Phänomen Zeit: Versuch einer wissenschaftlichen und ethischen Bilanz [1 ed.] 9783428501892, 9783428101894

Trotz einer über Jahrhunderte hinweg dauernden Beschäftigung mit der Zeit ist sie für die Menschen ein Rätsel geblieben.

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Phänomen Zeit: Versuch einer wissenschaftlichen und ethischen Bilanz [1 ed.]
 9783428501892, 9783428101894

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Rolf Kramer . Phänomen Zeit

ERFAHRUNG

UND

DENKEN

Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philo80phie und Einzelwiasen8chaften

Band 84

Phänomen Zeit Versuch einer wissenschaftlichen und ethischen Bilanz

Von

RolfKramer

Duncker & Humhlot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Kramer, RoH: Phänomen Zeit: Versuch einer wissenschaftlichen und ethischen Bilanz I Rolf Kramer. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Erfahrung und Denken; Bd. 84) ISBN 3-428-10189-8

Alle Rechte vorbehalten

© 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0425-1806 ISBN 3-428-10189-8 Gedruckt auf alterunglbstlindigem (durefreiem) Papier entsprechend ISO 97069

Vorwort Erich Kästner begann seine "Lyrischen Hausapotheke" mit den Worten: "Wir sitzen alle im gleichen Zug und reisen quer durch die Zeit". Die Zeit ist schon lange zu einem wichtigen Thema geworden. Nicht von ungefähr erschien eine Fülle von Zeitbewältigungsbüchern. Mehr Zeit zu haben, wünschen sich die Menschen seit langem. In einem bestimmten Sinn ist das heute bereits in Erfüllung gegangen. Menschen haben sich mehr Zeit "geschaffen". Sie werden älter. Trotzdem stellt sich nicht das Gefühl ein, daß sie mehr Zeit haben. Denn die vierundzwanzig Stunden des Tages können sie nicht verlängern. In den letzten Jahren vor der Jahrtausendwende befiel manche Menschen Angst. Sie lebten in der Besorgnis, der Wechsel der Jahrtausendzahl brächte ihnen Unheil. Andere dagegen meinten, sie müßten die kalendarische Veränderung in Ausgelassenheit begehen. Heute steht die Frage im Mittelpunkt, wie man "mehr" aus seiner Zeit machen und wie man effektiver mit ihr umgehen kann? Wie füllt man sie ethisch am besten aus? Schießlich trägt der Mensch auch für die Anwendung seiner Zeit Verantwortung! Der Mensch lebt auf die Zukunft hin, auch wenn er erst langsam in den ersten Monaten (Jahren) seines Lebens lernen muß, die Gegenwart von der Zukunft und Vergangenheit zu unterscheiden 1. Er ist nur denkbar als ein auf die Zukunft bezogenes Ich-Wesen 2 . Sein Leben wird von Überlegungen und Entscheidungen, die seine Zukunft betreffen, geprägt. Da Zeit gefüllt und sinnvoll gestaltet werden muß, hat der Umgang mit ihr eine ethische Dimension. Beim Verbrauch von Zeit geht es auch um Ethik. Der Ethiker will nicht nur theoretisieren, sondern auch gestalten. Das Leben des Menschen teilt sich in Abschnitte, in denen er viel Zeit besitzt und in solche, in denen er keine Zeit hat. Wer das Gefühl hat, im Besitz von Zeit zu sein, muß sich fragen lassen, was er mit der Zeit macht. Nicht nur im Berufsleben heißt es meistens, mit der Zeit effektiv umzugehen, sondern auch im privaten und gesellschaftlichen Zusammenhang. Dazu gehört auch zu überlegen, was man mit einer gewonnenen, gesparten oder nicht verbrauchten Zeit anfangen will. Zeitersparnis - ohne Sinnerfüllung hat noch keinem Menschen weiter geholfen. Wer Zeit um des Sparens willen spart, I Vgl. Schmied, Gerhard, Soziale Zeit: Umfang, "Geschwindigkeit" und Evolution, Berlin 1985, S. 12. 2 Vgl. Schulz, Walter, Subjektivität im nachmetaphysischen Zeitalter, Pfullingen 1992, S.369.

6

Vorwort

verliert sie gleich wieder. Man muß die gewonnene Zeit richtig einsetzen. Sie muß also ausgefüllt und mit rechten Zielen versehen werden. Aber mit der Zeit umzugehen, muß gelernt werden. Das "Keine-Zeit-Haben" ist die Gegenposition zum "Sich-Zeit-Lassen" oder zum "Sich-Zeit-Nehmen". Ferner muß bedacht werden, daß in der Formulierung "er weiß mit seiner Zeit nichts anzufangen" viel mehr angesprochen ist, als daß jemand unbestimmt und gelangweilt in den Tag hineinlebt. Dieser so gekennzeichnete Mensch weiß im Kern nichts mit sich anzufangen. Vielleicht ist er gar seiner selbst überdrüssig. Das Ziel dieser Veröffentlichung ist es, einen neuen Versuch bei der Behandlung von Zeitproblemen zu wagen, um mehr Klarheit beim Umgang mit der Zeit zu schaffen. Zu danken habe ich dem Verleger Herrn Prof. Dr. Norbert Simon dafür, daß er auch dieses Buch in sein Programm aufgenommen hat. Für die qualvolle Mühe des Korrekturlesens danke ich herzlich dem langjährigen Hamburger Freund Gerd Pogoda. Berlin, im Transitus vom zweiten auf das dritte Jahrtausend, am 31. 12. 1999. Rolf Kramer

Inhaltsverzeichnis Einleitung: Eine kleine Geschichte der Zeitmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

1. Kapitel

Der ZeitbegritT

18

I. Objektive und subjektive Zeit ...................................................

18

11. Kalendarische Zeitbestimmung ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

2. Kapitel

Zeit und Ewigkeit im antiken und biblischen Denken

23

I. Die Zeitbestimmung bei Heraklit und Parmenides ...............................

23

11. Die Definition von Zeit bei Platon und P10tin ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

III. Aristoteles und die Zeit .........................................................

26

IV. Biblische Zeitfestsetzung ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

I. Zyklische oder lineare Zeit? ..................................................

28

2. Die Vorstellung im Alten Testament ..........................................

29

a) Unterschiedliche Zeitbegriffe .............................................

29

b) Zeit als erfüllte Geschichtszeit ............................... . ............

30

3. Zeitvorstellungen im Neuen Testament .......................................

32

V. Aurelius Augustin. . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

3. Kapitel

Die Zeit-Ewigkeit-Relation moderner Theologen

40

I. Karl Barths Lehre von der Zeit ..................................................

41

1. Gottes Ewigkeit .............................. . . . .............. . ... . ..........

41

2. Die ..erfüllte Zeit" als Offenbarungszeit ......................... . ............

43

a) Gottes Zeit - unsere Gnadenzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

b) Die Zeit des Menschen Jesu ...............................................

45

8

Inhaltsverzeichnis 3. Die menschliche Zeit.........................................................

47

4. Die Zeitbefristung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

11. Paul TilIichs Differenzierung des Zeitbegriffs .............................. . ....

51

I. Gottes Ewigkeit ................................................... . ..........

52

2. Zeit und Schöpfung ............ . .............................. . ..............

53

3. Zeit als Kairos ...............................................................

55

III. Pierre Teilhard de Chardin und der Punkt Omega ................................

56

IV. Jürgen Moltmann: Zeit der Schöpfung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

4. Kapitel

Philosophische und naturwissenschaftliche Zeitbestimmungen

63

I. Eine philosophische Auswahl ................... . ...............................

63

1. Die Zeitauffassung bei Immanuel Kant .......................................

63

2. Georg Wilhelm Friedrich Hegel und die Zeit .................................

65

3. Martin Heidegger und sein Zeitverständnis ...................................

67

11. Naturwissenschaftliche Vorstellungen ...........................................

70

I. Das Raum-Zeit-Denken und die Wahrnehmung von Zeit......................

70

2. Der Zeitpfeil .................................................................

72

III. Der soziale Zeitbegriff ...................................................... . ...

75

5. Kapitel

Zeit als ökonomische Größe

80

I. Zeit ist Geld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

11. Der Wert der Zeit in Geschichte und Gegenwart .................................

82

III. Zeit als Produktionsfaktor ................................ . ......................

83

IV. Zeit als Wettbewerbsfaktor ............................................ . .........

87

V. Selbst- und Fremdbestimmung der Zeit..........................................

89

VI. Das Problem des Zeitdrucks .....................................................

90

VII. Arbeitszeit-und Personalpolitik .................................................

92

I. Arbeitszeitersparnis durch Motivation und Delegation ........ . ...............

93

2. Flexible Arbeitszeit ..........................................................

94

a) Gleitzeit ..................................................................

95

b) Unterschiedliche Arbeitszeitforrnen ................. . ................ . ....

95

c) Alters-Teilzeitarbeit ........... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

Inhaltsverzeichnis

9

6. Kapitel

Die Freizeit

100

I. Definitionen von Freizeit ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 100

11. Inhalt der frei genutzten Zeit .................................................... 102 III. Freizeit und Muße............................................................... 105 IV. Die Sicherung sozialer Kontakte .................................. . ............. 106

V. Die Notwendigkeit einer Freizeitethik ........................................... 108 7. Kapitel

Rückblick und Ausblick

110

I. Zeit und Ewigkeit ............................................... :............... II 0

11. Das Wesen der Zeit ............................................................. 115 III. Umgang mit der Zeit ............................................................ 116 IV. Kulturabhängige Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 8. Kapitel

Definitionen

122

Literaturverzeichnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 124 Index .............................................. .................................... 129

Einleitung: Eine kleine Geschichte der Zeitmessung Zeit ist eine wesentliche Dimension unseres Lebens. Es ordnet unser Leben und bestimmt den sozialen Ablauf. Auf vieles kann der Mensch verzichten, auf Zeit nicht. Selbst im Berufsleben wurde Zeit als Arbeits- und Maschinenlaufzeit zu einem bedeutenden Faktor. Man weiß heute aufgrund von Funden, daß die Menschen seit dem Altpaläolithikum (100.000-40.000 v. Chr.) die Sonnenbewegungen bebobachtet und die Fähigkeit entwickelt haben zu zählen. Im Jungpaläolithikum hat man bereits um 25.000 so etwas wie einen Mondkalender aufgestellt; denn man hatte erkannt, daß zwischen zwei Neumonden 29,5 Tage liegen. Viele tausend Jahre hatte man die Phasen von zu- und abnehmendem Mond aufgezeichnet. Mindestens seit acht- bis neuntausend Jahren haben die Vorfahren den Zusammenhang von Befruchtung, Geburt und Monatsregeln registriert 1. Die Babyionier benutzten als erste das Bild des Kreises, um die Zeit zu kennzeichnen. Sie teilten das Jahr in 360 Winkelgrade und dann in 12 Monate und den Monat wieder in 30 Tage ein. Auch für die Tageseinteilung mit ihren zwölf Stunden der Nacht und des Tages werden die Babyionier als Urheber genannt. Aber die Stunden waren nicht immer gleich lang; denn im Laufe der Jahreszeiten wurden die Anfangs- und Endpunkte der Nacht- und Tagesstunden verschoben. Die Dauer der zwölf Tagesstunden hing vom Tageslicht ab. Der Lichttag - und auch dessen soziale Einrichtungen - wurden bei den Sumerern, Ägyptern, Römern durch die Sonnenuhr fixiert. Ihre Standorte waren soziale öffentliche Plätze, Bäder, Tempel etc. mit sozialem Charakter. Sicherlich ist die Sohnnenuhr die älteste Form der Zeitmessung. Sie ist wohl seit dem dritten Jahrtausend bei den Babyioniern und Chinesen bekannt. Zu dieser Zeit wurde die Gesetzmäßigkeit des Sonnenumlaufs mit Hilfe einer Steinsäule oder eines Schattenstabs für die Zeitmessung benutzt. Auch bei den Ägyptern werden wohl zu dieser Zeit Sonnenuhren benutzt worden sein. Die Sonnenuhren bekamen recht früh in Form von Wasseruhren Konkurrenz. Die ältesten sind mindestens 3.500 Jahre alt. Als ihr Erfinder gilt der Ägypter Amenemhet (1565 -1534 v. Chr.). Später gab es Sonnen-, Wasser- und Sanduhren in den unterschiedlichsten Formen. Um 550 v.Chr. hat Anaximandros die erste Sonnenuhr in Griechenland aufgestellt. Im antiken Rom geschah das im Jahre 164 v. Chr. Wasseruhren waren von den Chinesen vor mehr als zweitausend Jahren v. Chr. gebaut worden. Man nannte sie in

1

Vgl. dazu Fraser, Julius T., Die Zeit: vertraut und fremd, Basel u. a. 1988, S. 66 ff.

12

Einleitung: Eine kleine Geschichte der Zeitmessung

Griechenland Klepsydra (Wasserdieb )2. Durch das Auslaufen von Wasser wurde bereits um 1300 v. Chr. in Ägypten die Zeit bestimmt (Auslaufuhren). Diese konnte freilich auch durch das Einlaufen von Wasser am steigenden Wasserspiegel abgelesen werden (Einlaufuhren). Eine der Schwächen der Klepsydren bestand darin, daß in nördlichen Breiten bei strengem Frost das Wasser gefror, so daß sie unbrauchbar wurden. In Strafprozessen wurde die Redezeit nach ihnen bemessen. Es gab aber auch ,,Feueruhren" - besonders in China um 1300 v. Chr. Sie ließen die Zeiten durch gleichmäßiges Abbrennen von Kerzen oder Öllampen erkennen3 . Geronimo Cardano, ein Zeitgenosse Kopemikus' und Erfinder des nach ihm benannten und in jedem Auto vorhandenen Universalgelenks, hatte eine solche entwickelt4 • Bereits frühzeitig kannte man das Äquinoktialsystem, nach dem der Tag in zwei mal zwölf gleich lange Stunden eingeteilt wurden. Dennoch war es ein schier endloser Weg, bis die ersten mechanischen Uhren erfunden wurden. Noch im fünfzehnten Jahrhundert führten einfache Soldaten ihre Hähne als Wecker mit sich. Mechanische Räderuhren sind seit ca. 1300 n. Chr. nachweisbar. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts wurde die Aufzugsfeder als Antrieb der Uhrwerkes anstelle der Gewichte erfunden, ein Meilenstein in der Geschichte der mechanischen Zeitmessung. Der Weg zu tragbaren Uhren war geebnet. Etwa um 1500 soll Peter Henlein in Nümberg die erste Taschenuhr mit Selbstschlagwerk erfunden haben. Das 17. Jahrhunder bescherte dann die Pendeluhr, das 19. die elektrische Uhr und das 20. schließlich die Quarz- und die durch Sonnenenergie gespeiste Uhr. Zwar scheint durch den Mond eine Zahl in der ,natürlichen' Zeitmessung vorgegeben zu sein: Die Zwölf. Aber weder durch die Sonne noch durch den Mond wird diese Zahl eingehalten. Denn der Mond benötigt von einem zum anderen Vollmond im Jahr 12,34 Mondphasen 5 . Wie schnell fließt die Zeit wirklich? Diese Frage ist auf das Jahr bezogen definitorisch selbst für den schwierig zu beantworten, der sich hauptberuflich mit den ,,zeitfragen" beschäftigt. Für den Astronom existieren ganz unterschiedliche Jahresbegriffe:

2 Dieser Name geht auf eine "untypische Form zurück", wie Dohrn-van Rossum, Gerhard, Die Geschichte der Stunde, München, Wien 1992, S. 28, feststellte: "Im 6. Jahrhundert v. ehr. wurden an gelochten Hohlkörpern mit kleinen, mit dem Daumen verschließbaren Auslaßöffnungen, mittels derer man wie mit einer Pipette Wein, Waser oder Öl aus großen Gefaßen ,heben' konnte, verschiedene Beobachtungen pneumatischer und hydraulischer Erscheinungen gemacht. Die Beobachtung des langsamen Einsinkens eines solchen Körpers in einer Flüssigkeit oder die Möglichkeit, den Auslauf zu verzögern, hat auf die Entdeckung der Klepsydra als Mittel, eine Frist zu bestimmen, geführt". 3 Vgl. dazu, Whitrow, Gerald J., Die Erfindung der Zeit, Hamburg 1991, S. 146 4 Fraser, Julius T. (1988), S. 72. 5 Von einer Vollmondphase zur anderen benötigt er als Mittel 29 Tage, 12 Stunden, 44 Minuten, 2,97 Sekunden. Zählt man nur die zu beobachtenden Vollmonde, so ergibt das die Zahl 12.

Einleitung: Eine kleine Geschichte der Zeitmessung

13

- das tropische (tropos, Wendung, Drehung) Jahr. Das ist die Zeit, in der die Erde - auf die Sonne bezogen - sich einmal um diese dreht; diese Drehung umfaßt etwas mehr als 365, nämlich 365,24219879 Tage. - das siderische (sidus, Sternbild, Gestirn) Jahr ist die Zeit, in der die Erde auf die Fixsterne bezogen, einmal die Sonne umrundet; es ist Teil des gesamten Sternzeit-Systems. - das anomalistische (anomalos, Unebenheit) Jahr ist die Zeit zwischen zwei Durchgängen der Erde durch den sonnen nächsten Punkt 6 . Gerade aufgrund der verschiedenen Länge der einzelnen Jahre, Monate und Tage ist es schwer zu sagen, was denn die richtige Zeit ist. Im Laufe der Jahrhunderte ist die Zeitmessung immer stärker verfeinert worden, so daß man heute sagen muß: Die Uhren können nicht mehr entmachtet werden. Indessen sind durch sie nur Vergleiche und Urteile darüber möglich, "wie gleichförmig der als Uhr verwandte Vorgang ist,,7. Zeit ist mit Hilfe einer Uhr leicht festzulegen. Aber was man auf der Uhr mißt, ist letztlich doch nur der Abstand zweier Zeiger, oder wie Einstein gesagt hat: "Zeit ist das, was man an der Uhr abliest 8 . Man sieht auf das Zifferblatt und stellt fest, welche Zeit es ist. Aber ,,keine Uhr kann für sich allein die Zeit messen oder vor-, nach- oder richtig gehen,,9. Auch das Jetzt kann die Uhr nicht angeben. Sie zeigt nur eine bestimmte Zeit an lO • Was darin das Jetzt bedeutet, muß der Mensch sich selbst sagen. Im Mittelalter hat die katholische Kirche die römische Zeiteinteilung übernommen und die Liturgie ihrer Gebetszeiten entsprechend gestaltet 11. Da die Temporalstunden mit Ausnahme in der Tag- und Nacht-Gleiche im Frühling und Herbst ungleich lang waren, konnte erst mit der Einführung der Räderuhren jede Stunde gleich lang gemacht werden. Das war für die Arbeit und die Gebetszeiten von Bedeutung. Im 15. Jahrhundert setzte sich die Einteilung des Tages in 24 gleich lange Stunden durch 12 • 6 Vgl. Borchard, Klaus, Die Zeit im Lichte der Technik, in: Hans Michael Baumgartner (Hrsg.), Zeitbegriffe und Zeiterfahrung, München 1994, S. 150: "Das anomalistische Jahr 1985 war ca. 4,7 Min länger als das siderische und ca. 25 Min. länger als das tropische Jahr 1985 ... Der siderische Monat hat rund 27 1/3 mittlere Sonnentage, der synodische Monat dauert mehr als 2 mittlere Sonnentage länger". 7 Fraser, Julius, T,. (1988), S. 94. 8 Vgl. Simon, Herrnann, Die Zeit als strategischer Erfolgsfaktor, in: Horst Albach (Hrsg.), Zeitschrift für Betriebswirtschaft Bd. 59,1 1989, S. 70 ff. 9 Fraser, Julius, T,. (1988), S. 288. 10 Decker, Karl, Biologische Uhren, in: Hans Michael Baumgartner (Hrsg.), Zeitbegriff und Zeiterfahrung, Freiburg, München, S. 49: "Als Uhr bezeichnet man eine Vorrichtung zum Messen von Zeitintervallen bei Vorgängen mit endogener und wahrnehmbarer Periodizität". 11 Vgl. Dohrn-van Rossum, Gerhard, (1992), S. 35. 12 Vgl. Schmied, Gerhard, (1985), S. 67.

14

Einleitung: Eine kleine Geschichte der Zeitmessung

Der Gymnasiallehrer Gustav Bilfinger zeigte 1892 auf, daß die antike Tageseinteilung mit ihren zwölf Tages- und Nachtstunden, die untereinander gleich lang waren, aber jahreszeitlich entsprechend dem Tageslicht variierten, durch die Gebetszeiten der christlichen Kirchen abgelöst wurden 13. Diese Zeiten gehen auf die Regel des Benedikt von Nursia zurück, der sie für seine Klosterbruderschaft auf dem Monte Cassino festgelegt hatte (ca. 534). Als Gebetssequenzen führte er einen siebener Rhythmus ein: Matutin, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper, Komplet. Das waren die kanonischen Stunden (horae canonicae). Die Matutin wurde am Sonnenaufgang, die Komplet beim Sonnenuntergang gehalten. Die Sext bezeichnete den Mittag. "Für den bürgerlichen Gebrauch sind nur die Gebetszeiten wichtig geworden, die den Vierteln des Lichttages zugeordnet waren: Prim, Terz, Sext, Non, Vesper. Die Zwölfteilung des Tages wurde im Mittelalter selten gebraucht, aber sie blieb den Gebildeten geläufig und wurde z. B. im biblischen Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, die um die elfte Stunde gedingt werden und dennoch den vollen Tagelohn erhalten (Matth. 20,6 - 12), in der Erinnerung präsent gehalten" 14. Spät im Mittelalter stellte man fest, daß Uhren ein ausgesprochen gutes soziales Koordinationsmittel ergaben. Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts, genau zwischen 1372 und und 1380, gab es eine reine Boomphase für die Aufstellung von öffentlichen Uhren - auch in kleineren und kleinsten Städten -, um das soziale Zusammenleben zu organisieren und zu regeln. Im 14. Jahrhundert wuchs die Anzahl der Uhrtürme; Straßburg, Frankfurt am Main, Frankenberg in Hessen, Lyon und Stralsund sind Orte, wo solche Monumentaluhren aufgestellt wurden. Es ist darum sicher historisch gesehen - kein Wunder, daß man den beiden Organisationen, dem Kloster und der Stadt, großes Interesses an der Uhrentwicklung zugeschrieben hat. Mit dem 14. Jahrhundert wuchs der Unterschied zwischen dem städtischen Leben und dem auf dem Lande, indem jenes sich der durch die mechanische Uhr gewonnenen "abstrakten" Zeit unterwarf. Denn erst aufgrund der Erfindung der Spindei hemmung im 13. Jahrhundert konnten mechanische Uhren in Betrieb genommen werden. Diese Erfindung markiert einen historischen Einschnitt in den Prozeß der Zeitmeßtechnik und steht für die folgenden sechshundert Jahre der Zeitmessung. Jacques Le Goff meinte 1960 - im Gegensatz zu Dohm-van Rossum -, daß diese Entwicklung den "Wandel von der Stunde der Kirche zur Stunde der Händler" bedeute 15; damit sei der Übergang von einer kirchlich bestimmten Zeit zu einer vom Handel und den Kaufleuten geprägten Zeit vollzogen. Mit der "Zeit der Kirche" setzte nach Le Goff die Kirche in den städtischen Siedlungen die Zeit des Tagesablaufes fest. Sie bestimmte die Zeiten für die Schule, den Stadttorschluß und auch generell den Festkalender. Mit dem Aufkommen der mechanischen Uhren ist für ihn dann die "Zeit der Händler" entstanden, die die "Zeit der Kirche" ablöste. Denn mit der Erfindung der mechanischen Uhren trat eine von der Kirche I3 14

IS

V gl. Dohrn-van Rossum, Gerhard, (1992), S. 20 Dohrn-van Rossum, Gerhard, (1992), S. 35. Dohrn-van Rossum, Gerhard, (1992), S. 22.

Einleitung: Eine kleine Geschichte der Zeitmessung

15

nicht mehr manipulierbare Zeitrechung auf. Die Kaufleute sahen in den öffentlichen Uhren ,Jnstrumente ihrer politischen und ökonomischen Herrschaft,.16. Nach Jacques Le Goff wollten die Händler ihre kaufmännische Praxis geregelt wissen. Dohrn-van Rosssum macht dagegegn darauf aufmerksam , daß Le Goff seine Überlegungen nicht als das Resultat seiner Forschung verstanden hat; er wollte vielmehr zu neuen Studien auffordem 17 . Es bleibt aber: "Die Gegenüberstellung der Schlagworte ,Zeit der Kirche' - ,Zeit der Händler', verleiht der Geschichtsschreibung zum Spätmittelalter eine anschauliche und verführerische Dramatik,,18. Im einzelnen bestehen nach Dohrn-van Rossum über das Aufstellen der öffentlichen Uhren zwei falsche Vorstellungen: 1. Die Kirche hatten das Zeitsystem der Uhren als Machtinstrument benutzt. 2. Als Erbauer der Uhren sind vor allem Kaufleute in Erscheinung getreten.

Beide Annahmen stimmen aus mehreren Gründen nicht. Die Kirchen haben sich nicht gegen die Einführung der mechanischen Uhren gewandt. Sie waren bereits tausend Jahre ohne die Stundenuhr ausgekommen. Landesherrscher oder Stadtfürsten förderten das Aufstellen öffentlicher Uhren aufgrund obrigkeitlicher Autorität oder eines urbanistischen Prestige-Denkens. Oft ist es nur ein Neidkomplex, der diese städtische Verschönerung veranlaßte. Da andere Städte bereits eine Uhr besaßen, wuchs auf diesem Sektor ein Konkurrenzdenken. Man spricht von einem "Prestigeurbanismus,.19. Ein anderer Grund für das Aufstellen von öffentlichen Uhren rührte aus dem Wunsch nach sozialer Kommunikation her. Schließlich läßt sich ein reiner Spieltrieb als Grund für das Aufstellung öffentlicher Uhren anführen. Für die Mehrheit der Arbeitenden war im Mittelalter die Arbeitszeit unbegrenzt. Sie war durch die Notwendigkeit und die Anforderungen der bäuerlichen oder handwerklichen Wirtschaft oder durch Tradition und Autorität20 bestimmt. Im Mittelalter sezte das Tageslicht der Arbeitszeit ihre Grenzen, d. h. die Arbeitszeit begann in der Regel mit dem Sonnenaufgang und endete mit dem Sonnenuntergang. Anders dagegen verhielt es sich mit der Arbeitszeit in der Epoche der Industrialisierung. "Die Arbeitszeit gehört zu den großen Themen der sozialen Auseinandersetzung,,21. Zunächst ging es um die Dauer des Arbeitstages, der im Zeitalter der Maschinen unmenschlich ausgedehnt wurde, sodann ging es auch um die "Stetigkeit und Intensität" der Arbeitszeit 22 .

16

17 18 19 20

21 22

Dohm-van Rossum, Gerhard, (1992), S. 123. Dohm-van Rossum, Gerhard, (1992), S. 211. Dohm-van Rossum, Gerhard, (1992), S. 215. Dohm-van Rossum, Gerhard, (1992), S. 137. Dohm-van Rossum, Gerhard, (1992), S. 267. Dohm-van Rossum, Gerhard, (1992), S. 266. Dohm-van Rossum, Gerhard, (1992), S. 266.

16

Einleitung: Eine kleine Geschichte der Zeitmessung

Bei vielen Menchen besteht der Glaube, wer über die Zeit der Menschen verfügt, herrscht über diese. Da man mit Hilfe mechanischer Zeitmesstechniken zeitliche Messungen abstrakt fixieren kann, glaubt man, besser über Menschen verfügen zu können. Deshalb wird die Weiterentwicklung der Zeitmessug zur Stechuhr als Terrorinstrument der Arbeitnehmer schlechthin dargestellt. Aber nach Dohmvan Rossum ist die Stechuhr vielmehr ein für Arbeitgeber und Arbeitnehmer "wunderbares Kontrollinstrument". Nach der Erfindung der mechanischen Uhr mißt man die abstrakte Zeit (z. B. das Arbeitsende) und macht sie zum Verhandlungsgegenstand zwischen den Parteien. Dennoch: Zeitmeßtechniken wollen auch heute noch nicht - trotz der durch sie gegebenen Möglichkeit - andere Menschen beherrschen. Die Tagesarbeit ist ohne Chronometer nicht mehr zu leisten. Die Uhr bestimmt den Rhythmus des Lebens. Zeit gibt den Takt des menschlichen Lebens an, Zeit setzt das Ende des Lebens. In der Vergangenheit wurde behauptet, daß die "Kursbücher der Eisenbahn" so etwas wie "Kultbücher" der Zeit gewesen seien. Die "Eisenbahn stand einmal für die Zeitpräsizion. ,Es ist allerhöchste Eisenbahn'" gilt vielen noch heute als wichtige Zeitangabe 23 . Seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Genauigkeit zu einer fast unvorstellbaren Größe angewachsen. Aufgrund der atomaren Schwingung des Atoms Cäsium 133 wird gemäß internationaler Vereinbarung die Zeit fixiert. Zwei solcher Uhren stehen in der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig und legen durch das Zeitgesetz von 1978 die maßgebliche Uhrzeit in Deutschland fest 24 • Bereits 1967 war die Sekunde als Zeiteinheit gemäß internationaler Vereinbarungen auf der Basis einer atomaren Schwingung des Atoms Cäsium 133 definiert. Die Abweichung zwischen den heiden in der Braunschweiger Physikalisch-Technischen Bundesanstalt aufgetellten Cäsium-Atomuhr darf in drei Millionen Jahren höchstens eine Sekunde betragen25 .

Weis, Kurt (Hrsg.), Was ist Zeit? Teil 2, München 21997, S. 14. Vgl. Borchard, Klaus, (1994), S. 146. 25 Vgl. Borchard, Klaus, (1994), S. 147: Bereits 1958 hatte der Amerikaner W. Markowitz festgestellt, daß das Atom Cäsium 133 über 9 Mrd. Schwingungen (genau: 9 192 631 770) während einer Ephemeridensekunde macht. "Die ,Ephemeridenzeit' , die hier als Referenzzeit dient, wird freilich von keiner Uhr angezeigt" (S. 147). Ephemeris bedeutet Tagebuch, nach dem die täglichen Positionen der Himmelkörper vorausberechnet werden. Aufgrund der Newton'schen Gesetze der Planetenbewegung wird die Ephemeridenzeit aus der Umlaufdauer der Erde um die Sonne berechnet; dabei werden insbesondere die Bahnbewegungen des Erd-Mondes, der Planeten Merkur und Venus, der Jupiter-Monde und künstlicher Satelliten beobachtet (s. S. 147). Allerdings ist die Ephemeridenzeit, die äußerst exakt bestimmt werden kann, gleichsam nur für Ereignisse der Vergangenheit ganz genau zu errechnen. Für den "Normalbürger" hat das keinerlei Konsequenz. Denn die Größenordnungen sind für ihn äußerst klein. So konnte man am 3. Nov. 1986 dem Rundschreiben der Internationalen Behörde für die Zeitfestsetzug in Paris (Bureau InternationaIde I'Heure) entnehmen, daß aufgrund der Messungen in Turin die Zeit um 0,00000029 Ephemeridensekunden voraus war, während sie in Ottawa um 0,00000827 Ephemeridensekunden nachging. 23

24

Einleitung: Eine kleine Geschichte der Zeitmessung

17

Die Präzision der Zeitmesssung hat in unserem Jahrhundert einen Höchststand erreicht. Aber die Tugend der Pünktlichkeit ist nicht mehr allein die zentrale Notwendigkeit im Umgang miteinander. Sie wird von der Tugend der Flexibilität abgelöst, wie Karlheinz Geißler formuliert 26 . Allgemeine Zeitabsprachen werden durch individuelle Notwendigkeiten und Absprachen in der Datenverarbeitung ersetzt. Denn wer heute nur noch pünktlich sein will, kommt oft im Umgang mit Informations- und Kommunikationsdaten zu spät! In seiner Schrift ,,oe brevitate vitae" hat Seneca die Rede von der Kürze unserer Lebenszeit zurückgewiesen und gesagt, wir selbst sind es, die das Leben kurz machen, weil wir es an unnütze Dinge verschwenden. Wir versäumen das Leben, indem wir uns den Nichtigkeiten hingegeben, von einem Termin zum anderen hetzen und über Unwesentliches mit anderen diskutieren. Es ist also gerade Seneca selbst, der mit seiner Argumentation die Kürze der Zeit voraussetzt. Denn hätten wir genügend Zeit, könnten wir sie auch nicht vergeuden. Unser Leben ist nun mal endlich und kurz 27 •

26 V gl. Müller, Claus Peter, Wer heute pünktlich kommt, kommt oft zu spät, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.12. 1999, S. 14. 27 V gl. Marquard, Odo, Zeit und Endlichkeit, in: Hans Michael Baumgartner (Hrsg.), Das Rätsel der Zeit, Freiburg I München 1993, S. 365 f.

2 Kramer

1. Kapitel

Der ZeitbegrifT Was ist Zeit? Diese Frage enthält große Begriffs-Schwierigkeiten. Denn keine noch so exakte Wissenschaft kann die Zeit schlüssig definieren. Außerdem gibt es zu viele Zeitbegriffe. Ihre Inhalte sind grundverschieden.

I. Objektive und subjektive Zeit Im deutschen Sprachraum weist das Substantiv Zeit auf den Ablauf eines Geschehens oder auf die Dauer von Ereignissen hin. Ein Verb wie im Englischen ,to time' gibt es im Deutschen nicht. Der Begriff ,zeitigen' hat im Deutschen eine ganz andere Bedeutung: reifen lassen, eine Wirkung hervorbringen oder als Folge nach sich ziehen. In den Wörtern Zeit, althochdeutsch zit, englisch time und auch im Wort Tide (Zeit oder Gezeiten) ist die germanische Sprachwurzel "ti" oder die indogermanische "di" enthalten; sie weist auf schneiden, oder teilen hin. Das lateininische Wort tempus ist etymologisch von dem griechischen Wort für schneiden, abschneiden (temnein) herzuleiten. Zeit bedeutet dann so etwas wie ein Stück aus dem Kontinuum des Seins. Die Erfahrung von Zeit ist abhängig vom Gedächtnis des Menschen. Ohne dieses gäbe es die Zeit nicht. Der Mensch würde ohne Kenntnis seines Vorher und ohne eine Perspektive zum Später keine Identität mit sich selbst herstellen können. Erst "durch sein Gedächtnis ist der Mensch in der Lage, Ereignisse in eine definierte Folge und in Ereigniseinheiten (Herzschläge, Tage, Vollmonde, Jahre) zu unterteilen, zu ordnen, zu speichern und wieder abzurufen"l. Im Griechischen gibt es zwei Zeitbegriffe, die bereits in der antiken Philosophie und in der biblischen Überlieferung eine große Bedeutung hatten: Chronos für die Zeitdauer und Kairos für den rechten Zeitpunkt. Heute wird mit dem Begriff Chronos die physikalisch-kosmische Zeit bezeichnet, im Kairos dagegen steckt, wenn man diesen Begriff gebraucht, die vom Menschen erfahrene, anthropologische Zeit. Die griechische Mythologie kannte den Titan Kronos (Chronos) als Vater der Zeit. Er war der Sohn des Uranos, des Gottes des Himmels und der Gaia, der Göt1 Eder, Gernot, Physikalische Aspekte von Eigenzeit und Synchronisation, in: Heinrich Pfusterschmid-Hardtenstein (Hrsg.), Zeit und Wahrheit, Wien 1994, S. 92.

I. Objektive und subjektive Zeit

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tin der Erde. Chronos hatte seine Schwester Rhea geheiratet. Da ihm prophezeit worden war, daß einer seiner Söhne ihn entthronen werde, aß er aus Angst vor seiner Entmachtung alljährlich die ihm von Rhea geborenen Kinder auf. Die Folgerung aus dem Mythos war: Chronos verschlingt seine Zukunft. Die Zeit ist als Naturzeit sowohl als rhythmischer Wechsel von Jahres- und Tageszeiten als auch als "einmaliger Entwicklungsgang" im Sinne von Evolution zu verstehen. Man spricht dann von objektiver Zeit2 • Zu dieser gehört als Grundbedingung das Vergehen. Unter der objektiven Auffassung läßt sich Zeit dreifach bestimmen: 1. als Jetzt-Folge. 2. als Fluß; Zeit wird nicht mehr punktuell als Jetzt, sondern als Verlauf verstanden 3 . 3. als Auslegung. Zeit ist als eine "bleibende Einheit im Wechsel" zu interpretieren 4 . Die Grundbedingung der objektiven Zeit ist ihr Vergehen. In einem solchen objektiven Sinn hat Goethe den Zeitbegriff in seinem Gedicht Prometheus beschrieben: "Hat mich nicht zum Manne geschmiedet Die allmächtige Zeit Und das ewige Schicksal, Meine Herren und deine?"

Auch Friedrich Schiller hat in seinen "Sprüche[n] des Konfuzius" die objektive Vorstellung der Zeit in Verbindung mit einem linearen Aspekt zum Ausdruck gebracht: "Dreifach ist der Schritt der Zeit: Zögernd kommt die Zukunft hergezogen, Pfeilschnell ist das Jetzt entflogen Ewig stiII steht die Vergangenheit".

Nach den Theorien Einsteins ist heute der Begriff einer objektiven Zeit nicht mehr anwendbar. Dem objektiven Zeitbegriff steht jedenfalls der subjektive gegenüber. Geprägt wird dieser durch das Empfinden von Zeit, das sich in unterchiedlicher Form zeigt. Denn "man nimmt den Zeitablauf überhastet oder verlangsamt wahr, verliert das Zeitbewußtsein, erlebt Zeitstillstand oder hat das Gefühl einer zeitlosen Leere"s. Dabei spielt der Inhalt der Zeit und nicht ihr Ablauf eine wesentliche Rolle, nicht also ihre Länge oder Kürze, sondern das, was sich in der Zeit tut, was das Wesen der Zeit ausmacht. Der Mensch nutzt seine Zeit und füllt sie mehr oder weniger intensiv aus. Er kann sie aber auch als leere Zeit betrachten. Seine Zeit läuft ab, und verlorene Zeit kann sich nicht wieder einholen. Eine verfehlte oder aufgegebene Zeit läßt nicht zurückzuholen. Darum ist nicht die Zeit als solche bedrängend, Schulz, Walter, (1992), S. 41. Schulz, Walter, (1992), S. 75. 4 Schulz, Walter, (1992), S. 75. 5 Vgl. Landmann, Martin, Ahnungen, Visionen und Geistererscheinungen nach JungStiIling, Siegen 1995, S. 77 2

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1. Kap.: Der Zeitbegriff

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sondern das, was der Mensch mit ihr macht, wie er sie füllt. Jeder erkennt seine Zeit. Aber der Berufstätige sieht die Zeit anders als der Arbeitslose, der Christ anders als der Buddhist, der Atheist wieder anders als der Gläubige. Die subjektive Zeit steht unter einem psychologischen Aspekt. Der Mensch erfahrt seine Zeit aus der ihm als Kreatur mitgegebenen Zeitlichkeit, die sein Sein als ein ekstatisches Hervorstehen aus dem Nichtsein definiert. Vergangenheit und Zukunft zeigen dort, wo sie sich schneiden, also in der Gegenwart, die Zeitlichkeit des Menschen auf. Die Unterscheidung in eine objektiv-physikalische und eine subjektiv-psychologische Zeit symbolisiert gleichzeitig den Übergang von der subjektiven Zeitlichkeit der Person zur Geschichtszeit. Die ,,Erfahrung des Sich-entscheiden-Müssens" liefert die Basis für die Personzeit6 . Entscheidungen sind ein Teil der Person und damit der subjektiv-psychologischen Zeit. Entscheidungen werden zwar von einzelnen getroffen. Sie sublimieren sich aber dann zu geschichtsbildenden Zeiten.

11. Kalendarische Zeitbestimmung In früheren Zeiten galten für die Menschen als Zeitmaßstäbe der Beginn der Regenzeit, das Einsetzen von Ebbe und Flut oder die von Priestern festgelegten Zeiten von Jagd, Saat und Ernte. Die kalendariche Zeitbestimmung der Antike wird gewöhnlich auf die Astronomie der Sumerer zurückgeführt. Sie erfolgte über den Mond, der zugleich die oberste Gottheit symbolisierte. Mit der Verdrängung der Sumerer um 2000 v. Chr. fielen das Mondjahr mit seinen 354,26 Tagen und das Sonnenjahr mit seinen 365,24 Tagen auseinander. Wir rechnen heute fast durchweg mit ganzzahligen kalendarischen Zeitgrößen, also in Jahren, Monaten, Wochen und Tagen. Aber korrekt dürften wir kalendarisch nicht in ganzzahligen Größen rechnen. Das Jahr hat nämlich keine runde Anzahl von Tagen, sondern, wie gesagt, etwa 365,24219879 Tage. Das Jahr besitzt etwas mehr als Zwölfmonate, nämlich 12,3683 ... Mondmonate. Der Mondmonat dauert nur 29,5306 ... Tage 7 • Das Wort Kalender kommt von dem lateinischen Verb calare und bezeichnet die auszurufenden Tage. Sah man den Neumond, wurde ein neuer Mond ausgerufen. Bei den Römern hieß der erste Tag jedes Monats Calendae. Es war der Zinszahlungstermin. Da die Griechen keine solche "Kalenden" hatten, bedeutete der Ausdruck ad Kalendas Graecas, daß niemals gezahlt wurde. Vgl. Baumgartner, Hans Michael, (1994), S. 207. Vgl. Held, Martin, Zeitmaße für die Umwelt, in: Martin Held und Karlheinz A. Geißler (Hrsg.), Ökologie der Zeit, Stuttgart 1993, S. 16. 6

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II. Kalendarische Zeitbestirnmung

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Die Ägypter hatten bereits das Jahr in zwölf Monate zu je 30 Tagen, mit fünf zusätzlichen Tagen am Anfang oder Ende, um die Monate mit dem Sonnenjahr in Übereinstimmung zu bringen, eingeteilt. Unser heutige Kalender geht auf den von Julius Cäsar am 1. Januar 45 v. Chr. zurück8 . Cäsars Kalender-Reform war ein besonderer Einschnitt in der Kalender-Entwicklung. Cäsar nahm bekanntlich "einen Tag vom Monat Februar weg und verteilte die sechs überzähligen Tage [scil. zusammen mit fünf zusätzlichen Tagen, die am Anfang oder am Ende des Jahres eingeräumt waren], die er nun zur Verfügung hatte, auf die sechs ungeraden Monate von Januar bis November,,9. Die römische Form des Kalenders und die Abläufe der Chronometrie wurden dann vom christlichen Abendland übernommen. Die zeitliche Festlegung und damit auch die Regulierung sozialer Beziehungen geschah immer durch priesterliche oder staatliche (weltliche) Autoritäten. Etwa vom Ende des 13. Jahrhunderts an wurde die Länge der Stunden gleichmäßig bestimmt. Mit der Einführung der Schlaguhren begann dann die gleichmäßige Stundeneinteilung IO • Später kam die Minuten- und Sekundeneinteilung hinzu. In der Renaissance wurde von der römischen Kirche erneut eine Kalender-Reform durchgeführt. Papst Gregor xm. änderte 1582 die Schaltjahrspraxis 11. In diesem Jahr folgte auf Donnerstag, den 4. Oktober, sogleich Freitag, der 15. Oktober, da der gregorianische Kalender wieder an das Sonnenjahr herangeführt werden sollte. Diese Kalenderkorrektur erfolgte aufgrund vatikanischer Initiative. Die nicht römisch-katholisch orientierten Länder haben sich erst um 1700, teilweise sogar erst in diesem Jahrhundert, durch entsprechende Datensprünge dem gregorianischen Kalender unterworfen 12. Heute ist der gregorianische Kalender kein Gegenstand öffentlichen Interesses mehr. Es können nun mehrere Jahreszahlen nebeneinander herlaufen, so steht etwa das christliche Jahr 2000 neben dem jüdischen 5760 und dem muslimischen 1421. Die Christen rechnen die Jahre nach Christi Geburt, die Juden nach der bilisch überlieferten Schaffung der Welt, die Muslime nach der Hedschra Mohammeds, also seiner Übersiedlung von Mekka nach Medina. Grundlage für die christliche Zeitrechnung war der Gedanke von Christi Herrschaft über Raum und Zeit. Das Leben Christi war maßgeblich dafür, daß die Weltgeschichte in eine Zeit vor und nach Christi Geburt eingeteilt wurde. Mit den Mönchen Victorius von Aquitanien und Dionysius Exiguus in Rom begann im 5. und 6. Jahrhundert die Zeitrechnung des Lebens Christi. Während Victorius die Jahre Vgl. dazu, Whitrow, Gerald J., (199\), S. 109 ff. Elias, Norbert Über die Zeit, Frankfurt/Main 1988, (gebunden 1. Aufl. 1984), Michael Schröter (Hrsg.), S. 185. 10 Vgl. Held, Martin, (1993), S. 17. 11 Das Schaltjahr, das sich aus der Zeitrechnung ergibt, muß in den nicht durch 400 teilbaren Jahrhunderten ausfallen. Nach 1600 war 2000 das erste Säkularschaltjahr. Vgl. Elias, Norbert (1988), S. 186. 12 Vgl. Whitrow, Gerald J., (199\), S. 182 ff. 8

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I. Kap.: Der Zeitbegriff

nach der Passion Christi zählte, hat Exiguus die Geburt Christi im Jahre 525 für seine Zählweise zugrundegelegt 13 . Aber die Zeitrechnung nach dem Lebensdatum Christi, die sich auch für Christen erst spät entwickelte, wurde zunächst parallel mit anderen Zeitrechnungen geführt, mit der des Judentums und deren Rechnung nach der Erschaffung der Welt oder mit der Roms und seiner Datierung "ab urbe condita" (Nach der Gründung Roms). Die planetarische Woche wurde 321 n. Chr. eingeführt, nachdem die Christen vorher entsprechend der zählweise des Judentums die Wochentage - mit Ausnahem des Sabbats, der einen eigenen Namen besaß - durchnumerierten. Die Christen feierten seit dem Urchristentum den ersten Tag der Woche - dies Dominica als den Auferstehungstag ihres Herrn. Die kalendarische Entwicklung charakterisiert die Entfaltung menschlichen Wissens und gewährt so Einblick in das soziale Verhalten. Dieser Prozeß kann nach den Worten Elias' dazu beitragen, "den Begriff der sozialen Entwicklung zu entmystifizieren" 14. Denn die Kalendergeschichte macht die Verflechtung sozialer Probleme offenbar und zeigt auf, warum und in welcher Richtung sich diese Prozesse und ihre Wandlungen entwickeln. Indessen sind die Menschen der Gegenwart nicht mehr wie ihre Vorfahren an der Kenntnis kalendarischer Entwicklung interessiert.

13 Maier, Hans, Eine Zeit in der Zeit?, in: Kurt Weis (Hrsg.), Was ist Zeit? München 1996, S. 101; 126. Der Mönch Dionysius Exiguus (der Unansehnliche, der Schmächtige) hat die Geburt Christi 753 ab urbe condidata datiert; er hat die Grundlage der christlichen Zeitenwende im Jahre für das Jahr 753/754 berechnet. Da aber die Römer keine ,,0" kannten, konnte am Ende des Jahres 1999 der Wechsel zum Jahr 2000 stattfinden. 14 Elias, Norbert (1988), S. 188.

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2. Kapitel

Zeit und Ewigkeit im antiken und biblischen Denken In der griechischen Sprache, speziell in der älteren griechischen Philosophie, wird zwischen Aion, Chronos und Kairos unterschieden. Chronos stellte die "Zeit an sich" dar. Er verfügt über Leben. In dieser Art von Zeit unterscheiden sich wir Menschen nicht von den Dingen. Chronos ist die Zeit, die als bewegtes Abbild der Ewigkeit mit der Welt geschaffen ist. Der Begriff Kairos ist das eigentliche Wort für den Zeitpunkt. Es wird gleichzeitig als Begrifffür den entscheidenden Augenblick benutzt 1. Das Wort Aion dagegen bezeichnet die ,,relative Zeit, die einem Wesen zukommt,,2. Sie ist also Lebenszeit. Der Begriff Aion steht für reine Zeit und zunächst nicht für Ewigkeit 3 • Erst später nahm das Wort Aion dann den Begriff der Ewigkeit an. Auf die Frage, wie es komme, daß Aion als einer der bei den Zeitbegriffe sich auf die Ewigkeit hin öffnete, während der andere, Chronos, dies nicht tat, antwortet Michael Theunissen: ,,Die chronische Zeit schließt sich von [der] Ewigkeit ab, weil sie in eins mit dem Raum, zur Verfassung der Welt gehört,,4. Die Zeit des Aion dagegen reicht über diese Welt hinaus; sie ist die Zeit Gottes.

I. Die Zeitbestimmung bei Heraklit und Parmenides Nach dem Entstehen des ersten Zeitbewußtseins in der Jäger- und Bauernkultur und der bewußten Zeitbestimmung in den Hochkulturen ist es den Vorsokratikern 1 Vgl. Delling, Gerhard, kairos, in: Gerhard Friedrich (Hrsg.), Theologisches Wörterbuch 3. Bd., Stuttgart 1950, S. 457. 2 Sasse, Hennann, aion, in: G. Kittel (Hrsg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament Bd. 1, Stuttgart 1953, S. 197. 3 Theunissen, Michael, (1991), S. 93 ff. u. 134 f. will zwischen einer Ewigkeit im schwachen und starken Sinn unterscheiden. Im schwachen Sinn bezeichnet Ewigkeit die unbegrenzte Dauer. Das, was ist und immer schon war, wird auch immer sein. Im starken Sinn will er die von der unbegrenzten Dauer unterschiedene Ewigkeit verstanden wissen. Sie hat metaphysische Perspektiven. Theunissen spricht in diesem Zusammenhang von drei verschiedenen aionischen Ewigkeitsbegriffen. Zu ihnen kommt dann noch der im Neuen Testament verheißene zukünftige Aion, die Zeit der Ewigkeit, die vom Apostel erwartet wird. 4 Theunissen, Michael, Negative Theologie der Zeit, Frankfurt 1991, S. 301.

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2. Kap.: Zeit im antiken und biblischen Denken

- beginnend mit Anaximander (im 6. Jahrh. v. Chr. in Milet) - zu danken, daß sie sich mit der Zeit auseinandergesetzt haben. Von Anaximander stammt der Satz: ,,Anfang und Ursprung der seienden Dinge" ist das Apeiron, das grenzenlose Unbestimmbare, Unendliche. In dieses kehren sie auch zurück. Vor allem Heraklit (um 550 bis 480) und Parmenides (geb. um 515) ist es zu danken, daß sie erste Grundlagen für die Zeitbestimmung lieferten, die die Menschen bis heute beschäftigen. Für Heraklit war die Welt in einem ständigen Werden begriffen. Die Zeit besitzt einen irreversiblen Ablauf wie der Strom eines Flußes (panta rhei). Dagegen sah Parmenides die Welt nur als eine scheinbare an. Die Zeit stellt nach ihm einen reversiblen Faktor einer an sich unveränderbaren Welt dar. In der Zeitvorstellung des mechanischen Zeitalters herrschte darum die Vorstellung der unveränderbaren Welt des Parmenides vor. Sie war für die Kosmologie Newtons maßgeblich. Dagegen erinnern die irreversiblen Abläufe der Zeit, die für die modeme Physik bestimmend sind, an Heraklit. Bis zum Jahr 1964 sah man die Gesetze der Relativitätstheorie und der Quantentheorie hinsichtlich der Zeit noch als umkehrbar an. Danach erkannte man jedoch, daß es Teilchen gibt, die die Zeitsymmetrie verletzen 5 .

11. Die Definition von Zeit bei Platon und Plotin Die platonische Zeitvorstellung steht unter dem Zeichen der Idee. Da für Platon die Idee das ist, was sich immer gleich verhält, ist für ihn der ai6n die "zeitlose, ideelle Ewigkeit ohne Tage, Monate oder Jahre,,6. Im Höhlengleichnis aus dem 7. Buch des Staates (Politeia) schloss er vom Veränderlichen auf das Wesen der Dinge. Erst der späte Platon (427- 347 v. Chr.) hat im Timaios dem Wort Aion eine neue Bedeutung gegeben, "indem er an der Lebenszeit ein Leben oder eine Lebenskraft heraushebt, die in sich eine bestimmte Art von Ewigkeit ist,,7. Weiter definiert er im Timaios auch die Zeit. Das Werden der sichtbaren Welt ist nicht zu verstehen ohne die "in Einem bleibende Ewigkeit"; und ihr "abzählbares, wandelndes, ewiges Abbild" ist die Zeit. Platons philosophische Begriff der Ewigkeit ist kosmologisch geprägt. Er hat versucht, den Standpunkt Heraklits und Parmenides miteinander zu vereinen. Das Seiende ist für ihn das Jetzt, das sich stetig wandelt. Es gelingt Platon in seinem Parmenides-Dialog, die Gegensätze von Heraklit und Parmenides zu überwinden, indem er die Veränderung und das Werden mit dem Unveränderlichen und mit ~ Vgl. Gardner, Martin, Kann die Zeit rückwärts gehen, in: Peter C. Aichelburg (Hrsg.), Zeit im Wandel der Zeit, Braunschweig/Wiesbaden, 1988, S. 212 6 Vgl. Sasse, Hermann, aion, (1953), S. 197. Unterstreichung R. K. 7 Theunissen, Michael, (1991), S. 301.

II. Definition von Zeit bei Platon und Plotin

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dem Pennanenten verband. Für ihn gibt es einen Zeitfluß, aber er behält das Jetzt als Augenblick bei. Ähnlich wie Platon unterscheidet Plotin (205 -270 n.Chr.) Zeit und Ewigkeit. Er differenziert als Neuplatoniker zwischen dem Urbild der Ewigkeit und dem Abbild der Zeit: "Die Ewigkeit und die Zeit nennen wir verschieden voneinander und weisen jene der ewigen Wesenheit zu, die Zeit aber dem Reich des Werdens, unserem Weltall"s. Auch dort, wo Plotin das Verhältnis von Gott und dem Sein behandelt, stützt er sich auf Platon. Denn über das Verhältnis von Ewigkeit und Sein heißt es bei Plotin: "Und wirklich kann man zutreffend sagen, daß die Ewigkeit Gott ist, welcher sich selbst in seinem Wesen darbietet und aufzeigt, nämlich als ein Sein, das unerschütterlich, mit sich selbst identisch, unveränderlich und festgegfÜndet in seiner Lebensfonn dasteht,,9. Ewigkeit gilt als das Urbild, ihr Abbild ist die Zeit. Der Seele konnte Plotin eine Schöpferkraft zubilligen; sie gehört gleichsam zur Sphäre des Göttlichen und ist in der Lage, das sichtbare Weltall zu schaffen. Sie tut das mit der Formkraft eines Samenkorns, das sich selbst zur Entfaltung bringen kann. Die Seele ist ewig und schafft die Bewegung, die dem oberen Weltall des Geistes gleicht. Das sichtbare Weltall vollführt zwar die Bewegung des oberen, aber doch nur in Fonn einer Nachahmung; sie will "ihr Ebenbild" sein. "Und damit hat die Seele erstlich sich selbst verzeitlicht und als Ersatz der Ewigkeit die Zeit erschaffen; sodann hat sie aber auch dem so entstandenen Weltall die Knechtschaft unter die Zeit mitgegeben, sie hat es ganz in die Zeitlichkeit hineingestellt, indem sie sämtliche Umläufe der Zeit ins Weltall einbefaßte; denn da das Weltall sich in der Seele bewegte denn es gibt keinen anderen Ort für es als die Seele - mußte es sich eben auch in der Zeit der Seele bewegen"lO. Plotin verstand die überindividuell dem jeweils Seienden vorausliegende Universalzeit als Weltseele; sie liegt dem einzelnen Geschehen zugrunde. Er kannte also ebenso wie Platon den Unterschied zwischen der Weltseele (tou pantos psyche) und der Einzelseele (autopsyche). Wahrend die Weltseele aus dem göttlichen Geist hervorgegangen ist, sind die Einzelseelen alle aus der Weltseele entstanden. Die Zeit als Ebendbild der Ewigkeit darf man darum nicht unabhängig von der Vorstellung der Einzel-Seele ansetzen. In ihrem Wesen entsprechen die Einzelseelen der Weltseele. Plotins Gedankengut hat stark auf die Kirchenväter des Altertums gewirkt. Seine Philosophie ist es gewesen, die mit ihrem Ewigkeitsbegriff die christlichen Glaubenslehre Augustins berührte. Auch seine Lehre über die Erschaffung der Welt beeinflußte das Werk Augustins. Der christliche Glaube vertraut auf die Ewigkeit der Zukunft. ,,Die ihm zugesagte Ewigkeit ist genau das Gegenteil einer Ewigkeit der Zeit: eine Zeit der Ewig8 Plotin, Schriften Bd. IV, Felix Meiner Verlag Hamburg 1937, Bd. IV, Die Schriften chronologisch 45, Zeit und Ewigkeit, peri aiönos kai chr6nou, Enneaden III, 7 Nr 1, S. 177. 9 Plotin. 45, Nr. 5, S. 183. 10 Plotin. 45, Nr. 11, S. 195.

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2. Kap.: Zeit im antiken und biblischen Denken

keit"ll. Gerade eine solche Zeit der Ewigkeit meint nach M. Theunissen der künftige Aion, den der Apostel Paulus und der Verfasser des Hebräerbriefes erwarten. Diese Zeit ist ganz und gar Ewigkeit. Dennoch gilt, daß sich in der biblischen Überlieferung kein Ansatz zu einer Theologie der Zeit finden läßt. Auch eine Auseinandersetzung zwischen einer Ewigkeits- und Zeitvorstellung ist aus der Bibel nicht direkt abzuleiten, zumal da die Heilige Schrift keinen eigentlichen stringenten Begriff für Ewigkeit kennt.

IH. Aristoteles und die Zeit Aristoteles (384 - 322 v. Chr.) spricht in seinen Vorlesungen über die Natur - unter dem Buch-Titel ,,Physik" erschienen - davon, daß die Zeit einen paradoxalen Charakter besitzt. Sie wird als Prozeß und zugleich als ein Moment in diesem Prozeß verstanden. Das letzt wird als ein infinitesimaler dimensions loser Zeit-Punkt erkannnt, der zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-nicht liegt. Das eine Teilstück ist vergangen, ist nicht mehr, aber das andere ist noch nicht 12 • Das letzt ist nicht einfach nur ein Teil (to de nyn ou meros), sondern das Ganze der Zeit J3 . Die aristotelische Zeitphilosophie sieht also das letzt als Zeit an, die Gegenwart dagegen nicht! Das Jetzt (nyn), durch das das Frühere und Zukünftige unterschieden wird, ist insofern Zeit (nicht Teil der Zeit!), als es keine Zeit gibt ohne letzt und kein letzt ohne Zeit 14 • Das letzt ist nicht immer dasselbe, sonst gäbe es keine Zeit. Also müssen außerdem die früheren ,,letzte" einmal zugrundegegangen sein; denn sie sind nicht mehr. Es gibt viele "letzte", die zueinander in Beziehung stehen. Wie ergibt sich daraus die Zeit? Die "letzte" ergeben nicht die Zeit. Wohl aber ergeben sie als jeweils dasselbe letzt Kontinuität und zum anderen zugleich als nicht dasselbe letzt eine Verschiedenheit. Sie stellen danach also gleichzeitig eine Einheit und eine Differenz dar 15 • Da sich Zeit jeweils nicht allein aus der Einheit oder der Verschiedenheit der "letzte" ergibt, ist sie allein aus der Beziehung der letzte zueinander abzuleiten. Sie ist gleichsam die Einheit der Verschiedenheiten oder die "Einheit der Differenzen" 16. Bei Aristoteles gibt es zwei Ableitungsgründe für das Entstehen der Zeit. Sie ist die Bewegung des Alls (tofi h6lou kinesis) oder die Weltkugel selbst (he sphaira)17. Beide genügen ihm nicht. Er definiert stattdessen: "Dies nämlich ist die Theunissen, Michael, (1991), S. 314. Aristoteles, Physik, 217b, 34. 13 Aristoteles, Physik, 218a, 6. 14 Aristoteles, Physik, 219b, 33. 13 Aristoteles, Physik, 219 b, 12. 16 Ruhnau, Eva, Zeit als Maß von Gegenwart, in: Kurt Weis (Hrsg.), Was ist Zeit?, Teil 2, München 21997, S. 77. 17 Aristoteles, Physik, 218a, 34 f. 11

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III. Aristoteles und die Zeit

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Zeit, die Zahl der Bewegung nach ihrem Früher und Später" (arithmos kineseos kata to proteron kai hysteron)18. Für ihn ist die Zeit sowohl Bewegung (kinesis) als auch Veränderung (metabole) im allgemeinen, Entstehen und Vergehen. Die Menschen nehmen Zeit und Bewegung zugleich wahr. Die Zeit folgt der Bewegung, Zeit kommt darum zur Bewegung hinzu. Damit gilt: Ohne Bewegung gibt es keine Zeit, sie muß etwas sein, was mit der Bewegung zusammenhängt 19. Aber sie ist nicht mit der Bewegung gleichzusetzen 20. Es kommt noch eine dritte Größe hinzu: Die Meßzahl (arithmos). Sie mißt die Bewegung hinsichtliches des "davor" und "danach" (to proteron kai hysteron)21. Zeit ist also eine Art Zah1 22 . Denn Zeit wird gezählt; Zeit wird gemessen, indem die Anzahl festgestellt wird. Nicht bloß die Bewegung (kinesis) wird durch Zeit (chronos) gemessen (metrournen), sondern auch umgekehrt: Die Zeit wird durch die Bewegungen gemessen 23 . Sie wird so zum Maß (metron) der Bewegung und ihres Ablaufs. Durch die Messung von Bewegung wird auch die Dauer (to einai) bestimmt24 . Damit kann Zeit als Maß von Bewegung und Ruhe angesehen werden 25 . Die Zeitdauer wird von Aristoteles als Äon [ho aion] bezeichnet. Sie kommt jedem einzelnen Ding zu. Zeit hat danach keinen absoluten Anfang und auch kein Ende. Sie ist ewig. Aber Aristoteles kennt - wie die Griechen generell - keinen Dualismus zwischen Zeit und Ewigkeit. ,,Entsprechend seiner Lehre von der Ewigkeit der Welt fällt der aion der Welt mit dem chronos apeiros (unbegrenzte Zeit) zusammen,,26. Aristoteles Vorstellung von Zeit und Raum sind an die Gegebenheit dieser Welt gebunden, haben hinsichtlich ihrer Veränderungen hier ihren Platz. Die Raum-Zeit ist sogar heute noch mit den modernen Vorstellungen der Realtivitätstheorie zu kombinieren. Allerdings fragt es sich, ob man die bei Aristoteles herrschende Endlichkeit und Geschlossenheit des Weltenraums - umgeben von der Göttlichkeit mit dem biblischen Schöpfungsgedanken in Übereinstimmung bringen kann.

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Aristoteles, Aristoteles, AristoteIes, Aristoteles, Aristoteles, Aristoteles, Aristoteles,

Physik, Physik, Physik, Physik, Physik, Physik, Physik,

219b, 1 ff. 219a, 2. 218 b, 33. 219 b, 2. 219 b, 5: arithmos ara tis ho chronos. 220 b, 15. 221 a, 7.

25 AristoteIes, Physik, 221 b, 22 f.: ho de chronos kineseos kai eremlas metron). Vgl. zum ganzen Thema: Sambursky, Samuel, Das physikalische Weltbild der Antike, Zürich und Stuttgart 1965, S. 68 ff. 26 Sasse, Hermann, aion, (1953), S. 198.

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2. Kap.: Zeit im antiken und biblischen Denken

IV. Biblische Zeitfestsetzung 1. Zyklische oder lineare Zeit? Da sich das Leben für Aristoteles in einem Kreislauf abspielt, ist das Entstehen und Vergehen aller Naturgebilde - also auch der Zeit - ein Kreislauf27 : ,,Auch die Zeit erscheint ja selbst eine Art Kreis zu sein,,28. Aristoteles ist also ein Vertreter eines zyklischen Denkens. Die Naturwissenschaft nimmt heute fast durchgängig für die Entstehung des Kosmos einen Urknall (big bang) an. Dieser mag sich vor ca. 15-20 Milliarden Jahren (eine 2 mit 10 Nullen) ereignet haben. Es muß dabei einen Anfang gegeben haben, der durch unendliche Dichte und unendliche Temparaturen gekennzeichnet war. Von dieser Zeit an befindet sich das Weltall nach den Forschungen Edwin P. Hubbels (Hubble-Konstante 29 ) in ständiger Expansion. Sofern sich diese Expansion fortsetzt, muß man einen offenen Kosmos annehmen. Dann könnte man naturwissenschaftlich den Beginn der Zeit mit dem Urknall ansetzen. Aber dieser Prozeß kann sich auch umdrehen, so daß es aufgrund der Massenanziehung zu einem Kontraktionprozeß kommt. Dann würden sich Raum, Zeit und Materie zu einer Singularität (zu einem Schwarzen Loch) verdichten. Ob dann ein neuer Prozeß beginnen kann, läßt sich nicht beantworten. Aber immerhin gewinnt so der Gedanke eines zyklischen Systems wieder neue Aktualität. Ohnehin war der zyklische Gedanke etwa in den Mondphasen oder den Tages- oder Jahreszeiten oder in der Wiederkehr des Kirchenjahres präsent. Dieses findet ferner in einem (Wieder-)Erwachen des Reinkamationsdenken seinen besonderen Ausdruck. Die Zyklik vennittelt mehr Vertrauen als der lineare Ablauf. Denn Zyklik gibt dem Individuum Stabilität und Zuversicht. Lineares Geschehen dagegen bedeutet Endgültigkeit 3o . Der Abendländer sieht die Zeit linear und definiert sie vom Ziel der Geschichte her eschatologisch. Schließlich ist die christliche Vorstellung linear auf das endzeitliche Ziel hin ausgerichtet. Da aber der gegenwärtige Mensch aufgrund einer wachsenden Säkularisation eine transzendete Eschatologie weitgehend verloren hat, ist seine Hoffnung streng diesseitig ausgerichtet. Die Hoffnung auf eine Zukunft über den Tod hinaus wird immer mehr in Zweifel gezogen. Eine transzendente Eschatologie empfindet man als sinnentleert. Der Mensch erkennt sich als jemand, der die Gegenwart als seine Mitte, die Vergangenheit als nach rückwärts gerichtet sieht und die Zukunft als eine Strecke empfindet, die - oft ziellos - nach Aristoteles, Physik, 223 b, 24 ff. Aristoteles, Physik, 223 b, 28 ff. 29 Sie gibt das Verhältnis zwischen der Geschwindigkeit, mit der sich nicht allzu entfernte Galaxien von uns fortbewegen, und ihrer Entfernung an. Die Proportionalität wird von Hubbel als konstant definiert. 30 Zum gesamten Problem vgl. Schmied, Gerhard, (1985), S. 144 ff. 27

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IV. Biblische Zeitfestsetzung

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vorwärts gewandt ist. Die Gegenwart ist so etwas wie die Mitte dieser Zeitstrecke, auf der die Ereignisse des eigenen Leben und die der anderen eingezeichnet werden können 31 . Der lineare Zeitpfeil besitzt also im Gegensatz zur zyklischen Zeit eine Zukunftsorientierung; er bildet die Voraussetzung für den Fortschritt. Mit der Entwicklung der technischen Wissenschaft verknüpft entstand ein Fortschrittsglauben, der dem Menschen eine gewaltige Macht zuschrieb. Mit ihm dachte er, die Natur beherrschen zu können. Dahinter stand eine Vorstellung von der Machbarkeit aller Dinge. Die kosmologische Entwickung des Weltalls vom Urknall (big bang) bis zu ihrem Kollabieren unterstreicht einen solchen linearen Vorgang. Als Synthese aus zyklischer und linearer Zeit kennt man noch eine spiralförmige Zeit, die man als eine "evolutorische Weiterentwicklung" versteht 32 . Eine vierte Form des Zeitdenkens stellt die Punktzeit dar. Sie ist aufgrund der neueren Informationstechnik und der in ihr erreichten Geschwindigkeit zu einer realen Zeitdimension mit geradezu infinitesimaler Ausdehnung geworden.

2. Die Vorstellung im Alten Testament Die Griechen waren von der sichtbaren Ordnung des Kosmos ergriffen. Alles bewegt sich in der Vorstellung "einer ewigen Wiederkehr des Gleichen,,33. Sie fragten nach dem ,,Logos des Kosmos aber nicht nach dem Herrn der Geschichte,,34. Werden und Vergehen waren bei ihnen die Grundlage des Geschichtsverständnisses. Für die Christen und die abendländischen Kirche dagegen wird die Geschichte wie schon im Alten Testament für das Volk Israel durch das Heilsgeschehen geprägt!

a) Unterschiedliche Zeitbegriffe

Das hebräische Wort für Ewigkeit (olam) drückt die "verborgene, feme Zeit" aus, die vom Standpunkt der Gegenwart des Betrachters aus einerseits in der femen Vergangenheit und andererseits in der Zukunft liegt 35 . Erst seit Deuterojesaja bedeutet olam die unendliche Zeit und damit die zeitliche Ewigkeit. Will man die Dauer ausdrücken, schreibt man von Ewigkeit zu Ewigkeit (meolam adolam).

31 Rad, Gerhard von, Theologie des Alten Testamentes Bd. 11, München 31960, S. 112. 32 Vgl. Bleicher, Knut, Zeitkonzeptionen der Gestaltung und Entwicklung von Unternehmungen, in: Eduard Gaugier u. a. (Hrsg.), Zukunftsaspekte der anwendungsorientierten Betriebswirtschaftslehre, Stuttgart 1986, S. 78. 33 Löwith, Karl, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart 1953, S. 14 ff. 34 Löwith, Kar!, (1953), S. 14. 3S Sasse, Hermann, aion, (1953), S. 200.

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2. Kap.: Zeit im antiken und biblischen Denken

Die Vorstellung eines Zeitpunktes, Zeitabschnitts oder auch einer Dauer haftet dem Wort ed an 36 . Darum kann es in den Sätzen gebraucht werden: "Es gibt eine Zeit des Gebärens (Mi. 5,2), eine Zeit des Viehtreibens (Gen. 29,7), eine Zeit, da die Könige ins Feld ziehen (2. Sam. 11,1 )37. Das Wort ed bezeichnet als poetisches Wort die unbegrenzte, also unendliche Zukunft. Der Unterschied zwischen Olam und ed läßt sich so beschreiben: ",Ist olam der dunkle Abgrund, der die Zeit verschlingt, so ist ed der gerade Weg, der dahin führt,,,38. In der Septuaginta wird für die Begriffe olam vor allem der Begriff aion gebraucht, während für ed das Wort kairos benutzt wird 39 .

b) Zeit als erfüllte Geschichtszeit Israel kannte die modeme abendländische linear ausgerichtete absolute ZeitVorstellung nicht. Es besaß keine saekular und linear ausgerichtete Vorstellung, freilich auch keine griechisch-zyklische. Israels Zeitvorstellung war an das GottesGeschehen gebunden. Es kannte nur die "gefüllte Zeit,,4o. Für die modeme abendländische Vorstellung von Zeit hatte es keinen Begriff. Die biblische Schöpfungsgeschichte der Genesis spricht von Zeit in einem polaren Sinn. In den ersten Versen wird die Voraussetzung der Zeit beschrieben. Das Licht wird als Tag geschaffen. Die Finsternis wird als Nacht bezeichnet. Der Gegensatz von Finsternis und Licht steht für die Grundsituation des Volkes Israel: Finsternis für seine Knechtschaft und Licht für seine Befreiung aus ihr. "Der Herr, mein Gott, macht meine Finsternis licht" (Ps. 18,29). Es ist damit also hier nicht die physikalische Zeit gemeint, wie sie der Chronometerrechnung zugrunde liegt. Aber die Paradoxie von Licht und Finsternis in der Genesis bietet auch die Grundvoraussetzung für die Elemente der Zeit und ihre Messung (Gen. 1, 14). Mit der Erschaffung der Erde, wie sie am dritten Tag der Schöpfung berichtet wird, wird auch die Zeit des Menschen geschaffen; allerdings erst mit dem Heraufziehen des Morgens und des Abends (Gen. 1,5). Von da an gilt: "Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde", so heißt es im Prediger Salomo (Kohelet)41. Hiob stellt die Frage nach dem Verhältnis von GottesVgl. Sasse, Hermann, aion, (1953), S. 200. Rad, Gerhard von, (1960), S. 113. 38 Zitat aus: Sasse, Hermann, aion, (1953), S. 200 Anm. 6. 39 Vgl. Delling, Gerhard, (1970), S. 22. 40 Rad, Gerhard von, (1960), S. 113. 41 Der gesamte Text (3. Kap., V. 1- 8) lautet: ,,Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde; geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit, abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit, klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit, Steine werfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit, 36

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IV. Biblische Zeitfestsetzung

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und Menschenzeit: "Sind wie Tage des Menschen deine Tage, sind deine Jahre wie die eines Mannes" (Hiob 10,5)? Luther verallgemeinert diese Frage so: ,)st deine Zeit wie eines Menschen Zeit,,42. Die Antwort muß lauten: Nein! Der Beter des Psalters definiert noch genauer: "Deine Jahre währen von Geschlecht zu Geschlecht" oder "Deine Jahre nehmen kein Ende" (Ps. 102, 25.28). Nach von Rad gibt es mehrere Kennzeichen der Zeitvorstellung im älteren Israel. Zeit wird extrem uneschatologisch gesehen. Zeit stellt eine Zeitfolge mit verchiedenen Inhalten dar. Dafür ist kennzeichnend die Noah-Überlieferung: "Solange die Erde bestehen wird, wird nicht aufhören, Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht" (Gen. 8,22). Von der Zukunft wird nichts Besonderes erwartet43 . Ferner wird im Alten Testament nicht über das Wesen der Zeit an sich reflektiert. Man ist vielmehr an dem interessiert, "was in ihr geschieht,,44. Zwar wird im altestamentlichen Kultus der Monatsanfang als Zeitfestsetzung durch besondere Opfer herausgestellt, aber es ist nicht der gestirnte Himmel, der die Zeit in Israel bestimmt. Vielmehr ist es das Handeln Gottes an seinem Volk. Für Israel war die Zeitvorstellung an das göttliche Handeln gebunden. Denn Gott erscheint als der, der sich gegenüber diesem Volk heilsam handelnd zeigt. Die Zeit eines solchen geschichtlichen Geschehens ist die für Israel günstige Zeit. Das Volk konnte sich seine Geschichte ohne ein göttliches Handeln nicht erklären. Deshalb war für Israel seine Geschichte erfüllte Zeit. Moltmann spricht deshalb von einem ,,kairologischen Verständnis der Zeit,,45. Man kann nach ihm an Gottes Bundestreue, aufgerichtet im Noah-Bund, erinnern, wenn von Zeiten für Saat und Ernte etc. die Rede ist. Dieser Bund ist gegründet auf der Bundestreue Jahwes, des Gottes Israels. Es ist also das besondere Verhältnis Gottes mit diesem Volk, das dessen Zeit ausmacht. Deutlich sichtbar wird das an dem göttlichen Handeln in der Befreiung Israels aus dem Exil. Gott ist der Herr des Gerichts und damit - eschatologisch!- des kommenden Heil. Im Gericht und im neuen eschatologischen Bund (Jer. 31,31 ff.) erweist sich Gott als der Herr der Geschichte. Er allein und nicht etwa wechselnde irdische Herrscher und Mächte sind es, die den Inhalt der Zeit bestimmen 46 . Schließlich waren nach von Rad für die Zeit- und Geschichtserkenntnis als Ausdruck des heiligen HandeIns Jahwes die sakralen Feste von Bedeutung (Ps. suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit; zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit". 42 Vgl. Link, Christi an, Gott und die Zeit, in: Konrad Stock (Hrsg.), Zeit und Schöpfung, Gütersloh 1997, S. 41. 43 Rad, Gerhard von, (1960), S. 115. 44 Vgl. Delling, Gerhard, Zeit und Endzeit, Neukirchen-Vluyn 1970, Biblische Studien, Heft 58, S. 15 45 Mo1tmann, Jürgen, Gott in der Schöpfung, München 1985, S. 129. 46 Vgl. Delling, Gerhard, (1970), S. 21.

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2. Kap.: Zeit im antiken und biblischen Denken

118,24). Durch die Feste bekam das Leben seinen Rhythmus. Sie waren im wahrsten Sinnn "gefüllte Zeit,,47. Das galt von den Freudenfesten ebenso wie von den Trauer- und Fastenzeiten. Wer gegen· die Festzeiten verstieß, verletzte die göttliche Ordnung. Israel hat die unterschiedlichen Zeit- und Geschehnis-Überlieferungen zusammengeordnet zu einer geschichtlichen Abfolge. Aufgrund eines Aneinanderreihens der überkommenen Heilsfakten hat Israel sich dann eine eigene "lineare Geschichtsstrecke" geschaffen48 . Das bedeutete: "Israel hat sich das Bild von einer Geschichte erarbeitet, die sich ausschließlich aus der Abfolge von Fakten aufbaute, die Gott zum Heil Israels markiert hat,,49. Im Gegensatz zum zyklischen Geschichtsbild der altorientalischen Religionen wird vom Volk Israel - speziell von seinen Propheten - ein Geschichtsbild vertreten, das nicht nur darin bestand, die einzelnen kultische Feste zu feiern, sondern eben aus diesen Heilstatsachen ein lineares Geschichtsverständnis zu entwickeln, die Jahwes Heilsweg mit seinem Volk aufzeigte. Die Propheten haben dann darüber hinaus ihre Verkündigung in einem weltgeschichtlichen Zusammenhang gestellt, von dem in Bezug auf die politische Zukunftsvision gesagt werden konnte: In diesen weltgeschichtlichen Ereignissen wird Gott unmittelbar an Israel handeln 5o. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß im Alten Testament Zeit dort sichtbar wird, wo ihr Inhalt als von Gott gesetzt erkannt wird. Wenn es jedoch von Ewigkeit spricht, meint es eine maximale Zeit-Dauer. Es hat nämlich keinen Begriff für den theologisch-philosophischen Terminus von Ewigkeit.

3. Zeitvorstellungen im Neuen Testament Das Neue Testament hat die alttestamentliche Verbindung des Wortes aion mit dem Gottesbegriff übernommen. Darum bedeutet aion Ewigkeit (olam), unendliche Zeit. Ewigkeit ist ferner der Gegenbegriff zur endenden Weltzeit. Das Wort aion kann die Bedeutung eines langen und unbegrenzten Zeitraums und damit von Weltzeit besitzen. Das ist Zeit, die durch Schöpfung und Welt-Ende begrenzt ist. Diese Deutung des aion geht in eine über, die für "die Welt" steht. Das führt dann dazu, daß im Neuen Testament dieser Weltzeit (aion houtos, R. 12,2) die kommende, zukünftige Weltzeit (aion mellon, Eph. 1,21) gegenübergestellt wird. Die Gläubigen gehören zwar noch der gegenwärtigen Welt an, aber sie sind von ihr bereits erlöst51 • Für sie liegt aufgrund der Auferstehung ihres Herrn die kommende Weltzeit (aion mellon) nicht mehr allein in der Zukunft. Sie ist Teil der christlichen Eschatologie. Im Brief des Apostels Paulus an die Philipper wird von der ErhöRad, Gerhard von, (1960), S. 116. Rad, Gerhard von, (1960), S. 119. 49 Rad, Gerhard von, (1960), S. 119 f. so Rad, Gerhard von, (1960), S. 126. 51 Sasse, Hermann, aion, (1953), S. 207. 47

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IV. Biblische Zeitfestsetzung

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hung und Herrschaft Christi über alle Wesen im Himmel und auf Erden berichtet (Phi!. 2,9 ff.). Ebenso wird im 1. Korintherbrief gesagt, daß "durch ihn alles ist und wir durch ihn" (di hou ta panta kai hemds di autou, 1. Kor. 8,6). Der Hebräerbrief spricht davon, daß Gott, der Vater, Christus "zum Erben über alles" eingesetzt hat, durch den hat er "auch die Welt gemacht" (Hebr.l,2 ff.). Mit dem Kommen des Messias lesus ändert sich die Zeitbewertung: Alles, was nicht mehr gilt, Sünde, Gesetz oder Tod gehört der Vergangenheit an. Freiheit, Gnade, Versöhnung bilden die Gegenwart. Zur Zukunft gehört Hoffnung, Auferstehung und überhaupt alles, was jetzt noch nicht ist, aber zu erhoffen ist52 . Das griechische Neue Testament benutzt den Zeit-Begriff aion gern in Verbindung mit einer Präposition, um die unbegrenzte Vergangenheit oder Zukunft zu bezeichnen. Denn dieser Begriff wird für Aussagen wie: Seit uralter Zeit (Lk. 1,70), von Ewigkeit her, von Anbeginn (Ag. 3,21) etc. benutzt. Ebenso wird vom zukünftigen Aion gesprochen (Eph. 1,21). Es können freilich auch begrenzte und unbegrenzte Zeit-Angaben in das Wort aion einfließen. Aber die Formulierung chronoi aionioi (R. 16,25 u.ö) als ewige Zeiten "ist eigentlich eine contradictio in adiecto"53; denn Ewigkeit und "die Zeiten" schließen einander aus. Wie man auch immer den Begriff der Ewigkeit und ihre Relation zur Zeit im Neuen Testament verstehen mag, Gottes Ewigkeit schließt das Herrsein über die Zeit ein. Er allein verfügt über die Zeit. Sie liegt in seinen Händen. Er ist ihr überlegen. Aber der Inhalt der Zeit ist durch das Christusgeschehen geprägt bzw. gegenüber dem Alten Testament verändert. Die Hoffnung wurde zur Gewißheit. Insofern wird auch im Neuen Testament der Begriff der Ewigkeit nicht abstrakt entwickelt, sondern das Leben in Ewigkeit ist an den Sohn Gottes gebunden (eis ton aiöna, loh. 6,51.58). Schließlich ist auch Gottes Ewigkeit gebunden an Gottes Schöpfer- und Erlösertätigkeit für diese Welt (R. 16,26). Nach der lexikalischen Erfassung bezeichnet das andere Wort für Zeit (chronos) im saekularen Griechisch allgemein die Zeit, speziell den Zeitabschnitt oder sogar den Zeitpunkt54 . Im Neuen Testament wird mit diesem Begriff (chronos) vor allem die Zeitstrecke umschrieben. In Christus erlangt die Zeit ihre Erfüllung. Denn in ihm ist die eschatologische Zeit (I. Ptr. 1,20) angebrochen. Paulus hatte kein Interesse an der Zeit (chronos) selbst. Für ihn war die Weltzeit und ihr Ablauf von begrenzter Bedeutung. Das kann mit der Naherwartung der Wiederkunft Christi, die er als unmittelbar bevorstehend ansah, zusammenhängen (vg!. dazu R. 13,11 f.). Die Zeit, die für die Christen nach dem Alten Testament mit der Schöpfung begann, endete nach ihm mit der Wiederkehr Christi.

Vgl. Moltmann, Jürgen, (1985), S. 134. Sasse, Hermann, aion, (1953), S. 199. 54 Vgl. Delling, Gerhard, chronos in: Gerhard Friedrich (Hrsg.), Theologisches Wörterbuch Bd. IX, Stuttgart 1973, S. 577. 52 53

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2. Kap.: Zeit im antiken und biblischen Denken

Im Neuen Testament wird mit dem Begriff "kairos" der schicksalhaft entscheidende Zeitpunkt wiedergegeben. In ihm ist die Bestimmung durch den göttlichen Willen betont55 . Darauf verweist etwa Mk 1,15: "Die Zeit (kairos) war erfüllt". Dem entspricht allerdings dann im Brief an die Galater (4,4) der Chronos-Begriff: Als die Zeit (chronos) erfüllt war (to pleroma toii chronou). Mit kairos tritt der von Gott verfaßte Zeitpunkt seines Heilsplanes in den Vordergrund. Der Anfang und das Ende Jesu steht unter dem kairos. Der richtige kairos ist eine Gabe aus göttlicher Güte. Auch die vom Menschen zu fordernde Entscheidung steht unter dem kairos Gottes. Der einzelne Gläubige erfährt die richtigen Zeitpunkte als kairof seines Lebens, als solche, die von Gott bestimmt sind. Jeder bekommt seinen von Gott inhaltlich gefüllten kairos (2. Tm. 4,6)56. Die Gläubigen werden aufgefordert, die Zeit auszukaufen (auszunutzen, exagoradsomenoi ton kairon); denn diese Zeit (diese Tage: hai hemerai) ist eine böse Zeit (Eph. 5,16; vgl. Kol. 4,5). Die Gottesherrschaft hat in Christus Wirklichkeit angenommen. Damit erfüllt sich bereits das Ende der Zeit in Jesus Christus. Es ist das Gottes neue Zeit. Sie gilt im Verständnis des Neuen Testament als von Gott gesetzt und inhaltlich bestimmt. Wie im Alten Testament gilt: Alle Zeit ist geprägt von Gottes Handeln; und alle Zeit läuft auf Gott ZU 57 . Damit wird auch die Zeit der Christen bestimmt. Es ist das "nicht Zeit ,nach Christus' im chronologischen Sinn, sondern Christuszeit, Zeit, die vom gekreuzigten und erhöhten Christus her bestimmt ist,,58. Von Christus her hat sich der Inhalt rur den Christen entscheidend geändert. ,,Zeit ist für den Christen von Gott gegebene Möglichkeit, seine neue Existenz handelnd zu realisieren; denn erst von dem neuen Leben her ist ihm die Möglichkeit gegeben, Gottes Willen zu vollziehen; erst von Christus her ist auch die Zeit als ihm gewährte nunmehr erfüllte Zeit,,59. War im Alten Testament das angegebene Jetzt der Ausdruck für das bevorstehende Heilshandeln (Jes. 43,19)60, so bestimmt im Neuen Testament das nyn (Jetzt), also das vollzogene Geschehen, die zukünftige Zeit nach Christi Kreuz und Auferstehung (1. Petr. 3,21 61 ). In der urchristlichen Gemeinde füllte nicht die Erwartung ihrer Auferstehung den Inhalt der Zeit aus, sondern allgemeiner das in Jesus Christus geschehene Heilshande1n Gottes.

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Vgl. Delling, Gerhard, kairos, 462. Vgl. Delling, Gerhard, kairos, 463. ~7 Vgl. Delling, Gerhard, (1970), S. 47 ~8 Delling, Gerhard, (1970), S. 38. ~9 Delling, Gerhard, (1970), S. 55. 60 .. Denn sieh ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr's denn nicht? Ich mache einen Weg in der Wüste und Wasserströme in der Einöde". 61 "Das ist ein Vorbild der Taufe, die jetzt auch euch rettet. Denn in ihr wird nicht der Schmutz vorn Leibe abgewaschen, sondern wir bitten Gott um ein gutes Gewissen, durch die Auferstehung Jesu Christi". Vgl. Delling, Gerhard, (1970), S. 28. ~

V. Aurelius Augustin

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Osacar Cullmann hat darauf hingewiesen, daß im Hellenismus die Zeit als ein ewiger Kreislauf verstanden wurde, während für das Judentum und das Urchistenturn die aufsteigende Zeitlinie kennzeichnend war62 . Herrschte für das Judentum nur eine ganz bestimmte lineare Vorstellung vor, ist in der urchristliche Gemeinde eine geradezu ausgeprägte lineare Zeitvorstellung maßgeblich, die erst im Echaton zu ihrem Ziel kommt. Für das Christentum ist bereits die Mitte der Zeit erreicht. Sie ist in dem gekommenen Christus erfüllt. Für das Judentum liegt das Heil noch in der Zukunft. Christentum und Judentum sind nach Cullmann eschatologisch orientiert. Indes bildet im Christentum nicht mehr die jüdische Zukunftserwartung das Zentrum. Dieses liegt vielmehr im Heilsgeschehen, das Jesus in Ausübung seines Berufes erfüllt hat. Die Zukunft steht unter der Spannung des ,Schon' und ,Noch nicht'. Trotz der durch die Herrschaft Christi erfolgten Relativierung irdischer Könige und zeitlicher Herrschaften hat sich in Europa die christozentrische Zeitrechnung ,vor' bzw. ,nach' Christi Geburt erst im 17. Jahrhundert durchgesetzt. Martin Luther zählte noch die Zeit ,nach Christus'. Bis zu Christi Geburt rechnete er jüdischbiblizistich von der Welterschaffung an63 . Zwar ist ein gemeinsamer Fixpunkt für die chronologische Rechnung hilfreich. Aber "es gehört zur Ironie der Geschichte, daß sich jene Zeitrechnung, die Christus in die Mitte der Zeit rückte, just in der Zeit der Aufklärung endgültig durchsetzte - in einer Zeit also, die sich in vielen Bereichen von christlichen Überlieferungen loszulösen begann,,64.

v. Aurelius Augustin Aurelius Augustin (354 -430 n.Chr.) gilt als der erste Theologe, der die Thematik von Zeit und Ewigkeit systematisch erörterte und die Zeit vorn Menschen aus dachte. Er setzte sich kritisch mit der aristotelischen Zeitvorstellung auseinander, indern er sich gegen dessen zyklische Zeitvorstellung wandte und auch Zeit auf das Individuum bezog. Für ihn stellen Zeit und Ewigkeit inkommensurable Gegensätze dar. Zwischen beiden besteht also ein qualitativer Unterschied. Erst durch die Relation zur Ewigkeit erfährt die Zeit ihre Bestimmung65 . Auf die Frage, was denn Zeit sei, antwortet er mit der bekannten Aussage: "Solange mich niemand danach fragt, ist mir's, als wüßte ich's; doch fragt man mich Cullmann, Oscar, Christentum und die Zeit, Zürich, 1948, s. 45. Weis, Kurt, Zeitbild und Menschenbild: Der Mensch als Schöpfer und Opfer seiner Vorstellungen von Zeit, in: Kurt Weis (Hrsg.), München 1996, S. 34. Vgl. dazu auch Maier, Hans, (1996) S. 107 ff. 64 Maier, Hans, (1996), S. 119. M V gl. Manzke, Karl Hinrieh, Ewigkeit und Zeitlichkeit, Göttingen 1992, S. 260 ff. 66 Augustinus, Aure1ius, Buch XI, 14, S. 275. 62 63

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2. Kap.: Zeit im antiken und biblischen Denken

und soll ich es erklären, so weiß ich's nicht,,66. Dieses Eingeständnis der Unfähigkeit entspricht nicht nur der Situation vor 1500 Jahren, sondern auch unserer Zeit. Gott ist für Augustin der Schöpfer und Bewahrer der Zeit. Zeit ist die Grundstruktur der Endlichkeit und ihre Hinfälligkeit. Genauso wie die Schöpfung einen Anfang hat, ist auch die Zeit nicht ewig. Augustin spricht nicht vom Anfang der Zeit, sondern von ihrem Ursprung (principium). "Und dies ist Gott selbst bzw. Gottes Weisheit (sapientia dei),,67. Die Zeit läuft nicht unendlich weiter, ohne daß Neues geschieht. Augustin verteidigt die Schöpfungs lehre und die daraus sich ergebene Ansicht, daß aufgrund der göttlichen Schöpfermacht der "Lauf der Geschichte durch das Aufreten wahrhaft neuer Phänomene gekennzeichnet" wird 68 . Die Frage, ob die Zeit auch zu einem anderen Zeitpunkt hätte erschaffen werden können, beantwortete er, indem er das Problem von Spaßvögeln zitierte, die fragen, was denn Gott getan habe, bevor er Himmel und Erde geschaffen hat. Seine Antwort lautete: "Er hat Höllen hergerichtet, für Leute, die so hohe Geheimnisse ergrubeln wollen". Augustin lehrte wie später - jedenfalls dem Sinn nach - auch Leibniz und auch die modeme Physik: Die Zeit ist mit der Welt entstanden. "Eben diese Zeit auch hattest doch Du erschaffen, und Zeiten konnten nicht verfließen, ehe Du Zeiten erschufst. Wenn aber vor Himmel und Erde Zeit überhaupt nicht war, was soll dann die Frage, was Du ,damals' tatest? Es gab kein ,damals', wo es Zeit nicht gab,,69. Die Schaffung der Zeit wird von Augustin mit der Schöpfung gleichgesetzt. Gott ist ihr Schöpfer. Zeit ist eine Eigenschaft der von Gott geschaffenen Welt. Er hat sie mit der Welt zusammen geschaffen 70. Es gibt keine Zeit, die mit Gott ewig ist. Vor der Schöpfung hat die Zeit nicht existiert. ,,Also gab es nie die Zeit, da du müßig noch nichts geschaffen hattest, denn die Zeit selber hast ja Du geschaffen. Und es gibt keine Zeit, die mit Dir mit-ewig wäre, denn Du verharrst als der Du bist; aber verharren so die Zeiten, es wären gar nicht Zeiten,,7!. Modeme Kosmologen haben bis auf wenige Ausnahmen mit dieser Vorstellung von der göttlichen Schöpfung der Zeit allerdings Problemen. Im XI. Buch seiner "Bekenntnisse" lehnt Augustin die Gleichsetzung der Zeit mit der Bewegung der Himmelskörper ab. Die Zeit muß - anders als bei Aristoteles - von der Bewegung getrennt werden. Selbst wenn das Firmament stillstünde, 67 Rudolph, Enno. Augustins mystische Lehre von der Zeit, in: Zeit - was ist das? Herrenalber Protokolle Bd. 77. 1990, S. 33. 68 Vgl. Whitrow, Gerald J .• (1991), S. 107. 69 Augustinus, Aurelius, Bekenntnisse, Berlin und Darrnstadt. 1957. Buch XI, 12 u. 13. S. 273 f. 70 Augustinus. Aurelius. Buch XI. 14. S. 274. 71 Augustinus. Aurelius. Buch XI. 14. S. 274. 72 Vgl. Schornrners Wolfram. Zeit und Realität. Zug 1997. S. 31. 73 Augustinus. Aurelius. Buch XI. 23. S. 282. 74 Augustinus, Aurelius. Buch XI. 24. S. 284

V. Aurelius Augustin

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eine Töpferscheibe sich aber noch bewege, gäbe es die Zeit 73 . Demnach ist Zeit, wie Augustin feststellt, "nicht die Bewegung des Körpers,,74. Anstatt Zeit und Bewegung - wie bei Aristoteles - miteinander zu verknüpfen, nimmt er die Zeit des Stillstandes hinzu. Darum kann er im menschlichen Geist Ursprung und Maßstab der Zeit erkennen. In der Seele zeigt sie sich als eine Erfahrung der Gegenwart. ,,In dir, mein Geist, messe ich meine Zeiten ... Der Eindruck, der von den Erscheinungen bei ihrem Vorüberziehen in dir erzeugt wird und dir zurückbleibt, ... der ist es, den ich messe ... Also sind entweder die Eindrücke die Zeiten, oder ich messe die Zeiten überhaupt nicht,,75. Das ist gefühlte Zeit, sie wird als die zeitliche Realität empfunden. Für Augustin ist demnach die Zeit eine Eigenschaft der Seele. Sie wird subjektiv betrachtet. Ihre Ausdehnung führt als Gegenwärtiges in das Vergangene und Zukünftige hinein. Das Zeitrnass hat mit dem menschlichen Gedächtnis zu tun. Gemessen wird, was wir im Gedächtnis behalten 76 . Augustin mißt also nicht "die Geschehnisse selbst, sondern das, was in unserem Gedächtnis haften bleibt" 77. Die Gegenwart wird nicht mehr nur als ein Interpretament für das Früher oder Später wie bei Aristoteles gesehen, sondern erfährt eine wesentliche Zeitbestimmung. Die gleichzeitige Erfahrung von Vergangenheit (V), Gegenwart (G) und Zukunft (Z) stellt für Augustin die Wirklichkeit dar. In seinen Bekenntnissen spricht er zwar von den drei Zeitmodi. Aber es gibt eine Gleichzeitigkeit der drei Zeiten, und er sucht ihre Verschränkungen als "eine Gegenwart vom Vergangenern, nämlich Erinnerung; Gegenwart vom Gegenwärtigen, nämlich Augenschein; Gegenwart vom Künftigem, nämlich Erwartung,,78. Zeit wird also nicht als eine vergangene, gegenwärtige oder zukünftige gemessen. Zukünftiges und Vergangenes wird durch "Vergegenwärtigung" erfahren. Denn die Vergegenwärtigung geschieht vergangenheitsorientiert durch Erinnerung (memoria), zukunftsorientiert durch Erwartung (expectatio) und auch durch contuitus, also durch die Anschauung des Gegenwärtigen 79 . Augustin kennt danach eine zeitliche Gegenwart, die ,nicht' ist. Propheten "sehen" Zukünftiges, Erzähler berichten von Vergangenern, indem sie Zukünftiges und Vergangenes vergegenwärtigen. Der Ort dafür ist die Seele (anima) oder der Geist (animus). Wir erfahren die Vergangenheit (V) als eine Erinnerung und darum als Gegenwart der Vergangenheit (GV), die Zukunft als das Heute der Erwartung (GZ) und die Gegenwart des Jetzt (GG)80. ",G' bedeutet das, was in der Gegenwart gerade Erscheinung ist, ,Z' bedeutet das, was einmal als Gegenwart erscheinen wird, ,V' bedeutet das, was einmal als Gegenwart erschienen

Augustinus, Aurelius, Buch XI, 27, S. 287 f. Augustinus, Aurelius, Buch XI, 27, S. 287. 77 Whitrow, Gerald J., (1991), S. 106. 78 Augustinus, Aurelius, Buch XI, 20, S. 280. 79 V gl. Rudolph, Enno, (1990), S. 34. 80 Vgl. Müller, Adalf, M. Klaus, Wende der Wahrnehmung, München 1978, S. 136 ff. und Link, Christi an, Schöpfung Bd. 2, Güterslah 1991, S. 452. 7S

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2. Kap.: Zeit im antiken und biblischen Denken

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war"SI. Augustin vereint die drei Zeitmodi allein in der Seele zu einer Dreiheit. Das enscheidende Ziel ist also, wie gesagt, Vergegenwärtigung! Um ihre Erhellung geht es ihm. Auch Heidegger ist dem Grundgedanken Augustins gefolgt, indem er, ohne auf die Lehre Augustins vom Schöpfergott zurückzugreifen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Zeitmodi zueinander in Beziehung setzt, "indem er betont, daß die menschliche Existenz ein Aus-sieh-Herausstehen, ein ,ek-sistere', ein Vorlaufen auf den Tod, den antizipierten Tod ist. Von diesem Vorlaufen her und im Lichte dieser Zukunft erhält die Gegenwart absolute Bedeutung und damit auch das, was aus der Vergangenheit als Erbe in diese Gegenwart hereinragt"s2. Das Wesen der Zeit wird aus ihrer Relation zur Ewigkeit bestimmt. Erst durch diese Beziehung erfährt die Zeit ihren Charakter. Gerade die Ewigkeit ist Gericht und Ende der Zeit S3 . Gott selbst ist jedoch in seiner Ewigkeit dem Zeitlichen entzogen. Kritisch läßt sieh gegenüber Augustins Zeitbegriff mit Karl Barth einwendens4 : Vor der Zeit gibt es zwar nur die Ewigkeit, wie auch vor dem Geschöpf nur der Schöpfer-Gott ist. Bedenklich aber wird es für ihn dadurch, daß Augustin behauptet, es habe keine Zeit vor der Schöpfung und keine Zeitlichkeit der Schöpfung gegeben. Barth kämpft nicht nur gegen Formulierungen wie, daß man Gott als den erkennen müsse, der in keiner Zeit geschaffen habe, sondern vielmehr auch gegen die Aussage Augustins, daß Gott als der erkannt werden müsse, der" vor allen Zeiten der ewige Schöpfer aller Zeiten sei"s5. Es gibt nämlich keine "der Schöpfung vorangehende und so von ihr aus gesehen vergangene Zeit"s6. Danach könne für Augustin die Welt zwar mit der Zeit, aber nicht in der Zeit geschaffen worden sein. Indessen ist das cum tempore (mit der Zeit) immer als in tempore (in der Zeit) zu deuten s7 . Mit Augustin spricht Barth davon, daß es kein Geschöpf und auch keine Zeit vor der Schöpfung gegeben habe. Vor dem Geschöpf gibt es nur Gottes Wesen und vor der Zeit nur Gottes Ewigkeit. Seine Ewigkeit offenbart sich "im Akt der Schöpfung als seine Bereitschaft für die Zeit"ss. Trotz der über 15 Jahrhunderte, die ins Land gegangen sind, seit Augustin seine Zeit-Definition vorgelegt hat, sind die Menschen in der Erklärung der Zeit nicht

Müller, Adolf, M. Klaus, (1978), S. 139. Baumgartner, Hans Michael, Zeit und Zeiterfahrung, in: Hans Michael Baumgartner (Hrsg.), Zeitbegriffe und Zeiterfahrung, München 1994, S. 198. 83 Vgl. Manzke, Karl Hinrich, (1992), S. 336. 84 Barth, Karl, Die Kirchliche Dogmatik Bd. III, 1, Zürich 1947, S. 75 f. 85 Barth, Karl, Bd. III, I, S. 75. 86 Barth, Karl, Bd. III, 1, S. 75. 87 Barth, Karl, Bd. III, I, S. 75. 88 Barth, Karl, Bd. III, I, S. 76 89 Vgl. Schommers Wolfram, (1997), S. 38. 81

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V. Aurelius Augustin

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weitergekommen. Wenn man heute von Zeit spricht, haben sie mehr ihr subjektives Zeitempfinden im Auge als die Gestalt einer objektiven ReaIität 89 . Sie besitzen zwar sehr genau gehende Uhren. Aber sie wissen immer noch nicht, was Zeit ist. Uhren machen keine Zeit. Uhren sollen ohnehin nicht die Zeit erforschen, sondern das Leben der Menschen ordnen.

3. Kapitel

Die Zeit-Ewigkeit-Relation moderner Theologen Stephen Hawking hat in seiner kurzen Geschichte der Zeit behauptet, die Entwicklung des Universums bedürfe eines Gottes nicht, weil es in sich völlig abgeschlossen ist. Nur wenn Gott dem Univerum gestattet, sich nach bestimmten Gesetzen zu entwickeln, und auf alle Eingriffe verzichtet, "die im Widerspruch zu diesen Gesetzen stünden", gebe es für viele Menschen noch einen Platz für diesen Gott l . Freilich "verraten" die Gesetze nicht, wie das Universum am Anfang ausgesehen hat. Wenn das Unsiversum "keine Grenze und keinen Rand hat, dann hätte es auch weder einen Anfang noch ein Ende: Es würde einfach sein ,,2. Und er fragt weiter: "Wo wäre dann noch Raum für einen Schöpfer?,,3 Indessen, weder können die Naturwissenschaft allein noch die Geisteswissenschaften den Zeitbegriff bestimmen. Sie sind auch nicht in der Lage, Zeit als isoliertes Phänomen zu definieren. Und das heißt: Sie haben die mehr als zwei Jahrtausende alte Beziehung von Zeit und Ewigkeit zu sehen. Jede theologisch-systematische Betrachtung des Handeins Gottes in der Welt geht von einer Beziehung von Ewigkeit und Zeit aus. An dieser Relation kommt kein Theologe vorbei. Für Kiergekaard ist die Zeit eine Grunderfahrung des Menschen. Der Augenblick ist eine Synthese von Ewigkeit und Zeitlichkeit. Existieren gilt als ein Sein zwischen Augenblick und Augenblick. "Kierkegaard strebt keine reine ExistentiaIisierung der Zeit an; er zeigt, daß Zeitlichkeit und Ewigkeit als Grundbestimmungen angesetzt werden müssen und zugleich doch dialektisch vermittelt werden sollen,,4. Das kann zu einer Zeiterkenntnis führen, die durch einen Zeitverlust zu charakterisieren ist. Diese Erfahrung weist darauf hin, daß derjenige, der eigentlich keine Zeit hat, gleichzeitig doch "Zeit für" etwas hats . Denn die Aussage: "Ich habe keine Zeit" bedeutet schließlich nicht, daß absolut keine Zeit vorhanden ist, sondern nur, daß man keine Zeit "für" etwas Bestimmtes hat. Im Umkehrschluß folgt daraus, daß Zeit - für etwas - durchaus vorhanden ist6 . Hawking, Stephen w., (1995), S. 179. Hawking, Stephen w., (1995), S. 179. 3 Hawking, Stephen w., (1995), S. 179. 4 Schulz, Walter, Subjektivität im nachmetaphysischen Zeitalter, Pfullingen 1992, S. 101 S Vgl. dazu Ratschow, Carl Heinz, Anmerkungen zur theologischen Auffassung des Zeitproblems, in: G. Ebeling (Hrsg.), Zeitschrift für Theologie und Kirche, Bd. 51, Jahrg. 1954, S.378. I

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I. Karl Barths Lehre von der Zeit

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I. Kar) Barths Lehre von der Zeit Kar! Barths hat sich an vielen Stellen seiner Kirchlichen Dogmatik mit der ZeitThematik auseinandergesetzt. Sein Zeit-Verständnis ist vielschichtig 7 •

1. Gottes Ewigkeit

Für Barth ist Gott weder raum- noch zeitlos. Auch seine Ewigkeit wird nicht einfach der Zeit gegenübergestellt. Sie ist nicht als ,,Negation der Zeit" oder als Zeitlosigkeit zu kennzeichnen 8 , sondern als das "ewige Jetzt" zu verstehen 9 . Gottes Ewigkeit wird als eine die Zeit übergreifende Mächtigkeit verstanden. Denn "Gott hat Zeit, gerade weil und indem er Ewigkeit hat. Er hat sie also nicht erst auf Grund der Schöpfung, die allerdings die Schöpfung auch der Zeit ist"JO. Gottes Zeit für den Menschen ist Offenbarungs zeit. Gottes Ewigkeit ist der Grund für die ,,Negation der geschaffenen Zeit". Aber sie ist nicht "die Negation schlechthin'''), vielmehr wird in ihr auch die Zeit vorausgesetzt 12 • Ewigkeit ist also der "schlechthinige Grund und auch die schlechthinige Bereitschaft" für die Zeit I3 • Unter Gottes Ewigkeit dürfen die Menschen ihre Zeit haben. Auf sie geht die Zeit der Menschen

Ratschow, earl Heinz, (1954), S. 378. Dieses ist das 3. Moment der Zeiterfahrung. Ratschow kennt neben diesem noch zwei andere: I. ,,zeit meint die Zeitlichkeit unserer selbst wie unserer Welt" (S. 361). Diese Aussage über die Vergänglichkeit unserer Welt ist aber nicht das Zeit-Thema der Bibel. Vergänglichkeit nämlich beschäftigt das biblische Denken als Schuldproblem (S. 364). 2. Zeit ist zu erkennen als "Zeiten, die vergehen, die kommen oder die da sind" (S. 369). Solche gegenständlich gewordene Zeit ist die moderne Zeit im historischen Sinn. Sie kommt im Alten und Neuen Testament nicht vor. Biblische Zeiten (Pluraletantum!) z. B. als "Tage" ausgewiesen sind zwar auch als Zeit-Ausdehnung zu denken, aber die Tage haben eine eigene Gewichtigkeit durch Gottes eschatologisches Handeln (S. 374). 7 Karl Hinrich Manzke, Ewigkeit und Zeitlichkeit, Göttingen 1992, S. 490 ff. hat sich ausführlich zu Barths Zeitverständnis geäußert. Vgl. zum gesamten Verständnis Barths auch: Freyer, Thomas, Zeit - Kontinuität und Unterbrechung, Studien zu Karl Barth, Wolfhart Pannenberg und Karl Rahner, Würzburg 1993, S. 68. Dieser hat Barths Zeit-Aufassung als stark kontextuell bestimmmt beurteilt. Für Freyer tritt sie ,Jn eine kritische Zeitgenossenschaft mit dem jeweiligen geselschaftlich-ökonomisch-sozialen Umfeld ein und ist nur in ihm angemessen zu verstehen" (S. 180). Das führt zu der einseitigen Schlußfolgerung: "Damit eignet seinem Zeitmodell eine ideologiekritische Note" (ebd.). 8 Barth, Kar!, Die Kirchliche Dogmatik Bd. 11, I, Zürich 1948, S. 688. 9 Barth, Kar!, 11, I, S. 692. 10 Barth, Kar!, 11, I, S. 689. II Barth, Kar!, 11, I, S. 691. 12 Barth, Kar!, 11, I, S. 691. 13 Barth, Kar!, 11, I, S. 696. 6

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3. Kap.: Die Zeit-Ewigkeit-Relation moderner Theologen

zu. Dort in der Ewigkeit Gottes kommt sie zu ihrem Ziel. Aber indem Gott sich der Zeit unterwirft, "meistert er die Zeit,,14. Gottes Ewigkeit ist also das Geheimnis der Zeit. Da Gott der ist, der für uns Menschen Zeit hat, erkennen wir in unserer Zeit seine in der Offenbarung uns von ihm gegebene Zeit l5 . Denn selbst für Gottes Wesen gilt: ,,Auch der ewige Gott lebt nicht zeitlos, sondern höchst zeitlich, sofern seine Ewigkeit die eigentliche Zeitlichkeit und der Ursprung aller Zeit ist. Aber in seiner Ewigkeit - in der ungeschaffenen, durch sich selbst seienden Zeit, die eine der Vollkommenheiten seines göttlichen Wesens ist - sind das Damals, das Jetzt und das Dereinst, das Gestern, Heute und das Morgen ineinander, nicht nacheinander" 16. Spricht man von der Ewigkeit Gottes, meint man die des dreieinigen Gottes. Der Begriff der Ewigkeit enthält eine analog der Trinitätstheologie gestaltete Dimension der Vorzeitlichkeit, Überzeitlichkeit und Nachzeitlichkeit Gottes 17. Diese drei Zeitgestalten "sind in gleicher Weise Gottes Ewigkeit und also der lebendige Gott selbst,,18: Gott ist vorzeitlich. Die Vorzeit ist "die reine Zeit des Vaters und des Sohnes in der Gemeinschaft des Heiligen Geistes,,19. Diese Vorzeit wird für den Menchen zum Ereignis und zur Erkenntnis in Jesus Christus20 . Gott ist überzeitlich. Mit seiner Überzeitlichkeit kommt zum Ausdruck, daß Gottes Ewigkeit "das die Zeit von allen Seiten umschließende Element ist,,21. Damit ist auch des Menschen Zeit als eine von Gottes Ewigkeit her umschlossene Zeit zu verstehen. Ja, "Gottes Ewigkeit begleitet sie'.22. Unter Gottes Ewigkeit hat auch der Mensch seine Zeit. Gott ist auch nachzeitlich. "Die Ewigkeit ist auch das Ziel und Ende, hinter und über dem ein anderes nicht stehen kann, weil alle Wege nur ihm entgegenführen können,,23. Die Ewigkeit wurde, ohne daß sie ihrerseits aufhörte, diese zu sein, Zeit. Gott der Ewige unterwirft sich in der Menschwerdung seines Wortes der Zeit, und läßt damit die "geschaffene Zeit die Form seiner Ewigkeit werden,,24. Das ist die Form 14 Barth, Karl, 11, 1, S. 696. 15

Vgl. Barth, Karl 11,1, S. 690.

16 Barth, Karl, Die Kirchliche Dogmatik Bd. III, 2, Zürich 1948, S. 525. 17 \8

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21 22

23 24

Barth, Karl, 11,1, S. 698. Barth, Karl, II, 1, S. 720. Barth, Karl, 11, 1, S. 701. Vgl. Barth, Karl, II, 1, S. 701. Barth, Karl, 11,1, S. 702. Barth, Karl, 11, 1, S. 702. Barth, Karl, 11, I, S. 709. Barth, Kar!, 11, 1, S. 694.

I. Karl Barths Lehre von der Zeit

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seiner Überlegenheit, seine Zeit-Mächtigkeit. Gottes Ewigkeit bedeutet darum Beherrschung der Zeit. Danach ist Gott der, der vor, in und nach aller Zeit ist. Dieser Gott ist der Herr der Zeit, der "sich selbst Zeit nimmt,,25. Seine Zeit steht als seine künftige Offenbarung als Ziel und Ende der Zeit vor uns, wie er seiner Art nach längst vor uns war und wie er uns in der Zeit gleichsam "mitzeitlich" umschließt26 . Gottes Ewigkeit ist durch ,,reine Dauer" gekennzeichnet 27 . Während Karl Barth die Ewigkeit Gottes als "Dauer" bezeichnen konnte, hat er der den Menschen gegebenen Zeit das "Prädikat der Dauer ausdrücklich abgesprochen,,28. Gottes Ewigkeit ist, ohne daß sie selbst Zeit ist, wie gesagt, in Jesus Christus der "schlechthinige Grund der Zeit" und zugleich die "schlechthinige Bereitschaft für sie,,29. Aus diesen Überlegungen ist

1. mit gutem Recht nicht nur ein doppeltes Subjekt, ein ewiges und ein zeitliches, sondern auch ein doppelter Aspekt für die Zeit herauszulesen: Gottes ewige Zeit korrespondiert mit der zeitlichen Zeit des Menschen 3o . 2. außerdem zu beachten: ,,Die Gleichzeitigkeit aller Zeiten zur Ewigkeit, die die aktualisierende Interpretation der urchristlichen Naherwartung durch die frühe dialektische Theologie ermöglicht hatte, schloß ,den Gedanken der ewigen Heilsverwirklichung als eines einmaligen Geschehens am Ende der Zeit' aus,,31.

2. Die "erfüllte Zeit" als OtTenbarungszeit a) Gottes Zeit - unsere Gnadenzeit Barth geht nicht von einem allgemeinen Zeitbegriff aus, sondern setzt bei Gottes Offenbarung in Jesus Christus ein. Allein aus ihr ist die Begründung für die Erkenntnis von Zeit abzuleiten. Sie ist die "erfüllte Zeit,m, während unsere Zeit durch eben diese Offenbarung uns genommen ist, also negierte Zeit ise 3. Mit dem Offenbarungs-Begriff umschreibt Barth die Zeit des Ereignisses in Jesus Christus selbst und damit die Zeit der Fleisch- oder Zeitwerdung Christi. Die Offenbarung Barth, Kar!, 11, I, S. 694. Barth, Karl, 11, I, S. 702. 27 Barth, Karl, 11, I, S. 686. Vgl. 111, I, S. 639. 28 Pannenberg, Woltltart, Systematische Theologie Bd. 3, Göttingen 1993, S. 643. 29 Barth, Karl, 11, I, S. 696. 30 Vgl. dazu: Freyer, Thomas, Zeit - Kontinuität und Unterbrechung, Studien zu Karl Barth, Woltltart Pannenberg und Karl Rahner, Würzburg 1993, S. 450 f. 31 Pannenberg, Woltltart, (1993), S. 641. 32 Barth, Karl, Die Kirchliche Dogmatik Bd. I, 2, Zürich 1948, S. 50 ff. 33 Barth, Karl, I, 2, S. 76. 2S

26

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3. Kap.: Die Zeit-Ewigkeit-Relation moderner Theologen

in Christus ist die Zeit der alttestamentlichen Erwartung, zugleich die Zeit der neutestamentlichen Erinnerung und damit auch die Zeit des ,,zeugnisses von diesem Ereignis .. 34 . In den Zeitreihen des Alten Testamentes und des Neuen Testamentes sind nicht einfach die Zeiten ante und post Christum natum gemeint, sondern die Zeiten des schon in der Vorgeschichte des im Alten Testamentes Offenbaren und auch die des bereits Gekommenen und die des eschatologisch wiederkommenden Christus. Gottes Offenbarung heißt: "Gott hat Zeit für uns,,35. Er hat keine andere Zeit als die seiner Offenbarung. Als Zeit Christi ist sie die Zeit des Herrn der Zeit und damit im Unterschied zur menschlichen Zeit "beherrschte", "wirkliche", "erfüllte" Zeit36 . Unsere Zeit dagegen ist die vom "gefallenen Menschen bewirkte Zeit.. 3? Zwischen der göttlichen und der erfüllten Zeit liegt der Sündenfall. "Unsere" Zeit bleibt im Glauben die von Gott geschaffene aber doch "uns verborgene und entzogene Zeit.. 38. Aber die "wirkliche" Zeit ist die seiner Offenbarung. Das ist außer der von Gott geschaffenen und "unserer" Zeit die dritte Zeit. Sie ist die göttliche Offenbarungzeit. In ihr ist Gott gegenwärtig. Zeit ist im Unterschied zur Ewigkeit als Quelle der Zeit die "Existenzform des GeschÖpfes 39 . Vor der Schöpfung gibt es nach Barth keine Zeit, sowie es auch kein Geschöpf vor der Zeit gibt4o . Die Welt konnte mit der Zeit, aber nicht in der Zeit geschaffen werden 41 . In der Auseinandersetzung mit Augustins Zeitbegriff bekennt er, es gibt keine Zeit vor der Schöpfung, wie es auch ,,keine Schöpfung vor dem Geschöpf und vor der Zeit.. gibt42 . "Eben seine Ewigkeit offenbart sich aber im Akt der Schöpfung als seine Bereitschaft für die Zeit, als vorzeitlich, als (überoder) mitzeitlich, als nachzeitlich und so als Quellort der Zeit, als die absolute, die eminente Zeit..43 . Im Gegensatz zur Ewigkeit kennt Zeit die Modi der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nach Barth existiert vor der Schöpfung allein Gottes Ewigkeit und damit keine Zeit. Das Geschöpf lebt in der Zeit. Von der Schöpfungs zeit ist die Gnadenzeit zu unterscheiden. Die Schöpfungszeit ist "anhebende Zeit". Gnadenzeit dagegen steht im widerstrebenden Gegenüber zu unserer "verlorenen Zeit..44 . Für Barth ist die

34 35 36 37

38 39 40

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Barth, Karl, I, 2, S. 50. Barth, Karl, I, 2, S. 50. Barth, Kar\, I, 2, S. 57. Barth, Karl, I, 2, S. 52. Barth, Karl, I, 2, S. 52. Vgl. Barth, Karl, Die Kirchliche Dogmatik Bd. m, I, Zürich 2 1947, S. 72. Barth, Karl, 111,1, S. 75. Barth, Karl, m,l, S. 75. Barth, Kar\, III,1, S. 76. Vgl. o. Kap. 2.V, S. 38. Barth, Kar!, 111,1, S. 76. Barth, Kar!, m,l, S. 81 f.

I. Karl Barths Lehre von der Zeit

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wirkliche Zeit die Lebenszeit Jesu Christi. Denn um seinetwillen und in ihm ist die Welt und der Mensch geschaffen. An der Offenbarung nimmt der Mensch Anstoß, sie ist ihm ein "Ärgernis". Gott in der Zeit, "das ist das Ärgerliche der Offenbarung,,45. Freilich sind weder Gott noch die Zeit an sich "ärgerlich", wohl aber Gott in der Zeit. ,,Die erfüllte Zeit mitten in unserer Zeit ist der eingedrungene Feind,,46. Diese tritt an die Stelle unserer "unechten" und "uneigentlichen" Zeit. Damit ergibt sich nach Barth eine doppelte Sichtweise von der Offenbarungszeit. Denn diese ist einerseits die wirkliche Zeit. Sie ist die durch Gottes Ewigkeit her bestimmte Zeit Jesu. Zum anderen wird diese Zeit erst zu "unserer" Zeit, indem er sein Wort an uns richtet. Seine echte Zeit tritt an die Stelle unserer Zeit 47 . Zeitlos kann mit dem Kommen Jesu keine Ewigkeit mehr gedacht werden. Ewigkeit ist nicht ohne Jesu eigene Zeit zu denken. "Es gibt nun keine zeitlose Ewigkeit mehr,,48. In der Mitte zwischen der Vorzeit der Erwartung und der kommenden Zeit der Erinnerung steht also die "erfüllte Zeit". Sie hat im Alten Testament eine bestimmte Vorzeit mit dem Zeugnis der Erwartung der Offenbarung Jesu Christi. Dieser ist als der Erwartete auch schon im Alten Testament offenbar. Die erfüllte Zeit hat auch eine Folgezeit. Das ist die Zeit der Erinnerung der Offenbarung des Neuen Testamentes. Gegenüber der alttestamentlichen Erwartung formuliert Barth: Die neutestamentliche Zeit weiß im Unterschied zu der alttestamentlichen Zeit "konkret und explizit auf wen sie wartet"49. Darum deutet er die Zeitvorstellung Jesu Christi mit dem Hinweis: Jesu Christi "Zukunft ist wirklich nur seine Wiederkunft,,5o.

b) Die Zeit des Menschen Jesu

Mitten in unserer von der Sünde geprägten Zeit bricht die neue, die Gnadenzeit an. Sie stellt die reine Schöpfungszeit, die durch die Sünde von den Menschen verdreht und karrikiert wurde, wieder her. Gott gibt den Menschen in der Gnadenzeit die Zeit zurück. Christi Tod und Auferstehung ist die Wende dieser menschlichen Zeit 51 . In Jesus Christus hat sich Gott von Ewigkeit her für den Menschen entschieden. Ewigkeit ist Gottes Ewigkeit für den Menschen in Jesus Christus. "VerganBarth, Kar), I, 2, S. 68. Barth, Kar), I, 2, S. 68. 47 Barth, Kar), I, 2, S. 61. Vgl. Manzke, Kar) Hinrich, (1992), S. 496 f. 48 Vgl. Manzke, Kar) Hinrich, (1992) S. 515. Vgl. Barth, Kar), I1I, 2, S. 573 f.; vgl. auch S.633. 49 Barth, Karl, I, 2, S. )32. 50 Barth, Kar), I, 2, S. 132. 51 Barth, Kar), I1I,I, S. 80. 45

46

46

3. Kap.: Die Zeit-Ewigkeit-Relation moderner Theologen

genheit ist das, wovon wir durch ihn befreit sind und Zukunft ist das, wozu wir durch ihn befreit sind,,52. Das bedeutet, daß die Sünde Vergangenheit ist, und die Gerechtigkeit kommt 53. Der christliche Ewigkeits-Gedanke hat es also mit Gott selbst zu tun. ,,Er, der lebendige Gott, ist die Ewigkeit"s4. Christologisch heißt das: Jesus Christus ist "der Herr der Zeit,,55, wie es Barth in seiner Lehre von der Schöpfung ausdrückt. "Auch der Mensch Jesus ist in seiner Zeit, seiner Lebenszeit, in der Zeit, die er wie alle Menschen braucht, um leben zu können. Aber nun lebt er in dieser seiner Zeit als der, der er kraft seiner Einheit mit Gott ist, nämlich nicht nur mit Gott, sondern für Gott, d. h. nicht nur als sein Erwählter und Berufener in der Verantwortung vor ihm, sondern als sein Stellvertreter vor den Menschen - und nicht nur mit den Menschen, sondern für sie, d. h. nicht nur als ihresgleichen, in der Begegnung mit ihnen, sondern als ihr Stellvertreter vor Gott"S6. In dieser doppelten Stellvertretung vor Gott und für die Menschen lebt der Mensch Jesus in seiner Zeit. Damit "wird seine Zeit zur Zeit für Gott und also zur Zeit für alle Menschen"s7. In seiner Stellvertretung gründet auch die Gleichzeitigkeit mit der vergangenen, gleichzeitigen und zukünftigen Zeit. Speziell die Osterzeit ist die Zeit der Offenbarung des Geheimnisses des Lebens und Sterbens Jesu, also die seiner menschlichen Zeit. Seine Zeit muß als die Zeit eines Menschen und zugleich als Gottes Zeit gesehen werden. Jesus ist eben, "indem er wie alle Menschen in der Zeit ist und seine Zeit hat, der Herr der Zeit,,58. Es gibt "keine absolute Zeit, keine unbewegliche Natur, kein unerschütterliches Gesetz der Zeit"s9. Deshalb gibt es für Barth auch keinen "Gott Chronos,,60. Stattdessen nahm Gott sich in Jesus für uns Zeit, befristete Zeit. Das ist erfüllte Zeit. Gott ist in Jesus Christus der "Bringer und Inbegriff der die Zeit des Geschöpfs, die menschliche Zeit abschließenden Erlösung und Vollendung «61. Barth entwickelt in seiner Versöhnungslehre "eigene Zeitkategorien", die in ihrer begrenzten Funktion die christologisch-soteriologische Eigenart und auch die Problematik seines Zeitverständnisses widerspiegeln. Er unterscheidet die der Allmacht Gottes entsprechende ,Allgegenwart' von dessen ,Gnadengegenwart' , die das spezifisch zeitliche Handeln Gottes in der Zeit Jesu Christi innerhalb unserer "Sünden- und Todeszeit" meint62 . Erlösung dieser Welt bedeutet die Verewigung 52 53

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60 61

Barth, Karl, 11, I, S. 708. Vgl. Barth, Karl, 11, I, S. 707. Barth, Karl, 11, I, S. 720. Barth, Karl, III, 2, S. 524. Barth, Karl, III, 2, S. 527. Barth, Karl, III, 2, S. 527. Barth, Karl, III, 2, S. 557. Barth, Karl, III, 2, S. 547. Barth, Karl, III, 2, S. 547. Barth, Karl, Die Kirchliche Dogmatik Bd. IV, I, Zürich 1953, S. 128

I. Karl Barths Lehre von der Zeit

47

des zeitlichen Lebens. Gegenüber der menschlichen Zeit ist die göttliche Ewigkeit dann die "wahre Zeit,,63.

3. Die menschliche Zeit Um des Menschen Zeit zu erkennen, fragt Barth nach dem Sein des Menschen Jesu in seiner Zeit 64 • Jesu Sein in der Zeit bedeutet, daß Gott sich "für uns Zeit nimmt und Zeit hat,,65. Sein Sohn ist der "Garant der Kontinuität seines Geschöpfs: der Garant seiner Erhaltung und Bewahrung,,66. Darum erfahren die Menschen "echtes und rechtes Sein in der Zeit,,67. Obwohl durch die Sünde von Gott abgefallen, dürfen sie echt und recht in der Zeit leben. Zeit ist mit der Schöpfung zusammen ihre ,,Existenzform". Der Kosmos existiert wie der Mensch in der Zeit. Nach der biblischen Schöpfungsgeschichte darf man davon ausgehen, daß die Zeit als Existenzform des ganzen irdischen Kosmos geschaffen worden ist. Auch wenn man im einzelnen nicht weiß, was es für die Wesen im Kosmos bedeutet, zeitlich zu sein, gilt allemal vom Menschen: ,,Der Mensch ist nur, indem er in seiner Zeit ist,,68. Die Zeit und nicht die Ewigkeit ist seine "wirkliche Existenzform,,69. Der Mensch lebt in der ihm gegebenen Zeit, über die er keine Macht hat 7o . ,,Man kann aus der Zeit nicht heraustreten. Man kann sie nicht aufhalten" noch sie beschleunigen oder verlangsamen 71. Sie ist für den Menschen eine "überlegene Setzung,,72. Der Mensch hat also Zeit, indem er sie bekommt. Die drei Modi unserer Zeit sind ganz real zu erkennen. Denn der Mensch ist gegenwänig; er ist "zunächst je jetzt,m. Daß der Mensch jetzt ist, das ist ganz wirklich zu nehmen, "weil Gott ist und zwar zuerst ist und nicht nur für sich, sondern auch für mich ist,,74. Das heißt, der Mensch, der je jetzt ist, ist "unter und mit Gott,,75. Die Konsequenz bedeutet für den Menschen: "je und je das Angebot, den 62

63 64

6S 66 67

68 69

70 71 72 73

74 7~

Barth, Barth, Barth, Barth, Barth, Barth, Barth, Barth, Barth, Barth, Barth, Barth, Barth, Barth,

Karl, Kar!, Karl, Karl, Kar!, Karl, Karl, Karl, Karl, Karl, Karl, Kar!, Karl, Karl,

IV, IV, III, III, III, III, III, III, III, III, III, III, III, III,

\, S. 205. V gl. Freyer, Thomas, (1993), S. 170. I, S. 205 und IV, 3, S. 363. 2, S. 616. 2, S. 625. 2, S. 627. 2, S. 627. 2, S. 628 f. 2, S. 632. 2, S. 632. 2, S. 633. 2, S. 633. 2, S. 638. 2, S. 640. 2, S. 639.

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3. Kap.: Die Zeit-Ewigkeit-Relation moderner Theologen

Aufruf, die Einladung, mit Gott jetzt, mit Gott gegenwärtig zu sein", mit Gott den Übergang in den verschiedenen Zeiten zu vollziehen 76 . Der Mensch ist jetzt auch der, der er gewesen ist. Er ist heute der, der er gestern war. Wir sind und waren, was und wie wir mit Gott waren, "was wir auf Grund seines Gewesenseins sein konnten, durften und mußten,m. Gott war bereits der Schöpfer und Erlöser von alters her. Unser damaliges Sein ist heute und morgen ebenso wirklich, wie es damals war78 . So wie der Mensch vor Gott in der ihm gegebenen Zeit in Gegenwart und Vergangenheit lebt, tut er das auch zukünftig. Daß der Mensch sein wird, ist durchaus nicht selbstverständlich. Die Existenz des Menschen Jesu verbürgt den Menschen, "daß Zeit als Existenzform des Menschen vor Gott gewollt" ist 79 . "In Jesus ist Gott ewig" - und zwar "ewig für uns"so. Aus dieser christologischen Überlegung folgt für die Anthropologie "des Menschen, der unter und mit Gott in seiner Zeit ist": Dieser Mensch ist "kein zweiter Jesus, aber der mit dem einen Jesus ... in der von Gott geschaffenen und ihm gegebenen Zeit existierende Mensch"sl.

4. Die Zeitbefristung Gegenüber der unbefristeten Ewigkeit, der Zeit Gottes, ist des Menschen Zeit befristetS2 . Ihr Inhalt besteht darin, daß das Geschöpf Gottes den Gelegenheiten seiner Bestimmung Genüge tut S3 . Es ist für den Menschen nicht nur angemessen, sondern geradezu "heilsam", "in der "befristeten Zeit leben zu dürfen"s4. Befristet wurde die Zeit durch Gott selbst! Das bedeutet "die natürliche Nähe seiner freien Gnade"s5. Die Befristung unserer Zeit hat zwei Aspekte: Sie hat einen Anfang und ein Endes6 . Vor dem Sein des Individuums und auch vor dem der Menschheit insgesamt steht des Menschen "Nichtsein"s7. Er lebt in der befristeten Zeit, das ist "gut und heilsam", weil es der gnädige Gott ist, der es so will. Wir kommen von diesem Gott und darum "von unserem Nichtsein her, aber darum nicht aus dem 76 77

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Barth, Karl, III, 2, S. 641. Barth, Karl, 111, 2, S. 648. Vgl. Barth, Karl, II1, 2, S. 649. Barth, Karl, II1, 2, S. 669. Barth, Karl, II1, 2, S. 669. Barth, Karl, II1, 2, S. 670. Vgl. Barth, Karl, II1, 2, S. 671 ff. V gl. Barth, Karl, 111, 2, S. 681. Barth, Karl, 111, 2, S. 683. Barth, Karl, 111, 2, S. 691. V gl. Barth, Karl, 111, 2, S. 695 ff. Barth, Karl, 111, 2, S. 698.

I. Kar) 8arths Lehre von der Zeit

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Nichts,,88. Schwerer freilich als die Frage der Herkunft aus dem Nichtsein wiegt die andere Aussage, daß das Nichtsein, dem wir entgegengehen, unser Nichts bedeuten könnte 89 . "Ein Negatives, ein Übel, könnte das offenbar nur dann bedeuten, wenn unser Ende darin bestehen würde, daß wir in unser Nichtsein nicht nur, sondern in unser Nichts zu gehen hätten,,90. Der Übergang in das Nichtsein ist nach Barth eine Begegnung mit Gott; denn wir gehen ja ihm, der uns aus dem Nichtsein ins Dasein gerufen hat, entgegen 91 . Der Tod, der dem Menschen am Ende seiner Zeit begegnet, ist das Zeichen des Gerichtes. Er gehört nach Barth nicht zu der "von Gott geschaffenen guten Natur des Menschen,,92, sondern er ist etwas Negatives und gehört zur endenden Zeit. Weil der Tod das Nein darstellt und das ,,zeichen des Gerichtes Gottes über uns" ist, und weil Jesus dieses Gericht für uns erlitten hat, werden wir "mit Gott konfrontiert,,93. Aber dieser Gott, "der uns im Tode und als Herr des Todes erwartet, ist "der gnädige Gott", der Gott für den Menschen 94 . "Unser Tod ist unsere Grenze. Unser Gott aber ist die Grenze auch unseres Todes,,95. Da für Barth der natürliche Tod Gerichtscharakter besitzt, kann der Tod "so gar nicht positiv, so gar nicht als normal und natürlich, sondern nur als eine der geschöpflichen Natur des menschlichen Seins fremde Bestimmung", verstanden werden 96 . Barth will damit das zeitliche Ende des menschlichen Sein und den Tod als den auf dem Menschen liegenden Fluch gleichsetzen. Der Mensch ist sterblich, also dem Tode verfallen und er ist nach Gottes Urteil Sünder und steht damit im Gericht Gottes; er ist dem Tode und damit dem zweiten Tod verfallen 97 . Aber eine natürliche Verknüpfung des Todes mit dem Gerichtsgedanken steckt für Barth darin nicht. Jesus ist an unserer Stelle in den Tod in diesem zweiten Sinn gegangen. Er nahm in seinem leiblichen Tod diesen "anderen" Tod nicht für sich, sondern für die anderen auf sich98 . Von dieser christologischen Deutung her gilt: Die "Identität unseres Endes mit unserem Todesgericht" ist keine absolute, sondern nur eine "relative Wirklichkeit,,99. Denn es muß auf der Basis dieses christologisch-soteriologischen Ansatzes zwischen "Ende und Fluch, Sterben und Strafe,

88 89 90 91

92 93 94

9S 96 97

98 99

8arth, Kar), III, 2, S. 701. 8arth, Kar), III, 2, S. 715. 8arth, Kar), III, 2, S. 724. 8arth, Kar), III, 2, S. 724 f. 8arth, Kar), III, 2, S. 726. 8arth, Kar), III, 2, S. 725. 739. 8arth, Kar), III, 2, S. 741. 8arth, Kar), III, 2, S. 743. 8arth, Kar), III, 2, S. 764. 8arth, Kar), III, 2, S. 764 f. Vgl. 8arth, Kar), III, 2, S. 765. 8arth, Kar\, III, 2, S. 769.

4 Kramer

50

3. Kap.: Die Zeit-Ewigkeit-Relation moderner Theologen

Tod und Gericht" notwendigerweise unterschieden werden 100. Konsequenterweise heißt das ein Doppeltes: 1. ,,Es gehört auch zu des Menschen Natur, es ist auch Gottes Schöpfung, die es so bestimmt und zugeordnet hat und es ist insofern gut und recht so, daß das Sein des Menschen in der Zeit endlich, daß der Mensch sterblich ist"lOl. 2. ,,Der Tod ist an sich nicht das Gericht und auch nicht an sich und als solcher das Zeichen des Gerichtes Gottes"102. Es ist vielmehr die christologische Begründung dieser Aussage, die Barth zu diesem Ergebnis kommen läßt. Der Mensch ist jenem anderen Tod verfallen, da er in Gottes Augen Sünder, Schuldner ist. Jesus erlitt den Tod in dem zweiten Sinn eines Fluch- oder Gerichtstodes lO3 . Diesen Tod starb er für die menschliche Sünde und Schuld. Jesu Endlichkeit aber stand, da er ja kein Sünder war, nicht im Schatten des Gerichtes. ,,Er mußte nicht im Gerichte Gottes stehen, nicht den Tod des Verfluchten leiden. Er mußte aber sterben können, sein Sein in der Zeit mußte ein endliches sein, damit er dieses Ende auf sich nehmen könne"I04. Der Mensch ist also diesseitig und demnach endend", er ist sterbend "und wird also einmal nur noch gewesen sei, wie er einmal noch nicht war,,105. Barth schließt diese Überlegungen mit den Worten: Der neutestamentliche Christ "bejaht Jesus Christus als sein Jenseits. Und eben darum versteht er sein Diesseits als bejaht von seinem Jenseits her"I06. Für Barth ist die Ewigkeit die Zeit Gottes; der Mensch lebt in seiner von Gott ihm geschenkten befristeten Zeit. Aber während Barth argumentiert, daß der Mensch, der aus dem Nicht-Sein kommende und dem Nicht-Sein entgegengehende Mensch ist, muß stattdessen mit dem Neuen Testament herausgestellt werden, daß das neue Sein, "zu dem wir in Christus als in dem von Gott mit uns gemachten Anfang wiedergeboren sind", Gottes neu geschaffener Mensch (kai ne ktfsis) ist lO7 . Im zeitlichen Sein Gottes gibt es kein Nacheinander der Modi, sondern nur das Ineinander von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Mensch darf an diesem Sein durch den Menschen Jesu teilhaben. Aber die dem Menschen geschenkte Zeit ist - entgegen Barth - für ihn nicht ein Gewesensein, so daß er kein Sein und keine Existenz mehr zu gewärtigen hat. Der Mensch hat nach dem Neuen Testament ein neues Sein und eine neue Existenz zu erwarten. Die Formulierung Barths, der

Barth, Karl, III, 2, S. 769. Barth, Karl, III, 2, S. 770. 102 Barth, Karl, III, 2, S. 770. 103 Vgl. Barth, Karl, III, 2, S. 764. 104 Barth, Karl, III, 2, S. 767. lOS Barth, Karl, III, 2, S. 770. 106 Barth, Karl, III, 2, S. 780. 107 Vogel, Heinrich, Ecce Homo in: E. Wolf (Hrsg.), Verkündigung und Forschung, 1949/ 50, S. 126. 100 101

11. Paul Tillichs Differenzierung des Zeitbegriffs

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Mensch als solcher habe kein Jenseits; "Gott ist mein Jenseits" kann hier nicht weiterhelfen. Denn mit Heinrich Vogel ist zu fragen: wie kann er ,mein' Jenseits sein, wenn ich nicht mehr sein werde 108 ? Am Ende der menschlichen Existenz steht schließlich keine Vergöttlichung des Menschen. Jesus Christus ist nicht seinen, sondern gerade unseren Tod gestorben. Außerdem gehört der leibliche Tod zur gewollten Ordnung Gottes. Er erhält zwar aufgrund des Sündenfalls den besonderen Charakter als den eines Todes in der Fremde. Aber Adam hätte den leiblichen Tod immer sterben müssen! Allerdings hätte es nach den biblischen Aussagen kein Tod zum Gericht werden müssen! Der Tod aber wurde zum Straf- und Fluchtod. Nur so ist der Tod als der Sünde Sold zu verstehen. Dieser resultiert aus persönlichem und gesellschaftlichem Versagen der Menschen. Den Tod als einen fremden Herrrn in dieser Welt zu bekämpfen, ist eine theologische und ethische Aufgabe. Es ist der Verantwortlichkeit des Menschen anvertraut, den unnatürlichen Tod zu bekämpfen. Dieses ist dem Christen möglich, weil er von der Überwindung seines Sünder-Todes herkommt, den Christus für ihn getragen hat. Denn Christus hat stelltvertretend unseren Tod für uns getragen. Von daher rührt die Entscheidung, theologisch und ethisch gegen den Tod vorzugehen. So ist die Fortsetzung eines Lebens nach dem Tod zu verstehen. Für den Gestorbenen gibt es nicht einfach nur ein Gewesen-Sein. Seine Hoffnung erstreckt sich darauf, daß es nach der Zeit des Hier-Seins eine Zeit des Dort-Seins gibt. In der Barth'schen Argumentation geht es christologisch um das gegenwärtige und zukünftige Heil des Menschen und nicht um eine Analyse der ,,zeit". Bedeutsam bleibt, daß die Zeit zusammen mit der Schöpfung geschaffen wurde. Sie ist eine Gabe, die in den drei Modi Teil des Seins erscheint. In Jesus hat der Mensch teil an der zeitlosen Ewigkeit Gottes.

Zeit wird bei Barth nicht wie im neuzeitlichen Denken durch menschliches Selbstbewußtsein, sondern allein durch das Handeln Gottes bestimmt. Sein Zeitbegriff ist durch den christologischen Bezug und damit durch Gottes gnädiges Handeln geprägt. Barths Offenbarungstheologie bestimmt also seinen Zeitbegriff.

11, Paul Tillichs Differenzierung des Zeitbegriffs In allen Teilen seines "Theologischen Systems" befaßt sich Paul Tillich mit der ,,Beziehung des Zeitlichen zum Ewigen"I09. In der Schöpfungslehre, in der Geistlehre und in der Eschatologie als dem "Übergang vom Zeitlichen zum Ewigen"110 wendet er sich dem Verhältnis beider zu. Dabei stellt die Zeit das Sein des einzel-

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Barth, Karl, III, 2, S. 770; Vgl. Vogel, Heinrich 1949/50, S. 126. Tillich, Paul, Systematische Theologie Bd III, Stuttgart 1966, S. 342. Tillich, Paul, Bd. 111, (1966), S. 452.

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3. Kap.: Die Zeit-Ewigkeit-Relation moderner Theologen

nen und das der Welt als eins dar, das zwischen Essentifikation (Verwesentlichung) und Existenz liegt 111.

1. Gottes Ewigkeit Wird der Begriff der Allmacht in Beziehung zur Zeit gesehen, ist von Ewigkeit zu sprechen. Mit Karl Barth ist Ewigkeit für Tillich weder als Zeitlosigkeit noch als Endlosigkeit der Zeit zu verstehen 1l2 . Gegen beide Begriffe ist die Ewigkeit zu schützen. In Gott sind die Modi der Zeit nicht voneinander getrennt. Ewigkeit ist keine Zeitlosigkeit, darum ist sie auch nicht mit Gleichzeitigkeit zu verwechseln. Gleichzeitigkeit würde nämlich die Modi der Zeit aufheben. Und ,,Zeit ohne Modi ist Zeitlosigkeit"lI3. Alle drei Modi der Zeit müssen gebraucht werden, um das Verhältnis Gottes zur Schöpfung auszudrücken 1l4 . Ewigkeit ist auch nicht Endlosigkeit der Zeit. Endlose Zeit ist die ständige Wiederholung der Zeitlichkeit. Ewigkeit schließt für Tillich Zeitlichkeit ein. Sie ist als nunc aeternum ewige Gegenwart. Diese bewegt sich von der Vergangenheit zur Zukunft, hört aber nie auf, Gegenwart zu sein ll5 . Die Zukunft ist dabei das eigentliche Wesen der Zeit, weil sie die Beziehung des Zeitlichen zur Ewigkeit aufdeckt. Ewigkeit ist die Zukunft der Zeit. Der Übergang vom Zeitlichen zum Ewigen ist ebensowenig ein zeitliches Ereignis wie die Schöpfung ein zeitliches Ereignis ist l16 . ,,Zeit ist die Form des geschaffenen Endlichen ... , und Ewigkeit ist das innere Ziel, das telos des geschaffenen Endlichen, das das Endliche dauernd zu sich emporzieht"lI7. Tillich meint, "daß das Zeitliche in einem fortwährenden Prozeß zu ,ewiger Erinnerung' wird,,1I8. Im Übergang vom Zeitlichen zum Ewigen wird das Negative im Jüngsten Gericht negiert. Während allein das Positive Gegenstand der ewigen Erinnerung ist, ist das Negative ,,kein Gegenstand ewiger Erinnerung als lebendiger Bewahrung des Erinnerten,,1I9. Die Überwindung des Negativen, die zur Teilhabe am ewigen Leben führt, bezeichnet Tillich mit Schelling als ,,Essentifikation,,I2o. In Tillichs Aussagen über das Verhältnis des Ewigen zur Zeit herrscht eine gewisse Unausgeglichenheit l21 . Denn zum einen ist die Ewigkeit das innere Ziel des 111 Vgl. Manzke, Karl Hinrich, (1992), S. 454 ff. Tillich, Paul, Systematische Theologie Bd I, Stuttgart 31956, S. 315. 113 Tillich, Paul, Bd. I, eI956), S. 315 114 Tillich, Paul, Bd. I, e1956), S. 291. tU Tillich, Paul, Bd. I, e1956), S. 316 116 Tillich, Paul, Systematischen Theologie Bd. II1, Stuttgart 1966, S. 452. 117 Tillich, Paul, Bd. II1, (1966), S. 452. 118 Tillich, Paul, Bd. 111, (1966), S. 452. 119 Tillich, Paul, Bd. 111, (1966), S. 452. 120 Tillich, Paul, Bd. III, (1966), S. 453. 112

11. Paul Tillichs Differenzierung des Zeitbegriffs

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geschaffenen Endlichen, das das Ende zu sich "emporzieht". Zum anderen verwirklicht sich der Übergang vom Zeitlichen zum Ewigen außerhalb der Zeit. ,,Das Ende der Zeit im Ewigen ist kein bestimmbarer Augenblick innerhalb der physikalischen Zeit, sondern ein Prozeß, der sich in jedem Augenblick vollzieht"l22. Die von Tillich in diesem Zusammenhang geforderte Kurve für die erlebte Zeit und die Zeitlichkeit im ganzen, die das "Aus-etwas-Kommen" und das "Sich-zu-etwas Erheben" kennzeichnet, ist die Parabel 123 .

2. Zeit und Schöpfung Nicht erst in der Eschatologie oder Christologie, sondern bereits in der Schöpfungslehre entwickelt Tillich die von ihm vertretene essentielle Beziehung zwischen Ewigkeit und Zeit. Die Zeit gilt außer dem Raum, der Kausalität und der Substanz als eine der vier "Hauptkategorien". Solche Kategorien haben einen ontologischen Charakter und sind "daher in allem gegenwärtig,,124. ,,Durch ihre doppelte Beziehung zum Sein und zum Nichtsein enthüllen sie ihren ontologischen Charakter,,125. Sie zeigen Sein und auch Nichtsein an. Die Zeit besitzt gegenüber den anderen Kategorien einen relativen Vorrang. Sie drückt wie jede Kategorie sowohl objektiv (also in Beziehung zur Welt) eine Einheit von Sein und Nichtsein als auch subjektiv (in Beziehung zum Selbst) eine Einheit von Mut und Angst aus 126. Die Zeit kennt zwei Elemente, ein positives und ein negatives. Das negative weist auf die Vergänglichkeit hin, das positive zeigt den "schöpferischen Charakter des Zeitprozesses" auf. In der objektiven Einheit "zeitigt" Zeit positiv das Neue und "verschlingt" andererseits zugleich das, "was sie geschaffen hat,,127. In dem subjektiven Element enthüllt die Zeitlichkeit einerseits die Angst des Sterben-müssens, weist aber andererseits darauf hin, daß diese Angst vor dem Nichtsein nur durch den Mut zum Sein zu einer Bejahung der Zeitlichkeit ertragen werden kann 128 . Zeit gehört zu den Formen der Endlichkeit 129 . In der Entfremdung der menschlichen Existenz gegenüber der Essens seines Seins setzt sich das negative Element der Zeit gegenüber dem positiven durch. Im 121 Pannenberg, Wolfhart, Systematische Theologie Bd. III, Göttingen 1993, S. 649; vgl. S.633. 122 Tillich, Paul, Bd. III, (1966), S. 474. 123 Tillich, Paul, Bd. III, (1966), S. 474. 124 Tillich, Paul, Bd. I, e1956), S. 225. 125 Tillich, Paul, Bd. I, 1956), S. 226. 126 Vgl. Tillich, Paul, Bd. I, eI956), S. 226; Vgl. Link, Christian, Schöpfung, Gütersloh 1991, S. 240. 127 Tillich, Paul, Bd. I, e1956), S. 226. 128 TIllich, Paul, Bd. I, eI956), S. 227. 129 Tillich, Paul, Bd. I, eI956), S. 226.

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3. Kap.: Die Zeit-Ewigkeit-Relation moderner Theologen

Zustand der Entfremdung geht "die Teilnahme an der Macht des Sein-Selbst verloren" 130. In diesem Zustand ist er vom Ewigen ausgeschlossen und versucht stattdessen, "die vergänglichen Zeitmomente seiner Zeit in dauernde Gegenwart zu verwandeln" 131. Die Schöpfung läßt sich nach Tillich nicht der Vergangenheit zurechnen. Dadurch würde die Schöpfung der Zeit unterworfen. Die Zeit der Schöpfung enthielte ein ,Vorher' und ein ,Nachher'. Es wäre eine ,,Absurdität", wol1te man die Schöpfung als ein Ereignis der Vergangenheit sehen. Man müßte dann auch die Frage beantworten, was vor ihr gewesen sei 132. Für Til1ich ist es darum "richtiger, von der Schöpfung mit der Zeit zu sprechen"J33. Er wendet sich einerseits gegen die traditionelle Interpretation Augustins, daß die Zeit zugleich mit der Welt geschaffen ist, und lehnt andererseits Barths Interpretation, daß es eine Zeit vor der Schöpfung gegeben hat, ab, auch wenn letzterer immerhin die Schöpfung in der Zeit bejaht hat l34 • Es gibt nicht nur eine Zeit in den Dimensionen des Seins. Wie es verschiedene Dimensionen des Lebens gibt, die anorganische, die organische, die psychologische, die geschichtliche, so gibt es verschiedene Zeiten, aber in al1en von ihnen gibt es Zeitlichkeit. "Aber die Zeit der Amöbe ist eine andere als die Zeit des geschichtlichen Menschen,,135. Die Frage, ob es eine Zeit gibt, die "al1e Formen der Zeitlichkeit um faßt", beantwortet er mit dem Hinweis auf das al1es umgreifende Wesen der Zeit. Denn dieses ist nicht auf nur eine Dimension des Lebens, "sondern auf sie alle bezogen" 136. Es gehört zum Mysterium des Sein-Selbst. Tillich sieht die Zeitlichkeit, "die nicht auf einen erkennbaren zeitlichen Prozeß bezogen ist", als ein Element in dem überzeitlichen Grund der Zeit an, "aus dem die Zeit hervorgeht" 137. Die Zeit al1er Dimensionen des Lebens läuft in ihrer Nichtumkehrbarkeit auf "das Neue", "das Einmalige und Noch-nicht-Dagewesene" und damit auf die ,,Erfül1ung" zu 138 . Die Erfül1ung wird zum bewußten Ziel, auf das die Zeit in al1en Dimensionen zugeht. Dieses findet seinen Ausdruck in dem Ende der Geschichte und darf symbolhaft als "Ewiges Leben" ausgedrückt werden 139. Für Tillich gehört Zeitlichkeit auch zum göttlichen Leben. Aber es ist ihr nicht unterworfen. Es ist durch den Modus der Gegenwart und nicht durch ,nicht mehr' Tillich, Paul, Systematische Theologie, Bd. 11, Stuttgart 31958, S. 78. 131 Tillich, Paul, Bd 11, e1958), S. 79. 132 Tillich, Paul, Bd. I, e1956), S. 296. 133 Tillich, Paul, Bd. I, e1956), S. 297. 134 Vgl. Tillich, Paul, Bd. I, e1956), S. 296. Vgl. dazu anders Kapitel 3.I.2.a, S. 43 ff. 135 Tillich, Paul, Bd. III, (1966), S. 358. 136 Tillich, Paul, Bd. III, (1966), S. 359. 137 Tillich, Paul, Bd. III, (1966), S. 359. Vgl. Beißer, Friedrich, Hoffnung und Vollendung, Gütersloh 1993, S. 154. 138 Tillich, Paul, Bd. III, (1966), S. 365. 139 Tillich, Paul, Bd. III, (1966), S. 366. 130

11. Paul Tillichs Differenzierung des Zeitbegriffs

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oder ,noch nicht' bestimmt 140. Für ihn besitzt die Zeit einen "doppelten Charakter": Sie ist Teil des schöpferischen Prozeßes des göttlichen Lebens" und gehört gleichzeitig "zu dem Punkt der Schöpfung, der mit dem Fall zusarnmentrifft,,141. Darum eben ist es für Tillich ,,richtiger" von der Schöpfung mit der Zeit zu sprechen; "denn die Zeit ist die Form der Endlichkeit im schöpferischen Grund des göttlichen Lebens ebenso wie in der kreatürlichen Existenz,,142.

3. Zeit als Kairos In seiner Begriffsbestimmung des Kairos-Gedankens geht Tillich vom Geist der griechischen Sprache und der Differenzierung des Zeitbegriffs aus. Danach leitet er wie im klassischen Griechisch die formale Zeit, den "fortlaufenden Strom der Zeit" aus dem Begriff des chronos ab. Kairos dagegen bezeichnet den inhaltsvollen Moment der Zeit, die rechte Zeit 143. Ging es im allgemeinen Kairos-Begriff um die rechte Zeit, in der sich etwas Vergängliches ereignen konnte, ist in biblischer Sicht Kairos ,erfüllte Zeit'. Für Tillich ist es kein Zufall, daß gerade dort, "wo die griechische Sprache das Gefliß für den geschichtsdynarnisch geladenen Geist des Judentums und Christentums wurde, im Neuen Testament", dieses Wort Kairos seinen prägenden Gebrauch gefunden hat l44 . Denn von Jesus dem Christus heißt es, daß er in der Zeitenfülle, also en kairo, gekommen war. Der Kairos ist für den Christen in seinem "einzigartigen und universalen Sinn" das ,,Erscheinen Jesu als des ,Christus "d45. In jedem Kairos ist nach Tillich ",das Reich Gottes nahe herbeigekommen', denn in ihm vollzieht sich eine welthistorische, unwiederholbare, einmalige Entscheidung für oder gegen das Unbedingte" 146. Deshalb ist ,jeder Kairos, wenn auch verhüllt, der universale Kairos, der sich in seiner Einmaligkeit manifestiert hat in der Erscheinung des Christus, aber er bringt die Erfüllung nicht in der Zeit" 147. Freilich ist das Kommen des Christus im Kairos nicht eine isolierte Erscheinung. Vielmehr setzte der von Tillich sogenannte ",große Kairos '" viele kleine Kairol voraus 148. Kairos bedeutet für Tillich "im prophetischen Sinne ,Zeitenfülle " Hereinbrechen des Ewigen in

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Tillich, Paul, Bd. I, 1956), s. 296. Tillich, Paul, Bd. I, eI956), S. 297. 142 Tillich, Paul, Bd. I, eI956), S. 297. 143 Vgl. Tillich, Paul, Kairos I (1923), in: Ges. Werke Bd. VI. Stuttgart 1963, S. 10. Vgl. auch Tillich, Paul, Kairos III (1958), in: Ges. Werke Bd. VI, Stuttgart 1963, S. 137. 144 Tillich, Paul, Kairos I (1923), s. 10. 14S Tillich, Paul, Kairos I (1923), S. 24. 146 Tillich, Paul, Kairos I (1923), S. 24. 147 Tillich, Paul, Kairos I (1923), S. 24. 148 Tillich, Paul, Kairos III (1958), S. 138. 140 141

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3. Kap.: Die Zeit-Ewigkeit-Relation moderner Theologen

die Zeit" 149. In ihm zeigt sich der "unbedingte Entscheidungs- und Schicksalscharakter" des geschichtlichen Augenblicks 150. Handeln aus dem Kairos heißt, endliche Formen als Hinweis auf das Unbedingte gestalten. In der Lehre vom Kairos wirkt die horizontale und auch die vertikale Dialektik des geschichtlichen Prozesses zwischen dem Unbedingten und dem Bedingten 15l . Im historischen Prozeß war der Kairos für Tillich am stärksten im Sozialismus vertreten. Wird dieser vom Kairos her gedeutet und gestaltet, ist der religiöse Sozialismus eine adäquate Interpretation. Indem dieser den Gedanken des Sozialismus aufnimmt, versucht er, dessen Kulturkritik wahrzunehmen und sie in die Tiefe zu führen l52 . Obwohl eine Botschaft immer irrtümlich ist, weil sie nur in Annäherungswerten denkt, gilt die Botschaft vom Kairos nie als ein Irrtum. ,,Denn wo sie als Botschaft vom Unbedingten her verkündigt wird, da ist der Kairos schon da,,153. Die Verkündigung des Kairos ist nicht möglich, ohne daß diejenigen, die ihn verkündigen, selbst von ihm ergriffen worden sind l54 . Der Kairos hat einen engen Bezug zur dialektischen Deutung der Geschichte. Theonomie, Autonomie und Heteronomie sind miteinander verbunden 155. Während die Heteronomie den menschlichen Geist einer fremden Herrschaft unterwirft, ist die Wende von der Autonomie zur Theonomie durch den Kairos markiert.

III. Pierre Teilhard de Chardin und der Punkt Omega Auf den Paläontologen und Theologen Piere Teilhard de Chardin wird hier nur wegen des von ihm entwickelten Begriffs des Omega-Punktes und der damit verbundenen Zeitvorstellung eingegangen. Er beschreibt in seiner Kosmologie die Evolution der Biosphäre und beginnt sein bedeutendstes Werk "Der Mensch im Kosmos" (Le Phenomene humaine) mit den Worten: "Um das Buch, das ich hier vorlege, richtig zu verstehen, darf man es nicht lesen, als wär es ein metaphysisches Werk, und noch weniger wie eine Art theologischer Abhandlung, sondern einzig und allein als naturwissenschaftliche Arbeit,,156. Die Evolution endet nicht mit der Menschheit, sondern setzt sich weiter fort. Auch die denkende Schicht, die Noosphäre, erlebt eine Evolution als Aufstieg des 149 Tillich, Paul, Kairos 11 (1926), in: Ges. Werke Bd. VI, Stuttgart 1963. S. 33. Vgl. auch Kairos 111, in Ges. W. Bd. VI, S. 138. ISO Tillich, Paul, Kairos 11 (1926), S. 35. 151 Vgl. Tillich, Paul, Kairos I (1923), S. 25. 152 Vgl. Tillich, Paul, Kairos I (1923), S. 26. 153 Vgl. Tillich, Paul, Kairos I (1923), S. 28. 154 Vgl. Tillich, Paul, Kairos I (1923), S. 28. m Vgl. Tillich, Paul, Kairos I (1923), S. 25. 156 Teilhard de Chardin, Pierre, Der Mensch im Kosmos, München 1959, S. I.

III. Pierre Teilhard de Chardin und der Punkt Omega

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Bewußtseins 157. Zur Noogenese gehören die "Annäherung der denkenden Elemente; Synthesen von Individuen und Synthesen von Nationen und Rassen,,158. Wenn einmal eine solche Bewegung eine entsprechende Zahl von Elementen erreicht hat, so daß sich die Menschheit nicht mehr fortentwickeln kann, "dann ist für den Geist der Erde das Ende und die Erfüllung gekommen,,159. Zum Verständnis der Evolution benötigte er die begriffliche Unterscheidung einer doppelten Energie. Für ihn nämlich existiert eine tangentiale und eine radiale Energie. Die tangentiale Energie entspricht der, die von den Physikern gemessen wird. Die radiale dagegen ist als eine geistige oder psychische Energie zu verstehen l60 . "Radiale - psychische - Energie ist ebenso allgegenwärtig wie tangentiale Energie,d6l. Jede Energie psychischer Natur ist in allen Formen von Materie - wenigstens rudimentär - vorhanden. Darum haben "alle Formen von Materie eine Art Leben auf niedrigem Niveau,,162. Zwar entwickelt sich das kosmologische System von Pflanzen und Tieren immer höher. Aber diese Entwicklung schien für ihn der zweite Satz der Thermodynamik zu verbieten. Außerdem würde der WänTIetod jede Hoffnung auf das Erreichen einer höchsten Intelligenz auslöschen. Diese würde, wenn sie von der tangentialen Energie abhängt, und wenn es zum WänTIetod käme, untergehen. Die radiale Energie dagegen, die einem universellen Gesetz unterliegt, das dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik widerspricht, würde immer konzentrierter und verfügbarer. Ihre Konzentration triebe die Evolution zum Menschen voran l63 . Mit der Zeit wird die psychische Energie die tangentiale Energie übertreffen, und die Noosphäre, also das denkende Leben, wird dann in einem "überintelligenten Wesen, dem Omegapunkt, aufgehen"I64. Die geistige Energie wird nicht nur überwiegen, sie wird gar von der tangentialen unabhängig werden. Am Ende der Welt wird dann der Omegapunkt das denkende Leben in sich aufnehmen. Er kehrt zu sich selbst zurück. Damit ist er das letzte Ziel des Lebensbaums und damit seines "derzeit ,führenden Zweigs', der Spezies Mensch" 165. Das Ende der Welt stellt sich für Teilhard dann so dar: ,,Die Noosphäre, die das aüßerste Maß ihrer Komplexität und zugleich ihrer Zentrierung erreicht hat, kehrt durch eine nach innen gerichtete Gesamtbewegung zu sich selbst zurück,,166. Gleichzeitig ist das Ende der

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Teilhard de Chardin, Pierre, (1959), S. 235. Teilhard de Chardin, Pierre, (1959), S. 283. Teilhard de Chardin, Pierre, (1959), S. 284. Teilhard de Chardin, Pierre, (1959), S. 40 f. Tipier, Frank J., Die Physik der Unsterblichkeit, München 1994, S. 149. Tipler,FrankJ.,(1994),S.149. Vgl. Tipler, FrankJ.,(I994),S. 149. Tipier, Frank J.,(1994), S. 150. Tipier, Frank J.,(1994), S. 150. Teilhard de Chardin, Pierre, (1959), S. 284.

3. Kap.: Die Zeit-Ewigkeit-Relation moderner Theologen

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Welt "ein Umsturz der Gewichtsverteilung,,167 und damit des Gleichgewichts, so daß der Warmetod eintritt. Die Merkmalle des Omegapunktes im speziellen sind: 1. Der Omegapunkt "erlaubt der Menschheit, dem Tod im allgemeinen und dem Warmetod im besonderen zu entgehen,,168. In der Diktion Teilhards lautet dieser Gedanke: Der Grundfehler aller Formen des Fortschrittsglaubens, wie sie in den positivistischen Glaubensbekenntnissen zum Ausdruck gelangen, besteht in ihrer Unfähigkeit, den Tod endgültig auszuschließen. Was ist damit getan, wenn man an der Spitze der Evolution irgendeinen Brennnpunkt entdeckt, aber dieser Brennpunkt eines Tages zerfallen kann und muß? ... - Um den höchsten Forderungen unseres Wirkens gerecht zu werden, muß Omega vom Sturz der Evolutionskräfte unabhängig sein,,169. 2. Der Omegapunkt liegt nicht in der Zeit, sondern an der Grenze jeder zukünftigen Zeit. Er ist das Ende der zeitlichen Abfolge 17o. ,,Das ist aber auch die Art, in der sich uns der Punkt Omega selbst am Ende des Vorgangs enthüllt, in dem Maße, als der Aufbau der Synthese in ihm auf seinen Gipfel gelangt. Doch beachten wir, daß er sich unter dem Gesichtspunkt der Evolution nur halb zeigt. Er ist das letzte Glied der Reihe und doch zugleich außerhalb der Reihe. Er ist nicht nur die Krönung, sondern auch der Abschluß ....Wenn er nicht von Natur erhaben wäre über Zeit und Raum, die er in sich sammelt, so wäre er nicht Omega,,171. Als Eigenschaften des Punktes Omega lassen sich feststellen: Eigengesetzlichkeit, allgegenwärtiges Wirken, Irreversibilität und schließlich Transzendenz 172 . 3. Der Omegapunkt ist als Punkt zu kennzeichen; denn er entspricht der Singularität des Ereignisses 173 . 4. Der Omegapunkt kann nur in einem "endlichen und begrenzten geometrischen System, etwa der Erdoberfläche, entstehen, da nur in einer solchen Umgebung die Menschheit gezwungen ist, im Omegapunkt aufzugehen,,174. Schließlich ist nur in einem begrenzten System eine unbegrenzte Kommunikation möglich. Die Menschen können im Omegapunkt Hoffnung finden, und dieser Begriff weist auf die Zukunft hin. Der Omegapunkt wird im Sinne von Boethius und Pla167 168 169 170 171 172

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Teilhard de Chardin, Pierre, (1959), S. 284. TipIer, Frank 1.,(1994), S. 151. Teilhard de Chardin, Pierre, (1959), S. 264. Vgl. TipIer, Frank 1.,(1994), S. 151. Teilhard de Chardin, Pierre, (1959), S. 265. Teilhard de Chardin, Pierre, (1959), S. 265. Vgl. Teilhard de Chardin, Pierre, (1959), S. 154. TipIer, Frank 1.,(1994), S. 152. TipIer, Frank 1.,(1994), S. 152. Vgl. dazu Teilhard de Chardin, Pierre, (1959), S. 231 f.

IV. Jürgen Moltmann: Zeit der Schöpfung

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ton wie Gott als ewig und nicht nur wie die Welt als dauernd bezeichnet 175 . Er existiert bereits und gibt sich durch gewisse Anzeichnen bereits jetzt zu erkennen. Teilhard meint sogar, in seinem gläubigen Bewußtsein, die lebendige Wirklichkeit des Punktes Omega gefunden zu haben 176. Der Punkt "Omega" ist das Ziel "der menschlichen Schicht". Es ist gleichsam der oberste Punkt einer Konvergenzzone der menschlichen Entwicklung, deren zeitliche Gestaltung jedoch nicht bestimmbar ist, aber mit Jahrmillionen angesetzt werden kann 177 . Teilhard kann sogar von dem "Gott-Omega" sprechen, auf dem am Ende der Welt der vollendete Geist von seiner Hülle gelöst - ruhen wird 178 . Aber für ihn gibt es etwas, das zwar in der gleichen Linie liegt, "aber noch höher steht als der Punkt Omega,,179.

IV. Jürgen Moltmann: Zeit der Schöpfung Jürgen Moltmanns Zeitauffassung steht hier zur Debatte wegen seiner ökologischen Dimension bei dem Gebrauch von Zeit und ihrer Bedeutung für den Umgang des Menschen mit der Natur. Der archaische Mensch empfindet nach J. Moltmann die Zeit als zyklisch. Der Kreislauf der Zeit bestimmt sein Leben. Zeit wird als ewige Wiederkehr verstanden. "Die Erfahrung der Zeit ist hier nicht gerade die Erfahrung der Individualität der Ereignisse und der Irreversibilität ihres Geschehens, sondern die Erfahrung der Wiederholung.,18o. Moltmann definiert die Zeit als eine Qualität des Geschaffenen. "Zeit gibt es nur als geschaffene Zeit" 181. Er beruft sich auf Augustin und fragt im Anschluß an dessen Gedanken, wie sich im schöpferischen Akt Gottes Ewigkeit und des Geschöpfes Zeitlichkeit zusammendenken lassen. Gott ist der ewige Schöpfer. Zwischen Ewigkeit und Zeitlichkeit besteht ein Gegensatz. Muß das eine nicht das andere aufheben? Er greift auf Barths Interpretation der augustinischen Überlegungen zurück: 1. ,,Fällt der Anfang der Zeit in die Zeit oder in die Ewigkeit? Fällt er in die Zeit, dann gab es Zeit vor der Zeit. Fällt er in die Ewigkeit, dann ist die Zeit selbst ewig,,182. Augustin sieht Gott als den creator aeternus. Karl Barth hat dagegen ausgeführt, daß es keine Schöpfung vor dem Geschöpf und auch keine Zeit vor dem Schöpfer gab. Vor der Zeit gab es nur Gottes Ewigkeit. Aber eben diese seine Ewigkeit offenbart sich als seine Bereitschaft für die Zeit. Augustins Aus175 176 177

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Vgl. Tipier, Frank J.,(1994), S. 203. Teilhard de Chardin, Pierre, (1959), S. 287. 290. Teilhard de Chardin, Pierre, (1959), S. 42. 180. Teilhard de Chardin, Pierre, (1959), S. 284. Teilhard de Chardin, Pierre, (1959), S. 294 Anm. I. Moltmann, Jürgen, Gott in der Schöpfung, München 1985, S. 119 f. Moltmann, Jürgen, (1985), S. 125. Moltmann, Jürgen, (1985), S. 127.

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3. Kap.: Die Zeit-Ewigkeit-Relation moderner Theologen

sage von der Schöpfung: creatio in tempore, cum tempore, interpretiert er mit Barth als mundus factus cum tempore, ergo in tempore l83 . Er versteht diesen Satz so: "Gott schuf die Welt mit ihrer Zeit - in seiner Zeit. mundus factus cum tempore creata in tempore Dei,,184. 2. Für Barth ist Zeit im Unterschied zur Ewigkeit ein Zeitfluß des Seienden von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft hinein l85 . Bei Augustin wird die Schöpfung als ein umgekehrter Zeitfluß erfahren; er fließt "aus dem Noch-Nicht-Sein der Zukunft durch das Sein der Gegenwart in das Nicht-MehrSein der Vergangenheit,,186. In seiner Irreversibilität geht er also von der Zukunft in die Vergangenheit und macht alles zur Vergangenheit. Wenn eine der Zeiten eine besondere Nähe zur Ewigkeit haben sollte, dann ist es die Vergangenheit. Augustin glaubt, aufgrund der "fundamentalen Distanz der Zeit des Geschöpfes" zur Ewigkeit Gottes die "Zeit mit Vergänglichkeit zu identifizieren und die Zeit des Geschöpfes als Zeit des Todes zu qualifizieren"187. Aber diese Qualifikation ist nach Moltmann nicht die einzige Möglichkeit für die geschöpfliche Zeit. Der Mensch erfährt die Zeit in der biblischen Tradition unterschiedlich: (1) Da ist zunächst das kairologische Verständnis der Zeit, wie es bereits in der

biblischen Überlieferung dargestellt wurde. Jedem Geschehen wird seine bestimmte Zeit zugeordnet; denn es hat seine eigene Zeit. Israel spricht darum auch im Plural von Zeiten. Der Noah-Bund etwa begründet den Rhythmus der Zeiten. Er wird zum Kairos des Geschehens. (2) Dieser Schicht schließt sich das verheißungsgeschichtliche Verständnis der

Zeit an. Israel erfährt seinen Gott in einmaligen, geschichtlichen Ereignissen. Das Exodusereignis ist zwar ein einmaliges, aber zugleich auch ein Ein-füralle Male geschehenes. Gottes Treue bestimmt das Ereignis. (3) Die ,Eschatologisierung des Geschichtsdenkens' (G. v. Rad) gibt das dritte

Stichwort, die prophetische Zeiteifahrung, wieder l88 . Die Propheten verheißen das neue Handeln Gottes. Zeitkontinuität ist nicht mehr vorhanden. Gott spricht: "Ich will ein Neues schaffen" (Jes. 43,8). Das neue Schaffen Gottes wird zeitlich den neuen Exodus oder den neuen Bund bringen. Diese prophetischen Erfahrungen haben auch einen eschatologischen Akzent. Es wird auf das Neue verwiesen; "das neue Gotteshandeln geschieht in ,seiner' Zeit, der ,neuen' Zeit,,189. 183 Vgl. Barth, Karl, Bd. 111, I, 1947, S. 76. Moltmann, Jürgen, (1985), S. 128. S. oben Kap. 2.V, S. 38 Vgl. Barth, Karl, Bd. 111, I, 1947, S. 76. 186 Mültmann, Jürgen, (1985), S. 126. 187 Müitmann, Jürgen, (1985), S. 129. 188 Mültmann, Jürgen, (1985), S. 131. 189 Moltmann, Jürgen, (1985), S. 132. 184

18S

IV. Jürgen Moltmann: Zeil der Schöpfung

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(4) In der apokalyptischen Literatur stehen sich zwei Weltzeiten oder kosmische

Mächte gegenüber, die die Differenzen von Vergangenheit und Zukunft unendlich steigern können. Das Kommen des Messias läßt die messsianische Zeit beginnen. (5) Vom messianischen Verständnis der Zeit im Neuen Testament wird die apoka-

lyptische Lehre vorausgesetzt l90 . Der Anbruch der neuen Schöpfung ist gekommen. Tod und Auferweckung Jesu wird als diese Aionenwende verstanden. Das Kreuz und der Tod ist das Kennzeichen des alten Aion, die Auferweckung Jesu kennzeichnet den Anbruch des neuen Aion. Damit wird zur Vergangenheit alles, "was in der Gegenwart des Messias Jesus nicht-mehr gilt und nicht-mehr wirkt: die Sünde, das ,Gesetz' und der Tod. Zur Gegenwart wird alles, was in der Gegenwart des Messias Jesus schon-jetzt gilt und wirkt: die Gnade, die Versöhnung, die Freiheit" 191 . Moltmann will das Weltsymbol Geschichte als das der modemen Zeit in das Konzept der Natur integrieren. Er will damit auf die Begrenzung des Ökosystems Erde hinweisen. Dabei geht es ihm um eine wechselseitige (perichoretische) Durchdringung der drei Zeit-Modi, "die sich qualitativ durchdringen und nicht einfach quantitativ voneinander abgegrenzt werden können,,192. Das bedeutet: 1. "Die Erfahrung der Wirklichkeit als ,Geschichte' wird im eschatologischen Horizont der ,Zukunft der Geschichte' sinnvoll und erträglich 193". Sie hat sich aus den politischen und industriellen Revolutionen der Neuzeit entwickelt. 2. "Das historische Bewußtsein differenziert zwischen der gegenwärtigen Vergangenheit und der vergangenen Gegenwart und versetzt in die Lage, Zukunft in der Vergangenheit zu entdecken, vergangene Möglichkeiten wiederaufzunehmen und mit der gegenwärtigen Zukunft zu verbinden,,194. 3. "Das Zukunftsbewußtsein differenziert zwischen der gegenwärtigen Zukunft und der zukünftigen Gegenwart und versetzt in die Lage, zwischen zukünftiger Vergangenheit und zukünftiger Zukunft zu unterscheiden" 195. 4. Die "gegenwärtige Zukunft ist auf die Synchronisierung der verschiedenen geschichtlichen Zeiten ausgerichtet" I 96.

5. Die "gegenwärtige Zukunft ist auf die Sychronisierung der menschlichen Geschichtszeit mit den Rhythmen der natürlichen Zeit ausgerichtet, mit den

190 191 192 193 194 195 196

Mollmann, Jürgen, (1985), S. Mollmann, Jürgen, (1985), S. Moltmann, Jürgen, (1985), S. Mollmann, Jürgen, (1985), S. Mollmann, Jürgen, (1985), S. Mollmann, Jürgen, (1985), S. Mollmann, Jürgen, (1985), S.

132. 134. 136. 136. 136. 136. 136.

62

3. Kap.: Die Zeit-Ewigkeit-Relation moderner Theologen

Rhythmen des Ökosystems ,Erde' und mit den Biorhythmen des menschlichen Leibes" 197. Die menschliche Geschichte und die Geschichte der Natur müssen zu einem Einklang kommen, wenn die Geschichte der Menschheit nicht durch den ökologischen Tod zu ihrem Ende kommen soll. Bei der Deutung der Zukunft muß zwischen Extrapolation und Antizipation unterschieden werden. Wird Zukunft im Zuge einer Extrapolation von Gegenwart und Vergangenheit als Futur verstanden, wird die Zukunft zu einer verlängerten Gegenwart bzw. Vergangenheit gemacht l98 . Diese Zukunft ist das Futur. Sie ist ein Werdeprozeß der physis l99 . Die Antizipation ist die andere Definition der Zukunft, der Advent. Sie ist vom lateinischen Wort adventus abgeleitet: Ankunft dessen, was (wer) ankommt. Advent ist im Neuen Testament der "Inbegriff der messianischen Hoffnung,,2oo. Wenn diese Zukunft (Advent) an die Stelle von Futur tritt, wie es etwa in der Offenbarung (1,4) heißt, dann gilt von Gottes Sein: Es ist im Kommen und nicht im Werden begriffen. Gegenwart und Zukunft stehen dann im Gegensatz zueinander: Gegenwart ist nur eine vorläufige. Zukunft weist auf Gottes eschatologisches Sein hin. Beide Zeitmodi stehen in einem qualitativen Unterschied zueinander; das ist die Differenz zwischen alt und neu 201 . In der Praxis werden Antizipation und Extrapolation in einem Akt verbunden 202 . Die Geschichte bestimmt den gegenwärtigen Horizont der Zukunft. Gechichte und Natur dürfen nicht mehr wie in der Vergangenheit gegeneinander definiert werden. Die Verknüpfung beider hat Auswirkungen auf das Verhältnis Mensch und Natur. Die Geschichte wird erst durch eine neue "kosmologische Theozentrik" auf ein menschliches und ein natürliches Maß gebracht. Daraus folgt dann die Aussage: "Die natürlichen Geschöpfe sind nicht um des Menschen willen da, sondern die Menschen sind um der Ehre Gottes will da, die von der Schöpfungsgemeinschaft gerühmt wird,,203. Es geht hier um den Sinn des Lebens, um die Freude am Dasein und nicht um ein Tun und Schaffen des Menschen. Die Krone der Schöpfung ist darum für Moltmann nicht etwa der Mensch, sondern der Sabbat. Denn ohne "die Stille des Sabbats wird Geschichte zur Selbstzerstörung der Menschheit. Durch die Ruhe des Sabbats wird Geschichte mit dem göttlichen Maß geheiligt und mit dem menschlichen Maß gesegnet,,204. 197 198 199 200

201 202 203 204

Moltmann, Jürgen, (1985), S. 136. Vgl. Moltmann, Jürgen, (1985), S. 144. Vgl. Moltmann, Jürgen, (1985), S. 143. Moltmann, Jürgen, (1985), S. 144. Moltmann, Jürgen, (1985), S. 144. Mo1tmann, Jürgen, (1985), S. 145. Moltmann, Jürgen, (1985), S. 149. Moltmann, Jürgen, (\ 985), S. 150.

4. Kapitel

Philosophische und naturwissenschaftliche Zeitbestimmungen Die Zeit ist zum Grundthema kosmologischer Forschung geworden. Der Zusammenhang von Zeit, Raum und Materie beschäftigt die modeme Naturwissenchaften l . Die Zeit-Frage ist eng mit der Erforschung der Entstehung des Universums verbunden. Mit dem Urknall beginnt die physikalische Zeit. Wissenschaftliche Aussagen können nicht darüber gemacht werden, ob vor der Entstehung der Welt physikalisch von einer Zeit gesprochen werden kann. Es kann sie gegeben haben oder auch nicht2 . Eins jedoch steht fest: Dies ist allein die Zeit des Schöpfers.

I. Eine philosophische Auswahl Bei allen darzustellenden Zeit-Analysen kann es nicht um das ganze Philosophiesystem gehen, sondern nur um eine kurze Behandlung des darin enthaltenen Zeit-Verständnisses. Kant und Heidegger begründen die Zeit im Subjekt selbst: "Kant in dem logischen Ich der Apperzeption, Heidegger in dem seine Ganzheit je und je hervorbringenden zeitlichen Ich. Beide scheitern in diesem Unternehmen; Kant durch die Entzeitlichung der Subjektivität, Heidegger durch die ,Überforderung' des zeitlichen Ich, das seine Ganzheit selbst sein soll, sie doch aber immer vor sich hat,,3.

1. Die Zeitauß'assung bei Immanuel Kant

Kants Zeitauffassung findet sich am deutlichsten in der Kritik der reinen Vernunft, aber auch schon in seiner Dissertation von 17704 • Seine Zeitinterpretation I Vgl. dazu: Hawking, Stephen w., Eine kurze Geschichte der Zeit, Reinbek bei Hamburg 1995. 2 Vgl. Genz, Henning, Wie die Zeit in die Welt kam, München, Wien 1996, S. 30 f. Vgl. Cramer, Fritz, Der Zeitbaum, Frankfurt u. a. 1993, S. 133. 3 Manzke, Karl Hinrich, Ewigkeit und Zeitlichkeit, Göttingen 1992, S. 51. 4 Vgl. dazu Söffler, Detlev, Auf dem Weg zu Kants Theorie der Zeit, Frankfurt 1994, S. 173, wo er sich mit seiner These auf Heideggers "Marburger Vorlesungen" bezieht.

64

4. Kap.: Philosophische und naturwissenschaftliche Zeitbestimmungen

aus dem Gedanken der Bewegung ist eher an die Naturphilosophie Newtons als an die Aristoteles' angelehnt 5 . Auch der Gedanke der Veränderung wird bei Kant anders als bei Aristoteles - als Ausgangspunkt des Verständnisses von Zeit verstanden. Aus seiner Bewegungslehre erschließt er die Apriorität der Zeit. Denn Zeit ist apriori vorgegeben. Sie muß aus der Relation zur Ewigkeit befreit werden. Zeit wird von Kant stattdessen von der Einheit zwischen beiden und von der Subjektivität des Ich erklärt. Heideggers "schlechthinnige Zeitlichkeit der Subjektivität" beruft sich deshalb mit Recht "auf die Begründung der Zeit in der Einheit des Subjekts", wie sie bei Kant vorliegt6 • Zeit und Raum sind bei ihm konstitutive Bedingungen für die Erkenntnis des Menschen. Zeit ist nach der 1. These Kants kein "empirischer Begriff', der aus einer Erfahrung "abgezogen" wird 7 • Raum und Zeit sind die Bedingungen, unter denen empirische Anschauungen allein möglich sind. Zeit ist also nichts, das für sich selbst bestünde. Sie besteht nicht ohne Gegenstand. Dieses Argument führt zur Apriorität der Zeit. Denn diese beruht auf der "Unterscheidbarkeit zwischen der Vorstellung der Gegenstände in Raum und Zeit und den Vorstellungen von Raum und Zeit se1bst"s. Damit wird Zeit zu einer "universalen Medialität" der apriorischen Vorstellung von ihr9 . Auf ihrer Basis läßt sich sagen, daß alles nur aufgrund des Mediums Zeit zu erkennen ist. Auch die 2. These widmet Kant der Apriorität der Zeit. Sie ist nämlich eine "notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zu Grunde liegt". In ihr ist "alle Wirklichkeit möglich". Objektiv gibt es kein Nichtsein von Zeit; ohne sie ist also keine Vorstellung möglich. Aber subjektiv läßt sich die Zeit wegdenken. Kant bestreitet der Zeit jeden Anspruch einer "absoluten Realität"; er erkennt ihr ,nur' eine "empirische Realität" zu, und das heißt eine "objektive Gültigkeit in Ansehung aller Gegenstände, die jemals unseren Sinnen gegeben werden mögen"lO. Denn für Kant beteht zwischen dem An-sieh-Seiendem und den Vorstellungen darüber eine unüberbrückbare Kluft. Was wir überhaupt von der Welt erfassen, ist ihre Erscheinung, nicht ihr An-sich-Sein. Nach der menschlichen Erfahrung stehen alle Gegenstände unter dieser ihrer Bedingung. Darum ist sie "also lediglich eine subjektive Bedingung unserer (menschlichen) Anschauung ... und an sich, außer dem Subjekte, nichts" 11 • 3. These: Auf diese Notwendigkeit der Apriorität gründet sich für Kant "auch die Möglichkeit apodiktischer Grundsätze von den Verhältnissen der Zeit oder von Vgl. Manzke, Karl Hinrich, (1992), S. 57. 161. Manzke, Kar! Hinrieh, (1992), S. 59. 7 Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, Stuttgart 1966, § 4, S. 94 ff. 8 Manzke, Karl Hinrieh, (1992), S. 105. 9 Vgl. Herms, Eilert, ,,Meine Zeit in Gottes Händen", in: Konrad Stock (Hrsg.), Zeit und Schöpfung, Gütersloh 1997, S. 71 Anm. 14. 10 Kant, Immanuel, (1966), § 4, S. 99. 11 Kant, Immanuel, (1966), § 4, S. 94 ff. u. § 6 S. 99. 5

6

I. Eine philosophische Auswahl

65

den Axiomen von der Zeit überhaupt" 12. Verschiedene Zeiten sind nur Teile ein und derselben Zeit. Alle Erscheinungen (Gegenstände der Sinne) sind in der Zeit; denn alle Dinge sind als Erscheinungen in der Zeit. Für Kant existieren Raum und Zeit, insofern sie apodiktische Grundätze enthalten, die als Regeln gelten können, "unter denen überhaupt Erfahrungen möglich sind,,13. In der 4. These wird von der Zeit gesagt, daß sie kein "diskursiver" oder "allgemeiner" Begriff ist. Dieser entspringt also nicht der Abstraktionsfähigkeit des Verstandes, sondern ist eine ,,reine Form der sinnlichen Anschauung,,14. In der 5. These nimmt Kant zur Unendlichkeit der Zeit Stellung. Jede konkrete Zeitbestimmung kann nur als eine Einschränkung "einer einigen" Zeit erkannt werden. Unendlichkeit gehört zu den Bestimmungen der Zeit als Anschauung hinzu. "Daher muß aber die ursprüngliche Vorstellung Zeit als uneingeschränkt gegeben sein,,15.

Kants Zeit-Interperetation wird nach Meinung Hegels und Reideggers durch die Endlichkeit fixiert. Denn Kants Philosophie ist durch die auf sich selbst gründende "endliche Zeitlichkeit" bestimmt 16 . Für ihn ist Zeit im Gegensatz zur absoluten Zeitvorstellung Newtons nicht etwas, "was für sich selbst bestünde,,17. Es ist im Gegensatz zu Leibniz auch nichts, "was den Dingen als objektive Bestimmung anhinge,,18. Stattdessen versucht Kant, den spekulativ-subjektiven Zeitbegriff zu verobjektivieren. Insofern steht seine Zeit-Auffassung Newton näher als Einstein. Er ist ferner eher imstande, den christlichen Schöpfungsglauben in seiner Theorie zu integrieren als das in der aristotelischen Philosophie möglich ist.

2. Georg Wilhelm Friedrich Hegel und die Zeit Für Regel ist Kant der Philosoph, "der die Zeit aus sich selbst verstehbar machen will, indem er sie als Verfassung des endlichen Erkennens schlechthin festzuschreiben sucht,,19. Regel hat die Überlegungen über die Zeit, wie sie von Aristoteles vorgetragen wurden, seinerseits zur Grundlage der Zeitperspektive gemacht, indem er sich direkt an diesen angelehnt hat 2o . Aristoteles hat den Kern der Zeit Kant, Immanuel, (1966), § 4, S. 95. Kant, Immanuel, (1966), § 4, S. 95. 14 Kant, Immanuel, (1966), § 4, S. 95. 15 Kant, Immanuel, (1966), § 4, S. 95. 16 Manzke, Karl Hinrieh, (1992), S. 156. 17 Kant, Immanuel, (1966), § 6, S. 97. 18 Kant, Immanuel, (1966), § 6, S. 97. 19 Manzke, Karl Hinrieh, (1992), S. 156. 20 Auf diese Ähnlichkeiten macht Heidegger, Martin in: Sein und Zeit, Tübingen (§ 82), S. 432 Anm. 1, aufmerksam. 12

13

5 Kramer

10 1963,

66

4. Kap.: Philosophische und naturwissenschaftliche Zeitbestirnrnungen

im Jetzt (nyn) erkannt, auch Hegel sieht sie im Jetzt und hier speziell als Punkt konzentriert. Zeit steht bei Hegel mit Raum und Bewegung in einem direkten Zusammenhang 21 . Er sieht - ganz modem! - Raum und Zeit in einer engen - nicht nur äußerlichen - Aneinanderreihung. Der Raum stellt sich als die Vielheit "der in ihm unterscheidbaren Punkte" d~2. Aber Raum ist nicht etwa nur ein Punkt, sondern "Punktualität,,23. Setzt man einen Punkt, so unterbricht man zwar den Raum; "aber schlechthin ist der Raum dadurch nicht unterbrochen 24 . In dieser Dialektik ist der Punkt zwar die Negation des Raumes, aber er bleibt doch Raum. Der Punkt bleibt schließlich im Raum. ,Jn der Negation der Negation (das heißt der Punktualität) setzt sich der Punkt für sich und tritt damit aus der Gleichgültigkeit des Bestehens heraus,,25. Das Für-sieh-setzen jedes Punktes ist ein Setzen des Jetzt. Jeder Punkt ist also ein Jetzt-Punkt26 . Raum "ist" wegen seines Jetzt-Charakters Zeit, und Zeit ist die "Wahrheit des Raumes,m. "So wird der Raum zur Zeit,,28. Der Raum geht also in Zeit über. Gemeinhin gilt: In der Zeit ensteht und vergeht alles. Für Hegel muß es stattdessen heißen: ,,Aber nicht in der Zeit entsteht und vergeht alles, sondern die Zeit selbst ist dies Werden, Entstehen und Vergehen, das seiende Abstrahieren, der alles gebärende und seine Geburten zerstörende Kronos.,29. Weil die Dinge endlich sind, sind sie zeitlich. Die Endlichkeit der Dinge bestimmt also ihren Zeitchrakter. Und umgekehrt: ,,Die Dinge selbst sind das Zeitliche,,3o. Da alle endlichen Dinge zeitlich sind, sind sie auch der Veränderung unterworfen. Ihre Dauer ist also nur relativ. Diese wiederum muß von der Ewigkeit unterschieden werden. Sie ist es nämlich, die die Zeit als relativ aufhebt. Die Ewigkeit selbst ist "unendliche, d. h. nicht relative, sondern in sich reflektierte Dauer',31. Während die endlichen Dinge zeitlich sind, muß vom Wahren, von der Idee oder dem Geist gesagt werden, daß sie 21 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel (Hrsg.), Frankfurt/Main 1970, S. 45 f. Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel (Hrsg.), Frankfurt/Main 1970, Werke Bd. 9, § 254 ff., S. 41 ff. 22 Heidegger, Martin, (1963), (§ 82), S. 429. 23 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel (Hrsg.), Frankfurt/Main 1970, Werke Bd. 9, § 254, S.43. 2.4 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Enzyklopädie (1970), Bd. 9, § 254, S. 43. 2!i Heidegger, Martin, (1963), (§ 82), S. 430. 26 Heidegger, Martin, (1963), (§ 82), S. 430. 27 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Bd. 9, Enzyklopädie (1970), § 257, S. 48. 28 Hege\, Georg Wilhelm Friedrich, Bd. 9, Enzyklopädie (1970), § 257, S. 48. 29 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Bd. 9, Enzyklopädie (1970), § 258, S. 49. 30 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Bd. 9, Enzyklopädie (1970), § 258, Zusatz, S. 50. 31 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Bd. 9, Enzyklopädie (1970), § 258, Zusatz, S. 50.

I. Eine philosophische Auswahl

67

ewig sind32 . Ewigkeit ist ohne die "natürliche Zeit". Sie ist die "absolute Zeitlosigkeit,,33. Darum ist von der Ewigkeit zu sagen, daß sie ist. Weder wird sie sein, "noch war sie" einmal! Da nach Hegel nur die Gegenwart ist, "das Vor und Nach" aber nicht ist, ist die "wahre Gegenwart" die Ewigkeie4. Aristoteles deutet Zeit durch den Begriff der sphaira oder auch direkt als Kreislauf35 , Hegel sieht die Zeit ähnlich, nämlich auch als Kreislauf und den Lebensprozeß als einen zeitlichen Zyklos. Auch Schelling hat das Kreislaufdenken stark herausgestellt. Beide, Hegel und Schelling, korrespondieren also mit der aristotelischen Kreislauf-Aussage. Hegel sieht Zeit und Geist eng verbunden. Von der Zeit gilt: Sie "ist der Begriff selbst, der da ist, und als leere Anschauung sich dem Bewußtsein vorstellt; deswegen erscheint der Geist notwendig in der Zeit, und er erscheint so lange in der Zeit, als er nicht seinen reinen Begriff erfaßt, d. h. nicht die Zeit tilgt,,36; Indem der Begriff sich selbst erfaßt, hebt er also seine Zeitlichkeit auf. ,,Die Zeit erscheint daher als das Schicksal,,37 und als die Notwendigkeit des Geistes.

3. Martin Heidegger und sein Zeitverständnis Martin Heidegger gewinnt sein Zeit-Verständnis aus der Analyse des Daseins. Er versteht Zeit als Schlüssel zur Deutung des Seins. Sie ist die Grundbefindlichkeit des Seins, von der her alles Seiende zu erklären ist 38 . Das Sein des Daseins ist in seiner ontologischen Struktur als "Sorge" zu interpretieren. Aber die SorgeStruktur kann das Ganze des Daseins nicht aufdecken. Erst "die Zeitlichkeit ermöglicht die Einheit von Existenz, Faktizität und Verfallen und konstituiert so ursprünglich die Ganzheit der Sorgestruktur,,39. Die Zeitlichkeit macht dadurch den "ursprünglichen Seins sinn des Daseins" aus40 • In dem Begriff der Zeitlichkeit steckt die Selbstbehauptung des Daseins. Die Zeit ist nicht; aber das Dasein ist, indem es "zeitigt,,41. Die Zeitlichkeit weist darauf dahin, daß das Dasein aus sich

Heget Georg Wilhelm Friedrich, Bd. 9, Enzyklopädie (1970), § 258, S. 50. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Bd. 9, Enzyklopädie (1970), § 258, Zusatz, S. 50. 34 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Bd. 9, Enzyklopädie (1970), § 259, Zusatz, S. 55. 35 Aristoteles, Physik 223b, 28 - 32. S. oben S. 26 ff. 36 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Bd. 3, Phänomenologie des Geistes Bd. 3 (1970), S.584. 37 Heget Georg Wilhelm Friedrich, Bd. 3, Phänomenologie (1970), S. 584 f. 38 V gl. Heidegger, Martin, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, Frankfurt am Main 1979, S. 44 39 Heidegger, Martin, (1979), S. 328. 40 Heidegger, Martin, (1979), S. 235. 41 Vgl. Barth, Kar1, Die Kirchliche Dogmatik Bd. I, 2, Zürich 1948, S. 51. 32 33

68

4. Kap.: Philosophische und naturwissenschaftliche Zeitbestirnmungen

selbst heraus "ganz" sein kann. Aus ihr wächst das "alltäglich-vulgäre Zeitverständnis", das sich zu einem "traditionellen Zeitbegriff' entfaltet 42 . Der Seinssinn des Daseins ist das Dasein selbst43 . Das Dasein ist als Sein zu verstehen, die Zeit als das, "von wo aus Dasein überhaupt so etwas wie Sein unausdrücklieh versteht und auslegt,,44. Darum legt er fest, daß es nicht heißen darf: ,,Zeit ist, sondern: Dasein zeitigt qua Zeit sein Sein,,45. Etwaige Konsequenzen für den Ewigkeitsbegriff sind offenkundig. Denn dieser bejaht die endliche Zeitlichkeit und gibt damit schließlich und endlich die Ewigkeit als das ,Gegenüber' der Zeit preis 46 . Die Daseinsanalyse Heideggers führt zu einer Ablösung des Zeitverständnis von dem Gedanken der Ewigkeit. Damit bleibt der Charakter des Ewigkeitsbegriffs erhalten, wie er von Boethius formuliert wurde und der die Ewigkeit als einen "unverbrüchlichen und gleichzeitigen Selbstbesitz des ganzen Lebens denkt,,47. Heideggers Begriff von Zeit ist von dem "vulgären" oder "traditionellen" Zeitbegriff, der sein Zentrum in dem Jetzt-Ereignis hat, abzugrenzen. Dieser ist seit Aristoteles bewahrt worden48 . Die Kontinuität der Bedeutung des vulgären - nivellierenden - Zeitbegriffs von Aristoteles über Kant und Hegel bis in die eigene Zeit wird von Heidegger immer wieder betont49 . Den aristotelischen "vulgären" Zeitbegriff trennt Heidegger von dem "ekstatisch-horizontalen", wobei ekstatisch als Außer-sieh-sein oder "an und für sich selbst" verstanden wird5o. Die Zeitkategorien ,jetzt", "dann" und "damals" weisen auf die Datierbarkeit und auf die ekstatiche Einheit der Zeitlichkeit hin 5!. In der vulgären Auslegung der Zeit als einer ,,Jetztfolge werden zwei wichtige Faktoren, die für die ekstatisch-horizontale Zeit von Bedeutung sind, zugedeckt und damit nivelliert: Die Datierbarkeit und die Bedeutsarnkeit des Jetzt,,52. Zur Erörterung des vulgären Zeitbegriffs zieht Heidegger aristotelische Überlegungen heran 53. Zeit ist für diesen das Gezählte. Die Zahl bestimmt bei Aritstoteles die Zeit, und Heidegger schließt sich an54 . Das sind die ,Jetzt'. Diese gezählten Jetzt sind Zeit55 . Heidegger, Martin, (1963), (§ 45), S. 235. Heidegger, Martin, (1979), S. 325. 44 Heidegger, Martin, (1979), S. 17. 45 Heidegger, Martin, (1979), S. 442. 46 Vgl. Manzke, Karl Hinrich, (1992), S. 200. 245. 47 Manzke, Kar! Hinrich, (1992), S. 245. Boethius hat in: Philosophiae consolatio, V,6,4 geschrieben: "aetemitas igitur est intenninabilis vitae tota simu! et perfecta possessio". 48 Heidegger, Martin, (1963), (§ 5), S. 18. 49 Heidegger, Martin, (1963), (§ 5), S. 18 u. (§ 82), S. 433 Anm. 50 Vgl. Heidegger, Martin, (1963), (§ 65), S. 329. 51 Vgl. Heidegger, Martin, (1963), (§ 79), S. 408. 52 Heidegger, Martin, (1979), S. 420. 53 Heidegger, Martin, (1963), (§ 81), S. 420 ff. 54 Heidegger, Martin, (1963), (§ 79), S. 421. Vgl.Manzke, Kar! Hinrich, (1992), S. 195 f. 42 43

I. Eine philosophische Auswahl

69

Solche "im Uhrgebrauch" erkannte "Weltzeit" ist die ,,Jetzt-Zeit,,56. Heidegger versteht die Zeit als ein ,,Nacheinander", "als ,Fluß' der Jetzt, als ,Lauf der Zeit,,,57. Diese Jetztfolge ist "ununterbrochen und lückenlos,,58. Zeit "verläuft sich nicht". Sie ist als Jetztfolge in jedem Jetzt fließend. Aber: "Als Anblick des Bleibens bietet sie zugleich das Bild des reinen Wechsels im Bleiben ,,59. Das Jetzt gliedert sich bei Aristoteles auf in das Früher und Später und bei Heidegger in das "damals" und "dann". Bei allen "Teilen" des Jetzt bleibt es doch immer noch als Ganzes. Aber jedes Jetzt löst sich dann auf in ein Jetzt und ein Jetzt-nicht-mehr. Damit stellt die Zeit eine Jetztfolge dar, der ein "Soeben" und ein "Sofort" vorausgeht bzw. nachfolgt. Es läßt sich kein Anfang und Ende finden 60 . Für ihn ist die vulgäre Zeit nichts anderes als "das Man, dem das Dasein in seiner Alltäglichkeit verfallen ist,,61. Aber diese Weltzeit oder vulgäre Zeit des Alltags hat immer auch einen ",ausgezeichneten' Bezug zu ,Seele' und ,Geist",62. Doch die vulgäre Weltzeit bleibt, um mit Bonhoeffer zu sprechen, im Vor-Letzten, auch wenn sie als "unendlich" gilt63 . Das ist kein Gegensatz zur Aussage, daß die ursprüngliche Zeit endlich ist. Nur weil sie endlich ist, kann sich die Zeit der Jetztfolge "als unendlich zeitigen,,64. Die Zeit ist weder im ,Objekt' gegeben, "wenn damit das An-sich-vorhandensein des innerweltlich begegnenden Seienden gemeint wird", noch im ,Subjekt', "wenn darunter das Vorhandensein und Vorkommen in einem ,Subjekt'" gemeint ist65 . Sie kann weder in einer Objektivierung verdinglicht noch "subjektivistisch verflüchtet werden,,66. Insgesamt läßt sich feststellen, daß eine objektive welt- oder kosmisch bezogene Zeitauffassung etwa von Platon, Aristoteles Newton und Kant vertreten wurde. Eine subjektive vom Erleben her getragene Ansicht war bei Augustin und eine subjektiv-existenzbezogene war bei Martin Heidegger zu finden 67 .

55 56 57

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66 67

Heidegger, Martin, (1963), (§ 79), S. 407. Heidegger, Martin, (1963), (§ 81), S. 421. Heidegger, Martin, (1963), (§ 81), S. 422. Heidegger, Martin, (1963), (§ 81), S. 423. Schulz, Walter, (1992), S. 75 Zitat aus Heidegger, Sein und Zeit. Heidegger, Martin, (1963), (§ 81), S. 424. Heidegger, Martin, (1979), S. 426. Heidegger, Martin, (1963), (§ 81), S. 427. Heidegger, Martin, (1963), (§ 65), S. 331. Vgl. Heidegger, Martin, (1963), (§ 65), S. 331 u. (§ 81), S. 424. Heidegger, Martin, (1979), S. 419. Heidegger, Martin, (1979), S. 420. Vgl. Baumgartner, Hans Michael, (1994), S. 198 f.

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4. Kap.: Philosophische und naturwissenschaftliche Zeitbestimmungen

11. Naturwissenschaftliche Vorstellungen Der Anfang des Universums begann nach heutigen naturwissenschaftlichen Vorstellungen zur Zeit null mit dem Urknall (big bang) aus einem extrem dichten und heißen Zustand heraus. Das All war so dicht, daß keine Bewegung möglich war. Deshalb konnte es auch kein Zeitmaß geben. Indessen stellt sich die Frage, ob die Explosion des big bang nur eine Phase des Universums ist, der andere vorausgegangen sind oder folgen werden. Immerhin könnte dem Urknall schließlich auch eine Kontraktion vorausgegangen oder nachgefolgt sein. In bei den Ereignissen, wäre der big bang dann nur eine Durchgangsphase.

In der modernen Kosmologie wird mit dem Urknall die Zeit bestimmt. Sie hat einen Anfang und darum auch ein Ende. Vor dem Urknall von Zeit zu sprechen, hat nach Steven Weinberg keinen Sinn68 . Er meint, daß es wie beim absoluten Nullpunkt der Kälte auch einen absoluten Nullpunkt der Zeit gibt - "einen Augenblick in der Vergangenheit, über den hinaus es grundsätzlich unmöglich ist, die Kette von Ursache und Wirkung fortzusetzen,,69. Das Ende wird durch das "schwarze Loch" gesetzt.

1. Das Raum-Zeit-Denken und die Wahrnehmung von Zeit Von einer Schöpfung der Welt kann man zwar aus naturwissenschaftlicher Sicht sprechen, von einer Schöpfung der Zeit aber nicht. In der Natur gibt es viele unterschiedliche Zeit-Begriffe. Es muß zwischen dem physikalisch-astronomischen, dem menschlich-biologischen oder auch dem theologischen Zeitbegriff unterschieden werden. Außerdem ist zwischen Zeit und Ewigkeit zu differenzieren 70 . Bis zur speziellen Relativitätstheorie Einsteins war die Zeitvorstellung durch Newtons Begriff einer absoluten Zeit geprägt. Diese wurde von ihm deshalb als absolut angesehen, weil sie von einem Bezugssystem unabhängig ist. Sie ist universell und ohne Beziehung zu einem "äußeren Gegenstand"71. Newton schrieb in seinen ,,Mathematische[n] Pinzipien der Naturlehre" von 168672 : "Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig, und ohne Beziehung auf irgend einen äußeren Gegenstand. Sie wird so auch mit dem Namen Dauer belegt". Der Zeitbegriff Newtons war über Jahrhunderte Vgl. Weinberg, Steven, Die ersten drei Minuten, München, Zürich 41979, S. 206. Weinberg, Steven, (41979), S. 206 70 Siehe dazu die Definitionen im Glossar. 71 Vgl. Mittelstaedt, Peter, Über die Bedeutung und Begründung der speziellen Relativitätstheorie, in: Jürgen Audretsch u. Klaus Mainzer (Hrsg.), Philosophie und Physik der Raum-Zeit, Mannheim, Wien, Zürich 1988, S. 84 72 Zitate aus: Mittelstaedt, Peter, Der Zeitbegriff in der Physik, Heidelberg u. a., 31996, S.15. 6S

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H. Naturwissenschaftliche Vorstellungen

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hindurch gültig. Er begründete die klassische lineare Abfolge, auf der die Naturwissenschaft und Technik bis zur Entdeckung der Relativitätstheorie Einsteins im 20. Jahrhundert aufbaute?3. Im Weltablauf kommt in der Newton'schen Lehre jedem Ereignis eine bestimmte absolute Zeit zu. Die Zeitabfolge existiert objektiv. Der Wahrheitscharakter der Zeit "wird in letzter Konsequenz im wesentlichen mit ,Objektivität' gleichgesetzt,,74. Die mechanische Uhren sind für die objektive Zeiterfassung kennzeichnend. "Aber sie sind nur die "unvollkomnenen Geräte zur Verfolgung dieser an sich existierenden absoluten Zeit,,75. Von der objektiven Zeitfestsetzung hebt Newton die relative Zeit ab. Er schreibt über diese: "Die relative, scheinbare und gewöhnliche Zeit ist ein fühlbares und äußerliches, entweder genaues oder ungleiches Maß der Dauer, dessen man sich gewöhnlich statt der wahren Zeit bedient, wie Stunde, Tag, Monat, Jahr". Er sah die Augenblicke einer absoluten Zeit als Punkte auf einer geometrischen Geraden an. Die Zeit ist für ihn eine abstrakt gleichförmige und reversible (ungerichtete) Zeit76 . In diesem mechanistischen Weltbild der klassischen Physik verläuft die Mischung und Ordnung der Atome (hier als kleinste Einheiten der Materie im Sinne von Elektron, Quark etc. verstanden) keinesfalls zufällig, sondern nach ganz bestimmten Gesetzen. Mittels der Erkenntnis der Grundgesetze der Newton'schen Mechanik ist ihre Bewegung von den auf sie einwirkenden Kräften abhängig. Diese werden bestimmt von den anderen Atomen, ihrer Art und ihrer räumlichen Verteilung. Für Newton galt: "Bei genauer Kenntnis der Naturgesetze reicht eine genaue Kenntnis des Zustandes der Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt z. B. im jetzigen Augenblick, prinzipiell aus, das Vergangene voll zu rekonstruieren und das Künftige eindeutig vorherzusagen,,77. Da aber Newtons Mechanik irreversible Prozesse nicht erklären kann, steht sie der unveränderbaren Welt des Parmenides nahe. Eine Naturwissenschaft, die auch die irreversiblen Prozesse erklären will, erinnert eher an das Weltbild des Reraklit. 73 Die ReIativitäts-Vorstellung läuft dem gesunden Menschenverstand zuwider. Wenn sich nämlich ein Fahrrad mit 15 krn/h von mir entfernt, und ich mit fünf km/h in die entgegengesetzte Richtung gehe, beträgt die Relativgeschwindigkeit 20 km/ho Umgekehrt, wenn ich in dieselbe Richtung des Fahrradfahrers gehe, beträgt die Relativgeschwindigkeit 10 km/ho Die Schwierigkeit für unsere Vorstelllungskraft besteht darin, daß die Relativgeschwindigkeit unabhängig von unserer Bewegung 15 km/h beträgt. Das behaupten die Gleichungen der Speziellen Relativitätstheorie für einen Lichtimpuls, gleichgültig wie schnell und in in weIche Richtung sich jemand bewegt. Dabei beträgt die gemessene Lichtgeschwindigkeit immer c =3 x 105km/s. Vgl. dazu Fraser, Julius T., Die Zeit: vertraut und fremd, Basel, Boston, Berlin 1988, S. 284. 74 Dürr, Hans Peter, Wie offen ist die Zeit? in: Was ist Zeit? Kurt Weis (Hrsg.), München 1995, S. 187. 75 Schommers Wolfram, (1997), S. 125. 76 Vgl. Bievert, Bemd / Held, Martin, Time matters - Zeit in der Ökonomik und Ökonomik in der Zeit, in: Bemd Bievert / Martin Held (Hrsg.), Zeit in der Ökonomik, Frankfurt u. a. 1995, S. 24. 77 Dürr, Hans Peter, (1995), S. 188. Kursivschreibung R.K.

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4. Kap.: Philosophische und naturwissenschaftliche Zeitbestimmungen

Raum und Zeit werden in der Geschichte verschieden definiert. Einstein hat die aristotelische Auffasssung des Raumes verwendet. Er verstand Raum nicht als einen unendlichen Behälter, in dem alles geordnet ist, sondern im Sinne von Aristoteles als Distanz zwischen den Körpern. Newton dagegen hatte als "Bezugspunkt der Messung von Zeit ein Fixum angenommen" und den "Raum" als einen Behälter verstanden 78. Dem Raumbegriff als unendlicher Behälter entspricht die Zeit als unendliche Zeitspanne, die auf beiden Seiten ins Unendliche reicht. Zeit, in anderer Form gedeutet, besagt, daß sie mit der Welt geschaffen wurde und sich auf die Welt und ihre Veränderungen bezog (Th. von Aquin). Danach existiert Zeit nicht als absolute Größe (Leibniz gegen Newton). Leibniz steht mit seiner Vorstellung wie früher schon die der Scholastik der Auffassung der Relativitätstheorie näher als der Newtons. Für Leibniz gibt es keine absolute Zeit, die unabhängig von allen Objekten existiert. Newtons Zeitbegriff ist von Leibniz in seiner Korrespondenz mit dem Newton-Anhänger und Theolog~n Clark einer scharfen Kritik unterzogen worden. Er sah sie wie den Raum als etwas Relatives an. Zeit ist lediglich eine Ordnung von Phänomenen. Die Materie ist dem Raum und der Zeit vorangestellt.

2. Der Zeitpfeil Die Zeitvorstellung Newtons wurde durch Einsteins Relativitätstheorie und Max Plancks Quantentheorie abgelöst. Heute bestimmen die Ergebnisse der Relativitätstheorie und Quantenmechanik die modeme Physik. Nach der Einstein'schen Revolution ist die Zeit kein unabhängig Seiendes, sondern eine Ordnungsform der Materie 79 . Seine spezielle und erst recht seine allgemeine Relativitätstheorie lehnen die Absolutheit der Zeit ab. Wahrend es in der realen Zeit einen großen Unterschied zwischen einem zeitlichen Vorwärts und Rückwärts gibt, existiert dieser in der imagiären Zeit, die sich von den Richtungen im Raum nicht unterscheiden läßt, kaum 8o. Alle Zeiten sind vorhanden. Die Zeit erstreckt sich als Pfeil nach vom und hinten. "Der Zeitpfeil ist das neue Bild der gerichteten Zeit (Irreversibilität),,81. "Das Anwachsen der Unordnung oder Entropie mit der Zeit ist ein Beispiel für das, was wir Zeitpfeil nennen, für etwas, das die Vergangenheit von der Zukunft unterscheidet, indem es der Zeit eine Richtung gibt. Es gibt mindestens drei verschiedene Zeitpfeile: den thermodynamischen Zeitpfeil, die Richtung der Zeit, in der die Unordnung oder Entropie zunimmt; den psychologischen Zeitpfeil, die Richtung, in der unserem Gefühl nach die Zeit fortschreitet, die Richtung, in der wir die Vergangenheit, aber nicht die Zukunft erinnern; und den kosmologischen 78 Baumgartner, Hans Michael (Hrsg.), Zeitbegriff und Zeiterfahrung, Freiburg/München 1994, S. 282. 79 Vgl. Wild, Wolfgang, Wie kam die Zeit in die Welt? in: Kurt Weis (Hrsg.), Was ist Zeit? München 1996, S. 163 80 Hawking, Stephen W. (1991), S. 181. 81 Bievert, Bemd / Held, Martin, (1996), S. 24.

11. Naturwissenschaftliche Vorstellungen

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Zeitpfeil, die Richtung der Zeit, in der sich das Universum ausdehnt und nicht zusammenzieht,,82. Der Zeitpfeil kann in seiner Irreversibilität subjektivisch, wie Einstein meinte, als auch objektiv verstanden werden83 . Freilich existiert aus der quantenmechanischen Sicht keine durchgängige objektive Welt. "Es gibt nämlich weder die aus der Newton'schen Mechanik bekannten scharfen Zustände der Materie noch ihre eindeutigen gesetzlichen Verknüpfungen, die zusammen erst eine prinzipiell scharfe Bestimmung aller zukünftigen Ereignisse ermöglichen,,84. C. F. von Weizsäcker hat die These vertreten, daß der physikalische Zeitcharakter hinsichtlich seines objektiven bzw. subjektiven Gehalts nicht mit der menschlichen Unkenntnis in Verbindung zu bringen ist, vielmehr sind die Wahrscheinlichkeiten in der modemen Physik keine subjektiven Wahrscheinlichkeiten. Sie spiegeln geradezu "eine objektiv inhomogene Struktur der Zeit wider,,85. Das zukünftige Geschehen ist damit offen, also nicht mehr determiniert. Deshalb ist es auch nicht mehr möglich, daß sich - wie noch in der mechanistischen Denkweise Newtons ein ganz bestimmtes Atom vom Ort A nach der Stelle B bewegt, sondern das Atom A "bewirkt" gleichsam, daß mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit und gemäß der Heisenberg'schen Unschärferelation ein Atom am Orte B ist, "ohne daß damit seine Existenz auf dem A und B verbindenden Zwischenstück nachgewiesen wird,,86. Die neue Physik unterliegt aufgrund der allgemeinen Relativitätstheorie nicht einer ewigen Wiederkehr, sondern geht von der nichtzyklischen Zeit und damit von der Nichtwiederkehr aus. In der Relativitätstheorie gibt es keine absolute Zeit. ,,Nach ihr hat jedes Individuum sein eigenes Zeitmaß, das davon abhängt, wo es sich befindet und wie es sich bewegt,,87. Aufgrund der Beschleunigung wird Zeit zu einer relativen Größe und zu einem persönlichem Begriff, abhängig vom messenden Beobachter. Wir kommen heute her von der mathematisch-linearen Vorstellung der Zeit, die in Gestalt von Ursache und Wirkung und vom Vorher zum Nachher geprägt ist. Die modeme theoretische Physik steht nicht im Einklang mit der ,traditionellen' Zeitvorstellung des Individuums. Die Relativitätstheorie erkennt nämlich die Unterschiede von Vergangenheit und Zukunft nicht. Aber gerade diese Differenzierung kennzeichnet das menschliche Dasein. Die früher vom Beobachter unabhängige Antwort auf die Frage: "Welche Raum-Zeitpunkte können von einem Ereignis beeinflußt werden", mußte lauten: "Alle, die später sind". Die nach der Relativitätstheorie neu zu formulierende Antwort heißt nunmehr: ,,Beeinflußt werden können alle Raum-Zeitpunkte, die vom Ausgangsereignis mit maximaler Hawking, Stephen w., (1991), S. 183. Vgl. Wild, Wolfgang, (1995), S. 174. 84 Dürr, Hans-Peter, (1995), S. 193. 85 Zitat nach Müller, A. M. K., in: Manzke, Karl Hinrich, Ewigkeit und Zeitlichkeit, Göttingen 1992, S. 17. 86 Dürr, Hans-Peter, (1995), S. 191. 87 Hawking, Stephen W. (1991), S. 51. Vgl. S. 151. 82

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4. Kap.: Philosophische und naturwissenschaftliche Zeitbestimmungen

Lichtgeschwindigkeit erreicht werden können,,88. Im übrigen muß gesehen werden, daß sich das, was schneller als die Lichtgeschwindigkeit ist, zeitlich rückläufig bewegt. Manche Physiker meinen nämlich, daß es gar Teilchen gäbe, Tachyone, die sich mit mehr als der Lichtgeschwindigkeit fortbewegen. Ausgangspunkte für die physikalische Zeiterfassung sind heute weder Erfahrungen noch "spekulative Überlegungen" als vielmehr Experimente, in denen die Zeit nicht von Raum und Materie getrennt wird, sondern mit bei den in Verbindung gebracht wird 89 . Raum und Zeit sind nicht unabhängig voneinander, sondern sie sind als Raum-Zeit eng miteinander verflochten. Vor der Entwicklung der allgemeinen Relativitätstheorie (1915) stellt man sich Raum und Zeit als "festgelegten Rahmen vor, in dem die Ereignisse stattfinden können, der aber durch das, was in ihm geschieht, nicht beeinflußt wird,,90. Durch die allgemeine Relativitätstheorie änderte sich das Bild vom Universum. An die Stelle eines im wesentlichen unveränderlichen Universum trat die Vorstellung eines dynamisch expandierenden Universum, das zeitlich einen Anfang und ein Ende hat. Raum und Zeit wirken auf alles im Universum ein und werden auch davon beeinflußt91 . In der modernen Physik wird die euklidische Raumzeit (im Gegenüber zur wirklichen) als vierdimensionaler Raum verstanden. In ihr unterscheidet sich die Zeitrichtung nicht von den Richtungen im Raum. Ein Punkt in der Raumzeit, der durch Raum und Zeit festgelegt ist, ist ein ,Ereignis'. Nach der Einstein'schen Relativitätstheorie kann sich bekanntlich nichts schneller bewegen als das Licht. "Wenn dieses also nicht mehr entkommen kann, gilt das auch für alles andere: Alles wird durch das Gravitationsfeld zurückgezogen. So gibt es eine Menge von Ereignissen, eine Region der Raumzeit, aus der kein Entkommen möglich ist. Eine solche Region nennen wir heute ,Schwarzes Loch'. Ihre Grenze wird als ,Ereignishorizont' bezeichnet und deckt sich mit den Wegen der Lichtstrahlen, denen es gerade nicht gelingt, dem Schwarzen Loch zu entkommen,,92. Die allgemeine Relatitvitätstheorie beantwortet nicht die Frage, wieso es zum Urknall kam. Man kann auch nicht vorhersagen, was sich aus solcher Singularität entwickelt 93 . Bis zum Jahre 1964 galt die symmetrische Fonn der Zeitumkehrbarkeit. Das bedeutete, daß die Zeit sowohl positiv wie negativ verlaufen konnte, ohne daß die physikalischen Gesetze gebrochen wurden. Im Jahre 1964 fanden Physiker in der Princeton Universität, daß bestimmte Teilchen die Zeitsymmetrie verletzen 94 . 88 Audretsch, Jürgen, Ist die Raum-Zeit gekrümmt? - Der Aufbau der modernen Gravitationstheorie, in: Jürgen Audretsch und Klaus Mainzer (Hrsg.), Philosophie und Physik der Raum-Zeit, Mannheim, Wien, Zürich, 1988, S. 59. 89 Schulz, Walter, (1992), S. 58. 90 Hawking, Stephen w., (1991), S. 51. 91 Vgl. Hawking, Stephen W., (199\), S. 51. 92 Hawking, Stephen w., (1991), S. 113. 93 Vgl. ingesamt dazu Hawking, Stephen W. (199\), S. 155.

III. Der soziale Zeitbegriff

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In der Einsteinschen Raum-Zeit-Dimension stellt sich die Zeit als eine Funktion von Ausdehnung und Krümmung des Raumes dar. Die Unabhängigkeit der Zeit wird verneint. Der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft wird aus der kosmischen Perspektive herausgelöst. "Die Naturgesetze unterscheiden nicht zwischen Vergangenheit und Zukunft,,95. Anders verhält es sich dagegen mit der vom Menschen persönlich zu bewertenden Zeit. Das Leben läuft in der Wahrnehmung des Menschen nicht rückwärts. Für ihn ist die Zeit eine meßbare mechanische und zerrinnende Uhr- bzw. Kalenderzeit. Sie ist damit lineare Zeit, die einen Anfang und ein Ende hat. Sie kommt von dem Ereignis der Geburt her und geht auf ein zeitliches Ende hin. Demgegenüber besitzt die mathematischphysikalische Zeit Eigenschaften wie Stetigkeit, Unbegrenzheit und Irreversibilität. Zur personalen Einschätzung der Zeit kommen noch andere Elemente hinzu. Dadurch gewinnt sie andere Perspektiven und Dimension. Eine davon ist ihre soziale Beziehung.

III. Der soziale Zeitbegriff Zeit wird in der Soziologie nicht nur als ein naturwissenschaftlich-techniches Phänomen gesehen, sondern auch als eine in hohem Maße durch die Gesellschaft bedingte und in ihr wirksame Konzeption96 . Die Kalenderentwicklung setzt astronomisches Wissen, die Erfindung der Uhr technische Kenntnisse voraus. Die Kalender- und Uhrzeit als naturwissenschaftliches Zeitphänomen wurde in der Soziologie unterschiedlich behandelt. Sie erfuhr sowohl Ablehnung als auch Annahme. Die Ablehnung hatte insbesondere in der Philosophie Henri Bergsons (18591941, Nobelpreis 1927) ihre Quelle. Bergson entwickelte zwei Zeitbegriffe. Der eine entspringt den Naturwissenschaften, der andere ist durch "inneres Erleben", durch Intensität, geprägt. Die Zeit des Bewußtseins wird gefühlt und nicht wie die naturwissenschaftliche gemessen. Sie ist "reine Qualität" ohne Ausdehnung. Er nennt sie Dauer, "duree". Während der naturwissenschaftliche Zeitbegriff eine Aufeinanderfolge von Zeitpunkten ist, "ist Dauer Gegenwärtigkeit, die ,zugleich in meine Vergangenheit und meine Zukunft eingreift' ,.97. Auf dieser Basis entwickelte sich ein Prozeß der Auseinandersetzung zwischen den Soziologen in der Zeit nach Bergson. Man bezog sich dabei einerseits auf seine Philosophie und ordnete die Zeit den Zeitvorstellungen zu, die mit seinem dunSe-Begriff übereinstimmten, und maß der Uhr- bzw. Kalenderzeit eine untergeordnete Bedeutung im sozialen Leben zu. Andererseits erkannte man, daß ein Ge94 Gardner, Martin, Kann die Zeit rückwärts gehen? in: Peter C. Aichelburg (Hrsg.), Zeit im Wandel der Zeit, Braunschweig, Wiesbaden, 1988, S. 208 ff. 9S Hawking, Stephen W., (1991), S. 182 96 V gl. Schmied, Gerhard, (1985), S. 1l. 97 Schmied, Gerhard, (1985), S. 30.

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4. Kap.: Philosophische und naturwissenschaftliche Zeitbestimmungen

gensatz zwischen der naturwissenschaftlich und der mit der Kultur eng verbundenen sozialen Zeit nicht aufrechtzuerhalten war98 . Einer der modemen Vertreter eines Zeitbegriff, der zugleich beiden Zeitbegriffen einen weitgehenden Einfluß zuschrieb, war Norbert Elias. Er verwies auf die industrielle Gesellschaft, die durch die naturwissenschaftlich-technische Erfassung der Zeit ausgestaltet wurde. Die Entwicklung zu einer Arbeitsteilung innerhalb der abendländischen Gesellschaft hat alle Bevölkerungsschichten getroffen 99 . Beide Zeitkonzeptionen miteinander langfristig zu vereinen, ist für die Soziologie nur auf der Basis von Langzeit-Untersuchungen möglich. Für Elias steckten hinter dem Zeit-Begriff in früheren Gesellschaften physikalisch-natürliche Geschehensabläufe von Sonne und Mond. Diese wurden durch von Menschen hergestellte Instrumente abgelöst. Ein Prozeß der Zivilisation der Zeit beginnt, der als gesellschaftlich geprägt anzusehen ist. Er spricht darum von einer "sozialen" Zeit. Die ökonomische Entwicklung, die den Menschen in immer enger werdende Abhängigkeiten von seinem sozialen Gefüge bringt, trägt zu einem Hineingestelltwerden in fremde Zwänge bei. Man versucht, mit Sprachformen wie ",die Zeit bestimmen' oder ,die Zeit messen'" zwei oder mehrere Geschehensabläufe aufeinander zu beziehen 1oo. Dasselbe tut man mit dem "Auf-die-Uhr-Sehen", also mit der Zeitbestimmung oder dem timing. Aber Elias will noch mehr; er sucht nach der sozialen Bestimmmung der Zeit; diese fällt nicht in die Kompetenz des Physikers 101. Darum verlangt er eine kritische Überprüfung des Zeitbegriffs, speziell die Überprüfung der Differenzierung von physikaler und sozialer Zeit "oder zwischen dem Zeitbestimmen im Zusammenhang mit der ,Natur' und mit der ,Gesellschaft",102. Die beiden Zeit-Theorien aus der Natur und der Gesellschaft sollen nicht getrennt voneinander untersucht, sondern miteinander verknüpfen werden. Die Zeit läßt sich nicht von einer in Objekt und Subjekt gespaltenen Welt her verstehen. Wer in einem solchen polaren Gegensatz denkt, hat eine objektive und subjektive Gegebenheit der Zeit im Auge. Die objektive Seite stellt die Naturgegebenheit dar, die unabhängig von den Menschen existiert. In ihr handelt es sich um die natürliche Schöpfung. Diese Theorie vertrat am stärksten I. Newton lO3 • Es geht Elias nicht um den Menschen und die Natur, sondern vielmehr um den Menschen in der Natur lO4 • Die gleiche Dichotomie von Objekt und Subjekt findet sich im 98 Gerhard Schmied hat die Auseinandersetzung eingehend in seiner Habilitationsschrift: Soziale Zeit: Umfang, "Geschwindigkeit" und Evolution, Berlin 1985, S. 26 ff. behandelt. 99 Vgl. Schmied, Gerhard, (1985), S. 182. 100 Elias, Norbert, (1988), S. 8. 101 Elias, Norbert, (1988), S. 8. 102 Elias, Norbert, (1988), S. 9. 103 Elias, Norbert, (1988), S. X. 104 Elias, Norbert, (1988), S. XV.

III. Der soziale Zeitbegriff

77

Denkrahmen von Natur und Kultur, von Natur und Gesellschaft oder von "physikalischer und erlebter Zeit" wieder 105 . Es ist nicht möglich, jeden Teil getrennt voneinander zu untersuchen. Denn beide Teile existieren nicht getrennt, sondern sie bilden gleichsam zusammen die erlebte Zeit 106 . Zeit ist zwar als eine Naturgegebenheit zu definieren, aber zugleich als eine subjektive Größe, die in der Natur des Menschen angelegt ist 107 . Sie ist das Produkt von subjektiven Erfahrungen und begrifflichem Erfassen dessen, was Zeit ist. Sie kann nur Bestand haben, wenn ihre soziale Struktur Berücksichtigung findet. Dagegen kann es in einer Welt ohne Menschen oder "Lebewesen ähnlicher Art" keine Zeit geben. Die Zeit ist nämlich eine "je nach dem Stand der sozialen Entwicklung verschiedene soziale Einrichtung,,108. Den sozialen Charakter der Zeitbestimmung sieht Elias in der Gestalt des In-Beziehung-Setzen. Zeit ergibt sich zwar im subjektiven Empfinden des Hunger-Habens oder Schlafens. Aber diese Regulierung des Ablaufs richtet sich keineswegs nach der physiologischen Uhr, sondern nach der sozialen. Zeit festzulegen, ist unterschiedlich versucht worden. In der griechischen Zeitrechnung zählte man nach den Olympischen Spielen, in der römischen nach der Gründung Roms: ab urbe condita. Heute wird nach jüdischen, christlichen (oder muslimischen) Kalendern, wie bereits erwähnt, gerechnet. In der Gegenwart weist der Blick auf die Uhr den Menschen darauf hin, daß es Zeit für ein Individuum "ganz für sich allein" nicht gibt, sondern nur für die ganze Gesellschaft, zu der es gehört 109 . Die Zeiterfahrung ist eng verknüpft mit der Erfahrung eines Zusammenhanges unpersönlicher physikalischer - gleichsam automatischer Ereignisse - und dem persönlichen Erleben des Älter-Werdens l1O • In der frühen Phase der Zeitbestimmung zeigt sich in Dorfstaaten z. B. die Rede von Markttagen als Zeitmaßstab. Hierin wird zugleich der soziale Kontext der Zeit offenbar. Man spricht dann etwa von drei ,Märkten', wie man später etwa von drei Wochen spricht. Ähnliches gilt für die Entwicklung zur späteren Synthese-Ebene von Monat und Jahr 111 • Zeit ist also nicht einfach eine Erfindung der Menschen, Vgl. Elias, Norbert, (1988), S. 58 ff. Elias, Norbert (1988), S. 61. Elias verweist auf den Priester, der für sein Volk die ,rechte Zeit' zur Aussaat bestimmt. Er legt ihn, indem er "den Durchgang der Sonne durch einen besonderen Punkt am Horizont verfolgte", fest (S. 62). Der physikalische Teil bestand in der Bewegung der Sonne; der soziale Teil bestand in dieser Beobachtung, um rechtzeitig zu säen. 107 Elias, Norbert (1988), S. XI ff. 108 Elias, Norbert (1988), S. XXI. 109 Vgl. Elias, Norbert, (1988), S. XXIII. XXVIII. Ohne auf Elias einzugehen, ist zu sagen: Schaltmonate kommen auch bei den Bayloniern vor. Ebenfalls im heutigen israelischen Kalender: Auf zwölf Jahre mit zwölf lunaren Monaten (die Monate haben alternierend 29 bzw. 30 Tage) folgen sieben Schaltjahre mit einem zusätzlichen Schaltmonat. Das ist ein Neunzehn-lahre-Zyklus. 110 Vgl. Elias, Norbert, (1988), S. 155. III Vgl. Elias, Norbert, (1988), S. 171. 103

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4. Kap.: Philosophische und naturwissenschaftliche Zeitbestimmungen

eine Idee, die im Kopf der Menschen entstanden ist. Sie ist nämlich eine soziale Einrichtung, eine "je nach dem Stand der sozialen Entwicklung verschiedene soziale Einrichtung,,112. Die Erfahrung von Zeit hängt vom "Entwicklungs stand der die Zeit repräsentierenden und kommunizierenden sozialen Institutionen ab und von den Erfahrungen, die der Einzelne mit ihnen von klein auf gemacht hat,,113. Die Zeit recht zu erfassen, scheint Elias unmöglich, solange zwischen einer physikalischen und einer sozialen Zeit unterschieden wird. Für ihn hat erst Einstein die Entdeckung gemacht, daß Zeit eine Beziehungsform ist und nicht ein "objektiver Fluß, Teil der Schöpfung wie sichtbare Flüsse und Berge, nur eben unsichtbar, aber jedenfalls wie diese unabhängig von zeitbestimmenden Menschen,,114. Die im Deutschen und Französischen (temps) gebräuchliche substantive Form der Zeit führt zu Erschwernissen bei der Wahrnehmung von Ereignissen; und auf die kommt es Elias an. Aber die substantive Form trägt viel zur Verdinglichung der Zeit als eines Dinges in Raum und Zeit bei. Er bedauert, daß die im Englischen gängige verbale Form des "zeiten", also des timing, im Deutschen nicht gegeben ist. Die Verbform macht deutlich, "daß es sich beim Zeitbestimmen oder Synchronisieren um eine menschliche Tätigkeit mit ganz bestimmten Zwecken handelt',m. Dieses Zeitbestimmen hat zum Inhalt, daß man festlegt, ob ein Ereignis vor, nach oder auch gleichzeitig mit einem anderem Ereignis stattfindet. Nach ihm stellt Zeit eine menschliche Syntheseleistung dar, die im Zusammenhang mit sozialen Entwicklungen zu verstehen ist. Darum definiert Elias: Das Wort Zeit ist "ein Symbol für eine Beziehung, die eine Menschengruppe, also eine Gruppe von Lebewesen mit der biologisch gegebenen Fähigkeit zur Erinnerung und zur Synthese zwischen zwei oder mehreren Geschehensabläufen herstellt, von denen sie einen als Bezugsrahmen oder Maßstab für den oder die anderen standardisiert,.116. Die Vorstellung jedoch, die Zeit würde von Uhren erfaßt, ist mißverständlich. Uhren sind für Elias nur eine einfache mechanische Bewegung spezifischer Art, "die von Menschen für ihre eigenen Zwecke gebraucht werden"ll7. Uhren sind nicht die Zeit. Sie gehören zu den markanten Einrichtungen, "die die Zeit repräsentieren,,118. Sie teilen nur mit, was der Mensch Zeit nennt. Darin zeigt sich die Synthese, die das Natur- und Gesellschaftsgeschehen und den natürlichen Lebenslauf in Beziehung bringt l19 . Das Ergebnis dieser Syntheseleistung ergibt sich aufgrund eines langsamen generationslangen Wachstums. Der Mensch hat lernen müssen und können, die erfah112

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IIS 116

117 118 119

Elias, Elias, Elias, Elias, Elias, Elias, Elias, Elias,

Norbert, (1988), Norbert, (1988), Norbert, (1988), Norbert, (1988), Norbert, (1988), Norbert, (1988), Norbert, (1988), Norbert, (1988),

S. S. S. S. S. S. S. S.

XXI. XXI. 96. 11. Vgl. S. 115. S. oben Kap. 1.1, S. 18 ff. 11 f. 9. XXI. XXIV.

III. Der soziale Zeitbegriff

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renen Ereignisse miteinander zu verknüpfen. "Die menschliche Erfahrung dessen, was heute ,Zeit' genannt wird, hat sich in der Vergangenheit verändert und verändert sich in der Gegenwart weiter, und zwar nicht in einer zufalligen oder historischen Weise, sondern in einer strukturierten und gerichteten Weise, die erklärt werden kann,,120. Zeit stellt sich danach als ein Begriff mit einem hohen Verallgemeinerungs- und "Syntheseniveau" dar. Gegenwärtig ist es freilich eher üblich, von einem Abstraktionsgrad als von einer "Synthese" zu sprechen. Aber der Ausdruck ,Abstraktion' ist unklar. Denn es ist schwierig zu erkennen, "wovon die Zeit abstrahiert sein sollte"l2l. Darum repräsentieren für ihn "begriffliche Symbole wie Zeit, Natur, Ursache, Substanz" wahrhaft .. Synthesen auf einem sehr hohen Niveau,,122. Die Zeit stellt also eine menschliche Leistung dar, "mit deren Hilfe Positionen im Nacheinander des physikalischen Naturgeschehens, des Gesellschaftsgeschehens und des individuellen Lebenslaufes in Beziehung gebracht werden,,123. Darum verlangt Elias Verständnis für die Einheit von physikalischer und sozialer Zeit und will Zeit weder als eine Trennung noch als eine lose Verknüpfung von Natur und Gesellschaft definieren. Vielmehr greift er auf Einsteins Erkenntnis zurück, der feststellte, daß Zeit eine "Beziehungsform" ist l24 . Norbert Elias' Zeit-Theorie mutet materialistisch an, weil der Prozeß der Zivilisation als Resultat gesellschaftlicher und ökonomischer Entwicklung gesehen wird. Dagegen ist sein kritisches Verständis der Zeit durch die Natur und die Gesellschaft und damit durch die physikalische und soziale Konzeption durchaus berechtigt. Er wollte beide Zeit-Begriffe in Übereinstimmung bringen und hat deshalb den physikalischen Aspekt mit der gesellschaftlichen Vorstellung auf einem gewünschten Syntheseniveau miteinander verknüpft und die Zeit als "Regulierungsmechanismus" verstanden, der auf die Menschen einen Zwang des Einhaltens ausübt l25 .

120 Elias, Norbert, (1988), S. 2. Elias, Norbert (1988), S. 160. Elias, Norbert (1988), S. 160 (Hervorhebung: R.K.). Das hohe Niveau ist deshalb hoch, weil die Mitglieder der Gesellschaft als beati possidentes Erbe eines reichen Wissens sind (vgl. S. 162). Eine Synthese auf niedrigem Nievau ist etwa dann gegeben, wenn ein Priester sich weigert, die Zeit der Ernte zu verkünden, weil sein Gott ihm diese noch nicht verkündet hat (vgl. S. 164). 123 Elias, Norbert, (1988), S. XXIV. 124 Elias, Norbert, (1988), S. 9. 125 Elias, Norbert, (1988), S. 10. 121

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5. Kapitel

Zeit als ökonomische Größe Als eine grundlegende Gegebenheit und Ordnungsfaktor des menschlichen Zusammenlebens koordiniert die Zeit in der Ökonomie die Tatigkeiten der Menschen und synchronisiert sie. Sie ist auf den Tag mit seinen vierundzwanzig Stunden begrenzt. Vielfach allerdings werden nur die Tageszeiten und ihre effektive Nutzung berücksichtig. Kein Mensch kann zwar seine Lebenszeit vermehren. Aber die Zeit der Menschheit scheint unendlich zu sein.

I. Zeit ist Geld Zeit und Geld sind die bei den Ressourcen, die das Leben der Menschen in entscheidenden Bereichen bestimmen. Der Wert der Zeit in der Ökonomie ergibt sich aus deren Zweck. Da sie nach Bedürfnisbefriedigung strebt, wird die Zeit als Produktionsfaktor zur Erzielung von Gütern und Dienstleistungen eingesetzt. Ferner steht alles Wirtschaften unter einer Planung für die Zukunft. Auch Streben der Unternehmer nach Gewinn und nach einer Kapitalansammlung bzw. Vermögensanreicherung steht unter dem Gesichtspunkt der Zukunfts vorsorge. Zeit hat ihren Preis, sie kostet Geld. Diese Aussage bedeutet, Zeit ist ein knappes Gut. Sie spielte immer schon eine Rolle in der Wirtschaft. Aber man verwandte Zeit als eine konstante und gleichmäßig neutrale Größe. Zeit wird wie jede Ressource differenziert gebraucht. Ihr Einsatz wird im ökonomischen Fluß durch Attribute wie historisch, faktisch, real oder wirklich näher bestimmt'. Meistens spielt die Beziehung zum Geld eine besondere Rolle. Denn nur wenn es um einen Güter-Austausch geht, kann die Ökonomik vom Geld absehen. "Sobald jedoch Kosten und Erträge miteinander verglichen, sobald mit Vermögenswerten mit langer Lebensdauer gerechnet werden muß, wird das Geld als Rechenmaßstab unentbehrlich. Der geldlose Naturaltausch bleibt so ein vergleichsweise exotischer Fall. Die zeitlose Wirtschaft ist demgegenüber ein häufiger Anwendungsfall der Wirtschaftstheorie,,2.

I Vgl. Hüpen, Rolf, Über die Bedeutung der ModelIierung von Zeit für die Wirtschaftstheorie, in: Bemd Bievert ! Martin Held (Hrsg.), Zeit in der Ökonomik, Frankfurt! M; New York 1995, S. 49.

I. Zeit ist Geld

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Im Mittelalter ging die wirtschaftliche Betätigung vom Eigentum an Grund und Boden aus. Die wirtschaftliche Entwicklung verlegte dann immer mehr das ökonomische Betätigungsfeld in die Stadt. Geld wurde ein Zeichen für Beweglichkeit. Zeit und Geld verbanden sich miteinander, so wurde Zeit zu Geld 3 . Die Aussage: "Zeit ist Geld", die Max Weber zuerst bei Bejamin FrankIin als Kennzeichen des Kapitalismus vorfand4 , bedeutet, daß Zeit und Geld miteinander gleichgesetzt werden. Dieser Satz heißt aber nicht, daß Zeit direkt in Geld umgewandelt werden kann, sondern vielmehr: Die Zeit ist als entgangener Zins Geldwert. Der Zins ist der Preis für die eingesetzte Zeit. Man kann von alternative costs oder Opportunitätskosten sprechen. Denn es geht gerade um das Geld, was nicht erwirtschaftet wird. "Richtiger müßte es also heißen: ,Zeit kostet Geld' ,,5. Denn die in Zeiteinheiten gemessene Arbeit kostet als Produktionsfaktor Geld. Geld muß vorhanden sein und auf eine Anlage warten. Dabei gelten beide Aussagen: Zeit kostet Geld und Zeit bringt Geld. Zeit kann also in Geld umgemünzt werden. Umgekehrt freilich ist diese Aussage nur begrenzt möglich: Geld kann man nicht in toto in Zeit umwandeln6 , obwohl man fremde Zeit nutzen kann. Man kann sich fremde Arbeitskraft kaufen, um die eigene effektiver einsetzen zu können. Das läßt sich allerdings nur in einem beschränkten Maße verwirklichen. Es geschieht gewöhnlich heute bei der Einstellung von Mitarbeitern, auf die eigene Arbeiten und Aufgaben delegiert werden. Durch Nutzung von Fremdkapital kann durchaus Zeit zusätzlich "erworben" werden? Die modernen Verkehrsmittel wie Auto, Bahn, Flugzeug erlauben dem Mitarbeiter, seine Zeit "intensiver" auszunutzen. Man spart Zeit. Durch den Einsatz von schnelleren Verkehrsmitteln kann man sich ebenfalls in einem begrenzten Umfang Zeit ,,kaufen". Aber gleichzeitig erfahrt der Mensch, daß er immer weniger Zeit besitzt. Denn auch die gewonnene Zeit wird gleich wieder verbraucht! Die berufliche Mobilität wird zwar erweitert, aber die Zeit wird sofort anderweitig in Anspruch genommen. Bei einem durch effektive Zeitnutzung gewonnen Mehr an Freizeit werden die gewonnenen Freiräume meistens wieder verspielt.

2 Helmstädter, Ernst, Zeit in der Ökonomie und wie geht die Ökonomik damit um? in: Bernd Bievert / Martin Held (Hrsg.), Zeit in der Ökonomik, Frankfurt/M. u. a. 1995, S. 34. Vgl. Kramer, Rolf, Ethik des Geldes, Berlin 1996, S. 26 ff. 3 Vgl. Kramer, Rolf, Ethik des Geldes, Berlin 1996, S. 115 ff. 4 Vgl. Weber, Max, Die protestantische Ethik, Johannes Winckelmann (Hrsg.), Gütersloh 1940, S. 40. 5 Helmstädter, Ernst, (1995), S. 42. 6 Vgl. Kramer, Rolf, (1996), S. 117 ff. 7 Vgl. Simon, Herrnann, Die Zeit als strategischer Erfolgsfaktor, in: Horst Albach (Hrsg.), Zeitschrift für Betriebswirtschaft Bd. 59,1 1989, S. 70 ff.

6 Kramer

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5. Kap.: Zeit als ökonomische Größe

11. Der Wert der Zeit in Geschichte und Gegenwart In der Physik wurde dem Newton'schen Zeit-Begriff als einer reversiblen Zeit, deren Ablauf gleichförmig und ungerichet ist, eine Absage erteilt. Heute sieht man die Zeit als irreversibel (unumkehrbar, aber gerichtet) und zugleich linear an.

In den Naturwissenschaften haben, wie gesagt, Einsteins Relativitätstheorie und Max Plancks Quantentheorie den naturwissenschaftlichen Zeitbegriff grundlegend verändert. Die Ökonomie konnte sich in ihrer klassischen und neoklassischen Theorie nicht von dem überlieferten physikalisch-mathematischen Zeitbegriff der überlieferten mechanischen Physik lösen. Darum herrschte in ihr immer noch der unhistorische Zeitbegriff der mechanischen Physik vor. Die Behandlung der Zeit in der Ökonomie steht deutlich hinter der der Naturwissenschaften zurück 8 . Für die klassische naturwissenschaftliche Denkweise sind Gleichzeitigkeit, Selbständigkeit der Zeit gegenüber dem Raum und die Teilbarkeit der Zeit zu homogenen Einheiten kennzeichnend. In der Quantenmechanik stehen dagegen diskontinuierliche Veränderungen im Vordergrund. Mit Heisenbergs Unschärferelationen fiel das Prinzip der Determiniertheit 9 . Diesen physikalisch Denkansätzen konnte die Ökonomie mit ihrer Zeitvorstellung nicht folgen. Das ökonomische Denken hat sich weitgehend ohne Zeitkategorie entwickelt. Die "Grundlage bildet eine Ökonomik der Gegenwart (mit der Konsequenz, Gegenwart als einen Zeitpunkt zu interpretieren), auf die die Zukunft einwirkt, indem die Ökonomie der Zukunft (über den Zinssatz) auf die Gegenwart herabdiskontiert wird"IO. Gerade die neoklassische Theorie gilt als "Fels" der zeitlosen Ökonomik. Dennoch ist von ihr zu sagen, daß sie keineswegs zeitlos ist 11. Heute versucht man, in einer dynamischen Wirtschaft der Zeitkategorie Rechnung zu tragen 12. In ihr stimmen die Beteiligten die Zeit bei ihren wirtschaftlichen Handlungen miteinander ab. Zeit als solche hat keinen Wert an sich. Man spricht vom Zeitwert der unterschiedlichsten Güter, aber nicht von einem Eigenwert der Zeit. Es gibt viele individuelle Zeitwerte. Jeder empfindet Zeit je nach seiner subjektiven Bewertung anders. Ein junger Mensch geht mit seiner Zeit anders um als ein alter, der stark Beschäftige anders als der Renter. Wer gestreßt ist, nutzt seine geringe Freizeit intensiver als der, der in den Tag hinein leben kann und will. Auch eine objektive 8 Vgl. Simon, Hermann, Die Zeit als strategischer Erfolgsfaktor, in: Horst Albach (Hrsg.), Zeitschrift für Betriebswirtschaft Bd. 59,1 1989, S. 70 ff. 9 Zahrnt, Angelika, Zeitvergessenheit und Zeitbesessenheit der Ökonomie, in: Martin Held und Karlheinz A. Geißler (Hrsg.), Ökologie der Zeit, Stuttgart 1993, S 113. 10 Riese, Hajo, Geld - Zeit - Wert. Grundfragen einer Ökonomik der Zeit, in: Bernd Bievert I Martin Held (Hrsg.), Zeit in der Ökonomie, Frankfurt1M; New York 1995, S. 72. 11 HeImstädter, Ernst, (1995), S. 39. 12 Mit Ragnar Frisch bezieht sich bei der dynamischen Betrachtungsweise mindestens eine der Größen auf zwei verschiedene Zeitpunkte oder Zeitperioden. Eine statische liegt dann vor, wenn sich alle variablen auf denselben Zeitpunkt beziehen. Vgl. Hüpen, Rolf, (1995), S.58.

III. Zeit als Produktionsfaktor

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Bewertung der Zeit ist nicht einheitlich. Eine Arbeitsstunde des Handwerkes wird objektiv anders eingeschätzt als die eines Lehrers oder Arztes.

111. Zeit als Produktionsfaktor In der Betriebswirtschaft spielt Zeit zwar eine gewichtige Rolle, gleichgültig, ob es sich dabei um einen Wettbewerbs- oder Erfolgsfaktor, um Fristen oder Planung, um die Herstellung oder die Vermarktung von Gütern handelt. Aber die Ökonomie hat die Bedeutung der Zeit nicht immer recht wahrgenommen l3 . Ökonomisch wird Zeit differenziert als Bestandsgröße nach dem Zeitpunkt und als Strömungsgröße nach dem Zeitraum. Der Zeit-Punkt hat freilich nichts mit dem Kairos-Begriff der Antike zu tun. Als Zeitpunkt gilt im ökonomischen Denken der auf der Zeitachse fixierte Moment ohne Ausdehnung. Er ist also infinitesimal klein. Ebenso wenig entspricht die Zeitdauer als Strömungsgröße dem Chronosbegriff. Die Zeitdauer bezeichnet als Spanne zwischen einem Anfangs- und einem Endzeitpunkt die Länge der Zeit. Als Kennziffer der Zeit sind Verhältniszahlen zu nennen, so etwa der Lohn pro Zeiteinheit, oder das Ergebnis (der Output) pro Zeiteinheit. Zeit ist ein knappes Gut, durch das die Produktionsmöglichkeiten determiniert werden. Gesparte oder eingesetzte Zeit beeinflußt den Gewinn und den Verlust der Unternehmen. Zeit als Produktionsfaktor erfordert eine Organisation, die die Zeitaspekte in der Fertigung, Forschung und Entwicklung berücksichtigt. Sie ist nicht als ein Gut an sich zu verstehen, sondern erfahrt ihren Wert durch ihren Einsatz mit anderen Produktionsfaktoren. Der Erfolg bzw. Mißerfolg und die zukünftige Planung wird durch sie mit beeinflußt. Zur Zeit der Industriealisierung setzte die Uhr über dem Fabriktor das neue Zeichen, unter dem die Produktion stattfand. Ihr und nicht den Maschinen galt zunächst der Angriff der Maschinenstürmer l4 . Aufgrund eines Maschineneinsatzes kann heute in derselben Zeit mehr oder in geringerer Zeit gleich viel produziert werden. Bei einem Maschineneinsatz wird zwischen Rüstzeit und Ausführungszeit unterschieden. Wahrend die Rüstzeit zur Einrichtung oder zum Reinigen von Maschinen benutzt wird, ist die Ausführungszeit die Zeit, die zur Ausbringung der Ware benötigt wird. In jedem Fall ist eine genaue Zeitmessung vonnöten, um den richtigen Zeit-Verbrauch zu ermitteln. Die modeme Produktion von Gütern hat sich gewandelt. Man setzt heute mehr auf kurzfristige als auf langfristige Güter. Jeder Arbeitsvorgang zur Herstellung oder zum Vertrieb eines Gutes läßt sich als Prozeß darstellen, der aus verschiedenen Teilprozessen besteht. Der EntwickHelmstädter, Ernst, (1995), S. 45. Vgl. Nowotny, Helga, Wer bestimmt die Zeit? in: Kurt Weis, Was ist Zeit? München 1995, S. 94. 13

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5. Kap.: Zeit als ökonomische Größe

lungsprozeß ist vom Herstellungsprozeß im Unternehmen oder vom Prozeß für vertrauensbildende Maßnahmen bei Lieferanten und Kunden zu unterscheiden. Man spricht von einem Effizienzwert der Zeit l5 . Da alle Prozesse Zeit verbrauchen, ist Effizienzsteigerung der Produktion nur möglich, wenn auch der Zeitfaktor Berücksichtigung findet. Zur Steigerung der Effizienz sind grundsätzlich zwei Möglichkeiten denkbar: Besseres Ausnutzen von Zeitansätzen und Steigerung der Zeitabläufe l6 . Besseres Ausnutzen der Zeit bedeutet eine Effizienzsteigerung aller verfügbaren Kapazitäten und die Wahrnehmung aller betrieblichen Möglichkeiten. Da die Steigerung der Prozessgeschwindigkeit (2. Möglichkeit) abhängig ist von der innerbetrieblichen Kommunikation und Informationsweitergabe, müssen die innerbetrieblichen Organisationsstrukturen vereinfacht und sachgerecht eingerichtet werden. Sie müssen so geregelt sein, daß sie auf Veränderungen schnell reagieren können. Ferner muß die Zeit als Kostenfaktor den Mitarbeitern so bewußt werden, daß sie ihn als Wettbewerbsfaktor wahrnehmen und darauf reagieren 17. Zeit muß auch im Rahmen der Mitarbeiterstrategie wirksam berücksichtigt werden. Dabei gilt es, Zeitnutzung, und Zeitverkürzung in allen Bereichen betrieblicher Tätigkeiten von der Forschung und Entwicklung über die Produktion und den Absatz, von der Lieferanten- bis zur Kundenpflege gezielt einzusetzen. Denn alle Zeitstrategien beeinflussen die Kosten eines Unternehmens. Schließlich sind die meisten Kosten in Forschung, Entwicklung und in der Produktion zeitabhängig. Auswirkungen auf die Marktchancen sind also unverkennbar. Industrieunternehmen sind sich heute immer mehr bewußt, daß Zeit zu den strategischen Faktoren der Produktion gehört. In der industriellen Fertigung unterliegt die Produktion einer doppelten Zeitfalle l8 . Die 1. Zeitfalle ist durch die Auswirkungen einer immer umfassenderen Unsicherheit bei den geschäftlichen Prognosen gekennzeichnet. Damit wird eine realistische Planung immer schwieriger. Die 2. Zeitfalle enthält das Dilemma, daß einerseits die Marktzyklen der Güter eine Kontraktion erfahren, und andererseits die Entstehungszyklen neuer Güter kürzer werden. Dadurch veralten die Güter immer schneller. Die Verweildauer der Güter auf dem Markt wird also kürzer. Es wird deshalb schwieriger, einen entsprechenden Umsatz zu planen und zu erzielen. Aus diesen Gründen ist es um so nötiger, die Innovationszeit, die die Zeitspanne von der Planung eines Produktes über die Produktentwicklung bis zur Marktein15 Vgl. z. B. Biesecker, Adelheid, Vom (Eigen-) Wert der Zeit - Nonnative Grundfragen der Zeiökonomik bezüglich einer Neubewertung der Zeit, in: Bemd Bievert / Martin Held (Hrsg.), Zeit in der Ökonomik, Frankfurt/M; New York 1995, S. 190 ff. 16 Vgl. auch Wildemann, Horst, el997), S. 191. 17 Wildemann, Horst, el997), S. 207. 18 Der Begriff stammt von R. Alec Mackenzie, Die Zeitfalle, Heidelberg 1974. V gl. dazu Klenter, Guido, Zeit - strategischer Erfolgsfaktor im Industrieuntemehmen, Hamburg 1995, S.2.

III. Zeit als Produlctionsfaktor

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führung umfaßt, zu verringern. Eine solche Verkürzung ist vor allem Aufgabe des Managements 19 . Ohne seinen Einsatz wird es kaum zu einer solchen Herabsetzung der Zeit kommen. Um das zu erreichen, werden unterschiedliche Maßnahmen vorgeschlagen, die von der Intensivierung der Planung bis zur Verbesserung der Zusammenarbeit oder der Unterstützung durch das Topmanagement reichen. Der wirtschaftliche Erfolg ist abhängig vom kulturellen Zeitverbrauch. Verabredete bzw. eingegangene Arbeitszeitregelungen (z. B. an Sonn- und Feiertagen) und Freizeitregelungen sind gewichtige Faktoren beim Zeitkonsum. Andere Faktoren wie technische Entwicklungen, Beleuchtung, Beheizung der Produktionsräume, gute Erreichbarkeit der Produktionsstätten, Verkehrswege etc. üben ebenfalls ihren Einfluß aus 20 . Um Kosten und damit Geld zu sparen, ist eine Verkürzung von Innovationsbemühungen ins Auge zu fassen. Verkürzungen der Innovationszeiten sind sowohl bei den Maschinenlaufzeiten als auch beim Einsatz des Managements möglich. Ohne Berücksichtigung des Top- und Mittelmanagements wird eine Innovationszeitverkürzung kaum erfolgen. Denn hier werden die einzelnen Schritte von der Idee bis zu der Marktanalyse festgelegt. Eine Abstimmung bis hin zum letzten ausführenden Mitarbeiter ist für eine Zeitverkürzung von Bedeutung. Auf allen Gebieten der Planung einer Innovation gehören Informationen über die Kosten und über die Absatzanalyse zu den wesentlichen Überlegungen des Managements. Zeit kann sehr viel oder nichts bedeuten. Mit der Zeit geht jeder verschieden um. Man will sie nicht verlieren. Darum spart man an ihr. Aber nicht allein das Individuum muß lernen, sich auf neue Erkenntnisse und Verhaltensänderungen einzustellen. Ein "organizational learning" wird gefordert, damit die Fähigkeit einer Organisation verbessert wird, das Wissen und die Erkenntnisse aller Organisationsmitglieder auszutauschen und darüber einen Konsens zu erzielen. Dadurch kann ein abgestimmtes, zielgerichtetes Verhalten erreicht werden 21 . Damit den Mitgliedern die gewonnenen Informationen zukommen, sind schnelle Informations-, Kommunikations und Entscheidungswege erforderlich. Dagegen schneiden "zentralisierte und verrichtungsbezogene Organisationen" im Blick auf die ,,Reaktionsgeschwindigkeit" schlecht ab22 . Einfache Strukturen sind flexibler. Zeitorganisierte Organisationskonzepte können technisch zu Erfolgskonzepten werden, die bei Einkauf, Fertigung, Service, Marketing bzw. in fast allen BereiVgl. dazu Geschka, Horst, Wettbewerbsfaktor Zeit, Landsberg 1993, S. 127 ff. V gl. Bievert, Bemd und Held, Martin, Time matters - Zeit in der Ökonomik und Ökonomik in der Zeit, in: Bemd Bievert und Martin Held (Hrsg.), Zeit in der Ökonomik, FrankfurtIM; New York 1995, S. 23 ff. 21 Wildemann, Horst, Zeit als Waffe im Wettbewerb, in: Kurt Weis (Hrsg.), Was ist Zeit?, München 21997, S. 206. 22 Wildemann, Horst, el997), S. 206. 19

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5. Kap.: Zeit als ökonomische Größe

ehen unternehmerischer Tätigkeit Zeit sparen. Zwei solcher Konzepte seien hier hervorgehoben. Beide werden im betriebswirtschaftlichen Bereich stark diskutiert und finden in der unternehmerischen Praxis breite Anwendung: Die Gruppenarbeit ist das eine Konzept. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß sowohl der einzelne in der Gruppe als auch die Gruppe selbst autonom die jeweilige Zeit bestimmt. Eine Ausprägung der Gruppenarbeit ist die Team-Arbeit und hier wiederum die des Simultaneous Engineering. Das Simultaneous-Engineering-Konzept setzt ein interdisziplinäres Team voraus, in dem Entwicklung, Fertigung, Marketing und Service und die anfällige Entsorgung integriert werden. Das Team bleibt während des ganzen Projektes bestehen 23 . Da durch den Abbau von Abteilungs- und Bereichsgrenzen vor allem Informations-, Kommunikations- und Entscheidungswege verkürzt werden, könnten zeitliche Einsparungen erwartet werden. Aber dem ist nicht so, wie noch zu zeigen sein wird. Indessen ist bei der Einrichtung von teilautonomen Gruppen eine Zeitersparnis durchaus denkbar. Als zeitsparend muß stattdessen die Befehlsform in der vertikalen Kommunikation angesehen werden. Max Weber hat in seiner idealtypischen Skizze über die bürokratische Organisation der kapitalistischen Unternehmung und des Staatswesens auf zeitsparende Mechanismen aufmerksam gemacht. Ihr ökonomisches Handeln und die Erledigung ihrer Amtsgeschäfte beruht auf Präzision, Stetigkeit und vor allem auf der Beschleunigung ihrer Operationen 24 . Im Gegensatz dazu sind die modernen sozialpsychologischen Konzepte der Gruppen- und Team-Arbeit recht zeitaufwendig. Sie motivieren zwar die Mitarbeiter mehr als die direkte dirigistische Führungsform. Aber ihre Kosten können infolge des höheren Zeitverbrauchs erheblich steigen. Trotz solcher Wahrnehmung sollte nicht gemeinhin zu den überlieferten einfacheren hierarchischen Strukturen zurückgegangen werden. Aber nicht von der Hand zu weisen ist die Tatsache, daß durch eine besere Motivation auch Zeit und damit Kosten eingespielt werden können. Das andere Organisationsprinzip zur Zeitersparnis ist das lust-in-Time-Konzept. Es kann zwar in allen Bereichen eines Industrieunternehmens angewandt werden, findet aber vor allem bei allen Teilen der Zu lieferung seine Anwendung und wird als Organisationsprinzip zur Zeitersparnis sowohl beim Informations- und Materialfluß als auch bei allen Fertigungsstufen gebraucht. Dabei geht es letztlich um die Bereitstellung der richtigen Materialmenge in vorgesehener Qualität zum rechten Zeitpunkt am richtigen Ort.

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Klenter, Guido, Zeit - Strategischer Erfolgsfaktor von Industrieunternehmen, Hamburg

1995, S. 286 ff. 24 Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 51972, S. 562 ff.

IV. Zeit als Wettbewerbsfaktor

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IV. Zeit als WeUbewerbsfaktor Heute konzentriert sich der Wettbewerbskampf auch auf die Zeit. Sie wird zu einem bestimmenden Faktor im Kampf um die Marktposition. Sie war immer schon von Bedeutung, aber man verwandte sie als eine konstante und gleichmäßig neutrale Größe. Als knappe Ressource spielt sie gegenwärtig eine immer wichtigere Rolle. Nach Roland H. Coase sind es vor allem die Transaktionskosten - Kosten also, die für das Aushandeln, Abschließen, Ausführen und Konrollieren von Verträgen zwischen den Beteiligten entstehen - die Einfluß auf die zeitliche Gestaltung der Kosten und damit der Preise von Gütern haben. Transaktionskosten sind praktisch vergleichbar mit den Reibungsverlusten, wie sie in physikalischen Systemen entstehen 25 . Ronald H. Coase hat darauf aufmerksam gemacht, daß eine Ökonomie ohne Transaktionskosten ebenso fremdartig ist wie die Physik ohne Reibungsverluste. In einer solchen Welt könnten die wirtschaftlichen Prozesse in der Weise beschleunigt werden, "daß eine Ewigkeit innerhalb von Nanosekunden zu erleben wäre,,26. In der Tat ist dort, wo die Transaktionskosten sinken, also aufgrund der ungeheuren Verbesserung der Telekommunikation, eine rasante Ausbreitung der computergestützten virtuellen ökonomischen Welt möglich. Darum kommt in den meisten Unternehmen zu den dominanten Orientierungsgrößen Umsatz und Kosten als dritte Größe die Zeit hinzu 27 . Schließlich sind alle Bereiche der Güterproduktion wie 1) Konzeption, 2) Planung, 3) Produktions- und Verfahrensentwicklung, 4) Fertigung und 5) Marktanalyse mit Marktstrategien bei einem Innovationsprozeß von neuen Produkten oder Dienstleistungen zeitintensiv. Die Zeit im Entwicklungs-, Liefer-, Service-, Durchlauf- und Entsorgungsbereich wirkt auf den Erfolg des Unternehmens mit seinen Produkten 28 . Die Entwicklungszeit ist ein starker Einflußfaktor bei der Produktion. Wirtschaftlichkeit der Fertigung wird durch eine optimale Durchlaufzeit bestimmt. Bei einer kurzen Durchlaufzeit wird der Output erhöht und die Kosten werden gesenkt. Freilich kann es auch sinnvoll sein, um die Kapazitäten auszulasten, die Durchlaufzeiten zu verlängern. Lieferzeiten beeinflußen die Größe des Marktanteils und den Gewinn eines Unternehmens. Eine schnelle Bereitstellung und / oder termingerechte Lieferung der Produkte erhöht den Umsatz und steigert den Marktanteil und den Umsatz bzw. den Gewinn. Mit Hilfe der Servicezeit-Steigerung läßt sich die Kundentreue und damit die Position am Markt verstetigen oder gar vergrößern. Heute ist mehr denn je die umweltgerechte Entsorgung gebrauchter Produkte ein Teil des Angebotes29 . Das positive Umweltschutz-Image eines Unternehmens wirkt sich auf dem Markt aus. Die Stra-

25 Bonus, Holger, Die Langsamkeit von Spielregeln, in: Klaus Baclehaus, Holger Bonus (Hrsg.), Die Beschleunigungsfalle oder der Triumpf der Schildkröte, Stuttgart 21997, S. 13 ff. 26 Bonus, Holger, Die Langsamkeit von Spielregeln, 21979, S. 17. 27 Vgl. Geschka, Horst, Wettbewerbsfaktor Zeit, LandsbergILech 1993, S. 128 f. 28 Klenter, Guido, (1995), S. 302 ff. 29 Vgl. Kramer, Rolf, Umwelt, Wirtschaft und Technik, Berlin 1998, S. 97 ff.

5. Kap.: Zeit als ökonomische Größe

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tegie der Entsorgung hat darum auch auf den Absatz und die Gewinnentwicklung einen Einfluß. Um im Wettbewerb auf dem Markt zu bestehen, muß ein Industrieunternehmen die Zeit als einen strategischen Faktor auf aHen Gebieten einsetzen. Die oben genannten Bereiche der Güterproduktion im Unternehmen wirken direkt oder indirekt auf den Markt und damit auf den Wettbewerb. Mit dem Faktor Zeit im Wettbewerb kann es zu bestimmten Erfolgssteigerungen auf dem Markt kommen, nämlich der Steigerung 30 : - "der Innovationsfähigkeit durch optimale Enwicklungszeiten" - "der Wirtschaftlichkeit durch optimale Durchlaufzeiten" - "des Marktanteils durch optimale Lieferzeiten" - "der Kundentreue durch optimale Servicezeiten" - "des Umweltschutzimages durch optimale Entsorgungszeiten" . Eine Beschleunigung oder Verlangsarnung der einzelnen Schritte bestimmen dann den Zeitverbrauch und damit die Höhe der Kosten. Je stärker die einzelnen Zeiten verkürzt werden können, umso besser steht das Unternehmen am Markt da. Der Faktor Zeit ist also im Wettbewerb ein sehr wichtiges Gut. Es ist fast eine triviale Feststellung, daß der richtige Zeitpunkt von großer Bedeutung ist, wann die Produkte auf den Markt kommen. Es gibt sowohl ein zu früh bei der Entwicklung, weil die Zeit noch nicht reif ist, als auch ein zu spät, weil die Konkurrenz den Markt bereits beliefert. Die Zeit spielt also als Wettbewerbsfaktor beim Markteintritt, in der MarktsteIlung und beim Marktaustritt eine RoHe 3l . Sie steHt beim Markteintritt eine hohe Barriere dar. Das rasche Wechseln der Produkte bedingt schließlich ein schnelles zeitliches Reagieren, z. B. in der Lieferund der Servicezeit. Die MarktsteIlung ist aufgrund des herrschenden Wettbewerbs ein wesentlicher Erfolgsfaktor. Die Zeit ist eine wichtige Determinante bei der Entscheidung. Da es nötig sein kann, möglichst schneH den Markt wieder zu verlassen, muß der Zeitfaktor auch beim Marktaustritt ernst genommen werden. Natürlich gibt es auch Grenzen bei der Verwirklichung von Innovationsprozessen. Gerade bei der Entwicklung neuer Güter oder Dienstleistungen ist zu berücksichtigen, daß Verbraucher oder Anwender nicht ständig bereit sind, sich immer von neuem umzuorientieren. Schließlich ist der Sättigungsgrad irgendwann einmal erreicht.

30 31

Vgl. Klenter, Guido, (1995), S. 8. Klenter, Guido, (1995), S. 300 ff.

V. Selbst- und Fremdbestimmung der Zeit

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v. Selbst- und Fremdbestimmung der Zeit In der heutigen Gesellschaft wird wie bereits im letzten Jahrhundert über die Fremdbestimmung der Menschen geklagt. Der Mensch lebt in der arbeitsteiligen Welt und wird von fremden Einflüssen geprägt. Er sieht sich in Abhängigkeit von den Mächtigen in der Wirtschaft. Die Arbeitgeber haben Forderungen, legen ihm Pflichten auf. Der abgeschlossene Arbeitsvertrag ist Ausdruck einer solchen Fremdbestimmung. Durch ihn wird geregelt, in welchem Umfang Arbeitsleistung bzw. Arbeitszeit autonom bestimmt oder durch andere festgelegt wird. Die Zeitordnungen der Unternehmen bestimmen den zeitlichen Ablauf des Arbeitnehmers. Mit steigender hierarischer Abstufung wird ihm das Recht zur Selbstbestimmung der Arbeitszeit gewährt. Zeitautonomie wird zu einem Kennzeichnen einer höheren Führungsposition. Träger von operativen und strategischen Aufgaben sind meistens auch zeitsouveräne Organisationsmitglieder. Da Entscheidungen Information und Kommunikation voraussetzen, gibt die Herrschaft über beide Bereiche die Grundlagen für zeitautonomes Handeln ab. Über die genannten Mächte hinaus üben auch andere Menschen, Ehepartner, Kinder oder Kunden einen Einfluß auf den Zeitverbrauch aus. Damit entsteht verstärkt das Gefühl einer Fremdbestimmtheit der Zeit. Sie wird nicht autonom, sondern durch andere Menschen und / oder aufgrund von arbeitsrechtlichen Verträgen geregelt. Deshalb wird außer einer Selbstbestimmung des Arbeitsablaufs auch die Souveränität bei der Zeitfixierung verlangt. In der Diskussions über die Einführung von flexiblen Arbeitszeiten ist die Forderung nach Autonomie bei der Arbeitszeitfestsetzung ein Argument für die Einführung der Arbeitszeit. Man versucht, eine "Zeitkultur" im Unternehmen zu entwickeln 32 . Dabei wird die Zeit zu einem strategischen Faktor, der zugleich mit der Zielsetzung für einen gemeinsamen Erfolg von den Mitgliedern des Unternehmens zu erlernen und zu akzeptieren ist. "Die Zeitkultur stellt somit eine unternehmensspezifische Ausprägung der Zeitorientierung, d. h. das aufeinander abgestimmte individuelle Zeitbewußtsein und Zeitverhalten mit der kollektiven Zeitkonzeption und Zeitbewältigung im Industrieunternehmen dar,,33. Das "Entrainment Phenomenon" kann als Hilfsmittel zur Enwicklung einer Zeitkultur dienen 34 . Dieses Phänomen beschreibt die Harmonisierung des individuellen Zeitbewußsein mit der kollektiven Zeitkonzeption eines Unternehmens. Indessen stellt sich die Frage, ob es überhaupt je eine völlige Selbstbestimmung der Zeit durch den Menschen gegeben hat oder geben wird. Schließlich war er von jeher entweder durch die Natur und ihre Abläufe, also von Sonne und Wind, Schnee und Regen oder von den Jahreszeiten abhängig. Sein Leben verlief in viel-

32 33 34

Klenter, Guido, (1995), S. 217. Klenter, Guido, (1995), S. 218. Klenter, Guido, (1995), S. 219.

5. Kap.: Zeit als ökonomische Größe

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fältiger Fonn von der Geburt bis zum Tode fremdbestimmt. Der Mensch ist nun einmal vom Rhythmus der Natur abhängig. Er erhält durch sie die notwendige Nahrung und steht selbst bei der Erziehung seiner Kinder in einer zeitlichen Abhängigkeit, die er selbst nicht genau eingrenzen kann. Auch in der arbeitsteiligen Wirtschaft ist er von anderen Menschen, von Kollegen, Mitarbeitern oder Vorgesetzten und den Produktionsmethoden oder unternehmerischen Zielsetzungen abhängig. Seine zeitliche Disposition wird von diesen Faktoren mitbestimmt. Diese Festlegungen insgesamt aufzugeben, ist für den einzelnen unmöglich. Viele Menschen glauben zwar, es entfiele, wenn sie ohne Uhr den Tag bestimmen könnten, die Fremdbestimmtheit ihrer Zeit. Aber die eigene Uhr erlöst den Menschen nicht von seiner Fremdbestimmung.

VI. Das Problem des Zeitdrucks Chronische Zeitknappheit 35 steht bei viele Menschen im beruflichen Sorgenkatalog an vorderer Stelle. Die vierundzwanzig Stunden des Tages reichen nicht, um alles zu erledigen, was man möchte. Mancher Zeitgenosse steht unter einem permanenten Zeitdruck; freilich gehört heute auch das Stöhnen über den zu engen Zeitrahmen zum guten Ton. Indessen stellt sich die Frage, ob nicht schon Seneca recht hatte, als er fonnulierte: "Es ist nicht zu wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist zuviel Zeit, die wir nicht nutzen,,36. Das schlechte Gewissen, Zeit und Arbeit nicht in Übereinstimmung zu bringen, ist Ausdruck des Zeitproblems. Diese Belastungen rühren aber nicht nur von den Anforderungen durch fremde Menschen, sondern stammen aus den Erwartungen, die man an sich selbst stellt. Aber nicht nur ein "Zuwenig" an Zeit, sondern auch ein ,,zuviel" an Zeit kann zur Belastung führen. Arbeitslose, Pensionäre oder Frührentner wissen das. Die Angst vor der Leere oder einer entstehenden Langeweile sind Ausdruck einer gestörten Beziehung. War in den Berufsjahren die Tageszeit durch vorgegebene Arbeitsbedingungen oder Vorgesetzte verplant, sind sie nun auf die eigene Tagesgestaltung angewiesen. Viele Menschen haben Angst vor der Leere und versuchen darum, sie durch Hektik zu überbrücken. Und außerdem ist ein Zuviel an Zeit auch ein gesellschaftliches Problem der "Zeitreichen" geworden. Merkwürdig ist, daß in der heutigen Gesellschaft nur derjenige mehr Beachtung findet, der keine Zeit hat. Wer über Zeitnot klagt, wird eher gesellschaftlich anerkannt als der, der Zeit hat. "Wer zugibt, viel Zeit zu haben, disqualifiziert sich selbst und scheidet aus der Gesellschaft derer, die etwas leisten, etwas fordern, etwas erhalten kön35

Vgl. Kempe, Hans-Joachim I Kramer, Rolf, Zeit nutzen, Zeit haben, Bergisch Gladbach

1999, S. 12 ff. 36

Zitat aus Klenter, Guido, (1995), S. 221.

VI. Das Problem des Zeitdrucks

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nen, aus,,37. Andere nehmen sich viel zuviel Arbeit vor, und schaffen es dann doch nicht. Angebrochenes bleibt liegen. Oder sie erzeugen eine hektische Atmosphäre, nur weil sie auch das Unwichtigste perfektioniert haben wollen. Aber man kann sich in vielen Bereichen gut mit der zweitbesten Lösung zufrieden geben. Viele sehen in der Perfektion der Arbeit den Beweis ihrer Unersetzlichkeit. Nur in ihr fühlen sie sich unentbehrlich. Hektik entsteht im Alltag wegen einer schlechten Zeitabstimmung mit anderen oder aufgrund eines unüberlegten Timings. Zwar ist das Delegieren von Aufgaben nicht immer ganz leicht, aber man muß nicht alles selber machen. Der Verzicht auf eine selbst durchgeführte Arbeit kann nämlich ungemein zeitsparend sein, ohne daß der Erfolg infrage gestellt wird38 . Einige moderne Managementtheorien empfehlen, die Zeit so effizient wie nur möglich zur Erledigung der eigenen Aufgaben einzusetzen. Führungskräfte dürfen ihre Zeit nicht nutzlos vergeuden. Es wird darum gefordert, die Zeit - biblisch gesprochen - "auszukaufen" (Eph 5,16). Aber Zukunftsplanung hat nichts mit einem von fixen Terminen ausgefüllten Kalender zu tun. Es müssen für mögliche individuelle Bedürfnisse Freiräume eingeplant werden. Wer Zeit sparen will, muß Selbstdisziplin aufbringen. Dazu gehören Pläne für den Umgang mit der Zeit. Das verlangt nach Prioritäten in der Arbeit. Wer seine Zeit nicht plant und organisiert, verliert Zeit oder gibt sie für Unnötiges oder Überflüssiges aus! Wer Zeit sparen will, muß ferner über den Tag hinaus denken und darf nicht einer Terminhektik verfallen. Aber trotz aller Planung bleiben immer auch Störfaktoren erhalten. Einige Größen üben auf die Terminplanung von Führungskräften großen Einfluß aus. Dazu gehören: - Die eigenen Ansprüchen des Vorgesetzten - Die Mitarbeiter und Kollegen mit ihren berechtigten Forderungen - Telefonate mit betriebsinternen und auswärtigen Stellen (z. B. Kunden und Lieferanten) - Besucher - Besprechungen und Konferenzen. Um Muße und Arbeitspensum im Lebensablauf wieder in Einklang zu bringen, sollte man sein tägliches Arbeitsquantum überdenken. Man hat zehn besondere Zeit"sünden" aufgestellt, die den arbeitenden Menschen in Bedrängnis bringen. Diese lauten 39 : 37 Luhmann, Niklas, Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten, in: Die Verwaltung, Ernst Forsthoff (Hrsg.), Berlin 1968, S. 26. 38 S. unten Kap. 5.VII.I, S. 93 ff. 39 Vgl. Seiwert, Lothar J. Wenn Du es eilig hast, gehe langsam, Frankfurt, New York 31999, S. 182.

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5. Kap.: Zeit als ökonomische Größe

- Der Versuch, zuviel oder alles auf einmal zu tun - Auf Ziele oder Prioritäten zu verzichten - Telefonische Unterbrechungen zuzulassen - Besprechungen allzu lange auszudehnen - Sich mit vielen Druckschriften einzudecken - Externe Störungen hinzunehmen - Die Unfähigkeit, "nein" zu sagen - Einen Perfektionismus in allen Dingen zu praktizieren - Unangenehme Aufgaben auf die lange Bank zu schieben - Mangelndes konsequentes Handeln Eins muß klar sein: Terminplanung kann nicht alles sein. Vieles läßt sich nü:ht verplanen. Darum müssen auch im Alltag zeitliche Freiräume erhalten bleiben.

VII. Arbeitszeit- und Personalpolitik Die Arbeitszeitpolitik rückt in der sozialpolitischen Diskussion immer stärker in den Vordergrund. Sie wird nicht allein unter ökonomischen Gesichtspunkten geführt. Allerdings wird durch sie eine Stärkung oder sogar Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen erwartet. Eine weitere Zielsetzung liegt in der Möglichkeit, durch die Arbeitszeitflexibilität die Zeitsouveränität der Mitarbeiter zu fördern. Schließlich erwartet man durch sie eine Verminderung der Arbeitslosenzahl. Es wird durch die Verkürzung der Arbeitszeit eine Sicherung der Beschäftigung oder ein Abbau der Arbeitslosenzahl erhofft. Geradezu selbstverständlich ist die Tatsache, daß Technik bei der Produktion oder Organisation zeitabhängig ist. Der Personalpolitik im Unternehmen kommt bei der Umsetzung von Produktions- und Zeittechniken eine besondere Bedeutung zu. Die Personalpolitik eines Unternehmens richtet ihre Aufmerksamkeit auf den richtigen Einsatz der Mitarbeiter. Sie orientiert sich dabei am Markt. Um das Betriebsziel zu erreichen, wird eine Minimierung der Personalkosten angestrebt. Hierzu bieten sich unterschiedlichste G1eitzeit- und Teilzeitmodelle an. Die Personalpolitik ist durch eine entsprechende Organisation zu untertützen. Ihr Einfluß auf den Zeitfaktor ist nicht zu verkennen. Der Bereich Organisation muß mit Hilfe der Personalabteilung geprägt und geleitet werden. Arbeitnehmerfreundliche Arbeitszeiten ermöglichen eine Produktivitätssteigerung und stärken so die Wettbewerbskraft der Unternehmen. Besonders die Arbeitszeiten, die den Arbeitnehmern autonome Gestaltungskraft einräumen, sind für solche Entwicklungen geeignet40 . 40 Vgl. Kilz, Gerhardl Reh, Dirk A., Die Neugestaltung der Arbeitszeit als Gegenstand betrieblichen Innovationsmanagements, Baden-Baden 1996, S. 238.

VII. Arbeitszeit- und Personalpolitik

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In einem Unternehmen ebenso wie im Bereich der ganzen Biosphäre kann die Zeit nicht verlängert werden. Sie läßt sich nicht lagern und sie ist nicht regenerierbar. Verbrauchte Zeiträume können nicht revidiert werden. Und: Zeit kann nur in einem begrenzten Maße etwa durch Delegation von Arbeiten und Aufgaben auf andere Menschen erkauft werden.

1. Arbeitszeiterspamis durch Motivation und Delegation

Vorgesetzte und Mitarbeiter wissen, daß sie aufeinander angewiesen sind. Der Vorgesetzte ist abhängig von der Zuarbeitung seiner Mitarbeiter. Diese wiederum suchen ein leistungsbezogenes Entgelt, eine zufriedenstellende Tätigkeit, einen Verantwortungsspielraum mit entsprechenden Kompetenzen und Anerkennung. Das sind Grundlagen zur Motivation. Dazu gehört als wichtiges Instrument die Delegation von Verantwortung41 • Durch sie werden Zeit-Ressourcen freigesetzt. Hilfsmittel hierbei können die in der jüngsten Zeit entwickelten Zeitmodelle sein, besonders die flexiblen Arbeitszeiten. Sie sind ein Weg, um saisonale und konjunkturelle Auftragsschwankungen personalpolitisch aufzufangen. Arbeit ist einer der wichtigsten Faktoren zur Gestaltung des menschlichen Daseins. Eine gute Zeiteinteilung ist die Grundlage für Effektivität. Wer von seiner Arbeit getragen wird, schaut nicht auf die Uhr. Die Arbeitszeiteinteilung: Beginn 8 Uhr, Mittagspause 12 Uhr, Arbeitsende 17 Uhr ist weitgehend überholt. Die Arbeitszeiten sind einem individuellem Bedürfnis gewichen. Nicht wer morgens früh beginnt und am Abend als letzter das Büro verläßt, hat viel geschafft. Wer führen will, muß lernen, mit der eigenen und fremden Arbeitszeit schonend umzugehen. Es ist wichtig, nach besserer Zeitnutzung zu streben. Aber stattdessen machen viele Vorgesetze einfache Tätigkeiten selbst und delegieren sie nicht. Bei einer Fehlerquellen-Analyse muß der eigene Arbeitsablauf und der der Mitarbeiter in Augenschein genommen werden. Was bei den Mitarbeitern an Arbeitstechnik oder Zeitplanung zu verbessern ist, muß zwar zuerst im eigenen Arbeitsgebiet durch geeignete Maßnahmen korrigiert werden. Aber dann gilt es, die Mitarbeiter zu motivieren. Und Menschen sind dann am stärksten engagiert, wenn die Arbeit Spaß macht und etwas einbringt. Eine Delegation von Aufgaben kann eine wirksame Entlastung schaffen. Der Vorgesetzte, der nicht delegiert, geht äußerst leichtfertig mit seiner Zeit um und darf sich nicht wundem, wenn ihm immer weniger Zeit für sich, die Familie oder seine privaten Aktivitäten (Hobbies) zur Verfügung steht. Andererseits bedeutet Motivation durch Delegation von Verantwortung, daß der Mitarbeiter eine Chance 41 V gl. Kernpe, Hans-loachirn I Kramer, Rolf, Zeit nutzen, Zeit haben, Bergisch Gladbach 1999, S. 62 ff.

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5. Kap.: Zeit als ökonomische Größe

erhält, seine Fähigkeiten und sein Können unter Beweis zu stellen. Wo mehr Verantwortung wahrgenommen wird und die Befugnisse vergrößert werden, erhöht sich die Motivation. In der Delegation von Verantwortung werden zeitliche Kapazitäten freigesetzt. Der Vorgesetzte zeigt Vertrauen gegenüber den Fähigkeiten des Mitarbeiters. Delegation bedeutet, daß dem Mitarbeiter klare und umfassende Anweisungen und die für die Ausübung seiner Tätigkeiten notwendigen Informationen geben werden.

2. Flexible Arbeitszeit

Die Basis für eine modeme Zeitwirtschaft ist der Wunsch vieler Mitarbeiter, die An- und Abwesenheit im Betrieb weitgehend autonom zu bestimmen. Hinter den meisten Modellen für eine flexible Arbeitszeitregelung steht das Interesse der Mitarbeiter, den zeitlichen Dispositionsraum möglichst souverän festlegen zu können. Ein Unternehmen wird diesen Formen nur zustimmen, wenn es seinen Interessen nützt. Besonders gut ausgebildete Fachkräften und eine hohe Motivation der Mitarbeiter sind sehr gewichtige Faktoren zur Produktivitäts steigerung . Es muß genau überlegt werden, welche Arbeitszeitregelung angestrebt wird. Die Zeitform eines drei Schichten-Industrieunternehmens ist nicht zu vergleichen mit dem Modell eines Dienstleistungsbetriebes, der seine Dienst- oder Kundenzeit zwischen 8.00 und 20.00 Uhr zu regeln hat. Neben die Diskussion über die wöchentliche Arbeitszeit treten heute vermehrt die Überlegung nach lebensphasengerechter Arbeitszeit. Damit ist gemeint, die Arbeitszeit im Verlauf der Erwerbszeit nach den individuellen Bedürfnissen zu regeln und so zu gestalten, daß auch noch andere Lebensbereiche ihren Platz finden. Bei der Einführung von flexiblen Arbeitszeitmodellen ergeben sich gewichtige Gegenkräfte. Die Ausdehnung von Teilzeitarbeiten bedeutet für viele Arbeitnehmer oft eine Abkoppelung von familiären Bindungen und sozialen Kontakten. Vielfach kann es sogar zu einer Konfliktsituation zwischen den familiären Anforderungen und der beruflichen Wirklichkeit kommen. Man braucht nur an eine häusliche Pflege oder Betreuung zu denken. Sicherlich sind auch die unterschiedlichen Freizeitangebote in Zukunft daraufhin zu prüfen, ob sie einer solchen flexibilisierten Arbeitszeit entsprechen. Eine Zunahme von "Flexibilisierungs- und Entstandardisierungstendenzen" kann für die Arbeitnehmner auch eine Verschlechterung der persönlichen Arbeitszeit- und Freizeitsituation bedeuten42 . Andererseits kann zwar eine Arbeitszeitverkürzung bei gleichzeitiger Lohnverkürzung zu einer Verbesserung der Beschäftigung führen, bedarf jedoch einer kollektiven Einigung aller Beteiligten43 •

42 43

Kilz, Gerhard I Reh, Dirk A., (1996), S. 243 V gl. Kilz, Gerhard I Reh, Dirk A., (1996), S. 264

VII. Arbeitszeit- und Personalpolitik

95

a) Gleitzeit

Seit der zweiten Hälfte der 60er Jahre, also seit gut 30 Jahren, existieren verschiedene Modelle gleitender Arbeitszeit. Allgemein soll dadurch erreicht werden: Kein Mitarbeiter braucht mehr "pünktlich" an die Arbeitsstätte zu kommen. Dienstbeginn und Feierabend werden von ihm allein bestimmt. Die Arbeitnehmer setzen in gewissem Umfang den Beginn und das Ende ihrer Arbeitszeit selbst fest. Die Kemarbeitszeit ist der Gestaltungsmöglichkeit und damit der Arbeitszeitsouveränität der Mitarbeiter enthoben. Sie bezeichnet ihre Mindestanwesenheit. In der Gleitzeit tragen die Mitarbeiter allein die Verantwortung für die Dauer ihrer wöchentlichen und monatlichen Arbeitszeit. Als einheitliche Arbeitszeit im Betrieb gilt nur die Kemarbeitszeit. In der Kernzeit müssen die Beschäftigten grundsätzlich an ihrem Arbeitsplatz anwesend sein. In der Gleitspanne setzen dagegen die Mitarbeiter den Beginn und das Ende ihrer Arbeitszeit selbst fest. Die Arbeitszeiten der einzelnen Mitarbeiter werden vom Betrieb genau erfasst. Das angesammelte Zeitkonto ist mit der betrieblich vereinbarten Arbeitszeit zu vergleichen. Die Differenz zeigt an, in welchem Verhältnis die beiden Zeitsysteme zueinanderstehen und welche Mittel einzusetzen sind, um das Konto auszugleichen. Zwischen der Arbeitszeit des einzelnen und der Betriebszeit findet eine Entkoppelung statt, so daß für den Mitarbeiter vielleicht nur eine drei oder vier Tage-Woche herauskommt. Da Teilzeitbeschäftigte nicht von der Gleitzeit ausgeschlossen werden sollten, macht diese die Teilzeitarbeit noch attraktiver und mitarbeiterfreundlich. Neben diese Modellen tritt neuerdings noch eine andere Form einer flexiblen Arbeitszeit, die Vertrauensgleitzeit. Bei ihr wird dem Mitarbeiter die Souveränität der Arbeitszeit übertragen. Er soll im Rahmen der Eigenverantwortung zusammen mit Kollegen und Führungskräften unter Wahrung ihrer eigenen Interessen - außerhalb eines Gleitzeitrahmens - über die Arbeitszeit disponieren können. Dabei geht es nicht um einen Zeit- Verbrauch, sondern um den optimale Zeit-Gebrauch.

b) Unterschiedliche ArbeitszeitJormen

Eine arbeitnehmerfreundliche Arbeitszeit kann stark motivierend auf die Leistungsbereitschaft des einzelnen wirken. Für viele Mitarbeiter - nicht allein für Frauen - spielt die Möglichkeit, Freizeitangebote und Einkaufsmöglichkeiten wahrzunehmen, eine immer größere Rolle. Ein Betrieb mit schlechter Arbeitszeitregelung läuft Gefahr, eine sonst gute Motivation der Mitarbeiter zu verschlechtern. Bei dem Teilzeit-Angebot geht es nicht um die Erhöhung der Beschäftigtenzahl, sondern um die Verbesserung der familienpolitischen Situation. Denn in der Öffentlichkeit werden immer mehr Arbeitszeiten, die Alleinerziehende begünstigen, gefordert. Deshalb werden im Dienstleistungssektor kundenfreundlichere Ladenbzw. Schalteröffnungszeiten angeboten.

96

5. Kap.: Zeit als ökonomische Größe

Teilzeitarbeit kommt dem Unternehmen selbst zugute. Mit ihr versucht man, den starren Block einer festen Arbeit aufzulockern. Immerhin waren nach dem Institut der deutschen Wirtschaft im Jahre 1998 rund 45 Prozent der Arbeitnehmer außerhalb der früher üblichen festen Arbeitszeit beschäftigt. Indessen bringt sie für den Arbeitnehmer Belastungen (etwa in einem drei Schichtenbetrieb). Andererseits wollten die längst landesweit akzeptierten Gleitzeitmodelle einer festen Arbeitszeit und einer Teilarbeitszeit ihre Schädlichkeit nehmen. Aber die Entwicklung ist weitergegangen. Heute stoßen flexible Arbeitszeiten auch bei den Beschäftigten auf breite Zustimmung. Darum gehen immer mehr Betriebe dazu über, die Arbeitszeit in den Gruppen durch die Mitarbeiter selbst bestimmen zu lassen. Flexible Arbeitszeiten können wegen der Chance, daß durch sie die Beschäftigtenzahl vergrößert wird, mit einem besonderen sozialpolitischen Interesse rechnen. Indessen ist eine generelle Reduzierung der Arbeitszeit keineswegs wünschenswert oder sachgerecht. Weder bei partiellem noch bei vollem Lohnausgleich ist diese Entwicklung sinnvoll. Selbst bei kostenneutraler Gestaltung der Arbeitszeit ist nicht damit zu rechnen, wie der Sachverständigenrat 1993/94 ausgeführt hat, daß die Beschäftigung zunimmt44 . Es könnte sogar zu einer Schmälerung des Wachstums ingesamt führen. Der Sachverständigenrat hat darauf hingewiesen, daß es im Blick auf die Beschäftigung notwendig ist, die Kosten zu senken. Es muß also darauf geachtet werden, daß keine Einschränkungen der Produktion auftritt, daß die Arbeitszeiten im Einvernehmen beider Partner vereinbart und die Produktionseinrichtungen nicht beeinträchtigt werden. Die Frage der Arbeitszeit muß nur nach den Erfordernissen der Betriebe und den Wunschvorstellungen der Arbeitnehmer entschieden werden45 . Außerdem ist die Wettbewerbs situation der deutschen Volkswirtschaft zu berücksichtigen. Je besser die Kapitalausstattung des einzelnen Arbeitsplatzes ausgelastet ist, desto wettbewerbsfähiger ist die Wirtschaft und desto krisen sicherer ist auch die Beschäftigungslage. Die Tarifparteien haben sich über die Flexibilisierungsmöglichkeiten zu einigen. Andererseits ist es gesamtwirtschaftlich unverantwortlich, wenn qualifizierte Arbeitskräfte allzu früh aus dem Produktionsprozeß aussscheiden, so verständlich eine Reduzierung der Beschäfigtenzahl aus der Sicht der Betriebe sein mag. "Eine Volkswirtschaft, die die Lebensarbeitszeit ihrer Bevölkerung systematisch verkürzt, verzichtet darauf, das Potential ihrer Ressourcen auszuschöpfen,,46. Eine solche Vorgehensweise ist auf die Dauer auch nicht mehr finanzierbar. Da in der genwärtigen Diskussion unterschiedliche Begriffe existieren, ist eine klare Definition hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen des Ausbaus von Teilarbeitszeit und ihrer Flexibilität notwendig. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände hat eine Übersicht über die gängigen Modelle von Teil44 Jahresgutachten 1993/94 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Drucksache 12/6170, Nr 379. 4S Jahresgutachten 1993/94 Nr. 381. 46 Jahresgutachten 1993/94 Nr. 382.

VII. Arbeitszeit- und Personalpolitik

97

zeitarbeit und ihre Sonderfonnen veröffentlicht47 . Mehr oder weniger stellen die ersten drei Typen die traditionelle Teilzeitarbeit dar. Bei der variablen Arbeitszeit handelt es sich um eine neuere Fonn der flexiblen Arbeitszeit. Diese kann den Bedürfnissen der Unternehmen und auch den Interessen der Mitarbeiter am stärksten Rechnung tragen. Erstaunlich ist, daß alle generellen Arbeitszeitfonnen in der Industrie und auch im Handel anzutreffen sind. In der Industrie: vor allem natürlich in der Produktion. Die anderen Teilzeitfonnen finden sehr unterschiedliche Anwendungsbereiche. Arbeitszeitform

Beschreibung

Traditionelle Teilzeitarb. Halbtagsarbeit

Täglich werden 4,5 od 6 Std. gearbeitet, vorm., nachm. oder abends An best. Tagen in der Woche oder im Monat w. 4,5 od.6 Std. gearbeitet

Teilzeitschichten

Die normale tgl. Betriebszeit wird in Teilzeitschichten aufgeteilt

Blockteilzeitarbeit

- Vollzeitarbeit an einzelnen Tagen i.d.W (z. B. 25 T.) - Wochenweise Wechsel von Vollz. und Freizeit - Wochenweise Wechsel von Vollzeit und Teilzeit

Variable Arbeitszeit

Festlegung einer individuell bestimmten Soll-Arbeitszeit für einen längeren Zeitraum (Monat oder Jahr) mit der Möglichkeit des flexiblen Einsatzes in Anpassung an betriebliche und I oder persönl. Erfordernisse

Partner Tei1zeitarbeit (Job Sharing)

Zwei oder mehr Mitarbeiter teilen sich einen Vollarbeitsplatz. Sie legen ihre Arbeitszeit in gegens. Abstimmung im Rahmen der normalen Betriebszeit selbst fest.

Teilzeitarbeit hilft heute als Altersteilzeit der großen Gruppe der in den Ruhestand Tretenden. Sie kann aber auch für junge Leute die zeitliche Brücke bis zum Einsatz in der Bundeswehr oder im Zivildienst schlagen. Ebenfalls macht Teilzeitarbeit den Weg frei für die Einstellung von Hochschulabsolventen. Nach Auskunft des Instituts der deutchen Wirtschaft wird von den Beschäftigten besonders die Wochenendarbeit geschätzt. 1998 taten das ein Siebtel mehr als 1991. Wie die Teilzeit zu bewerten ist, ergibt sich aus einem betrieblichen Vergleich der Vor- und Nachteile. 47 Bundesvereinigung der Deutehen Arbeitgeberverbände, Instrumente der PersonaIarbeit, Köln 1997.

7 Kramer

98

5. Kap.: Zeit als ökonomische Größe

An Vorteilen sind nach der Erhebung der BDA zu nennen: - bessere Abstimmung der betrieblichen Erfordernisse mit der Anzahl der Beschäftigten - bessere Kapazitätsauslastung - Ausgleich des durch tarifliche Arbeitszeitverkürzung hervorgerufenen Arbeitsausfalls - größere Arbeitszufriedenheit und damit höhere Motivation - geringere Fluktuation. Teilzeitarbeit besitzt gegenüber einer Vollzeitarbeit natürlich auch Nachteile. Dazu gehören: - der Anlern- und Arbeitsaufwand wächst gegenüber einer Vollzeitarbeitskraft - die Personalverwaltungskosten steigen ebenso wie der organisatorische Aufwand - der Arbeitgeberanteil an der Sozialversicherung und den personengebundenen Sozialleistungen erhöht sich. Die Beschäftigung von Teilzeitarbeitskräften ist nicht auf weniger qualifizierte Beschäftigte beschränkt. Denn Teilzeitarbeit ist ebenfalls bei Fach- und Führungskräfte denkbar und sinnvoll. Bei ihnen gibt es freilich auch Kapazitäts- und Auslastungsschwankungen. Teilarbeitszeit ist nicht nur auf die Zeiten während des Arbeitstages zu beschränken. Es stehen selbst einzelne Wochentage als volle Arbeitstage zur Verfügung. Darum existiert eine Vielzahl von Modellen. Sie können in ihrer unterschiedlichen Struktur im Betrieb verwirklicht werden. Grundsätzlich unterliegen Teilzeitbeschäftigte den allgemeinen arbeitsrechtlichen, also den gesetzlichen, tarifvertraglichen und betrieblichen Bestimmungen. Darum stoßen viele Betriebe zunehmend auf gesetzliche und tarifvertragliehe Hürden. In Deutschland bedarf die Sonn- und Feiertagsarbeit immer noch in einzelnen Branchen der behördlichen Genehmigung48 • Außerdem sind in vielen Tarifverträgen die Arbeitszeiten von Montag bis Freitag festgelegt. Wochenendarbeit bedarf der Zustimmung durch den Betriebsrat. Andererseits benötigen Betriebe in unterschiedlichen Branchen der Industrie und Dienstleistung flexible Arbeitszeitmodelle.

c) Alters-Teilzeitarbeit In den letzten Jahren hat in der Bundesrepublik die Diskussion über einen Kurswechsel von einer Vorruhestandsregelung zur Arbeitsteilzeit zugenommen. Man

48

Vgl. Kap. 6.IV, S. 106 ff.

VII. Arbeitszeit- und Personalpolitik

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hat eine Teilzeitarbeit für ältere Arbeitnehmer als Übergang in den Rentenstand ins Auge gefaßt. Älteren Arbeitnehmern wird in einigen Branchen die Wahl gelassen, ob sie voll oder nur teilweise weiterarbeiten bzw. ganz aus dem Betrieb ausscheiden wollen. Den älteren Arbeitnehmern soll durch Altersteilzeitarbeit ein gleitender Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand ermöglicht werden. Mit dem 55. Lebensjahr wird dieser in Deutschland den Arbeitnehmern gewährt. Zwar wollte der deutsche Gesetzgeber mit der Altersteilzeitarbeit Anpassungsmaßnahmen durchführen, ohne daß diese zu Lasten der Sozialversicherung gehen. Auch sollte bei Arbeitslosen dadurch die Wiederbeschäftigung erleichtert und den Auszubildenden eine Chance gegeben werden, ins Berufsleben einzusteigen. Das ist auch die Zielsetzung der gewerkschaftlichen Forderung nach einer Rente mit sechzig. Aber gleichzeitig bietet sich dem Arbeitgeber die Möglichkeit, auf die Erfahrung, das Verantwortungsbewußtsein und das Können der über fünzigjährigen Mitarbeiter zurückzugreifen. Seit Beginn des Jahres 99 gibt es in verschiedenen Bereichen Tarifverträge zur Förderung der Altersteilzeit (z. B. Im Einzel- und Versandhandel). Über eine Neuregelung haben sich bereits Regierung, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften verständigt.

6. Kapitel

Die Freizeit I. Definitionen von Freizeit Das Zeitalter der Dienstleistungen hat das industrielle Zeitalter abgelöst. Bildungs- und Freizeitangebote haben eine große Wachstumschance. Die Freizeitgesellschaft hat das Leben der Menschen in vielen Bereichen verändert. Der Freizeit-Begriff ist ein Kind jüngerer Geschichte, obwohl er bereits 1823 zum ersten Mal zu belegen ist l . In der Mitte des 20. Jahrhunderts war er noch weitgehend unbekannt. Zwar erwähnt ihn der Große Brockhaus aus dem Jahr 1954. Aber er setzt Freizeit an die Stelle von Muße. Sie füllt häufig den Zwischenraum zwischen der eigentlichen Erwerbsarbeit und der Muße, die man als ein Abstandnehmen von jeglicher Erwerbsarbeit verstehen kann, aus. Erst als man sich von der erwerbsbestimmten und entfremdeten menschlichen Arbeit absetzte, suchte man ihr Gegengewicht in einer selbstbestimmten Freizeit. Sie ist am Anfang gewissermaßen "negativ" verstanden worden "als Protest gegen ein völliges Unterworfensein, gegen eine Produktionsgesetzlichkeit,,2. Freizeit wird zwar in der Vergangenheit gern als Nichts-Tun interpretiert, aber sie ist mehr der Zustand, in dem "eine Aktivität um ihrer selbst willen" (Aristoteles) unternommen wird. Heute gebraucht man den Freizeit-Begriff in einer doppelten Bedeutung. 1. Freizeit wird als eine autonome Zeit, die in eigener Verantwortung ausgefüllt wird, verstanden. Im Mittelpunkt steht die Freiheit des einzelnen, die Zeit nach eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten. Diese Art von Freizeit wird darum der persönlichen individuellen Entscheidung zugeordnet. Sie wird sogar als Grundrecht eingefordert, das durch die Politik und Gesellschaft ermöglicht und garantiert werden müßte. 2. In einer anderen Bedeutung wird Freizeit gerade nicht als "freie" Zeit verstanden, sondern als eine in hohem Maße unter Fremdbestimmung stehende und der individuellen Entscheidung entzogene Arbeit. Diese Art von Freizeit "hat" man nicht, sondern man nimmt an ihr teil. Alternativ sprach man in der Vergangen1 Vgl. Nahrstedt, Wolfgang, Freizeitwissenschaft in Ost- und Westeuropa - ein Überblick, in: Walter Tokarski, Freizeit im neuen Europa, Aachen 1993, S. 43. 2 11mm, Albrecht, Verlust der Muße, Buchholz-Hamburg 1968, S. 124.

I. Definitionen von Freizeit

101

heit auch von "Rüstzeit". Im Vergleich zur Arbeit und zur Arbeitszeit besitzt ein solches Verständnis von Freizeit nichts, was zur individuellen Disposition und unter der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, steht. Diese Freizeit ist eine verplante und kollektive Zeit. Heute wird der Begriff weitestgehend in dem ersten Sinn verstanden. Freizeit dient nicht nur der physischen oder psychischen Regeneration oder "physiologischen Notwendigkeiten,,3. Sie ist deshalb mehr als eine reine Erholungszeit von einer unmenschlich empfundenen Arbeit. Der Freizeit-Begriff wird ferner nicht für Tatigkeiten benutzt, die auf Verdienst ausgerichtet sind. In der amerikanischen Soziologie wird Freizeit als "unbezahlte Tatigkeit, die unmittelbare Befriedigung gewährt", beschrieben4 . Versteht man Arbeitszeit als ein Stück verkaufter Lebenszeit - der Unternehmer kauft dem Arbeitnehmer die Arbeitszeit ab, und dieser bekommt seinen Arbeitslohn als Zeitlohn 5 dann ist Freizeit eine Zeit, die nicht unabhängig von der Arbeit ist, aber doch in einem gewissen Spiegelbild zur Arbeit und zum Beruf steht. Sie ist die Zeit nach, außerhalb und neben der Arbeit. Was immer man auch als Definition für Freizeit angibt; in jedem Fall sollten die Freizeittätigkeiten von anderen Beschäftigungen abgegrenzt werden. Der Inhalt der Freizeit ist nicht immer ganz eindeutig. Zu ihr gehören Nichtstun, Ausspannen und Kommunizieren, private Arbeitsleistung rur den eigenen Bedarf, Nachbarschaftshilfe 6 . Dem Gedanken der Erholung kommt immer noch eine wichtige Rolle zu. Denn Freizeit ist in erster Linie Erholungszeit. Mit dem Wort von der "freien" Zeit wird schließlich eine Zeit umschrieben, die nicht der Berufsarbeit dient. Sie gilt zwar oft als ein Rest, der übrig bleibt, wenn die zur Erwerbsarbeit und zum Schlafen bzw. für andere wichtige Dinge (Körperund Hauspflege) notwendige Zeit vom Tagesablauf abgezogen wird. Aber sie ist mehr als dieser rechnerische Rest. Sie wird als eine bewußt geforderte und zur Verfügung stehende Zeit angestrebt. Damit wird Freizeit zu einer fast autonomen Zeit. Sie ist eine Zeit, die als Freiheit von der Arbeit zu verstehen ist, und gilt als freie, disponible Zeit. Freizeit muß aber keineswegs durch Untätigkeit geprägt sein, sondern wird durch die eigenverantwortliche Wahrnehmung von Tatigkeiten bestimmt. Dazu gehören vor allem zweckfreie und spielerische Tätigkeiten. In ihnen will der Mensch sich selbst finden. Sie ist heute zu einem wesentlichen Element der Lebensqualität geworden. In ihm sind Wohlstand, Zufriedenheit und Glück vereint. Lebensqualität ist ohne Freizeit kaum denkbar. Sie darf darum nicht als ein Randphänomen gesehen werden. Denn sie nimmt einen zentralen Aspekt des sozialen Lebens ein. 3 Scheuch, Erwin, Freizeit, Konsum, in: Rene König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung Bd. 11, Stuttgart 21977, S. 38. 4 Scheuch, Erwin, eI977), S. 41. 5 Vgl. Opaschowski, Horst w., Einführung in die Freizeitwissenschaft, Opladen, 21994, S.277. 6 Vgl. Opaschowski, Horst w., (1994), S. 19. Vgl. Kap. 6.11, S. 102 ff.

102

6. Kap.: Die Freizeit

Als freie Zeit ist sie ein soziales Phänomen, das zwar eigenständig, aber doch in Abhängigkeit von anderen Faktoren existiert. Man muß sie als ein Freisein für bestimmte freiwillige Tätigkeiten sehen. Ein Mehr an Freizeit ist bei vielen oft eine eigenständige Zielsetzung. Erwin Scheuch hat darum Freizeit als "diejenigen Tätigkeiten, die sich nicht notwendig aus zentralen funktionalen Rollen ergeben", bezeichnet 7 • Allerdings kann Freizeit im Sinne einer freien Zeit auch bloß konsumiert werden, ohne daß damit ein bestimmter Nutzeffekt verbunden sein muß. Dann wird die Zeit gleichsam ohne Zielrichtung oder Produktivität verbraucht. In jedem Fall geht es darum, den Grenznutzen der Zeit zu erhöhen und so den Freizeitwert zu steigern 8 •

11. Inhalt der frei genutzten Zeit Der Sinngehalt der Freizeit wird aus der individuelllen Arbeitserfahrung gedeutet. Jürgen Habennas beispielsweise unterscheidet zwischen den Funktionen, die die Freizeit kennzeichnen, die regenerative, suspensive und kompensatorische Funktion9 . Danach dient die regenerative Funktion von Freizeit der physischen Wiederherstellung der Arbeitskraft. Freizeit aber hat nicht mehr die erneuernde Bedeutung wie sie ihr seinerzeit noch Karl Marx zuerkannt hat. Die Freizeit wird nicht mehr vorwiegend zur physischen Reproduktion der Arbeitskraft gebraucht. Darum sind für Habennas die beiden anderen "Komplementärfunktionen" der Freizeit wichtiger. In der suspensiven Funktion erfährt der Mensch die Erfüllung, die er in der Arbeit nicht erhalten hat. Die Freizeit ist gleichsam die freiwillige Fortsetzung der Erwerbszeit. Man tut in der Freizeit dasselbe wie in der Berufsarbeit - nur eben freiwillig. Die Identifizierung mit bestimmten Zielen und Sinnsetzungen, die in der Erwerbsarbeit nicht erreicht wird, kann hier leichter erfahren werden. Die Tätigkeit ist das do it yourself, also das Selbennachen. In der kompensatorischen Funktion findet man sich zwar mit den in der Arbeit erfahrenen Enttäuschungen in der Arbeit ab. Aber man sucht nach einer Kompensation. Dieser Ausgleich geschieht in der Kleinfamilie oder im Spiel und Sport. Freilich besteht die Gefahr, daß "untenn Schein des Spiels und der freien Entfaltung der Kräfte der Sport die Arbeitswelt verdoppelt"lO. Ob allerdings die Sportwelt mit ihren Tenninangeboten auf die Flexibilisierung der Arbeitswelt eingeht, bleibt eine ernste Frage. Scheuch, Erwin, eI977), S. 43. Vgl. Kilz, Gerhard, Reh, Dirk A., (1996), S. 196. 9 Vgl. Habermas, Jürgen, Soziologische Notizen zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit, in: G. Funke (Hrsg.), Konkrete Vernunft. Bonn 1958, S. 219. 10 Habermas, Jürgen, (1958), S. 227. 7

8

11. Inhalt der frei genutzten Zeit

103

Mehr denn je wird heute das Verhältnis von Arbeit und Freizeit nicht durch die Arbeitszeit, sondern durch die gewünschten Funktionen der Freizeit bestimmt. Zwar werden viele weiterhin ihre Sinnerfüllung in der Arbeit finden. Andere aber werden diese erst in der Freizeit erreichen. Für die Masse der im industriellen Produktionsprozeß Beschäftigten wird die Selbstverwirklichung oft erst in der Freizeit erlangt. Natürlich kann es eine Wechselbeziehung zwischen Freizeit- und Arbeitswelt geben. Die Arbeitswelt erbringt die Grundlage für die Freizeitgestaltung. Denn die Freizeit stellt mit ihren Produkten einen gewichtigen Teil der Wirtschaft dar. Viele Wirtschaftszweige vom Massen-Tourismus bis zum Breiten- und HochleistungsSport sind wichtige Teile der postindustriellen Dienstleistungsbranche. Genauso müssen die unter dem Gesundheits-Aspekt angebotenen Geräte oder Dienstleistungen beurteilt werden. Hochburgen des Tourismus sind entstanden, viele Menschen leben von der Durchführung von Sportverantaltungen oder von Angeboten zur Schönheitspflege oder zur Erhaltung der Gesundheit. Andererseits werden in der Gesellschaft Freizeitaktivitäten neu geweckt. Soziale und kreative Betätigungen mit ihren personalen und handwerklichen Angeboten sind bereits wirtschaftliche Faktoren, die im Freizeitbereich eine zentrale Stellung gewinnen. Auch der kulturelle Wert der Freizeit mit seinen Kursen und Bildungseinrichtungen ist merklich gestiegen. Mancher spricht bereits in diesem Zusammenhang vom Konsumterror. Durch Werbung auf diesen Gebieten - vom Sport über die Gesundheit bis zur Fortund Weiterbildung - entstehen neue Freizeitbedürfnisse. Freizeit ist bereits für die Produkte der Freizeitindustrie eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Darum bedürfen die Menschen eines genügend großen Quantums an freier Zeit. Mancher wird indessen dadurch gezwungen, noch mehr zu arbeiten, um sich so die nötigen Geldmittel zur Gestaltung der freien Zeit zu beschaffen. Er kann aber auch die Freizeit zur Verbesserung der monetären Situation nutzen. Von der Nebentätigkeit bis zu einer zusätzlichen zweiten Arbeitsstelle sind alle Möglichkeiten denkbar. Freilich muß bei der Freizeitgestaltung auch an nicht-monetäre Aufgaben, z. B. an ehrenamtliche Tätigkeiten gedacht werden. Der Wert der Arbeit wird an dem Spaß und an der Lust gemessen, die sie vermittelt. In Zukunft wird der Stellenwert der Arbeit noch weiter zunehmen; denn der Arbeit-Besitzende kann sich in der Freizeit mehr leisten. Außerdem werden die Menschen immer mehr freie Zeit zur Verfügung haben. Denn zukünftig könnte der Wandel zwischen der reinen Arbeitszeit und der Freizeit sogar fließend werden. Man meint, daß es im Jahre 2010 ein Novum in der Zeitbudget-Entwicklung geben wird: ..Die Obligationszeit, die Zeit für alltägliche Verpflichtungen und Verbindlichkeiten, wird rapide zunehmen. Die Erfüllung obligatorischer Alltagsaufgaben wird mehr Zeit in Anspruch nehmen als die Erwerbsarbeit"ll. Freilich müssen keineswegs die üblicherweise genannten Tätigkeiten, wie

11

Opaschowski, Horst w., (1994), S. 30.

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6. Kap.: Die Freizeit

- Haushalts- und Reparaturarbeiten - Einkäufe und Konsumentscheidungen - Behördengänge, Besorgungen - Familiäre und soziale Verpflichtungen unter dem Stichwort von Obligationszeiten subsumiert werden. Außerdem können Einkäufe und familiäre Verpflichtungen in Form von Kinderbetreuung in den Bereich der Erfüllung von freier Zeit fallen 12 . Freizeitaktivitäten existieren also in Form von ganz unterschiedlicher Qualität und Struktur. Stark vertreten sind Aktivitäten auf den Gebieten: - der Unterhaltung und des Fernsehens - der Urlaubsbetätigung, des Tourismus' - der Erholung und sportlichen Betätigung - der Bildung und Hobbies - der Glücks- und Wettspiele Heute steht in der Freizeitgestaltung aufgrund wachsender Bedeutung der Medien ihr konsumtiver Genuß (Fernsehen, Radio, Video) an vorderer Stelle. Ebenfalls werden andere Sektoren der Freizeitbranche in Zukunft an Bedeutung gewinnen. Freizeit wird in Zukunft stärker als bisher den Lebenssinn bestimmen. Immer mehr Menschen erfahren in der Freizeitgestaltung die Erfüllung ihrer Lebensziele. Man glaubt daher, immer mehr arbeiten zu müssen, um sich höherwertige FreizeitGüter anschaffen zu können. Andererseits kann das Leiden unter einer Zeitknappheit auch damit zusammenhängen, daß immer höhere Konsumansprüche gestellt werden. Den Konsumanreizen nachzugeben, ist sicher ein Teil einer hoch entwickelten Freizeitbeschäftigung. Ebenso wahr ist es, daß gerade dadurch das Gefühl wächst, immer weniger Zeit zur Verfügung zu haben. Je höher der Konsum, umso ruheloser wird auch die Freizeit-Aktivität. Dabei fehlt vielen Menschen die Zeit zum Nachdenken, zur Selbstbesinnung, zur Entspannung oder zum Lesen. ,,Die Konsumangebote werden immer vielfältiger, das Lebenstempo immer hektischer und die Freizeitkonsumenten immer ruheloser. Das Gefühl für den Wert der Zeit nimmt zu. Mehr Geld allein erscheint wertlos, wenn nicht gleichzeitig auch mehr Zeit ,ausgezahlt' wird,,13.

12

13

Anders Opaschowski, Horst w.. (1994), S. 30. Opaschowski, Horst w., (1994), S. 216.

III. Freizeit und Muße

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111. Freizeit und Muße Die Muße stellt eine gestaltete Zeiteinheit dar, in der Ruhe Entspannung und Vergnügen mitschwingen. Im antiken Rom wurde otium, die Muße, als freie Zeit verstanden, die dem negotium, der Geschäftigkeit und der Beschäftigung, gegenübergestellt war 14 • Die Zeit der Muße wurde durch bestimmte öffentliche Pflichten eingeschränkt. Darum hatte nur eine kleine Minderheit die Möglichkeit, sich der Muße hinzugeben. Im klassischen Griechenland erfüllte das Zueinander von Betätigung und Muße den priviligierten Menschen mit Freude. Arbeitende Menschen nehmen die gebotenen Gelegenheiten wahr, sich von der Arbeit zu erholen. Sie wollen entspannen und streben nach Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Sie sehnen sich nach Kreativität und suchen sozialen Kontakt. Das alles kann Inhalt der Freizeit und der Muße sein. Insofern können recht verstanden Freizeit und Muße denselben Zielsetzungen unterliegen. Im Wort der Muße schwingt immer ein erhebliches Maß von Ruhe und damit das Phänomen des Gegensatzes zur Arbeitszeit mit. Darum stehen Muße und Sabbatruhe auch nahe beieinander. Denn auch in der Sabbatruhe geht es um das augenblickliche Absehen und Abstandnehmen von der Arbeit. Muße ist gegenüber der Freizeit der strengere Gegenbegriff zur Arbeit. Muße ist nicht einfach durch äußere Freiräume wie Urlaub, Ferien, Wochenenden oder Pausen gegeben. Sie ist nicht nur Nicht-Aktivität des Menschen. Sie ist mehr! Hinter dem Begriff der Muße steht der Begriff der schole. Damit wird sie zu einer freien, unabhängigen Zeit, die als Ruhe oder Frieden haben, zu verstehen ist. Sich der Muße hingeben, heißt, arbeitsmäßig nicht gebunden zu sein. In der Muße nimmt der Mensch von der Erwerbsarbeit Abstand. Man übt seine Tätigkeit ohne jeden Zwang aus. Muße ist Leben in einer gewissen Untätigkeit. Ist Freizeit durch freiwillige Aktivitäten gekennzeichnet, schwingt im Begriff der Muße die Nichtaktivität mit. Wahrend Freizeit noch durch den Zusatz "sinnvoll" charakterisiert werden kann, ist der Begriff "sinnvolle Muße" ein Widerspruch in sich selbst. Zusammenfassend gilt es zu erkennen, daß nicht alle Freizeit Muße ist; im Gegenteil: Freizeit gefährdet geradezu durch die in ihr wahrgenommenen Aktivitäten, 14 Interessant ist, daß die in klassischer Zeit arbeitenden Römer rein rechnerisch nicht mehr gearbeitet haben als der Durchschnittsbürger im Jahr 1968. Man zählte damals 175 Ruhetage. Bei 12 Arbeitsstunden pro Arbeitstag kam man auf ca. 2200 Arbeitsstunden. 1968 arbeitete in Westdeutschland der Durchschnittsbürger neun Stunden pro Tag. Bei einer 5-Tage-Woche, einem Jahresurlaub von 21 Tagen und unter Berücksichtigung der Feiertage kam man auf 2100 Arbeitsstunden pro Jahr. Vgl. Opaschowski, Horst w., (1994), S. 26. Er schreibt: Diese ,,Milchmädchenrechnung" sagt zwar etwas über die Quantität der Freizeit, nichts aber über unterschiedliche Qualität aus. Diese sind kaum miteinander vergleichbar! Gleiches muß auch einer anderen Zahl gegenüber festgehalten werden: Im Mittelalter machten die kirchlichen Feiertage einen Zeitraum aus, der der Dauer des heutigen tariflichen Urlaubs entspricht.

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6. Kap.: Die Freizeit

durch die gelebte Anspannung und Hektik und schließlich durch ständige Terminfixierung die Muße. Aber alle Muße muß Frei-Zeit sein. Sie ist in ihrem Kern Besinnung, Einkehr und Erholung. Einerseits ist die Forderung nach immer mehr Freizeit zum Zeichen der modemen Gesellschaft geworden. Andererseits ist geradezu das Fehlen von Muße ein Zeichen der gegenwärtigen Gesellschaft. Wenn der Mensch die Freizeitwelt ohne Muße· erlebt, wird er auf die Dauer seine Mitte und seine Sinnfindung verlieren. Er wird orientierungslos werden. In der Wahrung dieser Mitte geht es um die Erhaltung eines Stückes abendländischer Lebensqualität.

IV. Die Sicherung sozialer Kontakte Mit Muße wird also eine Form von Freizeit umschrieben, in der der einzelne die Freiheit hat, sich kontemplativ zu verhalten, in Besinnung, Erbauung, Anbetung oder auch in einem schöpferischen und zweckfreien Tun seinen Standort zu finden. Während Muße jeweils Sache des einzelnen ist, wird Freizeit oftmals kollektiv ausgefüllt. Sie wird zwar vom einzelnen wahrgenommen, hat aber eine gesellschaftliche Dimension. Wegen der in der Freizeit erlebten Hektik, Anspannung und Termingestaltung kann auch die Muße in Gefahr geraten, verloren zu gehen. Die beiden Großkirchen haben sich indirekt für die Erhaltung von Muße und Freizeit eingesetzt, indem sie die Erhaltung des Sonntags forderten 15. Der Erwerbstätige braucht Erholung und Entspannung. Besonders an den Sonn- und Feiertagen kann er sie sich verschaffen. Alle Aktivitäten haben nicht primär den Sinn und Zweck, den Menschen für die Arbeit des nächsten Tages instand zu setzen. Sie haben vielmehr eine "eigenständige Bedeutung,,16. Gegenwärtig wird nicht nur um die Erhaltung des Sonntags gekämpft, sondern auch um die Bewahrung des freien Samstags. Die Gewerkschaften sind die Vorreiter in diesem Kampf. Man erkennt zwar die Sorge der Gewerkschaften für die Erhaltung des freien Samstags neben der des Sonntags an. Aber man weist darauf hin, daß aus christlicher Sicht zwischen dem Sonntag und dem freien Wochenende "ein qualitativer Unterschied" besteht 17. Der Sonntag ist der Tag des Herrn. Er wird als Tag beschrieben, an dem die Christen "zum gemeinsamen Gebet, zum Hören des Wortes Gottes und zum Brechen des Brotes (Apg. 20,7), also zur Feier des Herrenmahls", zusammenkommmen l8 . Die Menschen gehen schließlich nicht in ihrer Arbeit auf. Gott hat das Sonntagsgebot um des Menschen willen erlassen. In dem Erleben des Sonntags als eines Ruhetages, der Muße und Erholung schenkt, 15 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz und Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland, Unsere Verantwortung für den Sonntag, Bonn und Hannover 1988. 16 Deutsche Bischofskonferenz u. a.(1988), Z. III, I d. 17 Deutsche Bischofskonferenz u. a.(1988), Z. III,3. 18 Deutsche Bischofskonferenz u. a.(1988), Z. H,2.

IV. Die Sicherung sozialer Kontakte

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erfährt der Mensch "etwas von der Freiheit, Würde und Menschlichkeit, die Gott schenkt,,19. Die Muße des Sonntags bringt die Regeneration verausgabter Kräfte, der Mensch wird sich seines Daseins bewußt, erfährt sich selbst und nimmt das Ziel der Schöpfung wahr. Dieses geschieht nicht durch ein noch so breit angelegtes Erleben der Freizeit. Denn ihre Anpassung an die Arbeitswelt ist nach Meinung der Kirchen viel zu eng. Über den individuellen Aspekt hinaus ist es wichtig, am Sonntag die Gemeinschaft mit anderen zu erleben. In der Freizeit und in der Muße des Sonntags finden Gespräche mit den Angehörigen und mit anderen Menschen statt. Der Zusammenhalt untereinander kann gestärkt werden. So wichtig der individuelle Aspekt und das Erleben der Gemeinschaft ist, Sonntagsruhe bedeutet auch und in erster Linie eine Hinwen