Phänomene der Erziehung und Bildung. Phänomenologisch-pädagogische Studien: Herausgegeben von Malte Brinkmann [1. Aufl. 2019] 978-3-658-24186-5, 978-3-658-24187-2

Der Band versammelt historische und systematische Studien von Wilfried Lippitz der letzten Jahre zur Theorie, Geschichte

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German Pages XI, 266 [271] Year 2019

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Phänomene der Erziehung und Bildung. Phänomenologisch-pädagogische Studien: Herausgegeben von Malte Brinkmann [1. Aufl. 2019]
 978-3-658-24186-5, 978-3-658-24187-2

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XI
Einleitung (Wilfried Lippitz)....Pages 1-11
30 Jahre phänomenologisch-pädagogische Forschungen in Deutschland: Bestandsaufnahmen für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts (Wilfried Lippitz)....Pages 13-27
Einblicke: Ausgewählte phänomenologisch-pädagogische Diskurse in den USA der 70er Jahre (Wilfried Lippitz)....Pages 29-44
Bildung, Kultur und Alterität – Bildungsphilosophische Interpretationen (Wilfried Lippitz)....Pages 45-81
Pädagogischer Bezug. Erzieherisches Verhältnis (Wilfried Lippitz, Jeong-Gil Woo)....Pages 83-101
Der Humanismus des anderen Menschen (Emmanuel Lévinas) und die Pädagogik (Wilfried Lippitz)....Pages 103-121
Fremdheit und Andersheit in pädagogischen Kontexten (Wilfried Lippitz)....Pages 123-140
Das „fremde Kind“ – Zur Verstehensproblematik aus pädagogischer Sicht (Wilfried Lippitz)....Pages 141-153
Aloys Fischer (1880–1937): „Deskriptive Pädagogik“ oder „Prinzipienwissenschaft von der Erziehung“. Zu den Anfängen phänomenologischer Forschungen in der Erziehungswissenschaft (Wilfried Lippitz)....Pages 155-174
„…durch die endlose Mühle der Worte zu drehen…“. Der Mensch als ein „Geständnistier“. Autobiografische Forschungen als „Geständniswissenschaften“? (Wilfried Lippitz)....Pages 175-190
„Werde, der du bist“ – Elitäre Identitäten in Hermann Hesses Romanen (Wilfried Lippitz, Heike Faber, Melanie Kusterer)....Pages 191-214
Erkenntnis- und Identitätskrise in Musils Erstlingsroman „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ (Wilfried Lippitz)....Pages 215-228
„Subjekte“ der Erziehung? Autobiografische Erinnerungen von Erziehungswissenschaftlern (Wilfried Lippitz)....Pages 229-264
Back Matter ....Pages 265-266

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Phänomenologische Erziehungswissenschaft

Wilfried Lippitz

Phänomene der Erziehung und Bildung. Phänomenologischpädagogische Studien Herausgegeben von Malte Brinkmann

Phänomenologische Erziehungswissenschaft Band 7 Reihe herausgegeben von Malte Brinkmann, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland Wilfried Lippitz, Justus-Liebig-Universität Gießen, Gießen, Deutschland Ursula Stenger, Universität zu Köln, Köln, Deutschland

Phänomenologie als internationale Denk- und Forschungstradition ist in der Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft eine eigenständige Forschungsrichtung, deren Potenziale in dieser Reihe ausgelotet werden. Anknüpfend an die phänomenologisch-philosophischen Neubestimmungen des Erfahrungsbegriffs ist es ihr Anliegen, pädagogische Erfahrungen in ihren sinnlich-leiblichen, sozialen, temporalen und machtförmigen Dimensionen sowohl theoretisch als auch empirisch zu beschreiben, zu reflektieren und handlungsorientierend auszurichten. Sie versucht, in pädagogischen Situationen die Gegebenheit von Welt im Vollzugscharakter der Erfahrung sichtbar zu machen. Wichtig dabei ist auch die selbstkritische Sichtung ihrer eigenen Traditionen und ihrer oftmals kontroversen Geltungs- und Erkenntnisansprüche. Phänomenologische Erziehungswissenschaft bringt ihre Erkenntnisse im Kontext internationaler und interdisziplinär wissenschaftlicher Theorie- und Erfahrungsbezüge ein und versucht, diese im erziehungswissenschaftlichen Fachdiskurs kritisch zu bewähren.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/13404

Wilfried Lippitz

Phänomene der Erziehung und Bildung. Phänomenologischpädagogische Studien Herausgegeben von Malte Brinkmann

Wilfried Lippitz Universität Gießen Gießen, Deutschland

ISSN 2512-126X ISSN 2512-1278  (electronic) Phänomenologische Erziehungswissenschaft ISBN 978-3-658-24186-5 ISBN 978-3-658-24187-2  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-24187-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Verantwortlich im Verlag: Stefanie Laux Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort und Dank des Autors

Die in diesem Band versammelten Arbeiten haben vier thematische Schwerpunkte: Es sind systematische Analysen zur Geschichte phänomenologisch-pädagogischer Forschungen, zur Systematik und Geschichte pädagogischer Grundbegriffe, zur Thematik der Fremderfahrung in pädagogischen Kontexten und zu (Auto-)Biografien. Diese Schwerpunkte charakterisieren den größten Teil aller meiner Forschungstätigkeiten und Veröffentlichungen in den vergangenen vier Jahrzehnten. Dass die vorliegenden Arbeiten nun in einem Sammelband der Reihe mit dem Titel „Phänomenologische Erziehungswissenschaft“ veröffentlicht werden können, verweist auf die Resonanz phänomenologisch orientierter Forschungen in der deutschen Erziehungswissenschaft, die seit den 80iger Jahren stetig gewachsen ist und Anschluss an internationale Entwicklungen im skandinavischen, angelsächsischen, italienischen und niederländischen Sprachraum gefunden hat. Besonders freut mich, dass in den regelmäßig stattfindenden phänomenologisch-pädagogischen Symposien an der Humboldt-Universität und in der Eröffnung der Reihe „Phänomenologische Erziehungswissenschaft“ Prof. Dr. Malte Brinkmann tatkräftig und international erfolgreich phänomenologisches Denken und Forschen in der Erziehungswissenschaft befördert und vorantreibt. Meine eigenen Forschungen sind durch den intensiven Austausch mit meinen Kolleginnen und Kollegen, die für mich seit den 80iger Jahren wichtige Weggefährten waren und noch sind, in vielfältiger Weise bereichert worden. Dafür bedanke ich mich an dieser Stelle insbesondere bei Prof. Dr. Käte Meyer-Drawe (Bochum), meiner renommierten Mitstreiterin seit meinen ersten phänomenologisch-pädagogischen Forschungsarbeiten. Prof. Max van Manen (Edmonton, Alberta, Kanada), Prof. Dr. Ton Beekman (leider verstorben), Dr. Bas Levering (Universität Utrecht) und Prof. Dr. Eva Simms (Pittsburgh, USA) eröffneten

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Vorwort und Dank des Autors

mir die niederländische und angelsächsische Bühne der Erziehungswissenschaft und beförderten manchen ergiebigen wissenschaftlich-kritischen Diskurs mit ihnen. Für mich neue, besonders ästhetische Perspektiven eröffneten die Forschungen von Prof. Dr. Kristin Westphal (Universität Koblenz). Prof. Dr. Jeong-Gil Woo (Seoul, Süd Korea), mein ehemaliger Mitarbeiter an der Universität Gießen, regte mich dazu an, die eurozentrische Sicht meiner Forschungen zu befragen. Dank sagen möchte ich zum Schluss Herrn Prof. Dr. Malte Brinkmann, ohne dessen Anregung und Unterstützung dieser Aufsatzband nicht zustande gekommen wäre. Zugleich beweisen er und seine Forschungsgruppe, dass phänomenologisch-pädagogische Forschungen empirisch gehaltvolle Ergebnisse u. a. in den für die Erziehungswissenschaften zentralen Gebieten der Lern- und Unterrichtsforschung möglich sind, ohne dass sie ihre komplexe philosophisch-systematische und das heißt hier auch phänomenologische Fundierung und Zugangsweise aufgeben müssen. Siegen im Juni 2019

Prof. Dr. Wilfried Lippitz

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2

30 Jahre phänomenologisch-pädagogische Forschungen in Deutschland: Bestandsaufnahmen für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

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Einblicke: Ausgewählte phänomenologisch-pädagogische Diskurse in den USA der 70er Jahre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3.1 Der besondere Fall: Ein kritischer Dialog. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3.2 Hamlets Erfahrung – pragmatisch und phänomenologisch interpretiert: Maxine Greene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3.3 Vandenbergs Systementwurf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

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Bildung, Kultur und Alterität – Bildungsphilosophische Interpretationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 4.1 Bildung, Kultur und die Anderen – Formationen der sozialen und politischen Distinktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 4.2 Bildung – und Alterität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 4.2.1 Bildung und Anderssein im Rahmen kosmologischer Vorstellungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 4.2.2 Bildung und Alterität im Rahmen der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 4.2.3 Bildung und Alterität im Rahmen der Kritik an der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie. . . . . . . . . . . . . . 56

5

Pädagogischer Bezug. Erzieherisches Verhältnis. . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Wilfried Lippitz und Jeong-Gil Woo 5.1 Lesarten der geisteswissenschaftlichen Pädagogik. . . . . . . . . . . . 84

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Inhaltsverzeichnis

5.2 5.3 5.4 5.5

Programmatische Entwürfe: ‚Erzieherisches Verhältnis‘ und ‚Pädagogischer Bezug‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Dialogphilosophische Fundierung des pädagogischen Bezugs und erzieherischen Verhältnisses. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Kommunikationstheoretische Fundierungen erzieherischer Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Das erzieherische Verhältnis als ‚responsives Verhältnis‘. . . . . . . 96

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Der Humanismus des anderen Menschen (Emmanuel Lévinas) und die Pädagogik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 6.1 Der Ausgangspunkt von Lévinas: Philosophie und Wissenschaft als Systeme der Macht und der Daseinssicherung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 6.2 Die Andersheit des Anderen als Ausgangspunkt der Ethik. . . . . . 108 6.3 Der Humanismus des anderen Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 6.4 Das ‚Mich‘, der Andere und der Dritte und die Menschheit – die Frage nach der Gerechtigkeit für alle Anderen . . . . . . . . . . . . 114 6.5 Auf dem Boden heterogener Erfahrungen des Fremden: Zur phänomenologischen und pädagogischen Rezeption von Levinas’ Ethik des anderen Menschen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

7

Fremdheit und Andersheit in pädagogischen Kontexten . . . . . . . . . . 123 7.1 Zwischen kosmologischer Bildung (Comenius) und neuhumanistischer Selbstbildung (W. v. Humboldt). . . . . . . . . . . . . . 125 7.2 Das Problem des pädagogischen Verstehens des Anderen und Fremden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 7.3 Grenzen des pädagogischen Verstehens – das Kind als Fremder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

8

Das „fremde Kind“ – Zur Verstehensproblematik aus pädagogischer Sicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 8.1 Erziehungswissenschaftliche Thematisierungen des ‚fremden Kindes‘ – ein Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 8.2 Irritationen: Das Alltägliche der Fremderfahrung. . . . . . . . . . . . . 148

9

Aloys Fischer (1880–1937): „Deskriptive Pädagogik“ oder „Prinzipienwissenschaft von der Erziehung“. Zu den Anfängen phänomenologischer Forschungen in der Erziehungswissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

Inhaltsverzeichnis

9.1 9.2 9.3

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Die ‚Münchener Phänomenologie‘ als Gegenstandsontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Vom Bewusstsein zum Sein des Bewusstseins. Aloys Fischers integratives Modell der psychologischen Forschungen. . . . . . . . . 158 Aloys Fischer und sein erziehungswissenschaftlicher Entwurf: ‚Deskriptive Pädagogik‘ (1914). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

10 „…durch die endlose Mühle der Worte zu drehen…“. Der Mensch als ein „Geständnistier“. Autobiografische Forschungen als „Geständniswissenschaften“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 10.1 Die kleine autobiografische Geschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 10.2 Hermeneutische Deutungsversuche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 10.2.1 Kontextualisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 10.2.2 Die Selbstdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 10.2.3 Die Erzählstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 10.2.4 Das verdoppelte Ich – das transzendentale und empirische Doppelsubjekt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 10.2.5 Wissenschaft als Emanzipation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 10.3 Der Blick Foucaults. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 10.4 Rückblende: Robert Dinkels autobiografischer Bericht in der Foucault’schen Lesart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 11 „Werde, der du bist“ – Elitäre Identitäten in Hermann Hesses Romanen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Wilfried Lippitz, Heike Faber und Melanie Kusterer 11.1 Elitäre Identitäten – Künstler und Intellektuelle. . . . . . . . . . . . . . 196 11.2 Das ‚Glasperlenspiel‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 12 Erkenntnis- und Identitätskrise in Musils Erstlingsroman „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 13 „Subjekte“ der Erziehung? Autobiografische Erinnerungen von Erziehungswissenschaftlern. . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 13.1 Hans-Jochen Gamm: „Pädagogischer Ausgangspunkt: Ein mecklenburgischer Tagelöhnerkaten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 13.2 Horst Rumpf: „Geboren 1930, zwischen Formeln groß geworden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 13.3 Exkurs: Rekonstruktionen von Distanzierungsversuchen der Erzogenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Drucknachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

Über den Autor

Wilfried Lippitz, Prof. i. R. für systematische und vergleichende Erziehungswissenschaft an der Justus-Liebich-Universität Gießen. Forschungsschwerpunkte: Phänomenologische Erziehungswissenschaft, Pädagogische Anthropologie, Kindheitsforschung, Interkulturelle Erziehung. Kontakt: [email protected] Link: http://lippitz-prof-dr–wilfried.de/

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Einleitung

Die phänomenologische Erziehungswissenschaft als traditionsreiche Teildisziplin (Brinkmann 2018) ist im deutschsprachigen Raum eng mit dem Denken und Forschen von Wilfried Lippitz verbunden. In den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts hat er zusammen mit Käte Meyer-Drawe maßgeblich den phänomenologischen Ansatz weiterentwickelt. Im Rahmen der lebensweltlichen Wende der Phänomenologie (Lippitz 1978b, 1980a, 1992a) hat er in zahllosen Artikeln und Sammelbänden die Phänomene Sozialität, Leiblichkeit, Responsivität und Alterität systematisch reflektiert und auf Lernen und Erziehen, auf Generation und Kindheit sowie auf Identität und Subjekt bezogen. In seiner Habilitation mit dem Titel „‚Lebenswelt‘ und die Rehabilitierung vorwissenschaftlicher Erfahrung. Ansätze eines phänomenologisch begründeten, anthropologischen und sozialwissenschaftlichen Denkens in der Erziehungswissenschaft“ (Lippitz 1980a) werden in kritischer Perspektive geisteswissenschaftliche, hermeneutische (Langeveld, Bollnow, Strasser), phänomenologische (Husserl, ­ Merleau-Ponty) und sozialwissenschaftliche (Habermas, A. Schütz, Kamper, Rubinstein) Theoriestränge für die phänomenologische, theoretische und empirische Forschung fruchtbar gemacht. Im Laufe jahrelanger phänomenologischer Forschungen entstanden eine Vielzahl von Arbeiten, die methodologische, historisch-systematische und bereichs- und feldbezogene Aspekte der phänomenologischen Erziehungswissenschaft behandelten. In einem Anfang der 80er Jahre gegründeten „Arbeitskreis für phänomenologisch-pädagogische Forschung“ entstanden zusammen mit Vertretern der niederländischen Utrechter Schule um Ton Beekman, dem dortigen Nachfolger von M. J. Langeveld (Lippitz und ­Beekman 1984), eine Reihe von Arbeiten, die systematische und methodologische Aspekte phänomenologischen Forschens (Danner 1984) unter der Perspektive von Kind und Kindheit untersuchten (Lippitz und Plaum 1981; Lippitz und Meyer-Drawe © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Lippitz, Phänomene der Erziehung und Bildung. Phänomenologischpädagogische Studien, Phänomenologische Erziehungswissenschaft 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24187-2_2

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1982; Lippitz und Rittelmeyer 1990, 2. Aufl.). Lippitz kann damit als einer der Pioniere phänomenologisch orientierter Kindheitsforschung gelten. Im Anschluss an frühe phänomenologische Forschungen von Marta Muchow aus den 30er Jahren (Muchow 1998) und an den anthropologisch orientierten Ansatz der Utrechter Schule (Lippitz 1980b, van Manen und Levering 2000) kann er zeigen, wie die Sozialität des Kindes räumlich, zeitlich und erfahrungsbezogen verankert ist. Lippitz rückt in seinen Kindheitsforschungen den besonderen Wahrnehmungsgehalt, die spezifische Weltsicht und die Erfahrungs- und Lernweisen von Kindern im Unterschied zu Erwachsenen und kognitionszentrierten Ansätzen in den Mittelpunkt (Lippitz und Rittelmeyer 1990, 2. Aufl.) Dabei setzt er sich kritisch mit repräsentationalistischen Wahrnehmungstheorien und kognitionszentrierten Lern- und Entwicklungstheorien auseinander und entwickelt zusammen mit Käte Meyer-Drawe im Anschluss an G. Buck (2019) eine phänomenologisch-hermeneutische Lerntheorie, in der Lernen als Erfahrung und als Umlernen (Lippitz und Meyer-Drawe 1982; Lippitz 1984, 1989) ausgewiesen wird. Lippitz gelingt es zudem, der phänomenologischen Methodologie entscheidende Impulse zu geben. Hier steht zum einen der Begriff des Verstehens in hermeneutischer und phänomenologischer Perspektive im Mittelpunkt (vgl. Danner und Lippitz 1984). Zum anderen wird vor dem Hintergrund der Neudimensionierung des phänomenologischen Lernbegriffs (Lippitz und Meyer-Drawe 1982) die phänomenologische Beschreibung unter dem Titel „Exemplarische Deskription“ mit Bezug auf Fischer, Langeveld und Buck neu bestimmt (Lippitz 1984). So kann er die phänomenologische Methodologie für qualitative Forschungen in pädagogischen Feldern fruchtbar machen. Mit Wilfried Lippitz beginnt auch die kritische Aufarbeitung der Geschichte der phänomenologischen Erziehungswissenschaft. Er hat eine Reihe von Studien zur Geschichte der phänomenologischen Bewegung im deutschen und internationalen Kontext verfasst, die zum disziplinären Selbstverständnis, zur Identitätsbildung dieser Teildisziplin und zur Verständigung mit anderen Zugängen und Paradigmen beigetragen haben (Lippitz 1978a, 1984, 1992b, 1996). Darüber hinaus hat er als einer der wenigen Erziehungswissenschaftler die phänomenologische Bewegung im deutschsprachigen und internationalen Raum kritisch begleitet und kontinentale mit anglo-amerikanischen und internationalen Vertretern ins Gespräch gebracht. Hier sind neben den Utrechter Kollegen aus den Niederlanden vor allem Max van Manen aus Kanada zu nennen, der, die Utrechter Schule weiterführend, eine Phänomenologie der Praxis

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e­ntwickelt hat, die insbesondere Elemente der geisteswissenschaftlichen Pädagogik aufgreift und ein Gegengewicht zu dem in den angelsächsischen Ländern dominanten instruktionspsychologische Paradigma pädagogischer Lern- und Unterrichtsforschung bildet (van Manen 2007, 2012). In den Studien der 90er und 2000er Jahre rücken zwei weitere Themenbereiche in den Mittelpunkt von Lippitz’ Schaffen, die ebenfalls in diesem Band vertreten sind. Zum einen beschäftigt er sich im Rahmen qualitativer phänomenologischer Forschungen unter der Fragestellung von Identität und Subjektivität mit Biografien bzw. Autobiografien. Identität und Subjektivität gelten Lippitz in modernitätstheoretischer Perspektive als Problemanzeigen, die einerseits bewusstseinsphilosophisch und kognitionspsychologisch hypostasiert und andererseits lebensweltlich nur bruchhaft und riskant erfahren werden können. Zum anderen wird die Spur der Subjekt- und Identitätskritik – ein genuines Thema phänomenologischer Reflexion – unter den Titeln Andersheit und Fremdheit mit der kritischen Rezeption des „Humanismus des anderen Menschen“ von E. Lévinas weitergeführt. Lippitz entwickelt phänomenologische und pädagogische Perspektiven auf eine Dezentrierung des Subjektes und Aspekte einer pädagogischen Ethik in intergenerationalem Bezug, im Verhältnis zu sich und im Verhältnis zu Kindern. Zum Inhalt dieses Bandes: Lippitz’ Arbeiten aus den 80er und 90er Jahren liegen bereits in zwei Sammelbänden vor (Lippitz 1993, 2003). Mit dem hier vorliegenden dritten Sammelband sollen seine späteren Werke einer breiteren Öffentlichkeit erschlossen werden. Dieser umfasst elf Texte aus den Jahren 2002 bis 2012 und drei Erstveröffentlichungen. Zu den Erstveröffentlichungen gehören zwei Texte, die Lippitz in den 90er Jahren verfasst hat und die historische Einblicke in den deutschen und US-amerikanischen Diskurs der phänomenologischen Erziehungswissenschaft der 60er bis 80er Jahren geben. Die Texte dieses Sammelbandes lassen sich in drei Teile gliedern. Der erste Teil umfasst die oben genannten historisch-systematischen Studien zum deutschen und amerikanischen Raum phänomenologischen Forschens (Kap. 2 und 3). Den Schwerpunkt des Bandes stellen Studien zur Andersheit und Fremdheit dar (Kap. 4 bis 10), die das zentrale Thema des Schaffens von Wilfried Lippitz in bildungsphilosophischer (Kap. 4), in systematischer (Kap. 6 und 9) sowie in Hinsicht auf das generationale Verhältnis (Kap. 5) und auf Kind und Kindheit (Kap. 10) verhandeln. Der dritte Teil dieser Sammlung umfasst Einzelstudien zu Personen, Werken und Phänomenen unter der Fragestellung von Identität und Autobiografie – das dritte zentrale Thema des späteren Schaffens von Wilfried Lippitz.

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Die ersten beiden Texte dieser Zusammenstellung untersuchen den Diskurs der pädagogisch-phänomenologischen Forschungen im deutschsprachigen Raum sowie in den USA im 20. Jahrhundert. Beide Texte sind bisher noch nicht veröffentlicht und stammen aus den 90er Jahren. Der erste unveröffentlichte Text mit dem Titel „30 Jahre phänomenologisch-pädagogische Forschungen in Deutschland: Bestandsaufnahme für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts“ zeichnet die Entwicklung der pädagogisch-phänomenologischen Forschungen im deutschsprachigen Raum von den 60er bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts nach. Ausgehend von dem erwachenden Interesse an der Phänomenologie in den 60er Jahren werden wichtige Meilensteine dieses Diskurses aus beteiligt-kritischer Perspektive diskutiert und rekonstruiert. So geht Lippitz zunächst auf den kategorial-begrifflichen Zugang Kiels und auf die eher methodisch bzw. methodologisch orientierte Perspektive Groothoffs am Beginn der Rezeptionslinie ein. Im Hauptteil werden die genuin phänomenologisch orientierten Zugänge in der Pädagogik von Loch, Meinberg, Rittelmeyer und Rumpf aus den 80er Jahren diskutiert. Diese werden präzise dargestellt, die Entwicklungslinien nachgezeichnet und die Unterschiede und Besonderheiten festgestellt. Lippitz kommt in diesem auch heute noch sehr lesenswerten Überblick zu den Anfängen pädagogisch-phänomenologischen Forschens zu dem Schluss, dass die phänomenologische Pädagogik einen wichtigen Beitrag zur Ausdifferenzierung der Fachdisziplin geleistet hat, wobei die Differenzierung auch zunehmend sie selbst betrifft: „Mag dieser Prozess der ‚Normalisierung‘ durch Differenzierung eines neuen wissenschaftlichen Paradigmas nichts Ungewöhnliches sein, zumindest die Vielstimmigkeit der phänomenologischen Stimmen aus der phänomenologischen Bewegung wie auch die unterschiedlichen ‚Wenden‘ des pädagogischen Denkens seit den 50er Jahren haben dafür gesorgt, dass es widerstreitende Richtungen und deshalb auch kein einheitliches Konzept phänomenologisch-pädagogischer Forschung gibt (S. 25 f. in diesem Band).“

Der zweite Text gibt einen Überblick über die US-amerikanischen phänomenologisch-pädagogischen Diskurse der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Lippitz orientiert sich an einem von David E. Denton herausgegebenen Sammelband mit dem Titel „Existentialism and Phenomenology in Education“ (Denton 1974). Dabei weist Lippitz neben vielen Gemeinsamkeiten zur europäischen phänomenologischen Pädagogik auf drei Besonderheiten hin. Zum einen gibt es im US-amerikanischen Diskurs eine Fokussierung auf die existenzialistische Perspektive. Zum anderen sind die amerikanischen Zugänge stark pragmatisch ausgerichtet, indem sie auf handfertige Nachvollziehbarkeit und Anwendung

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abstellen. Schließlich wird phänomenologisches Denken und phänomenologische Erfahrung personalisiert, das heißt an konkreten Beispielen adressatenorientiert dargestellt. Lippitz beginnt seinen Überblick mit der kritischen Diskussion von Dentons existenzialistischem Zugang. Danach wird Maxine Greenes Bestseller „Teacher as a Stranger“ diskutiert. Vandenbergs Systementwurf wird sodann ausführlich dargestellt. Dessen hermeneutischer Ansatz wird in die geisteswissenschaftliche Theorietradition eingeordnet. Abschließend fasst Lippitz die Merkmale der US-amerikanischen 70er Jahre-Diskussion in der phänomenologischen Pädagogik prägnant in acht Punkten zusammen. Der Beitrag „Bildung, Kultur und Alterität – Bildungsphilosophische Interpretationen“ (Kap. 4) macht den Versuch, das prekäre Verhältnis zwischen diesen drei Begriffen erstens in einer sozialgeschichtlichen und einer ideologiekritischen Perspektive, zweitens in einer ideengeschichtlichen Rekonstruktion und drittens in einer systematischen Hinsicht als wirkungsmächtige neuzeitliche Modellierung zu verorten. Diese erweiterte und überarbeitete Version eines Handbuch-Artikels aus dem Jahre 2008 bietet daher sowohl eine sehr informative und reflektierte ideologiekritische und ideengeschichtliche Rekonstruktion des Bildungsbegriffs als auch eine systematische Zusammenführung und Darstellung von Grundmodellen der Alterität in der Phänomenologie. Lippitz gelingt es, den Bogen über diese drei Perspektiven von Platon über neuzeitliche Positionen bis hin zu phänomenologischen Zugängen bei Husserl, Heidegger, Sartre, Bollnow, Buber sowie zu postphänomenologischen und poststrukturalistischen Zugängen bei Lévinas, Foucault und Waldenfels zu spannen. Deutlich wird über die unterschiedlichen Ansätze und Rekonstruktionen hinweg, dass Alterität sowohl als ein wesentlicher Begriff phänomenologischen Denkens und Forschens als auch als integraler Bestandteil von Bildung und Erziehung gelten kann. Auch im folgenden sechsten Beitrag mit dem Titel „Pädagogischer Bezug – erzieherisches Verhältnis“ (Kap. 5) handelt es sich um einen Handbuchartikel. Er wurde zusammen mit Jeong-Gil Woo verfasst, der aktuell in Seoul (Süd-Korea) lehrt. Der Text stellt den pädagogischen Bezug und das erzieherische Verhältnis als Interaktions- und Kommunikationsform vor. Beginnend mit den klassischen Bestimmungen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik bei Dilthey und Nohl werden die wichtigsten Modelle kritisch dargestellt und diskutiert. Neben Bubers dialogphilosophischer, Schallers und Mollenhauers kommunikationstheoretischer wird schließlich die responsive Fundierung des pädagogischen Bezugs und des erzieherischen Verhältnisses nach Waldenfels vorgestellt. Deutlich wird, dass der pädagogische Bezug sich in einem Zwischen aufbaut. Er ist weder ein Verhältnis zwischen Subjekten noch eine Subjekt-Objekt-Konstellation, auch kein Wissensübermittlungsprozess, sondern vielmehr eine Interaktions- und

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­ ommunikationsform, in der die Asymmetrie von Lernenden und Lehrenden die K Grenzen und Möglichkeiten des Lernens bestimmt, ohne dass hier klare Rollen zugewiesen werden könnten. Wie oben erwähnt, besteht eine wichtige Leistung von Wilfried Lippitz für die phänomenologische Erziehungswissenschaft darin, das Denken von Andersheit und Alterität von Buber und vor allem von Lévinas für die Pädagogik und die pädagogische Ethik fruchtbar gemacht zu haben. Diese Perspektive auf den „Humanismus des anderen Menschen“ wird im gleichnamigen Aufsatz (Kap. 6) systematisch entwickelt und auf pädagogische Zusammenhänge bezogen. Lippitz gelingt es, die schwierige philosophische Ethik der Andersheit von Lévinas pointiert und mit Beispielen darzustellen, wobei er schließlich mit Waldenfels kritisch deutlich macht, dass Lévinas die phänomenologische Fundierung der Theorie in der gelebten Erfahrung in Richtung einer vorontologisch justierten Metaphysik des Anderen verlässt. Die pädagogische Rezeption von Lévinas wird danach eingehend diskutiert und dessen Ethik in den oben genannten Grenzen und ohne Anspruch auf eine abschließende Systematik für pädagogische Zusammenhänge erörtert. Fremdheit ist auch im folgenden Beitrag (Kap. 7) zentraler Fokus. Das Phänomen der Fremdheit wird in diesem Beitrag mit dem Titel „Fremdheit und Andersheit in pädagogischen Kontexten“ systematisch in unterschiedlichen Perspektiven verhandelt. Fremdheit wird jeweils epistemologisch, axiologisch und praxeologisch auf als Problem pädagogischen Verstehens, als Problem der Verantwortung im Generationenverhältnis sowie als Frage nach den Erfahrungen im Bildungsprozess verhandelt. Fremdheit als Bildungsproblem wird zunächst zwischen kosmologischer Bildung bei Comenius und neuhumanistischer Selbstbildung bei Humboldt und Litt thematisiert. Bildende Erfahrungen, so Lippitz, können sich nicht vollenden. „Sie stoßen auf innere Grenzen gegenüber dem nicht-integrierbaren Fremden und Anderem“ (S. 132 in diesem Band). Bildung wird daher bestimmt als „Fremd- und Anderswerden durch die Begegnung mit dem Anderen. Bildung ist kein Prozess der Zentrierung, sondern der Dezentrierung des Bewusstseins. Nur so können Lernende offen und neugierig bleiben, wenn sie erfahren, dass jedes Wissen am Anderen und Fremden seine Grenzen hat. Man erfährt am eigenen Leibe, wenn man sich mit einer mit einer fremden Sprache und Kultur auseinandersetzt, dass man sie nicht in dem Maße aneignen kann und dass man mit ihr auch nicht in der Weise vertraut wird, wie mit der Muttersprache oder der autochthonen Kultur“ (S. 131 in diesem Band).

Sodann wird das pädagogische Verstehen als Problem des Fremdverstehens im Generationenverhältnis bei Kant, Meyer-Drawe, Bollnow und Bernfeld diskutiert sowie schließlich die Grenzen des pädagogischen Verstehens im Kind als Fremden mit Emmanuel Lévinas als ethisches Problem aufgezeigt.

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Auch im folgenden Text (Kap. 8) ist Fremdheit Thema mit Bezug auf die erziehungswissenschaftliche Perspektive auf Kindheit. Lippitz hat mit vielen seiner frühen Werke eine phänomenologisch orientierte und sozialwissenschaftlich ausgerichtete Kindheitsforschung vorangetrieben, in der sich mehr und mehr der Fokus auf Fremdheit in den Vordergrund schob. In diesem Text wird nun die Erfahrung von Fremdheit als Strukturmoment der lebensweltlichen Erfahrung im Umgang mit und im Verstehen von Kindern herausgestellt. „Fremde Kinder“ gehören, so Lippitz, zur Normalität pädagogischer Erfahrungen. „Problemkinder“ als fremde Kinder im alltagssprachlichen Verständnis verweisen eher auf die Normalitätserwartungen von Erwachsenen. Lippitz diskutiert zunächst die erziehungswissenschaftliche Kindheitsforschung in historischer, methodologischer und gegenstandstheoretischer Perspektive, um dann das Fremde im Alltäglichen der Erfahrung mit Kindern aufzusuchen – in einer phänomenologischen Perspektive mit Husserl, Lévinas und Waldenfels. In dieser Perspektive erscheint das Verstehen von Kindern nicht nur als Form des Wissens, sondern als Vertrauen, ist also ethisch dimensioniert. Der dritte Teil dieses Sammelbandes umfasst Studien zu besonderen Personen, Phänomenen und Problemen phänomenologischen Forschens und Denkens. Er wird mit einem historisch-kritischen Beitrag zu Aloys Fischers Entwurf einer deskriptiven Pädagogik von 1914 eröffnet (Kap. 9) – einem der ersten Versuche, die phänomenologische Betrachtungsweise für die Pädagogik fruchtbar zu machen (vgl. Fischer 2018; Brinkmann 2018). Lippitz rekonstruiert zunächst die Anfänge im Kontext der Münchener Phänomenologie und skizziert sodann Fischers Forschungsansatz als integratives Modell psychologischer Forschungen. Durchaus kritisch wird dessen gegenstandsontologischer Ansatz und die damit verbundene Epistemologie und Methodologie dargestellt. Nach diesen Kontextualisierungen wird der Entwurf Fischers diskutiert, deskriptiv den Grundbegriff Erziehung zu erschließen. Dabei wird sowohl die methodologische Engführung der deskriptiven Beschreibung Fischers als auch die normativen Implikationen seiner Bestimmung von Erziehung kritisch rekonstruiert. Im folgenden Aufsatz (Kap. 10) wird Foucault als Referenz aufgerufen, autobiografische Forschungen als Geständniswissenschaften kritisch zu reflektieren. Lippitz unternimmt ein Gedankenexperiment, das auch die eigenen phänomenologischen Grundsätze und Methoden infrage stellt. Die Herausforderungen poststrukturalistischer Theorie für leitende Begriffe und Modelle der phänomenologischen Erziehungswissenschaft wie Verstehen, Erfahrung, Leib und Sprache werden aufgenommen (vgl. auch Meyer-Drawe 2008; Brinkmann 2012; Schütz 2016) und für phänomenologisches Denken und Forschen in der Erziehungswissenschaft fruchtbar gemacht. Insofern lässt sich hier der Übergang zu

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p­ostphänomenologischen Zugängen beobachten (vgl. Brinkmann et al. 2019). Lippitz referiert zunächst Foucaults Genealogie der Humanwissenschaften als Geständniswissenschaften im Dreieck von Wissen, Macht und Subjekt aus der Geschichte der Sexualität (Foucault 1983). Mit dieser Foucault´schen Brille wird dann im Sinne eines Experiments eine autobiografische Geschichte von Robert Dinkel zunächst hermeneutisch, dann macht- und subjektkritisch interpretiert. Lippitz kann zeigen, dass in dieser autobiografischen Studie mit Foucault die Brüche und Verwerfungen von Identität als biografische Momente und pädagogische Kategorien vor der Folie poststrukturalistischer Macht- und Subjektkritik reflektiert werden können. Im folgenden Text (Kap. 11), der gemeinsam mit Heike Faber und Melanie Kusterer verfasst wurde, werden ästhetische Figurationen von Identität am Beispiel der späten Romane von Hermann Hesse (Demian, Steppenwolf, Siddhartha) untersucht. Hier stehen noch deutlicher Momente der Krise in der Biografie im Vordergrund, die in Hesses Romanen, so die Autor*innen, auch biografisch in nicht-narrativen, leiblichen und moralisch-praktischen Dimensionen gegründet sind. In Hesses Romanen findet sich eine Künstleridentität als elitäre Stilisierung und Mythisierung im Kontext von Genie-Ästhetik, protestantischer Pflichtethik und Psychoanalyse, die letztlich die Krisen und Brüche zugunsten einer bildungsbürgerlichen Heils- und Seins-Gewissheit synthetisiert. Auch der Aufsatz zu Robert Musils Erstlingsroman „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ (Kap. 12) kreist um das Problem der Identität, deren Erfahrung sich in der Moderne einerseits notorisch krisen- und bruchhaft vollzieht und die andererseits als Voraussetzung und Garant eines bildenden Selbstverhältnisses angesehen wird. Musil präsentiert die Identitätskrise als Pubertätskrise seines Protagonisten im Kontext der Krisenzeit des fin de siècle. Törleß, so Lippitz, werde von Musil mit literarischen Mitteln als dezentriertes, leiblich situiertes Ich dargestellt, das sich in einem Hiatus zwischen Erleben und Erfassen bzw. zwischen Fühlen und Denken befindet. Diese Differenz wird von Lippitz überaus virtuos in drei Lesarten ausgedeutet: philosophisch (mit Husserl und E. Mach), ästhetisierend (im Sinne einer bildungsbürgerlichen Vorstellung von elitären Künstlern bei Musil) und kulturkritisch (als europäisches und neuzeitliches Dual von vita activa und vita contemplativa) – ohne dass sich in Musils Werk diese unterschiedlichen und zum Teil widersprechenden Perspektiven auflösen lassen. Im letzten Text dieser Sammlung (Kap. 13) wird das Thema Identität und Autobiografie reflexiv auf Erziehungswissenschaft bzw. auf ausgewählte Erziehungswissenschaftler gewendet. Lippitz untersucht ausführlich und genau autobiografische Selbstdeutungen von Erziehungswissenschaftlern, die ihre Kindheits- und Jugenderinnerungen aus der Zeit des Nationalsozialismus in

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a­ utobiografischen Erzählungen narrativ erschließen. Sie stammen aus einem von Wolfgang Klafki herausgegebenen Sammelband „Verführung, Distanzierung, Ernüchterung. Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus. Autobiografisches aus erziehungswissenschaftlicher Sicht“ (Klafki 1988). Dabei interessiert Lippitz einerseits, ob und wie Wirkungszusammenhänge der NS-Zeit auf die eigene Biografie dargestellt werden und andererseits, wie lebensweltliche, vorwissenschaftliche Erfahrungen und Deutungen des eigenen Lebens zu sozial- und erziehungswissenschaftlichem Expertenwissen ins Verhältnis gesetzt werden. Die untersuchten Erziehungswissenschaftler Hans-Jochen Gamm, Horst Rumpf, Jürgen Henningsen und Wolfgang Klafki können in dieser Hinsicht als Experten gelten, sind sie durchaus sowohl über den Gegenstand der pädagogischen Biografieforschung als auch über Fragen und Probleme von sozialisatorischen und erzieherischen Wirkungen gut informiert. Lippitz rekonstruiert die vier Narrative einfühlend, aber nicht unkritisch hinsichtlich der jeweiligen autobiografischen (Selbst-)Inszenierung. Die Berichte werden ausführlich interpretiert und kontrastiert, sodass die unterschiedlichen Resonanzdispositionen der Autoren herausgearbeitet werden. Die in diesem Sammelband zusammengetragenen Texte können einen guten Überblick über späte Arbeiten von Wilfried Lippitz geben. Der Sammelband erschließt in den drei Teilen zu historisch-systematischen und alteritätstheoretischen Studien sowie zu Forschungen zu Biografie und Identität das Schaffen dieses Autors, der als einer der prägendsten Gestalten der phänomenologischen Erziehungswissenschaft im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahrzehnten gelten kann. Der Herausgeber hofft, dass diese Texte einen Beitrag zur Reflexion methodologischer, historischer, theoretischer und ethischer Fragen und Probleme der Erziehungswissenschaft und damit einen Beitrag nicht nur zur Selbstverständigung der phänomenologischen Erziehungswissenschaft als Teildisziplin und ihrer Protagonisten leisten kann.

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Brinkmann, Malte. 2019. Einleitung. In Phänomenologische Erziehungswissenschaft von ihren Anfängen bis heute. Eine Anthologie, Hrsg. M. Brinkmann, 1–43. Wiesbaden: Springer VS. Brinkmann, Malte, Johannes Türstig und Martin Weber-Spanknebel. 2019. Leib – Leiblichkeit – Embodiment. Pädagogische Perspektiven auf eine Phänomenologie des Leibes. Phänomenologische Erziehungswissenschaft, Bd. 7. Wiesbaden: Springer VS. Buck, Günther. 2019. Lernen und Erfahrung. Epagoge, Beispiel und Analogie in der pädagogischen Erfahrung. In Phänomenologische Erziehungswissenschaft, Bd. 5, Hrsg. M. Brinkmann. Wiesbaden: Springer VS. Danner, Helmut und Wilfried Lippitz. 1984. Beschreiben. Verstehen. Handeln. Phänomenologische Forschungen in der Pädagogik. München: Röttger. Denton, David E. 1974. Existentialism and phenomenology in education: Collected essays. New York: Teachers College Press. Fischer, Aloys. 2018. Deskriptive Pädagogik (1914). In Phänomenologische Erziehungswissenschaft von ihren Anfängen bis heute. Eine Anthologie, Hrsg. M. Brinkmann, 43–61. Wiesbaden: Springer VS. Foucault, Michel. 1983. Der Wille zum Wissen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Klafki, Wolfgang 1988. Verführung, Distanzierung, Ernüchterung. Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus. Autobiografisches aus erziehungswissenschaftlicher Sicht. Weinheim: Beltz. Lippitz, Wilfried. 1978a. Phänomenologie und Erziehungswissenschaft. Phänomenologische Ansätze in der anthropologischen und sozialwissenschaftlichen Diskussion der Erziehungswissenschaft. In Entwicklungen der siebziger Jahre, Hrsg. H. Kreuzer und K. W. Bonfig, 155–176. Gerabronn: Hohenloher. Lippitz, Wilfried. 1978b. Der phänomenologische Begriff der „Lebenswelt“ – seine Relevanz für die Sozialwissenschaften. Zeitschrift für philosophische Forschung 32:416–435. Lippitz, Wilfried. 1980a. „Lebenswelt“ oder die Rehabilitierung vorwissenschaftlicher Erfahrung. Ansätze eines phänomenologisch begründeten anthropologischen Denkens in der Erziehungswissenschaft. Weinheim: Beltz. Lippitz, Wilfried. 1980b. Langevelds pädagogisch-anthropologisches Denken als Beispiel einer lebensweltlich orientierten Anthropologie. Utrechtse Pedagogische Verhandelingen 3:113–131. Lippitz, Wilfried. 1984. Hermeneutisch-phänomenologische Pädagogik. Westermanns Päd. Beitr. „Erziehungswissenschaftliches Forum“ 1:40–44. Lippitz, Wilfried. 1989. Lernen im Kontext kindlicher Lebenswelt – Bruchstücke einer phänomenologischen Theorie des Lernens. In Artikulation der Wirklichkeit: Festschrift zum Geburtstag von S. Oppolzer, Hrsg. von H. Rosenbusch, 146–155. Frankfurt a. M.: Lang. Lippitz, Wilfried. 1992a. „Lebenswelt“ – kritisch betrachtet. Ein Wort und viele Konzeptionen: Zur Karriere eines Begriffs. Neue Praxis 22:295–311. Lippitz, Wilfried. 1992b. Phänomenologisch orientierte Pädagogik. In Pädagogische Konzeptionen, Hrsg. J. Petersen und G.-B. Reinert, 107–129. Donauwörth. Lippitz, Wilfried. 1993. Phänomenologische Studien in der Pädagogik. Weinheim: Deutscher Studienverlag. Lippitz, Wilfried. 1996. Phänomenologische Erziehungswissenschaft. In Taschenbuch der Pädagogik, Hrsg. H. Hierdeis und T. Hug, 428–439. Hohengehren: Scheider. Lippitz, Wilfried. 2003. Differenz und Fremdheit. Frankfurt a. M.: Lang.

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30 Jahre phänomenologischpädagogische Forschungen in Deutschland: Bestandsaufnahmen für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Seit dem Ende der sechziger Jahre im 20. Jahrhundert ist das Interesse an der phänomenologisch-pädagogischen Forschung sprunghaft gewachsen. Das wird an den fortdauernden Bemühungen sichtbar, mittels Bestandsaufnahmen dieser Forschungen den Überblick zu sichern oder die Nachfrage nach solchen Übersichten zu befriedigen (vgl. Kiel 1966; Groothoff 1972; Lippitz 1978, 1980; Loch 1981, 1983; Rittelmeyer in Lippitz und Rittelmeyer 1990; Meinberg 1989; Rumpf 1991). Wie nicht anders zu erwarten angesichts der unterschiedlichen Strömungen in der phänomenologischen Philosophie, operieren auch diese Übersichten mit recht unterschiedlichen Akzentsetzungen in der Sichtung und Beurteilung der Leistungsmöglichkeiten und Grenzen phänomenologisch orientierter pädagogischer Forschungen. Der in dieser Reihe früheste Überblick über das Verhältnis von Pädagogik und Phänomenologie von Kiel (1966) geht ohne genauere Rekonstruktion der Entwicklung und Geschichte phänomenologischer Konzeptionen von einem „ursprünglichen Anliegen Husserls“ (ebd., S. 525) aus, von dem her die pädagogischen Rezeptionsversuche kritisch beurteilt werden. Die Kriterien dazu bezieht Kiel hauptsächlich von der eidetischen Phänomenologiekonzeption des frühen Husserl. Unter dieses Kriterienraster fallen einmal die programmatisch gebliebenen Arbeiten von Aloys Fischer (vgl. dazu ausführlich Kap. 9 in diesem Band), dann die pädagogischen Arbeiten, deren Erkenntnisse, so Kiel, „auf die allgemeinen Struktur- und Wesenszusammenhänge“ zielen, „die die zu untersuchenden Phänomene in ihrem Sosein bestimmen“ (ebd., S. 528). Dazu gehören für Kiel die Arbeiten von Bollnow und Langeveld. Typisch sei es nach Kiel für die Phänomenologie, dass die Wesensfrage „von dem Boden einer unmittelbaren Anschauung und Erfahrung aus“ beantwortet werde, dessen Ort die erlebende und erfahrende Subjektivität sei (ebd., S. 529). Methodisch erfolge © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Lippitz, Phänomene der Erziehung und Bildung. Phänomenologischpädagogische Studien, Phänomenologische Erziehungswissenschaft 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24187-2_2

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sie als kritische Einklammerung von Theorien und begrifflichen Setzungen, dann als Intentionalanalyse der den Phänomenen konstitutiv zugehörenden Sinnzusammenhängen und abschließend die eidetische Reduktion als abstraktives Verfahren der Gewinnung von allgemeinen Wesensstrukturen unter Absehung ihrer Konkretion (ebd., S. 530). Für jemanden, der sich wie Kiel auf Husserl als Gewährsmann phänomenologischer Forschung beruft und dessen universales Programm einer systematischen Neubegründung wissenschaftlicher Vernunft vor Augen hat, klingt jedoch die Einschränkung befremdlich, dass die phänomenologische Methode nur begrenzte Gültigkeit habe. Denn sie würde die Erkenntnis auf die unmittelbare Anschauung und Erfahrung beschränken (vgl. ebd., S. 531), weswegen die phänomenologische Methode nur im Verbund mit anderen wissenschaftlichen Verfahren fruchtbar werden könne. Diese Einschränkung hätte sicherlich ihr Recht aus der Sicht einer lebensweltlichen und husserlkritischen Phänomenologieauffassung. Aber hier – im ausschließlichen Bezug auf Husserl – ist sie fehl am Platze und systematisch nicht zu rechtfertigen. Kiel scheint Anschauung und Erfahrung gänzlich unphänomenologisch mit nur sinnlichen und ‚bloß subjektiven‘ Erlebnisgehalten zu verwechseln. Das jedoch wäre kaum noch mit dem husserlschen Anspruch auf Wesenserhellung und Strukturforschung in Verbindung zu bringen. Ist es nicht so, dass Kiel ungewollt den üblichen stereotypen Vorwürfen gegenüber phänomenologischem Arbeiten aufsitzt und sie auch noch im pädagogischen Raum befördern hilft, die meinen, auf das bloß Subjektive und Sinnliche der phänomenlogischen Forschung hinweisen zu müssen? Wir können die Problematik dieser Rezeption hier nicht vertiefen. Interessant für uns ist noch ein weiterer Schwerpunkt der Übersicht von Kiel: Er würdigt relativ ausführlich die phänomenologisch orientierte strukturwissenschaftliche Grundlegung der Didaktik durch Kanning (1953) als einen der wenigen Versuche, phänomenologische Denkmethoden in die Didaktik einzubringen. Sie wären geeignet, die Erschließung von Sachverhalten nicht nur diskursiv zu betreiben, sondern von Erlebnissen ausgehen zu lassen, als „Sichtbarmachen von allgemeinen, kategorial erhellenden Inhalten“ (Kiel 1966, S. 536). Die Grenzen dieser Methode lägen darin, so die schon oben kritisierte Meinung von Kiel, wenn die Bildungsarbeit das originäre Erleben der Schüler überschreite zugunsten nicht erlebnishafter allgemein-kultureller Inhalte, die angeeignet werden müssen. Dafür kämen eher hermeneutische Methoden in Betracht (vgl. ebd., S. 536). Die fast ein Jahrzehnt später erfolgende neue Einschätzung und Bewertung des Verhältnisses von Pädagogik und Phänomenologie durch Groothoff (1972) setzt einen neuen und gewichtigen, hauptsächlich methodisch-methodologischen Akzent. Er zeigt in die Richtung eines lebensweltlichen bzw. hermeneutisch-phänomenologisch orientierten Methodenverständnisses, das gleichsam pluralistisch verfasst

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ist und deshalb die Rede von einer in sich selbst gegründeten phänomenologischen Pädagogik fragwürdig werden lässt: „Es geht nur um eine – zugleich befreiende und versammelnde – Vorverständigung [bzgl. pädagogischer Sachverhalte, W.L.], die ohne Zusammenhang mit einer generellen (kritischen) Reflexion und Untersuchungen anderer Art nur bedingt sinnvoll ist“ (Groothoff 1972, S. 213).

Groothoff nimmt in seiner relativierenden Aussage hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der phänomenologischen Methode Abschied von dem husserlschen Konzept einer regionalontologischen Gründung jedweder Art von Einzelwissenschaft, deren Einheit über eine einheitliche Denkmethode gesichert werden soll. Wie andernorts gezeigt (vgl. Lippitz 1993, S. 24 ff.), wurden die programmatischen Entwürfe einer deskriptiv begründeten theoretischen Pädagogik als Prinzipienwissenschaft am Anfang des 20. Jahrhunderts von diesem Optimismus getragen. Dagegen konstatiert Groothoff die Pluralisierung der methodischen Standpunkte in der Erziehungswissenschaft, die die Rede von einer einzigen Wahrheit fraglich machen (vgl. Groothoff 1972, S. 210). Gehe man außerdem davon aus, dass jede Art von Erkenntnis interessegebunden und jede Art von Beschreibung und Auslegung von Sachverhalten sprachlich vermittelt sei, dann müsse man zugestehen, dass die Unvoreingenommenheit, die Husserl methodisch für die Phänomenanalyse fordert, nicht hergestellt werden könne. Gäbe es folglich keine Identität von Erkenntnis und Sein, die die ‚reine Deskription‘ und die ihr korrelierende Wesensontologie unterstelle, dann bliebe jede Wesensund Strukturerhellung von Phänomenen der Erziehung ein unabgeschlossener Deutungsprozess. Die Konsequenz für den Begriff des Phänomens läge auf der Hand. Phänomene seien nicht Allgemeinheiten ungeachtet ihrer methodischen Gewinnung und Erzeugung, sondern sie seien methodisch herbeigeführte Verallgemeinerungen, oftmals auch wie bei Langeveld kunstvoll erarbeitete Studien über besondere Erfahrungen in besonderen Situationen, die als exemplarische der intersubjektiven Verständigung über ihren Sinngehalt ausgesetzt würden (vgl. ebd., S. 221). Einsatzort dieser deskriptiv-hermeneutisch-exemplarischen Methode sei die geschichtliche und gesellschaftliche Lebenspraxis, „wie sie uns in unserer Lebenshermeneutik immer schon erschlossen ist“ und die unser Vorverständnis über das, was Erziehung ist, lebensgeschichtlich mitgeprägt hat (ebd., S. 208). Als dergestalt wirklichkeitsnahe Methode verfahre die phänomenologische Forschung in der Pädagogik durchaus empirisch, nur nicht im empirisch-analytischen, sondern im hermeneutisch-aufklärerischen Sinne.

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Vergleicht man die sich seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts häufenden Überblicksdarstellungen phänomenologisch-pädagogisch orientierter Forschungen (Loch, Meinberg, Rittelmeyer, Rumpf) mit den vorangegangenen, dann fallen folgende Merkmale ins Auge: Sie stammen von pädagogischen Autoren, die nicht nur gelegentlich metatheoretisch reflektiert, sondern selbst systematisch und materialiter phänomenologisch-pädagogisch gearbeitet haben. Außerdem publizierten sie in einem sozialwissenschaftlichen Umfeld, dessen Akzeptanz für diese Art von Forschungen seit der sozialwissenschaftlichen Wende in der Erziehungswissenschaft in den 70er Jahren spürbar gestiegen ist. Ursächlich dafür ist u. a. die ‚lebensweltliche Wende‘ in der Soziologie, besonders in der Kritischen Theorie eines Jürgen Habermas, die leider oft problematisch verkürzt als sogenannte Alltagswende die erziehungswissenschaftliche Theoriebildung beflügelt hat. Durch diese Rezeption kommt im deutschsprachigen Raum primär sozialphänomenologisches Gedankengut des Husserl-Schülers A. Schütz und seiner amerikanischen Schüler Garfinkel, Cicourel, Berger und Luckmann wieder zu wissenschaftlichen Ehren, wohingegen vielen Erziehungswissenschaftlern sowohl die genuine phänomenologische Tradition wie auch die eigene phänomenologisch-pädagogische Denktradition verborgen geblieben sind (vgl. dazu umfassend Lippitz 1980, S. 300 ff.). Es gehört zu den Verdiensten des Grundlagenartikels von Werner Loch Phänomenologische Pädagogik (1983) in der Enzyklopädie Erziehungswissenschaft, dem eine Reihe eigener phänomenologisch-orientierter Arbeiten zu Konstitution der Erziehung im Horizont der genetischen Phänomenologie Edmund Husserls (1981), der Entwicklung von Erfahrungs- und sozialen Kompetenzen im Horizont des Lebenslaufes von Heranwachsenden (1980) u. v. m. vorangegangen sind, das weite Feld phänomenologischer Forschungen hinsichtlich der Vielfalt der Fragestellungen und Richtungen für die pädagogische Rezeption wieder aufgeschlossen zu haben. Lochs Resümee im Enzyklopädieartikel: „Entweder es gibt eine phänomenologische Pädagogik, oder es gibt überhaupt keine Pädagogik“ (Loch 1983, S. 168) (u. a. gegen Groothoffs pluralistische Auffassung gerichtet) klingt apodiktisch, und das nicht nur in den Ohren mancher Erziehungswissenschaftler, die mit der phänomenologischen Denktradition und ihrem zumindest von Husserl erhobenen Universalitätsanspruch auf abschließende Neubegründung wissenschaftlicher Vernunft unvertraut sind, sondern auch in den Ohren phänomenologisch versierter Wissenschaftler. Betrachtet man jedoch die sieben „Varianten des phänomenologischen Paradigmas in pädagogischer Hinsicht“ (ebd., S. 163), die Loch herausgefunden hat, dann ist zumindest folgende Aussage gerechtfertigt: Es gibt keinen erziehungswissenschaftlich konstituierten Aspekt, der nicht auch phänomenologisch bearbeitet werden könnte. Ob nun erkenntnistheoretische,

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t­ranszendentalphilosophische oder eidetisch-psychologische Strukturforschungen des Bewusstseins (des Erkennens, der Wahrnehmung, des Wollens, Wertens und Fühlens, verbunden mit den ihnen korrelierenden Inhalten) unternommen werden, ob es um metaphysisch-ethische, ontologische resp. fundamentalontologische oder schließlich anthropologische Konzeptualisierungen der Mensch-Mensch-Relation oder des Mensch-Welt-Verhältnisses geht, keine dieser philosophischen und auch in der Pädagogik relevanten Denkrichtungen und Dimensionen wurde von der phänomenologischen Bewegung ausgelassen – und zwar, wie wir ausdrücklicher als Loch betonen wollen, auf Kosten ihrer Einheit zugunsten einer nahezu unübersehbaren auseinanderstrebenden Vielfalt. Deshalb ist es für den kundigen Rezipienten und eigenständigen Forscher unvermeidlich, einen eigenen Standort unter den möglichen Positionen zu finden, von dem aus er begründet forschen kann. Lochs Arbeiten beziehen sich auf Husserls Ansatz einer transzendentalen Phänomenologie der Konstitution des Bewusstseins. Als „Kritik der poietischen Vernunft“ (Loch 1983, S. 159) sähe dieser Ansatz das Wesen der menschlichen Subjektivität im Modus des Könnens, und ihr eigenes Forschungsinteresse ziele auf die Erhellung der Genesis bzw. Konstitution des Ichs in der Welt und der Welt im Ich. Es läge dann der Schritt nahe, den schon Husserl in seinen späten Intersubjektivitätsstudien vorangegangen sei, die philosophische Frage der Genesis in die einer Genealogie und lebenslaufförmigen Strukturierung des kindlichen Könnensbewusstseins zu überführen (vgl. dazu bes. Loch 1981). Für eine phänomenologisch begründete Erfahrungskonzeption wird wichtig, dass Loch damit den in der Phänomenologie schon bestehenden kritischen Dialog mit der psychoanalytischen Sicht des menschlichen Bewusstseins in die Pädagogik einführt und zugleich auch autobiografische Forschungsmethoden und Fragestellungen in die genealogische Perspektive des kindlichen Könnensbewusstseins und der Selbstwerdung in der Pädagogik einen systematischen Ort zuweist. Zugleich knüpft Loch an seine früheren Arbeiten zur Dialogphilosophie an und reformuliert unter autobiografischen Forschungsaspekten eine kindorientierte Pädagogik, die Erziehungsprozesse und deren Wirkungen als interaktives Geschehen begreift, an dem der Edukandus erheblichen Anteil hat und über dessen lebensgeschichtliche Wirksamkeit er oft nur allein retrospektiv zu urteilen in der Lage ist. Was die besondere Bedeutung der phänomenologischen Beschreibungsmethode für die pädagogische und philosophische Erforschung der Konstitutionsprozesse des Bewusstseins angeht, so hebt Loch wie übrigens auch der niederländisch-kanadische Erziehungswissenschaftler Max van Manen die poietische Gestalt der phänomenologischen Beschreibung gegenüber jedweder hermeneutischen oder naiv empirischen Fassung von Beschreibung

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heraus (vgl. dazu neuerdings Max van Manen 2014, S. 240 ff.). Nicht bloß muss die Methode, der sich nach Husserl das Bewusstsein selbst bedient, um auf die ‚Ur‘-Sprünge zu kommen, mit ihm den poietischen Aktcharakter teilen. Sondern indem phänomenologische Analyse die im Bewusstsein stattfindenden Vorgänge in ihrer ursprünglichen Gegebenheit intersubjektiv sprachlich zugänglich macht und so objektiviert, ist Beschreibung poietisch, das heißt einlegend und nicht nur rein nachträglich auslegend. Sie ist also ein konstruktiver, ein sinnstiftender, nicht nur den Sinn verdoppelnder Akt. Denn, wie Loch zu recht betont (1983, S. 162), jeder Akt idealisiere, indem er als „Intuieren-Machen“ „Sichgleichbleibendes“ identifiziere. Er setze ein Verfahren in Gang, das inklusiv und exklusiv operiere. Er scheide das, was nicht gleich bleibt und identisch ist, im aktiven Sinne des Wortes aus. So könne dann das gewonnene Identische zum Paradigma, zur Regel für weitere Identifikationen werden. Jedoch – darauf verweist Waldenfels (1985b, S. 34 ff.) wie auch Lévinas (1983, S. 81 ff.) gegenüber Husserls Wahrheitsverständnis sehr viel prägnanter als Loch – die exkludierenden und selektierenden Operationen der Identifikation bleiben ein prekäres Unterfangen. Sie werden ständig beunruhigt durch die ausgeschlossenen Möglichkeiten. Diese begleiten wie Schlagschatten die phänomenologisch beleuchteten Sachverhalte und helfen dabei, sie allererst zu konturieren. Wesenserkenntnisse sind also nicht ein für alle Mal abzuschließen, sie bleiben offen für neue und überraschende Möglichkeiten, die nicht nur ‚von außen‘ auf sie zukommen, sondern ihnen als abgedrängte, verleugnete oder eingeklammerte innewohnen. Nur beschränkt hilfreich für den mit der phänomenologischen Bewegung in der Pädagogik nicht besonders Vertrauten ist die typologisierende­ Übersicht und Kurzcharakteristik der tradierten und aktuellen vielfältigen Positionen phänomenologisch-pädagogischer Forschungen von Meinberg (1989). Er listet hauptsächlich für den deutschsprachigen Raum folgende unterschiedliche Spielarten auf: deskriptive (A. Fischer), genetisch-phänomenologische (Loch), phänomenologisch-normativ-situationsbezogene (Langeveld), metaphysischhermeneutisch-intuitiv-dialektisch begründete (Strasser), phänomenologischstrukturanthropologische (Rombach), lebensphilosophisch-existenzialistische (Bollnow), hermeneutisch-phänomenologische und dialektische (Lippitz, Danner), phänomenologisch-intersubjektive (Meyer-Drawe), pragmatisch-kritische (Utrechter Lebensweltforschung nach Langeveld), institutionenkritische und phänomenologische (Rumpf) und phänomenologisch-alltagspädagogische (Plöger). Schiebt man einmal das Problem einer solchen Typologie beiseite, dass sie Gleichrangigkeit und Theoriekonsistenz der hier genannten Konzepte unterschiedslos unterstellt, obwohl diese hinsichtlich Differenziertheit, Systematik und Vertrautheit mit der phänomenologischen Tradition erhebliche Niveauunterschiede aufweisen und sich zum Beispiel,

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was Strasser und Rombach angeht, nur an der Peripherie der Pädagogik bewegen, dann bleibt noch ein weiteres Problem, das hier nur kurz anzumerken ist und schon in Lochs Darstellung wenig Aufmerksamkeit findet: So groß der Orientierungsgewinn durch eine solche Skizze unterschiedlicher Positionen auch ist, auf der Verlustseite muss verbucht werden, dass die für positionelle Ausarbeitungen wichtigen Überschneidungen, aber auch die zum Teil sehr kontrovers und kritisch geführten gegenseitigen Abgrenzungsversuche und Relativierungen kaum erwähnt werden. Gerade darin aber kommen die Desiderate zur Sprache, die Meinberg glaubt, für die von ihm skizzierten Positionen ausmachen zu können, wie u. a. die mangelnde detaillierte Auseinandersetzung mit der empirisch-wissenschaftlichen Tradition (vgl. dagegen die einschlägigen empirie-kritischen und zugleich empirisch-klinischen Arbeiten Langevelds in der Psychologie und Anthropologie (Langeveld 1964, 1967), oder die ethische und politische Problematik im phänomenlogisch-pädagogischen Denken (vgl. Lippitz 1980; Meyer-Drawe 1984; Beekman 1972; Beekman und Mulderij 1977). Den neben Loch wohl differenziertesten Überblick über phänomenologisch-pädagogische Forschungen gibt Rittelmeyer in der von ihm initiierten und mit herausgegebenen Aufsatzsammlung Phänomene des Kinderlebens (1990, 2. Aufl.). Im systematischen Zentrum seiner kritischen Rekonstruktion dieser Forschungstradition stehen die Wandlungen wie auch die Grenzen und Möglichkeiten des phänomenlogischen Erfahrungs- und Erkenntnisbegriffs seit Husserl. Dabei ist der eigene Standort Rittelmeyers von besonderem Interesse, eröffnet er doch auf das, was ‚Phänomenologie‘ bedeuten kann, mit Blick auf das Phänomenverständnis von Goethe eine neue Sicht. Würde man den Rekonstruktionsversuch auf eine dominante Problemfigur zusammenziehen, dann ist er dadurch charakterisierbar, dass das von Husserl herkommende gleichsam ‚rationalistische‘, auf objektive Wahrheit gerichtete Erfahrungsverständnis mit dem nachhusserlschen existenzial-hermeneutischen und lebensweltlichen Konzept einer endlichen Vernunft zusammenstößt. „Müssen wir, statt nach sicheren Erkenntnissen, nicht vielmehr nach den stets wandelbaren, unerschöpflichen, historisch-lebensweltlichen Ereignissen und Strukturen fragen, in die wir selber eingebunden sind, ohne sie jemals ganz ausloten zu können?“ (Rittelmeyer 1990a, S. 22).

Am konkreten Beispiel des Raumerlebens möchte Rittelmeyer aufzeigen, dass die phänomenologische Vernunft weder vom starren Korsett einer Universalwissenschaft von historisch invarianten Wesenstrukturen eingeschnürt wird noch

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zur subjektiv-beliebigen Vielfalt von verstreuten, der Einheitsbildung nicht mehr fähigen Deutungsperspektiven verwahrlost. So richtig es sei, von einer Vielzahl von soziokulturell und historisch-bedingten oder auch von entwicklungsgenetisch strukturell unterschiedlichen Raumerfahrungen zu sprechen, so falsch sei es, angesichts dieser Vielfalt anzunehmen, es mit unvergleichbaren verschiedenen ‚Rationalitätsfeldern‘, ‚Weltsichten‘ oder ‚Gegenständen‘ zu tun zu haben. Differenzen und Vielfalt ließen sich immer nur mit Bezug auf etwas feststellen, was ihnen als Allgemeines zugrunde läge. „Alle ‚Perspektivität‘, alle kulturspezifische oder subjektive ‚Weltsicht‘ ist nur möglich im Hinblick auf ein diesen verschiedenen Weltsichten unterstelltes Gemeinsames“ (Rittelmeyer 1990a, S. 27). Dieses Gemeinsame oder Objektive sei keine platonische, als phänomenale und historisch invariante Hinterwelt der Ideen hinter oder jenseits der Erscheinungen anzusiedeln, sondern Gemeinsames zeige sich in den besonderen Erlebnissen selbst. Infolgedessen gäbe es zwar unendliche vielfältige Erscheinungsweisen von Gegenständen und Sichtweisen, aber nicht beliebige, über die dann keine gemeinschaftliche Verständigung mehr möglich wäre. Im konkreten Gegenstand respektive in der konkreten gegenständlichen Erfahrung träfen sich folglich Vielfalt und Einheit, Subjektivität und Objektivität. Rittelmeyer verabschiedet damit Husserls Konzept einer eidetischen Regionalontologie, das historisch-invariante Strukturen auf der Gegenstandsseite wie auf der Aktseite unterstellt. Dennoch ‚operiert‘ Rittelmeyer trotz aller Konzessionen an das lebensweltliche Verständnis von Phänomen und Struktur – auch darin ist von dem Allgemeinen im Besonderen die Rede (vgl. Lippitz 1980) –, mit einer gleichsam starken Variante der Auffassung von Wesen. Denn es scheint so, dass trotz aller Verbesonderung das Allgemeine sich als Allgemeines durchhält und selbst von den Kontingenzen der jeweiligen Erfahrungen unberührt bleibt. Dieser Status des Allgemeinen wirft jedoch kritische Nachfragen auf: Ist das Allgemeine von seinen besonderen Erscheinungsgestalten ablösbar? Operieren phänomenologische Beschreibungen als Methode gleichsam gegenstandsneutral oder wirken sie nicht substanziell als das Wie auf das Was der Erscheinung? Wäre das der Fall, dann gäbe es Allgemeines nur innerhalb der Vermittlungsprozesse: Allgemeines wird gewonnen in Prozessen des Vergleichens, der intersubjektiven Vermittlung und Prüfung von Erfahrungen, natürlich auch unter Respektierung ihrer jeweiligen materialen Gegebenheitsweisen. Zugleich wären sie Allgemeines, das nicht durch irgendeine zentrale, womöglich übergeordnete Instanz der Vernunft auf ein einziges Allgemeines hin vereinheitlicht werden kann, damit es überhaupt gegenüber der Vielfältigkeit von Erfahrungen und Erscheinungsweisen als Allgemeines identifizierbar wird. Zum lebensweltlichen Erfahrungsverständnis gehört es vielmehr, nicht wie in Rittelmeyers Sicht Bedingtheiten und Beschränkungen von Erfahrungen

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a­usschließlich als Erkenntnishindernisse, sondern als Möglichkeiten zu lesen. Um auf das Raumerlebensbeispiel zurückzukommen: Ist jede Erfahrung von Räumen historisch-kulturell und sozial bedingt und fängt damit jede deskriptive Erhellung ihrer Strukturen (durch Variation, Ideation) unvermeidlich inmitten dieser Bedingungen an, dann operiert sie nicht schon mit einem ideell-allgemeinen Begriff von Raum und Erfahrung des Raumes, sondern mit einem prekären Vorverständnis, das Lipps in seiner hermeneutischen Logik als Konzeption, als bestimmte Art und Weise eines Zugriffs auf die Erfahrungen begreift. Im Zugriff auf die Wirklichkeit steckt, dialektisch formuliert, etwas Gewaltsames und zugleich Ohnmächtiges. Ich kann nicht alles, sondern nur etwas Bestimmtes ergreifen, und das auch nur, wenn es sich, wie widerstrebend auch immer, mir fügt. So mag mir der Vergleich von Raumerfahrungen etwas ihnen Gemeinsames enthüllen – eine Garantie, dass es sich um ‚ein‘ Allgemeines an sich handelt, kann es nirgendwo geben, auch wenn interkulturelle Erfahrungen mir meinen Horizont erweitern helfen. Denn Allgemeines bietet sich mir in unterschiedlicher Art und Weise an, und nicht nur gemäß dem einen uns vertrauten Schema der Unterordnung eines Besonderen unter eine Regel. Erfahrungen können Familienähnlichkeiten aufweisen im Sinne von Wittgensteins Sprachphilosophie, ohne dass ein allgemeines kognitives Muster von ihnen abgezogen werden könnte. Allgemeines kann sich nicht nur im Zentrum von Erfahrungen ergeben, sondern auch an den Rändern, wo sie sich überlappen und überschneiden, anfänglich extraordinäre und deshalb in den gewohnten Mustern begrifflich nicht eindeutige Erfahrungen können prototypisch für spätere werden, wie beispielsweise die technisch erzeugte mobile und lineare Raumerfahrung zu den Anfängen der industriellen Revolution (vgl. dazu auch Waldenfels 1985c). Die lebensweltliche Konzeption des Allgemeinen, so können wir resümieren, arbeitet mit der Figur eines dezentrierten Allgemeinen, das nicht gänzlich entkontextualisiert ist und auf eine einheitliche Vernunft hin ausgerichtet werden muss, damit es seine Rolle in einem vernünftigen Diskurs über unsere Erfahrungen spielen kann. Dass die Vernunftmaßstäbe dieses Diskurses selbst an die unterschiedlichen Rationalitätsfelder gebunden bleiben, die in unserer Gesellschaft und in den unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen bestehen, liegt auf der Hand. Sein Konzept eidetischer Wissenschaft führt Rittelmeyer in die Nachbarschaft der phänomenologischen Arbeitsweise Goethes. Dessen Beschreibung der Stengelblattmetamorphose gehe insofern über die bloß empirische, statisch-formale Betrachtung hinaus, als sie der phänomenalen Erscheinung als Organismus durch einen ‚lebendigen Begriff‘ gerecht zu werden versuche. „Durch die äußere und exakte empirische Anschauung geleitet“, strebe Goethe danach, „in der inneren Anschauung auf die Bewegungsgesetze und Bilde-Impulse, auf die Metamorphose der Blattfolge

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zu blicken“ und die „Formveränderungen von unten nach oben als Ausdehnungsund Konzentrationsprozess“ zu beschreiben (Rittelmeyer 1990a, S. 29). Dabei walte nach Goethe die ‚exakte Phantasie‘, die das lebendige Geschehen phänomenal erschließt. Dieser allgemeine Prozess erfolge bei verschiedenen Pflanzenarten in unterschiedlicher artspezifischer Weise. In dieser Hinsicht diene, so Rittelmeyer, das Allgemeine auch der Erschließung und Entdeckung des Besonderen. Gegenüber Husserl führe die Goethische Beschreibung zu einer „individualisierenden Phänomenologie“, also in die Gegenrichtung (ebd., S. 31) – in eine Richtung übrigens, die in der lebensweltlichen und nachhusserlschen Phänomenologie mit der generalisierenden notwendig verschränkt sei. Denn so wie man nur unter Ansehung konkreter Erfahrungen ‚bedingte Allgemeinheiten‘ durch Selektionen und Aussonderungen dessen gewinne, was unterschiedliche Erfahrungen voneinander trennt, so könne man auch in der Umkehrung der Blickrichtung genau dieses Trennende, das im Allgemeinen nicht aufgeht, thematisieren. Das sind m. E. Verfahrensweisen, die Sartre in der Form progressiver und regressiver Analysen in seiner monumentalen Flaubertbiografie zu Meisterschaft gebracht hat und die auch zum Handwerkszeug eines Pädagogen gehören sollten. Auch dieser hat es angesichts eines konkreten Kindes nicht allein mit dem Fall einer allgemeinen, z. B. sozialisationstheoretisch festgestellten Gesetzlichkeit zu tun, sondern mit der eigentümlichen Individualität, in der sich dieses Allgemeine vielfach gebrochen und individuell artikuliert zeigen kann. Sie zu erschließen wiederum gelingt – hermeneutisch gesehen – nur dem und das auch nur vorläufig, der sich offen und einfühlsam genug für solche individuellen Artikulationsprozesse zeigt, eine Möglichkeit, die er nicht unwesentlich der Tatsache der eigenen biografischen Dimension, also seiner gewordenen Individualität verdankt. Dass die Gefahr der idiosynkratischen Missdeutung der anderen Individualität bestehen kann, aber auch dass man über sich selbst in der intensiven Beschäftigung mit dem Anderen erfährt, sind mehr oder weniger kontrollierbare Bedingungen des Deutungsprozesses. Kurz, es erweist sich als überhaupt schwierig, Allgemeines und Besonderes in der Wesensforschung so zu unterscheiden, dass man sie als gesonderte Forschungsrichtungen unabhängig voneinander untersuchen kann. Den Gegenbeweis zur Behauptung von Meinberg, dass eine konstruktive Beschäftigung phänomenologisch-pädagogischer Forschungen mit der empirisch-wissenschaftlichen Forschungstradition fehle, liefern die Studien zu einer empirischen Phänomenologie der Schulbau-Architektur (1990b) von Rittelmeyer. Sie sind es auch hinsichtlich seines oben dargestellten Goetheanischen Verständnisses von Phänomenologie. In diesen Studien werden qualitative und quantifizierende Verfahren unter empirisch kontrollierten Untersuchungsbedingungen produktiv kombiniert. Rittelmeyer gelingt z. B. der folgende Nachweis: Subjektives, leiblich dimensioniertes Erleben unter der Beteiligung der drei

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Sinnesbereiche des Gleichgewichts-, des Eigenbewegungs- und des Lebenssinnes (z. B. Empfindungen der Lebensfunktionen des Körpers wie Puls, Atmung und Verdauung) wird durch unterschiedliche architektonische Milieus unterschiedlich affiziert. Darüber geben qualitative Interviews wie auch Verhaltensbeobachtungen über angenehm erscheinende oder irritierende Raumeindrücke genauso Auskunft wie empirisch-instrumentell objektivierte und statistisch ausgewertete Messungen der optischen Abtastbewegungen von unterschiedlichen architektonischen Gestalten durch verschiedene Versuchspersonen. Zeigen sich von Versuchsperson zu Versuchsperson unter standardisierten Versuchsbedingungen unverwechselbare individuelle Fixationsfiguren, die durch die aktive Erschließung des Fassadenbildes eines Gebäudes zustande kommen, so erweisen sie sich als typisch und damit als intersubjektiv vergleichbar, wenn man die Fixationsbilder architektonisch unterschiedlicher Fassaden miteinander vergleicht. Wichtig ist für Rittelmeyer nicht bloß der objektive Verlauf solcher Fixationsbewegungen, sondern ihre vermutete, gleichsam innerlich nachempfundene dynamisch-rhythmische Artikulation (vgl. Rittelmeyer 1990b, S. 503). Darin könnte Goethes Wort von der Architektur als einer ‚verstummten Tonkunst‘, oder die Rede von der ‚Musikalität‘ der Architektur ihre empirische Bestätigung finden. Es würde zu weit führen, diese empirische Studie im Einzelnen darzustellen und ausführlicher zu kommentieren. Solche Untersuchungen über die somästhetische Wirksamkeit von Bauformen, aber auch von Farben, wie andere empirische Studien erwiesen haben, lassen sich, so Rittelmeyer, unter dem Aspekt der Förderlichkeit oder Behinderung einer räumlich-farblich gestalteten Lernatmosphäre pädagogisch ummünzen (vgl. ebd., S. 515 f.). Deutlich wird hier wie schon in den traditionsreichen phänomenologischen Studien zur Physiologie und Psychologie der menschlichen Sinne, dass der menschliche Organismus als vorpersonales Ich (Merleau-Ponty) auf aktive Weise in ein sinnhaftes Wirkungsgefüge mit der Umwelt verstrickt ist, das gewissermaßen seine eigenen affektiven Qualitäten und Normen herausbildet, bevor das Subjekt zu ihnen explizit Stellung bezieht. Das Programm der Phänomenologie sei die ‚Entselbstverständlichung‘ des Selbstverständlichen, Vertrauten, Routinierten, Alltäglichen! So lautet die pointierte Standortbestimmung des phänomenologischen und pädagogischen Denkens von Rumpf in seinem Überblick „Die Fruchtbarkeit der phänomenologischen Aufmerksamkeit für Erziehungsforschung und Erziehungspraxis“ (1991). Rumpfs Rezeptionsgesichtspunkt liegt auf der Generallinie seiner zivilisations- und institutionskritischen Analysen des schulischen Lernens und der pädagogischen Praxis einschließlich der sie oftmals mehr oder weniger bewusst verfestigenden wissenschaftlich-dogmatischen Rechtfertigungsversuche. Diese Linie führt in die Nähe von Waldenfels’ husserlkritischer Konzeption einer

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enttotalisierten, heterogenen, sich in differente Organisationsweisen von Erfahrungen ausfächernden Vielfalt von Rationalitäten (vgl. Waldenfels 1985a). Versteht man das traditionelle Husserl´sche Aufklärungs- und Begründungsprogramm als groß angelegten Ordnungs- und Disziplinierungsversuch auf dem weit verzweigten Felde wissenschaftlicher Denkinhalte und Denkmethoden, dann darf man nicht ignorieren, dass Ordnen von selektiven und exkludierenden Praktiken der Sinnstiftung lebt. Das gilt nicht nur für hochgestochene philosophische oder wissenschaftliche Ordnungsbemühungen, sondern auch für die alltägliche Organisation unserer Erfahrungen. Solche Ordnungen können sich verfestigen, normalisieren und habitualisieren. Sie fungieren dann unbewusst als vertraute und Vertrauen schaffende Erfahrungsmuster. Das gilt auch für den wissenschaftlichen Alltag, der keineswegs dem idealisierten Selbst einer auf Dauer gestellten Selbstkritik entspricht. Nur – jede Ordnung ruht auf dem rumorenden Untergrund exkludierter, als abweichend, unnormal, belanglos, störend, andersartig, fremdartig und unvertraut identifizierter Erfahrungsgehalte. Tritt dann eine Denkbewegung wie die Phänomenologie mit dem cartesianischen Motiv einer radikalen Kritik der doxa auf, indem sie methodisch gesehen zu dem Punkt zu gelangen versucht, von dem uns in naiver Unvoreingenommenheit die Dinge, so wie sie sind, erscheinen, dann trifft zumindest in dieser Hinsicht Rumpfs Bestimmung des phänomenologischen Programms der Entselbstverständlichung zu. Nur hat es die nachhusserlsche Phänomenologie auf sich selbst anwenden müssen. Das hat mehr Toleranz für Abweichendes und mehr Neugier für Ungeordnetes, Ausgeschlossenes und Verdrängtes zur Folge und wendet sich gegen das noch bei Husserl vorherrschende, auf Ordnung, Übersicht und Transparenz des Bewusstseins gestützte ‚Sicherheits- und Souveränitätsbedürfnis‘ des neuzeitlichen Subjekts der Aufklärung. In der Tat, Rumpf hat recht (vgl. 1991, S. 318 ff.), wenn er als wesentliche Aufmerksamkeitsrichtung der phänomenologischen Forschungen hervorhebt, dass sie durch imaginative Verfahren das Ungeregelte, das Unordentliche als Kehrseite des Geregelten, als Gegenpol zur doxa, als Gegenmittel zu vorreflexiven Gewissheiten wie Traditionen und Normen aufdecken und ins Spiel bringen. Dazu gehören auch Strategien der Entkonventionalisierung des Selbstverständlichen, der Zertrümmerung des Bescheidwissens, der systematischen Erzeugung von Zweifeln, der gekonnten Rahmenbrüche von Vorerwartungen oder der Fokussierung der Aufmerksamkeit auf etwas, was allzu verständlich erscheint oder als bloß nebensächlich gilt. Produktiv umgesetzt werden können solche Strategien und Umpolungen von Aufmerksamkeitsrichtungen darin, dass sie, so Rumpf, einen ‚Gegendrift‘ gegen ‚lineares Beherrschungslernen‘ erzeugen: Lernen erscheint folglich als Umweg und Krebsgang; sodass die Pädagogik aus ihrer Erwachsenenzentrierung und Normalitätsfixierung heraustritt und in Kindern, in

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Laien, in Anfängern, in Fremdlingen personifizierte Möglichkeiten der Irritierung ihrer Selbstverständlichkeiten und der Öffnung gegenüber Unbekanntem, Unvertrautem erblickt. Nach Rumpf (vgl. 1991, S. 324 ff.) findet man solche Strategien in manchen geläufigen reformpädagogischen und didaktischen Konzepten (z. B. bei Wagenschein, vgl. ebd.), in der qualitativen Lernforschung oder in sozialwissenschaftlich-qualitativen Forschungen und kasuistischen Studien über pädagogische Institutionen und individuelle Lebensläufe, ohne dass sie sich genuin und systematisch an phänomenologische Denktraditionen angelehnt hätten. Alles in allem, für Rumpf ist phänomenologische Forschung in der Akzentuierung, die er ihr gibt, durch und durch kritisch und von einem emanzipatorischen Aufklärungsinteresse geleitet. Sie vermag den Subjekten über das Mittel der Kritik an institutionalisierten Selbst- und Weltbezügen zur Befreiung aus dem Korsett gesellschaftlicher Zwänge und Fremdbestimmung zu verhelfen. Sie stellt systematisch die Frage: „Wie schafft es eine Gesellschaft, mittels welcher Agenturen und Mechanismen, Erkenntnisse, Normen, Handlungs- und Deutungsmuster als Gewordene und also revidierbare und von Willkür und Nichtwissen durchzogene dem Bewusstsein zu entziehen – und damit auch der reflexiven Verflüssigung im Interesse der persönlichen Aneignung?“ (ebd., S. 318)

Die von außen gestellte, aber auch selbstquälerische und kritische Frage mancher phänomenologisch arbeitender Pädagogen (vgl. z. B. Beekman 1985), ob phänomenlogisch-pädagogische Forschung denn gesellschaftskritisch sein könne, oder ob sie nicht bloß eine eher traditionalistische geisteswissenschaftliche und daher affirmative Richtung der Pädagogik darstelle, wäre nach Rumpf gegenstandslos. In der Rückschau auf diese kurze Rezeptionsgeschichte phänomenologisch-pädagogischen Denkens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeichnet sich eine deutliche Tendenz ab: der monolithischen Bestandssicherung einer wissenschaftlichen Pädagogik durch Rückgriff auf Husserls Phänomenologie, wie sie noch am Anfang des 20. Jahrhunderts programmatisch gefordert wurde, folgen seit den 50er Jahren Öffnung und Pluralisierung der pädagogisch-phänomenologischen Konzeptionen. Im Laufe der Rezeptionsgeschichte der Phänomenologie durch die Pädagogik wird diese zunehmend selbstreferenziell und arbeitet mit Bezug auf eigene ‚Autoritäten‘ und auf zunehmend sich fachdisziplinär ausdifferenzierender Grundlage eigener Forschungen in nahezu allen erziehungswissenschaftlichen Bereichen. Mag dieser Prozess der ‚Normalisierung‘ durch Differenzierung eines neuen wissenschaftlichen Paradigmas nichts ­Ungewöhnliches

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sein, zumindest die Vielstimmigkeit der phänomenologischen Stimmen aus der phänomenologischen Bewegung wie auch die unterschiedlichen ‚Wenden‘ des pädagogischen Denkens seit den 50er Jahren haben dafür gesorgt, dass es widerstreitende Richtungen und deshalb auch kein einheitliches Konzept phänomenologisch-pädagogischer Forschungen gibt. Das erklärt die jeweils unterschiedlichen inhaltlichen Akzentuierungen in der Rezeptionsgeschichte.

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Einblicke: Ausgewählte phänomenologisch-pädagogische Diskurse in den USA der 70er Jahre

Es geht im Folgenden nicht um eine ausführliche und erschöpfende Darstellung phänomenologisch-pädagogischer Forschung in den USA. Diese kleine Stichprobe erfüllt jedoch den Zweck, einen Eindruck von der Internationalität und zugleich der Vielfalt phänomenologisch-pädagogischer Theoriebildung vermitteln. Man kann in den USA ähnliche Diskussionen über Möglichkeiten und Grenzen phänomenologisch-pädagogischer Forschungen wie in Deutschland vorfinden. Besonders ins Auge springt dabei die Form der Präsentation phänomenologisch-pädagogischer Theorie in den USA. Sie stellt auf ‚handfertige‘ Nachvollziehbarkeit und konkrete Anwendung ab, sowohl was den Adressaten als Mitglied der scientific community als auch der Lehrerschaft angeht. Er wird gleichsam methodisch an die Hand genommen und über Dialog und Beispiele in phänomenologisches Arbeiten eingeführt. Phänomenologie erscheint dadurch nicht nur als eine hochkomplexe, primär theoretische Denkrichtung, sondern in ihr personalisiert sich ein bestimmtes Selbst- und Weltverständnis, ‚an existential approach to reality‘, das mit anderen Sichtweisen als Lebens- oder Orientierungsstilen konkurriert. Diese Sichtweise manifestiert sich explizit im Doppelnamen der ‚Existential-Phenomenological Philosophy of Education‘. Hierin kommt die lebensphilosophisch motivierte Orientierung der Theorie als ‚Haltung‘ und ‚Einstellung‘ zur Welt, kurz als Lebensweise zur Sprache, eine Einstellung, die schon das Selbstverständnis von Husserl und vieler seiner Nachfolger gekennzeichnet hat. „Seeing Education Phenomenologically is Seeing Education as Lived“ (Troutner 1974a, S. 155). So lautet zum Beispiel die Devise eines Wortführers dieser Forschungsrichtung in den USA, d. h. ‚Erziehung, wie sie erlebt und gelebt wird‘, phänomenologisch zu erfassen. Hier wird mit dem Attribut ‚phänomenologisch‘ der Anspruch auf originäre Erfahrung von Erziehung erhoben. Systematisch gesehen im Sinne einer Neubegründung von pädagogischer Theorie © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Lippitz, Phänomene der Erziehung und Bildung. Phänomenologischpädagogische Studien, Phänomenologische Erziehungswissenschaft 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24187-2_3

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als Philosophy of Education erscheint das phänomenologische Denken in den USA zu Beginn der siebziger Jahre als dritter Weg zwischen Pragmatismus und Empirismus, zwischen platonisch-substantialistischen, normativen und sprachanalytisch-kritischen, zwischen positivistischen und rationalistischen Konzeptualisierungen. Die Bestandsaufnahme verdanken wir dem Herausgeber des Sammelbandes Existentialism and Phenomenology in Education. Dieser Band entstand anlässlich eines Meetings der Philosophy of Education Society im Jahre 1971 und wurde 1974 als repräsentatives Dokument dieser neuen Theorieströmung veröffentlicht (Denton 1974a). Denton kommt zu folgender Einschätzung: Zwar repräsentiert keine bisher publizierte Monografie das existenzial-phänomenologische Denken in Gänze. Man hat es eher mit vielfältigen Strömungen denn mit einer einheitlichen Richtung zu tun, jedoch ist das durchaus typisch für diese Orientierung (vgl. Denton 1974a, S. 3). Das kennzeichnet u. E. auch die europäische Diskurslage. Allgemein zielen die theoretischen Entwürfe auf eine anthropologische Grundlagentheorie der Erziehung, vergleichbar, so fügen wir hinzu, mit der anthropologischen Wende in der deutschen Pädagogik im gleichen Zeitraum. Zwar hat es nach Denton schon Ende der fünfziger und Mitte der sechziger Jahre neben wenigen verstreuten Aufsätzen eine einschlägige Monografie gegeben (Morris 1966). Jedoch ist sie nicht nur innerhalb der eigenen Tradition heftig umstritten gewesen (vgl. dazu u. a. Kaelin 1967; Austin 1967). Sie hat unter dem Titel einer Existential-Phenomenological Theory of Education unter Rückgriff auf Kierkegaard, Heidegger, Camus, Sartre, Buber u. a., systematisch gesehen, recht fragwürdige Applikationsmuster von Existenzialien und Grundbefindlichkeiten entworfen. Stichworte wie eigentliche und uneigentliche, individuelle oder Massenexistenz, authentische und nichtauthentische Identität bildeten damals das normative Grundgerüst für Anleitung und Orientierung der pädagogischen Arbeit. Die Kampfrichtung des Autors zielte auf zwei Gegner: einerseits auf sozialwissenschaftliche Erziehungstheorien des Pragmatismus, die für soziale Anpassung plädierten, zum anderen auf empirisch sprachanalytische Arbeiten, die sich gegenüber Fragen der pädagogischen Ethik und Moral neutral verhielten. Stattdessen forderte Morris Authentizität des Lehrerseins, Achtung der individuellen Schülerpersönlichkeit in institutionellen Lernprozessen, die Thematisierung von Existenzialien wie Angst, Tod, Schuld usw. in schulischen Curricula ein. Dadurch entstand unter der Bezeichnung phänomenologisch-existenzialistisch eine neue Weise von moralischer Doktrin (vgl. Denton 1974a, S. 5). Sie mündete deshalb in eine erste Krise, denn sie

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verkannte die ‚radikale Natur ihrer eigenen Philosophie‘, was Begründung und Generalisierung von pädagogischen Forschungen anging. Erst mit der zweiten Generation rückten diese Aspekte in den Vordergrund. Es erschienen unter Theoretikern und Praktikern weit verbreitete Monografien mit dem expliziten Anspruch existenzial-phänomenologischer Grundlegung der Pädagogik. Zur zweiten Generation gehören nach Denton (1974a) und auch Troutner (1974b) Chamberlins eher kulturvergleichende und anthropologisch angelegte Vorarbeiten für eine phänomenologisch-pädagogische Theorie Toward a Phenomenology of Education (1969). Diese entfalten für den ganzen Bereich der Erziehung essenzielle Dimensionen des Pädagogischen, angefangen die eines leiblich-sinnlichen, ‚ästhesiologischen‘ Lernbegriffs, über die einer anthropologischen vergleichenden Institutionen- und Kulturtheorie bis hin zu der einer pädagogischen Methodenlehre. Zur 2. Generation gehört auch Vandenberg. Er entwirft im groß angelegten Essay Being and Education (1971) systematisch unter Rückgriff auf die nachhusserlsche Phänomenologietradition, insbesondere auf Heidegger, Schütz, Merleau-Ponty und auf deutsche Wortführer der pädagogisch-anthropologischen Wende wie Langeveld, Bollnow, Loch, Stenzel u. a. eine kultur- und zeitkritische, deskriptiv-normative, ontologisch begründete Anthropologie der Erziehung. Beispielsweise diskutiert er am Beispiel der deutschen Jugend- und Wandervogelbewegung nicht nur die historische Form der Identitätskrisen von Jugendlichen, die sich von der Erwachsenenkultur zu lösen versuchen, um zu mehr Selbstständigkeit zu gelangen. Sondern für ihn zeigt sich auch in dieser Protestbewegung in idealtypischer Weise die Kultur- und Orientierungskrise der modernen Gesellschaft überhaupt. So diagnostiziert er, unter Berufung auf den nach Amerika emigrierten phänomenologisch arbeitenden Psychologen Erwin Straus als das spannungsreiche Auseinander einer (romantischen) Kultur des gefühlvollen unmittelbaren sympathetischen Welterlebens (Straus nannte sie „Landschaftserleben“ (1956)) und einer wissenschaftsgeprägten Kultur der kalten, distanzierten und berechnenden Rationalität, nach Straus als ‚geographisches Denken‘ charakterisiert. Für Vandenberg sind beide Kulturen nicht aufeinander zurückführbar, auch wenn erstere den ästhesiologischen Boden für die rationalen Leistungen darstellt. Eine Gefahr für den Erziehungs- und Bildungsprozess liegt nach Vandenberg in der einseitigen Überbetonung der einen Kultur auf Kosten der anderen. Von der deutschen Theorielandschaft aus gesehen vereinigt Vandenberg gewissermaßen zentrale Aspekte des pädagogischen Diskurses: Er verbindet Aspekte aus der Anthropologie des Kindes- und Jugendalters des Holländers

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3  Einblicke: Ausgewählte phänomenologisch-pädagogische Diskurse …

Langeveld mit Elementen der ‚aufbauenden Philosophie‘ Bollnows wie auch mit Kritik an Institutionen der Erziehung, an Rationalisierungsprozessen der modernen Gesellschaft eines Horst Rumpfs. Bemerkenswert ist die phänomenologisch-deskriptive Studie der renommierten amerikanischen Erziehungswissenschaftlerin M. Greene: Teacher as Stranger (1973). Sie eröffnet aus unserer Sicht die sozialwissenschaftliche Wende in der phänomenologisch-pädagogischen Forschung. Auf der Basis literarischer Interpretationen und sozialwissenschaftlich-kritischer Zeitanalysen entfaltet sie ein kultur- und zeitkritisches Panorama der Moderne und Postmoderne, vor dem sie Krisen und Möglichkeiten des Lehrerseins in allen seinen wesentlichen Facetten (des Lehrens, der Bildungsinhalte, der institutionellen Strukturen, der Legitimationskrisen, der sozial-moralisch dimensionierten Beziehungen usw.) diskutiert. Faszinierend daran ist nicht nur der literarisch eingängige Stil, sondern auch das besondere, fast suggestiv wirkende Stilmittel, unterschiedliche und z. T. konträre theoretisch-systematische, philosophische und erziehungswissenschaftliche Positionen zu personalisieren. Der Effekt liegt auf der Hand: Erziehungswissenschaftliche Theoriebildung ist kein Sprachspiel, mit dem sich die Wissenschaftlergemeinschaft, abgelöst von Praxiszwängen, selbst beschäftigt. Vielmehr ist für die Autorin das Theoretisieren ein existenzieller Akt der Wahl und Entscheidung für eine bestimmte Weltsicht und eine verbindliche Lebenshaltung zur Welt. Die phänomenologisch eingestellte Lehrerin erfährt und sieht anderes, urteilt und handelt anders in der Erziehungswirklichkeit als der sprachanalytisch oder pragmatisch orientierte Lehrer. Beschließen wir diese Kurzrezensionen von amerikanischen Arbeiten auf dem Gebiet phänomenologisch-pädagogischer Forschungen mit einer oberflächlichen Skizzierung der Arbeiten, die wir in der als repräsentativ eingestuften Aufsatzsammlung Existentialism and Phenomenology in Education antreffen. Dort können wir dem Urteil des Herausgebers über die Vielfalt der dort dokumentierten Denk- und Forschungsansätze nicht gänzlich zustimmen. Zwar gibt es dort in Anlehnung an Alfred Schütz sozialphänomenlogische Deutungsversuche der unterschiedlichen Sicht- und Erlebnisweisen von schulischer Realität durch Schüler und Lehrer (Collins 1974, S. 139–158) mit der pädagogischen Empfehlung, besonders den Schülern und Schülerinnen Möglichkeiten zu eröffnen, zwischen den multiplen Realitäten von Schule und außerschulischem Leben wechseln zu können und damit ihre soziale Kompetenz zu erhöhen. Aber neben einem knappen, stark von Heidegger beeinflussten Entwurf ästhetischer Theorie des künstlerischen Unterrichts (Kaelin 1974, S. 53–62) und einer Einführung in das phänomenologisch analoge Denken des Spaniers Unamuno (Phenix 1974, S. 87–98), zeichnet sich ein ähnlicher Schwerpunkt der Philosophierezeption

3.1  Der besondere Fall: Ein kritischer Dialog

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ab wie in den am Anfang von Denton kritisch kommentierten Monografien: Nicht Husserl steht im Vordergrund, sondern die französische lebensweltliche Phänomenologie, und insbesondere Heideggers Frühwerk „Sein und Zeit“. Gerade die dort entwickelte existenzial begründete, untergründig normativ und wertend gemeinte Figur eigentlicher und uneigentlicher Existenz wird unkritisch pädagogisch appliziert. Erziehung im existenzial-phänomenologischen Sinne soll angesichts der geläufigen Krisensymptome moderner Gesellschaft wie unter anderen der Entfremdung, des Objektivismus, der Vermassung und Manipulation, den Weg in die Eigentlichkeit, in die authentische Existenz auf der Grundlage eines nicht entfremdeten personalen Bezuges zwischen Erziehern und Erzogenen eröffnen. Das gilt generell (vgl. dazu Greene 1974, S. 63–86; Denton 1974b, S. 99–118; Vandenberg 1974, S. 183–220) und auch speziell für die Erziehung zu einem existenziell adäquaten Zeitverständnis als Selbstverhältnis des individuellen Subjekts zu seiner Lebenszeit (vgl. Troutner 1974b, S. 159–182). Es soll sich gegen die Vorherrschaft der objektiven, linearen Zeit in der modernen Gesellschaft und in ihren Bildungsinstitutionen behaupten. Sie bedroht das Subjekt der Erziehung mit Selbstverlust und entfremdeter Lebensweise. Wie schon erwähnt, ist das Besondere der amerikanischen Rezeption gegenüber der primär deutschsprachigen, dass phänomenologisches Denken und Erfahren personalisiert wird. An zwei ausführlich paraphrasierten Beispielen soll dieser adressatenorientierte Darstellungsstil aufgezeigt werden. Danach wird der Entwurf der deskriptiv-normativen pädagogischen Anthropologie von Vandenberg skizziert. In ihm erhält die außerwissenschaftliche praktische Erfahrung des Pädagogen gegenüber den wissenschaftlichen und philosophischen Deutungssystemen einen systematischen Stellenwert. Hier geschieht gleichsam die ‚Rehabilitierung vorwissenschaftlicher Erfahrung‘, die im deutschsprachigen Raum von Lippitz (1980) systematisch angegangen wurde.

3.1 Der besondere Fall: Ein kritischer Dialog Das erste Beispiel von Denton That Mode of Being Called Teaching (1974b, S. 99–118), publiziert im oben vorgestellten Aufsatzband, versetzt den Leser in einen fiktiven, quasi sokratischen Dialog zwischen einem Lehrer und einem mit ihm befreundeten Existenzialphilosophen. Anlass dieses Dialogs ist die Berufskrise des Lehrers. Er erfährt existenziell die Vergeblichkeit seiner Arbeit. Das konfrontiert ihn mit der Sinnfrage seines Berufs. Statt seinen Freund, den Lehrer, mit neuen erklärenden (Ursache-Wirkungs-Aspekt) oder normativ-substanziellen Theorien der Erziehung (essenzialistischer Aspekt) zu überhäufen – ein

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Verfahren, das der Praktiker während seiner Ausbildung zur Genüge kennengelernt hat –, versucht der Philosoph, seinen Freund in den Stand zu setzen, selbst dem Sinn in seiner praktischen Arbeit auf die Spur zu kommen. Das Verstehen des Lehrerseins „will not negate the existential reality of the lived world of the classroom“. Deshalb muss eine „existential analysis … begin within the situation itself; any protocol for interpretation and explication is to be generated from within the situation being described“ (ebd., S. 100 f.). Thematisch geht es also darum, deskriptiv den praktischen Erfahrungssinn pädagogischen Handelns aufzudecken. Er zeigt sich in der krisenhaft bedingten reflexiven Selbstvergewisserung des Lehrers. Es werden mehrere für das phänomenologische Denken konstitutive Momente eingeführt: 1) die gleichsam grundlegende, cartesianische Zweifel auslösende Krisensituation als Sinnkrise der Erfahrung, 2) die Einklammerung und Kritik vorherrschender (theoretisch-wissenschaftlicher oder alltäglicher) Meinungen über das Was bzw. Warum der Erziehung, und die so erzielte Befreiung des Blicks für die konkrete und je besondere intersubjektiv geteilte pädagogische Erfahrung. Das Besondere dieser Erfahrung, so führt der Philosoph aus, darf nicht als besonderer Fall eines (Gesetzes-)Allgemeinen verstanden werden: „… the meaning of the particular will be obtained from the teacher in her world with others, not from some a priori law, even a probalistic one … Existentially, human-beingness is not reducible to the terms of particularity, for human-beingness is not an instance of a general case“ (ebd., S. 102).

Deshalb, so fährt der Philosoph fort und betont einen weiteren wichtigen Aspekt der phänomenlogischen Methode, bedarf die Deskription pädagogischer Situationen einer theoretisch unvorbelasteten phänomenadäquaten Sprache, die ihre metaphorische Ausdrucksmöglichkeit freisetzt und „open-textured terms of description“ schafft. Dem Philosophen schwebt offensichtlich ein hermeneutisches Begriffsverständnis vor, das Hans Lipps (1986) in seiner hermeneutischen Logik als ‚Konzeption‘ bezeichnet, als ‚Be-Griff‘ in der plastischen Weise einer nur an exemplarischen Situationen z. B. des Sprachgebrauchs oder einer anderen Art zwischenmenschlicher Praxis nachvollziehbaren generellen Hinsicht auf strukturelle Phänomene (vgl. dazu ausführlich Lippitz 1980). Will man mit anderen Worten verstehen, was Erziehen ist, dann darf man nicht in deduktionistischer Manier vorhandene theoretische Definitionen heranziehen, um gleichsam von außen an das Phänomen heranzutreten, sondern man bedarf der Innensicht, der Reflexion auf den konkreten Vollzug, wie er faktisch erfolgt, unter Respektierung seiner sich darin kundgebenden Sinngehalte.

3.1  Der besondere Fall: Ein kritischer Dialog

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„Seeing is thus the perception of that experienced as opposed to that observed … One never observes the possibilities of one’s life, yet, to the extent that those possibilities play a part in the direction of one’s life, one sees them … One does not observe an action, for coexisting with overt movements are intentionalities, commitments, projects, enthusiasm, and subsidiary awareness, all of which are characteristics of experience, not observable entities or processes“ (1974b., S. 105).

Zugehörigkeit zum und Engagement im Prozess der Erziehung sind dann, so die Meinung des Professors, Bedingungen der Möglichkeit phänomenologischen Verstehens. Vorausgesetzt ist jedoch, dass sie den reinigenden Prozess der Vorurteilskritik durchlaufen, der im Sinne des hermeneutischen Zirkels ohne die deskriptive Erhellung der Phänomene nicht vorankommt (vgl. ebd.). Der weitere Lauf dieses Gesprächs führt dazu, dass sich der Praktiker auf eigene Erfahrungen mit seinen konkreten Schülern besinnt und dann bemerkt, dass – wie versteckt und wenig artikuliert auch immer – sie ihm in einzelnen Situationen selbst als individuelle Personen mit existenziellen Themen wie Sexualität, Identitätsproblemen, eigenen Interessen und Lebensstilen usw. entgegengetreten sind und seine pädagogische Antwort und Beratung als Person beansprucht haben (vgl. ebd., S. 106 f.). Worauf der Verfasser dieses Dialogs aufmerksam machen möchte, ist folgende zentrale These: Das existenziell bedeutsame genuin pädagogische Sinngeschehen ereignet sich nicht in definitorisch eindeutig erfassbaren Situationen, sondern spricht die metaphorische Sprache primordialer, vieldeutiger und expressiver, sympathetisch strukturierter Erfahrungen. Originäres Verstehen ist symbiotisch, vorbegrifflich und vermittelt ein Sinnganzes: „This sense of the whole is prelinguistic and precognitive; tonality and temporality are its media, and its time is Now, its space, Here“ (ebd., S. 109). Gerade wegen ihres zukunftsgerichteten Charakters neigt die Erziehungstheorie dazu, diese Fundierungsdimension pädagogischer Erfahrung zu übersehen. Kommen wir zum Schluss des Gesprächs. Denton ergänzt es noch in systematischer Hinsicht, indem er gegen den auch in den USA üblichen Vorwurf der mangelnden Generalisierbarkeit und des Subjektivismus (so z. B. Silk 1977, S. 222 ff.) phänomenologischer Analysen Stellung bezieht. Zwar verweist Denton jede Form eines phänomenologisch-hermeneutischen Verstehensbegriffs in seine Grenzen, wenn er den husserlschen Letztbegründungsansprüchen folgt. Dazu sei die menschliche Existenz als endliche den Kontingenzen sozio-historischer Prozesse und auch der strukturellen Undurchsichtigkeit leiblich-sinnlicher Prozesse zu sehr ausgesetzt. Dennoch seien Generalisierungen als existenzial-analytische Deskriptionen auf der Linie der heideggerschen Strukturanalysen möglich. Nur dürften sie nicht mit den ihnen fremden Maßstäben naturwissenschaftlicher Exaktheit oder Objektivität gemessen werden (vgl. Denton 1974b, S. 113 ff.).

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3.2 Hamlets Erfahrung – pragmatisch und phänomenologisch interpretiert: Maxine Greene Maxine Greenes Bestseller Teacher as Stranger lebt davon, dass es der Autorin gelingt, unterschiedliche Deutungen hochkomplexer Probleme der modernen Gesellschaft samt ihren Auswirkungen auf die Arbeit des Erziehers mithilfe von gut nachvollziehbaren Beispielen zu erschließen. Wie würde sich zum Beispiel Hamlet dem existenziellen Konflikt in seinem Vaterhaus stellen, wäre er ein Vertreter des amerikanischen Pragmatismus oder im Gegensatz dazu ein Phänomenologe? Diese Personifizierung von unterschiedlichen philosophischen Weltsichten und anthropologischen Konzeptionen von Erfahrung ist für Greene kein einfaches Stilmittel. In ihr drückt sich die Überzeugung aus, dass sich in der unterschiedlichen Art und Weise des Philosophierens und Theoretisierens eine Lebensform und eine spezifische Weltsicht artikulieren. Dass die Autorin Deweys pragmatischen Erfahrungsbegriff thematisiert, liegt in der amerikanischen Denktradition nicht nur nahe, sondern drängt nahezu den Vergleich mit dem phänomenlogischen Erfahrungsbegriff auf. Denn beide arbeiten mit einem poietischen Erfahrungsbegriff: Das Mensch-Welt-Verhältnis ist nicht statisch und dichotomisch organisiert. Der äußerlichen Welt steht kein passiv-rezeptives Sinnenwesen gegenüber, in dessen chaotischem Empfindungsmaterial ein entkörperlichter Verstand für Ordnung sorgt. Im Gegenteil, der Mensch setzt sich gestaltend mit der Welt auseinander, und zwar im Zusammenspiel von Intellekt und Sinnlichkeit. Die Welt erscheint dabei nicht als bloße physikalistisch interpretierte Objektwelt, als cartesianische res extensa (wie z. B. in Piagets Interpretation der Dingwelt). Sie ist als vom Menschen erfahrend gestaltete vielmehr ein Ineinander von Kultur und Natur. Die entscheidende Differenz zwischen dem pragmatischen und dem phänomenologischen Erfahrungsbegriff arbeitet Greene an dem Hamletbeispiel aus, dem wir paraphrasierend folgen wollen (vgl. Greene 1973, S. 127 ff.). Nach der Begegnung mit dem Geist seines Vaters transformiert Hamlet eine noch vage, Sorgen bereitende und unentschiedene Konfliktsituation in ein zu lösendes Handlungsproblem. Trotz aller Zweifel an dem Erfahrenen und Gehörten mutmaßt er: Etwas müsse im Königreich Dänemark faul sein, aber er weiß noch nicht, was. Statt zu warten und um nicht von Schuld und Verzweiflung übermannt zu werden, fängt er an zu handeln. Er stellt Hypothesen auf, wer seinen Vater wohl ermordet haben könnte, und versucht sie über ein spezielles Arrangement, dem Spiel im Spiel, zu testen. Er vermutet, dass sich der Mörder im Spielverlauf selbst entlarven würde. Darin hat Hamlet Erfolg. Aus pragmatischer Sicht hat er einen Lernprozess durchgemacht. Er ging selbstinitiativ

3.2  Hamlets Erfahrung – pragmatisch und phänomenologisch …

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und reflexiv die Untersuchung seines Problems an. Für den Pragmatiker impliziert Lösungswissen immer rationales und empirisches Denken angesichts einer komplexen und kontingenten Wirklichkeit. „Underlying this empiricism is an enormous faith in intelligence and in the capacity of intelligence to predict, control, and transform“ (ebd., S. 128). Dieser pragmatische Erfahrungsbegriff steht nach Greene dem neuzeitlichen wissenschaftlichen Selbstverständnis sehr nahe und ist folglich von seiner Legitimationskrise angesteckt worden. Das relativiert seine Geltung beträchtlich, abgesehen von anderen strukturellen Defiziten, zum Beispiel der Ausblendung der ‚Innenseite‘ und ‚Subjektivität‘ von Erfahrungsprozessen. Diese Defizite verdanken sich der biologistisch-funktionalistischen und soziologistischen Modellierungen von Erfahrung, in der Anpassungsprozesse zwischen Organismus und Umwelt stattfinden, die das Gleichgewicht herstellen und erhalten sollen. Deutlich wird in dieser Kritik die phänomenologische Alternative: „The Phenomenologist makes this (each person’s life-world) life-world central to his thinking and, in consequence, places great stress on each person’s biographical situation, on each one’s ‚standpoint‘ and the way it affects what he sees“ (ebd., S. 132).

Der Pragmatiker beginnt und endet innerhalb einer soziokulturellen Matrix, in der anfängliche ungewisse Erfahrungen mittels Experimente ihren sozialen Sinn erhalten. Der Phänomenologe dagegen beginnt mit dem Individuum inmitten des Alltagslebens mitsamt seinem darin erworbenen, biografisch relevanten Wissen. Insofern ist seine Situation, so wie er selbst als biografisches Wesen einzigartig. Er lebt zwar in der Welt, die er mit den anderen teilt, jedoch verwandelt er sie durch seine Erfahrungen in seine Welt (vgl. ebd.). Das wäre nun an Hamlet zu exemplifizieren. Greene beginnt mit der sozialphänomenologischen Lesart von Alltagserfahrung im Sinne von Alfred Schütz. Der dänische Prinz kehrt vom Begräbnis seines Vaters in Wittenberge zurück und tritt wieder in die ihm gewohnte und vertraute heimatliche Alltagswelt mit ihren Handlungsrezepten und vorgefertigten typifizierten Wissensbeständen ein. Sie fungieren so lange unproblematisch und sind für Hamlet eine unbefragte, unbewusste Selbstverständlichkeit, bis die unalltägliche Traumwirklichkeit der Begegnung mit dem Geist seines Vaters seine Partizipation am Alltag erschüttert und ihm einen Standpunkt jenseits dieser ausgezeichneten Realität verschafft. Phänomenologisch gesprochen ist das das existenziell dramatische Ereignis der epoché, der kritischen Bewusstwerdung und Einklammerung gängiger Erfahrungen und Vorurteile, der Befremdung und

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des Unvertraut-werdens. Wegen seiner innigen Beziehungen zu den Familienangehörigen ist Hamlet nicht der kühle berechnende Prüfer der neuen Situation. Im Gegenteil, neue Wahrnehmungsmöglichkeiten, durch Traum, Erinnerungen, Lügen und Fassadenhaftigkeit von alltäglicher Wirklichkeit initiiert, erschüttern seine Identität und enden dramatisch in den Zusammenbrüchen seiner Alltagsgewissheiten. Leidenschaftlich erforscht er sich selbst und die Rolle seiner nächsten Angehörigen. Ihm tut sich nicht bloß eine ‚kognitive Dissonanz‘ auf, sondern ein tiefer Graben von Schuld und ungewollter Verstrickung. Jetzt wird seine Entscheidung herausfordert, um sich davon zu befreien, um wieder Freiheit des Handelns und Denkens zu erreichen, um – existenzialistisch gesprochen – wieder authentisch leben zu können. Erfahren in phänomenologischer Hinsicht ist, so Greene (vgl. ebd., S. 134), engagierte, subjektive Klärung von Erfahrungen, die zugleich gegenüber den eingespielten alltäglichen Erfahrungen kritisch eingestellt ist und ihre biografische Situierung nicht verleugnen kann. Verlassen wir damit das Hamlet-Beispiel. Wichtig ist für Greene zu betonen, dass die phänomenologische Deutung von Erfahrung in unserer von den objektivierenden Methoden beherrschten Wissenschaftskultur eine komplementäre Aufgabe zu erfüllen hat (vgl. ebenso Troutner 1974a). Der Phänomenologe bestreitet nicht die Fähigkeit des Naturwissenschaftlers, subjektive Weltdeutungen zugunsten objektiver, idealer oder konstruktiver zu überwinden. Aber er stellt grundsätzlich die Möglichkeit des Sozialwissenschaftlers infrage, soziale Realität zu interpretieren, ohne seine eigene Biografie oder innere Zeitlichkeit ins Spiel bringen zu müssen. Aus diesem Grunde sympathisiert der Phänomenologe mit denen, die die Gleichgültigkeit derjenigen Sozialwissenschaftler tadeln, die menschliche Verhältnisse wie Naturdinge behandeln und manipulieren (vgl. Greene 1973, S. 135). Mit dieser Auffassung bewegt sich Greene in nächster Nähe zur Verstehenden Soziologie und zur Kritischen Theorie eines Jürgen Habermas. Dessen Theorie des kommunikativen Handelns rekurriert gleichfalls auf das sozialphänomenologische Theorem der notwendigen Partizipation des Sozialforschers an der ‚Innenseite‘ der Sinnkonstitution des gesellschaftlichen Alltags. Er bedarf eigener sozialer Erfahrungen, um überhaupt in der Lage zu sein, Handlungssinn zu entschlüsseln. Phänomenologisch orientierte Pädagogik versteht sich in den USA als gesellschafts- und institutionenkritische Strömung im Gegensatz zu konservativen Positionen normativer oder empirisch-pragmatistischer, auf ‚social adjustment‘ gerichtete Pädagogikkonzeptionen. Denn nicht nur Greenes kulturkritisch angelegte Pädagogik hat gesellschaftskritische Züge und operiert mit dem ideologiekritischen Theorem der Entfremdung (vgl. auch Palermo 1976). Um ein weiteres Beispiel zu nennen, die kleinere phänomenologische Studie über den

3.3  Vandenbergs Systementwurf

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genuin phänomenologischen Erfahrungs- und Lernbegriff, der zumindest untergründig das Konzept der Freien Schulen fundiert, (vgl. ebd.) ist schulkritisch angelegt. Die rund zehn Jahre später entstandene Studie von Polakow-Suransky (1982) The Erosion of Childhood untersucht das generelle Phänomen der Erosion der Kindheit in den USA. Sie analysiert sozialkritisch und kulturvergleichend das amerikanische Vorschulsystem. Es lässt nur den Kindern aus den oberen und wohlhabenden Gesellschaftsschichten eine pädagogisch anspruchsvolle Betreuung angedeihen und vernachlässigt Kinder aus ärmeren Schichten, indem es sie bloß aufbewahrt. Polakow-Suransky belegt diese Kritik mittels phänomenologisch orientierter Feldforschungen im Sinne der Utrechter Schule, um die Innenseite pädagogischer Institutionen und deren Wirkungen auf das Raum-, Zeit- und Selbsterleben von Kindern beschreiben zu können. Zugleich orientiert sie sich an den zivilisationskritischen Arbeiten von Illich und Freire. Es ist hier wichtig, diese gesellschaftskritische Seite der phänomenologisch orientierten Pädagogik in den USA hervorzuheben, da zum Schluss dieses Kapitels der wohl einmalige Versuch von Vandenberg zur Sprache kommen soll, aufbauend auf dem Erfahrungsbegriff eine Regionalontologie der Pädagogik als System von Erfahrungsdimensionen zu entwerfen (Vandenberg 1974). Dadurch geschieht gewissermaßen eine ‚Versteinerung‘ des ansonsten offenen hermeneutisch-phänomenologischen Erfahrungskonzepts, das wir bei Greene oder Denton angelegt finden.

3.3 Vandenbergs Systementwurf Dieser Entwurf (1974, S. 183–219) einer Erziehungswissenschaft beginnt mit der folgenden Definition: „Educational research is the factual, theoretical, and normative investigation of the reality of education, that is of educating“ (ebd., S. 183). Dieser für unsere deutschsprachige Tradition klassische geisteswissenschaftliche Bestimmungsversuch, der die konkrete Erziehungswirklichkeit als Wirkungsgefüge in den Mittelpunkt stellt und Deskription mit normativer Auslegung verbindet, verfolgt auch das gleiche Ziel: die relative Autonomie der Erziehungswissenschaft gegenüber den anderen anthropologischen und Sozialwissenschaften zu sichern. Dazu muss sie ihr ureigenes Forschungsgebiet abstecken. Sie hat ein adäquates Erfahrungs- und Methodenverständnis entwickelt, das aber nicht selbstgenügsam der Konsolidierung als Wissenschaft dient, sondern ihre praktische Relevanz für die im Erziehungsfeld konkret Tätigen ausweisen muss. Erst wenn die Erziehungswissenschaft ein eigenes Selbstverständnis gewonnen hat, ist sie nach Vandenberg überhaupt in der Lage, die Theorieangebote und

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Forschungsresultate benachbarter Einzeldisziplinen hinsichtlich ihrer pädagogischen Bedeutsamkeit auszuwählen und anwendbar zu machen (vgl. ebd., S. 187). Die Konstitution einer solchen eigenständigen Erziehungswissenschaft ähnelt auffällig den ersten phänomenologisch orientierten Versuchen zu Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Es ist jedoch eine Einschränkung zu machen, Vandenberg übernimmt zwar Husserls Programm einer phänomenologisch zu begründenden Regionalontologie, hier der Erziehungswissenschaft (ebd., S. 217), nur lehnt er Husserls Bewusstseinsphilosophie als zu eng ab und orientiert sich stattdessen an Heideggers daseinsanalytischer Hermeneutik. Systematischer Ausgangspunkt des wissenschaftlichen Verstehens ist die konkrete Praxis der Erziehung. Dort trifft man auf das zumeist implizite vortheoretische, handlungsleitende Praxisverständnis des Erziehenden (‚practitioner’s pre-theoretical understanding‘). Dieses Verständnis ist eine Mischung aus deskriptiven, analytischen und normativen Elementen. Denn für den Erzieher wird der Prozess des Erziehens zumeist dann thematisch, wenn er als zu lösendes Problem des Verstehens und des Handelns die Alltagsroutine stört. Da erzieherische Akte zukunftsgerichtet, auf Förderung und Entwicklung des zu Erziehenden angelegt sind, gehören zu ihnen sowohl die normative als auch die analytische Dimension. Unter welchen Bedingungen kann etwas, was noch nicht ist, erreicht werden (vgl. ebd., S. 196)? Praxisverstehen hat nach Vandenberg die pragmatische Struktur des Problemlösens. Diesem impliziten vortheoretischen Erziehungsverständnis, das sich in konkreten Erfahrungen ausbildet, schreibt Vandenberg – ganz im Sinne einer phänomenologischen Rehabilitierung der doxa – eine ausgezeichnete Rolle in der Konstitutionstheorie der Erziehungswissenschaft zu: Es begründet den Primat der Praxis vor der Theorie und eröffnet den Weg zur originären erzieherischen Erfahrung. „Specific situations, relations, and activities are immediately recognizable as educational situations, relations, and actions. This depends upon the pre-philosophical understanding of them, acquired in experience, but it does not depend upon explicit, intellectual understanding of education or educational theory … This intuitive apprehension of educating as it appears prior to any explication is as essential to the validity of fundamental educational theory as employment of the dialogical principle…“ (ebd., S. 200).

Vandenberg wäre kein Phänomenologe oder Hermeneutiker, wenn er jeder Art von praktischer Erfahrung die Weihen einer originären Erfahrung erteilen würde. Praktische Erfahrungen durchlaufen einen mehrstufigen Prozess: sie werden kritisch hinsichtlich ihrer geläufigen mehr oder weniger theoretisch vorgeprägten

3.3  Vandenbergs Systementwurf

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Meinungen und Begrifflichkeit durchleuchtet. Dann erfolgt die eidetische Variation ihrer Bedeutungen, die auf ihre Verallgemeinerbarkeit zielt und damit ihr ‚originäres Wesen‘ aufdeckt. Man gelangt schließlich zur fundamentalontologischen Theorie der Erziehung. Sie besteht aus „a finite number of necessary jugdments that describe the essential features as an interhuman, existential phenomenon“ (ebd., S. 198), wenn man jedes originäre Phänomen in Beziehung zu anderen setzt und damit in einer Gesamtstruktur verankert (vgl. ebd., S. 202). Damit hat man schließlich die Position einer relativ autonomen Erziehungstheorie erreicht, von der aus die Integration der Ergebnisse und Theorieangebote der Nachbarwissenschaften der Pädagogik erfolgen kann und von der aus handlungsleitende pädagogische Prinzipien formuliert werden. Wie man ein solches für die Erziehungstheorie notwendiges Wesensmerkmal erarbeitet, führt uns Vandenberg am Beispiel der Zielbestimmung der Erziehung vor (vgl. ebd., S. 203 ff.). Das wesentliche und grundlegende Ziel kann, wie schon gesagt, nicht von einer der Erziehung vorgeordneten Theorie (z. B. einer Ethik) abgeleitet werden. Erziehen ist ein Lebensweltphänomen, geschieht alltäglich auch ohne wissenschaftliche Anleitung als konkreter, zielgerichteter Akt. Gibt es dann ein vorphilosophisches praktisches Verstehen, das dieses Ziel ‚entdeckt‘, statt es zu erfinden oder zu konstruieren? Muss man jedoch nicht von einer Vielfalt von Einzelzielen ausgehen, aufgrund der vielfältigen Erscheinungsformen von Erziehung in unterschiedlichen Institutionen mit ganz verschiedenen Adressaten und auf differenten Niveaus? Vandenbergs Antwort deckt sich ganz traditionell mit der anthropologischen Grundüberzeugung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik: Das Ziel der Erziehung ist, dass sie weitere Erziehung überflüssig macht. „The aim of educating is the development of the adult who exists independently of any pedagogic relation, that is, the independent adult“ (ebd., S. 205). Nicht nur zeigt sich dieses Ziel in der Banalität alltäglicher Praktiken und Überzeugungen, das Kind ‚auf die eigenen Füße zu stellen‘ (bzw. stellen zu müssen). Sondern dieses Ziel der Hilfe zur Selbstständigkeit ist auch ein interkulturelles Phänomen. Eröffnet man im Sinne einer dialogischen Prüfung des Phänomens den Diskurs mit anderen theoretischen Auffassungen (Methode der Variation), dann setzt nach Vandenberg sogar eine extrem rollenfunktionalistische Sozialtheorie voraus, dass der zur Ausübung der sozialen Rollen erzogene Erwachsene dazu selbstständig in der Lage zu sein hat. Um die Verallgemeinerbarkeit dieser Ziele zu sichern, verweist Vandenberg auf die konkrete Beobachtung, dass jedes Kind, auch unter optimalen, saturierenden Lebensbedingungen einen unbändigen Drang zum Größer- und Erwachsenwerden zeigt. Gewissermaßen lebt es darin die in der Existenzphilosophie explizierte existenziale Struktur aus: Der Mensch ist nicht nur, vielmehr hat er

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zu sein und ist sich daher aufgegeben, indem er sich auf seine Möglichkeiten hin entwirft. Vandenberg fügt dieses Hauptziel der Erziehung mit dem gleichfalls phänomenologisch erschließbaren Grundphänomen der erfahrbaren Hilflosigkeit des Kindes zusammen. Das Kind ist noch nicht selbstständig. Darauf gründet sich die pädagogische Autorität, die Hilfe zur Selbsthilfe leistet (vgl. ebd., S. 213). Das Phänomen der Erziehung kombiniert also das Wesen des Kindes als eines Erziehungsbedürftigen mit der Zielbestimmung des pädagogischen Handelns. Deskription und Norm gehen zusammen. „As the hermeneutic phenomenological of education proceeds, it will come to disclose an entire phenomenal region. It will supply a regional ontology of education“ (ebd., S. 217).

Fassen wir zum Schluss die wichtigsten Merkmale der amerikanischen phänomenologisch-existenzialistischen Pädagogikrichtung zusammen: 1. Sie ist als pädagogische Anthropologie des Kindes und Jugendlichen individualgenetisch orientiert und vertritt eindeutig eine kindorientierte antirepressive Erziehungsauffassung (Palermo 1976; Vandenberg 1969, 1974). 2. Dabei ist sie keineswegs individualistisch, sondern betont als konstitutive intersubjektiv strukturierte Grundlage der Erziehung die leiblich dimensionierte, vorsprachliche und sprachliche, kulturell vermittelte kommunikative und dialogische Beziehung zwischen Erzieher und Erzogenem (Greene 1974; Palermo 1977; Chamberlin 1971). 3. Sie vertritt als Lern- und Curriculumtheorie die Position des aktiv und kreativ lernenden, alle seine Sinne gebrauchenden Subjekts. Da ein solches Subjekt seine eigene Lern- und Erfahrungsgeschichte hat, also seine eigene lebensbedeutsame Welt in die Schule mitbringt, können Bildungsgehalte nicht ausschließlich als kognitiv strukturierte Wissens- und Methodenbestände in der Form wissenschaftsorientierter Curricula präsentiert werden, sondern bedürfen der durchaus konflikthaften Vermittlung mit lebensweltlich bedeutsamen Erfahrungen (vgl. dazu Greene 1971, 1974; Dennis 1974; Vandenberg 1969; Palermo 1974). 4. Sie steht in der humanistischen Bildungstradition, indem sie Bildung als individuellen Prozess des Mündigwerdens, der Identitätsfindung und der zunehmenden Kritikfähigkeit an entfremdenden gesellschaftlichen Entwicklungen konzipiert (vgl. insbesondere Greene 1973; Vandenberg 1971; Chamberlin 1969).

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5. Sie ist wissenschaftskritisch und alltagsorientiert. Zum einen rehabilitiert sie vorwissenschaftliche, vorrationale ästhetische und alltägliche Erfahrungsmöglichkeiten, zum anderen bekämpft sie vehement naturalistische (behavioristische und biologistische), funktionalistische und objektivistische Richtungen der Sozialwissenschaft genauso wie normativ-ethische Systeme. 6. Sie ist weder nationalistisch noch regionalistisch auf einen Kulturkreis eingeschränkt, sondern interkulturell orientiert (vgl. insbesondere Chamberlin 1969; Vandenberg 1971). 7. Sie ist weder ‚reine Theorie‘ noch ausschließlich wissenschaftszentriert. Vielmehr hat sie die Gestalt einer praxisnahen engagierten Reflexion, einer interessierten und partizipativen Forschung, die einmal die präreflexive Logik der Handlungspraxis zum systematischen Ausgangspunkt ihrer Analysen nimmt. Zugleich will sie als normativ-anthropologische schul-, curriculum-, oder allgemeiner zivilisationskritische Theorie orientierend auf die Praxis zurückwirken. 8. Sie hat einen ungeklärten wissenschaftlichen und philosophischen Status. Einerseits bekundet sie ihre lebensweltliche Erfahrungsoffenheit und Unabschließbarkeit (so u. a. Greene, Denton, Chamberlin), andererseits sucht sie struktur- oder regionalontologisch nach einem kohärenten System der Erziehungstheorie (Vandenberg 1974; Troutner 1974a, 1974b).

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3  Einblicke: Ausgewählte phänomenologisch-pädagogische Diskurse …

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4

Bildung, Kultur und Alterität – Bildungsphilosophische Interpretationen

Bildung als erziehungswissenschaftlicher Grundbegriff in Deutschland, für den es im angelsächsischen Raum keine genaue Entsprechung gibt, hat in Verbindung mit dem Begriff der Kultur eine wechselvolle, bis heute nicht abgeschlossene Geschichte erfahren. Das betrifft die Vielfalt seiner Bedeutungen wie auch die Versuche, ihn in philosophisch systematischen und sozialwissenschaftlichen Kontexten zu konkretisieren. Der rote Faden, der diese Abhandlung durchzieht und der die kritische Sichtung einiger wichtiger Deutungsmuster des Bildungs- und Kulturbegriffs begleitet, ist die Rekonstruktion des prekären Verhältnisses zwischen Bildung, Kultur und Alterität im Sinn von Andersheit und Fremdheit. Allgemein drücken sich im Bildungs- und Kulturbegriff das menschliche Selbst- und Weltverständnis aus. Bildung und Kultur sind Ordnungsbegriffe. Sie operieren in ihrer sozialen, moralischen, kognitiven oder intellektuellen Bedeutung mit mehr oder weniger starken Differenzen und Mustern der Alterität (des Andersseins), um sich von dem abzugrenzen und das auszuschließen, was sie nicht sind oder was anders oder sogar fremd ist. Zur Sprache kommen im Folgenden nach einer allgemeinen Vorstellung von geläufigen Mustern dieses Verhältnisses eine sozialgeschichtlich ideologiekritische Lesart dieses Verhältnisses von Bildung, Kultur und Alterität. Danach werden begriffs- und ideengeschichtliche Aspekte thematisiert, die antike, mittelalterlich-christliche, neuzeitliche Modellierungen dieses Verhältnisses aufzeigen. Im nächsten und letzten Teil werden in Abgrenzung vom bis heute wirkungsmächtigen neuzeitlichen, von der Subjektivitätsmetaphysik bestimmtem Bildungsverständnis unterschiedliche phänomenologischer Modellierungen der Alterität und Intersubjektivität kritisch rekonstruiert. Deutlich wird als Ergebnis, dass Bildung und Kultur nur in

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Lippitz, Phänomene der Erziehung und Bildung. Phänomenologischpädagogische Studien, Phänomenologische Erziehungswissenschaft 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24187-2_4

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4  Bildung, Kultur und Alterität – Bildungsphilosophische Interpretationen

inniger Verschränkung mit Alterität die nötige Deutungsoffenheit bewahren, die sie davor schützt, starke Identitätsmuster der Eigenheit auf Kosten des Anderen zu behaupten. Zur anfänglichen Verständigung möchte ich einige übliche Muster des Verhältnisses von Bildung, Kultur und Alterität vorstellen: • Soziale Differenz und Distinktion: Bildung und Kultur hat der, der im Gegensatz zum Ungebildeten hinsichtlich seiner Ausbildung, seines Lebensstils und seines kulturellen Geschmacks ein hohes soziales und kulturelles Kapital erworben hat. • Moralisch relevante Differenz mit Bezug auf Personen und Inhalte: ‚Persönlichkeiten‘ gelten als gebildet und kultiviert, wenn sie integer sind und sozial und moralisch hochgeschätzte Tugenden verkörpern im Gegensatz zu den Halbgebildeten oder Bildungsphilistern, die Bildung imitieren und ihre Bildungsdiplome bloß zur sozialen Distinktion benutzen. Wissen wird zum Bildungsinhalt, wenn es sich als moralisch wertvoll, als orientierend für die Lebensführung und als philosophisch oder religiös reflektiert und fundiert erweist. • Anthropologische Differenz: Bildung ist gekoppelt an Bildsamkeit und deren Entwicklungsfähigkeit durch Prozesse der Kultivierung und Erziehung. Erwachsene können gebildet sein, Kinder sind es noch nicht. • Differenzmuster der Identität: Bildung und Kultur zielen seit der neuhumanistischen Tradition auf die Selbstbildung des Individuums in der Aneignung von hochkulturellen Inhalten. Jedoch seit der Subjektkritik der Nachmoderne wird ein starkes identitätsphilosophisches Subjektverständnis infrage gestellt durch Themen und Formationen der Alterität in epistemologischer und ethischer Hinsicht. Bildung meint in subjektkritischer Ausrichtung das Fremd- und Anderswerden des Bildungssubjekts.

4.1 Bildung, Kultur und die Anderen – Formationen der sozialen und politischen Distinktion Begriffe wie ‚Bildung‘, ‚Kultur‘ oder ‚Zivilisation‘ sind politisch wirksame kollektive ‚soziale Deutungsmuster‘ (vgl. Bollenbeck 1996), die mit Ordnungsmustern der Inklusion und Exklusion operieren. Wer als gebildet oder kultiviert gilt in einer Gesellschaft, der gehört zur Elite und unterscheidet sich von der Masse der Ungebildeten. Das in einer geschichtlichen Epoche jeweils gültige

4.1  Bildung, Kultur und die Anderen – Formationen der sozialen …

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­ ildungs- und Kulturverständnis wird von gesellschaftlichen Eliten bestimmt. Sie B legitimieren darüber die geistige und politische Führerschaft, auch wenn sie für alle Menschen sprechen. Nehmen wir als Beispiel das antike Griechenland (vgl. dazu Benner/Brüggen 2003, S. 174–215; Ballauff/Schaller 1969). Im klassischen Griechenland markiert Bildung als Paideia die sozialhierarchische Ordnung der Polis. Sie ist das Privileg einer elitären sozialen Schicht. Das klassische Griechenland ist eine Sklavenhaltergesellschaft. Die körperliche Arbeit und die Auseinandersetzung mit der Natur werden gering geschätzt. Sowohl in Platons sozialhierarchischer Staatstheorie wie auch bei Aristoteles sind Arbeitende wie Handwerker, Bauern, Händler keine vollwertigen Bürger. Bildung (paideia) ist mit Muße verbunden, die man benötigt, um den Staatsgeschäften nachzugehen. Bildung wird als intellektueller Befreiungsprozess einiger weniger gedacht, die ein göttliches Los dafür prädestiniert hat. Platons Höhlengleichnis zeigt: Bildung als Ideenschau gelingt, wenn man mit dem alltäglichen Tun und Denken (doxa) radikal bricht, die Fesseln der irdischen Schattenwelt abwirft und sich in einem schmerzhaften Prozess der Emanzipation dem ‚Licht‘ zuwendet, den ewigen und allgemeinen ‚Ideen‘ des Wahren, Guten und Schönen. Sie zu schauen und sich ihrer als Vermögen der eigenen Seele zu erinnern, ist nur wenigen vorbehalten, nämlich den Philosophen. Bildung ist also ein elitäres geistiges Gut, eine Gabe der Götter. Ihr teilhaftig geworden zu sein, legitimiert die geistige Führerschaft einiger weniger Auserwählter. In der römischen Gesellschaft wird der Gegensatz von Bildung und Arbeit aufgehoben. Bildung ist weiterhin ein elitäres Gut der freien Bürger. Sie zielt ganz allgemein auf die Pflege des Menschen, auf seine Erziehung, auf seine Sorge um sich selbst. Kultur als cultura animi wird abstrakt zur Pflege der Wissenschaften und Künste, Verehrung der Götter und meint sowohl den Prozess des Kultivierens wie auch das Ergebnis. Die Gelehrtendiskussion im Mittelalter thematisiert mit Bildung allgemein das Verhältnis des Menschen zu Gott als ein hierarchisches und ontologisch begründetes Differenzverhältnis. Es zeigt sich in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Darin ist er hinsichtlich seiner unsterblichen Seele und seines Geistes Gott nahe, hinsichtlich seines sterblichen Leibes und seines irdischen und sündigen Lebens Gott fern, aber den anderen animalischen Geschöpfen nahe. In der Gottesebenbildlichkeit werden die moralischen und auch intellektuellen Maßstäbe gesucht, an denen sich die geistliche Elite in asketischer Einstellung ausrichtet und von denen aus der Heilsweg aller Menschen hin zu Gott bestimmt werden soll. Davon wird später noch die Rede sein.

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4  Bildung, Kultur und Alterität – Bildungsphilosophische Interpretationen

Im Ausgang des Mittelalters und in der Renaissance löst sich das theozentrische Weltbild zunehmend auf.1 Die Unterschiede zwischen Gott, Menschen und Welt vertiefen sich, und das kosmologische Weltverständnis bricht auseinander. Nun sind es die schriftkundigen und gebildeten städtischen und höfischen Eliten, die mittels Philosophie und Wissenschaft neben dem Handel die ständischen Schranken aufbrechen. Vereinzelt stellen sie sich sogar in den Gegensatz zur Gesellschaft und markieren so die für die Neuzeit typische Differenz von Individuum und Gesellschaft. Der Dichterphilosoph Petrarca (1304–1374) formuliert als Credo: ‚Ich bin einer und möchte ungeschmälert einer bleiben‘. Das individuelle Erleben wird wichtig, und man sucht dafür nach poetischen und künstlerischen Mitteln des Selbstausdrucks. In der Literatur und Poesie kommen das Individuum zur Sprache, sein Selbstwerden und seine Leistungen in Abhebung von den Anderen. Das Ich in der Figur des Selbstseinkönnens und Selbstseinwollens betritt die geschichtliche Bühne. Noch eine weitere Figuration des Ich zeigt sich. Im Aufkommen der Naturwissenschaften grenzt sich das epistemologische Subjekt scharf vom Objekt ab. Dieses Subjekt nimmt die Welt aus der Schöpferordnung heraus und bestimmt sie neu, mittels Messung, mittels Normierung der Zeit, mittels empirischer Methoden. Die Welt, die Natur und letztlich auch der Mensch, sie werden zum mathematisierten, vermessenen, ausgedehnten Objekt (vgl. dazu die historisch-anthropologische Studie von Kutschmann 1986). Die Welt der Wissenschaften, die nur wenigen Gebildeten zugänglich ist, hebt sich als ganz andere Welt, quasi als Parallelwelt, von der alltäglichen, sinnennahen und von ständischen Normen und Regeln geordneten Welt ab. Das humanistische Bildungsideal ist an die städtischen und höfischen Bildungseliten gebunden. Es orientiert sich an der römischen Antike. Die studia humanitatis dienen der Kultivierung der Anlagen (cultura animi). Man diszipliniert nicht nur über methodisches Wissen die Natur, sondern sich selbst, indem man sich zivilisiert. Wie Norbert Elias in seiner Kultur- und Sittengeschichte dargelegt hat, befördert zivilisiertes Benehmen bei Hofe die Individualisierung (vgl. Elias 1976). Man verfeinert die Sitten über Praktiken der Distanzierung von den alltäglichen Dingen des Lebens. Man verstärkt seine Selbst- und Fremdbeobachtung über klug eingesetzte Selbstkontrolle und Rücksichtnahme, um in der Konkurrenz mit den vielen Anderen bei Hofe möglichst viel Einfluss

1Zur

Darstellung des humanistischen Bildungsverständnisses seit den römischen Ursprüngen bis zur Kritik im 20. Jahrhundert vgl. Ruhloff 2003, S. 443–454.

4.1  Bildung, Kultur und die Anderen – Formationen der sozialen …

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und Macht zu gewinnen. Das Leitbild des vollkommenen Hofmannes, des vollkommenen Menschen entsteht. Mit der Zeit wandert dieses Bild auch in die städtischen Oberschichten und in das Bürgertum. Es erhält dort, in Abgrenzung vom Adel, einen zutiefst moralischen Sinn, der bürgerliche Bildung gegenüber höfischer Zivilisiertheit abgrenzt. Denn im 18. Jahrhundert bekommt diese Art von Zivilisiertheit einen negativen Klang. Das aufkommende Bürgertum kritisiert die Manieriertheit, Oberflächlichkeit, Maskenhaftigkeit der Adligen vor dem Hintergrund einer eigenen Kultur der Seele und des Gemüts. Hofmann und Bürger sind gesellschaftliche Antipoden in ihrem Selbst- und Weltverständnis. Die Bürger haben gewissermaßen Kultur verinnerlicht und moralisiert, der Hofmann ist bloß zivilisiert im Sinne oberflächlichen guten und klugen Benehmens (vgl. dazu Vohwinkel 1983). Im Absolutismus verbinden sich Kultur und Bildung mit tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialpolitischen Reformen von oben. Es geht um Hebung des Wohlstandes, Sicherheit des Staates, um Förderung der Arbeitstugenden und Moral, und es ist die Aufgabe der Policey-Wissenschaften, sie zu sichern. Die neue Trägerschaft von Kultur und Bildung ist eine kleine elitäre Schicht, die Beamtenschaft, die vom Bildungsbürgertum gestellt wird. Neu am Bildungsverständnis und Kulturbegriff ist der Fortschrittsgedanke, d. i. seine Dynamisierung und Zukunftsorientierung. Europa gilt als Mitte der Zivilisation der Menschheit. Kulturgeschichtliche Werke betonen nun die geschichtliche Individualität der Völker und messen sie an Fortschritten in der Ökonomie, des Geistes und der Moral. Obwohl der Bildungs- und Kulturbegriff bürgerlich geprägt ist, thematisiert er den allgemeinen Menschen jenseits der Standesprivilegien, sogar im Gegensatz dazu. Bildung und Kultur sind in den Anfängen des Bürgertums kritisch und emanzipatorisch ausgerichtet. Mit der Konsolidierung dieser sozialen Schicht verliert sich jedoch besonders in Deutschland dieser kritische Impetus. Für den gleichsam deutschen Eigenweg des Begriffs2 wird kennzeichnend, dass im deutschen Idealismus und in der Weimarer Klassik der Begriff Kultur und Bildung die ökonomischen und technischen Bewährungsfelder der bürgerlichen Existenz weitgehend ausblendet. Das akademisch gebildete Bürgertum in Deutschland, so auch die Beamten, spielen eine wichtige Rolle als Pioniere einer bürokratisch-etatistischen Modernisierung mit liberalen Zielen. Sie passen sich politisch dem Obrigkeitsstaat an und kultivieren abseits davon ihre innere und

2Vgl.

zur staatstragenden Funktion des Bildungsbegriffs auch Klaus Prange 2006 mit weitgehender Referenz auf Bollenbeck (op. cit. 1996).

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4  Bildung, Kultur und Alterität – Bildungsphilosophische Interpretationen

schöngeistige, altsprachliche humanistische Bildung. Zugleich erhalten Bildung und Kultur in der ‚verspäteten‘ Nation Deutschland eine wichtige integrative Funktion, indem sie nationalistisch eingefärbt werden. Seit dem 19. Jahrhundert meinen Bildung und Kultur eine für die Deutschen eigentümliche Volksbildung oder Volkskultur. Diese Auffassung hatte im Rahmen der Herausbildung der ‚verspäteten Nation‘ Deutschland eine machtpolitische Ordnungsfunktion im Vergleich mit anderen führenden europäischen Nationen. Nationale Bildung und Kultur schaffen Differenz, Abgrenzungs- und Ausgrenzungsmöglichkeiten. Sie bestimmen darüber zugleich das Eigene und Eigentümliche, das sogenannte ‚Wesen‘ der ‚deutschen Kultur‘, in Differenz zu dem Wesen anderer Nationen. Franzosen, so heißt es, mögen ‚zivilisiert‘ sein, aber ob sie ‚Kultur‘ haben, das scheint aus deutscher, idealistisch und romantisch geprägter Sicht eher zweifelhaft. England gilt als Hort des Materialismus und Utilitarismus, aber Deutschland hat ‚Gemüt‘ und innere Bildung. ‚Bildung‘ und Kultur als soziale Deutungsmuster zeigen in gewisser Weise kontrastiv, wer man selbst ist und oder nicht ist oder sein will. Sie leisten damit ihren Beitrag als ‚Integrationsideologie‘ für das entstehende Deutsche Reich als Nation und zugleich für das deutsche Bildungsbürgertum in seiner vormals dominierenden Rolle der ideologischen, aber politisch eher ohnmächtigen Rolle. Das bildungsbürgerliche Verständnis von ‚Bildung‘ gleicht einer ‚unpraktischen Bildungsreligion‘ (vgl. Bollenbeck 1996, op. cit., S. 162 ff.). Denn Bildung soll zweckfrei, rein geistig und ästhetisch sein. Das Andere der Bildung, das sind das Nützliche, das Funktionale, die soziale Brauchbarkeit, kurz die Berufe, die politischen und ökonomischen Geschäfte, die materiellen Lebensverhältnisse. In Deutschland erwartet man die Reformen der Gesellschaft und ihrer Institutionen von der Obrigkeit, nicht vom gebildeten Bürgertum. Dieses bürgerliche Bildungsverständnis wird sozialpolitisch und bildungspolitisch folgenreich im Schulsystem umgesetzt. Es hat seitdem bis in die jüngste Zeit ständischen Charakter. Zwar lautet die Devise: Bildung für alle und jeden. Aber gemeint sind die elitären Schichten der bildungsbürgerlichen ‚Geistesaristokratie‘ mit ihren Zugangsprivilegien zum höheren Staatsdienst. Universitäten sollen ‚Schulen der Selbstbildung‘ werden, im ‚Geist des freien Forschens‘. Die philosophische Fakultät bekommt die herrschende Stellung. Das Gymnasium wird auf die Universität hingeordnet. Es ist literarisch, mathematisch und sprachlich ausgerichtet. Sieht man genauer hin, stellt man fest, dass man im ‚Geiste des Allgemeinen‘ partikulare Interessen durchsetzt. Über die Universität gelangt man in die begehrten Berufe der höheren Beamten, Ärzte, Notare, Anwälte, usw. Man kann vom Militärdienst befreit werden. Die Freiheit der Wissenschaft wird gegen obrigkeitsstaatlichen Dirigismus verteidigt, gegen ihre bloß instrumentelle Verwendung. Insgesamt sorgt also die

4.1  Bildung, Kultur und die Anderen – Formationen der sozialen …

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Institutionalisierung der Bildung für die soziale Reproduktion bürgerlicher Eliten. Man unterscheidet dabei zwischen allgemeiner, gymnasialer Bildung und der elementaren Volksbildung. Das gilt noch bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts, wo prominente Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik mit der Differenz von elitärer Geistesbildung in den Gymnasien und ‚elementarer Volksbildung‘ an Volksschulen das dreigliedrige Schulsystem legitimieren wollen, so beispielsweise der in Deutschland bekannte und einflussreiche geisteswissenschaftliche Pädagoge Eduard Spranger (vgl. Spranger 1952, S. 72–86). Seit dem Ende des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts lassen sich folgende Tendenzen beobachten: Die reaktionären und nationalistischen, ja sogar rassistischen Tendenzen im Bildungs- und Kulturverständnis verstärken sich (vgl. dazu Bollenbeck 1996, S. 161 ff.). Damit werden die Begriffe ‚Bildung‘ und ‚Kultur‘ politisch und auch bildungsphilosophisch desavouiert. Zugleich verliert das Bildungsbürgertum seine staatstragende Bedeutung. Die allgemeine Modernisierungskrise um die Jahrhundertwende stellt den Allgemeinheitscharakter der neuhumanistischen Bildung infrage. Man wird konfrontiert mit der Ausdifferenzierung der Wissenschaften. Sie drängen die Geisteswissenschaften an den Rand. Außerdem zerfällt das für allgemein gehaltene Kunst- und Kulturverständnis. Das Bildungsbürgertum sieht sich einer Kunst- und Kulturkritik gegenüber, die alle traditionellen Maßstäbe des Guten und Schönen zerstören. Kunst und Kultur in der Krise der Moderne werden selbst zum radikal Anderen der bürgerlichen Kunst und Kultur. Sie verlieren ihren verbindlichen Charakter und ihre allgemeine Orientierungsfunktion. Typisch für unsere Zeit ist, dass die Bildungs- und Kulturdiskussion immer wieder auflebt, ob es nun die aktuellen, die Schulsysteme vergleichenden PISA-Studien sind, die einmal mehr das hochselektive Bildungssystem in Deutschland anprangern, obwohl es sich als allgemeinbildendes und demokratisches Schulsystem versteht, oder ob sich die politische Diskussion um eine wiederzubelebende ‚deutsche Leitkultur‘ dreht, von der aus starke assimilatorische Integrationskonzepte für Migranten aus anderen Kulturen formuliert werden. Bildung und Kultur entziehen sich bis heute einer konsensuellen Bestimmung. Der andauernde bildungspolitische Streit über ihre Bedeutung scheint eher ein Indiz dafür zu sein, dass in einer pluralistischen Gesellschaft die Suche nach verbindlichen und allgemeinen Orientierungsmaßstäben der Bildung eine Daueraufgabe bleibt und dass jeder positive Bestimmungsversuch zugleich die Kritik an seiner Partikularität und Perspektivität provoziert (vgl. aus bildungstheoretischer Sicht Ruhloff 1996). Diese Kontroversen müssen nicht negativ die Grenzen der Bildung anzeigen. Sie können auch positiv als ein neues Verständnis von Bildung formuliert werden.

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4  Bildung, Kultur und Alterität – Bildungsphilosophische Interpretationen

4.2 Bildung – und Alterität Wie schon oben angedeutet, bezieht sich der Bildungsbegriff auf das menschliche Selbst- und Weltverständnis. Antike, mittelalterliche und neuzeitliche Konfigurationen dieses Verständnisses deuten das Verhältnis von Bildung und Alterität in recht unterschiedlicher Weise. Im kosmologischen Weltbild bildet das sakrale Andere (das Göttliche, das Unvergängliche) den Maßstab für menschliche Bildung. In der Neuzeit verlagert sich dieser Maßstab in das Subjekt der (Selbst-) Bildung, und in der Kritik der neuzeitlichen Subjektmetaphysik dezentrieren u. a. phänomenologisch inspiriert Konzepte von Alterität und Intersubjektivität das Bildungssubjekt, das erst in der Kommunikation und Interaktion mit dem Anderen (der Welt und Mitwelt) seine Bestimmung erfährt.

4.2.1 Bildung und Anderssein im Rahmen kosmologischer Vorstellungen3 In der Kosmologie richtet sich die Bildung des Menschen am ganz Anderen gegenüber dem Menschen aus, an außermenschlichen und überzeitlichen, göttlichen Maßgaben und Maßstäben. Als Grundlage der Bildung dient ein anthropologisches und dichotomisches Differenzmodell. Der Mensch tritt als ein Zwitter- oder Zwischenwesen auf, das der Vollkommenheit entbehrt. Der höhere, dem Göttlichen verwandte Teil, die unsterbliche Seele, ist an den irdischen und vergänglichen Leib gefesselt. In seiner Natürlichkeit und Leiblichkeit gehört der Mensch zur irdischen und vergänglichen Welt des bloßen Scheins und der Unwahrheit. Aufgabe der Erziehung ist es, den irdischen Teil durch asketische Lebensführung seiner höheren Bestimmung zuzuführen. Dabei hat der Mensch letztlich das Gelingen der Bildung nicht in der Hand. Gelingende Bildung ist ein göttliches Geschenk, kein menschliches Verdienst. In Platons Höhlengleichnis steigt der durch das Los der Götter auserwählte Philosoph als Ausnahmegestalt des Menschen hin zum hellen überirdischen Licht, in dem die unwandelbaren Ideen des Guten, Wahren und Schönen in theoretischer, schauend vernehmender Haltung gesehen werden. Letztlich aber liegt das Vermögen dazu schon in der unsterblichen Seele des Menschen, der sich – indem er sich von den Entfremdungen der Alltagsgeschäfte und der Arbeit befreit – daran

3Vgl.

Benner/Brüggen 2003; Ballauff 1979, S. 135–145.

4.2  Bildung – und Alterität

53

erinnern kann. Bildung ist so rückwärtsgewandte Erinnerung, eine Art Umkehr oder Periagogé. Die Maßstäbe der Bildung sind metaphysisch verbürgt und stehen immer schon fest. In der mittelalterlichen Kosmologie wird dieses antike Bild der Bildung gleichsam verchristlicht. Auch hier ist Bildung ein übermenschlicher und metaphysischer Maßstab, den Gott jenseits des Irdischen vorgegeben hat. Das Vermögen dazu, ihm sich anzunähern und zu erkennen, liegt in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Sie kommt seiner Vernunft als Vermögen seiner Seele zu, ist also ein transzendentes Vermögen. Bildung ist ein Vorgang, der sich nicht im Irdischen vollendet, sondern im Jenseits. Zwar muss sich der von Gott abgefallene Mensch kasteien und knechten, um den Verlockungen seines animalischen Lebens zu widerstehen. Aber ob er dann Bildung erfährt, ist nicht sein Verdienst, sondern Gunst und Gnade Gottes. Zugleich ist die Gottesebenbildlichkeit die Legitimation für den Menschen, sich zum irdischen Herrscher über die gesamte nichtmenschliche Natur aufzuwerfen.

4.2.2 Bildung und Alterität im Rahmen der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie Der Bildungsbegriff wird in der Neuzeit säkularisiert. Der ganze Mensch, einschließlich seines intellektuellen und geistigen Vermögens, wird in gewisser Weise auf die Erde geholt. Man trifft auf recht unterschiedliche Modellierungen der Alterität im Kontext des Bildungsverständnisses. Hier werden deshalb nur einige Figurationen kurz vorgestellt. Kants Transzendentalphilosophie4 ist für die pädagogische Theorie sehr wirkungsmächtig geworden, bis in die heutige Zeit hinein. Kant arbeitet wie das Mittelalter mit einem dichotomischen Modell der Alterität. Der Mensch tritt auf als Bürger zweier Welten. Er ist durch seinen Körper, durch seine Sinne, Triebe und Motivationen Teil der empirischen Natur- und Sozialwelt, die aufgrund ihrer spezifischen Gesetze ihn fremdbestimmen. Anders als diese und ihr übergeordnet ist die intelligible Welt der allgemeinen menschlichen Vernunft als transzendentales Vermögen. Hierin soll sich der Mensch im Denken und Handeln durch Freiheit, Autonomie und Mündigkeit selbst bestimmen und sich an den

4Ich

folge hier der Kant-Interpretation von Norbert Ricken 1999, 61–102; zum Stellenwert von Erziehung in der Kantischen Anthropologie vgl. Kant 1964.

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4  Bildung, Kultur und Alterität – Bildungsphilosophische Interpretationen

Maßgaben einer allgemeinen Menschenvernunft ausrichten. In der philosophisch erwiesenen Notwendigkeit einer solchen allgemeinen Vernunft (Kritik der praktischen Vernunft) liegen auch die Maßstäbe seiner Bildung. Bildung ist zudem allgemeine Bildung, die für jeden aufgeklärten vernünftigen Menschen gelten soll. In dieser generellen Hinsicht gleicht jeder Mensch dem anderen, sind Ego und Alter Ego differenzlos auf ein Allgemeines hingeordnet und spielen individuelle Unterschiede zwischen den Menschen keine konstitutive Rolle. Das höchste Bildungsideal zeigt sich im generationenübergreifenden geschichtlichen Projekt der Vervollkommnung des Menschengeschlechts durch Vernunft. Daran arbeiten jeder Einzelne und jede Generation mit, ohne aber an ihrer möglichen Vollendung selbst teilhaben zu können. Allgemeine Bildung als Zukunftsprojekt lebt aus der Differenz von Eigenzeit und Weltzeit, d. h. aus der Differenz der Sterblichkeit konkreter empirischer Menschen als Angehöriger einer bestimmten Generation und der Idealität einer vollendbaren Zukunft des Menschen im Allgemeinen. Das Problem, mit dem Kant und die ihm hier folgenden Pädagogen sich herumschlagen, wird als unaufhebbare pädagogische Antinomie gedeutet: Wie kann das Kind als noch nicht Erwachsener zur Freiheit und Autonomie erzogen werden, wenn und weil Erziehung immer nur als Zwang und Fremdbestimmung stattfindet, nämlich als Zucht, Disziplinierung, Kultivierung? Das Kind müsse, so lautet das Kantische Diktum, erst zum Menschen erzogen werden. Aber jede Erziehung kollidiert als Fremdbestimmung und äußere Kausalität mit der unbedingten Freiheit und Autonomie des vernünftigen Wesens. Also kann Erziehung nur im Vorhof der Vernunft wirken. Dass der Mensch vernünftig ist, geschieht dann nicht durch Erziehung, sondern ereignet sich unabhängig davon als ‚Sprung‘ in die transzendente Sphäre der Vernunft. Das bedeutet, dass Bildung im Sinne von Mündigkeit durch Erziehung als Fremdzwang nicht erreicht werden kann. Bildung ist die unüberwindbare Grenze der Erziehung. Bildung ist damit ihr gegenüber das ganz Andere. Es würde zu weit führen, die kantkritischen Positionen in der Pädagogik am Beispiel ihrer wichtigsten Vertreter vorzustellen. Die nachkantischen und idealistischen wie auch neuhumanistischen und klassischen Bildungstheorien führen in zwei Richtungen. Die einen operieren mit starken Subjektmodellen, die anderen mit eher abgeschwächten. Idealtypisch und sehr vereinfacht vorgestellt, gibt es folgende Figurationen von Differenz- und Alteritätsbestimmungen: Bildung wird im Neuhumanismus (vgl. Benner/Brüggen 2003, S. 193–197; ­Ruhloff 2003, S. 448–451) und seit der Genieästhetik der Klassik als subjektzentrierte

4.2  Bildung – und Alterität

55

Selbstbildung aufgefasst. Im Rahmen der idealistischen Subjektphilosophie gehören die Welt der Dinge, die Mitmenschen, die Kulturgüter zum Objekt der Bildung des Subjekts. Sie sind ihr Stoff, ihr Material oder Mittel und dienen der Selbststeigerung des Subjekts, das sie sich aneignet und damit ihre Andersartigkeit aufhebt. Der Mensch ist ein Selbstgeschöpf, das sich seine Gestalt wie ein Künstler selbst erschafft. In der reformpädagogischen Rede vom ‚Genius des Kindes‘ als eines selbstschöpferischen Wesens, eine Rede, die aus der Klassik kommt und letztlich das ästhetisch-sittliche Genie feiert, findet diese Auffassung ihren prägnanten Ausdruck. Es handelt sich hier um eine starke Variante der formalen Bildungstheorie. Die pädagogische Einwirkung hat gegenüber dieser Selbstbildung zurückzutreten. Sie bestimmt und führt nicht das Kind, sondern lässt die Eigenkräfte des Kindes wachsen. Neuzeitliche Bildung kann im Gegensatz dazu auch objektivistisch bestimmt werden (beispielhaft dafür ist Litt 1927, bes. S. 63 ff.). Die Bildungssubjekte werden den als in sich wertvoll erachteten Objektivationen des objektiven Geistes unterworfen, zum Beispiel einem klassischen Bildungskanon oder den ‚Eigengesetzlichkeiten‘ der wissenschaftlichen Sachverhalte. Die Individualität der Bildungssubjekte spielt bei der Rezeption nur eine untergeordnete und vorübergehende Rolle. Der Pädagoge als Repräsentant der Hochkultur bekommt die starke Rolle des Vermittlers. Bildung der Subjekte geschieht im Medium des Allgemeinen und zielt letztlich auf das Allgemeinwerden des Menschen, auf die repräsentative Persönlichkeit. Eigenheit und Individualität des zu bildenden Menschen haben demgegenüber einen sekundären und partikulären Rang. In der kategorialen Bildung Klafkis5 wird der Versuch der dialektischen Vermittlung zwischen der materialen und formalen Bildung gemacht. Subjekt und Objekt der Bildung erschließen sich wechselseitig und bewirken dadurch, dass sich die Kultur einer Gesellschaft, ihre Traditionen und ihre Lebensverhältnisse, fortentwickeln. Das geschieht über Prozesse der Individualisierung des Allgemeinen und des Allgemeinwerdens des Individuellen. Letztlich geht Klafki von einem Harmoniemodell aus, in dem die Muster der Alterität: hier einzigartiges Individuum – dort verpflichtendes Allgemeines erhalten bleiben sollen, letztlich aber eingeebnet werden.

5Vgl.

Wolfgang Klafki: Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, insbesondere die 2. Studie: Kategoriale Bildung. Zur bildungstheoretischen Deutung der modernen Didaktik (1974).

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4  Bildung, Kultur und Alterität – Bildungsphilosophische Interpretationen

4.2.3 Bildung und Alterität im Rahmen der Kritik an der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie Es ist nicht leicht, die verzweigte Kritik an der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie und ihren bildungstheoretischen Implikationen nachzuzeichnen. Einerseits wird die Subjektivitätsphilosophie von innen her aufgebrochen. Das geschieht beispielhaft in der Phänomenologie Edmund Husserls und seiner phänomenologischen Kritiker (u. a. Jean Paul Sartre) seit Beginn des 20. Jahrhunderts (für einen knappen Überblick über die phänomenologischen Denktraditionen vgl. Waldenfels 1992). Zum anderen werden radikale Alternativen zur Subjektivitätsphilosophie formuliert. Dazu gehören Dialogphilosophie (Martin Bubers), der Humanismus des anderen Menschen von Emmanuel Lévinas, beide als Philosophen in der jüdischen Denktradition, und weitere Spielarten der lebensweltlichen und existenziellen Phänomenologie (Maurice Merleau-Ponty und Bernhard Waldenfels) wie auch die existenzanalytische Daseinsontologie Martin Heideggers. Gemeinsam ist ihnen die radikale Infragestellung der erkenntnistheoretisch dominanten Differenzschemata Subjekt-Objekt, Ich-Alter Ego, Empirie oder Transzendentalität oder der ethisch relevanten Differenzschemata und Antinomien praktischer Philosophie, wie Autonomie und Heteronomie, Freiheit und Fremdbestimmung, Individualität oder Allgemeinheit. Zugleich infrage gestellt werden die Ansprüche auf Letztbegründung und letztgültige Gewissheit der Subjektphilosophie überhaupt. Die genealogische, geschichtlich-gesellschaftlich dimensionierte De-Konstruktion der neuzeitlichen Figurationen von Subjektivität nimmt schließlich Michel Foucault vor, und zwar unter dem Aspekt der Entstehung und Ausbreitung der humanwissenschaftlichen und politischen Disziplinarmacht in der Formierung neuzeitlicher Gesellschaften. Wie wir gesehen haben, zielt die oben skizzierte traditionelle Bildungstheorie darauf, im identitätsphilosophischen Rahmen Prozesse der Höherbildung und Steigerung des Bildungssubjekts als Selbstwerdung, als Selbstbestimmung, als Allgemeinwerden und Vervollkommnung in der Auseinandersetzung mit dem Anderen und vorläufig Fremden, d. h. noch nicht intrigierten Anderen zu entwerfen. Wir werden nun zeigen, dass die subjektkritischen Varianten der aktuellen Bildungstheorie dagegen historisch, sprachlich-kommunikativ und sozial dimensionierte, kontingente, heterogene und dezentrierende Bildungsprozesse des Anders- und Fremdwerdens thematisieren. Nicht Selbstwerden, sondern Fremd- und Anderswerden werden zu Leitmotiven kritischer Bildungstheorie. Dafür folgen wir einigen führenden Vertretern der phänomenologischen Konzeptualisierungen des Verhältnisses von Ich (Subjekt), Anderem und Fremdem.

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4.2.3.1 Edmund Husserl6 Es ist ersichtlich geworden: Die subjektphilosophische Zentrierung des Selbstund Weltverhältnisses vermag einem substanziellen Verständnis von Alterität in den unterschiedlichen Fassungen von Differenzverhältnissen keinen angemessenen Raum zu geben. Vor dem Horizont eines Allgemeinen, zum Beispiel der Menschenvernunft, hebt sich jede individuelle, soziale wie auch historische und anthropologische Differenz zwischen den Menschen auf. Die radikale Vertiefung der Transzendentalphilosophie durch die phänomenologischen Forschungen Edmund Husserls führt an ihre Grenzen: In der konkreten Lebenswelt, das zeigen Husserls subtile psychologisch-deskriptive Studien der Wahrnehmungs- und Erfahrungsprozesse, erscheint der Mitmensch als jemand, der anders ist als ich. Er ist ein Alter Ego. Als eigenständiges intentionales Ich-Bewusstsein sind mir seine Gedanken, Absichten, Gefühle usw. nur mittelbar über seinen leiblichen Ausdruck verständlich, nie jedoch unmittelbar. Die Erfahrung des Anderen hat die Struktur der ‚originären Unzugänglichkeit‘. Strukturelle Kennzeichen jeder intersubjektiven Erfahrung sind also Mittelbarkeit und Fremdheit. Husserl will diese und alle anderen lebensweltlichen Erfahrungen der Welt und des eigenen Selbst, die jeder Mensch in seiner vorphilosophischen natürlichen Einstellung macht, auf den Boden einer letztgültigen Gewissheit stellen, und zwar durch eine erneuerte und vertiefte Transzendentalphilosophie des Ich-Bewusstseins. Alle lebensweltlichen Erfahrungen sollen ausgewiesen werden als Konstitutionsleistungen eines transzendentalen, egologischen Reflexionsbewusstseins. Im systematischen Ausgang vom mundanen, das heißt konkreten empirischen Ich und in konsequenten Schritten der ideeierenden und transzendentalen Reduktion aller Phänomene auf die Eigenheitssphäre des Ich-Bewusstseins überhaupt, sollen die gegenständliche und soziale Welt in ihrem intersubjektiven Geltungssinn konstituiert werden. Jedoch, das zeigen die subtilen Analysen dieser Konstitutionsprozesse, scheitert diese radikale phänomenologische Aufklärung. Sie vermag ihren Reflexionszirkel nicht zu durchbrechen, in den sie sich als sich selbst thematisierendes Bewusstsein verfängt. Immer ist sie sich voraus und immer kommt die Selbstreflexion zu spät. Immer müssen die reflexiven und vorprädikativen Leistungen des Bewusstseins als fungierend vorausgesetzt werden, die der Philosoph allererst zu begründen versucht.

6Vgl.

die Schriften Edmund Husserls: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Husserliana, Bd. 1 (1950); Für die Lebensweltthematik in der Spätphilosophie Husserls vgl. Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Husserliana, Bd. 11 (1954).

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4  Bildung, Kultur und Alterität – Bildungsphilosophische Interpretationen

Der Subjektphilosoph – heiße er nun Descartes, Kant, später Hegel oder noch später am Anfang des 20. Jahrhunderts Edmund Husserl – beginnt seine philosophische Arbeit als konkreter empirischer Mensch. Auch wenn er diesen unvermeidbaren faktischen Anfangspunkt seines Nachdenkens später vergessen sollte oder glaubt, überwinden oder reflexiv als Wissen einholen zu können, er kann nicht länger ignorieren, dass er eine Sprache spricht, die er mit seinen Mitmenschen teilt; dass er unter anderen Menschen lebt in einer konkreten historisch geprägten Gesellschaft, zu der natürlich seine Zunft mit ihren Traditionen und unzähligen Büchern von Selbst- und Fremdgesprächen gehört; dass er einmal Kind gewesen ist, also eine Entwicklungs- und Lerngeschichte und einen sterblichen Leib hat, der von mehr oder weniger ich-nahen Emotionen und Motivationen, sogar von anonymen organischen Reproduktionsprozessen belebt wird und sich selbst erhält. Er kann auch nicht übersehen, dass er denkt, indem es in ihm denkt, weil ihm die Gedanken nicht nur dann kommen, wenn er es will, und sie sich nicht nur ihm, sondern auch den Anderen und dem unendlichen fortlaufenden und wirkungsgeschichtlichen Dialog der Denkgeschichte verdanken. Außerdem bewegt sich jedes noch so intime Selbstgespräch des Denkenden nicht außerhalb der Sprache, sondern es bleibt in aller Radikalität neuer Gedanken und Weltsichten immer an die intersubjektive Sphäre der Kommunikation gebunden. Zusammengefasst heißt das: Faktizität und Kontingenz des Denkens, seine sprachliche und leiblich-sinnliche wie auch geschichtliche Verfassung können nicht außer Kraft gesetzt werden. Damit bleibt sich das Denken unergründlich und oftmals sich selbst und seiner eigenen Geschichte gegenüber fremd. Seine strukturellen Kennzeichen sind Nicht-Präsenz, Intransparenz und Differenz, also Alterität. Plakativ formuliert lauten die kritischen Einwände gegen die Reflexionsphilosophie und damit gegen Husserl: Existenz kommt zeitlich und logisch gesehen vor Essenz, Leben vor Wissen, Erfahrungen vor Reflexion, Faktizität vor Systematik und Sozialität qua Intersubjektivität vor egologischer Reduktion. Es würde zu weit führen, diese Kritiken en détail auszuführen. Ich werde deshalb die Positionen einiger prominenter Wortführer, die auch für die Bildungsdiskussion wichtig geworden sind, kurz vorstellen.7

7Zur

kritischen Auseinandersetzung mit Husserl unter dem Aspekt der Lebensweltlichen Phänomenologie und mit Berücksichtigung der erziehungswissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Lebenswelttheorien vgl. Wilfried Lippitz: ‚Lebenswelt‘ oder die Rehabilitierung vorwissenschaftlicher Erfahrung (1980), bes. S. 20 ff.

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4.2.3.2 Martin Heidegger Heidegger räumt der faktischen und konkreten Existenz des konkreten Menschen einen systematischen philosophischen Stellenwert ein. Er entwirft mit Sein und Zeit (1972) eine existenziale Strukturontologie (zur Gesamtdarstellung auch der Spätphilosophie vgl. Pöggeler 1990). Anstelle des abstrakten, transzendentalen Reflexionsbewusstseins Husserl’scher Prägung ist es der Mensch, der als Dasein in vielfältigen prädikativen und vorreflexiven Handlungs- und Kommunikationskontexten sein Selbst- und Weltverhältnis hermeneutisch auslegend lebt und gestaltet. Die Welt der Gebrauchsdinge und die darüber stattfindende Begegnung mit den Mitmenschen sind ursprünglich umweltlich und pragmatisch strukturiert (Modus der Zuhandenheit). Zugleich sind sie in unterschiedliche emotionale und atmosphärische Stimmungslagen eingetaucht (Modus der Gestimmtheit). Das dominante traditionelle Subjekt-Objekt-Schema, das bisher die philosophische oder phänomenologische Reflexion bestimmte, ist gegenüber dem Dasein und seinen Modalitäten bloß sekundär und abgeleitet. Seine Strukturmerkmale sind Gegenständlichkeit und subjektferne Vorhandenheit. Heideggers ontologische Hermeneutik der Faktizität operiert also mit zwei grundsätzlich unterschiedlichen und hierarchisch geordneten Alteritätsmustern. In gewisser Weise setzt er damit die Zweiwelten-Theorie neuzeitlicher und auch christlicher Menschenauffassung fort, wenn er sie auch strukturell anders bestimmt. Jetzt erhält das irdische und vergängliche Dasein den philosophischen Vorrang im Vergleich zur idealisierten Ratio neuzeitlicher Philosophie oder zur christlich-metaphysischen Heilslehre. Das Dasein ruht nicht in sich, sondern das Dasein lebt in ständiger Unruhe und Sorge um sein eigentliches Sein-können. Menschliche Existenz ist Hermeneutik als ständige Frage nach dem Sein des Seienden. Im letztlich unvertretbaren „Sein zum Tode“ erfährt das Dasein seine eigentliche existenzielle Tiefe, die es sich nicht im positiven Sinn eines transzendenten Heilsversprechens erschließen kann. Immer wieder läuft das Dasein Gefahr, sich in der Anonymität des Alltäglichen, im Getriebe der Massengesellschaft und ihrer Meinungen (doxa) zu verlieren und zu vergessen. Insofern steckt in der Daseinshermeneutik Heideggers und ihrer metaphysikkritischen Aufklärungsarbeit eine zugleich kulturkritische und bildungsphilosophisch formulierbare Botschaft: das menschliche Dasein hat sich auf die Sorge um sein Eigentlich-Sein auszurichten und den Tendenzen der Vermassung und Verdinglichung wie der Verobjektivierung, die von den Wissenschaften droht, entgegenzutreten. Heideggers Entwurf der Daseinshermeneutik bleibt trotz aller Neuformulierung und Kritik dem Rahmen der transzendentalen Subjekttheorie treu. Denn aus der Perspektive des sich um sich selbst sorgenden Subjekts, nun weiter

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und konkreter gefasst als Dasein, wird die metaphysikkritische Frage nach dem Sinn des Seienden gestellt. Später, in der sogenannten ‚Kehre‘, destruiert Heidegger diesen transzendentalphilosophischen Rahmen. Die Artikulation des Seinssinnes liegt nicht mehr im Vermögen des menschlichen Daseins zur Selbst- und Weltdeutung. Nur wenn es sich dem Sinn des Seins hörend öffnet (im Sinne einer Hermeneutik des Hörens und nicht des Sagens), wenn es zum ‚Hirten‘ des Seins wird, also sich aller Ursprünglichkeit und Initiative entledigt und damit nicht mehr als Aktivitätszentrum auftritt, legt sich in ihm der Sinn des Seins aus. Das geschieht nicht mehr in innerphilosophischen Diskursen, sondern in der Kunst oder Poesie, die die herkömmliche Aussageform des Sprechens transzendiert. Diese kulturkritischen und subjektkritischen Motive Heideggers sind samt ontologischem Vokabular und ontologischen Strukturbeschreibungen des Daseins in der deutschen Pädagogik sehr intensiv rezipiert worden. Nach dem zweiten Weltkrieg und unter dem Eindruck der Unmenschlichkeit des nationalsozialistischen Terrorregimes stellte sich grundsätzlich die Frage, warum humanistische und aufklärerische Traditionen geschichtlich versagt haben. Neben vielen anderen sind es die deutschen Bildungstheoretiker Ballauff und Schaller, die in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts an Heidegger anknüpfen. Sie polemisieren gegen alle (neu-)humanistischen Traditionen, in denen das Subjekt in selbstüberheblicher Weise sich zum Zentrum der Weltaneignung und zum Herrscher über die Welt aufschwingt, um darüber seine Identität zu sichern. Stattdessen soll Pädagogik – im Sinne der Heidegger’schen Philosophie – den Menschen zum selbstlosen Denken anhalten, das sich den Ansprüchen der Anderen und der Welt öffnet. Menschlichkeit bedeute nämlich, „Sprecher, Anwalt und Mittler alles dessen zu sein, was wir nicht sind“ (Ballauff 1970, S. 12; vgl. auch Schaller 1969). Bildung ist also selbstlose Bildung im Zeichen eines Anderen, das von sich her Bedeutung hat. Letztlich zeigt sich hier eine Rückkehr zum kosmologischen Denken eines Anderen als Maßstab von Bildung.

4.2.3.3 Jean Paul Sartre8 Ein anderer wichtiger Vertreter des sogenannten Existenzialismus ist Jean Paul Sartre. Er kommt gleichfalls von Husserl her, und ihm geht es wie Heidegger darum, die Abstraktheit der Bewusstseinsphänomenologie zu überwinden und phänomenologische Studien im Sinne einer ‚konkreten‘ Ontologie zu betreiben.

8Jean

Paul Sartre: Das Sein und das Nichts (1982), zur Blickanalyse vgl. besonders S. 338 ff.; zur Position von Sartre vgl. auch Kampits 1990.

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Das nun dominante Thema ist das, was von Husserl vernachlässigt bzw. nicht bewältigt worden ist, nämlich die soziale und ethische Dimension menschlicher Existenz zu erschließen, gewonnen aus Strukturanalysen konkreter und paradigmatischer Situationen der Fremderfahrung. In seinem Frühwerk Das Sein oder das Nichts befasst sich Sartre mit der Nicht-Reduzierbarkeit des Anderen und um seinen Vorrang vor dem Ich. Zwar operiert Sartre oft nur schematisch mit dialektischen Umkehrfiguren in der Konfiguration Ich-Anderer bzw. Subjekt-Objekt. Aber sie sind insofern aufschlussreich, als dadurch eine ethische Dimension eröffnet wird, die bei Husserl kaum expliziert worden ist. Sartre geht von prototypischen konkreten Erfahrungen der Alterität aus. Sie erfolgen systematisch aus der Ich-Perspektive des Beschreibenden und sind somit weiterhin subjektphilosophisch gerahmt. Ich erfahre hautnah den Anderen als Anderen, indem ich von ihm erblickt werde, bevor ich ihn erblicke. Die exemplarische Situation in der berühmten Blickanalyse ist die folgende: Ich lausche an der Tür oder beobachte in voyeuristischer Einstellung andere Menschen. Dabei werde ich von einem Anderen, einem Dritten ertappt. Er kommt unbemerkt von hinten. Als Ertappter schäme ich mich. Im Beschämt-werden werde ich mir selbst und meiner sozialen Existenz bewusst. Denn darin erfahre ich mich als ‚Geisel‘ des Anderen. Ich bin seinen Blicken ausgesetzt und ausgeliefert, und das genau konstituiert das Bewusstsein meines Ich als eines ‚Mich‘ durch den Anderen. Weder bin ich ein autonomes Ich, noch bin ich ein gleichberechtigter Partner, auch bilde ich nicht den Mittelpunkt meiner Welt. Sondern das genaue Gegenteil ist der Fall: Als Objekt des unbekannten anderen Blickes werde ich aller Subjektattribute beraubt, meiner Initiative, meines Welt- und Selbstbesitzes, meiner Zukunft und meiner Projekte. Erblickt-werden bedeutet in der Sprache der Subjektphilosophie Sartres, Objekt-Subjekt des Blickes eines Anderen zu sein. Auf diese Weise objektiviert mich der Andere und macht mich zu einem anderen Ich, das nicht mit sich identisch im Sinne des Für-sich-Seins ist. Sozialität ist folglich nicht friedliches Zusammensein, sondern ständige existenzielle Bedrohung, ständiges Fremdwerden und ewiger Kampf um Selbstbehauptung. Wehren gegen die Verobjektivierung kann ich mich nur, wenn ich selbst versuche, den Anderen zum Objekt meiner Blicke und Taten zu machen. Genau in dieser Negation erweist sich meine Abhängigkeit vom Anderen. Ich ‚bin‘ nur ‚ich‘, wenn ich mich gegen den Anderen selbst behaupte, d. h. wenn ich mich auf den Anderen hin überschreite bzw. gegen den Anderen richte, und das heißt, wenn ich gerade nicht ich selbst ‚bin‘. Dieses dramatische Ausgesetztsein des Ich ist letztlich von der Warte einer starken Subjekttheorie her gesehen nichts anderes als entfremdete Existenz. Jedoch, daran sei erinnert: Ich selbst bin und bleibe der Ort des Bewusstseins, das diese Erfahrung der Entfremdung durch den Anderen ‚macht‘. Darin ist der Vorrang

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des Ich vor dem Anderen transzendentalontologisch gesichert. Jenseits dieses Erfahrungsrahmens figuriert folglich der Philosoph als unbestrittener Beobachter, der seine Erfahrungen wie Sartre in suggestiver Sprache und souveräner Weise systematisiert und beschreibt. Wie auch immer – Sozialität verkündet in diesem Frühwerk Sartres, ‚Sein oder Nichts‘, den Krieg aller gegen alle. Das Ich ist und bleibt fremdstämmig, seine Identität entzieht seiner Verfügung. Damit wird der Kern des neuhumanistischen Bildungsgedankens zerstört. Alle Ich-Behauptung erweist sich als abhängig, indem es sich permanent gegen jegliche Verobjektivierung wehrt. Menschliche Existenz bleibt damit exzentrisch, krisenhaft und bedroht. Sie ist durchsetzt, wie Sartre es in seinem Theaterstück Der Ekel vorführt, vom Misstrauen gegenüber den Anderen und von der Grundstimmung existenzieller Leere und Sinnlosigkeit.9 Mit den Worten Heideggers ist für Sartre Uneigentlichkeit der Kern des menschlichen Daseins.

4.2.3.4 Otto Friedrich Bollnow Kann man aus dieser Art von Pessimismus, Zwietracht und Absurdität infiltrierten Existenzphilosophie eine gleichsam aufbauende Bildungstheorie herleiten? Tut man es dennoch, wie der bekannte deutsche Bildungsphilosoph O. F. Bollnow in der Nachkriegspädagogik, dann muss man – bildlich gesprochen – die Spitzen und Schärfen dieser Philosophie abschleifen und einige Strukturelemente aus ‚freundlicheren‘ philosophischen Traditionen hinzufügen, um dem grundsätzlich positiven Impetus der Bildungstheorie genügen zu können. Bollnows viel gelesene Existenzphilosophie und Pädagogik (1959) bindet existenzphilosophisches Gedankengut (Heidegger und Sartre) mit positiven und religiös fundierten Elementen der Dialogphilosophie Martin Bubers zusammen und ergänzt sie durch Elemente des christlich-metaphysischen Personalismus. Das bildet dann ein theoretisches Geflecht, in dem sich pädagogische und bildungsphilosophische Leitideen einbinden lassen. Neu ist folgender Aspekt der Bildungstheorie: sie

9Interessant

wäre es, weiter zu verfolgen, wie Sartre pädagogische und sozialisatorische Praktiken beschreibt. In seiner vielbändigen Flaubertbiographie Der Idiot der Familie (1978) hat er das versucht. Wie kommt ein späteres Sprach- und Romangenie auf die Welt, das in den ersten Lebensjahren als kleiner ‚Idiot‘ in seiner Familie verachtet wurde, da er lange Zeit kaum sprechen konnte und deswegen sozial stigmatisiert war? Außerdem galt er als zu leichtgläubig und leicht verführbar. So schien er sich als Opfer, als passives Wesen den Sozialisations- und Stigmatisierungspraktiken seiner Umgebung auszuliefern. Der Idiot der Familie, dieses halb debile Kind, schien durch und durch fremdbestimmt zu sein. Und doch entwickelt er sich zum bekanntesten Schriftsteller Frankreichs im 19. Jahrhundert; vgl. dazu Wilfried Lippitz: Das Werden eines Ich. Sartres ‚Der Idiot der Familie‘ (1993b).

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ist komplementär zur subjektphilosophischen ‚Stetigkeitspädagogik‘, die auf Kontinuität und Steigerung wie Kontrolle von Lern- und Bildungsprozessen setzt. Die existenzphilosophisch begründete Pädagogik verweist auf unstete Prozesse und krisenhafte Ereignisse im menschlichen Leben, in denen es in zugespitzter Weise um den eigentlichen Sinn des Lebens geht. Analog zu Sartre oder Heidegger ex-sistieren die Menschen ihren Sinn, d. h. sie müssen ihn suchen und finden. Er steht immer aus zur ‚Bewährung‘ und ist kein ‚eleatisches Sein‘ im traditionellen metaphysischen Sinne. Existenzielles und bildungswirksames Sinngeschehen überkommt das Subjekt und macht es betroffen, indem es das Subjekt aus seinen Gewohnheiten und seiner Alltäglichkeit herausreißt und mit dem Eigentlichen konfrontiert, über das es nicht verfügt, sei es nun mit Heidegger der eigene Tod oder mit Sartre die Nichtung des Ich durch den Anderen. Weniger dramatisch und für das pädagogische Subjekt insgesamt zuträglicher, ohne es in seiner Selbstbildung zu überfordern, werden existenzielle Ereignisse von Bollnow als Krisen, Erweckung, Ermahnung, Beratung Begegnung, Wagnis und Scheitern bestimmt. Sie erfordern eine andere Art des pädagogischen Handelns. Man kann solche Prozesse nicht pädagogisieren oder didaktisieren, d. h. systematisch und methodisch einleiten. Dann würde aus dem Subjekt der Bildung ein Objekt und Bildung damit gerade verfehlt. Die existenzielle Tiefendimension einer Person ‚ereignet‘ sich und ist der Planung und dem kontrollierenden Blick des Pädagogen unzugänglich. Solche Ereignisse können nur angeregt oder angestoßen werden. Ihre bildende ‚Wirkung‘ tun sie aus sich selbst. Aus Krisenerfahrungen oder ‚fruchtbaren Begegnungen‘ mit anderen Menschen kommen Heranwachsende wie Erwachsene innerlich gestärkt und sittlich gereift hervor. Ob das jedoch geschieht, das ist nicht voraussehbar, und deshalb kommt die Pädagogik als Wirken-wollen an ihre Grenzen. Es versteht sich von selbst, dass diese bildungstheoretische Version einer Unstetigkeitspädagogik nicht mit einem Bildungskanon, mit festen Zielen oder Effektivitätsstudien aufwarten kann. Für sie kennzeichnend ist ihr appellativer Charakter. Das ist ein anderer Ton in einer theoretischen Landschaft, die normalerweise, wie in den Kantischen Traditionen aus logisch-begrifflichen Systembauten eines gleichsam abgekühlten philosophischen oder pädagogischen Verstandes besteht.

4.2.3.5 Martin Buber: Dialogik oder der Vorrang der Ethik vor der Erkenntnis Der radikale Bruch der Dialogik mit der traditionellen Subjektivitätsphilosophie stellt das philosophische Denken auf einen neuen Boden. Dominierte in der bisherigen Philosophie die Erkenntnistheorie mit ihrer Wahrheitsfrage, so

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tritt an ihre Stelle die praktische Philosophie. Sie fragt nach der Verbindlichkeit des zwischenmenschlichen Handelns und nach den ethisch relevanten Strukturen menschlichen Zusammenlebens. Dabei ist unübersehbar, dass die Menschen immer schon in einer Welt leben, die sie mit anderen teilen, indem sie miteinander sprechen und miteinander oder gegeneinander handeln. Diese vorreflexive und gelebte Sozialität angemessen zu thematisieren, dafür müssen eine neue Sprache, eine neue ‚Logik‘ und neue Kategorien gefunden werden. Sie artikulieren die soziale Erfahrung als ethisch verpflichtende Erfahrungen dem anderen Menschen gegenüber und von ihm herkommend. Ob es überhaupt die anderen Menschen als Andere gibt, diese erkenntnistheoretische Frage setzt immer schon zu spät ein. Denn sie verdankt ihre eigene Möglichkeit der reflexiv uneinholbaren sozialen und sprachlich verfassten Existenz der Menschen. Deshalb ist die Frage nach dem Sein eines Seienden zweitrangig vor der Frage, wie die Menschen ihr Zusammenleben organisieren und welche Verpflichtungen sie dabei untereinander eingehen. Typisch für die praktische Philosophie als ‚Erste Philosophie‘ gegenüber der ‚theoretischen Philosophie‘ ist der Ausgang von exemplarischen Situationen der Sozialität in einer Sprache, die hinweisenden und appellativen Charakter hat. Ich werde zwei Positionen dieses neuen Denkens skizzieren, die bis heute auf die deutsche Pädagogik einen prägenden Eindruck gehabt haben, die Dialogphilosophie Martin Bubers und den ‚Humanismus des anderen Menschen‘ von Emmanuel Lévinas. Man sollte erwarten, dass gerade die Pädagogik eine besondere Nähe und Verwandtschaft mit diesem Denken aufweist, das die Fundierung allen Denkens und Tuns in der sozialen Sphäre des Miteinanders und der damit verbundenen Verpflichtungen und Ansprüche aufsucht. Beispielsweise kommt jeder Mensch als Kind zur Welt und bedarf der Hilfe, Förderung und Unterstützung durch die Erwachsenen, um am Leben zu bleiben und sich entwickeln zu können. Mit jeder Geburt tritt außerdem ein neuer Mensch in die vorhandene Welt der Erwachsenen, und durch dieses Faktum der Geburt, das die Kontinuität des Bestehenden unterbricht, erfährt die bestehende Gesellschaft Veränderung und Erneuerung. Dieses anthropologische Faktum der Geburt und des radikalen Neuanfangs wie auch die damit verbundene Erziehungs- und Bildungsaufgabe für die Neugeborenen sind ursprünglich und unhintergehbar. Sie gehen allen Fragen nach der Begründbarkeit oder Legitimität von Normen, Werten oder Regeln des menschlichen Zusammenlebens voraus. Bevor also die Menschen sich reflexiv mit sich selbst und zueinander in ein Verhältnis setzen und Verbindlichkeiten aushandeln, sind sie immer schon miteinander verbunden. Das ist der Ausgangspunkt der Dialogphilosophie des

4.2  Bildung – und Alterität

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jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber10. Das menschliche Selbst- und Weltverhältnis ist nicht subjektzentrisch, sondern dialogisch verfasst. Es wird nicht aus dem Horizont eines intentionalen Bewusstseins bestimmt, wie es in der Phänomenologie Husserls, Sartres und auch des frühen Heideggers noch der Fall ist, sondern im Zwischen der Begegnung der Menschen untereinander und mit der Welt. Dieses dialogische Wesensverhältnis benennt Buber mit den Grundworten ‚Ich und Du‘. Somit ist das Selbst- und Weltverhältnis ‚sprachlich‘ verfasst im weitesten Sinne des Wortes. Für Martin Buber beziehen sich diese Grundworte aller Weltverhältnisse ein, nicht nur die menschlichen, sondern auch die belebten und unbelebten Dinge, denen der Mensch in der Welt begegnen kann. Dass Buber das Mensch-Welt-Verhältnis in dieser Weise dialogisch ontologisiert, lässt sich aus seiner Glaubensherkunft aus dem jüdischen Chassidismus erklären. Es ist der Schöpfergott, der durch alle Dialoge hindurch zur Welt ‚spricht‘ und ihr einen Sinn verleiht. Dieser Sinn ist im begrifflich-logischen Sinne nicht zu fassen, sondern er ‚ereignet‘ sich als Sprechen, als Dialog. Kehren wir zur Sphäre der Mitmenschlichkeit zurück. Sprechend auf ein Du hin werde ich zum Ich. Ich bin im dialogischen Sinn Ich nur als angesprochenes Du und ansprechendes Ich. Im Zwischen des Dialogs differenzieren sich allererst das Ich und das Du als jeweilige Partner heraus. Beide sind gleichursprünglich und gleichrangig. Dieser Dialog ist wie jedes echte Gespräch ein Ereignis, nicht eine Institution, auch nicht etwas, was man planen oder wissen könnte. Echte Gespräche überraschen uns. Sie sind besondere sinnstiftende Ereignisse, die aufrütteln und betroffen machen und gleichsam ihre eigene Zeit und ihren eigenen Ort haben, nämlich im Wir als Geschehen, nicht im So-sein von Institutionen und Organisationen mit ihren Regelwerken. Wir-Beziehungen sind wie gute und tiefe Gespräche vorübergehend. Eine Philosophie des Ereignisses springt aus den traditionellen Raum- und Zeitrastern heraus, mit denen Kontinuität, Beständigkeit, Notwendigkeit und Gewissheit abgesichert werden. Sie gibt es auch, nämlich als nicht-dialogische Sphäre der Alltagsgeschäfte. Diese charakterisiert Buber mit der Grundfigur: Ich-Es. Somit ist der Mensch bei Buber

10Ich

beziehe mich hier auf das philosophische Hauptwerk von Martin Buber: Das dialogische Prinzip (1965); Was die Verbindung der Dialogphilosophie mit pädagogischen Fragen angeht vgl. Martin Buber: Reden über Erziehung (1964); Den systematischen Stellenwert der Buber’schen Dialogik als radikalen Bruch mit der Subjektivitätsphilosophie und als ernsthafte Alternative arbeitet die große sozialontologische Studie von Martin Theunissen heraus: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart (1965), zweiter Teil: Die Philosophie der Dialogik als Gegenentwurf zur Transzendentalphilosophie, S. 241–482.

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4  Bildung, Kultur und Alterität – Bildungsphilosophische Interpretationen

wie in der abendländischen Tradition, die wir schon kennengelernt haben, Bürger zweier Welten. Sein Selbst- und Weltverhältnis ist aufgespalten und von Mustern radikal geschiedener Alterität markiert. Geschieht dialogisches Sinngeschehen als Ereignis außer-ordentlich und nicht bestimmbar mit den traditionellen Begrifflichkeiten der Gegenstandserfahrung, so ist die Ich-Es-Beziehung bestimmbar, begreifbar und pragmatisch auf Nützlichkeit, Zweckdienlichkeit und Instrumentalität ausgerichtet. Sie ist nichts anderes als die Grundfiguration, die wir als Subjekt-Objekt-Beziehung in der Subjektivitätsphilosophie angetroffen haben. Im Grundwort Ich-Es steht das Ich im Mittelpunkt, werden die Anderen im weitesten Sinne des Wortes zu Objekten seiner Interessen, Vorlieben, Motivationen und Geschäfte (vgl. Buber 1964, S. 35 ff.). In der Ich-Es-Einstellung erzeugt man Wissen und gibt es lehrend weiter, ganz in der Machart der traditionellen Pädagogik. Dort vermitteln die Lehrer als Repräsentanten der objektiven Kultur die Bildung als Wissen, indem sie zugleich die Schüler disziplinieren und regulieren. Ebenfalls in der Ich-Es-Dimension geben sich die Menschen ihrem schöpferischen Trieb hin und schaffen Werke, vom eigenschöpferischen Kinde angefangen bis hin zum erwachsenen Künstler. Alles das jedoch – so Buber – schafft keine mitmenschliche Verbindlichkeit und hat nicht die sittliche Wesenstiefe, die das Menschliche und den Sinn menschlicher Existenz als Wir-Begegnung überhaupt ausmacht. Bildung als Begegnung mit dem Anderen als Du entzieht sich jeder Bildmetaphorik. Begegnungen kann man nicht festhalten oder einfassen. Das IchDu-Geschehen unterläuft jede Repräsentation und ist ein genuin präsentes und unmittelbares Sinngeschehen, ein ‚Mysterium‘, wie Buber es nennt (vgl. ebd., S. 21). Es entzieht sich jeder Gestaltung und damit der Machbarkeit und dem Wirken-wollen der Pädagogik. Bildung – dialogisch gedacht – ist Abschied von der ‚Stetigkeitspädagogik‘ (s. o. O. F. Bollnow), die traditional mit Kontinuitäten, individuellem Vermögen oder objektiven Verbindlichkeiten operiert. Das dialogische Verhältnis ist also der Versuch, nicht nur die Grenzen der Subjektphilosophie von innen her aufzusprengen, sondern einen völlig neuen Ansatzpunkt in der menschlichen Verbundenheit zu gewinnen. Ich will nicht unerwähnt lassen, dass mit der Auflösung der Struktur der Alterität als Differenz zwischen einem Ich und einem Anderen im Wir Buber das systematische Problem bekommt, die unausweichliche Asymmetrie und anthropologische Differenz im pädagogischen Verhältnis zwischen einem Erwachsenen und einem Heranwachsenden angemessen zu thematisieren. Ein echtes partnerschaftliches dialogisches Verhältnis lebt von der Gleichrangigkeit der Partner, die – wie Buber sagt – sich gegenseitig umfassen. Ein pädagogisches Verhältnis ist dagegen ein einseitiges, da dem Kind die Kompetenz fehlt, den Erzieher zu umfassen. Dieser allein vermag das Kind von

4.2  Bildung – und Alterität

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dessen Seite aus zu umfassen und das stellvertretend für das Kind. Damit ist – streng gesehen, und gegen Bubers Auffassung und gegen die vieler seiner Interpreten gesprochen – die Dialogik die Grenze der Bildung als eines existenziellen Geschehens und nicht Teil der Bildung. Zugleich müsste, wenn dennoch am Begegnungscharakter der Bildung festgehalten wird, jede Erziehung im traditionellen Sinne als Ich-Es-Verhältnis die Grenze der Bildung sein. Die pädagogischen Formulierungsversuche der Dialogphilosophie haben also strukturelle Schwächen. Sie reden mit zwei Stimmen, die sich oftmals widerstreiten. Das Verhältnis der beiden Grundworte bleibt letztlich systematisch ungeklärt. Der appellative Charakter des Dialogischen mag bei denen Resonanz finden, die mit Buber dessen religiöse Überzeugungen teilen. Wo von Erziehung die Rede ist, da bleibt Buber traditionell. Wo er das dialogische Geschehen als ein Bildungsereignis konfiguriert, da fehlen die Worte. Der religiös motivierte Glaube, dass ein solches Geschehen statthat, tritt an die Stelle der philosophischen Begründung. Trotz allem kann die Dialogphilosophie eine pädagogische Erfolgsgeschichte vorweisen (vgl. dazu u. a. Maier 1992).

4.2.3.6 Emmanuel Lévinas: Humanismus des anderen Menschen Eine insgesamt systematisch radikalere und auch philosophisch anspruchsvollere Variante der Kritik an der Subjektivitätsphilosophie ist der ‚Humanismus des anderen Menschen‘ von Emmanuel Lévinas11. Darin setzt er sich intensiv insbesondere mit Husserls Phänomenologie und mit Heideggers Werken auseinander, indem er systematisch-kritisch bis an ihre Grenze geht und sie dann überschreitet, und zwar in der Thematisierung der Andersheit des Anderen, im ethischen Anspruch, den der Andere einem Ich stellt. Dieser Anspruch sprengt jede Ontologie wie auch jede intentionale Bewusstseinstheorie. Für ethische Erfahrung gibt es in der traditionellen Sprache und Begrifflichkeit der Philosophie jedoch keine adäquaten Ausdrucksmittel. Deshalb arbeitet Lévinas in einer

11Ich

beziehe mich auf das Frühwerk von Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität (1987); außerdem auf die Aufsatzsammlung von Lévinas: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie (1983); zur Rezeption von Lévinas in der deutschen Erziehungswissenschaft vgl. u. a. meine Abhandlung: Von Angesicht zu Angesicht. Überlegungen zum Verhältnis von Pädagogik und Ethik im Anschluss an Lévinas (1994); vgl. außerdem die umfassende Studie von Barbara Staudigl: Ethik der Verantwortung. Die Philosophie Emmanuel Lévinas’ als Herausforderung für die Verantwortungsdiskussion und Impuls für die pädagogische Verantwortung (2000).

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metaphorisch dichten und ungewöhnlichen Sprache mit alttestamentarischen Anklängen, in denen die tradierten Bedeutungshorizonte von innen aufgesprengt werden. Wie bei Buber, so steht der ‚Humanismus des anderen Menschen‘ in jüdischen Denkzusammenhängen, auch wenn Lévinas ausdrücklich betont, dass er keine Religionsphilosophie geschrieben habe. Nach Lévinas ist die gesamte abendländische Philosophie eine Philosophie des Wissens, der Macht, der Unterwerfung und des Krieges zwischen den Menschen. Sie bekämpfen sich permanent, nicht nur, weil sie machtbesessen sind, sondern weil sie Rivalen in ihrer ökonomischen Existenz sind. Jeder muss als Einzelner und radikal getrennt vom Anderen um seine Selbsterhaltung kämpfen, für sich sorgen, essen, trinken, genießen und sich fortpflanzen. Die Menschen sind natürliche Egoisten. Wie kann unter solchen getrennten Wesen Mitmenschlichkeit und Verbindlichkeit aufkommen? Nach Lévinas ist die ökonomische Existenz nicht selbstgenügsam und autark. Ganz im Gegenteil. Der Mensch muss von etwas leben, was anders ist als er, zum Beispiel von Nahrung, von den Elementen Luft, Licht, Wasser, von den Eltern als Erzeugern usw. Das heißt, die ökonomische Existenz ist durch und durch heterogen und fremdstämmig. Das ist ähnlich wie bei Sartre. Existierend bin ich notwendig über mich hinaus, transzendiere ich mich oder werde überschritten von dem, was nicht in meiner Sphäre ist und was nicht ‚ich‘ ist. Genau darin zeigt sich die Öffnung auf den Anderen als Anderen hin. Er taucht auf als fremder Anspruch an mich, der mich in die Mitmenschlichkeit ruft, d. h. mich aus dem Kreislauf der egoistischen Selbsterhaltungsnöte befreit. Diese Art von Freiheit ist Befreiung von der Last der ökonomischen Existenz, die ständig vom Verfall der eigenen Kräfte und dem Absinken in ein bloßes anonymes Sein (das ‚il y a‘) bedroht ist. Diese Befreiung ist zugleich Bindung an den Anderen und seine unerwarteten Ansprüche. Von diesem Anderen kann es kein Bild, keine Vorstellung oder kein Wissen geben. Der Andere bricht in meine Existenz unerwartet ein, nicht in aller Stärke und Kraft wie in Sartres Blickgeschehen, sondern in einer mich herausfordernden Schwäche, zum Beispiel als uneingeladener Gast, der aufgenommen werden möchte, als Kind, das um Hilfe schreit, als Witwe, die um Schutz nachsucht; als Bettler, den ich nicht kenne, der mich direkt angeht im wortwörtlichen Sinne. In allen diesen Situationen bin ich den konkreten Ansprüchen Anderer direkt ausgeliefert. Sie meinen mich, und ich kann die Ansprüche nicht an andere delegieren. Sie kommen meinen eigenen Absichten und Plänen zuvor, und sie verpflichten mich, bevor ich mich selbst ihnen verpflichten kann, etwa weil es meine Pflicht wäre im Sinne einer christlichen Tugendlehre. Das ethische Ereignis, von dem Lévinas spricht, bewirkt vor aller allgemeinen Verbindlichkeit und vor allem Wissen die Bindung an den Anderen, der ich nicht ausweichen kann und für die die

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eigene Stellungnahme zu spät kommt. Der Andere, das ist der überraschende und unerwartete Gast, der vor der Tür steht und anklopft. Wie auch immer ich reagiere, ob ich die Tür öffne oder nicht, immer schon habe ich den Anspruch vernommen, bevor ich mich ihm selbst stellen kann. Diese prototypische Situation der Verpflichtung ist nichts Ungewöhnliches. Sie geschieht in vielfacher Weise, in Gesprächen, in denen mir eine überraschende Frage gestellt wird, für die ich eine Antwort suche, die ich nicht schon im Voraus kenne; im Gruß auf der Straße usw. Der Anruf des Anderen hat mich schon erreicht, bevor ich dazu bereit bin. Ich kann ihm nicht ausweichen und ihn nicht ignorieren. Er fällt gewissermaßen aus der Ordnung und aus dem Horizont des Erwarteten. Er bedeutet wie das Antlitz des Anderen von sich her, und wartet nicht darauf, dass ich ihn einordne, ihn identifiziere und interpretiere. Das ‚Antlitz‘ als Metapher für den Anspruch des Anderen entzieht sich jeder Bestimmung, weil es direkt zu mir ‚spricht‘ und mich zum Tun auffordert. Es ist also kein Gegenstand, der ‚vorhanden‘ ist und vorliegt. Es ist ein Appell, das Ereignis eines Anrufes, ein Blick oder Ruf, der mich im Inneren trifft. Diskontinuität, Außerordentlichkeit, Unbestimmbarkeit und Transzendenz sind einige der neuen Strukturkategorien von Alterität in dieser Sozialphilosophie. Nicht wie in der Buber’schen Dialogik treten hier gleichberechtigte und gleichursprüngliche Partner auf, sondern die Beziehung ist asymmetrisch. Der Andere kommt mir immer schon zuvor und lässt mich ‚schuldig‘ werden, d. h. versetzt mich in die Lage, seinen Anspruch wie auch immer erwidern zu müssen. Zwischenmenschliche ethische Beziehungen sind asymmetrische Ereignisse, und diese gelten nicht für alles Welthafte wie bei Buber, sondern nur für die Menschen als soziale Wesen. Als einen pädagogisch relevanten Sachverhalt untersucht Lévinas das Faktum der Geburt. Die ‚Fruchtbarkeit‘ des Menschen zeigt sich in der Geburt des Kindes. Es stiftet darüber ein neues Generationenverhältnis, das durch Diskontinuität und andere markante Formen der Alterität gekennzeichnet ist. In aller Intimität des Verhältnisses zwischen Eltern und Kindern waltet eine Fremdheit, die der unterschiedlichen Zeitlichkeit beider Generationen geschuldet ist. Die Zeit der Kinder, ihre Zukunft, ist nicht die der Eltern. Das Faktum der Geburt und damit eines neuen Menschen unterbricht die alte Ordnung. Mit der Geburt beginnt eine neue Zeitrechnung, an der die Eltern selbst nicht teilhaben können. Insofern sind die Kinder in gewisser Weise zwar Möglichkeiten des Fortlebens der Eltern, aber nicht als die ihres eigenen Lebens, sondern als die ihrer Kinder als Andere. Kinder in diesem Sinne, das Faktum der Geburt und letztlich auch das des unvorhersehbaren Todes, alle diese Diskontinuitäten im menschlichen Zusammenleben eröffnen den ethischen Raum für eine radikal plural verfasste Gesellschaft. Nur

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darin können sich die unerwarteten Ansprüche der Anderen artikulieren, die sich mir jenseits aller Traditionen, Gewohnheiten und Erwartungen stellen. Versteht man Bildung wie im herkömmlichen Verständnis entweder als Selbstbildung oder als kontinuierliches Tradieren von Bildungsgütern, dann findet sie im ‚Humanismus des anderen Menschen‘ dafür keinen angemessenen Ort. Ethische Ereignisse sprengen als außerordentliche jede Absicht, jede Planung, jedes pädagogische Zukunftsprogramm wie auch jedes individuelle Autonomie- oder Mündigkeitsstreben. Sowohl Buber wie auch Lévinas entziehen sich damit einer pädagogischen Einordnung im wortwörtlichen Sinne. Denn sie stellen die traditionellen Ordnungen und Sinnstrukturen der Pädagogik grundsätzlich infrage. In gewisser Weise ist ihr Denken sogar ‚anti-pädagogisch‘, wenn man einem traditionellen Verständnis von Erziehung und Bildung folgt, in dem die pädagogische Gestaltung des Generationenverhältnisses als hierarchisches, über Autorität und Liebe oder auch Zwang und Disziplinierung vermitteltes Wirkungsverhältnis geschehen soll. Man kann es auch anders formulieren – und das ganz im Sinne von Lévinas: Ethische Verpflichtung ist keine moralische, auf Dauer gestellte Bildung in der Sphäre eines Individuums. Wenn man trotzdem von Bildung sprechen will, dann wäre Bildung nicht Selbstwerden im egozentrischen Sinne, sondern diskontinuierliches und unerwartbares Anderswerden durch den Anderen im dezentrischen Sinne der In-Anspruchnahme. Meine pädagogischen Möglichkeiten verdanke ich dem Anderen, nicht mir selbst. Es liegt auf der Hand, dass pädagogische Projekte wie Werterziehung oder Moralisierung durch Belehrung immer schon zu ‚spät‘ kommen. Sie ersetzen nicht die Ereignisse der ethischen Inanspruchnahme, sondern werden allererst darin als Erfahrung der Verpflichtung vor jeder Selbstverpflichtung fundiert. Die Bildungsdiskussion hat also zu einer dramatischen Kehrtwendung geführt. Die Frage nach der Bildung kennt keine eindeutige Antwort, zumindest wenn man sich im jüdisch-christlichen Gedankenkreis der Dialogphilosophie und des ‚Humanismus des anderen Menschen‘ bewegt. Hier dominiert das biblische Bilderverbot: Bildung als Anderswerden verwehrt sich einer Gestalt und damit dem Zugriff und der Bestimmung durch die traditionelle Stetigkeits- und Machbarkeitspädagogik. Sie widerfährt dem Menschen, der sich ihr nicht entziehen kann, und macht ihn überhaupt zu einem ethischen und pädagogischen ‚Subjekt‘. So sind es unsere Kinder in ihrer Hilflosigkeit und Angewiesenheit, die uns in die Mitmenschlichkeit rufen und pädagogisches Handeln ermöglichen. Von ‚Wagnis‘ oder ‚Scheitern‘ der Pädagogik zu sprechen, wie es beispielsweise Bollnow und viele Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik seit alters her tun, findet hier keinen Ansatzpunkt. Denn diese Sprache wird zu offensichtlich von der Handlungsperspektive eines erwachsenen Subjekts bestimmt, das zuerst etwas

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‚riskiert‘, um eventuell dann im Scheitern sich selbst zu riskieren. Für Lévinas, besonders für seine späteren Arbeiten, gibt es nicht die Freiheit der Wahl oder der Planung. Den Ansprüchen des Anderen bin ich ausgeliefert. Ethisch verpflichtet bin ich ein ‚Mich‘, das vom Anspruch des Anderen getroffen wird.

4.2.3.7 Der genealogische Blick Michel Foucaults: Bildung und Erziehung im Kontext der Disziplinarmacht Der genealogische Blick Foucaults ist eine weitere radikale Wende im Selbst- und Weltverständnis des Menschen.12 Mit ihr lassen sich Bildung und Erziehung neu buchstabieren. Neu ist dabei die Verbindung von Wissen und Macht, und zwar jenseits moralischer Fragen nach den Grenzen der Erziehung. Im Gegenteil – Wissen als disziplinäre Machtpraxis ist strukturell in den Humanwissenschaften und damit auch der Pädagogik verankert. Normative Fragen spielen hier unter den Aspekten der Normalisierung, der Abnormitäten und Perversionen eine diskursrelevante Rolle in den innerdisziplinären Sprachspielen der Wissenschaften. Nicht erst seit der postrukturalistischen Diskussion über den ‚Tod des Subjekts‘ in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts ist deutlich geworden: Das neuzeitliche ‚Subjekt‘ ist in sich gespalten. Als ‚transzendental-empirisches Doppelwesen‘ ist es das Produkt der Neuzeit, nämlich das Produkt der institutionellen und wissenschaftlichen Praxen der Humanwissenschaften. Diese sind Teil der machtförmigen Formierungen der Menschen in gesellschaftlichen Systemen, die in der Neuzeit zunehmend anonyme und dezentrale Macht- und Kontrollpraktiken entwickeln. Es gibt kein einheitliches Zentrum der Macht mehr, wie beispielsweise den Souverän des absolutistischen Staates mit den Polizeywissenschaften und Bürokratien. Macht ist zugleich Kontrollwissen und Disziplinarpraxis, verstreut in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen. Einbezogen sind alle modernen Wissenschafts- und Wissenssysteme samt angegliederte Praxen und Institutionen, einschließlich der Pädagogik oder Erziehungswissenschaft. Genauer noch, der Mensch wird als Einzelwesen, als Gruppe oder als soziales Gebilde zum Gegenstand, d. h. zum Objekt der aufkommenden Natur- und Sozialwissenschaften.

12Zugrunde

lege ich hier die beiden Schriften von Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (1976), Ders.: Sexualität und Wahrheit 1: Der Wille zum Wissen (1977); außerdem Ders.: Sexualität und Wahrheit 2: Der Gebrauch der Lüste (1986); für die pädagogische und kritische Rezeption vgl. Malte Brinkmann: Das Verblassen des Subjekts bei Foucault. Anthropologische und bildungstheoretische Studien (1999); auch neuerdings das Themenheft der Zeitschrift für Pädagogik Bildung – Macht – Gesellschaft, Jg. 52, H.1 2006.

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Er wird wie jeder andere ‚Gegenstand‘ mittels quantifizierender, messender Methoden zu einem kausal determinierten Gebilde, zu einem (Sozial-) ‚Körper‘, der wie alles Körperhafte und Physische keine ‚Seele‘ oder Innerlichkeit hat. Deshalb kann er manipuliert werden, indem man in seine Mechanismen eingreift. Hierin wurzelt noch Kants Pädagogik als Zucht und Disziplinierung der animalischen Natur des Kindes. Auch wenn man später soziale Prozesse nicht mehr deterministisch, sondern als regelhaft im Sinne von Wahrscheinlichkeiten interpretiert, wechselt man nicht grundsätzlich den Objektbegriff. Der Mensch bleibt ‚Objekt‘ der Wissenschaften, und ihm gegenüber, genauer noch, jenseits davon steht der ‚ganz Andere‘. Gleichsam unsichtbar lebt und agiert das starke Subjekt der Neuzeit: der Wissenschaftler, der Forscher, der Technokrat. Er ist epistemologisch gesehen kein individuelles und konkretes ‚Subjekt‘, sondern Mitglied eines Kollektivs, von dem wie von allen anderen ohne Unterschied Objektivität, Neutralität, Methodenstrenge und nach den Forschungsstandards ausgerichtete Untersuchungsmethoden, die mathematisierbares und quantifizierbares Wissen erzeugen, verlangt wird. Als ‚Subjekt‘ bleibt der Forscher abstrakt und allgemein, er ist der Vertreter der Wissenschaftlergemeinschaft, vergleichbar mit dem Kantischen Gattungssubjekt, das unter dem Himmel der Gattungsvernunft keine Individualität kennt. Wir stoßen also auf eine signifikante neuzeitliche Differenzfigur: Das wissenschaftliche Subjekt ist gegenüber seinem ‚Objekt‘ der ganz Andere; zugleich ist es Repräsentant, das heißt ein generalisierter Anderer. Die ab dem 19. Jahrhundert sich ausdifferenzierenden Sozial- und Humanwissenschaften zielen mittels ihrer raffinierten psychologischen und qualifizierenden Methoden (der Feldforschung, der biografischen und narrativen Methoden) nicht mehr bloß auf den Körper, sondern auf die Seele. Damit beerben sie die mittelalterliche Tradition der pastoralen Seelenführung durch die Praxis der Beichte. In der Beichte geht es um Sünde und Verfehlungen. Sie erzwingt unter Androhung ewiger Verdammnis Buße und Reue von einem jeden Menschen. Zuerst öffentlich praktiziert als ‚Anprangerung‘, wird die Beichte zunehmend zum intimen Verhör zwischen Beichtvater und Sünder. Die dabei entwickelten Techniken üben auf den Sünder einen Geständniszwang aus, der ihn zur Selbstbeobachtung anhält. Er muss sich als schuldig und sündig erkennen und bekennen und die auferlegte Buße gehorsam annehmen. Historisch gesehen provoziert und erzeugt die Beichte die Individualisierung des Menschen. Durch sie entdeckt und entwickelt er sein Innenleben. Geschaffen wird somit das neuzeitliche Selbstbewusstsein, nämlich selbst für sich verantwortlich zu sein und ein individuelles und einzigartiges Gewissen zu haben, das sich freiwillig den sanften Methoden der Buße und Reue unterwirft. Im Protestantismus wird dann ganz auf die innere Seelenführung vertraut. Man hat sein Leben unmittelbar

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und ohne pastorale Hilfe vor Gott zu rechtfertigen. Erwartet wird in der pietistischen Gemeinde, dass man Tagebuch führt und dass man die ‚Bekehrung‘ oder ‚Erweckung‘ als dramatischen Akt der Glaubensberufung öffentlich dokumentiert. Später im 18. und 19. Jh. wird die qualitative Psychologie der Seele, die bürgerliche Psychoanalyse, diese pastorale Menschenführung fortsetzen und verfeinern: Der Mensch ist – so Foucault – das „Geständnistier“. Er lernt nun mit den Mitteln der psychologischen und psychiatrischen Deutungsarbeit kennen, wer er ist und wie er sein sollte. Denn diese Deutungsarbeit operiert mit Vorstellungen von Normalität und ihren Abweichungen, wie u. a. Pathologien, Perversionen, Neurosen, Psychosen, Krankheiten. Sie arbeitet mit Mustern der Abweichungen von unterstellten Normen, und diese werden nicht vorgefunden, sondern ‚erfunden‘. Galt im Mittelalter der Geisteskranke oder Epileptiker als Strafe Gottes, oder glaubte man, dass er vom Teufel besessen wäre, und hatte man ein wenig differenziertes Vokabular für die Feststellung von Abnormitäten, so verändert sich das seit der Neuzeit dramatisch. Die Wissenschaften vom Menschen entwickeln immer reichere Vokabularien und Diagnoseinstrumente, zusammen mit neuen Praxen der Behandlung und spezialisierten Institutionen, Krankenhäusern und Anstalten. Darin erzeugen und normieren sie menschliches Verhalten und neue Identitäten. Das Ziel dieser äußerst produktiven Arbeit ist Normalisierung im Sinne der Tüchtigkeit des Menschen in einer hoch differenzierten Leistungsgesellschaft. Diese wird nur in Gang gehalten, wenn sich die Menschen nicht nur äußerlich den disziplinären Formierungsprozessen unterwerfen, sondern wenn sie es selbst tun und wollen, was sie sollen; wenn sie also lernen, sich selbst mit dem Blick und den Augen zu sehen, die der generalisierte und autorisierte Andere auf ihn richtet. Das Subjekt wird auf diese Art zum Klienten, zum Patienten. Der Klient wird die Sprache der Psychologie nicht nur hören, er wird sie lernen und sich mit ihr identifizieren, sodass er sie selbst sprechen kann. Damit ist der neuzeitliche Mensch als Subjekt zugleich sein Objekt. Er ist sich selbst Untertan. Die Machtförmigkeit neuzeitlicher Menschenführungstechniken wandert folglich mithilfe der Wissenschaften in die Menschen hinein. Sie wird unsichtbar und zunehmend Teil seines eigenen Selbstverständnisses. Die Pädagogik gehört ebenfalls zu diesen pastoralen Formierungstechnologien. Ihr paternalistisches und pastorales Motto lautet: Das Kind habe sich freiwillig der Autorität des Erziehers zu unterwerfen. Es habe dem Erwachsenen Vertrauen zu schenken, denn dieser wisse, was für das Kind gut sei. Letztlich hat dann das Kind die Ziele und Techniken der Seelenführung zu verinnerlichen. Es wird – so zeigt es zum Beispiel die unter Pädagogen, Ärzten und Seelsorgern auswuchernde Onanieverdachtsdiskussion des 19. Jahrhunderts – sich als das sexualisierte Kind selbst so sehen, wie die Erwachsenen es ‚erfinden‘. Es wird

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dementsprechend die Schuldgefühle produzieren, die ihm nachgesagt werden. Der klassische Gegensatz von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung fällt damit in sich zusammen. Fremdbestimmt ist man als der, der man selbst sein will, weil man es zu sein hat. Paradox formuliert: Fremdbestimmung ist Selbstbestimmung. Liebe und Vertrauen gehen mit Autoritätsgläubigkeit zusammen. Dieses Muster der Zögling-Erzieher-Beziehung ist für die geisteswissenschaftliche Pädagogik in ihren gängigen Diskursen typisch. Aus genealogischer Perspektive betrachtet sind sie bloß Effekte der Macht- und Wissensdiskurse neuzeitlicher Humanwissenschaften. Diese genealogische Lesart des Zusammenhangs von Bildung, Erziehung und Alterität irritiert immer wieder aufs Neue die Erziehungswissenschaft. Als traditionelle Pädagogik versucht sie den Raum zwischen Erzieher und Zögling von Fremdbestimmung und Macht freizuhalten, und zwar im Namen der moralischen Individualität und Integrität des Zöglings, damit er sich selbst bilden kann. Als wissenschaftliche Disziplin findet sie sich als Teil der Disziplinarmacht wieder, deren Produktivität gerade darin bestehen soll, dass sie diesen Raum besetzt und formiert. Vorstellungen von Autonomie und Selbstbestimmung wie auch Fremdbestimmung sind dann keine Gegensätze, sie gehören zu demselben disziplinären Vokabular der psychologisch-pädagogischen Machteffekte. Darüber wird der ‚souveräne Untertan‘ definiert, das neuzeitliche Individuum, das nicht jenseits der neuzeitlichen Disziplinargesellschaft steht. Jedoch – allen Emanzipationshoffnungen zum Trotz, man trifft auf kein Zentrum der Macht, auf keinen großen Anderen in der Gestalt des ‚Großen Bruders‘ nach Orwells Roman 1984, den man anklagen oder bekämpfen könnte. Als Genealoge ist man selbst Teil dieses undurchschaubaren Zusammenhangs einer permanent diffundierenden Machtpraxis, in der die Vision menschlicher Beziehungen ohne Macht und Wissen nur eine romantische Illusion darstellen kann. Pädagogik ist somit durch und durch Fremdbestimmung, und die Anderen, seien sie Erzieher oder zu Erziehende, bleiben in genealogischer Hinsicht ununterscheidbar. Beide sind sie Teile wissensförmiger Disziplinarsysteme, zwar auf unterschiedlichen Positionen in diesem System, jedoch in ihren Funktionsrollen ineinander verstrickt. In der Logik der Genealogie vermag sich Selbstbestimmung nur als Fremdbestimmung zu formieren und zu artikulieren. Die Kategorien und das Vokabular dazu liefern die disziplinären Wissensformen und Klassifikationsstrategien. Gibt es in ihrem hermetischen System, das den Genealogen als Forscher einschließt, überhaupt einen Ort der Kritik, d. h. einen Ort des nicht immer schon vereinnahmten und systemstabilisierenden Widerstandes? Gibt es noch einen anderen Ort außerhalb der Immanenz der Systeme? Foucault selbst plädiert für einen experimentellen Umgang mit sich selbst, „nicht länger das zu sein, zu tun oder zu denken, was wir

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sind, tun oder denken“ (Foucault 1990, S. 49). Spricht er damit den Individuen in den wissensförmigen Machtsystemen dann nicht eine Fähigkeit zu, die die Macht transzendieren kann? Wer ist das? Wird hier nicht die traditionelle Gestalt des ideellen Subjekts im subjektphilosophischen Aufklärungsdenken wiederbelebt, das sich als das ganz Andere gegenüber den nur äußeren Determinationen zu bestimmen versucht? Lassen wir an dieser Stelle diese Fragen unbeantwortet.

4.2.3.8 Bildung als responsives Selbst- und Weltverhältnis: Bernhard Waldenfels „Was wir sind, sind wir nie ganz und gar“ (Waldenfels 1998, S. 37). Das heißt nichts anderes, als dass wir uns partiell fremd bleiben. Diese Devise drückt die Grundauffassung einer subjekt- und ordnungskritischen Phänomenologie aus, deren systematischer Schwerpunkt auf der Erforschung faktischer und kontingenter Genealogien von Ordnungen und Sinn in allen Registern und Feldern menschlicher Erfahrung liegt. Als Lebensweltphänomenologie wurde sie von M. Merleau-Ponty (zur philosophisch-systematischen Einschätzung vgl. Schröder 1990, S. 171–190), dem Piaget-Vorgänger auf dem Lehrstuhl für Psychologie an der Sorbonne und dem Antipoden Jean Paul Sartres entwickelt und vom deutschen Philosophen Bernhard Waldenfels als Phänomenologie der Responsivität in vielfältigen Forschungsfeldern und Forschungsthemen fortgesetzt. Sie haben einen großen Einfluss auf die aktuelle deutsche Bildungs- und Erziehungstheorie. Was besagt diese Devise: Das menschliche Selbst- und Weltverhältnis verfügt weder über seine Ursprünge oder seine Endbestimmung wie in der kosmologischen Tradition oder in der neuzeitlichen Subjektphilosophie, noch ist es einseitig ich-zentriert wie bei Husserl oder anderen-zentriert wie bei Sartre oder Lévinas. Schließlich erfüllt es sich auch nicht wie in der Dialogphilosophie Bubers in einem ganzheitlichen und harmonischen Wir-Geschehen, in dem Ich und Du aus einer metaphysischen Sinnmitte heraus entstehen. Selbst- und Weltverhältnisse13 inkorporieren sich vielmehr im faktischen Zusammenleben konkreter Menschen unter nicht beherrschbaren Bedingungen ihrer geschichtlich-sozialen Existenz. Nicht zuletzt durch die Krisen- und Kriegserfahrungen

13Meine

Skizze konzentriert sich auf die zentralen neueren Arbeiten von Bernhard Waldenfels: Ordnung im Zwielicht (1987), Ders.: Antwortregister (1994); zur Rezeption der responsiven Phänomenologie von Waldenfels in der deutschen Erziehungswissenschaft vgl. die Dissertation von Jeong-Gil Woo: „Antwort auf den fremden Anspruch“ – Die Bedeutung der responsiven Phänomenologie von Bernhard Waldenfels für die aktuelle phänomenologisch orientierte Erziehungsphilosophie (2006).

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im letzten Jahrhundert angestoßen und in intensiver systematischer Auseinandersetzung mit den Aporien der Subjektphilosophien der Neuzeit hat sich die lebensweltliche und responsive Phänomenologie von den idealisierten Visionen einer einheitlichen und aufgeklärten Vernunft verabschiedet. Wir Menschen der Neuzeit leben in Verhältnissen ohne eindeutige und notwendige Sinnausrichtungen, ohne ein sicheres Wissen um erste Anfänge oder um Letztgegebenheiten und ohne einen positiven Daseinssinn, den ein metaphysisches Heilsgeschehen absichert. Menschliche Existenz hat Ereignis- und Geschehnischarakter. Sie ist gekennzeichnet von Brüchen, Diskontinuitäten und struktureller Offenheit, und diese Eigenschaften verweisen auf die faktischen Bedingungen ständig prekärer und wandelbarer menschlicher Sinn- und Ordnungsleistungen. Deren Ort ist das ‚Zwischen‘ von Interaktionen und Kommunikationen, an denen die Menschen als Mit-Handelnde oder Mit-Kommunikanten mitwirken. Wie auch immer diese Mitwirkung aussieht, ob als eingespielte Alltagsroutine in mehr oder weniger geregelten sozialen Rollen und Funktionen, oder als kreative und schöpferische Kooperation in Handlungs- und Gesprächssituationen, – soziale Zusammenhänge sind strukturell gesehen responsive Verhältnisse. Sie werden gestaltet aus der Differenz und Asymmetrie der Partner und aus dem Hiatus zwischen den situativen und kontextuellen Ansprüchen und den möglichen Antworten darauf, ohne dass beide jemals sich decken könnten. Wir können uns in solchen variablen und sich ständig ändernden Bedingungen unserer sinnlich-leiblichen, geschichtlich-kulturell und sozial wie auch moralisch-sittlich bestimmten Existenz nicht zur Souveränität und Autonomie aufschwingen. Stattdessen haben wir es zu tun mit Unsicherheit, mit Vorläufigkeit und mit mehr oder weniger ausgeprägter Fremdheit und Alterität zwischen uns und den Mitmenschen, wie auch in uns selbst. Menschliche Existenz ist in überindividuelle und allgemeine Ordnungssysteme eingebettet, die jedoch offen und dynamisch bleiben, da sie an faktische Handlungs-, Kommunikations- und Reflexionskontexte gebunden sind. Darin treten die Menschen nicht als isolierte Subjekte auf, die dann aus einer Subjektposition heraus erst Kontakt zu ihren Mitsubjekten aufnehmen. Vielmehr sind die Menschen von Anfang an intersubjektiv miteinander verbunden. Sie interagieren in respondierenden, nicht-subjektzentrischen Beziehungen, handeln folglich als Mit-Akteure und nicht als Solisten; sie sprechen miteinander als Fragende, Zuhörende und Antwortende in einem sprachlichen Gespinst von nicht eindeutigen Rollen; sie reagieren und agieren als leibliche Wesen auf polyvalente Ansprüche einer qualitativen und ästhetisch ausdruckvollen Welt kulturell geprägter Natur und Dinge. Diese sind nicht bloß ‚Objekte‘ oder ‚Gegenstände‘ eines abstrakten epistemologischen Subjekts. Vielmehr sind sie ‚Respondenten‘ und Mit-Akteure, wenn sie sich in ihren physiognomischen Gestalten und Äußerungsformen, in Formen, Gerüchen,

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Geschmackseindrücken, Geräuschen usw. unseren Sinnen und Handlungen darbieten. Manchmal muten sie uns freundlich an und laden uns zur Interaktion ein; manchmal schrecken sie uns ab oder überfordern uns sogar. Nicht zuletzt sind wir als konkrete Menschen in intrasubjektive responsive Strukturen verstrickt. Sie erlegen uns – oft gegen unser Wollen, Können oder Wissen – Ansprüche auf, zu denen wir uns verhalten müssen und auf die wir antworten. Somit sind wir nicht Herr im eigenen Hause, denn Gedanken kommen in uns und gehen; wir sind nicht Zeugen unserer Geburt und unseres Todes, sodass wir weder unseren Anfang noch unser Ende überblicken. Ich-ferne oder sogar befremdliche Bedürfnisse und Triebregungen verlangen nach Befriedigung; Krankheiten überfallen uns und nötigen uns zur ‚Antwort‘; psycho-physische Entwicklungen und Reifeprozesse eröffnen neue Möglichkeiten, aber verschließen dabei andere, wie es zum Beispiel das Älterwerden zeigt usw. Alle diese Interaktions- und Erfahrungsformen bilden ein dynamisches und unüberschaubares Geflecht von miteinander zusammenhängenden, aber differenten Strukturen. Vergleichbar mit der komplexen Gestalt von Sprachen bilden sie Bestände, Traditionen, Regeln und Grammatiken aus, wodurch sie sich von anderen Ordnungen abgrenzen. Es wäre aber kurzsichtig, sie darauf zu reduzieren. Denn wie die lebendige Sprache gesprochen werden muss, und damit im Sprechen nicht nur ihre vorhandenen Strukturen und Bestände aktiviert, sondern auf Neues hin überschreitet und Neues generiert, so erstarren mitmenschliche Ordnungen, wenn sie nicht offen für Neues sind und dynamisch bleiben. Diese Skizze einer responsiven und lebensweltlichen Phänomenologie erschöpft nicht den Reichtum ihrer konkreten deskriptiven Forschungen und Analysen. Deutlich ist vielleicht geworden, dass lebensweltliche und responsive Strukturen Alterität in allen Graduierungen bis hin zur Fremdheit und Desintegration zum Grundcharakteristikum menschlicher Existenz machen. Sie eröffnen damit auch neue Perspektiven auf Bildungs- und Erziehungsprozesse. Bildung und Erziehung unter dem Zeichen der Responsivitäts- und Lebensweltthematik zu erforschen, akzentuiert deshalb stärker als andere Diskurse Alteritäts- und Fremdheitsthemen.14 Zum Beispiel ist pädagogisches Verstehen wesentlich Fremdverstehen, denn mit unseren Kindern

14Vgl.

dazu meine einschlägigen Forschungen über pädagogisches Fremdverstehen, über pädagogische Differenzmuster des Lernens und der Bildung, über Fremdheit und Alterität in pädagogischen Kontexten: Wilfried Lippitz: Phänomenologische Studien in der Pädagogik (1993a), Ders.: Differenz und Fremdheit (2003), auch Ders.: Róznica i obcość (2005); Vgl. dazu auch die Arbeiten von Käte Meyer-Drawe: Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich (1990), Dies.: Vom anderen lernen. Phänomenologische Betrachtungen in der Pädagogik (1996).

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kommen neue und unerwartete Ansprüche auf uns zu, die wir als Erwachsene nicht voraussehen. Pädagogische Interaktionen sind asymmetrisch strukturiert. Sie ereignen sich in der Differenz der Partner, in der Unvorhersehbarkeit der situativen und außer-ordentlichen Ansprüche, die den Partnern widerfahren und denen sie nicht planend zuvorkommen können. Lernen wie auch Bildungsprozesse sind nicht bloß auf kontinuierliche Steigerung ausgerichtet, sondern als Erfahrungsprozesse weisen sie Brüche, Krisen, Fortschritte und Rückschritte auf. Infolgedessen verlangen sie vom Pädagogen die Kompetenz, mit den Unsicherheiten und Unwägbarkeiten pädagogischer Prozesse umzugehen, d. h. ihnen mit Wissen um das eigene Nichtwissen-Können zu begegnen und damit ein kritisches und sensibles Kontingenzbewusstsein herauszubilden, das für pädagogische Handlungs- und Wissenskontexte offen bleibt. Pädagogisch Handelnde sind vor aller Reflexion und gegen alle Absichten Respondenten, Mit-Akteure und nicht Hauptakteure in pädagogischen Situationen. Das ist nichts Außergewöhnliches, aber darauf hinzuweisen tut Not, weil viele Spielarten der Pädagogik auch heute noch mit subjektphilosophischen Konzepten arbeiten, die die Faktizität und Kontingenz des Bildungsgeschehens als Ausnahme oder Störung interpretieren, die den vermeintlich souveränen Blick des Pädagogen beeinträchtigen. Kommen wir zum Schluss: Bildung in subjektphilosophisch kritischer Perspektive macht deutlich: Alterität ist integraler Bestandteil von Bildung und Erziehung. Alterität erlaubt es, neu und anders über die Pädagogik nachzudenken und in offener Weise mit unseren Kindern und Heranwachsenden umzugehen. Nötig ist das auf jeden Fall angesichts aktueller politischer Diskurse und Proklamationen, in denen nationale Einheitsmythen, national geprägte Leitkulturen beschworen und als Grundlage der Werteerziehung in den Schulen dienen sollen, und Vorurteile gegenüber dem Fremden und dem Anderen die Einsicht verdecken, dass Bildungsprozesse ohne Erfahrungen von Alterität eindimensional bleiben und verkümmern. Meines Erachtens trifft das Wort von Jan Martinus Langeveld, dem niederländischen Erziehungswissenschaftler, nicht nur für das Studium zu, der folgendes feststellt: „Pädagogik studieren bedeutet, selbst anders zu werden“ (Langeveld 1973, S. 18).

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4  Bildung, Kultur und Alterität – Bildungsphilosophische Interpretationen

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Pädagogischer Bezug. Erzieherisches Verhältnis Wilfried Lippitz und Jeong-Gil Woo

Erzieherisches Verhältnis und pädagogischer Bezug sind besondere Interaktions- und Kommunikationsformen des menschlichen Zusammenlebens und der Gestaltung der intergenerativen Beziehungen. Sie artikulieren sich im Nahraum personaler Beziehungen in mehr oder weniger institutionalisierten und organisierten Zusammenhängen wie Familien oder anderen Primärgruppen, in Schulen, Erziehungsheimen und anderen Bildungsorganisationen. In erzieherischen Verhältnissen und pädagogischen Bezügen ereignen sich Bildungs- und Erziehungsprozesse als mehr oder weniger gezielte und bewusste Einwirkungen der älteren Generation auf die heranwachsende Generation. In neuzeitlichen westlichen Gesellschaften wird dieses Generationenverhältnis als ein Differenzund Spannungsverhältnis problematisiert, in dem individuelle Ansprüche und Bedingungen der Heranwachsenden auf Entwicklungsaufgaben und -ansprüche der Gesellschaft oder sogar auf ein für verbindlich gehaltenes Menschheitsideal (Rationalität, Vernunft) aufeinandertreffen und miteinander vermittelt werden müssen. Bildungs- und Lernprozesse sind nicht nur auf das Verhältnis von Erwachsenen zu Kindern und Jugendlichen beschränkt. Lebensgeschichtlich gesehen sind sie heute aufgrund des beständigen gesellschaftlichen und geschichtlichen Wandels niemals abgeschlossen und betreffen deshalb auch das Zusammenleben der Erwachsenen und ihr Selbstverhältnis.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Lippitz, Phänomene der Erziehung und Bildung. Phänomenologischpädagogische Studien, Phänomenologische Erziehungswissenschaft 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24187-2_5

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5  Pädagogischer Bezug. Erzieherisches Verhältnis

5.1 Lesarten der geisteswissenschaftlichen Pädagogik Im kosmologisch geprägten Welt- und Selbstverständnis der abendländischen antiken und christlichen Tradition mit ihren dichotomischen Ordnungsmustern von Mensch und Welt sind Erziehungs- und Bildungsverhältnisse hierarchisch und autoritativ strukturiert und haben oft bildungselitären Charakter (vgl. Flitner 1950, 8. Aufl. S. 110 f.). Im Diesseits des weltlichen, für vergänglich, sündig oder unwahrhaft gehaltenen Lebens bietet sich ein Weiser, ein Meister, ein Führer oder eine von der Welt abgetrennte, in sich geschlossene und streng hierarchisch organisierte Gemeinschaft (z. B. Klöster, Orden, Bruderschaften) an, die Menschen auf den Weg der Erkenntnis, der Wahrheit, des Heils oder der moralischen Lebensführung zu leiten. Vorbild und bedingungslose gehorsame Nachfolge im vorbehaltlosen Vertrauen auf den Meister als Repräsentant oder Verkörperung eines höheren Lebensideals charakterisieren ein autoritatives Meister-Schüler-Verhältnis. Darin wird eingeführt in den ‚rechten Glauben‘, in die ‚Wahrheit‘ mittels – wie es Foucault nennen würde (1989) – Technologien der Selbstführung, d. h. mithilfe asketischer, auf den Leib und die Seele zielender Praktiken der Selbsterziehung. Sie übt der Zögling oder Jüngling mithilfe des Meisters so weit ein und internalisiert sie dergestalt, bis er selbst in die Fußstapfen seines Meisters treten kann und das erzieherische Verhältnis beendet ist (vgl. dazu Frischeisen-Köhler 1973, S. 19 ff.). Hermann Hesse hat in der Mitte des letzten Jahrhunderts in seinem Bildungsroman Das Glasperlenspiel diese Tradition eines elitären Meister-Schüler-Verhältnisses als anachronistische Utopie eines gelingenden Lebens und einer restaurierten Bildungsgemeinschaft unter dem Ideal einer Kosmologie subtil nachgezeichnet (vgl. Hesse 1983, Bd. 7 und 8). Nach Zerfall der mittelalterlichen Kosmologien treten die Menschen selbst als Ordner der Welt auf. In Erziehungsutopien werden der neue Mensch und mit ihm die neue Gesellschaft entworfen und Kritik an den noch vorherrschenden feudalen und absolutistischen Herrschaftsformen geübt. Zugleich differenzieren die aufkommenden Humanwissenschaften das Welt- und Selbstverständnis aus und bereichern es mit einer Fülle anthropologischer, psychologischer und soziologischer Kenntnisse, die das Verständnis von Erziehungsverhältnissen immer komplexer werden lassen. Beispielsweise bietet Rousseau im ‚Émile‘ ein reiches ‚humanwissenschaftliches‘ Wissensrepertoire auf, um den fiktionalen ­Lebensweg des neuen Menschen ‚Émile‘ als gestuften Erziehungsgang darzustellen. In ihm spiegeln sich grundlegende Paradoxien moderner Erziehung wider. Denn der Erziehungs- und Bildungsgang wird zwar im Sinne des neuzeitlichen ­Aufklärungsideals

5.1  Lesarten der geisteswissenschaftlichen Pädagogik

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als Prozess der Individualisierung und der Selbstbestimmung konzipiert, jedoch hinter der unpersönlichen ‚negativen Erziehung‘ durch die Dinge und die Natur in der Kindheits- und Jugendphase des ‚Émile‘ verbirgt sich der allmächtige Erzieher. Mit dem Konzept der ‚kluggeregelten Freiheit‘ trifft er höchstwirksame Erziehungs­ arrangements, die den Willen des allwissenden Erziehers im Wollen des Zöglings aufgehen lässt und dem Erwachsenen eine unangreifbare, da internalisierte Macht als Selbstzwang sichert. Nachträglich lässt sich der Erzieher diese Unterwerfung durch einen ‚Vertrag‘ mit dem 15jährigen Émile legitimieren. Er begibt sich damit als schon Erzogener ‚freiwillig‘ und nachträglich in die Hände seines Erziehers (vgl. Rousseau 1963, S. 664). Dieser neuzeitlichen Vertragsfassung eines erzieherischen Identifikationsverhältnisses fügt der ‚pädagogische Genius‘ Pestalozzi – so Diltheys Auszeichnung (s. u.) – eine weitere Facette hinzu, die für die bürgerliche Ideologie der Mütterlichkeit zentral wird: In seinem viel gelesenen Volksroman Lienhard und Gertrud ist es die liebevolle und ‚überbehütende‘ Mutter, die mit den Mitteln einer pietistisch-pastoralen Pädagogik eine auf den Leib und die Seele zielende moralische Gesinnungsbildung ihrer Kinder betreibt. Diese intensive Moralisierung des familiären Zusammenlebens wird zum Vorbild für die moralische Restauration einer ‚väterlichen‘ und feudalen Herrschaft im Gemeinwesen unter der Führung des Gutsherrn, dann des Pfarrers und Lehrers (vgl. Pestalozzi 1961). Diese patriarchalische und pastorale Vision der Pädagogik als Motor der politischen Reform der Gesellschaft im Sinne der Moralisierung und innerpsychischen Disziplinierung ihrer Mitglieder hat vermutlich biografische Wurzeln und Motive. Sie scheinen für Rousseau und Pestalozzi Kompensationsformen ihrer eigenen unglücklichen und vielleicht sogar traumatischen Erziehungsverhältnisse darzustellen (vgl. zum Beispiel aus psychoanalytischer Sicht mit Blick auf Pestalozzi Kraft 1996). Solche pädagogischen Allmachtsvisionen mitsamt der Vorstellung von durch und durch moralisierten und sozial-integrativen Gemeinschaften sind in vielfacher Hinsicht fragwürdig geworden. Einerseits hat sich in allen menschlichen Angelegenheiten ein skeptisches Bewusstsein von Geschichtlichkeit, Kontingenz, Pluralität und Relativität verbreitet. Utopien gesellschaftlichen Fortschritts und menschheitsgeschichtlicher Vervollkommnung, mit denen sich die Autoritätsansprüche einer Meisterpädagogik legitimiert haben, gelten als illusionär und totalitär. Andererseits deutet sich eine grundlegende Revision des Subjektbegriffs an, der auch für das Verständnis des Zöglings systematische Folgen hat. In Kants transzendentalphilosophischem Konzept der Subjektivität widerstreiten die Vernunftidee der unbedingten Freiheit und Autonomie und die Vision einer fortschreitenden Vernünftigkeit des Gattungssubjekts der empirischen, den Kausalgesetzen der Natur unterworfenen, sinnlich-leiblichen und sozialen Verfasstheit des

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5  Pädagogischer Bezug. Erzieherisches Verhältnis

Menschen. Zwar muss nach Kant der Mensch erst zum Menschen erzogen werden. Aber die transzendentalphilosophische Spaltung des Welt- und Selbstverhältnisses des Menschen konfiguriert erzieherische Einwirkungen bloß als fremdbestimmende und kausal-analoge Zucht und Disziplinierung. Damit bleibt Kants Verständnis von Erziehung für ein differenziertes Verständnis erzieherischer Wirksamkeit unfruchtbar, obwohl die Antinomie zwischen unbedingter Freiheit und Erziehung als Zwang bis heute immer noch als ‚Grundantinomie‘ jeder Pädagogik verhandelt wird (vgl. dazu kritisch Ricken 1999). Jedoch ihre kritische Rezeption und Revision in der nachfolgenden pädagogischen Theoriebildung haben die Vorstellungen über Prozesse und Wirkungsverhältnisse von Bildung und Erziehung ausdifferenziert. Herbart analysiert grundlegende sinnlich-leibliche und kognitive Mittel der Steigerung und Ausbildung der sittlichen Haltungen und Gesinnungen des Zöglings, verbunden mit der Ausbildung seines differenzierten Welt- und Selbstverständnisses durch Unterricht (vgl. 1964, Werke Bd.  1). Schleiermachers dialektische Vermittlungstheorie des Generationenverhältnisses unterstreicht die relative Eigenwertigkeit und die dadurch bedingten Freiheitsspielräume in den Wechselwirkungen zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden. Schon in den familiären Beziehungen zielt die Erziehung nicht auf bloße Anpassung des Kindes an die Normen und Gebräuche der Eltern als Repräsentanten der Kultur, sondern sie baut mit zunehmender moralischer und kognitiver Entwicklung des Kindes die pädagogische Fremdbestimmung zugunsten der Selbstbestimmung ab. Schleiermacher analogisiert letztlich die so erzielte ‚persönliche Eigentümlichkeit‘ mit einem größeren sittlich-moralischen Ganzen der Gesellschaft. Die Einheit der Bildung vollende sich – so seine Auffassung – in der Einheit von Individualität und Universalität. Damit unterläuft er die dialektischen Spannungen, und diese harmonisierende Tendenz geht zulasten des zu Erziehenden und auch auf Kosten eines realistischen Blicks auf die Verwerfungen, Konflikte und Gegensätzlichkeiten im Erziehungsverhältnis. Diese Tendenz ist typisch für nachfolgende wert- und kulturpädagogische Positionen. Diese stellen den prozessualen und konkreten Charakter erzieherischer Situationen in den Schatten eines für allgemein geltend gehaltenen Bildungsideals einer ‚Bildungsgemeinschaft‘. Hier gilt der Erzieher als ‚Bildner‘, als der „Gebildetste unter den Gebildeten“ (so kritisch Kron 1971, S. 56 f.), und er dient als Vorbild. Sowohl das konkrete Kind wie auch der konkrete Erzieher werden zum Mittel für Erziehungsprozesse, in denen „Regel und Gesetz, Autorität und Gehorsam, Moral- und Wertbewusstsein“ im Vordergrund stehen (ebd., S. 57). Erziehungswissenschaftliche Ansätze wie die von Dilthey und Nohl – dieser mit größerem Nachdruck als Dilthey – haben den aktiven, nicht nur identifikatorischen, sondern ‚eigenwilligen‘ und widerstrebenden Part der Heranwachsenden herausgearbeitet. Pädagogische Bezüge wie auch erzieherische Verhältnisse w ­ erden

5.2  Programmatische Entwürfe: ‚Erzieherisches Verhältnis‘ …

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so komplexer, widersprüchlicher und zerrissener. Ihre entsprechenden Konzeptualisierungen erweisen sich deshalb als besonders anschlussfähig an neuere sozialphilosophische und sozialwissenschaftliche Lesarten, denen wir im Weiteren folgen wollen. In den Blick rücken markante Entwürfe des 20. Jahrhunderts, wie das pädagogische Verhältnis als ‚dialogisches‘, das sozial-interaktionistische Handlungs- oder Kommunikationsverhältnis und die sozialphänomenologische Fassung von Erziehung als einem responsiven Verhältnis.

5.2 Programmatische Entwürfe: ‚Erzieherisches Verhältnis‘ und ‚Pädagogischer Bezug‘ Mit der Absicht der Begründung und Konsolidierung der Pädagogik als Wissenschaft haben sowohl Dilthey (um 1890) als auch Nohl (1933) programmatische Entwürfe vorgelegt, in denen u. a. kategoriale und zentrale Aspekte des erzieherischen Verhältnisses bzw. des pädagogischen Bezugs verhandelt werden, die dann für die weitere Theorienentwicklung wirkungsgeschichtlich bedeutsam geworden sind. Diltheys Bestimmung des erzieherischen Verhältnisses fokussiert einige allgemeine historische und soziologische Bedingungen. Der viel zitierte Satz „Die Wissenschaft der Pädagogik kann nur beginnen mit der Deskription des Erziehers in seinem Verhältnis zum Zögling“ (Dilthey 1974, 4. Aufl. S. 190) ist eher missverständlich, da ihm keine Deskriptionen nachfolgen. Erziehungs- und Bildungsprozesse ereignen sich in einer weiten Spanne von intentionalen, auf die ‚individuelle Seele‘ gerichteten und nicht-intentionalen Wirkungsformen in personalen und überpersonalen institutionellen Bezügen. Funktional gesehen sind sie intergenerationelle und assimilatorische Vermittlungsprozesse zwischen Heranwachsenden und Erwachsenen, um den Weiterbestand einer bestimmten Gesellschaft zu sichern. Prägend für die abendländische Zivilisation und die mit ihr verbundenen Erziehungsverhältnisse sind nach Dilthey (vgl. ebd., S. 193 ff.) patriarchalische, autoritative Gewaltverhältnisse, getragen von Loyalität und gegenseitigen Verpflichtungen zwischen Herrschenden und Beherrschten im familiären Verband. In der sich funktional ausdifferenzierenden und arbeitsteiligen neuzeitlichen Gesellschaft zeigt sich die wachsende Bedeutung des Individuums gegenüber der patriarchalischen Gemeinschaft darin, dass machtförmige Erziehungspraktiken ihre moralischen und rechtlichen Grenzen am ‚unbedingten Wert der Person‘ im christlichen Sinne oder an der potenziellen, noch zu entwickelnden oder im Kantischen Sinne unbedingten Freiheit und Autonomie des Menschen finden, der als Selbstzweck gewertet wird (vgl. ebd., S. 195 f.).

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5  Pädagogischer Bezug. Erzieherisches Verhältnis

Zugleich bilden sich pädagogische Berufsstände und Institutionen heraus. Sie stehen unter dem Einfluss von Wissenschaften, Kirche und Staat, die unterschiedliche ‚höchste‘ und deshalb auszutarierende Zwecksetzungen haben. „Die Familie repräsentiert vor allem das Element des persönlichen Glückes. Die Gemeinden repräsentieren die Brauchbarkeit in der ökonomischen Welt, der Staat die Fähigkeit, für das Ganze nach allen Seiten hin leistungsfähig zu sein, sich dem Gesetz unterzuordnen. Die Kirche arbeitet an dem höchsten Ziel der Person, in welchem sie gleichsam einsam sich der Gottheit gegenüber findet“ (ebd., S. 196)1.

Zwar betont Dilthey das für neuzeitliche liberale Gesellschaften typische Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Utilitarismus und individuellem Selbstzweck. Aber die unterschiedlichen Interessenlagen finden ihren „Koinzidenzpunkt“ in der beruflichen Anpassung der individuellen Anlagen an die mannigfachen Bedürfnisse und Leistungen der Gesellschaft (Dilthey 1974, S. 198). Am Typus des ‚pädagogischen Genius‘ (u. a. Pestalozzi, Rousseau) verdeutlicht Dilthey die innovative Funktion des genialen, intuitiv wirkenden pädagogischen Praktikers für die Fortentwicklung des Erziehungssystems (vgl. ebd., S. 204). Die Spannungen und Antinomien im Verhältnis zwischen Erzieher, Zögling und Gesellschaft, die bis heute zum Problembestand moderner Pädagogik gehören (vgl. zum Beispiel Helsper 1996), werden von Dilthey harmonisiert. In Nohls Programmatik des ‚pädagogischen Bezugs‘ dagegen bleiben sie trotz einiger harmonisierender Tendenzen erhalten. ‚Der pädagogische Bezug‘ hat keine einheitliche systematische Mitte (vgl. dazu weiterführend und mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte Klika 2000, S. 9 ff.). Jedoch lassen sich einige Grundzüge herauspräparieren, die an aktuelle Erziehungstheorien anschließen können (vgl. dazu weiterführend ebd., S. 72 ff., 386 ff.). Wie für Dilthey liegen auch für Nohl vor aller pädagogischen Intentionalität „erzieherische Momente“ in jeder zwischenmenschlichen Beziehung und in jeder geistigen Gemeinschaft, in denen „geistiger Austausch und geistige Führung“ stattfindet, sichtbar schon in „jedem Gespräch“ (Nohl 1973, S. 35). In dieser allgemeinen Hinsicht sind zwischenmenschliche Interaktions- und Kommunikationsprozesse strukturell asymmetrisch und responsiv (s. u.) angelegt. Bildung und Erziehung sind Selbstverhältnisse und damit anthropologisch gesehen in der antinomischen Struktur der menschlichen Seele verankert. Denn alle Menschen erfahren in der Gestaltung ihres Lebens das

1Vgl.

dazu in begründungstheoretischer Perspektive die Ethik der familiären Erziehung unter dem Aspekt des kindlichen Glücks bei Fuhr 1998.

5.2  Programmatische Entwürfe: ‚Erzieherisches Verhältnis‘ …

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‚erzieherische Grunderlebnis‘ der Selbstbildung, die aus einem gespaltenen Seelenlebens entsteht. Der Mensch „findet hier ein bewusst Vorwaltendes, Zielsetzendes vor und ein Triebhaftes, das ‚erzogen‘ werden soll“ (ebd., S. 36). Dieses seit der Antike bis in die Psychoanalyse hinein tradierte Verständnis der Spannung zwischen Wille und Trieb, in dem die Leib-Seele-Dichotomie durchscheint, kennzeichnet – modern gesprochen – die in sich gebrochene Identität. Sie ist nicht starr, sondern sie ist jedem Menschen zur Bewältigung lebenslang ‚aufgegeben‘. Primär gegenüber der Selbstbildung ist für Nohl jedoch die duale, antinomische und asymmetrische Struktur der persönlichen ‚Bildungsgemeinschaft‘ zwischen einem Erwachsenen und einem Heranwachsenden, zwischen Erzieher und Zögling. Sie zielt auf die „Erweckung eines einheitlichen geistigen Lebens“ durch den Erzieher als einen solchen „wirklichen Menschen mit einem festen Willen“ (ebd., S. 37). Formuliert wird hier der „Primat der Persönlichkeit und der personalen Gemeinschaft in der Erziehung gegenüber bloßen Ideen“ oder gegenüber dem „objektiven Geist“ und dem Einfluss durch „die Macht der Sache“ (ebd., S. 37). Das „fleischgewordene Wort“ und die „persönliche Kraft“, mit der der Erzieher eine Sache und ein Bildungsideal verkörpert, gestalten das „leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen“ (ebd., S. 39). Damit wendet sich Nohl gegen kultur- und wertpädagogische wie auch neukantianische Bildungskonzepte. In ihnen spielt die Person des Erziehers als Medium idealer, sogar überzeitlicher Gehalte nur eine sekundäre und vermittelnde Rolle (vgl. zum Beispiel Spranger 1928). Das unmittelbare Erziehungsgeschehen des ‚pädagogischen Bezugs‘ wird facettenreicher als bei Dilthey und zeitgenössischen Erziehungswissenschaftlern, wie z. B. in Litts bekanntem Essay Führen oder Wachsenlassen (Litt 1965, S. 63 ff.), von Nohl als ein asymmetrisches, geistiges und zugleich leiblich-sinnliches und emotionales Entsprechungsverhältnis zwischen Erzieher und Zögling beschrieben. Es kennt anthropologisch und entwicklungspsychologisch beschriebene Vorformen, wie die des gestisch-mimischen Austausches, der leiblich-körperlichen Praktiken der Pflege, der Behütung, des Haltens usw. Sie werden durch die „wahre“, „hebende und nicht begehrende Liebe“ des Lehrers zu einem letztlich „geistigen Verhältnis selbständiger Art“ gesteigert (Nohl 1973, S. 40). Die so markierte ‚pädagogische Liebe‘ zum Kind ist doppelseitig und entfaltet ihre Wirkungen in einer durch Spannungen, Ambivalenzen, Wirkungen und Gegenwirkungen durchzogenen Wechselbeziehung, die sich auf der Seite des Erziehers und auf der des Kindes unterschiedlich artikulieren. Der Erzieher ziele, so Nohl, zugleich einfühlsam auf die Wirklichkeit des Kindes und auf dessen Ideal, auf dessen nicht fremdes, sondern ihm eigentümliches „höheres Leben“, auf seine Anlagen und Begabungen als „Lösung seines Lebens“ (ebd., S. 41). Dem „pädagogische[n] Gestaltungswille[n]“ kommen „Wachstumswille“, Liebe, Gehorsam und

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5  Pädagogischer Bezug. Erzieherisches Verhältnis

„­Hingabe“ des Zöglings entgegen, der „nach Hilfe und Schutz, nach Zärtlichkeit und Anerkennung verlangt“ (ebd., S. 41). Zugleich jedoch treffe dieser erzieherische Wille auf dessen ‚Spontaneität‘, auf das ‚Selbst-sein-Wollen‘, sogar auf Distanz und Opposition des Kindes, wodurch der erzieherische Wille in seiner Intentionalität gebrochen und gebremst werde. Deshalb bedürfe der Erzieher des ‚pädagogischen Taktes‘ und der bewussten Zurückhaltung. Infolgedessen ist, so Nohl, die erzieherische Haltung charakterisierbar als ein „eigentümliches Gegeneinander und Ineinander von zwei Richtungen“, in denen zugleich die Distanz zur Sache und zum Zögling wie auch die liebende und hingebende Zuwendung gemeistert wird (ebd., S. 42). Letztlich waltet jedoch in jener „schweren Ineinssetzung des missionarischen Kulturwillens mit dem persönlichen Ideal und der Spontaneität des Zöglings“ ein „schöpferisches Geheimnis“ (ebd., S. 43; Herv. i. O.). Dass dieser Art des pädagogischen Bezuges als Lebensform Konflikte innewohnen können, zeigte sich in der intensiven pädagogischen Lebensform, die Nohl als akademischer Lehrer zusammen mit seinen schon erwachsenen Schülern und Schülerinnen zu leben versuchte. So ist von harmonischer Übereinstimmung und vorbehaltloser Identifikation mit dem überlegenen Lehrer nicht immer die Rede, eher von Widerstand und Abgrenzung (vgl. Klika 2000, S. 239) Krons Theorie des erzieherischen Verhältnisses (1971) ist eine der wenigen systematischen und ausführlichen Grundlegungen in der geisteswissenschaftlichen Tradition. Gegen die Tendenz der geistes- und lebensphilosophischen Hypostasierung der Erziehung und Bildung gemäß der Devise, dass das Leben selbst schon bilde und erziehe, gegen diese Omnipräsenz der Pädagogik in allen Lebenslagen akzentuiert er wie Langeveld (vgl. 1973, S. 26 ff.) oder Lichtenstein (vgl. 1973, S. 121 f.) die noch vorpädagogische Dimension menschlichen Zusammenlebens. Erziehung erwächst daraus, ist aber nicht damit gleichzusetzen. Pädagogisch ungewollt können im Umgang zwischen Erwachsenen untereinander und mit den Heranwachsenden existenzielle, schicksalhafte und personale Begegnungen entstehen. Sie sind dialogisch symmetrisch strukturiert und kennen dementsprechend nicht die in Erziehungsverhältnissen markierte pädagogisch-anthropologische Differenz von Erwachsenen und Heranwachsenden (vgl. Kron 1971, S. 15 f.). Außerdem erweisen sie sich wegen ihres außerordentlichen Ereignischarakters als biografisch bedeutsam. Abgesehen davon entstehen im weniger dramatischen vorpädagogischen mitmenschlichen Umgang erzieherisch bedeutsame ‚Situationen‘ wie Belehrungen, Unterstützungen und Hilfen, wenn Kinder und Jugendliche sie in ihrer Hilfsbedürftigkeit fordern und beanspruchen. Diese pädagogischen Situationen gehören nach Bollnow (1984) zu den mehr stetigen Formen der Erziehung. Der Begriff der ‚erzieherischen Situation‘ eröffnet nicht nur ein breites Spektrum an

5.3  Dialogphilosophische Fundierung des pädagogischen Bezugs …

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Konkretisierungen und Variationen erzieherischer Verhältnisse, die man an eine handlungsorientierte pädagogische Kasuistik anschließen kann (vgl. dazu Kron 1971, S. 22–39). Der Begriff sprengt auch das Schema des zu engen, allein auf den Erzieher oder Erwachsenen zentrierten intentionalen oder technikanalogen pädagogischen Handelns. Pädagogische bedeutsame Situationen charakterisieren prozessuale, personale wie sachliche Momente der Dezentrierung und Kontingenz. In ihnen entstehen personale und sachliche Verbindlichkeiten hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Bedürfnisse, Kompetenzen und Rollen. Sie sind deshalb nicht das Produkt nachträglicher Anerkennung oder Selbstverpflichtung. Erzieherische Situationen haben Feldcharakter. Sie entfalten sich als spezifische Handlungs- und Beziehungsgeflechte mit unterschiedlichen Anmutungsqualitäten, ‚Kundgebungen und Antwortreaktionen‘. Sie markieren „Erwartungsspannungen und Aufforderungsqualitäten, von spezifischer ‚Nähe‘ (zugehen auf …, Handeln mit …) und spezifischer Entrücktheit und ‚Distanz‘ (Unterschiedenheit an Geltung, Autorität, Gegenübersein) und weisen unterschiedliche Verkehrsformen und Anspracheformen auf“ (Lichtenstein 1973, S. 121).

In konkreten Interaktionen werden unterhalb von pädagogisch-moralischen Handlungsprinzipien und -normen erzieherische Prozesse konkret und unmittelbar erfahrbar, die man als Antwort-Frage-Verhältnis, als ‚Auf-einander-sich-einspielen‘ mit möglichen Missverständnissen, aber auch mit Konsens im Sinne ‚zweiseitiger Verbindlichkeit‘ beschreiben kann. Jedes Kind ist in seiner Hilfsund Entwicklungsbedürftigkeit fordernd und verlangt engagierte Eltern, die ihm beim Selbstständigwerden helfen (vgl. Kron 1971, S. 33). Da Erwachsene wie auch Heranwachsende in der konkreten erzieherischen Situation sich gleichsam in einem permanenten Aushandlungsprozess und in einem ständigen wechselseitigen ‚Wirkungsverhältnis‘ befinden, kann man von einer ‚gemeinsam gestalteten Wirklichkeit‘ und damit von prinzipieller Gleichrangigkeit sprechen (vgl. ebd., S. 112).

5.3 Dialogphilosophische Fundierung des pädagogischen Bezugs und erzieherischen Verhältnisses In Martin Bubers Dialogphilosophie kündigt sich philosophisch-systematisch ein Paradigmenwechsel in der Sozialphilosophie und Sozialontologie an (vgl. dazu Theunissen 1965). Gegenüber der mächtigen Tradition neuzeitlicher Subjektivitätsphilosophie mitsamt ihrem erkenntnisleitenden Intentionalitätskonzept des

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5  Pädagogischer Bezug. Erzieherisches Verhältnis

Subjekt-Objekt-Verhältnisses legt die Dialogik die Beziehung zwischen den Menschen und der Welt als ein Dialoggeschehen aus. Es ereignet sich jenseits aller logisch-kategorialen, zeitlich-räumlichen und sozialen Ordnungen und erweist diese als ontologisch zweitrangig. Die pädagogische Rezeption der Dialogik Bubers ist bis heute umfangreich und hat wegen deren paradigmatischen Qualität und Radikalität zu zahlreichen Kontroversen zwischen kultur- und wertphilosophischen, dialektischen und auch geisteswissenschaftlichen Pädagogiken geführt (vgl. u. a. die pädagogischen Kontroversen zwischen Dialogik und Dialektik in Faber 1969). Darauf kann hier nicht gesondert eingegangen werden. Die radikale Neubestimmung zwischenmenschlicher Bezüge als ontologisch gründende und symmetrische Beziehungs- und Begegnungsereignisse lässt sich keineswegs unstrittig und glatt in das tradierte Verständnis von pädagogischer Beziehung und erzieherischem Verhältnis einfügen. Letzteres kennzeichnet anthropologisch, entwicklungspsychologisch, rollenspezifisch und funktional bedingte Heterogenität und Asymmetrie zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden. Nach Buber ist der Dialog kein Mittel der Mensch-Mensch-Welt-Beziehung, sondern der Bezug selbst. Seine Dialogik ist eine Ontologie des Zwischen. „Ich sein und Ich sprechen sind eins“ (Buber 1979, S. 10). Jedes Seinsverhältnis ist zwiefältig bestimmbar: als ‚Zwiefalt der Grundworte‘ von Ich-Du qua Dialogik und Ich-Es qua Intentionalität. Das Grundwort Ich-Du kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden. Es ist ein sozialontologisch fundierendes und unvorhersehbar fungierendes, vorbegriffliches und unmittelbares Zwischen-Ereignis, eine Begegnung, in dem sich die Dialogpartner allererst als Ich und Du gegenseitig konstituieren (vgl. ebd., S. 18 f.). Jeder Bruch mit dieser Unmittelbarkeit der Ich-Du- Beziehung führt in „die Beziehungslosigkeit und die Präsenzlosigkeit“ (ebd., S. 20). Intentionale Verhältnisse als Ich-Es-Beziehungen sind mittelbar, subjektzentriert und selbstbezüglich. Da die dialogische Begegnung nicht von den Partnern aus initialisiert werden kann, ist sie in Bubers jüdisch-religiöser Deutung letztlich das Stiftungsereignis eines absoluten göttlichen Du. „Das Du begegnet mir von Gnaden […] Alles wirkliche Leben ist Begegnung“ (ebd., S. 18), und dieser dialogischen „All-Gegenseitigkeit“ (ebd., S. 23) kann der Mensch sich nicht entziehen, denn sie ereignet sich ihm ohne sein Zutun. „Im Anfang ist die Beziehung […] das Apriori der Beziehung; das eingeborene Du“ (ebd., S. 36). Die Dialogik ist Stiftung von verbindlicher Sozialität und gleichsam Selbstzweck. Damit steht sie im Kontrast zur tradierten Subjektzentrierung in vielen Erziehungs- und Beziehungstheorien, in denen die Probleme der erzieherischen Grenzen und des Respekts vor der Individualität des Zöglings verhandelt werden. Gewissermaßen müssen diese in moral- und sozialphilosophischer, begründungstheoretischer Hinsicht das leisten, was dialogisch-existenziell immer schon

5.3  Dialogphilosophische Fundierung des pädagogischen Bezugs …

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geschieht: Sie müssen soziale Verbundenheit in Partnerschaftlichkeit und ohne Herrschaft oder Zwang allererst als ethischen Zweck und als leitende Handlungsimperative begründen und rechtfertigen. Auf die damit verbundenen erkenntnisund moralphilosophischen Konstitutionsprobleme der Sozialität und des Anderen als Anderem im Rahmen der neuzeitlichen Subjektphilosophie und alternativ dazu jenseits der egologischen Zentrierungen des Welt- und Selbstverständnisses kann hier nicht genauer eingegangen werden. Diese Fragen markieren den Bruch und die Nicht-Vermittelbarkeit zwischen Dialogik und Dialektik, Subjektphilosophie oder Sozialontologie. Alles in allem – die Übertragung der Dialogik auf das erzieherische Verhältnis ist schon bei Buber keineswegs eindeutig. Er formuliert: „Pädagogisch fruchtbar ist nicht die pädagogische Absicht, sondern die pädagogische Begegnung“ (Buber 1964, S. 58). Die ‚pädagogische Begegnung‘ ist aber nicht vollkommen dialogisch, sie artikuliert sich als einseitiger, vom Erzieher ausgehender Umfassungsakt. Er basiert auf der traditionellen pädagogisch-anthropologischen Differenz im Reifungs- und Kompetenzgefälle zwischen beiden Partnern. Das folgende Zitat verdeckt das den Dialog konstituierende Zwischen und rückt das subjektive Initiativzentrum des pädagogischen Handelns in den Vordergrund: „Der Mensch, dessen Beruf es ist, auf das Sein bestimmter Wesen einzuwirken, muss immer wieder eben dieses sein Tun […] von der Gegenseite erfahren […] Er muss, ohne dass die Handlung seiner Seele irgend geschwächt würde, zugleich drüben sein, […] Der Erzieher, der die Erfahrung der Gegenseite übt und ihr standhält, erfährt in einem beides: seine Grenze an der Anderheit und seine Gnade in der Verbundenheit mit dem anderen“ (ebd., S. 36 f.).

Dialog in diesem Sinne ist ‚führender Dialog‘ mit dem Ziel der vollkommenen Partnerschaft, die Buber als „Freundschaft“ (ebd., S. 37) bezeichnet. Letztlich wird der dialogische Bezug pädagogisch-intentional umgedeutet (vgl. dazu die Kritik von Masschelein 1991, S. 192 f.; Tischner 1985, S. 183). Anzumerken ist noch, dass jenseits des Entwurfs einer dialogischen Pädagogik Buber dort den tradierten kultur- und wertpädagogischen Konfigurationen des Erziehungsverhältnisses als eines Meister-Schüler-Verhältnisses folgt, wo er den Erzieher als Repräsentanten und Vermittler einer höheren Kultur inthronisiert. Dieser setzt seine Autorität qua Amt und sachlicher Kompetenz bei seinen Zöglingen und Schülern durch und erwartet als Gegenleistung von ihnen die Tugenden des Gehorsams und des Dienstes an der Sache. So besteht kaum ein absoluter Gegensatz zwischen ‚dialogischer Pädagogik‘ und ‚autoritativer Pädagogik‘. Aber von einem analytisch nachvollziehbaren, quasi dialektischen Verhältnis zwischen beiden auszugehen, ist auch nicht möglich (vgl. dazu die Kontroverse zwischen Klafki 1973 und Belke 1973 in: Kluge 1973).

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5  Pädagogischer Bezug. Erzieherisches Verhältnis

5.4 Kommunikationstheoretische Fundierungen erzieherischer Verhältnisse Die dialogisch begründeten Symmetriepostulate und die damit verbundene paradigmatische Abkehr von der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie werden zu Beginn der 70er Jahre in sozialwissenschaftlicher Begrifflichkeit durch kommunikative Erziehungstheorien (u. a. K. Schaller, K. Mollenhauer) wieder zum Thema. Das Konzept einer Erziehungs- und Bildungsgemeinschaft als Beratungsgemeinschaft (vgl. Fink 1970) reagiert auf die Kontingenzproblematik der modernen Welt, d. h. auf Orientierungsverluste durch Relativität und Pluralität der Bildungsideale und Weltanschauungen, auf offene Zukunft und auf die Unübersichtlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse. Lehrer wie Schüler sind unterschiedslos vor die gemeinsame Aufgabe gestellt, verbindliche Maßstäbe der Bildung beratend zu finden. Denn beide Gruppen sind vom Legitimationsverlust tradierter Werte und Ideale betroffen. Kommunikative Erziehungstheorien operieren im Vergleich dazu mit höherer Verbindlichkeit und eindeutiger normativer Ausrichtung, indem sie wichtige Aspekte der Aufklärung aufgreifen und gesellschaftskritisch reformulieren. Sie reflektieren die herrschaftskritischen Demokratisierungsforderungen in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts und versuchen, der Idee herrschaftsfreier Kommunikation eine pädagogisch verbindliche Form zu geben, sei es nun als symmetrisches und konsensorientiertes Bildungsgespräch (Schaller) oder als diskursrational begründete Legitimierung von Wahrheit und Wahrhaftigkeit nach Habermas, verhandelt zwischen mündigen und potenziell mündigen Partnern im Erziehungsverhältnis (Mollenhauer). Bildungsgespräche sind nach Schaller prinzipiell symmetrische, rational-kommunikative Prozesse der Generierung von Maßgaben der Erziehung und nicht bloß der Übernahme und Ausführung schon vorhandener Maßstäbe (vgl. Schaller 1978, S. 109 ff). Sachliche und moralisch-verbindliche Gehalte eines Bildungsgutes werden zum Thema des Unterrichts, der deshalb ergebnisoffen und nicht einseitig steuerbar verläuft. In späteren Ausführungen mildert Schaller unter dem Einfluss neuerer Sozialphänomenologie die Radikalität des Symmetrie- und Rationalitätsmodells ab (Schaller 1986). Auf einer tiefer liegenden sozialontologischen Ebene treten vorrationale, sinnlich-leibliche und soziale Beziehungsgeflechte der Inter-Subjektivität ins Blickfeld, die unthematisch, faktisch und unverfügbar höhere rationale Leistungen der Kommunikation vorstrukturieren und fundieren (vgl. Meyer-Drawe 1984; Lippitz 1980). Da sie bei Erwachsenen ein anderes Selbst- und Weltverhältnis als bei Kindern konstituieren, stellen sie deshalb symmetrische Beziehungen grundsätzlich infrage.

5.4  Kommunikationstheoretische Fundierungen erzieherischer …

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Mollenhauers Konzept der ‚Erziehung als Interaktion‘ lehnt sich noch stärker als Schaller an Habermas und die Mead’sche Sozialtheorie an. Er betont deutlich die unterschiedlichen Rollen der Beteiligten. Als besonderes Merkmal gilt, dass „einer der Partner, derjenige nämlich, der sich in der Rolle des ‚Pädagogen‘ definiert, für sich in Anspruch nimmt, Situationen zu strukturieren, und zwar so, dass seine Chance der Einflussnahme in der Situation größer ist als der anderen Partner“ (Mollenhauer 1976, S. 120).

Der Habitus des Pädagogen ist unvermeidbar paternalistisch und autoritativ. Denn die noch nicht entwickelte Mündigkeit des zu Erziehenden benötigt die stellvertretende Deutung und Initiation durch den mündigen Erwachsenen (vgl. auch Benner 1991, S. 57 ff.). Somit ist pädagogisches Handeln intentional strukturierte Einwirkung auf ein anderes, noch nicht mündiges Subjekt im Modus des ‚als ob‘, nämlich als ob der zu Erziehende schon mündig wäre. Diese supponierte Gleichwertigkeit und „Gleichgewichtigkeit der Partner erweist sich somit als Schein, denn sie wird vom Erzieher geschenkt“ (Masschelein/Wimmer 1996, S. 168). Zwar versucht Mollenhauer, mit der Figur des pädagogischen „Handeln[s] mit gebrochener Intentionalität“ (Mollenhauer 1976, S. 120) die Deutungs- und Handlungshoheit des Erziehenden einzuschränken. Denn die Intentionen des Erziehers werden von „interpretierenden Intentionen des Zu-Erziehenden reflektiert“ (ebd., S. 120). Aber diese betreffen nicht das meta-empirische Ideal der herrschaftsfreien Kommunikation mit ihren Parametern der Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Es kann nicht verhandelt werden. Denn dieses Ideal wohnt nach Habermas der Sprache a priori ein und fundiert jeden Mündigkeitsanspruch. Somit bestimmt Mollenhauer das erzieherische Verhältnis als doppelte und wechselseitige Intentionalität. Es wird jedoch einem überzeitlichen Ideal unterworfen und somit zum Mittel eines Zwecks. Ein solches Verhältnis kann dem Zögling als konkretem Individuum nicht mehr gerecht werden (vgl. kritisch dazu Masschelein/Wimmer 1996, S. 168 f.). Jedes pädagogische Handeln wird interpretiert unter dem Aspekt des „Herrschaftszusammenhangs oder der Herrschaftsbeziehung zwischen den mächtigen, über alle Mittel der Bedürfnisbefriedigung verfügenden Erwachsenen und dem zunächst ohnmächtigen Kinde“ (Mollenhauer 1976, S. 15).

In Absetzung von Mollenhauer versucht Masschelein das pädagogische Handeln mit dem kommunikativen Handeln radikal zu identifizieren, indem er auf die Differenz zwischen „sprechen über“ (Einwirken) und „sprechen mit“ (Kommunizieren) aufmerksam macht (Masschelein 1991, S. 130). Pädagogische Interaktionen im Sinne von ‚Sprechen mit‘ sind grundlegend intersubjektiv und lebensweltlich fundiert.

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5  Pädagogischer Bezug. Erzieherisches Verhältnis „Sprache und Lebenswelt sind keine Instrumente zur Verwirklichung des Subjekts. Interaktion ist auch kein Austausch subjektiven Sinns, keine Reziprozität, sondern ein sich Treffen mit anderen in einer gemeinsamen Welt“ (ebd., S. 214; vgl. auch Habermas 1995, S. 189 f.).

Lebenswelt als quasi-transzendentale Dimension ermöglicht pädagogisches Handeln. Kritisch ist jedoch zu fragen, ob das tradierte intentionale Subjekt-Objekt-Schema durch lebensweltlich verbürgte Kommunikativität, in die ein ‚sprachlich eingebautes soziales Apriori‘ fungiert, ersetzt worden ist. Streng genommen hat dieses Lebensweltverständnis im Sinne einer sozial apriorisch fundierten, konsens- und regelzentrierten Intersubjektivität die Struktur von ‚Transsubjektivität‘ (vgl. Waldenfels 1994a, S. 145). Darin bekommt die produktive und generierende, zugleich auch faktisch-kontingente Eigenart der konkreten sozialen Interaktion in pädagogischen Beziehungen keinen systematisch ausweisbaren Ort (vgl. Lippitz 1993; Woo 2007, S. 71 ff.). Das Subjekt-Subjekt-Verhältnis bleibt ein mittelbares und regelorientiertes Verhältnis (vgl. Waldenfels 2000, S. 303 f.). Die schon in der geisteswissenschaftlichen Theorietradition deutlich gewordene Auszeichnung des erzieherischen Verhältnisses als Generierung von Neuem (vgl. z. B. Schleiermacher 1957, s. o.) bleibt unterbestimmt. Das ständige Unruhepotenzial gemeinsamer und zugleich widerständiger und unerwarteter Sinnbildungsprozesse zwischen Erziehern und zu Erziehenden (vgl. z.  B. Nohl, s. o.) kann im Theorierahmen der kritisch-kommunikativen Theorie der Erziehung kaum konkretisiert werden.

5.5 Das erzieherische Verhältnis als ‚responsives Verhältnis‘ Wie kann man der Produktivität und Generativität des erzieherischen Verhältnisses in sozialwissenschaftlicher Interpretation Rechnung tragen? Dafür rekurriert Masschelein u. a. auf Hannah Arendts Theorie des sozialen Handelns (Arendt 2002). ‚Geburt‘ und ‚Endlichkeit‘ als existenzielle Faktoren sozialer Kontingenz und Pluralität werden zu Schlüsselbegriffen des Sozialen und damit von Bildung und Erziehung. Gesellschaften und ihre Ordnungssysteme erneuern und dynamisieren sich strukturell und existenziell durch diskontinuierliche Ereignisse wie Geburt und Tod, konkretes Sprechen und Handeln, in denen sich die faktische Pluralität und Individualität ihrer Mitglieder äußern. „Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden, und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt“ (Arendt 2002, S. 215).

5.5  Das erzieherische Verhältnis als ‚responsives Verhältnis‘

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Die Tatsache der Geburt besagt einen neuen „Anfang, […] der gerade immer ein Durchbrechen der Geschichte als Wiederholung und Entwicklung des Gleichen ist, es ist das Durchbrechen des Bestehenden und des Gegebenen. […] Dass es handelt, bedeutet, dass es uns und unsere Welt in Anspruch nimmt. […] Handeln muss als das Reaktualisieren der Geburt verstanden werden, als das Reaktualisieren jenes Anfangs, der immer wieder ein Veranlassen der Pluralität ist. Das Neugeborene ist sprechend; d. h.: es antwortet und fragt, zieht uns zur Verantwortung und ist selbst verantwortlich“ (Masschelein/Wimmer 1996, S. 121).

Zwar kennzeichnen die Theoreme der Kontingenz und Faktizität die oben verhandelten geisteswissenschaftlichen Traditionen der Pädagogik in Hinblick auf Diskontinuität im Generationenverhältnis, auf anthropologisch, entwicklungspsychologisch und moralisch-sittlich ausgelegte Differenzen zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden, auf die ‚Undeklinierbarkeit‘ und Einzigartigkeit des Individuums. Jedoch werden sie in ihrer Virulenz oftmals dadurch entschärft, dass sie unter dem Himmel eines dominanten kulturell-integrativen Gemeinschaftsideals (z. B. der abendländischen Bildungstradition) in letztlich gelingenden Bildungs- und Erziehungsprozessen ‚aufgehoben‘ oder harmonisierend geglättet werden. Anders sieht es aus, wenn man solche Momente wie Genealogie des Neuen, Kontingenz und Fremdheit, Diskontinuitäten und Brüche zu systemischen Faktoren jedweder Interaktion und jedweden inter- wie auch intrasubjektiven Verhältnisses zählt, wie in der responsiven Phänomenologie von Waldenfels. Jede menschliche Erfahrung, Erkenntnis und Wahrnehmung in ihren sinnlich-leiblichen, sozialen und historischen Dimensionen ist eine „gebrochene Erfahrung“ (Waldenfels 2001, S. 457), weil sie mit dem Fremden zu tun hat. Diese genealogische Sicht auf Erfahrungen ist prozess- und nicht produktorientiert. Sie thematisiert faktisch-kontingente Ordnungsversuche in der sozialen Welt, in denen sich plurale und heterogene Sinngestalten und Regeln allererst herausbilden und artikulieren, ohne zugleich eine einzige Rationalität oder gattungsgeschichtliche Vernunft zu unterstellen, die sich ihnen über- oder unterordnet und die sie einsinnig ausrichtet. Fremdheit ist alltäglich, immer wieder neu und keineswegs ein für alle Mal zu bewältigen, so wie Tod oder Geburt ambivalent bleiben und nicht zu bewältigen sind. Das ‚Ereignis‘ der Fremdheit bestimmt auch das Erziehungs- und Beziehungsverhältnis in vielen Facetten: „Kinder sind uns fremd und nah in eins“ (Waldenfels/Meyer-Drawe 1988, S. 286; vgl. Lippitz 1993, S. 91). Diese unübersehbare Andersheit der neugeborenen Kinder sorgt im Prozess der Erziehung und Bildung für Dynamik und ständige Beunruhigung auf beiden Seiten. Sie irritieren, provozieren und stiften Interaktionen und inaugurieren nicht eindeutige und vorhersehbare Spielräume pädagogischen Handelns und Verstehens.

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5  Pädagogischer Bezug. Erzieherisches Verhältnis

Am Beispiel der sozialphänomenologischen Deutung des Gesprächs zeigen sich einige responsive Züge dieses Interaktionsverständnisses deutlicher. Sie können hier nur skizziert werden (vgl. ausführlich Woo 2007, S. 29 ff.). Gespräche sind Ereignisse, nicht Produkte. Sie erfolgen zweiseitig und sind ethisch beanspruchend, da man nicht nicht antworten kann (vgl. Waldenfels 1994b, S. 357). Sprechende sind zugleich Mithörende, die im Vorgang des Sprechens und Miteinandersprechens den Sinn ihrer Rede verfertigen. Sie sind auch als Zuhörende aktiv am Sinnbildungsprozess beteiligt. Die jeweiligen Sprechparts sind asymmetrisch miteinander verflochten. Gespräche generieren und prozessieren auf der Grundlage vorhandener sprachlicher und vorsprachlicher Ordnungen Neues, sodass zwischen dem faktischen Sagen und dem Gesagten eine strukturelle Differenz besteht (vgl. dazu Lippitz 2003, S. 57; Woo 2007, S. 49 ff.) und das Ereignis des Sagens nicht mit dem Gesagten zur Deckung kommt. Gespräche sind offen und unabschließbar, da jedes Sagen im sinnlich-leiblichen und symbolischen Kontext impliziter unthematischer Sinnüberschüsse faktisch Sinn herausbildet. Es gibt keine eindeutige Entsprechung zwischen Anfragen und Erwiderung. Denn die Frage fungiert als „Tunlassen, Eröffnung von Möglichkeiten, die unerlässliche Bedingung dafür, dass Antworten mehr besagt als Erfüllung eines Strebens oder einer Norm“ (Waldenfels 1994b, S. 236). Dieses Frage-Antwort-Verhältnis als ein intersubjektiver Vollzug gehört allen und niemandem. In dieser Welt des Zwischen melden sich plurale Momente wie Subjekt und Mitsubjekt, Eigenes und Fremdes, eigene und fremde Kultur zu Wort (vgl. u. a. Merleau-Ponty 1994, S. 403 ff.). Ähnlich responsiv ist jeder pädagogische Bezug und jedes Erziehungsverhältnis verfasst. Erziehung geschieht weder ganz nach Plan noch als einfacher Wissenstransfer. Erziehung ist ein Beteiligtsein im Spielraum der Kommunikation (vgl. Waldenfels 2000, S. 365 f.; Meyer-Drawe 1985, S. 178). Sie ist nicht-intentionaler, sich ständig verändernder, kurz: „inter-subjektiver Vollzug“, der von keiner Regel eindeutig vorbestimmt wird, der oft Regeln generiert und vorhandene ständig umdeutend artikulieren muss (Meyer-Drawe 1996, S. 95). Das zeigt sich deutlich am Beispiel des Lehrens und Lernens. „Lehren als pädagogischer Akt vollzieht sich innerhalb des gemeinsamen Feldes, auf dem Erfahrungen konkurrieren, sich gegenseitig korrigieren und neue Sichtweisen erschließen. Lehren und Lernen bilden so im strengen Sinne ein inter-aktives Gefüge heterogener Erfahrungshorizonte. […] Kommunikation […] entfaltet ein Feld offenbegrenzter Möglichkeiten, einen Spielraum der Verständigung, in dem sich Fremdes und Eigenes durchkreuzen und ein gemeinsames Gewebe der Inter-Subjektivität artikulieren, ohne dass Eigenes vollständig authentisch und Fremdes vollständig enigmatisch wäre“ (Meyer-Drawe 1983, S. 417).

5  Pädagogischer Bezug. Erzieherisches Verhältnis

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In diesem Sinne ist der pädagogische Bezug weder ein Subjekt-Subjekt-Verhältnis noch eine Subjekt-Objekt-Konstellation, auch kein Wissensübermittlungsprozess (Absender/Empfänger-Verhältnis). Er ist das Verhältnis ‚Subjekt-Mitsubjekt oder Konstituierender-Mitkonstituierender‘ (vgl. Lippitz 2003, S.  46; Meyer-Drawe 1987, S. 72). Die Quelle des pädagogischen Bezugs im Unterrichts- und Erziehungsgeschehen ist dieses hier markierte Zwischen, in dem die Asymmetrie von Lehrendem und Lernendem Grenzen und Möglichkeiten des Lernens bestimmt, ohne sie auf klar umrissene Rollen zu verteilen. Keine Belehrung ist einseitig. Die „Belehrbarkeit des Lehrenden durch den Lernenden“ (Meyer-Drawe 1987, S. 63) ist eine wesentliche Möglichkeit des Lernens.

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5  Pädagogischer Bezug. Erzieherisches Verhältnis

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Der Humanismus des anderen Menschen (Emmanuel Lévinas) und die Pädagogik

„Das Aufnehmen der mir anheim gestellten Aufgabe als etwas, was nicht einer beliebigen Behandlung überlassen werden kann, sondern mich als verantwortlichen Erzieher vor die Schranken fordert, und die Rückhaltlosigkeit, in der ich mich als Existenz der Konkretisierung zur Verfügung stelle und meine Ansicht im Gespräch mit Beteiligten und Sachkundigen der Prüfung auszusetzen bereit bin, macht die Verbindlichkeit des konkreten pädagogischen Denkens aus“ (Bräuer 1969, S. 41).

Dieser Schlusssatz aus der kleinen, gehaltvollen Studie Pädagogisches Denken als konkretes Denken von Gottfried Bräuer charakterisiert ein ethisch gegründetes pädagogisches Denken. Dessen Verbindlichkeit, so der Tenor der Aussage und der gesamten Studie, entstammt keiner Legitimation durch eine abstrakte moralische Instanz, die autonom und damit abgelöst von konkreten Ansprüchen und Verstrickungen das pädagogische Handeln an überindividuellen und damit verallgemeinerbaren Maximen orientiert. Vielmehr artikulieren sich Verbindlichkeit und Verantwortlichkeit als situative, unvorhersehbare, betroffen machende und dialogisch zu prüfende Ansprüche für den im pädagogischen Feld Handelnden und Nachdenkenden, von denen er sich nicht von vornherein distanzieren kann. Er bleibt ihren Forderungen ‚ohne Rückhalt‘, also unvorbereitet und ungesichert ausgesetzt. Außerdem finden diese Ansprüche im konkreten Denken dann ihren Ort, wenn es sich – kritisch distanziert von kausalanalytischem Erklärungswissen und deterministischen Bedingungsanalysen – Sinn verstehend und hermeneutisch sensibel auf die Handlungspraxis und ihre besonderen Bedingungen einlässt. Insofern sind pädagogisch verantwortungsvolles Handeln und konkretes Denken, das es artikuliert, im Kern nicht – wie es heute heißt – ausschließlich wissensbasiert und damit gesichert, sondern wesentlich situativ bedingt, unvermeidbar kontingent und riskant.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Lippitz, Phänomene der Erziehung und Bildung. Phänomenologischpädagogische Studien, Phänomenologische Erziehungswissenschaft 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24187-2_6

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6  Der Humanismus des anderen Menschen …

Dies anzuerkennen, dass der Wagnis- und Vollzugscharakter jedes mitmenschlichen Handelns mit seinen sich allererst konkret artikulierenden Verbindlichkeiten und Ansprüchen, durch die die Handelnden als jeweils Andere aufeinander angewiesen sind, nicht in einem allgemeinen situationsenthobenen Wissen artikuliert werden können, das gehört zu einer philosophischen Tradition, in der Alterität zusammen mit dem konkreten Ereignis zwischenmenschlicher Begegnung eine vorreflexive und vorintentionale Verbindlichkeit stiften, die moralischen und normativen Ordnungssystemen vorausliegt und nicht in ihnen aufgeht (vgl. auch dazu den Überblick von Lippitz 2008; Lippitz/Woo 2008). Schon Bollnows alternativ zum wissenschaftlichen Erklärungswissen erfolgte Konzeptualisierung pädagogischen Handelns im Sinne „unstetiger Vorgänge“ in der Erziehung (Bollnow 1984) verweist auf solche situativen ethischen Ansprüche im pädagogischen Handeln. Diese gehören gleichsam zu einer anderen Logik als der Logik des ­Wissens und des instrumentellen und auf Dauer gestellten institutionellen Handelns. Ihr in der Philosophie eine grundlegende ‚systematische‘ Funktion verliehen zu haben, ist das Verdienst der Dialogphilosophie und ihrer bis heute andauernden Rezeption durch die pädagogische Theorie. Sie richtet sich kritisch und mehr oder weniger radikal gegen die abendländische Reflexionsphilosophie und Ontologie, gegen ihre (transzendentale) Bewusstseins- und Subjektzentrierung, die alle Dimensionen philosophischer Vernunft umfassen, sei es das Denken, das Handeln oder auch die Ästhetik, und die auch die Erkenntnishaltung wie das Methodenverständnis neuzeitlicher Wissenschaften durchdrungen haben. Dialogphilosophie oder allgemeiner die Philosophie des Anderen, – sie treten nicht bloß als Nebenlinie der tradierten abendländischen Subjektmetaphysik auf. Sie wollen nicht bloß eine ihrer systematischen Schwächen kompensieren, nämlich ihre Blindheit gegenüber der Dimension der Intersubjektivität und der Andersheit des Anderen sowie gegenüber dem reflexiv nicht einholbaren Vollzugsgeschehen menschlicher Handlungswirklichkeit, das nicht nur vorhandene soziale Ordnung regelhaft vollzieht, sondern Ordnungen allererst generiert und verbindliche Maßstäbe unter den Handelnden schafft (vgl. systematisch Theunissen 1965, S. 241 ff.). Im Gegenteil – der Anspruch ist weitaus ehrgeiziger: als ‚prima philosophia‘ erhebt sie nicht nur für sich selbst den Letztbegründungsanspruch, sondern auch für die tradierte Bewusstseinsphilosophie und für alle Spielarten objektiver, methodisch gesicherter Erkenntnisse. Letztere sollen sich als abgeleitete Möglichkeiten einer sozial und dialogisch fundierten Philosophie erweisen. Ihre schon intuitiv einleuchtende Hauptthese lautet: Alle menschlichen Erkenntnisse und Erfahrungen sind ursprünglich intersubjektiv und damit ethisch dimensioniert. Nach Buber hat das Grundwort Ich-Du der mitmenschlichen Begegnung den Primat vor dem GrundWort Ich-Es des objektiven Weltverhältnisses.

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Die Dialogphilosophie Martin Bubers (1965) geht von einem symmetrischen gleichursprünglichen Grundverhältnis zwischen Ich und Du aus. Für dessen Vollzugssinn kommen beide Partner nicht allein auf, sondern sie verdanken ihn der im und durch das Begegnungsverhältnis wirkenden Kraft Gottes. Dass die Dialogik Eingang in die Pädagogik gefunden hat, schuldet sie u. a. Bubers Reden über Erziehung (1964). Die augenfällige Asymmetrie des pädagogischen Verhältnisses von Erwachsenen gegenüber Kindern, von Buber als einseitige Umfassung des Zöglings durch den Erzieher charakterisiert, ist im Vergleich zur symmetrischen und wechselseitig umfassenden Beziehung von Erwachsenen, dem Reife- und Entwicklungsvorsprung des Erziehers geschuldet und sichert dessen Führungsanspruch. Damit jedoch fällt Buber, systematisch gesprochen, auf die ontologische Ebene des Ich-Es-Verhältnisses zurück, das intentional und damit subjekt- und bewusstseinszentriert strukturiert ist (vgl. die Kritik aus pädagogischer Sicht von Schmidt 2008, S. 188 f.). Ist das, was hier als systematische Schwäche gelesen werden könnte, vielleicht nur die einzige Möglichkeit, der Pädagogik in der Dialogik einen eigenen Raum zu schaffen? Diese Frage schärft sich zu, wenn man sich Lévinas, dem führenden Ethiker in unserer Zeit, zuwendet. Er figuriert den Anderen als einen transphänomenalen und metaphysischen Anderen. Er unterliegt gleichsam wie der jüdische Gott einem Bilderverbot und tritt als metaphysische Größe im ontologischen und mundanen Raum nicht in Erscheinung. Sondern er entzieht sich der Fassbarkeit und Begreifbarkeit. Zugleich aber verleiht er als metaphysische Wahrheit jeder Ontologie allererst Bedeutung. Noch radikaler als Buber und andere zeitgenössische Philosophen des Dialogs oder des Anderen konzipiert Lévinas seine Philosophie des anderen Menschen aus dem Gedanken der Asymmetrie und der absoluten Trennung der Menschen untereinander im ethischen Verhältnis. In ihr begründet nicht die Vertrautheit, die gleichsam familiäre Intimität mit dem Du, jedes Welt- und Selbstverhältnis. Im Gegenteil – das Verhältnis des Subjekts zum Anderen ist absolut different und diachronisch, anarchisch und unverbunden. Der alltägliche Anspruch des mir absolut Fremden, des ganz Anderen in nächster Nähe, auf den ich nicht vorbereitet bin, ist das, was mich ihm gegenüber nicht nichtgleichgültig sein lässt. Die für Lévinas’ Schriften typische und durchgängige polemische Grenzziehung zwischen Ontologie und Ethik (vgl. Krewani 1992, S. 31 ff.), verbunden mit dem Vorrang der Ethik vor der Ontologie, kennt keine eigene pädagogische Variation, die die Kluft zwischen beiden abmildern würde. Die ethische Beziehung zwischen Ich und Anderem ist wesentlich asymmetrisch, und das nicht dank eines Entwicklungs- oder Reifegefälles zwischen Kind und Erwachsenem, sondern ungeachtet einer solchen Differenz. Dass und warum sich dennoch Lévinas’

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Humanismus des anderen Menschen in der Pädagogik einer gewissen Resonanz erfreut, dazu möchte ich im Folgenden einige Überlegungen vorstellen. Ich beziehe mich dabei in erster Linie auf die mittlere Schaffensperiode von Lévinas, auf seine anthropologisch dimensionierte Schrift Totalität und Unendlichkeit, die ich durch Verweise auf seine spätere und im Ansatz radikalere Schrift: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht ergänze (Lévinas 1992). Zu erwähnen ist, dass die Philosophie des Anderen auf der Hut vor der mächtigen Tradition ontologischer Begrifflichkeiten und Sprache in ständiger selbstkritischer Wachsamkeit eine ungewöhnliche, oftmals appellative Sprache sprechen muss. Denn der appellative Duktus der Ethik des Anderen deutet darauf hin, dass er sich auf etwas verweist, dass sich einer Aussage entzieht. Die ethische Erfahrung geschieht als ‚Ereignis‘ der Nähe und lässt sich allein als Aussage mit den Mitteln der ontologischen Sprache und ihrer Begrifflichkeit nicht fassen (vgl. ebd., S. 319 ff., 373 ff.). Schon in der Dialogphilosophie Bubers tritt diese Figur des Entzugs des Beziehungssinns in der philosophischen Sprache deutlich zutage, und sie bekommt in Lévinas’ Denken, insbesondere in seiner dritten ontologiekritischen Schaffensperiode einen zentralen Stellenwert.

6.1 Der Ausgangspunkt von Lévinas: Philosophie und Wissenschaft als Systeme der Macht und der Daseinssicherung Lévinas diagnostiziert an unterschiedlichen Orten seiner Hauptschriften: wir leben in einer durch und durch unfriedlichen Welt. Ständig kämpfen einzelne, Gruppen oder Völker im eigenen Namen, unter dem Dach einer Ideologie oder einer Religion um Selbstbehauptung oder Selbsterhaltung, um Macht und Herrschaft gegen andere Menschen, Gruppen oder Völker. Das geschieht kriegerisch, oft auch in sublimen Weisen der Unterdrückung und Unterwerfung, und das alles um des eigenen Vorteils willen auf Kosten der Anderen. Zu den sublimeren Formen gehören Denk-, Wissens- und Moralsysteme der abendländischen Subjektivitätsmetaphysik, die Lévinas unter den Generaltitel ‚Ontologie‘ subsumiert. Ihr allgemeines Kennzeichen ist: Denken, Wissen, Handeln, Moral sind im Subjekt verankert und zielen auf Gewissheit, Selbsterhaltung, wie auch Selbstbehauptung oder Unterwerfung unter allgemeine Zwecke. Die Welt, die Dinge, die anderen Menschen, die Kreatur werden zum Mittel dieser Selbsterhaltung. Sie ist auf Steigerung und letztlich auf Beherrschung der Welt ausgerichtet, auch wenn und gerade wenn sie sich mit Berufung auf ein sogenanntes allgemeines Wohl oder einen obersten Zweck selbst rechtfertigt. Kolonialisierung und Missionierung

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anderer Menschen und Völker bedeuten Krieg und Gewalt gegen den Anderen. Das gilt auch im kleinen Kreis: Man liebt den Anderen nicht um seiner selbst willen, sondern zum eigenen Wohlbefinden und zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse. Man hat Mitleid mit dem Anderen, nicht etwa, weil man mit ihm leidet, sondern weil man sein Leid selbst nicht aushält und selbst darunter leidet. Die Psychologie erforscht die Menschen, um mittels besseren Wissens sie besser ausnutzen und manipulieren zu können. Rousseau zum Beispiel gilt als Entdecker des Kindes. Aber es geht ihm nicht um das einzelne Kind, sondern sein Erziehungswissen und sein vermeintliches Wissen über effektive Erziehungsprozesse benutzt er, um eine neue Gesellschaftsordnung zu begründen. Der einzelne Mensch ist nur eine Station auf dem Wege dorthin. Er ist deshalb nicht einzigartig, sondern Repräsentant einer sozialen Entwicklung. Abendländisches Denken, Wissen und Handeln sind in ihrer Tendenz totalitär. Sie sind Herrschafts- und Machtsysteme mit folgenden Merkmalen: Ein einzelnes oder kollektives Subjekt erkennt oder erforscht die noch unbekannte Natur, indem es sie mittels des Denkens und seines Bewusstseins als Objekt und Gegenstand des Wissens konfiguriert und damit in seine subjektive Sphäre hereinholt. Wissen ist Lebenssicherung durch Kontrolle und Unterwerfung. Kein Wissensoder Handlungsgebiet ist davon ausgenommen, auch der soziale Bereich, die Menschenwelt und Kulturwelt nicht. Hinzu kommt: Ein moralisches Subjekt in der abendländischen Tradition besonders seit der säkularisierten Aufklärung wird gedacht als ein autonomes Subjekt, das sein Handeln und seine Gesinnung an einem allgemeinen Zweck, z. B. an Menschenrechten, am kategorischen Imperativ o. ä. ausrichtet. Seit Kant wird moralisches Tun und Denken an die ideale Instanz eines autonomen, d. h. selbstbestimmten und von Leidenschaften wie auch von anderen sozialen Verpflichtungen und Bindungen unabhängigen Subjekts geknüpft. Jeder einzelne Mensch soll im moralischen Sinne so handeln, wie es alle Menschen tun würden, wenn sie vernünftige Wesen wären. Diese Moral ist deontologisch, denn es geht hier nicht um die Ausrichtung des Handelns an einem obersten Wert (der Wahrheit, des Guten), sondern um die vernünftige Prüfung vor dem Richterstuhl der allgemeinen Vernunft im Subjekt. Das heißt: die Moral ist rückbezüglich im Sinne der Prüfung der Maßstäbe des Tuns im Selbstbewusstsein. Der Einzelne, die konkrete Handlungssituation – sie werden als Fall unter ein Allgemeines subsumiert und verlieren damit ihre Eigenart. Moralisch handeln heißt, aus der Perspektive des Allgemeinen handeln. Der Einzelne hat im Horizont der Moral keine eigene Stimme. Außerdem geht im Horizont des Allgemeinen die singuläre Existenz und die darauf gegründete Pluralität des Einzelnen verloren. Ähnlich sieht es der Kognitionspsychologe L. Kohlberg: Für ihn hat jemand dann

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die höchsten Stufen der Kompetenz des moralischen Urteilens erlangt, wenn er sein moralisches Denken und Handeln an allgemeinen Prinzipien ausrichtet, nach denen sich jeder Vernünftige richten würde. Weniger moralisch ist der, der sich von den besonderen Umständen einer konkreten Situation und von Gefühlen der Verpflichtung und der Rücksichtnahme (care: Fürsorge) in seinem Handeln leiten lässt. Denn es geht gerade darum, von den Besonderheiten und von den Nöten des konkreten Anderen abzusehen, um moralisch zu sein. So findet in der abendländischen Tradition des Wissens, des Denkens, der Moral der konkrete andere Mensch und die konkrete Begegnung mit ihm keinen eigenen Raum der Artikulation. Der einzelne Mensch in seiner Hilfsbedürftigkeit verschwindet im Wissen als Objekt, im Tun als Mittel zum Zweck und in der Moral als Repräsentant eines Allgemeinen.

6.2 Die Andersheit des Anderen als Ausgangspunkt der Ethik Abstrakt philosophisch gesprochen geht es für Lévinas in allen seinen Werken um die Behauptung der ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem. Diese ‚Dualität‘, so die Einschätzung von Krewani, behauptet Lévinas gegen alle monistischen Versuche der abendländischen Denkgeschichte, die als Identitätsphilosophie auf Einheit und Vereinheitlichung angelegt ist (vgl. Krewani 1992, S. 25). In diese Differenz wird auch das ‚Verhältnis‘ Ich und Anderer eingeschrieben. In ihm herrschen – so Lévinas gegenüber Bubers Dialogik – trotz aller ‚Nähe‘ keine Gleichheit, keine Gleichzeitigkeit, keine Gleichursprünglichkeit oder Gemeinsamkeit, auch keine Wechselwirkung oder Gleichberechtigung sowie keine Form der ‚Vermittlung‘, Vermischung oder Überbrückung. Der ethische Dualismus ist unüberbrückbar. Er gewährleistet die radikale und absolute Andersartigkeit des Anderen, die Unvermittelbarkeit von Ontologie und Ethik, von Totalität des Seins und Unendlichkeit der ethischen Ansprüche des Anderen, wie es im Titel der Hauptschrift in seiner mittleren Schaffensperiode heißt: Totalität und Unendlichkeit (Lévinas 1987). Vergleichbar mit der Architektur der Kritiken der Vernunft bei Kant führt kein Weg von der Erkenntnis und der objektiven Erfahrung zur praktischen Philosophie der Freiheit und Unbedingtheit des ethischen, sich selbst verpflichtenden Subjekts (vgl. dazu Lévinas 1992, S. 287). Doch im Gegensatz zu Kant oder auch zu Buber gewinnt der Andere, so in den letzten Veröffentlichungen von Lévinas, einen absoluten Vorrang gegenüber dem Ich. Dieser macht es u. a. auch der pädagogischen Rezeption schwer, die nicht

6.2  Die Andersheit des Anderen als Ausgangspunkt der Ethik

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ontologisch dimensionierte Ethik der Nähe in ein pädagogisches Konzept von Handlung und Verantwortung einzuarbeiten. In der für Lévinas typischen bilderreichen und konkretisierenden Sprache wird diese Grunddifferenz, wie wir oben gesehen haben, universal, d. h. anthropologisch und ontologisch dimensioniert und dann als geschichtlicher Grundkonflikt abendländischer Zivilisations- und Denkgeschichte konfiguriert. Jeder einzelne Mensch ist ein bedürftiges Wesen, das um seine Selbsterhaltung kämpft. Abstrakt formuliert, er ist ein ökonomisches Wesen. Um seine Selbsterhaltung kämpfen, heißt, dass er darum kämpft, nicht im Sog eines anonymen Seins (il y a) unterzugehen, in dem alle Katzen grau sind und das gewissermaßen alle Individualität verschlingt. Sondern der Mensch muss sich mittels Bewusstsein und Handeln ihm gegenüber behaupten, und zwar jeder einzelne gegen dieses anonyme Sein, das nicht wie das ‚Sein‘ bei Heidegger mit einem letzten ‚Heilssinn‘ ausgestattet ist, der sich dem Dasein als ‚Hirte‘ des Seins offenbart. Sondern das anonyme Sein macht Angst, weil in ihm alles Einzelne und alle Differenzen untergehen. Ökonomische Existenz ist die permanente Last der Selbstbehauptung eines jeden Einzelnen gegen dieses Anonyme, Drohende. Sie ist eine mühsame Distanzierung gegenüber dem Numinosen, Unaussprechlichen, Vormenschlichen, Natürlichen mittels Denken, Wissen und Tun. Diese Mühsal markiert den Lastcharakter des Daseins, der menschliche Existenz ausmacht, und sie motiviert dazu, was – abstrakt formuliert – Lévinas die Hypostase des Seienden aus dem Sein nennt. Das Seiende steigt aus vorsubjektiven, sinnlich-materialen Anfangsgründen zum reflexiven Bewusstsein auf. Auf diese Weise ringt der Mensch dem ‚Sein‘ sein Selbstverhältnis ab, und damit beginnt die Kultivierung und Humanisierung der Welt. Denn sein Leben führen und sich darin zu erhalten, heißt für jeden einzelnen, seine vitalen Bedürfnisse zu befriedigen. Das bedeutet, als sinnlich-leibliches Wesen die Welt als Nahrungs- und Lebensmittel im weitesten Sinne zu konsumieren und sich einzuverleiben. Ökonomische Existenz hat den Modus der Einverleibung des Anderen wie auch der Welt überhaupt. Sie ist also ein ursprünglicher sinnlich-leiblich dimensionierter Egoismus. Sich von der Welt nähren, das bedeutet für Lévinas, ihrer bedürftig sein, sich ihr auszusetzen und damit verwundbar zu sein, sie aus der Not der Selbsterhaltung heraus zu humanisieren und zu kultivieren. Es ist ein auf das Subjekt rückbezügliches Tun: ‚Re-flexion‘ als Struktur jedes Weltver­ hältnisses. Das zeigt sich schon in der einfachsten Form der Weltaneignung: wir haben Durst. Dieses Bedürfnis befriedigen wir, indem wir zum Beispiel Wasser trinken. Trinken heißt im genuin menschlichen Sinne nicht, dass wir Wasser wie in einen Becher in uns hineinschütten, bis wir voll sind. Sondern wir trinken, indem wir genießen, indem wir schmecken, so wie wir nicht nur auf der Erde

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leben, wie die Steine auf der Erde liegen, sondern uns auf der Erde und mit ihrer Hilfe (mit Steinen, usw.) Behausungen bauen, die uns schützen können. So distanzieren wir uns gegen die Natur und ertrotzen uns einen ‚Freiraum‘ vor den Naturgewalten. Allgemein gesprochen: Welt begegnet nicht mehr nur unmittelbar, sondern ‚mittelbar‘, indem sie selbst zum Mittel des ‚Genießens‘ wird. Wir essen, indem wir schmecken, wir atmen, indem wir die Luft einatmen und gewissermaßen ihren Duft riechen. Eine ökonomische Existenz ist – ganz formal ausgedrückt – Genuss. Darin transzendiert, d. h. überschreitet jeder Einzelne immer schon sich selbst auf eine Welt hin, von der er lebt, indem er sie genießt. Genießen lebt aus der Differenz von Welt und Ich, Genuss ist reflexiv, rückbezüglich. Dem Menschen muss die Welt schmecken, damit er in ihr leben kann. Dadurch humanisiert er sie.

6.3 Der Humanismus des anderen Menschen Wenn jeder ökonomisch lebt und damit im vormoralischen Sinne einen quasi natürlichen Egoismus seiner Bedürfnisse frönt als Wesen, für das der Mangel konstitutiv ist, dann kämpft jeder Einzelne um das immer knappe Gut der Lebensmittel – jeder gegen jeden. Auch der andere Mensch wird so zum Lebensmittel, zum Mittel für meine Zwecke. Der Kampf aller gegen alle kann nur dann nicht zur Ausrottung aller Menschen führen – so die traditionelle Sichtweise der politischen Theorie seit Hobbes –, wenn die Menschen gegen diesen Kampf des Überlebens eine Institution oder Apparatur errichten, die mittels Gewalt und Sanktionen, also mittels Gesetz den Existenzkampf eindämmt. So kommt zur Mühsal und zur Last meiner Existenzbehauptung die Drohung mit Sanktionen und staatlicher Gewalt hinzu. Das Ich muss in seinem Egoismus der Selbsterhaltung entweder durch sich selbst oder durch andere, d. h. also fremdbestimmt, begrenzt werden. Gewissermaßen treten hier die Mitmenschen in der mehr oder weniger anonymen Gestalt eines repressiven Systems auf. Es verlangt Unterwerfung, damit jeder Einzelne überlebt; es verlangt eine gegen die singulare Existenz gerichtete, verallgemeinerte Existenz als Teil eines übergeordneten Ganzen. Soweit die traditionelle Antwort. Für Lévinas jedoch ist diese ökonomische Existenzweise unterbestimmt. Strukturell gesehen tritt jeder Einzelne, der sich am Leben erhalten will, immer schon aus seiner selbstbezüglichen Verfassung heraus. Existieren ist Transzendieren. Es ist kein Beharren, keine Substanz oder ein Zustand. Existieren ist auch kein selbstgenügsamer Modus, sondern einer, der das Subjekt in seinen Bedürfnissen aus sich heraustreibt, zum Anderen hin – zur natürlichen und sozialen Welt. Damit gibt es schon eine Öffnung in den subjekti-

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ven Systemen auf Anderes hin, die nicht geschlossen werden kann. Lévinas wird in seinen späteren Schriften diese gleichsam anthropologische Fassung von Existenz als Überschreiten, das vom Subjekt zum Anderen hin ausgeht, als Verhaftung in der ontologischen Denkweise kritisieren und die Richtung umkehren: Nicht das Subjekt ist initiativ in seiner Existenz als Selbstüberschreitung auf den Anderen hin, ausgehend von einem Selbststand, von dem aus es sich für oder gegen den Anderen entscheidet und darin seine Freiheit zeigt. Sondern Transzendenz qua Selbstüberschreitung ist gänzlich dem Anderen geschuldet und erfolgt nicht frei und selbstbestimmt. Das Ich ist – so die radikale und nichtontologische Lesart – durch und durch anfänglich ethisch fremdbestimmt. Es ist in seinem Innersten und vor aller Selbstbewusstheit in grundlegender Passivität und ‚Geduld‘ immer schon von den Ansprüchen des Anderen okkupiert. Das Subjekt wird als ethisches Subjekt allererst vom Anderen gestiftet. Es ist kein Ich, sondern ein ‚mich‘, das dem Anruf des Anderen immer nur nachträglich antworten kann (vgl. dazu genauer Lévinas 1992, Kap. 5, S. 289 ff.). Kehren wir zur ökonomischen Existenz zurück. In der oben skizzierten strukturellen Öffnung des Ich auf das Andere hin zeigen sich andere Erfahrungsmodalitäten als nur rückbezügliche, die in der ökonomischen Existenz vorherrschen. Weil diese anderen Erfahrungen sich ereignen, weil sie flüchtig, oft übersehen und mit den herkömmlichen Mitteln des Wissens und Könnens kaum fassbar sind, werden und sind sie kaum thematisiert in einer Tradition, die auf Gewissheit, Kontrolle, Wissen und Selbstbezüglichkeit aus ist. Man hat ihnen nach Lévinas in der abendländischen Denktradition zu wenig Beachtung geschenkt. Denn diese orientierte sich am ‚allgemeinen Logos‘, an einer einzigen Vernunft, an einer kosmologischen Ordnung und an den Systemen der Wissenschaft, an ihren Wahrheiten und den allgemeinen Geltungsansprüchen von Moral. Wie sehen solche anderen Erfahrungen aus? Da gibt es beispielsweise das Begehren, das eine andere Struktur hat als das Bedürfnis. Bedürfnisse wie Hunger, Durst, Sexualität usw. können befriedigt werden, zumindest zeitweise. Der Mensch ist im weitesten Sinne ‚satt‘. Aber Liebe, Zärtlichkeit und andere Formen des Begehrens, auch sprachliche Kommunikation und Miteinanderhandeln? Sie gehören nicht als ethische Ereignisse und Existenzweisen zur Seinsordnung. Alle diese Formen haben es zwar mit dem einzelnen Menschen zu tun, aber darüber verfügt er nicht, und sie treiben ihn über sich hinaus auf den Anderen zu. Sie überschreiten ihn auf seine Mitmenschen hin. Darin ist der Einzelne in keiner Hinsicht souverän, selbstbestimmt und kontrollierend. Im Gegenteil – statt im Subjekt zu einem Ende zu kommen, statt das Begehren zu sättigen und zu befriedigen, geschieht genau das Gegenteil. Das Begehren vertieft sich und wird ‚unendlich‘. Liebe ist unendlich steigerbar und kommt gewissermaßen nie an,

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weil der Geliebte nicht zum Objekt wird oder werden kann, sondern sich entzieht. Liebe ist die Erfahrung des Entzugs des Anderen, nicht des Besitzes. ‚Gehört‘ der Andere mir, ist die Liebe tot. Ähnliches gilt auch für das alltägliche Geschehen des Gespräches. Ethisch relevant sind Gespräche insofern, als sie die Partner durch das bloße Faktum des Ansprechens und des Sagens verpflichten und schon vor jeder inhaltlichen Aussage ‚bedeuten‘. Der Andere blickt mich an und stellt mir eine Frage. Ich kann mich ihm nicht entziehen, da er mich und keinen anderen meint. Ich kann nicht nicht antworten. Auch wenn ich mich abwende und mich ihm verweigere, antworte ich. Ich strecke jemandem die Hand aus – eine Gebärde der Zuwendung, ein Appell. Auch wenn er sie ignoriert, ist das Ignorieren strukturell schon eine Antwort. Das Kind schreit im Bettchen, ich weiß nicht was es hat, aber der Schrei drückt eine Not aus, die mich in die Pflicht nimmt und an mich appelliert, ihm zu antworten, bevor ich schon eine bestimmte Antwort weiß. Der Appell, der Schrei macht mich dem Anderen gegenüber gegen meinen Willen und völlig überraschend schuldig. Ich werde in Beschlag genommen, und diese Verpflichtung als Appell ist schon da, bevor ich sie bewusst übernehme und dazu Stellung beziehe. Meine Entscheidung als selbstbezügliches Tun kommt immer zu spät. Allgemeiner formuliert: das ethische Ereignis kann nicht mit den Kategorien der Ordnung des Wissens und der Ökonomie erfasst werden. Die Zeit des Anderen ist nicht meine Zeit, das ethische Ereignis geschieht diachronisch, es ist schon vorbeigegangen, eine ‚Spur‘, bevor ich es bemerke und dann dazu Stellung nehmen kann. Der Andere verpflichtet mich, bevor ich mich selbst verpflichte, er konstituiert mich als ethisches Subjekt, bevor ich mich selbst dazu entscheiden kann. „Einzig bin ich nicht, indem ich zu etwas in der Lage bin, was nur ich kann, s­ ondern indem ich auf einen Anspruch antworte, der nur mir gilt; einzig bin ich nicht im Nominativ als einer, der sich vom Anderen abhebt, sondern im Akkusativ als einer, der sich dem Anderen anbietet: me voici“ (ebd., S. 276, Herv. i. O.; vgl. auch Waldenfels 1995, S. 312).

Der Andere selbst als Anderer entzieht sich mir in radikaler Weise, da er im Ereignis des Anspruchs in allernächster Nähe dennoch für mich als ein schon bestimmter, identifizierbarer Anderer nicht in ‚Erscheinung‘ tritt. Das heißt, er bedeutet als Antlitz, als Anruf, als Fremder – so die Redeweise von Lévinas –, von sich selbst her, nicht dank eines Wissens um ihn. Wäre er mir bekannt, dann würde er in meine ‚Erfahrung‘, in deren Horizonte und Verweisungszusammenhänge, als ein mehr oder weniger bestimmter Jemand eintreten. Dann verlöre er

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seine Andersheit und absolute Fremdheit und würde Teil meines Bewusstseins. Er wäre letztlich nichts anderes als ein Alter Ego. Lévinas versucht diese nicht selbst- und rückbezügliche Struktur mitmenschlichen Zusammenlebens in vielen Modalitäten des menschlichen Zusammenlebens aufzuweisen. Er wählt dafür prototypische und durchaus alltägliche Situationen. In ihnen zeigt er auf, dass vor jeder institutionalisierten oder legitimierten moralischen Regel oder vor jeder ausdrücklichen Moral das menschliche Leben immer schon ein Leben ist, in dem ein Ich durch den Anderen verpflichtet wird, bevor es sich selbst verpflichtet. Betonen wir noch einmal: Es ist, so seine starke These, der Andere, der den natürlichen Egoismus der Selbsterhaltung des Ich – diese Last der Existenz – durchbricht und das Ich aus seiner Selbstbezüglichkeit befreit. Diese Befreiung von der Last der eigenen Existenz ist zugleich Verpflichtung durch den Anderen. In dieser Verpflichtung tauche ich nicht als Ich auf, das souverän handelt und entscheidet, sondern als ‚mich‘, gleichsam akkusativisch, als vom Anderen ethisch beansprucht und verpflichtet. Halten wir also fest: Dieser Andere ist ein konkreter Mensch mit seinen konkreten Ansprüchen. Als Fremder kommt er gleichsam von außen (exterritorial); er erhebt außerhalb einer schon bestehenden moralischen Ordnung Ansprüche (anarchisch) und verpflichtet mich unerwartet (anachronistisch) und unvermeidbar, bevor ich dazu Stellung nehmen kann (vorreflexiv und akkusativisch). Diese Ethik des Ereignisses ist für Lévinas die erste Philosophie. Sie geht jeder Erkenntnis der Wahrheit und jedem Streben nach Wissen voraus. In gewisser Weise stiftet sie diese Möglichkeiten überhaupt erst. Weil Wahrheit und Wissen auf Sprache und Mitteilung angewiesen sind, können sie sie nicht überspringen und so tun, als würden sie nur ihrer eigenen Logik folgen. Sprache heißt aber, dass Menschen miteinander sprechen. Wie wir schon gesehen haben, ist das Sprechen als Gespräch schon die Geste des Grußes. Es mag jemand das Wort ‚führen‘. Jedoch – in jedem Sprechen liegt ein Appell, nämlich die Werbung darum, dass er gehört werde. Dass er ‚erhört‘ oder dass ihm zugehört wird, dass entzieht sich seiner Kontrolle. In der Hinsicht sind wir ganz banal und auch wieder ganz dramatisch auf den Anderen angewiesen. Im sozialen Tun eines Ich liegt immer strukturell ein ‚Mich‘, in jedem Anspruch an den Anderen auch schon der Anspruch des Anderen an mich.

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6.4 Das ‚Mich‘, der Andere und der Dritte und die Menschheit – die Frage nach der Gerechtigkeit für alle Anderen Es war eingangs mit Lévinas die Rede davon, dass menschliches Zusammenleben strukturell gewaltförmig und konfliktreich ist. Das ist der Ökonomie der Selbsterhaltung im Kampf eines jeden gegen jeden geschuldet. Sie kann nur befriedet werden durch eine mehr oder weniger repressive Politik des Interessenausgleichs, die die einzigartige Existenz des Menschen zwangsläufig zugunsten eines überindividuellen Interesses der Gemeinschaft vieler gering achtet. Nur das ethische Ereignis des unmittelbaren Anspruchs des Anderen löst aus dieser Verstrickung, aber wegen seiner metaphysischen Dimension lässt es sich auf der ontologischen Ebene der ökonomischen Existenz nicht angemessen in der tradierten Sprache der Ontologie vermitteln. Dieser Gegensatz von Ontologie und Ethik stellt zugleich den Gegensatz von Politik und Ethik dar. Erst die Spätschriften von Lévinas in der dritten Schaffensperiode versuchen diesen Gegensatz aufzuheben. Die Frage nach der Gerechtigkeit zwischen den Menschen, die die Exklusivität des ethischen Duals von ‚Mich‘ und den Anderen durchbricht, dient Lévinas dazu, den Anspruch der Ethik als erster Philosophie dadurch zu einzulösen, dass er ihre begründende Funktion für die Ontologie und damit auch der Politik als Teil der Ontologie aufzeigt. Menschliche Handlungswirklichkeit und die Ordnung ihres Zusammenlebens, die intentionale Verfasstheit im Handlungs- und Reflexionsbewusstsein, ihre Manifestationen in Geschichte, in den Wissenschaften, im alltäglichen Wissen und in überindividuellen Institutionen, ihre Rechtfertigung und normative Regulierung durch Gesetze mit allgemeiner Verbindlichkeit – alles das wirft Fragen nach der Gerechtigkeit, nach der Verantwortung gegenüber den vielen Anderen und nach objektiv gültiger Wahrheit auf. Von der Warte der Ethik der Nähe aus verletzt jeder Anspruch auf allgemeine Gerechtigkeit die Einzigkeit des ‚mich‘, da er nicht nur mich unmittelbar und ausschließlich betrifft, sondern alle anderen auch. Gerechtigkeit ist eine ethische Norm, die allen zugesprochen werden soll, und damit wird jeder Einzelne trotz seiner Singularität mit allen anderen vergleichbar gemacht. Gerechte Lösungen im Leben vieler verlangen eine Instanz der Objektivität, der Theorie und des reflexiven Bewusstseins, das gerechtes Handeln überlegt, Interessenskonflikte analysiert, gegeneinander abwägt und unter ein Allgemeinwohl stellt. Dass damit gerechte Politik gegenüber dem Einzelnen immer ungerecht ist und deswegen ständiger Kritik und Korrektur bedarf, liegt auf der Hand. Dass das Motiv dieser Korrektur nicht in der ontologischen

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­ rdnung der Gerechtigkeit wurzeln kann, die die Tendenz zur systemischen und O machtförmigen Verselbstständigung der Gerechtigkeit mittels Gesetze, Regelungen usw. auf Kosten aller Menschen inne hat, liegt ebenfalls auf der Hand. Das Motiv wirkt in der ‚Nähe‘ des Anderen, die die Einzigkeit des ‚Mich‘ gewährleistet und die damit die Fraglichkeit jeder moralischen Ordnung aufrecht hält. Selbst der Richter, der im Bannkreis des Gesetzes urteilt, urteilt nicht losgelöst von der Nähe des Anderen und bleibt sich deshalb der konstitutionellen Ungerechtigkeit jedes Rechtsspruches, der im Namen der Allgemeinheit erfolgt, gegenüber dem Einzelnen bewusst. Lévinas versucht diesen Zusammenhang von Ethik und Ordnung der Gerechtigkeit an der Figur des Dritten zu verdeutlichen. Dass mich der Andere unmittelbar und als Nächster ethisch verpflichtet und in meine Verantwortung für ihn erwählt, ist kein ‚Problem‘, auch nicht fraglich, überhaupt keine Frage eines Bewusstseins, es ist ein mich unmittelbar angehendes Ereignis. Diese Unmittelbarkeit – so Lévinas – wird „gestört und sie wird zum Problem mit dem Eintritt des Dritten. Der Dritte ist anders als der Nächste, aber auch ein anderer Nächster und doch auch ein Nächster des Anderen und nicht bloß ihm ähnlich“ (Lévinas 1992, S. 342 f.).

Der Dritte führt einen ‚Widerspruch‘ ins Dual der Verantwortung ‚Mich‘ und ‚Anderer‘ ein, setzt ihm eine ‚Grenze‘ und lässt die Frage entstehen ‚Was habe ich gerechterweise zu tun?‘. Sie wird zur Gewissensfrage, verlangt nach einem Vergleich zwischen den unterschiedlichen Ansprüchen koexistenter Anderer, und zwar in den Strukturen der Intentionalität, des Bewusstseins und des Verstehens eines Subjekts, das selbst einen Standpunkt gegenüber den Anderen im gleichen Raum und in der gleichen Zeit, die es mit ihnen teilt, bezieht (vgl. ebd.). Lévinas wehrt dabei die Vermutung ab, als wäre der ‚Eintritt des Dritten‘ ein empirisches Ereignis auf dem Boden der Ontologie. Er formuliert: „Der Andere ist von vornherein der Bruder aller anderen Menschen. Der Nächste, der mich in Beschlag nimmt, ist schon Gesicht, vergleichbar und doch auch unvergleichbar, einzigartiges Gesicht und Gesicht unter Gesichtern, sichtbar gerade in der Sorge um Gerechtigkeit“ (ebd., S. 344),

eine Sorge, die Lévinas dramatisierend so beschreibt: „In der Nähe des Anderen bedrängen mich – bis zur Besessenheit – auch all die Anderen, die Anderen sind für den Anderen, und schreit die Besessenheit nach Gerechtigkeit, verlangt sie Maß und Wissen, ist sie Bewusstsein“ (ebd., S. 344 f.).

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So ist die Beziehung zum Dritten eine „unablässige Korrektur“ der Nähe zum Anderen. „Allein dank göttlicher Gnade werde ich als mit dem Anderen unvergleichbares Subjekt doch als Anderer wie die Anderen angesprochen, das heißt ´für mich`. ´Dank göttlicher Gnade`, ´gottlob` bin ich Anderer für die Anderen“ (ebd., S. 345). So besteht eine Wechselseitigkeit, gestiftet von Gott qua ‚Spur der Transzendenz‘, oder in den Worten von Lévinas: „Das ‚Vorübergehen‘ Gottes […] ist genau der Umschlag des unvergleichlichen Subjekts zum Mitglied der Gesellschaft“ (ebd., S. 345). Lévinas gibt hier unübersehbar eine metaphysisch-theologische Lesart der Fundierung der Gerechtigkeit. Sie betrifft den ‚Umschlag‘ des ethischen Subjekts zum gesellschaftlichen Subjekt. Zum menschlichen Antlitz in seiner Einzigkeit tritt die Einzigkeit des göttlichen Antlitzes hinzu (monotheistischer Gott) und stiftet als Gnadenakt menschliche Brüderlichkeit, in der Gerechtigkeit als wechselseitige Inanspruchnahme fungiert. Damit ist, so Lévinas, die „Verbindung zwischen der Ordnung des Seins und der Nähe“ (ebd., S. 349) unaufkündbar. Die Ordnung, das deutliche „In-Erscheinung-Treten, die Phänomenalität, das Sein – ereignen sich in der Bedeutung, in der Nähe, ausgehend vom Dritten“ (ebd., S. 349). Mit dieser Argumentation integriert Lévinas die Ontologie (als Phänomenologie und Bewusstseinsphilosophie) in die vorontologische, metaphysische Dimension der Ethik des Anderen. Er führt das zusammen, was er in seinen früheren Schriften oftmals polemisch gegeneinander stellte. Genauer noch: die vorontologische Singularität des ethischen Subjekts wird durch die Gerechtigkeitsansprüche der vielen Anderen aufgebrochen und weitet sich aus zu einem Feld konkurrierender Ansprüche, denen zu begegnen die bewusste Aktivität des Ich verlangt, das nicht mehr nur passivisch ‚Geisel‘ des Anderen sein kann. Welche Konsequenzen diese neue Sicht Lévinas’ auf die Frage der Gerechtigkeit der Menschen untereinander hat, hat die kritische Auseinandersetzung mit seiner Philosophie gezeigt, die auch vonseiten der Pädagogik erfolgt ist (s. u.). Unübersehbar ist die Tendenz der Annäherung von Ontologie und Ethik und der Abmilderung ihrer Gegensätzlichkeiten. Das bedeutet auch, dass die Ethik des anderen Menschen die Dimension der Erfahrung und der phänomenologischen Beschreibung ethischer Grundverhältnisse nicht mehr grundsätzlich von der metaphysischen Dimension der In-Anspruchnahme durch den Anderen ausschließt. Das zeigt deutlich die kritische Rezeption des Phänomenologen Waldenfels, die die pädagogisch-kritische Rezeption von Lévinas in wesentlichen Zügen mitbestimmt hat (vgl. Waldenfels 1995, S. 302–382). Waldenfels verlässt nicht wie Lévinas in der Thematik des Anderen und Fremden den Boden der Phänomenologie und damit der Erfahrung und vermeidet den Überstieg in eine Metaphysik des Anderen, die aus meiner Sicht nur für den nachvollziehbar ist, der sich den christlich-jüdischen und antiken Denktraditionen verpflichtet weiß.

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6.5 Auf dem Boden heterogener Erfahrungen des Fremden: Zur phänomenologischen und pädagogischen Rezeption von Levinas’ Ethik des anderen Menschen Waldenfels kritische Überlegungen leiten sich aus seinen phänomenologisch-genealogischen Forschungen über alle Spielarten menschlicher Erfahrung her, zu denen auch die der Kommunikation und des Handelns samt deren ethischen Implikationen gehören. Hierbei legt er grundlegende responsive Sinnstrukturen offen, in denen die sinnlich-leiblichen und intersubjektiven Verflechtungen der Menschen untereinander wie auch mit der Welt qua Natur- und Kulturwelt sichtbar werden. Die Thematik des Fremden und des Anderen sind darin zentral, da sie analog zur Lévinas-Kritik an der abendländischen Ontologie vorhandene Ordnungs- und Denkmuster der Reflexionsphilosophie aufbrechen und infrage stellen. Im Gegensatz zu Lévinas jedoch verlässt er dabei nicht den Boden der phänomenologisch einholbaren Erfahrung. Sie ist keineswegs, wie es Lévinas oftmals polemisch gegenüber dem phänomenologischen und ontologischen Denken betont, totalisierend, idealisierend und in einem Bewusstsein eingeschlossen, das sich allen Sinn der Welt reflexiv einverleibt. Stattdessen lassen sich wesentliche Strukturen der Alterität und Fremdheit, die man bei Lévinas findet, wenn auch weniger radikal gezeichnet, schon auf der Ebene phänomenologischer Erfahrungen finden. Die kritische Auseinandersetzung mit Lévinas zielt u. a. auf folgende wichtige Aspekte, die für die pädagogische Rezeption besonders bedeutsam geworden sind und auf deren Skizze ich mich deswegen beschränke: • Ansprüche des Anderen, die mit denen der Anderen gemeinsam auftreten, formieren sich zu einem „Anspruchsfeld“, „wo es Näheres und Ferneres gibt und wo jede Antwort sich als selektiv und exklusiv erweist, selbst wenn sie dieser Weisung folgt“ (Waldenfels 1995, S. 318). Deutlich zeigen sich damit auf beiden Seiten, auf der Seite der Ansprüche und auf der der Antwortenden ‚Spielräume‘ und Anspruchskonflikte. • Zwischen ihnen zu entscheiden und zu vermitteln, setzt Vergleichbarkeit ihrer unterschiedlichen Forderungen und damit eine Anspruchsordnung voraus, die ihre jeweilige Bedeutsamkeit sichert und ohne die sie überhaupt nicht als jeweils besondere qualifiziert werden können. Außerdem verlangt das ein in Grenzen selbstständiges und qualifiziertes Ich, das eine eigene Stimme, eine eigene Geschichte hat und so kontextuell verankert ist. Das jeweilige Ich tritt als konkreter Mensch auf, als ein Erwachsener, als ein Kind, als Frau oder Mann mit jeweils eigenen Möglichkeiten und Grenzen des Antwortens oder

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der Verantwortlichkeiten (vgl. dazu ebd., S. 338; auch im pädagogischen Kontext Schmidt 2008, S. 57). Derjenige, der mit eigener Stimme spricht, spricht verständlich für andere im Rahmen einer schon gesprochenen Sprache, ohne dass das Neue, was er sagt, im schon Gesagten aufgehen muss. Singularität drückt sich im Kontext, in einer schon vorhandenen Ordnung aus, nicht jenseits davon. Sie ist immer schon mit dem Anderen, dem Fremden, dem Allgemeinen verflochten. Dass diese Verflechtung wie ein Gespräch fungiert, dass sie alles andere als durch und durch intentional strukturiert und damit rational kontrollierbar ist, sondern prozesshaft offen und als Zwischengeschehen nicht einseitig subjektzentriert sich vollzieht, nicht nur Sinn ausführt sondern auch neuen Sinn generiert (vgl. Waldenfels 1995, S. 330 ff., auch grundsätzlich als Responsivität charakterisiert vgl. Waldenfels 1994), alles das spricht gegen Lévinas, gegen dessen Verzeichnung der Ontologie als hermetischer Ordnung der Identifikation, die alle Singularität auslöscht. Wäre das ethische Subjekt, wie es Lévinas gegen die Ontologie konfiguriert, nicht identifizierbar und absolut unvergleichlich, dann wäre ein solches Subjekt auch sprach- und tatenlos. Nur durch seine Verwicklung in Kontexte profiliert es sich als Individuum, und ist damit kein theoretisch abgehobenes Konstrukt einer Philosophie, die gegen die Herrschaft der abendländischen Philosophie und gegen die Zwänge ihrer Identitätslogik aufbegehrt. Die pädagogische Rezeption von Lévinas’ Ethik dauert nun schon über zwei Jahrzehnte an (vgl. zum Beispiel die im deutschsprachigen Raum recht frühe Rezeption von Hellemans 1984 und Lippitz 1989). Die 2000 erschienene Dissertation Ethik der Verantwortung. Die Philosophie Emmanuel Lévinas’ als Herausforderung für die Verantwortungsdiskussion und Impuls für die pädagogische Verantwortung von Staudigl und die spätere Zum Verhältnis von Verantwortung und Kritik in der Pädagogik. Versuch einer Neubefragung in Anschluss an Emmanuel Lévinas von Schmidt (2008) arbeiten detailliert und kenntnisreich diese Rezeptionsgeschichte unter dem Leitaspekt der pädagogischen Verantwortung aus und vergleichen sie mit konkurrierenden zeitgenössischen Ansätzen, um nur einige zu nennen, die in der Tradition Kants, des Idealismus (Benner), der Existenzphilosophie (Bollnow, Danner), der Diskursethik und kommunikativen Pädagogik (u. a. Schaller), der Kohlberg’schen Entwicklungstheorie des moralischen Bewusstseins, der Wert- und Tugenderziehung stehen. Zudem stellen sie die ethische Thematik des Anderen in den Zusammenhang des seit Beginn des 20. Jahrhunderts beginnenden pädagogisch-philosophischen Diskurses über das Beziehungsverhältnis von Ich und Du und Ich und Anderem als Möglichkeiten, aber auch Grenzen der Erziehung (u. a. Rosenzweig, Buber, Grisebach, Masschelein, Peukert).

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Schon die Untertitel beider Arbeiten signalisieren, dass Lévinas’ Ethik dank ihrer Radikalität neue Sichtweisen und Impulse für die pädagogische Diskussion eröffnet. Erneut werden mit Verweis auf das vorrationale, nicht-intentionale und nicht subjektzentrierte, unplanbare Ereignis der Einsetzung in die Verantwortung für und durch den Anderen die Grenzen pädagogischer Intentionalität deutlich. Ethischen Selbstverpflichtungen und ethisch motiviertem Engagement wie auch moralischen Erwägungen geht eine basale ethische Empfänglichkeit der Menschen füreinander voraus, die die in sich kreisenden Fragen und Probleme der rationalen Begründung der intersubjektiven Geltung von verpflichtenden Normen als sekundär erscheinen lässt (vgl. dazu Staudigl 2000, S. 248 f.; Schmidt 2008, insbes. Teil 4, S. 277 ff.). Dass der ethische Anspruch des Anderen in der Nähe uns in die Verantwortung ruft und uns direkt trifft, diese „außer-ordentliche Alltäglichkeit“ (Lévinas 1992, S. 309) einer unausweichlichen Antwort ist noch nicht pädagogisch virulent. Sie zeigt sich erst, wenn, wie Staudigl und Schmidt mit Waldenfels gegen Lévinas Figur der absoluten Singularität kritisch einfordern, das unausweichliche Dass der Ansprüche und der Antwort nicht schon das Was ihrer Inhalte, das Wie ihrer möglichen Äußerungen und das jeweilige Wer als qualifizierte Person verdeckt (Staudigl 2000, S. 281 ff., 294 ff.; Schmidt 2008, S. 42 f., 166 ff., resümierend S. 429 f.). Ich würde im Gegensatz zu Staudigl dann nicht von zwei unterschiedlichen Ordnungen mit jeweils beschränkter Geltung sprechen, der der Ethik und der Ontologie, die gleichsam parallel bestehen (so Staudigl 2000, S. 334 ff., resümierend S. 349), sondern, wie oben aufgeführt mit Waldenfels von in responsiven Strukturen stattfindenden Verschränkungen (vgl. auch zustimmend Schmidt 2008, S. 427). Auch die Figur des Widerstreits zwischen den ethischen Ansprüchen des Einzelnen und der Gerechtigkeit der Vielen, von der Schmidt mit Bezug auf Liebsch ausgeht, ist meines Erachtens noch zu polar angelegt (vgl. dazu ebd., S. 397 f., 432 f.). Denn nur mit Bezug auf spezifische Handlungskontexte und Ansprüche bestimmter Personen, also im konkreten und ausdifferenzierten pädagogischen Feld, zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden kann man pädagogische Verantwortung gehaltvoll bestimmen. Der Erzieher wird, ohne selbst initiativ sein zu können oder sich als moralische Instanz oder Autorität selbst zu legitimieren, unmittelbar und in allernächster Nähe ethischen Ansprüchen von Heranwachsenden ausgesetzt und in die Verantwortung für sie eingesetzt. Er handelt also nicht autonom und souverän, so wie es die in der Subjektmetaphysik verankerte Moralphilosophie mit ihren illusorischen Ansprüchen der selbstreflexiv begründeten Verantwortungsethik darstellt. Dieses Leitbild des mündigen Erwachsenen, das die stellvertretende Verantwortung des Erwachsenen für den noch Unmündigen legitimierte, ignoriert Heterogenität und Fremdbestimmung

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und damit die Andersheit des Anderen als wesentliche Bestimmungen sozialer Existenz. Zugleich sei an der Differenz zwischen Erziehern und zu Erziehenden festgehalten. Die anfängliche Fremdbestimmung des pädagogischen Handelns als ethischer Impuls ersetzt keineswegs ein nachträgliches pädagogisch qualifiziertes Verstehen der ethisch belangvollen Situation wie auch das sich Einlassen auf sie. Es ist, wie Waldenfels in seinen Deskriptionen der responsiven Strukturen des Miteinanderhandelns und Miteinandersprechens zeigt, alles andere als subjektzentriert oder starr normativ geregelt und durchgängig intentionalisierbar, sondern Heterogenität, Fremdheit und Offenheit werden als dynamische und innovative Momente im pädagogischen Handeln und Verstehen aktiviert. Anders formuliert: Jedes pädagogische Geschehen verstrickt Erziehende und zu Erziehende konkret miteinander (vgl. dazu ebd., S. 316 ff., unter der Perspektive des pädagogischen Handelns mit Bezug auf Waldenfels’ Philosophie der Responsivität S. 325 ff., 347 ff.). Die darin wirkenden ethischen Ansprüche gehen jedem Moralisieren voraus und entziehen sich als Ereignis jedem vorgängigen Wissen, jeder Technik, jeder Planung und Intention. Als faktische Erfahrung des Anderen als Anderen induziert konkretes pädagogisches Tun ein pädagogisches Ethos, in dem das Wissen um Kontingenz, um Nichtwissen, um das Unplanbare und Unvorhergesehene im pädagogischen Prozess virulent bleibt. Erziehen ist so eine ‚Intrige‘, eine Verstrickung, kein bloßes ‚Geschäft‘.

Literatur Bollnow, Otto Friedrich. 1984. Existenzphilosophie und Pädagogik, 6. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer. Bräuer, Gottfried. 1969. Pädagogisches Denken als konkretes Denken. Hrsg. W. Loch und J. Muth. Neue pädagogische Bemühungen, Bd. 12, 2. Aufl. Essen: Neue Deutsche Schule. Buber, Martin. 1964. Reden über Erziehung, 8. Aufl. Heidelberg: Schneider. Buber, Martin. 1965. Das dialogische Prinzip. Heidelberg: Schneider. Hellemans, Mariette. 1984. Pädagogische Verantwortung. In Beschreiben. Verstehen. Handeln, Hrsg. W. Lippitz und H. Danner, 107–122. München: Röttger. Krewani, Wolfgang Nikolaus. 1992. Emmanuel Lévinas. Denker des Anderen. Freiburg i. Br.: Alber. Lévinas, Emmanuel. 1987. Totalität und Unendlichkeit: Versuch über die Exteriorität. Aus dem Französischen übers.: W. N. Krewani. Freiburg i. Br.: Alber. Lévinas, Emmanuel. 1992. Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Aus dem Französischen übers.: T. Wiemer. Freiburg i. Br.: Alber.

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Lippitz, Wilfried. 1989. Von Angesicht zu Angesicht – Überlegungen zum Verhältnis von Pädagogik und Ethik im Anschluss an Lévinas. Vierteljahresschrift für Wissenschaftliche Pädagogik 65:266–281. Lippitz, Wilfried. 2008. Bildung und Alterität. In Handbuch der Erziehungswissenschaft. Grundlagen Allgemeine Erziehungswissenschaft, Bd. 1. Hrsg. U. Frost und G. Mertens, 273–288. Paderborn: Schöningh. Lippitz, Wilfried und Jeong-Gil Woo. 2008. Pädagogischer Bezug. Erzieherisches Verhältnis. In Handbuch der Erziehungswissenschaft. Grundlagen Allgemeine Erziehungswissenschaft, Bd. 1. Hrsg. U. Frost und G. Mertens, 405–420. Paderborn: Schöningh. Schmidt, Katharina. 2008. Zum Verhältnis von Verantwortung und Kritik in der Pädagogik. Versuch einer Neubefragung in Anschluss an Emmanuel Lévinas. München: Fink. Staudigl, Barbara. 2000. Ethik der Verantwortung. Die Philosophie Emmanuel Lévinas’ als Herausforderung für die Verantwortungsdiskussion und Impuls für die pädagogische Verantwortung. Würzburg: Ergon. Theunissen, Michael. 1965. Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart. Berlin: De Gruyter. Waldenfels, Bernhard. 1994. Antwortregister. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Waldenfels, Bernhard. 1995. Deutsch-Französische Gedankengänge. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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Fremdheit und Andersheit in pädagogischen Kontexten

„Die Begegnung mit dem Anderen bedeutet immer die Begegnung mit dem Unbekannten. Das Unbekannte kann leicht verkannt werden. Dann wird das Kind schematisch missverstanden nach dem Modell des Gewohnt-Bekannten. So wird es reduziert in der Richtung des Erwachsenen oder des Klischees“ (Langeveld 1966, S. 31).

Was ‚fremd‘ bedeutet, kann nicht definitiv im positiven Sinne festgelegt werden. Fremdes gehört in kein binäres Ordnungsraster wie Freund oder Feind, Eigenheit oder Andersheit, Innen oder Außen, Subjekt oder Objekt, Ich oder Du, gut oder schlecht, Wissen oder Nichtwissen. Fragt man wie die lebensweltliche Phänomenologie nicht nach dem, was Fremdes ist, sondern wie es erscheint und sich zeigt, dann kommt man zu folgender erster Bestimmung: ‚Fremdes‘ ist ein relationaler Begriff und meint Phänomene, die sich immer mit Bezug auf etwas, was nicht als fremd angesehen wird, zeigen und artikulieren. ‚Fremdes‘ wird in den unterschiedlichen Dimensionen unserer Ordnungssysteme thematisiert (vgl. die grundsätzlichen Überlegungen zur Fremdheitsthematik in phänomenologischer Hinsicht bei Waldenfels 1997): • in dem axiologischen: u. a. zwischen gut und böse, zwischen gleich und ungleich, zwischen schön und hässlich, zwischen vertraut und unvertraut; • in dem praxeologischen: u. a. zwischen Annäherung und Distanzierung, Integration und Assimilation, Unter- und Überordnung, Identifikation und Abstoßung; • in dem epistemologischen: u. a. zwischen Wissen und Nichtwissen, Kennen und Nichtkennen, Bekannten und Unbekannten.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Lippitz, Phänomene der Erziehung und Bildung. Phänomenologischpädagogische Studien, Phänomenologische Erziehungswissenschaft 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24187-2_7

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In solchen Relationen ist ‚Fremdheit‘ in unterschiedlichen Graden etwas, was vorhandene Ordnungen stört, was sogar einen Riss im jeweiligen Bedeutungsgewebe erzeugt und damit Spuren ihrer Kontingenz, ihrer Nicht-Notwendigkeit hinterlässt. Jede menschliche Ordnung setzt auf Kontinuität, Regelhaftigkeit und Verlässlichkeit (vgl. Waldenfels 1987). Sie konstituiert sich, indem sie das, was ihre Identität im Sinne der Selbsterhaltung und Selbstsicherung ausmacht, in Prozessen der Inklusion des Eigenen und Exklusion des Anderen, des Fremden oder des Anormalen bestimmt. ‚Fremdes‘ im radikalen Sinne als anarchisches Element oder Ereignis ist darin nicht integrierbar. Denn es tritt auf als Ungeordnetes, Ungezügeltes und Ungebändigtes, das sich jeder Anstrengung und ‚Gewalt‘ des Ordnens zugleich entzieht und dennoch erhalten bleibt als das, was weiterhin irritiert, was stört oder unterbricht und vorhandene Ordnungen destabilisiert. In solchen Störungen wird sichtbar, dass jede Ordnungsleistung prekär bleibt. Sie hat eine faktische, vorprädikative und vorreflexive Entstehungsgeschichte, die sie nicht mit ihren eigenen Normen und Regeln in den Griff bekommt. Ordnungen haben einen gleichsam unsichtbaren und unruhigen Unterboden, der dafür sorgt, dass sie nicht verkrusten. Damit bleiben sie dynamische und unabschließbare Systeme. Man kann sie mit Sprachen vergleichen. Sie sind nicht konserviert in fixierten Vokabularien und Grammatiken, sondern sie bleiben lebendig und entwickeln sich weiter in kreativen und nicht planbaren Prozessen des konkreten Sprechens mit Bezug auf offene Handlungskontexte symbolischer und vorsymbolischer Art. Begreifen wir die Erziehungswissenschaft sowie die pädagogische Wirklichkeit als Handlungs- und Reflexionspraxis, in der Ordnungssysteme geschaffen, verändert und aufrecht erhalten werden, dann treten dort wie in anderen sozialen Feldern alle möglichen Spielarten des Fremden auf. Beispielsweise ist die folgende Aufgabe der Schulen auf Dauer gestellt, nämlich als soziale Organisationen das generative Bestandsproblem jeder Gesellschaft zu bearbeiten. Jede neue Generation muss in die bestehende Gesellschaft mittels selegierender und homogenisierender Praktiken und Kriterien eingeführt werden. Für das soziale System Schule sind ihre neu eintretenden Klienten, zum Beispiel die Schulanfänger, in gewisser Weise fremd. Eine Flut von wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher, praxisorientierter und auch autobiografischer Literatur beschäftigt sich mit dem Schulanfang, mit den Schulübergängen und den damit verbundenen Ritualen zur Inszenierung und Bearbeitung des ‚Neuen‘ und seiner ‚Andersartigkeit‘. Mittels spezifischer Praktiken der Normalisierung werden aus Familien- oder Kindergartenkindern ‚Schüler‘ und ‚Schülerinnen‘ ‚gemacht‘. Dazu gehören auch die für die Institution der Schule üblichen sprachlichen und vorsprachlichen, symbolischen

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Disziplintechniken, die solche Anpassungsprozesse begleitende ‚Störungen‘ und Ordnungsbrüche eindämmen (vgl. Lippitz/Levering 2002, S. 202 ff.). Das gilt nicht nur für das System Schule. Auch die Kinder als Schulanfänger werden durch neue Erfahrungen befremdet und verunsichert. Sie betreten einen neuen Ort, an dem andere als gewohnte Ordnungsmuster fungieren. Da wird Pünktlichkeit verlangt, physiognomisch verkörpert in der ‚strengen Miene‘ der großen Zeigeruhr an der Schultür, die mahnend und unerbittlich tickend dem verspäteten Kind seine Unpünktlichkeit als Vergehen und Ordnungsbruch anzeigt. Da begegnen in der Monotonie der Schularchitektur und der Klassenräume hautnah die Funktionalität und Unpersönlichkeit der Institution; da gibt es eine Vielzahl neuer, nun bewerteter und benoteter Pflichten und Aufgaben, die zu erledigen sind, ob man sie mag oder nicht mag; nicht zuletzt hat das Kind als Schüler mit vielen fremden Erwachsenen zu tun, die an die Stelle der vertrauten Eltern treten und etwas ‚zu sagen haben‘ usw. Unangepasstheiten und Normverstöße zeigen sich in solchen institutionellen Ordnungen als ‚Störungen‘ ziehen Sanktionen nach sich (vgl. Langeveld 1966). Aus dieser hier angedeuteten Phänomenvielfalt des Fremden in seiner ‚Normalität‘ und ‚Alltäglichkeit‘ möchte ich einige mehr oder weniger dramatische Aspekte von Fremdheit auswählen. Sie sollen Denkanstöße geben und zeigen, dass Fremdheit immer schon ein zentrales und aktuelles Problem für das pädagogische Denken und Handeln darstellt. Fremdheit wird verhandelt mit Bezug auf die oben dargestellten Dimensionen: • epistemologisch und praxeologisch im Bildungsproblem; • epistemologisch, axiologisch und praxeologisch in der Dauerdiskussion über das pädagogische Verstehen und über ein Grundverständnis von pädagogischer Praxis, • wozu auch das Problem der Verantwortung in der Gestaltung des Generationenverhältnisses gehört.

7.1 Zwischen kosmologischer Bildung (Comenius) und neuhumanistischer Selbstbildung (W. v. Humboldt) Zwei unterschiedliche Aspekte des Prozesses der pädagogischen Bewältigung von Fremdheit werden im Folgenden vorgestellt. Der eine betrifft seine materiale, epistemologische und axiologische Seite und führt uns an den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, nämlich hin zum großen pädagogischen Ordnungsversuch

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der Welt in der Magna Didactica von A. Comenius. Der andere Aspekt betrifft die eher formale Seite des Bildungsprozesses als Bildungsbewegung, so wie sie der Neuhumanismus in der Denktradition von W. v. Humboldt entworfen hat, nämlich als bereichernde Selbsterfahrung, die den Weg durch das Andere und Fremde einer anderen Sprache und Kultur einschlägt. Beide historischen Aspekte haben bis heute für die deutsche Schule Folgen. Führt die kosmologische Sicht auf die Welt zur Kanonisierung einer materialen Bildung, die die soziale Brauchbarkeit des Wissens und Könnens mit der dafür notwendigen moralischen Gesinnung verbindet, so zielt die neuhumanistische Sicht auf ein formales Konzept der Kräftebildung des Individuums, das sich das Fremde oder Andere einer idealisierten vergangenen Kultur zum Zwecke der Höherbildung aneignet. Bildung wird dann zum Selbstzweck, zur allgemeinen Bildung ohne den Nützlichkeitsaspekt einer beruflichen Ausrichtung (vgl. Lippitz 2008). Was hat die Magna Didactica (Comenius 1910; vgl. die Interpretation von Ballauff/Schaller Ballauff 1970, S. 187 ff.) eines Comenius mit Fremdheit zu tun? Sie entsteht als universal und kosmologisch angelegter Versuch, um in den politischen und sozialen Wirren einer durch den Dreißigjährigen Krieg durcheinander geschüttelten gesellschaftlichen Ordnung wieder eine Orientierung zu gewinnen. Die göttliche Weltenordnung, von der Comenius immer noch überzeugt ist, scheint sich in den Kriegs- und Glaubenswirren seiner Zeit zu verbergen. Die Welt ist dem Menschen keine vertraute Heimat mehr, sondern sie ist ihm fremd geworden. Gottes Ordnung verbirgt sich, und sie muss im Vertrauen und Glauben auf die Allgegenwart des göttlichen Geistes (pansophia) kunstvoll hergestellt und allen Menschen durch eine große systematische Bildungsanstrengung vermittelt werden. Die nicht mehr sichtbare Ordnung der Welt wird sichtbar, lesbar und lernbar gemacht, und das mithilfe des systematischen methodischen Arrangements von Wort und Bild, in der Gelehrtensprache Latein und in der Volkssprache Deutsch. Die sprachliche und bildliche Form und ihre Inhalte zielen auf das christlich legitimierte Ganze der Welt. Die Bewältigung von Fremdheit geschieht also im Lernen. Es erfolgt mediatisiert, das heißt in von der Welt abgetrennten Lernräumen der systematischen Unterweisung und repräsentiert in Schrift und Bild. Die so durch und durch mediatisierte und didaktisierte Welt erhält den Status der göttlich sanktionierten wirklichen ‚Wirklichkeit‘. Sie behauptet den ontologischen Primat vor der alltäglichen chaotischen Wirklichkeit, der bloß faktischen und empirischen Sinnen- und Handlungswelt. Überspitzt aus unserer neuzeitlichen Sicht formuliert: Realer als real ist die Simulation, und die didaktisch kunstvolle Art der kosmologischen Ent-Fremdung einer fremd gewordenen Welt führt mitten in die Kunstwelt einer Lebensschule hinein. Welcher Pädagoge wäre nicht von einer solchen von Comenius prospektierten Ordnungsmacht der Schule

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und ihrer Bildungsanstrengungen skeptisch gestimmt oder sogar begeistert! Typisch christlich-mittelalterlich und sogar griechisch geprägt ist bei Comenius die metaphysische Ordnungsfigur einer aufsteigenden Hierarchie vom Sichtbaren hin zum Unsichtbaren, dem Ideenhimmel. Dieser kann nur von der Seele, dem Unsterblichen im Menschen, geschaut werden, und in ihm allein spiegelt sich die vernünftige Ordnung des Ganzen, an der die vergängliche und irdische Menschenwelt ausgerichtet werden muss. ‚Fremdheit‘ ist in dieser Ordnungsvorstellung nur ein Übergang und eine Art von ‚Krankheit‘ oder ‚Sündhaftigkeit‘, die prinzipiell im Jenseits geheilt werden kann. ‚Fremdheit‘ behauptet keinen eigenen Stellenwert im Sinne des oben skizzierten neuzeitlichen Verständnisses, in dem sie als Ordnungsgenerator fungiert. Nun habe ich einführend darauf hingewiesen, dass Ordnungen in selektiven Prozessen der Inklusion und Exklusion geschaffen werden. Sie bewältigen in bestimmter Weise Unordnung, indem sie Bestimmtes privilegieren und gleichzeitig im Ausschlussverfahren das ausgrenzen, was als anders, als fremd, als geringer wert oder nichtintegrierbar gelten soll. Dazu zwei kurze Hinweise, die einen weiteren Problemzusammenhang andeuten: In der Magna Didactica möchte ich einen konkreten Ordnungsversuch von Comenius kommentieren. Er behandelt ein zentrales Gebiet der Zivilisierung des neuzeitlichen Menschen. Sie ist und bleibt bis heute eine Aufgabe der Erziehung unter dem hausbackenen Titel ‚gute Kinderstube‘ (vgl. Comenius 1658, S. 118 f.). Erziehung im Sinne der Kultivierung und Disziplinierung zielt auf den Leib des Menschen: Gemeint ist die Kultivierung seiner Tischsitten. Programm ist, wie Norbert Elias in seinen historischen Studien zur Zivilisationsgeschichte des neuzeitlichen Menschen gezeigt hat, die „wilden Sitten“ roher Menschen zu kultivieren und die Peinlichkeits- und Schamschwellen dadurch zu erhöhen (Elias 1976, S. 157 ff.). Damit werden – für uns inzwischen schon selbstverständlich – bestimmte Körperfunktionen und deren Organe fremd gemacht. Sie werden ausgegrenzt, sprachlich und handelnd tabuisiert, verschwiegen, moralisch abfällig bewertet und oft dem entzogen, was als moralisch und sittlich erwünschte Ordnung gilt und das Menschliche des Menschen ausmachen soll. Das betrifft auch den vormals handgreiflichen Umgang mit Nahrungsmitteln. Das Tafelbesteck hält uns die Nahrung vom Leibe, zugleich berührt diese eine der intimsten Stellen unseres Leibes, nämlich den Mund. Die anderen intimen Stellen und Organe, die der Ausscheidung und der Fortpflanzung, werden tabuisiert und fremd gemacht. In Pathologien und Neurosen des späteren sinnenfeindlichen Bürgertums melden sie sich als verdrängte Libido wieder untergründig zu Worte. Aber das ist ein anderes Thema, das hier nicht weiter verhandelt werden kann. Unübersehbar ist in der Didactica Magna, dass Comenius die Sitten und Gebräuche der höheren

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mittelalterlichen Stände zum Bildungsmaßstab erhebt. Sie erreichen im Laufe der neuzeitlichen Zivilisierung und Sozialdisziplinierung auch die unteren Stände und sozialen Schichten. In seinem reich bebilderten Bildungsbuch wird der Alltag der nicht privilegierten Bevölkerungsschichten unsichtbar. Da nach Comenius die Bildung (formatio) sich an alle richten soll, also auch an die Nichtprivilegierten, bedeutet dieser Vorgang, dass ihre vertraute Welt entwertet, d. h. mit den besten Bildungsabsichten fremd und unsichtbar gemacht werden soll: Sie haben keinen Platz in der Weltenordnung. Ordnung schaffen ist also unübersehbar eine ‚imperiale‘ Geste. Sie macht etwas ‚fremd‘, indem sie gleichzeitig etwas anderes privilegiert und vertraut macht. Diese Erfahrung ist eine Grunderfahrung jedes schulischen Bildungsprozesses, den schon Comenius in seinen grundlegenden Strukturen und Konsequenzen entworfen hat. Bis heute scheint sich jedoch sein Bildungsoptimismus nicht gehalten zu haben. Was er als positive Ordnung versteht, hat sich in ihr Gegenteil verkehrt. Seit die Schule zu einer der zentralen Sozialisations- und Lehrinstanzen in unserer Gesellschaft geworden ist, schlägt sie sich nämlich mit dem Systemproblem der Lernmotivation und der schülergemäßen Auswahl von Lerninhalten herum. Sie bemüht sich mit immer weniger Erfolg und Überzeugung, die Welt in literalisierter Form ihrer Lehrbücher zu präsentieren und in den Ordnungsrastern ihrer Schulfächer kanonisch zu ordnen. Dabei schließt sie gemäß ihrer institutionellen Logik und ihrer mittelschichtspezifischen Charakteristik andere soziale und auch individuelle, biografische Erfahrungen aus. Diese werden zu Fremdkörpern in der Schule, denn sie lassen sich nicht mit der Schüler- oder Lehrerrolle verbinden. Genau das macht wiederum den befremdenden Charakter des schulischen Lernens aus, das sich in vielen Schülergenerationen zu leidvollen Erfahrungen verdichtet hat. Was Ordnung schaffen soll, wird als sinnlose Stofffülle und entfremdetes Lernen erlebt. Die Person des Schülers spaltet sich: dort das Individuum in der Fülle seiner biografischen Erfahrungen und in der Mannigfaltigkeit seiner Erlebnisformen, die dem Lehrer fremd bleiben, hier der Schüler in seiner Lernrolle, die ihm oft nur äußerlich bleibt und die als Fremdzwang erlebt wird. Abhilfe in vielen reformpädagogischen Versuchen soll genau das schaffen, was das System ausgeschlossen hat, nämlich die außerschulische Wirklichkeit, die biografische und Erlebnisdimension des Lernens, die Anschaulichkeit und leiblich-sinnliche Nähe lebensbedeutsamer Lerninhalte (vgl. Langeveld 1966). Es sei jedoch angemerkt, dass man das Verständnis von systemischen und strukturellen Gegebenheiten der Gesellschaft über ‚Anschauungen‘ nicht gewinnen kann. Sie zeigen sich symbolisch hoch verdichtet und werden in abstrakten Fachsprachen repräsentiert. Folglich – so eine fast paradoxe Erfahrung – erfahre ich Wesentliches von der Gesellschaft erst dann, wenn ich gerade nicht den Weg des schon Vertrauten

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einschlage, sondern in die Vielfalt erfahrungsferner Informationen eintrete. Insofern lässt sich das strukturelle Wissen von der Welt nicht mehr unmittelbar sinnlich erschließen. Es stammt – ähnlich wie bei Comenius – aus einer anderen, mir fremden Dimension. Wenden wir uns jetzt der neuhumanistischen Bildungsdiskussion zu. Auch hier ist vom Fremden die Rede. Es ist jedoch etwas bloß Vorläufiges und Vorübergehendes. Bildung wird nach idealistischem Vorbild als Selbstbildung im Sinne eines über negative Erfahrungen und Entfremdungen verlaufenden Erfahrungsprozesses verstanden (vgl. Scheibe 1969; Rumpf 1986). Das Subjekt der Bildung ist identitätstheoretisch verfasst. Ausgehend vom individuellen Subjekt der Erfahrung vollendet Bildung sich im Allgemeinwerden des Individuellen. Hegel konzipiert diesen Bildungsprozess als dialektischen Erfahrungsprozess. Bildung geschieht als Lernen und Umlernen, veranlasst durch negative Erfahrungen. In bildenden Erfahrungen entfremde ich mich, indem ich mich mit dem Fremden, zum Beispiel mit einer fremden Kultur oder einer fremden Sprache auseinandersetze. Sie sind dem Lernenden unvertraut und verlangen ihm allerhand Mühe und Arbeit ab. Dramatisch formuliert im Hegel’schen Kontext eines Kampfes zwischen Knecht und Herr um Anerkennung kämpft das Ich mit dem Anderen um den Preis seiner Selbstbestimmung. Diesen Kampf gewinnt es schließlich, denn es eignet sich das Andere und Fremde an, indem es sich das Fremde unterwirft und damit ent-fremdet, das heißt, sich bekannt macht. In dieser Dramatik des Kampfes um Selbstbehauptung des Ich gegen das Andere verändert sich das Subjekt und wird ein anderes. Gelingt die Selbstbehauptung, dann bedeutet das, dass das Ich gestärkt und bereichert um neue Erfahrungen auf einem höheren Niveau des Bewusstseins zu sich zurückkehrt. Denn es ist im Durchgang durch die fremde Erfahrung sich selbst transparent geworden und hat zugleich das, was ursprünglich als fremd und anders in Erscheinung getreten ist, in sich integriert. Der Weg der Bildung wird im Ziel der Bildung zum Abschluss gebracht, und das anfängliche und unvollkommene Individuelle, das mit dem Mangel eines noch unaufgeklärten Selbstbewusstseins in den Bildungsgang eintritt, hat die vollendete Gestalt des Allgemeinen, des ‚objektiven Geistes‘. Ganz in der Tradition der neuzeitlichen Subjektivitätsmetaphysik findet das Ich in der reflexiven Bearbeitung dieses Anderen, das es sich nun angeeignet hat, seine Identität. Es hat eine Erfahrung gemacht und ist dadurch reicher geworden, und zwar im doppelten, miteinander verschränkten Sinne: der Weg über das Kennenlernen des Anderen verschafft die nötige Distanz, um zugleich mittels des Anderen sich selbst besser kennenzulernen und über sich selbst belehrt zu werden. (Zum Modell der dialektischen Erfahrung als Selbstbildung und der Kritik vgl. Buck 1984, S. 155–230; vgl. auch Breinbauer et al. 2008).

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7  Fremdheit und Andersheit in pädagogischen Kontexten

Das Andere und Fremde haben keinen Selbstzweck, sie sind Mittel zur Selbstbildung des Ich und verlieren als Gewusstes ihre Fremdheit. Zwischen beidem, dem Ausgangspunkt des Ich und dem Wissen um das Andere wird die anfängliche Differenz ausgelöscht. Sie verschwindet in der homogenisierenden und begrifflich identifizierenden Arbeit der Selbstreflexion. Das ist nicht erstaunlich, denn wenn das Andere oder Fremde zum Wissen wird, dann ist immer schon vorausgesetzt, dass Fremdes und Anderes nicht grundsätzlich andersartig im Vergleich zum Bewusstsein sind, das sie erfährt und sich reflexiv aneignet. Anderes und Fremdes sind bloß Übergangsgestalten, nicht aber unüberwindbare Barrieren des Verstehens und Denkens. Versuchen wir dieses abstrakte Bildungsmodell zu konkretisieren. Der in Deutschland bekannte Bildungsphilosoph Theodor Litt argumentiert im Sinne dieser identitätsphilosophischen Logik folgendermaßen: Zur allgemeinen Bildung gehört, dass jeder Heranwachsende eine Fremdsprache lernt (vgl. Litt 1965, S. 48 ff.). Er wird dadurch aus dem vertrauten und unreflektierten Sprechen seiner Muttersprache herausgerissen und gewinnt zu ihr in der Begegnung mit einer fremden Sprache an Distanz. Nur so macht er zwei neue Erfahrungen, die miteinander verknüpft sind: Zum einen erlernt er eine neue Sprache und lernt damit eine neue Kultur und Lebensweise kennen; zum anderen führt dieser Lernprozess dazu, dass sich im Spiegel des Neuen zugleich das Alte und Gewohnte, das Vertraute verändert. Die Muttersprache wird reflexiv, sie zeigt sich im Vergleich mit anderen Sprachen nicht als Mittelpunkt der Welt, sondern als etwas Partikulares mit seinen jeweiligen grammatischen, semantischen und syntaktischen Strukturen, die vormals unbewusst waren. Eine Fremdsprache lernen heißt demnach, zugleich etwas über eine fremde Sprache und über die eigene Muttersprache lernen. Litt geht jedoch darüber hinaus und folgt damit der Hegel’schen Dialektik des Bewusstseins. Dass das Fremdsprachenlernen gelingt, indem sich beide Sprachen gegenseitig erhellen und die anfängliche Fremdheit zwischen ihnen durch Lernen und Reflexion bewältigt werden kann, verdankt sich ihrem Ursprung im ‚objektiven Geist‘ der Sprache als Sprache überhaupt. Mit jeder individuellen Sprache, so die Behauptung von Litt, wird Sprache als Sprache ‚an sich‘ gelernt, als überindividuelle und überzeitliche Grundstruktur des objektiven Geistes. Nach Litt ‚vermählt‘ sich der ‚objektive Geist‘ der Sprache mit dem individuellen Bildungssubjekt und seiner Muttersprache dergestalt, dass sich im Individuellen das Allgemeine zeigt. Dieses ist die Sprache überhaupt. Eine solche identitätsphilosophische Konstruktion garantiert, dass letztlich das Andere und Fremde wie das Eigene strukturell gesehen identisch sind. Wir stellen fest: Fremdheit erscheint hier nur als ein Übergangsphänomen. Sie ist nur vorläufig. Universalität hat den logischen Vorrang vor Individualität und Partikularität. Überträgt man

7.1  Zwischen kosmologischer Bildung …

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dieses Modell des Sprachlernens insgesamt auf den Bildungsprozess, dann tritt folgende ideale Grundfigur von Bildung hervor: Bildung gelingt, wenn Fremdes und Eigenes in einem sie beide übergreifenden Objektiven miteinander verbunden sind, das zugleich auch Grundlage des Subjektiven und Individuellen ist. Mit dieser Identitätsgarantie verliert jedoch Bildung ihren individuellen und prozesshaften Charakter. Dieser besteht gerade darin, dass neue Erfahrungen von Fremdem sich nicht in einem abschließenden allgemeinen Wissen vollenden. Wer interkulturelle Lern- und Kommunikationsprozesse in den Blick nimmt, zum Beispiel in ihrer historischen Gestalt der europäischen Kolonialisierung des Fremden seit dem 15. und 16. Jahrhundert, der wird über ihre Gewaltförmigkeit und Zerstörungskraft erschrecken. Im Zeichen des sogenannten Universalismus des europäischen Kultur- und Glaubensverständnisses wurde das Andere und Fremde gewaltsam bis hin zur Auslöschung ‚angeeignet‘ und ‚verstanden‘, und zwar mithilfe immer raffinierterer Methoden des Fremdverstehens und der Übersetzungen der Sprachen der sogenannten Primitiven in ein europäisches Sprachsystem unter machtpolitischen und strategischen Vorzeichen. Wissen um den Fremden wird – in diesem historischen Kontext der Kolonialisierung – zur Gewalt und ist – wie Foucault in seinen genealogischen Studien gezeigt hat – eine machtförmige Instanz, die Identitäten schafft, indem sie Ungleiches gleich macht (vgl. dazu Todorov 1982). Schränken wir also den totalisierenden und idealisierenden Bildungsbegriff ein: Bildung ist nicht Selbstwerden, sondern ein Fremd- und Anderswerden durch die Begegnung mit dem Anderen. Bildung ist kein Prozess der Zentrierung, sondern der Dezentrierung des Bewusstseins. Nur so können Lernende offen und neugierig bleiben, wenn sie erfahren, dass jedes Wissen am Anderen und Fremden seine Grenzen hat. Man erfährt am eigenen Leibe, wenn man sich mit einer fremden Sprache und Kultur auseinandersetzt, dass man sie nicht in dem Maße aneignen kann und dass man mit ihr auch nicht in der Weise vertraut wird, wie mit der Muttersprache oder der autochthonen Kultur. Das liegt u. a. an ihren präreflexiven und vorprädikativen Wurzeln, in die sich die Kinder einleben, bevor sie Sprache zum ausdrücklichen Thema machen. Paradox formuliert, sie können schon sprechen, bevor sie sich der Sprache bewusst werden. Lernen sie dann durch bewusste Lernprozesse eine fremde Sprache kennen, so werden sie über methodische und didaktische Hilfsmittel mit einer Sprachgestalt konfrontiert, die in gewisser Weise ‚künstlich‘ bleibt und keineswegs die Selbstverständlichkeit und den flüssigen Gebrauchscharakter hat, die die Muttersprache auszeichnen. Im Kennenlernen einer neuen Sprache entzieht sie sich so zugleich dem Lernenden in einer gewissen Weise. Das ist nicht ungewöhnlich und gilt für viele Lernund Bildungsprozesse in komplexen Gesellschaften. Diese erfährt man in ihrer

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7  Fremdheit und Andersheit in pädagogischen Kontexten

Komplexität und in ihren systemischen Zusammenhängen nicht unmittelbar mit allen Sinnen, sondern über theoretisch abstraktes, didaktisch und methodisch, auf jeden Fall medial inszeniertes Wissen. Dieses Wissen spiegelt nicht einfach die Realität wider. Sie ist anders als diese, denn sie kann nur in ‚künstlicher Weise‘ ein ‚Wissen‘ mit Referenzen auf eine Wirklichkeit sein, die im Gewussten nicht aufgeht. Außerdem ist jede Art des Wissens prinzipiell perspektivisch, und das heißt auch anders möglich, keineswegs aber notwendig. Das macht den historisch-kontingenten Erfahrungsmodus des Menschen in der kritischen Moderne aus. Wissen ist in dem Sinne immer ‚kritisches‘ Wissen, ein Differenzwissen mit dem Index von Andersheit, Fremdheit und Unsicherheit.

7.2 Das Problem des pädagogischen Verstehens des Anderen und Fremden Die Bildungsdiskussion hat bis jetzt verdeutlicht, dass bildende Erfahrungen sich nicht vollenden können. Sie stoßen auf innere Grenzen gegenüber dem nicht integrierbaren Fremden und Anderen. Wir wenden uns nun dem pädagogischen Verstehen des Kindes und Heranwachsenden zu. Das Anfangszitat von Langeveld ist gleichsam ein Eröffnungssignal. Erwachsene verstehen Kinder oft schematisch. Besonders professionelle Pädagogen unterliegen dieser Gefahr, da sie mit einer Vielzahl von Modellen und Theorien arbeiten, z. B. mit psychologischen Entwicklungsmodellen, mit soziologischen und sozialisatorischen Konzepten von sozialer Karriere im Lebensverlauf usw. (Vgl. Gstettner 1979) Die Folgen solcher Schematisierungen sind nicht von der Hand zu weisen: Sie überspringen das individuelle Kind, und oftmals zeichnen sie ein deterministisches Menschenbild, in dem das Schöpferische, Kreative und Spontane keinen Ausdruck mehr findet. Das Kind ist und bleibt dann das ‚Fremde‘, das nicht ‚Thematische‘ und das Andere im wissenschaftlichen Zugriff. Als bloßer Gegenstand theoretisch-reflexiver Bestimmungen entzieht das konkrete Kind sich der Praxis der Identifikation. Der vor Ort arbeitende Praktiker, aber auch der Theoretiker selbst, sie bemerken den Mangel solcher Zugriffsweisen und beklagen die damit verbundenen Missverständnisse. Wie kann man ihnen begegnen? Schon die traditionelle geisteswissenschaftliche Pädagogik in Deutschland macht auf die Grenzen des pädagogischen Verstehens und des pädagogischen Handelns aufmerksam. Sie operiert dabei mit unterschiedlichen Argumenten und Modellen des Verstehens, die eine unterschiedliche Radikalität aufweisen. Man kann sie in folgender Weise skizzieren: Pädagogische Theorien in der Kantischen Tradition der transzendentalphilosophischen Subjektivitätstheorie sprechen von der unaufhebbaren pädagogischen

7.2  Das Problem des pädagogischen Verstehens des Anderen und Fremden

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Antinomie zwischen Erziehung und Freiheit. Sie zeigt sich am Modell des Menschen als Bürger zweier Welten.1 Als animalische Mängelwesen werden Kinder wie Erwachsene von kausal-deterministischen Prozessen wie Gefühlen, Motivationen, Interessen, Bedürfnissen usw. fremdbestimmt. Dagegen anzugehen und sie über Disziplinierung, Zucht und Kultivierung zu zivilisieren und zu kontrollieren, ist Aufgabe der Erziehung und einer asketischen Lebensführung. Zugleich aber ist der Mensch als intelligibles und freies Wesen der praktischen und vernünftigen Selbstbestimmung fähig. Die Vernünftigkeit und sittliche Autonomie sind denknotwendig apriorisch und absolut, und das bedeutet, sie können durch Erziehung nicht bewirkt werden. Denn diese übt immer Zwang aus und ist deshalb unvermeidbare Fremdbestimmung. Damit jedoch trifft das pädagogische Handeln und Denken in der Kantischen Tradition auf ein moralisches Subjekt, das sich ihm als ein gänzlich Anderes entzieht. Paradox formuliert: Wo Erziehung anfängt, hört die Freiheit des Subjekts auf. Aus der Sicht des pädagogisch Handelnden bleibt das pädagogische Handeln auf die Beeinflussung der menschlichen Natur beschränkt. Pädagogik als Hilfe zur Menschwerdung des Menschen ist notwendig deterministisch und quasi technologisch. Genau das will sie gerade nicht sein. Mit Hegel gesprochen leidet der Pädagoge unter einem unglücklichen Bewusstsein: er will handeln, obwohl er nicht handeln kann. Er will ein Ziel erreichen, das sich ihm gleichzeitig entzieht. Eine andere ‚Stoppformel‘ für eingreifendes pädagogisches Handeln und Verstehen stammt aus der christlich-personalistischen und metaphysischen Tradition der geisteswissenschaftlichen Pädagogik (vgl. Meyer-Drawe 1999, S. 161–175). ‚Individuum ineffabile‘, diese Formel meint die Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Darin drückt sich das je individuelle und von keinem anderen beeinflussbare sittlich-moralische Verhältnis des Menschen zu Gott aus. Es entzieht sich nicht nur der äußeren Beeinflussung, sondern auch der inneren durch das Individuum selbst. Denn ‚Bildung‘ als Gewissensbildung im Sinne personalistischer Pädagogik ist eine ‚Gabe‘ Gottes, ein Geschenk und Gnadenakt von der Seite dessen, der über dem Menschen als ganz Anderer steht. Insofern ist diese Gabe – lässt man sich auf das Wortspiel ein – eine andere Art der Fremdbestimmung, die zugleich das Ich in sein eigentliches Selbst ‚ruft‘. Sichtbar wird hier ein desintegratives Modell der Bildung: Selbstsein und Selbstwerden ist in der Tiefe der Person ein Anderswerden. Das christlich-jüdische Bilderverbot gegenüber Gott

1Vgl.

dazu Kant 1956 [1781/87], S. 444 ff.; zur pädagogischen Interpretation, der ich mich hier weitgehend anschließe vgl. auch Ricken 1999, S. 61 ff.

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7  Fremdheit und Andersheit in pädagogischen Kontexten

sorgt hierbei für eine besondere Pointe. Dieses Anderswerden des Menschen, dessen Seele gottesebenbildlich ist, kann nicht bildlich vorgestellt werden. Das Vorbild des Menschen bleibt eine Leerstelle, und die Bildungsbewegung des Menschen bleibt eine Suchbewegung ohne ein eindeutiges Ziel, über das man sich verständigen könnte. Damit geht der Pädagogik ihr Ziel im Sinne einer eindeutigen Bestimmung verloren. Sie behilft sich oft damit, dass sie als das letzte und eigentliche Ziel der Bildungsarbeit die Selbstbestimmung und das Selbstwerden des Individuums ansieht. Diese bleiben letztlich ein göttliches Geheimnis und sind dem wirken wollenden Pädagogen verborgen. Paradox formuliert: Die Pädagogik ist dann am ‚wirksamsten‘, wenn sie nicht aktiv wirkt. Diese Formel hat, das sei kurz angemerkt, eine erstaunliche formale Ähnlichkeit mit den modernen systemischen Bildungskonzepten, die mit dem Modell der Autopoiesis operieren. Sie machen auf den nur quasi-technologischen Handlungscharakter der Pädagogik aufmerksam. Pädagogisches Handeln tut nur so, als ob es einwirken könne. Aber Fremdeinwirkung muss – systemisch gesehen – Selbstwirkung sein, damit sie wirkt. Zwischen dem Einwirkenden und dem, auf den eingewirkt werden soll, gibt es einen unüberbrückbaren Graben. Sie sind füreinander Fremde, aber nicht im substanziellen Sinne, sondern nur im funktionalen, denn sie sind gut genug für Perturberanzen, das heißt für jeweilige Irritationen der systeminternen Bildungsprozesse, die darüber induziert werden, aber qualitativ nicht vorbestimmt werden können.2 Feiert hier nicht die Monadologie und das Leibnitz’sche Modell einer prästabilierten Harmonie zwischen ihnen als Mikrokosmen fröhliche Urständ? Gibt es überhaupt noch einen qualifizierbaren Unterschied zwischen Ich und Anderem oder sogar Fremdem, wenn alle sich gleichsam äußerlich bleiben? Wo findet pädagogisches Verstehen und Handeln einen Ansatzpunkt, von wo aus es Ziele verfolgen und auf den zu Erziehenden einwirken kann? Bleibt es nicht selbst im personalen System des Erziehers stecken, sodass letztlich die Frage nicht mehr zu klären ist, ob dem pädagogischen Verstehen als Fremdverstehen überhaupt etwas zugänglich ist? Die systemische oder auch konstruktivistische Sicht von Erziehung driftet ab in den Solipsismus idealistischer Bewusstseinsphilosophien. In deren Raum des sich selbst konstituierenden Bewusstseins gibt es keinen Platz für die Anderen als Andere. Anderes hat nur die Gestalt des Alter Ego – es ist nur das Spiegelbild des Selben. Formuliert man dieses Modell in eine geläufige pädagogische Sprache, dann brauchen wir nur

2Zur

365.

systemtheoretischen Lesart des Pädagogischen vgl. Luhmann/Schorr 1979, S. 345–

7.2  Das Problem des pädagogischen Verstehens des Anderen und Fremden

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auf das Anfangszitat von Langeveld zurückzukommen: Das Kind erscheint aus der Perspektive des Erwachsenen als ein Noch-nicht-Erwachsener, als ein noch unfertiges Spiegelbild und Alter Ego. Paternalistisch nennt man diese traditionelle erwachsenenzentrierte Auffassung von Pädagogik. Kehren wir zurück zur geisteswissenschaftlichen Modellierung in der personalistischen und idealistischen Tradition. Läuft Bildung und Erziehung letztlich immer auf Selbstbildung und Selbsterziehung hinaus? Ist das die Konsequenz, wenn pädagogisches Verstehen und Handeln antitechnologisch oder technologiekritisch modelliert wird? Die Fremdheitsformel, wie sie Langeveld (s. o.) benutzt, ist das in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik errichtete axiologisch bestimmte Stoppschild für Formen der Beeinflussung des zu Erziehenden. Das gilt zumindest für die Pädagogiktraditionen, die keinem objektivistischen Bildungsideal und Kulturbegriff huldigen oder die nicht im Zögling oder an ihm etwas direkt im kausalen Sinne bewirken wollen – wie beispielsweise in den empirisch-wissenschaftlichen Theorien der Erziehung. Zwar ist der Erwachsene Vorbild und er tritt als Repräsentant einer verbindlichen Kultur dem Zögling gegenüber. Aber das geschieht nur moralisch appellativ und nicht praktisch manipulativ. Als zukünftiges selbstbestimmtes Wesen soll der zu Bildende das Lernen und die mit ihm verbundenen Aufgaben selbst in die Hand nehmen. An die Stelle eines Kausalmodells des pädagogischen Bewirkens tritt das nichtempirische, axiologische Modell der Selbstverpflichtung des Individuums. Ob diese Selbstverpflichtung durch gleichsam abgeschwächte empirische Wirkungsmodelle wie vorpersonale Prozesse der Gewöhnung oder sogar durch Zwang eingeleitet werden könne, wird (siehe oben) in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik mit Blick auf Kant als pädagogische Paradoxie zwischen Freiheit und Zwang abgehandelt. Wie auch immer das pädagogische Verstehen empirisch verfeinert wird und die Erziehungsansprüche auf ein immer weiter differenziertes Verständnis der moralischen, kognitiven und sozialen Kompetenzen kindlicher Entwicklungen abgestimmt werden, zumindest in führenden Modellbildungen des pädagogischen Verstehens wird an der konstitutiven Differenz von Kindern und Erwachsenen festgehalten (vgl. Lippitz 2003, S. 129 ff.). Das drückt sich oftmals in der Rede aus, dass das Erziehen ein gegenseitiges Wagnis und Vertrauen-müssen sei: Wagnis und Vertrauen des Erziehers sind dann nötig, wenn er nicht weiß, was das Kind aus seinen Erziehungsangeboten letztlich selbst machen wird (vgl. Bollnow 1984, S. 132 ff.). Auch weiß er nichts über die Langzeitwirkungen von Erziehung, denn autobiografische Bildungsprozesse sind zeitlich nicht zu fixieren. Wagnis und Vertrauen verweisen auf die Unsicherheit und Ungewissheit des Erziehungsgeschäfts. Sie sind nicht ein beiläufiger, sondern ein notwendiger Modus des

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7  Fremdheit und Andersheit in pädagogischen Kontexten

erzieherischen Tuns. Wie auch immer dieses hier skizzierte pädagogische Verstehen als Differenzprozess konzipiert wird, letztlich lebt die geisteswissenschaftliche Pädagogik aus dem Optimismus eines gelingenden Einverständnisses zwischen den Generationen. Fremdheit ist ein wichtiges Thema der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, zu der auch Langeveld gehört. Aber Fremdheit erfährt dann keine dramatische Zuspitzung, wenn als Ziel der Erziehung weiterhin gilt, dass sich der Heranwachsende in die Kontinuitäten und Traditionen der Erwachsenengenerationen einfügt, indem er sie sich aneignet und übernimmt.3 Dramatischer wird Fremdheit in einer anderen Variante der deutschen Erziehungswissenschaft intoniert. Fremdheit fungiert nicht allein im Verständigungsprozess der Generationen, sondern sie ereignet sich im jeweiligen Partner selbst und bleibt lebensgeschichtlich virulent. Jeder ist und bleibt für sich selbst in wichtigen Dimensionen seiner Existenz ein unbekanntes Wesen. Siegfried Bernfeld, einer der ersten deutschen psychoanalytischen und marxistischen Erziehungswissenschaftler in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, diagnostiziert das beispielsweise für den Erzieher und Lehrer (vgl. Bernfeld 1994 [1925]). Er erklärt dazu: Beide Berufe haben es mit einer eigentümlichen professionellen Deformation zu tun, mit einer nicht aufhebbaren Inkompetenz trotz aller Professionalität. Beruflich konfrontiert mit dem Kind, haben sie es zumeist unbemerkt und kaum kontrolliert mit zwei Kindern zu tun, mit dem konkreten Kind vor ihnen und dem erinnerten, ja nicht mal das, sondern dem verdrängten und beschädigten Kind in ihnen, das sie selbst einmal gewesen sind. Bernfeld hat mit dieser Diagnose die zumeist repressive, familienneurotisch perpetuierte Leidensgeschichte des Kindes in der bürgerlich-autoritären und patriarchalischen Gesellschaft um die Jahrhundertwende vor Augen. Diese Gesellschaft ist durch und durch repressiv. Sie aktiviert ein höchst effektives und kaum rational zugängliches pädagogisches Wirkungsgefüge, das alle moralischen und berufsethischen Selbstappelle auf Respektierung der Individualität des Kindes außer Kraft setzt bzw. sie nur als ideologische Verbrämung eines faktischen Zwangsverhältnisses erscheinen lässt. Die konkrete Interaktion zwischen dem Erzieher und dem ihm ausgelieferten Kind verführt den Erzieher gegen seinen Willen dazu, sich an dem Kind vor ihm dafür zu rächen oder in ihm das zu kompensieren, was er als früheres Kind seiner Eltern an Leid und Triebunterdrückung erlebt hat. Vor das konkrete Kind schiebt sich so ein fantasiertes Kindbild des Erziehers und Lehrers.

3M. J. Langeveld arbeitet mit starken integralen Konzepten des Generationenverhältnisses, vgl. Lippitz 1997, S. 67–100.

7.3  Grenzen des pädagogischen Verstehens – das Kind als Fremder

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Es ist beiden, Lehrer bzw. Erzieher und Kind in unterschiedlicher Weise fremd. Als früheres Kind des Pädagogen hat es mit dem konkreten Kind nichts zu tun, es bleibt ihm fremd. Zugleich bleibt es auch dem unaufgeklärten Pädagogen fremd, wenn er es unbewusst in der konkreten Erziehungssituation zwanghaft ausagiert. Die Pädagogik des guten Willens und der guten Absichten hat damit abgedankt und ist grundsätzlich suspekt geworden. Spielarten antiautoritären und antipädagogischen Denkens finden in einem solchen psychoanalytischen Konstrukt von Fremdheit ihren subversiven Nährboden. Jedoch sei die Frage gestellt, die hier nicht weiter beantwortet werden kann: Der so erzeugte Eindruck von Ausweglosigkeit des zwanghaften pädagogischen Handelns – verdankt er sich nicht idealisierender Modellbildungen der Psychoanalyse? Nimmt sie sich selbst von dieser Verstrickung mit der Kindheit aus, die sie für die Pädagogik diagnostiziert? Und heißt Diagnose dieser Art von zwanghafter Fremdheit des Erziehers nicht auch, dass Fremdheit nur mangelnder psychoanalytischer Aufklärung geschuldet ist und damit grundsätzlich aufgehoben werden kann?

7.3 Grenzen des pädagogischen Verstehens – das Kind als Fremder Zum Schluss soll kurz auf eine sehr viel radikalere pädagogische Version von Fremdheit eingegangen werden. Es geht um das oben schon öfter angesprochene generative Verhältnis von Erwachsenen und Heranwachsenden. Zur Einstimmung soll als literarisches Zeugnis die Aussage eines werdenden Vaters zitiert werden: „Diese Augen dürfen nie Dein Maßstab werden, und wenn Du mich jemals als ein solches Auge erleben solltest, dann bitte ich Dich, […] mich zu vergessen. Du sollst hinter die Augen dringen, die das Geschehene fest-sehen, Dein Kind-Sein als bloße Entwicklungsphase einordnen, als ob es nur eine Vorstufe zu einem endgültigen Blick auf die Welt wäre […]“ (Kolleritsch 1986, S. 79).

Hier legt sich ein Vater das in der jüdischen Tradition verankerte Bilderverbot gegenüber seinem Sohn auf. In gewisser Hinsicht radikalisiert er den Zweifel Langevelds an der Aussagekraft pädagogischen Wissens. Das ist in gewisser Weise verständlich, denn wir leben in einer Expertengesellschaft, die für jedes Lebensereignis und jede Lebensphase eine Vielzahl von Deutungswissen parat hält. Ist nicht jedes von Experten festgestellte Wissen immer schon vergangen, wenn es angewendet wird? Liegt nicht gerade darin sein fixierender Charakter, der jedes aktuelle Geschehen seiner offenen Horizonte und seines Ereignischarakters beraubt? Das Kind wird geboren, und in den maßgebenden Augen

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7  Fremdheit und Andersheit in pädagogischen Kontexten

gut informierter Erwachsener ist es nicht mehr nur das konkrete Kind dort, ein absoluter Neuanfang in der Welt, ein neuer Mensch und Fremder außerhalb der bestehenden Ordnung. Sondern das Kind wird eingefügt in vorhandene Ordnungsraster von Normalentwicklung, von Familientraditionen, von wissenschaftlichem Wissen oder Alltagswissen. Dieses funktioniert so, wie Alfred Schütz es gezeigt hat: es ordnet Neues in vorhandene Wissensvorräte ein und macht es auf diese Weise behandelbar (vgl. Schütz 1972, S. 53 ff.). Damit wird das Kind, bevor es als eigenständiger sozialer Akteur sich selbst zu bestimmen versucht, immer schon bestimmt und seiner unvorhersehbaren Möglichkeiten beraubt. Es ist schon ‚alt‘, bevor es die Chance erhalten hat, jung zu sein. Allgemeiner gesprochen: Folgt das Verhältnis aufeinanderfolgender Generationen einem Kontinuitätsmaßstab, oder ist der Generationenprozess nicht prinzipiell ein diskontinuierliches Geschehen? Hat nicht jede neue Generation als radikal neue die Chance, ihr eigenes Leben zu leben, ein Leben, das für die Väter- und Müttergeneration unwiderruflich fremd bleibt, da es nicht ihr Leben ist, obwohl es ihnen entspringt? Ist das nicht die unüberwindbare Grenze allen pädagogischen Handelns und Prospektierens, dass man niemals über die Zukunft, die als neugeborenes Kind schon in der Gegenwart beginnt, verfügt? Der französische Philosoph Emmanuel Lévinas (vgl. dazu ausführlicher Lippitz 1989, S. 266–381, 400 ff.) hat dieses Modell einer diskontinuierlichen Generationenfolge unter dem Titel ‚Fruchtbarkeit‘ entfaltet. In seiner Sprache formuliert: Die Zukunft des Sohnes ist nicht die Zukunft des Vaters. Diskontinuität in der Generationenfolge sorgt dafür, dass Geschichte sich nicht zwanghaft wiederholt, sondern dass Unvorhergesehenes stattfinden kann. „Mein Sohn ist ein Fremder, aber er gehört mir nicht nur, sondern er ist ich. Der Sohn, das bin ich, der ich mir selbst fremd bin“ (Lévinas 1987, S. 405) Denn der Sohn setzt die Zeit des Vater fort, die dieser als Sterblicher nicht mehr hat, und das auf seine eigene Weise, indem er mit der Zeit des Vaters bricht und sie anders fortsetzt. Somit ist das Sein des Vaters nicht ein eleatisches Sein, sondern in dem merkwürdigen Prozess der ‚Transsubstantiation‘ unabgeschlossen und offen. Ich bin durch das Kind ein Anderer, das meine Zeit als meine mir nicht verfügbare Zukunft fortsetzt. „Im Existieren, im Sein selbst gibt es eine Mannigfaltigkeit und eine Transzendenz. Eine Transzendenz, in der das Ich sich nicht mitnimmt, da der Sohn nicht ich ist, und dennoch bin ich mein Sohn“ (Lévinas 1987, S. 406).

Die Fruchtbarkeit der Zeugung von Kindern bewirkt eine diskontinuierliche Einheit des Vielen. Damit erleidet auch die Verantwortung der Eltern für die Zukunft der Kinder einen radikalen Bruch. Wie können sie für ihre Kinder einstehen,

7  Fremdheit und Andersheit in pädagogischen Kontexten

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wenn sie nicht über deren Zeit, die nicht die ihre ist, verfügen können? Fruchtbarkeit hat die Struktur des Nicht-Könnens eines Könnens, das nicht von einem Ich aus initiativ wird. In dem Sinne sind die Kinder für die Eltern Schicksal, aber dieses Schicksal der Kinder ist nicht das der Eltern. Im radikalen Sinne können die Eltern für ihre Kinder keine Verantwortung übernehmen, da sie über deren Zukunft nicht verfügen. Täten sie es ungeachtet der generativen Differenz, dann verlören sie ihre ethische Berechtigung und Grundlage: den Respekt vor der Andersheit des Anderen, die sich in der generativen Fremdheit der eigenen Kinder ausdrückt. Fremdheit in der Pädagogik bekommt aus der Sicht dieser Philosophie des anderen Menschen einen neuen und produktiven Sinn. Sie ist nicht bloß die Grenze des pädagogischen Verstehens und Handelns, sondern weit mehr, sie ist als Diskontinuität und Bruch zwischen den Generationen geradezu das Offenhalten der Beziehung zwischen Kindern und ihren Eltern, zwischen zu Erziehenden und Erziehern. Nicht können und nicht darüber bestimmen, was nur die Kinder selbst können, ist dann die eigentliche ‚Möglichkeit‘ der Pädagogik. Dort sind die nächsten Angehörigen, die Eltern, durch ihre Kinder sich selbst fremd, und zugleich sind die Kinder Fremde für sie. Nur so ist Generativität und Pluralität als Thema der Pädagogik zu denken, die traditionell die Tendenz hat, sich in den Deutungs- und Handlungsperspektiven der Erwachsenen zu verschließen.

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7  Fremdheit und Andersheit in pädagogischen Kontexten

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Das „fremde Kind“ – Zur Verstehensproblematik aus pädagogischer Sicht

‚Fremde Kinder‘, ich gebe es bereitwillig zu, haben in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion seit den 80iger Jahren des letzten Jahrhunderts Konjunktur. Sie sind Ausdruck für inzwischen sehr skeptische Auseinandersetzungen mit tradierten Kinder- und Kindheitsbildern und den damit verbundenen pädagogischen Konzepten. Überhaupt kommt das Wort ‚fremd‘ in seinen unterschiedlichsten Zusammensetzungen in den Sozial- und Kulturwissenschaften nicht gerade selten vor. Vielleicht gelingt es mir dennoch, einige neue Akzente zu setzen. Ich gehe folgendermaßen vor: • Zuerst eröffne ich ein erziehungswissenschaftliches Panorama und zeige, wie man in der Tradition und Moderne das ‚fremde Kind‘ thematisiert. Welche Bedeutung das Wort ‚fremd‘ erhält, zeigt sich in den unterschiedlichen Kontexten mehr oder weniger deutlich. Vorherrschend ist ein Defizitverständnis: ‚Fremde Kinder‘ sind irgendwie auffällige Kinder, die pädagogisch Probleme machen. • Im zweiten Teil meiner Ausführungen gehe ich aus phänomenologisch-philosophischer Sicht etwas genauer auf den Begriff ‚fremd‘ ein. Meine zentrale These lautet: Fremdheit ist ein unabdingbares alltägliches Strukturmoment in jedem kommunikativen Prozess. Infolgedessen gehören ‚fremde Kinder‘ zur Normalität pädagogischen Verstehens, auch wenn diese Einsicht in der pädagogischen Zunft eher zu Irritationen Anlass geben kann. Ich hoffe jedoch, für diese Behauptung gute und nachvollziehbare Gründe zu angeben zu können.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Lippitz, Phänomene der Erziehung und Bildung. Phänomenologischpädagogische Studien, Phänomenologische Erziehungswissenschaft 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24187-2_8

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8  Das „fremde Kind“ – Zur Verstehensproblematik aus …

8.1 Erziehungswissenschaftliche Thematisierungen des ‚fremden Kindes‘ – ein Überblick Wie ungewöhnlich ist die Rede vom fremden Kind eigentlich? Das ‚fremde Kind‘ ist doch ein wohlbekannter historischer Topos: Erinnert sei an die Kindmythen der ‚Wolfskinder‘ und ‚Wildfänge‘ im pädagogischen 18. Jahrhundert (vgl. Richter 1987, S. 139 ff). An ihnen glaubte man optimistisch gestimmte, auf Perfektibilität gerichtete Erziehungsprogramme exekutieren zu können. Der aufgeklärte vernünftige Erwachsene sollte dafür den Maßstab abgeben. Erinnert sei auch an die romantische zivilisationskritische Gegenvision des „fremden Kindes“ (ebd., S. 229 ff.). Gemeint ist damit die mit Sehnsucht getränkte Erinnerung an ein frühkindliches und für den Erwachsenen verlorenes Paradies innigster symbiotischer, sinnlich-leiblicher Verbundenheit mit der Mutter und der Natur. Die Poesie vermag die Sehnsucht noch wachzuhalten, und als leise abklingende Sehnsucht und Verlusterfahrung begleitet sie wie ein Schatten die Entwicklung des bürgerlichen heranwachsenden Knaben. Bekanntlich soll er in einer von Natur und Familie entfremdeten und emotional abgekühlten schulischen Lernkultur zu einem nützlichen Mitglied der arbeitsteiligen Gesellschaft heranwachsen. Dass den Mädchen solche symbiotische Emotionalität weiterhin anhaften soll, weswegen sie an die Intimsphäre der Familie gebannt gehören, darin spiegelt sich das ideologische Bild von Weiblichkeit und Mütterlichkeit als Gegenstück zu dieser romantischen Vision männlicher Sehnsüchte. Solche Romantizismen wirken auch heute noch fort, zum Beispiel in leitenden Motiven der Antipädagogik, und sie sorgen nicht erst seit heute im Zeitalter wissenschaftlicher Aufklärung und ihrer Schatten immer wieder für Irritationen. ‚Fremde Kinder‘ haben außerdem in den zivilisationshistorischen Kindheitsforschungen und in der biografischen Wende der Pädagogik seit den 70er Jahren eine gewisse Beachtung gefunden (vgl. Lippitz 1995, S. 49 ff.; Meyer-Drawe, Waldenfels 1988, S. 271 ff.). Ein wichtiger Befund zeigt das, was jeder von uns kennt oder schon praktiziert hat. Fremde Kinder sind ‚unsichtbare‘ und unkontrollierte Kinder. Denn Kinder entziehen sich auf ihre Weise den ständig zunehmenden Einflussnahmen der Erwachsenen. Sie schaffen sich örtliche und zeitliche, physische und mentale Reservate und ziehen sich dorthin zurück, um allein zu sein und sich selbst zu finden. Kinder haben dann ihre besonderen Geheimnisse, ihre Verstecke, ihre geheimen Tagebücher und Lektüren, ihre nur ihnen bekannten Fluchtwelten und Tagträumereien, ihre kinderkulturell überlieferten Geheimpraktiken. So werden unsere Kinder selbst partiell zumindest zu Geheimnissen, zu Menschen, die im wortwörtlichen Sinne aus unserem pädagogischen Blickfeld geraten. Sie partizipieren damit auf eigene Weise an

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einem Strukturmoment moderner Gesellschaften, das zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre unterscheidet (vgl. van Manen/Levering 1996/2000). Erwachsene entwickeln im Prozess der Zivilisation zusammen mit einer immer reicher ausstaffierten Innerlichkeit immer ausgefeiltere Techniken der Tabuisierung und Intimisierung privater Bereiche und Themen. Das Erwachsenwerden macht anscheinend das aus, was inzwischen zum Allgemeingut sozialisationstheoretischer Einführungen gehört: nämlich die Arbeit an einer unverwechselbaren Identität, die zwischen sichtbarer sozialer Zugehörigkeit und sozial verborgener Einmaligkeit der Person ein Gleichgewicht ausbildet. Wo hätte das Kind eine ungestörtere Möglichkeit, seine Einzigartigkeit zu artikulieren, zu inszenieren und zu erproben, wenn nicht an den geheimen Orten und in den verborgenen Praktiken? Sie werden zum Spielfeld seiner sich ausdifferenzierenden Innerlichkeit und sie werden dem kontrollierenden Blick des Erwachsenen gegenüber fremd und unzugänglich (vgl. Lippitz 1993, S. 200 ff.). Allem Reden über Fremdheit zum Trotz können wir dennoch heute feststellen: Noch nie haben wir so viel Wissen über Kinder gesammelt und erzeugt, wie heutzutage! Das gilt auch für unser Wissen über Kindergeheimnisse und über ihre psychohygienische Filterfunktion gegen die manchmal heftigen Kontrollzwänge der Erwachsenen. Diesen Eindruck gewinnt man angesichts der Vielzahl wissenschaftlicher Kinder- und Kindheitsforschungen samt ihren unterschiedlichen Traditionen und Richtungen. Angefangen haben sie um die Jahrhundertwende als sich ausdifferenzierende entwicklungspsychologische und in den 50er Jahren anthropologische Forschungen; seit den 60er Jahren dominieren sozialisationstheoretische und sozio-historische Untersuchungen der Kindheit, und neuerdings bestimmen soziologische und kinderrechtspolitische Forschungen den internationalen Diskurs über Kinder und Kindheit (vgl. den Überblick Honig 1999, S. 33 ff.). Dennoch scheint sich der Topos ‚des fremden Kindes‘ auch in die ungebremste Wissensakkumulation dieser neueren Kindheitsforschungen eingenistet zu haben. Inmitten der Fülle neuer Forschungsergebnisse spiegelt er, so scheint es, die Irritationen einer kritisch selbstreflexiv gewordenen Kindheitsforschung wider. Im von Honig, Lange und Leu 1999 herausgegebenen Methodologieband: Aus der Perspektive von Kindern?, die eine beträchtliche Reihe von materialreichen Studien über ‚Kindheit heute‘ metatheoretisch fortsetzt, werden unterschiedliche Konzepte und Aspekte eines Forschungsprogramms kritisch gesichtet und diskutiert. Das Ziel dieses Bandes besteht darin, sich von der üblichen erwachsenenzentrierten und damit auch vermeintlich vorherrschenden paternalistisch-pädagogischen Perspektive auf das Kind hin zu verabschieden und die Forschungsperspektive auf die subjektive Erfahrungs- und Erlebnissicht

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des Kindes umzustellen. Diese offensichtlich dringlich gewordene Umstellung signalisiert ein Forschungsdesiderat: Forschungen über Kinder als Objekte der Wissenschaft gibt es inzwischen zur Genüge, jedoch scheint das Kind als Subjekt ein noch unbekanntes Wesen zu sein. Es zu erkunden bemüht man Methoden der Fremdforschung aus ethnografischen und ethnomethodologischen Forschungstraditionen (Ecarius 1999, S. 133 ff.; Zinnecker 1999, S. 69 ff.). Bekanntlich operieren diese systematisch mit Fremdheit, mit kultureller Differenz und Distanz als Erkenntnismittel des Fremden und Anderen, und das seit geraumer Zeit nicht bloß naiv, sondern in selbstreferenziellen und feinverästelten philosophisch-hermeneutischen Diskursen über die Fremdheitsproblematik als Forschungsproblem (vgl. u. a. Stenger 1997, S. 159 ff.; Waldenfels 1997b, S. 65 ff.). Dieses selbstreferenzielle Problemverständnis ist inzwischen auch in die Kindheitsforschung eingesickert und hat dort ebenfalls einen Problemschub im methodologischen Bewusstsein der Forschenden bewirkt. Das gilt einmal für den Forschungsgegenstand selbst. Dieser ist das hochindividualisierte moderne Kind (vgl. dazu Lippitz 1999a, S. 92 ff.). Es wird im wortwörtlichen Sinne immer fremder, das heißt unbestimmter. Nicht nur kämpft die Erwachsenenwelt mit der Kontingenzproblematik in der Identifizierung ihrer eigenen Ziele und Sinnbestimmungen. Sie hat, das zeigen uns die unvermindert andauernden Debatten über Ziele und Dimensionen der Allgemeinbildung, immer größere Mühe, ein konsensfähiges Bild von der Zukunft des Kindes zu entwerfen. Die Zukunft unserer Kinder fällt keineswegs mit der Gegenwart der heutigen Erwachsenen zusammen. Folglich wird uns das Kind fremd, weil es uns immer schwerer fällt, seinen Status als entwicklungs- und förderungswürdiges Wesen eindeutig zu bestimmen und mit einem Generalziel zu verbinden. Kindliche Entwicklung und Förderung haben, so sieht es aus, ihre linear progressive Ausrichtung auf eine einsinnige Erwachsenenrationalität verloren, die das aufklärerische pädagogische Denken bis in unsere Zeiten hinein kultiviert hat. Diese Rationalität bildet bis heute den normativen Rahmen für entwicklungspsychologische und sozialisationstheoretische Forschungen. Aber Piagets, Kohlbergs oder Habermas‘ Rationalitätskonzepte haben im Zeitalter postmoderner Diskurse oder zumindest sich vervielfältigender Vernunftkonzepte ihre dominierende Geltung eingebüßt. Sie sind sogar fraglich geworden angesichts der relativierenden und z. T. auch destruktiven Konsequenzen selbstkritischer und sich pluralisierender, keineswegs nur eurozentrisch angelegter Rationalitätsdebatten. Außerdem gibt es noch eine methodologische Seite des Fremdwerdens der Kinder. Denn das Kind ist nur noch schwer und ausschließlich mit den traditionellen subsumtionslogisch verfahrenden, kategorisierenden und quantifizierenden Mitteln der Sozialforschung zu begreifen. Von vormals determinierenden

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f­amiliären und milieuspezifischen Vorstrukturierungen seines Lebenslaufes freigesetzt, ist das moderne Kind gezwungen, sein eigenes Leben gleichsam zu erfinden, und dafür geben die Erwachsenen kaum noch geeignete Vorbilder ab. Wie lernt man also dieses ‚unbestimmte‘ und von Traditionen freigesetzte Kind kennen? Man muss als Kindheitsforscher oder -forscherin selbst ins Feld gehen; man muss in die spezifischen Lebensverhältnisse der Kinder eintauchen und ihnen direkt auf die Spur zu kommen versuchen. Gewissermaßen erleidet oder gewinnt – je nach Standpunkt – auch die Kindheitsforschung einen Individualisierungsschub: Nicht große Zahlen und quantitativ valide standardisierende Erhebungsmethoden beherrschen das Feld, sondern geforscht wird an kleinen Gruppen, an einzelnen Kindern mittels weicher qualitativer Methoden der Ethnografie: man führt narrative und biografische Interviews, erhebt individuelle Tagesabläufe, gibt Einblick in von Kindern selbst dokumentierte Alltagsgestaltungen, in Tagebücher und Fotoerkundungen, und das alles geschieht in forschungstechnisch eingegossene dichte Beschreibungen und Porträts (vgl. dazu das Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft 1997). Was für die Kindheitsforschung recht ist, nämlich als methodengerecht für das ‚fremde Kind‘ heute, das ist für die Werbeindustrie inzwischen billig. Sie weiß sehr genau, dass man die Kinderkonsumkultur nicht bloß von den Designervorstellungen der Erwachsenen aus steuern, beeinflussen und über pauschale Fragebogenerhebungen auskundschaften kann. Vielmehr muss man nach einzelnen Kindern oder Kindergruppen Ausschau halten, die in der kinderkulturellen Szene Trendsetter, also Akteure und Erfinder sind. Die Rede in der aktuellen Kinderrechtspolitik oder der heutigen Kindheitssoziologie von ‚Kindern als sozialen Akteuren‘ trägt diesen eigenaktiven Kindern voll Rechnung. Es sind Kinder, die sich von der vormals dominierenden paternalistischen pädagogischen und juristischen Erwachsenenperspektive emanzipieren und die als Subjekte mit eigenen Rechten und mit selbst-sozialisatorischen Praktiken in ihren Peers gegenüber den Erwachsenen auftreten. Es sind – im historischen Rückblick auf Kinderbilder unserer Kultur – wirklich ‚fremde‘ Kinder, weil sie den Rahmen des vormals Selbstverständlichen sprengen und im wahrsten Sinne des Wortes unberechenbar sind. Ich möchte noch eine weitere Version des ‚fremden Kindes‘ vorstellen, das in der pädagogisch interessierten Öffentlichkeit in Erscheinung tritt, wenn wir unseren Blick von den innerwissenschaftlichen Diskussions- und Forschungsthemen weg hin zur Medienöffentlichkeit wenden. Diese rezipiert auf ihre Weise das ‚fremde‘ Kind. Fremd im alltagssprachlichen Verständnis sind in ihr generell alle Kinder, auch diejenigen, die nicht wie die Problemkinder den Normalitätserwartungen entsprechen und gleichsam ‚verrückt‘ oder bloß ‚andersartig‘ sind.

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Denn offensichtlich stellen Kinder in jeder modernen Gesellschaft als Minderheitengruppe ein Problem dar, so wie die Alten oder die Kranken. Über den pädagogischen Topos der ‚Sorge‘ um unsere Kinder kann man viele bedenklich anmutenden Entwicklungen der Moderne, die auch die Erwachsenen betreffen, zum Ausdruck bringen: angefangen von der Klage über Verführungsszenarien der Medien, über sexuellen Liberalismus, über den Werteverfall bis hin zur Klage über hemmungslosen Individualismus und Hedonismus. Die in der Moderne steigende Intensität, mit der sich die Erwachsenen den Kindern zuwenden, ob pädagogisch praktisch oder forschend, kündet nicht etwa von immer größerer Vertrautheit, sondern im Gegenteil von zunehmender Distanz und Fremdheit zwischen Erwachsenen und Kindern. Hochspezialisierte Lebens- und Erfahrungsbereiche von Kindern und Erwachsenen trennen beide voneinander und schaffen eine immer tiefere Kluft. Sie tritt schon in den Familien oder Primärgruppen zutage, wenn immer früher und immer länger Kindheit institutionalisiert wird und die Kinder mit professionellen Fremden, nämlich den Erzieherinnen und Erziehern, den Lehrerinnen und Lehrern zu tun bekommen. Für die professionellen Erwachsenen ist natürlich jedes Kind außer den eigenen, betritt es die Institution, erst einmal fremd. Auch wenn Kinder dann immer vertrauter werden, ist die Chance, ‚aus der Rolle zu fallen‘ und Irritationen auszulösen, in solchen Institutionen relativ groß. Denn dort fallen sie auch eher auf als in den intimisierten kleinen Primärgruppen oder Familien, nämlich als Problemkinder, die die Normen der Institution sprengen oder verletzen. Nichtfamiliäre Erziehungssysteme produzieren Störungen geradezu. Denn sie sind im Vergleich zur mehr informellen Erziehungskultur in den Familien stärker formalisierte und kategorisierende Ordnungssysteme, in denen das Abweichende eher als in den Primärgruppen dingfest gemacht werden kann. Nicht nur – bildlich gesprochen – wird über jedes Kind eine Akte angelegt. Die soziologischen Forschungen über soziale Professionskulturen belegen deutlich die Tendenz, mit mehr oder weniger wissenschaftlichen und behördlichen Normalitätsmustern solche Akten zu führen und dementsprechend Abweichungen zu produzieren. Schwierige oder nicht anpassungsbereite Kinder erscheinen dann in der Regel als Problemkinder, und solche Institutionen stellen damit gleichsam einen Sonderbedarf an Diagnose und Therapie her. Kinder sind als Problemkinder auch für die öffentlichen Medien skandalträchtig genug und in aller Munde, sodass man den Eindruck erhält, dass Kindheit geradezu etwas Anormales, ja hoch Problematisches darstellt. Man nehme nur das Spiegel Special Menschenskinder Nr. 12, 1997 zur Hand: Schon die Titelseite führt als Schlagworte auf: ‚Gewalt. Tyrannen in Turnschuhen‘, ‚Kriminalität. Wohin mit den Horror-Kids‘, und weitere Problemtitel im Heft thematisieren Erziehungsliberalität und Autorität als Grenzensetzen, Drogenproblematik, Kritik

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der Schulen, körperliche Fehlentwicklungen, den ‚alltäglichen Irrsinn des Elternseins‘, ‚Psychokrüppel‘, Scheidungskinder, Kinder mit Bewegungsmangel, und ab und zu auch eher optimistisch stimmende Kurzreportagen über in der Ökologie engagierte Kinder und über kindliche Kreativität. Die Therapierung von Kindheit wird angesprochen, und alle möglichen Formen des Elternversagens werden aufgelistet, die das Zerrbild einer allgemein verbreiteten Hilflosigkeit von Erziehenden zeichnen. Wo Probleme sind, da gibt es auch ein Wissen über Lösungen! Zwar mögen die vielen Probleme Ausdruck von Entfremdungsprozessen zwischen Kindern und Vätern, Müttern, Lehrerinnen und Erzieherinnen sein. In ihnen mögen sich pädagogische Hilflosigkeit und Unverständnis kundtun, aber achtet man darauf, wie sich im Spiegel Special das wissenschaftliche Wissen inszeniert, dann wird ein Trend überdeutlich: Man hat für viele Probleme gute Erklärungen und trefflichen Rat zur Hand. Auch dafür ein Beispiel unter vielen möglichen: Der nicht nur in den Massenmedien des Öfteren mit Problemdiagnosen und großangelegten Untersuchungen hervorgetretene Kollege Klaus Hurrelmann diagnostiziert im Spiegel Spezial bezüglich sogenannter ‚Psychokrüppel‘ – gemeint sind Kinder, die unter Stress leiden, Allergien haben, Drogen konsumieren und zur Gewalt neigen. „Kinder zeigen uns unverstellt, wie ihre Lebenswelt und ihre Umwelt auf sie wirken und wo sie diese Umwelt herausfordert und überfordert. So gesehen sind Kinder soziale, kulturelle und auch gesundheitliche Seismographen, die Erwachsene in aller Deutlichkeit auf die Unzulänglichkeit der Lebensorganisation hinweisen“ (ebd., S. 89).

In gewisser Weise wiederholt Hurrelmann hier einen, wenn auch negativ eingefärbten zivilisationskritischen Topos aus der Reformpädagogik: Kinder sind noch spontaner und natürlicher. Deshalb erfüllen sie für die abgestumpften oder in Verdrängungsprozessen geübteren Erwachsenen eine ‚Mission‘. Sie künden nicht vom besseren Leben, sondern als Seismografen vom verfehlten Leben, von den durch die Erwachsenen selbst hervorgerufenen Krisen der Gesellschaft. Gewissermaßen sind Kinder, zynisch gesprochen und um den werbetechnischen Begriff von vorhin aufzugreifen ‚Trendsetter‘ sich manifestierender sozialer Probleme. So sicher Hurrelmann diese Diagnose platziert, so bestimmt klingt auch sein Erklärungswissen: „Hintergrund [für Drogenerfahrungen, d. V.] bilden meist soziale Desorientierungen, familiale Hilflosigkeit und tiefe Enttäuschungen um Beziehungserwartungen und Leistungsziele, die sich tief in die Persönlichkeitsstruktur eingegraben haben“ (ebd., S. 88).

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Zieht man eine andere Diagnose aus anderen wissenschaftlichen Zusammenhängen zusätzlich heran, dann verstärkt sich noch der Eindruck: Wo eine deutliche Diagnose vorliegt, da ist die Hilfe nicht weit: Wir wissen nicht nur Entscheidendes über unsere Kinder und ihre Probleme, wir können ihnen als Professionelle und Experten auch gezielt helfen: So heißt es zum Problemkomplex Malheur mit der Motorik ‚Bewegungsarmut‘ im Spiegel Spezial im Beitrag „Heute schon gehopst“ von Corinna Schöps: „Verschiedenen Studien zufolge sind Kinder, die ausreichend Spielraum haben, viel seltener in Unfälle oder kritische Situationen verwickelt. Ausreichende Bewegung hat überdies einen positiven Effekt auf das soziale Verhalten“ (ebd., S. 124).

Die Hilfsmittel liegen dann auf der Hand: Mehr Spielstraßen und kompensatorische Bewegungstherapie.

8.2 Irritationen: Das Alltägliche der Fremderfahrung Bis jetzt habe ich bewusst vermieden, das Attribut ‚fremd‘ systematischer und begrifflicher zu bestimmen. ‚Fremd‘ – das ist eine besondere definitive Eigenschaft, die dem Kind angeheftet wurde und dadurch eine gewisse kontextuelle Bestimmtheit erhielt. Oder ‚fremd‘ ist eine im Verhältnis zum Erwachsenen relationale Bestimmung des Unbekannten, Unvertrauten am Kinde. Blicken wir noch einmal zurück: Fremd ist das ‚andere‘, unzivilisierte oder verlorengegangene Kind in der pädagogischen Tradition; zeitweise fremd ist das Kind mit seinen Geheimnissen: partiell fremd ist die Gestalt des noch unbestimmten, enttraditionalisierten, hochmodernen und eigensinnigen Kindes; und als vorläufig fremd tritt das besondere, weil auffällige Problemkind in Erscheinung, das Normalitätserwartungen befremdet. Man könnte ohne Weiteres andere Kinder hinzufügen, die Befremdungen auslösen: das Migrantenkind, das behinderte Kind usw. Die meisten dieser Kennzeichnungen haben etwas gemeinsam: Fremdheit oder Fremdsein des Kindes indiziert bloß ein vorläufiges Problem, ein behebbares Defizit, oder einen kompensierbaren Mangel. Denkt man in binären Mustern, wäre das Gegenstück zur Fremdheit Vertrautheit, Bestimmtheit, Bekanntheit, Wissen. Zumindest wird in der Regel suggeriert, als ließe sich Fremdes beseitigen oder ‚heilen‘. Problemkinder kann man ‚normalisieren‘, Geheimnisse kann man ausspähen, fremde Kinder in Institutionen kann man in vertraute soziale Rollen einsozialisieren: Sie werden zu Schülern, Vorschülern, Kindergartenkindern usw., und mit dem hochmodernen individualisierten Kind kann man geduldig über

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seine Entscheidungen und Absichten kommunizieren. Denn seine Zukunft kennen beide nicht, weder die Kinder noch die Erwachsenen, insofern teilen beide ein Stück weit das Fremde und Unbekannte einer ausstehenden offenen Zukunft. Meine abschließenden Überlegungen runden das bisher Gesagte nicht ab, sondern eröffnen einen – wie ich meine – etwas anderen Denkhorizont. Dem Fremden haftet nach dem bisher Gesagten eine besondere Aura an, nämlich die des Extravaganten, Außeralltäglichen und Besonderen, das Normalitätserwartungen konterkariert, sei diese nun historisch, wissenschaftlich oder sei sie medienpolitisch instrumentiert. Meine These lautet jedoch: Jede alltägliche Erfahrung der Menschen untereinander ist eine Fremderfahrung. In dem Sinne erfahren wir jedes Kind, ob normal oder problematisch, als ein fremdes Kind. Diese These möchte ich zum Schluss an einer prototypischen Erfahrung verdeutlichen. Den Interpretationshorizont dieser Ausführungen bildet die philosophisch-phänomenologische Denktradition, in der ich beheimatet bin (vgl. dazu Waldenfels 1997a; Lippitz 1999b, S. 42 ff.). Jede intersubjektive Erfahrung des Anderen und jede zwischenmenschliche Kommunikation mit dem Anderen, ob Kind oder Erwachsener, ist strukturell eine Beziehung, die durch eine Entzugserfahrung gekennzeichnet ist. In der paradoxen Formulierung des Phänomenologen Husserl hat jede soziale Kommunikation (als Handeln, Sprechen oder Fremderfahrung jedweder interkultureller und monokultureller Variation) die Struktur, dass mir der oder die Andere nur in der Weise zugänglich wird, dass ich sie oder ihn als unzugänglich erfahre. Präsent wird sie oder er nur in der Appräsenz. Das heißt, ich erfahre den Anderen als ein genuin fremdes und anderes Bewusstsein, das seine eigene von mir nicht gleichzeitig geteilte und auch mir auch nicht direkt zugängliche Perspektive auf die Welt hat, das als leibliches Wesen im wortwörtlichen Sinne seinen Standpunkt in der Welt behauptet, den ich nicht gleichzeitig einnehmen kann; das ein eigenes Initiativzentrum von Handlungen, Gedanken und Vorstellungen darstellt, die sich mir von dem Anderen aus erst zeigen müssen, z. B. im leiblichen Ausdrucksverhalten oder im sprachlichen Ausdruck, damit ich ihrer ansichtig werden kann. Damit begrenzt Husserl kritisch die abendländische Subjektivitätsmetaphysik. Diese hat traditionell die Tendenz, wie es der Philosoph Emmanuel Lévinas in seiner radikalen Kritik der abendländischen Wissenskultur und Wissenschaftspraktiken ausdrückt, alles Andere und Fremde auf das Selbe und Eigene zurückzuführen (Lévinas 1987). Das trifft auch auf die hegelsche dialektische Bewegung des sich seiner Identität vergewissernden Geistes zu, indem er seinen Durchgang durch das Noch-Nicht-Eigene und Fremde nimmt. Die dialektische Figur der partiellen Entfremdung wurde in idealistischen Spielarten der neuhumanistischen Bildungstheorie aufgegriffen. Das Bildungssubjekt hat für den eigenen Bildungsprozess

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den Weg über das Fremde und Andere zu nehmen (z. B. fremde Sprachen, vergangene ausgezeichnete Hochkulturen), um diese sich anzueignen im Sinne der Ent-fremdung des Anderen und Fremden. Dann kehrt es bereichert und kultiviert in der Auseinandersetzung mit dem Anderen zu sich zurück. Teleologisch gesehen ist dieser Umweg über das Fremde nichts anderes als der Weg des Ich über ein bloß vorläufig Anderes, das substanziell immer schon hinter seinem Rücken mit dem Bildungssubjekt verbunden ist – als seine ureigene Möglichkeit. Bildungsgeschichte ist vor diesem Interpretationshorizont nur die Vorgeschichte einer endgültigen und abschließbaren Geschichte. Kommen wir wieder zurück auf die phänomenologische Bestimmung von Intersubjektivität und schauen wir uns genauer den alltäglichen kommunikativen Prozess an. Ist er wirklich nur ein subjektzentrierter Aneignungsprozess, der Dialoge in selbstbezügliche Monologe verwandelt oder bestenfalls den wechselseitigen Austausch auf das Modell des wechselseitigen Takts von Empfänger und Sender reduziert? Ist er nicht gerade das Gegenteil, nämlich ein Entfremdungsprozess, der alle zwischenmenschliche Erfahrung und jedes zwischenmenschliche Verstehen zu einem offenen und niemals abschließenden Interaktionsprozess macht? Wir müssen nicht zu solchen philosophischen Höhen hinaufblicken, um uns die dezentrische Struktur dieses Beziehungsentzuges klar zu machen. Sprechen wir im Alltag miteinander oder handeln wir mit- oder gegeneinander, dann prozessieren wir eine intersubjektive Struktur, die der Bochumer Phänomenologe Bernhard Waldenfels „Zwischenereignis“ nennt (Waldenfels 1994). Handeln oder Gespräche sind sicherlich sozial geregelte Prozesse und auch von Routinen durchsetzt. Aber sie sind es auch, die vorhandene Ordnungen infrage stellen, Regelhaftigkeiten verändern, die Neues, Unerwartetes hervorbringen und unberechenbare Spielzüge und Ergebnisse zeitigen. Das bedeutet also: Handlungs- und Gesprächspartner exekutieren nicht bloß allgemeine Regel- und Wissensbestände, als wären sie Marionetten, die an den Fäden einer sie übergreifenden Regelungsinstanz gezogen würden, oder als wären sie Schauspieler, die nach vorgeschriebenen Skripts agierten. Vielmehr führen offene Gespräche in einem komplexen Geflecht von Fragen, Antworten, Kommentaren, Hauptund Nebenthemen zu Ergebnissen, die keiner der Beteiligten auf sich allein verrechnen kann. Gespräche mit dem Anderen bringen mich auf Gedanken, die ich selbst nicht hatte, und wir gemeinsam kommen zu Ergebnissen, die alle unsere Erwartungen übertreffen oder vielleicht enttäuschen. Diese Offenheit und dezentrierte Struktur von kommunikativen Situationen ist einer grundlegenden Asymmetrie zwischen den Partnern geschuldet, einem unüberbrückbaren Hiatus zwischen ihnen, den keine vorgegebene Ordnung zu überbrücken vermag und der deshalb anarchischen Charakter hat.

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Stellt beispielsweise ein Partner eine Frage und ergreift er somit die Initiative, dann bedarf es der Kontextualisierung und dichten Beschreibung, um dieser Situation gerecht zu werden: Was ging zum Beispiel der Frage voraus – ein um Aufmerksamkeit heischender Blick seinerseits, eine Bereitschaftsgeste meinerseits, eine beidseitige Verlegenheit? Sind mit anderen Worten die Gesprächsmotive auf das initiierende Subjekt allein zurückführbar? Auch wenn ich mich nicht auf die Frage einlassen möchte, das Faktum allein, dass sie mir gestellt wird; ob ich mich nun auf den Inhalt einlassen will oder nicht, dieser ethische Ereignischarakter der Frage, den man Appell nennt, bringt mich in Verlegenheit, und ich kann mich ihm nicht entziehen. Er kommt mir zuvor und macht, dass ich dem Anderen etwas schuldig bin, ob ich es will oder nicht. Überhörte ich die Frage bewusst, hätte ich sie dennoch gehört und damit ihren Anspruch vernommen. Somit bin ich ohne mein Zutun als Subjekt fremdmotiviert und in gewisser Weise dem Anderen ausgeliefert. Das heißt, als Subjekt komme ich immer zu spät. Das gilt zugleich für den Fragenden. Er ist alles andere als souverän, sondern mir ebenfalls ausgeliefert: Denn meine Antwort, wie erwartbar sie vielleicht auch ausfiele, ist vom Anderen nicht schon im Vorhinein gewusst. Er gibt sich gewissermaßen mit der Frage selbst aus der Hand und überantwortet sich meiner Aktivität. Diese ist jedoch nicht beliebig. Antworten auf Fragen passen mehr oder weniger, und damit ist mein Entscheidungsspielraum eingeengt. Gebe ich dann eine Antwort, dann übergebe ich sie und mich dem Anderen. Ob sie akzeptiert wird oder nicht, hängt vom Anderen ab. Somit entsteht im Frage-Antwort-Prozess ein von Asymmetrien und Fremdheitszumutungen und Unwissen durchzogenes Spannungsfeld. Es sind die hier skizzierten Entzugserfahrungen, die die Interaktionen zwischen den Menschen dynamisieren, die für Überraschungen sorgen und in sozialen Ordnungen und Regelsystemen oder Wissensbeständen anarchische Wirbel und Gegenströmungen verursachen. Fremdheit als Erfahrung des Entzugs in der Beziehung ist dann ein ‚Phänomen‘, das sich keinem Ordnungssystem fügt und das auch keinem so beliebten binären Raster folgt, auch nicht den in der Erziehungswissenschaft üblichen, die ich im ersten Teil meiner Darstellung vorgestellt habe. Fremdheit ist also ‚unvorstellbar‘ und außerordentlich. Was hat das alles mit dem Titel Das fremde Kind zu tun, wird man sich fragen? Nun – was für die Interaktionsprozesse zwischen Erwachsenen grundsätzlich gilt, das hat auch für die zwischen Kindern und Erwachsenen Gültigkeit. Insofern bleibt jedes Kind – auch in der vertrautesten Beziehung – ein Fremder, der für Überraschungen gut ist. Das gilt auch für die generationelle Ordnung unserer Gesellschaft. Erzeugen nicht unsere Kinder, dadurch dass sie als fremde und noch unbestimmte Neugeborene die Welt betreten, das Maß an Diskontinuität mit, das die Innovationskraft unserer Gesellschaft erhält? Man kann es auch

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einfacher ausdrücken mit den Worten des holländischen geisteswissenschaftlichen Pädagogen Martinus Langeveld: „Denn das Kind zeigt sich schon von Geburt an – und schon vor der Geburt – als Fremdkörper, d. h. als etwas, das zwar bei uns, aber auch bei sich ist“ (Langeveld 1966, S. 29; Herv. i. O.).

Deshalb vollzieht sich ein beträchtlicher Teil des pädagogischen Verstehens von Kindern nicht bloß als Wissen, sondern als Vertrauen. Und wo vertraut werden muss, da muss das Kind – um ein geflügeltes Wort abzuwandeln – gewagt werden. Will man das als ein Problem des pädagogischen Verstehens begreifen, dann ist dieses Problem sicherlich grundsätzlich unlösbar. Aber in der Pädagogik geht es ja in der Regel und zum Glück nicht nur um das Lösen von Rätseln und Problemfällen, sondern um das Sich-Einlassen auf das Handeln mit Unsicherheiten, Nicht-Wissen, Fremdzumutungen und offenen Erfahrungshorizonten.

Literatur Ecarius, Jutta. 1999. „Kinder ernst nehmen“. Methodologische Überlegungen zur Aussagekraft biographischer Reflexionen 12jähriger. In Aus der Perspektive von Kindern? Zur Methodologie der Kindheitsforschung, Hrsg. M. S. Honig, A. Lange und H. R. Leu, 133–162. München: Juventa. Friebertshäuser, Barbara und Annedore Prengel. 1997. Handbuch qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. München: Juventa. Honig, Michael Sebastian. 1999. Forschung „vom Kinde aus“? Perspektivität in der Kindheitsforschung. In Aus der Perspektive von Kindern? Zur Methodologie der Kindheitsforschung, Hrsg. M. S. Honig, A. Lange und H. R. Leu, 33–50. München: Juventa. Honig, Michael Sebastian, Andreas Lange und Hans Rudolf Leu. 1999. Aus der Perspektive von Kindern? Zur Methodologie der Kindheitsforschung. München: Juventa. Hurrelmann, Klaus. 1997. Die Psycho-Krüppel. Spiegel Special: Menschenskinder 12: 87–89. Lévinas, Emmanuel. 1987. Totalität und Unendlichkeit. Freiburg: Alber. Lippitz, Wilfried. 1993. Kinderwünsche – Wunschlandschaften von Kindern. In Phänomenologische Studien in der Pädagogik, Hrsg. W. Lippitz, 192–213. Weinheim: Beltz. Lippitz, Wilfried. 1995. „Fremd-Verstehen“ – Irritationen pädagogischer Erfahrung. Neue Sammlung 35 (2): 47–64. Lippitz, Wilfried. 1999a. Selbständige Kinder im Kontext ihrer Lebenswelten. Phänomenologisch-pädagogische und sozialwissenschaftliche Interpretationen. In Kindliche Lebenswelten. Eine mehrperspektivische Annäherung, Hrsg. N. Seibert, 65–102. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Lippitz, Wilfried. 1999b. Differenz – „Konstruktionen“. Grundsätzliche Überlegungen zu Differenzerfahrungen im Verhältnis von Kindern und Erwachsenen. Behinderte in

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Familie, Schule und Gesellschaft (3): 42–49 (Themenheft: „Zumutungen im pädagogischen Feld“). Langeveld, Martinus Jan. 1966. Die Schule als Weg des Kindes. Versuch einer Anthropologie der Schule, 3. Aufl. Braunschweig: Westermann. Meyer-Drawe, Käte und Bernhard Waldenfels. 1988. Das Kind als Fremder. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 64 (3): 271–287. Richter, Dieter. 1987. Das fremde Kind. Zur Entstehung der Kindheitsbilder des bürgerlichen Zeitalters. Frankfurt a. M.: Fischer. Schöps, Corinna. 1997. Heute schon gehopst. In: Spiegel Special: Menschenskinder 12: 123–124. Stenger, Horst. 1997. Deutungsmuster der Fremdheit. In Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit, Hrsg. H. Münkler, 159–222. Berlin: Akademie. van Manen, Max und Bas Levering. 1996/2000. Childhood’s Secrets: Intimacy, privacy, and the self reconsidered. New York/London: Teachers College Press; dt. Übersetzung: Wilfried Lippitz. 2000. Kindheit und Geheimnisse. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Waldenfels, Bernhard. 1994. Antwortregister. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Waldenfels, Bernhard. 1997a. Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Waldenfels, Bernhard. 1997b. Phänomenologie des Eigenen und des Fremden. In Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit, Hrsg. H. Münkler, 65–84. Berlin: Akademie. Zinnecker, Jürgen. 1999. Forschen für Kinder – Forschen mit Kindern – Kinderforschung. Über die Verbindung von Kindheits- und Methodendiskurs in der Kindheitsforschung zu Beginn und am Ende des 20. Jahrhunderts. In Aus der Perspektive von Kindern? Zur Methodologie der Kindheitsforschung, Hrsg. M. S. Honig, A. Lange, und H. R. Leu, 69–80. München: Juventa.

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Aloys Fischer (1880–1937): „Deskriptive Pädagogik“ oder „Prinzipienwissenschaft von der Erziehung“. Zu den Anfängen phänomenologischer Forschungen in der Erziehungswissenschaft

Aloys Fischer gilt als ‚Allgemeiner Pädagoge und Pionier der Bildungsforschung‘, so der Untertitel der Aloys Fischer gewidmeten Schrift Zur Tradition der Pädagogik an der LMU München (Tippelt 2004). Mir geht es im Folgenden nicht darum, seine grundlegenden Arbeiten in der Psychologie und Pädagogik in aller Breite vorzustellen. Das ist zuletzt in der oben genannten Erinnerungsschrift geschehen (vgl. insbes. Lenhart 2004, S. 11–17; Bock 2004, S. 29–44; umfassend Röhrs 1953). Ich arbeite vielmehr die Linien heraus, die Fischer mit der phänomenologischen Denktradition verbinden. Dass Fischers Arbeiten ihr zu Beginn des 20. Jahrhunderts thematisch und in einigen zentralen Schriften auch methodologisch nahestehen und man ihn deshalb zu den phänomenologisch orientierten Erziehungswissenschaftlern der ersten Stunde zählt, ist in Deutschland allgemein bekannt. Jedoch vermutet man, dass seine phänomenologische Orientierung eher von der husserl’schen transzendentalphilosophischen Bewusstseinsphänomenologie angeregt worden sei (vgl. zum Beispiel Bock 2004, S. 64 f.; Meyer-Drawe 1997, S. 157) als von der schon von Röhrs angedeuteten Nähe zur ‚Münchener Phänomenologie‘ der ersten und zweiten Generation, u. a. zu Scheler, Pfänder und, was das Phänomenverständnis angeht, zu Heideggers Ontologie (vgl. dazu die m. E. philosophisch wenig systematischen Ausführungen von Röhrs 1953, S. 35 ff.). Beide phänomenologischen Richtungen sorgten für das Schisma in der phänomenologischen Bewegung in den ersten Jahrzehnten. Die Münchener Phänomenologie versammelte eine Reihe von prominenten Schülern um den Psychologen Theodor Lipps. Sie kamen ab 1902 in

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Lippitz, Phänomene der Erziehung und Bildung. Phänomenologischpädagogische Studien, Phänomenologische Erziehungswissenschaft 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24187-2_9

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9  Aloys Fischer (1880–1937): „Deskriptive Pädagogik“ …

Kontakt mit dem damals in Göttingen lehrenden Husserl, dessen Logische Untersuchungen zu einer der überwiegend kritisch rezipierten Grundlagen der psychologischen Arbeiten in München wurden, was wiederum dazu führte, dass einige prominente Schüler von Th. Lipps sich von dessen psychologischer Position kritisch absetzten (vgl. dazu genauer Herzog 1992, S. 246 ff.).

9.1 Die ‚Münchener Phänomenologie‘ als Gegenstandsontologie Von zwei großen Richtungen der Phänomenologie in ihren Anfängen zu sprechen, hat einen guten Sinn (vgl. dazu im Folgenden Herzog 1992, S. 246 ff.; vgl. auch den Übersichtsartikel Realistic Phenomenology von Smith 1997). Denn die Münchener arbeiten auf der Grundlage eines Verständnisses von Phänomenologie, das sie eigenständig und in Abgrenzung zu Husserl entwickeln. Worin besteht der Dissens zu Husserl? Die Münchener und einige der Göttinger kritisieren den Reduktionismus in der husserl’schen Phänomenologie. Er führe statt zu ‚den Sachen‘ in ihrer materialen Gegenständlichkeit von ihnen weg hinein in eine transzendentalphilosophische Aktphänomenologie. Sie plädieren dagegen für eine Akzentverschiebung vom konstituierenden Akt des Bewusstseins hin zum Gegenstand. Dieser erweise sich nicht als konstituiert, sondern als schlicht gegeben. Man dürfe nicht wie Husserl die kantianische ‚Wende ins Transzendentalsubjektive‘ machen und nur nach den subjektiven Bewusstseinsleistungen der Gegenstandskonstitution fragen. ‚Wirkliche‘ Wirklichkeit werde gerade nicht als ‚noematisches Korrelat‘ zu den Aktleistungen fassbar und sprenge deswegen den engen Rahmen eines subjektiv-intentionalen Aktbewusstseins. Was in Husserls Augen als Rückfall in die Ontologie und Realismus erscheinen muss, den er durch den Schritt der Epoché, der Einklammerung der Seinssetzung und durch den Schritt in die transzendentale Sphäre des Ichbewusstseins vermeiden will, das bildet in der Münchener Schule den entscheidenden Differenzpunkt. Letztere wäre gröblich missverstanden, wenn man ihr platten Realismus unterstellte. Die Münchener Schule rehabilitiert nicht die naive Position, die meint, die Dinge in ihrer reinen Objektivität, gleichsam an sich, jenseits ihres Erscheinens für uns, erfassen zu können. Nach Pfänder, einem der Wortführer der Münchener Schule, kann ‚wirklich‘ nur das selbst leibhaft Gegebene sein, nämlich als für ein Bewusstsein gegeben. In dieser Hinsicht sei Phänomenologie weiterhin Erscheinungslehre. Nur liege die reale Transzendenz nicht außerhalb der Sphäre des Erscheinens, die Realität sei vielmehr selbst ein sich gebendes Faktum. Damit breche der Gegensatz: Erscheinung und wirkliches Objekt in sich zusammen.

9.1  Die ‚Münchener Phänomenologie‘ als Gegenstandsontologie

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Es liege auf der Hand, dass für ein solches Bewusstsein kein subjekt-egologischer Rahmen mehr gezogen werden könne. Die idealistische Reduktion des im Bewusstsein Gegebenen auf in sich transparente Aktleistungen des transzendentalen Subjekts gelänge nicht mehr. Das Sein sei nicht reduzierbar auf das Wie der Bewusstseinsweisen (vgl. Herzog 1992, S. 253). Es zeigt sich, so das Ergebnis dieser Position, damit die Eigen- und Widerständigkeit einer erscheinenden, sich selbst gebenden Wirklichkeit in ihrer vielfältigen Strukturiertheit. Sie wird nicht durch ein thetisches Bewusstsein gestiftet. So entspringt aus dieser andersartigen Bewusstseinskonstellation das wissenschaftliche Motiv, diese „ursprüngliche Wirklichkeitserfahrung vor der Gegenstandskonstitution im Sinne Husserls“ (ebd., S. 287) in ihrem Aufbau kennenzulernen. Das methodische Mittel dazu ist weiterhin die Deskription. Das phänomenologische Korrelationsgesetz, das zwischen dem Aktpol und dem Gegenstandspol herrscht, wird zwar durch die ontologische Bekräftigung des letzteren nicht außer Kraft gesetzt, „Aber die Seinsgeltung der Dinge wird nicht transzendental rückwärts bis zur unhintersteigbaren egologischen Subjektivität aufgelöst, sondern von der transzendenten ‚Strukturontik‘ (Geiger), den ‚ontologischen Prinzipien‘ her verstanden“ (ebd., S. 255).

Die ontologische Eigenständigkeit der Welt behauptet sich gegen Husserls subjektphilosophische Wende. Deshalb wird ein Bewusstsein denkbar, das sich nicht gänzlich transparent ist, weil es als dezentriertes nicht wie bei Husserl über die Leitfäden seiner subjektiv-intentionalen Struktur voll erschließbar ist. Zwei Aspekte sind noch hervorhebenswert, der Aspekt des ‚Weltglaubens‘ und der für die psychologische Forschungsrichtung entscheidende Aspekt der experimentellen phänomenologischen Forschung. Den ersten Aspekt hat insbesondere Pfänder herausgearbeitet. Ihn nimmt Fischer in gewisser Weise inhaltlich und methodisch auf. Husserl unterzieht jede Art des Objektivismus, sei sie wissenschaftlich oder vorwissenschaftlich, einer radikalen Kritik, da sie blind für die subjektiv-relative Struktur jedes Bewusstseinsphänomens sei. Im Gegensatz dazu rehabilitiert die Münchener Phänomenologie den Sinn dieses Weltglaubens. Die alltägliche Realitätserfahrung, die Erfahrung, dass Welt ist und ich in ihr bin, ist zwar für Husserl kein grundsätzlich negatives Datum, aber doch prinzipiell durch phänomenlogische Reduktion hintergehbar und außer Kraft zu setzen. Für die Münchener Schule dagegen ist es ein unhintergehbares positives Datum, das zum Erleben dazugehört und nicht als Weltglauben eingeklammert werden darf. Der Glaube des Menschen, dass es allerlei Wirkliches gebe, ist für Pfänder ein „‚notwendig konstitutives Moment im Aufbau der psychischen Wirklichkeit selbst‘“

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(zit. n. ebd., S. 259), denn die Seelenregungen verlören, so Pfänder, ihren Sinn, wenn dieser Glaube verschwände. Infolgedessen sei es auch Aufgabe der Wissenschaft, diese Wirklichkeit der Körperwelt in Raum und Zeit, der Welt der Lebewesen, der Seelen, die soziale Welt, die kulturelle und religiöse Welt wie auch die Welt des ideal Seienden (der Mathematik, der Logik) zu erhellen, abgesehen von der Aufklärung über die anderen Gegenstände des Bewusstseins wie die der Werte und Forderungen. Man könnte mit Herzog in dieser ontologischen Ausrichtung der Münchener Phänomenologischen Schule eine Parallele zur hermeneutischen Ontologie eines Heideggers und deren späteren Modifikationen in der französischen Phänomenologie, insbesondere in den Werken von Merleau-Ponty ziehen (vgl. ebd., S. 261). Was den zweiten Aspekt der experimentellen Forschung angeht, so finden wir in der Münchener Schule einen Tatbestand vor, den Husserl vermutlich mit dem Psychologismusvorwurf quittiert hätte. Es gibt nämlich – trotz einiger Tendenzen u. a. beim späten Th. Lipps, der diesem Vorwurf Husserls entgehen wollte – keine prinzipielle Abgrenzung zwischen psychologischer und philosophischer Forschung. Unter dem Einfluss der Phänomenologie bildet sich seit Stumpf, so Herzog, eine „‚Experimentalpsychologie des zweiten Stils‘“ heraus, die in ihrer Produktivität für die Entwicklung der Psychologie unseres Jahrhunderts Schulen bildend wurde (vgl. dazu ausführlicher ebd., S. 264 ff.). Als Beleg kommentieren wir später einige wichtige Arbeiten von Fischer, die besonders im 5. und 6. Band seiner gesammelten Werke dokumentiert sind.

9.2 Vom Bewusstsein zum Sein des Bewusstseins. Aloys Fischers integratives Modell der psychologischen Forschungen An einigen zentralen Arbeiten von Aloys Fischer, dem Schüler von Theodor Lipps, der besonders der Pädagogik nahesteht, lässt sich die oben erwähnte ‚Dezentrierung‘ des subjektiven Bewusstseinslebens besonders deutlich nachvollziehen. Jedoch wertet Fischer nicht bloß wie die gegenstandsontologische Wende den Gegenstandspol des intentionalen Bewusstseins auf, sondern er unterläuft auch den bewusstseinsphilosophisch gefassten Erfahrungsbegriff. Damit schlägt er eine Richtung ein, die in der späteren phänomenologischen nachhusserl’schen Tradition als lebensweltlich etikettiert werden wird und die u. a. besonders mit dem Namen von Merleau-Ponty verbunden ist (vgl. dazu Lippitz 1980). Der Ertrag ist beachtlich, nämlich ein integratives Konzept psychologischer Forschungen.

9.2  Vom Bewusstsein zum Sein des Bewusstseins. Aloys Fischers …

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In den zwei zentralen Abhandlungen Die Lage der Psychologie in der Gegenwart und ihre Folgen für die psychologische Jugendforschung (1925) und Untergründe und Hintergründe des Bewußtseins (1915) entwirft Fischer ein Wissenschaftsprogramm der Psychologie mit dem ausdrücklichen Ziel, die heterogenen und sich gegenseitig ausschließenden unterschiedlichen Forschungstraditionen auf eine zukünftige Einheit hin zu verpflichten. Er unterscheidet dabei drei Strömungen, die aufeinander folgen, ohne sich gegenseitig verdrängen zu können. Man würde heute von unterschiedlichen Forschungsparadigmen sprechen. Die Anfänge der wissenschaftlichen Psychologie bildet die cartesianische, naturwissenschaftliche Tradition einer ‚Psychologie ohne Seele‘, die dann besonders im 19. Jahrhundert als Sinnes- und Gehirnphysiologie zur Blüte kommt. Die zweite von Fischer sogenannte ‚klassische‘ Richtung ist die um die Jahrhundertwende dominierende phänomenologische Psychologie des Bewusstseins, zu deren Hauptvertretern sein Lehrer Th. Lipps zu zählen ist. Deren Aufgabe, so Fischer kritisch, erschöpft sich „in dem durch die deskriptive Analyse aufzeigbaren Gehalt an Bewusstseinsmomenten selbst, in ihrer bewussten Verbindung untereinander und ihrer Subsumtion unter Klassenbegriffe bewusster Erscheinungen. Selbst ein in der Analyse des Bewusstseinslebens so virtuoser Meister wie Theodor Lipps ist deshalb in der Gefühls-, Affekt- und Willenspsychologie über die Dimension der Deskription nicht wesentlich hinausgekommen […] Die klassische Schule kann uns gewiss Erhebliches lehren in der Kunst der Beschreibung und Abgrenzung der Phänomene und Gegebenheiten; aber ihr Dogma, das Bewusstsein als eigengesetzliche Wirklichkeit aus sich selbst zu erklären, verführt dazu, den in einem Individuum gültigen Ablaufs- und Motivationszusammenhang auf jedes Individuum zu übertragen, und verriegelt das Verständnis des anderen, und sogar – soweit es die grundsätzliche Möglichkeit der Selbsttäuschung, und zwar der radikalen Selbsttäuschung, außer Ansatz lässt – den Weg der Selbsterkenntnis“ (Fischer 1925, in Fischer 1957b, S. 46 f.).

Fischer kommt drittens auf die „biologische Richtung“ zu sprechen (ebd., S. 47). Er nennt als Vertreter u. a. Freud, Jung, Adler, die Körper und Bewusstsein als einheitlichen Lebensstrom begreifen, der nur aus methodischen Gründen auseinandergerissen werden könne. Diese neue Richtung, so seine Ansicht, gliedere die bewussten Tatsachen in die Gesamtheit des individuellen Werdeganges ein und lehne es ab, „dass das Bewusstsein ein Zeuge – zwar ein unsicherer – für die sog. objektive Außenwelt und ein sicherer Zeuge für die eigene seelische Beschaffenheit sei“ (ebd., S. 47). Sie betrachten vielmehr die „Bewusstseinstatsachen auch für die Erforschung der psychischen Realität nur als Ausgangs- und Anhaltspunkte, nicht als reale Bestandteile desselben“ (ebd., S. 47). So sei das

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„wahre seelische System eines Individuums“ nicht schon „bewusstseinsgegeben, sondern allererst zu erfragen“ (ebd., S. 47). Wir sehen hier den eigenständigen Weg Fischers. Das Bewusstsein ist als Selbstwissen zu schmal und täuschungsanfällig. Sein ‚Sein‘ entzieht sich dem Zugriff rein immanenter Analysen. Zum einen gehört es zum ‚Lebensstrom‘, der das sich selbst bewusste Sein übersteigt und gleichsam seine psychoanalytisch und biologisch zu begreifende Vorgeschichte bildet. Zum anderen wird es durch die interindividuelle Dimension der Sozialität überschritten, die ungeprüfte Generalisierungen von Selbstbeschreibungen des je eigenen Bewusstseins verbietet. Fischer rührt mit dieser Kritik an das Problem, das einige Jahrzehnte später besonders der französische Phänomenologe Merleau-Ponty als Struktur der lebensweltlichen Gebundenheit des menschlichen Bewusstseins thematisieren wird: Die vormals in sich kreisende Selbstreflexion der Bewusstseinsphilosophie wie auch der Psychologie rundet sich nicht mehr; die Selbstreflexion erweist sich als schon fundierter Erfahrungsprozess eines Ich, das als leibliches Ich strukturell in Natur, Geschichte und Gesellschaft als materiale Bedingung seiner Möglichkeiten eingebunden ist. Eine neue Art von Transzendentalphilosophie entsteht: Die strukturale Verankerung des Bewusstseins reißt – um ein Bild zu wählen – an den dünnen und durchsichtigen Fäden des intentionalen Netzes. Das reflexiv sich aufklärende Selbstbewusstsein gerät somit ins Trudeln, es verdankt seine Existenz Bedingungen, die außer ihm liegen und reflexiv nicht einzuholen sind (vgl. dazu auch Waldenfels 1992, S. 148 ff.). Nur am Rande ist kritisch anzumerken, dass diese neue Sicht der Dezentrierung des reflexiven Bewusstseins-Ich von Fischer weder kritisch methodologisch ausbuchstabiert wird und deshalb auch keine systematischen Folgen für sein widersprüchlich erscheinendes Konzept einer voraussetzungslosen Deskription zeitigt noch auch Konsequenzen für den moralisch-praktischen Bildungs- und Persönlichkeitsbegriff hat, den er in seinen kulturpädagogischen Artikeln entfaltet. Leitend sind dort für Fischer wie überhaupt für die geisteswissenschaftliche Pädagogik im 20. Jahrhundert (u. a. W. Flitner, Spranger, Bollnow, aber auch Langeveld) sowohl das kantische Vernunftideal eines autonomen und allgemeinen Moralsubjekts wie auch – widersprüchlich dazu – ein christlich-metaphysisch fundierter Personalismus, in dem es um vorrationale, letzte religiöse Offenbarungswahrheiten geht, die nach Fischer den metaphysischen Urgrund jedes Berufes, auch des Erzieherberufes, darstellen (vgl. dazu Röhrs 1953, S. 69 ff.). Vielleicht liegen in dieser religiös fundierten Weltsicht auch die vorphilosophischen Wurzeln des ontologisch begründeten präsentischen Wahrheitsanspruchs, der sich im Deskriptions- und Tatsachenverständnis von Fischer wiederfindet (s. u.).

9.2  Vom Bewusstsein zum Sein des Bewusstseins. Aloys Fischers …

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Gehen wir mit Fischer noch eine Wegstrecke in seiner Konzeptualisierung des Bewusstseins. In seiner früheren Abhandlung von 1915 Untergründe und Hintergründe des Bewußtseins (in Fischer 1957a, S. 57–111) relativiert er gleichfalls das „Grunddogma der modernen Psychologie“, dass „das Seelische mit Bewusstseinsphänomenen identisch sei“ (ebd., S. 59, Anm. 1) mit Blick auf die Naturwissenschaften von den Tatsachen des Lebens (Biologie, Physiologie bzw. physiologische Psychologie usw.). Diese Tatsachen des Lebens bilden gegenüber der Ordnung der Bewusstseinsvorgänge „ein eigengesetzliches Reich, prinzipiell ohne Annahme des Bewusstseins verständlich, wie die Pflanzenphysiologie zeigt, und sind darum auch bei Tier und Mensch, wo sie allerdings mit Bewusstseinsvorgängen zusammen real sind“ (ebd., S. 58).

Aufgrund der schon in der Antike beginnenden Geschichte der Dichotomisierung von Psyche und Physis sei es Gemeingut geworden, Bewusstsein mit Bewusstheit zu identifizieren, sodass für die moderne Psychologie (als Phänomenologie des Bewusstseins) der Begriff des Unbewussten eine sinnlose Wortbildung darstelle. Dadurch sei aber der Blick auf die Untergründe und Hintergründe des bewussten Lebens verstellt worden, die man aber als die „eigentlich dirigierenden Kräfte für den Ablauf des bewussten Lebens“ (ebd., S. 62) verstehen müsse. Jedoch sei man heute zu der Ansicht gelangt, dass „es die Bewusstseinserlebnisse selbst (seien), die uns auf das Unbewusste hindrängen“ (ebd., S. 62). Zwar bleibe weiterhin als Aufgabe des Psychologen die deskriptiv-analysierende Erforschung des Bewusstseins im Ausgang von der Welt, die der Psychologe in sich als eine von der materiellen Welt verschiedene Welt entdecke (Gebilde und Vorgänge des Wahrnehmens, Erinnerns, Denkens, Fühlens, Liebens, Hassens, Wollens) und dann auf die seiner Mitmenschen übertrage, – aber die Frage, „woher die Bewusstseinstatsachen kommen, warum sie und wie sie entstehen, warum sie vergehen“, diese Frage „nach dem Sein dieses Nicht-mehr- oder Noch-nicht-Seienden lasse sich mit den herkömmlichen deskriptiven Methoden nicht beantworten“ (vgl. ebd., S. 64). Es würde zu weit führen, die nun beginnenden Analysen von Fischer im Einzelnen wiederzugeben. U. a. kommt er als erstes auf die Struktur von sich charakterlich prägenden Bewusstseinserlebnissen zu sprechen, in denen sich aktuelle mit vergangenen, sedimentierten Erlebnissen verbinden. Sie weisen als Resultat der Erfahrungs- und Erlebnisgeschichte einer Person ein die Gegenwart überdauerndes eigentümliches Gepräge auf (vgl. ebd., S. 66 f.). Weitere unbewusst wirkende Strukturen des aktuellen Bewusstseinslebens sind nicht erworbene, sondern angeborene Dispositionen wie Anlagen (Begabungen,

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Talente, Temperamente usw.) oder persönliche Eigenschaften wie überdauernde Gesinnungen, Haltungen, Gewohnheiten (vgl. ebd., S. 68 f.). Was die Methode ihrer Erschließung angehe, so seien sie niemals im einzelnen Erlebnis bewusst gegeben. Sie können nur „aus Eigentümlichkeiten der allein selbstgegebenen Bewusstseinserlebnisse“ erschlossen werden, bzw. sind „mit Notwendigkeit“ für eine angemessene Erklärung postuliert (ebd., S. 74). D. h. die Deskription wird methodisch durch Erklärungskonstrukte ergänzt, deren Konzeptualisierung sich bestimmten wissenschaftlichen Traditionen verdankt, zu denen aus unserer heutigen Sicht das komplexe und methodisch plurale Feld der Biografieforschung gehören würde. Fischer verfolgt somit offensichtlich ein undogmatisches und plurales Konzept psychologischer Methoden, zu dem er sich – und hierin zeigt sich seine phänomenologische Einstellung trotz aller kritischen Distanz zur Bewusstseinspsychologie – aufgrund der psychischen Tatsachen gedrängt fühlt. Das wissenschaftliche Konstrukt ist in seinen Augen sachhaltig begründet. Es ist nicht bloß ein konstruktivistisches, Tatsachen erzeugendes Wissenschaftsgebilde. Seine Nähe zur Münchener Gegenstandsontologie zeigt sich gerade deutlich in der ­Formulierung „selbstgegebene Bewusstseinserlebnisse“ (ebd., S. 74), denen eine subjektübergreifende sachhaltige Objektivität zuerkannt wird. Im Fortgang seiner Abhandlung wendet sich Fischer wieder dem „vollen Blick nach den Phänomenen des seelischen Lebens“ (ebd., S. 77 f.) zu. Dort arbeitet er mit einer Methode, die wir als ‚exemplarische Deskription‘ kennzeichnen würden (vgl. dazu näher Lippitz 1984). Darin soll das Unbewusste als Bestandteil der psychischen Tatsachen selbst aufgewiesen werden, das Unbewusste, das schlicht erlebt wird, im Unterschied zum Bewussten als reflektiert Erlebtem. Seine Methode ist die der intersubjektiven Validierung von Erfahrungen. Er fordert den Leser auf, die von ihm präsentierten Einzelbeispiele im Nachvollzug selbst „phantasiemäßig zu möglichster Anschaulichkeit“ zu bringen, „sich in eigene Erlebnisse der beschriebenen Art rückerinnernd hineinzuversetzen, nicht einfach nur die Worte zu lesen und ihren oberflächlichen Sinn zu identifizieren. Die Verständigung über das psychische Leben hängt in hohem Maße ab einerseits von der Fähigkeit zu einer zwingenden, suggestiv wirkenden Beschreibung, anderseits aber auch von der gutwilligen Mitarbeit dessen, der die Beschreibung verstehen soll, von seiner Fähigkeit, Beschreibungen nachfühlend mit lebendigem Sinn zu erfüllen. Klare und scharfe Begriffe sind in dieser Psychologie oder bei der wissenschaftlichen Behandlung derartig intimer Seelenvorgänge erst dann eindeutig, wenn über die Tatsachenbasis, auf die sie sich stützen, Einhelligkeit erreicht ist, wenn alle einen Begriff verwendenden Unterredner auf völlig gleiche und nach gleichen Richtungen aufgefasste Erlebnisse hinschauen“ (ebd., S. 77 f.).

9.2  Vom Bewusstsein zum Sein des Bewusstseins. Aloys Fischers …

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Hören wir genau hin: Es ist nicht die Rede von einem Konsensmodell der Wissenschaft, das die Wahrheit einer Aussage an die Zustimmung der Forscher bindet. Die Wahrheit liegt in den Erlebnissen selbst, auf die hin die intersubjektive Prüfung eingestimmt werden muss. ‚Hin-Schauen‘, ‚gleiche Erlebnisse‘ – das sind Formulierungen, die subjektive oder mit erlebnisäußerlichen Maßstäben arbeitende Deutungen ausschließen und, radikal formuliert, die Existenz einer Sache nicht von ihrer intersubjektiven Anerkennung abhängig machen. Genau darin zeigt sich die ontologische Rehabilitierung des Gegenstandspoles seitens der Münchener Schule. Sie benötigt nicht zur Wahrung der allgemeinen Verbindlichkeit der Erkenntnis den husserl’schen Überstieg auf ein überindividuelles transzendentales Subjekt oder dessen quasi mundanen Ersatz einer konsenssuchenden Forschergemeinschaft. Der Gegenstand ist auf ontologischem Boden zugleich intersubjektiv verankert. Er allein stiftet Konsens und garantiert Objektivität. Nicht unerwähnt bleibt der Ansatzpunkt der Deskription: Wie in der Münchener Psychologie üblich, so bes. bei Pfänder, später auch in der pädagogischen Tübinger Phänomenologie, zum Beispiel bei Bollnow, knüpft die Deskription an die Redeweise des täglichen Lebens an. Das erste Phänomen ist das Denken als die nicht nur den Phänomenologen befremdende Erfahrung eines quasi eigenwilligen ichlosen Bewusstseinsphänomens: dass ‚es in mir denkt‘, dass ‚mir Gedanken kommen‘ ohne meinen Willen. Die Rede ist von der Differenz des ‚fungierenden Denkens‘ zum bewussten Denken bzw. zu den Gedanken, die ich bewusst bilde oder die ich als Urteile mit Bezug auf bestimmte Maßstäbe und Normen fasse (vgl. ebd., S. 78 f.). Eine ähnliche Differenz gibt es auch bei Gefühlen oder Motiven (vgl. ebd., S. 83). Später gibt Fischer Beispiele von präreflexiven und unbewussten Praktiken der Aneignung von Wissen im „Nebenher von Erfahrungen“ (ebd., S. 85.). Das Wissen hat die Gestalt des tacit knowledge, wie wir es heute nennen würden. Wichtig und interessant ist die sozialpsychologische bzw. soziologische Rahmung dieses Typs von Beispielen: Das, was wir nebenher an Wissen und Haltungen weitgehend unbewusst erwerben, verdichtet sich – modern gesprochen – zum sozialmilieuspezifischen Habitus, der die bewusste Selbst- und Weltsicht samt Haltungen und Einstellungen höchst wirksam durchsetzt und vorstrukturiert. Ein anderes, gleichsam schon psychoanalytisch besetztes Terrain, das keiner Deskription mehr zugänglich ist, betritt Fischer, wenn er auf Unbewusstes zu sprechen kommt. Es wird durch prälogisch-assoziative, fantasieförmige, bildhafte Verkettungen weitergebildet, oder es durchwirkt als etwas Unbewältigtes (aus der Kindheit oder dem Jugendalter) aktuelle Erfahrungen in ‚schicksalshafter Weise‘. Auch Uneingestandenes und Verdrängtes im Freud’schen Sinne bilden als Unbewusstes „in hohem Maße den Kern der Persönlichkeit mit“

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(ebd., S.  101). Zum Schluss erwähnt Fischer eine dritte Dimension des Unbewussten als das noch Nicht-Bewusste, das noch Unbemerkte, das z. B. jede Wahrnehmung strukturiert. Wir können uns in die Betrachtung eines Gesichtes vertiefen, nehmen es dann als physiognomische Gesamtgestalt wahr, ohne es aber im Detail beschreiben zu können. Das gilt auch für das Hören von Musik, für die geometrische Sicht usw. Die schon von Husserl sogenannte kategoriale, gestalthafte Verfasstheit unserer Wahrnehmungen kommt in diesen Beispielen zur Geltung. Stellen wir uns das methodische Verfahren von Fischer noch einmal kritisch vor Augen. Es scheint trotz offensichtlicher poietischer Elemente ‚gegenstandsneutral‘ zu sein. Jedoch – dass etwas als etwas in Erscheinung tritt und sich darin die signitative und hermeneutische Differenz zeigt, dass außerdem jede Thematisierung von fungierenden Phänomenen (Erlebnissen, Erfahrungen usw.) prinzipiell nur nachträglich erfolgt und damit nicht mit ihnen zur Deckung kommen kann (diakritische Differenz), scheint Fischer als Vertreter der Münchener Schule nicht methodologisch anzufechten. Für ihn ist die sachliche Überzeugungskraft der Beispiele auf eine konsensstiftende und nicht durch Konsens gestiftete Tatsachenbasis zurückführbar. Wahrheit ist ontologisch verbürgt und vor aller Methodik präsent. Die Adäquatheit der Erkenntnis wird durch das Erkannte garantiert. Ja, sie wird, wie schon oben angedeutet, durch das christlich-personalistische Selbst- und Weltverständnis von Fischer außerphänomenologisch und vor aller Wissenschaft metaphysisch verbürgt. Dieses Erkenntnis- und Wahrheitsmodell präformiert auch seine Auffassung von ‚Deskriptiver Pädagogik‘ als ‚reiner Prinzipienwissenschaft‘, die wir nun ausführlicher vorstellen werden. Außerdem stellt sich die Frage, ob und wie Fischers differenziertes soziologisch und psychoanalytisch dimensioniertes Verständnis der menschlichen Person, ihrer Psyche und ihrer reflexiv nicht auflösbaren Intransparenz, was ihre individuelle genetische und biografische Erfahrungsgeschichte angeht, mit dem christlich-personalistischen Menschenbild und dem Autonomieanspruch als moralischer Person zusammenpasst, die Fischer seinem Bildungs- und Erziehungsverständnis zugrunde legt.

9.3 Aloys Fischer und sein erziehungswissenschaftlicher Entwurf: ‚Deskriptive Pädagogik‘ (1914) Diese Schrift und die weitere kleine wissenschaftstheoretische Arbeit Über die Bedeutung des Experimentes in der pädagogischen Forschung und die Idee einer exakten Pädagogik (1913) gelten in neueren exemplarischen Textsammlungen

9.3  Aloys Fischer und sein erziehungswissenschaftlicher …

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über erziehungswissenschaftliche Konzeptionen und Methoden (Röhrs 1968 S. 211–238; Oppolzer 1966, S. 83–99) als frühe prototypische Arbeiten einer phänomenologisch orientierten Pädagogik. Bevor wir uns ihnen systematisch widmen, sei ein Blick auf einige seiner heute nicht mehr bekannten konkreten pädagogisch-psychologischen Studien geworfen. Als Vertreter der Münchener Phänomenologie und Psychologie arbeitet Fischer sowohl mit genuin psychologischen wie sozial- und schulpädagogischen Fragestellungen. Sie sind hauptsächlich im Band 5 und 6 der gesammelten Werke wieder veröffentlicht worden. Wir treffen zum Beispiel auf die Arbeit über die schon oben erwähnte Thematik des Unbewussten aus phänomenologischer Sicht. Dann folgt die kleine, auch pädagogisch interessante, mit qualitativen Methoden der Kinderbeobachtung und der qualitativen Analyse der Umgangsqualitäten des Materials arbeitende entwicklungspsychologische Untersuchung Über das Bauen und die Bauspiele von Kindern (1918). Bis heute aktuell scheint mir die vierzigseitige Abhandlung über Moralpsychologische Untersuchungsmethoden (1928) zu sein. Denn dort referiert Fischer nicht nur kulturvergleichende Forschungen, sondern auch eigene bzw. die von einigen seiner Schüler, die er initiiert hat. Forschungsziel ist es, heute vergleichbar mit dem der Kohlberg-Gruppe, ein Stufenkonzept der sittlichen Reife zu erstellen. Der Reifebegriff wird nicht, wie in den frühen Arbeiten Kohlbergs, auf moralische Urteilsfähigkeit eingeschränkt, sondern umfasst Motive (Triebleben, Anlagen, Neigungen), sittliche Einsicht (sittliche Anlage der Differenzierungsfähigkeit zwischen Gut und Böse, geistige Funktionen, Gefühlserfahrung und -leben) und tatsächliche sittliche Praxis (vgl. S. 173). Es würde sich auch heute noch lohnen nachzuprüfen, ob dieses umfassende Forschungskonzept durch die Tradition der Münchener Phänomenologie mitmotiviert wurde, die sich systematischer als Husserl auch der Erforschung der Genese des menschlichen Willenlebens und der Gefühle zuwandte. Die von Fischer angewandten bzw. referierten Methoden sind überwiegend qualitativ, zum Teil sogar experimentell wie u. a. Feldbeobachtung, gezielte Beobachtungen in künstlichen Situationen, standardisierte oder halboffene Befragung, Ordnungstests, Dilemmageschichten, die den Kindern präsentiert werden, um eigenes oder fremdes sittliches Verhalten beurteilen zu können, Provokationen sittlichen Verhaltens in künstlich hergestellten Bewährungssituationen. Dabei sind Beobachtungsgegenstände sprachliches Verständnis und Wissen der Kinder hinsichtlich der Klassifikation sittlicher Sachverhalte (Alltagsnormen, moralische Geschichten), Erfahrungen und Erleben der Kinder von sittlich relevanten Sachverhalten (alltägliche Pflichten, Aufgaben), Einstellungen und Idealbilder. Als Ergebnis seiner Untersuchungen und Literatursichtung kommt Fischer zu einer Vierstufenskala. Sie reicht, für Piaget- und Kohlbergkenner heute nicht überraschend, vom

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­ tadium der sittlichen Indifferenz, über ein sittlich-naives (egozentrisches bzw. S konventionelles) Stadium zu Anfängen eines sittlichen Verhaltens und Verständnisses, das in dem Stadium der vollendeten Sittlichkeit einer postkonventionellen Einstellung gipfelt, in dem „Willenentscheide von autonom verpflichtenden, als objektiv geltend betrachteten Grundsätzen ausgelöst und mit einer die sittliche Selbstachtung als Ziel verfolgenden Kraft durchgeführt werden“ (ebd., S. 203).

Ähnlich komplex angelegt ist die Fischer’sche Studie Zur Theorie der emotionalen Bildung – Am Beispiel: Dichtung in der Schulerziehung (1923). Methodischer Kern wie in den beiden erstgenannten Abhandlungen über psychologische Grundfragen ist hier das Verfahren der exemplarischen Deskription (vgl. Lippitz 1984): Am Beispiel einer Gedichtinterpretation fordert Fischer den Leser der Abhandlung auf, die atmosphärische Wirkung einer stimmungsvollen Naturlyrik auf die eigene emotionale Befindlichkeit nachzuprüfen. Dichtung verwandelt sich, so die Sicht Fischers, zu einer personalen Erlebnisform, „in der jeder sein Gedicht als wortlose Schwingung seiner Gefühlswelt nachdichtet“ (S. 489). Man mag heute über dieses Segment der Auffassung, wie emotionale Bildung erfolgen könne, die Stirn runzeln. Die Methode der exemplarischen Deskription wird als ein Verfahren der intersubjektiven Prüfung von Erfahrungen und Erlebnissen eingesetzt, die auch heute noch ihren systematischen Stellenwert in der qualitativen Forschungstradition hat. Aus dem großen Spektrum der Fischer’schen psychologisch-pädagogischen Arbeiten sind die hervorzuheben, die auf der Grundlage einer Phänomenologie der Sinne, ähnlich der Sinnesästhesiologie von Plessner musikalische und kunsterzieherische Bildungsprozesse diskutieren: Die Untersuchung des Gehörs und der musikalischen Fähigkeiten des Kindes und Jugendlichen (1916) und Ziele und Grundsätze einer Erziehung des Auges (1912). Unübersehbar zeigt sich dort die u. E. nicht zu umgehende historische Bedingtheit aller gehaltvollen sinnesanthropologischen Analysen, die sich nicht auf formale Theorien der Sinneselemente oder -funktionen beschränken, sondern ihre sinnerschließende Leistung unter dem normativen Bildungsaspekt der Höherbildung der Sinne zu würdigen beabsichtigen. So ist in Fischers „Erziehung des Auges“ die Struktur des „vereinfachenden Sehens“ (S. 522), die auf Grundformen des Sichtbaren abgestellt ist und die uns die Orientierung in einer komplexen visuellen Umgebung erleichtert, zugleich eine organische Norm. Denn als Spezialfall des allgemeinen Gesetzes der fortschreitenden Differenzierung der Sinnesgebiete schließt das ‚vereinfachende Sehen‘ „ein Bedürfnis des Auges nach einer einfachen, in ihrer Grundform klaren Sichtbarkeit der Dinge ein“

9.3  Aloys Fischer und sein erziehungswissenschaftlicher …

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(ebd., S. 523), die wie z. B. auch die perspektivische Struktur des Sehens für die Gestaltungsarbeit des Künstlers zur erstrebten Norm wird. Dafür glaubt Fischer in Geschichte und Gegenwart für jedermann nachvollziehbare Beweise in allen künstlerischen Aktivitäten zu finden. Dass Kunst sich auch gegen sogenannte natürliche und quasi-organische Normen Bedürfnisse entwickeln kann und damit der ‚ästhetischen Kontemplation‘ und dem ‚ästhetischen Genuss‘ zuwiderläuft, was die Avantgarde der Malerei und der Musik schon zu Lebzeiten Fischers charakterisiert, das bleibt für ihn als Repräsentanten eines bürgerlich-konservativen Bildungs- und Ästhetikverständnisses außerhalb der Betrachtung. Im Konzept seiner pädagogischen Theorie stützt sich Fischer explizit auf die Phänomenologie. Pädagogik als ‚reine Theorie‘ ist in seinen Augen ‚Prinzipienwissenschaft von der Erziehung‘. Analog zur Kantischen Systematik und zu seinem Kollegen Lochner (1967 [1927]), trennt er sehr scharf die empirische Ebene der pädagogischen Tatsachforschung bzw. der pädagogischen Tatsachen von der Begründungsebene. Die deskriptive Pädagogik habe die Aufgabe „einer reinen, soweit als möglich interesseloser Erkenntnis dienenden pädagogischen Theorie zu erfüllen“ (Fischer 1914, in Fischer 1966, S. 84). Kernmethode einer Theorie, die die Tatsache der Erziehung „im ganzen und die Einzeltatsachen der Erziehung nach ihrem historischen und aktuellen Bestande“ studiere, sei die Deskription, „die reine, allerdings so tief als möglich geführte Beschreibung und Zergliederung der Einzelheiten der pädagogischen Praxis“ (ebd., S. 85). „Genau beschreiben, was der Schüler tut – wenn er z. B. ein Gedicht interpretiert, einen Satz kopiert, eine eingekleidete Rechenaufgabe durchdenkt, um den Ansatz zu finden, erfordert eine hochentwickelte psychologische und pädagogische Achtsamkeit, eine Weite der Einfühlung und des Nachverstehens, die als Naturgabe nicht häufig, erst als Resultat einer guten Schulung zu erlangen ist“ (ebd., S. 86).

Beschreibung ziele „auf die genaue und erschöpfende Wiedergabe der im Bewusstsein des lernenden Kindes selbst in verschiedenen Einzelheiten des Erlebnisses sich abspielender Vorgänge“ (ebd., S. 86). Wie komplex und auch widersprüchlich Fischers Bewusstseins- und Erlebnisbegriff ist, wurde schon deutlich. Er ist keineswegs ‚kognitivistisch‘ eingeengt. Was die Beschreibung angeht, so unterbaut sie nach Fischer systematisch die oben zitierte halb hermeneutische, halb psychologische Fassung einer subjektiven Verstehenskompetenz und gründet sie systematisch auf eine deskriptiv-phänomenologisch einholbare wissenschaftliche Regionalontologie. Fischer führt dazu genauer aus: Beschreibung sei nicht auf das Erfordernis praktischer intersubjektiver Ad-hoc-Verständigung über einen pädagogischen

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Sachverhalt zu reduzieren (vgl. ebd., S. 87). Diese könne nämlich systematisch Äußerliches nicht vom Wesentlichen unterscheiden. Auch eine genaue empirisch orientierte Beschreibung von wesentlichen Merkmalen einer Sache könne selektiv und durch theoretische Gesichtspunkte vorbelastet erfolgen. Das Vorhandensein von Merkmalen stelle außerdem noch lange nicht den Rechtsgrund ihrer Geltung dar. Beschreibung müsse vielmehr im Sinne der phänomenologischen Forschungen theorielose, voraussetzungslose Beschreibung sein, die auf alle Gebiete angewandt werde, „in denen Gegebenes und Letztes aufzeigbar ist oder vermutet wird“ (ebd., S. 88). Erst dann wäre man in der Lage, der Zersplitterung eines wissenschaftlichen Fachgebietes in unterschiedliche Wissenschaftsrichtungen und Schulmeinungen Herr zu werden und über die Richtigkeit von Standpunkten zu entscheiden. Die beschreibende Feststellung von Tatsachen als letzter Instanz errichte den Boden, „auf den alle Richtungen des pädagogischen Denkens, die historischen, dogmatischen, exakten, experimentellen, die religiösen, die Herbartianer, die Rousseauschüler, die Platoniker, die Instinktpädagogen und die Organisatoren – sich stellen müssen“ (ebd., S. 88).

Denn dieser Boden – so in unseren Augen die paradoxe und für hermeneutisch Geschulte eher befremdliche Aussage Fischers – wäre selbst ‚standpunktlos‘. Fischer unterstreicht also die universale Begründungsaufgabe der phänomenologischen Methode, die zugleich – wie die Verwendung des Begriffs ‚Boden‘ besagt – realontologisch im Sinne der Münchener Schule fundiert ist. Er versteht sie nicht bloß als ein Instrument. Sondern gemäß dem phänomenologischen Gesetz einer Korrelation von Denkakten und ihnen entsprechenden Gegenständen richtet sich die Denk- und Forschungsmethode der Beschreibung an einem materialen Apriori aus, an einem ‚Boden‘ von Wesenstatsachen der Erziehung vor jeder empirischen Tatsachenforschung. Kurz: phänomenologische Beschreibung entdeckt das regionalontologische Fundament der wissenschaftlichen Pädagogik. So heißt es bei Fischer: „Am Anfang aller Wissenschaft muss man also beschreiben, d.h. fragen, was die mit den Worten des betreffenden Gebietes bezeichneten Dinge und Sachverhalte sind; und zwar die Sachverhalte in ihrer natürlichen vortheoretischen Gegebenheit, als ‚Tatsachen‘, welche die Probleme der jeweils infrage kommenden Wissenschaft noch enthalten, erst möglich machen. Man muss die Frage: was ein Gegenstand ist, so weit treiben, bis weiter zu fragen evident unsinnig wird; und man muss die Frage dabei immer richten auf ein Gegebenes als solches, in seiner Daseinssphäre, sie nicht umbiegen oder hineingeraten lassen in eine andere: ‚Was-ist-Frage‘, nämlich in die Frage der verstehenden bzw. erklärenden Theorie“ (ebd., S. 91).

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Auffällig an diesem Zitat ist die Differenz zu Husserl. Die Rede von ‚Daseinssphäre‘ bezeugt eine eidetische, vortranszendentale Fassung des Methoden- und Gegenstandsverständnisses. Deutlich wird das zum Beispiel am material-ontologischen Tatsachenbegriff in folgendem Bestimmungsversuch Fischers: „Das unmittelbar Gegebene als solches wird nun Phänomen genannt, nicht um es damit als etwas Unwirkliches zu charakterisieren, sondern um es als den von allen Wirklichkeitssetzungen und theoretischen Formungen freien Tatsachenstoff zu kennzeichnen, wie er den Ausgangspunkt der Forschung und die letzte Instanz für die Legitimation ihrer fortwährenden Schöpfungen von Begriffen, Gesetzen, Zusammenfassungen und Theorien bildet“ (ebd., S. 92 f.).

Bekanntermaßen gehört es zur Tradition des philosophischen Beschreibungsbegriffs, dass Beschreibung allgemein im neuzeitlichen Wissenschaftsverständnis wie auch im Besonderen bei Husserl zwischen Auslegen und Einlegen, zwischen purer Rezeption und Konstruktion von Gegebenem schwankt (vgl. dazu ausführlicher Lippitz 1980, S. 43 ff.). Das verdankt sich letztlich, so haben wir oben gezeigt, der signitativen Differenz zwischen dem Erkennen und dem Erkannten, die das Identitäts- und Präsentationsmodell von Wahrheit aufbricht. Führt dann also die Beschreibung zum Letztgegebenen hin oder umgekehrt von ihm weg, und was hat man sich sonst unter dem Letztgegebenen und seiner Phänomenalität vorzustellen? Fischers Antwort darauf ist seiner Herkunft verpflichtet. Er konstatiert einmal, dass Letztgegebenes eigentlich nie adäquat beschrieben werden könne. Der Phänomenologe sei verpflichtet, „das Gegebene, als solches es innerlich festhaltend, zu charakterisieren, zu qualifizieren“, eine Aufgabe, die niemals voll erfüllbar sei, da Letztes nur aufgezeigt, nie aber beschrieben werden könne (vgl. Fischer 1914, in Fischer 1966, S. 94). Der methodische Weg der Beschreibung ist demzufolge konstruktiv, Beschreibung ist ein über die ‚Tatsache‘ hinausreichender, ein sie gemäß den sprachlich-objektivierenden Regeln der Beschreibung qualifizierender Akt, kurz: facta sunt constructa, und von der Ebene der Beschreibung allein her ließe sich die Geltung einer Tatsache nicht behaupten. Wäre dann eine deskriptive Pädagogik nur eine ‚vorletzte‘, weil abgeleitete Grundlegung? Diese Folgerung zieht Fischer jedoch nicht in aller Schärfe. Er schwankt und macht so auf ein grundlegendes Dilemma der Phänomenologie aufmerksam, das man schon in Husserls radikaler Selbstbegründung der phänomenologischen Erkenntnis vorfindet, nämlich auf das Dilemma einer radikal neu beginnenden Erkenntnis, die ihre Fundierung selbst noch reflexiv einzuholen versucht. Zwar spricht Fischer vom ‚Letzten‘, das nur aufzeigbar wäre. Welche Art von Methode wäre denn das Aufzeigen? Ist es nicht wiederum eine etwas als etwas identifizierende Geste? Aber dann räumt er fast

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gleichzeitig ein, dass man ‚Letztes‘ in mehr oder weniger genauer Weise unterscheiden könne, sei es vom anderen Letzten oder vom Vorletzten (vgl. ebd.). Die Wahrnehmung des ‚Letzten‘ im Vergleich zu anderem ist ihm zufolge kein Differenz schaffender Akt, sondern – so lesen wir diese Aussage – die Differenz liegt im ontologischen Material vorgebildet. Das wahre Sein ist gleichsam Maßstab der Methode. Beispielsweise operiert Fischer in seinen Beispielen der Farbwahrnehmung mit dem Maßstab der Präsenz, mit dem der Vollkommenheit des Seins, das die wissenschaftliche Methode auszuschöpfen habe – nicht mehr und nicht weniger. Der unvermeidlichen Instrumentalität und Medialität der Methode kommt augenscheinlich kein Eigengewicht zu. Gewissermaßen kann man die Brücken abbrechen, auf denen man zur Erkenntnis des Wesens gelangt ist (vgl. ebd., S. 95). Sind wir in dieser kritischen und ausführlichen Rezension nur eines, wenn auch für die weitere pädagogische Rezeption des phänomenologischen Methodenverständnisses wichtigen erziehungswissenschaftlichen Textes Fischer gerecht geworden? Der Text führt doch in seiner erziehungswissenschaftlichen Rezeption, so unser Eindruck, dazu, dass mit konstanter Regelmäßigkeit unter Verweis auf Fischer über ‚die‘ phänomenologische Methode der reinen Deskription bloß oberflächlich informierend gehandelt wurde. Zumindest unser Versuch, Fischers Position systematisch in der Münchener Schule zu verankern, bricht mit dieser verkürzten Textrezeption und macht die innere Systematik oder auch Brüchigkeit und Widersprüchlichkeit seines Theorieverständnisses deutlich. Besonders das wegen seiner emotionalisierenden Wirkung auf den Leser nicht gerade glücklich gewählte und von Fischer entschuldigend eingeführte Beispiel einer phänomenologischen Beschreibung des pädagogischen Phänomens der körperlichen Züchtigung im letzten Teil seiner Abhandlung schafft eher Unklarheit als Klarheit in Sachen deskriptiver Pädagogik. Der Beschreibung einer Züchtigungssituation folgt bei Fischer die deskriptive Deutung: „Ein Vater (ein Lehrer) überraschte sein Söhnlein (seinen Schüler) dabei, wie es (er) ihn gerade nachmacht; natürlich in einem Zug, der dem Vater selbst nicht sympathisch erscheint. Verblüfft von dieser Entdeckung und ohne weitere Besinnung, ahndet der nachgeahmte Träger der Erziehungsautorität dieses Verhalten mit einem Klaps (je nach der Gegend Ohrfeige, Maulschelle, Kopfnuss oder sonstwie genannt)“ (ebd., S. 95).

Fischer kommt es nun darauf an, systematisch mögliche theoretische ‚VorUrteile‘ und Deutungen bzgl. des Tatsachenverständnisses einzuklammern, wie zum Beispiel juristische, psychologische, bis dann die genuine pädagogische

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Tatsache sich herausschält, und das in vermeintlicher Unabhängigkeit von eigenen Wertungen und Erziehungsidealen. Folgen wir seinem Reduktionsversuch ein Stück weit: Der Sachverhalt der Züchtigung ist als reine affektive Reaktion ohne die Absicht der Vergeltung, der Abschreckung oder Besserung seitens des Vaters oder als singuläre bedeutungslose Episode für das Kind nicht pädagogisch zu nennen. Aber von einem pädagogischen Tatbestand könne man, so Fischer, schon reden, wenn zwar eine Erziehungsabsicht fehle, jedoch die Wirkung pädagogisch sei (vgl. ebd., S. 97). Als pädagogisch sei die auf Förderung gerichtete zielgerichtete Wirkungsabsicht der Bestrafung qualifizierbar. „Wir haben festzustellen, dass ein Mensch bestimmte Handlungen tut, Reden spricht, Anordnungen erlässt in der Absicht, damit andere seiner Macht zugängliche Menschen zu beeinflussen, dass er eine solche Beeinflussung für notwendig und richtig hält, weil er der Ansicht ist, durch ihre kumulierte Wirkung die abhängigen Menschen, solange sie noch plastisch sind, so zu formen, wie ein ihm vorschwebendes Persönlichkeitsideal es als wünschenswert, als ‚seinsollend‘, erscheinen lässt“ (ebd., S. 97).

Eine noch tiefere Schicht der Tatsächlichkeit läge in dem Glauben, „dass alle Erlebnisse Spuren hinterlassen, den Anfang zu Gewohnheiten legen und dadurch wesentliche Bedeutung für das Schicksal und die endliche geistige Form des Menschen erlangen; wir glauben, dass der Mensch plastisch ist, besonders in der Jugendzeit; dieser Glaube ist die allerallgemeinste, darum fast regelmäßig übersehene Voraussetzung der Erziehung im Ganzen. Auf den Konsequenzen, welche alle Erlebnisse, unabsichtlich gemachte, durch anderer Menschen Wollen und Direktion uns zustoßende, in der Persönlichkeit des Erlebenden hinterlassen, baut auch jede Selbsterziehung auf; auf ihr beruht die indirekte Beeinflussung“ (ebd., S. 98).

Auf den ersten Blick paradox scheint die ‚Glaubens‘- und Wertdimension der Tatsächlichkeit der Erziehung gegenüber einem gleichsam objektiv verbürgten Tatbestand zu sein. Jedoch, wie oben schon dargelegt, ist für Fischer die Grundlage jeden beruflichen Handelns und auch die Dimension des personalen Seins metaphysisch verbürgt, abgesehen von der Grundauffassung der Münchener Schule, dass Glaubens- und Wertphänomene phänomenologisch sich zeigende zeitlose Wesenheiten bilden, so explizit in Schelers materialer Wertontologie, aber auch in Pfänders Phänomenologie der Gefühle und Werte. Gegenüber dem direkten Handeln schätzt Fischer mit Bezug auf sein Beispiel die ‚indirekte Wirkung des väterlichen Seins‘ auf den zu Erziehenden höher ein:

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„Bedeutet die Gefahr nicht ein Gebot? Ein Gebot immer, nicht nur in einzelnen Stunden und in einzelnen Stücken, vorbildlich zu sein? Für den Vater (Erzieher) ist es wichtiger, so zu sein, dass er nicht zu spöttischer Nachahmung herausfordert, als eine solche Nachahmung mit Brachialgewalt in ihrer Äußerung zu unterdrücken. So enthüllt sich uns in tieferen Schichten des Seelenlebens von Erzieher und Zögling die pädagogische Wirklichkeit, in tieferen Schichten, als diejenigen der bewussten Absicht und des planmäßigen Wollens sind“ (ebd., S. 98).

Unübersehbar operiert Fischers ‚deskriptive‘ Pädagogik höchst voraussetzungsvoll. Er setzt als Mitglied der Münchener Schule voraus, dass jede Deutung eines Sachverhaltes einer eindeutig identifizierbaren und voneinander abhebbaren wissenschaftlich-regionalen Sachontologie folgt (das Psychologische, das Juridische, das Pädagogische), deren ontologische Tiefenschicht die Differenz von Sein und Sollen, von Tatsache und Normen bzw. Werten tilgt. Voraussetzungsvoll erscheint uns heute diese Auffassung in sich identischer Regionalontologien angesichts der vielen sich z. T. ausgrenzenden oder sich überschneidenden ‚Sprachspiele‘ schon innerhalb einer Einzelwissenschaft, einschließlich der Erziehungswissenschaft selbst. Sie verdanken sich nicht zuletzt einem unterschiedlichen methodischen und methodologischen Verständnis, in dem Tatsachen mit den Methoden ihrer Gewinnung korrelieren, abgesehen davon, dass selbst die neuere nachhusserl’sche Phänomenologie sich des Vorurteils voraussetzungsloser Erkenntnis entledigt hat. Aus der Kontrastierung der regionalspezifischen Deutungen lässt sich das Pädagogische nur gewinnen, wenn es schon in gewisser Weise positiv bestimmbar vorliegt. Für Fischer ist es ontologisch gegründet, und zwar in der Form einer Schichtung: vom Intentionalen zum Sein. Das Pädagogische an der Situation ist also nicht über die Ein- oder Ausklammerung dessen, was es nicht ist, bestimmbar. Die Beschreibung setzt voraus, was sie erklären will. Dass die Situation eine pädagogische sei, wird auf die pädagogische Absicht oder Wirkung zurückgeführt. Zur Präzisierung des Pädagogischen führt Fischer, so würden wir heute sagen, traditionsreiche und konsensfähige weitere Bestimmungsmomente ein, die typisch für die geisteswissenschaftliche Pädagogik seiner Zeit sind. Seltsam genug auf den ersten Blick für das Konzept theoriefreier Beschreibung, aber schlüssig mit Blick auf die Münchener Konzeption von phänomenaler Wirklichkeit: Danach zeigt sich schon im Alltagsbewusstsein ein positives, ontologisch relevantes Wirklichkeitsverständnis. Der Glaube des Menschen, dass es allerlei Wirkliches gebe, ist für Fischer notwendig konstitutives Moment im Aufbau der psychischen Wirklichkeit selbst. Dieser Glaube macht den Sinn der Seelenregungen des Menschen aus, er ist nicht mit dem husserl’schen Verdikt eines psychologischen Objektivismus aus der Welt zu schaffen, sondern macht den Sinn der Wirklichkeitserfahrung überhaupt erst aus

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(vgl. Herzog 1992, S. 259). Die pädagogische Wirklichkeit zeigt sich dementsprechend im Glauben an die Plastizität und Bildsamkeit des Menschen als tiefste ‚Voraussetzungen‘ der Erziehung. Diese übersituativen Grundbestimmungen des Erzieherischen, das gleichsam zum Professionsverständnis des Erziehers gehört, leiten die ‚Tiefendeutung‘ der pädagogischen Situation der Züchtigung ein, die jenseits einer erfahrungsorientierten, quasi empirischen Operationalisierung des Pädagogischen ins Moralisch-Normative umschwenkt, das selbst noch einmal ontologisch unterbaut ist: In den Appell der Selbsterziehung des Vaters angesichts der (wo erwiesenen?) großen Wirksamkeit nichtplanmäßiger Erziehung durch das vorbildhafte Sein des Erziehenden in seiner Wirkung auf das Sein des Zöglings. Betrachten wir rückblickend diese Konzeption: Die Deskription des pädagogischen Ereignisses endet im tradierten Verständnis der Vorbildpädagogik. Erziehung ist eine interaktive face-to-face Beziehung; sie wird als asymmetrischer Wirkungszusammenhang charakterisiert, dessen (mehr oder weniger bewusstes) Subjekt der väterliche Erzieher ist; sie ist fundiert in der Moral und Haltung des Erziehers, das im Vorbild-‚Sein‘ ihre tiefste Wirksamkeit entfaltet. In Fischers schichtenontologischer Prinzipienpädagogik verflechten sich Ethos und Sein auf vorintentionale Weise miteinander zu einem Wirkungsgefüge. Fischers anfänglich gestellter Anspruch auf methodisch gesicherte Begründung einer selbstständigen wissenschaftlichen Pädagogik wird also ersetzt durch tradierte geisteswissenschaftlich verbürgte Überzeugungen von Pädagogik und ihren Wirkungsmechanismen.

Literatur Bock, Irmgard. 2004. Die Methodisierung pädagogischen Forschens bei Aloys Fischer. In Zur Tradition der Pädagogik an der LMU München. Aloys Fischer. Allgemeiner Pädagoge und Pionier der Bildungsforschung (1880–1937), Hrsg. R. Tippelt, 63–72. München: Utz. Fischer, Aloys. 1957a. Ziele und Grundsätze einer Erziehung des Auges. In Aloys Fischer. Leben und Werk, Bd. 5/6, Hrsg. K. Kreitmair, 511–540. München: Bayerischer Schulbuch Verlag (Erstveröffentlichung 1912). Fischer, Aloys. 1957b. Untergründe und Hintergründe des Bewußtseins. In Aloys Fischer. Leben und Werk, Bd. 5/6, Hrsg. K. Kreitmair, 57–111. München: Bayerischer Schulbuch Verlag (Erstveröffentlichung 1915). Fischer, Aloys. 1957c. Untersuchung des Gehörs und der musikalischen Fähigkeiten des Kindes und der Jugendlichen. In Aloys Fischer. Leben und Werk, Bd. 5/6, Hrsg. K. Kreitmair, 253–268. München: Bayerischer Schulbuch Verlag (Erstveröffentlichung 1916).

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Fischer, Aloys. 1957d. Die Lage der Psychologie in der Gegenwart und ihre Folgen für die Psychologische Jugendforschung. In Aloys Fischer. Leben und Werk, Bd. 5/6, Hrsg. K. Kreitmair, 31–55. München: Bayerischer Schulbuch Verlag (Erstveröffentlichung 1925). Fischer, Aloys. 1957e. Moralpsychologische Untersuchungsmethoden. In Aloys Fischer. Leben und Werk, Bd. 5/6, Hrsg. K. Kreitmair, 173–214. München: Bayerischer Schulbuch Verlag (Erstveröffentlichung 1928). Fischer, Aloys. 1966. Deskriptive Pädagogik. In Denkformen und Forschungsmethoden der Erziehungswissenschaft, Bd. 1, Hrsg. S. Oppolzer, 83–99. München: Ehrenwirth (Erstveröffentlichung 1966). Fischer, Aloys. 1967. Über die Bedeutung des Experiments in der pädagogischen Forschung und die Idee einer exakten Pädagogik. In Drittes Jahrbuch der Pädagogischen Zentrale des Deutschen Lehrervereins. Leipzig 1913: Klinkhardt; Wiederabdruck in Erziehungswissenschaft und Erziehungswirklichkeit, Hrsg. H. Röhrs, 35–57. Frankfurt a. M.: Akademische Verlagsgesellschaft (Erstveröffentlichung 1913). Herzog, Max. 1992. Phänomenologische Psychologie. Grundlagen und Entwicklungen. Heidelberg: Asanger. Lenhart, Volker. 2004. Aloys Fischer als Allgemeiner Pädagoge. In Zur Tradition der Pädagogik an der LMU München. Aloys Fischer. Allgemeiner Pädagoge und Pionier der Bildungsforschung, Hrsg. R. Tippelt, 17–28. München: Utz. Lippitz, Wilfried. 1980. „Lebenswelt“ oder die Rehabilitierung vorwissenschaftlicher Erfahrung. Ansätze eines phänomenologisch begründeten anthropologischen Denkens in der Erziehungswissenschaft. Weinheim: Beltz. Lippitz, Wilfried. 1984. Exemplarische Deskription. Die Bedeutung der Phänomenologie für die erziehungswissenschaftliche Forschung. Pädagogische Rundschau 38 (1): 3–22. Lochner, Rudolf. 1967. Deskriptive Pädagogik. Umrisse einer Darstellung der Tatsachen und Gesetze der Erziehung vom soziologischen Standpunkt. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. (Erstveröffentlichung 1927). Meyer-Drawe, Käte. 1997. Education. In Encyclopedia of phenomenology, Hrsg. L. von Embree, E. A. Behnke, D. Carr, J. Clauds Evans, J. Huertas-Jourda, J. J. Kockelmans, W. R. McKenna, A. Mickunas, J. N. Mohanty, T. M. Seebohm und R. M. Zaner. Dordrecht: Kluwer. Oppolzer, Sigfried. 1966. Denkformen und Forschungsmethoden der Erziehungswissenschaft, Bd. 1. München: Ehrenwirth. Röhrs, Hermann. 1953. Die Pädagogik Aloys Fischer. Ratingen: Aloys Henn. Röhrs, Hermann. 1968. Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Stuttgart: Kohlhammer. Smith, Berry. 1997. Realistic phenomenlogy. In Encyclopedia of phenomonology, Hrsg. L. Embree et al., 568–590. Dordrecht: Kluwer. Tippelt, Rudolph. 2004. Zur Tradition der Pädagogik an der LMU München. Aloys Fischer Allgemeiner Pädagoge und Pionier der Bildungsforschung (1880–1937). München: Utz. Waldenfels, Bernhard. 1992. Einführung in die Phänomenologie. München: Fink.

„…durch die endlose Mühle der Worte zu drehen…“. Der Mensch als ein „Geständnistier“. Autobiografische Forschungen als „Geständniswissenschaften“?

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Ich möchte einen gleichsam ‚schrägen‘ Blick auf biografische Forschungen in der Erziehungswissenschaft, die seit einigen Jahren Konjunktur haben, werfen, und zwar mit Hilfe Michel Foucaults. Seine genealogischen Studien der Sozialwissenschaften wurden als provokativ empfunden, stellen sie doch das aufklärerische und emanzipatorische Selbstverständnis der neuzeitlichen Wissenschaften über den Menschen in einen systematischen Kontext, demgegenüber sie sich eher als Gegenpol sahen, nämlich in den machtförmig organisierten theoretischen und praktischen Kontexten von Wissenszwang und Wissenslust. Mein ‚schräger‘ Blick lädt zu einem Gedankenexperiment ein, das die mich leitenden wissenschaftlichen, insbesondere phänomenologisch orientierten Grundsätze und Methoden meiner eigenen biografisch orientierten Arbeiten infrage stellt. Mit Foucault – so mein Eindruck während meiner Rezeptionsarbeit seiner Schriften – verlässt man die vertrauten Bahnen und Plausibilitäten normaler hermeneutischer Wissenschaften und beschreitet gewissermaßen eine Parallelwelt mit neuen Plausibilitäten, die sich schwerlich mit der ersteren systematisch vermitteln lässt. Dass auch diese Welt ihre ‚Fransen‘, Widersprüche und Brüche hat, zeigt die inzwischen breit gefächerte kritische Foucault-Rezeption (vgl. Honneth/Saar 2003). Aus Foucaults Sicht hat sich der abendländische Mensch seit Aufkommen der mittelalterlichen christlichen Beichtpraktiken und im Zuge ihrer säkularisierten psychologischen Formen der „Geständniswissenschaften“ zum „Geständnistier“ verwandelt. Jedes körperliche und seelische Begehren wird verbalisiert und „durch die endlose Mühle der Worte“ gedreht, und das im Angesicht von Experten, ob sie nun Pastoren, Psychologen, Ärzte oder Pädagogen sind (Foucault 1983, S. 76). Sie haben die Deutungsmacht darüber, was denn als das innerste Geheimnis und die eigentliche Wahrheit anzusehen sei.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Lippitz, Phänomene der Erziehung und Bildung. Phänomenologischpädagogische Studien, Phänomenologische Erziehungswissenschaft 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24187-2_10

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„[M]an gesteht in der Öffentlichkeit und im Privaten, seinen Eltern, seinen Erziehern, seinem Arzt und denen, die man liebt, macht sich selbst mit Lust und Schmerz Geständnisse, die vor niemand anderem möglich wären, und daraus macht man dann Bücher“ (ebd., S. 76).

Das bevorzugte Thema ist hierbei seit dem 19. Jahrhundert die Sexualität, und das Grundverfahren, seine ‚Wahrheit‘ zu erfahren, ist das Geständnis als Diskursritual, das vom Beichtstuhl des Mittelalters bis zur Couch des Psychoanalytikers im 19. Jahrhundert mutiert. Darüber geschieht nach Foucault nicht bloß die Aufklärung über Sexualität, sondern darüber findet in viel grundsätzlicherer Weise die Individualisierung und „Subjektivierung der Menschen, das heißt ihre Konstituierung als Untertanen/Subjekte“ statt (ebd., S. 78). Denn der, der jemandem lauscht und zuhört, der richtet und bestraft ihn, und zwar ihn als konkrete und individuelle Person. Das Geständnis ist in einem Zuge ein Diskurs- und Mchtritual, das seine machtstrategische Funktion durch seine scheinbar menschenfreundliche Art verschleiert. Der Autobiograf will seine eigene Geschichte erzählen, das Kind möchte sein Tagebuch schreiben. Alles das wertet man üblicherweise als Selbstartikulationen des Subjekts, das darin seine Freiheit und Spontaneität kundtut. Und doch handelt es sich hier – so Foucault – bloß um den internalisierten Zwang zur Selbstdeutung, und die nach ihrer Identität suchenden Menschen sind nur unwissende Mitspieler im Machtspiel der neuzeitlichen Disziplinargesellschaft. Das gilt nicht nur für sie, sondern auch für die, die am anderen Ende der Couch sitzen, im Tagebuch herumspionieren, diagnostizieren und therapieren oder den Menschen andere Formen der Selbstprüfungen auferlegen und abverlangen. Sie ordnen die Selbstaussagen und Geständnisse des Individuums in den allgemeinen, standardisierten, auf Normalisierung ausgerichteten, sprachlich-fachlichen Code ihrer Disziplinen ein, in dem jedes Wort als Symptom einer möglichen Gefahr, einer möglichen Normabweichung, einer möglichen zu kontrollierenden oder zu verhindernden Gefahr angesehen wird. Das Geständnissubjekt wird so zum potenziell gefährlichen, zumindest problematischen Fall eines Allgemeinen, es wird also objektiviert und darüber der Kontrolle unterzogen (vgl. Brinkmann 1999, S. 288 ff.). Wenn dieser Zusammenhang von Macht, Wissen und Subjektwerdung so zutrifft, wie er nach Foucault konzipiert wurde, dann beschädigt er offensichtlich unser forschungsethisches Selbstverständnis hermeneutisch operierender Sozialwissenschaften. Schätzen wir nicht unsere narrativ-biografische Arbeitsweise als subjektorientiert ein, die es dem Subjekt ermöglichen soll, seine Erfahrungen und Erlebnisse, so wie es sie selbst interpretiert und deutet, zur Sprache zu bringen? Einer in unserer Theorietradition auch vorhandenen sog. ‚Hermeneutik des Verdachts‘, die hinter den Sinn des Erzählten kommen will, um die dem Erzähler nicht zugängliche, aber eigentliche Wahrheit herauszufinden, versuchen wir sogar

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aus dem Weg zu gehen. Wir sind keine objektiven Hermeneuten oder Psychoanalytiker, die das Selbstwissen der Interviewten noch überbieten, indem sie es auf die eigentlich in ihm verborgene Wahrheit hintergehen wollen! Halten wir fest: Ob nun subjektive oder objektive bzw. psychoanalytische Hermeneutik – nach Foucault gehören alle hermeneutischen Spielarten zu den Geständniswissenschaften. Ihre Funktion befördert die Ausbreitung und Intensivierung neuzeitlicher gesellschaftlicher Macht- und Sozialdisziplinierungstechnologien, in denen die Individuen zu Subjekten gemacht werden, d. h. im wortwörtlichen und übertragenen Sinne unterworfen werden. „Zumindest im Abendland ist noch die privateste Selbstprüfung an mächtige Systeme der Außenkontrolle gebunden. Wissenschaften und Pseudowissenschaften, religiöse und moralische Doktrinen. Das kulturelle Begehren, die Wahrheit über einen selbst zu wissen, veranlasst einen, die Wahrheit zu sagen“ (vgl. Dreyfus/Rabinow 1994, S. 205 f.),

und diese Diskursivierung versetzt den Menschen in ein Netz von anonymen Machtstrukturen, das ihn als Individuum über Wissen und Praktiken synthetisiert. D. h. Wissen und Macht bilden eine unverbrüchliche Symbiose. Soweit eine erste kleine Einführung in Foucaults Sichtweise. Ich möchte nun folgende Aspekte etwas genauer beleuchten. • An dem konkreten Beispiel einer kleinen autobiografischen Erzählung möchte ich einige Stichproben einer gleichsam konventionellen Deutungsarbeit geben. Ich wähle hier einen kleinen autobiografischen Bericht, weil er für unsere Zwecke übersichtlicher als ein narratives Interview ist und weil er in gewisser Hinsicht nahezu klassisch alle die Symptome zeigt, derer man durch die Foucault’sche Brille ansichtig werden kann. • Dann setze ich mir die Foucault’sche Brille auf und experimentiere mit seiner machtanalytischen Sicht. Sie folgt dem Imperativ, den Raymond Geuss in Anlehnung an Foucaults Methode der Analytik der Macht den genealogischen Imperativ nennt: „Erzähle die Geschichte meines Selbstverständnisses unter der Verwendung des Wortes Macht (oder verwandter Wörter wie Strategie, Dispositiv oder Interessen, Unterwerfung, Ausbeutung) auf eine solche Weise, dass ich beim Zuhören so, wie ich glaube, unwiderruflich zu sein, nicht mehr sein will und beim Zuhören selbst begreife, dass ich so auch nicht sein muss“ (Geuss 2003, S. 170).

Geuss liest die Machtanalysen Foucaults also als Form einer Entlarvungs- und Aufklärungsstrategie.

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10.1 Die kleine autobiografische Geschichte „Ich bin länger als nötig brustgestillt worden. Ich stelle eine direkte, durch meine sonstige Erziehung verstärkte Verbindung her zu meinen Rauchgewohnheiten: Ich bin Kettenraucher. Ich war ein unruhiges Kind, manchmal anschmiegsam, manchmal trotzig. Kind ist Kind, sagte Mutter. Ich kletterte auf Bäume, zerriss Hosen und schlug meine Schwester. Junge ist Junge, meinte Vater. Ich hörte pünktlich auf, das Bett zu nässen, wie es erwartet wurde. Von der Straße brachte ich gewisse Wörter nach Hause. Nur nicht darauf eingehen, sagte Mutter zu Vater, nachdem er mir eine heruntergehauen hatte, weil ich Arschloch zu ihm sagte, das gibt sich wieder. Mutter hat mich eigentlich nie geschlagen, nur geschubst, etwa wenn ich ihr bei der großen Wäsche alles andere als eine Hilfe war oder sie meinetwegen Ärger mit Nachbarn hatte. Vater hat mich nur in Ausnahmefällen geschlagen, etwa wenn ich eine besonders gemütliche Wohnzimmerstimmung verdarb, indem ich wie aus heiterem Himmel auf einem Fauteuil herumzuhüpfen begann und nicht mehr damit aufhören wollte. Wenn ich mehrmals hintereinander das Gleiche wollte, zum Beispiel Wollfäden zum Basteln, ohne es zu kriegen, genügte ein Blick von Vater, und ich wusste, was ich nicht zu wollen hatte. Die Augen meines Vaters waren wirkungsvoller als seine Hand. Ich wurde durch das Kopfschütteln von Mutter und die Blicke von Vater in Schach gehalten. Im Kindergarten übte ich meine Tätigkeit ohne direkte Kontrolle durch meine Eltern aus. Die katholische Schwester dort roch immer nach Orangen. Sie schälte uns allen das Obst, das wir mitbrachten. In den großen Schüsseln auf der Toilette schimmerte es immer dunkelgelb. Nachdem ich der Kindergartenschwester ohne Vorwarnung meine Zunge herausstreckte, um zu zeigen, wie blau sie war von den Kirschen, die ich gegessen hatte, nahm sie mich am Ohr und erklärte, was passiere, wenn man anderen Leuten seine Zunge zeige. Lange Zeit habe ich meine Zunge zu verstecken versucht, aus Angst, man könnte sie entdecken und abschneiden. Mutter sagte, das geht vorüber, als ich zu stottern begann. Ich hatte mich anzupassen. Vater war Fabrikarbeiter. Das war seine offizielle Berufsbezeichnung in Formularen und persönlichen ­Papieren. Er hatte es nicht gern, wenn ich, auf seinen Knien sitzend, seine großen aufgeschwollenen Finger in meine Kinderhände nahm. Ich glaube, er schämte sich wegen seines Berufes.

10.2  Hermeneutische Deutungsversuche

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Vater ging jeden Morgen um sechs mit ausholendem Schritt aus dem Haus, seine schweren schwarzen Schuhe mit den dicken Gummisohlen und Stahlkappen an den Füßen, gebückt, als trage er einen vollgepackten Rucksack. Abends war er erschöpft. Er brauchte seine Ruhe. Immer brauchte er seine Ruhe. Ich hatte mich darauf einzustellen. Man ließ mich nicht speziell warten, aber ich hatte zu warten: aufs Essen, aufs Spielen, auf Vater. Ich sagte etwas oder äußerte einen Wunsch, und niemand reagierte. Ich wurde einfach abgelenkt, im Glauben, ich merke es nicht. Mein Stottern schwand ein bisschen, als ich in die Primarschule geschickt wurde. Dafür kaute ich an den Fingernägeln. Im Schlafzimmer meiner Eltern hing ein Holzkreuz mit einem Eisenheiland dran. Ein solches Kreuz hatte es auch in der Kirche, in die ich mitgenommen wurde. Mir gefiel es in der Kirche, denn nach der Messe gab es mittags regelmäßig Hackbraten mit breiten Nudeln, mein Lieblingsessen. In der Schule hatte es auch so ein Kreuz, unter dem mein Lehrer Kopfnüsse austeilte, wenn man aus der Reihe tanzte und beim Kopfrechnen ins Stocken kam. Ich wollte schnell erwachsen werden, um tun und lassen zu können, was Vater, Mutter und Lehrer tun und lassen konnten. Ich hatte Alpträume und schlafwandelte oft. Ich ging nicht gern ins Bett. Vielleicht bin ich zuwenig beachtet worden, ich war Vater und Mutter, wenn nicht ein Klotz am Bein, dann vielleicht eine Störung im Augenwinkel. Ich war etwas, worauf man aufzupassen hatte. Ich glaube, Kindern keine Liebe zu geben und sie nicht zu beachten, ist schlimmer, als handfester Hass der Eltern auf ihre Kinder. Ich habe innerhalb eines Jahres viermal meine Stelle als Schriftsetzer gewechselt. Ich bin überzeugt, meine Unstetigkeit hat mit meiner Kindheitszeit zu tun. Meine Eltern haben getan, was sie konnten. Sie befriedigten zwar nicht meine Bedürfnisse, aber ich hatte ihre unerfüllten Wünsche zu erfüllen. Ich wurde so lange geknetet, bis ich die Form hatte, die sie für ihr Schema brauchten. Aber sie wüssten nicht – heute darauf angesprochen –, was sie falsch gemacht hätten, damals.“ (Dinkel 1978, S. 94).

10.2 Hermeneutische Deutungsversuche Ich möchte einige Deutungssplitter und Stichworte zur Interpretation der obigen Erzählung vorstellen (vgl. auch Lippitz, 2003, S. 193–199). Sie sollen hier für unsere Zwecke nicht allzu tiefsinnig und analytisch sein, sondern nur die Richtung anzeigen, die eine übliche hermeneutische Analyse dieses biografischen Materials einschlagen würde.

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10.2.1 Kontextualisierung Hier rekonstruiert und erzählt in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts ein 20jähriger Schriftsetzer sein Leben als Kind und Jugendlicher, das in den 50er und 60er Jahren der BRD spielt. Im Schwange sind damals in den 70er Jahren solche Laien-Werkstätten des Schreibens, in denen sich Werktätige als Autoren versuchen. Den kulturellen Rahmen dafür gibt die sog. Alltagswende der Literatur (aus der Arbeitswelt) ab, die den Arbeitern ein Sprachrohr sein will. Im Schwange sind gleichfalls in den 70er Jahren die öffentlichen Kontroversen und Diskurse über antiautoritäre Erziehung, die nicht zuletzt dafür sorgen, dass psychoanalytisches Deutungswissen ins Alltagswissen absickert. Konjunktur haben auch in der Presse wie in den Erziehungs- und Schuldiskursen schichtspezifische Modellierungen der sozialen Ungleichheit. Man spricht noch von sozialen Klassen, berichtet und erforscht sog. restriktive sprachliche Codes, befragt die Selbstverständlichkeiten des geschlechtsspezifischen Rollenverhaltens u. v. m. Alle diese Elemente der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussionen finden wir in der kleinen autobiografischen Erzählung widergespiegelt.

10.2.2 Die Selbstdeutung In der biografischen Selbstdeutung versucht sich ein Schriftsetzer, der aus dem katholischen Arbeitermilieu stammt, an einer kurzen und prägnanten Lebensgeschichte. Sie hat Züge einer Rechtfertigungsgeschichte. Als Autor erzählt er, wie er zu dem geworden ist, der er ist. Er berichtet von sich als Objekt von Erziehungsprozeduren in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Institutionen wie Familie, Kindergarten, Kirche, Schule. Die Erzählung beginnt als Quintessenz und fängt im gegenwärtigen Status quo an, in dem er sich als unstetig charakterisiert, wofür er zugleich eine kausalanalytische Erklärung zur Hand hat, die auf Determinierung der Gegenwart durch die frühe Kindheit hinweist. Er ist so, weil er das zu lange an der Brust gestillte Kind gewesen sei. Kurz: Unstetigkeit, Nikotinsucht usw. verdanken sich der frühen oralen Fixierung, so könnte man seine Selbstdiagnose im psychoanalytischen Fachjargon wiedergeben.

10.2.3 Die Erzählstruktur Sie wird von zwei auffälligen Ordnungsmustern bestimmt: Der Lebenslauf ist chronologisch am normalbiografischen Entwicklungsmuster organisiert (Familie,

10.2  Hermeneutische Deutungsversuche

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Kindergarten, Schule), und zugleich unterliegt ihr das psychoanalytische Schema psychosexueller Entwicklung, das bekannter Weise die kindliche Normalentwicklung im Spiegel ihrer Fehlentwicklungen und Neurosen reflektiert. In der Tat – unser Autor schildert eine neurotische Entwicklungsgeschichte und berichtet über orale Fixierung und Unstetigkeit, mangelnde Liebe und Bettnässen, Kastrationsdrohungen durch die katholische Schwester und Stottern usw. Erzählung und Erklärung gehen hier Hand in Hand. Zum Schluss hält der Autor Gericht über sich als Protagonisten der Geschichte, über seine Erziehung und seine Eltern.

10.2.4 Das verdoppelte Ich – das transzendentale und empirische Doppelsubjekt Es kommt in dieser Erzählung zu einem merkwürdigen Effekt. Die Haupttendenz der Geschichte zielt auf den Erzähler als Opfer seiner Verhältnisse und der nichtbzw. unverstandenen Erziehungspraxis und des mangelnden Erziehungswissens seiner Eltern. Die Eltern selbst werden gleichfalls als unwissende Opfer der sozialen Verhältnisse charakterisiert. Erscheint der Protagonist der Erzählung, das empirische Subjekt, einerseits als Opfer der rigiden Erziehungspraktiken seines sozialen Milieus, so ist der Erzähler andererseits als gleichsam ‚transzendentales‘ der allwissende und selbstaufgeklärte Autor, der sich durch sein Wissen von den Erziehungsverhältnissen und von seinem Herkunftsmilieu emanzipiert hat. Er triumphiert als großmütig Vergebender, als zum Literaten arrivierter Schriftsetzer. Er hat das geschafft, was dem Vater nicht gelungen ist, wofür er sich laut Aussage seines Kindes Zeit seines Lebens geschämt hat, nämlich den Aufstieg heraus aus der Arbeiterschicht. Schriftsetzer – das ist ein Aufstiegsberuf in der Nachbarschaft von Journalisten und Literaten. Man muss mit Wort und Schrift umgehen können, und diese Kompetenz ist bekanntlich die des Bildungsbürgertums.

10.2.5 Wissenschaft als Emanzipation? Klärt nicht das wissenschaftliche Wissen den Autor über sich auf und macht ihn dann frei, sodass das Projekt der Biografie, sich selbst zu entziffern, zukunftsoffen und zu einem Akt der Selbstbefreiung wird? Ich greife hier auf das zurück, was ich einleitend über Foucaults Theorie schon gesagt habe. Dieser konterkariert in seinem Buch Sexualität und Wahrheit (Foucault 1983, 2. Kapitel) mit seiner Kritik der ‚Repressionshypothese‘ den optimistischen Aufklärungs- und Befreiungsanspruch psychoanalytisch operierender kritischer Sozialwissenschaften. Nach deren

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­ uffassung gelänge die Befreiung aus dem sexualrepressiven Milieu einer verA bürgerlichten Gesellschaft nur dann, wenn man die ‚Subjekte‘ dieses Milieus einer psychoanalytischen Analyse im großen Maßstab unterzöge und ihnen dadurch das Wissen und die Aufklärung vermittelte, die sie zum eigentlichen Subjekt der Geschichte werden ließen. Die Botschaft der Repressionshypothese: Wissenschaft und Aufklärung machen frei und ermöglichen dadurch den Abbau von repressiven und asymmetrischen Machtverhältnissen. Nach Foucault liegt hier jedoch eine große Illusion vor. Diese die Wissenschaften selbst legitimierende Erzählung ist nur ein kleiner Winkelzug im großen Spiel einer dezentrierten, verstreuten und weitgehend anonymen Macht, die nicht gegen das Wissen ausgespielt werden kann, sondern zu der das Wissen und die Wissenschaften dazugehören (vgl. ebd., 4. Kapitel, S. 95 ff.). Blenden wir auf unseren Autor zurück: Auch er erzählt hauptsächlich von der Sexualität. Sie ist ein Tabuthema im Nachkriegsdeutschland, das erst in den 70er Jahren anlässlich der Studentenbewegung, von Summerhill, der Kitabewegung, der alternativen und nichtfamiliären Lebensformen öffentlich aufgebrochen wurde. Sexualität taucht bei unserem Autor in der Form der Darstellung seiner repressiven neurotischen psychosozialen Entwicklung auf. Darum herum baut er die Erzählung von seiner Identität, von seinem Gewordensein. Er stellt sich nicht als einmaliges, undeklinierbares Individuum dar, sondern als ‚Fall von …‘, als Dividuum, markiert und identifiziert durch die neurotisch verlaufenden Stadien seiner psychosexuellen Genese. Kurz – das Subjekt bestimmt sich als Objekt und erweist sich so als Produkt eines objektivierenden Wissens. Die Erzählung hinterlässt aufgrund dieser Struktur einen merkwürdigen Eindruck, den man in eine Frage kleiden kann, die schon auf den nächsten Teil vorbereitet: Wer erzählt eigentlich wen? Ein Subjekt, das seine Biografie als kausalen Effekt repressiv-neurotisierender Erziehungspraktiken begreift, verliert doch seine Individualität, indem es sich als typisches Objekt solcher Praktiken in Szene setzt! Zugleich jedoch stellt sich der Erzähler über die Verhältnisse: Er vermag sich – jenseits jeder Qualifizierung und Identifizierbarkeit – als Richter über sich und seine Welt zu inthronisieren. Das ist eine historisch belangvolle Figur, die wir in den Anfängen der Aufklärung schon bei Kant vorfinden und auf die Foucault in seinen wissenschaftskritischen Untersuchungen immer wieder hinweist: Die Spaltung des Menschen in eine empirische und transzendentale Doublette. Einerseits tritt der Mensch auf als praktisches, moralisch selbstbestimmtes Subjekt mit einer autonomen inneren Richterinstanz, die frei und losgelöst von empirischen Bedingungen sein soll, in der Hinsicht aber auch nur postulierbar ist. Andererseits erweist er sich als ein empirisch determiniertes, den Naturund Kulturzwängen unterworfenes Subjekt. Mit anderen Worten reproduziert

10.3  Der Blick Foucaults

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hier unser Autor die deutungs- und geschichtsmächtige Grundfigur einer in sich gespaltenen neuzeitlichen Subjektivität. Wir konstatieren also: Die Rahmung seiner Geschichte ist historisch vorgebahnt; der Verlauf seiner Geschichte schon psychoanalytisch vorstrukturiert. Alles, was noch nach konkretem autobiografischem Material aussieht, ist nur noch empirisches Füllsel.

10.3 Der Blick Foucaults Foucault ist kein Biografieforscher, er ist das genaue Gegenteil. Was heißt das? Offensichtlich wird das Projekt biografischer Forschungen vom Interesse an der Rehabilitation des konkreten Subjekts vorangetrieben, das weder in den sozial-funktionalistischen Theoriekonstruktionen der Soziologie untergeht noch als willenloser Spielball gesellschaftlicher Determinationen erscheint. Das konkrete Subjekt führt aktiv und produktiv für sich selbst und in seinen gesellschaftlichen Bezügen ein Leben zwischen Fremd- und Selbstgestaltung. Gerade deswegen ist die Individualität dieses Subjekts und nicht nur seine Position als sozialer Typ für die sozialwissenschaftliche subjektorientierte Forschung interessant. In Rechnung gestellt ist dabei die historische Herkunft dieses biografischen Subjekts, nämlich seine Genese aus dem schreib- und lesekundigen Bürgertum des 18. und 19. Jahrhunderts. Wie auch immer seine gesellschaftliche Stellung thematisiert wurde, ob idealistisch-philosophisch überhöht als Antipode zur Gesellschaft oder interaktionistisch heruntergestimmt als Balanceakrobat zwischen sozialen Zwängen, eigenen Bedürfnissen und Selbstbestimmung, immer geht man von einer wesentlichen, wie auch immer vermittelten Differenz von Individuum und Gesellschaft aus. Bekannt ist auch, dass die Psychoanalyse als bürgerliche Psychologie des 19. Jahrhunderts einen wesentlichen Anteil hatte an der Konzeptualisierung dieses Subjekts (vgl. dazu Foucault 1993, S. 95 ff.). Wie vorhin schon mit Foucault skizziert, säkularisierte die Psychoanalyse die seit dem Mittelalter sich immer stärker individualisierende, sich auf das Innenleben des Sünders zurückziehende Geständnispraxis der Sünden, verbunden mit den Sanktionen der Reue und Buße. Dem Christentum ging es letztlich um die gründlichste und deshalb nahezu unendliche Ausforschung des Gewissens eines sündigen Christenmenschen. So offensichtlich und allgemein verbreitet die Sünden auch waren, nicht sie allein wurden zum Gegenstand von Buße und Reue, sondern die innerliche Verankerung dieser Sünden in der Gestalt von geheimen Triebkräften und Motiven der Seele des Menschen, die die unendliche Arbeit der Selbstforschung mithilfe des Deutungsexpertentums eines Priesters oder Pfarrers anstachelten. Ebenso geht es der Psychoanalyse um die geheimsten Motive, und das sind die, die seiner eigenen Sexualität entspringen.

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Sie sichern – so Freud – nicht nur die familiäre Reproduktion, sondern sie spielen weit über ihre biologischen Komponenten hinaus im inneren Drama der Identitätssuche und Identitätsstiftung des Menschen die zentrale Rolle. Der Psychoanalytiker ist Deutungsexperte, der aufgrund seines Wissens und in seiner Funktion als kompetenter Zuhörer der Erzählungen und Assoziationen seines Klienten die Wahrheit über ihn stellvertretend für ihn aufspürt. Eingewandert ist diese Figur des wissenschaftlichen Deutungsexperten, wie man weiß, in die sog. objektive Hermeneutik, oder in Gesellschaftskonzepte Kritischer Theoretiker als Sozialdiagnostiker. Sie erwarten von ihrem Wissen über repressive Mechanismen der marktförmig gewordenen Sexualität die Befreiung des Menschen aus ihrer Unmündigkeit hin zur mehr Selbstbestimmung. Foucault ist Antipode zu den ‚Geständniswissenschaften‘, und seine Kritik der ‚Repressionshypothese‘ und damit auch der kritischen Sozialwissenschaften habe ich vorhin schon angedeutet. In seinen genealogischen Studien über den Macht-Wissens-Komplex des Sexualitätsdispositivs im vorgeblich so prüden und lustfeindlichen Viktorianischen Zeitalter des 19. Jahrhunderts versucht er nachzuweisen, dass sich keineswegs der Schleier des Geheimnisses und des Schweigens über die Sexualität ausbreitete (vgl. Foucault 1983, S. 27 ff.). Im Gegenteil – entfacht wurde ein intensives und lustvolles Feuerwerk an vielfältigen Expertendiskursen der Medizin, der Pathologie, der Pädagogik über Sexualität. Befreit aus dem ‚Allianzdispositiv‘ der Familie und ihrer Reproduktionsfunktion wurde der Sex zur Sexualität. Sie ist ein sich immer stärker ausdifferenzierender Gegenstand der wissenschaftlichen Diskurse, die über Wissens- und Praxisformen der Pathologisierung und Normalisierung das komplexe Selbst- und Fremdbild des vornehmlich bürgerlichen Individuums mitgestalteten. Erinnert sei hier nur an die Diskussionsflut über Erscheinungsformen und Eindämmungspraktiken der Onanie, verbunden mit den Kontrollverlustängsten, die Lehrer, Erzieher, Mediziner, Pfarrer umhertrieben (vgl. ebd., S. 126 ff.). Sie fantasierten das Kind als reines und unschuldiges Kind, und zwar vor dem Hintergrund der Auffassung, dass es ein durch und durch sexuelles Triebwesen darstelle, und sie entwickelten in den Heimen, Internaten, Schulen, aber auch Familien dichte Beobachtungen, Kontrollpraktiken und letztlich darüber auch spezielles Wissen, das die kindliche Identität als ein inneres Gefüge von Triebregungen, Entwicklungsphasen, von Normalität und Anormalität entwarf. Hier – in diesen produktiven, subjektivierenden und gleichzeitig normalisierenden medizinischen und hygienischen Diskursen verbindet sich Wissen mit Macht. Diese Verbindung setzt die seit dem ausgehenden Mittelalter einsetzende Sozialdisziplinierung der neuzeitlichen Gesellschaft fort. Begann die erste Phase als Disziplinierung des Körpers mittels der direkt auf den Körper abzielenden Mikrotechniken der

10.3  Der Blick Foucaults

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­ ressur, des Drills, der Außenkontrolle und immer filigraner werdenden Straf- und D Sanktionspraktiken in den Verwahr- und Arbeitsanstalten, Gefängnissen, Schulen usw., so setzt sie sich fort als innere Unterwerfung des neuzeitlichen Subjekts durch die human- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, die auf die Seele, auf das Innerste des Inneren des Menschen zielen. Die Seele ist nicht schon vorhanden und liegt für die Beeinflussung bereit, sie wird im Gegenteil, wie ich es schon angedeutet habe, allererst als hochdifferenziertes Identitätsgefüge geschaffen. Macht ist in Verbindung mit Wissen produktiv. Ich möchte mich mit diesen Andeutungen über Foucaults anderen Untersuchungsansatz begnügen. Deutlich wird, dass die hermeneutischen Wissenschaften nicht jenseits dieses Macht-Wissenskomplexes stehen, sondern ein Teil davon sind. Ihr Versprechen, zur Freiheit des Menschen durch Aufklärung zu führen, schlägt ins genaue Gegenteil um, sie verstärkt noch die Unfreiheit und Fremdbestimmtheit und damit den Subjektstatus des Menschen. Hierin liegt der sachliche Grund für den oft kolportierten und heftig kritisierten Ausspruch von Foucault, dass das Subjekt tot sei. Er trägt die aufklärerische Vision eines emanzipierten, durch Wissenschaften aufgeklärten Subjekts zu Grabe. Aus Zeitgründen kann ich nicht genauer auf Foucaults Methodenverständnis eingehen. Er betreibt keine Hermeneutik, sondern genealogische Forschungen. Nach Dreyfus/Rabinow gibt es für den Genealogen: „keine feststehenden Wesenheiten, keine tieferliegenden Gesetze, keine metaphysischen Finalitäten. Genealogie spürt Diskontinuitäten auf, wo andere kontinuierliche Entwicklungen fanden. Sie findet Wiederkünfte und Spiel, wo andere Fortschritt und Ernst fanden. Sie verzeichnet die Vergangenheit der Menschheit, um die feierlichen Hymnen des Fortschritts zu demaskieren. Die Genealogie meidet die Suche nach Tiefe. Stattdessen sucht sie die Oberfläche der Ereignisse, kleine Details, geringe Verschiebungen und subtile Konturen“ (Dreyfus/Rabinow 1994, S. 135).

Sie ist eine Oberflächenanalytik, die nach keinen tiefen, in der Geschichte verborgenen Geheimnissen sucht, denn diese gibt es für sie nicht. Sie beschreibt Diskurse, Praktiken, Institutionen, nicht um ihre Wahrheit zu prüfen und sie aufgrund eines besseren Wissens noch zu übertreffen, sondern um ihre Interpretationen und Wissensweisen wie -methoden zu beobachten, nämlich, wie sie selbst ihre Wahrheit produzieren. „Die Genealogie zeichnet die Geschichte dieser Interpretationen auf. Die Universalien unserer Humanwissenschaften enthüllen sich als Resultat des zufälligen Auftauchens erfolgreich durchgesetzter Interpretationen […] Wo immer er hinschaut: Unterwerfung, Beherrschung und Kampf“ (ebd., S. 136).

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Wo die Rede ist von Wert, Tugend, Güte, da forscht der Genealoge nach Strategien der Beherrschung. Er entpsychologisiert die Machtpraktiken. Für ihn sind sie anonyme Kräfteverhältnisse, Dispositionen, Manöver, Taktiken, Techniken, Funktionsweisen – ohne zentrierende Mitte, ohne intentionale Subjekte oder substanzielle Entitäten, ein Kräftespiel langfristiger Praktiken. Vielleicht sind einige Anmerkungen über Foucaults Konzept von Macht noch nötig, um ihn besser zu verstehen. Man darf sich unter Macht nicht nur eine juridische, politische und dann auch zentrale Machtinstanz vorstellen, die von dort intentional und rational gesteuert die Menschen zu Subjekten macht. In seinem Artikel Wie wird Macht ausgeübt? stellt Foucault dar, dass sein theoretisches Interesse nicht auf eine Ontologie der Macht oder Wesensbestimmung der Macht abziele, sondern dass er die Performanz von Macht, also wie sie ausgeübt wird, zu beschreiben versucht. ‚Macht‘ ist eine asymmetrische Verhältniskonstellation zwischen sozial Handelnden. Sie geschieht als Einwirkung von Menschen auf das aktuelle Handeln anderer Menschen, das in seinen Möglichkeiten entwickelt oder beschnitten wird. Machtförmiges Handeln ist das „Anführen von Führungen“, das „Regiment der Kinder, der Seelen, der Gemeinden, der Familien und Kranken“ (Foucault 1993, S. 255), um sie „in den Griff zu bekommen“ (ebd., S. 259). Vorausgesetzt ist dabei, dass dieses Führen auf das Mittun des Handelnden als desjenigen, der sein Leben führt, angewiesen ist. Er wird eben nicht gegen seinen Willen den Drill- und Dressurpraktiken unterworfen. D. h. Machtwirkungen beruhen als ‚Regiment‘ auf der bedingten Freiheit des Geführten, und das heißt auch, dass die Macht instabil und ständig in Bewegung ist. Denn dieses Regiment provoziert Widerstände, Auseinandersetzungen, Fluchtbewegungen, die nun aber nicht den Herrschaftskreis der Macht verlassen, sondern ständige Quelle ihrer flexiblen Wirkungen bilden. Die Ziele der Macht sind breit gestreut: Es geht um die Aufrechterhaltung von sozialen Privilegien, um die Akkumulation von Profiten, um den Status von Autoritäten, um die Behauptung und Durchsetzung von Rollenfunktionen, von Wissens- und Expertenkompetenzen (vgl. ebd., S. 257). Dieses Regiment wird in sozialen Hierarchien und Institutionen wie Schule, Familie oder Beruf realisiert und bedient sich unterschiedlicher Mittel, wie Sanktionsandrohungen, Überwachungen, Kontrollen, Prüfungen. Das für uns alle nachvollziehbare Beispiel eines institutionellen Machtblocks, der disziplinäre Muster des Regiments entwickelt hat, ist die Schule. Sie modelliert als Institution bestimmte Fähigkeiten, Kommunikations- und Machtpraktiken, verkörpert in ihrer räumlich-architektonischen Gestaltung, in minutiösen Zeitregimes und Schulordnungen, in wohl definierten Funktionen und sozialen Hierarchien und Privilegien ihrer Akteure, in geregelten Kommunikationsformen (Stundenplan, rhetorische Muster wie Fragen-Antworten-Rituale, Befehle, Ermahnungen,

10.4  Rückblende: Robert Dinkels autobiografischer Bericht …

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codierte Zeichen des Gehorsams, festgelegte Werte und Tugenden), in ein- und ausschließenden Machtverfahren, wie Prüfungen, Überwachungen, Belohnungsund Bestrafungssystemen.

10.4 Rückblende: Robert Dinkels autobiografischer Bericht in der Foucault’schen Lesart Es liegt auf der Hand, dass in der Perspektive der Machtanalytik biografisches Material nur Fallcharakter hat. Man könnte mit Foucault analysieren, wie die Macht in ihrem Regiment die Seelen ‚in den Griff‘ bekommt. Ist Macht das Führen von Führungen und impliziert dabei ein Handlungssubjekt, das als Geführtes sich selbst führt und dabei auch Widerstände entwickeln kann, die wiederum nur Bestandteile des Machtspieles sind, dann steht der Autor der Erzählung nicht jenseits der Macht. Alles, was seine Identität und Subjektivität ausmacht, verdankt er ihr selbst. Wir lesen also Robert Dinkels Autobiografie als symptomatische Erzählung. Darin erfahren wir folgende Aspekte, die für seine Ich-Konstitution wichtig sind, die hier ich skizzieren möchte: • Die Frage danach, wie er zu dem geworden ist, der ist, also die Frage nach seiner Identität, wird in den – nach Foucault – identitäts- und subjektivitätsstiftenden Deutungsrahmen der psychoanalytischen ‚Geständniswissenschaft‘ gestellt. Wir haben gesehen, ihre ‚Normalisierungsdiskurse‘, d. h. ihre diskursiven Praktiken, die Normalität über die fachdisziplinäre Ausdifferenzierung von Pathologien der Sexualität feststellen, produzieren überhaupt erst die Individualität eines Menschen. So verfährt auch unser Laienpsychoanalytiker Robert Dinkel: Er legt für seine Identitätssuche und -bestimmung das symptomatologische Raster psychosozialer Fehlentwicklungen an. Seine Kindheitsgeschichte verdankt ihren inneren Sinn und ihre Kohärenz dem psychoanalytischen Normalisierungskorsett, in dem die psychogenetische Entwicklung des Menschen an der Linie von möglichen Fehlentwicklungen und Gefährdungen entlang bestimmt wird. • Indem Dinkel das tut, unterwirft er sich dem Expertendiskurs. Seine Selbstwahrnehmung und Selbstidentifikation verdanken sich der Führung durch die Deutungsexperten-Kultur, die er kritiklos übernimmt. • Sowohl seine Lebensgeschichte wie auch die seiner Eltern, soweit letztere in der Schilderung ihres Alltags, ihrer stereotypen Erziehungsweisheiten usw. zum Vorschein kommt, erscheint machtförmig, d. h. durch Fremdbestimmung determiniert. Die sozialen Disziplinierungspraktiken,

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über die Dinkel berichtet, haben nicht nur die Seele im Visier, sondern auch den Körper. Der soziale Aufsteiger Dinkel inkorporiert die psychischen Selbst-Disziplinierungspraktiken, indem er sich mit den Deutungsschemata der Psychoanalyse zum Zwecke der Selbstdeutung versorgt und sich dabei selbst in das Normalisierungsraster einordnet. Seine Eltern wie auch die Institutionen als Blöcke der Macht bedienen sich vornehmlich der körperlichen Praktiken, die – laut Foucault – u. a. zur Sozialdisziplinierung der proletarischen und ländlichen Bevölkerung im 19. Jh. eingesetzt wurden. An der Figur Robert Dinkel können wir also die Transformation der Disziplinierungspraktiken studieren. Sie wandern von Außen nach Innen, von der physischen Außendeterminierung in die Selbstdisziplinierung des Ich. • Der autobiografische Bericht von Dinkel hat die Gestalt eines Geständnisses, verbunden mit Rechtfertigungen und Schuldzuweisungen. Dieses Geständnis ist konstitutiv für die Individualität. In gewisser Hinsicht erzeugt es erst die individuelle Person, indem es die Form einer fachmännisch ausgeführten Selbstdiagnose annimmt. Es ist der Blick auf sich selbst mit den Augen des autoritativ Anderen, des Deutungsexperten und damit auch das Beispiel einer internalisierten Machtrelation. Liest man also diesen autobiografischen Bericht als machtanalytisches Exempel, als eine symptomatische Selbstinterpretation unter einer Vielzahl der privaten, persönlichen, öffentlichen und expertenhaften Diskurse, die man in einer bestimmten Epoche antrifft, dann wäre spätestens mit dem 3. Punkt die Analyse erschöpft. Die Frage nach den letzten Geheimnissen einer autobiografischen Erzählung, nach ihrer Authentizität, nach ihrer Wahrheit, nach dem eigentlichen Selbst, ist hier irrelevant. Verborgen hinter den Machtdiskursen gibt es keine Welt der Wahrheit mehr. Die Wahrheit liegt auf der Oberfläche und ist Teil der Machtgeschichte. Eine produktive Auseinandersetzung zwischen den Erkenntnisansprüchen der hermeneutischen und der machtanalytischen Wissenschaften im Sinne Foucaults kann es also nicht geben, da doch die hermeneutischen zu dem Machtspiel gehören, das der Machtanalytiker zum Forschungsgegenstand hat. Wo dieser Machtanalytiker selbst im omnipräsenten Machtgefüge steht und warum ausgerechnet er die Ausnahme im Spiel der Machteffekte sein soll, diese Frage nach dem gesellschaftlichen Standort wird unter den Foucaultinterpreten bis heute kontrovers diskutiert. Sie zeigt eine entscheidende aporetische Stelle in der wissenschaftlichen Legitimation dieser Theorie auf (vgl. dazu Brinkmann 1999, S. 296 ff.; auch Dreyfus/Rabinow 1994, S. 238 ff.).

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Schluss Ich komme zum Schluss: Der Foucault, den ich hier vorgestellt habe, ist nicht der ‚ganze‘. Der Foucault, der in seinem letzten Lebensabschnitt mit seinem Buch über Sexualität und Wahrheit (1983) eine Reihe weiterer vornehmlich auf die Antike und das frühe christliche Mittelalter bezogene Studien über ‚Technologien des Selbst‘ beginnt, schränkt offensichtlich seine Omnipräsenztheorie der Macht ein. Er untersucht in den beiden Bänden Der Gebrauch der Lüste (1989) und Die Sorge um sich (1986) eine nicht-machtförmige Konstitution von Subjektivität, nämlich die identitätsstiftenden Funktionen der moralischen, ästhetischen und diätetischen Selbsttechnologien, die sozial privilegierte Menschen der griechischen Antike, der Römerzeit und im frühchristlichen Mittelalter entwickelt haben. Hier finden wir sogar als Vorläufer von Autobiografien Tagebücher, in denen die Autoren den Zweck verfolgen, die Selbstkontrolle über ihre Lebensführung zu steigern. Jedoch kreisen diese Tagebücher nicht wie ab dem 18. Jahrhundert im literarisch gebildeten Bürgertum um die eigenen intimsten Seelenregungen, sondern um diätetische Normen und Regeln der anspruchsvollen und öffentlich anerkannten Lebensführung. Ob mit dieser Wende hin zum sich selbst gestaltenden Subjekt, das seine Lebensführung unter vornehmlich ethische und ästhetische Sinnnormen stellt, Foucault eine Abkehr von seiner Machtanalytik anstrebt oder nur eine weitere Perspektive eröffnet, das ist zurzeit unter den Interpreten strittig. Würde man hier eine Tendenz zum Aufbruch aus der Hermetik der Machtverhältnisse finden, dann müsste man sicher auch die Rolle der hermeneutischen Wissenschaften in der Foucault’schen Theoriebildung neu bestimmen. In der Tat – seine Analysen der Technologien des Selbst beruhen überwiegend auf der Texthermeneutik von Selbstäußerungen klassischer Autoren.

Literatur Brinkmann, Malte. 1999. Das Verblassen des Subjekts bei Foucault. Anthropologische und bildungstheoretische Studien. Weinheim: Deutscher Studienverlag. Dinkel, Robert. 1978. Manchmal anschmiegsam, manchmal trotzig. In Geschichten aus der Kindheit, Hrsg. Werkkreis Literatur der Arbeitswelt, 94–96. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch. Dreyfus, Hubert Lederer und Paul Rabinow. 1994. Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, 2. Aufl. Weinheim: Beltz Athenäum. Foucault, Michel. 1983. Sexualität und Wahrheit I: Der Wille zum Wissen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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Foucault, Michel. 1986. Sexualität und Wahrheit III: Die Sorge um sich. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, Michel. 1989. Sexualität und Wahrheit II: Der Gebrauch der Lüste, 2. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, Michel. 1993. Wie wird Macht ausgeübt. In Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Hrsg. H. Lederer Dreyfus und P. Rabinow, 251–264. Weinheim: Beltz Athenäum. Geuss, Raymond. 2003. Kritik. Aufklärung. Genealogie. In Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Hrsg. A. Honneth und M. Saar. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Honneth, Axel und Martin Saar. 2003. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lippitz, Wilfried. 2000. „Mein Ausdrucksmittel sind 26 Buchstaben“. Autobiographische Sinnfixierung des Ich. In Sinnverlust und Sinnorientierung in der Erziehung, Hrsg. L. Duncker und H. Hanisch, 269–296. Bad Heilbrunn: Klinkhardt (Wiederabdruck in Lippitz, Wilfried. 2003. Differenz und Fremdheit. Phänomenologische Studien in der Erziehungswissenschaft, 177–199. Frankfurt a. M.: Lang). Lippitz, Wilfried. 2001. Die biographische Perspektive auf das Kind – aus phänomenologisch-erziehungswissenschaftlicher Sicht. In Kinder. Kindheit. Lebensgeschichte: Ein Handbuch, Hrsg. I. Behnken und J. Zinnecker, 143–162. Seelze-Velbert: Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung (Wiederabdruck in Lippitz, Wilfried. 2003. Differenz und Fremdheit. Phänomenologische Studien in der Erziehungswissenschaft, 223–247. Frankfurt a. M.: Lang). Lippitz, Wilfried. 2003. Differenz und Fremdheit. Phänomenologische Studien in der Erziehungswissenschaft. Frankfurt a. M.: Lang.

„Werde, der du bist“ – Elitäre Identitäten in Hermann Hesses Romanen

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Wilfried Lippitz, Heike Faber und Melanie Kusterer

Hermann Hesse ist weltweit einer der meist gelesenen Autoren. Man schätzt die Auflagenzahl seiner Romane auf über 60 Mio., und ein Abebben der Lesebegeisterung besonders in außereuropäischen Regionen (USA, Asien) scheint nicht absehbar zu sein. Was die Zyklen erhöhter Aufmerksamkeit anbetrifft, so denke man zum Beispiel in neuerer Zeit an die Verfilmung des ‚Steppenwolfs‘ oder an die Hippie-Bewegung und ihre Hesse-Begeisterung in den 60er Jahren. Die bevorzugten Themen seiner Romane, nämlich die eindringlichen, sogar psychoanalytisch instrumentierten, auch kulturkritischen Darstellungen von Identitätsfindungsprozessen wie auch Identitätskrisen laden besonders Jugendliche zur Identifikation ein. Sie sind offensichtlich ‚jugend-bewegt‘ und ‚jugend-bewegend‘, obwohl oder gerade weil sie aus einer Zeit stammen, die scheinbar unserer Nachmoderne so fern liegt, nämlich aus der Zeit zwischen 1900 und 1950, also der Moderne mit ihren Krisen und kulturellen Gegenbewegungen. Hesses zumeist männliche Romanhelden leisten ‚Identitätsarbeit‘ ‚in den Widersprüchen der Moderne‘, wie man in Anlehnung an Arnold Schäfers letzte Buchpublikation formulieren könnte (vgl. Schäfer 1998). Nur windet sich diese Arbeit an der eigenen Identität nicht aus den Verstrickungen neuzeitlicher Selbstthematisierungen eines fragil gewordenen Ichbewusstseins heraus und erfährt sich deshalb als sozial und kommunikativ konstituiert, sondern Hesses Figurationen der Arbeit an der Identität bleiben in gewisser Weise der Moderne, sogar der Vormoderne verhaftet. Sie sind teleologisch und entelechial ausgerichtet. Es geht um krisenhafte Wege auf der Suche nach dem eigenen Selbst mit dem Motto ‚Werde, Der Aufsatz ist der gemeinsame Ertrag eines gleichnamigen Oberseminars an der Justus-Liebig-Universität Gießen im WS 2005/2006. Mitautoren sind meine beiden Mitarbeiterinnen Dipl. Päd. Heike Faber und Melanie Kusterer. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Lippitz, Phänomene der Erziehung und Bildung. Phänomenologischpädagogische Studien, Phänomenologische Erziehungswissenschaft 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24187-2_11

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der du bist‘. Es geht um Selbstfindungen, um die Wiederentdeckung einer im Alltag verborgenen oder verschütteten biografischen Sinnmitte.1 Im Alltag sind Prozesse der narrativen Selbstvergewisserung, seien sie schriftlich in der Gestalt von Tagebüchern, sogar von Autobiografien, oder auch mündlich in mehr oder weniger intimen sozialen Kontexten der Beziehungsarbeit weit verbreitet. Man sollte jedoch ihre nicht-narrative, moralisch-praktische und leibliche Dimension nicht unterschätzen (vgl. Waldenfels 2000, S. 210 ff.; Schäfer 1998, 102 ff.).2 Der Blick auf Hermann Hesse, auf sein Werk und seine gesamte Lebensgeschichte zeigt im Vergleich zur Alltagsexistenz, dass er existenziell notwendig im wortwörtlichen Sinn sein Leben als ein narrativ-biografisches Projekt lebte.3 Als Dreizehnjähriger beschloss er gegen den Widerstand seiner Eltern und Erzieher, ein Dichter und ein Schriftsteller zu werden (vgl. Hesse 1972, S. 26), und diesen Beschluss hat er lebensgeschichtlich mit geradezu unheimlicher Konsequenz und am Anfang seiner Schriftstellerei oft am Rande des Existenzminimums realisiert. Seine Schriften, die darin verhandelten Themen und Krisen der Identitätssuche der in erster Linie männlichen Protagonisten, sind autobiografische Spiegelbilder seiner eigenen, von vielen psychischen und auch finanziellen Krisen geschüttelten Künstlerexistenz. Sie konnte er allen Widrigkeiten zum Trotz dank schriftstellerischer Erfolge, großzügiger Mäzene und – das ist zu unterstreichen – aufopferungswilliger Frauen leben.

1Zum

Beispiel heißt es programmatisch in seinem Frühwerk Demian: „Das Leben jedes Menschen ist ein Weg zu sich selber hin, der Versuch eines Weges […] Kein Mensch ist jemals ganz und er selbst gewesen; jeder strebt dennoch, es zu werden, einer dumpf, einer lichter, jeder wie er es kann“ (Hesse 1974a, S. 7). Zur Einschätzung der Konzeption der Identität bei Hesse vgl. Gansel 2004, S. 224 ff.; Was die philosophische Einordnung moderner und postmoderner narrativer Identitätskonzepte angeht vgl. Thomä 1998, S. 80 ff., 117 ff. 2Vgl. dazu kritisch zu den Grenzen narrativer Sinnvergewisserung, die auf das Ganze des Lebens zielt auch Thomä, 1998, S. 39 ff. Dass Ich-Identität nicht bloß ein Problem der Selbstfindung im Rahmen der narrativen Selbsterkenntnis darstellt, sondern wesentlich ein sozial konstituiertes und moralisch-praktisches Fremdverhältnis darstellt, zeigen die Überlegungen von Liebsch 2002, S. 132 ff.; vgl. auch Lippitz 2007. 3Siegfried Unseld formuliert im Nachwort zu Eigensinn (Juli 1972): „Der Autor, der von sich bekannte, dass er nichts geschrieben habe, als das, was aus ihm herauswollte‘, schrieb ein Werk, das im gesamten als Konfession, als Darstellung seines Denkens und Lebens anzusehen ist, ‚Beschönigung nicht, Bekenntnis nur‘“. Seine Arbeiten sind ‚Seelenbiographien‘, in allen handelt es sich nicht um Geschichten, Verwicklungen und Spannungen, sondern sie sind im Grunde Monologe, in denen eine einzige Person in ihren Beziehungen zur Welt und zum eigenen Ich betrachtet wird“ (Unseld 1972, S. 237).

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In vielen seiner Romane artikuliert sich die psychoanalytisch unterstützte Bewältigung seiner eigenen Lebens- und Schaffenskrisen. Die literarische Tätigkeit dient der Lebens- und Krisenbewältigung, und sie hat den Anspruch, das in exemplarischer, überindividueller Weise zu tun. Der erzählerische Gestus ist der der Zeitgenossenschaft, ein typischer Grundzug neuzeitlicher Dichterexistenzen. Der Dichter lebt sein Leben und schreibt darüber als ‚Repräsentant der Menschheit‘. Die Protagonisten der Romane und Erzählungen sind auserlesene Exemplare, herausgehobene Menschen, kurz elitäre Figuren. Sie durchleben stellvertretend für viele auf vorbildliche oder zumindest typische Weise kulturelle und gesellschaftliche Problemlagen und befinden sich auf dem Wege zur eigenen Identität. Dabei durchstehen sie symptomatische Sinnkrisen oder Spannungen zwischen dem ganz Persönlichen und dem Gesellschaftlich-Allgemeinen. Kurz: Der Dichter begreift sich als Sprachrohr seiner Zeit, als ihr Brennpunkt, als ihr Missionar. Schiller zum Beispiel kleidet diese klassische Auffassung vom Ethos des Dichters in folgende Worte: „Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese muss es also wert sein, vor Welt und Nachwelt ausgestellt zu werden. Diese seine Individualität so sehr als möglich zu veredeln, zur reinsten herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern, ist sein erstes und wichtigstes Geschäft, ehe er es unternehmen darf, die Vortrefflichen zu rühren“ (Schiller 2004, S. 367).

Hermann Hesse bleibt dieser klassisch-idealistischen Devise trotz gleichsam nachidealistischer und modern anmutender Skepsis verbunden. In seinem kurzgefassten Lebenslauf von 1925 formuliert er etwas verhaltener und weniger hochgestimmt mit Blick auf eine seiner vielen psychischen Krisen: „Ich war ganz in mich selbst und ins eigene Schicksal versunken, allerdings zuweilen mit dem Gefühl, es handle sich dabei um alles Menschenlose überhaupt. Ich fand allen Krieg und alle Mordlust der Welt, all ihren Leichtsinn, all ihre rohe Genusssucht, all ihre Feigheit in mir selbst wieder“ (Hesse 1972, S. 35).

In einem Brief an Mathilde Schwarzenbeck schreibt er: „Ich habe das Gefühl in mir erneuert, dass meine Seele im Kleinen ein Stück Menschheitsentwicklung darstellt, und dass im Grunde jede kleinste Zuckung in uns so wichtig ist wie Krieg und Frieden in der äußeren Welt“ (Hesse 1917, in Zeller 2004, S. 82).

Dass im elitären Bewusstsein nichts zufällig ist, weder die eigene Geburt und soziale Herkunft noch die schriftstellerische Begabung, zeigt die folgende Bemerkung: Er sei aufgewachsen in einer protestantisch-pietistisch-sektiererischen

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Tradition. Sie habe er in ihrer unglücklichen und selbstzerstörerischen Tendenz mit Beginn seiner geistigen Emanzipation ‚selbst zerstören‘ müssen. „Ja, ich habe das gewollt, ich habe mir das aufgeladen, wie meinen Körper, mein Vaterland, meine Sprache, meine Fehler und Begabungen“ (ebd., S. 125). Hier taucht eine durchaus vertraute identitätsphilosophische Bildungsfigur auf: „Gebildet ist der, der das Zufällige, Singuläre seiner Existenz ins Individuell-Allgemeine zu verwandeln vermag, der Fremdbestimmung in Selbstbestimmung transformiert“ (Buck 1984, S. 155 ff.).

Allen Individualismen und Idiosynkrasien zum Trotz, die Hesse selbst einräumt und die den Anschein machen, als würde hier die singuläre künstlerische Existenz über die exemplarische triumphieren, formuliert Hesse sein elitäres Menschentum, nämlich „dass mein Tun und Leben nicht ohne Bezug aufs Ganze, und dass etwas wie eine neue Strömung, eine neue Lehre, eine neue Lebensmöglichkeit in der Welt sei, zu deren Verkündern, oder Suchern, oder wenigstens zu deren Experimenten ich gehöre“ (Hesse 1972, S. 143).

Die folgenden Ausführungen legen ihren interpretatorischen Schwerpunkt auf das Spätwerk von Hesse: auf das ‚Glasperlenspiel‘. Weniger ausführlich sollen zuvor einige Romane aus den drei Schaffensperioden von Hermann Hesse behandelt werden, in denen unterschiedliche Konfigurationen elitärer und krisenhafter Identität thematisch werden. Sie alle laden den Leser dazu ein, in moderne und vormoderne wie auch in utopische Zeiten verlegte Konflikt- und Krisenszenarien einzutauchen und sich mit den männlichen Hauptakteuren zu identifizieren. Hesse ist kein Avantgardist. Er ‚verkündet‘ anachronistisch anmutende Botschaften über eine zwar krisenhafte, aber zu heilende Welt, die sich um eine ‚ganzheitliche‘ Sinnmitte sammelt, und das unter geschichtlich-gesellschaftlichen Umständen, unter denen andere Zeitgenossen schon die alten Ordnungs- und Sinnmuster aufgesprengt haben. Die Literatur bei Hesse, so beispielsweise Schärf, wird zur „Illusionszone gelingender Ich-Identitäten“ (Schärf 2004, S. 91), in der die literarischen Helden und Figuren in Sinngeschichten eingebettet werden. Bevor wir mit der Interpretation beginnen, sei ein kurzer Blick auf Hermann Hesses Kindheit und Schulzeit geworfen (vgl. Lahann 2002). Er stammt aus einer schwäbischen pietistischen Pfarrerdynastie. Der stark depressive, von heftigen Migräneanfällen geplagte Vater musste die Missionstätigkeit in Indien aufgeben,

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die sein Vater, also Hesses Großvater, so erfolgreich praktiziert hatte. Auch Hesses Mutter, eine sehr fromme Frau, kommt aus einer Missionsfamilie. Der Vater führte als Verlagsleiter des Missionsverlages zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Gelehrtenexistenz. Die ökonomischen Verhältnisse sind nicht großzügig, das soziale und kulturelle Kapital jedoch ist hoch. Schwäbische Pfarrershäuser gehören, so zeigen es einschlägige soziologische Analysen, zu den Brutstätten deutscher Geisteseliten (vgl. Greiffenhagen 1984). Auch Hermann Hesse, das schwierige und nicht angepasste Kind, das die Eltern schließlich aus dem Hause geben, weil sie mit ihm nicht mehr klarkommen, erweist sich als besonders begabt und rückt sogar in den Status eines Eliteschülers, als er die Aufnahmeprüfung an der Klosterschule in Maulbronn besteht, in der er als Stipendiat zum Studium der evangelischen Theologie ausgebildet werden soll. Anfänglich durchaus erfolgreich bricht er seine Schulzeit wegen massiver psychischer und psychosomatischer Probleme ab. Erneute Versuche einer normalen gymnasialen Bildungskarriere führen über weitere Abbrüche, zwischenzeitliche Aufenthalte in Bad Boll bei einem pietistischen Pfarrer als Heiler und – nach dem Scheitern dieser Therapieversuche in der Nervenheilanstalt von Stetten – zur Aufgabe dieser institutionalisierten Schülerkarriere. Hesse wird als junger Mann und Buchhandelslehrling und -geselle zum Autodidakt in Sachen geisteswissenschaftlicher und literarischer Kulturaneignung. Wichtig ist hier ein besonderer Aspekt in seinem Seelenhaushalt. Zwar scheitert er in seiner bürgerlichen Bildungskarriere als Eliteschüler, aber aus seinen zahlreichen Briefen an seine Eltern wird schon die Art und Weise seiner Konfliktbewältigung sichtbar, die er später als erfolgreicher Schriftsteller kultiviert. Er artikuliert seine psychischen und seelischen Probleme als grundlegende Auseinandersetzungen mit Gott und der Welt, mit Glauben und Nicht-Glauben, mit grundlegenden Sinnfragen also, die sein Selbstverständnis im Kontrast zum christlich-pietistischen Menschenbild betreffen. Hier lernt er gleichsam die Hochstilisierung seiner individuellen Probleme zu allgemeinen Lebens- und grundsätzlichen Sinnfragen. Die unnachgiebigen Richterinstanzen über Gut und Böse sind nicht die Eltern allein. Für die Eltern ist es der zu internalisierende pietistische Gott, von dem Hermann Hesse sich schon als 15-Jähriger vehement abkehrt. Aus der Nervenheilanstalt Stetten schreibt er beispielsweise: „Da hält man mir viele Reden: ‚Wende dich an Gott, an Christus, etc., etc.‘. Ich kann eben diesen Gott nichts als einen Wahn, in diesem Christus nichts als einen Menschen sehen, mögt Ihr mir hundertmal fluchen“ (Hesse 1986, S. 252).

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In einem späteren Brief formuliert er sogar sein allgemeines agnostisches Credo, indem er sich den Rebellen gegen den absolutistischen Obrigkeitsstaat Friedrich Schiller zu Hilfe nimmt: „[…] Ich aber sage von meinem Standpunkt aus: ‚Ich bin Mensch, ‚Person‘, wie Schiller sagt, meine Erzeugerin ist allein die Natur, und sie hat mich nie, nie schlecht behandelt“ (Hesse 1972, S. 66).

Mit anderen Worten: Mag der Pietist sich seiner persönlichen Erwählung durch Gott in demütiger Haltung und sinnenfeindlicher, asketischer Lebensführung zu vergewissern versuchen, Hermann Hesse hingegen verdankt seine Erwählung und Begabung einer quasi-säkularen Instanz, der ‚Natur‘. Sie gehört seit Rousseau zur bevorzugten Lehrmeisterin der individuellen und exemplarischen, d. h. menschheitlich gedachten Bildung. ‚Natur‘ ist zugleich die Gegeninstanz zur relativen Existenz des Bourgeois, dessen Identität nicht in der Autonomie und Selbstverwirklichung des Individuums verankert ist, sondern als radikale Abhängigkeit und Fremdbestimmung durch die Anderen fehlschlägt.

11.1 Elitäre Identitäten – Künstler und Intellektuelle Eine seit der Genieästhetik in Klassik und Romantik typische Figur des Elitären ist der Künstler. Oft steht er auf ‚verlorenem Posten‘ und wird von der Welt verkannt. Er hat aber eine ‚Mission‘ zu erfüllen und leidet gleichsam exemplarisch unter den Entfremdungserfahrungen neuzeitlicher Gesellschaften. Seine existenziellen Krisen und ihre Bewältigungsversuche, ob sie nun gelingen oder ‚grandios‘ scheitern, versinnbildlichen die Identitätssuche des neuzeitlichen Menschen. Beispielsweise spiegelt sich im frühen Künstlerroman Rosshalde (1914, hier zitiert in der Fassung von 1981) die erste große Lebenskrise des erwachsenen Hermann Hesse als Künstler, Mann, Ehemann und Vater. Für Hesse hat der Roman lebensgeschichtliche Bedeutung. In der Hauptfigur des Malers Johann Veraguth artikuliert er seine eigene Krisensituation: „Der Roman hat mir viel zu schaffen gemacht und ist für mich, wenigstens einstweiliger, Abschied von dem schwersten Problem, das mich praktisch beschäftigt hat. Denn die unglückliche Ehe, von der das Buch handelt, beruht gar nicht auf dem Problem der ‚Künstlerehe‘ überhaupt, sondern auf der Frage, ob ein Künstler oder Denker, ein Mann, der das Leben nicht nur instinktiv leben, sondern vor allem objektiv betrachten und darstellen will – ob so einer überhaupt zur Ehe fähig sei. Eine Antwort weiß ich da nicht; aber mein Verhältnis dazu ist in dem Buch möglichst

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p­ räzisiert; ist doch darin eine Sache zuende geführt, mit der ich im Leben anders fertig werden zu hoffe, und die mir doch überaus wichtig ist“ (Hesse 1914, zitiert in Pfeifer 1990, S. 144).

Rosshalde handelt von dem erfolgreichen Maler Johann Veraguth, seiner Frau Adele und seinem jüngeren Sohn Pierre, die zwar gemeinsam, aber räumlich getrennt voneinander auf Rosshalde leben. Die Beziehung zu seiner Frau ist erkaltet, und der jüngere Sohn ist der einzige, der zwischen beiden eine emotionale Bindung aufrecht hält. Als der Künstler Besuch von seinem langjährigen Freund Otto Burkhard erhält, bespricht er mit diesem seine unglückliche Lebenssituation, worauf ihn der Freund einlädt, ihn auf seiner Rückreise nach Indien zu begleiten. Während Veraguth sich dieser Möglichkeit gedanklich annähert, kehrt der ältere Sohn Albert aus dem Internat heim, sodass der Künstler nun nicht nur mit der gescheiterten Beziehung zu seiner Frau, sondern auch mit der fehlgeschlagenen Beziehung zu seinem älteren Sohn konfrontiert ist. Allein sein jüngerer Sohn Pierre hält ihn noch auf Rosshalde. Nachdem er sich schließlich dazu entschieden hat, nach Indien zu reisen, werden seine Reisepläne erst durch die schwere Erkrankung und dann durch den Tod von Pierre aufgeschoben. Nach der Beerdigung verlässt Veraguth endgültig seine Familie, nimmt Abschied von seiner Vergangenheit und tritt seine Reise in die Fremde an. Der ‚Künstler‘ verlässt seine familiären Bindungen, geht auf die Reise, um sich nach einer Phase der Erstarrung und Entfremdung, bedingt durch die gescheiterten familiären Bindungen, in der ‚Fremde‘ wiederzufinden. Dem Maler gelingt es, das Gewirr seiner Lebensprobleme aufzulösen, Hesse schließlich auch. Wie seine Romanfigur trennt er sich ebenfalls von seiner Familie. Der Weg aus der Lebenskrise führt beide durch Leid, Schmerz und Verlust. Hesse selbst motiviert und legitimiert diesen Ausbruch aus der bürgerlichen Ordnung durch den besonderen Status des Künstlers. Der gewöhnliche Mensch lebe instinktiv, sei in seine alltäglichen Besorgungen verstrickt und eingebunden in eine subjektive Ordnungsund Gefühlswelt, in der das Bindende, das Mütterliche dominiere. Demgegenüber sei der männliche Künstler den Maßgaben seiner Werke, seiner Kunst verpflichtet, die er über sein eigenes Leben stelle und denen er bis zur Selbstaufgabe verpflichtet sei. Der Künstler erweist sich so als elitärer und männlicher Repräsentant der Menschheit, der eine Mission zu erfüllen hat. Anhand dieser Charakterisierung des Künstlers offenbart sich Hesse als typischer Vertreter des patriarchalen bürgerlichen Moral- und Wertesystems seiner Zeit. Ulrike Prokop kommentiert in Illusion vom großen Paar:

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„Der Entwurf der bürgerlichen Emanzipation findet seinen höchsten Ausdruck im ‚schöpferischen Mann‘, der seine Welt erzeugt. Der Künstler ist das idealische Bild von den Menschen als Wesen, die sich selbst hervorbringen. Für das Genie gibt es nur Materie, die zu formen ist. Das Modell der bürgerlichen Welteroberung ist die Werkstatt des Künstlers, die Beherrschung der Natur, des Stoffs, der verwandelt wird, bis er ganz Ausdruck der Individualität geworden ist“ (Prokop 1991, S. 381).

Seit der Klassik und besonders der Romantik wird das Schreiben zum identitätsstiftenden Selbstfindungsprozess. Es kreist um individuelle Erfahrungen, Gefühle und Gedanken, und so wird der Einzelne sich schreibend seiner Einzigartigkeit bewusst. Lesezirkel, Tagebücher und Briefe sind Quellen romantischer Lebensart. Ihr Fokus ist die Reise ins eigene Ich, stets in enger Naturverbundenheit. Der romantische Dichtertypus ist der sensible und gequälte, einsame, zum Schreiben berufene Mann, der oftmals als unsteter, getriebener und heimatloser Reisender erscheint. Dieser Vorstellung entsprechen viele Protagonisten in Hesses gesamtem Werk. Sie sind meist unterwegs, einsam, problematisch, zerrissen und suchend. In seinem Gedicht Der Dichter beschreibt Hesse den Dichter folgendermaßen: „Nicht Haus noch Acker ist, nicht Wald noch Jagd noch Gewerb’ ist mir gegeben. Mein ist nur, was keinem gehört. […] Mein sind auch die Tempel der Götter. […] Oft in Flügen der Sehnsucht stürmt meine Seele empor, seliger Menschheit Zukunft zu schauen, …. Einzig der Dichter fehlt. Er, der vereinsamt Schauende, Er, der Menschensehnsucht Träger und bleiches Bild […]“ (Hesse 1993, S. 280).

Hesse neigt zu Dichotomien, das zeigen diese Zeilen. Für die beginnende Moderne ist typisch die Polarisierung zwischen Natur, einsamer Dichterexistenz und Gesellschaft. Im Leiden an der Unversöhnlichkeit ihrer Gegensätze dient die Natur als Rettung, Trost und Zuflucht. Durch Schmerz und Leid erweitert sich das Bewusstsein, und der Dichter gelangt zu der quasi kosmologischen Gewissheit einer alles umfassenden Harmonie in der Tiefe der Welt. Diese nicht ökonomische oder pragmatisch vernutzte ‚Natur‘ erhält einen quasi religiösen Status. Rosshalde ist von dieser Auffassung geprägt. In all der Tragik menschlicher Entfremdung zwischen dem Künstler und seiner Familie wirkt die das Maleratelier umgebende Parklandschaft Trost spendend und versöhnlich. Die Kunst verlangt das Äußerste von ihrem Schöpfer. Der Künstler ist auserwählt, seine Berufung kommt von Gott. Durch sein Leiden im künstlerischen Schaffensprozess wird der Künstler selbst zum Schöpfer, also gottgleich.

11.1  Elitäre Identitäten – Künstler und Intellektuelle

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„[…] Der Künstler, vor allem der Dichter, erscheint in der Phantasie als der Allmächtige, der alle Fremdbestimmtheit abstreifen kann, göttlich […] Der Dichter wird zum Innbegriff des sich selbst erzeugenden Wesens […] Der große Einzelne ist immer allein. Das ist in den bürgerlichen Selbstbildern Schmerz und Stolz zugleich“ (Prokop 1991, S. 381).

Der Künstler als Mann ist beziehungsunfähig. Er kann nie wie ein normaler Mann leben, geschweige denn eine Familie gründen. Die Ehe steht im krassen Gegensatz zur künstlerischen Mission. Die für Hesse typischen Romanfiguren wie Mönche, Meister, Künstler entsagen ihrer Geschlechtlichkeit. Sie kennen – auch das ist typisch für seine Romane – homoerotisch gefärbte, tiefe Freundschaften zu Gleichaltrigen, ihren Jüngern und Meistern. Die Weiblichkeit der Mutter, die nach Hesses bürgerlichem Weltbild ein Urbild instinktiver Natur ist, steht im bedrohlichen Gegensatz zum Künstler, der seine Männlichkeit nicht leben kann. Die Romane Hermann Hesses mittlerer Schaffensperiode, wie Demian, Der Steppenwolf und Siddhartha, gelten als Selbstfindungsromane. Sie sind ‚Lehrstücke‘ einer krisenhaften Moderne, in der sich das Subjekt zunehmend als fragmentiert erfährt (vgl. Erhart 2004, S. 414 ff.). Nicht eine konkrete historische Welt von Ereignissen ist ihr Thema. Diese rückt eher an den Rand. Stattdessen werden Empfindungen und Entwicklungen eigener innerpsychischer Zustände zum Schauplatz. In Demian (1919) und Der Steppenwolf (1927, hier zitiert in der Fassung von 1974b) verarbeitet Hesse die Erfahrungen des Krieges und seiner persönlichen Krisen. Damit trifft er den Nerv der durch den 1. Weltkrieg desillusionierten Jugendlichen und nach neuen Identitäten Ausschau haltenden Menschen. „Demian ist in der Tat nicht eigentlich ein Mensch, sondern ein Prinzip, die Inkarnation einer Wahrheit oder, wenn Sie wollen, einer Lehre. Er spielt genau dieselbe Rolle, die im ‚Steppenwolf‘ die Unsterblichen, die oberen Mächte, die Verfasser des Traktats spielen“ (Hesse, Brief an Frau Sarasin vom 15.02.1954, zit. nach Unseld 1986, S. 56).

Die beiden Romane sind Bildungsromane, und in ihnen schlagen sich die eigenen Therapieerfahrungen mit der Tiefenpsychologie von Carl Gustav Jung nieder. Wichtig für die Krise Hesses sind folgende Hintergründe: Er erlebt hautnah die Verwundetentransporte während eines Aufenthalts bei Conrad Haussmann in Stuttgart. Glaubte er davor noch an den Krieg als Akt der Befreiung und des Neuanfangs, ändert er seine Haltung und polemisiert gegen Nationalismus und Kriegschauvinismus. Seit 1915 arbeitet der Schriftsteller dann vier Jahre lang in

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der Kriegsgefangenenfürsorge (vgl. Hesse 2006, S. 7; vgl. Albret 1999, S. 93). Das Jahr 1916 gehört zur Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs. Die öffentliche Meinung wandelt sich, und Hesses Pazifismus wird verunglimpft. Zusätzlich summieren sich persönliche Nöte, wie der Tod seines Vaters, die lebensbedrohliche Erkrankung seines fünfjährigen Sohnes Martin, die zeitgleiche Gemütserkrankung seiner Frau Marie Bernoulli und deren Aufenthalt in einer Heilanstalt, sowie die damit einhergehende Ehekrise. Alles das bewegt ihn in den Jahren 1916 und 1917 zu 60 bzw. 72 psychoanalytischen Sitzungen bei dem Jung-Schüler Dr. J. B. (Josef Bernhard) Lang, mit dem er lebenslang befreundet bleibt (Baumann 1997a, S. 42 ff.; vgl. Hesse 2006). Auch setzt Hesse sich fasziniert mit psychoanalytischen Schriften von Freud und Jung auseinander, wie etwa mit Jungs Symbole der Wandlung.4 Er lernt C. G. Jung 1917 persönlich kennen. 1921 begeistert er sich für eine mehrwöchige Analysesequenz bei Jung in dessen Küsnachter Wohnung (Baumann 1997a, S. 43).5 Mitte der 20er Jahre, parallel zur Niederschrift des ‚Steppenwolfes‘, kommt es zu einer erneuten heftigen Krise. Seine zweite Ehe mit Ruth Wenger scheitert. Er leidet an den fruchtlosen Versuchen, die vorhandenen Krisen, darunter auch sexueller Art, weder mit der Kunst noch mit dem Denken bewältigen zu können (vgl. Zeller 2004, S. 100). Ernsthafte Selbstmordgedanken treiben den fast 50-jährigen Hesse um. Sie führen zu weiteren Sitzungen bei dem befreundeten Dr. Lang (Baumann 1997a, S. 43).6 Für Hesse ist damit die Psychoanalyse ein Mittel der Emanzipation und damit wie das Künstlertum ein wichtiges Vehikel der Selbstbildung und Weiterentwicklung. Er schreibt 1918 (vgl. S. 137 ff.), dass die Psychoanalyse dem Künstler bestätige, was ihm als Ahnung, als unbewusstes Wissen schon angehöre. Sie erinnere ihn an den Wert der Fantasie, wenn Zweifel an der Fiktion aufkommen würden.

4Im

Gegensatz zur Begeisterung für die ‚Symbole der Wandlung‘ stimmen Hesse und Lang betreffs Jungs späterer Arbeit Psychologische Typen überein, wie „steril und scholastisch man auf diesem Wege wird“ und Jung könne „Fruchtbares hervorbringen, wenn er nicht die Wahnidee hätte, wissenschaftlich sein zu müssen“ (Hesse 2006, S. 184 ff.). 5Aus einem Brief Langs geht hervor, dass Hesse auch aufgrund der Verehrung Langs von Ruth Wenger und der damit einhergehenden zeitweise gestörten Beziehung der beiden Freunde für eine weitere Analyse zu Jung wechselt, der ihn auch menschlich beeindruckte (vgl. Hesse 2006, S. 180 f., 186). 6Lang hat während der Niederschrift des ‚Steppenwolfs‘ selbst erhebliche familiäre Probleme, sodass er Hesse ungenügend beistehen kann. Hesse will sich selbst töten. Er fühlt sich von Lang alleingelassen und enttäuscht, weil er kein Morphium von ihm erhalten hat (vgl. Hesse 2006, S. 237).

11.1  Elitäre Identitäten – Künstler und Intellektuelle

201

„Gerade die Analyse (…) erinnert ihn (den Künstler, d. V.) laut an das Dasein seelischer Grundforderungen sowohl wie an die Relativität aller autoritären Maßstäbe und Bewertungen“ (ebd., S. 140).

Die Psychoanalyse fordere ein konventionsloses, ethisches und persönliches Gewissen: „Denn nur in der intensiven Selbstprüfung der Analyse wird ein Stück Entwicklungsgeschichte gelebt und mit blutenden Gefühl durchdrungen“ (ebd., S. 141). Seine außerordentliche Faszination für die analytische Psychologie liegt wahrscheinlich in wichtigen biografischen Bindegliedern von Jung und ihm, die beide Prominente aneinander fesselt: Carl Gustav Jung ist ebenso wie Hermann Hesse ein Sohn aus protestantisch-pietistischem Hause. Was Baumann das ‚Pfarrhaus-Syndrom‘ nennt, zeigt sich bei den Pastorensöhnen in ihrer außergewöhnlichen Intelligenz und Sensibilität, gepaart mit tiefen Schuldgefühlen und Minderwertigkeitskomplexen als Antwort auf eine rigide, dogmatische und so traumatisierende Erziehung (vgl. Baumann 1997b, S. 332 f.; Pongratz 1983, S. 302 ff.). Diese seelische Mitgift findet ihren Ausdruck in den stark autobiografisch geprägten Romanen Demian und Der Steppenwolf. Die im Demian auftauchenden Deutungsmuster, wie beispielsweise das zu integrierende ‚Böse‘ als ‚Schatten‘ in jedem Menschen, die extrem polarisierte Gefühlswelt aus Gut und Böse laufen zusammen in Jungs Lehre vom ‚archetypischen Heilsweg‘. Dieser führt die schuldbesetzten Teilaspekte in ein natürliches, empirisches Selbst zusammen, das – physikalisch gesprochen – erst durch die Integration gegenläufiger Pole (Lebens-)Energie freisetzt. Was Hesse mit Jung und Lang geistig verbindet, sind intensive Kenntnisse der Weltreligionen und des Mystizismus, begleitet von ausführlichen Introspektionen des eigenen Seelenlebens, die in einer gemeinsamen und sehr differenzierten Bildungssprache formuliert werden. Die Religionspsychologie Jungs legitimiert und systematisiert Hesses metaphysisch-psychoanalytische Denk- und Schreibweise. Darin wächst er über seine Individualität hinaus, und seine eigenen Problemlagen erhöht er zu allgemeinmenschlichen. Das elitäre Bewusstsein des Schriftstellers artikuliert sich als Mission, in der Gottes- und Selbsterfahrung ineinander übergehen (vgl. Baumann 1997b, S. 334). Darin weiß sich Hesse einig mit solchen zeitgeistigen Strömungen wie der Theosophie, der Anthroposophie und der Pansophie. Zählt man zur Deutungselite solche Personen, die über längere Zeit aufgrund bestimmter Handlungsressourcen auch privilegierte Handlungschancen haben und zu Adressaten spezifischer Erwartungen größerer Bevölkerungsschichten werden, dann gehören Hesse als auch Jung dazu. Privilegiert sind beide sowohl durch ihre gemeinsame Bildungssprache, erworben im bildungsbürgerlichen

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Milieu, als auch durch ihre Weltläufigkeit, bedingt bei Hesse durch die missionarische Tätigkeit seiner Eltern und Großeltern in Indien (vgl. Zeller 2004, S. 10 f.). Der Entwicklungsroman Demian entspricht im Erzählablauf exakt dem Individuationsprozess nach C. G. Jung. Alle Personen sind verkörperte Phasen der menschlichen Entwicklung nach den archetypischen Leitbildern ‚Schatten‘ – ‚Seelenbild‘ (Anima/Animus) – die ‚Große Mutter‘ und der ‚Alte Weise‘ – ‚Selbst‘. „Archetypen“ sind Grundformen menschlichen Daseins, Urmuster artgemäßer Erlebens- und Verhaltensweisen, „Kernstücke menschlicher Lebensbewältigung“, die immer durch Erleben bipolarer Impulse von Anziehung und Abstoßung, Angst und Befreiung, Introversion und Extraversion auf eine neue Entwicklungsstufe hinweisen (Pongratz 1983, S. 338). So ist es nachvollziehbar, wenn Hesse erklärt, alle Figuren in Demian, seien Teile seines Selbst (vgl. Hesse 1920 in einem Brief an J. B. Lang, in Unseld 1986, S. 52). In Demian schildert der Ich-Erzähler Sinclair retrospektiv zehn Jahre seiner Kindheits- und Jugenderlebnisse.7 Wie Hesse wächst er in einem streng-pietistischen Elternhaus auf, das zur ‚hellen‘, zur ‚guten‘ Welt gehört. Zugleich fühlt er sich von der ‚Straße‘ angezogen, repräsentiert durch Kromer, einem zur dunklen Seite gehörenden, gewalttätigen Jungen, der ihn wegen eines kleinen Diebstahls zu erpressen versucht. Unter dessen Einfluss vertieft sich Sinclairs gespaltenes Gefühl zur ‚hellen‘, ‚richtigen‘ Welt des Elternhauses, der er sich zunehmend entfremdet (vgl. Hesse 1974a, S. 10 ff.). Die Eigenschaften Kromers stehen für den ‚Schatten‘ im Unbewussten von Sinclair. Er versinnbildlicht abgewehrte Züge und erlittene Unzulänglichkeiten, die nicht zum bisherigen Selbstbild passen. Sie zeigen sich in dunklen Impulsen, Träumen oder Projektionen. Den Schatten in die Gesamtpersönlichkeit zu integrieren, ist der erste Entwicklungsschritt im Individuationsprozess Jungs (vgl. Pongratz 1983, S. 350 f.). Mit der Entdeckung seiner ungelebten Wesenszüge und mit zunehmender Verzweiflung über den „Teufel, der nun seine Hand hielt“ Hesse (1974a, S. 22), nabelt sich Sinclair von der alten und heilen familiären Welt ab und tritt in ein neues Dasein ein. Sinclair lernt den neuen Mitschüler Demian kennen, einen androgyn und alterslos wirkenden Jungen, unerschrocken, gebildet und rhetorisch überaus geschickt. Demian verkörpert Sinclairs ideales Selbst. Es vereint alle gegensätzlichen Pole, die die Welt bewegen, in sich. Einheit ist Harmonie im ursprünglichen griechischen Sinne, „eine spannungsreiche Einheit von Gegensätzlichem“

7Zweifelsohne

handelt es sich bei Sinclair um Hermann Hesse, wie Eigenbezeichnungen bezeugen (vgl. Hesse 2006, S. 127).

11.1  Elitäre Identitäten – Künstler und Intellektuelle

203

(Pongratz 1983, S. 344). Diese spannungsreiche Dynamik macht die individuelle Persönlichkeit aus. Darin differenzieren sich charakterliche Grundtypen aus. Der Extravertierte integriert die Merkmale eines Introvertierten und vice versa. Zwei wichtige Theoriebausteine der Jung’schen Tiefenpsychologie lassen sich im o. g. Zitat aus Demian wiederfinden: erstens die Zeitlosigkeit archetypischer Entwicklungsphasen, z. B. die der Anima/Animus-Integration als zweiter Entwicklungsschritt des Individuationsprozesses, und zweitens die Struktur der Psyche, die aus fünf pyramidenähnlich aufgebauten Schichten besteht: dem Ich, dem Bewusstsein, dem persönlichen Unbewussten, dem kollektiven Unbewussten, das man bewusst machen kann, und dem nie bewusst zu machenden Teil des kollektiven Unbewussten. Zu letzterem gehören menschliche Urahnen, Tierahnen und auch Teile des pflanzlichen und sogar des mineralischen Bereichs, die in uns als Kraft noch wirksam sind (vgl. ebd., S. 347). Demian befreit Sinclair von Kromer und eröffnet ihm eine neue Welt, deren alte Werte nicht mehr gelten. Die neue Welt erfordert autonomes Denken: „Sprach da nicht eine Stimme, die nur aus mir selber kommen konnte? Die alles wusste? Die alles besser, klarer wusste als ich selber?“ (Hesse 1974a, S. 47). Sinclair wird zunehmend deutlicher, dass es sich bei Demian um mehr als einen Freund, ja um einen Teil seines Selbst handelt. Zu überschreiten ist die Schwelle zu einer neuen Entwicklungsstufe nach Integration der alten. „Was einst Franz Kromer war, das stak nun in mir selber […] Franz Kromer war längst aus meinem Leben verschwunden […] aber, Max Demian, verschwand nicht mehr ganz aus meinem Umfeld“ (Hesse 1974a, S. 50 f.).

In der weiteren Entwicklungsgeschichte wird Demian zum Führer, der auch das Identitätsziel von Sinclair darstellt. Es würde zu weit führen, die komplexen Erzählstränge des Romans mit ihren vielen archetypischen Symbolen wiederzugeben. Deutlich wird, dass Hermann Hesse die Identitätssuche und -findung als repräsentativen Prozess der Autonomisierung des Ich beschreibt, die eingebettet wird in eine tiefenpsychologisch gedeutete Gattungsgeschichte psychogenetischer Entwicklung. In der Schlussphase des Romans ziehen Demian und der 20-jährige Sinclair in den Krieg, und darin glückt dann die Identität durch Identifikation mit dem idealisierten Vorbild Demian. Der sterbende Demian lässt Sinclair wissen: „Du wirst mich vielleicht einmal wieder brauchen, gegen den Kromer oder sonst […] Du musst dann in dich hinein hören, dann merkst du, dass ich in dir drinnen bin. Verstehst Du?“ (ebd., S. 162).

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Demian wird zum Teil von Sinclairs Seele. Integration und Selbstfindung sind gelungen, – über den Tod des anderen. In der Krise findet das Ich zu sich selbst, zu einem Selbst, das symbolisch gesehen überindividuelle Ausmaße angenommen hat. Das Selbst – das sind die generalisierten Anderen, eingebunden in ein archetypisches Seelengeflecht und einen metaphysischen Sinnkosmos (vgl. Baumann 1997b, S. 346). Der Bildungsprozess des einzelnen repräsentiert die Rettung der Menschheit. Das ist eine Variante der Selbstdeutung, die Hesse schon als Kind intoniert hat (s. o.). Ähnlich wie Demian handelt Der Steppenwolf, geschrieben 1925/1926, von einer Bildungsgeschichte.8 Harry Haller, man beachte die Initialen H. H., ist ein selbstmordgefährdeter Schriftsteller, der unter der Spaltung seines angepassten Ich und seines alles Bürgerliche verachtenden Schattens leidet. Er tritt als Zyniker gegenüber der engen kleinbürgerlichen und sinnenfeindlichen Moral auf, unter der er leidet, von der er aber auch nicht lassen kann. Verkörpert in der Sauberkeit und Nettigkeit bürgerlicher Wohnstuben mit Puppenzimmeratmosphäre, spiegelt sie gemütvolle Ordnung und Intimität, denen er fern steht. Erst durch die verstörende Begegnung mit unterschiedlichen Figuren, die die polaren und kollektiv unbewussten Spannungen seiner Seele symbolisieren, erfährt er eine Art Wiedergeburt. Hallers lebensgeschichtliche Aufgabe ist die Integration von männlichen und weiblichen Persönlichkeitszügen, von Geist und Natur (Intellekt und Trieb), Moral und Sinnlichkeit. Die Sinnlichkeit und Erotik verkörpert die junge Frau Hermine (Anima), die Sexualität symbolisiert die sinnliche Maria (Große Mutter), das Künstlerische und Produktive wie Kreative zeigen sich in der Musik in der Gestalt Mozart und in der Poesie, vertreten durch Goethe, den Großmeistern bildungsbürgerlicher Hochkultur. In Hallers Individuations-prozesses ist der Humor das Mittel zur Integration seiner bislang abgewehrten Selbstanteile. Im Gegensatz zu ‚Demian‘, dessen Ende eine geglückte Integration vermuten lässt, scheitert der Protagonist im ‚Steppenwolf‘ offensichtlich. Im ‚Magischen Theater‘ als Bühne des eigenen Innenlebens tötet Haller seine Anima mit einem gespiegelten Messer, und das nicht einmal aus sinnlichen Motiven, wie etwa aus Eifersucht, sondern aus Gehorsam, weil man ihn dazu aufforderte. Er hat nicht begriffen, dass alle Personen Teile seines Selbst sind, und er sich damit um

8Lang

erhielt den Steppenwolf – im Gegensatz zu den anderen Romanen Hesses – erst zum Lesen, als dieser fertig geschrieben war. Lang spricht Hesse mit ‚Harry‘ an, und kommentiert den Steppenwolf wie folgt: „Er wird die Welt revolutionieren und den meisten seiner Leser ist er wohl gesetzt zum Falle, aber den Auserwählten zur Auferstehung. Es ist das stärkste Buch, das ich je gelesen“ (Hesse 2006, S. 243).

11.1  Elitäre Identitäten – Künstler und Intellektuelle

205

sich selbst gebracht hat. Haller möchte seine Schuldgefühle von einem Gericht bestraft wissen: Er wird von den Unsterblichen verurteilt – sie lachen ihn aus. Haller beginnt zu begreifen: „Oh, ich begriff alles […], ahnte erschüttert den Sinn, war gewillt […], die Hölle meines Innern nochmals und noch oft zu durchwandern. Einmal würde ich das Figurenspiel besser spielen. Einmal würde ich das Lachen lernen. Pablo wartete auf mich. Mozart wartete auf mich“ (Hesse 1974a, S. 237).

Am Ende des Steppenwolfes wird im Gegensatz zum ‚Demian‘ deutlich, dass der Jung’sche Individuationsprozess nie abgeschlossen ist, und dass es immer wieder die Möglichkeit der Versöhnung mit sich selbst gibt. Dies entspricht Hesses Aussage, dass man immer wieder unschuldig werden kann (s. o.).9 Stärker noch als bei ‚Demian‘ lehnt sich Hesse im Steppenwolf gegen das bürgerlich rigide Gewissen auf, worunter er selbst von Kindheit an gelitten hat. Das vermeintliche Scheitern Hallers buchstabiert den Ablösungs- und Überwindungsprozess noch einmal durch. Nicht eindimensionale und moralisch engstirnige Menschen und ihr krasses Gegenteil, die Nihilisten und Zyniker, sind erwachsen, sondern Menschen, die die vielen Facetten ihrer Seele anerkennen und ausleben. Versöhnlich endet der Steppenwolf insofern, als Hallers letztlich gescheiterter Höllenritt durch das eigene Seelenleben eine nächste Chance zur Versöhnung eröffnet. Hermann Hesse tritt im Steppenwolf wesentlich gesellschaftskritischer und politischer auf als im Demian, wie das ‚Magische Theater‘ es zeigt. Er bedient sich dazu sarkastischer Selbstgespräche des Protagonisten und überzeichneter Porträts seiner Mitmenschen. Auch bezieht er beispielsweise deutlicher als zuvor Stellung gegen den Krieg und verweist anhand drastischer Nachstellung kriegsähnlicher Situationen auf die entindividualisierenden Gefahren der Massensuggestion. „Es ist aber nicht damit getan, dass man Krieg, Technik, Geldrausch, Nationalismus etc. als minderwertig ankreidet. Man muss an die Stelle der Zeitgötzen einen Glauben setzen können. Das habe ich stets getan, im ‚Steppenwolf‘ sind es Mozart und

9Lang

geht deutlich auf Hesses Selbstmordabsichten während der Entstehung des Steppenwolfes ein, und sieht sich am Beispiel des Romanausgangs in der Rolle des Pablo: „Nunc incipit ludus novus. Glaubst Du wirklich, dass Deine Harnsäure sich so mit einem imaginären Eisen auflösen lasse. Ich wäre dafür, dass Harry jetzt einmal zu einer wirklichen Analysis animi verurteilt würde, bei der er hören muss und geduldig zuhört; ohne zu mucksen. Weißt, bis jetzt war es nur ein Vorspiel. Pablo hätte allerlei Tränklein für Harry in seiner Hexenküche“ (Hesse 2006, S. 243).

206

11  „Werde, der du bist“ – Elitäre Identitäten in Hermann Hesses Romanen

die Unsterblichen und das magische Theater, im ‚Demian‘ und ‚Siddhartha‘ sind dieselben Werte mit anderen Namen genannt“ (Hesse 1931, zit. nach Unseld 1986, S. 112, vgl. S. 56 s. o.).

Erhart sieht in Hesses „Selbstfindungskonzept“ eine Mythisierung der Identität in Form einer nur zu findenden „Ich-Einheit“ (Erhart 2004, S. 427). Jedoch wird bei näherer Beschäftigung mit der psychoanalytischen Psychologie C. G. Jungs klar, dass es sich um die Duldung und Akzeptanz mehrerer bipolarer Wesenszüge des Selbst handelt (vgl. Spies 2004, S. 131). Dabei schließt der Begriff des Selbst sowohl andere bewusste Teile außerhalb des Ich ein (als quasi Vorbewusstes) als auch die unbewussten, archetypischen Anteile. Hingegen macht das Ich – als Teil des Selbst – lediglich „das Zentrum des Bewusstseinsfeldes aus […] und (scheint, d. V.) mir von hoher Kontinuität und Identität mit sich selber zu sein. Ich spreche daher auch von Ich-Komplex […] bloß ein Komplex unter anderen Komplexen“ (Jung 1958, zit. nach Pongratz 1983, S. 339).

Bei Bewusstwerdungsprozessen antinomischer Selbsterlebnisse geht es nicht darum, eine Ich-Einheit anzustreben, sondern durch Erkennen und Akzeptieren der gegensätzlichen (teils unbewussten) Kräfte das Ich (Bewusstseinskern) zu erweitern und – auch jenseits bestehender Konventionen – handlungsfähig zu werden, und das im selbstverständlichen und selbstverträglichen Sinne. C. G. Jung macht hier den Unterschied zwischen Individuation und Individualismus deutlich: Individualismus ist der Gegenpol der Kollektivität. Durch eine einseitige Orientierung am Individualismus erhebt man diesen zur Norm und verhindert die individuelle Lebenstätigkeit (ebd., S. 345). Man wird sich selbst gerechter im Sinne des Individuationsprozesses, wenn der Kampf zwischen Trieb und Über-Ich (oder zwischen Natur und Geist, wie es Hesse formuliert) innerhalb des Selbst nicht aufhört, sondern als Grundvoraussetzung für die ­(Weiter-) Entwicklung des Ich bestehen bleibt. Darin liegt schließlich das Dilemma des „tragischen Menschen“, den Hesse allerdings – so Cremerius – „als schuldhaften Menschen missversteht. Da er sich als solchen nicht ertragen kann, wählt er den Weg in die Erlösungsreligion“, die des reinen Geistes im „Glasperlenspiel“ ­(Cremerius 1997, S. 39). Davon soll nun die Rede sein.

11.2  Das ‚Glasperlenspiel‘

207

11.2 Das ‚Glasperlenspiel‘ Das ‚Glasperlenspiel‘ ist das Spätwerk von Hermann Hesse. Daran hat er sich von 1931–1943 über ein Jahrzehnt lang im Angesicht der NS-Diktatur und des zweiten Weltkrieges abgemüht (Hesse 1983; vgl. Freedman 1999, S. 440 ff.). Es ist ein klassischer elitärer Bildungsroman, der zugleich eine prägnante Gegenwartsdiagnose enthält. Die bedrückende Gegenwart wird als Vergangenheit in einen utopischen Erzählrahmen gestellt. Ein fiktiver allwissender Erzähler aus dem Jahre 2400 rekonstruiert aus einem beträchtlichen historischen Abstand die legendäre Bildungs- und berufliche Karriere des zum Höheren berufenen Eliteschülers und späteren Glasperlenspielmeisters Josef Knecht. Dieser lebte in einem elitären mönchisch-asketischen Geistesorden, Kastalien genannt. Dessen gesellschaftlich-politische Bedeutung besteht darin, in einer politisch labilen, von Sinn- und anderen Krisen geschüttelten Gesellschaft so etwas wie einen sinnstiftenden, geistig-säkularen Mittelpunkt zu kultivieren. Damit sollen die allwaltenden desintegrativen Tendenzen der modernen Gesellschaft und ihr als pluralistisch-feuilletonistisch charakterisierter Kultur- und Wissenschaftsbetrieb eingedämmt werden, und zwar u. a. auch mit den Mitteln der Pädagogik und einer universalen Geistesbildung. Denn dieser elitäre Geistesorden dient als Ausbildungsstätte der gesellschaftlichen Eliten. Teile davon kehren nach einer Ordenszeit wieder in die Gesellschaft zurück und vermitteln dort ihre Bildungserfahrungen. Sie künden von der für abendländische Geisteseliten typischen Tradition geistig-asketischer und meditativer Selbst-Zucht, von erlebter geistig-metaphysischer Einheit der Welt, die alljährlich im ‚Glasperlenspiel‘ zelebriert wird. Wie nah Hesse in seiner pädagogischen Utopie Kastalien als Wirkungsstätte und Rekrutierungsort der Glasperlenspielmeister der weit verbreiteten Vorstellung einer humanistischen Elitebildung steht, zeigt uns eine Passage aus Sprangers Rechtfertigung der gymnasialen Bildung in seinem Aufsatz über die innere Schulreform. Er polemisiert gegen die „Einheitsbildung“ und plädiert für die Heranbildung einer „geistig hervorragenden Schicht“ (Spranger, 1952, S. 66) im Rahmen eines Meister-Schüler-Verhältnisses. „Denn der Vorgang der Menschenbildung ist so geartet, dass man besser von einem Meisteratelier reden sollte, in dem sehr feine, sehr persönliche und höchst verantwortliche Arbeit vor Gott und den Menschen geleistet wird“ (ebd., S. 71).

Hermann Hesse führt die Struktur des Elitären in dreifacher Weise aus: einmal biografisch in der Figur des Eliteschülers und späteren Ordensführers Knecht, seiner Lehrmeister im Orden und seiner gleichaltrigen Weggefährten, die von

208

11  „Werde, der du bist“ – Elitäre Identitäten in Hermann Hesses Romanen

außerhalb Kastaliens kommen; dann institutionell in der Gestalt dieses Geistesordens, aber auch seiner geistlichen Konkurrenz, des altehrwürdigen katholischen Benediktiner-Ordens mit seiner tausendjährigen Tradition, und zuletzt in der Gestalt eines elitären Geistes- und Kulturkonzepts. Das – so die Vision von Hesse – verwirklicht auf spielerisch-ästhetische Weise, im Sinne der Schiller’schen Idee des homo ludens – die abendländische Sehnsucht nach einer säkularen Weltreligion und einer einheitlichen lingua sacra, nach Einheit des Geistes, nach allumfassendem Ur-Wissen, nach einer einzigen und letztgültigen Wahrheit, nach harmonia mundi. Alle diese Sinnsphären liegen oberhalb jeden hochspezialisierten Wissens- und Forschungsbetriebes und jenseits einer technokratischen, hedonistisch ausgerichteten, oberflächlichen Wissens- und Gefühlskultur in der Gesellschaft (vgl. Hesse 1983, S. 15 ff.). Das Glasperlenspiel entwickelt eine Zeichensprache und Grammatik aus Elementen der Mathematik, der Musik und der Philologien, in denen mit sämtlichen Inhalten und Werten der Kultur in kosmologisch geordneter Weise gespielt wird. Somit zeigt sich deutlich, Hesse operiert – philosophisch gesprochen – mit starken vormodernen, kosmologischen Identitätskonzepten des menschlichen Geistes10. Damit will er einen Weg aus der pessimistisch gestimmten Kultur- und Gesellschaftskrise seiner Zeit aufzeigen. Verortet man dieses Hessische Konzept von Elite in die geistige Landschaft seiner Zeit, so ist die Nähe zur soziologischen Elitendiskussion in den Anfängen des 20. Jahrhunderts unübersehbar. Künstlerische, intellektuelle, moralische und religiöse Eliten, so die Auffassung von Pareto oder Mannheim, sind keine technokratischen Funktionseliten in einer arbeitsteiligen modernen Gesellschaft, sondern sie verstehen sich als geistige, wertorientierte, oft auch kastenförmig organisierte Führungseliten, die die moderne säkularisierte Massengesellschaft zu formieren versucht (vgl. Hartmann 2004, S. 33 ff.). Für sie gilt nicht wie für die Aristokratie das Privileg der Geburt, sondern das der Leistung und der Begabung, das sie zur Exklusivität und zum Führungsanspruch befähigt. Hesses utopische Geistesprovinz Kastalien variiert die mittelalterliche, elitäre mönchisch-asketische Lebensweise. Kastalien verkörpert die neuzeitliche, genauer die neuhumanistische Vorstellung von Geist und Kultur bzw. Bildung als zweckfrei, als interesselos und unabhängig von ökonomischen, politischen und sozialen Problemlagen und Zwängen (vgl. Ruhloff 2004, S. 448 ff.). Wir kennen diese Art von Rückgriff auf paradigmatische Lebensordnungen und Lebensformen unserer Kulturgeschichte auch aus der geisteswissenschaftlichen

10Vgl.

dazu das Gedicht Das Glasperlenspiel. Die erste Strophe beginnt mit den Zeilen: „Musik des Weltalls und Musik der Meister“ (Hesse 1983, S. 481).

11.2  Das ‚Glasperlenspiel‘

209

Pädagogik eines W. Flitners (vgl. Flitner 1950, S. 122 ff.). Sie gelten dort als bis in die Gegenwart reichende, wirkungsmächtige Urformen des menschlichen Zusammenlebens und Weltverhältnisses, damit auch des Pädagogischen. Man kann also durchaus behaupten, dass Hermann Hesses Bildungsroman in den Strömungen seiner Zeit verortet ist. Eine seltsame Ironie der Geschichte ist es, dass Hesse, während er seiner Vision einer die Kultur erneuernden bzw. bewahrenden Geisteselite im Glasperlenspiel Ausdruck gab, zugleich die nationalsozialistische Perversion der Eliten, Führerkasten, Ordensvorstellungen, des missionarischen Dienstgedankens und rassistischer antiintellektueller Einheits- bzw. Gemeinschaftsideologien im Nachbarland der Schweiz, Deutschlands vor Augen geführt bekam. Wenden wir uns nun der Hauptfigur des Bildungsromans zu. Zuerst eine biografische Einordnung. Man kann dieses Alterswerk lesen als literarische Kompensation oder zumindest als literarischen Gegenentwurf seiner eigenen abgebrochenen Bildungserfahrungen als gescheiterter Eliteschüler. Im Roman gelingt ihm das, was ihm lebensgeschichtlich versagt geblieben ist. Musste sich Hermann Hesse als Kind schmerzlich von seinen Eltern trennen, so scheint der elternlose Josef Knecht gleichsam prädisponiert für das Internatleben zu sein. Dem Josef Knecht eignet oder fliegt gewissermaßen das zu, was sich Hesse mit großer Anstrengung und letztlich mit Scheitern erarbeiten musste: die Hochbegabung, die Selbstdisziplin, die Stufungen seines Bildungsweges als Folge von weisen Berufungen durch verehrte Meister und Lehrer zum richtigen Zeitpunkt, das so erfahrene Auserwählt-werden, das zum Dienst an einer höheren Sache führt und nicht die Mühen der Selbstbehauptung und des Konkurrenzkampfes kennt, die Hesse in seiner Bildungsbiografie erfahren hat. Die von ihm durchlittene herbe pietistisch-asketische Lebensform des klösterlichen Internats stilisiert er im ‚Glasperlenspiel‘ zur selbst auferlegten und produktiven Geisteszucht, die die Psyche und den Geist des Jünglings Joseph Knecht läutert und voranbringt; die lebensgeschichtlich als leidvoll erfahrene autoritäre pietistische Pädagogik verwandelt sich im Roman in eine autoritative, dialogisch-pädagogische Begegnungsform des innigen und harmonischen Meister-Schüler-Verhältnisses; die unter dem pädagogischen-autoritären Druck sich formierte verschworene Internatskameradschaft in Maulbronn wird im Roman zu unübersehbar homoerotisch getönten intensiven Jungen- und Männerfreundschaften, in denen Auserwählte auf Auserwählte treffen. Im Kontext dieses Bildungsromans führt uns Hesse an der Figur des Josef Knecht den Prozess einer exemplarischen Identitätsentwicklung vor. Sie bewegt sich in den antinomischen Spannungsfeldern unserer abendländischen Geistesgeschichte, die für Hesses Romane so typisch sind und die er in diesem Spätwerk

210

11  „Werde, der du bist“ – Elitäre Identitäten in Hermann Hesses Romanen

noch einmal in vielen hochgeistigen Gesprächen, in den Rollenkonstellationen seiner Protagonisten und in den einzelnen herausgehobenen Personen durchdekliniert: da geht es um die Spannung zwischen Natur und Kunst bzw. Kultur, zwischen elitärer ästhetischer Lebensform und moralischer Verpflichtung, zwischen rauer sozialer Wirklichkeit und abgeschiedener Geistesprovinz, zwischen Geist und Leben, zwischen Geist und Körper, zwischen östlicher Meditationskultur und abendländischer Rationalität, zwischen personaler Freundschaft und überpersonaler Verpflichtung, zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen, zwischen dem Zeitlosen und dem Geschichtlichen. Die Hauptfigur Josef Knecht ist dafür prädestiniert, diese Spannungen zu erfahren und zum Material seines Bildungsprozesses und letztlich zum Vorbild für die Weiterentwicklung der Kastalischen Geistesprovinz werden zu lassen. Dieser Prozess ist präformiert, ja prädeterminiert, er ist teleologisch und entelechial angelegt. Wie schon erwähnt, für die Entwicklung von Joseph Knecht gilt die Devise ‚Werde, der du bist‘. Diese Entwicklung im wortwörtlichen Sinne ist paradox. Sie wird als Individualgenese komponiert, die sich jedoch in nahezu bruchlosen, nicht entfremdenden Anpassungsprozessen des Individuums in das vorgegebene hierarchische Ordnungsgefüge des Geistesordens einfügt, so als wäre sie seine präformierte und vollendete Gestalt. Und doch kommt durch das Individuum, durch dessen ‚Eigensinn‘ – wie in vielen Romanen Hesses – ein irritierender, dynamischer und störender Faktor in das bestehende Ordnungsgefüge hinein. Hesse verbildlicht es in seinem bekannten Stufengedicht als Transzendieren, als Überschreiten des Bestehenden, indem der Voranschreitende dem Ruf des ‚Weltgeistes‘ folgt (vgl. Hesse 1983, S. 480 f.). Trotz aller Angepasstheit ist Knecht das eigensinnige Individuum, das in keiner Rolle aufgeht, sondern sie überschreitet. Gewissermaßen verkörpert die Figur Knecht den philosophisch und soziologisch kultivierten Zeitgeist der Weimarer Zeit. Das bürgerliche Individuum bewegt sich im Spannungsfeld von Gesellschaft und Einzigartigkeit, von Sozialität und Individualität. Das Individuum steht aufgrund seiner existenziellen Einzigartigkeit gegen die Vermassung, die Rollenmuster und Anpassungszwänge, und von ihm allein aus, aufgrund seiner strukturellen Asozialität, können gesellschaftliche Veränderungen erfolgen. Blenden wir zurück: diese dynamisierende Funktion gilt auch für Knecht. Im elitären Orden wird er zur noch unverstandenen Führungsgestalt, die auf der Höhe ihrer Ordenslaufbahn existenziell beunruhigt wird von den sich anbahnenden Gefahren des Niedergangs des Ordens, verursacht durch die Abschottung der geistigen Elite von der sie tragenden Gesellschaft und den aktuellen geschichtlichen Wandlungsprozessen. Das Eigensinnige und Abweichende in Knecht ist jedoch nichts Idiosynkratisches und damit bloß Individuelles und Absonderliches. Im Gegenteil, Hesse konfiguriert es als etwas

11.2  Das ‚Glasperlenspiel‘

211

Individuell-Allgemeines, Überindividuelles, nämlich als Mission und Berufung mit dem Ziel, den Orden aus der Erstarrung herauszuführen. In dieser Hinsicht ist Knecht der Rebell und Repräsentant einer neuen Zeit. Es sei hier kurz angemerkt, dass Hesse dem soziologischen Modell des organischen Kreislaufs von Eliten von Pareto folgt, ein Modell, das man zum anderen auch kultur- und zivilisationskritisch bei O. Spenglers Untergang des Abendlandes findet: Eliten oder Hochgesellschaften unterliegen dem Kreislauf allen Lebens (vgl. Hartmann 2004, S. 25 ff.). Sie werden geboren, blühen auf und verfallen wieder. Ein solches zivilisationskritisches, zyklisches Geschichtsmodell verwendet auch Hesse. Die Verkörperung dieser zeitlosen Botschaft vom Werden und Sterben menschlicher Werke und Institutionen ist der Protagonist Josef Knecht. Es bleibt noch zu berichten, dass er als Prophet im eigenen Lande nicht gehört wird, er deshalb Kastalien verlässt und anlässlich seiner pädagogischen Aufgabe, den Jüngling seines weltlichen Freundes zu erziehen, in einem Gebirgssee ertrinkt. Dieser tragische Tod des Helden erscheint vielen Lesern als stilloser Abbruch der Bildungsgeschichte. Kennt man jedoch Hesses Vorliebe für ostasiatische Metaphern und Bilder des Werdens und Vergehens, wie er sie besonders in Siddhartha ausgemalt hat, dann erhält auch dieses Ende einen nicht-kontingenten Sinn: Das Wasser, sein gleichsam zeitloses Strömen ist das Sinnbild der Wiedergeburt. Das Individuum wird so mystisch ins Zeitlose gehoben, in die zeitlose Sphäre der Seelenwanderung und Wiedergeburt. So heißt es in der letzten Strophe des Gedichts Stufen als eine Hinterlassenschaft des Magisters Knecht: „Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde Uns neuen Räumen jung entgegensenden, Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden … Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“ (Hesse 1983, S. 481)

Werfen wir einen Blick zurück auf das ‚Glasperlenspiel‘. Es ist unübersehbar, dass Hesses Mission als Dichter und Schriftsteller darin besteht, das Verlangen der Menschen nach Orientierung, nach Heil und positiver Weltenordnung in einer durch und durch unfriedlichen Zeit, in einer Zeit des Verfalls von traditionellen Wert- und Ordnungsvorstellungen zu stillen. Er reaktiviert dabei synkretistisch eine Art Religionsersatz, nämliche europäische und außereuropäische kosmologische Heils- und Sinngewissheiten, die die (Er-) Lösung aus gleichsam übersichtlich gezeichneten antagonistischen Konflikten im individuellen Seelenleben wie auch in der Kultur zu versprechen scheinen. Das Alterswerk Das Glasperlenspiel ist, so unsere Einschätzung, letztlich ein bildungsbürgerlicher

212

11  „Werde, der du bist“ – Elitäre Identitäten in Hermann Hesses Romanen

Anachronismus. Er zeichnet den Prozess der Identitätssuche als den der Identitätsfindung und weicht der Kontingenzerfahrung aus, die für uns heute symptomatisch ist.

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11  „Werde, der du bist“ – Elitäre Identitäten in Hermann Hesses Romanen

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Erkenntnis- und Identitätskrise in Musils Erstlingsroman „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“

12

„Und es gibt auch sonst Dinge, wo zwischen Erleben und Erfassen diese Unvergleichlichkeit herrscht“ (Musil 2006, S. 91).

Robert Musils vor rund einem Jahrhundert Aufsehen erregendes literarisches Debüt Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (abgekürzt zitiert als Törleß) hat eine „verwirrende Vielfalt der Interpretationen“ erfahren (so Kroemer 2004, S. 11; vgl. auch Johann 2003, 206 ff.). Einer unter mehreren Hauptlinien möchte ich hier folgen. Deren Thematik durchzieht auch viele Arbeiten von Käte Meyer-Drawe (vgl. grundlegend Meyer-Drawe 1990): Es geht ihr wie auch in diesem Roman um die Identitätskrise des modernen Menschen, thematisiert als Krise des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses und artikuliert in unterschiedlichen Registern von Erfahrung und Erkenntnis. Im Törleß wie auch später im Jahrhundertwerk Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1972) repräsentieren die Identitätskrisen der Protagonisten die allgemeine Krisenstimmung des fin de siècle. Philosophisches, im engeren Sinne auch phänomenologisches Gedankengut spielt hierbei, wenn auch nicht stringent, eine nicht unerhebliche Rolle. Identität als Krisenphänomen erhält im Erstlingsroman des erst 25-jährigen Ingenieurs und Studenten der Philosophie und Psychologie in Berlin (1903–1908) Robert Musil einen sprachlich virtuosen und intensiven Ausdruck. Die Erfahrungen, Empfindungen, Reflexionen und hochgeistigen Gespräche zwischen den jugendlichen Protagonisten des Romans spiegeln die enorme Leseerfahrung des jungen Musil wider. Sie reicht von esoterischer Literatur (Emerson, Maeterlinck) bis zur Rezeption genuin philosophischer Werke (u. a. Nietzsche, Kant, Mach, Husserl). Besonders in seiner Dissertation an der Berliner Universität 1908 Beitrag zu Beurteilung der Lehren Machs (wieder aufgelegt 1981a), an der Musil nach und vermutlich auch schon während der Niederschrift seines Romans arbeitete, setzte er sich kritisch mit den © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Lippitz, Phänomene der Erziehung und Bildung. Phänomenologischpädagogische Studien, Phänomenologische Erziehungswissenschaft 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24187-2_12

215

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12  Erkenntnis- und Identitätskrise in Musils Erstlingsroman …

n­aturphilosophischen Lehren von Ernst Mach auseinander. Dieser, so Manfred Sommer in seiner anregenden Studie: Evidenz im Augenblick – eine Phänomenologie der reinen Empfindung (Sommer 1987), ist der Begründer der hyletischen Phänomenologie, einer ‚Phänomenologie der reinen Empfindung‘. In gewisser Hinsicht tritt er als Antipode Husserls und dessen Phänomenologie des intentionalen Bewusstseins in Erscheinung (genauer dazu s. u.). Am Rande sei bemerkt, dass der inhaltliche Plot des Romans besonders in Pädagogenkreisen einiges Aufsehen erregte. Es geht um die psychologisch sublim und ungeschönt erzählte Skandalgeschichte über pubertierende österreichische Kadettenzöglinge aus privilegierten bürgerlichen und adligen Kreisen. Hinter den Mauern und in den von den Erziehern oftmals nicht kontrollierbaren, geheimen Rückzugsräumen haben sie ihre für geschlossene und repressive (Bildungs-) Anstalten durchaus nicht seltenen homoerotischen Erlebnisse und leben ihre Macht aus, indem sie sadomasochistische Praktiken gegenüber einem Mitschüler ausüben. Zwar kommt in diesem wichtigen Erzählaspekt des Romans – wenn auch nur bruchstückhaft – Musils eigene Vergangenheit als Schüler einer österreichischen Kadettenanstalt mit zur Sprache. Aber gegen die Unterstellung, es handle sich vorwiegend um ein autobiografisches Bekenntnisbuch, und er könne besonders den Pädagogen mit Rat und Tat zur Seite stehen, wehrt sich Musil in seiner biografischen Rückschau vehement (vgl. dazu Musil 1981b, GW 2, S. 947). Dass dieses Buch sadomasochistische Machtpraktiken samt sie rechtfertigende Ideologien zeige und in gewisser Hinsicht hellsichtig auf die Zeit des Faschismus vorgedeutet habe, erwähnt Musil in seiner biografischen Rückschau selbst (1937): „Das Verhältnis zur Politik. Reising, Boineburg: die heutigen Diktatoren in nucleo […]“ (Musil 1976, Tagebücher 1, Heft 33, S. 914). Dieser Aspekt, den ich hier nicht vertiefen möchte, ist immer wieder in zahlreichen Rezeptionen bis heute hervorgehoben worden (vgl. Berghahn 1978, S. 28; Jens 1984). Über die u. a. auch psychoanalytisch zu deutende Neigung zu sadomasochistischen Praktiken in repressiver Internatserziehung ist ebenfalls viel und differenziert geschrieben worden (vgl. u. a. Großmann 1997, 80 ff.; Johann 2003, 266 ff.; Biermann 1994, 177 ff.). Mein Interesse an diesem Roman zielt nicht auf die Beschreibung und Erklärung biografisch hochwirksamer sozialisatorischer und pädagogischer Praktiken und Wirkungsgeschichten einer repressiven Bildungsinstitution, des Herrschaftsgefüges ihres pädagogischen Fachpersonals ab, was die Zöglinge motiviert, sich darin oder sogar dagegen zu behaupten (vgl. dazu Gonschorek 1979; Kalthoff 1997). Alles das ist im Törleß zweitrangig. Denn über institutionelle Strukturen wie auch die Lehrerschaft gibt Musil nur wenig Auskunft. Dagegen stehen der junge Törleß und seine drei Kameraden im Zentrum des Romans. Neben ihren skandalträchtigen Handlungen arbeitet Musil besonders

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ihre unterschiedlichen individuellen Charaktere samt Motivkonstellationen, Weltund Selbstbilder heraus. Einen hohen Stellenwert bekommen die hochgeistigen Gespräche zwischen ihnen, in denen Musil die ‚philosophischen Gedanken‘ seiner Epoche verhandelt. Hinzu tritt die atmosphärisch dichte und metaphorisch funkelnde Beschreibung der Gemüts- und Stimmungslagen des jungen Törleß, in denen sich seine psychische und geistige Entwicklung zeigt. Wenn hier von pädagogisch relevanten Wirkungszusammenhängen die Rede sein kann, dann nicht in der Gestalt intentionaler Fremderziehung durch Erwachsene, sondern von ‚Selbsterziehung‘. Darin agiert der junge Törleß jedoch nicht souverän. Im Gegenteil, geistige Krisen und verwirrende vorintentionale Gefühls- und Stimmungslagen drängen sich ihm auf und fordern seine Auseinandersetzung heraus. Das Ich des Törleß ist ein dezentriertes, leiblich situiertes Ich, das nicht Herr seiner selbst ist und nie gänzlich werden wird – so legt es Musil zum Schluss des Romans nahe. Selbstironisch betont Musil die auffällige philosophierende Tendenz des Romans in einem Brief an Frau Stefanie Tyrha vom 22.03.1905 nach Fertigstellung seines Buches: „… Ja, also, er ist fertig. Schon seit Wochen. Natürlich ist er schlecht. Er hat alle meine Untugenden und keinen meiner Vorzüge (an die ich halb und halb noch glaube). Er behandelt ein psychologisches Sujet: und genügt nicht einmal der einfachsten Psychologie. Sechzehnjährige Knaben reden darinnen wie Bücher, und da mir doch davon bange wurde, wie schlechtgeschriebene Bücher. Es sieht anfänglich aus, als wollte er einen etwas perversen Knaben seccieren, der von der aufdringenden Pubertät zerrissen wurde. Wie gesagt anfänglich“ (Musil 1981c, S. 12–14, zit. in Biermann 1994, S. 172).

„… die Luftstimmung zwischen dem Räumlichen und dem Seelischen …“ (Kerr 1906, zit. in ebd., S. 162). Dieses Zitatbruchstück aus Kerrs, für den Erfolg des Erstlingsromans folgenreichen Rezension, charakterisiert – selbst metaphorisch – die bilderreiche Erzählweise von Musil, die das ‚Atmosphärische‘ mit ‚Seelenstimmungen‘ verflicht. So beginnt Musil seinen Roman mit der Beschreibung einer tristen und melancholisch stimmenden Landschaft, in der die Kadettenanstalt fernab jeder pulsierenden Großstadt an der Peripherie der österreichisch-ungarischen Monarchie liegt: „Machten es diese traurigen Farben, machte es das bleiche, kraftlose, durch den Dunst ermüdete Licht der Nachmittagssonne: Gegenstände und Menschen hatten etwas Gleichgültiges, Lebloses, Mechanisches an sich, als seien sie aus der Szene eines Puppentheaters genommen“ (Musil 2006, S. 7).

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Später malt Musil ein ähnliches Stimmungsbild, in der die landschaftliche Stimmung zugleich zum Ausdruck der Gemütsverfassung von Törleß wird. „Vielleicht war daran die Abreise seiner Eltern schuld, vielleicht war es jedoch nur die abweisende, stumpfe Melancholie, die jetzt auf der ganzen Natur ringsum lastete und schon auf wenige Schritte die Formen der Gegenstände mit schweren glanzlosen Farben verwischte. Dieselbe furchtbare Gleichgültigkeit, die schon den ganzen Nachmittag über allerorts gelegen war, kroch nun über die Ebene heran […] Er erlebte ja nichts, und sein Leben dämmerte in steter Gleichgültigkeit dahin“, und das Glockenzeichen am Abend „fügte dem auch noch den Hohn hinzu […] Nun kannst du gar nichts mehr erleben, während zwölf Stunden kannst du nicht mehr erleben, für zwölf Stunden bist du tot […]: das war der Sinn dieses Glockenzeichens“ (ebd., S. 20 f.).

Das Ineinander von seelischen Stimmungslagen und landschaftlich-räumlicher Atmosphäre zu beschreiben, gehört nicht erst seit der Romantik zum dichterischen Erzählrepertoire. Der junge Schriftsteller Musil ist ein Meister dieser Erzählkunst, und man hat an die vierhundert sprachliche Bilder und Metaphern in dem Roman gezählt (vgl. Luserke 1995, S. 33). Sind solche Schilderungen von Befindlichkeiten, Gemütsverfassungen und korrespondierenden ‚gestimmten Räumen‘ bloß stilistische Mittel der Poesie und fantasievolle Subjektivismen, oder haben sie nicht auch einen sachlichen Grund? In der Lesart des cartesianischen Dualismus zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen Geist und Natur, Subjekt und Objekt, der als wissenschaftliches Weltbild zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Natur- und Humanwissenschaften, also auch der Psychologie vorherrschte, wäre das wohl kaum als Faktum zu werten. Dass jedoch der Mensch mit seinem leiblichen Responsorium der Sinne und Empfindungen inmitten der Welt lebt, statt ihr gegenüber zu stehen; dass seine Sinne und Empfindungen synästhetisch wirken und Welt als ‚gestimmte‘ vielfarbig erlebt wird; dass menschliches Dasein mitmenschlich verfasst ist, umgeben und verflochten in seinen Aktivitäten mit ausdruckshaften und ihn herausfordernden Dingen, situiert in atmosphärischen und ‚gestimmten‘ Räumen, die seine Befindlichkeit mitbestimmen, – alle diese und andere Aspekte einer Zwischensphäre leiblich dimensionierten und ästhetischen Welt- und Selbstverhältnisses ausgearbeitet zu haben, ist der Verdienst alternativer Wissenschafts- und Philosophietraditionen schon an der Schwelle des 20. Jahrhunderts (vgl. dazu grundlegend: Straus 1956; Waldenfels 2000, S. 45 ff.). Musils hoch empfindsame Hauptfigur lebt – systematisch gesprochen – dezentriert, nicht eingesponnen in eine hermetische Innerlichkeit von Gefühlen und Empfindungen, sondern, wie es später noch deutlicher wird, in innerer ‚Verwandtschaft‘ mit der Welt und den Dingen. Er antwortet

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leiblich-sinnlich mit Melancholie und Einsamkeitsgefühlen, motiviert von der abweisenden und düsteren Landschaft und der monotonen Alltagsroutine des Internats in seinen sich von seiner Umgebung abschließenden hochaufragenden Gemäuern, in denen der die Internatsordnung verkündende Glockenschlag nicht bloß im physikalischen Sinne erschallt, sondern als unüberhörbare ‚Stimme‘ den Zögling zur Einhalt seiner Pflichten ruft. ‚Räume‘ und Gegenstände haben ihre eigentümlichen ‚Valenzen‘, die an die Menschen in bestimmter Weise appellieren und bestimmte Verhaltensweisen hervorrufen (vgl. dazu unter vielen anderen: Bollnow 1963; Meyer-Drawe 2003; auch Langeveld 1966; Lippitz 1990; Waldenfels 2000). Die Verflechtung von sinnlich erlebter Umwelt und leiblich situierter Identität einer Person verkörpert sich im sozialen Habitus. Musils Erzähltechnik der multiperspektivischen Charakterisierung lässt ihn gleichsam in die innere Erlebnisund Gedankenwelt seiner Protagonisten eintauchen. Ihre Identität entspringt nicht allein ihrer Selbst- und Sinnsuche, die gleichsam nur um den ‚inneren Kern‘ einer Person kreist. Ihre Identität stammt auch aus ihrem sozialen Milieu. Fasziniert ist der junge Törleß zum Beispiel von einem jungen Fürsten aus einem alten Adelsgeschlecht. Um Bourdieu zu paraphrasieren, er inkorporiert bis in die Fingerspitzen Gestik, Sprache, Haltung, sein soziales Milieu (vgl. Bourdieu 1982). „Das Schweigen eines alten Landedelsschlosses und frommer Übungen schien irgendwie noch an ihm zu haften. Wenn er ging, so geschah es mit weichen, geschmeidigen Bewegungen, mit diesem etwas schüchternen Sichzusammenziehen und Schmalmachen, das der Gewohnheit eigen ist, aufrecht durch die Flucht leerer Säle zu schreiten […]“ (Musil 2006, S. 13).

In gewisser Weise beeindruckt der junge Fürst Törleß als dessen G ­ egenbild. Er verkörpert „authentisch“ und ungebrochen die „volle Art“, „etwas SeelischMenschliches zu sein, die um den Kern, das Greif- und Besprechbare, wie um ein bloßes Skelett herumgelagert ist“ (ebd., S. 13). Törleß dagegen als Vertreter des geadelten Bürgertums ruht in keiner ihn stabilisierenden jahrhundertealten Tradition. Er gehört zu den Schichten, die diese feudalen Traditionen infrage stellen und als Hauptinitiatoren und Träger der Modernisierungsprozesse in deren Widersprüchlichkeiten und Krisen hineingerissen werden. Somit sind die ‚Verwirrungen‘ nicht einfach Symptome der Pubertätskrise und allein entwicklungspsychologisch zu deuten. Vielmehr zeigen sie – im Törleß nur andeutungsweise, dagegen im Mann ohne Eigenschaften essenziell – einen sozialen Typus, nämlich den Intellektuellen, der bis in den Geschmack seiner Kleider, seiner Möbel und seines ganzen Wohnambientes hinein ‚gekünstelt‘ und nicht ‚authentisch‘

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ist und in einem skeptischen, distanzierten Weltverhältnis lebt. Das sich um die Jahrhundertwende machtvoll in Bürokratie, Industrie und Wissenschaft etablierte und wirtschaftlich saturierte Bürgertum generiert zugleich einen skeptischen Intellektuellentyp, der als Außenseiter die herrschende Ordnung infrage stellt, die Hohlheit ihrer Ideologien und Legitimationen aufdeckt und die Brüchigkeit der Ordnung als Krise seiner sozialen Identität durchlebt. ‚Ulrich‘, der promovierte Naturwissenschaftler, das narrative Ego von Musil, verkörpert diesen Skeptiker im Mann ohne Eigenschaften. Im pubertierenden Törleß durchläuft dieser ‚Ulrich‘ seine schwierige Entwicklungsphase als Jugendlicher, in der die Wurzeln dieser Haltung und Seelenverfassung gelegt werden (vgl. dazu umfassend Jonsson 2000, S. 21 ff.). So münden die ‚Verwirrungen‘ des Törleß nicht in Selbstgewissheit, Autonomie und Selbstbestimmung, sondern rumoren als existenzieller Zweifel lebenslänglich fort: „[…] aber die Erinnerung, dass es anders sein kann, dass es feine, leicht verlöschbare Grenzen rings um den Menschen gibt, dass fiebernde Träume um die Seele schleichen, die festen Mauern zernagen und unheimliche Gassen aufreißen, – auch diese Erinnerung hatte sich tief in ihn gesenkt und strahlte blasse Schatten aus“ (Musil 2006, S. 199).

Von seinen Jugenderlebnissen bleibt etwas „für immer zurück: jene kleine Menge Giftes, die nötig ist, um der Seele die allzu sichere und beruhigte Gesundheit zu nehmen und ihr dafür eine feinere, zugeschärfte, verstehende zu geben“ (ebd., S. 160).

„Und es gibt auch sonst Dinge, wo zwischen Erleben und Erfassen diese Unvergleichlichkeit herrscht“ (ebd., S. 91). Der Zögling Törleß tritt als Typ des besonders empfindsamen Jugendlichen auf. Dessen ‚Verwirrungen‘ führen in eine seelische Entwicklung, die sich als ‚Talent des Staunens‘ beim Erwachsenen zeigen wird. Nach Musil drückt sich darin eine philosophisch-skeptische Haltung aus, die ein Merkmal der Krise des philosophischen und wissenschaftlichen Denkens um die Jahrhundertwende ist. Diese Haltung charakterisiert Musil folgendermaßen: „Er war dann gezwungen, Ereignisse, Menschen, Dinge, ja sich selbst häufig so zu empfinden, dass er dabei das Gefühl sowohl einer unerklärlichen, nie völlig zu rechtfertigenden Verwandtschaft hatte. Sie schienen ihm zum Greifen verständlich zu sein und sich doch nie restlos in Worte und Gedanken auflösen zu lassen. Zwischen den Ereignissen und seinem Ich, ja zwischen seinen eigenen Gefühlen und

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irgendeinem innersten Ich, das nach ihrem Verständnis begehrte, blieb eine Scheidelinie, die wie ein Horizont vor seinem Verlangen zurückwich, je näher er ihr kam. Ja, je genauer er seine Empfindungen mit den Gedanken umfaßte, je bekannter sie ihm wurden, desto fremder und unverständlicher schienen sie ihm gleichzeitig zu werden, so dass es nicht einmal mehr schien, als ob sie vor ihm zurückwichen, sondern als ob er selbst sich von ihnen entfernen würde, und doch die Einbildung, sich ihnen zu nähern, nicht abschütteln könnte“ (ebd., S. 34).

Ist es nur das individuelle Unvermögen des unreifen und pubertierenden Protagonisten, sich selbst nicht zu verstehen und nach Worten zu suchen? Was meint diese sich dem Denken versagende unmittelbare Evidenz der empfundenen Verwandtschaft des Ich mit dem Nicht-Ich, mit den ‚Ereignissen, Menschen, Dingen‘? Musil wendet dieses Erkenntnis- und Ausdrucksproblem ins Grundsätzliche: Der Hiatus zwischen Erleben und Erfassen ist unüberbrückbar. Sie sind Antipoden, zwischen ihnen herrscht ‚Unvergleichlichkeit‘. Denn, so fährt Musil als auktorialer Erzähler und Interpret fort: „Immer aber ist es so, dass das, was wir in einem Augenblick ungeteilt und ohne Fragen erleben, unverständlich und verwirrt wird, wenn wir es mit den Ketten der Gedanken zu unserem bleibenden Besitze fesseln wollen. Und was groß und menschenfremd aussieht, solange die Worte von ferne danach langen, wird einfach und verliert das Beunruhigende, sobald es in den Tatkreis unseres Lebens eintritt“ (ebd., S. 91).

Im Folgenden versuche ich, die o. g. Zitate in einen systematischen Kontext zu stellen. Es bieten sich folgende Lesarten an: eine mehr systematische philosophische, dann eine eher kulturkritische und zugleich ästhetisch-theoretische Lesart. Die prinzipielle Differenz zwischen Erleben und Erklären zu betonen, gehört zum damaligen Problemverständnis der geisteswissenschaftlichen wie auch naturwissenschaftlichen Philosophie, beide Richtungen u. a. repräsentiert einmal in der intentionalen Bewusstseinsphänomenologie Husserls und zum anderen in der hyletischen Phänomenologie von Mach, der ich mich etwas genauer zuwende (vgl. Sommer 1987, S. 87 ff.). Erlebnisse und Empfindungen fallen nicht mit ihrer Reflexion und ihrer sprachlichen Deskription zusammen. Beide erfolgen prinzipiell nachträglich und verwenden sprachlich-begriffliche Mittel, die gegenüber dem individuellen Erleben abstrakt und zu allgemein bleiben, es also nur inadäquat darstellen können. Jede Deutung laviert zudem zwischen den wechselseitigen Überschüssen des Sagens und dem Vorgeprägten und Tradierten des immer schon Gesagten wie auch zwischen dem Denken des Neuen und

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dem Immer-schon-Gedachten. Das heißt, dass die Mittel der Darstellung selbst Deutungsspielräume eröffnen und unabschließbar, ja in sich vieldeutig bleiben, und das diskrepante Verhältnis zwischen Deutung und gedeuteten Empfindungen nicht allein die Quelle für unzulängliches Verstehen ist. Also gibt es wegen dieser unvermeidbar inadäquaten sprachlichen Vermitteltheit und iterativen Nachträglichkeit jeder Reflexion keinen unmittelbar gewissen und evidenten Ausgangspunkt philosophischer Wahrheitssuche. Die Identität von Denken und Gedachtem bleibt ihr verwehrt, und der Hiatus zwischen erkennender Vernunft und zu erkennender Wirklichkeit erweist sich als unüberbrückbar. In diese Differenz, in diese Spaltung nisten sich gnostische Hoffnungen auf Erlösung ein. „Die Welt, in der wir leben, ist die cartesianische Welt mit ihrem Dualismus: das Bewusstsein hier innen und – unerreichbar, die Dingwelt dort draußen“ (ebd., S. 154). Das befördert ein Gefühl der Entfremdung und das Bestreben, sie zu überwinden. In der gnostischen Sicht der Dinge gibt es einen Ausweg aus der Krise, der gerade jenseits aller Reflexivität zu finden ist. Jede Grundlagenreflexion verliert sich in unendlichen Reflexionsschleifen und wird haltlos. Denn nach Husserl ist jeder Bewusstseinsakt horizonthaft und retentional strukturiert. Daran erinnert auch Musil (s. o. Musil 2006, S. 34). Oder anders intoniert: für den Naturwissenschaftler und Kritiker naturalistischer und positivistischer Theorien, Ernst Mach, ist jede wissenschaftliche Forschung auf Selbsterhaltung der menschlichen Gattung programmiert. Ihre Theorien, ihre kausalanalytischen Gesetzesannahmen und logischen Begrifflichkeiten sind selbst geschichtlich. Sie haben kein ontologisches Fundament, und ihre Wahrheiten bleiben relativ. Sie sind, wie es die wechselhafte Geschichte der Wissenschaften und ihrer Wahrheitsansprüche zeigt, nur vorläufige, hypothetische Konstruktionen von funktionalen Zusammenhängen, die allein ökonomischen und zweckdienlichen Prinzipien folgen. Von Naturgesetzen ‚an sich‘ zu reden, von einer vormenschlichen ‚Natur‘ ohne eine Beziehung auf den Menschen, von einer Wahrheit an sich auszugehen, alles das sei überholte Metaphysik (vgl. Mach 1903, S. 218 f.). Dass diese Behauptung von Mach selbst sehr widersprüchlich vorgetragen wird und er zwischen Naturalismus und relativistischem Funktionalismus schwankt, hat Musil in seiner Berliner Dissertation (1908): Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs in vielen Punkten kritisch herausgearbeitet (wieder veröffentlicht Musil a 1980). Die gnostische und metaphysische Tendenz sowohl in Husserls Bewusstseinsphilosophie wie in Machs Phänomenologie der Empfindung überschreitet jede rationale Erkenntnis: Husserl unterläuft den drohenden Relativismus und Skeptizismus philosophischer Erkenntnisbegründung. Er gründet in platonischer Weise den transzendental verbürgten Wahrheits- und Gewissheitsanspruch letztlich auf die Evidenz reiner Anschauungen im egologischen Bewusstseinsleben.

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Von dort aus, als Angelpunkt der Neubegründung der Philosophie und menschlicher Vernunft überhaupt, soll, so Husserl, das europäische Aufklärungsprojekt weltweit wirksam werden. In akribischer und immer wieder anfangender Selbstbeobachtung findet er mittels methodisch durchgeführter Reduktionen die transzendentale Basis der Vernunft in der „originär gebenden Anschauung“ als „unmittelbare[m] Sehen“ im weitesten Sinne nicht nur sinnlicher Erfahrung, das die „letzte Rechtsquelle aller vernünftigen Behauptungen“ ist (Husserl 1980, S. 36). Das Bewusstsein selbst, sich anschaulich „gebend“ in evidenter Selbstbetrachtung, dient als „‚Urquelle‘ für alles Sein und Sosein der Welt“ (Sommer 1987, S. 370). Machs Weg aus dem Relativismus hin zu einem sensualistischen Monismus ist gleichfalls reduktiv. Laut Sommer, der den oftmals essayistischen Überlegungen des philosophierenden Naturwissenschaftlers einen systematischen Rahmen gibt, sucht und findet Mach die vortheoretische Basis in der vorsubjektiven und vorobjektiven Welt der Empfindungen. Für ihn besteht das eigentliche Ich nur „in der Einfühlung des Menschen in alle Dinge, in alle Erscheinungen […] dass dieses Ich sich auflöst in allem, was fühlbar, hörbar, sichtbar, tastbar ist. Alles ist flüchtig; die substanzlose Welt, die nur aus Farben, Konturen, Tönen besteht. Ihre Realität ist ewige Bewegung, chamäleonartig schillernd. In diesem Spiel der Phänomene kristallisiert, was wir >Ich< nennen“. Demnach ist das Ich keine von der Welt isolierte Monade, sondern ein Teil der Welt und mitten im Fluss derselben darin, aus dem es hervorgegangen und in den zu diffundieren es wieder bereit ist“ (Mach, Notizbuch 40, 6. Dez. 1890, zit. in Sommer 1987, S. 266).

Diese Empfindungen bilden gleichsam das Baumaterial der Welt gemäß der monistischen These Machs, dass alles Empfindung sei, unterschiedslos, noch vor aller Unterscheidung und Ausdifferenzierung in Organismus, Bewusstsein, Materie. Dass es so sei, dass alles in der Welt miteinander verwandt sei und eine einzige Identität habe, diese Überzeugung verdankt Mach einem kontingenten Evidenzerleben, das ihm an einem heiteren Sommertage widerfuhr (vgl. dazu Sommer 1987, S. 203 ff.). Dessen Botschaft lautet: Zerfall der unglücklichen, weil von seinen elementaren Ursprüngen getrennten Subjektivität und das glückliche Aufgehen des Ich im subjekt- und objektlosen Empfindungsstrom als Erlösung aus dem cartesianischen Dualismus, das Erlebnis einer ‚hyletischen Intersubjektivität‘ als Indifferenz zwischen Ich und dem Anderen. So notiert Mach 1907: „Ich, in mir das Leben anderer Menschen. Ich im Leben anderer. Ganz gleich. Nicht unterscheidbar …“ (Mach, Notizbuch 63, nach dem 14. Juli 1907, zitiert in Sommer 1987, S. 266). Dieses Erlebnis ähnelt verblüffend der oben zitierten Empfindung von der ‚Verwandtschaft‘ zwischen den Ereignissen,

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Menschen und Dingen des jungen Törleß. Auch das damit verbundene Dilemma, sich dieser Verwandtschaft bloß nachdenkend zu vergewissern und sprachlich zu erfassen, es dann aber zu zerstören und zu verunstalten, teilt Törleß qua Musil mit Mach (vgl. die oben angeführten Textstellen). Aus der Sicht Machs, der Musil nicht weiter folgt, ist jedoch diese Störung des Empfindungslebens durch Reflexion und Sprache bloß sekundär. Das Empfindungsleben ist überhaupt erst aus dem Prozess einer grundsätzlichen Störung entstanden und somit a priori ‚entfremdet‘. Organisches Leben, darin eingeschlossen das Bewusstsein, ist gleichsam die sich selbsterhaltende, gegen den Fluss der Empfindungen gerichtete, widerständige erste Form und Struktur, ein quasi säkularer materialistisch gedeuteter Sündenfall, der zur Vertreibung aus dem Paradies der ursprünglichen Einheit führt, nämlich aus dem anonymen und vor-intentionalen, das heißt sinnlosen elementaren Empfindungsstrom. Nach Mach quillt aus diesem Riss und dieser Spaltung des Empfindungslebens das Entfremdungsgefühl als Krisenbewusstsein des Menschen. Es gehört zum Grundgefühl seiner exzentrischen Existenz; es ist kein kultureller und historisch variabler Selbstzweifel, sondern unterhalb der Gattungsgeschichte bilden sie quasi organische Strukturen der Selbsterhaltung des Lebendigen. Somit ist und bleibt der Mensch wie jedes Leben fremd in der Welt. Alle Versuche, sich diesem gestalt- und formlosen hyletischen Material denkerisch und beschreibend zu nähern, sind zum Scheitern verurteilt. Denn reflexive Mittel verfehlen als solche das Unmittelbare. Der hyletische Ursprung allen Lebens, aller Sinnlichkeit und Intellektualität bleibt selbst im begriffs- und gestaltlosen Dunkeln. Er widerfährt dem Erlebenden als ‚glücklicher Augenblick‘, was dieser dann als ‚Seher‘ seiner Zeit und als säkularer Botschafter einer nicht entfremdeten Welt der Empfindungen verkündet. Auf die Paradoxien und Halbheiten des Mach’schen Monismus kann ich hier nicht weiter eingehen (vgl. dazu Sommer 1987, S. 203 ff.). Deutlich mag geworden sein, dass Musil einige Grundgedanken und auch wichtige Motive seiner skeptischen Erkenntniskritik aus der Mach’schen Philosophie entnimmt. Die nun folgende zweite Lesart des o. g. Zitats macht deutlich, dass Musil das Erkenntnis- und Sprachproblem in einen eigenen theoretisch-ästhetischen Kontext stellt. Dieser ist alles andere als konsistent. Rund 10 Jahre nach dem Erscheinen des Törleß nimmt der Vierzigjährige in bestimmter Hinsicht den Faden auf, den er schon im Törleß gesponnen hat. Wir erinnern uns (s. o.): im Törleß lebt eine skeptische Grundhaltung gegenüber allem als dauerhafter Effekt seiner Internatserlebnisse fort. In seiner Skizze der Erkenntnis des Dichters (Musil 1981b, GW 8, S. 1025–1030) ist diese labile psychische Konstitution das typische Merkmal des Dichters. Der Dichter gilt als gesellschaftlicher Außenseiter, ausgestattet mit einem besonderen Sensorium für die Krisen und Probleme seiner

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Zeit und oftmals auch mit prophetischen Gaben gesegnet, – eine seit der Klassik dominante bildungsbürgerliche Vorstellung des elitären Künstlers und des Ausnahmestatus’ der Künste überhaupt. Der Dichter sei der Mensch, so Musil, „dem die rettungslose Einsamkeit des Ich in der Welt und zwischen den Menschen am stärksten zu Bewußtsein kommt“ (ebd., S. 1026). Denn er sei derjenige, „der noch in der Freundschaft und in der Liebe den Hauch von Antipathie empfindet, der jedes Wesen von den anderen fernhält und das schmerzlich-nichtige Geheimnis der Individualität ausmacht“, der Ideale als „Verwesungsprodukte“ ansehe (ebd., S. 1026). Entgegen dem im Törleß geschilderten entindividualisierenden Einheitserlebnis behauptet nun Musil, dass ästhetische Erfahrungen immer schon mit Skepsis und dem Gefühl der Distanz kontaminiert und aufgrund dieser Eigenschaft ihrem ‚Gegenstand‘, dem einsamen Individuum, besonders nahe sind. Eine andere Interpretationslinie zeigt sich im Folgenden. Ganz auf der Linie der abendländischen Tradition der Trennung zwischen vita contemplativa und vita activa, die er jeweils mit unterschiedlichen ontologischen Qualitäten auszeichnet und zugleich kulturkritisch wendet, siedelt Musil das Ästhetische und damit den Dichter gleichsam auf der kulturellen Hochebene des Kontemplativen an. Der Dichter als Menschendeuter wie auch der ästhetisch Empfindende operiert auf dem „nicht-ratioїden Gebiet“ (ebd., S. 1026), wo Urteile, Begriffe, Ideen von „einer zarteren Erfahrungshülle umgeben [sind] als Äther, von einer persönlichen Willkür und nach Sekunden wechselnden persönlichen Unwillkür“ (ebd., S. 1028), wo die Tatsachen in ihren Beziehungen „unendlich und unberechenbar“ (ebd., S. 1028) sind, wo letztlich sich Möglichkeiten eines anderen Menschseins zeigen, das aufzuzeigen genau die Aufgabe des Dichters als „Ausnahmemensch“ (ebd., S. 1029) sei, der auf Ausnahmen achtet und damit nicht bloß Kind seiner Zeit, sondern innovativ sich als „Erzeuger der Zeiten“ behaupte (ebd., S. 1030). Dieser Welt und ihrer ästhetischen Einstellung und Erfahrungshaltung stehe der rationale Mensch und das ‚ratioїde Gebiet‘ gegenüber, eine Welt, die aufgrund ihrer Gesetze, Regeln, Begriffe wissenschaftlich erforschbar, eindeutig beschreibbar und quantifizierbar ist. In seinem Aufsatz Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über die Dramaturgie des Filmes (Musil 1981b, GW 8, S. 1137–1154) erweist sich für Musil diese Dichotomie als etwas Weltgeschichtliches und Anthropologisches. Dabei ist der kulturkritische Unterton unüberhörbar. Er spricht von einer sich durch die „Geschichte der Menschheit“ durchziehenden „Zweiteilung“ der Geisteszustände, die trotz aller wechselseitigen Beeinflussungen und Überschneidungen „sich jedoch nie recht gemischt haben“ (ebd., S. 1143). Da gibt es die die Normalität der Ich-Weltbeziehungen regulierende, die technisch-rationale Einstellung als „geistige Haltung des Menschen unserer Zivilisation“ (ebd., S. 1143) mit allen ihren Aktivitäten, Methoden

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und ­Instrumentarien des Zählens, Rechnens, des mechanisch-kausalen und ökonomischen Denkens. Diese Einstellung tritt auf als „Regulator einer Welt, in der nur die niederen Eigenschaften des Menschen für fest und berechenbar gelten […] Schon ihre Gestalt als Regel, Norm, Befehl, Drohung, Gesetz und Gut wie Böse quantifizierende Abwägung zeigt den formenden Einfluss des metrischen, rechnenden, mißtrauischen, vernichtungswilligen Geistes“ (ebd., S. 1144).

Der gegensätzliche Geisteszustand zeige sich dann als „Zustand der Liebe, der Güte, der Weltabgekehrtheit, der Kontemplation, des Schauens, der Annäherung an Gott, der Entrückung, der Willenlosigkeit, der Einkehr“, verkörpert in Religion, Mystik, Ethik und „das Mark unserer Moral und Idealität“ (ebd., S. 1144) bildend. Genau diese Momente, die des quasi mystischen Schauens und des damit verbundenen Erlösungsmotivs, zeigen das letzte und das folgende Zitat. Musils Nähe zu Mach ist unübersehbar. Die quasi melancholisch gestimmte ästhetisch-skeptische Erfahrung des Dichters, von der Musil in seiner Skizze der Erkenntnis des Dichtes spricht (s. o.), wird verdrängt: „[…] und im Bilde dieser Welt gibt es weder Maß noch Genauigkeit, weder Zweck noch Ursache, gut und böse fallen einfach weg […] und an Stelle aller dieser Beziehungen tritt ein geheimnisvoll schwellendes und ebbendes Zusammenfließen unseres Wesen mit dem der Dinge und anderen Menschen“ (ebd., S. 1144).

Später deutet Musil recht widersprüchlich und inkonsistent diese vor-ichliche Empfindungssphäre als ‚innere Zustände‘ des Ich, vergleichbar mit Liebeserlebnissen oder schöpferischen Erlebnissen. Weiter inkonsistent bleibt Musil, wenn er gegen den Verdacht eines zu seiner Zeit weit verbreiteten Irrationalismus, der sich als „Auflehnung gegen die zunehmende Mechanisierung des Daseins“ (ebd., S. 1145) artikuliert, noch eine Ehrenrettung für den Verstand und seine Begriffe unternimmt. Ob er die Gestalt- und Ausdruckspsychologie vor Augen hat oder auf Kant zurückgreift –, nun behauptet er keine Dichotomie zwischen Empfindung und Verstand, sondern ein Vermittlungsverhältnis. Eine andere, gänzlich nicht ästhesiologische Konstruktion von Dichotomie taucht nun auf: Sinnliche Wahrnehmungen seien begrifflich durchdrungen, weil ohne sie nur „ein Chaos bleibe“ (ebd., S. 1146). Hielte man sich an diese Deutung, dann wären die vorsprachlichen Empfindungen des jungen Törleß nicht wahrhaft und existenziell ‚bedeutsam‘, sondern bloß Chaos. Außerdem – was wären die ästhetischen Erfahrungen und ihre schmerzlich bewusste ‚Ferne‘ in der intimen Nähe zum Individuellen? Sind sie deshalb sinnlos, weil sie nicht kategorial vermittelt sind?

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Die Inkonsistenzen dieser Argumentationen Musils sind augenfällig. Er bewegt sich selbst wenig entschieden – das zeigen diese Zitate – in kontrastierenden Gedankenflüssen seiner Zeit. Der Dichter ist kein philosophischer Systematiker. Er und die Protagonisten seiner Romane leben in einer zerrissenen Identität: skeptisch gegenüber esoterischem Heilsversprechen und doch selbst Teil des Irrationalismus; elitär in ihrer bildungsbürgerlichen ästhetischen Empfindsamkeit in kulturkritischer Distanz zu den Rationalisierungsprozessen der Moderne, jedoch zugleich wie der promovierte Ingenieur Musil alias ‚Robert‘ in Der Mann ohne Eigenschaften in intimer philosophisch orientierter Kennerschaft des naturwissenschaftlich-technologischen Wandels; kulturkritisch distanziert als Intellektueller, jedoch weiterhin der geistesgeschichtlichen Tradition verhaftet, wenn er sich gegen die allseitigen Phänomene der Entfremdung auf ein gnostisch motiviertes Glückserleben von gelungener Identität, von Unmittelbarkeit und Einheit der Welt beruft, für sie die angemessene Sprache suchend, ungeachtet ihrer immer wieder eingestandenen und beschworenen Uneigentlichkeit und Unzulänglichkeit.

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„Subjekte“ der Erziehung? Autobiografische Erinnerungen von Erziehungswissenschaftlern

13

‚Subjekte‘ der Erziehung ist doppeldeutig. Folgt man der lateinischen Bedeutung, dann handelt es sich um Menschen, die Erziehungsprozeduren unterworfen sind, also in unserem modernen Verständnis als Objekte gelten. Wählt man dagegen die moderne Konzeption des Subjekts, dann erscheinen sie zumindest als Mitakteure ihrer eigenen Erziehung. Wie auch immer, der Subjektbegriff ist ambivalent, und diese Ambivalenz steigert sich, wenn man den autobiografischen Blick der ‚Subjekte‘ hinzunimmt. Sie treten als Autoren ihrer Lebensgeschichte auf, als diejenigen, die eine gewisse und nicht abtretbare Deutungshoheit über ihre Erinnerungen beanspruchen können. Als sich Erinnernde re-konstruieren sie ihr Leben als Kind und Jugendlicher. Wissenschaftlich sozialisiert, besitzen sie vermutlich für diese Erinnerungsarbeit besondere Kompetenzen. Wie diese ausfallen und welcher Art sie sind, das soll hier genauer untersucht werden. Wie schreiben Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftler über ihr eigenes Leben, insbesondere über ihre eigene Erziehung? Man kann davon ausgehen, dass es bemerkenswerte Unterschiede zwischen wissenschaftlichen Selbstdeutungen und nicht- oder vor-wissenschaftlichen Deutungen des eigenen Lebens gibt. Wenn das zutrifft, welcher Art sind sie dann? Folgende Analysen zeigen, dass Erziehungswissenschaftler als professionelle Deutungsexperten systematischer und theoretisch-analytischer mit Erinnerungsmaterial umgehen als Laien. Das gilt nicht nur für sie. Viele Autobiografien in der Neuzeit sind mit wissenschaftlich-theoretischen, genauer psychologischen, soziologischen und pädagogischen Reflexionselementen zur Klärung und Erklärung von Erziehungskontexten, Handlungsmotiven und -hintergründen, von Lebenskonflikten und -problemen durchsetzt. Um nur drei Beispiele aus einer unendlichen Vielzahl zu nennen: Klaus Manns Autobiografie oder die autobiografischen Romane von

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Lippitz, Phänomene der Erziehung und Bildung. Phänomenologischpädagogische Studien, Phänomenologische Erziehungswissenschaft 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24187-2_13

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­ ermann Hesse sind mit psychoanalytischen und t­iefenpsychologischen DeuH tungen durchwirkt. Christa Wolfs Kindheitsmuster (1985) referiert ausdrücklich psychoanalytische wie auch empirische Theorien des Gedächtnisses. Solche Theoriereferenzen sind nicht ungewöhnlich. Schon die allgemeine schulische Bildung macht uns mit entsprechenden Deutungstechniken und Interpretationsperspektiven im Deutsch-, Religions- oder Sozialkundeunterricht bekannt. Aber auch die öffentlichen Medien versorgen uns besonders angesichts menschlicher Katastrophen mit mehr oder weniger differenziertem Expertenwissen um die Hinter- und Untergründe des Menschlichen und Allzumenschlichen. Amokläufe zum Beispiel werden oft in den Medien mit Expertenmeinungen und theoretisch eingebetteten Verursachungshypothesen kommentiert. Was der Blick auf mehr oder weniger literarische autobiografische Selbstzeugnisse zeigt, führt zu einer weiteren Fragestellung. Welche Artikulationsmöglichkeiten hat das Subjekt der Erziehung, der zu Erziehende selbst im Wirkungszusammenhang von Erziehung? In dieser Frage stecken unterschiedliche Motivlagen der pädagogischen Biografieforschung. Eines ihrer zentralen Motive bestand vor rund 30 Jahren darin, dass nach Werner Loch das konkrete Erziehungssubjekt in der Pädagogik insofern keinen systematischen Ort finden konnte, weil es keinen adäquaten methodischen Zugang zu den eigenen Erziehungserfahrungen gegeben hatte. Das Subjekt des zu Erziehenden sollte über diesen Weg der Biografieforschung rehabilitiert bzw. überhaupt in Szene gesetzt werden. Damit sollte auch mit der Dominanz der Erzieherperspektive auf das Erziehungsgeschehen gebrochen werden (vgl. Loch 1978, S. 20 ff.). Einen weiteren ausschlaggebenden Grund benennen die beiden Pioniere der pädagogischen Biografieforschung Dieter Baacke und Theodor Schulze. In den oftmals unvermeidbaren deterministischen und subsumierenden Erklärungszusammenhängen der Sozialisationsforschung geraten die konkreten Subjekte als individuelle Lebensschicksale in die Mühlsteine der theoretischen Verallgemeinerungen und Typologien. Individuen erscheinen als Fälle eines Allgemeinen. Wie kann man ihnen jedoch wieder einen systematischen Platz in der Forschung einräumen (vgl. Baacke 1979)? Alle diese Fragen bilden mit unterschiedlicher Gewichtung den Rahmen für das folgende Kernproblem der Erziehungsforschung: Erziehungswissenschaftler tun sich schwer damit, über ‚Erziehung‘ im Sinne eines eindeutigen und schlüssig rekonstruierbaren Wirkungszusammenhangs zu sprechen. Die Rede ist von ‚gebrochener Intentionalität‘, von Kontingenzerfahrungen, von Uneindeutigkeit, Unplanbarkeit, Unsichtbarkeit und Diffusion im Alltag und im komplexen Kontext des gesamten Lebens u. v. m. (vgl. dazu Schäfer und Wimmer 2004).

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Diese Rede hat gute systematische Gründe, und sie ist inzwischen in intensiven und theoretisch gehaltvollen Studien über Erziehungsprozesse in der reflexiven Moderne untermauert worden.1 Das ist die eine Seite, nämlich die der Theorie. Wie schreibt man aber als Erziehungswissenschaftler nicht nur allgemein, sondern narrativ und erfahrungsgesättigt über die eigene Erziehungsgeschichte? Muss man dann nicht präzisieren, Einflüsse und Wirkungen identifizieren, resümieren und bewerten? Und wie verwendet man das reiche theoretische Problemwissen über sozialisatorische und pädagogische Wirkungszusammenhänge, und zwar auf Kontexte, in die man selbst leibhaftig und lebensgeschichtlich verstrickt war und die, wie die NS-Zeit, gerade dazu moralisch herausfordern, sich mit totalitären Wirkungspraktiken auseinanderzusetzen? Verändert sich dadurch das Erklärungs- und Deutungswissen oder verändert sich das autobiografische Material, oder beides zusammen? Außerdem ist es nicht unwichtig, von welchem systematischen Theoriestandort aus man über sein Leben schreibt! Gibt es da signifikante Unterschiede, die man eindeutig auf unterschiedliche theoretische Positionierungen zurückführen kann? Für meine Analysen ziehe ich als Material den von Wolfgang Klafki 1988 herausgegebenen Sammelband mit dem programmatischen Titel Verführung, Distanzierung, Ernüchterung und dem Untertitel Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus. Autobiographisches aus erziehungswissenschaftlicher Sicht heran. In diesem Band berichten elf bekannte Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftler aus ihrer Kinder- und Jugendzeit. Die älteste ist 1919 geboren und hat die NS-Zeit als Jugendliche erlebt, viele jüngere haben die Machtergreifung des NS, die Zeit bis zum Krieg als Kind, und dann den Krieg als Jugendliche (Flakhelfergeneration) erfahren. Alle Autoren und Autorinnen können in dieser Analyse nicht berücksichtigt werden. Im Mittelpunkt stehen hier vier autobiografische Berichte der Erziehungswissenschaftler Klafki, Gamm, Henningsen, und Rumpf. Sie kann man meines Erachtens vielleicht als gegensätzlich, zumindest aber als recht unterschiedlich in ihrer Art der Darstellung und Selbstanalyse kennzeichnen. Was ist das Ziel dieser Aufsatzsammlung? Klafki gibt ihr und vermutlich damit auch den Autoren und Autorinnen einen theoretischen bzw. problemorientierten Rahmen vor. Er betont in seiner Einleitung die reflexive Ausrichtung

1Erziehung,

wenn sie nicht Dressur sei, wirke „in keinem Falle als direkte Prägung“, da Einwirkungen vom Erziehenden „angeeignet, verarbeitet, beantwortet werden“ (Klafki 1988a, S. 11 f.). Das, so Klafki, geschehe manchmal ablehnend, mit offenem oder verschleiertem Widerstand (vgl. Klafki 1988a, S. 11 f.).

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dieser von Erziehungswissenschaftlern geschriebenen biografischen Berichte (vgl. Klafki 1988a, S. 10 ff.). Außerdem formuliert er erziehungswissenschaftlich bedeutsame Leitfragen, auf die diese Berichte mehr implizit oder auch explizit Antworten geben sollen. Kurz gefasst geht es um die Entwicklung des kindlichen und jugendlichen Selbstverständnisses und der Identität im totalitären nationalsozialistischen System, und zwar im konkreten Umfeld von Familie, Schule, Peers, außerschulischen Verbänden, Stadt- oder ländlichen Gebieten. Außerdem wird die Frage wichtig, wie die Autoren selbst ihr ‚Geprägt-werden‘ durch dieses Umfeld einschätzen und welche Kompetenzen sie sich selbst zuschreiben, sich mit solchen Einflüssen mehr oder weniger aktiv und kritisch auseinanderzusetzen. Das impliziert auch die Bewertung dieser Einflussfaktoren in Verbindung mit dazugehörigen signifikanten Bezugspersonen und mit Blick auf ihre Bedeutung für die persönliche Entwicklung. Zudem geht es um die Beschreibung von hintergründig prägenden Erfahrungen von Normalität, von Brüchen und Distanzierungsversuchen und Widerständigkeit. Letztlich gipfeln die Selbstbeschreibungen solcher Erfahrungen und Entwicklungen in der Frage, welche wirkungsgeschichtliche Bedeutung sie für die Nachkriegszeit, für die berufliche und private Entwicklung gehabt haben. Die folgende Analyse hat mit einem besonderen autobiografischen Material zu tun. Es sind keine Stegreiferzählungen, sondern sorgfältig komponierte Texte, manche, wie die von Henningsen oder Klafki, schon zum zweiten Mal veröffentlicht. Der zeitgeschichtliche Rahmen ist relativ klar gesteckt und hat eine eigentümliche Problemstruktur: Die NS-Zeit ist eine in der deutschen Geschichte markante und in gewisser Hinsicht abgeschlossene geschichtliche Epoche. Sie liegt für die Autoren rund vierzig bis fünfzig Jahre zurück. Als prominente Vertreter ihres Faches haben sie eine beachtenswerte Berufskarriere hinter sich, oftmals auch dadurch einen sozialen Aufstieg im Vergleich zu ihren Eltern. Sie nahmen mehr oder weniger aktiv an der relativ späten erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und ihren pädagogischen Vertretern teil. Sie wurden von den Politisierungen der 68er-Zeit und von den diversen, insbesondere der sozialwissenschaftlichen Theoriewende in der Erziehungswissenschaft mitgeprägt, die einen Schub an neuen oder aktualisierten gesellschaftskritischen und soziologischen Deutungsmustern über repressive Sozialisations- und Erziehungspraktiken hervorbrachten. Auf die NS-Zeit blicken sie, das zeigt der programmatische Titel der Aufsatzsammlung, in prägnanter Weise zurück: Sie lesen kritisch ihre Kindheits- und Jugendgeschichte als Verstricktsein in einen totalitären Erziehungsstaat. Der Herausgeber Klafki typologisiert diese Erfahrungen schon im Titel des Sammelbandes im Sinne einer

13.1  Hans-Jochen Gamm: „Pädagogischer Ausgangspunkt …

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Verlaufskurve, die eine Emanzipationsgeschichte andeutet: Ihre Erfahrungen der NS-Zeit durchlaufen oftmals drei Stadien. Sie beginnen mit der ‚Verführung‘, später setzen ‚Distanzierung‘ und ‚Ernüchterung‘ ein. Klafki selbst operiert mit dieser Schematik, andere Autoren jedoch nicht. Zu sagen wäre noch folgendes: Die allgemeine politische, moralisch und ethisch bedeutsame und nicht nur biografische Wirkungsgeschichte der NS-Zeit ist bis heute keineswegs abgeschlossen, genauso wenig wie die kontroversen Ursachen-Forschungen und die immer wieder aufflammenden Fragen nach Schuld und Sühne der in dieser Zeit begangenen Verbrechen. Infolgedessen stellt der Aufsatzband Zeitzeugen vor, die als Väter- und Müttergeneration an den allgemeinen Diskursen über Schuld und Sühne teilgenommen haben bzw. teilnehmen. Gibt es, so könnte man fragen, eine besondere Art und Weise, wie Erziehungswissenschaftler ihre Erinnerungen in einem solchen Rechtfertigungszusammenhang situieren?

13.1 Hans-Jochen Gamm: „Pädagogischer Ausgangspunkt: Ein mecklenburgischer Tagelöhnerkaten“ Keiner der autobiografischen Berichte im Sammelband gleicht dem anderen. Gamms Bericht fällt im Vergleich zu den anderen im Aufsatzband jedoch deutlich aus dem Rahmen. Nicht das Kind und der Jugendliche Hans-Jochen Gamm stehen im Mittelpunkt der Darstellung, sondern auf rund 500 Zeilen von insgesamt 900 die Schilderung des historischen und sozio-kulturellen Milieus mecklenburgischer Tagelöhnerfamilien. Rund 100 Zeilen, eingestreut in die 500 Zeilen, kann man als stärker ich-bezügliche, an eigene Erfahrungen und Erlebnisse erinnernde Passagen identifizieren. Im Rest, also einem Drittel der Darstellung, offeriert Gamm dem Leser eine „Theorie der Nacherziehung“, deren lebensgeschichtliche Quelle aus der polnischen Kriegsgefangenschaft im Sinne „nachhaltiger pädagogischer Korrekturen“ stammt (Gamm 1988, S. 101 f.). Dass Gamm darauf verzichtet, genauer über die Zeit des Faschismus selbst zu erzählen, wie er sie als Kind und Jugendlicher erlebt hat, begründet er mit Hinweis auf Klafkis Bericht. Zwar seien ihre jeweiligen soziokulturellen Herkünfte recht unterschiedlich. Als Lehrersohn komme Klafki aus einem bürgerlichen Bildungsmilieu, das dem seinen „weit überlegen“ gewesen sei. Denn „bei den Klafkis gab es Bücher, Musik, intellektuell anregende Gespräche und geschichtliche Bewertungen, alles Dinge, die meinem Milieu fernlagen“ (ebd., S. 99 f.). ­Dennoch, so fährt Gamm fort:

234

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„Viele Züge der von ihm entworfenen Skizze treffen gleichwohl auf die Generation insgesamt zu, die damals erzogen wurde, und ich erkenne allgemeine Merkmale auch in meinem Lebensgang wieder. Daher lege ich keinen Parallelbericht über Alltag im Faschismus vor. Seit dem ‚Reichsjugendgesetz‘ vom 1.12.1936 gehörten wir Kinder beiderlei Geschlechts der Hitler-Jugend an, wo wir nachdrücklich auf Befehl und Gehorsam eingestimmt, uns das ‚Leben des Führers‘ samt der einschlägigen braunen Ideologie eingeprägt wurde. Ich beneidete die Träger von Litzen, Schnüren und Sternen sehr und wäre mit solchen Attributen auch gern ausgestattet worden, da sie einigen meiner Mitschüler erhebliches Ansehen beim anderen Geschlecht verschafften; doch wurden mir dergleichen Auszeichnungen zu meinem damaligen Bedauern nicht zuteil; ich rückte über den Standard-Dienstgrad eines ‚Hitler-Jungen‘ nicht hinaus“ (ebd., S. 99 f.).

Wie gesagt, der Schwerpunkt der Darstellung, die Gamm übrigens seiner Großmutter Anna Gamm widmet, liegt auf den Lebensumständen des Landarbeitermilieus und greift auf rund 150 Jahre Geschichte zurück. Sie konzentriert sich aber „auf die sozialen und politischen Umstände der zwanziger und dreißiger Jahre“ (ebd., S. 82). Diesem Milieu entstammt der Vater, der dann als Soldat mit niedrigem Mannschaftsdienstgrad in der Landeshauptstadt und mit Optionen auf eine untere Beamtenlaufbahn den sozialen Ausstieg aus diesem Landarbeiterproletariat schafft und seinem Sohn eine gymnasiale Schulbildung ermöglicht. In diesem Milieu hat das Kind seine „ersten Lebensjahre bei den Großeltern“ (ebd., S. 82) und dann als Gymnasialschüler seine Ferien verbracht. Warum setzt Gamm in seinem autobiografischen Bericht diesen eher allgemeinen soziokulturellen Schwerpunkt? Bekanntlich ist Gamm einer der hervorragenden Vertreter des westdeutschen politischen und wissenschaftstheoretischen Standpunktes des historischen Materialismus. Seine Position deutet er – in teleologischer Perspektive – als Kulminationspunkt einer gattungsgeschichtlichen Aufklärungs- und Humanisierungsbewegung, die in der Neuzeit den sich totalisierenden kapitalistischen Herrschafts- und Verblendungszusammenhängen ideologiekritisch entgegentritt. Nach Gamm kann heute – aufgrund der fortgeschrittenen Entwicklung der Produktivkräfte und Naturbeherrschung wie auch der hoch entwickelten Standards wissenschaftlicher Wahrheitsfindung – das Menschheitsziel der Humanität und Emanzipation aller Menschen von nicht gerechtfertigter und unnötiger Fremdherrschaft erreicht werden. In seinen eigenen Worten klingt das so: „Zwei Jahrtausende später [nach den römischen Sklavenaufständen, W.L.] stehen alle Mittel bereit, die über die Wirklichkeit gebreitete Scheinwelt zu durchstoßen, das falsche Bewusstsein richtig zu stellen, die Bildung [im Sinne der Aufklärung, W.L.] wirksam werden zu lassen“ (Gamm 1983, S. 18).

13.1  Hans-Jochen Gamm: „Pädagogischer Ausgangspunkt …

235

Da eine pädagogische Theorie am „Begriff des Guten“ orientiert sei, d. h. an „Freiheit, Vernunft und Selbstbestimmung“, gerate sie immer in Widerspruch zum kapitalistischen System. Im Gegensatz zur bürgerlichen, oftmals politisch blinden oder kritisch zu kurz tretenden Pädagogik, die sich „zaghaft“ auf ein individualistisches Konzept der „Anwaltschaft für das Kind“ beruft, beziehe eine materialistische Pädagogik „die soziale Wirklichkeit als ganze“ in ihre Analysen ein (Gamm 1983, S. 94). „Materialistische Erkenntnis erlaubt vor allem eine Einschätzung der politischen Kräfte und gibt sich keinen leichtfertigen Illusionen darüber hin, dass Gedanken allein die Durchschlagskraft besäßen, harte Interessen aufzubrechen“ (ebd., S. 94).

Kindheit und Jugend ohne ihre genaue historisch-ökonomische und soziale Situierung in einer Klassengesellschaft zu thematisieren, käme Gamm folglich kaum in den Sinn.2 Die nach seiner Meinung für die bürgerliche Pädagogik typische Konzentration auf eine quasi unpolitische personalistische Individualitätsentwicklung von Kindern, die die gesellschaftlichen Machtverhältnisse ignoriert, etikettiert er als ‚Romantisierung‘ der Kindheit (vgl. dazu Gamm 1988, ‚Nachträge zur Entromantisierung des Kindes‘, S. 100 ff.). Identitätsbildung des einzelnen kann nur im Kontext der Arbeit und deren gesellschaftlicher Einbindung thematisiert werden. „Die von der Gesellschaft um ihrer Selbsterhaltung willen benötigte Mitarbeit des einzelnen an der gemeinsamen Daseinssicherung verschafft dem einzelnen zugleich seine soziale Definition. Er darf sich angenommen wissen, indem er, was immer sein persönlicher und beruflicher Beitrag sein mag, die Sozietät elementar zu sichern hilft“ (ebd., S. 141).

Vor dem Hintergrund dieser Skizze des theoretischen Ausgangspunktes von Gamm wird der theoretisch-systematische Gestus seines biografischen Berichts deutlich. Er verfasst seine Herkunftsgeschichte als eine typisch marxistisch orientierte Milieustudie über das Landproletariat. Hier bilden die Menschen aufgrund ihrer unteren ökonomisch-sozialen Stellung im kapitalistischen System eine eigentümliche kollektive Mentalität und Lebensweise aus, die man als Ausdruck

2Gamm

definiert ‚konkrete Kindheit‘ folgendermaßen: „Kindheit heißt konkret: noch unvollzogene Ausformung eines Arbeitsvermögens bei vorhandener voller Potentialität, auf die sich der pädagogische Prozess richtet, um den Reichtum individueller Analagen sich äußern zu lassen“ (Gamm 1988, S. 103).

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ihrer entfremdeten Existenz lesen kann. In der Schilderung dieser Lebensweise folgt Gamm keinem platten Determinismus, sondern es entsteht das komplexe Bild eines Milieus, in dem volkskulturelle Traditionen, Sozialisationszwänge und Unterdrückungsmechanismen mit Widerständigkeit und Kritik verwoben sind und aus dem Gamms Vater wie auch er selbst als Gymnasiast und Stadtkind in gewisser Hinsicht sich hat emanzipieren können. Schauen wir etwas genauer hin. Wie konstruiert Gamm diese Wirkungszusammenhänge? Er entwirft ein komplexes, historisch weit ausgreifendes Bild des Tagelöhnerdaseins auf den ostelbischen Gütern, in denen sich spätfeudale Herrschaftsverhältnisse bis hin zum zweiten Weltkrieg erhalten haben. Intensiv geschildert und mit vielen Beispielen veranschaulicht werden armselige Wohn-, Hygiene-, Arbeits- und Schulverhältnisse, außerdem eine unaufgeklärte und reaktionäre, die ‚Herrschaft‘ noch verklärende politische Einstellung der Menschen dort, die gegenüber den polnischen Erntehelferfamilien in der nächsten Nachbarschaft Ressentiments und Zurückhaltung entwickelten. Nach Gamm wurde schon hier „emotional vorbereitet“ „die spätere Praxis der Faschisten, Zwangsarbeiter aus slawischen Ländern mit einem ‚P‘ oder ‚Ost‘ auf Jacke bzw. Kleid zu kennzeichnen“ (Gamm 1988, S. 82). „Das gemeinsam erlittene Schicksal der Ausbeutung brachte keine internationale Solidarität hervor, sondern veranlasste eher den Ausweg in Vorurteile und atavistische Einstellungen“ (ebd., S. 82 f.).

Um die rückständige Mentalität dieser Bevölkerung zu verdeutlichen, beschreibt Gamm ihren Aberglauben, ihre Spukgeschichten, in denen nicht nur die Erwachsenen ihre irrationalen Ängste artikulierten, sondern mit denen als Bangemachgeschichten sie den Gehorsam und die Gefügigkeit ihrer Kinder erpressten. Solche Mentalitäten bilden für ihn kein harmloses kulturgeschichtliches Lokalkolorit, vielmehr erklärt er sie materialistisch: Sie sind „Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse, in denen sich Herrschaft als irrationaler Faktor schlechthin aufwirft. Steht Macht unter dem Merkmal der Willkür, dann sprießen auch Geister- und Dämonengestalten. Sie vertauschen Schein und Wirklichkeit, hindern das Subjekt, zu realitätsgerechten Analyse aufzusteigen, halten es nieder, lassen Gespensterglauben wuchern“ (ebd., S. 85).

Diese gleichsam starke, kausal-deterministische Erklärung des politischen Unterdrückungsmechanismus, der die Landarbeiter zu Opfern eines hermetischen Verblendungszusammenhanges macht, ist typisch für Gamms analytische Argumentationen, die den gesamten Text durchziehen. Marxistische radikale

13.1  Hans-Jochen Gamm: „Pädagogischer Ausgangspunkt …

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­ esellschaftskritiken operieren in der Regel mit binären Mustern materialistiG scher Weltdeutung, die einen scharfen Schnitt zwischen Schein und Wirklichkeit, Wahrheit und Unwahrheit zieht. Der Kritiker weiß sich selbst auf der Seite des aufgeklärten Bewusstseins und der Wahrheit. Für ihn gibt es ‚eine‘ einzige wahre Erkenntnis der Wirklichkeit und damit – erziehungswissenschaftlich gewendet – auch nur ‚eine‘ wahre Pädagogik.3 Ein Pluralismus von Deutungsperspektiven wäre nur Ausdruck mangelnder Radikalität von Aufklärung und stellte den Überrest einer typisch bürgerlichen Weltsicht dar. Wären die Milieuverhältnisse tatsächlich so hermetisch, wie sie Gamm schildert, dann könnte man sich ihren Wirkungen nur dadurch entziehen, dass man sie verlässt. Gamm selbst bietet dem Leser zwei unterschiedliche Lesarten der Milieuwirkungen: Man kann sich ihnen nur durch örtliche und geistige Distanz entziehen, oder sie sind so hermetisch nicht, wie es die Erklärungen vermuten lassen. Die Distanzierung aus dem Milieu gelingt dem Vater, und davon profitiert auch sein Sohn als Gymnasiast und Stadtkind. Gamm sagt selbst, dass sein Vater aufgrund seiner kleinen Karriere als Reichswehrsoldat, der in der Kreisstadt stationiert war, auch dazu disponiert wurde, sich „durch eigenes Nachdenken“ „selbständig aus den Gespinsten“ des Aberglaubens zu befreien, an die er als Jugendlicher noch glaubte (ebd., S. 85). „Er hatte die Kraft der Reflexion genutzt und sich aus verdummenden Herrschaftsverhältnissen emanzipiert“ (ebd., S.  85). Der Sohn Hans-Jochen kommt als Außenstehender, als Stadtkind mit gymnasialer Bildung in den Ferien ins Milieu zurück. Bildung distanziert und emanzipiert aus beengenden regional-kulturell zentrierten Weltbildern. Der junge Gymnasiast erfährt nämlich, dass er nicht mehr so wie die anderen ist. Bildung, in dem von ihm geschilderten konkreten Fall sind es seine Fremdsprachenkompetenzen, trifft auf Misstrauen seiner Kameraden. Denn das Lebensmilieu der Einheimischen ohne viele Außenkontakte ist domozentriert und traditionsverhaftet. Man kann sich keine andere Sprache als die eigene vorstellen, auch keine andere Weltsicht. Deshalb nimmt diese Bevölkerungsschicht nicht an der für allgemeine Bildungsprozesse typischen Dezentrierung und Relativierung der Weltsicht teil. Zur sozialen Distanz kommt also die intellektuelle hinzu. Das heißt nicht, dass der Schüler damit auch schon Distanz zu den Einflüssen des Nationalsozialismus gewonnen hätte. Die schon

3Gegenüber

dem Pluralismus von Wissenschaft hält Gamm an ‚einer‘ Wissenschaft fest. Für die Pädagogik stellt er fest: „Wird Pädagogik entsprechend angelegt, kann sie nur eine sein, und hat doch unter der bürgerlichen Entwicklung nicht eine sein dürfen, weil die Aufspaltung der nachwachsenden Generation dem Herrschaftsgefüge dienlich erschien“ (Gamm 1983, S. 122).

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13  „Subjekte“ der Erziehung? Autobiografische Erinnerungen …

oben zitierte Passage über dessen HJ-Zeit zeigt einen systemkonformen Jungen, der erst durch seine Kriegsgefangenschaft und die hautnahe Konfrontation mit Auschwitz einer Nacherziehung ausgesetzt wird und Distanz zum politischen System bekommt. Offensichtlich ist formale Bildung kein Hindernis für politische Identifikationsprozesse. Auch scheint der sich über das eigene Nachdenken emanzipierende Vater zumindest von den traditionsverbürgten repressiven Erziehungspraktiken nicht bewusst distanzieren zu können, wenn er seinem Sohn die eine oder andere Tracht Prügel verpasst, um Gehorsam zu erzwingen. Kommen wir zum zweiten Aspekt, der nicht ganz so ausgeprägten Hermetik des soziokulturellen Milieus. Die Landarbeiter erscheinen in dem sehr plastischen Gemälde, das Gamm von ihnen zeichnet, nicht bloß als Opfer stumpfsinniger Verhältnisse, sondern als Gestalter einer eigentümlichen differenzierten Kultur, die eigene Ausdrucksmittel der notwendigen, da zum Überleben notwendigen Distanzierungen und Entlastungen innerhalb der mühseligen Lebensbedingungen entwickelt. Er schildert beispielsweise die hohen sozialen und haustechnischen Kompetenzen der Landarbeiterfrauen, die damit das schwere Leben erträglicher machen. Ausführlich zeichnet Gamm das ‚eigentümliche Weltbild‘ der Dialektsprache nach. Neben den üblichen Resistenzen im Arbeitsverhalten der Unterdrückten wie ‚Trägheit und Unterschleif‘ ist Sprache ein vielfältiges Ausdrucksmedium, in dem sich Widerstand kundtut. Zum Beispiel werden in ihren doppelbödigen Ausdrücken und humoristischen Redensarten, in ihrer Tendenz zur Fäkalsprache Subversives und Widerständiges sichtbar, die sich gegenüber Herrschaft, Dünkel und Aufgeblasenheit ein Ventil verschaffen (vgl. ebd., S. 93 ff.). Die Diagnose von Gamm lautet: „Das Individuum nimmt mit seinen verbalen Provokationen Rache für erzwungene Versagungen“ (ebd., S. 98). Und diese Versagungen waren beträchtlich, wenn man Gamms Schilderungen der Erziehungspraktiken der Landarbeiterschaft anschaut. Gesprochen und argumentiert wurde nicht viel. Prügel herrschte vor. „Körperliche Züchtigung galt als erforderlich und wurde selbstverständlich ausgeübt“ (ebd., S. 92). Gamm hält also zur Erklärung des repressiven Milieus ein psychoanalytisches Deutungsmuster parat. Dessen Eigentümlichkeit ist unübersehbar, es operiert mit psychogenetischen Wirkungszusammenhängen, die aufgrund ihrer Un- und Unterbewusstheit die Mitglieder in den Grenzen dieses Milieus befangen sein lassen. In der Gamm’schen Lesart klingt das konkret so: Die Väter seien keine Sadisten gewesen. „Vielmehr schmerzte es sie selbst, was sie an ihrem Nachwuchs vollzogen. Jedenfalls sagte es mir mein Vater einmal, als er mich hart gezüchtigt hatte. Das von den Vätern nach innen gewandte Prinzip des Gehorsams dürfte für dessen intergenerative Fortpflanzung ausschlaggebend und schlagführend gewesen sein“ (ebd., S. 93).

13.1  Hans-Jochen Gamm: „Pädagogischer Ausgangspunkt …

239

Die unter feudalistischen Verhältnissen ‚erzwungene Gesamtgehorsamsleistung‘ blieb, so Gamm, „begrifflich unbearbeitet. Körperliche Erschöpfung sowie Mangel an kategorialer Schulung standen dagegen. So blieb nur die dumpfe Erfahrung von Zwang und Abhängigkeit“ (ebd., S. 93). Der „quasi natürliche Ungehorsam“ (ebd., S. 93) der Kinder demonstrierte den Eltern die Auflehnung, die sich selbst versagen mussten, und deshalb wurde er unnachsichtig bekämpft. Offensichtlich schlummert in der Ambivalenz der Strafpraktiken Widerständiges, das jedoch nur dem aufgeklärten Bewusstsein als solches bewusst wird und für deren gleichsam systemimmanente Funktionsweise der aufgeklärte Analytiker gängige starke Erklärungen aus psychoanalytischer Tradition bereithält. Unter dem Strich besagen sie, dass die unbewussten kollektiven Erziehungspraktiken den sozialen Determinationszusammenhang des Milieus noch bekräftigt haben und das Subversive und Bedrohliche von den Opfern selbst in Schach gehalten wurden. Wie bedrängend und mühsam auch immer die Lebensverhältnisse mecklenburgischer Landarbeiter gewesen sein mögen, sie und die sie stabilisierenden Traditionen schienen nie so bedrückend gewesen zu sein, dass man aus ihnen hätte ausbrechen müssen. Das zeigt sich in der atmosphärisch dichten Erzählpassage aus den Wohnverhältnissen seiner Großeltern. Gamm schildert den Wohnraum mit seinen Gerüchen, Geräuschen, Gerätschaften und Möblierungen, deren Schatten sich im Dunkeln für die kleinen Kinder zu Angst machenden Gesichtern und Fabelwesen verwandeln. Doch leibhaftige Sicherheit bietet der Großvater: „War ich manchmal im Bett des Großvaters mit untergebracht, weil zu viele aus der zweiten und dritten Generation gleichzeitig im Katen nächtigen wollten, so keimten hinter dem breiten Rücken des Alten Gefühle der Unangreifbarkeit: Weder die unheimlichen Geräusche des Holzwurms noch nächtlicher Sturm konnten mir etwas anhaben […]. Der gewaltige Leib meines Großvaters, des Tagelöhners Fritz Gamm, würde mich schützen“ (ebd., S. 86).

Gewissermaßen gab es ein ‚Leben‘ im Überlebenskampf. Kommen wir zum Schluss. Nach Gamm besitzt sein frühkindliches Herkunftsmilieu keine besondere Affinität zum Nationalsozialismus. „Das Lokale bewahrte weithin seinen Tenor […]. Tagelöhnerexistenz ließ sich mit SA- oder SS-Anforderungen kaum verknüpfen, weil schwerlich freie Zeit blieb, in den Organisationen Dienst zu tun. Zudem entfielen opportunistische Verheißungen, denn Tagelöhner konnten durch ihren eventuellen Parteibeitritt nichts anderes werden. Die Verhältnisse erwiesen sich als stärker; ihnen gegenüber blieb der Ruf ‚Deutschland erwache!‘ folgenlos. Wie Wahlanalysen zeigen, hat das Kleinbürgertum in höherem Maße den Verlockungen nachgegeben, weil es sich Vorteile versprach“ (ebd., S. 100).

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Was seine eigene ideologische Erziehung anbetrifft, so resümiert Gamm, dass er den üblichen politisch-ideologischen Bildern vom besiegten Deutschland, dem Versailler Friedensvertrag als Schanddiktat, der Großmachtvisionen u. v. m. angehangen habe. Aufklärung über solche Ideologien habe man, wenn man den Zweiten Weltkrieg überlebt hat, durch das Studium erlangt. Deshalb sollen sich Bildungsprozesse als pädagogisch verantwortete Emanzipationsprozesse in allgemeinbildenden Schulen vollziehen, als „nachhaltige Anstrengungen, die Selbstautorisierung zur Kritik des eigenen Zeitalters aufzubauen“. Sie sollen „Rationalität stiften, die Welt als friedlich gestaltbare darbieten, Rückstände von Herrschaft ausräumen.“ (ebd., S. 101 f.) In der Rückschau wurde ihm, so Gamm, deutlich, dass er „durch einen Akt der politischen Gewahrsamsmacht als Kriegsgefangener nachhaltige pädagogische Korrekturen“ (ebd., S. 103) erhalten habe, und zwar anfänglich mit Widerstand, da er sich persönlich für die NS-Untaten nicht für verantwortlich hielt. Erst die Konfrontation mit Auschwitz hatte die Wirkung eines biografischen Schlüsselereignisses, die er als „Nacherziehung“ (ebd., S. 103) begrifflich fasst und die auf der intergenerationellen Verantwortung für das Geschehen aufbaut. Der, der antisemitische Texte in der HJ mitgrölte, wurde mit der Judenvernichtung direkt konfrontiert und erschüttert. Als Resultat dieser Erfahrung stellt Gamm seine weiteren wissenschaftlichen Forschungen und Publikationen über das Judentum und den Faschismus vor. Eine solche Nacherziehung halte er auch für die heutige Sozialarbeit mit arbeitslosen, straffälligen, sozial nicht eingegliederten Jugendlichen nötig. „Nacherziehung in dieser Gestalt […] wird um so dringlicher, je chaotischer die Verhältnisse im Spätkapitalismus sich gestalten, obwohl die pädagogischen Maßnahmen oft nur Nothilfe an stumpfen, rohen oder zur Gewalttätigkeit programmierten Subjekten darbietet“ (ebd., S. 105).

Resümee: Die Biografie ist für Gamm im Kontrast zum Herkunftsmilieu seiner Eltern und Großeltern eine Bildungskarriere. Ihre autobiografische Inszenierung im Aufsatzband ist die folgende: Vor dem Hintergrund des unaufgeklärten Landarbeitermilieus tritt der Autor als souveräner und keineswegs von Zweifeln verunsicherter Aufklärer auf die Bühne seiner Erinnerungen, der die gesellschaftlichen Sozialisationsmechanismen durchschaut und auf den Begriff bringen kann. Die Möglichkeit dazu liegt in mehreren entscheidenden Bedingungen: Zwar ­sprengen Bildungskarriere und zeitlich-örtliche Distanz zum beschriebenen traditionalistischen Milieu dessen Beschränktheit auf, aber sie verhindern nicht, dass der Heranwachsende zum politisch angepassten Mitläufer wird. Anstoß für

13.2  Horst Rumpf: „Geboren 1930, zwischen Formeln groß geworden“

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die wirkliche Emanzipation vermitteln erzwungene Aufklärungsprozesse in der Kriegsgefangenschaft und dann das selbst gewählte Bildungs- und Forschungsprogramm. Die autobiografische Inszenierung der Erinnerungen folgt dem Gestus des Aufklärers, der mit sicherer Hand und gleichsam starken Theorien das Verstricktsein in repressive gesellschaftliche Verhältnisse exemplarisch und dokumentarisch analysiert. Dafür bleiben seine besonderen individuellen Eindrücke und Erlebnisse im Hintergrund. Bei vielen der anderen Autoren des Aufsatzbandes stehen sie dagegen oft im Mittelpunkt. Man könnte darüber spekulieren, ob diese Erzählhaltung nicht der wissenschaftlichen Position und Tradition geschuldet und typisch für sie ist, der Gamm angehört. Für die historisch-materialistische Perspektive steht die Betonung der Individualität, die in bürgerlichen Autobiografien seit Aufkommen dieser Erzähltradition Programm ist, in der Regel unter dem Verdacht der unemanzipierten Innerlichkeit des Subjekts, das sich über den eigenen objektiven gesellschaftlichen Ort keine Klarheit zu verschaffen vermag.

13.2 Horst Rumpf: „Geboren 1930, zwischen Formeln groß geworden“ Der folgende biografische Bericht von Rumpf ist in bestimmter Hinsicht ein Kontrast zu Gamms. Rumpf geht explizit, d. h. anhand von persönlichen Erfahrungen auf die sozialisatorischen und pädagogischen Wirkungspraktiken der NS-Zeit ein. Er scheint den Nationalsozialismus analog zur gängigen Meinung in der historischen und erziehungswissenschaftlichen Forschung als Schattenseite der Modernisierung neuzeitlicher Gesellschaften zu begreifen, die – wenn auch nicht so menschenverachtend und perfektioniert – viele Möglichkeiten zur Beherrschung der Menschen durch totalitäre und höchst wirksame Sozial- und Medientechnologien bereits ausgebildet hat. Wie Gamm steht Rumpf dabei auf der Seite der kritischen Aufklärer; aber deutlich nachdenklicher und ambivalenter als dieser situiert er sich als Autor zu den Erinnerungs- und Darstellungsproblemen des autobiografischen Materials. Rumpf hat als Kind und jugendlicher Flakhelfer den Nationalsozialismus erlebt. Bekannt ist er in der Erziehungswissenschaft geworden für seine kritischen Arbeiten über Schule, Didaktik und Unterrichts- und Lernkultur. Der Begriff ‚Formeln‘ durchzieht wie ein kritisches Leitmotiv seinen autobiografischen Bericht über die NS-Zeit, der an vielen Stellen mit Beispielen über ‚Formelhaftes‘ aus der heutigen Zeit angereichert und aktualisiert wird und seine kritische Einstellung auch dem heutigen Schul- und Erziehungsbetrieb gegenüber wiedergibt. Hinter dem Begriff ‚Formel‘ steht eine kultur- und zivilisationskritische

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und auch phänomenologische Perspektive auf „Vereinfachungs-, Beschleunigungs- und Homogenisierungszwänge der Schule“ (Rumpf 1988, S. 240), samt ihren Lernpensen und sozialen Praktiken. Sie findet man im außerschulischen gesellschaftlichen Leben vor und sie sind charakteristisch für neuzeitliche Gesellschaften. Deshalb weisen viele solcher formelhaften Zivilisationsphänomene eine Kontinuität zur NS-Zeit auf. Diese hat es in dieser Hinsicht sogar zur perfiden Perfektion in ihren totalitären Formierungspraktiken gebracht. Rumpf selbst betont diese Kontinuität der Angst abwehrenden, Furcht vor dem Unbekannten mildernden Funktion der „Verformelung“ des Denkens und Fühlens. Er spricht von einem „in der Biographie und im gesellschaftlichen Schicksal gründende[n] Gefühl der Ohnmacht und Bedrohtheit auf Seiten derer, die mit diesen Denkattrappen abgefunden werden“ (ebd., S. 241), und er fährt fort: „Vielleicht liegt es daran, dass ich den schalen Geschmack dieser eingelernten Formelwelt inmitten der Kriegs- und Sieges- und Untergangsmeldungen und -stimmungen sozusagen noch auf der Zunge habe, dieses ängstliche Unbehagen vor dem, was sich hinter den Fahnen und Staatsbegräbnissen und Ritterkreuzverleihungen und Wunschkonzerten eigentlich verbarg“ (ebd., S. 241).

Diese Welt habe sich auch in unscheinbaren Gegebenheiten immer schon eingenistet, beispielsweise im Schulalltag und in seinen, auf abstrakte Formeln und Klassifikationsrituale zentrierten Lernformen, die die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Sache ersparen, stattdessen die Lernhürden hochhalten und damit auch die Schulängste der Schüler vor sozialem Absturz schüren (vgl. ebd., S. 240 ff.). Die NS-Zeit hat also, so können wir festhalten, für Rumpf Fernwirkungen. Sie motivieren seine aktuelle, in der Erziehungswissenschaft auch anerkannte kritische Haltung gegenüber Schule und Unterricht. Rumpf beginnt seinen Bericht mit dem Satz: „Es war alles so normal“ (ebd., S. 229). Auch andere Autoren thematisieren diese Normalität.4 Er beschreibt ausführlich die umständliche Neueinkleidung mit der Uniform der HJ, die er als

4Gerda

Freise thematisiert Normalität gänzlich anders. Sie überschreibt das zweite Kapitel ihres Berichts mit Anmerkungen über die ‚Normalität‘ meiner Jugend und die ‚Zweiteilung‘ meines Lebens im nationalsozialistischen Alltag 1933–1938 (in Klafki 1988a, S. 31 ff.). Sie meint aber mit ‚Normalität‘ die nahezu selbstverständliche Balance zwischen offiziellem und kontrolliertem Leben in den NS-Jugendorganisationen und der Schule, das sie mitmachen musste, obwohl sie die Formeln der Indoktrination anekelten, und einem privaten, das – bedingt durch das systemkritische Elternhaus – aus Distanz und Kritik am System bestand.

13.2  Horst Rumpf: „Geboren 1930, zwischen Formeln groß geworden“

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Neunjähriger erlebte, und schüttelt dabei gleichsam den Kopf über sich selbst als Junge, der dieses und vieles andere, nämlich das Exerzieren und den Drill in der HJ, die ‚Vernichtung‘ der Wochenenden, so ergeben hingenommen hatte. „Es grämte ihn das, machte ihn oft ängstlich (wegen seiner Unterentwickeltheit auf dem Gebiet einer aggressiv zu werdenden Motorik). Aber trotzdem: keine Spur eines Gedankens grundsätzlicher Kritik; kein Gedanke, es könnte und müsste anders sein. Es war doch normal so. Und niemand schien zu zweifeln, dass es so in der Ordnung war, der Krieg ging ja auch gut voran; so hieß es“ (ebd., S. 231).

Mit der zivilisationskritischen Brille eines Foucault oder Norbert Elias entschlüsselt Rumpf in diesen Drill- und Körperformierungspraktiken Uniformierungs- und Entindividualisierungstendenzen. Sie treiben Abweichungen, Uneindeutiges und Mehrdeutiges aus und richten den Körper zum fremdbestimmten und konditionierten Marschierkörper ab. Die Erinnerungen daran sitzen ihm, so Rumpf, bis heute so tief in den Knochen, wie die über das Marschieren eingebläuten Lieder, von denen einige so „grandios schmelzend“ und „süß-herb“ waren, dass er davon hingerissen war. Rumpf kommentiert seine Distanzlosigkeit hier so: „Es hilft keine Scham, es war einfach zum Zerschmelzen hineinreißend“ (ebd., S. 232). Wie Gunter Otto, der bekannte und inzwischen verstorbene Kunstpädagoge und ein weiterer Autobiograf in Klafkis Sammelband, beschreibt Rumpf – oftmals überspitzt im Stil und mit kritischen Bewertungen durchsetzt – Einzelheiten der großen ästhetisierenden, ‚pseudomythischen‘ Emotionalisierungs- und Identifikationstechnologie der nationalsozialistischen Propagandamaschine, gegenüber deren Wirkungen der Junge sich nicht versperren konnte, seien es die vielen Aufmärsche, der Totenkult, die diversen Sammelaktionen oder auch die Unterhaltungs- und Durchhalteindustrie der sentimentalen Kinofilme, Wunschkonzerte usw. Rumpfs Kollege Gunter Otto spricht zum Beispiel von der höchst wirksamen und identifikationsförderlichen ‚Mischfigur‘: Sie bestand aus einerseits den körperlichen Disziplinierungs- und Unterwerfungsritualen, zum anderen aus dem Kitschig-Sentimentalen der Feierästhetik (vgl. Otto 1988, S. 124). An einer Stelle unterbricht Rumpf seinen Bericht und wechselt die Betrachtungsebene. Das soll näher betrachtet werden. Er beobachtet sich beim Schreiben und betrachtet kritisch das, was er gerade tut: „Ich gebrauche Ausdrücke, die das Geschehen auf Distanz bringen – Machttechniken, saurer Kitsch, Pseudomythen, Ekstasegelegenheiten. Ich ordne ein. Ich bin mir nicht sicher, ob ich durch solche Griffe nicht die schattenhafte Ferne, die schneidende Unbegrifflichkeit der Tatbestände in der eigenen Erinnerung zur

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Seite bringe. Ob ich nicht zum Material entwirkliche, was ich ohne jede Spur von Souveränität und Abstand und ‚wirklichem Verstehen‘ durch- und mitgemacht habe. Erschleichen diese einordnenden und kritisierenden Begriffe nicht eine Überlegenheit? In denen die alltägliche Selbstverständlichkeit dessen, wie es damals war, ganz unkenntlich wird? In denen eine Lebenswelt zum Fall schrumpft? Und dadurch das Unscheinbare des gelebten Lebens verliert? Zum Monster hinaufgejubelt wird. Von dem sich jeder leicht distanzieren kann. Und sagen: Mir wäre es nicht passiert. Oder: Da sieht man, wo es hinführt. Wäre nicht Andersheit und Fremdheit wenigstens eine Spur weit auszuhalten, ohne sofort das Vakuum auszufüllen durch zähmende Erklärungen und Wertungen? Die ja doch so zahlreich wie Brombeeren zur Verfügung stehen“ (Rumpf 1988, S. 232 f.).

Nach diesem Einschub fährt Rumpf, wie er sagt, ‚vorsichtiger‘ zu beschreiben fort. Dieser Reflexionseinschub ist alles andere als leicht zu verstehen. Man findet kaum bei anderen Autoren einen solchen Selbstzweifel am eigenen autobiografischen Tun. Mit welchen Problemen der Interpretation schlägt sich Rumpf herum? Einmal mit dem methodisch unumgänglichen Problem der zeitlich bedingten Differenz der Perspektiven auf die eigenen Erinnerungen: Der sie Deutende lebt in der Gegenwart, die er nicht wie einen konkreten Gegenstand vor Augen hat, sondern deren Teil er ist, in der er in allen möglichen Modi menschlicher Existenz mehr oder weniger thematisch oder bewusst und keineswegs nur ich-zentriert lebt; in einer Gegenwart, in der er handelt, kommuniziert, leidet, sich freut usw. Die Verweisungsbezüge dieser fungierenden Gegenwart richten sich sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft. Und es ist keineswegs so, wie es die konstruktivistische Lesart in der Biografieforschung gerne darstellt, dass es die Gegenwart allein ist, zum Beispiel in der Gestalt des Autoren oder des Lesers, von der aus solche Bezüge gestiftet werden. Versuchen wir, diese fungierende, uns mit ihr verstrickende Gegenwart mithilfe der philosophischen Tradition etwas genauer zu bestimmten. Verstehen wir Zukunft als Frage nach dem Sinn des menschlichen Daseins, dann ist sie in der Heidegger’schen Lesart das, was auf die Gegenwart zu-kommt und sie motivisch ausrichtet (vgl. Heidegger 1972, S. 235 ff.). Sie ist damit nicht etwas, was dem Gestaltungsvermögen des Subjektes unterliegt, sondern was das menschliche Dasein in seiner Sinnausrichtung situiert, d. h. in eine Situation als eine bestimmte Lage zu sein und sich dazu zu verhalten stellt. Vergangenheit als Teil der fungierenden Gegenwart zeigt sich im hermeneutischen Konzept der Wirkungsgeschichte nach Gadamer darin, dass sie sich dem Menschen aufdrängt (vgl. Gadamer 1965). Als lebendige Vergangenheit ist sie es, die dem Menschen in der Gegenwart Fragen und Probleme aufgibt, die er nie endgültig, sondern immer nur anders beantworten und deuten wird. D. h. – auch hier verfügt der Mensch nicht souverän und letztlich ein für alle Mal

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über den Sinn seiner Auslegungen und Deutungen. Sein Verhältnis zur Vergangenheit bleibt eine unabgeschlossene Deutungsgeschichte. Neben diesen gewissermaßen flüssigen und dynamischen Verweisungsbezügen gibt es außerdem ein ‚massives Sein‘ der Vergangenheit, auf das Merleau-Ponty mit Blick auf Marcel Prousts Prosawerk: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit aufmerksam gemacht hat und das auch Rumpf und seinen Denktraditionen nicht ganz unbekannt ist (vgl. Merleau-Ponty 1986, S. 307 f.; vgl. auch Lippitz 1993a, S. 251 ff.). Erinnerungen konservieren sich unterhalb jeder aktiven Deutungstätigkeit als vorkognitives, leiblich-sinnliches ‚Gedächtnis des Leibes‘. Erinnerungen stecken ‚in den Knochen‘, so wie es Rumpf zum Beispiel beschreibt, wenn er von seinen Erinnerungen an den Drill, an das Marschieren und die sie begleitenden Lieder, die er immer noch auswendig dahersagen kann, spricht. Alle diese Zeit-Aspekte schränken die Deutungssouveränität des Erinnernden ein. Er ist nicht Herr seiner Erinnerungen. Zum einen entzieht sich das Material schnellen und glatten Deutungen, Einordnungen und Sortierungen. Zum anderen liegt es nicht vor dem Deutenden ausgebreitet dar, sondern es drängt sich auf und beweist seine aufdringliche und unbewältigte Präsenz darin, dass es in den gegenwärtigen Problemund Sinndeutungen motivisch wirksam bleibt. Eine solche unfassbare, jedoch motivierende Präsenz der erinnerten Vergangenheit in der Gegenwart könnte man folgendermaßen systematisch begrifflich fassen. Sie zeigt sich als unaufhebbare Differenz zwischen, wie es Rumpf nennt, den theoretischen ‚Griffen‘ und dem, was begriffen werden soll. Versuchen wir uns diese Differenz deutlich zu machen. Die konkrete Situation des Erinnernden ist folgende: Als Schreibender tritt er aus dem oben skizzierten fungierenden Alltag heraus und baut einen eigenen thematisch gerichteten reflexiven Horizont auf. Es geht um einen, die heutige Zeit immer noch bedrängenden Problemzusammenhang, in den der Autor als Kind und Jugendlicher selbst verstrickt war, nämlich um die Alltäglichkeit und Normalität des aus heutiger Sicht als skandalös und unverständlich Erscheinenden. Der Autor ist Erwachsener und als Wissenschaftler professioneller Deutungsexperte, der an den wissenschaftlichen Forschungen und Diskursen über die NS-Zeit teil hat und damit auf schon Gedeutetes und Erklärtes zurückgreifen kann. Aus wissenssoziologischer Sicht sind wissenschaftliche Deutungssysteme Theorien zweiten Grades, nämlich Deutungen von gelebter sozialer Wirklichkeit, die von den Akteuren des Alltags immer schon im gewohnheitsmäßigen und vor-reflexiven Rahmen gedeutet, kommuniziert und pragmatisch handelnd strukturiert wird. Das theoretisch gezielte Reflektieren auf zumeist Unreflektiertes und Unthematisches, das Sagen des ‚Unsagbaren‘ ist notwendigerweise idealisierend. Das bedeutet: Reflexion benötigt den Zeitabstand und geschieht stets nur nachträglich; sie ist schon aus diesem Grund und nicht erst dann, wenn sie sich aus dem systematisierten

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Wissensfund und Begriffsvorrat der Wissenschaften bedient, abstrahierend, d. h. der ursprünglichen Situation enthoben. Theoretisches Sagen ent-kontextualisiert und ent-autorisiert außerdem die konkrete Erinnerung. Sie interessiert nicht als einmalige und nur mich angehende, sondern sie interessiert – da ich zur Autorisierung meiner Erinnerungen, wenn ich sie erzähle, immer die Kommunikationsgemeinschaft der Anderen benötige –, als Fall, als Exempel eines allgemeinen Erklärungszusammenhangs. Solche Idealisierungen sind meines Erachtens unvermeidbar und sollten auch dem Interpreten bewusst sein. Alles das kann nicht heißen, dass die Deutung, auch die wissenschaftliche, nicht gleichsam diese signitative Differenz zwischen Deutung und Gedeutetem schluckt und rigoros ihre Begriffe reifiziert, d. h. sie an die Stelle des zu Deutenden und Verstehenden setzt. Das Unsagbare darf nicht zum Expliziten und Sagbaren verwandelt, sondern es soll als ‚Unsagbares‘ sagbar werden. Genau diese Wahrung der signitativen Differenz scheint Rumpf anzusprechen, wenn er zu folgenden Metaphern greift: Die Rede ist von der „schattenhaften Ferne“, der „schattenhaften Unbegriffenheit der Tatbestände in der eigenen Erinnerung“ (Rumpf 1988, S. 232), die es zu wahren gilt. Rumpf verweist außerdem darauf, dass er als Junge sein Mitmachen in der HJ und den Identifikationssog, der von den Inszenierungen ausging, „ohne jede Spur von Souveränität und Abstand und ‚wirklichem‘ Verstehen“ (ebd., S. 233) erlebt habe. Gewissermaßen geben die Erinnerungen der begrifflichen Bearbeitung und dem systematischen Verstehen die Maßstäbe, wie sie zu verstehen sind, vor, und es ist die Kunst des Interpreten, ihnen Genüge zu tun. Wer die ‚Normalität‘ des Alltags in der NS-Zeit begreifen will, muss sie als selbstverständlich und unbegriffen Gelebtes begreifbar machen. Genau das ist die Eigenart dieses Erinnerungsmaterials. Die unbegriffene ‚Normalität‘ fungierender Lebensvollzüge ist jedoch nicht nur etwas, was in der Vergangenheit liegt und der man als später aufgeklärter Wissenschaftler für immer entrinnen könnte. Sie ist vielmehr die Quelle ständigen Selbstzweifels an den eigenen Deutungsmöglichkeiten. Rumpf untergräbt damit die bei Gamm sichtbar gewordene souveräne und von keinen theoretischen Selbstzweifeln getrübte Aufklärerpose. „Andersheit und Fremdheit wenigstens eine Spur weit auszuhalten“ (ebd., S. 233), besagt etwas Entscheidendes, das nicht nur die Zeitzeugen betrifft, sondern ebenso den Wissenschaftsbetrieb: Menschliche Existenz als alltägliche und gelebte ist strukturell durch Fremdheit und Andersheit, durch Unbegriffenes und Unbegreifbares bestimmt. Das gilt für damals wie auch für heute, für den Alltagsmenschen wie für den professionellen Deutungsexperten. Beide bleiben in Geschichten verstrickt, deren Anfang noch Ende sie kennen. Die unvermeidbare, in die Idealisierungspraxis systematischen Wissenwollens eingewobene begriffliche

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­ assungsungenauigkeit, hier als signitative Differenz vorgestellt, trägt ihren Teil P zur Ungewissheit und zum Nicht-Wissen bei. Wird dieser Tatbestand nicht respektiert, entsteht die folgende Gefahr, die Rumpf meines Erachtens zurecht ausmacht: Die begrifflich und theoretisch reifizierte Wirklichkeit erweckt den Anschein, als hätten damals schon alle Mechanismen der Manipulation und Verführung klar zutage gelegen. Sie zu entlarven, wäre dann nur noch Sache des aufklärenden Wissens. Der Schritt von diesem Zerrbild, diesem ‚Monster‘ nach Rumpf, hin zur Selbstdistanzierung und Überheblichkeit des ‚Das hätte mir nicht passieren können‘ wäre zu kurz. Welche Konsequenzen zieht Rumpf aus diesen Zwischenüberlegungen, die den Status des Interpreten und Wissenschaftlers erschüttern? Kann man sie in seinem weiteren Bericht identifizieren? Er versucht im Anschluss an diese Reflexionsschleife, ‚etwas vorsichtiger‘ die alltägliche Hetze durch die recht unterschiedlichen Institutionen wie Schule, Kirche, HJ-Geländedienst des Jungen bis hin zur Erschöpfung plastisch zu machen (vgl. Rumpf 1988, S. 234). Für Rumpf sind sie in ihren Machttechniken ähnliche „drei Über-Ich-Agenturen“ (ebd., S. 234), die die Schwäche und Ängstlichkeit des Kindes ausnutzen, das sich ihnen fügte, ohne lange nachzudenken. Rumpf rekurriert auf ein Zitat aus Sartres Flaubertbiografie (vgl. Sartre 1978, S. 488; vgl. dazu auch Lippitz 1993b, S. 214 ff.), um die Unfraglichkeit des Anpassungspensums als Teil des kindlich-undistanzierten und noch nicht reflexiv durchdrungenen Welterlebens zu charakterisieren (vgl. Rumpf 1988, S. 234). Das Kind kommt in eine schon instituierte und vorgegebene Welt der Dinge, der Institutionen, der Natur in ihrer undurchdringlichen Dichte des Immer-schon-Dagewesenen. Deswegen sei es unangemessen, über diese mangelnde Distanz des Kindes und Pennälers als Erwachsener den Kopf zu schütteln, auch nicht darüber, dass sie die Ereignisse des Krieges und die sie begleitende Kriegspropaganda, die Ängstlichkeit und Unruhe der Erwachsenen – „ein krauses Potpourri, ohne Hauptnenner“ (ebd., S. 234) zwar erlebten, ohne sie jedoch bewusst kritisch wahrzunehmen. Bis jetzt wechselt Rumpf in diesen Passagen seinen prüfenden Blick zwischen den konkreten Erinnerungen und der Erwachsenenperspektive hin und her. Nun zieht er ein weiteres Register seiner Interpretation. Er ist, wie wir gesehen haben, kritisch gegenüber den Deutungszugriffen auf das Material selbst. Er schätzt die Aufklärungsqualitäten des Erinnerungsmaterials selbst ein und spricht von „Schatten, vieldeutigen Fragmenten“, die immer wieder biografisch umgedeutet werden können, von der „Windigkeit solchen Materials“ (ebd., S. 235). Damit bezweifelt er nicht grundsätzlich dessen Existenz, sondern bekräftigt es als höchst sozialisatorisch wirksames Gefüge. Es ist der

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„vorbegriffliche und nicht hintergehbare Horizont, aus dem jemandem die späteren Aufmerksamkeiten, Empfindlichkeiten, Blindheiten zukommen, die einen immer wieder frappieren können“ (ebd., S. 235).

Man komme, so Rumpf, diesen „vorbewussten Unterströmungen“ (ebd., S. 235) dann auf die Spur, wenn man sich seinen Irritationen zuwendet, die vielen selbst nicht wichtig sind, die Rumpf jedoch oft zum Anlass seiner Schulkritik geworden sind, so der heutige Umgang mit Formeln im Unterricht, die Nachdenklichkeit verwehren, Unsicherheiten und Ungewissheiten überspielen und Neugierde eindämmen. Zur Illustration und Analyse dieser Funktion bietet er dann auf knapp zehn Seiten seines dreiunddreißig Seiten langen Berichtes aktuelle und historische Beispiele und Analysen. Aus philosophisch-hermeneutischer Sicht ist der Perspektiven eröffnende Horizont unserer Vorurteile und Hinsichten auf die Welt strukturell nicht hintergehbar. Er ist als Bedingung der Möglichkeit unseres Verstehens nicht selbst Thema des Verstehens. Vorurteilsfreies Verstehen ohne fungierende implizite Sinn-Horizonte gibt es nicht. Um dieses Verstehensproblem in einem Bild von Kant zu illustrieren: Eine Taube kann nur deswegen fliegen, weil sie die Luft als Widerstand zum Fliegen braucht. In einem luftleeren Raum ohne allen Widerstand, in einem Denkraum ohne jeden Horizont und schon eröffnete Perspektivität kann man nicht denken. Auf eigene Vorurteile oder Einstellungen stößt man erst durch neue kontrastierende und irritierende Erfahrungen, die das Selbstverständliche aufbrechen. Genau dieses wirkungsgeschichtliche Modell des hermeneutischen Verstehens der eigenen Disponierungen durch Irritationen scheint Rumpf zur Erklärung der langfristigen Wirkungen der NS-Sozialisation bis in die heutige Zeit heranzuziehen. Da wir in die Wirkungsgeschichte eingebunden sind, die in die Gegenwart hineinreicht und uns auch aktuell immer noch angeht, gibt es keinen Bruch zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem, aber auch keinen Standort außerhalb dieser Kontinuität. Wir können Geschichte verstehen, nicht weil wir sie vor uns haben, sondern weil wir mitten in ihr drin sind. Verstehen heißt dann auch nicht, die letztgültige ‚Wahrheit‘ finden, sondern eine von anderen Deutungsversuchen unterschiedene, da jedes Verstehen horizontgebunden bleibt. Verstehenshorizonte wandern mit den Verstehensbemühungen mit und lassen sich nicht in klares Wissen überführen. Deshalb scheint mir der Zweifel von Rumpf in folgender, die Reflexionsschleife abschließenden Bemerkung plausibel zu sein: „Ob freilich ein Zeitgenosse, ein Objekt seinerzeitiger Erziehung zu dieser Aufklärung (der ‚Entzifferung‘ von Wirkungen, W. L.) besonders gut geeignet ist – oder ob er seine Erfahrungsvorteile nicht zu teuer bezahlen muss mit Überempfindlichkeiten und der Neigung zu Überinterpretationen – das steht dahin“ (ebd., S. 245).

13.3  Exkurs: Rekonstruktionen von Distanzierungsversuchen …

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13.3 Exkurs: Rekonstruktionen von Distanzierungsversuchen der Erzogenen Welche anderen Distanzierungsmöglichkeiten zu nationalsozialistischen, totalitären Erziehungseinflüssen lassen sich bei anderen Autorinnen und Autoren des von Klafki herausgegebenen Sammelbandes finden? Die beiden elf Jahre früher geborenen Autoren Gerda Freise und Hans Scheuerl verweisen auf zwei unterschiedliche Distanzierungsbedingungen und -praktiken, die für Rumpf nicht infrage gekommen sind. Beide hängen vermutlich mit dem schon jugendlichen Alter zusammen, in dem sie die Vorkriegs- und Kriegszeit erlebten. Es wurde schon erwähnt, dass Gerda Freise aus einer eher unpolitisch denkenden, bürgerlich-liberalen Lehrerfamilie stammt, die – reformpädagogisch und künstlerisch interessiert – kritisch zum NS-Regime eingestellt war, ohne jedoch offen Widerstand zu leisten. Diese Grundhaltung übernahm sie, und sie hatte die erforderlichen Kompetenzen, zwischen beiden Welten, zwischen der Anpassung an die öffentliche der Schule, der Jugendorganisationen, und der privaten, familiären und ganz persönlichen hin- und herzupendeln. Sie schreibt resümierend: „Ich war damals alt genug, um diese Zweiteilung meines Lebens in ein offizielles, kontrolliertes und ein privates, zum Teil heimliches schon bewusst wahrnehmen zu können“ (Freise 1988, S. 31).

Hans Scheuerl schildert in seiner Biografie, wie er als Zwölfjähriger „unversehens zum Mitglied einer Familie von ‚alten Kämpfern‘“ wurde, da sein bürgerlicher, national eingestellter und verarmter Vater, ein ehemaliger Fabrikdirektor, samt seinem älteren Bruder, vor 1933 der SA beitraten (Scheuerl 1988, S. 61). Politische Exzesse und Judenverfolgungen des NS, die bis in den engeren Bekanntenkreis der Familie hineinreichte, wurden beschwichtigend hingenommen. Die politischen Sozialisationsbedingungen verdichten sich jedoch nicht wie bei Rumpf zu einem einheitlichen undurchdringlichen Wirkungszusammenhang, sondern zerfallen als in drei unterschiedliche Welten: die der Familie, der Schule und der Hitlerjugend. Scheuerl schreibt es seinem „geistigen Erwachen“ als Jugendlicher zu, nämlich das Erwachen „erster weltanschaulicher, philosophischer, auch religiöser und poetischer Interessen“ (ebd., S. 65), die zu einem eigenen Weg mit eigener nicht vorgeschriebener Lektüre führten, dass er sich der Bevormundung und Gläubigkeit entzog. Das Gymnasium selbst verhielt sich in seiner preußisch konservativen Ausrichtung eher ‚bremsend‘ gegenüber den politischen Einflüssen, wobei besonders ein reformpädagogisch und sozialdemokratisch orientierter Lehrer die geistigen Interessen

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des ­Schülers noch anstachelte. Einfluss auf den Schüler hatte die HJ weniger in ihren politisch-ideologischen als vielmehr in ihren bündisch-jugendkulturellen Elementen. Scheuerl stellt als seine Distanzierungstechnik vor, dass sich das „ewige Marschieren und Exerzieren, die Flaggenappelle und Geländekämpfe“ „am besten wie ein großes Spiel“ bewältigen ließen (ebd., S. 71). Insgesamt gesehen, und in Kontrast zu Rumpfs Schilderung der alltäglichen Hetze durch die Sozialisationsinstanzen, konstatiert Scheuerl einen Alltag, der viele Freiräume, Leerläufe, Herumvagabundieren des Jugendlichen und deshalb keinen „lückenlosen Klammergriff“ (ebd., S. 73) durch die Parteiformationen aufwies. „So war mein Weg durch die nationalsozialistische Zeit durch keine der Instanzen, so prägend sie unbewusst gewesen sein mögen, schon völlig mit Beschlag belegt. Seinen eigenen Bildungsweg musste auch damals jedermann schon selber gehen“ (ebd., S. 74).

Der oben schon erwähnte Gunter Otto thematisiert Distanz und Identifikation in mehreren Hinsichten. Deutlich wird das an der Überschrift seines Berichtes: Es war alles so normal – und doch ganz anders (Otto in Klafki 1988, S. 121). Da gibt es zum einen die Unausweichlichkeit der nationalsozialistischen Formierungsinstanzen, zum anderen das mehr oder weniger perfekt dazu passende Individuum, das Kind und der Schüler Gunter Otto, das sich in diese aus heutiger Sicht unnormale Alltagswelt der Kriegsvorbereitungen und des Kriegs auf je seine Art und Weise einpasst, ohne gänzlich angepasst zu sein. Was das Erste angeht, so konstatiert er im Gegensatz zu Scheuerl unter der Überschrift ‚Die doppelte Perfektionierung‘ zwar auch ein Pendeln des Heranwachsenden zwischen den unterschiedlichen Welten: Elternhaus, Schule und HJ. Aber durch Kinderlandverschickungen und später im Krieg durch den Dienst in Flakstellungen wurden die Formierungseinflüsse ‚linear‘ gesteigert und die Einflüsse von Schule und Elternhaus an den Rand gedrückt. Nach Otto reproduzierte eine „verbrecherische Macht- und daraus folgende Kriegspolitik […] wie von selbst zusätzliche Möglichkeiten systemstabilisierender Erziehung“ (Otto 1988, S. 125): ‚Wie von selbst‘ meint den beginnenden Krieg und die damit verbundenen, sich dramatisch verändernden Lebensbedingungen. Hier entsteht, so die Sicht Ottos, ein gleichsam eigengesetzlicher Zusammenhang determinierender Bedingungen, dem man sich nicht entziehen konnte, sondern innerhalb dessen man sich Distanzierungsmöglichkeiten verschaffen musste. Welche es sind, wird im Folgenden deutlich. So gab es da den Dienst in der HJ mit seinen paramilitärischen und jugendkulturellen Inszenierungen, die der Junge wie alle anderen mitmachte: „Wir haben keine Schwierigkeiten gemacht. Wir waren so normal“ (ebd., S. 121).

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Aber es gab auch „dieses andere Gefühl, anders sein zu wollen. Aber ich wollte um keinen Preis entdeckt werden“ (ebd., S. 121). Woher kommt nach Otto dieses Gefühl? Es scheint nicht nur der Wille gewesen sein, denn in der gleichen Passage spricht er von seiner schwachen sportlichen Konstitution, von seiner Unmusikalität im Liedersingen. Diese Faktoren erfährt er selbst als Zurückgesetztsein gegenüber den anderen, die das können, was er, wie er sagt, „gern können wollte, sein wollte, ohne es je zu können und zu sein“ (ebd., S. 122). Distanz nistet sich also als Differenz von Wollen und Können ein. Er ist nicht stark genug, um in den üblichen sozialen Hierarchien solcher Jugendgruppen, die nicht erst seit der in der NS-Zeit grassierenden darwinistischen Recht-des-Stärkeren-Ideologie auf körperliche Überlegenheit gründet, erfolgreich sein zu können; er muss seine Schwächen vor den anderen kaschieren. Deshalb gehört er nicht ganz dazu. Er unterscheidet sich von den anderen noch in anderer Hinsicht, nämlich durch seine intellektuellen und künstlerischen Kompetenzen, die ihn vor den anderen auszeichnen und die er als Überlebensmittel gezielt einsetzt. Otto resümiert in seiner Abwägung von „Nachwirkungen und Gegenwirkungen“ der NS-Sozialisation, dass er gelernt habe, sich in solchen formierenden Institutionen auf die folgende Weise zu arrangieren: „Man muss in einer bestimmten Weise anders sein als die anderen, man muss etwas Besonderes können, was gebraucht wird“ (ebd., S. 128 f.). Und Gunter Ottos Stärke war die Malerei. Ähnlich wie Rumpfs Erwähnung besonderer lebensgeschichtlich weitreichender Sensibilitäten, verweist Otto auf weiter bestehende Aversionen gegenüber Machtpraktiken, wie Kommandosprache, Anweisungen, Gewalt. Ordnung halte er, so schließt er eher ironisierend seine Passage über Nach- und Gegenwirkungen, zwar nicht im Kleiderschrank, jedoch „beim Arbeiten und im Beruf …?“ (ebd., S. 130) Einer der Pioniere der pädagogischen Biografieforschung, der mit 53 Jahren früh verstorbene Jürgen Henningsen liebte die provozierende Zuspitzung von Themen und Problemen. Vielleicht bin ich heute noch ein Nazi, so lautet der Titel seines Berichtes, der in der pädagogischen Fachwelt für Aufsehen gesorgt hatte (vgl. Henningsen 1988). Wie kann man die beunruhigende Tatsache der gelebten Normalität der Nazi-Zeit verstehen, beunruhigend deshalb, weil sie in der Retroperspektive alles andere als ‚normal‘ ausfällt? Einfache Strickmuster der Erklärung, wie zum Beispiel politisch linke, die von einer Verschwörung zwischen Großkapital und Nationalsozialismus und einer von den Kleinbürgern tolerierte und unterstützte große Repressionsmaschinerie gegen die widerständige Arbeiterschaft ausgehen, sind in Henningsens Augen falsch. Autobiografien und eigene Erinnerungen kommen seiner Meinung nach der Wahrheit näher. Um das zu demonstrieren, greift er auf Schlüsselszenen seiner Kinder- und Jugendzeit zurück. Dieses Stilmittel der szenischen Verlebendigung von Vergangenem finden

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wir bei den anderen Autoren und Autorinnen des Sammelbandes kaum. Sie illustrieren ihre berichtsförmigen und eher nüchternen Erinnerungen mit Fotos oder, wie Rumpf, Gerda Freise und Hildegard Feidl-Mertz, mit historischen Quellen wie Schulbuchauszügen, Zeugnissen oder eigenen wiedergefundenen Aufsatzentwürfen. Die erste Schlüsselszene soll die für uns kaum vorstellbare ideologische Aufgeladenheit des Alltags im Nationalsozialismus dokumentieren: Die fehlgeschlagene Verhaftung seiner Mutter (vgl. ebd., S. 211 f.). Sie wird wegen kritischer Äußerungen über den Führer vom Schlachter angezeigt. Verhindert hat die Verhaftung sein Vater, ein Lehrer. Er besitzt als Hauptmann der Reserve im ersten Weltkrieg einen seltenen Orden, den auch der ‚Führer‘ als seinen einzigen aufzuweisen hat. Er tritt gegen den Verhaftungstrupp an, und es gelingt ihm, mit den Elementen der nationalsozialistischen Weltanschauung, Henningsen nennt sie Religion und ‚Lebensform der Deutschen‘, geschickt zu spielen, mit den Elementen des Führerglaubens und der Autoritäts- und Hierarchiehörigkeit. Der 11-jährige Junge erlebt diese Szene mit Beklemmung, aber, so Henningsen, durchaus mit der Überzeugung, dass „seine Mutter den Tod verdient hatte“ (ebd., S. 213). „Ich hatte sie schon längst anzeigen wollen; ich wusste nur nicht, wie man so etwas macht“ (ebd., S. 213). Denn seine Eltern hörten heimlich BBC, und die Kinder bekamen das mit. „Dass das die Sünde wider den Heiligen Geist war, wusste ich durchaus, und ich hatte sogar wiederholt meiner Mutter gedroht, dass sie ins KZ gehöre.“ (ebd., S. 213) Damit bricht Henningsen die Schilderung dieser Episode ab. Uns vermittelt er das Bild eines Kindes, das aus unserer Sicht dem Führerglauben verfallen war. Der Glaube war seine Religion, seine Glaubenssache. Die elterliche Distanz und Kritik scheinen auf das Kind keine analoge Einstellung bewirkt zu haben, sondern eher das Gegenteil. Wirkt hier die HJ mit ihren Jungen- und Kameradschaftsidealen als Distanzierungsmittel gegen das Elternhaus, das, wie Gunter Otto es gleichfalls feststellt (s. o.), an Autorität und Einflussnahme verliert? Weitere Erinnerungsfragmente von Henningsen unterstreichen noch die in dieser ersten Szene vorwiegend kritische Deutungsperspektive auf die Vergangenheit, die sich nicht mit unseren geläufigen Bildern und Deutungen deckt. Er schildert zum Beispiel das in der Öffentlichkeit faktisch vorhandene und konkret erfahrbare Wissen um KZ-Häftlinge und Konzentrationslager, aber auch die Strategien des Nicht-Wissen- und Nicht-Sehen-Wollens und weitere Szenen aus dem ideologisch aufgeladenen Alltag. Dabei spielt Henningsen bewusst die erinnerten Wahrnehmungen des Kindes, das er war, gegen die Rekonstruktionen der Erwachsenen aus. Kinderwahrnehmungen seien authentisch und der Wahrheit näher, so der Autor, als die üblichen Rekonstruktionen und theoretischen Erklärungsversuche der Erwachsenen. Die Kindererinnerungen besagen, wie

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auch Erwachsene zur damaligen Zeit zum Nationalsozialismus als Lebensform standen. Diese Erinnerungen verallgemeinert Henningsen insofern als typische Strukturmomente des damaligen Bewusstseins, indem er sie u. a. in den Horizont strukturalistischer Erklärungen einbindet. Nach Henningsen können nämlich die Strukturalisten besser als die marxistischen Verführungstheorien verständlich machen, dass die Menschen damals nicht dem NS-Staat gegenüberstanden oder willenlose Opfer seiner Verführungsmaschinerie waren. Sondern sie lebten die Ideologie, sie machte ihren Lebenssinn aus. Denn der Nationalsozialismus hatte als „Staat etwas geleistet, was unser Staat nicht leistet, ja ausdrücklich nicht leisten will: er hat Sinn in rauen Mengen produziert und in den Alltag hineinvermitteln können“ (ebd., S. 217). Damit produzierte er Gläubigkeit und Zukunftsperspektiven, indem er Nah- und Fernziele effektvoll miteinander verband. Das ist nach Henningsen höchst erziehungswirksam. Das macht das Herzstück einer Erziehung aus, die man in den reformpädagogischen Traditionen wiederfindet, in denen Erziehung als Lebensform gelebt wird, wie zum Beispiel in den Erziehungskolonien von Makarenko. Dort werden Nah- und Fernperspektiven miteinander verschränkt. „Ob diese weite Perspektive das Reich Gottes ist oder das Tausendjährige Reich oder die klassenlose Gesellschaft, ist dabei egal. Pädagogik kann gelingen, wenn eine weite Perspektive da ist. Der Nationalsozialismus hatte eine von Staats wegen, und seine Pädagogen hatten es leicht“ (ebd., S. 219).

Die heutige BRD habe es „erfreulicher Weise“ nicht, was die Pädagogik schwieriger mache. Sinnproduktion sei heute an „eingegrenzt auf Enklaven, Gemeinden, Gettos“. „Der Glaube ist weg und durch kein Surrogat zu ersetzen. Jede mögliche Antwort auf die Sinnfrage ist ‚privat‘. Das ist der Punkt, in dem ich mit Sicherheit kein Nazi mehr bin“, und er konstatiert abschließend, dass seine ‚NS-Sozialisation‘ „keineswegs in einer großen Bekehrung umgeschmolzen worden“ sei (ebd., S. 220). Einiges sei davon übrig geblieben. Betrachtet man diesen theoretischen Erklärungsversuch, dann fällt im Vergleich zu anderen Autoren und Autorinnen auf, dass er mehrere Distanzierungsmittel miteinander verschränkt. Einmal sind es die Erinnerungen des Kindes, die unser heutiges Verständnis oder auch Unverständnis der NS-Zeit mitsamt den heute gängigen alltäglichen oder auch theoretischen Erklärungsmustern untergraben sollen. Distanziert werden soll unser heutiges Bild von der damaligen Zeit. Auch theoretische Hinsichten können distanzieren, indem sie, wie wir in Rumpfs Text gesehen haben, konkret Erfahrenes kategorisieren. Henningsen problematisiert jedoch theoretische Zugriffe nicht so generell wie Rumpf, sondern kritisiert

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nur einzelne Deutungsversuche. So dienen ihm plausibel erscheinende Theorieelemente aus den Wissenschaftsdiskursen der 80er Jahre dazu, den konkret-faktischen Authentizitätsgehalt seiner Kindererinnerungen zu legitimieren und dann auch zu verallgemeinern: Die Erlebnisweisen des Jungen sind nicht singulär, sie sind typisch und kollektiv verankert. Sie sind außerdem das Produkt einer Sozialtechnologie der ideologischen Formierung des Alltags. Als drittes Distanzierungsmittel dient der Vergleich mit der andersartigen heutigen Gesellschaft, die dann auf die Selbstprüfung des Autors hinsichtlich seiner Affinitäten zur NS-Zeit eng geführt wird. Was an theoretischer Distanz gewonnen wird, wird durch den Rekurs auf den Ich-Erzähler wieder zurückgenommen. Seine heutigen Einsichten in die Mechanismen der Macht, der Manipulationen, des Rassismus, des Toten- und Heldenkultus und die damit verbundene Geringschätzung des Lebens interpretiert er als Resultat seiner, wie er es ausdrückt, „nationalsozialistischen Lerngeschichte“ (ebd., S. 221). Sie hat gleichsam unbewältigte latente Wirkungen bis ins Erwachsenenalter hinein. Zwar ist er gegenüber seiner Erziehungsgeschichte kritisch und distanziert, dennoch wirken eingefleischte Vorurteile und emotionale Einstellungen der NS-Zeit bis in die Gegenwart weiter, trotz aller kognitiv verankerten Kritik, beispielsweise wenn ihn das Gefühl eines minderwertigen Krüppels überkommt, weil er als junger Mann eine Brille tragen oder später als schwerkranker Mann seine Pillen schlucken muss. „Minderwertiges Material. Alles Kranke, Kaputte, Verkrüppelte, Unsportliche gehört auf den Müll – das saß ganz tief in mir drin“ (ebd., S. 223). Ähnlich geht es ihm mit der auch in der heutigen Leistungsgesellschaft anzutreffenden Verachtung des Alters. Abschließend können wir resümieren, dass Henningsen sehr viel entschiedener und auch sicherer als beispielsweise Rumpf seine Erinnerungen an die NS-Zeit und ihre Wirkungsgeschichten artikuliert. Das Stilmittel der polemischen und szenischen Zuspitzung seines autobiografischen Berichts verstärkt diesen Eindruck. Das ‚Vielleicht‘ in der Titelüberschrift ‚Vielleicht bin ich heute noch ein Nazi‘ kündigt nicht von Selbstzweifeln an seinen eigenen Deutungsbemühungen. Im Gegenteil, sowohl in seinen Interpretationen und kritischen Spitzen gegen andere Deutungsmuster, wie auch in der Bewertung der langfristigen kollektiven und persönlichen Wirkungen der NS-Zeit, ist er sich seiner Sache sehr sicher. Das ‚Vielleicht‘ zielt offensichtlich auf das Faktum des zeitgleichen Nebeneinanders von NS-affinen und NS-kritischen Einstellungen in ein und derselben Person und in unserer heutigen Gesellschaft. Wolfgang Klafkis 50seitiger biografischer Bericht mit dem Titel: Politische Identitätsbildung und frühe Berufsorientierung in Kindheit und Jugend (Klafki 1988b) beginnt im Unterschied zu den anderen Berichten mit einem theoretischen Exkurs über das „wiedererwachte Interesse an pädagogischer

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Biographie- und Autobiographieforschung“ (ebd., S. 131) und darin über das Konzept von Identitätsbildung bzw. Ich-Identität. Er orientiert dabei sich an dem dynamisch gefassten interaktionistischen Identitätskonzept der Sozialisationsforschung. Der spannungsreiche Prozess der Identitätsbildung ist zugleich historisch-gesellschaftlich wie auch individuell vermittelt. Er betrifft die ganze Person in ihren individuellen Einstellungen, Haltungen, Sichtweisen, Wertungen, Fähigkeiten, Erkenntnissen und hat die offene Gestalt eines sich ständig entwickelnden komplexen Sinnfindungs- und Sinnsetzungsprozesses, Sinnauslegungs-, Sinnaneignungs- und Sinnabwehrprozesses des Individuums in konkreten Kontexten der gesellschaftlichen Einflüsse. Sie prägen den Einzelnen und mit ihnen muss er sich auseinandersetzen, und das nie allein, sondern in sozialen Gruppen. Erziehung bedeutet dann nach Klafki „bewusste Hilfe zur Identitätsbildung“ mit emanzipatorischer Zielrichtung (ebd., S. 132 f.). Die Biografieforschung erlaube es, diesen komplexen Prozess genauer hinsichtlich seiner entscheidenden Faktoren, Verlaufsformen und Wirkungszusammenhänge zu bestimmen. Wichtig sind für Klafki die Erinnerungen seiner Generation an die NS-Zeit, weil sie als pädagogische Professionelle und auch als Eltern von einer besonderen Generationenproblematik gekennzeichnet seien und weil ihre Erziehungserfahrungen auch in den einschlägigen Forschungen mitwirksam werden und deshalb der Aufklärung bedürfen (vgl. ebd., S. 134). Als Besonderheit dieser Berichte hebt Klafki deren interpretierenden, gegenwartsgebundenen rekonstruktiven Charakter hervor, denn die „Kennzeichnung autobiographischer Entwicklungen ist nie bloße Nachzeichnung eines Prozesses, der auch für das Individuum in seinem damaligen Erfahrungs- und Bewusstseinsstand sich so dargestellt hat, wie es der nachträgliche Bericht zu Sprache bringt“ (ebd., S. 134; Herv. i. O.).

Deshalb seien damit „Gefahren der Selbststilisierung, der Harmonisierung, der rückwirkenden ‚Konstruktion‘ eines scheinbar konsistenten Zusammenhanges verbunden“ (ebd., S. 134). Diese selbstkritische Vorsicht des Autobiografen teilt Klafki mit Rumpf, aber er geht damit anders um, wie die folgenden Analysen zeigen. Klafkis an Bildmaterial und konkreten Schilderungen reicher biografischer Bericht vermittelt in der Tat im Vergleich zu den meisten der anderen Biografien den Eindruck einer stark systematisierten, die Erlebnisse und Ereignisse hinsichtlich ihrer lebensgeschichtlichen Langzeitwirkung inspizierenden Rekonstruktion, die von vielen metatheoretischen Reflexionsschleifen durchzogen wird. Man hat oft den Eindruck, dass er in exemplarischer Absicht zeigen will, wie man mit dem theoretischen Instrumentarium der Sozialisations- und Biografieforschungen

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die eigenen biografischen Erfahrungen entschlüsseln kann. Zwar gibt Klafki an einigen Stellen seines Berichts Erinnerungsschwächen und -unsicherheiten zu, insgesamt jedoch breitet er vor dem Leser mit viel sichererer Hand als beispielsweise Horst Rumpf sein autobiografisches Material samt den damit zusammenhängenden Wirkungsvermutungen aus. Enden Rumpfs Wirkungsanalysen mit grundsätzlichen Skrupeln an der Eignung von unmittelbaren Zeitzeugen zum Aufklärer (vgl. Rumpf 1988, S. 254), so schließt Klafki mit dem Resümee über „Grundformen“ der „Nachwirkung der eigenen Sozialisation und Erziehung in Kindheit und Jugend auf die spätere pädagogische Praxis wie auf Theoriearbeit über Erziehung“ (Klafki 1988b, S. 180; Hervorh. i. O.) ab. Dazu zählt er drei Grundformen: 1) fundamentale weltanschauliche, ethische, politische Wertüberzeugungen, die in der Kindheit und Jugend erworben wurden, können als positive Impulse oder als negativ zu bewertende Aspekte die berufliche pädagogische Praxis und erziehungswissenschaftliche Arbeit beeinflussen. 2) können Erfahrungen aus der Sozialisation und Erziehung spätere einschlägige Berufsentscheidungen, pädagogische aber auch erziehungswissenschaftliche Interessen motivieren. Drittens können viele solcher Erfahrungen, die in der Erinnerung latent bleiben, durch aktuelle erziehungswissenschaftliche Forschungen wieder hervorgerufen werden und als vordiskursive Elemente dadurch die Bedeutung und Überzeugungskraft von Theorien erhöhen und zur pädagogischen bzw. erziehungswissenschaftlichen Bewusstseinsbildung maßgeblich beitragen. „Sie spielen maßgeblich, bisweilen ausschlaggebend mit, wo wir davon überzeugt sind, dass diesem Phänomen pädagogisch zentrale Bedeutung zukommt, dass es sich lohnt, sich mit jener Frage immer wieder auseinanderzusetzen, dass diese Hypothese zu Lösung eines Problems wahrscheinlich die fruchtbarste ist“ (ebd., S. 182; Herv. i. O.).

Kurz – Klafki zielt wie Rumpf mit solchen Vermutungen offensichtlich auf den wirkungsgeschichtlichen Horizont früherer Erfahrungen, der als latenter Zusammenhang aktuelle Relevanz- und Interessensperspektiven mitkonstituiert. Klafkis biografischer Bericht ist zweigeteilt. Eingepasst in eine chronologische Ordnung berichtet er zuerst faktenorientiert über Sozialisation und Erziehung im Elternhaus, in der Schule und in der HJ, wie als Luftwaffenhelfer. Sie bilden die wichtigsten Sozialisationsinstanzen. Danach folgt auf 27 Seiten mit Rückgriff auf die im ersten Teil skizzierten theoretischen Hinsichten auf Sozialisation, Erziehung und Identitätsbildung seine autobiografische Rekonstruktionsarbeit: „Politische Identitätsbildung: Zwischen Führerglaube und Distanzierung“ (ebd., S. 143). Er durchmustert und gewichtet zum Teil sehr detailliert darin

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wichtige Sozialisationsfelder, nämlich Elternhaus, Kinder- und Jugendfreundschaften und deren Elternhäuser, Schule, Jugendorganisationen, zwei Sportvereine und dann die öffentlichen Medien und Propagandaveranstaltungen, Sammlungen etc. (vgl. ebd., S. 144), hinsichtlich ihrer Bedeutung und Wirkungen auf seine politische Einstellung, die er so, wie in der Überschrift benannt, charakterisiert. Das vierte Kapitel mit dem Titel „Pädagogische Vorerfahrungen in ihrer Bedeutung für die Entwicklung eines frühen Berufswunsches“ (ebd., S. 170) umfasst 10 Seiten. Diese umfänglichen Rekonstruktionen Klafkis können hier nicht en détail wiedergegeben werden. Genauer untersucht wird nur der Aspekt der politischen Identitätsbildung. Familiäre, sozio-ökonomische und regional-kulturelle Milieufaktoren werden in jeder klassischen Sozialisationsforschung als entscheidende Bedingungen für die Identitätsbildung von Heranwachsenden aufgeführt. Klafki widmet ihnen im Vergleich zu anderen Autoren wie Rumpf, G. Otto eine besondere Aufmerksamkeit. Welchen Anteil hatten sie an Klafkis politischer Einstellung? Er beschreibt diese als von zwei „widersprüchlichen Tendenzen bestimmt […]: auf der einen Seite durch die partielle ideologische Identifikation mit dem, was ich für ‚nationalsozialistisch‘ hielt, konzentriert in einem naiven Führerglauben; auf der anderen Seite durch eine seit dem 11. Lebensjahr zunehmende Zahl von Momenten partieller Distanzierungen von Erscheinungsformen, Praktiken und Ansprüchen des nationalsozialistischen Systems, soweit sie in meinen Erfahrungs- und Bewusstseinshorizont traten“ (ebd., S. 143; Herv. i. O.).

Um es vorwegzunehmen: Das Elternhaus spielte schon eine große Rolle, aber eher als indirekt wirkendes Potenzial der Distanzierung. Klafki wächst in einer ostpreußischen Kreisstadt auf und stammt aus dem mittelständisch-bildungsbürgerlichen, preußisch-ostdeutsch geprägten Milieu einer Gymnasiallehrerfamilie. ‚Bescheidener Wohlstand‘ und ‚ausgeprägte Sparsamkeit‘, Musikalität und Bücher wie auch ein emotional warmes und liberales, relativ freies und anregendes Erziehungsklima markieren den Lebensstil. Der aus bescheidenen Verhältnissen aufgestiegene Vater, für Klafki offensichtlich ein entscheidendes Vorbild, dem er längere Passagen seines Berichtes widmet, habe diesen höheren sozialen Ort „wohl als Verpflichtung zu besonders konsequenter Einhaltung von Normen bürgerlicher Redlichkeit und Rechtschaffenheit im beruflichen und außerberuflichen Leben“ betrachtet (ebd., S. 137). Klafki resümiert später: Solche auch in seiner Erziehung und der seiner beiden Brüder wirksam gewordenen und gelebten Tugenden bürgerlicher Wohlanständigkeit, zu denen bei den Kindern

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„Sauberkeit, Ehrlichkeit, strikte Achtung fremden Eigentums, das Einhalten von Versprechen, höfliches Verhalten gegenüber Erwachsenen, Fleiß in der Schule, Ablehnung aller Formen, sich durch Schmeichelei, Unterwürfigkeit, Beanspruchung von Privilegien Vorteile zu verschaffen oder andere Menschen zu beherrschen“ (ebd., S. 137).

gehören, hätten indirekt dazu beigetragen, dass er als Kind und Jugendlicher „kein begeisterter kleiner Nazi“ geworden sei (ebd., S. 146). Der Vater selbst, obwohl Parteimitglied, dem erst spät die ideologischen Perversionen des Nationalsozialismus zu Bewusstsein gekommen seien, war kein überzeugter Nazi. Seine Gesinnung sei liberal-kulturprotestantistisch und -national, sozial orientiert und kirchlich kaum gebunden wie auch partei-politisch nicht ausgerichtet gewesen. Er lebte seine normativen Überzeugungen, statt sie moralisierend den Kindern gegenüber zu demonstrieren. Die Mutter sei tendenziell bürgerlich-nationalkonservativ gewesen und habe keine politische Option in Richtung auf den Nationalsozialismus gehabt. Nach Klafkis Einschätzung passte sie sich unauffällig den Gegebenheiten an. Es gab jedoch in ihrer „‚naiven Anthropologie‘“ (ebd., S. 145) Elemente, die er als anfällig für den Faschismus charakterisieren würde, d. i. eine naive Vererbungstheorie von Charaktereigenschaften (vgl. ebd., S. 144 f.). Insgesamt habe es vonseiten seiner Eltern keine direkten nationalsozialistischen Beeinflussungen, aber auch keine dezidierten politisch-kritischen Anstöße gegeben, geschweige denn politische Diskussionen über problematische Vorgänge. Letzteres halte er „für ein gewichtiges Versäumnis“ seiner Eltern (ebd., S. 146). Die Schulen selbst, die Grundschule wie auch das Gymnasium mit seiner in der Mehrzahl preußisch-bürgerlich und konservativ eingestellten Lehrerschaft waren nicht betont ideologisch ausgerichtet, und die üblichen propagandistisch aufgemachten Schulfeiern lassen keine Rückschlüsse auf eindeutige politische Gesinnungen der Lehrerschaft zu. Ob aber das nationalsozialistische Gedankengut in den Unterrichtsmaterialien Wirkungen auf sein Bewusstsein gehabt habe, könne er nicht bestimmen (vgl. ebd., S. 148). Kritische Äußerungen von besonders mutigen Lehrern hätten selbst jüngere Schüler mit ihren 12–15 Jahren, zu denen Klafki auch gehörte, schon verstanden und deren oppositionelle Ausrichtung geteilt. Aber das träfe schon auf die Phase seiner altersbedingten Distanzierung zu (vgl. ebd., S. 150). Was seinen bis zum Kriegsende andauernden kindlich naiven ‚pseudopolitischen‘ Führerglauben erzeugt habe, der auch bei Erwachsenen weit verbreitet war und der gegenüber aufkeimenden Zweifeln auch in bedrückenden Überlebenssituationen des Krieges immun zu sein schien, das kann Klafki nicht

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eindeutig bestimmen. Wir erinnern uns: Henningsen spricht von der den Alltag durchdringenden Gläubigkeit an die Religion des Nationalsozialismus. Andere Autoren reden davon, wie sie durch die leiblich-sinnlichen und musisch-ästhetischen Wirkungen der großen medialen Inszenierungen ergriffen wurden. Genau das erwähnt Klafki auch (vgl. ebd., S. 155). Erinnern kann er sich darüber hinaus an eine konkrete Quelle des Führerbildes, ein weit verbreitetes Kinderbuch mit dem Titel: Kinder, was wisst ihr vom Führer?, dessen „kitschiges, emotionalisierendes und durchgehend mit pseudoreligiösen Beschwörungsformeln […] operierendes Machwerk“ ihn sehr beeindruckt hat (ebd., S. 152). Als weitere politische Identifikationsmomente benennt der Autor die „immer wieder beschworene ‚soziale‘ Komponente“ der Volksgemeinschaft, die sich beispielsweise in den Ernteeinsätzen der HJ ausdrückte und die auch ein „Moment in der Lebensauffassung“ seines von ihm „hoch geschätzten Vaters“ war (ebd., S. 153 f.). Was er konkret mit diesem Gemeinschaftsgedanken an Erfahrungen verbinden könne, das seien die Erfahrungen mit Kindern aus anderen sozialen Schichten, mit denen er als Fußballspieler im Verein der Stadt zusammenspielte. Klafki schildert seine Erfahrungen in der HJ als ambivalent. Zum einen gab es dort die abenteuerlichen Fahrten, die er als sportlicher Junge durchstand, zum anderen schreckten ihn die Machtspiele und Schleifmethoden der jugendlichen Führer, die – so in seinem Urteil – ihre Minderwertigkeitsgefühle darüber kompensierten. Eine ihm angebotene Führerkarriere lehnte er standhaft ab (vgl. ebd., S. 155 f.). Er rechnet diese Absage wie auch andere Versuche, sich den HJ- und Jungschardiensten zu entziehen, zu den Distanzierungsmomenten. Dazu zählt er u. a. die „pragmatisch-instrumentelle Nutzung einzelner attraktiver Möglichkeiten“ der NS-Jugendorganisationen, die Nutzung der musischen Spielschar als Refugium vor den üblichen Diensten (ebd., S. 159). Später als Flakhelfer identifizierte er sich schon mit dem Soldatsein und grenzte sich so von der HJ ab (vgl. ebd., S. 161 f.). „Tiefer reichende Ansätze der Distanzierung“ (ebd., S. 162), so die Worte von Klafki, als die vorhin erwähnten, hingen mit der schon vom Jungen gespürten „Atmosphäre von Ängstlichkeit, Peinlichkeit, Tabuisierung“ und mit dem „dumpfen Gefühl, hier geschehe Unrecht“ zusammen (vgl. ebd., S. 162). Sie waren mit der Verfolgung evangelischer Geistlicher oder auch der Juden verbunden, und konkrete Nahrung erhielten solche Ängste und Unrechtsgefühle über eigene Beobachtungen von ausgemergelten Gefangenengruppen und Machtmissbrauch der Wachmannschaften. Für Klafki gehört diese fehlende Protestbereitschaft zu, wie er sagt, „jenen Schulderfahrungen, von denen ich mich auch unter Hinweis auf mein damaliges Alter nicht freisprechen kann und will“ (ebd., S. 164). Eindeutige Aversionen hegte er schon früh gegen die SS, gegen

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die abschreckenden Karikaturen im ‚Stürmer‘ und den Werbeversuchen von Mitgliedern der SS. Das Attentat auf Hitler durch hochgerühmte und hochdekorierte Offiziere machten ihn nicht nur nachdenklich, sondern verstärkten „die bis dahin noch fast unmerklichen Risse im Fundament unseres Führerglaubens“ (ebd., S. 166). Hinzu kamen die Stalingrad-Ereignisse, die Gerüchte um den Tod des als Helden verehrten General Rommel. Alle diese vielen erwähnten Identifikations- und Distanzierungsmomente gehören zum innerseelischen Spannungsfeld. Für den jungen Klafki gibt es eine „einfache Deutungsfigur“, wie er damit fertig geworden ist und sich sein seelisches Gleichgewicht erhalten konnte. Er verteidigte das Ideal des „eigentlichen Nationalsozialismus“ gegen seine hässliche Wirklichkeit. „Ich erinnere mich, dass ich angesichts von mir negativ gewerteter Vorkommnisse des Alltags im Nationalsozialismus oft den Gedanken bemüht habe: Wenn das der Führer wüsste, er würde für Abhilfe sorgen, die Schuldigen bestrafen oder sie ihrer Funktionen entheben“ (ebd., S. 167).

Seiner Vermutung nach war dieses Deutungsmuster bei vielen Kindern und Jugendlichen verbreitet. Der idealisierte Überbau brach sehr schnell vollkommen zusammen, als er kurz nach der Kapitulation von den Verbrechen und den wahren Zielen des Nationalsozialismus erfuhr. Das war, wie er sagt, kein Moment der Krise, sondern der „Befreiung von falschen Orientierungen“, erlebt als „Eröffnung neuer, positiver Horizonte“ (ebd., S. 168). Die weiteren Auswirkungen dieser Erfahrungen könne man nicht als „direkte Verbindungslinien“ konstruieren, sondern als „mehrfach vermittelten Nachwirkungs-Zusammenhang“ (ebd., S. 168). Beide Begriffe deuten etwas anderes an als die von Gamm markant beschriebene ‚Nacherziehung‘, die, angestoßen von der gezielten Konfrontation mit Auschwitz, dieser als bewussten Bildungsprozess selbst in die Hand genommen hat. Klafki verweist selbst darauf, dass ihm zur damaligen Zeit kein bewusster „Ausgangspunkt für neue politische Lernprozesse“ (ebd., S. 169) zur Verfügung gestanden hätte. Seine emanzipatorische Position in Theorie und Praxis sei das noch unabgeschlossene „Ergebnis eines langen Entwicklungsweges“ (ebd., S. 169), in dem er weitere „praktisch-pädagogische und gesellschaftlich-politische Erfahrungen“ (ebd., S. 169) verarbeitet habe. Er sei sich durch den autobiografischen Rückblick der „politischen Verführbarkeit des jungen Menschen“ (ebd., S. 169) deutlich bewusst, und deshalb sei die politische Aufklärung und Erziehung zur kritischen Reflexion eine früh einzusetzende pädagogische Aufgabe. Klafki erwähnt außerdem noch – im Vergleich zum „extrem negativen Gegenbild“ (ebd., S. 169) des nationalsozialistischen Systems – den systematischen Abbau von Herrschaft über den Menschen durch

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Demokratisierung und ständige kritische Kontrolle. Zum Schluss verweist er auf seine vielen politischen und erziehungswissenschaftlichen, aber auch elterlichen Aktivitäten, in denen, wie er sagt, „immer auch das Motiv mit(spielt, W. L.), aus jenen Grenzen und Versäumnisse Konsequenzen zu ziehen, die ich – ohne persönlichen Vorwurf, aber als begründete Kritik – im Rückblick auf meine eigene Erziehung durch meine Eltern erkannt habe“ (ebd., S. 170).

Das komplexe Erinnerungsbild, das Klafki dem Leser bietet, rechtfertigt diese relativ ausführliche Wiedergabe seiner Deutungen und Erklärungsversuche. Getreu dem von ihm selbst eingeführten Identitätskonzept stellt er sich uns als Heranwachsender vor, der von den verschiedenen gesellschaftlichen Einflüssen in unterschiedlicher Weise und keineswegs nur eindimensional bestimmt wurde. Das geschieht nicht kausal-linear und deterministisch, und er selbst ist nicht nur Opfer oder Täter. Die aufgezeigten Sozialisationsinstanzen wirken nicht im gleichen Sinne, auch nicht in sich selbst einheitlich. Sie legen vielmehr eher unabsichtlich als absichtlich – wie das Elternhaus oder die Schule – den Grund für Identifikations- und zugleich für Distanzierungsmöglichkeiten. So identifiziert sich der Junge offensichtlich sehr mit dem Vater und damit auch mit dessen politischer Einstellung, die ihn der NS-Ideologie nahebringt. Zugleich sind es die gelebten bürgerlichen Normen guter Erziehung, die – so scheint es – den Jungen vor bestimmten Drill- und Machtpraktiken in der HJ abschrecken lassen. Auch verstärken das Älterwerden und die zunehmende intellektuelle Reife des Jugendlichen die Wahrnehmung von Diskrepanzen zwischen Ideal und Wirklichkeit. Diese aktive Form der kritischen Distanzierung, aktuell als Selbstsozialisation markiert, begünstigt Distanzierung und Desillusionierung. Aber sie erfassen nicht die ganze Person und führen zu einer Abkehr, sondern sie zeigen sich eher als moralisches und ästhetisches Unbehagen in einer Atmosphäre alltäglicher Repression. Dass nach Klafki nur ein so ‚simpler‘ psychischer Mechanismus wie der idealisierende Führerglaube hochwirksam die radikale Kritik und Distanzierung hemmt, und erst äußere Ereignisse wie das Kriegsende und der Zusammenbruch des NS-Systems die letzten Stützen der Identifikation zusammenstürzen lassen, macht betroffen. Leider zeigt die Menschheitsgeschichte, dass nicht nur im Nationalsozialismus dieser Mechanismus erstaunlich gut funktioniert hat. Er scheint in totalitären Gesellschaften eine Überlebensstrategie zu sein und hat überdies seine intellektuelle Legitimation in der Position einer eindimensionalen Gesinnungsethik gefunden, die ungeachtet der konkreten Wirklichkeit und der konkreten Konsequenzen alltäglichen Handelns ihre Ideale hochhält.

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Schluss Zum Schluss soll noch einmal auf die Anfangsfragen nach dem Subjekt der Erziehung und der Autorenschaft der ausgewählten autobiografischen E ­ rzählungen zurückgeblendet werden. Ihre eigenen Kindheits- und Jugenderinnerungen narrativ zu erschließen, indem sie Schlüsselerlebnisse, hautnah erlebte Ereignisse und bedrängende Episoden schildern, und sie zugleich mithilfe ihres sozial- und erziehungswissenschaftlichen wie auch philosophischen und historischen Expertenwissens deuten, alles das verführt die Autoren und Autorinnen nicht dazu, eindimensionale und monokausale Wirkungszusammenhänge von erzieherischen und politischen Einflüssen zu konstruieren. Dieser zitierte Verdacht aus den Anfängen der erziehungswissenschaftlichen Biografieforschung trifft hier nicht zu. Ganz im Gegenteil: Die Subjekte der Erziehung, hier Kinder und Jugendliche in der NS-Diktatur, sind trotz aller gleichmachenden, formierenden Erziehungspraktiken des Nationalsozialistischen Systems nicht bloße Objekte, sondern ihnen gegenüber respondierende Subjekte mit recht unterschiedlichen Resonanzdispositionen, die Nähe oder Distanz zu diesem System ausbilden. Die Protagonisten der Erzählungen, hier Kinder und Jugendliche, entwickeln sich in den differenten, oft auch gegensätzlichen Einflusssphären von politischer Öffentlichkeit, Familie, Milieu, Schule und Peers. Diese Einflüsse treffen auf unterschiedliche individuelle leibliche und intellektuelle Dispositionen, Vorlieben, Interessen und Talente. Diese komplexen Lebenszusammenhänge und Erziehungsund Sozialisationsgeflechte sind nur um den Preis der Simplifizierung auf einen Nenner zu bringen, was alle Autoren bewusst vermeiden. Das gilt auch für ihre Langzeitwirkungen bis in das Erwachsenenalter hinein, also bis in die Autorenschaft der Erzählenden. Hautnah erfahren, leiblich und emotional habitualisiert, bilden sie – wie es Merleau-Ponty genannt hat (s. o.) ein massives Sein der Vergangenheit, das durch intellektuelle und theoretisch systematische Aufklärung nicht gänzlich abgeschüttelt werden kann. Sie wirken gleichsam subkutan fort, so wie Horst Rumpf, Jürgen Henningsen und Gunter Otto es darstellen, und sie sind trotz aller selbstkritischen Reflexionen über die Authentizität autobiografischer Erzählungen beunruhigend präsent.

Literatur Baacke, Dieter. 1979. Ausschnitt und Ganzes – Theoretische und methodologische Probleme bei der Erschließung von Geschichten. In Aus Geschichten lernen, Hrsg. D. Baacke und T. Schulze, 11–50. München: Beltz.

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Freise, Gerda. 1988. Jugend im Nationalsozialismus. In Verführung, Distanzierung, Ernüchterung. Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus. Autobiographisches aus erziehungswissenschaftlicher Sicht, Hrsg. W. Klafki, 19–44. Weinheim: Beltz. Gadamer, Hans-Georg. 1965. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 2. Aufl. Tübingen: Mohr. Gamm, Hans-Jochen. 1983. Materialistisches Denken und pädagogisches Handeln. Frankfurt a. M.: Campus. Gamm, Hans-Jochen. 1988. Pädagogischer Ausgangspunkt: Ein mecklenburgischer Tagelöhnerkaten. In Verführung, Distanzierung, Ernüchterung. Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus. Autobiographisches aus erziehungswissenschaftlicher Sicht, Hrsg. W. Klafki, 81–107. Weinheim: Beltz. Heidegger, Martin. 1972. Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer. Henningsen, Jürgen. 1988. Vielleicht bin ich heute noch ein Nazi. In Verführung, Distanzierung, Ernüchterung. Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus. Autobiographisches aus erziehungswissenschaftlicher Sicht, Hrsg. W. Klafki, 210–228. Weinheim: Beltz; Zuerst veröffentlicht 1982 in Zeitschrift für Pädagogik 28 (3): 341–354. Klafki, Wolfgang. 1988a. Verführung, Distanzierung, Ernüchterung. Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus. Autobiographisches aus erziehungswissenschaftlicher Sicht. Weinheim: Beltz. Klafki, Wolfgang. 1988b. Politische Identitätsbildung und frühe pädagogische Berufsorientierung in Kindheit und Jugend unter dem Nationalsozialismus – Autobiographische Rekonstruktionen. In Verführung, Distanzierung, Ernüchterung. Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus. Autobiographisches aus erziehungswissenschaftlicher Sicht, Hrsg. W. Klafki, 131–183. Weinheim: Beltz. Lippitz, Wilfried. 1993a. „Weil es schwer fällt zuzugeben, daß jenes Kind da … dir unerreichbar ist“ (Christa Wolf). Das Problem der Authentizität in Autobiographien. In Phänomenologische Studien in der Pädagogik, Hrsg. W. Lippitz, 251–272. Weinheim: Deutscher Studien Verlag. Lippitz, Wilfried. 1993b. Das Werden eines Ich. Biographische Rekonstruktion frühkindlicher Sozialisation am Beispiel von Sartres ‚Idiot der Familie‘. In Phänomenologische Studien in der Pädagogik, Hrsg. W. Lippitz, 214–230. Weinheim: Deutscher Studien Verlag. Loch, Werner. 1978. Individuelles Verhalten und pädagogisches Verstehen. In Modelle pädagogischen Verstehens, Hrsg. W. Loch, 9–29. Essen: Neue Deutsche Schule. Merleau-Ponty, Maurice. 1986. Das Sichtbare und das Unsichtbare. München: Fink. Otto, Gunter. 1988. Es war alles so normal – Und doch ganz anders. In Verführung, Distanzierung, Ernüchterung. Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus. Autobiographisches aus erziehungswissenschaftlicher Sicht, Hrsg. W. Klafki, 121–130. Weinheim: Beltz. Rumpf, Horst. 1988. Geboren 1930, zwischen Formeln groß geworden – Einige Schritte zur Selbstverständigung. In Verführung, Distanzierung, Ernüchterung. Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus. Autobiographisches aus erziehungswissenschaftlicher Sicht, Hrsg. W. Klafki, 229–252. Weinheim: Beltz. Sartre, Jean-Paul. 1978. Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821–1857. Die Personalisation, Bd. 3. Reinbek b. H.: Rowohlt.

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Schäfer, Alfred und Michael Wimmer. 2004. Tradition und Kontingenz. Münster: Waxmann. Scheuerl, Hans. 1988. Eindrücke und Erfahrungen aus bewegter Zeit. In Verführung, Distanzierung, Ernüchterung. Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus. Autobiographisches aus erziehungswissenschaftlicher Sicht, Hrsg. W. Klafki, 56–80. Weinheim: Beltz. Wolf, Christa. 1985. Kindheitsmuster, 13. Aufl. Darmstadt: Luchterhand

Drucknachweise

Die in diesem Bande abgedruckten Abhandlungen sind bis auf drei Erstveröffent­ lichungen überarbeitete, erweiterte und aktualisierte Fassungen früherer Veröffentlichungen. Den Verlagen und Redaktionen danke ich für die freundliche Genehmigung zum Wiederabdruck. Erstveröffentlichungen 30 Jahre phänomenologisch-pädagogische Forschungen in Deutschland: Bestandsaufnahmen für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts (Typoskript 1990). Einblicke: Ausgewählte phänomenologisch-pädagogische Diskurse in den USA der 70er Jahre (Typoskript 1990). „Subjekte“ der Erziehung? Autobiographische Erinnerungen von Erziehungswissenschaftlern (Typoskript 2008). Veröffentlichungsnachweise Bildung, Kultur und Alterität – Bildungsphilosophische Interpretationen. Erweiterte Fassung des Artikels „Bildung und Alterität“, in Handbuch der Erziehungswissenschaft, Hrsg. G. Mertens, U. Frost, W. Böhm und V. Ladenthin, Bd. 1. Grundlagen Allgemeine Erziehungswissenschaft, 273–288. Paderborn 2008: Schöningh. mit Jeong-Gil Woo. Pädagogischer Bezug. Erzieherisches Verhältnis. In Handbuch für Allgemeine Erziehungswissenschaft, Hrsg. G. Mertens, U. Frost, W. Böhm und V. Ladenthien, 405–419. Paderborn 2011: Schöningh.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 W. Lippitz, Phänomene der Erziehung und Bildung. Phänomenologischpädagogische Studien, Phänomenologische Erziehungswissenschaft 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24187-2

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Drucknachweise

Der Humanismus des anderen Menschen (Emmanuel Lévinas) und die Pädagogik. Überarbeitete Fassung des gleichnamigen Artikels, in: Hermeneutik, Ästhetik, Anthropologie. Beiträge zur philosophischen Pädagogik, Hrsg. S. Däschler-Seiler, Bd. 6. Transfer, Ludwigsburger Hochschulschriften. Festschrift für Gottfried Bräuer zum 80. Geburtstag, 11–34. Baltmannsweiler 2012: Schneider Hohengehren. Fremdheit und Andersheit in pädagogischen Kontexten. In Gegenwärtigkeit und Fremdheit. Wissenschaft und Künste im Dialog über Bildung, Hrsg. K. Westphal und W.-A. Liebert, 69–85. München 2009: Juventa. Erneut erschienen in Phänomenologische Erziehungswissenschaft von ihren Anfängen bis heute. Eine Anthologie,. Hrsg. M. Brinkmann, 465–483. Wiesbaden 2019: Springer VS. Das „fremde Kind“ – Zur Verstehensproblematik aus pädagogischer Sicht. In „Schau auf die Kleinen …“. Das Kind in Religion, Kirche und Gesellschaft, Hrsg. R. Lux, 178–192. Leipzig 2002: Evang. Verlagsanstalt. Aloys Fischer (1880–1937): „Deskriptive Pädagogik“ oder „Prinzipienwissenschaft von der Erziehung“. Zu den Anfängen phänomenologischer Forschungen in der Erziehungswissenschaft. In Erziehung. Phänomenologische Perspektiven, Hrsg. M. Brinkmann, 23–38. Würzburg 2010: Königshausen & Neumann. „… durch die endlose Mühe der Worte zu drehen …“. Der Mensch als „Geständnistier“. Autobiographische Forschungen als „Geständniswissenschaften“?. In Erfahrung mit Biographien. Tagungsdokumentation der Duisburger Tagungen zum Thema „Erfahrung mit Biographien“, Hrsg. A. Schlüter und I. Schell-Kiehl, 1–64. Bielefeld 2004: Bertelsmann. mit Heike Faber, und Melanie Kusterer. „Werde, der du bist“ – Elitäre Identitäten in Herman Hesses Romanen. In Identität als Lebensthema. Festschrift für Arnold Schäfer zum 80. Geburtstag, Hrsg. A. Holling, E. Ockel und R. Siedenbiedel, 129–152. Vechta 2007: Geest. Erkenntnis- und Identitätskrise in Musils Erstlingsroman „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“. In Umlernen. Festschrift für Käte Meyer-Drawe, Hrsg. N. Ricken, H. Röhr, J. Ruhloff und K. Schaller, 231–243. München 2009: Fink.