den Aufgaben des Hypothalamus im Rahmen der Homöostase gehört die Regulation der Körpertemperatur sowie des Energie- und des Wasserhaushalts (Kap. 13 – 15). Bei den hypothalamisch gesteuerten homöostatischen Regulationen besteht weiterhin die Besonderheit, dass sie nicht nur über das vegetative Nervensystem und Hormone in Veränderungen des „inneren Milieus“ eingreifen, sondern dass auch über die bewussten Empfindungen von Kälte, Hunger oder Durst der Antrieb zu motorischen Handlungen gegeben wird, der dann mit der Nahrungs- oder Flüssigkeitsaufnahme die ganze Aktion erst sinnvoll abschließt. Die Gesamtheit dieser hypothalamischen Regulationen besteht damit in einer komplexen Verhaltensweise mit vier Komponenten: der subjektiven Empfindung, der motorischen, der neurovegetativen und der hormonellen Reaktion. Vom Hypothalamus werden ebenfalls Verhaltensweisen gesteuert, die mit starken Emotionen wie z. B. Wut oder Angst einhergehen und die bei äußerer Bedrohung neben zahlreichen neurovegetativen und hormonellen Reaktionen zu den motorischen Handlungen Angriff oder Flucht führen können. Weiterhin werden vom Hypothalamus über das endokrine System die Libido und das Sexualverhalten (Kap. 16, 17) gesteuert, ein Verhalten, das nicht mehr der Homöostase des Individuums, sondern der Erhaltung der Art dient. Die Kerngebiete des Hypothalamus sind von kaudal her besonders dicht versorgt mit Afferenzen über die Formatio reticularis des Hirnstamms; auf der kranialen Seite bestehen zahlreiche reziproke Verbindungen zum limbischen System (Abb. 27.14). Der Begriff limbisches

limbisches System

emotionale Antriebe

Hypothalamus

Medulla oblongata

Rückenmark

homöostatische Regulationen Sympathikotonus, Atmungs- und Kreislaufhomöostase

spinale Reflexe

Erfolgsorgane

Abb. 27.14 Die verschiedenen Ebenen im Zentralnervensystem, die an der Steuerung der Aktivität im vegetativen Nervensystem beteiligt sind. Die einzelnen Ebenen sind durch zahlreiche reziproke Bahnen mit der nächst höheren und niederen Ebene verbunden. Dadurch können Einflüsse auch von der obersten Ebene (limbisches System) auf die Organe (Psyche – Soma) und ebenso in umgekehrter Richtung von den Organen bis zum limbischen System (Soma – Psyche) ausgeübt werden. Bei diesem Aufbau in sich überlagernde Organisationsebenen werden von der jeweils höheren Ebene größere Funktionseinheiten im Sinne homöostatischer Regulationen gesteuert als von der darunter liegenden Ebene.

System leitet sich her von der Bezeichnung Lobus limbicus, die von P. Broca 1878 für entwicklungsgeschichtlich alte Hirnrindenareale (Archikortex) eingeführt wurde und die als Saum (limbus = Randzone, Saum) den Hirnstamm kranial umhüllen. Dazu gehören der Gyrus cinguli, der Gyrus parahippocampalis und der Gyrus paraterminalis. Wegen der engen funktionellen Verknüpfungen mit den unter diesen Rindenarealen liegenden Kerngebieten (Nucleus amygdalae, Septumkerne, Hippokampus, Corpora mamillaria) werden alle Regionen zusammengefasst als limbisches System bezeichnet. Über mehrere innere Erregungskreise ist das limbische System maßgeblich an der Steuerung von emotionellen Verhaltensweisen, von Orientierungs- und Aufmerksamkeitsreaktionen und von Lernprozessen beteiligt. Die Verbindungen von neokortikalen Arealen zum limbischen System sind spärlich; die wichtigsten gehen von frontalen Regionen des Neokortex aus. Bei den einzelnen homöostatischen Regulationen steuert der Hypothalamus jeweils ein ganz bestimmtes Aktivitätsmuster im vegetativen Nervensystem. So erfolgt z. B. bei oder auch schon vor der Nahrungsaufnahme eine vagale Aktivierung mit Anstieg der Sekretion und Motilität im Gastrointestinaltrakt. Im Kreislauf wird spezifisch die Durchblutung an Magen und Darm gesteigert. Im Rahmen der Thermoregulation kann allein die Durch-

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27 Neurovegetative Regulationen blutung der Haut zur Verbesserung oder Verhinderung der Wärmeabgabe durch eine spezifische Steuerung der Hautgefäßinnervation verändert werden. Die genauen Abläufe der homöostatischen Regulationen von Temperatur, Energie- und Wasserhaushalt werden in den entsprechenden Kapiteln dieses Buches abgehandelt (Kap. 13 – 15). In Bezug auf die neurovegetativen Regulationen ist jedoch besonders eine hypothalamisch gesteuerte Verhaltensweise von Bedeutung, die mit den Emotionen von Wut oder Angst einhergeht und bei der über vegetative und endokrine Aktivierungen der Körper in höchste Leistungsbereitschaft versetzt wird. Diese Reaktion läuft ab mit starker, allgemeiner Aktivierung des Sympathikus, die zu zahlreichen Organreaktionen führt, wie Pupillenerweiterung, Anstieg der Herzfrequenz und des Blutdrucks, verstärkte Schweißsekretion und vermehrte Freisetzung von Adrenalin aus dem Nebennierenmark. Die Reaktion wird recht stereotyp bei den verschiedensten, vermeintlichen oder tatsächlichen physischen oder psychischen Bedrohungen des Individuums ausgelöst. Diese emotionale Verhaltensweise hat – bedingt durch unterschiedliche methodische Zugänge – von verschiedenen Experimentatoren unterschiedliche Bezeichnungen erhalten, mit denen im Prinzip die gleichen Mechanismen beschrieben werden. Sie wurde von Cannon (3) zuerst als Notfallreaktion (Emergency State) charakterisiert und z. B. auch für Reaktionen im traumatischen Schock verwendet. Von Hess (8) wurde die gleiche, im Tierexperiment durch elektrische Reizung in dorsolateralen Regionen des Hypothalamus ausgelöste Verhaltensweise als Abwehrreaktion bezeichnet, ein Begriff, der heute als „Defence Reaction“ allgemein gebräuchlich ist. Diese Reaktion ist ebenfalls vergleichbar mit der von H. Selye beschriebenen Alarmreaktion, der ersten Phase des von ihm so genannten Stress- oder Adaptationssyndroms. Hess (8) beschrieb ferner komplementär zu der dorsolateralen Region des Hypothalamus eine ventromediale Region, deren elektrische Reizung zu einer ruhigen Erholungslage mit gesteigerten Aktivitäten im Parasympathikus führen sollte; er nannte sie die trophotrope Reaktion. Ob diese ventromedialen und dorsolateralen Regionen des Hypothalamus als Steuerungs- und Integrationszentren der komplexen ergotropen und trophotropen Verhaltensweisen gelten können, muss neuerdings bezweifelt werden, da diese Ergebnisse nur mit elektrischer Reizung zu erzielen sind, bei der am Reizort sowohl die Nervenzellkörper als auch durchziehende Nervenfasern gleichermaßen erregt werden. Neuere Experimente mit „chemischer Stimulation“, bei denen durch Applikation erregender Transmitter (z. B. Glutamat) ausschließlich Zellkörper stimuliert werden, konnten diese Befunde nicht bestätigen. Möglicherweise werden durch die elektrische Stimulation nur efferente Ausgänge, die aus komplexen Erregungskreisen des limbischen Systems stammen, aktiviert. Die Tatsache, dass auch außerhalb der homöostatischen Regulationsabläufe die ganze Kette der Reaktionen zur Aktivierung des vegetativen Nervensystems (Abb. 27.14) allein durch Emotionen in Gang gesetzt werden kann, verweist auf die Möglichkeit, dass auf

diesem Wege auch organische Störungen entstehen können, die wegen ihrer ursächlichen Verknüpfung als psychosomatische Erkrankungen bezeichnet werden. Aus Untersuchungen an Tieren ist bekannt, dass besonders die lange Dauer und die ständige Wiederholung – nicht so sehr die Intensität – der ergotropen Alarm-, Defence- oder Stressreaktion zur Ausbildung von organischen Störungen (z. B. Hochdruck) führen kann. Sicher ist die Situation beim Menschen komplexer, da sowohl in der Art der Umweltreize, die bei verschiedenen Menschen zu emotionalen Reaktionen führen können, als auch in der Veranlagung und in der Erfahrung mit ihrer Verarbeitung große individuelle Unterschiede bestehen.

Zum Weiterlesen … 1 Bannister R, Mathias C (eds.). Autonomic Failure. 4th ed. Oxford: Oxford University Press; 1999 2 Brooks CMcC, Koizumi K, Sato A. Integrative Functions of the Autonomic Nervous System. Tokyo: University; 1979 3 Cannon WB. The Wisdom of the Body. New York: Norton; 1932 4 Ciriello J, Calaresu FR, Renaud LP, Polosa C. Organization of the Autonomic Nervous System. Central and Peripheral Mechanisms. New York: Liss; 1987 5 Coote JH. The organization of cardiovascular neurons in the spinal cord. Rev Physiol Biochem Pharmacol. 1988; 110: 147 – 285 6 Gonella J, Bouvier M, Blanquet F. Extrinsic nervous control of motility of small and large intestines and related sphincters. Physiol Rev. 1987; 67: 902 – 961 7 Henry JP, Stephens PM. Stress, Health, and the Social Environment. A Sociobiologic Approach to Medicine. New York: Springer; 1977 8 Hess WR. Die funktionelle Organisation des vegetativen Nervensystems. Basel: Schwabe; 1948 9 Jänig W, Brooks CMcC. The autonomic nervous system in health and disease: neurobiology and pathophysiology. J Autonom Nerv Syst. 1983; 7: 193 – 415 10 Jänig W, McLachlan EM. Organization of lumbar spinal outflow to distal colon and pelvic organs. Physiol Rev. 1987; 67: 1332 – 1404 11 Johnson RH, Spalding JMR. Disorders of the Autonomic Nervous System. Oxford: Blackwell; 1974 12 Loewy AD, Spyer KM. Central Regulation of Autonomic Functions. Oxford: Oxford University Press; 1990 13 Persson PB, Kirchheim HR. Baroreceptor Reflexes. Integrative Functions and Clinical Aspects. Heidelberg: Springer; 1991 14 Pick J. The Autonomic Nervous System. Philadelphia: Lippincott; 1970 15 Robertson D (ed.). Primer on the Autonomic Nervous System. 2nd ed. Amsterdam: Elsevier; 2004 16 Schaefer H, Heinemann H. Modelle sozialer Einwirkungen auf den Menschen (Sozialphysiologie). In: Blohmke M, Ferber C v, Kisker KP, Schaefer H. Handbuch der Sozialmedizin. Bd. I. Stuttgart: Enke; 1975 17 Schiffter R. Neurologie des vegetativen Systems. Berlin: Springer; 1985 18 Uehara Y, Suyana K. Visualization of the adventitial aspect of the vascular smooth muscle cells under the scanning electron microscope. J Electron Micr. 1978; 27: 157 – 159

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Integrative Funktionen des Gehirns H.-C. Pape 28.1 Das Unfassbare im Leben · · · 802 28.2 Grundlage kognitiver Funktionen · ·· 802 28.3 Organisation des Cortex cerebri – Assoziationscortices · · · 803 Der Cortex cerebri ist in Areale, Schichten (Laminae) und Säulen (Kolumnen) gegliedert · ·· 803 Die assoziativen Areale des Kortex integrieren vorverarbeitete Information · · · 805 Lokale Schädigung des parietalen Assoziationskortex hat Aufmerksamkeitsdefizite zur Folge ··· 805 Lokale Funktionsstörung des temporalen Assoziationskortex führt zu Beeinträchtigungen im Wiedererkennen · ·· 806 Schädigung des frontalen Assoziationskortex ist mit vielfältigen Veränderungen der Persönlichkeit verbunden · · · 806 28.4 Kognition versus Emotion – Das limbische System · · · 807 Ein funktioneller Rückkopplungskreis phylogenetisch alter Hirnstrukturen begründet das Konzept „Limbisches System“ · · · 807 Strukturen des limbischen Systems vermitteln die emotionale Bewertung aller Sinneserfahrungen und die Motivationskontrolle über Verhalten · ·· 808 Störungen der Funktion limbischer Strukturen führen zur Dissoziation von Emotion und Kognition mit der Folge psychiatrischer und neurologischer Symptome ··· 809 28.5 Motivation – Belohnung und Abhängigkeit ··· 812 Motivationsabhängiges Verhalten resultiert aus den Erfordernissen der Homöostase und einem erwarteten Belohnungseffekt, der mit der Funktion des Transmitters Dopamin in Zusammenhang steht · ·· 812 Psychotrope Substanzen interagieren mit dem dopaminergen System und können zur Abhängigkeit führen · · · 813 28.6 Lernen und Gedächtnis · · · 813 Das menschliche Gedächtnis wird in qualitative Kategorien eingeteilt · · · 814 Die Gedächtnisbildung erfolgt in zeitlichen Stadien · ·· 814 Lokale Funktionsstörungen definierter Hirnareale sind mit Beeinträchtigungen deklarativer Gedächtnisleistungen verbunden · · · 815 Das nicht-deklarative Gedächtnis bezieht vom deklarativen Gedächtnis weitgehend unabhängige Module ein · · · 817

Der präfrontale Kortex fungiert als wichtiger Teil des Arbeitsgedächtnisses ··· 817 Das Engramm ist in stabilisierten Aktivitäten und Verbindungen neuronaler Schaltkreise enthalten ··· 818 28.7 Lernabhängige synaptische Plastizität ··· 818 Die Plastizität synaptischer Verbindungen bildet eine entscheidende Grundlage für Lernen und Gedächtnisbildung ··· 818 Die Langzeitpotenzierung besitzt für die Informationsspeicherung sinnvolle Eigenschaften, insbesondere Eingangsspezifität und Assoziativität ··· 819 Die Langzeitpotenzierung wird durch calciumabhängige Prozesse ausgelöst und durch Mechanismen der Genexpression aufrechterhalten ··· 820 Die Balance zwischen LTP und LTD wird durch eine Abstimmung intrazellulärer Signalwege erreicht · · · 822 28.8 Hirnentwicklung – entwicklungsund erfahrungsabhängige Plastizität · · · 822 Die frühe Entwicklung des Nervensystems erfolgt unter dem Einfluss induktiver Signale · ·· 822 Das Überleben von Neuronen und die Stabilisierung der synaptischen Kontakte erfordert eine gegenseitige Kompetition unter steuernder Wirkung von neurotrophen Faktoren ··· 824 Plastizität kann zur Verbesserung von Restfunktionen nach Schädigung beitragen · · · 827 28.9 Linkes Gehirn/Rechtes Gehirn – Sprache · · · 827 Sprache ist linkshemisphärisch lateralisiert, und die Sprachregionen sind funktionell untergliedert · ·· 827 Die räumlich-visuellen Fähigkeiten der rechten Hemisphären sind denen der linken überlegen · ·· 829 Der Wada-Test ermöglicht eine Prüfung der funktionellen Lateralisation im menschlichen Gehirn ··· 830 Zeitlich-serielle und räumlich-parallele Funktionen charakterisieren die Arbeitsweise der linken und rechten Hemisphäre · ·· 830 28.10 (Appendix) Nicht-invasive Verfahren zur Messung von Hirnfunktionen · ·· 831 EEG und MEG · ·· 831 Bildgebende Verfahren · ·· 831

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28 Integrative Funktionen des Gehirns

28.1

Das Unfassbare im Leben

… des Bahnarbeiters Phineas Gage ereignete sich am 13. September 1848 in Vermont (USA). Bei Sprengarbeiten löste sich ein Eisenstab von etwa einem Meter Länge, 4 – 5 Zentimetern Durchmesser und 6 kg Gewicht, drang unterhalb der linken Orbita in den Schädel von Gage ein und zerstörte große Teile des Frontallappens seines Gehirns (Abb. 28.1). Erstaunlicherweise blieb Gage nicht nur bei Bewusstsein, sondern er saß bei der Fahrt zu einem nahe gelegenen Hotel aufrecht und stieg eine recht lange Treppe hinauf. Er wurde ambulant ärztlich behandelt und erholte sich nach Abklingen von Infektionen im Verlaufe von nur wenigen Monaten soweit, dass für den Außenstehenden keine Unterschiede seiner Fähigkeiten im Vergleich zu Zeiten vor dem Unfall erkennbar waren. Seine näheren Bekannten allerdings bemerkten deutliche Änderungen seines „Wesens“ und seiner „Persönlichkeit“, insofern als aus einer freundlich-zurückhaltenden Person mit wohl organisiertem Tagesablauf in Folge des Unfalls ein aggressiver, launischer Mensch geworden war, der mit normalen sozialen Umgangsformen nicht zurecht kam und der zu planend vorausschauendem Handeln kaum mehr in der Lage war. Zu jener Zeit existierten zwar keine psychologischen Tests, die über Gages geistige Fähigkeiten hätten Auskunft geben können, aus den Schilderungen geht allerdings hervor, dass die Persönlichkeit von Gage sehr viel stärker durch den Unfall betroffen war als seine Intelligenz. Damit stimulierte die Beschreibung dieses Unfalls die Vorstellung, dass zwischen persönlichkeitsbezogenen Attributen und neuralen Prozessen ein Zusammenhang besteht. In der Tat zeigen Ergebnisse zahlreicher klinischer und experimenteller Studien einen Zusammenhang zwischen umschriebenen Hirnregionen und so genannten höheren Hirnfunktionen. Die Grundlagen von Kognition, Emotion, Motivation, Sprache, Lernen und Gedächtnis sowie wesentliche Aspekte der Hirnentwicklung werden im nachfolgenden Kapitel dargestellt.

28.2

Grundlage kognitiver Funktionen

Als kognitive Funktionen werden diejenigen Hirnfunktionen bezeichnet, die Teilfunktionen von Sinnessystemen und motorischen Systemen integrieren, diese gedächtnisabhängig bewerten und mit aktuellen Zuständen von Aufmerksamkeit, Emotion und Motivation abstimmen. In ihrer Gesamtheit begründen die kognitiven Funktionen das „Ich“-Konzept jedes Menschen. Aus klinischen Befunden, dass bei lokalisierter Schädigung des Gehirns bestimmte kognitive Prozesse gestört sind, wurde die Hypothese entwickelt, dass jeder experimentell beschreibbaren mentalen Leistung ein räumlich-zeitliches Muster neuraler Aktivität zugeordnet werden kann. In vorangehenden Kapiteln wurden diejenigen Regionen und Funktionen im Gehirn besprochen, die für die Verarbeitung von Sinnessignalen (Kap. 20 – 24) und die Generierung motorischer Kommandos (Kap. 26) von primärer Bedeutung sind. Darüber hinaus existieren Prozesse im Gehirn des Menschen, die diese Funktionen integrieren,

A Frontalhirnverletzung (Rekonstruktion)

B Ausmaß der Schädigung

Abb. 28.1 Frontalhirnverletzung des Sprengmeisters Phineas Gage. A Rekonstruktion auf Grundlage des in einer anatomischen Sammlung enthaltenen Schädels (mit freundlicher Genehmigung von Prof. H. Damasio, Univ. Iowa, Iowa City, USA). B Anzunehmendes Ausmaß der Schädigung des frontalen Kortex.

die Aufmerksamkeit auf bestimmte Reize lenken, diese Reize entsprechend der individuellen Erfahrung bewerten, mit internen Zustandswerten von Motivation oder Emotion vergleichen und daraus geeignete Verhaltensantworten planen. Diese Fähigkeiten werden kollektiv als Kognition und die zugrundeliegenden Hirnfunktionen als kognitive Funktionen (lat.: die Erkenntnis betreffende Funktionen) bezeichnet. Dabei ist Bewusstsein nicht notwendigerweise eine Voraussetzung für diese Funktionen oder für eine Leistungsverbesserung. Zum Beispiel können wiederkehrende Situationen im täglichen Arbeitsablauf nach dem Erlernen korrekt bewältigt werden, ohne dass sie in das Bewusstsein gelangen. Auch der emotionale Ausdruck im Gesicht unseres Gegenüber kann schnelle, „unterbewusste“ Reaktionen hervorrufen. Allerdings ist Bewusstsein die Voraussetzung für wesentliche Fähigkeiten des Menschen: das persönliche Erleben von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die vorausschauende Planung und Verantwortung, und das sich daraus entwickelnde „Ich“-Konzept. Klinische Beobachtungen zeigen, dass Schädigungen umschriebener Regionen des Gehirns Störungen bestimmter kognitiver Funktionen zur Folge haben. Diese klinischen Ergebnisse, ergänzt durch bildgebende und elektrophysiologische Verfahren sowie neuropsychologische Tests in Patienten und gesunden Probanden, führten zu der Vorstellung, dass jeder experimentell beschreibba-

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28.3 Organisation des Cortex cerebri – Assoziationscortices

primäre sensorische und motorische Areale

Lateralansicht 6

10

4

3 1

8

9

3 1

5 2

40

2

4

6 7

7 31

9

46

44

19

23

24

39

43 41 42

5

8

33

18

10

19

30

32

22

17

18

47 11 38

37

21

19 18

12

17

34 28

11

20

Assoziationscortices

36 35

38

37

Medianansicht

20

Abb. 28.2 Strukturelle Organisation des Neokortex. Zytoarchitektonische Areale von Brodmann, in Lateral- (links) und Medianansicht (rechts) des menschlichen Gehirns. Blaue

ren mentalen Leistung ein räumlich-zeitliches Muster neuraler Aktivität zugeordnet werden kann. Ein daraus entwickeltes Gesamtkonzept der integrativen Leistungen des Gehirns kann in 5 Prinzipien vereinfachend zusammengefasst werden: – Das Gehirn ist ein signalverarbeitendes System, in dem die Information in spezialisierten Funktionseinheiten (Modulen) verarbeitet, gespeichert und abgerufen wird. – Die Module existieren in Form umschriebener Hirnareale und der Aktivitätsmuster der darin enthaltenen neuralen Elemente und synaptischen Verbindungen (vgl. Kap. 5). – Die Organisation der Module wird durch interne und externe Faktoren bestimmt (genetische, entwicklungsabhängige, sozio-kulturelle Faktoren). – Adaptive Prozesse der Module, zum Beispiel im Sinne von Lern- und Gedächtnisvorgängen, resultieren aus plastischen Veränderungen im Bereich der synaptischen Signalübertragung. – Die Assoziationsareale des Cortex cerebri stellen wichtige Module für so genannte höhere Hirnfunktionen dar. Obwohl dieses Konzept gelegentlich kontrovers diskutiert wird – begründet vor allem in der Vielschichtigkeit von Begriffen wie „Kognition“, „Bewusstsein“, „Persönlichkeit“ – stellt es eine sinnvolle Arbeitshypothese dar. Allerdings sind die Zusammenhänge zwischen neuralen und geistigen Prozessen durch die Neuromedizin oder die Neurobiologie keinesfalls abschließend beschrieben oder gar im Sinne einer Kausalbeziehung bewiesen, und die offenen Fragen geben Anlass zu vielfältigen neurophilosophischen Überlegungen und Theorien.

28.3

Organisation des Cortex cerebri – Assoziationscortices

Der Cortex cerebri (zerebraler Kortex, „Hirnrinde“) wird nach Brodmann in 52 zytoarchitektonische Areale untergliedert. Die kortikalen Areale sind aus horizontalen Schichten (Laminae) und vertikal zur Oberfläche orien-

Farbtöne kennzeichnen Assoziationscortices, rote Farbtöne markieren primär sensorische und motorische Areale.

tierten funktionellen Säulen (Kolumnen) aufgebaut. Der Neokortex enthält 6 Schichten (I – VI), die afferenten Hauptzustrom aus dem spezifischen (IV) und unspezifischen Thalamus (I) sowie aus kortikalen Arealen (II–VI) erhalten. Sie sind efferent mit anderen kortikalen Arealen (II, III), subkortikalen Strukturen (V) und dem Thalamus (VI) verbunden. Vertikale und weitreichende horizontale kortikale Verbindungen ermöglichen eine zunehmende Extraktion definierter Merkmale von Sinnesreizen. Den Hauptteil der Hirnrinde belegen Assoziationsareale (Assoziationscortices), die Wechselwirkungen zwischen den Arealen mit primär sensorischen und motorischen Aufgaben vermitteln. Die Assoziationscortices stellen demzufolge wichtige Module für integrative, so genannte höhere Hirnfunktionen dar. Die integrative Funktion der Assoziationscortices zeigt sich an ihrem afferenten Hauptzustrom aus thalamischen Gebieten, die bereits verarbeitete Signale aus dem Kortex erhalten, sowie einem hohen Grad an kortiko-kortikalen Verbindungen. Eine lokale Funktionsstörung des Assoziationskortex hat bestimmte kognitive Defizite zur Folge. Parietale Schädigung führt häufig zu Aufmerksamkeitsdefiziten (z. B. Neglektsyndrom), temporale Schädigung hat Defizite im (Wieder-)erkennen (z. B. Agnosie) zur Folge, und frontale Schädigung resultiert in vielfältigen Defiziten der planend-vorausschauenden Handlung sowie Änderungen der Persönlichkeit

Der Cortex cerebri ist in Areale, Schichten (Laminae) und Säulen (Kolumnen) gegliedert Der Cortex cerebri (zerebraler Kortex, auch als „Hirnrinde“ bezeichnet) nimmt im Menschen mit ca. 500 cm3 nahezu die Hälfte des gesamten Hirnvolumens ein. Regional spezifische histologische Merkmale ermöglichten bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Untergliederung in 52 zytoarchitektonische Areale, die nach dem Erstbeschreiber auch als „Brodmann“-Areale bezeichnet werden (Abb. 28.2; vgl. Abb. 26.18). Viele dieser histologisch definierten Areale haben sich auch als funktionell

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28 Integrative Funktionen des Gehirns

Sternzelle

Neokortex

Pyramidenzelle Kolumne

Afferenzen unspezifischer Thalamus

Efferenzen I andere kortikale Areale

II

2

kortikale Areale

kontralaterale kortikale Areale

III spezifischer Thalamus

1

IV subkortikale Strukturen

3 V

kortikale Areale

VI 1

bis

4

4

Verarbeitungssequenz

Thalamus

weiße Substanz

Abb. 28.3 Strukturelle Organisation des Neokortex. Zelluläre Organisation der 6 Schichten (I–VI) des Neokortex, mit Hauptafferenzen (links) und -efferenzen (rechts). Die Zahlen

distinkt herausgestellt. Trotz aller Unterschiede besitzen die kortikalen Areale eine Reihe von Gemeinsamkeiten: – einen Aufbau aus Schichten (Laminae) etwa parallel zur Oberfläche der Hirnrinde, – neuronale Verbindungen in vertikaler Achse, innerhalb funktioneller Säulen (Kolumnen), – neuronale Verbindungen in horizontaler Achse, die zum Beispiel die funktionellen Säulen untereinander verbinden, sowie – definierte Eingangs- und Ausgangsstationen, die die primären Quellen und Ziele der afferenten und efferenten Verbindungen des jeweiligen kortikalen Areals bilden. Stammesgeschichtlich werden der Allokortex (mit Archikortex und Paläokortex), der Mesokortex und der Neokortex unterschieden. Der Neokortex macht als phylogenetisch jüngster Teil den größten Bereich des zerebralen Kortex im Menschen aus. Ein auffälliges histologisches Merkmal des Neokortex ist die Strukturierung in 6 Schichten (Laminae), die von der Oberfläche der Hirnrinde ausgehend mit fortlaufenden römischen Zahlen benannt werden (Abb. 28.3). Diese sechsschichtige Struktur ist in allen neokortikalen Regionen vorhanden, mit Ausnahme der Areale 4, 6 und 8 des motorischen Kortex (der als „agranulärer“ Kortex dem „granulären“ Kortex gegenübergestellt wird). Jede Schicht besitzt charakteristische funktionelle und anatomische Eigenschaften. In den primären sensorischen Cortices ist die Schicht IV reich an Sternzellen. Hier enden die Afferenzen aus den spezifischen thalamischen Kerngebieten, den Umschaltstationen der Sinnessignale von den peripheren Sinnes-

(1 – 4) zeigen die sequenzielle Informationsverarbeitung thalamokortikaler Signale innerhalb einer vertikalen Säule (Kolumne).

organen. Die Innervation ist topographisch organisiert, das heißt die Afferenzen benachbarter Orte der Sinnesorgane enden in benachbarten kortikalen Regionen. Dieses Innervationsmuster bildet eine wichtige Grundlage für den Aufbau vertikal orientierter funktioneller Säulen (Kolumnen), in denen definierte Aspekte der Sinnesinformation vermittelt werden. Gut untersucht sind die Säulen des primären visuellen Kortex, in dem zum Beispiel in den so genannten Orientierungssäulen die Orientierung von Lichtreizen repräsentiert ist (vgl. Kap. 23.6). Innerhalb einer Säule erfolgt die Verarbeitung der thalamokortikalen Signale durch ein dichtes synaptisches Netzwerk sowohl in serieller als auch in paralleler Weise von der Eingangschicht IV über die Schichten II/III in die Schichten V und VI, und von dort zurück in die Schicht IV (Abb. 28.3). Pyramidenzellen vor allem aus den Schichten II/III vermitteln über lateral verzweigte, zum Teil weit reichende Axone kortiko-kortikale Verbindungen.

Die Folge dieser Signalverarbeitung ist eine zunehmende Extraktion definierter Merkmale der Sinnesreize. Pyramidenzellen der Schicht VI projizieren in den Thalamus zurück, während die der Schicht V mit anderen subkortikalen Regionen, z. B. Striatum und Colliculi superiores, sowie dem Hirnstamm verbunden sind (Abb. 28.3). Im Gegensatz zum spezifischen thalamokortikalen System innervieren die Axone des unspezifischen thalamokortikalen Systems Kerngebiete diffus verzweigt bevorzugt die Schicht I. Im Neuropil der relativ zellarmen Schicht I sind darüber hinaus synaptische Kontake mit den cholinergen und monoaminergen Axonterminalen des aufsteigenden Hirnstammsystems ausgebildet, die eine Regulation der neuronalen Aktivität in Abhängigkeit von Verhaltenszuständen wie zum Beispiel Auf-

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28.3 Organisation des Cortex cerebri – Assoziationscortices merksamkeit, Wachheit und Schlaf ermöglichen (vgl. Kap. 29.3). Die phylogenetisch alten Regionen des Archikortex, zu dem der Hippokampus gehört, und des Palaeokortex, zu dem die kortikalen Regionen des Riechhirns zählen, sind in 3 – 4 bzw. 3 Schichten gegliedert. Die funktionelle Bedeutung der unterschiedlichen Gliederung von Neo-, Archi- und Palaeokortex ist nicht genau bekannt, steht vermutlich aber in Beziehung zur Komplexität der Informationsverarbeitung in den jeweiligen Regionen.

Die assoziativen Areale des Kortex integrieren vorverarbeitete Information Die Areale mit primären sensorischen und motorischen Aufgaben (vgl. Kap. 20 – 26) belegen nur einen kleinen Teil der Hirnrinde im Vergleich mit denjenigen Arealen, die integrative Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Sinnessystemen und den motorischen Arealen vermitteln, und die demzufolge als Assoziationsareale (Assoziationscortices) bezeichnet werden (Abb. 28.2). Entsprechend der anatomischen Lage werden frontaler, parietaler, temporaler und okzipitaler Assoziationskortex unterschieden. Der okzipitale Assoziationskortex nimmt insofern eine Sonderposition ein, als seine Funktionen zwar für kognitive Prozesse von Bedeutung sind, allerdings nahezu ausschließlich für solche des visuellen Systems, die hier nicht weiter behandelt werden (vgl. Kap. 23.6).

Die Organisation der Assoziationscortices zeigt bei allen aufgeführten neokortikalen Gemeinsamkeiten wesentliche Unterschiede zu den primären sensorischen und motorischen Cortices. Auffällig sind die Unterschiede in den Haupteingangs- und Ausgangssystemen. Zum einen erhalten die Assoziationscortices subkortikalen Zustrom nicht aus thalamischen Kerngebieten, die an der Weiterverschaltung primärer sensorischer und motorischer Information beteiligt sind, sondern aus solchen Kernen des Thalamus, die bereits verarbeitete Signale aus dem Kortex erhalten und diese an den Assoziationskortex zurückschalten. Relevante Kerngebiete des Thalamus sind das Pulvinar mit Hauptprojektion in den parietalen Assoziationskortex, der Nucleus lateralis posterior mit Projektion in den temporalen Assoziationskortex und die Nuclei mediales thalami mit Projektion in den frontalen Assoziationskortex.

Zum anderen sind die assoziativen Areale durch umfangreiche direkte Projektionen aus anderen kortikalen Regionen, insbesondere auch interhemisphärische kortiko-kortikale Verbindungen, gekennzeichnet. Eine dichte Innervation der Assoziationscortices durch das aufsteigende Aktivierungssystem aus Hirnstamm und basalem Vorderhirn bildet die Grundlage für die Regulation der Signalverarbeitung in Abhängigkeit eines breiten Kontinuums mentaler Zustände (vgl. Kap. 28.4, 29.3). Trotz des hohen Grades an wechselseitigen und zum Teil überlappenden Verbindungen sind die verschiedenen Areale der Assoziationscortices durch distinkte Eingangs- und Ausgangssysteme charakterisiert, die im Sinne der oben genannten Module spezifische Funktionen begründen. Schlussfolgerungen bezüglich der funktionellen Bedeutung der korti-

kalen Assoziationsareale im Menschen sind demzufolge durch klinische Beobachtungen von Patienten mit Funktionsstörungen dieser Areale in besonderer Weise möglich.

Lokale Schädigung des parietalen Assoziationskortex hat Aufmerksamkeitsdefizite zur Folge Patienten mit unilateralen Läsionen in Bereichen des parietalen Kortex fallen häufig durch eine Verminderung ihrer Fähigkeiten zur bewussten Wahrnehmung auf. Die Patienten reagieren nicht oder nur reduziert auf sensorische Reize, die in Bereichen des Körpers oder des Gesichtsfeldes kontralateral der parietalen Läsion dargeboten werden, und sie haben Schwierigkeiten bei der Ausführung motorischer Aufgaben in diesen Bereichen (Abb. 28.4 A). Ihre generellen sensorischen und motorischen Leistungen sind nicht messbar verändert. Die Symptome reichen von kurzzeitigen Phasen der verminderten kontralateralen Aufmerksamkeit bis zu einer relativen Vernachlässigung der kontralateralen Körperhälfte oder Umgebung, die in individuellen Fällen so ausgeprägt sein kann, dass die Existenz der Körperhälfte geleugnet wird und sich der Patient zum Beispiel weigert, diese zu waschen oder zu bekleiden. Die oft halbseitige Vernachlässigung des eigenen Körpers oder der Umgebung wird als Neglekt bezeichnet, und die Symptome kollektiv als kontralaterales Neglektsyndrom. Die Symptome spiegeln eine Reduktion der selektiven Aufmerksamkeit wider, derjenigen Fähigkeit, unter mehreren Ereignissen nach bestimmten Kriterien auszuwählen und damit eine wichtige Voraussetzung für die bewusste Wahrnehmung zu schaffen. Die Interpretation dieser klinischen Befunde, die dem parietalen Assoziationskortex eine entscheidende (allerdings nicht exklusive) Funktion für die selektive Aufmerksamkeit zuerkennt, ist durch vielfältige Studien mit Hilfe der Elektrophysiologie und der nicht invasiven Bildgebung bestätigt worden (Abb. 28.4 B). Die kontralaterale Ausprägung ist Ausdruck der kontralateralen Grundorganisation der sensorischen und motorischen Systeme (vgl. Kap. 20, 23, 26). Auffällig allerdings ist die Ausprägung des kontralateralen Neglektsyndroms vorwiegend bei Schädigung des rechtsseitigen Parietalkortex. Sie wird durch eine Lateralisation der Aufmerksamkeitssysteme erklärt (zur Lateralisation von Hirnfunktionen vgl. Kap. 28.9): bei vorwiegend kontralateraler Anlage der linksseitigen parietal-kortikalen Aufmerksamkeitssysteme kann die nicht betroffene rechte Hemisphäre funktionell-kompensatorisch wirken, während bei bilateraler Anlage der rechtsseitigen Systeme diese Kompensation nicht greifen kann. Zum Verständnis des Begriffes „Aufmerksamkeit“ ist es sinnvoll, einen selektiven und einen globalen Aspekt zu unterscheiden. Die Grundlage für die Selektion von Information (selektive Aufmerksamkeit) ist ein ausreichender Grad an globaler Wachheit und Aufmerksamkeit, der über das System HirnstammThalamus-Kortex reguliert wird (vgl. Kap. 29.3).

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28 Integrative Funktionen des Gehirns A posttraumatische Läsion, links-parietal

leichtes Neglektsyndrom mit Extinktionsphänomen B lokale Schädigungen parietale Läsion

Aufmerksamkeitsdefizite, Neglektsyndrom temporale Läsion

Wiedererkennungsdefizite, Agnosie frontale Läsion

Defizite in Handlungsplanung, „Persönlichkeitsänderungen“

Abb. 28.4 Schädigungen des Assoziationskortex und resultierende kognitive Defizite. A Magnetresonanztomographische Aufnahmen (3 verschiedene Horizontalschnitte) des Gehirns eines männlichen, 34-jährigen Patienten mit posttraumatischer Läsion links-parietal (markiert durch roten Kreis). Der Patient zeigt ein leichtes Neglektsyndrom rechts mit Extinktionsphänomen. Zum Beispiel werden visuelle Reize in der rechten Gesichtsfeldhälfte nur vermindert wahrgenommen, wenn gleichzeitig links ähnliche Reize dargeboten werden. (Aufnahmen Prof. Dr. E. Düzel, Ottovon-Guericke-Universität Magdeburg.) B Regionen des (rechten) Assoziationskortex, die bei bestimmten kognitiven Defiziten am häufigsten betroffen sind. Markiert sind die Regionen, in denen klinische Studien eine lokale Schädigung (z. B. eine Läsion) bei entsprechendem kognitiven Defizit zeigten. Zu beachten ist, dass bei Funktionsstörungen des frontalen Assoziationskortex vielfältige Beeinträchtigungen kognitiver Leistungen bekannt sind.

Lokale Funktionsstörung des temporalen Assoziationskortex führt zu Beeinträchtigungen im Wiedererkennen Als Agnosie wird eine Störung des (Wieder-)Erkennens bezeichnet, die nicht durch eine Störung der elementaren Sinnesleistungen verursacht ist, und bei der – im Unterschied zum Neglektsyndrom – der

Patient die Existenz von sensorischen Ereignissen nicht leugnet. Er erkennt deren Zusammenhang, Bedeutung oder Bekanntheit allerdings nicht. Die Störung betrifft häufig komplexe Reizsituationen und beinhaltet lexikalische und gedächtnisbezogene Komponenten (Schwierigkeiten bei der Zuordnung von Sinnesreizen zu verbalen oder kognitiven Symbolen und beim Abruf von Informationen bei Präsentation bekannter Reize). Klinische Untersuchungen zeigen Läsionen oder Funktionsstörungen in Agnosie-Patienten in inferioren Regionen der temporalen Assoziationscortices (Abb. 28.4 B). Linksseitige Störungen sind vorwiegend mit Schwierigkeiten der Wiedererkennung von Sprache assoziiert, und rechtsseitige Störungen haben visuelle Agnosien zur Folge (zur Lateralisation von Hirnfunktionen vgl. Kap. 28.9). In Abhängigkeit von Ort und Größe der Schädigung des inferioren temporalen Assoziationskortex können verschiedene, zum Teil objektspezifische Agnosien auftreten. Prosopagnosie ist eine Form der visuellen Agnosie, bei der ein Gesicht zwar als solches, jedoch nicht als das einer bekannten Person erkannt wird. Diese Patienten können zum Beispiel ihnen seit Jahren vertraute Personen, wie den Ehepartner, nicht anhand des Gesichts identifizieren. Bei Befragung geben sie an, das entsprechende Gesicht nicht zu kennen, und sie erinnern sich nicht an Eigenschaften der zugehörigen Person. Andererseits erkennen sie andere, ihnen bekannte Objekte wieder und können selbst subtile Unterschiede solcher Objekte differenzieren. Sie sind darüber hinaus in der Lage, bestimmte Personen mit Hilfe anderer Hinweise, wie zum Beispiel dem Klang der Stimme, der Körpergestalt oder dem Geburtsdatum zu identifizieren.

Schädigung des frontalen Assoziationskortex ist mit vielfältigen Veränderungen der Persönlichkeit verbunden Bei Funktionsstörungen des frontalen Assoziationskortex (Abb. 28.4 B) und der präfrontalen kortikalen Areale sind vielfältige Beeinträchtigungen kognitiver Leistungen bekannt. Sie sind Ausdruck der relativen Ausdehnung des frontalen Kortex im menschlichen Gehirn und dessen Bedeutung für höhere integrative Funktionen, wie zum Beispiel Handlungsplanung, Antizipation, Problemlösung, Informationsselektion und Steuerung sozialer Interaktionen (der oben geschilderte Fall Phineas Gage veranschaulicht die komplizierte Symptomatik bei Schädigung des frontalen Kortex). Eine hirnbiologisch spezifische Struktur/ Funktionskorrelation ist demzufolge in den wenigsten Fällen möglich. Ein unrühmliches Beispiel für fehlgeleitete Korrelationen und resultierende medizinische Praxis ist die in den 30er- und 40er-Jahren vor allem in den Vereinigten Staaten von Amerika in Tausenden von Patienten zur Behandlung von Symptomen „geistiger Verwirrtheit“ durchgeführte neurochirurgische Resektion des Frontallappens bzw. Durchtrennung fronto-thalamischer Bahnen („Lobotomie“, „Leukotomie“). Die Eingriffe hatten vielfältige hirnorganische Psychosyndrome und Persönlichkeitsveränderungen zur Folge.

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28.4 Kognition versus Emotion – Das limbische System B Schema des Papez-Kreises emotionale Kolorierung Neokortex

A Lobus limbicus Neokortex

emotionale Empfindung Gyrus cinguli

Gyrus cinguli Fornix Nucleus anterior thalami

Nucleus anterior thalami

Hippokampus

Hypothalamus Gyrus parahippocampalis Hippokampus

Abb. 28.5 Strukturelle Grundlagen des limbischen Systems. A Strukturen des Lobus limbicus (blau hervorgehoben), einer ringförmigen Anordnung phylogenetisch alter Strukturen an der zur Mittellinie orientierten Oberfläche des

28.4

Kognition versus Emotion – Das limbische System

Das Konzept „Limbisches System“ basiert auf der klinischen Beobachtung, dass nach lokaler Schädigung bestimmter Areale des Gehirns Änderungen der Emotionalität ohne erkennbaren Einfluss auf weitere kognitive oder sensomotorische Leistungen auftreten können. Daraus folgernd wurde historisch die Hypothese eines Emotionssystems in Form eines Rückkopplungskreises (Papez Kreis) zwischen phylogenetisch alten Strukturen des Lobus limbicus aufgestellt. Dieser Kreis umfasst den Gyrus cinguli, den Hippokampus, das Corpus mamillare und den Nucleus anterior thalami. Jüngere Erweiterungen des limbischen Systemkonzeptes beziehen zusätzliche limbische Schlüsselstrukturen (u. a. Amygdala, Cortex peri-, entorhinalis) und das so genannte mesolimbische System (u. a. Area tegmentalis ventralis, Nucleus accumbens) ein. Die limbischen Strukturen stehen in umfangreicher Wechselwirkung mit den Assoziationscortices und dem präfrontalen Kortex einerseits sowie dem Hypothalamus andererseits. Damit kommt dem limbischen System eine Vermittlerrolle zwischen neokortikalen kognitiven Funktionen und phylogenetisch alten Funktionen der Trieb- und Emotionalsphäre zu. Limbische Dysfunktionen machen sich klinisch demzufolge im Allgemeinen durch eine Dissoziation von Kognition und Emotion bemerkbar. Häufige psychiatrische Erkrankungen, wie z. B. Angsterkrankungen, Depression, Schizophrenie, Suchterkrankungen und Gedächtnisstörungen, aber auch bestimmte Formen der Epilepsie können die Folge sein.

Corpus mamillare emotionale Reaktion

Gehirns. B Schema des Papez-Kreises, eines funktionellen Rückkopplungskreises zur Verarbeitung von Emotionen. Zu beachten ist die Parallelität der Strukturen des Papez-Kreises und des Lobus limbicus (blau hervorgehoben).

Ein funktioneller Rückkopplungskreis phylogenetisch alter Hirnstrukturen begründet das Konzept „Limbisches System“ In einer bereits 1878 veröffentlichten Arbeit bemerkte der französische Neurologe Paul Broca, dass nahezu alle Säugetiere an der zur Mittellinie orientierten Oberfläche des Gehirns eine Gruppe von Arealen besitzen, die in einer ringförmigen Anordnung untereinander verbunden zu sein scheinen. An den lateinischen Ausdruck „Limbus“ (Rand, Ring) angelehnt nannte er diese Anordnung Lobus limbicus (Abb. 28.5 A). Wichtige Areale des Lobus limbicus sind der Gyrus cinguli und der Gyrus parahippocampalis mit dem Hippokampus. Broca entwickelte allerdings keinerlei Vorstellungen über die mögliche funktionelle Bedeutung dieser Strukturen, und in der nachfolgenden Zeit wurde deren Funktion primär in Verbindung mit dem Geruchssinn vermutet. Ab etwa 1930 vermehrten sich jedoch Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen den Strukturen des Lobus limbicus und emotionalem Verhalten. Zu dieser Zeit stellte der amerikanische Neurologe James Papez die Hypothese eines „Emotionssystems“ in Form eines Rückkopplungskreises, des so genannten „Papez-Kreises“, auf (Abb. 28.5 B). In diesem Modell fungiert ein definiertes Areal der Hirnrinde, der Gyrus cinguli, als das Areal für die Empfindung von Emotionen, und Rückkopplungen mit dem Hypothalamus vermitteln die funktionelle Verbindung der emotionalen Empfindung mit der körperlich-vegetativen und hormonell vermittelten emotionalen Reaktion, wie zum Beispiel der Änderung von Blutdruck und Herzfrequenz bei Schreckreaktionen. Die Rückkopplungsschleife im Papez-Modell beinhaltet efferente Fasern des Hippokampus, die über den Fornix das Corpus mamillare (eine Struktur des posterioren Hypothalamus) erreichen. Von

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28 Integrative Funktionen des Gehirns A limbische Schlüsselstrukturen

B Verknüpfungsschema limbischer Strukturen

Assoziationskortex

präfrontaler Kortex

sensorischer Kortex

Assoziationskortex

Gyrus cinguli Gyrus cinguli

Area tegmentalis ventralis

präfrontaler Kortex Nucleus anterior thalami Hypothalamus Amygdala

Nucleus accumbens Hippokampus Nucleus dorsomedialis thalami Corpus mamillare Cortex peri-, entorhinalis

Abb. 28.6 Erweitertes Konzept des limbischen Systems. A Schema der Wechselwirkungen limbischer Schlüsselstrukturen (violett hervorgehoben) mit dem präfrontalen Kortex und dem Assoziationskortex. B Verschaltungsschema limbischer Strukturen. Zu beachten sind der Papez-Kreis (Verbin-

hier steigt der Fasciculus mamillothalamicus (Vicqd‘Azyr-Bündel) zu den Nuclei anteriores thalami auf. Auch Fornixfasern enden in den anterioren thalamischen Kerngebieten. Die Axone der anterioren Thalamuskerne projizieren zum Gyrus cinguli, von dem die Faserbündel des Cingulum zurück zum Hippokampus führen. Zusammengefasst verbindet diese Rückkopplungsschleife den Neokortex, die höchste Integrationsstation des Gehirns, mit dem Hypothalamus, der zentralen Region für die Steuerung des vegetativen Nervensystems und des Hormonsystems. Der Ausgestaltung des Papez-Modells durch den amerikanischen Physiologen Paul MacLean ab etwa 1952 verdanken wir den Begriff „Limbisches System“. Er erkannte den Zusammenhang zwischen den Elementen des Papez’schen Kreises und denen des Broca’schen Lobus limbicus. MacLean popularisierte die Vorstellung, dass dieses limbische System als integriertes System phylogenetisch alter Strukturen des Gehirns das viszerale oder emotionale Leben des Individuums bestimmt und damit den phylogenetisch jüngeren, neokortikalen Arealen mit primär kognitiven oder intellektuellen Funktionen gegenübersteht.

Strukturen des limbischen Systems vermitteln die emotionale Bewertung aller Sinneserfahrungen und die Motivationskontrolle über Verhalten Jüngere experimentelle Befunde haben zu einer immensen Erweiterung und Ausgestaltung des limbischen Systemkonzeptes geführt. Wichtige Strukturen dieses erwei-

Hippokampus Cortex peri-, entorhinalis

Amygdala

Nucleus dorsomedialis thalami

Septum Corpus striatum Globus pallidus

Hypothalamus

Habenula

Nucleus anterior thalami

dungen blau markiert), die weitgehend parallelen Schaltkreise zwischen Amygdala und präfrontalem Kortex sowie zwischen hippokampaler Formation und Assoziationskortex (rot markiert), sowie das mesolimbische System (grün markiert).

terten limbischen Systems und deren Verschaltung sind in Abb. 28.5 schematisch dargestellt. Das Schema betont zum einen den Ursprung des limbischen Systemkonzeptes, die Papez-Hypothese einer emotionellen Bewertungs- und Motivationsinstanz. Dieser Rückkopplungskreis umfasst den Hypothalamus, die anterioren thalamischen Kerne, den Gyrus cinguli und führt über den Hippokampus zurück auf den Hypothalamus. Das Schema betont zum anderen die immense Ausdehnung dieses ursprünglichen Konzeptes, das bei höher entwickelten Arten einen umfassenden Einfluss auf die emotionale Bewertung aller Sinneserfahrungen bzw. eine Motivationskontrolle über Verhalten ausübt. Die vielfältigen Funktionen können vereinfachend vier großen Funktionskreisen zugeordnet werden, die vielfach überlappend miteinander verknüpft sind (Abb. 28.6 B). – Die limbischen Schlüsselstrukturen, vor allem der Gyrus cinguli, der Hippokampus, die Cortices periund entorhinalis sowie die Amygdala (Corpus amygdaloideum), stehen in wechselseitiger Verbindung mit den kortikalen Assoziationsarealen. In den assoziativen kortikalen Arealen werden die aktuellen sensorischen und motorischen Signale auf komplexer Ebene integriert, assoziiert und im Vergleich zu bisher Erlerntem bewertet (vgl. Kap. 28.3). Den limbischen Strukturen wird eine zentrale Bedeutung auch in der Ausfilterung unwichtiger Informationen zugesprochen, indem sie in Zusammenarbeit mit dem vorgeschalteten Kortex und durch Vergleich vergangener mit der gegenwärtigen Erfahrung die eingehende Umweltinformation auf deren Relevanz hin bewerten. Wichtige Ergebnisse dieser Funktionen sind selektive

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28.4 Kognition versus Emotion – Das limbische System Aufmerksamkeit, Gedächtnisbildung und Wiedererkennen (vgl. Kap. 28.3), wobei vor allem die Amygdala die emotionalen Komponenten dieser Funktionen vermittelt. – Die limbischen Schlüsselstrukturen stehen mit dem frontalen Assoziationskortex sowie dem präfrontalen Kortex in Verbindung, der maßgeblich in höhere geistige Prozesse wie Handlungsplanung, Problemlösung, Informationsselektion, Antizipation, Kategorisierung und Sozialverhalten involviert ist. Erkrankungen des präfrontalen Kortex führen zu Persönlichkeitsveränderungen, gekennzeichnet durch Abbau von sozial angepassten bis hin zu kriminellen Verhaltensweisen, Enthemmung und Distanzlosigkeit, Planungsunfähigkeit, Interesseund Motivationsverlust. – Diese Schaltkreise werden durch Projektionen aus der Area tegmentalis ventralis beeinflusst, die als mesolimbisches System zusammengefasst werden. Dessen Verbindungen mit dem Nucleus accumbens fungieren als wichtiger Teil des so genannten Belohnungssystems des Gehirns (vgl. Kap. 28.5). Das mesokortikale System projiziert aus der Area tegmentalis ventralis in neokortikale Areale, in denen es insbesondere die kognitiven Funktionen des dorsolateralen Anteils des präfrontalen Kortex reguliert. Der Haupttransmitter dieser Systeme ist Dopamin, das demzufolge viele der limbischen Funktionen moduliert. – Darüber hinaus stimulieren oder hemmen die limbischen Strukturen des Schläfenhirns über mehrere Bahnen die Aktivitäten des Hypothalamus, in dem die neuronalen Generatoren der phylogenetisch alten Trieb- und Emotionalsphäre liegen. Elementare Triebe wie Aggression, Flucht und Sexualität, die im Hypothalamus-Bereich auch durch direkte Stimulierung aktivierbar sind, werden durch Bündel von Nervenfasern aus Amygdala und Hippokampus beeinflusst. Dieser Einfluss erfolgt in Abhängigkeit von derjenigen Information, die Amygdala und Hippokampus aus dem Assoziationskortex erhalten. Der Hypothalamus seinerseits reguliert über lange absteigende Bahnen zum einen die peripher-vegetativen Reaktionen, wie zum Beispiel Herztätigkeit und Atmung, und zum anderen das Hormonsystem (vgl. Kap. 27.6). In ihrer Gesamtheit können die limbischen Strukturen mit ihrem hohen Anteil gemeinsamer Eingänge und wechselseitiger Verbindungen – im Gegensatz beispielsweise zu einem Sinnessystem – nicht als ein integriertes System verstanden werden, sondern als eine Ansammlung multipler Subsysteme mit Interaktionen in wechselnden Kombinationen und Aktivitäten, in Abhängigkeit z. B. von der individuell erbrachten Leistung und der individuell verfolgten Strategie.

Störungen der Funktion limbischer Strukturen führen zur Dissoziation von Emotion und Kognition mit der Folge psychiatrischer und neurologischer Symptome Aufgrund der geschilderten Zusammenhänge kommt dem limbischen System eine Vermittlerfunktion zwischen Assoziationskortex, präfrontalem Kortex und phylogenetisch alten emotionsrelevanten Funktionen zu. Die limbischen Schaltkreise sind demzufolge für die Integration von kognitiven Funktionen, Lernen und Gedächtnis mit emotionalen und motivationalen Komponenten in bestimmten Verhaltensreaktionen verantwortlich. Limbische Dysfunktionen machen sich klinisch deshalb häufig durch eine Dissoziation von Kognition und Emotion bemerkbar, weil diese Vermittlerfunktion gestört ist. Angst, Wahn, Zwang aber auch Manie, Affektverflachung (Reduktion von Gemütsäußerungen, Antrieb, Lust, Freude, Zorn, Trauer). Realitäts- und Gedächtnisstörungen können die Folge sein. Fast allen Formen von Gedächtnisstörungen, emotionalen Störungen, psychotischen Syndromen mit Realitätsverlust, Wahnideen und Halluzination liegen Dysfunktionen in einem oder mehreren Teilbereichen des limbischen Systems zugrunde. Hierzu gehören psychiatrische Erkrankungen, wie z. B. Angsterkrankungen (Phobie, Panikerkrankung, posttraumatische Belastungsstörung), affektive Erkrankungen (Depression, manisch-depressive Erkrankung) und Schizophrenie. Auch bei degenerativen Hirnerkrankungen, wie zum Beispiel Morbus Alzheimer, liegen die Ursprünge der Erkrankung häufig in limbischen Regionen. Dabei reflektieren diese Erkrankungen die veränderte Funktion verschiedener Areale des Gehirns, deren Wechselwirkung die individuellen Symptome zu einem gegebenen Zeitpunkt bestimmt. Eine detaillierte Zuordnung hirnbiologischer Grundlagen ist demzufolge nur in den wenigsten Fällen möglich. In den westlichen Industrienationen erkranken mehr als 20 % der Bevölkerung im Verlaufe ihres Lebens an einer Störung im Bereich limbischer Strukturen. Dabei bleibt die Diagnose und Therapie dieser Erkrankungen außerordentlich schwierig. Wegen des Fehlens grundlegender Kenntnisse über die hirnbiologischen Grundlagen von Emotionalität, Gedächtnis, Wahrnehmungsbewertung und Verhaltenssteuerung wurden psychische Störungen bislang vorzugsweise mit psychodynamischen und verhaltenstheoretischen oder auch mit sozialgesellschaftlichen Denkmodellen zu erklären versucht, was erhebliche Probleme in der diagnostischen Einordnung und der Entwicklung wirksamer Therapieverfahren mit sich bringt. Tatsächlich sind alle klassischen Psychopharmaka mehr oder weniger durch Zufall entdeckt worden. Entsprechend bleibt die Pharmakotherapie nur zum Teil erfolgreich. Bei etwa der Hälfte der betroffenen Patienten sind nur unzureichende, oft auch überhaupt keine Therapieerfolge zu verzeichnen, und nicht erwünschte Wirkungen von Pharmaka sind alltägliche Probleme. Erst die jüngere Zeit brachte einige gezieltere Entwicklungen.

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28 Integrative Funktionen des Gehirns

Bei veränderter Kontrolle durch limbische Strukturen können übersteigerte Stressantworten zu Angsterkrankungen führen Etwa 15 % der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland leiden an einer behandlungsbedürftigen Angsterkrankung, die damit die häufigste psychiatrische Erkrankung darstellt. Das Charakteristikum der verschiedenen Formen von Angsterkrankungen ist eine unangemessen übersteigerte Empfindung und Expression von Furcht. Symptome sind plötzliche Panikattacken (Panikerkrankung), Vermeidung von Objekten oder Situationen (Phobie), Wiedererleben eines extrem traumatischen Ereignisses (posttraumatische Belastungsstörung) oder anhaltend-exzessive, unerklärliche Besorgnis (generalisierte Angststörung). Normalerweise repräsentiert Furcht eine adaptive Antwort des Organismus auf einen bedrohlichen Reiz (Stressor), der eine Stressantwort auslöst. Die Stressantwort äußert sich in Form erhöhter Aufmerksamkeit, Aktivierung des sympathischen Anteils des peripheren Nervensystems (vgl. Kap. 27.3), Freisetzung des Steroidhormons Cortisol aus der Nebennierenrinde (vgl. Kap. 16.4) und – allgemein – einem Verhalten zur Vermeidung des Stressors. Die Stressantworten unterliegen der Kontrolle durch limbische Strukturen, insbesondere der Amygdala, des Hippokampus und des präfrontalen Kortex. Eine Veränderung dieser Kontrolle gilt als ein entscheidendes Element für die Übersteigerung der Stressantworten in Richtung einer Angsterkrankung.

dessen synaptische Wirkung. Serotonin fungiert als Teil des aufsteigenden Aktivierungssystems des Hirnstamms (vgl. Kap. 29.4), wobei die neurobiologischen Grundlagen der therapeutischen Wirkung wenig verstanden sind. Im Vergleich zu den Benzodiazepinen entwickelt sich der therapeutische Effekt langsam bei regelmäßiger Dosierung, vermutlich aufgrund einer adaptiven Anpassung des Nervensystems an das erhöhte Angebot von Serotonin vor allem in den stressrelevanten Schaltkreisen.

Affektive Erkrankungen stehen in Zusammenhang mit der Minderfunktion monoaminerger Transmittersysteme

Von zentraler Bedeutung für die Vermittlung der Stressantwort ist das System Hypothalamus-Hypophyse-Nebennierenrinde (vgl. Kap. 16.4). Dieses System wird durch die beiden limbischen Kernstrukturen Hippokampus und Amygdala reguliert, insofern als amygdaläre Aktivierung steigernd und hippokampale Aktivierung hemmend auf die Generierung von Stressantworten wirken.

Depression stellt eine häufige affektive Erkrankung dar, von der 5 % der Bevölkerung betroffen sind. Die Erkrankung wird durch psychische (Niedergeschlagenheit, Minderwertigkeits- und Schuldgefühle, Angstzustände, Konzentrationsstörung, Todesgedanken), somatische (Schlaf- und Appetitstörung, gastrointestinale Beschwerden) und psychosoziale Symptome (Isolationsneigung) bestimmt. Die Diagnose setzt anhaltende Symptome über wenigstens 2 Tage ohne offenkundigen Auslöser, z. B. einen Trauerfall, voraus. Bei jeder Depression besteht ein potenzielles Suizidrisiko. Bei manisch-depressiver Erkrankung (syn.: bipolare affektive Störung) wechseln Episoden von Depression und Manie (inadäquat gehobene Stimmung, Selbstüberschätzung, Ideenflucht, Zerstreutheit, materielle Verschwendungssucht, Antriebssteigerung mit vegetativen Begleiterscheinungen). Eine Hypothese zu den hirnbiologischen Grundlagen affektiver Erkrankungen stellt eine Minderfunktion der aufsteigenden Aktivierungssysteme aus dem Hirnstamm zu den limbischen Strukturen in den Vordergrund, insbesondere die der monoaminergen Transmitter Serotonin (5-Hydroxytryptamin) und Noradrenalin. Darüber hinaus sind genetische Komponenten beschrieben worden.

Pathologische Verstellungen der Stressantworten in Richtung von Angsterkrankungen werden demzufolge mit einer Hyperaktivität der Amygdala und einem verminderten Einfluss des Hippokampus in Verbindung gebracht. Diese wiederum stehen unter der Kontrolle kortikaler limbischer Strukturen, insbesondere des präfrontalen Kortex. Eine genetische Prädisposition in Verbindung mit Umgebungseinflüssen während früher Entwicklungsstadien gelten als wichtige Auslöser für eine Angsterkrankung, wobei die molekularen Mechanismen wenig verstanden bleiben. Die Behandlung von Angsterkrankungen erfolgt mit Hilfe der Psychotherapie und anxiolytischer („angstlösender“) Medikation. Wichtige Anxiolytika sind Benzodiazepine (z. B. Valium, Diazepam) und Inhibitoren der Serotonin-(5-Hydroxytryptamin-)Wiederaufnahme (z. B. Fluoxetin). Benzodiazepine verstärken die Wirkung des inhibitorischen Transmitters γ–Aminobuttersäure (GABA) und dämpfen dadurch synaptische Aktivität (vgl. Kap. 5.9), vermutlich vor allem in den angstrelevanten Schaltkreisen. In der Tat wirken Substanzen, die den Effekt von GABA verstärken, im Allgemeinen anxiolytisch. Die anxiolytische Wirkung von Äthanol ist hierfür ein Beispiel, das darüber hinaus erklären kann, dass Angsterkrankungen häufig zu Alkoholabhängigkeit führen. Die Inhibitoren der Serotonin-Wiederaufnahme wirken anxiolytisch und anti-depressiv (siehe unten). Sie blockieren die zelluläre Wiederaufnahme des Transmitters Serotonin (5-Hydroxytryptamin) und verlängern dadurch

Die Hypothese einer Minderfunktion monoaminerger Systeme wird durch die „antidepressive“ Wirkung von Substanzen bestätigt, die das Angebot von Monoaminen im Gehirn erhöhen. Dazu zählen Substanzen, die den metabolischen Abbau der monoaminergen Transmitter hemmen (Monoaminooxidase (MAO)-Hemmer; vgl. Kap. 5.6) und solche, die die zelluläre Wiederaufnahme der Transmitter blockieren (siehe oben). Wenig vereinbar mit einer direkten Substanzwirkung ist allerdings die Beobachtung, dass die Effekte auf zellulärer Ebene zwar unmittelbar nach Applikation auftreten. Allerdings entwickelt sich die antidepressive klinische Wirkung erst über Tage bis Wochen. Darüber hinaus zeigen zahlreiche Befunde eine genetische Komponente affektiver Erkrankungen. Aus solchen Befunden wurde eine Hypothese abgeleitet, die von einer genetischen Prädisposition für Stressantworten ausgeht. In Verbindung mit Umgebungseinflüssen entwickelt sich daraus über langsam-adaptive Hirnprozesse das Syndrom der affektiven Erkrankung. Ähnlich den Angsterkrankungen ist hierbei eine Hyperaktivität des Systems Hypothalamus-Hypophyse-Nebennierenrinde von zentraler Bedeutung (siehe oben), wodurch die häufige Koexistenz von Depression und Angst erklärbar wäre. Zu den therapeutischen Maßnahmen bei affektiven Störungen zählen Medikation mit Antidepressiva und Psychotherapie. Zu den Antidepressiva gehören die trizyklischen Antidepressiva (z. B. Imipramin), die Inhibitoren der Serotonin-Wiederaufnahme (z. B. Fluoxe-

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28.4 Kognition versus Emotion – Das limbische System

A gesund

B schizophrene Patienten 1 Ventrikelerweiterung

Abb. 28.7 Strukturveränderungen des Gehirns bei Schizophrenie. Kernspintomographische Aufnahmen (Coronalschnitte) des Gehirns eines gesunden Patienten (A) im Vergleich mit den Gehirnen von drei schizophrenen Patienten

tin) sowie die Monoaminooxidase (MAO)-Hemmer (z. B. Moclobemid). Die den Substanzen gemeinsame Wirkung ist die Erhöhung der monoaminergen Transmitterkonzentration im Gehirn, das gemeinsame Merkmal ist die stimmungsaufhellende Wirkung. Hinzu kommen bei den meisten Antidepressiva Antriebssteigerung oder -dämpfung. Lithium, ein monovalentes Kation, hat kaum Effekte bei bestehender Depression, dämpft aber eine Manie und wirkt prophylaktisch gegen manische wie depressive Episoden bei bipolarer affektiver Störung. Lithium beeinflusst eine Reihe von intrazellulären Signalwegen, insbesondere in Verbindung mit G-Proteingekoppelten Neurotransmitter-Rezeptoren (vgl. Kap. 5.5), wobei die mechanistischen Grundlagen der therapeutischen Wirkung unklar sind. Ähnlich den Antidepressiva scheint Lithium langsam-adaptive Veränderungen im Gehirn zu induzieren.

Schizophrenie wird durch genetische Prädisposition, Störung der pränatalen Hirnentwicklung und biographische Bedingungen bestimmt Schizophrenie ist eine Form der Psychose, die durch ein Nebeneinander von normalen und veränderten Erlebens- und Verhaltensweisen gekennzeichnet ist. Den ersten psychotischen Episoden gehen häufig Frühsymptome (Prodrome) voraus, wie zum Beispiel Rückzug aus gesellschaftlichen Aktivitäten, Beeinträchtigung der Erfüllung des täglich erwarteten Verhaltens bis hin zu sozial auffälligem Verhalten, Vernachlässigung der Körperhygiene, soziale Isolation. Dieser Periode folgen psychotische Episoden mit (unter anderem) Realitätsverlust, Gedächtnisstörungen, Wahn, Halluzinationen, Autismus, psychomotorischen Störungen, verändertem „Ich“-Bewusstsein. Diese Episoden können durch lange Phasen unterbrochen werden, in denen der Patient nicht offenkundig psycho-

2 Ventrikelerweiterung

3 Reduktion der Hirnrinde

(B). Auffällig sind die Erweiterungen der lateralen Ventrikel, der lateralen und des 3. Ventrikels sowie die Reduktion der Hirnrinde (durch rote Kreise markiert). Aufnahmen von Prof. Dr. B. Bogerts, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.

tisch ist, allerdings durch geringe emotionale und selektive Aufmerksamkeit, allgemein verminderte Affektivität, relative Spracharmut und geringe Motivation auffällt. Die Symptome der psychotischen Periode und der Periode allgemein verminderter Emotionalität werden entsprechend als positive und negative Symptome bezeichnet. Dabei bleibt unklar, ob die Symptome verschiedene zeitliche Phasen derselben Erkrankung markieren, oder unabhängig voneinander auftreten und damit unterschiedliche Krankheitsverläufe und Psychopathologien repräsentieren. Für die klinischen Symptome sind Dysfunktionen vor allem der dopaminergen mesolimbischen und mesokortikalen Systeme von Bedeutung. Einer begründeten Hypothese zufolge werden eine verminderte Aktivität des mesokortikalen Systems im präfrontalen Kortex und eine daraus resultierende Hyperaktivität des mesolimbischen Systems entsprechend für negative und positive Symptome verantwortlich gemacht. Dabei spielen Rezeptoren für den Transmitter Dopamin, insbesondere vom Typ D2 und wahrscheinlich D4, eine kritische Rolle. In der Tat ist das kardinale pharmakologische Merkmal der typischen Neuroleptika (z. B. Phenothiazine) die antagonistische Wirkung an Dopaminrezeptoren, wobei die antipsychotische Wirkung der Mehrheit der Neuroleptika der Blockade der D2-Rezeptoren zugeschrieben wird. Andere Ergebnisse deuten auf Dysfunktionen der Glutamat-vermittelten synaptischen Transmission bei der Schizophrenie, insbesondere unter Beteiligung der NMDA-Rezeptoren (vgl. Kap. 5.9).

Häufig replizierte Befunde bei Schizophrenen zeigen pathomorphologische Veränderungen vor allem in Gebieten des limbischen Systems, wie zum Beispiel reduziertes Gewebsvolumen, gestörte Zytoarchitektur oder verminderte Zellzahl im Assoziationskortex, präfron-

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28 Integrative Funktionen des Gehirns talen Kortex, Hippokampus, oder anterioren Bereichen des Thalamus. Darüber hinaus sind Erweiterungen der lateralen Ventrikel und des dritten Ventrikels bei Schizophrenie gefunden worden (Abb. 28.7). Auffällig ist, dass diese Befunde vor allem in Patienten mit ausgeprägten negativen Symptomen bzw. nach langen Prodromphasen erhoben wurden. Insgesamt bleiben die experimentellen und die klinischen Befunde bislang unvollständig, und eine kausalorientierte Interpretation ist bislang nur sehr begrenzt möglich. Ein kritischer Faktor der Schizophrenie ist genetische Prädisposition, in der sich eine Kombination von Allelspezifischen Polymorphismen im Kontext des individuellen genetischen Hintergrundes auswirkt. Sehr wahrscheinlich ist die Erkrankung polygen bedingt, wobei in jedem Einzelfall 3 bis 10 Gene involviert zu sein scheinen. In der Tat sind einige genetische Loci identifiziert worden, die in Zusammenhang mit der Schizophrenie stehen. Besondere Aufmerksamkeit gilt einer Replikation des Neuregulin-1-Gens auf Chromosom 8p, einem für die neuronale Entwicklung während der Embryogenese wichtigen Faktor.

Zusätzlich zur genetischen Prädisposition bestimmen pränatale Hirnentwicklungsstörungen, hirnorganische Alterationen, aber auch biographisch-psychische und soziale Bedingungen die Ätiologie der Schizophrenie. Unbekannt bleibt, in welcher Kombination diese Bedingungen zur Erkrankung führen. Die Faktoren und Bedingungen sind sehr wahrscheinlich in jedem Einzelfall anders kombiniert, was einerseits die Heterogenität der Erkrankung erklären könnte und andererseits die Aufklärung der beteiligten Mechanismen erschwert.

28.5

Motivation – Belohnung und Abhängigkeit

Die Motivation für ein bestimmtes Verhalten resultiert aus Erfordernissen der Homöostase von Körperfunktionen sowie einem als Folge des Verhaltens erwarteten Effekt von Belohnung, Genuss oder Lust (Hedonik). Die relevanten neuralen Schaltkreise („Belohnungssystem“) involvieren das mesolimbische System mit der Area tegmentalis ventralis und dem Nucleus accumbens sowie den Transmitter Dopamin. Psychotrope Substanzen (Kokain, Opiate, Amphetamine, Cannabinoide, Nikotin) wirken als positive Verstärkermechanismen, indem sie vor allem die Konzentration von Dopamin in diesen Schaltkreisen erhöhen. Diese Substanzen können zur Abhängigkeit führen, einer Wechselwirkung zwischen Individuum und Droge, die durch die Entwicklung von Toleranz („Gewöhnung“) sowie körperlicher und psychischer Abhängigkeit gekennzeichnet ist.

Motivationsabhängiges Verhalten resultiert aus den Erfordernissen der Homöostase und einem erwarteten Belohnungseffekt, der mit der Funktion des Transmitters Dopamin in Zusammenhang steht Der Begriff Motivation („Handlungsbereitschaft“) beschreibt wenig präzise eine Vielzahl endogen generierter neuronaler und physiologischer Prozesse, die ein unterschiedlich starkes individuelles Verhalten in Beantwortung eines identischen Reizes initiieren, aufrechterhalten und regulieren. In seiner einfachsten Form resultiert motivationsabhängiges Verhalten aus ökologischen Beschränkungen sowie den Erfordernissen der Homöostase von Körperfunktionen, insbesondere in Beziehung zu Energiehaushalt, Wasserhaushalt und Körpertemperatur (vgl. Kap. 13,15). Wichtige Grundlage hierzu ist ein „zentraler Antrieb“, der bei physiologischen Defiziten bzw. ungünstigen ökologischen Kosten/Nutzen-Verhältnissen über Vermittlung neuronaler Reflexkreise definierte Verhaltensreaktionen auslöst, die angelegt sind, diese Defizite zu verringern oder zu vermeiden. Diese regulatorischen Prozesse werden durch endogene Biorhythmen geformt (zum Beispiel den circadianen Rhythmus, vgl. Kap. 29.5), können durch angeborene oder erlernte Mechanismen kontrolliert werden und sind ihrerseits in der Lage, Lernprozesse zu modulieren.

Offensichtlich existieren darüber hinaus weitere Faktoren motivationsabhängigen Verhaltens, die am ehesten mit den Begriffen Belohnung, Genuss, Lust (Hedonik) beschreibbar sind. Ergebnisse aus tierexperimentellen Studien mit intrakranialen Tiefenstimulationselektroden zeigen, dass die Häufigkeit und Dauer von Selbststimulationen drastisch steigt, wenn die Elektroden in den Strukturen des dopaminergen mesolimbischen und des mesokortikalen Systems platziert sind (vgl. Kap. 28.4). Der Drang zur Selbststimulation kann sowohl homöstatische als auch aversive Einflüsse überdecken, insofern als die Stimulationen bis zur physischen Erschöpfung ständig wiederholt und bedrohliche Situationen zum Erreichen der Stimulationsauslösung in Kauf genommen werden. Offenbar erzeugt die Stimulation einen Belohnungseffekt, der den endogenen Antrieb (die Motivation) zu bestimmten Verhaltensreaktionen verstärkt (Re-Inforcement). Die relevanten Schaltkreise werden pauschal auch als das „Belohnungssystem“ des Gehirns bezeichnet, das angelegt ist, die endogene Handlungsbereitschaft zu verstärken und motivationsabhängige Prozesse von Aufmerksamkeit und kognitiven Funktionen (z. B. Lernen) zu regulieren. Innerhalb dieser Schaltkreise nimmt das dopaminerge mesolimbische System mit der Area tegmentalis ventralis und dem Nucleus accumbens eine zentrale Stellung ein (Abb. 28.6 B). Ausgeprägte reziproke Projektionen mit limbischen Kernstrukturen, insbesondere präfrontalen kortikalen Arealen und der Amygdala, bilden die Grundlage für die Interaktionen von Motivation, Kognition und Verhalten (Abb. 28.6 B). Der Transmitter Dopamin gilt pauschal als wichtiger Vermittler der angenehmen Aspekte von Belohnungen und der aufmerksamkeitserregenden Einflüsse von Situationen, die Belohnungen erwarten lassen. Dopaminerge Rezeptorantagonisten, z. B. die antipsychotische Substanz Haloperidol,

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28.6 Lernen und Gedächtnis vermindern in der Tat den Belohnungseffekt von Nahrungsaufnahme und Selbststimulation (obwohl diese Wirkung nicht immer von dem allgemein dämpfenden Einfluss dieser Substanzen auf die senso-motorische Koordination zu differenzieren ist).

Psychotrope Substanzen interagieren mit dem dopaminergen System und können zur Abhängigkeit führen Psychotrope Substanzen, wie zum Beispiel Kokain, Opiate, Cannabinoide, Amphetamine und Nikotin, wirken als positive Verstärkermechanismen, indem sie die Konzentration von Dopamin in diesen Schaltkreisen erhöhen. Diese Substanzen können zur Abhängigkeit führen, einer Wechselwirkung zwischen Individuum und Droge, die durch die Entwicklung von Toleranz, körperlicher und psychischer Abhängigkeit gekennzeichnet ist. Toleranz („Gewöhnung“) bezeichnet eine kompensatorische Regulation des Organismus gegen die Wirkung einer Substanz, so dass deren Effekte bei wiederholter Gabe nachlassen und nur durch Erhöhung der Dosierung aufrechterhalten werden können. Körperliche (physische) Abhängigkeit ist durch das Auftreten von Entzugssymptomen (z. B. vegetative Symptome, Übelkeit) bei abruptem Absetzen der Droge oder Anwendung eines Antagonisten charakterisiert. Psychische Abhängigkeit beschreibt das unwiderstehliche Verlangen, eine Droge zu verwenden bzw. deren Anwendung fortzusetzen. Der Antrieb resultiert nicht nur aus dem Belohnungseffekt der Droge selbst, sondern auch aus der Vermeidung der erwarteten, unangenehmen Konsequenzen bei Entzug. Die Drogeneinnahme hat demzufolge Konsequenzen sowohl auf der motivationalen als auch auf der emotionalen Ebene, die sich bei dem Konsumenten in der Verstärkung von Verhaltensweisen (Re-Inforcement) zum Erhalt der Droge und einer immer unkontrollierteren Einnahme äußern. Physiologisch wird Toleranz unter anderem durch eine Desensitisierung der Mechanismen des Belohnungssystems erklärt. Einige der Entzugssymptome können dementsprechend mit einer anhaltenden Depression dieser Mechanismen nach Beendigung der Stimulation beschrieben werden. Der mehrdeutige Begriff „Sucht“ sollte in diesem Zusammenhang vermieden werden. Festzuhalten bleibt auch, dass nicht alle Psychopharmaka, die zur Abhängigkeit führen können, über dopaminerge Mechanismen wirken, und dass für die genannten Substanzen neben den dopaminergen auch andere Wirkungen bekannt sind. Tierexperimentelle Studien haben gezeigt, dass bereits bei einmaligem Gebrauch von Opiaten Mechanismen des Zellkerns und der Genexpression aktiviert werden. Eigenschaften und Schaltkreise vor allem in limbischen Schlüsselarealen werden und bleiben – auch nach Absetzen der Droge – anhaltend verändert, wodurch Phänomene der Abhängigkeit erklärt werden könnten. Von Drogenabhängigen ist bekannt, dass Mechanismen in zerebralen kortikalen Arealen angelegt werden, die einem Gedächtnis ähnlich bei der Präsentation von Objekten abgerufen werden, die einen Bezug zur eigenen Abhängigkeit erkennen lassen (Injektionsbesteck, Feuerzeug). Diese Mechanismen existieren in ge-

sunden Probanden nicht und werden demzufolge vor allem in Beziehung zu den psychischen Komponenten der Abhängigkeit gesetzt.

Betont werden sollte, dass die kunstgerechte Gabe von Opiaten (Morphinderivaten) in der Schmerztherapie im Allgemeinen nicht zur Abhängigkeit führt (vgl. Kap. 20.9).

28.6

Lernen und Gedächtnis

Im menschlichen Gehirn existieren zwei qualitativ unterschiedliche Gedächtnissysteme. Sie beinhalten zum einen das Faktenwissen mit episodischen und semantischen Informationen (deklaratives, explizites Gedächtnis). Sie speichern zum anderen Informationen über Fähigkeiten, bestimmte Dinge auszuführen oder zu assoziieren (nicht-deklaratives, implizites Gedächtnis). Dabei erfolgt die Gedächtnisbildung stufenweise in Stadien, die das sensorische Gedächtnis, das Kurzzeitgedächtnis und das Langzeitgedächtnis umfassen. Die Überführung von Inhalten des Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis wird als Konsolidierung bezeichnet. Schädigung oder Funktionsstörung gedächtnisrelevanter Hirnareale kann eine schwerwiegende Beeinträchtigung von Lernfähigkeit und Gedächtnis zur Folge haben (Amnesie), die sich auf Erinnerungen für die Zeit vor (retrograde Amnesie) oder nach dem schädigenden Einfluss (anterograde Amnesie) erstrecken kann. Die Fähigkeit, aus Erfahrung zu lernen, die Erfahrungswerte im Gedächtnis zu speichern und bei Bedarf abzurufen, gehört zu den bemerkenswerten Funktionen des Gehirns, ohne die viele der oben erwähnten kognitiven Leistungen nicht möglich wären. Verletzungen oder Erkrankungen des Gehirns, wie zum Beispiel Enzephalitis, Hirntumor, Schlaganfall, Epilepsie, mechanische Erschütterungen oder neurodegenerative Erkrankungen, aber auch Intoxikationen, zum Beispiel infolge chronischen Alkoholismus, können eine schwerwiegende Beeinträchtigung von Lernfähigkeit und Gedächtnis zur Folge haben (Amnesie). Nach Schädigung kann Amnesie in zwei Zeiträumen auftreten: retrograde Amnesie ist der Verlust an Erinnerungen für die Zeitperiode vor Eintritt eines schädigenden Einflusses, wobei lang zurückliegende Ereignisse häufig im Gedächtnis erhalten bleiben; anterograde Amnesie bezeichnet den Verlust oder die Verringerung der Fähigkeit, neu aufgenommene Information zu lernen, dauerhaft zu speichern und abrufbereit zu halten. Ein vollständiger Gedächtnisverlust ist selten. In der Mehrzahl der Fälle kommt es zu einer unvollständigen Amnesie, häufig in Verbindung mit anderen kognitiven Defiziten. Als dissoziative Amnesie wird eine meist unvollständige und selektive Amnesie bezeichnet, die sich in der Regel auf das traumatische Ereignis, zum Beispiel einen Unfall, bezieht.

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28 Integrative Funktionen des Gehirns

Gedächtnis deklaratives (explizites) Gedächtnis semantisches Gedächtnis

episodisches Gedächtnis

medialer Temporallappen, Hippokampus/Thalamus

nicht-deklaratives (implizites) Gedächtnis prozedurales Gedächtnis

Striatum

Bahnung

Neokortex

Abb. 28.8 Systeme des Gedächtnisses, mit Angabe kritisch beteiligter Strukturen. Zu beachten ist, dass lediglich

Das menschliche Gedächtnis wird in qualitative Kategorien eingeteilt Im Menschen werden zwei qualitativ unterschiedliche Gedächtnissysteme unterschieden (Abb. 28.8): das deklarative (oder explizite) Gedächtnis beinhaltet das Faktenwissen, zum Beispiel über Objekte, Personen, Namen, Zahlen, Ereignisse und deren Bedeutung, das in der Regel in Sprachform wiedergegeben werden kann („deklarativ“). Das nicht-deklarative (oder implizite) Gedächtnis speichert Informationen über Fähigkeiten, bestimmte Dinge auszuführen oder zu assoziieren, wobei der Abruf häufig unbewusst erfolgt. Das Beispiel des Erinnerns an die Telefonnummer einer bestimmten Person und die Betätigung der Tastatur des Telefons zeigt anschaulich die deklarativen und nicht-deklarativen Gedächtniskomponenten. Dabei ist das deklarative Gedächtnis äußerst flexibel, wird zeit- und erfahrungsabhängig durch Assoziationen entwickelt und im Allgemeinen unter Anwendung individueller kognitiver Strategien (Vergleiche, Schlussfolgerungen) abgerufen. Das nicht-deklarative (implizite) Gedächtnis ist vergleichsweise starr und eng an die Bedingungen gekoppelt, unter denen das Lernen einer bestimmten Aufgabe erfolgte. Das deklarative (explizite) Gedächtnis wird in das semantische Gedächtnis (Wissen von Zeichen, Symbolen, Begriffen) und das episodische Gedächtnis (Wissen von Ereignissen und persönlichen Erfahrungen) unterteilt. Das Wissen um Berlin als Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland und die Erinnerung an den Zeitraum des eigenen Besuchs von Berlin veranschaulichen entsprechend das semantische und das episodische Gedächtnis. Das nicht-deklarative (implizite) Gedächtnis wird in vier Teilsysteme gegliedert: prozedurales Gedächtnis (Lernen von Fähigkeiten, Abläufen und Gewohnheiten), Bahnung (Ergänzung von unvollständig präsentierten Objekten, Worten oder dergleichen aufgrund einer zuvor erlernten Instruktion), nicht-assoziatives Lernen (Veränderung der Antwortstärke auf Reize bei wiederholter Präsentation), und assoziatives Lernen (Lernen der Beziehung zwischen Reizen). Ein Beispiel für das prozedurale Gedächtnis ist das so genannte Spiegelzeichnen, bei dem der Proband lernt, die Konturen einfacher Objekte beim Blick in den Spiegel nachzuzeichnen. Das Phänomen der Bahnung wird in neuropsy-

assoziatives Lernen

nicht-assoziatives Lernen

emotionale Einflüsse

motorische Reflexe

Habituation Sensitisierung

Amygdala

Zerebellum

Reflexkreise

einige der involvierten Schlüsselstrukturen angegeben sind. Nach (28).

chologischen Tests in der Regel so gezeigt, dass einem Probanden eine Reihe von Hinweisen (z. B. Worte) präsentiert werden, mit der Aufgabe des Erkennens von Gemeinsamkeiten (z. B. Worte sind Verben); am nächsten Tag wird der Proband mit einer Reihe von fragmentierten Hinweisen (unvollständig ausgeschriebene Verben) konfrontiert, in denen die tags zuvor präsentierten unter neuen Hinweisen versteckt sind; die Aufgabe der Vervollständigung der Hinweise wird für die zuvor präsentierten signifikant schneller durchgeführt als für die neuen Hinweise (Viele Lernstrategien machen sich das Phänomen der Bahnung zunutze!). Nicht-assoziatives Lernen ist ein adaptives Verhalten, bei dem der Organismus lernt, bedeutungslose Reize bei Wiederholung in reduzierter Form zu beantworten (Habituation), und bei Auftreten eines bedeutsamen Reizes diesen sowie andere, auch weniger bedeutsame Reize verstärkt zu beantworten (Sensitisierung). Ein Beispiel für assoziatives Lernen ist die klassische Konditionierung, bei der ein neutraler Reiz (z. B. ein Lichtsignal) mit einem bedeutungsvollen Reiz (z. B. einem lauten, schreckauslösenden Geräusch; unkonditionierter Reiz) zeitlich gepaart wird, und die alleinige Präsentation des ursprünglich neutralen und nun konditionierten Reizes eine Antwort auslöst (im Beispiel das Lichtsignal eine Schreckantwort).

Die Gedächtnisbildung erfolgt in zeitlichen Stadien Zusätzlich zu den qualitativen Kategorien wird das Gedächtnis in zeitliche Kategorien eingeteilt. Drei Stadien des Gedächtnisses werden unterschieden (Abb. 28.9). – Das sensorische Gedächtnis beschreibt den Vorgang, aktuelle Sinnesinformationen und Erfahrungen für wenige Sekunden in einen Speicher zu überführen. Die Kapazität dieses Speichers ist sehr groß, die Speicherung erfolgt bei Signaleingang, und die Information wird durch Überschreibungen fortlaufend aktualisiert. Das sensorische Gedächtnis vermittelt eine Vorstellung aller gegenwärtigen Ereignisse und schafft damit eine wichtige Voraussetzung, um Aufmerksamkeitssysteme zu aktivieren und Merkmale zu extrahieren. – Die selektierte Information wird für die Dauer von Sekunden bis zu mehreren Minuten in das Kurzzeitgedächtnis überführt, einem Speicher begrenzter Kapazität, der die Verbindung von der Gegenwart zur

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28.6 Lernen und Gedächtnis unmittelbaren Vergangenheit herstellt. Ein Beispiel für die Funktion des Kurzzeitgedächtnisses ist die Erinnerung an einstellige Ziffern, die nach Präsentation in wahlloser Reihenfolge für wenige Minuten korrekt wiedergegeben werden können, wobei die begrenzte Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses lediglich die Erinnerung von 7 – 9 Ziffern zulässt. Eine besondere Form des Kurzzeitgedächtnisses ist das Arbeitsgedächtnis, das sowohl für die Bildung als auch für den Abruf von Informationen vor allem des deklarativen (expliziten) Gedächtnisses erforderlich ist. Es stellt eine Art Arbeitsspeicher mit schneller Zugriffsmöglichkeit dar, der Verhalten an veränderte Bedingungen anhand jüngster Erfahrungen anpasst. Die Funktion des Arbeitsgedächtnisses wird bei Betrachtung von zwei Untersystemen des Kurzzeitgedächtnisses deutlich: in der „artikulatorischen oder phonologischen Schleife“ wird Information auf Sprachbasis stumm wiederholt, und im „räumlichvisuellen Entwurf“, wird die Information zur Kurzzeitspeicherung in räumlich-visueller Form angelegt.

– Die dritte zeitliche Kategorie von Gedächtnis ist das Langzeitgedächtnis. Es stellt ein dauerhaftes Speichersystem hoher Kapazität dar, in dem die Information über die Dauer von Stunden, Tagen bis Jahren bzw. über die gesamte Lebensdauer gespeichert wird. Der Prozess der Speicherung neuer Information im Langzeitgedächtnis wird als Konsolidierung bezeichnet. Die Konsolidierung wird durch korrespondierendes Zirkulieren der Information im Gedächtnis gefördert („Wiederholen“, „Üben“) und besonders dann erleichtert, wenn die neuen Fakten mit Informationskategorien verknüpft werden, die sich bereits im Gedächtnis befinden (Assoziation). Die Prozesse, die die Information in eine dauerhafte Form überführen, werden kollektiv als Encodierung bezeichnet, und die physikalische Repräsentation der Erinnerung an das entsprechende Sinnesereignis („die Gedächtnisspur“) nennt man das Engramm. Ähnlich der eigentlichen Gedächtnisbildung ist das Vergessen (Extinktion) ein aktiver Prozess im Rahmen der Differenzierung wichtiger und unbedeutender Information. Vergessen erfolgt mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht durch einfaches Abklingen des ursprünglich angelegten Engramms, sondern durch erneute Encodierungsprozesse im Sinne eines Überschreibens. Der Abruf der Information kann wahrscheinlich aus allen Gedächtniskategorien erfolgen, allerdings ist über die zugrundeliegenden Prozesse wenig bekannt. Unabhängig von den zeitlichen und qualitativen Gedächtniskategorien existieren endogene Systeme, die die Gedächtnisbildung während und auch nach der eigentlichen Lernphase beeinflussen können. Diese Systeme der Gedächtnismodulation können auf alle vorgenannten Gedächtniskategorien wirken, allerdings im Allgemeinen nur während einer zeitlich begrenzten Dauer, und sie sind für den Abruf der gespeicherten Information nicht erforderlich. Zum Beispiel wirken Stresshormone wie Glukokortikoide (Adrenokortikotropes Hormon; vgl. Kap. 16.2), Catecholamine (Noradrenalin, Adrenalin; vgl. Kap. 5.9), Opioidpeptide (Endorphine, Enkephaline; vgl. Kap. 5.9, 20.9) und verschiedene Neuropeptide (Vasopression, Substanz P, Cholecystokinin; vgl. Kap. 5.9) als endogene Modulatoren des Gedächtnisses. Substan-

Speicherdauer < 1 Sekunde

sensorisches Gedächtnis Kapazität groß Selektion

Sekunden/Minuten

Extraktion

Kurzzeitgedächtnis Kapazität gering Arbeitsgedächtnis Wiederholung Konsolidierung

Stunden, Tage bis Jahre

Langzeitgedächtnis Kapazität groß

Abb. 28.9 Stadien des Gedächtnisses, mit Angabe der relativen Speicherkapazität. Information wird im sensorischen Gedächtnis selektiert und extrahiert, in das Kurzzeitgedächtnis überführt und kann durch Zirkulieren („Wiederholen“) in das Langzeitgedächtnis überführt werden (Konsolidierung).

zen oder Drogen, die mit diesen Systemen interagieren, können das Gedächtnis beeinflussen, auch wenn sie nach der Lernphase verabreicht werden. Eine wichtige Struktur zur Vermittlung emotionaler Einflüsse auf die Gedächtnisbildung ist die Amygdala (Corpus amygdaloideum; siehe unten).

Lokale Funktionsstörungen definierter Hirnareale sind mit Beeinträchtigungen deklarativer Gedächtnisleistungen verbunden Relevante Hirnareale der deklarativen Gedächtnisbildung sind die Hippokampusformation, der Gyrus parahippocampalis, die Cortices ento- und perirhinalis sowie Bereiche des Thalamus (Nuclei anteriores und dorsomediales thalami). Das nicht-deklarative Gedächtnis bezieht weitgehend separate Schaltkreise ein, die in Abhängigkeit von der jeweiligen Lernaufgabe Areale in Neokortex, Cerebellum, Striatum, Amygdala sowie beteiligte Reflexkreise beinhalten. Die bilaterale Schädigung der amygdalären Gebiete ist mit einer Reduktion emotionaler Komponenten von Verhalten und Gedächtnis verbunden (Urbach-Wiethe-Syndrom). Der ventromediale Anteil des präfrontalen Kortex fungiert als wesentliches Element des Arbeitsgedächtnisses. Wichtige Rückschlüsse auf Module des menschlichen Gedächtnisses wurden aus klinischen Studien abgeleitet, die nach lokalen Schädigungen oder Funktionsstörungen umschriebener Hirnareale eine Beeinträchtigung definierter Gedächtnisleistungen zeigten. Engmaschig untersucht wurde der Patient R. B., der sich im Alter von 52 Jahren nach Herzinfarkt einer BypassOperation zu unterziehen hatte. Im Verlauf des opera-

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28 Integrative Funktionen des Gehirns A Schlüsselstrukturen des Gedächtnisses Nucl. anterior thalami

Nucl. dorsomedialis thalami

B Atrophie des Hippokampus

Gyrus cinguli

präfrontaler Kortex

C Atrophie des Amygdala

Gedächtnisstruktur nicht-deklarativ deklarativ

Corpus striatum Amygdala

Hippokampus Cortex peri-, entorhinalis

Abb. 28.10 Strukturen des Gedächtnisses. A Medianansicht des menschlichen Gehirns mit Schlüsselstrukturen des deklarativen (grün hervorgehoben) und des nicht-deklarativen Gedächtnisses (blau hervorgehoben). B Kernspintomographische Aufnahme (Coronalschnitt) eines 22-jährigen männlichen Patienten mit selektiver, bilateraler Atrophie des Hippokampus (Kreismarkierungen). Die Atrophie resultiert vermutlich aus einer perinatalen Hypoxie bei Frühgeburt. Der Patient leidet unter einer begrenzten Form der anterograden Amnesie, bei der der gedächtnisbezogene Abruf von Infor-

tiven Eingriffs trat eine kurze Periode mangelnder Blutversorgung des Gehirns auf (Ischämie, vgl. Kap. 30.3). Nach Beendigung der Operation und Abklingen der Anästhesie wurde eine anterograde Amnesie (siehe oben) festgestellt, die über den gesamten Lebenszeitraum nach der Operation anhielt. R. B. hatte einen normalen Intelligenzquotienten, zeigte keine anderen kognitiven Defizite, konnte weiter die täglichen Ereignisse verfolgen und kleine Mengen neuer Information in der gewohnten Weise aufnehmen. Aber schon nach kurzer Zeit hatte er den größten Teil davon vergessen. Bei neuropsychologischen Tests für das deklarative (explizite) Gedächtnis schnitt R. B. regelmäßig sehr schlecht ab, zeigte andererseits bei Tests für das nicht-deklarative (implizite) Gedächtnis unauffällige Ergebnisse. Nachdem R. B. im Jahre 1983 aufgrund seines Herzleidens verstorben war, wurde sein Gehirn detailliert anatomisch-histologisch untersucht. Als einzig signifikanter Befund wurde eine bilaterale Läsion im Bereich des Hippokampus festgestellt, insbesondere ein Zellverlust im Bereich des Rindenbandes (Ammonshorn oder Cornu ammonis, im Feld CA1) über den gesamten rostro-kaudalen Verlauf. Andere Hirnstrukturen waren nicht auffällig verändert. Der Fall des R. B. ist insofern bedeutsam, als er die grundlegend wichtige Rolle des Hippokampus für die deklarative (explizite) Gedächtnisbildung dokumentiert.

mation bei Präsentation eigentlich bekannter Reize gestört ist. C Kernspintomographische Aufnahme (Coronalschnitt) einer 27-jährigen, weiblichen Patientin mit Urbach-WietheSyndrom. Zu beachten ist die selektive, bilaterale Atrophie der Amygdala (Kreismarkierungen). Die Patientin zeigt Defizite in der emotionalen Gedächtnisbildung, zum Beispiel bei der Erkennung, Beschreibung und Reproduktion emotionaler Gesichtsausdrücke. (Aufnahmen in B und C von Prof. Dr. E. Düzel, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.)

Aus solchen klinischen Beobachtungen in Verbindung mit neuropsychologischen Untersuchungen sowie Messungen der Hirnaktivität mit Hilfe der nicht-invasiven Bildgebung und der Elektrophysiologie in Patienten und gesunden Probanden wurden Korrelationen zwischen definierten Gedächtniskategorien und der Funktion definierter Hirnregionen aufgestellt. Entscheidende Areale des deklarativen Gedächtnisses im Temporallappen sind die Hippokampusformation sowie die benachbarten Regionen des Gyrus parahippocampalis, des Cortex entorhinalis und des Cortex perirhinalis (Abb. 28.10 A). Diese Strukturen erhalten synaptische Eingänge vor allem auch aus den Assoziationscortices, in denen die verhaltensrelevanten Elemente extrahiert werden und über den ento- und perirhinalen Kortex die Hippokampusformation erreichen. Bilaterale Läsionen oder andere Funktionsstörungen der hippokampalen, parahippokampalen oder rhinalen kortikalen Regionen im medialen Temporallappen haben im Allgemeinen anterograde Amnesiesyndrome zur Folge (Abb. 28.10 B). Dabei ist bislang nicht bekannt, ob diese Strukturen die Konsolidierung der Gedächtnisinhalte vermitteln oder als eine Art zwischengeschaltete Stufe bei der Gedächtnisbildung fungieren. Hippokampusformation und parahippokampale Regionen sind vor allem an der Entwicklung von Kausalbeziehungen zwischen Informationen, die gleichzeitig in das Gedächtnis überführt oder

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28.6 Lernen und Gedächtnis aus diesem abgerufen werden, beteiligt. Zum Beispiel werden beim Lesen dieses Buchkapitels spezifische Fakten, Details aus Abbildungen, aber auch Informationen über die räumliche Anordnung und das Schriftbild in Beziehung zueinander gesetzt und in das Gedächtnis aufgenommen. Entsprechend erfolgt beim Abruf von Informationen häufig eine Assoziation mit anderen Informationsformen. Diese assoziative Verbindung von Informationen stellt eine allgemeine Eigenschaft des deklarativen Gedächtnisses dar, die insbesondere zur episodischen Erinnerung beiträgt. Hierbei sind hippokampale Prozesse involviert, wobei die genaue Rolle der Hippokampusformation zu klären bleibt.

Die gedächtnisrelevanten Strukturen im Temporallappen sind wechselseitig mit den Assoziationsarealen im Kortex verbunden, wodurch eine Grundlage für die kognitive Kontrolle der Gedächtnisfunktionen geschaffen wird. Weitere für das deklarative Gedächtnis bedeutsame Regionen sind die Nuclei anteriores thalami und die Nuclei dorsomediales thalami (Abb. 28.10 A), die als Teil des Papez-Kreises ein zentrales Element des limbischen Systems bilden (vgl. Kap. 28.5).

Das nicht-deklarative Gedächtnis bezieht vom deklarativen Gedächtnis weitgehend unabhängige Module ein Das nicht-deklarative (implizite) Gedächtnis greift auf Schaltkreise im Gehirn zurück, die weitgehend unabhängig von denen des deklarativen Gedächtnisses zu funktionieren scheinen. Die klinische Beobachtung, dass nach hippokampaler Schädigung eine signifikante Reduktion deklarativer Gedächtnisleistungen ohne erkennbare Konsequenz für das nicht-deklarative Gedächtnis auftritt, unterstützt diese Hypothese. Prozesse der Bahnung, die zeitlich den Übergang von Kurz- zu Langzeitgedächtnis markieren, werden in neokortikalen Arealen vermittelt. Im Rahmen des prozeduralen Gedächtnisses übernimmt vor allem das Corpus striatum die Vermittlung zwischen sensorischen und motorischen Signalen. Assoziatives und nicht-assoziatives Lernen erfolgt in den Strukturen der jeweiligen Reflexkreise. Gut untersuchte Beispiele sind die Konditionierung des Lidreflexes und die emotionale Konditionierung. Bei der Konditionierung des Lidreflexes wird ein neutraler Reiz (z. B. ein Ton) durch zeitliche Paarung mit der mechanischen Stimulation der Cornea klassisch konditioniert, so dass die Präsentation des konditionierten Reizes (des Tons) einen Lidreflex auslöst. An dieser Form des assoziativen Lernens ist das Cerebellum entscheidend beteiligt. Für das assoziative Lernen der emotionalen Bedeutung von Sinnessignalen, insbesondere in Beziehung zu Furchtverhalten, spielt das Corpus amygdaloideum (Amygdala) eine zentrale Rolle. Zum Beispiel wird bei der Furchtkonditionierung ein neutraler Reiz (Lichtsignal) mit einem aversiven Reiz (schreckauslösendes Geräusch) zeitlich gepaart, und die nachfolgende Präsentation des konditionierten Reizes (Lichtsignal) induziert eine Furchtantwort (z. B. Schreckstarre oder Flucht). Die Amygdala verbindet sensorische, assoziative und präfrontale kortikale Regionen mit Effektorsystemen im Hypothalamus und mit dem aufsteigenden Aktivierungssystem des Hirnstamms (vgl. Kap. 29.4). In diesen Schaltkreisen wird zum einen die emotionale Bedeutung sensorischer Reize und deren Einfluss auf die

Gedächtnisbildung entwickelt. Zum anderen vermitteln diese Verbindungen die vegetativen Komponenten der emotionalen Expression (Erhöhung von Blutdruck, Herzfrequenz; Schweißproduktion). Eine relativ seltene, autosomal-rezessiv erbliche Erkrankung bewirkt eine bilaterale Kalzifikation und Atrophie in medioanterioren Bereichen des Temporallappens (Urbach-WietheSyndrom). In Folge der Erkrankung ist die Amygdala jeder Hemisphäre häufig stark geschädigt, während der Hippokampus und benachbarte Areale des Temporallappens nicht auffällig verändert sind (Abb. 28.10 B). Die Patienten zeigen keine Defizite in allgemeinem Wahrnehmungsvermögen oder motorischer Aktivität, Intelligenz, Gedächtnisleistung und Sprachfunktion. Allerdings sind sie nicht oder kaum in der Lage, den emotionalen Ausdruck von Furcht in menschlichen Gesichtern zu erkennen, zu beschreiben oder zu reproduzieren. Allgemein sind die emotionalen Komponenten der Gedächtnisbildung reduziert. Dieses reduzierte Konzept von Furcht und emotionaler Expression erschwert den Patienten angemessene Reaktionen und Entscheidungen in kritischen Situationen und im sozialen Verhalten. Diese Erkrankung ist auch insofern bedeutsam, als sie die Rolle der Amygdala für die Vermittlung emotionaler Einflüsse auf kognitive Leistungen dokumentiert.

Der präfrontale Kortex fungiert als wichtiger Teil des Arbeitsgedächtnisses Ein zentrales Element des Arbeitsgedächtnisses ist der präfrontale Kortex (Abb. 28.10 A). Sensorische und assoziative Areale im parietalen und temporalen Kortex tragen darüber hinaus zur Entwicklung modalitätsspezifischer Anteile des Arbeitsgedächtnisses bei. Patienten mit Läsionen oder anderen Schädigungen im Bereich des ventromedialen präfrontalen Kortex fallen aufgrund der Funktionsstörung des Arbeitsgedächtnisses durch Änderungen der Persönlichkeit auf, die am ehesten mit einem Mangel an planender Vorausschau und einer fehlenden Verhaltensanpassung an veränderte Bedingungen zu beschreiben sind. In einem häufig verwendeten Test muss das Sortieren von Spielkarten nach Farben, Symbolen oder Zahlen erlernt werden. Zu Beginn ist dem Probanden die verlangte Sortierart, zum Beispiel nach Symbolen, unbekannt, und er erlernt sie nach Versuch und Irrtum anhand der vorgenommenen Korrekturen durch den Testleiter innerhalb weniger Durchgänge. Nach einer Reihe von korrekten Durchgängen wird die Sortierart geändert. Patienten mit präfrontalen kortikalen Funktionsstörungen haben häufig Schwierigkeiten, solchen Änderungen der Modalitäten zu folgen und neigen dazu, an der einmal erlernten Sortierart festzuhalten, auch wenn die Spielregeln längst eine Änderung verlangen. Vergleichbare Fehler treten in Aufgaben auf, in denen die Konturen einfacher geometrischer Figuren, die in einer bestimmten Reihenfolge wiederholt präsentiert werden, nachgezeichnet werden sollen. Bei unerwarteter Änderung der Reihenfolge beharren die Patienten mit ihren Zeichnungen von Konturen auf der ursprünglich trainierten Reihenfolge. Bei Befragung sind sie allerdings in der Lage, die Form der Konturen korrekt wiederzugeben. Offenbar erreicht die Information über die gerade gemachten Erfahrungen und Fehler diejenigen Areale des Gehirns nicht, die als Arbeitsgedächtnis eine Verhaltensänderung im Sinne einer Problemlösung induzieren könnten.

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28 Integrative Funktionen des Gehirns

Das Engramm ist in stabilisierten Aktivitäten und Verbindungen neuronaler Schaltkreise enthalten Wichtige Grundlage der Speicherung eines Sinnesereignisses ist die Stabilisierung funktioneller Verbindungen einer definierten, aktiven Population von Neuronen, die das entsprechende Sinnesereignis zentral abbildet. Die Stabilisierung kann mit Hilfe von Rückkopplungsschleifen und der zeitlichen Synchronisation der Aktivität beteiligter Neurone erreicht werden. Das Ergebnis ist eine langzeitige Veränderung von synaptischen Verschaltungen. Die wahrscheinlichen Orte der langzeitigen Speicherung von Information sind die Assoziationscortices. Systeme der Gedächtnismodulation und damit interagierende Substanzen können darüber hinaus die Gedächtnisbildung zeitlich begrenzt beeinflussen, sind allerdings nicht für den Informationsabruf erforderlich. Die Frage, auf welche Weise die Schaltkreise des Gedächtnisses bei der Speicherung und dem Abruf von Informationen zusammenarbeiten, ist nicht abschließend geklärt. Vereinfachend sind die kortikalen Assoziationsareale mit Schaltkreisen des deklarativen Gedächtnisses verbunden, die über ausgeprägte Rückkopplungsschleifen untereinander und mit dem Assoziationskortex verbunden sind. Die Sinnessignale werden demzufolge nach Extraktion und Verarbeitung im Neokortex mit Hilfe dieser Rückkopplungen auf die verschiedenen Eingangsund Verarbeitungsstufen zurückgeführt. Diese Rückkopplung kann die neuronale Repräsentation des gerade stattgefundenen Sinnesereignisses verstärken und es auf diese Weise speichern. Dabei besteht die neuronale Repräsentation aus einer spezifischen Population von Neuronen innerhalb dieser Schaltkreise, die durch ihre Aktivität zu einer funktionellen Gruppe (einem Modul) verbunden werden. Diese funktionelle Verbindung kann zum Beispiel durch die zeitliche Synchronisierung der Aktivität der beteiligten Neuronen hergestellt werden. Die interne Repräsentation wird vermutlich in kurzzeitigen Gedächtnisformen gespeichert, so lange die synchronisierte Aktivität nach Ende des eigentlichen Sinnesereignisses in diesen Schaltkreisen aufgrund der Rückkopplungen nachhallt. Durch diese Rückkopplungen und die zeitliche Kongruenz der Aktivitätsmuster können dann synaptische Verschaltungen zwischen den Neuronen dieses Moduls langzeitig verstärkt werden (synaptische Plastizität; vgl. Kap. 28.7). Das Engramm ist demzufolge in den stabilisierten synaptischen Verbindungen des Moduls enthalten. Der Abruf erfolgt durch erneute Aktivierung derselben stabilisierten Verbindungen durch dasjenige Sinnesereignis, das diese zuvor ausgebildet hatte. Dabei ist zwischen den skizzierten Schaltkreisen der Gedächtnisbildung und dem Ort der langzeitigen Informationsspeicherung zu unterscheiden. Die wahrscheinlichen Orte der Informationsspeicherung im Rahmen des deklarativen Gedächtnisses sind diejenigen Areale des Assoziationskortex, in denen die Sinnesinformationen extrahiert und die Sinneseindrücke entwickelt und bewertet werden. Das semantische Wissen über Fakten, Objekte und Konzepte wird durch Assoziationen zeitund erfahrungsabhängig entwickelt. Entsprechend ist

dieses Wissen in den Assoziationsarealen des Neokortex in einer ortsverteilten Weise abgelegt. Das episodische Wissen über persönliche Erfahrungen und Ereignisse involviert vor allem die Assoziationsareale des frontalen Kortex. Deren funktionelle Verbindung mit den zuvor genannten neokortikalen Arealen ermöglicht die Assoziation einer bestimmten Information mit den örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten, unter denen diese Information gespeichert wurde. Ergänzend ist zu bemerken, dass Information an zahlreichen Orten im Gehirn gleichzeitig repräsentiert ist, sogar innerhalb eines Kerngebietes, und die Verarbeitung der Information in hohem Maße parallel angelegt ist. Diese parallele Informationsverarbeitung kann zum Beispiel die klinische Beobachtung erklären helfen, dass lokale Läsionen im Allgemeinen eine bestimmte Gedächtnisform nicht vollständig eliminieren. Demzufolge ist Gedächtnis nicht als unitäre Funktion, sondern als multimodales System zu verstehen, das Raum für individuelle Einschätzungen und Strategien lässt. Die bisherigen Analysen erfolgten primär mit Hilfe einfacher Lernmodelle und reduktionistischer Ansätze, so dass bislang ein eher punktuelles als ein umfassendes Verständnis erzielt wurde. Weitergreifend wird die Frage zu beantworten sein, inwiefern unsere heutigen Einteilungen und Differenzierungen des Gedächtnisses eher provisorischer Natur sind, und Gedächtnis nicht als separate Einheit aus einem oder multiplen Teilen zu verstehen ist, sondern die plastisch-adaptiven Eigenschaften eines jeden funktionellen Hirnsystems bzw. jeder einzelnen Hirnfunktion repräsentiert.

28.7

Lernabhängige synaptische Plastizität

Eine zentrale Rolle für Lern- und Gedächtnisvorgänge spielt die adaptive Veränderung der synaptischen Übertragung zwischen Neuronen (synaptische Plastizität). Beispiele für kurzzeitige Formen der synaptischen Plastizität sind die synaptische Faszilitierung und die synaptische Depression, die auf einer transienten Modulation von Prozessen der Transmitterfreisetzung in der Präsynapse beruhen. Beispiele für langzeitige Formen der synaptischen Plastizität sind die Langzeitpotenzierung (LTP) und die Langzeitdepression (LTD), bei denen die Übertragungsstärke individueller synaptischer Verbindungen dauerhaft gesteigert bzw. verringert werden kann.

Die Plastizität synaptischer Verbindungen bildet eine entscheidende Grundlage für Lernen und Gedächtnisbildung Bei der Frage nach den molekularen und zellulären Grundlagen von Lern- und Gedächtnisprozessen ist bereits frühzeitig die Synapse, das Substrat der Signalübertragung zwischen Neuronen, in den Mittelpunkt des Interesses gerückt (vgl. Kap. 5.1). Unsere heutigen Vorstellungen gehen davon aus, dass die Modifikation der synaptischen Übertragungseigenschaften den Signalfluss im Sinne eines Lern- oder Entwicklungsvorganges verändern und die Konservierung dieser Modifikation die Information im Sinne eines Gedächtnisses speichern kann. Die Vorgänge der adaptiven Anpassung synaptischer Prozesse werden kollektiv als synaptische Plastizität bezeichnet. In der Tat spielt die synaptische Plastizität eine zentrale Rolle für verschiedene Formen von Lernen und

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28.7 Lernabhängige synaptische Plastizität A Eingangsspezifität

präsynaptische Aktivität

B Assoziativität

postsynaptische Antworten

Stunden später ...

präsynaptische Aktivität

postsynaptische Antworten

Stunden später ...

Eingang II

Eingang I

LTP

1 2

3

1

2

3

1 2

3

1

2

3

1 2

3

1

2

3

LTP

1 2

hochfrequente Aktivität

3

1

2

3

Synapse II verstärkt: Eingangsspezifität

Abb. 28.11 Synaptische Grundlagen der Langzeitpotenzierung. Das Schema zeigt synaptische Verbindungen an dendritischen Dornfortsätzen einer Pyramidenzelle, die präsynaptische Aktivität von zwei verschiedenen Eingängen (I, II) zu unterschiedlichen Zeitpunkten (angezeigt durch die Zahlen 1 – 3) und die entsprechenden exzitatorischen postsynaptischen Antworten. A Eine kurze Phase hochfrequenter Aktivität des Eingangs II (gelb unterlegt) bewirkt eine Verstärkung (Potenzierung) der nachfolgenden exzitatorischen

Gedächtnis. Generell werden unterschiedliche zeitliche Phasen der synaptischen Plastizität unterschieden (Kurzzeit-, Langzeitplastizität), wobei die Beziehung zu den Kategorien von verhaltensbezogenen Gedächtnisleistungen im Menschen häufig unklar ist. Eine einfache Form der kurzzeitigen synaptischen Plastizität ist die synaptische Faszilitierung. Sie beruht auf einer Erhöhung der an einer definierten Synapse aus den präsynaptischen Terminalen freigesetzten Transmittermoleküle, zum Beispiel aufgrund einer erhöhten Konzentration von Calcium-Ionen in den präsynaptischen Terminalen bei wiederholter hochfrequenter Aktivierung (vgl. Kap. 5.10). Auch der funktionell entgegengerichtete Prozess ist beschrieben worden, eine synaptische Depression aufgrund einer verminderten Mobilisierung von synaptischen Vesikeln im Bereich der aktiven Zone bei anhaltender Aktivierung. Die Folgen sind entsprechend eine Reduktion oder Verstärkung der Übertragungsstärke an den beteiligten Synapsen, die kurzzeitig anhält und zu den Phänomenen der Habituation und der Sensitisierung bei nicht-assoziativen Lernvorgängen beitragen kann. Akzeptierte zelluläre Modelle für langzeitige Gedächtnisprozesse sind die Langzeitpotenzierung (Long Term Potenziation, LTP) und die Langzeitdepression (Long Term Depression, LTD), die in vielen gedächtnisrelevanten Hirnregionen, auch im Menschen, beschrieben worden sind. Die LTP und die LTD repräsentieren Beispiele für die aktivitätsabhängige, anhaltende Veränderung der synaptischen Übertragungsstärke zwischen Neuronen, wobei die Richtung der Plastizität (Potenzierung versus Depression) durch die aktivitätsbezogene Vorgeschichte

kongruente Aktivität

Synapsen I und II verstärkt: Assoziativität

postsynaptischen Antworten (vergleiche Amplitude der Antwort 3 mit den Amplituden 1 und 2). Die Potenzierung ist auch Stunden später erhalten (Langzeitpotenzierung, LTP) und auf den Eingang II beschränkt (Eingangsspezifität). B Zeitlich synchrone Aktivität des Eingangs I während der hochfrequenten Aktivität des Eingangs II (kongruente Aktivität, gelb unterlegt) bewirkt eine Potenzierung der nachfolgenden postsynaptischen Antworten auch an Eingang I, die Stunden später erhalten ist (Assoziativität der LTP).

bestimmt und durch unterschiedliche Mechanismen in den neuronalen Kompartimenten vermittelt wird.

Die Langzeitpotenzierung besitzt für die Informationsspeicherung sinnvolle Eigenschaften, insbesondere Eingangsspezifität und Assoziativität Die LTP beinhaltet verschiedene Phasen, in denen die synaptische Plastizität ausgelöst sowie kurz- und langzeitig aufrechterhalten wird. Ein wichtiger Mechanismus der Auslösung beruht auf postsynaptischen, ionotropen Glutamatrezeptoren des NMDA-Typs, deren DeBlockierung und resultierendem Ca2+-Einstrom. Der Anstieg der intrazellulären Ca2+-Konzentration aktiviert eine Kaskade von Botenstoffen, die zum einen zu einer Verstärkung postsynaptischer Antworten durch Rezeptorphosphorylierung und – mit Hilfe retrograder Botenstoffe – zu einer Steigerung der präsynaptischen Transmitterfreisetzung führen (frühe Phasen der LTP). Zum anderen werden Kinasen aktiviert, wie z. B. die Mitogen-aktivierte Proteinkinase (MAP-Kinase), die Prozesse der Genexpression im Zellkern induzieren. Die Folge sind De-novo-Proteinbiosynthese, Mobilisierung ruhender Synapsen und Neubildung von Synapsen (späte Phasen und Aufrechterhaltung der LTP). Das Grundphänomen der LTP stellt sich in den verschiedenen Regionen des Gehirns ähnlich dar (Abb. 28.11). Die Aktivität eines afferenten Eingangs induziert mit Hilfe der präsynaptischen Freisetzung eines chemischen Transmitters in dem postsynaptischen Zielneuron ein exzitato-

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28 Integrative Funktionen des Gehirns risches postsynaptisches Potenzial (EPSP; vgl. Kap. 5.5). Wiederholte Aktivierungen werden mit EPSPs nahezu konstanter Amplitude beantwortet, entsprechend einer konstanten synaptischen Übertragungsstärke. Die Stärke der synaptischen Übertragung kann jedoch im Bruchteil einer Sekunde drastisch erhöht werden, wenn zum Beispiel der präsynaptische Eingang für kurze Zeit besonders stark oder hochfrequent aktiv ist. Nachfolgende, einzelne Aktivierungen werden dann mit EPSPs signifikant erhöhter Amplitude beantwortet. Diese Verstärkung der postsynaptischen Antworten kann über Stunden bis zu Wochen anhalten, d. h. die synaptische Übertragung ist langzeitig potenziert. Offenbar speichern die zellulären Elemente die Erfahrung einer einmaligen starken Aktivierung im Sinne eines Lern- und Gedächtnisvorganges. Die Schaltkreise der Gedächtnisbildung (siehe oben) mit ihrem hohen Grad an Rückkopplungsschleifen und die zeitliche Synchronisierung neuronaler Zellgruppen in diesen Schaltkreisen scheinen besonders geeignet zu sein, diese starke und koordinierte Aktivierung zu vermitteln. Dabei ist die Verstärkung auf diejenigen Synapsen beschränkt, die bei der starken Aktivierung beteiligt waren, d. h. die LTP besitzt Eingangsspezifität (Abb. 28.11 A). Wenn allerdings andere synaptische Eingänge zeitlich synchron (kongruent) mit der starken Aktivierung des ersten Eingangs aktiv sind, so zeigen auch diese im Anschluss eine langanhaltende Zunahme der synaptischen Übertragungsstärke. In diesem Falle verknüpft die LTP die beiden Eingänge assoziativ und stellt demzufolge ein geeignetes zelluläres Korrelat für assoziatives Lernen dar (Abb. 28.11 B).

Die Langzeitpotenzierung wird durch calciumabhängige Prozesse ausgelöst und durch Mechanismen der Genexpression aufrechterhalten Zum Verständnis der molekularen Mechanismen der LTP ist es vorteilhaft, drei funktionelle Stadien zu differenzieren: – normale exzitatorische synaptische Übertragung, – Auslösung (Induktion) und frühe Phasen der LTP, – späte Phasen und Aufrechterhaltung der LTP. Die normale exzitatorische synaptische Übertragung (Phase A, Abb. 28.12) erfolgt mit Hilfe der präsynaptischen Freisetzung der exzitatorischen Aminosäure Glutamat. Die postsynaptischen Neurone besitzen unterschiedliche Klassen von ionotropen und metabotropen Rezeptoren für Glutamat (vgl. Kap. 5.5). Ein Typ ionotroper Glutamatrezeptor, der AMPA-Rezeptor, kann als ein Allzweckvermittler schneller synaptischer Exzitation angesehen werden. Nach Bindung von Glutamat an den Rezeptor öffnet der zugehörige Ionenkanal, der für kleine monovalente Kationen (Natrium- und Kaliumionen) permeabel ist. Die Folge ist ein Nettoeinwärtsstrom von Natriumionen in die postsynaptischen Elemente, der zu einer schnellen Depolarisation der Membran führt, dem EPSP. Für die Auslösung (Induktion) und frühe Phasen der LTP (Phase B, Abb. 28.12) sind die Eigenschaften eines anderen ionotropen Glutamatrezeptors, des NMDA-Re-

zeptors, von grundlegender Bedeutung. Nahe dem normalen Ruhemembranpotenzial ist der zugehörige Ionenkanal durch Magnesiumionen blockiert, so dass trotz Bindung des Transmitters Glutamat kein Ionenstrom erfolgen kann. Der NMDA-Rezeptor trägt demzufolge zur normalen synaptischen Übertragung wenig oder nicht bei. Der Magnesiumblock des NMDA-Rezeptorkanals wird erst bei hinreichender Depolarisation der Membran aufgehoben, zum Beispiel infolge einer gleichzeitig starken Aktivierung von AMPA-Rezeptoren nach hochfrequenter präsynaptischer Aktivität. Der NMDA-Rezeptorkanal ist neben monovalenten Kationen auch für die divalenten Calciumionen permeabel. Demzufolge strömen nach De-Blockierung des Kanals vor allem auch Calciumionen in die postsynaptischen Elemente ein. Der resultierende Anstieg der intrazellulären Calcium-Konzentration fungiert als ein wichtiger Mechanismus für die Auslösung der LTP. Die Calciumionen aktivieren direkt oder über vermittelnde Botenstoffe verschiedene Proteinkinasen. Zum Beispiel binden die Calciumionen an das Calcium-Bindungsprotein Calmodulin, wodurch die zugehörige Calcium-Calmodulin-Kinase (CaM-Kinase) aktiviert wird. Die Kinasen wiederum phosphorylieren AMPA-Rezeptorkanäle und erhöhen dadurch deren Sensitivität für den Transmitter Glutamat mit der Folge einer Verstärkung (Potenzierung) postsynaptischer Antworten. Darüber hinaus kann die postsynaptische Zelle Botenstoffe freisetzen (so genannte retrograde Botenstoffe, zum Beispiel das Stickstoffmonoxid NO; vgl. Kap. 2.6), die nach Diffusion durch den synaptischen Spalt in der Präsynapse eine vermehrte Transmitterfreisetzung induzieren können. Demzufolge sind an der Auslösung und den frühen Phasen der LTP sowohl post- als auch präsynaptische Mechanismen beteiligt. Für die späten Phasen und die Aufrechterhaltung der LTP (Phase C, Abb. 28.12) sind Mechanismen des Zellkerns und der Genexpression von entscheidender Bedeutung. Intrazelluläre Botenstoffe, vor allem die Calciumionen, vermitteln dabei zwischen den Transmitterrezeptoren und dem Zellkern. Ein wichtiger Signalweg führt von den Calciumionen über das Adenylylcyclase/ cAMP-System zur Aktivierung cAMP-abhängiger Kinasen. Darüber hinaus wird eine weitere Proteinkinase aktiviert, die Mitogen-aktivierte Proteinkinase (MAPKinase), deren Aktivität auch mit zellulären Wachstumsvorgängen assoziiert ist (vgl. Kap. 28.8). Beide Kinasen können Prozesse der Genexpression im Zellkern beeinflussen. Eine Reihe von Hinweisen zeigen, dass die Kinasen den Transkriptionsfaktor CREB (cAMP response element binding protein) phosphorylieren, der in phosphoryliertem Zustand an einen Promotor, CRE (cAMP response element), bindet. Hierdurch wird die Expression einer Kaskade von Zielgenen induziert, die zum Beispiel das Verhältnis von Rezeptorabbau und -integration in die Plasmamembran verändern oder so genannte ruhende Synapsen aktivieren können. Darüber hinaus gibt es Hinweise auf die Umbildung dendritischer Fortsätze in postsynaptischen Neuronen, die eine Neubildung von Synapsen anzeigen. Die Folge dieser Prozesse ist die anhaltende Verstärkung der synaptischen Übertragung an definierten Synapsen im Sinne der Konsolidierung eines zellulären Lernvorgangs. Dabei werden die intrazellulären Signal-

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28.7 Lernabhängige synaptische Plastizität

Glutamat

A normale synaptische Übertragung AMPA-Rezeptoren +

Na

exzitatorische postsynaptische Antwort

2+

Mg

NMDA-Rezeptor blockiert

B Auslösung und frühe Phasen der LTP

P

CaM-Kinase

+

Na

Calmodulin

+

Na

2+

Ca 2+

Mg

NMDA-Rezeptor deblockiert retrograder Botenstoff

Steigerung der Transmitterfreisetzung

Steigerung der postsynaptischen Antworten

? NO

cAMP

cAMP-Kinase MAP-Kinase CREB

P

Adenylylcyclase

C späte Phasen: Aufrechterhaltung LTP ATP

Mobilisierung ruhender Synapsen Neubildung von Synapsen

Zellkern CRE

Transkription

de-novo-Proteinbiosynthese

Dendrit einer Pyramidenzelle

Abb. 28.12 Mechanismen der Langzeitpotenzierung (LTP). Schema synaptischer Verbindungen an dendritischen Dornfortsätzen einer Pyramidenzelle (vgl. Abb. 28.11), mit präsynaptischen Terminalen und postsynaptischen Komponenten. Drei verschiedene Phasen (A – C) der synaptischen Transmission sind dargestellt. A Normale synaptische Übertragung (rot hervorgehoben). Die NMDA-Rezeptorkanäle sind durch Mg2+ blockiert. Glutamat vermittelt über postsynaptische AMPA-Rezeptoren einen Netto-Einwärtsstrom von Na+ und dadurch eine exzitatorische postsynaptische Antwort. B Auslösung und frühe Phasen der LTP (blau hervorgehoben). Die NMDA-Rezeptorkanäle sind deblockiert. Bindung von Glutamat an die NMDA-Rezeptoren induziert einen Ca2+-Einwärtsstrom, der über Ca2+-Calmodulin zum

einen die Phosphorylierung von AMPA-Rezeptoren mit Hilfe der Ca2+-Calmodulin-Kinase (CaM-Kinase) bewirkt. Zum anderen aktiviert Ca2+ den retrograden Botenstoff Stickstoffmonoxid (NO). Die Folgen sind die kurzfristige Steigerung der Glutamatfreisetzung und der postsynaptischen Antworten. C Späte Phasen und Aufrechterhaltung der LTP (grün unterlegt). Die Ca2+-abhängige Aktivierung von Kinasen (cAMP-abhängige Kinase; Mitogenaktivierte Proteinkinase [MAP-Kinase]) bewirkt im Zellkern die Phosphorylierung von Transkriptionsfaktoren (cAMP response element binding protein, CREB) und Aktivierung von Promotoren (CRE) mit der Folge einer veränderten Genexpression, De-novo-Proteinbiosynthese, Mobilisierung ruhender Synapsen und Neubildung von Synapsen. Nach (6).

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28 Integrative Funktionen des Gehirns wege selbst durch Transmittersysteme kontrolliert, insbesondere Transmitter des aufsteigenden Hirnstammsystems (vgl. Kap. 29.4) und neurotrophe Faktoren (vgl. Kap. 28.8), die dadurch die späten Phasen der LTP stabilisieren können. Über diese Effekte könnten motivations-, aufmerksamkeits-, und entwicklungsabhängige Einflüsse auf Lernvorgänge erklärt werden. Die hier geschilderten Mechanismen repräsentieren lediglich einen Teil des reichhaltigen Repertoires adaptiver zellulärer Prozesse, deren detaillierte Aufklärung Gegenstand aktueller Forschung sind, und die durchaus kontrovers diskutiert werden. Zum Beispiel existieren neben dieser NMDA-vermittelten LTP auch andere Formen der LTP, die NMDA-unabhängig ausgelöst werden, immer aber einen Anstieg der intrazellulären Calciumkonzentration als wichtigen Auslösemechanismus beinhalten.

Die Balance zwischen LTP und LTD wird durch eine Abstimmung intrazellulärer Signalwege erreicht Ähnlich der LTP basiert auch die LTD auf Ca2+-abhängigen Mechanismen in der Postsynapse, wobei hier die Freisetzung von Ca2+ aus intrazellulären Speichern nach Aktivierung metabotroper Glutamatrezeptoren sowie der Ca2+-Einstrom durch spannungsabhängige Ca2+Ionenkanäle entscheidend sind. Ort und Ausmaß der intrazellulären Ca2+-Konzentrationserhöhung sowie die Art der aktivierten Botenstoffe in der Postsynapse entscheiden über die Richtung der synaptischen Plastizität (LTP versus LTD), wobei die Korrelation der Vorgänge auf synaptischer Ebene mit den Prozessen von Lernen und Gedächtnis auf Verhaltensebene bislang nur punktuell gelungen ist. Die LTD, eine anhaltende Reduzierung der synaptischen Übertragungsstärke, tritt vor allem nach einer niederfrequenten Aktivierung präsynaptischer Eingänge auf (Abb. 28.13 A). Ähnlich wie bei der LTP spielen Glutamatrezeptoren und intrazelluläre Calciumionen auch für die Auslösung der LTD eine entscheidende Rolle. Im Unterschied zur LTP ist hier die Aktivierung metabotroper Glutamatrezeptoren in der Postsynapse erforderlich (vgl. Kap. 5.5). Die metabotropen Glutamatrezeptoren sind über ein Guanosintriphosphat (GTP) aktiviertes Protein (G-Protein) mit dem Enzym Phospholipase C gekoppelt (Abb. 28.13 B). Die Aktivierung dieses Enzyms führt zur Spaltung von Phosphatidylinositol-4,5-bisphosphat (PIP2) in Inositol-1,4,5-triphosphat (IP3) und Diacylglycerol. Diacylglycerol führt als intrazellulärer Botenstoff zur Aktivierung der Proteinkinase C, und IP3 fördert die Freisetzung von Calciumionen aus intrazellulären Speichern (vgl. Kap. 2.6). Zusätzlich erfolgt ein Einstrom von Calciumionen aus dem Extrazellulärraum durch spannungsabhängige Calciumkanäle in die postsynaptischen Strukturen. Hierdurch wird eine anhaltende Depression der synaptischen Übertragungsstärke ausgelöst, deren Mechanismen allerdings bislang wenig verstanden sind. Es gibt Hinweise auf eine Verminderung des Effektes von postsynaptischen AMPA-Rezeptorkanälen, aber auch auf präsynaptische Wirkungsorte (Abb. 28.13 B).

Der Anstieg der intrazellulären Calciumkonzentration stellt ein wichtiges auslösendes Element sowohl für die Depression als auch für die Potenzierung der synaptischen Übertragung dar. Welcher der beiden Prozesse

einsetzt, scheint durch die erreichte Calciumkonzentration in den postsynaptischen Kompartimenten und die angesteuerten intrazellulären Signalwege bestimmt zu werden. Dabei wird das Ausmaß von Plastizität, das an einer gegebenen synaptischen Verbindung aktuell ausgebildet werden kann, durch die aktivitätsbezogene Vorgeschichte dieser Verbindung bestimmt (Metaplastizität). Zusammengefasst sind LTP und LTD geeignete Modelle, Lernen und Gedächtnis auf molekularer und zellulärer Ebene zu erklären. Allerdings sind Korrelationen zwischen den Vorgängen synaptischer Plastizität auf zellulärer Ebene und der Gedächtnisbildung auf Verhaltensebene bislang nur punktuell gelungen.

28.8

Hirnentwicklung – entwicklungsund erfahrungsabhängige Plastizität

Rückenmark und Gehirn entstehen aus dem Neuralrohr des Ektoderms. Die embryonale Anlage des Gehirns erfolgt durch induktive Wechselwirkungen molekularer Faktoren. Induktive Signale werden zum Beispiel durch Fibroblastenwachstumsfaktoren, das sonic hedgehog Protein und die Retinsäure vermittelt, die nach Bindung an Membranrezeptoren Prozesse der Genexpression induzieren. Unter deren Einfluss gelangen neurale Vorläuferszellen durch Migration an ihre Zielorte und differenzieren in die verschiedenen Neuronenklassen. Ein Ergebnis ist die Anlage der Hauptregionen des Gehirns. Dysfunktionen der induktiven Signalwege werden für eine Reihe von angeborenen Hirnentwicklungsstörungen verantwortlich gemacht. Die weitere Anlage eines funktionsfähigen Gehirns erfordert die Generierung präziser axonaler Pfade und synaptischer Verbindungen. Wichtige Grundlage dessen ist ein Wechselspiel axonaler Wachstumskegel mit nicht-diffusiblen Adhäsionsmolekülen der Zelloberfläche oder der extrazellulären Matrix (neurales Zelladhäsionsmolekül NCAM, Cadherine, Laminin, Collagen, Fibronektin). Zum anderen produzieren die Zielzelle diffusible chemotrope Faktoren (Netrine, Semaphorine), die die Orientierung der wachsenden Axone im Sinne von Anziehungs- oder Abstoßungsreaktionen beeinflussen.

Die frühe Entwicklung des Nervensystems erfolgt unter dem Einfluss induktiver Signale Das Nervensystem entsteht aus dem Ektoderm durch die induktiven Wechselwirkungen molekularer Faktoren des mesodermalen und des ektodermalen Gewebes. Im Zuge der frühen ontogenetischen Entwicklung faltet sich die Neuralplatte zur Neuralrinne, die sich zum Neuralrohr schließt. Aus dem Neuralrohr entstehen nachfolgend Gehirn und Rückenmark (zum Weiterlesen wird auf Lehrbücher der Entwicklungsbiologie verwiesen). Ein wichtiger Schritt ist die Entstehung einer Population neuraler Vorläuferzellen aus ektodermalen Zellen. Die weitere ontogenetische Entwicklung in diesen frühen Stadien wird durch ein Wechselspiel zwischen induktiven Signalen und zellulären Bewegungen gesteuert. Unter deren Einfluss gelangen die neuralen Vorläuferzellen durch

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28.8 Hirnentwicklung – entwicklungs- und erfahrungsabhängige Plastizität A

postsynaptische Strukturen

metabotroper Glutamat-Rezeptor

PIP2

Eingang II

Eingang I

präsynaptische Aktivität

postsynaptische Antworten

Stunden später ...

Phospholipase C

G

Diacylglycerol 1 2

3

1

2

3

Na –

Proteinkinase C

LTD 1 2

niederfrequente Aktivität

3

1

2

IP3

+

Glutamat

3

AMPA-Rezeptor

Synapse II geschwächt: Langzeitdepression B

? ER

synaptische Depression spannungsabhängiger 2+ Ca -Kanal 2+

Ca

Abb. 28.13 Mechanismen der Langzeitdepression (LTD). A Das Schema zeigt synaptische Verbindungen eines Neurons, die präsynaptische Aktivität von zwei verschiedenen Eingängen (I, II) zu unterschiedlichen Zeitpunkten (angezeigt durch die Zahlen 1 – 3) und die entsprechenden exzitatorischen postsynaptischen Antworten. Eine kurze Phase niedrigfrequenter Aktivität des Eingangs II (gelb unterlegt) bewirkt eine Abschwächung (Depression) der nachfolgenden exzitatorischen postsynaptischen Antworten (vergleiche Amplitude der Antwort 3 mit den Amplituden 1 und 2). Die Depression ist auch Stunden später erhalten (Langzeitdepression, LTD). B Schema einer synaptischen Verbindung mit

Migration an ihre Zielorte und differenzieren in die verschiedenen Neuronenklassen. Ein Ergebnis ist die Anlage der Hauptregionen des Gehirns. Wichtige Vermittler der induktiven Signale sind Peptidhormone, wie zum Beispiel die Fibroblastenwachstumsfaktoren (Fibroblast Growth Factor, FGF), das sonic hedgehog protein und die Retinsäure, ein Derivat des Vitamins A. Diese Moleküle binden an Rezeptoren der Zelloberfläche und aktivieren dadurch über eine intrazelluläre Signalkaskade gezielt Prozesse der Genexpression. Die Funktionsstörung einer Signalkette hat im Allgemeinen schwerwiegende Konsequenzen für die normale Hirnentwicklung. Demzufolge schafft die Kenntnis der induktiven Signale eine entscheidende Voraussetzung für das verbesserte Verständnis der Ätiologie und die Therapie einer Reihe von angeborenen Hirnentwicklungsstörungen.

präsynaptischer Terminale und postsynaptischen Strukturen. Bindung von Glutamat an metabotrope Glutamatrezeptoren induziert eine Kaskade von intrazellulären Botenstoffen, in der über ein G-Protein und die Phospholipase C die Spaltung von Phosphatidylinositol-4,5-bisphosphat (PIP2) in Inositol1,4,5-triphosphat (IP3) und Diacylglycerol (DAG) katalysiert wird. Diacylglycerol aktiviert die Proteinkinase C, und IP3 induziert die Freisetzung von Ca2+ aus dem endoplasmatischen Retikulum (ER). Darüber hinaus werden spannungsabhängige Ca2+-Kanäle in der Plasmamembran aktiviert. Die Erhöhung der intrazellulären Ca2+-Konzentration bewirkt eine anhaltende synaptische Depression.

Beispiele für Hirnentwicklungsstörungen sind Spina bifida (Fehlbildung der Wirbelsäule mit fehlender Verschmelzung der Wirbelbögen) und Anenzephalie (Fehlen wesentlicher Teile des Gehirns infolge ausbleibenden Schlusses des Neuralrohres). Die Ursachen werden in den induktiven Signalwegen bzw. den partizipierenden Genen vermutet. Ein eklatantes Beispiel für die Fähigkeit eines Agens, eine strukturell-funktionelle Anomalität auszulösen (teratogene Wirkung), wurde erstmalig in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts beschrieben. Klinische Studien zeigten, dass ein Mangel an Vitamin A während der Schwangerschaft schwerwiegende fötale Fehlbildungen zur Folge hat, wobei vor allem das sich entwickelnde Gehirn betroffen ist. Überraschend war zunächst der (im Tierexperiment erhobene) Befund, dass auch ein massives Überangebot an Vitamin A oder verschiedenen Vitamin-ADerivaten (Retinal, Retinsäure) zu Fehlbildungen führen kann. Erst die Entdeckung der Rezeptoren für Retinsäure Mitte der 80er-Jahre erbrachte einige wichtige Antworten. Die Rezeptoren fungieren als Transkriptionsfaktoren, insofern als nach Bindung von Retinsäure oder Liganden (wie zum Beispiel Vitamin A) spezifische Gene aktiviert werden, die für induktive Prozesse der frühen Hirnentwicklung essenziell sind. Manipulation dieser Prozesse (durch Defizienz oder Exzess der Rezeptorliganden) führt zu abnormalen Mustern der Genexpression und demzufolge zu Störungen der Hirnentwicklung.

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28 Integrative Funktionen des Gehirns

Die frühe ontogenetische Hirnentwicklung wird durch ein Wechselspiel zwischen axonalen Wachstumskegeln, Adhäsionsmolekülen und chemotropen Faktoren gesteuert Ein makroskopisches Ergebnis der frühen ontogenetischen Prozesse ist die regionale Spezifizierung der Haupthirnregionen (Prosencephalon, Mesencephalon, Rhombencephalon). Die nachfolgende Anlage eines funktionsfähigen Gehirns erfordert die Generierung axonaler Pfade und die präzise Verbindung prä- und postsynaptischer Elemente. Wichtige Grundlage hierfür sind die Wachstumskegel der aussprossenden Axone und deren Wechselwirkung mit nicht-diffusiblen und diffusiblen Signalen, die die Wachstumsrichtung und die Ausbildung von Zell-Zell-Kontakten bestimmen. Zu den nicht-diffusiblen Signalen zählen zum einen die Zelladhäsionsmoleküle (z. B. Neural Cell Adhesion Molecule, NCAM) und die Cadherine. Die Moleküle finden sich im Allgemeinen an der Zelloberfläche, interagieren mit membranständigen Rezeptoren der Wachstumskegel und aktivieren assoziierte intrazelluläre Signalketten. Über die Auslösung von Prozessen der Genexpression können Zell-Zell-Kontakte stabilisiert werden (Abb. 28.14 A). Über ähnliche Mechanismen werden die Wachstumskegel durch Adhäsionsmoleküle der extrazellulären Matrix (Laminin, Collagen, Fibronektin) beeinflusst. Eine ganz andere Klasse von wachstumsrelevanten Molekülen wird von den Zielzellen produziert. Diese chemotropen Faktoren diffundieren zu den wachsenden Axonen und beeinflussen deren Orientierung im Sinne einer chemischen Anziehungsoder Abstoßungsreaktion. In Abhängigkeit von den chemotropen Faktoren kann das axonale Wachstum in Richtung zu den Zellen, die die Faktoren produzieren (z. B. durch Netrine) oder von diesen Zellen fort gelenkt werden (z. B. durch Semaphorine). Chemotrope Faktoren gelten darüber hinaus als wichtige Elemente nach Verletzung des adulten Gehirns, indem sie axonales Wachstum im Verletzungsbereich inhibieren.

Das Überleben von Neuronen und die Stabilisierung der synaptischen Kontakte erfordert eine gegenseitige Kompetition unter steuernder Wirkung von neurotrophen Faktoren Ein wichtiges Organisationsprinzip für die Selektion und präzise Ausbildung synaptischer Verbindungen ist das der aktivitätsabhängigen Kompetition, wobei neurotrophe Faktoren (Nervenwachstumsfaktoren, Neurotrophine) eine regulierende Rolle übernehmen. In Abhängigkeit von Rezeptorausstattung, Lokalisation und Aktivität konkurrierender Neurone werden die synaptischen Verbindungen entweder stabilisiert, oder die Neurone durchlaufen Prozesse des programmierten Zelltods (Apoptose) und gehen zugrunde. Die weitere Stabilisierung von Hirnfunktionen erfolgt aktivitätsabhängig innerhalb einer sensiblen Periode unter dem instruktiven Einfluss von Signalen aus der Umgebung (erfahrungsabhängige Plastizität). Störungen oder Schädigungen – auch transienter Natur – innerhalb der sensiblen Periode können irreversible und zum Teil

dramatische Fehlentwicklungen zur Folge haben. Andererseits existieren aktivitätsabhängige Reorganisationsprozesse auch im adulten Gehirn, die zur Verbesserung von Restfunktionen nach Schädigung genutzt werden können. Die Bildung synaptischer Kontakte stellt eine neue Entwicklungsphase dar, insofern als das Überleben und die weitere Differenzierung der Neurone – zum Teil in direkter Weise und langzeitig – von den postsynaptischen Zielstrukturen beeinflusst wird. Der wechselseitige Einfluss von prä- und postsynaptischer Struktur wird als trophische Wechselwirkung bezeichnet, und die vermittelnden Faktoren sind die neurotrophen Faktoren. Beispiele für die große Molekülfamilie der neurotrophen Faktoren sind der Nervenwachstumsfaktor (nerve growth factor, NGF) und die Neurotrophine. Ähnlich „klassischen“ Transmittermolekülen binden die neurotrophen Faktoren an membranständige Rezeptoren, die nach Aktivierung eine Kaskade von intrazellulären Signalen auslösen und dadurch Prozesse der Genexpression beeinflussen. Ein Beispiel für Neurotrophin-Rezeptoren sind die Tyrosinkinase-(Trk-)Rezeptoren. Der zytoplasmatische Teil des TrkRezeptors enthält eine Domäne mit Kinase-Aktivität, die nach Bindung des Neurotrophins das Rezeptorprotein selbst sowie eine Reihe von intrazellulären Proteinen phosphoryliert und damit eine intrazelluläre Phosphorylierungskaskade startet. Unter anderem wird die Mitogen-aktivierte Proteinkinase (MAP-Kinase) phosphoryliert, die Transkriptionsfaktoren im Zellkern aktiviert und damit die Expression einer Kaskade von differenzierungs- und überlebensrelevanten Zielgenen induziert (vgl. Kap. 28.7).

Ein wichtiges Organisationsprinzip für die Selektion und Ausbildung spezifischer synaptischer Verbindungen ist das der Kompetition (Abb. 28.14). Einerseits produzieren die neuronalen Zielstrukturen nur eine begrenzte Menge an neurotrophen Faktoren. Andererseits ist das Überleben der Neurone vor allem in der embryonalen und frühpostnatalen Phase – sowie in geringerem Maße auch im adulten Gehirn – von der Wirkung einer kritischen Menge eines oder mehrerer spezifischer neurotropher Faktoren abhängig. Demzufolge konkurrieren die Neurone in einer Art Wettbewerb (Kompetition) um die verschiedenen neurotrophen Faktoren. Neurone, die aufgrund ihrer Rezeptorausstattung eine hinreichende Wirkung neurotropher Faktoren erfahren, überleben, und die entsprechenden synaptischen Verbindungen mit den Zielzellen werden stabilisiert (Abb. 28.14 B). Dabei wirkt die elektrische Aktivität der Neurone und die daraus resultierende Freisetzung von Transmittern als wichtiger Faktor für die Stabilisierung der synaptischen Verbindungen. Neurone, die diese Wirkung der neurotrophen Faktoren nicht oder in zu geringem Ausmaß erfahren, durchlaufen Prozesse des programmierten Zelltods (Apoptose, vgl. Kap. 2.8) und gehen zugrunde (Abb. 28.14 C). Die Folgen dieser Selbstorganisationsprozesse sind eine Selektion von Neuronen und eine Stabilisierung ihrer synaptischen Verbindungen, die eine entscheidende Grundlage für die Vielfalt und die Spezifität der Hirnfunktionen darstellen. Im adulten Gehirn bleiben neurotrophe Fakto-

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28.8 Hirnentwicklung – entwicklungs- und erfahrungsabhängige Plastizität

Hirnfunktionen werden aktivitätsabhängig unter dem instruktiven Einfluss von Signalen aus der Umgebung stabilisiert

proliferationsfördernde Genprodukte Zelladhäsionsmoleküle

A Neuron 1 stabilisiert

Neuron

Proliferationssignale proliferationsfördernde Genprodukte retrograder axonaler Transport Rezeptoren für spezifische neurotrophe Faktoren neurotrophe Faktoren B Neuron 2 stabilisiert

Apoptose

keine Rezeptorerkennung

C Neuron 3 degeneriert

Neuron

Gliazelle

Abb. 28.14 Selektion und Stabilisierung neuronaler Verbindungen durch Zelladhäsionsmoleküle und neurotrophe Faktoren während der früh-postnatalen Entwicklung. A Zell-Zell-Kontakte von Neuron 1 werden aufgrund der Wirkung von Zelladhäsionsmolekülen stabilisiert, die über eine Kette von intrazellulären Signalen die Expression von Genen zur weiteren Proliferation auslösen. B Synaptische Kontakte von Neuron 2 werden aufgrund seiner geeigneten Ausstattung mit Rezeptoren für die örtlich vorhandenen neurotrophen Faktoren stabilisiert. Aktivierung der Rezeptoren induziert intrazelluläre Signale, die unter anderem über den retrograden axonalen Transport in Richtung Zellkern vermittelt werden und dort als Transkriptionsfaktoren wirken. C Neuron 3 ist aufgrund einer andersartigen Rezeptorausstattung nicht in der Lage, die neurotrophen Signale aufzunehmen. Die Folge ist programmierter Zelltod (Apoptose).

ren einerseits für Reparaturvorgänge nach Schädigung und andererseits für erfahrungs- und lernabhängige Plastizität von Bedeutung. Zum Beispiel spielen neurotrophe Faktoren eine stabilisierende Rolle für die Langzeitpotenzierung (vgl. Kap. 28.7) und die deklarative Gedächtnisbildung im Hippokampus (vgl. Kap. 28.6).

Eine der Folgen der neuronalen Differenzierung in den primärmotorischen und den sensorischen Systemen des Gehirns ist die Anlage von so genannten Karten, in denen benachbarte Orte der Peripherie ähnlich einer topographischen Karte in benachbarten neuronalen Anordnungen repräsentiert sind. Darüber hinaus existieren funktionelle Karten, insofern als Neurone gleicher oder ähnlicher Funktion in benachbarten Hirngebieten angeordnet sind. Gut untersucht sind diese Vorgänge im visuellen Kortex, in dem topographische und funktionelle Karten zum Beispiel als okuläre Dominanzsäulen angelegt sind (vgl. Kap. 23.6). Korrespondierende Netzhautareale beider Augen projizieren auf benachbarte okuläre Dominanzsäulen. In diesen Säulen alternieren in regelmäßiger Abfolge Neurone, die Signale von den korrespondierenden Netzhautarealen entweder des contra- oder des ipsilateralen Auges erhalten, mit solchen Neuronen, die Signale aus beiden Augen integrieren (binokulare Innervation; Abb. 28.15 A). Diese regelmäßige funktionelle Anordnung ist eine der Grundvoraussetzungen für das beidäugige Sehen, z. B. das räumliche Sehen (vgl. Kap. 23.7). Angeborene monokulare Trübungen von Hornhaut oder Linse, oder frühkindliches Schielen können zu teilweise dramatischen Fehlverschaltungen des visuellen Systems führen. Aus experimentellen Studien ist bekannt, dass die Verminderung der Aktivität aus einem Auge (monokulare Deprivation) zu einer gestörten Balance in den okulären Dominanzsäulen führt. In diesem Fall überwiegen die aus dem gesunden Auge innervierten Neurone bei weitem, und nur wenige Neurone werden aus beiden oder ausschließlich aus dem betroffenen Auge innerviert (Abb. 28.15 A, B). Das betroffene Auge ist demzufolge funktionell vom Kortex entkoppelt, mit der Folge schwerwiegender Beeinträchtigungen des visuellen Wahrnehmungsvermögens (Amblyopie). Diese Konsequenzen sind irreversibel, sofern die periphere Störung nicht innerhalb der so genannten sensiblen Periode korrigiert wird, die im visuellen System des Menschen die ersten postnatalen Lebensjahre ausmacht. Andererseits sind die Konsequenzen monokularer Deprivation im adulten Gehirn vergleichsweise gering bis nicht ausgeprägt (Abb. 28.15 A, B). Eine Erklärung für diese Beobachtungen auf zellulärer Ebene liegt in der aktivitätsabhängigen Stabilisierung der synaptischen Verbindungen, die innerhalb der kritischen Periode unter dem steuernden Einfluss der differenzierungsrelevanten Faktoren (z. B. der neurotrophen Faktoren) erfolgt (Abb. 28.15 C). Bei zeitlich korrelierter Aktivität der Afferenzen aus den korrespondierenden Netzhautarealen beider Augen werden die synaptischen Verbindungen in den visuellen Zielneuronen stabilisiert, in dem zum Beispiel NMDA-Rezeptoren aktiviert und assoziierte Ca2+-abhängige intrazelluläre Signalkaskaden angestoßen werden (vgl. Kap. 28.7). Unter dem Einfluss neurotropher und anderer differenzierungskompetenter

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28 Integrative Funktionen des Gehirns A Sehbahn (Schema) normal (binokular) L

monokulare Deprivation Auge geschlossen

R

Auge offen

C okulare Dominanzverteilung im visuellen Kortex 60

normal monokulare Deprivation Corpus geniculatum laterale

20

nicht-korrelierte Aktivität

territoriale Balance

territoriale Umverteilung

Abb. 28.15 Folgen monokularer Deprivation. A Schema der Sehbahn, mit linkem (L) und rechtem (R) Auge. Bei normal-binokularem Sehen stabilisiert die korrelierte Aktivität aus beiden Augen die binokularen Verbindungen im visuellen Kortex. Bei monokularer Deprivation, hier des linken Auges, ist die binokulare Balance im visuellen Kortex gestört. B Experimentelle Ergebnisse der okularen Dominanzverteilung im visuellen Kortex. Beim Normalsehen wird eine große Zahl von Neuronen aus beiden Augen aktiviert (L = R), bei einem Teil überwiegt die Aktivierung aus jeweils einem Auge (L > R; L < R), und ein geringer Teil wird ausschließlich aus dem linken oder dem rechten Auge aktiviert. Nach monokularer Deprivation (vorübergehender Verschluss des linken Auges) innerhalb der sensiblen Periode werden die Neurone ausschließlich durch das nicht-deprivierte (rechte) Auge aktiviert. Monokulare Deprivation (linkes Auge) im

Faktoren steuern diese Signale Prozesse des Zellkerns und der Genexpression, die zur funktionellen und strukturellen Stabilisierung führen. Bei nicht-korrelierter binokularer afferenter Aktivität, zum Beispiel in Folge monokularer Deprivation, fehlen diese stabilisierenden Einflüsse bezüglich des deprivierten Auges. In der Konsequenz werden die entsprechenden synaptischen Kontakte funktionell und strukturell schwächer ausgebildet. Die Verbindungen aus dem gesunden Auge dominieren und breiten sich – einer experimentell gut belegten Hypothese zufolge – in das de-afferentierte postsynaptische Territorium aus (Abb. 28.15 C). Diese Stabilisierungsprozesse greifen in der kritischen Periode und erklären dadurch die funktionelle Reversibilität bei Korrekturen in

LR

R

Links

L

LR

visueller Kortex

kritische Periode

Links

binokulares Neuron

Anzahl Neurone (%)

826

Erwachsenen ist von vergleichbar geringer Konsequenz für die okulare Dominanzverteilung. Zu beachten ist, dass die monokulare Deprivation vorübergehender Natur war, und die Ergebnisse nach Wiedereröffnung des deprivierten linken Auges erzielt wurden. Nach (18). C Schema der aktivitätsabhängigen Stabilisierung synaptischer Verbindungen in einem Neuron. Beim Normalsehen bewirkt die zeitlich korrelierte binokulare Aktivität afferenter Eingänge des linken (L) und des rechten (R) Auges eine relative Balance der Territorien beider Eingänge und stabilisiert sie auf diese Weise. Bei monokularer Deprivation (hier des linken Auges) und entsprechend nicht-korrelierter binokularer Aktivität fehlt dieser stabilisierende Einfluss, und die Eingänge aus dem gesunden (rechten) Auge breiten sich zuungunsten des deprivierten Auges aus (territoriale Umverteilung).

frühen postnatalen Jahren und die vergleichsweise geringen Konsequenzen für das adulte Gehirn. Diese Vorgänge der aktivitätsabhängigen Stabilisierung von Hirnfunktionen unter dem instruktiven Einfluss von Signalen aus der Umgebung werden kollektiv als erfahrungsabhängige Plastizität bezeichnet. Auffällig ist die Parallelität der Mechanismen der entwicklungsabhängigen und der lernabhängigen Plastizität, in denen aktivitätsabhängig die Interaktionen zwischen prä- und postsynaptischer Struktur stabilisiert werden (vgl. Kap. 28.7). Inwiefern territoriale synaptische Umverteilungen auch bei Lernplastizität von Bedeutung sind, ist Gegenstand intensiver aktueller Forschungsanstrengungen.

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28.9 Linkes Gehirn/Rechtes Gehirn – Sprache Erfahrungsabhängige Plastizität und assoziierte kritische Perioden existieren auch in anderen (möglicherweise allen) sensorischen und motorischen Systemen des menschlichen Gehirns. Gut untersuchte Beispiele sind die kritische Periode für das Erlernen der Sprache (gesprochene Sprache, Gebärdensprache). Auch hier führt Deprivation zu irreversiblen Funktionsdefiziten. Zum Beispiel wurde eine pathologische Situation bekannt, in der ein Mädchen mit angeboren normalem Hörvermögen bis zum 13. Lebensjahr in völliger Sprachdeprivation aufwuchs. Trotz anschließendem, intensiven Sprachtraining war das Mädchen zu kaum mehr als einer rudimentären Sprachkommunikation fähig. Darüber hinaus ist bekannt, dass bereits wiederholte Episoden von frühkindlicher Schwerhörigkeit, ausgelöst etwa durch chronische Mittelohrentzündungen, zu lebenslangen Defiziten in der Sprachkompetenz führen können. Um Defizite in der Sprachkompetenz zu vermeiden, sollten Kinder mit Hörstörungen bereits zu Ende des ersten (!) Lebensjahres einer Therapie zugeführt werden (vgl. Kap. 21.6). Diese Beispiele verdeutlichen in eindringlicher Weise die Bedeutung von früher, erfahrungsabhängiger Plastizität für die Hirnentwicklung. Eine frühpostnatale soziale Deprivation kann entsprechende Konsequenzen für das emotionale und soziale Verhalten haben.

Plastizität kann zur Verbesserung von Restfunktionen nach Schädigung beitragen Aktivitätsabhängige Reorganisationsprozesse existieren auch im adulten Gehirn, wenn auch in geringerem Maße als während der postnatalen Entwicklung. Ein gut untersuchtes Beispiel betrifft die somatotope Organisation des somatosensorischen Kortex (vgl. Kap. 20.8). Einige Monate nach Amputation von Gliedmaßen einer Extremität, zum Beispiel des Mittelfingers der rechten Hand, innervieren die Afferenzen der benachbarten Gliedmaßen deafferentierte Areale im somatosensorischen Kortex. Eine ähnliche Reorganisation tritt in relevanten somatosensorischen Arealen des Thalamus und im Hirnstamm auf. Inwieweit derartige Prozesse auch zu dem Phänomen des „Phantomschmerzes“, nach Amputation beitragen, ist nicht völlig geklärt. Allerdings scheint die Reorganisation zu Verbesserungen von Restfunktionen nach Schädigung genutzt werden zu können. Zum Beispiel wird eine Teilerholung von Funktionen nach Läsionen des visuellen Kortex durch ein gezieltes Training der Nutzung von Arealen im Randbereich der Schädigung erzielt.

28.9

Linkes Gehirn/Rechtes Gehirn – Sprache

Die Hemisphären sind für verschiedene Aufgaben spezialisiert (Lateralisation). Auffällig sind die linkshemisphärische Lateralisation von Sprache und die funktionelle Untergliederung von Sprachregionen. Die Sprachregion von Wernicke (Areal 22, linkshemisphärisch) vermittelt Sprachverständnis, während die Sprachregion von Broca (Areal 44/45, linkshemisphärisch) Sprache organisiert und produziert. Lokale Schädigung dieser Areale hat entsprechende Einschränkungen von Sprachverständnis und -produktion zur Folge (sensorische, motorische Aphasie). Emotionale und rhyth-

misch-melodische Komponenten der Sprache sind dagegen vorwiegend rechtshemisphärisch repräsentiert. Eine Überlegenheit der rechten Hemisphäre zeigt sich auch bei räumlich-visuellen Aufgaben. Demzufolge sind visuelle Aufmerksamkeit und Wiedererkennung vorwiegend bei Schädigung rechtshemisphärischer kortikaler Assoziationsareale beeinträchtigt (visuelle Agnosie). Untersuchungen an Patienten mit weitgehend durchtrennten interhemisphärischen Verbindungen („Split-Brain“-Patienten) bestätigen die Lateralisation. Überprüfungen lateralisierter Funktionen sind darüber hinaus nach unilateraler Injektion eines Kurzzeitnarkotikums in die Arteria carotis interna möglich, das kurze Funktionsausfälle in der ipsilateralen Hemisphäre bewirkt (Wada-Test). Allgemein ist die Arbeitsweise der linken und der rechten Hemisphäre jeweils durch zeitlich-serielle und räumlich-parallele Funktionen charakterisierbar.

Sprache ist linkshemisphärisch lateralisiert, und die Sprachregionen sind funktionell untergliedert Das Gehirn des Menschen ist trotz oberflächlich betrachteter Symmetrie der Hemisphären funktionell asymmetrisch, insofern als die Hemisphären für verschiedene Aufgaben spezialisiert sind (Lateralisation). Allerdings bedeutet die Lateralisation keine „Dominanz“ einer Hemisphäre, sondern die effiziente Aufteilung von Aufgaben im Rahmen einer komplexen Leistung. Ein seit mehr als einem Jahrhundert bekanntes Beispiel betrifft die Sprache. Klinische Studien zeigen einerseits eine Lateralisation von Sprachfunktionen in der linken Hemisphäre und andererseits eine funktionelle Untergliederung von Sprachregionen in dieser Hemisphäre. Die Beeinträchtigung von Sprachfunktionen bei unveränderten sensorischen und motorischen Komponenten der Kommunikation wird als Aphasie bezeichnet. Patienten mit lokalen Läsionen in den Arealen 44/45 des linken frontalen Assoziationskortex können weiterhin die einmal erlernte Sprache verstehen, haben jedoch die Fähigkeit verloren, eine fließende, grammatikalisch und inhaltlich bedeutungsvolle Sprache zu produzieren. Ihre Sprache ist mühsam und durch Pausen und Wiederholungen gekennzeichnet. Diese Form der Aphasie wird als motorische Aphasie und der entsprechende kortikale Bereich als Sprachregion von Broca bezeichnet (nach dem französischen Neurologen Paul Broca; Abb. 28.16 A, Tab. 28.1). Dagegen haben Patienten mit umschriebenen Läsionen des Areals 22 des linken temporalen Assoziationskortex Schwierigkeiten, gesprochene Sprache zu verstehen. Sie sprechen deutlich artikuliert, fließend (häufig ungehemmt) und grammatikalisch korrekt, verstehen allerdings den Zusammenhang des Gesagten nicht, so dass der Inhalt oft bedeutungslos ist. Diese Sprachstörung wird sensorische Aphasie und das kortikale Areal die Sprachregion von Wernicke genannt (nach dem deutschen Neurologen Carl Wernicke; Abb. 28.16 A, Tab. 28.1). Als globale Aphasie wird eine starke Störung sowohl des Sprachverständnisses als

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28 Integrative Funktionen des Gehirns A Wernicke-Sprachregion Broca-Sprachregion

B

Worte passiv sehen

Worte sprechen

Worte hören

Worte generieren

Abb. 28.16 Lateralisation und Lokalisation von Sprachfunktionen. A Schematische Darstellung der linkshemisphärischen Lokalisation der Broca-Sprachregion und der Wernicke-Sprachregion. B Regionen der linken Hemisphäre, die bei verschiedenen sprachbezogenen Aufgaben aktiviert werden. Schemata wurden aus Ergebnissen positronenemissionstomographischer Studien rekonstruiert. Nach (7).

auch der Sprachproduktion bezeichnet, bei der häufig nur einzelne Wörter und Sprachautomatismen erhalten bleiben. Die Leitungsaphasie ist eine Sonderform der Aphasie, bei der die Fähigkeit nachzusprechen eingeschränkt ist („Nachsprechaphasie“). Eine der bekannten Ursachen liegt in einer Unterbrechung von Fasern des Fasciculus arcuatus, die funktionelle Verbindungen zwischen den Sprachregionen von Wernicke und Broca vermitteln. Von der Aphasie zu unterscheiden sind Defizite im Lesen (Alexie) und im Schreiben (Agraphie) aufgrund von Störungen in separaten Hirnarealen, die ihrerseits mit den Sprachregionen assoziiert sind. In der Tat ist die Repräsentation von Sprache in den assoziativen kortikalen Regionen getrennt von denjenigen Schaltkreisen, in denen die sensorische (auditorische oder visuelle) Wahrnehmung von Worten und die motorische Kontrolle der Sprachwerkzeuge (Mund-Rachen-Raum, Kehlkopf, Larynx) vermittelt wird (Abb. 28.16 B). Von den zentralen Funktionen generell zu differenzieren ist eine Sprachstörung, die durch Dysfunktion der an der Sprechmotorik beteiligten neuromuskulären Elemente bedingt ist (Dysarthrie).

Eine funktionelle Asymmetrie zugunsten der linken Hemisphäre findet sich auch für die Gebärdensprache. Patienten mit angeborener Taubheit zeigen nach Läsionen in assoziativen kortikalen Arealen der linken Hemisphäre, die den Sprachregionen entsprechen, Aphasie-ähnliche Symptome bezüglich Produktion und Verständnis der Zeichensprache. Demzufolge zeigt sich in der Lateralisation von Sprache eine übergeordnete funktionelle Organisation des Gehirns für die Verarbeitung und das Lernen von Symbolen.

Zusammengefasst ist die linke Hemisphäre für lexikalische und syntaktische Aspekte der Sprache sowie die Produktion von gesprochener und geschriebener Sprache spezialisiert. Die Sprachregion von Wernicke vermittelt Sprachverständnis, während die Sprachregion von Broca mit der Organisation und Produktion von Sprache verbunden ist. Die rechte Hemisphäre kann lediglich einfache linguistische Komponenten verarbeiten sowie rudimentäre Worte und Phrasen produzieren. Allerdings sind emotionale und rhythmisch-melodische Komponenten der Sprache (Prosodie), die gesprochener Kommunikation eine nicht unerhebliche zusätzliche Bedeutung verleihen, vorwiegend rechtshemisphärisch repräsentiert. Patienten mit rechtshemisphärischen Läsionen in Arealen des Assoziationskortex, die den Sprachregionen der linken Hemisphären entsprechen, fallen häufig durch Atonie und allgemein geringen emotionalen Ausdruck ihrer Sprache auf (Aprosodie). Studien mit Hilfe von bildgebenden Verfahren bei Patienten und gesunden Probanden bestätigen zum einen die Rechtslinks-Asymmetrie, sie lassen aber auch erkennen, dass weitere kortikale Areale an der Entwicklung der linguistischen Fähigkeiten des Menschen beteiligt sind. Untersuchungen an „Split-Brain“-Patienten, denen infolge eines schweren pharmakoresistenten Epilepsieleidens das Corpus callosum und die Commissura anterior weitgehend durchtrennt wurden (Kommissurotomie), bestätigen diese Vorstellungen. Dieser neurochirurgische Eingriff wurde in der Annahme durchgeführt, durch die Kommissurotomie die bilaterale Ausbreitung epileptischer Entladungen zu verhindern und damit die Anfälle zu dämpfen. In der Tat wurden Erfolge erzielt, insofern als die Schwere der Anfälle nach der Operation verringert war. Trotz der Durchtrennung der Mehrheit der Faserverbindungen zwischen den Hemisphären zeigen diese „Split-Brain“Patienten zunächst überraschend geringe Anzeichen veränderter Hirnleistungen. Erst gezielte neuropsychologische Tests bestätigen eine funktionelle Asymmetrie der Hemisphären, insbesondere die Lateralisierung von Sprachfähigkeiten (Abb. 28.17). In einem bekannten Test werden einem „Split-Brain“-Patienten geschriebene Worte kurzzeitig entweder nur in der linken oder in der rechten Gesichtsfeldhälfte gezeigt (Abb. 28.17). Die visuelle Information wird jeweils in der kontralateralen Hemisphäre verarbeitet (vgl. Kap. 23.5) und gelangt aufgrund der Kommissurotomie kaum in die andere Gehirnhälfte. Der Patient kann jedes Wort problemlos verbal nennen, wenn es in der rechten Gesichtsfeldhälfte dargeboten wird (mit entsprechender Repräsentation in der linken Hemisphäre). Wird ein Wort (z. B. das eines einfachen Gegenstandes, „Ball“) jedoch in der linken Gesichtsfeldhälfte gezeigt (rechtshemi-

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28.9 Linkes Gehirn/Rechtes Gehirn – Sprache

rechtes Planum temporale

Kontrolle der linken Hand

„ich sehe nichts“

Sprachproduktion

LLAB Repräsentation der linken Gesichtsfeldhälfte

linkes Planum temporale

Kommissurotomie

Abb. 28.17 Demonstration linkshemisphärischer Sprachdominanz in einem „Split-Brain“-Patienten. Bei Projektion eins Wortes („Ball“) in die linke Gesichtsfeldhälfte kann der Patient darüber keine verbale Auskunft geben. Er ist jedoch in der Lage, das Objekt (den Ball) mit der linken Hand aus einer Reihe von für ihn verdeckten Gegenständen taktil zu identifizieren. Die Erklärung hierfür ist die rechtshemisphärische Abbildung der linken Gesichtsfeldhälfte und die rechtshemisphärische Kontrolle der linken Hand einerseits, die linkshemisphärische Lokalisation der Sprachproduktion andererseits, und die weitgehend fehlenden interhemisphärischen Wechselwirkungen aufgrund der Kommissurotomie. Nach (1).

sphärisch repräsentiert), leugnet der Patient, etwas gesehen zu haben, oder er erfindet eine Antwort. Auch wenn dem Patienten für diesen nicht erkennbar der entsprechende Gegenstand (der Ball) in die linke Hand gelegt wird, kann er den Gegenstand nicht sprachlich beschreiben. Andererseits wählt der Patient genau diesen Gegenstand (Ball), über den er zuvor lediglich in der rechten Hemisphäre in Wortform informiert wurde (diese Information jedoch leugnete) korrekt aus einer Reihe verschiedener, für ihn nicht sichtbarer Gegenstände durch Betastung aus.

Anatomisch auffällig ist eine Asymmetrie im Bereich des Planum temporale, eines Areals im oberen Bereich des Temporallappens (Abb. 28.18). In etwa 2/3 menschlicher Tabelle 28.1

Abb. 28.18 Anatomische Asymmetrie der Hemisphären. Bei Aufsicht auf die dorsale Oberfläche der Temporallappen zeigt sich eine linkshemisphärisch stärkere Ausbildung des Planum temporale. Die rote Linien im Schema links zeigt die Schnittrichtung des Schemas rechts.

Gehirne findet sich eine linkshemisphärisch stärkere Ausbildung bezüglich Fläche und Volumen dieses Areals, die bereits bei der Geburt zu erkennen ist. Obwohl das Planum temporale nahe der Wernicke-Sprachregion gelegen ist, gibt es bislang keinen überzeugenden Hinweis darauf, dass dessen Asymmetrie ein anatomisches Korrelat für die Lateralisation von Sprache darstellt. Gegen eine solche Korrelation spricht zum Beispiel die Spezialisierung der linken Hemisphäre für Sprache in 97 % der Bevölkerung gegenüber einer anatomischen Asymmetrie des Planum temporale in lediglich 67 % der Gehirne.

Die räumlich-visuellen Fähigkeiten der rechten Hemisphären sind denen der linken überlegen Eine funktionelle Asymmetrie zugunsten der rechten Hemisphäre zeigt sich bei visuellen Fähigkeiten, insbesondere bei Aufgaben, die räumlich-visuelle Komponenten enthalten. Bekannte Tests beinhalten eine Manipulation von geometrischen Figuren, das Zusammenlegen von

Aphasie bei Funktionsstörungen der Sprachregionen

betroffene Region

Broca-Sprachregion

Wernicke-Sprachregion

Form der Aphasie

motorische Aphasie = Broca-Aphasie

sensorische Aphasie = Wernicke-Aphasie

Sprachverständnis

normal

gestört

Sprachproduktion

mühsam, verzögert, agrammatikalisch

flüssig, grammatikalisch, bedeutungslos

Repetition

häufig

häufig

Paraphasie

häufig

häufig

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28 Integrative Funktionen des Gehirns Puzzles, die Ergänzung fehlender Teile in einem vorgegebenen Muster oder einer Figur. Rechtshändige „Split-Brain“-Patienten erreichen in diesen Tests mit der linken Hand (die durch die rechte Hemisphäre kontrolliert wird) im Allgemeinen bessere Ergebnisse als mit der rechten Hand. In Patienten mit lokalisierten Schädigungen in kortikalen Assoziationsarealen fällt auf, dass rechtshemisphärische Schädigungen häufig mit einer Einschränkung der Orientierungsfähigkeit im Raum, der visuellen Aufmerksamkeit sowie der Wiedererkennung und der Interpretation eigentlich vertrauter visueller Information verbunden sind (visuelle Agnosie, vgl. Kap. 28.3). Tatsächlich sind die Hemisphären auch für die Verarbeitung räumlicher Relationen unterschiedlich spezialisiert. Die rechte Hemisphäre erarbeitet Informationen über die exakte Position eines definierten Gegenstandes im Raum relativ zu den Raumkoordinaten (Koordinatenrelation), während die linke Hemisphäre die relativen Verhältnisse der Objekte zueinander analysiert (Kategorienrelation). Die Entwicklung von Kategorien ist ein wichtiges Prinzip zum Beispiel auch in der Sprache, so dass sich hier ein übergeordnetes Organisationsprinzip linkshemisphärischer Spezialisierungen zeigt.

Der Wada-Test ermöglicht eine Prüfung der funktionellen Lateralisation im menschlichen Gehirn Eine Methode von klinischer Bedeutung zur Prüfung funktioneller Lateralisation ist der Wada-Test: ein kurzzeitig wirkendes Injektionsnarkotikum (z. B. Natriumamytal) wird unilateral in die rechte oder linke Arteria carotis interna injiziert, gelangt bevorzugt in die ipsilaterale Hemisphäre und bewirkt dort kurze Funktionsausfälle. Studien mit dieser Technik haben zum Beispiel die Beziehung zwischen Rechts/Linkshändigkeit (Handpräferenz) und Hemisphärenspezialisierung geprüft. Etwa 75 % der Bevölkerung sind rechtshändig. Von diesen zeigen mehr als 95 % die erwartete linkshemisphärische Spezialisierung für Sprache. Bei Linkshändern findet sich diese linkslateralisierte Spezialisierung zu etwa 70%, bei weniger als 15 % ist Sprache vorwiegend rechtshemisphärisch lokalisiert. Im Mittel zeigen Linkshänder eine schwächer ausgeprägte Lateralisation von Hirnfunktionen im Vergleich zu Rechtshändern. Demzufolge scheinen sich Handpräferenz und sprachbezogene Hemisphärenspezialisierung unabhängig voneinander entwickelt zu haben. Der Wada-Test zeigt darüber hinaus eine Tendenz zur Lateralisation auch emotionaler Funktionen. Linksseitige Injektionen des Narkotikums haben vorwiegend dysphorische Zustände zur Folge, während rechtsseitige Injektionen eher euphorische Reaktionen auslösen. Klinische Beobachtungen ergänzen diese Ergebnisse, insofern als linkshemisphärisch geschädigte Patienten ungewöhnlich starke Gefühle von Betroffenheit oder Wut über ihre Erkrankung ausdrücken („Katastrophenreaktion“), während Patienten mit rechtshemisphärischen Störungen eher mit Gleichmut reagieren.

Zeitlich-serielle und räumlich-parallele Funktionen charakterisieren die Arbeitsweise der linken und rechten Hemisphäre Die unterschiedliche Spezialisierung der Hemisphären wird durch ein Modell anschaulich repräsentiert, das die Hemisphären mit begrifflichen Etiketten belegt, die ausgehend von einer experimentell registrierbaren Leistung die zugrundeliegenden funktionellen Prozesse beschreiben (Tab. 28.2). Ein wichtiger Aspekt dieses Modells ist die Differenzierung in zeitlich-serielle und räumlich-parallele Funktionen: die linke Hemisphäre verarbeitet primär schnelle, zeitliche Informationen und analysiert detaillierte Signalkomponenten, während die rechte Hemisphäre eher in Ähnlichkeitsbeziehungen (synthetisch) denkt und die ganzheitlichen Aspekte eines Vorganges erfasst. Demzufolge ist die sprachlich-symbolische Spezialisierung der linken Hemisphäre Ausdruck ihrer Überlegenheit für schnelle zeitlich-serielle Funktionen, und die räumlich-visuellen Leistungen der rechten Hemisphäre spiegeln ihre parallel angelegte Arbeitsweise wider. In einer Weiterführung dieses Modells in Richtung von Denkkategorien werden der rechten Hemisphäre die intuitiven und subjektiven („gefühlsmäßigen“) Komponenten von Erleben zugeordnet, während die linke Hemisphäre mit rationalen und objektiven Aspekten als eine Art automatische Interpretationsinstanz funktioniert, die Erlebnisse und Handlungen in einen sinnvollen, kohärenten Zusammenhang bringt. Während experimentelle Ergebnisse diese Vorstellungen bestätigen, bleibt die daraus abgeleitete neurophilosophische Frage, inwieweit bewusstes Erleben ein Teil einer automatisierten Handlung ist, unbeantwortet.

Allerdings sind diese Differenzierungen nicht absolut zu sehen. Sie zeigen lediglich ein relatives Übergewicht einer Spezialisierung jeder Hemisphäre, mit großen interund intra-individuellen Unterschieden. Im intakten Gehirn bewirken die interhemisphärischen Verbindungen über das Corpus callosum und die Kommissuren synergistische Wechselwirkungen, die die Leistungen der Hemisphären integrieren. Die Folge ist ein einheitliches Verhalten, dessen Leistung als Ganzes die funktionellen Einzelfähigkeiten der Hemisphären übertreffen kann. Demzufolge kann und sollte aus einer individuell mehr oder weniger stark ausgeprägten Lateralisation definierter Hirnfunktionen nicht auf Fähigkeiten oder Eignungen des Individuums rückgeschlossen werden.

Tabelle 28.2 Modell zur Spezialisierung der Hemisphären. Oben stehende Zuweisungen basieren auf experimentellen Befunden; weiter unten stehende Zuweisungen interpretieren diese Befunde und sind zunehmend spekulativ. Nach (25). lexikalische, syntaktische Komponenten der Sprache

prosodische Komponenten der Sprache

Sprachproduktion

visuell-räumliche Fähigkeiten

zeitlich-serielle Funktionen

räumlich-parallele Funktionen

Kategorienrelationen

Koordinatenrelationen

logisch-dualistische Funktionen

ganzheitlich-synthetische Funktionen

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28.10 (Appendix) Nicht-invasive Verfahren zur Messung von Hirnfunktionen

28.10 (Appendix) Nicht-invasive Verfahren zur Messung von Hirnfunktionen Nicht-inasive Verfahren gewinnen für die Analyse menschlicher Hirnfunktionen in Forschung und Klinik zunehmend an Bedeutung. Elektrophysiologische Techniken (Elektro-, Magnetenzephalographie) zeichnen sich durch hohe zeitliche Auflösung aus (ms-Bereich), erfassen allerdings primär Signale oberflächlich gelegener Hirnstrukturen mit begrenzter räumlicher Auflösung.

EEG und MEG Elektrische Aktivitätsmuster des Gehirns können mit Hilfe von oberflächlich am Schädel angebrachten Elektroden im Elektroenzephalogramm (EEG) registriert werden. Grundlage des EEG ist die Ableitung elektrischer Feldlinien im Extrazellulärraum, die sich aufgrund synaptischer Aktivität ergeben (vgl. Kap. 29.2). Vorteile des EEG liegen in der hohen zeitlichen Auflösung (ms-Bereich) bei relativ einfacher technischer Handhabung. Einer der Nachteile des EEG ist die geringe räumliche Auflösung, die nur im Bereich von einigen zehn bis hundert Millimetern liegt. Das Magnetenzephalogramm (MEG) basiert auf ähnlichen elektrophysiologischen Prinzipien wie das EEG, wobei hier jedoch die magnetischen Felder registriert werden, die jedes elektrische Feld begleiten. Aufgrund der geringen Amplitude der biomagnetischen Signale sind hochempfindliche Sensoren erforderlich, die eine im Vergleich zum EEG um den Faktor 2 – 10 verbesserte räumliche Auflösung bei ähnlich hoher zeitlicher Auflösung liefern. Beide Methoden erfassen primär Signale oberflächlich gelegener Strukturen des Gehirns, vor allem des Neokortex. Mit Hilfe mathematischer Algorithmen sind jedoch – in begrenztem Maß – Rückschlüsse auf Aktivitäten in tiefer gelegenen Regionen des Gehirns möglich. Für genauere Aussagen vor allem zu den räumlichen Koordinaten von Aktivitätsmustern werden EEG- bzw. MEG-Messungen mit anatomischen Methoden oder Techniken der nicht-invasiven Bildgebung kombiniert.

Bildgebende Verfahren Bildgebende Verfahren („Imaging“) ermöglichen die Darstellung sowohl rein anatomischer als auch funktioneller Komponenten („functional imaging“) von Hirnfunktionen. Die Computer-Tomographie (CT), eine auf Röntgenverfahren basierende Technik, erzeugt statische Bilder mit einer räumlichen Auflösung von mehreren Millimetern. Die Magnetresonanztomographie (MRT) ermöglicht dynamische Darstellungen von Hirnfunktionen. Sie basiert auf kernmagnetischen Vorgängen in Wasserstoffatomen des Gewebes und produziert Bilder mit einer zeitlichen Auflösung im Sekunden- bis Minutenbereich. Die bildgebenden Verfahren, die aktuell besonders informative Daten liefern, basieren auf der Detektierung von lokalen Änderungen des Stoffwechselbedarfs bzw. der Hirndurchblutung, die sich bei

veränderter neuraler Aktivität ergeben. Hierzu zählen die Positronenemissionstomographie (PET) und die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT). Die PET verbindet Prinzipien der CT mit der Darstellung von Radioisotopen biologisch bedeutsamer Moleküle und liefert damit dynamische Bilder von Hirnfunktionen in Beziehung zu Stoffwechselvorgängen. Die fMRT nutzt zur Bildgenerierung intrinsische Signale des Gehirns, die aus aktivitätsabhängigen Änderungen des lokalen Blutflusses resultieren. Die Bilder sind von unübertroffener räumlicher (Millimeterbereich und darunter) und zeitlicher Auflösung (Sekundenbereich und darunter). Konventionelle Röntgenverfahren ermöglichen aufgrund der geringen Gewebekontraste eine nur begrenzte Darstellung von Hirnstrukturen, z. B. der Vaskularisierung, und sind mit relativ hoher Strahlenexposition verbunden. Demzufolge wurden verstärkte Anstrengungen zur Entwicklung von geeigneten Verfahren der Bildgebung („Imaging“) unternommen. Heute existieren Techniken zur Darstellung sowohl rein anatomischer als auch funktioneller Komponenten („functional imaging“) von Hirnfunktionen. Bei der Computertomographie (CT) rotiert eine Röntgenquelle um den Kopf des Patienten, die gebündelte, parallele Strahlen emittiert. Gegenüberliegende, hochempfindliche Detektoren registrieren Unterschiede in der Strahlenabsorption des Gewebes. Die Messungen erfolgen in kleinen Schritten aus verschiedenen Positionen und Richtungen, und aus den Absorptionscharakteristika einer einzelnen Hirnregion werden durch die Summierung aller Strahlen aller Orientierungen Bilder für verschiedene Abbildungsebenen („Schichten“, lat. tomus) berechnet. Die CT ermöglicht die Darstellung einiger Grundstrukturen des Gehirns, wie z. B. Ventrikel und weiße/graue Substanz, mit einer räumlichen Auflösung von mehreren Millimetern bei relativ geringer Strahlenexposition, produziert allerdings rein statische Bilder. Dynamische Abbildungen von Hirnfunktionen werden mit der Magnetresonanztomographie (MRT) erzielt. Physikalische Grundlage der MRT ist der Kernmagnetismus der Wasserstoffatome im Gewebe in Wechselwirkung mit einem äußeren, starken Magnetfeld. In Abhängigkeit von der Stärke des angelegten Magnetfeldes produziert die MRT Bilder mit einer räumlichen Auflösung im Millimeterbereich und darunter (vgl. Abb. 28.4 A, Abb. 28.7, Abb. 28.10 B). Die MRT ist strahlenfrei und ermöglicht die freie Wahl von Schichtebenen sowie anderer Parameter zur Bildoptimierung. Die zeitliche Auflösung bleibt allerdings im Sekunden- bis Minutenbereich und damit weit hinter der von elektrophysiologischen Techniken zurück. Die Magnetresonanzspektroskopie (MRS) beruht auf der MRT in Kombination mit Methoden der Spektroskopie, die weitergehende Analysen in Richtung stoffwechselrelevanter Prozesse ermöglichen. Eine Weiterentwicklung der MRT-Methode, die DTI (Diffusion Tensor Imaging), basiert auf der Messung der molekularen Diffusion von Wasser entlang neuronaler Faserbündel. Sie erlaubt eine Rekonstruktion axonaler Verbindungen zwischen Hirnregionen, wobei auch die Haupt-

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28 Integrative Funktionen des Gehirns richtung der jeweiligen Verbindung korrekt wiedergegeben wird. Bei der MRT werden die Magnetfelder der Wasserstoffatomkerne (Protonen) im Gewebe durch das Anlegen eines äußeren, sehr starken und homogenen Magnetfeldes zunächst entlang der Feldlinien dieses starken Magneten ausgerichtet. Kurzzeitige „Störpulse“ von Radiowellen liefern die Energie zur Beeinflussung der Ausrichtung der einzelnen Kernmagnete. Das Abschalten der Radiopulse bewirkt eine Rückkehr der Kernmagnete in ihre ursprüngliche Orientierung unter Freisetzung von Energie in Form von Radiowellen. Die Resonanzfrequenz der Radiowellen ist spezifisch für eine definierte Atomart in einer definierten physikochemischen Umgebung. Die Unterschiede in der Intensität und Frequenz der Radiowellen werden in räumliche Koordinaten konvertiert, woraus Bilder von überlegener räumlicher Auflösung berechnet werden können. Bei der MRS wird das Spektrum der Resonanzfrequenzen der Radiowellen in einer ausgewählten Region analysiert und hieraus die Existenz und relative Konzentration von Molekülen berechnet, zum Beispiel von Molekülen des Zellmetabolismus. Die Methode ist für verschiedene Zellmetabolite unterschiedlich sensitiv und technisch relativ aufwändig, ermöglicht aber dennoch Aussagen über metabolische und biochemische Parameter in Abhängigkeit von Hirnfunktionen bzw. Hirnregionen.

Die bildgebenden Verfahren, die aktuell besonders informative Daten zur Funktion des menschlichen Gehirns liefern, basieren auf der Detektion von lokalen Änderungen des Stoffwechselbedarfs bzw. der Hirndurchblutung, die sich aus den regionalen Unterschieden neuraler Aktivität ergeben. Drei Verfahren nutzen dieses Prinzip: die Positronenemissionstomographie (PET), die Single-Photonen-Emissionscomputertomographie (SPECT) und die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT). PET und SPECT verbinden Prinzipien der Computertomographie mit der Darstellung von Radioisotopen biologisch bedeutsamer Moleküle. Sie liefern damit dynamische Bilder von Hirnfunktionen in Beziehung zu Stoffwechselvorgängen (vgl. Abb. 30.6). Räumliche und zeitliche Auflösungen liegen im Bereich von 3 – 10 Millimetern bzw. im Minutenbereich. Bei der PET werden mit Hilfe eines Zyklotrons kurzlebige Positronen-emittierende Isotope hergestellt (z. B.: 15O, Halbwertszeit 2 Minuten; 11C, Halbwertszeit 20 Minuten; 18F, Halbwertszeit 110 Minuten), die zur Markierung eines biologisch relevanten Indikators verwendet werden (z. B. 18F-Desoxyglucose). Der markierte Indikator wird systemisch appliziert (Inhalation, Injektion) und verteilt sich in Abhängigkeit von physiologischen Zuständen in charakteristischer Weise im Gehirn. Die bei Zerfall des Isotops emittierten Protonen werden im Gewebe durch Kollision mit Elektronen neutralisiert, und die resultierenden γ-Strahlen werden mit Hilfe von γ-Detektoren registriert, die um den Kopf herum platziert sind (PET-Scan). Die Verteilung des Indikators kann in Bildern verschiedener Abbildungsebenen dargestellt werden. Die SPECT beruht auf den Prinzipien der PET, greift auf kommerziell erhältliche Isotope mit längerer Halbwertszeit zurück (z. B. 133Xe, 123I), benötigt demzufolge kein ortsnahes Zyklotron, ist allerdings im Vergleich zur PET weniger versatil und mit einer höheren Strahlenbelastung der Patienten verbunden.

Im Gegensatz zu PET und SPECT nutzt die fMRT zur Bildgenerierung intrinsische Signale des Gehirns, die

sich aus aktivitätsabhängigen Änderungen des lokalen Blutflusses ergeben. Die Technik kann demzufolge auch zur wiederholten Untersuchung einer Person problemlos eingesetzt werden. Die resultierenden Bilder sind von unübertroffener räumlicher (Millimeterbereich) und zeitlicher Auflösung (Sekundenbereich), so dass diese Technologie für die funktionelle Kartierung des menschlichen Gehirns und insbesondere für die Analyse kognitiver Funktionen in Forschung und Klinik zunehmend an Bedeutung gewinnt. Die Technik basiert auf den Unterschieden im Resonanzspektrum von oxygeniertem und desoxygeniertem Hämoglobin (vgl. Kap. 9). Der höhere Sauerstoffbedarf aktiver Hirnregionen bewirkt zunächst eine Verminderung des Verhältnisses von oxygeniertem zu desoxygeniertem Hämoglobin. Dieser lokale Sauerstoffmangel wird mit Hilfe der mikrozirkulatorischen Regulationsmechanismen kompensiert (vgl. Kap. 30.3), mit der Folge einer innerhalb weniger Sekunden gesteigerten lokalen Versorgung mit sauerstoffreichem Blut. Die lokalen Veränderungen des Verhältnisses von oxygeniertem zu desoxygeniertem Hämoglobin resultieren in charakteristischen Änderungen im Resonanzsignal, dem so genannten BOLD-Effekt (Blood Oxygen Level Dependent Effect). Der BOLD-Effekt bildet die Grundlage für das fMRTSignal, aus dem nach Auswertung und Konvertierung in räumliche Koordinaten die Bilddaten errechnet werden.

Zum Weiterlesen … 1 Bear MF, Connors BW, Paradiso MA. Neuroscience. Exploring the Brain. 2nd ed. Baltimore: Williams and Wilkins; 2000 2 Budde T, Meuth S. Fragen und Antworten zu den Neurowissenschaften. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Verlag Hans Huber; 2003 3 Edelmann GM, Tononi G. Gehirn und Geist. München: CH Beck; 2004 4 Gazzaniga MS. The New Cognitive Neurosciences. 2nd ed. Cambridge, London: The MIT Press; 2000 5 Gegenfurtner KR. Gehirn und Wahrnehmung. Frankfurt: Fischer; 2003 6 Kandel ER, Schwartz JH, Jessel TM. Principles of Neural Science. 4th ed. New York: McGraw-Hill; 2000 7 Posner MI, Raichle ME. Images of Mind. New York: Scientific American Library; 1994 8 Purves D, Augustine GJ, Fitzpatrick D, Katz LR, LaMantia AS, McNamara JO, Williams SM. Neuroscience. 2nd ed. Sunderland: Sinauer Associates; 2001 9 Roth G. Fühlen, denken, handeln. Frankfurt: Suhrkamp; 2001 10 Wolpert L, Beddington R, Brockes J, Jessel T, Lawrence P, Meyerowitz E. Entwicklungsbiologie. Heidelberg, Berlin, Oxford: Spektrum Akademischer Verlag: 1999

… und noch weiter 11 Baddely A. Working memory: Looking back and looking forward. Nat Rev Neurosci. 2003; 4: 829 – 839 12 Bear MF, Malenka RC. Synaptic plasticity: LTP and LTD. Curr Opin Neurobiol. 1994; 4: 389 – 400 13 Buckner RL, Wheeler, ME. The cognitive neuroscience of remembering. Nat Rev Neurosci. 2001; 4: 624 – 634 14 Damasio AR, Geschwind N. The neural basis of language. Ann Rev Neurosci. 1984; 7: 127 – 147

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Literatur 15 Gross C, Hen R. The developmental origins of anxiety. Nat Rev Neurosci. 2004; 5: 545 – 552 16 LeDoux, JE. Emotion circuits in the brain. Ann Rev Neurosci. 2000; 23: 155 – 184 17 LeDoux JE. Das Netz der Gefühle. München: Deutscher Taschenbuch Verlag; 2001 18 Hubel DH. Eye, Brain, and Vision. Scientific American Library Series. New York: Freeman; 1988 19 Hyman SE, Malenka RC. Addiction and the brain: The neurobiology of compulsion and its persistence. Nat Rev Neurosci. 2001; 2: 695 – 703 20 Lewin GR, Barde YA. Physiology of the neurotrophins. Ann Rev Neurosci. 1996; 19: 289 – 317 21 Pape HC, Stork O. Genes and mechanisms in the amygdala involved in the formation of fear memory. Ann NY Acad Sci. 2003; 985: 92 – 105 22 Posner MI, Petersen SE. The attention system of the human brain. Ann Rev Neurosci. 1990; 13: 25 – 42 23 Ramnani N, Owen AM. Anterior prefrontal cortex: insights into function from anatomy and neuroimaging. Nat Rev Neurosci. 2004; 5: 184 – 194 24 Searle JR. Consciousness. Ann Rev Neurosci. 2000; 23: 557 – 578

25 Silos-Santiago I, Greenlund LJ, Johnson Jr EM, Snider WD. Molecular genetics of neuronal survival. Curr Opin Neurobiol. 1995; 5: 42 – 49 26 Springer SP, Deutsch G. Linkes, rechtes Gehirn. 4. Auflage. Heidelberg, Berlin, Oxford: Spektrum Akademischer Verlag: 1998 27 Squire LR, Kandel ER. Gedächtnis. Die Natur des Erinnerns. Heidelberg, Berlin, Oxford: Spektrum Akademischer Verlag: 1999 28 Squire LR, Zola SM. Structure and function of declarative and nondeclarative memory systems. Proceedings of the Nat Acad Sci USA. 1996; 93: 13 515 – 13 522 29 Toga AW, Thompson PM. Mapping brain asymmetry. Nat Rev Neurosci. 2003; 4: 37 – 48 30 Vallar G. Spatial hemineglect in humans. Trends Cogn Sci. 1998; 2: 87 – 96 31 Vicario-Abejón C, Owens D, McKay R, Segal M. Role of neurotrophins in central synapse formation and stabilization. Nat Rev Neurosci. 2002; 3: 965 – 974 32 Wise RA. Dopamine, learning and motivation. Nat Rev Neurosci. 2004; 5: 483 – 495

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Rhythmen des Gehirns: Elektroenzephalographische und neurale Korrelate des Verhaltens H.-C. Pape

29.1 Tagesmüdigkeit: Faulheit oder Krankheit?

···

29.2 Das Elektroenzephalogramm

836

· · · 836 Im EEG wird die elektrische Hirnaktivität an der Schädeloberfläche registriert · ·· 836 Das EEG stellt summierte Feldpotenziale der synaptischen Aktivierung von kortikalen Neuronpopulationen dar ··· 836 Grundlegende EEG-Zustände werden anhand rhythmischer EEG-Wellen definiert ··· 837 Sensorisch evozierte und ereigniskorrelierte Potenziale im EEG spiegeln subkortikale und kortikale Verarbeitungsprozesse wider · · · 838 Funktionsstörungen des Gehirns werden durch veränderte EEG-Muster angezeigt · · · 840

29.3 EEG-Korrelate von Wachen und Schlafen · ·· 840 Schlaf besitzt ein charakteristisches Profil · ·· 840 Das Schlafprofil ändert sich im Verlauf des Lebens ··· 841 Der Schlaf wirkt als adaptiver Prozess im Rahmen des Energiehaushaltes und fördert verschiedene Gedächtnisformen · ·· 842

29.4 Neurophysiologische Grundlagen von Wachen und Schlafen ··· 842 Wachheit und Schlaf werden durch das System Hirnstamm-Thalamus-Kortex kontrolliert ··· 843 Entgleisungen der thalamokortikalen Oszillationen können zu epileptischen Absence-Anfällen führen · ·· 844 Unterschiedliche Transmittersysteme sind zur Regulation der verschiedenen Stadien von Schlaf und Wachheit erforderlich ··· 844 Endogene schlaffördernde Substanzen können zur Regulation der Wach-SchlafAktivitäten beitragen · · · 845

29.5 Der circadiane Rhythmus

· ·· 845 Der circadiane Rhythmus wird durch Oszillatoren im Hypothalamus aufrechterhalten ··· 845

29.6 Schlafstörungen

···

846

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29 Rhythmen des Gehirns

29.1

Tagesmüdigkeit: Faulheit oder Krankheit?

„Bei der Arbeit werde ich oft hundemüde; wenn ich dann für 10 Minuten auf die Toilette gehe, um zu schlafen, halten mich meine Kollegen für einen Drückeberger.“ „Beim Einschlafen und Aufwachen erlebe ich furchtbare Zustände, in denen ich mich überhaupt nicht bewegen kann; anfangs hatte ich dabei eine Todesangst.“ Solche Schilderungen von Patienten ihrer eigenen Symptome können Ausdruck einer Funktionsstörung der Schlaf und Wachheit regulierenden Zentren im Gehirn sein, die als Narkolepsie bezeichnet wird. Die Symptome schließen Tagesmüdigkeit mit Schlafattacken, abrupte kurze Phasen mit reduziertem Muskeltonus und Halluzinationen ein. Diese im Jahre 1880 durch den französischen Neurologen und Psychiater Gélineau erstmalig beschriebene Krankheit ist häufiger als man allgemein annimmt, mit einem Vorkommen in der Bevölkerung von etwa 1 : 1000. Die Narkolepsieforschung erhielt wesentliche Impulse durch den Einsatz der Elektroenzephalographie (EEG), mit Hilfe derer die elektrische Hirnaktivität registriert wird, und der Molekularbiologie, mit Hilfe derer wichtige genetische Grundlagen der Krankheit identifiziert werden konnten. Die mit diesen Methoden erzielten Ergebnisse führten auch zur Korrektur eines jahrtausendelangen Irrglaubens, demzufolge der Schlaf einen Zustand minimaler geistiger und körperlicher Aktivität darstellt, der nur einen Schritt von Koma und Tod entfernt ist (eine schreckliche Vorstellung für jeden, der sich schlafen legt!). Tatsächlich ist der Schlaf kein passiver Zustand, der infolge fehlender sensorischer Reizung oder körperlicher Aktivität eintritt, sondern das Gehirn führt den Zustand Schlaf aktiv herbei. Darüber hinaus stellt der Schlaf keinen einheitlichen Zustand dar, sondern im Verlaufe des Schlafes einer Nacht werden unterschiedliche Aktivitätszustände in regelmäßiger Abfolge durchlaufen, die unter anderem für metabolische Funktionen und für Prozesse der Gedächtnisbildung von Bedeutung sind.

29.2

Das Elektroenzephalogramm

Eine nichtinvasive, elektrophysiologische Methode zur Darstellung der Hirnaktivität ist die Elektroenzephalographie, in der die elektrische Aktivität von Neuronenpopulationen an der Schädeloberfläche als Elektroenzephalogramm (EEG) registriert wird. Funktionszustände und zahlreiche Funktionsstörungen des Gehirns sind mit charakteristischen Mustern des Elektroenzephalogramms assoziiert. Elektrophysiologische Grundlage des EEG sind synaptische Aktivierungen in kortikalen Neuronen und die daraus resultierenden Feldpotenziale, deren Summe an der Schädeloberfläche registriert wird. Bei zeitlich synchroner, periodischer Aktivierung einer Population von Neuronen treten wellenförmige EEG-Signale hoher Amplitude auf (EEG-Wellen oder -Rhythmen). In Abhängigkeit von der Frequenz rhythmischer Wellen im EEG werden vier Grundzustände definiert, die mit Phasen mentaler Aktivität ( -Wellen, 14 – 30 Hz), inaktiven Wachzuständen ( -Wellen, 8 – 13 Hz), zunehmender Schläfrigkeit ( -Wellen, 4 – 10 Hz) und tiefen Schlafphasen ( -Wellen, 0,5 – 3 Hz) assoziiert

sind. Unabhängig von den EEG-Wellen treten bei Stimulation von Sinnessystemen sensorisch evozierte Potenziale im EEG auf, deren Latenz und Form von Reizparametern und involvierten Hirnregionen bestimmt wird. Späte, ereigniskorrelierte Potenziale im EEG repräsentieren kortikale Verarbeitungsmechanismen, die kognitiven Prozessen zugeordnet werden. Die Analyse von EEG-Wellen und evozierten Potenzialen ist von wichtiger Bedeutung für die Analyse komplexer Hirnfunktionen und die Diagnose ihrer Störungen. Das menschliche EEG wurde erstmalig Ende der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts von dem österreichischen Psychiater Hans Berger an der Universität Jena in Verbindung mit Untersuchungen des Schlaf-Wach-Zyklus beschrieben. Die Elektroenzephalographie hat sich seitdem als eine wichtige, nichtinvasive elektrophysiologische Methode zur Charakterisierung von Hirnaktivitäten in Forschung und neurologischer Diagnostik etabliert.

Im EEG wird die elektrische Hirnaktivität an der Schädeloberfläche registriert Das lebende Gehirn erzeugt elektrische Potenzialschwankungen, die an der Schädeloberfläche als EEG registriert werden können. Einer der unbestrittenen Vorteile des EEG liegt in der unkomplizierten technischen Handhabung. Eine Anzahl von Elektroden werden mit einem elektrisch leitenden Gel auf der Schädeloberfläche aufgebracht und mit einem EEG-Verstärkersystem verbunden. In der Regel werden die Elektroden an definierten Standardorten positioniert (Abb. 29.1 A), und die Potenzialunterschiede zwischen jeweils 2 Elektroden werden aufgezeichnet (bipolare Ableitung). Die Aktivität unterschiedlicher Hirnregionen kann durch geeignete Wahl von Elektrodenpaaren und deren Signalvergleich analysiert werden. Bei der unipolaren Ableitung wird lediglich eine Elektrode nahe am Entstehungsort der interessierenden Signale angebracht. Immer erforderlich ist eine indifferente Elektrode („Erd“-, Referenz-, Bezugselektrode), die an Punkten des Kopfes entfernt der Hirnaktivität angebracht wird, und die als Referenz dient. Allgemein müssen mögliche Artefaktquellen, z. B. muskuläre Potenziale bei Augenbewegungen oder elektrische Störsignale aus der Umgebung, erkannt und gegebenenfalls beseitigt werden.

Das EEG stellt summierte Feldpotenziale der synaptischen Aktivierung von kortikalen Neuronpopulationen dar Die elektrophysiologische Grundlage des EEG sind synaptische Aktivierungen in kortikalen Neuronen und die damit verbundenen Ionenströme im Intra- und Extrazellulärraum (vgl. Kap. 5, 19). Der extrazelluläre Strom produziert am Widerstand des Extrazellulärraumes einen Spannungsabfall (Feldpotenzial). Die Summe der Feldpotenziale, die an der Schädeloberfläche registriert wird, stellt das EEG dar (Abb. 29.1 B). Dabei ist der Beitrag eines einzelnen Neurons zum EEG aufgrund der geringen Größe von synaptischem Strom und extrazellulärem Widerstand nur sehr gering. Darüber hinaus hat das zwischen

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29.2 Das Elektroenzephalogramm A EEG-Registrierung B Potenzialentstehung

EEGElektrode

Schädeloberfläche

EEGVerstärker

CZ PZ

FZ

aktive Synapse

C3 F3 FP2

P3 P1

F7

T3

+

Na -Einstrom

bipolare Ableitung

T5 +

K -Ausstrom Referenz

unipolare Ableitung

kortikale Neurone

EEGVerstärker

Abb. 29.1 Grundlagen des EEG. A Registrierung des EEG mit Hilfe von Elektroden, die nach dem internationalen 10– 20-System an definierten Standardorten an der Schädeloberfläche angebracht werden. Schema einer bipolaren Messung zwischen zwei differenten Elektroden und einer unipolaren Messung zwischen einer differenten und einer indifferenten

dem Ort der Potenzialentstehung und dem Ort der Signalregistrierung liegende, neurale und nichtneurale Gewebe abschwächende Wirkung. Um Signale hinreichender Amplitude (Mikrovoltbereich) an der Schädeloberfläche registrieren zu können, ist demzufolge der summierte Beitrag einer Vielzahl von Neuronen erforderlich. Hieraus resultiert eine der bedeutsamsten Beschränkungen der Elektroenzephalographie: die geringe räumliche Auflösung, die eine Lokalisation aktiver Hirnregionen lediglich im Zentimeterbereich und keinesfalls auf der Ebene einzelner Neurone ermöglicht. Andererseits hat diese Konstellation eine für die Erfassung von globalen Aktivitätszuständen des Gehirns interessante Konsequenz zur Folge. Bei zeitlich synchroner Aktivierung einer Population von Neuronen summieren sich die einzelnen Feldpotenziale zu EEG-Signalen mit hoher Amplitude, während dieser Summationseffekt bei zeitlich unregelmäßiger (desynchronisierter) Aktivität derselben Neuronenpopulation ausbleibt (Abb. 29.2 A). Die Amplitude des EEG wird in diesem Fall von der zeitlichen Synchronizität der neuronalen Aktivität bestimmt, bei unveränderter Zahl und unverändertem Aktivierungsgrad der beteiligten Neurone. Bei periodischer Wiederholung solcher Synchronisationsprozesse treten wellenförmige EEG-Signale auf (EEG-Wellen oder -Rhythmen; Abb. 29.2 A).

Referenzelektrode. B Zelluläre Mechanismen der Entstehung des EEG. Durch aktive Synapsen in kortikalen Neuronen werden elektrische Felder generiert, deren Summe mit einer EEG-Elektrode an der Schädeloberfläche registriert wird (nach 1).

Grundlegende EEG-Zustände werden anhand rhythmischer EEG-Wellen definiert Beim Menschen werden vier grundlegende EEG-Zustände vor allem in Abhängigkeit von der Frequenz (in Hertz, Hz) der auftretenden EEG-Wellen definiert (Abb. 29.3 A): Alpha ( )-Wellen (8 – 13 Hz) treten beim Erwachsenen im inaktiven Wachzustand bei geschlossenen Augen auf. Beta ( )-Wellen mit 14 – 30 Hz zeigen Phasen mentaler Aktivität und Aufmerksamkeit an, und sie ersetzen häufig beim Öffnen der Augen die α-Wellen. Die Theta ( )- und Delta ( )-Wellen sind durch Frequenzen von 4 – 10 bzw. 0,5 – 3 Hz charakterisiert. Sie treten während Stadien der Schläfrigkeit bzw. später Schlafphasen auf (vgl. Abschnitt 29.3). Eine Reihe von Hinweisen deutet darauf hin, dass unterschiedliche Regionen des Gehirns jeweils charakteristische Rhythmen produzieren. Die ϑ-Wellen entstehen mit hoher Wahrscheinlichkeit in den temporolimbischen Arealen von entorhinalem Kortex und hippokampaler Formation (vgl. Kap. 28.7). Die Schlafrhythmen werden vor allem mit Schrittmacherprozessen im Thalamus in Verbindung gebracht. Während der Schlafstadien funktionieren thalamische Neurone als Schrittmacher für die Generierung rhythmisch-elektrischer Aktivitätsmuster, die im synaptischen Netzwerk zwischen Thalamus und Kortex zeitlich synchronisiert werden. Die elektroenzephalographische Folge der synchronisierten Aktivität sind δ-Wellen oder Schlafspindeln (vgl. Abschnitt 29.3). Innerhalb des α-Frequenzbandes (8 – 13 Hz) werden unterschiedliche Anteile differenziert, die mit visuellen (klas-

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837

838

29 Rhythmen des Gehirns A

EEG (Summe): Wellen

EEG (Summe): niedrige Amplituden Elektrode

1 2 kortikale Neurone

3 4

synchronisierte Aktivität

5 desynchronisierte Aktivität

afferente Eingänge 1

2

3

4

5

B partielle epileptische Aktivität

Nase

generalisierte epileptische Aktivität

Ohr

100 µV

100 µV 1s

Spitzenpotenziale

Abb. 29.2 Entstehung von EEG-Wellen durch synchronisierte zelluläre Aktivität. A Eine EEG-Elektrode summiert die synaptische Aktivierung (angedeutet durch den afferenten Zustrom von Aktionspotenzialen) einer Population kortikaler Neurone (1 – 6). Synaptische Aktivierung der einzelnen Neurone in unregelmäßigen Zeitabständen (desynchronisierte Aktivität) führt zu einem EEG mit niedriger Amplitude. Synaptische Aktivierung der Neurone dieser Population in

sischer α-Rhythmus), auditorischen (Kappa ( )-Rhythmus) und sensomotorischen (Mu (µ)-Rhythmus) Arealen des Kortex assoziiert werden. Die Mehrzahl der Befunde zur funktionellen Bedeutung der EEG-Wellen sind allerdings indirekter Natur, und die Gründe für die Existenz der hohen Zahl verschiedener EEG-Rhythmen bleiben unklar. Ein weiterer, schneller Rhythmus des Kortex bei Wachheit und Aufmerksamkeit (30 – 80 Hz; oft als Gamma ( )-Rhythmus bezeichnet) scheint die funktionelle Verbindung von Neuronen zu ausgedehnten Verbänden zu vermitteln, die für die einheitliche Wahrnehmung von Sinnesobjekten von Bedeutung sind. Zum Beispiel sind die Neurone der verschiedenen Areale des visuellen Kortex unterschiedlich spezialisiert, indem sie bevorzugt entweder auf die Farbe, die Bewegungsrichtung oder die Orientierung der Kontur eines Objektes antworten (vgl. Kap. 23.6). Aktuelle

1s

spike-and-wave-Komplexe

identischen Zeitintervallen (synchronisierte Aktivität) bewirkt EEG-Wellen mit hoher Amplitude (nach 1). B Beispiele des EEG während epileptischer Anfälle im Menschen. Die epileptische Aktivität wird durch Spitzenpotenziale und „spike-andwave“-Komplexe angezeigt, die in lokalen Bereichen bei einem partiellen epileptischen Anfall oder in ausgedehnten Arealen bei generalisierter Epilepsie auftreten (nach 9).

Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass unterschiedlich spezialisierte und räumlich voneinander entfernte Neurone durch Synchronisation ihrer Aktivität im 30 – 80-Hz-Band zu einer funktionellen Gruppe verbunden werden können (einem Ensemble). Ein solches neuronales Ensemble soll beispielsweise ein fokussiertes Sehobjekt als einheitliche Gestalt repräsentieren und in der Wahrnehmung von dem Hintergrund einer visuellen Szenerie abheben.

Sensorisch evozierte und ereigniskorrelierte Potenziale im EEG spiegeln subkortikale und kortikale Verarbeitungsprozesse wider Unabhängig von den EEG-Wellen treten bei Aktivierung von Sinnessystemen sensorisch evozierte Potenziale im EEG auf. Deren Amplitude ist im Allgemeinen relativ

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29.2 Das Elektroenzephalogramm

REM

REM

REM

REM

(Augen geschlossen)

REM

wach

a-Wellen

wach

B Schlafprofil

50 mV

b-Wellen

REM

Wachheit

A Elektroenzephalogramm

7

8

q-Wellen Stadium I

I Schlafspindel

K-Komplex

non-REM

Stadium II

II d-Wellen

III

Stadium III

IV

d-Wellen Stadium IV

1 1s

Abb. 29.3 Elektroenzephalographisches Profil der WachSchlaf-Stadien eines erwachsenen Menschen. A Elektroenzephalogramm bei Wachheit, non-REM- und REM-Schlaf. Zu beachten ist das vermehrte Auftreten von EEG-Wellen hoher Amplitude mit zunehmender Schlaftiefe (nach 21). B Schlafprofil. Phasen von non-REM-Schlaf und REM-Schlaf

klein (Bereich 10 µV) im Vergleich zum Hintergrund-EEG, so dass zu deren Analyse eine reizbezogene Mittelung nach wiederholter Messung durchgeführt werden muss. Sensorisch evozierte Potenziale bestehen aus multiplen Komponenten, die in charakteristischer Weise von der Modalität des aktivierten Systems, den physikalischen Reizparametern und den involvierten Verarbeitungsstationen im Gehirn bestimmt werden. Obwohl die Registrierungen mit Hilfe oberflächlich am Schädel angebrachter Elektroden vor allem kortikale Verarbeitungsprozesse in Elektrodennähe anzeigen, können in den evozierten Potenzialen auch Komponenten identifiziert werden, die subkortikale Prozesse widerspiegeln. Aus der Analyse der evozierten Potenziale kann demzufolge auf die Funktion und mögliche Dysfunktion sensorischer Systeme und involvierter Hirngebiete geschlossen werden. Von den sensorisch evozierten Potenzialen sind die späten ereigniskorrelierten Potenziale im EEG zu unterscheiden, die nicht primär von den physikalischen Reizparametern sondern vom Kontext bestimmt werden, in dem der Reiz präsentiert wird. Zum Beispiel sind Neuigkeit eines Reizes und Erwartung eines bekannten Reizes, aber auch selektive Aufmerksamkeit, entscheidende Einflussgrößen. Ein gut untersuchtes ereigniskorreliertes Potenzial tritt mit positiver Polarität und einer Latenz von etwa 300 ms auf (P 300), sowohl bei Präsentation eines Reizes als auch bei Ausbleiben des Reizes in einer bekannten Reizserie. Diese späten, ereigniskorrelierten Potenziale repräsentieren offensichtlich kortikale Verarbei-

2

3

4 5 6 Zeit (Stunden)

(rot) werden mehrfach durchlaufen. Zu beachten sind die Abnahme von Tiefschlafstadien (III, IV) und die Verlängerung der REM-Phasen im Verlaufe des Schlafes sowie das Auftreten von posturalen Reaktionen (markiert durch Dreiecke) im non-REM-Schlaf (nach 15).

tungsmechanismen, die kognitiven Prozessen zuzuordnen sind (vgl. Kap. 28.2). Auch die Aktivierung motorischer Systeme ist mit EEG-Signalen korreliert. Im Sekundenbereich vor der Ausführung einer Willkürbewegung entwickelt sich eine zunehmende Negativierung in ausgedehnten Hirnregionen, die als so genanntes Bereitschaftspotenzial im EEG registriert wird. Obwohl eine genaue strukturelle und funktionelle Zuordnung aussteht, scheinen die frühe und die späte Komponente dieses Potenzials mit der Generierung von Handlungsantrieb und Bewegungsentwurf assoziiert zu sein. Unmittelbar vor Bewegungsausführung nimmt das Bereitschaftspotenzial ab, und die motorischen Signale zur Bewegungsausführung sind mit der Entstehung eines Motorpotenzials über demjenigen Areal des Motorkortex verbunden, das den zu bewegenden Muskel topographisch repräsentiert (vgl. Kap. 26.4). Während der ontogenetischen Entwicklung des Gehirns durchlaufen die mit sensorischen und kognitiven Informationen assoziierten Potenziale im EEG unterschiedliche Veränderungen. Allgemein verringert sich die Latenz sensorisch evozierter Potenziale nach der Geburt deutlich. Dabei haben Analysen im auditorischen System gezeigt, dass subkortikale Antworten bereits im 2. Lebensjahr eine Latenz ähnlich der im adulten Stadium erreichen, während kortikale Potenziale erst mit 13 – 15 Jahren gereift sind. Späte ereigniskorrelierte Potenziale in Zusammenhang mit kognitiven Funktionen, die Aufmerksamkeit oder Sprache beinhalten, zeigen eine noch weiter verzögerte Reifung, indem erst im Alter von 15 – 20 Jahren ein stabiles Muster erreicht wird.

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840

29 Rhythmen des Gehirns

Funktionsstörungen des Gehirns werden durch veränderte EEG-Muster angezeigt Zahlreiche Funktionsstörungen des Gehirns sind mit charakteristischen Änderungen des EEG assoziiert, die im Rahmen der neurologischen Diagnostik genutzt werden. Zum Beispiel sind bei der Multiplen Sklerose die Latenzen sensorisch evozierter Potenziale deutlich verlängert. Hauptgrund hierfür ist die umfangreiche Degeneration der axonalen Myelinschicht und die damit verbundene Reduktion der Fortleitungsgeschwindigkeit elektrischer Signale (vgl. Kap. 19.4). Das typische, elektrophysiologische Merkmal eines epileptischen Anfalls sind EEG-Wellen hoher Amplitude, die als Spitzenpotenziale oder Spitze-WelleKomplexe („spike-and-wave“) ausgebildet sind (Abb. 29.2 B). Sie zeigen die hohe zeitliche Synchronisation der Aktivität von Neuronenpopulationen an, die entweder auf lokale Hirnbereiche beschränkt bleibt (partielle Epilepsie) oder in ausgedehnten Regionen des Gehirns mit häufiger Synchronisation auch der Hemisphären auftritt (generalisierte Epilepsie). Eine Verstellung der Balance zwischen inhibitorischen und exzitatorischen synaptischen Einflüssen in Verbindung mit calciumabhängigen elektrischen Entladungen der Neurone gelten als wichtige Prozesse dieser pathologischen Formen synchronisierter Aktivität. Degenerative Veränderungen oder Mangeldurchblutung des Gehirns bewirken im Allgemeinen eine Verlangsamung der EEG-Wellen. Das Erlöschen der Hirnfunktion (Hirntod) ist mit einem EEG ohne Amplitude, dem so genannten isoelektrischen oder Null-Linien-EEG, assoziiert. Der Hirntod wird definiert als Zustand der irreversibel erloschenen Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstammes. Mit dem Hirntod ist naturwissenschaftlich-medizinisch der Tod des Menschen festgestellt. Dabei kann zum Beispiel durch kontrollierte Beatmung die Herz- und Kreislauffunktion noch künstlich aufrechterhalten werden. Organe eines Patienten können diesen Zustand für einen begrenzten Zeitraum überleben, so dass zwischen Hirntod und biologischem Tod differenziert werden muss. In Deutschland sind die Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer definiert worden (2). Die Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes sind verpflichtende Entscheidungsgrundlagen für den Arzt, der die unteilbare Verantwortung für die Feststellung des Hirntodes trägt. Die Diagnose des Hirntodes erfordert u. a. das Vorliegen einer akuten schweren primären oder sekundären Hirnschädigung, die Feststellung von Bewusstlosigkeit (Koma), fehlenden Hirnstamm-Reflexen (Hirnstamm-Areflexie) und Atemstillstand (Apnoe) sowie den Nachweis der Irreversibilität der klinischen Ausfallsymptome unter Einhaltung von Beobachtungszeiten und Besonderheiten, zum Beispiel bei Patienten im Kindesalter. Diese Richtlinien werden durch praktische Entscheidungsgrundlagen ergänzt, so dass die Feststellung des Hirntodes anhand klinischer Kriterien mit der notwendigen Sicherheit erfolgen kann. Festgehalten werden muss, dass einer Organentnahme zu Transplantationszwecken eine unabhängige Hirntoddiagnostik vorauszugehen hat. Für weitere Informationen und klinische Details wird der Leser auf die Fachliteratur verwiesen (5, 7,14).

29.3

EEG-Korrelate von Wachen und Schlafen

Schlaf stellt keinen passiven Zustand des Gehirns dar, sondern repräsentiert aktive neurale Prozesse in den Schaltkreisen Hirnstamm-Thalamus-Kortex, die in rhythmischen Zyklen durchlaufen werden. Diese Phasen werden durch spezifische Muster im EEG angezeigt und sind mit Änderungen des physiologischen Grundzustands verbunden. Nach Schlafbeginn werden die Schlafstadien I – IV durchlaufen, die durch vermehrtes Auftreten von EEG-Wellen ( -Wellen, K-Komplexe, Schlafspindeln, -Wellen), erhöhte Weckschwelle und zunehmenden Einfluss des parasympathischen Nervensystems gekennzeichnet sind. Zusammengefasst werden diese Schlafstadien als synchronisierter, langsamwelliger oder orthodoxer Schlaf bezeichnet. Am Ende des Stadiums IV werden die vorherigen Stadien invers bis zu einem EEG-Stadium ähnlich dem der Wachheit durchlaufen. Die Weckschwelle bleibt allerdings hoch, der Muskeltonus ist maximal reduziert (muskuläre Atonie) und der parasympathische Einfluss überwiegt. Charakteristisch ist das Auftreten von schnellen Augenbewegungen (Rapid Eye Movements, REM). Dieses Schlafstadium wird als paradoxer, desynchronisierter oder REM-Schlaf bezeichnet. Im Verlaufe des Schlafes einer Nacht werden die Perioden von synchronisiertem (nonREM) und desynchronisiertem (REM) Schlaf in regelmäßigen Zyklen 5 – 7-mal durchlaufen, wobei mit fortschreitender Schlafdauer die späten Phasen des synchronisierten Schlafes nicht mehr erreicht und die REMPhasen länger werden. Im Verlaufe des Lebens ändert sich das Schlafprofil, indem die Gesamtschlafdauer vor allem aufgrund einer Verringerung der REM-Schlafzeit und des Schlafstadiums IV abnimmt. Schlaf ist definiert als ein schnell reversibler Zustand reduzierter Antwortbereitschaft auf Umgebungsreize und allgemein verminderter Interaktionen mit der Umwelt. Schlaf existiert bei allen Säugetieren (und vermutlich allen Wirbeltieren) und füllt etwa 30 % der Lebenszeit des Menschen (wovon im Mittel 25 % im Traumzustand verbracht werden). Der Schlaf ist ein Prozess, in dem neurale Mechanismen in voraussagbaren Zyklen aktiviert werden, die mit charakteristischen neurovegetativen und psychophysischen Phänomenen assoziiert sind, und die den Schlaf grundlegend vom Zustand des Komas unterscheiden. Obwohl zur Zeit keine allgemein gültige physiologische Begründung für die Notwendigkeit der periodischen Unterbrechung des wachen Bewusstseins durch den Schlaf gegeben werden kann, deuten aktuelle Forschungsergebnisse auf rhythmische und aktive neuronale Prozesse hin, die für den Energiehaushalt und die Informationsverarbeitung von Bedeutung zu sein scheinen.

Schlaf besitzt ein charakteristisches Profil Eine wichtige Methode zur Analyse des menschlichen Schlafes ist die Elektroenzephalographie, deren Ergebnisse zur Einteilung verschiedener Schlafstadien führten. Das typische EEG des wachen Zustandes mit Wellen geringer Amplitude und hoher Frequenz verändert sich

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29.3 EEG-Korrelate von Wachen und Schlafen beim Einschlafen in charakteristischer Weise (Abb. 29.3 A). In ruhiger Wachheit bei geschlossenen Augen herrschen α-Wellen (8 – 13 Hz) vor. Nach Schlafbeginn treten zunehmend Wellen mit hoher Amplitude auf, das heißt die dem EEG zugrunde liegende neuronale Aktivität wird zunehmend zeitlich synchronisiert (vgl. Abschnitt 29.2). Das frühe Schlafstadium I ist nur kurz (Dauer wenige Minuten). Es ist gekennzeichnet durch weniger regelmäßige α-Wellen, das Auftreten von ϑ-Wellen (4 – 7 Hz), langsam-rollende Augenbewegungen und eine sehr niedrige Weckschwelle. Im Stadium II (5 – 15 Minuten) treten charakteristische Schlafspindeln auf, die als an- und abschwellende Perioden synchronisierter Aktivität mit spindelförmigen Wellen von 7 – 14 Hz für die Dauer von einer bis mehreren Sekunden im EEG zu erkennen sind. Darüber hinaus treten scharfe Wellen, die so genannten K-Komplexe, auf. Im Schlafstadium III werden langsame δ-Wellen (0,5 – 3 Hz) mit hoher Amplitude generiert, die zum Stadium IV regelmäßiger werden („Delta-Schlaf“). Das Stadium IV kann 20 bis 40 Minuten dauern und ist der Schlaf mit höchster Weckschwelle. Zusammengefasst werden diese Schlafstadien als synchronisierter, langsamwelliger („slow wave“) oder auch orthodoxer Schlaf bezeichnet. Die Aktivität des parasympathischen Anteils des vegetativen Nervensystems überwiegt während dieser Phasen (vgl. Kap. 27.1, 27.2). Hirndurchblutung, arterieller Blutdruck, Atem- sowie Herzschlagfrequenz sind erniedrigt, und die gastrointestinale Motorik ist gesteigert. Der allgemeine Muskeltonus ist vermindert. Der Schlafende führt lediglich kurze Lageveränderungen in mehrminütigen Abständen aus (posturale Reaktionen, vgl. Kap. 26.3). Die synchronisierte neuronale Aktivität kann darüber hinaus die Produktion kurzer, generalisierter Zuckungen der Skelettmuskulatur fördern. Obwohl die Weckschwelle mit fortschreitendem Stadium des synchronisierten Schlafes steigt, wird der Kontakt zur Umgebung nicht vollständig abgebrochen. Sensorische Signale aus der Peripherie können den Kortex erreichen, und die meisten Reflexe sind funktionell, wodurch vor allem die Reaktionsfähigkeit auf bedeutungsvolle Umgebungsreize erhalten wird. Zum Ende des δ-Schlafes treten drastische Änderungen des physiologischen Zustandes auf. Der Schlaf durchläuft invers die vorherigen EEG-Stadien und erreicht für die Dauer für 10 – 15 Minuten ein dem Stadium 2 vergleichbares Stadium, in dem kurze Phasen mit β-Wellen ähnlich denen der Wachheit auftreten („Desynchronisation“). Die Schwelle für das Wecken durch äußere Reize bleibt allerdings hoch. Demzufolge wird dieser Zustand als desynchronisierter oder paradoxer Schlaf bezeichnet und dem synchronisierten Schlaf gegenübergestellt. Diese elektroenzephalographischen Veränderungen sind mit einer Steigerung der Durchblutung und des Sauerstoffverbrauches des Gehirns auf Werte ähnlich oder sogar über denen der Wachheit verbunden. Blutdruckund Herzschlagfrequenz steigen, die Atmung ist beschleunigt, und Penis-/Klitoriserektionen treten auf. Auffällig sind darüber hinaus die Unterbrechung der Körpertemperaturregulation im paradoxen Schlaf und die maximale Reduktion des Muskeltonus (Atonie), von der lediglich die Augen- und Atemmuskulatur sowie die neuronale Innervation der Mittelohrknochen ausgenommen sind.

Des Weiteren sind die Pupillendurchmesser verringert (Schlaf-Miosis), und die Augen nehmen eine leicht myope Lage ein (Nachtmyopie) (vgl. Kap. 23.1). Diese Reaktionen sind insbesondere Ausdruck des starken Übergewichtes des parasympathischen Einflusses während der paradoxen Schlafphasen. Ein weiteres Kennzeichen ist das periodische Auftreten von schnellen Augenbewegungen (Rapid Eye Movements, REM), die zur Bezeichnung des paradoxen Schlafes auch als REM-Schlaf geführt haben (im Gegensatz zum synchronisierten = langsamwelligen = orthodoxen = non-REM-Schlaf). Da Schlafende, die aus dem paradoxen (REM-) Schlaf aufwachen, weitaus häufiger von Träumen berichten als aus synchronisiertem (non-REM-) Schlaf Aufwachende, spricht man auch vom Traum-Schlaf. Allerdings ist diese Bezeichnung aufgrund von Problemen der Traumdefinition und möglicher Unterschiede in der Erinnerung an mentale Ereignisse während verschiedener Schlafstadien wenig empfehlenswert. So werden zum Beispiel Angstträume vor allem aus den späten non-REM-Phasen berichtet.

Im typischen Schlafverlauf einer Nacht werden die Perioden von synchronisiertem (non-REM-) und paradoxem (REM-) Schlaf in regelmäßigen Zyklen etwa 5 – 7-mal durchlaufen. Mit fortschreitender Schlafdauer werden die REM-Phasen länger (maximale Dauer 30 – 50 Minuten), und die späten Tiefschlafstadien des synchronisierten Schlafes (Stadien III, IV) werden nicht mehr erreicht. Spontanes, ungestörtes Aufwachen erfolgt meistens aus einer REM-Phase (obwohl die Schwelle für das Aufwecken durch äußere Reize während dieser Stadien hoch ist) und ist dann häufig mit der Erinnerung an ein Traumereignis verbunden.

Das Schlafprofil ändert sich im Verlauf des Lebens Das periodische Muster des täglichen Schlaf-Wach-Zyklus unterliegt deutlichen Änderungen während der ontogenetischen Entwicklung und des Alterns. Im Verhalten offensichtlich sind die polyphasischen Schlaf-Wach-Zyklen des Neugeborenen, der biphasische Zyklus des Heranwachsenden (Mittagsschlaf!), der monophasische (24-stündige) Rhythmus des Erwachsenen (vgl. Abschnitt 29.5) und der oft wieder biphasische Zyklus im Alter. Im Verlaufe des Lebens eines Individuums verringert sich die Schlafdauer kontinuierlich, wobei die Änderungen des REM-Schlafes und der späten Phasen des synchronisierten Schlafes (Stadium IV) besonders auffällig sind (Abb. 29.4). Befunde von Frühgeborenen sprechen dafür, dass ein 26 Wochen alter Fetus fast ausschließlich REMSchlaf erlebt. Beim Neugeborenen füllt der REM-Schlaf etwa die Hälfte der normalen Schlafzeit. Die Dauer des REM-Schlafes verringert sich in den ersten 10 Lebensjahren kontinuierlich, stabilisiert sich dann bei etwa 25 % der gesamten Schlafdauer und nimmt erst im höheren Alter weiter ab. Die absolute REM-Schlafzeit verringert sich damit von etwa 8 Stunden zum Zeitpunkt der Geburt auf etwa 90 Minuten bei Beginn der Pubertät. Das Schlafstadium IV nimmt im Verlaufe des Lebens nahezu exponentiell ab und ist ab etwa dem 60. Lebensjahr häufig nicht mehr nachweisbar.

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841

29 Rhythmen des Gehirns A Gesamtschlafdauer 16 Stunden/Tag

14 12 10 8 6 0

20

40

60

80

100

40

60

80

100

in %

B Anteil REM-Schlaf 60 40 20 0

20

C Dauer Stadium IV 2,5 Stunden/Tag

842

1,5

29.4

0,5 0

der Schlaflosigkeit sind Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsleistungen häufig vermindert, erholen sich jedoch nach nur wenigen Stunden Erholungsschlaf. Vollständiger Verzicht oder anhaltende Verhinderung von Schlaf (Schlafdeprivation) allerdings kann schwerwiegende Störungen zur Folge haben. Schlafdeprivation in experimentellen Tiermodellen führt zu gesteigertem Metabolismus und trotz erhöhter Nahrungsaufnahme dramatisch reduziertem Gewicht, und im Extremfall zum Tode. Der Schlaf wird demzufolge auch als adaptiver Prozess im Rahmen des Energiehaushaltes des Organismus angesehen. In jüngerer Zeit mehren sich darüber hinaus die Befunde, dass die unterschiedlichen Schlafstadien einen fördernden Einfluss auf verschiedene Formen des Gedächtnisses ausüben. Gut dokumentierte Beispiele sind die Stabilisierung (Konsolidierung, vgl. Kap. 28.7) des Lernens von motorischen Aufgaben, gesprochener Sprache und sensorischer Wahrnehmung. Dabei sind für manche Formen des schlafabhängigen Lernens sogar kurze Schlafstadien ausreichend, die jedoch immer REMund non-REM-Stadien enthalten müssen (und demzufolge 60 bis 90 Minuten dauern sollten).

20

40 60 Lebensalter (Jahre)

80

100

Abb. 29.4 Veränderung des menschlichen Schlafprofils mit zunehmendem Lebensalter. A Gesamtschlafdauer. B Anteil des REM-Schlafes am Gesamtschlaf. C Dauer des Schlafstadiums IV. Aufgetragen sind jeweils die Werte zum Zeitpunkt der Geburt sowie im Alter von 6, 10, 21, 30, 69 und 84 Jahren (nach 6).

Der Schlaf wirkt als adaptiver Prozess im Rahmen des Energiehaushaltes und fördert verschiedene Gedächtnisformen Die physiologischen Konsequenzen der interindividuell hohen Unterschiede in den Schlafgewohnheiten (Schlafdauer bei Erwachsenen zwischen 5 – 10 Stunden/Nacht), der Verminderung der Gesamtschlafdauer während des Lebenszyklus oder der mit zunehmendem Alter häufigeren Schlafstörungen bleiben jedoch weitgehend ungeklärt. Ein Maß für die erforderliche Schlafdauer scheinen Qualität und Quantität der Aktivitäten bei Wachheit zu sein, indem ein Minimum an Schlaf für die Aufrechterhaltung eines bestimmten Zustandes von Wachheit oder Aufmerksamkeit erforderlich ist. Dabei sind die ersten non-REM/REM-Phasen essenziell (Kernschlaf). Die selektive Unterbrechung oder Verhinderung des REM-Schlafes (REM-Deprivation) führt zu kompensatorischen Phänomenen in Form von verlängerten und/oder häufigeren REM-Phasen im ungestörten Schlaf der nachfolgenden Nacht, was auf die physiologische Notwendigkeit dieses Schlafstadiums hindeutet. Die gesundheitlichen Auswirkungen von Schlaflosigkeit auch längerer Dauer sind überraschend gering. Nach einigen Tagen und Nächten

Neurophysiologische Grundlagen von Wachen und Schlafen

Die Wach-Schlaf-Stadien werden durch aufsteigende neuronale Aktivierungssysteme aus dem Hirnstamm und dem Hypothalamus kontrolliert. Während Wachheit sind diese Systeme aktiv und vermitteln ihre Aktivität synaptisch auf Neurone des Thalamus, die dadurch afferente Sinnessignale von der Peripherie getreu zum zerebralen Kortex übertragen können. Die Thalamusneurone funktionieren als Schaltneurone, und das thalamokortikale System ist sinnvoll auf den Zustand der Wachheit eingestellt. Während Phasen der Schläfrigkeit nimmt die Aktivität der aufsteigenden Systeme ab. Ihr aktivierender Einfluss auf die Thalamusneurone entfällt, die infolgedessen als Schrittmacher für rhythmisch-synchronisierte elektrische Aktivitätsmuster im thalamokortikalen System fungieren. Die Konsequenzen sind das Auftreten von EEG-Wellen (Schlafspindeln, -Wellen) und die drastische Reduktion der sensorischen Antwortbereitschaft des Gehirns. Die verschiedenen Stadien des Schlafes (REM; non-REM) werden durch das Wechselspiel von verschiedenen Teilsystemen des aufsteigenden Aktivierungssystems reguliert, die sich durch ihren primären Transmitter unterscheiden: Acetylcholin sowie die Amine Noradrenalin, 5-Hydroxytryptamin (Serotonin) und Histamin. Bei Wachheit sind cholinerge und aminerge Systeme etwa gleichgewichtig aktiv, im non-REM-Schlaf gleichgewichtig inaktiv. Im REM-Schlaf dagegen ist das aminerge System gehemmt, während die Aktivität des cholinergen Systems bis nahe an das Niveau des Wachzustandes ansteigt. Endogene schlaffördernde Substanzen können darüber hinaus zur Regulation der Wach-Schlafaktivitäten beitragen. Aus der Summe der Regulationsprozesse ergeben sich Konsequenzen für EEG-Muster, Informationsverarbeitung und Energiehaushalt.

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29.4 Neurophysiologische Grundlagen von Wachen und Schlafen

Wachheit und Schlaf werden durch das System Hirnstamm-Thalamus-Kortex kontrolliert

Wachheit

non-REM-Schlaf

Schädigungen oder Störungen im Bereich des Hirnstammes bei menschlichen Patienten sind häufig mit schlafähnlichen Zuständen oder Koma verbunden. Tatsächlich wird dem Hirnstamm eine wichtige Rolle für die Kontrolle der Schlaf-/Wachstadien zuerkannt, deren Aufschlüsselung Ende der 40er Jahre mit den bahnbrechenden Arbeiten der Gruppe um den italienischen Neurophysiologen Giuseppe Moruzzi ihren Anfang nahm. Sie zeigten unter anderem, dass die elektrische Aktivierung von Neuronen in der Formatio reticularis im oberen Hirnstammbereich eine Weckreaktion auslöste, die durch eine Änderung des EEG von langsam-rhythmischen Wellen zu schnellen Mustern ähnlich denen der Wachheit angezeigt und von einer allgemeinen Erhöhung des Muskeltonus in Verbindung mit einer Schwellensenkung spinaler Reflexe begleitet wurde. Aufgrund dieser und nachfolgender konvergierender Ergebnisse aus Grundlagenforschung und Klinik spricht man dem Hirnstamm die Funktion zu, durch aufsteigende, aktivierende Impulse das für den Wachzustand notwendige Aktivitätsniveau des Gehirns zu induzieren und aufrechtzuerhalten (aufsteigendes retikuläres Aktivierungssystem, ARAS). Die Anatomie des Hirnstammes und seiner Verbindungen bilden die Grundlage für diese Funktion. Die Axone der Hirnstammneurone steigen in weite Bereiche des Vorderhirns auf und innervieren diffus verzweigt ausgedehnte Areale. Dementsprechend werden die aszendierenden Bahnen des Hirnstammes als unspezifisches System von den spezifischen sensorischen Systemen unterschieden. Absteigende (deszendierende) Bahnen aus dem Hirnstamm vermitteln darüber hinaus die Koordination spinaler Reflexkreise innerhalb des Schlaf-Wach-Zyklus, zum Beispiel die Hemmung der muskulären Aktivität während des REM-Schlafes. Das Hirnstammsystem wird seinerseits durch Einflüsse aus dem Hypothalamus in etwa 24stündigem Rhythmus reguliert (vgl. Abschnitt 29.5). Die aufsteigenden, aktivierenden Impulse der Hirnstammneurone werden zunächst auf Neurone im Thalamus übertragen, und die Axone der thalamischen Projektionsneurone leiten die Aktivität den Zielneuronen im zerebralen Kortex zu. Über dieselben Thalamusneurone wird darüber hinaus der überwiegende Teil der sensorischen Signale von den Orten der Reizaufnahme in der Peripherie, wie zum Beispiel von der Retina oder der Cochlea, zum zerebralen Kortex geschaltet. Der Thalamus funktioniert demzufolge als ein „Tor zum Bewusstsein“, das die sensorische Information in Abhängigkeit von Wachheit und Schlaf weiterschaltet. Das zugrunde liegende neuronale Szenario ist das Folgende (Abb. 29.5):

signale von der Peripherie zum zerebralen Kortex in Form proportional veränderter Aktionspotenzialfrequenzen: das thalamokortikale System ist sinnvoll auf den Zustand der Wachheit eingestellt. – Eine der Konsequenzen der afferenten synaptischen Signale im Kortex mit ihrer vielfältigen zeitlichen Struktur ist das hochfrequente Muster des EEG mit Wellen niedriger Amplitude.

Wachheit: – Während Wachheit sind die Hirnstammneurone aktiv und vermitteln ihre Aktivität synaptisch über chemische Neurotransmitter auf die Thalamusneurone, die demzufolge leicht depolarisiert sind und einzelne Aktionspotenziale generieren (vgl. Kap. 4.2). – Dieser Aktivitätszustand der Thalamusneurone ermöglicht die getreue Übertragung afferenter Sinnes-

Schlaf (non-REM): – Während Phasen der Schläfrigkeit nimmt die Aktivität der Hirnstammneurone ab, und der depolarisierende Einfluss auf die Thalamusneurone entfällt; die Folge ist eine Hyperpolarisation der Thalamusneurone, die infolgedessen spontan beginnen, langsam-rhythmische Salven von Aktionspotenzialen zu generieren (Oszillationen).

EEG

Kortexneurone

sensorische Afferenzen

„aktiv“

„schalten“

„oszillieren“

Thalamusneurone

Hirnstammneurone

sensorische Afferenzen

„inaktiv“

Abb. 29.5 Grundlagen der Regulation von Wachheit und Schlaf (non-REM-Phasen) durch das System Hirnstamm-Thalamus-Kortex. Wachheit: Die hohe Aktivität von Neuronen des aufsteigenden Hirnstammsystems wird synaptisch auf Thalamusneurone vermittelt; infolge depolarisieren die Thalamusneurone und sind damit in der Lage, Signale sensorischer Afferenzen getreu an Kortexneurone weiter zu schalten; Konsequenz der zeitlich unregelmäßigen Aktivität ist ein EEG niedriger Amplitude. Non-REM-Schlaf: Die Hirnstammneurone sind inaktiv, der depolarisierende Einfluss auf die Thalamusneurone entfällt; in Folge produzieren die Thalamusneurone spontan-rhythmische Entladungssalven („oszillieren“), die in verschiedenen Neuronen von Thalamus und Kortex zeitlich synchronisiert werden; Konsequenzen der synchronisierten Aktivität sind EEG-Wellen und eine drastisch verminderte Antwortbereitschaft auf Signale sensorischer Afferenzen. Weitere Details im Text (nach 11).

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29 Rhythmen des Gehirns – Die langsamen Oszillationen treten weit verbreitet im Thalamus auf, werden auf die kortikalen Zielneurone übertragen und im synaptischen Netzwerk des thalamokortikalen Systems zunehmend zeitlich synchronisiert. – Aufgrund der langsam-synchronisierten Oszillationen im thalamokortikalen System wird die getreue Übertragung afferenter Sinnessignale verhindert, und die sensorische Antwortbereitschaft des Gehirns ist demzufolge dramatisch reduziert; die elektroenzephalographische Konsequenz der langsam-synchronisierten synaptischen Aktivität im Kortex ist das Auftreten von niederfrequenten Wellen hoher Amplitude im EEG, die Stadien des synchronisierten (non-REM-) Schlafes charakterisieren (vgl. Abschnitt 29.3). Die Oszillationen während der Schlafstadien basieren entscheidend auf der Schrittmacherfunktion thalamischer Neurone. Hierbei löst eine Schrittmacherdepolarisation über Vermittlung eines calciumabhängigen Mechanismus eine Salve von Aktionspotenzialen aus. Dieser Zyklus wiederholt sich periodisch, und die Thalamusneurone fungieren als zelluläre Oszillatoren. Der Beitrag verschiedener Typen von Thalamusneuronen und der zeitlich-synchronisierende Einfluss des thalamokortikalen synaptischen Netzwerkes führt zu unterschiedlichen zellulären Aktivitätsmustern, die in den unterschiedlichen EEG-Mustern der synchronisierten Schlafstadien, wie zum Beispiel den Schlafspindeln und den δ-Wellen, ihren Ausdruck finden. Der aktivierende Einfluss des aufsteigenden Hirnstammsystems bei Aufwachen und Wachheit wird mit Hilfe von Transmittern erreicht, die eine Blockierung der Schrittmachermechanismen und eine verbreitete Depolarisation der Neurone im Thalamus bewirken. Infolgedessen werden die Oszillationen beendet, und die Thalamusneurone generieren einzelne Aktionspotenziale, womit eine entscheidende Grundlage für eine getreue afferente Signalverarbeitung geschaffen wird.

Entgleisungen der thalamokortikalen Oszillationen können zu epileptischen Absence-Anfällen führen Die thalamokortikalen Oszillationen stellen kritische Faktoren für die Absence-Epilepsie dar. Diese Form der Epilepsie äußert sich typischerweise in einer abrupt beginnenden und unvermittelt endenden kurzen Bewusstseinsstörung (absence de l’esprit). Ausgeprägte motorische oder autonome Begleitsymptome fehlen im Allgemeinen, und der Patient hat keine Erinnerung an den Anfall. Neurophysiologisch sind Absencen durch „spike-and-wave“-Komplexe im EEG charakterisiert (Abb. 29.2 B). Aus experimentellen und klinischen Studien ist bekannt, dass die Mechanismen und Netzwerke des thalamokortikalen Systems, die Oszillationen während des Schlafes generieren, auch die „spikeand-wave“-Komplexe der Absence-Anfälle produzieren. Die pathophysiologischen Mechanismen schließen veränderte neuronale Schrittmacherprozesse im Thalamus und eine erhöhte neuronale Erregbarkeit im Cortex ein. Die Folge ist eine dramatisch erhöhte Synchronisation der Oszillationen im thalamokortika-

len System (im Vergleich zu denen des Schlafes), die neurophysiologisch in den „spike-and-wave“-Komplexen im EEG und im Verhalten in der Bewusstseinsstörung ihren Ausdruck finden.

Unterschiedliche Transmittersysteme sind zur Regulation der verschiedenen Stadien von Schlaf und Wachheit erforderlich Die verschiedenen Stadien des Schlafes (REM, non-REM) und die Wachheit werden durch das Wechselspiel von unterschiedlichen Transmittersystemen reguliert. Das Hirnstammsystem wird in drei Teilsysteme untergliedert, die sich durch ihren primären Neurotransmitter unterscheiden: Acetylcholin, Noradrenalin und 5-Hydroxytryptamin (Serotonin). Alle drei Teilsysteme werden zum unspezifischen System gerechnet, wobei Überlappungen aber auch spezifische Unterschiede in den jeweiligen Ursprungs- und Projektionsgebieten existieren. Cholinerge Zellkörper befinden sich hauptsächlich im Nucleus parabrachialis und im Nucleus tegmentalis pedunculopontinus. Der wichtigste noradrenerge Kern ist der Locus coeruleus; das serotoninerge System entspringt den Nuclei raphae. Das noradrenerge und das serotoninerge System werden häufig als (mono)aminerges Hirnstammsystem zusammengefasst. Ein weiteres für den Schlaf-Wach-Rhythmus bedeutsames Amin ist das Histamin. Im Gehirn kommt ungefähr die Hälfte des Histamins in Neuronen vor (die andere Hälfte in Mastzellen). Die histaminergen Zellkörper liegen im Nucleus tuberomamillaris des Hypothalamus, und die Axone erreichen ähnlich den auf- und absteigenden Projektionen des Hirnstammsystems weite Gebiete des Zentralnervensystems. Der Schlüssel zur Organisation der REM-/nonREM-Schlafzyklen und der Wachheit liegt in der relativen Beteiligung dieser Transmittersysteme. Im Wachzustand sind sowohl die aminergen als auch die cholinergen Neurone aktiv, und die Konzentrationen der Neurotransmitter in den Zielgebieten sind gleichgewichtig hoch. Im non-REM-Schlaf herrscht weiter ein Gleichgewicht, allerdings sind die Transmitterkonzentrationen aufgrund der geringen Aktivität der aufsteigenden Systeme zu sehr geringen Werten verschoben. In der Konsequenz unterliegen weite Bereiche des Vorderhirns der langsam-oszillatorischen Eigenrhythmik, und der Wachheitsgrad nimmt ab. Im REM-Schlaf verschiebt sich das biochemische Gleichgewicht radikal: die Spiegel der aminergen Transmitter sinken auf einen Tiefpunkt, und der Spiegel von Acetylcholin steigt bis nahe an das Niveau des Wachzustandes an. Eines der elektrophysiologisch messbaren Korrelate ist die Desynchronisation des EEG im REMSchlaf. Darüber hinaus vermitteln die cholinergen Neurone über absteigende Bahnen die Inhibition spinaler motorischer Systeme. Die Verschiebungen der Neurotransmitterspiegel werden vor allem durch wechselseitig inhibitorische synaptische Verschaltungen derjenigen Neuronenpopulationen im Hirnstamm erreicht, die Acetylcholin und aminerge Transmitter ausschütten. Aktivität der einen Neuronenpopulation hemmt jeweils die Aktivität der anderen Neuronenpopulation in einer Art Gegentaktprinzip, mit der Folge einer regelmäßigen Änderung der Transmitterkonzentrationen im Zielgebiet.

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29.5 Der circadiane Rhythmus Das System Hirnstamm-Thalamus-Kortex steht unter der Kontrolle von zwei weiteren Neuronensystemen. Zum einen Neurone mit Ursprung im Nucleus preopticus des Hypothalamus, die im Schlaf aktiv sind. Diese Neurone hemmen mit Hilfe der Transmitter γ-Aminobuttersäure (GABA) und Galanin (einem Neuropeptid) das monoaminerge Hirnstammsystem. Eine Störung dieses Einflusses hat im Allgemeinen Schlaflosigkeit zur Folge (Insomnie, vgl. Kapitel 29.6). Die Nähe zu den hypothalamischen Zentren der Temperaturregulation (vgl. Kapitel 15.5) kann darüber hinaus die Empfindung einer gesteigerten Müdigkeit bei Temperaturerhöhung erklären helfen. Zum anderen enthält der Nucleus posterior hypothalami eine Population von Neuronen, die das Neuropeptid Orexin (Hypocretin) über ihre Projektionen in weite Gebiete des Systems Hirnstamm-Thalamus-Kortex freisetzen. Sie vermitteln vor allem adaptive Veränderungen des Wachheits- und Aktivitätsgrades in Abhängigkeit von der Energiebalance, indem sie zum Beispiel bei Hunger zu erhöhter Wachheit und zum Abruf instinktiver motorischer Programme führen.

Diesem von dem amerikanischen Psychiater Allan Hobson formulierten und experimentell gut belegten Modell zufolge sind sowohl REM-Schlaf als auch Wachheit elektroenzephalographisch desynchronisierte Zustände des Gehirns. Allerdings gelten für die Neurone während der beiden Zustände jeweils andere biochemische Bedingungen, die sich auf Funktionen wie zum Beispiel Informationsverarbeitung, Lernen und Gedächtnisbildung oder – allgemein – Bewusstsein auswirken werden. Zusammengefasst ist der deutlichste und möglicherweise bedeutsamste Unterschied der Beitrag des aminergen Systems während Phasen der Wachheit und dessen Inhibition im REM-Schlaf.

Endogene schlaffördernde Substanzen können zur Regulation der Wach-SchlafAktivitäten beitragen Nach Schlaf-Deprivation wurde eine Reihe von chemischen Verbindungen aus dem Blut und der zerebrospinalen Flüssigkeit, vor allem aus Versuchstieren, isoliert, die als schlaffördernde Substanzen bezeichnet werden. Eine Substanz mit schlaffördernder Wirkung ist Adenosin, ein Produkt des ATP-Stoffwechsels. Adenosin wird bei erhöhtem ATP-Verbrauch, zum Beispiel infolge gesteigerter neuronaler Aktivität, vermehrt produziert und hemmt seinerseits im Sinne eines negativen Rückkopplungsmechanismus unter anderem die synaptische und die elektrische Aktivität der Neurone des aufsteigenden Hirnstammsystems und des Thalamus. Weitere Substanzen mit schlafförderndem Effekt sind Peptide, die mit dem Immunsystem interagieren, zum Beispiel Interleukin-1. Hierdurch könnte das vermehrte Schlafbedürfnis bei Fieber erklärbar sein. Allerdings bleibt einschränkend festzuhalten, dass diese Peptide während des normalen Schlafes nicht in wirksamen Konzentrationen nachgewiesen werden konnten und demzufolge nicht als primär bedeutsame Kontrollmechanismen des Schlafes gelten.

29.5

Der circadiane Rhythmus

Ein neuronales Netzwerk mit Hauptkomponenten im Nucleus suprachiasmaticus des Hypothalamus, das mit den verschiedenen Hirnstammsystemen und dem thalamokortikalen System synaptisch und/oder hormonell vermittelt in Wechselwirkung tritt, ist für die circadiane Periodizität des Wach-Schlaf-Zyklus erforderlich. Die Aktivitätszyklen werden durch Zeitgeber aus der Umgebung auf 24 Stunden synchronisiert. Der Schlaf-Wach-Zyklus im erwachsenen Menschen folgt einer circadianen (circa = ungefähr; dies = Tag) Periodizität, die einen der endogenen Biorhythmen repräsentiert. Hinweise aus der Umgebung (Licht/Dunkelheit, Temperatur, Luftfeuchtigkeit, soziale Komponenten) dienen als so genannte Zeitgeber, die diese „biologische Uhr“ synchronisieren, und damit auf einen Aktivitätszyklus von genau 24 Stunden einstellen. Bei vollständigem Fehlen der Zeitgeber, zum Beispiel bei längerem Aufenthalt in unterirdischen Bunkern oder Höhlen, wird der circadiane Rhythmus aufrechterhalten. Der Rhythmus verliert jedoch seine Beziehung zur aktuellen Zeit, und die Periodizität verlängert sich zunehmend auf Werte von über 24 Stunden. Der Schlaf-Wach-Zyklus folgt dabei anfangs einer etwa 25-stündigen Periodizität (Abb. 29.6) und kann nach Tagen bzw. Wochen im Extremfall überraschend lange Perioden von 30 – 36 Stunden annehmen (mit etwa 20 Stunden Wachheit und 12 Stunden Schlaf). Darüber hinaus sind auch Beispiele mit verkürzter Periodizität beschrieben worden. Allgemein bleiben das Schlaf-WachVerhalten und andere physiologische Parameter nicht notwendigerweise koordiniert. Zum Beispiel können sich die periodischen Schwankungen der Körpertemperatur (vgl. Kap. 15) nach einigen Tagen deutlich gegenüber dem Schlaf-Wach-Rhythmus verschieben (Abb. 29.6). Offensichtlich existieren unterschiedliche „biologische Uhren“, die mit einem jeweils spezifischen endogenen Rhythmus „frei laufen“, und die ohne Einflüsse exogener Zeitgeber nicht synchronisiert sind.

Der circadiane Rhythmus wird durch Oszillatoren im Hypothalamus aufrechterhalten Die zellulären Substrate der „biologischen Uhr“ für den Schlaf-Wach-Zyklus sind Neuronengruppen im Nucleus suprachiasmaticus (SCN) des Hypothalamus. Mikrostimulation des SCN im Tierexperiment bewirkt eine Phasenverschiebung des circadianen Rhythmus, und bilaterale Entfernung der SCN hat eine Unterbrechung der circadianen Periodizität von Wachheit/Schlaf sowie von Nahrungsaufnahme und Grundaktivität zur Folge. Die Neurone des SCN stellen zelluläre Oszillatoren dar (vgl. Abschnitt 29.4), in denen die elektrische Aktivität, der Glucoseverbrauch, die Produktion von Vasopressin und die Proteinbiosynthese mit etwa 24- bis 25-stündiger Periodik oszilliert. Lichtsignale, die von Ganglienzellen der Retina über den Tractus retinohypothalamicus direkt zu den SCN-Neuronen gelangen, gelten als der wichtigste exogene Zeitgeber für die Synchronisation der einzelnen neuronalen Oszillatoren und für die Einstellung eines exakt 24-stündigen Rhythmus. Die rhythmisch-synchro-

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5 Rhythmus 24 h 10 15 Rhythmus 25 h

Tage

20 25 30

12 h Licht/ 12 h Dunkelheit

35 40 Rhythmus 24 h

M itt er na ch t

Tageszeit

M itt ag

M itt er na ch t

M itt ag

45

Minimum Körpertemperatur

Isolation von Zeitgebern

0

natürliche Situation

29 Rhythmen des Gehirns

M itt er na ch t

846

Schlaf Wachheit

Abb. 29.6 Circadianer Rhythmus von Schlaf und Wachheit. Schlaf-Wach-Rhythmus (Balken) und Minimum der Körpertemperatur (Dreieck) einer erwachsenen Versuchsperson unter natürlichen Bedingungen (Tage 1 – 9), nach vollständiger Isolation von äußeren Zeitgebern (Tage 10 – 34) und während eines regelmäßigen 12-stündigen Wechsels von Licht und Dunkelheit (Tage 35 – 45). Zu beachten ist die zunehmende Phasenverschiebung und die Verlängerung des Schlaf-Wach-Rhythmus von 24 auf 25 Stunden während der Isolation von Zeitgebern sowie die Verschiebung des Körpertemperaturminimums vom Ende auf den Beginn der Schlafphase. Mit Aufnahme eines 12-stündigen Licht-Dunkel-Wechsels wird der ursprüngliche circadiane Rhythmus wieder hergestellt (nach 18).

nisierten Aktivitätsmuster aus dem SCN werden in weite Teile des Gehirns vermittelt, u. a. in das System Hirnstamm-Thalamus-Kortex, wobei synaptische Verbindungen efferenter Axone und/oder hormonelle Mechanismen involviert sind. Dieses synaptische Netzwerk mit Hauptkomponenten im SCN, in den verschiedenen Hirnstammsystemen und im Thalamus, ist für die circadiane Periodizität des Wach-Schlaf-Zyklus und die Regulation der verschiedenen Stadien von Wachheit und Schlaf erforderlich. Bei einmaliger Phasenverschiebung der exogenen Zeitgeber, zum Beispiel infolge von Flügen in andere Zeitzonen der Erde, erfolgt eine Resynchronisation der circadianen Systeme. Hierzu wird etwa ein Tag pro Stunde Zeitdifferenz benötigt, wobei die Resynchronisation bei Phasenverlängerung (Flug nach Westen) im Allgemeinen schneller erfolgt als bei Phasenverkürzung (Flug nach Osten). Mögliche Begleiterscheinungen der Dissoziation

von exogenen Zeitgebern und „biologischen Uhren“ sind Schlafstörungen und Störungen vegetativer Funktionen („Jet-Lag“). Melanopsin, ein Photopigment der retinalen Ganglienzellen, gilt als ein Kandidat für die circadiane Photorezeption in der Retina (vgl. Kap. 23.3).

29.6

Schlafstörungen

Etwa 15 % der Bevölkerung in den Industrieländern leiden unter chronischen Schlafstörungen. Weitere 20 % klagen über gelegentliche Probleme mit Einschlafen oder Wachbleiben. In bestimmten Bevölkerungsgruppen kann der Prozentsatz erheblich höher liegen (z. B. bei Schichtarbeitern). Erkrankungen mit Störungen von Wachheit und Schlaf werden in vier Hauptkategorien unterteilt: – Ein- und Durchschlafstörung (Insomnie), – exzessiv gesteigerte Tagesmüdigkeit (Hypersomnie), – Störung der Schlaf-Wach-Periodizität (Rhythmusstörung), und – Verhaltensdysfunktion während Schläfrigkeit oder Schlaf (Parasomnie). Für klinische Einzelheiten und therapeutische Strategien wird der Leser auf die Fachliteratur verwiesen (5, 8,14, 21). Insomnie ist definiert als ein chronischer Zustand des quantitativen oder qualitativen Mangels an Schlaf, der die Aufrechterhaltung eines adäquaten Wachverhaltens beeinträchtigt. Insomnia ist ein eher allgemeines Symptom, das vielfache Ursachen haben kann. Differenziert werden muss zwischen einem subjektiv empfundenen Mangel an Schlafdauer oder Schlafgüte (Pseudoinsomnie) und einer objektiv verifizierbaren Schlafstörung, die unter anderem mit Hilfe elektroenzephalographischer Registrierungen des Schlafprofils im Schlaflabor nachgewiesen wird (chronische Insomnie). Nahezu die Hälfte der Personen, die über Schlafstörungen berichten, besitzen ein unverändertes Schlafprofil. Schlafstörungen können zum Beispiel durch emotionale Faktoren oder Verschiebungen des circadianen Rhythmus hervorgerufen werden. Häufig werden auch die mit dem Alter verringerten Tiefschlafphasen als Verminderung der Schlafgüte empfunden. Vor allem der chronische Missbrauch von Schlafmitteln (u. a. Barbiturate, Benzodiazepine) kann zu Änderungen des Schlafmusters führen und damit zu Insomnien beitragen. Das Leitsymptom der Narkolepsie, einem Beispiel für Hypersomnien, ist gesteigerte Tagesmüdigkeit mit Schlafattacken, die ohne Vorwarnung und unkontrollierbar in bis zu 0,1 % der Bevölkerung auftreten. Viele Fälle werden nicht diagnostiziert, und die Narkoleptiker werden aufgrund Schläfrigkeit und scheinbarer Faulheit diskreditiert. Die Symptome der Narkolepsie schließen darüber hinaus einen abrupten Verlust des Muskeltonus (Kataplexien) während der Schlafattacken, reversible Episoden muskulärer Atonie bei ruhiger Wachheit (Schlafparalyse) und Halluzinationen bei Schlafbeginn ein. Narkolepsie hat eine starke erbliche Komponente, deren Grundlagenverständnis durch die Identifizierung eines Genes, das für Syndrome der Narkolepsie in einem Tiermodell verantwortlich ist, einen vielversprechenden Fortschritt gemacht hat. Das Genprodukt bildet einen Rezeptor für das Neuropeptid Orexin (Hypocretin), das in denjenigen Neuronen des lateralen Hypothalamus lokalisiert ist, deren Axone unter anderem in die für die Regulation von Wachheit und

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29.6 Schlafstörungen Schlaf verantwortlichen Gebiete des Gehirns projizieren (vgl. Kap. 29.4). Parasomnien stellen eine Gruppe von Verhaltensauffälligkeiten dar, die im Schlaf auftreten oder in der Ausprägung verstärkt werden. Bettnässen (Enuresis nocturna) kommt bei etwa 3 – 6 % der Bevölkerung, vermehrt bei Kindern und insbesondere bei Jungen, vor. Bei psychisch gestörten Kindern oder Heimkindern liegt der Prozentsatz höher. Enuresis beruht vermutlich auf einer unvollständig gereiften neuronalen Kontrolle der Blasenfunktion, zu der psychologische Komponenten beitragen können. Das Schlafwandeln (Somnambulismus) ist ein motorischer Automatismus, der vor allem bei Kindern und Jugendlichen oder auch unter Stressbelastung auftritt. Sowohl Enuresis als auch Somnambulismus sind mit späten Stadien des synchronisierten Schlafes assoziiert (Stadium III und IV), kommen häufig gemeinsam in einer Familie vor und nehmen mit zunehmendem Alter parallel zu der Verminderung der Tiefschlafstadien ab. Im Vergleich zu diesen relativ harmlosen Parasomnien können Störungen des REM-Verhaltens, die mit fehlender muskulärer Atonie verbunden sind, zu aggressiven Aktivitäten führen, in denen der Schläfer offensichtlich Traumaktivitäten motorisch umsetzt und damit sich selbst und dem Schlafpartner gefährlich werden kann. Alpträume, assoziiert mit verminderter Atmung und Angstsymptomen, treten sowohl im REM-Schlaf als auch im synchronisierten Schlaf auf, in besonders starker Ausprägung bei Kindern und Jugendlichen. Ein Beispiel ist der Pavor nocturnus, eine Alptraumattacke vorwiegend 3- bis 6-jähriger Kinder. Eine verbreitete Schlafstörung ist durch häufige und periodisch auftretende Atempausen gekennzeichnet (Schlaf-Apnoe), die mit Schwankungen des Sauerstoff- und Kohlendioxidpartialdruckes im Blut asoziiert sind, und die oft von Schnarchen begleitet werden. Schlaf-Apnoe tritt bei Männern und Frauen aller Altersgruppen mit hoher Prävalenz im Alter auf, wird jedoch auch als einer der Faktoren des plötzlichen Kindstodes diskutiert. Die Ursachen der Schlaf-Apnoe sind unklar, könnten jedoch mit einer reduzierten Aktivität der Atemzentren im Bereich der Medulla oblongata zusammenhängen (vgl. Kap. 10.6, 10.11). Schlafentzug als Therapie. Depressive Patienten leiden häufig unter Insomnien und REM-Schlafabnormalitäten. Aus dieser Beobachtung resultierend wird totaler Schlafentzug (maximal 40 Stunden), partieller Schlafentzug (in der zweiten Nachthälfte) oder eine Phasenverschiebung des Schlaf-WachRhythmus seit langem in das Behandlungsspektrum depressiver Patienten einbezogen. Verschiedene depressive Syndrome sprechen auf diese Therapie an, wobei es jedoch in den meisten Fällen zu einem Rückfall in die Depression bei Wiederaufnahme regulärer Schlaf-Wach-Rhythmen kommt. Die neurophysiologischen Grundlagen bleiben weitgehend unbekannt, scheinen aber mit der in depressiven Patienten charakteristisch verringerten Zeitspanne bis zum Auftreten der ersten REM-Phase (verringerte REM-Latenz) und verlängerten REM-Stadien in Zusammenhang zu stehen.

Zum Weiterlesen … 1 Bear MF, Connors BW, Paradiso MA. Neuroscience. Exploring the Brain. 2nd ed. Baltimore: Williams and Wilkins; 2000 2 Bekanntgaben der Herausgeber, Bundesärztekammer: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 30, Seite A-1861, 1998 3 Hobson JA. Schlaf. Gehirnaktivität im Ruhezustand. Heidelberg: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft; 1990

4 Hobson JA, Pace-Schott EF. The cognitive neuroscience of sleep: neuronal systems, consciousness and learning. Nat Rev Neurosci. 2002; 3: 679 – 693. 5 Hopf HC, Deuschl G, Diener HC. Neurologie in Praxis und Klinik. 3. Auflage, Stuttgart: Thieme; 1999 6 Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM. Principles of Neural Science. 4th ed. New York: McGraw-Hill; 2000 7 Kugler J. Elektroenzephalographie in Klinik und Praxis. 3. Auflage. Stuttgart: Georg Thieme Verlag; 1981 8 Leutner V. Schlaf, Schlafstörungen, Schlafmittel. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft; 1993 9 Matthes A, Schneble H. Epilepsien. 6. Aufl. Stuttgart: Georg Thieme Verlag; 1999 10 Pace-Schott EF, Hobson JA. The neurobiology of sleep: genetics, cellular physiology and subcortical networks. Nat Rev Neurosci. 2002; 3: 591 – 605 11 Pape HC, Meuth SG, Seidenbecher T, Munsch T, Budde T. Der Thalamus: Tor zum Bewusstsein und Rhythmusgenerator im Gehirn. Neuroforum 2005; 2: 44 – 54 12 Purves D, Augustine GJ, Fitzpatrick D, Katz LR, LaMantia AS, McNamara JO, Williams SM. Neuroscience. 2nd ed. Sunderland: Sinauer Associates; 2001 13 Steriade M, McCormick DA, Sejnowski TJ. Thalamocortical oscillations in the sleeping and aroused brain. Science. 1993; 262: 679 – 685

… und noch weiter 14 Adams RD, Victor M, Ropper AH. Prinzipien der Neurologie. New York: McGraw-Hill; 1999 15 Biddle C, Oaster TRF. The nature of sleep. AANA Journal. 1990; 58: 36 – 44 16 Budde T, Pape HC, Kumar SS, Huguenard JR. Thalamic, thalamocortical and corticocortical models of epilepsy with an emphasis on absence seizures. In: Models of Seizures and Epilepsy. Amsterdam: Elsevier; 2005 (im Druck) 17 Crunelli V, Leresche N. Childhood absence epilepsy: genes, channels, neurons and networks. Nat Rev Neurosci. 2002; 3: 371 – 382 18 Dement WC. Some Must Watch While Some Must Sleep. San Francisco: San Francisco Book Company; 1976 19 Haas HL, Panula P. The role of histamine and the tuberomamillary nucleus in the nervous system. Nat Rev Neurosci. 2003; 4: 121 – 130 20 Haas HL, Selbach O. Functions of neuronal adenosine receptors. Navnyn Schmiedebergs Arch Pharmacol. 2000; 362: 375 – 381 21 Hauri P. The Sleep Disorders. Kalamazoo: Upjohn; 1977 22 Merrit HH. A Textbook of Neurology. Philadelphia: Lea and Febiger; 1979 23 McCormick DA, Bal T. Sleep and arousal: thalamocortical mechanisms. Ann Rev Neurosci. 1997; 20: 185 – 215 24 Pape HC. Queer current and pacemaker: the hyperpolarization-activated cation current in neurons. Ann Rev Physiol. 1996; 58: 299 – 327 25 Speckmann EJ, Elger CE, Altrup U. Neurophysiologic basis of the EEG. In: Wyllie E (ed.). The Treatment of Epilepsy: Principles and Practice. 2nd ed. Philadelphia: Lea and Febiger; 1997 26 Steriade M, McCarley RW. Brainstem Control of Wakefulness and Sleep. New York, London: Plenum Press; 1990 25 Sutcliffe JG, DeLecea L. The hypocretins: setting the arousal threshold. Nat Rev Neurosci. 2002; 3: 339 – 349

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Blut-Hirn-Schranke, Liquor cerebrospinalis, Hirndurchblutung und Hirnstoffwechsel W. Kuschinsky

30.1 Schlaganfall

···

850

30.2 Blut-Hirn- und Blut-Liquor-Schranke

··· 850 Funktionelle Bedeutung der Blut-Hirn-Schranke · ·· 850 Die Blut-Hirn-Schranke als Barriere ··· 850 Erhöhte Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke · ·· 851 Die Blut-Hirn-Schranke als austauschende Membran · ·· 852 Grundlagen der Blut-Liquor-Schranke · · · 853 Substanzbewegungen über die Blut-Liquor-Schranke ··· 854 Kontinuität des Liquors im Interstitium und in den Ventrikeln ··· 854 Resorption und Regulation des Liquor cerebrospinalis ··· 854

30.3 Hirndurchblutung und Hirnstoffwechsel

· ·· 855 Globale Durchblutung und globaler Stoffwechsel ··· 855 Ischämie des Gehirns ··· 855 Lokale Durchblutung und lokaler Stoffwechsel ··· 856 Innervation und Altersabhängigkeit · ·· 859

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30 Blut-Hirn-Schranke, Liquor cerebrospinalis, Hirndurchblutung und Hirnstoffwechsel

30.1

Schlaganfall

In „Wohlstandsländern“ steht der Schlaganfall an dritter Stelle der Todesursachen. Falls die Patienten einen Schlaganfall überleben, bleiben häufig dauerhafte Behinderungen der Patienten bestehen. Schlaganfälle beruhen meist auf einem Gefäßverschluss einer hirnversorgenden Arterie (ischämischer Schlaganfall) und deutlich seltener auf einer Blutung in das Hirngewebe (hämorrhagischer Schlaganfall). Das Ausmaß der Schädigung des Hirngewebes hängt von der Dauer und der Ausdehnung der Mangeldurchblutung ab, die durch den Gefäßverschluss hervorgerufen wird. Nach dem Gefäßverschluss kommt es in manchen Fällen spontan zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Wiedereröffnung des Gefäßes. Wenn ein ischämischer Schlaganfall früh genug erkannt wird, kann auf einer „Stroke Unit“, einer speziell hierfür geschaffenen Krankenhausabteilung, durch die Infusion von blutgerinnselauflösenden (thrombolytischen) Arzneimitteln die Wiedereröffnung des Gefäßes beschleunigt werden.

30.2

Blut-Hirn- und Blut-Liquor-Schranke

Im Gehirn wird das Blut in den Kapillaren vom Hirngewebe durch eine Barriere, die Blut-Hirn-Schranke, getrennt. Im Wesentlichen besteht sie einerseits aus Tight Junctions (engen Verbindungsstellen) zwischen den Endothelzellen, andererseits aus den Zellmembranen der Endothelzellen und einer „metabolischen Barriere“ innerhalb der Endothelzellen. Die Blut-Hirn-Schranke hält eine Reihe von Substanzen aus der Blutbahn vom Hirngewebe fern. Sie ist unselektiv durchlässig für lipidlösliche Verbindungen und selektiv durchlässig für Substanzen, die über carriervermittelte Transporte ins Gehirn gelangen, wie D-Glucose und Ketonkörper. Obwohl Tight Junctions im Kapillarendothel die Regel sind, ist ein kleiner Anteil der Hirnkapillaren fenestriert, und zwar im Bereich der Plexus choroidei und zirkumventrikulären Organe. In diesem Fall liegt die Barriere im nahe gelegenen Ependym (sog. Blut-Liquor-Schranke). Die Liquorbildung erfolgt hauptsächlich in den Plexus choroidei, in geringerem Maße auch an den Kapillaren der Blut-Hirn-Schranke. Die Ionenkonzentrationen des Liquor cerebrospinalis werden in besonders engen Grenzen konstant gehalten; dies ist Voraussetzung für die normale Funktion des Gehirns. Paul Ehrlich beobachtete 1885, dass intravenöse Injektion bestimmter Farbstoffe bei Versuchstieren zu einer Färbung aller Organe mit Ausnahme des Gehirns führte und nannte diese spezielle Barriere zwischen Gehirn und Blut Blut-Hirn-Schranke.

Funktionelle Bedeutung der Blut-Hirn-Schranke Die optimale Funktion der Organe beruht auf einem konstant regulierten inneren Milieu des Gesamtorganismus. Diese Regulation reicht für das Zentralnervensystem nicht aus. So ist das Zentralnervensystem durch die BlutHirn-Schranke zusätzlich abgeschirmt, wodurch ein spe-

zielles inneres Milieu innerhalb des inneren Milieus des Organismus geschaffen wird. Substanzen, die eine Wirkung auf das Gehirn ausüben, müssen die Blut-Hirn-Schranke überwinden können, d. h. „liquorgängig“ sein, wie meist gesagt wird. Dies gilt für endogen gebildete Verbindungen, z. B. Hormone, in gleicher Weise wie für exogen zugeführte Verbindungen, z. B. Pharmaka. Für die Fähigkeit, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden, ist bei vielen Pharmaka und Hormonen das Ausmaß ihrer Bindung an Plasmaproteine maßgeblich. So liegen Steroidhormone und Schilddrüsenhormone im Plasma in gebundener und, in weit geringerem Maße, ungebundener Form vor (Kap. 16). Der Anteil des Hormons, der an Plasmaproteine gebunden ist, kann wegen der Barriere für Proteine nicht aus dem Plasma ins Zentralnervensystem gelangen. Im Zentralnervensystem wirksam werden kann hauptsächlich der freie, ungebundene Anteil. Andere endogen gebildete Substanzen, wie Bilirubin, werden durch eine hohe Bindung an Plasmaproteine aus dem Gehirn weitgehend ferngehalten. Bei Frühgeborenen kann die Bilirubinkonzentration im Blut infolge Hämolyse und langsamem Abbau stark erhöht sein; damit wird die Bindungsfähigkeit der Plasmaproteine überschritten. Nun liegt freies, ungebundenes Bilirubin im Blut vor, welches in das Hirngewebe gelangen kann. Die hieraus resultierenden hohen Bilirubinkonzentrationen im Gehirn können zu irreversiblen Hirnschädigungen führen (Krankheitsbild des Kernikterus). Dies muss durch rechtzeitige Austauschtransfusionen verhindert werden.

Die Blut-Hirn-Schranke als Barriere Lokalisation der Blut-Hirn-Schranke Injektion von elektronenoptisch sichtbaren Markierungsstoffen (z. B. Meerrettichperoxidase) in die Blutbahn führt im elektronenmikroskopischen Bild zu einer Schwärzung des Gefäßraums der Hirnkapillare; der Markierungsstoff kann aber nicht zwischen den Endothelzellen durchtreten, die das Kapillarblut umgeben (Abb. 30.1 A). Dies verhindern die Tight Junctions. Sie sind die einzige Barriere zwischen Blut und Gehirngewebe, wie durch zusätzliche Experimente mit Injektion der Markierungsstoffe in den Liquor cerebrospinalis nachgewiesen wurde. Hierbei füllen sich die Räume zwischen den Endothelzellen von der Liquorseite her bis zu den Tight Junctions (Abb. 30.1 B). Die Astrozytenfortsätze blockieren nicht die Passage der Markierungsstoffe. Obwohl sie die Hirnkapillaren vollständig umgeben (Abb. 30.2), üben sie keine Schrankenfunktion aus, wie früher angenommen wurde. Hingegen spielen die Astrozyten eine wichtige Rolle bei der Induktion und Aufrechterhaltung der Schrankeneigenschaften der Endothelzellen. Auch im Rückenmark bis hin zu den peripheren Nerven existiert eine Blut-Hirn-Schranke.

Metabolische Schranke Viele Substanzen können nicht aus dem Blut in die Endothelzellen aufgenommen werden; andere, die aufgenommen werden, werden durch Enzyme so verändert, dass sie in dieser Form nicht in das Gehirngewebe

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30.1 Blut-Hirn- und Blut-Liquor-Schranke

Markierungsstoff Blut

Astrozyt Hirnkapillare

Endothelzelle Tight Junction Blut Hirn bzw. Liquor A Markierung des Blutes

Endothel

Hirngewebe

Mitochondrium

Tight Junction

Basalmembran Astrozytenfortsatz

B Markierung von Liquor

Abb. 30.1 Nachweis der Schrankenfunktion der Tight Junctions. Oben jeweils das Gefäßlumen, unten das Hirngewebe, dazwischen die Endothelzellen der Hirnkapillaren. Bei Gabe des Markierungsstoffs in das Blut (A) wird die Penetration in das Hirngewebe an den Tight Junctions zwischen den Endothelzellen aufgehalten. Dieselben Strukturen verhindern auch die Passage des Markierungsstoffes aus dem Liquor cerebrospinalis in das Blut, wenn der Markierungsstoff in den Liquor injiziert wird (B). Die Markierungsstoffe werden an den Kapillaren vieler anderer Organe nicht durch Tight Junctions aufgehalten.

gelangen können. So wird L-Dopa, ein Baustein der Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin, in das Endothel aufgenommen. Dort wird L-Dopa enzymatisch umgewandelt, so dass es nicht ins Gehirn gelangt. Die endothelialen Enzyme funktionieren damit als „metabolische“ Schranke. Diese metabolische Schranke kann im Rahmen einer Therapie durchbrochen werden: Beim Krankheitsbild des Morbus Parkinson liegt eine Verarmung von Dopamin im Striatum vor (Kap. 5, 26). Mit der Gabe hoher Dosen von L-Dopa kann die metabolische Schranke durch ein hohes Substratangebot überwunden werden, so dass letztlich die Dopaminkonzentration im Striatum ansteigt.

Erhöhte Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke Eine erhöhte Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke kann durch verschiedene Noxen ausgelöst werden. Schädigung der Gefäße bei Ischämie (z. B. Schlaganfall) und Trauma kann zu einem Austritt von Plasmaflüssigkeit in das Hirninterstitium führen. Ursache ist die Freisetzung von Entzündungsmediatoren, wie Interleukinen, vom geschädigten Hirngewebe. Das hierbei

Abb. 30.2 Morphologie einer Hirnkapillare. Die Hirnkapillaren (Endothel und Basalmembran) sind rundum vollständig von Astrozytenfortsätzen umgeben. Die Zwischenräume zwischen den Astrozytenfortsätzen sind beträchtlich weiter als die zwischen den Endothelzellen an den Tight Junctions; deshalb stellen nur die Tight Junctions das morphologische Substrat der Blut-Hirn-Schranke dar, nicht aber die Astrozytenfortsätze.

entstehende Hirnödem wird als vasogenes Ödem bezeichnet, da ihm ein vermehrter Durchtritt von Flüssigkeit aus den Blutgefäßen zugrunde liegt. Außerdem entwickelt sich eine weitere Form des Hirnödems, das zytotoxische Ödem, welches primär auf einer Zellschwellung infolge Mangelversorgung der Gehirnzellen beruht. Bei der Therapie von Hirntumoren wird versucht, durch eine vorübergehende Öffnung der Blut-HirnSchranke tumorhemmende Substanzen aus dem Blut in tumoröses Hirngewebe zu applizieren. Eine vorübergehende Öffnung der Blut-Hirn-Schranke wird hierbei durch Infusion stark hypertoner Lösungen in die A. carotis erreicht. Eine kurzdauernde Öffnung der Blut-Hirn-Schranke hat keine beträchtlichen funktionellen Folgen. So führt ein kurz dauernder starker Anstieg des Blutdrucks unter physiologischen Bedingungen (z. B. Eintauchen in kaltes Wasser nach Saunaaufenthalt) zu einer vorübergehenden Öffnung der Blut-Hirn-Schranke, ohne dass es zu spürbaren oder nachweisbaren Schädigungen oder Beeinträchtigungen der Hirnfunktion kommt. Leukozyten können normal die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren. Wenn T-Lymphozyten jedoch durch ein spezifisches Antigen aktiviert werden, können sie in der

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851

30 Blut-Hirn-Schranke, Liquor cerebrospinalis, Hirndurchblutung und Hirnstoffwechsel

1 –4 10

Diazepam (Valium)

Nicotin

Äthylalkohol

Phenylalanin

Da die Tight Junctions einen Durchtritt zwischen den Zellen verhindern, bleibt nur der Weg durch die Endothelzellen übrig. Die Membran der Endothelzellen lässt lipidlösliche, nichtpolare Substanzen passieren, während sie polare Nichtelektrolyte und Ionen zurückhält. So diffundieren nicht nur die Atemgase O2 und CO2 entlang ihrem Partialdruckgradienten über die Blut-Hirn-Schranke, sondern auch zahlreiche endogen gebildete und exogen zugeführte Verbindungen, sofern sie lipidlöslich sind (Abb. 30.3). Bei teildissoziierten Substanzen spielt auch der Dissoziationsgrad eine Rolle, weil nur die undissoziierte Form permeabel ist. Der Dissoziationsgrad wird durch den pK-Wert der Substanz und den pH-Wert des Mediums (Kap. 11) bestimmt. Die einzige polare Verbindung, die sich in nennenswertem Maß durch die Tight Junctions der zerebralen Endothelzellen hindurchzwängen kann, ist das Wasser mit seiner geringen Molekülgröße.

Coffein Heroin

L-Dopa

D-Glucose Penicillin

Codein Dopamin

10

L-Glucose Glycin

100

Chloramphenicol

Lipidlöslichkeit

Extraktion (%)

852

Adrenalin Kalium

–3

10

10

–2

–1

10

0

10

1

10

10

2

Öl-Wasser-Verteilungskoeffizient

Abb. 30.3 Abhängigkeit der Passage über die Blut-HirnSchranke von der Lipidlöslichkeit. Die Lipidlöslichkeit wurde anhand des Öl-Wasser-Verteilungskoeffizienten gemessen (hohe Werte bedeuten hohe Lipidlöslichkeit). Der Übertritt von Substanzen durch die Blut-Hirn-Schranke (Extraktion durch das Gehirn) wurde verglichen mit dem von frei permeablen Substanzen, deren Extraktion mit 100% angesetzt wurde. Während bei den meisten Substanzen für den Durchtritt durch die Blut-Hirn-Schranke die Lipidlöslichkeit maßgeblich ist (geringe Abweichung von der orangen Mittelwertlinie), zeigen die grün markierten Substanzen eine höhere Extraktion als aufgrund ihrer Lipidlöslichkeit zu erwarten ist (deutliche Abweichung nach links von der orangen Mittelwertlinie). Diese Substanzen werden über Carrier transportiert.

aktivierten Form über das Kapillarendothel in das Hirngewebe eintreten. Diese Passage beginnt mit einer Adhäsion des aktivierten T-Lymphozyten am Endothel, welche durch eine Anzahl von Adhäsionsmolekülen auf der Endotheloberfläche vermittelt wird. Diese Adhäsionsmoleküle interagieren mit Liganden, die an der Oberfläche der Leukozyten vorhanden sind. Nach der para- und transzellulären Endothelpassage können die aktivierten Leukozyten sich durch die Sekretion von Matrix-Metalloproteasen Zugang zum Parenchym verschaffen.

Die Blut-Hirn-Schranke als austauschende Membran Eine völlige Abdichtung des Gehirns vom Blut durch Tight Junctions zwischen den Endothelzellen und eine metabolische Schranke kann nicht funktionsgerecht sein; zur Versorgung des Hirngewebes müssen Atemgase und Nährstoffe über die Blut-Hirn-Schranke gelangen können.

Carriervermittelter Transport Die vom Gehirn benötigten Stoffwechselsubstrate sind hydrophil und teilweise auch dissoziiert. So ist Glucose, das wesentliche Substrat des Stoffwechsels im Gehirn, nicht lipidlöslich ebenso wie bestimmte Aminosäuren, die die Gehirnzellen nicht selbst synthetisieren können. Jede einzelne der vom Gehirn benötigten Substanzen muss somit an der Blut-Hirn-Schranke erkannt werden und mit Hilfe spezifischer Transportsysteme über die Blut-Hirn-Schranke (sowohl die luminale als auch die antiluminale Membran der Endothelzellen) transportiert werden. Hierdurch kann das Gehirn seine Substrataufnahme sehr differenziert steuern. Neben Carriersystemen für D-Glucose existieren Carrier für verschiedene Gruppen von Aminosäuren, von Monocarbonsäuren, wie Lactat und Ketonkörpern, und für Peptide (Kap. 2). Diese passiven Transportvorgänge ermöglichen eine selektive Extraktion von Substanzen aus dem Blut in das Hirngewebe; sie übertrifft bei weitem das, was physikochemisch aufgrund der Lipidlöslichkeit möglich ist (Abb. 30.3, grün markierte im Vergleich zu orange markierten Substanzen). Die Abhängigkeit des Gehirnstoffwechsels vom Substrat Glucose spiegelt sich in einer hohen Dichte von Carriern für Glucose auf dem Weg vom Kapillarblut bis zu den Nervenzellen wider. So sind in allen Endothelzellen mit Blut-Hirn-Schranken-Funktion Glucosetransporter Typ 1 (Glut 1) an den luminalen und abluminalen Membranen in hohen Konzentrationen vorhanden. Wie sollte sonst auch die dringend benötigte Glucose aus dem Blut in das Interstitium des Gehirns gelangen können? Nach dem Transport durch die beiden Endothelzellmembranen stehen Glucosetransporter vom Typ Glut 1 auch an den Fortsätzen der Astrozyten, welche die Hirnkapillaren umgeben, zur Verfügung. Schließlich erfolgt die Aufnahme der Glucose in die Nervenzellen mit Hilfe eines zweiten Glucosetransporters Typ 3 (Glut 3).

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30.1 Blut-Hirn- und Blut-Liquor-Schranke weite Zwischenräume

Ventrikelliquor mäßig durchlässige Tight Junctions gering durchlässige Tight Junctions

Ependym

Ventrikelliquor

Ventrikelliquor

Plexusepithel

Ependym Hirngewebe

dichte Tight Junctions fenestriert

Hirngewebe fenestriert

Blut

Kapillare

Kapillare Kapillare

A Blut-Hirn-Schranke

Plexus choroideus zirkumventrikuläre Organe B Blut-Liquor-Schranke

Abb. 30.4 Gegenüberstellung von Blut-Hirn-Schranke und Blut-Liquor-Schranke. A Der weit überwiegende Teil der zerebralen Kapillaren enthält Tight Junctions, die das Substrat der Blut-Hirn-Schranke darstellen. B Ein kleiner Teil von zerebralen Kapillaren an wenigen Stellen des Gehirns (zirkumventrikuläre Organe, Plexus choroideus) enthält fe-

Aktiver Transport An der Blut-Hirn-Schranke laufen nicht nur passive Austauschvorgänge auf diffuser und carriervermittelter Basis ab, sondern auch aktive Transportvorgänge. Grundlage des aktiven Transports ist, im Gegensatz zum carriervermittelten Transport, eine Asymmetrie der Zelle (Kap. 4), welche die Na+-K+-ATPase in der antiluminalen, also dem Hirngewebe zugewandten Membran der Kapillare enthält. Diese Na+-K+-Pumpe transportiert K+ aus dem Interstitium des Gehirngewebes in die Endothelzellen und damit in das Kapillarblut. So wird die interstitielle K+-Konzentration niedrig gehalten, was die elektrischen Potenziale im Gehirn stabilisiert. Der gleichzeitig ablaufende Eintransport von Na+ in das Interstitium des Gehirns hat zwei Konsequenzen: Zum einen bewirkt er niedrige Na+-Konzentrationen in den Endothelzellen der Hirnkapillaren. Ähnlich wie an der Niere kann dieser Na+-Gradient extra-/intrazellulär genutzt werden, um andere Substanzen in der Endothelzelle anzureichern und damit aus dem Gehirn ins Blut zu transportieren. Ein Beispiel hierfür ist Glycin, ein inhibitorischer Transmitter, dessen Konzentration im Hirngewebe durch einen Na+getriebenen Einstrom in die Endothelzelle niedrig gehalten werden kann. Die andere Konsequenz dieses Na+Transports aus dem Blut in das Interstitium ist ein osmotischer Wasserfluss. So entsteht interstitielle Flüssigkeit (Liquor) im Gehirn, welche in die Zisternen und Subarachnoidalräume abfließt. Dieses interstitielle Volumen (Gesamtvolumen ohne Zisternen und Subarachnoidalräume ca. 220 ml, Halbwertszeit der Umsatzrate ca. 12 Stunden) nimmt ca. 18 % des Volumens der grauen Sub-

nestrierte, also durchlässige Kapillaren. Die Blut-LiquorSchranke ist insgesamt durchlässiger als die Blut-HirnSchranke. Sie ermöglicht in den zirkumventrikulären Organen Substanzbewegungen aus dem Blut ins Hirngewebe und aus dem Hirngewebe ins Blut.

stanz und ca. 13 % des Volumens der weißen Substanz ein (geringes interstitielles Volumen im Gehirn). Da die Na+-K+-ATPase in allen Hirnkapillaren vorkommt, steuert sie im Bereich der gesamten Blut-Hirn-Schranke nicht nur die Größe der interstitiellen Elektrolytkonzentrationen, sondern auch die Liquorbildung; mehr als ein Fünftel des Liquors wird im Gehirngewebe an den Hirnkapillaren gebildet, der Rest in den Plexus choroidei an der Blut-Liquor-Schranke.

Grundlagen der Blut-Liquor-Schranke Eine Analyse des gesamten Kapillarendothels im Gehirn zeigt, dass das beschriebene Endothel mit dichten Tight Junctions (Abb. 30.4 A) weit vorherrscht, aber nicht ausschließlich zu finden ist. Weniger als ein Tausendstel der Kapillaroberfläche hat im Gehirn eine andere, mehr fenestrierte Struktur. Da hier das Ependym eine, wenn auch mäßige, Barrierefunktion hat, wird von einer Blut-Liquor-Schranke gesprochen (Abb. 30.4 B). An Teilen des Hypothalamus und der Hypophyse, den sog. zirkumventrikulären Organen, ist ein Austritt von proteinfreien Plasmabestandteilen in das Hirngewebe möglich (Abb. 30.4 B1). Ein Übertritt in den bei diesen fenestrierten Kapillaren immer nahe gelegenen Ventrikelliquor wird durch eine relativ enge Ependymanordnung an diesen Stellen weitgehend verhindert. Diese Anordnung ermöglicht einen Übertritt von im Gehirn gebildeten Hormonen in das Blut, in dem sie zu ihren Erfolgsorganen gelangen (Kap. 16). Eine gewisse Blut-Liquor-Schranke existiert auch am Plexus choroideus, der liquorbildenden Struktur der Ventrikel (Abb. 30.4 B2). Die Schranke ist hier

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853

854

30 Blut-Hirn-Schranke, Liquor cerebrospinalis, Hirndurchblutung und Hirnstoffwechsel Tabelle 30.1

Na+ K+ 2+

Ca

2+

Ionenkonzentrationen im Plasma, Plasmawasser, Ultrafiltrat des Plasmas und Liquor cerebrospinalis Plasma mmol/l

Plasmawasser mmol/kg H2O

Liquor mmol/kg H2O

Plasma Ultrafiltrat mmol/kg H2O

143,0

153,7

149,0

137,0

4,0

4,3

3,0

3,8

2,5

2,7

1,0

2,4

Mg

0,8

0,8

1,0

0,7

Cl–

105,0

112,9

128,0

109,0

0,9

1,0

0,6

0,9

Phosphat – Lactat –

1,0

1,1

HCO3–

26

28

Protein (g/l)

70

0

jedoch schwächer ausgebildet, so dass ein Stoffaustausch zwischen Blut, Hirngewebe und Liquor, der für die Aufnahme von Vitaminen und Nucleotiden (DNA-Synthese) in das Gehirngewebe eine Rolle spielt, möglich ist.

Substanzbewegungen über die Blut-Liquor-Schranke Das Epithel der Plexus choroidei hat die anatomischfunktionellen Eigenschaften anderer isotone Flüssigkeit sezernierender oder resorbierender Epithelien, wie Gallenblase oder proximaler Tubulus. Der hier gebildete Liquor ist kein einfaches Ultrafiltrat. Dies zeigt ein Vergleich der Ionenkonzentrationen im Ultrafiltrat des Plasmas mit denen im Liquor (Tab. 30.1). Der von den Plexus choroidei gebildete Liquor befindet sich in den Ventrikeln, Zisternen und im Subarachnoidal- und Spinalraum (Gesamtvolumen ca. 140 ml, Halbwertszeit der Umsatzrate ca. 2 – 6 Stunden; zum Vergleich: interstitielles Volumen des Gehirns, S. 853). Dieser Liquor ist durch Lumbalpunktion zu gewinnen. Normal ist er wasserhell und klar und enthält fast keine Leukozyten (ca. 1 Leukozyt/µl).

Kontinuität des Liquors im Interstitium und in den Ventrikeln Wir unterscheiden zwei Liquorkompartimente: Das eine (Ventrikel, Zisternen, Spinal- und Subarachnoidalraum) wird von den Plexus choroidei gespeist, das andere (interstitielle Flüssigkeit) von den zerebralen Kapillaren. Zwischen diesen Liquorkompartimenten liegt entweder das Ependym der Ventrikelwände oder auf der Hirnoberfläche die Pia arachnoidea. Diese Membranen trennen allerdings beide Liquorkompartimente nicht vollständig, sondern ermöglichen eine mäßige Vermischung; sie sind auch für große Moleküle durchlässig.

1,3 26 0,2

1,0 33 0

Resorption und Regulation des Liquor cerebrospinalis Resorption des Liquor cerebrospinalis Während bei der Produktion des Liquor cerebrospinalis die Zusammensetzung der gebildeten Flüssigkeit exakt reguliert wird, ist eine solche Selektivität bei der Resorption nicht festzustellen. Die Resorption des Liquors erfolgt in den Arachnoidalvilli der zerebralen Sinus und in den Wurzeltaschen der Hirn- und Spinalnerven. Maßgeblich ist der hydrostatische Druckgradient zwischen Liquor und hirnvenösem Blut, entlang dem Liquor ins Blut abfließt, wobei die Arachnoidalvilli Klappenfunktion ausüben. Dieser Resorptionsmodus ermöglicht in Grenzen eine erhöhte Liquorresorption bei einem erhöhten hydrostatischen Gradienten (erhöhter Liquordruck), der als Folge von Raum fordernden Prozessen im Gehirn, wie Blutung, Trauma und/oder Hirnödem, auftreten kann.

Homöostatische Regulation der Zusammensetzung des Liquors Die Ionenkonzentrationen des Liquor cerebrospinalis werden noch genauer einreguliert als die des Plasmas. Eine Störung dieser Homöostase hat klinisch sichtbare Konsequenzen, wie das Beispiel einer Azidose zeigt. Eine akute respiratorische Azidose führt zu stärkeren neurologischen Symptomen und Einschränkungen der Vigilanz als eine metabolische Azidose gleichen Grades, trotz gleicher pH-Senkung im Plasma. Ursache ist die stärkere Ansäuerung des Liquors (auch im Interstitium) bei einer respiratorischen Azidose, da CO2 frei diffusibel über die Blut-Hirn-Schranke ist. Folge ist eine Senkung des Hirnstoffwechsels und damit eine Verschlechterung der Hirnfunktion. Dagegen können bei einer metabolischen Azidose die H+-Ionen aus dem Blut nicht einfach über die Blut-Hirn-Schranke diffundieren, so dass der Liquor-pH-Wert sich wenig ändert und damit die Hirnfunktion weniger beeinträchtigt wird.

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30.3 Hirndurchblutung und Hirnstoffwechsel

30.3

Hirndurchblutung und Hirnstoffwechsel

Die Durchblutung des gesamten Gehirns kann nach dem Fickschen Prinzip bestimmt werden. Sie liegt bei 50 ml/ 100 g Hirngewebe pro Minute. Der O2-Verbrauch beträgt 3 ml/100 g/min. Als Substrat des Hirnstoffwechsels dient fast ausschließlich Glucose. Ketonkörper können zusätzlich verstoffwechselt werden, wenn ihre Plasmakonzentrationen hoch sind (z. B. beim Fasten). Der Verschluss einer Hirnarterie (Schlaganfall) führt zu neurologischen Ausfallerscheinungen, deren Schwere von der Durchblutungsverminderung abhängt. Akutes Herzversagen (z. B. beim schweren Herzinfarkt) führt zum vollständigen Durchblutungsstopp, auch im Gehirn; wenn die Herzfunktion nicht innerhalb von 3 – 4 Minuten wiederhergestellt ist, kommt es zur irreversiblen Hirnschädigung (Ischämietoleranz des Gehirns maximal 7 – 10 min). Die Durchblutung ist im Gehirn eng an den lokalen Stoffwechsel gekoppelt, der regional unterschiedlich hoch ist. Lokale Funktionssteigerungen im Gehirn (mehr Aktionspotenziale) führen zu lokaler Stoffwechsel- und Durchblutungszunahme. Dabei beruht die Zunahme des Stoffwechsels auf einer Aktivierung von Membranpumpen, während die Zunahme der Durchblutung auf die lokale Freisetzung von funktions(K+) und stoffwechselabhängigen (H+, Adenosin) Faktoren, die dilatierend wirken, zurückzuführen ist. Bei starken Blutdruckerhöhungen im oberen Grenzbereich der Autoregulation werden sympathische noradrenerge Nervenfasern an den Hirngefäßen aktiviert. Durch die hierdurch ausgelöste Konstriktion der Hirngefäße wird eine druckbedingte Mehrdurchblutung reduziert und die Blut-Hirn-Schranke abgedichtet. Bei arteriosklerotischen und degenerativen Erkrankungen des Gehirns sind Stoffwechsel und Durchblutung des Gehirns reduziert.

Globale Durchblutung und globaler Stoffwechsel Beispiele niedriger Hirndurchblutung Wird der Organismus starken Beschleunigungen ausgesetzt, wie dies bei Düsenjägerpiloten und beim Start zu Raumflügen der Fall ist, so folgt das Blut der Gravitationskraft und steht in geringerem Maße zur Perfusion des Gehirns zur Verfügung. Dies kann zum Schwarzwerden vor den Augen und Bewusstseinsverlust führen, die auch schon bei ungenügender Regulation während einer orthostatischen Belastung (Aufstehen aus liegender Position) auftreten können. Eine niedrige Hirndurchblutung kann auch durch kräftige Hyperventilation erzeugt werden; das eigenartige benommene Gefühl (Ausblasen von vielen Kerzen) wird durch eine konstriktorische Wirkung des verminderten CO2-Partialdrucks an den Hirngefäßen verursacht, die eine Abnahme der Hirndurchblutung zur Folge hat.

Normale Werte des Gesamthirns Durchblutung, O2-Verbrauch und Substrataufnahme des gesamten Gehirns können nach der Methode von Kety u. Schmidt (20), die auf dem Fick’schen Prinzip (Kap. 8) basiert, gemessen werden. Hierzu wird ein Fremdgas (N2O oder radioaktives Gas) eingeatmet. Gemessen wird die vom Gehirn aufgenommene Menge dieses Gases und seine Konzentration im arteriellen und hirnvenösen Blut. Die arterielle Konzentration des Fremdgases (Ca) kann in jeder beliebigen Arterie bestimmt werden. Für die Messung der hirnvenösen Konzentration (Cv) muss Blut aus einem Bulbus der V. jugularis durch Punktion oder einen retrograd vorgeschobenen Katheter entnommen werden. Hirndurchblutung = Vol aufgenommene Menge des Indikators = t Zeit  ðCa CvÞ

ð30:1Þ

Unter normalen Bedingungen beträgt die Hirndurchblutung ca. 50 ml/100 g Hirngewebe pro Minute für das gesamte Gehirn. Wird im arteriellen und hirnvenösen Blut zusätzlich die O2-Konzentration und die Konzentration der Stoffwechselsubstrate des Gehirns gemessen, so können der O2-Verbrauch und die Substratutilisation berechnet werden: O2-Verbrauch bzw. Substratutilisation = Hirndurchblutung · (Ca – Cv)

(30.2)

Der normale O2-Verbrauch beträgt ca. 3 ml/100 g Hirngewebe pro Minute. Bei einem Gehirngewicht von 1400 g ergibt dies einen Energiebedarf von ca. 15 % des Gesamtbedarfs des Organismus, was dem Energiebedarf einer Kühlschrankinnenbeleuchtung (15 W) entspricht. Als Substrat des Hirnstoffwechsels wird vom Gehirn praktisch ausschließlich Glucose verwendet. Nur im Falle sehr hoher Plasmakonzentrationen von Ketonkörpern können auch diese verstoffwechselt werden, wobei dann bis zur Hälfte des Energiebedarfs durch Ketonkörper gedeckt werden kann. Eine nennenswerte Verbrennung von Ketonkörpern durch das Gehirn findet unter physiologischen Bedingungen beim mehrtägigen Fasten statt und unter pathophysiologischen Bedingungen z. B. bei der diabetischen Ketoazidose.

Ischämie des Gehirns Ursache eines Schlaganfalls ist meist der Verschluss einer Hirnarterie (Hirninfarkt). Durch die Abnahme der Durchblutung in den betroffenen Hirnarealen kommt es zu O2- und Substratmangel, die zu neurologischen Ausfallerscheinungen führen. Die Stärke der Ausfallerscheinungen und ihre Reversibilität wird wesentlich durch das Ausmaß der Durchblutungsabnahme, der Ischämie, bestimmt (Abb. 30.5 unten). Die Ausfallerscheinungen reichen vom Schwarzwerden vor den Augen über Bewusstseinsverlust (Ohnmacht) bis zum Versagen der synaptischen Übertragung (Null-Linien-EEG) und zu irreversiblen Schäden (Gewebenekrose).

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855

856

30 Blut-Hirn-Schranke, Liquor cerebrospinalis, Hirndurchblutung und Hirnstoffwechsel freies Intervall

Überlebenszeit

4–7s

15 – 20 s

akute, vollständige Ischämie Störungen

keine

Verlust des Bewusstseins Veränderungen im EEG

Wiederbelebungszeit

7 – 10 min Erlöschen des EEG, Versagen der synaptischen Übertragung

irreversible Schäden, Versagen der Membranpumpen

O2 -Defizit

chronische, unvollständige Ischämie Hirndurchblutung

Gefäßverengung Durchblutung (%)

100

80

Abb. 30.5 Schädigungsfristen und Schwellenwerte der Durchblutung des Gehirns. Bei einer vollständigen Ischämie (oben), z. B. bei Herzstillstand, wird das Ausmaß des Funktionsausfalls und der Gewebeschädigung durch die Dauer der Ischämie bestimmt. Bei einer unvollständigen Ischämie

Eine vollständige Ischämie (keine Durchblutung) kann lokal im Zentrum eines Hirninfarkts auftreten, bei einem Herzstillstand aber auch global das gesamte Gehirn erfassen. Dann ist es entscheidend, in welcher Zeit eine ausreichende Funktion des Herzens wiedergewonnen werden kann. Wie in Abb. 30.5 (oben) dargestellt, beträgt die Wiederbelebungszeit des Gehirns 7 – 10 Minuten. Trotzdem muss der Herzstillstand innerhalb einer kürzeren Zeit (3 – 4 Minuten) behoben werden, weil das Herz in der Regel für einige Minuten nach dem Stillstand keinen ausreichenden Perfusionsdruck erzeugen kann und so trotz wieder schlagendem Herzen irreversible Schäden im Gehirn entstehen können. Bei einer Hirnischämie wird der Hirnstoffwechsel infolge des O2-Mangels gezwungen, von der normalen aeroben Glykolyse (normal über 90% aerob, unter 10% anaerob) auf anaerobe Glykolyse umzuschalten. Das ischämische Gewebe wird hierbei azidotisch; es kommt zur Anreicherung von Lactat. Außerdem wird die Reaktionsfähigkeit der Hirngefäße beeinträchtigt, so dass die Durchblutung nicht mehr angemessen reguliert werden kann.

35

< 20

(unten), z. B. im Randbezirk eines Hirninfarkts, spielt neben der Dauer der Ischämie das Ausmaß der Durchblutungssenkung eine entscheidende Rolle für den Funktionsausfall und die Gewebeschädigung.

Lokale Durchblutung und lokaler Stoffwechsel Lokale Messmethoden Da physiologische und pathophysiologische Zustandsänderungen im Gehirn selten das ganze Gehirn, sondern in der Regel nur Teile betreffen, sind zur Erfassung von regionalen Änderungen lokale Messmethoden für Stoffwechsel und Durchblutung des Gehirns entwickelt worden. Diese Methoden haben gemeinsam, dass ein Indikator, der radioaktiv markiert ist, über die Blutbahn dem Gehirn zugeführt wird. Der Indikator wird entweder eingeatmet oder injiziert. Gemessen wird der Verlauf der Konzentration des Indikators im arteriellen Blut und im Hirngewebe. Für die Messung der Konzentration im Hirngewebe werden um den Kopf herum γ-Detektoren platziert, welche die vom Gewebe ausgehende Strahlung messen. Für die Messung der regionalen Hirndurchblutung werden gut diffusible Indikatoren, z. B. 133Xe, verwendet. Die Anreicherung dieser Indikatoren im Hirngewebe und ihre Auswaschkinetik sind abhängig von der Höhe der jeweiligen regionalen Durchblutung. Der regionale Sauerstoffverbrauch wird mit 15O gemessen. Für die Messung des lokalen Glucosestoffwechsels wird das Glucoseanalog 2-Desoxyglucose verwendet, das mit 18F radioaktiv markiert ist. 2-Desoxyglucose wird wie Glucose in die Gehirnzellen aufgenommen und phosphoryliert, kann dann aber nicht weiter verstoffwechselt werden; sie akkumuliert deshalb während der Messzeit im Gehirngewebe, und zwar in Abhängigkeit von ihrer Phosphory-

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30.3 Hirndurchblutung und Hirnstoffwechsel

Glucosestoffwechsel

Sauerstoffverbrauch

Hirndurchblutung

Sauerstoffextraktion

Abb. 30.6 Messung von Durchblutung, Stoffwechsel und Morphologie des Gehirns bei einem Patienten mit Hirninfarkt. Durchblutung, O2-Verbrauch und Glucosestoffwechsel wurden mit Hilfe der Positronenemissionstomographie (PET) gemessen. Die Morphologie wurde anhand von Magnetresonanztomographie bestimmt. Das Gehirn ist in einer horizontalen Schnittebene dargestellt. Die Messwerte sind farbkodiert: niedrig = schwarz – blau – grün – gelb – rot =

lierungsrate, die der von Glucose entspricht. In Hirnarealen mit hohem Stoffwechsel reichert sich also mehr radioaktiver Tracer an als in Arealen mit niedrigem Stoffwechsel (15). 15O und 18F sind positronenemittierende Substanzen. Die sehr aufwändige Messmethode zu ihrer Bestimmung wird Positronenemissionstomographie (PET) genannt. Ein Positron trifft bei seiner Abstrahlung innerhalb weniger Millimeter auf ein Elektron; hierbei entstehen zwei γ-Strahlen mit einem Winkel von 180 , die durch zwei gegenüberliegende γ-Detektoren erfasst werden. Bei entsprechender Anordnung und Anzahl von Detektoren ist eine Lokalisation des Entstehungsorts der γ-Strahlen und damit des radioaktiv markierten Tracers möglich. Üblich ist eine Darstellung des Gehirns in verschiedenen Schnittebenen. Ein Beispiel für eine Schnittebene zeigt Abb. 30.6.

Morphologie

hoch. Die Sauerstoffextraktion entspricht dem Quotienten Sauerstoffverbrauch/Sauerstoffantransport. Die Funktionsparameter Hirndurchblutung, Sauerstoffverbrauch und Glucosestoffwechsel zeigen Ausfälle im Infarktbereich (links anterior). Die Morphologie ist hingegen im Infarktbereich in diesem Fall nicht sichtbar verändert. (Die Aufnahme wurde von Prof. W.-D. Heiss, Max-Planck-Institut für Neurologische Forschung, Köln, zur Verfügung gestellt.)

Funktionsanalyse des Gehirns durch Messung der lokalen Durchblutung und des lokalen Stoffwechsels Die Stoffwechsel- und Durchblutungsgrößen sind in den einzelnen Hirnstrukturen sehr unterschiedlich, jedoch lokal eng aneinander gekoppelt. Im Rahmen einer Regulation muss die Durchblutung an einen wechselnden Bedarf, der durch eine wechselnde Stoffwechselgröße vorgegeben wird, angepasst werden. Ursache einer lokalen Stoffwechselsteigerung ist letztlich eine erhöhte Aktivität von Membranpumpen, die ihrerseits eine Folge von erhöhten elektrischen Entladungen an der betreffenden Stelle ist. Ein Beispiel für die Abhängigkeit der lokalen Stoffwechselgröße vom Funktionszustand der betreffenden Hirnstruktur ist in Abb. 30.7 gezeigt. Mit zunehmender visueller Belastung nimmt die Stoffwechselgröße im visuellen Kortex zu. Folge dieser Stoffwechselsteigerung ist eine Zunahme der Durchblutung, die häufig

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857

30 Blut-Hirn-Schranke, Liquor cerebrospinalis, Hirndurchblutung und Hirnstoffwechsel

visueller Reiz:

Glucosestoffwechsel im visuellen Kortex

komplexe Szene

60

40

wechselndes Schachbrett: beide Augen ein Auge

Anstieg (%)

858

lokale Durchblutung in Ruhe überdurchschnittlich

20

weißes Licht Augen geschlossen

0

Abb. 30.7 Abhängigkeit der lokalen Stoffwechselgröße von der vorgegebenen Reizstärke. Mit zunehmender Stärke und Komplexität des angebotenen visuellen Reizes wird die Stoffwechselgröße im visuellen Kortex gesteigert. Die komplexe Szene bestand im Anblick eines offenbar recht belebten Parks in Los Angeles (nach 22). lokale Durchblutung bei Handbewegung

leichter messbar ist als die lokale Stoffwechselgröße. So kann die Hirnfunktion über die lokale Durchblutung analysiert werden. Ein Vorteil gegenüber neurophysiologischen Ableitmethoden liegt darin, dass große Teile des Gehirns gleichzeitig untersucht werden können. Als Beispiel für eine solche Analyse der Hirnfunktion ist in Abb. 30.8 die Verteilung der lokalen Durchblutung im menschlichen Kortex unter Ruhebedingungen und bei Bewegung der kontralateralen Hand gezeigt. Für die Steuerung dieser Handbewegung werden nicht nur, wie erwartet, präzentrale motorische Regionen, sondern – die erhöhten Durchblutungswerte postzentral machen es deutlich – auch postzentrale sensorische Regionen aktiviert. Dies zeigt die Bedeutung der sensorischen Afferenzen für die normale Bewegungskoordination. Eine weitere Methode der lokalen Funktionsanalyse des Gehirns beruht auf speziellen magnetresonanztomografischen Verfahren. Hierbei werden sowohl funktionsbedingte lokale Änderungen in der Oxy- und Desoxyhämoglobinkonzentration als auch lokale Blutvolumenänderungen erfasst. Diese Methode hat den Vorteil, dass keine radioaktiven Indikatoren gegeben werden müssen. Der Nachteil ist, dass eine Quantifizierung nicht möglich ist.

Lokale Durchblutungsregulation im Gehirn Die Koppelung zwischen funktioneller Aktivität, Stoffwechsel und Durchblutung im Gehirn erfolgt durch die lokale Freisetzung von funktions- und stoffwechselabhängigen Faktoren aus den Zellen in den interstitiellen

unterdurchschnittlich

Abb. 30.8 Analyse der Hirnfunktion mit Hilfe der lokalen Durchblutungsmessung. Bei der Bewegung einer Hand (unten) steigt die lokale Durchblutung im kontralateralen sensomotorischen Kortex als Folge der Stoffwechselsteigerung im Vergleich zum Kontrollzustand in Ruhe (oben) an; dabei überwiegt die postzentrale Durchblutungszunahme. Da die lokale Durchblutungsänderung ein Indikator der lokalen funktionellen Aktivierung ist, kann gefolgert werden, dass bei der Handbewegung sensorische postzentrale Areale zusätzlich zu den präzentralen motorischen Arealen besonders aktiviert wurden (nach 19).

Raum des Gehirns. Hierdurch wird der Tonus der Widerstandsgefäße reguliert. Wichtiger funktionsabhängiger Faktor ist K+, das bei jedem Aktionspotenzial aus dem relativ großen intrazellulären in den relativ kleinen extrazellulären Raum des Gehirns gelangt. Folge der erhöhten neuronalen Aktivität ist somit ein Anstieg der interstitiellen K+-Konzentration. Stoffwechselabhängige, metabolische Faktoren sind H+ und Adenosin, deren Bildungsrate bei einem Missverhältnis zwischen O2-Bedarf und O2-Angebot gesteigert wird. Eine erhöhte interstitielle Konzentration von K+, H+ und Adenosin führt zu einer Dilatation der Widerstandsgefäße des Gehirns. Während K+ eine schnelle Regulation ermöglicht, erfolgt die Feinregulierung über H+ und Adenosin. Diese lokalen Faktoren, K+, H+ und Adenosin, wirken von der Außenseite auf die Widerstandsgefäße des Gehirns und regulieren so deren Tonus. Von der Blutseite her haben sie kaum einen Einfluss, da die Blut-Hirn-

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30.3 Hirndurchblutung und Hirnstoffwechsel

Liquor cerebrospinalis

CO2

pH

Innervation und Altersabhängigkeit O2

Vasodilatation

Bedeutung der Innervation der Hirngefäße Blut-Hirn-Schranke

Im Gehirn hat die Innervation der Gefäße eine geringere Bedeutung für die Durchblutung als in anderen Organen. Die sympathischen, noradrenerg konstringierenden Nervenfasern an den Hirngefäßen werden hauptsächlich bei Blutdrucksteigerungen aktiviert. Sie vermindern eine druckbedingte Mehrdurchblutung oberhalb des autoregulierten Blutdruckbereichs (Kap. 8) und dichten die BlutHirn-Schranke gegen einen erhöhten Flüssigkeitseinstrom in das Gehirn ab. Die Bedeutung der parasympathischen, cholinerg dilatierenden Innervation ist noch unklar, ebenso wie die Innervation mit vasoaktiven Peptiden.

O2 + Na + K + H – Cl – HCO3

CO2 Blut

CO2 O2

Vasokonstriktion

CO2

pH

Veränderungen von Durchblutung und Stoffwechsel im Lauf des Lebens

glatte Gefäßmuskulatur

In den ersten Lebensmonaten steigen Stoffwechsel und Durchblutung des Gehirns an; sie liegen (pro Gramm Hirn) beim Kind höher als beim Erwachsenen, dessen Werte im Verlauf der Pubertät erreicht werden. Mit zunehmendem Alter nehmen Stoffwechsel und Durchblutung erst dann ab, wenn arteriosklerotische Veränderungen in den Hirngefäßen oder degenerative Hirnerkrankungen vorliegen, die ihrerseits zu einer Abnahme führen. Im Alter können zusätzlich zur Glucose Ketonkörper vom Gehirn verstoffwechselt werden, da die Plasmakonzentrationen der Ketonkörper ansteigen. Diesem Anstieg liegt eine verminderte Utilisation der Ketonkörper durch die Skelettmuskulatur, deren Masse im Alter vermindert ist, zugrunde.

O2

Abb. 30.9 Einfluss der Blutzusammensetzung auf die Vasomotorik der Hirngefäße. Von der Blutseite her sind O2 und CO2 wirksam, da sie die Blut-Hirn-Schranke penetrieren und so an den glatten Muskelzellen der Widerstandsgefäße des Gehirns wirksam werden können. Die Wirkungen von O2 sind denen von CO2 entgegengesetzt und schwächer. Sie sind, im Gegensatz zu den Wirkungen von CO2, nicht pHvermittelt.

Schranke im Endothel eine Wirkung zirkulierender Substanzen auf die glatte Muskulatur der Gefäße weitgehend verhindert. Ausgenommen sind die Blutgase, welche die Blut-Hirn-Schranke passieren können. So führt eine Änderung des arteriellen PCO (Hyper-, Hypoventilation) zu einer entsprechenden pH-Änderung im Liquor cerebrospinalis und in der interstitiellen Flüssigkeit, welche die Widerstandsgefäße umgeben. Die pH-Änderung ist dabei der auslösende Faktor für die Gefäßreaktion (Abb. 30.9), nämlich eine Konstriktion bei Senkung des PCO (interstitielle Alkalose) und eine Dilatation bei Erhöhung des PCO (interstitielle Azidose). Eine Senkung des PO führt zu einer Durchblutungserhöhung, die, zumindest teilweise, auf der Freisetzung von Adenosin aus dem Hirngewebe beruhen dürfte. Stickstoffmonoxid (NO) wird nicht nur im Endothel der Hirngefäße gebildet, sondern auch von verschiedenen Zelltypen im Gehirn, wie Astrozyten, glatten Muskelzellen, Mikroglia und vereinzelten Neuronen. Im Gehirn übt NO hauptsächlich eine basale dilatierende Wirkung auf die Gefäße aus und scheint darüber hinaus die Wirkung anderer vasoaktiver Substanzen zu verstärken (s. a. S. 203 ff.). 2

2

2

2

Zum Weiterlesen … 1 Begley DJ, Brightman MW. Structural and functional aspects of the blood-brain barrier. In: Prokai L, ProkaiTatrai K. Progress in Drug Research, Vol. 61. Basel: Birkhäuser; 2003: 39 – 78 2 Bevan RD, Bevan JA. The Human Brain Circulation. Totowa: Humana Press; 1994 3 Bradbury MWB. Physiology and Pharmacology of the Blood-brain Barrier. Handbook of Experimental Pharmacology. Vol. 103. Berlin: Springer; 1992 4 Edvinsson L, MacKenzie ET, McCulloch J. Cerebral Blood Flow and Metabolism. New York: Raven Press; 1993 5 Faraci FM, Heistad DD. Regulation of the cerebral circulation: Role of endothelium and potassium channels. Physiol Rev. 1998; 78: 53 – 97 6 Fenstermacher JD, Blasberg RG, Patlak CS: Methods for quantifying the transport of drugs across brain barrier systems. Pharmacol Ther. 1981; 14: 217 – 248 7 Ingvar DH, Lassen NA. Regional blood flow of the cerebral cortex determined by krypton. Acta Physiol Scand. 1962; 54: 325 – 338 8 Kuschinsky W. Blood-brain barrier and the production of cerebrospinal fluid. In: Greger R, Windhorst U. Comprehensive Human Physiology. Berlin: Springer; 1996: 545 – 559 9 Kuschinsky W. Regulation of cerebral blood flow. In: Moonen E, Bandettini PA. Medical Radiology, Functional MRI. Heidelberg: Springer; 1999

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860

30 Blut-Hirn-Schranke, Liquor cerebrospinalis, Hirndurchblutung und Hirnstoffwechsel 10 Kuschinsky W, Wahl M. Local chemical and neurogenic regulation of cerebral vascular resistance. Physiol Rev. 1978; 58: 656 – 689 11 Pardridge WM. The blood-brain barrier. Cellular and Molecular Biology. New York: Raven Press; 1993 12 Pardridge WM: Drug delivery through the blood-brain barrier. Advanced Drug Delivery Reviews. 1995; 15: 1 – 175 13 Pardridge WM. Introduction to the Blood-brain Barrier. Cambridge: Cambridge University Press; 1998 14 Phillis JW. The Regulation of Cerebral Blood Flow. Boca Raton: CRC Press; 1993 15 Sokoloff L. The radioactive deoxyglucose method. Theory, procedure, and applications for the measurement of local glucose utilizations in the central nervous system. In: Agranoff BW, Aprison MH. Advances in Neurochemistry. Vol. 4. New York: Plenum; 1982: 1 – 82 16 Spector R, Johanson CE. The mammalian choroid plexus. Sci Amer. 1989; 261: 48 – 53 17 Welch KMA, Caplan LR, Reis DJ, Siesjö BK, Weir B. Primer on Cerebrovascular Diseases. San Diego: Academic Press; 1997

… und noch weiter 18 Hartmann A, Heiss W-D. Der Schlaganfall. Darmstadt: Steinkopff; 2001 19 Ingvar DH. Functional landscapes of the dominant hemisphere. Brain Res. 1976; 107: 181 – 197 20 Kety SS, Schmidt CF. The nitrous oxide method for the quantitative determination of cerebral blood flow in man: theory, procedure and normal values. J clin Invest. 1948; 27: 476 – 483 21 Kuschinsky W. Hirnkreislauf, Blut-Hirn-Schranke, Liquor cerebrospinalis. In: Fölsch UR, Kochsiek K, Schmidt RF. Pathophysiologie. Berlin: Springer; 2000: 155 – 166 22 Phelps ME, Kuhl DE, Mazziotta JC. Metabolic mapping of the brain’s response to visual stimulation: studies in humans. Science. 1981; 211: 1445 – 1448

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Maßeinheiten, Kurven und ein wenig Mathematik S. Silbernagl

31.1 Messgrößen und Maßeinheiten

· · · 862 Maßsysteme · ·· 862 Bruchteile und Vielfache von Maßeinheiten · · · 862 Maßeinheiten: SI und die anderen ··· 863 Konzentration, Fraktion und Aktivität ··· 865 Osmolalität, osmotischer und onkotischer Druck ··· 866 Gradienten als Triebfedern des Lebens ··· 868

31.2 Potenzen und Logarithmen

· ··

868

31.3 Graphische Darstellung von Messdaten

· ··

869

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862

31 Maßeinheiten, Kurven und ein wenig Mathematik

31.1

Messgrößen und Maßeinheiten

Da Lebensvorgänge und Körperfunktionen vor allem auf physikalischen und chemischen Gesetzmäßigkeiten beruhen, ist Physiologie untrennbar mit dem Messen physikalischer, chemischer und sonstiger Messgrößen verbunden. Für Länge, Fläche, Volumen, Masse, Kraft, Druck, Arbeit, Leistung, Spannung, Stromstärke, Widerstand usw. werden im Folgenden die dazugehörenden Maßeinheiten angegeben. Dabei wird den SI-Einheiten deswegen der Vorzug gegeben, weil sie sich problemlos miteinander verrechnen lassen (s. auch 3). Die Faktoren zur Umrechnung von älteren Einheiten in SI-Einheiten sind im Folgenden ebenfalls angegeben. Kompliziertere und ungewohntere Messgrößen der Physiologie, z. B. Wandspannung, Compliance oder Strömungswiderstand, werden gewöhnlich dort, wo sie in diesem Buch verwendet werden, erklärt. Eine Ausnahme davon sind einige besonders wichtige und in der Physiologie häufig (und nicht immer korrekt) benützte Begriffe, nämlich Konzentration, Aktivität, Osmolalität, osmotischer Druck, onkotischer Druck und Gradient, denen anschließend eigene Abschnitte gewidmet sind.

Maßsysteme In der Medizin, also auch in der Physiologie, existiert eine verwirrende Vielzahl von Maßeinheiten für dieselbe Messgröße, z. B. für die Angabe der Messgröße „Konzentration“ die Einheiten g/l, g/100 ml, g/ml, mg %, ppm (w/v) oder für eine Druckangabe die Einheiten mmH2O, cmH2O, mmHg, Torr, at, atü, bar, kg/cm2 usw. Um hier Abhilfe zu schaffen, wurden in den meisten Ländern die international verwendeten SI-Einheiten (SI = Système International d’Unités) gesetzlich vorgeschrieben. (Die in DeutschTabelle 31.1

land darüber hinaus zugelassenen Einheiten sind im Folgenden mit einem * versehen.) Diese SI-Einheiten werden in diesem Buch mit wenigen Ausnahmen verwendet. Um das Umlernen von den bisher üblichen Einheiten in der Übergangsperiode zu erleichtern, sind die alten Maßeinheiten meist in Klammern mit angegeben. Außerdem sind im Folgenden Umrechnungen für die jeweiligen Maßeinheiten eingefügt. Die Basiseinheiten des SI-Systems sind – für die Länge: m (Meter), – für die Masse: kg (Kilogramm), – für die Zeit: s (Sekunde), – für die Stoffmenge: mol (Mol), – für die Stromstärke: A (Ampere), – für die Temperatur: K (Kelvin), – für die Lichtstärke: cd (Candela). Diese Basiseinheiten sind untereinander unabhängig und genau definiert; alle anderen Einheiten sind von den Basiseinheiten abgeleitet, und zwar meist dadurch, dass die Basiseinheiten miteinander multipliziert oder durcheinander dividiert werden, z. B. – für Fläche (Länge · Länge): (m · m) = m2, – für Geschwindigkeit (Länge/Zeit): m · s–1. Wird die neue Einheit dabei zu kompliziert, bekommt sie einen neuen Namen mit eigenem Symbol (Tab. 31.1) z. B. – für Kraft: kg · m · s–2 = N (Newton).

Bruchteile und Vielfache von Maßeinheiten Da es umständlich und unübersichtlich ist, z. B. 10 000 g oder 0,00001 g zu schreiben, verwendet man Vorsilben vor der Maßeinheit, die dezimale Vielfache und Bruchteile (meist in 1000er-Schritten) bezeichnen; im eben genann-

Einige aus den SI-Basiseinheiten m, kg, s, cd und A abgeleitete SI-Einheiten mit eigenem Symbol

C

Coulomb

elektrische Ladung

s·A

F

Farad

elektrische Kapazität

C · V–1 = m–2 · kg–1 · s4 · A2

Hz

Hertz

Frequenz

s–1

J

Joule

Arbeit, Energie, Wärmemenge

N · m = m2 · kg · s–2

lm

Lumen

Lichtstrom

cd · sr

lx

Lux

Beleuchtungsstärke

lm · m–2 = cd · sr · m–2

N

Newton

Kraft

m · kg · s–2

Pa

Pascal

Druck

N · m–2 = m–1 · kg · s–2

S

Siemens

elektrischer Leitwert

Ω –1 = m–2 · kg–1 · s3 · A2

sr

Steradiant

räumlicher Winkel*

1 (m 2 · m–2)

T

Tesla

magnetische Flussdichte

Wb · m–2 = kg · s–2 · A–1

V

Volt

elektrische Spannung

W · A–1 = m2 · kg · s–3 · A–1

W

Watt

Leistung

J · s–1 = m2 · kg · s–3

Wb

Weber

magnetischer Fluss

V · s = m2 · kg · s–2 · A–1



Ohm

elektrischer Widerstand

V · A–1 = m2 · kg · s–3 · A–2

* Der räumliche Winkel eines Kegels ist definiert als Quotient aus der ausgeschnittenen Fläche (F) auf der Oberfläche einer Kugel (mit Mittelpunkt an der Kegelspitze) und dem Quadrat des Kugelradius (r2). Die SI-Einheit sr ist derjenige räumliche Winkel, bei dem r = 1 m und F = 1 m2 beträgt, d. h. 1 sr = 1 m2 (F)/1 m2 (r2).

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31.1 Messgrößen und Maßeinheiten Tabelle 31.2

Faktoren, Vorsilben und Symbole für Bruchteile und Vielfache von Maßeinheiten

Vorsilbe

Symbol

Faktor

Vorsilbe

Symbol

Faktor

Deka-

da

10

Dezi-

d

10–1

Hekto-

h

102

Zenti-

c

10–2

Kilo-

k

103

Milli-

m

10–3

Mega-

M

6

10

Mikro-

µ

10–6

Giga-

G

109

Nano-

n

10–9

Tera-

T

1012

Piko-

p

10–12

Peta-

P

10

Femto-

f

10–15

Exa-

E

1018

Atto-

a

10–18

1

15

ten Beispiel würde man 10 kg (Kilogramm) bzw. 10 µg (Mikrogramm) schreiben bzw. sagen. Die Vorsilben sind mit ihren Faktoren und Symbolen in Tab. 31.2 enthalten. Diese Vorsilben werden nicht nur vor die Basiseinheiten, sondern auch vor die davon abgeleiteten Einheiten mit eigenem Symbol gesetzt. Ein kPa z. B. sind 103 Pascal, 1 µl 10–6 Liter usw. Daneben sind für manche Maßeinheiten noch Vorsilben für kleinere Dezimalschritte in Verwendung (da, h, d, c; Tab. 31.2). Bei der Angabe der Zeit werden auch die gewohnten nichtdezimalen Vielfachen weiter verwendet, also Sekunde (s), Minute (min), Stunde (h) und Tag (d).

Maßeinheiten: SI und die anderen Länge, Fläche, Volumen SI-Einheit der Länge ist das Meter (m). Andere bisher gebräuchliche Längeneinheiten sind u. a.: Ångström (A) = 10–10 m = 0,1 nm Mikron (µ) = 10–6 m = 1 µm Millimikron (mµ) = 10–9 m = 1 nm Amerikanische und englische Längeneinheiten sind: inch = Zoll = 0,0254 m = 25,4 mm foot (Mehrzahl: feet) = Fuß = 0,3048 m yard = Elle = 0,9144 m (statute) mile = Meile = 1609,344 m ≈ 1,61 km nautische Meile = 1,853 km Abgeleitete SI-Einheit der Fläche ist das Quadratmeter (m · m = m2), die des Volumens Kubikmeter (m · m · m = m3). Bei Umrechnungen in Vielfache und Bruchteile mit den entsprechenden Vorsilben (Tab. 31.2) ist zu beachten, dass z. B. 1 m = 103 mm, aber 1 m2 = 106 mm2 und 1 m3 = 109 mm3. Eine vor allem für Flüssigkeiten und Gase häufig benützte Sondergröße für das Volumen ist das Liter* (l oder L): 1 l = 10–3 m3 = 1 dm3 1 ml = 10–6 m3 = 1 cm3 1 µl = 10–9 m3 = 1 mm3

Amerikanische und britische Volumeneinheiten werden folgendermaßen umgerechnet: 1 fluid ounce (amerikanisch) = 29,57 ml 1 fluid ounce (britisch) = 28,47 ml 1 U.S. liquid gallon = 3,785 l 1 british (imperial) gallon = 4,546 l

Geschwindigkeit, Frequenz, Beschleunigung Die Geschwindigkeit (z. B. eines Autos) ist der zurückgelegte Weg (Länge) pro Zeit mit der Einheit m · s–1. Bei Geschwindigkeiten von Flüssigkeiten wird neben dieser sog. Lineargeschwindigkeit noch der Begriff „Volumengeschwindigkeit“, „Flussrate“ u. a. verwendet. Gemeint ist damit dann ein Volumenfluss pro Zeit mit der Einheit l · s–1 oder m3 · s–1. Mit der Frequenz gibt man an, wie oft irgendein Ereignis (Pulsschlag, Atemzüge etc.) pro Zeiteinheit stattfindet. SI-Einheit ist s–1, auch Hertz (Hz) genannt. Oft wird auch noch als Frequenzeinheit min–1 verwendet, wobei gilt min–1 = 1/60 Hz ≈ 0,0167 Hz. Unter Beschleunigung versteht man die Geschwindigkeitsänderung pro Zeit, die Einheit ist daher m · s–1 pro s oder m · s–2. Eine Beschleunigungsangabe mit negativem Vorzeichen wird auch Verzögerung genannt. Wie schnell z. B. ein Auto beschleunigen und wie schnell es gebremst werden kann, wird beidesmal in m · s–2 ausgedrückt.

Kraft, Druck Kraft ist Masse mal Beschleunigung (Spezialfall: „Gewicht“ = Gewichtskraft = Masse mal Erdbeschleunigung). Da die Einheit der Masse das Kilogramm (kg) ist und die der Beschleunigung m · s–2 (s. o.), gilt: Einheit der Kraft: m · kg · s–2 = N (Newton). Die früher gebrauchten Krafteinheiten werden so umgerechnet: 1 dyn = 10–5 N = 10 µN; 1 pond = 9,8 · 10–3 N = 9,8 mN.

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31 Maßeinheiten, Kurven und ein wenig Mathematik Druck ist Kraft pro Fläche. Es gilt also: Einheit des Drucks: N · m–2 = Pa (Pascal). Andere Druckeinheiten (mmHg* wird für Druck von Körperflüssigkeiten z. T. noch verwendet) werden in die SIEinheit Pa folgendermaßen umgerechnet: 1 mm H2O ≈ 9,8 Pa 1 cm H2O ≈ 98 Pa 1 mmHg* = 133,3 Pa = 0,1333 kPa 1 Torr = 133,3 Pa = 0,1333 kPa 1 techn. Atmosphäre (at) ≈ 98,067 kPa 1 physik. Atmosphäre (atm) ≈ 101,324 kPa 1 dyn · cm–2 = 0,1 Pa 1 bar = 100 kPa 1 mbar = 100 Pa = 1 hPa

Arbeit, Energie, Wärmemenge Arbeit ist Kraft mal Weg. Es gilt also: Einheit der Arbeit: N · m = J (Joule). Energie und Wärmemenge haben die gleiche Einheit, d. h.: J (Joule). Auch das Produkt Druck · Volumen ([N · m–2] · m3) ergibt J: Druck-Volumen-Arbeit. Andere Einheiten für Arbeit, Wärmemenge und Energie werden in J folgendermaßen umgerechnet: 1 erg = 10–7 J = 0,1 µJ 1 cal ≈ 4,185 J 1 kcal ≈ 4185 J = 4,185 kJ 1 Ws = 1 J 1 kWh = 3,6 · 106 J = 3,6 MJ Leistung ist Arbeit pro Zeit. Es gilt daher: Einheit der Leistung: J · s–1 = W (Watt). Auch der Wärmestrom hat die Einheit W. Andere Einheiten für die Leistung werden folgendermaßen umgerechnet: 1 erg/s = 10–7 W = 0,1 µW 1 cal/h = 1,163 · 10–3 W = 1,163 mW 1 PS = 735,5 W = 0,7355 kW

Masse, Stoffmenge Masse hat die Basiseinheit Kilogramm (kg), d. h., hier wurde ausnahmsweise die mit der Vorsilbe „kilo“ versehene Einheit als Basiseinheit verwendet (statt Mg wird die Einheit Tonne*, t, verwendet). Eine Masse wird meist dadurch bestimmt, dass ihre durch die Erdanziehung hervorgerufene Gewichtskraft (= „Gewicht“, s. o.) gemessen wird, die Skala der Waage aber in Masseeinheiten (g, kg) geeicht ist. Britisch-amerikanische Masseeinheiten werden folgendermaßen umgerechnet: Avoirdupois weight: 1 ounce (oz.) = 28,35 g 1 pound (lb.) = 453,6 g Apothecaries’ und troy weight: 1 ounce = 31,1 g 1 pound = 373,2 g

Die Masse eines Moleküls oder eines Atoms (Molekülbzw. Atommasse) wird häufig in Dalton (Da) ausgedrückt (keine SI-Einheit), wobei 1 Dalton = 1⁄12 der Masse eines 12C-Atoms = 1 g/Loschmidt-Zahl = 1 g/AvogadroKonstante (6,022 · 1023), so dass 1 Da = 1,66 · 10–24 g 1000 Da = 1 kDa Die relative Molekülmasse Mr (früher Molekular„gewicht“) entspricht dem Verhältnis der betreffenden Molekülmasse zur atomaren Masseneinheit. Als relative Größe ist sie dimensionslos. Eine der Masse verwandte Messgröße ist die Stoffmenge, die in Mol (Symbol: mol) angegeben wird. 1 mol eines Stoffes besteht aus ebenso vielen Teilchen (Atomen, Molekülen, Ionen), wie in 12 g des Nuklids 12C enthalten sind, nämlich aus 6,022 · 1023 Teilchen. Für die Umrechnung von Stoffmenge in Masse gilt daher: 1 mol ist diejenige Stoffmasse (in g), die die Mol-, Ionen- oder Atommasse dieses Stoffes angibt, d. h. wievielmal mehr Masse das Atom, Molekül oder Ion hat als 1⁄12 des 12C-Atoms. Beispiele: rel. Molekülmasse von H2O: 18. → 1 mol H2O = 18 g H2O. rel. Atommasse von Na: 23. → 1 mol Na+-Ionen = 23 g Na+-Ionen. rel. Molekülmasse von CaCl2: (40 + 2 · 35,5) = 111. → 1 mol CaCl2 = 111 g CaCl2. (In 1 mol CaCl2 sind 2 mol Cl–-Ionen und 1 mol Ca2+-Ionen enthalten.) Teilt man mol durch die Wertigkeit des betreffenden Ions, ergibt sich die Äquivalentmasse mit der Maßeinheit val (engl.: eq; beides sind keine SI-Einheiten): Bei einwertigen Ionen ist mol und val gleich groß: 1 val Na+ = 1⁄1 mol Na+. Bei zweiwertigen Stoffen (z. B. Ca2+, s. o.) gilt: 1 val Ca2+ = ½ mol Ca2+ oder 1 mol Ca2+ = 2 val Ca2+. Eine weitere, vom Mol (mol) abgeleitete Größe ist das Osmol (osm) (s. u.).

Elektrische Größen Das Wandern von elektrisch geladenen Teilchen, also z. B. von negativ geladenen Elektronen (s. Lehrbücher der Physik) durch einen Draht, bezeichnet man als elektrischen Strom. Wieviel Teilchen/Zeit dabei fließen, wird mit der Stromstärke ausgedrückt. Deren Einheit ist das Ampere (A). Auch eine Wanderung von Ionen (Na+, K+ etc.), z. B. durch eine Zellmembran, also ein Ionenstrom, wird in A ausgedrückt. Ein elektrischer Strom kann nur fließen, wenn eine elektrische Potenzialdifferenz, auch kurz Spannung oder Potenzial genannt, besteht. Eine Batterie oder ein Dynamo z. B. erzeugen eine solche Spannung. Im Organismus entstehen elektrische Spannungen meist durch den Transport von Ionen.

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31.1 Messgrößen und Maßeinheiten Die Einheit der elektrischen Spannung ist das Volt (V; s. Tab. 31.1). Wieviel Strom bei gegebener Spannung fließt, hängt vom elektrischen Widerstand ab. Spannung = Strom · Widerstand (Ohm-Gesetz) Seine Einheit ist das Ohm (Ω; s. Tab. 31.1), sein Kehrwert (1/Widerstand) der elektrische Leitwert mit der Einheit Siemens (S = Ω–1). In der Membranphysiologie (Kap. 2) bezieht man den Widerstand auf die Membranfläche (Ω · m2). Dessen Kehrwert ist die Ionenleitfähigkeit (Ω–1 · m2 = S · m–2). Elektrische Arbeit oder Energie wird wie jede Arbeit in Joule (J) oder Wattsekunden (Ws) ausgedrückt, die elektrische Leistung wie jede Leistung in Watt (W). Die Einheit der elektrischen Ladung oder Elektrizitätsmenge ist das Coulomb (C) und wird von der Stromstärkeeinheit A abgeleitet: A = C/s, so dass C = s · A. Die elektrische Kapazität eines Kondensators oder, in der Physiologie, etwa einer Zellmembran, ist das Verhältnis von Ladung (C) zu Spannung (V). Die Einheit dafür ist das Farad (F; s. Tab. 31.1). Während beim Gleichstrom der Strom immer in derselben Richtung fließt, ändert sich die Richtung des Stromflusses beim Wechselstrom dauernd. Wie oft ein Hin- und Herwechsel (= 1 Periode) pro Zeit erfolgt, wird mit der Frequenz (Hz) ausgedrückt. Das normale Lichtnetz z. B. hat eine Frequenz von 50 Hz.

Temperatur SI-Einheit der Temperatur ist das Kelvin (K), wobei 0 K (absoluter Nullpunkt) die tiefste überhaupt mögliche Temperatur darstellt. Von der Kelvin-Skala abgeleitet ist die Celsius-Skala mit der Einheit Grad Celsius* ( C). Es gilt: Temperatur in C = Temperatur in K – 273,15. Im Amerikanischen wird die Temperatur meist in Grad Fahrenheit ( F) angegeben. Für die Umrechnung in C gilt: Temperatur in F = (9⁄5 · Temperatur in C) + 32 und umgekehrt: Temperatur in C = 5⁄9 · (Temperatur in F – 32). Einige wichtige Temperaturen sind in Tab. 31.3 umgerechnet.

Konzentration, Fraktion und Aktivität Der in Physiologie und Medizin vielgebrauchte Ausdruck Konzentration kann mehreres bedeuten, nämlich – eine Massenkonzentration, d. h. die Masse eines Stoffes pro Volumeneinheit (z. B. g/l = kg/m3), – eine Stoffmengenkonzentration oder molare Konzentration, d. h. eine Stoffmenge pro Volumeneinheit Lösung (z. B. mol/l), – eine molale Konzentration, d. h. eine Stoffmenge pro Masse Lösungsmittel (z. B. mol/kg H2O),

Tabelle 31.3

Wichtige Temperaturen in K, 8C und 8F K

8C

8F

Gefrierpunkt von Wasser

273

0

+ 32

Zimmertemperatur

293 bis 298

+ 20 bis + 25

+ 69 bis + 77

Körperkerntemperatur

310

+ 37

+ 98,6

Fieber

311 bis 315

+ 38 bis + 42

+ 100 bis + 108

Siedepunkt des Wassers (Meereshöhe)

373

+ 100

+ 212

SI-Einheit der Massenkonzentration ist g/l (kg/l, mg/l usw.). Die Umrechnung einiger bisher benützter Größen erfolgt so: 1 g/100 ml = 10 g/l 1 g % = 10 g/l 1 % (w/v) = 10 g/l 1 g‰ = 1 g/l 1 mg % = 0,01 g/l = 10 mg/l 1 mg/100 ml = 0,01 g/l = 10 mg/l 1 µg% = 10–5 g/l = 10 µg/l 1γ% = 10–5 g/l = 10 µg/l SI-Einheit der Stoffmengenkonzentration ist mol/l (bzw. mmol/l, µmol/l etc.). Umrechnungen: 1 M (molar) = 1 mol/l 1 N (normal) = (1/Wertigkeit) · mol/l 1 mM (mmolar) = 1 mmol/l 1 val/l (eq/l) = (1/Wertigkeit) · mol/l Warum gibt es neben einer molaren auch eine molale Konzentration? In stark verdünnten Lösungen unterscheiden sich die beiden Konzentrationsangaben nur dadurch, dass die Gleichung: 1 l Wasser = 1 kg Wasser nur bei einer ganz bestimmten Temperatur gilt (4 C). Physiologische Flüssigkeiten sind aber keineswegs stark verdünnte Lösungen. In ihnen kann das Volumen der gelösten Stoffe wesentlich zum Gesamtvolumen der Lösung beitragen. So besteht 1 l Plasma nur aus 0,93 l Wasser, die restlichen 70 ml sind Proteine und Salze. Hier differieren Molarität und Molalität bereits um 7 %. In der intrazellulären Flüssigkeit kann diese Differenz sogar mehr als 30 % betragen. Während es oft die Molarität ist, die (volumetrisch) gemessen wird, ist es die Molalität, die für chemische Reaktionen sowie für biophysikalische und biologische Vorgänge entscheidend ist. Ein thermodynamisches Maß für die physikochemisch wirksame Konzentration ist die Aktivität. In der Physiologie wird sie häufig bei Ionen verwendet, da mit ionensensitiven Elektroden (H+-, Na+-, K+-, Cl–-, Ca2+-Elektroden) die Aktivität und nicht die Molalität gemessen wird. Aktivität und Molalität sind gleich, solange die gesamte Ionenstärke (µ) sehr klein ist, d. h. bei einer idealen Lösung; µ hängt von den Ladungen und Konzentrationen aller Ionen in der Lösung ab:

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865

866

31 Maßeinheiten, Kurven und ein wenig Mathematik µ ≡ 0,5 (z12 · c1 + z22 · c2 + … + zi2 · ci),

(31.1)

wobei zi die Ladung des Ions i, ci seine molale Konzentration und 1, 2, …, i die Ionentypen in der Lösung bedeuten. Bei der hohen Ionenstärke biologischer Flüssigkeiten beeinflussen sich die gelösten Teilchen gegenseitig, so dass die Aktivität a immer deutlich kleiner als die molale Konzentration c ist. Die Aktivität wird berechnet aus: a = f · c, wobei f = Aktivitätskoeffizient. Bei einer Ionenstärke von z. B. 0,1, was einer Lösung mit 100 mmol NaCl/kg H2O entspricht, beträgt f für Na+ 0,76, d. h., die für biophysikalische Vorgänge entscheidende Aktivität ist um ein Viertel geringer als die Molalität (1).

Bei schwachen Elektrolyten, die nicht vollständig dissoziieren, hängt die Molalität und Aktivität freier Ionen darüber hinaus natürlich auch noch vom Dissoziationsgrad in der betreffenden Lösung ab. Mit Fraktion („fraktionelle Konzentration“) ist eine relative Einheit gemeint, so: – ein Massenverhältnis, d. h. ein Massenanteil pro Gesamtmasse (z. B. g/g), – ein Mengenverhältnis (z. B. mol/mol) oder – ein Volumenverhältnis (z. B. l/l). Fraktionen haben also die „Einheit“ 1 (bzw. 10–3, 10–6 usw.). Dabei ist die ungekürzte Einheit (l/l usw.) vorzuziehen, weil sie angibt, um welche Art von Fraktion es sich handelt. Die Fraktionen %, ‰, ppm (parts per million) und ppb (parts per billion); im Englischen: 1 billion = 109!) werden für alle Arten von Fraktionen verwendet. Umrechnungen: 1 % = 0,01 1‰ = 1 · 10–3 1 Gew. % = 0,01 g/g 1 Vol% = 0,01 l/l 1 ppm = 1 · 10–6 1 ppb = 1 · 10–9

Osmolalität, osmotischer und onkotischer Druck Osmolarität und Osmolalität Ein von der Molarität (s. o.) abgeleiteter Begriff ist die Osmolarität (osm/l). Damit ist die Konzentration aller osmotisch wirksamen Teilchen in einer Lösung gemeint, gleichgültig um welche Stoffe oder Stoffmischungen es sich dabei handelt. Allerdings macht der auf das Volumen der Gesamtlösung bezogene Begriff der Osmolarität oft wenig Sinn; sowohl seine Messung mit dem Osmometer als auch seine biophysikalische Anwendung beziehen sich auf die Konzentration im Lösungsmittel. Aus diesem Grund (und weil Volumenangaben temperaturabhängig sind) ist die Angabe der Osmolalität (osm/kg H2O) meist sinnvoller. Die ideale Osmolalität wird von der Molalität der betreffenden Substanzen abgeleitet: Wird z. B. 1 mmol (= 180 mg) Glucose in 1 kg Wasser gelöst (= 1 l bei 4 C), so beträgt die Molalität 1 mmol/kg H2O und die ideale Osmolalität 1 mosm/kg H2O. Das ändert sich, wenn Elektrolyte wie NaCl gelöst werden, da sie dissoziieren: NaCl

Ð Na+ + Cl–. Jedes dieser beiden Ionen ist osmotisch aktiv. Wenn ein dissoziierender Stoff demnach in 1 kg Wasser gelöst wird, so gilt: ideale Osmolalität = Molalität mal Zahl der Dissoziationsprodukte; 1 mmol NaCl/kg H2O ergibt also 2 mosm/kg H2O. Im Gegensatz zu NaCl dissoziieren schwächere Elektrolyte nur teilweise; hier muss deren Dissoziationsgrad berücksichtigt werden. Diese Berechnung gilt nur für ideale, also extrem verdünnte Lösungen. Wie oben beim Begriff Aktivität bereits erwähnt, sind die Körperflüssigkeiten jedoch nichtideale (reale) Lösungen, in denen die reale Osmolalität kleiner ist als die ideale. Letztere muss mit dem osmotischen Koeffizienten g (ist nicht mit dem Aktivitätskoeffizienten identisch) multipliziert werden, um den realen Wert zu erhalten. g ist konzentrationsabhängig und beträgt z. B. für NaCl bei einer (idealen) Osmolalität von 300 mosm/kg H2O etwa 0,926. Die reale Osmolalität dieser NaCl-Lösung beträgt also 0,926 · 300 = 278 mosm/ kg H2O. Lösungen, die die gleiche reale Osmolalität wie das Plasma haben (ca. 290 mosm/kg H2O), werden iso(o)smolal, solche mit höherer bzw. niedrigerer Osmolalität hyper- bzw. hyp(o)osmolal genannt.

Osmolalität und Tonizität Osmotisch aktive Lösungsbestandteile (reale Osmolalität, s. o.) rufen einen osmotischen Druck π hervor, der sich nach der Van’t-Hoff-Gleichung errechnet: π = R · T · cosm ,

(31.2)

wobei R = allgemeine Gaskonstante (8,314 J · K–1 · osm–1), T = absolute Temperatur (K) und cosm = reale Osmolalität in osm · (m3 H2O)–1 = mosm · (l H2O)–1. Sind zwei Lösungen unterschiedlicher Osmolalität (∆ cosm) durch eine wasserdurchlässige selektive Membran voneinander getrennt, so ruft ∆ cosm im Steady state (Fließgleichgewicht) eine osmotische Druckdifferenz ∆ π über diese Membran hervor, wenn sie für die gelösten Teilchen weniger durchlässig ist als für Wasser. Dabei wird die Selektivität oder relative Dichtheit der Membran für die gelösten Stoffe durch den Reflexionskoeffizienten σ beschrieben. σ kann Werte zwischen 1 (undurchlässig) und 0 (genauso permeationsfähig wie Wasser) annehmen. (Bei σ = 1 spricht man auch von einer semipermeablen Membran.) Unter Verwendung obiger Van’t-Hoff-Gleichung errechnet sich die osmotische Druckdifferenz dann nach van’t Hoff und Stavermann so: ∆π = σ · R · T · cosm .

(31.3)

Diese Gleichung zeigt, dass z. B. eine Lösung, die die gleiche Osmolalität besitzt wie das Blutplasma, an einer Membran im Steady State nur dann den gleichen osmotischen Druck hervorruft wie das Plasma (d. h. gegenüber dem Blutplasma isoton ist), wenn σ = 1, d. h., wenn die Membran streng semipermeabel ist. Zwischen Blutplasma und dem Zytoplasma der Erythrozyten (und dem aller anderen Zellen im Körper) herrscht (im Steady State) Isotonie. Werden Erythrozyten nun in eine Harnstofflösung mit 290 mosm/kg H2O überführt, herrscht, außer im ersten Moment, trotz der Isoosmolalität keine Isotonie, da der Harnstoff (σ  1!) in

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31.1 Messgrößen und Maßeinheiten die Erythrozyten diffundiert. Dadurch wird das Erythrozyteninnere hyperton und Wasser wird „nachgesaugt“ (Osmose), so dass die Erythrozyten zuerst anschwellen und dann platzen. Überall dort im Körper, wo gelöste Substanzen wasserdurchlässige Zellmembranen oder -verbände durchdringen, z. B. NaCl am Epithel des Dünndarms oder des proximalen Tubulus, entsteht also ein osmotischer Gradient (s. u.), entlang dessen Wasser nachfolgt. Das Ausmaß eines solchen Wasser- oder Volumenflusses Jv (m3/s) ist von der Wasserdurchlässigkeit, der sog. hydraulischen Leitfähigkeit k (m · s–1 · Pa–1), von der Durchtrittsfläche F (m2) und von der Druckdifferenz, in diesem Fall der osmotischen Druckdifferenz ∆π (Pa), abhängig: Jv = k · F · ∆π [m3 · s–1] .

(31.5)

Die Größe 1 – σ wird auch Sieb(ungs)koeffizient genannt (Tab. 12.3 auf S. 338). Ist der Zellwall undurchlässig für eine bestimmte Substanz (σ = 1), findet nicht nur kein Solvent Drag statt, sondern das Wasser wird sogar auf der Seite, wo sich diese Substanz befindet, zurückgehalten. Angewandt auf die oben genannten Epithelien heißt das z. B., dass aus dem Tubulus- bzw. Darmlumen nichtresorbierbare Substanzen zur osmotischen Diurese (S. 353) bzw. zu einem erhöhten Wassergehalt des Stuhls führen. Salinische Abführmittel wirken z. B. so.

Auch Proteine sind osmotisch wirksam Wie alle anderen gelösten Teilchen im Plasma erzeugen auch die makromolekularen Proteine einen osmotischen Druck. Er wird onkotischer oder kolloidosmotischer Druck genannt. An einer streng semipermeablen Membran (s. o.) wäre er mit seinen rund 3,5 kPa (25 mmHg) gegenüber dem osmotischen Druck der kleinmolekularen Plasmabestandteile vernachlässigbar. Was den onkotischen Druck im Organismus aber so wichtig macht, ist die Tatsache, dass die Auskleidung der Blutgefäße, das Endothel, für all die kleinmolekularen Plasmabestandteile gut durchlässig ist (σ ≈ 0), so dass nach Gleichung 31.3

tatsächlich

+ 40

+ 30

nach van't Hoff

+ 20

H2O-Zustrom ml/100 ml Plasma 60

40

+ 10

20

(31.4)

Da k und F an biologischen Membranen und Zellverbänden gewöhnlich nicht getrennt bestimmbar sind, wird das Produkt k · F häufig als Ultrafiltrationskoeffizient Kf (m3 · s–1 · Pa–1) zusammengefasst (S. 336). Ebenso wie der Transport von osmotisch wirksamen Teilchen einen Wasserfluss auslöst, reißt dieser Wasserstrom umgekehrt auch gelöste Teilchen mit sich, vorausgesetzt, die Membran oder die Zellschicht ist für diese durchlässig. Ein reziprokes Maß für diese Durchlässigkeit ist der Reflexionskoeffizient (s. o.). Wie bei einem Stück Holz, das im Fluss treibt, sind es die Reibungskräfte zwischen Wasser und gelösten Teilchen, die diesen konvektiven Transport (engl. solvent drag) verursachen. Die solcherart durch eine Membran oder eine Zellschicht transportierte Menge des Stoffes x, Jx (mol/s), ist vom Volumenfluss Jv, vom Reflexionskoeffizienten σx und von der mittleren Stoffaktivität a¯x im Wasser-Durchtrittsbereich der Membran bzw. des Zellverbandes (Abb. 31.2 B) abhängig: Jx = Jv (1 – σx) a¯x.

Änderung des onkotischen Druckes der Plasmaproteine (mmHg)

20 – 10

40

60

ml/100 ml Plasma H2O-Verlust

– 20

Abb. 31.1 Physiologische Bedeutung der Abweichung des onkotischen Drucks des Plasmas vom Van’t-HoffGesetz. Ein Wasserverlust aus dem Plasma verursacht einen überproportionalen Anstieg des onkotischen Druckes, der dem Verlust von Plasmawasser entgegenwirkt. Auch bei einem Zustrom von Wasser, also einer Plasmaverdünnung, ist das überproportionale Absinken des onkotischen Druckes, wenn auch weniger ausgeprägt, zu erkennen (aus 2). Beides trägt wesentlich zur Konstanthaltung des Blutvolumens und gleichzeitig zur Vermeidung von Ödemen bei (S. 195 f. u. 337).

ihr osmotischer Druck am Endothel praktisch Null ist. Damit wird dort nur der onkotische Druck der Proteine wirksam, für die das Endothel, je nach Kapillarbezirk (S. 195 f.), eingeschränkt oder praktisch gar nicht durchlässig ist. Diese Eigenschaft (σ  0) und der im Vergleich zum Interstitium hohe Proteingehalt des Plasmas (ca. 75 g/l) sind es, die dem blutdruckgetriebenen Ausstrom von Plasmawasser ins Interstitium, also einer Filtration, entgegenwirken. Nur damit wird das Endothel zu einer wirksamen Volumenbarriere zwischen Plasmaraum und Interstitium. Tritt, durch den Blutdruck getrieben, Wasser aus dem Blut ins Interstitium über (Filtration), so erhöht sich die Proteinkonzentration im Plasma und damit auch der onkotische Druck π (S. 337). Dieser Anstieg ist wesentlich größer als es Gl. 31.3 erwarten ließe (Abb. 31.1). Grund dieser Abweichung sind bestimmte biophysikalische Eigenschaften der Plasmaproteine. Strömt also Wasser druckbedingt aus der oder in die Blutbahn, so sorgen diese relativ hohen Änderungen des onkotischen Drucks selbsttätig für einen Gegendruck, der den Wasserstrom abbremst (S. 337).

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867

31 Maßeinheiten, Kurven und ein wenig Mathematik

PO2

Nettodiffusion ~ dP/dL

P L

P L 0 Abstand von O2-Quelle L A Diffusion in homogenem Medium

außen chemische Aktivität a

868

Membran

innen

5 4

aa

3 2

a@

aa – a i ln a a – ln a i

ai

1 0

B Diffusion durch eine Trennschicht

Distanz

Abb. 31.2 Gradienten. A Diffundiert ein Stoff, z. B. Sauerstoff (O2), von einer Quelle aus in einem homogenen Medium, also z. B. in einer Flüssigkeit, so ist das Ausmaß der Nettodiffusion nach dem Fick’schen Gesetz (S.194) dem Gradienten, d. h. der Steigung der gezeigten Exponentialkurve (dPO /dL) proportional. Obwohl die Gewebe des Körpers keineswegs homogen sind, sieht diese Kurve für die relativ leicht diffusiblen Gase (z. B. Diffusion von O2 zwischen Erythrozyten und Mitochondrien oder von CO2 in der Gegenrichtung) ähnlich aus. B Bei Stoffen, die durch die Phospholipidmembranen der Zelle nur relativ langsam hindurchkommen, z. B. bei Ionen, grenzt die Zellmembran (oder eine Epithelschicht) zwei Flüssigkeitsräume voneinander ab, in denen die chemische Aktivität a dieses Stoffes sehr unterschiedlich sein kann (aa bzw. ai). Der Gradient befindet sich in diesem Fall innerhalb der trennenden Membran, da sich in den beidseitigen Lösungen wegen der dort hohen Diffusionskonstante nur ein flacher Gradient halten kann. (Die mittlere Aktivität a¯ in der Membran wird für die Berechnung des Solvent Drag bzw. des potenzialgetriebenen Transportes benötigt.) 2

Gradienten als Triebfedern des Lebens Ohne Blutdruck fließt kein Blut, ohne K+-Anreicherung in der Nervenzelle ist diese nicht erregbar. In beiden Beispielen wird chemische Energie in Form des Adenosintriphosphats (ATP) dazu verwendet, eine Ungleichverteilung von Masse oder Energie, d. h. einen Gradienten aufzubauen; im Falle des Blutdrucks erzeugt der ATPgetriebene Herzmuskel einen Druckgradienten zwischen Aorta und V. cava, im Falle der Nervenzelle die Na+-K+ATPase einen K+- und Na+-Konzentrationsgradienten und damit einen elektrischen und chemischen Na+-Gradienten, d. h. z. B. die Voraussetzung für die Auslösbarkeit von Aktionspotenzialen (Kap. 4). Die elektrochemischen Ionen-Gradienten in der Darmmuskulatur, im Nierenepithel und in den Schweißdrüsen, ebenso wie die chemischen Substratgradienten in der Leber und die Druck-

gradienten im Respirationstrakt sind weitere Beispiele für Gradienten der unterschiedlichsten Art in unserem Körper. Wird z. B. eine Flüssigkeit von der Seite her einem hohen O2-Druck ausgesetzt (Abb. 31.2 A), so diffundiert O2 in die Flüssigkeit hinein. Diese Diffusion hält an, solange ein O2-Gradient besteht. Dieser Gradient verläuft in diesem einfachen Beispiel exponentiell. Die Steigung der Exponentialkurve, dP/dL, ist der Gradient; man spricht daher auch von der Steilheit eines Gradienten. Seine Steilheit vermindert sich in größerer Distanz von der Quelle, aus der der Gradient gespeist wird. Da in unserem Beispiel der O2-Partialdruck-Gradient die Trieb-„kraft“ für die O2-Diffusion darstellt, wird mit dem Abstand von der Quelle folglich auch die Diffusionsgeschwindigkeit immer kleiner. Sehr steile Gradienten können im Körper über Zellmembranen bzw. über Endo- und Epithelien aufgebaut werden (Abb. 31.2 B), da diese für polare und großmolekulare Substanzen wenig durchlässig sind. pH-Gradienten (Belegzelle des Magens) und Proteinkonzentrationsgradienten (Blut-Hirn-Schranke) sind zwei extreme Beispiele. Die Membran bzw. der Zellverband sorgen also dafür, dass die über aktive Transportmechanismen (Kap. 2) mühsam, d. h. relativ langsam aufgebauten Gradienten durch passive Prozesse (z. B. Diffusion) nicht gleich wieder „ungewollt“ zunichte gemacht werden. Andererseits stehen die Gradienten dann zur Verfügung, wenn z. B. rasche Ionenflüsse „gewollt“ und Ionenkanäle dazu häufiger geöffnet werden (S. 22 ff.). Na+- und Ca2+-Ionen-Aktivitätsgradienten sind zwei wichtige Beispiele dafür. Allein die Tatsache, dass für den Aufbau von Gradienten ATP notwendig ist, zeigt, dass unser Körper, thermodynamisch gesehen, ein offenes System ist, d. h., dass er auf die Zufuhr energiereicher Substrate (Fette, Kohlenhydrate und Proteine) angewiesen ist (Kap. 14). Ohne diese Energiezufuhr verschwänden alle Gradienten, die Entropie („Unordnung“) unseres „Systems“ Körper stiege an, und er käme thermodynamisch ins Gleichgewicht. Das hieße, um nur die beiden obigen Beispiele zu nennen, der Blutdruck würde auf die wenigen mmHg des vasalen Füllungsdrucks absinken und unsere Nerven, unser Gehirn würden unerregbar werden: unser Leben würde erlöschen.

31.2

Potenzen und Logarithmen

Zahlen, die sehr viel größer oder sehr viel kleiner als 1 sind, lassen sich nur umständlich und unübersichtlich schreiben. Man verwendet daher sog. Zehnerpotenzen, die folgendermaßen entstehen: 100 = 10 · 10 = 102 1000 = 10 · 10 · 10 = 103 10 000 = 10 · 10 · 10 · 10 = 104 Wie oft die 10 bei diesem Malnehmen vorkommt, wird also vereinfacht mit einer Hochzahl (Exponent) ausgedrückt. Ist die Zahl nicht genau eine Zehnerpotenz (z. B. 34 500), teilt man durch die nächstniedrigere Zehnerpotenz (10 000) und schreibt das Ergebnis (3, 45) als Multiplikationsfaktor vor diese Zehnerpotenz: 3,45 · 104.

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31.3 Graphische Darstellung von Messdaten

0,04 z. B. kann man dabei ähnlich wie zuvor auflösen in 4 · 0,01 oder 4 · 10–2. Merke: Bei Zahlen, die kleiner als 1 sind, errechnet sich die (negative) Potenz daraus, an welcher Stelle nach dem Komma die 1 steht, bei 0,001 z. B. an 3. Stelle: 0,001 = 10–3. Bei Zahlen ab 10 zieht man von den Stellen (vor dem Komma) 1 ab; der Rest entspricht dann der (positiven) Hochzahl. Beispiele: 100 hat 3 Stellen, es muss also 102 heißen; 1124,5 hat 4 Stellen vor dem Komma, es muss also 1,1245 · 103 heißen. Auch Maßeinheiten können mit Hochzahlen versehen sein, z. B. m3. Das heißt dann, genau wie bei 103, dass die Basis, also m, 2-mal mit sich selbst malgenommen wird (m · m · m). Ebenso werden negative Hochzahlen bei Maßeinheiten benützt; genau wie 1/10 = 10–1 kann man 1/s = s–1 schreiben oder mol · l–1 statt mol/l. Das Rechnen mit Potenzen hat eigene Regeln: Zusammenzählen und Abziehen ist nur bei gleicher Hochzahl möglich, z. B.: (2,5 · 102) + (1,5 · 102) = 4 · 102; aber (2 · 103) + (3 · 102) muss umgewandelt werden in (2 · 103) + (0,3 · 103) = 2,3 · 103. Malnehmen der Potenzen bedeutet Zusammenzählen der Hochzahlen. Teilen der Potenzen bedeutet Abziehen der Hochzahlen, z. B.: 102 · 103 = 102 + 3 = 105 104 : 102 = 104 – 2 = 102 102 : 104 = 102 – 4 = 10–2 Zahlen vor den Zehnerpotenzen werden dabei wie gewohnt behandelt, z. B. (3 · 102) · (2 · 103) = 2 · 3 · 102+3 = 6 · 105. Man kann auch mit den Hochzahlen (Exponenten) alleine rechnen, man spricht dann vom Logarithmenrechnen. Wird irgendeine Zahl (z. B. 100) als Potenz zur Basis 10 (102) geschrieben, so wird die Hochzahl (2) als (dekadischer) Logarithmus von 100 (abgekürzt log 100 oder lg 100) bezeichnet. Solche Logarithmen finden in der Physiologie z. B. bei der Definition des pH-Wertes oder bei der Auftragung des Schalldrucks mit der Dezibelskala Verwendung. Als natürlicher Logarithmus (ln) wird der Exponent zur Basis e verwendet, wobei e = 2,71828… Da log x = ln x / ln 10 und ln 10 = 2,302 585…, erfolgt die Umrechnung von ln in log und umgekehrt folgendermaßen: log x = ln x / 2,3 ln x = 2,3 · log x

Beim Rechnen mit Logarithmen erniedrigt sich die Rechenart um eine Stufe, d. h. aus einer Multiplikation wird eine Addition, aus einer Potenzierung eine Multiplikation usw., also: log (a · b) = log a + log b log (a/b) = log a – log b log an = n · log a pffiffiffi log n a = (log a)/n Sonderfälle sind: log 10 = ln e = 1 log 1 = ln 1 = 0 log 0 = ln 0 = ± ∞

31.3

Graphische Darstellung von Messdaten

Um z. B. den Verlauf der Körpertemperatur bei einem Patienten über längere Zeit zu überschauen, stellt man die Temperatur mit der zugehörigen Uhrzeit graphisch dar (Abb. 31.3). Die beiden Achsen, auf denen in diesem Fall Temperatur und Zeit aufgetragen sind, nennt man allgemein Koordinaten, wobei die senkrechte Achse Ordinate (hier Temperatur), die waagrechte Achse Abszisse (hier Uhrzeit) genannt wird. Auf der Abszisse wird meist die zuerst gewählte, veränderliche (variable) Größe x (hier Tageszeit), auf der Ordinate die davon abhängige variable Größe y (hier Körpertemperatur) aufgetragen. Daher die Bezeichnung x-Achse für die Abszisse und y-Achse für die Ordinate. Mit dieser graphischen Methode kann man alle möglichen Messwerte gegen andere, jeweils zugehörige Messwerte auftragen, z. B. Körpergröße gegen Lebensalter oder Lungenvolumen gegen intrapulmonalen Druck. Dabei kann man auch erkennen, ob sich die beiden Messgrößen miteinander ändern (korrelieren) oder nicht: Trägt man z. B. auf der Ordinate (senkrecht) die Körpergröße auf, auf der Abszisse (waagrecht) das Alter, steigt die Kurve während des Körperwachstums an, ab ca. dem 17. Lebensjahr verläuft die Kurve jedoch waagrecht; das bedeutet, dass die Körpergröße in der ersten Phase vom Alter abhängig, in der zweiten (waagrechten) Phase jedoch weitgehend altersunabhängig ist. Eine Korrelation

Körpertemperatur (rektal)

10 kann man nach dem eben Gesagten auch 101 schreiben. Noch kleinere Zahlen werden folgendermaßen gebildet: 1 = 10 : 10 = 100 0,1 = 10 : 10 : 10 = 10–1 0,01 = 10 : 10 : 10 : 10 = 10–2 usw.

37,5

°C

37,0

36,5

12

18

24

6

12 Uhr

Tageszeit

Abb. 31.3 Graphische Darstellung der (rektal, in Ruhe gemessenen) Körpertemperatur (y-Achse) in Abhängigkeit von der Tageszeit (x-Achse).

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869

31 Maßeinheiten, Kurven und ein wenig Mathematik (s. u.) beweist für sich alleine allerdings keine kausale Abhängigkeit. So korrelierte z. B. im Elsass für eine gewisse Zeit der Geburtenrückgang mit der zahlenmäßigen Abnahme der nistenden Störche (s. a. S. 3). Will man in ihrer Größe sehr unterschiedliche Messdaten (1 bis 100 000 z. B.) auf einer Koordinate unterbringen, können entweder die kleinen Größen nicht mehr getrennt voneinander dargestellt werden, oder aber die Koordinatenachsen werden zu lang. Man hilft sich in diesem Fall mit der Auftragung der Daten in Form ihrer Potenzen oder ihrer Logarithmen (s. o.): statt 1, 10, 100, 1000 usw. schreibt man 100, 101, 103 usw. oder die Logarithmen 0, 1, 2, 3 usw. In dieser Form sind also die niedrigen Zahlen relativ genau darzustellen, und trotzdem passen die großen Zahlen noch auf die (vernünftig lange) Koordinatenachse (z. B. Hörkurven). Eine Korrelation kann linear sein und gehorcht dann der Geradengleichung y = a · x + b,

y=a·e

y (linear)

wobei a die Steigung der Geraden und b der Schnittpunkt der Geraden mit der y-Achse (Achsenabschnitt, d. h. der y-Wert bei x = 0) ist. Viele Korrelationen sind allerdings nichtlinear. Bei einfacheren Funktionen kann aber durch nichtlineare (z. B. logarithmische) Auftragung der x-Werte und/oder der y-Werte eine graphische Linearisierung erreicht werden, was z. B. Extrapolationen auf Werte außerhalb des Messbereiches oder die Aufstellung von Eichkurven mit nur zwei Eichpunkten erlaubt. Auch die Berechnung der „mittleren“ Korrelation von streuenden Messwerten von x-y-Paaren wird damit erleichtert: Regressionsgerade.

b·x

Eine Exponentialfunktion (Abb. 31.4, Kurve 1) y = a · eb·x kann durch Auftragung von ln y auf der y-Achse linearisiert werden ln y = ln a + b · x, wobei b = Steigung und ln a = Achsenabschnitt. Eine logarithmische Funktion (Abb. 31.4, Kurve 3) y = a + b · ln x kann durch Auftragung von ln x auf der x-Achse graphisch linearisiert werden, wobei b = Steigung und a = Achsenabschnitt. Eine Potenzfunktion (Abb. 31.4, Kurve 2) y = a · xb kann durch Auftragung von ln y und ln x auf den Koordinatenachsen graphisch linearisiert werden, da ln y = ln a + b · ln x, wobei b = Steigung und ln a = Achsenabschnitt. Zu beachten ist, dass auf logarithmischen Koordinaten der Wert 0 für x oder y nicht existiert, da ln 0 = – ∞. Trotzdem wird in der Geradengleichung ln a „Achsenabschnitt“ genannt, wenn die logarithmische Abszisse von der Ordinate bei ln x = 0, d. h. x = 1, gekreuzt wird. Statt ln x und/oder ln y auf der x- bzw. y-Achse aufzutragen, kann man die linearen Werte von x und/oder y auf Logarithmenpapier auftragen, auf dem die Ordinate (z. B. Abb. 11.4, S. 315), die Abszisse („halblogarithmi-

Exponentialfunktion (1) Potenzfunktion (2)

ln y = ln a + b · x lineare Funktion

ln y

y=a·x

ln y

b

ln y = ln a + b · ln x

logarithmische Funktion (3) x (linear)

y (linear)

870

y = a + b · ln x

2 Potenzfunktion

x (linear)

ln x

ln x

1 Exponentialfunktion 3 logarithmische Funktion

Abb. 31.4 Graphische Linearisierung nichtlinearer Funktionen. Die drei nichtlinearen Funktionen (1) Exponentialfunktion, (2) Potenzfunktion und (3) logarithmische Funktion

können graphisch linearisiert werden, wenn eine logarithmische Auftragung auf der y-Achse (1), auf beiden Achsen (2) bzw. auf der x-Achse (3) vorgenommen wird (aus 3).

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31.3 Graphische Darstellung von Messdaten sches“ Papier) oder beide Koordinaten („doppeltlogarithmisches“ Papier) logarithmisch eingeteilt sind. In den letzten beiden Fällen wird a nicht mehr Achsenabschnitt genannt, weil dessen Wert davon abhängt, wo die yAchse die x-Achse schneidet, wobei für x alle Werte > 0 möglich sind. Auch andere nichtlineare Funktionen können durch geeignete Wahl der Auftragung auf den Koordinatenachsen graphisch linearisiert werden, so z. B. die MichaelisMenten-Gleichung, der viele Enzymreaktionen und carriervermittelte Transportprozesse (S. 28 f.) gehorchen: J = Jmax · C/(Km + C),

Jmax

J

J = Jmax · C/(Km + C)

½ Jmax

0

1

C

Km

(31.6)

wobei J = aktuelle Transportrate (z. B. in mol · m–2 · s–1), J die maximale Transportrate, C (mol · m–3) die aktu-

1/J

max

elle Konzentration des zu transportierenden Stoffes und Km die (Halbsättigungs-)Konzentration bei ½ Jmax bedeutet. Eine der drei gebräuchlichen graphischen Linearisierungen der Michaelis-Menten-Gleichung (s. a. S. 28), die nach Lineweaver-Burk, lautet: 1/J = (Km/Jmax) · (1/C) + 1/Jmax,

(31.7)

so dass sich bei Auftragung von 1/J auf der y-Achse und 1/C auf der x-Achse eine Gerade ergibt (Abb. 31.5/2). Während bei der Auftragung J gegen C (Abb. 31.5/1) die experimentelle Bestimmung von Jmax gar nicht exakt möglich ist (dazu wäre die Verwendung einer unendlich großen Konzentration C notwendig!), kann in der linearisierten Form (Abb. 31.5/2) aus experimentellen Daten eine Regressionsgerade errechnet werden, die auf C = ∞ extrapoliert werden kann: Da dann 1/C = 1/∞ = 0, ist 1/ Jmax beim 0-Punkt der x-Achse ablesbar (Abb. 31.5/2). Der Kehrwert davon ergibt also das gesuchte Jmax. Wenn man weiterhin in der obigen Lineweaver-Burk-Gleichung 1/ J = 0 setzt, lautet sie 0 = (Km/Jmax) · (1/C) + 1/Jmax oder 1/Km = – 1/C, so dass Km aus dem negativen Kehrwert des x-Achsenabschnittes (entspricht 1/J = 0) errechnet werden kann.

1/Jmax

2

Messbereich 0

1/C

–1/Km

Abb. 31.5 Graphische Linearisierung der Michaelis-Menten-Gleichung. Die Kurve 1, in der J gegen C aufgetragen ist, kann u. a. dadurch linearisiert werden, dass 1/J gegen 1/ C aufgetragen wird (Kurve 2). In dieser Form sind 1/Jmax und – 1/Km als Koordinatenschnittpunkte ablesbar und können in Jmax bzw. Km umgerechnet werden (s. a. Abb. 2.10 auf S. 29 (aus 3).

Zum Weiterlesen … 1 Wissenschaftliche Tabellen Geigy. 4 Bde. 8. Aufl. Basel; 1977 2 Landis EM, Pappenheimer JR. Handbook of Physiology. Section 2: Circulation, Vol. II. Washington D. C.: American Physiological Society; 1963

… und noch weiter 3 Silbernagl S, Despopoulos A. Taschenatlas der Physiologie. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2003



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871

873

Normalwerte Zusammengestellt von S. Pummer und S. Silbernagl

32.1 Gesamtorganismus und Zelle 32.2 Herz und Kreislauf

· ··

· ··

874

874

32.3 Lunge und Gastransport

···

874

32.4 Niere und Ausscheidung

···

874

32.5 Ernährung und Stoffwechsel

···

32.6 Nervensystem und Muskel

875

···

875

32.7 Blut und andere Körperflüssigkeiten

···

875

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874

32 Normalwerte

32.1

Gesamtorganismus und Zelle

32.3

Chemische Zusammensetzung von 1 kg fettfreier Körpermasse eines Erwachsenen

720 g Wasser (s. a. Abb. 13.2, S. 381); 210 g Protein; 22,4 g Ca; 12 g P; 2,7 g K; 1,8 g Na; 1,8 g Cl; 0,47 g Mg

Wasserverteilung im Erwachsenen/Kind (in % des Körpergewichtes)

intrazellulär: Interstitium: Plasma:

Ionenkonzentrationen intra- und extrazellulär

siehe Tab. 13.1, S. 380

32.2

40%/40 % 15 %/25 % 5 %/5 %

Herz und Kreislauf

Herzgewicht Herzzeitvolumen in Ruhe/maximal

250 – 350 g 5 – 6 (max. 25) l · min–1

Ruhepuls = Sinusrhythmus

60 – 75 (max. 100) min–1

AV-Knoten-Rhythmus

40 – 55/min

Kammerrhythmus

syst./diast. 120/80 mmHg [16/10,7 kPa]

Pulmonalarteriendruck

syst./diast.

Zentralvenöser Druck

3 – 6 mmHg [0,4 – 0,8 kPa]

Männer

Frauen

Totalkapazität (TLC)

7l

6,2 l

Vitalkapazität (VC)

5,6 l

5l

Atemzugvolumen V T in Ruhe

0,6 l

0,5 l

Inspiratorisches Reservevolumen

3,2 l

2,9 l

Exspiratorisches Reservevolumen

1,8 l

1,6 l

Residualvolumen

1,4 l

1,2 l

Atemgrenzwert bei 30 Atemzügen/min

110 l/min

100 l/min

O2-Partialdruck

Luft:* Alveole: arteriell: gemischtvenös:

CO2-Partialdruck

Luft:* Alveole: arteriell: gemischtvenös:

20/7 mmHg [2,7/0,9 kPa]

Portalvenendruck

3 – 6 mmHg [0,4 – 0,8 kPa]

Ventrikelvolumen enddiastolisch/endsystolisch

120 ml/40 ml

Ejektionsfraktion

0,67

Druckpulswellengeschwindigkeit

Aorta: Arterien: Venen:

Mittlere Strömungsgeschwindigkeit

Aorta: 0,18 m/s Kapill.: 0,0002 – 0,001 m/s Vv. cavae: 0,06 m/s

Maximale Strömungsgeschwindigkeit

Aorta:

1 m/s

Maximale Stromstärke

Aorta:

0,5 l/s

3 – 5 m/s 5 – 10 m/s 1 – 2 m/s

Organdurchblutung in Ruhe (siehe auch Tab. 10.7, S. 302) % HZV

pro g Gewebe

4

0,8 ml/min

Gehirn

13

0,5 ml/min

Nieren

20

4 ml/min

Gastrointestinaltrakt = Pfortaderdurchblutung

16

0,7 ml/min

Leber, arteriell durch A. hepatica

(siehe auch Tab. 10.1, S. 263, Tab. 10.3, S. 281, Tab. 10.4, S. 284, und Tab. 10.5, S. 295)

25 – 40/min

Arterieller Blutdruck (nach Riva-Rocci)

Herz

Lunge und Gastransport

8

0,3 ml/min

Skelettmuskel

21

0,04 ml/min

Haut und sonstige Organe

18

19,6 kPa 13,3 kPa 12,0 kPa

[147 mmHg] [100 mmHg] [90 mmHg]

5,3 kPa 0,03 kPa 5,2 kPa 5,3 kPa

[40 mmHg] [0,23 mmHg] [39 mmHg] [40 mmHg]

6,1 kPa

[46 mmHg]

* angefeuchtet bei Körpertemperatur

Atemfrequenz

16/min

Totraumvolumen

150 ml

Sauerstoffkapazität 195 (Frau), 210 (Mann) ml O2/l Blut des Blutes [8,7 (Frau), 9,4 (Mann) mmol O2/l Blut] Respiratorischer Quotient

32.4

0,84 (0,7 – 1,0)

Niere und Ausscheidung (siehe auch Tab. 12.2, S. 333 und Tab. 12.7, S. 356)

Renaler Plasmafluss (RPF)

480 – 800 ml/min pro 1,73 m2 Körperoberfläche

Glomeruläre Filtrationsrate (GFR)

80 – 140 ml/min pro 1,73 m2 Körperoberfläche

Filtrationsfraktion = GFR/RPF

0,19

Harnzeitvolumen

Männer Frauen

Harnosmolalität [Extremwerte:

250 – 1000 mosm/kg H2O 50 – 1400 mosm/kg H2O]

Glucoseausscheidung

< 300 mg/d = 1,67 mmol/d

Na+-Ausscheidung

50 – 250 mmol/d

0,7 – 2,7 l/d 0,5 – 2,3 l/d

K+-Ausscheidung

25 – 115 mmol/d

Stickstoffausscheidung

150 – 250 mg/d pro kg KG

Proteinausscheidung

10 – 200 mg/d

Harn-pH-Wert

4,5 – 8,2

titrierbare Säure

10 – 30 mmol/d

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32 Normalwerte Harnstoffausscheidung

170 – 330 mmol/d [10 – 20 g/d]

Harnsäureausscheidung

1,8 – 6,5 mmol/d [0,3 – 0,8 g/d]

Kreatininausscheidung

5 – 20 µmol/d [0,56 – 2,1 g/d]

32.5

Ernährung und Stoffwechsel

Grundumsatz

(siehe auch Tab. 9.1, S. 224, Tab. 9.2, S. 225)

Blut (alle Angaben für Erwachsene) Männer

Frauen

Blutvolumen

4500 ml

3600 ml

Hämatokrit (Fraktion)

0,40 – 0,54

0,37 – 0,47

Erythrozytenzahl

4,6 – 5,9 · 106/µl

4,2 – 5,4 · 106/µl

140 – 180 g/l 120 – 160 g/l [2,2 – 2,8 mmol/l] [1,9 – 2,5 mmol/l]

Frauen

7,1 MJ/d 85 W

6,2 MJ/d 75 W

10,8 MJ/d 130 W

9,6 MJ/d 115 W

Hämoglobinkonzentration im Vollblut (Hb)

15 MJ/d 180 W

Mittleres Volumen des Einzelerythrozyten (MCV)

80 – 100 fl

360 W

Mittlere Hämoglobinkonzentration der Erythrozyten (MCHC)

320 – 360 g/l Erythrozyten [4,96 – 5,58 mmol/l Erythrozyten]

Mittlere Hämoglobinmenge im Einzelerythrozyten (MCH = HbE)

27 – 32 pg [0,4 – 0,54 fmol]

– Schwerstarbeit (über Jahre) 20 MJ/d 240 W – Schwerstarbeit (in der Arbeitszeit)

Blut und andere Körperflüssigkeiten

Männer

Energieumsatz (EU) bei – leichter Büroarbeit

32.7

500 W

– Tanzen, Rad fahren, Schwimmen

350 – 550 W

– 100 m-Lauf

2 000 W

– Marathonlauf

1200 W

Funktionelles Eiweißminimum

1 g/kg Körpergewicht

Mittlerer Erythrozytendurchmesser

7,2 – 7,8 µm

Vitamine

s. Tab. 14.13 u.14.14, S. 476

Retikulozyten

0,4 – 2 %; 20 – 75 · 103/ µl

Elektrolyte und Spurenelemente

s. Tab. 14.12, S. 474

Leukozyten

siehe Tab. 9.3, S. 235

Thrombozyten

150 – 400 · 103/ µl

Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit (BSG)

Männer < 10 mm/1. Stunde Frauen < 20 mm/1. Stunde

32.6

Nervensystem und Muskel

Dauer eines Aktionspotenzials

Nerv: 1 – 2 ms; Skelettmuskel: 10 ms; Myokard: 200 ms

Nervenleitungsgeschwindigkeiten (NLG) (siehe auch Tab. 19.2, S. 622; sie gibt die Werte für die Katze an, für die diese Einteilung [von Erlanger/Gasser] ursprünglich getroffen wurde) Faser

Durchmesser

NLG beim Menschen



11 – 16 µm

60 – 90 m/s



6 – 11 µm

30 – 60 m/s



1 – 6 µm

2 – 30 m/s

C

0,25 – 1,5 µm

0,25 – 1,5 m/s

Proteine g/l Serum

rel. %

gesamt

66 – 85

100

Albumin

35 – 50

55 – 64

α1-Globuline

1,3 – 4

2,5 – 4

α2-Globuline

4–9

7 – 10

β-Globuline

6 – 11

8 – 12

γ-Globuline

13 – 17

12 –20

Gerinnung (Gerinnungsfaktoren siehe Tab. 9.6, S. 249) Thromboplastinzeit (Quick)

70 – 125 %

Internat. Normalized Ratio

0,9 – 1,15 INR

Partielle Thromboplastinzeit (PTT)

26 – 42 s

Blutungszeit

< 6 min

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875

876

32 Normalwerte

Parameter des Glucosestoffwechsels

Liquor cerebrospinalis – Lumballiquor

Glucosekonzentration im Venenblut

3,9 – 5,5 mmol/l [70 – 100 mg/dl]

Druck im entspannten, waagrechten Liegen

1,4 kPa [10,5 mmHg]

Glucosekonzentration im Kapillarblut

4,4 – 6,1 mmol/l [80 – 110 mg/dl]

Glucosekonzentration im Plasma

Spezifisches Gewicht

1,006 – 1,008 g/l

Osmolalität

4,2 – 6,4 mmol/l [75 – 115 mg/dl]

290 mmol/kg H2O

Glucosekonzentration

2,5 – 3,9 mmol/l [45 – 70 mg/dl]

Grenzwert für Diabetes mellitus im Plasma

> 7,8 mmol/l [> 140 mg/dl]

Proteinkonzentration

0,15 – 0,45 g/l

HbA 1c (glykosyliertes Hämoglobin A)

3,2 – 5,2 %

IgG-Konzentration

< 84 mg/dl

Leukozytenzahl

< 5/µl

Parameter des Lipidstoffwechsels

Speichel

Triglyceride im Serum

Volumen

0,5 – 1,5 l/d

Kationenkonzentrationen

Na+: K+ :

Anionenkonzentrationen

20 – 80 mmol/l Cl–: HCO3–: 30 – 50 mmol/l

1,04 mmol/l]

Harnpflichtige Substanzen Harnstoffkonzentration im Serum

3,3 – 8,3 mmol/l [20 – 50 mg/dl]

Harnsäurekonzentration im Serum

150 – 390 µmol/l [2,6 – 6,5 mg/dl]

Kreatininkonzentration im Serum

36 – 106 µmol/l [0,4 – 1,2 mg/dl]

10 – 130 mmol/l 20 – 130 mmol/l

Magensaft Volumen

2 – 3 l/d

Nüchtern-pH-Wert

1,5 – 2

Pankreassaft Bilirubin

Volumen

2 l/d

Gesamtbilirubin im Serum

0,2 – 1 mg/dl [3,4 – 17 µmol/l]

pH-Wert (Sekretin-stimuliert) 7,5 – 8,8

Direktes Bilirubin im Serum

0,05 – 0,3 mg/dl [0,8 – 5,1 µmol/l]

Galle

280 – 300 mmol/kg H2O

Volumen (Lebergalle) basal/max.

0,35/1,2 ml/min

Osmolalität Kationenkonzentrationen im Serum

Na+: 135 – 145 mmol/l K+: 3,5 – 5,5 mmol/l

Gallenblaseninhalt

50 – 65 ml

Elektrolyte und Blutgase

ionisiertes Ca2+: 1,0 – 1,3 mmol/l

(siehe auch Tab. 14.9, S. 468)

Fäzes

ionisiertes Mg2+: 0,5 – 0,7 mmol/l

Stuhlgewicht

Anionenkonzentrationen

CI–: 95 – 108 mmol/l

Fruchtwasser

im Serum

anorg. Phosphat: 0,8 – 1,5 mmol/l

pH-Wert

7,35 – 7,45

Standardbicarbonat

22 – 26 mmol/l

Gesamtpufferbasen

48 mmol/l

Sauerstoffsättigung

arteriell: 96 %; gemischt-venös: 65 – 75 %

Sauerstoffpartialdruck bei Halbsättigung (P0,5)

3,6 kPa [27 mmHg]

Volumen (V, in ml) ist abhängig vom Gestationsalter (A) in Tagen

< 300 g/d

log V = 4,1 · (log A) – 6,16 (Näherung gilt nur zwischen der 8. und 20. Schwangerschaftswoche)

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32 Normalwerte

Sperma

Literatur

Gesamtejakulatvolumen

> 2 ml

Gesamtspermienzahl

> 40 · 10 /Ejakulat

Motilität

> 50 % mit Vorwärtsbeweglichkeit

6

> 25 % mit schneller linearer Beweglichkeit

1 Ciba-Geigy AG. Wissenschaftliche Tabellen Geigy, 8. Aufl., Basel: 1977 2 Gross R, Schölmerich P, Gerok W. Die Innere Medizin. Stuttgart: Schattauer; 1994 3 Thomas L. Labor und Diagnose: Indikation und Bewertung von Laborbefunden für die medizinische Diagnostik. Marburg: Medizinische Verlagsgesellschaft; 1992

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Sachverzeichnis A AaDO2 292 f. AaDCO2 293 Abbildungsfehler, optische 687 Aberration, chromatische 687 – sphärische 687 Abführmittel 446 Abhängigkeit 810, 813 Abklingphase nach Körperarbeit 608 Abort 570 Absolutschwelle, Definition 730 – Geschmack 719 – Oberflächensensibilität 628 – Ohr 659 Abszisse 869 Abwehrfunktion 224 Abwehrsystem, humorales 239 ff. – Lunge 258 f. – spezifisches 237 ff. – unspezifisches 234 ff. – zelluläres 233 ff. ACE (Angiotensin-converting enzyme) 208, 369 Acetat, tubuläre Resorption 342 Acetazolamid 353, 366 – Wirkort 353 f. Acetessigsäure s. Acetoacetat Acetoacetat, Resorption, tubuläre 342 – Säure-Basen-Gleichgewicht 321 Acetylcholin 38 f., 64, 75, 82, 418, 420, 423 f., 429, 440 f., 468, 488, 844, 750 f. – Agonist 87 f. – Antagonist 87 f. – Ausschüttung, Hemmung 791 – Herzmuskelfunktion 145f., 155, 161, 163 – Ionenkanalsteuerung 75 f. – Koronardurchblutung 145 f. – parasympathische postganglionäre Neurone 787 ff. – Rezeptor (Cholinozeptor) 60, 75, 84 ff. – – Antikörper 91 – – Desensitisierung 90 f. – – muskarinischer 423, 429 – – – Agonisten 787 – – – Antagonisten 787 – – nikotinischer 85, 421 – Skelettmuskel 111 – Spaltung 91 – Strukturformel 93 – Synthese 91 – Vasodilatation 203 f. – vegetative präganglionäre Neurone 787 – Vesikel 91 Acetylcholinesterase 91 – Hemmer 91 f., 424 Acetyl-CoA 373, 538 – Energiestoffwechsel, myokardialer 148 f. ACh s. Acetylcholin

Achalasie 426, 793 Acid-sensing ion channels (ASIC) 718 Acrosin 569 ACTH 421, 528 f., 536 f. – fetales 580 – Funktion 537 – Sekretion 537 – – basale 543 – – belastungsbedingte 543 f. – – erhöhte 537 – – Feedback-Hemmung 543 – – – integrale 543 – – – schnelle 543 – – Steuerung 538, 543 – – Stimulationstest 544 – Synthese 537 – – paraneoplastische 541 f. – – vermehrte 537 – Teilsequenzen 537 ACTH-Test 544 Actin (s. a. Zytoskelett) 605 Active Sodium Bile Salt Transporter (ASBT) 468 Acylcarnitin 480 Acylcarnitin/Carnitin-Austauscher 480 Acyl-CoA 480 Adaptation 730 – Geschmack 719 – metabolische, Muskelzelle 600 – Thermorezeptoren 634 Addison-Krankheit 538 f., 541 Additionsalkalose 322 Additionsazidose 321 Adenohypophyse, Embryonalentwicklung 526 – Hormone 513, 526 ff. – – glandotrope 528 ff. – – – Abbau, renaler 372 – – – Sekretionsregelung 517 – – gonadotrope 517, 566, 570 – – – Sekretionsregelung 517 – – nichtglandotrope 528 f. – parakrine Modulation 528 – Stimulationstest 529 – Tumor 528 Adenosin 38, 370 – Energiestoffwechsel, myokardialer 149 – Hirndurchblutungsregulation 858 f. – Koronarendothel 145 – Vasodilatation 204 Adenosindiphosphat s. ADP Adenosinmonophosphat (AMP) 479 – zyklisches s. cAMP Adenosintriphosphat s. ATP Adenylatcyclase s. Adenylylcyclase Adenylylcyclase 36 ff., 145, 717, 724, 788 – Glucagonwirkung 556 Adenylylcyclase/cAMP-System 820 ADH s. Adiuretin Adhäsion, Leukozyten 179 Adhäsionsmoleküle, Endothel 179

Adiadochokinese s. Dysdiadochokinese Adipsin 486 Adiponectin 489 Adipozyten 490 Adiuretin (ADH) 3, 38, 60, 389 ff., 521 ff. – Analoga 524 – Ausschüttung bei Hyperosmolalität 391 – – bei Volumenmangel 391 – Biosynthese 523 – Freisetzung 389 f. – Konzentration im Plasma 352 – Mangel 353, 391 – Präprohormon 523 – Regulation der Plasmaosmolalität 389 – Rezeptortypen 517 – Sekretion 523 – Syntheseort 521 f., 535 – Wirkung 523 ff. – – Blutdruckregulation 203 – – Blutvolumenregulation 207 f., 382 – – Gefäßsystem, am 203, 207, 523 – – G-Proteine über 39 – – Henle-Schleife, an der 352 – – IP3-Kaskade, über die 38 f – – Sammelrohrzellen, an den 349 ff., 352 f., 389 f., 523 – – Zentralnervensystem, im 523 ADP 20, 592 – Skelettmuskel 107 ADP-Ribose, zyklische 40 Adrenalin 38, 95, 145, 155, 600 ff., 790 – Anorexigen 488 – Durchblutungsregulation 203 – fetales 571 – Gefäßinnervation 181 – Herztätigkeit 601 – Muskeldurchblutung 600 – Na+-K+-Pumpen-Aktivierung 397 – Sekretion, tubuläre 360 – Strukturformel 93 – Wirkung bei Asthma bronchiale 792 – – Gefäßmuskulatur, auf die 790 f. – – G-Proteine, über 38 – – IP3-Kaskade, über die 38 f. Adrenocorticotropes Hormon s. ACTH Adrenogenitales Syndrom 539 Adrenozeptor(en) 95 – α 37 ff., 95,145, 181, 303 f., 787 f. – – Agonist 788 – – Antagonist 788 – – Durchblutungsregulation 203 – – Insulinsekretionssteuerung 553 – α1 37 ff., 95, 203 f., 788 – – Antagonist 128, 788 – – Funktionsweise 95 f. – – Gefäßmuskelzelle 181 – – Pulmonalgefäße 217 – – renaler 369 – α2 37, 88, 150, 788 – – Funktionsweise 95 f.

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Adrenozeptor Adrenozeptor(en), β 36, 37, 95, 181, 203, 600, 787 f. – – Agonist 788 – – Antagonist 788 – – Durchblutungsregulation 203 – – Insulinsekretionssteuerung 553 – – myokardialer 75 – β1 95, 788 – – Myokardzellmembran 145 – β2 76, 182, 203, 592, 788 – – Agonist 792 – – Dichte 203 – – Empfindlichkeit, Glucocorticoidwirkung 540 – – Gefäßmuskelzelle 182 – – Verteilung 203 Affektverflachung 809 Afferenzen, primäre 630 – somatoviszerale 645 – viszerale 417 Affinität (Substrat-Carrier) 28 – O2- 284 – – CO2-Einfluss 285 Afterload s. Nachlast Ageusie 717, 720 Agglutination 230 Aggregation, Erythrozyten 190 – Thrombozyten 248 Aggression 809 Agnosie 705, 806 – taktile 650 – visuelle 830 Agouti-related Peptide (AgRP) 485, 537 Agrammatismus 828 AGS s. Adrenogenitales Syndrom AgRP (Agouti-related peptide) 485, 537 AIDS (acquired immunodeficiency syndrome) 245, 475 Akinese 767 Akklimatisation 505 Akkommodation, Harnblasenfüllung 797 – Linse 689 f. Akkommodationsbreite, Auge 689 Akrendurchblutung 214 Akromegalie 528, 532 Akrosom 567 α-Aktinin 102, 123 Aktinfilamente 41, 102 Aktinkortex 44 Aktionspotenzial 64, 67, 75 ff. – Abfall 76 – Ablauf 67 ff. – – ionale Basis 68 f. – Alles-oder-Nichts-Gesetz 68 – Aufstrich 76 – AV-Knoten 161 f. – Bahnung 623 – biphasisches 164 – Dauer 76 – extrazelluläre Ableitung 621 – Fortpflanzung des 621 – Herzmuskelzelle 149, 396 – Nachhyperpolarisation 76 – Na+-Kanal, Arbeitsweise 75 ff. – Nervenzelle 68 ff., 617 ff. – Overshoot 76 – postsynaptisches 86 – Rezeptorzelle 618 f. – Ruhephase 75

– Schwelle 75 – Schwellenwert 67 – Sinusknoten 161 – Skelettmuskel 108 – Übertragung, ephaptische 621 Aktives Zentrum 42 – Kinesine 42 – Myosine 42 Aktivierungssystem, aufsteigendes retikuläres (ARAS) 843 Aktivität, körperliche 590 ff. Aktivitätskoeffizient 32, 866 Aktuelle Bicarbonatkonzentration s. Bicarbonat Akutschmerz 652 Alanin, renale Bildung 371 β-Alanin, Resorption, tubuläre, Carrier 358 Albumin 225 – Corticoidbindung 539 – Filtration, glomeruläre 339, 359 – Konzentration im Plasma 359 – Passagebehinderung am Gefäßendothel 195 – Resorption, tubuläre 359 Albuminkonzentration, Einfluss auf Plasma-Calcium-Konzentration 398 Albuminurie 339 Aldosteron 369 f., 424, 445 ff., 499 – Antagonist 353 – Blutdruckregulation 201 – Blutvolumenregulation 208 – Einfluss auf die Wasserbilanz 391 – K+-Sekretion, tubuläre 348, 354, 397 – Na+-K+-Pumpen-Stimulation 397 – Na+-Resorption, tubuläre 348 – Nierenfunktion 346, 347 ff., 383 – Synthese 377, 515, 538 – Ödementstehung 383 Aldosteronismus s. Hyperaldosteronismus Alexie 828 Alkalose 316 ff. – Ca2+-Ionen, freie, im Plasma 398, 402 – extrazelluläre, Na+-H+-Gegentransportsystem 35 – hypokaliämische 348, 393 f. – intrazelluläre 392 f. – – insulinbedingte 397 – – K+-Ausscheidung, renale 397 – Kompensation, renale 366 – K+-Verschiebung, transzelluläre 393 – nichtrespiratorische 321 ff., 393 – – Kompensation, respiratorische 322 – respiratorische 321 ff., 352 f. – – in großer Höhe 306 – – Kompensation, renale 322, 393 Alkoholabhängigkeit 810 Allergie 451 Allergische Reaktion 237 Alles-oder-Nichts-Gesetz 68 Alles-oder-Nichts-Verhalten, Skelettmuskel 113 Allodynie 653 f. Alpharezeptorenblocker s. Adrenozeptoren, Antagonist Alpha(α)-Wellen 837 Alt (Stimmlage) 673 Alter(n) s. Lebensalter

Altersschwäche 45 Altersschwerhörigkeit 659 Alterssichtigkeit 690 Aluminium 475 Alveolardruck 217, 264 ff. Alveolarepithel 258 f., 289 Alveolarepithelzelle, Typ I 258 – Typ II 258, 267 Alveolargas 279 f. – atemrhythmische Konzentrationsschwankungen 282 – Gaspartialdrücke 281 – Zusammensetzung 274, 874 Alveolarluftgleichung 281, 306 Alveolarmakrophagen 258 Alveolarmembran 289 f. – alveolär-arterielle O2-Partialdruckdifferenz 292, 295 – Diffusionsstörung 295 – Gastransport, diffusiver 289 f. – Leitfähigkeit 289 Alveolarödem 305 Alveolarraum 257 Alveolarventilation s. Ventilation, alveoläre Alveolarvolumen 257 Alveolarzellen 258 ff. – Typ I 258 – Typ II 258, 267 Alveolen 294 – Oberflächenspannung 266 f. Alzheimer-Demenz 475 Alzheimer-Krankheit 809 Amakrine Zellen 692 Amblyopie 709, 825 Amboss 660 Ameisensäure 343 f. Amenorrhö 490, 534, 591 Amilorid 353 – tubuläre Sekretion 360 Amine precursor uptake and decarboxylation (APUD)-Zellen 447 γ-Aminobuttersäure s. GABA Aminocephalosporine, tubuläre Resorption 358 p-Aminohippurat s. PAH Aminopeptidase 371, 451 – proximaler Tubulus 358 Aminosäuren 448, 469 – Abbau 316, 368 f. – Absorption im Darm 452 – anionische 317 – Ausscheidung, renale, erhöhte 357 – – – in der Schwangerschaft 579 – essenzielle 450, 473 – glukogene 372 – kationische 317 – Konzentrationen in Tubuluszellen 358 – proteinogene 473 – Resorption, tubuläre 342, 355 ff. – – – Carrier 357 f. – – – Sättigung 357 f. – Säure-Basen-Gleichgewicht 317 – schwefelhaltige 317 – Stoffwechsel, Insulinwirkung 555 f. – – Niere 371 – Symportsystem, Na+-abhängiges 28 – Transmitter 764 – Transport, transplazentarer 573

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Arbeit – Wirkung auf die Magensaftsekretion, Blut-Hirn-Schranke 852 β-Aminosäuren 452 – Resorption, tubuläre 358 Aminosäurenabgabe, basolaterale (Darm) 452 – – Systeme A 452 Ammoniak 318, 368 f. – Ausscheidung 474 – – Leberfunktion 368 f. – – renale 368 f. – Diffusion, nichtionische 368 f. – H+-Ausscheidung der Niere 318 ff. – renaler Carriertransport 345 – Sekretion, renale 368 f. – Säure-Basen-Gleichgewicht 322 – Resorption, tubuläre 345 Ammoniumionen s. Ammoniak Ammonshorn s. Hippokampus Amnesie 813, 816 – anterograde 813, 816 – dissoziative 813 – retrograde 813 Amöbe 8 AMP 479 AMPA (α-Amino-3.hydroxy-5-methylisoxazolpropionsäure) 96 AMPA-Rezeptor 93, 820 Ampere 864 Amphetamine 813 – Anorexigen 488 Amputation 651 Amygdala 650, 723, 808 ff., 817 α-Amylase 422, 437, 448 Amylin 552, 555 Amyloidose 359 Amylopectin 448 Anabolika 606 Anabolismus 530 f. Anaerobe Glykolyse s. Glykolyse – Schwelle 304, 594 Analgesie 652 Analsphinkter 462 – Innervation 795 Anämie 303 – Erythrozytenindizes 232 f. – bei Gewebehypoxie 303 – megaloblastäre 457 – perniziöse 436 – renale 370 – Ursachen 232 – Widerstand, peripherer 191 Anästhesie 653 Anastomosen, arteriovenöse 180, 214 f. – – Dilatation, kältebedingte 214 Androgene, adrenale 541 f. – bei der Frau 541 – Funktion 541 f. – Synthese 515, 541 – Thekazellen 563 f. Androstendion 564 f. Anenzephalie 823 ANF s. Atriopeptin Anfallsleiden s. Epilepsie Angina pectoris 176, 206, 794 Angiogenese 179, 253 Angiopoietin 253 Angiotensin I 208, 369

Angiotensin II 38, 97, 208, 369 – Aldosteronsynthese 539 – Bildung 369 – Nierendurchblutung 338 – Resorption, tubuläre 358 – Rezeptoren 338 – Wirkung über G-Proteine 39 – – auf Prolactinsekretion 533 Angiotensin converting enzyme (ACE) 208, 369 Angiotensinogen 369 Angst 809 Angsterkrankungen 809 f. Anionen, intrazelluläre 381 – organische, tubuläre Sekretion 359 – polyvalente 378 Anionenlücke 394 Anorexia nervosa 408, 472, 490, 536 Anorexie, bei Hyperoxie 305 Anorexigene 485, 488 Anosmie 715 f. – Alter 725 Anoxie, freies Intervall 304 – Gewebe 304 – Überlebenszeit 304 – Wiederbelebungszeit 304 – Zelltod 304 ANP s. Atriopeptin Ansatzrohr 673 f. Anschlagskontraktion, Skelettmuskel 118 Anspannungsphase, Herzaktion 140 Antagonist, Rezeptor 87 f. Antibiotika, tubuläre Resorption 358 – orale Gabe 439 Antidepressiva 96 f., 810 Antidiabetika, orale 554 Antidiurese 345, 352 Antidiuretisches Hormon s. Adiuretin Anti-D-Prophylaxe 231 Anti-D-Rhesusantikörper 573 Antiemetika 436 Antigen 237 ff. – Epitop 238 f., 241 – Paratop 239 Antigen-Antikörper-Komplex, mesangiale Ablagerung 337 Antigenpräsentation 238, 244 f. Antigravitationsmuskulatur 590 Antikörper (s. a. Immunglobulin) 230 – Bildung 238 ff., 244 – – Boostereffekt 240 – – Primärreaktion 241 – – Sekundärreaktion 241 – im fetalen Blut 574, 577 – Hormonbestimmung, radioimmunologische 519 Antikoagulanzientherapie 251 Anti-Müller-Hormon 578 Antiphlogistika, nicht-steroide 639 Antiportcarrier (s. a. Gegentransport) 28, 32 ff., 341 ff., 365 – Na+-Abhängigkeit 28 – Nierentubulus 341 ff. Antipyretikum 391 Antipyrin 379 Antithrombin III 251 Antithrombogenität, Endothel 179 Antizipation 806, 809

Antrieb 809 Antrumdrüsen 428 Antwort, lokale 502 Anurie 352 ANV s. Nierenversagen, akutes Anxiolytika 810 Aorta, Altersveränderungen 221 – Dehnbarkeit (Compliance) 183, 211 f. – Druck 140, 220 ff. – Drucksteigerung, postnatale 220 – Druck-Volumen-Beziehung 220 – Windkesselfunktion 143, 183 ff. – – abnehmende 221 Aorten(klappen)insuffizienz 141 Aortenwand, Zusammensetzung 178 Aphagie 473, 485 Aphasie 827 ff. – globale 827 – Leitungs- 828 – motorische 674, 827, 829 – Nachsprechen 828 – sensorische 827, 929 Aphonie 672 Aplysia californica 5 f. Apnoe 282 – Atmungsregulation 297 – Schlaf 301 Apolipoproteine (Apo) 469 f. Apoptose 45, 50, 244, 824 Apparat, juxtaglomerulärer 335, 369 – – GFR-Regulation 334 f., 338 f. – – Reninausschüttung 368 Appendizitis, Head-Zone 643 Appetitstörung 725, 810 Applanationstonometrie 690 Aprosodie 828 APUD(amine precursor uptake and decarboxylation)-Zellen 447 Aquaporin (AQP) 469 Aquaporin 1 (AQP1) 341 Aquaporin 2 (AQP2) 349, 352, 390 Aquaporin 3 und 4 (AQP3, AQP4) 390 Acquired Immunodeficiency Syndrome (AIDS) 475 Äquivalent, kalorisches 482 Äquorin 114, 153 Arachidonsäure 204, 473 Arachnoidalvilli 854 ARAS (aufsteigendes retikuläres Aktivierungssystem) 646, 843 Arbeit, körperliche 212 ff., 477, 503 – – Abklingphase 608 – – anaerobe Schwelle 304 – – Atmung 273 – – – Anpassung 300, 597 – – Aufbauphase 608 – – Catecholaminkonzentration 213 – – Cortisolsekretion 540 f. – – dynamische 590 f. – – Energiereservenmobilisierung 304 – – Erholungsphase 608 – – ermüdungsfreie 607 – – Herzfrequenz 213 – – Herz-Kreislauf-Anpassung, reflektorische 601 – – Herzzeitvolumen 213 f. – – – Verteilung 187 – – Homöostase 607 – – Hyperpnoe 300

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Arbeit Arbeit, körperliche, Kreislaufregulation 198, 213 ff., 598, 601 – – – neurogene, differenzierte 213 – – Leistungsphase 608 – – Lungenstrombahn 274 ff. – – Mitteldruck, arterieller 213 – – Muskeldurchblutung 213, 591, 600 – – O2-Austausch, alveolokapillärer 218 – – O2-Extraktion 214 – – O2-Verbrauch 214 – – – myokardialer 145 – – Säure-Basen-Gleichgewicht 321 – – Schlagvolumen 213 f. – – Startreaktion 213, 602 – – statische 590 – – STH-Sekretion 532 – – Superkompensation 608 – – Umweltbedingungen 607 – – Wärmebildung 591 Arbeitsdiagramm, Herz 142 f. Arbeitsgedächtnis 817 Arbeitsumsatz 473, 477, 480 Archikortex 805 ARDS (Acute Respiratory Distress Syndrome) 267, 276 Area(l) s. Kortex (zerebraler) Areflexie, autonome 795 Arginin 40 f. – Ausscheidung, renale, vermehrte 358 – Bildung, renale 371 – Resorption, tubuläre, Carrier 358 Armarbeit 599 ff. Arrhythmie, absolute 171 – respiratorische 170, 798 Artefakt 4, 6 Arteria arcuata 331 – interlobaris 331 – interlobularis 331 – pulmonalis 258 – – Druck 184, 215 ff., 276 – renalis 327, 331 – – Blutdruckabfall 368 Arterien, Dehnungsverhalten 182 Arterienstenose, Extremitäten 190 f. Arterienwand, Zusammensetzung 178 Arteriolen 180, 182 – Durchmesser 188 – Endothel 180 f. – Konstriktion 180 f. – – myogene 183 f. – – – abhängige Körperpartien 212 – Strömungswiderstand 180 Arteriosklerose 470, 490 – Alter 212 – Cholesterinaufnahme 226 – Diabetes mellitus 557 – Hypercholesterinämie 226 f. – koronare 143 – LDL-Plasmaspiegel 226 f. – zerebrale 859 Artikulation 673 Asbestose 259 ASBT (Active Sodium Bile Salt Transporter) 468 Ascorbinsäure 476 ASIC (acid-sensing ion channels) 717 f. Aspartat, Resorption, tubuläre, Carrier 358 Asphyxie, fetale 585

Assoziationsareale s. Kortex (zerebraler) Asthma bronchiale 274, 792 – – Sympathomimetikawirkung 788, 792 Astigmatismus 688 Astronauten 676 Astrozyten 614 – K+-Aufnahme 614 f. Asymbolie 650 Asynergie 774 Ataxie 774 – zerebelläre 683 Atelektase 289, 294, 307 Atemantrieb(e) 296 ff. – hypoxischer 295, 298, 306 – Körperarbeit 597 – bei maximaler Kurzzeitbelastung 595 – mangelnder 299 – Neugeborenes 582 – nicht-rückgekoppelt 300 f. – postnataler 220 – rückgekoppelt 297 f. – Zusammenspiel 300 Atemapparat, Chemorezeptoren 299 f. – Compliance 263, 266 – Definition 263 – Druckdifferenz, transmurale 263 – Druck-Volumen-Beziehung 264 f. – Gesamt-Elastance 266 – Mechanorezeptoren 297 – Ruhedehnungskurve 264 f. Atemäquivalent 597 – Leistungstest 604 Atemarbeit 272 f. – O2-Bedarf 273 Atembewegungen, fetale 577 Atembremse, hypokapnische 298, 306 Atemdepression 655 Atemfrequenz 277, 281 – Körperarbeit 597 – Leistungstest 603 Atemgase, Transport im Blut 282 ff. Atemgrenzwert 263, 272 597 – Altersabhängigkeit 45 f. Atemluft, CO2-Konzentration 260 – toxische Gase 258 Atemmechanik 261 ff. – Parameter 263 Atemmuskeln 262 ff., 267 ff., 272 ff. – Atemarbeit 272 f. – Eigenreflexe 297 – Energiebedarf 273 – maximale Kraft 268 – Muskelspindeln 297 – Säure-Basen-Gleichgewicht 321 – Schwäche 295 Atemnot, Dekompressionskrankheit 308 Atemnotsyndrom des Frühgeborenen (IRDS) 267 Atemreiz 297 f. – chemischer 297 f. – CO2 295, 297 f. – hyperkapnisch, Tauchen 308 – nicht rückgekoppelter 300 – rückgekoppelter 297 ff. Atemrhythmus 296 f. Atemruhelage 261 ff., 265 ff., 270 Atemstromstärke 269 ff.

– exspiratorische 271 – – maximale 271 Atemströmungsdruck 269 Atemtiefe, Körperarbeit 597 – Lungendehnungsreflex 297 Atemvolumen 261 ff., 261 Atemwege 256 ff., 293 – Drüsen 258 – Epithel 258 – Infektabwehr 259 – Kompression, dynamische 271 – Obstruktion 274 – – Säure-Basen-Gleichgewicht 321 – Schleim 258 Atemwegswiderstand 263, 269 ff. – Druck-Stromstärke-Beziehung 269 – erhöhter, Wirkung auf Kreislauf 216 – Kontrolle, aktive 270 – Lokalisation 270 – und Lungenvolumen 269 f. Atemzeitvolumen 281 Atemzentrum 296 Atemzugvolumen 257, 261 ff., 277, 281 – Definition 261 – Körperarbeit 597 – maximales 261 – Neugeborenes 583 Atemzyklus, Partialdrücke, alveoläre 282 Atherosklerose s. Arteriosklerose Athetosen 769 Atmosphärische Luft, Zusammensetzung 260 Atmung, äußere 256 – CO2-Antwortkurve 298 – Einfluss auf Herzachse 168 – – auf Herzrhythmus 168 – große 301 – in großer Höhe 306 f. – innere 256 – Körperarbeit 597 – Kreislaufwirkung 186, 213, 216 f. – Neugeborenes 582 f. – Normalwerte 281 – O2-Antwortkurve 298 – periodische 301 – pH-Antwortkurve 298 – Regulation 296 ff. – – chemische 297 ff. – – – Regelkreis 299 – – Körperarbeit 300 – – Rückkoppelung, negative 299 – Rhythmusgenerator 296 f. – – Mitinnervation bei Arbeit 300 – Schwangerschaft 579 – Temperatureinfluss 300 – Transportsystem – willkürliche 300 Atmungskette 20 ff. Atonie 415 ATP (Adenosintriphosphat) 30 f., 418, 592 – Durchblutungsregulation 202 – Energiestoffwechsel, myokardialer 147 f. – Gefäßinnervation 181 – Hydrolyse 42 – Hypoxie 304 – als Kotransmitter 91, 181 – Mitochondrienfunktion 20 f. – Muskeltätigkeit 592 f., 603

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Bayliss-Effekt – Nervenzelle 613 – Nierentubulus, proximaler 340 – Pufferung 313 – Regeneration, Skelettmuskel 120 – Rezeptor 60 – Skelettmuskel 107 – Synapse 91 – Synthese, myokardiale 148 – – renale 331 – Verbrauch, myokardialer 148 – Weichmacherwirkung 107 ATPase 30 ATPS (Gasmessbedingung) 260 ATP-Synthetase 21 f. Atriopeptin (= ANF) 160 f., 203 – Freisetzung 160 – Na+-Homöostase 382 – Na+-Resorption 346 – Speicherung 160 – Struktur 160 – Wirkung 160 – – auf die Aldosteronsynthese 538 – – auf den Blutdruck 388 – – auf das Blutvolumen 207 f. – – am Sammelrohr 348 – zirkulierendes 160 Atrioventrikularknoten s. AV-Knoten Atrophie, Muskulatur 106 Atropin 89, 92, 788 – Sekretion, tubuläre 360 Audiometrie 659, 670 Auerbach-Plexus (Plexus myentericus) 420 Aufbauphase nach Körperarbeit 608 Aufbaustoffwechsel 477 Auflösung, räumliche 633 Auflösungsvermögen, taktile Reizung 649 Aufmerksamkeit 719, 724, 802, 805 – Neuropeptide 525 – selektive 805, 808 – visuelle 705 Aufmerksamkeitsdefizit 805 Auge 686 ff. – Bewegungen 774 f. – – kompensatorische 775 f. – – konjugierte 775 – Brechkraft 686 – dominantes 709 – Empfindlichkeitsbereich, spektraler 710 – Innendruck 690 Augenfeld, frontales 780 Augenhintergrund 691 Augenmuskelkerne 682 f. Augenmotorik 635 Augenmuskeln 774 – Lähmung 709 Ausbelastung 599 Ausdauer, aerobe 605 – allgemeine 603, 605 – anaerobe 605 – dynamische 605 – lokale 605 – statische 605 Ausdauerleistung, Energiegewinnung 593 Ausdauersportart 603 Ausdauertraining 602, 605

Ausscheidung, fraktionelle (FE) 329 ff., 356 Austauschäquilibrium 194 Austauschbarriere 193 f. Austauschfläche, kapilläre 600 – – pulmonale 218 Austauschgefäße 176 f., 197 – Eiweißpermeabilität 197 Austauschsystem 193 Austreibungsphase 580 – Herz 140, 192 Auswärtsdiffusion 193 Auswärtsfiltration, kapilläre 195 f. Auswärtsstrom 68 f. Autakoide, Kommunikation benachbarter Zellverbände 60 Autismus 811 Autoimmunerkrankungen 245 Autokatalyse 11 Autophosphorylierung 555 Autoregulation, Durchblutung 183, 189 – – Gehirn 855 – – Niere 334 – – Schilddrüse 550 – glomeruläre Filtrationsrate 334, 338 Autorezeptor 86 f. Abbaustoffwechsel 477 AV(Atrioventrikulär)-Block 169 ff. AV-Knoten 161 ff. – Aktionspotenzial 161 – Depolarisation, diastolische 161 – Erregungsübertragung 162 – Faserdurchmesser 162 – Plateauphase 150 Axialmigration, Erythrozyten 191 f. Axillartemperatur 384 Axon(e) (s. a. Nervenfasern) 613 ff. – Regenerierungsgeschwindigkeit 614 – sensorische 630 – Stofftransport 614 f. – – langsamer 614 – – schneller 614 Axonem 44 Axonreflex 641 – Hautdurchblutung 206 – venovasomotorische Reaktion 206 Axonterminale 614 Axoplasmatischer Transport 614 f. A-(= α-)Zellen der LangerhansInseln 552, 555 Azidose 393 f. – Ca2+-Ionen, freie, im Plasma 398 – diuretikabedingte 353 – extrazelluläre, Na+-H+Gegentransportsystem 35 – hyperchlorämische 394 – hyperkaliämische 393 – Hypokaliämie 447 – intrazelluläre s. Azidose, zytosolische – Kompensation, renale 322 f. – – respiratorische 322 – K+-Verschiebung, transzelluläre 394 f. – bei Lactatbildung 595 f. – metabolische s. Azidose, nichtrespiratorische – nichtrespiratorische 316, 321 ff., 368 f., 393, 445 – – Anionenlücke 394 – – Atemantrieb 598

– – – –

– – – –

Atmungsregulation 300 durch Erbrechen 421 Hypoxie 296, 322 Kompensation, respiratorische 322 – – neonatale 585 – – O2-Mangel, Laktazidose 304 – renal-tubuläre, distale 369 – – proximale 366 – respiratorische 320 ff., 393 – – Kompensation, renale 322 – zytosolische 33, 35, 392 f. – – Na+-H+-Gegentransportsystem 35 Azinus, Lunge 257 Azinuszellen (Speicheldrüsen), Funktion 412

B Babinski-Reflex 762 Babinski-Zeichen 747, 751 Bahn (s. a. Tractus) Bahnen, absteigende, retikulospinale 772 – – vestibulospinale 772 – spinozerebelläre 646 Bahnung 623 – präsynaptische 97 Bakterienwachstum 414 Balance, glomerulotubuläre 344, 382 Ballaststoffe 448, 476 Ballismus 769 Bande-3-Protein 16, 28, 229 f. Bandpassverhalten von Rezeptoren 617 Bandscheibenvorfall 641 Barbiturate 94 – tubuläre Sekretion 360 Barbituratrezeptor 94 Barometerdruck 259 f., 264 – Höhe 306 Barometrische Höhenformel 261 Barotrauma 307 Barorezeptoren s. Pressorezeptoren Bartter-Syndrom 346 f., 362 Basalganglien 736 f., 761 f., 774 – Zellverlust 793 Basalmembran, Gefäßwand 181 – glomeruläre 336 f. Basaltemperatur 495 Basalzellen, Geschmacksknospen 715 – Riechepithel 722 Basen, organische, tubuläre Sekretion 360 Base excess (Basenüberschuss) 319 ff. Basedow-Krankheit 551 f. Basenabweichung 319 ff. – Normalwert 320 Basenbedarf 324 Basendefizit 319 ff. Basenüberschuss 319 ff. Basic rest activity cycle (BRAC) 518 Basilarmembran 662 ff. Basistonus, Gefäße 179 Basophile s. Granulozyten, basophile Bass (Stimmlage) 673 Batrachotoxin 74 Bauchhautreflex 747 Bauchspeicheldrüse s. Pankreas Bayliss-Effekt 129, 183, 334

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BDGF BDGF s. Brain derived neurotrophic growth factor Beanspruchung, körperliche, bei Arbeit 590 Beatmung, künstliche 296, 305 – Sauerstoff 305 Beckenvenenkompression, Schwangerschaft 579 Bedingter Reflex s. Reflex, konditionierter Begabung 590 Behaglichkeitstemperatur 503 Beimischung, venöse, intrapulmonale 293 Beinarbeit 599 f. – Muskeldurchblutung 600 Beinvenendruck, Schwangerschaft 579 Beischlaf 567 ff. Belastung, körperliche bei Arbeit 590 Belastungsstörung, posttraumatische 809 f. Belohnungssystem 809, 812 Bends, Dekompressionskrankheit 308 Benzodiazepine 94, 810 – Rezeptor 94 BERA s. ERA Bereitschaftspotenzial 782 f., 839 Bergkrankheit, akute 306 Bernard-Soulier-Syndrom 246 Berührungsempfindung, Zweipunktschwelle 628 Berührungshyperalgesie 653 f. Beschleunigung, Maßeinheit 863 Beschleunigungsarbeit, Herz 143 – linker Ventrikel 192 f. Betarezeptorenblocker s. β-Adrenoantagonist Beta(β)-Wellen (im EEG) 837 Beugereflex 747, 749 Beweglichkeit, amöboide 258 Bewegung(en) – ballistische 744 Bewegungsempfindung 778 Bewegungsentwurf 839 Bewegungskrankheit 778 Bewegungsplan 737, 782 Bewegungsprogramme 773 Bewegungsschmerz 654 Bewegungssehen 702 f. – kortikale Verarbeitung 705 Bewegungssinn 635, 676 Bewertung 808 Bewusstlosigkeit, Tauchen 308 Bewusstsein 802, 842, 845 – Schnorcheltauchen 307 Bicarbonat 286 – Ausscheidung, renale 312, 318, 366 – – – Höhenakklimatisation 306 – – – Fanconi-Syndrom 357 – – – bei Höhenaufenthalt 353 – – – vermehrte 353, 366 – Konzentration, intrazelluläre 28 – – Plasma 319 ff. – Pufferfunktion 314 ff. – – Pufferkapazität 314 – Resorption, tubuläre 342, 366 – Sekretion, Magen 433 – Verlust 366 – Standard- 319

Bicarbonat/Cl–-Austausch 28, 429, 441, 467 Bicucullin 94 f. Bildgebende Verfahren 612 Bilirubin 465 – fetales 586 – indirektes 472 Bilirubintranslokase 465 Bindungskurven, O2, CO2 im Blut 283 ff. Binokularsehen 708 Bioassay 518 Biotin 476 Biotransformation (Phase I und II) 466 Biorhythmus 845 Bipolarzellen, retinale 692 f. 2,3-Bisphosphoglycerat 285 Bitterstoffe 719 Blähungen 636 Bläschen, synaptische 82 f. Blasengalle 467, 468 – Zusammensetzung 468 Blastozyste 569 Blattpapillen 716 Blickbewegungen 774 Blickmotorik 682 Blindenschrift 633, 649 Blocker, kompetitiver 87 f. – nicht-kompetitiver 89 f. Blut, arterialisiertes, venöse Beimischung 285 – arterielles, Ausschöpfung 598, 600 – Atemgastransport 282 ff. – fetales 571 f., 575 – Fließeigenschaften 190 f., 229 – mütterliches 570 f. – – α-Fetoprotein, erhöhtes 577 – Normalwerte 875 – O2-Aufnahme, CO2-Abgabe 276 f. – O2-Transport 301 f. – O2-Transportkapazität 370 – oxygeniertes 283 – Pufferkapazität 319 – Säure-Basen-Status 323 Blutdruck, Arteria pulmonalis 215 f., 274 ff. – arterieller (s. a. Mitteldruck, arterieller) 184 ff., 192 – – Abfall, Kreislaufregulation 198 – – Altersveränderungen 220 f. – – Einfluss der Kochsalzzufuhr 385 f. – – erhöhter s. Hypertonie – – fetaler 219, 575 – – genetische Faktoren 386 – – Körperarbeit 599 – – körperlageabhängiger 210 – – Langzeitregulation 334 – – Pulsation 192 – – Messung, indirekte 185 – – Regulation 198 ff., 369 – – – Effektoren 198 – – – Extrazellulärvolumen 200 – – – kurzfristige 198 ff., 382 – – – längerfristige 198 f., 385 – – – Messfühler 199 – – – mittelfristige 369 – – – Salz-Wasser-Haushalt 201 – – – Stellglieder 9, 199 – – Schwangerschaft 578

– – Schwankung, atmungsabhängige 186 – – – spontane 200 – – – Auslösung 199 – diastolischer 184, 192, 385 – – Altersabhängigkeit 221 f. – – Körperarbeit 599 – intrarenaler 333 – Lungenkreislauf 221 f., 274 ff. – Messung 185 f. – statischer 177 – systolischer 184 f., 192 – – Körperarbeit 599 – – bei Lagewechsel 210 – venöser, körperlageabhängiger 210 – Verteilung 188 f. Blutdruckamplitude 184, 192 – Altersveränderungen 221 – Körperarbeit 213 – vergrößerte 213, 221 Blutdruckkurve, Inzisur 184 Blut-Gas-Barriere (Alveole) 256 Blutgase, Normalwerte 295 – Störungen 295 Blutgefäß s. Gefäß Blutgerinnung s. Gerinnung Blutgruppen 230 ff. Blutgruppenantigen 230 ff. Blut-Hirn-Schranke 56 f., 59, 61, 522, 850 – erhöhte Durchlässigkeit 851 – funktionelle Bedeutung 850 – Lokalisation 850 f. – metabolische 851 – Öffnung, vorübergehende 851 – Transport 851 f. Bluthochdruck (s. a. Hypertonie) 381 Blutkörperchen, rote s. Erythrozyten Blutkreislauf s. Kreislauf Blut-Liquor-Schranke 850, 853 f. Blutplasma (s. a. Plasma) 225 ff., 378 – Druck, kolloidosmotischer 196, 225, 380, 867 – – – Abfall 193 – – onkotischer s. kolloidosmotischer – Ionenkonzentration 226, 380 f., 854 – Osmolalität 226, 384, 388, 391, 867 f. – Osmolarität 226, 866 f. – pH-Wert 317 – Pufferkapazität 312 ff. – Viskosität 190 f. – wahres 319 Blutserum 225 Blutstillung 245 ff. Blutströmung (s. a. Strömung) – laminare 192 – pulsierende 192 f. – turbulente 192 Blutströmungswiderstand, pulmonaler 276 Bluttransfusion 231 – Kreuzproben 231 Blutungszeit 248 Blutverlust, Gewebehypoxie 303 Blutviskosität 187, 190 f., 225 – Hagen-Poiseuille-Gesetz 192 – relative 190 – scheinbare 190 – Zunahme, kältebedingte 214

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Calbindin Blutvolumen 160, 177, 224 – Adiuretinfreisetzung 391 – intrathorakales 210, 216 – – bei Inspiration 216 – – Körperarbeit 598 – – körperlageabhängiges 210 – Messfühler 200 – Neugeborenes 219 – pulmonales 216 – – kapilläres 216 – Regulation 207 f. – – Hormoneinfluss 207 – Sauerstofftransportkapazität 596 – Schwangerschaft 578 – Kreislaufregulation 198 – Sympathikusaktivierung 207 – Verlust, zentralvenöser Druck 185 – Verteilung 207 f. – – körperlageabhängige 210 f. – Verringerung, Regulation durch ADH 391 – Zentralisation 207 Blutzellen 227 ff. – Differenzierung 227 – Lebenszeit 227 Blutzucker s. Glucose, Konzentration im Blut B-Lymphozyten (s. a. Lymphozyten) 244 – antigenpräsentierende 242 – Differenzierung 239, 242 – Gedächtniszellen 240 – Kooperation mit T-Helferzellen 236, 242 – Selektion, klonale 239 BMI (Body Mass Index) 483 Bogengänge 676 f., 795 Bohr-Effekt 285 f. Bohr-Haldane-Effekt 288 Bohr-Totraumformel 280 BOLD-Effect (Blood Oxygen Level Dependent Effect) 832 Bombesin 417 f. Boostereffekt, Immunisierung 240 Boten-RNA (mRNA) 613 Botenstoff (s. a. Mediator) 40 – intrazellulärer 35 f. – retrograder 820 – sekundärer s. Second Messenger – tertiärer 38 Bowman-Drüsen 722 Bowman-Kapsel 327, 335 Bowman-Kapsel-Raum 327, 335 – Druckdifferenz zu den Glomeruluskapillaren 336 f. 2,3-BPG s. 2,3-Bisphosphoglycerat BRAC (Basic Rest Activity Cycle) 518 Brain-derived neurotrophic growth factor (BDGF) 40 Bradykardie 798 – fetale 572 – Geburtsphase 219 Bradykinin 423, 447 – lokale Durchblutungsregulation 204 – J-Rezeptoren-Erregung 297 – Ödementstehung 197 – Proteinkinase C 640 – Vasodilatation 204 Braille-Muster (Blindenschrift) 633, 649

Brechkraft, Auge 686 f. Brechwert, Auge 687 Brechzentrum 436 Brennweite 687 f. Brennwert, physikalischer 481 – physiologischer 478, 481 f. Broca-Sprechzentrum 674, 827, 829 Brodman-Areale 803 Bromosulphalein 465 Bronchialasthma s. Asthma bronchiale Bronchialkarzinom, ACTH-Sekretion 538 Bronchialmuskulatur 274 – Atemwegswiderstand 269 f. – Parasympathikuseinfluss 270, 791 f. – Sympathikuseinfluss 270 – – indirekter 791 f. – Tonuserhöhung 274 Bronchialschleimsekretion 790 Bronchialvenen 294 Bronchienweite 270, 297, 790 – und Arbeit 270 f. Bronchiolen 257 – Epithel 258 – Kollaps 267 Bronchitis, chronische 258, 274 Bronchodilatation 297, 790 Bronchokonstriktion 790 Bronchus 257 f. – Epithel 258 Bronsted-Definition, Säure-BasenPaar 312 Brown-Séquard-Syndrom 633, 649, 752 Brustdrüse, Schwangerschaft 582 BSC (Bumetanid-sensitiver Cotransporter) 345 f., 369 BSEP (Bile Salt Export Pump) 467 BSG s. Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit BTPS (Gasmessbedingung) 260 Bulbus oculi, Tonometrie 690 – olfactorius 721 ff. – – Körnerzellen 722 – – Verschaltung 723 Bulimie 408, 472 Bumetanid 353 Bumetanid-sensitiver Cotransporter (BSC) 345 f., 369 α-Bungarotoxin 87, 92 β-Bungarotoxin 92 Bürstensaum, Nierentubulus, proximaler 340 ff., 359 – – – Enzyme 359 Bürstensaummembran (Darm) 451 Bürstensaumvesikel 29 Büschelzellen 722 B-(β)-Zellen, Langerhans-Inseln 55, 552

C Ca2+ (s. a. unter Calcium) 448 – Absorption (Darm) 399 ff., 459 – Adiuretinfreisetzung 389 – Aktionspotenzial 414 – Aktivität, zytosolische, K+-Leitfähigkeit 39 – Antagonisten 128 – Äquorin als Indikator 153 – ATPase 31 f., 35, 459

– – – – – – – – – – – – –

– Energiemangel 372 f. – Herzmuskel 133 – Myokardzelle 154 – Niere 362 – Skelettmuskel 111 Aufnahme 399 – in die Zelle 38 Ausscheidung, renale 362 f., 399 als Botenstoff 38 ff. Desensitivierung 133 Einstrom, Herzmuskelzelle 154 – in die präsynaptische Endigung 82 f. – Triggereffekt (Ca2+-Einstrom am Herzen) 154 – als Exozytosesignal s. Exozytose – freies, im Plasma 398 f. – Freisetzung 38 f. – – intrazelluläre, Herzmuskelzelle 154 – – – Skelettmuskelzelle 154 – – Steuerung 36 – Haushalt, Nierenfunktion 362 f., – Homöostase 34 f., 38, 398 ff. – – Störungen 401 ff. – HPO42-Löslichkeitsprodukt 399, 404 – Kanal 33, 414 – – Antagonisten 77, 151 – – epithelialer (ECaC) 363 – – Glomera carotica 299 – – Insulinsekretion 554 – – L-Typ 131, 414 – – spannungsgesteuerter 127, 414, 822 – – Muskelzelle, Herzmuskelzelle 75 f., 151 f., 154 – – Phosphorylierung 75 – Komplexbildner 363 – Konzentration, Bedeutung für Gap Junctions 33, 55 – – extrazelluläre 380 – – – Herzmuskelfunktion 154 – – freie, intrazelluläre, Homöostase 34 – – im Glomerulusfiltrat 262 – – Herzmuskelzelle 154 – – intrazelluläre 32 ff., 75 – – – glatter Muskel 126 – – – Herzmuskelzelle 153 – – sarkoplasmatisches Retikulum 110 – – Plasma 262 – – präsynaptische 82 f. – – zytosolische 424 – Oszillation 438 f. – Koppelungsfunktion, elektromechanische, Herzmuskel 153 f. – Kreisen 486 – Leitfähigkeit 76, 752 – Proteinbindung 339, 398 – Resorption, tubuläre 346 f., 362 – – Parathyrinwirkung 400 ff. – Sekretion, Darm 399 – Speicher 34 f., 38 f., 154 f. – Transport, transplazentarer 573 (Ca2+)4-Calmodulin-Komplex 39, 125 Ca2+-Mg2+-Sensor (CaSR) 363 Ca2+-Pumpen, Muskel, glatter 127 Ca2+-Sensitivierung 133 Cabrera-Kreis 169 Cadherine 824 cADPR s. ADP-Ribose, zyklische Cajal-Zellen 414, 434, 461 Calbindin 362, 400, 459

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Calcidiol Calcidiol, tubuläre Resorption 359 Calciol 476 Calcitonin 401, 431, 545 – Anorexigen 488 – Biosynthese 514 Calcitriol (s. a. unter Vitamin D) 459, 471 Calcium (s. a. unter Ca2+) 474 – Albuminbindung 339, 398 – biologisch aktives 398 – – inaktives 398 – Konsum 386 – Konzentration im Plasma, Korrektur bei Hyper-/Hypoalbuminämie 399 – Mobilisierung 398 f. – Zufuhr, exzessive 475 Calcium-Transport-Protein, Subtype 1 (CaT1) 459 Calciumantagonisten s. Ca2+-Kanal, Antagonisten Calciumbilirubinat 426 Calcium-Calmodulin-Kinase (CaM-Kinase) 820 Calciumionen s. Ca2+ Calciumkanal s. Ca2+-Kanal Calciumoxalatstein 364 Calciumphosphatstein 364 – bei primärem Hyperparathyreoidismus 403 Caldesmon 85 f., 88, 124, 126 Calmodulin 36, 39 f., 55, 124 f. Calponin 85 f., 88, 124, 126 CaM-Kinase (Calcium-CalmodulinKinase) 820 cAMP 36 ff., 390, 717 – Ca2+-Einstrom in die Herzmuskelzelle 153 f. cAMP response element (CRE) 820 cAMP response element binding protein (CREB) 820 Canalicular Multispecific Organic Anion Transporter (cMOAT) 467 Cannabinoide 813 Capsaicin 716 – Rezeptor 640 Carbamatbindung, oxylabile 286 Carboanhydr(at)ase 413, 429, 441, 467 – Darmepithel 317 f. – Erythrozyten 287 – Hemmer 353 – Nierentubulus 318, 365 f. – – Wirkort 353 f. Carboxyhämoglobin (HbCO) 283, 285 Carboxypeptidase 437 – A 451 – B 451 Carnosin, Resorption, tubuläre 358 Carrier 8, 28 – Affinität zum Substrat 28 – Antiporter 28 – Bindungsstellen 28 – Kotransport 28 – Na+-Koppelung 32 – Selektivität 32 – Stofftransport durch die Blut-Hirn-Schranke 852 – – transplazentarer 572 f. – – tubulärer 341 ff., 355 ff. – Symporter 28 – Uniporter 28

CART (Cocaine- and Amphetamineregulated transcript) 485 CaT1 (Calcium Transport Protein, Typ 1) 459 Cathepsin 432 CaSR (Ca2+-sensing Receptor = Ca2+-Mg2+-Sensor) 363 Catecholamine (s. a. Adrenalin, Noradrenalin, Dopamin) 95 f., 200 – Durchblutungsregulation 203 – Eigenschaften 516 – Gefäßinnervation 181 – Herzmuskelfunktion 153 f. – Kontrolle myokardialer Ca2+-Kanäle 75 – Koronardurchblutung 146 – Körperliche Arbeit 213 – Lipolyse 593 – Na+-K+-ATPase-Aktivierung 397 – Rezeptoren s. Adrenozeptoren – Sekretion 515 – Synthese, Glucocorticoidwirkung 540 – Transduktionsprozess 38 – Wiederaufnahme, präsynaptische, Hemmung 91 Catechol-O-Methyltransferase (COMT) 95 Cardi… s. Herz Caudatum 763 f. CBG s. Globulin, cortisolbindendes CCK s. Cholecystokinin CD (collecting duct = Sammelrohr) 348 CD2-associated Protein (CD2AP) 336 Cellulose 476 Celsius-Skala 865 Cephalosporin 451 Cerebellum 817 C-Fasern 213, 297 CFTR (Cystic Fibrosis Transmembrane Conductance Regulator) 499, 424, 441, 445 CFU s. Colony forming unit CGL (Corpus geniculatum laterale) 702, 704 cGMP (zyklisches Guanosinmonophosphat) 36, 39 f., 204 – Koronargefäßmuskulatur 146 CGRP(Calcitonin gene-related peptide) 418, 420, 644, 654 – Inteneurone 202, 430, 514, 526, 641 – Vasodilatation 641 Chaperone 19 Chemorezeptoren 201 f. – Atmungsregulation 298 f., 597 – Blutdruckregulation 201 – Darm 415 – Einfluss auf die Parasympathikusaktivität 798 – – auf die Sympathikusaktivität 798 f. – Glomus caroticum, aorticum 298 f. – Höhenatmung 305 f. – Kreislaufregulation 601 – periphere 298 f. – viszerale 637 – zentrale 637 Chemorezeptoren-Triggerzone (Medulla oblongata) 436 Chemosensibilität, Bedeutung 714 Chemotaxis 235 – Entzündungszellen 253 – Wundheilung 253

Chenodesoxycholat 464 Cheyne-Stokes-Atmung 301 Chiasma opticum 699 Chinidin 92 Chinin, tubuläre Sekretion 360 Chlor 474 Chlorid s. Cl– Chloridorrhö, autosomal-rezessive 445 Chlostridium difficile 447 Chokes, Dekompressionskrankheit 270 Cholangiozyten 463, 467 Cholat 464 Cholecalciferol s. Vitamin D Cholecystokinin (CCK) 416, 421, 429, 431, 436, 438 f., 441, 454, 467 f., 486 f., 489, 526 – Freisetzungsfaktoren 438 – CCKA-Rezeptor 429, 439 – CCK-B-Rezeptor 429 Cholera 410 Choleratoxin 38 f., 445 ff. Cholestase 472 Cholesterin 454, 467, 473 – Bilanz 470 – Transporter 456 – Steroidhormonsynthese 515, 538 f. Cholesterol s. Cholesterin Cholin 91, 112 – Sekretion, tubuläre 360 – Transportmechanismen 91 Cholinacetyltransferase 91 Cholinesterase, Skelettmuskel 112 Cholinomimetika 92 Cholinozeptoren, M1- 423 – M3 429 Chorda tympani 716 Chorea 738, 768 Chrom 474 Chromosomen 17 – der befruchteten Eizelle 569 Chronotropie 163 Chylomikronen 457, 469 Chylomikronenreste 469 Chymotrypsin 451 Chymotrypsinogen 437 Cimetidin 360 Circulus vitiosus 11 Citratresorption, tubuläre 342 Citratzyklus 20, 148 f., 479, 594 – Mitochondrienfunktion 20 Citrullin 41, 371 Clathrin 19 Claudin-16 (= Paracellin-1) 342 ClC-Kb (Chloridkanal) 347 Clearance, renale 329 ff. Clearancequotient 331 Clearancerate, Lactat 594 Cl–-Absorption, Dickdarm 443, 445 – Diffusion 379 f. – Gleichgewichtspotenzial 33 – HCO3–(Austausch)-Carrier 28, 424, 444, 445 – – Tubulus 366 – – – Defekt 369 – Kanal 32 f., 67, 424 – – Ca2+-aktivierter 441 – – Henle-Schleife 346 f. – – postsynaptische Membran 89 f.

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Darm – Konzentration, extrazelluläre 33 – – intrazelluläre 33, 380 f. – Leitfähigkeit 76 – Resorption, Sammelrohr 348 – – tubuläre 343 f. – Sekretion (Darm) 443, 445 C 3-Mangel 234 cMOAT s. a. MRP2 cMOAT (Canalicular Multispecific Organic Anion Transporter) 467 CNT (connecting tubule = Verbindungstubulus = -stück) 348 CO 96 – Affinität des Hämoglobins 285 – Vergiftung 285 – Gewebehypoxie 303 CO2, Antwortkurve der Atmung 298 – Äquilibrierungslinie 316, 320 f. – als Atemreiz 298 – Aufnahme ins Gewebe 285 ff. – Austauschvorgänge im Blut 287 ff. – Ausscheidung, pulmonale 312 – – Leistungstest 603 – Bicarbonat-System, Pufferung 312 ff. – – Gleichgewichtseinstellung 287 – Bildung, Schwangerschaft 579 – Bindung, chemische, im Blut 286 ff. – – am Hämoglobin 286 ff. – – Carbaminobindung (Carbamat-) 287 – Bindungskurve 282 f., 287 – Differenz, Alveole-Blut (AaDCO2) 293 – Diffusion 289 ff. – – Blut-Hirn-Schranke 852 – Fraktion, gemischtexspiratorische 281 – Konzentration im Blut 286 – Koronardurchblutung 143, 149 – Lösung, physikalische, im Blut 282, 286 – Partialdruck 259 f. – – alveolärer 281 f. – – – Atemzyklus 282 – – – in großer Höhe 306 – – arterieller 282, 320 – – – Atmungsregulation 298 – – – Schwangerschaft 580 – – Blut, Pufferbasen 319 – – O2-Affinität des Hämoglobins 285 – Partialdruckdifferenz, maternofetale 571 f. – – arterio-alveoläre 295 – pulmonale Abgabe 277, 281, 287 – Retention 293, 296 – – Atemarbeit 273 – – Säure-Basen-Gleichgewicht 321 – Speicher 288 Cobalamin (Vitamin B12) 458, 478 – tubuläre Resorption 359 Cocaine- and amphetamine-regulated transcript (CART) 485 – Anorexigen 488 Cochlea 662 – Implantat 667, 672, 733 Cocktail-Party-Effekt, Hören 669 Coeruloplasmin 469 Colitis ulcerosa 408, 415 Collagen 824 – IV 336 Colliculus superior 669, 699, 701, 763 f., 780 f., 804

– inferior 669 Colon s. Kolon und Dickdarm Coma diabeticum 557 Commissura anterior 828 Compliance 183, 263, 266 – Aorta 220 – Atemapparat 266 f. – Gefäße 183 – Interstitium 197 f. – Lunge 266 – Lungengefäße 211 – Thorax 266 – Venen 183 Computeraudiometrie 669 Computertomographie (CT) 831 COMT (Catechol-O-Methyltransferase) 95 Connexin 55, 80 Cornea s. Kornea Cornu ammonis 816 Corona radiata 569 – pineale (Glandula pinealis) 513, 534 Corpus amygdaloideum 808, 817 – callosum 828 – geniculatum laterale 699, 701 f., 781 – – – mediale 668 – luteum s. Gelbkörper – mamillare 807 – striatum 817 Cortex s. Kortex Corticoide (s. a. Steroidhormone) 538 ff. – Ausfall 546 – Funktion 539 ff. – Lipophilität 539 – medizinische Anwendung 541 – Rezeptoren 539 – Stoffwechselwirkung 540 – Substitutionstherapie 541 – Synthese 515 f., 539 – Regelung 538 f. – Störung 539 – Transportproteine 539 – Wirkungen 538 Corticoliberin 527, 535 – Aktivierung des sympathischen Nervensystems 525 – Biosynthese 535 – Funktion 535 f. – Sekretion, basale 535 Corticosteron 539 Corticotropin s. ACTH Corticotropin-Releasing-Hormon s. Corticoliberin Corti-Organ 662 Cortisol 535, 639, 810 – Feedback-Mechanismus, ACTH-Sekretion 543 – Sekretion, basale 542 – – belastungsbedingte 542 f. – – Rhythmus, circadianer 535 – – stressbedingte 535 – Synthese 539 – – fetale 580 – – verminderte 540 – Übersekretion 542 Cotransmitter 91 Coulomb 865 COX(Cyclooxygenase)-Hemmer 433 C-Peptid 552 f.

CRE (cAMP response element) 820 CREB (cAMP response element binding protein) 820 CRH (Corticotropin-Releasing Hormone = Corticoliberin) 489 – Anorexigen 488 CRH-Test 544 Crigler-Najjar-Syndrom-1 466 CRPS (complex regional pain syndrome) 641 CSF s. Colony stimulating factors CTZ (Chemorezeptoren-Triggerzone) 436 CTZ-Neurone 436 Cu2+-Chaperone 471 Cubilin 359, 458 Cumarin 251 Cupula 677 Curare 87 Cushing-Krankheit 541 Cushing-Reflex 798 Cushing-Syndrom 538, 541 CVO s. Zirkumventrikuläre Organe Cyclooxygenase (COX) 204 – Hemmung 433, 639 Cyclosporin 245 Cystein 372 Cystic fibrosis transmembrane regulator (CFTR) 424, 441, 445 Cystin 357, 451 – tubuläre Resorptionstörung 357 – Harnsteinbildung 364 Cystinurie 452 Cytochrom-P-450-Enzyme 466 Cytochrom-P-450-Mischoxygenasen 538 Cytochromsystem 301 Cytokine (s. a. Interleukine) 40, 180 – Fieber 512 – Immunabwehr, zelluläre 243 ff. C-Zellen 401

D D2H (-Carrier) 358, 364 DAG s. Diacylglycerin Dalton (Maßeinheit) 864 Dalton-Gesetz 259 Dämmerungssehen 695 – Sehschärfe 699 Dantrolen 507 Darm (s. a. Dünndarm, Dickdarm), Durchblutung 187 f. – – Escape-Phänomen 203 – Entleerung 462, 795 f. – Epithelzellen 44 – Filtrationskoeffizient 196 – Gangliensystem, intramurales 792 f. – Glucosetransport 35 f. – Motilität, – – Kontraktion, phasische 414 – – – rhythmische 414 – – – terminal-antrale 434 – – – tonische 414, 415 – – Pendeln 461 – – Parasympathikuseinfluss 792 f. – – Schutzreflexe 794 – – Sympathikuseinfluss 792 f. – Mukosa, Zotten 442

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Darm Darm, Peristaltik, fetale 577, 586 – Oberflächenvergrößerung 442 – – Villi 442 – Passagezeit 477 – segmentale Heterogenität 443 – Transporterlokalisation 443 Darmdivertikel 477 Darmkrämpfe 421 Darmatonie 792 – postoperative 794 Darmnervensystem 792 f. Dauerleistungsbereich 604 Dauerleistungsgrenze 597, 606 dB s. Dezibel 658, 731 dB (A) 660 DCT (distal convoluted tubule) 348 DCT1 (Divalent Cation Transporter 1) 460 Debré-Toni-Fanconi-Syndrom 357 Defäkation 462 – Reflex 461 f., 796 Defence reaction 800 Defensine 236 Defibrillation 171 Deflation, Lunge 297 Dehnbarkeit s. Compliance Dehnungskurve 263 f. Dehnungsreflex 746 – der Lunge 297 Dehnungsrezeptoren 199 f., 629, 636 f. – Aktionspotenzial 618 – Atemwege 297 – Rezeptorpotenzial 618 – sinoaortale 200 – tracheale 297 – uterine 579 – venöse 200, 208 Dehydratation 392 Dehydrierung 499 7-Dehydrocholesterin 400 Dehydroepiandrosteron (DHEA) 541, 578 Dehydroepiandrosteronsulfat 539, 541 Deiodase-Isoenzyme 548, 550 Dekompressionskrankheit 308 Delta(δ)-Wellen 837 Demenz 475 Denatonium 719 Denervierungshypersensitivität 789 f. Dense bodies 123 Depolarisation 33, 64, 67 ff. – diastolische 153, 161, 163 – – Leitfähigkeitänderungen 153 – Rezeptorzelle 624 – Zelle, postsynaptische 86 Depolarisationsblock 90 ff. Depression (psychische) 809 f. – endogene 536 Depression, synaptische 819 Deprivation, monokulare 825 f. Dermatitis 639 Dermatom 641 Desensitisierung 90 ff. Desmolase 539 Desmosomen 16 Desoxygenation 283 Desoxyhämoglobin 283 Desoxyribonucleinsäure s. DNA Deuteranomalie 712 Deuteranopie 711

Dexamethason 544 – Test 544 Dezerebrierungsstarre 756 Dezibel (dB) 658, 731 Dezidua 569 D-Glucose s. Glucose DHEA s. Dehydroepiandrosteron DHEAS s. Dehydroepiandrosteronsulfat DHPR (Dihydropyridin-Rezeptor) 108 D-Hormon s. Vitamin D Diabetes insipidus 353, 390 f., 523 f. – – nephrogener 391 – mellitus 353, 391, 470, 472, 476, 556 f., 720 – – HbA1c 557 – – juveniler 557 – – mütterlicher 578 – – Neuropathie 653 – – Säure-Basen-Gleichgewicht 321 – – Typ I 557 – – – HLA-Assoziation 557 – – Typ II 489 f., 554, 557 – – Ursachen 552 Diacylglycerin (DAG) 36, 38 f., 89, 530, 716 – glatter Muskel 127 Dialyse 373 ff. Diarrhö (s. a. Durchfall) 38 – Flüssigkeitsverlust 378, 392 – Natriumverlust 384 – sekretorische 445 Diastole 138 f., 143, 163 – Dauer 140 Diäten 483 Dicarboxylate, tubulärer Transport 359 Dickdarm 442 – Aufbau 442 – Motorik 461 – Passagezeit 461 Dickdarmsaft, Elektrolytgehalt 381 Differenzialrezeptoren 619, 632 Differenzlimen (s. a. Unterschiedsschwelle) 731 Diffusion 20, 176, 194 f., 289 ff., 868 – Alveolargas 256 – Alveolarmembran 256, 289 ff. – erleichterte s. Carrier, Uniport – Gewebe 284 f., 301 – Gewebehypoxie 303 – Glucose 194 f. – im homogenen Medium 868 – interstitielle 197 – Lunge 256 – nicht-ionische 368 f., 456, 465 – Sauerstofftransport 596 – Stofftransport, transplazentarer 571 f. – synaptischer Spalt 84 – Wasser 194 – zelluläre 8 Diffusionsgesetz 20 ff., 194, 289 Diffusionskapazität der Lunge 289 ff. – unterschiedliche Gase 290 Diffusionslimitierung des Stoffaustauschs 194 – Lunge 290 Diffusionsstörung, Alveolarmembran 295 – arterielle Hypoxämie 295 – arterieller PCO2 295 Diffusionsstrecke 218

Diffusionsstrom, Alveolarmembran 289 Diffusionswiderstand, interstitieller 197 Digitalisglykoside 133, 154, 388 Diglyceride s. Diacylglycerin Dihydrodioldehydrogenase 465 Dihydrofolat 457 Dihydrotestosteron 541 1,25-Dihydroxycholecalciferol s. Vitamin D Dihydropyridin-Rezeptor (DHPR) 108 f. – Herzmuskel 132 Diiodtyrosylreste 546 Dikrotie 184 Dithionit, Hämoglobinreduktion 286 Dioptrie 687 Dipeptidase 451 Dipeptide 448 – Resorption, tubuläre 358 Diplopie 708 Dipol 164 f. Disaccharide 448 Disfazilitation 624 Disinhibition 624, 765 Diskrimination, taktile s. Sensibilität, taktile, diskriminative Dissé-Raum 463 Dissoziationsgrad, Puffer 312 Dissoziationskonstante, Säure-Basen-Paar 312 Distanzlosigkeit 809 Diurese 160, 349 ff., 391 – osmotische 353, 391 – – therapeutische 392 Diuretika 353, 384 – Kaliumverarmung 395 – K+-sparende 353 f. – Nebenwirkungen 353 f. – Wirkorte 353 Divalent Cation Transporter 1 (DCT1) 460 Divergenz der Neuronenverschaltung 624 DNA 17 f., 613 DNAsen 437, 457 DNA-Helicase, Altern 46 Dominanzsäulen 825 – okulare, kortikale 703 f. Donnan-Gleichgewicht s. Gibbs-Donnan-Gleichgewicht Dopa 95, 768, 851 Dopamin 38, 95 f., 418, 533, 766, 768, 809, 811 f. – Anorexigen 488 – Glomera carotica 299 – Prolactinsekretionshemmung 533, 582 – Rezeptorantagonisten 812 – Rezeptoren 38, 95, 533 – Strukturformel 93 – Wirkung über G-Proteine 39 Doping 606 Doppelbilder 781 f. Doppelgegenfarbenneurone 710 Doppelmembran, mitochondriale 20 f. Doppeltubus 44 Doppeltsehen 709 Doppler-Verfahren, Ultraschalldiagnostik 576 Downregulation, Insulinrezeptoren 555 – Rezeptoren des vegetativen Nervensystems 789

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Eisen dpt s. Dioptrie D(ifferenzial)-Rezeptoren 614 DRA (downregulated in adenoma) 444 Drehbeschleunigung 679 Drehgeschwindigkeit 680 Drehschwindel 778 Dromotropie 163 Druck – Alveolarraum s. Alveolardruck – Atemgase 259 ff. – atmosphärischer 261 – hydraulischer, interstitieller, Niere 344 – hydrodynamischer 210 – hydrostatischer, interstitieller 197 – – kapillärer 196 – – Körperpartie, abhängige 211 – – Ödementstehung 383 – – Tauchen 307 – interpleuraler s. Pleuraldruck – intrapulmonaler s. Alveolardruck – intrathorakaler s. Pleuradruck – intravasaler, Lunge 274 ff. – Kapillaren, peritubuläre 344 – kolloidosmotischer 196 f., 225, 380, 867 – – Filtration, glomeruläre 336 f. – – interstitieller 197 – – – Niere 344 – – Plasma 196 f. – Maßeinheit 864 – Mund 264 – onkotischer s. Druck, kolloidosmotischer – osmotischer 195, 226, 866 f. – perivaskulärer, Lunge 274 – Pleura s. Pleuradruck – Pulmonalgefäße 274 f. – pulmonalvenöser 217, 274 f. – transmuraler 182 ff. – – Gefäße 198 – – Gefäßradius 188 – – Lungengefäße 216 f. – – negativer 212 – – Strömungswiderstand 188 – venöser, erhöhter, Gefäßkonstriktion 207 – ventrikulärer 139 f. – zentralvenöser 186 f., 188, 199 – – erhöhter, Blutvolumenverminderung 210 Druckabfall, Atemwege 273 Druckbeatmung 216 Druckdifferenz, alveoloarterielle 217 – Aorta/rechter Vorhof 186 – arteriovenöse 186 ff. – – pulmonale 217 – Atemwege 269 f. – hydrostatische 195 – osmotische 195 – transmurale 263 f. – – Atemapparat 264 – transpulmonale 264 – transthorakale 264 Druckdiurese 201, 334, 353 Druckpuls 184 f., 192 Druckpulswelle, Geschwindigkeit 192 Druck-Stromstärke-Beziehung 189 – Atemwegswiderstand 269 f.

Druck-Volumen-Arbeit, Herz 142, 155 – Atmung 272 f. Druck-Volumen-Beziehung, Atemapparat 264 f. Druck-Volumen-Diagramm des Herzens 142 f. Druckwelle, periphere Gefäße 192 Drüse(n), Atemwege 258 – endokrine 510, 513 – seromuköse 422 – seröse 422 Dubin-Johnson-Syndrom 467 Duchenne-Dystrophie 102, 104 Ductus alveolaris 220, 251 – Arantii s. Ductus venosus – arteriosus 220 f., 575, 584 – – Verschluss 220, 584 – – – postnataler 584 – Botalli s. Ductus arteriosus – choledochus 463 – deferens 567 – perilymphaticus 677 – venosus 219 f., 575 Dumpingsyndrom 436 Dunkeladaptation 695 Dünndarm 442 – Aufbau 442 – Motorik 460 Dünndarmsaft, Elektrolytgehalt 381 Duodenalgeschwür 434 Duodenalschleimhaut, Schutz 433 Duodenum, HCO3–-Sekretion 433 Durchblutung 202 ff. – Änderung, lokale 204 – Autoregulation 183 f., 189 – Darm 187, 190 – Gehirn s. Hirndurchblutung – Gewebeatmung 301 – Haut s. Hautdurchblutung – Körperpartie, abhängige 211 f. – Lunge s. Lunge, Durchblutung – maximale 202 – Muskulatur 591, 600 – – Krafttraining 606 – Myokard s. Koronardurchblutung – Niere s. Niere, Durchblutung – organspezifische 202 – Plazenta 219 – Regulation 188, 202 ff. – – Einflussfaktoren, Zusammenspiel 205 f. – – Gewebehormone 203 – – lokalchemische 203 f. – – lokale 203 f. – – – Endothelfunktion 203 – – neurogene 202 f. – Skelettmuskel 187, 191 – Steigerung, Auswärtsfiltration 197 – – maximale s. Durchblutungsreserve – Störung 303 – Sympathikuseinfluss 181 Durchblutungsgradient, intrapulmonaler 217 Durchblutungslimitierung des Stoffaustauschs 194 Durchblutungsreserve 179, 202 ff. – Einschränkung 189 Durchblutungsstörung 303 Durchfall 38, 408, 410, 421, 444, 445, 449

– Flüssigkeitsverlust 378, 392 – Natriumverlust 384 – sekretorischer 445, 447 Durstgefühl 208 Durstmechanismus 391 Dynaktin-Komplex 43 Dynein 41 f., 613 – ziliäres 42, 44 – zytoplasmatisches 42 Dynorphin 96, 418, 527, 655, 764 f. Dysarthrie 828 Dysästhesien 653 f. Dysgeusie 720 Dysmetrie 774 Dysosmien 726 Dysphagie 426 Dyspnoe 282 – Dekompressionskrankheit 308 – hyperoxiebedingte 305 Dysregulation, orthostatische 211 Dystonien 769 Dystrophie, kongenitale, Skelettmuskulatur 104 – Gliedergürtel- 104 D(δ)-Zellen der Langerhans-Inseln 552, 556 D-Zellen 427, 428, 429

E E605 92 ECaC (epithelialer Ca2+-Kanal) 363 E. coli – Enterotoxine 446 – Toxin, hitzelabiles 447 Ecdysteroide 515 Echokardiographie 141 ECL(Enterochromaffine-like)-Zellen 429 Edelgase 260 Edinger-Westphal-Kern 690 EDRF (Endothelium-derivedrelaxing factor) s. NO EEG (Elektroenzephalogramm) 831, 836 – fetales 575 – Rhythmen 836 f. – Wellen 836 f. Effekt, spezifisch-dynamischer 478, 481, 496 Efferenzen, humorale 520 Efferenzkopie 773 Eigenmotilität (Darm) 415 Eigenreflex 747 Eikosanoide (s. a. Prostaglandine) 447 – Aktivierung, schockbedingte 209 – Ödementstehung 197 Einheit, motorische s. Motorische Einheit Einsatzreserve 590 Einsekundenkapazität (FEV1) 263, 271 f. Einthoven-Dreieck 164, 167 Einwärtsdiffusion 193 Einwärtsfiltration, kapilläre 196 f. Einwärtsstrom 68 f. Einzelkanalregistrierung s. Patch clamp Einzelzuckung 740 Eisen 448, 459, 471, 474 – Absorption 459, 460 – Mangel 233, 460

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Eisen Eisen, Transport, transplazentarer 573 – Überladung 475 Eisprung (Ovulation) 562 ff. Eiweiß (s. a. Protein) Eiweißmangelödem 197 Ejakulat 567 f. Ejakulation 567 f. Ejakulationszentrum 567 EKG (Elektrokardiographie) 163 ff. – Ableitung, bipolare 164, 167 f., 836 – – unipolare 164, 168, 836 – – Richtung, Polarität 169 – – nach Wilson 168 – Aussagemöglichkeiten 169 ff. – Brustwandableitung 164, 168 – – nach Wilson 168 – Entstehung 164 ff. – Extremitätenableitungen 165 – Goldberger-Ableitung 168 – PQ-Intervall 164, 166 – P-Welle 164, 166 – QRS-Komplex 164, 166 – R-Zacke 166 – Standardableitung, bipolare 164, 167 f. – ST-Strecke 164 – S-Zacke 166 – T-Welle 164, 166 – Überleitungszeit 171 5′-Ektonukleotidase 457 Elastance 263, 266 Elastase 437, 451 Elastische Fasern, Lungengewebe 266 Elastizität, Atemapparat 263 ff. – – Atemarbeit 273 Elektroden, ionenselektive 32, 866 Elektroenzephalogramm(-graphie) s. EEG Elektrogener Transport 28, 341 f. Elektrogustometrie 720 Elektrokardiogramm(-graphie) s. EKG Elektrolythaushalt, intestinaler 442 – Bilanzierungsfunktion der Niere 365 f. – Glucocorticoidwirkung 539 – Entgleisung 326 Elektrolythomöostase 410 Elektrolytzusammensetzung, extrazelluläre 226, 380 – intrazelluläre 226, 380 Elektromyographie(-gramm) s. EMG Elektroneutralität 65, 380 Elektrookulogramm(-graphie) (EOG) 697 Elektroolfaktogramm 726 Elektroretinogramm (ERG) 697 Elektrotonische Fortleitung 618 f. Elektrotonus 618 Elektrounfall 171 ELISA s. Enzyme-linked-immunosorbent assay Embolie 303 Embryo 570 Embryogenese, Gap Junctions 55 Embryonalentwicklung 569 – Kreislauf, hypoxische Vasokonstriktion 275 – Zentralnervensystem 575 Embryopathie 570, 574 EMG (Elektromyographie) 115, 606, 740, 760 – Veränderungen 741 Eminentia mediana 522

Emission, otoakustische 666 Emotion(en) 802, 807 – Aktivierung des vegetativen Nervensystems 799 f. – Atmungsregulation 300 Empfindung 728 Empfindungsstärke 732 Empfindungsstörung, dissoziierte 643, 646 Emphysem 262, 267, 274 Emulgierung (Nahrungslipide) 454 ENaC (Epithelial Na+ channel) 348, 424, 447, 499, 717 f. Encodierung 815 Endokrines System 510 ff. – – dispergiertes 510, 513 – – fetales 578 Endolymphe 662, 676 Endometrium 566, 569 Endopeptidase 451 – proximaler Tubulus 358 Endoplasmatisches Retikulum s. Retikulum, endoplasmatisches Endorphine 96, 655 β-Endorphin 655 Endosomen 359 Endothel 56 f., 179 f. – Adhäsionsmoleküle 179 – Antithrombogenität 17 – Austauschfläche 195 f. – Austauschvorgänge 193 – Barrierefunktion 179 – Durchblutungsregulation, lokale 204 – Entzündungsmediatoren 179 – fenestriertes 194 f. – Funktionsstörung 205 – Gap Junctions 206 – Glomeruluskapillaren 335 f. – Hemmung der Thrombozytenaktivierung 246 – Interzellularfugen 195 f. – koronares 143 – Lungenkapillare 289 – Rezeptoren 179 – Signaltransduktion 179 – Stoffpassage 195 f. – Stofftransport 193 ff. – Vesikel 195 f. – Wundheilung 252 Endotheline 60, 204 – Rezeptor 60 Endothelium-derived-relaxing factor s. NO Endothelzellen 387 Endozytose 8, 19 f., 43, 413 – Proteine 450 – Schilddrüsenhormonsynthese 547 f. – Transport, transplazentarer 573 – tubuläre, Proteinresorption 359 Endplatte, neuromuskuläre (= motorische) 80, 111 Endplattenpotenzial, Skelettmuskel 112 Energie, freie 477, 479 – nicht-verwertbare 477 – potenzielle 477 – verwertbare 477 – chemische 7, 868 – Maßeinheit 868 Energieabgabe 477

Energiebedarf 453, 473, 482 – Atemmuskeln 273 Energiebilanz 477, 483, 487 – Regelkreis 484 f., 487 Energiedichte 478 Energiefreisetzung 479 Energiegewinnung, aerobe 593 – anaerobe 593 – oxidative 301 ff. Energiehaushalt 477, 487 Energiequellen 592 f. Energiereserve, intrazelluläre 597 – O2-Mangel 304 Energiespeicher 478, 608 Energiestoffwechsel 477 – anaerober 148 – myokardialer 147 ff. Energieumsatz 480, 486, 495, 590 – Schwangerschaft 578 Energieverbrauch 481 Engramm 818 Enkephalin 96, 418, 440, 447, 655, 764 f. – Synapse 91 Enophthalmus 791 Ensemble 838 Enterochromafine-like Zellen (ECL-Zellen) 427 Enteroglucagon 416, 431, 554 f. Enteropeptidase 437 Enterostatin 454 Enterotoxin 443, 445 Enterozeptor 617 f., 728 Enterozyt s. Darm Entgiftungsstoffwechsel 360, 372 Enthemmung 809 Entladung, phasengekoppelte 618, 667 Entropie 477 Entzündung 243, 638 – Atemwege, bei Hyperoxie 305 – Glucocorticoidwirkung 540 – Mehrdurchblutung, entzündliche 204 – neurogene 641 – Rolle des Endothels 179 – Mediatoren 179, 204, 248 – – Nozizeption 639 Entzündungsschmerz 654 Enuresis nocturna 847 Enzyme-linked-immunosorbent assay (ELISA) 519 EOG (Elektrookulogramm) 697 Eosinophile s. Granulozyten, eosinophile Ependymzellen 616 Ephapse 81 Ephrin 253 Epiphyse (Glandula pinealis) 513, 535 Epilepsie 615 – Dysosmie 726 – generalisierte 840 – gustatorische Halluzinationen 721 – partielle 840 Epithel 54 ff. – alveoläres 258 f. – bronchiales 258 f. – dichtes 56 ff. – leckes 56 ff., 340 ff. – Oberflächenvergrößerung 410 – Polarisierung 58 – renaltubuläres 339 ff. – transzellulärer Transport 59

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Fenster, ovales – Widerstand 59 – Zelle 17, 340 ff. – – Ouabain-Wirkung 30 – – Vesikeltransport 19 Epithelkörperchen 400, 403 – Hyperplasie 402 Epitop 241, 238 f. Eplerenon 387 EPO s. Erythropoietin EPSP s. Potenzial, postsynaptisches, exzitatorisches ERA s. a. Evoked response audiometry 671 Erbrechen (s. a. Brech-) 384, 436, 676, 714 – Flüssigkeitsverlust 392 – Säure-Basen-Gleichgewicht 322 – Schwangerschaft 578 Erdbeschleunigung 679 Erektion 567 f. Erfahrung 813 ERG (Elektroretinogramm) 697 Ergometrie 591 f., 604 Ergozeptoren, Kreislaufregulation 601 Erhaltungswärme 122 Erholungsphase nach Körperarbeit 608 Erholungspulssumme 599 Erholungswärme 105, 122 Erkennungsmoleküle 744 Erkennungsschwelle, Riechen 725 Erkrankung, affektive 810 – manisch-depressive 809 Erleben 802 Ermüdung, allgemeine 607 f. – partielle 607 – periphere 122, 607 – zentrale 121, 607 Ermüdungsanstieg, Herzfrequenz 599 f. Ermüdungsgrad 607 Ernährung, mineralstoffarme 386 – parenterale 409 Eröffnungswehen 580 Erregung, emotionale, Hautdurchblutung 204 – Leitung, elektrotonische 72 – – saltatorische 621 – sexuelle 567 f. – Übertragung, neuromuskuläre 80 ff., 111 Erschlaffungsphase, Herzaktion 140 f. Ersticken 300 Erythroblastosis fetalis 231 – Anti-D-Antikörper 231 Erythropoiese, Höhenaufenthalt 306 Erythropo(i)etin (EPO) 227, 233 f., 370, 371, 512 – Atemgastransport 306 – Bildung, Hypoxie 306 – – Höhenakklimatisation 306 – Mangel 233, 326, 370 – rekombinantes 227 f. Erythrozyten 227 ff. – Abbau 227 – Agglutination 230 – Aggregat 190 – Atemgastransport 282 – Axialmigration in Gefäßen 191 f. – Deformierbarkeit 191, 229 f. – fetale 577

– – – – – – –

Indices 232 f. – Anämie 232 f. – Normalwerte 224 Lebenszeit 227 Membran 229 Neubildung 227 f. Nichtbicarbonatpuffer, Pufferkapazität 287 – O2-Bindung 282 ff. – Oberflächen-Volumen-Verhältnis 229 – Pufferbase 318 – Pufferung 319 – Verformung, intrakapilläre 191, 229 f. – Volumen, mittleres 224, 232 f. – Zytoskelett 229 Escape-Phänomen 203 Eserin 91 f. Esophorie 709 Estr- s. ÖstrEssstörungen 472 Esszentrum s. Hungerzentrum Eukalyptusöl 635 Euler-Liljestrand-Effekt 218 Euphorie, Hypoxie 300, 307 – Inertgasnarkose 307 f. Eupnoe 282 Evans-Blau 379 Exkretion, fraktionelle, Niere 331 Exophorie 709 Exotoxine 447 Exozytose 8, 18 f., 43, 83 f., 413, 424, 439 – Adiuretinfreisetzung 389 – Insulinsekretion 553 – Peptidhormonsekretion 515 – Schilddrüsenhormonsynthese 545 – Somatotropinsekretion 530 – Transmitter 83 f. – Transport, transplazentarer 573 Exspiration 268 – forcierte, Atemwegskompression, dynamische 271 – – Fluss-Volumen-Kurve 271 – – Kreislaufregulation 216 – – Pleuradruck 269 f., 271 f. Exspirationsgas, Zusammensetzung, 276, 281 Exspirationslage, maximale 261 ff. Exspirationsmuskeln s. Atemmuskeln Exspirogramm, forciertes 272 Exsudation, geschlossene Körperhöhlen 289 Extensoren 745 Exterorezeptoren 617, 728 Extinktion 815 Extrasystole 170 f. Extrazellulärflüssigkeit (EZF) 8 – hypotone, Verlust 392 – interstitielle 378 f. – – Ionenzusammensetzung 380 – intrazelluläre s. Intrazellulärflüssigkeit – Ionenzusammensetzung 33, 380 – strömende, innere Reibung 187 – transzelluläre 381 Extrazellulärvolumen (EZV) 379 f. – Bestimmung 379 – Blutdruckregulation 201 – Expansion 382 f., 388 – – bei hoher Kochsalzzufuhr 385

– Neugeborenes 220, 586 – Regulation 392 – – kurzfristige 382 – Rezeptoren 382 – Veränderung, hormonell bedingte 208 – vergrößertes 201 – Verminderung 384, 388 – – therapeutische 353 – bei Volumenhochdruck 388 – Wassereinlagerung 326 – bei Widerstandshochdruck 388 Exzitotoxizität 93, 670 EZF s. Extrazellulärflüssigkeit EZV s. Extrazellulärvolumen

F Fadenpapillen 716 FADH2 20 Fåhraeus-Lindqvist-Effekt 191 f. Fahrenheit 865 Fahrradergometer 592, 604 Faktor, natriuretischer, atrialer (ANF) s. Atriopeptin Faktor-VIII-Mangel 250 Faktor-IX-Mangel 250 – Angiogenese 253 Faktor X 248 f. Faktoren, neurotrophe 824 Fallneigung 683 Fallot-Tetralogie 294 Falsifizierung 3 Fanconi-Syndrom 357 Farad 865 Faraday-Konstante 24 Farbenblindheit 711 Farbensehen 702 f., 709 ff. – Komponenten 709 – kortikale Verarbeitung 705 – Störung 711 Farbkonstanz 709, 711 Farbmischung beim Sehen 710 f. Farbsättigung 709 Farbton 709 Farbzellen, kortikale 709 Faruochinon 471 Fasciculus arcuatus 828 – cuneatus 644 – gracilis 644 – mamillothalamicus 808 Faszilitierung, synaptische 819 Fasten 449, 470, 478, 479, 481, 490 – Hirnstoffwechsel 855 FE s. Ausscheidung, fraktionelle Fe2+ s. Eisen Fechner-Beziehung 731 Feedback-Hemmung s. Rückkoppelung, negative Feedback-Regulation s. Rückkoppelung Feinbewegungen 741 Fehlernährung 715 Fehlgeburt 570 Feld, elektrisches, Ausbreitung 165 f. – rezeptives 619, 633 – – retinales 695, 698 – – – wellenlängenempfindliches 710 Feldpotenzial 836 Fenster, ovales 660

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Ferguson-Reflex Ferguson-Reflex 524, 579, 637 Fernakkommodation 689 Ferritin 460, 471 Fetalentwicklung 574 ff. – Zentralnervensystem 575 Fetopathie 574 α-Fetoprotein 577 Fett(e) (s. a. Lipide, Fettsäuren) 478 – Abbau, aerober 593 – Absorption (Darm) 455 – Anteil am Körpergewicht 591 – Bedarf 473 – Energiereserve 592 f. – Gewebe, braunes 21, 502, 504, 587 – – Somatotropinwirkung 531 f. – Stoffwechsel, Glucagonwirkung 556 – – Glucocorticoidwirkung 540 – – Insulinwirkung 552, 555 Fettgewebe, braunes 486 Fettmasse 473, 489 Fettsäure-Bindungprotein 457 Fettsäuren 453 – Energiestoffwechsel, myokardialer 165 f – – proximaler Tubulus 371 – essenzielle 453, 473 – freie 470, 473, 479 – – β-Oxidation, Glucagonwirkung 556 – – – Insulinwirkung 555 – kurzkettige 448, 457, 448, 457 – mittelkettige 457 – ungesättigte 453, 473 Fettsucht 408, 472, 490 – hyperplastische 490 – hypertrophe 490 – hypothalamische 485 Fetttröpfchen 455 Fettzellen, Wassergehalt 378 Fetus 570 FF s. Filtrationsfraktion Fibrin 252 Fibrinogen 246 f. Fibrinolyse 250 f. Fibroblasten 44 – Wachstumsfaktor (Fibroblast Growth Factor, FGF) 253, 823 – Wundheilung 253 Fibroblasten-IFN s. β-Interferon Fibronektin 246 ff., 824 Fibroplasie, retrolentale 305 Fibrose, zystische (= Mukovizidose) 258, 441 Fick’sches Diffusionsgesetz 21 – Prinzip 277 f., 329 f. Fieber 480, 506 Fila olfactoria 722 f., 725 Filamente 16 Filter, glomeruläres 336 f. – – Durchlässigkeit 336 f., 338, 339 – – Wandladung 339 Filtration 867 – abhängige Körperpartien 201 f. – Gefäßwand 195, 197 ff. – glomeruläre 327, 333, 336 ff. Filtrationsbilanz 197 f. Filtrationsdruck, effektiver 196 – – Glomerulus 336 f. Filtrationsfraktion (FF) 328, 331, 344 – erhöhte 338

Filtrationsgleichgewicht, Glomerulus 337 – kapilläres 207, 211 – – Blutvolumenregulation 207 f. – – pulmonales 215, 218 Filtrationskoeffizient 196 f. – Abnahme 211 Filtrationsrate, glomeruläre s. Glomeruläre Filtrationsrate Fitness s. Leistungsfähigkeit Fläche, Maßeinheit 863 Flagellenbewegung 44 Fleck, blinder 700 Flexoren 745 Flimmerepithel, bronchiales 258 Flippase s. MDR 3 Flucht 809 Flugzeug, Kabinendruck 306 Fluor 474 Fluoxetin 811 Flüssigkeit, extrazelluläre s. Extrazellulärflüssigkeit Flüssigkeitsaufnahme 201 Flüssigkeitsausscheidung 201 Flüssigkeitsaustausch, kapillärer 384 Flüssigkeitsbalance, pulmonaler Gasaustausch 218 f. Flüssigkeitsfiltration s. Filtration Flüssigkeitsmangel 505 Flüssigkeitsreabsorption 207 Flüssigkeitsretention 207 Flüssigkeitsverschiebung, intra-extra-vasale 201 Fluss, mittlerer exspiratorischer 271, 272 Fluss-Volumen-Kurve, Lunge 271 f. Flüstersprache 673 fMRI (funktionelle Magnetresonanztomographie) 650, 723 focal contacts 44 Foerster, Otfried 760 Folat s. a. Folsäure Folat-Polyglutamat 457 Folgeregelung 9 Follikelphase 564 Follikelstimulierendes Hormon (FSH) s. Follitropin Follitropin (FSH) 528, 564, 566 Folsäure 448, 457, 476 – Absorption 457 – Transporter 457 Foramen ovale 219 f., 575, 584 Formant 673 Formatio reticularis 646, 680 ff., 723, 843 – – Atmungsregulation 296 Formation, mesenzephale retikuläre 778, 781 – paramediane pontine retikuläre 778 Formiat-Sekretion, tubuläre 343 f. Formsehen 705 – kortikale Verarbeitung 705 Fornix 807 Forschung, experimentelle 3 Forskolin 38 Fovea centralis 691, 695 Fraktion 865 – Atemgase 259, 277 Framingham-Herzstudie 484 Frank-Starling-Mechanismus 155 ff. Fremdgasverdünnungsmethode 269 Fremdreflexe 746 f.

Fremdstofftransport, axonaler 614 Frequenz 659 – charakteristische 666 – Maßeinheit 863 Frequenzgruppe 660 Frequenzunterschiedsschwelle 660 Freude 809 Frieren 559 Fruchtblase 581 Fruchtwasser 577 Fructose 449 – renaltubulärer Transport 357 – im Samenplasma 567 Frühgeborene 504, 586 Frühgeburt 570, 586 FSH s. Follitropin Führungsgröße 9 Füllungsphase, Herzaktion 140 f. Funiculus posterior 644 Funktionskurve, ventrikuläre 142 f., 157 Funktionsproteine 478 Furosemid 353, 382 – Sekretion, tubuläre 360 – Wirkort 353 Fusimotoneurone 743 Fusion 708 Fusionsareal 708

G GABA (γ-Aminobuttersäure) 93 ff., 489, 655, 764, 810 GABAB-Rezeptor 94 f. Galactose 449 – renaltubulärer Transport 342, 356 f. Galaktorrhö 534 Galanin 418 – Insulinsekretionshemmung 554 Gallamin 92 Galle, Elektrolytgehalt 381 Gallenbildung 467 Gallenblase 466, 467 Gallengänge 463, 466 Gallenkanälchen 463 Gallensalz(e) 447, 448, 464 – Gehalt des Körpers 468 – Mangel 408, 468 – Mizellen 455 – Sekretion 467 f. – sekundäre 465 – Synthese 468 – Transporter, primär-aktiver (BSEP) 467 Gallensäure s. Gallensalze Gallensteine 468, 472, 490 GALT (gut-associated lymphoid tissue) 422 Gametenreifung 562 ff. Gamma(γ)-Rhythmus 838 Ganglien 420, 786 Gangliensystem, intramurales, des Darms 792 f. Ganglienzellen, retinale 692 f., 695 ff. – – Klassen 701 Ganglion ciliare 781 – scarpae 677 – spirale 662 Ganzzellableitung 26

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Geruchssinn GAP (GnRH-associated peptide) 533 Gap Junctions 36 f., 54, 80, 414 – – Bedeutung 55 – – Endothel 206 – – funktioneller Durchmesser 55 – – Glomus caroticum 299 – – Herzmuskel 123, 130, 134 – – myoendotheliale 206 – – Myokardzellen 161 – – Regulation des Öffnungszustandes 55 – – Synapse, elektrische 81 f. – – Uterusmuskulatur 580 f. Gas, alveoläres, Zusammensetzung 281, 874 – Ansammlung in Körperhöhlen 289 – Austausch 276 ff. – – Normalwerte 281, 874 – – pulmonaler, Austauschfläche 218 – – – Flüssigkeitsbalance 218 f. – – – Lungendurchblutung 216 – Austauschleistung, pulmonale 292 – Austauschvorgänge im Blut 282 ff – Grenzfläche zu Flüssigkeiten 266 f. – ideales 259 – Konzentration 259 – Menge 260 – – flüssige Phase 260 – – Gasphase 260 – Partialdrücke, alveoläre 280 f. – – – in großer Höhe 305 f. – – arterielle 281 – Transport, alveolärer 289 f. – Volumen 260 – – Messbedingungen 260 f. – Zusammensetzung, Ausatemluft 277 Gasgemisch 259 Gasgleichung, ideale 259 f. Gaskonstante, allgemeine 259 ff., 866 – universelle 24 Gastrektomie 432 Gastrin 416, 429, 436 – Abbau, renaler 372 – Freisetzung 429 Gastrin-releasing peptide s. GRP Gastritis 436 – akute 408 – atrophische 436, 458 – chronische 408 Gastrointestinaltrakt s. Magen-Darm-Trakt Gate control theory 644 Gating 766 Gauer-Henry-Reflex 207, 382 G-CSF (Granulocyte colony-stimulating factor) 228 GDP (Guanosindiphosphat) 36 Geburt 579 ff. – Austreibungsperiode 580 – Eröffnungsphase 580 – Kreislaufumstellung 219 f. – Lageeinstellung des Kindes 581 – Pressmotorik 580 Gedächtnis 525 f., 803, 809, 813 ff., 818 f. – Arbeits- 815 – deklaratives 814, 816 – episodisches 814 – explizites 814 – implizites 814, 817

– Kurzzeit- 814 – Langzeit- 815 – nicht-deklaratives 814, 817 – Papez-Kreis 817 – prozedurales 814 – semantisches 814 – sensorisches 814 – Störungen 809, 811 – Temporallappen 817 – Vorgang 803 Gefäßbaum 182 f. Gefäßdilatation s. Vasodilatation Gefäß(e) 178 ff. – Aktivierung, sympathische, differenzierte 199 – Compliance 183 – – Altersabhängigkeit 199 – Druck, transmuraler 212 – Endothel s. Endothel – Innervation 181, 202 f. – – Kotransmitter 181 – – parasympathische 202 – – – cholinerge 202 – – Signalübermittlung 181 – – sympathische 181, 202 f. – – Transmitter 181 – Kollaps 189 – Konstriktion s. Vasokonstriktion – Mitinnervation, zentrale 602 – Muskulatur 178 f. – Permeabilität, Wundheilung 253 – Radius, Regulation 205 – Schmerz 562 – Spasmus 205, 790 – Stenose 190 – – Blutströmung 192 – Tonus 179, 183 f., 196, 199, 201 – – Abnahme, ischämiebedingte 206 – – Basistonus, myogener 179 – – Beeinflussung, endothelabhängige 206 – – Einfluss von Hypo- und Hyperkaliämie 397 – – Entwicklung, aktive 183 – – myogene Antwort 183 f., 202 – – Noradrenalinfreisetzung 600 – – Regulation 179 f. – – Rezeptoren, α1-adrenerge 181 – – Ruhetonus 179 f. – – Signalübermittlung 179 – – Sympathikuseinfluss 789 f. – – Transmitterwirkung 181, 202 f. – Vasopressinwirkung 533 – Verengung, arteriosklerotische 187 – Wachstum 182 – Windkesselwirkung 192 f. Gefäßsystem, Gesamtoberfläche 182 f. – Gesamtquerschnitt 182 f. – Gesamtvolumen 182 – Wachstumsveränderung 182 Gefäßwand, Basalmembran 179 – Dehnbarkeit 183 f. – Dehnung 182 f. – Dicke 178 – Diffusion 193 f. – Filtration 195 ff. – – Selbstregulation 197 – Hypertrophie, hypertoniebedingte 201 – Leitfähigkeit, hydraulische 195 f.

– Mechanik 182 f. – Reabsorption 196 f. – Spannung 182, 184 – Zusammensetzung 178 Gefäßwiderstand, pulmonaler 274 f. – – Abhängigkeit vom Lungenvolumen 275 – – Höhe 306 Gegenfarbenneurone 710 Gegenfarbentheorie 710 Gegenstromaustausch, Nierenmark 349 ff. Gegenstrommultiplikation, Henle-Schleife 350 f. Gegenstromsysteme 350 Gegenstrom-Wärmeaustausch 350, 496, 502 Gegentransport s. Antiportcarrier Gehirn (s. a. Kortex und Zentralnervensystem) – Afferenzen, humorale 520 f. – Aktivitätsmuster 803 – alterndes 624 – Areale 803 – Durchblutung s. Hirndurchblutung – Efferenzen, humorale 520 – Entwicklung 822, 824 – fetales 575 – Hemisphären, Spezialisierung 830 – Hormonsekretion 520 – integrative Funktion 801 ff. – kognitive Funktion 802 – Module 803 – O2-Ausnutzung 302 – O2-Verbrauch 855 f. – – regionaler 857 – Plastizität 827 – Wiederbelebungszeit 856 Gehirn-Darm-Achse 420 Gehörgang 660 Gehörknöchelchen 660 Gehörlosigkeit, Dekompressionskrankheit 308 Gelbkörper 563 ff., 575 Gelbsucht 472 Gen 17 – „knock out“ 5 Generatorstrom 617 f. Genitalorgane 563 ff. – Gefäßinnervation 181, 202 Gentechnologie, rekombinante 69 Geräusch 659 Gerinnung, Aktivierung 243 f. – – schockbedingte 209 – Hemmstoffe 251 f. – Koagulationsphase 249 f. – lokale 251 – Retraktionsphase 249, 251 – Thrombozytenfunktion 248 ff. Gerinnungsfaktoren 247, 249 Gerinnungsschema 250 Gerinnungstests 251 f. Geruch 713 ff. – Nahrungsaufnahme 723 Geruchsgestalt 725 Geruchsreiz, Transduktion 724 Geruchssignal, Gehirn 724 Geruchssinn 714, 721 f. – periglomeruläre Zellen 722

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Geruchswahrnehmung Geruchswahrnehmung 724 Gesamtkörpercalcium 398 Gesamtkörperkalium 394, 591 Gesamtkörpernatrium 381 f. Gesamtkörperphosphor 399 Gesamtkörperwasser s. Körperwasser Geschlecht 562 – chromosomales 562 – gonadales 562 – somatisches 562 Geschlechtsdifferenzierung 578 Geschlechtsmerkmale, sekundäre 562 Geschlossenes System, Pufferung 315 ff. Geschmack 713 ff. – Adaptation 719 – bitter 718 – Erkennungsschwelle 719 – Fett 718 – genetische Erkrankungen 720 – Glutamat 718 – Mustererkennung 719 – Reizschwelle 718 – salzig 718 – sauer 717 – Schwellenkonzentration 718 – Spüldrüsen 715 – Störungen 720 – süß 718 – Wahrnehmungsschwelle 718 ff. Geschmacksknospen 422, 715 – Stützzellen 715 Geschmackspapillen 714, 716 – Lokalisation 716 Geschmacksqualitäten 714 Geschmacksreize, Mimik 719 Geschmackssinn 714 ff. Geschmackssinneszellen 715 ff. Geschmacksstoffe, Absolutschwelle 719 Geschmacksstörungen 716 – Medikamentennebenwirkung 720 Geschmackswahrnehmung 717 Geschwindigkeit, Maßeinheit 863 Geschwindigkeitsprofil, Blutstrom 189 Geschwür 436 Gesichtsanhidrosis, halbseitige 791 Gesichtsfeld 700 ff. – Ausfälle 700 f. – Projektion, zentrale 700 ff. Gesichtsfeldkarte 701 Gestose 579 Gewebeatmung 301 ff. Gewebehormone 36, 512 f. – Durchblutungsregulation 203 – Gefäßwirkung, lokale 203 Gewebehypoxie 303 f. – anämische 303 – hypoxämische 303 – ischämische 303 – Laktazidose 304 Gewebe-Plasminogenaktivator 253 – rekombinanter 253 Gewebethromboplastin 249 Gewicht s. Körpergewicht Gewöhnung 12 GFR s. Glomeruläre Filtrationsrate Ghrelin 486, 487, 532 Gibbs-Donnan-Gleichgewicht 328, 380 f. Gibbs-Donnan-Faktor 380 Gicht 361

Gigantismus 532 GIP (glucose-dependent insulin-releasing peptide) 431, 436, 477 Gitelman-Syndrom 348 Glandula parotis 422 – pinealis 512, 535 – sublingualis 422 – submandibularis 422 Glanzstreifen 130, 161 Glaukom 690 Gleichgewichtskonstante, Säure-Basen-Paar 312 Gleichgewichtslänge, Skelettmuskel 105 Gleichgewichtsorgan (s. a. Vestibularorgan) 676, 737 Gleichgewichtspotenzial 24 Gleichgewichtssinn 676, 737 Gleichgewichtsstörung, Dekompressionskrankheit 308, 312 Gleitfilamenttheorie 195, 117 Gliadine 422 Gliazellen 35, 612, 614 f. – retinale 692 – Transmitteraufnahme 90 Glicentin 556 Gliedergürteldystrophie, Skelettmuskulatur 104 Globin 283 Globulin(e) (s. a. Immunglobuline) 238 f. – cortisolbindendes 539 – thyroxinbindendes 548 ff. Globus pallidus (Pallidum) 763 Glomera s. Glomus Glomeruläre Filtrationsrate (GFR) 328 ff. – – Altersabhängigkeit 45, – – Autoregulation 334, 338 – – Bestimmung 329 f. – – Einflussfaktoren 338 – – Einzelnephron 336 – – – Regelung 338 f. – – erhöhte 338 – – fetale 577 – – Nierendurchblutung 338 – – Schwangerschaft 579 – – verminderte 338 Glomerulus (Bulbus olfactorius) 721 ff. Glomerulus (Niere) 336 ff. – Arteriole, afferente (= Vas afferens) 332, 334, 335, 336 f. – – efferente (= Vas efferens) 332, 335, 336 – – – Druck 344 – Filterbarriere 336 f. – – Durchlässigkeit 336 f., 338 – – Wandladung 339 – Filtrationsdruck, effektiver 336 f. – Filtrationsgleichgewicht 337 – Kapillaren 337 – – Endothel 336 Glomus aorticum 299, 637 – caroticum 299, 637 Glottis 223, 672 GLP (Glucagon-like peptide) 489, 554 f. – Anorexigen 488 Glucagon 38, 431, 467, 449, 477, 552 ff. – Abbau, renaler 358 – fetales 578 – im Plasma 556 – Sekretion, Hemmung 556

– – Regulation 518 – – Somatostatinwirkung 556 – – Stimulation 556 – Struktur 552 – Syntheseort 552, 556 – Wirkung 556 Glucagon-like peptide 489, 554 f. Glucocorticoide 36, 447, 479 – Funktion 538 f. – Anwendung 541 – Mineralocorticoideffekt 541 – permissiver Effekt 540 – Phospholipase A2-Hemmung 639 – Stoffwechsel, Einfluss von Lakritze 540 – Substitutionstherapie 539 f. – Synthese 539 – Syntheseort 538 – Wirkungen 540 Glucose 35, 59, 329, 449, 477 – Ausscheidung im Harn 328, 353, 391 – – – in der Schwangerschaft 579 – Carrier 356 f., 555 – – insulinspezifischer 555 – – insulinunabhängiger 555 – – Na+-gekoppelter 35 – – Na+-unabhängiger 35 – – Sättigung 331, 355, 357 – – Spezifität 357 – Diffusion 194 f. – Energiestoffwechsel, myokardialer 147 f. – Hirnstoffwechsel 855 – Intoleranz 556 – Konzentration, Glucagonsekretion 518 f., 556 f. – – – Insulinsekretion 553 f. – – – Regelung 10, 518 f., 556 – – im Nabelarterienblut 572 f. – – im Plasma 353 – – – STH-Sekretion 532 – Na+-Symportsysteme 28 – – renaltubuläre 341 ff. – Resorption, tubuläre 328, 331, 342, 355 ff. – Rezeptoren 629, 637 – Schwellenkonzentration beim Schmecken 718 – Stoffwechsel 468 – – zerebraler 855 – – – lokaler 857 – Transport (s. a. Glucose, Carrier) – – Blut-Hirn-Schranke 852 – – Nierentubulus 355 ff. – – transplazentarer 572 f. – – durch die Zellmembran 555 – Transporter s. Glucose, Carrier – Transportmaximum 357 Glucose-dependent insulin-releasing peptide (GIP) 416, 431 Glucose-Galactose-Malabsorption 443, 450 Glucose-1-Phosphat 478, 479 Glucose-6-Phosphat 478, 479 Glucuronat 360 Glucuronsäure 360 Glukoneogenese 468, 593 f. – Glucocorticoidwirkung 540 – Insulinwirkung 555 – renale 369, 371

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Hämoglobin Glukostate 486 Glukosurie 353, 357, 391 Glukuronidierung 466 GLUT (Glucose-Transporter) 450, 469 GLUT2 356 Glutamat 91 ff., 368, 678, 820 – Resorption, tubuläre, Carrier 358 – Strukturformel 93 – Wiederaufnahme, präsynaptische 91 f. Glutamat, Geschmack 714 – Neurotransmitter 644 – – Geschmack 715 – Rezeptor 654 – – metabotroper (mGluR4) 718, 822 Glutamatdehydrogenase 368 Glutamin 368 f. Glutaminase 368 f. γ-Glutamyltransferase 372 – proximaler Tubulus 358, 368 – Wirkung als Glutaminase 368 Glutathion 360, 372, 466, 469 – Abbau, intratubulärer 372 – Entgiftungsstoffwechsel, renaler 372 Glutathion-S-Transferase 372, 465 f. Glutenproteine 422 Glycerin 453 α-Glycerophosphat 555 Glycin, Absorption 434 – Strukturformel 93 – Transmitterfunktion 94 Glykogen 448, 477 ff. – Abbau s. Glykogenolyse – Energiereserve 592 f. – Synthese 478, 604 – – Insulinwirkung 555 – Speicherung, Insulinwirkung 555 – Vorrat 594, 608 Glykogenolyse 468, 490 – Glucagonwirkung 556 – Insulinwirkung 555 Glykogenphophorylase 479 Glykolyse (anaerobe) 148, 304, 479, 555, 592 f., 604, 856 – – bei Hirnischämie 856 – Energiestoffwechsel, myokardialer 148 – Gewebehypoxie 304 – Insulinwirkung 555 Glykophorin 229 Glykoprotein 2 (GP2) 437 Glykosaminglykane 336 Glykosialoproteine 339 Glykosylierung 18 f., 514 Gyrus cinguli 807 f. Gyrus parahippocampalis 807, 816 GM-CSF (Granulocyte/Macrophage colony-stimulating factor) 228 GMP s. Guanosinmonophosphat GnRH (Gonadoliberin) 527, 564 – Freisetzunghemmung, postpartale 582 – Sekretion, pulsatile 518 Goblet-Zellen 413, 441 Goldberger-EKG-Ableitung 168 f. Goldman-Hodgkin-Katz-Gleichung 64 ff., 89 Golgi-Apparat 14 ff., 58 – Prohormonbildung 514 Golgi-Sehnenorgan 629742 Gonaden 562 ff.

Gonadoliberin s. GnRH Gonadotropine (s. a. FSH und LH) 518, 527, 564, 570 G-Protein(e) 36 ff., 55, 75, 788 – hemmendes 38 – Inaktivierung 38 – Ionenkanalöffnung 88 f. – stimulierendes 38, 155 Gradient 867 f. – elektrochemischer 24, 28 Granulosazellen 564 Granulozyten, basophile 236 f. – – Degranulation 237 – eosinophile 236 f. – – Infektabwehr 236 – Lebenszeit 227 – neutrophile 44, 234 f., 241 – – PAF-Einfluss 235, 247 – – Phagozytose 234 – – polymorphkernige 234 – Wundheilung 253 f. Gravitation 679 Greifreflex, visueller 703 α-Grenzdextrine 448 f. Grenzfläche, Gas-Flüssigkeit 266 f. GRH s. Somatoliberin Großhirnrinde 737, 758 f. Growth hormone releasing hormone (GRH) s. Somatoliberin GRP (Gastrin-releasing peptide) 417, 420, 429, 440, 441, 487 Grundsubstanz 197 Grundumsatz 473, 480 – Altersabhängigkeit 45 f., 480 – Erhöhung 502 – Reduktion beim Fasten 490 γ-GT s. γ-Glutamyltransferase GTP s. Guanosintriphosphat Guanosindiphosphat (GDP) 36 Guanosinmonophosphat (GMP) 36, 40 – zyklisches 40, 204 – – Koronargefäßmuskulatur 155 Guanosintriphosphat (GTP) 36 – Synapse 91 Guanylin 417, 447 Guanylylcyclase 39, 60 Guanylatcyclase s. Guanylylcyclase Gustducin 717 f. Gyrus cinguli 648, 650 – postcentralis 648 f., 716, 738 – praecentralis 760 G-Zellen 428, 429

H H+-ATPase 31, 34 f., 365 f., 428, 446 – Defekt der renalen 369 H+-Ionen, Akzeptor, Säure-BasenPaar 312 – Ausscheidung, renale, Säure-Basen-Gleichgewicht 317 – – Störungen 369 – Bildung 316 – Gefäßwirkung 204 – Gradient 428 – Hirndurchblutungsregulation 858 f. – intrazellulär entstehende 392 – Konzentration s. pH-Wert

– – – – –

Niere, Säure-Basen-Gleichgewicht 312 – Sammelrohr 348 Nozizeptoraktivierung 640 Pufferung 312 ff. Pumpen s. H+-ATPase und H+-K+-ATPase – Transport in den Extrazellulärraum 392 f. – Verlust 322 H+-K+-ATPase 31 – Sammelrohr 348 H+-Kationen-Symporter 460 H+-Peptidsymporter (PepT1) 451 H2-Blocker 429 H2-Rezeptor 429 Haarfollikelrezeptor 62 f., 632 Haarzellen 662, 664 f., 678 Habenula 723 Habituation 6 f., 730, 814, 819 Hagen-Poiseuille-Gesetz 188, 192 Halbsättigung 28 Halbsättigungsdruck, O2 im Blut 284 Halbseitenläsion, Rückenmark 643, 646 Halbwertszeit, Definition 515 Haldane-Effekt 286 Halluzinationen 809, 811 – gustatorische, bei Epilepsie 721 Haloperidol 96, 813 Halssympathikus, Ausfall 790 Halsvenenfüllung 186 Haltearbeit 590, 606 Haltereflex 635, 755 Halteregler 9 Haltungsmotorik 736, 754 Häm 283 Häm-Eisen 459 – Oxidationsmittel 283 ff – Oxidationsstufe 283 Hämochromatose 471, 475 Hämopexin 469 Hämosiderin 460 Hämoxygenase 459 Hämatokrit 191 ff., 224, 333 – Einfluss auf den O2-Transport 191 – Optimum 191 f. Hamburger-Shift 287 Hammer 660 Hämodialyse 373 f. Hämodilution, isovolämische 191 Hämodynamik 210 ff. – Lunge 215 ff. Hämoglobin 282 ff. – adultes 283 – allosterische Wechselwirkung 285 – Atemgastransport 282 ff. – CO-Affinität 285 – fetales 283, 572 – inaktives 285 – Gehalt, Fetus 577 – Kohlenmonoxidbindung 285 – Konzentration 224, 284 – – Höhenaufenthalt 306 – – mittlere, der Erythrozyten 224, 232 f. – – Pufferung 320 ff. – Menge, mittlere, eines Erythrozyten 224, 232 f. – NO-Bindung 276 – Normalwerte 224

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Hämoglobin Hämoglobin, O2-Affinität 282 ff. – – CO2-Partialdruck 284 f. – – H+-Konzentration 284 f. – – Temperatureinfluss 284 f. – O2-Bindung 283 ff. – O2-Halbsättigung 284 – O2-Sättigung 284 – O2-Speicher 304 – Oxidation 285 f. – Oxygenation 283 – Pufferfunktion 314, 320 Hämolyse 231 Hämophilie 250 Hämopo(i)ese 227 f. – Stammzelle, pluripotente 227 – Vorläuferzellen, determinierte 227 f. – Wachstumsfaktoren 227 f. – – therapeutischer Einsatz 228 Hämostase, Gewebehormone 203 – primäre 248 – sekundäre 249 Handlungsplan 783 Handlungsplanung 806, 809 Handpräferenz 830 Haptocorrin 423, 458 Haptoglobin 469 Harn (s. a. Niere), Abflussbehinderung 333, 338, 364 – Aggregationshemmer 364 – Bildung 327 – Drang 564 – Harnstoffkonzentration 352 – hypotoner 391 – Kontinenz 796 f. – Konzentrierung 345 ff., 349 ff. – – Fetus 577 – Kristalle 363 f. – Na+-Konzentration 348 f. – Osmolalität 349 ff. – pH-Wert 365 – Puffer 367 f. – Steine 364 – – Kolik 364 – Titrationsazidität 317, 367 – Verdünnung 352 f., – Zeitvolumen 352 Harnblase 327 f. – Entleerung 796 f. – Dehnungsrezeptoren 636 – Sphinkter 796 Harnpflichtige Substanzen, Retention 326 Harnsäure 361 – Konzentration im Plasma 361 – Stein 364 Harnstoff 350, 368, 469 – Carrier (UT) 352 – fraktionelle Ausscheidung 351 – Konzentration im Harn 352 – Resorption 349, 350 f., 352 ff. – Rezirkulation, intrarenale 349, 350 f. – Sekretion, tubuläre 331 – Synthese 368 Harnwege 326 Hartnup-Krankheit 452 Haupthistokompatibilitätskomplex 242 f. Hauptzellen, Magen 426, 454 – Sammelrohr der Niere 347 f., 355 Haustren 442 Haustrierung 461

Haut, Durchblutung 188, 214 f., 481 – – Kreislaufregulation 214 – – Regulation, Temperatureinfluss 214 f. – – Veränderung, neurogene 203 – Gefäßinnervation 181, 203 – O2-Ausnutzung 302 – Pigmentierung, ACTH-Wirkung 538 – sensorische Endigung 630 – Vasodilatation, lokale 203 Hautrezeptor, Typ PC 629 – Typ RA 629 – Typ SA II 629 Hb s. Hämoglobin HbA s. Hämoglobin, adultes HbA1c, Diabetes 557 HbCO s. Carboxyhämoglobin HbF s. Hämoglobin, fetales HCG (Human chorionic gonatropin) 570, 574 HCl s. Salzsäure HCN s. Blausäure HCN-K+-Kanäle 67, 70 HCO3– s. Bicarbonat HCS s. Human chorionic somatotropin HDL (High density lipoproteins) 226 f., 470 Head-Zonen 643 Hechelatmung 281 Hedonik 723, 725, 812 Helicobacter pylori 436 Helikotrema 662 Helium, Inertgasnarkose 308 Helladaptation 695 f. Hell-Dunkel-Rhythmus 495 Hemicholinum 92 f. Hemineglekt, visueller 780 Hemmung, autogene 747 – kompetitive 358 – laterale 624 ff., 630, 696, 722, 730 – präsynaptische 97 f., 748 – rekurrente 748 – segmentale 644 – Verrechnungsprozess, neuronaler 623 Henderson-Hasselbalch-Gleichung 314 ff., 322 Henle-Schleife 332, 344 ff. – Calcitoninwirkung 401 – Ca2+-Resorption 361 ff. – Gegenstrom-Multiplikation 350 f. – K+-Transport 354 f. – Mg2+-Resorption 363 – Na+-Resorption 382 – Parathyrinwirkung 400 – Potenzial, transepitheliales 346 – Resorption 344 ff., 345 – Schenkel, dicker aufsteigender (TAL), NaCl-Resorption 350 – – Wirkung von ADH 352 Henry-Gauer-Reflex s. Gauer-Henry-Reflex Henry-Gesetz 260, 283, 314 Heparin 246, 251 Hepatozyten 463 – Stoffwechsel 464 – Transportprozesse 464 f. Hering-Breuer-Reflex 297, 637 Hermann-Gitter 697 Herpes zoster 642

Hertz 863 Herz, Afterload 158, 191, 216 – Aktionspotenzial 150 ff. – Arbeitsdiagramm 142 – Automatie 153 f., 162 – Automatiezentrum, nomotopes 162 – Beschleunigungsarbeit 143, 185 f. – Blutfluss 138 – Druckanstiegsgeschwindigkeit, Ventrikel 155 f. – Druckbelastung 156 – Druck-Volumen-Arbeit 142 f. – – – Diagramm 142, 157 – Ejektionsfraktion 140 – endokrine Funktion 160 f. – Erregung, ektopischer Herd 170 – – ionale Mechanismen 396 – Erregungsausbreitung 84, 161 ff. – – Hierarchie 162 – – Störung 161 – – Überleitungszeit 162, 166 – – vulnerable Phase 171 – Erregungsbildungsstörung 169 – Erregungsleitungsgeschwindigkeit 162 f. – fetales 575 f. – Fibrose (cardiale) 387 – Flimmerneigung 506 – Funktionsanpassung, Neugeborenes 584 – – Schwangerschaft 578 – Geräusche 140 – Gewicht, kritisches 159 – Hypertrophie 158 – – cardiale 387 – – exzentrische 159 – – Hypertonie 159 – – konzentrische 159 – Innervation, vegetative 791 f. – Lagetypen 168 – Mitinnervation, zentrale 602 – Nachlast 158 191, 216 – Normalwerte 874 – Preload 158, 216 – Pumpleistung 155 f. – Schilddrüsenhormonwirkung 550 – Ventilebene 138 f., 142 – Volumenbelastung 156 – Vorlast 158, 216 – Wandspannung 159 Herzachse 164 – anatomische 167 – Atmungsabhängigkeit 168 – elektrische 167 – – Bestimmung 167 – Lagetypen 168 Herzaktion, Anspannungsphase 140 f. – Austreibungsphase 140 – Erschlaffungsphase 140 f. – Füllungsphase 140 f. Herzarbeit 142 f. Herzfrequenz 161, 169, 177 – Altersabhängigkeit 220 f. – erhöhte, Ventrikelfüllung 155 f. – Ermüdungsanstieg 599 f. – fetale 219, 572 – Körperarbeit 213, 597 ff. – Lageabhängigkeit 211 ff. – Leistungstest 603 f.

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Histamin – Parasympathikuseinfluss 791 f. – Regulation 199 – Sauerstofftransportkapazität 598 – Schwangerschaft 578 – Steady state 598 – Sympathikuseinfluss 791 f. Herzglykoside 388 Herzhypertrophie 158 f. Herzindex 155 Herzinfarkt 131, 172, 176 – Head-Zone 643 – Leistungstest 604 Herzinsuffizienz 131, 160, 176, 197, 208, 391 – Atriopeptinplasmaspiegel 160 – Druck, zentralvenöser 186 Herzklappen 138 Herzkrankheit, koronare 146 Herzkranzgefäße s. Koronararterien Herzkreislaufsystem 137 ff., 175 ff., 387 Herzlage s. Herzachse Herz-Lungen-Maschine 152 Herzmuskel, Aktionspotenzial 131 – ATP-Synthese 149 – ATP-Verbrauch 149 – Ca2+-ATPase 133, 154 – Ca2+-Desensitivierung 133 – Ca2+-Einstrom, Triggerfunktion 132 – Ca2+-Kanäle, L-Typ 131 – Ca2+-Konzentration, zytoplasmatische 154 – Ca2+-Sensitivierung 133 – Dihydropyridin-Rezeptor 132 – Durchblutung s. Koronardurchblutung – Energiestoffwechsel 147 ff. – – anaerober 148 – Erregung 133 – Gap Junctions 123, 130, 134 – Gefäßinnervation 181 – Glanzstreifen 130 – Hypertrophie 159 – Insufizienz, Ödementstehung 383 – Ischämie, Rolle der K+-Kanaltypen 396 f. – K+-Leitfähigkeit der Membran 150 f. – Koppelung, elektromechanische 131 – Kraftentwicklung 139 f. – 3Na+/1Ca2+-Austauschcarrier 133 – Noradrenalinwirkung 75 – O2-Ausnutzung 302 – O2-Extraktion 204 – O2-Extraktionsrate 145 – O2-Verbrauch 204 – Organisation, morphologische 130 – Potenzialdifferenz 150, 164 – Querbrückenzyklus 133 – Ruhedehnungskurve 143, 155 – Ruhepotenzial 150 – Ryanodin-Rezeptor 132 – Schrittmacherpotenzial 134 – Summenpotenzialdifferenz 164 – Sympathikuswirkung 75 – Synzytium, funktionelles 130 – Titin 131 – trophische Veränderungen, hypertoniebedingte 201 – Tropomyosin 133 – Troponin 133

– Vordehnung 155 f., 160 – Wirkung, positiv inotrope 133 – Zonulae adhaerentes 130 Herzmuskelzelle, Aktionspotenzial 76 f., 150 f., 161, 163 – – biphasisches 164 – – Dauer 76, 150 – Ca2+-Austauschvorgänge 154 – Ca2+-Einstrom 76 f. – Ca2+-Freisetzung 154 – Ca2+-Kanal 97, 153 – Ca2+-Konzentration 150, 154 – Depolarisation 76, 120 – Ionenstromuntersuchung 151 f. – K+-Auswärtsdiffusion 150 – K+-Gleichgewichtspotenzial 150 – K+-Kanaltypen 396 – Membranpermeabilität 150 – Na+-Einstrom 76, 150 f. – Na+-Kanal 150 f. – Plateauphase 150 f. – Refraktärzeit, absolute 152 f. – – relative 152 – Repolarisation 150 f. – Ruhepotenzial 84, 149 f. – Schwellenpotenzial 150 Herzrhythmus, Parasympathikuseinfluss 163 f. – Störung 169 f., 395 – Sympathikuseinfluss 163 f. Herzschlagvolumen, Bestimmung 278 Herzschrittmacher, primärer 161 f. – sekundärer 161 f. Herzschmerz 563 Herzstillstand 152, 171 f., 176, 856 – O2-Speicher 304 Herzsympathikus 157 f. Herztöne 140 f. Herzventrikel, Interdependenz 216 Herzversagen 159 Herzvorhoffüllung, Venendruckkurve 199 Herzvorhofkontraktion, Venendruckkurve 199 Herzzeitvolumen 155 f., 176 f., 184, 276, 289 – Altersabhängigkeit 45 f. – bestimmende Faktoren 155 ff. – Einfluss des intrathorakalen Drucks 216 – bei erhöhtem peripherem Widerstand 201 – fetales 575 – Gasaustausch 277 – Hämatokriteinfluss 191 f. – Körperarbeit 155, 213 f., 598 ff. – Kreislaufschock 209 – Lungendurchblutung 275 – maximales 599 – Messung 277 f., 289 – postnatales 220 – Regulation 155 f. – Rückfluss, venöser 160 f. – Sauerstofftransportkapazität 599 – Schwangerschaft 578 – Sympathikuseinfluss 158 f. – bei Valsalva-Versuch 268 – bei vermindertem peripherem Widerstand 201

– Verteilung auf die Organe 187 – – bedarfsorientierte 178 – – bei Körperarbeit 187 Herzzyklus 139 f. Heschl-Windung 668 Hexamethonium 92 Hexenmilch 578 HIF-1 (Hypoxie-induzierbarer Faktor 1) 229, 371 High density lipoproteins s. HDL Hill-Koeffizient 29 Hinterstrangkerne 644 Hinterstrangataxie 458 Hippokampus 807 f., 810, 816 Hippurat 331 – Sekretion tubuläre 359 Hirndurchblutung 187 f., 855 ff. – Altersabhängigkeit 859 – Autoregulation 189, 855 – Bestimmung 855 ff. – Hyperkapnie 296 – Hypoxie 296, 306 – in großer Höhe 306 – Infarkt 855 f. – Ischämie 856 – – Schädigungsfristen 856 – – Schwellenwerte 856 – – Sympathikusaktivität 798 – lokale 856 – Normalwerte 856 – Regulation 858 f. Hirnentwicklung 97, 822, 824, 827 – Plastizität 827 Hirnfunktionsanalyse 857 ff. Hirnfunktionen, Messung 831 Hirngefäße, Arteriosklerose 859 – Innervation 203, 859 – Motorik, Blutzusammensetzung 859 – Tonus, Regulation 858 f. Hirngewicht 624 Hirnhemisphäre s. Hemisphäre Hirnkapillare 850 f. – fenestrierte 853 – Tight Junction 850 ff. – Zellmembran, Na+-K+-ATPase 853 Hirnnerv VII 715 – IX 715 – X 715 Hirnödem 392, 851 Hirnrinde s. Kortex Hirschsprung-Krankheit 415 Hirnstamm 737, 804 – Kreislaufregulation 199 – Läsion, Atmung 300 Hirnstoffwechsel 855 ff. – Messung 857 f. – reizabhängiger 858 Hirntod 781, 840 Hirnventrikel, dritter 521 His-Bündel 162 ff. Histamin 38 f., 93 f., 237, 417, 429, 447, 629, 638 f., 844 – Durchblutungsregulation, lokale 204 – Gefäßwirkung 214 – J-Rezeptoren-Erregung 297 – Jucken 638 – Koronarendothelstimulation 145 – Nozizeptor 639

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Histamin, Ödementstehung 197 – – lokale 383 – Rezeptoren 60 – Sekretion, Magen 418 – – renaltubuläre 360 Histiozyten, Lungengewebe 258 Histokompatibilitätsantigene 242 Hitzeakklimatisation 499 Hitzeerschöpfung 505 Hitzschlag 505 Hitzeschockproteine 18 Hitzeschmerz 635 HIV(human immunodefiency virus)Infektion 245 HLA(human leucocyte antigen)-Antigene (s. a. MHC) 242 f. – Diabetes mellitus 557 HLA-Proteine hNaDC (humaner Na+-DicarboxylatSymport-Carrier) 360 Hochdruck, arterieller s. Hypertonie, arterielle – pulmonaler 217, 296 Hochdrucksystem 177 ff. – Blutvolumenverteilung 207 – Dehnungsrezeptoren 385 – Neugeborenes 219 Hoden, Entwicklung, fetale 578 – Funktion 566 f. – Hormonbildung 513 – Hypothalamus-HypophysenBeziehung 566 Hodenkanälchen 566 f. Höhe, Atmung 273, 305 f. – Luftdruck 261 Höhenaufenthalt, Akklimatisation 306 – Atmung 306 – Bicarbonatausscheidung, renale 353 – Cheyne-Stokes-Atmung 301 – Hypoxie 303 – Säure-Basen-Gleichgewicht 321 ff. – pH-Wert 312 ff., 323 Höhenformel, barometrische 261 Höhenkrankheit 306 Höhentoleranz 306 Höhlengrau, zentrales 655 Homocystein 457, 458 Homoiothermie 494 Homöostase 7 f., 212 – in abhängigen Geweben 212 – Calcium-Phosphat-Stoffwechsel 398 ff. – Calciumstoffwechsel 35, 40, 398 ff. – Hypothalamusfunktion 799 – Ionenkonzentration, intrazelluläre 34 f. – Kaliumstoffwechsel 394 ff. – Körperarbeit 607 – Liquor cerebrospinalis 854 – Natriumstoffwechsel 381 f., 512 – Phosphatstoffwechsel 398 ff. – pH-Wert, intrazellulärer 35 – Verlust 45 – Zellvolumen 34 Homöostatische Reaktion, Neuropeptideinfluss 525 Homunculus, sensorischer 648 Hörbahn 668 Hörbereich 659 Hören, binaurales 668 f. – räumliches 669

Hörempfindung 659 Horizontaltyp, Herzachse 168 Horizontalzellen, retinale 692 f. Hormon(e) 35 ff., 510 ff. – Abbau 515 – adrenocorticotropes s. ACTH – aglanduläre 512 – anaboles 530, 552 – antidiuretisches s. Adiuretin – Atmungsregulation 300 – Bestimmung 518 f. – cAMP-senkende 38 – cAMP-steigernde 38 – diabetogene 532 – follikelstimulierendes s. Follitropin – gastrointestinale 512 – – Einfluss auf die Insulinsekretion 554 – glandotrope 528 ff. – – Abbau, renaler 372 – – Sekretionsregelung 517 – glanduläre 512 – gonadotrope 528 ff., 564 ff., 570 – – Sekretionsregelung 517 – Halbwertszeit 515 f. – hypophyseotrope 526 – ketogenes 556 – Konzentration im Blut 515 f. – – im Plasma, Messung 518 f. – liquorgängige 850 – luteinisierendes s. Luteotropin – natriuretisches s. Atriopeptin – neurosekretorische 512 – nichtglandotrope, adenohypophysäre 528 f. – parakrine 36 – Plazentapassage 578 – plazentare 574 f. – renale 369 f. – Rezeptoren 35 ff., 516 ff. – – Komplex, aktivierter 516 – – – Internalisation 516 – Second Messenger 36 ff., 516 – Sekretion 515 – – Amplitudenregulation 518 – – Dynamik 518 – – episodische 518 – – Frequenzmodulation 518 – – pulsatile 518 – – Regelungsstörung 518 – – Rhythmus 518 f. – – – diurnaler 518 – – – circadianer 518 – Signalübermittlung 36 ff., 513 f. – STH-inhibierendes s. Somatostatin – Synthese, Gen 514 ff. – Syntheseorte 512 f. – thyreoideastimulierendes s. Thyreotropin – Wirkung, Regulation 517 ff. – – rezeptorvermittelte 517 ff. – – Second Messenger 36 ff., 517 Horner-Syndrom 690, 790 Hornhauttrübung 748 Horopter 708 Hörprothesen s. Cochlea-Implantat Hörschnecke s. Cochlea Hörschwelle 659 Hörstörung, frühkindliche 658 Hörverlust 670 f.

HPL (Human placental lactogen) 575 H(offmann)-Reflex 746 5-HT (Hydroxytryptamin) s. Serotonin Hüfner-Zahl 283 Human chorionic gonadotropin (HCG) 570, 574 Human placental lactogen (HPL) 575 Hungerzentrum 484 f. Huntington-Chorea 768 Husten 272, 300, 714 – Atemstromstärke 272 – Atmung 300 – Dekompressionskrankheit 308 – hyperoxiebedingter 305 – Reflex 297, 637, 747 Hyaline Membranen 587 Hydrochlorothiazid 353 Hydrogencarbonat s. Bicarbonat Hydrolase 20 Hydrophobizidät, Lipide 453 β-Hydroxybuttersäure, Säure-BasenGleichgewicht 321 Hydroxylapatitkristalle 398 2-Hydroxy-3-Methylglutaryl-CoA(HMG-CoA-)Reduktase 471 1α-Hydroxylase 359, 370, 400 11β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase 540 5-Hydroxytryptamin s. Serotonin Hypalbuminämie, Einfluss auf GFR 338 Hypalgesie 653 Hyperaldosteronismus 322, 397 – sekundärer 347 f. Hyperämie, funktionelle 202, 205 – postokklusive 206 – reaktive 202, 206 Hyperaminoazidurie 357 Hyperargininämie 358 Hyperbarie, O2-Angebot 307 Hyperemesis gravidarum 578 Hypergastrinämie 436 Hypergeusie 720 Hyperglykämie 489, 557 Hyperinsulinämie 558 Hyperkaliämie 354, 395 ff. – Catecholaminfreisetzung 397 – Dialyse 373 – Einfluss auf Gefäßmuskulatur 397 – Einfluss auf myokardiale K+-Kanäle 396 – Herzmuskelfunktion 152 – Insulinfreisetzung 397 – K+-Sekretion, tubuläre 397 – Niereninsuffizienz 373 Hyperkalzämie 401 f. – Kristallisation im Gewebe 399, 403 Hyperkalz(i)urie 364 Hyperkapnie 293 – arterielle 295 – Fluchtreflex 300 – Glomera carotica 299 Hyperkolumne, kortikale 703 Hyperkortisolismus 541 Hyperlipidämie 472 Hypermetropie 688 Hyperoxalurie 364 Hyperoxie 304, 307 Hyperparathyreoidismus, primärer 403 – seku

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Immunsuppression Hyperpathie 653 f., 794 Hyperphagie 473, 485 Hyperphosphatämie 403 Hyperpnoe 282 – Arbeit 300 – Flüssigkeitsverlust 351 Hyperpolarisation 89 – Rezeptorpotenzial 616 Hyperprolaktinämie 533 Hyperproteinämie 379 Hyperreflexie, autonome 795 Hypersomnia 846 Hypertension s. Hypertonie Hyperthermie 486, 505 – maligne 111, 507 Hyperthyreose 548 ff. Hypertonie 176, 490 – – arterielle 201, 385 ff. – – Diurese 353 – – Entstehung, Hypothesen 388 f. – – essenzielle 385 – – Kochsalzzufuhr 385 – – renale 369 – – Sympathikotonus 790 – – trophische Veränderungen 201 – – durch Volumenexpansion 385 f. – Herzhypertrophie 159 – pulmonale 217, 296 Hypertrophie, Muskel 159, 167 Hyperurikämie 361, 490 Hyperventilation 281 f., 300 – Azidose 300 – alveoläre, bei nichtrespiratorischer Azidose 322 – in großer Höhe 306 – Hirndurchblutung 855 – Lungenbezirke 292 Hypervitaminosen 475 Hypervolämie, Dialyse 372 f. Hypocretin 845 f. Hypoglykämie 49, 558 – insulininduzierte 558 Hypogeusie 720 Hypokaliämie 354, 395 ff., 446 – bei Alkalose 393 f. – diuretikabedingte 353, 395, 397 – Einfluss auf Gefäßmuskulatur 397 – K+-Resorption, tubuläre 397 – Liddle-Syndrom 348 Hypokalzämie 400 f., 459 – bei Hyperphosphatämie 403 – bei Magnesiummangel 404 f. – bei Niereninsuffizienz 370 – Parathyrinfreisetzung 400, 402 Hypokapnische Atembremse 298 Hypokinese 766 f. Hypomagnesiämie 348 Hyponatriämie 390 f. Hypo(o)smolalität 391 Hypoparathyreoidismus 402 Hypophosphatämie 403 Hypophyse 490 – Adenom, chromophobes 533 – Corticoliberinwirkung 535 – Hinterlappen s. Neurohypophyse – Hormone, Einflussfaktoren 526 – – fetale 578 – – glandotrope 528 ff. – – – Abbau, renaler 372

– – gonadotrope 528, 564 – – Inhibiting-Hormone, hypothalamische 526 f. – – nichtglandotrope 528 f. – – Releasing-Hormone, hypothalamische 526 f. – – Sekretionsregelung 517, 526 f. – Insuffizienz 532 – Lage 519 f. – Vorderlappen s. Adenohypophyse – Zellen 526 – – gonadotrope 525 – – kortikotrope 536 – – mammotrope 528 – – POMC 525 – – somatotrope 528, 532 – – thyreotrope 528, 549 – Zwischenlappen 521, 537 Hypoproteinämie 379 Hypotension s. Hypotonie Hypothalamohypophysäres System 519 ff. Hypothalamusfelder, laterale 485 Hypothalamus 500, 519 ff., 646, 682, 723, 809 – homöostatische Regulation 799 f. – Hormone 513 – – neurosekretorische 512 – Hypophysen-Drüsen-Achse 517 – – Gonaden-Beziehung 564 – – Hoden-Beziehung 566 – – Nebennierenrinden-System 535 ff. – – – Funktionsdiagnostik 543 – – – hypophysäre Ebene 536 f. – – – hypothalamische Ebene 535 f. – – – Interaktion mit dem Immunsystem 543 f. – – – Nebennierenrindenhormone 538 ff. – – Ovar-Beziehung 564 – – Schilddrüsen-System 544 ff. – – – hypophysäre Ebene 545 f. – – – hypothalamische Ebene 545 – – – Schilddrüsenhormone 544 ff. – Kerne, magnozelluläre 522 – Lage 551 – Osmorezeptoren 389 Hypothermie 504, 506 – akzidentelle 506 – induzierte 506 Hypothese 3 Hypothyreose 551 – Suchtest beim Neugeborenen 551 f. – TRH(Thyreotropin-releasing Hormone)Test 548 Hypotonie, arterielle 211 – orthostatische 793 Hypoventilation 281 f., 292, 295 – alveoläre, bei nichtrespiratorischer Alkalose 322 – Lungenbezirke 292 – Rechtsherzbelastung 296 – Säure-Basen-Gleichgewicht 322 Hypovolämie, Gitelman-Syndrom 348 Hypoxämie, arterielle 295 Hypoxie 49, 306, 371 – alveoläre 215 – – Vasokonstriktion 218 – anämische 303 – Atemantrieb 298

– – – – – – – – – – – – – – –

Atemmuskeln 273 Atemreflex 300 Atmungssteigerung 300 arterielle 293, 303 Empfindlichkeit, Nervenzellen 306 endkapillärer PO2 290 fetale 572 Gewebe 296, 303 Glomera carotica 299 in großer Höhe 306 hypoxämische 306 inspiratorische 303, 305 ischämische 303 Kreislaufregulation 201 pulmonale Vasokonstriktion 275 f., 306 – neonatale 584 – Tauchen 308 Hypoxie-induzierbarer Faktor 1 (HIF-1) 371 Hypoxietoleranz 506 Hypocitraturie 364 Hypoxische Vasokonstriktion, Lunge 275, 306 Hypoxische Vasodilatation, Körperkapillaren 292 f. H-Zellen 427

I Ia-Afferenzen 738, 744 f. Ia-Interneurone, inhibitorische 744 Ich-Konzept 802 IDDM (Non-insulin-dependent diabetes mellitus) 557 IDL (intermediate density lipoprotein) 470 IgA (Immunglobulin A) 422 IGF (Insulin-like growth factor; auch ILGF) 40, 530 ff. IGF1 530 ff., 552 IGF2 552 ff. Ikterus 472 IL-1, Nozizeptor 639 IL-1β, Anorexigen 488 Ileozökalklappe 461 Ileus, adynamer 794 Imipramin 810 Immunabwehr, humorale 238 ff. – – Primärreaktion 241 f. – – Sekundärreaktion 241 f. – zelluläre 233 f., 241 Immundefizienz 245 Immunglobuline (s. a. Antikörper) 232 – A, sekretorisches 259, 422 f. – Bildung 239 f., 243 – Klassen 232, 236 – Rezeptor 240 – Struktur 240 f. Immunität 451 Immuntoleranz 422 Immun-IFN (-Interferon) s. γ-Interferon Immunisierung, aktive 241 – passive 241 – – Infektionsschutz 241 Immunmodulator 537 Immunschwäche, erworbene 245 Immunsuppression 245

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Immunsystem Immunsystem, Glucocorticoidwirkung 540 f. – Interaktion mit dem HypothalamusHypophysen-NebennierenrindenSystem 544 f. Impedanzanpassung, Ohr 661 Indifferenzebene, hydrostatische 210 f. Indifferenztemperatur, psychophysische 634 Indomethacin, tubuläre Sekretion 359 Inertgas, Narkose 307 Infektabwehr, spezifische, pulmonale 259 Informationsselektion 806, 809 Informationsübermittlung, Membranpotenzialänderung 77 Informationsverarbeitung, Lichtreiz 701 ff. Infrarotbereich 498 Infraschall 728 Infusion, innere 207 Inhibin 566 f. Inhibiting-Hormone, hypothalamische 526 f. Inhibition s. Hemmung Inhibitorisches postsynaptisches Potenzial s. IPSP Innenohr 661 f. – Reizfolgepotenzial 667 f. – Schwerhörigkeit 666 Inositoltrisphosphat (IP3) 36, 38 f., 60, 717 – Gefäßmuskelzelle 181 – glatter Muskel 127 – Kaskade 38 f. Inotropie 155, 167 Insel (zerebraler Kortex) 648, 650, 716 Inselapparat (Pankreas) 551 ff. Inselhormone (Pankreas) 552 Insomnia 846 Inspiration 267 f. – Blutvolumen, intrathorakales 216 Inspirationslage, maximale 261 ff. Inspirationsluft 277 Inspirationsmuskeln 267 – akzessorische 268 Insulin 39, 440, 467, 478 f., 485, 489, 552 ff. – Anorexigen 488 – dependent diabetes mellitus (IDDM) 557 – Empfindlichkeit, Zielzellen 489 – fetales 578 – Freisetzung, bei Hyperkaliämie 397 – Hormone, gegenregulatorische 556 – Konzentration, fetale, erhöhte 578 – Mangel 557 – Na+/H+-Antiporter-Stimulierung 397 – Na+-K+-Pumpen-Aktivierung 397 – Resorption, tubuläre 359 – Rezeptor 553 f. – – Downregulation 555 – – Internalisierung 555 – – Resistenz 555 – Sekretion 552, 557 – – basale 553 – – biphasische 553 – – Einfluss des autonomen Nervensystems 553

– – GLP(Glucagon-like peptide)-1Einfluss 554 – – Hemmung 553 – – pulsatile 553 – – Regelung 552 ff. – – Somatostatinwirkung 556 – – Stimulation 552 f. – Struktur 552 – Substitution 557 – Synthese, Gen 552 – Syntheseort 552 f. – Wirkung 552, 554 – – anabole 556, 558 – – antiketogene 555 – – Eiweißstoffwechsel 552, 555 f. – – Fettstoffwechsel 552, 555 – – Kohlenhydratstoffwechsel 552, 555 – – verminderte 556 – – zelluläre Mechanismen 555 f. Insulinhypoglykämietest 532, 543 Insulin-like growth factors (IGF = ILGF) 40, 531 Insulinom 558 Integralvektor (EKG) 164 Integration, funktionelle 8 Integrine, leukozytäre 179 Intensität (Reiz) 730 – Unterschiede 669 – Vergleich, intermodaler 730 Interalveolarseptum 215 ff. Intercalated cells 347 f., 354 f., 366 Interesseverlust 809 Interferone 234 Interferon-α 506 Interleukin(e) 40, 512 – 1 421, 515, 543 845 – 1β 506 – 2 243 ff., 515, 543 – 4 243 ff., 515 – 5 243 – 6 489, 506 – 10 244 Internalisation, Hormon-RezeptorKomplex 517 – von Rezeptoren 555 Interneurone 623 – efferente 420 – Hinterhorn 566 – inhibitorische 94 – retinale 692 – spinale 752 Internodien 623 Interstitium, Compliance 196 f. – Diffusionswiderstand 197 – Drainage 198 – Druck, hydrostatischer 196 – – kolloidosmotischer 196 – – – Abfall 197 – Grundsubstanz 197 – Proteinkonzentration 197 f. – pulmonales 289 – – Drainage 217 f. – Stofftransport 197 – Zusammensetzung 197 Interthreshold Range 496 Interzellularfugen, Gefäßendothel 195 f. Intrazellulärflüssigkeit 378 ff. – Ionenzusammensetzung 33, 380

Intrazellulärvolumen 378 f. – Neugeborenes 586 – vermindertes 392 Intrinsic Factor 458, 436 Inulin 329 f. – Extrazellulärvolumenbestimmung 379 – Clearance 329 f. – Konzentration im Plasma 344 – – in der Tubulusflüssigkeit 342, 344 Iod 474 – Mangel 546 – – Struma 551 – Ökonomie 546 – Stoffwechsel 546 f. 131 Iod-Albumin 379 Iodid, Konzentration im Blut 550 – Transport, aktiver 546 – – – Hemmung 546 Iodination 546 Ionen-Aktivität 30, 866 Ionengradient, extra-intra-zellulärer 28 Ionenkanal 15, 22 f., 64 ff. – Aktivierung 69, 73 ff. – Blocker 68, 89 – Charakterisierung 71 – Dichte 22 – Erkrankungen 74 – Funktion, Membranpotenzial 81 f. – Geschlossenzustand 23 – G-Protein-abhängiger 88 – Gradient, elektrochemischer 24, 28 – Ionenstrom, Auslösung 68 – Synapse 81 f. – Triebkraft 65 – ligandengesteuerter 85 – Membran, postsynaptische 85 ff. – Offenzustand 23 f. – Öffnung durch Liganden 85 f. – Öffnungsverhalten 22, 73 ff. – postsynaptischer, Öffnung durch sekundären Botenstoff 87, 89 f. – Protein 22 f., 69 f. – Rezeptorzelle 617 – Schließverhalten 22, 73 f., 75 – Selektivität 28 – Selektivitätsfilter 71 f. – transmittergesteuerter 85 f. – zellwandspannungsempfindlicher 34 Ionenkonzentration, extrazelluläre 15, 32 – der Körperflüssigkeiten 380 – zytosolische 15, 32, 380 – Homöostase 34 f. Ionenleitfähigkeit 66 f. – Maßeinheit 865 Ionenpumpe 30 ff., 64 f. – ATP-Verbrauch 30 f. – Ionenverteilung, extra-intrazelluläre 33 – Selektivität 33 Ionentransport (s. a. unter der Ionenart) 24 Ionenverteilung 32 f. IP3 s. Inositoltrisphosphat IPSP s. Potenzial, postsynaptisches, inhibitorisches IRE (Iron Response Element) 460 IRE-BP (Iron Response Element-Binding Protein) 460

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Kidney-fluid-System IREG1 (Iron regulated genes = Eisentransporter) 460 Irritationen 637 Irritationsendigungen, bronchiale 297 Ischämie 49, 206, 303 – renale 370 – Nozizeptorenerregung 206 – zerebrale 856 f. – – Sympathikusaktivität 798 Isomaltase 449 Isophone 660 Isopotenziallinien 165 f. Isoproterenol 96 Isotherme 494 Ist-Temperatur 501 Istwert 9 f. Ito-Zellen 463, 471 IZF s. Intrazellulärflüssigkeit

J Jacob-Stewart-Zyklus 288 JAK (Janus-Kinase) 489 Jetlag 542, 846 Jod s. Iod Joule 864 J-Rezeptoren 297 Jucken 638

K K+-Absorption, Darm 446 – Akkumulierung, intrazelluläre, catecholaminbedingte 397 – – insulinbedingte 397 – Aufnahme 394 – Ausscheidung 394 – – fraktionelle 354 – – renale, Aldosteroneinfluss 397 – – – Schleifendiuretika 397 – – Schweiß 394 – Ausstrom 25 – – an der postsynaptischen Membran 86 f. – – aus der Nervenzelle 617 – Bedarf 474 – Belastung, chronische 397 – Bestand des Körpers 394 ff., 591 – Bilanz 394 ff. – -Cl–-Kotransportsystem 34 – Diffusion, Henle-Schleife 346 f. – Einstrom 25 – Gefäßwirkung 204 – Gleichgewichtspotenzial 32 f., 64 ff. – – Herzmuskelzelle 150 – Haushalt 354 f., 394 ff. – Hirndurchblutungsregulation 858 – Homöostase 354 f., 394 ff., 446 – Kanal 25 f., 32, 66, 394 f. – – Arbeitsweise 73, 75 – – Blocker 68 – – – Potenzialabhängigkeit 74 – – ATP-abhängiger, B-Zellen des Pankreas 554 – – Ca2+-aktivierter 414 – – glatte Muskelzelle 397 – – – Lungengefäße 276

– – Glomus caroticum 299 – – Herzmuskelzelle 396 – – hypoxische Vasokonstriktion, Lunge 275 – – Insulinsekretion 554 – – Myokardhypoxie 396 – – Öffnung 73 ff. – – postsynaptischer 87 ff. – – – Öffnung durch G-Protein 88 f. – – Potenzialsensor 72 f. – – Schließung 73 ff. – – Skelettmuskel 108 – – spannungsgesteuerter 715 – – Wechselbeziehung mit der Na+-K +-Pumpe 34 – – – mit dem Na+-Kanal 75 f. – – Kanäle, – Konzentration, extrazelluläre 15, 32, 354 – – – erhöhte 395 ff. – – – Nervensystem 614 f. – – – Plasma 354 – – – Regulation 397 f. – – – verminderte 395 ff. – Konzentrationsgradient 64 – Leitfähigkeit 67 f., 76 f. – – Ca2+-Aktivität, zytosolische 39 – – Herzmuskelzelle 76 – – Synapse 89 – Mangel 354, 395 ff. – Recycling 346 – Resorption, Darm 443 – – Henle-Schleife 346, 354 – – renaltubuläre 353 ff. – – – parazelluläre 342, 354 – Rezirkulation 429 – Säure-Basen-Gleichgewicht 395 – Selektivitätsfilter 71 f. – Sekretion, Darm 443, 446 – – Sammelrohr 354 – Transport, intestinaler 446 – – tubuläre 353 ff., 397 – Säure-Basen-Gleichgewicht 322 – Verschiebung, transzelluläre 394 ff. – Verteilung 32 f. K+-H+-ATPase s. H+-K+-ATPase K+/H+-Austausch, Speicheldrüsengänge 424 Kachexie 477 Kalium s. K+Kallidin, Durchblutungsregulation, lokale 204 Kallikrein 204, 249, 370, 423 Kallikrein(ogene) 437 Kallmann-Syndrom 726 Kalorimetrie 482 Kälteakklimatisation 505 Kältebelastung, Vasodilatation 214 – Vasokonstriktion 214 Kältedilatation 214 Kälteeinwirkung, lokale 214 Kältegegenregulation 501, 506 Kälteempfinden 634 – paradoxes 635 Kälterezeptoren 500, 629, 634 – PD-Verhalten 11 Kälteschmerz 635 Kältezittern 502, 505 Kaltpunkt 634

Kaltreiz, Atmung 300 Kammerflattern 171 Kammerflimmern 171 ff., 506 Kammerwasser 688, 690 Kanalikulärgalle 467 Kapazität, aerobe 602 – elektrische, Maßeinheit 865 – O2, Gewebe 302 – O2, Hämoglobin 283 Kapazitation 569 Kapazitätsgefäße, Konstriktion 199 Kapillaren, alveoläre 256, 274 – Austauschfläche 193 – Dichte 182 – – myokardiale 172 – Druck 188 f. – – hydrostatischer 195 f. – – – Abnahme 202 – Endothel 194 f. – – Lunge 290 – Flüssigkeitsaustausch 384 – glomeruläre 332 – – Blutdruck 333 – peritubuläre 328, 332 – – Druck 344 – Sprossung 182 Kappa(κ)-Rhythmus 838 Kapsel, innere 762 f. Karboxylester-Lipase 437 γ-Karboxylierung 471 Kardioplegie 305 Kardiomyopathie, dilatative 131 – familiäre hypertrophische 131 Karotissinus 199 Karotissinusnerv 299 Kartagener Syndrom 45 Katabolismus 477 Katalase 20 Kategorisierung 809 Kationen, organische, tubuläre Sekretion 360 Kauen 422 Kausalbeziehung 733 Kausalgie 794 Kausalität 3 Keimflora, physiologische 421 Keimzellen 566 ff. Kerne (s. a. Nucleus), pontine 758 Kerckringfalten 410, 442 Kernikterus 850 Kernhülle 18 Kernketten 743 Kernlokalisationssequenz 18 Kernpore 18 f. Kernsackfasern 743 Kernschlaf 842 f. Kernspintomographie, funktionelle (fMRI) 723 Kerntemperatur s. Körperkerntemperatur Keto… s. a. Oxo… Ketoazidose 490, 555 Ketonkörper 490 – Bildung, glucagonbedingte 556 – – bei Insulinmangel 555 – Energiestoffwechsel im proximalen Tubulus 371 – Hirnstoffwechsel 855 Ketten, leichte 41 Kidney-fluid-System 385

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Killer-T-Lymphozyten Killer-T-Lymphozyten s. T-Lymphozyten Killerzellen, natürliche 233 Kinästhesie 635, 650 Kinesin 41 ff., 613 Kinetose 683, 778 Kinine, Aktivierung, schockbedingte 209 – Gefäßinnervation 132 – Kältedilatation 214 Kininogen 204 Kinozilium 678 Kirchhoff-Gesetz 410 Kitzelempfindung 632 Klang 659 Kleinhirn 680, 683, 738, 762, 769 ff. – Funktionsstörung 773 Kleinhirnkerne 762 Kleinhirnrinde 762 Klemmpotenzial 68 Kletterfasern 770, 772 Klimakterium 563 Klimax 568 Klitoris 567 KM-Wert 29 Knochenleitung 661, 670 Knochenmark, Hämopoiese 227 Knochenmineralisierung 459 Knochenstoffwechsel, Glucocorticoidwirkung 541 Kobalt 474 Kochlea s. Cochlea Kochsalz, Absorption, Dickdarm 438 – Retention, Schwangerschaft 579 – Verbrauch 385 f. – Verlust 384 – Zufuhr, hohe 201 KOD s. Druck, kolloidosmotischer Kode, neuronaler 730 Kodon 18 Koeffizient, osmotischer 866 Kognition 729 f., 733, 802, 806, 812 – Defizite 806 Kohabitation 567 ff. Kohlendioxid s. CO2 Kohlenhydrate, Energiereserve 592 f. – Glykogenspeicherung 608 – Stoffwechsel, Glucagonwirkung 556 – – Glucocorticoidwirkung 540 – – Insulinwirkung 552, 555 – – Schilddrüsenhormoneinfluss 550 – – Somatotropinwirkung 531 Kohlenhydratverdauung 448 Kohlenhydratabsorption 449 Kohlenmonoxid s. CO Kokain 813 Koliken 636 Kolipasen 437, 454 Kollagen 178 – IV 336 – Thrombozytenanheftung 246 Kollaps, Atemwege 267, 270 – Lungenkapillaren 276 – orthostatischer 176, 211 Kollateralgefäße 182 Kolloid, Schilddrüse 546 Kolloidosmotischer Druck 195, 225 Kolon 461 Kolondrüsen 442 Kolonkarzinom 448, 477 Kolondivertikel 448

Kolostrum 582 Kolumnen, Kortex 648, 763, 803 Koma, diabetisches, Atmungstyp 301 – Hyponatriämie 392 – Inertgasnarkose 307 f. Komfort, thermischer 387 Kommissurenbahn 778 Kommissurotomie 828 Kommunikation 8 Kompensation, Säure-Basen-Störung 315 ff., 322 ff. – vestibuläre 755 Komplementsystem 234 ff. – Aktivierung, schockbedingte 209 – Aktivierungsweg, alternativer 234 f. – – klassischer 234 f., 239 – Spaltprodukte 234 – – biologische Funktionen 234 Konditionierung 814, 817 – klassische 814 Konduktion 496 Konjugat 464 Konnexone 55, 80 Konsolidierung 815 Konsonanten 673 Kontaktstellen, myoendotheliale 179 Kontaktzeit, Lungenkapillaren 219 Kontinenz 462 Kontinuitätsprinzip 198 Kontraktion, auxotonische 118 – isometrische, Skelettmuskel 107, 117 – isotonische, Skelettmuskel 107, 116 Kontraktur 110 Kontrastverschärfung 649, 730 Kontrazeption 570 Kontrolle, supraspinale, Spinalmotorik 755 Konvektion 176, 496, 497 – Sauerstofftransport 596 Konvergenz, multimodale 749, 752 – multisensorische 749, 752 – der Neuronenverschaltung 623 Konvulsionen, O2-Vergiftung 307 Konzentration, fraktionelle 259, 866 Konzentrationsstörungen 810 Konzeption 568 f. Kooperative Wechselwirkung 306 Koordinate 869 f. Kopfdomäne, globuläre 41 f. Kopfschmerz, Bergkrankheit 306 Koppelung, elektromechanische 108, 127 – – Herzmuskel 153 f. Korbzellen 759, 771 Koronararterien 172 – Arteriosklerose 143 – Dilatation, β-Rezeptorenvermittelte 145 – Durchblutung 145, 187, 204 f. – – Einflüsse 145 – – Einschränkung 172 – – Regulation 172 ff. – – Transmitterwirkung 145 – Endothel 145 – Konstriktion, α-Rezeptorenvermittelte 145 – Stenose 190 – Verengung, Körperarbeit 600 Koronare Herzkrankheit 146 Koronarreserve 145

Korottkoff-Geräusche 185 f. Körnerzellen, Bulbus olfactorius 722 f. – Kleinhirn 771 Körper, Temperaturfeld 494 Körperarbeit s. Arbeit, körperliche 589 ff. Körpercalcium 398 Körperflüssigkeiten, Ionenzusammensetzung 380 – Regulation 382 ff. Körpergeruch, MHC (major histocompatibity complex) 725 Körperfettmasse 485 – Langzeitregulation 485 Körpergewicht 477, 483 – Altersabhängigkeit 592 – Beziehung zur Sauerstoffaufnahme 602 – Fettanteil 591 – Geschlechtsabhängigkeit 591 – ideales 483 – normales 483 – Sollwert 483 ff., 489 – Trainingsabhängigkeit 591 Körperoberfläche 480 Körperhöhlen, Gasansammlung, Tauchen 307 Körperkern 494 Körperkerntemperatur s. Körpertemperatur Körperlage, Blutdruck 210 Körperlagewechsel s. Lagewechsel Körpermasse, fettfreie 602 Körperpartien, abhängige, Durchblutung 211 f. – – Flüssigkeitsfiltration 211 Körperschale 494 Körpertemperatur (s. a. Temperatur) 214 f., 495 – Atmungsregulation 300 – basale 563 – O2-Affinität 284 – Sollwert 501, 506 – circadiane Schwankungen 495 Körperwärme 591 Körperwasser (s. a. Wasser), Bestand des Körpers 378 f., 591 – Bestimmung 379 – Neugeborenes 586 Korpusdrüsen (Magen) 427 Korrektur-Sakkade 781 Korrelation 3 Kortex (adrenaler) s. Nebennierenrinde Kortex (renaler) s. Nierenrinde Kortex (zerebraler) 716, 759 – Abschnitte, limbische 783 – agranulärer 759 – Area 3a 649 – Area 3b 649 – Area 4 649 – Area 5 650 – Area 7 650 – Area tegmentalis 812, 809 – Areal(e), hypophyseotropes 521 – – prämotorisches 759 – – supplementär-motorisches 759 – – sensorisches 804 – Assoziationsareal(e) 737, 783, 803, 805 f. – – frontales, Schädigung 806

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Leber – – parietales, Schädigung 805 – – Schädigung 806 – – temporale 806 – entorhinaler 723, 816 – frontaler, Riechbahn 721 – Frontallappen 802 – granulärer 759 – Gyrus postcentralis 716 – Hemisphären, Spezialisierung 830 – inferotemporaler 705 – Insel 648, 650 – Kolumnen 803 – mediotemporaler 705 – motorischer 776 f. – Neuronensäule 648 – orbitofrontaler 716, 723 – Organisation 803 – parietaler Assoziationskortex 650 – perirhinaler 816 – präfrontaler 650, 759, 783, 809 f., 817 – – Erkrankungen 809 – prämotorischer 737 – präpiriformer 723 – primär sensorischer 804 – primär-motorischer 649, 759 f. – somatosensorischer 647 f. – – primärer (S I) 648 – – sekundärer (S II) 650 – – – funktionelle Organisation 647 – visueller s. Sehrinde Kortikospinaltrakt 757, 783 Kotransmitter 91, 644 – Durchblutungsregulation 203 – Gefäßinnervation 181 – Nervensystem, vegetatives 786 Kotransport s. Symport Kraft, Maßeinheit 863 – osmotische 380 f. Kraftschlag, Skelettmuskel 117 Kraftsinn 635 Krafttraining 605 f. – isokinetisches 606 – isometrisches 605 Krampf, Hyperoxie 305 – Hyponatriämie 390 f. Krampfadern 212 Kreatinkinase 102 Kreatinin 326, 330 f. – Clearance 330 f., 360 – Konzentration im Plasma 330 f. – Sekretion, tubuläre 360 Kreatinphosphat 120, 592 f., 603 – Energiestoffwechsel, myokardialer 149 – Hypoxie 304 – Pufferung 313 Kreislauf 139, 176 ff. – Altersveränderungen 221 f. – Dysregulation, orthostatische 211 – embryonaler (fetaler) 219 – enterohepatischer 464, 468 – Entwicklung 219 – fetaler 219 f., 575 – Funktion 177 – – Adaptation, langfristige 201 – – Anpassung, reflektorische 601 – – Atmungseinfluss 186 – – fetale, Steuerung 219 – – Körperarbeit 598 – – Lebensalter 219 ff.

– – – – –

– Neugeborenes 583 f. – Schwangerschaft 578 – Steuerung, postnatale 219 Hochdrucksystem s. Hochdrucksystem Niederdrucksystem s. Niederdrucksystem – Normalwerte 874 – porto-biliärer 463 – postnataler 219 ff. – Regulation 198 ff., 601 f. – – Effektoren 198 – – Härtetest 208 f. – – Hautdurchblutung 214 – – humorale 198 – – Körperarbeit 212 ff., 600 f. – – kurzzeitige 601 f. – – Lagewechsel 206, 210 ff. – – langzeitige 602 – – Messfühler 200 – – Muskelarbeit 198, 213 – – myogene 198 – – Thermoregulation 209, 214 – Schock (s. a. Schock) 12, 209 – Umstellung, geburtsbedingte 219 – Zentren 199, 601 Kreislaufreflexe 199 Kretinismus 551, 578 Kreuzprobe 231 Kriechbewegungen, Zelle 44 Kristalle, Bildung im Harn 363 f. – – im Gewebe 399, 403 Kristallisationskeim 363 Krogh-Diffusionskonstante 289 Krogh-Gewebszylinder, O2-Partialdruck-Profil 302 Kropf 551 Krypten 410 Krypten-Zotten-Heterogenität 443 Kupfer 471, 474 – Überladung 475 Kupffer-Sternzellen 463 Künstliche Beatmung s. Beatmung Kurzsichtigkeit 688 Kurzzeitbelastung, maximale 595 Kurzzeitgedächtnis 814 Kurzzeit-Leistungstest 603 Kussmaul-Atmung 300

L Labyrinth, vestibuläres 676 – Ausfall 756 Lactase 448 – Defizienz 449 Lactat, Bildung 593 ff. – Clearancerate 594 – Energiestoffwechsel, myokardialer 147 f. – Konzentration im Plasma 594 f. – Resorption, tubuläre 342 – Transport, transplazentarer 573 Lactatazidose s. Laktazidose Lactose 448 Ladung, elektrische, Maßeinheit 865 Lage-Empfindung 778 Lagesinn 676 Lagewechsel, Kreislaufregulation 206, 210 ff.

Lähmung, schlaffe 742 – periodische 109 Lakritze 540 Laktation 582 – Hormonsekretionsregelung 518 – Oxytocinwirkung 524 – Prolactinwirkung 533 Laktazidose 321, 394 – neonatale 573 – Atmungsregulation 300 – O2-Mangel, Gewebehypoxie 303 ff. Laktoferrin 423 Laktoperoxidase 423 Lakune 569 Lamellipodium 44 Lamina cribrosa 722 Laminae, Neokortex 804 Laminin 336, 824 Länge, Maßeinheit 863 Längenwachstum, Einflussfaktoren 529 – fetales 574 f. – Hormoneinfluss 529 – Steuerung 528 ff. Langerhans-Inseln, Hormonproduktion 512, 555 f. Längsbündel, mittlere 682 Langzeitdepression (LTD) 93, 818, 823 – Mechanismen 823 Langzeitgedächtnis 815 Langzeitpotenzierung (LTP = long term potentiation) 93, 654, 818 f., 820 f. – Mechanismen 821 Laplace-Gesetz 140, 159, 266 Laron-Zwerge 532 Lateralisation, Hirnfunktion 805, 807 – Schallwahrnehmung 671 Laufbandergometer 592 Laufzeitunterschied (Schall) 669 Lautstärke 659 – Empfindung 659 – Pegel 659 Laxantien 447 LCA (Lecithin-CholesterinAcetyltransferase) 470 LDL-related Rezeptor 469 LDL-Rezeptor 469 Lebensalter, Alter(n) 45 f., 220, 504 – Anosmie 725 – Aortenveränderung 221 – Blutdruck 221 ff. – Gefäßedehnbarkeit 192 – Grundumsatz 45 – Hirndurchblutung 859 – Hormonsekretion 45, 518 – Körpergewicht 591 – Kreislauffunktion 219 ff. – Lungenfunktion 45, 263 – Nahrungsaufnahmen, unzureichende 720 – Nervenleitungsgeschwindigkeit 45 – Schmeckempfindlichkeit 720 – Schwerhörigkeit 659 – Training 606 Lebenserhaltung, Grundfunktionen 477 Lebenserwartung 46, 483 Leber 462 – Anatomie, funktionelle 463 – apikale Sekretion 467

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Leber Leber, Feinbau 463 – Zonen 463 Leberfibrose 463 Lebergalle 463, 467 f. Leberläppchen 463 Leberzirrhose 408, 471 Leber, Entgiftungsstoffwechsel 360 – Funktion bei der Ammoniakausscheidung 368 f. – Glykogen 372, 608 – – Abbau 593 – Hormonproduktion 512 f. – Insulinwirkung 555 – Lymphe, Proteingehalt 198 – Vergrößerung, Langzeitanpassung bei Arbeit 602 – Zirrhose 379 – – Ödementstehung 383 Lecithin s. Phosphatidylcholin Lecithin-Cholesterin-Acetyltransferase (LCAT) 470 Leistung 590 ff. – biologische 592 – Maßeinheit 864 – mechanische, Atemmuskeln 273 – Messung, standardisierte 591, 603 f. – physikalische 592 – wiederholbare 591 Leistungsfähigkeit, körperliche 603 – – Steigerung 605 – – Tests 603 f. Leistungsgrenze 594 Leistungsreserve 590 Leistungstest 603 f. – Testperson 604 – Verfahren, submaximale 604 Leitarterien 178 – Druckpuls 193 – Druckveränderung, Gegenregulation 199 – Stenose 190 – – arteriosklerotische 221 – Widerstand 189 – Windkesselwirkung, Abnahme im Alter 221 Leitfähigkeit 65 ff. – elektrische, Maßeinheit 865 – hydraulische 336, 867 – – Gefäßwand 195 f. – Lipidmembran 22 Leitungsblock 623 Leitungsgeschwindigkeit, Myokard 161 – Nervenfasern 621 ff. Leitwert, elektrischer, Maßeinheit 865 Leptin 485 f., 489 f.525 – Anorexigen 488 Leptinresistenz 490 Leptinrezeptor 490 Lemniscus medialis 644 Lernen 525, 812, 813 ff., 818 – assoziatives 814 – motorisches 773 – nicht-assoziatives 814 – Vorgang 803 Lethargie 392 – Hyperoxie 305 Leucin-Enkephalin 93, 527, 655

Leukotomie 806 Leukozyten 235 – Adhäsion 179 – Funktion 235 – Zahl 235 Leukozyten-IFN s. α-Interferon Lewis-Reaktion 502 Leydig-Zellen 566 LH (Luteotropes Hormon) 564 f. LH-peak 566 Libido 562 – Verlust bei Hyperprolaktinämie 533 Lichtreaktion, direkte 690 – konsensuelle 690 Lichtreiz, Rezeptorpotenzial, frühes 698 – Transduktion 693 – Verarbeitung in der Netzhaut 693 – – – Hemmung, laterale 696 – – zentrale 701 ff. Liddle-Syndrom 348 Lidocain 641 Lieberkühn-Krypten 442 Ligand 516 Lignin 476 Liljestrand-Euler-Effekt 218 Limbisches System 521, 799 – – Blutdruckregulation 200 Linearbeschleunigung 679 Linkshänder 830 Linkstyp, Herzachse 168 Linksverschiebung, O2-Bindungskurve 284 Linolensäure 473 Linolsäure 453, 473 Linse, Akkommodation 689 f. – Brechkraft 688 Lipasen 454 – bakterielle 455 – hormonsensitive 479 – Kolipase-abhängige 454 – saure 422, 454 Lipide, Absorption 455 – endogene 457 – Löslichkeit 21 – – Bedeutung für Blut-HirnSchranken-Passage 852 f. – mechanische Verdauung 454 – nicht-polare 453 – Plasmamembran 16 – polare 453 – Synthese 18 – – Insulinwirkung 552 – Verdauung 452 Lipolyse 473, 486, 490, 593 – ACTH-Wirkung 536 – Glucagonwirkung 556 – Insulinwirkung 555 Lipoproteine 226 f., 456, 469 Lipoproteinlipase (LPL) 469, 478 Lipotropes Hormon (LPH) 537 Liquor cerebrospinalis 854 ff. – – Bildung 854 f. – – Druck, erhöhter 854 – – Elektrolytgehalt 381 – – Ionenkonzentration 854 – – Kompartimente 854 – – Resorption 854 – – Zusammensetzung, Regulation 854 Lissauer-Trakt 644

Lithium 811 Lithostatin 437 Lobus limbicus 807 Locus coeruleus 655, 844 f. – coerulens 753 Logarithmus 869 Lokalanästhesie 620 f., 623, 641 Lokomotion 590 Long-loop-Reflexe 760 Long term depression (LTD) 818 f., 822 Long term potentiation (LTP) 93, 654, 818 Loperamid 447 Loschmidt-Zahl 864 Lösung, kardioplege 152, 396 f. – metastabile 363 – physikalische 260 – – CO2 im Blut 286 f. – stabile 363 Low density lipoproteins (LDL) 226 f. – – – Plasmaspiegel, hoher 226 γ-LPH (lipotropes Hormon) 537 LSD (Lysergsäurediethylamid) 95 f. L-Typ-Ca2+-Kanäle 153 f., 414 LTD (Long term depression) 818 f., 822 LTP (Long term potentiation = Langzeitpotenzierung) 93, 654, 818 f. Ludwig, Carl F. 327 f. Luft, atmosphärische, Zusammensetzung 260 Luftleitung (Schall) 660, 670 Luftwege, Atmung 256 Lunge, Abwehrfunktion 258 f. – Belüftung s. Ventilation – Bezirk, hyperventilierter 291 f. – – hypoventilierter 291 f. – – normoventilierter 291 f. – Blutvolumen 215 – Compliance 263 f., 266 – Deflation 297 – Dehnung, elastische 273 – Dehnungsreflex 297 – Dehnungsrezeptoren 297, 637 – – Irritationsendigungen 297 – – C-Fasern 297 – – J-Rezeptoren 297 – Diffusionskapazität 289 f. – Druck-Volumen-Beziehung 264 f. – Durchblutung 187, 215 ff., 258, 274 ff. – – bei Änderung der arteriovenösen Druckdifferenz 189 – – Dekompressionskrankheit 308 – – Druck, intravasaler 274 – – – perivaskulärer 274 – – Körperarbeit 187 – – regionale 276 – – schwerkraftabhängige 276 – – Verteilung 290 ff. – Elastance 266 – elastische Fasern 266 – Emphysem 221, 262, 267, 274 – Entfaltung, postnatale 220 – Fluss-Volumen-Kurve 271 f. – Funktion, arterielle Blutgase 294 ff. – – Störung, obstruktive 272 f. – – – restriktive 272 ff. – Gefäßarchitektur 215 f. – Hämodynamik 215 f., 274 ff. – ideale 293 – Kapillarblut, Gaspartialdrücke 289 f.

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Mechano(re)zeptoren – – – – – – – – – – – – – – –

Kapillaren 256 – Blutvolumen 217 – Kontaktzeit 219 Kollaps 265 Minimalvolumen 265 Neuropeptidbildung 512 Normalwerte 874 Perfusion 274 ff. – Gasaustausch 292 – regionale Unterschiede 276 ff. Reife 577 Retraktionskraft 264, 267, 271 Ruhedehnungskurve 264 f. Ruptur, Tauchen 307 Ventilations-PerfusionsVerteilung 290 ff. – – – Inhomogenität 291 f. – Versagen, akutes 267, 276, 281 – Zoneneinteilung 217, 291 f. Lungenfibrose 273 Lungengefäße, α1-Adrenozeptoren 217 – Compliance 211, 216 f. – Dilatation 217 – Funktion, Regulation 217 – Innervation, sympathische 217 – kollabierte 216 – Kompression 216 f. – Konstriktion 217 – Rekrutierung 275 – Strömungswiderstand 216 ff. – – Beeinflussung, aktive 275 f. – – fetaler 219 – – postnataler 219 – – Umverteilung, postnatale 219 Lungenkapazität, totale 262 f. Lungenödem 218, 256, 274 – alveoläres, hyperoxiebedingtes 305 – in großer Höhe 306 – J-Rezeptoren der Lunge 297 Lungen-RQ 278 f. Lungenvolumen 261 ff., 268, 271 f., 595 – Bestimmung 261 f. – Einfluss auf den pulmonalen Gefäßwiderstand 275 – Einsekundenkapazität 271 f. – endexspiratorisches 262 – Exspirationsvolumen, forciertes 271 ff. – maximales 262 – mobilisierbares 261 – nichtmobilisierbares 261 – Residualvolumen 261, 271 – totale Lungenkapazität 262, 274 – und Atemwegswiderstand 271 – Vitalkapazität 271 – – forcierte 271 – Widerstand, Lungenkreislauf 275 Lust 809 Lutealphase 563 f. Luteinisierendes Hormon (LH) s. Luteotropin Luteotropin 528 – Peak 566 Lymphatische Organe, primäre 238 – – sekundäre 238, 244 Lymphatisches System 238 ff. – bronchusassoziiertes 259 Lymphe 457

– Bildung 198 – Proteinkonzentration 198 f. – Transport 198 Lymphfluss 198 – Behinderung 198 Lymphgefäße 198 Lymphokine 512 ff. – Wirkung auf die HypothalamusHypophysen-NebennierenrindenAchse 543 f. Lymphozyten (s. a. B-Lymphozyten, T-Lymphozyten) 242 – Atemwege 259 – Effektorzellen 242 ff. – immunkompetente 238 – Lebenszeit 227 – Prägung 238 – Wundheilung 253 f. Lysergsäurediethylamid (LSD) 95 f. Lysin, Resorption, renal-tubuläre 358 Lysosomen 14 f., 20, 359 – Vesikelfusionierung 20 Lysozym 422 f. – Resorption, tubuläre 359

M M 1 (Kortexareal) 759 Mach-Bänder 624 f., 730 Macula sacculi 677 – utriculi 677 Magen 426, 434 – Anatomie, funktionelle 427 – Dehnung 486 – distaler 426, 434 – Entleerung 434 – HCO3–-Sekretion 433 – Motorik 434 – – digestive Phase 434 – – interdigestive Phase 434 – – Regulation 435 – myoelektrische Eigenschaften 434 – proximaler 426, 434 – Schleimhaut, Schutz 432 Magen-Darm-Trakt (MDT), immunologische Funktion 422 – Abwehrfunktion 421 – Aufbau 410 – Aufgabe 408 – Gefäßinnervation 203 – Hormonbildung 512 – Innervation, parasympathische 792 f. – – sympathische 792 f. – Membranpotenzial 414 – Minigehirn 419 – Motilität 413 – Neugeborene 586 – Neuropeptidvorkommen 512 – Neurotransmitter 420 Magendrüsen 409, 426 Magengeschwür 408, 436 Magensaft 428 – Elektrolytgehalt 381 – Sekretion, Regulation 430 – – Phasen 431 Magensteine 435 Magnesium (s. a. Mg2+) 474 – Aufnahme 404

– Bilanz 404 f. – Mangel 404 f. Magnetenzephalogramm (MEG) 831 Magnetresonanzspektroskopie (MRS) 832 Magnetresonanztomographie (MRT) (s. a. Kernspintomographie) 831, 857 – funktionelle (fMRT) 650, 726, 832 Magnetstimulation 622 – transkranielle 760 Makrophagen 44, 234 ff., 421 – alveoläre 258 – antigenpräsentierende 242 – PAF(Platelet-activating Factor)Einfluss 250 – Phagozytose 235 – Wundheilung 253 f. Makulaorgan 676 f. Malabsorption 408 Maldigestion 408 Maltase, Darm 449 – proximaler Tubulus 358 Maltose 448 Maltotriose 448 Manie 809 Mangan 474 Mangelernährung 409, 472 Mannitol 353 – Diurese 391 – Extrazellulärvolumenbestimmung 379 Mannose-6-Phosphat-Rezeptor 413 Marathonlauf 604 Margaria-Stufentest 592, 603 Markscheide 613, 619 f. – Abbau 622 Maskierung (Hören) 660 Masse, Maßeinheit 864 Maßeinheiten 862 ff. Massenbewegung (Dickdarm) 461 Massenkonzentration 865 Massenreflex 795 Maßsysteme 862 Mastzellen 421, 641, 844 Matrix, mitochondriale 20 f. Maxima, isobarische 143 – isovolumetrische 143 MC4-R (Melanocortin-Rezeptor, Typ 4) 489 f. MCH(Melnanin-concentrating hormone)Neurone 489 MCH (Mean cellular hemoglobin) 232 f. – Normalwerte 224 MCHC (Mean cellular hemoglobin concentration) 232 f. – Normalwerte 224 MCV (Mean cellular volume) 232 f. – Normalwerte 224 MDR1 (Multidrug Resistance[-related] Protein 1) 360, 467 MDR3 (Multidrug Resistance Protein 3) 467 MDT (Magen-Darm-Trakt) 407 ff. Mechano-Nozizeptoren 629 Mechanotransduktion 631, Mechano(re)zeptoren 617, 630 ff., 733 – Adaptationsverhalten 631 – Atmungsregulation 297 – Bewegungsapparat, Atmungsregulation 300

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Mechano(re)zeptoren Mechano(re)zeptoren, Haut 631 – Magen-Darm-Trakt 415 – RA (rapidly adapting) 631 – SA (slowly adapting) 631 Mediatoren 514 f. Medikamente, Ausscheidung, renale 359 f. Medulla oblongata, Atemantrieb 598 – – Kreislaufzentrum 601 – – Neurone, respiratorische 296 – – Steuerung des vegetativen Nervensystems 797 f. – – ventrolaterale 797 f. Meeresschnecke 5 Meerwasser 385 MEG (Magnetenzephalogramm) 831 Megacolon congenitum 415 Megakaryozyten 245 Megalin 359 Meiose 563 Meißner-Körperchen (Korpuskel) 629 f., 632 f. – afferente Information 649 Meissner-Plexus (Plexus submucosus) 420, 792 Mekonium 577, 586 Mekoniumileus 445 Melanocortin s. α-MSH Melanocortinrezeptor, Typ-4 489 α-Melanozyten-stimulierendes Hormon (α-MSH = Melanocortin) 485, 489 Melanotropin (MSH) 537, 541 Melanosomen 43 Melatonin 534 Membran (s. a. Plasmamembran; s. a. Zellmembran) – apikale 58 – basolaterale 58 – Kapazität 65 – Leitfähigkeit 65 f., 75 f. – luminale 58 – Permeabilität s. Permeabilität – postsynaptische 85 ff. – – Cl–-Kanal 89 f. – – Ionenkanäle 85 ff. – – K+-Ausstrom 86 f. – – K+-Kanal 89 f. – – Na+-Einstrom 86 f. – – Rezeptoren 85 ff. – präsynaptische 512 – – Rezeptoren 86 f. – – Transmitterwiederaufnahme 90 f. – Proteine 7 f., 16 f. – – Ionentransport 28 ff. – – polarisierte Verteilung im Epithel 58 – selektive 866 – semipermeable 867 – Transportproteine 22, 29 – Vesikel 29 – Zeitkonstante 624 Membrandepolarisation s. Depolarisation Membranfleck 26 Membranpotenzial 25 f., 32 ff., 64 ff., 89 – Herzmuskelzelle 150 f. – Informationsübermittlung 77 – Ionenkanalfunktion 73 ff., 81 f. – postsynaptisches 86 – Rezeptorzelle 617

Membranrezirkulation, Azinuszellen 413 Menachinon 476 Ménière-Erkrankung 683 Menopause 563, 565 Menthol 635 Menstruationsblutung 459, 563, 566 Menstruationszyklus 518, 533, 563 ff. Mercaptursäure 372 Merkel-Endigung (SA I) 629 f., 632 f. Merosin 104 Mesangiumzellen 337 Messbedingungen, Atemgase 260, 277 Messdatendarstellung, graphische 869 f. Messenger-RNA s. mRNA Messgrößen 862 f. Metabolische Störung, Säure-BasenGleichgewicht 320 Metallothionine 471 Metaplastizität 822 Met-Enkephalin 93 Methacholin 92 Methämoglobin 283, 285 Methämoglobinreduktase 286 MetHb s. Methämoglobin Methionin 457, 458 Methionin-Enkephalin 527 α-Methyl-DOPA 96 Methylmalonyl-CoA-Mutase 458 Metolazon 353 Metopyrontest 544 Mevalonat 471 Mg2+ (s. a. Magnesium) 448 – Absorption (Darm) 459 – Ausscheidung 404 – – renale 361 ff., 404 – Bedarf 404 – Bilanz 404 f. – Haushalt, Nierenfunktion 361 ff., 404 – Ionen, extrazelluläre, exzitatorische Synapse 93 – – Transmitterfreisetzung 92, 96 – Mangel 404 f. –/Na+-Austauscher 459 – Resorption, Henle-Schleife 346, 363 – – tubuläre 346, 361 ff. – – – parazelluläre 342, 347 – Skelettmuskel 107 – Wirkung am NMDA-Rezeptor 820 mGluR4 (metabotroper Glutamatrezeptor) 718 MHC (major histocompatibility complex), Körpergeruch 725 MHC(major histocompatibility complex)Restriktion 242 Michaelis-Menten-Gleichung 28, 871 Michaelis-Menten-Kinetik 29 Migräne 641 – Therapie 641 Migrating Motor Complex (MMC) 414, 425, 435, 439, 461 Migration 44, 823 Mikroadenom, hypophysäres 541 Mikroangiopathie, diabetische 557 Mikroelektrode 151 Mikroglia 614 – Antigenpräsentation 238 β2-Mikroglobulin, tubuläre Resorption 359 Mikroinfusion, Nierentubulus 329

Mikroneurographie 633, 638 Mikroperfusion, Nierentubulus 329 Mikrophonpotenziale 667 Mikropunktion, Nierentubulus 329, 344 Mikrotubuli 16 f., 43 Mikrovilli (s. a. Bürstensaum) 16 f., 44, 410, 442 – Geschmacksknospe 715 Mikrozirkulation 179 – Erythrozytendeformierbarkeit 229 Miktion 796 f. Milch, Ejektion 582 – – Reflex 637 – Sekretion 582 Milchfett 423, 453, 454 Milchlipase, Gallensalz-stimulierte 454 Milchsäure 479, 595 – Bildung 304 – Hypoxie 304 – Säure-Basen-Gleichgewicht 321 Milchzucker, Unverträglichkeit 449 Milieu, inneres 7 ff., 378 – – Hypothalamusfunktion 799 – – Körperarbeit 607 – intrazelluläres, Anpassung bei Wasserretention 391 Milz, Zellabbau 227 f., 238 Mimik, Geschmacksreize 719 Minderwertigkeitsgefühle 810 Minderwuchs, hypophysärer 532 Mineralhaushalt, Glucocorticoidwirkung 540 Mineralien 474, 475 – Überschuss 475 Mineralocorticoide 38, 539 f. – Mangel 541 – Rezeptoren 387, 539 – Substitutionstherapie 541 – Syntheseort 539 Minimal-change-Nephropathie 339 Minimalvolumen, Lunge 265 Minipille 570 Miosis 690, 790 Mischkost, Säure-Basen-Bilanz 317 Mitinnervation, zentrale 213 f., 602 – – Rhythmusgenerator der Atmung 300 Mitochondrien 14 f., 20 f., 301, 597 – Funktion 20 ff. – Gewebeatmung 301 – myokardiale 147 f. – Nervenzelle 613 – Nierentubulus 340 – Volumendichte 602 Mitogen-aktivierte Proteinkinase (MAP-Kinase) 824 Mitralklappe 138 Mitralzellen 722 f. Mitteldruck, arterieller (s. auch Blutdruck, arterieller) 183, 193, 200, 385 – – Altersveränderungen 221 – – Berechnung 193 – – erhöhter 200 f. – – Körperarbeit 213, 600 – – bei Lagewechsel 210 – – Schwangerschaft 578 Mittelohr 660 f. – Gasansammlung 301 – Muskeln 661

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Mustererkennung Mizellen 467 – gemischte 456 MMC (Migrating Motor Complex) 414, 425, 435, 439, 461 Modalität 630 Modifikation, posttranslationale 514 Modul, Kortex 803 Molalität 866 Molarität 866 Molvolumen, Atemgase 259 Monoaminooxydase(MAO)-Hemmer 810 f. Monoiodtyrosylreste 544 Mobilferritin 460 Molybdän 474 Monosaccharide, Transporter 450 – Verdauung 448 Morbus Crohn 408, 458 Monozyten 234 Moosfasern 682, 770 f. Morbus (Krankheit) (s. a. unter Eigenname, z. B. Cushing-Krankheit) – haemolyticus neonatorum 231 Morphin 655 – tubuläre Sekretion 360 Morula 569 Motilin 414, 416, 435 f., 461 Motilität, Magen-Darm-Trakt 413 ff., 424 Motivation 802, 808 f., 812 – Kontrolle 808 – Verlust 809 Motorkern, dorsal vagaler 432 Motoneurone 738 ff. – Atemmuskulatur 297 – Degeneration 741 – Hemmung durch Lungenafferenzen 297 – spinale 297 Motorik, Gesamtkonzept 782 Motorische Einheit 739 f. – Skelettmuskel 113 – Typ S-Fasern 744 Motorische Endplatte 80 ff. Motorkortex 738 Motorpotenzial 839 MOV (Multi-Organ-Versagen) 210 mRNA 18 f. – Splicing, alternatives 18, 515 MRP2 (Multidrug Resistance(-related) Protein, Typ 2) 360, 467 α-MSH (α-Melanozyten-stimulierendes Hormon = Melanocortin) 485, 489 – Anorexigen 488 – Rezeptor 490 MRS (Magnetresonanzspektroskopie) 832 MRT (Magnetresonanztomographie) 831 Multidrug Resistance(-related) Protein, Typ 1 (MDR1) 321, 360 Multidrug Resistance(-related) Protein, Typ 2 (MRP2) 321, 360, 467 MSH (Melanozyten-stimulierendes Hormon) 537 f., 541 MSH/ACTH-Rezeptoren (MCR1-5) 538 Müdigkeit, Bergkrankheit 306 Mukoviszidose (= CF = Cystic fibrosis) 258, 441 Müller-Gang 578 Müller-Versuch 268 f.

Multi-Organ-Versagen 210 Multiple Sklerose 622 – – visuell evozierte Potenziale 707 Multi-unit-Typ, glatte Muskulatur 129 Mundhöhle 422 Mundspeicheldrüsen 411, 422, Mundtrockenheit 423 Muscarin 92, 787 Musculus(-i) ciliaris 781 – detrusor 796 – – Innervation 796 – intercartilaginei 268 – intercostales externi 268 – – interni 268 – sphincter ani externus 795 – – – internus 795 – – pupillae 781 Muskel (s. a. Muskulatur; s. a. Herzmuskel; s. a. Skelettmuskel) – Aktionspotenzial 75 – Atmung 267 ff. – Dehnungsreflex 738, 744 f. – – tonischer 747 – Endplatte s. Endplatte, motorische – Ermüdung 607 – Gefäßinnervation 181, 203 – glatter 122 – – Adenylylcyclase 126 – – α1-Adrenozeptoren 126 – – β2-Adrenozeptoren 126 – – ATP-Umsatz 124 – – Ca2+-Desensitivierung 126 – – Ca2+-induzierte Ca2+-Freisetzung 127 – – Ca2+-Kanäle, spannungsgesteuerte 127 – – Ca2+-Konzentration, intrazelluläre 126 – – Ca2+-Pumpen 127 – – Ca2+-Sensitivierung 126 – – Caldesmon 124 – – Calmodulin 124 – – Calponin 124 – – cGMP 126 – – Diacylglycerin 127 – – funktionelles Synzytium 123 – – Gap Junctions 123 – – Gefäße 178 f. – – Halteökonomie 124 – – Inositoltrisphosphat (IP3) 127 – – IP3-Rezeptoren 127 – – K+-Kanäle 397 – – Kontraktion, phasische 128 – – – tonische 128 – – Koppelung, elektromechanische 127 – – Minisarkomere 123 – – molekulare Grundlagen 123 – – Multi-unit-Typ 129 – – Myosinphosphorylierung 126 – – 3Na+/1Ca2+-Austauschcarrier 127 – – Phospholipase-C 126 f. – – Proteinkinase-C 126 – – Proteinkinase A 126 – – Rhythmen 129 – – Ryanodin-Rezeptor 127 – – Schrittmacherpotenziale 129 – – Schrittmacherzellen 129 – – Single-unit-Typ 129 – – slow waves 129

– – – – – – – – – – – – – – – – – – –

– Stickstoffmonoxid (NO) 126 – Tonus 129 – – myogener 129 – Tropomyosin 124 – Verhalten, plastisches 129 – – viskoelastisches 129 – Verkürzungsgeschwindigkeit 124 Glykogen, Abbau 593 Kontraktion 502 – Energieumsatz 121 – Sauerstoffverbrauch 121 Kraft 606, 740 Krampf s. Krampf Länge 743 Lymphe, Proteingehalt 198 Masse 591 Proteine, Neubildung 606 Querschnitt 606 Relaxation, Aufhebung 91 – Schmerz, ischämiebedingter 206 – Spannung 742 – Tonus 105, 200 – – Verlust 210 – Training 115, 604 Muskelarbeit 213 f., 606 – anaerobe 594 f. – Kreislaufregulation 198, 210 f. – maximale 210 f. – O2-Bedarf 302 Muskelenergetik 120 Muskelfaser (s. a. Muskelzelle) – intrafusale 743 – Typen 580, 591, 740 Muskelkater 105, 120, 607 f., 653 Muskellänge, Messung 636 Muskelspannung, Messung 636 Muskelleistung 120 Muskelmechanik 113 Muskelpumpe 212 ff. Muskelspindel 214, 629, 636, 743, 745 – Afferenzen 636, 644 – Atmungsregulation 297 – Rezeptoren 636 – γ-Schleife 744 f. Muskelrelaxans 112 Muskelzelle (s. a. Muskel und Muskulatur) 82 ff., 102 – Acetylcholinrezeptoren 86 – Adaptation, metabolische 600 – langsame 113 – Metabolitenanhäufung 607 – O2-Aufnahmekapazität 600 – schnelle 113 Muskulatur (s. a. Muskel und Muskelzelle) – arbeitende, lokale Kreislaufregulation 213 – Durchblutung 187 f., 600 – – Escape-Phänomen 203 – – Körperarbeit 600 – – Krafttraining 606 – Durchblutungsreserve 205 – Glucocorticoidwirkung 540 f. – Insulinwirkung 555 – Sauerstoffverbrauch 591 – Trainierbarkeit, männliche Sexualhormone 606 Mustererkennung 669

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Mustersehen Mustersehen 702 f. – kortikale Verarbeitung 705 Muttermilch s. Milch Muzin 433 Muzin-Glykoproteine 422 Myasthenia gravis 91, 112 Mydriasis 690, 790 Myelinscheide 613, 619 f., 631 – Abbau 622 – fetale Bildung 575 Myoblasten 102 Myopathie 741 Myofibrillen 102 Myoglobin 113, 284, 304 – Bindungskurve 284 – Filtrierbarkeit, glomeruläre 338 – O2-Speicher 304 Myokard s. Herzmuskel Myomesin 102 Myopie 688 Myosin 41 ff., 604 – Filament 102 – Isoformen 107 Myosin-leichte-Ketten-Kinase (MLCK = mysosin light chsin kinase) 125, 788 Myosin-leichte-Ketten-Phosphatase (MLCP = myosin light chain phosphatase) 125 Myotom 641, 738 Myotonie, familiäre 109 Myotuben 102 My(µ)-Rhythmus 838 Myxödem 551 M-Zellen 451

N 3Na+/Ca2+-Austauscher 459 Na+/H+-Antiportcarrier (NHE) 429, 444, 451, 456 – Typ NHE-2/-3) 424, 444, 447 Na+-Absorption (Darm) 443 – Nährstoff-gekoppelte 443 Na+-Antiport s. Na+-H+-Antiport-Carrier und Na+-Ca2+-Antiport-Carrier – Aufnahme 381 f. – Ausscheidung 201 – – im Harn 382 – – – erhöhte 384 – – – fraktionelle 346 – Bestand des Körpers 382 – Bicarbonat-Cotransporter (NBC) 366 f. – Bilanz 381 ff. – Einstrom an der postsynaptischen Membran 86 f. – – axonaler 621 – – in die Herzmuskelzelle 76, 150 f. – – in die Zelle 33 f. – Gegentransport s. Na+-H+-AntiportCarrier und Na+-Ca2+-Antiport-Carrier – Gleichgewichtspotenzial 33, 87 – – Herzmuskelzelle 150 f. – Homöostase, Atriopeptinwirkung 348, 382, 512 – Kanal s. u. – Kotransporter 424 – Leitfähigkeit 68 f., 74 ff. – – Synapse 89

– Resorption, renale 339 ff., 344 ff., 382 f. – – – Atriopeptinwirkung 348, 382 512 – – – Harnstromabhängigkeit 346 – – – Hemmung, medikamentöse 353 – – – parazelluläre 342, 347 – – Henle-Schleife 344 ff. – – Darm 443 – Retention 382 f. – Symport, transplazentarer 573 – – tubulärer 341 ff. – Verlust 384 Na+-Gallensalz-Symporter 468 Na+-HCO3–-Symporter (NBC) 424, 433, 441, 467 Na+-K+-2Cl--Symporter 445 f. Na+-Phosphat-Symporter Typ II 460 Na+-taurocholate contransporting polypeptide (NTCP) 465 NaHCO3-Sekretion, Mechanismus 441 Na+-Ca2+-Antiport-Carrier 28, 32, 99, 154, 388, 400 3Na+/1Ca2+-Austauschcarrier, Muskel, glatter 127 Na+-Ca2+-Kanal, Stäbchenmembran 694 Na+/Cholin-Kotransporter 112 Na+-2 Cl–-K+-Symportsystem 34, 346, 347, 441 Na+-Cl--Symportcarrier 348 NaCl-Resorption im dicken aufsteigenden Teil der Henle-Schleife 350 – – im Darm 444 – – im Sammelrohr 348 – – im proximaler Tubulus 341 ff. NaCl-Sekretion 445 Na+-Dicarboxylat-Symport-Carrier, humaner (hNaDC) 359 Na+-Glucose-Symport-Carrier 34 – Niere 356 Na+-H+-Antiport-Carrier (NHE) 29 f., 32 ff., 341 ff., 365 ff., 392 – Insulinwirkung 397 – pH-Wert-Regulation 35 Na+-HCO3–-Symportsystem (NBC) 366 Na+-I–-Symporter (NIS) 546 Na+-K+-ATPase 30 f., 32 ff., 343, 381, 394 ff. – Adrenalinwirkung 397 – Aktivierung bei Alkalose 393 – Aldosteroneinfluss 397 f. – Aufbau 31 – Effektivität 343 – Energiemangel 372 – Funktionsstörung bei Azidose 393 – Hemmung 388 – Herzmuskelzelle 154 – Hirnkapillaren-Zellmembran 853 – Insulinwirkung 397 – Ionenverteilung, intra-extrazelluläre 33 – Nierentubuluszelle 340 ff., 331 – Potenzialentstehung 64 – Ouabain-Wirkung 30 f. – Wechselbeziehung mit dem K+-Kanal 34 Na+-K+-Pumpe s. a. Na+-K+-ATPase Na+-Kanal 27 f., 67 – Aktivierung 73 ff. – Arbeitsweise 73 ff. – Axon 621

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Blocker 68 Einzelkanalregistrierung 27 epithelialer (ENaC) 424, 445, 718 funktionelle Komponenten 70 f. Geschlossenzustand 74 Herzmuskelzelle 76, 150 f. Inaktivierung 74 Modell 70 f. Offenzustand 74 Öffnung 73 ff. Reaktionsschema 74 f. Sammelrohr 348 Schließung 73 ff. spannungsgesteuerter 641, 715 – Skelettmuskel 108 Stromregistrierung 74 tubulärer 341, 348 Zusammenspiel mit dem K+-Kanal 75 f. Na+-Konzentration, extrazelluläre 32 – – Harn 348 – – intrazelluläre 32, 380 – – – Konstanterhaltung 34 – – im Plasma 380 NaPi (Na+-Phosphat-SymportCarrier) 361 Na+-Phosphat-Symport-Carrier 361 Nabelschnur 570 ff. Nachgeburtsperiode 582 Nachlast 156, 158, 191, 216 – verminderte 191, 216 Nachnystagmus 777 Nachrichten, Verarbeitung 80 Nachtsehen 695 – Sehschärfe 699 f. NADH 20 Nahakkommodation 689 Naheinstellungsreaktion 690 Nährstoffabsorption 447 Nährstoffverdauung 447 Nahrung, Bestandteile 472 – Energiegehalt 481 – Lipide 453 – Proteingehalt, Bedarfgrenze 474 Nahrungsaufnahme, Geruchssinn 723 – Geschmackssinn 714 – Glucagonsekretion 553 – Insulinsekretion, biphasische 553 – Regulation 483, 486 – Säuren-Basen-Bilanz 317 f. – unzureichende, im Alter 720 Nahrungsmittelunverträglichkeit 408 Naloxon 96 NANC-Neurone 420 Nase 721, 725 Narkolepsie 836, 846 Narkose, CO2 298 – Inertgas 307 f. Narkotika, Adiuretinfreisetzung 389 Natrium s. Na+ Natrium-Iodid-Symporter (NIS) 546 Natriuretisches Hormon 388 Nausea, Bergkrankheit 306 N-Acetylase 372 N-Azetylierung 360 NBC (Na+-Bicarbonat-Cotransporter) 366 Nebenhoden 566 f. Nebennierenmark 601 – Hormone 512

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Niederdrucksystem Nebennierenrinde, Funktion 538 f. – – Diagnostik 543 – – fetale 578 – Hormone 512, 538 ff. – – Produktion, autonome, tumorbedingte 541 Nebenniereninsuffizienz 424 – Insuffizienz, medikamentös verursachte 541 – – primäre 541 – Struktur 538 – Zonen 538 ff. – Vergrößerung, Langzeitanpassung bei Arbeit 602 Nebenschilddrüse s. Epithelkörperchen Nebenschilddrüsenhormon s. Parathyrin Nebenzellen (Magen) 426 Neglekt 805 Neglektsyndrom, kontralaterales 805 Nekrose 48 Neoendorphin 527 Neozerebellum 769 Nephrektomie, Kompensation 336 Nephrin 336 Nephritis, glomeruläre Filterdurchlässigkeit 338 Nephrocalcin 363 Nephron (s. a. Nierentubulus) 332 – Adaptation bei Niereninsuffizienz 373 f. – juxtamedulläres 332, 350 – Konvolut, distales 348 – kortikales 332 – Verbindungsstück (-tubulus) 332, 348, 354, 365 f. Nephrotisches Syndrom 359 – kongenitales 336 Nernst-Gleichung 25, 33, 64, 396 Nernst-Potenzial 25, 65 Nerve growth factor (NGF) 614 f. Nervenendigungen, freie 629 ff., 631 – korpuskuläre 630 Nervenfaser(n) (s. a. Neurone), Aktionspotenzial 68 – Durchmesser 622 – Einteilung 622 – Leitungsgeschwindigkeit 630 – myelinisierte 622 f. – nichtmyelinisierte 622 f. – Regeneration 614 Nervenleitungsblock 623 Nervenleitungsgeschwindigkeit 621, 623 f. – Abnahme 621 – Altersabhängigkeit 45 f. – Messung 623 Nervenstimulation, transkutane elektrische (TENS) 644 Nervensystem – autonomes s. Nervensystem, vegetatives – Bauelemente 612 ff. – enterisches 414, 415, 419, 421,792 – peripheres 612 – vegetatives 786 ff., 414, 419, 421 – – Aktivierung 525 – – – emotionsbedingte 799 f. – – Aktivitätsmuster 799 – – Aufbau, peripherer 786 f.

– – Corticoliberinwirkung 535 f. – – Einfluss auf die Insulinsekretion 554 – – Kotransmitter 786 – – Medulla-oblongata-Einfluss 797 f. – – Neuron, postganglionäres 786 f. – – – präganglionäres 786, 793 ff. – – Rezeptorregulation 789 – – Schilddrüsenhormoneinfluss 550 – – Transmitter 786 ff. – – Transmitterinteraktion 792 – zentrales s. Zentralnervensystem Nervenzelle(n) (s. a. Neuron und Nervenfaser) 612 ff. – Depolarisation 77 – Glucoseversorgung 372 – Hypoxieempfindlichkeit 306 – Ionenkonzentration, Homöostase 34 f. – K+-Abgabe 615 – Wachstumsfaktoren (nerve growth factor, NGF) 616, 824 – – Inhibitoren 616 – Zellkern 613 – Zellmembran 613 Nervus(-i) – acusticus s. Hörnerv – cochlearis s. Hörnerv – erigentes 567 f. – facialis 716 – glossopharyngeus 299, 716 – olfactorius 722 – opticus 692 – pelvici 415, 417 – petrosus major 716 – splanchnici 417 – – pelvini 796 f. – trigeminus 644 – vagus 415, 417, 716 – – Atmungsregulation 297 – – Koronardurchblutung 145 – – Läsion 792 – vestibularis 678 Nettoabsorption (Darm) 443 Netrin 824 Netzhaut 686, 691 ff. – Ablösung 697 f. – Areale, korrespondierende 825 – Arterien 692 f. – Auflösungsvermögen 699 – Funktion, objektive Bestimmung 697 – rezeptive Felder 695, 698, 711 – Zellen 692 f. Netzwerk, neuronales 623 f., 730 – – Verknüpfungsänderung 623 Neugeborenes 453 f., 503, 583 ff. – Anpassung 583 ff. – Ikterus 586 – Infektionsschutz 242 Neural Cell Adhesion Molecule (NCAM) 824 Neuralgien 653 f. Neuralrohrdefekt 457 Neurit s. Axon Neuroendokrines System 519 ff. – – Regelung 521 Neurohypophyse 519 – Hormone 512, 519 ff. Neurokinin 527 Neurokinin A 641 Neuroleptika 811

Neuromodulator 82, 96 f., 420 – Durchblutungssteuerung 202 – Synapse, inhibitorische 94 f. Neuronaler Wachstumsfaktor 40 Neuron(e) (s. a. Nervenzelle u. Nervenfaser) 619 – afferente (Darm) 420 – Depolarisation, relative 624 – Enthemmung 624 – erster Ordnung (Hypothalamus) 485 – exspiratorisches 296 – Glucose-sensitive (Hypothalamus) 486 – Hyperpolarisation, relative 624 – Inhibition, laterale 624 ff. – inspiratorisches 296 – multimodale 643 – neurosekretorisches 520 – postganglionäres 786 f. – postsynaptisches 80, 613, 617 – präganglionäres 786, 792 ff. – präsynaptisches 80 – respiratorisches 296 – Rückwärtshemmung 624 f. – Verschaltung, divergente 623 – – konvergente 623 – Vorwärtshemmung 624 f. – zweiter Ordnung (Hypothalamus) 485 Neuropathie, periphere, angeborene 43 Neuropeptid(e) 93 f., 96 – Freisetzung 639 – – Nozizeptoren 641 – hypothalamische 519 f. – Syntheseorte 512 Neuropeptid γ 527 Neuropeptid K 527 Neuropeptid Y 418, 527, 786 – Durchblutungsregulation 202 – Gefäßinnervation 182 – Reninfreisetzung 369 Neuropeptidtransmitter s. Neuropeptide Neurophysin 523 Neurotensin 417, 431, 440, 527 Neurotransmitter s. Transmitter Neurotrophine 40, 824 Neutrophile s. Granulozyten, neutrophile NHE2 s. Na+/H+-Antiporter Newton (Einheit) 863 Newton-Gesetz 190 NH4+ s. Ammoniak NHE3 (Na+-H+-exchanger, Typ 3) s. Na+-H+-Antiportcarrier Nichtbicarbonatpuffer 287, 314 ff., 319 – Blut 319 ff. – Pufferkapazität 287, 316 Nichtrespiratorische Alkalose s. Alkalose Nichtrespiratorische Azidose s. Azidose Nichtrespiratorische Kompensation s. Kompensation Nichtrespiratorische Störung, Pufferung 321 ff. Nicotinamid 476 Nicotinamidsäure 476 Nidationshemmer 570 NIDDM (Non-insulin-dependent diabetes mellitus) 557 Nidogen 336 Niederdrucksystem 177 ff. – Blutvolumenverteilung 207

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Niederdrucksystem Niederdrucksystem, Dehnungsrezeptoren 201, 382, 601 – – Neugeborenes 219 – Dehnungszustand 208 – Füllungsvolumen 182, 186 Niedergeschlagenheit 810 Nieder-Kohlenhydrat-Diäten 473 Niemann-Pick-C1-like-1-Protein 456 Niederspannungs-EKG 165 Niere, Aminosäurestoffwechsel 371 – Ammoniakausscheidung 368 f. – ATP-Produktion 371 – Aufgaben 326 – Autoregulation 334 ff. – Bau 327 f. – Bilanzierungsfunktion 326 – Druck, hydraulischer, interstitieller 333, 344 – – onkotischer, interstitieller 344 – Durchblutung 187 ff., 331 ff. – – Autoregulation 189, 334 f. – – glomeruläre Filtrationsrate 338 – – Messung 333 – Energieverbrauch 371 – Entgiftungsstoffwechsel 372 ff. – Feinbau 327, 332 – Filtrationskoeffizient 196 – fraktionelle Ausscheidung 328 – – Resorption 331 – Funktion, Adaptation bei Niereninsuffizienz 373 – – Blutdruck 201 – – Globalwerte 201, 332 – – Schwangerschaft 579 – – Störung 201 – – – Ödementstehung 384 – Gefäßinnervation 203 – Glucose-Carrier 356 – Hauptzellen 347 f., 354 – Hormonbildung 369 f., 512 – Ischämie 372 – Konzentrierungsfähigkeit 349 ff. – künstliche 373 f. – Mg2+-Ausscheidung 361 ff. – Minderperfusion 384 – Na+-Phosphat-Symport 361 – Normalwerte 874 – O2-Ausnutzung 302 – O2-Verbrauch 332 f. – Peptidstoffwechsel 326, 358, 371 – Phosphat-Ausscheidung 361 – Schaltzellen 347 f., 355 – – H+-Sekretion 356 ff. – Servicefunktion, metabolische 371 – Stoffwechsel 370 f. – Tubulus s. Nierentubulus Nierenarterie (s. a. Arteria renalis), Blutdruckabfall 372 – Stenose 369 Nierenersatztherapie 373 f. Nierenhormone 369 f. – Mangel 326 Niereninsuffizienz (s. a. -versagen), Calciumhomöostasestörung 403 – chronische 373, 403 – – Calcium-Phosphat-Haushalt 403 – endokrine Störung 372 – Erythropoietinmangel 331, 370 f. – Folgen 326

– Hypokalzämie 370 Nierenkapsel 333, 373 Nierenkörperchen 336 Nierenmark 327, 332, 341, 348 ff. – Gegenstromaustausch 350 f. Nierenpapille 332 Nierenrinde 327, 332 – Durchblutung 331 ff. Nierenschwelle, Phosphat 361 Nierentubulus, Adiuretinwirkung 523 – distaler 332, 335, 362 ff. – – Resorption 383 – Flüssigkeit 318 – – Inulinkonzentration 344 – Mikroinfusion 329 – Mikroperfusion 329 – Mikropunktion 344 – pH-Wert 365 – proximaler 332, 335, 339 ff., 382 – – Bürstensaum 340 ff. – – – Enzymaktivitäten 358 – – Calcitoninwirkung 401 – – Einfaltungen, basolaterale 340 – – leckes Epithel 340 ff. – – Parathyrinwirkung 400 f. – – Pars convoluta 341 – – – recta 341 – – Potenzial, transepitheliales 342, 343, 354, 362 f. – – Resorption 382 – – – isosmolale 340 – – – parazelluläre 342, 347, 35 – – Sekretion 359 f. – – Transport 343 – – – elektrogener 341 ff. – – – elektroneutraler 342 – – – konvektiver 342 – – – Triebkräfte 343 f. – Resorption 328, 339 ff. – – Aminosäuren 355 ff. – – Glucose 355 ff. – – Proteine 359 – – Vitamine 359 – Sekretion 328, 333, 359 f. – Transportprozesse 341, 343, 348 – Wasserresorption s. Wasserresorption – Zellschwellung 373 Nierenversagen 326 – akutes 372, 391 Niesen 714 Niesreflex 637, 747 Nikotin 813 Nitrate, Oxidation des Hb 286 Nitrite, Oxidation des Hb 286 Nitroglyzerin 128 NKCC (Na+-K+-2Cl–-Cotransporter) 346 NMDA (N-Methyl-D-Aspartat) 96 NMDA-Kanäle 572 NMDA-Rezeptor 93 ff., 654, 811, 825 – Kotransmitter 93 – Mg2+ 820 – Reizung, exzessive 93 N-Methyl-D-Aspartat s. NMDA NO (Stickstoffmonoxid) 40 f., 60, 96 126, 145, 204, 246, 418, 600, 859 – Bildung 474 – Freisetzung, sekundäre 205 – Gefäßwirkung 205 – Halbwertszeit 40

– Hemmung der Thrombozytenaktivierung 246 – Regelung der GFR 339 – Synthese 40 – Synthetase 40 – Wirkung 40 Non-insulin-dependent diabetes mellitus (Typ-2-Diabetes) 557 Non-shivering thermogenesis (NST) 502 non-REM-Schlaf 841 Noradrenalin (s. a. Catecholamine) 95, 786 f. – Durchblutungsregulation 202 f. – Freisetzung 600 – Gefäßinnervation 181 – Herzfunktion 84, 145, 155 f., 163, 601 – Koronardurchblutung 145 – Lungengefäßvolumen 217 – Muskeldurchblutung 600 – Muskulatur, glatte 84 – Nierendurchblutung 338 – Strukturformel 93 – Wirkung am Herzen 75 Normalbedingungen, Atemgase 259 Normalwerte 873 ff. Normfarbtafel 711 Normothermie 495 Normoventilation 281 Notfallreaktion 800 Noxe 638 Nozizeption 628, 638 – Entzündungsmediatoren 639 – hochschwellige 638 – Schmerz 637 Nozizeptoren 638 – Aktivierung, H+ 640 – Atmungsregulation 300 – Erregung, ischämiebedingte 206 – Freisetzung von Neuropeptiden 641 – polymodale 629, 638 – schlafende 638 – Sensibilisierung 640 NPY (Neuropeptid Y) 485 NPY/AgRP-Neurone 485, 487, 489 NPY-2-Rezeptor (Y2R), autoinhibitorischer 487 NTCP (Na+-taurocholate cotransporting polypeptide) 465 NSILA (Nonsuppressible insulin-like activities) s. IGF Nucleosomen 17 Nucleus/Nuclei anteriores thalami 808 – accumbens 809, 812 – – Atmungsregulation 296 – arcuatus 484, 485 – caudatus 763 – cochlearis 668 f. – cuneatus 644 – dentatus 768 – gracilis 644 – intermediolateralis 793 – interpositus 768 – parabrachialis 646 – paraventricularis 523, 535, 485 – praepositus hypoglossi 779 – retrofacialis, Atmungsregulation 296 – ruber 759, 762, 772 – subthalamicus 763, 765 f. – suprachiasmaticus 845

Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! R. Klinke, H-C. Pape, St. Silbernagl: Physiologie (ISBN 3-13-796005-3) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2005

Opsin – supraopticus 523 – tractus solitarii 716, 720, 797 – ventralis posterolateralis 644 – ventromedialis 485 Nukleinsäuren, Absorption (Darm) 457 – Verdauung 457 Nukleotide 448 Nullstrompotenzial 25 Nystagmus 680, 776 – kalorischer 680, 778 – optokinetischer 777 – postrotatorischer 680, 777 – spontaner 777 f. – vestibulärer 682

O O2 (s. a. Sauerstoff) 256 f., 260 f., 276 ff. – hyperbarer 305, 307 – Lösung, physikalische, im Blut 282 – Toxizität 307 O2-Abgabe im Gewebe 285 O2-Affinität des Hämoglobins 282 ff., 284 – Einflussfaktoren 284 O2-Angebot 302 – hyperbares 305, 307 – Unterbrechung 304 – vermindertes 303 ff. O2-Antransport 301 f. O2-Antwortkurve der Atmung 298 O2-Aufnahme 281, 598 f., 602 ff. – Gasaustausch, Lunge 276 f. – Kapazität 602 – – Einzelmuskelzelle 600 – Körperarbeit 595 f. – körpergewichtsbezogene 602 – Lunge, Bohr-Effekt 285 – ins Lungenkapillarblut 289 f. – maximale 602 f. - – Altersabhängigkeit 45 f. – – Leistungstest 603 f. – pulmonale 276 f., 281, 284 f. – Steady state 595 O2-Ausschöpfung s. O2-Extraktion O2-Austausch, alveolokapillärer 218, 289 O2-Bedarf 595 f. – der Atemarbeit 273 – Schwangerschaft 579 – Skelettmuskulatur 213 O2-Bindung, chemische, im Blut 282 ff. O2-Bindungskurve 283 ff., 288 – CO-Anwesenheit 285 – fetale 572 f. – mütterliche 572 f. O2-Differenz, arteriovenöse 145, 600 – – Körperarbeit 598 ff. – – renale 332 O2-Diffusion 289 f. – alveolokapilläre 218, 289 – Blut-Hirn-Schranke 852 – im Gewebe 301, 303 f. – Limitierung 290 – Störung 296 O2-Druckdifferenz, alveoloarterielle 293 – alveolokapilläre 290 O2-Empfindlichkeit 305, 307 O2-Extraktion 177, 213, 302 – Körperarbeit 213

– myokardiale 145, 204 – Skelettmuskulatur 213 O2-Fraktion, gemischtexspiratorische 281 O2-Halbsättigung des Hämoglobins 284 O2-Kapazität 283 f., 302 – erniedrigte 303 – Gewebehypoxie 303 O2-Konzentration, arterielle 301 – im Blut 278, 283 f. – koronarvenöse 145 O2-Mangel 303 ff., 596 – Energiereserven 304 – freies Intervall 304 – Gewebe 297 f. – Überlebenszeit 304 – Ursachen 303 f. – Wiederbelebungszeit 304 – Zelltod 304 O2-Partialdruck 281 ff. – alveolärer 281 – – in großer Höhe 305 – arterieller 284 – – Atmungsregulation 298 f. – – Hirndurchblutungsregulation 306 – endokapillärer 290 – im Gewebe 302 – idealalveolärer 281 – inspiratorischer, Erhöhung 305, 307 – – Grenzen 307 – mitochondrialer 301 O2-Partialdruckdifferenz zwischen mütterlichem und fetalem Blut 571 f. – alveolär-arterielle 292 f. – – kapilläre 290 O2-Partialdruck-Profil, Gewebe 302 O2-Sättigung, arterielle 284 f., 303 – – erniedrigte 303 O2-Sensor, renaler 371 O2-Speicher 278, 304 O2-Toxizität 305, 307 O2-Transport 595 ff. – Hämatokriteinfluss 191 – zellulärer 596 f. O2-Transportkapazität 370, 596 O2-Verbrauch 302 – Gewebe 302 – Körperarbeit 213, 602 – Muskulatur 591 – myokardialer 145 f., 204 – – bei körperlicher Belastung 145 – Niere 332 f. – Schilddrüsenhormoneinfluss 550 – zerebraler 855 f. – – regionaler 857 O2-Vergiftung 305, 307 O2-Versorgung 607 – maximale 598 – Störung 303 f. O2-Verwertung, Gewebe 302 f. – Störung 303 f. OAT1 (Organischer Anionen-Transporter Typ 1) 359 OATP1 und 2 (Organic Anion-Transporting Peptide) 465 Oberflächen-Volumen-Verhältnis (Lipidverdauung) 454, 480 Oberflächenzellen (Magen) 426 Oberflächenaktive Substanzen s. Surfactant

Oberflächenkräfte, Lunge 266 f. Oberflächenschmerz 652 Oberflächensensibilität 628 f. Oberflächenspannung, alveoläre 266 f. Oberflächen/Volumen-Verhältnis (Neugeborene) 503 Obertöne 659, 669 Obstipation 655 Ob-Rezeptor (Leptinrezeptor) 485 Ochratoxin A 465 OCT1 (Organic Cation Transporter 1) 360, 465 Ocular-Tilt-Reaction 755 Ödem 176, 204, 303 f., 383 f. – Albuminmangel 359 – alveoläres, bei Hyperoxie 305 – Entstehung 383 f. – kardiales 391 – lokales 204, 383 – Lunge 274, 306 – Proteinmangel 197, 359 – Schwangerschaft 579 – Ursachen 197 Offenes System 7 ff. – Pufferung 315 ff. Offenwinkelglaukom 690 Off-Zentrum-Ganglienzellen, retinale 695 ff. OH–-Ausscheidung, renale 318 – Bildung 318 – Pufferung 312 ff. 1,25-(OH)2-Cholecalciferol s. unter Vitamin D 25-OH-Cholecalciferol s. unter Vitamin D OH– s. a. pH-Wert Ohm 865 Ohm-Gesetz 184 f., 188, 865 Ohr, äußeres 660 Ohrmuschel 660 5-OH-Tryptamin (5-HT) s. Serotonin Okulomotorik 736, 763 Oleylethanolamid 489 – Anorexigen 488 Oligodendrozyten 615 f. Oligopeptide 96 – Carrier 358 – Verdauung 450 Oligopeptidasen (Darm) 451 Oligosaccharide, Verdauung 448 Oligurie 352, 372 Olive, obere 668 f. Ölsäure 473 Omeprazol 429 On-Off-Neurone 695 Ontogenese 612 On-Zentrum-Ganglienzellen, retinale 695 f. Oogonie 563 Oozyt 563 – Entwicklung 563 Operculum 716 Ophthalmoskopie 691 f. Opiate 421, 447, 813 – Durchfalltherapie 421 Opioide 420, 653 – endogene 97, 525, 655 – Rezeptoren, Typen 655 Opsin 43

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Opsonisierung Opsonisierung 234 f. Oral Rehydration 443 Ordinate 869 Orexigene 485, 488 Orexin 486, 845 f. Orexin-Neurone 489 Organ, vomeronasales (VNO) 714, 721, 723 Organdurchblutung s. Durchblutung Organic Anion-Transporting Peptide (OATP1 und 2) 465 Organischer Anionentransporter (OAT) 359 Organischer Kationentransporter (OCT) 360, 465 Organkonservierung 506 Organum vasculorum laminae terminalis (OVLT) 506, 522 Orgasmus 567 f. Orientierungsselektivität der Sehrindenneurone 703 Orthopnoe 282 Orthostase 211 f. – Kreislaufregulation 211 f. Ortsanalyse 666 Ortsprinzip 666 Ortstheorie 664 Osmolalität/Osmolarität 226, 384, 866 f. – Adiuretinfreisetzung 389 – extrazelluläre 34 – ideale 866 – intrazelluläre 34 – reale 866 – Regulation 389 f. Osmolyte 226 Osmo(re)zeptoren 385, 389, 415 Ösophagus 424 – Druck 264 – – Parasympathikuseinfluss 792 f. – Hypomotilität 426 – Sonde, Pleuradruck 264 – Sphinkter 424 Osteoblasten 44, 401 Osteoklasten 44, 401 Osteolyse 402 Osteomalazie 402, 459 Östradiol 564 f. Östriol 564 f. Östrogen(e) (s. a. Östradiol, Östriol und Östron) 36, 564 – Konzentration im fetalen Blut 578 – Laktation 582 – plazentare 574, 578 – Schwangerschaft 570, 578 – Synthese 515 – Uterusaktivität 579 Östron 564 f. Oszillationen 843 Otolithen 677 – Membran 677 – Reflex 756 Ouabain 30 f. – endogenes 349 Ovar 563 ff. – Hormonbildung 512 Ovar-Hypothalamus-HypophysenBeziehung 564 OVLT s. Organum vasculosum laminae terminalis

Ovulation 562, 565 – Hemmer 570 Oxalat, Sekretion, tubuläre 364 Oxalsäure 364 Oxidation, Hämoglobin 283, 286 β-Oxidation, Glucagonwirkung 556 – – – Insulinwirkung 555 Oxidationsmittel, Häm-EisenOxidation 285 f. 2-Oxoglutarat 368 Oxygenation 283 Oxyhämoglobin 283 Oxytocin 38, 489, 521 ff., 579 – Anorexigen 488 – Biosynthese 522 – Milchejektion 582 – Präprohormon 524 – Rezeptoren 524, 579 – Sekretion 523 f., 579 – – Regelung 518, 579 – Synapse 91 – Syntheseort 523 – Wirkung 524, 579 Oxytocinase 579

P P0,5 (= P50) s. Halbsättigungsdruck PACAP (Pituitary adenylate cyclase activating polypeptide) 512, 528 Pacini-Körperchen (Korpuskel) 629, 632 – Empfindungsschwelle 633 – Erregungsschwelle 633 PAF (Platelet-activating factor) 247, 253 PAG (peri-aquäduktales Grau = Höhlengrau, zentrales) 655 PAH (p-Aminohippurat) 359 – Clearance 333 – – seitengetrennte 333 – Sekretion, tubuläre 333, 359 Palaeokortex 805 Paläozerebellum 769 Pallidum 762 Palpitation 636 Palmitinsäure 473, 482 p-Aminohippurat s. PAH Panikerkrankung 809 f. Pankreas 409, 411, 437 – Acetylcholin 441 – Ausführungsgänge 411, 441 – Azini 439 – CCK 441 – Cl–-Sekretion 441 – Elektrolytsekretion 441 – Funktion, Phasen, interdigestive 439 – – endokrine 551 ff. – – exokrine 437 – – fetale 578 – GRP 441 – Hormone 552 – Hypertrophie 438 – Inselapparat 552 ff. – Insuffizienz 408, 441 – K+-Rezirkulation 441 – Na+-2Cl–-K+-Symporter 441 – NaCl-Sekretion 441 – Regulation 438 – – der Gangfunktion 441

– Schutz vor Selbstverdauung 439 – Sekret 437 – – Zusammensetzung 381 – – Elektrolytgehalt 381 – Sekretionsmechanismus, zelluläre 440 – Wassersekretion 441 Pankreasamylase 448 Pankreaskrebs 438 Pankreaslipase 437, 454 Pankreasproteasen 451 Pankreassaft 437 Pankreatisches Polypeptid (PP) s. Polypeptid, pankreatisches Pankreatitis 408 – chronische 439 Pantothensäure 476 Papez-Kreis 807 Papilla nervi optici 692, 699 Paracellin-1 (= Claudin 16) 363 Parallelfasern 770 Parallelverarbeitung beim Sehen 701, 705 f. Paralyse (Darm) 417 Paralyse, periodische familiäre hyperkaliämische 109 Parästhesien 63 f. Parasomnia 846 f. Parasympathikus 415, 423, 786 ff. – Atemwegswiderstand 270 – Bronchialmuskulatur 791 f. – Chemorezeptoreneinfluss 798 – Funktion 791 ff. – Harnblasenentleerung 796 – Herzfrequenz 791 f. – Herzrhythmus 162 f. – Kreislaufregulation 199 – Magen-Darm-Trakt 400 f., 792 f. – Medulla-oblongata-Einfluss 797 f. – Neuron, postganglionäres 786 f. – – präganglionäres 786, 797 – Pressorezeptoreneinfluss 798 – Pupillenweite 790 – Tonus, Kreislaufregulation 199 – – Modulation, atemsynchrone 798 – Transmitter 786 Parasympatholytika 787 Parasympathomimetika 787 – bei Darmatonie 792 Parathormon s. Parathyrin Parathyrin (PTH) 36, 459 – Calcitriolsynthese 369 f. – Calcium-Phosphat-Homöostase 400 ff. – Freisetzung 400, 403 – Mangel 402 – Nierenfunktion 362 f., 400 ff. – Plasmakonzentration bei Niereninsuffizienz 372 – Überschuss 403 Paratop 239 Parese, schlaffe 742 – spastische 751 Parietalzellen (Magen) 426, 428, 429 Parietalkortex, posteriorer 759 Parkinson-Krankheit 95, 766 ff. – Riechstörung 726 Pars convoluta, proximaler Tubulus 341 – recta, proximaler Tubulus 341 Partialdruck (s. a. O2, CO2) 259 – alveolärer 280 ff., 874

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Plasmaproteine – – Atemzyklus 282 – – in großer Höhe 305 f. – arterieller 283 ff. – CO 285 – CO2, Säure-Basen-Status 319 – endkapillärer, Lunge 290 – idealalveolärer O2 281, 294 – Inspirationsluft 260 f. – Verlauf, Lungenkapillare 290 – Wasserdampf 259 Partialdruckdifferenzen zwischen mütterlichem und fetalem Blut 571 f. Pascal 864 Patch-clamp-Technik 26 f., 55, 151 – Einzelkanalstrom 23, 27, 73 Paukenhöhle 660 Pause, postextrasystolische 170 – kompensatorische 170 Pavor nocturnus 847 PC(Pacini)-Rezeptoren 632 PCT (proximal convoluted tubule = Pars convoluta) 341 PDGF s. Platelet-derived growth factor PD-(Proportional-Differential-) Rezeptoren 11, 619 – Charakteristik 634 – Rezeptoren 632, 634, 636 – Verhalten, Pressorezeptoren 11, 199 PDS (= Pendrin = Anionen-Austauschcarrier) 343, 348, 366, 547 Pendeln (Darmmotilität) 461 Pendrin (= PDS = Anionen-Austauschcarrier) 343, 348, 366, 547 Penfield 760 Penicillin 4 – Sekretion, tubuläre 359 Penis 567 Pepsin 432, 451 – Inaktivierung 432 Pepsinogene 450 – Aktivierung 432 PepT (Peptidtransporter) 358 Peptid, glucagonähnliches, Einfluss auf die Insulinsekretion 554 f. – natriuretisches, atriales s. Atriopeptin – vasoaktives, intestinales s. VIP Peptide, Modifikation, posttranslationale 514 – Nierenstoffwechsel 326, 358, 371 f. – Resorption, tubuläre 358, 371 f. – Rezeptortyp 516 ff. – Transport, carriervermittelter, Blut-Hirn-Schranke 852 Peptid-H+-Symportcarrier (PepT) 358 Peptidhormon(e) 36 f. – Abbau, renaler 371 f. – Biosynthese 514 f. – Eigenschaften 516 – Halbwertszeit 515 – Rezeptoren 36 ff., 516 – Sekretion, konstitutive 515 – – stimulierte 515 Peptid YY 417, 431, 439 Perchlorat 547 f. Perforin 241 Perfusion s. Durchblutung und Kreislauf peri-aquäduktales Grau (PAG) 655 Perifornikalregion 485 Perilymphe 662, 677

Perimetrie 700 f. Periodische Atmung 301 Periodizitätsanalyse 666 f. Peristaltik 413, 415, 425, 461, 636 Peritonealdialyse 373 f. Permeabilität 21, 65 f., 195 ff. – selektive 179 Permeabilitätsgradient 195 Permeabilitätskoeffizient 195 Permissiver Effekt von Glucocorticoiden 540 – – von Schilddrüsenhormonen 550 Peroxisomen 15, 20 Perspiratio insensibilis 498 Persönlichkeitsänderungen 802 Pertechnetat 547 Pertussistoxin 38 f. PET (Positronenemissionstomographie) 761, 832, 857 f. Peyer-Plaques 422, 451 Phantomschmerz 827 Pfeilnaht 581 Phenothiazine 811 Pfortader, Durchblutung 202 PGE2, Nozizeptor 204, 639 PGF2α 204 PGI2 s. Prostacyclin Phagolysosom 236 Phagosom 235 Phagozyten 235 ff. Phagozytose 19, 235 ff. – Alveolarmakrophagen 258 – Reinigung des glomerulären Filters 337 Phantomschmerz 651, 654 pH-Antwortkurve der Atmung 258 Pharmaka, inotrope 98 – liquorgängige 850 Pharyngealdrüsen 454 Phase, digestive 469 – gastrale 432, 439 – interdigestive 445, 461, 468 – intestinale 432, 439 – kephale 432, 439 Phenolrot, Sekretion 360 Phobie 810 Phon 660 – Skala 731 Phonation 672 f. Phoneme 672 Phosphat, Absorption 448, 460 – Ausscheidung, renale 361 f., 367 – – – (Debré-Tonie-)FanconiSyndrom 357 – – – Parathyrinwirkung 400 ff. – – – vermehrte 361, 399 – Carrier 361 – energiereiches 592 f. – – Gewebeatmung 304 – extrazelluläres 399 – H+-Ausscheidung, Niere 367 – als Harnpuffer 367 f. – Haushalt 361, 398 ff. – Homöostase 400 ff. – im Plasma 399 – pK-Wert 367 – Puffer 399 – Resorption, tubuläre 361 – – – Parathyrinwirkung 400 f.

– Speicher 398 – Symportsystem, Na+-abhängiges 28 – Zellfunktion 399 Phosphatidylcholin (= Lecithin) 15, 454, 467, 696 Phosphatidylinositol, Metabolismus 38 Phosphodiesterase 37 ff., 718, 788 Phosphoinositol s. Phosphatidylinositol Phospholamban 154, 158 Phospholipase 36 f., 437 – A2 455 – – Hemmung, Glucocorticoide 639 – C 36, 38 f., 60, 717 f., 822 – glatter Muskel 127 Phospholipide 454, 467, 473 – Surfactant 267 Phosphor, Körperbestand 399 – Quellen und Bedarf 474 Phosphorylierung 36 f. – Kanalprotein 23 Photopigmente, Absorptionskurven 710 f. Photopisches Sehen 695 Photorezeptoren 617, 691 ff. – Abstand 698 Phototransduktion 693 f. pH-Wert 312 – arterieller, Atmungsregulation 298 – Harn 365 – Homöostase 312 ff., 323 – interstitieller 204 – K+-Verschiebung, transzelluläre 394 f. – Nierentubulus 365 – O2-Affinität des Hämoglobins 284 – Pufferung 312 ff. – Regulation 33, 312 ff. – – intrazelluläre 392 – Säure-Basen-Status 318 ff. – zytosolischer 33, 36, 392 Phyllochinon 471 Physostigmin 91 Picrotoxin 95 Pigmentepithelzellen 43, 692 Pigmentsteine 472 PIH s. Prolactin-Inhibiting-Hormon Pilocarpin 92 Pilzpapillen 715 Pinozytose 19 Pirenzepin 92 Piretanid 353 PIT-1 (hypophysärer Transkriptionsfaktor) 532 Pituitary adenylate cyclase activating polypeptide (PACAP) 528 Planung 802 Planungsunfähigkeit 809 Plasma s. a. Blutplasma Plasmaextravasation, Substanz P 641 Plasmafluss, renaler, Bestimmung 333 Plasmamembran (s. a. Membran; s. a. Zellmembran) 14 f., 24 – Aufbau 16 – Lipidzusammensetzung 16 Plasmaosmolalität, Adiuretinfreisetzung 389 – erhöhte 385 – Regulation 389 f. Plasma-pH 321 Plasmaproteine 195, 225 – Konzentration 196

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Plasmaproteine Plasmaproteine, Pufferfunktion 318 Plasmaviskosität 190 f. Plasmavolumen, Adiuretinfreisetzung 391 – Bestimmung 379 – effektives, vermindertes 391 – Regulation 207 f. Plasmawasser 327 – Ionenzusammensetzung 380 Plasmazellen 239 f. – Atemwege 259 Plasmin 253 Plasminogen 252 Plasminogenaktivator des Blutes 252 f. – des Gewebes 253 Plasminsystem 251 f. Plasmozytom 379 Plastizität, erfahrungsabhängige 826 – synaptische 818 f., 822 Platelet-activating factor (PAF) 253, 250 – – als Entzündungsmediator 250 Platelet-derived growth factor (PDGF) 246 – – – Angiogenese 253 Plazeboeffekt 656 Plazenta 569 f. – Ablösung 583 – Bau 570 f. – Durchblutung 219, 571 – Funktion 571 ff. – Hormone 574 – – Bildung 512 – – Plasmakonzentration, präpartale 579 f. Plethysmograph, Atemwegswiderstand 269 Pleuradruck 216, 264, 274 – Atemanhalten 269 – Exspiration 216 – – forcierte 269 f., 271 f. – Inspiration 216 Pleuraspalt 264 f. Pleuraverwachsung 274 Plexus chorioideus, Blut-LiquorSchranke 853 – – Epitheleigenschaften 853 – myentericus (Auerbach) 420, 793 – submucosus (Meissner) 420, 792 Pneumotachograph 261, 269 Pneumothorax 256, 265, 289 – Lungendehnungsrezeptoren 297 PO2 s. O2-Partialdruck Podozyten 336 ff. Polydipsie 391 Polyglobulie 306 Polymodalität 640 Polypeptid, pankreatisches (PP) 440, 552, 556 – – Sekretionsstimulation 556 – vasoaktives, intestinales s. VIP Polyphagie 486 Polysaccharide 448, 489 Polyurie 352, 391 – akutes Nierenversagen 372 Polyzythämie, Widerstand, peripherer 191 POMC 490 POMC/CART-Neuron 485, 489

POMC-Gen 527 – – posttranslationales Processing 536 – – Signalsequenz 536 POMC-Peptide 534 ff. – – Freisetzung 534 – – Struktur-Wirkungs-Beziehung 538 – – Synthese 534 f. – – – Regulation 534 POMC-Zellen 525, 536 – – Funktionstest 544 – – Produkte 536 Pore 22, 72 Porensystem, funktionelles 196 Portalazinus 463 Portalkreislauf, hypophysärer 521 Positronenemissionstomographie (PET) 761, 832, 857 f. Postkoitalpille 570 Postsynaptische Nervenzelle 613, 617 Posturographie 756 Potenzial (s. a. Potenzialdifferenz), endolymphatisches 677 – elektrotonisches 618 – endolymphatisches 662 – ereigniskorreliertes 836, 839 – evoziertes 671 – motorisches 782 – postsynaptisches 80, 89, 618 f. – – exzitatorisches 86 ff., 613, 623 – – – der motorischen Endplatte s. Endplattenpotenzial – – – Summation 87 – – inhibitorisches 89 f., 613, 623 – – – GABAA-Rezeptor 94 – – – β-Rezeptor 94 – prämotorisches 782 – sensorisch evoziertes 836, 838 – transepitheliales 59, 343 ff. – – Henle-Schleife 348 – – Nierentubulus 343 ff., 354, 362 f. – – Sammelrohr 348 – visuell evoziertes 705 f. Potenzialdifferenz, elektrische 24 f. – elektrochemische 24 f. – Maßeinheit 864 – myokardiale 150, 164 f. Potenzialsensor 72 f. Potenzialumkehr 67 f. Potenzfunktion, Steven 732 Potenzierung 820 – posttetanische 84 – synaptische 84 PP (Pankreatisches Polypeptid) 440 Präalbumin, thyroxinbindendes 547 Prager-Willi Syndrom 487 Präprohormon 514 Präproinsulin 553 Präsynaptische Nervenzelle 80 Prätektum 703 Pregnenolon 539 – Synthese 538 Preload s. Vorlast Presbyakusis 670 Presbyopie 690 Pressmotorik, uterine 580 Pressorezeptoren 199, 385, 636 – arterielle 199, 207, 637 – – Atmungsregulation 300

– Einfluss auf die Parasympathikusaktivität 798 f. – – auf die Sympathikusaktivität 798 f. – Kreislaufregulation 601 – PD-Verhalten 11, 199 – Reflex 200, 216, 637 – – resetting 200 – sinoaortale 199 f. – – Blockade 200 – – Erregungsmuster 200 Pressorsubstanz 388 Presswehen 580 Prestin 665 Priapismus 567 Primärgalle 463, 467 Primärharn 327 – Titrationsazidität 317 Primärkultur 6 Primärschweiß 498 Primärspeichel 423 f. Principal cells s. Hauptzellen Problemlösung 806, 809 Pro-Carboxypeptidasen A1 437 Proenzyme 450 Progeria adultorum (= Werner-Syndrom) 46 f. Progesteron, Konzentration im fetalen Blut 578 – Laktation 582 – plazentares 574, 578 – Schwangerschaft 570, 578 – Synthese 515 Proglucagon 553 Programme, motorische 773 Proinsulin 552 f. Projektion, kortikobulbäre 761 Projektionsneuron, striatales 765 Projektionssystem, lemniskales 644 Prokolipase 437, 454 Prolactin 528 f., 533, 582 – Biosynthese 533 f. – Freisetzung 582 – Funktion 533 – Sekretion 533 f. – – Regelung 518, 533 – – stressinduzierte 533 – Sekretionsrhythmus, circadianer 533 Prolactin-Inhibiting-Hormon (PIH) 533 f., 582 Prolaktinom 534 Proliferationspool 227 Prolin 371 Proopiomelanocortin (POMC) 485, 536 Prooxytocin 524 Prophospholipase 437 Proportional-Differenzial-(PD)Verhalten 632 Proportional(P)-Rezeptor 619, 632 Propriozeption 629, 635 f. Propriozeptoren 200, 728 Proprotease E 437 Propulsion (Darm) 413, 461 Prosodie 828 Prosopagnosie 706, 806 Prostacyclin 204 f. – Hemmung der Thrombozytenaktivierung 246 – Na+-Resorption 348

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Reduktionsmittel Prostaglandin(e) 36 f., 417, 447 – Bildung, renale 370 – E2 431, 465, 506, 584 – F-Gruppe, Vasokonstriktion 204 – F2α 465 – J-Rezeptoren-Erregung 297 – Kältedilatation 224 – Koronarendothel 146 – Plazentadurchblutung, fetale 571 – Proteinkinase A 640 – Samenplasma 567 – Uterusaktivität, motorische 579 – Vasodilatation 204 Prostata 567 Protanomalie 712 Protanopie 711 Protease 359 – Inhibitor 251 Protein(e) (s. a. Eiweiß) 473 – Absorption, Endozytose 451 – Ausscheidung, renale 359 – – in der Schwangerschaft 579 – – renale, vermehrte 358 – Bedarf 475 – Ca2+-bindendes 35, 40, 82 – C-reaktives 234 – endogenes 450 – Energiespeicher 478 – Glykosylierung 18 f. – 1. Grades 475 – 2. Grades 475 – IGF-bindendes 469 – luminale Verdauung 450 – Insulinwirkung 555 – kontraktile 147, 173 – Konzentration, interstitielle 193 f. – – Lymphe 198 f. – – Plasma 195 – Pankreatitis-assoziierte 437 – Permeabilität 197 – Phosphorylierung 36 ff. – Prolin-reiche 422 – Pufferung 313 ff. – Resorption, tubuläre, Carrier 358 f. – Retinol-bindendes 469, 471 – Sexualhormon-bindendes 469 – Sortiermechanismus 58 – Stoffwechsel 469 – – Glucocorticoidwirkung 540 – – Inulinwirkung 552, 555 – Synthese 15 ff. – – Hormoneinfluss 36 – – Schema 18 – – Somatotropinwirkung 530 – Thyroxin-bindendes 469 – transmembranale 16 – Transport, transplazentarer 573 – Verdauung 450 – Verlust, bei Lymphstau 198 – Vitamin-C-bindendes 469 – Zufuhr, mangelnde 475 – – tägliche, empfohlene 474 Proteinkinase(n) 36 ff., 36, 55, 154, 717 – A, glatter Muskel 126 – – Herzmuskelzelle 75 – C 38, 55, 530, 822 – – glatter Muskel 126 – – Ionenkanalöffnung 89 – Bradykinin C 640

– Mitogen-aktivierte (MAP-Kinase) 820 – Prostaglandine 640 – Steuerung 36, 89 Proteinurie 359 Proteoglykane 197 Proteohormone, Konzentration im Blut 515 – Rezeptor 516 – Sekretion 515 – Synthese, Gen 514 ff. – – Steuerung 515 Prothrombin 249 f. Protonen s. H+-Ionen Protophyrinring 283 Pro-TRH 536 Pruritus 638 Pseudoaldosteronismus (Liddle-Syndrom) 348 Pseudopodien 8 – Phagozyten 235 – Thrombozyten 247 ff. PST (proximal straight tubule = Pars recta) 341 Psychopharmaka 91, 809 Psychophysik 729 Psychophysiologie 729, 733 Psychose 811 Psychosomatische Erkrankung 800 Psychotherapie 810 PTH s. Parathyrin Ptosis 790 PTS (Permanent threshold shift) 669 PTT (Partial prothromboplastin time) 252 P-Typ-ATPasen 428 Ptyalin s. α-Amylase Pubertät 562 – Hormonsekretion 518 Puffer 312 ff. – des Blutes 318 – Definition 312 – Dissoziationsgrad 312 Pufferbase 312, 318 ff. – im Blut 318 f. – – Normalwert 320 – CO2-Partialdruck 319 Pufferkapazität 287, 312 ff. – Bicarbonatpuffer 314 – Blut 319 ff. – Nichtbicarbonatpuffer 287, 315 f. Pufferkurve 312 ff. Puffersäure 312 Puffersystem 313 f. – CO2/HCO3– 314 f. – offenes, geschlossenes 315 Pufferung, Bicarbonatlösung 315 f. – Blut 286 – chemische 312 ff. – mit, ohne Nichtbicarbonatpuffer 315 f. Pulmonalarterie, Druck 184, 215 ff., 274 ff. – O2-Konzentration 278 Pulmonale Hypertension s. Hypertonie Pulmonalgefäße s. Lungengefäße Pulmonalvenen 258 – O2-Konzentration 278 Pulse work capacity 605 Pulsfrequenzmodulation 619 Pulsqualität 192 Pulswellengeschwindigkeit 192 Pupille 690 ff., 790

– – – –

Erweiterung 690, 790 Reflex 690 f. Verengung 690, 790 Weite, Parasympathikuseinfluss 690, 790 – – Sympathikuseinfluss 690, 790 Purkinje-Fasern 162 f., 683 Purkinje-Zellen 769 ff. Putamen 763, 765 PWC170 (Pulse work capacity) 605 Pylorusstenose, hypertrophische 415 Pyramide 757 Pyramidenbahn 759 f. Pyridoxol 476 Pyrogene 506 Pyruvat 479, 593 f. PYY 486, 487 – Anorexigen 488

Q Querbrückenzyklus, Skelettmuskel 105, 109, 111, 133 Querdisparation 708 Querschnittläsion 795 Areflexie 751 – Harnblasenentleerung 797 – Hyperreflexie 751 Quotient, respiratorischer 278 f. Quotient, respiratorischer, metabolischer 482 Q10-Wert 481, 494

R Rachitis 402, 459 Radiatio optica 700 f. – – Gesichtsfeldprojektion 700 Radiation 497 Radioimmunoassay 519 Ranvier-Schnürring 613, 620 f. Raphé-Kerne 655 Rasterkraftmikroskopie 17, 398 Rathke-Tasche 520 Rauchen, CO-Partialdruck im Blut 285 Raumempfinden 681 Raumklima 503 Raumorientierung, Hören 668 RA-Rezeptoren 631 ff. Raynaud-Syndrom 790 Reaktion, akrosomale 569 – posturale 755 Reaktionslage des Organismus 793 Reaktions-Geschwindigkeit-Temperatur(RGT-)Regel 494 Rechtshänder 830 Rechtsherzinsuffizienz, Blutvolumenverminderung 209 – Druck, zentralvenöser 186 – Kapillardruck 195 Rechts-links-Shunt 293 – arterielle Hypoxämie 295 Rechtstyp, Herzachse 168 Rechtsverschiebung, O2-Bindungskurve 284 Recruitment 670 Reduktionsmittel, Hämoglobin 286

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Reentry Reentry 172 Reflex(e) 755 – bedingter s. konditionierter – chemischer, Atmung 297 f. – intestinaler 415, 419 – intestinointestinaler 795 – intestinokolonischer 795 – kolokolonischer 795 – lokaler 419 – long-loop 760 – monosynaptischer 738 – optokinetischer 775, 776 – pathologische 747 – polysynaptischer 5, 738, 747 – statischer 682 – – vestibulärer 738, 747 – statokinetischer 682 – transkortikaler 760 – vegetativer 751 793 ff. – – Ausfall 795 – – inhibitorische Kontrolle 795 – vagovagaler 420 – vestibulookulärer (VOR) 682, 773, 777, 781 Reflexbogen, enterischer 460 – somatosympathischer 794 – vagaler 420 – viszerosympathischer 794 Reflexblase 797 Reflexdystrophie, sympathische 794 Reflexionskoeffizient 343, 866 f. – osmotischer 195 Reflux, duodeno-gastrischer 435 – physiologischer 425 Refluxkrankheit, gastroösophageale 425 Refraktärzeit, absolute 75 – – Herzmuskelzelle 149, 152 – relative 75 – – Herzmuskelzelle 152 Refraktionsanomalie 688 Regelbreite 11 Regelkreis 9 f., 200 – Atmung 299 – Messfühler 200 – Regelgröße 200 – Regler 9 f., 200 – Rückkoppelung s. Rückkoppelung – Stellglied 9, 200 – Ziel 10 Regelung 9 ff. – stabile 10 – durch Verhalten 11 Region, prätektale 703 – präoptische 500 Regler 9 f., 167 Regulation, aktive, Wärme 499 – antizipatorische 500, 502 Regulationszentrum 501 Rehabilitation, neurologische 773 Rehydratation 392 Reibung, innere 182, 187 Re-Inforcement 812 Reißner-Membran 662 Reiz(e), adäquater 616 f., 633, 724 – Aufnahme 616 ff. – benachbarte, Trennung 624 f. – noxischer 638 – Transduktion 617 – Verarbeitung 619 f.

Reisedurchfall 445, 447 Reizung, bipolare 623 – elektrische 617 – inadäquate 635 – kalorische 680 – monopolare 623 – überschwellige 75 Rekrutierung, Kapillaren, Lungenstrombahn 275 – Skelettmuskel 115 Rektum 461 – Innervation 795 Relaxation, rezeptive 420, 425, 434 – Skelettmuskel 111 Releasing-Hormone, hypothalamische 516 ff. REM(Rapid eye movement)-Schlaf 841 f. Remak-Bündel 640 renal… s. Niere Renin 207, 369 – Blutdruckregulation 369 Renin-Angiotensin-AldosteronSystem 207 – Aktivierung 384 – – in der Schwangerschaft 579 – Blutdruckregulation 201, 369 – Nierenfunktion 335 – Ödementstehung 384 – Wassermangel 385 Renshaw-Hemmung 748 Renshaw-Zellen 614 Repolarisation 67 f. RER s. Retikulum, raues endoplasmatisches Reserpin 96 Reservevolumen, exspiratorisches (ERV) 261 f. – inspiratorisches (IRV) 261 f. Residualkapazität, funktionelle (FRC) 263, 265 f. – Totraumvolumen 280 Residualvolumen (RV), pulmonales 261 ff. – – Altersabhängigkeit 263 Resistance, Atemwege s. Atemwegswiderstand Resorption, fraktionelle 331, 356 – Henle-Schleife 345 ff., 347 – Nierentubulus 328, 339 ff., 355 ff. – parazelluläre 342, 347, 354 Resorptionsarbeit 478 Respiratorische Alkalose s. Alkalose – Azidose s. Azidose – Kompensation s. Kompensation Respiratorischer Quotient 278 f. – – in großer Höhe 306 – – Lungen-RQ, Stoffwechsel-RQ 279 Restriktion s. Lungenfunktionsstörung Retentionsazidose 321 Retikulärformation 758 Retikulospinaltrakt 753 Retikulozyten 233 Retikulum, endoplasmatisches 14 ff. – – glattes 18 – – raues 18 – sarkoplasmatisches 25, 108 – – Ca2+-Freisetzung 153 f. – – – Konzentration 110 Retina 40, 90, 690 ff. Retinitis pigmentosa 44, 690

Retinol 476 – tubuläre Resorption 359 Retinsäure 823 Retraktionskraft, Lunge 264 f., 267, 271 Retrobulbärneuritis 707 Re-uptake-Hemmer 91 Rezeptives Feld 619 – Netzhaut 695 ff. Rezeptor(en) 7, 36 ff., 516 ff. – Acetylcholin 60 – Adiuretin (=Vasopressin) 389 f. – adrenerge s. Adrenozeptoren – Affinität 517 – Angiotensin II 60 – Assay 519 – ATP 60 – Bandpassverhalten 617 – Block 95, 787 f. – cholinerge 83, 85, 88, 787 – corticoidspezifischer 540 – D(ifferenzial)- 619 – Dichte 517 – Dopamin 38, 766 f. – Down-Regulation 517 – Eigenschaften 517 – Endothel 179 – Endothelin 60 – heptahelikale 36 – Histamin 60 – ionotroper 85 f. – ligandengesteuerter 85 f. – metabotroper 88 – Moleküle 43 – muskarinischer 83, 89, 787 – – Blockierung 787 – nikotinischer 83, 85, 787 – nukleärer 517 – PD(Proportional-Diffenzial)- 619 – postsynaptischer 85 – – Desensitisierung 90 ff. – Reizaufnahme 616 ff. – Thrombin 60 – Transduktionsprozess 617 ff. – Tyrosinkinase-assoziierter 489 – zellmembranständiger 517 – zytoplasmatischer 517 µ-Rezeptoren 421 Rezeptorkanäle 631 Rezeptorassay 512 Rezeptorpotenzial 617 f., 714 – Aktionspotenzialentstehung 617 ff. – frühes, Lichtreiz 698 – Riechen 721 Rezeptorprotein 7, 36, 85, 87 RGT-Regel (Reaktions-GeschwindigkeitsTemperatur-Regel) 494 Rhabdomyolyse 507 Rhesusantigen 230 ff. Rhesusinkompatibilität 573 Rhesusprophylaxe 231 Rhesussystem 230 f. Rhizinusöl 447 Rhodopsin 693 ff. Rh-System 230 f. Rhythmik, zirkadiane 461 Rhythmogenese, zentrale, Atmung 296 Rhythmus, diurnaler 518 – circadianer 518, 845 – – Störung 845

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Scala media Rhythmusgenerator der Atmung 296 Rhythmusstörung 845 RIA (Radioimmunoassay) 519 Riboflavin 476 Ribonuklease 423 Ribonucleinsäure s. RNA Ribosomen 15, 18 Richtungsselektivität der Sehrindenneurone 703 Riechen, Erkennungsschwelle 725 – Rezeptorpotenziale 721 – Transduktionsprozess 725 – Wahrnehmungsschwelle 725 Riechepithel 714, 721 – Basalzellen 722 – Rezeptorspezifität 724 – Stützzellen 722 Riechhirn, primäres 723 Riechrezeptoren 724 Riechschleimhaut 721, 725 Riechsinneszellen 721 f. Riechstoffe 714 Riechstörungen 726 – Morbus Alzheimer 726 – Morbus Parkinson 726 Riechzelle, Lebenszyklus 722 Riesenaxon 5 Rifampicin 465 Rigor 87, 767 Rigor mortis 107 Rigorkomplex 107 Rindenfelder, prämotorische 761 – supplementär-motorische 761 Ringkontraktionen (Magen) 434 Ringmuskelschicht (Darm) 410 Rinne-Versuch 671 Riva-Rocci-Blutdruckmessung 186 f. RNA 17 f. RNAse 437, 457 mRNA 18 f. – Splicing, alternatives 17, 145, 536 tRNA 18 RNA-Polymerase 18 Röhrenströmung 190 ROMK (K+-Kanal) 347 RQ s. Respiratorischer Quotient rT3 (reverses Triiodthyronin) 546, 548 Rubrospinaltrakt 753 Rückenmark 736 f., 793 ff. – Schädigung, halbseitige 643 – Sympathikusneurone, präganglionäre 793 f. Rückkoppelung, Hypophysenhormonsekretion 517, 528 f. – Hypothalamus-Hypophysen-GonadenBeziehung 564 – negative 7, 10 ff., 199, 502, 517 – – ACTH-Sekretion 543 – – Atmungsregulation 299 – – Atriopeptinfreisetzung 160 f. – – Blutdruckregulation, kurzfristige 199 – – Glucagonsekretion 518 – – Hypophysenhormonsekretion 517 – – POMC-Freisetzung 534 – – Schilddrüsenhormonaktivität 550 f. – – Somatotropinsekretion 530 – positive 7, 11 f., 432, 517 – – Gonadotropinsekretion 533

– – Prolactinsekretion 533 – Testosteronfreisetzung 566 – tubuloglomeruläre 334 f., 338 Rückkoppelungsschleife 10 Rückstellkraft, Thorax 264 f. Rückstrom, venöser 155, 200, 216 f. – – abhängige Körperpartie 213 – – Herzzeitvolumen 160 f. – – bei Inspiration 216 – – beim Tauchen 307 – – Umgebungstemperatur, hohe 215 Rückwärtshemmung 624 f., 748 – Hinterhorn 618 Ruffini-Körperchen (Korpuskel) 629, 632, 636 Ruheatmung 267 f. – Totraumvolumen 280 Ruhedehnungskurve 116 – Atemapparat 263 ff. – Herzmuskel 143, 155 – Lunge 266 – Muskel 103 – Thorax 264 Ruhemembranpotenzial 64 ff., 67 – Herzmuskelzelle 150 f. – postsynaptisches 89 – Rezeptorzelle 617 Ruheschmerz 654 Ruheumsatz 480 Rumpfmuskulatur 635 Ryanodinrezeptor (RyR) 108 f., 132, 154 f., 486 – Herzmuskel 132 – glatter Muskel 127 Ryanodin-Rezeptor-1 507 RyR s. Ryanodinrezeptor

S Saccharin 718 Saccharase 449 Saccharose 449 – Permeabilität der Kapillarmembran 196 Sacculus s. Macula Saccus alveolaris 257 Sakkaden 775, 778 f. – reflektorische 779 – Generator 779 SA(Sinoatrial)-Knoten s. Sinusknoten Salty babies 499 Salz (s. a. NaCl) – Ausscheidung, renale, Defekt 388 – – – erhöhte 384 Salzappetit 386 Salze organischer Säuren 317 Salzhunger 386, 715 Salzlösung, hypertone 226 – hypotone 226 – isotone 226 Salz-Wasser-Haushalt, Blutdruckregulation 201 Samenbläschen 567 Samenplasma 567 Sammelrohr (= CD = collecting duct) 348, 366 – Adiuretinwirkung 207, 389 f.

– Ammoniak-Diffusion, nichtionische 368 – Hauptzelle 332 – kortikales 348 – K+-Transport 354 f. – medulläres 348 – Potenzial, transzelluläres 348 – Transportprozesse 348 – Schaltzelle 332 – Wasserkanäle 389 Sarin 92 Sarkoglykane 104 Sarkolemm 102 Sarkomer 44, 102 Sarkoplasma 102 Sattheit 454, 476 – akute 486 Sattheitszentrum 484, 485 Sättigung, O2 284 f. – – im Blut 295 – – Gewebe 302 ff. Sättigungsdruck, Wasser 259 Sauerstoff (s. a. O2) 256, 276 ff. Sauerstoffatmung 296 Sauerstoffdefizit 595 Sauerstoffmetabolite, Entzündungsabwehr 236 Sauerstoffradikale 447 Sauerstoffschuld 121, 595 f. – alaktazide 595 – laktazide 595 Sauerstofftransportierendes System 592 Saugelektrodentechnik s. Patch-clamp-Technik – Na+-EinzelkanalstromRegistrierung 73 Saugreflex 747 Sauna 503 SA-Rezeptoren 631 f. Säure(n), Ausscheidung, renale 365 ff. – fixe 392 – organische, Salze 317 – – Sekretion, tubuläre 359 – titrierbare 317, 367 Säure-Basen-Bilanz, Organismus 312 ff., 316 ff. Säure-Basen-Gleichgewicht 312 ff. – Kaliumhomöostase 395 – Nierenfunktion 326 ff., 365 ff. – Störung, Kompensation, renale 320 ff. – – – respiratorische 321 f. – – primäre 321 ff. – – respiratorische 315, 322 f. Säure-Basen-Haushalt, Bilanz 312 ff. Säure-Basen-Status 319 ff. – Atmungsregulation 298 – Blutuntersuchung 319 ff. – Diagnostik 319 ff. – Gesamtorganismus 323 – Nomogramme 320 f. – Normalwerte 320 f. – Organismus 318 ff. Säurebilanz 392 ff. Säurereflux 424 Säuresekretion (Magen) 428, 431 – Phasen 431 Scala media 661 f. – tympani 661 f. – vestibuli 661 f.

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Schall Schall 658 Schalldruck 658 Schalldruckpegel 658 Schallempfindungsstörung 670 Schallfrequenz 659 Schallintensität 659 Schallleitung 660 – Störung 661, 670 Schalltrauma 669 Schallwellenwiderstand 661 Schaltzellen, Niere 347 f., 355, 365 Scheintod-ähnlicher Zustand 506 Schergrad 190 Schichtenströmung 215 f. Schielen 709 Schilddrüse, Autoregulation 550 – Erkrankung 551 – Follikel 546 – Knoten 551 Schilddrüsenhormone (T3, T4) 479, 486, 512, 545 ff. – Aktivität, Einflussfaktoren 545, 549 f. – – Feedback, negatives 550 f. – – Regulation 550 f. – Biosynthese 546 f. – Eigenschaften 516 – fetale 578 – Funktionstest 548 – Halbwertszeit 515 f. – Interaktion mit Catecholaminen 550 f. – Konzentration im Blut 515 – – im Plasma 548 – – – bei schwerer Erkrankung 548 – permissiver Effekt 550 – Rezeptor 516 – Struktur 547 – Transportprotein 547 ff. – Überproduktion 551 – Wirkungen 550 f. – Wirkungsprinzip 516 Schizophrenie 809, 811 Schlaf 738, 805 – Atmung 301 – desynchronisierter 841 – fördernde Substanzen 845 – non-REM 843 – orthodoxer 841 – paradoxer 841 – REM 844 – slow-wave 841 – synchronisierter 841 – – langsamwelliger 841 Schlafapnoe 301, 847 Schlafdeprivation 842 Schlafentzug 847 Schlafprofil 841 Schlafspindeln 841 Schlafstadien 841 Schlafstörungen 810, 846 Schlaf-Wach-Rhythmus 495 Schlaganfall 176 – Atmungsregulation 300 Schlagvolumen (Herz) 138, 155, 177, 185 f., 199 – Erhöhung 155 – Körperarbeit 213 f., 598 ff. – bei Lagewechsel 210 – Regulation 199

– Sauerstofftransportkapazität 596 – Schwangerschaft 578 – Sympathikuseinfluss 158 f. Schleifendiuretika 343, 346, 353, 362, 382 – K+-Ausscheidung, renale 397 Schleimfilm, intestinaler 421 Schleim-Gel-Schicht (Magen) 433 Schleimzellen 426 Schlemm-Kanal 690 Schlitzmembran 336 Schlucken, Reflex 747 Schluckapnoe 426 Schlucken 422, 424 – orale Phase 425 – ösophageale Phase 426 – pharyngeale Phase 426 Schluckreflex 425 Schluckzentrum 425 f. Schlussleiste (s. a. Tight Junctions) 17, 56 ff. Schmeckempfindlichkeit, Alter 720 Schmecken (s. a. Geschmack) 713 ff. Schmerz 628, 641 ff. – absteigender, schmerzhemmendes System 655 – affektiver 652 – Aktivierung viszeraler Afferenzen, bei 794 – akuter 638 – chronischer 652 – Definition 638 – diskriminative Komponente 652 – emotionale Komponente 652 – Ephapse 81 – erster 638, 654 – Formen 651 – Hemmung 651 – Intensität 650 – kolikartiger 636 – Lokalisierung 650 – neurogener 653 – neuropathischer 630, 641, 653 f. – projizierter 653 f. – Qualitäten 638 – Schwelle 660 – Therapie 652, 655, 813 – übertragener 643, 652, 654 – viszeraler 646, 652 – zentraler 646, 653 f. – zweiter 638, 654 Schmerzanamnese 651 Schmerzerfahrung 652 Schmerzerleben 646 Schmerzgedächtnis 651 Schmerzsinn 629 Schmerzsyndrom, komplex regionales 641 Schnecke 662 Schnellkraft 591 Schnorchelatmung 269, 307 Schnüffeln 722 Schock 12, 209 – anaphylaktischer 209 – hämorrhagischer 209 – hypoglykämischer 558 – hypovolämischer 209 – kardiogener 209

– septischer 209 – spinaler 796, 797 – traumatisch bedingter 209 Schrittmacher, künstlicher 171 – Magen-Darm-Trakt 414 Schrittmacherpotenzial 844 – Herzmuskel 134 Schrittmacherzellen 54 f. – kardiale 77 Schrumpfniere, hydronephrotische 364 Schubspannung 190 f. Schuldgefühle 810 Schüttellähmung 95 Schutzreflex 638 – Darmmotilität 794 Schwangerschaft 231 f., 578 ff. – Dauer 570 – Hormonsekretion 518 – Nachweis 574 – Sensibilisierung gegen Rhesusantigen 231 Schwann-Zellen 619 f. Schwanzdomäne 41 f. Schwefel (Quellen und Bedarf) 474 Schweiß, Elektrolytgehalt 39, 381, 498 – Produktion 498 – – Regulation 499 – Sekretion 200 Schweißdrüsen 498, 502 – Atrophie 505 – Gefäßinnervation, parasympathische 202 – Tätigkeit 481 Schweißtest 499 Schwelle, aerobe 593 – anaerobe 304, 594 Schwellenaudiometrie 669 f. Schwellenkonzentration, Geschmack 718 Schwellenpotenzial 150, 153 Schwellkörper 567 f. Schwerhörigkeit 660, 670 – frühkindliche 827 Schwindel 677, 681 Schwindelanfälle 683 Schwitzschwelle 503, 505 Scopolamin 92 Second Messenger 35 ff., 516 Seekrankheit 676, 683 Segmentation (Darmmotilität) 413, 414, 461 Sehbahn 699 ff., 826 – extrastriäre 706 – Läsion 702 – striäre 706 – thalamische Verschaltung 702 Sehen 686 ff. Sehen, binokulares 825 – Farbmischung 710 f. – Parallelverarbeitung 701, 705 – photopisches 695 – skotopisches 695 Sehfarbstoff 693 f., 709 Sehnenorgan 214, 742 Sehnenreflex 746 Sehnenrezeptoren 636 Sehrinde 781 – Dominanzsäulen, okulare 703 f. – Farbzellen 711 – Läsion 707

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Sodbrennen – orientierungsselektive Neurone 703 – primäre 700, 703 ff. – richtungsselektive Neurone 703 – Stoffwechselgröße, reizabhängige 857 Sehrindenzellen, einfache 703 – hyperkomplexe 703 – komplexe 703 Sehschärfe 676 f. – maximale 628 Sehstörungen, Dekompressionskrankheit 308 Sekretgranula 514 – Peptidhormonspeicherung 515 – Prohormonspeicherung 514 Sekretin 416, 431, 436, 438, 440 f., 454, 467 – Wirkung über G-Proteine 38 Sekretion, Nierentubulus 328, 333, 359 f. – Pepsinogen 432 Sekretionsgranula s. Sekretgranula Sekretionsphase, Endometrium 566 Sekretvesikel s. Sekretgranula Sekundärspeichel 423 f. Selektine 179 Selen 474, 475 Selenocystein 473 Semaphorine 824 Sensibilisierung, IL-1 640 – Nozizeption 638 – TNFα 640 Sensibilität, unspezifische 714 – viszerale 629, 636 Sensibilitätsprüfung 630 Sensibilitätsstörung 641 Sensitisierung 5 f., 814, 819 Sensomotorik 736 ff. Sensor 9 f. Sepsis 224 SERCA (Sarcoplasmic Endoplasmic Reticulum Calcium-transporting ATPase) 154 f. Serinbildung, renale 371 Serotonin (= 5-OH-Tryptamin) 95 f., 418, 447, 450, 844 – Anorexigen 488 – Freisetzung 95 – Gefäßinnervation 182 – Gehirn 95 – Koronardilatation 146 – Sekretion, tubuläre 360 – Strukturformel 93 – Vasodilatation 204 f. – Vorkommen 95 – Wiederaufnahme-Inhibitoren 810 – Wirkung 38 Sertoli-Zellen 566 Servoregelung 9 Seufzeratmung 301 Sexualhormone 563 ff. – männliche, Trainierbarkeit der Muskulatur 606 Sexualität 562, 809 Sexualverhalten 525 ff. SGLT (Na+-Glucose-Symporter) 342, 356 f. – Mutationen 357 – Typ 1 443 f., 449 – Typ 2 444, 450

Shunt, Lunge 293 Shy-Drager-Syndrom 793 Siebung, molekulare 196 Siebungskoeffizient 867 Siderosen (Leber) 471 SI-Einheiten 862 ff. Siggaard-Andersen-Diagramm 314 ff., 320 ff. Signal, optisches s. Lichtreiz Signalsequenz 514 Signalstoffe 35 ff., 510 ff. Signaltransduktion 7, 35 ff. – Endothel 179 – Glomera carotica 299 Signalübermittlung 8, 34, 179, 510 ff. – autokrine 513 f. – chemische 513 f. – endokrine 35 ff., 513 f. – Gefäßinnervation 181 – Gefäßtonus 179 – Kreislaufregulation 198 – neuroendokrine 513 – parakrine 513 f. – parasynaptische 513 SIH s. Somatostatin Silikose 259 Simultankontrast 697 Singen, Atmung 300 Single-Photonen-Emissionscomputertomographie (SPECT) 832 Single-unit-Typ, glatter Muskel 129 Sinne, chemische 629 – mechanische 629 Sinneserfahrung, emotionale Bewertung 808 Sinneshärchen s. Stereovilli Sinneskanäle 728 ff. Sinnesmodalitäten 617, 628, 638, 730 Sinnesphysiologie, objektive 728 ff. – subjektive 729 ff. Sinnesqualität 730 Sinnesrezeptoren 629 Sinneszellen, primäre 721 f. Sinneszellen, sekundäre 629, 637 – – Glomera carotica 299 Sinus coronarius 144 Sinusknoten 150 f., 153, 161 ff. – Aktionspotenzial 153 f. – Depolarisation, diastolische 150, 153, 161 – Ionenströme 153 – Plateauphase 153 Sinusoide 463 Sjögren-Syndrom 424 Skelettmotorik 736 Skelettmuskel (s. a. Muskel) und Muskulatur – Acetylcholin 111 – ADP 107 – Aktionspotenzial 108 – Aktivität, Lungenreflex 297 – Alles-oder-Nichts-Verhalten 113 – Anschlagskontraktion 118 – Arbeitsbereich 116 – ATP 107 – – Regeneration 120 – Bau 102 – Ca2+-Konzentration 114 – Cholinesterase 112

– – – – – – – – – – – –

Durchblutung 187 f., 213, 600 – Körperarbeit 213, 591 – Krafttraining 606 Durchblutungsreserve 205 Dystrophien 102, 104 Einheit, motorische 113 Einzelzuckung 113 Endplattenpotenzial 112 EPSP 112 Erhaltungswärme 122 Erholungswärme 122 Erregungsübertragung, neuromuskuläre 111 – Erschlaffung 111 – Erschlaffungszeit 113 – Gipfelzeit 113 – Gleichgewichtslänge 105, 116 – Gefäßinnervation 181, 203 – Glykogenabbau 120 – Glykolyse 120 – Halteökonomie 107 – Initialwärme 122 – K+-Kanäle 108 – Kontraktion, isometrische 107, 117 – – isotonische 107, 116 – – molekulare Grundlagen 104 – Koppelung, elekromechanische 108 – Kraft, Sarkomerlänge 118 – Kraftanstiegsgeschwindigkeit 110 – Kraftschlag 117 – Lähmung, periodische 109 – Latenzzeit 113 – Lymphe, Proteingehalt 198 – Maxima, isometrische 117 – Maximalkraft, isometrische 117 – Mechanogramm 113 – Mg2+ 107 – Na+-Kanäle, spannungsgesteuerte 108 – O2-Ausnutzung 302 – O2-Bedarf 213 f. – O2-Extraktion 213 f. – Querbrückenzyklus 105 – Rekrutierung 115 – Relaxation 111 – Rückstellkräfte, passive 116 – Ruhe-Dehnungskurve 116 – Ruhelänge 116 – Ruhewärme 122 – Tonus s. Muskeltonus – Tubuli, longitudinale 108 – Unterstützungsmaxima 118 – Unterstützungszuckung 118 – Verkürzungsgeschwindigkeit 119 – Wärmeproduktion 122 – Wirkungsgrad 122 – Zuckung, zeitliche Summation 115 Skelettmuskelfasern, Eigenschaften 114 – Typen 114 Skelettmuskelzelle (s. a. Muskelzelle) – Calciumfreisetzung 154 – Depolarisation 76 f. Sklerodermie 426 Sklerotom 619 Skoliose, Atmungsbehinderung 274 Skotopisches Sehen 695 Slow waves, glatter Muskel 129, 414, 460 SNAP-SNARE-Mechanismus 413 Sodbrennen 408, 426

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Sodium-Vitamin-C-Transporter Sodium-Vitamin-C-Transporter (SVCT) 459 Sojabohnen 438 Solltemperatur 501, 506 Sollwert 9 – Verstellung 9 f. Solvent drag 343 f., 354, 867, 410 Somatoliberin 527, 530 f. – Sekretionsrhythmus 530 – Wirkungsweise 530 Somatomedin (IGF) 40, 530 ff., 555 – Rezeptor 531 – Wirkung 531 Somatostatin (SIH) 97, 416, 429, 440, 467, 486, 527, 530 f., 556 – Entzündungshemmung 641 – Funktion 530 – Insulinsekretionshemmung 554 – parakriner Mechanismus 556 – Sekretionsregelung 556 – Sekretionsrhythmus 530 – Syntheseort 530 – Wirkung 525, 530 – – über G-Proteine 38 Somatotopie 647, 738, 760 Somatotropin (STH) 528 ff. – Bindungsprotein 530 – Biosynthese 529 – – Defekt 532 – Lipolyse 593 – Mangel 532 – Plasmahalbwertszeit 530 – Sekretion 529, 557 – – basale 530 – – Einflussfaktoren 530 – – Regelung 530 f. – – Störung 532 – Speziesspezifität 529 – Substitution 532 – Transport 529 – Überproduktion 532 – Wirkung, anabole 532 – Wirkungsmechanismus 532 f. Somatotropin-inhibierendes Hormon s. Somatostatin Somnambulismus 847 Sone, Maßeinheit 733 Sonic hedgehog protein 823 Sopran 673 Sortieren (Zellbestandteile) 413 Sound pressure level (SPL) 658 Sozialverhalten 809 Spalt, synaptischer 97 f. Spannungsklemme 68 f., 151 f. Spasmus 415 SPECT (Single-Photonen-Emissionscomputertomographie) 832 Spectrin (s. a. Zytoskelett) 230 Speichel, Elektrolytgehalt 381 – muköser 422 Speicheldrüsen 409 – Ausführungsgänge 411, 423 – Azini 411 – Enzyme 422 – Funktion 410 f. – – Gangzellen 413 – Sekretgang (= Schaltstück) 411 – Sekretion 714 – – Kontrolle 423

– Sekretionsrate 422 – – HCO3– 423 Speichelkern 423 Speichelfluss, verminderter 720 Speicher, chemische 477 – O2 304 Speicherarbeit 478 Speiseröhre s. Ösophagus Spektralanalyse 666 Spermatiden 566 Spermatogenese 566 f. Spermatogonien 566 Spermatozoen 566 – Entwicklung 566 f. – Aszension 568 Spermatozyten, primäre 566 – sekundäre 566 SPGP (Sister of P-glycoprotein) 467 Spike-and-Wave (EEG) 840 Spina bifida 823 Spinalisierungssyndrom 751 Spinalmotorik 738, 742 – Kontrolle, supraspinale 753 Sphingolipide 454 Sphinkter (Magen-Darm-Trakt) 413, 792 – äußerer 462 – innerer 462 – Innervation 792 – Oddi 468 Spike-Salve 414 Spinalganglien 402 Spinozerebellum 769 Spiralarterien 565, 570, 582 Spirogramm 262 Spirometer 265, 266, 277 Spirometerbedingungen, Gasvolumen 260 Spironolacton 353 f., 387 Spitzenpotenzial 840 Spitze-Welle-Komplex (EEG) 840 Splicing 18 – alternatives 515, 535 Split-brain-Patient 828 ff. Spontannystagmus 778 Sportart, maximale Sauerstoffaufnahme 603 f. Sportlerherz 159 Sportphysiologie 589 ff. Sprachanbahnung 658 Sprachaudiometrie 669 f. Sprachdominanz 829 Sprache 672, 827 ff. – Aufgaben der linken Hemisphäre 828 – Aufgaben der rechten Hemisphäre 828 – Erlernen 827 Sprachfähigkeit, Lateralisierung 828 Sprachfunktion, Lateralisation 828 – Lokalisation 828 Sprachkompetenz, Defizit 827 Sprachregion, Broca 827 Sprachregionen, Funktionsstörungen 829 Sprachverständnis 668, 733 Spreading-Depression 615 Sprechapparat 672 Sprechen 662 – Atmung 300 Spurenelemente 474, 475 SSEP s. Potenzial, somatosensorisch evoziertes

Stäbchen, retinale 40, 43, 90, 692 f. – Dichte 699 Stammfettsucht 479 Stammzellen 442 – hämopoietische 227 – pluripotente 227 Standardbicarbonat 319 ff. StAR (Steroidogenic Acute Regulatory Protein) 539 Starling-Ludwig-Kräfte 383 Starling-Gesetz 196 f. Startreaktion 213, 602 Start-Transfer-RNA 18 STAT-3 (signal transducer and activator of transcription) 489 Statine 471 Steady state, Gasaustausch 279 – Herzfrequenz 598 – Sauerstoffaufnahme 595 Steatorrhö 439 Steigbügel 660 Steiltyp, Herzachse 168 Stellglied 9 Stellreflexe 635, 755 Stellungssinn 635 Stereovilli 44, 662, 664, 678 f. Sterilität 372 Sternzellen 759 Steroidhormone (s. a. Corticoide) 36 – Eigenschaften 516 – Halbwertszeit 515 – Konzentration im Blut 515 – Rezeptoren 18, 516 – Synthese 515 f., 557 f. – – Regelung 538 f. – – Störung 539 – Wirkung, nicht-genomische 516 – Wirkungsprinzip 516 f. Steuerung 8 STH s. Somatotropin Stickstoffbilanz 474, 478 Stickstoffkorrektur 277 Stickstoffmonoxid s. NO Stimmband 672 Stimmbruch 673 Stimme 673 f. Stimulation, optokinetische 681 Stimulationstest, Adenohypophysenfunktion 529 Stoffaustausch, diffusionslimitierter 194 – durchblutungslimitierter 194 – endothelialer 194 – kapillärer 194 Stoffmenge, Maßeinheit 864 Stoffmengenkonzentration 865 Stofftransport 21 ff., 193 ff. – Gefäßendothel 193 ff. – interstitieller 199 – Mengen 193 Stoffwechsel, aerober 593 – anaerober 592 f. – H+-Bildung 317 – OH–-Bildung 317 – Säure-Basen-Gleichgewicht 316 ff. – Schwangerschaft 578 Stoffwechsellage, azidotische 473 Stoffwechselrate, spezifische 473 Stoffwechsel-RQ 279, 289 Stoppcodon 18

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Tektorialmembran Störgröße 9 f. STPD (Gasmessbedingung) 260 Strabismus 709 – frühkindlicher 709 Strahlung 497 Streckreflex, gekreuzter 747 Streptokinase 252 Stretch-activated channels 631, 640 Stress 461 f., 525 – ACTH-Sekretion 543 f. – Cortisolsekretion 534, 543 f. – Prolactinsekretion 533 Stressantwort 810 Stressor 810 Striatum 759, 762 ff., 804 Strompuls, arterieller 193 – venöser 193 Stromspannungskurve 27 Stromstärke, aortale 142 – Atmung 271 – Kontinuitätsprinzip 188 – Maßeinheit 864 Strömung (s. a. Blutströmung) – ebene 181 – laminare 192, – pulsierende 192 f. – turbulente 192 Strömungsdruck, Atemwege 269 Strömungsgeräusch (Gefäße) 192 Strömungsgeschwindigkeit, arterielle 192 f. – diastolische 192 f. Strömungswiderstand, Arteriolen 180 – Berechnung 188 – Hagen-Poiseuillesches Gesetz 192 – pulmonaler 215 ff., 275 ff. – – fetaler 219 – – postnataler 219 – – Umverteilung, postnatale 219 – regionaler 180 – Venolen 180 Strukturerhaltung 477 Strukturproteine 478 Struma 550 – bei Iodmangel 551 Stufentest nach Margaria 592, 603 Stuhldrang 462, 796 Stuhlkontinenz 795 f. Stützmotorik 682 Stützzellen, Geschmacksknospen 715 – Hodenkanälchen 566 – Riechepithel 722 Subfornikalorgan 522 Sublingualdrüsen 454 Substanz P 91 f., 97, 417 f., 420, 424, 442, 527, 641, 644, 654, 764 f. – Gefäßinnervation 182 – Kältedilatation 214 – Synapse 91 – Vasodilatation 202 Substratkonzentration 28 Subtraktionsalkalose 322 Subtraktionsazidose 321 Succinylcholin 87 f., 92 Sucht 12 Sucrose s. Saccharose Sudeck-Syndrom 794 Sulfat, tubuläre Resorption 342 – Koppelung 359

Sulfatierung 466 Sulfotransferasen 466 Summation 87 Summenaktionspotenzial 623, 667 Summenpotenzialdifferenz, myokardiale 164 Summenvektor 164 Superkompensation nach Körperarbeit 608 Superposition 114 Surfactant, Lunge 266 f., 577, 583 – Mangel 586 f. SVCT1 (Sodium[Na2+]-Vitamin-CTransporter) 459 Sympathektomie 790 Sympathikotonus 789, 793 – Kreislaufregulation 199 – Modulation, atemsynchrone 798 – – bei Lagewechsel 210 – Steigerung, reflektorische 793 Sympathikus 417, 424, 786 ff. – Aktivierung bei Blutvolumenverlust 207 – Aktivität 502 – – Fehlregulation 794 – – Steigerung, reflektorische 793 – Atemwegswiderstandskontrolle 270 – Bronchien 791 f. – Chemorezeptoreneinfluss 798 – Funktion 789 ff. – Gefäßtonus 181, 789 f. – Herzfunktion 59, 157 f., 162 – Herzrhythmus 162 f., 791 f. – Hirndurchblutung 859 f. – Kreislaufregulation 199 – Magen-Darm-Trakt 400 f., 792 f. – Medulla-oblongata-Einfluss 797 f. – Musculus detrusor vesicae 796 – Neuron, postganglionäres 786 f. – – präganglionäres 786, 793 f. – Pressorezeptoreneinfluss 798 – Pupillenweite 790 – Tonisierung der Venen 160 – Transmitter 36 f., 786 Sympatholytika 788 Sympathomimetika 788 Symport, Carrier 341 ff. – Definition 28 – Na+-Abhängigkeit 28, 34 Synapse 80 ff. – axodendritische 613 – axosomatische 613 – chemische 81 f. – cholinerge 82, 92 – – Agonisten 92 f. – – Antagonisten 92 – – Blocker, kompetitiver 92 – – Transmittersynthese 91 – dendro-dendritische 722 – elektrische 54, 80 f. – – Ionenstrom 80 f. – – Vorkommen 80 f. – Elektronenmikroskopie 83 – exzitatorische, gleichzeitige Erregung mit inhibitorischer Synapse 89 f. – – Langzeitpotenzierung 93 – – Vorkommen 93 – inhibitorische, Aktivierung 89

– muskarinische 88 f. – – Agonisten 92 – – Antagonisten 92 – – Blocker, kompetitiver 87 f., 93 f. – – – nichtkompetitiver 89, 92 – – Vorkommen 92 – neuromuskuläre 746 – – GABAerge 765 – nikotinische 66 ff., 93 – – Agonisten 94 – – Antagonisten 92 – – Blocker, kompetitiver 87, 93 f. – – Vorkommen 92 – Plastizität 752 f. Synapsenzeit 87 Synapsin 82 f. Synaptobrevin 84 Synaptotagmin 84 Syndrom, apallisches 756 – hyperkinetisches 768 – metabolisches 490 Syntaxin 84 Synzytium 54, 571, 573 – funktionelles 54, 123, 130 – – myokardiales 161 – Trophoblast 571, 573 System, dopaminerges mesolimbisches 812 – extrapyramidalmotorisches 762 – limbisches 650, 716, 807 f. – – Störungen 809 – – Struktur 807 – – mesolimbisches 809 – magnozelluläres 781 – motorisches 736 – okulomotorisches 763 – retikulospinales 763 Systole 138, 155 – Dauer, Sympathikuseinfluss 158

T T3 s. Triiodthyronin T4 s. Thyroxin Tachypnoe 282 Tagessehen 695 – Sehschärfe 699 TAL (Thick ascending limb = dicker aufsteigender Teil der HenleSchleife) 345 Talent 590 Tamm-Horsefall-Protein 363 Tannine 422, 460 Tastscheiben 629 f., 632 Tastsinn 633 Taubheit 308, 670 – angeborene 44 Tauchen 306 ff. – Dekompressionskrankheit 308 Tauchreflex 506 Taurin, Resorption, tubuläre, Carrier 358 Täuschung, optische 697 TBG (thyroxinbindendes Globulin) 548 ff. TBPA (thyroxinbindendes Präalbumin) 547 Tectum 646 T-Effektorzellen s. Lymphozyten Tektorialmembran 662

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Temperatur Temperatur (s. a. Körpertemperatur) – Atemgas 260 ff. – CO2-Bindung im Blut 286 – Maßeinheit 865 – O2-Affinität des Hämoglobins 284 Temperaturerhöhung, intramuskuläre 596 f. Temperaturgradient 494 Temperaturregulation 11 – Atmungsregulation 300, 477 – Kreislauffunktion 176, 209 – Kreislaufregulation 214 – Neugeborenes 585 Temperatursinn 629, 634 Tenor 673 TENS (Nervenstimulation, transkutane elektrische) 644 Testis s. Hoden Testosteron 566 f. – Freisetzung 566 – Synthese 541 – – fetale 578 Tetanie, hypokalzämische 402 – normokalzämische 403 – Symptome 402 f. Tetanus 114 Tetrahydrofolat (THF) 457 – N10-Formyl 457 – N5,N10-Methylen 457 – N5-Methyl 457 Tetraethylammonium 68 f. Tetraiodthyronin s. Thyroxin Tetrodotoxin (TTX) 68 f., 74 ff., 641 T-Gedächtniszellen s. T-Lymphozyten TGF (Transforming growth factor) 60 TGF (Tubuloglomerular Feedback) 334 f., 338, 370 Thalamus 519, 644, 682, 759, 764, 773, 804 – Kerne 646, 716 – – mediale 648 – Sehbahnverschaltung 706 – Ventrobasalkomplex 646 f. T-Helferzellen (s. a. T-Lymphozyten) 242, 514 Thebesische Venen 294 Theorie 4 Thermodynamik, Hauptsätze 477 Thermogenese 481 – zitterfreie 502 Thermoneutraltemperatur 503 Thermoneutralzone 495 Thermoregulation s. Temperaturregulation Thermorezeptoren(-sensoren) 500 – Adaptation 634 Thermosensibilität 628 Theta(ϑ)-Wellen 837 THF (Tetrahydrofolat) 457 Thiamin 476 Thiazide, Wirkort 353 Thiazid-sensitiver Cotransporter (TSC) 348 Thiocyanat 547 f. Thorax 262 ff. – Compliance 263, 266 – Druck-Volumen-Beziehung 264 f. – Elastance 266 – Rückstellkraft 264 ff.

– Ruhedehnungskurve 265 f. Thrombasthenie 248 Thrombin 250 f. – Rezeptor 60 Thrombinzeit 251 Thromboplastinzeit, partielle 251 Thrombopoietin 40, 227, Thrombose 179, 303 Thrombospondin 246 f., 253 Thromboxan, Vasokonstriktion 204 Thromboxan A2 204 Thromboxan B2 204 Thromboxan B2 465 Thrombozyten, Aggregation 248 f. – – Hemmung 204 – Aktivierung 246 f. – – Hemmung 246, 251 – Anheftung an Kollagen 246 – Faktoren, adhäsionsfördernde 246 – – aggregationsfördernde 246 – – wachstumsfördernde 246 – Gerinnungsfaktoren 246, 251 – Lebenszeit 227 – Rolle bei der Angiogenese 253 – Sekretion 247 f. Thrombozytengranula 246 f. Thrombozytenmembran, Umorganisation 248 f. Thrombozytenthrombus 248 f. Thrombozytopathie 248 Thrombozytopenie 245 Thrombus, roter 249 f. – – Aktivierungsphase 249 f. – – Koagulationsphase 250 f. – – Retraktionsphase 251 f. – weißer 246 Thymosin 512 Thymus 238 – Hormonbildung 512 Thyreoglobulin 547 f. Thyreoideastimulierendes Hormon (TSH) s. Thyreotropin Thyreoliberin (TRH) 489, 527 – Anorexigen 488 – Funktionen 545 – Struktur 545 – Synthese 545 – Test 548 – Wirkung 525 Thyreostatika 551 Thyreotropin (TSH) 528, 544 f. – Bestimmung beim Neugeborenen 551 – Biosynthese 553 – Funktionstest 548 Thyreotropin-Releasing-Hormon (TRH) s. Thyreoliberin Thyreotropinrezeptor, Autoantikörper 546 f. Thyroxin (T4) 36 ff., 545 ff. – Deiodierung 550 – fetales 578 – Halbwertszeit 547 – Plazentapassage 578 – Umwandlung zu Triiodthyronin 548, 550 Tiefenschmerz 652 Tiefenwahrnehmung 708 f., 781 Tierversuch 4 ff., 612 Tight Junctions 56 ff.

– – Geschmackssinneszellen 715 – – Hirnkapillare 850 ff. Tinctura opii 447 Tinnitus 670 Tintenfischaxon 5 Tip links 44, 662 ff., 677 Tissue plasminogen activator (tPA) 252 Titin 102 f. – Herzmuskel 131 Titrationsazidität, Harn 317, 322, 367 T-Killerzellen s. T-Lymphozyten T-Lymphozyten (s. a. Lymphozyten) 238 f. – Aktivitätsunterdrückung, therapeutisch induzierte 245 – Funktion 242 f. – Gedächtniszellen 238 f., 242 – Helferzellen 238 f., 242, 514 – – Kooperation mit B-Lymphozyten 243 – Killerzellen 38, 238, 242 f. – zytotoxische 238, 242 Tocopherol 476 α-Tocopherol 471 Tod 45 Toleranz 813 – immunologische, Schwangerschaft 570 Ton 658 f. Tonhöhenempfindung 660, 666 Tonizität 866 f. Tonofilamente 16 Tonometrie, Bulbus oculi 690 Torsion 775 Totalkapazität s. Lungenkapazität Totenstarre 107 Totraum (Atmung) 279 ff. – alveolärer 293 – anatomischer 256, 279 ff., 294 – – Bohr-Formel 280 – apparativer 273 – funktioneller 294 – physiologischer 294 – serieller s. Totraum, anatomischer Totraumventilation 279 – alveoläre 293 Totraumvolumen 257, 279 ff. – Berechnung 280 Toxine 38 f. – bakterielle 446 Toxizität, O2 305, 307 tPA (tissue plasminogen activator) 252 Tracer, radioaktiver 857 Tractus solitarius 484, 485 Tractus spinomesencephalicus 646 – opticus, Gesichtsfeldprojektion 699 f. – solitarius, Atmungsregulation 296 – spinocerebellaris dorsalis 752 – – ventralis 752 – spinoolivocerebellaris 752 – spinoreticularis 646 – spinoreticulocerebellaris 752 – spinothalamicus 645 – vestibulospinalis 682 Training 503, 604 ff. – Lactatclearancerate 594 – Muskel 115 Trainingszustand 602 Tränenflüssigkeit 691 Tränensekretion 691, 714 Tranquilizer 94

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Urämie Transcobalamin 226 Transcobalamin II 459 Transcortin 226 Transduktion 14, 617, 729 – Kanäle 664, 678 – Lichtreiz 686 – noxische Reize 640 – Schallsignal s. Schalltransduktion – Vorgang 678 Transduktionsstrom 617 Transferrin 226, 459 f., 469, 471, 573 – Rezeptor 460 Transforming growth factor (TGF) 60 Transforming growth factor β 246 f. Transfusionszwischenfall, hämolytischer 232 Transgen 5 Transkription 17 f., 36, 516 Transkortin 469 Translation 18 f., 516 – Beschleunigung 676, 679 Transmitter 36, 82 ff., 91 ff., 513 f. – Abbau 90 – Agonist 87 f. – Antagonist 87 f. – Diffusion im synaptischen Spalt 86 – Durchblutungsregulation 202 f. – Exozytose 82 ff., 93 – Freisetzung 82 ff. – Gefäßinnervation 181 – Interaktion 792 – Ionenkanalöffnung 85 ff. – – sekundäre Botenstoffe 88 f. – Ionenkanalsteuerung 70 f. – Koronardurchblutung 145 f. – Magen-Darm-Trakt 420 – Nervensystem, vegetatives 786 ff. – Rezeptoren 85 ff. – Rezeptorprotein 85 f. – Steuerung der ACTH-Sekretion 536 f. – Synthese 91 f. – Transport, axonaler 91 f. – Wiederaufnahme, präsynaptische 91 ff. Transmuraldruck s. Druckdifferenz Transplantationsantigene 244 Transport, aktiver 30 ff., 339 ff., 410, 868 – – Blut-Hirn-Schranke 853 – axonaler 42, 613 f. – – langsamer 614 – – schneller 42, 613 – carriervermittelter (s. a. Carrier) 8, 15, 28 f., 852 – – Gegentransport s. Antiportcarrier – – Kotransport s. Symport – elektrogener 28, 341 ff. – elektroneutraler 342 – epithelialer 410 – konvektiver 867 – mukoziliärer 258 – parazellulärer 56, 410 – passiver 410 – primär-aktiver 32, 340 ff. – rheogener 343 – sekundär-aktiver 341 ff. – transplazentarer 573 f. – – Carrier 572 – transzellulärer an Epithelien 59, 410 – tubulärer 339 ff. – – Triebkräfte 341

Transportkapazität, Plazenta 571 – für Sauerstoff 596 Transportmaximum, Glucose 357 Transportprotein(e) – Atemgase s. Hämoglobin – im Blut 515 f. – Corticoidbindung 539 – Membranprotein, integrales 15 f. – Schilddrüsenhormone 547 – Selektivität 32 Transportrate, maximale (Jmax) 28 Transportsystem, s. Carrier – sekundär aktives s. Transport, aktiver Transthyretin 469, 547 f. Transzytose 451 Trauer 809 T(endon)-Reflex 746 Trehalase 358 Tremor 767 T1-Rezeptoren 718 T2-Rezeptoren 718 TRH (Thyreotropin-releasing hormone) s. Thyreoliberin 489 Triacylglycerine 453 f., 469 f., 478 f. – Synthese, Insulinwirkung 553, 555 Triacylglycerinlipase 454 Triamteren 348, 353 Triathlon 604 Triebkraft, chemische 380 – elektrische 24 – elektrochemische 24 f. – transmembranale 24 ff. Trigeminusneuralgie 653 Triglyceride s. Triacylglycerine Triiodthyronin (T3) 545 ff. – Halbwertszeit 547 – reverses (rT3) 546, 548 Trikuspidalklappenaktion, Venendruckkurve 199 Trinkverhalten 523 Tripeptide, Absorption im Darm 448 Triptane 641 Trisaccharide, Verdauung 448 Tritanomalie 712 Tritanopie 712 Trophische Störung, Sympathikusaktivitätsstörung 794 Trophoblast 569 Tropomyosin 103, 109, 111, 124, 133 Troponin 109, 124, 133 Troponin C 103, 111 – kardiales 131 TRPM6 (Mg2+-Kanal) 363, 459 TRP-Rezeptorkanäle (transient receptor potential) 635, 640 TRVP1-Rezeptorkanal 639 f. Trypsin 437, 451 Trypsininhibitoren 437 Trypsinogen 451 TSC (Thiacid-sensitiver Cotransporter) 348 TSH s. Thyreotropin T-Suppressorzellen s. T-Lymphozyten T-System s. Transversal-tubuläres System TTS (Temporary threshold shift) 669 Tuba Eustachii 660 – – Verschluss 289 – uterina 569 Tubenschwangerschaft 569

Tuberculum olfactorium 723 d-Tubocurarin 87, 92, 112 T-Tubuli 108 Tubuli, transversale 108 – longitudinale 108 Tubuloglomeruläre Rückkoppelung (TGF) 334 f., 338, 370 Tubulus (s. a. Nierentubulus) – intermediärer 345 Tumor, Gewebehypoxie 304 – Lunge 274 Tumorkachexie 484 Tumornekrosefaktor α (TNF-α) 489 Tumorwachstum 477 – Auszehrung anderer Gewebe 477 Thermorezeptoren(-sensoren) 500 Typ-I-Diabetes 557 Typ-II-Diabetes 554, 557 Tyrosinkinase 40, 55 – Rezeptor 39, 558 T-Zellen s. T-Lymphozyten

U Überblähung, Lunge 307 Übergewicht 408, 472, 477, 483, 715 – Diabetes mellitus 522 – beim Neugeborenen 578 Überlebenszeit, Anoxie 304 Überträgerstoff s. Transmitter Übertragung, ephaptische, Aktionspotenzial 623 – synaptische s. Transmitter, s. Synapse UCP (uncoupling protein), Typ 1 – 3 486 Ultrafiltrat 339 – glomeruläres 327 – Zusammensetzung 339 Ultrafiltrationskoeffizient 336, 867 Ultraschall 728 – Fetaldiagnostik 576 Umami 714, 718 – Rezeptoren 718 Umfeldhemmung 630, 649 Umgebung, thermoneutrale 481 Umgebungstemperatur 480, 495 – Hautdurchblutung 215 – hohe, Hämodynamik 215 Umverteilungshypothermie 495 Umweltbedingungen, Körperarbeit 607 Unbehaglichkeitsschwelle 660 Undines Fluch, Atmungsregulation 300 Uniport (s. a. Carrier) 28 f. – Niere 356 – Plazenta 573 f. Unruhe, Hyperoxie 305 Unterkühlung 504 Unterschiedsschwelle 660, 731 Unterstützungsmaxima, Skelettmuskel 118 Unterstützungszuckung, Skelettmuskel 119 Up-Regulation, Rezeptoren des vegetativen Nervensystems 783 Urbach-Wiethe-Syndrom 817 Urämie 336, 373 – Atmung 301 – Dialyse 373 f.

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Urat Urat 361 – Sekretion, tubuläre 359 – Stein 364 Ureter 327 Urethra 327 Urocortin 488 f. – Anorexigen 488 Urokinase 252 Urolithiasis 363 f. Usher-Syndrom 44 UT1, UT2 (Urea Transporter, Typ 1, 2 = Harnstoffcarrier) 351 Uterus 566 – Aktivität, motorische 579 ff. – – – Nachgeburtsperiode 582 – – – Schrittmacherbezirk 580 – – – Steuerung 579 f. – Muskulatur 579 f. – – Kontraktion 579 f. – – – lokale 580 – Schleimhaut s. Endometrium Utriculus 677 ff.

V V1(Vasopressin = ADH)-Rezeptoren, Typ 1 389 V2-Rezeptor 33, 389 f. Vagotomie 432 Valsalva-Versuch 183, 268 f. – Herzzeitvolumen 268 f. Vanilloide 640 Van‘t Hoffsches Gesetz 494 Varikositäten, terminale 202 Vas afferens 336 f. – efferens 336 f. – – Druck 344 Vasa recta 332 – – Gegenstrom-Austauschsystem 350 – vasorum 181 Vascular endothelial growth factor (VEGF) 246, 253 Vasoactive intestinal peptide s. VIP Vasodilatation 181, 192, 202, 789 – aktive 502 – aszendierende 206 – Blutdruckverteilung 190 – endothelvermittelte 204 – Erektion 567 – flussabhängige 206 – Gewebehormone 199 – Hirngefäße 296 – hypoxische 168, 292 f. – – Höhentoleranz 306 – – Körperkapillaren 292 f. – – zerebrale 306 – Körperarbeit 602 – lokalchemische 203 f. – lokale 203 – Lungenstrombahn 275 – metabolische 202 – Prostaglandine 204 – pulmonale 217 – zerebrale 859 Vasokonstriktion 181, 388, 790 f. – Blutdruckverteilung 190 – bei erhöhtem venösem Druck 206

– hypokapnische, zerebrale 306 – – Höhentoleranz 306 – hypoxische 275 f., 290, 299, 306 – – Lunge 271, 275 f., 292, 299, 306 – – Mechanismen 271, 275 f., 292 f. – kollaterale 213 – myogene 182 f., 202 – neurogene 206 f. – – bei Muskelarbeit 213 – pulmonale, hypoxische 217 – Thromboxan 204 Vasomotoren s. Nerven, vasomotorische Vasomotorik, zerebrale, Einfluss der Blutzusammensetzung 859 Vasopressin s. Adiuretin Vasotocin 523 Vater-Pacini-Körperchen 632 Vegetatives Nervensystem 786 ff. VEGF (Vascular Endothelial Growth Factor) 246, 253 Vektor 164 f. Vektorkardiographie 164 f., 166 Vektorschleife 167 f. Vena(-ae) arcuatae 332 – cava, Wandzusammensetzung 178 – interlobares 332 – interlobulares 332 – renalis 327, 332 Venen, Compliance 183, 211 – Dehnungsrezeptoren 168 – Druck, Beine, Lageabhängigkeit 211 – – Kurve 199 – – zentraler 199, 276 – Insuffizienz, chronische 212 – Klappen 212 – Kollaps 209, 212 – Querschnitt 182 – Tonus 211 f. – Wand, Zusammensetzung 178 Venolen 182 – postkapilläre 193 – Strömungswiderstand 179 – Wand, Zusammensetzung 178 Venovasomotorische Reaktion 206 Ventilation 256, 276 ff. – alveoläre 279 f., 292 f. – – Berechnung 279 – – Körperarbeit 597 f. – – Schwangerschaft 580 – Totraum 279 – Totraumventilationsanteil 280 f. – veränderte 281 – Verteilung 290 ff. – willkürliche, maximal mögliche s. Atemgrenzwert Ventilations-Perfusions-Inhomogenität 290 ff. – Gewebehypoxie 303 Ventilations-Perfusions-Verteilung 290 f. Ventilebenenmechanismus 142 f. Ventrikel, dritter 521 – linker, Beschleunigungsarbeit 192 f. Ventrikeldepolarisation 166 Ventrikeldruck 140 f. Ventrikelerregung 166 Ventrikelfüllung 140 – diastolische 139, 157, 171 – bei erhöhter Herzfrequenz 157 f. Ventrikelfunktionskurve 157, 160

Ventrikelrepolarisation 166 Ventrikelvolumen 140 – enddiastolisches 140 – endsystolisches 140 Ventrobasalkomplex, Thalamus 644, 646 f. VEP s. Potenzial, visuell evoziertes Verantwortung 802 Veratridin 74 f. Verbindungstubulus (= Verbindungsstück = CNT [connecting tubule]) 348 Verbrennungsopfer 475, 479 Verdampfungsenthalpie 498 Verdauungsarbeit 478 Verdauungsphase, kephalische 412, 422 Verdauungstrakt s. Magen-Darm-Trakt Verfahren, bildgebendes 612 Vergenzbewegung 775, 781 f. Vergessen 815 Vergiftung 304 – Atmung 301 – Atmungskette 303 f. – Dialyse 373 – O2, Hyperoxie 305, 307 Verhalten 11, 802, 808, 812 – emotionelles 799 – Muster, hypothalamische Neuropeptide 525 Verkürzungsgeschwindigkeit, Skelettmuskel 119 Verrechnung, neuronale 623 – – Bahnung 623 – – Hemmung 624 f. Verschlussdruck, kritischer 189 Verschlussikterus 472 Verschmelzungsfrequenz 115 Very low density lipoproteins (VLDL) 226 f. Vesikel 18 ff., 195 f. – angedockte 83 – große, elektronenoptisch dichte 91 – kleine, elektronenoptisch transparente 91 – präsynaptische 91 – sekretorische 413 – synaptische 82 f. – Transport 18 f., 43 Vestibuläre Kompensation 755 Vestibulariskerne 680 f. Vestibularorgan 632, 676, 738 Vestibulospinaltrakt 753 Vestibulozerebellum 769, 773 Vibrationsempfindung 630 Vibrationsreize 632 Vibrationsreflex 747 Vicq-d’Azyr-Bündel 808 VIP (vasoaktives intestinales Polypeptid) 97, 418, 420, 431, 440, 446, 447, 467, 786 Viskosität 187 – Blut s. Blutviskosität – relative 190 – scheinbare 190 f. Visus 628, 676 f. Vitalkapazität (VC) 261 ff. – Altersabhängigkeit 263 – forcierte (FVC) 263, 271 Vitamin(e) 475 – Absorption (Darm) 457

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Widerstand – Defizienz 475 – fettlösliche 476 – lipophile 473 – Status 475 – wasserlösliche 476 – Zufuhr, toxische 475 Vitamin A 454, 457, 471, 476 – Mangel 823 Vitamin B1 448, 459, 476 Vitamin B12 (Cobalamin) 448, 458, 476 – Mangel 458 – tubuläre Resorption 359 Vitamin B2 448, 459 Vitamin B6 448, 459, 476 Vitamin C 448, 459, 460, 476 – oxidiertes, Plazentapassage 573 Vitamin D 454, 457, 476 – (inkl. Calcidiol, Calcitriol u. a. Metaboliten) 400 ff., 512 – Aufnahme, exzessive 403 f. – Mangel 326, 402 – Metabolismus 400 f. – Synthese 515 Vitamin D3 471 Vitamin E 454, 457, 471, 476 – Exzess 475 Vitamin H 448, 459, 476 Vitamin K 457, 471, 476 VLDL (Very Low Density Lipoproteins) 226 f., 457, 470 VNO (vomeronasales Organ) 714, 721, 723 Vokal 673 Vokalbildung 673 Vollblut, Pufferkapazität 319 Völlegefühl 434, 636 Volt 865 Volumen, extrazelluläres s. Extrazellulärvolumen – Atemgas 260 f. – interstitielles, Bestimmung 379 – – zerebrales 853 – intrazelluläres s. Intrazellulärvolumen – Maßeinheit 863 Volumenbelastung des Herzens 156 Volumendefizit, akutes 207 Volumenelastizitätskoeffizient 183 Volumenmessbedingungen, Gase 277 Volumenregulation 198 – der Zellen 391 Volumenretention 201 Volumenverschiebung, intra-extravasale 201, 207 – intra-extra-zelluläre 207 VNO (vomeronasales Organ) 714, 721, 723 VOR s. Reflex, vestibulookulärer Vordehnung, Herzmuskel 155 ff. – preload 158 Vordepolarisation 67 – Schwellenwert 67 Vorderseitenstrangsystem 643, 645 Vorhof (Herz), Erregungsausbreitung 166 f. – Dehnung, Rückkoppelung, negative 160 – Druck 142 – Erregung 161 f.

– Flattern, Elektrokardiogramm 171 – Flimmern 162 – – Elektrokardiogramm 171 – Repolarisation 166 – Rezeptoren 199 f., 207 Vorlast 156 ff. Vorwärtshemmung 624 f., 744, 748 Vorwehen 580 V˙A/Q˙-Inhomogenität 292 ff. V˙A/Q˙-Verhältnis 290 ff. V1-Rezeptor 389 V2-Rezeptor 389 Vv. concomitantes 496

W Wachen 842 Wachheit 805, 842 Wachstum 477, 479 – fetales 574 f. – Insulinwirkung 555 – Schilddrüsenhormoneinfluss 549 Wachstumsfaktor(en) 36, 40, 423, 531, 616 – für Fibroblasten 253 – hämopoietische 227 f. – – Rekombination, gentechnische 227 f. – – therapeutischer Einsatz 227 – für Keratinozyten 253 Wachstumshormon s. Somatotropin Wachstumsinhibitoren 616 Wachstumskegel 824 Wachstumssteuerung, axonale 722 Wachstumsstörung 549 Wada-Test 830 Wahn 809, 811 Wahres Plasma, Pufferung 319 Wahrnehmung 728 Wahrnehmungsschwelle, Geschmack 719 f. – Riechen 725 Wallpapillen 716 Wanderwelle (im Ohr) 663 f. Wandschubspannung 191 f. Wandspannung, Herz 159 Wärme, Akklimatisation 505 – Aufnahme 503 – Austausch 496 – Bildung 477, 495 – – zitterfreie 486, 585 – – – Neugeborenes 585 – – kontraktionsunabhängige 486 – – Nahrungsinduzierte 486 – evaporativer Abstrom 499 – Haushalt, Verhalten 502 – Leitfähigkeit 497, 506 – Leitung 496 – Rezeptor s. Warmrezeptor – Stau 506 – Strahlung 497 – Strömung 497 – Transfer 496 – Transport, innerer 503 Wärmeempfinden 634 Wärmemenge, Maßeinheit 864 Wärmetransferkoeffizient 497

Warmpunkte 634 Warmreiz, Atmung 300 Warmrezeptor(en) 500, 629, 634 Wasser, Aufnahme, Regulation 389 ff. – – ungenügende 391 – Ausscheidung, renale, Einflussfaktoren 391 – – – erhöhte 391 – – – Regulation 389 ff. – Bestand des Körpers 378 f., 591 – Bilanz 378, 388 ff. – Defizit 391 – Diffusion 194 f. – Einlagerung 326 – Einstrom in die Zelle 33 – freies, Ausscheidung 352 f. – – Retention 391 – Gehalt, interstitieller 197 – – des Körpers 378 f. – Haushalt, Bilanzierungsfunktion der Niere 326 – – Entgleisung 326 – – Neugeborenes 586 – Intoxikation 390 – Kanäle s. AQP – Mangel 391 f. – Resorption, fraktionelle, Bestimmung 344 – – Sammelrohr 349 – – tubuläre 341, 344 f., 523 – Retention 390 f. – – ADH-abhängige 391 – – ADH-unabhängige 391 – – Anpassung des intrazellulären Milieus 391 – – Schwangerschaft 579 – Strömung, konvektive, interstitielle 197 – Transport, Blut-Hirn-Schranke 853 – Umsatz, neonataler 586 – Verlust 391 f. Wasserdampf 269 f. Wasserhaushalt, intestinaler 442 Wasserhomöostase 410 Wasserdiurese 349 ff., 352 Watt 864 Weber-Beziehung 728 f. Weber-Versuch 671 f. Wehen 524, 580 – Schrittmacherbezirk 580 Weitsichtigkeit 688 Werner-Syndrom (= Progeria adultorum) 46 f. Wernicke-Sprachregion 827, 829 Westphal-Edinger-Kern 690 Widerstand, Atemwege 269 ff. – elektrischer, Maßeinheit 865 – Lungenstrombahn 275 ff. – peripherer, erhöhter 388 – – – Kreislaufadaptation 202 – – bei Lagewechsel 210 – – Schwangerschaft 578 – – Senkung, Kreislaufadaptation 202 – – totaler 269 ff. – – – Abfall, Kreislaufregulation 202 f. – – – Kreislaufschock 209 – – – Regulation 199 – – Zunahme 201

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Widerstand Widerstand, vaskulärer, pulmonaler 275 f. – – – Abhängigkeit vom Lungenvolumen 275 Widerstandsgefäße 179 f. – Adiuretinwirkung 207 – Adrenalinwirkung 203 – Dilatation, postischämische 205 – Kollaps 189 – Konstriktion 199 – – reflektorische 202 – myogene Antwort 206 – Ruhetonus 180 – terminale, Dilatation 205 – zerebrale, Dilatation 859 Widerstandshochdruck, Extrazellulärvolumen 388 Widerstand, transepithelialer 410 Wiederbelebungszeit, Anoxie 304 – des Gehirns 856 Wiedererkennen 806, 809 – Störung 806 Willebrand-Faktor 246 ff. Willkürbewegungen 773 Wilson-Krankheit 471 Wilson, EKG-Ableitungen 164, 168 Wind-Chill-Faktor 497 Windkessel 143, 177 ff., 183 ff. – Aorta 143 ff., 183 ff. – Dehnbarkeit 192 f. Winkelbeschleunigung 679 Winkelblockglaukom 690 Wirkung, spezifisch dynamische 478, 481, 496 Wirkungsgrad 590 Wundheilung 245 f., 253 Wundstarrkrampf 614 Wundverschluss 249 ff. Würgen 714 Würgereflex 637

X Xerostomie 424

y Yersinien 447

Z Zähne 422 Zapfen, retinale 40, 43, 90, 692 f., 709 ff. – – Dichte 699 – – Pigment 709 f. – – Typen 709 f. Zeitgeber 845 – Ovar als 564

Zelle(n) 7 f., 14 ff. – amakrine, retinale 693 f., 696 – antigenpräsentierende 238 f., 242 f. – dendritische 244 – Differenzierung, Steuerung 40 – elektrische Kopplung 55 – endokrine 417, 426, 510 – Entsorgung 8 – Funktionssteuerung 40 – komplexe 703 – myoepitheliale 412, 424 – Na+-Einstrom 33 f. – pH-Wert 33 f. – Proliferation 40 – Schwellung 33 f., 381 – Teilung 18 – Tod 45, 381 – – bei O2-Mangel 304 – Versorgung 8 – virusinfizierte 243 f. – Volumen 33 – – Homöostase 34 – Volumenregulation 391 – Wassereinstrom 33 Zelladhäsionsmoleküle 824 Zelllinie, immortale 6 Zellkern 14 f., 19 – Nervenzelle 613 Zellkultur 6 f. Zellmembran (s. a. Membran; s. a. Plasmamembran) 7 f. – Funktion 7 – Gesamtleitfähigkeit 76 – Ionenleitfähigkeit 67 f. – Leitfähigkeitsänderung 66 – Nervenzelle 613 – Porensystem, funktionelles 196 – Potenzial s. Membranpotenzial – Ruheleitfähigkeit 66 f. Zelltod, programmierter s. Apoptose Zellverband 36, 54 ff. – Entkoppelung 36 – Nachrichtenaustausch 80 – Verbindungsstellen 36 Zellwachstum, Steuerung 40 Zell-Zell-Verbindung 56 Zentralarterienverschluss 698 Zentralnervensystem (s. a. Gehirn; Kortex; Rückenmark) 61, 612 – Adiuretinwirkung 523 – Dehydratationsfolgen 392 – Glucocorticoidwirkung 540 – K+-Konzentration, extrazelluläre 614 – Lichtreizverarbeitung 746 ff. – Reizinformationsverarbeitung, parallele 568, 701, 705 f. – Steuerung des vegetativen Nervensystems 799 f. – Wachstumsinhibitoren 616 – Wirkung hypothalamischer Neuropeptide 528

Zerebellum s. Kleinhirn Zerebrozerebellum 769 Zervikalkanal 566 Zervikalmark, Atmungsneurone 296 Zervixschleim 566, 569 Zeugungsunfähigkeit 567 Zielbewegungen, nicht-ballistische 773 Zielfolgebewegung 776, 781 Zielmotorik 736, 745, 757 Zilien s. Stereovilli Zink 474, 475 Zirbeldrüse (Corpus pineale) 513, 534 Zirkulation, entero-hepatische 459 Zirkumventrikuläre Organe 521 f. – – Kapillaren, fenestrierte 853 Zöliakie 422, 451 Zollinger-Ellison-Syndrom 436 Zona fasciculata 537 f. – glomerulosa 537 ff. – reticularis 537 f. Zoneneinteilung der Lunge 217 Zonulae adhaerentes 130 Zorn 809 Zotten (Darm) 410 – Atrophie 422 Zunge 422 Zwang 809 Zweifüßlergang 750 Zweipunktschwelle 628, 630, 648 – Berührungsempfindung 628 – Finger 648 – Lippen 648 Zwei-Schalen-Versuch 634 Zwerchfell, Inspiration 268 Zwergwuchs, hypophysärer 529, 532 Zwischenzellen s. Schaltzellen Zwölffingerdarmgeschwür 408 Zyanose 283 Zygote 569 Zymogene 437 Zystinose 359 Zystinurie 357, 364 Zystische Fibrose (= CF = Mukoviszidose) 258, 441 Zytokine (s. a. Interleukine) 40, 179, 243 ff., 513 – Fieber 512 – Immunabwehr, zelluläre 243 ff. Zytoplasma s. Zytosol Zytoskelett 14 f., 58 – erythrozytäres 229 – Fixierung synaptischer Vesikel 82 – Kanalproteinverankerung 74 Zytosol (s. a. Zytoplasma) 15, 18, 33, 64 f. – Ionenzusammensetzung 32, 64, 380 – pH-Wert, Homöostase 35 f., 392 f. Zytotrophoblast 571

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Abkürzungsverzeichnis* Abkürzung ■ AaDO2 ACE ACh ACTH ADH ADP AGS AgRP AIDS ALS AMH AMP AMPA ANF = ANP ANV AP4 = APB AP5 = APV aPTT APUD-Zellen AQP ARAS ARDS ARL ASBT ASIC ATP ATPS AVAVP ■ BDGF BERA BE BMI BNP BOLD 2,3-BPG BRAC BSC BSEP BSG BTPS ■C CACA cADPR CaMK cAMP CAP CART

Zusammengestellt von Markus Kluge und Rainer Klinke 927

Erklärung

Abkürzung

Erklärung

alveolo-arterielle O2-Differenz angiotensin converting enzyme Acetylcholin adrenocorticotropes Hormon antidiuretisches Hormon = Adiuretin = AVP Adenosindiphosphat adrenogenitales Syndrom agouti-related peptide acquired immunodeficiency syndrome/ erworbenes Immunschwächesyndrom amyotrophe Lateralsklerose Anti-Müller-Hormon Adenosinmonophosphat α-Amino-3-hydroxy-5-methyl-4-isoxazolpropionsäure atrialer natriuretischer Faktor = Atriopeptin akutes Nierenversagen 2-Amino-4-phosphono-buttersäure 2-Amino-5-phosphono-valeriansäure aktivierte partielle Thromboplastinzeit amine precursor uptake and decarboxylation Aquaporin aufsteigendes retikuläres aktivierendes System acute respiratory distress syndrome Atemruhelage active sodium bile salt transporter acid sensing ion-channel Adenosintriphosphat ambient temperature, pressure, saturated AtrioventrikulärArginin-Vasopressin = Adiuretin = antidiuretisches Hormon brain-derived growth factor brainstem evoked response audiometry base excess/Basenüberschuss body mass index brain natriuretic peptide Blood oxygen level difference 2,3-Bisphosphoglycerat basic rest activity cycle Bumetanid-sensitiver Cotransporter bile salt export pump Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit body temperature, pressure, saturated Clearance cis-4-aminocrotonsäure zyklische ADP-Ribose calmodulinabhängige Kinase zyklisches Adenosinmonophosphat Summenaktionspotenzial des Hörnervs cocaine- and amphetamine-regulated transcript

CaSR CBG CCK CD CD2AP CF CFTR

Ca2+-sensing receptor cortisolbindendes Globulin Cholecystokinin cluster of differentiation; collecting duct CD2-associated protein cystic fibrosis; Koronarfluss cystic fibrosis transmembrane conductance regulator colony forming units Corpus geniculatum laterale zyklisches Guanosinmonophosphat calcitonin gene-related peptide Chloridkanal corticotropine-like intermediate lobe peptide 6-cyano-7-nitroquinoxaline-2,3-dione canalicular multispecific organic anion transporter cyclic nucleotide-gated (Kanal) Catechol-o-methyltransferase Cyclooxigenase cAMP response element cAMP response element binding protein Koronarflussreserve corticotropin-releasing hormone Kreatinphosphat complex regional pain syndrome colony stimulating factor Kortikospinaltrakt (v – ventromedial, l – lateral) Computertomographie Chemorezeptoren-Triggerzone zirkumventrikuläre Organe Cytochrom Differenzialrezeptor Dopamin Diacylglycerin Dezibel Dopamin-β-Hydroxilase Vitamin-bindendes Protein divalent-cation-transporter; distal convoluted tubule Dehydroepiandrosteron(-Sulfat) Dihydropyridin-Rezeptor 5-α-Dihydrotestosteron Desoxyribonucleinsäure 3,4-Dihydroxyphenylalanin Diphenylamincarboxylat Dioptrie Membranpotenzial epithelialer Ca2+-Kanal enterochromaffine-like endothelium-derived hyperpolarizing factor endothelium-derived relaxing factor = NO end-diastolic velocity; end-diastolisches Volumen Elektroenzephalogramm

* Hormonabkürzungen s. a. Tab.16.1, S. 511; Maßeinheiten s. S. 861 ff.

CFU CGL cGMP CGRP ClC CLIP CNQX cMOAT CNG COMT COX CRE CREB CRF CRH CrP CRPS CSF CST CT CTZ CVO cyt ■ D-Rezeptor DA DAG dB DBH DBP DCT DHEA(S) DHPR DHT DNA DOPA DPC dpt ■ EM ECaC ECL-Zellen EDHF EDRF EDV EEG

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928 Abkürzung

Erklärung

EGF

epidermal growth factor/ Epidermis-Wachstumsfaktor Elektrokardiogramm enzyme-linked immunosorbent assay Elektromyogramm epithelialer Natriumkanal Elektrookulogramm Erythropo(i)etin exzitatorisches postsynaptisches Potenzial exzitatorischer postsynaptischer Strom endoplasmatisches Retikulum evoked response audiometry Elektroretinogramm early receptor potential exspiratorisches Reservevolumen endsystolisches Volumen Endothelin Extrazellulärflüssigkeit Extrazellulärvolumen Faraday Konstante Flavin-adenin-dinucleotid fraktionelle Exkretion Einsekundenkapazität fast-fatiguable; Filtrationsfraktion fibroblast growth factor = functional magnetic resonance imaging = funktionelle Kernspintomographie = fMRT = funktionelle Magnetresonanztomographie fatigue-resistant funktionelle Residualkapazität follikelstimulierendes Hormon forcierte Vitalkapazität γ-Aminobuttersäure glutamic acid decarboxylase GnRH-associated peptide granulocyte colony-stimulating factor Guanosindiphosphat glomeruläre Filtrationsrate growth hormone/Wachstumshormon Goldman-Hodgin-Katz-Gleichung growth hormone-releasing hormone = Somatoliberin glucose-dependent insulin-releasing peptide glucagon-like peptide Glutamatrezeptor Glukosetransporter Glutamat-Transporter granulocyte/macrophage colony-stimulating factor Guanosinmonophosphat gonadotropin-releasing hormone GTP-bindendes Protein (Gs = stimulierend; Gi = inhibierend) γ-Glutamyltransferase gastrin-releasing peptide Guanosintriphosphat

EKG ELISA EMG ENaC EOG EPO EPSP EPSS ER ERA ERG ERP ERV ESV ET EZF EZV ■F FAD FE FEV1 FF FGF fMRI

FR FRC FSH FVC ■ GABA GAD GAP G-CSF GDP GFR GH GHK GHRH = GRH GIP GLP1 GluR GLUT Glu-TR GM-CSF GMP GnRH G-Protein γ-GT GRP GTP

Abkürzung ■ Hb HbA HbF HCG HCN HCS HDL HGH HHL HIF HIV Hkt HL HLA HMG HMM hNaDC HPL HSP 5-HT HVL HZV ■ ICD IDDM IDL IFN Ig IGF IH IL ILGF INR IP3 IP4 IPSP IP3R IPSS IRDS IREG IRV ISI ISR IVF IZF IZV ■ JGA ■ kDa KHK KO KOD KP ■ LCAT LDL LH LMM

Erklärung Hämoglobin Hämoglobin des Erwachsenen fetales Hämoglobin human chorionic gonadotropin Hyperpolarisation-aktivierte, Cyclo-Nucleotid-modulierte Kanäle human chorionic somatotropin high density lipoproteins human growth hormone = STH Hypophysenhinterlappen Hypoxie-induzierbarer Faktor human immunodeficiency virus Hämatokrit hearing level human leucocyte antigen = menschliches MHC-Protein 3-Hydroxy-3-Methylglutaryl heavy meromyosin humaner Na+-DicarboxylatSymportcarrier human placental lactogen Hitzeschockprotein 5-Hydroxytryptamin = Serotonin Hypophysenvorderlappen Herzzeitvolumen automatischer Defibrillator insulin-dependent diabetes mellitus intermediate density lipoproteins Interferon Immunglobulin (IgG, IgM, IgA, IgE, IgD) insulin-like growth factor (IGF1, IGF2) inhibiting hormone Interleukin (IL1, IL2 usw.) insulin-like growth factor International Normalized Ratio Inositol-1,4,5-trisphosphat Inositol-1,3,4,5-tetrakisphosphat inhibitorisches postsynaptisches Potenzial Inositoltriphosphat-Rezeptor inhibitorischer postsynaptischer Strom infant respiratory distress syndrome Eisen-reguliertes Gen inspiratorisches Reservevolumen International Sensitivity Index insulin receptor substrate in-vitro Fertilisation Intrazellulärflüssigkeit Intrazellulärvolumen juxtaglomerulärer Apparat Kilo-Dalton koronare Herzkrankheit Körperoberfläche kolloidosmotischer Druck Kreatinphosphat lecithin-cholesterolacyl-transferase low density lipoproteins lutenisierendes Hormon light meromyosin

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929 Abkürzung LPH LPL LRP LSD LTD LTP ■ M1 mRNA MAO MAP Mb MCH MCHC MCV MC-R MDR MDT ME MetHb MHC MLCK MLCP MLF MMC MOV MPS MRF mRNA MRP MRT MSH MST MT MVO2 ■ NA NADH NADPH NANC NaPi NBC NCAM NCNA NGF NHE NIDDM NIS NK NKA NKCC NMDA NMN+ NNR NO NOS NPY

Erklärung

Abkürzung

lipotropes Hormon Lipoproteinlipase late receptor potential Lysergsäurediethylamid long-term-depression long-term-potenziation primärer motorischer Kortex Messenger-RNA Monoaminoxidase MAP-Kinase = Mitogen-aktivierte Proteinkinase Myoglobin mean corpuscular haemoglobin mean corpuscular haemoglobin concentration mean corpuscular volume MSH/ACTH-Rezeptoren multidrug resistance protein Magen-Darm-Trakt Montevideo-Einheit Methämoglobin major histocompatibility complex Myosin-leichte-Ketten-Kinase Myosin-leichte-Ketten-Phophatase Fasciculus medialis longitudinalis migrating motor complex Multi-Organ-Versagen mononukleäres phagozytotisches System mesenzephale Retikulärformation messenger RNA multidrug-resistance-associated protein Magnetresonanztomographie (s. a. fMRI) melanozytenstimulierendes Hormon medio-superior-temporal medio-temporal myokardialer Sauerstoffverbrauch Noradrenalin Nicotinamid-adenin-dinucleotid Nicotinamid-adenin-dinucleotidphosphat nicht adrenerg nicht cholinerg Natrium-Phosphat-Symportcarrier Na+-Bicarbonat-Cotransporter nerve cell adhesion molecules nicht cholinerg nicht adrenerg nerve growth factor Na+-H+-exchanger non-insulin-dependent diabetes mellitus Natrium-Iodid-Symporter natürliche Killerzellen Neurokinin A Na+-K+-2Cl–-Cotransporter N-Methyl-D-aspartat N-Methyl-nicotinamid Nebennierenrinde Stickstoffmonoxid NO-Synthase Neuropeptid Y

NSILA NST NT NTCP

Erklärung

non suppressible insulin-like activities Non-shivering-thermogenesis Neurotensin Na+-taurocholate cotransporting polypeptide ■ OAE otoakustische Emissionen OAT organischer Anionen-Transporter OATP organic anion-transporting peptide OCT organischer Kationen-Transporter OVLT Organum vasculosum laminae terminalis OX Oxytocin effektiver Filtrationsdruck ■ Peff Pi anorganisches Phosphat p. c. post conceptionem p. m. post menstruationem P-Rezeptor Proportionalrezeptor PACAP pituitary adenylate cyclase-activitating polypeptide PAF platelet-activating factor PAG zentrales Höhlengrau PAH p-Aminohippurat PARP Poly-ADP-Ribose-Polymerase PC Pacini PCT proximal convoluted tubule PD-Verhalten proportional-differential PDGF platelet-derived growth factor/ Blutplättchen-Wachstumsfaktor PDS Pendrin (Anionen-Austauschcarrier) PepT Peptidtransporter PET Positronenemissionstomographie PG Prostaglandin (PGE2, PGF2α u. a.) PIH = PIF prolactin-inhibiting hormone Phosphatidylinositol-4,5-bisphosphat PIP2 Pit-1 Transkriptionsfaktor-Gen für hypophysäre Hormone PK Proteinkinase (PKC, PKA u. a.) PKC Proteinkinase C PKG Proteinkinase G PLB Phospholamban PLC Phospholipase C PMA prämotorische Area PNMT Phenylethanolamin-N-Methyltransferase POMC Proopiomelanocortin PP pancreatic polypeptide PPCx posteriorer Parietalkortex PPRF paramediane pontine Retikulärformation PRG Progesteron PRH prolactin-releasing hormone PRL Prolactin PST proximal straight tubule PTH Parathyrin = Parathormon PTS permanent threshold shift PTT partielle Thromboplastinzeit PVR pulmonaler vaskulärer Widerstand PWC pulse work capacity PYY (putatives) Sättigungshormon ■R allgemeine Gaskonstante RA rapidly adapting RBF renaler Blutfluss

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930 Abkürzung REM RER RF RGT rh-, RhRIA RM RNA ROS RPF RQ rT3 RV RyR ■ SI S II SA SCN SERCA SGLT SH2 SIH SMA SP SPECT SPL SRIH SRP SSEP stAR STH STPD SUR SVTC1 ■ T-Reflex T-System T3 T4

Erklärung

Abkürzung

Erklärung

rapid eye movement raues endoplasmatisches Retikulum rezeptives Feld Reaktionsgeschwindigkeit-Zeit RhesusRadioimmunoassay Rückenmark Ribonucleinsäure reactive oxygene species renaler Plasmafluss respiratorischer Quotient reverses Triiodthyronin Residualvolumen Ryanodin-Rezeptor primärer somatosensorischer Kortex sekundärer somatosensorischer Kortex slowly adapting Nucleus suprachiasmaticus sarcoplasmic endoplasmic reticulum calcium-transporting ATPase sodium-dependent glucose transporter Rezeptordomäne somatotropin-inhibiting hormone = SRIH = Somatostatin supplementär-motorische Area Substanz P single-Photonen-Emissionscomputertomographie sound pressure level/Schalldruckpegel somatotropin-release inhibiting hormone signal recognition particle somatosensorisch evoziertes Potenzial steroidogenic acute regulatory protein somatotropes Hormon standard temperature, pressure, dry Sulfonyl-Harnstoff-Rezeptor sodium-vitamin C-transporter Sehnenreflex (tendon) transversales tubuläres System Triiodthyronin Tetraiodthyronin = Thyroxin

TAL TBG TBPA TEA Tf TF TGF

thick ascending limb (Henle-Schleife) Thyroxin-Bindungsglobulin Thyroxin-bindendes Präalbumin Tetraethylammonium Transferin tubuläre (Fluid-)Konzentration tubuloglomerulärer Feedbackmechanismus transforming growth factor Tyrosinhydroxilase Tetrahydrofolat totale Lungenkapazität toll-like rezeptor Troponin tumor necrosis factor tissue plasminogen activator Thyreoperoxidase totaler peripherer Widerstand thyreotropin-releasing hormone Transfer-RNA transient receptor potential Thiacid-sensitiver Cotransporter thyreoideastimulierendes Hormon temporary threshold shift Tetrodotoxin Thromboxan (TXA2, TXB2) Thrombinzeit uncoupling protein urea transporter ultraviolett Vitalkapazität vascular endothelial growth factor = Angiogenesefaktor visuell evoziertes Potenzial vasoaktives intestinales Polypeptid very low density lipoproteins ventrolaterale Medulla maximale Verkürzungs-/ Reaktionsgeschwindigkeit vomeronasales Organ vestibulookulärer Reflex wide dynamic range Zentralnervensystem

TGF TH THF TLC TLR Tn TNF tPA TPO TPR TRH tRNA TRP TSC TSH TTS TTX TX TZ ■ UCP UT UV ■ VC VEGF VEP VIP VLDL VLM Vmax VNO VOR ■ WDR ■ ZNS

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