Phänomenologie des Lebendigen: Heideggers Kritik an den Leitbegriffen der neuzeitlichen Biologie 9783495860243, 9783495484692

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Phänomenologie des Lebendigen: Heideggers Kritik an den Leitbegriffen der neuzeitlichen Biologie
 9783495860243, 9783495484692

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einführung
1 Aktueller Forschungsstand
2 Die hermeneutische Situation Descartes’ und die Sorge um Erkannte Erkenntnis
2.1 Die Manifestation der Sorge in den Meditationen
3 Weg und Selbstverständnis hermeneutischer Phänomenologie
3.1 Entwicklung der hermeneutischen Phänomenologie aus dem Kategorienproblem
3.2 Kategoriale Anschauung, ἀλήθεια und das richtige Fragen
3.3 Phänomenologie als Methode und als Wissenschaft
3.4 Reduktive Privation
Teil I: Heideggers Kritik an den Leitbegriffen der neuzeitlichen Biologie
Kapitel 1: Heideggers frühes Interesse an der Biologie
4 Frühe Zeugnisse
4.1 Religion und Naturwissenschaft
4.2 Der Bathybius Haecklii und die drei Leitsätze der neueren Biologie
4.3 Erste Vorträge zu Evolutionstheorie und Denkvermögen der Tiere
4.4 Aufkommen der Frage nach der Wesensbestimmung des Tieres
Kapitel 2: Radikaler Mechanismus und kritische Teleologie
5 Das Tier eine Maschine
6 Das Prinzip der Zweckmäßigkeit im Ausgang von Kant
6.1 Der Organismus in der kritischen Teleologie
6.2 Die Bedeutung Kants für die Bestimmung des Lebendigen
7 Heideggers Stellung zum Darwinismus
Kapitel 3: Vitalismusstreit
8 Wilhelm Roux und die Entwicklungsmechanik
8.1 Kampf funktioneller Anpassung
9 Aristoteles’ Begriff der ἐντελέχεια
10 Hans Drieschs Konzept eines zeitgemäßen Vitalismus
10.1 Die Versuche am gemeinen Seeigel Echinus microtuberculatus
10.2 Der Organismus als äquipotentielles harmonisches System
10.3 Kritische Betrachtung zu Driesch
11 Die aus der biologischen Forschung erwachende Frage nach der Differenz von Ursache und Grund und deren Fundierung im Dasein
Teil II: Phänomenologische Bestimmung des Lebendigen
Kapitel 1: Der λόγος des Menschen und die φωνή des Tieres
12 Alles ζῶον ist ein In-der-Welt-sein
12.1 λόγος und φωνή als zwei Weisen des ζῶον
12.2 Vorzeichnung des Denkweges aus der Interpretation der φωνή
Kapitel 2: Die Entwicklung der Kategorien des Lebendigen aus der vergleichenden Gegenüberstellung von Stein, Tier und Mensch als Versuch zur Lichtung des Weltbegriffs
13 Das Stufenmodell der Natur bei Scheler und Plessner
14 Die Privation der Weltarmut aus der Weltbildung
14.1 Phänomenologischer Aufweis der Weltarmut
14.2 Weltarmut des Tieres und Weltlosigkeit des Steins
14.3 Umgebungskreise und Dauer
15 Die Zugänglichkeit des Tieres
16 Alles Hergestellte besitzt den Charakter des Um-zu
16.1 Fertigkeit versus Fähigkeit
16.2 Organismus und Fähigkeit
16.3 Der Organismus ist regelmitbringend
17 Das Drangphänomen im Ausgang von Leibniz
18 Selbstheit und Eigentümlichkeit
19 Benehmen und Verhalten
19.1 Sammeltrieb und Orientierungsbenehmen bei Bienen
19.2 Benommenheit als Zugangscharakter des Lebendigen
19.3 Die Privation der Benommenheit
19.4 Umringen als Grundphänomen alles Lebendigen
20 Die Tendenz der Ent- und Verdeckung der neueren Biologie hinsichtlich einer grundsätzlichen Bestimmung des Organismus
20.1 Karl Ernst von Baer
20.2 Der Einfluss Uexkülls auf Heidegger
20.2.1 Die Umwelttheorie Uexkülls
Kapitel 3: Abschließende Betrachtung der Bestimmung von Weltbildung und Weltarmut
21 Raum, Welt und Umwelt
21.1 Spezifischer Raum und Räumlichkeit
21.2 Aufriss einer möglichen Fassung der Zeitgestalt des Lebendigen
21.3 Weltbildung und Entwurf
22 Rückgang auf die Weltarmut und die Erweiterung des Kategorienkataloges
Teil III: Leiblichkeit. Heidegger und die Anthropologie
Kapitel 1: LeibDasein und die Metontologie der Leiblichkeit
23 Martin Heidegger, Medard Boss und die Zollikoner Seminare
24 Die Privation als faktisches Sich-zeigen des LeibDaseins
24.1 Leibvergessenheit
25 Leib und der Sinn von Ursprung
26 Interpretation des LeibDaseins aus der Organismus-Thematik
26.1 Gebärde und Zeigen
26.2 Körper und Leib
26.3 Die ursprüngliche RaumZeitlichkeit und die Reichweite des Leibes
26.4 Faktisches Leiben in Raum und Zeit im Spiegel der Psychologie
26.5 Dasein ist mit Leib und Seele dabei
26.6 Dasein schlägt in Leiblichkeit zurück
Kapitel 2: Ansatz einer daseinsgemäßen, phänomenologischen Anthropologie
27 Die Entwicklung der Daseinsanalyse zur psychologischen Disziplin
27.1 Binswangers Ansatz daseinsanalytischer Psychologie und ihr fruchtbarer Irrtum
27.2 Das Wesen und der Durchbruch der Daseinsanalytik in der Psychologie
28 Das Unerhörte in Heidegger
Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
I. Verzeichnis der zitierten Schriften Heideggers
a) Schriften aus der Gesamtausgabe
b) Einzelausgaben
II. Weitere zitierte Texte und Bezugsquellen
III. Nachschlagewerke
IV. Dokumentationen
Danksagung
Personenregister

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https://doi.org/10.5771/9783495860243 .

Thomas Kessel Phänomenologie des Lebendigen

ALBER THESEN

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Die Frage nach dem Wesen des Lebendigen ist keine Episode in Heideggers Denken, welche durch die Schriften Max Schelers und Helmuth Plessners motiviert wurde, sondern sie beschäftigte bereits den jungen Heidegger seit 1909/10. Im größeren Umfang wird diese Frage in seiner Vorlesung »Die Grundbegriffe der Metaphysik« des WS 1929/ 30 behandelt. Angeregt wurde das als Lehrstück phänomenologischer Forschungspraxis anzusehende Werk Heideggers von Jakob v. Uexkülls gewagtem methodischen Neuansatz innerhalb der Biologie, von dem aus Heidegger eine kategoriale Bestimmung des Lebendigen gelang, die sich kontrovers zum Mechanismus (Wilhelm Roux) und zum Vitalismus (Hans Driesch) verhielt. Ausgehend von der kategorialen Fassung des Lebendigen lässt sich in der vorliegenden Untersuchung die Leiblichkeit innerhalb der heideggerschen Philosophie angemessen verstehen und erstmals verorten. Denn im Moment der »Phänomenologischen Privation« des Lebendigen von der Welthabe des Daseins aus bricht die eigene Leiblichkeit in die Untersuchung hinein. Privation des Lebendigen ließe sich niemals ohne die Faktizität des Daseins durchführen. Denn jede vom Lebendigen vollzogene Bewegung ist eine leiblich vollzogene Bewegung und dem Dasein nur aufgrund seiner ihm eigenen Leiblichkeit einerseits und seines Seinsverständnisses andererseits möglich. So bedarf die Bestimmung der Leiblichkeit sowohl der Eröffnung ihrer organismischen Dimension als auch ihrer Interpretation von der Daseinsanalytik her. Und damit gelangt die Arbeit an einen Punkt, die Möglichkeit der von Heidegger angekündigten Metontologie hermeneutisch anzuzeigen. Der bekannte Vorwurf von Löwith und Plessner an Heideggers Leibund Lebensvergessenheit kann damit zurückgewiesen werden. So drängt die Untersuchung zu neuen Überlegungen hinsichtlich Heideggers Bedeutung im Bereich der philosophischen Anthropologie.

Der Autor: Thomas Kessel, geboren 1967 in Oberhausen, Studium der Philosophie, Hispanistik und Pädagogik an der Bergischen Universität Wuppertal und der Universidad Complutense de Madrid. 2009 Promotion in der Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal.

https://doi.org/10.5771/9783495860243 © Ver

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Thomas Kessel

Phänomenologie des Lebendigen Heideggers Kritik an den Leitbegriffen der neuzeitlichen Biologie

Verlag Karl Alber Freiburg / München

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2014

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Alber-Reihe Thesen Band 46

Gedruckt mit freundlicher Unerstützung der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung.

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Herstellung: Difo-Druck, Bamberg Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48469-2 (Print)

ISBN 978-3-495-86024-3 (E-Book)

https://doi.org/10.5771/9783495860243 © Ver

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für Karo

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»Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben, Sucht erst den Geist heraus zu treiben, Dann hat er die Theile in seiner Hand, Fehlt leider! nur das geistige Band.« Goethe: Faust. Teil I. Weimar 1887, S. 91.

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Inhaltsverzeichnis

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2

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Aktueller Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . Die hermeneutische Situation Descartes’ und die Sorge um Erkannte Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Manifestation der Sorge in den Meditationen . . Weg und Selbstverständnis hermeneutischer Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Entwicklung der hermeneutischen Phänomenologie aus dem Kategorienproblem . . . . . . . . . . . . . 3.2 Kategoriale Anschauung, ἀλήθεια und das richtige Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Phänomenologie als Methode und als Wissenschaft . 3.4 Reduktive Privation . . . . . . . . . . . . . . . . .

Teil I Heideggers Kritik an den Leitbegriffen der neuzeitlichen Biologie . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

Kapitel 1 Heideggers frühes Interesse an der Biologie . . . . . . . . . . 4

Frühe Zeugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Religion und Naturwissenschaft . . . . . . . . . 4.2 Der Bathybius Haecklii und die drei Leitsätze der neueren Biologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Erste Vorträge zur Evolutionstheorie und Denkvermögen der Tiere . . . . . . . . . . . . . . .

40 42 47 48 56 64 67

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Inhaltsverzeichnis

4.4

Aufkommen der Frage nach der Wesensbestimmung des Tieres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel 2 Radikaler Mechanismus und kritische Teleologie . . . . . . . 5 6

7

Das Tier eine Maschine . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Prinzip der Zweckmäßigkeit im Ausgang von Kant 6.1 Der Organismus in der kritischen Teleologie . . 6.2 Die Bedeutung Kants für die Bestimmung des Lebendigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heideggers Stellung zum Darwinismus . . . . . . . .

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88 89 92 96

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Kapitel 3 Vitalismusstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 8 9 10

11

Wilhelm Roux und die Entwicklungsmechanik . . . . . . . 8.1 Kampf funktioneller Anpassung . . . . . . . . . . . Aristoteles’ Begriff der ἐντελέχεια . . . . . . . . . . . . . Hans Drieschs Konzept eines zeitgemäßen Vitalismus . . . 10.1 Die Versuche am gemeinen Seeigel Echinus microtuberculatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Der Organismus als äquipotentielles, harmonisches System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Kritische Betrachtung zu Driesch . . . . . . . . . . Die aus der biologischen Forschung erwachende Frage nach der Differenz von Ursache und Grund und deren Fundierung im Dasein . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Teil II Phänomenologische Bestimmung des Lebendigen

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105 108 110 112 114 117 118

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Kapitel 1 Der λόγος des Menschen und die φωνή des Tieres . . . . . . 129 12

8

Alles ζῶον ist ein In-der-Welt-sein . . . . . . . . . . . . . 12.1 λόγος und φωνή als zwei Weisen des ζῶον . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

12.2 Vorzeichnung des Denkweges aus der Interpretation der φωνή . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

Kapitel 2 Die Entwicklung der Kategorien des Lebendigen aus der vergleichenden Gegenüberstellung von Stein, Tier und Mensch als Versuch zur Lichtung des Weltbegriffs . . . . . . . . . . . 138 13 Das Stufenmodell der Natur bei Scheler und Plessner . . . 14 Die Privation der Weltarmut aus der Weltbildung . . . . . 14.1 Phänomenologischer Aufweis der Weltarmut . . . . 14.2 Weltarmut des Tieres und Weltlosigkeit des Steins . 14.3 Umgebungskreise und Dauer . . . . . . . . . . . . 15 Die Zugänglichkeit zum Tiere . . . . . . . . . . . . . . . 16 Alles Hergestellte besitzt den Charakter des Um-zu . . . . 16.1 Fertigkeit versus Fähigkeit . . . . . . . . . . . . . . 16.2 Organismus und Fähigkeit . . . . . . . . . . . . . . 16.3 Der Organismus ist regelmitbringend . . . . . . . . 17 Das Drangphänomen im Ausgang von Leibniz . . . . . . . 18 Selbstheit und Eigentümlichkeit . . . . . . . . . . . . . . 19 Benehmen und Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.1 Sammeltrieb und Orientierungsbenehmen bei Bienen 19.2 Benommenheit als Zugangscharakter des Lebendigen 19.3 Die Privation der Benommenheit . . . . . . . . . . 19.4 Umringen als Grundphänomen alles Lebendigen . . 20 Die Tendenz der Ent- und Verdeckung der neueren Biologie hinsichtlich einer grundsätzlichen Bestimmung des Organismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.1 Karl Ernst von Baer . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2 Der Einfluss Uexkülls auf Heidegger . . . . . . . . . 20.2.1 Die Umwelttheorie Uexkülls . . . . . . . . .

140 143 146 150 153 155 157 159 164 169 172 178 181 183 185 189 190

194 196 198 200

Kapitel 3 Abschließende Betrachtung der Bestimmung von Weltbildung und Weltarmut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 21 Raum, Welt und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.1 Spezifischer Raum und Räumlichkeit . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

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21.2 Aufriss einer möglichen Fassung der Zeitgestalt des Lebendigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.3 Weltbildung und Entwurf . . . . . . . . . . . . . . Rückgang auf die Weltarmut und die Erweiterung des Kategorienkataloges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Teil III Leiblichkeit Heidegger und die Anthropologie

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207 209 216

221

Kapitel 1 LeibDasein und die Metontologie der Leiblichkeit . . . . . . . 223 23 24 25 26

Martin Heidegger, Medard Boss und die Zollikoner Seminare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Privation als faktisches Sich-zeigen des LeibDaseins . . . . 227 24.1 Leibvergessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Leib und der Sinn von Ursprung . . . . . . . . . . . . . . 235 Interpretation des LeibDaseins aus der Organismus-Thematik 237 26.1 Gebärde und Zeigen . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 26.2 Körper und Leib . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 26.3 Die ursprüngliche RaumZeitlichkeit und die Reichweite des Leibes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 26.4 Faktisches Leiben in Raum und Zeit im Spiegel der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 26.5 Dasein ist mit Leib und Seele dabei . . . . . . . . . 251 26.6 Dasein schlägt in Leiblichkeit zurück . . . . . . . . 252

Kapitel 2 Ansatz einer daseinsgemäßen, phänomenologischen Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 27

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Die Entwicklung der Daseinsanalyse zur psychologischen Disziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.1 Binswangers Ansatz daseinsanalytischer Psychologie und ihr fruchtbarer Irrtum . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

27.2 Das Wesen und der Durchbruch der Daseinsanalytik in der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Das Unerhörte in Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . .

263 266

Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Literaturverzeichnis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

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Einführung

Die Frage nach dem Wesen des Organismus, die Heidegger im zweiten Teil seiner Freiburger Vorlesung »Die Grundbegriffe der Metaphysik« 1 des Wintersemesters 1929/30 behandelt, gilt als ein Randphänomen der heideggerschen Philosophie und fand daher bis heute innerhalb der philosophischen Auseinandersetzung kaum Beachtung. Doch warum ist das so? Ist der Organismus, das Tier, kein Gegenstand philosophischen Interesses? Haben wir die Frage nach dem Lebendigen endgültig der Biologie überlassen? Waren die wesentlichen Fragen hinsichtlich der Bestimmung von Leben bei Erscheinen der Veröffentlichung dieser Vorlesung 1983 schon allesamt gelöst worden, sodass Heideggers Gedanken überholt schienen? Liegt es daran, dass sich die Behandlung des Lebendigen der Analyse der Langeweile und des Welt-Phänomens, welche das gesamte Werk überspannen, thematisch unterordnet? Stellt die Untersuchung des Lebendigen wirklich nur eine Regionalontologie dar? Die Frage nach dem Tier, der Wesensverfassung des Lebendigen, steht keineswegs außerhalb der Philosophie. Sie taucht von je her überall dort auf, wo nach dem Menschen gefragt wird. Schon Platon stellt im »Timaios« 2 den Menschen in das Spannungsfeld zwischen das Göttliche und das Tier. »Was aber den obersten Seelenteil in uns anlangt, so muß man ihn sich als Schutzgeist denken, den Gott einem jeden beigegeben hat, diese Seelenkraft, die wie wir […] sagen, ihren Wohnsitz in dem obersten Teile unseres Körpers hat und uns von der Erde aufwärts richtet zur verwandten Himmelsregion, als Geschöpfe, die nicht irdischen sondern himmlischen Ursprungs sind.« 3 Auch Aristoteles Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Gesamtausgabe (= GA) Band 29/30. Herrmann, Friedrich-Wilhelm von (Hrsg.). Frankfurt am Main 2004. 2 Platon: Timaios. In: Platon. Sämtliche Dialoge. Band VI. Apelt, Otto (Übers. u. Hrsg.). Hamburg 1998. 3 Timaios, 90 St. 1

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versteht den Menschen vom Lebewesen her als ein ζῶον λόγον ἔχον, ein Lebewesen, das Sprache hat. Nicht anders zeigt sich dies in der christlichen Weltanschauung des Mittelalters, in welcher sich der Mensch – als nach dem Ebenbild Gottes geschaffen – der Versuchung, die sich auf seine Animalität gründet, zu widersetzen versucht. Auch die Auffassung Herders der Mensch sei das nicht festgestellte Tier versucht, den Menschen vom Tier her zugänglich zu machen. Weiterhin haben neben dem Darwinismus, der den Menschen als ein Evolutionsprodukt deutet, die enormen Fortschritte innerhalb der Biologie im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert dazu geführt, den Menschen als ein Lebewesen zu behandeln, das im Gegensatz zum Tier weltoffen und kulturschaffend sei (Scheler, Plessner, Cassirer, Gehlen); und so attestierte man dem Menschen Fähigkeiten, die ihm eine Sonderstellung innerhalb der Natur verbürgen sollten. Doch auch innerhalb der Philosophie Heideggers ist die Organismus-Thematik kein Sonderling, sondern lässt sich in weite Bereiche seines Denkens sogar in mehrfacher Hinsicht verorten und ist keineswegs als eine bloße Konsequenz aus »Sein und Zeit« 4 zu verstehen. Grundsätzlich steht die Thematik im Kontext mit Heideggers Verständnis von Metaphysik, welches 1929/30 zu einem Neuanfang drängte, wie der am 14. Juli 1929 in Freiburg gehaltene Vortrag »Was ist Metaphysik?« 5 zeigt. Die neue Metaphysik »[…] umgreift […] immer das Ganze der Problematik der Metaphysik. Sie ist je das Ganze selbst. Sodann kann jede metaphysische Frage nur so gefragt werden, daß der Fragende – als ein solcher – in der Frage mit da, d. h. in Frage gestellt ist.« 6 Ausgehend von diesem Verständnis von Metaphysik entwickelt Heidegger die Frage nach dem Wesen des Lebendigen. In einem solchen Fragen wird das Lebendige nicht in seine Einzelteile zerlegt, untersucht und dann wieder zusammengeklebt, sondern die Frage nach dem Lebendigen stellt Heidegger aus dem Ganzen der anfänglichen φύσις, der vorsokratisch verstandenen Natur heraus. 7 Allein aus einem solchen Verständnis heraus, Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 1993 (wird im Folgenden als SuZ angegeben). 5 Heidegger, Martin: Was ist Metaphysik? In: Wegmarken. Herrmann, Friedrich-Wilhelm von (Hrsg.). Frankfurt am Main 2004. 6 A. a. O., S. 103. 7 Vgl. Heidegger, Martin: Leitgedanken zur Entstehung der Metaphysik, der neuzeitlichen Wissenschaft und der modernen Technik. Gesamtausgabe (= GA) Band 76. Strube, Claudius (Hrsg.). Frankfurt am Main 2009, S. 21 ff. 4

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welches sich in den Arbeiten Karl Ernst von Baers zum ersten Mal nach Aristoteles abzeichnet und bei Jakob von Uexküll konzentriert, kann das Tier in seiner im eigens zukommenden Umgebungshaftigkeit zugänglich und in seinem Wesen erfasst werden. »In der Biologie erwacht die Tendenz, hinter die von Mechanismus und Vitalismus gegebenen Bestimmungen von Organismus und Leben zurückzufragen und die Seinsart von Lebendem als solchem neu zu bestimmen.« 8 Dass Heidegger 1929/30 die Entwicklung der neuren Metaphysik als einen echten Neuanfang empfand, bezeugt auch ein Brief an seine ehemalige Kommilitonin Elisabeth Blochmann, mit der er Zeit seines Lebens eng verbunden blieb: »Mit meiner Metaphysikvorlesung im Winter soll mir ein ganz neuer Anfang gelingen.« 9 Des Weiteren steht die Schrift in Zusammenhang mit dem Kategorienproblem, zu dem ihn sein Studium bei Heinrich Rickert führte und das in Heideggers Habilitationsschrift »Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus« 10 konkret wurde. Der bisherige Kategorienkatalog Kants schien nur auf das materiell Seiende anwendbar zu sein. Hinsichtlich der Bestimmung des Lebendigen oder gar des Menschen waren diese Kategorien unzureichend. So entwickelte er die kategorialen Bestimmungen des Daseins in »Sein und Zeit« unter dem Begriff: Existenzialitäten. Die Grundbegriffe zur Bestimmung des Lebendigen, des Organismus entfaltet er in »Die Grundbegriffe der Metaphysik«. Dies geschieht über die als privativ charakterisierte Hebung des Lebens-Phänomens auf dem Wege einer vergleichenden Gegenüberstellung von Leblosem, Lebendigem und dem Menschen hinsichtlich deren unterschiedlicher Bezüge zu dem, was wir unter dem Titel Welt verstehen. »Die Ontologie des Lebens vollzieht sich auf dem Wege einer privativen Interpretation […].« 11 Die so entwickelten Grundbegriffe nenne ich ob ihres privativen Charakters Lebensprivationen, um sie klar von den Kategorien zur Bestimmung des Seienden und den Existenzialitäten zur Bestimmung des Daseins abzugrenzen. Heidegger setzt zur Entfaltung der Lebensprivationen genau wie in »Sein SuZ, S. 10. Heidegger, Martin: Brief an Elisabeth Blochmann vom 12. 09. 1929. In: Martin Heidegger/Elisabeth Blochmann: Briefwechsel 1918–1969. Storck, Joachim W. (Hrsg.). Marbach am Neckar 1989, S. 33. 10 Heidegger, Martin: Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus. In: Frühe Schriften. Herrmann, Friedrich-Wilhelm von (Hrsg.). Frankfurt am Main 1972. 11 SuZ, S. 50. 8 9

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Einführung

und Zeit« bei alltäglichen Erfahrungen an. In diesem Anlauf zeigt sich, dass das Tier zwar keine Welt im Sinne einer offenen Welt hat, dass es aber auch nicht vollkommen bezugslos gegenüber den Vorkommnissen seiner Umgebung ist. Von dieser ersten als vorläufig zu betrachtenden Bestimmung aus wendet sich Heidegger den neueren Untersuchungen von Hans Driesch, Jakob von Uexküll als auch Karl Ernst von Baer kritisch zu, in denen das Tier weltarm erscheint. Ob diese Charakterisierung seitens der Biologie, die keine theologische sein kann und will, zu Recht besteht oder ob sie gar eine metaphysische Erkenntnis birgt, kann erst über die Frage nach dem metaphysischen Sinn von Welt geklärt werden. Aus dieser letzten Untersuchung heraus weist Heidegger die Benommenheit als die Grundstruktur des Lebendigen auf, verstanden als Genommenheit des Seienden als solchen, welche gleichsam dessen Bezugscharakter zu dem, was wir unter dem Titel Welt verstehen, bestimmt. In der Frage steht aber noch, ob sich die Lebensprivation Benommenheit als der ontologische Grund für die Interpretation des Tiers als weltarm aufzeigen lässt. Übernimmt Heidegger den von der Biologie gestifteten Terminus Weltarmut anfangs vielleicht nur um einen Vergleichsansatz zu haben, in dem er eine Ebene sieht, auf der sich Mensch und Tier überhaupt erst angemessen vergleichen lassen? Wenn dem so wäre, erwiese sich dann nicht auch der Begriff der Weltarmut gegen alle bisherigen Meinungen eben nicht als Ergebnis der von Heidegger durchgeführten reduktiven Privation. Da Heidegger in »Die Grundbegriffe der Metaphysik« die sich dort zeigenden Wendepunkte innerhalb der Geschichte der Biologie nicht behandelt, werden diese in entsprechenden Kapiteln aus den jeweiligen Werken der Forscher von mir selbst heraus erarbeitet und den Ausführungen Heideggers vorangestellt. Ausgehend von der »Physik« 12 des Aristoteles kann die Schrift Heideggers auch als eine Destruktion der Geschichte der Biologie verstanden werden, in der Heidegger versucht, die Bestimmung des Lebendigen aus den verschiedenen wissenschaftlichen Theorien herauszudrehen, die es abschließend erlaubt, gerade in Bezug auf die heute praktizierten Techniken der Genforschung eine Diskussion in Gang zu bringen, die keines ethischen Grundsatzes bedarf, sondern von der Sache her diskutabel ist. Das Thema des Organismus, des Lebendigen, – so wird die vorliegende Untersuchung weiterhin zeigen können – ist kein einmaliger Ge12

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Aristoteles: Physik. Zekl, Hans Günter (Übers. u. Hrsg.). Hamburg 1987.

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Einführung

genstand in der Forschung Heideggers, sondern wird ausgehend von Heideggers Studienzeit um 1910 über die im Sommersemester 1924 in Marburg gehaltenen Vorlesung »Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie« 13 sogar weiter entwickelt und kommt in der Zeit vor und nach 1929/30 immer wieder zum Tragen. Wesentlich scheint mir zudem, dass es in der vorliegenden Interpretation erstmals möglich ist, die Frage und Bedeutung der Leiblichkeit innerhalb der heideggerschen Philosophie angemessen stellen, verstehen und verorten zu können, ohne dem Dasein einen Leib überstülpen zu müssen. Denn im Moment der Privation, verstanden als methodischer Zugang des Menschen zum Tier, bricht die Leiblichkeit eigens in die Untersuchung ein. Denn die Privation des Tieres ließe sich niemals ohne die ontische Faktizität des Daseins durchführen, da jede vom Tier vollzogene Bewegung eine leiblich vollzogene Bewegung und dem Dasein nur aufgrund seiner ihm eigenen Leiblichkeit einerseits und seines Seinsverständnisses andererseits möglich ist. Darüber hinaus kann durch die Entwicklung der Leiblichkeit aus organismischer Sicht und auf dem Fundament der Daseinsanalytik, verstanden als radikal durchgeführte Einübung der phänomenologischen Methode, d. h. zugleich als Metontologie, die von Helmuth Plessner, Karl Löwith und Jean-Paul Sartre erhobene Kritik der Leib- und Lebensvergessenheit der heideggerschen Position als auch der Kritik an dessen Methode der Privation nicht nur begegnet, sondern sie kann auch überwunden werden. Damit bietet sich auch die Beendigung eines sich seit dem Erscheinen von »Sein und Zeit« durchhaltenden Streites zwischen Philosophie und Anthropologie an: namentlich der Frage nach der Möglichkeit von philosophischer Anthropologie überhaupt. Denn bis vor wenigen Jahren wurde Heidegger entweder gegen seinen Willen anthropologisch verkürzt ausgelegt, wie es sich in den Untersuchungen zeigen wird oder man lehnt wie z. B. Hans Kunz eine solche Auslegung kategorisch ab. In diesem Sinne schließt die vorliegende Untersuchung mit einem Ansatz einer daseinsgemäßen, phänomenologischen Anthropologie, in welcher Heidegger nicht verdreht werden muss, sondern die von ihm entdeckten Momente der gesamten Struktur des In-der-Welt-seins vornehmlich des Seinsverständnisses kreativ nutzbar gemacht werden können. Somit kommt der Untersuchung des Organismus durch Heidegger Heidegger, Martin: Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie. Gesamtausgabe (= GA) Band 18. Michalski, Mark (Hrsg.). Frankfurt am Main 2002.

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nicht nur in Hinsicht auf eine philosophische Besinnung innerhalb der biologischen Forschung eine enorme Tragweite zu, sondern auch den sich daraus ergebenden Möglichkeiten in Bezug auf die Anthropologie, die in der heutigen Zeit ihre Renaissance erlebt und uns erlaubt, mit Heidegger neue Wege zu markieren.

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Aktueller Forschungsstand

Wenn wir heute in der philosophischen Literatur Antworten auf die Frage nach der Wesensbestimmung des Lebendigen suchen, so finden sich dort zumeist Abhandlungen über Husserls oder Diltheys Lebensbegriff. Beide Denker widmen sich jedoch überwiegend der Erforschung menschlichen Lebens. Wollte man Husserls Denken des Lebendigen in einen Satz fassen – was notwendig fehlgehen muss – so könnte man sagen, dass sich sein Schaffen auf die Ausarbeitung des Verständnisses von Lebenswelt, Intersubjektivität und letztlich auf die Akte des Bewusstseins konzentrierte. Das Organische ist bei Husserl von einer solchen Betrachtung ausgenommen, da ihm dieser »[…] Sinn intentional allenfalls vom auffassenden Bewusstsein zugewiesen werden kann und nicht von [ihm] selbst bestimmt wird. [Es ist] nicht konstituierend, sondern konstituiert.« 14 Leben sei nur, wo Bewusstsein von Leben sei. In anderer Weise steht in Wilhelm Diltheys Arbeiten das Verstehen des Zusammenhangs menschlichen Lebens im Zentrum, welchen er in Lebenskategorien wie: Bedeutung, Wert und Zweck zu fassen sucht. Die Behandlung des Organischen als die Seinsweise des Lebendigen in Heideggers Denken findet sich in den anzuführenden Rezensionen meist nur in kleinen Aufsätzen, Vorträgen oder Werken wieder. Der überwiegende Teil dieser Schriften nimmt – wie sich zeigen wird – nur am Rande auf diese Thematik Bezug und kommt über eine Darstellung der grundlegenden Bestimmungen des Organischen nicht hinaus. Daher entgeht ihnen auch der Blick auf die philosophischen, geschichtlichen und biologischen Hintergründe. Diese Schriften gilt es zuerst aufzuzeigen, bevor sich die vorliegende Untersuchung sowohl Essays aus dem asiatischen Kulturkreis als vor allem auch den Arbeiten von Orth, Ernst Wolfgang: Der Begriff des Lebens in der husserlschen Phänomenologie. In: Mensch – Leben – Technik. Aktuelle Beiträge zur phänomenologischen Anthropologie. Jonas, Julia/Lembeck, Karl-Heinz (Hrsg.). Würzburg 2006, S. 56.

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Jacques Derrida und Axel Beelmann zuwenden wird, da die letztgenannten Autoren durch ihre Auseinandersetzung mit Heideggers Gedanken zur Organismus-Thematik kritische Akzente setzen. Stellvertretend für die sekundäre Behandlung der OrganismusThematik in den »Grundbegriffen der Metaphysik« steht die Gegenüberstellung von Merleau-Pontys animalité und Heideggers Lebendigkeit in dem Aufsatz »Situation de l’animal et statut de l’animalité« 15 von Ingrid Auriol, aber auch die Schrift »Selbst-Natur-sein« 16 von Thomas Philipp, welche sich auf die Frage konzentriert, inwieweit der Mensch phänomenologisch als Naturwesen bestimmt werden könne. Die Ausarbeitung seiner Frage bezieht sich auch hier nicht genuin auf den Organismus, denn der Autor versucht verschiedenste Elemente aus den Überlegungen Husserls, Heideggers und Merleau-Pontys für die Statuierung einer möglichen Naturphänomenologie zu nutzen. Doch müsste einer solchen Untersuchung eine genaue Ausarbeitung des Lebendigen bzw. des Leiblichen in Anbetracht seiner Intention vorhergehen. Allein das fehlt und so wird behauptet: »Heidegger hat an einer solchen Untersuchung des Leibes offensichtlich [Hervorheb. v. Verf.] kein Interesse gehabt. Sartre und Merleau-Ponty haben dafür umso größere und interessantere Analysen vorgelegt.« 17 Warum untersucht Thomas Philipp dann nicht Sartre statt Heidegger? Darauf bleibt er uns die Antwort schuldig. Welche Blüten seine Untersuchungen hervorbringen, wird sich noch im Verlauf der vorliegenden Arbeit zeigen. Des Weiteren ist die Veröffentlichung von Friedrich-Wilhelm von Herrmanns Vorlesung über Heideggers »Vom Wesen der Wahrheit« 18 zu nennen, die den Titel trägt »Wahrheit – Freiheit – Geschichte« 19 , in welcher von Herrmann im § 16 die Gegenüberstellung von Mensch und Tier nutzt, um die ek-sistente Freiheit des Daseins als das Wesen der Wahrheit zu veranschaulichen. Reinhard Mehring interpretiert – wie er selbst zugesteht – sehr Auriol, Ingrid: Situation de l’animal et statut de l’animalité. In: Heidegger Studien Band 17. Herrmann, Friedrich-Wilhelm von (Hrsg.). Berlin 2001. 16 Philipp, Thomas: Selbst-Natur-sein. Berlin 1996. 17 A. a. O., S. 79. 18 Heidegger, Martin: Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet. Gesamtausgabe (= GA) Band 34. Mörchen, Hermann (Hrsg.). Frankfurt am Main 1997. 19 Herrmann, Friedrich-Wilhelm von: Wahrheit – Freiheit – Geschichte. Frankfurt am Main 2002. 15

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unorthodox Heideggers Denkweg in seiner Schrift »Heideggers Überlieferungsgeschick« 20 als eine »dionysische Selbstinszenierung« 21 , in welcher die Geschichte der Philosophie erneut ins Leben gerate. Zu dieser Erneuerung gehöre – darauf bezieht sich Mehring – notwendig ein Einstellungswechsel, welchen Heidegger im ersten Teil seiner Vorlesung »Die Grundbegriffe der Metaphysik« durch die Erörterung der drei Stufen der Langeweile bei seinen Studenten zu stiften suchte. Mehring stellt heraus, dass der Begriff der Langeweile in diesem philosophischen Kontext nicht heißen kann, sich bei etwas zu langweilen, sondern die existenzielle Leergelassenheit benennt, die ein Sichversagen des Ganzen des Begegnenden und in eins damit des Selbstbezuges bedeutet. Aus einer solchen Einstellung sollten im weiteren Verlauf der »Grundbegriffe der Metaphysik« die drei von Heidegger im Untertitel der Schrift genannten Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit entwickelt werden. Da der Weg zur Hebung des Weltbegriffs in der betreffenden Schrift – wie hinlänglich bekannt – über die vergleichende Betrachtung des Verhältnisses von Stein, Tier und Mensch zu dem, was wir unter dem Titel Welt verstehen, geschieht, greift Mehring auch nur von der Thematisierung des Weltbegriffs her auf die Frage nach der Wesensbestimmung des Organismus zu. 22 In seiner Dissertation »Das Leben verstehen« 23 zeigt Georg Imdahl die Entwicklung der Frage nach dem Sinn von Sein aus den ersten ontologischen Fragestellungen Heideggers in den frühen Freiburger Vorlesungen von 1919–1923. Dabei stellt er dessen intensive Auseinandersetzung mit Diltheys Lebensphilosophie dar, die Heideggers Denken in vielerlei Hinsicht inspiriert und geprägt hat. Innerhalb dieser Zeit beziehe Heidegger den Begriff Leben nur auf die Seinsweise des Menschen, welche später in dem Terminus Dasein überführt worden sei – und augenscheinlich auch ist. So streift Imdahls Untersuchung sowohl »Die Grundbegriffe der Metaphysik« als auch die Vorlesung »Grundbegriffe der Aristotelischen Philosophie« nur am Rande. Seine Aufmerksamkeit gilt der dem λόγος eigentümlichen Als-Struktur und der Frage nach dem Sinn des von Heidegger geforderten formalen AnzeigeMehring, Reinhard: Heideggers Überlieferungsgeschick. Eine dionysische Selbstinszenierung. Würzburg 1992. 21 A. a. O., S. 9. 22 Vgl. Heideggers Überlieferungsgeschick, S. 43 f. 23 Imdahl, Georg: Das Leben verstehen. Heideggers formal anzeigende Hermeneutik in den frühen Freiburger Vorlesungen (1919 bis 1923). Würzburg 1997. 20

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charakters philosophischer Begriffe. »Eine weitere Klärung erfährt der Terminus [formale Anzeige] schließlich im Marburger Vortrag Philosophie und Theologie und dann in der späteren Freiburger Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik (1929/30), hier namentlich durch die Explikation der ›Als-Struktur‹ der formalen Anzeige; hier kommt Heidegger über die Diskussion des Begriffs ›Welt‹ auf die formale Anzeige zu sprechen.« 24 Michael Schödlbauer geht in seiner Promotionsschrift »Psyche– Logos–Lesezirkel« 25 ebenfalls nur am Rande auf »Die Grundbegriffe der Metaphysik« ein. Er versucht die Frage nach dem Phänomen des Lesens anhand ausgewählter Texte Heideggers zu erarbeiten, da gerade dessen späte Werke eine unvergleichbare Nähe von Denken und Dichten aufwiesen. Im Zuge seiner Untersuchung streift Schödlbauer neben den »Zollikoner Seminaren« 26 auch die Thematisierung des Organismus. »Auch die bereits [in Zusammenhang mit der Entwurfsthematik] erwähnte Vorlesung von 1929/30 versucht eine ontologische Erhellung vom Wesen des Tieres, analysiert die Diensthaftigkeit des Organs im Unterschied zur Dienlichkeit des Zeugs etc.« 27 In seinem Essay »Diktat des Ge-stells« 28 zeigt Schödlbauer, wie Heidegger die ihn umgebenden Dinge zur Aufhellung verschiedener Phänomene nutzt. In diesem Zusammenhang bezieht er sich vordergründig auf die §§ 51/52, welche die Bestimmung des Unterschiedes von Fertigkeit und Fähigkeit aufzeigen. Die Frage nach dem Organischen bleibt auch hier unbehandelt. Neben Günther Wiedemann, der sich in seiner Schrift »Zeitlichkeit kontra Leiblichkeit« 29 vornehmlich auf den Lebensbegriff in »Sein und Zeit« bezieht, wandte sich wahrscheinlich Otto Pöggeler als erster dem zweiten Teil der Vorlesung »Die Grundbegriffe der Metaphysik« zu. Er versteht in seinem Aufsatz über Heideggers Verhältnis zum Na-

A. a. O., S. 144. Schödlbauer, Michael: Psyche – Logos – Lesezirkel. Ein Gespräch selbdritt mit Martin Heidegger. Hamburg 2000. 26 Heidegger, Martin: Zollikoner Seminare. Boss, Medard (Hrsg.). Frankfurt am Main 1987 (wird im Folgenden mit ZS angegeben). 27 Psyche – Logos – Lesezirkel, S. 519. 28 Schödlbauer, Michael: Diktat des Ge-stells. Vom Schreibzeug zur Schreibmaschine. In: In die Höhe fallen. Grenzgänge zwischen Literatur und Philosophie. Lemke, Anja/ Schierbaum, Martin (Hrsg.). Würzburg 2000. 29 Wiedemann, Günther: Zeitlichkeit kontra Leiblichkeit. Eine Kontroverse mit Martin Heidegger. Frankfurt am Main/Bern/New York 1984. 24 25

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tionalsozialismus »Den Führer führen? Heidegger und kein Ende« 30 die Entwicklung der Organismus-Thematik vor dem Hintergrund einer möglichen Hebung des Weltproblems im Ausgang von Schelers Frage nach der Stellung des Menschen im Kosmos motiviert, was dem damaligen Forschungsstand vermutlich auch entsprach. Dabei fasst er – angelehnt an die Vorstellung der Biologie – die Bestimmung des Wesens des Lebendigen durch Heidegger in drei Punkten zusammen: 1) der Organismus ist keine Summe von Werkzeugen, sondern leitende Ganzheit; 2) das Tier ist wesentlich umgebungsbezogen; 3) alles Leben ist Bewegung. Die aus den Resultaten der Biologie von Heidegger entwickelte Benommenheit des Tieres versteht Pöggeler zu Recht als das Grundphänomen des Lebendigen, aus dem heraus die Bestimmung des Tieres als weltarm allein möglich sei. Dabei stellt die von Heidegger angewandte Methode der Privation für Pöggeler den entscheidenden Einwand gegen Schelers Stufenmodell überhaupt dar, weil Schelers Modell der metaphysischen Interpretation von Welt entbehre. 31 Vor einem gänzlich anderen Hintergrund behandelt Kah Kyung Cho die Organismus-Thematik in seinem Aufsatz »Die ökologische Suggestibilität der Spätphilosophie Heideggers« 32 , indem er diese auf die gegenwärtige, negative umweltpolitische Entwicklung bezieht, die nur durch eine Besinnung auf das Wesen von Natur und Technik abgewendet werden könne. Kah Kyung Cho weist deutlich darauf hin, dass der Mensch in »Sein und Zeit« als ein metaphysisches Wesen verstanden wird, d. h. seinem Wesen nach nicht physisch erklärt werden kann und die Bestimmung des Menschen als ζῶον λόγον ἔχον somit unzureichend ausfalle. Ausschlaggebend sei für den Unterschied von Mensch und Tier der Charakter der Weltbildung des Menschen, in dem alle anderen Seinsweisen eingebunden zu sein scheinen. In einer solchen Eingebundenheit begegne die Natur allein im Modus der zu bearbeitenden Vorhandenheit. Erst in den »Grundbegriffen der Metaphysik« erfahre der Pöggeler, Otto: Den Führer führen? Heidegger und kein Ende. In: Philosophische Rundschau. Eine Zeitschrift für philosophische Kritik. Bubner, Rüdiger/Waldenfels, Bernhard (Hrsg.). Tübingen 1985. 31 Vgl. a. a. O., S. 48 ff. 32 Kah Kyung Cho: Die ökologische Suggestibilität der Spätphilosophie Heideggers. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie. Jahrgang 11. Simon, Josef (Hrsg.). Stuttgart 1986. 30

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Naturbegriff eine eingehende Behandlung und Bestimmung. Um dies zu verdeutlichen, wendet sich Kah Kyung Cho den Begriffen von Natur und Technik eindringlich zu, um sowohl deren Verständnis als auch ihr Verhältnis zueinander auf eine andere Ebene zu stellen, in der Natur nicht nur als Werkstoff begriffen werden könne, sondern zu ihrem ihr zustehenden Recht komme. In einem solchen Ansatz steckt notwendig die Frage, wie der Mensch in Natur und Technik innesteht. Natur werde 1929/30 im Ausgang von Heideggers Explikation der inneren Verbundenheit von φύσις, λόγος und ἀλήθεια herausgestellt als das ewige Walten des Ganzen, d. h. als das Verständnis von Sein, von dem aus den Griechen Phänomene wie Wachsen und Vergehen der sie umgebenden Natur erst verstehbar werden konnten. 33 Der Mensch wird in dieser Darstellung der φύσις verstanden als der λόγος, welcher sich über das Sein und das in der ἀλήθεια sich offenbarende Seiende ausspricht, so zwar, dass der λόγος selbst als ein Teil der φύσις definiert wird. Dieses Moment der inständigen Zugehörigkeit des λόγος in φύσις ist als das Schlüsselmoment für Kah Kyung Chos Überlegungen zu verstehen. Erst aufgrund der Technologisierung der φύσις werde dieses Urerlebnis durch die Einzelwissenschaften verschüttet und der Dualismus von Dasein und Welt legalisiert. In einer solchen Welt gelte die Natur nur noch als Rohstofflieferant und in eins damit entfremde sich der Mensch seiner ursprünglichen Eingelassenheit in das Walten des Ganzen und erkenne sich selbst nicht mehr wieder. Von dieser Ausführung her lenkt der Autor den Blick auf das vorherrschende Umweltbewusstsein und fragt gleichsam nach dem Verhältnis von Mensch und Tier in einer solchen Entfremdung. »Heidegger bemüht sich hier, ein halbes Jahrhundert vor der Politisierung der Umweltfrage durch die deutsche Öffentlichkeit, die schließlich den Einzug der ›Grünen‹ in den Bundestag zur Folge hatte, um eine sachgerechte, von der ›grundirrigen‹ Voraussetzung des Darwinismus befreite Bestimmung des Wortes Ökologie.« 34 Heidegger weist in den »Grundbegriffen der Metaphysik« auf die ursprüngliche Bedeutung des griechischen οἶκος als Haus und dessen, was zum Haus gehört, hin. Schlüssig versteht er unter dem Begriff Ökologie die Erforschung der tierischen Lebensräume »Die φύσις ist das Sein selbst, kraft dessen das Seiende erst beobachtbar wird und bleibt.« Heidegger, Martin: Einführung in die Metaphysik. Tübingen 1953, S. 11. 34 Die ökologische Suggestibilität der Spätphilosophie Heideggers, S. 62. 33

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und -bezüge. 35 Die Ökologie des Tieres versteht Heidegger als das sich ringende Einverleiben der Umwelt, das ein wie auch immer geartetes Offensein allererst ermöglicht, innerhalb dessen sich eine bestimmte Herrschaft des Lebendigen über das ihm Zugängliche zuträgt. »Es offenbart sich in diesem Ringen der Umringe ein innerer Herrschaftscharakter des Lebendigen innerhalb des Seienden überhaupt, eine innere, im Leben selbst gelebte Erhabenheit der Natur über sich selbst.« 36 Darin zeigt sich für Kah Kyung Cho neben der Sonderstellung des Menschen auch eine Würdigung der Autonomie des Lebendigen durch Heidegger, die gleichsam auf raffinierte Weise die Zurückweisung der Bestimmung des Menschen als ζῶον λόγον ἔχον auf den Kopf stellt. »Die Animalität wird nicht deswegen für den Menschen unangemessen gehalten, weil sie eine niedrige Stufe im ›Schichtenbau‹ der Natur darstellt. Sie ist im Gegenteil etwas Ganzes, ein in sich ausgereiftes Sinngefüge, das als solches keiner zusätzlichen Ausstattung, etwa der Rationalität, bedarf.« 37 Wenn Heideggers Besinnung über die φύσις, die Autonomie des Tieres aus der Entfremdung heraus für Kah Kyung Cho überhaupt einen Sinn haben kann, dann nur den eines gewandelten Verhältnisses des Menschen zur Natur. In seinem Aufsatz »Heideggers Phänomenologie des Lebens« 38 hebt auch Tangi Hirokazu die besondere Bedeutung der ursprünglich erfahrenen φύσις hervor. Anfänglich stellt er Heideggers Abgrenzung gegen die Lebensphilosophie heraus, welche sich in dem Terminus Dasein widerspiegelt. Diese Abgrenzung ist dadurch begründet, dass jegliche Lebensphilosophien das Leben immer schon setzen, also als das Lebendige nehmen, anstatt nach der ontologischen Struktur von Leben zu forschen. Im zweiten Teil seines Aufsatzes geht der Autor auf die Gegenüberstellung von Mensch und Tier ein und stellt zwei bemerkenswerte Änderungen in Heideggers Denken heraus, die sowohl den Natur- als auch den Weltbegriff betreffen. Die Bestimmung des Wesens und des Verhältnisses von Natur und Welt in »Sein und Zeit« bleibe – so Tangi Hirokazu – solange problematisch als Heidegger Natur allein Vgl. GA Bd. 29/30, S. 382. A. a. O., S. 403. 37 Die ökologische Suggestibilität der Spätphilosophie Heideggers, S. 65. 38 Tangi, Hirokazu: Heideggers Phänomenologie des Lebens. In: Leben als Phänomen. Sepp, Hans Rainer/Ichiro Yamaguchi (Hrsg.). Würzburg 2006. 35 36

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vor dem Hintergrund der Nutzbarkeit betrachtet habe, als Innerweltliches, das auf dem Phänomen der Welt beruhe. »Um diese Schwierigkeiten zu überwinden, war es nötig, die der Natur eigene Seinsweise aufzuzeigen und die eigentliche Absicht der Analyse der Weltlichkeit an der Sache selbst klarzumachen.« 39 Folglich unternehme Heidegger die vergleichende Betrachtung allein, um die oben aufgezeigte Schwierigkeit der Bestimmung von Natur und Welt angehen zu können, denn das Tier, das sich der Bestimmung des nur Vorhandenseins widersetze, gehöre zur Natur. Während Welt in »Sein und Zeit« vor dem Hintergrund des verstehenden Umgangs als Bedeutungszusammenhang qualifiziert worden sei, so zeige sich der Charakter des Weltphänomens in den »Grundbegriffen der Metaphysik« gerade in der Offenbarkeit, innerhalb welcher allein Bedeutung statthaben könne. In diesem Zusammenhang ändere sich auch radikal das Verständnis von Natur. Sie werde jetzt verstanden im Sinne der φύσις als das sich-in-das-eigene-Aussehenstellen. »Die φύσις dagegen ist die aus sich selbst her auf sich selbst zu unterwegige Anwesung der Abwesung ihrer selbst. Als solche Abwesung bleibt sie ein In-sich-zurück-Gehen, welches Gehen jedoch nur der Gang ist eines Aufgehens.« 40 Am 14. März des Jahres 1987 hielt Jacques Derrida auf einem Pariser Kolloquium zum Thema Heidegger: offene Fragen einen Vortrag der 1988 unter dem Titel »Vom Geist« 41 veröffentlicht wurde. In diesem Vortrag versucht er folgenden Fragen nachzugehen: Was hat sich in Heideggers Denken gewandelt, dass die Begriffe Geist bzw. das Geistige, welche er ansonsten zu vermeiden suchte, ab 1933–35 verstärkt in sein Denken einfließen? Lässt er ihnen vielleicht gar einen neuen Stellenwert zukommen? Methodisch entwickelt Derrida die Annäherung an diese Fragestellung anhand von vier Leitfragen: 1) der Frage nach dem Privileg des Fragens; 2) der Frage nach der Technik; 3) der Frage nach dem Wesen des Tieres und der sich darin zeigenden Axiomatik; 4) der damit kontextuell verbundenen Frage nach einer der gesamten Philosophie Heideggers immanenten Teleologie, die neben dessen DeuA. a. O., S. 109. Heidegger, Martin: Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik B, 1. In: Wegmarken. Herrmann, Friedrich-Wilhelm von (Hrsg.). Frankfurt am Main 2004, S. 299. 41 Derrida, Jacques: Vom Geist. Heidegger und die Frage. García Düttmann, Alexander (Übers.). Frankfurt am Main 1988 (wird im Folgenden als Vom Geist angegeben). 39 40

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tung der Hand in »Was heisst Denken?« 42 vor allem in der Gegenüberstellung von Stein, Tier und Mensch zum Ausdruck komme. »Jedes Mal, wenn nach der Hand und nach dem Tier gefragt wird – Themen, die sich nicht umgrenzen lassen –, scheint sich Heideggers Diskurs einer Rhetorik zu beugen, die um so herrischer und um so stärker autoritär geprägt ist, als sie eine Schwierigkeit, eine Verlegenheit verdeckt. Die Rhetorik läßt die Axiome des tiefsten metaphysischen Humanismus – ich sage ausdrücklich: des tiefsten Humanismus – unangetastet, im Schutz der Dunkelheit. Besonders auffällig ist das im Zusammenhang mit den leitenden Thesen der Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik.« 43 In der Frage steht für Derrida demnach das Verhältnis von Geist, Mensch und Tier. Er eröffnet seinen Diskurs mit einem Zitat aus Heideggers Vorlesung des Sommersemesters 1935 »Einführung in die Metaphysik«, welche Heidegger fast zwanzig Jahre später selbst veröffentlichte. »Welt ist immer geistige Welt. Das Tier hat keine Welt, auch keine Umwelt.« 44 In diesem Zitat sieht es wirklich so aus, als bliebe Heidegger dem traditionell teleologischen Verständnis des Menschen als ζῶον λόγον ἔχον, als das Lebewesen, welches sich durch Geist gegenüber allen anderen Seinsweisen auszeichne, verhaftet. Aber wie versteht Heidegger Geist? Versteht er Geist im Sinne der res cogitans des Descartes? Oder bezieht sich Heidegger auf das Verständnis des Geistes bei Hegel als absoluten Geist? Diese beiden möglichen Annahmen hält auch Derrida für einen Grundirrtum. Ist der Geist bei Heidegger als eine Wesensbestimmung oder bloß als eine Möglichkeit des Daseins im Menschen zu verstehen? Könnte faktisch existierendes Dasein nicht auch völlig geistlos, d. h. benommen dahinleben und trotzdem die Seinsweise des Daseins für sich in Anspruch nehmen? Im nächsten Schritt bezieht Derrida das oben genannte Zitat auf die drei Thesen aus der Vorlesung von 1929/30: Der Stein ist weltlos, das Tier ist weltarm und der Mensch ist weltbildend. Verstehe man Armut als einen quantitativen Unterschied zwischen Mensch und Tier, dann könne man die Hypothese aufstellen, dass der Mensch über Geist verfüge und das Tier in seiner Armut allein vom Geist berührt werde. Derrida geht zwar davon aus, dass die drei die Untersuchung lei42 43 44

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Heidegger, Martin: Was heisst Denken? Tübingen 1971. Vom Geist, S. 19 f. Einführung in die Metaphysik, S. 34.

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tenden Thesen auf die Frage nach dem Wesen von Welt hinauslaufen sollen, darüber hinaus versteht er sie aber auch als explizit erörterte Frage nach dem Wesen des Lebendigen und der ihm spezifischen Zugangsweise, d. h. schon er betont die Eigenständigkeit der Thematisierung des Lebendigen (als Lehrstück) in Heideggers Schrift. Die Hypothese des Gradunterschiedes zwischen Mensch und Tier müsse folgerichtig fallengelassen werden, da es sich in Heideggers Darstellung um einen strukturellen, d. h. um einen Wesensunterschied handele. Die Absage Derridas an die unmögliche Vorstellung einer quantitativen Unterscheidung von Mensch und Tier ist auch zugleich dessen betonte Absage an jegliche Stufenmodelle. »Heideggers Analyse hat zweifellos den Vorzug, daß sie die Vorstellung eines Gradunterschieds aufgibt. Sie beachtet einen strukturellen Unterschied und vermeidet dadurch den Anthropozentrismus.« 45 Die Bestimmung des dabei getroffenen qualitativen Unterschiedes führe Heideggers Untersuchung aber zu neuen Schwierigkeiten, da die Bestimmung der Weltarmut als ein Mangel verstanden werde. Wie ist die Bestimmung des Mangels zu rechtfertigen? Wird hier doch wieder der Anthropozentrismus durch die Hintertür eingeführt? Lässt sich das Denken des Daseins als Maß von allem und jedem überhaupt umgehen? Die Problematik der Begriffe von Mangel und Entbehren weitertreibend bezieht sich Derrida auf Heideggers Gegenüberstellung von Stein und Tier, um den Charakter des Nicht-Habens, des Ohne-Weltseins des Tieres klarer zu zeichnen. Das Ohne besitzt offenbar jeweils einen anderen Sinn von Negativität. »In dem einen Fall handelt es sich um eine Entbehrung, in dem anderen um ein bloßes Fehlen, um eine Abwesenheit. Das Tier hat eine Welt in der Weise des Nichthabens, oder umgekehrt: es entbehrt eine Welt, weil es eine Welt haben kann.« 46 Logisch widersprüchlich blieben letztendlich die Aussagen: Das Tier hat Welt, das Tier hat keine Welt. Dieser Umstand lasse sich aber auflösen – so Heidegger – sobald das metaphysische Wesen von Welt und in eins damit das rechte Verständnis von Weltarmut geklärt sei. 47 Derrida hält weiter an der Gleichstellung von Haben von Welt und Haben von Geist fest: Der Mensch habe Welt, weil er Geist habe, das Tier habe Welt und habe doch keine, da es nur vom Geist gestreift wer45 46 47

Vom Geist, S. 61. Ebd. Vgl. Vom Geist, S. 62. A

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de. Derrida scheint in dieser These nicht zu realisieren, dass die Bestimmung des Tieres in den »Grundbegriffen der Metaphysik« eine Wesensbestimmung des Tieres darstellt, die besagt: Das Wesen des Lebendigen, des Tieres, des Organismus liegt in seiner Benommenheit, d. h. einer Offenheit hinsichtlich der von ihm geschaffenen Umgebung im Modus der Genommenheit, die weder ein Verhalten des Tieres zu Seiendem als solchem noch zu sich selbst ermöglicht. Darin liegt, dass dem Tier kein Bezug zum Sein zugehört. Dieses darf aber nicht als ein Mangel verstanden werden, sondern verbürgt dem Tier gerade seine Tierheit. Allein der Mensch zeichnet sich durch sein Verhalten zum Sein aus, allein er existiert als Seinsverstehender. Doch als solcher muss er nicht geistreich sein. Derridas These: Der Mensch hat Welt, weil er Geist hat, ist – nach Heidegger – grundfalsch, denn für ihn kann der Mensch allein geisthaft sein, weil er aufgrund seines Seinsverständnisses welthaft ist. Was besagt denn Geist im Verständnis Heideggers? »Denn ›Geist‹ ist weder leerer Scharfsinn, noch das unverbindliche Spiel des Witzes, noch das uferlose Treiben verstandesmäßiger Zergliederung, noch gar die Weltvernunft, sondern Geist ist ursprünglich gestimmte, wissende Entschlossenheit zum Wesen des Seins.« 48 Dies Zitat aus der Rektoratsrede erweitert Heidegger in der »Einführung in die Metaphysik« folgendermaßen: »Geist ist die Ermächtigung der Mächte des Seienden als solchen im Ganzen. Wo Geist herrscht, wird das Seiende als solches immer und jeweils seiender.« 49 Erst in Abwendung vom Gewöhnlichen, Praktikablen, Nutz- und Gewinnorientierten hin zum echten Fragen, wie der Frage nach dem Sein, wird der Geist erweckt und die vorherrschende Weltverdüsterung überwunden. Ein solches Fragen eröffnet dem Menschen erst sein geschichtliches Innestehen [Hervorheb. des Verfassers] in die Grundbezüge zum Seienden im Ganzen. »Unser Fragen der metaphysischen Grundfrage ist geschichtlich, weil es das Geschehen des menschlichen Daseins in seinen wesentlichen Bezügen, d. h. zum Seienden als solchem im Ganzen, nach ungefragten Möglichkeiten, Zu-künften eröffnet und damit zugleich in seinen gewesenen Anfang zurückbindet und es so in seiner Gegenwart verschärft und erschwert. In diesem Fragen wird unser Dasein auf seine Geschichte im Heidegger, Martin: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Frankfurt am Main 1983, S. 14. 49 Einführung in die Metaphysik, S. 38. 48

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Vollsinn des Wortes [Geschick] hin angerufen und zu ihr und zur Entscheidung in ihr hingerufen.« 50 Dieser Zusammenhang von Geist und Geschichtlichkeit und die Ablehnung des Geistes in erkenntnistheoretischer Auslegung zeigt sich auch im Abschlusskapitel von Heideggers Habilitationsschrift. »Das erkenntnistheoretische Subjekt deutet nicht den metaphysisch bedeutsamsten Sinn des Geistes, geschweige denn seinen Vollgehalt. Und erst durch Hineinstellung in diesen erhält das Kategorienproblem seine eigentliche Tiefendimension und Bereicherung. Der lebendige Geist ist als solcher wesensmäßig historischer Geist im weitesten Sinne des Wortes.« 51 Hiermit überhebt er den Geistbegriff über jede erkenntnistheoretische Bestimmung ins faktische Lebensgeschehen. Wo der Mensch nur gelebt wird, entscheidet er nicht, verkümmert sein Geist. »Was heißt Welt, wenn wir von der Weltverdüsterung sprechen?« 52 Das heißt natürlich vom Menschen her fragen! »Welt ist immer geistige Welt. Das Tier hat keine Welt, auch keine Umwelt. Weltverdüsterung schließt eine Entmachtung des Geistes in sich, seine Auflösung, Auszehrung, Verdrängung und Missdeutung.« 53 Das Tier kann keine Verdüsterung der Welt hervorbringen, da es keine Welt hat. Es befindet sich nicht in den Grundbezügen des Ganzen, es ist für die Dauer seines Lebens eingeschlossen in seiner Umgebung wie in einem Rohr. Das Tier wird folglich auch nicht vom Geist berührt, es kann von ihm nicht berührt werden, da zum Geist Willen zur Umbildung von Welt gehört, d. h. entschlossene Weltbildung. Derrida erkennt Heideggers Anstrengungen um eine Überwindung klassischer Vormeinungen und Praktiken sowohl in der Bestimmung des Menschen als auch des Tieres an. Dennoch sieht Derrida in Heideggers Vorgehen eine beharrlich beständige Strategie sowie eine die Untersuchung tragende Axiomatik, die letztendlich in der Bewahrung der ontologischen Differenz begründet zu liegen scheint. »Stets geht es darum, zwischen dem Lebendigen und dem menschlichen Dasein eine absolute Grenze zu ziehen […].« 54 Wir wollen den weiteren Erörterungen Derridas nachgehen, dabei aber dessen Interpretation des Tieres in Hinsicht auf den Geist in der

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A. a. O., S. 34. Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus, S. 351. Einführung in die Metaphysik, S. 34. Ebd. Vom Geist, S. 66. A

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Folge außen vor lassen, da sich diese als nicht haltbar erwiesen hat. Wenn – so fragt Derrida weiter – der Unterschied zwischen Mensch und Tier, Tier und Materie an dem Haben bzw. Nicht-haben von Welt festgemacht wird, herrscht dann nicht auch bei Heidegger, wenn auch in veränderter Form, ein Ansatz humanistischer Teleologie, an dessen höchster Stelle das Dasein steht? »Die Ausdrücke ›Armut‹ und ›Entbehrung‹ implizieren freilich […] eine hierarchische Einstufung und eine Bewertung.« 55 Einstufung und Bewertung werden – so Derrida – von dem Axiom der ontologischen Differenz bestimmt. Die Frage, ob es Sein und damit Seinsverständnis gibt, auf deren Ideen die gesamte Untersuchung aufbaut, scheint mir gerechtfertigt. Allerdings ist zu bemerken, dass – zumindest soweit es bekannt ist – allein der Mensch nach dem Vorhandenen, dem Tier und seinem eigenen Schicksal zu fragen in der Lage ist. Wer der Interpretation des Seinsverständnisses abspricht, der möge für sich eine andere Position annehmen, die seiner eigenen Sorge gerechter wird. Was aber wäre der Mensch ohne Seinsverständnis? »Wir vermöchten überhaupt nicht die zu sein, als welche wir sind. Denn Mensch sein heißt: ein Sagender sein.« 56 Ein Fragender sein! »Das ist seine Auszeichnung und seine Not. Sie unterscheidet ihn gegenüber Stein, Pflanze, Tier, aber auch gegenüber den Göttern.« 57 Ungewöhnlich detailliert behandelt Axel Beelmann in seiner Promotionsschrift »Heideggers hermeneutischer Lebensbegriff« 58 von 1994 die Organismus-Thematik Heideggers und ist trotz oder gerade wegen einiger Kontroversen zu der vorliegenden Untersuchung, die zudem von dem fortgeschrittenen Forschungsstand profitiert, sehr lesenswert. Den Schwerpunkt seiner Untersuchung legt Beelmann sowohl auf die Ausarbeitung des Lebensbegriffs in den »Grundbegriffen der Metaphysik« im Ausgang von der in »Sein und Zeit« konzipierten Methodik der Privation als auch auf die inhaltliche Verbundenheit beider SchrifA. a. O., S. 68. Einführung in die Metaphysik, S. 62. 57 A. a. O., S. 62 f. In Hinblick auf den Geist behandelt auch Yong-Soo Kang in seiner Schrift »Nietzsches Kulturphilosophie« (Yong-Soo Kang: Nietzsches Kulturphilosophie. Würzburg 2003.) die Frage nach dem Unterschied von Mensch und Tier, welchen er wie Derrida im Geisthaften des Menschen festzumachen sucht. 58 Beelmann, Axel: Heideggers hermeneutischer Lebensbegriff: eine Analyse seiner Vorlesung ›Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit‹. Würzburg 1994. 55 56

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ten hinsichtlich des Weltbegriffs. Allein zur Entwicklung desselben diene der Exkurs über den Lebensbegriff, welcher eine explizite Ausarbeitung der Organismus-Thematik in Zusammenhang mit den sie speisenden Arbeiten von Roux, Driesch und Uexküll fordere. 59 In diesem Kontext bricht auch die von Plessner, Scheler und Löwith kritisierte, scheinbare Lebensvergessenheit in »Sein und Zeit« in seine Überlegungen hinein, welche er für eine mögliche Motivation Heideggers zur Untersuchung des Lebensbegriffs herausstellt. »Neben dem systematischen Interesse am Ansatz von ›Sein und Zeit‹ liegt in der biologischen Akzentsetzung im Gesamtwerk Schelers sowie in der Kritik Löwiths die Motivation für Heidegger, in den ›Grundbegriffen‹ die Entfaltung der Seinsart des ›Lebens‹ nachzuholen, um die methodische Leistungsfähigkeit der Privation gegenüber ihrem Konkurrenzmodel zu demonstrieren.« 60 Dass sich Heidegger jedoch schon seit 1909 der Biologie mit großem Interesse zuwandte, wird die vorliegende Untersuchung im entsprechenden Kapitel aufdecken und damit Beelmanns Annahme entkräften können. Zudem erweist sich auch Beelmanns unhaltbarer Verdacht, Heidegger habe von dem späteren Nobelpreisträger Speemann abgeschrieben, als völlig ungerechtfertigt: »Die Souveränität, mit der Heidegger komplexe entwicklungsbiologische Zusammenhänge auf das Wesentliche reduziert, geht auf eine Anleihe bei Speemann zurück, dessen ›Rektoratsrede‹ aus dem Jahr 1923 Heidegger eine kurze Passage entnimmt […].« 61 Die Haltlosigkeit dieses Verdachts wird dann noch deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Heidegger die Schriften Drieschs schon spätestens 1913 kannte, was an entsprechender Stelle aufzuweisen sein wird. Darüber hinaus ist es gerade Heideggers Auffassungsgabe komplexer Sachverhalte, die sein Denken auszeichnet, wie Carl Friedrich von Weizsäcker zu berichten weiß. Von seiner Teilnahme an einer hitzigen Diskussion zwischen seinem Onkel Viktor und Wer»In der Darstellung der Beziehung des biologischen Exkurses zu hSein und Zeiti liegt der Schwerpunkt der Untersuchung.« (Heideggers hermeneutischer Lebensbegriff, S. 16.) »In den hGrundbegriffen der Metaphysiki demonstriert Heidegger nach alltäglichkeitsbezogenen Erschließung des Weltbegriffs in hSein und Zeiti sowie dem Weg seiner historischen Charakterisierung, wie ihn die Abhandlung hVom Wesen des Grundesi beschreitet, einen dritten methodischen Zugang, der sich einer vergleichenden Betrachtung der Thesen zum Weltbesitz von Stein, Tier und Mensch bedient.« (A. a. O., S. 245.) 60 A. a. O., S. 254. 61 A. a. O., S. 137. 59

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ner Heisenberg 1935 in Heideggers Hütte in Todtnauberg schreibt er: »Wenn nun die beiden nach einer Stunde sich in sinnvollen Missverständnissen festgeredet hatten, nahm Heidegger das Wort. ›Sie, Herr v. Weizsäcker, scheinen mir folgendes zu meinen‹: Drei kristallklare Sätze. ›Ja, genau das wollte ich sagen.‹ ›Und Sie, Herr Heisenberg, meinen doch wohl dies‹: Drei ebensolche Sätze, und die Antwort: ›Ja, so stell ich mir’s vor‹ […]. Der Dialog ging weiter bis Heidegger den beiden aus dem nächsten Engpaß helfen mußte.« 62 Mit Recht begegnet Beelmann hingegen der Kritik Schelers und Löwiths argumentativ, wenn er die Intention von »Sein und Zeit« – in Anlehnung an Heidegger – hervorhebt, denn es handele sich nicht um eine ontische Beobachtung, die beschriebe, wie der Mensch mit Messer und Gabel esse, sondern um die ontologische Bestimmung des Daseins im Menschen. 63 »Für Heideggers Denkweg ist der biologische Exkurs insofern von Bedeutung, als er auf fundamentalontologischem Boden, also in direkter Umsetzung des Ansatzes von ›Sein und Zeit‹, einen Seinsbereich behandelt, der zugunsten der Seinsfrage vernachlässigt worden war.« 64 Den Vorrang der Fundamentalontologie und der Methode des privativen Zugangs des Menschen zum Tiere vor jeglichen Stufenmodellen sieht auch Beelmann. »Die insbesondere am Beispiel Löwiths exemplarisch greifbare Kritik am privativen Ansatz von ›Sein und Zeit‹ kehrt das methodische Verhältnis von Fundamentalontologie und Regionalontologie um. Die Seinsart des Gegenstandsbereichs einer bestimmten Partialontologie soll unter Umgehung der Daseinsanalytik direkt und hinreichend erfaßbar sein. Auf den einschlägigen Zusammenhang bezogen, könnte man sagen, weil der Mensch lebt und nicht primär als Dasein existiert, hat er einen unmittelbaren Zugriff auf das Leben.« 65 In diesem Zitat erhebt sich die Frage nach dem ontologischen Status des phänomenologischen Ansatzes zur Bestimmung des Lebendigen, dazu heißt es bei Beelmann: »In rein regional-, nicht metontologischer Aufarbeitung wendet sich Heidegger unter dem Druck Schelers dem ›Leben‹ zu, ohne inhaltlich die Grenzen von ›Sein und Zeit‹ zu Weizsäcker, Carl Friedrich von: Begegnungen in vier Jahrzehnten. In: Erinnerung an Martin Heidegger. Neske, Günther (Hrsg.). Pfullingen 1977, S. 240. 63 Vgl. GA 29/30, S. 263. 64 Heideggers hermeneutischer Lebensbegriff, S. 251. 65 A. a. O., S. 52. Vgl. auch S. 54. 62

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überschreiten.« 66 Ausgehend vom § 3 in »Sein und Zeit« versteht Beelmann die Bestimmung des Lebendigen als eine Regionalontologie. Dieser Terminus wird zwar von Heidegger in »Sein und Zeit« nicht explizit verwendet, ließe sich aber aus dem Text im Sinne einer gebietsspezifischen Grundlagenforschung konstruieren. Es stellt sich aber doch aufgrund Heideggers metaphysischen Neuanfangs die Frage, ob die Untersuchung des Lebendigen in den »Grundbegriffen der Metaphysik« nur eine Regionalontologie neben anderen darstellt. Zudem bleibt zu bedenken, dass Heidegger den Begriff Regionalontologie doch eher negativ verstand, wie die Bewertung einer philosophischen Anthropologie im Kantbuch überdeutlich zeigt, sodass die Bestimmung des metaphysischen Ansatzes einer Phänomenologie des Lebendigen als Regionalontologie – im Sinne Heideggers – zumindest problematisch ist. 67 Schlägt in dem metaphysischen Neuansatz der Phänomenologie des Lebendigen nicht gerade Dasein ins Leben zurück? Ist die Bestimmung des Lebendigen in den »Grundbegriffen der Metaphysik« nicht vielmehr als Metontologie (als Lehrstück) zu lesen? Auch Friedrich-Wilhelm von Herrmann weist im § 16 seiner Schrift »Wahrheit – Freiheit – Geschichte« auf die Fragwürdigkeit der disziplinären Zuordnung hin. »In der Erörterung der These ›das Tier ist weltarm‹ geht es um die regionaloder metontologische Klärung der Seinsart des Lebens.« 68 Daneben ergeben sich noch weitere Probleme: Wird die Behandlung des Organischen in den »Grundbegriffen der Metaphysik« den Vorgaben aus »Sein und Zeit« gerecht, d. h. vor allem: Ist die Untersuchung streng phänomenologisch? Ist sie wirklich eine Metaphysik, d. h. geht sie auf das Ganze? Fragen, die Beelmann kritisch betrachtend verneint. Seine Argumentation verläuft auf folgende Weise: Für Beelmann besitzt Heideggers Interpretation der Weltarmut durch die PauA. a. O., S. 251. »Gewiß kann eine Anthropologie philosophisch genannt werden, sofern ihre Methode eine philosophische ist, etwa im Sinne einer Wesensbetrachtung des Menschen. Diese zielt dann darauf ab, das Seiende, das wir Mensch nennen, gegen Pflanze und Tier und die übrigen Bezirke des Seienden zu unterscheiden und dadurch die spezifische Wesensverfassung dieser bestimmten Region des Seienden herauszuarbeiten. Philosophische Anthropologie wird dann zu einer regionalen Ontologie des Menschen und bleibt als solche den übrigen Ontologien, die sich mit ihr auf den Gesamtbereich des Seienden verteilen, nebengeordnet.« (Heidegger, Martin: Kant und das Problem der Metaphysik. Gesamtausgabe (= GA) Band 3. Herrmann, Friedrich-Wilhelm von (Hrsg.). Frankfurt am Main 1991, S. 210 f.) 68 Wahrheit – Freiheit – Geschichte, S. 122. 66 67

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luszitate einen ganz klaren theologischen Einschlag, den er nicht allein auf Heideggers christliche Grundhaltung, sondern auch auf den engen Kontakt mit dem Theologen Bultmann, dessen Lesung zu Paulus Heidegger auch im Wintersemester 1923/24 Jahre besucht hat, zurückführt. »Ohne die Frage, inwieweit der frühe Heidegger christlicher Theologe war und der spätere es geblieben ist, beantworten zu können, lassen die ›Grundbegriffe‹ eine theologische Affinität erkennen, die stark genug ist, die [in »Sein und Zeit« geforderte] philosophische Rationalität ein Stück weit zu neutralisieren.« 69 Ohne die Freilegung des theologischen Moments lasse sich weder die Struktur noch die Argumentationslinie der »Grundbegriffe der Metaphysik« erschließen. 70 Doch ist die Frage nach einem theologischen Verständnis des Armutsbegriffs nicht ohnehin als obsolet zu betrachten? Heidegger schreibt doch selbst in Bezug auf Paulus, dass es keines christlichen Verständnisses bedürfe, um den Terminus der Armut zu fassen. »Am Ende bedarf es nicht [Hervorheb. v. Verf.] erst des christlichen Glaubens, um etwas von jenem Wort [Armut] zu verstehen […], um die Weltarmut des Tieres als inneres Problem der Tierheit selbst entwickeln zu können.« 71 Darüber hinaus ist 1924, wie die Untersuchung zeigen wird, sogar von der Welthabe des Tieres die Rede und nicht von der Weltarmut. Im zweiten Teil seiner Schrift verfolgt Beelmann den biologischen Exkurs unter Einbeziehung sowohl der von Heidegger genannten Schriften von Wilhelm Roux, Hans Driesch, Jakob von Uexküll u. v. a. als auch einiger Ergebnisse der modernen Biologie, um Heideggers These auf ihre Anwendbarkeit hin zu überprüfen. Diese Ergebnisse gilt es anhand einiger – naturgemäß der wichtigsten – Beispiele aufzuzeigen. Dabei ist Beelmann verstärkt an der Gegenüberstellung von Tier und Maschine interessiert, während er die Fragen nach der Diensthaftigkeit und dem Drangphänomen im Vergleich dazu merkwürdiger Weise verkürzt behandelt. Interessant ist unter anderem Beelmanns Ausführung zum Darwinismus, innerhalb welcher er auf das Problem der Erklärbarkeit von rudimentären Organen zu sprechen kommt. Dieses Problem bliebe in der darwinistischen Theorie ungelöst, werde aber durch Heideggers Über69 70 71

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Heideggers hermeneutischer Lebensbegriff, S. 248. Vgl. a. a. O., S. 63. GA Bd. 29/30, S. 396.

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legungen zu den aus den Fähigkeiten entlassenen Organen erstmals erklärbar. »Heideggers in die Verkümmerung entlassene Organe bergen als die Rudimente, die sie sind, die ganze Brisanz der Evolutionsproblematik in sich, die im Vorlesungskontext unterdrückt wird.« 72 Hervorzuheben ist zudem Beelmanns Paradebeispiel für die Bestätigung von Heideggers Bestimmung des Organismus als ein sich in Organe schaffende Fähigkeiten gliederndes Befähigtsein 73 an speziellen Viren, die er aufgrund ihrer Seinsweise, als lebendige Steine charakterisiert. »Die Viroide kommen noch eher der Fiktion des befähigten Steins nahe als ihre großen Brüder. Nicht ohne Witz als ›nackte MiniViren‹ bezeichnet, sind sie nicht ›tot‹ wie ein Stein, da sie latent ›befähigt‹ sind, nämlich zur Induktion intrazellulärer Replikation [in ihren Wirtszellen], ›leben‹ aber nur eingeschränkt, wenn man die Vitalität an aktuellen Organbesitz koppelt. Es spricht für die Leistungsfähigkeit der Formel von der befähigten organschaffenden Eigentümlichkeit, daß sie derartige Grenzfälle bis hinunter zu den Viroiden integrieren kann, da das Fähigsein [Hervorheb. v. Verf.] lediglich als konstitutives Moment der animalischen Seinsart zu interpretieren ist, es also nicht auf realen Organbesitz ankommt, sondern potentielles, und sei es nur passageres Organhaben entscheidend ist.« 74 Ein weiteres Problem sieht Beelmann in der Tatsache, dass durch die fehlende Behandlung der Bewegtheit des Tieres die Untersuchung fragmentarisch bliebe und dadurch die These von der Weltarmut des Tieres noch nicht als metaphysisch ausgewiesen werden könne. Durch den § 61 der »Grundbegriffe der Metaphysik« angeregt unternimmt er in Folge die Untersuchung der Todesthematik mit Blick auf das Tier. Ihm gelingt es, das Moment des Todes als ein Sich-zu-Tode-laufen des Lebendigen zu charakterisieren, welches durchaus dem Begriff Verenden entspricht, worin sich die Bezuglosigkeit des Tieres zu seinem Ende hin erweist und sowohl die dem Tier zugesprochene Benommenheit als auch die Weltarmutsthese bestätigt werden kann. »Lebendiges läuft sich zu Tode, weil dieser seiner Seinsart innewohnt, die nicht sterben läßt, sondern zum Verenden bestimmt, was ihr gemäß anwest […]. Von seiten der Genommenheit wie der Bewegtheit besehen, ist die ter-

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Heideggers hermeneutischer Lebensbegriff, S. 98. Vgl. GA Bd. 29/30, S. 342. Heideggers hermeneutischer Lebensbegriff, S. 108 f. A

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minologische Wahl des Verendens adäquat. Dieses Ergebnis rechtfertigt die positive Entscheidung über den metaphysischen Rang der Weltarmutsthese, die durch die Rekonstruktionsversuche zum Zusammenhang zwischen Bewegtheit und Tod untermauert wird, da diese keine Aspekte beisteuern konnten, die einen Aufschub im Sinne Heideggers legitimiert hätten.« 75 Gerade in dieser Darstellung reflektiert Beelmann auf den theologischen Aspekt: »Der aus der Immanenz der um die Bewegtheit ergänzten Interpretation des ›Lebens‹ nicht zu rechtfertigende Aufschub einer Entscheidung über den metaphysischen Rang der Weltarmutsthese muß als Resultat einer theologischen Verpflichtung gewertet werden, von der sich zu entbinden Heidegger erste einige Jahre später bereit ist.« 76 Dem biologischen Exkurs folgt im dritten Teil von Beelmanns Schrift eine abschließende Betrachtung des Stellenwertes des hermeneutisch erschlossenen Lebensbegriffs, in welcher er erneut auf die Bereinigung der phänomenologischen Bestimmung des Lebendigen in »Beiträge zur Philosophie« eingeht, worauf aber in der vorliegenden Untersuchung nicht erneut eingegangen wird, da dieser in der Sorge Beelmanns bestehende Aspekt von meiner Seite abgelehnt wird, zumal Heidegger die Weltarmutsthese – wie die vorliegende Untersuchung noch zeigen wird – als eine Illustration seitens der Biologie ausweist. Es sei aber erinnernd darauf verwiesen, dass Beelmann annimmt, die gesamte Gegenüberstellung von Mensch, Tier und Stein wäre ohne den theologisch gefärbten Begriff der Armut undenkbar gewesen, was – nimmt man seinen Standpunkt ein – einen Verweis auf das theologische Moment zwingend macht, um der Argumentationslinie und Struktur Heideggers Behandlung der Organismus-Thematik inne zu werden. Für Beelmann stellt das von ihm gesehene, theologische Moment ein so massives Problem dar, dass er es dafür verantwortlich macht, eine radikal durchgeführte, phänomenologische Bestimmung A. a. O., S. 166. A. a. O., S. 167. Erst in »Beiträge zur Philosophie« (Heidegger, Martin: Beiträge zur Philosophie. (Vom Ereignis) (1936–1938). Gesamtausgabe (= GA) Band 65. Herrmann, Friedrich-Wilhelm von (Hrsg.). Frankfurt am Main 2003.) habe Heidegger den theologischen Einschlag überwunden, indem er dem Tier Weltlosigkeit attestiere. Dieser Umschlag birgt aber erneut terminologische Schwierigkeiten, die umgangen werden können, wenn man an der Bestimmung des Offenen-Habens-von-Enthemmenden festhält, welches in der Benommenheit des Tiers gründet oder eben von Umgebung statt von Welt im Bezug auf das Tier spricht.

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des Lebendigen ebenso zu vereiteln wie die Methoden der Hierarchisierung und Psychologisierung. »Die durch Bultmanns Interpretation der paulinischen Theologie innervierte Übernahme theologischer Motive in die ›Grundbegriffe‹ blockiert die Akzeptierung der philosophisch entschärften, um den Entbehrungscharakter bereinigten Weltarmutsthese als einer genuin metaphysischen Bestimmung zur Seinsart des ›Lebens‹ und erweist sich nachträglich als ähnlich hinderlich wie die ausdrücklich vermiedenen methodischen Abwege der Stratifikation und Psychologisierung.« 77 Ist dem wirklich so? Über die Darstellung des Fundamentes der Daseinsanalytik und die Behandlung des Organischen zeigt auch Beelmann einen Bezug zum Kategorienproblem auf und nennt in Abgrenzung zu den Kategorien zur Bestimmung des Vorhandenen und den Existenzialitäten zur Bestimmung des Daseins die Kategorien des Lebendigen Vitale. 78 Abschließend prüft Beelmann, inwieweit die »Formel des ›Nichthabens von Welt im Haben der Offenheit des Enthemmenden‹« 79 für die Biologie funktionalisiert werden kann. Dazu wendet er die von Wuketits 80 innerhalb der Biologie entwickelten Kriterien zur Bestimmung des Lebendigen auf die von Heidegger gehobenen, ontologischen Strukturmomente des Lebendigen an. Durch dieses Vorgehen kann er, wenn auch eingeschränkt, Heideggers Konzeption der wesentlichen Benommenheit als weitsichtig und führend herausstellen. »Mit seiner lebenslangen Abneigung gegen reduktionistische Bestrebungen, von ›Sein und Zeit‹ und den ›Grundbegriffen‹ bis zur späteren Ablehnung der Kybernetik hat Heidegger ontologisch vorweggenommen, was sich speziell die Biologie mühsam erarbeitet hat.« 81 Dies zeigt sich beispielsweise an der dem Tier eigentümlichen Offenheit für Enthemmendes, ohne welche Phänomene wie Assimilation unverstanden blieben. Mit diesem Griff gelingt es Beelmann, zu dem Problem der Selbstbehauptung der Biologie gegenüber der Chemie und der Physik Stellung zu nehmen. Solange der Biologie ein ontologisches Fundament fehle, solange der Biologie noch nicht einmal ihr eigenes Themenfeld bestimmt sei, solange könne sie keine Eigenständigkeit behaupten. Mit der ontologischen

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Heideggers hermeneutischer Lebensbegriff, S. 248. Vgl. a. a. O., S. 187. A. a. O., S. 245. Wuketits, F. M.: Biologische Erkenntnis: Grundlagen und Probleme. Stuttgart 1983. Heideggers hermeneutischer Lebensbegriff, S. 216. A

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Bestimmung des Lebens nach Heidegger sei jedoch ein solches Fundament gegeben. In der Wende zur Funktionalisierung der Thesen Heideggers offenbart sich Beelmanns Sorge bestimmt durch die Nutzbarmachung des ontologischen Ansatzes zur Bestimmung des Lebens für eine mögliche Selbstbehauptung der Biologie gegenüber ihren großen Schwestern Chemie und Physik. Eine Sorge, die gleichsam die Wahl der von ihm aufgeführten Autoren und Beispiele – Virenforschung – prägt. Trotz Beelmanns Zugeneigtheit zu Heidegger bleibt eine letzte Kritik an dessen Ausführungen nicht aus, welche die Lernfähigkeit von Genen, d. h. deren Anpassungsfähigkeit an fremde Situationen betrifft, die ein verändertes Benehmen und eine damit die gesamte Struktur betreffende Veränderung ernötigen. Lässt Heideggers Bestimmung des Organismus als das in Organe schaffende Fähigkeiten sich gliederndes Befähigtsein und die damit gegebene unumkehrbare Richtungsgebundenheit für dieses Geschehen keinen Platz, um die geforderte Lernfähigkeit der Gene fassen zu können? Meiner Ansicht nach kann das Problem des Lernens allein im Bereich der Fähigkeiten behandelt werden. Denn wo keine Fähigkeit zu einem bestimmten Benehmen vorliegt, da kann auch nichts gelernt werden. Man darf das, was unter dem Begriff Lernverhalten gefasst werden soll, nicht missdeuten, als habe das Tier bzw. als hätten dessen Gene ein Potenzial an indeterminierten Strukturen, die diesem zur Disposition stünden, denn dann würde man dem Tier einen Überschuss zusprechen, der dem Phänomen der Ganzheitlichkeit des tierischen Organismus diametral entgegen stünde. Da die phänomenologische Bestimmung des Organismus fragmentarisch blieb, scheint sie, die geforderte Ganzheit einer echten Metaphysik im Sinne Heideggers nicht zu erfüllen. Beelmann übersieht bei einer solchen Annahme aber, dass die Betrachtung des Lebendigen von Grund auf als inständige Betrachtung erfolgt, in welcher der Befragte als Einzelner, als je ich in dem Ganzen des waltenden Seienden innesteht und so aus dem Ganzen in das Ganze fragt und zwar in einer Weise, in welcher der Fragende sich in seinem Fragen selbst verstehend mit entdeckt. So zeigt sich, dass die aus dem metaphysischen Neuansatz geforderte Ganzheit eben durch diesen selbst garantiert ist. Schwierigkeiten sieht Beelman zudem in der Grundlegung der Organismusfrage in dem griechischen Verständnis der φύσις. Da diese zum einen den Charakter des Verbergens habe und ihr zum anderen 38

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ein theologisches bzw. mythisches Moment innezuwohnen scheine. 82 In den Textstellen, die Beelmann dazu anführt, geht es Heidegger vordergründig noch gar nicht um die Bestimmung des Tieres, sondern vielmehr um die Legitimierung seines neuen Verständnisses von Metaphysik in Bezug auf Ganzheit auf das später in der vorliegenden Untersuchung noch genau eingegangen wird. 83 Das Moment des Mythos im antiken griechischen Denken negieren zu wollen, wäre ein törichter Versuch, man muss aber dennoch darauf hinweisen, wie Heidegger das Göttliche in seiner AristotelesInterpretation an- und ausspricht. »Das eigentliche Fragen in diesen Wissenschaften von der φύσις ist die höchste Frage nach dem Ersten Beweger, nach dem, was dieses Ganze der φύσις in sich selbst als dieses Ganze sei. Dieses Letztbestimmende in den φύσει ὄντα bezeichnet Aristoteles, noch ohne damit eine bestimmte religiöse Auffassung zu verbinden, als das θεῖον, als das Göttliche.« 84 Gerade in diesem Charakter der φύσις als das Erste, das Ganze, die reine Bewegung, als das Sein selbst, von dem her Natur erst verstehbar wird und den Tangi Hirokazu und Kah Kyung Cho in ihren Aufsätzen so stark machen, sieht Beelmann ein Problem zur Bestimmung des Organischen, da hier eine Zweiteilung des φύσις-Begriffs des Walten des Waltenden und des Waltenden selbst und damit des Interesses vorläge. 85 Dabei betont Heidegger in der von Beelmann angesprochenen Passage gerade deren Zusammengehörigkeit. »Es gibt nicht zwei verschiedene Disziplinen, sondern das Fragen nach dem Seienden im Ganzen und das Fragen nach dem, was das Sein des Seienden, sein Wesen, seine Natur sei, bezeichnet [Aristoteles] als πρώτη φιλοσοφία, als Erste Philosophie.« 86 Und zum Abschluss der von Heidegger vorgenommenen Zusammenfassung der §§ 8 und 9 heißt es: »Das eigentliche Philosophieren fragt nach der φύσις in dieser doppelten Bedeutung, nach dem Seienden selbst und nach dem Sein. Sofern die Philosophie nach dem Seienden selbst fragt,

»Unter Berücksichtigung ergänzender Texte wird die metaphysische Aushöhlung des als hgriechisch gedachti vorgestellten Naturbegriffs deutlich, die ihn für eine Philosophie des Organischen ungeeignet macht.« (Heideggers hermeneutischer Lebensbegriff, S. 18.) 83 Vgl. GA Bd. 29/30, §§ 8–11. 84 A. a. O., S. 48. 85 Vgl. Heideggers hermeneutischer Lebensbegriff, S. 34. und GA Bd. 29/30, S. 45–52. 86 GA Bd. 29/30, S. 50. 82

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macht sie nicht irgendein beliebiges Ding zum Gegenstand, sondern richtet ihr Fragen auf dieses Seiende im Ganzen. Sofern der Grundcharakter dieses Seienden und seines Seins die Bewegung ist, geht die ursprüngliche Frage danach auf den ersten Beweger zurück […].« 87 Abgesehen davon versucht Heidegger in dieser Passage seinen metaphysischen Neuansatz philosophiegeschichtlich zu legitimieren. »Wir stehen bei der Frage, mit welchem Recht wir den Titel ›Metaphysik‹ als eigentliche Bezeichnung für das Philosophieren in Anspruch nehmen […].« 88 Für Heidegger zeigt sich das Verstehen des Waltenden selbst als das Sein selbst, als notwendige Voraussetzung für das Verstehen des Waltens des Waltenden. Angesprochen ist im § 9 die ἀλήθεια, also das Seinsverständnis, von dem aus allererst die Privation des Lebendigen im Sinne der στέρεσις als Absprechendes-Aussprechen geschehen kann.

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Die hermeneutische Situation Descartes’ und die Sorge um Erkannte Erkenntnis

Die Wiederholung der Geschichte der Philosophie durch Martin Heidegger hat ihren ganz eigenen Charakter. Einen Charakter, der in Heideggers Auffassung des Wesens der Wahrheit selbst gründet. Ein Wahrheitsbegriff, der die Möglichkeit bisher gekannter Wiederholungen der Geschichte der Philosophie übersteigt. Eine Wiederholung, die in der Lage ist, die von Aristoteles ausgehende Verselbstständigung vielfältiger Denkgewohnheiten und die damit einhergehende Entfernung von den ursprünglichen Phänomenen – in diesem Fall des Lebendigen –, sowie die daraus erwachsenden Versäumnisse aufzuzeigen und in ihrem tiefen phänomenologischen Gehalt sichtbar zu machen. Dieses Verständnis von Wahrheit, das Heidegger erstmals 1922 in seiner für den Lehrstuhl in Marburg bestimmten Schrift »Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles« 89 aus dem von Aristoteles geprägten Begriff der ἀλήθεια entwickelte, führt weg von einer kategorial verstandenen Erkenntniswahrheit hin zu einer Vollzugsontologie, die letztendlich in der Sorge des Daseins gründet. Die Sorge als GrundA. a. O., S. 52. A. a. O., S. 51. 89 Heidegger, Martin: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Stuttgart 2003. 87 88

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struktur des Daseins ist besorgt um das Heranschaffen dessen, was in der Sorge steht, d. h. auf dessen Verwirklichung das Dasein aus ist. Im Teil II der ersten Marburger Vorlesung »Einführung in die phänomenologische Forschung« 90 des Wintersemesters 1923/24 unternimmt Heidegger stellvertretend für die hermeneutische Situation der gesamten Wissenschaften den Versuch, die noch immer vorherrschende mathematische Weltauffassung, welche ihren Ursprung im cartesianischen Denken hat, auf das ontologische Phänomen der Sorge zurückzuführen. Das Worauf-hin der Sorge als das zu Besorgende bestimmt die gesamte hermeneutische Situation. Diese setzt sich zusammen aus dem, was als Untersuchungsgegenstand vorliegt, und dem, als was dieser Untersuchungsgegenstand gilt, sowie der Hinsicht, unter welcher der Untersuchungsgegenstand erforscht werden soll. Diese drei Momente nennt Heidegger im § 17 der »Einführung in die phänomenologische Forschung« Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff. 91 Das Verstehen von Welt, Innerweltlichem ist geleitet von der jeweils spezifischen Hinsicht der Sorge, die sich in der Sorge Descartes’ als verum manifestierte. »Jede Sorge lebt in einem bestimmten Hinblick auf das, was sie besorgt.« 92 Da die Hinsicht der Sorge das zu Besorgende – Welt und Selbstverständnis – leitet, so ist der Charakter der Hinsicht der Sorge nicht nur verantwortlich für den Charakter des Verständnisses des innerweltlich Begegnenden, sondern auch des Daseins, d. h. im Besorgen von Welt wird Dasein mit besorgt. Das Besorgen methodologischer Regeln zur Erfassung des verum als Garanten zur Statuierung der mathesis universalis leitete Descartes’ Denken von frühster Jugend an, da er erkennen musste, dass es mit der Erkenntnissicherheit seiner Tage nicht gut bestellt war, weil diese sich auf den Syllogismus als wissenschaftliche Methode stützte. »Damit nun aber noch evidenter vor Augen tritt, daß jene Erörterungskunst überhaupt nichts zur Erkenntnis beiträgt, muß man darauf aufmerksam machen, daß die Dialektiker mit ihrer Kunst keinen Syllogismus bilden können, der etwas Wahres Heidegger, Martin: Einführung in die phänomenologische Forschung. Gesamtausgabe (= GA) Band 17. Herrmann, Friedrich-Wilhelm von (Hrsg.). Frankfurt am Main 1994. 91 »Man muß sich also verständigen über 1. die Vorhabe: was für die Untersuchung im vorhinein gehabt wird […]; 2. die Art und Weise, wie das in der Vorhabe Gehaltene gesehen wird, die Vorsicht; 3. wie das in bestimmter Weise Gesehene aus bestimmter Motivation heraus begrifflich expliziert wird: der Vorgriff.« (A. a. O., S. 110.) 92 A. a. O., S. 106. 90

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erschließt, wenn sie nicht zuvor seine Materie bewiesen haben, d. h. wenn sie nicht dieselbe Wahrheit, die in ihm [dem Syllogismus] deduziert wird, schon vorher erkannt haben; woraus hervorgeht, daß sie selbst […] nichts Neues erfassen und daß daher die gemeine Dialektik […], völlig unbrauchbar ist […].« 93 Descartes war um die Auffindung solcher Regeln – wie verschiedene autobiographische Momente seiner Schriften belegen – seit 1619/20 bemüht, die er dann 1628/29 unter dem Titel »Regulae ad directionem ingenii« veröffentlichte. Aus diesen Berichten lässt sich Descartes’ Bemühen um die mathesis universalis als eine Berufung charakterisieren, welche sich schon während seiner Schulzeit auszuformen begann. »[I]ch könne«, so Descartes rückblickend im »Discours de la Méthode« 94 , »nichts Besseres tun, als […] mein ganzes Leben darauf verwenden, meinen Verstand zu kultivieren und, soweit ich könnte, nach der Methode, die ich mir [in den Regulae] vorgeschrieben, in der Erkenntnis fortzuschreiten.« 95 Den Abschluss dieses Denkweges bildete die Schrift »Principia Philosophiae« 96 .

2.1 Die Manifestation der Sorge in den Meditationen Der Zweifelsgang Descartes’ führte – wie hinlänglich bekannt – zu dem Dualismus von res cogitans und res extensa. Das Erste, was Descartes auf der zweifelnden Suche nach einem unumstößlichen Fundament zukünftiger Wissenschaften als clara et distincta/klar und deutlich zu erkennen glaubte, ist: das Ich-denke »hic invenio: cogitatio est; haec sola a me divelli nequit; ego sum, ego exsisto; certum est.« 97 (Dieses findet sich also: das Denken ist (es), das alleine nicht von mir abgezupft (abgetrennt) werden kann. Ich denke, ich existiere, das ist sicher.) Das cogito Descartes, René: Regulae ad directionem ingenii. Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft. Springmeyer, Heinrich/Gäbe, Lüder/Zekl, Hans Günter (Übers. u. Hrsg.). Hamburg 1993, Regula X, [406] S. 67 (wird im Folgenden als Regulae angegeben). 94 Descartes, René: Discours de la méthode pour bien conduire sa raison, et chercher la verité dans les sciences. Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. Gäbe, Lüder (Übers. u. Hrsg.). Hamburg 1997 (wird im Folgenden als Discours de la Méthode angegeben). 95 A. a. O., Teil III, S. [26/28] S. 45. 96 Descartes, René: Principia Philosophiae. Die Prinzipien der Philosophie. Buchenau, Artur (Übers.). Hamburg 1965. 97 Descartes, René: Meditationes de Prima Philosophia. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Gäbe, Lüder (Hrsg.). Hamburg 1977, Meditation II, [26/27] S. 46. 93

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erfährt sich im Denken als mit sich selbst identische res cogitans. Das Denken seiner Selbst – denn denken heißt immer etwas denken – als ein sich selbst im Denken Gedachtes erfassen, ist für Descartes das Evidenteste überhaupt. In dieser Evidenz des Erfassens setzt Descartes gleichsam die regula generalis für wissenschaftliches Denken überhaupt: Stimme nur einem Urteil zu, das den Charakter der clara et distincta perceptio besitzt. Das Verständnis des clara et distincta leitet gleichsam das Verständnis der ontologischen Verfasstheit des verum mit. Wahr ist, was sich ohne Abschattung – clara – und von allem anderen wohl unterschieden – distincta – dem Denken vorstellt. Nur ein so geschultes Denken kann als wissenschaftlich ausgezeichnet werden. »Omnis scientia est cognitio certa et evidens […].« 98 Zudem gilt es nur Gegenstände zu beurteilen, die der ersten Regel, d. h. dem Fassungsvermögen des Verstandes entsprechen. Des Weiteren ist vom Einfachsten auszugehen, um von dort zum Komplexeren fortzuschreiten. Mit dieser Definition von Wissenschaft prägte Descartes das gesamte wissenschaftliche Denken bis in die heutige Zeit maßgeblich. Aus diesem Verständnis von Wissenschaft teilt man von vornherein die Dinge der Welt in zwei Klassen ein: solche, die dieser Regel entsprechen, und solche, die dieser Regel nicht entsprechen, also aufgrund ihrer Seinsweise niemals einer wissenschaftlichen Betrachtung zugeführt werden könnten. Deshalb müssen eben diese Gegenstände vor ihrem Einzug in den Wissenschaftsraum präpariert werden, so zwar, dass sie der regula generalis genüge leisten. Diese regula generalis findet ihren Ausgang in der Mathematik und führt zu dieser wieder zurück. Es geht dabei nicht um die Mathematik als solche, sondern um die Einsicht möglicher Eigenleistungen des menschlichen Verstandes, die Descartes in der Verknüpfung von Arithmetik und Geometrie in seiner Arbeit an Koordinatensystemen entdeckte. Auf dem Boden der Evidenz mathematischer Kalkulationen bestimmt sich das Wie des Präparierens, d. h. der Messbarkeit. So wird das Lebendige nicht in Hinsicht darauf untersucht, wie es sich in seiner Umwelt unter bestimmten Bedingungen zeigt, sondern unter methodischen Vorgriffen, die Universalität und Allgemeingültigkeit zu verbürgen versprechen. »Die Sorge der Sachlichkeit ist, ganz extrem gesehen, nichts anderes als die Aufforderung, diese Sorge mitzumachen, d. h. die Beistellung der Sachen auf letzte Allverbindlichkeit. Erst

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durch diese Prüfungsstelle hindurch werden die Sachen als zu bearbeitende zugelassen.« 99 Damit sich Descartes aber dieser Regeln gewiss sein konnte, bedurfte es noch einer zusätzlichen Absicherung des durch die Regel Erkannten. Diese Absicherung als Sorge um die erkannte Erkenntnis findet Descartes letztendlich in der wahren Existenz Gottes. »Denn erstens ist sogar das, was ich gerade als Regel angenommen habe, daß nämlich die Dinge, die wir uns sehr klar und sehr deutlich vorstellen, alle wahr sind, nur gesichert, weil Gott ist oder existiert und weil er ein vollkommenes Wesen ist und alles in uns von ihm herkommt.« 100 Der Akt der Versicherung des Erkannten ist – wie man meinen könnte – keine Eigenart Descartes’, sondern liegt in der Struktur der Sorge selbst begründet. Denn die Sorge beruhigt sich nicht zwingend im Aufenthalt bei innerweltlich begegnendem Seiendem im Umgang mit diesem (oder in hypothetischen Gottesbeweisen), sondern ist als eine Möglichkeit menschlichen Daseins zu verstehen, die versucht ist, zu einem beständigeren Sinn zu gelangen als das alltägliche Besorgen hergibt. Dieses Phänomen menschlichen Daseins – so zeigt der Dominikaner-Pater und Professor für Philosophie Paulus Engelhardt – stellte schon Thomas von Aquin mit Bezug auf Platon als ein desiderium naturale heraus. »Es ist für Thomas das dem endlichen Geist innewohnende Verlangen nach immerwährendem Sein […], das dem Vernehmen des ›Seins schlechthin‹ entspringt […]. Dieses ›natürliche Verlangen‹ ist nicht einem einzelnen Vermögen des Menschen zuzuordnen. Es ist vielmehr eine Grundbefindlichkeit menschlichen Existierens, die vom Seienden-im-ganzen als Erstrebenswertem bestimmt ist und ständig über das endliche Erfüllungsangebot jedes Seienden hinausweist.« 101 In diesem Akt des Transzendierens (Überspringens) des Zuhandenen verfängt sich die Sorge gleichsam in dem Besorgen von solch beständiger Erkenntnis – was Heidegger mit dem Begriff Sicherheit belegt – und besorgt den Garanten für solche Beständigkeit gleich mit, die Verbindlichkeit. »Die Sorge der Erkenntnis kann sich zunächst und ursprünglich dahin verlegen, daß sie selbst es sich am Erkannthaben eines bestimmten Ausschnittes des Seienden, das im Leben da ist, nicht geGA Bd. 17, S. 303. Discours de la Méthode, Teil IV, [37–39] S. 63. 101 Engelhardt, Paulus: Thomas von Aquin. Wegweisungen in sein Werk. Eggensperger, Thomas/Engel, Ulrich (Hrsg.). Leipzig 2005, S. 69. 99

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nügen lässt. Der Sorge des Erkennens kommt es darauf an, über einen bestimmten Bezirk des Erkanntseins die Möglichkeit auszubilden, immer weiter im Erkennen vordringen zu können [.]« 102 und dies methodologisch zu sichern. Das Erkennen richtet sich dann nicht mehr auf den Untersuchungsgegenstand, sondern allein auf das methodologische Absichern der erkannten Erkenntnis, da sie sich in diesem Prozess des Untersuchungsgegenstandes unbedürftig selbst ver-sorgt. In solchem Besorgen bildet sich jeweils ein dem Besorgen entsprechender Wahrheitsbegriff aus, der diesem genügt, ja als Struktur, welche das Selbstverständnis einer jeweiligen Wissenschaft erst ermöglicht (und das auch heute). Die Beständigkeit von Wahrheit – im Sinne Descartes’ – wird gemessen am modus essendi, des jeweiligen Seienden in den Abstufungen von ewig bis momenthaft. Eine solche Verzerrung des Seins-Begriffes lässt nicht nur das Versäumnis der Seinsfrage ganz klar hervortreten; sie potenziert sich zudem in der damit in Zusammenhang stehenden Vorstellung von Substanz. Alles Seiende wird als Substanz vorgestellt, dessen Seinscharakter als Substantialität gedacht wird. Realität wird in einem solchen Denken mit Substantialität gleichgestellt. Nur ein Seiendes, dem Substanz zukommt, – so interpretierte Heidegger Descartes in § 43 der »Einführung in die phänomenologische Forschung« – kann als Seiendes gedacht werden. Wenn also das Sein als etwas gedacht werden kann, so muss ihm auch Substantialität zukommen. »Das Sein erhält den Sinn von Realität. Die Grundbestimmtheit des Seins wird die Substanzialität.« 103 Das Wesen, die Grundbestimmung von Substanz und in eins damit von Welt wird bei Descartes folglich als Ausgedehntheit bestimmt. Und dies noch, ohne dass die extensio als Räumlichkeit auch nur im Ansatz in den Blick gerät. Andere Bestimmungen der Substanz wie Teilbarkeit, Form, Kraft und Bewegung sind für Descartes zweitrangig. Form und Bewegung sind für ihn nur zwei Modi von Substanz denn ändert sich auch die Bewegungsrichtung einer Substanz und damit die von ihm eingenommenen Raumstelle, so bleibt die Substanz doch eben Substanz. So wird die Substanz zur Hauptkategorie, unter der sich auf Messbarkeit hin gesicherte Exaktheit mathematischer Urteile zum vor-

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nehmlichen Gegenstand möglicher Wissenschaft und in einem damit die Mathematik zur Idealwissenschaft, erhoben. Unter Substanz wird weiterhin jenes gedacht, was zu seinem Sein keiner Herstellung durch ein anderes bedarf, das, was aus sich selbst – anderem unbedürftig – ist. Daher kommt die Eigenschaft absoluter Unbedürftigkeit allein Gott als ens perfectissimum zu. Unbedürftigkeit bestimmt die Seinsweise Gottes in ontologischer Weise. Das innerweltlich Begegnende ist von diesem Ideal abgeleitet relativ unbedürftig, das besagt, dass dieses nicht der Herstellung durch Menschenhand bedarf. Die res cogitans und die res extensa sind zwar beide von Gott geschaffen – Schöpfung –, d. h. ens creatum, aber ansonsten unbedürftig. Aus einem solchen Verständnis kommt nicht nur dem Begriff Substanz sondern auch dem Begriff Sein eine sehr schwankende Bedeutung zu, die deren Gebrauch aufs Äußerste verklärt. Der generelle Unterschied zwischen den Seinsweisen von res cogitans und res extensa auf der einen und des ens perfectissimum auf der anderen Seite besteht darin, dass das Sein Gottes als unendlich und das Sein der res cogitans und res extensa als endlich gedacht werden. Wie die Kluft, die innerhalb des cartesianischen Gebrauchs von Sein – und untrennbar davon der Begriff der Substanz – überwunden werden kann, bedarf einer eingehenden Bemühung um den Sinn von Sein überhaupt. 104 Im Ausgang von Descartes konzentrierte sich das Besorgen von Universalität und Allgemeingültigkeit auf das menschliche Bewusstsein, welches – so Heidegger – fortan den Boden jeglichen philosophischen Besorgens ausmachte. »Wir sehen, daß in der Tat das Ich, das Bewußtsein, die Vernunft, die Person, der Geist im Zentrum der Problematik steht.« 105 Das Bewusstsein hat seit Kant und Fichte die ἡγεμονία/Herrschaft über das menschliche Dasein ergriffen und so geht alles philosophische Besorgen auf das Besorgen der Herrschaft des Bewusstseins. Dies zeigt sich bei Fichte, wenn er die Vernunft als ein absolutes, d. h. im Gegensatz zur Auffassung Descartes’, als ein von Gott unabhängig existierendes Sich-selbst-setzen konzipiert. Dieser Umstand zeigt sich auch in der unzulänglichen Übersetzung von οὐσία als Substanz, wie sie im Mittelalter üblich geworden ist. »[W]ir vermeiden die sonst geläufigen ›Übersetzungen‹, d. h. Auslegungen von οὐσία wie ›Substanz‹ […]« (Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik B, 1, S. 260). 105 GA Bd. 29/30, S. 84. 104

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»[D]ie Vernunft ist schlechthin Grund ihres eigenen Daseins, und eigenen Objektivität, für sich selber, und darin eben besteht ihr ursprüngliches Leben.« 106 Und etwas weiter heißt es im selben Vortrag: »Dies ist die Vernunft, so gewiß sie ist: aber sie ist schlechthin; nun ist sie ein absolutes unmittelbares sich Machen […].« 107 »Die Sorge um erkannte Erkenntnis hat eine Herrschaft, die nicht mehr kontrollierbar ist, die entwurzelt ist, die ihre Herkunft nicht mehr kennt. Man lebt in der Tendenz, Bewußtsein als [Garanten des verum] zu behandeln.« 108 Diese Tendenz, die sich auch in Hegels Denken des Absoluten Bewusstsein widerspiegelt, zeigt deutlich, dass das zweifelnde Besorgen immer auch auf ein Gelingen des Besorgens aus ist, d. h. auf ein Beruhigen des Daseins in der Nähe des verum.

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Martin Heidegger stellt diesem Verständnis von Wissenschaft die hermeneutische Phänomenologie als Methode entgegen, die er mit Edmund Husserl mit dem Schlagwort »Zu den Sachen selbst« 109 – als formalen Sinn der phänomenologischen Forschung – plakativ belegt. Wie aber gestaltet sich das Verständnis von hermeneutischer Phänomenologie als Methode? Was besagt Hermeneutik, Phänomenologie und was Methode? Kann eine Methode gleichsam eine Wissenschaft darstellen? Was kann diese Wissenschaft zur Hebung des Lebendigen leisten und wie? Woran orientiert sich ein solcher Versuch? Um diese Fragen angemessen beantworten zu können, gilt es zunächst, die gedankengeschichtliche Entwicklung der hermeneutischen Phänomenologie 106 Fichte, Johann Gottlieb: Die Wissenschaftslehre. Lauth, Reinhard/Widmann, Joachim (Hrsg.). Hamburg 1975, XXVIII. Vortrag, SW 307–308/M 385–386, S. 275. 107 A. a. O., XXVIII. Vortrag, SW 308–309/M 386–387, S. 277. 108 GA Bd. 17, S. 116. 109 Husserl schreibt 1911: »Die Sachen selbst müssen wir befragen. Zurück zur Erfahrung, zur Anschauung, die unseren Worten allein Sinn und vernünftiges Recht geben kann.« (Husserl, Edmund: Philosophie als strenge Wissenschaft. Szilasi, Wilhelm (Hrsg.). Frankfurt am Main 1965, S. 27.) »Zu den Sachen Selbst!« (SuZ, S. 34.) Walter Biemel ergänzt in der Heidegger Monographie »hZu den Sachen selbsti: das hieß hWeg von den Theorien, weg von den Bücherni und Etablierung der Philosophie als einer strengen Wissenschaft […]« (Biemel, Walter: Martin Heidegger. Kusenberg, Beate/Schröter, Klaus (Hrsg.). Hamburg 1985, S. 11).

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in der Forschung Heideggers anhand verschiedener Werke in ihren Grundzügen aufzuzeigen.

3.1 Entwicklung der hermeneutischen Phänomenologie aus dem Kategorienproblem Die sich in »Sein und Zeit« konzentrierende Frage nach dem einheitlichen Sinn von Sein nimmt ihren Anfang während Heideggers Studium der Dissertationsschrift Brentanos »Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles« 110 von 1862 (im Jahre 1907). »Aus manchen Hinweisen in philosophischen Zeitschriften hatte ich erfahren, daß Husserls Denkweise durch Franz Brentano bestimmt sei. Dessen Dissertation ›Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles‹ (1862) war jedoch seit 1907 Stab und Stecken meiner ersten unbeholfenen Versuche, in die Philosophie einzudringen. Unbestimmt genug bewegte mich die Überlegung: Wenn das Seiende in mannigfacher Bedeutung gesagt wird, welches ist dann die leitende Grundbedeutung?« 111 Brentano versuchte in seiner Dissertation, die vielfache Kritik abzuweisen, Aristoteles habe kein eigenes Prinzip zur Ableitung der Kategorien erstellt. Brentano sieht dieses Prinzip – darauf verweist Claudius Strube in: »Zur Vorgeschichte der hermeneutischen Phänomenologie« 112 – in der Kategorie der Substanz: »In der Substanz […], ist demnach der Terminus für alles Seiende zu sehen. Daraus ergibt sich für Brentano das Prinzip der Kategorieneinteilung: Die Unterschiede der höchsten Seinsbegriffe, der Kategorien, sind nach der Verschiedenheit des Verhältnisses zur ersten Substanz zu bestimmen.« 113 Brentano versteht die zehn Kategorien des Aristoteles als die Anzahl möglicher Kategorien überhaupt. Doch für Heidegger decken diese Kategorien nur den Bereich des Realen, sinnlich Erfahrbaren, nicht des Übersinnlichen ab. Und auch dort bestimmen sie nur den Bereich der leblosen Natur, nicht aber des Daseins, des Lebendigen oder gar des 110 Brentano, Franz: Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles. Freiburg im Breisgau 1862. 111 Heidegger, Martin: Mein Weg in die Phänomenologie. In: Zur Sache des Denkens. Tübingen 2000, S. 81. 112 Strube, Claudius: Zur Vorgeschichte der hermeneutischen Phänomenologie. Würzburg 1993. 113 A. a. O., S. 10.

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Seins als solchen. »[E]ine Kategorienlehre«, so Heidegger in seiner Habilitationsschrift, »die sich auf die zehn überlieferten aristotelischen Kategorien beschränkt, muß nicht nur unvollständig, sondern in ihren Bestimmungen schwankend und unzutreffend ausfallen, das letztere deshalb, weil ihr das Bewußtsein der Verschiedenheit der Bereiche und dementsprechend das Bewußtsein der Verschiedenheit der durch die Natur der Bereiche bestimmten Bedeutungsdifferenzierung der kategorialen Formen abgeht.« 114 Martin Heidegger war bis 1916 dem transzendentalen Idealismus seines Lehrers Heinrich Rickert eng verbunden. Diese Verbundenheit löste sich mit Heideggers erneutem Studium des kritischen Realismus von Oswald Külpe. Ein Studium, das für die Entwicklung seines Denkens nicht ohne Folgen bleiben sollte. In dem am 19. September 1910 auf einem naturwissenschaftlichen Kongress gehaltenen Vortrag unter dem Titel »Erkenntnistheorie und Naturwissenschaft« 115 , der im selben Jahr veröffentlicht wurde, stellte Külpe sein Programm eines kritischen Realismus in seinen Grundzügen vor. Sein Ziel ist es, die Realwissenschaften durch das Unterlegen einer dieser entsprechenden Erkenntnistheorie zu legitimieren und so gegen eine Vereinnahmung durch die Mathematik abzusichern. »Es ist an der Zeit, die Aufgabe der Wissenschaft nicht durch die Mathematik schlechthin typisch ausgeprägt zu finden […]. Hier liegt keine bloße Beschreibung von Bewußtseinstatsachen vor, hier werden ebenso wenig reine Gedanken […] behandelt. Hier haben wir es vielmehr mit Gegenständen zu tun, deren Erkenntnis aus der Erfahrung und dem Denken gewonnen wird und die daher in einer eigentümlichen Doppelbeziehung zu diesen beiden Quellen unserer wissenschaftlichen Einsicht stehen.« 116 Külpe geht in Anlehnung an Kant davon aus, dass es zur Erkenntnis sowohl einer vom Denken unabhängigen Außenwelt als auch einer Innenwelt des Menschen bedürfe, letztere verstanden als Sphäre des begrifflich formalen Denkens. Beide Sphären werden durch Wahrnehmung verbunden gedacht. Unter Außenwelt versteht Külpe die vom menschlichen Bewusstsein unabhängige Realität, wie sie auch vom naiven Realismus gefasst wird. Innenwelt bezeichnet hingegen die Wirk114 115 116

Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus, S. 229. Külpe, Oswald: Erkenntnistheorie und Naturwissenschaft. Leipzig 1910. A. a. O., S. 12. A

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lichkeit, als die durch Wahrnehmung vermittelten und dem Denken gegebenen und verarbeiteten Daten der vernommenen Realität. Die Realitäts-Welt gilt es in den Wissenschaften in eine Wirklichkeits-Welt zu übersetzen. Dieser Schritt der Übersetzung ist gekennzeichnet als Realisierung, d. h. die Bearbeitung des sinnlich vorwissenschaftlich wahrnehmbaren, realen Sternenhimmels durch wissenschaftlich errungene Methoden in einen physikalischen Raum aufzugliedern. 117 »Wir wollen das Verfahren, das man in allen diesen Wissenschaften einschlägt, um in der Erfahrung und aus ihr heraus ein wahrhaft Seiendes oder Gewesenes zu erkennen, die Realisierung nennen, und den Gegenstand, auf den sie gerichtet ist, das Reale oder Realität […]. Unser Begriff der Realisierung ist eine Art desjenigen der Erkenntnis. Er bezeichnet ein Forschungsverfahren, bei dem das zu erfassende Reale vorausgesetzt, nicht erst hervorgebracht wird. Nur die Gedanken, in denen wir es darzustellen und zu verstehen suchen, werden erzeugt und gestaltet. Wir reden in diesem Sinne von einer naturwissenschaftlichen […] Realisierung, je nachdem auf welchen Gebieten sich die Erkenntnis von Realitäten vollzieht.« 118 Der kritische Realismus versteht sich nicht als ein abgeschlossenes philosophisches System, sondern als Methode zur Erfassung des Realen in dessen Eigentümlichkeit. 119 Die realistische Erkenntnistheorie darf nicht »[…] das Schauspiel einer in sich abgeschlossenen, formalistische Gedanken drehenden und wendenden Disziplin darbieten[.]« 120 . Dieser von Külpe gesehene Vorrang der Methode vor dem System zur Realisierung des Realen und nicht zur Bestätigung eines theoretischen Ideals stellt eine ganz deutliche Parallele zum Wissenschaftsverständnis Heideggers dar, wie die Untersuchung im weiteren Verlauf zeigen wird. Die Möglichkeit der Realisierung zeigt sich für Külpe in der rasanten Entwicklung der Naturerkenntnis. »Das alte Prinzip von der Erhal117 »In allen Erfahrungswissenschaften finden wir das Bestreben, Gegenstände zu setzen und zu bestimmen, die von der setzenden und bestimmenden Tätigkeit des Forschers selbst unabhängig bestehend gedacht werden. Der Astronom redet in diesem Sinne von den Himmelskörpern und ihren Bahnen […]« (Erkenntnistheorie und Naturwissenschaft, S. 8). 118 Külpe, Oswald: Die Realisierung. Ein Beitrag zur Grundlegung der Realwissenschaften. Leipzig 1912, S. 3. 119 Vgl. Hammer, Steffi: Denkpsychologie – Kritischer Realismus. Eine wissenschaftliche Studie zum Werk Oswald Külpes. Frankfurt am Main 1994, S. 98. 120 Erkenntnistheorie und Naturwissenschaft, S. 39 f.

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tung des Stoffes war ein Grundsatz a priori ungefähr des Inhalts: aus nichts wird nichts. Das moderne Prinzip dieses Namens ist ein Grundgesetz der Naturwissenschaft von der größten Tragweite.« 121 Es wurde im Laufe der Wissenschaftsgeschichte ein Erkenntnisstand erreicht, zu dem ein eingeschränktes Kategoriensystem, wie es Kant 1787 in der »Kritik der reinen Vernunft« 122 erarbeitete, nicht mehr hinreichte und ein neues Verständnis von Metaphysik forderte. »[Kants] Kategorien sind nicht als Voraussetzungen der Wissenschaft dieser entnommen worden, sondern werden aus der logischen Einteilung der Urteile [als logische Funktionen] abgeleitet. So entsteht der Anschein, als ob eine unmittelbare Analyse des wissenschaftlichen Tatbestandes gar nicht erforderlich sei, um die in der Wissenschaft geltenden Prinzipien zu entdecken.« 123 In diesem Punkt stimmen Forscher verschiedenster Standpunkte wie Külpe, Rickert, Lask, Husserl und Martin Heidegger überein, darum bemüht, die Prinzipien aller Forschungsbereiche, ob sie vom Stofflichen, Organismischen oder vom Menschen handeln, erkenntnistheoretisch zu erforschen und aufzuzeigen. »In dieser Forderung […] liegt die Aufgabe beschlossen, positiv und radikal die verschiedene kategoriale Struktur des Seienden, das Natur, und des Seienden, das Geschichte ist (des Daseins), herauszuarbeiten.« 124 Wie diese 1927 in »Sein und Zeit« rückschauend gestellte Forderung zu verwirklichen sein sollte, war 1916 noch nicht konzipiert, fand aber, wie die vorliegende Untersuchung zeigt, hier ihren Einsatz. Die Gegebenheit einer vom Bewusstsein unabhängigen Welt zeigt Külpe anhand des Unterschiedes von Erlebnis und Erinnerung auf: Erlebnisse sind im Gegensatz zu den Erinnerungen nicht beeinflussbar oder durch Denkprozesse veränderbar, denn sonst könnte man – denkt man Külpes Gedanken weiter – durch bloßes Denken die Abläufe der Natur verändern und sogar umdrehen. Somit ist die Außenwelt als real für Külpe bewiesen. Die einzelnen Gegenstände dieser Außenwelt, die Realitäten, versteht Külpe als Träger von Vermögen, wie Qualität und Quantität, welche durch die Wissenschaften in die Wirklichkeit umzusetzen sind. »Die Naturobjekte können darum auch als die ExistenzA. a. O., S. 31. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Timmermann, Jens (Hrsg.). Hamburg 1998 (wird im Folgenden als KrV angegeben). 123 Erkenntnistheorie und Naturwissenschaft, S. 7. 124 SuZ, S. 399. 121 122

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bedingungen für die realisierten Beziehungen, die aufgenötigten Veränderungen in der Bewußtseinswirklichkeit, angesehen werden.« 125 Denn wenn die Qualitäten nicht den Realitäten zugehörten, so sei nicht einzusehen, wie jene den Realitäten vom Denken her zugestellt werden sollten. In dieser Äußerung zeigt sich ganz deutlich Külpes Verständnis der Kategorien als aus der Erfahrung abgeleitete Begriffe a posteriori, d. h. sein Verständnis von Metaphysik ist induktiv. Denn weder ließe sich einsehen, wie die Vielzahl der Kategorien allein aus dem Denken herzuleiten sei, noch ließen sich die Kriterien der Anwendung der Kategorien auf Gegenstände ohne Gegenstandserfahrung begründen. 126 Man kann Külpes Auffassung von Realität als gelebte Welt auf der einen Seite und Wirklichkeit auf der anderen als eine spezifizierte Hinsicht der Sorge charakterisieren. Beide Weisen drücken einen differenzierten Modus von Verstehen aus. Wenn Seiendes bei Külpe immer schon Verstandenes ist, dann kann die von Külpe vorwissenschaftlich verstandene Erfahrung der gelebten Realität als ein Anstoß zu Heideggers Denken des In-der-Welt-sein, als immer schon verstehendes Handeln, aufgefasst werden. »Mit dem Dasein als In-der-Welt-sein ist innerweltliches Seiendes je schon erschlossen. Diese existential-ontologische Aussage scheint mit der These des Realismus übereinzukommen, daß die Außenwelt real vorhanden sei. Sofern in der existenzialen Aussage das Vorhandensein von innerweltlichem Seienden nicht geleugnet wird, stimmt sie im Resultat […] mit der These des Realismus überein.« 127 Das Verständnis der Metaphysik als induktive Wissenschaft versteht die Einzelwissenschaften (Erfahrungswissenschaften) als Fundament jeglicher wissenschaftlicher Erkenntnis. Doch da sich die Ergebnisse der Erfahrungswissenschaften allein auf den Bereich eben der Erfahrungen stützen, die niemals das ganze Walten der Welt durchforschen könnten, bedarf es – nach Külpe – der Metaphysik als dem Bereich erfahrungsadäquater Ergänzung, der über den Bereich der Erfahrung hinaus weist und ihn umschließen soll. Obwohl – wie oben gezeigt – Heidegger in vielerlei Hinsicht Külpes Programm zuspricht, lehnt er

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Erkenntnistheorie und Naturwissenschaft, S. 28. Vgl. Zur Vorgeschichte der hermeneutischen Phänomenologie, S. 70 f. SuZ, S. 207.

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jedoch die »Idee einer ›induktiven Metaphysik‹« 128 ab. Denn vor allem vergesse Külpe – so Heidegger – in seiner Darstellung den Akt des Urteilens innerhalb seines Programms zu thematisieren, eine Thematik, die gerade der transzendentale Idealismus Rickerts in das Zentrum der Forschung stellt. Für Rickert ist ein wahres Urteil immer von der rechten Form des Gedanken abhängig und nicht von dessen Inhalt. »Einen wahren Gedanken, der einen Inhalt ohne Form enthält, gibt es gar nicht. […] Selbst wenn einem etwas unmittelbar ›gegeben‹ ist, so ist der gegebene Inhalt doch bereits als gegeben erkannt […]« 129 , somit ist die erste Form des Denkens die Gegebenheit oder das Sein schlechthin. In Heinrich Rickerts Widerlegung der Abbildtheorie – darauf verweist Claudius Strube eingehend – findet sich der Einsatz: Sein als Urkategorie zu denken. »Die bei aller Wirklichkeitserkenntnis vorausgesetzte Wirklichkeit (Sein) des zu erkennenden Wirklichen gehört aber gar nicht zum Inhalt der Erkenntnis [sondern zur Form der Erkenntnis].« 130 Darin stimmt Heidegger mit Rickert 1927 überein. »Besagt der Titel Idealismus soviel wie Verständnis dessen, daß Sein nie durch Seiendes erklärbar, sondern für jedes Seiende je schon das ›Transzendentale‹ ist, dann liegt im Idealismus die einzige und rechte Möglichkeit philosophischer Problematik.« 131 Ungeklärt bleibt im Idealismus – so Heidegger in »Sein und Zeit« – aber das Fundament für das Denken des Seins als Urkategorie, also die Frage nach der Struktur des Daseins als In-der-Welt-sein und des Seinsverständnisses. »Sofern nun aber ungeklärt bleibt, daß hier Seinsverständnis geschieht und was dieses Seinsverständnis selbst ontologisch besagt […] und daß es zur Seinsverfassung des Daseins gehört, baut [Rickert] die Interpretation der Realität ins Leere.« 132 Sein spricht sich im Urteilen mit aus durch das Subjekt. Das urteilende Subjekt ist für Rickert das aktiv vollziehende Wirklichkeitszentrum, in dem Welt zusammenwächst. »Diesen im Subjekt stattfindenden Prozeß des Zusammenwachsens von Wert und Wirklichkeit darf man sich nicht wiederum spezialisiert vorstellen, als ob in einem Falle nur theoretische Werte, in einem anderen Falle nur praktische Werte in

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Zur Vorgeschichte der hermeneutischen Phänomenologie S. 80. A. a. O., S. 20. A. a. O., S. 19 f. SuZ, S. 208. A. a. O., S. 207. A

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der Wirklichkeit verkörpert würden. Gerade weil im lebendigen Subjekt die verschiedensten Lebensbetätigungen vereint sind, werden in ihm beim Zusammenwachsen von Wert und Wirklichkeit auch die verschiedenartigen Werte in Beziehung gesetzt.« 133 Diese Art des Subjektivismus hat sein berechtigtes Motiv in der grundsätzlichen Ablehnung Rickerts einer Objektivierung des Subjektes um den Preis, das Subjekt auf ein Vorhandenes, kausal erfassbares Etwas zu reduzieren. Rickerts Denken des Seins als Kategorie und des Menschen als ein erlebnishaftes, lebendiges Subjekt, das sich in einer vorfindlichen realen Welt betätigt, damit Leben gelingt – nichts anderes besagt Lebensbetätigung –, tragen unverkennbar erste Züge des Verständnisses des Menschen als weltoffenes Dasein. Das Grundproblem nicht nur dieser beiden gezeigten Theorien ist aber der untilgbare Drang der Wissenschaft – wohlverstanden als eine Möglichkeit des Daseins selbst – die Vorhandenheit der Welt immer und immer wieder beweisen zu wollen. »Der ›Skandal der Philosophie‹ besteht nicht darin, daß dieser Beweis bislang noch aussteht, sondern darin, daß solche Beweise immer wieder erwartet und versucht werden. […] Das recht verstandene Dasein widersetzt sich solchen Beweisen, weil es in seinem Sein je schon ist, was nachkommende Beweise ihm erst anzudemonstrieren für notwendig halten.« 134 Heidegger suchte anfangs nach einer Möglichkeit, die es erlaubte, das Kategorienproblem aus der Verbindung entscheidender Gedanken beider Richtungen angehen zu können. »Kann der kritische Realismus [Külpes] dazu gebracht werden, das Urteil für die Bearbeitung des Erkenntnisproblems prinzipiell in Rechnung zu setzen, und gelingt andererseits dem transzendentalen Idealismus [Rickerts] die organische Hineinarbeitung des Prinzips der Materialbestimmtheit der Form in seine Grundposition, dann muß es gelingen, diese beiden in der Gegenwart bedeutendsten und fruchtbarsten erkenntnistheoretischen ›Richtungen‹ in einer höheren Einheit aufzuheben.« 135 Eine Lösung des Kategorienproblems ließ sich – so musste Heidegger einsehen – weder von dem Standpunkt des kritischen Realismus noch des transzendentalen Idealismus her erreichen, sondern bedurfte eines neuen Verständnisses von Metaphysik, welches in der Folge noch nachzuzeichnen sein wird. »Die 133 134 135

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Zur Vorgeschichte der hermeneutischen Phänomenologie, S. 86. SuZ, S. 205. Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus, S. 345 f.

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Philosophie kann ihre eigene Optik, die Metaphysik, auf die Dauer nicht entbehren.« 136 Es bedarf einer Metaphysik als »Durchbruch in die wahre Wirklichkeit und die wirkliche Wahrheit« 137 . Aus diesem Ansatz eines neuen Metaphysikverständnisses heraus kann die in »Sein und Zeit« unternommene »Fundamentalontologie als Grundlegung einer modernen Kategorienlehre verstanden werden« 138 . Was aber versteht Heidegger unter Kategorien? »Die Kategorie ist allgemeinste Gegenstandsbestimmtheit.« 139 Diese Bestimmtheit ist immer nur gegeben in der Relation von Bestimmbaren und Bestimmenden. Diese Relation drückt sich aus im Urteil des Bestimmenden über das Bestimmbare. Deshalb ist für Heidegger auch die Thematisierung des Urteils mit von entscheidender Bedeutung für die Behandlung des Kategorienproblems. Was bedeutet in der Definition Heideggers das Allgemeinste? Heidegger versteht unter dem Begriff der Allgemeinheit nicht eine durch Reflexion geschlossene Restbestimmung, die einem bestimmten Gegenstandsfeld zukommt, sondern ein aller Reflexion vorausliegendes Prinzip, d. h. eine Wesensbestimmung im Sinne Aristoteles’. »Dabei wird [der Begriff Kategorie] in seiner primären ontologischen Bedeutung aufgenommen und festgehalten […]. Ontologisch verwendet besagt der Terminus: dem Seienden gleichsam auf den Kopf zusagen, was es je schon als Seiendes ist, d. h. es in seinem Sein für alle sehen lassen.« 140 So versteht Heidegger Kategorien nicht im Sinne Kants als Funktionen des Urteilens, sondern als ontologische Grundbegriffe, die aus der Seinsweise des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes selbst her zu entwickeln sind, d. h. dem Untersuchungsgegenstand in seiner Seinsweise angemessen sein müssen. Nur so gebildete Grundbegriffe einer Wissenschaft können den Anspruch echter Wissenschaftlichkeit erfüllen. »Grundbegriffe sind die Bestimmungen, in denen das allen thematischen Gegenständen einer Wissenschaft zugrundeliegende Sachgebiet zum vorgängigen und alle positive Untersuchung führenden Verständnis kommt. Ihre echte Ausweisung und ›Begründung‹ erhalten diese Begriffe demnach nur in einer entsprechend vorgängigen Durchforschung des Sachgebietes selbst. Sofern

136 137 138 139 140

A. a. O., S. 348. Ebd. Zur Vorgeschichte der hermeneutischen Phänomenologie, S. 94. Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus, S. 345. SuZ, S. 44. A

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aber jedes dieser Gebiete aus dem Bezirk des Seienden selbst gewonnen wird, bedeutet solche vorgängige und Grundbegriffe schöpfende Forschung nichts anderes als Auslegung dieses Seienden auf die Grundverfassung seines Seins.« 141 In solch einem neuen Ansatz wissenschaftlichen Selbstverständnisses tritt das Ideal der Exaktheit, welches in der Mathematik und den mathematisch verstandenen Naturwissenschaften unbezweifelbar seine Berechtigung findet, zugunsten der Sachlichkeit in den Hintergrund. »Exaktheit ist nur eine bestimmte Form der Strenge einer Wissenschaft, weil es Exaktheit nur da gibt, wo der Gegenstand im vornhinein als etwas Berechenbaren angesetzt ist. Wenn es aber Sachen gibt, die ihrer Natur nach der Berechenbarkeit widerstreben, dann ist jeder Versuch, deren Bestimmung an der Methode einer exakten Wissenschaft zu messen, unsachlich.« 142 In »Sein und Zeit« entwickelte Heidegger in der Fundamentalanalyse die Kategorien des Daseins, die Existentialitäten: »[Die Existenzialitäten] sind scharf zu trennen von den Seinsbestimmungen des nicht daseinsmäßigen Seienden, die wir Kategorien nennen.« 143 In gleicher Absicht erarbeitet Heidegger im zweiten Teil der »Grundbegriffe der Metaphysik« auch die Grundbegriffe, die Kategorien des Lebendigen, und so kann diese Schrift folglich als Ansatz einer Kategorienlehre des Lebendigen, ja als Lehrstück phänomenologischer Praxis verstanden werden und folglich die Thematik des Lebendigen in das gesamte Forschungsgebiet des jungen Heideggers nahtlos eingefügt werden. Für diese Verortung spricht zudem die sich in der phänomenologischen Forschung Heideggers durchhaltende Behandlung des Lebensbegriffs. 3.2 Kategoriale Anschauung, ἀλήθεια und das richtige Fragen »Die einzige Autorität, auf die sich ein Lehrsatz stützt, ist nicht die Natur, sondern der Forscher, der seine eigene Frage selbst beantwortet hat.« 144

Der Weg zu einem solch neuen Ansatz führte über den am 8. April 1859 in Proßnitz (Mähren) geborenen Edmund Husserl. Dieser studier141 142 143 144

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A. a. O., S. 10. ZS, S. 173. SuZ, S. 44. Uexküll, Jakob von: Theoretische Biologie. Frankfurt am Main 1973, S. 3.

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te nach Abschluss seiner Promotion in Mathematik im Wintersemester 1882/83 bei Franz Brentano und habilitierte sich mit dem Thema »Über den Begriff der Zahl. Psychologische Analysen« in Halle, wo er bis 1901 als Privatdozent lehrte. Im selben Jahr berief man ihn wohl aufgrund der von ihm erarbeiteten »Logische Untersuchungen« 145 als außerordentlichen Professor nach Göttingen. Husserl arbeitete nicht allein in diesem Werk an einem neuen Verständnis von Philosophie und zwar an einer Philosophie als strenger Wissenschaft, die nicht nur eine mögliche Wissenschaft oder Wissenschaftstheorie neben anderen abgeben, sondern als das Fundament aller Wissenschaft überhaupt geschaffen werden sollte. Dieser Begründung der Philosophie als Urwissenschaft verschrieb Husserl sein Leben. Eine solche Urwissenschaft wurde wohl – so Husserl – im Verlaufe der gesamten Philosophie zu begründen versucht, allein es fehlte die richtige Methode. »Dem Anspruch, strenge Wissenschaft zu sein, hat die Philosophie in keiner Epoche ihrer Entwicklung zu genügen vermocht.« 146 Es gelte eine voraussetzungslose Philosophie zu begründen, die nur als Wissenschaft möglich sein könne, d. h. als begrifflich durchgearbeitetes System. »Wir stoßen damit auf eine Wissenschaft – von deren gewaltigem Umfang die Zeitgenossen noch keine Vorstellung haben – die zwar Wissenschaft vom Bewußtsein und doch nicht [empirische] Psychologie ist, auf eine Phänomenologie des Bewußtseins gegenüber einer Naturwissenschaft vom Bewußtsein.« 147 Heidegger beschäftigte sich schon seit 1907 mit Husserls »Logischen Untersuchungen«. Deren Bedeutsamkeit in Hinsicht auf einen möglichen Lösungsansatz des brennenden Kategorienproblems eröffnete sich ihm aber erst aufgrund einer Vielzahl persönlicher Gespräche mit Husserl ab 1919, die zustande kamen, da dieser drei Jahre zuvor den Lehrstuhl Rickerts in Freiburg übernommen hatte. »Als ich seit 1919 selbst lehrend-lernend in der Nähe Husserls das phänomenologische Sehen einübte […], neigte sich mein Interesse aufs neue den ›Logischen Untersuchungen‹ zu, vor allem der sechsten in der ersten Auflage. Der 145 Husserl, Edmund: Logische Untersuchung. Erster Band: Prolegomena zur reinen Logik. Husserliana Band XVIII. Holenstein, Elmar (Hrsg.). Den Haag 1975. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. 2 Teilbände: Band XIX. Panzer, Ursula. (Hrsg.). Dordrecht 1984. 146 Husserl, Edmund: Philosophie als strenge Wissenschaft. Szilasi, Wilhelm (Hrsg.). Frankfurt am Main 1965, S. 7. 147 A. a. O., S. 22 f.

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hier herausgearbeitete Unterschied zwischen sinnlicher und kategorialer Anschauung [Hervorheb. v. Verf.] enthüllte sich mir in seiner Tragweite für die Bestimmung der ›mannigfachen Bedeutung des Seienden‹.« 148 In der von Heidegger angesprochenen Unterscheidung Husserls von sinnlicher und kategorialer Anschauung schreibt dieser: »Wir brauchen uns bloß ernstlich zu überlegen, was möglicherweise Sache der Wahrnehmung und was Sache des Bedeutens ist, und wir müssen aufmerksam werden, daß jeweils nur gewissen, in der bloßen Urteilsform im voraus angebbaren Aussageteilen in der Anschauung etwas entspricht, während den anderen Aussageteilen in ihr überhaupt nichts entsprechen kann.« 149 Husserl unterscheidet demnach zwischen einer sinnlichen oder schlichten Anschauung und einer kategorialen, scheinbar komplexeren Anschauung. 150 Was aber beutet der Begriff der Anschauung bei Husserl? Eine Einsicht in Husserls Verständnis von kategorialer Anschauung vermittelt dessen Grundprinzip aller wissenschaftlichen Erkenntnis: »Am Prinzip aller Prinzipien: daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen.« 151 Anschauung besagt demnach sowohl für die sinnliche als auch die kategoriale Form schlichtes Hinnehmen des leibhaft Gegebenen in der Weise seines sich Zeigens. Demnach scheinen sich beide Formen der Anschauung in ihrem Charakter zu entsprechen und zwar »in der Weise einer wesentlich gleichartigen Erfüllung« 152 . Was aber besagt der Begriff Erfüllung? Jede Aussage, ob im Charakter der Annahme, des Meines, des Behauptens oder Aufweisens hat Mein Weg in die Phänomenologie, S. 86. Logische Untersuchung. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Zweiter Teil, S. 663. 150 Ob diese Unterscheidung durchzuhalten ist, muss fraglich bleiben, denn auch das Sehen ist physiologisch betrachtet ein höchst komplexes Geschehen. 151 Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Husserliana Band III. Biemel, Walter (Hrsg.). Den Haag 1950, S. 52 [44]. 152 Heidegger, Martin: Prologomena zur Geschichte des Zeitbegriffs. Gesamtausgabe (= GA) Band 20. Jaeger, Petra (Hrsg.). Frankfurt am Main 1979, S. 80. 148 149

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einen bestimmten Anspruch auf Erfüllung, d. h. die in der jeweiligen Aussage ausgesprochenen Momente müssen sich in dem, worüber diese Aussage gemacht wird, aufzeigen lassen. In der Aussage der Stuhl ist gelb und befindet sich in der Ecke ist uns zwar der Stuhl leibhaft gegeben, d. h. die Momente Stuhl, Gelb und Ecke können als durch sinnliche Wahrnehmung vermittelt aufgewiesen werden, das Gelb-sein, das Und, und das Befinden können dies hingegen nicht. »Die Farbe kann ich sehen, nicht aber das Farbig-sein.« 153 Wenn wir einen Stuhl, ein Buch oder ein Tintenfass sehen, dann sehen wir diese gleichsam als Substanz, als ausgedehnt. Ohne diese gleichsam in der Sicht zu haben, sähen wir überhaupt nichts. In jeder Aussage lässt sich somit ein Überschuss gegenüber dem in der sinnlichen Anschauung Gegebenen aufweisen. Die Erfüllung des Überschusses sieht Husserl in der kategorialen Anschauung gelegen, die als ein schlichtes Hinnehmen der kategorialen Strukturen verstanden wird, das in jeder sinnlichen Anschauung immer schon investiert ist. Somit wird der Begriff Kategorie nicht im Sinne Kants als oberster Verstandesbegriff, sondern als eine in der Anschauung selbst gegebene Gegenständlichkeit eigener Art verstanden. »Die Entdeckung der kategorialen Anschauung ist der Nachweis, erstens daß es ein schlichtes Erfassen des Kategorialen gibt, solcher Bestände im Seienden, die man traditionellerweise als Kategorien bezeichnet und in roher Form sehr bald gesehen hat. Zweitens ist sie vor allem der Nachweis, daß dieses Erfassen in der alltäglichsten Wahrnehmung und jeder Erfahrung investiert ist.« 154 Als solche ist die kategoriale Anschauung nicht etwas Nachträgliches, sondern durchdringt die gesamte sinnliche Anschauung. »Die konkrete, ausdrücklich gegenstandsgebende Anschauung ist nie eine isolierte, einstufige sinnliche Wahrnehmung, sondern ist immer gestufte, d. h. kategorial bestimmte Anschauung.« 155 Diese Verlagerung des Kategorialen auf die Ebene der Anschauung war für Heidegger entscheidend, da sie es ermöglichte, die sich seit Descartes durchhaltende Vormachtstellung des Bewusstseins, welche besonders in den wissenschaftstheoretischen Arbeiten des Neukantianismus weiterentwickelt wurde, zu brechen und somit das Kategorienproblem in völlig verwandelter Weise angehen zu können. Und diese Verwandlung wird unter anderem im § 5 der »Prolego153 154 155

Logische Untersuchung, S. 666. GA Bd. 20, S. 64. A. a. O., S. 93. A

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mena zur Geschichte des Zeitbegriffs« sichtbar, die gleichsam als eine Kritik an Husserls Konzept zu verstehen ist. In unserem alltäglichen Sprachgebrauch drückt sich eine Dimension aus, die allein durch die Annahme einer sinnlichen und einer kategorialen Anschauung nicht berührt wird. »Wir haben […] in unserer Sprache sehr feine Unterschiede in der Art, wie die Sprache selbst die Bedeutung und den Ausdruck bildet. Wir sagen: Ich schenke Rosen; ich kann auch sagen: Ich schenke Blumen, nicht aber: Ich schenke Pflanzen. Die Botanik aber zerlegt nicht Blumen, sondern Pflanzen [ich ergänze zur Verdeutlichung: Gewächse]. Der Unterschied von Pflanze und Blume, welches beides von derselben Rose ausgesagt werden kann, ist der Unterschied von Natur- und Umweltding.« 156 In beiden Aussagen ist die Rose dieselbe, sie hält sich als das in der Anschauung leibhaft Gegebene durch. Es stellt sich für Heidegger jedoch die Frage, ob mit diesen grundverschiedenen Aussagen über ein und dieselbe Rose schon das gewonnen ist, was Husserl in seinem Konzept als das Wahrgenommene im strengen Sinne verstanden wissen will. Oder liegt in diesen beiden Aussagen: die Rose ist Naturding; die Rose ist Umweltding jeweils eine Anschauungsweise, die über das sinnliche als auch kategoriale Vernehmen hinausgeht. Heidegger verdeutlicht dies, indem er die Unterscheidung von Natur- und Umweltding auf die Wahrnehmung eines Stuhles anwendet. »Wenn ich in der natürlichen Rede, nicht in der Betrachtung und im theoretischen Studium des Stuhles, sage, der Stuhl ist hart, so will ich damit nicht einen Festigkeits- und Dichtigkeitsgrad dieses Dinges als materielles Ding feststellen, sondern sagen: der Stuhl ist unbequem.« 157 Neben den von Husserl aufgezeigten zwei Weisen der Erfüllung zeigt Heidegger in dem Satz »der Stuhl ist bequem« zudem eine pragmatische bzw. lebensweltliche Erfüllung auf – eine Erfüllung der Zuhandenheit. Aus der erkenntnistheoretischen Hinsicht Husserl gehört der Begriffe Bequemlichkeit hingegen zu den subjektiven Geschmacksurteilen, die niemals den geforderten universalen Anspruch einer theoretisch abgesicherten Erkenntnis genüge leisten könnten. Für Heidegger ist eine solche theoretische Absicherung der menschlichen Erkenntnis unnötig, da mit dem Welteneingang jeweils Sicherung aufgrund der jeweiligen Stimmungen, die uns gleichsam in Welt hinein drängen, schon stattfindet. Darin zeigt sich für Heidegger auch, 156 157

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dass Husserls natürliche Einstellung gar keine natürliche ist, sondern allein vom erkenntnistheoretisch vorpräparierten Standpunkt aus als eine solche ausgewiesen wird. Die natürliche Einstellung ist eine Erfahrung, »die ganz und gar nicht natürlich ist, sondern eine ganz bestimmte theoretische Haltung in sich schließt, eine solche, für die alles Seiende a priori als gesetzlich geregelter Ablauf von Vorkommnissen im räumlich-zeitlichen Auseinander der Welt gefasst wird.« 158 »Mit der Entdeckung der kategorialen Anschauung ist [trotz mancher Kritik] zum erstenmal der konkrete Weg einer ausweisenden und echten Kategorienforschung gewonnen[.]« 159 und ein neuer Weg zur Behandlung der Seinsfrage in Sicht geraten. »Um die Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt entfalten zu können, mußte das Sein gegeben sein, um bei ihm seinen Sinn zu erfragen. Husserls Leistung bestand in eben dieser Vergegenwärtigung des Seins, das in der Kategorie phänomenal anwesend ist […]. Der Punkt jedoch, über den Husserl nicht hinauskommt, ist der folgende: nachdem er das Sein gleichsam als Gegebenes genommen hat, fragt er ihm doch nicht weiter nach.« 160 Die aufgezeigten Probleme in dem phänomenologischen Ansatz Husserl ließen Heidegger nach einem ursprünglicherem Ansatz forschen, der es erlaubte, die existenzialen Voraussetzungen für die drei von Husserl in den »Logischen Untersuchungen« erarbeiteten Momente Intentionalität, kategoriale Anschauung und der ursprüngliche Sinn des Apriori fundamental zu fassen. Diesen neuen Ansatz entdeckte er in den Schriften Aristoteles, die er durch die Einübung der phänomenologischen Methode neu zu interpretieren wusste. Bei der Vorbereitung der Schriften Husserls für die Arbeitsgemeinschaft mit älteren Studenten erfuhr Heidegger »[…] zuerst mehr durch ein Ahnen geführt, als von begründeter Einsicht geleitet – das eine: Was sich für die Phänomenologie der Bewusstseinsakte als das sich-selbstBekunden der Phänomene vollzieht, wird ursprünglicher noch von Aristoteles und im ganzen griechischen Denken und Dasein als ἀλήθεια gedacht […].« 161 Die Phänomenologische Interpretation der ἀλήθεια führt HeiA. a. O., S. 155 f. A. a. O., S. 97 f. 160 Vgl. Heidegger, Martin: Vier Seminare. Ochwadt, Curd (Übers.). Frankfurt am Main 1977, S. 116. 161 Mein Weg in die Phänomenologie, S. 87. 158 159

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deggers dann erstmals in seiner für Marburg verfassten Ausarbeitung »Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles« aus: »Der Sinn des ἀληθές: [ist der Sinn des] unverborgen da-sein, bzw. an ihm selbst vermeintsein […].« 162 Den Begriff der ἀλήθεια interpretiert Heidegger später in »Sein und Zeit« im Sinne eines Raubes des Seienden. Dessen privativer Charakter wird sich hinsichtlich der Bestimmung der Zugangsart des Menschen zum Tier noch als entscheidend erweisen. »Das Seiende wird der Verborgenheit [als ein Verhalten des Daseins] entrissen. Die jeweilige faktische Entdecktheit ist gleichsam immer ein Raub.« 163 Das Seiende wird vom Dasein der Verborgenheit entrissen. Seiendes, das sich der Verborgenheit entrissen in seiner Unverborgenheit zeigt, wird als οὐσία/Anwesen verstanden. 164 Anwesen wird ursprünglich nicht mit substantia übersetzt (Descartes) oder als Wesenhaftigkeit, sondern als Vor-liegen, ist also gleichsam – darauf verweist Strube ausführlich – zeitlich zu interpretieren, als in seiner Gegenwart Gegebenes. 165 Wahrheit ist verstanden als Das-sich-von-sich-her-zeigende-Anwesen eines Seienden. Was noch nicht oder nicht mehr im Blick des Gewärtigen stehend seinen Aufenthalt hat, ist immer schon auch verborgen. Das besagt, dass Wahrheit als ἀλήθεια nicht primär im Sinne der Urteilswahrheit verstanden wird, sondern ursprünglicher als ein aufdeckend vernehmendes Haben des Gegebenen (Anwesenden) in seiner Unverborgenheit, welches allem Urteilen zugrunde liegt. Der λόγος als Ort des Urteils kann nur aufgrund dieses Fundamentes im Akt des λέγειν das sich in der Unverborgenheit Zeigende auflesen und in die Obhut des Daseins nehmen. Dass dies meist unter einer bestimmten Hinsicht der Sorge um willen des Daseins geschieht, zeigt sich als Grund dafür, dass Seiendes zunächst und zumeist gleichsam, wenn auch nicht umfassend, verborgen ist. Ob dieses Verbergen innerhalb des alltäglich besorgenden UmPhänomenologische Interpretation zu Aristoteles, S. 47. SuZ, S. 222. 164 »Das Wort οὐσία ist ursprünglich kein philosophischer ›Ausdruck‹ […]; das Wort οὐσία ist erst durch Aristoteles zum ›Terminus‹ geprägt. Diese Prägung besteht darin, daß Aristoteles ein Entscheidendes aus dem Gehalt des Wortes herausdenkt und eindeutig festhält. Dabei behält aber das Wort zur Zeit des Aristoteles und später zugleich noch die gewöhnliche Bedeutung. Kraft dieser ist gemeint Haus und Hof, die Habe, das Vermögen; wir sagen auch das ›Anwesen‹, die ›Liegenschaft‹, das Vorliegende.« (Vom Wesen und Begriff der Φύσις, Aristoteles, Physik B, 1, S. 260.) »[W]ir vermeiden die sonst geläufigen […] Auslegungen von οὐσία wie ›Substanz‹ und ›Wesenheit‹.« (ebd.) 165 Vgl. Zur Vorgeschichte der hermeneutischen Phänomenologie, S. 125 f. 162 163

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ganges mit … oder im wissenschaftlich besorgenden Umgang unter der je gestellten Sorgerichtung geschieht, ist dabei unerheblich: Ein Organismus, der allein unter den unzureichenden Kategorien zur Bestimmung des Vorhandenen betrachtet wird, wird sich auch immer nur als ein Vorhandenes zeigen können; ein unter der Kategorie der Kausalität betrachtetes Lebewesen kann nur auf seine Bewegungsabläufe hin bestimmt werden, nie aber auf die Bedeutung seines Wachsens und Werdens und somit immer als etwas Mechanisches missverstanden bleiben. Seiendes in der Unverborgenheit begegnen lassen, kann sich nur einem Verständnis eröffnen, welches Dasein nicht als eine res cogitans betrachtet, welches nicht mit der ihm zugehörigen Welt fremdelt, sondern als ein In-der-Welt-sein versteht. Darin drückt sich aus, dass die Bestimmung des Wesens des Seienden nicht in der von Descartes geforderten Substantialität, sondern in der Temporalität zu erforschen sei. Echtes Fragen, sei es nach der Seinsweise des Daseins, des Wesens von Geschichte oder Psychologie; sei es wie in der vorliegenden Untersuchung die Hebung der Wesensverfassung des Lebendigen, muss sich zuerst einmal seiner eigenen Ermöglichung versichern und darf nicht bei logischen Funktionen oder beim immanenten Bewusstsein stehen bleiben, bzw. sich auf daraus abgeleitete Theorien einlassen. Diese Weise der Ermöglichung von Wissenschaft ist keine akademisch begründete Sache, sondern liegt im Dasein als metaphysischem Sein vor und ist als nur eine Weise dessen Umgangs mit innerweltlich Vorhandenem zu verstehen. »Die Metaphysik ist […] die Gestaltung der Wahrheit vom Seienden im Ganzen, welche Gestaltung nicht einem einzelnen wissenden Menschen gehört, sondern ihrerseits zuvor den Bereich ausmacht, in dem alles Wissen und Nichtwissen, Fragen und Entscheiden, Glauben und Verzweifeln, Trauern und Lieben eines Menschentums sich bewegt.« 166 Folglich ist auch das sich seit Descartes verselbständigende Verständnis von Wissenschaftlichkeit nur eine Möglichkeit des Daseins als In-der-Welt-sein. Es gilt das, was Sich-von-sich-her-zeigt, was gleichsam Heideggers Verständnis von Phänomen entspricht, in die Lese des Logos zu bringen, so zwar, dass in diesem Fall das Phänomen Leben als Phänomen im forschenden Blick bewahrt und im Ansatz einer Phänomenologie des Lebendigen verwahrt bleibt. Darin spricht sich zugleich Heideggers Verständnis von Phänomenologie aus. 166

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3.3 Phänomenologie als Methode und als Wissenschaft Die Phänomenologie im Sinne Martin Heideggers ist zu verstehen als das angemessene Erfassen der Phänomene, d. h. des unverborgen Anwesenden. Somit ist die Phänomenologie keinem ihr eigenen Seinsbereich zugestellt, wie die Physik dem Bereich der unbelebten und die Biologie dem Bereich der belebten Natur, sondern kann auf den gesamten Bereich des im Dasein Begegnenden Anwendung finden. Als dieses Erfassen-wollen besitzt die Phänomenologie noch keinerlei wissenschaftlichen Inhalte, sondern nur den in den Blick gestellten Phänomenbereich als Forschungsgebiet. Sie besitzt innerhalb ihrer Forschungsbereiche streng genommen noch nicht einmal eine Methode 167 . Absicht der Phänomenologie ist es, jeglichen »technischen Handgriff« 168 und dazu gehört auch die Vorgabe einer der Theorie entsprechenden anzuwendenden Methode, welche sich determinierend auf die Resultate auswirken könnten, zu eliminieren, um so das unverborgen Anwesende angemessen in den Blick zu bekommen und in diesem zu bewahren. So verstanden ist die auf den Gegenstand gerichtete Methode – Weg zum Gegenstand – auszurichten nach dem Gegenstand selbst. »Je echter ein Methodengriff sich auswirkt und je umfassender er den grundsätzlichen Duktus einer Wissenschaft bestimmt, um so ursprünglicher ist er in der Auseinandersetzung mit den Sachen selbst verwurzelt, um so weiter entfernt er sich von dem, was wir einen technischen Handgriff nennen, deren es auch in den theoretischen Disziplinen viele gibt.« 169 Ein solches Denken, das in der vorliegenden Untersuchung das Lebendige auf dessen Seins-Charaktere hin befragt, muss sich allererst selbst auf den Weg bringen. Ein solches Denken muss sich im Gehen eines sich andeutenden Weges zum Lebendigen stets am Gesichteten neu ausrichten und seine eigene hermeneutische Situation als Ort des Auslegens stets im forschenden Blick haben. Nur so kann der Forschen167 Der griechische Begriff μέθοδος setzt sich zusammen aus der Präposition μετά »nach, über« und dem Substantiv ὁδός »Weg«. So bedeutet μέθοδος so viel wie: »der Weg auf ein Ziel hin« (Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Auflage 24, bearbeitet von Seebold, Elmar. Berlin/New York 2002, S. 615 f.). »μέθοδος Methode, d. h. der Weg, auf dem ich einer Sache nachgehe« (GA Bd. 29/30, S. 58). 168 SuZ, S. 27. 169 Ebd.

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de sich beim beruhigenden Wegerklären der Rätselhaftigkeit des Lebendigen, sei es im Modus des theologischen, des mechanistischen, teleologischen oder vitalistischen Auslegens fassen und den Weg des Denkens entsprechend neu ausrichten. In diesem Erfassen der eigenen hermeneutischen Situation erfährt sich das Dasein selbst in seinem Wie-sein als verstehendes In-der-Welt-sein. »Dasein kommt nicht primär in seinem eigensten, unbezüglichen Seinkönnen auf sich zu, sondern es ist besorgend seiner gewärtig aus dem, was das Besorgte ergibt oder versagt. Aus dem Besorgten her kommt das Dasein auf sich zu.« 170 Dasein versteht sich aus dem Erfassen der hermeneutischen Situation heraus nicht als ein von dem zu Untersuchenden getrenntes Seiendes sondern als inständig. 171 Innerweltlich Seiendes kann Dasein nur vorfinden und befragen, da es selbst den Charakter des In-der-Welt-sein besitzt. Dasein ist über sich selbst hinaus immer schon in Welt und kommt von dieser auf sich als Fragender und in der Weise seines Fragens zurück, d. h. Dasein ist immer schon metaphysisch. So wird Metaphysik von Heidegger nicht verstanden als eine Disziplin eines rationalistisch interpretierten Daseins, sondern »Metaphysik ist ein Fragen, in dem wir in das Ganze des Seienden hineinfragen und so fragen, daß wir selbst, die Fragenden, dabei mit in die Frage gestellt, in Frage gestellt werden« 172 . Ein solches Fragen nennt Heidegger eben »inbegriffliches Fragen« 173 . So zeigt sich, dass die oben aufgeführten Grundbegriffe nicht allein an der Wesenhaftigkeit der Untersuchungsgegenstände orientiert sind, sondern in die Grundbedingungen des Daseins als inständig faktisches Fragen zurückweisen und von daher auch als Inbegriffe verstanden werden müssen, in denen das fragende Dasein selbst in seinem Fragen mit eingeschlossen und aufA. a. O., S. 337. Wenn ἑρμηνεία/Hermeneutik keine Gegenstandsanalyse sein will, sondern eine echte Auseinandersetzung des Daseins mit sich und Welt aus sich heraus, so wird auch die Struktur, die solches Auslegen ermöglicht, d. h. die Sorge in einer so erlebten Auseinandersetzung selbst durchsichtig. Hermeneutik wird nicht verstanden als Lehre vom Auslegen. »Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen. In der Hermeneutik bildet sich für das Dasein eine Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu werden und zu sein.« (Heidegger, Martin: Ontologie (Hermeneutik der Faktizität). Gesamtausgabe (= GA) Band 63. Bröcker-Oltmanns, Käte (Hrsg.). Frankfurt am Main 1988, S. 15.) 172 GA Bd. 29/30, S. 13. 173 A. a. O., S. 36. 170 171

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geschlossen ist. »Entsprechend sind die Grundbegriffe nicht Allgemeinheiten, keine Formeln für allgemeine Eigenschaften eines Gegenstandsfeldes (Tier, Sprache), sondern sie sind Begriffe eigentümlicher Art. Sie begreifen je das Ganze in sich, sie sind In-begriffe […]. Sie begreifen je immer den begreifenden Menschen und sein Dasein mit in sich […]. Metaphysisches Denken ist inbegriffliches Denken in diesem doppelten Sinne: auf das Ganze gehend und die Existenz durchgreifend.« 174 Soll dieses Verständnis von Metaphysik als das Ganze umgreifend und das einzelne Ich befragend kein beliebiges sein, so müssen sich diese beiden Aspekte innerhalb der Begriffsgeschichte der Metaphysik aufzeigen und somit legitimieren lassen. Die Frage nach dem Ganzen des Seienden, der Natur und nach Gott zeigt sich für Heidegger sowohl in der antiken Philosophie der Griechen als auch in deren mittelalterlich-christlichen Interpretationen. »Daß in der Antike wie in der mittelalterlichen Philosophie nach dem Seienden im Ganzen gefragt wird, möchte ungefähr deutlich geworden sein. Viel unsicherer, ja fast unfassbar dagegen ist das zweite Moment […], was uns die Möglichkeit gibt, das Neue in der neuzeitlichen Metaphysik in seinem metaphysischen Gehalt zu verstehen.« 175 Die besondere Position des Ich innerhalb der Metaphysik sieht Heidegger darin, »[…] daß die Neuzeit seit Descartes nicht mehr von der Existenz Gottes und den Gottesbeweisen ausgeht, sondern vom Bewußtsein, vom Ich« 176 . Mit den vorausgehenden Ausführungen ist sowohl der Aspekt der Ganzheit als auch die scheinbar sonderbare Stellung des Ich als in Frage stehend im Durchlauf der geschichtlichen Entwicklung der Metaphysik selbst aufgezeigt und Heideggers Verständnis von Metaphysik in derselben verortet. Der Anschein des Sonderbaren bezüglich der Stellung des Ich in einem solchen Verständnis rührt allein daher, dass das Ich als Je-ich, als sum innerhalb der gesamten Geschichte der Metaphysik – so Heidegger – nie eigens thematisiert wurde.

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3.4 Reduktive Privation Als In-der-Welt-sein ist dem Dasein Innerweltlich-Seiendes wie auch das Tier oder die Pflanze immer schon offenbar. Doch sind diese dem Dasein in gleicher Weise gegeben, wie es ihm sein eigenes Dasein ist? Die Bestimmung des Organismus, des Lebendigen, bedarf einer eigenen Art der Zugänglichkeit des Daseins zum Lebendigen, welche bei der alltäglichen Erfahrung ansetzt und durch Beobachtungen der damals neueren biologischen Forschung von Karl Ernst von Baer, Hans Driesch und vor allem Jakob von Uexküll unterstützt wurde. Aus diesen Beobachtungen sollte das Grundgeschehen Leben in den phänomenologischen Blick genommen und durch reduktive Privation gehoben werden. »Die ontologische Grundverfassung von ›leben‹ [Organismus]«, so Heidegger in »Sein und Zeit«, »ist jedoch ein eigenes Problem und nur auf dem Wege reduktiver Privation aus der Ontologie des Daseins aufzurollen.« 177 Reduktive Privation »[…] bestimmt das, was sein muß, daß so etwas wie Nur-noch-leben [Hervorheb. v. Verf.] sein kann. Leben ist weder pures Vorhandensein, noch aber auch Dasein.« 178 Wie kann aber das Lebendige in seiner Seinsweise aus der alltäglichen Erfahrung einerseits, die jeweils ontisch ist, andererseits aus der Ontologie des Daseins gefasst werden? Zudem stellt sich die Frage, was der Begriff der Privation bedeutet. Inwiefern ist die Privation in der Lage, die Wesensbestimmung des Organismus, die Seinsweise des Lebendigen ursprünglicher zu fassen als es die mathematisch verstandene Naturwissenschaft bisher je war? Letztere Frage stellt sich besonders dann, wenn Heidegger die Bestimmung des Organismus innerhalb der Biologie als eine mechanistische Reduktion versteht und dabei die Privation doch selbst als reduktiv charakterisiert. Zeigt sich – wie Helmuth Plessner mit Bezug auf Karl Löwith kritisch hervorhebt – nicht gerade in der so verstandenen Privation eine Lebensvergessenheit? 179 Ob und in wie weit diese Kritik Plessners zutrifft oder wie diese SuZ, S. 194. A. a. O., S. 50. 179 »Ohne Zweifel stand Heidegger hier der Rückzug auf den methodischen Sinn seiner Existenzialanalyse offen. Er durfte von den physischen Bedingungen der ›Existenz‹ absehen, wenn er an der Existenz klarmachen wollte, was mit ›Sein‹ gemeint ist. Verhängnisvoll wird dieses Absehen erst […], wenn es sich mit der These rechtfertigt und verknüpft, daß die Seinsweise des Lebens, des körpergebundenen Lebens nur privativ, vom existierenden Dasein her zugänglich sei[.]« (Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organi177 178

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eingeholt werden kann, versucht die vorliegende Untersuchung im Anschluss an die Organismus-Thematik im Zusammenhang mit der Thematisierung der Leiblichkeit des faktisch existierenden Menschen zu diskutieren und in einem damit die Möglichkeit einer philosophischen bzw. existenzial verstandenen Anthropologie argumentativ abzuwägen. Was also besagt der Terminus Privation im Verständnis Heideggers? Der Terminus Privation ist eine Übersetzung des griechischen Begriffes στέρεσις und wird im Deutschen mit »gewaltsame Wegnahme« 180 oder eben Beraubung wiedergegeben. Daher beinhaltet die Übersetzung verschiedene interpretatorische Schwierigkeiten, welche vermieden werden können, sobald στέρεσις in anderer Weise übersetzt wird. 181 Denn in der Übersetzung von στέρεσις als Raub, erscheinen die Begriffe Weltarmut bzw. Benommenheit, als ob sie einen quantitativen Unterschied bezeichneten. Es handelt sich in Heideggers Erforschung des Lebendigen aber nicht um die Inszenierung eines neuen Stufenmodels, sondern um die Entwicklung einer Ontologie des Lebendigen. Aristoteles selbst zeigt verschiedene Bedeutungen der στέρεσις im Buch Δ der Metaphysik auf, die alle als ein Fehlen von etwas verstanden werden. Ein Fehlen, das schon in dem Terminus ἀ-λήθεια zum Ausdruck kam. »[A]uch in all den Fällen, in denen man durch ein vorgesetztes ›un‹ Verneinungen bezeichnet, spricht man von Privationen.« 182 Bei einem solchen Begriff von ἀ-λήθεια zeigt sich aufgrund der Negation der Verborgenheit allererst das Positive des Seienden und ist somit selbst als positiv zu werten. Die Privation innerhalb der Bestimmung des Lebendigen, des Tieres, hat einen ganz anderen Charakter, obwohl auch ihr die Privation im Sinne der ἀλήθεια als Offenbar-Haben-des-Lebendigen vorausgehen muss. Allerdings darf dieses Offenbar-Vorliegende nicht durch die Anwendung irgendwelcher sich vergreifender Theorien wieder in die Verschen und der Mensch. Berlin/New York 1975, S. XII–XIII. Wird im Folgenden als Die Stufen des Organischen angegeben). 180 Aristoteles: Metaphysik. Schwarz, Frank F. (Übers. u. Hrsg.). Stuttgart 1997, Δ 1022b 30 ff. 181 Der Terminus der reduktiven Privation zum Beispiel scheint zunächst eine Tautologie zu sein, denn sowohl in der Reduktion als auch in der Privation wird das zu Bestimmende offenbar um seines vollen möglichen Gehaltes gebracht, sodass es so aussieht, als ob die Beraubung nicht die Daseinsstruktur, sondern das Lebendige selbst beträfe. 182 Metaphysik Δ 1022b 30 ff.

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borgenheit zurücksinken. In einer so verstandenen Privation wird nicht psychologisiert, eingefühlt oder schlichtweg die Struktur des Daseins auf das Tier übertragen. Hier soll keinem evolutionären Stufenprogramm das Wort geredet werden, an dessen Ende der Mensch immer als das letzte additiv gewonnene Plus steht, sondern hier soll aus der Fülle des lebenserfüllten Daseins selbst heraus gefragt werden, ohne dessen Seinsverständnis so etwas wie Leben immer unverstanden bliebe. In der Privation soll die Grundstruktur des Lebens als solche gehoben werden, d. h. nichts anderes als: Dem Lebendigen soll seine Lebendigkeit wieder gegeben werden. Reduziert diese Reduktion auch das Lebendige auf dessen Grundcharakter, so ist damit im Gegensatz zur mechanistischen Reduktion des Lebendigen schon Entscheidendes geleistet, namentlich: das Phänomen des Lebendigen in seinem unverborgenen Anwesen in den Blick zu bekommen. Erfüllt Heidegger diesen Anspruch, so wird sich nicht nur Plessners Kritik der Lebensvergessenheit als unbegründet erweisen, sondern auch der Vorteil der Privation gegenüber der mechanistischen Methode herausgestellt. Aus der Bestimmung Aristoteles’ der στέρεσις als ein Fehlen, das nur von einer Fülle her gedacht werden kann, versteht Heidegger die στέρεσις des Lebendigen als ein Absagend-Aussagendes-Bestimmen vom Dasein aus, verstanden als Verhalten des Daseins, als Akt und nicht als Zustand. Diesen Umstand expliziert Heidegger in »Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik B, 1« folgendermaßen: »Die στέρεσις gehört […] in den Bereich des ›Sagens‹ und ›Ansprechens‹ […]« 183 . Dies konkretisiert Heidegger im darauf folgenden Abschnitt: »Wenn wir sagen: ›das Wasser ist kalt‹, sagen wir dem Seienden doch etwas zu; gewiß, dies aber so, daß dem Wasser dabei, in dem Zugesagten [es ist kalt] selbst nämlich; abgesagt wird die Wärme.« 184 Die Aussage das Wasser ist nicht warm ist zwar ein Absagen des Habens von Wärme, aber gleichsam ein zustellendes Aussagen von Kälte. »[D] as ›Nichthaben‹, bestimmt ein Seiendes durchaus positiv; daß es das und das nicht ist, macht sein Sein aus […].« 185 Die Kälte ist zwar keine Grundbestimmung des Wassers, aber das Beispiel zeigt anschaulich die beabsichtigte Methodik des Zugangs zum Lebendigen. Die vergleichende Gegenüberstellung von Stein, Tier und 183 184 185

Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Pysik B, 1, S. 295. A. a. O., S. 296. GA Bd. 18, S. 4. A

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Mensch hinsichtlich deren unterschiedlicher Bezüglichkeit, zu dem, was wir unter dem Titel Welt verstehen, wird diese Methodik genauesten aufzeigen können. Eine jede solche Privation ließe sich jedoch ohne die Leiblichkeit des Menschen niemals durchführen. Denn jede Bewegung eines wie auch immer gearteten Lebewesens, ist eine leiblich vollzogene Bewegung und nur einer Seinsweise zugänglich, die den Charakter des In-der-Welt-seins hat und der somit einerseits Bewegung aufgrund von Eigenbewegung zukommt und die andererseits Seinsverständnis besitzt. So rückt die Leiblichkeit des Daseins den faktischen Zugang zum Lebendigen allererst ermöglichend selbst in den Umkreis der Untersuchung. Die Bestimmung der Grundhaltung Heideggers und die damit in Zusammenhang stehenden Aspekte, die dem cartesianischen Wissenschaftsverständnis entgegen gestellt wurden, sollen den nachfolgenden Kapiteln als Propädeutik dienen, um die praktische Durchführung der phänomenologischen Methode samt ihrer Resultate im Bereich der Biologie von Grund auf nachzeichnen und fassen zu können.

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Teil I Heideggers Kritik an den Leitbegriffen der neuzeitlichen Biologie

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Kapitel 1 Heideggers frühes Interesse an der Biologie

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Frühe Zeugnisse

Wenn die Frage nach Heideggers Motivation zur Behandlung des Organismus aufkommt, stellt man sie zumeist in den Kontext mit der Frage nach dem Weltphänomen oder man versteht sie als Heideggers Reaktion auf die Kritik an der scheinbaren Lebensvergessenheit in »Sein und Zeit« seitens Löwiths und Plessners. Ein Umstand, der noch im Kapitel 24.1 zu thematisieren ist. Als weitere mögliche Gründe für Heideggers scheinbare Wende zum biologischen Exkurs werden der enge Kontakt zu Max Scheler oder die Bekanntschaft mit Hans Spemann angeführt. All diese Ansätze haben es gemeinsam, dass sie der Vorsicht erlegen sind, die Untersuchung zur Wesensbestimmung des Lebendigen sei ein Randphänomen oder ein biologischer Exkurs, der auch allein als ein solcher behandelt werden könne. Doch ist einer solchen Einschätzung entgegen die Behandlung der Organismus-Thematik in den »Grundbegriffen der Metaphysik« nicht vielmehr als ein einmalig vollzogenes Lehrstück phänomenologischer Praxis zu verstehen? Neben der schon aufgezeigten Zugehörigkeit der OrganismusThematik in den Bereich des Kategorienproblems gilt es, in der Folge die Anfänge der Frage nach der Wesensbestimmung des Lebendigen in Heideggers Denken aufzuzeigen. Von diesen her wird sichtbar, wie sich die Behandlung der Organismus-Thematik bei Heidegger im Verlauf seiner Denkwege in immer neuen, methodisch gewandelten Anläufen durchhält. Die Auseinandersetzung mit Scheler, Plessner oder Löwith stellt innerhalb der Organismus-Thematik nur eine Episode dar. Hugo Ott berichtet in »Martin Heidegger« 1 über das zweiwöchige Noviziat Heideggers in Voralberg bei Feldkirch im Jahre 1909, welches Ott, Hugo: Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie. Frankfurt am Main/ New York 1988.

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I Heideggers Kritik an den Leitbegriffen der neuzeitlichen Biologie

er aus gesundheitlichen Gründen beenden musste und woraufhin er sein Studium der katholischen Theologie an der Universität Freiburg im Wintersemester desselben Jahres aufnahm. Sein Stundenplan war nicht so eng gesteckt, als dass sich Heidegger nicht neben der Theologie auch der Philosophie und sehr wahrscheinlich auch der Biologie widmen konnte. 2 Denn schon während seiner Gymnasialzeit, so belegt Heideggers Lebenslauf zur Habilitation von 1915, wuchs sein Interesse an der biologischen Entwicklungslehre. »Als in der Obersekunda der mathematische Unterricht vom bloßen Aufgabenlösen mehr in theoretische Bahnen einbog, wurde meine bloße Vorliebe zu dieser Disziplin zu einem wirklichen sachlichen Interesse, das sich nun auch auf die Physik erstreckte. Dazu kamen Anregungen aus der Religionsstunde, die mir eine ausgedehntere Lektüre über die biologische Entwicklungslehre nahelegten.« 3 Nach dem Abbruch seines Theologiestudiums im Wintersemester 1910/11, wiederum aus gesundheitlichen Gründen, begann Heidegger im April 1911 zum ersten Mal, noch bevor er sein Studium der Philosophie und der mathematischen Naturwissenschaften aufnahm, zur Evolutionstheorie öffentlich Stellung zu beziehen.

4.1 Religion und Naturwissenschaft Als überzeugter Christ und frommer Katholik veröffentlichte Heidegger einen seiner wohl ersten Texte am fünften November des Jahres 1909 im Heuberger Volksblatt unter dem Titel »Allerseelenstimmung« 4 , in welchem er sich gegen die modernistische Weltanschauung stellte, die gerade von den neuesten Entdeckungen innerhalb der Naturwissenschaften getragen wurde und für die römisch-katholische Kirche einen Abfall vom Glauben bedeutete, dem auch Heidegger mit aller Kraft zu begegnen bestrebt war. »Sie aber schließen das Auge. Die matte Seele, die stumpfe, am Boden kriechende Seele flieht den überwinVgl. a. a. O., S 59 f. Martin Heidegger: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. Gesamtausgabe (= GA) Band 16. Heidegger, Hermann. (Hrsg.). Frankfurt am Main 2000, S. 37. Der Lebenslauf wurde schon 1984 von Ott unter dem Titel »Der junge Martin Heidegger« veröffentlicht. (Ott, Hugo: Der junge Martin Heidegger. In: Freiburger Diözesan-Archiv, Band 104. Freiburg 1984, S. 323 ff.) 4 Denker, Alfred/Büchin, Elsbeth: Martin Heidegger und seine Heimat. Stuttgart 2005, S. 38. 2 3

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dungsheischenden, erlösenden Lebensernst, scheut das opferfreudige Sichselbstbesinnen. Der Ernst will Kraft, er eignet nur den Starken. Und die Menschen von heute sind schwach […]. Fast brechen sie zusammen unter der ›Wucht des Lebens‹. Und doch reden sie von ›Freiheit‹, die Modernen, sie haben die Intelligenz gepachtet, die Armen, und tappen im Finstern und finden die Brücke nicht ins Land der Wahrheit, wollen sie nicht finden. Und ›blonde Bestien‹ können sie werden, die ›Herrenmenschen‹, wagst du es, an der Logik ihrer Leidenschaften zu zweifeln.« 5 Interessant ist in diesem Artikel zudem, dass Heidegger die Strophe aus Nietzsches Tanzlied mit dem er »Die Grundbegriffe der Metaphysik« schließt, 1909 noch gegen Nietzsche wendete: »Lust – tiefer noch als Herzeleid! Weh spricht: Vergeh! Doch alle Lust will Ewigkeit Will tiefe, tiefe Ewigkeit!« 6

Man darf jetzt nicht voreilig dem Eindruck verfallen, Heidegger unterwerfe sich unkritisch dem Dogma der christlichen Glaubenslehre, denn dagegen spricht vor allem der Einfluss Foersters. Für Heidegger steht mit der modernistischen Weltanschauung die Möglichkeit von Transzendenz und damit von Wahrheit überhaupt auf dem Spiel. Alfred Denker fasst Heideggers sehr knapp gehaltene Rezension von Friedrich Wilhelm Foersters Werk »Autorität und Freiheit« 7 im Kern folgendermaßen zusammen: »Die Zersplitterung und Verflachung des modernen Lebens, zerstören die Tiefendimension der menschlichen Existenz. Dadurch geht auch die Möglichkeit der Transzendenz verloren […]. Nur die katholische Tradition kann die Transzendenz verbürgen. Nach Foerster und Heidegger kann es nur eine Wahrheit geben.« 8 So erweist sich für beide Denker die Unterscheidung von Wissenschaft und GlaubensA. a. O., S. 38 f. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Nietzsche Werke, Sechste Abteilung, Band 1. Colli, Giorgio/Montinari, Mazzino (Hrsg.). Berlin 1968, S. 282. Vgl. Martin Heidegger und seine Heimat, S. 41 u. GA Bd. 29/30, S. 532. 7 Foerster, Friedrich Wilhelm: Autorität und Freiheit. Betrachtungen zum Kulturproblem der Kirche. Kempten/München 1910. 8 Denker, Alfred. Heideggers Lebens- und Denkweg 1909–1919. In: Heidegger und die Anfänge seines Denkens. Heidegger-Jahrbuch 1. Denker, Alfred/Gander, Hans-Helmut/ Zaborowski, Holger (Hrsg.). Freiburg/München 2004, S. 103. 5 6

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lehre als obsolet. 9 Aus dieser kritischen Haltung folgt auch sein apologetisches Interesse, d. h. die Rechtfertigung der christlichen Glaubenslehre durch wissenschaftliche Befunde und ihre Absicherung gegen diese. Auf dieses Spannungsfeld lässt sich Heideggers Interesse an der biologischen Forschung, die mit der Lektüre der Schriften Charles Darwins und vor allem Ernst Haeckels bzw. diesbezüglicher Sekundärliteratur ihren Anfang nahm, mit großer Wahrscheinlichkeit zurückführen. Ab dem 27. März 1911 entzündete sich die schon Jahrzehnte währende Kontroverse zwischen den Liberalen und ihren Erzfeinden, den Katholiken und darunter besonders den Mitgliedern der Zentrumspartei erneut, die öffentlich in dem der Zentrumspartei nahestehenden Heuberger Volksblatt und dem liberalen, den Modernisten zugewandten Oberbadischen Grenzboten ausgefochten wurde. 10 So ist am fünften April 1911 im Grenzboten zu lesen: »Im Artikel 20 der preußischen Verfassung von 1850 wird bestimmt: ›Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei.‹ Demgegenüber ist festzustellen: Der Ultramontanismus und sein Organ in Deutschland, das Zentrum, verwerfen grundsätzlich die Gewissensfreiheit, die Kultusfreiheit und die Freiheit der Wissenschaft.« 11 In seinem Artikel wirft der Autor der Kirche unter anderem vor, dass sie jegliche mit der christlichen Lehre unvereinbare wissenschaftliche Entdeckungen als unhaltbar abweise. Dies betreffe vor allem die Lehre von der Abstammung des Menschen vom Tiere. Auf eben diesen Artikel reagierte Heidegger am siebten April 1911 im Heuberger Volksblatt. In demselben zeigt sich deutlich, dass Heideggers apologetisches Interesse neben seiner Verbundenheit mit der christlichen Glaubenslehre auf einem nicht minder philosophischen Anspruch beruht, der sich von 1907 an auszubilden begann. So wirft er dem Autor des Grenzboten mangelnde philosophische Einsicht und Unsachverstand vor. »Was der Verfasser unter Freiheit der Forschung versteht, nennt man im wissenschaftlichen Sprachgebrauch Freiheit der Vgl. GA Bd. 16, S. 7 f. An dieser Stelle möchte ich Herrn Alfred Denker nicht nur für seine Forschungsarbeit in Bezug auf Heideggers frühe Studienzeit danken, ohne die das vorliegende Kapitel unmöglich gewesen wäre, sondern vor allem für seinen persönlichen Einsatz und seine Bereitschaft mir etliches Material zukommen zu lassen. Allein so war es möglich den Ergebnisse seiner Forschungsarbeit über ihren geschichtlichen Wert hinaus, auch thematisch ihren Ort zu bestimmen. 11 Heidegger und seine Heimat, S. 55. 9

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Lehre, zwei ganz verschiedene Fragen wirft der Verfasser durcheinander, weil ihm ein Grunderfordernis wissenschaftlicher Arbeit mangelt: Klarheit und Präzision der Begriffe. Unter Freiheit der Forschung versteht man das Freisein von jeder vorgefaßten Meinung und unbewiesenen Voraussetzung bei der Untersuchung wissenschaftlicher (spez. philosophisch-historischer) Fragen [Hervorheb. v. Verf.].« 12 In diesen Zeilen zeigt sich neben der Vorrangigkeit philosophischer Klarheit ganz deutlich Heideggers Misstrauen gegenüber den ontischen Wissenschaften, welches sich über die gesamte Zeit seines Schaffens durchhält und hier zu sehr früher Zeit dokumentiert ist. Einige Absätze weiter findet sich – ich möchte annehmen – die erste, bisher dokumentierte Stellungnahme Heideggers zur Deszendenztheorie. Mit der Autorität des Biologen Wilhelm Branca, Direktor des Geologisch-paläontologischen Instituts der Universität Berlin, zeigt Heidegger, dass gerade in der Evolutionstheorie die Abstammung eher in den Köpfen ihrer Vertreter bestehe als in der Natur vorliege, denn von einer lückenlos aufweisbaren Ahnenreihe sei man weit entfernt – wir sind es noch heute. 13 Heidegger wusste, dass Branca an die Evolutionstheorie glaubte, aber eben nur glaubte. »Warum ich dies verschwiegen habe«, schrieb Heidegger in einem weiteren Artikel vom zehnten April 1911, »weil ich, wie jeder der echt wissenschaftlich arbeitet, genau unterschieden habe zwischen dem was unbewiesene subjektive Überzeugung Brancas ist, und zwischen dem, was als objektiv gesichertes Resultat seiner Forschung zu betrachten ist.« 14

4.2 Der Bathybius Haecklii und die drei Leitsätze der neueren Biologie Am eindringlichsten kritisiert Heidegger die Deszendenztheorie in seinem Artikel vom 19. April 1911, der neben einer grundsätzlichen Bestimmung des Lebens im Ausgang von Oscar Hertwig zudem über Heideggers frühe und umfangreiche Kenntnis der entsprechenden Literatur Zeugnis ablegt. Die Frage nach der Einheit von Wahrheit – die für den jungen Heidegger eine Trennung von christlicher Lehre und Wissenschaft unmög12 13 14

A. a. O., S. 64 f. Vgl. a. a. O., S. 68. A. a. O., S. 73 f. A

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lich machte – führte ihn in diesem Artikel zu einer erneuten Aufnahme der für ihn zentralen Frage seines Gegenspielers: »›Was dann, wenn die Wissenschaft beweist, daß der Mensch vom Affen abstammt. Wie steht es dann mit der unfehlbaren [Hervorheb. v. Verf.] Lehre der Kirche?‹« Heidegger begegnet dieser Frage folgendermaßen: »Selbst wenn das die Wissenschaft beweisen könnte, könnte die Kirche es ruhig anerkennen, anschließend an das Wort der h[ei]l[igen] Schrift: ›Gott bildet einen menschlichen Leib [Hervorheb. v. Verf.] aus Erde.‹« 15 Geist und Vernunft könnten hingegen unmöglich aus Erde, sondern allein aus der Kraft Gottes entspringen. Dieser Kraft entsagen zu können, glaubten die Väter der modernen Physik. Ein Glaube, der sich – so Heidegger – ins Gegenteil verkehrte und so zu einer noch größeren Ehrfurcht des Menschen vor der Schöpfung Gottes geführt haben sollte. Gleiches gelte für das vorherrschende Selbstverständnis der Biologie. »Heute glaubt man, das Mikroskop, das Vergrößerungsglas, zum Kampfe gegen Gott gebrauchen zu können, denn es ließ uns einen tiefen Blick tun in die Kleinwelt [Hervorheb. v. Verf.] der Lebewesen. Und nun führen und zwingen die Enthüllungen des Mikroskops nach einer ganz anderen Seite hin, als die unchristlichen Kreise es erwartet hatten.« 16 Heideggers sich schon früh verfestigende Abneigung gegen jeden Reduktionismus tritt besonders in der Kritik an dem Monisten Ernst Haeckel hervor. »Das Mikroskop […] sollte die große und tiefe Kluft zwischen dem Anorganischen und Organischen überbrücken […]. Alle, die für eine Urzeugung törichterweise schwärmen, glauben mit beschämendem Aberglauben, daß das Leben einfach ohne weiteres aus dem toten Stoffe entstanden sei [Hervorheb. v. Verf.].« 17 Die frühe Hinwendung zum Phänomen des Lebens wird an dieser Stelle überdeutlich und widerlegt eindeutig die Annahme Beelmanns etc., Heideggers biologischer Exkurs sei durch Scheler und andere motiviert. Die gesamte Kritik an Haeckels Theorie der Urzeugung kann mit größter Wahrscheinlichkeit auf das Lehrbuch »Allgemeine Biologie« 18 von Oscar Hertwig zurückgeführt werden, der 1881 den Lehrstuhl für A. a. O., S. 74. A. a. O., S. 75. 17 Ebd. 18 Hertwig, Oscar: Allgemeine Biologie. Jena 1923 (Erstausgabe 1898). Heidegger nennt die Schrift selbst im Text (Vgl. Heidegger und seine Heimat, S. 76). 15 16

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Anatomie in Berlin erhielt. In der Schrift heißt es in Bezug auf das oben Ausgeführte: »Endlich sei noch ein letzter Versuch erwähnt, die Kluft zwischen Organismen und lebloser Welt zu überbrücken.« 19 Die Unmöglichkeit des Brückenschlags führt Heidegger zum ersten Leitsatz der Biologie und damit zur Bestimmung des Lebendigen. »Der erste feste sichere Satz der Biologie heißt: omnis cellula ex cellula, d. h. jede Zelle entsteht nur wieder aus einer Zelle. Zellen sind die kleinen, lebendigen Bausteine der lebendigen Körper. Das will sagen: Leben kommt nur vom Leben, niemals und nirgends aus dem toten Stoff.« 20 Die entsprechende Stelle bei Hertwig lässt schnell klar werden, dass Heidegger den genannten ersten Leitsatz der Biologie aus dessen Schrift zieht. »Doch kehren wir aus dem luftigen Bereich der Spekulationen [von Haeckel, Nägeli u. a.] auf den festeren Boden der Wirklichkeit wieder zurück. Dann müssen wir bei der Frage nach der Entstehung der Organismen sagen, daß, soweit naturwissenschaftliche Erfahrung reicht, ein Organismus stets von einem anderen vorausgehenden Organismus abstammt […] Zelle stammt von Zelle in ungezählten Generationen (Omnis cellula e cellula […]).« 21 Das Zitat ist neben dem inhaltlichen Aspekt auch methodologisch interessant, da die realistische Haltung Hertwigs auch dem Wissenschaftsverständnis Heideggers entspricht, wie es sich in dessen Zugeneigtheit gegenüber Aristoteles und Külpe zeigt. Haeckel gab sich – so Heidegger – durch diesen ersten Leitsatz der Biologie jedoch nicht geschlagen und nahm zur Rettung seiner Theorie an, dass es einfachste organische Formen geben müsse, die völlig kernlos seien und sich ähnlich wie bei der Kristallisation von Salzen aus einem Urbrei gebildet haben müssten. Diesen als kernlos angenommenen Organismen gab er den Namen Moneren. Diese Hypothese wurde wahrscheinlicher als auf einer Expedition Schlammproben vom Meeresgrund gehoben wurden, die eine rätselhafte Substanz enthalten sollten, von der man annahm, sie sei der Urschleim, aus dem alles Leben habe entspringen können. Zu allem Überfluss hat Huxley – so zeigt auch die Lehrschrift Hertwigs, auf die Heidegger vermutlich auch weiterhin seine Verteidigung stützt – diesem Scheinwesen noch vor dessen Identifikation den wohlklingenden Namen Bathybius Haecklii gegeben. Das Resultat war für die Wissenschaft ernüchternd; für Heidegger 19 20 21

Allgemeine Biologie, S. 270. Heidegger und seine Heimat, S. 76. Allgemeine Biologie, S. 272. A

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war es ein gefundenes Fressen. »Das war ein Jubel, als 1868 bei Tiefseelotungen etwas herausgeholt wurde aus der Tiefe des Meeres, das aussah wie der Urschleim, aus dem einst in grauer Vorzeit nach Haeckel das Leben entsprungen ist. Man taufte gleich diesen endlich gefundenen Urschleim mit dem Namen: ›Der in der Tiefe Wohnende‹; aber o Jammer, o Elend! Der Bathybius war nur ein Klumpen Gips.« 22 Man kann Heideggers Gelächter beim Lesen dieser Zeilen heute noch hören. Dieses Fiasko gab Heidegger die Gelegenheit, massiv gegen die Modernisten vorzugehen. »Und solche Herren wollen spotten über die Kirche. Solche Herren wollen spotten, die solchen Unsinn glauben […]. Wahrlich da hat das Christentum und die Kirche nach 40 Jahren einen herrlichen Triumphzug der Wahrheit gefeiert […].« 23 Die Annahme kernloser Organismen musste darüber hinaus aufgrund der Fortschritte, die durch den Einsatz des Mikroskops in der Zellforschung erzielt worden waren, aufgegeben werden und so konnte ein zweiter Leitsatz der Biologie aufgestellt werden: »omnis nucleus ex nucleo. ›Jeder Kern aus einem Kern.‹« 24 Diesen Leitsatz zieht Heidegger, worauf er selbst verweist, aus Hertwigs Schrift »Der Kampf um Kernfragen der Entwicklungs- und Vererbungslehre« 25 . »Es ist höchste Zeit«, fährt Heidegger in seiner Kampfschrift fort, »daß die irregeführten Gebildeten den Ergebnissen der neusten Biologischen Forschung [Hervorheb. v. Verf.] nachgehen.« 26 Zu den führenden Köpfen der neusten Forschung gehören für Heidegger neben Oscar Hertwig und Pater Erich Wasmann auch Karl Ernst von Baer, Wilhelm Roux und Hans Driesch. Wenn Heidegger auch zu dieser Zeit noch nicht deren Werke im Einzelnen kannte, so waren ihm doch zumindest deren Konzepte aus Erich Wasmanns Schrift »Die moderne Biologie und die Entwicklungstheorie« 27 bzw. aus Oscar Hertwigs »Allgemeine Biologie« vertraut. Erstere nennt Heidegger in seinem Artikel neben Muckermanns »Grundriß der Biologie« 28 ausdrücklich. »Zwei herrliche Werke Heidegger und seine Heimat, S. 78. A. a. O., S. 78 f. 24 A. a. O., S. 77. 25 Hertwig, Oscar: Der Kampf um Kernfragen der Entwicklungs- und Vererbungslehre. Jena 1909 (Vgl. ebd., S. 12 f. und Heidegger und seine Heimat, S. 77). Dieser Leitsatz findet sich zudem in »Allgemeine Biologie, S. 272. 26 Heidegger und seine Heimat, S. 77. 27 Wasmann, Erich: Die moderne Biologie und die Entwicklungstheorie. Freiburg 1906. 28 Muckermann, Hermann: Grundriß der Biologie. Freiburg 1909. 22 23

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Heideggers frühes Interesse an der Biologie

haben wir: ›Moderne Biologie‹ von Pater Wasmann und ›Grundriß der Biologie‹ von Muckermann […].« 29 Wasmann behandelt eben die Theorien der genannten Forscher im achten Kapitel seiner Schrift. 30 Diese sind zudem auch in Hertwigs »Allgemeine Biologie« zu finden. Weiterhin zeigt Heidegger, dass sich das Problem der Deszendenztheorie im Ausgang von Darwin über Haeckel verschoben hat. Haeckel ging noch davon aus, dass die Arten wie Knete in den Händen der Umwelt seien. Für ihn stand fest, dass die Vererbungsvorgänge, die in entsprechenden Experimenten, welche an einzelnen Individuen vorgenommen wurden, arttypische Vorgänge repräsentierten. Das Problem habe sich – so Heidegger – in jüngster Zeit auf die Ebene der Zellen verlagert, wodurch für die Deszendenztheorie erneut Schwierigkeiten auftraten, da der Faktor der Determination der Artentwicklung durch die mikroskopisch durchgeführten Experimente problematisch wurde. Dies wird die Behandlung Roux’ noch zeigen. »Das Mikroskop sollte dem Darwinismus auf die Beine helfen und nun hat es diesem die schlimmsten Wunden geschlagen. Es hat die ganze Frage der Entwicklung und Vererbung in der Hauptsache zu einem Zellenproblem gemacht. Für die Lösung dieser Frage sind äußere Einwirkungen, wie sie der Darwinismus annahm, ganz belanglos.« 31 In dieser Stellungnahme zeigt sich, wenn auch zuerst noch negativ, Heideggers Überzeugung von der Autonomie jeglicher Organismen. »Heute«, so Heidegger den dritten Leitsatz der Biologie benennend, »wagt aber kein besonnener Mensch mehr von strukturlosen und kernlosen Zellen zu reden […]. Es steht nämlich heute der dritte Satz der Biologie fest: ›omne Chromosoma a Chromosomate‹, jeder Farbkörper [färbbarer Körper] im Kern von einem Farbkörper, d. h. die Arten sind schon im Zellkern festgelegt.« 32 So wendete sich der Einsatz des Mikroskops gegen den Darwinismus selbst. Und wie einst das Fernrohr den Glanz der göttlichen Weltordnung erstrahlen ließ, so bringt uns das Mikroskop Gottes Schöpferweisheit auch im kleinsten näher. »›Deus in minimus maximus‹ […] ›Im Kleinsten zeigt sich Gott am größten‹.« 33

29 30 31 32 33

Heidegger und seine Heimat, S. 77. Vgl. Die moderne Biologie und die Entwicklungstheorie, S. 211 ff. Heidegger und seine Heimat, S. 77. A. a. O., S. 78. A. a. O., S. 79. A

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Der Grenzbot-Philosoph blieb bis zum Schluss unerkannt. Ein Umstand, durch den sich sowohl Heidegger als auch die Mitarbeiter und Leser des Heuberger Volksblattes zu allerlei Spekulationen hinreißen ließen, was wiederum die Redaktion des Grenzboten über die Maßen erheitert haben muss und dazu Anlass gab, einen Preis für denjenigen zu stiften, der den Namen des Autors erriet. Der Preis: »drei Glas Bier, eine Bratwurst und den nötigen Senf dazu.« 34

4.3 Erste Vorträge zu Evolutionstheorie und Denkvermögen der Tiere Gut ein Jahr nach der Auseinandersetzung mit dem Grenzbot-Philosophen ist am 19. April 1912 im Heuberger Volksblatt die Ankündigung zu Heideggers Vortrag zu dem Thema »die tierische Abstammung des Menschen und das Urteil der Wissenschaft« 35 zu lesen. Nach allem, was sich bisher gezeigt hat, kann der Titel nichts anderes bedeuten, als dass die Vertreter der Evolutionstheorie für Heidegger allesamt keine Wissenschaft betrieben. Dies belegt auch der ebenfalls im Heuberger Volksblatt erschienene Bericht zu diesem Vortrag: »Gestern [A]bend sprach Herr Studiosus Mathematik Martin Heidegger in der Gesellenvereinsversammlung über das angekündigte Thema […]. Der Redner behandelte zuerst die auf den englischen Naturforscher Darwin zurückgehenden allgemeinen Entwicklungstheorien und beleuchtete in diesem Zusammenhang die phantastischen Konstruktionen Haeckels bezüglich der Stammbäume. Daß heute der Prophet des Monismus seine wissenschaftliche Rolle ausgespielt hat, wurde besonders hervorgehoben. Die Erörterung des ersten Teils über die allgemeine Abstammungslehre der gesamten Lebewesen ergab, daß die besagten Theorien innerlich widerspruchsvoll sind und vor den Tatsachen sich als willkürliche Spekulation erweisen. Der zweite Teil des Vortrags befasste sich mit der speziellen Frage der Affenabstammung des Menschen. Haeckels ›Ergebnisse‹, wie sie heute noch in seinen ›Welträtseln‹ vertrieben werden, können einer tiefer dringenden Kritik nicht standhalten. Diejenige Wissenschaft, die über die Frage der Affenabstammung des Menschen das erste Wort zu reden hat, ist die Paläontologie (die Lehre von den versteinerten Resten der Lebewesen). Die durch Il34 35

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A. a. O., S. 83. A. a. O., S. 126.

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lustrationsmaterial unterstützte Besprechung der 14 wichtigsten Schädelfunde ergab, daß in der Eiszeit schon eine Schädelbildung in Europa vorhanden war, die vom heute lebenden Europäer wenig abweicht. Besonders muß hervorgehoben werden, daß von einer lückenlosen Ahnenreihe zwischen Affen und Menschen nicht im Mindesten die Rede sein kann.« 36 Auch hier lassen Titel und Vortrag eine gewisse Nähe zu Wasmanns Schrift »Die moderne Biologie und die Entwicklungstheorie« deutlich werden. Schon die Überschrift des Unterkapitels 3 c des elften Kapitels seiner Schrift kündigt dies an: »Schlussfolgerung. Haeckels phantastischer Stammbaum der Primaten. Brancos Urteil über die ›Ahnen‹ des Menschen. Ein Blick in die Zukunft«. 37 In Bezug auf die Möglichkeit einer evolutionistischen Wesensbestimmung des Menschen zeigt sich erneut Foersters Einfluss auf das Denken des jungen Heidegger, wie die 1910 von ihm verfasste Rezension zu »Autorität und Freiheit« belegen kann. Foerster schreibt darin 1909: »Der Mensch ist nicht nur eine biologische Erscheinung, daher muß die biologische Betrachtungsweise überall da begrenzt und korrigiert werden, wo sie das ihren Methoden zugängliche Beobachtungsgebiet überschreitet und Ergebnisse, die nur die Physik des Menschen betreffen, verallgemeinernd und dilettantisch auf das Ganze des Menschen anwenden will.« 38 Foerster ist nicht daran gelegen, sich gegen die Neuerungen der Zeit zu stellen, sondern er fordert sogar eine Öffnung der Kirche gegenüber dem neuen Zeitgeist. Am 29. August 1913, fast genau einen Monat nach seiner Promotion (26. Juli 1913), berichtet das Heuberger Volksblatt über Heideggers Vortrag des vorhergehenden Sonntags über Denkende Pferde, wie den Klugen Hans oder das Pferd des Herrn Krall aus Elberfeld. Im Zentrum steht für Heidegger jedoch nicht die Attraktion, sondern die Frage, ob Pferde bzw. Tiere überhaupt denken können. Wenn ein dem Tier eigenes Denkvermögen seitens der Wissenschaften bewiesen werden könne, so sei der von den Evolutionstheoretikern geforderte Brückenschlag zwischen Mensch und Tier denkbar. Sollte dieser Beweis aber nicht erbracht werden, so »gilt es, die Art des Unterschiedes zwiA. a. O., S. 126 f. Vgl. Die moderne Biologie und die Entwicklungstheorie. Inhaltsverzeichnis, S. XXVII u. S. 485 ff. 38 Autorität und Freiheit, S. 96. 36 37

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schen Tierseele und Menschenseele festzulegen und prinzipielle Forderungen daraus abzuleiten [Hervorheb. v. Verf.]« 39 . Die Untersuchungen am Klugen Hans und anderen Tieren haben ergeben, – so folgt der Bericht – dass beim Tier weder von Rechnen noch von Denken gesprochen werden könne, sondern dass das Verhalten der Pferde allein auf eine verstärkte Aufmerksamkeit des Tieres gegenüber den Befehlen des Trainers zurückzuführen sei. Dafür stehe auch die Aussage des Knechtes, der den Klugen Hans versorgte. »Der kluge Hans bin eigentlich ich. Wenn ich die Oogen niederschlage, trampelt das Viech solange, bis ich die Oogen wieder aufhebe.« 40 Wenn beim Pferd kein Denkvermögen festgestellt werden kann, wie steht es dann mit anderen Tieren? Wie steht es dann mit den als staatenbildend bekannten Ameisen? Stammen wir vielleicht von den Ameisen ab? »Das Verhalten der Ameisen«, so referiert der Autor des Heuberger Volksblattes weiter, »legt noch viel eher die Annahme einer Denktätigkeit nahe, als das Benehmen der höheren Tiere, besonders der Affen [vermuten lässt]. Der folgerichtige Schluss wäre jetzt, den Menschen von der Ameise abstammen zu lassen. Wer diese Ungeheuerlichkeit scheut und mit Recht ablehnt, hat dann nur noch die Möglichkeit anzunehmen, daß die Ameisen trotz ihrer scheinbaren ›Intelligenz‹ ebenso wenig denken, wie die höheren Tiere. Man sieht sich also zu einer anderen Erklärungsweise (durch Instinkt, Geruchsinn) gezwungen. Redner behandelte noch das Verhältnis der Tierseele zur Pflanzenseele und schloß mit dem Gedanken, daß eine Entwicklung des Tieres zum Menschen nach der psychischen Seite hin unmöglich ist.« 41 War die Entscheidung gegen Schelers Modell, das »von einer Stufenfolge der psychischen Kräfte und Fähigkeiten« 42 zur Bestimmung des Menschen ausging, schon um diese Jahre gefällt?

4.4 Aufkommen der Frage nach der Wesensbestimmung des Tieres Nachdem Heidegger für das Sommersemester 1911 aufgrund seiner gesundheitlichen Verfassung beurlaubt worden war, setzte er sein Studi39 40 41 42

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Heidegger und seine Heimat, S. 131. A. a. O., S 131. A. a. O., S. 131 f. Scheler, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos. Darmstadt 1930, S. 16.

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um an der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät in Freiburg fort, wo er Veranstaltungen in Mathematik und Naturwissenschaften besuchte. Dies belegt Heideggers Lebenslauf zur Promotion aus dem Jahre 1913, der in »Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges« 43 veröffentlicht wurde. Er besuchte zwischen 1911 und 1913 sechzehn Veranstaltungen im Bereich der Naturwissenschaften, darunter auch 1912 Vorlesungen bei dem Zoologen Franz Doflein zur Protozoenkunde und bei Friedrich Oltmann zur Botanik, wie neben den von Alfred Denker zusammengetragenen Semesterplänen Heideggers auch das Essay »Heideggers Studium der Mathematik und Naturwissenschaften« von Günther Neumann belegen. 44 Während in den Jahren 1911/12 die Absicherung der christlichen Glaubenslehre gegen die Vereinnahmung der Anhänger Darwins bei Heidegger deutlich vorherrschte, und besonders durch die Schriften Foersters und Wasmanns beeinflusst zu sein scheint, zeigt sich in der Frage nach einem dem Tier spezifischen Seelenleben in dem letzt genannten Vortrag ein aufkeimendes Interesse an der Wesensstruktur des Lebendigen. Dieses kann wohl auf Hertwig zurückgeführt werden, der in seinem Lehrbuch die Zelle als einen selbstständigen Organismus aufzeigt. Noch entscheidender scheint mir allerdings der Einfluss Dofleins gewesen zu sein, dessen Werke »Das Tier als Glied des Naturganzen« 45 und »Lehrbuch der Protozoenkunde« 46 das Konzept einer ganzheitlichen Betrachtung des Tieres und dessen Umgebung propagieren, welches auch die Behandlung der Organismus-Thematik 1929/30 leitet. Der Einfluss Dofleins wird in dessen früher Bestimmung des Begriffs Ökologie besonders deutlich. »Unter der Bezeichnung Ökologie werden die Beziehungen der Organismen zu ihrer Umwelt zusammengefasst.« 47 Diesen Begriff von Ökologie führt Heidegger in den »Grundbegriffen der Metaphysik« folgendermaßen aus: »Das Wort Ökologie kommt von οἶκος Haus. Es bedeutet die Erforschung dessen, wo und wie die Tiere zu Hause sind, ihre Lebensweise mit Bezug auf

Heidegger, Martin: Lebenslauf (Zur Promotion 1913). In: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. S. 32. 44 Vgl. Heidegger-Jahrbuch Bd. 1, S. 13 ff. u. 217 ff. 45 Doflein, Franz/Hesse, Richard: Tierbau und Tierleben in Zusammenhang betrachtet. Band II: Das Tier als Glied des Naturganzen. Berlin 1914. 46 Doflein, Franz: Lehrbuch der Protozoenkunde. Jena 1949. 47 A. a. O., S. 314. 43

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ihre Umgebung.« 48 Warum Heidegger in den »Grundbegriffen der Metaphysik« nicht auf Doflein oder Hertwig eingeht, darüber kann nur spekuliert werden, vielleicht weil Doflein am Begriff der Zweckmäßigkeit festhielt. Inwieweit Hertwig einer phänomenologischen Bestimmung des Tieres im Wege stand, ist ebenso fragwürdig. Man muss aber bedenken, dass Hertwigs Schrift keine eigenständige Theorie, sondern ein Lehrbuch ist, das versucht, die weiten Verzweigungen der Biologie wieder zusammenzuführen. Bei Wasmann liegt der Fall, ob des theologischen Moments ganz anders, was in dem Vorwort zu »Die moderne Biologie und die Entwicklungstheorie« überdeutlich zum Ausdruck kommt. »Wie in [dem vorhergehenden Werk], so ist auch hier mein Standpunkt derjenige des christlichen Naturforschers, der fest davon überzeugt ist, daß die natürliche Wahrheit niemals in wirklichem Widerspruche mit der übernatürlichen Offenbarung stehen könne, weil sie beide aus ein und derselben Quelle, aus der ewigen göttlichen Weisheit, entspringen. Daher kann auch das Studium der modernen Biologie und Deszendenztheorie, wenn es vorurteilslos betrieben wird, nur zur Verherrlichung Gottes dienen.« 49 Nachdem Heidegger in den Jahren ab 1912 unter anderem die Vorlesungen Rickerts besuchte und immer tiefer in die Probleme der Philosophie eintauchte und als solche kennen lernte, konnte die Einstellung Wasmanns, die Heidegger in den folgenden Jahren selbst ablegte, kaum als Ausgangspunkt einer Phänomenologie des Organischen dienen, so dass es nahezu schlüssig erscheint, dass Heidegger diesen Forscher in den »Grundbegriffen der Metaphysik« unerwähnt lässt. Diese frühe Kehre belegt erneut Heideggers Lebenslauf zur Habilitation. »In der neuen Schule [Rickerts] lernte ich allererst die philosophischen Probleme als Probleme kennen und bekam den Einblick in das Wesen der Logik, der mich bis heute vor allem interessierenden philosophischen Disziplin. Zugleich bekam ich ein richtiges Verständnis der neueren Philosophie seit Kant […]. Meine philosophischen Grundüberzeugungen blieben die der aristotelischscholastischen Philosophie.« 50 Neben der Eröffnung der Seinsfrage 1907 kommt besonders in Bezug auf die Frage nach der Seinsweise des Lebendigen Aristoteles ein enormes Gewicht zu. Dies zeigt sich deutlich in Heideggers Stellung48 49 50

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GA Bd. 29/30, S. 382. Die moderne Biologie und die Entwicklungstheorie, S. VI. GA Bd. 16, S. 38.

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nahme zu Aristoteles im Physis-Aufsatz von 1935. »Die aristotelische ›Physik‹ ist das verborgene und deshalb nie zureichend durchdachte Grundbuch der abendländischen Philosophie.« 51

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Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik B, 1, S. 242. A

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Kapitel 2 Radikaler Mechanismus und kritische Teleologie

Nachdem das Denken nach dem Lebendigen methodisch und geschichtlich auf den Weg gebracht worden ist, gilt es die verschiedenen philosophischen und biologischen Positionen gegen die sich Martin Heidegger in »Die Grundbegriffe der Metaphysik« ausspricht, in ihren Grundzügen aus den Werken der betreffenden Denker heraus zu entwickeln und aufzuzeigen, um der im Hauptteil folgenden Untersuchung ihren Boden zu geben. 1 Die Auseinandersetzung der Vertreter des idealistisch geprägten Vitalismus mit den Verteidigern des materialistisch geprägten Mechanismus hat Tradition und beide Standpunkte gründen auf philosophischen Positionen. Der Vitalismus zeichnet sich dadurch aus, dass er das Leben als ein nichtmaterielles, ein ideelles, annimmt dem gegenüber die zu belebenden Materie steht. Ein solches wurde als ein Erklärungsversuch des Unzugänglichen des Lebens angenommen. Am Anfang der Reihe vitalistischen Denkens steht Aristoteles, der den Lebensfaktor mit dem Begriff der ἐντελέχεια/Entelechie belegte. Ausgehend von der Atomlehre des Demokrit von Abdera (460 v. Chr. – 400/380 v. Chr.) und dessen Lehrers Leukippos von Milet (um 450 v. Chr.) bildete sich eine Strömung des Naturverständnisses aus, die sich innerhalb der Biologie als Mechanismus niedergeschlagen hat und bis heute bestrebt ist, die Vorgänge in der Natur allein aus kausalen Verhältnissen abzuleiten. 2 Aus diesem wissenschaftlichen Selbstver»Es wäre […] lehrreich, die Geschichte der Biologie von den Anfängen bis zur Gegenwart […] zu verfolgen […]« (GA Bd. 29/30, S. 379). 2 Die Entstehung des Kosmos und der gesamten Natur führte Demokrit auf ein zufälliges Zusammentreffen unzerstörbarer Atome zurück. Die Bewegung des Kosmos, das Wachstum, die Bewegung des Lebendigen leitete Demokrit aus den Eigenbewegungen der Atome ab, die ihre Bewegung an das aus ihnen Entstandene weiter geben sollten. So unternahm Demokrit zum ersten Mal in der uns bekannten Geschichte den Versuch den Weltenbau rein kausal zu erfassen und zu erklären. Von Plutarch erfahren wir: »Denn 1

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ständnis bildeten sich im Laufe der Geschichte unterschiedlichste Formen der kausalistischen Interpretation heraus, deren radikalste Ausprägung unbestreitbar bei René Descartes und Julien Offray de La Mettrie zu finden ist.

5

Das Tier eine Maschine »Unterscheiden sich Leiche und Lebendiger nur durch den Grad der Komplikation […], oder fehlt beim Geschehen an einer Leiche ein grundlegender Faktor dynamischer Art, der im Lebendigen wirksam war?« 3

Wie die Untersuchung am Anfang ausführlich zeigte, unterteilte Descartes aus der Sorge um Erkannte-Erkenntnis die Welt in die zwei Bereiche res cogitans und res extensa. Und da der Geist »[…] das einzige ist, was uns zu Menschen macht und von den Tieren unterscheidet […]« 4 , so kann das Tier, da andere Betrachtungsformen für Descartes’ wissenschaftliches Interesse nicht in Betracht kamen, auch allein unter dem Aspekt der Ausgedehntheit gleichsam als Maschine betrachtet werden. »Es ist auch sehr bemerkenswert, daß zwar viele Tiere in manchen ihrer Handlungen mehr Geschicklichkeit zeigen als wir, daß man aber trotzdem dieselben Tiere in vielen anderen Fällen überhaupt keine zeigen sieht. Der Tatbestand also, daß sie es besser machen als wir, beweist nicht, daß sie Geist haben […]. Aber sie haben im Gegenteil gar keinen, und es ist die Natur, die in ihnen je nach der Einrichtung ihrer Organe wirkt, ebenso wie offensichtlich eine Uhr, die nur aus Rädern

was behauptet Demokrit? (Er sagt,) in dem Leeren zerstreut bewegten sich Substanzen [ ], der Zahl nach unendlich wie auch unteilbar und unterschiedslos und ohne Qualität und für Einwirkung unempfänglich; wenn sie sich einander näherten oder zusammenstießen oder verflöchten, so träten einige dieser Anhäufungen als Wasser, andere als Feuer, andere als Pflanze und wieder andere als Mensch in Erscheinung. Alles sei Atome […] und weiter (sei) nichts.« (Demokrit. In: Die Vorsokratiker. Band II. (Mansfeld, Jaap (Übers.). Stuttgart 2000, Fragment 49, S. 281.) Demokrit gebrauchte den Begriff ἰδέα für den heute gebrauchten Begriff des Atoms (Ebd. Fragment 50). 3 Driesch, Hans: Die Maschine und der Organismus. In: Bios. Abhandlungen zur theoretischen Biologie und ihrer Geschichte, sowie zur Philosophie der organischen Naturwissenschaften. Band IV. Leipzig 1935, S. 7. 4 Discours de la Méthode. Teil I, [2–3] S. 5. A

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und Federn gebaut ist […]« 5 funktioniert. »An dieser Stelle besonders hatte ich eingehalten, um folgendes deutlichzumachen: Wenn es Maschinen mit den Organen und der Gestalt eines Affen oder eines anderen vernunftlosen Tieres gäbe, so hätten wir gar kein Mittel, das uns nur den geringsten Unterschied erkennen ließe zwischen dem Mechanismus dieser Maschinen und dem Lebensprinzip dieser Tiere […].« 6 Berücksichtigt man auch Descartes’ wissenschaftliche Haltung, die in anderen Bereichen ihre Berechtigung finden mag; berücksichtigt man zudem seine Forschungsarbeit, die seiner Epoche entsprechend rein deskriptiv war und auf Sezierung lebender Tiere beruhte; es sei auch berücksichtigt, dass sich bei diesen Beobachtungen ein Bild des tierischen Körpers bot, dass eine rein kausalistische Interpretation erlaubte, wie weite Strecken des fünften Teils des Discours zeigen, so ist dennoch mit einer solchen Studie nichts gefasst, was das Lebendige des Lebewesens, das Tierhafte des Tieres auch nur im Entferntesten ausmacht. Der 1709 in Saint-Malo geborene Arzt Julien Offray de La Mettrie lehnte hingegen den Gedanken des cartesianischen Dualismus entschieden ab. »Descartes und alle Cartesianer […], haben denselben Fehler gemacht. Sie haben zwei bestimmte Substanzen im Menschen angenommen, als ob sie dieselben gesehen und genau gezählt hätten.« 7 Wenn auch beide Vertreter des Mechanismus das Tier als eine Maschine verstehen, so kann La Mettrie keineswegs – wie allgemein angenommen – als ein Nachfolger cartesianischen Denkens verstanden werden, da er im Gegensatz zu Descartes nur eine Urmaterie ansetzt, aus welcher sich alle Seinsarten zufällig zusammensetzen und somit folgt La Mettrie eher dem Denkansatz Demokrits. »Folgen wir also kühn, daß der Mensch eine Maschine ist, und daß es auf dem ganzen Weltall nur eine einzige verschieden modifizierte Substanz gibt.« 8 Zudem stützt sich Gewissheit bei La Mettrie nicht auf das reine Denken und die Existenz Gottes sondern immer auf Erfahrung. »Halten wir uns also an die Stütze der Erfahrung und kümmern wir uns nicht um die Geschichte aller inhaltslosen Meinungen der Philosophen. Blind A. a. O. Teil V, [58–60] S. 95 ff. A. a. O. Teil V, [56–57] S. 91 ff. 7 La Mettrie, Julien Offray de: Der Mensch eine Maschine. Brahn, Max (Übers.). Leipzig 1909, S. 8. 8 A. a. O., S. 66. 5 6

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sein und glauben, man könne der Stütze entbehren, ist der Gipfel der Blindheit […]: die Descartes, die Malebranches, die Leibniz, die Wolfs usw.; aber welche Frucht haben in aller Welt ihre tiefen Meditationen und alle ihre Arbeiten getragen?« 9 Außerdem erlaubt La Mettries Mechanismus-Programm im Gegensatz zu Descartes' Alternativprogramm, die Frage nach der Möglichkeit und dem Charakter von Lebensbewegung zumindest zu stellen. Diese Möglichkeit leitet er zurück auf eine Eigenschaft, die sich aus der Atomkonstellation der jeweiligen Seinsweise ergeben hat, wie es auch beim Magnetismus und der Elektrizität der Fall ist. »Ich halte das Denken [als eine Form der Lebensbewegung] so wenig für unvereinbar mit der organisierten Materie, daß es mir vielmehr eine ihrer Eigenschaften, ebenso gut wie Elektrizität […] usw. zu sein scheint.« 10 Erkennbar sind diese Ursachen für den Menschen seiner Ansicht nach aber nicht. »Die mechanischen Grundlagen dieser Entwicklung auffinden zu wollen, wäre eine törichte Zeitverschwendung. Die Natur der Bewegung ist uns ebenso unbekannt wie die der Materie.« 11 Schon aufgrund des unbestreitbar größeren philosophischen Einflusses setzte sich die Auffassung Descartes' in der Folgezeit sowohl in Frankreich als auch in Europa durch. Und dieses so sehr, dass Ernst Mayer in »Die Entwicklung der Biologischen Gedankenwelt« 12 die geringe Resonanz des Evolutionsgedanken Lamarcks in Frankreich auf Descartes zurückführen zu können in Aussicht stellt. 13 La Mettries Einfluss auf die heutige Zeit ist hingegen eher als gering zu bezeichnen und das Interesse an seinem Schaffen eher historischer Art.

A. a. O., S. 11 f. A. a. O., S. 61. 11 A. a. O., S. 57. 12 Mayr, Ernst: Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt. Sousa Ferreira, K. de (Übers.). Berlin/Heidelberg/New York 2002. 13 Der Einfluss Descartes’ auf die Entwicklung der Biologie bleibt noch zu untersuchen. »Dazu gehört auch die Frage, wie weit der Kartesianismus für die geringe Resonanz verantwortlich ist, die der Evolutionsgedanke (z. B. die Lamarckschen Vorstellungen) in späteren Jahrhunderten in Frankreich fand.« (Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, S. 81.) 9

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Das Prinzip der Zweckmäßigkeit im Ausgang von Kant

Die Fragwürdigkeit der Bestimmung des Lebendigen allein aus dem Kausalprinzip beschäftigte in der Folgezeit besonders Immanuel Kant schon in den vorkritischen Schriften und konzentrierte sich im zweiten Teil in der von ihm 1790 verfassten Schrift »Kritik der Urteilskraft« 14 . »Es ist nämlich ganz gewiß, daß wir die organisierten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Prinzipien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklären können; und zwar so gewiß, daß man dreist sagen kann, es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde; sondern man muß diese Einsicht den Menschen schlechterdings absprechen.« 15 Kant fragte nach einem möglichen Prinzip zur Anleitung der Erforschung des Lebendigen, das zwar dem Kausalprinzip nicht entgegenstehen durfte, aber doch eine erweiterte Perspektive auf das Lebendige zuließ. Gibt es die Möglichkeit einer kausalistisch fundierten Beschreibung des Lebendigen, die den Charakter einer bloßen Mechanik bzw. Maschinistik besitzt? 16 Diese Möglichkeit entdeckte Kant in dem Prinzip der reflektierenKant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Klemme, Heiner F. (Hrsg.). Hamburg 2001 (wird im Folgenden als KU angegeben). 15 KU, B 337 f. 16 »Die strenge Gültigkeit des Kausalgesetzes besteht ja darin, daß das Geschehen jedes Augenblickes sich in einer, allgemeinen Gesetzen unterzuordnenden Weise aus dem des unmittelbar voraufgehenden Augenblicks ergibt. Es ist nun seit langem gebräuchlich, ein derartig geordnetes Geschehen als einen Mechanismus zu bezeichnen. Demgemäß wird denn vielfach (auch bei Kant) die Annahme von einer unverbrüchlichen Gültigkeit der kausalen Gesetzmäßigkeit dahin ausgedrückt, daß das Geschehen der belebten Natur als ein ›Mechanismus‹ zu betrachten sei. Ein verhängnisvoller Doppelsinn ergibt sich nun daraus, daß wir einen ganz bestimmten Begriffskreis, denjenigen nämlich, der die Bewegung von körperlichen Gebilden im Raume umfaßt, als dem mechanischen Begriffskreis […].« Diese Gesetzmäßigkeit »darf aber mit der Annahme einer strengen kausalen Gesetzmäßigkeit nicht verwechselt werden. Denn für diese ist es zunächst ganz ohne Belang, in welchen Begriffen die Gestaltung der Wirklichkeit gedacht wird. Die Annahme eines allgemeinen, auch die Lebewesen umfassenden, kausal geordneten ›Weltmechanismus‹ schließt also eine mechanistische Auffassung des Lebens keineswegs ein. Die Auffassung der Lebensvorgänge wiederum, die wir einer mechanistischen gegenüber stellen und als eine vitalistische bezeichnen können, braucht keineswegs eine Durchbrechung oder Beschränkung das Kausalprinzips dazustellen.« (Kries, Johannes von: Imma14

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den Urteilskraft: der Zweckmäßigkeit. Denn dieses Prinzip geht über die rein mechanistische Beschreibung der bestimmenden Urteilskraft hinaus. »Wir haben nämlich unentbehrlich nötig, der Natur den Begriff einer Absicht unterzulegen, wenn wir ihr auch nur in ihren organisierten Produkten durch fortgesetzte Beobachtung nachforschen wollen; und dieser Begriff ist also schon für den Erfahrungsgebrauch unserer Vernunft eine schlechterdings notwendige Maxime […], weil sich nach derselben noch manche Gesetze derselben dürften auffinden lassen, die uns, nach der Beschränkung unserer Einsichten in das Innere des Mechanisms derselben, sonst verborgen bleiben würden.« 17 In einem solchen Fragen nach den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten menschlichen Erkennens ist nach dem Menschen selbst gefragt, der Mensch selbst hinsichtlich seiner Endlichkeit, wenn auch nicht ausdrücklich, mit in den Bereich der Frage gestellt. »Wo ein Können fraglich ist«, so Heidegger im Kantbuch von 1929, »und sich in seinen Möglichkeiten umgrenzen will, steht es selbst schon in einem Nicht-Können […]. Wer aber so fragt: was kann ich?, bekundet damit eine Endlichkeit.« 18 Das Prinzip der Zweckmäßigkeit ist – nach Kant – ein subjektives Prinzip der reflektierenden Urteilskraft, das objektiv angewandt wird – somit synthetisch ist – und als solches keine Bestimmung der Sachhaltigkeit – im Gegensatz zur bestimmenden Urteilskraft – der Erscheinung darstellt. 19 Es dient dem Denken allein als Richtschnur und heißt daher heuristisch. Eine so verstandene – Kant sagt – innere Zweckmäßigkeit ist in der Bestimmung der Natur aus einer äußeren Betrachtung heraus, d. h. empirisch deskriptiv, wie sich u. a. bei Descartes gezeigt hat, nicht feststellbar. Ob eine solche innere Zweckmäßigkeit in der Natur an sich vorkommt, kann nicht behauptet werden, denn Dinge an sich können wir – da sie uns nur mittelbar, d. h. durch die Anschaunuel Kant und seine Bedeutung für die Naturforschung der Gegenwart. Berlin 1924, S. 103). 17 KU, B 334. 18 Kant und das Problem der Metaphysik, S. 216. 19 In der »Kritik der reinen Vernunft« hat Kant gezeigt, wie die Urteilskraft die Erscheinungen der Natur unter Begriffe subsumiert und sie somit unter Anwendung der Schemata bestimmt. Ihre Funktion ist also eine bestimmende und hängt dem Verstande an. Wäre die Zweckmäßigkeit ein Prinzip des Verstandes, so würde diese eine neue Kategorie des Verstandes ergeben, was auf eine konstitutive Bestimmung der möglichen Erscheinungen hinauslaufen würde. Die bestimmende Urteilkraft subsumiert das Besondere unter das Allgemeine. Die reflektierende Urteilkraft sucht zum Besonderen das Allgemeine. Vgl. KU, B 333 f. A

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ung gegeben sind – nicht erkennen. Doch es sieht zumindest so aus, als ob die Natur so eingerichtet wäre, dass sie auch für unseren Verstand fasslich sei. »Denn wir führen einen teleologischen Grund an, wo wir einem Begriffe vom Objekte [haben], als ob er in der Natur (nicht in uns) befindlich wäre […].« 20 Zeigt sich in der so gedachten, notwendigen Zustellung der Zweckmäßigkeit zum Lebendigen nicht ein Moment der Privation auch bei Kant aus dem Selbstverständnis des sich als Endzweck setzenden Menschen? Ein Beleg für diese Auslegung bietet sich im § 80 der »Kritik der Urteilskraft« geradezu an: »Diese Analogie der [organismischen] Formen, sofern sie bei aller Verschiedenheit einem gemeinschaftlichen Urbilde gemäß erzeugt zu sein scheinen, verstärkt die Vermutung einer wirklichen Verwandtschaft derselben in der Erzeugung von einer gemeinschaftlichen Urmutter, durch die stufenartige Annäherung einer Tiergattung zur anderen, von derjenigen an [Hervorheb. v. Verf.], in welcher das Prinzip der Zwecke am meisten bewährt zu sein scheint, nämlich dem Menschen [Hervorheb. v. Verf.].« 21 Aus der Fülle des zweckhaften Seienden, des Menschen, bestimmt Kant eindrücklich privativ die Seinsweise des Lebendigen. So drückt sich der Gedanke der Teleologie 22 in der Annahme einer höheren, die Welt einrichtenden Vernunft aus, welche wir gewohnt sind, mit dem Begriff Gott zu belegen. Dieser steht am Anfang der Reihe der sich als zweckmäßig verfasst zeigenden Welt, an dessen Ende der Mensch steht, da er das einzige Individuum ist, das Zweckvorstellung besitzt. »[E]r ist der letzte Zweck der Schöpfung hier auf Erden, weil er das einzige Wesen auf derselben ist, welches sich einen Begriff von KU, B 269. Die Mechanik geht von einem linearen Prozess von Anstößen aus, die das Folgende bestimmen, d. h. von einer causa efficiens. Die Bewegung eines so vorgestellten Prozesses hat den Charakter des Schiebens. Ein Schieben ist aber nicht in der Lage Einheit zu stiften. Die Vorstellung einer stiftenden Einheit bedarf der Vorstellung des Zweckbegriffs. Dabei wird Zweck als der Begriff von einem Objekt vorgestellt, der der zugleich der Grund für die Verwirklichung desselben ist. Da wir aber solche Zwecke in der Natur nicht feststellen können, so muss der Zweckbegriff in den Verstand verlegt werden, um das Geschehen Leben auf den Begriff zu bringen. 21 KU, B 368 f. 22 Der Begriff der Teleologie ist zusammengesetzt aus gr. τέλος: Zweck, Ziel und dem Suffix logie für Wissenschaft aus dem gr. λόγος: Vernunft, Wort. (Vgl. Brugger, Walter: Philosophisches Wörterbuch. Freiburg/Basel/Wien 1996, S. 396 f.). Somit ist unter Teleologie die Lehre von einer Reihe von Zwecken zu verstehen, an deren Anfang Gott und an deren Ende der Mensch gedacht wird. 20

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Zwecken machen […] kann.« 23 Zwischen Gott und dem Menschen befinden sich in der Reihe: die Dinge der Natur, das Lebendige, die folglich dem so gedachten Zweckganzen angehören. So nach dem Lebendigen fragend stellt Kant gleichsam die Frage: Was ist der Mensch? Das heißt: Wie steht der Mensch in der Welt, in Bezug zu Gott, dem Lebendigen und dem Unbelebten? Damit zeigt sich an dieser Stelle der Schrift Kants neben dem Moment der Privation auch das Moment des Inbegrifflichen-Fragens. Dies geschieht bei Kant jedoch nicht in der Weise, dass das Dasein von diesem Fragen ergriffen würde. Denn bei Kant steht nicht die eigene Existenz auf dem Spiel, sondern ein erkenntnistheoretisch verstandenes Ich-Subjekt in der Sorge um die Möglichkeiten seiner Erfahrung und den Grenzen seines ihm eigentümlichen Erkenntnisvermögens. »Bei Kant und seinen Nachfolgern wird aus einem metaphysisch grundsätzlich unzureichenden Begriff des Menschen – als Ich – und der menschlichen Persönlichkeit zurückgegangen auf die absolute Person, den absoluten Geist, und von diesem unzureichenden Geistbegriff aus wird rückläufig wieder das Wesen des Menschen bestimmt. Die Geschlossenheit dieser absoluten Systematik täuscht hinweg über die Fragwürdigkeit ihres Ansatzes und Ausgangs, der darin liegt, daß das Problem des Menschen, des menschlichen Daseins überhaupt nicht eigentlich Problem geworden ist.« 24 Weiterhin kritisiert Heidegger im Hinblick auf die Frage nach der Triebstruktur des Organischen den Begriff der Zweckmäßigkeit: »Bei all dem [Entwicklungsgeschehen] muß der Gedanke an Bewußtsein und Seelisches ganz ferngehalten werden; ebenso der einer ›Zweckmäßigkeit‹.« 25 Doch scheint Heidegger diese Möglichkeit zumindest als heuristisches Prinzip zu akzeptieren, wenn er anfügt: »Andererseits ist sofort auch zu bemerken, daß bisher das Wesen von Fähigkeit und Trieb immer noch nicht bis in die letzten Wesensgründe hinein freigelegt ist […].« 26 KU, B 383. »Endzweck ist derjenige Zweck, der keines anderen als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf […]« (KU, B 396). »Die formale Bedingung, unter welcher die Natur diese ihre Endabsicht allein erreichen kann, ist diejenige Verfassung im Verhältnisse der Menschen unter einander, wo dem Abbruche der einander wechselseitig widerstreitenden Freiheit gesetzmäßige Gewalt in einem Ganzen, welches bürgerliche Gesellschaft heißt, entgegengesetzt wird; denn nur in ihre kann die größte Entwicklung der Naturanlagen geschehen.« (KU, B 393.) 24 GA Bd. 29/30, S. 305 f. 25 A. a. O., S. 335. 26 Ebd. 23

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So lässt sich vermuten, dass diese Kritik nur dann auf Kant zuträfe, wenn dieser die Zweckmäßigkeit als ein konstitutiv setzendes Wollen verstanden hätte. »Die Teleologie als Wissenschaft gehört also zu gar keiner Doktrin, sondern nur zur Kritik, und zwar eines besonderen Erkenntnisvermögens, nämlich der Urteilkraft.« 27 Die Aussage, dass Kant die Beurteilung der Zweckmäßigkeit aus der Dogmatik der Wissenschaften so weit als möglich heraushalten möchte, stützt sich zudem auf die Interpretation Kuno Fischers: »Daß die teleologische Urteilskraft sich bloß an die Natur […] hält […], aber nicht Naturerkenntnis sein will […], sondern bloß Naturbetrachtung; daß sie ihr Prinzip nicht für einen bestimmenden Naturbegriff, sondern nur für eine Maxime der Naturbeurteilung ausgibt. […] Die Organisation als innere Zweckmäßigkeit der Dinge ist nicht erkennbar […].« 28 Wie Heidegger dem Denken der Zweckmäßigkeit mit dem von ihm in Anschlag gesetzten Um-zu-Charakter begegnet und ob er die Ursächlichkeit, den Grund alles Lebendigen, wirklich überzeugend ohne jeglichen Zweckcharakter entwickeln kann, stellt ein spannendes, aber auch problematisches Moment der Ausführungen Heideggers dar und wird noch zu behandeln sein.

6.1 Der Organismus in der kritischen Teleologie 29 Im Anschluss an die Behandlung der Methodik Kants und der damit in Zusammenhang stehenden Problematik, die Heidegger aufgezeigt hat, gilt es nun die Wesensbestimmung des Organischen innerhalb der kritischen Teleologie Kants in ihren Teilen aus den §§ 64–66 der »Kritik der Urteilskraft« zu erarbeiten und darzustellen. »Zu einem Dinge als Naturzwecke wird nun erstlich erfordert, daß KU, B 366. Fischer, Kuno: Immanuel Kant und seine Lehre. Zweiter Teil. In: Geschichte der neuern Philosophie. Band V. Heidelberg 1957, S. 484 f. 29 Darunter verstehe ich im Sinne Kants eine Naturforschung in den Grenzen des Verstandes nach der Methode der Teleologie, d. h. der Zustellung des heuristischen Prinzips der inneren Zweckmäßigkeit zur kausalistischen Betrachtung, zu deren Behelf. »Noch weniger darf man hier eine Kritik der Bücher und Systeme der reinen Vernunft erwarten, sondern die des reinen Vernunftvermögens selbst. Nur allein, wenn dieses zum Grunde liegt, hat man einen sicheren Probierstein, den philosophischen Gehalt alter und neuer Werke in diesem Fache zu schätzen […]« (KrV, B 27). 27 28

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die Teile […] nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich sind.« 30 Das aber könnte auch über ein Kunstwerk gesagt werden. Soll aber ein Ding nur als Naturzweck ohne Annahme einer äußeren Schöpferkraft gedacht werden, »[…] so wird zweitens dazu erfordert, daß die Teile desselben sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie von einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form [Struktur] sind.« 31 Und weiter unten heißt es »In einem solchen Produkte der Natur wird ein jeder Teil, so wie er nur durch alle übrigen da ist, auch als um der anderen und des Ganzen willen existierend, d. i. als Werkzeug (Organ) gedacht: welches aber nicht genug ist […], sondern als ein die anderen Teile […] hervorbringendes Organ, dergleichen kein Werkzeug der Kunst [und somit auch keine Maschine], sondern nur der allen Stoff zu Werkzeugen (selbst denen der Kunst) liefernden Natur sein kann; und nur dann und darum wird ein solches Produkt als organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen ein Naturzweck genannt werden können.« 32 Die Teile des Steines können hingegen sehr wohl ohne das Ganze gedacht werden. In dem so Beschriebenen zeigt sich schon in den Überlegungen Kants der Ganzheitsgedanke – der ohne das Prinzip der Zweckmäßigkeit für Kant überhaupt nicht denkbar gewesen wäre 33 – auf den Organismus angewandt, ohne diesen jedoch als eine Kategorie zur Bestimmung des Lebendigen zu qualifizieren. Kant hebt im weiteren Verlauf das Organische vom Mechanischen anhand einer Gegenüberstellung von Organismus und Uhr ab. Er stellt zuerst gegen den klassischen Mechanismus heraus, dass dem Organischen im Gegensatz zum Mechanischen nicht nur eine bewegende, sondern gleichsam eine bildende Kraft zukommt, denn die Teile einer Uhr bringen sich im Gegensatz zu den Teilen eines Organismus nicht selbst hervor. Dieser Kritik Kants folgt direkt sein Einwand gegen das vitalistische Verständnis des Lebendigen, wenn er hervorhebt, dass die Analogie von Natur und Kunst zu kurz greift, »[…] denn da denkt man sich den Künstler (ein vernünftiges Wesen) außer ihr. Sie [die Natur und alle Erscheinungen in ihr] organisiert sich vielmehr selbst […].« 34 AnKU, B 290. A. a. O., B 291. 32 A. a. O., B 291 f. 33 »Denn wenn man von diesem Prinzip abgeht, so kann man mit Sicherheit nicht wissen, ob nicht mehrere Stücke der jetzt an einer Spezies anzutreffenden Form ebenso zufälligen, zwecklosen Ursprungs sein mögen […]« (KU, B 371). 34 A. a. O., B 293. 30 31

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derenfalls müsste man »[…] ihr ein fremdartiges, mit ihr in Gemeinschaft stehendes Prinzip (eine Seele) beigesellen, wozu man aber, wenn ein solches Produkt ein Naturprodukt sein soll, organisierte Materie als Werkzeug jener Seele entweder schon voraussetzt und jene also nicht im mindesten begreiflicher macht, oder die Seele zur Künstlerin dieses Bauwerks machen und so das Produkt der Natur […] entziehen muß« 35 . Zu der Eigenschaft der Selbsterzeugung zeigt Kant erweiternd im § 65 auf, dass auch die Selbsterhaltung und Regeneration im Falle der Störung zu den ausgezeichneten Eigenschaften des Organismus gehören. Die abschließende Definition des organisierten Wesens bei Kant, die gleichsam das Prinzip der Beurteilung derselben darstellt, lautet dann: »Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist. Nichts in ihm ist umsonst, zwecklos oder einem blinden Naturmechanism zuzuschreiben.« 36 Durch diese Definition stellt Kant das Lebendige eindeutig dem Leblosen gegenüber und beweist damit dessen Eigentümlichkeit. 37 Aber auch die Eigentümlichkeit wie zuvor der Ganzheitsgedanke wurde von Kant nicht als eine Kategorie des Lebendigen qualifiziert.

6.2 Die Bedeutung Kants für die Bestimmung des Lebendigen Wenn Kants Bestimmungen des Lebendigen aus der Sicht Heideggers aufgrund dessen Setzung der Zweckmäßigkeit als heuristisches Prinzip und des Verständnisses des Menschen als Ich-Subjekt nicht als zureichend beurteilt werden, so geschieht dies mit Sicherheit nicht ohne den gebührenden Respekt für dessen Verdienste innerhalb der Naturforschung und der Philosophie überhaupt, wie die spätere Hinwendung Heideggers zu Kant im Kantbuch belegt. Ohne den Begriff der Zweckmäßigkeit dem kausalen Denken zur Bestimmung des Lebendigen an die Seite gestellt zu haben, hätte Kant der Gedanke an eine Entwicklung der Welt aus einem und der Entwicklung der gesamten, so zahlreich unterschiedenen Tier- und PflanzenEbd. A. a. O., B 296. 37 Vgl. Janich, Peter/Weingarten, Michael: Wissenschaftstheorie der Biologie. München 1999, S. 116. 35 36

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welt aus einem Urschoß heraus gar nicht kommen können. Einen solchen Blick auf Veränderung lässt die Mechanik nicht zu, denn die Mechanik lebt geradezu von der Bedingung der Unveränderlichkeit der von ihr beschriebenen Abläufe. »Damit also der Naturforscher nicht auf reinen Verlust arbeite, so muß er in Beurteilung der Dinge, deren Begriff als Naturzwecke unbezweifelt gegründet ist (organisierter Wesen), immer irgendeine ursprüngliche Organisation [Hervorheb. v. Verf.] zum Grunde legen, welche jenen Mechanism selbst benutzt, um andere organisierte Formen hervorzubringen, oder die seinige zu neuen Gestalten […] zu entwickeln.« 38 Um dieses anhand der Natur selbst zu belegen, ist es vonnöten »[…], vermittelst einer komparativen Anatomie die große Schöpfung organisierter Naturen durchzugehen […]« 39 . Bei diesen Untersuchungen bestärkt die schon aufgezeigte Analogie der Formen die Annahme echter Verwandtschaft. »Hier steht es nun dem Archäologen der Natur frei, aus den übriggebliebenen Spuren ihrer ältesten Revolutionen, nach allem ihm bekannten oder gemutmaßten Mechanism derselben, jene große Familie von Geschöpfen […] entspringen zu lassen.« 40 Kant erblickte, teils durch seine Kenntnisse der Zuchtwahl hervorKU, B 367 f. A. a. O., B 368. 40 A. a. O., B 369. Ein solcher Archäologe fand sich in der Folge in der Person des Franzosen Jean-Baptiste de Lamarck. Ihm kam aufgrund seines unermüdlichen Eifers des Sammelns und Systematisierens von unzähligen Lebewesen während seiner Tätigkeit am Naturhistorischen Museum in Paris gleichsam der Gedanke einer steten aber langsamen Entwicklung der Natur, welche unter dem Begriff der Deszendenztheorie bekannt und im Jahre 1809 in Lamarcks Hauptwerk »Philosophie zoologique« veröffentlicht wurde (Lamarck, Jean-Baptiste de: Zoologische Philosophie. In: Oswalds Klassiker der exakten Wissenschaften. Band 277–279. Lang, Arnold (Übers.), Koref-Santibañez, Susi (Neubearb.). Leipzig 1990). Lamarcks besonderer Verdienst besteht in dessen Einteilung der wirbellosen Tiere und er gilt zudem als Wegbereiter des Darwinismus. Die Lebewesen unterscheiden sich für Lamarck in ihrem jeweiligen Grad an Vollkommenheit, der in engem Zusammenhang mit deren Wohnorten zu stehen scheint. »Hieraus wird ersichtlich, daß, wenn die Wirbeltiere in ihrer Organisation untereinander bedeutend verschieden sind, dies nur daher kommt, daß die Natur mit der Ausführung ihres Planes hinsichtlich derselben erst bei den Fischen begonnen, ihn dann bei den Reptilien weiter ausführt, bei den Vögeln seiner Vollendung näher gerückt und endlich bei den vollkommensten Säugetieren zum vollständigen Abschluss gebracht hat.« (Zoologische Philosophie Teil I., S. 144.) Lamarck qualifiziert die Zweckmäßigkeit dem zufolge als konstitutives Prinzip der Natur. Darüber hinaus spricht Lamarck die Fähigkeit der Eigenbewegung nur den höheren Lebensformen zu und bestreitet diese bei weniger komplexen organischen Gebilden. 38 39

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gerufen, teils durch weitere Forschungsberichte u. a. von Blumenbach 41 und Buffon 42 , nicht nur die stete Entwicklung der Lebewesen aus einem Urschoß, sondern darüber hinaus die vielfache Veränderung der Lebewesen aus einem Anpassungsverhalten, welches von den unterschiedlichsten, im Organismus selbst angelegten Keimen und Anlagen herrühren sollte. »In den Vögeln von derselben Art, die doch in verschiedenen Klimaten leben sollen, liegen Keime zur Auswickelung einer neuen Schicht Federn, wenn sie im kalten Klima leben, die aber zurückgehalten werden, wenn sie sich im gemäßigten aufhalten sollen. Weil in einem kalten Lande das Weizenkorn mehr gegen feuchte Kälte geschützt werden muß, als in einem trockenen oder warmen, so liegt in ihm eine vorher bestimmte Fähigkeit oder natürliche Anlage, nach und nach eine dickere Haut hervorzubringen […]. Der Zufall, oder allgemeine mechanische Gesetze [wie Demokrit, Descartes und La Mettrie behaupten] können solche Zusammenpassungen nicht hervorbringen.« 43 Mit dieser Anmerkung nimmt Kant dem Gedanken eines passiven Anpassungsgeschehens – wie in der Folge von radikalen Evolutionstheorien behauptet wurde – von vornherein den Boden. »Denn«, so formuliert Kant weiter, »äußere Dinge können wohl Gelegenheits- aber nicht hervorbringende Ursachen von demjenigen sein, was nothwendig anerbt und nachartet.« 44 Diese hervorbringenden Ursachen, wir sagen heute: die Genesefaktoren, zu erkennen, sei – so Kant – dem menschlichen Erkenntnisvermögen nicht gegeben. »Denn daß rohe Materie sich nach mechanischen Gesetzen ursprünglich selbst gebildet habe, daß aus der Natur des Leblosen Leben habe entspringen, und Materie in die Form einer sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit sich von selbst habe fügen können, erklärt [Blumenbach] mit Recht für vernunftwidrig.« 45 Oder »[h]at wohl jemals einer das Vermögen des Hefens, seinesgleichen zu erzeugen, mechanisch begreiflich gemacht?« 46 Vgl. KU, B 378 f., und Anmerkung S. 463 f. Vgl. Kant, Immanuel: Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes. Reich, Klaus (Hrsg.). Hamburg 1963, [114–115] S. 59. 43 Kant, Immanuel: Von den verschiedenen Racen der Menschen. In: Kants Werke. Akademie – Textausgabe. Band II. (Vorkritische Schriften II 1757–1777). Berlin 1968, S. 434 f. 44 A. a. O., S. 435. 45 KU, B 379. 46 Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, [114–116] S. 59 f. 41 42

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Neben der Herausstellung entscheidender Charaktere des Lebendigen wie Selbstzeugung, Selbstleitung, Regenerationsvermögen, Ganzheit und Eigentümlichkeit scheint Kant auch jedes Lebewesen als ein für sich perfektes, vollkommenes Ganzes verstanden zu haben. Wenn der Mensch auch als Endzweck gedacht wird, so ist – wie schon zitiert – in der Natur nichts »umsonst, zwecklos oder einem blinden Naturmechanism zuzuschreiben« 47 . Zu diesen Verdiensten um die Erforschung des Lebendigen bleibt zum Abschluss des Kapitels neben Kants Unterteilung der Naturwissenschaft in Naturbeschreibung (Deskription, Systematisierung und Taxierung) und Naturgeschichte (Entwicklungsgeschichte) noch dessen Einfluss – wie Ilsa Jahn betont – auf die später sich entwickelnden Organismus-Theorien hervorzuheben. 48

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Heideggers Stellung zum Darwinismus

In den »Grundbegriffen der Metaphysik« zeigt sich die Argumentationslinie Heideggers gegen den Darwinismus aufgrund der phänomenologischen Sicht in völlig anderer Weise als um 1911. Damals ging es vordergründig um die Ablehnung der Abstammungslehre. In der gegenwärtigen Kritik zeigt Heidegger hingegen die Unzulänglichkeiten des Darwinismus hinsichtlich der Bestimmung des Tieres selbst. Ohne die Frage nach dem Weltbegriff überhaupt zu stellen, ohne die Frage nach dem Bezug von Welt und Tier überhaupt in Betracht zu ziehen, und noch ohne nach der Grundverfassung des Tieres zu fragen, geht der KU, B 296. »Daher wird die Naturlehre besser in historische Naturlehre, welche nichts als systematisch geordnete Facta der Naturdinge enthält (und wiederum aus Naturbeschreibung, als einem Klassensystem derselben nach Ähnlichkeiten [Linés/Lamarck], und Naturgeschichte, als einer systematischen Darstellung derselben in verschiedenen Zeiten und Örtern, bestehen würde) […]« (Kant, Immanuel: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften. In: Kants Werke. Akademische – Textausgabe. Band IV. Berlin 1968, S. 468). »Er formulierte als einheitliche Ursache materieller wie auch organismischer Erscheinungen die Wechselwirkung gegensätzlicher Kräfte, von ›Attraktion‹ und ›Repulsion‹, was von den Physiologen aufgegriffen und zu Organismustheorien weiterentwickelt wurde […]« (Jahn, Ilse: Geschichte der Biologie. Jahn, Ilse (Hrsg.). Hamburg 2004, S. 274 f.). »Anziehungskraft ist diejenige bewegende Kraft, wodurch eine Materie die Ursache der Annäherung anderer zu ihr sein kann […]. Zurückstoßungskraft ist diejenige, wodurch eine Materie Ursache sein kann, andere von sich zu entfernen […]« (Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, S. 498). 47 48

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Darwinismus davon aus, dass das Tier etwas innerweltlich vorhandenes sei, das aufgrund seiner Bezüge in der Lage sei, sich im Nachhinein auf die für es ertragreichste Art und Weise anzupassen. Und je nach Anpassungskalkül hätten sich dann die Tiere aus dem Urschleim bis hin zu den höchsten Wirbeltieren hin entwickelt, was zu allem Überfluss auch wieder eine Hierarchisierung der Natur darstellt. Bestimmt wird das Tier vom Menschen aus, genauer gesagt von der Ökonomie des Menschen aus, d. h. dessen Frage, wie er sich am ertragbringendsten in der Welt einrichte, Werkzeug herstelle, Natur ausbeute und den anderen zu seinem Zwecke nutze. Nichts anderes drückt sich in dem Leitsatz survival of the fittest aus. Dieser Umstand führt dann notwendig zu einem absoluten Missverständnis dessen, was eigentlich unter den Begriffen Selbsterhaltung und Anpassung gefasst werden sollte, namentlich das Geschehen tierischen Seins. »Der Begriff der Selbsterhaltung ist nicht zufällig vom Darwinismus betont worden und in diesem Sinne im Blick auf eine ökonomische Betrachtung des Menschen erwachsen.« 49 Die Erforschung des Zusammenhangs von Selbsterhaltung und Anpassung »[…] hat im Darwinismus die grundirrige Meinung zur Voraussetzung, daß das Tier vorhanden [Hervorheb. v. Verf.] sei, und daß es sich dann an eine vorhandenen [dem Tier offenbare] Welt [Hervorheb. v. Verf.] anpasse und sich danach entsprechend verhalte und daß von ihm das Beste ausgelesen werde.« 50 Ein Tier ist aber weder etwas Vorhandenes noch lebt es in der Welt noch verhält es sich zu ihr. »Das Wort Ökologie kommt von οἶκος Haus. Es bedeutet die Erforschung dessen, wo und wie die Tiere zu Hause sind, ihre Lebensweise mit Bezug auf ihre Umgebung.« Es geht darum »eine Einsicht zu gewinnen in das Beziehungsgefüge des Tieres zu seiner Umgebung.« 51 Für Heidegger verstellen die Ansätze des Darwinismus und gemeint ist vor allem die monistische Auffassung Haeckels jeglichen Zugang zum Wesentlichen. Es ist aber nicht das apologetische Erbe seiner frühen Jahre, welches in den § 61 und 66 durchschlägt, sondern sein sich damals formendes Verständnis von Wissenschaft. Dass Heidegger in den Grundbegriffen nur am Rande auf die Deszendenztheorie eingeht, ist wahrscheinlich dem Umstand geschuldet, 49 50 51

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dass er die Evolutionstheorie konsequent zu den mechanistischen Theorien zählte und auch unter diesem Thema abgehandelt wissen wollte, zumal die von Heidegger kritisierte Theorie Wilhelm Roux’ die Gedanken der Deszendenztheorie mit neuen Methoden weiterführte. Zudem ging es Heidegger nicht um die Frage, wann Leben entstanden sei und wie es sich weiter entwickelt habe, d. h. ihn interessierte nicht die Frage des Werdens, sondern vielmehr die Frage nach der Wesenhaftigkeit des Tieres, die Frage nach der Weise seines Seins und den damit einhergehend zu bestimmenden Kategorien des Lebendigen.

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Kapitel 3 Vitalismusstreit

Erst durch den Einsatz gezielter Experimente in der biologischen Forschung bekamen die vitalistische und die mechanistische Theorie neue Möglichkeiten an die Hand, welche bis dato völlig unbekannt waren und zu der Auseinandersetzung führten, die sich um 1920 als »Vitalismusstreit« in die Geschichte der Biologie eingeschrieben hat. 1 Der die darwinistisch geprägte Forschung weiter treibende Wilhelm Roux, Begründer der Entwicklungsmechanik und Vereiniger verschiedener Disziplinen wie Zytologie, Morphologie, Physiologie und Anatomie zu einer gemeinsamen Disziplin Biologie, war es nämlich, der das Experiment in der biologischen Forschung als erster einsetzte und gegen zahlreiche Proteste seitens seiner Kollegen etablierte. Diese Neuerung ist überhaupt als Ausgangspunkt für die Entwicklung der modernen Biologie zu verstehen, wie wir sie heute kennen und praktizieren und zählt zu den bedeutendsten methodologischen Errungenschaften Roux’, die den von Lamarck geprägten Begriff Biologie zum ersten Mal mit Inhalt füllte. Doch trug sich diese Auseinandersetzung nicht nur innerhalb der damals noch jungen Disziplin Biologie zu, sondern auch in der Behauptung der Biologie gegenüber der Chemie und Physik. Dieser Umstand barg die Gefahr des Rückschrittes in sich, denn »[f]reilich ging nun diese moderne wissenschaftliche Morphologie [als ein Zweig der Biologie] in fast allen ihren Vertretern von einer Voraussetzung aus, in welcher sich uns wiederum die Gefährlichkeit jenes glänzenden Baues der theoretischen Mechanik offenbart: die Physik und die Chemie seien in MeEingehender beschäftigte sich zudem Ernst Cassirer mit dem Vitalismusstreit und der Entwicklung der Erkenntnis innerhalb der neueren Biologie in dessen Abhandlung »Das Erkenntnisideal der Biologie und seine Wandlungen« (Cassirer, Ernst: Das Erkenntnisideal der Biologie und seine Wandlungen. In: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Band IV. Darmstadt 1973).

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chanik ›aufgelöst‹, so wähnte man, die Biologie müsse sich in Physik und Chemie auflösen lassen, so schloss man, damit die Mechanik nicht nur als höchste, sondern streng genommen als Alleinwissenschaft anerkennend […]« 2 . Die geforderte Auflösung beruhe – so Roux – auf einer Fehlinterpretation des Wesens der Physik selbst. Denn wenn diese die Prozesse der Natur auf einfachste Prinzipien zurückzuführen versuche, so verstehe man darunter deren erste Anfangsgründe. Wolle man aber die Gegenstände der Biologie auf die Physik zurückführen, vergebe man sich die Frage nach deren ihnen eigentümlichen, letzten Anfangsgründen. »Der Physiker will das seine Forschung zugehörige Geschehen einschließlich des Wirkens auf die einfachste Weise […] beschreiben, nicht aber unter Vernachlässigung dieses Wirkens.« 3 Damit bringt Roux zum Ausdruck, dass sich die Wirkursachen von einfachen Prozessen bedeutend von Wirkursachen komplexer Ketten, wie sie das Organismische darstellt, unterscheiden.

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Wilhelm Roux und die Entwicklungsmechanik »Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers […], sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt.« 4

An diesem von Kant in der »Kritik der reinen Vernunft« erarbeiteten Prinzip wissenschaftlicher Praxis hält auch zweifelsfrei Wilhelm Roux fest. »Das einzige Mittel, welches uns unter diesen Umständen gesicherte Kenntnis gewähren kann, ist das Experiment, dieses große HilfsDriesch, Hans: Die Lokalisation morphogenetischer Vorgänge. Ein Beweis vitalistischen Geschehens. Leipzig 1898, S. 8. 3 Roux, Wilhelm: Vorträge und Aufsätze über Entwicklungsmechanik der Organismen. Die Entwicklungsmechanik, ein neuer Zweig der biologischen Wissenschaft. Leipzig 1905, S. 6. 4 KrV, B XIII. 2

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mittel des Menschen, mit dem er seit Jahrhunderten die Natur zwingt, ihm auf seine Fragen Antwort zu geben. Es ist aber eine Kunst, die Frage so zu stellen und unsere Zwangsmittel, die Versuchsbedingungen so anzuwenden, daß die Natur uns in eindeutiger Weise antworten muß.« 5 Eine solche Fragestellung – so Roux – ergebe sich aus den Resultaten vorhergehender Analysen. Unter Entwicklungsmechanik 6 versteht Wilhelm Roux in Abgrenzung zur damaligen, rein deskriptiv vorgehenden Physiologie eine kausal-analytische Wissenschaft, d. h. die durch Aufteilung der mannigfaltigen Strukturen in einfache Strukturfrequenzen des Organismus labortechnisch erzielten Resultate sollen zusammengenommen werden mit der Absicht, diese auf bekannte Regelfälle der Natur anzuwenden, um damit ein Mittel an der Hand zu haben, die Kombinationsfreudigkeit derselben unter Berücksichtigung der kausalen Verhältnisse vollständig aufzeigen zu können. »Indem wir nach der Erkenntnis desjenigen Wirkens, auf dem das Entwickelungsgeschehen beruht, streben, ist es daher unsere Aufgabe, dieses Geschehen möglichst weit auf die seitens der Physik und Chemie bereits ermittelten anorganischen Wirkungsweisen […] zurückzuführen, es in solche Wirkungsweisen zu zerlegen, zu analysieren.« 7 »Erst, wenn [die einzelnen Wirkungsweisen analysiert sind], können wir erforschen, wie diese gestaltenden Wirkungsweisen bezw. ihre Teilursachen, in der Wirklichkeit des Einzelfalles kombiniert vorkommen.« 8 »Die deskriptive Forschung liefert also Regeln […]. Die kausale Forschung produziert Gesetze […].« 9 Dabei stehen – so zeigt Roux an zahlreichen Beispielen – Regel und Gesetz oft im Widerspruch zueinander, denn »[d]er durch das Gesetz bezeichnete ›freie Fall‹ kommt nie ›im Freien‹ sondern nur in einer luftleer gemachten senkrechten Röhre, also nur im Laboratorium des Physikers vor« 10 . »Der auf das geschilderte Vorträge und Aufsätze über Entwicklungsmechanik der Organismen, S. 15. »Die Entwicklungsmechanik im allgemeineren Sinne ist, mit Bevorzugung ihres kinetischen Theiles, als die Wissenschaft von der Beschaffenheit und den Wirkungen derjenigen Combinationen von Energie zu bezeichnen, welche Entwicklung hervorbringen.« (Roux, Wilhelm: Gesammelte Abhandlungen über Entwicklungsmechanik der Organismen. Band II. Leipzig 1895, S. 4.) 7 Vorträge und Aufsätze über Entwicklungsmechanik der Organismen, S. 17. 8 A. a. O., S. 29. 9 A. a. O., S. 23. 10 A. a. O., S. 24. Beobachtet man – so Roux – zum Beispiel den Fall einer Feder und einer Bleikugel, so wird man feststellen, dass die Kugel schneller zu Boden sinkt als die Feder. 5 6

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Programm sich gründenden neuen Disziplin habe ich den Namen Entwickelungsmechanik gegeben, indem dabei das Wort Mechanik im allgemeinsten, philosophischen Sinne der Lehre vom mechanistischen, das heißt der Kausalität unterstehenden Geschehen gebraucht wurde. Dieser Name bezeichnet unser Ziel, die mechanistische Erklärung der Entwickelung.« 11 Darin zeigt sich, dass auch Roux – wie vor ihm Kant – die Kausalität des Lebendigen nicht im Begriffsfeld des Maschinellen ansiedelt, sondern ihr einen dem Lebendigen eigentümlichen Charakter zugesteht und zu bewahren sucht. Sein Ziel war es somit, die aufgezeigte Regelhaftigkeit der Entwicklungsvorgänge, welche die deskriptive Forschung hervorbrachte, zur Anordnung verschiedener Experimente zu nutzen, um der sich gezeigten Regelhaftigkeit durch Aufdecken der letzten Ursachen der Ontogenese ihre gesetzliche Grundlage zu verschaffen. Roux spricht sich – trotz seiner Nähe zu Kant – sowohl gegen dessen Begriff der Zweckmäßigkeit als auch gegen die von anderer wissenschaftlicher Seite herrührende Annahme einer den Organismus formenden Seele aus, da diese zur Erklärung prinzipiell nicht notwendig seien. 12 Den Begriff der Zweckmäßigkeit ersetzt Roux streng biologisch durch den Terminus Dauerfähigkeit. Dieser bezeichnet das Vermögen eines Organismus, seine Organe so auszubilden, dass es seinem Überleben zu längerer Dauer verhilft. Eine so zu beobachtende Fähigkeit erscheint im Akt des Beobachtens als ob sie einem wollenden Setzen (Zweckhaften) entspränge. Mit dem Begriff der Dauerfähigkeit gelingt es Wilhelm Roux überzeugend, den Zweckgedanken – der unser Denken zweifelsfrei bei der Betrachtung des Lebendigen ständig begleitet – aus der Erforschung und Beschreibung des Lebensgeschehens fern zu halten.

Der Physiker aber formuliert zu diesem Geschehen das Gesetz vom freien Fall, laut dem alle Körper mit der gleichen Geschwindigkeit fallen. Ein Gesetz, welches in Wirklichkeit nie erfahrbar ist. (Ebd.) Diese Einsicht Wilhelm Roux’ beeinflusste auch um 1881 Nietzsches Verständnis der Entfremdung der Lebenswelt durch die Wissenschaften. (Vgl. Müller-Lauter, Wolfgang: Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluss von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche. In: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung. Band VII. Berlin/New York 1978, S. 189 ff.) 11 Vorträge und Aufsätze über Entwicklungsmechanik der Organismen, S. 26. 12 Vgl. a. a. O., S. 89. A

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8.1 Kampf funktioneller Anpassung »Der Krieg [πόλεμος] ist von allem der Vater, von allem der König, denn die einen hat er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die anderen zu Freien gemacht.« 13

In seinen Versuchen an Froscheiern wollte Roux die lokalen, temporalen und alterrationalen Ursachen der Entwicklung, sowie deren Entwicklungsrichtung methodisch aufzeigen. Durch Deformation, Substanzentzug und letztendlich durch Teilung der beiden Hälften der Gastrula des Froscheies beobachtete Roux dessen Weiterentwicklung zu Halbembryonen. Es war ihm damit gelungen, das funktionelle Anpassungsgeschehen durch Selbstdifferenzierung und Bildungsenergie der einzelnen autonomen Zellen, aus denen sich ein jeder Organismus gleich einem Mosaik (Mosaiktheorie) aufzubauen schien, beweisen zu können. Denn es zeigte sich, dass sich jede Zelle eines Organismus in typischen Entwicklungsprozessen bis zu einem gewissen Moment eigengesetzlich und aktivisch im ständigen Kampf mit den übrigen Zellen aufbaut. Mechanisch einwirkende Fremdursachen – wie der absichtlich herbeigeführte Substanzentzug zeigte – verminderten die Selbstregulierung der einzelnen Zellen, die Roux vordergründig in dem Vermögen der Assimilation 14 sieht, da sie unter die Macht der einwirkenden Ursache geraten waren. 15 Daraus glaubte Wilhelm Roux ableiten zu können, dass sich die Ganzheit des Organismus auf die Entwicklung der einzelnen Zellen regulierend auswirkt. 16 So zwar, dass die Heraklit. In: Die Vorsokratiker. Band I. Mansfeld, Jaap (Übers.). Stuttgart 1999, Fragment 50, S. 259. 14 Unter Assimilation versteht man das Vermögen einzelner Zellen, fremde Stoffe in körpereigene Stoffe umzusetzen. Die Zellen mit der potentesten Assimilation haben die höchste Dauerfähigkeit im steten Kampf des Lebens. 15 Auch Friedrich Nietzsches Gedanke des Willens zur Macht – so zeigt Müller-Lauter (Vgl. Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluss von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche, S. 189 ff.) – ist beeinflusst von Wilhelm Roux’ Verständnis des Organismus als ein unendlicher Kampf auf allen Ebenen. (Vgl. Roux, Wilhelm: Der Kampf der Theile im Organismus. Leipzig 1881.) 16 »Unter typischen Verhältnissen entwickeln sich […] die ersten Furchungszellen […] in hohem Maße selbständig; und auch viele spätere einzelne Zellen haben ein, wenn auch wohl nur geringeres Selbstdifferenzierungsvermögen. Werden erhebliche ›Störungen‹ 13

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Form des einzelnen Organs bzw. des gesamten Organismus mit dessen an die äußere Umgebung angepassten Funktionen korrespondiert. Der Gedanke einer äußeren, selektiven Alleinursächlichkeit, wie er vom radikalen Darwinismus vertreten wurde, war damit überwunden. 17 Zugleich konnte Roux die Dauerfähigkeit der Organismen ontogenetisch aufweisen, da bewiesen war, dass nicht allein die Arten – wie Darwin erklärte – sondern auch das Individuum unter dem Druck der Selektion steht. »Die sogenannte ›Zweckmäßigkeit‹ war keine gewollte, sondern eine gewordene, keine teleologische, sondern eine naturhistorische, auf langem Wege mechanisch entstandene […].« 18 Erkenntnistheoretisch wichtig war dieser Beweis für Roux auch deshalb, weil er so die Herleitung des nicht mehr gegenwärtigen Anfangs des Evolutionsgeschehens aus dem Gegenwärtigen auf die Ontogenese überhaupt übertragen konnte und nun biologisch stringent vom Sichtbaren auf das Unsichtbare im individuellen Entwicklungsgeschehen schließen konnte. »Aus diesem Grunde halte ich alle Behauptungen von der prinzipiellen mechanistischen Unerklärbarkeit des gestaltlichen organischen Geschehens für vorzeitige einseitige Ausdeutung des noch Unbekannten, für eine unzulässige Ableitung von Sicherem (nämlich der Nichterklärbarkeit) aus Unbekanntem.« 19 Problematisch bleibt bei Roux: Zum einen den Grad der Selbstleitung respektive der Determination zu bestimmen, denn es zeigte sich in verschiedenen Versuchseinheiten mit provoziertem a-typischen Entwicklungsverläufen, dass die Selbstleitungen hier viel intensiver auftraten als in typischen Entwicklungsverläufen. 20 Zum anderen bleibt die der typischen Verhältnisse, besonders durch hochgradig ›teilende‹ Deformationen […] veranlaßt, so wird die Selbständigkeit der Entwickelung der Zellen vermindert […]; die Teile gelangen unter die determinierende Wirkung großer Teile resp. des Ganzen […]« (Vorträge und Aufsätze über Entwicklungsmechanik der Organismen, S. 72). 17 Vgl. a. a. O., S. 15. 18 Gesammelte Abhandlungen über Entwicklungsmechanik der Organismen, Bd. I, S. 154. Diese Position spricht auch aus dem Titel »Die Organismen als historische Wesen« von Boveri, die Heidegger in die Untersuchung einfließen lässt (Boveri, Theodor: Die Organismen als historische Wesen. Würzburg 1906). 19 Vorträge und Aufsätze über Entwicklungsmechanik der Organismen, S. 87. 20 »Es gibt nun aber ›regulatorische‹ Thatsachen bei ›atypischen‹ Vorgängen, welche bei gehöriger Würdigung auf ein viel innigeres Zusammenwirken der Theile zum Ganzen und auf eine grössere Abhängigkeit der Theile vom Ganzen hindeuten.« (Gesammelte Abhandlungen über Entwicklungsmechanik der Organismen. Band II, S. 41.) A

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Herleitung des Begriffes Selbst mit mechanistischen Mitteln zumindest fragwürdig. Während Michael Weingarten in der Verwendung des Begriffes Selbst ein Überschreiten des experimentell Beweisbaren sieht; der Begriff Selbst der Interpretation des auf mechanistische Weise Gesichteten schon zugrunde läge und diese allererst ermögliche, 21 versteht Reinhard Mocek die Verwendung des Begriff Selbst als ein von Roux gewähltes Mittel zur Abgrenzung gegen jegliche vitalistische Theorie. 22 Heidegger selbst äußert sich nicht zu diesem Sachverhalt. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass er der Kritik Weingartens beigepflichtet hätte, wenn wir dessen Wesensbestimmung von Wissenschaft: »Die Wissenschaft denkt nicht[.]« 23 , d. h. sie rechnet, ernst nehmen. Es gilt zu verstehen, dass die mathematisch verstandene Wissenschaft weder in der Lage ist, die ihr zu Grunde liegenden Grundbegriffe wie Raum und Zeit zu bedenken, noch sich selbst durch ihr eigenes Instrumentarium begründen zu können, wie die Verwendung des Begriffes Selbst bei Wilhelm Roux eindeutig und ohne Polemisierung oder Skandalisierung des eben zitierten Satzes zeigt. Ob dieser Satz auch auf die Geisteswissenschaft wie zum Beispiel die Geschichte Anwendung finden kann, sei zumindest zu überdenken.

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Aristoteles’ Begriff der ἐντελέχεια

Der Begriff der ἐντελέχεια/enteléchia soll nur so weit eingeführt und entwickelt werden, als es das Verständnis des Vitalismus-Gedanken bei Hans Driesch verlangt. 24 Der von Aristoteles geprägte Begriff ἐντελέχεια/enteléchia geht auf den im antiken griechischen Alltag gebrauchten Begriff ἐνδελέχεια/Fortsetzung (Endlos und ohne Unterbrechung) verstanden als vollendete Bewegung zurück. Der dabei vollzogene KonsonantenwechVgl. Weingarten, Michael. Organismen – Objekte oder Subjekte der Evolution?. Darmstadt 1993, S. 87 f. 22 Mocek, Reinhard: Wilhelm Roux – Hans Driesch. Jena 1974, S. 86 ff. 23 Was heisst Denken?, S. 4. 24 Eine umfassendere Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Entelechie-Begriffs bei Hans Driesch im Ausgang von Aristoteles findet sich in der 1928 veröffentlichten Promotionsschrift »Der Entelechiebegriff bei Aristoteles und Driesch« (Burchard, Hans: Der Entelechiebegriff bei Aristoteles und Driesch. Quakenbrück 1928). 21

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sel von δ auf τ hebt den von Aristoteles gesehenen Charakter der Vollendung als Akt hervor, der sich in dem Begriff ἐντελέχεια ausspricht. 25 Findet der Begriff ἐντελέχεια bei Aristoteles auch grundsätzlich sowohl im Bereich der φύσις als auch der τέχνη Verwendung, so setzte er sich doch verstärkt als ein Begriff zur Bestimmung des Wesens der Natur und ihrer Erscheinungen durch, da ἐντελέχεια ein Seiendes benennt, das ἐν τέλος ἔχειν sich selbst im Ziel hat und hält. Die erste ἐντελέχεια des Lebendigen nennt Aristoteles in »Über die Seele« die ψυχή/psyché. Dieser Begriff wurde in der Folgezeit der lateinischen Übersetzung mit anima/Seele wiedergegeben. »Wenn man nun«, so Aristoteles, »etwas Gemeinsames von jeder Seele sagen soll, so ist sie wohl die erste Vollendung eines natürlichen, organischen Körpers«. 26 »Notwendig also muss die Seele ein Wesen als Form(ursache) eines natürlichen Körpers sein, der in Möglichkeit Leben hat. Das Wesen aber ist Vollendung (Entelechie). Also ist sie Vollendung [die ἐντελέχεια] eines solchen Körpers.« 27 Die ἐντελέχεια wird in dieser Charakterisierung von Aristoteles verstanden als das Bewegungsprinzip der Natur und ihrer Erscheinungen, welches die Materie durch Umformung in ein Aussehen bringt, das sie eigenst in ihrem Voraus im Sinne der Vollendung hat. 28 In der τέχνη hingegen liegt die Vollendung nicht im Bewegten selbst sondern im entstandenen Werk.

»Die Entelechie ist ein philosophischer Terminus, den Aristoteles durch metaphorischen Gebrauch des bekannten alten Wortes Endelechie gebildet hat.« (Teichmüller, Gustav: Aristotelische Forschung. Band III. Geschichte des Begriffs der Parusie. Aalen 1964, S. 108.) 26 Aristoteles: Über die Seele. Theiler, W. (Übers.), Seidl, Horst (Hrsg.). Hamburg 1995, 412 b. 27 A. a. O., 412a. 28 Es wird darauf verwiesen, dass es sich hier um nur eine mögliche Charakterisierung des Entelechie-Begriffs handelt, da Burchard ausdrücklich auf die Schwierigkeiten einer eindeutigen Feststellung des Begriffes hindeutet. »Welcher Art ist nun die postulierte Entelechie? Nirgends gehen die Ansichten der Philosophen nach verschiedenen und entgegengesetzten Richtungen hin so auseinander, wie bei der Erklärung des Wesens der ›Entelechie‹, wie wir dieses ›unbekannte X‹ mit Driesch bezeichnen wollen.« (Der Entelechiebegriff bei Aristoteles und Driesch, S. 2.) 25

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10 Hans Drieschs Konzept eines zeitgemäßen Vitalismus Die Sorge des Biologen und späteren Professors für Philosophie an der Universität zu Köln, Hans Driesch, war über die Dauer seiner gesamten Forschungsarbeit besorgt um das Besorgen eines Verständnisses des Lebendigen, welches sowohl über die rein mechanistische Betrachtung als auch über eine wissenschaftlich unfundierte, vitalistische Auslegung desselben hinausging. Die hermeneutische Situation Drieschs wurde geleitet von der Hinsicht, das Lebendige als ein wissenschaftlich ausgewiesenes vitalistisches Geschehen zu beweisen. Denn, »[d]ie Einen, die Mechanisten, berühren mit ihren Erörterungen das, was eigentlich in Frage steht, überhaupt gar nicht; die Anderen, also viele Vitalisten, bleiben mit ihren Beweisführungen in viel zu allgemeinem Rahmen, so daß sie den eigentlichen Kernpunkt der Frage […] nicht treffen können.« 29 Daher galt es, den Organismus von allen traditionellen Bestimmungen zu befreien und somit vorurteilsfrei, rein analytisch in Hinsicht auf die Frage: Was geschieht? zu betrachten. Erst aufgrund der Aufdeckung des Funktionellen kann – so Driesch – die Frage nach dem Wie entsprechend gestellt werden. Drängt sich in der Bestimmung des Wie die unbedingte Annahme einer ἐντελέχεια geradezu auf, so kann – nach Driesch – diese unter Berücksichtigung des Kausalgesetztes und der erzielten Forschungsergebnisse gleichsam als dessen Grund ohne Schwierigkeiten behauptet werden. 30 In einer so angewandten Methode wird der Organismus nicht hinDie Maschine und der Organismus, S. 1. »Ich frage an erster Stelle nicht: ›warum geschieht das, was hier geschieht?‹, sondern ich frage vor allem Anderen: ›was geschieht hier eigentlich?‹« (Die Lokalisation morphogenetischer Vorgänge. S. 77). »Gerade diese vollkommene provisorische Nichtachtung allgemeinster von den anorganischen Wissenschaften gezeigter Begriffe ließ uns das, was unser Problem als wesentlich gekennzeichnet, rein erkennen und rein darstellen […], während uns die Übernahme feststehender Begriffe […], nur hinderlich gewesen wäre und uns vielleicht nur Schwierigkeiten vorgetäuscht hätte, wo in Wirklichkeit gar keine existieren […]« (a. a. O., S. 81 f.). Und, so Heidegger in Bezug auf diese Schrift, »[…] durch diese Experimente schien die alte Auffassung des Lebens bestätigt, daß der Organismus sich zweckmäßig benimmt, und daß man versuchen muß, diese Zweckmäßigkeit zu erklären. So wurde Driesch von seinen Experimenten her zu seiner biologischen Theorie getrieben, die man als Neovitalismus bezeichnet, und die durch den Rückgang auf eine gewisse Kraft, eine Entelechie, charakterisiert ist.« (GA Bd. 29/30, S. 381.) 29 30

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sichtlich der Bestimmung des Wie in seine Einzelteile zerlegt und von dort aus künstlich zusammengeklebt, um dem Verständnis des Gesamtgeschehens näher zu kommen, sondern es wird versucht, ihn in seiner Ganzheit in den untersuchenden Blick zu bekommen. Dabei wird Ganzheit von Driesch nicht nur als ein beliebiger Terminus unter anderen verstanden sondern als Kategorie der Erkenntnis des Lebendigen, d. h. als »Grundbegriff der gesamten vitalistischen Lehre« und darüber hinaus aller Erfahrung überhaupt ausgewiesen. 31 Die so verstandene Ganzheit ist keine logische sondern eine Sachganzheit, welche einem ganzheitlichen Kausalverhältnis unterliegt, das im Gegensatz zu den einzelnen Kausalketten der materiell verstandenen Natur eine Zugewiesenheit besonderer Art – ein Antwortgeschehen – darstellt, »[d]enn organisches Geschehen ist nun einmal stets eine Gesamtheit von Einzelnem, ist Ablauf vieler Einzelgeschehnisse, und zwar geordneter Ablauf« 32 . Diese Abläufe gilt es sowohl hinsichtlich ihres zeitlichen als auch lokalen Auftretens zu bestimmen, wozu die Versuche an Seeigeln und anderen Organismen den Beweis vitalistischen Geschehens liefern sollten. 33 Die »Idee des Ganzen – die Ganzheit als solche als bestimmender Faktor« 34 stellt für Heidegger einen entscheidenden Schritt in der Erkenntnis des Wesens des Organismus dar. 35 Denn der Begriff der Ganzheit erlaubt nicht nur eine weitere Offenbarkeit des Organismus, sondern steht für Driesch auch als Gegenbegriff zum traditionellen Begriff der Zweckmäßigkeit. »Dieses Wort ›ganzheitsbezogen‹ wollen wir nun »Man könnte geradezu mit Kant sagen, daß der Ganzheitsbegriff ›Voraussetzung der Möglichkeit der [menschlichen] Erfahrung‹ […], sei, und könnte in diesem Sinne die ›Kategorie‹ Ganzheit im Sinne Kants für ›transzendental deduziert‹ halten […]« (Driesch, Hans: Philosophie des Organischen. Leipzig 1928, S. 366 f.). 32 Die Maschine und der Organismus, S. 2. 33 Auch dem Versuch Köhlers, das Organische durch die von ihm entwickelte Gestalttheorie mathematisch erklärbar zu machen, widersetzte sich Hans Driesch – wie Plessner zeigt. (Die Stufen des Organischen, S. 89 ff.) 34 GA Bd. 29/30, S. 381. 35 In diesem Zusammenhang belegt der Text der Vorlesung des Kriegsnotsemesters 1919 »Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem« erneut, dass sich Heidegger schon lange vor 1928 mit den Ergebnissen der neueren Biologie beschäftigte. »Diese philosophische Richtung, die sich erkenntnistheoretisch zugleich im kritischen Realismus (Külpe, Messer, Driesch) ausprägt, ist neuerdings in der Theologie beider Konfessionen lebhaft begrüßt worden.« (Heidegger, Martin: Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem. In: Zur Bestimmung der Philosophie. Gesamtausgabe (= GA) Band 56/57. Heimbüchel, Bernd (Hrsg.). Frankfurt am Main 1999, S. 27.) 31

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also in der Tat an Stelle von ›zweckmäßig‹, ›zielstrebig‹, ›teleologisch‹, ›final‹ usw. verwenden und ebenso von Ganzheitsbezogenheit reden.« 36 Und so kann der letzte Zustand als Endganzes und jede zur Erreichung desselben sich zeigende Zwischenstufe als Durchgangsganzes bestimmt werden. 37 »Ganzheit heißt: Der Organismus ist keine Summe, zusammengesetzt aus Elementen und Teilen, sondern das Werden und der Aufbau des Organismus in jedem seiner Stadien [Hervorheb. v. Verf.] ist von seiner Ganzheit selbst geleitet.« 38 Für Heidegger beschreibt der Begriff Durchgang den dem Lebendigen zugehörigen Charakter des Drangs, ohne diesen erneut teleologisch zu missdeuten. »Das Lebendige solchen Wesens artet sich, und die Art sichert sich in den Einzelungen; diese nicht Ziel und ›Zweck‹, sondern ›Mittel‹, besser Durchgang [Hervorheb. v. Verf.], Weise der Erdrängung.« 39 Unter diesen Aspekten ist dem Vitalismus der Vorrang gegenüber der Theorie Roux’ hinsichtlich der Bestimmung des Wesens des Organismus zuzugestehen, zumal sich der von Heidegger und Plessner übernommene Begriff des Durchgangs überzeugend auf Driesch zurückführen lässt. 40

10.1 Die Versuche am gemeinen Seeigel Echinus microtuberculatus Im Jahre 1891 – drei Jahre nach Roux’ Veröffentlichung der Halbembryonentheorie – unternahm Hans Driesch seine ersten Versuche an Seeigeln. Im Gegensatz zu Roux zerstückelte er die Blastomere der Seeigel nicht, sondern trennte die beiden ersten durch Furchung entstandenen Blastomere indem er sie schüttelte. 41 Entgegen aller Erwartung entwickelten sich diese beiden Hälften unbeeindruckt von der gewaltsam herbeigeführten Teilung weiter, nur eben mit dem Resultat, dass sie aufgrund der jeweils fehlenden Substanz durch MaterialumlaPhilosophie des Organischen, S. 367. »Und wir können noch mehrere Sonderbegriffe schaffen: wird ein Ganzes durch viele einander folgende Schritte erreicht, so kann das letzte in Frage kommende Zuständliche an der gesamten Geschehenskette endganz heißen, irgendein ›Stadium‹ auf dem Wege zum Endganzen durchgangsganz.« (Ebd.) 38 GA Bd. 29/30, S. 380. 39 GA Bd. 76, S. 67. 40 Vgl. Die Stufen des Organischen, S. 130. 41 Durch die Versuche anderer Kollegen erwies sich Echinus als ein geeignetes Versuchsobjekt, da er sich unempfindlich gegen eine Vielzahl traumatischer Einwirkungen zeigte (Vgl. Philosophie des Organischen, S. 42). 36 37

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gerung zwei kleine, aber vollständige Seeigel ausbildeten. 42 Driesch setzte die begonnene Reihe fort, indem er auch an Froscheiern und anderen zur Forschung geeigneten Organismen Viertelblastome, Achtelblastome etc. provozierte, welche sich in gleicher Weise verhielten.

Graphik entnommen aus »Philosophie des Organischen« 43

Wenn man auch bei den Beobachtungen der normalen Entwicklungsprozesse eine zeitlich-lokale Bestimmung derselben aufzeigen kann, so zeigen die Experimente die Unmöglichkeit der Annahme einer schon im Ei angelegten strukturellen Prädetermination, da sich sonst die präparierten Blastomere niemals hätten zu entsprechend kleineren, aber ganzen Embryonen entwickeln können. In weiteren Versuchen entlarvte Driesch neben Roux’ Halbembryonentheorie und der Deszendenztheorie auch verschiedenste Sublimierungstheorien in ihrer Fragwürdigkeit und Beschränktheit, d. h. in ihrer Ganzheitsvergessenheit, indem er Echinus in verschiedensten Entwicklungsstadien gröbster Deformierung, Hitzeeinwirkungen etc. aussetzte, ohne dass es dessen EntwickBei Echinus vollziehen sich in der ungestörten Entwicklung jeweils 10 Teilungsschritte. Bei den geteilten Blastomeren fehlt hingegen bei den ausgereiften kleineren Embryonen, zwangsläufig ein Teilungsschritt, der von dem gesamten Organismus kompensiert wird (Vgl. a. a. O., S. 15 ff.). 43 A. a. O., S. 44. 42

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lungsgang nach Zeit und Ort auch nur in irgendeiner Weise zu beeinträchtigen schien. 44 Die Zeichnung zeigt die verschiedenen Entwicklungsmodi: links die Normalentwicklung des Seeigels; in der Mitte zeigt sich die Entwicklung zu Halbembryonen, wie sie sich in den Versuchen Roux’ entwickelten; rechts ist der kleinere, aber sich zum Ganzen entwickelt habende Echinus-Embryo skizziert. Nach der Veröffentlichung der neusten Forschungsergebnisse Drieschs suchte Wilhelm Roux, diese unerwarteten Resultate dadurch zu begründen, dass er verschiedene Typen von Organismen annahm. Diese Typen sollten in Abhängigkeit ihrer Reifegrade unterschiedliche Differenzierungspotenziale besitzen. Es gebe Eier, die soweit gereift seien, dass sich aus ihren Teilen auch nur eben diese Teile ausbildeten, hingegen andere seien dem Reifegrad – nach Roux – so angelegt, dass sie Halbembryonen hervorbrächten, wieder andere sollten so unreif sein, dass sie sich zu ganzen Embryonen entwickeln könnten. 45 Zeigt sich aber in den Versuchen Drieschs – wenn man auch geneigt ist, dem Entelechiegedanken nicht zuzustimmen – eine Gesamtheitskausalität, die der mechanistischen Auslegung verborgen bleiben musste, so ist der Mosaiktheorie – diese Ganzheit negierend – der Boden entzogen und daher lehnte Hans Driesch konsequenterweise die nachträglich von Roux versuchten Erklärungsansätze kategorisch ab.46

»Aber die Dinge kamen, wie sie kommen mußten, und nicht, wie ich erwartete hatte: eine typische ganze Gastrula war am nächsten Morgen in meinem Gefäße vorhanden […]. Das war gerade das Gegenteil von Roux Resultat […]« (a. a. O., S. 43). »Auf Grund der Theorie der Evolution, vermittelt durch Kernteilung, hätte ein morphogenetisches Chaos resultieren sollen, wenn die einzelnen Kerne in bezug aufeinander fundamental verlagert wurden […]« (a. a. O., S. 46). 45 Vgl. Vorträge und Aufsätze über Entwicklungsmechanik der Organismen, S. 67. 46 Das aus einem Ei nichts werden kann, wozu ihm die stofflichen Mittel fehlen, kann man klar einsehen. »Aber wo nicht solche typisch-charakterisirte Stoffe in einem Ei vorhanden sind, da ist man aus der bloßen Thatsache etwa des Entstehens von Halbembryonen aus einer Blastomere des Ctenophoren – oder Hyanassa-Eies nicht berechtigt, nun etwa diesen Eiarten im Gegensatz zum Echinodermenei eine aus verschiedenen, typischlokalisirten, zur Differenzirung in Beziehung stehenden Mannigfaltigkeiten aufgebaute Organisation zuzusprechen, und sich so etwa die Lokalisationen des späteren Geschehens als mit den von uns gekannten formativen Mitteln ›verständlich‹ zu denken.« (Die Lokalisation morphogenetischer Vorgänge, S. 17.) 44

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10.2 Der Organismus als äquipotentielles, harmonisches System Durch die Ergebnisse seiner Forschung sieht sich Hans Driesch in der Lage, den Beweis vitalistischen Geschehens zu liefern und somit die Existenz einer die Ganzheit des Organismus steuernden Wirkkraft wissenschaftlich zu legitimieren. Driesch versteht unter dieser Wirkkraft einen kausalen Faktor unter anderen, der die Materie des Körpers (Protoplasma) reizt, um sie zu organisieren. Diesen Faktor betrachtet Driesch als einen Garanten dafür, dass selbst bei gestörtem, atypischem Verlauf der Genese das angestrebte Ziel, d. h. der gesamte Organismus als Struktur, normal erreicht wird. In dieser Vorstellung liegt Drieschs Verständnis des Organismus als einer prospektiven Potenz des harmonischen Organismus. Prospektive Potenz verweist auf die Möglichkeit, welche in einem Embryo liegt hinsichtlich dessen, was aus ihm werden kann, nicht was aus ihm aufgrund faktischer Ontogenese wird. 47 Daraus zeigt sich: »Ob man das X X bleiben lässt oder es, mit mir, ›Entelechie‹ oder wie sonst nennt, ist für die Hauptsache ganz gleichgültig. Nur daß das X für die Erreichung des Endzustandes des Gesamtgeschehens verantwortlich ist, das wissen wir allerdings von ihm.« 48 Sie, die Entelechie, ist Essentia des Lebendigen. »Sie ist der Inbegriff von allem, was an ihm ausgeprägt ist und was an ihm und von ihm aus sich ausprägen kann […].« 49 Sie ist nicht selbst Materie sondern Akt und Potenz. Der Organismus ist das Produkt seiner selbst durch es selbst und nicht von einem ihm fremden Künstler oder Weltenbauer geschaffen. Das von Driesch beschriebene Ursache-Wirkungsgeschehen geht nicht auf ein Verhältnis causa aequot effectum zurück, auf ein Zugeordnet-sein in gleicher Weise, sondern spricht sich als ein Ursache-Effekt-Verhältnis – eine Antwortreaktion – aus, welches von Driesch als ein Zugeordnetsein in ausgezeichenter Weise sui generis verstanden wird. Aus »[…] jeder (der Qualität nach) specifischen Ursache korrespondirt eine (der Lokalisation nach) typische Wirkung, die endliche Erreichung eines gegebenen Zieles ermöglichend« 50 . Driesch nennt dies Der Begriff prospektive Potenz »[…] bezeichnet das, was aus einem gegebenen Theil […] werden kann, nicht das, was im Ablauf gerade dieser Ontogenese unter diesen inneren und äußeren Konstellationen aus ihnen werden wird […]« (a. a. O., S. 40). 48 Die Maschine und der Organismus, S. 8. 49 Philosophie des Organischen, S. 379. 50 Die Lokalisation morphogenetischer Vorgänge, S. 56. 47

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Verhältnis auch »indeterminirtes Anpassungsgeschehen« 51 . Wie aber auch immer sich dieses vollzieht, es vollzieht sich mit Rücksicht auf die Gesamtheit des Organismus und ist deshalb als harmonisch zu bezeichnen. 52 Die abschließende Definition Drieschs zum Organismus lautet dann: »Der individuelle Organismus als Gegenstand der Naturlehre ist ein aus organisch-chemischen Stoffen weniger Gruppen bestehendes, im Stoffwechsel stehendes, sich entwickelndes materielles System von anfangs niedrigstufiger, im Endstadium hochstufiger Mannigfaltigkeit, welches der adaptiven und restitutiven Regulation fähig ist und in seinem gesamten Werden, sei dieses evolutiv, funktionell oder regulativ, einer Gesetzlichkeit vom Typus der Ganzheitskausalität untersteht.« 53

10.3 Kritische Betrachtung zu Driesch Driesch grenzte 1935 in seiner Schrift »Die Maschine und der Organismus« den Organismus gegen verschieden Typen von Maschinen ab, um seine Theorien anhand der sich daraus ergebenden Unterschiede zu untermauern. Dieses Unternehmen ist meines Erachtens im Grunde überflüssig. So sehr sie den Unterschied zwischen Leblosem und Lebendigem verdeutlichen, so sehr überzeichnen und missverstehen diese Ausführungen die von Roux vertretene Auffassung von einer Kausalität des Lebendigen eigener Art, wenn er dessen Theorie als Maschinentheorie verunglimpft. Eine Überzeichnung, die dem Bestreben um absolute Wissenschaftlichkeit eines besonnenen und respektablen Forschers, wie er in Roux zu finden war, nicht gerecht wird und schon von Max Hartmann und Helmuth Plessner in der Folgezeit aufgezeigt wurde. 54 Zudem verweist Heidegger und auch Plessner auf die EinEbd. Hierbei kann auch jedes Teil an die Stelle eines anderen treten und dessen Funktion übernehmen. »In der That trägt das Differenzirungsgeschehen harmonisch-äquipotentieller Systeme solchen regulatorischen Charakter in sich selbst: in der Natur seiner prospektiven Potenz liegt er eben begründet, in dieser Natur seiner Elemente, dass Jedes Jedes kann, und alle Effekte mit Rücksicht auf einander geschehen. Ich habe schon früher ausgleichendes Geschehen solcher Art primär-regulatorisches Geschehen genannt.« (a. a. O., S. 47.) 53 Philosophie des Organischen, S. 378 f. 54 »Driesch macht [es] sich in dem begreiflichen Bestreben […] viel zu leicht, indem er einmal die Möglichkeit eines chemischen Mechanismus der Entwicklung nur in naivster 51 52

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holung der vitalistischen Auslegung des Lebendigen durch den von Heidegger sehr geschätzten Biologen Hans Spemann, der in Zusammenarbeit mit zahlreichen Kollegen die Selbstleitung des Organismus in den Organisationszentren der Keime durch entsprechende Versuche nachwies, durch welche sich die Annahme einer wie auch immer verstandenen Entelechie als unnötig erwies. »Bei diesen Untersuchungen hatte sich gezeigt, daß gewisse Teile des jungen Amphibienkeims die Fähigkeit besitzen, andere Teile in ihrer Entwicklung zu bestimmen, derart, daß sie zwischen solche indifferenten Teile verpflanzt, diese gewissermaßen in ihren Dienst [Hervorheb. v. V.] zwingen. Ich nannte sie daher ›Organisatoren‹, und den Keimbezirk, wo diese Organisatoren in jenem frühen Entwicklungsstadium beisammen liegen, das ›Organisationszentrum‹ des Keims.« 55 Trotz der Entbergung der Notwendigkeit einer ganzheitlichen Betrachtung des Lebendigen bleibt die Betrachtung der Umweltzugehörigkeit des Organismus in der Forschung Drieschs verborgen und geriet, wie sich zeigen wird, nach Aristoteles erst durch Jakob von Uexküll, dessen Arbeiten die gesamte Ausarbeitung der Kategorien des Lebendigen im ausstehenden Hauptteil begleiten werden, in seiner Unverborgenheit ans Licht 56 . Zudem zeigt auch Drieschs abschließende Bestimmung des Organismus noch Reste von Mechanismus und CheWeise erwägt und andererseits durch den groben Vergleich mit einer ›Maschine‹ die Maschinentheorie des Lebens natürlich leicht ad absurdum führen kann.« (Hartmann, Max: Biologie und Philosophie. Berlin 1925, S. 33.) »Driesch sah sich auch nur durch seine zu enge Fassung des Begriffs Maschine gezwungen, die methodischen Spielregeln der exakten Analyse außer Kraft zu setzen und seine Zuflucht zu nichtenergetischen Faktoren zu nehmen« (Die Stufen des Organischen, S. XXI). 55 Spemann, Hans: Neue Arbeiten über Organisatoren in der tierischen Entwicklung. In: Die Naturwissenschaften. Wochenschrift für die Fortschritte der reinen und der angewandten Naturwissenschaften. Berliner, Arnold (Hrsg.). Berlin 1927, S. 946. »Wieviel Hunderte von Kundigen und Studierenden der Natur gehen durch das zoologische Institut unserer Universität, ohne von dem Rang eines Forschers wie Spemann im geringsten berührt zu werden« (GA Bd. 29/30, S. 280). Aus der Beschäftigung Heideggers mit den neueren Untersuchungsergebnissen Spemanns ist anzunehmen, dass der von Heidegger verwendete Begriff der Diensthaftigkeit, der das Verhältnis von Fähigkeit und Organismus ausdrückt, auf jenen zurückgeht. 56 In Zusammenhang damit schreibt Heidegger zum Begriff der alétheia in der Heraklit Übersetzung Folgendes: »Das Wort hlichti bedeutet: leuchtend, strahlend, hellend. Das Lichten gewährt das Scheinen, gibt Scheinendes in ein Erscheinen frei. Das Freie ist der Bereich der Unverborgenheit.«(Heidegger, Martin: Aletheia (Heraklit, Fragment 16). In: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 1978, S. 250.) A

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mismus aufgrund seiner Verflochtenheit mit der damals vorherrschenden wissenschaftlichen Tradition und deren Selbstverständnis. Besonders Drieschs Arbeit, so Heidegger, »[…] erfolgt im Rahmen der noch herrschenden mechanistischen Theorie und Erforschung des Lebens, die auf die Zelle als Urelement des Lebendigen zurückging, so zwar, daß sie versuchte, den zunächst in seinem Wesen verkannten und in einen Trümmerhaufen zerschlagenen Organismus von da zusammenzusetzen, wobei überdies die Zelle selbst noch physikalisch-chemisch betrachtet wurde« 57 . Im Zusammenhang mit dieser Kritik wiederholt Heidegger das von Driesch zu Beginn aufgezeigte Versäumnis der Biologie gleichsam als Forderung eines neuen Biologieverständnisses: »Der Vitalismus ist für die biologischen Probleme ebenso gefährlich wie der Mechanismus. Während [der Mechanismus] eine Frage nach der Zielstrebigkeit [des Organismus] nicht aufkommen läßt, unterbindet der Vitalismus [auch bei Driesch] dieses Problem zu früh. Es kommt aber darauf an, den ganzen Bestand dieser Strebigkeit [Hervorheb. v. Vf] aufzunehmen, bevor man auf eine Kraft, die übrigens nichts erklärt, zurückgeht.« 58 In wieweit die Auslegung Drieschs trotzdem das Verständnis des Lebendigen (sowohl) bei Heidegger (als auch bei Plessner) beeinflusst hat, wird sich in den entsprechenden Kapiteln zeigen.

11 Die aus der biologischen Forschung erwachende Frage nach der Differenz von Ursache und Grund und deren Fundierung im Dasein »Auch bei der Wissenschaft von der Natur muß der Versuch gemacht werden, zunächst über die Grundsätze Bestimmungen zu treffen. Es ergibt sich damit der Weg von dem uns Bekannteren und Klareren zu dem in Wirklichkeit Klareren und Bekannteren.« 59

In der Ausarbeitung der beiden gewichtigsten Positionen innerhalb der Biologie Ende des 19. Anfang des 20. Jahrhunderts zeigte sich bei beiden Vertretern die Sorge um eine neue Fragedimension, die es erlaubt über 57 58 59

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eine rein kausalistische Bestimmung des Lebendigen hinaus zu gehen. Ein solches Fragen darf nicht erneut durch den Blick verbauende Theorien geleitet, ja verleitet werden, wie es sich noch im Falle v. Baer zeigen wird. Dem praktizierten Mechanismus gelang es zwar, mechanische Abläufe in Wachstumsprozessen zu beschreiben, doch die Bedeutsamkeit solchen Geschehens blieb ihm verschlossen, sodass er sich auf ein Spiel einlassen musste, in welchem er Voraussetzungen unkritisch hinnahm – wie die Annahme des Selbst gezeigt hat –, die wissenschaftsmethodisch nicht gefasst werden konnten. Der Vitalismus setzte hingegen mit dem Versuch an, ein Verständnis dieser Bedeutsamkeit zu entschlüsseln, gab aber mit der Annahme einer wie auch immer verstandenen Vitalkraft den Schlüssel zu einer so gelagerten Offenheit gleich wieder aus der Hand. Das bei Wilhelm Roux und Hans Driesch erwachende Fragen versteht Heidegger als ein Fragen nach den Gründen. Ein solches Fragen ergab sich freilich nicht aus dem zufälligen Schicksal einzelner Forscher, sondern aus einer je spezifischen Sorge, deren Ursprung im menschlichen Dasein gründet und daher existenziell zu fassen ist. Nach den Gründen fragen, heißt nach dem Warum einer Sache – eines Verhältnisses oder eines Geschehens – fragen. Das Warum einer solchen Sache nennen wir im alltäglichen Sprachgebrauch unterschiedslos den Grund oder die Ursache. Doch dem Grunde nachfragen ist, wie schon Wilhelm Roux und Hans Driesch im Ansatz erkannten, kein Erfragen von Ursache-Wirkungs-Verhältnissen im mathematischen Sinne. Denn die Fragen nach Ursächlichkeit und Grund sind prinzipiell verschieden, wenn diese wesentliche Unterschiedenheit heute auch verschüttet zu sein scheint. Der Begriff Ursache geht auf das im medizinischen Verkehr gebrauchte Wort αἰτία/aitía zurück. Das als kausal verstandene Prinzip der aitía wird von Platon schon bestimmt als etwas, was für die Gegebenheit eines anderen verantwortlich ist (Verantwortlich für das Sein und dessen Erkenntnis überhaupt). 60 Auch bei Aristoteles sind Ursachen immer Verursacher eines Anderen (Affizierendes und Affizier»[…] in dem Gebiete des Denkbaren zeigt sich zuletzt und schwer erkennbar die Idee des Guten; hat sie sich aber einmal gezeigt, so muß sich bei einiger Überlegung ergeben, daß sie für alle die Urheberin alles Rechten und Guten ist […]« (Platon: Der Staat. In: Platon. Sämtliche Dialoge. Band V. Apelt, Otto (Übers. u. Hrsg.). Hamburg 1998, 517 St).

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tes). 61 Aitía wird im Sinne der Ursache das genannt, was das faktische Geschehen von etwas verursacht. Ursache ist das Weswegen dieses Faktischen als erkanntes bzw. angenommenes Deswegen. Solche Bestimmungen als auf immer tiefere Ursachen Gehendes wird traditionell als Kausalkette vorgestellt. Aus einer solchen Kausalkette können einzelne Glieder als Ursachen für das je folgende Wirken isoliert oder der gesamte Kausalkomplex als Ursache für die zuletzt eingetretene Wirkung betrachtet werden. »Demnach mag man, in Hinsicht auf einen gegebenen einzelnen Fall, die zuletzt eingetretene Bestimmung eines Zustandes, weil sie die Zahl der hier erforderlichen Bedingungen voll macht, also ihr Eintritt die hier entscheidende Veränderung wird, die Ursache κατ ἐξοχην nennen: jedoch für die allgemeine Betrachtung darf nur der Ganze, den Eintritt des folgenden herbeiführende Zustand als Ursache gelten.« 62 Dabei ist es unmöglich je an den Anfang solcher Kausalketten zu gelangen, denn es kann immer wieder gefragt werden: Warum? »Dies ist die Kette der Kausalität: sie ist nothwendig anfangslos.« 63 Weiterhin gliedert bereits Schopenhauer die Kausalität in die Klassen Ursache, Reiz und Motiv auf, die jeweils einem eigenen Gegenstandsbereich zugehören. Die erste Form der Kausalität, die Ursache, reserviert er für die Wissenschaften, welche das Unorganische behandeln, welches »das Thema der Mechanik, der Physik und der Chemie« 64 ist. Wird der Organismus vom mechanischen Kausalprinzip her interpretiert, dann sieht es so aus, als ob Tiere und Pflanzen wüchsen, weil sie Nahrung aufnähmen. Vom Begriff der ἀρχή/arché aus betrachtet wird sich hingegen zeigen lassen, dass Tiere und Pflanzen allein deshalb zur Nahrungsaufnahme fähig sind, da ihnen wesenhaft Wachstum zu eigen ist. Was aber liegt in dem Begriff der ἀρχή/arché, dass er im Gegensatz zur αἰτία/aitía einen Einblick in das Wesens – in diesem Fall von Tier und Pflanze – ermöglicht? In Heideggers Vorlesung des Sommersemesters 1928 »MetaphysiAristoteles spricht in seiner Lehre von vier Ursachen, die sich in zwei äußere: causa efficiens (Wirken, als das Woher der Bewegung) und causa finalis (Zweck, Ziel) und zwei innere: causa materialis (Stoff) und causa formalis (Struktur, die bestimmt, was etwas ist, Wesensgrund) aufteilen. (Vgl. Metaphysik, 983a.) 62 Schopenhauer, Arthur: Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. In: Hauptwerke Band II. Ulfig, Alexander (Hrsg.). Köln 2000, S. 45. 63 A. a. O., S. 44. 64 A. a. O., S. 55. Dem entgegen versteht er Reiz und Motiv als Formen von Kausalität zur Bestimmung des Lebendigen in verschiedenen Formen. 61

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sche Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz« 65 leitet Heidegger die Abgrenzung der Begriffe αἰτία/aitía und ἀρχή/arché anhand eines Aristoteles Zitates ein: »ein Ziegel fällt vom Dache, verursacht durch die schlechte Witterung, die das Dach beschädigte. Daß aber dieses Etwas überhaupt fällt, hat seinen Grund darin, daß es ein durch Schwere bestimmtes materielles Ding ist; das ist sein Wesensgrund, seine possibilitas.« 66 Der Grund ist nicht die Wetterlage, die zu dem starken Wind führte und den Ziegel vom Dach wehte, da er schlecht befestigt war, weil … Grund wird nicht als eine Aneinanderreihung von Gründen verstanden. Im Gegensatz zur anfangslosen Ursache wird Grund verstanden als der Anfang selbst: »Grund meint hier das, worauf das begründende Bestimmen zurückgeht, wobei es als bei einem Unauflösbaren in solchem Rückgang Halt macht bzw. von woher, als Ersten, Ursprünglichen, die Begründung ausgeht. Grund meint hier ἀρχή, […].« 67 In seinem Aufsatz »Vom Wesen und Begriff der Φύσις« 68 ergänzt Heidegger: »ἀρχή meint einmal das, von woher etwas seinen Ausgang und Anfang nimmt; zum anderen aber das, was zugleich als dieser Ausgang und Anfang über das Andere, was von ihm ausgeht, weggreift und so es einbehält und damit beherrscht« 69 . Im alltäglichen Sprachgebrauch zeigt sich jedoch eine unbedachte und undifferenzierte Verwendung der Begriffe Ursache und Grund. Bei näherer Betrachtung wird aber der wesentliche Unterschied klar. Die Ursache bezieht sich immer auf ein von der Wirkung Unterschiedenes, während sich im Begriff Grund Einheit ausspricht, die Anlass dazu ist, dass etwas ist, was dieses etwas ist und wie es als dieses etwas ist. Diese Einheit, ob auf das Weltganze oder den Organismus angewandt, blendet die Möglichkeit des Denkens eines Ursache-Wirkungsverhältnisses eo ipso aus. Worin gründet aber die Möglichkeit des Erwachens der Frage nach dem Grund bei Wilhelm Roux und Hans Driesch? Wie ist diese Möglichkeit existential zu fassen? Die Frage nach dem Grund ist nicht durch das Aufzeigen von Kausalstrukturen, die sich am Lebendigen physiologisch aufweisen lassen Heidegger, Martin: Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz. Gesamtausgabe (= GA) Band 26. Held, Klaus (Hrsg.). Frankfurt am Main 1978. 66 A. a. O., S. 136. 67 A. a. O., S. 136 f. 68 Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik B, 1. 69 A. a. O., S. 247. 65

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zu klären, sondern gehört in den Bereich der Transzendenz des Daseins. Das Dasein ist nicht in sich gekehrt sondern immer schon in Welt, von der her es auf sich selbst zurückkommt und selbst bestimmt, d. h. es ergreift nicht irgendwelche Möglichkeiten, die ihm von hier und da aus der Welt entgegengehalten werden, sondern es bildet diese Möglichkeiten willentlich selbst aus, d. h. es ist frei. »Die Freiheit als Transzendenz ist […] der Ursprung von Grund überhaupt. Freiheit ist Freiheit zum Grunde. Die ursprüngliche Beziehung der Freiheit zu Grund nennen wir das Gründen.« 70 Als solches ist es dreifach gegliedert: Gründen als Stiften, als Bodennehmen und als Begründen. Dass das Dasein überhaupt im Umgang mit Welt sein kann, ist nicht irgendwelchen logischen Verknüpfungen der res cogitans oder einem immanenten Bewusstsein geschuldet, welche sich in Urteilen aussprechen, sondern bedarf des vorlaufenden Sprunges eines Seienden in die Offenbarkeit, das wir Dasein nennen. Die Offenbarkeit wird erst ermöglicht, d. h. gestiftet 71 durch das in seiner Wesenheit als Seinsverständnis ausgezeichnete Dasein, welches sich schon immer innerhalb des Seienden befindet, d. h. Boden genommen hat. Stiften und Bodennehmen springen einander zu und realisieren somit in der Fuge ihres Zusammenschlusses die Offenbarkeit des Seienden als einer noch unhinterfragten, unproblematisch hingenommenen, ontischen Wahrheit, innerhalb dieser Dasein mit einbegriffen ist, worin sich deutlich Heideggers Verständnis von kategorialer Anschauung zeigt. In der so verstandenen Offenbarkeit des Seienden bildet sich sowohl das alltägliche als auch das religiöse und wissenschaftliche Interesse aus, in dem das Seiende aus der Ferne der Nutzbarkeit für Mythos, Haushalt, Wirtschaft und Wissenschaft berechnet wird. Aus diesem ontischen Kalkül heraus bilden sich »Grundbegriffe« aus, die letztendlich keine Grundbegriffe des jeweilig in Untersuchung stehenden Seienden sein können, sondern dem Selbstverständnis der jeweiligen Wissenschaften um den Preis der Ferne genüge leisten! »Was man gern ›Grundbegriffe‹ der Wissenschaften nennt, das heißt besser Hauptund Leitbegriffe […].« 72 Ein echter Grundbegriff ist »ein Griff in das Wesentliche, das als Verbindliches uns bindet und angreift« 73 . A. a. O., S. 165. So wie der Stifter durch finanzielle Unterstützung ein Projekt allererst ermöglicht, so ermöglicht das Stiften im Sinne Heideggers erst die Frage nach Grund. 72 GA Bd. 76, S. 61. 73 A. a. O., S. 60. 70 71

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In der Phänomenologie geht es vor allem darum, das sich in der Offenbarkeit Zeigende in dem zu fassen, als was es sich zeigt, bzw. es aus den traditionell vorgenommenen Bestimmungen durch Destruktion derselben herauszudrehen, um es aus der Nähe nach seinem Sein befragen zu können, was Heidegger als das eigentliche Begründen versteht. An dem Wendepunkt eines solchen Begründens – In-die-HöheFallens 74 – standen vermutlich zum ersten Mal seit Aristoteles auch Wilhelm Roux und Hans Driesch, als sie erkannten, ja aufgrund ihrer Untersuchungen erkennen mussten, dass das Lebendige innerhalb ihrer Beobachtungen weitaus mehr Eigentümlichkeiten aufwies als es der Rechtspruch der Sorge um Beständigkeit des Bestandes, d. h. um Allgemeingültigkeit und Universalität, zugab. Ein solches Fragen erwacht allein aus der Sorge des Daseins um sein Dasein, d. h. dem Umwillen–seiner-selbst, indem es sich wach geworden dem Wesentlichen des Seienden und seiner selbst ergründend nähern und befragen kann: Letzteres geschieht nur in der Freiheit, in der sich das Dasein sein eigenes Seinkönnen im Selbstentwurf vorhält und als verbindlich sich diesem anmisst. Freisein heißt dann: »Sichverstehen aus dem eigenen Seinkönnen« 75 und geht mit dem zusammen, was wir schon als inbegriffliches Fragen charakterisierten, nämlich der Frage nachgehend: Warum ist eigentlich Seiendes? Warum und wie ist Unbelebtes von Belebtem unterschieden? Und besonders: Warum bin ich und nicht vielmehr nichts?

»Der Mensch steht in einer Beziehung zu dem, was ihn umgibt, welche Beziehung erhaben ist über die Beziehung des Subjekts zum Objekt. ›erhaben‹ bedeutet hier nicht bloß: darüber schwebend, sondern in die Höhe reichen, von der Hölderlin einmal sagt, der Mensch – der Dichter zumal – könne auch in die Höhe ›fallen‹.« (Heidegger, Martin: Die Armut. In: Heidegger Studien. Band 10. Herrmann, Friedrich-Wilhelm von (Hrsg.). Berlin 1994, S. 7.) 75 GA Bd. 26, S. 276. 74

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Kapitel 1 Der λόγος des Menschen und die φωνή des Tieres

Im Folgenden führt die Untersuchung zu der wohl ältesten als auch beständigsten Unterscheidung von Mensch und Tier, die von Heidegger erstmals innerhalb dessen phänomenologischer Forschung im Sommersemester 1924 in Marburg unter dem Titel »Grundbegriffe der Aristotelischen Philosophie« gelesen und im Jahre 2002 in die Gesamtausgabe aufgenommen wurde. Grund einer jeden Wissenschaft ist die alltägliche Erfahrung, aus welcher heraus sich Dasein immer schon über das in der Erfahrung Begegnende ausspricht. Zu diesem Sich-Aussprechen bedarf es einer bestimmten Begrifflichkeit. Diese ist wiederum charakterisiert durch das Wie der Sorge des in der Alltäglichkeit Begegnenden. Diesem Wie innerhalb des antiken griechischen Verständnisses nachgehen, heißt den Grundzug des in der Begrifflichkeit gemeinten in seinem Ursprung zu verstehen suchen. Die Suche Heideggers beschränkt sich in diesem Vorhaben auf Grundbegriffe wie: »Leben, Bewegung, Erkenntnis, Wahrheit« 1 . Um das Denken des Lebendigen auf den Weg zu bringen, gilt es, in diesem frühen Anlauf Heideggers solches wieder ins Denken zurückzuholen, was im antiken griechischen Denken gedacht wurde, bzw. denkbar war. Dieser Weg führt vom Dasein, verstanden als ζῶον λόγον ἔχον, zu der wohl bekanntesten Privation des Tieres als ein ζῶον φωνή ἔχον. Aus dieser ersten Unterscheidung heraus versucht Heidegger, in der oben genannten Vorlesung erste Kategorien zur angemessenen Bestimmung des Lebendigen zu entwickeln. Während Heidegger in der Vorlesung »Die Grundbegriffe der Metaphysik« den Versuch einer kategorialen Bestimmung des Lebendigen aus den verschiedenen Bezugscharakteren von Stein, Tier und Mensch zu dem, was wir unter dem Titel Welt verstehen, unternimmt, entfaltet 1

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er das Problem in der Vorlesung von 1924 aus der Bestimmung des Unterschiedes von λόγος und φωνή. Auf diesen Unterschied nimmt Heidegger auch in der Vorlesung des Wintersemesters 1929/30 ab dem § 72 Bezug, worin sich neben der Verbundenheit der beiden Schriften erneut die Eingebundenheit der Organismus-Thematik, d. h. des Lebensbegriffs, im Denken Heideggers ausspricht.

12 Alles ζῶον ist ein In-der-Welt-sein »Sobald wir die Sache vor Augen und im Herzen das Gehör auf das Wort haben, glückt das Denken.« 2

Auf der Suche nach einer dem Menschen angemessenen differentia specifica zum genus proximum ζῶον schreibt Aristoteles in der »Nikomachischen Ethik« 3 : »[d]ie bloße Funktion des Lebens ist es nicht [die Mensch und Tier unterscheidet], denn dies ist auch den Pflanzen eigen. Gesucht wird aber, was nur dem Menschen eigentümlich ist […]. So bleibt schließlich [nach der Bestimmung der Zweifüßigkeit] nur das Leben als Wirken des rationalen Seelenteils [des λόγος]« 4 als Unterscheidungskriterium übrig. Ausgehend von dieser aus der alltäglichen Erfahrung sich speisenden Definition des Menschen als ζῶον λόγον ἔχον greift Heidegger in § 5 der »Grundbegriffe der Aristotelischen Philosophie« zuerst das genus proximum ζῶον heraus, von dem aus der Mensch von je her definiert wird. 5 Aus der eigenen Selbsterfahrung – als Möglichkeit von Privation – heraus zeigt sich ζῶον/das Lebendige in seiner Seinsweise von solchem unterschieden, das den Charakter der bloßen Vorhandenheit besitzt. Alles ζῶον, so zeigt der erste Anlauf, ist von bloß Vorhandenem insoweit in seiner Seinsweise unterschieden, als ihm ein Sein in der Welt zukommt. »Ein Tier ist nicht einfach auf die Straße gestellt und bewegt sich auf der Straße, indem es von irgendeinem Apparat geschoben wird. Es ist in der Welt in der Weise des Sie-Habens.« 6 Heidegger, Martin: Aus der Erfahrung des Denkens. Pfullingen 1981, S. 9. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Dirlmeier, Franz (Übers.). Stuttgart 1999. 4 A. a. O., Buch I, 1097b. 5 »Der Mensch wird von den Griechen gesehen als ζῶον λόγον ἔχον, nicht nur philosophisch, sondern im konkreten Leben [:]« (GA Bd. 18, S. 18). 6 GA Bd. 18, S. 18. 2 3

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Der λόγος des Menschen und die φωνή des Tieres

Heidegger qualifiziert ζῶον als einen Seinsbegriff, als eine Kategorie des Seins. »Ζωή ist ein Seinsbegriff, ›Leben‹ besagt eine Weise des Seins, und zwar Seins-in-einer-Welt.« 7 Und weiter heißt es »Leben ist ein Wie, eine Kategorie des Seins« 8 . In der Bestimmung dieses Wie liegt die in den »Grundbegriffen der Metaphysik« neue Zugangsweise zum Lebendigen, welche über alle theologische, teleologische, mechanistische und vitalistische Bestimmung des Tiers hinausweisen soll. Solange aber dieses Wie unbestimmt bleibt, bleibt auch Leben als Kategorie selbst ungesichert. Diese erste Charakterisierung des Lebendigen: Alles Lebendige ist ein In-der-Welt-sein, welche in allen anderen bekannten Textstellen für das Dasein reserviert zu sein schien, darf in der Aristoteles-Interpretation jedoch nicht als eine ontologische Bestimmung des Tieres verstanden werden, sondern als ontische Bestimmung des Lebendigen aus einer ursprünglich griechisch, faktisch erfahrenen Welt. 9 Die Bestimmung des In-der-Welt-sein des Tieres macht somit nur Sinn, wenn sie als eine Privation, die aus einem griechisch mythologischen Weltverständnis heraus verstanden wird, in dem das gesamte Walten der Welt als Beseeltes, d. h. Lebendiges, verstanden wurde. Privativ »muß [man] nämlich anfangen bei dem Bekannten« 10 . In den alltäglichen Erfahrungen erleben wir auch heute noch, wie zum Beispiel eine Katze zu ihrem Futter geht, als wäre es für sie das Gleiche, wie es das für uns ist, es ist dieses Futter, was sie so gerne frisst, und wir vermeinen zu vernehmen, dass es ihr heute besonders gut schmecke. Es sieht so aus, als lebte das Tier in der gleichen Welt wie wir. Das aber liege daran – so Jakob von Uexküll in einem Fernsehinterview –, dass sich die Tiere in ihren Umwelten genauso selbstverständlich bewegten, wie wir es in unserer Welt gewohnt seien. Wenn Uexküll die Umwelten der Tiere auch aufgrund des fortgeschrittenen Forschungsstandes seiner Zeit als art- bzw. idealtypisch versteht, so ist beiden doch das Entscheidende gemeinsam, dass sie die Umwelt der Tiere in das Untersuchungsfeld des Organismus als mit diesem untrennbar verbunden denken und thematisieren. Festzuhalten bleibt bisher: »Ein Lebendes ist nicht einfach vorhanEbd. A. a. O., S. 20 f. 9 Die Interpretation geht nicht auf Heideggers ontologische Bestimmung der Struktur des Lebendigen, sondern auf die Nachzeichnung eines griechischen Selbst- und Weltverständnisses aus den Schriften Aristoteles’ und ist daher philologisch zu werten. 10 Nikomachische Ethik. Buch I, 1095a. 7 8

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den (als zugänglich für jedermann), sondern ist in ausdrücklicher Weise [Hervorheb. v. Verf.] noch in seinem Vorhandensein da, es kann sehen, tun, sich bewegen.« 11 In diesem frühen Zitat drückt sich schon eine der Grundforderungen Heideggers an eine phänomenologisch zu begründende Biologie aus, namentlich der Notwendigkeit einer ganzheitlichen Betrachtung des Organismus in seiner Umweltverbundenheit. 12.1 λόγος und φωνή als zwei Weisen des ζῶον »Der Mensch ist ein Sprecher, weil er ein Frager ist. Das Tier kann nicht reden, weil es nicht fragen kann.« 12

Wenn alles Lebendige als In-der-Welt-sein charakterisiert wurde und der Begriff ζῶον/Lebendiges ein Gattungsbegriff ist, dann muss sich ein Unterschied der Modi des In-der-Welt-seins von Mensch und Tier in deren Artbegriffen aufzeigen lassen. Der Mensch wird verstanden als ein ζῶον das λόγος ἔχον/Sprache hat, während im Unterschied dazu das Tier verstanden wird als ein ζῶον das φωνή ἔχον/Verlautbarungen hat. Diese differentia specifica zwischen Mensch und Tier kann in einer so gestellten Definition demnach weder im Begriff des ζῶον noch im Begriff des ἔχον, sondern allein in den Begriffen λόγος/Sprache und φωνή/ Verlautbarung bestehen. Das ἔχον übersetzt Heidegger in Verweis auf das Buch Δ der Metaphysik als ein Haben und Antrieb. 13 Die Übersetzung des ἔχον als Haben/Innehaben ist heute geläufig. Antrieb aber entspricht eher dem griechischen Begriff ἐπιθυμία ἀυτός/aus eigenem Antrieb. Darin zeigen sich das Haben von λόγος/Sprache und das Haben von φωνή/Verlautbarung als zwei Arten der Gattung ζῶον/ des Lebendigen als ein Haben aus eigenem Antrieb. »Der Ausdruck Haben wird in vielfacher Bedeutung [vielfachen Kategorien] gebraucht. In der einen Bedeutung heißt ›haben‹ das seiner eigenen Natur oder seinem Triebe nach etwas Betreiben […].« 14 So verstanden ist das Sprechen und Verlautbaren das, was aus dem Wesen des Menschen bzw. GA Bd. 18, S. 30. Löwith, Karl: Natur und Humanität des Menschen. In: Sämtliche Schriften. Band I. Mensch und Menschenwelt. Stichweh, Klaus (Hrsg.). Stuttgart 1981, S. 285. 13 »Ἔχειν wird in der ›Metaphysik‹ im Buch D, Kapitel 23 bestimmt als ἄγειν, eine Sache ›betreiben‹, in einer Weise sein, nach einem ›Antrieb‹, der von diesem Sein herkommt.« (GA Bd. 18, S. 21.) 14 Metaphysik. Buch V, 1023a. 11 12

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des Tieres selbst hervorgebracht – angetrieben – ist und nichts ist, was dem Menschen oder dem Lebendigen von außen aufgeschraubt wird. So wie das Haben von Sprache den Menschen gegenüber allen anderen Seinsweisen unterscheidet, so unterscheidet auch das Haben von Verlautbarung das Tier gegenüber dem bloß Vorhandenem als auch dem Menschen. Es gilt daher, den λόγος als Ort des Sich-Aussprechens und SichMitteilens aus dem griechischen Verständnis heraus zu entwickeln. Dies führt unmittelbar zu der schon gezeigten Möglichkeit der ἀλήθεια als ein Verhalten des Daseins. In Abgrenzung dazu wird die φωνή/Verlautbarung des Tieres als dessen Modus der Welthabe aufzuzeigen sein. Das Eigentliche, d. h. dem Wesen des λόγος zu eigen Seiende, ist das »[…] ›Sprechen‹, nicht im Sinne des Einen-Laut-von-sich-Gebens, sondern des über etwas Sprechens in der Weise des Aufzeigens des Worüber des Sprechens, durch das sich das Besprochene zeigt. Die eigentliche Funktion des λόγος ist das ἀποφαίνεσθαι, das ›Eine-Sache-zumSehen-Bringen‹.« 15 Dieses Zum-Sehen-Bringen ist auch immer ein Abgrenzen gegen anderes. Dieses Abgrenzen geschieht durch das Aufweisen des genus proximum und der differentia specifica, d. h. des Gattungs- und Artbegriffes. Diese »[ὁ]ρισμός [Abgrenzung] ist ein λόγος, ein ›Sprechen‹ über etwas, ein Ansprechen der Sache ›selbst in dem, was sie ist‹ […]« 16 . Und dies nicht allein im alltäglichen Umgang mit den Sachen, sondern gleichsam im radikalen, forschenden Hinblick auf diese. Das Erstellen der Kategorien ist also kein beliebiges Geschäft, »[…] sondern eine Angelegenheit des Daseins im entscheidenden Sinne, sofern es sich entschlossen hat, radikal mit der Welt zu sprechen, d. h. zu fragen und zu forschen[.]« 17 . Hier zeigt sich die clara et distincta perceptio Descartes’ als in das Wesen des λόγος, als Möglichkeit des Daseins selbst zurückgeführt. Das abgrenzende Sprechen ist ein Festsetzen des Gemeinten, so zwar, dass es dem Besprochenen angemessen ist, es so aufzeigt, wie es sich von sich her zeigt. So ist alles abgrenzende Sprechen ein »λέγειν καθ’ αὑτό« 18 . Darin drückt sich aus, dass alles Sprechen ein λέγειν/Sammeln des Offenbaren ist. Dieses Sammeln liest das Gesammelte nicht nur auf und 15 16 17 18

GA Bd. 18, S. 17. Vgl., GA Bd. 29/30, § 72. GA Bd. 18, S. 17. A. a. O., S. 40. A. a. O., S. 17. A

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entlässt es dann achtlos irgendwohin, sondern das Sammeln als λέγειν nimmt das Gesammelte in seine Hut. »Dem Lesen als λέγειν liegt einzig daran, das von-sich-her-beisammen-vor-Liegende als Vorliegendes in der Hut zu lassen, in die es nieder-gelegt bleibt.« 19 So in die Hut des λέγειν genommen wird das Gesammelte mitgeteilt. Mitgeteiltes bedarf aber zugleich des Vernehmens des Mitgeteilten, d. h. das hörende Vernehmen gehört mit zum einheitlichen Phänomen des λόγος. Als mitgeteiltes Sich-Aussprechen-über … gehört das Mitgeteilte nicht mehr nur mir allein, sondern gerät in den Besitz der Gemeinschaft. In dieser Gemeinschaft ist mit angezeigt, die Möglichkeit der Verselbstständigung des Gesagten, d. h. die Entfernung vom ursprünglichen Orte des An- und Aussprechens sowie der angesprochenen und ausgesprochenen Phänomene, was Heidegger vielerorts als das eigentliche Problem der Wissenschaften aufzeigt. Im Gegensatz zum Menschen spricht das Tier nicht; es stößt Verlautbarungen aus. Das Tier hat das Vermögen der φωνή/Stimme, aber eben keinen λόγος im Sinne des Sprechens über … So übersetzt Heidegger φωνή mit Anzeige. Die Übersetzung der φωνή als Anzeige verweist nicht nur auf die Funktion der Stimme für das Tier, sondern grenzt Stimme von einem bloßen Erzeugen von Tönen wie zum Beispiel dem Husten gleichsam ab. Verlautbarungen sind weder ein Sprechen noch ein bloßes Tönen. Das bloße Erzeugen von Tönen geht aus einem aufeinander Einwirken von Vorhandenem hervor, wie das Ticken einer Uhr oder das Schlagen einer Tür. Im Gegensatz zum Sprechen und Verlautbaren kann ein Ton auch alleine stehen. 20 »Die Stimme [hingegen] ist ein gewisser Ton des beseelten Wesens.« 21 Die Stimme »[…] muß beseelt sein und mit einer gewissen Vorstellung begabt; denn die Stimme ist ein bedeutungsvoller Ton […]« 22 . Die vom stimmhaften Tier ausgestoßenen Verlautbarungen hallen demnach nicht einfach durch den Raum, sondern weisen auf etwas zurück, das vom Tier vernommen wurde. Das Mannigfache der Begegnung begegnet einem Heidegger, Martin: Logos (Heraklit Fragment 50). In: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 1978, S. 203. 20 »Für den Ton ist jedoch nicht entscheidend die Luft oder das Wasser, sondern es muß ein Anschlagen fester Körper gegeneinander und gegen die Luft geschehen. Dies geschieht, wenn die geschlagene Luft zusammenbleibt und sich nicht ausbreitet. Deshalb ertönt sie, wenn sie schnell und heftig geschlagen wird.« (Über die Seele, 419b.) 21 Über die Seele, 420b. 22 Ebd. 19

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Seienden, dem Begegnen-lassen wesenhaft zukommt. Dieses Seiende nennen wir Leben. Das Lebendige ist stets ein Sein, dem etwas in verschiedenen Abstufungen begegnen kann. »Von der Wahrnehmung aber kommt zuerst allen Lebewesen der Tastsinn zu.« 23 Und nur wo ein Tastbares vorliegt, macht Tastvermögen Sinn. Wahrnehmendes ist das Lebendige nicht dann und wann, sondern als In-sein kommt ihm die Möglichkeit des Begegnen-lassen wesenhaft zu. Das heißt: Jedes Seiende, das den Charakter des Lebendigen hat, wird von Welt angegangen. In welcher Weise das Lebendige von den Dingen der Welt angegangen wird, ist abhängig von dessen jeweiliger Aufgeschlossenheit sowohl seiner selbst als auch seiner Welt. »Ferner kommen einigen Lebewesen alle [Seelenvermögen] zu, anderen aber nur einige von diesen, anderen wiederum nur eines. Dies wird den Unterschied der Lebewesen ausmachen.« 24 Αἴσθησις verstanden als tierhaftes Vernehmen – nicht im Sinne der menschlichen Empfindung – charakterisiert diesen dem Lebendigen eigenen Modus der Welthabe des Tieres im antiken griechischen Verständnis und ist als Vernehmen des Angenehmen und Unangenehmen gerichtet auf den Erhalt des Lebens überhaupt. »Wem aber Wahrnehmung zukommt, dem kommen auch Lust und Schmerz, sowie das Lustvolle und Schmerzvolle zu.« 25 Dem Vernehmenden-Haben von Welt ist diese nicht als solche zugänglich, d. h. sie ist dem Vernehmen nicht gegenständlich. Das Begegnende wird nicht als solches wahrgenommen, sondern ist in seinem Umfang abhängig von der Ausprägung der jeweiligen Seelenvermögen eines jeden Tieres. In dieser Weise wird das Begegnende als angenehm oder unangenehm vernommen und in adäquate Reaktionen auf diese hin bzw. von diesen weg beantwortet. Verlautbarung zeigt sich so als eine stimmhafte Reaktion des Tieres, welche die Mitglieder einer Population dazu veranlasst, sich dem Angenehmen zu nähern oder eben dem Unangenehmen auszuweichen. »Schon im Locken und Warnen zeigt sich, daß das Tier mit einem anderen ist. Das Miteinander-sein wird offenbar gerade in dem spezifischen Seinscharakter des Tieres als φωνή. Es wird nicht aufgezeigt, auch nicht kundgegeben, daß etwas als solches da ist. Die Tiere kommen nicht dazu, etwas als vorhanden zu konstatieren, sie zeigen es nur an im Um23 24 25

A. a. O., 413b. A. a. O., 413b–414a. A. a. O., 414b. A

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kreis ihres tierhaften Zutunhabens. Dadurch daß das Tier das Drohende oder Ängstigende usw. anzeigt, gibt es in dieser Anzeige des Daseins der Welt zugleich kund sein Sein in ihr.« 26 Diese Interpretation des Zugangs des Tieres zu seiner Welt kann nur aus der Situation eines welthaften Seienden, sprich dem Dasein selbst, privativ und nicht durch Sublimierung geschlossen werden. Im Absagen des λόγος wird im Zusagen der φωνή die Seinsweise des Tieres im Verständnis Aristoteles’ aus dessen Schriften in den Blick gebracht und ein Weg des Denkens des Lebendigen aus moderner Sicht vorgezeichnet. 12.2 Vorzeichnung des Denkweges aus der Interpretation der φωνή Das Vernehmen und Anzeigen des Angenehmen und des Unangenehmen ist ein Seelenvermögen vieler Tiere und macht neben Bewegungs-, Tast-, Nähr-, und Fortpflanzungsvermögen das Wesen des Tieres aus. 27 Mit Blick auf die Nahrung interpretiert Heidegger das Tier als ein Seinbei-der-Nahrung, als In-der-Welt-sein. Da alles Lebendige durch Wachstum gekennzeichnet ist, Wachstum aber bedingt ist durch das Zur-Welt-gebracht-sein und Da-Haben von Nahrung, so ist alles Lebendige als ein In-der-Welt-sein zu charakterisieren. »In der Nahrungsaufnahme ist ein Lebendes in einer ganz bestimmten Weise in seiner Welt.« 28 Das Aufnehmen von Nahrung – so Heidegger – wäre falsch verstanden, wenn es bloß als ein physischer Prozess, also als mechanischer Vorgang, verstanden würde. Das Aufnehmen von Nahrung ist ontologisch verstanden als ein Sich-Bringen und Halten in der Welt. 29 In diesem letzten Aufweis zeigt sich, dass die Untersuchung und Freilegung der Kategorien des Lebendigen nur im Zusammenhang mit dessen Umwelt durchführbar ist: »Alle Seinsbestimmungen des Lebenden sind primär zu orientieren auf dieses Sein als Dabeisein, von ihm aus bekommt jedes [Lebewesen] erst seinen bestimmten Charakter in seinem GA Bd. 18, S. 55. »Als Vermögen [des Lebendigen] nannten wir das nährende, strebende, wahrnehmende, örtlich bewegende und denkende.« (Über die Seele, 414b.) 28 GA Bd. 18, S. 99. 29 »Auch das Ernähren wäre schief gesehen, wenn man es als physiologischen Vorgang fassen wollte. Fortpflanzung ist zur Welt Bringen, Ernähren sich in der Welt Halten.« (A. a. O., S. 111.) 30 A. a. O., S. 238. 26 27

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Aussehen.« 30 Diese Bestimmung gereicht Heidegger in der Vorlesung des Sommersemesters 1929/30 zu einer allgemeinen Aufgabe der modernen Biologie: Darum muss jedes Lebewesen je nach seiner Art von seinem In-der-Welt-sein aus thematisiert werden, die Pflanze vom Wachstum aus, das Tier von der Wahrnehmung her und der Mensch in Hinsicht auf Offenbarkeit. 31 Und nur von diesem her sind alle anderen Formen des Seins privativ zu enthüllen. 32

»Weil jedes Moment des Voll-Seienden des Lebenden hinsichtlich der ὕλη diesen vollen Charakter hat, muß die Interpretation dieses Seienden ausgehen von dem primären Charakter des In-Seins: bei der Pflanze von der αὔξησις, beim Tier von der αἴσθησις, und φορά, beim Menschen vom νοῦς.« (A. a. O., S. 238 f.) 32 »Nur vom νοῦς her sind die anderen Seinsmöglichkeiten in ihrem Sein zu verstehen.« (A. a. O., S. 239.) 31

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Kapitel 2 Die Entwicklung der Kategorien des Lebendigen aus der vergleichenden Gegenüberstellung von Stein, Tier und Mensch als Versuch zur Lichtung des Weltbegriffs Heideggers Marburger Vorlesung »Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft« 1 des Wintersemesters 1927/28 greift im § 2 die Untersuchung des Weltphänomens insoweit wieder auf, sofern es als zur Seinsweise des Daseins gehörig der Frage nach dem Wesen der Wissenschaft dienlich ist. In dieser grundlegenden Bestimmung des Daseins als In-der-Welt-sein wird fraglich, ob das sich in der Aristoteles-Interpretation zeigende Dabeisein des Tieres als Welthabe qualifiziert werden darf und kann. »Mit Absicht übergingen wir bei der ersten Kennzeichnung des In-der-Welt-Seins Pflanzen und Tiere. Dieses Seiende ist nicht vorhanden, wie Steine es sind, es existiert aber auch nicht in der Weise, daß es sich zu einer Welt verhält. Gleichwohl finden wir bei Pflanzen und Tieren eine Art von Orientiertsein auf anderes Seiendes, das sie in gewisser Weise umgibt. Wir nennen diese Seinsart im Unterschied vom Vorhandensein der materiellen Dinge und von der Existenz des Menschen: Leben. Zwar spricht man von einer Umwelt der Tiere, es bleibt aber die Frage, was hier Welt besagt und ob hier streng genommen von Welt gesprochen werden darf. Denn das, was wir damit meinen, hängt wesentlich zusammen mit […]« 2 der menschlichen Freiheit. Selbst in weiteren Hinwendungen Heideggers zum Idealismus, wie in der 1928 gehaltenen Vorlesung »Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz« als auch in seiner frühen Freiburger Vorlesung »Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) und die philosophische Problemlage der Gegenwart« 3 des Sommersemesters 1929 beschäftigt Heidegger das Problem einer phänomenologisch angemesseHeidegger, Martin: Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft. Gesamtausgabe (= GA) Band 25. Görland, Ingtraud (Hrsg.). Frankfurt am Main 1977. 2 A. a. O., S. 20. 3 Heidegger, Martin: Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) und die philosophische Problemlage der Gegenwart. Gesamtausgabe (= GA) Band 28. Strube, Claudius 1

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nen Differenzierung von Mensch und Tier und damit einer kategorialen Bestimmung des Lebens durchgängig und führte zu der Vorlesung »Die Grundbegriffe der Metaphysik« des Wintersemesters 1929/30, welche im Zentrum der vorliegenden Untersuchung steht. Diese Untersuchung setzt gewissermaßen an der Stelle ein, an der die Interpretation des Lebendigen 1924 stehen geblieben ist und welche Heidegger 1929/30 als Problem folgendermaßen formulierte: 1. Was besagt das Phänomen Welt als zur Seinsweise des Daseins gehörig überhaupt? 2. Wie ist der Modus der Welthabe des Tieres und was sagt dieser Modus über die Seinsweise des Tieres aus? Da, wie Kant schon formulierte, ein Newton der Biologie nicht zu erwarten sei und die Biologie der Forderung auf Exaktheit – in welcher Form auch immer – verhaftet blieb (und bis heute geblieben ist, oder fachfremder Annahmen zur Bestimmung des Lebendigen bedurfte, galt es, die Hinsicht auf das Lebendige zu verändern und somit zu einer ganz neuen Fragestellung zu gelangen, die unwiderlegbar durch die Naturschriften Aristoteles’ und die neueren Forschungsergebnisse Uexkülls motiviert war. Diese neue Fragestellung führte zu der bekannten Gegenüberstellung von Tier (dem Lebhaften), dem Menschen (Dasein) und der Materie (Leblosen) hinsichtlich deren unterschiedlicher Bezüge zu dem, was wir unter dem Titel Welt verstehen. Dabei stellt Heidegger diese erste These das Tier ist weltarm zwischen die beiden Thesen der Mensch ist weltbildend (2. These) und die Materie ist weltlos (3. These), um neben der Hebung des Weltbegriffs den Charakter der Welthabe des Tieres mit Blick auf beide Seiten sichten zu können und aus diesem Gesichteten die kategorialen Bestimmungen des Lebendigen, soweit es diese Methode zulässt, zu entwickeln. Wenn diese Gegenüberstellung von Heidegger als methodischer Ansatz verstanden wird, ist dann die These von der Weltarmut des Tieres überhaupt als Wesensaussage angelegt? Stellt die Unterscheidung von Weltlosigkeit, Weltarmut und Welthabe nicht vielmehr eine dem Tier angemessene Vergleichsmöglichkeit dar, die eine Ontologie des Lebendigen allererst ermöglicht, welche die traditionellen Bestimmungen des Tieres als vernunftloses oder übermaschinelles Seiendes einzuholen sucht und die Voraussetzung schafft, das Tier aus seinem ihm eigentümlichen Sein her zu fassen und zu verstehen? Gründet die These von der Weltarmut (Hrsg.). Frankfurt am Main 1996. »Das ›Leben‹ ›ist ein fortwährendes Kämpfen des Organismus um seine Identität‹.« (A. a. O., S. 189.) A

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des Tieres vielleicht nur darin, dass die Methoden der Biologie das entscheidende Wesensmerkmal verstellt und somit nicht in den Blick bekommen haben? Hinterher ist die langläufige Behauptung, Heidegger habe die These das Tier ist weltarm aufgestellt, grundfalsch.

13 Das Stufenmodell der Natur bei Scheler und Plessner Bevor sich die Untersuchung dem Problem der Armut entscheidend zuwenden kann, gilt es, das von Heidegger kritisierte Stufenmodell der Natur aus den Schriften Max Schelers und Helmuth Plessners in deren Grundstrukturen zu umreißen. Das Problem einer echten Anthropologie besteht sowohl für Heidegger, Scheler als auch für Plessner in der Tatsache, dass sich die Wissenschaft vom Menschen in die verschiedenen Bereiche von Naturwissenschaft, Philosophie als auch Theologie zersplittert hat, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, ein einheitliches Verständnis des Wesens des Menschen in den Blick zu bekommen. In »Die Stellung des Menschen im Kosmos« 4 skizziert Scheler seine Idee einer philosophischen Anthropologie, in welcher er davon ausgeht, dass das Wesen des Menschen nur zu fassen sei, wenn zuvor die Struktur der gesamten physio-psychischen Welt klar dargelegt sei. Denn seiner Auffassung nach vereinen sich alle Stufen der Natur im Menschen. »Unter diesen Begriff der Sublimierung gebracht, stellt die Menschwerdung, wie ich schon sagte, die uns bekannte höchste Sublimierung – und zugleich die innigste Einigung aller Wesensregionen der Natur dar.« 5 Die Grundstufe des Psychischen bildet – nach Scheler – der vernunftlose Gefühlsdrang, der auch bei den Pflanzen im Sinne des Wachsens und Fortpflanzen angelegt ist. Die Pflanze ist somit allein nach außen – wie Scheler (und auch Plessner) schreibt – ekstatisch gerichtet. Ekstatisch bedeutet hier völlige Bezugslosigkeit der Pflanze zu ihrer Umgebung aufgrund fehlender Widerstandserfahrung von dieser her. Diese Widerstandserfahrung eines jeden Lebewesens stellt für Scheler die folgende Stufe der Natur da, die im Instinkt, verstanden als artbezogenes, sinnhaftes und festgeschriebenes Verhalten, zum Ausdruck kommt. »Was ein Tier vorstellen und empfinden kann, ist durch den Bezug seiner angebore4 5

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nen Instinkte zur Umweltstruktur a priori beherrscht und bestimmt.« 6 Alle wiederholten Verhalten des Tieres können sich aufgrund der jeweiligen Komplexität eines Lebewesens zu einem assoziativen Gedächtnis ausbilden. Darunter versteht Scheler ein Ausprägen solcher Verhaltensweisen, die im Laufe der Versuchshandlungen eher zur Triebbefriedigung geführt haben als andere. Den Abschluss der Stufen des Psychischen stellt die Stufe des intelligenten tierischen Verhaltens dar, verstanden als die Möglichkeit zwischen verschiedenen vom Triebkomplex bereitgestellten Verhaltensmöglichkeiten zu wählen, wenn das Tier diese auch vorher noch nie ausgeführt zu haben braucht. Im Gegensatz dazu sind die Leistungen des Menschen nicht nur graduell, sondern wesentlich durch das Auftreten des Geistes unterschieden. »Aber auch das wäre verfehlt, wenn man sich das Neue, das den Menschen zum Menschen macht, nur dächte als eine zu den psychischen Stufen: Gefühlsdrang, Instinkt, assoziatives Gedächtnis, Intelligenz und Wahl noch hinzukommende neue Wesensstufe […].« 7 Dieser Leistungsanstieg charakterisiert den Menschen als Menschen, d. h. als Person. »Das Aktzentrum aber, in dem Geist innerhalb endlicher Seinssphären erscheint, bezeichnen wir als ›Person‹, in scharfem Unterschied zu allen funktionellen Lebenszentren, die nach innen betrachtet auch ›seelische‹ Zentren heißen.« 8 Der Geist steht allem, was diese Stufen des Psychischen veranlassen, frei entgegen und ist in der Lage, diese zu beherrschen. »Der Mensch ist das Lebewesen, das kraft seines Geistes sich zu seinem Leben, das heftig es durchschauert, prinzipiell asketisch – die eigenen Triebimpulse unterdrückend und verdrängend […] – verhalten kann. Mit dem Tiere verglichen, das immer ›Ja‹ zum Wirklichsein sagt […], ist der Mensch der ›Neinsagenkönner‹ […].« 9 Martin Heidegger, dem dieser Text wohl vertraut war, schreibt dazu im § 45 der »Grundbegriffe der Metaphysik« Folgendes: »In jüngster Zeit hat Max Scheler im Zusammenhang einer Anthropologie versucht, diese Stufenfolge von materiellem Seienden, Leben und Geist einheitlich zu behandeln aufgrund einer Überzeugung, wonach der Mensch das Wesen ist, das in sich selbst alle Stufen des Seienden, das physische Sein, das Sein von Pflanze und Tier und das spezifisch geistige Sein, in 6 7 8 9

A. a. O., S. 21. A. a. O., S. 37. A. a. O., S. 38. A. a. O., S. 55. A

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sich vereinigt. Ich halte diese These für einen Grundirrtum der Schelerschen Position, der ihm überhaupt den Weg zur Metaphysik notwendig verschließen muß.« 10 Der grundsätzliche Irrtum zeigt sich darin, dass Scheler den Menschen nicht von sich her, d. h. von der Struktur des Daseins und dessen was es ist, namentlich Seinsverständnis, zu fassen sucht, sondern von den Stufen des Psychischen, die er der Natur unterlegt, und sich damit gleichsam der Möglichkeit entzieht, das Wesen der Natur entsprechend zu verstehen. Zudem musste ihm aufgrund seiner Programmatik und der damit vorgezeichneten Methode das metaphysische Fragen im Sinne des inbegrifflichen Fragens unzugänglich bleiben. »Trotzdem ist andererseits die Fragestellung Schelers, so programmatisch sie geblieben ist, in vielen Hinsichten wesentlich und allem Bisherigen überlegen.« 11 Die von Heidegger gesehene Überlegenheit Schelers gegenüber allen anderen ist in dessen Fragen nach einer einheitlichen Idee vom Menschen zu sehen, die diesen nicht auf seine Rationalität verkürzt und zu der Bestimmung des Menschen als ein Offenes-Welt-haben führt. »Ein ›geistiges‹ Wesen ist also nicht mehr triebund umweltgebunden, sondern ›umweltfrei‹ und, wie wir es nennen wollen, ›weltoffen‹: Ein solches Wesen hat ›Welt‹.« 12 Heidegger übernimmt die von Scheler geprägten Begriffe der Weltoffenheit und Welthabe, wenn er diese auch anders als Scheler nicht im Geist, sondern in der Struktur des In-der-Welt-seins verortet. Auch Plessner versuchte 1927 in den Stufen ein einheitliches Verständnis des Menschen zu entwickeln. Darin sollte der Mensch aus einer naturphilosophischen und einer geschichtlichen Betrachtung erschlossen werden; ein Vorgehen, das Plessner in der dem Menschen eigentümlichen Doppelaspektivität (NaturundGeschichte) begründet sah. Dass Heidegger auf Plessners Schrift explizit nie Bezug nahm, ist wohl auf dessen freundschaftliches Verhältnis zu Max Scheler zurückzuführen, welcher – wie Plessner im Vorwort zur zweiten Auflage der Stufen selbst beschreibt – die Stufen als ein Plagiat seiner eigenen Arbeit ansah. 13 Plessner stützt, wie auch Heidegger, seine Theorie auf die Arbeiten GA Bd. 29/30, S. 283. Ebd. 12 Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 38. 13 »Was lag näher, als das schwerfällige Werk eines Unbekannten für die Ausführung Schelerscher Gedanken zu halten, zumal es, oberflächlich gesehen ihrem Stufenmodell zu folgen schien.« (Die Stufen des Organischen, S. VII.) 10 11

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von Hans Driesch als auch von Jakob von Uexküll, in deren Laboratorien er zeitweise mitgearbeitet hatte. Daher sind auch Parallelen in der Auslegung des Grundgeschehens von Leben bei beiden Autoren zu erwarten. Plessner unterscheidet die unbelebte Materie vom Belebten hinsichtlich ihrer verschiedenen Grenzcharaktere. Während sich der Charakter der Grenze beim Materiellen als bloße Kontur gegen anderes zeigt, gehört die Grenze des Lebendigen als von ihm selbst gezogene wesenhaft mit zu diesem und verbürgt ihm eine wie auch immer geartete Positionalität. Hinsichtlich dieser unterscheidet Plessner die Formen des Lebendigen: dem Tier kommt in dieser Unterscheidung ein wenn auch dumpfes Einnehmen eines ihm zugehörigen Raumes ein, was der Pflanze nicht gegeben ist. Das Tier ist in diesem Modell auf der nächsten Stufe dadurch bestimmt, dass es im Gegensatz zum Menschen nicht ex-zentrisch sondern zentrisch ist. Darin drückt sich aus, dass sich das Tier nur durch auf es einwirkende Widerstände als eine Art Aktzentrum hat, während der Mensch sich selbst gegenüberzutreten in der Lage ist und so von außen auf sich zukommen kann. Die von Plessner eingenommene Blickrichtung auf die verschiedenen Seinsweisen hinsichtlich ihrer ihnen zukommenden Grenzcharaktere und Weisen von Positionalität berücksichtigt zwar die Umwelteingebundenheit des Tieres, aber sobald er von einem »Plus [Hervorheb. v. Verf.] jener rätselhaften Eigenschaft des Lebens« 14 spricht, die das Lebendige vom rein Materiellen unterscheiden soll, nimmt auch er sich die Möglichkeit, den Charakter des Lebendigen von diesem aus zu erfassen und darzustellen. In diesem verhängnisvollen Plus zeigt sich die grundsätzliche Schwierigkeit jeglicher Stufenmodelle und deren Unvermögen, die Natur in ihrer Unverborgenheit in den Blick zu nehmen.

14 Die Privation der Weltarmut aus der Weltbildung In der Untersuchung des Begriffes Weltarmut stellen sich zunächst die Fragen: Was besagt Weltarmut überhaupt? Was bedeutet arm sein? Wie können wir dem Tier den Begriff Armut überhaupt zustellen? Woher nehmen wir den Begriff Weltarmut? Wie lässt sich dieser Begriff, wenn er denn überhaupt auf das Tier anwendbar ist, phänomenologisch aufweisen? 14

Die Stufen des Organischen, S. 89. A

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Heidegger beginnt die Untersuchung der Verifizierbarkeit der These das Tier ist weltarm, indem er ihr die These der Mensch ist weltbildend gegenüber stellt: »Das Tier ist weltarm. Es hat weniger. Wovon? Von solchem, das ihm zugänglich ist, von solchem, womit es als Tier umgehen kann, wovon es als Tier angegangen werden kann, wozu es als Lebendiges in Beziehung steht […]. Demgegenüber ist die Welt des Menschen reich, größer an Umfang, weitergehend an Eindringlichkeit […].« 15 Dieser Unterschied von arm und reich wird vor allem aus dem Bereich der Biologie gespeist, der den Menschen im Unterschied zum Tier von seiner ratio her versteht. So heißt es bei Buytendijk: »Der Mensch hat im intelligenten Akt das ›Andere‹ […]. Das Tier ›hat‹ nichts als das Notwendige – seine Umwelt –, d. h. es ist arm. Der Mensch hat mehr als er braucht – seine Welt –, d. h. er ist reich.« 16 Das Ärmere scheint gegenüber dem Reicheren unvollkommener zu sein. Doch eine solche Interpretation von arm und reich in diesem Zusammenhang erweist sich als völlig unzulässig, denn, wenn auch der Wurm weniger Weltbezüge besitzt als das Pferd, das Pferd weniger als der Mensch, so könnte weder das Pferd die Aufgaben des Wurmes erfüllen noch der Mensch die Aufgaben des Pferdes. Daher ist jeder Gedanke einer Hierarchie, d. h. eines wie auch immer gestellten, evolutionär bedingten Stufenmodells von der Gegenüberstellung der Wesensarten von Materie, Tier und Mensch fern zu halten. 17 Die These das Tier ist weltarm ist für Heidegger daher als eine »vergleichende Illustration« 18 zu werten, in der sich das von der Biologie gezeichnete Bild des Lebendigen auszudrücken versucht. So verfehlt auch Max Scheler aufgrund seiner Sublimierungstheorie das Wesen des Lebendigen zu fassen, wenn er in »Die Stellung des Menschen im Kosmos« zum Ausdruck bringt, dass

GA Bd. 29/30, S. 284 f. Buytendijk, F. J. J.: Zur Untersuchung des Wesensunterschieds von Mensch und Tier. In: Blätter für Deutsche Philosophie. Zeitschrift der Deutschen Philosophischen Gesellschaft. Fischer, Hugo (Hrsg.). Band 3. Amsterdam 1971, S. 65. Vgl. auch: Heidegger, Martin: Parmenides. Gesamtausgabe (= GA) Band 54. Frings, Manfred S. (Hrsg.). Frankfurt am Main 1982, S. 229. 17 »Ebenso würde ein Pferd die Rolle eines Regenwurms nur sehr unvollkommen ausfüllen.« (Uexküll, Jakob von: Umwelt und Innenwelt der Tiere. Berlin 1921, S. 4.) 18 GA Bd. 29/30, S. 393. 15 16

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die Weltoffenheit des Menschen ein »Reicherwerden […] des Lebens« 19 schüfe. Auch spricht sich die vermeintliche Weltarmut des Tieres nicht über etwas aus, wovon das Tier zuvor mehr besessen hätte. Deutet man Armut, wie Buytendijk und Scheler als ein Weniger-Haben, als ein Nicht-Besitzen, dessen es bedürfe, um reich zu sein, dann setzt man Welt mit Quale gleich. Dann hat der Reiche natürlich gegenüber dem Armen mehr. Die Umwelt der Tiere, so zeigen die Versuche Uexkülls, der diesen Begriff prägte, ist beschränkt in ihrem Umfang. Aber sind Welt und Umwelt das gleiche? Was bedeutet hier Umwelt bei Uexküll und was bedeutet Umwelt und Welt im Sinne Heideggers? Fragen, die im Durchgang zu behandeln sein werden. Die Umwelt der Biene zum Beispiel ist erfüllt von Bienendingen. Die Umwelt der Biene ist der Biene eine Bienenwelt. Die Weite des Umfangs ist abhängig von der Zugänglichkeit des einzelnen Tieres, d. h. von dem, was in der jeweiligen Tierwelt überhaupt vorkommt. 20 Im Vergleich dazu sind der Umfang und die Eindringlichkeit, also die Intensität von Zugänglichkeit beim Menschen vermehrbar, d. h. der Mensch bildet Welt. Er kann die Dinge der Welt erschließen und die erschlossenen Dinge zu einer Welt, einem Weltgebilde fügen. Der Mensch hat nicht nur Welt als einen festen Bestand von Gegenständen und Einsichten, die sein Weltbild prägen, er kann diese darüber hinaus vermehren. Das zeigt sich am deutlichsten im Herstellen. Aber geht darin das Wesen von Welt auf? Sowohl die Interpretation des Tieres als arm als auch die Interpretation von Welt als bloße »Summe des zugänglichen Seienden« 21 verbauen unbemerkt den Weg zu diesen Phänomenen von vornherein und führen zu Dogmen, die es aufzulösen gilt. Die irrige Unterscheidung zwischen vollkommen und unvollkommen findet sich auch in der Taxierung der verschiedenen Tiere, in der Einzeller als niedere Wesen und Wirbeltiere als höhere Wesen eingestuft werden, wieder. Eine Taxierung, in welcher der Mensch an höchster Stelle stehend sich selbst ausweist. Diese vermeintliche Höhe wird errungen um den Preis des tiefsten Falls. Der Mensch muss erst zu dem werden, was er sein kann, um diese Höhe zu erreichen. Er ist besorgt um sein Mensch-sein-können. 19 20 21

Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 31. Vgl. Theoretische Biologie 1973, S. 150 f. GA Bd. 29/30, S. 285. A

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Das Tier hingegen ist, wie es ist, was es ist. Man stellt sich besser, wenn man von komplexen und weniger komplexen Lebensformen spricht, wohlweislich, dies nicht wieder als eine Hierarchisierung fehl zu verstehen. »Jedes Tier und jede Tierart ist als solche gleich vollkommen wie die andere.« 22 Die Bestimmung des Unterschiedes von Leblosem, Lebendigem und dem Menschen läuft bei Heidegger folglich nicht wie bei Max Scheler oder Helmuth Plessner auf ein hierarchisches Stufenmodell hinaus. »Die Rede von Weltarmut und Weltbildung ist von vornherein nicht im Sinne einer abschätzigen Stufenordnung zu nehmen. Zwar wird ein Verhältnis und Unterschied ausgedrückt, aber in anderer Hinsicht. In welcher? Diese suchen wir eben.« 23 Und auf Grund dieser Suche gilt es, den Begriff der Armut näher in den Blick zu bekommen.

14.1 Phänomenologischer Aufweis der Weltarmut In der ersten Entwicklung der These das Tier ist weltarm schien das Tier zunächst weniger von dem zu haben, was der Mensch hat. Während sich dem Menschen Welt als solche offenbarte, so schien das Tier nur Ausschnitte derselben zu haben. Darin spricht sich aus, dass das Tier die Welt des Daseins weder in dessen Vielfalt vernehmen noch in dessen Möglichkeiten in Welt hinein wirken kann. Wie ist das Absagende-Zusprechen der Privation Weltarmut faktisch erfahrbar und phänomenologisch aufweisbar? Heidegger bezieht in der weiteren Gegenüberstellung von Mensch und Tier im vorletzten Abschnitt des § 46 den Begriff der Weltarmut auf den Menschen selbst: »Das Arme ist keineswegs das bloße ›Weniger‹, das bloße ›Geringer‹ gegenüber dem ›Mehr‹ und dem ›Größer‹. Armsein heißt nicht einfach, nichts oder wenig oder weniger besitzen als der andere, sondern Armsein heißt Entbehren.« 24 Es kommt darauf an, »wie ihm [dem Menschen] dabei zu Mute ist – Ar-mut« 25 . Mutete Heidegger dem Tier mit dieser Bestimmung nicht etwas zu viel zu? Käme diese Auffassung nicht dem Verständnis der Armut der Kreaturen 22 23 24 25

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A. a. O., S. 287. Ebd. Ebd. Ebd.

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bei Paulus gleich, die darauf harren, aus ihrem Jammertal erlöst zu werden? 26 Psychologisiert Heidegger hier etwa? Auch Plessner fragt kritisch in dieselbe Richtung – ohne jemals die Schrift gelesen haben zu können – »Wie also dem Tier zumute [Hervorheb. v. Verf.] ist, in welcher Qualität es erlebt –, diese Fragen sind aufs strengste daraufhin zu prüfen, ob sie sich noch im Rahmen der Beantwortbarkeit halten.« 27 Eine Kritik, der im weiteren Verlauf noch zu begegnen sein wird. Wir wollen zunächst den Ausführungen Heideggers folgen: Es handelt sich bei der Armut also um eine bestimmte Stimmung in einer definierten Befindlichkeit. Diese Auslegung der Armut gibt einen Weg vor, die Armut phänomenologisch zu fassen. Ein Beispiel der Erfahrung von Weltarmut zeigt sich in Heideggers Behandlung der Stimmung der Langeweile. Wenn der Begriff Armut ein Fehlen von Weltbezügen ausdrückt, dann heißt das auf den Menschen bezogen nichts anderes, als dass die Dinge der Welt ihn nicht mehr angehen, nichts mehr angehen. Die Dinge sind im Umfeld des Daseins vorhanden, aber sie versagen sich und versagen in einem damit den umgehenden Zugriff auf sie. Eine solche Erfahrung finden wir in der Stimmung der Langeweile. »Dieses Seiende im Ganzen versagt sich, und das wiederum nicht nur in einer bestimmten Hinsicht, mit Rücksicht auf ein Bestimmtes, in Absicht auf Bestimmtes, das wir mit dem Seienden etwa anfangen wollten, sondern dieses Seiende im Ganzen in der genannten Weite nach jeder Hinsicht und in jeder Absicht und für Das ganze Tierreich durchzieht ein Zittern, ob der Ausbreitung des Dramas der Erbsünde auf eben dieses. »Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet, daß Gottes Kinder offenbar werden. Es ist ja die Kreatur unterworfen der Vergänglichkeit […] auf Hoffnung; denn auch die Kreatur wird frei werden von der Knechtschaft des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß alle Kreatur sehnet sich mit uns und ängstet sich noch immerdar.« (Paulus: Der Brief des Paulus an die Römer 8, 19. In: Die Bibel. Neues Testament. Wuppertal 1961.) 27 Die Stufen des Organischen, S. 68. Wenn auch Plessner den Terminus Zumute-sein verwendet, stellt sich die Frage, ob es sich hier um einen zeitgenössischen Ausdruck handelt oder der Gebrauch dieses Terminus zufällig ist. Die Frage kann hier nicht beantwortet werden, ist aber möglicherweise von Driesch oder Uexküll gestiftet. Plessner selbst hat Heideggers Abhandlung über den Organismus nicht gelesen haben können, da »Die Grundbegriffe der Metaphysik« 1983 zum ersten Mal veröffentlicht wurden, während das Vorwort zur Neuauflage der Stufen – nach Plessner – 36 Jahre nach der Erstveröffentlichung 1928, also im Jahre 1964 geschrieben wurde. (Vgl. Die Stufen des Organischen, S. VII.) Auch seine Kritik an Heidegger hinsichtlich der privativen Bestimmung des Organischen richtet sich ausschließlich auf Sein und Zeit. (Vgl. a. a. O., S. XII f.) 26

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jede Rücksicht. Dergestalt im Ganzen wird das Seiende gleichgültig.« 28 Diese Gleichgültigkeit und die damit einhergehende Leergelassenheit bezeichnet Heidegger im darauf folgenden Abschnitt selbst als »Verarmung« 29 . So bricht in der Thematisierung der Langeweile ein mögliches Verständnis des Phänomens der Weltarmut auf, welches keines theologischen Vorverständnisses bedarf. Die Stimmung der Armut kann zum weiteren am Leibphänomen der Verletzung verdeutlicht werden, zu der uns Henri Bergson in seiner Schrift »Materie und Gedächtnis« 30 führt. Im Zuge der Bestimmung der Funktionen des Leibes definiert er die Wahrnehmung als ein selektives Verhalten, dessen sich ein Lebewesen bedient, um sich aus der Vielzahl der Wahrnehmungsqualitäten solche herauszuschneiden, die für sein Leben von Interesse sind. Die ausgeschnittenen Wahrnehmungs-Qualitäten werden aufgrund von Reizleitungen mehr oder weniger direkt in Handlungen in den Wahrnehmungshorizont hin, den wir beim Menschen als Welt charakterisieren, umgesetzt. Durchtrennt man eine oder mehrere dieser Nervenbahnen, so wird dem Leib damit nicht allein die entsprechende Empfindung von Reizen im wahrsten Sinne des Wortes abgeschnitten, sondern auch ein dem entsprechendes Handeln unmöglich. 31 Verletzt man also eine dieser Reizleitungen, so nimmt man dem Leib sowohl eine Perspektive zur Welt als auch eine Möglichkeit, in diese hinein zu handeln. Heidegger drückt dies von Bergson gesehene Phänomen in späteren Jahren so aus: »Jede Krankheit ist ein Verlust an Freiheit, eine Einschränkung der Lebensmöglichkeit.« 32 Es zeigt sich, dass mit jeder Verletzung des eigenen Leibes immer auch eine Reduktion meines Handelns einhergeht, die uns das Phänomen der dem Tier zugesprochenen Weltarmut am eigenen Leib

GA. Bd. 29/30, S. 215. Ebd. 30 Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis, Frankenberger, Julius (Übers.). Hamburg 1991. 31 »Soviel Fäden von der Peripherie zum Zentrum laufen, soviel Punkte im Raume gibt es, die an meinen Willen appellieren und sozusagen eine elementare Frage an meine motorische Tätigkeit richten können: jede solche Frage ist eben das, was man eine Wahrnehmung nennt. Deshalb wird unsere Wahrnehmung um eins ihrer Elemente verringert, so oft einer der sogenannten sensorischen Fäden durchschnitten wird, denn dadurch wird ein Teil des äußeren Gegenstandes außerstand gesetzt, an unsere Tätigkeit zu appellieren […]« (a. a. O., S. 30 f.). 32 ZS, S. 202. 28 29

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erfahren lässt. Ob dem Begriff der Weltarmut oder des Entbehrens ein Vorrang einzuräumen ist, müssen die Analysen zeigen. Weiter versuchen wir aus Heideggers Vortrag »Armut«, den er kurz nach Kriegsende zur Lage der Völker aus dem Hölderlin-Fragment Über die Geschichtsperioden des Abendlandes 33 entwickelte, einen Weg zu finden, uns das Wesen der Weltarmut bzw. des Entbehrens näher zu bringen. Dort heißt es: »Es koncentrirt sich bei uns alles auf’s Geistige, wir sind arm geworden, um reich zu werden.« 34 Arm – so betont Heidegger auch hier – wird im gewöhnlichen Sprachgebrauch vom Haben her gedacht. Arm-sein heißt: Weniger-Haben als der Reiche hat. Heidegger schreibt: »Armut ist ein Nicht-Haben und zwar ein Entbehren des Nötigen. Reichtum ist ein Nicht-Entbehren des Nötigen [und sogar], ein Haben über das Nötige hinaus.« 35 Bedeutet Armsein und Entbehren doch dasselbe? Was ist das Nötige, wenn wir diese Textstelle auf das Wesen des Tieres beziehen wollen? Geht das überhaupt? »Das Wesen der Armut beruht jedoch in einem Seyn. Wahrhaft arm seyn besagt: so seyn, daß wir nichts entbehren, es sey denn das Unnötige.« 36 Das hier gemeinte Sein drückt – wie schon oben – einen Wesensbezug zum Sein und somit zum Seienden aus. Der Charakter Armut macht eine Wesensbestimmung aus. Arm-sein heißt bis jetzt: das Unnötige entbehren oder positiv gewendet heißt Arm-sein: nur das Nötige haben. »Wahrhaft entbehren heißt: nicht seyn können ohne das Unnötige und so gerade einzig dem Unnötigen gehören.« 37 Das Nötige ist das, was einen Zwang ausübt, und dieses ist, »[d]as in unserem ›Leben‹ die Bedürfnisse zu seiner Erhaltung erzwingt und uns ausschließlich in die Befriedigung dieser Bedürfnisse zwingt.« 38 Hier kommt zum Ausdruck, was Heidegger verstanden hat, als er die Zugangsweise des Menschen zum Tier als Privation charakterisierte. »Die Ontologie des Lebens vollzieht sich auf dem Wege einer privativen Interpretation; sie bestimmt das, was sein muß, daß so etwas wie Nurnoch-leben [Hervorheb. v. Verf.] sein kann.« 39 Dieses Nur-noch-Leben Zitiert nach Heidegger: Armut. S. 5. Heidegger zitiert Hölderlin nach der Hellingrathschen Hölderlin-Ausgabe 1943, III3, 621. 34 Ebd. 35 A. a. O., S. 8. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 SuZ, S. 50. 33

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heißt dann, das Nötige haben, um in der Weise des Lebendigen zu sein. Auch dem Menschen kommt Leben zu, wenn das Wesen des Menschen auch nicht in dieser Bestimmung aufgehen kann, so lässt sich von dessen eigener Lebewesenhaftigkeit auf Lebewesenhaftigkeit überhaupt schließen. Eine Behauptung, die sich in der Frage nach der Strebigkeit des Tieres im Drangphänomen bestätigt finden wird. Wenn wir auch beim Menschen eigentlich nicht von Lebewesen, sondern eben vom Menschenwesen sprechen müssen. Unnötig ist, was nicht zwingendermaßen sein muss, d. h. was frei bestimmt ist. Das Freie wendet die sich durch den Zwang ergebene Not ab. Das Freie ist das Notwendende. »Das Be-freite ist das in sein Wesen Gelassene und vor dem Zwang der Not Bewahrte.« So bestimmt die Freiheit den Menschen in gleicher Weise wie die Armut das Tier. Der Mensch unterliegt nicht den Zwängen, in welchen das Tier seiner Organisation nach gezwängt ist, sondern er steht im offenen Bezug zu dem, was wir unter dem Titel Welt verstehen. Nach dieser Interpretation kann das Tier nicht entbehren, da es wesenhaft arm ist. Armut wohlverstanden als Privation, d. h. aus der vollen Habe des Daseins. Ein letzter an dieser Stelle versuchter Weg geht von der etymologischen Bedeutung des Begriffes Entbehren aus, welcher uns das darunter Vorgestellte näher bringen soll: Entbehren bedeutet in seinem Ursprung: nicht tragen oder auch nicht bringen. 40 Wenn das Entbehren von Welt so auf das Tier als wesenhaft zur Tierheit gehörig bezogen wird, dann ergibt sich: Das Tier bringt nicht Welt im Sinne des Hervorbringens, es bildet und trägt sie nicht, noch kommt es als von ihr Gebrachtes und Gehaltenes von dieser her zu sich. Ob diese Interpretation in irgendeiner Weise fruchtbar zu machen ist, wird sich im Fortgang zeigen müssen. Aber zumindest zeigt sich darin ein Zug, der einen möglichen Unterschied zum Begriff der Weltbildung darstellen könnte, wenn dieser auch selbst noch nicht in seiner Bedeutung gefasst ist.

14.2 Weltarmut des Tieres und Weltlosigkeit des Steins Die erste Gegenüberstellung von Mensch und Tier zeigte, dass das Tier einen, wenn auch noch dunklen Bezug zu dem hat, was wir unter dem Titel Welt verstehen. Zur näheren Bestimmung des Terminus Welt40

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Vgl. Kluge, S. 246.

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armut soll in Folge der These das Tier ist weltarm die These der Stein ist weltlos gegenüber gestellt werden. In beiden Thesen spricht sich ein Nicht-Haben von Welt aus. Doch zeigte sich bereits, dass das NichtHaben von Welt beim Tier nicht absolut gesetzt werden kann. »Weltarmut ist ein Entbehren von Welt. Weltlosigkeit ist eine solche Verfassung des Steines, daß der Stein dergleichen wie Welt nicht einmal entbehren kann.« 41 Zunächst gilt es, den Begriff Welt, der in allen drei Thesen vertreten ist, näher zu bestimmen. Hat die Untersuchung der Bezugsweisen von Tier und Mensch eine gewisse, wenn auch noch unbestimmte Zugänglichkeit des Tieres zu dem, was wir unter dem Titel Welt verstehen, gezeigt, dann muss der Charakter der Zugänglichkeit in irgendeiner Form mit zu dem Phänomen Welt gehören. Eine Zugänglichkeit, die sich schon in der Aristoteles-Interpretation als ein Dabei-sein zeigte. Diesen Charakter unterstreicht Heidegger – über die Vorstellung der Welt als Summe von Seienden hinaus – wenn er Welt als das je zugängliche und umgängliche Seiende bestimmt. Einen solchen Zugang besitzt der Stein nicht. Bevor Heidegger sich zur Hebung des Wesens des Lebendigen den Ergebnissen der neueren Biologie zuwendet, versucht er, dessen Verständnis aus dem ursprünglichen Begegnungscharakter von Materiellem und Lebendigem, welcher aller Theoretisierung zugrunde liegt, anhand einiger Beispiele aufzuzeigen. Wir sehen einen Stein. Der Stein liegt auf dem Boden. Berührt der Stein den Boden, auf dem er liegt? Liegt er auf dem Erdboden? Ich hebe den Stein auf, er ist von der Sonne gewärmt und ein wenig rau. Begegnet mir dabei aber der Stein in einer Weise, als ob er einen Bezug zu meiner Hand bekunde? Nein! Ich werfe ihn weg. Er bleibt dort liegen. Er ist von hier nach dort gelangt, weil ich ihn bewegt habe. Der Stein berührt den Boden nicht, da es zu einem Berühren einer gewissen Zugänglichkeit bedürfte. Der Stein liegt auch nicht zwischen den anderen Dingen auf dem Weg. Der Stein kommt nur unter anderen Dingen des Weges vor. Der Stein ist weltlos. »Der Stein liegt z. B. auf dem Weg […]. Die Erde ist für den Stein nicht als Unterlage, als ihn, den Stein, tragend [Hervorheb. v. Verf.], geschweige denn als Erde gegeben, noch kann er gar im Aufliegen dieser Erde als solcher nachspüren […]. Weil der Stein in seinem Steinsein überhaupt keinen Zugang hat zu 41

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etwas anderem, worunter er [als etwas Vorhandenes] vorkommt, um dieses andere als solches zu erreichen und zu besitzen, deshalb kann er auch überhaupt nicht [wie das Tier] entbehren.« 42 Diese Zugangslosigkeit macht das Wesen des Steines aus – stellvertretend für den gesamten Bereich der Materie. Sie ermöglicht erst das Steinsein. Das Materielle begegnet zwar in der Welt des Daseins, ist aber als dieses nicht selbst welthaft. Zu bemerken sei noch, dass in der Analyse, wenn auch unscheinbar, die Zuhandenheit der Dinge für den Menschen beim Stein ihren Aufgang findet, denn die Eidechse benutzt den Stein nicht als solchen. Der Mensch aber hat sich im Laufe seiner Evolution dazu qualifiziert, sich vom Gebrauch des Steines her hin zum Techniker zu entwickeln. 43 Heidegger fährt mit der Beschreibung der Zugänglichkeit der Tiere anhand der Beobachtung einer Eidechse fort. Dabei ist der Begegnungscharakter ein ganz anderer. Die Eidechse liegt auf einer Steinplatte. Sie kommt im Gegensatz zum Stein nicht einfach auf einer von der Sonne erwärmten Steinplatte vor. Sie wurde dort nicht hingeworfen und ist dann dort liegen geblieben, sondern es ist zu beobachten, dass sie von selbst auf diese gelangt. Sie hat die Steinplatte aufgesucht. Sie wärmt sich in der Sonne auf. Dieses Sich-aufwärmen darf aber nicht als ein Sonnen verstanden werden. Denn das würde ein Einfühlen und d. h. ein Psychologisieren des Tieres bedeuten, also ein Verbauen der freien Sicht auf das Gegebene. Für die Steinplatte hingegen ist die Eidechse nicht vorhanden. Nicht, weil diese in der Welt der Steinplatte nicht vorkäme, sondern weil der Stein wesenhaft keine Zugänglichkeit und in einem damit keine Welt hat. Der Eidechse aber ist Zugänglichkeit wesenhaft zu eigen, und so wird ihr die Steinplatte auch zu einem Bezugsding, wenn auch nicht als Steinplatte. Beobachten wir weiter, wie ein Käfer einen dünnen Ast entlang krabbelt, so ist dieser Käfer nicht einfach auf dem Ast oder wird vom Wind den Ast hinauf geblasen, d. h. von außen bewegt, wie ich einen Stein werfen kann, sondern er bewegt sich von selbst über den Ast hin zu dem Blatt, das ihm Käfernahrung bietet. Der Ast ist dem Tier zwar nicht als Ast – wie verschiedene Versuche Uexkülls zeigen – an einer A. a. O., S. 290. »Der Mensch […], er kommt vom Stein her […]« (Sloterdijk, Peter: Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger. Frankfurt am Main 2001, S. 180).

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stolzen Buche in einem Mischwald, der zur Rohstoffgewinnung angelegt ist, gegeben, doch lässt sich ein gewisser Bezug des Tieres zu diesem Ast nicht verleugnen, wenn es zielstrebig, ja unter Vorwand den Ast zum Futter hin zu erklimmen scheint. Dass dies so aussieht, liegt darin, dass sich das Tier genauso selbstverständlich in seiner Umwelt bewegt, wie wir uns in unserer Welt bewegen. Umwelt bezeichnet somit vorläufig den Weltenausschnitt, den das Tier aufgrund seiner Sinnes- und Wirkorgane besitzt. Aufgrund dieses Charakters der Umwelt wird dem Tier von der Welthabe des Daseins aus privativ ein Sein in einer je spezifischen Umwelt wesenhaft zugesprochen. Die Weltarmut drückt in einem solchen Zusprechen die Seinsweise des Tieres aus, die sich als ein Absprechen von Welthabe versteht. In diesem ursprünglichen Zugang des Menschen zum Lebendigen zeigt sich gerade die in den Wissenschaften so lange vergessene Umwelthaftigkeit des Lebendigen. Diese Umwelthaftigkeit unterscheidet das Tier wesentlich vom rein Materiellen und so zeigt sich schon aus dem Wenigen die Unmöglichkeit der Unterstellung des Organismus unter mathematische Naturgesetze. Zudem leistet Heidegger mit der hier getroffenen Unterscheidung einen entscheidenden Beitrag zum Verständnis der Eigengesetzlichkeit des Lebendigen und erfüllt gleichsam die an sich selbst gestellte Forderung, die Zugänglichkeit auf phänomenologische Weise aufzuzeigen.

14.3 Umgebungskreise und Dauer Die Beziehung des Tieres zu seiner Umwelt zeigt sich in seinem Haben von Nahrung, d. h. Beute, Feinden, für die es selbst Nahrung darstellt, und Geschlechtspartnern. Darin offenbart sich ein direkter Bezug zu der These: Das Tier ist ein In-der-Welt-sein, welche sich aus der Aristoteles-Interpretation ergab. Diese Bezüge – so zeigen die späteren Reflexionen Heideggers in »Leitgedanken zur Entstehung der Metaphysik, der neuzeitlichen Wissenschaft und der modernen Technik« – zur »Um-gebung« dienen allesamt der »Lebens-sicherung« 44 . Heidegger ersetzt in diesen Aufzeichnungen den von Uexküll geprägten Begriff der Umwelt, verstanden als Zugangsbereich von Mensch und Tier, durch den Begriff der Umge44

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bungskreise. Der Begriff versucht, den Charakter der von Uexküll bezeichneten Funktionskreise, mit denen sich das Tier in seine Umwelt einpasst, wiederzugeben, ohne den fraglich gewordenen Begriff Welt erneut setzen zu müssen. Die Umgebungskreise sind Nahrungskreis (Sicherung des einzelnen Tieres), Fortpflanzungskreis (Sicherung der Art) und der Feindeskreis (Sicherung des Einzelnen und der Art) und das Medium (Sicherung der Umgebung). Dabei sendet das Medium im Gegensatz zu den übrigen Kreisen, solange es nicht verlassen wird, keinen Reiz aus, d. h. der Fisch befindet sich so wenig im Wasser, wie der Vogel in der Luft. Erst beim Verlassen des Mediums wird das Tier gereizt und zum Aufsuchen des ihm zuträglichen Mediums angetrieben. Alle Kreise haben ein Gemeinsames: Sobald in ihnen etwas auftritt, das einen Reiz ausübt, so wird mit dem Versuch auf Vertilgung desselben hin reagiert. Dem fremden Medium wird geflüchtet, dem Feind ausgewichen, die Beute verspeist. Die von Heidegger aufgeführten vier Umgebungskreise lassen sich zweifelsohne auf die von Jakob von Uexküll erarbeiteten Untersuchungsergebnisse zurückführen. 45 Die Beziehungen des Tieres haben – so Heidegger vorschauend – einen metaphysischen Charakter, der in den bisherigen Untersuchungen nie in den Blick getreten ist, namentlich der Benommenheit. Einen weiteren Aspekt, den Heidegger zum Ende des § 47 einfließen lässt, ist die Frage nach dem Zeitcharakter des Lebendigen. »Das Tier […] hält sich zugleich in der Dauer seines Lebens in einem bestimmten Medium auf […].« 46 Das Tier hat zwar nicht Zeit im Sinne des Habens von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, aber – so auch Uexküll: »Ein Lebewesen besitzt grundsätzlich eine Zeitgestalt, und da auch das fertige Tier einem fortwährenden Umbau [Alterung] unterliegt, ist sein Leben nicht an eine beliebige Zeitspanne gebunden, die nur von äußeren Umständen abhängt, sondern besitzt grundsätzlich eine bestimmte Dauer [Hervorheb. v. Verf.], die mit Erreichung eines naturgesetzten Zieles ihren Abschluß findet.« 47 Bei Heidegger heißt es in diesem Zusammenhang: »Das Tier ist in seiner Umwelt in der Dauer Vgl. Theoretische Biologie, S. 151 f. In der zweiten Auflage der 1928 erschienenen Veröffentlichung seiner Ergebnisse unter dem Titel »Theoretische Biologie« handelt das 5. Kapitel »Die Welt der Lebewesen« von eben diesen Klassen von Funktionskreisen. Vgl. auch GA Bd. 76, S. 66. 46 GA Bd. 29/30, S. 292. 47 Theoretische Biologie, S. 90. 45

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seines Lebens wie in einem Rohr, das sich nicht erweitert und verengt, eingesperrt.« 48 Wie dieses zu verstehen ist, soll ein weiterer Einblick in die Ergebnisse Uexkülls veranschaulichen. »Wenn man die Umwelt eines Tieres in einem bestimmten Moment als Kreis darstellt, so kann man jeden darauffolgenden Moment als einen neuen Umweltkreis hinzufügen. Auf diese Weise erhielte man eine Röhre, die der Länge des Lebens dieses Tieres entspräche. Diese Röhre wird allseitig von Merkmalen gebildet, die man sich entlang und um den Lebensweg des Tieres aufgebaut denken kann. Es gleicht daher der Lebensweg einem an beiden Enden geschlossenen Umweltstunnel. In diesem Umweltstunnel ist die Art der Merkmale, die überhaupt auftreten können, von vornherein festgelegt […]. Aber auch die zeitliche Länge des Tunnels hat ein vorgeschriebenes Maß, das nicht überschritten werden kann.« 49

15 Die Zugänglichkeit zum Tier Die Frage nach der Möglichkeit einer Ontologie des Lebewesens bedarf der vorherigen Klärung der Zugänglichkeit des Daseins zum Tier und führt zu einer Vorzeichnung eines neuen Verständnisses des Wesens sowohl des Tieres als auch des Menschen. Dies zeigt sich besonders in dem Terminus Versetzbarkeit, der als neuer Begriff innerhalb einer recht verstandenen Metaphysik dem Begriff der Einfühlung nicht nur entgegen gestellt werden soll, sondern ein ganz neues Verständnis dessen, was der Mensch bzw. das Tier sei, ausdrückt. Der Mensch wird in einem solchen Verständnis nicht mehr als ein isoliertes Subjekt verstanden, dem andere Subjekte nur durch bestimmte Bewusstseinsoperationen begegnen können, sondern als ein In-der-Welt-sein in den Weisen Sein-bei, Mit-sein und Selbst-sein. Der faktisch existierende Mensch muss sich nicht erst in den anderen versetzen, sondern ist wesenhaft mit ihm in Welt, was Heidegger mit dem Terminus Mitgehen belegt. 50 Der Andere empfindet Freude oder Trauer und wir gehen mit ihm mit. Wir können seine Freude und Trauer unvermittelt begleiten. GA Bd. 29/30, S. 292. Theoretische Biologie, S. 108. 50 »Diese Theorie entsteht aufgrund der Meinung, der Mensch im Verhältnis zu anderen Menschen sei zunächst für sich ein isoliertes Wesen; es müßte grundsätzlich zunächst überhaupt nach einer Brücke von einem zum anderen und umgekehrt gesucht werden.« (GA Bd. 29/30, S. 304.) 48 49

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Ein bloßes Betrachten von Traurigkeit, indem diese zum Vorhandenen degradiert wird, verschließt einen solchen Zugang völlig, denn Tränen kann man nicht messen, man kann sie aber mitgehend nachvollziehen. 51 Die Frage nach dieser Möglichkeit des Mitgehens in Bezug auf den Menschen ist als solche gar keine, da sie das Wesen des Menschen überspringt. Die Frage nach dem Mitgehen bzw. des Sich-versetzenKönnens in einen Stein ist in gewisser Weise gleichsam keine Frage, da der Stein keine solche zulässt. Der Stein ist vorhanden, wir gehen mit ihm um, aber nicht mit ihm mit. Vorhandenes kann im Umgang mit ihm zu Zuhandenem werden, nicht aber gehen wir mit dem Schraubenzieher beim Herausdrehen einer Schraube mit, sondern sind bei ihm. Der Bezug zum Tier ist dagegen vollkommen anders gelagert. Da das Tier gewisse Weltbezüge besitzt, sprechen wir nicht von einem Sein-bei dem Tier. Wir können aber auch nicht von einem Mit-sein mit dem Tier sprechen. Das Tier steht irgendwo zwischen Sein-bei und Mit-sein. Besser: Dasein steht in einer ihm eigentümlichen Weise in der vom Tier bereitgestellten Sphäre inne, die zwar kein Mitgehen, aber doch ein Sich-Versetzen zulässt. Dazu ein Beispiel: Die Gans flieht dem Fuchs, wie der Fuchs gleichsam der Gans hinterher stellt. Sie beziehen ihre Aktivitäten aufeinander. Die Gans wäre ohne diesen ihr eigentümlichen Bezug überhaupt nicht in der Lage, dem Fuchs zu fliehen, wie auch umgekehrt der Fuchs nicht in der Lage wäre, die Gans zu jagen. Diese Beobachtungen scheinen dem Betrachter nicht zugangslos, wenn er in dem Urteil: Die Gans flieht dem Fuchs, dieses Verhältnis von Fliehendem und Jagenden ausspricht. Es zeichnet sich in diesem Beispiel zwar noch undeutlich, aber doch sichtbar ab, dass das, was die Zugänglichkeit des Tieres ermöglicht, auch irgendwie mit der Möglichkeit der Versetzbarkeit in Verbindung steht. Darüber hinaus scheint der Umfang der Umwelt des Tieres proportional zum Umfang möglichen Versetzens zu stehen: Die Körpersprache eines tollenden Hund zwingt uns geradezu dazu, diesem Freude zu unterstellen. Welche Stimmung eine Seeanemone oder ein Infusorium haben mag, das können wir an ihr bzw. ihm und ihrem bzw. seinem Treiben kaum ablesen. »Das Tier zeigt eine Sphäre der Versetzbarkeit in es, genauer: es ist selbst diese Sphäre, die gleichwohl ein Mitgehen versagt[.]« 52 , wenn wir dieser Sphäre auch nicht den Charakter der Welt zustellen dürfen. Je weiter 51 52

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Vgl. ZS, S. 101. GA Bd. 29/30, S. 309.

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ein Lebewesen ausdifferenziert ist, je mehr wir uns in dieses versetzen können, desto größer ist die Gefahr zu psychologisieren. Dazu ein Beispiel aus der Biologie selbst: In Brehms Tierleben lesen wir über den Schimpansen: »Am behaglichsten befindet er sich im Kreise einer Familie, namentlich, wenn er aus einem Zimmer ins andere gehen, Türen öffnen und schließen und sich sonstwie zu unterhalten vermag. Man vermeint es ihm anzusehen, wie gehoben er sich fühlt, wenn er sich einmal frei unter ihm wohlwollenden Menschen bewegen und mit ihnen am Tische sitzen darf. Merkt er, daß man auf seine Scherze eingeht, so beginnt er mit seinen Händen auf den Tisch zu klopfen und freut sich höchlich […].« 53 Eine Ausführung wie der Autor sie über die Krätzmilbe nie machen würde, ja nie machen könnte, da es für ihn unmöglich ist, sich in gleicher Weise in eine Milbe zu versetzen, wie in einen Schimpansen. Daher schreibt er in Bezug auf die Milbe: »Ihre Größe beträgt ungefähr 0,4 mm, bei 0,3 mm Breite; sie hat also eine rundliche Form. Die vorderen Füße tragen gestielte Haftscheiben, an den hinteren sind beim Weibchen lange Borsten.« 54 Innerhalb des Fragens nach den unterschiedlichen Weisen der Zugänglichkeit zeigen sich die Seinsweisen von Stein, Tier und Mensch grundverschieden, weshalb es auch unzulässig ist, den Menschen vom Tier, das Tier vom Menschen oder vom Materiellen her erklären zu wollen. 55

16 Alles Hergestellte besitzt den Charakter des Um-zu Die von Heidegger im § 51 der »Grundbegriffe der Metaphysik« erneut aufgenommene Kritik am Mechanismus und Vitalismus wird an dieser Stelle nicht diskutiert, da sie in der Propädeutik ausführlich behandelt wurde. Auch ist für den weiteren Verlauf der in der nicht mechanistischen Biologie vollzogenen Gegenüberstellung von Maschine und Organismus nicht zu folgen, zumal Heidegger diese Diskussion solange Brehm, Alfred Edmund: Brehms Tierleben. Jaspert, Reinhard (Hrsg.). Berlin 1961, S. 41. 54 A. a. O., S. 983. 55 »Die besondere Absicht gerade dieser Erörterung liegt darin, uns endgültig von der Naivität zu befreien, in der wir uns zunächst bewegten, wenn wir anfänglich glaubten, das, was hier zum Problem steht, Stein, Tier, Mensch oder auch Pflanze seien solches, was für uns in gleichem Sinne gleichmäßig auf einer Ebene gegeben sei« (GA Bd. 29/30, S. 303). 53

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für unzureichend hält, als noch nie nach den Wesensunterschieden von Maschine und Apparat, Zeug und Ding gefragt worden ist und somit gar nicht ausgemacht ist, wogegen der Organismus da abgegrenzt werden soll. Es ist also ebenso unmöglich, den Organismus als eine Maschine zu bezeichnen, der dann noch etwas Übermaschinelles angedichtet wird, als auch die Maschine als einen »›unvollkommenen Organismus‹« 56 (Uexküll) zu bezeichnen. Was Heidegger an dieser Gegenüberstellung jedoch interessiert, ist der jeweilige Entstehens-Charakter von Hergestelltem und Organismus, indem er darauf verweist, dass die Maschinen von Menschen geschaffen werden, während der Organismus ein Produkt eo ipso ist. »Eine jede Maschine ist von einem Menschen erbaut. Der menschliche Baumeister schuf sie für eine menschliche Leistung und setzte sie in eine menschliche Welt. Das Protoplasma, das einen Regenwurm schuf, schuf ihn für eine Regenwurmleistung und setzte ihn in eine Regenwurmwelt.« 57 Ein Unterschied, der auch schon von Aristoteles gesehen wurde und von Heidegger wie folgt übersetzt wird: »Alles dies Genannte aber zeigt sich als ein Solches, das sich heraushebt gegenüber dem, was nicht von der φύσις her zusammen sich in einen Stand und Bestand gestellt hat […]. Von diesem nämlich das aus der φύσις her ist, was es ist und wie es ist hat ein Jegliches in ihm selbst die ausgängliche Verfügung (ἀρχή) über die Bewegtheit und den Stillstand […].« 58 Jedes Zeug, jede Maschine, ist immer dienlich zu etwas. Jede Maschine untersteht einer gewissen Dienlichkeit zu deren Erbringung – einer Leistung für andere – sie geschaffen wurde. Heidegger gibt dieser Weise der Dienlichkeit den Terminus Um-zu-Charakter bei. Alles Zeug ist er-zeugt und dienlich aufgrund der Er-zeugung, d. h. Zeug-machung. Jeder Erzeugung geht ein Plan voraus, dem wiederum ein Zweck 59 voraus geht, der sich im Zeug als verwirklicht wiederfinden soll. Der Komplex von Zweck bis Um–zu ist immer nur unter einer Bewandtnisganzheit möglich. Der Nagel soll in die Wand, um an ihm ein Bild zu befestigen – Zweck der Handlung. Die nötigen BeschaffenGA Bd. 29/30, S. 315. Umwelt und Innenwelt der Tiere, S. 217. 58 Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles Physik B, 1, S. 246. (Vgl. auch Aristoteles. Physik. 192 b.) 59 Zweck ist etwas von einem Zwecksetzenden zu Verwirklichendes, »[d]enn die vorgestellte Wirkung, deren Vorstellung zugleich der Bestimmungsgrund der verständigen wirkenden Ursache zu ihrer Hervorbringung ist, heißt Zweck« (KU, B 382). 56 57

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heiten zur Bewerkstelligung werden zusammengetragen und nach einer Regel geordnet – die wir den Plan einer Handlung nennen – worauf hin der Gegenstand nach dem Plan aus den zusammengetragenen Teilen erzeugt wird – Fertigstellung. Einer Maschine kommt dieser Plan immer von außen zu und das in zweifacher Weise: als Bauplan und als Betriebsplan. Der Bauplan zeigt die Lage der Teile im Ganzen an; der Betriebsplan das Ingang-bringen und die Abläufe der arbeitenden Maschine. Damit aber eine Maschine in Gang kommt, bedarf es eines Kraftantriebes und dieser geschieht entweder dauernd – wie bei einem Motor durch Brennstoff – oder punktuell – wie beim Schreiben mit einer Schreibmaschine. 60

16.1 Fertigkeit versus Fähigkeit Es stellt sich also die Frage, inwiefern der Um-zu-Charakter des Hergestellten es verbietet, den Organismus als Maschine zu interpretieren. Es könnte doch so aussehen, als käme das Auge in seinem Um-zuCharakter mit der Maschine überein, wenn wir sagen: Das Auge ist zum Sehen da und scheinbar das Gleiche ausdrücken, wenn wir sagen, die Schreibmaschine ist zum Schreiben da. Zwei Aussagesätze gleichen Charakters? Kommt dem Auge denn das Sehen in gleicher Weise zu wie seine Farbe, seine Lidform? Nein! Dem Auge kommt Sehen wesenhaft zu. Aber dieses könnte man doch auch von vielen Maschinen behaupten. Das Belichten von Negativen kommt dem Fotoapparat wesenhaft zu, seine Farbe und Form aber nicht. In ähnlicher Weise, wie der Fotoapparat also die Fotos herstellt, stellt das Auge auf der Netzhaut das sehbare Bild her. Dem Fotoapparat geht ganz klar ein Plan voraus, nach welchem er hergestellt wurde, um Fotos zu schießen. Aber kann man analog dazu behaupten, das Auge wäre nach einem Plan dazu geschaffen worden, um zu sehen, zum Zweck des Sehens? Die sich daraus ergebende Frage Heideggers klingt zunächst befremdend: »Kann das Tier sehen, weil es Augen hat, oder hat es Augen, weil es sehen kann?« 61 Was war zuerst da, das Sehen oder das Organ? Begegnet uns in der Betrachtung eines Lebewesens zuerst dessen Organstruktur oder sein 60 61

Vgl. Die Maschine und der Organismus, S. 29 f. GA Bd. 29/30, S. 319. A

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Können? Wenn uns ein Tier anschaut, sagen wir dann, dass es Augen habe? Dazu ist es sinnvoll, einige Betrachtungen anzustellen, die größtenteils auf Uexküll zurückgehen. In der Natur ist zu beobachten, dass nicht jedes Tier Augen hat. Die Qualle treibt durchs Meer den Schlund weit geöffnet, ihre Welt ist eine reine Nahrungswelt. 62 Die Augen der Pilgermuschel dienen ihr allein dazu, die Flucht einzuleiten. Farbwahrnehmungen steht dieses Tier gleichgültig gegenüber. Das nahezu Einzige, was vom ihr wahrgenommen wird – sofern bestimmbar – ist ihr ärgster Feind, der Seestern aufgrund seiner ihm eigentümlichen Bewegungsgeschwindigkeit. 63 Manche Tiefseefische besitzen Augen, sind aber aufgrund ihrer Evolution nicht mehr sehfähig, da die Sicht in dieser Dunkelheit keinen Sinn mehr macht, da es kein Licht gibt, das die Augen noch konzentrieren könnten, um es zu einem Sehen zu nutzen. »Wenn diese [Sehkraft] sich entfernte, wäre es kein Auge mehr, es sein denn nur im namensgleichen (äquivoken) Sinne, wie das steinerne oder das gezeichnete (Auge).« 64 Heidegger selbst spricht in solchen Fällen von Verkümmerung. »Was demnach eine Fähigkeit als solche entstehen läßt (ein Organ) und in Beziehung zu sich bringt, wird in solchen Dienst gestellt bzw. daraus entlassen – z. B. in der Verkümmerung.« 65 Die Frage, ob dieses oder jenes Tier Augen hat, fragt eigentlich nicht nach den Augen als Organ, sondern nach dem Sehvermögen. Die Pilgermuschel hat Augen, weil sie ihr dienen, Feinde zu erkennen und vor ihnen zu flüchten. Die Augen dienen dem Organismus. Sie dienen dem Organismus zum Sehen. Die Medusa bedarf nicht des Gesichtsfel»So ist dieser wundervolle Organismus für das Allernotwendigste gebaut. Der Bauplan sichert dem Tiere die Nahrung und die notwendige Bewegung, ohne daß irgendwelche Reize der Außenwelt mitsprechen. Eine Umwelt, die das Nervensystem mit reichen Erregungen erfüllt, gibt es für Rhizostoma nicht, nur eine Umgebung, aus der ihr Magen die Nahrung entnimmt.« (Umwelt und Innenwelt der Tiere, S. 67.) 63 »Die Augen dienen lediglich dazu, […] das Schwimmen, einzuleiten. Eine Verdunkelung des Horizontes wirkt auf die zahlreichen kleinen Tentakel; die das Auge umgeben und bringt sie zum Auseinanderschlagen, so daß das Blickfeld für die Augen frei wird. Darauf wird das Bild eines sich nähernden Gegenstandes auf die Netzhaut entworfen. Die Form und Farbe des Gegenstandes hat keinerlei Einfluß auf die Muschel […]. Anders steht es mit der Bewegung des Bildes. Eine Bewegung von ganz bestimmter Geschwindigkeit […] gerade das Tempo, das der Todfeind aller Muscheln, der Seestern Asterias, einschlägt, wird zum Erregung auslösenden Reiz.« (A. a. O., S. 151.) 64 Über die Seele, 412 b. 65 GA Bd. 29/30, S. 335. 62

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des, da sie weder vor Feinden fliehen noch Beute suchen muss. Daraus folgt: »Das Sehenkönnen ermöglicht erst den Besitz von Augen, macht ihn in bestimmter Weise notwendig.« 66 Da Heidegger diese Behauptung dogmatisch einführt, weil er in der Vorlesung nicht auf die einzelnen Phänomene, die sich innerhalb dieser Thematik zeigen, eingehen konnte, war es für unsere Zwecke hinsichtlich der Wahrung der Methode von großem Nutzen, ein gewisses Spektrum dieser Phänomene aufzuzeigen, um die daraus geschöpfte Bestimmung auch zu rechtfertigen. Diese vorläufige Einsicht in das Verhältnis von Fähigkeit und Organ, die sich in den Untersuchungen Uexkülls darboten, war in der gesamten mechanistischen Biologie verschüttet worden und tritt erst wieder durch die phänomenologische Betrachtung der Ergebnisse der Biologie zum Vorschein, die sich schon in der »Physis« des Aristoteles anzeigte: »Wenn nämlich das Auge ein Lebewesen wäre, so wäre seine Seele die Sehkraft; denn sie ist das Wesen des Auges dem Begriffe nach.« 67 Der Rückbezug auf die Schriften Physik und De anima des Aristoteles wird in den »Grundbegriffen der Metaphysik« zwar nicht ausdrücklich, klingt aber immer wieder in den Aussagen Heideggers an. Deshalb sollen betreffende Textstellen sowohl aus der früheren Behandlung der Thematik in »Die Grundbegriffe der antiken Philosophie« 68 , als auch der späteren Zuwendung Heideggers im Jahre 1939 in »Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik B, 1« eingefügt werden. Dies vor allem, da Heidegger selbst schreibt: »Die aristotelische ›Physik‹ ist das verborgene und deshalb nie zureichend durchdachte Grundbuch der abendländischen Philosophie.« 69 Zudem versteht Heidegger eine solche Auseinandersetzung als einen wesentlichen Bestandteil jeder Wissenschaft, denn »[n]ur im Gespräch mit der Überlieferung klären sich die Fragen, wird der Willkür Einhalt geboten.« 70 In diesem Sinne kann die Auseinandersetzung Heideggers mit der Biologie auch als deren Destruktion verstanden werden. Wie ungewöhnlich die Aussage, dass das Sehenkönnen den Besitz A. a. O., S. 319. Über die Seele, 412b. 68 Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der antiken Philosophie. Gesamtausgabe (= GA) Band 22. Blust, Franz-Karl (Hrsg.). Frankfurt am Main 1993. 69 Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik B, 1, S. 242. 70 ZS, S. 45. 66 67

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von Augen ermöglicht, in der damaligen Sicht der Wissenschaft war, zeigt sich in einem Kommentar von Medard Boss: »Ich fürchte, daß meine naturwissenschaftlich präparierten Kollegen über eine solche Sicht nur lachen werden […].« 71 Nicht jedes Tier bedarf der Augen und auch sehen nicht alle Augen in gleicher Weise, aber Tier sein heißt, das Vermögen zu haben Seh-, Hör-, Riech-, Tastorgane ausbilden zu können, so sie ihm denn nützlich sind. Die wesenhafte Möglichkeit geht der Verwirklichung derselben voraus, aber eben nicht als Möglichkeit im gemeinen Sinne, sondern im Sinne der Fähigkeit. In gleicher Weise, wie mein Können immer das jemeinige Können ist, so ist das Können des Tieres immer das jeseinige, es gehört ihm an und kommt ihm nicht zu, besser: Das Tier ist diese Fähigkeit und nichts außerdem. Das drückt sich aus, wenn Heidegger schreibt: »Das Sehenkönnen als Möglichkeit gründet als solche in der Tierheit.« 72 Es zeigt sich, dass sowohl die Augen dienlich sind zum Sehen als auch die Schreibmaschine dienlich ist zum Schreiben. Wenn das Sehen den Um-zu-Charakter des Auges und wenn das Schreiben den Um-zuCharakter der Schreibmaschine ausmacht, wie ist dann der Unterschied des Um-Zu-Charakters von Organismus und Maschine zu fassen? Der Füller ist ein Vorhandenes, das im Schreiben zum Zuhandenen wird, dem Menschen zur Hand sein muss, damit jener diesen benutzend zum Schreiben dienen kann. Ein jeder kann den Füller benutzen, mit ihm schreiben. Die Augen dienen aber nur dem zum Gebrauch, dem sie zugehören. Ich kann nur mit meinen Augen sehen. Das Organ ist in gewisser Weise in den Gebrauchenden eingebaut. Doch auch im Begriff eingebaut klingt, wenn nicht noch lauter als zuvor, eine vermeintliche Werkzeughaftigkeit des Organismus an. Deshalb versucht Heidegger, durch das Wiederaufgreifen der Thematik der Dienlichkeit einen angemessenen Weg zu gehen, indem er die Frage nach dem unterschiedlichen Charakter der Dienlichkeit des Zeugs sowie der Dienlichkeit des Organs stellt. Wenn etwas den Charakter hat, zu etwas zu gebrauchen zu sein, dienlich zu sein, dann liegt in ihm eine Möglichkeit, die über seine bloße Vorhandenheit hinausgeht. Ein Füller ist nicht einfach nur vorhanden, sondern er bietet die Möglichkeit des Schreibens. Dass eine solche 71 72

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A. a. O., S. 294. GA Bd. 29/30, S. 320.

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Möglichkeit vom Dienlichen ausgeht, liegt allein darin, dass ihm diese Dienlichkeit innewohnt, somit zu seinem Wesen gehört. 73 Dieses Haben von möglicher Dienlichkeit bestimmt das Seiende in seinem Sosein. Weder beim Zeug, noch beim Organ ist das Dienen zu … nur ein Merkmal unter anderen wie Farbe oder Größe. Beiden gehört Dienlichkeit wesenhaft zu. 74 Zum Füller gehört wesenhaft, dass er eine Feder hat, einen Tank, der mit Tinte gefüllt werden kann und in einer brauchbaren Verbindung steht mit der Feder, über welche die Tinte auf das Papier zu bringen ist, oder kurz: Zum Füller gehört wesenhaft die Dienlichkeit zum Schreiben. Dienlich ist der Füller und jedes andere Zeug zu … Dieses Zu … ist der Ausgangspunkt der Verfertigung und ihr Zweck. Ist der vor der Verfertigung gesetzte Zweck erreicht, so ist das Zeug zweckmäßig. In dieser Zweckmäßigkeit gelangt das Zeug an sein Ende: Es ist fertig sowohl im Sinne der Vollendung als auch im Sinne des Fertigkeithabens, d. h. fertig zu sein für den Gebrauch. Fertigkeit ist zu verstehen als ein »Fertiggewordensein in und bei einem Verfertigen, Herstellen« 75 , welches das Verfertigte aus der Verfertigung entlässt und zu einem Vorhandenen macht, das die Möglichkeit des Zuhandenen im Gebrauch seiner Fertigkeit durch die Hand des Schreibenden verwirklicht. Der Füller hat die Fertigkeit zum Schreiben, ist aber von sich aus nicht fähig zum Schreiben. Er ist zum Schreiben verfertigt. Das Auge aber ist nicht fertig. Das Auge ist fähig. Fähig zum Sehen. Das Auge sieht nicht für sich alleine, sondern das Tier sieht mit den Augen, und der Mensch schreibt mit der Hand. Das Auge ist Teil des Organismus wie auch die Hand und dient diesem zum Sehen bzw. Han(d)tieren, es ist nur im Organismus Organ und umgekehrt. Woraus folgt, dass nicht das Organ, sondern der Organismus Fähigkeiten hat. »Ein Auge für sich ist eben kein Auge. Darin liegt: es ist nie zuerst ein Werkzeug, das dann auch noch eingebaut wäre. Vielmehr gehört es zum Organismus, kommt aus ihm her, was wiederum nicht heißt, daß der Organismus »Dienlichkeit ist jener Grundzug, aus dem her dieses Seiende uns anblickt, d. h. anblitzt und damit anwest und so dieses Seiende ist.« (Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerkes. Stuttgart 2001, S. 21.) 74 »Zum Sein von Zeug gehört je immer ein Zeugganzes, darin es dieses Zeug sein kann, das es ist. Zeug ist wesenhaft ›etwas, um zu …‹.« (SuZ, S. 68.) 75 GA Bd. 29/30, S. 322. 0 A. a. O., S. 323. 73

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Organe verfertigt.« 76 »Das Auge aber ist die Materie der Sehkraft. […] ›Die Verhältnisse‹ am Teil muß man nun am ganzen lebenden Körper erfassen; denn wie sich der Teil (die Sehkraft) zum Teil (zum Auge) verhält, so verhält sich analog die ganze Wahrnehmungskraft zum ganzen wahrnehmungsfähigen Körper als solchem.« 77 Für die nähere Untersuchung ist damit die Aufgabe gestellt, Heideggers folgende Aussage in rechter Weise zu verstehen: »Die Organe sind nicht dazu, in die Fähigkeit nachträglich eingebaut, sondern sie entwachsen ihr und gehen in ihr auf, verbleiben in ihr und gehen in ihr unter. […] Wir dürfen nicht sagen, das Organ hat Fähigkeiten, sondern die Fähigkeit hat Organe.« 78

16.2 Organismus und Fähigkeit Innerhalb der Biologie haben sich Kategorien des Lebendigen wie Selbstherstellung, Selbstleitung und Selbsterneuerung herausgebildet, anhand derer das Verhältnis von Fähigkeit und Organismus in seinem Grund sichtbar gemacht werden soll. Dazu ist es erst einmal notwendig, diese drei Momente – bei denen das Selbst eigens fraglich bleiben muss – aus dem Geschehen heraus zu entwickeln, wozu Uexkülls Untersuchungen an Wechseltierchen vorrangig dienen sollen. Wechseltierchen haben keine festen Organe, sondern schaffen sich ihre Organe – Augenblicksorgane – unter Nutzung des eigenen Protoplasmas für eine Dauer, die durch den jeweiligen Bedarf bestimmt wird. So bildet sich bei einem durch Nahrung ausgelösten Reiz erst der Mund, dann zum Nachteil des Mundes der Magen und bei dessen Verschwinden Darm und After zur Verdauung der Nahrung. »Das Innere dieser Tiere besteht noch aus flüssigem Protoplasma, und dieses bildet um jeden Bissen herum eine Blase, die erst Mund, dann Magen, dann Darm und schließlich After wird.« 79 »Zum Glück hat uns die Natur, indem sie einzellige Tiere, wie Amöben und Infusorien, schuf, die ganz oder zum großen Teil aus Protoplasma bestehen, einen Einblick in die übermaschinellen Fähigkeiten des Protoplasmas tun lassen.« 80 77 78 79 80

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Über die Seele, 412b. GA Bd. 29/30, S. 324. Theoretische Biologie, S. 148. Vgl. GA Bd. 29/30, S. 327. Theoretische Biologie, S. 147.

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Schematische Darstellung der Organbildung bei Wechseltierchen

Uexküll zeigt an dem durch Heidegger übernommenen Beispiel, dass der Organbildung jeweils ein Impuls der Funktion, der Organbildung vorausgeht. »Hier sehen wir deutlich vor Augen, daß die Impulsfolge der Funktionen bereits vorhanden ist, bevor die Organe, die die Funktionen ausüben, überhaupt geschaffen sind, und daß das Protoplasma die Fähigkeit besitzt, die Organe entsprechend dieser Impulsfolge zu gestalten.« 81 Diese Untersuchungsergebnisse dienen Heidegger als eindeutiger Beweis für seine These: »Das Fähigsein verschafft sich Organe, nicht werden Organe mit Fähigkeiten oder gar Fertigkeiten ausgestattet.« 82 »Hieraus ergibt sich schlagend: Die Fähigkeiten zum Fressen, zum Verdauen sind früher als die jeweiligen Organe.« 83 Heidegger weiß, dass die Kritiker ihm gerade durch dieses Beispiel entgegnen könnten, dass die Organe sich hier als Werkzeuge des Organismus zur Verdauung zeigen. Dabei vergessen diese aber Entscheidendes, namentlich den metaphysischen Zeitcharakter des Lebendigen, der von Heidegger dennoch nicht erörtert wird. Sicher ist aber, dass mit 81 82 83

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dem Zeitcharakter des Lebendigen nicht die physikalische Größe t gemeint sein kann und dass darüber hinaus dieser dem Lebendigen eigentümliche Zeitcharakter gleichsam das Wesen und das Selbstverständnis einer recht verstandenen Biologie leiten muss. Die spezifische Hermeneutik des ursprünglichen Zeitbegriffs in allen Wissenschaften verweist auf dessen Funktion innerhalb derselben. 84 Die Funktion dient jeweils der Verwirklichung des Selbstverständnisses einer jeden Wissenschaft, ihrem Ziel. Um dieses zu verwirklichen, muss der Funktion eine ihr entsprechende Grundstruktur der Begriffe zugrunde liegen, d. h. sie müssen in ihrem Charakter dem Ziel entsprechen. Der Gegenstand der Physik zum Beispiel ist nicht, das Fallgeschehen einzelner konkreter Körper zu verfolgen, sondern das Phänomen der Bewegung überhaupt mathematisch zu bestimmen. Damit ist das Selbstverständnis der Physik angezeigt. Das Zeitverständnis der Physik überspringt dabei allerdings sämtliche Möglichkeiten, das Phänomen Zeit ursprünglicher zu fassen, sei es im Modus der reinen Form der Anschauung (Kant), sei es als durée (Bergson), sei es als Operator der Quantenphysik (Prigogine) oder sei es im Sinne der Zeitlichkeit als Struktur der Sorge (Heidegger). 85 Wenn hier auch nicht der Ort ist und auch nicht sein kann, den Zeitcharakter der Biologie zu erforschen, so bietet sich gegebenenfalls im weiteren Verlauf hinsichtlich der Bedeutung des Todes für das Tier eine weitere Einsatzstelle für künftige Untersuchungen dieser Art und Weise an. Weiter bleibt hier eine Parallele zu Plessners Gedanken der Abgrenzung anzumerken als dessen Unterscheidungskriterium des Lebendigen überhaupt. »Die Grenze gehört reell dem Körper an, der damit nicht nur als begrenzter an seinen Konturen den Übergang zu dem anstoßenden Medium gewährleistet, sondern in seiner Begrenzung vollzieht und dieser Übergang selbst ist.« 86 Nur so kann gewährleistet sein, dass Plasmatierchen gleicher Art bei gegenseitigem Kontakt nicht miteinander verschmelzen. Dieses Faktum verstärkt Heideggers Auslegung des Organismus noch entscheidend, denn »[d]as sagt: Das [ScheinfüßHeidegger, Martin: Der Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft. In: Frühe Schriften. Herrmann, Friedrich-Wilhelm von (Hrsg.). Frankfurt am Main 1972. 85 Vgl. Strube, Claudius: Bergson und Prigogine – Die naturphilosophische Idee eines zweiten Zeitbegriffs in der Physik. In: Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Böversen, Fritz (Hrsg.). Wuppertal 1990. 86 Die Stufen des Organischen, S. 103. 84

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chen] bleibt in der Fähigkeit des Tastens und der Fortbewegung einbehalten und kann auch nur von dieser zurückgenommen und vernichtet werden.« 87 Die Organe bleiben somit dem »Lebensprozess des Tieres verhaftet« 88 , sie bleiben im Organismus einbehalten und nicht wie das Hergestellte aus der Herstellung entlassen. So entlassen bietet das Hergestellte Möglichkeiten, die auch nicht genutzt werden könnten. Diese Möglichkeiten bedürfen – wie schon gezeigt – zur Entfaltung derselben eines Betreibers, um das so Gebotene für sich zu nutzen. Diese Art des Bietens von Möglichkeiten liegt begründet in dem ihm zugehörigen Umzu-Charakter, der von Heidegger als dienlich charakterisiert wird und multipel ist. In Abgrenzung dazu kann ein Organ nicht nicht genutzt werden. Nicht kann ein sehfähiges Auge eines Organismus von diesem – gleichsam in eine Schublade – abgelegt werden. Wohl aber kann es ruhen – dazu später. Das Organ steht im Dienst der Fähigkeit; das Organ ist der Fähigkeit verhaftet: Es ist hinsichtlich des Charakters des Umzu diensthaft. Die Diensthaftigkeit drückt das Verhältnis der Organe zu den Fähigkeiten aus. Die Interpretation hat schon – unterstützt durch Aristoteles – darauf verwiesen, dass ein Organ allein noch nicht als Leben zu bezeichnen ist. Ein Organ ist nur dann Organ, wenn das Organ Organ eines Organismus ist. Und genauso steht es mit der Fähigkeit. Die Fähigkeit zum Greifen an sich wäre unsinnig, wenn sie niemandes Greifen wäre. Heidegger formuliert diese Aussage in dem Satz: »Wenn so der Charakter des Umzu, der das Organ auszeichnet, besagt: im Dienste der Fähigkeit stehen, dann muß die Fähigkeit als solche diese Diensthaftigkeit ermöglichen, selbst einen ursprünglichen Dienstcharakter haben« 89 und weiter: »Das drückt sich darin aus, daß die Fähigkeit als solche einen Dienstcharakter hat, nämlich in bezug auf den Organismus selbst.« 90 Gleiches gilt auch für Tiere mit steten Organen. Demnach gilt: Fähigkeit ist immer nur Fähigkeit eines Organismus. Das soll aber nicht heißen, dass der Organismus dieses oder jenes ist und dazu noch Fähigkeiten besäße. Wenn eine Fledermaus die Fähig87 88 89 90

GA Bd. 29/30, S. 329. A. a. O., S. 328. A. a. O., S. 330. A. a. O., S. 333. A

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keit des Nachtsehens hat, so liegt das nicht daran, dass ihre Organe die Fledermaus dazu befähigten, sondern dass die Fähigkeiten die Organe so ausrichten, dass die Fledermaus in dieser bestimmten Weise sehen kann, daraus folgt letztlich, dass die Fähigkeiten den spezifischen Bezug der Fledermaus zu ihrer Umwelt bestimmen – ihre Umwelt bestimmen. Die Aussage der Organismus hat Organe ist zu verstehen als: Er ist organisiert. Nicht schließt sich demnach der Organismus nach der Ausbildung aller Organe zu einer Einheit – wie die Mosaiktheorie Roux’ es vorgibt – sondern aus der Einheit schaffen sich fähige Organe. Was sollte auch eine sich erst einstellende Einheit regeln? Dann bewegte nicht das Tier seine Beine, sondern die Beine – wie auch immer – das Tier. Einen solchen Eindruck vermittelt die Fortbewegung des Seeigels. »Wenn der Hund läuft, so bewegt das Tier die Beine – wenn der Seeigel läuft, so bewegen die Beine das Tier.« 91 Denn – so Uexküll – der Seeigel ist nicht durch einen zentralen Impuls, sondern durch einen einheitlichen Plan ausgezeichnet. So hat sich Heideggers anfängliche These: »[D]as Organ hat je eine Fähigkeit« 92 zu der These gewandelt: Der Organismus ist ein sich in Organe schaffende Fähigkeiten sich gliederndes Befähigtsein. 93 Darin deckt Heidegger etwas auf, das Aristoteles schon als das Wachsen bezeichnete und nach der Interpretation Heideggers »das Wesen der φύσις als μορφή« 94 ausmacht. »Bei den Gemächten [hergestellten Dingen] ist also die ἀρχή ihrer Bewegtheit und somit ihrer Ruhe des Fertigund Gefertigtseins nicht in ihnen selbst, sondern in einem Anderen,« 95 dagegen »φύσις ist […] ausgängliche Verfügung über das Umschlagen dergestalt, daß jegliches Umschlagende diese Verfügung in ihm selbst hat.« 96 »Das von der φύσις her Seiende ist an ihm selbst von ihm selbst her und auf es selbst zu solch verfügender Ausgang der Bewegtheit des Bewegten, das es von sich aus und nie beiher ist.« 97 Der sich hierbei abzeichnende Charakter der Umwegigkeit der Physis wird von HeiUmwelt und Innenwelt der Tiere, S. 95. GA Bd. 29/30, S. 323. 93 »Dieses in Organe schaffende Fähigkeiten sich gliedernde Befähigtsein kennzeichnet den Organismus als solchen.« (A. a. O., S. 342.) 94 Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik B, 1. S. 288. 95 A. a. O., S. 252. 96 A. a. O., S. 250. 97 A. a. O., S. 271. 91 92

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degger übernommen und im weiteren Verlauf in die Interpretation der Fähigkeit als Trieb aufgenommen als das Sich-selbst-vorlegen-in-daseigene-Wozu, welches die Untersuchung im folgenden Kapitel beschäftigen wird. Und nur in Bezug auf ein so gestaltetes, nur in Bezug auf Lebendiges sprechen wir von Organismus. In der von Heidegger vorgenommenen Interpretation Aristoteles’ zeigt sich der inhaltliche Unterschied zwischen den Begriffen Fertigkeit und Fähigkeit nicht bloß dialektisch, sondern in der ihnen zukommenden Verschiedenheit der sie bestimmenden Bewegtheit begründet. Dem Zeug kommt die Bewegung von außen zu. Indem der Werkstoff bearbeitet, bewegt wird, schlägt er um in sein Fertiggestelltsein, in dem seine Bewegung zu ihrem Ende kommt. Der Organismus hingegen ist erst und allein in der ihm eigentümlichen Bewegung, mit der er beginnt, in der er sich hält und in der er eingeht. Fähigkeit und Fertigkeit unterscheiden sich so dargestellt wesentlich in ihrem ihnen je eigentümlichen Bewegungscharakter.

16.3 Der Organismus ist regelmitbringend »Es gibt also eine nichtstoffliche Ordnung, die erst dem Stoff sein Gefüge verleiht […]. Wie eine Melodie gesetzmäßig Tonfolge und Rhythmus beherrscht, aber erst bei ihrem Wirksamwerden in die Erscheinung tritt und dann die Klangfarbe annimmt, die ihr die Eigenschaft der einzelnen Instrumente aufzwingen.« 98

Wenn der Begriff der Weltarmut die Untersuchung an diesen Punkt geführt hat, dann ist offen zu halten, ob die Weltarmut die Diensthaftigkeit des Tieres ermöglicht oder ob die Diensthaftigkeit den Begegnungscharakter des Tieres als weltarm auffassen lässt. Wird sich am Ende der Entscheidung über diese Frage einer der beiden Begriffe als weitere Kategorie ausweisen lassen? Zunächst gilt es, uns Heideggers Grundbestimmung der Lebensbewegung näher zu bringen. Heidegger bestimmt dies folgendermaßen: »Die Fähigkeit ist ein sich auf sich selbst, in das eigene Wozu Verlegen und Vorverlegen.« 99 Die Fähigkeit eines Organismus setzt sich selbst in ihr Wozu voraus und bildet die Organe so aus, dass sie diesem Wozu 98 99

Theoretische Biologie, S. 148. GA Bd. 29/30, S. 331. A

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dienen können. Dazu ein Beispiel: Ein Organismus wie die Pilgermuschel muss sich der anwachsenden Gefahr, von Seesternen gefressen zu werden, in irgendeiner Weise einpassen. Dies kann auf verschiedene Weisen geschehen. Über die Ausbildung spezieller Geruchssensoren oder durch taktile sowie visuelle Vorsorge. Der Organismus der Pilgermuschel entwickelte eine für sie spezielle visuelle Vorsorge aus. 100 Diese muss zum einen leisten, den Erzfeind zu orten; zweitens: alles andere auszublenden und drittens: dass der entsprechend eintretende Reiz spontan die Flucht einleitet. Und unter diesen zu erfüllenden Bedingungen einer speziell von und für den Organismus der Pilgermuschel entwickelten Fähigkeit realisiert sich die Fähigkeit – als sich selbst in ihr Wozu vorauslegend – im Bilden des ihr entsprechenden Sehorgans, das dann die Möglichkeit des so und so Sehens bietet. 101 Dieses Sichvorweg-legen ist schon das Regelnde als solches. Als Fähigkeit ist sie schon das Vorwegliegende, als welches sich die Fähigkeit ins Organ verlegt. »Das Sichvortreiben in das eigene Wozu und damit dieses durchmessende Sein der Fähigkeit ist schon das Sichregeln.« 102 Und genau das besagt: Der Organismus ist regelmitbringend. 103 Dieses Sich-Regeln der Fähigkeiten in das eigene Wozu ist immer triebhaft. »Fähigkeit ist immer nur da, wo Trieb ist.« 104 Dabei treibt der Trieb nicht von einem Stadium zum anderen, um dort zu erlischen, sondern der Trieb treibt solange Leben dauert. Das Treiben der Fähigkeiten treibt den Organismus in das eigene Wozu und umgreift es. Trei100 »Das Tier geht den bequemsten Weg und sucht die Erkennung der Gegenstände nach den einfachsten Merkmalen zu gewinnen […]. Immer wird sich die Formwahrnehmung da einstellen, wo unter besonderen Umständen die Orientierung nach einfachen Reizen unmöglich wird. Bei schnell sich ändernder Feldstruktur (Folgen, Fliehen, Ergreifen) wird z. B. eine Geruchsorientierung unmöglich.« (Zur Untersuchung des Wesensunterschieds von Mensch und Tier, S. 42 f.) 101 »Die Augen dienen lediglich dazu, die einzige freie Bewegung, deren das Tier fähig ist, nämlich das Schwimmen, [verstanden als Fluchtverhalten] einzuleiten.« (Umwelt und Innenwelt der Tiere, S. 151.) 102 GA Bd. 29/30, S. 334. 103 Identisches zeigt sich in der Auffassung Plessners: »Unter Organisation versteht man, nach einem Wort von Uexkülls, den Zusammenschluss verschiedenartiger Elemente nach einheitlichem Plan zu gemeinsamer Wirkung. Wenn diese Definition streng deskriptiv genommen wird, so ist realiter der einheitliche Plan nicht zuerst da und dann erfolgt nach ihm der Zusammenschluss der Elemente, sondern in idealem Zugleich wird Mannigfaltigkeit und Einheitlichkeit in Einem wirklich.« (Die Stufen des Organischen. S. 169 f.) 104 GA Bd. 29/30, S. 334.

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ben ist ἀρχή. Dieses Treiben kommt nicht an den Grenzen des Körperdinges Tier zum erliegen, sondern eröffnet allererst die Dimension, in der Umwelt geschieht. Durch das Lebendige geschieht der Einbruch in die Umwelt beziehungsweise Welt. Umwelthaftes bricht als Umwelthaftes in Umwelt; Welthaftes bricht als Welthaftes in Welt ein. Mit dem Einbruch des Lebendigen geschieht überhaupt erst so etwas wie Bezug. Das wusste auch schon Aristoteles, der die Zugänglichkeit des Tieres als αἴσθησις bestimmte. In dieser schrieb er dem Tastsinn eine gewisse Vorrangigkeit als Überlebensnotwendigkeit des Lebendigen zu. Damit war schon Aristoteles in der Lage, die Umwelthaftigkeit des Lebendigen aufzuzeigen. »Das Leben kommt also durch dieses Prinzip dem Lebendigen zu, das Lebewesen aber ist primär durch die Sinneswahrnehmung ›bestimmt‹; denn auch die (Lebewesen), die sich nicht bewegen, noch den Ort wechseln, aber Wahrnehmung haben, nennen wir Lebewesen und hsageni nicht nur, daß sie leben. Von der Wahrnehmung aber kommt zuerst allen Lebewesen der Tastsinn zu.« 105 Bezug heißt immer auch Gefahr. Nur Lebewesen brauchen Tastsinn. Was nicht lebt, bedarf nicht des Tastsinnes, da es weder des Ertastens von Nahrung bedarf, noch der Wahrnehmung des Feindes, um ihm zu fliehen. Mit dem Leben bricht die Gefahr herein, denn nur Lebendiges kann vergehen. »Ein Stein kann nicht tot sein, weil er nicht lebt.« 106 Nur wo Leben ist, findet der Kampf ums Überleben statt. Mögen auch die Medusen, in deren Medusenwelt nichts weiter vorkommt als Nahrung, unbekümmert ihrer Vergänglichkeit dahin treiben, so ist dies doch der Einbruch der Möglichkeit für Bezüglichkeit und Vergänglichkeit überhaupt. Womit ein weiterer Hinweis auf den Zeitcharakter des Lebendigen gegeben ist. Hans Jonas formuliert diesen Moment des Einbruchs in der Einleitung zu »Organismus und Freiheit« 107 folgendermaßen: »So bedeutet das erste Erscheinen des Prinzips [Freiheit] in seiner nackten und elementaren Objektgestalt den Durchbruch des Seins in den unbegrenzten Spielraum der Möglichkeiten, der sich bis in die entferntesten Weiten subjektiven Lebens erstreckt und als ganzer unter dem Zeichen der ›Freiheit‹ steht. In diesem fundamentalen Sinn genommen kann uns der Begriff der Freiheit in der Tat als Ariadnefaden für die Deutung 105 106 107

Über die Seele, 413 b. GA Bd. 29/30, S. 265. Jonas, Hans: Organismus und Freiheit. Göttingen 1973. A

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[Privation] dessen dienen, was wir ›Leben‹ nennen. Was das Geheimnis der Anfänge betrifft, so ist es uns verschlossen. Am überzeugendsten für mich ist die Annahme, daß schon der Übergang von unbelebter zu belebter Substanz, die erste Selbstorganisierung der Materie auf das Leben hin, von einer in der Tiefe des Seins arbeitenden Tendenz zu eben den Modi der Freiheit motiviert war, zu denen dieser Übergang das Tor öffnete.« 108 Auch für Plessner geschieht mit dem Aufgang des Lebendigen der Einbruch von Bezüglichkeit überhaupt. »Ein Selbst ist noch kein Bewußtseinssubjekt, Haben ist noch kein Wissen oder Fühlen. Nur das ist klar: daß die Untersuchung an jener entscheidenden Stelle der ›Entstehung‹ der Möglichkeit einer Bewußtseinsentfaltung überhaupt steht.« 109 An diesem Punkt kann auch Plessner selbst der Privation nicht entgehen, wenn er weiter schreibt: »Es gibt den einen Übergang aus dem Ausdehnungssein in das Innensein, aus der Welt des Seins in die Welt des Habens, nicht nur beim Menschen […], sondern ebenso überall da, wo Leben ihm entgegentritt.« 110 Ausgehend vom Grenzcharakter des Lebendigen bestimmt Plessner in gleicher Weise wie Heidegger die Grundbewegung des Lebendigen als ein Sich-voraus-sein, welches er im weiteren Verlauf auf dessen zeitliche Struktur hin untersucht. »Der organische Körper ist, als in ihm gesetzt, ihm selbst vorweg. Er ist, sofern er zu ihm (sich) im Verhältnis des Vorweg steht. Oder sein Sein zeigt eine Fundierung zeithafter Art, die bestimmt ist durch die Richtung ›von der Zukunft her‹.« 111 Eine Interpretation, die gleichsam für die Fragen nach dem Zeitverständnis der Biologie von Nutzen sein kann.

17 Das Drangphänomen im Ausgang von Leibniz »Bei all dem muß der Gedanke an Bewußtsein und Seelisches ganz fern gehalten werden […].« 112 Was aber ist unter dem Begriff Trieb zu verstehen? Ist das Treiben ein nicht-rationales Vermögen eines Organis-

108 109 110 111 112

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A. a. O., S. 14. Die Stufen des Organischen, S. 159. Ebd. A. a. O., S. 179. GA Bd. 29/30, S. 335.

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mus? Wie ist das Treiben, das sich in sein eigenes Wozu vorlegt und verlegt, unterschiedslos von dem im Treiben Getriebenen zu fassen? Die Bestimmung des Triebes als Drang erfolgt zunächst nur negativ: »Der Hammer ist zwar fertig zum Hämmern, aber das Hammersein ist nicht ein Drängen zum Hämmern.« 113 Ein erster positiver Ansatz zur Bestimmung des Verständnisses von Drang ist aus der Bestimmung der Sorge im § 41 in »Sein und Zeit« zu gewinnen. Bestimmt die Sorgestruktur des Daseins als »Sich-vorweg-schonsein-in-(der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden) [.]« 114 die faktische Existenz des Menschen, so liegt ihr auch die Möglichkeit von Drang zugrunde. Der Charakter des Sich-vor-weg-sein ist strukturell betrachtet die Bedingung für drängen, können überhaupt. »[…] Hang und Drang. Auch sie gründen, sofern sie im Dasein überhaupt rein [Hervorheb. v. Verf.] aufweisbar sind, in der Sorge.« 115 Rein aufweisbar ist Drang nur wo so etwas wie nur noch leben ist, was die Struktur des Organismus besitzt. Daher ist die Seinsweise des Tieres auch allein privativ zu erschließen. Der reine »[…] Drang ›zu leben‹ [ist] ein ›Hin-zu‹, das von ihm selbst her den Antrieb mitbringt. Es ist ›Hin-zu um jeden Preis‹. Der Drang sucht andere Möglichkeiten zu verdrängen.« 116 Er ist konstitutiv für jegliches Lebendige. Eine nähere Bestimmung des hier Angesprochenen zeigt sich in der Marburger Vorlesung »Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz« des Sommersemesters 1928. Auf der Suche nach einer einheitlichen Bestimmung von Substanz, dem Seienden, entwickelte Leibniz seine Monadologie. Unter Monade verstand er das Einfache, das Einende, das Eine. Im Gegensatz zu Descartes’ Raumpunkten stellte sich Leibniz die Punkte als beseelte, d. h. kraftbegabte Einheiten vor. »Das ›formale Atom‹ ist eben nicht ein Reststück der ὕλη, der materia, des Bestimmbaren, sondern ist das Bestimmende.« 117

A. a. O., S. 330 f. SuZ, S. 192. 115 A. a. O., S. 194. 116 A. a. O., S. 195. 117 GA Bd. 26, S. 94. »Später aber […], erkannte ich, daß die Betrachtung der ausgedehnten Masse allein nicht ausreicht und daß man noch den Begriff der Kraft anwenden muß […]« (Leibniz, Gottfried Wilhelm: Das neue System. In: Kleine Schriften zur Metaphysik. Darmstadt 1965, S. 203). 113 114

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Diese Charakterisierung des Seienden erschließt sich Leibniz privativ aus der Verfassung des eigenen Ich. »Der ständige Hinblick auf das eigene Dasein, die Seinsverfassung und Seinsart des eigen Ich, gibt Leibniz das Vorbild für die ›Einheit‹, die er jedem Seienden zuweist.« 118 Zudem ist aus dem Ich – nach Leibniz – das Phänomen des Drangs aus den Phänomenen Streben und Vorstellen direkt und das bedeutet privativ herleitbar. 119 Die Monaden sind Einheiten, die nicht erst zur Einheit gebracht werden, sondern selbst das Vermögen des Einens besitzen. Das Einen ist ein durch die Monade aktiv vollzogener Akt. Als Einendes ist die Monade für alles Seiende konstitutiv. Leibniz versucht, durch diesen Ansatz nicht ein mathematisches Bild, sondern ein metaphysisches Konzept der Natur und deren Walten zu geben, durch welches all dies Walten verständlich werden könnte. Die einende Kraft bezeichnet Leibniz als »vis activa« 120 . Diese bedarf zum Wirken keines äußeren Anreizes, sondern setzt sich selbst durch den ihr eigentümlichen appetitus in das Wirken. 121 Drang ist Drängen eo ipso. Ein solches Sich-selbst-ins-eigene-Wirken-Bringen nennen wir Drang. »Das Charakteristische am Drang ist, daß er von sich aus ins Wirken sich überleitet, und zwar nicht gelegentlich, sondern wesenhaft.« 122 Dabei kann der Drang zwar gehemmt sein, aber niemals aufgehoben. Der Drang bedarf keiner äußeren Ursache, um aus der Hemmung heraus enthemmt zu werden, sondern nur der Beseitigung der Hemmung oder, um es mit Max Scheler auszudrücken: der Enthemmung. 123 Diese ist zwar bei Scheler bezogen auf den Akt des Willens, zeigt aber sehr deutlich das Gemeinte an, wenn er die

GA Bd. 26, S. 106. »Darüber hinaus gibt es vermittels der Seele oder Form eine wahre Einheit, die dem entspricht, was man in uns das Ich nennt.« (Das neue System, S. 215.) 120 Das neue System, S. 198. 121 »Leibniz nennt neben perceptio (repraesentatio) noch ausdrücklich ein zweites Vermögen, den appetitus […]« (GA Bd. 26, S. 113), da er selbst die vis activa noch nicht radikal genug gefasst hat. 122 GA Bd. 26, S. 102. 123 Heidegger bezieht sich hier direkt auf Max Scheler und den von ihm geprägten Begriff der Enthemmung. »Der Drang bedarf sonach nicht einer noch dazukommenden fremden Ursache, sondern umgekehrt nur des Verschwindens einer irgend vorhandenen Hemmung, oder um einen glücklichen Ausdruck von Max Scheler zu gebrauchen: der Enthemmung.« (GA Bd. 26, S, 103.) 118 119

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Hemmung als ein »non fiat« bestimmt, dazu die Enthemmung als ein »non non fiat« 124 . Dazu gehört, dass die Monaden zwar aufeinander einwirken können, aber nur soweit, als sie ein Einwirken zulassen, d. h. als sie selbst den Bereich möglichen Einwirkens mitbringen. Und allein in diesem Bereich ist Enthemmung des Drängenden möglich. Das Einwirkende ist in einem solchen Prozess nur indirekter Auslöser der Enthemmung. Inwieweit sich diese Auslegung der Leibnizschen Monadologie durch Martin Heidegger mit den Ergebnissen Uexkülls deckt, wird sich in einer anschaulichen Darstellung des Sammelflugs der Honigbiene erweisen. Die durch die vis activa bewirkte Einheit ist keine nachträgliche, sondern eine vorgreifende, das Mannigfaltige umgreifende. »Als einfache Einheit muß sie, als solche, die mögliche Mannigfaltigkeit vorzeichnen.« 125 Hier zeigt sich an, was Heidegger mit dem Begriff Vorlegen zu fassen sucht, wenn er den Grundcharakter der Lebensbewegung als das Sich-in-das-eigene-Wozu-Vorlegen-und-Verlegen auszudrücken sucht. Das Mannigfaltige auf das Tier bezogen hieße dann: Seine Komplexität ist abhängig von dem, was durch den Urdrang erdrängt, d. h. an Ausprägung vorgezeichnet ist. Der Drang drängt sich selbst aus dem Moment des ersten Drängens – den Heidegger als Grundtrieb bestimmt, der sich für die Dauer des Lebens hindurch hält – hin zu der Vollendung der Einheit, der Ausfüllung des umgriffenen Raumes. »Das fertige Hühnchen steht zwar in direkter Abhängigkeit von den ersten Furchungsvorgängen des Keimes, aber ebenso sind die ersten Keimesfurchen abhängig von der Gestalt des auszubilden Hühnchens.« 126 Was noch nicht erdrängt ist, wie das Farbsehen bei der Pil124 Vgl. Die Stellung des Menschen im Kosmos. S. 62. »Diesen Grundvorgang nennen wir ›Lenkung‹, die in einem ›Hemmen‹ (non fiat) und ›Enthemmen‹ (non non fiat) von Triebimpulsen durch den geistigen Willen besteht […]« (ebd.). 125 GA Bd. 26, S. 111. 126 Umwelt und Innenwelt der Tiere, S. 24. Das Gemeinte zeigen auch die Regenerationsprozesse in den Untersuchungen von Jakob von Uexküll: Es zeigt sich in diesem Versuch, dass der Keim eines Seeigels in Richtung ausgewachsener organisierter Struktur treibt. Bei einer Verletzung innerhalb des Entwicklungsgeschehens der Struktur, treibt diese in angegebene Richtung weiter, indem andere Zellen des Keimes die gestörte Triebrichtung durch Materialumlagerung ersetzten. Diese Umlagerung kann nur ausgehen, da sie von der Fähigkeit als Grundtrieb angetrieben wird und sich durchhält. Der gesamte Regenerationsprozess basiert auf solchem Treiben. »Bei größeren Verletzungen, wenn man die Amöbe durch Druck zum Platzen gebracht hat, zieht sich das Ektoplasma hinter

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germuschel, kann auch nicht zur faktischen Ausprägung gelangen, wenn es nicht im ursprünglichen Drang vorgelegt ist und der Drang sich in dieses Vorgelegte verlegt. Wie die Quelle im Fluss kann eine Fähigkeit wie das Sehen der Fähigkeit selbst verhaftet bleiben, ohne durch eine endlose Reihe von Kausalkettengliedern vom Ursprung getrennt zu sein. 127 Das Drängen schafft sich aus sich heraus sich selbst als Geschaffenes einbehaltend – Durchgang. All das bedeutet aber nicht, dass der Organismus der Pilgermuschel niemals ein Farbsehen erdrängen könnte. Denn drängen heißt Bewegung. Bewegung heißt Veränderung, Veränderung in der Natur heißt Evolution. So erweist sich das Drangphänomen als eigentlicher Motor der Evolution und nicht die Umwelt. Denn im Ausbilden der Organe ist der Drang nicht zu seinem Ende gekommen, sondern drängt sich selbst immer weiter in sein eigenes Wozu, welches sich je in einer Beziehung zu seiner Umwelt konkretisiert. 128 Somit zeigt sich, dass das Einende stets den Charakter des VorausSeins besitzt und im Falle des Daseins das ontologisch verstandene Inder-Welt-sein faktisch erst ermöglicht, d. h. die Existenz des Daseins verwirklicht. Aber auch das Tier als dranghaftes Lebewesen ist nicht in sich eingeschlossen, sondern ist gleichsam exzentrisch Umwelt zugewandt. »Der wesenhaft vorstellende Drang ist also nicht ein Geschehen, das gelegentlich auch vorstellt oder gar Vorstellungen produziert, sondern die Struktur des drängenden Geschehens selbst ist ausgreifend, ist ekstatisch, und in diesem Sinne ist das Drängen ein Vor-stellen.« 129 Vorstellen darf an dieser Stelle demnach nicht als Imaginieren, sondern im schlichten Sinne eines Vor-sich-Stellens verstanden werden. der Wundfläche ringförmig zusammen und bildet einen immer schmäler werdenden Hals, der die ganze verletzte Portion abschnürt. Die kleine Wunde, die noch eingezogen werden kann, wird ohne Substanzverlust [unbrauchbare Strukturen werden wieder im Protoplasma aufgelöst] geschlossen, während beim Verschluß der großen Wunde beträchtliche Teile der Körpersubstanz geopfert werden.« (A. a. O., S. 29.) Solches Geschehen dokumentiert die Berechtigung der Annahmen eines Grundtriebes, da von einem Grundtrieb abgelöste Triebe niemals den Fortbestand des gesamten Organismus, selbst bei größter Schädigung sichern könnten. 127 »Für die Triebstruktur gibt es grundsätzlich keine Mathematik, sie ist grundsätzlich nicht mathematisierbar.« (GA Bd. 29/30, S. 335.) 128 »Das Sichvorteiben in des eigene Wozu und damit dieses durchmessende Sein der Fähigkeit ist schon das Sichregeln. Die Regelung ordnet nicht nachträglich das, was durch die Fähigkeiten geleistet wird, sondern vortreibend.« (GA Bd. 29/30, S. 334.) 129 GA Bd. 26, S. 113.

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Schematische Darstellung des Dranggeschehens

In der gezeigten Leibniz-Interpretation behandelt Heidegger zudem das Moment der Individuation, welches eineinhalb Jahre später in den »Grundbegriffen der Metaphysik« in Hinsicht auf das Tier kritisch unter dem Begriff Eingenommenheit thematisiert wird. Im Moment des Sich-vorlegenden-einenden-umgreifenden-Dranges kommt allem Dranghaften, wie dumpf auch immer, ein gewisser Selbstbezug zu. »Dieses Sichselbstenthülltsein kann nun verschiedene Stufen haben, von der vollkommenen Durchsichtigkeit bis zur Betäubung und Benommenheit. Keiner Monade fehlt perceptio und appetitus und damit eine gewisse Selbstoffenheit; wenngleich diese kein Sich-selbst-mitvor-stellen sein muß.« 130 Je nach Komplexität des Organismus ist demnach nicht nur der Bezug zur Umwelt, sondern auch zu sich selbst bestimmt. Jedes Tier ist hinsichtlich des Grades von Offenheit durch die Weite bestimmt, die der ihm eigentümliche Drang in der Lage ist zu erdrängen, der letztendlich in der jeweiligen Organisation liegt, die wir im Gegensatz zum Dasein des Menschen Organismus nennen. »Jeder Drang konzentriert im Drängen je die Welt in sich, nach seiner Wei130

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se.« 131 Und wenn diese Um-Welt auch nur im Modus des Widerstandes erlebt wird. »In allem endlichen Drang […], liegt immer und notwendig Widerständiges, was dem Drang als solchem entgegensteht.« 132 Es bleibt festzuhalten: Nur wo Trieb ist, ist Fähigkeit. Alles Fähige ist triebhaft. Trieb ist gekennzeichnet als ein vorgreifendes, die Mannigfaltigkeit entlassendes, umgreifendes sich Drängen in sein eigenes Wozu und dies ist charakterisiert durch Veränderung, d. h.: Bewegung. In einem solchen Treiben geschieht der Einbruch in Welt und gleichsam ein wie auch immer gearteter Selbstbezug. »Der Drang (perceptio und appetitus); in sich der Grund für Umgebungsbezug und Benommenheit, für Schwung (Folge), für Einzelung (Abstoßung und Festigung), d. h. der Drang muß anfänglich in seinem Wesen so erfüllt gedacht werden; der Drang ist solches in seiner Einfachheit.« 133

18 Selbstheit und Eigentümlichkeit Es hat den Anschein, als habe die Biologie mit den Begriffen Selbstherstellung, Selbstleitung und Selbstregulation entscheidende Grundbegriffe zur Bestimmung des Lebendigen geliefert, an denen man sich von nun an zu orientieren habe, um eine uneingeschränkte Einsicht in das Wesen des Tieres erlangen zu können. Doch tatsächlich ist das dort genannte Selbst wissenschaftlich nicht aus der Verfassung des Lebendigen eigens aufweisbar, sondern wird dem als Organismus verstandenen Lebendigen unterlegt, um ihm dem vorwissenschaftlich erfahrenen Charakter der Lebendigkeit, welcher in aller Untersuchung verloren gegangen ist, zurückzugeben. Solange das Moment des Selbst ein angeklebter Begriff – die Kehrseite der Hauptbegriffe – bleibt, können die Begriffe Selbstherstellung, Selbstleitung und Selbstregulation nicht als Grundbegriffe bzw. Inbegriffe des Lebendigen, sondern lediglich als Leitbegriffe einer jeglichen Wissenschaft verstanden werden. Leitbegriffe, die sowohl das Selbstverständnis der Biologie als auch deren Blickrichtung auf ihre Untersuchungsgegenstände bestimmen. 134 A. a. O., S. 118 f. A. a. O., S. 121. 133 GA Bd. 76, S. 69. 134 »Das in ihren Hauptbegriffen Vorgestellte, [ist] für sich und an sich etwas, was wissenschaftlich nur in bestimmten Hinsichten, was für sich nie wissenschaftlich zugänglich 131 132

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Wenn gezeigt wurde, dass das Tier Fähigkeiten hat, besser: Befähigtes ist, so spricht sich auch darin eine unüberhörbare Eigenschaft von Selbstheit mit aus. »Das Fähigsein zu … ist ein in gewisser Weise durchmessendes, triebhaftes Sichvorlegen und vorlegend Sich-vor-legen in das eigene Wozu, in sich selbst. Fähigsein – darin liegt dieses ›sich in sich selbst‹.« 135 Wie ist der Charakter der dem Tier zugesprochenen Selbstheit aus dem sich zeigenden Sich-in-das-eigene-Wozu-vorlegen und vorverlegen grundsätzlich zu fassen, d. h. aus dem Ganzen des Lebensgeschehens selbst zu umreißen? Wie wird der Um-zu–Charakter des Wozu fassbar ohne die Annahme von Seelischem und Zweckmäßigkeit? Im Treiben hin zu ihrem Wozu entfernt sich die Fähigkeit nicht von sich selbst bis sie sich schließlich aus dem Blick geratend verliert. Die Fähigkeit kommt gerade im Organ erst zu sich. 136 So ist der Wesenszug der Selbstheit aus der Struktur der Fähigkeit herzuleiten. »Die Fähigkeit verlegt sich – sich in sich vortreibend – in die Durchmessung [Hervorheb. v. V.] zu ihrem Wozu.« 137 Die Fähigkeit ist sich im Organ zu eigen, sie ist sich eigentümlich. Alles Triebhafte ist Fähiges und alles Fähige besitzt den Charakter der Eigentümlichkeit. Die Eigentümlichkeit drückt das Selbst aus als die Weise, in der sich das Fähige zu eigen ist. Die Eigentümlichkeit des Tieres zeigt sich somit als Grundphänomen für die zahlreichen Interpretationen des tierischen Benehmens als Selbstleistungen und liegt somit den aufgezeigten Leitbegriffen der Biologie als eine Kategorie des Lebendigen zugrunde. »Das Tier«, so Heidegger im Wintersemester 1936/37 in Bezug auf Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, »hat kein Selbst, es kann nicht ›ich‹ sagen. Trotzdem hat das Tier ein ›Inneres‹.« 138 Dieses Innere macht den eben aufgezeigten Grundcharakter der Fähigkeit aus: der Eigentümlichkeit. [werden kann]. Die Hauptbegriffe haben gleichsam eine ihnen abgekehrte und unzugängliche Kehrseite.« (GA Bd. 76, S. 72.) 135 GA Bd. 29/30, S. 339. 136 Diese Bewegung von sich weg auf sich zukommen kennzeichnet auch die Bewegung des Entwurfgeschehens. Diese Charakteristik des Entwurfsgeschehens erlaubt dieses als die Bedingung der Privation des Lebendigen zu interpretieren. 137 GA Bd. 29/30, S. 340. 138 Heidegger, Martin: Übungen für Anfänger/Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Seminar-Mitschrift von Wilhelm Hallwachs (WS 1936/37). Bülow, Ulrich von (Hrsg.). Marbach 2005, S. 29. (Im Folgenden als Übungen für Anfänger angegeben.) A

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»Die Eigen-tümlichkeit ist ein Grundcharakter jeder Fähigkeit.« 139 Und dieser Grundcharakter der Fähigkeit ist solange nicht begriffen, wie Organismus als Werkzeug des Lebendigen, vom Werkzeug des Menschen her und nicht aus dem Wesen des Lebendigen gedacht wird. »Vom menschlichen ›Werkzeug‹ her findet man am Lebewesen ›Organe‹, zu unrecht und vollends kann man nicht sagen, die ›Organe‹ seien ›fundamentalere‹ Werkzeuge als die menschlichen ›Zeuge‹, oder gar die ›Wurzel‹ dafür.« 140 Organismus heißt vorläufig Sich-zu-eigen-sein und ist nicht ein bloßer Begriff, unter welchem das unter ihm begriffene in seiner Allgemeinheit zusammengefasst wird, sondern Organismus bedeutet dann eine Weise zu sein. Eine Weise zu sein, die sich deutlich von der Weise des Selbstseins unterscheidet. Selbstsein beschreibt eine Weise des Seins, dem sowohl die Offenbarkeit von Welt als auch die Offenbarkeit seiner selbst zu eigen ist und allein der Seinsweise zukommt, welche wir mit Heidegger Dasein nennen. In der Thematisierung der Eigentümlichkeit zeigt sich ein weiteres Moment an, welches kaum hörbar in dem oben hervorgehobenen Begriff Durchmessung zum Ausdruck kommt, namentlich der von Hans Driesch gesehene Durchgangscharakter des Lebendigen. 141 Die Fähigkeiten des Befähigten treiben in jedem Moment durch das Befähigte, so zwar, dass dieses Treiben im Befähigten einbehalten bleibt, es kommt also im Ausbilden der Organe nicht zum Erliegen, sondern bestimmt dessen Bezug zu dem, was wir unter dem Titel Welt verstehen. Das Verständnis der Eigentümlichkeit soll neben dem Missverständnis des Organismus als Selbstheit die Behandlung des Lebendigen aus der für dessen Bestimmung unangemessenen Behandlungsebene von Möglichkeit und Wirklichkeit entheben. Denn »[a]m Ende gehört gerade zum Wesen der Wirklichkeit des Tieres das Möglichsein und Können in einem bestimmten Sinne, nicht nur so, daß jedes Wirkliche, sofern es ist, zuvor überhaupt möglich sein muß, nicht diese Möglichkeit – sondern Fähigsein gehört zum Wirklichsein des Tieres, zum Wesen des GA Bd. 29/30,S. 340. GA Bd. 76, S. 68. Vgl. auch GA Bd. 29/30, S. 341. 141 »[G]etrieben vom Drang (Durchgang)« (GA Bd. 76, S. 67). Den Begriff Durchgang macht besonders Plessner im vierten Teil der Stufen in Hinblick auf die Einheit des Organismus stark: »Das In ihm gesetzt Sein des lebendigen Körpers oder die Verdoppelung seiner in ihm ist […] ein Durch ihn hindurch Sein.« (Die Stufen des Organischen, S. 170.) 139 140

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Lebens.« 142 Der Organismus hat somit nicht sozusagen nebenbei auch Fähigkeiten, sondern ist Befähigtsein und nichts außerdem. Das ist es, was Heidegger auszudrücken sucht, wenn er schreibt: »Der Organismus hat nicht Fähigkeiten, d. h. er ist nicht Organismus und dazu noch versehen mit Organen, sondern ›das Tier ist organisiert‹ meint: das Tier ist be-fähigt […]. Der Titel ›Organismus‹ ist dann überhaupt nicht mehr ein Name für dieses oder jenes Seiende, sondern er zeigt eine bestimmte Grundart zu sein an. Wir kennzeichnen diese Seinsart kurz, indem wir sagen: befähigt, organschaffende Eigentümlichkeit.« 143

19 Benehmen und Verhalten Betrachte die Herde, die an dir vorüberweidet: sie weiß nicht, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frißt, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht […], kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks, und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein […]. Der Mensch fragt wohl einmal das Tier: warum redest du mir nicht von deinem Glücke […]? Das Tier will auch antworten und sagen: das kommt daher, daß ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergaß es aber auch schon diese Antwort […].« 144

Die Fähigkeit wurde als zur Seinsweise des Organismus, als das sich in Organe schaffende, eigentümliche Befähigtsein aufgewiesen. Wozu ist aber eine so verstandene Fähigkeit fähig? Wir sagen: Das Tier ist fähig zum Sehen, Riechen, Jagen, Flüchten und vielem mehr. Aber sieht oder riecht das Tier in der gleichen Weise, wie wir sehen und riechen? Sehen oder riechen alle Tiere in gleicher Weise? Diesen Fragen gilt es zunächst nachzugehen. Die Pilgermuschel flieht. Der Stein erwärmt sich. Offenbar zwei gleichwertige Aussagen, die beide einen Naturvorgang beschreiben. Einen Vorgang aber von verschiedenen Weisen. Die Flucht der Pilgermuschel ist keine mechanische Abfolge von Bewegungen, sondern ein GA Bd. 29/30, S. 343. A. a. O., S. 342. 144 Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: Friedrich Nietzsche sämtliche Werke. Band 1. Colli, Giorgio/Montinari, Mazzino (Hrsg.). Berlin/New York 1980, S. 101. 142 143

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Vorgang, den die Pilgermuschel eigens betreibt; sie flieht, da es ihre Fähigkeit ist zu fliehen, aber eben nicht um willen ihrer selbst. Es ist nicht die Fähigkeit, die ihrer Gattung zukommt, an der sie zufällig teilnimmt, es ist ihre Flucht, wenn auch im Modus der Eigentümlichkeit – und nicht der Selbstheit. Die Pilgermuschel benimmt sich gegen ihre Verfolger und umgekehrt. Diese Art von Naturvorgängen der Tiere stellt Heidegger deshalb als ein Sich-Benehmen fest, das mathematisch nicht greifbar werden kann. 145 Die Unmöglichkeit der Mathematisierung zeigt – wie schon erwähnt – Weingarten auf, indem er auf die Unmöglichkeit des Erfassens des von Roux gesetzten Selbst hinweist. Betrachtungen eines Ablaufens einer Handlung können dessen einzelne Stationen erfassen, aber niemals den Charakter der Eigentümlichkeit, d. h. deren Bedeutung. Deshalb ist und bleibt – wie gezeigt – die Interpretation der Selbstheit eine Fehlinterpretation. Das Tier spult nicht irgendwelche Handlungen ab, sondern es benimmt sich Grund seiner ihm zugehörigen Eigentümlichkeit. Auch dem Menschen wird Benehmen nachgesagt. Man sagt zum Beispiel: Der Junge hat sich gestern Abend sehr gut benommen. Aber wenn es gilt, die Bezüglichkeit des Tieres und des Menschen zu dem, was wir unter dem Titel Welt verstehen, herauszustellen, müssen auch dessen Aktivitäten von denen des Tieres inhaltlich wie auch begrifflich unterschieden werden, wenn sie sich auch erst noch undeutlich abzeichnen und von daher als formale Anzeigen genommen werden müssen. Der Mensch benimmt sich in einer Art und Weise, die nur ihm zukommt, denn nur er ist in der Weise des Existierens. Diese Art und Weise des »Benehmens« des Menschen nennt Heidegger das Verhalten. Darauf wird in der Gegenüberstellung der Weltbildung des Menschen und der Weltarmut des Tieres noch näher einzugehen sein. Das Fähigsein zeigt sich somit fähig zum Benehmen. Anders gewendet kann auch gesagt werden, dass alles Benehmen ein Fähigsein ist. Dann aber stellt sich erneut die Gefahr ein, das Benehmen als Wirklichkeit möglicher Fähigkeiten misszudeuten. Wenn Organismus fähig ist zum Benehmen, Fähigkeit und Benehmen sich der Eigentümlichkeit des Lebendigen verdanken, wie ist sich das Tier dann zu eigen? Über die Klärung dieser Frage hinaus geht es in der Folge darum, das Feld, in dem sich das Verständnis von Eigentümlichkeit, Benommenheit, Benehmen und Verhalten bewegt, anhand 145

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Vgl. GA Bd. 29/30, S. 345.

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eines konkreten Beispiels aus der biologischen Forschung von Albrecht Theodor Julius Bethe, Emanuel Rádl und Jakob von Uexküll heraus zu entwickeln und deren Struktur aufzuzeigen. 146

19.1 Sammeltrieb und Orientierungsbenehmen bei Bienen Jeder Flug der Biene ist ein Hin-zu der entsprechenden Blüte als ein Benehmen der Biene geleitet durch Geruch und Farbe. Dieses Getriebensein zur Blüte ist nicht allein verursacht durch den Nahrungstrieb, sondern gleichsam durch den Sammeltrieb der Biene, indem sich die Zugehörigkeit der Biene zu ihrem Volk als Teil ihrer Umwelt zeigt. 147 Es ist zu beobachten, dass sich die Biene auf einer Blüte niederlässt, Nektar saugt und nach einer gewissen Zeit davon fliegt. Warum aber fliegt die Biene davon? Verlässt sie die Blüte, weil sie ausreichend Nektar zu sich genommen hat? Wenn dem so ist: Wie ist dieses Ausreichen der Biene gegenwärtig? Oder fliegt die Biene davon, weil sie feststellt, dass der Nektar der Blüte aufgesaugt ist? Und wenn, wie stellt die Biene dieses fest? Kann die Biene ein Vorhandensein bzw. Abhandensein von etwas feststellen? In wieweit lässt die Getriebenheit ein Vorhandensein von etwas zugänglich werden? Angenommen, die Biene nimmt den Nektar als solchen nicht wahr, wie ist dann aber Benehmen strukturiert, damit der Nektar ein Merkding in der Bienenwelt sein kann, da sie sich offensichtlich zu der Wiese, den Blumen und dem Stock als Merkdinge benimmt? Der entsprechende Versuch dazu zeigt Folgendes: Eine Biene wird auf ein Schälchen gesetzt, auf dem sich eine solche Menge Nektar befindet, dass sie die Fassungskapazität der Biene übersteigt. Während des Saugvorgangs wird der Biene der Hinterleib abgetrennt, in dem sich auch das Sammelorgan für den Nektar befindet. Die Biene saugt und saugt, bis ihr der Nektar aus der provozierten Öffnung am Hinterleib wieder hinausläuft. Die Biene saugt und saugt, ohne dass sich ein Sättigungsgefühl einstellt. Sie stellt ihr Treiben nicht ein, da sie das Zuviel Vgl. Theoretische Biologie, S. 34 f. »Im Riechen ist das Tier auf ein Gerochenes bezogen, und zwar in der Weise des fähigen Hin-auf … Dieses triebhafte Hin-auf … ist zugleich als solches diensthaft; das Riechen ist von sich aus zu Diensten eines anderen Benehmens […]. In der Getriebenheit zeigt sich die Zugehörigkeit zum Volk.« (GA Bd. 29/30, S. 350 f.) 146 147

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des Vorhandenseins im Vergleich zu ihrer Aufnahmekapazität nicht feststellen kann. Sie ist von dem Nektar hingenommen. Die Biene ist hingetrieben zum Saugen und weggetrieben an den Nektar als das Woraufhin des Saugens. Daran lässt sich zeigen, dass die Biene im unpräparierten Zustand das Ausreichen des Nektars aufgrund einer Sättigung erfährt, die den Trieb hemmt und gleichsam in einen von diesem verschiedenen Trieb – wie dem Rückflugtrieb – überleitet. Die Sättigung des Tieres ist nicht auf die Nahrung bezogen, sondern auf einen inneren Zustand der Biene selbst. Das Ausreichen des Nektars wird von der Biene nicht festgestellt. Ausreichen kommt im Bienenleben nur als ein Hemmen des Nahrungstriebs vor. Das Hemmen selbst ist nicht auf den Nektar bezogen, sondern auf das beginnende Ausreichen als Erlöschen des Triebes. Das Treiben richtet sich nicht nach Vorhandenem, sondern nach den Trieben und solchen Reizen – ob sie nun innere sind, wie die Nahrungssuche oder äußere, wie die Flucht – die diese Triebe enthemmen. Das Tier kann sich nicht gegen seinen Nahrungstrieb entscheiden. Das Saugen an der Blüte ist kein Verhalten der Biene gegenüber derselben, sondern das Stillen eines Triebes, der sich an der Blüte, die dem Tier jedoch niemals als Vorhandenes zugänglich ist, ereignet. Der Nahrungstrieb der Biene ist gestillt und die Biene tritt ihren Rückflug an. Wie aber findet sie den Bienenstock? An verschiedenen Beobachtungen lässt sich zeigen, dass sich Bienen sowohl farblich als auch geruchlich orientieren. Doch diese beiden Orientierungskriterien reichen nicht aus, um den Bienenstock aus einer größeren Entfernung wiederzufinden. Rádl beobachtete, dass Süßwasserflusskrebse immer mit den Augen zum Licht stehen, selbst wenn das Licht von unten kommt und der Krebs somit Kopfstehen muss. Diese vom Lichteinfall geleitete Bewegung bezeichnet Radl als Phototropismus, der bei Lebewesen mit Gesichtsfeld phototaktisch wirkt und der Orientierung besonders bei Insekten dient. Ein solches Verhalten zeigten auch Bienen in den von Bethe durchgeführten Versuchsreihen: Die Bienen fanden ihre Abflugposition aufgrund ihrer phototaktischen Fähigkeit ohne Probleme wieder. Beim Abflug aus dem Stock registriert die Biene aus ihrer dortigen Position heraus den Winkel, in dem die Sonne hinsichtlich der einzuschlagenden Flugrichtung zu ihr steht. Angenommen, die Sonne 184

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steht der Biene hinsichtlich ihrer Richtung im 30 Grad Winkel von links in den Rücken, so steht die Sonne – da der Flug gemeinhin recht kurz ist, sodass sich der Sonnenstand in dieser Zeitspanne nicht störend verändert – der Biene im 30 Grad Winkel von vorne rechts entgegen. Dabei nimmt sie die Sonne aber nicht als Sonne wahr. Die Biene ist im Rückflug benommen von dem Stand der Sonne. In gewohnter Umgebung ist es der Biene zudem möglich, ihren Stock zu finden, was dafür spricht, dass auch die Umgebung als Orientierung Merkqualitäten für die Biene besitzt. In allen diesen Merkqualitäten: Sonne, Energie, Farbe, Duft und Umgebung liegt die Heimkehrfähigkeit der Biene, an denen sie sich benommen orientiert. Im Rückflug ist die Biene gleichsam an den Qualitäten ihrer Merkwelt aufgehängt. 148

19.2 Benommenheit als Zugangscharakter des Lebendigen »Im Tier offenbart sich als Grundprinzip seines Daseins eine Geschlossenheit […]. Im Menschen öffnet sich die Geschlossenheit des vitalen Kreises, seine Existenz ist nicht wesensmäßig begrenzt wie der Kreis […].« 149

Die Ergebnisse solcher Versuche haben ihren besonderen Verdienst darin, dass sie nicht versucht sind, einem mathematisch verstandenen Ideal von Naturwissenschaft Rechnung zu tragen, sondern sich an den Phänomenen orientieren, ihre Versuche nach diesen jeweils neu ausrichten und so einen angemessenen Einblick in das Wesen des Lebendigen ermöglichen. Diese Versuche zeigen deutlich, dass die Biene völlig hineingenommen ist in ihre Getriebenheit. Im Heimkehrtrieb vernimmt die Biene die Sonne nicht als Sonne, die Futterstelle nicht als Futterstelle, den Baum nicht als Baum. Sie ist bezogen auf diese, aber nicht im Modus des Vernehmens von Vorhandenem als solchem. Der Modus der Bezüglichkeit der Biene zeigt sich als Benehmen und nicht als Vernehmen. Darin liegt, dass dem Tier das Vernehmen von etwas als etwas genommen, wir sagen auch be-nommen, ist. »Der Mensch besitzt und Der von Uexküll geschaffene Begriff Merkwelt wird von Heidegger nicht übernommen. 149 Zur Untersuchung des Wesensunterschieds von Mensch und Tier, S. 65. 148

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durchlebt eine objektive Wirklichkeit und besitzt und durchlebt auch die subjektiven Vorstellungen dieser Wirklichkeit. Das Tier durchlebt weder das eine noch das andere.« 150 Die Genommenheit des Vernehmens von etwas als etwas beschreibt keine absolute Bezugslosigkeit des Tieres, sondern seine ihm eigentümliche Bezogenheit, die sich in der Hingenommenheit des Tieres in seine Umgebung ausspricht. »Wo ein Fuß ist, da ist auch ein Weg. Wo ein Mund ist, da ist auch Nahrung. Wo eine Waffe ist, da ist auch ein Feind.« 151 Die Genommenheit des Vernehmens nennt Heidegger die Benommenheit. Diese ist dem Tier wesenhaft und nicht nachträglich zugehörig, d. h. als Kategorie zu qualifizieren. Seiendes als Seiendes ist dem Benommenen nicht offenbar. Das Fehlen der Offenheit von Seiendem als solchem schließt gleichsam das Tier mit ein. Das Tier ist getrieben in seinem ihm eigentümlichen Treiben der Fähigkeiten – Eingenommenheit. Somit ist es dem Tier nicht gewährt, sich auf Seiendes bzw. sich selbst einzulassen. »Das Tier steht als solches nicht in einer Offenbarkeit von Seiendem. Weder seine sogenannte Umgebung noch es selbst sind als Seiendes offenbar.« 152 Zu einer solchen Offenbarkeit bedürfte es eines Risses in der Getriebenheit als Öffnung hin zu Welt. Eine Öffnung, die der Mensch durch den Gebrauch des Steines als Wurf- und Schlagmittel in die Hülle der Benommenheit gerissen hat. Doch können wir auch nicht sagen, dass das Tier dem Seienden bezugslos gegenüberstünde. Es steht ihm gar nicht gegenüber. »[E]s ist kein Bleibendes, das dem Tier als ein möglicher Gegenstand gegenüber steht […].« 153 »Die Umwelt, wie sie sich in der Gegenwelt des Tieres spiegelt, ist immer ein Teil des Tieres selbst, durch seine Organisation aufgebaut und verarbeitet zu einem unauflöslichen Ganzen mit dem Tiere selbst.« 154 Dabei ist der Umfang des in der Benommenheit als Widerstand Erfahrenen durch die Organisation der Triebstrukturen des Lebendigen eigens bedingt. Innerhalb dieser Triebstruktur treiben die einzelnen Triebe nicht einfach nebeneinander her, sondern Treiben einander zu und sind so zu Benehmensformen fähig, die heute als

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A. a. O., S. 48. Theoretische Biologie, S, 153. GA Bd. 29/30, S. 361. A. a. O., S. 372. Umwelt und Innenwelt der Tiere, S. 169

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Emergenzen gelten. Dieses Zutreiben hält das Tier in einem Ring von Trieben einbehalten, aus dem es zwar nicht ausbrechen kann, welcher jedoch einen gewissen Spielraum eröffnet. Innerhalb dieses Spielraumes ist das Benehmen darauf aus, sich in einem gewissen Zustand von Ruhe zu halten, d. h. alles ihm Zugängliche wegzuschaffen. »Man könnte sagen: Wenn das Benehmen durch und durch ein Beseitigen ist, dann ist es im Benehmen darauf abgesehen, gleichsam kein Vorhandenes stehen zu lassen, sondern es wegzuschaffen und damit gleichsam ins Leere zu kommen. Beseitigendes Benehmen ist so ständiges Beschaffen der Leere.« 155 Das so verstandene Wegschaffen ist also kein Sich-einlassen der Biene auf z. B. den Nektar sondern genau dessen Gegenteil. So versteht Heidegger das Saugen des Nektars als ein Beseitigen des die Enthemmung Veranlassenden und das heißt letzten Endes der Enthemmung selbst. Damit ist die Frage nach dem Charakter des dem Tier Begegnenden auf den Weg gebracht: Das zum Benehmen Fähige hat das Enthemmende in seiner Benommenheit im Modus des ZuBeseitigenden. Das Enthemmende veranlasst am Tier ein der Enthemmung entsprechendes Benehmen, in dem sich das Tier vom Enthemmenden quasi abstößt hin zu dem Treiben, das es eigentümlich ist und nichts außerdem. Beseitigen ist der Grundzug des Benehmens. Wenn Thomas Philipp – wie Anfangs schon angedeutet – diese von Heidegger entwickelte Wesensbestimmung des Tieres zu einer naturphilosophisch motivierten Auslegung des Menschen verdreht, dann entbehrt dieser Ansatz jeglicher Grundlage: »Drittens möchte ich vorschlagen, auch die von Heidegger für das Tier beschriebene spezifische Welthabe (das ›Haben‹ von Enthemmendem, das ich als vor-vorprädikatives Verstehen von Welt bezeichnet habe) auf die leibliche Existenz des Menschen zu übertragen. Aus der Erfahrung bei gemindertem Bewußtsein, im Dösen, bei allen automatisch ausgeführten Bewegungen, im Getriebensein durch starken Hunger, Durst oder Geschlechtstrieb, kann sich eine Hermeneutik der Natur ergeben, die nicht so sehr reduktiv-privativ vom seinsverstehenden Dasein ausgeht, sondern die eher das Gemeinsame im menschlichen wie im tierischen Getriebensein und Hingenommensein durch Enthemmendes sieht und dieses als Naturhaftigkeit der kreatürlichen Existenz denkt.« 156 Bevor aber über Gemeinsamkeiten ge-

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GA Bd. 29/30, S. 367. Selbst-Natur-sein, S. 154. A

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sprochen werden kann, müssen zunächst die Unterschiede klar herausgearbeitet werden. In seiner Marburger Parmenides-Vorlesung des Wintersemesters 1942/43 ersetzt Heidegger den Begriff Enthemmung durch den Begriff Erregbarkeit. »Im Umkreis des durch Pflanze und Tier gekennzeichneten Lebendigen finden wir jenes eigentümliche Sichregen einer Regsamkeit, der gemäß das Lebendige ›auf-geregt‹ ist, d. h. erregt zu einem Aufgehen in einem Umkreis der Erregbarkeit, aufgrund welcher Erregbarkeit es anderes in den Umkreis seines Sichregens einbezieht.« 157 Heidegger ist sich wohl bewusst, dass es in den alltäglichen Beobachtungen von Tieren so aussähe, als ob diese sich zu ihrer Umgebung verhielten. Eine solche Interpretation führt jedoch zwangsläufig zu Problemen: Denn unterstellten wir dem Tier ein Suchen von Nestmaterial, Geschlechtspartnern oder Nahrung, so müssten wir dem Tier ein Verstehen von Welt, einer Offenbarkeit des Seienden als Seienden zugestehen und das entspräche der anfangs in der Aristoteles-Interpretation aufgestellten These Alles Lebendige ist ein In-der-Welt-sein, die sich schon in der knappen Gegenüberstellung von Stein, Tier und Mensch als unvertretbar erwies. 158 »Wollten wir das Beseitigen als Suchen der GA Bd. 54, S. 237 f. »Weil nun aber der Mensch in der Metaphysik als das vernünftige Tier erfahren und gedacht wird, deshalb wird die Tierheit jedesmal am Maßstab der Vernünftigkeit als das Unvernünftige, Vernunftlose und d. h. zugleich in der Entsprechung zur menschlichen Verständigkeit und Triebhaftigkeit, ausgelegt. So bleibt in der Metaphysik und in ihrem Gefolge für alle Wissenschaft das Geheimnis des Lebendigen außer der Acht; denn entweder werden die Lebewesen dem Angriff der Chemie ausgesetzt oder sie werden in den Gesichtskreis der ›Psychologie‹ versetzt. Auf beiden Wegen gibt man vor, das Rätsel des Lebens zu suchen. Man wird es niemals finden; nicht nur deshalb nicht, weil jede Wissenschaft nur immer an das Vorletzte gefesselt bleibt und das Letzte als Erstes voraussetzen muß, sondern auch deshalb wird man das Rätsel des Lebens so nie finden, weil man zuvor das Geheimnis des Lebendigen preisgegeben hat.« (GA Bd. 54, S. 238 f.) Dies zeigt Heidegger auch in seiner mit dieser Aussage in Zusammenhang stehenden Interpretation Rilkes Duineser Elegie, um an ihr den Unterschied von phänomenologisch begründeter Wesensschau und metaphysischer Phänomenvorstellung zu veranschaulichen. So zitiert Heidegger: »›Mit allen Augen sieht die Kreatur das Offene. Nur unsre Augen …‹ […]. Mit der Entgegenstellung von Tier und Mensch, vernunftlosen und vernünftigen Lebewesen, finden wir uns innerhalb einer Unterscheidung, deren anfängliche Gestalt im Griechentum zu suchen ist […]. Der Mensch ist darnach τὸ ζῶον λόγον ἔχον, das von sich aus Aufgehende […], ›das Wort hat‹. ›Das Tier‹ dagegen ist das von sich aus Aufgehende, dem das Wort versagt ist – ζῶον ἀ-λόγον. Das Wesen des Sagens aber ist für die Griechen […], das Offenbarmachen des Offenen. Der Mensch, und er allein, ist das Seiende, das, weil es das Wort hat, in das Offene hineinsieht und das Offene im Sinne 157 158

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Leere fassen, dann müßte zuvor das Benehmen der Tiere von Grund aus als Sichverhalten zu Seiendem als solchem gefasst sein. Gerade das ist nicht möglich.« 159 Interpretiert man das Benehmen des Tieres als ein Hin zu … und nicht als ein Sich-vom-Enthemmenden-abstoßendes-Beseitigen, dann würde auch die Einsicht in den Grundcharakter Eigentümlichkeit erneut verstellt. »In diesem Sich-abstoßen bekundet sich die Eingenommenheit des Tieres in es selbst.« 160 Denn der Charakter des je spezifischen Sich-Abstoßens, den wir in den alltäglichen Beobachtungen der Tiere machen können, wie Fliehen, Jagen, Fressen, Verdauen und Kreislauf, betrifft den ganzen Organismus. »Es ist nicht so, daß die Herztätigkeit beim Tier ein anderer Vorgang wäre als das Greifen und Sehen […].« 161 Wie die befruchtete Eizelle erst durch die Verschmelzung mit dem Spermatozoon zur Furchung hin enthemmt wird, so wird die Amöbe durch chemische Reize ihrer Nahrung zur Bildung des Mundes etc. hin enthemmt.

19.3 Die Privation der Benommenheit Die Begriffstrias benehmen, benommen und Benommenheit auf das Tier bezogen ist nicht einfach ein von Heidegger inszeniertes Wortspiel, sondern selbst aus der Verfassung des Daseins privativ gehoben. Denn auch der Mensch wird in seinem alltäglichen Umgang mit und in der Welt mehr von dieser gelebt als diese von ihm. »Aber nicht nur das, wir sind von den Dingen hingenommen, wenn nicht gar an sie verloren, oft sogar durch sie benommen.« 162 Die gesamte Daseinsanalyse im 2. Kapitel des 1. Teils von »Sein und Zeit« erwächst aus dem so benommenen Verhalten des Daseins. »Das In-der-Welt-sein ist als Besorgen von der besorgten Welt benommen.« 163 Im alltäglichen Umgang bleibt der Mensch genauso wenig bei der Türklinke wie die Biene beim Nekdes ἀληθές sieht. Das Tier dagegen sieht das Offene gerade nicht und nie und mit keinem einzigen aller seiner Augen […]. Rilke weiß und ahnt nichts von der ἀλήθεια […]. Demnach verharrt Rilke ganz in den Grenzen der überlieferten metaphysischen Bestimmung des Menschen und des Tieres.« (GA Bd. 54, S. 230 f.) 159 GA Bd. 29/30, S. 367. 160 Ebd. 161 A. a. O., S. 348. 162 A. a. O., S. 153. 163 SuZ, S. 61. A

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tar, d. h. im gebrauchenden Umgang geht das Zuhandene nicht als solches auf sondern im Handel unter. Nur aus der wesenhaft zum Dasein gehörigen Verfallenheit an das Innerweltliche im Umgang mit diesem, wohlverstanden als eine Möglichkeit des Daseins, kann die Benommenheit des Tieres privativ erschlossen werden.

19.4 Umringen als Grundphänomen alles Lebendigen Nachdem Heidegger in den entsprechenden Kapiteln sowohl die dem Lebendigen eigentümliche Strebigkeit im Dranggeschehen als auch dessen Ganzheit und der damit notwendig einhergehenden ganzheitlichen Betrachtung seitens der Wissenschaften im Grundgeschehen der Eigentümlichkeit aufweisen konnte, gilt es, die abschließende Bestimmung des Lebendigen, die sich schon mancherorts angedeutet hat, namentlich die Umgebungshaftigkeit des Lebendigen aufzuzeigen, die im Bilden der Enthemmungsringe gründet. »Das trieb- und diensthafte Fähigsein zu …, das Ganze der in sich eingenommenen Befähigung ist eine Zugetriebenheit der Triebe, die das Tier umringt, so zwar, daß dieser Umring gerade das Benehmen ermöglicht, worin das Tier auf Anderes bezogen ist.« 164 Die Umringe haben sich ontisch als Umgebungskreis, Nahrungskreis, Geschlechtkreis, Feindeskreis und Medium angezeigt. Den ontologischen Wesensgrund, die ontologische Möglichkeit solcher Kreise, zeigt Heidegger aus der phänomenologischen Bestimmung dieser Kreise aus der Merk- und Wirkwelt-Theorie Uexkülls heraus im Phänomen des Umringens auf, welches er gleichsam als die Grundbewegung des Lebendigen qualifiziert. »Das Leben ist nichts anderes als das Ringen des Tieres mit seinem Umring, durch den es eingenommen ist, ohne je im eigentümlichen Sinn bei sich selbst zu sein.« 165 Im Treiben der Fähigkeiten zeigte sich das Tier als in dieses Treiben eingenommen – Eingenommenheit. Die Eingenommenheit bestimmt somit die selbstlose Beziehung des Tieres zu sich. Gleichsam ist das Tier aber nicht in sich eingeschlossen, sondern in seine Umgebung im Modus der Benommenheit hineingenommen. »Das Sich-Einringen ist also keine Einkapselung, sondern gerade ein öffnendes Ziehen eines Umrings, innerhalb 164 165

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dessen dieses oder jenes Enthemmende enthemmen kann.« 166 Die Weite der Hineingenommenheit, der Offenheit für etwas bestimmt sich aus den jeweiligen Fähigkeiten des Tieres. Nur wo sich das Tier mit der Fähigkeit des Hörens umringt, können Laute das Tier zu einem seiner Fähigkeiten entsprechenden Benehmen veranlassen. Nur wo der Umring die Fähigkeit von Feindwahrnehmung besitzt, kann Flucht veranlasst werden. Wo keine Fähigkeit sich der Umgebung öffnet, findet auch keine Veranlassung statt. Veranlassendes wird erst vom Organismus als Veranlassendes qualifiziert. Der Organismus ist eigentümlich. Er bestimmt, welche Reize der Außenwelt auf ihn einwirken können. Anderem gegenüber ist er unempfindlich, d. h. er bringt seine Umringe eigens mit. »Der Organismus ist nicht etwas für sich und paßt sich dann noch an, sondern umgekehrt, der Organismus paßt sich jeweils eine bestimmte Umgebung ein.« 167 »Ein Reiz mag, objektiv gesprochen, noch so intensiv und groß sein, ein bestimmtes Tier ist für bestimmte Reize schlechtweg unzugänglich.« 168 »Der Reiz und das Gereiztwerden ist nicht etwa die Bedingung der Möglichkeit der Enthemmung eines Triebes, sondern umgekehrt, nur wo Enthemmung und Einringung, nur da ist Reizbarkeit möglich.« 169 Dieses anzuerkennen – so Heidegger – brächte den dies betreffenden Untersuchungen einigen Aufschwung. 170 Darüber hinaus beweist A. a. O., S. 370. A. a. O., S. 384. 168 A. a. O., S. 373. 169 A. a. O., S. 372. Zudem gibt es den reinen Fall des sich stets in gleicher Weise wiederholenden Reizschemas nur im Labor, nie aber in der Lebenswirklichkeit. Denn bei jedem faktischen Jagd- oder Fluchtbenehmen sind die Faktoren nie dieselben. Nicht bestehen die gleichen Lichtverhältnisse, die Windrichtung ist anders, das Größenverhältnis von Jäger und Gejagtem variiert und so muss sich die Gesamtheit der Sinnes- und Wirkorgane je zu einem anderen gesamtheitlichen, je situationsspezifischen Benehmen hin enthemmen. Nicht einmal ein so schlichter Vorgang wie das Kauen unterliegt solcher Regelmäßigkeit im Ablauf, sondern ist abhängig von Konsistenz der Nahrung, Speichelfluss und vielem mehr. Das gilt auch für Wechseltierchen. »Nie ist in zwei Einzelfällen stückhaft betrachtet die Situation die gleiche, nie wiederholt sich die Gesamtheit der Reize oder der Bewegungen. Diese einfache Tatsache fordert eine andere Erklärung als die, welche die übliche Kettenreflextheorie liefert.« (Zur Untersuchung des Wesensunterschieds von Mensch und Tier, S. 38.) 170 Anerkennend spricht sich Heidegger in diesem Zusammenhang über die Arbeit des Physiologen Johannes Müller und dessen in »Handbuch der Physiologie des Menschen« veröffentlichte Forschungsergebnisse aus. (Müller, Johannes: Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen. Band I. Coblenz 1844. Vgl. GA Bd. 29/30, S. 372.) 166 167

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»[d]ie mögliche Darstellung des Tieres als eines Bündels von Reflexbögen […] gar nicht, daß damit der Organismus als solcher durchforscht, ja auch nur überhaupt gefasst ist […]. Was sagen die Ergebnisse für das Verständnis des betreffenden Sachgebietes als solchen, was leisten sie für die Erkenntnis der elementaren Einfachheit des Wesensbestandes von Tier, Pflanze und Materie?« 171 Wenn verschiedene Versuche, wie der folgende Exkurs zu Uexkülls Umwelt-Theorie referieren wird, auch zeigen können, welche Merkmale das Tier aus seiner Umgebung bemerkt, dann kann damit noch lange nicht über die Qualität dieser Merkmale für das jeweilige Tier entschieden werden. 172 Da das Tier in seiner Benommenheit diese Merkmale nicht als solche, d. h. in der Weise der Offenbarkeit hat, wie sie dem Menschen eigentümlich ist, sondern eben als Bienen-Merkmale, Eidechsen-Merkmale etc. »Das Tier […] sieht weder, noch erblickt es jemals das Offene im Sinne der Unverborgenheit des Unverborgenen. Deshalb kann es sich aber auch nicht im Verschlossenen als einem solchen bewegen und kann sich gleichwenig zum Verborgenen verhalten. Das Tier ist aus dem Wesensbereich des Streits zwischen Unverborgenheit und Verborgenheit ausgeschlossen.« 173 Somit kann auch von Armut nicht die Rede sein, denn die Umgebung des Tieres kann mannigfaltiger, funktioneller, ja gleichsam reicher sein. 174 »Vielmehr ist das Leben ein Bereich, der einen Reichtum des Offenseins hat, wie ihn vielleicht die menschliche Welt gar nicht kennt.« 175 Andererseits zwingt uns dieser Umstand von diesem dem Menschen eigentümlichen Seinsbezug auszugehen, d. h. die Bestimmung des Lebendigen als ein absprechendes Zusprechen aus der Fülle des Daseins zu erschließen, d. h. PriGA Bd. 29/30, S. 317 f. »Es wurde das Netzhautbild eines zu einem Fenster hinaussehenden Leuchtkäfers beobachtet […]. Die Photographie gibt relativ deutlich den Anblick eines Fensters und Fensterrahmens und eines Fensterkreuzes wieder […]. Das Insektenauge ist fähig, diesen ›Anblick‹ zu bilden. Aber können wir daraus entnehmen, was das Leuchtkäferchen sieht? Keineswegs. Aus der Leistung des Organs können wir gar nicht die Fähigkeit des Sehens und die Art, wie das vom Organ Geleistete in den Dienst des Sehenkönnens genommen wird, bestimmen.« (GA Bd. 29/30, S. 336.) 173 GA Bd. 54, S. 237. 174 »Haben wir nun erstmal den Anfang gemacht, an wenigen Tieren zu zeigen, welche Umwelt sie wie ein festes, aber unsichtbares Glashaus umschließt, so werden wir bald die Welt um uns mit zahllosen schillernden Welten bevölkern können, die den Reichtum unserer reichen Welt noch tausendfach erhöht.« (Theoretische Biologie, S. 96.) 175 GA Bd. 29/30, S. 371 f. 171 172

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vation, aber niemals Hierarchisierung. Diese Forderungen werden von dem hier erreichten Forschungsstand aus nicht einfach von Heidegger wiederholt, sondern erweisen sich aus der dem Tier eigentümlichen Seinsweise selbst als notwendig. Aus all dem kann der Organismus nicht mehr als ein in der Wissenschaft zu betrachtendes Objekt, sondern als Subjekt seiner von ihm dranghaft errungenen Umgebung verstanden, behandelt und untersucht werden. Ein bestechendes Beispiel für die Notwendigkeit der Erforschung des Lebendigen innerhalb seiner Umgebung zeigt Uexküll in der von ihm verfassten Arbeit »Ueber Reflexe bei den Seeigeln« 176 schon im Jahre 1896: »Die weiteren Versuche von Romanes und Ewart über die Centrumfrage können nicht als physiologische Experimente gelten, da sie die Seeigel dabei aus dem Wasser nahmen und auf den Tisch setzten, was ihnen jede Möglichkeit nimmt, sich normal fortzubewegen und durch die dabei eintretenden abnormen Druckverhältnisse im Inneren verderblich auf die übrigen Lebensfunction einwirken muss.« 177 Wenn der Fuchs die Gans jagt, die Gans dem Fuchs flieht, die Katze den Hund in ihrer Flucht auf den Baum nach unten drückt, dann zeigt sich darin, dass die Umringe der jeweiligen Tiere in einer Vielzahl von Weisen ineinander greifen und die Bezüge verschiedenster Weisen des Benehmens einzelner Tiere stiften. Wenn wir die Jagd des Fuchses, die Flucht der Gans oder der Katze beobachtend begleiten und als Jagd- bzw. Fluchtbenehmen erlebend verstehen, dann offenbart sich in diesem erlebenden Verstehen darüber hinaus, dass auch das faktische existierende Dasein, der Mensch, leibhaftig in die Umringe der Tiere gestellt ist. Denn »[die Natur] steht nicht mit einer Fülle von Objekten um den Menschen herum, ist so verständlich, sondern das menschliche Dasein ist in sich ein eigentümliches Versetztsein in den Umringzusammenhang des Lebendigen.« 178

176 Uexküll, Jakob von: Ueber Reflexe bei den Seeigeln. In: Zeitschrift für Biologie. Kühne, W./Voigt, C. (Hrsg.). Band 34 der ganzen Reihe. München und Leipzig 1896. 177 Ueber Reflexe bei den Seeigeln, S. 311. 178 GA Bd. 29/30, S. 403.

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20 Die Tendenz der Ent- und Verdeckung der neueren Biologie hinsichtlich einer grundsätzlichen Bestimmung des Organismus Neben den schon ausgearbeiteten Forschungsergebnissen von Wilhelm Roux und Hans Driesch kommt vor allem Jakob von Uexküll ein vermehrtes Interesse Heideggers hinsichtlich einer grundlegenden Bestimmung des Lebendigen zu. In ihm scheint sich zum ersten Mal der Mut durchzusetzen, die sich in den Untersuchungen zeigenden Phänomene nicht den allgemein vorherrschenden wissenschaftlichen Ansichten zu opfern. 179 Zum Ausdruck kommt Heideggers die Biologie betreffende Stimmung besonders in dessen Kritik an dem in Holland geborenen Biologen J. J. F. Buytendijk. Heidegger räumt dabei das Bemühen der Biologie durchaus ein »[u]nd doch fehlt noch der entscheidende Schritt zur ersten und maßgebenden Charakteristik des Organismus, solange man die Zusammenhänge so sieht, wie es etwa in dem folgenden Satz des holländischen Biologen Buytendijk zum Ausdruck kommt: ›Es zeigt sich also, daß in der ganzen Tierwelt die Verbundenheit des Tieres mit seiner Umgebung fast [Hervorheb. v. Verf.] so innig ist, wie die Einheit des Körpers.‹« 180 Und weiter heißt es: »Auf Grund seiner körperlichen und seelischen Struktur kann das Tier mit einem Teil der wirklichen Welt in Kontakt treten.« 181 Manche Textstellen sprechen allerdings eine andere Sprache, die eine gegenteilige Annahme zulässt: »Das Tier kennt seine Umgebung wie die eine Hand die andere.« 182 In der Zusammenfassung heißt es weiter: »Die Umwelt ist dem Tiere wie ein Organ (›das Eigene‹) gegeben, nicht wie ein ihm gegenüberstehendes Objekt (›das Andere‹) [.]« 183 . Ob die Kritik Heideggers an Buytendijk berechtigt ist oder nicht, sei dahingestellt. In der Sache herrscht Klarheit, denn solange immer noch geglaubt wird, der Organismus ende an den Grenzen seiner Körperkonturen, solange ist das Wesen der Umgebungshaftigkeit des Lebendigen noch nicht in seinem Grunde gefasst. Denn »[d] 179 »Es fehlte der Mut, mit einem an sich Bekannten Ernst zu machen, d. h. aber das Wesen des Lebens in seinem echten Eigengehalt zu entfalten.« (GA Bd. 29/30, S. 378.) 180 A. a. O., S. 375 f. Zitat aus: Zur Untersuchung des Wesensunterschieds von Mensch 181 182 183

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Zur Untersuchung des Wesensunterschieds von Mensch und Tier, S. 49. A. a. O., S. 47 f. A. a. O., S. 64.

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ie Verbundenheit des Tieres mit der Umgebung«, wie das vorhergehende Kapitel zu zeigen versuchte, »ist nicht nur fast [Hervorheb. v. Verf.) so innig wie …, auch nicht gleich innig wie die Einheit des Körpers, sondern die Einheit des Körpers des Tieres gründet als Einheit des Tierkörpers gerade in der Einheit der Benommenheit, d. h. aber jetzt des Sich-umringens mit dem Enthemmungsring, innerhalb dessen erst sich jeweils eine Umgebung für das Tier breitmachen kann. Die Benommenheit ist das Grundwesen des Organismus [Hervorheb. v. Verf].« 184 Buytendijk ist es im Gegensatz zu Heidegger in der betreffenden Schrift jedoch nicht daran gelegen, den Wesensunterschied von Mensch und Tier aus deren unterschiedlichen Weltbezügen heraus zu entwickeln, sondern aus dem Vergleich ihrer psychischen-physischen Gesamtleistungen, zu deren Untersuchungen er unter anderem in Zusammenarbeit mit Plessner die Ausdrucksformen bei Mensch und Tier erforschte. 185 Aus diesen Untersuchungen heraus zeigte sich auch für Buytendijk die Wahrnehmung des Tieres im Gegensatz zum Menschen als gegenstandslose, denn während der Mensch sowohl eine objektive Wirklichkeit als auch die subjektiven Vorstellungen derselben besitzt und erlebt, ist dem Tier weder das eine noch das andere gegeben. »Es lebt bloß in einer Umwelt, in einem Lebensmilieu, das dem Tiere nicht gegenständlich gegeben ist, wovon es keine Vorstellungen in unserem Sinne hat.« 186 Das Zitat zeigt zudem deutlich Buytendijks Kenntnis und Wertschätzung der Arbeit Uexkülls. »Jede konkrete biologische Frage nach einem tierischen Fähigsein zu … […] muß in die Einheit dieses Strukturganzen der Benommenheit des Tieres zurückfragen. Denn diese Grundkonzeption der Benommenheit ist das Erste, auf dessen Grund sich erst jede konkrete biologische Frage ansiedeln kann.« 187 Damit behauptet Heidegger nicht, der Biologie ein allumfassendes System der Behandlung des Lebendigen an die Hand geben zu können. »Wohl aber […] eine konkrete Auszeichnung der Grundkonzeption mit Bezug auf das Wesen des Lebens, in der jede Besinnung auf das Wesen des Lebens sich bewegt und die gerade im 19. Jahrhundert bei aller Energie der Forschung langehin verfehlt GA Bd. 29/30, S. 376. Vgl. Zur Untersuchung des Wesensunterschieds von Mensch und Tier, S. 57 ff. 186 Zur Untersuchung des Wesensunterschieds von Mensch und Tier, S. 48. Buytendijk bezieht sich ausdrücklich an mehreren Textstellen in Zusammenhang mit seiner Arbeit neben Uexküll auch auf Plessner und Piaget. (Vgl. a. a. O., S. 33, 56 ff.) 187 GA Bd. 29/30, S. 377. 184 185

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bleibt […], weil sie durch die Herrschaft der mechanisch-physikalischen Naturbetrachtung niedergehalten wurde.« 188 Erste Versuche in diese Richtung – so Heidegger – unternahm schon Karl Ernst von Baer in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts, welche jedoch in der Folgezeit wieder verschüttet wurden und im Folgenden protokollarisch – sofern für die von Heidegger aufgezeigte Grundverfassung des Lebendigen als Benommen-befähigtes-Organeschaffendes-sich-umringen relevant – aufzureißen sind. 189

20.1 Karl Ernst von Baer Der 1792 bei Jerwen in Estland geborene Biologe Karl Ernst von Baer, Edler von Huthorn (1792–1876) 190 entdeckte 1827 die Zellen der Säugetiere, welches eine Revolution innerhalb der Embryologie darstellte, da diese bis dato von der Theorie der Präformation ausging, d. h. man nahm an, dass ein jeder Organismus in den Samenzellen schon en miniature vorläge und Entwicklung nichts anderes sei als Größenzuwachs. Den Namen Zellen erhielten die als kleinste Einheiten organischer Substanz verstandenen Einheiten allerdings erst um 1840 von Theodor Schwan – Schwansche Zelle. Baer widmete sich im Besonderen vor und während seiner Königsberger Professur für Naturgeschichte und Zoologie in den Jahren 1819– 1830 dem Problem einer Methodenentwicklung zur Bestimmung der verschiedenen Stadien der Morphogenese der Säugetiere und gilt als Begründer der Entwicklungsmorphologie. Dabei ging er davon aus, dass die Strukturen der Organismen in früheren Entwicklungsstadien gröber seien als in späteren Entwicklungsstadien. Zur Bestimmung solcher Stadien teilte Baer die Entwicklung in drei bzw. vier Perioden ein. 191 A. a. O., S. 378. »Zwar hat ein Forscher großen Stils, Karl Ernst von Baer, in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Wesentliches gesehen […]. Zunächst wurde aber seine Arbeit und deren Auswirkungen [bis Uexküll] hintangehalten und verschüttet durch den Darwinismus und die verstärkte rein analytisch zergliedernde Methode in der Morphologie und Physiologie […].« (GA Bd. 29/30, S. 378.) 190 Geschichte der Biologie, S. 769. 191 »Die ganze Entwicklung des Hühnchens im Eie habe ich zur bessern Uebersicht in drei Perioden getheilt, nach der Verschiedenheit des vorherrschenden Kreislaufs. Die erste Periode reicht bis zur völligen Ausbildung des ersten Kreislaufs und währt ungefähr zwei Tage. Die zweite Periode umfaßt die Zeit des Kreislaufs durch die Dottersack188 189

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Zusammenfassend zur ersten Periode merkt Baer an: »Die Geschichte der ersten Periode lehrt, daß der Embryo ein zu höherer Selbstständigkeit erwachter Theil des Keimes ist, daß, so wie seine Selbstständigkeit sich offenbart, der Typus der Wirbelthiere, Entwickelung aus einem Stamme nach oben und nach unten hervortritt, und daß dann im animalischen Theile eine Gliederung als Hineinbildung [Hervorheb. v. Verf.] des Typus der gegliederten Thiere sich zeigt.« 192 Dieser Begriff der Hineinbildung Baers gibt entsprechend das wieder, was Heidegger mit den Termini vorlegen und verlegen oder des Durchgangs in der Beschreibung des Phänomens der Eigentümlichkeit und die damit verbundenen Strebigkeit des Organismus bildhaft zu fassen sucht. Das Vorlegen und Verlegen zeigte sich in der gesamten Untersuchung als ein vom Mechanischen unterschiedenens Wozu, d. h. der Fähigkeiten und deren Ursprungscharakter, welcher auch in der Beschreibung Baers anzuklingen scheint, wenn er schreibt: »Wenn es nämlich auch an sich klar ist, daß, obgleich jeder Fortschritt in der Entwickelung nur möglich gemacht wird durch den vorhergehenden Zustand, dennoch die ganze Entwickelung von der gesammten Wesenheit des Thieres, welches werden soll [Wozu], beherrscht und geleitet wird, und nicht der jedesmalige Zustand das allein und absolut Bedingende für die Zukunft wird […]« 193 . Das ausgewachsene Tier bildet demnach für Baer den Bezugspunkt aller Entwicklungsschritte bzw. deren Wozu. Zudem thematisiert Baer die von Heidegger geforderte Beachtung der Umgebungshaftigkeit des Tieres innerhalb der biologischen Forgefäße. Sie währt drei Tage […]. Die dritte Periode, durch den Kreislauf vermittelst dieser Gefäße bezeichnet, reicht bis zur Geburt oder bis zum Vortreten des Lungenkreislaufs, welcher endlich die vierte Periode, das Leben außer dem Eie, umfassen würde.« (Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Beobachtung und Reflexion. Breidbach, Olaf (Hrsg.). Hildesheim/Zürich/New York 1999, S. 7 f.) »Erst im Verlaufe der dritten Periode wird das Hühnchen zum Vogel durch die eigenthümliche Ausbildung der Athem–Organe […]. Es ist aber zuvörderst ein Vogel überhaupt, nicht ein Vogel aus der Familie der Hühner. Erst allmählich offenbart es sich, daß aus dem Embryo ein Landvogel sich entwickelt, indem die Schwimmhaut unkenntlich wird, und darauf reiht er sich in die Familie der Hühner ein, wenn der Kopf sich bildet […], und die Schuppe über der Nasenöffnung sich zeig[t]. Zuletzt tritt der Character der Gattung auf durch den Kamm auf der Stirne, die eigenthümliche Schnabelbildung u. s. w. Endlich bildet sich die Individualität aus, und wird erst mit der Höhe des Lebens außerhalb des Eies vollendet […].« (A. a. O., S. 139 f.) 192 Über die Entwicklungsgeschichte der Thiere, S. 38. 193 A. a. O., S. 147. A

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schung, auf die Heidegger schon in seiner Marburger Logik-Vorlesung des Wintersemesters 1925/26 hinweist. »Der erste, der meines Wissens auf diese Dinge wieder gestoßen ist – Aristoteles hat sie bereits gesehen – ist der Biologe K. E. v. Baer, der in seinen verschiedenen Vorträgen, nicht eigentlich thematisch, aber beiläufig auf diese Strukturen hingewiesen hat.« 194 So heißt es in dessen Hauptwerk »Über die Entwicklungsgeschichte der Thiere«: »Die Herrschaft, welche der Embryo allmählig über die übrigen Eitheile gewinnt, ist offenbar eine höhere Form des Selbstständigwerdens, wovon das Leben außerhalb des Eies endlich die höchste ist, in welcher das Thier nicht mehr die Theile des Eies, sondern die Außenwelt [Hervorheb. v. Verf.) zu seiner Selbstbildung [als bei der Nahrung sein] verwendet.« 195 Und weiter heißt es: »Jetzt steht er nur noch im Verkehr mit der gesamten Natur, welche früher nur durch das Ei auf ihn wirkte.« 196 Abschließend sei noch auf Baers Ablehnung einer Hierarchisierung der Natur in den Corollarien des V. Scholion hingewiesen. »Es ist überhaupt der Mensch wohl nur in Hinsicht seines Nervensystems und dem, was zunächst damit verbunden ist, die höchste Form der Thiere. Der aufrechte Gang ist nur Folge der höhern Entwickelung des Hirnes, da wir überall finden, daß, je mehr das Hirn das Rückenmark überwiegt, umso mehr es sich über dasselbe erhebt. Ist diese Bemerkung gegründet, so lassen sich alle körperliche Unterschiede zwischen dem Menschen und andern Thieren auf die Hirnbildung zurückführen, und dann ist auch der Vorzug des Menschen nur ein einseitiger, wenn auch der wichtigste. Man muß in der That vom Vorurtheil eingenommen seyn, wenn man nicht den Magen des Rindviehes, der das Gras in Chylus umwandelt, für vollkommener hält, als den Magen des Menschen.« 197

20.2 Der Einfluss Uexkülls auf Heidegger Martin Heidegger bezeichnet den 1864 in Estland geborenen Biologen 194 Heidegger, Martin: Logik. Die Frage nach der Wahrheit. Gesamtausgabe (= GA) Band 21. Biemel, Walter (Hrsg.). Frankfurt am Main 1976, S. 215. 195 Über die Entwicklungsgeschichte der Thiere, S. 139. 196 A. a. O., S. 149. 197 A. a. O., S. 241 f.

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und Philosophen Jakob Johann Baron von Uexküll in der Vorlesung des Wintersemesters 1929/30 als einen der »hellsichtigsten Biologen von heute« 198 . In der Vorlesung des Sommersemesters 1924 nimmt Heidegger in der Besprechung des Charakters der Welthabe des Tieres – wie gezeigt wurde – noch keinen Bezug auf die Schriften Uexkülls, wo doch gerade dort der Ort für eine solche Bezugnahme sich geradezu angeboten hätte, ja aus heutiger Sicht zwingend erscheint. Aus diesem Faktum lässt sich absehen, dass Heidegger die Schriften Uexkülls erst nach 1924 studierte, nämlich zwischen 1924 und 1925. Dies bestätigt die meines Wissens erstmalige Erwähnung der Arbeiten Uexkülls durch Heidegger in seiner Logik-Vorlesung des Wintersemesters 1925/26 in der es heißt: »[Baers] Anregungen hat neuerdings [Hervorheb. v. Verf.] v. Uexküll aufgenommen, der dieses Problem nun thematisch behandelt hat, zwar nicht in einem philosophischen Sinn, sondern im Zusammenhang spezifisch biologischer Untersuchungen.« 199 Man kann aufgrund der letzten Aussage über den Inhalt der von Heidegger gelesenen Schrift Uexkülls darauf schließen, dass es sich hierbei um die 1921 in der zweiten überarbeiteten Ausgabe erschienene Schrift »Umwelt und Innenwelt« handelt, die in »Die Grundbegriffe der Metaphysik« auch von Heidegger neben der ebenfalls in der zweiten überarbeiteten Ausgabe im Jahre 1928 erschienenen Arbeit »Theoretische Biologie« zitiert wird. 200 Dass diese Heidegger in der Erstausgabe von 1920 im Jahre 1925 schon bekannt war, ist eher unwahrscheinlich, da er sich in »Die Grundbegriffe der Metaphysik« selbst auf die Ausgabe von 1928 bezieht. Methodisch wird bei Heidegger vor allem Folgendes relevant: In Hinblick auf eine mögliche Zugangsweise des Menschen zum Tier und seiner Umwelt schreibt Uexküll: »Befindet sich ein Beobachter einem Tier gegenüber, dessen Welt er untersuchen will, so muß er sich vor allem darüber klar sein, daß die Merkmale, aus denen sich die fremde Welt zusammensetzt, seine eigenen Merkmale sind und nicht aus den Merkzeichen des fremden Subjekts entstanden sind, die er gar nicht kennen kann.« 201 Verlegt man diese Aussage in die ontologische Dimension des Daseins, so gründet das Haben von Merkmalen als Merkmale letztendlich in der Struktur des In-der-Welt-seins. So zeigt sich 198 199 200 201

GA Bd. 29/30, S. 315. GA Bd. 21, S. 215 f. Vgl. GA Bd. 29/30, S. 327 u. 382 f. Theoretische Biologie, S. 104. Vgl. a. a. O., S. 110. A

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auch bei Uexküll die einzig mögliche Zugangsweise des Menschen zum Tier allein in der Privation. Denn so Uexküll: »[L]eider ist uns der Blick auf eine fremde Bewußtseinsbühne verwehrt – nichts könnte belehrender sein, als die Welt durch fremde Schemata anzuschauen.« 202 Auch Uexkülls Sorge richtet sich auf eine Erweiterung des Kategorienkataloges, die es erlaubt, das Lebendige als Lebendiges fassen zu können. »Sicher liegt, bevor eine Einzelerkenntnis gewonnen wird, die Form zu dieser Erkenntnis im Gemüt vorgebildet da. Aber diese Formen ändern sich im Lauf der Erfahrungen.« 203 Dabei geht es ihm um eine wesenhafte Einsicht in das Gefüge von Tier und Umwelt, das gleichsam von der Organisation des jeweiligen Lebewesens gestiftet ist und von Uexküll in der von ihm entwickelten Umwelttheorie zum Ausdruck kommt. Diese gilt es im Folgenden in ihren Grundzügen soweit aufzuzeigen, als es notwendig ist, die Annahme, Heidegger habe die gezeigten Momente Abstoßen und Beseitigung allein dialektisch entwickelt, zu entkräften.

20.2.1Die Umwelttheorie Uexkülls Die Umwelttheorie Uexkülls zeigt, dass es sowohl eine Innenwelt als auch eine Außenwelt eines jeden Organismus gibt. Die Außenwelt wird als ein vom Tier selbst qualifiziertes Gegengefüge bestimmt, welches sich in eine Merkwelt und eine Wirkwelt aufteilen lässt. Für den Komplex von Merk- und Wirkwelt prägte Uexküll den Begriff Umwelt. Das Objekt – so zeigt die Skizze – hält verschiedene Merkmale, wie Farbe, Geruch, Größe oder andere Beschaffenheiten bereit, aus denen sich die verschiedenen Organismen, die für sie interessanten Merkmale herausfiltern und andere ausblenden können. Die so selektierten Beschaffenheiten der Gegenstände werden von den Rezeptoren aufgenommen – gemerkt – und als Merkmalsträger in Merkzeichen umgewandelt. 204 Die Merkzeichen werden wiederum in dem entsprechenden Merkorgan in Wirkzeichen übersetzt. Die Wirkorgane führen daraufA. a. O., S. 121. A. a. O., S. 10. 204 Merkding besagt, dass dem Tier ein Gegenstand nicht als Gegenstand gegeben ist. Das Tier hat einen Gegenstand als ein organismusabhängiges Spiegelbild. (Vgl. Theoretische Biologie, S. 182.) 202 203

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Graphik entnommen aus »Theoretische Biologie« 205

hin zu einer dem Wirkzeichen entsprechenden Reaktion auf das Objekt, d. h. in seine Umwelt hinein, wodurch das Objekt wiederum vom Tier zum Wirkmalsträger qualifiziert wird. Die Gesamtheit von Innen- und Außenwelt bildet die Funktionskreise. An dem Umweltmodell Uexkülls zeigt sich klar der von Heidegger gezeigte Charakter des Abstoßens des Benehmens. Erst indem ein Merkmalsträger in den Funktionskreis eintritt, wird das Tier seinem Wesen nach enthemmt und somit zu dem, was es eigentlich ist: Zum-Benehmen-Fähiges-sich-Umringen. Dies geschieht auch in der Flucht. »Wenn eine Katze als Subjekt vor einem bellenden Hund als Objekt auf einen Baum flüchtet, so besteht das Merkding Hund aus optischen und akustischen Eigenschaften, während das Wirkding der Baumstamm ist, der die Wirkmale der Katzenpfote trägt und der den Hund in die Tiefe schiebt.« 206 Gleiches gilt auch umgekehrt. Der Hund ist nicht der Katze hinterher, der Hund hat sich beim Eintreten der optischen Merkmale der Katze in dessen Funktionskreis von diesen abgestoßen hin zu einem entsprechenden Benehmen, das wir Jagdbenehmen nennen wollen. Die Interpretation des tierischen Benehmens als ein Suchen begreift nur das halbe Phänomen. So zeigt sich in den Funktionskreisen die Umweltgebundenheit des Tieres schlagend in der Fügung von Fügendem und Gegengefüge, die sich auch in den jeweiligen Gestalten der Tiere ausweist. »Die Flossen, 205 206

Theoretische Biologie, S. 158. A. a. O., S. 211. A

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die Flügel und die Füße tragen unzweideutig den Stempel ihrer Bestimmung.« 207 Die Bevorzugung der Interpretation des Benehmens als ein SichAbstoßen ist also keineswegs der Eigenheit Heideggers zuzuschreiben, sondern zeigt sich aus dem Wesen des Tieres selbst gehoben. 208 Dieses zeigt sich nicht nur im Benehmen sondern auch im Körperbau eines jeden Lebewesens. Gleiches gilt für Heideggers Bestimmung des Benehmens als ein Wegschaffen (Beseitigen) von Merkmalen. Denn – so Uexküll – »[f]aßt man die Ergebnisse der Handlungen in sämtlichen Funktionskreisen zusammen, so kann man sagen, daß der Erfolg aller Handlungen darin besteht, das jeweilige Merkmal, welches die Handlung veranlaßte, zu vernichten, wodurch automatisch die Handlung zum Abschluss gebracht wird.« 209 Das zeigt besonders das von Heidegger übernommene Beispiel der Gottesanbeterin, die nach dem Paarungsakt häufig das Männchen verspeist. 210 »Drastisch ausgedrückt, schlägt beim Weibchen, dank der veränderten Stimmung das erotische Merkmal in ein gastronomisches um. Dann wird die Steuerung umgelegt und andere Effektoren treten in Tätigkeit. Es springt somit ein anders getönter Funktionskreis ein.« 211 Im letzten spricht sich auch die von Heidegger gezeigte Zugetriebenheit der Triebe aus. Mit der von ihm entwickelten Umwelttheorie kann Uexküll das Problem möglicher Zugänglichkeit des Menschen zum Tier zwar angehen, aber nicht in seinem Grund fassen. Seine selektiven Forschungsmethoden versetzen ihn in die Lage darzustellen, welche Merkmale der Merkwelten von den unterschiedlichsten Tieren aufgenommen werden und welche nicht. Damit kann er nicht allein einen Eindruck von den jeweiligen Merkwelten vermitteln, sondern auch die Eingebundenheit des Tieres in seine Umwelt aufzeigen. Wesentliche Leistungen, welche Heidegger den Weg zur Interpretation des Tieres als benommen ebneten und ein Beispiel fruchtbarer Zusammenarbeit von Naturwissenschaft und Philosophie darstellen. A. a. O., S. 201. Das Aufzeigen der Grundaussagen der neueren Biologie bei Driesch und Uexküll dienen Heidegger im § 61 zur Fundierung seiner Interpretation des Lebendigen, »damit Sie nicht meinen, es wären private Einfälle von mir« (GA Bd. 29/30, S. 380). 209 Theoretische Biologie, S. 209. 210 »Nach der Kopulation verschwindet der Geschlechtscharakter, das Männchen hat den Charakter der Beute und wird beseitigt.« (GA Bd. 29/30. 363 f.) 211 Theoretische Biologie, S. 210. 207 208

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Dorfstraße photographiert

Dieselbe Dorfstraße für ein Fliegenauge Abbildung entnommen aus »Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen« 212

212 Uexküll, Jakob von: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten. Bedeutungslehre. Uexküll, Thure von/Grubrich-Simitis, Ilse (Hrsg.). Frankfurt am Main 1970, S. 26 f.

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Kapitel 3 Abschließende Betrachtung der Bestimmung von Weltbildung und Weltarmut

21 Raum, Welt und Umwelt Martin Heidegger stellt in der vergleichenden Gegenüberstellung von Stein, Tier und Mensch die Frage nach dem Wesen von Welt. Welt zeigte sich nach einer ersten vorläufigen Bestimmung als die Summe alles Vorhandenen, später dann als der Bereich möglicher Zugänglichkeit in der Weise der Offenbarkeit des Menschen. Im Zuge dessen zeigte es sich problematisch, den von Uexküll geprägten Begriff Umwelt auf das Tier anzuwenden, da dieser Terminus den Eindruck vermittelt, als habe das Tier einen wie auch immer gearteten Ausschnitt der Welt des Menschen. »Selbst dies, daß Uexküll von einer ›Umwelt‹, ja sogar von der ›Innenwelt‹ der Tiere spricht, darf zunächst nicht davon abhalten, einfach dem nachzugehen, was er meint.« 1 Nämlich genau das, was Heidegger als Enthemmungsring im Grundgeschehen des Lebendigen aufgezeigt hat. Somit scheint das Problem gelöst. Es verstärkt sich aber in dem Moment, in dem Uexküll auch dem Menschen eine Umwelt zuspricht, als bestünde auch die menschliche Welt aus reinen Merk- und Wirkmalen. Und genau dafür steht Uexküll trotz zahlreicher Kritiken seiner früheren Werke in »Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen« im Jahre 1934 ein. 2 Zwar könnten wir – so Uexküll – durch immer feinere und präzisere Apparate den Tieren zu Leibe rücken. Ein neues Sinnesorgan aber gewännen wir dabei nicht und so blieben alle Eigenschaften der Dinge immer nur die Merkmale unserer Sinne und Vorstellungen. Dabei ist es notwendig zu verstehen, dass Uexküll in »Theoretische Biologie« von Kants Formen der reinen Anschauung Raum und Zeit ausgehend eine dritte Form, namentlich die Umwelten zu etablieren suchte. »Jetzt wissen wir, daß es nicht bloß 1 2

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GA Bd. 29/30, S. 383. Vgl. Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, S. XLVII.

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Abschließende Betrachtung der Bestimmung von Weltbildung und Weltarmut

einen Raum und eine Zeit gibt, sondern ebenso viele Räume und Zeiten, wie es Subjekte gibt, da jedes Subjekt von seiner eigenen Umwelt umschlossen ist, die ihren Raum und ihre Zeit besitzt […]. Dies ist die dritte Mannigfaltigkeit [reine Form der Anschauung] – die Mannigfaltigkeit der Umwelten.« 3 Unter Umwelt versteht Uexküll demnach eine subjektive Wirklichkeit, in der ein jedes Lebewesen interagiert. Der Umfang, d. h. der Horizont dieses subjektiven Spielraumes, ist durch die Organisation eines jeweiligen Lebewesens selbst bestimmt. Dabei bildet jedes Lebewesen den Mittelpunkt dieses Horizontes, den es zeitlebens mit sich herumträgt – so auch der Mensch. Die Umwelt der Medusen ist eine reine Nahrungsumwelt, die Umwelt der Biene ist erfüllt von Bienendingen, die Umwelt des Menschen eine Menschenumwelt. So teilt Uexküll auch dem Menschen – biologisch konsequent aber nicht unproblematisch – eine Umwelt als »subjektive Wirklichkeit« zu. Allerdings, und das scheint Uexküll unter der Hand zu entwischen, spricht er in Bezug auf die Umwelten des Menschen von einer »subjektive[n] Wirklichkeit der Gegenstände [Hervorheb v. Verf.]« 4 und eben nicht von einer subjektiven Wirklichkeit der Gegengefüge wie beim Tier. Welt bedeutet bei Uexküll objektive Wirklichkeit, d. h. die durch wissenschaftliche Theorien entfremdete Ansammlung blutleerer Daten, in welchen weder das Leben noch die von Uexküll vernommene Planmäßigkeit des gesamten kosmischen Gefüges zugänglich werden können. »In der Welt reiner Quantitäten hatten Pläne als subjektive und rechnerisch unbrauchbare Faktoren keinen Platz. Damit fiel auch das Leben aus der objektiven Welt heraus.« 5 Eine Kritik, die Uexküll 1934 persönlich in der Einleitung zu »Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen« gegen Max Hartmann richtete. »So ist Hartmann ein ausgezeichneter Zellforscher und Chemiker, aber mit der Biologie als der Lehre vom Leben haben seine Arbeiten nichts zu tun.« 6 Theoretische Biologie, S. 340 f. »All die zahllosen Umwelten liefern in der dritten Mannigfaltigkeit die Klaviatur, auf der die Natur ihre überzeitliche und überräumliche Bedeutungssymphonie spielt. Uns ist während unseres Lebens die Aufgabe zugewiesen, mit unserer Umwelt eine Taste in der riesenhaften Klaviatur zu bilden, über die eine unsichtbare Hand spielend hinübergleitet.« (Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, S. 176.) 4 Theoretische Biologie, S. 334. 5 A. a. O., S. 337. 6 Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, S. 178. 3

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»Er steht dem Antlitz der Natur gegenüber da wie ein Chemiker vor der Sixtinischen Madonna. Er sieht wohl die Farben, aber nicht das Bild.« 7 Das Ich-Erleben – Heidegger würde sagen: die Jemeinigkeit – der Umwelt bezogen auf alle Kreaturen war für Uexküll ein zentrales Anliegen und nur so konnte das Lebendige als Subjekt und nicht als wissenschaftlich präpariertes Objekt zu seinem Recht kommen. Dass die Behauptung einer Planmäßigkeit, die den ganzen Kosmos beherrschen soll, weit über das System biologisch empirischer Forschung hinausgeht, liegt auf der Hand. Doch ist es auch verständlich, wenn sich dieses Gefühl bei Uexküll durch seine Beobachtungen der Natur einzustellen und zu verfestigen begann. Wer sagt, dass ein Wissenschaftler nicht auch ein Romantiker sein darf, besonders dann, wenn es der Sache dient. Anders gewendet war Uexküll wohl der von Heidegger geforderten Inständigkeit des Wissenschaftlers noch am ehesten nahe gekommen, wenn diesem auch der existentiale Charakter des Weltbegriffes verschlossen blieb.

21.1 Spezifischer Raum und Räumlichkeit So kann auch der Raum des Tieres nicht mit dem uns gegebenen dreidimensionalen Raum, mit links und rechts, oben und unten, vorne und hinten gleichgesetzt werden. Der Raum als reine Form der Anschauung »[…] verdankt sein Dasein [biologisch gedeutet] der inneren Organisation des Subjekts Mensch, welche die Sinnesqualitäten in räumliche Form kleidet.« 8 Dennoch eröffnet die Grundbewegung des Lebendigen, das Umringen eine je spezifische Dimension, innerhalb welcher dem Tier dessen Umgebung, wie dumpf auch immer, gegeben ist. 9 »Das triebhafte Ebd. Theoretische Biologie, S. 12. 9 Der Raum ist nicht für alle Sinne gleich. Die Eröffnung einer äußeren Dimension überhaupt bedarf der Eigenbewegung der Seh- und Tastorgane. Ein Schwamm zum Beispiel ist festgewachsen am Boden und ohne Sicht. Er ist verwachsen mit seiner Schwammwelt. Die einzige Dimension, die ihm zur Verfügung steht, ist eine wie auch immer geartete taktile. Aber auch die Umgebungen von Tieren, die der Fortbewegung fähig sind, müssen nicht zwangsläufig alle möglichen Umgebungskreise ausbilden. »So erteilt die Meduse sich selbst ihr Wirkmal, und dieses löst das gleiche Merkmal aus, das wiederum das gleiche Wirkmal hervorruft ad infinitum. In der Umwelt der Meduse erklingt immer der gleiche Glockenschlag, der den Rhythmus des Lebens beherrscht. 7 8

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Sichvorgetriebenhalten in das Wozu gibt dem Fähigen diesen Charakter von Durchmessung, einer Dimension im formalen Sinne […]. Die Dimension ist noch nicht im räumlichen Sinne genommen, wohl aber ist dieser dimensionale Charakter des Triebes und alles diensthaft Fähigen die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß das Tier in ganz bestimmter Weise einen Raum durchmessen kann, sei es im Sinn eines Flugraumes oder des spezifischen Raumes, den der Fisch hat, Räume, die in ihrer Struktur vollkommen voneinander unterschieden sind.« 10 Die Dimension nimmt dort ihren Anfang – so schreibt Heidegger anderthalb Jahre zuvor in der Leibniz-Vorlesung des Sommersemesters 1928 –, wo sich die in Organe schaffende Fähigkeit in das eigene Wozu vorlegt und verlegt, verstanden als Durchmessung. »In einem Drängen nach … durchmißt das Drängende immer eine Dimension, d. h. es durchmißt sich selbst und ist dergestalt sich selbst offen, und zwar der Wesensmöglichkeit nach. Aufgrund dieser dimensionalen Selbstoffenheit kann ein Drängendes nun auch sich selbst eigens erfassen, also über das Perzipieren hinaus zugleich sich selbst mit präsentieren, sich mit dazu perzipieren: apperzipieren.« 11 Und dies in den Modi von vollkommener Durchsichtigkeit bis hin zur totalen Benommenheit. 12

21.2 Aufriss einer möglichen Fassung der Zeitgestalt des Lebendigen Im Bereich der eben aufgezeigten Dimension müsste – wie schon im Vorfeld angeklungen – auch eine zeitliche Interpretation des Lebendigen ansetzen, wie sie Heidegger in der Untersuchung selbst aber nicht durchführt. Auch die Interpretation des aristotelischen Physis- Begriffs zeigt das Phänomen der Lebensbewegung, dem sich die Interpretation von Zeit anfügen müsste, an, reicht aber selbst nicht in den Bereich einer solchen Interpretation einer Zeitgestalt des Lebendigen hinein. Die Interpretation des Organismus durch Boveri als ein historisches Wesen ist für Heidegger ebenfalls unzureichend. 13 Alle anderen Reize sind ausgeschaltet.« (Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, S. 39.) 10 GA Bd. 29/30, S. 334. 11 GA Bd. 26, S. 117 f. 12 Vgl. a. a. O., S. 118. 13 Heidegger bezieht sich in dieser Kritik auf die Ausgabe der von Boveri am 11. 05. 1906 gehaltenen Festtagsrede zum 324-jährigen Bestehen der Königlichen Julius-MaximiliA

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Reflektieren wir erneut die Lebensbewegung als ein Drängen in das eigene Wozu! Dieses Wozu bildet sich – so wurde aufgezeigt – nicht nachträglich, sondern ist ausgängliche Einheit, welche das gesamte Drängen umschließt. Das heißt, Endganzes ist im Anfangsganzen schon vorverlegt. So vorverlegt schwingt das Lebendige in der durch das Anfangsganze und Endganze aufgemachten Dimension, sodass es in jedem einzelnen Moment des Schwingens ein Durchgangsganzes bildet, das seine Gegenwart – Gegenwart durchgestrichen – ausmacht. So zwar, dass dem Lebendigen dessen ursprüngliche Einheit vom Endganzen her zu-kommt. In der so verstandenen Gegenwart nimmt das Lebendige leibhaft seinen Raum ein. In eine solche Richtung könnte eine privativ zeitliche Interpretation des Lebendigen aus den Untersuchungen Heideggers durchgeführt werden. Das ist nicht einfach eine Nachzeichnung des von Heidegger aufgezeigten Entwurfgeschehens des Daseins. Von einer solch möglichen Interpretation zeugt auch die von Helmuth Plessner versuchte Interpretation des Zeitcharakters des Lebendigen im 4. Kapitel der Stufen, in welchem er den Fluss der als sukzessiv verstandenen Zeit umdreht. 14 »Das ›Ihm selbst Vorweg‹ und das lebendige Sein besagen ein und dasselbe. Also ist lebendiges Sein ebensosehr ihm selbst nach oder Erfüllung seiner selbst. Dieser Wesenszug sichert dem lebendigen Ding, was keinem leblosen Ding gegeben ist, Gegenwart. In Rückbindung von der Zukunft her steht der lebendige Körper, ihm selbst vorweg[,] d. h. Zweck, seinem dauernden Übergehen vom Noch nicht ins Nicht mehr entgegen und beharrt.« 15 Inwieweit der zum Leben gehörige Tod innerhalb dieser Interpretation an Gewicht gewinnen könnte, muss mit der Frage beginnen, ob das Tier überhaupt ein Verhältnis zu seinem Tod hat; ob beim Tier von Sterben, ja sogar vom Tod gesprochen werden kann, oder nicht vielmehr von einem Verenden. Dies alles hängt davon ab, ob dem Tier in irgendeiner Weise ans-Universität zu Würzburg. Boveri versteht die Organismen aus seiner Methodik als historisch gewachsen. Die heutigen Formen entspringen einem Entwicklungsprozess, der nicht allein kausal erklärbar ist, sondern eben eine Zeitform besitzt, die in den Wissenschaften nachgezeichnet werden soll. Der Begriff Historisches Wesen trifft weniger das Wesen des Organismus als das Selbstverständnis der Biologie. »Fragen wir nach dem Wert der gewonnenen Einsicht, so liegt er in erster Linie, wie der aller historischen Betrachtung, in der Möglichkeit, einen bestimmten Sachverhalt durch Aufdecken seiner Vorstufen verständlich zu machen, oder, wie wir eben sagen, historisch zu erklären.« (Die Organismen als historische Wesen, S. 10.) 14 Vgl. Die Stufen des Organischen, S. 123–184. 15 A. a. O., S. 180.

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Abschließende Betrachtung der Bestimmung von Weltbildung und Weltarmut

Welthabe zugesprochen werden kann, d. h. ob dem Tier etwas als etwas zugänglich ist oder nicht, worunter auch die eigene Sterblichkeit gezählt werden muss. Aus der nun abgeschlossenen Wesensbestimmung des Tieres kehren wir zurück zu der Frage nach der Weltarmut des Tieres, welche die Untersuchung zu der eigentlichen Gegenüberstellung von Tier und Mensch führt.

21.3 Weltbildung und Entwurf Die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Behauptung Uexkülls das Tier habe eine Umwelt ist für Heidegger nicht auf dem Wege der Bestimmung möglicher Unterschiede der Qualitas und Quantitas tierischer und menschlicher Welten zu bestimmen. In Frage steht, ob das Tier etwas als etwas wahrzunehmen in der Lage ist. »Wenn nicht, dann ist das Tier durch einen Abgrund vom Menschen getrennt. Dann wird es aber […] zu einer grundsätzlichen Frage, ob wir von einer Welt – Umwelt und gar Innenwelt – des Tieres sprechen dürfen […], was freilich aus mehrfachem Grunde doch nur am Leitfaden des Weltbegriffes geschehen kann.« 16 Dieses als ist es, das dem Tier abgeht. 17 Die Benommenheit des Tieres lässt ein Sich-Einlassen-auf und Verweilen-bei etwas nicht zu. Denn dieses setzt eine Offenheit voraus, in welcher etwas als etwas begegnet, und kennzeichnet das, was wir mit Heidegger im Gegensatz zum Benehmen des Tieres als Verhalten des Daseins bezeichnen. Was besagt dieses als? Damit Seiendes als solches erfahren werden kann, muss es zunächst einmal offenbar sein. Diese Offenbarkeit ist nicht als eine Eigenschaft des vorhandenen und zuhandenen Seienden zu verstehen, sondern liegt in der Seinsweise des Daseins als ein In-der-Welt-sein. Wir fragen erneut: Was stiftet diese Offenbarkeit des Daseins? Der Mensch als In-der-Welt-sein hat Welt. Aufgrund seines Seinsverständnisses ist ihm innerweltlich Begegnendes offenbar, d. h. als solches, wenn auch unthematisch, erschlossen. Er schafft Bezüge zwischen dem innerweltlich Begegnenden und zu sich selbst, was Heidegger mit dem Terminus Bezüglichkeit auszudrücken sucht. Den HoGA Bd. 29/30, S. 384. »Dieses ganz elementare ›als‹ ist es […], was dem Tier versagt ist.« (GA Bd. 29/30, S. 416.)

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rizont der Bezüge bestimmt Heidegger als das Phänomen der Welt. In diesem sich je mit den Bewegungen des Menschen ändernden Horizont schafft sich das Dasein seinen Platz. Es stellt Dinge her. Es versteht sie in verschiedenen Bedeutungen und bildet diese in immer neuen Entwürfen um oder vermehrt sie gar. Der Künstler schafft sein Werk, in dem er die Welt in Bild oder Skulptur zum Stehen bringt. Er stellt sie dar. 18 Dasein bedient sich folglich nicht vorgegebener Möglichkeiten, sondern schafft aufgrund seiner Seinsweise diese Möglichkeiten selbst. Es ist diese Möglichkeiten. Das heißt: Dasein ist weltbildend. Nur wo Dasein ist, kann von Welt gesprochen werden. Welt ohne Dasein ist für Heidegger ein Ungedanke. Um von Welt zu sprechen, bedarf es einer Offenbarkeit des innerweltlich Begegnenden, die nur dem Dasein zu eigen ist und in dessen Entwurfscharakter gründet. Der Entwurf beschreibt das, was Heidegger neben den beiden Momenten des Grundgeschehens Weltbildung Herstellen und Darstellen unter dem Umfangen, ja Ausmachen von Welt, versteht. »Das Dasein im Menschen bildet die Welt: 1. es stellt sie her; 2. es gibt ein Bild, einen Anblick von ihr, es stellt sie dar; 3. es macht sie aus, ist das Einfassende, Umfangende.« 19 Welt ist nur in solchem Bilden. Welt heißt dann: »Offenbarkeit des Seienden als [Hervorheb. v. Verf.] solchem im Ganzen, Welt, bildet sich, und Welt ist nur, was sie ist, in einer solchen Bildung.« 20 Wir fragen nochmals nach dem Sinn dieses Als. In der Aussage: A ist B spricht sich eine Beziehung zweier Beziehungsglieder aus. Eine Beziehung, in der etwas über A ausgesagt wird, insofern es B ist. Damit diese Beziehung von A und B ausgesprochen werden kann, müssen zunächst diese in ihrer Beziehung vernommen werden. Diese Beziehung, die sich im Als ausspricht, haftet jedoch nicht am Gegenstand A. Ohne das Als blieben A und B unverbunden. Das Tier hat A nur im Modus des B (Merkmal), d. h. nach Uexkülls Umwelttheorie: Das Tier hat in dem von ihm qualifizierten Gegengefüge nicht eine Eigenschaft eines in unserer Welt erscheinenden Vorhandenen an diesem. Sondern es hat diese Eigenschaft allein als ein Merkmal. Ein Merkmal, welches das Tier zu einem bestimmten Benehmen hin enthemmt, bis das Tier dieses auslöschend erneut in Hemmung tritt bzw. in anderes Benehmen drängt. »Im Werk der Kunst hat sich die Wahrheit des Seienden ins Werk gesetzt. ›Setzen‹ sagt hier: zum Stehen bringen.« (Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 30.) 19 GA Bd. 29/30, S. 414. 20 A. a. O., S. 413. 18

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Das Urteil: Die Tafel ist schwarz setzt sowohl das Vernehmen von A und B als auch des als voraus. Dieser Aufweis von Bezüglichkeit wird von Aristoteles als Funktion des λόγος ἀποφαντικός bestimmt, das als ein Auseinandernehmendes- Zusammennehmen von A und B im Aussagesatz verstanden wird. 21 Dieses traditionelle Verständnis des λόγος ἀποφαντικός gilt es, in den Grund des Daseins zurückzuführen. »Der λόγος ἀποφαντικός ist [traditionell betrachtet] das Vermögen zum ›entweder oder‹ des aufweisenden Entbergens und Verbergens in der Weise des Zuweisens sowohl als des Wegweisens, in welchem Aufweisen das ›ist‹ (Sein) in irgendeiner Bedeutung zum Ausspruch kommt. Der so orientierte Vermögenscharakter ist das Wesen des λόγος ἀποφαντικός in ihm zentriert der Wesensbau. Von ihm aus müssen wir nachforschen, ob ein Hinweis in den Grund sichtbar ist, der solches Wesen ermöglicht.« 22 Dem Charakter des Aufweisens und Abweisens als Verhalten des Daseins zu Seiendem als solchem liegt notwendig ein Freisein zugrunde: ein Freisein zum Grunde. Ein freies Haben des Seienden im Modus der Offenbarkeit und nicht im Modus eines Enthemmenden allein kann ein Anmessen und Binden an das in der Offenheit Gegebene gewähren, so zwar, dass sich das, woran sich das Verhalten bindet, sich als etwas zeigt, an das sich das Verhalten binden kann, d. h. das Verbindlichkeit besitzt. Der λόγος stellt somit nicht die Beziehung zu Seiendem her, sondern bedarf des vorlaufenden Bezugs, um sich über das in Bezugstehende aussprechen zu können. Der λόγος kann allein solches aufweisen, was ihm im Bezug offenbar ist und die jeweilige Angemessenheit des Aufgewiesenen am Seienden, welches allein ihm Prüfstein seiner Angemessenheit sein kann, messen. Das Mögliche findet im Wirklichen seine Beschränkung. Der λόγος ἀποφαντικός ist eine Verlautbarung (σημαντικός) die ein Wahr- oder Falschsein – Täuschung – mit sich führt, was nicht jeder Aussage zukommt, wie z. B. dem Fragen oder Bitten. Er weist auf, er entbirgt aus dem Verborgenen. Den Charakter des auseinandernehmenden Zusammennehmens begründet Heidegger durch eine Ausführung Aristoteles’ in »Über die Seele«. Da heißt es: »Worin es hingegen Falsches und Wahres gibt, da findet sich schon eine Zusammensetzung von intelligiblen (Gegebenheiten) zu einer Einheit […]. Wenn es um Vergangenes oder Zukünftiges geht, denkt ›die Vernunft‹ die Zeit [diese spricht sich im Verbum aus, das zugleich das Sein mit anzeigt] hinzu und nimmt sie (mit dem Gegebenen) zusammen.« (Über die Seele, 430 a., vgl. GA Bd. 29/30, S. 444 f.) 22 GA Bd. 29/30, S. 489. 21

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»Im Vollzug der wahren Aussage: die Tafel ist schwarz, wird uns nicht erst durch diesen wahren Satz als solchen dieses Seiende ›Tafel‹ in seinem Sosein offenbar, als vermöge gleichsam die Aussage als solche uns das zuvor verschlossene Seiende aufzuschließen. […] die schwarze Tafel muß uns als so Seiende schon offenbar geworden sein [ἀλήθεια], wenn wir aufweisend über sie aussagen wollen.« 23 In alldem liegt, dass sich der Mensch nicht vordergründig als das ζῶον λόγον ἔχον – wohlverstanden als das Lebewesen das Sprache hat – gegenüber anderer Lebewesen auszeichnet, sondern durch seinen ihm wesenhaft zugehörigen Modus der Offenheit. Dass das Tier weder sich selbst reflexiv erfassen kann, noch ihm Seiendes als solches zugänglich ist, liegt nach Heidegger nicht grundlegend daran, dass das Tier keinen λόγος besitzt, sondern daran, dass von ihm der entsprechende Modus der Offenheit als Offenbarkeit nicht erdrängt wird. »Das Offensein für … ist von Hause aus das sich-bindenlassende freie Sich-entgegenhalten zu dem, was da als Seiendes gegeben ist.« 24 In diesem Geschehen liegt allein die Möglichkeit für Verhalten im Gegensatz zum Benehmen. 25 Der Mensch hält sich dem Seienden frei entgegen und ist nicht in seinem Treiben zu diesem in es hineingenommen. »Der Hund hat nicht einen Gegenstand vor sich als Knochen. Er erfaßt den Knochen so, daß der Knochen ihn hineinzieht. Der Hund ist hineingezogen, hängt darin, ist darin befangen, hat nicht das ›entgegen‹.« 26 Der Mensch misst sich dem Seienden bindend an und wird nicht von diesem enthemmt. Nur so sich an das Seiende in Freiheit bindend kann sich der Mensch auf das Seiende als solches einlassen. »Die bindbare Einspielmöglichkeit auf das Seiende, dieses Sich-beziehen […], kennzeichnet überhaupt jedes Vermögen und Verhalten im Unterschied zu Fähigkeit und Benehmen. In A. a. O., S. 493. A. a. O., S. 496. 25 »Das Tier kann bei Gefahr weglaufen. Hat es eine freie Entscheidung? Wir haben Grund anzunehmen (obgleich wir es nicht wissen können), daß es keine freie Entscheidung hat, denn das würde heißen, daß es wählen kann, – nicht nur, daß zwei entgegengesetzte Möglichkeiten objektiv bestehen, sondern daß das Tier beide Möglichkeiten sich vorstellt als Möglichkeiten. Wir nehmen an, daß das Huhn auf den Schrei des Habichts, den es kennt, ohne Wahl wegläuft (doch in einem Zustand). Warum hat das Huhn ein ›Innen‹? […] Es hat ein ›Innen‹, weil es ein ›[a]ußen‹ hat – im Sinne eines Geöffneten, in dem es sich hält und wozu es sich benimmt […]. Weil das Lebendige ›geöffnet ist für …‹. Das bedeutet schon, daß es eine gewisse Möglichkeit hat, sich zu sich zu verhalten (was bei dem Tier nur anders ist als bei den Menschen).« (Übungen für Anfänger, S. 25.) 26 Übungen für Anfänger, S. 33. 23 24

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diesen findet sich nie ein Sich-bindenlassen durch Verbindliches, sondern nur ein benommenes Enthemmtwerden des Umtriebs.« 27 Die Offenheit des Menschen ist charakterisiert durch das Sich-entgegenhalten, dagegen wird die Offenheit des Tieres bestimmt durch die Hingenommenheit als in die Enthemmungsringe hineingenommen. Die so in den Blick tretende vorlogische oder vorprädikative, in der Offenheit des Daseins liegende Offenbarkeit gibt das Maß für jedes Urteil über das offenbar Gewordene an. Letztlich bleibt aber die Frage, wie sich in einem einzelnen Urteil das Phänomen des ImGanzen zeigt? Heidegger hebt das Phänomen des ImGanzen anhand des folgenden Beispiels. In der Aussage: Die Tafel steht ungünstig, stellte sich die Frage nach der Bestimmung des Adverbs: ungünstig. Dabei zeigt sich, dass die Bestimmung des ungünstigen Standes keine Bestimmung der Sachheit der Tafel oder eine rational vollzogene Bestimmung der Relation zum Urteilenden ist, sondern eine Bestimmung dessen, was dem Urteilenden vorprädikativ offenbar ist. Das besagt, dass der ungünstige Stand aus dem Ganzen heraus offenbar wird und zwar für mich. Wenn auch das Ganze zunächst und zumeist nicht thematisiert wird. Der ungünstige Stand der Tafel wird aus der Gänze der Situation – oder wie Heidegger es auch nennt: dem Bewandtniszusammenhang – heraus offenbar. »Die Bewandtnisganzheit […] ist das Primäre, innerhalb dessen bestimmtes Seiendes als dieses so und so Seiende ist, wie es ist, und dementsprechend sich zeigt […]. Faktisch existierend sind wir immer schon in einer Umwelt.« 28 »Die nächste Welt des alltäglichen Daseins ist die Umwelt.« 29 Nur aus dieser Gänze heraus kann die Tafel als ungünstig stehend erlebt werden. Die Bewandtnisganzheit kann nur aus einer vorlaufenden Ergänzung geschehen. Eine Tafel – formal gesprochen ein Einzelnes – in einem leeren Raum kann so wenig ungünstig stehen wie ein Fisch vor weißer Leinwand schwimmen kann. Daher können auch alle angemessenen Untersuchungen des Lebendigen als Lebendigen allein aus einer schon vorgängigen Ganzheit heraus verstanden werden. 30 Die Gänze muss streng gefasst werden als die BedinEbd. Heidegger, Martin: Die Grundprobleme der Phänomenologie. Gesamtausgabe (= GA) Band 24. Herrmann, Friedrich-Wilhelm von (Hrsg.). Frankfurt am Main 1975, S. 233. 29 SuZ, S. 66. 30 »Die formal sogenannte Mannigfaltigkeit des Seienden bedarf ganz bestimmter Bedingungen, um als solche offenbar zu werden – keineswegs nur der Möglichkeit der Unterscheidbarkeit der verschiedenen Arten des Seins, als seien diese gleichsam im Lee27 28

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gung der Möglichkeit für das Urteilen überhaupt und gleichsam für die Existenz des Daseins, aus der heraus es sich allein verstehen und verhalten kann und das ausmacht, was zu Anfang das Bodennehmen des Begründens charakterisierte. »Das ›Verhalten‹, die ›Verhältnisse‹ meinen die zusammengehörigen Weisen des Bezugs zum Seienden im Ganzen, wobei das meiste jeweilen nicht eigens beachtet wird. Dasselbe ist der Aufenthalt bei … und zugleich das Anwesenlassen von Seiendem. Mein Dasein ist jeweils in der gegenwärtigen Situation dadurch konstituiert. Mehr lässt sich gar nicht darüber sagen. Man kann nicht nach einem ›Träger‹ des Verhaltens fragen, sondern das Verhalten trägt sich selbst. […] Das ›Wer‹ ich jetzt bin, läßt sich nur sagen durch diesen Aufenthalt, und in dem Aufenthalt liegt immer zugleich auch das, wobei ich mich aufhalte und mit wem und wie ich mich dazu verhalte. […] er geht ganz in seiner Sache auf. Dann existiert er eigentlich als der, der er ist, d. h. in seiner Aufgabe.« 31 Dieser Aufenthalt, ob im Modus des Bei-, Mit- oder Selbstseins, gründet neben den beiden gezeigten Momenten des Sich-Entgegenhaltens und Ergänzens im dritten aufgewiesenen Moment des Entwurfgeschehens, des Einbruchs in das Zwischen von Sein und Seiendem, der letztendlich den Boden für jedes Unterscheiden bildet, der sich im gesuchten Grundphänomen der Als-Stuktur bekundet, kurz: dem Seinsverständnis. »Aber dieser Entwurf ist nun auch – als Bildung des Unterschiedes von Möglichem und Wirklichem in der Ermöglichung, als Einbruch in den Unterschied von Sein und Seiendem, genauer als Aufbrechen dieses Zwischen – dasjenige Sichbeziehen, in dem das ›als‹ entspringt. Denn das ›als‹ gibt dem Ausdruck, daß überhaupt Seiendes in seinem Sein offenbar geworden, jener Unterschied geschehen ist. Das ›als‹ ist die Bezeichnung für das Strukturmoment jenes ursprünglich einbrechenden ›Zwischen‹.« 32 Dazu ein abschließendes Beispiel: Wir betreten einen Hörsaal zum Semesteranfang an einer uns noch fremden Universität. Uns ist ein wenig mulmig zumute, da wir nicht wissen, was und wer uns dort erwartet. Diese mulmige Stimmung umgreift nicht allein den Begegnungsren nebeneinander aufgereiht. Das Ineinander der Unterschiede selbst und die Art, wie es uns bedrängt und trägt, ist als dieses Walten die Urgesetzlichkeit, aus der heraus wir allererst die spezifische Seinsverfassung des entgegenstehenden oder gar zum theoretisch wissenschaftlichen Objekt gemachten Seienden begreifen.« (GA Bd. 29/30, S. 514.) 31 ZS, S. 205. 32 GA Bd. 29/30, S. 530 f.

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charakter des Hörsaals, sondern uns, das faktisch in der Situation stehende Dasein, gleichsam mit. Der Hörsaal erscheint veraltet und ungastlich. Dieses Veraltet- und Ungastlichscheinen muss der Hörsaal als Verbindlichkeit schon mitbringen, damit ich mich frei dem, was der Hörsaal als Verbindlichkeit mit sich bringt, namentlich die sichtbaren Spuren der Abnutzung, anbinden kann. Dieses Anbinden muss nicht zwingend in einer Auslegung von Ungastlichkeit enden, sondern könnte sich auch in einer Bewunderung für das Historische ausdrücken. Diese Auslegungen stellen je nur eine Möglichkeit der stimmungsabhängigen Anbindung dar. Die Bänke sind zu eng, das Licht kalt, das Katheder zu weit entfernt. Dies alles zeichnet sich ab vor einem Horizont der Ergänzung, der weiter gestreckt ist als die faktisch umwelthaft erfahrene Situation, in welcher ich gerade stecke. Diese Hörsaal-Umwelt erscheint vor den sich immer weiter spinnenden Horizonten des Universitätswechsels, der neuen Umgebung, des verlassenen Heimatortes, der Aussicht auf einen baldigen Abschluss, des Hoffens auf eine erfolgreiche Karriere usw. Das je eigene Verstehen, das sich mit jedem Horizont je anders ausnimmt, gründet im jeweiligen Entwurf, der sowohl das Verstehen der Umwelt als auch des eigenen Daseins mit umgreift. Nur aus einem solchen Entwerfen verstehen wir uns als je so oder so befindlich. Verstehen der eigenen Faktizität gibt es immer nur aus einem Worauf-hin des Entwerfens, aus dem heraus ich mich faktisch erfahren kann als das im Entwurf Entworfene, mag dieses nun dem im Entwurf Entworfenen entsprechen oder nachstehen. Den äußersten Horizont solcher Möglichkeiten, die das Dasein selber ist, nennen wir mit Heidegger Welt. Dagegen nennen wir mit Heidegger – wie das Beispiel veranschaulichen sollte – den Horizont des faktischen Er-lebens die Umwelt. In jedem solchen auslegenden Verstehen ist Seinsverständnis vorausgesetzt, denn sonst könnte der Hörsaal nie als ein Seiendes verstehend erlebt werden, das veraltet, ungastlich, schlecht beleuchtet ist. Nur in der Abhebung von Sein und Seiendem kann sich im als der vernommene Bezug von Hörsaal und Veralterung artikulieren. In einer solchen Artikulation ist der Hörsaal, die Bank, das Licht in der alltäglichen Auslegung nie als dieses erfasst. Denn wir verweilen nicht bei dem Eindruck des Hörsaales, der Bank, der Beleuchtung, sondern verlegen uns immer wieder auf Neues: Auch die Wände sind schmutzig, der Studienkollege neben mir zeigt deutliches Desinteresse an meiner Bekanntschaft, der Professor kommt, wie auch an der vorA

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herigen Universität, deutlich zu spät. In all dem spricht sich die »Aufenthaltslosigkeit« 33 des Daseins bei etwas aus, welche letztendlich in der Zeitlichkeit des Daseins gründet und Heidegger anhand des Phänomens der Neugier in »Sein und Zeit« im § 68 c aufmacht.

22 Rückgang auf die Weltarmut und die Erweiterung des Kategorienkataloges Es gilt zum Abschluss des Hauptteils, die Frage nach dem Charakter der ausgänglich als formale Anzeige verwendeten These: Das Tier ist weltarm in ihrem Bedeutungscharakter zu fassen. Eine Zuwendung, die erst aus der metaphysischen Auslegung des Entwurfgeschehens, d. h. dem Bilden von Welt, verstanden als Grundgeschehen des Seienden, das wir Dasein nennen, überhaupt möglich wird. 34 Dazu wollen wir rückblickend der Frage nachgehen, inwiefern die These: Das Tier ist weltarm aus den Ergebnissen der Biologie selbst ausgewiesen werden kann. Dass dies unmöglich ist, liegt auf der Hand, da das Phänomen der dem Tier eigentümlich zugehörigen Welthaftigkeit in den meisten Theorien überhaupt nicht thematisiert wurde. Erst im Ausgang von Karl Ernst von Baer trat nach den Lehren Aristoteles’ dieser Bezug des Tieres zu seiner Umgebung zögerlich in den Blick der Untersuchungen und machte zum ersten Mal in der Umweltlehre Uexkülls einen festen Bestandteil des Untersuchungsfeldes aus. Da Uexküll aber die existentiale Bedeutung des Weltbegriffs nicht zu fassen bekam, bleibt auch dessen Umweltbegriff unzureichend. Denn nicht gründet Welt in Umwelt, sondern Umwelt als der Bedeutungszusammenhang des zunächst Begegnenden kann existential gefasst nur von Welt her geschehen. So zeigt sich, dass die These von der Weltarmut des Tieres nicht als eine biologisch erarbeitete Wesensaussage qualifizierbar ist. Es stellt sich aber mit Blick auf die metaphysische Bestimmung des WeltBegriffs zum Schluss erneut die Frage: Scheint das Tier benommen, weil es den Wesens-Charakter der Weltarmut besitzt oder erscheint es SuZ, S. 347. »Wir wissen bisher nur ein Geringes vom Wesen der Welt und vom Grund ihrer Möglichkeit gar nichts; und erst recht nichts von der Bedeutung des Weltphänomens in der Metaphysik. Steht es aber so, dann haben wir jetzt zum mindesten noch kein Recht, unsere These ›das Tier ist weltarm‹ abzuändern und zu nivellieren […].« (GA Bd. 29/30, S. 395.)

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nicht vielmehr weltarm, weil es den Wesens-Charakter der Benommenheit besitzt? Um dieser Frage auf den Grund gehen zu können, gilt es, das Wesen und in einem damit die Grundbegriffe des Lebendigen noch einmal aufzuzeigen, die eine dem Lebendigen angemessene Zugangsweise erforderten, d. h. der Privation. Aufgrund dieser Zugangsweise, die das Verstehen des Lebendigen aus dessen Grund erlaubte, wollen wir die so gehobenen Grundbegriffe in Abgrenzung gegen die Kategorien und die Existenzialien Lebensprivationen nennen. In der oben gestellten Frage kommt schon die entscheidende Lebensprivation zum Ausdruck, namentlich die Benommenheit. Von der Benommenheit aus lassen sich alle übrigen Lebensprivationen her entwickeln. Dies unternimmt Heidegger im § 61 a der »Grundbegriffe der Metaphysik«, indem er die Strukturmomente des Organismus in sechs Punkten zusammenfasst. 35 Die Benommenheit bestimmt die dem Tier wesenhaft eigentümliche Offenheit als Genommenheit, darin kommt zum Ausdruck, dass das Tier nicht etwas als etwas vernehmen kann, sich folglich auch nicht verhält, sondern benimmt. Die Benommenheit umschließt sowohl den Umgebungs- als auch den Eigenbezug des Tieres. Der Umgebungsbezug besitzt den Charakter der Hineingenommenheit und ist als »Bezug nur Lebens-sicherung« 36 ; der Eigenbezug hat hingegen den Charakter der Eingenommenheit in das Ganze der Triebe. »Deshalb ist das Hineingenommensein nie ein Sicheinlassen auf Seiendes, auch nicht auf sich selbst als solches.« 37 Letzteres nennt Heidegger auch die Eigentümlichkeit. »Das spezifische Selbstsein des Tieres (›Selbst‹ in ganz formalem Sinn genommen) ist das Sich-zu-eigen-Sein, Eigentum, in der Weise des Umtriebes.« 38 Die je spezifisch benommene Offenheit ist den Umringen geschuldet, die wiederum in den jeweiligen Fähigkeiten zu … gründen. Im umringenden Ausbilden der Fähigkeiten, verstanden als das sich in das eigene Wozu treiben, regelt der Organismus im gesamten Durchgang seines Werdens, Seins und Vergehens eigens was ihn enthemmt, d. h. er ist regelmitbringend. »Mit der in der Benommenheit liegenden Offenheit für Anderes bringt das Tier einen Umring mit [Hervorheb. v. Verf.], innerhalb dessen es 35 36 37 38

Vgl. GA Bd. 29/30, S. 376. GA Bd. 76, S. 66. GA Bd. 29/30, S. 376 f. A. a. O., S. 376. A

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von solchem angegangen werden kann, was das Fähigsein zu … jeweils enthemmt und die Umsteuerung des Triebes veranlaßt.« 39 Aus diesem Treiben heraus zeigt sich das Lebendige als ein dranghaftes Streben in das eigene Wozu, d. h. als benommen befähigte Ganzheit, als ursprünglich sich einzelnde Einheit, d. h. als eine Seinsweise eigener Art, die wir Organismus nennen. »Das Lebendigsein solchen Wesens artet sich, und die Art sichert sich in den Einzelungen […].« 40 Kurz: Benommenheit, Genommenheit, d. h. Umgebungshaftigkeit (im Charakter der (Hingenommenheit) und Eigentlichkeit (im Charakter der Eingenommenheit), befähigtes Benehmen, regelmitbringendes ausbilden von Umringen, Drang oder Strebevermögen und Ganzheitlichkeit (im Sinne der ursprünglich sich vorlegenden und vorverlegenden Einheit) sind die von Heidegger in »Grundbegriffe der Metaphysik« entwickelten Lebensprivationen, unter denen der Benommenheit eine methodische Vorrangigkeit hinsichtlich der Untersuchung des Lebendigen zugesprochen wird, denn »[d]ie Benommenheit ist das Grundwesen des Organismus« 41 . Und so muss jedes konkrete biologische Fragen nach dem Fähigsein des Lebendigen zu … »und damit nach einem bestimmten Organ und dessen Bau […] in die Einheit dieses Strukturganzen der Benommenheit des Tieres zurückfragen« 42 . Damit ist die Erweiterung des Kategorienkataloges um die Lebensprivationen natürlich in keinem Sinne abgeschlossen, wie die fehlende Behandlung des Zeitcharakters des Lebendigen zeigt. »Wohl aber ist es eine konkrete Auszeichnung der Grundkonzeption mit Bezug auf das Wesen des Lebens, in der jede Besinnung auf das Wesen des Lebens sich bewegt […].« 43 Die Benommenheit gilt daher als der Grund für die Interpretation des Tieres als weltarm. »Weltarmut ist nicht die Bedingung der Möglichkeit der Benommenheit, sondern umgekehrt, die Benommenheit ist die Bedingung der Möglichkeit der Weltarmut.« 44 Wenn A. a. O., S. 377. GA Bd. 76, S. 67. 41 GA Bd. 29/30, S. 376. 42 A. a. O., S. 377. In »Leitgedanken zur Entstehung der Metaphysik, der neuzeitlichen Wissenschaft und der modernen Technik« stellt Heidegger nur drei Grundbegriffe der Biologie hinsichtlich der Bestimmung des Lebendigen auf: Umgebungsbezug, Drang (Schwung) und Vereinzelung. Die hier zur Grundprivation erhobene Benommenheit handelt er in dieser Schrift unter dem Grundbegriff des Umgebungsbezuges ab (Vgl. GA Bd. 76, S. 66.) 43 GA Bd. 29/30, S. 378. 44 A. a. O., S. 393 f. 39 40

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das Tier auch in Beziehung steht zu dem, was uns in unserer Welt begegnet, so dürfen wir diesem nicht den Charakter der Welt beimessen. Denn zur Welthabe bedarf es des dreifach gegliederten Entwurfs, »[…] dieses Dreifache […] finden wir nie […] beim Tier. Aber das Genannte fehlt nicht einfach beim Tier, sondern das Tier hat dergleichen nicht bei einem und aufgrund eines ganz bestimmten Habens, der Weise des Offenseins im Sinne der Benommenheit.« 45 »Gerade weil das Tier in seiner Benommenheit Beziehung hat auf all das, was im Enthemmungsring begegnet […], gerade deshalb hat es keine Welt.« 46 Sein Nichthaben von Welt ist gleichsam ein Haben des in der Offenheit des Tieres Enthemmenden. Aber kann dieses Haben dann noch als Armut, Entbehren gedeutet werden? Von Armsein können wir nur im Ausgang von und im Vergleich zum Menschen sprechen. »Die These von der Weltarmut des Tieres ist dann keine wesenseigene Interpretation der Tierheit, sondern nur eine vergleichende Illustration.« 47 Die These von der Weltarmut lässt sich somit klar als Leitthese der neuren Biologie aufweisen, deren Aufkommen in der dem Tier zugehörigen Benommenheit gründet. In gleicher Weise steht es mit dem Verständnis des Entbehrens, sei es im Modus des Nicht-Haben-des-Unnötigen oder des Nicht-Hervorbringens und nicht Nicht-Getragenwerdens von Welt. Auch diese Ansätze gründen in der Benommenheit des Tieres und müssen als Bestimmungen des Tieres vom Menschen her verstanden werden.

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A. a. O., S. 509. A. a. O., S. 391. A. a. O., S. 393. A

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Teil III Leiblichkeit Heidegger und die Anthropologie

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Kapitel 1 LeibDasein und die Metontologie der Leiblichkeit

Wenn wir heute über den Begriff der Leiblichkeit nachdenken, so fällt uns wahrscheinlich zuerst der Name Merleau-Ponty und sein Hauptwerk »Phänomenologie der Wahrnehmung« 1 ein. Der Versuch Merleau-Pontys, die klassischen Ansichten der Psychologie phänomenologisch zu unterlaufen und somit dem Verständnis der Leiblichkeit auf den Grund zu gehen, verweist uns unmittelbar auf das Problem der Leiblichkeit als einen genuinen Gegenstand der Psychologie als Wissenschaft vor allem im Bereich der Psychosomatik, wie wir sie in den zahlreichen Schriften Siegmund Freuds, Ludwig Binswangers, Medard Boss’, Paul Häberlins u. v. a. finden. Außerhalb dieser Wissenschaft scheint das Thema kaum Beachtung gefunden zu haben. Ein Tatbestand, der sich durch das sich 2500 Jahre durchhaltende Problem des Dualismus von Leib und Seele verselbstständigt hat. Ein Konstrukt, in dem der Seele bzw. ihrem Verstandesvermögen immer die Vorrangstellung vor dem Leib zugeschrieben wurde, sodass es so schien, als müsse man dem Leib keinerlei wissenschaftliches Interesse entgegen bringen und mehr noch, als müsse man sich seiner entledigen, um überhaupt Wissenschaft betreiben zu können. 2 Nach der Reduktion des Menschen Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Boehm, Rudolf (Übers.), Graumann, C. F./Linschoten, J. (Hrsg.). Berlin 1966. 2 Der Leib – so zeigt Platon im »Phaidon« – ist dem Forscher hinderlich. Denn die Sinne werden die Seele immer wieder täuschen, denn »[w]enn [die Seele] mit Hilfe des Leibes etwas zu ergründen versucht, so wird sie ja offenbar durch ihn irregeführt [.]« (Platon: Phaidon. In: Platon. Sämtliche Dialoge. Band II. Apelt, Otto (Übers. u. Hrsg.). Hamburg 1998, 65). Aber auch wenn uns die Sinne nicht täuschten, so hielt uns der Leib schon durch die Notwendigkeit seiner Ernährung und Pflege von einer ungestörten Hingabe an das Gute ab. »Denn tausenderlei Unruhe verursacht uns der Körper schon durch die notwendige Sorge für seine Ernährung; stellen sich aber außerdem noch Krankheiten ein, so hindern sie uns in der Jagd nach dem Seienden.« (A. a. O., 66) »Und solange wir leben, werden wir, wie es scheint, dem Wissen dann am nächsten kommen, wenn wir uns so viel als möglich des Verkehrs mit dem Körper enthalten […]« (a. a. O., 67). Diese 1

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III Leiblichkeit – Heidegger und die Anthropologie

auf ein transzendental interpretiertes Dasein als Folge der Neuzeit und des Deutschen Idealismus war es Henri Bergson, der sich wohl als Erster phänomenologisch mit der Problematik der Leiblichkeit in seinem Werk »Materie und Gedächtnis« auseinander setzte.

23 Martin Heidegger, Medard Boss und die Zollikoner Seminare Auch Heideggers späte Hinwendung zur Thematik der Leiblichkeit in »Zollikoner Seminare« bewegt sich innerhalb der Psychologie. Doch wie kam es dazu? Der Psychiater und Psychoanalytiker Medard Boss diente zeitweise während des Zweiten Weltkrieges als Bataillonsarzt bei einer schweizer Gebirgstruppe. Da aber die von ihm zu betreuenden Männer allesamt vor Gesundheit strotzende Naturburschen waren und zudem von den deutschen Truppen kaum etwas zu befürchten war, blieb er die meiste Zeit über ohne wirkliche Beschäftigung. In dieser von Langeweile geprägten Zeit entdeckte er zufällig einen Zeitungsartikel zu »Sein und Zeit«. Eine Schrift, auf die er schon zuvor von Binswanger aufmerksam gemacht wurde, wie folgende Zeilen aus einem Brief Medard Boss’ an Binswanger nahe legen, »[…] nichts wird meine Dankbarkeit Ihnen gegenüber schmälern können. Denn ohne Ihren Impuls wüsste ich vielleicht von der Daseinsanalytik noch heute nichts […]« 3 . Kurzum: Medard Boss besorgte sich die Schrift und begann, leider ohne großen Erfolg die dort verfassten Gedanken Heideggers zu studieren. Obwohl Boss das Werk kaum zur Hälfte gelesen hatte und es daraufhin resigniert weglegte, ließ ihn das sich darin abzeichnende Denken nicht zur Ruhe kommen, da er trotz aller anfänglichen Schwierigkeit in Heideggers Ausführungen eine Möglichkeit sah, der Psychologie ein neues Fundament zu geben, das in der Lage zu sein schien, die allenthalber sich zeigende Unzureichendheit theoretischer Grundlagen innerhalb der damaligen Psychologie zu überwinden. »Seit langen war ich auf der Suche nach einem tragfähigen wissenschaftliEnthaltung zur Erreichung der άρετή/des Guten, des Tugendvollen einzuüben, ist gleichsam Aufgabe der Philosophie. 3 Zitiert nach Helting, Holger: Die Bedeutung von Medard Boss für die Entstehung der psychotherapeutischen Daseinsanalyse. In: Zwischen Philosophie, Medizin und Psychologie. Heidegger im Dialog mit Medard Boss. Riedel, Manfred/Seubert, Harald/Padrutt, Hanspeter (Hrsg.). Köln/Weimar/Wien 2003, S. 24.

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chen Fundament für mein ärztliches Tun und Lassen. Den Absolutheitsanspruch auf Wissenschaftlichkeit und Wahrheitsfindung nämlich, den die naturwissenschaftliche Forschungsmethode immer gebieterischer auch in bezug auf den kranken Menschen erhob, hatte ich nicht lange gelten lassen können. Sie wusste ihn durch nichts anderes als durch ihre gewiß bewundernswürdigen praktischen Erfolge im Umgange mit dem menschlichen Körper zu begründen.« 4 Diese Aussage Boss’ ist keineswegs als dessen private Ansicht zu verstehen, sondern als eine Beschreibung der allgemeinen Lage der Psychologie und Psychopathologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. So schreibt Gion Condrau in der Einleitung zu »Daseinsanalyse«: »Die Daseinsanalyse [verstanden als therapeutisches Verfahren] verdankt ihre Entstehung und Entwicklung den geistigen Erneuerungen, die auf die beiden Weltkriege folgten. Im Bereich der Psychiatrie kam in den 20er Jahren eine Bewegung in Gang, die teils durch die Auseinandersetzung mit der Freudschen Psychoanalyse, teils durch ein wissenschaftliches Unbehagen über die traditionelle, systematisierende klinische Psychopathologie ausgelöst, nach einem neuen Grundlagenverständnis menschlicher Existenz und deren Störungen forschte.« 5 »Warum«, so fragt Boss in diesem Zusammenhang Jahre später, »hängen die psychologischen und psychiatrischen Begriffe einer seelischen Funktion oder eines Ordnungssystems von Psychismen so völlig in der Luft?« 6 Weil sie – so beantwortete er sich die Frage selbst – ohne daseinsanalytische Grundlage gleichsam niemals das Wesen der menschlichen Existenz zu fassen in der Lage seien. Leib und Psyche seien nichts Vorhandenes, das unter anderem Seienden auch vorkäme, sondern Leib und Psyche – lässt man den Dualismus einmal zu – seien in der Einheit LeibDasein immer schon In-der-Welt. Aus dem sich damals einstellenden Forschen nach einer erkenntnistheoretischen Grundlage der Psychologie heraus versuchte Boss, im Jahre 1947 mit Heidegger in Kontakt zu treten, um tiefer in das Denken des ihm damals fremden Autors eindringen zu können. Von Seiten des Kollegiums wurde ihm allerdings dringend empfohlen, von diesem Vorhaben Abstand zu nehmen. »Von ernsthafter philosophischer Seite ZS, S. 364. Condrau, Gion: Daseinsanalyse. Bern/Stuttgart/Toronto 1989, S. 7. 6 Boss, Medard: Von der Psychoanalyse zur Daseinsanalyse. Wien/München/Zürich 1979, S. 154. 4 5

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wurde mir nur immer von jeder weiteren Beschäftigung mit Martin Heidegger und seinem Werk abgeraten. Das stets wiederkehrende Argument dieser Warnungen bestand vorwiegend aus der Kennzeichnung von Martin Heidegger als einem typischen Nazi-Mann.« 7 Das Interesse blieb und so schrieb Medard Boss 1947 seinen ersten Brief an Heidegger. 8 Dieser antwortete überraschenderweise auch umgehend und bekundete eingehend sein Interesse an einem gemeinsamen Gespräch. »Sie wissen«, so Heidegger in dem Brief vom dritten August 1947, »daß mich die Probleme der Psychopathologie und Psychotherapie nach der Seite der Prinzipien [Hervorheb. v. Verf.] sehr interessieren, wenngleich mir die Fachkenntnisse […] fehlen.« 9 Heideggers Interesse an einer Zusammenarbeit mit Medard Boss verdankt sich zum einem dessen Zusammenbruch im Jahre 1946 nach einem eingehenden Verhör Heideggers durch die Alliierten, welches Heidegger selbst als ein »Inquisitionsverhör« 10 empfand und zu einem Sanatoriumsaufenthalt in Badenweiler bei dem Mediziner und Psychologen Gebsattel führte, der selbst ein Schüler der DaseinsanalytischenPsychologie Binswangers war. 11 Zum anderen – so erfahren wir von Medard Boss – verriet ihm Heidegger Jahre später, dass er in dieser Zusammenarbeit die MöglichZS, S. VIII. In der »Erinnerung an Martin Heidegger« datiert Boss diesen Brief allerdings auf das Jahr 1946. »Mir steht es bestenfalls zu, eines ganz kleinen Ausschnittes dieses Wirkungsfeldes [Heideggers] zu gedenken; dank des Wunders, daß Martin Heidegger […] schon meine ersten an ihn gerichteten Zeilen einer überaus liebenswürdigen Entgegnung würdigte. Das war 1946.« (Boss, Medard: Zollikoner Seminare. In: Erinnerung an Martin Heidegger. Neske, Günther (Hrsg.). Pfullingen 1977, S. 31.) 9 ZS, S. 299. 10 Safranski, Rüdiger. Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit. München/Wien 1995, S. 406. 11 Vgl. a. a. O., S. 405. Sein durch diesen Aufenthalt begründbares Interesse an der Anthropologie und Psychologie, Psychotherapie bekundet Heidegger zumal in dem Brief an Medard Boss vom 01. 09. 1947. »Jedesmal wird bei Ihren Gaben in mir der Wunsch lebendiger, Sie persönlich kennenzulernen und mit Ihnen die wissenschaftlich-philosophischen Probleme zu erörtern. Vielleicht gibt sich einmal die Gelegenheit, daß Sie nach Freiburg zu einem Vortrag kommen, wo jetzt an der Universität die Medizinische Gesellschaft wieder ihre Vortragstätigkeit aufgenommen hat […] Sie wissen vielleicht, daß Herr Gebsattel, mit dem ich in der letzten Zeit viele Fragen der philosophischen Grundlagen der Psychotherapie und der Anthropologie besprochen habe, in Badenweiler ein Sanatorium leitet und gleichzeitig in der Beringerschen Klinik mit Vorlesungen beauftragt ist, die großen Anklang finden.« (ZS, S. 299 f.) 7 8

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keit wähnte, die Daseinsanalyse über die Grenzen der philosophischen Beschäftigung hinaus nutzbar machen zu können. »Er [Heidegger] sah die Möglichkeit, daß seine philosophischen Einsichten nicht nur in den Stuben der Philosophen steckenblieben, sondern viel zahlreicheren und vor allem auch hilfsbedürftigen Menschen zugute kommen könnten.« 12 Er sah darin die Möglichkeit, »die Arbeit könnte große grundsätzliche Bedeutung bekommen und alle Therapie aus der ›Psychologie‹ herausdrehen [Hervorheb. v. Verf.]« 13 . Aus diesem beiderseitigen Interesse kam es neben einer Vielzahl von Unterredungen und Briefen auch zu den am achten September 1959 im großen Hörsaal der Psychiatrischen Klinik in Zürich beginnenden Seminaren, welche bis 1969 andauerten. »Ihrem Wunsch«, so Medard Boss zum 80. Geburtstag Heideggers, »die Hilfe Ihres philosophischen Denkens möglichst vielen leidenden Menschen angedeihen zu lassen, und meinem Bedürfnis nach einem soliden Rückhalt für meine ärztliche Wissenschaft entsprang die gemeinsame Idee der Zollikoner Seminare.« 14 In diesen Seminaren wurde neben einer umfassenden Wissenschaftskritik hauptsächlich die Leiblichkeit im Rahmen eines möglichen methodischen Zugangs zum Menschen seitens der Psychologie und Psychopathologie behandelt und so kann von dieser Konzentration folglich niemals eine abschließende Lösung des Leibproblems verlangt werden. 15 Dennoch sind die Ausführungen soweit getrieben, dass das Denken der Einheit von Dasein und Leib auf den Weg gebracht werden kann.

24 Privation als faktisches Sich-zeigen des LeibDaseins Gedenken wir daher erneut der gezeigten Privation des Tieres als weltarm, so wird sich im Folgenden zeigen, dass sich eine solche Privation verstanden als Absprechendes – Zusprechen allein aus der Ontologie ZS, S. X. A. a. O., S. 305. 14 A. a. O., S. 365. 15 »Wir wollen jetzt versuchen, etwas in die Nähe des Leibphänomens zu kommen. Dabei kann keine Rede von einer Lösung des Leibproblems sein.« (ZS, S. 105.) 0 »Die ontologische Grundverfassung von ›leben‹ ist jedoch ein eigenes Problem und nur auf dem Wege reduktiver Privation aus der Ontologie des Daseins aufzurollen.« (SuZ, S. 194.) 12 13

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des Daseins – wie Heidegger noch in »Sein und Zeit« anführt 16 – niemals ohne die ontische Faktizität der Leiblichkeit des Menschen durchführen ließe. Denn jede Bewegung und jede Verlautbarung eines wie auch immer gearteten Lebewesens – das ist unbestreitbar – ist eine leiblich vollzogene Bewegung in einem Raum. Als solche ist sie nur einer Seinsweise zugänglich, die den Charakter des In-der-Welt-seins hat, d. h. der sowohl Bewegung als Bewegung aufgrund von Eigenbewegung vertraut ist und der darüber hinaus Seinsverständnis zukommt. So rückt die Leiblichkeit des Daseins den faktischen Zugang zum Lebendigen allererst ermöglichend selbst in den Umkreis der Untersuchung. Wenn es gelingt, sowohl das Verhältnis von Dasein und Leib ursprünglich zu fassen als auch die Privation des Tieres als weltarm bzw. benommen aus der Einheit von Leib und Dasein zu entwickeln, dann ist die Privation als ein originäres Phänomen aufgezeigt, in dem die Einheit von Dasein und Leib nicht vorausgesetzt werden muss, sondern sich als LeibDasein von sich her zeigt und aufweisen lässt. Damit wäre nicht nur der cartesianische Dualismus von res cogitans und res extensa aus den Phänomenen selbst heraus als überwunden zu betrachten, sondern auch die Kritik an der Privation und der scheinbaren Leibvergessenheit in »Sein und Zeit«, wie sie Löwith und Plessner formulierten, eingeholt.

24.1 Leibvergessenheit »Die Nähe des Menschen zum tierischen Lebewesen, ineins mit seiner Entferntheit von ihm, macht den Menschen schon biologisch zu einem Rätsel, das sich nicht einfach, nach der einen Seite des allgemeinen Lebens oder nach der anderen Seite der je eigenen Existenz, simplifizieren und auflösen läßt. Er ist ein Naturwesen und zugleich zur Humanität bestimmt.« 17

Die Fundamentalanalyse in »Sein und Zeit« setzt – wie hinlänglich bekannt – in dem alltäglichen Umgang des faktisch existierenden Menschen mit seiner Umwelt und Mitwelt an. Dort wird gehämmert, geöffnet, geredet, mitgefühlt, gestorben, getröstet u. v. m. Doch befindet sich bei all diesem nirgends ein leibhaftiger Mensch, der Hände hat zum Hämmern, einen Mund zum Reden und Ohren zum Hören. Diese scheinbare Leibvergessenheit in »Sein und Zeit« kritisierte auch der 17

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Heidegger Schüler Karl Löwith in der 1957 Plessner gewidmeten Festschrift »Natur und Humanität« sowie drei Jahre Später in »Welt und Menschenwelt« 18 , wo es heißt: »Kein griechischer Denker ist je auf den Gedanken verfallen, daß der Erforschung des Seins und der Welt aus methodischen Gründen eine grundlegende Analyse des auf sich vereinzelten Daseins vorhergehen müsse […]. Die Natur kann sich aber keinem leib- und geschlechtslosen ›Dasein‹ erschließen.« 19 Einem solchen Missverständnis versuchte Heidegger schon in der Analyse der Räumlichkeit in »Sein und Zeit« zu begegnen betonend, dass die Behandlung der Leiblichkeit »eine eigene hier nicht zu behandelnde Problematik in sich birgt«. 20 Das hier nicht bedeute nicht, dass die Leiblichkeit innerhalb der Fundamentalanalyse zu einem späteren Zeitpunkt ausdrücklich behandelt würde, sondern dass sie überhaupt nicht in die Thematik der Fundamentalanalyse gehöre. Denn die Untersuchung in »Sein und Zeit« richtet sich auf die Entwicklung der Grundstrukturen des Daseins als dem ausgezeichneten Seienden, das Seinsverständnis ist, um so das Verständnis des Sinns von Sein aus der Seinsvergessenheit heraus in die Nähe des Denkens zu bringen. 21 Mit Sicht auf die Frage nach dem Sinn von Sein stimmt selbst Plessner im Vorwort der Stufen Heidegger zu, »[o]hne Zweifel stand Heidegger hier der Rückzug auf den methodischen Sinn seiner Existenzialanalyse offen. Er durfte von den physischen Bedingungen der ›Existenz‹ absehen, wenn er an der Existenz klarmachen wollte, was mit ›Sein‹ gemeint ist.« 22 Allerdings sieht Plessner darin – wie auch Derrida – die Gefahr einer idealistischen Verinnerlichung. 23 Löwith, Karl: Welt und Menschwelt. In: Sämtliche Schriften. Band I. Mensch und Menschenwelt. Stichweh, Klaus/Launay, Marc B. de (Hrsg.). Stuttgart 1981. 19 A. a. O., S. 308 f. 20 SuZ, S. 108. 21 »Das Dasein ist ein Seiendes, das nicht nur unter anderem Seienden vorkommt. Es ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. Zu dieser Seinsverfassung des Daseins gehört aber dann, daß es in seinem Sein zu diesem Sein ein Seinsverhältnis hat. Und dies wiederum besagt: Dasein versteht sich in irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit in seinem Sein. Diesem Seienden eignet, daß mit und durch sein Sein dieses ihm selbst erschlossen ist. Seinsverständnis ist selbst eine Seinsbestimmtheit des Daseins. Die ontische Auszeichnung des Daseins liegt darin, daß es ontologisch ist.« (SuZ, S. 12.) 22 Die Stufen des Organischen, S. XII. f. 23 »Mit dieser These bekam die seit den Tagen des deutschen Idealismus der Philosophie zur lieben Gewohnheit gewordene Richtung nach innen wieder Oberwasser.« (Die Stufen des Organischen, S. XIII.) 18

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Die späte Kritik Löwiths an Heidegger darf nicht den Anschein erwecken, als habe sich Löwith – von Feuerbach inspiriert – ein Jahr nach dem Erscheinen von »Sein und Zeit« dem Thema der Leiblichkeit in seiner Habilitationsschrift »Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen« 24 ausdrücklich zugewandt – mit Nichten. Und auch Plessners Kritik an der Privation darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er nicht selbst privativ denkt, ja denken muss. Dies wird schon in dem Versuch des Aufweises der Doppelaspektivität deutlich. »In den Konturen, innerhalb seiner Ränder ist der Dingkörper beschlossen und als dieser bestimmt […].« 25 »Körperliche Dinge der Anschauung, an welchen eine prinzipiell divergente Außen- Innenbeziehung als zu ihrem Sein gehörig gegenständlich auftritt, heißen lebendig […]. Ein Ding, das lebendig erscheint, fällt damit natürlich nicht total aus der Reihe der Dinge überhaupt heraus. Wesenscharaktere des Körperdings bleiben die gleichen, ob es sich um nicht belebte oder belebte Dinge handelt.« 26 Abgesehen davon, dass Plessner das Lebendige als Seiendes (Ding) setzt, bestimmt er das Unbelebte aus der Verfassung des Lebendigen. Das Absprechen der Doppelaspektivität spricht dem unbelebten Körperding seinen Grenzcharakter als konturenhaft zu. Das bestärkt auch die im gleichen Abschnitt schon zitierte Äußerung Plessners: »Nur haben die belebten Dinge gegenüber den unbelebten das Plus [Hervorheb. v. Verf.] jener rätselhaften Eigenschaften des Lebens […].« 27 Dreht man dieses verhängnisvolle Plus um, zeigt sich neben einem ungewollt vitalistischen Einschlag das Minus, zeigt sich die Privation. Ein Weniger kann nur von einem Mehr her verstanden werden. Ob die Begriffe Mehr oder Weniger in dem betreffenden Sachfeld auch sachgerecht sind, sei dahingestellt. Umgekehrt kann auch der Verdacht nicht ausgeräumt werden, Plessner deute das Lebendige vom Körper her. »Die anschaulichen Randwerte eines organischen Körpers müssen sich von den entsprechenden Randwerten eines anorganischen Körpers charakteristisch unterscheiden.« 28 Dies ist aber, so hat die Untersuchung des Organismus gezeigt und so wird die Untersuchung der Löwith, Karl: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. In: Sämtliche Schriften. Band I. Mensch und Menschenwelt. Stichweh, Klaus/Launay, Marc B. de (Hrsg.). Stuttgart 1981. 25 Die Stufen des Organischen, S. 101. 26 A. a. O., S. 89. 27 Ebd. 28 A. a. O., S. 123. 24

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Leiblichkeit erneut zeigen, unangemessen. Es gilt Körper, Organismus und Leiblichkeit von sich her zu fassen. Die hier nur punktuell aufgezeigte Kritik an Plessner darf auf keinen Fall als Versuch einer Schmälerung seiner Arbeiten missverstanden werden. Es gibt auch und vielleicht wieder heute Anlass, diese beiden Autoren und ihre Positionen zu diskutieren und fruchtbar zu machen. In einer solchen Disputation ist aber auch die Offenheit gefordert, eigene Standpunkte in beide Richtungen zu verlassen, andere anzunehmen und gegebenenfalls dritte auszuformen und zu verteidigen. Im thematischen Zusammenhang mit der Kritik Löwiths und Plessners an »Sein und Zeit« steht auch die Kritik Sartres, auf die uns Medard Boss in »Zollikoner Seminare« aufmerksam macht: »Wenn Jean Paul Sartre Martin Heidegger vorwirft, er hätte den Leib schlecht behandelt, so hat diese ›schlechte Behandlung‹ zwei Gründe: 1. Die Behandlung der Leibphänomene ist gar nicht möglich ohne zureichende Ausarbeitung der Grundzüge des existenzialen In-der-Welt-seins.« 29 Und folglich gibt es 2. »[…] noch gar keine zureichend verwendbare Beschreibung des Leibphänomens, nämlich eine solche, die vom Inder-Welt-sein aus gesehen wird.« 30 Dass die Leiblichkeit für das faktische Erleben unabdingbar ist, wusste Heidegger auch schon im Sommer 1919, wie die Nachschrift Oskar Beckers belegt: »Der Zusammenhang der Lebenserfahrung ist ein Zusammenhang von Situationen, die sich durchdringen. Die Grundbeschaffenheit der Lebenserfahrung ist gegeben durch den notwendigen Bezug zur Leiblichkeit. Das ist von grundlegender Bedeutung. Die ›Sinnlichkeit‹ (bei Platon und dem Deutschen Idealismus) ist Lebenserfahrung.« 31 Auch im § 18 der »Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie« aus dem Jahre 1924 spricht Heidegger von Aristoteles ausgehend dem Leib eine grundlegende Bedeutung zu: »Man muß darauf sehen, daß die primäre Daseinsfunktion der Leiblichkeit sich den Boden für das volle Sein des Menschen sichert.« 32 Wenn in der griechischen Antike auch die νόησις/das Denken als das ausgezeichnete Prinzip des Menschen angesehen wird, so ist es nie ein für sich existierendes Seiendes, sondern immer auch ist der Leib mit beteiligt. 29 30 31 32

ZS, S. 202. Ebd. Über das Wesen der Universität und des akademischen Studiums, S. 210. GA Bd. 18, S. 199. A

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Doch bedarf die Behandlung der Leiblichkeit einer vorausgehenden Klärung der Grundstrukturen des Daseins, d. h. der Hebung der Existenzialitäten, aus denen heraus das Leibphänomen allererst in seinem Grunde sichtbar und vor allem verstehbar wird. Ansonsten – so Heidegger weiter – »gibt [es] bei solcher ›Leibphänomenologie‹ nur Beschreibung« 33 . Aber kennzeichnet die Beschreibung nicht gerade das Wesen und Selbstverständnis der Phänomenologie? Wenn wir Heideggers Kritik recht verstehen wollen, so müssen wir auf das im obigen Zitat von ihm kursiv gesetzte nur sehen. Darin drückt sich aus: Ohne das Daseinsanalytische-Fundament bleibt jede Beschreibung des Leibes zwingend immer unsachlich, d. h. unangemessen, da eine solche Beschreibung nie das Wesentliche zu erfassen in der Lage ist. Dafür spricht auch die kürzlich erschienene Schrift von Edmundo Johnson »Der Weg zum Leib« 34 , dessen Versuch einer radikal voraussetzungslosen Bestimmung der Leiblichkeit dennoch nicht ohne die Daseinsanalytik auskommt, nicht auskommen kann. 35 Man kann annehmen, dass diese Bemerkung Heideggers, die Medard Boss in dem Text wiedergibt, aus einer persönlichen Auseinandersetzung Heideggers mit Sartre stammt und somit direkt gegen die Versuche Sartres in Hinblick auf eine phänomenologische Erfassung der Leibthematik gerichtet ist. Zu solchen Beschreibungen kann auch das folgende Zitat aus Sartres »Das Sein und das Nichts« 36 gezählt werden: »Denn meine Hand enthüllt mir den Widerstand der Objekte, deren Härte oder Weichheit, und nicht sich selbst. Daher sehe ich meine Hand nicht anders, als ich dieses Tintenfaß sehe.« 37 Genau das ist aber nicht der Fall, denn meine Hand ist nichts Seiendes unter Seiendem, sondern

ZS, S. 202. Johnson, Edmundo: Der Weg zum Leib/Methodische Besinnung zu einer Ontologie der Leiblichkeit anhand des Denkens Martin Heideggers. Würzburg 2010 (wird im Folgenden als Der Weg zum Leib angegeben). 35 »Da die Frage nach dem menschlichen Leib erst der Bestimmung des Menschlichen an ihm bedarf, soll diejenige Grundbestimmung des Menschen deutlich gemacht werden, die von Heidegger als Dasein gekennzeichnet wird. Auf dem Weg der Sicherung des Phänomens Dasein soll aber später der Grundcharakter des Leibes als daseinsmäßig herausgestellt werden, so dass das Leibphänomen in seiner entsprechenden Seinsart zum Vorschein gebracht wird.« (Der Weg zum Leib, S. 118.) 36 Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Schöneberg, Hans (Übers.)/König, Traugott (Übers. u. Hrsg.). Hamburg 2002. 37 A. a. O., S. 541. 33 34

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gehört zur faktischen Existenz des Daseins. Zudem sieht Heidegger Sartre immer noch in der Macht der überlieferten Metaphysik gefangen, gegen welche Heideggers gesamtes Bemühen steht. 38 Rückblickend auf die 1965 im Seminar eingebrachte Kritik Sartres gesteht Heidegger Medard Boss am dritten März 1972 in Freiburg: »Sartres Vorwurf kann ich nur mit der Feststellung begegnen, daß das Leibliche das Schwierigste ist und daß ich damals eben noch nicht mehr zu sagen wußte.« 39 Die sich durchhaltende Forderung Heideggers der Herleitung des Leibphänomens aus der Grundstruktur des Daseins im § 23 von »Sein und Zeit« scheint der Methode der Phänomenologie völlig entgegen zu stehen, da sie eine transzendentale Deduktion der Leiblichkeit aus der Struktur des Daseins geradezu aufzugeben scheint. In diesem Zusammenhang stellt Oliver Cosmus in der Festschrift für Klaus Held die rhetorische Frage nach einem existentialen Grund der Leiblichkeit zu Recht und kommt zu dem Schluss: »Die Leiblichkeit selbst ist demzufolge kein Existenzial, sondern eine Struktur der Faktizität des Daseins […]. Die Exklusion [der Leiblichkeit, so Cosmus weiter] resultiert aus dem existenzialontologischen Ansatz von ›Sein und Zeit‹, demzufolge allein die Wesensursprünge der faktischen Gegebenheiten, aber nicht diese selbst in Betracht kommen […].« 40 Gion Condrau versteht Leiblichkeit hingegen gerade als ein Existenzial. 41

»Sartre spricht […] den Grundsatz des Existentialismus so aus: Die Existenz geht der Essenz voran. Er nimmt dabei existentia und essentia im Sinne der Metaphysik, die seit Platon sagt: die essentia geht der existentia voraus. Sartre kehrt diesen Satz um. Aber die Umkehrung eines metaphysischen Satzes bleibt ein metaphysischer Satz. Als dieser Satz verharrt er mit der Metaphysik in der Vergessenheit der Wahrheit des Seins.« (Heidegger, Martin: Brief über den Humanismus. In: Wegmarken. Herrmann, Friedrich-Wilhelm von (Hrsg.). Frankfurt am Main 2004, S. 328.) 39 ZS, S. 292. 40 Cosmus, Oliver: Die Leiblichkeit im Denken Heideggers. In: Die erscheinende Welt. Festschrift für Klaus Held. Hüni, Heinrich/Trawny, Peter (Hrsg.). Berlin 2002, S. 79. 41 »Das Leiblichsein ist ein Existenzial.« (Daseinsanalyse, S. 90.) Johnson versteht Leib als Existenzial. »So wie hier gesehen werden konnte, ist das Leiben in diesen letzten Betrachtugen nicht als eine Dimension des Leib-Körper-Gefüges aufgetaucht, sondern vielmehr als eine Möglichkeit des menschlichen Lebens selbst, oder, wie wir mit Heidegger auch sagen können, als ein ›Existenzial‹. Wir verstehen demnach hierbei das Leibphänomen ausdrücklich im Sinne eines Existentials, insofern es sich als ein Strukturmoment des Daseins selbst angekündigt hat, dessen Wurzeln nur verdeutlicht werden können im Hinblick auf das Dasein als Seinkönnen […].« (Der Weg zum Leib, S. 186.) 38

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In der Interpretation von Oliver Cosmus wird klar, dass die Behandlung der Leiblichkeit gar nicht in die Fundamentalontologie, sondern in die Metontologie gehört, welche in »Sein und Zeit« nicht mehr ausgeführt wurde und das ausmacht, was als das Scheitern von Sein und Zeit verstanden wird. In einer solchen Μετ-ontologie schlägt der Bestand des ontologisch Gehobenen in das Ganze der faktischen Existenz zurück – μεταβολή. Μετ-ontologie bezeichnet somit keine Metaphysik der Metaphysik, sondern das Umschlagen der Ontologie in Μετontologie. 42 So kann der Leib zwar nicht aus der Struktur des Daseins deduziert werden. Doch kann allein aus dem in der Daseinsanalyse Gesicherten das Leibphänomen in angemessener Sachlichkeit ausgelegt werden. Dies ist aber nicht Gegenstand der Fundamentalanalyse, sondern eben der Μετ-ontologie. So klärt sich hier das aufgezeigte Paradoxon einer Deduktion des Leibphänomens aus der Daseinsstruktur. Dass eine solche Μετ-ontologie in »Sein und Zeit« noch nicht im Fokus der Untersuchung stand, darauf verweist Heidegger eingehend ein Jahr später in der oben angesprochenen Vorlesung des Sommersemesters 1928 »Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz« im Zusammenhang mit dem Problem von Transzendenz und Wahrheit, in welcher er die Intention von »Sein und Zeit« in zwölf Leitsätzen noch einmal resümiert und vehement die Thematisierung der Leiblichkeit innerhalb der Fundamentalanalyse ablehnt. 43 Wenn »Die neue Fragestellung liegt im Wesen der Ontologie selbst und ergibt sich aus ihrem Umschlag, ihrer μεταβολή.« (GA Bd. 26, S. 199.) »Insofern die Thematisierung des Seienden im Ganzen aus dem inneren Umschlag (μεταβολή) der universalontologischen Auslegung hervorgeht, heißt dieser Teil der Ontologie Metontologie.« (Strube, Claudius: Das Mysterium der Moderne. Heideggers Stellung zur gewandelten Seinsund Gottesfrage. München 1994, S. 98.) 43 »Diese Leitsätze sollen kurz andeuten, welche Absicht einer Analytik des Daseins zugrunde liegt und wessen sie in der Durchführung bedarf. Die Grundabsicht dieser Analytik ist der Aufweis der inneren Möglichkeit des Seinsverständnisses und das heißt zugleich der Transzendenz.« (GA Bd. 26, S. 177.) Fraglich bleibt, ob der dort vollzogene Rückbezug auf »Sein und Zeit« allein aus der Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit und Transzendenz motiviert war: »Das Wesen der Wahrheit im ganzen ist also nur als Transzendenzproblem überhaupt zu klären [.]« (a. a. O., S. 171.) oder ob die Hinwendung zum Problem der Leiblichkeit nicht auch aus den Auseinandersetzungen mit Karl Löwith und Max Scheler, deren Schriften »Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen« und »Erkenntnis und Arbeit« (Scheler, Max: Erkenntnis und Arbeit. Eine Studie über Wert und Grenzen des pragmatischen Motivs in der Erkenntnis der Welt. Frankfurt am Main 1977.), welche im gleichen Zeitraum wie »Sein und Zeit« erschienen, erwuchs. 42

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der Leib aber nicht als möglicher Gegenstand der Fundamentalontologie angesehen wird, kann er dann widerspruchslos als ein Existenzial ausgewiesen werden?

25 Leib und der Sinn von Ursprung Der Fundamentalanalyse des Daseins in »Sein und Zeit« kann ein gewisser abstrakter Charakter nicht abgesprochen werden. Heidegger legt zwar immer wieder größten Wert auf die Betonung der Jemeinigkeit, um jeder idealistischen Interpretation seiner Arbeit entgegenzuwirken, aber letztendlich erscheint das Dasein doch in völliger Neutralität. Die Neutralität des Daseins in »Sein und Zeit« rührt aber nicht aus einer Abstraktion her, sondern aus der beabsichtigten Freilegung des Ursprungs einer Seinsweise, die allein Dasein als In-der-Welt-sein ermöglicht. »Der Ansatz in der Neutralität bedeutet zwar eine eigentümliche Isolierung des Menschen, aber nicht in faktisch existenziellem Sinne, als wäre der Philosophierende das Zentrum der Welt, sondern sie ist die metaphysische Isolierung des Menschen.« 44 »Die Neutralität ist nicht die Nichtigkeit einer Abstraktion, sondern gerade die Mächtigkeit des Ursprunges, der in sich die innere Möglichkeit eines jeden konkreten faktischen Menschentums trägt.« 45 Dieser Ursprung »birgt die innere Möglichkeit für faktische Zerstreuung in die Leiblichkeit und damit in die Geschlechtlichkeit« 46 . Die, durch die metaphysische Betrachtung herbeigeführte Isolation ist der konkrete Ursprung, »das Noch–nicht der faktischen Zerstreutheit« 47 . Den in diesem Zusammenhang verwendeten Begriff Zerstreuung ersetzt Heidegger noch im selben Abschnitt durch den Begriff Zersplitterung, um ihn von dem als transzendental verstandenen Begriff der Zerstreuung, die in der Geworfenheit gründet, klar abzuheben. »Das Dasein ist als faktisches je unter anderem [und mit anderen] in einen Leib zersplittert und ineins damit unter anderem je in eine bestimmte Geschlechtlichkeit zwiespältig.« 48 . Die genannte Zersplitterung ist je-

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doch nicht negativ zu verstehen, sondern als die sich in der Leiblichkeit verwirklichende Existenz der Daseinsstruktur in den Weisen: Sein–bei, Mit–sein und Selbst–sein. Die Zersplitterung wird verstanden als die Mannigfaltigung des Daseins, d. h. vorblickend, das sich gleichzeitige Verlegen und Vorverlegen des Dasein in seine Organe und in eins damit die Zerstreuung des faktisch existierenden Menschen in seine verschiedenen Bezüge zum zunächst innerweltlich Begegnenden seiner Umwelt. Für diese Mannigfaltigung des Ursprungs stellt »die Leiblichkeit einen Organisationsfaktor [Hervorheb. v. Verf.]« 49 dar. In welcher Hinsicht versteht Heidegger den in dem vorhergehenden Zusammenhang aufkommenden Begriff des Ursprungs? Wird Ursprung verstanden als ein Seiendes, das vor einem Anderen, dessen Ursprung es ist, immer schon vorlag? Die Frage ist: War der Ursprung vor dem, was aus ihm entspringt? Ist Ursprung gemeint als ein Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit? Auf das Verhältnis von Leiblichkeit und Dasein bezogen, stellt sich die Frage so: Geschieht Dasein vor dem Leiben des Leibes? Ursprung wird von Heidegger nicht als etwas gedacht, das Anderes aus sich heraus entspringen lässt, sondern als ein Geschehen, das im Entspringenden immer mit geschieht und sich in diesem hält. »Der reine Ursprung ist nicht jener, der einfach anderes aus sich entläßt und es ihm selbst überläßt, sondern jener Anfang, dessen Macht ständig das Entsprungene überspringt, ihm vor-springend es überdauert und so in der Gründung des Bleibenden gegenwärtig ist; gegenwärtig nicht als das von früher her nur Nachwirkende, sondern als das Vorspringende, das somit als Anfang zugleich das bestimmende Ende, d. h. eigentlich Ziel ist.« 50

Ebd. Heidegger, Martin: Hölderlins Hymnen ›Germanien‹ und ›Der Rhein‹. Gesamtausgabe (= GA) Band 39. Ziegler, Susanne (Hrsg.). Frankfurt am Main 1980, S. 241.

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26 Interpretation des LeibDaseins aus der Organismus-Thematik »Wär nicht das Auge sonnenhaft, Die Sonne könnt es nie erblicken? Lebt nicht in uns des Gottes eigne Kraft, Wie könnt uns Göttliches entzücken?« 51

Diese Interpretation des Ursprungs in der Freiburger Hölderlin-Vorlesung des Wintersemesters 1934/35 wird deutlicher, wenn der Leib des Menschen mit Blick auf die phänomenologische Auslegung des Organismus betrachtet wird. Denn auch der Mensch ist ein organisches Wesen – so Heidegger in der Dokumentation Walter Rüdels. 52 Diese Auffassung darf aber auf keinen Fall als ein Rückgang zur darwinistischen Theorie, sondern muss existential ontologisch verstanden werden. »Das Dasein ist Körper und Leib und Leben [Hervorheb. v. Verf.]; es hat Natur nicht nur und erst als Gegenstand der Betrachtung, sondern es ist Natur [Hervorheb. v. Verf.]; aber eben nicht so, daß es ein Konglomerat von Materie, Leib und Seele darstellt; es ist Natur qua transzendierendes Seiendes, Dasein, von ihr durchwaltet und durchstimmt.« 53 In dem phänomenologischen Ansatz möglicher Kategorien des Lebendigen, der Lebensprivationen, geht Heidegger – wie gezeigt – methodisch sowohl von alltäglichen Beobachtungen des Tieres als auch von wissenschaftlichen Erkenntnissen aus, um von diesen aus die Wesensstruktur des Lebendigen und nicht dessen Organsubstanz in den Blick zu bekommen und privativ zu erfassen. In diesem Vorgehen zeigte sich die Organisation des Tieres besonders in dessen als benommen charakterisierten Umgebungsbezug. Der Organismus erschien als Einheit von Fähigkeiten, die sich selbst in ihre Organe schafft. »Die Fähigkeit ist ein sich auf sich selbst, in das eigene Wozu Verlegen und Vorverlegen.« 54 Die Fähigkeit eines Organismus setzt sich selbst in ihr Wozu voraus und bildet die Organe so aus, dass sie diesem Wozu dienen können. Sie ist Ausgang als auch Ziel. Es zeigte sich, dass der OrganisGoethe, Johann Wolfgang von: Zahme Xenien. In: Sämtliche Gedichte. Teil I. Die Gedichte der Ausgabe aus letzter Hand. Zürich 1961, S. 629. 52 Hauptseite: www.Philosophisches-lesen.de/heidegger/suz/ausgaben.html. Videoportal: www.dailymotion.com/related/1201543/video/xprck_heidegger-i/1(-3). 53 Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie. Gesamtausgabe (= GA) Band 27. Saame, Otto/Saame-Speidel, Ina (Hrsg.). Frankfurt am Main 1996, S. 328. 54 GA Bd. 29/30, S. 331. 51

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mus die Regeln seiner Organisation selbst bestimmt, mitbringt, umformt und betreibt. Der Ur-sprung springt solange Leben geschieht und ermöglicht erst den Aufbruch und das Offenhalten im vorlaufenden Springen eines wie auch immer sich zeigenden Weltenaufgangs. So wie die Struktur des Tieres die Organisation des Tieres regelt, zur Ausprägung bringt und im Leben hält, so bringt die Struktur des Daseins die faktisch leibliche Existenz des Daseins zur Ausprägung und hält sie in dieser. Das Wozu des Daseins, welches sich in die Leiblichkeit zersplittert, ist das Um-willen-seiner selbst. Dass diese Wende zur Organismus-Thematik nicht nur legitim ist, sondern zwingend wird, um das Verhältnis von Dasein und Leib angemessen verstehen zu können, ohne den Leib mit dem Dasein zusammenkleben zu müssen oder, was das Gleiche ist, nach einem existentialen Grund für Leiblichkeit zu fragen, soll das Folgende bestärken: Der Besitz von Organen ist beim Tier als auch beim Menschen abhängig von deren jeweiliger strukturbedingter Organisation. »Weshalb hat das Tier Augen? Warum kann es solche haben? Nur weil es sehen kann. Augen besitzen und sehen können ist nicht dasselbe. Das Sehenkönnen ermöglicht erst den Besitz von Augen, macht ihn in bestimmter Weise notwendig.« 55 In gleicher Weise spricht Heidegger vom Sehenkönnen des Menschen in »Zollikoner Seminare«. »Wir können nicht ›sehen‹, weil wir Augen haben, vielmehr können wir nur Augen haben, weil wir unserer Grundnatur [Hervorheb. v. Verf.] nach sehenden Wesens sind. So könnten wir auch nicht leiblich sein, wie wir es sind, wenn unser In-der-Welt-sein nicht grundlegend aus einem immer schon vernehmenden Bezogen-sein auf solches bestünde, das sich uns aus dem Offenen unserer Welt, als welches Offene wir existieren, zuspricht.« 56 In-der-Welt-sein organisiert sich faktisch immer leiblich. Mit dieser Ausführung soll aber keinem Biologismus das Wort geredet werden, denn wenn auch der Mensch, das Tier, ja alles was zur Selbstbewegung fähig ist, faktisch organisch ausgebildet ist, so bleibt es auch noch heute fraglich, ob in einer rein biologischen Betrachtung des Menschen der Mensch als Mensch fassbar wird bzw. überhaupt werden kann. »Natürlich kann man den Menschen auch naturwissenschaftlich als Naturteil betrachten. Die Frage bleibt nur, ob dann noch

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etwas Menschliches herauskommt, das den Menschen als Menschen trifft.« 57 Im Verstehen-Wollen der Einheit von Dasein und Leib bliebe der von Heidegger eingeführte Begriff der Zersplitterung ohne die Betrachtung des Leibes als Organismus immer abstrakt. Betrachtet man den Leib aber aus dem phänomenologischen Blick auf den Organismus, so zeigt sich das Zersplittern des daseinsmäßigen Ursprungs als ein sich Ent-falten der Grundstruktur und denen sich daraus ergebenden Vermögen des faktisch existierenden Menschen in seine ihm eigentümliche Organisation. Die Hand des Menschen ist Ausdruck seiner innersten Grundstruktur, die einen Umgang mit dem Zuhandenen in der Weise des Daseins allererst ermöglicht. »Allein das Wesen der Hand läßt sich nie als ein leibliches Greiforgan bestimmen oder von diesem her erklären. Greiforgane besitzt z. B. der Affe, aber er hat keine Hand. Die Hand ist von allen Greiforganen: Tatzen, Krallen, Fängen, unendlich, d. h. durch einen Abgrund des Wesens verschieden. Nur ein Wesen, das spricht, d. h. denkt, kann die Hand haben und in der Handhabung Werke der Hand vollbringen.« 58 Das Auge des Menschen ist nicht gerichtet auf ein Einzelnes, sondern das der Struktur des Daseins adäquate optische Erfassungsorgan, das der Bezüglichkeit des Dasein entspricht, in dessen Ausprägung sich die Grundstruktur des Sein-bei faktisch realisiert. Das Hörvermögen auf organischer Ebene ist kein bloßes Vernehmen von Tönen, sondern erwächst aus der Gesamtstruktur des Daseins vordergründig als Mitsein. Reden und Hören in der Weise des Menschen sind dem Mit-sein geschuldet. 59 »Das jeweils von uns Gehörte erschöpft sich niemals in dem, was unser Ohr als ein in gewisser Weise abgesondertes Sinnesorgan aufnimmt. Genauer gesprochen: Wenn wir hören, kommt nicht nur etwas zu dem hinzu, was das Ohr aufnimmt, sondern das, was das Ohr vernimmt und wie es vernimmt, wird schon durch das gestimmt und bestimmt, was wir hören, sei dies nur, daß wir die Meise und das Rotkehlchen und die Lerche hören.« 60 Alles Hören A. a. O., S. 34. Und genau diesen Ansatz, der allenfalls in der Lage ist, die notwendigen Bedingungen niemals aber die hinreichenden Bedingungen menschlicher Existenz aufzuzeigen, versucht Thomas Philipp in seiner Schrift »Selbst-Natur-sein«. 58 Was heisst Denken? S. 51. 59 »Das Hören ist für das Reden konstitutiv. Und wie die sprachliche Verlautbarung in der Rede gründet, so das akustische Vernehmen im Hören. Das Hören auf … ist das existenziale Offensein des Daseins als Mitsein für den Anderen.« (SuZ., S. 163.) 60 Heidegger, Martin: Der Satz vom Grunde. Pfullingen 1957, S. 87. 57

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ist etwas hören, ist sinnbelastet. »›Zunächst‹ hören wir nie und nimmer Geräusche und Lautkomplexe, sondern den knarrenden Wagen, das Motorrad.« 61 Das Tier hört das Motorrad nicht als Motorrad. Der Gesang der Lerche ist der Katze kein Lerchengesang, sondern ein ihr Jagdbenehmen enthemmendes Verlauten. »Unser Gehörgang ist zwar eine in gewisser [organischer] Hinsicht notwendige, aber niemals die zureichende Bedingung für unser Hören, jenes, was das eigentlich zu-Vernehmende uns zureicht und gewährt.« 62 Die zureichende Bedingung menschlichen Hörens gründet allein in dessen Struktur des Daseins, seiner Offenheit, seines Seinsverständnisses. Die Interpretation des LeibDaseins aus der Organismus-Thematik ist als Ansatz einer Metontologie der Leiblichkeit zu verstehen, wie sie Heidegger selbst nie durchgeführt hat. Wenn Heidegger – wie gezeigt – den Mensch vielerorts als ein Natur- oder organisches Wesen bestimmt, dann widerspricht das nicht Heideggers Aussage aus dem Humanismusbrief: »Der Leib des Menschen ist etwas wesentlich [Hervorheb. v. Verf.] anderes als ein tierischer Organismus.« 63 Der Wesensunterschied liegt nicht in der unterschiedlichen Anordnung und Ausprägung von Organen bei Mensch und Tier, nicht im Haben oder Nichthaben von Vernunft. Der Mensch unterscheidet sich wesenhaft vom Tier durch seinen ekstatischen Charakter, seiner Transzendenz, welche ihm ein offenes Haben von Welt sichert. »Vermutlich ist für uns von allem Seienden, das ist, das Lebe-Wesen am schwersten zu denken, weil es uns einerseits in gewisser Weise am nächsten verwandt und anderseits doch zugleich durch einen Abgrund von unserem ek-sistenten Wesen geschieden ist.« 64 Dieser Unterschied spricht somit nicht gegen die hier entwickelte Metontologie des Leibes, in welcher der Leib vom Grundgeschehen des Lebendigen als das Sich in das eigene Wozu verlegen und vorverlegen her ausgelegt wird. Nein, gerade weil auch der Mensch ein organisches Wesen ist, lässt sich eine solche Metontologie allein durchführen, solange diese immer auf dem Fundament der Daseinsanalytik geschieht und als privativ verstanden wird. SuZ, S. 163. »Plügge hört die lärmenden Kinder, sie stören ihn nicht, weil er sie seine Kinder sein lässt […]« (Faksimile. In: Zollikoner Seminare. In: Erinnerung an Martin Heidegger, S. 43). 62 Der Satz vom Grunde, S. 87 f. 63 Brief über den Humanismus, S. 324. 64 A. a. O., S. 326. 61

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26.1 Gebärde und Zeigen Jede Bewegung des Leibes ist Gebärde und als solche fundiert im Modus des In-seins, d. h. Mit-Seins, Sein-bei und Selbstseins. Die philosophische Bedeutung von Gebärde darf nicht mit dem Phänomen des Ausdrucks gleichgesetzt werden. »Die Antwort ›Ausdruck‹ ist schon eine Interpretation […].« 65 Der Begriff Gebärde bezeichnet den Charakter menschlicher Bewegungen, die immer motiviert sind in Abgrenzung von den als kausalistisch zu bestimmenden, zwingend erfolgenden Bewegungen von innerweltlich Seiendem, als auch – so können wir ergänzend hinzufügen – den benommen hineingenommenen Bewegungen des Tieres. 66 Erstere Unterscheidung versucht Heidegger an dem Uhrenbeispiel aufzuzeigen. Wenn wir auf eine Uhr schauen, die auf einem Tisch liegt und zugleich auf unser Sitzen auf dem Stuhl achten, ist dann das Sein der Uhr auf dem Tisch von der gleichen Art wie unser Sitzen auf dem Stuhl? Das kann und muss natürlich verneint werden, da das innerweltlich Seiende weltlos ist. Wenn ich nun die Uhr an einen anderen Platz bringe, so hat sich ihre Lage verändert, weil sie bewegt wurde. Ich dagegen habe mich beim Weglegen der Uhr selbst bewegt. Die Bewegung ist meine Bewegung und dies ist der erste Grundzug des philosophisch zu verstehenden Begriffs der Gebärde: »Auch wenn ich die Uhr auf den Tisch lege, bewege ich mich in einer Gebärde […]. Der Name Gebärde kennzeichnet die Bewegung als meine Leibbewegung.« 67 Da sich diese meine Bewegung immer schon in einem gewissen Bedeutungshorizont vollziehen, so ist auch jede leibhaftig vollzogene Bewegung bedeutsam. Dieses in die Thematik der Räumlichkeit gehörende Beispiel bewegt sich noch im Rahmen von »Sein und Zeit«, indem diese Thematik auf den hantierenden Umgang mit dem Zuhandenen beschränkt bleibt. Neu ist hingegen die Interpretation des Phänomens des Errötens als räumlich erfahrbares Phänomen des Mitseins. »Phänomenologisch läßt sich das Rotwerden im Gesicht beim Schämen sehr wohl unterscheiden von dem Rotwerden des Gesichtes bei Fieber zum Beispiel oder beim Eintritt aus einer kalten Bergnacht in eine warme Hütte. Alle diese drei Arten des Rotwerdens geschehen im Gesicht, sind ZS, S. 116. »Motiv ist ein Beweggrund für menschliches Handeln; Kausalität: Beweggrund für Abfolgen innerhalb des Naturprozesses.« (ZS, S. 28.) 67 A. a. O., S. 115 f. 65 66

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aber doch sehr verschieden und werden auch von uns im alltäglichen Mit- und Füreinander unmittelbar unterschieden. Wir ›sehen‹ es dem Mitmenschen in der jeweiligen Situation an, ob er zum Beispiel verlegen ist oder aus irgendeinem Grunde erhitzt.« 68 In »Sein und Zeit« hingegen heißt es – darauf verweist Carolin Gros 69 –: »So ist [in »Sein und Zeit«] die Rede von ›Krankheitserscheinungen‹. Gemeint sind Vorkommnisse am Leib, die sich zeigen und im Sichzeigen als dieses Sichzeigende etwas ›indizieren‹, was sich selbst nicht zeigt.« 70 Dazu gehört eben auch das Phänomen des Errötens. »In bestimmter Beleuchtung kann jemand so aussehen, als hätte er gerötete Wangen, welche sich zeigende Röte als Meldung vom Vorhandensein von Fieber genommen werden kann, was seinerseits noch wieder eine Störung im Organismus indiziert.« 71 Im Beispiel des Errötens in den »Zollikoner Seminaren« zeigt sich die Gebärde als »ein gesammeltes Sich-Betragen« 72 , das niemals nur in den leeren Raum geht, sondern stets auf die Mitmenschen bezogen ist. Das Sich-Zeigen der Röte ist vom Anderen immer schon sinnhaft erschlossen, darin liegt das, was Heidegger als den ekstatischen Sinn der Leiblichkeit festhält. Dieser ergibt sich nicht aus der Betrachtung innerer Zustände, sondern allein aus der Betrachtung des Leibes aus dem alltäglichen Bezug des Miteinanders. Das ausdrückliche Zeigen auf etwas ist also keineswegs das Grundphänomen des Zeigens überhaupt, sondern ein Sonderfall der Gebärde und gehört in den Bereich des Sagens und gründet im Seinsverständnis. »Sagen heißt zeigen, sehen lassen […].« 73 Alles Sagen geht immer auf ein Hören, worin sich erneut die Struktur des Miteinanders ausspricht. Alles Zeigen ist mein Zeigen für den Anderen, in dem der eigene Leib das Zeigen vollzieht, selbst aber, weder im Zeigen noch im Vernehmen des Gezeigten eigens aufgeht. Der Leib geht vielmehr im Zeigen und Vernehmen unter. Deshalb kann Heidegger auch gegen Nietzsche behaupten, dass uns der eigene Leib das Fernste A. a. O.,S. 106. Vgl. Gros, Caroline: Das Wagnis der Zollikoner Seminare. In: Zwischen Philosophie, Medizin und Psychologie. Heidegger im Dialog mit Medard Boss. Riedel, Manfred/Seubert, Harald/Padrutt, Hanspeter (Hrsg.). Köln/Weimar/Wien 2003, S. 211 f. 70 SuZ, S. 29. 71 A. a. O., S. 30 f. 72 ZS, S. 118. 73 A. a. O., S. 114. 68 69

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sei. 74 Im Sehen und Hören sehe ich weder meine Augen noch höre ich meine Ohren und auch der Finger geht im Zeigen im Gezeigten unter. Das Zeigen geschieht nur im Vollzug meiner Leibbewegung. In diesem geht das eigene Ich auf im Sinne, dass ich es selbst bin, der da zeigt. »[D]er Leib ist je mein Leib. Das gehört zum Leibphänomen. Das ›mein‹ ist bezogen auf mich selbst […]. Das Leiben des Leibes bestimmt sich aus der Weise meines [Hervorheb. v. Verf.] Seins.« 75 Der Leib kann daher nicht als ein vorhandener Körper charakterisiert werden, der auch in Welt vorkommt, als ein Ding, das mit anderen Dingen umgeht, sondern gehört zwingend auf die Seite des Selbstseins. Mit all dem demaskiert sich die Frage, wie das Dasein zum Leib komme als eine dem idealistischen Denken zugehörige Frage, die zuerst den Leib von der Seele abschneidet, um im Nachhinein dem Dasein solches wieder zuzuweisen, was es selbst immer schon war und erneut stark an die Frage nach dem Verhältnis von Dasein und Welt erinnert.

26.2 Körper und Leib Das Zeigen verweist die Untersuchung auf die Frage nach dem Wesen der Reichweite des Leibes, seiner Leibgrenze im Unterschied zu den Konturen des Körperhaften. Im § 56 der Marburger Sophistes-Vorlesung des Wintersemesters 1924/25 unterscheidet Heidegger Körper und Leib hinsichtlich der Klärung der Aufgabe und damit des Wesens des Sophisten. Dem Leib wird in dieser anfänglichen Auseinandersetzung im Gegensatz zum Körper Leben und Innerlichkeit zugesprochen. Charakteristisch für den Leib ist, dass er nicht nur von außen zugänglich ist, sondern dass er »selbst von innen her, wie wir sagen, gegeben ist« 76 . Dieser erste Denkansatz wird in »Zollikoner Seminare« fraglich: »Ist der Leib nun deswegen etwas Inneres?« 77 Diese hier erstmals von Heidegger aufgeworfene FraDen Einstieg in die Leibthematik beginnt Heidegger mit dem Nietzsche- Zitat: »›Das Phänomen des Leibes ist das reichere, deutlichere, faßbarere Phänomen […]« (Nietzsche, Friedrich: Der Wille zur Macht. In: Gesammelte Werke. Band XIX. (Musarion-Ausgabe) München 1926, Nr. 489. Vgl. ZS, S. 105). 75 ZS, S. 113. 76 Heidegger, Martin: Sophistes. Gesamtausgabe (= GA) Band 19. Schüßler, Ingeborg (Hrsg.). Frankfurt am Main 1992, S. 361. 77 ZS, S. 108. 74

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ge mündet in dem Aufweis des oben angezeigten Selbstbezugs und steht im inneren Zusammenhang mit der noch zu behandelnde Frage nach dem Grenzcharakter des Leibes. Im Leib gründet die Möglichkeit – so heißt es in der Platon-Interpretation weiter – der Befindlichkeit, d. h. nur leibhaftig existierend kann ich mich sowohl in einer Welt räumlich vorfinden und mich auf innerweltlich Vorhandenes beziehen und aus diesem Bezug heraus in eine gewisse Stimmung geraten. Alle diese Momente machen den gesamten Bereich dessen aus, was Heidegger unter dem Begriff der Befindlichkeit denkt. »Ein Stuhl oder ein Stein befindet sich nicht, obzwar er ein Körper ist.« 78 Diese Differenz führt in die Nähe der im zweiten Teil der vorliegenden Untersuchung behandelten Problematik von Welthabe bzw. Weltbildung, Weltarmut und Weltlosigkeit. Die Frage, die in der Sophistes-Vorlesung hereinbricht, ist: Inwieweit ist der Charakter möglicher Einflussnahme auf das Körperliche einerseits und das Leibhafte andererseits durch deren Wesenscharaktere vorbestimmt? Dabei muss man gewahr haben, dass Leib bei Platon immer als beseelter Leib vorgestellt wird, wenn er dieses Verhältnis auch nicht als LeibSeele versteht. Der Körper kann zur Verschönerung gewaschen oder geschmückt werden. Der Leib kann zwar als Körper betrachtet auch gewaschen und geschmückt werden, aber als Leib ist er darüber hinaus durch Gymnastik und Heilung zu ertüchtigen. Doch – so Heidegger in dem Seminar vom 14. Mai 1965 – kann der Leib nicht aus dessen Verhältnis zum Körper bestimmt werden. 79 Ein Körper ist immer hier oder dort. Diese von Körpern eingenommenen Raumstellen sind allein vom Einräumen her ausgezeichnet. Das einräumende Dasein ist aber nie hier oder dort, sondern bildet das Hier und Dort aus, es selbst ist hiesig. Die Raumstelle, welche ein beliebiger Körper einnimmt, ist begrenzt durch dessen Umfang, Volumen. Natürlich kann auch der Leib hinsichtlich seines Umfanges bemessen werden, d. h. hinsichtlich des von ihm ausgefüllten Raumes. Dann aber ist der Leib auf Körper reduziert und das eigentlich Leibliche nicht gefasst. Ein als Körper betrachteter Leib endet an den Konturen, die von dessen Haut umspannt sind. Der Leib aber bricht nicht beim Zeigen, Sprechen, Hören oder Erröten am Finger, Mund, Ohr oder Gesicht einfach ab. »Beim Zeigen mit dem Finger auf das Fensterkreuz dort drüben höre 78 79

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GA Bd. 19, S. 361. Vgl. ZS, S. 111 ff.

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ich nicht bei den Fingerspitzen auf.« 80 Mein Leib reicht hin im Zeigen bis zum Gezeigten; im Gesagten bis zum Besprochenen und Angesprochenen; im Gehörten bis zum Gesprochenen des Sprechenden und im Gesehenen bis zum Sichtbaren. »Beim Zeigen des Fensterkreuzes geht der Horizont des Leibens zum Wahrnehmbaren, Sichtbaren.« 81 »Grenze des Leibens (der Leib ist nur insofern er leibt: Leib) ist der Seinshorizont, in dem ich mich aufhalte. Deshalb wandelt sich die Grenze des Leibens ständig durch die Wandlung der Reichweite meines Aufenthaltes.« 82 Und das heißt aufgrund meines Hiesig-seins. »Die Körpergrenze dagegen ändert sich für gewöhnlich nicht […].« 83 Was aber ermöglicht den dem Leib eigentümlichen Grenzcharakter?

26.3 Die ursprüngliche RaumZeitlichkeit und die Reichweite des Leibes Die Reichweite des Leibes gründet in der raum-zeitlichen Grundverfassung des Daseins. Ehe das Phänomen der Reichweite des Leibes jedoch in seinem vollen Umfang verständlich gemacht werden kann, bedarf es daher dessen Rückführung auf die Existenzialitäten von Räumlichkeit und Zeitlichkeit. Dasein wird verstanden als ein Sein, das Seinsverständnis ist. »Dieses Verstehen von Sein ist nicht eine beliebige Sonderlichkeit des Menschen, die er neben vielem andern einfach so mitschleppt, sondern es durchdringt all sein Verhalten zu Seiendem, d. h. auch sein Verhalten zu ihm selbst […]. Wäre im Menschen nicht das Verstehen von Sein […], er könnte nicht ›ich‹ und nicht ›du‹ sagen, er könnte nicht er selbst, nicht Person sein. Er wäre in seinem Wesen unmöglich. Das Seinsverständnis ist demnach der Grund der Möglichkeit des Wesens des Menschen.« 84 Das so verstandene Seinsverständnis ermöglicht erst die Offenheit des Daseins. Den Begriff Seinsverständnis verdeutlicht Heidegger im Humanismusbrief mit dem Terminus die Lichtung des ZS, S. 113. A. a. O., S. 244. 82 A. a. O., S. 113. 83 Ebd. 84 Heidegger, Martin: Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie. Gesamtausgabe (= GA) Band 31. Tietjen, Hartmut (Hrsg.). Frankfurt am Main 1982, S. 125. 80 81

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Seins. 85 Lichtung wird nicht wie in christlichen Weltanschauung als Illumination oder wie in der Aufklärung als Illustration im Sinne einer Lichtmetapher gebraucht. Wenn Heidegger von Lichtung spricht, dann versteht er darunter die Lichtung des Waldes, die Waldlichtung. In diesem Verständnis kommt der Raum als die Offenheit selbst ins Spiel, in dessen Durchsichtigkeit etwas frei in den Blick gerät und genommen werden kann. Damit ist der Raum als das ursprünglich Offene selbst bestimmt. Die Ränder der Lichtung bilden die Grenzen des Raumes. Grenze wird von Heidegger jedoch nicht als das Begrenzende verstanden, das anderes ausgrenzt, sondern Grenze grenzt ein, so zwar, dass das Eingegrenzte aus solcher Eingrenzung erst seine Bedeutung erhalten kann. »Ein Raum ist etwas Eingeräumtes, Freigegebenes, nämlich in eine Grenze, griechisch πέρας. Die Grenze ist nicht das, wobei etwas aufhört, sondern, wie die Griechen es erkannten, die Grenze ist jenes, von woher etwas sein Wesen beginnt. Darum ist der Begriff ὁρισμός, d. h. Grenze. Raum ist wesenhaft das Eingeräumte, in seine Grenze Eingelasse.« 86 Dabei darf der so verstandene Begriff von Grenze nie als etwas Starres und Festes missverstanden werden. Innerhalb der aufgezeigten Begrenzung, die Heidegger in der Raumanalyse in »Sein und Zeit« als Gegend festhält, kommt jedem Zeug sein Platz zu. »Der Platz ist je das bestimmte ›Dort‹ und ›Da‹ des Hingehörens eines Zeugs.« 87 Der Schuster sitzt in seiner Werkstatt, die Sohlen und Absätze, der Kleber, der Faden, die Nadel, der Hammer und sonstiges Zeug nehmen um den Arbeitsplatz des Schusters herum ihren ihnen je zugehörigen Platz ein und bilden die Gegend des Arbeitsplatzes aus, worin gleichsam die Umhaftigkeit der Umwelt des Schusters begründet liegt. Die sich darin bekundende Nähe des Zuhandenen im Umgang mit diesem bestimmt sich nicht aus einem messbaren Abstand, sondern aus der jeweiligen Bewandtnis. Das in dieser Bewandtnis Nächste ist nicht das Zeug, was den geringsten Abstand zum Hantierenden hat, sondern das, was als Nächstes in der Umsicht des zu Besor»Versteht man den in ›Sein und Zeit‹ genannten ›Entwurf‹ als ein vorstellendes Setzen, dann nimmt man ihn als Leistung der Subjektivität und denkt ihn nicht so, wie ›das Seinsverständnis‹ im Bereich der ›existenzialen Analytik‹ des ›In-der-Welt-Seins‹ allein gedacht werden kann, nämlich als der ekstatische Bezug zur Lichtung des Seins.« (Brief über den Humanismus, S. 327.) 86 Heidegger, Martin: Bauen Wohnen Denken. In: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 1978, S. 149. 87 SuZ, S. 102. 85

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genden liegt, das Woraufhin der folgende Handgriff hin ausgerichtet ist und auf anderes verweist. Dasein hingegen befindet sich nie an einem Platz, sondern seine Räumlichkeit ist wesenhaft gekennzeichnet als Ent-fernung und Ausrichtung, was Heidegger im § 24 von »Sein und Zeit« mit dem – schon erwähnten – Terminus Einräumen als ein Existenzial festhält. Erst aus solchem Einräumen heraus versteht sich Dasein als so und so befindlich. Ent-fernen versteht Heidegger als ein Aufheben von Ferne oder positiv gewendet Näherbringen, d. h. in die Nähe des Hantierenden bringen. In dem so verstandenen Entfernen liegt immer schon Ausrichtung des Zeuges unthematisch mitbeschlossen. In einem solchen Hantieren sind die Richtungen noch nicht als solche festgestellt. »Das ›Oben‹ ist das ›an der Decke‹, das ›Unten‹ das ›am Boden‹, das ›Hinten‹ das ›bei der Tür‹; alle Wo [so auch links und rechts] sind durch die Gänge und Wege des alltäglichen Umgangs entdeckt und umsichtig ausgelegt […].« 88 »Aus dieser Ausrichtung entspringen die festen Richtungen nach rechts und links.« 89 Dank dieser »[…] können wir überhaupt einen Leib haben, besser: leiblich sein. Nicht aber sind wir zuerst leiblich und haben dann von ihm aus ein Vorne und ein Hinten usw.« 90 »Das Dasein des Menschen ist in sich räumlich in dem Sinne des Einräumens von Raum und der Verräumlichung des Daseins in seiner Leiblichkeit. Das Dasein ist nicht räumlich, weil es leiblich ist, sondern die Leiblichkeit ist nur möglich, weil das Dasein räumlich ist im Sinne von einräumend.« 91 Das Tier räumt seinen Raum nicht ein, sondern ist in ihm aufgehängt. Erst hier wird deutlich, was Heidegger unter der »Verräumlichung des Daseins in seiner ›Leiblichkeit‹« 92 im § 23 von »Sein und Zeit« schon verstand und warum er damals die Leiblichkeit noch gar nicht behandeln konnte. Eine solche phänomenologische Interpretation von Raum oder besser ursprünglich erfahrenen Räumlichkeit geht über eine erkenntnistheoretische Bestimmung des mathematisch verstandenen Raumes als reine Form der Anschauung hinaus. Mehr noch, er gibt der Explikation des Raumes als reiner Anschauungsform

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A. a. O., S. 103. A. a. O., S. 108. ZS, S. 294. A. a. O., S. 105. SuZ, S. 108. A

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allererst ihr Fundament und schaltet gleichsam jegliche Betrachtung des Leibes als res extensa von Grund auf aus. Die Verräumlichung des Leibes darf keinesfalls als etwas Nachträgliches verstanden werden. »Denn«, so Heinrich Hüni in seinem Vortrag im Jahre 2002 an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg, »das Dasein wird nicht auch noch in seiner Leiblichkeit verräumlicht, sondern nur dank ihrer. Das Dasein verräumlicht das Inder-Welt-sein dank der Mitwirkung seiner Leiblichkeit, die in diesem Geschehen selbst erscheint. Sie ist ein ursprünglich Mittragendes, aber nie erst Ergebnis.« 93 Mit dieser Ausführung muss zum einen die oben aufgeworfene Frage, ob Dasein vor dem Leiben des Leibes geschieht, eindeutig verneint werden; zum anderen kann der Leiblichkeit nicht der Charakter eines Existenzials zugesprochen werden, zumal Heidegger eigens den Leib als einen Organisationsfaktor bestimmt. Problematisch bleibt diese Festlegung allemal dann, wenn die Bewegungen des menschlichen Leibes als Gebärde verstanden werden, dem Tier aber eine solche abgesprochen werden muss, da ihm die zur Gebärde nötige Offenheit abgeht. Der Terminus Leib bleibt für den Menschen reserviert, soll aber dennoch kein Existenzial sein. So müssen wir die oben vorgenommene Festlegung revidieren bzw. die Frage offen lassen, um Wesentliches nicht zu verstellen. Auch in der Zeitlichkeit bekunden sich Nähe und Ferne in dem dreifach gegliederten Horizont von Gegenwart (Nähe), Gewesenheit und Zukunft (Ferne), aus dem heraus sich Dasein faktisch erschließt. »Zukünftig auf sich zurückkommend, bringt sich die Entschlossenheit gegenwärtigend in die Situation. Die Gewesenheit entspringt der Zukunft, so zwar, daß die gewesene (besser gewesende) Zukunft die Gegenwart aus sich entläßt. Dies dergestalt als gewesend-gegenwärtigende Zukunft einheitliche Phänomen nennen wir die Zeitlichkeit.« 94 Die Zeitlichkeit ist primär bezogen auf den besorgenden Umgang mit dem Seienden und dem Besorgen der Beziehung zu Mitseienden. Der Schuster könnte sein Handwerk nicht erbringen, wenn er nicht schon auf das Wiederhergestelltsein des Schuhs bezogen wäre, was darüber hinaus all sein Einräumen bestimmt. Somit kommt der Zeitlichkeit ein Vorrang vor der Räumlichkeit zu. »Dieses Phänomen [der Zerstreuung] kann Hüni, Heinrich: Die sprechende Bewegung. Leiblichkeit und Dasein. In: Zwischen Philosophie, Medizin und Psychologie. Heidegger im Dialog mit Medard Boss. Riedel, Manfred/Seubert, Harald/Padrutt, Hanspeter (Hrsg.). Köln/Weimar/Wien 2003, S. 106. 94 SuZ, S. 326. 93

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freilich erst aufgeklärt werden, wenn das metaphysische Problem des Raumes gestellt wird, das erst nach Durchlaufen des Problems der Zeitlichkeit sichtbar wird (radikal: Metontologie der Räumlichkeit […]).« 95 So wird die Untersuchung des Raumes selbst zum Gegenstand der Μετ-ontologie und die extreme Gewichtung der Behandlung der Zeitlichkeit gegenüber den knapp gehaltenen Ausführungen zur Räumlichkeit in »Sein und Zeit« methodisch einsichtig. In dieser ausdrücklichen Forderung Heideggers, den Menschen von seiner Zeitlichkeit her zu erfassen, die Heidegger als Gegenstand der phänomenologischen Forschung unter dem Begriff Temporalität entwickelt, zeichnet sich immer deutlicher eine radikale Abgrenzung gegen den Vorrang der sich seit Descartes manifestierten Vorstellung der Substantialität als Grundkategorie alles Seienden ab – Temporalität an Stelle von Substantialität. Aufgrund dieses Vorranges wird Dasein auch als zeitliches Sein verstanden. Dennoch darf die vorrangige Behandlung der Zeitlichkeit nicht den Anschein erwecken, als wäre das Dasein als solches erst zeitlich und dann erst räumlich verfasst – Räumlichkeit und Zeitlichkeit sind gleichursprünglich: RaumZeitlichkeit. Dasein erschließt sich seine Gegenwart aus dem Gewesenen von Zukunft her. Der Student im Hörsaal ist schon in Gedanken bei seiner Freundin. Die schönen Stunden des gestrigen Abends bestimmen seine Sehnsucht, welche seine gesamte Gegenwart bestimmt, die ihm aus dem künftigen Wiedersehen der Geliebten entgegen springt. Erst aus dem Grund von ursprünglicher RaumZeitlichkeit heraus lassen sich die Phänomene Leibgrenze (Reichweite des Leibes), Vergegenwärtigung, Träumen, Mit Leib und Seele bei einer Sache sein u. v. a. in ihrem vollen phänomenologischen Gehalt fassen. Eine so geartete phänomenologische Interpretation der angesprochenen Phänomene wirkte auch damals schon auf die Seminarteilnehmer im Hause Boss befremdlich und blieb ohne den Ansatz einer themenbezogenen und aufs Thema begrenzten Erörterung der Existenzialitäten Zeitlichkeit und Räumlichkeit vollkommen unverständlich: »Des öfteren riefen diese Seminar-Situationen die Phantasien wach, es würde erstmals ein Marsmensch einer Gruppe von Erdbewohnern begegnen und sich mit ihnen verständigen wollen.« 96

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26.4 Faktisches Leiben in Raum und Zeit im Spiegel der Psychologie Die phänomenologische Explikation von ursprünglicher RaumZeitlichkeit des Daseins zeigt sich auch in den Aufzeichnungen Medard Boss’ zum Fall Regula Zürcher. Die Patientin erlitt nach einigen Wochen psychotherapeutischer Behandlung einen Autounfall und brach sich dabei ein Bein. Medizinisch betrachtet stellt dies eine organische Beeinträchtigung dar, bei welcher das Gehwerkzeug zu Schaden gekommen ist. Ein Schaden, den es durch entsprechende Behandlung zu heilen gilt. Aber der Bruch des Beines geht als Beeinträchtigung weit über das geschädigte Organ hinaus, umfasst und bestimmt gleichsam den gesamten Charakter der Welt-Habe als auch das Erleben von Raum und Zeit mit. Denn der gesamte Leib ist den jeweiligen Weltbezügen zugehörig. Die Patientin machte an diesem Morgen Besorgungen für ihre am Nachmittag anstehende Geburtstagsfeier. Am Nachmittag sollten die Freunde kommen. Es sollte eine fröhliche Party werden. Doch mit dem Bruch des Beines änderten sich auch die möglichen Bezugsweisen zu den erwarteten Gästen, die nun mitleidsvoll am Krankenbett ihre Glückwünsche aussprachen. Über die Veränderung des Mitseins hinaus veränderte sich gleichsam die Weite ihrer Welt. Die alltägliche Welt ihrer Besorgungen schrumpfte zusammen auf eine Welt des Krankenzimmers, dessen Einräumen sich nur noch auf den engsten Umkreis ihres Bettes beschränkte. »Alles, was sie eben noch voll in Anspruch genommen hatte, ging sie plötzlich kaum mehr etwas an. An seine Stelle drängte sich ihr eigenes, gebrochenes, aufgehängtes Bein in den Vordergrund. Dieses Bein sog ihr ganzes Dasein gleichsam in sich auf. Sie kam sich selbst als ein engbegrenzter, klumpenartiger, schwerfälliger Bereich vor, der sich knapp bis zu den Wänden des Krankenzimmers ausdehnte und nur nahekommen ließ, was innerhalb seiner vier Wände vor sich ging.« 97 Dabei schien die Zeit stillzustehen. Nichts vermochte die Zeit zu erfüllen. Dagegen schrumpfte die Zeit im Augenblick des durch den Unfall verursachten Schmerzes auf einen einzigen Punkt zusammen.

Boss, Medard: Grundriss der Medizin und der Psychologie. Bern/Stuttgart/Wien 1975, S. 425.

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26.5 Dasein ist mit Leib und Seele dabei Durch die vorhergehenden Ausführungen wird allererst einsichtig, was Heidegger verstand, wenn er mit der Redewendung Jemand ist mit Leib und Seele dabei ernst macht: »Mit ›Leib und Seele‹ bei etwas sein, heißt: Mein Leib bleibt hier, aber das Hiersein des Leibes, mein Sitzen auf dem Stuhle hier, ist seinem Wesen nach immer schon ein Dortsein bei etwas.« 98 Dies ist allein auf dem Grunde der raum-zeitlichen Zersplitterung des Daseins in seine Leiblichkeit zu verstehen. Gleiches lässt sich am Phänomen der Vergegenwärtigung aufzeigen: In der Vergegenwärtigung des Züricher Bahnhofs – so Heidegger – ist der Leib in eigentümlicher Weise beteiligt. Dies gilt es zu verstehen: Vergegenwärtigen ist kein ausdrückliches Sich-Erinnern. 99 Was das Vergegenwärtigen ist, muss sich uns von diesem selbst zusprechen. Wann vergegenwärtigen wir überhaupt? Wir vergegenwärtigen uns etwas, wenn wir zum Beispiel zum Bahnhof wollen, um dort einen geliebten Menschen oder einen guten Freund abzuholen. In einer solchen Situation sind wir nicht auf einen Gedanken an den Bahnhof, sondern immer schon auf den Bahnhof selbst bezogen. Dieser Bezug ist nicht einem elektronisch messbaren Gehirnprozess geschuldet, sondern der raum-zeitlichen Existenz des Daseins. Im Vergegenwärtigen lichtet sich der Raum bis zum Vergegenwärtigten, auf das wir leibhaft immer schon gerichtet sind. In dem Gerichtet-sein-auf, dem Dortsein geht der Leib nicht eigens auf, sondern vielmehr unter, worin gerade die Schwierigkeit liegt, das Phänomen des Wegseins zu fassen. »Das Weg-sein des Leibes, von dem man sprechen kann, wenn man mit ›Leib und Seele‹ bei einer Sache ist, meint das Nichtachten auf den Leib.« 100 Diese Aussage ist also nicht als ein bloß empirischer Befund zu bewerten, sondern als eine phänomenologische Einsicht in die Seinsweise des Daseins selbst. In dieser Klärung erweist sich erneut, dass uns der Leib gerade in dem ZS, S. 126 f. Alles was ich mir irgend denken kann – so Heidegger in »Grundbegriffe der Aristotelischen Philosophie« – lässt sich auf die φαντασία/das Vorstellungsvermögen zurückführen. Dazu gehören auch die Phänomene der Vergegenwärtigung und der Erinnerung. »[D]ie Vergegenwärtigung ist als solche nichts anderes als die Wiederholung dessen, was einmal gegenwärtig war, Wiederholung einer vergangenen Gegenwart.« (GA Bd. 18, S. 202.) Die Erinnerung unterscheidet sich von dieser insofern, als dass in ihr »das Wissen um das Damals-Erfahrenhaben des Wiederholten[.]« (ebd.) ausdrücklich wird. 100 ZS, S. 244. 98 99

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gezeigten Phänomen der Vergegenwärtigung stets das räumlich Fernste ist. 101 Ohne die Einsicht in die raum-zeitliche Struktur des Daseins, die sich im faktischen Leiben realisiert, ist jedes Vergegenwärtigen bloß im Sinne des Ich denke an, eines eingekapselten Ego zu fassen – niemals aber der Mensch als das ursprünglich offene Sein. Nur aufgrund seiner RaumZeitlichkeit kann sich der Mensch in andere Zeiten und Orte versetzen, das gilt auch für das Phänomen des Träumens. Denn ohne die RaumZeitlichkeit des Daseins könnten wir nur hier schlafend im Bett liegen.

26.6 Dasein schlägt in Leiblichkeit zurück »Philosophie ist universale phänomenologische Ontologie, ausgehend von der Hermeneutik des Daseins, die als Analytik der Existenz das Ende des Leitfadens alles philosophischen Fragens dort festgemacht hat, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt.« 102

Was ist aus dem Gezeigten für den Interpretationsansatz zur Entwicklung des Leibverständnisses gewonnen, wenn wir Heideggers Aussage, »[d]ie Behandlung der Leibphänomene ist gar nicht möglich ohne zureichende Ausarbeitung der Grundzüge des existenzialen In-der-Weltseins [.]« 103 , beim Wort nehmen. Die Analyse des Daseins in »Sein und Zeit« setzt – wie schon gezeigt – am faktisch leiblich existierenden Menschen an, um von dort aus dessen Wesen auf phänomenologischem Wege in die Nähe des Denkens zu bringen. In der Entwicklung der Daseinsstrukturen wird gleichsam das Wesen der Leiblichkeit, wenn auch im Modus des Schweigens, mit entdeckt. Leiblichkeit spricht sich gerade in Phänomenen wie Ent-fernen, Ausrichten, Gebärde, Sprechen und Hören aus. Darüber hinaus ist die Entwicklung der Existenzialitäten 101 Im Seminar vom elften Mai 1965 stellt Heidegger die Frage: »Wie verhält sich dann das noch unbestimmt gelassene Leibliche zum Raum?« Darauf antwortet ein Student: »Der Leib ist das Nächste im Raum.« Daraufhin erwidert Heidegger. »Ich würde sagen: er ist das Fernste.«(ZS, S. 109.) 102 SuZ, S. 38. Auf dieses Zitat verweist Heidegger im Humanismusbrief ausdrücklich: »In ›S. u. Z.‹ wird […] gesagt, daß alles Fragen der Philosophie ›in die Existenz zurückschlägt‹.« (Brief über den Humanismus, S. 343.) 103 ZS, S. 202.

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selbst leiblich, d. h. vernehmend, besprechend vollzogen. So wird Dasein nur von Leiblichkeit her erfahrbar. Gleichsam ist das Verständnis der Leiblichkeit auf Seinsverständnis, auf Lichtung angewiesen, aus welcher der Ursprung des Daseins allererst fassbar wird und von der aus das Verständnis der Leiblichkeit und damit der Einheit des Menschen – als ein faktisch existierendes In-der-Welt-sein – möglich wird. »Das Leiben gehört als solches zum In-der-Welt-sein. Aber das In-derWelt-sein erschöpft sich nicht im Leiben. Zum Beispiel gehört zum Inder-Welt-sein auch das Seins-verständnis, das Verstehen dessen, daß ich in der Lichtung des Seins stehe […].« 104 So ist das Verständnis der Wesenhaftigkeit des Daseins nur aus der leiblichen Faktizität heraus möglich und so schlägt gleichsam das Verständnis des Daseins in die Bestimmung der Leiblichkeit zurück. Dieses Zurückschlagen der Daseinsstruktur in die Leibthematik ist wiederum nur aus dem phänomenologischen Verständnis der Wesenhaftigkeit des Organismus möglich, das sich im Phänomen der Privation anbietet und einen ursprünglichen Zugang zur Einheit von LeibDasein erlaubt. Dieser Umweg zeigt deutlich eine Wende des Denkens: Weg von einem substantialistischen oder idealistischen Denken, in welchem der Dualismus von Leib und Seele, Denken und Welt unüberwindbar bleibt, hin zu einem Sehen dessen, was ist.

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Kapitel 2 Ansatz einer daseinsgemäßen, phänomenologischen Anthropologie

Die wohl früheste Auseinandersetzung Heideggers mit der Psychologie und in eins damit der Anthropologie findet sich in dessen Anmerkungen zur »Psychologie der Weltanschauung« 1 von Karl Jaspers zwischen den Jahren 1919 und 1921, die Otto Pöggeler als Heideggers erstes anthropologisches Konzept versteht. »Heidegger hat in ›Sein und Zeit‹ die Idee einer existenzialen [Hervorheb. v. Verf.] Anthropologie entwickelt, die von der Daseinsanalyse verschieden ist; er hat diese Idee in einer frühen Auseinandersetzung mit der ›Psychologie der Weltanschauung‹ von Jaspers konzipiert […].« 2 Heidegger entwickelt an der genannten Schrift Jaspers wohl eine Methode, um das Grundgeschehen der Existenz ursprünglich greifbar zu machen, ob dies gleich als ein anthropologisches Konzept gewertet werden muss, soll jeder mit sich selbst ausmachen: »Sobald diese eigentümliche Belastung des faktischen Lebens durch die Tradition […] gesehen ist, welche Belastung sich am verhängnisvollsten gerade meist auswirkt in den selbstweltlichen Erfahrungen des Sich-selbst-habens, erwächst die Einsicht, daß die konkrete Möglichkeit, die Existenzphänomene in den Blick zu bringen und in einer genuinen Begrifflichkeit zu explizieren, nur dann erschlossen wird, wenn die konkrete, als irgendwie noch wirksam erfahrene Tradition destruiert, und zwar gerade in Hinblick auf die Weisen und Mittel des Explizierens der selbstwirklichen Erfahrung, wenn durch die Destruktion die motivierend wirksam gewesenen Grunderfahrungen zur Abhebung gebracht und auf ihre Ursprünglichkeit hin diskutiert werden.« 3 Von der Entwicklung eines anthropologischen bzw. psychologischen Jaspers, Karl: Psychologie der Weltanschauung. Berlin/Göttingen/Heidelberg 1960. Pöggeler, Otto: Heidegger und die hermeneutische Philosophie. Freiburg/München 1983, S. 418. 3 Heidegger, Martin: Anmerkungen zu Karl Jaspers ›Psychologie der Weltanschauung‹. In: Wegmarken, Herrmann, Friedrich-Wilhelm von (Hrsg.). Frankfurt am Main 2004, S. 34. 1 2

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Parallelprogramms – wie Pöggeler behauptet – sieht Heidegger jedoch im § 5 von »Sein und Zeit« ab. 4 »Die […] Analytik des Daseins [als Endstück der gesamten Analyse] bleibt ganz auf die leitende Aufgabe der Ausarbeitung der Seinsfrage orientiert. Dadurch bestimmen sich ihre Grenzen. Sie kann nicht eine vollständige Ontologie des Daseins geben wollen, die freilich ausgebaut sein muß, soll so etwas wie eine ›philosophische‹ Anthropologie auf einer philosophisch zureichenden Basis stehen. In der Absicht auf eine mögliche Anthropologie, bzw. deren ontologische Fundamentierung, gibt die folgende Interpretation nur einige, wenn nicht unwesentliche ›Stücke‹. Die Analyse des Daseins ist aber nicht nur unvollständig, sondern zunächst auch vorläufig.« 5 In dieser Äußerung Heideggers liegt noch gar keine explizite Kritik an der Möglichkeit von Anthropologie, sondern allein ein Hinweis auf die der Absicht immanenten Beschränkung der Daseinsanalyse. Erst im § 10 grenzt Heidegger die hermeneutische Phänomenologie gegen Anthropologie, Psychologie und Biologie ab, da diese wissenschaftstheoretisch noch nicht hinreichend fundiert seien. Diese Aussage ist aber nicht als eine Kritik, sondern, wie die bereits zitierten Aussagen Boss’ und Condraus bezeugen, als Beschreibung der wissenschaftlichen Situation zu verstehen, in die sich zeitlich auch der Vitalismus-Streit zuordnen lässt. Eine Zuordnung, in welcher die Arbeiten Plessners, Landsbergs, Bollnows noch gar keine und Max Scheler, nur eine eingeschränkte Rolle spielten. 6 Die Kritik Heideggers richtet sich 1927 gegen Man muss Otto Pöggeler dennoch zugestehen, dass das Ringen um den Sinn von Sein am Seinsverständnis ausgetragen wird und so der Mensch selbst im Feld der Untersuchung steht, da er das ausgezeichnete Sein ist, das allein Seinsverständnis ist. Die Frage nach dem Sinn von Sein und das ist entscheidend für jegliche Möglichkeit einer existenzialen und damit auch philosophischen Anthropologie, ist gleichsam ein Fragen nach dem Wesen des Menschen, aber dies eben allein in Bezug auf sein ihm eigentümliches Seinsverständnis. Damit ist der Mensch aber eben nur in dieser Hinsicht thematisiert. 5 SuZ, S. 17. »Die Daseinsanalytik des Daseins ist als existenziale, ganz formal gesprochen, eine Art von Ontologie. Sofern es nun diejenige Ontologie ist, die die fundamentale Frage nach dem Sein als Sein vorbereitet, ist es eine Fundamentalontologie. Von hier aus wird aufs Neue deutlich, welche Mißdeutung darin liegt, wenn man ›Sein und Zeit‹ als eine Anthropologie versteht.« (ZS, S. 159.) In Sein und Zeit schreibt Heidegger dazu: »Die faktischen existenziellen Möglichkeiten in ihren Hauptzügen und Zusammenhängen darzustellen und nach ihrer existenzialen Struktur zu interpretieren, fällt in den Aufgabenkreis der thematischen existenzialen Anthropologie« (SuZ, S. 301). 6 Plessners Stufen erschienen erst ein Jahr nach »Sein und Zeit« also 1928, Landsbergs Veröffentlichung erschien, wie das erste Vorwort belegt 1932. (Landsberg, Paul Ludwig: Einführung in die philosophische Anthropologie. Frankfurt am Main 1960.) Auch das 4

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die sich durchhaltende Tendenz antik-christlicher Auslegung des Menschen als ζῶον λόγον ἔχον bzw. als Geschöpf Gottes. Die philosophische Anthropologie, wie sie Scheler und Plessner 1928 forderten, stand erst ein Jahr später in der Kritik Heideggers. Eine philosophische Anthropologie – so Heidegger im Kantbuch – ließe sich niemals durch das Zusammenkleben unzähliger Ergebnisse der modernen Wissenschaften, wie Biologie, Psychologie, Soziologie, Ethnologie, Charakterologie und irgendwelchen Weltanschauungen zuwege bringen. Denn diese seien »[…] nicht nur inhaltlich unübersehbar, sondern vor allem nach Art der Fragestellung, nach Anspruch der Begründung, nach Absicht der Darstellung und Form der Mitteilung und schließlich nach den leitenden Voraussetzungen grundverschieden. Sofern sich dieses alles und letztlich überhaupt das Ganze des Seienden in irgendeiner Weise immer auf den Menschen beziehen läßt und demgemäß zur Anthropologie gerechnet werden kann, wird diese so umfassend, daß ihre Idee zur völligen Unbestimmtheit herabsinkt.« 7 Dies Problem erkannte 1928 auch Max Scheler. 8 Er versuchte den Menschen als das Wesen zu charakterisieren, das nicht nur alle Stufen der Natur in sich vereine, sondern sich darüber hinaus über seine Natur hinwegzusetzen in der Lage sei, welches ihm seine Sonderstellung innerhalb der Natur, sprich seines Verhältnisses zu ihrem Gefüge, sichern sollte. In einer solchen Unterscheidung des Menschen gegen Tier und Pflanze – so kritisiert Heidegger – werde die »[p]hilosophische Anthropologie […] dann zu einer regionalen Ontologie des Menschen Vorwort von Bollnows »Das Wesen der Stimmungen« bezeugt dessen erste Veröffentlichung im Jahre 1941. (Bollnow, Otto Friedrich: Das Wesen der Stimmungen. Frankfurt am Main 1974.) Der in Köln gehaltene Vortrag Max Schelers »Die Stellung des Menschen im Kosmos« wurde im selben Jahr wie die Stufen veröffentlicht. Zudem scheint gesichert, dass Heidegger auch bereits die 1915 erschienene Schrift Schelers: »Zur Idee des Menschen« (Scheler, Max: Zur Idee des Menschen. In: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze. Scheler, Maria (Hrsg.). Bern 1955). kannte, auf welche er 1929 im Kantbuch verweist. (Vgl. GA Bd. 3, S. 210.) 7 GA Bd. 3, S, 209. 8 »Die immer wachsende Vielfalt der Spezialwissenschaften, die sich mit dem Menschen beschäftigen, verdeckt, so wertvoll diese sein mögen, überdies weit mehr das Wesen des Menschen, als daß sie es erleuchtet. […], so kann man sagen, daß zu keiner Zeit der Geschichte der Mensch sich so problematisch geworden ist wie in der Gegenwart.« (Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 9 f.) »Der Mensch ist ein so breites, buntes, mannigfaltiges Ding, daß die Definitionen alle ein wenig zu kurz geraten. Er hat zu viele Enden!« (Zur Idee des Menschen, S. 175.)

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und bleibt als solche den übrigen Ontologien, die sich mit ihr auf den Gesamtbereich des Seienden verteilen, nebengeordnet. Die so verstandene philosophische Anthropologie ist nicht ohne weiteres und vor allem nicht auf Grund der inneren Struktur ihrer Problematik Zentrum der Philosophie.« 9 Es ist mehr als wahrscheinlich, dass Heidegger in diesem Zitat neben Scheler auch Plessner kritisiert. Denn wie Carola Dietze glaubhaft nachweist, hatte ihm Plessner »Die Stufen des Organischen und der Mensch« persönlich an Weihnachten 1927 zukommen lassen. 10 Neben der Kritik an Scheler und Plessner gilt es, am Rande auf Heideggers Kritik an Cassirers kulturphilosophischem Ansatz der Symbolischen Formen hinzuweisen. »Wir haben heute eine Kulturphilosophie des Ausdrucks, des Symbols, der symbolischen Formen [Hervorheb. v. Verf.].« 11 Resümierend hält Heidegger fest: »Diese Kulturphilosophie stellt allenfalls das Heutige unserer Lage dar, aber greift uns nicht. Mehr noch, sie bekommt uns nicht nur nicht zu fassen, sondern entbindet uns von uns selbst, indem sie uns eine Rolle in der Weltgeschichte zuerteilt.« 12 Heidegger fasst zu Beginn des § 17 im Kantbuch das vorherrschende Verständnis einer philosophisch aufgefassten Anthropologie folgendermaßen zusammen: »Anthropologie heißt Menschenkunde. Sie umfasst alles, was bezüglich der Natur des Menschen als dieses leiblichseelisch-geistigen Wesens erkundbar ist. In den Bereich der Anthropologie fallen aber nicht nur die als vorhanden feststellbaren Eigenschaften des Menschen als dieser bestimmten Species im Unterschied von Tier und Pflanze, sondern auch seine verborgenen Anlagen, die Unterschiede nach Charakter, Rasse und Geschlecht. Und sofern der Mensch nicht nur als Naturwesen vorkommt, sondern handelt und schafft, muß die Anthropologie auch das zu erfassen suchen, was der Mensch als Handelnder ›aus sich macht‹, machen kann und soll. Sein

GA Bd. 3, S. 211. »An Martin Heidegger hatte Plessner die Stufen des Organischen gleich zu Weihnachten 1927 geschickt und gespannt die Reaktion erwartet. Eine Antwort erhielt er jedoch nicht.« (Dietze, Carola: Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner 1892–1985. Göttingen 2006, S. 68.) Carola Dietze liefert noch weitere Belege dafür, dass Heidegger die Schrift Plessners gelesen haben müsste. (Vgl. ebd.) 11 GA Bd. 29/30, S. 113. 12 A. a. O., S. 115. (Vgl. auch GA Bd. 3, Anhang II–V) 9

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Können und Sollen beruht schließlich jeweils auf Grundstellungen, die der Mensch als solcher einnehmen kann und die wir ›Weltanschauungen‹ nennen, deren ›Psychologie‹ das Ganze der Menschenkunde umgreift.« 13 In der Vorlesung »Vom Wesen der menschlichen Freiheit« geht Heidegger erneut auf die Frage nach der Möglichkeit von philosophischer Anthropologie ein. »Heute wird vielfach und mit ganz verschiedenen Absichten und mit ganz verschiedenartigem Rüstzeug die Anthropologie gepflegt und betrieben; z. B. Psychologie, Pädagogik, Medizin, Theologie. Das alles ist schon keine Mode mehr, sondern eine Seuche. Dann ist selbst da, wo man von philosophischer Anthropologie spricht, ungeklärt, erstens wie nach dem Menschen gefragt wird, zweitens inwiefern dieses Fragen philosophisch ist. Wir können aber und müssen sogar sagen: Alle philosophische Anthropologie steht außerhalb des Fragens nach dem Menschen, das aus dem Grunde der Grundfrage der Metaphysik und nur aus diesem Grund aufsteigt.« 14 Und das ist die Frage nach dem Sinn von Sein und Zeit. »Fragen wir nach dem Sein, so fragen wir nicht beliebig nach beliebigen Eigenschaften des Menschen, sondern nach etwas Bestimmtem im Menschen, nach dem Verstehen von Sein.« 15 In diesem Zitat wiederholt sich nicht nur die Vorrangstellung des Seinsverständnis hinsichtlich der Bestimmung des Wesens des Menschen, sondern es vollzieht sich eine sonderbare Wendung hin zur Anthropologie, denn Heidegger legt in dieser Ausführung das Seinsverständnis ausdrücklich der Anthropologie als philosophischer Anthropologie zugrunde. Diese Wende vollzieht sich vollends im Jahr 1965. Heidegger zeigt im Seminar des 26. November 1965 den Unterschied zwischen Daseinsanalytik und Daseinsanalyse auf. In dieser Differenzierung unterteilt Heidegger Daseinsanalyse in einen ontologischen Teil, welcher den Aufweis der Existenzialitäten umfasst, und einen ontischen, welcher die Hermeneutik der Phänomene des faktisch existierenden Daseins aufzeigt, was Heidegger im Gegensatz zur Idee einer philosophischen Anthropologie als daseinsanalytisch geprägte ontische Anthropologie

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GA Bd. 3, S. 208. Vom Wesen der menschlichen Freiheit, S. 122. A. a. O., S. 125.

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Ansatz einer daseinsgemäßen, phänomenologischen Anthropologie

versteht. 16 Dass sich eine so verstandene daseinsgemäße ontische Anthropologie für die Ontologie befruchtend auswirken kann, steht außer Frage, solange sie sich an das in der Ontologie Gesicherte als ihre Grundlage hält. Dass sich Heidegger grundsätzlich gegen die Möglichkeit einer sachgerechten Psychologie bzw. Anthropologie ausspricht, ist demnach schlichtweg falsch.

27 Die Entwicklung der Daseinsanalyse zur psychologischen Disziplin Die zahlreichen Seminare im Hause Boss und die daran anschließenden Zwiegespräche zwischen Martin Heidegger und Medard Boss führten zur Entwicklung einer neuen Disziplin innerhalb der Psychologie, welDie aus »Zollikoner Seminare« wiedergegebene Textstelle bringt einige Schwierigkeiten mit sich, welche sich aus Heideggers Zählung ergibt. In dieser Zählung hebt Heidegger die verschiedenen Bedeutungsebenen der Daseinsanalyse hervor. Nach dieser Zählung ergeben sich drei unterschiedliche Bedeutungsebenen der noch eine vierte hinzugezählt werden könne, sprich die daseinsgemäße ontische Anthropologie. »Neben dieser dritten Bestimmung von Daseinsanalyse kann man eine vierte festlegen. Damit wäre gemeint: das Ganze einer möglichen Disziplin, die sich zur Aufgabe macht, die aufweisbaren existenziellen Phänomene des gesellschaftlich-geschichtlichen und individuellen Daseins in einem Zusammenhang darzustellen im Sinne einer daseinsanalytisch geprägten ontischen Anthropologie.« (ZS, S. 163 f.) Die dritte Bestimmung der Daseinsanalyse sei dabei gleichsam der Vollzug der Vierten. Wenn man aber neben der Bestimmung der Daseinsanalytik die Bestimmungen der Daseinsanalyse zählt, so ergeben sie nur zwei Bestimmungen, nämlich: 1. Daseinsanalytik als Vollzug des Ausweises der Existenzialitäten und 2. Daseinsanalyse als Nachweisen und Beschreiben »jeweils faktisch sich zeigender Phänomene an einem bestimmten existierenden Dasein […]« (ZS, S. 163). Somit muss beim Zählen der Bestimmungen der verschiedenen Stufen des Begriffes Daseinsanalyse die Daseinsanalytik selbst mitgezählt werden, was widersinnig ist, wenn Heidegger zuvor die Daseinsanalytik von der Daseinsanalyse ausdrücklich abhebt. Zählt man nun folgendermaßen: 1. Daseinsanalytik (Endstück der Ontologie); 2. Daseinsanalytik als Vollzug des Aufweises der Existenzialien (Teilstück der Ontologie) und 3. Daseinsanalyse als Hermeneutik des faktisch existierenden Daseins (ontischer Teil), dann setzt Heidegger dieses dritte Verständnis mit der Möglichkeit einer daseinsanalytisch ontischen Anthropologie gleich, wenn diese gleichsam als Vollzug der Vierten ausgewiesen wird. Das ist aber solange unmöglich, als der ontische Teil der Daseinsanalyse – wie Heidegger in »Sein und Zeit« betont – allein auf die Frage nach dem Sinn von Sein beschränkt bleibt. Somit muss zwingend auch die 3. Bestimmung der Daseinsanalyse selbst beschränkt sein. Folglich kann die 3. Bestimmung mit der 4. Bestimmung (Anthropologie) gar nicht zusammenfallen. Die Annahme eines Widerspruchs zu »Sein und Zeit« liegt hier in der Sache selbst.

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che aus wissenschaftlicher Sicht als eine Weiterentwicklung der Freudschen Psychoanalyse verstanden werden muss. Heidegger kritisiert hingegen aus daseinsanalytischer Sicht vor allem den metapsychologischen Aufbau der Psychoanalyse als dem cartesianischen Denken verhaftet. In den Ausführungen der Metapsychologie beschreibt Siegmund Freud sowohl das Leibliche als auch das Psychische als zwei Apparaturen, die sich gegenseitig kausal beeinflussen sollten. In einem solchen Verständnis wird der Mensch vorgestellt als ein »Konglomerat aus Teildingen wie einem Es, einem Ich und einem Über-Ich zusammengesetzt« 17 . »Wir haben uns eine allgemeine Kenntnis des psychischen Apparates verschafft, der Teile, Organe, Instanzen, aus denen er zusammengesetzt ist, der Kräfte, die in ihm wirken, der Funktionen, mit denen seine Teile betraut sind.« 18 Dabei werden alle Erkrankungen als eine »energetische […] Betriebsstörung« 19 im Zusammenwirken der beiden Apparate gedacht. Jede dieser Betriebsstörungen zeigt verschiedene Symptome, welche zusammengeklebt ein ganz bestimmtes Krankheitsbild abgeben, auf das es durch entsprechende Änderung des Energiestromes Einfluss zu nehmen gilt. Freud sah die Quellen solcher Energieströme in den verschiedenen Triebstrukturen und den damit in Zusammenhang stehenden Drüsenfunktionen. Die Koppelung der beiden Apparate – so Boss – sah Freud als ungreifbar. »Freud selbst gestand dies in seiner bewunderungswürdigen Ehrlichkeit offen ein und erklärte wörtlich, daß ihm der Sprung seelischer Energien ins Körperliche bei der hysterischen Konversion nach wie vor rätselhaft erschiene.« 20 »Beim Studium der [von Heidegger eher unfreiwillig gelesenen] theoretischen, ›metapsychologischen‹ Arbeiten kam Heidegger überhaupt nicht mehr aus einem Kopfschütteln heraus. Er wollte und wollte es nicht glauben, daß ein so hochgescheiter Mensch wie Freud solch künstliche, menschenferne, ja absurde, rein fiktive Konstruktionen über den homo sapiens von sich geben könne.« 21 Den psychoanalytischen Schriften Freuds gegenüber war Heidegger jedoch sehr aufgeschlossen, bemerkte aber zugleich »[…] den krassen Selbstwiderspruch, der zwischen diesen und jenen klafft: die unüberbrückbare Kluft nämlich zwi-

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Von der Psychoanalyse zur Daseinsanalyse, S. 146. Freud, Siegmund: Abriss der Psychoanalyse. Frankfurt am Main 1987, S. 40. Von der Psychoanalyse zur Daseinsanalyse, S. 146. A. a. O., S. 154. Zollikoner Seminare. In Erinnerung an Martin Heidegger, S. 34.

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schen dem absoluten naturwissenschaftlichen Determinismus seiner Theorie und der wiederholten Betonung der Befreiung eines Kranken durch die psychoanalytische Praxis.« 22 So darf und so kann Heideggers Kritik an Freud nicht über die Leistungen eines der wohl größten Denker des 20. Jahrhunderts hinwegtäuschen. Die naturwissenschaftlichen Errungenschaften im Ausgang von Kant konzentrierten den Menschen auf seine Rationalität. Gefühle und Stimmungen schienen innerhalb einer so verstandenen Psychologie für die Existenz des Menschen unerheblich. »Freud hat die Welt aus dem Dornröschenschlaf viktorianischer Sattheit und Prüderie wachgerüttelt.« 23 Erst durch ihn wurde aus der Erkenntnispsychologie Tiefenpsychologie. »So hat die Psychoanalyse dem Gefühlsmässigen der menschlichen Existenz wieder Wirklichkeitscharakter verschafft.« 24 Freud, der in den Jahren 1876–1882 im Laboratorium des Physiologen Ernst Brücke arbeitete, welcher besorgt war um die Herleitung des menschlichen Organismus allein aus physikalischen und chemischen Prozessen, hatte somit selbst teil an der rasanten Entwicklung der Naturwissenschaften und hielt an deren Prinzipien fest. 25 Dieses brachte über die erneute Verdinglichung des Menschen die Psychoanalyse zu einem vorläufigen Stillstand. Dennoch blieb sie Anstoß neuerer Überlegungen, wie sie zuerst von Ludwig Binswanger formuliert wurden.

27.1 Binswangers Ansatz daseinsanalytischer Psychologie und ihr fruchtbarer Irrtum Ludwig Binswanger, der sich wie Medard Boss auf der Suche nach einem erkenntnistheoretischen Fundament der Psychologie befand, gilt als Begründer der daseinsanalytischen Psychologie. Ausgehend von der Transzendentalen Phänomenologie Husserls bezeichnete er diese anfänglich als Phänomenologische Anthropologie. Zu der Bezeichnung Daseinsanalyse oder daseinsanalytischen Psychologie kam es erst nach A. a. O., S. 35. Daseinsanalyse, S. 24. 24 A. a. O., S. 24 f. 25 Vgl. Condrau, Gion: Siegmund Freud und Martin Heidegger. Bern/Stuttgart/Toronto 1992, S. 9. 22 23

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Binswangers Studium von Heideggers »Sein und Zeit«. Sein Verständnis für Heideggers Denken blieb jedoch zwingend partiell und führte so zu einer späten Kritik Heideggers an Binswanger, die in einer Unterredung zwischen Medard Boss und Martin Heidegger zur Sprache kam: »Die ›psychiatrische Daseinsanalyse‹ (Binswanger) hat aus der fundamental-ontologischen Analytik des Daseins diejenige Grundverfassung herausgegriffen und als einzige ihrer Wissenschaft zugrunde gelegt, die in ›Sein und Zeit‹ das In-der-Welt-sein heißt. Dieses ist aber nur diejenige Struktur, die im ersten Ansatz der Fundamentalontologie sichtbar gemacht werden soll – nicht aber die einzige und vor allem nicht diejenige, auf die allein die Fundamentalontologie vorblickt, weil sie für das Dasein und sein Wesen die tragende ist. Sie […] wird in der Einleitung deutlich und oft genug genannt: das Seinsverständnis.« 26 Gerade die bei Heidegger als ontologisch zu verstehenden Phänomene wie Angst, Schuld, Sorge, Gewissen und viele andere gaben seitens der Psychologie aber auch der Anthropologie Anlass zu einer anthropologischen Auffassung von Heideggers Ausführungen. Das versteht sich aus der jeweiligen Gerichtetheit der Sorgestruktur der einzelnen Wissenschaften. In der Psychologie handelt es sich bei den Themen Angst, Schuld und Sorge um verschiedene Zustände am Menschen, die es zu behandeln gilt. Das existenziale Verständnis der Angst ist bei Heidegger hingegen nichts Pathologisches, das es zu heilen gilt, geschweige denn heilbar wäre. Das Phänomen der Angst beschreibt eine dem Menschen zugehörige Grundstimmung, die aus der Tiefe des Daseins als dieser Tiefe zugehörig aufsteigt. Allein in dem Erfahren der Angst kann der Mensch zu sich kommen, die Weite, aber auch die Grenzen seines Sein erblicken, um mit dem Erleben seiner eigensten Seinsweise sein Leben zu ergreifen und auszutragen. Der Paranoiker ergreift sein Leben nicht, sondern stellt es ganz in den Dienst des ihn besitzenden Ängstigenden. Sein Leben ist ganz auf die Angst ausgerichtet. Dies in der Sorgestruktur des Psychologen liegende Missverständnis zeigte auch Hans Kunz schon in dem 1949 erschienenen Aufsatz »Die Bedeutung der Daseinsanalytik Martin Heideggers für die Psychologie und die philosophische Anthropologie« 27 . »Die AnknüpfungsZS, S. 236. Kunz, Hans: Die Bedeutung der Daseinsanalytik Martin Heideggers für die Psychologie und die philosophische Anthropologie. In: Martin Heideggers Einfluss auf die Wissenschaften. Bern 1949.

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punkte dieses Missverstehens liegen auf offener Hand: wo Phänomene wie die ›Angst‹, die ›Stimmung‹, die ›Sorge‹, das ›Gerede‹, das ›Gewissen‹ usw. interpretiert werden, kann es sich nach dem überlieferten herrschenden Schema der wissenschaftlichen Disziplinen nur um ›Psychologie‹ oder allenfalls um ›Anthropologie‹ handeln.« 28 Binswanger nahm diese Kritik mit Würde auf, betonend, dass dieser Irrtum ein fruchtbarer gewesen sei. »Wenn in diesem Zusammenhang auch mir, und zwar mit Recht, der Vorwurf gemacht worden ist, daß ich Heidegger gegenüber einem, wenn auch produktiven, Mißverständnis anthropologischer Art anheimgefallen sei, so besteht, um dies vorweg zu nehmen, das Produktive dieses Mißverständnisses darin, daß […] ›die Lehre Heideggers es ist, die unsere Untersuchung vorwärts treibt‹ […].« 29 In dieser Einsicht – so Heidegger – verfalle Binswanger einem noch größeren Missverständnis, namentlich der Überzeugung, »Sein und Zeit« sei eine »äußerst konsequente Fortbildung der Lehre von Kant und Husserl [und] so ist dies so falsch als nur immer möglich. Denn die Frage [nach dem Sinn von Sein], die in ›Sein und Zeit‹ gestellt wird, wird weder bei Husserl noch bei Kant gestellt, ist überhaupt noch nie zuvor in der Philosophie gestellt worden.« 30

27.2 Das Wesen und der Durchbruch der Daseinsanalytik in der Psychologie Die Daseinsanalytik im Sinne Boss’ und Heideggers versucht die sich zeigenden Krankheitsphänomene nicht von metapsychologisch vorgefassten Theorien her zu deuten, sondern die entsprechenden psychosomatischen Krankheitsphänomene im Zusammenhang mit der jeweiligen Lebensgeschichte der betroffenen Patienten selbst, d. h. phänomenologisch in ihrem Gehalt zu fassen. In einem solchen Verständnis wird der Patient als LeibDasein immer von seinem In-derWelt-sein her entdeckt. Es gilt zu erkunden, inwieweit die jeweiligen Krankheitserscheinungen in einem je spezifisch gestörten Weltbezug gründen. Ein solches Verständnis des Menschen als Dasein »[…] sieht A. a. O., S. 38. Binswanger, Ludwig: Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins. München/Basel 1973, S. 12. 30 ZS, S. 151 f. 28 29

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vielmehr auch alle psychischen Krankheitssymptome in der je spezifisch abgewandelten Struktur des gesamten Weltverhältnisses eines Menschen […]« 31 . Es gilt in der Psychoanalyse, zu diesem jeweiligen Selbst- und Weltverständnis vorzudringen, um so an einen Ansatzpunkt zu gelangen, von dem aus eine Veränderung des pathologischen Weltentwurfs zu erreichen sein sollte. »So gelingt es dem Arzt aus dem daseinsanalytischen Weltverständnis heraus immer wieder, das richtige Wort zu finden, das von ihm eine Brücke zur Welt des Kranken baut und diesem dadurch wieder ein Miteinandersein in einer gemeinsamen Welt erlaubt.« 32 Eine Brücke, die nicht durch wissenschaftliche Konstruktionen unbegehbar wird. Letztendlich seien alle Störungen – so Medard Boss – auf die menschliche Freiheit zurückzuführen, in der aller Selbst- und Weltentwurf gründet. Das bedeute nicht nur, dass der Mensch nicht in irgendwelchen Enthemmungsringen eingeschlossen sei und benommen sein Dasein friste sondern »[v]or allem ist ihm selbst anheimgestellt, um die Verwirklichung seines Wesens, um seine ›Individuation‹ (Jung) besorgt zu sein […]. Der existentiellen Schuld einer verpaßten Individuation [die unser Gewissen nicht zur Ruhe kommen lässt] entspringen denn auch, meine ich, letztlich alle Leiden, die irgendwie einer Psychotherapie zugänglich sind.« 33 Den Boden der existentiellen Schuld bildet die wesenhaft dem Dasein zugehörige Sterblichkeit. »Wäre der Mensch nicht endlich und sterblich, könnte er nichts versäumen. Immer wäre noch ›Zeit‹, dies oder jenes nachzuholen und wiedergutzumachen. Für einen Sterblichen jedoch kehrt keine Situation so wieder, wie sie vorher war. Hat er einem Augenblick mit seinem Tun und Lassen nicht wahrhaft entsprochen, dann ist er für ihn unwiederbringlich verloren. Sein Gewissen wird ihn mahnen, daß er schuldhaft hinter der Erfüllung seines Da-seins zurückblieb.« 34 In jeder Situation muss der Mensch eine Möglichkeit unter vielen ergreifen. Er kann sich der Situation in verschiedenen Weisen stellen oder vor ihr zurückweichen bzw. ihr ausweichen. Aber auch diese Weisen des Zurück- und Ausweichens sind ergriffene Möglichkeiten eines nicht eigentlichen Sich-Entgegenhaltens und Aushaltens. Diese 31 32 33 34

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Von der Psychoanalyse zur Daseinsanalyse, S. 156. A. a. O., S. 159. A. a. O., S. 111 f. Grundriss der Medizin und der Psychologie, S. 313.

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können sich als selbstverschuldete, verpasste Individuationen niederschlagen und kommen in Aussagen, wie ach hätte ich doch … das habe ich doch gar nicht gewollt … damals hatte ich die Gelegenheit … warum wusste ich das damals noch nicht … ich hatte doch keine Ahnung …, zum Tragen. Schlagen sich solch verpasste Individuationen nieder, so können sie beispielsweise eine Grundstimmung ausprägen, die wir als Minderwertigkeit zu bezeichnen gewohnt sind. Aber nicht allein die selbstverschuldeten Individuationen können sich zu solchen pathologischen Niederschlägen ausprägen, sondern auch die Mit-Menschen und ganz besonders die erziehenden Mitmenschen, Vorgesetzte und letztendlich das jeweilige Kulturverständnis beeinflussen die Individuationsmöglichkeiten aufs schärfste – oder können dies zumindest abhängig von der jeweiligen Konstitution des Einzelnen, d. h. wie dieser sich zu seinem Kranksein entscheidet. Jede zu streng verfasste Erziehung zu Religiosität, Zurückhaltung, Keuschheit etc. bildet die Motive, die dem jeweiligen Verwirklichungsstreben eines jeden Einzelnen entgegenstehen können und somit zu pathologisch wirkenden Motiven werden können. Jede gesellschaftliche Konvention, Norm- und Anstandsvorstellung unterbindet die Freiheit des Menschen und somit dessen Möglichkeit, das zu sein, was er ist, Freies-sich-angehen-Lassen und Sich-entgegen-Halten. Das zeigt sich positiv an der Entwicklung der demokratischen Bewegung und negativ an Teilen der heute in Deutschland lebenden türkischen Gesellschaft und dort vor allem innerhalb der heute noch praktizierten Zwangsehen. »Dieses Selbstbild – ich bin nur ein Teil des Ganzen, andere bestimmen und verantworten, was passiert, und alles geschieht nach Gottes Wille – macht die Menschen passiv und wenig anspruchsvoll und neugierig auf das, was da kommt. Es lässt die jungen Bräute meist klaglos ihr Schicksal ertragen.« 35 Den Durchbruch in der Psychologie, Psychopathologie und dort besonders in der Psychoanalyse erfuhr die Daseinsanalytik aus der Zusammenarbeit zwischen Medard Boss und Martin Heidegger nach der Zeit der Seminare in Zollikon. 1970 entstand die Schweizer Gesellschaft für Daseinsanalytische Anthropologie, deren Präsident Boss bis Mitte der achtziger Jahre blieb. 1971 wurde das Daseinsanalytische Institut für Psychotherapie und Psychosomatik in Zürich gegründet, welches

Kelek, Necla: Die fremde Braut. München 2006, S. 248. Anhand dieser Schrift ließen sich sämtliche Weltbezüge fraglos aufzeigen.

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Jahre später in Medard-Boss-Stiftung umbenannt wurde. 36 Die Daseinsanalytik fand in den Folgejahren immer mehr Anhänger nicht nur in der Schweiz, Deutschland und Österreich, sondern auch in Amerika und wird heute weltweit praktiziert. »Es hat sich gezeigt, daß Medard Boss sowohl in Bezug auf die Organisation der daseinsanalytischen Schule als auch in Bezug auf die inhaltliche Ausarbeitung der psychotherapeutisch-daseinsanalytischen Theorie und Praxis ein großer Verdienst zukommt. Die institutionalisierte Daseinsanalyse existiert nunmehr seit über dreißig Jahren und wird weltweit von verschiedenen Gesellschaften vertreten.« 37

28 Das Unerhörte in Heidegger Die Annahme, Heidegger betriebe schon in den zwanziger Jahren Anthropologie, wurde nicht nur von wissenschaftlicher, anthropologischer, sondern auch von philosophischer Seite her vertreten. Das zeigt sich deutlich darin, dass Heideggers entschiedene Ablehnung gegen eine solche vermeintliche Wissenschaft – die aller Fundamente zu entbehren scheint – schon kurz nach dem Erscheinen von »Sein und Zeit« sogar von seinem späten Lehrer Husserl unerhört blieb, der ihm eigens den Vorwurf machte, er betreibe Anthropologie und mache damit die Möglichkeit einer Begründung der Phänomenologie als Urwissenschaft und damit alle Philosophie geradezu unmöglich. Noch bis Ende der 20er Jahre wähnte Husserl Heidegger als seinen Nachfolger. Denn zum einen sprach sich Husserl 1924 für die Professur Heideggers in Marburg bei Paul Natorp aus (dem Heidegger seine Sophistes-Vorlesung widmete) 38 und zum anderen empfahl ihn Husserl sogar als Nachfolger für seinen eigenen Freiburger Lehrstuhl im Jahre 1928. 39 »So kam es«, schreibt Husserl am 06. 01. 1931 an Alexander Pfänder, »daß ich, als es sich um die Wahl meines Nachfolgers handelte, unter dem Banne der Idee, die Zukunft der von mir begründeten trhansVgl. Die Bedeutung von Medard Boss für die Entstehung der psychotherapeutischen Daseinsanalyse, S. 27. 37 A. a. O., S. 52. 38 Vgl. GA Bd. 19, S. 1 ff. 39 »Heidegger ist inzwischen wieder nach Freiburg zurückgekehrt. Er wird 1928 auf den Husserl-Lehrstuhl berufen. Husserl selbst hatte sich für Heidegger als Nachfolger eingesetzt.« (Ein Meister aus Deutschland, S. 210.) 36

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zendentaleni Phänomenologie sichern zu müssen, ihn als den einzig berufenen ansah, für den ich mich also unbedingt entscheiden müsse.« 40 Denn bei Husserl studierte Heidegger das phänomenologische Sehen. »Husserls Belehrung geschah in der Form einer schrittweisen Einübung des phänomenologischen ›Sehens‹, das zugleich ein Absehen vom ungeprüften Gebrauch philosophischer Kenntnisse verlangte, aber auch den Verzicht, die Autorität der großen Denker ins Gespräch zu bringen.« 41 Im Jahre 1919 fanden die Belehrungen Husserls erstmals in Heideggers Freiburger Vorlesung »Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem«, wenn auch schon in abgewandelter Form, zur Sprache. Heidegger sucht in diesem frühen Werk wie Husserl nach einer Möglichkeit zur Begründung der Philosophie als Urwissenschaft. In einer so verstandenen Wissenschaft – so Husserl – könne niemals eine »vorprädikative Selbstverständlichkeit« 42 den Boden ausbilden, der dies System zu tragen vermöge. Methodisch darf sich eine so konzipierte transzendentale, phänomenologische Praxis nie auf vorgegebene Theorien, bloße Meinungen oder selbstverständliche Allgemeinheiten stützen, sondern muss auf die Sachen des Denkens selbst gehen. »Woher« aber, so Heidegger 1925/26 (wie in Kapitel 3.2 gezeigt), »und wie bestimmt sich, was nach dem Prinzip der Phänomenologie als ›die Sache selbst‹ erfahren werden muss? Ist es das Bewusstsein und seine Gegenständlichkeit [wovon Husserl ausgeht], oder ist es das Sein des Seienden in seiner Unverborgenheit und Verbergung [wie Aristoteles es lehrt]?« 43 Die Lesung des Notsemesters zeigt den zur Entscheidungen drängenden Entschluss und den sich andeutenden Bruch mit Husserl jedoch nur mittelbar. Das gereifte Ergebnis Heideggers Denkens findet sich neben dessen Ausführungen zu Husserls Entdeckungen in den »Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs« dann – wie hinlänglich bekannt – in »Sein Husserl, Edmund: Husserl an Pfänder, 06. 01. 1931. In: Briefwechsel. Band II: Die Münchner Phänomenologen. Schumann, Karl (Hrsg.). Dordrecht/Boston/London 1994, S. 182. Für den Hinweis auf diesen Brief danke ich an dieser Stelle ausdrücklich Günther Figal. 41 Mein Weg in die Phänomenologie, S. 86. 42 Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Drittes Buch. Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften. Husserliana Band V. Biemel, Marly (Hrsg.). Haag 1952, S. 139. (Wird im Folgenden als Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften angegeben.) 43 Mein Weg in die Phänomenologie, S. 87. 40

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und Zeit« und wurde erstmals 1927 im achten Band in dem von Husserl herausgegebenen »Jahrbuch für Philosophie« 44 aufgenommen und veröffentlicht. Husserl – so lässt sich nachweisen – hatte »Sein und Zeit« allerdings bis zum Ende der 20er Jahre nie gelesen. 45 Das zeigt sich einmal in dem schon erwähnten Klagebrief Husserl an Alexander Pfänder, in welchem er ihm versichert, dass er mit dem Heideggerschen Tiefgang und dessen genialer Unwissenschaftlichkeit nichts zu schaffen habe. 46 Zum anderen äußerte sich Husserl in seinem Schreiben vom 19. April 1931 an Roman Ingarden, in dem er ihm seine Vortragsreihe in Berlin, Halle und Frankfurt am Main im Auftrag der Kantgesellschaft ankündigt. »Ich soll in Berlin 10/6, in Halle u. Frankfhurti über Phänhomenologiei u. Anthropologie [Hervorheb. v. Verf.] sprechen (Kantgeshellschafti) u. muß meine Antipoden Scheler u. Heidheggeri genau lesen.« 47 Die Kritik an der scheinbaren Hinwendung Heideggers zur Anthropologie kommt auch im Nachwort der Ideen 48 zum Ausdruck. In den Vorbemerkungen des Nachwortes kritisiert er die allgemeinen Missstände innerhalb der Philosophie, die dazu geführt haben sollten, dass seinem Schaffen und der Radikalität seiner Neubegründung der Philosophie als Wissenschaft nicht genügend Interesse entgegengebracht würde. Diese Missstände wolle er in Folge weiter ausführen. Ausgeschlossen bleiben solle aber hier noch die »Situation der deutschen Philosophie, mit der in ihr um Vorherrschaft ringenden Lebensphilosophie, mit ihrer neuen Anthropologie, ihrer Philosophie der

Husserl. Edmund: Jahrbuch für Philosophie und Phänomenologische Forschung. Band VIII. Halle an der Saale. 1927. 45 »Unmittelbar nach dem Druck meines letzten Buches«, schreibt Husserl im Januar 1931, »wandte ich, um zu einer nüchtern-endgiltigen Stellung zur Hheideggerischen Philosophie zu kommen, zwei Monate dem Studium von Sheini u. Zheiti hzui, sowie der neuern Schriften.« (Husserl an Pfänder, 06. 01. 1931, S. 184.) 46 »Ich kam [nach meinem Studium von SuZ] zum betrüblichen Ergebnis, daß ich philosophisch mit diesem Hheideggerischen Tiefsinn nichts zu schaffen habe, mit dieser genialen Unwissenschaftlichkeit, daß Hheideggeri es offene u. verdeckte Kritik auf grobem Misverständnis beruhe, daß er in der Ausbildhunig einer Systemphilosophie begriffen sei von jener Art, die für immer unmöglich zu machen ich zu meiner Lebensaufgabe stets gerechnet habe.« (Husserl an Pfänder, 06. 01. 1931, S. 184) 47 Husserl, Edmund: Husserl an Ingarden, 19. 04. 1931. Briefwechsel. Band III. Die Göttinger Schule. Schumann, Karl (Hrsg.). Dordrecht/Boston/London 1994, S. 273 f. 48 Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften. 44

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›Existenz‹« 49 . Husserl schätzt offensichtlich die Arbeit Heideggers und Schelers so gering, dass er sie nicht einmal der Kritik für würdig erachtet. Diese Ablehnung begründet Husserl damit, »daß man also in einer, sei es empirischen oder apriorischen, Anthropologie stecken« 50 bliebe, wenn man nicht das Ziel der transzendentalen Phänomenologie verfolge. Habe man aber die Notwendigkeit und einzige Möglichkeit eines solchen Ideals erst einmal eingesehen, dann zeige sich, dass jeder »[…] Psychologismus – nämlich als des transzendentalen Psychologismus, als der den reinen Sinn der Philosophie verderbenden Verirrung, welche Philosophie auf Anthropologie, bzw. auf Psychologie, auf die positive Wissenschaft vom Menschen, bzw. vom menschlichen Seelenleben gründen will[.]« 51 ausnahmslos abzulehnen sei. Die reine oder transzendentale Phänomenologie – so Husserl – sei nicht einfach eine Wiederholung der Meditationen Descartes', wenn auch in ihrer Absicht ähnlich, sondern besitze ein ganz eigenes nie gesehenes Arbeitsfeld, nämlich das transzendentale Subjekt nicht als abstrakt spekulatives Konstrukt, sondern als Bereich direkter Erlebnisse und Erfahrungen, das sowohl das alltägliche als auch metaphysische Denken umfasse. Um in den Bereich der transzendentalen Erfahrung zu gelangen, bedürfe es allerdings eines Einstellungswechsels, der allein durch die – wie Husserl sie nennt – transzendentale Reduktion erreicht werden könne, in welcher man sich von den sowohl innerweltlichen Bedeutungszusammenhängen als auch allen theoretischen Vorurteilen zu enthalten habe. 52 Dabei diene das Faktische dem Phänomenologen allein als Exempel zur Erfassung des Eidetischen. Gleichsam wie der Kreis dem Mathematiker nur als anschauliches Beispiel für den idealen Kreis und dessen Eigenschaften dient. Den Boden der transzendentalen Reduktion bildet »[…] das Ich als absolut in sich und für sich Seiendes A. a. O., S. 138. A. a. O., S. 140. 51 A. a. O., S. 148. 52 Dabei betrifft die erste Epoché die Vorurteile. »Kein Vorurteil, sei es auch das allerselbstverständlichste, darf ich ungefragt, unbegründet passieren lassen.« (Husserl, Edmund: Phänomenologie und Anthropologie (1931). In: Aufsätze und Vorträge (1922– 1937). Husserliana Band XXVII. Nenon, Thomas/Sepp, Hans Rainer (Hrsg.). Dordrecht/Boston/London 1989, S. 169.) Die zweite Epoché betrifft die Seinsgewissheit. »Ist die Seinsgewißheit der Welterfahrung fraglich geworden, so kann sie nun nicht mehr einen Boden abgeben für zu bildenden Urteile. Damit ist uns, ist mir, dem meditierenden, philosophierenden Ich, eine universale Epoché hinsichtlich des Seins der Welt auferlegt […]« (A. a. O., S. 170). 49 50

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›vor‹ allem weltlichen Sein, das in ihm allererst zur Seinsgeltung kommt« 53 . Statt an dem Bau einer solchen Wissenschaft mitzuwirken, mache sich »[i]n dem letzten Jahrzehnt […], wie bekannt, in der jüngeren philosophischen Generation Deutschlands eine schnell anwachsende Hinneigung zu einer philosophischen Anthropologie geltend. W. Diltheys Lebensphilosophie, eine Anthropologie neuartiger Gestalt, übt jetzt eine starke Wirkung aus. Aber auch die sogenannte Phänomenologische Bewegung [Hervorheb. v. Verf.] ist von der neuen Tendenz ergriffen worden.« 54 Husserl kritisiert in diesem ersten Abschnitt seines Vortrages »Phänomenologie und Anthropologie« von 1931 zuerst einmal die gesamte Lage der innerdeutschen Philosophie. Er geht dann aber über Dilthey zu Scheler und Heidegger, indem er von der so genannten Phänomenologischen Bewegung spricht, um sich von dort aus direkt gegen Heidegger zu wenden, wenn er weiter schreibt: »Im Menschen allein, und zwar in einer Wesenslehre seines konkret-weltlichen Daseins, soll das wahre Fundament der Philosophie liegen. Man sieht darin eine notwendige Reform der ursprünglichen konstitutiven Phänomenologie, eine Reform, durch die sie allererst die eigentliche philosophische Dimension erreiche.« 55 Wenn Husserl mit den Worten »[i]m Menschen« 56 einsetzt, so spielt er unmissverständlich auf Heideggers Ausdruck im Dasein des Menschen an. Nach Heidegger versteht sich Dasein aus seinen Weltbezügen, d. h. dem apriorischen Perfekt, heraus und eben nicht durch Reflexion im Sinne Husserls. In Heideggers Ontologie des Daseins, so Husserl ungläubig, »soll das wahre Fundament der Philosophie liegen.« 57 Und dieses für Husserl unannehmbare Fundament solle darüber hinaus in Dimensionen reichen, die seiner eigenen Lehre der transzendentalen Phänomenologie in »Sein und Zeit« abgesprochen würden. Da heißt es nämlich im § 10 »Auch die grundsätzlich radikalere und durchsichtigere phänomenologische Interpretation der Personalität kommt nicht in die Dimension der Frage nach dem Sein des Daseins.« 58 Die Kritik steht zwar in erster Linie in Zusammenhang

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Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften, S. 146. Phänomenologie und Anthropologie, S. 164. Ebd. Ebd. Ebd. SuZ, S. 47. Anzumerken ist auch die von Heidegger angezeigte Seinsvergessenheit in

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Ansatz einer daseinsgemäßen, phänomenologischen Anthropologie

mit Dilthey und Bergson, kann aber ebenso auf Husserl angewendet werden und dies ist sie implizit im Grunde auch – das zeigt der thematische Zusammenhang des § 10 deutlich an. In dieser philosophischen Bewegung der Jüngeren sieht Husserl nichts weiter als die Rückkehr der Gegensätze von Realismus und Idealismus, »welche die ganze Philosophie der Neuzeit in Bewegung« 59 hält. Ein Rückschritt, der durch die transzendentale, reine Phänomenologie überwunden werden sollte, wozu die Vortragsreise Husserls Überzeugungsarbeit leisten mochte. Die angestrebte Überzeugungsarbeit leistete die Vortragsreise auch mit Erfolg, wie weitere Briefe Husserls belegen. So schrieb er am 22. Juni 1931 an Adolf Grimme: »Ich darf auch sonst mit meiner Reise zufrieden sein. Ich sehe, daß meinem philosophischen Ernst die Resonanz nicht fehlt. Ich darf hoffen, daß die dem Abschluß entgegenreifenden Ergebnisse meiner Lebensarbeit ein Publikum finden werden, bereit, daraus Nutzen zu ziehen für eine neue Wissenschaft als Schrittmacherin eines neuen Lebens.« 60 Die unglaubliche Resonanz seiner Vorträge dokumentiert ein weiterer Brief, und zwar an Alexander Koyré, vom 22. Juni desselben Jahres: »Ich bin soeben heimgekehrt von meiner ersten u. voraussichtlich einzigen Vortragsreise in Deutschland […]. Natürlich lag mir nichts an der Sensation, die mein öffenthlichesi Auftreten machte (in Berlin ca 1600 Hörer u. proportional an den anderen Orten), aber viel an der sichtlich starken persönlichen Wirkung […], die ich nicht vorausgesetzt hatte.« 61 Nachdem Husserl in dem Vortrag ausgehend von der Kritik an der Situation der Bewegung der Jüngeren seine eigene Position in deren Grundriss aufzeigte, endete er mit der Feststellung, dass alle Anthropologie nur auf dem Fundament einer, seiner transzendentalen Phänomenologie in rechter Weise durchzuführen sei. »Es muss verständlich werden aus den letzten transzendentalen Gründen, warum in der Tat die Psychologie, und wenn man will Anthropologie, nicht eine positive Wissenschaft neben den anderen, neben den naturwissenschaftlichen Disziplinen ist, sondern zur Philosophie, der transzendentalen, eine inHusserl Untersuchungen, die er in den »Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs« ausführt. Vgl. GA Bd. 20, §§ 12 ff. 59 Phänomenologie und Anthropologie, S. 164. 60 Husserl, Edmund: Husserl an Grimme, 22. 06. 1931. Briefwechsel. Band III. Die Göttinger Schule. Schumann, Karl (Hrsg.). Dordrecht/Boston/London 1994, S. 92. 61 Husserl, Edmund: Husserl an Koyré, 22. 06. 1931. Briefwechsel. Band III, S. 359 f. A

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nere Affinität hat.« 62 Mit dieser abschließenden Aussage weist Husserl sowohl der Psychologie als auch der Anthropologie einen besonderen Stellenwert innerhalb der gesamten wissenschaftlichen Landschaft zu, wenn sie denn im rechten Sinne praktiziert werden, d. h. sich auf dem Fundament einer reinen Phänomenologie aufbauen. Grundsätzlich findet sich diese Haltung auch bei Heidegger.

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Schlussbetrachtung

Wenn wir so über die Möglichkeiten einer phänomenologischen Anthropologie nachdenken, dann bietet die Daseinsanalyse Heideggers ein mögliches, nein ein unumgängliches Fundament für eine solche Wissenschaft, da sie nicht versucht, den Menschen kausal-biologisch, rein geschichtlich oder idealisierend zu bestimmen, sondern den Menschen betrachtet als ein Existieren, das sich immer schon in verschiedenen Bezügen hält und sich von diesen her versteht, seien diese auch zeitgeschichtlich orientiert. In einer solchen Anthropologie, welche die Aufgabe hat, die Strukturen menschlichen Seins- und Selbstverständnisses in die Nähe des Denkens zu bringen, kann schlechterdings nicht der Mensch aus den Resultaten biologischer, mathematischer, soziologischer, pädagogischer, wirtschaftlicher, ethischer und geschichtlicher Untersuchungen zusammengeklebt werden. Eine so verstandene Anthropologie muss bestrebt sein, all diese Verhaltensweisen als verschiedene Möglichkeiten des Menschen als Dasein aus dem Dasein selbst zu begreifen, für die Martin Heidegger in »Sein und Zeit« – so meine ich – einen Grundstein gelegt hat. Wenn der Durchbruch der Daseinsanalyse in der Medizin, Psychologie und dort besonders in der Psychotherapie gelungen ist, die Anthropologie mit der Psychologie und Philosophie aufs engste verbunden ist, dann muss es über alle akademischen Differenzen hinaus möglich sein, eine daseinsgemäße phänomenologische Anthropologie auf dem Fundament der Ontologie zu verwirklichen. In einer solchen Forschung ist es sinnlos, die auf ontischem Wege erarbeiteten Erträge geringer zu rechnen als die sich daraus möglicherweise zeigenden ontologischen Strukturen. Auch darf man den Begriff des Fundamentes nicht absolut setzen, denn weder gilt die Anzahl der bisher von Heidegger gehobenen Existenzialitäten als abgeschlossen noch dürfen sie je als ein abgeschlossenes System verstanden werden. Aussichtsreich kann eine solche Forschung nur sein, wenn sich die ontische und ontologische Seite als A

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Schlussbetrachtung

gleichberechtigte Partner gegenseitig befruchten. Es kann also nicht darum gehen, alles einem gesetzten Existenzial unterzuordnen. 1 Mit einem solchen Vorgehen beraubte man sich selbst des Ertrages und verfiele erneut in die kantische Position. Darüber hinaus müssen sich alle ontologischen Strukturen ja gerade in der Metontologie auf die ontisch faktischen Phänomene rückbeziehen lassen bzw. in diese zurückschlagen, um Letzte in ihrem vollen Gehalt zu sichten und vor jeglicher naiv realistischer Interpretation zu sichern. Die Ontologie Heideggers war und ist keine Psychologie, aber Medard Boss wusste in beachtenswerter Weise, das sich darin Zeigende für die Möglichkeit eines wissenschaftlichen Fundamentes für die Psychologie als Wissenschaft kreativ zu nutzen. Eine solche Kreativität ist auch in einer zukünftig zu entwickelnden Anthropologie gefordert. Gleiches gilt für die Biologie. Die kopernikanische Wende von einer rein deskriptiven und naturgeschichtlichen Biologie hin zu einer mathematisch ausgeprägten Naturwissenschaft muss endgültig, wie die Untersuchung zeigen konnte, als gescheitert betrachtet werden, wenn es darum geht, nicht nur Teilaspekte des Lebendigen zu analysieren und zu einem Gesamtbild zusammen-kleben zu wollen, sondern das Grundgeschehen Leben in seiner Fülle in den Blick zu bekommen, wie es auch Christoph Rehmann-Sutter in seinem Ansatz einer Hermeneutik des Lebens versucht. 2 Als mathematisch verstandene Naturwissenschaft hat die Biologie ihren Gegenstand längst aus den Augen verloren. Dies liegt aber nicht in der Methode eines solchen Wissenschaftsverständnisses überhaupt, dessen Zweck darin liegt, alles Messbare festzustellen, sondern darin, dass diese Methode die Grenzen ihres Könnens in dem Moment überschreitet, in dem sie auf den Bereich des Lebendigen angewendet wird, der solcher Messbarkeit wesenhaft widerstrebt. Dieses Überscheiten der Grenzen der Anwendbarkeit führt dann zur Einführung von Ideen, die dieser Wissenschaft selbst fremd sind und in Worthülsen wie Selbstheit, Aktivität, Prozess, Lebenskraft oder der Annahme eines wie auch immer verstandenen Lebensprinzips zum Ausdruck kommen. Mit dem Gezeigten darf allerdings nicht der Eindruck entstehen, als brächten die einzelnen Zweige der mathemati1 Es gilt das Sich – Zeigende in den Blick zu bekommen »und nicht einfach pauschal unter ein Existenzial unter[zuordnen]« (ZS, S. 162). 2 Vgl. Rehmann-Sutter, Christoph: Das Leben beschreiben. Über Handlungszusammenhänge in der Biologie. Würzburg 1996.

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schen Naturwissenschaften keinerlei verwendbare Resultate hervor. Das Gegenteil ist der Fall. Es gilt aber, diese Resultate nicht einfach zusammenzukleben, sondern ihre Bedeutsamkeit aus dem Grundgeschehen des Lebendigen selbst heraus verstehen zu lernen. Dazu muss aber erst einmal ein einheitliches Konzept dieses Grundgeschehens aufgewiesen werden, in welches die einzelnen Resultate dann eingefügt und verifizieren werden können. Ein solches Konzept bietet Heideggers phänomenologische Darstellung der Grundstruktur des Lebendigen im Aufweis der Wesensstruktur Benommenheit. In diesem Konzept, in welchem das Lebendige allererst zu seinem Recht kommt, als Subjekt einer aus seiner eigenen Dynamik geschaffenen Umgebung verstanden zu werden, erfüllt sich die Forderung eines Biologieverständnisses, welches sich Ende des letzten Jahrtausends in der kritisch verstandenen Evolutionstheorie durchzusetzen begann, zu deren Vertretern Friedrich Gutmann, Karl Edlinger als auch Michael Weingarten gezählt werden können. »Moderne, sich nicht mehr auf die Tradition des Darwinismus beziehende Evolutionstheorien versuchen im Gegenzug zum Darwinismus zu zeigen, daß infolge dramatischer Umweltveränderungen (›Katastrophen‹) zwar Lebewesen aussterben, daß solche Veränderungen aber keinen evolutionären Schub herbeiführen können. Evolution ereignet sich vielmehr durch die Art und Weise, in der Organismen mit ihrer Umwelt interagieren und sich reproduzieren; kurz: Organismen werden nun als Subjekte bestimmt, die aufgrund ihrer Aktivität evoluieren […]. Nicht mehr die Umwelt ist die Ursache von Evolution, sondern die innere Dynamik des Lebensprozesses selbst […].« 3 Auch diese innerwissenschafliche Bewegung findet ihren Ursprung in den Arbeiten Uexkülls, bleibt aber im Gegensatz zu Heidegger in mancher Hinsicht terminologisch fragwürdig, wie die Verwendung des Begriffs Umwelt und die mechanistische Beschreibung des Organismus innerhalb dieser Bewegung zeigen. Dennoch ist diese Verwendung auch in deren Überlegungen nicht unkritisch. 4 Gutmann, Mathias/Weingarten, Michael: Veränderungen in der evolutionstheoretischen Diskussion: Die Aufhebung des Atomismus in der Genetik. In: Natur und Museum. Band 124. Frankfurt am Main 1994, S. 198. 4 »Theoretisch und methodisch entscheidend ist hier der Hinweis, daß die von der Organismus-Konstruktion aus zu rekonstruierende Umwelt-Beziehung und der damit einzuführende ›Umwelt‹-Begriff nicht verwechselt werden darf mit dem Biotop-Begriff aus der Ökologie.« (Weingarten, Michael: Organismuslehre und Evolutionstheorie. Hamburg 1992, S. 289.) Die Dissertation Weingartens zeigt (unter anderem) ausführlich die 3

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Die so entstandene Organismische Konstruktionslehre fordert: »Die Wirk- und Funktionsmechanismen von Lebewesen müssen wie alle wissenschaftlich triftigen [Hervorheb. v. Verf.] Aussagen abstrakt [Hervorheb. v. Verf.] und damit unanschaulich sein.« 5 Wenn triftig bedeutet, das Lebendige in seinem Wesen treffen, dann kann die geforderte Abstraktheit nur im Sinne des Verborgenen, d. h. des in die Unverborgenheit des Blicks zu bringenden Ursprungs heißen: namentlich der Benommenheit. Wenn die Organismische Konstruktionslehre sich so versteht, dann bietet die von uns phänomenologisch durchgeführte Entwicklung der Lebensprivationen eine denkerische Basis – ohne jeglichen Anspruch auf Allgemeingültigkeit – für einen neuen Diskurs zwischen Biologie, Philosophie und zahlreichen anderen Wissenschaften hinsichtlich des Verstehens von Leben. Ein Diskurs, der gerade im letzten Jahrzehnt im Rahmen einer sich formierenden Lebenswissenschaft verstärkt geführt wird und der sich mit den Fragen nach einem möglichen neuen Verhältnis von Biologie und Philosophie genauso beschäftigt, wie mit den Fragen nach einer philosophischen bzw. phänomenologischen Anthropologie. Eine so verstandene Forschung kann sich ihrer metaphysischen Voraussetzungen, d. h. des Seinsverständnisses des Daseins, nicht entschlagen, denn es ist allein der Mensch der Grund seines Vermögens nach dem Tier fragt. »Welches Tier könnte nach der Natur des Tierseins fragen und zu diesem Zweck sein Gehirn untersuchen oder über das Sein des Tierseins spekulieren?« 6 Nach dem Ausschluss aller mechanisierenden, hierarchisierenden oder psychologisierenden Zugangsweisen zum Tier bietet die kritisch phänomenologische Privation einen angemessenen Einsatzpunkt zur ganzheitlichen Erfassung des sich eigens in seine Organe und Umgebung schaffenden Subjektes, darunter wir eine Seinsweise verstehen, die wir gewohnt sind Organismus zu nennen. Wenn auch schon die Zusammenarbeit innerhalb der sich in die Einzelwissenschaften weit verzweigenden Biologie als äußert schwierig gilt, ist die philosophische Auseinandersetzung mit den Voraussetzungedankengeschichtliche Entwicklung des Umwelt-Begriffs von Uexküll über Konrad Lorenz u. v. a. bis in die heutige Zeit auf. 5 Gutmann, Wolfgang Friedrich/Edlinger, Karl: Organismus und Umwelt. Entstehung des Lebens, Evolution und Erschließung der Lebensräume. In: Organismus und System. Schriftenreihe des Wiener Arbeitskreises für Systemische Theorie des Organismus. Band 6. Edlinger, Karl (Hrsg.). Frankfurt am Main 2002, S. 20. 6 Natur und Humanität des Menschen, S. 282.

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gen, dem Grundverständnis, dem Fundament der heute praktizierten Biologie, welches sie zuweilen und nicht unberechtigt in der Physik zu suchen pflegte, unerlässlich. Dieser Hang zur Physik liegt unbestreitbar darin, dass diese offenbar sowohl eine einheitliche Grundlage besaß, namentlich der Mathematik, die in der Lage war, gesicherte Ergebnisse zu liefern. Denn es war Newtons Himmelsmechanik, die eine exakte Vorausberechnung der Planetenbewegung ermöglichte. Mit dieser Entdeckung lieferte er nicht allein das »Paradebeispiel der neuen Physik« 7 überhaupt, sondern ermöglichte eine Einsicht, die der Philosophie bis dato verwehrt blieb. »Aber gerade dadurch, daß die Physik mit Erfolg ursprüngliche Motive des Philosophierens zu inkorporieren wußte, konnte die neue Wissenschaft sich gegenüber der Philosophie verselbstständigen.« 8 Und so befand und befindet sich die Philosophie auch heute noch in der Identitätskrise, wie die Ausführungen zu Husserl und auch Heidegger gezeigt haben. Wie schwierig sich die Zusammenarbeit von Biologie, von Wissenschaft überhaupt und Philosophie gestalten kann, expliziert C. P. Snow in seiner Schrift »The Two Cultures« 9 . Darin beklagt er die immer größer werdende Kluft, die sich zwischen Philosophie und der naturwissenschaftlichen Forschung in Amerika auftut. Er stellt in seiner Schrift eine sich neu formierenden Gruppe von intellektuellen Wissenschaftlern vor, die er als die dritte Kultur bezeichnet, deren sich selbst gestellte Aufgabe darin besteht, die drängenden Fragen des Lebens nicht mehr den Philosophen zu überlassen, sondern der Anthropologie, der Soziologie, der Genealogie, Ethnologie etc. zu unterstellen. Dies scheint aber solange fraglich, als das Verhältnis von Philosophie und Anthropologie etc. ungeklärt und die Frage nach einem einenden Fundament ungefragt bleibt. Hinsichtlich des Verständnisses des Lebendigen verbirgt sich in diesem intellektuellen Umfeld erneut die Gefahr, in einen haltlosen Mechanismus zurück zu verfallen. Dies zeigt sich ganz deutlich bei Richard Dawkins, der seit Mitte der 70er Jahre die Theorie vom egoistischen Strube, Claudius: In der Zeit einer Neubestimmung der Metaphysik. In: Metaphysisches Fragen. Colloquium über die Grundform des Philosophierens. Sonderdruck. Engelhardt, Paulus/Strube, Claudius (Hrsg.). Köln/Weimar/Wien 2008, S. 5. (Der Vortrag stammt aus der 50. Tagung der philosophisch-theologischen Arbeitsgemeinschaft Walberberg 2005.) 8 Ebd. 9 Snow, C. P.: The Two Cultures. Cambridge 1993. 7

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Gen vertritt: »Etwa zehn Jahre später schrieb ich Das egoistische Gen, und damit wurde ich bekannt.« 10 Dieser Gedanke Dawkins war weder neu noch stammte er aus dessen eigener Feder, wie er selbst gesteht. Diese Theorie besagt, dass »das Tier eine Überlebensmaschine für seine Gene« 11 sei. Es ist nicht so, dass sich jeder Forscher mit der Lebensprivation der Benommenheit des Tieres als Wesensbestimmung einverstanden erklären muss. Aber die gezeigte Auseinandersetzung mit den verschiedenen biologischen Konzepten hinsichtlich der ganzheitlichen Bestimmung des Lebendigen zeigt eine Reihe von eklatanten Fehlinterpretationen und deren Ursachen auf, welche sich jede Forschung kreativ zu Nutze machen könnte. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob wir nicht gehalten sind, den Begriff Organismus aufgrund der Errungenschaften der Genforschung, d. h. der künstlichen Reproduzierbarkeit von Leben, neu zu überdenken? In einer solchen postmodernen wissenschaftlichen Einstellung der Sorge stellt sich der Organismus nicht mehr nur als regelmitbringendes, autonomes, autopoetisches, organbildendes, befähigtes Treiben dar, sondern als hinsichtlich seiner Eigenschaften von außen bestimmbar. Das zeigt sich deutlich in den heute üblich gewordenen Klonversuchen als pervertiertes Erbe darwinistischer Zuchtwahl. Müssen wir, die wir in der Sorge der Reproduzierbarkeit inne stehen und der wir uns damit auch nicht entziehen können, nicht dann diese Sorge mitmachen und die sich in der Genforschung entwickelten Möglichkeiten mit in den Begriff Organismus aufnehmen? Oder tastet diese Möglichkeit der Wissenschaft den aus seinem Wesen verstandenen Organismus – im Sinne Heideggers – an? Eine Antwort haben wir nicht. Es sei aber abschließend darauf hingewiesen, dass selbst nachdem die moderne Forschung seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts die Anlagen jeglicher Organsimen auf deren Genstruktur zurückzuführen in der Lage ist, die von Heidegger aufgezeigte Strukturformel des Organismus als ein dranghaftes in Organe schaffende Fähigkeiten (sich auf sich selbst, in das eigene Wozu Verlegen und Vorlegen können) sich gliederndes Befähigtseins unangetastet bleibt, da sich dieselbe uneingeschränkt auf dieses Geschehen Dawkins, Richard: Eine Überlebensmaschine. In: Die dritte Kultur. Brockman, John (Hrsg.). München 1996, S. 100. 11 Ebd. 10

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anwenden lässt. Gleiches gilt folglich für sämtliche Manipulationspraktiken, denn jede von Seiten der Wissenschaft am Organismus herbeigeführte Manipulation, wie die Untersuchungen von Wilhelm Roux und Hans Driesch zeigen konnten, wäre ohne die aufgezeigte dranghafte Wesensstruktur überhaupt nicht möglich, denn wo keine solche vorliegt, führt jede Manipulation des Organismus zwingend zu dessen Untergang.

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II.

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III.

Nachschlagewerke

Brugger, Walter: Philosophisches Wörterbuch. Freiburg/Basel/Wien 1996. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Auflage 24, bearbeitet von Seebold, Elmar. Berlin/New York 2002.

IV. Dokumentationen Hauptseite: www. Philosophisches-lesen.de/heidegger/suz/ausgaben.html. Videoportal: www.dailymotion.com/related/1201543/video/xprck_heidegger-i/1(-3).

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Danksagung

Danken möchte ich zuerst einmal meiner philosophischen Ziehmutter Frau Sabine Jurgons, die mir den Weg in die Philosophie eröffnete und mich Jahre lang auf diesem Weg begleitete. Besonderer Dank gilt auch Herrn Heinrich Hüni, welcher mir in seiner Philosophischen-Werkstatt die Möglichkeit gab, meine ersten eigenständigen Schritte in dem weiten Bereich der Wissenschaft zu unternehmen und mich denkerisch zu entwickeln. Außerdem möchte ich den fleißigen und unermüdlichen HelferInnen Karolina Gierej und Kathrin Kronfeld danken, welche sich unzählige Stunden der Korrektur ausgesetzt haben. Zu diesen gehören auch Erika und Clemens Nassenstein, in deren wunderschönem Heim eine Vielzahl hitziger Diskussionen bei bester Verpflegung möglich wurden, die meine Arbeit gehaltvoll belebten. Weiterhin danke ich Herrn Alfred Denker für seine mehr als freundschaftliche Unterstützung durch die Bereitstellung einschlägiger Dokumente, die das Verfassen des Kapitels Frühe Zeugnisse zu einer echten Zeitreise werden ließen. Der größte Dank ist aber meinem Doktorvater Herrn Claudius Strube auszusprechen, der meinen Mitstreitern und mir stets väterlich zur Seite stand und steht, mit uns bis spät in die Nacht diskutierte und immer neue Wege wies. Dank auch allen anderen!

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Personenregister

Aristoteles 8, 13, 15–16, 25, 39–40, 46, 48, 55, 61–62, 68–69, 79, 86–88, 110– 111, 119, 121–123, 125, 130–131, 136, 138–139, 151, 153, 158, 161, 167–169, 171, 188, 198, 211, 216, 231, 267 Auriol 19 Baer 9, 16, 67, 80, 121, 196–197, 216 Beelmann 19, 30, 32–39 Bergson 148, 166, 224, 271 Biemel 47, 58, 198, 267 Bethe 183 Binswanger 224, 261, 263 Bollnow 256 Boss 10, 21, 162, 223–227, 231–233, 242, 248–250, 255, 259, 261, 263–266, 274 Boveri 109, 207 Brehm 157 Brentano 48, 57 Brugger 94 Burchard 110–111 Buytendijk 144, 194–195 Cassirer 14, 104 Condrau, 225, 261 Cosmus 233–234 Darwin 81–82, 109 Dawkins 277–278 Demokrit 88, 100 Denker 18, 74–76, 85, 88, 229, 261, 267 Derrida 19, 25–27, 29–30, 229

Descartes 7, 26, 40–42, 44–46, 59, 62– 63, 66, 89–91, 93, 100, 133, 173, 249, 269 Dietze 257 Doflein 85–86 Driesch 8, 16, 31, 34, 67, 80, 89, 105, 110–118, 120–121, 123, 125, 143, 147, 180, 194, 202, 279 Engelhardt 44, 277 Fichte 46–47, 138 Fischer 96, 144 Foerster 75, 83 Freud 260–261 Goethe 6, 237 Gros 242 Gutmann 275–276 Haeckel 76, 78–79, 81 Hammer 50, 173, 246 Hartmann 118–119, 205 Heisenberg 32 Helting 224 Heraklit 108, 119, 134 Herrmann 13–15, 19, 25, 33, 36, 41, 125, 166, 213, 233, 254 Hertwig 77–78, 80, 85 Hüni 233, 248 Husserl 18, 47, 56–61, 263, 266–271, 277 Imdahl 20

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Personenregister Jahn 101 Janich 98 Jasper 254 Johnson 232–233 Jonas 18, 171

Platon 13, 44, 121, 223, 231, 233, 244 Plessner 9, 14, 17, 31, 67, 73, 113–114, 118, 120, 140, 142–143, 146–147, 172, 180, 195, 208, 228, 230, 256–257 Pöggeler 21–22, 254–255

Kah 22, 24, 39 Kant 8, 33, 46, 49, 51, 86, 92–101, 105, 107, 113, 139, 166, 261, 263, 268 Kelek 265 Kluge 64, 150 Kries 92 Külpe 49–52, 79, 113 Kunz 17, 262

Rádl 183 Rehmann-Sutter 274 Roux 8, 31, 34, 80–81, 103–110, 114– 116, 118, 121, 123, 125, 168, 182, 194, 279

La Mettrie 90, 100 Lamarck 99, 101, 104 Landsberg 255 Leibniz 9, 91, 123, 138, 172–174, 177, 207, 234 Löwith 17, 31, 67, 73, 132, 228–230, 234 Mayr 91 Mehring 19–20 Merleau-Ponty 19, 223 Mocek 110 Muckermann 80–81 Müller 107–108, 191 Müller-Lauter 107–108

Tangi Hirokazu 24, 39 Teichmüller 111 Uexküll 15–16, 31, 34, 56, 67, 119, 131, 143–145, 147, 153–154, 158, 160, 165, 168, 175, 183, 185, 193–196, 198–200, 202–206, 216, 276

Nägeli 79 Nietzsche 75, 107–108, 181, 242–243 Orth 18 Ott 73–74 Paulus 34, 44, 147, 277 Philipp 19, 187, 239

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Safranski 226 Sartre 17, 19, 231–233 Scheler 9, 14, 31, 73, 78, 84, 140–142, 144, 146, 174, 234, 255–257, 268, 270 Schödlbauer 21 Schopenhauer 122 Sloterdijk 152 Snow 277 Spemann 73, 119 Strube 14, 48, 53, 62, 138, 166, 234, 277

Wasmann 80, 86 Weingarten 98, 110, 182, 275 Weizsäcker 31–32 Wiedemann 21 Wuketits 37 Yong-Soo Kang 30

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