Philosophisches Jahrbuch 128, Heft 1 [1, 1. ed.]
 9783495451069

Table of contents :
Cover
EDITORIAL
BEITRÄGE
‚Ultimate Responsibility‘ without causa sui: Schelling’s Intelligible Deed of Freedom contra Galen Strawson’s Argument
Braucht die Moralphilosophie den Begriff der Verpflichtung? Über Anscombes Kritik an der Moralphilosophie der Moderne
Philosophie – Heilmittel oder Krankheit der Seele? Zur Symptomatologie und Therapie des Denkens bei Avicenna und Nietzsche
ZUR DISKUSSION: BERICHTE UND AKTEN
Adorno und Cornelius
Existenzialismus und Popularisierung. Zur Rolle der Philosophie bei Albert Camus
Die Bedeutung der Carnets Emmanuel Levinas’ (Tagebücher 1940–1945) für eine künftige Geschichte humanen Denkens
JAHRBUCH-SCHÄTZE: HERMANN KRINGS, FREIHEIT. EIN VERSUCH GOTT ZU DENKEN (1970)
Einleitung
Freiheit. Ein Versuch Gott zu denken
JAHRBUCH-KONTROVERSEN VI: LUCIANO FLORIDI, A NEW POLITICAL ONTOLOGY FOR A MATURE INFORMATION SOCIETY (FORTSETZUNG)
Schlussnotiz
Replies to Broy, Gabriel, Grunwald, Hagengruber, Kriebitz, Lütge, Max, Misselhorn, and Rehbein
BUCHBESPRECHUNGEN
Frederick C. Beiser, Hermann Cohen: An Intellectual Biography
Judith Butler, Die Macht der Gewaltlosigkeit. Über das Ethische im Politischen
Agnes Callard, Aspiration: The Agency of Becoming
Elsa Dorlin, Selbstverteidigung. Eine Philosophie der Gewalt
Toivo J. Holopainen, A Historical Study of Anselm’s Proslogion. Argument, Devotion and Rhetoric
Christoph Kann, Die Sprache der Philosophie
Werner Konitzer/Johanna Bach/David Palme/Jonas Balzer (Hgg.), Vermeintliche Gründe. Ethik und Ethiken im Nationalsozialismus
Franz von Kutschera, Der Weg der Westlichen Philosophie
Georg Lukács, Gelebtes Denken. Mit einem Beitrag von Agnes Heller und einem Nachwort von Werner Jung
Wolfgang Wieland, Philosophische Schriften
Bei der Redaktion bis zum 15. 06. 2021 eingegangene Bücher

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Philosophisches Jahrbuch Im Auftrag der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Thomas Buchheim Volker Gerhardt Matthias Lutz-Bachmann Isabelle Mandrella Pirmin Stekeler-Weithofer Wilhelm Vossenkuhl

128. JAHRGANG 2021 · 2. HALBBAND

VERLAG KARL ALBER FREIBURG / MÜNCHEN ISSN 0031-8183 · ISBN 978-3-495-45106-9

INHALT Heft II 2021 EDITORIAL (Volker Gerhardt)

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BEITRÄGE Thomas Buchheim, ‚Ultimate Responsibility‘ without causa sui: Schelling’s Intelligible Deed of Freedom contra Galen Strawson’s Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steffi Schadow, Braucht die Moralphilosophie den Begriff der Verpflichtung? Über Anscombes Kritik an der Moralphilosophie der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martina Roesner, Philosophie – Heilmittel oder Krankheit der Seele? Zur Symptomatologie und Therapie des Denkens bei Avicenna und Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

ZUR DISKUSSION: BERICHTE UND AKTEN Elena Corsi, Adorno und Cornelius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oliver Victor, Existenzialismus und Popularisierung. Zur Rolle der Philosophie bei Albert Camus . .

228 246 268

291 321

Klaus Kienzler, Die Bedeutung der Carnets Emmanuel Levinas’ (Tagebücher 1940–1945) für eine künftige Geschichte humanen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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JAHRBUCH-SCHÄTZE: HERMANN KRINGS, FREIHEIT. EIN VERSUCH GOTT ZU DENKEN (1970) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias Lutz-Bachmann, Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermann Krings, Freiheit. Ein Versuch Gott zu denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

358 358 364

JAHRBUCH-KONTROVERSEN VI: LUCIANO FLORIDI, A NEW POLITICAL ONTOLOGY FOR A MATURE INFORMATION SOCIETY (FORTSETZUNG) . . . . . . . . . . . . . . . Jörg Noller, Schlussnotiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

377 377

Luciano Floridi, Replies to Broy, Gabriel, Grunwald, Hagengruber, Kriebitz, Lütge, Max, Misselhorn, and Rehbein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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BUCHBESPRECHUNGEN Frederick C. Beiser, Hermann Cohen: An Intellectual Biography (Görge K. Hasselhoff) . . . . . . . Judith Butler, Die Macht der Gewaltlosigkeit. Über das Ethische im Politischen (Wolfgang Hellmich) . Agnes Callard, Aspiration: The Agency of Becoming (Florian Franken Figueiredo) . . . . . . . . . Elsa Dorlin, Selbstverteidigung. Eine Philosophie der Gewalt (Wolfgang Hellmich) . . . . . . . . . Toivo J. Holopainen, A Historical Study of Anselm’s Proslogion. Argument, Devotion and Rhetoric (Geo Siegwart) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Kann, Die Sprache der Philosophie (Reinhard Mehring) . . . . . . . . . . . . . . . . Werner Konitzer/Johanna Bach/David Palme/Jonas Balzer (Hgg.), Vermeintliche Gründe. Ethik und Ethiken im Nationalsozialismus (Bastian Klug) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz von Kutschera, Der Weg der Westlichen Philosophie (Hans Werbik) . . . . . . . . . . . . . Georg Lukács, Gelebtes Denken. Mit einem Beitrag von Agnes Heller und einem Nachwort von Werner Jung (Wolfgang Hellmich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Wieland, Philosophische Schriften (Harald Seubert) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

394 396 398 400

Bei der Redaktion bis zum 15. 06. 2021 eingegangene Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Editorial

Die Herausgeber des Philosophischen Jahrbuchs sind in der Regel um eine Kombination von thematischer Konzentration und Vielfalt bemüht. Diesmal überwiegt die Vielfalt – sowohl in historischer wie auch in systematischer Perspektive: Der Beitrag von Thomas Buchheim (München) befasst sich mit der Frage, wie insbesondere Schelling durch seinen Begriff der intelligiblen Tat Einwänden gegen die Möglichkeit freier Selbstbestimmung entgehen kann. Das bietet einen aussichtsreichen Ausgangspunkt, um in der aktuellen Debatte etwa Galen Strawsons Position entgegenzutreten. Der Beitrag von Steffi Schadow (Bonn) setzt sich kritisch mit Elisabeth Anscombes These auseinander, wonach die Begriffe der moralischen Pflicht und des Sollens aufgegeben werden sollten. Martina Roesner (Wien) untersucht in ihrem Beitrag das Verhältnis von Philosophie und Medizin am Beispiel von Avicenna und Nietzsche. Oliver Victor (Düsseldorf) diskutiert mit Blick auf die Philosophie Albert Camus’ die Frage, inwiefern die Philosophie popularisiert werden kann und soll. Elena Corsi (Berlin) geht in ihrem Diskussionsbeitrag dem philosophischen Verhältnis zwischen Hans Cornelius und Theodor W. Adorno nach und trägt damit zur Erhellung des Verhältnisses der Kritischen Theorie zum Neukantianismus und zum Neopositivismus bei. Klaus Kienzler (Augsburg) diskutiert Bernhard Caspers Interpretationen von Emmanuel Levinas’ „Aufzeichnungen aus der Gefangenschaft“. Mit dem Aufsatz „Freiheit. Ein Versuch Gott zu denken“ von Hermann Krings wird ein weiterer Jahrbuch-Schatz gehoben. Er ist durch seinen Bezug sowohl zum Freiheits- wie auch zum Gottesproblem von Bedeutung und wird von Matthias Lutz-Bachmann (Frankfurt/M.) kundig eingeführt und kontextualisiert. Mit seinen Repliken auf die kritischen Diskussionsbeiträge vom letzten Heft beschließt Luciano Floridi (Oxford) die sechste Jahrbuch-Kontroverse über „A new political ontology for a mature information society“. Volker Gerhardt

Phil. Jahrbuch 128. Jahrgang / II (2021)

‘Ultimate Responsibility’ without causa sui Schelling’s Intelligible Deed of Freedom contra Galen Strawson’s Argument* Thomas BUCHHEIM (Munich)

Abstract. Since the mid-1980s, Galen Strawson has introduced an argument into the analytic debate about the concept and possibility of freedom. He has repeated and defended it in various formulations, which amounts to an “impossibilism” of freedom in the moral sense, i. e., to the impossibility that we can be called ultimately responsible for the moral quality of our actions based on existing freedom in the full sense. In this paper, I want to explain Strawson’s argument, which is supposed to prove this intuitive difficulty as impossible to fulfill, and to show the conditions of its persuasiveness. Furthermore, I will make clear how and by what right philosophers like Kant, Fichte and especially Schelling were able to evade this argument avant la lettre by introducing the concept of an intelligible self-constituting act of freedom.

Since the mid-1980s, Galen Strawson has introduced an argument into the analytic debate about the concept and possibility of freedom. He has repeated and defended it in various formulations, which amounts to an “impossibilism” of freedom in the moral sense, i. e., to the impossibility that we can be called responsible (‘truly’ or ‘ultimately responsible’) for the moral quality (right or wrong, good or evil) of our actions based on existing freedom in the full sense. As an example and proof of this, I would like to cite only one typical sentence of Galen Strawson from his paper “The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility” summing this up: It is exactly as just to punish or reward people for their actions as it is to punish or reward them for the (natural) colour of their hair or the (natural) shape of their faces. 1

Strawson’s argument is eminently suitable, on the one hand, for pointing out an aporetic difficulty in our ordinary conceptions of human freedom and the moral demands we associate with it. On the other hand, it seems to be especially suited for gaining a comparative measure of how classical theories of freedom, particularly from the circle of Kantian and post-Kantian philosophy, have sought to resolve this difficulty before it was even condensed into a denial of our moral ultimate responsibility based on freedom by an argument like the one Strawson puts for* I wish to thank Jörg Noller and Inken Titz for the translation of the article into English, done with great linguistic and philosophical expertise. I also thank the anonymous reviewers of this journal for critical comments and suggestions on an earlier version of the paper. 1 Strawson (2008), 326.

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ward. The intuitive difficulty mentioned above consists in the fact that we can be held (ultimately) responsible for an action only if its execution can be traced back to the agent as the decisive cause. Further, this being the decisive cause must not possibly be traced back to other sources than the ones from which also the action to be answered for originates. This requirement of a closed grounding of responsibility of morally relevant acts in the agent itself is not easy to fulfill for beings like us, who are born and will die. First, I want to explain Strawson’s argument, which is supposed to prove this intuitive difficulty as impossible to fulfill, and to show the conditions of its persuasiveness. Secondly, I will make clear how and by what right philosophers like Kant, Fichte and especially Schelling were able to evade this argument avant la lettre by introducing an intelligible self-constituting act of freedom. 1. Reconstruction of Strawson’s argument Strawson has presented the argument in many slightly modified versions, but always distinguishing a ‘basic form’ from a more elaborate ‘cumbersome’ form. 2 The ‘basic argument’ directly names the core point which is decided in it and which freedom in the moral sense, i. e., the reclamation of moral ultimate responsibility for one’s own actions, cannot bypass in his opinion. This core point consists in what Strawson considers the indispensable requirement of being a causa sui as a bearer of ultimate responsibility for one’s actions. But this, he argues, is impossible, at least for any finite being. I quote a short version of the ‘Basic Argument’ from “The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility”: (1) Nothing can be causa sui — nothing can be the cause of itself. (2) In order to be truly morally responsible for one’s actions one would have to be causa sui, at least in certain crucial mental respects. (3) Therefore nothing can be truly morally responsible. 3

Immediately, of course, the attention will be directed to the second step of the argument with the question whether, even if only “certain crucial mental respects” of an individual claiming freedom for himself are concerned, the concept of a causa sui is to be applied at all and whether this does not rather mean to aim with cannons at sparrows? For example, we do not hesitate to attribute to the human being a radical acquisition of language ability or the self-transformation toward a good gymnast or strong wrestler without using a causa sui claim. So why have to be 2 For a detailed presentation and contextualization of the argument, drawing on the objections and support it has received in the contemporary discussion of the concept of freedom, see Dettinger (2015), 66– 112. However, Dettinger largely refrains from initially precisely highlighting and critically examining the argument’s internal premises, on which the argument’s (in any case informal) conclusiveness is based. Without this, however, it is not possible to identify sharply enough where alternative views on the matter would have to be hooked in order to deprive it of its persuasive power. Instead, Dettinger accepts it on the whole to make plausible an ultimately theological thesis about only “eschatologically” possible freedom of man. 3 Strawson (2008), 319.

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causa sui in the ‘certain respects’ of moral responsibility? In another essay 4 Strawson himself writes: The claim, then, is not that people cannot change the way they are. They can, in certain respects […]. The claim is only that people cannot be supposed to change themselves in such a way as to accede to UR with respect to the way they are, and hence with respect to their actions. One can put the point (somewhat contentiously) by saying that in the final analysis the way you are is, in every last detail, a matter of luck — good or bad. 5

The source of the action for which someone has ultimate responsibility (UR) must not have been produced by a string of fortunate fates, but only on a track that in turn is at the responsible disposition of the agent. The crucial point in the case of moral freedom is thus, according to Strawson, that the self-change cannot lead to the special result of a person’s being responsible for the way she is. For always, according to the argument, what we do follows from the way we are, and consequently what we do responsibly follows from the way we are. But if what we do, as a consequence of the way we are, is to be something for which we are responsible, then we must also already be responsible for that from which it followed, i. e., for the way we are. So it seems to be intuitively quite plausible at any rate: (1) You do what you do because of the way you are. (2) To be truly morally responsible for what you do you must be truly responsible for the way you are — at least in certain crucial mental respects. 6 It is important that we grasp more precisely the sense of the derivative or entailment relation between the being of the agent and the action in question, which Strawson’s argument must assume in all its versions in order to acquire its compelling force. He refers to this connection himself in various terms. Most often he speaks of “because of” or just “causa sui”, but it is clear that this does not mean causality in the ordinary sense. For in the usual understanding a ‘cause’ is first to be described logically independent of the caused effect and secondly takes place ahead of it. Neither is the case here: the constitution (“the way you are”) is one of the same subject that commits the action, and it is at the same time with it the cause from which it results. Yet Strawson also uses different and even stronger expressions for the connection, such as “what one does is a function of how one is” 7 or “flows necessarily from how you are” 8. However, it is not justified without further ado to recognize in this already a not only clearly functional but a necessary connection (“necessarily”). For, given the same external circumstances, it can probably not be called impossible that an agent somehow acts differently 9 than he does in the factually given case. 10 “The Unhelpfulness of Indeterminism” (Strawson 2000). Strawson (2000), 151. 6 Strawson (2008), 325. The further steps are also quoted from this paper. 7 Strawson (2008), 319. 8 Strawson (2008), 325. 9 It cannot be ruled out, for example, that in another possible world with the same external circumstances the person concerned would take more time to look at the photo more closely. 10 Here it is neither implied nor excluded that the action someone actually does is subject to determinism or else indeterminism of its occurrence: For, according to the assumption I have made, it is only the 4 5

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For example, someone could recognize his schoolmate on a photo shown to him, if he took more time to focus on the face on which he only casts an all too fleeting glance. Nevertheless, of course, de facto, i. e. in the real world, his statement that he did not know the depicted person resulted from all the individual traits of his constitution when looking at the picture. However, not taking more time for it does not necessarily (but only factually) belong to the feature of his engagement with the action. In a later version of his argument, Strawson elaborates on the entailment relation in question: Consider a particular action or piece of deliberation in which you engage, and consider everything about the way you are when you engage in it that leads you to engage in it in the way you do. I will call the particular action or piece of deliberation that you engage in ‘A’, and I will call everything about the way you are mentally when you engage in it that leads you to engage in it in the way you do ‘N’. […] 3.1 When you act or deliberate, at t1 — when A occurs, at t1 — you do what you do, in the situation in which you find yourself, because of the way you are — because you are N, at t1. 11

From this, it becomes quite clear what we observed above that antecedent condition and result state belong to the same subject, i. e., it is an internal derivative relation between real states, which can be of neither a logical nor a causal nature. The former not, because real states do not enter into logical relations. The latter not, because both A, i. e. actio, and N, the ontological state from which the actio results, do not relate to each other in a time-differentiated way, but simultaneously: Strawson speaks of “the way you are […], when you engage in”; thus, the so being is precisely when the actio is. Strawson seems to link to a scholastic adagium of the same content here, namely actio sequitur esse for any substance. The latter is an internally asymmetrical derivation relation. As such, it is clear from this that Strawson can assert a direct and unobstructed connection, but not logical or causal-nomological necessity for the entailment relation. For there would be no contradiction if this single subject did not engage in precisely the action in question, but in another one which, under slightly modified external circumstances, could be equally connectable to a given state of being of the agent. Accordingly, the entailment relation can be understood as well-founded emergence of the derived ‘engagement’ from the assumed antecedent, i. e. the being of the subject, which is here denoted by “N” as in “Nature”. Second, it should be noted that Strawson in the quoted passage explicitly focuses on all “mental” aspects of the ontological constitution of one and the same subject, so that the exhaustive internal and therefore temporally and spatially unseparated ground of the action (or “piece of deliberation”) is placed in any mental states of being of the agent. Consequently, we have to understand the connection in question ‘external’ circumstances of the action that are assumed to be the same, while nothing is said about internal antecedents. Moreover, it became clear from the beginning that Strawson’s argument does not concern at all the question of the compatibility or incompatibility of freedom and responsibility with determinism (cf. also Strawson 2000, 151: “Note that the argument is completely independent of any view about whether determinism is true or false.”). 11 Strawson (2002), 444 sq.

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as a modern formulation of what one liked to call “psychological determinism” in classical philosophy. Meanwhile, thirdly, what must certainly be called subjectively ‘impossible’ is that the same subject can escape an internal determination or dependency relation between two simultaneous but asymmetrically coupled aspects of itself. That is, it must be unavailable or indispensable for the subject itself that the actio in question follows its esse. At this point, the transfer of responsibility from the action to the being of the person becomes plausible also in a logically more stringent, no longer purely intuitive sense. For if the subject is supposed to be responsible for her action, and the action at the same time results (in the way explained) from something that this subject cannot possibly prevent, then it follows logically, i. e. it is implied, that the subject must be responsible for that from which for her unescapably her action results. Therefore, we can accept transfer as a fixed building block of Strawson’s argument. This means that the subject could be responsible for his action A only by being responsible also for his mental state of being (N) at the time of the action. Thus, by means of the transfer principle, we can now concede and reformulate the first two premises of Strawson’s argument, namely: (actio sequitur esse) (Transfer)

(1) You do what you do because of the way you are. 12 (2) To be truly morally responsible for what you do you must be truly responsible for the way you are — at least in certain crucial mental respects. 13

Now Strawson’s claim is that it is impossible for a subject (S) to be ultimately responsible (UR) for any state of being (N) at any time (tn). However, if this were impossible, then everything for which this is a necessary condition would be impossible. This is stated by proposition (2) of the argument. In order to prove this impossibility, Strawson assumes the opposite in a follow-up argument, i. e. the possibility of being ultimately responsible for one’s relevant nature at any time, in order to show in the next steps that this assumption leads to an inevitable infinite regress. Since such a regress is again to be considered inadmissible according to Strawson, 14 but it must follow from the assumption (according to the argument put forward), it cannot be otherwise than that the assumption is to be rejected. This is what we want to follow with due brevity. Therefore, we set as target assertion: (3) You cannot be truly responsible for the way you are, so you cannot be truly responsible for what you do. 15

Strawson (2008), 325. Loc. cit. 14 Such a regress is not per se logically inadmissible or contradictory. However, since the present case is about a foundational context for accountability, it can be said that an infinite regress is incapable of providing a completed foundational context (see, e. g., Schaffer 2010, e. g., 37; 62), and for that very reason the assumption that implies it must be rejected as unsatisfiable. 15 Strawson (2008), 32. 12 13

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It is important to note here that Strawson introduces another premise as a justification for impossibility, which apparently only establishes the meaning of what it minimally means to be responsible for something. Namely, it means to have intentionally produced that for which one is responsible: (N intentionally brought about) Why can’t you be truly responsible for the way you are? Because (4) To be truly responsible for the way you are, you must have intentionally brought it about that you are the way you are, and this is impossible. 16

What to make of this additional premise? It looks innocent at first sight, but it is not at all. For the intentional production of N must have two features according to the additional premise repeatedly mentioned by Strawson. It must both have come to completion in N and have taken place prior to N: before anyone can be responsible for his action, he would have to have intentionally brought forth from himself at an earlier time the nature N that now constitutes the foundational ground for his responsible action. We saw earlier that the internal and for S indispensable, simultaneously and inseparably occurring resulting of the actio from the esse of the person are only partial, but at the same time asymmetrically interdependent state aspects of an acting subject. According to the premise now introduced, however, they are mutually independently occurring total constitutions or real ‘stages’ of a person on an assumed path of her development through time. It is now this additional assumption that leads with rapid steps into regress. Namely as follows: Why is it impossible? Well, suppose it is not. Suppose that (5) You have somehow intentionally brought it about that you are the way you now are, and that you have brought this about in such a way that you can now be said to be truly responsible for being the way you are now. 17

Now the regress begins, since having any intentions or preferences to do something intentionally, according to Strawson with proposition (1), always presupposes some already given being of the same subject, which has or pursues the intentionality in question. But since now the intentional bringing forth of the N-from-S must have come to a conclusion earlier than the bringing of this N into the performance of that action for which a responsibility is asserted, that which should only be given by the intentional bringing forth would have to be already presupposed for the intentional bringing forth. Thus proposition (6) of the argument results: For this to be true (6) You must already have had a certain nature N in the light of which you intentionally brought it about that you are as you now are. 18

And here we get into the infinite regress. For always, in order to be responsible for any state of being N(tn), we have to assume, according to proposition (4), its intentionally having been brought about by the same subject (S), which possesses this 16 17 18

Strawson (2008), 325. Loc. cit. Loc. cit.

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nature. SN(tn) is therefore in any case the result of an intentional bringing about of S. But in order to be allowed to assume just this intentional bringing about, we must (according to proposition (1): actio sequitur esse) at the same time internally presuppose that it already possesses a nature exhaustively founding the bringing about. Some previous nature N(tn-1) of S is therefore also a necessary precondition of the intentional production of SN(tn). However, again according to proposition (2) — i. e. by the transfer of responsibility — that S can be responsible for an intentional bringing forth only if it is in turn also responsible for the being to be presupposed internally for it or the nature N(tn-1) exhaustively founding the intentional bringing forth. The latter, however, requires again (according to proposition (4)) that also the nature N(tn-1), by virtue of which the subject intentionally brought forth the nature N(tn), for which it must be responsible, if it is to be responsible for the action (A) resulting from it, must in turn have been intentionally brought forth by it. Etc. Thus, proven by the individual propositions of the argument, for every existing responsibility of the subject for an intentional action, there must always be switched on by it another nature already previously established by its intentional action, for which it must in turn draw responsible by its intentional action related to it. This is how sentence (7) of the argument expresses it, namely: But then (7) For this to be true you and you alone are truly responsible for how you now are, you must be truly responsible for having had the nature N in the light of which you intentionally brought it about that you are the way you now are. So You must have intentionally brought it about that you had that nature N, in which case you must have existed already with a prior nature in the light of which you intentionally brought it about that you had the nature N in the light of which you intentionally brought it about that you are the way you now are … Here one is setting off on the regress. Nothing can be causa sui in the required way. 19

It is, as one now clearly recognizes, not only the transfer of responsibility from the action to the being of the agent, which entails an infinite and insofar erroneous founding regress. Instead, it is the transfer together with the assertion that responsibility always means to have intentionally produced that being to which the transfer refers back, in order to be able to redeem the responsibility implied by the transfer. This, however, will turn out to be a not necessary additional assumption: the intentionality of an action, which we do responsibly, is not that, which, if necessary, would establish our moral ultimate responsibility for the ontological constitution, to which the declared transfer of responsibility leads back. So it will show our look at Schelling’s doctrine of man’s intelligible deed of self-determination in the Freedom Essay. For Schelling does admit the first two premises of Strawson’s argument with certain modifications. But his conception of a transcendental constitutional act, by which every human being establishes their moral responsibility and freedom, does not result in an infinite regress, which would prove the impossibility of moral ultimate responsibility. 19

Strawson (2008), 325 f.

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2. The idealistic doctrine of the “intelligible deed” as a sufficient foundation of moral ultimate responsibility The concept of an ‘intelligible deed’ or transcendental constitutional act of the moral subject, by which an imputability of its free acts over time and thus ultimate responsibility for their moral quality is secured, 20 originated with Kant in his 1793 Religion. Kant had first highlighted the difficulty that an ‘evil’ or morally reproachable action for which we can be held responsible always implies the presupposition that someone must have already adopted a generally evil maxim for her actions, which in turn must be imputable and therefore voluntarily adopted. Similarly to Strawson, therefore, the enabling of the imputation or moral responsibility of actions results in a relegated self-supposition of the freely assumed moral quality of the maxim on the basis of which we act, which in turn we must have acquired and justified ourselves out of freedom. But its first reason, because of that self-prerequisite of its moral quality, is according to Kant necessarily “inscrutable”, 21 but not therefore already an infinite founding regress, which would convict moral ultimate responsibility as in principle unattainable. According to Kant’s argumentation in the Religion, it must be admitted: In order, then, to call a human being evil, it must be possible to infer a priori from a number of consciously evil actions, or even from a single one, an underlying evil maxim, and, from this, the presence in the subject of a common ground, itself a maxim, of all particular morally evil maxims. […] But this subjective ground must, in turn, itself always be a deed of freedom (for otherwise the use or abuse of the human being’s power of choice with respect to the moral law could not be imputed to him […]). 22

Now, according to Kant, it is still true that that reason of the maxims, which “lies generally” in the subject, because it must itself possess a moral quality that is attributable, cannot be anything other than, again, the deed or action of the subject: Nothing is, however, morally (i. e. imputably) evil but that which is our own deed. And yet by the concept of a propensity is understood a subjective determining ground of the power of choice that precedes every deed, and hence is itself not yet a deed. […] Now, the term “deed” can in general apply just as well to the use of freedom through which the supreme maxim (either in favor of, or against, the law) is adopted in the power of choice, as to the use by which the actions themselves (materially considered, i. e. as regards the objects of the power of choice) are performed in accordance with that maxim. The propensity to evil is a deed in the first meaning (peccatum originarium) and at the same time the formal ground of every deed contrary to law according to the second meaning […] The former is an intelligible deed, cognizable through reason alone apart from any temporal condition; the latter is sensible, empirical, given in time (factum phenomenon). 23

Cf. on the development of the concept from Kant to Schelling quite clearly and concisely: Florig (2010), 142–163. 21 See, e. g., Kant Rel. AA VI: 20. 22 Kant (1998), 46 = AA VI: 20 f. 23 Kant (1998), 55 = AA VI: 31. 20

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It is easy to see that Kant’s consideration aims at thinking a “deed” or action whose result, first, must consistently (transcendentally) underlie all empirically attributable actions of a subject. Second, it would not itself again allow an internal distinction into a stable reason preceding it on the one hand and an actual execution of action based on it on the other. According to this original conception of a transcendental act of justification, such an act cannot itself be empirical, i. e. cannot lie in time, but must be an internal prerequisite in all temporal actions, if these are to be attributed responsibly to their subject. Fichte took up this conception a little later in the concept of the “act of action” of the ego and declared it in an extended and generalized form to be the basic concept for the entire theory of science: The self posits itself, and by virtue of this mere self-assertion it exists; and conversely, the self exists and posits its own existence by virtue of merely existing. It is at once the agent and the product of action; the active, and what the activity brings about; action and deed are one and the same, and hence the ‘I am’ expresses an Act [Tathandlung], and the only one possible, as will inevitably appear from the Science of Knowledge as a whole. 24

“It is at once the agent and the product of action” — similarly as according to the first quotation of Kant the act is supposed to be at the same time reason for act and actus itself. However, Fichte considerably expanded the scope of the act from a mere reason for the moral quality of the act attributable to the agent himself to an intelligible constitutional act of the self, encompassing it as a whole as originating from its own activity. Later, in his own new conception of the “intelligible deed” 25 from the Freedom Essay of 1809, Schelling explicitly connected both of Kant’s and Fichte’s ideas, which build on each other. However, Schelling also modified them. 26 Unlike for Kant, the intelligible deed is for Schelling a real accomplished productive or self-generative activity of the subject in relation to its moral determination, too. 27 It, however, (unlike for Fichte) takes place on the foil of a nature already laid out from another source, which for its part is not already morally determined (not good or evil) and thus also not attributable to and answerable by the subject. Moreover, differently than with Fichte, it is (similarly to Kant) about the decision of the internal gradient between good and evil — which of both is superior to the other —, i. e., precisely about the self-constitution of the moral subject of free and attributable empirical action. A self-constitution that is attributable to him. As far as human nature is concerned — that foil on which the moral self-constitution of the subject can first take place — it is to be understood, according to Schelling, as a “life” or as a “soul” of a special kind, as he explains in a so-called “natural-philosophical deduction” 28 at the beginning of the investigation. 29 The peFichte (1982) [Science of Knowledge], 97 [FW I, 96 = GA II, 259, 3–9]. See, e. g., Schelling, Freedom Essay AA I 17, 156, 15 f. [SW VII, 389]; cf. 154, 13–16 [SW VII, 387]. 26 For the entire doctrine of the intelligent act, see Freedom Essay AA I 17, 152–156 [SW VII, 384–389]. 27 For Kant, the deed is not at the same time real activity and does not produce anything additional in the subject, but (because of the self-prerequisite of the evil or good maxim) only in the result as a performed deed a transcendental (thinking) prerequisite of morally attributable actions. 28 Schelling himself coined this expression as a heading for the aforementioned section of his Freedom Essay, see Schelling (1809) [Jahreskalender], 14. 29 Schelling, Freedom Essay AA I 17, 128–134 [SW VII, 357–364]. 24 25

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culiarity of this life, according to Schelling, consists in the fact that its “self-will” or “particular will,” which man has in common with all creatures, is, unlike in the latter, paired with “understanding” or a “universal will” in such a way 30 that one always ‘resonates’ within the other or is in “complete consonance” with it. 31 That is, if man wants something for himself and out of self-interest for his self-preservation, then it resonates in this that he pursues this only as one instance of many and in interweaving his existence with all other creatures. And if, conversely, he makes something the matter of his universal will from a universal point of view, then it automatically resonates in it that he can only use his own forces for it and everything that he pursues in general remains tied only to the self-will and the individual forces. This “consonance” of the two wills in his consciousness is, thus far considered, morally neutral and neither to be called good nor evil. Only the act of moral self-determination coordinates both kinds of will into one single faculty of good and evil. Man can then exercise this faculty by virtue of his intelligible self-constitution as a morally attributable being either in the manner and inclination for evil or in the manner and bias for good in all actions attributable to him and morally ultimately responsible. 3. Schelling’s preemptive moves to escape Strawson’s argument Schelling’s investigation of human freedom proceeds in two main steps that build on each other, each of which explains different aspects of it more precisely, but only together yields its full concept: the first step deals with the specific difference of human freedom, 32 which (in contrast to divine freedom, for instance) 33 is determined as a capacity for good and evil. 34 What is specific is that it is one and the same capacity, which in its exercise can be disposed and employed either for good (contrary to evil) or for evil (contrary to good), but which, according to its capacity, always remains related to both. 35 In the introduction, Schelling calls this the “real and vital concept” of human freedom, 36 which has been practically disregarded by the idealistic theory of freedom. Rather, the idealistic theoretical drafts in the past had only dealt with the “formal concept” of freedom (here he aims at Fichte as well

Schelling, Freedom Essay AA I 17, 133 f. [SW VII, 362 f.]. Schelling, Freedom Essay AA I 17, 134, 23. 32 For more details, see Buchheim (2012), 190–201. 33 According to Schelling, God, if he exists, could not even possess a capacity for evil, which is why, if human nature was created by God, man cannot yet be endowed with such a capacity by nature, but must first have consolidated himself as a moral subject with such a capacity for evil and good. Cf. on this Freedom Essay, introduction AA I 17, 126 [SW VII, 354] and subsequently AA I 17, 154 f. [SW VII, 387 f.]. 34 Schelling (transl. 2006), 23 [SW VII, 352; AA I 17, 125, 6 f.] et passim. 35 It is important to note that the faculty of human freedom, even when constituted for evil, still remains a faculty for good; and likewise, when constituted for good, a faculty for evil. The moral opposites always gain their respective profile in view of and mindful of the moral opposite. There is always a form of resisting the possible evil in the good and a form of refusing the good in the evil. 36 Freedom Essay AA I 17, 125.7 f. [SW VII, 352]; Schelling (transl. 2006), 23. 30 31

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as at Hegel 37 and not least at his own earlier idealistic system writings 38). This had clarified the formal structure of self-determination or (in Fichte’s words) of the selfsetting intelligence and had presented it as an idealistic basic pattern of a speculative differentiation or gradual “potentiation” of the intelligible reality. 39 In the first part of the Investigations, a central problem is discussed under the title of a “real and living concept” of human freedom. It consists in how it can be that man, although God does not even possess a capacity for evil, 40 by virtue of her own spirit (i. e. of the “complete consonance” of the two kinds of will explained above) is both exposed to a “possibility of evil” at all, 41 and has to live in constant suggestion or enticement to evil. Both of these facts do not, as God’s creation otherwise, go back to the divine will as its first source. 42 Positive evil, the faculty of which man appropriates by virtue of her mind, consists, as Schelling explains, in a “false unity” 43 of those two wills or principles of her consciousness. A mistaken order or hierarchy between them endows this false unity. Kant had already made clear that the self-will can be integrated into the generality of a moral law of conduct only under considerable “restrictions” if the moral law is to be the supreme maxim. 44 Conversely, the self-will can be dominant only by instrumentalizing the general claim of the law or the universal will at the same time for the most unrestricted and effective pursuit of self-interest. The two wills, according to Schelling’s idea (which goes back to Franz von Baader), 45 thus allow two diametrically opposed formations of unity between them, one of which realizes the positive good, the other an equally positive evil. Only after the explanation of the real concept of freedom, Schelling then turns to “formal freedom” in the second main step of the investigation, which now deals with the intelligible deed of self-determination of human freedom by drawing on the conceptual ideas of Kant and Fichte explained above. Here, the “intelligible deed” justifying attribution and moral ultimate responsibility is presented in such a way that, upon close analysis of the wording, it becomes clear why and at which points Galen Strawson’s regress argument can no longer be brought into play, thus demonstrating the non-impossibility of “Ultimate Moral Responsibility” under certain, undoubtedly metaphysical presuppositions. We have already pointed out above that the intelligible deed of self-determination, i. e. the “formal freedom” of man, proceeds from human nature. It is already laid out by creation, as a certain Cf. e. g. G. W. F. Hegel (1807) [Phenomenology of Spirit], Preface (which Schelling had studied attentively shortly after its publication), ThW Vol. 3, 23–31 “the movement of setting oneself” (23) of “selfconscious freedom” (25), which ideally generates the whole stage structure of the system of reality through the movement of the “pure concept” (28). 38 As an example of this from Schelling’s earlier work, we may refer to the 1804 paper Philosophy and Religion. 39 Cf. e. g., Introduction to the Freedom Essay, AA I 17, 123 f. [SW VII 350–352]. 40 See AA I 17, 126.20–26 [SW VII, 354]. 41 AA I 17, 134.32 [SW VII 364]. 42 The relevant section extends from AA I 17, 134–150 [SW VII, 364–383]. 43 See Freedom Essay A I 17, 140 f. [SW VII, 370 f.]. 44 Cf. e. g. Kant, Critique of Practical Reason, AA V, 34 f. 45 Schelling himself refers to this: Freedom Essay AA I 17, 137 [SW VII, 366 f.]. 37

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(especially demanding) kind of conscious life, which at this God-created stage, although still morally neutral, is already characterized by “complete consonance” of the two kinds of will. Both kinds of will can achieve one certain volition of the individual only if they are integrated into an order common to them. This one unified volition fed by both kinds of will is the result of the intelligible deed of selfdetermination of every human individual. Schelling writes: But just how in each individual the decision for good or evil might now proceed — this is still shrouded in complete darkness and seems to demand a specific investigation. We have generally focused up to this point less on the formal essence of freedom, although insight into it seems to be strapped with no less difficulty than explication of the real concept of freedom. 46

Here, of course, the whole doctrine of the intelligent act of freedom of the individual human being (i. e. his freedom in the formal sense) cannot be presented in detail. 47 I limit myself rather to the two most important pivots from Strawson’s argument, which lead to the occurrence of a foundational regress, by the leveraging of which Schelling can avoid such a regress in his conception. The first pivotal point is Strawson’s claim that moral accountability in any case (and minimally) requires not only the intentionality of an action in the first place for which I am to be accountable. Rather, this intentionality must also be directed to that being (N as in “nature”) to which the logical transfer of accountability under proposition (2) of Strawson’s argument is relegated. However, this view of Strawson does not seem to be supported by any additional reasoning. Rather, counterexamples teach that one can be responsible for many things that were not necessarily the focus of my intention when I acted. Consequently, not being in the focus of my intention may also concern that being to which the transfer must admittedly relegate responsibility for an intentional action in order to be called responsible for it. Generally speaking, moral ultimate responsibility (imputability) for actions is not grounded in intentionality with respect to the result or object of an action, but — in Kant’s line — in the moral-sensitive configuration of their will to act as good or evil. This is a major difference and has the consequence that, according to Schelling, it is precisely not that nature or ontological constitution that is brought into the focus of intentional production, to which, according to Strawson’s first (actio sequitur esse) and second (transfer) premises, the reassignment of possible ultimate responsibility for one’s own actions must lead. Rather, for Schelling it is true: Whatever the intentionality of actions may be, for which I bear moral ultimate responsibility, the will with which I pursue them is configured by myself as a radically good or evil one by way of an intelligible deed of justification that can be attributed to me. Unfortunately, the sentences in which Schelling formulated his view on the justification of ultimate responsibility by the intelligible deed are somewhat difficult and speculatively charged:

46 47

Schelling (2006), 48 [SW VII, 382 = AA I 17, 150]. Cf. with particularly instructive profiling vis-à-vis Kant: Wachsmann (2021).

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There is, however, no transition from the absolutely undetermined to the determined. That, for instance, the intelligible being should determine itself out of pure, utter indeterminacy without any reason leads back to the system of the equilibrium [Gleichgültigkeit] of free will discussed above. In order to be able to determine itself, it would already have to be determined in itself, […] itself as its essence, that is, as its own nature would have to be its determination. This is of course not an undetermined generality, but rather determines the intelligible being of this individual; the saying determinatio est negatio holds in no way for such determinateness since the latter is itself one with the position and the concept of its being, therefore it really is the essence in its being. 48

Despite some remaining ambiguity, three things can be made sufficiently clear: (1) The act of self-determination of the intelligible being does not proceed from “indeterminacy”, but recurs to an already presupposed being or “own nature”, which, as explained above, goes back to an act of creation, which is not in the hand and responsibility of the person. (2) This “own nature” of the individual being (“this person”) “would have to be its determination” again. — This means, what the being already is by nature would have to be able to be made to him that determination which the being has to give to itself only in the course of the intelligible deed. But from this description it follows that the category of determination under which one’s own nature is determined by itself cannot belong to the same category of determinations as those which determine its created nature as such. 49 Indeed, we have seen above that, according to Schelling, moral valence as good or evil comes about only through the formation of unity between the two kinds of will in their nature-given consonance, which is to be organized by the individual. The determinations of the “own nature” are put into use by the subject in a characteristic way and thus (through this use) first raised to moral valence and evaluability. (3) With this reading of the preceding point, thirdly, it also becomes clear why Schelling says that a (self-)determination of such kind would not be subject to Spinoza’s statement determinatio est negatio. For the determinateness of the essence is thereby only primed internally to a certain point, which alone gains moral quality as thus primed. But it is not demarcated by negation as determinate from a determination contrasting with it. Such an ‘inner pointedness’ of the essence brings forth only “the essence in its being” as a moral one. While contrasting determinations according to the scheme determinatio est negatio always imply that on both sides of the transition to determinateness there are predicates of the same category. However, this is not the case here with Schelling: Goal-determinacy moves the subject or being into a new categorial dimension (namely, a morally determinate one between good and evil) that its own initial nature does not yet possess. The being does not change from a presupposed basic determinateness to another of the same category, but it emerges

Schelling (2006), 49 f. [SW VII, 384 = AA I 17, 151 f.]. So here we have exactly the case that Strawson wants to exclude from occurring: “The claim is only that people cannot be supposed to change themselves in such a way as to accede to UR with respect to the way they are, and hence with respect to their actions.” (Strawson 2000, 151) — That this ‘cannot be’ presupposes, of course, that Strawson’s argument is considered valid, which, as we now see, Schelling would not do for good reasons if he had known it.

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anew as a moral subject from a merely natural one — in the act of self-determination. Let us map this deviation of Schelling’s train of thought from what Strawson understands by self-production of the ‘nature’ of S onto the necessary transfer of responsibility from the morally determined act to the internally presupposed ontological constitution N. We are then to say that the morally constituted (i. e. newly arisen) subject possesses a moral determinateness produced by itself, which is the same (good or evil) as that of all its empirical acts for which it is responsible. However, the earlier initial nature to the act of self-determination to be presupposed for the intentional production of this moral determinateness of being according to Strawson does not take place again “in the light” of another similar (namely morally determined) intentionality. The intentionality of the intelligent act rather aims only at the unification of the two by nature consonant wills into a unified “primal and fundamental willing” with respect to whatever is at stage for being willed by the respective subject; 50 it does not aim at the moral constitution N of the subject as good or evil. It rather incurs it as a result. The significance of this deviation from Strawson’s pattern of argumentation becomes clear when we also consider the second pivot of Schelling’s new conception of the intelligible deed. It consists in the fact that the subject considers the selfproduction act of the morally determined ontological constitution (what was called N(tn) in Strawson) neither as antecedent to his responsible acts nor as an act of his own right completed with respect to them. For the first (not to precede in time) the following text passage can be cited as evidence: The act, whereby his life is determined in time, does not itself belong to time but rather to eternity: it also does not temporally precede life but goes through time (unhampered by it) as an act which is eternal by nature. 51

Thus, while man empirically living in time is ultimately responsible for his individual free acts, which are done as likewise empirically determined by him in time, the permanent self-production of that constitution N of this man, to which the responsibility must be transferred according to Strawson’s argument, is not already completed ahead of time to the individual act, but only simultaneous with it. Furthermore, according to Schelling the said non-temporally preceding origin of responsibility is not in turn a doing in such a way that it would have to be distinguished from again a presupposed earlier being-of-the-doer, which the one would have to have already had before any such doing, which could have stemmed from it: Were this being a dead sort of Being [ein totes Sein] and a merely given one with respect to man, then, because all action resulting from it could do so only with necessity [cf. Strawson: a function of it], responsibility and all freedom would be abolished. 52

This means — now with regard to the regress arising in Strawson’s argument — that according to Schelling the acting self-production is not distinguished and set 50 51 52

Schelling (2006), 50 f. [SW VII, 385 = AA I 17, 152, 33]. Schelling (2006), 51 [SW VII, 385 f. = AA I 17, 153, 11–13]. Schelling (2006), 50 [SW VII, 385 = AA I 17, 152].

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off from the basic moral constitution of being as its result, which result for its part, however, must very well be an internally distinguishable moment in every empirical action for which S is responsible. The transfer of ultimate responsibility, according to Schelling, only goes back to an internal presupposition of undoubtedly transcendental or metaphysical nature inscribed at the same time in the real constitution of the subject of action responsible for its actions, i. e. one that cannot itself be empirically identified. But this is not followed by a further founding regress via infinitely repeated stages of production of the state of being achieved by the transcendental action in again preceding stages of action of the same subject. Strawson, on the other hand, had obviously understood the chain of regress steps according to the model of a gradual change of the “already existing” subject towards the respective state in which a responsible action is done. For this, before each step taken, the full existence of the subject in question with an already completed nature was already required — which just led into an interminable regress. Much more plausible, on the other hand, is Schelling’s view that, if, after all, his constitution as a moral being is brought forth, it is a question of a genesis or re-emergence of the very (moral) subject, which only with its existence is also responsible for its actions. Now, of course, it is clear that it cannot be a genesis in the common empirical sense, because that from which something comes into being then exists distinct and separate from that which is the product of the genesis. But this empirical condition is purposefully invalidated by Schelling in that he declares the genetic constitution of the moral subject to be the result, but not also the already presupposed carrier of the transcendental act of freedom. Its carrier is rather the same living subject in its created nature. If one now asks oneself whether this is at all consistent and permissible: how can a transcendental act of freedom, which is attributed to S, occur in reality without having S in its presupposed being already as carrier? — This is less absurd than it may sound at first. For always only there, where an empirical subject commits free actions in the empirical sense, the transcendental action bringing forth (giving rise to) him as moral subject is an internally embedded, but nevertheless real component of his empirical actions. Of course, this has also made it clear that such doing or intelligible deed, which is as much doing as being, is not an action of a human being in the empirical sense to which, taken by itself, predicates of freedom and responsibility could be assigned. It is rather an action or doing in the transcendental or metaphysical sense, which must be presupposed in all empirically responsible actions, and which, as shown, first constitutes the intelligible character or moral selfdefinition of a human being. But its transcendental or metaphysical status makes such an assumption neither contradictory nor necessarily loaded with infinite regress. Thus, a constitutive act is not an instance of doing that can be equated with all other acts that fulfill certain predicates. One defect of Strawson’s argument is not to admit a distinction between ‘doing’ in the empirical sense and ‘doing’ in the transcendental sense of a constitutive act. Rather, he pretends that the two can and should be regarded as similar cases of action, to which the same conditions apply, and where one occurs as ‘completed’ as episodes of human life as the other. But this Phil. Jahrbuch 128. Jahrgang / II (2021)

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is not the case. Rather, a constitutional act occurs only as an internal and stable component of all its empirical acts across the span of a human life, insofar as (the empirical) predicates of freedom and responsibility are to be accorded to them. 53 This stability across all empirical acts constitutes at the same time the real distinctness of this component of all empirical acts of a subject to which freedom and responsibility are ascribed. An illustrative image of the act of constitution in this respect is the internal piling up of any wave that breaks as it hits a beach: in a given swell, the piling up is a stable, internal constitutional condition of the breaking of any wave. It can take very different forms and shapes at different points along the shores, although they all have the same degree of piling up in them. This is not an independently occurring wave, but a stable component of each one, which reaches the breaking. It is correct to attribute the moral constitutional action of a human being to it and to consider it as intentional. However, as already explained in the first pivot of Schelling’s conception, it is intentional in a different sense than any empirical action that would justify the predicate of freedom. Whereas, according to Schelling, we can regard the constituent action as intentional in relation to a due formation of unity between two nature-given wills in human consciousness — the self-will with the universal will. The morally constituted will or the morally re-arisen subject is not only engaged in achieving unity but ‘decided’ to a certain moral pattern (good or evil) of its use in each concrete intention of action. 54 Finally, let us look again at Strawson’s argument and see how Schelling relates to the individual propositions and premises therein. Schelling would affirm the first proposition (actio sequitur esse: “you do what you do because of the way you are”) as long as it is about empirical actions of the same subject. He would not, however, regard the transcendental self-constitution as an independently occurring action and its subject as categorically the same (although numerically one) as its result, namely the morally constituted subject of empirical actions. The second proposition (transfer: “to be truly morally responsible for what you do you must be truly responsible for the way you are”), which involves the transfer principle, would also be conceded by Schelling, although according to Schelling moral ultimate responsibility for actions is constructed in a much more complex way than Strawson seems to imply. Indeed, it is only given and possible for actions in the empirical sense if it also makes the moral constitution of the subject in question — to which the transfer of responsibility is always relegated —the result of a transcendental or metaphysical act of moral self-production to be attributed to the numerically identical but not likewise already morally determined subject. 55 Abe (2021), 319, also points this out with desirable clarity. Schelling has also given a (non-necessitating) reason for the fact that every human being who is born has a certain, namely radically evil formation of unity (and not the opposite radically good one). This reason is “the fear of life”, which any finite spiritually endowed being cannot avoid to feel (Schelling 2006, 47 [SW VII, 381 AA I 17, 149.26]), if it sees itself exposed to an “above the creaturely” claim. This question does not need to be treated further here (see Buchheim 2021, 271 ff. for more details), because it plays no role for Strawson’s argument as well as for its undermining by Schelling. 55 For more details, see Buchheim (2021), 273–277. 53 54

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This moral self-production and its subject is not itself a cause, but at any time only a embedded component of real causes of free actions, namely of free persons. In this respect, if it is not itself a cause, then it is also not a causa sui. Rather, according to Schelling’s conception, man is a natural being created by God, but licensed to bring herself forth as a moral being. It is clear, therefore, that Schelling can confidently reject all the other propositions ((3) to (7)) of Strawson’s argument without arguing inconsistently or contradictorily. The fact that he cannot do without certain metaphysical additional assumptions 56 (which Strawson would probably not share) can then – in the interest of freedom – no longer be considered a mere fantastic move of Schelling to enthusiasm. Funded by the Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG, German Research Foundation) – 263894223 BIBLIOGRAPHY Classical primary sources: Fichte, J. G. (1794), Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, in: J. G. Fichte Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (GA) (ed. Lauth; Jacob), vol. II, Stuttgart Bad-Cannstatt 1965. Fichte, J. G. (1794), Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, in: Fichtes Werke (FW) (ed. Fichte), vol. I, Berlin 1971. Fichte, J. G. (1794), Science of Knowledge with the First and Second Introductions (ed. Heath; Lachs), Cambridge 1982. Hegel, G. W. F. (1807), Phänomenologie des Geistes, in: G. W. F. Hegel Werke. Theorie-Werkausgabe (ThW), vol. 3, Frankfurt a. M. 1970. Kant, I. (1788), Kritik der praktischen Vernunft, in: Kants Werke. Akademie-Textausgabe (AA), vol. V, Berlin 1968. Kant, I. (1793), Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Kants Werke. Akademie-Textausgabe (AA), vol. VI, Berlin 1968. Kant, I. (1793), Religion within the Boundaries of Mere Reason (ed. Wood; di Giovanni), Cambridge 1998. Schelling, F. W. J. (1804), Philosophie und Religion, in: Schellings Werke (SW), (ed. Schelling), I. Abteilung, vol. VI, 13–70. Schelling, F. W. J. (1809), Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, in: Historisch-Kritische Ausgabe (AA), Werke I 17 (ed. Binkelmann; Buchheim; Frisch; Müller-Lüneschloss), Stuttgart 2018. Schelling, F. W. J. (1809), Philosophical Investigations into the Essence of Human Freedom, (ed. Love; Schmidt), New York 2006. Schelling, F. W. J. (1994), Philosophische Entwürfe und Tagebücher 1809–1813 (ed. Knatz; Sandkühler; Schraven), Hamburg 1994.

More recently, Thomas Oehl (2021) has also proposed, in his view against Strawson’s argument, an immune conception of the inner-temporal development of a moral character, which gets by with fewer additional metaphysical assumptions than Schelling’s conception of the intelligible deed has claimed. Only further discussion can reveal whether this attempt is also successful. In any case, the analysis presented here has made it clear that Schelling’s more metaphysically demanding conception of the justification of moral ultimate responsibility for free acts can indeed escape Strawson’s argument in a consistent way.

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‘Ultimate Responsibility’ without causa sui

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Phil. Jahrbuch 128. Jahrgang / II (2021)

Braucht die Moralphilosophie den Begriff der Verpflichtung? Über Anscombes Kritik an der Moralphilosophie der Moderne Steffi SCHADOW (Bonn)

Abstract. In her much debated article Modern Moral Philosophy Elizabeth Anscombe is known to argue that we are best advised to abandon the concept of moral obligation from moral discourse. This paper offers a step by step analysis of her argument against the concept of moral obligation by considering all of her relevant writings in moral philosophy and action theory. In doing so, it discusses her critical account of morality which turns out to be based on a non-homogeneous theory of practical normativity that has fundamental roots in Modern Moral Philosophy. Finally, it appears that Anscombe’s arguments against central concepts of modern moral philosophy show inner inconsistencies and weaknesses that give also reason to criticize her general philosophical position.

Selten hat ein philosophischer Aufsatz so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie Elizabeth Anscombes Modern Moral Philosophy. 1 In dem inzwischen klassisch gewordenen Text von 1958 argumentiert sie u. a. für die These, dass wir uns von den Begriffen einer spezifisch moralischen Pflicht und eines moralischen Sollens verabschieden sollten. Diese Begriffe gehörten allesamt auf den „Index“. 2 Und noch mehr als das: Wir sollten – vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis und daher wissenschaftlich-redlicher Weise – überhaupt aufhören, Ethik zu treiben. 3 Im Gegenzug dazu schlägt sie eine Akzentverschiebung und Neuorientierung in der Moralphilosophie vor, die die Begriffe der Tugend, des Charakters und der Natur des Handelns ins Zentrum rückt. In diesem Aufsatz werde ich Anscombes berühmte Absage an die moderne Moralphilosophie einer genauen Analyse zu unterziehen. Dabei wird sich zeigen, dass das Verständnis ihrer Position in MM insbesondere dadurch erschwert wird, dass die Autorin selbst keinen Zusammenhang zwischen den verschiedenen, im Text auftauchenden Theorieelementen eines sprachpragmatischen Kontextualismus, einer naturalistischen Tugendethik und einer katholisch geprägten Gebotsethik herstellt. Das Ergebnis ist ein seiner Struktur nach disparater, zu Teilen unverständlicher Text, der erstaunlicherweise bis heute auf den vordersten Plätzen moralphilosophischer Abhandlungen rangiert. Erst auf den zweiten, auch werkgeschichtliche Aspekte berücksichtigenden Blick zeigt sich die eigentliche Bedeutung des Aufsatzes, die nicht 1 2 3

Im Folgenden: MM. MM 163. MM 163.

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etwa in der Widerlegung des traditionellen Moralkonzepts besteht, sondern darin, dass wir mit ihm eine Art Steckbrief zu Anscombes späterem moralphilosophischen Werk an die Hand bekommen. I. Anscombes philosophisches Werk ist in den letzten Jahrzehnten sorgfältig aufgearbeitet worden; längst gilt sie als klassische Autorin im Kanon der analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Während ihr Hauptwerk Intention neben Donald Davidsons Essays on Actions and Events zum Standardwerk der zeitgenössischen Handlungstheorie avancierte, hat MM die Moralphilosophie seit dem Erscheinen des Aufsatzes bis heute nachhaltig geprägt. Sicherlich ist es in dieser Hinsicht nicht übertrieben, sie als „Initiatorin zeitgenössischer Tugendethik“ zu bezeichnen 4. Ihre scharfe Kritik am defizitären Charakter moderner Moralphilosophien und ihr Plädoyer für eine neue, tugendethische Alternative zu den von ihr kritisierten ethischen Theorien insbesondere kantianischer und utilitaristischer Prägung hat gleich zwei ganze neue Generationen in der Moralphilosophie hervorgebracht, die so namhafte Autorinnen und Autoren wie Philippa Foot, Rosalind Hursthouse, Alasdair MacIntyre, John McDowell, Martha Nussbaum und Michael Stocker umfassen. Vor dem Hintergrund der geteilten Annahme, eine moderne zeitgemäße Tugendethik müsse das begriffliche Inventar bereitstellen, um wirklichkeitsnah auf drängende Fragen der sozialen Gegenwart antworten zu können, haben sie mit unterschiedlichem thematischem Fokus jene moralphilosophischen Grundkonzepte ausgearbeitet, zu deren Bearbeitung Anscombe in MM programmatisch auffordert. Zu nennen sind hier insbesondere die Arbeiten von Foot (2001), Hursthouse (1999) und Nussbaum (1988) zu einer naturalistischen Begründung der Moral, die Erläuterungen zum Tugendbegriff in Foot (1978) sowie McDowell (1979) zur epistemologischen Grundkonstitution des Tugendhaften. In lockerem Zusammenhang mit ihrem Vorstoß stehen des Weiteren Bemühungen um eine ‚humane‘ Moraltheorie, in der die Nachteile der von Anscombe scharf kritisierten regelzentrierten Unparteilichkeitsmoral mit Blick auf die persönlichen Ziele und Projekte ihrer Adressaten kompensiert werden sollen. 5 Die Reaktionen auf MM waren zahlreich, vielseitig, vor allem aber waren sie nicht homogen. Während die einen den Text vor allem aufgrund seiner für die Entwicklung der modernen Moraltheorie fundamentalen Bedeutung schätzen und das stimulierende Potenzial der Thesen betonen 6, wurde er von anderer Seite als irritierend, argumentativ undurchsichtig, unbegründet provozierend und nicht zuletzt als „simply wrong“ verworfen. 7 Die Gründe für diese Rezeptionsgeschichte sind vielSo Müller (2017), 131. Vgl. hierzu insbesondere die Arbeiten von Scheffler (1992), Stocker (1976) und Williams (1981) und (1985). 6 Z. B. Richter (2011), Solomon (2008). 7 Die bekannteste Kritik liefert Blackburn (2005); er bezeichnet Anscombes Position als „simply wrong“. Vgl. auch die lebhafte Diskussion im Nachgang zu Blackburns Kritik in Brian Leiters Philosophy Blog. 4 5

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seitig und charakteristisch für Anscombes Werk: MM ist in dem für Anscombe typischen knappen, hölzernen und eigenwilligen Stil verfasst, den man von vielen ihrer Texte kennt. Die Argumentation ist an den meisten Stellen thetisch, verkürzt und zum Teil sprunghaft; auf geringem Raum werden verschiedenste systematische und historische Positionen zumeist nur angedeutet, aber nicht argumentativ entfaltet. Anscombes Überlegungen in MM speisen sich zudem aus verschiedenen Quellen, die sie mehr oder weniger explizit macht. Außerdem und für eine Bewertung ihrer Position in MM sicherlich nicht ganz unwichtig entfaltet sie ihre Kritik an der modernen Moralphilosophie vor einem bestimmten weltanschaulichen Hintergrund: ihrem konservativen Katholizismus. Dieser Hintergrund ist insbesondere für eine Einordnung ihrer Position in Bezug auf den Verpflichtungsbegriff von Bedeutung. Hinzu kommt, dass sich Anscombe auch methodisch nicht auf eine bestimmte philosophische Schule festlegen lässt; sie gilt aufgrund ihrer Themen und ihres philosophischen Stils zwar als analytische Philosophin, verfolgt jedoch im Gegensatz zu anderen Vertretern keine bestimmte philosophische Methode. Am ehesten ist ihre Denkweise wohl von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen beeinflusst; Begriffe versteht sie in primärer Hinsicht im Kontext von tatsächlich praktizierten alltäglichen Sprech- und Verhaltensweisen, was ihren sprachpragmatischen Kontextualismus in der Ethik prägt. II. Es sind drei Behauptungen, für die Anscombe in MM argumentiert: 1. Es ist nicht gewinnbringend, zurzeit Moralphilosophie zu betreiben. Wir brauchen eine Philosophie der Psychologie, um den Zusammenhang von Tugenden und Handlungen zu erklären. 2. Die Begriffe einer ‚moralischen Verpflichtung‘, einer ‚moralischen Pflicht‘ und eines ‚moralischen Sollens‘ gehören einer überholten Tradition an und sind heute nicht mehr vertretbar. Die Begriffe sollten daher aus der Philosophie verbannt werden. 3. Seit Sidgwick laufen alle Moraltheorien in dieselbe, utilitaristische Richtung. Der Konsequenzialismus wird aber einem grundlegenden Verständnis von tugendhaftem Handeln nicht gerecht. 8 Anscombe behauptet die ihrer Ansicht nach desolate Lage der modernen Moralphilosophie, indem sie „die berühmten Moralphilosophen der Gegenwart[.] von Butler bis Mill“ auf nicht ganz zwei Seiten ablehnt; sie „scheinen […] alle an den entscheidenden Punkten zu versagen“ 9: Butler überschätze die moralische Zuverlässigkeit des Gewissens, Hume mache es sich zu einfach mit der Charakterisierung ethischer Urteile und verfolge eine verengte, wunschzentrierte Perspektive auf ziel-

8 9

Vgl. MM 142. MM 143.

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gerichtetes Handeln, Kant entwerfe ein absurdes Modell der Selbstgesetzgebung, und Bentham und Mill verteidigten einen naiven Lustbegriff. Während der Text zunächst durch seinen selbstsicheren Auftakt mit der Nennung dreier plakativer Thesen und einem Rundumschlag wider die vermeintlichen Schwachstellen der modernen Moraltheorie neugierig macht, wird dem Leser im Folgenden durch sprunghafte Gedankengänge und Themenverschiebungen einiges zugemutet. Anscombe liefert entgegen aller Erwartung nach der Eröffnung keine lineare Argumentation für ihre drei Thesen, so dass sich schon darüber streiten lässt, in welchem Verhältnis diese zueinander stehen und wie sie in sachlicher Hinsicht mit Blick auf das Anliegen des Textes zu gewichten sind. Das erklärt u. a., weshalb die Thesen in der Forschung meist separiert voneinander besprochen worden sind. 10 Nach der hier vorgeschlagenen Lesart stehen die Thesen in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander. Dabei ist These 2 zunächst deswegen zentral, weil sie These 1 stützt: Denn nach Anscombes Auffassung ist es sinnlos, Moralphilosophie zu treiben, weil wir für die traditionellen Begriffe der normativen Ethik wie ‚Verpflichtung‘ und ‚Sollen‘ keine philosophisch gehaltvolle Begründung angeben können. Zudem wird These 2 in Anscombes Augen sachlich durch die Thesen 1 und 3 gestützt. Denn hätten wir eine für die Moralphilosophie erforderliche „Philosophie der Psychologie“, so würde uns das helfen zu verstehen, „warum ein ungerechter Mensch ein schlechter Mensch ist.“ 11 Weil die Psychologie die Begriffe der Handlung, des Charakters, der Motive und der Intention analysiert und zueinander in Beziehung setzt, liefere sie das für eine gut funktionierende Moraltheorie erforderliche Material. 12 These 3 setzt den Angriff auf die Moralphilosophie der Moderne aus anderer Perspektive fort, nämlich mit Blick auf ihren impliziten Generalismus. Zielscheibe von Anscombes Kritik ist hier insbesondere die utilitaristische Ethik. Erstens könne diese die partikularistische Grundlage moralischer Entscheidungsfindung nicht abbilden und damit die vielfältigen Bewertungsmöglichkeiten menschlichen Handelns nicht erfassen. 13 Zweitens führte die utilitaristische Annahme, nur Sachverhalte, nicht aber einzelne Handlungen hätten intrinsischen Wert, zu absurden Konsequenzen: Wie sehr sich all diese widerstreitenden Ansichten ähneln, merkt man etwa daran, dass die einflussreichsten Moralphilosophen an englischen Universitäten allesamt die Auffassung ablehnen müssten, dass man Unschuldige niemals töten dürfe, ganz gleich zu welchem Zweck. […] Das wiederum ist schon bemerkenswert. Es bedeutet nämlich, dass alle diese Lehren vollkommen unvereinbar sind mit der jüdisch-christlichen Ethik. Letztere ist schließlich dadurch Für eine Analyse mit dem Fokus auf These 1 vgl. z. B. Sandis (2020). These 2 ist am ausführlichsten diskutiert worden, so z. B. Baier (1988), Diamond (1988), Richter (2000), Winch (1997); Doyle (2018) widmet der These eine halbe Monographie. Den Schwerpunkt auf These 3 legt z. B. Frey (2020); dabei argumentiert die Autorin für eine Lesart, nach der die Thesen 1 und 2 aus These 3 folgen. 11 MM 148. 12 MM 148. Sandis (2020) widerspricht Anscombe darin, es hätte vor 1957 noch keine Handlungstheorie und Moralpsychologie gegeben; vgl. Sandis (2020), 51. 13 Vgl. MM 160. Dieser Gedanke wurde u. a. von John McDowell, Jonathan Dancy und David Wiggins weiterentwickelt. 10

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gekennzeichnet, dass sie bestimmte Dinge einfach verbietet, unabhängig von den möglicherweise drohenden Folgen. 14

Wie die Textstelle zeigt, favorisiert Anscombe selbst eine philosophische Theorie, in der moralische Absoluta in Form von uneingeschränkten Verboten zum festen inhaltlichen Grundbestand gehören und in der die christliche Ethik als Paradigma dient. Kennzeichen einer absolut verbotenen Handlung sei die beabsichtigte Schädigung anderer als Mittel zur Erreichung eines (vermeintlich) guten Ziels; 15 Mord als die beabsichtigte Tötung Unschuldiger beispielsweise sei nach diesem Kriterium immer und unter allen Umständen schlecht. 16 Eine Moraltheorie wie die utilitaristische könne dies nicht abbilden. Sachlich einschlägig für eine genauere Auseinandersetzung mit Anscombes Position ist hier ihre Unterscheidung zwischen den beabsichtigten und bloß vorhergesehenen Folgen einer Handlung und dem damit zusammenhängenden ‚Prinzip der Doppelwirkung‘, für das sie selbst die Bezeichnung ‚Prinzip der (zulässigen) Nebenwirkung‘ bevorzugt. 17 Anscombes Position hierzu ist in ihrer philosophischen Karriere changierend; worum es ihr letztlich geht, ist aber, mittels einer handlungstheoretischen Unterscheidung zwischen einer gerechten und einer ungerechten Schädigung zu differenzieren. 18 Weil es verschiedene Beschreibungen ein und derselben Handlung gibt, kann eine Handlung unter einer bestimmten Beschreibung beabsichtigt sein, ohne unter einer anderen Beschreibung intendiert zu sein, wodurch sie zu einer erlaubten Handlung wird. Anscombes historischer Bezugspunkt ist hier Thomas von Aquin, der das Prinzip der zulässigen Nebenwirkung erstmals ausführlich entwickelt hat: So ist die Notwehr vorgenommene Tötung eines Aggressors erlaubt, da die Handlungsabsicht nicht dessen Tötung, sondern die Rettung des eigenen Lebens ist. 19 Anscombe hat mit dieser Unterscheidung eine weitreichende Diskussion über die Beurteilung von Handlungen initiiert. 20 Es geht ihr an dieser Stelle darum, die von ihr explizierte, für eine plausible Moraltheorie relevante Klasse der kategorisch verbotenen Handlungen durch die Unterscheidung von intendierten und lediglich vorhergesehenen und in Kauf genommenen Folgen einer Handlung zu plausibilisieren. Dabei verfährt sie methodisch so, wie sie es für eine erfolgversprechende Ethik als MM 156. Die Kritik am Wertkonzept des Utilitarismus findet sich später u. a. bei Williams (1979), insbes. 46 ff. 15 Dieser Gedanke erhält besonderes Gewicht in MTG 64. 16 Vgl. auch MME 248. 17 Anscombe spricht vom ‚principle of side-effects‘ ; vgl. z. B. AIDE. 18 Die Unterscheidung zwischen intendierten Folgen und „side effects“ soll das Diktum von den moralischen Absoluta nicht abschwächen, sondern theoretisch absichern; es wird als zusätzliches Kriterium in der Beurteilung von Fällen eingesetzt, in denen es unbeabsichtigte Nebeneffekte einer Handlung geben kann, für die der Handelnde nicht notwendigerweise verantwortlich ist. 19 AIDE 214; s. auch bereits Absicht, §§ 23–26. Die Stelle bei Thomas findet sich in der Summa Theologiae II-II, 64, 7 und in De malo I, 3, 15. 20 Die Weiterentwicklung ihres Gedankens von den „side effects“ betrachtete Anscombe kritisch – insbesondere die Tendenz, das Prinzip der Doppelwirkung zu benutzen, um die Intentionen in einer Handlungsbeschreibung so zurechtzuschneidern, dass jede Handlung erlaubt ist. Das hatte sie schon in Absicht abgelehnt; vgl. § 25, 68 f. und außerdem z. B. WM und AIDE. 14

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notwendig erachtet: mit einer Verschränkung von Handlungstheorie, Psychologie und Ethik. Ihre Kritik am Utilitarismus und Konsequenzialismus speist sich aus Grundannahmen, die im engeren Sinn handlungstheoretischer Natur sind. 21 III. Während die Thesen 1 und 3 indirekte Angriffe auf die moderne Moralphilosophie sind, formuliert Anscombe ihre Kritik in These 2 explizit: Meine zweite Behauptung ist, dass wir die Begriffe ‚Verpflichtung‘ und ‚Pflicht‘ – im Sinne einer moralischen Verpflichtung und einer moralischen Pflicht – über Bord werfen sollten […]. Dasselbe gilt für die Begriffe des moralisch Richtigen und Falschen und sogar für ‚sollen‘ im moralischen Sinn. Denn alle diese Begriffe entstammen ethischen Theorien, die nicht mehr als selbstverständliche Grundlage gelten – entweder sind sie selbst Überreste dieser Theorien oder aus solchen abgeleitet. Losgelöst von diesen Theorien sorgen sie nur für Verwirrung. 22

Die Behauptung, der Begriff der moralischen Verpflichtung sei überflüssig und leer und füge der Beschreibung ethischen Handelns nichts hinzu, erhält bei Anscombe eine recht umwegige Begründung: Jedem, der sowohl Aristoteles’ Nikomachische Ethik als auch moderne Moralphilosophen gelesen hat, muss der tiefe Gegensatz zwischen beiden ins Auge springen. Die Schlüsselbegriffe der Moderne scheinen bei Aristoteles völlig zu fehlen oder zumindest nur versteckt oder weit im Hintergrund aufzutauchen. Am bemerkenswertesten ist, dass es für den Ausdruck ‚moralisch‘, so wie wir ihn heute verstehen, in der aristotelischen Ethik keinen Platz gibt – und das, obwohl dieser Ausdruck unmittelbar auf Aristoteles zurückgeht. 23

Aus der bloßen Tatsache, dass in der aristotelischen Ethik die Begriffe ‚Moral‘ oder ‚moralisch‘ in Bezug auf die Beurteilung von Handlungen und Charakteren nicht wörtlich benutzt werden, folgt aber noch nicht, dass es hier nicht um Fragen moralischer Art geht. 24 So ist es gerade ein Grundgedanke der antiken und insbesondere der aristotelischen Ethik, dass wir uns darum bemühen sollen, ein tugendhaftes Leben zu führen. Dafür werden durchaus deontische Handlungsvorschriften erteilt: Wir sollen so handeln, wie der Tugendhafte es tun würde. 25 Vor diesem Hintergrund steht das Verfehlen eines Zieles (griech. hamartanein), wie es von Aristoteles wiederholt thematisiert wird, bereits für ein Handeln, das tadelnswert ist, weil es die (moralische) Vorgabe, nach dem Vorbild des Tugendhaften zu Konsequenzialistisch ist für Anscombe eine Theorie, nach der es keine Handlungsweisen gibt, die immer und unabhängig von ihren Konsequenzen richtig oder falsch sind. Der in der Moralphilosophie gebräuchliche Begriff ‚Konsequenzialismus‘ hingegen besagt, dass die Richtigkeit von Handlungen ausschließlich von ihren Konsequenzen abhängt. Die moralischen Absoluta, die für Anscombes Abgrenzung von konsequenzialistischen Theorien konstitutiv sind, spielen dabei keine explizite Rolle. – Für den Zusammenhang von Moralphilosophie und Psychologie vgl. bereits Intention, § 41. In der Forschung hat dieser Aspekt erst in jüngster Zeit Beachtung gefunden; vgl. z. B. Frey (2019) und Wiseman (2016). 22 MM 142. 23 MM 142 f. 24 So z. B. auch Blackburn (2005), Miner (2008). 25 NE II 6, 1106b36–1107a2, III 6, 1113a33; vgl. auch Hursthouse (1999), 239. 21

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handeln, nicht erfüllt. 26 Anscombes Bemerkung, das griechische Wort harmatanein hätte erst viel später, nämlich in der Zeit der „Vorherrschaft des Christentums“ 27, eine moralische Konnotation erhalten, übersieht diesen Sachverhalt. 28 Im nächsten Schritt zeigt Anscombe, dass Verpflichtungssätze keinen Wahrheitswert in dem Sinne haben, dass sie auf etwas verwiesen, was über den sprachlichen Gehalt dieser Sätze hinausginge. 29 Dazu thematisiert sie Humes Sein-SollensSchranke durch folgendes, aus einem zeitgleich mit MM erschienenen Aufsatz übernommenes Beispiel: Stellen wir uns vor, ich eröffnete meinem Gemüsehändler: Wahrheit besteht entweder in einer Beziehung zwischen Vorstellungen – wie etwa der, dass 20 Schillinge ein Pfund ergeben –, oder sie besteht in Tatsachen – wie etwa der, dass ich bei Ihnen Kartoffeln bestellt habe und dass sie diese Kartoffeln geliefert und mir eine Rechnung geschickt haben. Folglich lässt sich der Begriff der Wahrheit gar nicht auf Behauptungen anwenden wie die, dass ich Ihnen soundso viel schulde. 30

Anscombe weist mit diesem Beispiel darauf hin, dass der Übergang von einer ‚nackten‘ Tatsache wie der, dass ich Kartoffeln bestellt und geliefert bekommen habe, auf eine normative Tatsache wie die, dass ich dem Händler (deshalb) Geld schulde, eigens begründet werden muss. 31 Wie sie weiter ausführt, wird eine solche Begründung erst durch die Angabe „eines Rahmen(s), eine(r) Institution“ gegeben, „vor deren Hintergrund die Beschreibung A überhaupt erst ihren Sinn erhält und von der A nicht selbst eine Beschreibung ist“. 32 Die Ausführungen bleiben hier stichwortartig; den Bezug auf die Verpflichtungsproblematik stellt sie in MM selbst nicht her. Sie können jedoch als Bestandteil ihrer deflationären Deutung des moralischen Sollens und moralischer Verpflichtung verstanden werden, wenn man ihre späteren Ausführungen zur sprachpragmatischen Wurzel von praktischer Normativität hinzunimmt. Auch dort geht es weitesten Sinne darum, eine nicht-metaphysische Begründung normativer Tatsachen zu liefern. Während Anscombe in NT bereits die These vom institutionellen Hintergrund normativer Tatsachen vertritt, verfügt sie erst seit RRV über das sprachphilosophische Inventar, das ihre sprachpragmatische Theorie des Normativen komplettiert. So führt sie dort die Normativität von Regeln, Rechten und Versprechen auf die sprachliche Praxis der Modalausdrücke zurück. 33 Vor dem Hintergrund des alltagssprachS. insbesondere NE VI 6, 1141a3 f., IX 4, 1166a13. MM 149. 28 Pigden (1988) meint, Anscombes Verweis auf die Quelle des Verpflichtungsbegriffs in der christlichen Ethik dadurch widerlegen zu können, dass sich der Begriff der moralischen Pflicht ursprünglich auf Cicero zurückführen lässt. Es gibt jedoch berechtigten Zweifel daran, dass Ciceros officium (griech. kathekon) terminologisch dem heutigen Verständnis von „Pflicht“ entspricht; vgl. Horn (2018), 153 f. 29 MM 145–147. 30 NT 146. 31 Anscombe spricht von „nackten Tatsachen“; den Abgrenzungsbegriff einer normativen Tatsache, so wie ich ihn hier sinngemäß für den Sachverhalt des Schuldens verwende, benutzt sie nicht, sondern spricht von einem „Verhältnis ‚relativer Nacktheit‘“, in dem die Tatsachen zueinander stehen (MM 146). 32 MM 147. 33 Vgl. RRV, GSA und WLI. Zeitlich sind die drei Texte ganze zwei Dekaden später, zwischen 1976 und 1978, angesiedelt. 26 27

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lichen Gebrauchs von Modalausdrücken wie ‚Du sollst nicht …‘ und ‚Du sollst …‘ will sie zeigen, dass normative Tatsachen ausschließlich in einem institutionellen Kontext und als sprachliche Gebilde existieren. Durch die von ihr als verhindernde und zwingende Modalausdrücke (stopping bzw. forcing modals) bezeichneten Sprechweisen 34 würden durch den Sprecher Versprechen, Regeln und Rechte erzeugt. Ohne diese sprachliche Praxis hingegen gäbe es keine Verstöße oder schlechten Handlungen: Zu Beginn sind ‚du musst‘ und ‚du kannst nicht‘ Worte, die jemand gebraucht, der einen dazu bringt, etwas zu tun (oder einen von etwas abhält); aber sie werden schnell zu Instrumenten, um Handlungen auszulösen und zu unterbinden […]. Es gehört zur menschlichen Intelligenz, die angemessenen Reaktionen auf unterbindende Modalausdrücke erlernen zu können. Erst das macht es möglich, diese Ausdrücke als sprachliche Instrumente zu verwenden, und ohne eine solche Verwendung wiederum gäbe es so etwas wie Regeln, Etikette, Rechte, Verstöße, Versprechen oder fromme und pietätlose Handlungen nicht. 35

Der hier formulierte Gedanke spiegelt sich auch in Anscombes Theorie des Rechts wider. So geht es im Recht in nicht unwesentlicher Weise darum, bestimmte, nämlich nicht regelkonforme Handlungen zu verhindern. Dies geschieht mit Worten, so dass man „den Gebrauch dieser Worte selbst zu einer Handlung werden lässt“ 36 und die Modalausdrücke schließlich nicht mehr nur Worte, sondern Instrumente der Handlungssteuerung sind: Bestimmte Handlungsweisen sind immer nur im Kontext einer bestimmten Sprachpraxis geboten oder verboten. Das Müssen, das aus den verhindernden und zwingenden Modalausdrücken resultiert, wird demnach sprachlich erzeugt. Nach dieser Auffassung werden Sitten, Rechte und die ihnen entsprechenden Regeln wesentlich durch Sprachmuster hervorgebracht und wie die Regeln eines Spiels erlernt; jede Art von Sollen wird rein innersprachlich, nicht aber substantiell verstanden und verweist darüber hinaus auf nichts (also nicht etwa auf moralische Tatsachen). 37 Im Bereich des positiven Rechts können solche regelgebundenen Soll-Aussagen auch Gesetzesaussagen sein. So zum Beispiel: Dies ist ein Stopp-Schild (Tatsache). Du kannst hier nicht weiterfahren bzw. du musst hier halten (Sollaussage).

Müssen heißt hier: ‚Es ist gesetzlich gefordert, dass du hältst.‘ Dabei handelt es sich um eine institutionalisierte Regel und genauer um eine durch das Verkehrsrecht festgelegte Gesetzesaussage, die auf dem Schild zum Ausdruck kommt. Dieser selbstkonstitutive Charakter von Regeln, der am Beispiel des Verkehrsschilds besonDie „stopping modals“ werden in der deutschen Übersetzung zumeist als „unterbindende Modalausdrücke“ wiedergegeben (vgl. hierzu z. B. RRV 88 f., GSA 111, 116, 119–123). Ich bevorzuge die Übersetzung „verhindernde Modalausdrücke“, da dies näher an Anscombes Sprachgebrauch ist und einer Bedeutungsverschiebung von „stopping“ vorbeugt. 35 RRV 89. 36 Vgl. GSA hier 115. In ähnlicher Weise findet sich dieser Gedanke in Searles sprechakttheoretischer Rekonstruktion des Verpflichtungskonzepts; vgl. Searle (1964). 37 Das macht Anscombe in ihrer Auseinandersetzung mit Wittgensteins Bemerkungen über Begriffsbildung deutlich; vgl. dazu WLI. 34

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ders deutlich wird, weil die Regel auf dem Soll-Zeichen unmittelbar zu finden ist (‚Du kannst hier nicht weiterfahren, ich, als Stoppschild-Regel, sage das‘), ist kennzeichnend für den Charakter des Normativen im Allgemeinen: Alle Soll-Aussagen sind durch Regeln oder auch durch Rechte und Versprechen verbürgt; praktische Notwendigkeiten entstehen durch soziale Institutionen und Zeichen, die in Regeln ausgedrückt sind. 38 Ein Sollen bzw. der Übergang von einem ‚Is‘ zum ‚Ought‘ liegt damit darin begründet, dass Modalausdrücke wie ‚Du kannst jetzt nicht‘ oder ‚Du sollst‘ Ausdruck der Verwendung von Regeln sind. 39 Die Regel fungiert hier als Grund („logos“) für einen Modalausdruck der Form ‚Du kannst nicht‘ oder ‚Du sollst‘. 40 In einem Sprachspiel, das so organisiert ist, dass die Regeln eine bestimmte Bedeutung haben, werden auf diese Weise Notwendigkeiten erzeugt: „Die Regeln des Spiels verlangen es […].“ 41 IV. Aus dem Vorangegangenen folgt: Eine Handlungsbeschreibung bleibt eine reine Tatsachenbeschreibung und ist damit normativ neutral, wenn sie nicht konkret durch einen Sprechakt und eine soziale Praxis normativ aufgeladen wird, so dass dem verhindernden oder zwingenden Modalausdruck ein Recht auf Seiten des Adressaten korrespondiert. Eindeutige Sollensaussagen werden erst durch die Institutionalisierung von Rechten durch Sprecher in einer sozialen Praxis konstituiert. Der Sache nach ist diese sprachpragmatisch-konstruktivistische Konzeption praktischer Normativität stark an Wittgensteins meaning is use-Theorie orientiert. Auch dieser versteht die ethische Praxis als sprachliches Phänomen; weil Sprache weltkonstitutiv ist, müssen auch solche Gegenstände wie Normen, Regeln und soziale Institutionen als sprachlich konstituiert verstanden werden. Was wir für moralisch richtig und falsch halten, wird dabei durch Sprache und genauer durch die Gemeinschaft von Sprechern mittels Regeln festgelegt. Für die Suche nach Definitionen in der Ethik gibt Wittgenstein folgenden Hinweis: „Frage dich in dieser Schwierigkeit immer: Wie haben wir denn die Bedeutung dieses Wortes (‚gut‘ z. B.) gelernt? An was für Beispielen; in welchen Sprachspielen? (Du wirst dann leichter sehen, daß das Wort eine Familie von Bedeutungen haben muß.)“ 42 Ethik ist demnach eine Reflexion auf die Moral, wie sie in Sprachspielen stattfindet. Alles, was den Inhalt einer ethischen Theorie ausmacht, ist mithin in den Sprachspielen schon enthalten, Anscombe stellt klar, dass die Regel selbst kein Zeichen, sondern „die Bedeutung eines Zeichens“ ist. Im Falle des Versprechens ist das Versprechen selbst das Zeichen; „zu versprechen heißt, ein Zeichen zu geben“ (WLI 328–331). 39 Für eine detaillierte Analyse zur Rekonstruktion des Normativen bei Anscombe siehe Nieswandt (2017). 40 Anscombe RRV 90 f., GSA 118 f. Regeln, Rechte und Versprechen sind verschiedene Typen von Gründen („Logos-Typen“; RRV 91). Mit Raz wäre zu modifizieren: Die Tatsache, dass es eine Regel gibt, ist ein Grund. Die Regel (oder auch das Recht) selbst ist aber keine Tatsache und damit auch kein Grund, sondern nur ein Objekt. Vgl. Raz (2006), 67. 41 RRV 90. 42 Wittgenstein (1953/1984), § 77. 38

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und alles Ethische ist relativ auf diese Sprachspiele zu verstehen. Die Ethik, die auf diese primitiven, ursprünglichen Sprachspiele reflektiert, kann deshalb niemals wertneutral sein, sondern ist immer schon durch die Situation der Sprecher eingefärbt. 43 Der spezifisch wittgensteinianische Zug ihrer Analyse wird bei Anscombe auch im nächsten Argumentationsschritt gegen moralische Normativität deutlich, wie sie ihn in MM ausführt. Demnach hätten die Ausdrücke ‚sollte‘, ‚sollen‘ und ‚bedürfen‘ eigentlich eine rein funktionale Bedeutung: ‚Sollen‘ oder ‚müssen‘ drückt aus, dass etwas gut oder schlecht ist. So sollte eine Maschine regelmäßig Öl bekommen; sie muss geölt werden, weil es schlecht für sie ist, in ungeöltem Zustand zu laufen, bzw. weil sie dann eben schlecht läuft. Wenn man die Ausdrücke ‚sollen‘ oder ‚müssen‘ so versteht, fällt man kein spezifisch ‚moralisches Urteil‘, wenn man über den Menschen sagt, dass er andere nicht betrügen ‚solle‘. 44

Dieser Beschreibung liegt die auf Wittgenstein zurückgehende Annahme zugrunde, man könne normativ aufgeladene Wörter wie Sollen und Müssen auf ihre ursprüngliche, gleichsam unverbildete Bedeutung zurückführen und ihnen damit den Schleier des Unverständlichen nehmen, der ihnen aufgrund einer falschen Verwendung anhafte. 45 Demnach sind Sollen und Müssen eigentlich gar keine moralphilosophischen Begriffe, sondern sie weisen Handlungsweisen als gut oder schlecht in Bezug auf ein zu beförderndes Gut aus. Daher müssten diese Begriffe durch eine funktionalistische Beschreibung erfasst werden: So brauchten es Maschinen, regelmäßig geölt zu werden, um gut zu laufen, und Pflanzen brauchten Wasser, um zu gedeihen. Solange man bei dieser funktionalen Bedeutung von ‚Sollen‘ und ‚Müssen‘ bleibe, bestehe kein Anlass zu Kritik. Wie die Analyse zur Rolle der Modalausdrücke in der Konstruktion praktischer Notwendigkeiten gezeigt hat, vertritt Anscombe nicht die These, dass wir auf die Begriffe des Sollens und Müssens im Allgemeinen verzichten sollten. Erst die moralisierende Einfärbung dieser Begriffe und ihre Verknüpfung mit Begriffen wie ‚verpflichtet sein‘ und ‚aufgefordert sein‘ sei fragwürdig: Diese spezielle, moralische Zusatzbedeutung haben so völlig alltägliche (und auch völlig unersetzbare) Ausdrücke wie ‚sollen‘ und ‚müssen‘ dadurch angenommen, dass man irgendwann begann, sie in den entsprechenden Zusammenhängen mit Ausdrücken wie ‚verpflichtet sein‘, ‚aufgefordert sein‘ oder ‚eine Verbindlichkeit haben‘ gleichzusetzen […]. 46

Anscombe diagnostiziert diese begriffliche Grenzüberschreitung als ein auszeichnendes Merkmal der von ihr kritisierten ‚modernen Moralphilosophien‘, und sie erklärt sie mit einer philosophiehistorischen Annahme: Wittgenstein (1930/1989). Die gedankliche Nähe zu Wittgensteins Konzeption wird u. a. in MEC deutlich, wo Anscombe dafür argumentiert, dass die in einer bestimmten kulturellen Praxis durch den natürlichen sprachlichen Zugang erlernten konventionellen Verhaltensweisen die „moralische Umgebung“ eines Kindes strukturieren und seine moralischen Überzeugungen prägen. 44 MM 148 f. 45 Wittgenstein: „Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.“ (Wittgenstein (1953/1984), § 116) 46 MM 149. 43

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Woher dieser Wandel? Die einfache Antwort lautet, dass zwischen uns und Aristoteles das Christentum kam mit seiner Gesetzesethik. Denn die ethischen Grundbegriffe des Christentums entstammen der Thora […]. Durch die jahrhundertelange Vorherrschaft des Christentums haben sich Begriffe wie ‚Pflicht‘, ‚Erlaubnis‘ oder ‚Entschuldbarkeit‘ tief in unsere Sprache und in unser Denken eingegraben. 47

Das heißt: Die Begriffe der moralischen Pflicht, der moralischen Verpflichtung und verwandte Ausdrücke wie die des moralischen Erlaubtseins und der moralischen Entschuldbarkeit sollen keinen eigenständigen sachlichen Gehalt in dem Sinne haben, dass wir sie anders als durch Hinweis auf ihre historische Genese begründen könnten. 48 Anscombes Argument lässt sich folgendermaßen formulieren: 1. Die Begriffe eines spezifisch moralischen Sollens und einer moralischen Verpflichtung entstammen der Gesetzesethik des Christentums. 2. Die Gesetzesethik des Christentums ist anachronistisch und philosophisch überholt. 3. Wir sollten die Begriffe des moralischen Sollens und der moralischen Verpflichtung aus der philosophischen Diskussion verbannen. Dieser Schluss ist an mehreren Stellen angreifbar. Aus den kurzen Ausführungen zu Anscombes bisheriger Argumentation folgt erstens, dass bereits Prämisse 1 fragwürdig ist. Deontologisch-moralische Elemente finden sich bereits in der antiken Ethik, und Anscombes eigene Argumentation in Bezug auf die Quellen praktischer Notwendigkeit zeigt, dass es zumindest innerhalb einer bestimmten Sprechergemeinschaft Verbindlichkeiten gibt, denen sich die Teilnehmer nicht einfach entziehen können. Zweitens erweist sich auch die Ableitung der Konklusion aus den Prämissen als fehlerhaft, da Anscombe von der historischen Genese eines Begriffs auf normative Vorgaben zu seiner Verwendungsweise schließt. Selbst wenn es stimmen würde, dass die diskutierten Begriffe eine eng begrenzte historische Basis hätten und wir diese historische Basis aus welchen Gründen auch immer ablehnen sollten, würde daraus nicht folgen, dass die Begriffe insgesamt unbrauchbar wären. Die Konklusion folgt aus den Prämissen nur dann, wenn wir annehmen, dass die Historizität eines begrifflichen Gehalts über dessen sachliche Qualität entscheidet. Mit der historischen entfiele dann auch seine sachliche Grundlage. Es besteht an dieser Stelle jedoch kein Grund zu der Annahme, dass dies der Fall ist. Drittens gibt es direkte, werkinterne Gründe gegen Anscombes eigene These: So kann sie vor dem Hintergrund des von ihr selbst vertretenen sprachpragmatischen Kontextualismus einen Begriff nicht mit dem Vorwurf des Anachronismus zurückweisen. Wenn der Kontextualismus Recht hat, dann werden kontextuelle Gegebenheiten wie das Christentum sozial akzeptiert oder nicht, anachronistisch können sie aber nicht sein. Der Glaube an ein durch eine göttliche Autorität fundiertes Sollen

MM 149. Der Gedanke zur historischen Genese von „Sollen“ und „Verpflichtung“ hat seine Wurzeln bei Schopenhauer (1841), § 4, 476–482; nach Anscombe führt ihn insbesondere MacIntyre (1984) aus.

47 48

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sollte für eine kontextualistische Position ausreichen – unabhängig davon, ob die Quelle dieses Sollens zweifelhaft ist oder nicht. Viertens ist es für den Leser unverständlich und wird von Anscombe auch nicht geklärt, wie sie das Argument mit dem von ihr selbst vertretenen Katholizismus vereinbart. Zwar mag man unterstellen, dass ihr Angriff auf den modernen Pflichtbegriff darauf ausgelegt ist, den modernen Moralphilosophien unabhängig von ihrer eigenen philosophischen Position Inkonsistenzen nachzuweisen. Dennoch wundert man sich, wie eine Autorin, die im gleichen Text moderne ethische Ansätze vor dem Hintergrund der jüdisch-christlichen Gebotsethik attackiert 49 und sich zentrale Gedanken dieser Ethik in anderen Aufsätzen explizit zu eigen macht 50, derart schroff behaupten kann, die Gesetzesethik des Christentums und der von ihr historisch beeinflussten Moralphilosophien seien überholt. Ihre durch die christliche Ethik inspirierte Argumentation für moralische Absoluta hängt ohne die Prämisse einer auch philosophisch akzeptierten Gebotsethik in der Luft – und dies nicht zuletzt deshalb, weil sie durch den von ihr ebenso verteidigten sprachpragmatischen Kontextualismus nicht gedeckt wird. V. Zur Stützung ihrer Argumentation für These 2 bedient sich Anscombe im nächsten Schritt einer Analogie zum Recht: Weiter von ‚moralischem Sollen‘ zu sprechen, während niemand mehr an Gott als einen Gesetzgeber glaube, wäre vergleichbar mit einer Welt, in der man den Ausdruck ‚kriminell‘ noch verwendet, wenn alle Gerichte dieser Welt abgeschafft seien. 51 Sie führt weiter aus: Der Glaube an ein göttliches Gesetz wurde schon vor langer Zeit aufgegeben, der Begriff der ‚Pflicht‘ hat diesen Zusammenhang überlebt, und irgendwann kommt Hume und stellt fest, dass man dem Wort ‚sollen‘, wo es im ‚moralischen‘ Sinne verwendet wird, eine Macht zuschreibt, die bei genauerem Hinsehen völlig unerklärlich scheint. […] Damals hat, so behaupte ich, ein Begriff überlebt, der ohne seinen ursprünglichen Rahmen gar keinen Sinn mehr ergeben kann. 52

Ist Anscombes Analogie zum Recht dazu geeignet, ihre These vom anachronistischen Charakter des modernen Verpflichtungskonzepts zu belegen? Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass es in mindestens zweierlei Hinsicht Grund zum Zweifel gibt: Zum einen bezeichnen ‚moralische Verpflichtung‘ auf der einen und ‚kriminell‘ auf der anderen Seite semantisch verschiedene und insofern nicht vergleichbare Begriffe. Während ‚moralische Verpflichtung‘ den (wertneutralen) Sachverhalt beVgl. dazu die im zweiten Abschnitt dieses Textes skizzierte Argumentation für These 3 vor dem Hintergrund der christlichen Ethik; MM 156 f. 50 Vgl. insbesondere die religionsphilosophischen Texte in FHG, aber auch in ihren im engeren Sinn moralphilosophischen Texten in HLAE. In CNM heißt es z. B.: „This is certain, however: the whole future of the universe is in God’s care and not ours. If deity does not exist, it cannot be in anyone’s care.“ (CNM 16) Dennoch kritisiert Anscombe auch katholische Positionen für schlechte Argumente; vgl. z. B. TMT. 51 MM 150 f. 52 MM 151. 49

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zeichnet, dass moralisch relevante Verpflichtungen bestehen, ist ‚kriminell‘ ein Wertprädikat, mit dem Personen und deren Verhaltensweisen durch den Bezug auf einen externen Maßstab des Verhaltens negativ bewertet werden. Zum anderen beruht die von Anscombe ins Spiel gebrachte Justiz-Analogie auf einer petitio principii, nämlich darauf, dass moralische Verpflichtung stets einen externen Zwang durch eine vom gezwungenen Subjekt verschiedene Zwangsgewalt und deren Bezug auf positive, verbindliche Normen erfordert. Ihr Argument für die Inkonsistenz des Begriffs der moralischen Verpflichtung lässt sich demnach modifiziert folgendermaßen wiedergeben: (1) Moralische Verpflichtung impliziert einen übergeordneten Gesetzgeber (Gott). (2) Es gibt keinen solchen übergeordneten Gesetzgeber. (3) Der Begriff der moralischen Verpflichtung ist unbrauchbar. Dies ist aber eine sehr begrenzte Weise, moralische Verpflichtung zu deuten. Man könnte es durchaus mit Moore als eine ‚offene Frage‘ ansehen, ob ‚Sollen‘ ‚gefordert sein durch eine äußere (göttliche) Gesetzgebung‘ oder allgemeiner ‚durch eine als externe Zwangsgewalt verstandene Autorität‘ heißt. 53 Anscombes Darstellung hat hier eher einen apodiktisch-behauptenden als philosophisch-argumentativen Charakter. Sie ist sicherlich durch die für ihre Moralauffassung zentrale Annahme von kategorisch verbotenen Handlungen geprägt, die für sie sachlich unmittelbar an den Gedanken einer übergeordneten Autorität gebunden ist. 54 So liegt der Verdacht nahe, dass Anscombe hier moralische mit konventionellen Normen verwechselt; nur konventionelle Normen brauchen einen übergeordneten Gesetzgeber. 55 Zudem ist es an dieser Stelle ausgeschlossen, den von ihr sonst oft favorisierten Aristoteles als Gewährsmann anzuführen. So argumentiert Aristoteles als einer der ersten für eine Unterscheidung zwischen positiven und überpositiv-natürlichen rechtlich verbindlichen Normen. 56 Anscombes implizites Verständnis von Verpflichtung ist auch für ihre Kritik säkularer Gesetzesethiken bestimmend; alternative Modelle der Gesetzesethik im Allgemeinen hält sie für unplausibel 57 und ein Selbstgesetzgebungsmodell, wie es von Kant vertreten wird, für „absurd“ 58: „Ein zweiter Vorschlag lautet, sich selbst ein Gesetz zu geben. Diese Idee halte ich für völlig verwirrt: Was für bewundernswerte Dinge jemand auch mit sich selbst tun mag, er kann sich nicht selbst ein Gesetz geben.“ 59 Ausgehend von Anscombes Prämisse, dass Pflichten nur von außen erzwungen werden können, wirkt diese Absage an das Konzept einer Selbstgesetzgebung sogar konsequent: „Die Idee der Gesetzgebung beinhaltet den Gedanken überlegener Macht auf Seiten des Gesetzgebers.“ 60 In ihrer Vorstellung von Sollen als einem externen Zwang kommen die Normen von außen; Autor und Adressat der 53 54 55 56 57 58 59 60

So Crisp (2004), 80, Fn. 14. Diesen Gedanken betont insbesondere Haldane (2006), 123 f. Baier (1988). Vgl. NE V 10, 1134b18–1135a5. Vgl. MM 161–163. MM 144. MM 161. MM 144.

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Gesetze sind folglich voneinander verschieden. Doch nur unter dieser Voraussetzung ist die Idee einer moralischen Selbstgesetzgebung tatsächlich inkonsistent. Verschiedene Reaktionen sind hier möglich, von denen ich nur zwei kurz benennen möchte. Erstens lässt sich einwenden, dass Anscombes Argument gegen den Verpflichtungsbegriff nur dann aufgeht, wenn man einer Gesetzesethik notwendigerweise die Annahme eines Gesetzgebers als Autor der Gesetze unterstellt. Wie Thomas Pink gezeigt hat, ist dies eine verkürzte Beschreibung, die nur ein (zudem fragwürdiges) Merkmal, nicht aber die Wirkung erfasst, die vom fordernden Charakter moralischer Verpflichtung ausgeht. Das heißt, dass Handlungen nicht etwa deshalb moralisch verpflichtend sind, weil sie dem Willen eines übergeordneten, z. B. göttlichen Wesens entspringen. Denn diese Eigenschaft von Verpflichtung, die nur eine Aussage über ihre Quelle ist, sagt nichts darüber aus, was die Verpflichtung substanziell, d. h. ihrer Form und ihrem Inhalt nach, ausmacht. 61 Moralische Forderungen sind rationale Forderungen, die autoritativen Charakter nicht deshalb haben, weil sie durch eine externe Autorität gegeben werden, sondern weil sie so beschaffen sind, dass von ihnen nicht-anfechtbare Gründe ausgehen. 62 Zweitens ist Anscombes Lesart des kantischen Selbstgesetzgebungsmodells fragwürdig. Versteht man unter ‚praktischen Gesetzen‘ bei Kant praktische Prinzipien, die Handlungsanweisungen „im Raum der Gründe“ sind 63, dann wäre Autonomie die Fähigkeit, sich durch Gründe bestimmen zu lassen, die nicht durch persönliche Wünsche oder kontingente Präferenzen konstruiert sind. Diese Gründe sind deshalb objektive moralische Gründe, weil sie aus der Perspektive rationaler Akteure so wahrgenommen und von ihnen in ihre Handlungspläne integriert werden. 64 Neigungen können auf diese Weise überwunden werden durch einen intellektuellen Zwang, den Kant als innere, freiheitliche Nötigung zur Erfüllung moralischer Pflichten denkt. 65 Nun erscheint in MM aber noch eine Idee, die über das bislang Gesagte hinausreicht: die Vorstellung, dass die sozial praktizierten Tugenden als Normen zu denken sind: Könnte man nicht einfach die Tugenden als seine ‚Normen‘ verwenden? Der Mensch hat soundso viele Zähne – nicht in dem Sinne, dass der Durchschnittsmensch über diese Anzahl verfügt, sondern dass diese Anzahl die Anzahl der Zähne der Gattung Mensch ist. Und könnte man nicht in demselben Sinne sagen, dass die Gattung Mensch diese-und-jene Tugenden ‚hat‘, sofern man den Menschen eben nicht rein biologisch beschreibt, sondern als ein den-

Pink (2004), 167 f. Ähnlich argumentiert O’Neill (2004), 316. Pink (2004), 174. 63 So Allison (2011), 351, Anm. 3. 64 Zwei Missverständnisse in der Kant-Interpretation, die auch Anscombes falsche Darstellung begünstigen, können damit zurückgewiesen werden: Erstens: Kant meint mit dem moralischen Gesetz als Moralprinzip keine von einer befugten Rechtsautorität erzeugte Vorschrift, sondern einen Vernunftgrundsatz, der aufgrund seines apriorischen, allgemeinen Charakters eine unbedingte Handlungsvorschrift ist. Zweitens: Unter Autonomie versteht Kant nicht, dass eine hypostasierte Vernunft sich selbst ein Gesetz gibt, sondern dass Menschen qua vernunftbegabte Akteure prinzipiell aus Grundsätzen handeln können, die so allgemein sind, dass sie die ‚Form‘ eines allgemeinen Gesetzes haben. Vgl. z. B. Sensen (2013). 65 Vgl. z. B. KpV, AA V, 80, 83; MST, AA VI, 394. 61

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kendes Wesen, das Entscheidungen hinsichtlich vieler Lebensvollzüge trifft, und sofern man die Fähigkeiten des Menschen einbezieht und seinen Gebrauch notwendiger Dinge? Ein ‚Mensch‘, der über alle Tugenden in vollem Ausmaß verfügt, wäre die ‚Norm‘ als ‚Mensch‘, genau wie ein Mensch mit zweiunddreißig Zähnen die ‚Norm‘ ist. Wenn man den Ausdruck ‚Norm‘ aber in diesem Sinne verwendet, hat er mit ‚Gesetz‘ nicht mehr viel zu tun […]. 66

Trotz der betont hypothetischen Formulierung ist Anscombes Skizze praktischer Normenbegründung an dieser Stelle sachlich klar affirmativ gemeint. In ihrem aristotelisch-naturalistischen Modell sind es in erster Linie die Gegebenheiten der menschlichen Natur wie menschliche Fähigkeiten, Entscheidungen und Bedürfnisse, die als Quelle des Normativen fungieren (könnten). Dass Anscombe eine Konvergenz von ‚Norm‘ und ‚Gesetz‘ anschließend sofort zurückweist und zudem die moralphilosophischen ‚Lager‘ neu benennt, ist auch hier einem Verständnis von ‚Gesetz‘ geschuldet, das diesen Begriff konzeptuell mit dem Begriff eines Sanktionen verhängenden Gesetzgebers verbindet und auf diese Weise von vornherein einengt. 67 Auffällig ist außerdem, dass die hier ins Spiel gebrachte tugendethische Variante einer Gesetzesethik einen Essentialismus impliziert, der in einer sprachpragmatischen Ethik als systemfremdes Element erscheint. Eine sachliche Einordnung dieser ad hoc-Hypothese bleibt die Autorin an dieser Stelle schuldig. Anscombe deutet die Möglichkeit, zu einer unbelasteten, nicht durch die Gesetzesethik gefärbten Verwendung der Begriffe von Sollen und Verpflichtung zurückzukehren, in MM an, wenn sie schreibt: Vielleicht wären wir tatsächlich fähig, den Ausdruck ‚sollen‘ nicht mehr in seinem vermeintlich moralischen, sondern nur noch in seinem ganz gewöhnlichen Sinne zu verwenden […]. (D)urch ungerechtes Handeln ruiniert man sein Leben grundlegend, und daher muss man auch in solchen Fällen gerecht handeln. Ungefähr so reden Platon und Aristoteles. Doch man sieht leicht, dass hier eine große Lücke klafft, die gegenwärtig nicht gefüllt werden kann: Wir bräuchten eine Theorie der menschlichen Natur, des menschlichen Handelns, eine Theorie davon, was für eine Art Eigenschaft eine Tugend eigentlich ist, und vor allem bräuchten wir eine Theorie des menschlichen ‚Gedeihens‘. 68

Wenn tugendhaftes Handeln, wie Anscombe hier zumindest hypothetisch annimmt, für ein gutes menschliches Leben förderlich ist, und man deshalb tugendhaft handeln sollte, ergäbe sich das Normative aus spezifisch menschlichen Gegebenheiten und Bedürfnissen, die ihrerseits praktische Notwendigkeiten erzeugen. Ihre Ausführungen bleiben an dieser Stelle vage; was sie hier bräuchte, wäre ein Konzept der natürlichen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit der Mensch ein gelingendes Leben führen kann. Anscombe verfügt hier noch nicht über das Konzept des praktisch Notwendigen, das sie in dem Text Authority in Morals von 1960 erstmals sachlich benennt und etwas später im Anschluss an Aristoteles als dasjenige de-

MM 163. Anscombe erteilt den alternativen Gesetzeskonzeptionen eine eindeutige Absage. Für Duncans Interpretation, sie halte eine Gesetzgebung aus sozialen Normen oder der Natur für logisch möglich, findet sich im Text kein Anhaltspunkt; vgl. Duncan (2011), 74. 68 MM 168 f. 66 67

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finiert, „ohne welches irgendein Gut nicht bestehen oder nicht entstehen kann“. 69 Auf diese aristotelisch inspirierte Weise notwendig sind solche Dinge, die der artgemäßen Lebensgestaltung dienlich sind, und Normen sind Regeln des sozialen Zusammenlebens, die das Gedeihen der Handlungssubjekte natürlicherweise fördern. 70 Das Normative, wie es sich z. B. in der Praxis des Versprechens, in den Tugenden oder in sozialen Institutionen findet, wäre entsprechend etwas, das schon zum Begriff des Menschen gehört und im Sinne der Natur dieses Wesens ist. 71 Aufgabe der Ethik wäre es diesem neoaristotelischen Naturalismus gemäß, durch wahre generische Aussagen über die Lebensform des Menschen die natürlichen Notwendigkeiten für ein gelingendes menschliches Leben zu eruieren. Damit wäre der Weg zu gleichsam natürlichen Normen gebahnt. Das aber ist etwas denkbar anderes als ein sprachpragmatischer Kontextualismus in der Linie Wittgensteins. VI. Zusammengefasst beinhaltet Anscombes Konzeption praktischer Normativität drei Grundgedanken: Erstens haben die Ausführungen zur Etablierung von Regeln aus einer sozialen Sprachpraxis heraus gezeigt, dass der daraus resultierende Moralbegriff stark kontextualistische Züge hat: Was für jemanden moralisch vertretbar ist und eine Handlungsnorm konstituiert, wird nur verständlich aus dem sozialen Kontext, in dem sein moralisches Urteilen und Handeln erlernt ist. Wesentlich für ihre Argumentation in Bezug auf ihre Darstellung der Quellen des Normativen ist zweitens die Verbindung zweier Arten von Modalität: zum einen die ‚Aristotelische Notwendigkeit‘, die in Bezug auf ein im Gesamtkontext menschlichen Lebens bestehendes Gut existiert, und zum anderen die (aus dieser resultierenden) praktische Notwendigkeit in Bezug auf bestimmte Handlungen. So kann Kindererziehung als „notwendige Aufgabe im Rahmen des menschlichen Lebens“ 72 zu den Aristotelischen Notwendigkeiten gezählt werden, die den Gehorsam (als Bedingung der Erfüllung dieser Aufgabe) notwendig machen; dem Erziehenden kommt entsprechend ein Recht zu, Gehorsam zu fordern. Der Rechtsbegriff ist seinerseits durch bestimmte Sprachpraktiken verbürgt, und eindeutige Sollensaussagen wie ‚Du sollst nicht …‘ werden durch Sprecher in einer sozialen Praxis möglich. Drittens stellen die moralischen Absoluta in Form der Klasse der intrinsisch verbotenen Handlungen eine weitere Basis von Anscombes normativitätstheoretischen Überlegungen dar. Mit Blick auf diese Rekonstruktion von Anscombes eigener Theorie praktischer Normativität kann in Bezug auf das Anliegen von MM Folgendes angenommen V 70. Philippa Foot hat für diesen Sachverhalt den Ausdruck „Aristotelische Notwendigkeiten“ geprägt: Foot (2001), 15. Ihrer Ansicht nach hängt das Gute von diesen Notwendigkeiten ab; diese bezeichneten die Bedürfnisse einer Spezies. Menschen benötigten ihre Vernunftfähigkeit und sie brauchten Moral. Dies gehöre ebenso zu ihrer Natur wie das Wasser für die Pflanzen und das Nestbauen für die Vögel; vgl. Foot (1997), 238 f. 71 Dieser Gedanken findet sich ausgearbeitet in Thompson (2008). 72 GSA 122. 69 70

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werden: Die Argumentation in MM zielt nicht auf eine vollständige Eliminierung des Moral- und Verpflichtungskonzepts, sondern es geht Anscombe um eine Neubestimmung dieser Begriffe, die sich von der bisherigen Definition abhebt und deren Grundgedanke den vormodernen Theorien, wie wir sie aus Antike und Mittelalter kennen, entlehnt ist. Sodann drückt Anscombe zwar in MM eine tiefe Skepsis gegenüber dem traditionellen Moral- und Verpflichtungsbegriff aus, ihre eigene explizite Verwendungsweise der Ausdrücke ‚Moral‘ und ‚moralisch‘ zeigt jedoch, dass sie in ihren Überlegungen durchaus mit einem substantiellen Moralkonzept operiert. 73 Anscombes Verweis auf die faktische Existenz kategorischer, in Form von Sollaussagen formulierter moralischer Regeln in der gelebten sozialen Praxis gibt zudem Anlass zu der Annahme, dass sie nicht nur den Moral-, sondern auch den Verpflichtungsbegriff dieser terminologischen Läuterung ausgesetzt sehen will — beide Begriffe sind wesentliche Bestandteile einer funktionierenden moralischen Praxis. 74 Neben der Fragwürdigkeit ihrer Kritik an modernen Gesetzesethiken erweist sich Anscombes Konzeption moralisch-praktischer Normativität auch intern an mehreren Stellen als angreifbar. Erstens mag ihre durch Wittgenstein beeinflusste Beschreibung von praktischer Normativität auf institutionalisierte soziale Regeln in vielen Fällen zutreffen; fraglich ist jedoch, ob sie tatsächlich alle Fälle umfasst, in denen wir Ansprüche in Form von Sollensaussagen formulieren. Gilt es für alle Normen, dass sie ihre Gültigkeit durch pragmatische soziale Konstitutionsprozesse erhalten – nämlich in dem Sinne, dass sie auf Sprechakte zurückgehen? Gelingt eine Normetablierung in der Sprachpraxis nicht etwa nur dann, wenn ein objektiver Regelungsbedarf bereits besteht? Lässt sich der Begriff moralischer Verpflichtung reduzieren auf praxisinterne Pflichten, deren Voraussetzung eine funktionierende soziale Praxis ist? Während die Verankerung in einer Praxis der institutionalisierten Formulierung von Geltungsansprüchen für positive Gebotsnormen eine zutreffende Beschreibung zu sein scheint, werden moralische Ansprüche auch dort geltend gemacht, wo sie nicht durch eine Praxis von Generierungsprozeduren gesichert oder Teil eines auf einen bestimmten Kulturkreis beschränkten Verhaltenskodex sind. Anführen ließen sich hier z. B. Fälle von gebotener Hilfeleistung oder das Gebot, anderen nicht zu schaden und sie in ihrer Würde zu achten. Solche Fälle gehören in den Bereich genuin moralischer Normativität, für den Anscombes Modell keinen eigenen Platz reserviert. 75 Wenn der Begriff moralischer Normativität beinhaltet, dass eine Theorie der Moral nicht nur die Rekonstruktion und Bewertung faktischer Normen, die ihrerseits je nach Kulturkreis variieren können und größtenteils durch das Feld sozialer Verhaltensnormen abgesteckt sind, zum Inhalt hat, dann muss der Gegenstand der Moralphilosophie jene Verhaltensnormen sein, die von allen ratio-

Insofern scheint mir Doyles Interpretation, der Begriff der Moral sei für Anscombe extensionsleer, verfehlt zu sein; vgl. Doyle (2018), 43, 46. Vgl. gegen Doyle auch Sandis (2020) sowie Frey (2020). 74 Sandis (2020), 44. 75 Das wird auch daran deutlich, dass sie die Frage der Autorität der Moral ausschließlich als eine Frage der pädagogischen Vermittlung moralischer Regeln behandelt, nicht aber als Frage nach dem autoritativen Charakter genuin moralischer Normen (vgl. AM 92–100). 73

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nalen Personen als geteilte Regeln vorgestellt werden können. 76 Dass Anscombe dies selbst sieht, zeigt sich u. a. daran, dass sie die offenkundige Fallibilität und Kritisierbarkeit faktischer Normsetzungen selbst einräumt: Was aber könnte uns dann jemals in die Lage versetzen, dafür zu argumentieren, dass etwas, das gemeinhin als ein Recht gilt, überhaupt keines ist, während etwas, das nicht als ein Recht gilt, tatsächlich eines darstellt? Es scheint […], als gäbe es nur zwei Arten von Wahrheiten über Rechte: zum einen etwas, das wir als theoretische, wissenschaftliche Wahrheit bezeichnen können, was in unserem Zusammenhang in einer soziologischen oder anthropologischen Wahrheit bestehen würde. Zum anderen gäbe es Behauptungen innerhalb einer Praxis und innerhalb der Gesetze einer bestimmten Gesellschaft, also Behauptungen, mit denen wir uns an jene Sprache halten und jene Praktiken fortsetzen, die den allgemeinen Begriff des Rechts und die einzelnen Rechte zusammen hervorbringen. 77

Was daraus für die Moralphilosophie folgt, lässt sie, ebenso wie Wittgenstein, offen: „Denn das Sprachspiel garantiert einem nicht, dass man etwas weiß.“ 78 Zweitens beinhaltet Anscombes Argumentation für die praktische Normativität eine gewisse Zirkularität. Einerseits soll die Praxis der Modalausdrücke Rechte und Regeln erzeugen; es „gäbe […] keine Rechte, wenn der Mensch keine derartigen Praktiken hätte“ 79. Andererseits wird die soziale Praxis durch die Regeln schon konstituiert, die sie ihrerseits doch erst erzeugen soll: „Diese sprachliche Praxis verhindernder Modalausdrücke erkennt implizit allgemeine Rechte zu, sonst gäbe es keine Praxis.“ 80 Der hier vorfolgte Gedanke ist, dass die Regeln die Praxis festlegen und diese ohne die Regeln nicht funktioniert. Es ist jedoch nicht einzusehen, wie die Regeln zugleich Voraussetzung und Ergebnis der Praxis sein können. Drittens bleibt eine Konzeption praktischer Normativität, wie Anscombe sie vorschlägt, letztlich eine Antwort auf das Problem der moralischen Epistemologie schuldig. Sitten und Rechte werden auf die gleiche Weise wie Spielregeln erlernt: über die Modalausdrücke ‚müssen‘ und ‚können‘. Nach einem solchen Verständnis von Moral werden Tugenden und Laster in der sozialen Praxis ‚antrainiert‘, und mit der Verurteilung wird die Lasterhaftigkeit einer Handlung zugleich sprachlich ausgedrückt. 81 Ebenso wie im Social-Command-Modell setzt die Verurteilungspraxis hier stillschweigend eine Kenntnis moralischer Fakten voraus; woher aber wissen wir, dass bestimmte Handlungen verurteilenswert sind? Anscombe beklagt z. B. an der kantischen Pflichtkonzeption, dass das KI-Verfahren nicht zur inhaltlichen Festlegung der geforderten pflichtgemäßen Handlungen hinreicht, und sie antwortet hier mit dem Hinweis auf das Erlernen von Regeln durch wiederholte Anwendung, so wie es bereits die aristotelische Tugendethik vorgibt. 82 Ihre eigene Position lässt jedoch die Frage offen, in welcher Hinsicht die moralische Beurteilung einer Handlung als So z. B. Gert/Gert (2017), Scanlon (1998). GSA 115. 78 So der Schluss in WLI 354. 79 GSA 119. 80 GSA 119; Übersetzung leicht modifiziert. 81 „When we condemn something, we name the vice that it seems to be an act of; we say: that’s unjust, untruthful, cowardly, indecent, greedy.“ (MEC 230) 82 Vgl. AM 98 mit Blick auf NE II 1. 76 77

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tugend- oder lasterhaft begründet ist; gut ist hier schlicht das, was der Tugendhafte tun würde: „Ein guter Mensch ist ein gerechter Mensch, dem es zur zweiten Natur geworden ist, ungerechtes Handeln oder die Beteiligung daran abzulehnen, auch wenn er schlechte Folgen oder das Verschenken eines Vorteils fürchtet […].“ 83 Ihre Zurückhaltung hinsichtlich der moralischen Grundlagen des Tugendbegriffs entschuldigt Anscombe selbst explizit; sie sieht sich „nicht in der Lage, die uns fehlende Philosophie zu entwerfen“. 84 Das sachliche Problem bleibt jedoch bestehen und bildet für die Tugendethik bis heute eine Herausforderung. Denn um wissen zu können, was wir als tugendhafte Menschen tun sollen, müssen wir vorher wissen, inwiefern eine mögliche Handlungsalternative einen moralischen Gehalt hat. Einen Maßstab hierfür haben wir in der Tugendethik jedoch nicht zur Hand. Damit wäre diese aber gerade ungeeignet, moralische Orientierung bieten zu können. Indem sie den Fokus auf den Handelnden und seine Tugenden und Charakterzüge wirft, bleibt sie in dem, worum es in der Ethik neben der Begründung ihrer Grundlagen geht, nämlich ein Entscheidungsverfahren zu liefern, unentschieden. Für den Ausweg aus einer dilemmatischen Entscheidungssituation ist die ex post-Beurteilung charakterlicher Tugenden am Akteur nicht hilfreich. 85 Viertens bleibt unklar, inwiefern Anscombes Zurückweisung der Begriffe der moralischen Verpflichtung und des moralischen Sollens mit dem für ihre eigenen Überlegungen wesentlichen Theoriestück der moralischen Absoluta vereinbar ist. Da sie selbst das Verpflichtungskonzept für ihre Theorie ablehnt, dürften die strikten Verbote streng genommen auch nicht bindend sein. 86 Der Begriff eines absoluten Verbots, das nicht verbindlich ist, ist aber widersprüchlich. Darüber hinaus ist fraglich, wie sich die moralischen Absoluta in den von Anscombe vorgeschlagenen kontextualistischen Rahmen praktischer Normen integrieren lassen, wenn man davon ausgeht, dass die strikten Gebote per definitionem nicht kontextsensitiv sind. Fünftens bleibt die kontextualistische Konzeption praktischer Notwendigkeit selbst vage. Denn fragt man letztlich genauer, was die Notwendigkeit einer Handlung begründet, so lässt uns Anscombe im Unklaren, und dies nicht zuletzt deshalb, weil sie sich der Schwierigkeit des Problems selbst bewusst ist: Doch bei dem Versuch zu erklären, was eine Regel zu mehr als einer bloßen Regelmäßigkeit macht, muss man auf so etwas zurückgreifen wie, dass sie in Form einer Formel für Handlungen gegeben wird, deren Bedeutung darin besteht, dass man sich an diese Formel halten muss. Aber wie das? — Weil sei eine Regel ist. Wir verstricken uns in genau denselben Zirkel, über den Hume sich im Zusammenhang mit Versprechen beschwert. 87

Anscombe sieht, dass sich praktische Notwendigkeit für eine freiwillig verfolgte Praxis leicht durch das Zusammenspiel von Zustimmung zu dieser Praxis, RegelbeMM 166. MM 166. 85 Vgl. zu diesem Punkt z. B. Louden (1998), 190. 86 Dies bemerkt auch Blackburn (2005). Der Punkt scheint insbesondere deshalb pikant zu sein, weil Anscombe eine wunschbasierte Theorie der moralischen Motivation vertritt, nach der das Urteil über die Notwendigkeit einer Handlung allein noch nicht handlungsmotivierend ist (vgl. z. B. MM 152). 87 WLI 331. 83 84

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folgung und dem Verbot eines Zuwiderhandelns begründen lässt. Die Praxis, in der Rechte durch eine Sprechergemeinschaft aufrechterhalten werden, scheint sich aber ihrerseits der Freiwilligkeit zu entziehen: Solche „Gewohnheitsrechte“ sind für Gesellschaften geradezu konstitutiv. 88 Vor dem Hintergrund, dass eine Praxis, die von den in ihr geltenden Regeln lebt, nur funktionieren kann, wenn die Regeln auch befolgt werden, ist dies verständlich. Dann aber ist man durch eine soziale Praxis, die ihrerseits Regeln und Rechte erzeugt, nur insofern gebunden, als man sich ihr nicht einfach wie einem Spiel, bei dem man nicht mitspielen möchte, entziehen kann. 89 Innerhalb einer solchen Praxis wären wir auf die Einhaltung der Spielregeln verpflichtet, und die Praxis selbst wäre nicht wählbar. Dies würde zeigen, dass Anscombe den Begriff der Verpflichtung für ihre eigene Theorie praktischer Normativität insgeheim verwendet und nicht ablehnen kann. Die rigorose Absage an das Konzept einer genuin moralischen Verpflichtung, wie sie in MM formuliert und bis heute als Einwand insbesondere gegen deontologische Ethiken verwendet wird, erweist sich damit schon innerhalb von Anscombes eigenen normativitätstheoretischen Überlegungen als fragwürdig. 90 LITERATURVERZEICHNIS Zitierte Schriften von Anscombe: Monographie: Absicht, aus dem Engl. übers. v. J. Schulte, 2. Aufl. Frankfurt/M. 2011; ursprünglich: Intention, Blackwell 1957.

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Aufsätze: AIDE: „Action, Intention, and Double Effect“, in: HLAE, 196–216; ursprünglich in: Proceedings of the American Catholic Philosophical Association 56, 1982, 12–25. AM: „Authority in Morals“, in: FHG, 92–100; ursprünglich in: Todd, J. M. (Hg.), Problems of Authority, London 1962, 179–188.

88 89 90

Vgl. WLI 332 f. Gegen Miner (2008), 171–173. Für hilfreiche Diskussionen und Anmerkungen danke ich Christoph Horn.

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Steffi Schadow

CNM: „The Controversy over a New Morality“, in: HLAE, 216–224; unveröffentlichtes und undatiertes Typoskript. GSA: „Über die Grundlage staatlicher Autorität“, in: Aufsätze, 94–141; ursprünglich: „On the Source of the Authority of the State“, in: Ratio 20, 1978, 1–28. MEC: „The Moral Environment of the Child“, in: FHG, 224–233; unveröffentlichtes und undatiertes Typoskript. MM: „Die Moralphilosophie der Moderne“, in: Aufsätze, 142–170; ursprünglich: „Modern Moral Philosophy“, in: Philosophy 33/124, 1958, 1–19. MME: „Murder and the Morality of Euthanasia“, in: HLAE, 247–263; ursprünglich in: Euthanasia and Clinical Practice. Trends, Principles and Alternatives, London 1982. MTG: „Mr. Truman’s Degree“, in: The Collected Philosophical Papers of G. E. M. Anscombe, Bd. 3: Ethics, Religion and Politics, Oxford 1981, 62–71; wiederabgedruckte Streitschrift, Oxford 1957. NT: „Nackte Tatsachen“, in: Aufsätze, 9–14; ursprünglich: „On Brute Facts“, in: Analysis 18, 1958, 69–72. RRV: „Regeln, Rechte und Versprechen“, in: Aufsätze, 82–93; ursprünglich: „Rules, Rigths, and Promises“, in: Midwest Studies in Philosophy 3, 1978, 318–323. TMT: „Two Moral Theologians“, in: FHG, 157–169; unveröffentlichtes und undatiertes Typoskript. V: „Warum Versprechen binden (und ob in foro interno)“, in: Aufsätze, 61–81; ursprünglich: „On Promising and its Justice and Whether it Need be Respected in Foro Interno“, in: Critica 3, 1969, 61–83. WLI: „Ist Wittgenstein linguistischer Idealist?“, in: Aufsätze, 316–355; ursprünglich: „The Question of Linguistic Idealism“, in: Acta Philosophica Fennica 28, 1976, 188–215. WM: „War and Murder“, in: W. Stein (Hg.), Nuclear Weapons. A Catholic Response, London 1961, 44–52.

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Braucht die Moralphilosophie den Begriff der Verpflichtung?

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Philosophie – Heilmittel oder Krankheit der Seele? Zur Symptomatologie und Therapie des Denkens bei Avicenna und Nietzsche 1 Martina ROESNER (Wien)

Abstract. The present paper intends to study Avicenna’s and Nietzsche’s approaches to the relationship between philosophy and medicine by examining their understanding of the multiple analogous meanings of “sickness” and “health” with regard to human existence. Avicenna considers philosophy itself as a form of “medicine” insofar as it can cure the soul from the sceptical doubt concerning the possibility of knowing the truth and thus create a perfect harmony between body, soul, and spirit. But in a second step, he claims that earthly life itself is an “illness” that keeps us from the perfect contemplation of God as supreme intelligible object and, therefore, has to be “cured” by death. Nietzsche shares with Avicenna not only the particular interest in dietetics but also the conviction that philosophy has a deeply therapeutic dimension. However, he replaces the vertical movement of metaphysical ascension towards absolute, divine truth with the horizontal journey of philosophical transformation that allows each human being to find their own inalienable concept of “sickness” and “health” and in doing so, become their own healer.

1. Die historischen Ursprünge der Beziehung von Philosophie und Medizin Leben – als menschliches Leben – heißt: existieren als raumzeitlicher Organismus, der aufgrund seiner Bedürfnisse nach Luft, Nahrung und Wasser mit seiner Umwelt in enger Beziehung steht, in ihr und von ihr lebt, aber auch durch äußere oder innere Faktoren aus dem Gleichgewicht gebracht werden und erkranken kann. Leben – als menschliches Leben – heißt: in Abstand zu sich selbst gehen, über sich und das eigene Weltverhältnis reflektieren, dessen Angemessenheit auf den Prüfstand stellen und gegebenenfalls korrigieren – mit anderen Worten: sein Leben dadurch in bewusster Weise führen, dass man die jeweils gewählte Lebensweise als grundsätzlich veränderbare Ausprägungsform der Lebensdynamik als solcher begreift. In dieser biologisch-existentiellen Doppelbedeutung von „Leben“ als organischem Leben und „Leben“ als bewusster, vernunftgesteuerter Lebensführung liegt die enge Verwandtschaft zweier wissenschaftlicher Disziplinen begründet, deren problematische

1 Dieser Aufsatz geht auf einen Vortrag zurück, den die Verf. anlässlich eines Kolloquiums zum Thema Alexipharmaka: Gegengifte in Literatur, Theorie und Medien am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg (Greifswald) gehalten hat. Die Überarbeitung und wesentliche Erweiterung dieses Textes erfolgte im Rahmen eines vom Austrian Science Fund (FWF) geförderten Forschungsprojektes unter der Nummer P 31358.

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Verhältnisbestimmung seit der Antike ein Spiegelbild des menschlichen Selbstverständnisses abgibt, nämlich Medizin und Philosophie. 1.1 Der Einfluss der griechischen Philosophie auf die Entwicklung der Heilkunde Betrachtet man die Entwicklung der Heilkunde in der antiken Welt, so fällt auf, dass sie über lange Zeit hinweg auch bei hochentwickelten Kulturvölkern wie den Ägyptern und Babyloniern in hohem Maße von magisch-religiösen Elementen durchsetzt ist, die einer rein naturimmanenten Betrachtung von Gesundheit und Krankheit und somit auch der Entwicklung von empirisch-biologisch fundierten Therapien im Wege stehen. 2 Auch bei den frühen griechischen Dichtern wie Homer und Hesiod erscheint die Krankheit als eigenständige ontologische Entität, die nicht spontan aufgrund gewisser physiologischer Faktoren im Menschen entsteht, sondern von den Göttern als Strafe für Freveltaten und sonstige Verfehlungen verhängt wird. 3 Umso bemerkenswerter ist es daher, dass mit dem Beginn des philosophischen Denkens bei den Vorsokratikern auch die griechische Medizin einen deutlichen Rationalisierungsschub erfährt. In dem Maße, wie die Natur insgesamt nicht länger als Schauplatz göttlicher Willkür und übernatürlicher Kräfte, sondern als geordneter Zusammenhang vernunftkonformer Gesetzmäßigkeiten erscheint, können auch Krankheiten als natürliche Phänomene gedeutet werden, die einer ebenso natürlichen Therapie zugänglich sind. Der Einfluss der Philosophie auf die Medizin zeigt sich unter anderem darin, dass der menschliche Körper nicht als undifferenzierte Einheit gilt, sondern als eine Zusammensetzung derselben vier Elemente (Feuer, Wasser, Luft und Erde) betrachtet wird, aus denen auch die übrige materielle Wirklichkeit besteht. 4 Der Mensch ist demnach ein Wesen, dessen Grundstruktur denselben Prinzipien gehorcht wie der Kosmos insgesamt und dessen körperliche Funktionen und Anomalien auf der Grundlage einer allgemeinen Naturerkenntnis immer besser verstanden werden können. Allerdings ist dieser Einfluss des philosophischen Denkens auf die Heilkunde insofern nicht ganz unkritisch, als diese dadurch Gefahr läuft, sich von spekulativen Postulaten abhängig zu machen, die einer unbefangenen, pragmatischen Betrachtung der Phänomene von Gesundheit und Krankheit im Wege stehen. Dies wird besonders an der Art und Weise deutlich, in der die großen griechischen Philosophen über die Medizin als Wissensdisziplin bzw. über medizinische Themen sprechen. Wo Platon in seinen Schriften die Struktur des menschlichen Körpers und seiner Organe erörtert, stehen weniger exakte physiologische Kenntnisse im Vordergrund als vielmehr philosophisch-psychologische Motivationen. 5 Die physische Krankheit erscheint damit nicht als ein Phänomen sui generis, sondern ist Chiffre und Indikator für die vom Philosophen zu bekämpfenden ethisch-gesellschaftlichen Vgl. Longrigg (1993), 9. So deutet etwa Homer in der Ilias die Seuche, die nach dem Raub der Chryseïs im Lager der Griechen ausbricht, als das Ergebnis der Pestpfeile, die Apollon zur Strafe gegen diesen Frevel verschossen hat (vgl. Homer, Ilias I 8–11.44–53 sowie dazu Longrigg [1993], 11–15). 4 Vgl. Longrigg (1993), 26. 32 f. 5 Vgl. Platon, Timaios 69a–92c; ders., Politeia, 437b–445d. 2 3

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Pathologien, die letztlich auf einer Unordnung in der Hierarchie der Seelenkräfte beruhen. Auch Aristoteles, der die ärztliche Heilkunde aufgrund ihrer praktischen Ausrichtung den handwerklichen Künsten (τέχναι / technai) zurechnet, vertritt die Ansicht, dass zumindest die obersten Prinzipien der Medizin aus der Naturphilosophie stammen und somit apriorisch-universaler Natur sind. Dennoch herrscht zwischen Philosophie und Medizin keine einseitige Abhängigkeit, sondern eine Wechselbeziehung: In den Parva naturalia legt Aristoteles dar, dass der Naturphilosoph die obersten Prinzipien von Krankheit und Gesundheit zu studieren hat und sich somit auch in einem gewissen Maße für Medizin interessieren muss, während der Arzt, der seine Heilkunde nicht bloß als Handwerk versteht, sondern sie mit einem wissenschaftlichen Interesse verbindet, seine medizinischen Theorien auf die Prinzipien der Naturphilosophie zu gründen sucht. 6 In kritischer Abgrenzung gegen eine solche Überfrachtung der Heilkunde mit theoretischen Hypothesen, die bestenfalls unnütz und schlimmstenfalls hinderlich sind, betont der größte und bekannteste Arzt der antiken Welt, Hippokrates von Kos, die völlige methodische Autonomie der Medizin und lehnt es aus ebendiesem Grunde strikt ab, der Heilkunde einen philosophischen Unterbau zu geben oder sie auch nur mit philosophischen Fragestellungen zu vermischen. Er betrachtet sie durch und durch als eine Handwerkskunst (τέχνη / technē), die durch diätetische und pharmakologische Maßnahmen die Gesundheit des Patienten wiederherzustellen trachtet und zu diesem Zweck lediglich die offenkundigen, nächstliegenden Gründe für dessen Beschwerden zu erforschen hat, ohne sich um die ersten und universalsten Grundprinzipien der Wirklichkeit als solcher zu bekümmern. 7 In Hippokrates’ Auffassung, dass die Heilung des Kranken von der strikten Befolgung der therapeutischen Anweisungen des Arztes abhängt, werden jedoch schon zwei Grundschwierigkeiten erkennbar, die die von ihm postulierte Trennung von Medizin und Philosophie illusorisch erscheinen lassen. Zum einen setzt die Befolgung der ärztlichen Vorschriften die Einsicht des Patienten in deren prinzipielle Sinnhaftigkeit und den Willen zu ihrer Umsetzung voraus; zum anderen birgt eine Überbetonung des mechanisch-methodischen Aspektes der medizinischen τέχνη (technē) die Gefahr, dass die Lebensführung des Patienten für längere Zeit, wenn nicht sogar dauerhaft, der Autorität eines heteronomen Regelwerks unterworfen wird, das kaum Rücksicht auf sein individuelles Selbstverständnis und seine ganz persönliche Vorstellung von einem erstrebenswerten, guten Leben nimmt. 8 Dahinter steht letztlich die Frage, ob es überhaupt eine univoke, universalgültige Definition von „Gesundheit“ und „Krankheit“ gibt und ob man die physischen Krankheitssymptome von der

6 Vgl. Aristoteles, Metaphysik I 1, 981 a 5–26; ders., Nikomachische Ethik I, 1094 a 7–10; ebd. X 8, 1180 b 8–28; ders., De sensu, 436 a 19–436 b 1; ders., De respiratione, 480 b 22–31. 7 Vgl. Hippocrates, On Ancient Medicine, 1.1–2.3 (ed. 2005), 75–77; Longrigg (1993), 34–38. 82; IbnouZahir (2010), 180. 8 In der Politeia thematisiert Platon die Grundhaltung der meisten Menschen, die eher bereit sind, sich drastischen, aber dafür kurzfristigen Therapiemaßnahmen (Purgieren, Brennen, Schneiden usw.) zu unterwerfen, als langfristig ihre Lebensweise durch diätetische Maßnahmen zu verändern, weil sie keine Zeit haben, „ihr Leben lang krank zu sein“ (vgl. Platon, Politeia 406d).

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seelisch-geistigen Dimension des Patienten und seinem existenziellen Selbstverständnis abkoppeln kann. 1.2 Die Therapeutisierung des philosophischen Denkens in der Zeit des Hellenismus Bezeichnenderweise entwickeln sich im hellenistischen Zeitalter unterschiedliche Philosophenschulen, die der von Hippokrates postulierten Dichotomie zwischen Medizin und Philosophie widersprechen. Demnach besitzt die Einsicht in das, was richtig ist, und die Bereitschaft zur Übernahme persönlicher Verantwortung für das eigene Leben in sich schon eine prototherapeutische Qualität. Das primäre pathologische Phänomen ist folglich nicht die Krankheit als solche, sondern vielmehr jene unemanzipierte Grundhaltung, in der sich der Patient als buchstäblich geduldigpassive Instanz der therapeutischen Intervention einer fremden Person unterwirft, ohne sich über sich selbst und die Grundpfeiler seiner eigenen Lebensführung klargeworden zu sein. 9 Die Wurzel der Krankheit ist in erster Linie seelischer Natur, da sie in ungeordneten Leidenschaften und dem daraus resultierenden Fehlverhalten, in einem verkehrten Verhältnis zur Wahrheit und ganz allgemein in einer Verkennung der eigenen, autonomen Vernunftnatur besteht. Diese Pathologien der Seele betreffen aber nicht nur den Patienten, sondern bedrohen in gleicher Weise auch den Arzt, insofern dieser ein denkendes Wesen mit Fehlern und Schwächen ist. Die bei Hippokrates vorherrschende Heteronomie zwischen Arzt und Patient, die auf der asymmetrischen Verteilung der medizinischen Kompetenzen beruht, wird somit abgelöst durch eine immanente Dualität, die jeden Menschen dazu befähigt, durch beständige rationale Prüfung und Korrektur seiner Lebensführung sein eigener Arzt zu werden. 10 Zwar gibt es auch hier Menschen, die im Wissen um das Wesen der Gesetzlichkeit als solcher sowie in der Kunst der Selbstgesetzgebung fortgeschrittener sind als andere, doch haben sie keine bleibende äußere Autorität im eigentlichen Sinne, sondern erfüllen lediglich die Aufgabe, auch die anderen Menschen zu einer selbstbestimmten Lebensweise anzuleiten. 11 Diese Entwicklung führt allerdings dazu, dass das Selbstverständnis der Philosophie in der Zeit des Hellenismus eine tiefgreifende Wandlung durchmacht, die vom platonisch-aristotelischen Erkenntnisideal mehr und mehr wegführt. An die Stelle des Strebens nach transzendent-universalgültiger geistiger θεωρία (theōria) tritt nunmehr das Bemühen um eine immanent-therapeutische Regelung und Harmonisierung der menschlichen Existenz. Darin liegt eine Abkehr von der geistesaristokratischen Grundhaltung des Metaphysikers aristotelischer Prägung, der seine eigene, von wissenschaftlichem Erkenntnisstreben geprägte Lebensweise mit der bestmöglichen und glücklichsten Verwirklichungsform menschlicher Existenz überhaupt identifiziert. 12 So unterschiedlich der Stoizismus, der Skeptizismus und der Epikureismus in ihren einzelnen Lehren und Maximen auch sein mögen, so ist Vgl. Ibnou-Zahir (2010), 186. Vgl. Cicero, Tusculanae disputationes III 1; IV 29–32 (ed. 21998), 172. 266–271. 11 Vgl. Seneca, De ira II 10 (ed. 2011), 166; ders., De tranquillitate animi 1–2 (ed. 2011), 478. 485–491. 12 Vgl. Aristoteles, Metaphysik I 2, 982 b 28–983 a 11; ders., Nikomachische Ethik X 8, 1078 b 8–23. 9

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ihnen doch die Überzeugung gemeinsam, dass die Philosophie nicht mehr Selbstzweck sein kann, sondern nur noch ein Mittel zum Zweck, das dazu dient, den Menschen in allen Lebensbereichen zur Mäßigung anzuhalten, ihn von seinem übertriebenen Wissensdrang zu heilen und ihn auf seine konkreten Pflichten im Alltäglich-Naheliegenden zu verweisen. 13 Das philosophische Denken führt demnach nicht selbst zur Glückseligkeit, sondern soll den Menschen lediglich von all jenen verkehrten Grundhaltungen kurieren, die der harmonischen Ausgewogenheit seiner Person, seiner Seelenruhe und damit auch seinem Lebensglück im Wege stehen, den übertriebenen Drang nach philosophischer Spekulation eingeschlossen. 14 Vor dem Hintergrund dieser nicht mehr erkenntnisorientierten, sondern primär therapeutischen Auffassung der Philosophie entsteht die Vorstellung vom Philosophen als „Seelenarzt“, der die Aufgabe hat, die Pathologien des menschlichen Geistes zu heilen, die aus einem ungezügelten Wissensdrang und einem verfehlten existenziellen Selbstverständnis resultieren. 15 Die Fokussierung dieser philosophischen „Heilkunde“ auf den immateriellen (seelischen bzw. geistigen) Teil des Menschen 16 wirft jedoch die Frage auf, welche Rolle dann noch der Leib und dessen physiologische Intaktheit für den Philosophen spielen, mit anderen Worten: ob die seelischgeistige Gesundheit unter normalen Bedingungen die leibliche Gesundheit nach sich zieht, stärkt und fördert oder ob vielmehr das, was auf geistigem Gebiet als Heilung firmiert, nur um den Preis der pathologischen Gebrochenheit der physischen Dimension des Menschen zu haben ist. Im Folgenden soll diese Frage am Beispiel zweier großer Gestalten der Philosophiegeschichte erörtert werden, die nicht nur in besonders intensiver Weise über das Verhältnis von Philosophie und Medizin nachgedacht, sondern die dialektischen Spannungen von geistiger wie leiblicher Krankheit und Gesundheit auch am eigenen Leibe durchlebt und durchlitten haben, nämlich Avicenna und Nietzsche. Ihre Positionen sind insofern von besonderer Aktualität, als der gegenwärtige medizinethische Diskurs nicht nur dazu tendiert, Gesundheit und Krankheit in einer univoken, ausschließlich empirischnaturwissenschaftlichen Weise zu definieren, sondern davon ausgehend auch über die daraus resultierende menschliche Lebensqualität normative Aussagen macht, die den Kompetenz- und Zuständigkeitsbereich der Medizin und Naturwissenschaft in bedenklicher Weise überschreiten. 17 Demgegenüber spricht aus den medizinphi[H]omo ad immortalium cognitionem nimis mortalis est (Seneca, De otio 5 [ed. 2011], 470); vgl. auch Cicero, De finibus IV 5 (ed. 1988), 244. Ciceros Aufwertung der praktischen Philosophie gegenüber der theoretischen liegt darin begründet, dass wir seines Erachtens in ethischen Dingen zu weit gewisseren Erkenntnissen kommen können als im Bereich der Naturerkenntnis oder der Theologie (vgl. Leonhard [1999], 48–50. 73–81). 14 Vgl. Seneca, Epistulae morales ad Lucilium LXXXVIII (ed. 2011), 162–184; vgl. dazu Blumenberg (1973), 49. 55–58. 15 Vgl. Koch (2006), 82–164. 16 Beata est ergo vita conveniens naturae suae, quae non aliter contingere potest quam, si primum sana mens est et in perpetua possessione sanitatis suae, deinde fortis ac vehemens, tunc pulcherrime patiens, apta temporibus, corporis sui pertinentiumque ad id curiosa non anxie, tum aliarum rerum, quae vitam instruunt, diligens sine admiratione cuiusquam, usura fortunae muneribus, non servitura (Seneca, De beata vita 3 [ed. 2011], 394). 17 Vgl. Aurenque (2016), 25–29. 13

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losophischen Ansätzen Avicennas und Nietzsches die grundlegende Einsicht, dass es „die“ menschliche Gesundheit nicht gibt, sondern dass menschliches Leben wesentlich darin besteht, die vielfältigen analogen Bedeutungen von Gesundheit und Krankheit auf körperlicher, seelischer und geistiger Ebene in der eigenen Existenz zueinander in Beziehung zu setzen und ihre Spannungen auf produktive Weise zum Austrag zu bringen. 2. Der therapeutische Charakter der Philosophie bei Avicenna 2.1 Die innere Einheit von geistiger und leiblicher Heilung In der Auffassung des therapeutischen Grundcharakters rationaler Reflexion liegt der Keim zu jener Idealgestalt des Philosophenarztes, die ihre vielleicht vollkommenste Ausprägung in der Gestalt des frühmittelalterlichen persischen Gelehrten Avicenna (980–1037) gefunden hat. Dieser vereint die beiden Identitäten des Arztes und des Philosophen nicht nur insofern in seiner Person, als er beide Wissenschaften eingehend studiert hat; vielmehr ist sein Denken von der Überzeugung getragen, dass diese beiden Disziplinen untrennbar miteinander verbunden sind und aufeinander verweisen. Allerdings macht sich Avicenna keineswegs die theorieskeptische Grundhaltung des spätantiken Hellenismus zu eigen, sondern übernimmt ausdrücklich die aristotelische Konzeption der menschlichen Glückseligkeit durch metaphysische Erkenntnis. Dabei vernachlässigt Avicenna keineswegs die Tatsache, dass die theoretische Erkenntnis der Welt und ihrer Prinzipien das harmonische Zusammenspiel der leibseelischen Kräfte des Menschen voraussetzt. Allerdings kann seinem Verständnis nach die Philosophie auch umgekehrt als „Medizin des Geistes“ bezeichnet werden, insofern sie in der Lage ist, den Menschen von Zweifel und Irrtum zu heilen. 18 Anders als in den Augen der hellenistischen Philosophen ist für Avicenna also nicht das spekulative Erkenntnisstreben die „Krankheit“, von der man geheilt werden müsste, sondern nur das Festhalten an irrigen, rational unbegründeten Überzeugungen. Dieses therapeutische Verständnis von Philosophie hat ein bedeutsames biographisches Fundament, das in einer oft erzählten Episode aus Avicennas Leben zum Ausdruck kommt: Avicenna hatte laut eigenem Bekunden die Metaphysik des Aristoteles nicht weniger als vierzigmal gelesen, ohne ein Wort davon zu verstehen. Als er darüber zu verzweifeln drohte, fiel ihm durch einen glücklichen Umstand der Metaphysikkommentar des Al-Fārābi in die Hände, mit dessen Hilfe sich ihm schlagartig der Sinn des aristotelischen Textes erschloss. Ganz überwältigt von diesem Erlebnis, stürzte Avicenna daraufhin auf die Straße und verteilte unter den Armen großzügige Almosen aus Dankbarkeit darüber, dass er so plötzlich von seinen intellektuellen Rückschlägen und Zweifeln geheilt worden war. 19 Avicennas gewaltiges enzyklopädisches Werk, das in den darauffolgenden Jahrzehnten ent18 19

Vgl. Strohmaier (1999), 96. Vgl. Schipperges (1987), 8.

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stand, umfasst nicht weniger als 18 Bände, in denen praktisch alle damaligen wissenschaftlichen Disziplinen – Logik, Kosmologie, Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik, Psychologie, Ethik, Metaphysik und Theologie – abgehandelt werden. Der Titel des Gesamtwerkes lautet bezeichnenderweise Buch der Heilung oder auch Buch der Genesung (Kitāb al-shifā). Das bedeutet nicht, dass es sich um einen medizinischen Traktat im engeren Sinne handelt – auch solche Werke hat Avicenna verfasst, allerdings nicht in diesem Rahmen, sondern einmal in Form einer separaten Abhandlung und einmal in Form eines Lehrgedichts. In seiner Enzyklopädie geht es dagegen zunächst um die Heilung der Seele von der Krankheit des Zweifels und der Verzweiflung angesichts der Schwierigkeit, zu einer gesicherten Erkenntnis über die Wirklichkeit zu gelangen. 20 Dadurch verschmilzt Avicenna den aristotelisch geprägten Theorieanspruch der Philosophie mit dem therapeutischen Philosophieverständnis des hellenistischen Zeitalters und gibt dem Begriff der „geistigen Gesundheit“ damit eine neue Bedeutung. „Gesund“ ist nun nicht mehr die weise Selbstbeschränkung der menschlichen Vernunft und ihr Verzicht auf spekulativen Überschwang zugunsten des Pragmatischen und alltäglich Geforderten, sondern vielmehr das Sich-Aufschwingen des Menschen zu seinen höchsten geistigen Möglichkeiten. Doch ist die therapeutische Dimension der im Buch der Genesung niedergelegten Erkenntnisse durchaus nicht nur metaphorischer Natur. Anders als Hippokrates betrachtet Avicenna die Medizin nicht nur als pragmatische τέχνη (technē), sondern ist der Auffassung, dass die theoretische und die praktische Dimension in ihr eine Einheit bilden müssen. 21 Die ärztliche Heilkunde kann sich demnach nicht völlig von der Philosophie und den anderen Universalwissenschaften abkoppeln, sondern ist in einem bestimmten Umfang auf sie angewiesen und besitzt daher selbst einen wissenschaftlichen Charakter. 22 So kann die konkrete medizinische Tätigkeit des Arztes nur in dem Maße erfolgreich sein, wie sie von einem soliden Wissen um die grundlegenden Eigenschaften der Elemente, der materiellen Körper, der Gestirne, der verschiedenen irdischen Klimate und geographischen Gegebenheiten, aber auch z. B. der akustischen Intervalle und der darauf beruhenden Harmonielehre getragen ist. Eine gesunde Lebensführung bemisst sich für Avicenna daran, ob in ihr der richtige Rhythmus zwischen Nahrungsaufnahme und Ausscheidung, Wachen und Schlafen, Tätigkeit und Ruhe herrscht. 23 Lebt der Mensch diesen Grundsätzen gemäß, d. h. in Harmonie mit sich selbst und der ganzen übrigen Wirklichkeit, ist er fähig, zur höchsten metaphysischen Erkenntnis zu gelangen, die ihm Einblick in die Harmonie des gesamten Kosmos verleiht. Die Gesundheit des Menschen in allen Dimensionen seiner Existenz ist für Avicenna dann erreicht, wenn er durch Vervollkommnung seiner intellektuellen Fähigkeiten zur dauerhaften Betrachtung des Vgl. Schipperges (1987), 13. Vgl. Avicenna, The Canon of Medicine, Book I, Part I, Thesis I, 1. The Definition of „Medicine“, n. 6 (ed. 1930), 25. 22 Mit dieser Auffassung des teils theoretischen, teils praktischen Charakters der Medizin folgt Avicenna der Auffassung der zweiten medizinischen Autorität der griechischen Antike, nämlich Galen. Vgl. Strohmaier (1999), 109 f. 23 Vgl. Schipperges (1987), 34 f. 20 21

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Göttlichen gelangt ist. 24 Die solcherart verstandene Genesung ist kein passiver Prozess, sondern das Ergebnis einer metaphysischen Reise, d. h. eines Aufstiegs zur Transzendenz, der nicht auf Kosten einer gesunden Leiblichkeit geschieht, sondern diese vielmehr als unabdingbares Fundament voraussetzt. 25 Heilung in jedem Sinne setzt die Bereitschaft des Menschen zu Bewegung und Veränderung voraus, kulminiert jedoch idealerweise in der möglichst ununterbrochenen Schau der transzendenten Wirklichkeitssphäre, in der das menschliche Erkenntnisstreben zur Ruhe kommt. Die von Avicenna formulierte Therapeutik von Leib, Seele und Geist versteht Gesundheit als immanentes Gleichgewicht zwischen sämtlichen Teilbereichen und Dimensionen der menschlichen Existenz. Das Mittel der Wahl zur Krankheitsprophylaxe wie auch zur Behandlung bereits ausgebrochener Krankheiten besteht folglich in erster Linie in einer Diätetik, die die gestörte Balance von innen heraus wiederherstellen soll, und nur in zweiter Linie in der Verabreichung bestimmter Arzneien oder der Durchführung chirurgischer Eingriffe durch den Arzt. 26 Daher gilt ihm unter anderem auch die Einsamkeit als geeignetes Heilmittel, insofern sie den Menschen von allen heterogenen, äußeren Einflüssen isoliert und dadurch hilft, die ursprüngliche Ordnung der durcheinandergeratenen Seelenkräfte wiederherzustellen. 27 Gesundung geschieht also nicht in erster Linie durch äußere Einflüsse oder gar die Zuführung körperfremder Substanzen, sondern durch die vom Menschen selbst zu vollbringende Wiedergewinnung des ihm angemessenen inneren Existenzrhythmus’. Die Auffassung, dass Krankheit Ausdruck einer gestörten inneren Harmonie des Menschen ist, spiegelt sich unter anderem darin wider, dass Avicenna der Musiktherapie eine zentrale Bedeutung für die Heilkunde zuschreibt. 28 Im Vorwort zu seinem medizinischen Lehrgedicht stellt er bezeichnenderweise den Dichter als den „Fürsten des Wortes“ und den Arzt als den „Heiler des Leibes“ nebeneinander und legt dar, dass so, wie die Eloquenz des ersteren die Seele erfreut, die therapeutischen Bemühungen des letzteren die körperliche Gesundheit wiederherstellen. 29 In dem Maße, wie die Dichtkunst von Rhythmus, Reim und sprachlicher Harmonie geprägt ist, muss folglich auch die Medizin danach streben, den ganzen Menschen wieder in ein harmonisches Gleichgewicht zu bringen – also nicht ein bestimmtes, objektiv fixierbares „Was“ zu bekämpfen, sondern ein verfehltes, unausgewogenes „Wie“. Vgl. Avicenna, Das Buch der Genesung der Seele III 1 (ed. 1960), 28 f. Vgl. Ibnou-Zahir (2010), 191. 26 In Avicennas Kanon der Medizin steht die Sektion über die Diätetik, durch die man die Gesundheit bewahren kann, vor der Sektion über die Therapeutik, und auch innerhalb dieses letztgenannten Abschnitts gehen die Ausführungen über die Ernährung und allgemeine Lebensweise des Kranken den Abschnitten über die medikamentöse, manuelle und chirurgische Therapie voraus. Vgl. Avicenna, The Canon of Medicine, Part III: The Preservation of Health, nn. 678–904 (ed. 1930), 357–459; ebd., Part IV: General Discourse on the Treatment of Medicine, n. 905 (ed. 1930), 461: „The subject of treatment comprises three headlines: that of the regimen and diet, that of the use of medicines, and that of manual and operative interference“. 27 Vgl. Ibnou-Zahir (2010), 190. 28 Vgl. Schipperges (1987), 35; Strohmaier (1999), 103. 29 Vgl. Avicenna’s Poem on Medicine (ed. 1963), 15. 24 25

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2.2 Das dialektische Selbstverständnis des Philosophenarztes Angesichts der von Avicenna verfochtenen Konzeption einer vollendeten Gesundheit, allseitigen Harmonie und physisch-metaphysischen Vollendung des Menschen mutet es umso seltsamer an, dass seine eigene Lebensweise in diametralem Gegensatz zu den von ihm selbst formulierten Grundsätzen steht. Auch nach der Heilung von seinen intellektuellen Zweifeln und Schwierigkeiten lebt er keineswegs nach dem Grundsatz weiser Ausgewogenheit und diätetischer Mäßigung, sondern als ausschweifender, dem Wein und anderen Sinnesfreuden ergebener Genussmensch, 30 der die physischen Folgen seiner Exzesse durch nicht weniger drastische Gegenmaßnahmen zu behandeln sucht und so seine Gesundheit zusätzlich schwächt. 31 Dadurch wird die Beziehung zwischen Medizin und Philosophie um eine Metaebene bereichert, die sich aus dem Hiatus zwischen den explizit geäußerten Thesen eines Denkers und der verborgenen physiologisch-existentiellen Motivation seines Standpunktes ergibt. Avicenna hat diesen impliziten Widerspruch nicht eigens thematisiert, doch scheint es legitim, ihn auf die darin liegenden philosophischen Konsequenzen hin weiterzudenken. Die Nichtbeachtung der vom Arzt aufgestellten Gesundheitsregeln mit Blick auf seine eigene Person wird unter der Prämisse verständlich, dass der Begriff der Krankheit nicht univok definiert ist und daher auch nicht in jedem Fall dieselben therapeutischen Maßnahmen erfordert. Auf einer ersten Stufe wird die Heilung noch als Beseitigung von Zweifel und Disharmonie verstanden, die als Anzeichen einer krankhaften geistigen und körperlichen Grundhaltung gelten. Auf einer zweiten, höheren Ebene beweist sich jedoch die gesunde Konstitution des Philosophen gerade darin, dass er stark genug ist, um gegebenenfalls auf die als Harmonie und Mäßigung verstandene Gesundheit zu verzichten und mit sich selbst und seinen Kräften verschwenderisch umzugehen. Der schon in der Antike bekannte und häufig zitierte Spruch „Arzt, heile dich selbst“ 32 genügt also nicht, um die Glaubwürdigkeit Avicennas als philosophischen Therapeuten in Zweifel zu ziehen, da Heilung als solche, im Gegensatz zum Geheiltsein, keinen Zustand, sondern einen dynamischen Prozess beschreibt, der durchaus von Krisen und spannungsgeladenen Übergängen zwischen gegensätzlichen Extremen bestimmt sein kann. Die Identität des Philosophenarztes beruht allein darauf, dass er um die Zusammenhänge zwischen seiner physischen, seelischen und intellektuellen Gesundheit weiß und darum besorgt ist. Das besagt jedoch noch keinesAufgrund seiner Zugehörigkeit zur hanafitischen Schule des Islams lehnt Avicenna den Genuss alkoholischer Getränke nicht grundsätzlich ab, rät aber zu mäßigem Konsum (vgl. Strohmaier [1999], 24; Avicenna, The Canon of Medicine, n. 1105 [ed. 1930], 539 sowie Avicenna’s Poem on Medicine [ed. 1963], 56). 31 Vgl. Schipperges (1987), 9. 32 Der Ursprung dieses Zitats wird bisweilen Aischylos zugeschrieben, doch ist diese Provenienz fraglich, da die Authentizität des Theaterstücks Προμηθεὺς Δεσμώτης (Der gefesselte Prometheus), aus dem dieser Spruch stammen soll, umstritten ist. In jedem Falle scheint es sich bei diesem Zitat um ein Gemeingut des antiken Denkens zu handeln. So tadelt etwa Cicero in seinen Epistulae ad familiares die malos medicos, qui in alienis morbis profitentur tenere se medicinae scientiam, ipsi se curare non possunt (Cicero, Epistulae ad familiares IV 5, 5 [ed. 62004], 194). Im Neuen Testament wird dieser Spruch sogar von Jesus selbst zitiert, und zwar bezeichnenderweise beim Evangelisten Lukas, der von Beruf Arzt war (vgl. Lk 4,23). 30

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wegs, dass die konkrete Verwirklichung dessen, was für ihn Gesundheit bedeutet, sich mit der Lebensform decken muss, die der Gesundheit anderer Menschen förderlich ist. Die tiefste Krankheit des Menschen, die geheilt werden muss, ist vielmehr der Zweifel an der unveräußerlichen Individualität der eigenen Existenz und der daraus folgenden Autonomie im Hinblick auf die Wahl der Lebensführung. Vor diesem Hintergrund verlieren die Begriffe „Gesundheit“ und „Krankheit“ ihre feststehende Bedeutung als objektive Zustandsbeschreibungen eines belebten Organismus und werden vielmehr zu Synonymen verschiedener Perspektiven auf das Leben, denen gegenüber der Mensch nochmals in freier Weise Stellung beziehen kann. Der von Avicenna praktizierte exzessive Konsum von Wein und anderen die Gesundheit schwächenden Reiz- und Genussmitteln kann vor diesem Hintergrund als die logische Konsequenz seiner Auffassung der Heilkunde gedeutet werden, die wesentlich auf dem Gedanken der Selbstverantwortung und Selbstbestimmtheit des Patienten beruht. Da die Heilung im eigentlichen Sinne nicht von außen kommt, sondern jeder Mensch durch eine ausgewogene, vernünftige Lebensweise seine eigene Gesundheit bewahren und wiederherstellen soll, bedarf es letztlich des Arztes als heterogenen Elementes nicht. Indem sich die Gestalt des Heilkundigen, wie in Avicennas Fall, durch exzessiven Konsum toxischer Substanzen wie Alkohol und starke Arzneimittel die Gesundheit ruiniert, wird der in der ärztlich verordneten φαρμακεία (pharmakeia) liegende Aspekt der Heterogenität auf sich selbst zurückgewendet und dadurch aufgehoben. Der sich selbst durch gesundheitsschädigende Substanzen zugrunde richtende Arzt ist in diesem Sinne die Negation der pharmazeutischen Negation und somit die dialektische Verdeutlichung der Tatsache, dass der Kranke im Grunde nie durch äußere Faktoren wie Medikamente oder ärztliche Interventionen, sondern nur durch sich selbst und aus sich selbst heraus gesundwerden kann. Darüber hinaus kann man Avicennas gesundheitsschädigender Lebensweise aber auch eine rein innerphilosophische Deutung abgewinnen, umso mehr, als er sich selbst in erster Linie als Philosoph und erst in zweiter Linie als Arzt versteht. 33 Von zentraler Bedeutung dabei ist, dass sich Avicenna mit Blick auf sein Metaphysikverständnis nicht ausschließlich auf Aristoteles stützt, sondern in mindestens ebenso hohem Maße auch platonisch-neuplatonische Denkfiguren verinnerlicht hat. In einem ersten Schritt konzipiert er die intellektuelle Erkenntnis nicht in Widerspruch zur physischen Gesundheit des Menschen, sondern begreift sie – gut aristotelisch – als integralen Bestandteil seiner ganzheitlichen Vervollkommnung und Harmonisierung, insofern sie ihn von geistiger Verwirrung und Verzweiflung zu heilen vermag. Krankhaft ist in Avicennas Augen lediglich die skeptische Auffassung, man könne zu keiner gewissen Erkenntnis über die Wirklichkeit gelangen. Die Philosophie kann den Menschen von dieser geistigen Pathologie kurieren, indem sie die Quellen möglichen Irrtums aufdeckt und den Weg zur Erkenntnis der Wahrheit ebnet, die in ihrer höchsten metaphysischen Ausformung göttlicher Natur ist. Gesundheit ist damit keine rein irdisch-innerweltliche Angelegenheit, sondern schließt

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Vgl. Strohmaier (1999), 124.

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auch die Verwirklichung des im Menschen liegenden transzendenten Potentials mit ein. In einer solchen anthropologischen Konzeption ist der Geist also nicht der Widersacher des Körpers, sondern wirkt an seiner ganzheitlichen Vollendung mit. Doch ist gerade der transzendente Charakter des Endziels menschlicher Existenz der Grund dafür, dass auch die innerweltlich-irdische Bedeutung von „Gesundheit“ als selbstregulierender, ganzheitlicher Harmonie nochmals relativiert und überstiegen werden muss. Im Buch der Genesung erörtert Avicenna die Glückseligkeit, die in der metaphysischen Erkenntnis Gottes als des höchsten geistigen Gegenstandes liegt, und geht der Frage nach, warum wir Menschen daraus in der Regel nicht den unendlich intensiven Genuss ziehen, den wir der Sache nach empfinden müssten. Zur Erklärung dieser Tatsache bedient er sich eines Vergleichs zwischen dem Zustand eines Kranken und dem Zustand des Menschen während dieses irdischen Lebens: So, wie das Geschmacksvermögen eines Kranken beeinträchtigt ist, so dass er an süßen Speisen keinen Gefallen findet, so wird auch der Metaphysiker durch seinen Körper daran gehindert, an der Erkenntnis der göttlichen Wirklichkeit das reine, absolute Wohlgefallen zu finden, das er angesichts der Erhabenheit seines Erkenntnisgegenstandes eigentlich haben müsste. 34 Das irdische Leben als solches entpuppt sich somit – in unüberhörbarer Anlehnung an die sokratisch-platonische Sichtweise – als eine „Krankheit“, von der wir erst durch den Tod geheilt werden müssen, um Gott unmittelbar geistig schauen zu können. Unter diesem Gesichtspunkt wird die Diskrepanz verständlich, die sich in Avicennas eigener Biographie zwischen der von ihm formulierten Einsicht in die Notwendigkeit eines harmonisch ausgewogenen, gesundheitsfördernden Lebenswandels und dessen praktischer Nichtumsetzung in seiner eigenen Lebensweise auftut: Für die meisten Menschen mag eine maßvolle, harmonische Ausgewogenheit der physischen, seelischen und geistigen Dimension ihrer Existenz richtig und angemessen sein; für den Philosophen ist jedoch, von einem höheren Standpunkt aus betrachtet, auch das irdische Leben in einem gesunden, intakten Organismus letztlich noch eine Krankheit, die ihn an der vollkommenen Schau Gottes hindert und von der er sich durch einen ruinösen Lebenswandel zu „kurieren“ sucht. Was „Gesundheit“ und „Krankheit“ heißt, kann somit nicht auf allgemeingültige Weise definiert werden, sondern bemisst sich nach der Bedeutung, die der einzelne Mensch „Der Genuß, der uns eigen ist, indem wir ein adäquates Objekt begrifflich erfassen, steht also höher als der Genuß, den wir erfahren, wenn wir ein adäquates Objekt sinnlich wahrnehmen. Beide lassen sich überhaupt nicht vergleichen. Jedoch trifft es sich manchmal, daß die erkennende Fähigkeit an dem Objekte, an dem sie sich erfreuen sollte, keine Freude hat. Dies jedoch ist durch andere akzidentelle Verhältnisse (nicht per se) herbeigeführt. In gleicher Weise hat auch der Kranke keine Freude an dem Süßen und verachtet dasselbe auf Grund eines anderen, akzidentellen Verhältnisses, das ihm zustößt. In gleicher Weise müssen wir unseren Zustand verstehen, so lange wir im körperlichen Leben bleiben. Denn es trifft sich, daß wir, wenn unsere Erkenntniskräfte zur aktuellen Vollendung im Erkennen gelangen, nicht denjenigen Genuß haben, den wir der Natur der Sache nach empfinden müssten. Der Grund dafür liegt darin, daß der Körper hinderlich ist. Wenn wir von dem Körper befreit wären, dann würden wir uns selbst erschauen, und unser Wesen würde die realen Wesenheiten der Dinge inbegrifflicher Weise erkennen und erschauen, wie auch ihre eigentlichen Schönheiten und die wahren Objekte des Glückes“ (Avicenna, Das Buch der Genesung der Seele VIII 8 [ed. 1960], 540; Hervorh. im Original).

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dem geistigen Streben nach dem Unendlichen im Zusammenhang seiner irdischen Existenz zumisst. 3. Die philosophische Bedeutung von Gesundheit und Krankheit bei Nietzsche Obwohl die mittelalterliche Scholastik Avicennas Werke eingehend und in sehr positiver Weise rezipiert hat, wurde der therapeutische Grundduktus seiner philosophischen Schriften im lateinischen Abendland so gut wie gar nicht wahrgenommen. Seine medizinischen Fachbücher genossen ebenfalls immenses Ansehen und wurden an den europäischen Universitäten bis ins 16. und 17., ja teilweise sogar noch bis ins 18. Jahrhundert hinein als Standardwerke der ärztlichen Ausbildung verwendet. 35 Die innere, untrennbare Verbindung zwischen Avicennas Ausführungen zur menschlichen Physiologie und Gesundheitslehre einerseits und seinen Schriften zur Kosmologie, Metaphysik und Theologie andererseits wurde jedoch beharrlich übersehen, 36 zumal die aristotelische Bestimmung der Metaphysik gerade die Trennung von der sinnlichen, materiellen Sphäre zur Grundvoraussetzung hat. Erst im 19. Jahrhundert hat mit Friedrich Nietzsche wieder ein Denker in ähnlich eindringlicher Weise wie Avicenna auf die untrennbare Verbindung der Philosophie mit der Leiblichkeit des Menschen im Allgemeinen und den Phänomenen der Gesundheit und Krankheit im Besonderen hingewiesen und die therapeutische Dimension des Denkens hervorgehoben. Dieser Umstand gewinnt umso größeres Gewicht, wenn man bedenkt, dass Nietzsches Überlegungen zu diesem Thema nicht einer rein philosophischen Sichtweise entstammen, sondern von lebenslang betriebenen naturwissenschaftlichen und medizinischen Studien begleitet wurden. 37 Auf den ersten Blick scheint es keineswegs selbstverständlich, eine solche Geistesverwandtschaft zwischen den beiden Philosophen zu postulieren; ist Nietzsche doch gerade ein erklärter Gegner jedes metaphysischen Denkens, das in der Anschauung einer wie immer beschaffenen jenseitigen Wirklichkeit zur Ruhe kommen will. Dennoch greifen seine allgemeinen Betrachtungen zum Thema Gesundheit und Krankheit sowie seine Auffassung vom Philosophen als „Arzt der Kultur“ gewisse Grundmotive auf, die dem antiken, mittelalterlichen und speziell avicennischen Verständnis einer philosophischen Therapeutik nahestehen und von Nietzsche mit Blick auf seine Konzeption einer allgemeinen Diagnostik des menschlichen Weltverhaltens im Allgemeinen und des philosophischen Denkens im Besonderen weiterentwickelt werden.

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Vgl. Schipperges (1987), 33; Strohmaier (1999), 124. Vgl. Caygill (2010), 194. Vgl. Schipperges (1975), 56.

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3.1 Die Pathologien des Vernunftdenkens Nietzsches Philosophie des Lebens ist oft dahingehend missverstanden worden, als setze er der traditionellen, am Ideal der Geistigkeit und begrifflichen Universalität orientierten Philosophie und Religion eine krude, vitalistische Leibverherrlichung entgegen. In Wirklichkeit sind seine zahlreichen, leitmotivisch immer wiederkehrenden Reflexionen zur Physiologie des Denkens und zur allgemeinen Diätetik und Hygiene des Lebens aber gerade kein Plädoyer für eine biologistische Engführung der Anthropologie und eine einseitige Verherrlichung der Gesundheit als Synonym einer kraftstrotzenden, unangefochten intakten Physis. 38 Vielmehr mutieren „Gesundheit“ und „Krankheit“ zu operativen Begriffen, die sich je nach Kontext auf bestimmte Grundsituationen des Lebens selbst, auf die künstlerische bzw. philosophische Auslegung dieser Zustände sowie auf die Art und Weise beziehen, in der der Mensch mit all diesen Phänomenen umgeht. Dementsprechend sind auch die Begriffe der Infektion, der Arznei, des Gegengiftes, des Narkotikums und ganz allgemein der Toxizität bei ihm nicht eindeutig definiert, sondern beziehen sich auf je charakteristische Ausprägungen des Wechselspiels zwischen Innen und Außen, in dem sich das Leben als solches vollzieht. 39 In Nietzsches Augen sind die verschiedenen Resultate künstlerischer und philosophischer Produktion stets Ausdruck und Auslegung eines leidvollen, schmerzhaften Extremzustandes des Lebens, nur dass dieser entweder in einer Überfülle oder in einem Mangel an Lebendigkeit bestehen kann. Im erstgenannten Fall besitzen die hervorgebrachten Werke den Charakter des freien Spiels und des dionysischen Überschwangs, im letztgenannten Fall fungieren die künstlerischen oder philosophischen Produkte als Komplement, Ergänzung, Heilmittel oder Palliativ für die Defizienzen des Schaffenden und besitzen somit therapeutische Funktion. 40 Dies ist an sich nicht illegitim; lebensfeindlich wird diese ästhetische oder philosophische Selbstbehandlung nur dann, wenn der Autor die ursprüngliche Lebensmotivation seines Schaffens nicht durchschaut und das, was für ihn persönlich ein angemessenes und legitimes Heilmittel ist, zu einer universal anwendbaren, ja für alle Menschen unabdingbaren Arznei erklärt. Nietzsche kritisiert an der antiken Auffassung des therapeutischen Grundcharakters der Philosophie vor allem zweierlei: zum einen, dass sie die zu vollbringende „Heilung“ auf die Seele des Menschen beschränkt, ohne die übrigen Dimensionen seiner Existenz zu berücksichtigen, und zum anderen, dass sie die zu erlangende Gesundheit in einem allgemeingültigen, univoken Sinne definiert. 41 So wenig es Letztlich ist in Nietzsches Augen der platonisch-christliche Gott gerade deswegen gestorben, weil er in einer allzu „vitalistischen“ Art und Weise verstanden wurde und nicht als dialektische Einheit von Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod. Vgl. dazu Charlonneix (2015), 116. 39 Vgl. Schipperges (1975), 136. 40 Vgl. Nietzsche, MA II.2, § 165 (KSA 2), 620; ders., FW, § 2 (KSA 3), 347. 41 „Gesundheit der Seele. Die beliebte medicinische Moralformel (deren Urheber Ariston von Chios ist): ‚Tugend ist die Gesundheit der Seele‘ – müsste wenigstens, um brauchbar zu sein, dahin abgeändert werden: ‚deine Tugend ist die Gesundheit deiner Seele‘. Denn eine Gesundheit an sich giebt es nicht, und alle Versuche, ein Ding derart zu definiren, sind kläglich missrathen. Es kommt auf dein Ziel, deinen Horizont, deine Kräfte, deine Antriebe, deine Irrthümer und namentlich auf die Ideale und Phantasmen deiner Seele 38

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eine universale Definition der Gesundheit gibt, so wenig kann die Frage, was jeweils als Arznei oder als zerstörerisches Gift zu gelten hat, durch eine universale Pharmakologie des Lebens beantwortet werden. Wenn die Vertreter des klassischen metaphysischen Denkens bzw. der mit dem Transzendenzgedanken operierenden Religion die Vorstellung einer absolut unveränderlichen Wahrheit und ein bestimmtes asketisches Lebensideal propagieren, dann ist das in Nietzsches Augen eine akzeptable therapeutische Maßnahme für ihre eigene, von Schwäche und Degeneration geprägte Existenz, doch nur, solange der Konsument der jeweiligen Arznei mit dem Produzenten identisch bleibt. 42 Wird dagegen die vom Transzendenzgedanken beherrschte Kunst und Philosophie wahllos von anderen Menschen eingenommen, erweist sie sich unter Umständen als schädlich und fungiert dann nicht mehr als Heilmittel, sondern als Gift, Rauschmittel bzw. Narkotikum, das die Betreffenden der Mühe enthebt, den Spielraum ihrer persönlichen existentiellen Stärke oder Schwäche auszuloten. 43 Schwache, labile Naturen mögen in der Vorstellung einer absoluten, widerspruchslosen Wahrheit ein wirksames Gegengift für ihr Leiden finden; für starke Naturen besteht das Gift hingegen darin, dass man ihnen einredet, das im Widerspruch liegende „Gegen“ sei als solches krankhaft und schädlich. Stärke und Schwäche sind in diesem Zusammenhang keine physischen Qualitäten, sondern bemessen sich nach dem Grad der Fähigkeit, mit der Erfahrung des physischen wie intellektuellen Krankseins umgehen und sie sich in produktiver Weise nutzbar machen zu können. Die Stärke eines kranken Philosophen zeigt sich folglich darin, dass er seine geistige Produktivität gerade nicht auf die Hervorbringung palliativ wirkender Denksysteme verwendet, um schneller zu gesunden, sondern fähig ist, auf den pathologischen Zwang zu rascher Genesung zu verzichten und in Ruhe guten Gewissens krank sein zu können. 44 Diese Fähigkeit, sich der Krankheit als eines Mittels der Erkenntnis und der Selbstwerdung bedienen zu können, bezeichnet Nietzsche auch als die „große Gesundheit“, da sie souverän über dem vermeintlichen Gegensatz von Gesundheit und Krankheit als konkret fassbaren Zuständen steht und beide Phänomene für ihre Zwecke einzusetzen vermag. 45 an, um zu bestimmen, was selbst für deinen Leib Gesundheit zu bedeuten habe. Somit giebt es unzählige Gesundheiten des Leibes; und je mehr man dem Einzelnen und Unvergleichlichen wieder erlaubt, sein Haupt zu erheben […], um so mehr muss auch der Begriff einer Normal-Gesundheit, nebst Normal-Diät, Normal-Verlauf der Erkrankung unsern Medicinern abhandenkommen“ (Nietzsche, FW, § 120 [KSA 3], 477; Hervorh. im Original). Vgl. dazu Huddleston (2017), 137. 42 Vgl. Nietzsche, MA II.2, § 83 (KSA 2), 589 f.; ders., ZGM, § 13 (KSA 5), 366; ders., ASZ I (KSA 4), 37. 43 Vgl. Nietzsche, MA II.1, § 159 (KSA 2), 443 f. 44 „Still-liegen und Wenig-denken ist das wohlfeilste Arzneimittel für alle Krankheiten der Seele und wird, bei gutem Willen, von Stunde zu Stunde seines Gebrauchs angenehmer“ (Nietzsche, MA II.1, § 361 [KSA 2], 523). Vgl. auch die Ausführungen zur positiven Bedeutung der durch Krankheit erzwungenen Muße in: ebd. I.5, § 289 (KSA 2), 234. 45 „Von dieser krankhaften Vereinsamung, von der Wüste solcher Versuchs-Jahre ist der Weg noch weit bis zu jener ungeheuren überströmenden Sicherheit und Gesundheit, welche der Krankheit selbst nicht entrathen mag, als eines Mittels und Angelhakens der Erkenntniss, bis zu jener reifen Freiheit des Geistes, welche ebensosehr Selbstbeherrschung und Zucht des Herzens ist und die Wege zu vielen und entgegengesetzten Denkweisen erlaubt –, […] bis zu jenem Ueberschuss an plastischen, ausheilenden, nachbildenden und wiederherstellenden Kräften, welcher eben das Zeichen der grossen Gesundheit ist, jener Ueberschuss, der dem freien Geiste das gefährliche Vorrecht giebt, auf den Versuch hin zu leben und sich dem

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Nietzsches Verständnis von intellektueller Redlichkeit setzt voraus, dass man sich nicht ein für allemal auf vermeintlichen oder tatsächlichen Überzeugungen und Gewissheiten zur Ruhe setzen darf, sondern stets bereit sein muss, diese abzulegen, sobald das eigene Selbstverständnis aus ihnen hinausgewachsen ist. Insofern ist das, was Avicenna als „Heilung“ im intellektuellen Sinne betrachtet hatte, nämlich die definitive Befreiung von der geistigen Verzweiflung angesichts der Schwierigkeit, eine gewisse, universalgültige Erkenntnis von der Wirklichkeit zu erlangen, für Nietzsche zunächst einmal ein Krankheitssymptom, das auf Stockung, Stagnation und Schwäche der sich perspektivisch auslegenden Lebensdynamik hindeutet. 46 Allerdings betrachtet er nicht den Begriff der Wahrheit an sich als pathologisch, sondern lediglich die Auffassung, das Ideal der universalen Wahrheit sei der sinnlichen Fluktuation des Lebens entgegengesetzt und existiere davon getrennt in einer wie immer „transzendenten“ Sphäre. 47 Aus diesem Grund ist Nietzsche bestrebt, die diversen Philosophien und die übrigen Erzeugnisse geistiger Produktivität als Ausdruck der individuell verschiedenen Krankheiten ihrer Urheber zu interpretieren. Die Wahrheit erweist sich damit selbst als ein Produkt des Lebens und nicht als sein Gegensatz. Gefährlich und potentiell „toxisch“ wird sie nur dann, wenn sie glaubt, losgelöst von ihrer ursprünglichen Entstehungsmotivation und -situation in universalgültiger Form existieren und allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen zu können. 48 Der Primat des Lebens ist bei Nietzsche folglich nicht gleichbedeutend mit einem Primat der physischen Gesundheit, sondern setzt die bleibende Polarität von Gesundheit und Krankheit sowie die Dynamik ihrer wechselseitigen Übergänge notwendigerweise voraus. In dem Maße, wie der Philosoph ein „Arzt der Kultur“ sein will, kann er sich folglich nicht ausschließlich auf die Seele konzentrieren, sondern muss alle Dimensionen der menschlichen Existenz in ihrer untrennbaren wechselseitigen Abhängigkeit betrachten. Allerdings lehnt Nietzsche die Vorstellung ab, dass der Philosoph im Anschluss an seine kulturelle Diagnostik auch ein allgemeines Heilmittel verschreiben könne, da dies der Einsicht in die radikal individuelle Bedeutung von „Gesundheit“ und „Krankheit“ widerspräche. Heilen kann sich nur jeder einzelne Mensch selbst, indem er herauszufinden versucht, was es jeweils für ihn bedeutet, gesund bzw. krank zu sein. Was somit in erster Linie therapiert werden muss, ist die irrige Auffassung, es gebe eine universalgültige, für alle Menschen

Abenteuer anbieten zu dürfen: das Meisterschafts-Vorrecht des freien Geistes!“ (Nietzsche, MA I, Vorrede, § 4 [KSA 2], 17 f.; Hervorh. im Original). 46 Vgl. Nietzsche, FW, Vorrede zur zweiten Ausgabe, § 2 (KSA 3), 348. 47 Zu diesem nicht kontradiktorischen, sondern dialektischen Verhältnis von Wahrheit und Leben vgl. Charlonneix (2015), 102. 113. 115. 48 „[J]edes vorwiegend aesthetische oder religiöse Verlangen nach einem Abseits, Jenseits, Ausserhalb, Oberhalb erlaubt zu fragen, ob nicht die Krankheit das gewesen ist, was den Philosophen inspiriert hat. Die unbewusste Verkleidung physiologischer Bedürfnisse unter die Mäntel des Objektiven, Ideellen, ReinGeistigen geht bis zum Erschrecken weit, – und oft genug habe ich mich gefragt, ob nicht, im Grossen gerechnet, Philosophie bisher überhaupt nur eine Auslegung des Leibes und ein Missverständniss des Leibes gewesen ist“ (Nietzsche, FW, Vorrede zur zweiten Ausgabe, § 2 [KSA 3], 348; Hervorhebung im Original).

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gleichermaßen förderliche Therapeutik des Menschseins. 49 Der Philosoph ist bei Nietzsche also gerade nicht jemand, der durch Verordnung bestimmter Behandlungsmaßnahmen die diversen Formen des körperlichen, seelischen und geistigen Leidens seiner Mitmenschen lindern will; 50 vielmehr besteht seine Aufgabe darin, darauf hinzuweisen, dass man dem Leiden nicht ausweichen soll und dies auch gar nicht braucht, da es einen positiven Stimulus des Lebens darstellt. 51 Gegen jene epidemisch ausartende Betriebsamkeit, die Arbeit, Fleiß sowie künstlerische und wissenschaftliche Produktivität zum grundlegenden Wertmaßstab menschlicher Existenz erklärt, 52 setzt Nietzsche das geduldige Ausharren im Prozess der Verwandlung, die von innen her am Menschen arbeitet und ihn umgestaltet. Die wahre Genesung ist eine Frucht der Muße, die die krankheitsbedingt erhöhte Sensibilität zu einer vertieften Erkenntnis der eigentlichen Motivationen von Werken und Handlungen zu nutzen versteht 53 und die mit dem Kranksein einhergehende Absonderung von der menschlichen Gesellschaft als Gelegenheit zur Selbstwerdung begreift. Da die innere Loslösung von bisherigen Ansichten und Gewissheiten stets eine Krise und Schwächung impliziert, sind es in Nietzsches Augen gerade die gesundheitlich Angeschlagenen, Gefährdeten und Labilen, die dazu prädestiniert sind, die Weiterentwicklung der Menschheit voranzutreiben, indem sie sich der Trägheit und dem Beharrungswillen, mit dem der physisch gesunde und robuste Mensch seinen Zustand zu perpetuieren sucht, entgegenstemmen. 54 Dieser Entwicklungsprozess ist grundsätzlich unabgeschlossen und mündet nie in eine bleibende Konsolidierung ein, sondern lebt davon, dass der Mensch nie zu lange in einem bestimmten Zustand verharrt, sondern je nach Situation Gesundheit und Krankheit in angemessener Dosierung als Arzneien und Reizmittel gegen innere Erschlaffung und Monotonie einzusetzen versteht. 55 Es geht also im körperlichen wie im geistigen Sinne nicht um die permanente Erhaltung eines vermeintlichen Idealzustandes, sondern um die Erhaltung der prozessualen Dynamik, die in einer ständig neu zu findenden Balance zwischen der „gesunden“ und der „kranken“ Perspektive auf das Leben besteht.

Vgl. Faustino (2018), 101 f. Vgl. Aurenque (2018), 133–139. 51 „Ich nahm mich selbst in die Hand, ich machte mich selbst wieder gesund: die Bedingung dazu – jeder Physiologe wird das zugeben – ist, dass man im Grunde gesund ist. Ein typisch morbides Wesen kann nicht gesund werden, noch weniger sich selbst gesund machen; für einen typisch Gesunden kann umgekehrt Kranksein sogar ein energisches Stimulans zum Leben, zum Mehr-leben sein“ (Nietzsche, EH, § 2 [KSA 6], 266; Hervorh. im Original). Vgl. dazu auch Faustino (2018), 98 f. 103. 52 Nietzsche, MA I.5, § 282 (KSA 2), 230 f. 53 Vgl. Nietzsche, MA II.1, § 356 (KSA 2), 522. 54 Vgl. Nietzsche, MA I.5, § 224 (KSA 2), 188; ebd. II, Vorrede, § 6 (KSA 2), 376. 55 „Es ist Weisheit darin, Lebens-Weisheit, sich die Gesundheit selbst lange Zeit nur in kleinen Dosen zu verordnen“ (Nietzsche, MA I, Vorrede, § 5 [KSA 2], 19). 49 50

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3.2 Die Topologie der Gesundheit: das menschliche Leben als Genesungsreise Aufgrund seiner Kritik an der traditionellen, transzendenzorientierten Metaphysik gibt es bei Nietzsche kein direktes Äquivalent zu dem von Avicenna beschriebenen Aufstiegsprozess des menschlichen Geistes zur intelligiblen Schau Gottes. Ebenso wenig empfiehlt Nietzsche jedoch ein Verharren auf dem jeweiligen geistig-seelischen Niveau, sondern entwirft ein anderes Modell der transformativen Bewegung, das jedoch irdisch-horizontaler Natur ist. Es ist auffallend, wie sehr Nietzsches Ausführungen zum therapeutischen Charakter des Reisens und des Ortswechsels den Ausführungen ähneln, die Avicenna in seinen medizinischen Lehrbüchern der Frage des Einflusses der geographischen und klimatischen Gegebenheiten auf die Gesundheit widmet. Da Nietzsche das „gesunde“ Leben gerade nicht als bloße Homöostase, sondern als Prozess der unablässigen Neuwerdung im beständigen Durchgang durch Gesundheit und Krankheit betrachtet, ist die häufige Ortsveränderung durch Reisen das Mittel der Wahl, um den inneren Genesungsprozess von außen her zu fördern. 56 In dem Maße, wie das Individuum in einer beständigen Wechselwirkung mit seiner Umgebung steht, werden die verschiedenen Stationen der Reise zu rhythmischen Knotenpunkten geistiger Veränderung und Erstarkung. Ist dieser wesentlich topologische Charakter des Lebens wie auch des Denkens einmal begriffen, wird die Erde als solche, auf der sich diese Etappen der Genesung vollziehen, zum Pharmakon par excellence, das seine heilende Wirkung gerade nicht durch Einnahme und restlose Assimilation entfaltet, sondern durch seine Eigenschaft, der Wechselwirkung zwischen Innen und Außen einen immer neuen Bezugsrahmen zur Verfügung zu stellen. 57 Philosophie als solche ist dann kein System unerschütterlich gewisser Prinzipien und Wahrheiten, sondern eine fast alchimistisch zu nennende Kunst der Transformation und Umwandlung seiner eigenen Krankheit in Erkenntnis. Nietzsche schreibt diesbezüglich: „Ein Philosoph, der den Gang durch viele Gesundheiten gemacht hat und immer wieder macht, ist auch durch ebenso viele Philosophien hindurchgegangen: er kann eben nicht anders als seinen Zustand jedes Mal in die geistigste Form und Ferne umzusetzen, – diese Kunst der Transfiguration ist eben Philosophie“ 58. Die heilsame Wirkung des philosophischen Wandlungs- und Umwandlungsprozesses vollzieht sich dabei in der unmittelbaren Interaktion zwischen der peripatetischen Dynamik denkerischer Existenz und ihrer Umgebung, ohne sich des Mediums literarischer Produktivität zu bedienen. Das Schreiben soll in Nietzsches Augen nicht Therapie, sondern Anzeichen bereits erfolgter Genesung und Selbstüberwindung, also gleichsam ein Reisetagebuch über bereits durchschrittene Entwicklungsstadien sein. Wo das Schreiben als solches zum Heilmittel degradiert wird, verwandeln sich die daraus entstehenden Veröffentlichungen rasch in buchstäblich „toxische Papiere“, die von der inneren Unausgeglichenheit, der Krankheit, dem Leid und dem Ressentiment des Autors Zeugnis ablegen und damit Gefahr 56 57 58

Vgl. Schipperges (1975), 161 f. 179. 198. Vgl. Nietzsche, MA II, Vorrede, § 5 (KSA 2), 375; ebd. II.2, § 188 (KSA 2), 634 f. Nietzsche, FW, Vorrede, § 3 (KSA 3), 349 (Hervorh. im Original).

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laufen, auch der Gesundheit der Leser zu schaden. 59 Da Genesung aber gerade Geduld und die Bereitschaft zum Abwarten voraussetzt, bedarf das Schreiben im eigentlichen Sinne stets einer gewissen zeitlichen und existenziellen Distanz, wenn das darin Niedergelegte nicht als reaktives Resultat widriger Umstände, sondern als aktiver Ausdruck spielerisch-freier Produktivität und tänzerischer Leichtigkeit erscheinen soll. 60 Nur unter dieser Bedingung ist das Geschriebene auch für einen weiteren Leserkreis von Bedeutung: Das nur Re-aktive bleibt an seine punktuelle Entstehungssituation gebunden und findet in ihr seinen zureichenden Grund wie auch die Grenzen seiner Relevanz; das spontan aus einer Überfülle Erfließende drängt hingegen über die Grenzen einer nur individuellen Lebensperspektive hinaus und entfaltet den grundlosen Spielraum freier Perspektivität als solcher. 61 Nietzsches dynamische Auffassung von Gesundheit verfolgt, ähnlich wie dies schon bei Avicenna der Fall war, einen vornehmlich diätetischen Ansatz, der auf immanente Selbstregulierung und die Herstellung eines immer neu zu bestimmenden Gleichgewichts zwischen Innen und Außen abzielt. Dennoch ist der pharmakologische Aspekt, der die allopathische Behandlung konkreter Erkrankungen durch die entsprechenden Gegengifte und Heilmittel vorsieht, in seinem Denken keineswegs abwesend. Er kommt dort ins Spiel, wo Krankheit und Gefährdung des Einzelnen keine bloß individuelle Bedeutung haben, sondern Begleitumstände einer universalrelevanten Suche nach größerer Wahrhaftigkeit sind. Diejenigen, die nach Erkenntnis streben, können als Einzelpersonen durchaus daran Schaden nehmen, so wie der Chemiker im Labor riskiert, sich gelegentlich an den Substanzen, mit denen er hantiert, zu vergiften oder zu verbrennen. Da die riskanten Bemühungen dieser Experimentatoren der Wahrheit aber insgesamt der Entwicklung einer besseren Kultur dienen, hat diese auch die Aufgabe, für das Vorhandensein entsprechender Heilsalben und Gegengifte zu sorgen. 62 Nicht der im Dienst der Erkenntnis Erkrankte oder Verunglückte hat selbst das Heilmittel hervorzubringen, sondern diejenigen, denen seine Arbeit letztlich zugute kommen soll. Auch für Nietzsche führt Philosophie demnach zu einer Transformation des Menschen, doch betreibt der Philosoph bei ihm – anders als der platonisch-aristotelisch geprägte Metaphysiker – diesen transformativen Prozess nicht zum Zweck der Erreichung seiner individuellen geistigen Glückseligkeit, sondern steht letztlich im Dienst einer grundlegenden Verwandlung des Menschseins insgesamt. Das Paradigma der Krankheit, Vergiftung und pharmakologischen Therapie wird damit zu einem Modell radikaler Individuation, das zugleich eine neue Form menschlicher Gemeinschaft hervorbringen soll. Der Rückzug des Philosophen von der Menge derjenigen Menschen, die dem Althergebrachten und Bekannten verhaftet sind, hat auf den ersten Blick den Charakter einer „krankhaften Absonderung“. „Man soll nur reden, wo man nicht schweigen darf, und nur von dem reden, was man überwunden hat – alles Andere ist Geschwätz, ‚Litteratur‘, Mangel an Zucht“ (Nietzsche, MA I, Vorrede, § 1 [KSA 2], 369). Vgl. auch ebd. II.1, § 152 (KSA 2), 441. „Seht mir doch diese Überflüssigen! Krank sind sie immer, sie erbrechen ihre Galle und nennen es Zeitung“ (ders., ASZ [KSA 4], 63). 60 Vgl. Nietzsche, MA I.9, § 611 (KSA 2), 346. 61 Vgl. Nietzsche, MA II, Vorrede, § 2 (KSA 2), 371. 62 Vgl. Nietzsche, MA II.1, § 13 (KSA 2), 385. 59

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Letztlich besitzt die krankheitsbedingte Erschütterung und Gefährdung aber einen stellvertretenden Sinn, der darauf abzielt, nicht nur das eigene, individuelle Sein, sondern das Menschsein als solches im Hinblick auf eine neue Form der Gesundheit weiterzuentwickeln und zu verwandeln. Die Bemühung um größere Wahrhaftigkeit bedarf allerdings eines kritischen Korrektivs, das sie daran hindert, sich in ihrem geistigen Medium festzusetzen und damit wieder in einen Zustand krankhafter Einseitigkeit zu verfallen. Als ein solches Korrektiv gegenüber der Erkenntnis fungiert die Kunst, 63 da sie kraft ihres wesentlich sinnlichen Charakters das schwebende, vollendet gelungene Vorbild jener „Einverleibbarkeit“ der Wahrheit darstellt, deren Grenzen der Denker in problematischer Weise an seiner eigenen Leiblichkeit experimentell zu erkunden sucht. 64 Die heilende Wirkung beruht jedoch auch hier nicht auf einer quasi-materiellen Assimilation des Kunstwerks, sondern im formalen Nachvollzug jenes tänzerischen Rhythmus’, in dem die Kunst die Erlösung der Wahrheit durch die reine Erscheinung zum Ausdruck bringt. Solcherart angewendet, fungiert die Kunst nicht als Narkotikum oder betäubendes Rauschmittel, sondern als eine Instanz, die das Extrem des denkerischen Schmerzes nicht negiert, sondern ihm in der Sphäre des Ästhetischen einen beweglichen Kontrapunkt setzt und ihn dadurch über sich selbst hinausspielt. Mit dieser Relativierung der Rolle der Philosophie beugt Nietzsche der Gefahr vor, die Gestalt des „Philosophenarztes“ in unrealistischer Weise zu überhöhen und dadurch in das menschliche Selbstverhältnis erneut eine Entfremdung hineinzutragen, die der individuellen Suche nach der je eigenen Gesundheit und Krankheit im Wege steht. Aus diesem Grunde kritisiert Nietzsche auch die Haltung jener Naturforscher und Mediziner, die aufgrund ihrer einzelwissenschaftlichen Qualifikation meinen, über ein besonderes Herrschaftswissen hinsichtlich der Wirklichkeit zu verfügen, das sie dazu berechtigt, auf die Philosophie herabzuschauen und sie für „überholt“ bzw. „widerlegt“ zu erachten. 65 Demgegenüber soll sich der Philosoph gerade nicht mit dem Gestus vermeintlicher Überlegenheit als wundertätiger „Heiler“ bzw. „Heilsvermittler“ aufspielen, sondern sich selbst vielmehr als „Armenarzt des Geistes“ verstehen, der seinen Mitmenschen zurückhaltend und unaufdringlich die richtigen Fingerzeige gibt, so dass sie von sich aus zur richtigen Einsicht gelangen, ohne sich hinterher dafür in Abhängigkeit von ihm zu wissen. 66 Die einzige philosophische „Therapeutik“, die in Nietzsches Augen statthaft ist, besitzt damit keinen inhaltlichen, sondern einen formalen Charakter; geht es doch nicht darum, die Menschen zu einer bestimmten, universalgültigen Einsicht zu führen, sondern

Vgl. Nietzsche, FW II, § 107 (KSA 3), 464 f. „Der Denker: das ist jetzt das Wesen, in dem der Trieb zur Wahrheit und jene lebenerhaltenden Irrthümer ihren ersten Kampf kämpfen, nachdem auch der Trieb zur Wahrheit sich als eine lebenerhaltende Macht bewiesen hat. Im Verhältniss zu der Wichtigkeit dieses Kampfes ist alles Andere gleichgültig: die letzte Frage um die Bedingung des Lebens ist hier gestellt, und der erste Versuch wird hier gemacht, mit dem Experiment auf diese Frage zu antworten. Inwieweit verträgt die Wahrheit die Einverleibung? – das ist die Frage, das ist das Experiment“ (Nietzsche, FW, § 110 [KSA 3], 471). 65 Vgl. Nietzsche, JGB VI, § 204 (KSA 5), 129 f. 66 Vgl. Nietzsche, MR V, § 449 (KSA 3), 271 f. 63 64

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nur darum, in ihnen jenes individuelle Selbstverhältnis zu wecken, das es ihnen erlaubt, sich auf je eigene, unveräußerliche Weise zur Wahrheit zu verhalten. 4. Schlussbetrachtung Am Ende dieser vergleichenden Betrachtung von Avicennas und Nietzsches Ansätzen einer philosophischen Therapeutik lassen sich zunächst zahlreiche bedeutsame Gemeinsamkeiten feststellen: Beide sehen Philosophie und Medizin in einer sehr engen wechselseitigen Verbindung und verstehen das, was „Gesundheit“ und „Krankheit“ bedeuten, nicht als ein objektives Etwas, sondern als innere Harmonie bzw. Disharmonie der verschiedenen Dimensionen menschlicher Existenz. Aus diesem Grunde nimmt bei Avicenna wie bei Nietzsche der pharmakologische Aspekt im Sinne der Einnahme äußerer Substanzen im Vergleich zur Diätetik und zur allgemeinen Lebensregulation eine untergeordnete Stellung ein. Auffallend ist auch, dass beide der Poesie, der Musik bzw. der Kunst allgemein eine heilende Kraft zuschreiben, die darauf hindeutet, dass Gesundheit sich nie nur auf physiologischer Ebene verwirklicht, sondern auch eine Harmonisierung des menschlichen Weltverhältnisses voraussetzt. Dementsprechend groß ist daher auch die medizinische Bedeutung, die sie dem geographischen Aufenthaltsort zuschreiben, so dass die Ortsveränderung durch Reisen zu einem wichtigen potentiellen Heilmittel wird. Beide Denker vertreten darüber hinaus die Ansicht, dass der Mensch nicht nur in leiblicher, sondern durch die Philosophie auch in geistiger Hinsicht geheilt werden muss und dass dies ein Prozess ist, den nur jeder einzelne aus eigenem Antrieb vollbringen kann. Auch wo gewisse Arzneien – im wörtlichen wie übertragenden Sinne – als Reiz- oder Heilmittel erforderlich sind, geht es letztlich darum, die eigene Existenz von innen her zu verwandeln und umzuformen. Jeder Mensch ist folglich nicht nur Arzt und Kranker in einer Person, sondern ebenso auch Apotheker, der dazu angehalten ist, sein eigenes Leben zum chemischen, um nicht zu sagen alchimistischen Labor der Transformation zu machen, dessen Produkte gleichermaßen existenzielle Gefährdung wie Heilung bedeuten können. Allerdings – und hier wird ein bedeutsamer Unterschied zwischen Nietzsches und Avicennas jeweiliger Lebenspraxis sichtbar – gelingt dieser Vorgang umso besser, je nüchterner der Pharmazeut und Alchimist selbst ist. Nietzsche bemerkt dazu: „Mit den Werken der Kunst steht es wie mit dem Weine: noch besser ist es wenn man beide nicht nöthig hat, sich an Wasser hält und das Wasser aus innerem Feuer, innerer Süsse der Seele immer wieder von selber in Wein verwandelt“ 67. Geht es bei Avicenna letztlich darum, durch metaphysische Erkenntnis einen intellektuellen Aufstieg zu vollbringen, der in der Schau des Göttlichen gipfelt, und die endgültige „Heilung“ von der Krankheit des irdischen Lebens durch exzessiven Gebrauch von Alkohol und anderen Genussmitteln vorzubereiten, so ist Nietzsche bestrebt, den Philosophen den Geschmack am Irdischen zurückzugeben und sie vor einseitigen geistigen Überspanntheiten zu bewahren. Die sokratisch-platonische Auffassung, 67

Nietzsche, MA II.1, § 109 (KSA 2), 423.

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dass das Leben selbst im Grunde eine Krankheit ist, von der man geheilt zu werden wünscht, ist für Nietzsche paradigmatischer Ausdruck jener existenzverneinenden Grundhaltung, die letztlich in den Nihilismus führt. 68 Diese Grundposition erklärt letztlich auch den Unterschied in den jeweiligen philosophischen Methodologien: Während Avicenna in seinem Gesamtwerk die Medizin zwar in wissenschaftlicher Weise fasst, sie aber nicht direkt in den philosophisch-enzyklopädischen Zusammenhang des Buchs der Genesung einordnet, gibt es bei Nietzsche keinen systematisch begründeten Unterschied zwischen geistiger und leiblicher Heilung, zwischen Philosophie und Physiologie mehr. Sein Denkansatz schiebt gleichsam Avicennas Überzeugung von der großen gesundheitlichen Relevanz der Diätetik bzw. der Topographie und seine metaphysische These vom transformativen Charakter der geistigen Aufstiegsbewegung ineinander und macht die irdisch zu vollziehende Reise durch „unendlich viele Gesundheiten“ des Leibes zum Mittel der Wahl für die philosophische Gesundung der Seele und des Geistes. 69 Aus diesem Grunde wird bei Nietzsche die gelungene Selbstverwandlung des Menschen daran ablesbar, dass seine eigene Substanz nicht gänzlich und ausschließlich Pharmakon, also Mittel zur Heilung oder gar zur Erzeugung von rauschhaften Ausnahmezuständen geworden ist, sondern ebenso in unspektakulärer Weise als Medium zwischenmenschlicher Begegnung fungieren kann. „Bist du reine Luft und Einsamkeit und Brod und Arznei deinem Freunde?“ 70 lässt Nietzsche seinen Zarathustra fragen. Und in Morgenröthe heißt es: „Wie eine geringe Herberge sein, die Niemanden zurückstösst, der bedürftig ist, die aber hinterher vergessen oder verlacht wird! Nichts voraus haben […], sondern abgeben, zurückgeben, mittheilen, ärmer werden! Niedrig sein können, um Vielen zugänglich und für Niemanden demüthigend zu sein“ 71. Die eigentliche Apotheke des Menschseins, die der heilkundige Philosoph für seine Mitmenschen bereitzuhalten hat, ist der Raum der Freundschaft, der nicht nur und nicht einmal primär Ort wohldosierter φαρμακεία (pharmakeia), sondern auch und vor allem der Ort gastlicher Begegnung in der Unscheinbarkeit des Alltäglichen ist. LITERATURVERZEICHNIS Ahern, D. R. (1995), Nietzsche as Cultural Physician, Pennsylvania. Aristoteles, Metaphysik (2 Bd., gr./dt.; übers. von H. Bonitz, hg. von H. Seidl), Hamburg 31989/31991. – Nikomachische Ethik (übers. von E. Rolfes, hg. von G. Bien), Hamburg 41985. – De respiratione, in: Parva naturalia (hg. und übers. von W. D. Ross), Oxford 1955. – De sensu, in: Parva naturalia (hg. und übers. von W. D. Ross), Oxford 1955. Aurenque, D. (2018), Die medizinische Moralkritik Friedrich Nietzsches. Genese, Bedeutung und Wirkung, Wiesbaden. Vgl. Nietzsche, FW IV, § 340 (KSA 4), 569 f. Vgl. dazu auch Ahern (1995), 77–84. „Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du ‚Geist‘ nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft“ (Nietzsche, ASZ I [KSA 4], 39). 70 Nietzsche, ASZ I (KSA 4), 72. 71 Nietzsche, MR V, § 449 (KSA 3), 272. 68 69

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– (2016), „Nietzsche und die ‚unzählige[n] Gesundheiten des Leibes‘“, in: O. Friedrich, D. Aurenque u. a. (Hg.), Nietzsche, Foucault und die Medizin, Bielefeld, 23–37. Avicenna, Das Buch der Genesung der Seele (ed. 1960), übers. von M. Horten, Frankfurt a. M. – The Canon of Medicine (ed. 1930), übers. von O. Cameron Gruner, London. – Avicenna’s Poem on Medicine (ed. 1963), übers. von H. C. Krueger, Springfield (Ill.). Blumenberg, H. (1973), Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Frankfurt a. M. Caygill, H. (2010), „Medicina Mentis: Medicine and the Origins of Modern Philosophy“, in: D. Westerhof (Hg.), The Alchemy of Medicine and Print, Dublin, 193–213. Charlonneix, L. (2015), „Le grand bouleversement dans l’allure Vitale de la connaissance. La dialectique nietzschéenne de la santé et de la maladie et la volonté de vérité à l’aphorisme 344 du Gai Savoir“, in: Revue de métaphysique et de morale 85, 97–120. Cicero, Epistulae ad familiares / An seine Freunde (ed. 62004), lat./dt., hg. und übers. von H. Kasten, Düsseldorf. – De finibus bonorum et malorum / Über die Ziele des menschlichen Handelns (ed. 1988), lat./dt., hg. und übers. von O. Gigon und L. Straume-Zimmermann, Berlin. – Tusculanae disputationes / Gespräche in Tusculum (ed. 21998), lat./dt., hg. und übers. von O. Gigon, Düsseldorf / Zürich. Faustino, M. (2018), „Nietzsche’s Therapy of Therapy“, in: Nietzsche-Studien 46/1, 82–104. Hippocrates, On Ancient Medicine (ed. 2005), übers. von M. J. Schiefsky, Leiden / Boston. Homer, Ilias (gr./dt., hg. und übers. von H. Rupé), Berlin 2014. Huddleston, A. (2017), „Nietzsche on the health of the soul“, in: Inquiry 60/1–2, 135–164. Ibnou-Zahir, I. (2010), „Philosophical regimen and problematic identity of the healer: Hippocrates to Avicenna“, in: D. Westerhof (Hg.), The Alchemy of Medicine and Print, Dublin, 179–192. Koch, B. (2006), Philosophie als Medizin für die Seele. Untersuchungen zu Ciceros ‚Tusculanae Disputationes‘, Stuttgart. Leonhard, J. (1999), Ciceros Kritik der Philosophenschulen, München. Longrigg, J. (1993), Greek Rational Medicine. Philosophy and Medicine from Alcmaeon to the Alexandrians, London / New York. Nietzsche, F., ASZ: Also sprach Zarathustra (KSA 4), hg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin / New York / München 1988. – EH: Ecce homo (KSA 6), hg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin / New York / München 1988, 255– 334. – FW: Die fröhliche Wissenschaft (KSA 3), hg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin / New York / München 1988, 343–465. – JGB: Jenseits von Gut und Böse (KSA 5), hg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin / New York / München 1988, 9–243. – MA: Menschliches, Allzumenschliches (KSA 2), hg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin / New York / München 1988. – MR: Morgenröthe (KSA 3), hg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin / New York / München 1988, 9– 331. – ZGM: Zur Genealogie der Moral (KSA 5), hg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin / New York / München 1988, 245–412. Platon, Timaios, in: Werke (in 8 Bd., gr./dt., übers. von F. Schleiermacher, bearbeitet von K. Widdra), Bd. VII, Darmstadt 21990, 1–210. – Politeia, in: Werke (in 8 Bd., gr./dt., übers. von F. Schleiermacher, bearbeitet von D. Kurz), Bd. IV, Darmstadt 21990. Schipperges, H. (1987), Eine „Summa Medicinae“ bei Avicenna. Zur Krankheitslehre und Heilkunde bei Ibn Sina [980–1037], Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse, Berlin / Heidelberg / New York. – (1975), Am Leitfaden des Leibes. Zur Anthropologik und Therapeutik Friedrich Nietzsches, Stuttgart. Seneca, De beata vita (ed. 2011), in: Schriften zur Ethik: Die kleinen Dialoge, lat./dt., hg. und übers. von G. Fink, Berlin, 388–457. – Epistulae morales ad Lucilium / Briefe an Lucilius II (ed. 2011), lat./dt., hg. und übers. von R. Nickel, Berlin / New York.

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Philosophie – Heilmittel oder Krankheit der Seele?

– De ira (ed. 2011), in: Schriften zur Ethik: Die kleinen Dialoge, lat./dt., hg. und übers. von G. Fink, Berlin, 96–309. – De otio (ed. 2011), in: Schriften zur Ethik: Die kleinen Dialoge, lat./dt., hg. und übers. von G. Fink, Berlin, 458–477. – De tranquillitate animi (ed. 2011), in: Schriften zur Ethik, lat./dt., hg. und übers. von G. Fink, Berlin, 478–551. Strohmaier, G. (1999), Avicenna, München. Institut für Historische Theologie Katholisch-Theologische Fakultät Universität Wien Schenkenstr. 8–10 A – 1010 Wien [email protected]

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Adorno und Cornelius Elena CORSI (Berlin)

Von der Transzendentalphilosophie des Lehrers Cornelius ist beim späteren Adorno wohl nicht mehr übriggeblieben als eine besondere Schärfung der Empfindlichkeit gegen den Anspruch des Subjekts, die Außenwelt ohne Rest seiner Herrschaft zu unterwerfen. Hartmut Scheible

Die Selbstdeutung Adornos führt oft dazu, dass der Positivismus als Widerpart der Dialektik gilt. Mein Aufsatz will hingegen versuchen zu zeigen: erstens, dass die positivistische Philosophie und das naturwissenschaftliche Denken des 19. Jahrhunderts so unreflektiert nicht waren, und zweitens, dass die Dialektik Adornos dem frühen deutschen Positivismus insofern zugehört, als sie sich aus ihm entwickelte. Sind hier offensichtlich die Unterschiede wesentlicher als die Gemeinsamkeiten, so setzt wiederum die Verschiedenheit auch eine gewisse Gemeinsamkeit voraus. Adornos Einstellung gegenüber dem Positivismus soll daher zunächst einmal vor dem Hintergrund seiner Studienzeit betrachtet werden, sowohl, um die Begründung der späteren Abkehr Adornos von den subjektiv-erkenntnistheoretischen Richtungen der Philosophie gerecht zu werden, als auch, um die tiefen Beziehungen zwischen seiner Erkenntnistheorie und dem psychologischen Neukantianismus eines Hans Cornelius herauszuarbeiten. Davon ausgehend, geht es im vorliegenden Aufsatz darum, mögliche Anknüpfungspunkte zwischen Cornelius’ Version des Neukantianismus und Adornos Diskussion einiger erkenntnistheoretischer Aspekte aufzuweisen. Dieses umstrittene Lehrer-Schüler-Verhältnis wirft somit eine weitere und vernachlässigte Frage auf: inwieweit ist die Kritische Theorie Adorno aus einem psychologischen Neukantianismus entstanden? Dabei handelt es sich nicht um die Frage der Kontinuität, sondern um das Problem der Herkunft von Adornos Philosophie aus Richtungen wie Empiriokritizismus, Neukantianismus und Gestaltpsychologie. 1

1 In diesem Beitrag werden folgende Nachlässe herangezogen: Max Horkheimer Archiv [MHA], Theodor W. Adorno Archiv [MWAA] und den Nachlass von Hans Cornelius an der Bayerischen Staatsbibliothek [BSB].

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Zur Diskussion: Berichte und Akten

1. Hans Cornelius zwischen Neukantianismus und Neopositivismus Cornelius wurde 1864 in Gräfelfing als dritter Sohn des Münchner Historikers Carl Adolf Cornelius und seiner aus dem Haus des bekannten Musil-Verlegers 2 herkommenden Frau Elisabeth Simrock geboren. Er wuchs in der ambivalenten Atmosphäre des bayerischen Bildungsbürgertums auf. 3 Seine Erziehung pendelte zwischen Wissenschaft und Kunst. Trotz seiner Neigung zur Musik studierte er zunächst Mathematik und Physik, wegen mangelnden musikalischen Gehörs. Doch immer wieder zog ihn seine Neigung zur Kunst. Als großer Bewunderer des Komponisten Peter Cornelius, des prominentesten Vorfahrens der Familie, bediente Cornelius sich möglicherweise der mnemotechnischen Methode, um sein Ohr für Musik zu bilden. Diese Methode war sowohl Ernst Mach als auch Christian von Ehrenfels bekannt: Daraus wird ersichtlich, warum Cornelius sich für die wissenschaftlich orientierte Philosophie entschied. 4 Er hatte es aber nicht leicht, seine akademische Karriere als Professor für Philosophie zu beginnen, denn sein erstes Habilitationsverfahren scheiterte ausgerechnet an „ungenügender philosophischer Vorbildung“ 5. Anschließend näherte er sich Carl Stumpf an, von dem er die ‚venia legendi‘ mit einer kritischen Arbeit über die Reduktion aller Urteile auf Existenzialurteile nach der Auffassung Franz Brentanos erwarb. 6 In Frankfurt am Main lehrte Cornelius. 7 als einziger Philosophieordinarius seit der Gründung der Akademie für Handels- und Sozialwissenschaften im Jahr 1910 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1929. Möglicherweise um sich der Auseinandersetzung mit dem Münchner Kollegen Theodor Lipps zu entziehen 8, übersiedelte er nach Ablehnung einer Stelle in Halle nach Oberursel, wo er sich ein Haus nach eigener Skizze errichten ließ, das unter dem Spitznamen ‚Villa Cornelius‘ als Treffpunkt unter Akademikern fungierte. 9 Darunter fanden sich Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka – in der Zeit, in der sie begannen, die grundlegenden Ideen der Gestaltpsychologie zu erarbeiten. Insbesondere mit Wertheimer unterhielt sich Cornelius gerne, so dass er schließlich einen regen Briefwechsel mit ihm eröffnete. 10 Über die Teilnahme Adornos an diesem Kreis gibt es jedoch keine Informationen. Feststeht, dass dieser als junger Student der Universität Frankfurt die folgenden Lehrveranstaltungen von Professor Cornelius besuchte: „Erkenntnistheorie“ und „Übungen für Anfänger zur Einführung in die Philosophie“ im SS 1921, „Prak2 H. Cornelius an O. Kindberg, 5. 12. 1942, BSB, Ana 352, Briefe von Hans Cornelius an verschiedene Adressaten. 3 Carl Adolf war Mitglied der Paulskirche und wurde später zum Bewunderer des ‚Eisernen Kanzlers‘. Umgekehrt war Hans ein Kritiker „des preußischen Militarismus“. H. Cornelius, „Außenpolitische Richtlinien für die Deutsche Linke“, BSB, Ana 352, Politik. 4 Peter Cornelius tritt in der Debatte um ‚Tongestalten‘ hervor. Mach (1886), 128 f.; Ehrenfels (1890), 149– 151; Cornelius (1893), 44. 5 Cornelius (1921), 86. 6 Cornelius (1894). 7 Cornelius (1921). 8 Rollinger (1991), 34, 54 [Anm. 11]; Martinelli (2000), 808–810. 9 Wiggershaus (1989), 59; Müller-Doohm (2003), 109; Abromeit (2011), 69; Emge (1948), 266. 10 BSB, Ana 352, Briefe an Hans Cornelius. Siehe auch: Cornelius (1921), 91.

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Elena Corsi, Adorno und Cornelius

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tische Psychologie (Ethik und Politik)“ im WS 1921, „Geschichte der neueren Philosophie bis Kant“ und „Erkenntnistheoretische Übungen“ im SS 1922 (daneben Adhémar Gelbs „Philosophische Übungen“), „Transzendentalphilosophie“ und „Erkenntnistheoretische Übungen (Seminar)“ im WS 1922, „Philosophische Propädeutik“ und „Übungen für Fortgeschrittene“ im SS 1923, „Einführung in die Philosophie und ihre Geschichte“ und „Übungen für Fortgeschrittene“ im WS 1923, „Übungen für Fortgeschrittene (philosophisches Seminar) im SS 1924. 11 Philosophisch gilt Cornelius als Eklektiker, weil er die verschiedensten Strömungen seiner Zeit zusammenführen wollte. 12 Seine „best pupils, students and friends in Frankfurt“ 13, Max Horkheimer und Friedrich Pollock, halten ihn generell für einen Positivisten 14, während Adorno seinen ‚alten Lehrer‘ als „äußerst scharfsinnigen Vertreter eines positivistisch akzentuierten Neukantianismus“ 15 noch präziser charakterisierte. Dabei räumte er ein, von Cornelius „wirklich außerordentlich viel gelernt“ 16 zu haben, „eigentlich in einer Zeit, in der [ihm] selber Hegel noch ungemein fremd war“ 17. Diesem merkwürdigen Geständnis fügte Adorno kurz vor seinem Tod noch Folgendes hinzu: [N]och fällt mir ein: unter all dem Unsinn, der in „alternative“ zusammengeschrieben war, stand, wenn ich mich recht erinnere, auch der Satz, „ich sei ein Schüler von Horkheimer“. Wir beide sind Schüler von Cornelius, haben kurz nacheinander, im Abstand von weniger als zwei Jahren, dort promoviert, sind seit 1922 miteinander befreundet. Vielleicht wäre es doch auch gut, wenn man noch diese Kleinigkeit richtigstellen könnte, vor allem weil sie zeigt, daß diese Bagage nicht einmal das ist, worauf sie so gerne sich herausspielen möchte: informiert. 18

So eine Aussage ist auf der Folie der Auseinandersetzung mit der 68er-Studentenbewegung zu betrachten und gegebenenfalls zu relativieren. Tatsächlich hatte Horkheimer Cornelius für sich und Paul Tillich für Adorno beansprucht. 19 Es soll nicht vergessen werden, dass Cornelius als Verfasser der Gutachten fungierte, aufgrund derer zuerst Walter Benjamin (1925) und dann Adorno selber (1928) bei ihren jeweiligen Habilitationsversuchen scheiterten. 20 Daraus lässt sich auf den ersten Blick ein Lehrer-Schüler-Verhältnis eher nur negativ als Abkehr von der akademischen Philosophie definieren. Sowohl der „Schüler von Rickert“ als auch der „Schüler von Cornelius“ 21 bewegten sich zwar ursprünglich in den Bahnen des Neukantianismus, wurden jedoch schließlich von der Universitätsphilosophie abgelehnt. Aber anders als sein Freund wird Adorno später zum Universitätsprofessor. Mehr noch: In der zweiten Nachkriegszeit wird er unerwartet zum Inhaber des 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

Adorno-Studienbuch, TWAA [Nach Hinweis von Michael Schwarz]. Jay (1973), 44; Pettazzi (1979), 44; Rollinger (1991), 33; Asbach (1997), 17 f. „Fragebogen. Military Government of Germany“, BSB, Ana 352, Politisch 1945. Dahms (1994), 23 f. Adorno (2016), 263. Adorno (2016), 266. Adorno (2016), 264. T. W. Adorno an R. Tiedemann, 2. 1. 1968, TWAA. Horkheimer (1985), 261–264. Lindner (1985), S. 324–326; Ewens (2003), 102. Benjamin (2000), 455.

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Lehrstuhls seines ehemaligen Doktorvaters. Die Frage ist nun: Was zeichnet die „Tradition dieses Katheders“ aus, bei der – wie Adorno sagte – „Horkheimer und [er] […] lernen mußten“ 22? Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Cornelius als Vertreter eines Kantianismus anzusehen ist, der sich bis auf Arthur Schopenhauer zurückführen lässt. Denn Schopenhauer hatte das Denken als Funktion des Gehirnes materialistisch erklärt und zugleich den Idealismus ethisch zugespitzt, obschon mit der These der Falschheit des Phänomens, die der Positivismus – mitsamt Cornelius – ablehnte. Das Bindeglied dieser Traditionslinie war die empirisch-transzendentale Lesart des Kantischen ‚Ich denke‘. Dieser Aspekt spielte zwar eine Rolle bereits in der Geschichte des Neukantianismus – bis in dessen realistische Versionen hinein. 23 Dennoch erhielt er erst um die Jahrhundertwende die wissenschaftlichen und ästhetischen Züge 24, so wie sie auch bei Cornelius vorkamen. Denn damals wurde es zunehmend anerkannt, dass es ein Verdienst der Kritik der Urteilskraft war, ethische und biologische Zweckmäßigkeit verbunden und somit das empirische Menschenbild der sogenannten ‚Vierten Kritik‘ vorbereitet zu haben. 25 Dieser Lesart zufolge bevorzugte Cornelius die erste Auflage der Vernunftkritik, wo Erwägungen noch enthalten waren, die 1787 abgeschnitten wurden, um die Spuren von empirischer Genesis aus dem Gedankengang zu verwischen. Die revidierte Fassung des Textes hatte Cornelius überzeugt, dass es selbst für Kant eine schwierige Aufgabe war, das Transzendentale vom Psychologischen in seiner rein apriorischen Erkenntnistheorie zu trennen. 26 Die Diskussion über eine mögliche Neubegründung des Kritizismus im Sinne einer „aus Kants längst noch nicht nach Gebühr gewürdigter Anthropologie“ 27 ist ab dem endenden 19. Jahrhundert mit der Entwicklung der Psychologie zu einer empirischen, reifen und eigenständig experimentell arbeitenden Wissenschaft eng verbunden. Diese empirisch-anthropologische Richtung bemühte sich um einen ‚dritten Weg‘ zwischen Neukantianismus und Positivismus. Ihre Vertreter wendeten sich daher sowohl gegen den ‚reinen‘ Idealismus als auch gegen den ‚vulgären‘ Materialismus. Auch Cornelius bewegte sich ganz offensichtlich in diese Richtung und gehörte insofern zur damals jüngsten Entwicklung der „dritten Reflektiertheit“ 28, so wie sie Ulrich Müller klar beschrieben hat. Umstritten ist vielmehr der Endpunkt dieser Traditionslinie. Tatsächlich kann Cornelius sowohl als Anreger der Gestaltpsychologie als auch als Vorläufer ihrer reaktionär-konservativen Fassung betrachtet werden. 29 Denn neben der ersten gab es noch eine weitere Gestaltschule: Die sogenannte Genetische GanzheitspsycholoAdorno (2016), 263. Köhnke (1986), 58–60. 24 Beiküfner (2003), 7–16. 25 Vanzago (2009), 109 f. 26 Cornelius (1926a), 32. Cornelius sah seine Aufgabe darin, synthetische Urteile a priori aus Erfahrung zu gewinnen. Adorno (1995), 48–50. 27 Adorno (1973b), 174. 28 Müller (1988), 7 f. 29 Martinelli (2000), 812, 824; Krueger (1953), 97; Ash (1995), 386. 22 23

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gie der Leipziger Schule, die in den 1920er Jahren vehement gegen Materialismus und Physikalismus der Gestalttheorie der Berliner Schule auftrat. 30 Deren Begründer, der Psychologe Felix Krueger, Ex-Assistent und ab 1910 Nachfolger Wilhelm Wundts, hatte früher in München bei Cornelius und Lipps studiert, um danach das Thema des Gefühls in den Mittelpunkt seiner holistischen Psychologie zu stellen und damit sowohl den Elementarismus Wundts als auch die angebliche Vernachlässigung der ‚Seele‘ seitens der Gestaltpsychologen zu attackieren. Durch ihre etwas spätere Übertragung der Gestaltauffassung auf das ‚Völkisch-Ganze‘ kam die Schule Kruegers Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre sogar dazu, öffentlich als Stützpunkt der frühen NS-Ideologie zu fungieren. 31 In der Tat wiesen Cornelius und Krueger Überschneidungen auf, so dass sie in der Debatte um die Dingtheorie quasi als Duo wahrgenommen wurden. 32 Allerding ist auch darauf hinzuweisen, dass Cornelius – trotz seiner späteren Anerkennung als Gründervater der Ganzheitspsychologie – mit dem vermeintlich direkten Nachfolger Krueger kaum korrespondiert hat. 33 Ob der Gegensatz zwischen Gestalt- und Ganzheitspsychologie in jenem zwischen Cornelius und seinen Frankfurter ‚Schülern‘ sich widerspiegelte, ist unklar. Tatsache ist, dass der Lehrer sich mit dem NS-Regime zu arrangieren suchte und dass Horkheimer darüber Auskunft erhielt. 34 Inwieweit er darüber informiert war, lässt sich nicht mehr erschließen. 35 Tatsächlich hatte Cornelius auf damals noch in der Luft schwebende Rassengesetze verwiesen, um sich von seiner jüdischen und dritten Frau scheiden zu lassen. Dabei scheute er sich nicht, von dem Vokabular des NS-Antisemitismus Gebrauch zu machen. 36 Seitdem war Cornelius Weltbürger und Pazifist und aus seinen Schriften ist gar keine rassistische Gesinnung herzuleiten. Sein Europabild war antinationalistisch geprägt 37 und als Progressist hatte er für eine sozialistisch tingierte Demokratie plädiert, wo der Fortschritt das Leben der Menschen von schwerer Arbeit entlasten könnte, um die Entfaltung der Persönlich-

Ash (1995), 325–412; Harrington (1996), 123–128. Graumann (1985); Harrington (1996), 177–181, 185; Plaum (1995). 32 Gelb (1911), 55 f.; Popper (2006), 232. 33 Im Cornelius-Nachlass sind nur eine Postkarte (14. 12. 06) und ein Brief (16. 2. 1942) Kruegers aufbewahrt. BSB, Ana 352, Briefe an Hans Cornelius. 34 Nach seiner Rückkehr nach München (1929–34 wohnte er in Stockholm, Herkunftsstadt seiner verstorbenen zweiten Frau) versuchte Cornelius, in die Reichskulturkammer einzutreten. In dieser Zeit sandte er Briefe an den Völkische[n] Beobachter (14. 5. 1945, 26. 5. 35, 14. 12. 1935 – Antwortdatum). BSB, Ana 352, Briefe an Hans Cornelius. Siehe auch: Dahms (1994), 25. 35 Als Cornelius 1947 Kontakt mit ihm wieder aufnahm, reagierte Horkheimer freundlich (29. 5. 1947) und plante, ihn zu besuchen (20. 9. 1947). BSB, Ana 352, Briefe an Hans Cornelius. Cornelius gab sich als „strongest adversary of materialism“, Anti-Marxist und „socialist“, wusste von Anfang an von der linken Gesinnung seiner Schüler. „Fragebogen. Military Government of Germany“, BSB, Ana 352, Politisch 1945. 36 „Ehescheidung (3. Ehe)“, BSB, Ana 352, Lebensdokumente von Hans Cornelius. Als „jüdisch versippt“ wurde Cornelius 1937 aus dem Vorlesungsverzeichnis der Universität Frankfurt gestrichen. Klötzer (1994), 136. Am 13. 06. 1942 wurde die dritte Frau Cornelius’, Friedericke Rosenthal, in die Vernichtungslager Sobibór deportiert [Quelle: Stolpersteine]. 37 Cornelius (1921), 92 f.; Cornelius (1919); H. Cornelius, „Paneuropa?“, BSB, Ana 352, Politik. 30 31

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keit zu ermöglichen. 38 Umso erstaunlicher klingen seine antisemitischen Aussagen um das Jahr 1935. 2. Gegen Husserl Als Doktorvater prägte Cornelius die allererste phänomenologische Studie Adornos, wenn dieser 1924 in seiner später mit ‚summa cum laude‘ bewerteten Dissertationsschrift Die Transzendenz des Dinglichen und Noematischen in Husserls Phänomenologie einen Vergleich zwischen Husserls Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913) und Cornelius’ Transcendentale[r] Systematik (1916) zog, um die Theorie seines Lehrers in Schutz zu nehmen und die scharfen Einwände des Vaters der Phänomenologie zu widerlegen. Um dies zu unternehmen, brachte Adorno ihre jeweils reine bzw. transzendentale Phänomenologie auf den „ursprünglich[en]“ Nenner der „deskriptive[n] Psychologie“. 39 Husserl hatte diese Bezeichnung in der ersten Auflage seiner Logische[n] Untersuchungen zwar benutzt 40, aber 1903 zurückgewiesen 41, um jedes Missverständnis unter ‚Psychologisten‘ wie Cornelius 42, denen er den Kampf ansagte, zu vermeiden. Dennoch erweist sich die vergleichende Analyse Adornos als plausibel: Überschneidungen zwischen den beiden Gegnern gab es sowohl in biographischer als auch in systematischer Hinsicht. Die wichtigste davon war der Einfluss Carl Stumpfs, aus dessen „Tonpsychologie“ heraus Cornelius „teils zustimmend, teils anknüpfend“ seinen holistischen Ansatz entwickelte. 43 Dadurch wurde er indirekt auch vom Denken Brentanos beeinflusst. 44 Cornelius schätzte außerdem den Mathematiker Karl Weierstrass 45 und kam relativ spät zur Systematisierung bzw. zu einer zunehmenden Auseinandersetzung mit der Kantischen Transzendentalphilosophie. Zusammen mit Husserl teilte er schließlich auch die Ablehnung einer erklärenden bzw. kausalen Psychologie. 46 Aufgrund ihrer Gemeinsamkeiten wird verständlicher, warum Horkheimer damals berichten konnte, dass „Husserl selbst [ihm] erklärt hat[te], dass

Cornelius (1897), 375–381; Cornelius (1921), S. 100 f.; Cornelius (1923); Cornelius (1928); H. Cornelius, „Die Erlösung der Menschheit“, BSB, Ana 352, Angefangene Arbeiten; H. Cornelius, „Sociale Logik. Grundlagen der staatsbürgerlichen Erziehung“, BSB, Ana 352, Politik. 39 Adorno (1973a), 11. 40 Husserl (1901), 16, 18, 19, 21. 41 Husserl (1913c), XIII. 42 Husserl (1900), 203; Husserl (1901), 223–225; Husserl (1913c), 207 f.; Cornelius (1906a); Cornelius (1906b). Dazu auch: Rollinger (1991); Rollinger (2008), 189–220. 43 H. Cornelius an O. Kindberg, 5. 12. 1942, BSB, Ana 352, Briefe von Hans Cornelius an verschiedene Adressaten. 44 Rollinger (1991), 53. Allerdings war Cornelius Kritiker des ‚Aktes‘ und insofern Vertreter einer ‚Inhaltspsychologie‘. Als Katalysator dafür: die Rivalität mit Lipps. Martinelli (2000), 809. 45 Cornelius (1921), 85. 46 Cornelius (1910). Im Jahr 1913 unterzeichnete Cornelius die in Logos veröffentliche „Erklärung gegen die Besetzung philosophischer Lehrstühle mit Vertretern der experimentellen Psychologie“. 38

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er in entscheidenden Punkten sich einig fühl[te] mit den Anschauungen [s]eines philosophischen Lehrers“ 47. In den Jahren vor seiner Umsiedlung war Cornelius zusammen mit Lipps ein Mitglied des Münchner Psychologischen Vereins. 48 Danach hatte er Horkheimer in Freiburg bei Husserl studieren lassen 49, was ein wichtiger Hinweis darauf ist, dass Cornelius nach seiner Entfernung von Lipps seine besten ‚Schüler‘ zum Studium der Phänomenologie ermutigte, um sie den angeblichen Psychologismus Husserls demaskieren zu lassen. 50 Es ist anzunehmen, dass Cornelius mit der phänomenologischen Bewegung in Verbindung bleiben wollte, ohne seinen psychologistischen Ansatz ändern zu müssen. Dies mag wohl der der Grund dafür gewesen sein, dass Adorno als Thema seiner Dissertation einen Gegenstand aus der Phänomenologie wählte. Dabei bewegte er sich ganz brav in dem Kontext der Transzendentalphilosophie seines akademischen Lehrers, nicht nur um diesen gegen den Gegner zu verteidigen, sondern auch um ihn näher an die Phänomenologie heranzurücken, mit dem Ergebnis, dass er, wie bereits in dem Vorwort formuliert, sich dem „Standpunkt“ des Doktorvaters ausdrücklich verpflichtete: An die ‚Transcendentale Systematik‘ und ihre Terminologie knüpfen wir an […]. Auch wo nicht ausdrücklich zitiert wird, besteht zwischen unserer Untersuchung und der ‚Transcendentalen Systematik‘ ein ohne weiteres ersichtlicher Zusammenhang. 51

Dass als Ausgangspunkt seiner Husserl-Studien die weitgehend ‚unreine‘ bzw. situierte sowie stark psychologisch ausgerichtete Transzendentalphilosophie von Cornelius gedient hat – die ‚Uneigentlichkeit‘ der transzendentalphilosophischen Phase Adornos hier einmal außer Acht gelassen 52 –, scheint allerdings die drei Jahrzehnte lang wiederholte Auseinandersetzung Adornos mit der Phänomenologie nachhaltig zu prägen. Denn bei genauerem Hinsehen hat Adorno bei dieser ersten Herausarbeitung einiger ‚antinomischer‘ Aspekte der ‚Dingtheorie‘ Husserls dem „wichtigste[n] seiner Bücher“ 53, der Metakritik der Erkenntnistheorie (1967), vorgegriffen. Ohne in eine detaillierte Textanalyse einzutreten 54, wird es im Folgenden genügen, auf die wichtigsten Parallelen zwischen der ersten und der letzten HusserlArbeit Adornos skizzenhaft hinzuweisen, um die These zu bekräftigen, dass Cornelius Adornos Husserl-Rezeption maßgeblich beeinflusste. Wir werden zuerst auf die erste Arbeit Adornos eingehen. Im Mittelpunkt der Analyse steht hier der Begriff der Gestaltqualität als „Auftreten zweier (oder mehrerer) Inhalte als Teilinhalte eines Bewusstseins“ 55, den Cornelius als Konstitutionsmerkmal der Bewusstseinseinheit deutet, um jede analytische Apprehensionseinheit Horkheimer (1987d), 97. Rollinger (1991), 34, 54. 49 Asbach (1997), 104; Abromeit (2014), 51. 50 Martinelli (2000), 810. 51 Adorno (1973a), 12. 52 Tiedemann (1973), 381; Scheible (1989), 38; Wiggershaus (1989), 98. 53 Tiedemann (1973), 386; Gehring (2011), 354. 54 Dazu siehe: Dallmayr (1976); Wolff (2006); Aoyagi (2013). 55 „Eben dieser Zusammenhang ist es […] durch den sich der Gesammtinhalt […] von der Summe der Merkmale seiner Teile unterscheidet“. Cornelius (1897), 119. 47 48

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und damit in Anlehnung an William James den psychologischen Atomismus zurückzuweisen, mit dem Argument Stumpfs, „dass wir von isolierten Teilen als solchen nicht nur keine Erfahrung haben, sondern sie uns nicht einmal vorzustellen im Stande sind.“ 56 Die dann folgende erste Husserl-Studie Adornos von 1924 knüpft daran an, um die Subjekt-Objekt-Spaltung in der Phänomenologie zu attackieren. Adorno vertritt die These, dass der absolute ‚Chorismos‘, die radikale Trennung zwischen sinnlicher und geistiger Welt, die Husserl gegen den Empirismus entwickelte, mitsamt seinem Lösungsversuch, nämlich der Verabsolutierung des Transzendentalbewusstseins 57, schlicht unhaltbar sei. Wie Jacobi und seine Nachfolger lehnte Cornelius den Begriff des Dinges an sich als Ursache der Erscheinungen ab. Im Zuge der Reflexion von Richard Avenarius, der die ‚Verdoppelung der Welt‘ in Form eines wissenschaftlich revidierten Immanenzdenkens spinozistischer Herkunft zu widerlegen suchte, stand Cornelius dem Dualismus zwischen ‚res cogitans‘ und ‚res extensa‘ polemisch gegenüber. Dementsprechend sollte es keine übersinnliche ‚Hinterwelt‘ geben, die als unerkennbare Ursache der Erkenntnis oder als absolut transzendenter Grund des von ihm gesetzten Bedingten fungierte, keine unüberbrückbare ‚Kluft‘ zwischen Leib und Seele, Stoff und Geist, Wirklichkeit und Ich. Denn charakteristisch an dem „Positivismus […] in seiner älteren Gestalt […] bis zu Ernst Mach“ 58, wie Adorno im Rückblick betont, war die Gebundenheit des Denkens in der natürlichen Einstellung. Dabei geht es um eine anti- bzw. nachmetaphysische Umdeutung der transzendentalen Apperzeption bzw. des Kantischen Apriori, die von Cornelius zwar empirisch, aber nicht empiristisch verstanden wurde. Die Arbeit an der 1924-Dissertationsschrift über Husserl wurde hauptsächlich von sechs Thesen getragen. Erstens kritisiert wird dabei „die Annahme der dinglichen Transzendenz“ 59. Dabei geht es um die Kritik der absoluten Transzendenz, die als Ursprung aller Erscheinungen zu gelten habe und die Husserl mit seinem Appell ‚Zurück zu den Sachen selbst‘ auf der Objekt-Seite stillschweigend voraussetze. Genauso „[w]ie für Kant“ sei daher „für Husserl das transzendentale Objekt ein X […]; bewußtseinsunabhängig und im transzendenten Ding vollendet gegeben.“ 60 Aber die „Setzung einer transzendenten Welt“ sei nicht nur an sich dogmatisch, sondern widerspreche zweitens auch „der Voraussetzung des Bewußtseins als der ‚Seinsphäre absoluter Ursprünge‘“ auf der Subjekt-Seite. 61 Infolgedessen spalte sich drittens die gesamte Subjekt-Objekt-Relation in zwei völlig unvermittelte Extreme 62, die Husserl in der Evidenz als Erlebnis wiederzuvereinigen beanspruche. Dagegen wandte unser ‚Cornelius-Schüler‘ Folgendes ein: „[W]ir vermögen Husserl nicht zu folgen, wenn er lehrt, es entspreche ‚jedem ‚wahrhaft seienden‘ Gegenstand Cornelius (1897), 117. Adorno (1973a), 35. 58 Adorno (2018), 100. 59 Adorno (1973a), 97. 60 Adorno (1973a), 71. Dieser Punkt kommt in der ersten Habilitationsschrift Adornos noch deutlicher zum Ausdruck: Adorno (1973b), 96 f. 61 Adorno (1973a), 17. Auf diese Weise überschreite die Phänomenologie sein Forschungsgebiet, nämlich den Erfahrungszusammenhang. Adorno (1973a), 36. 62 Adorno, (1973a), 36. 56 57

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die Idee eines möglichen Bewußtseins, in welchem der Gegenstand selbst originär und dabei vollkommen adäquat erfassbar ist‘. Originär kann ein Ding überhaupt nicht gegeben sein, sondern stets nur mittelbar“ 63. Eine solch widersprüchliche, zum einem naiv-realistische, zum anderen dogmatisch-idealistische, Auffassung von Erkenntnistheorie hänge viertens vom Atomismus 64 und fünftens vom Logizismus 65 der phänomenologischen Stellung zur ‚Gegebenheit‘ ab: Diese zerlege das Bewusstsein sechstens und abschließend in eine Summe einzelner ungebundener Akte, die allein durch die allumfassende Synthese der transzendentalen Apperzeption zu vereinigen seien. Da Husserl hier ganz im Sinne „der Brentanoschen Scheidung zwischen ‚Aktsinn‘ und ‚Akt‘“ 66 verfahre, vernachlässige er, dass die „Dinge […] nicht einzelne Erlebnisse, sondern Beziehungen zwischen“ 67 ihnen darstellen. Denn Dingliches ließe sich „durch das Ineinanderwirken der […] Faktoren unseres Bewußtseins“ erklären, so dass „das Erlebnis der Wahrnehmung eines […] Apfelbaumes […] keineswegs ein ‚schlichtes‘ […], sondern bereits ein sehr komplexes“ sei. 68 Wenn wir nun auf Adornos letzte Husserl-Studie kommen, so müssen wir feststellen, dass zwischen den beiden sich eine innere Verbindung ausmachen lässt. Wenngleich transformiert und nicht auf den ersten Blick mit dem transzendentalphilosophischen Rahmen der Dissertationsschrift abzugleichen, spielen die sechs Schwerpunkte der Dissertation immer noch eine tiefe – wenn auch untergründige – Rolle in der mehr als dreißig Jahre später veröffentlichten Metakritik. Zunächst einmal dient der erste Punkt der 1924-Dissertation ganz offensichtlich als Grundlage für die späte Kritik an Husserl als Restaurator der ‚prima philosophia‘, wie sie Adorno in der Einleitung zu seinem Buch programmatisch ankündigt. 69 Mit seinem früh formulierten Einspruch gegen die reine Subjektivität nimmt außerdem der zweite Punkt der Dissertation die erste Antinomie des Buches vorweg. 70 Darüber hinaus kommt der in dem Kapitel Spezies und Intention enthaltene Vorwurf über den fehlenden Sinn für die Vermittlung, der sich in der Adäquatheit zwischen der Präsenz eines Inhaltes und ‚seinem‘ Gegenstand niederschlägt, als dritter Punkt in der Dissertationsschrift sehr deutlich zum Ausdruck. 71 Noch dazu verweisen der vierte und fünfte Einwand auf den 1956 kritisierten Widerspruch zwischen der Überbietung transzendentaler Reflexion und dem Beharren auf ursprüngliche Unmittelbarkeit seitens Husserl, polemisieren erbittert gegen den Brentano-Husserl’schen Begriff des Noema als Erfüllungsakt 72 und antizipieren damit, was Adorno später als „medusenhaften Blick“ 73 gegenüber der abstrakt-statisch ‚meinenden‘ Intentionalität erklärt. 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73

Adorno (1973a), 69. Adorno (1973a), 31 f. Adorno (1973a), 66. Adorno (1973a), 48. Adorno (1973a), 34. Adorno (1973a), 45. Adorno (1970a), 14. Adorno (1970a), 93 f.; vgl. Adorno (1973a), 43. Adorno (1970a), 127. Adorno (1970a), 164, 220. Adorno (1970a), 218.

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3. Zur ‚Urgeschichte‘ der Verdinglichung Vor allem der letzte Punkt soll hier verhandelt werden, um zum Konzept der Verdinglichung zu gelangen, das für das Verhältnis der Kritischen Theorie Adornos zur Transzendentalphilosophie seines Doktorvaters zentral ist. Zu betonen ist, dass Adorno den Vorwurf der Verdinglichung des Bewusstseins bereits vorformuliert, indem er in der Studienzeit sich an die erkenntnistheoretische Debatte anschließt. Um sich die kulturelle Situierung dieses Konzeptes vor Augen zu führen, mag der Verweis auf eine weitere Gemeinsamkeit von Cornelius und Husserl erhellend sein. Es geht dabei um die Verbindung von Denken und Anschauung. Denn beide nehmen ihren Ausgangspunkt nicht von den Objekten der Physik, sondern von den gesehenen Objekten. Damit überarbeiteten sie einen Kernpunkt der Philosophie Kants: den transzendentalen Schematismus, wonach die Subjekt-Objekt-Relation weder auf den einen noch auf den anderen Pol reduziert werden sollte. Und hierzu verhalten sich Husserl und Cornelius nicht ganz anders. Entweder in die ‚Wesensschau‘ oder ins ‚Gedächtnisbild‘ übertragen, spielte die Differenz zwischen dem Denken und dem Gedachten in ihren jeweiligen Rückgängen zu Kant eine nur untergeordnete Rolle. „Es ist an der Zeit, die bloß negative Kritik durch den positiven Nachweis der Sachen zu ergänzen“ 74, kündigte Cornelius an. „Sagt ‚Positivismus‘ soviel wie absolut vorurteilsfreie Gründung aller Wissenschaften auf das ‚Positive‘, d. h. originär zu Erfassende, dann sind wir die echten Positivisten“ 75, erwiderte ihm Husserl. Wie zu erwarten ist, folgt Adorno während des Studiums dem immanenzphilosophischen Ansatz seines Doktorvaters im Hinblick auf die Frage nach der Beziehung zwischen den zwei wesentlichen „Formenlehre[n]“ 76. Die Unterscheidung zwischen Ding und Phänomen gilt ihm infolgedessen als Scheidung bzw. als „Zweiheit“ 77 – wie sie Horkheimer auch nannte – innerhalb der phänomenalen Welt. Dabei geht es um eine im Intentionalitätsprinzip verankerte Transzendenz in der Immanenz, die sich auf den Unterschied zwischen Erlebnissen der Klasse A (‚Dasein‘ der Erlebnisse) und der Klasse B (‚Nicht-Dasein‘ der Erinnerungen) stützt und insofern den Rekurs auf den persönlichen Bewusstseinszusammenhang benötigt. Die Transzendentalisierungsphase der Phänomenologie zeigt in besonderer Deutlichkeit, dass die differierenden Ausgangspositionen von Husserl und Cornelius an ihrer jeweiligen Stellung zu Brentano abzulesen sind. Als beharrlicher Kritiker des Aktbegriffes und des assoziationspsychologischen Konstrukts der Mannigfaltigkeit bei Brentano, interpretiert Cornelius die Schemata als ‚Gedächtnisbilder‘ und die Intentionalität als ‚symbolische Funktion‘. Dabei verbindet seine Lehre die Erkenntnis von etwas mit der Erinnerung an etwas genauso wie Gelb. 78

74 75 76 77 78

H. Cornelius, „Zum Problem der Philosophiegeschichte“, BSB, Ana 352, Angefangene Dokumente. Husserl (1913a), 38. Adorno (1973a), 55 f. Horkheimer (1987c), 34. H. Cornelius, „Über die Entwicklung des Zeitbegriffs“, BSB, Ana 352, Angefangene Arbeiten.

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Husserl erkennt zwar, dass das Bewusstsein sich auf ‚seine‘ Gegenstände durch die Erinnerung mittelbar beziehen kann. Seinem Antipsychologismus nach schlägt er aber einen anderen Weg ein: Um Objekt aufs Subjekt nicht zu reduzieren, spricht er sich gegen jede Bild-Zeichen-Theorie aus. 79 So sehr diese Kritik Adorno selbst beeinflussen wird, es ist daraus nicht notwendig, die Konsequenz zu ziehen, dass es sich dabei um Übereinstimmung handelt. Cornelius zufolge kritisiert Adorno den Anspruch auf unmittelbare Evidenz, nämlich die Möglichkeit, Dinge an sich in ihrer ‚leibhaftigen Gegenwart‘ adäquat zu erfassen, weil dies dann wiederum dazu führt, das gegenwärtige Erlebnis zu verabsolutieren. Er besteht darauf, dass die Wahrnehmung selbst den Rekurs auf das Gedächtnis einschließt. 80 Diesem Verständnis folgend, kann es daher keinen direkten Zugang zu Dingen geben: „Dinge sind uns nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar bekannt: Dinge sind nicht Erlebnisse.“ 81 Der Anspruch Husserls, das Wesen der Dinge unmittelbar zu erschauen, wird als problematisches Erbgut Brentanos verstanden, wonach „jenes Bemerken oder Wahrnehmen einen besonderen ‚Akt‘ fordert, der sich des Erlebnisses ‚bemächtigt‘“ 82, wie Cornelius kritisch gegen Husserl einwendet. Was Adorno viel später als ‚Dogma‘ des unmittelbaren Ursprungs bezeichnen wird, speist sich aus dieser frühen Kritik an der phänomenologischen ‚intentio recta‘. 1924 ist die Pointe in diesem Satz bereits angelegt: „Originär kann ein Ding überhaupt nicht gegeben sein, sondern stets nur mittelbar“ 83. Hier findet sich zwar schon das die gesamte Metakritik der Erkenntnistheorie durchziehende Motiv, dass nämlich die Evidenztheorie, die Husserl von Brentano übernimmt und weiterentwickelt, zur Verabsolutierung des gegenwärtigen Erlebnisses führt und damit die Präsenz der Dinge und deren ursprüngliche Gegenwart hypostasiert. Diese Problematik zeigt für Adorno, dass Husserl mit der Art und Weise, in der er die Dingtheorie entwickelt, gleichfalls dem naiven Realismus zu verfallen droht. In dieser Hinsicht bleibt er wiederum Cornelius näher, indem er auf die konstitutive Rolle des subjektiven Zeitablaufs hinweist: „Jede Rede von der Wirklichkeit des Dinges, die sich nicht im Zusammenhang des Gegebenen ausweist, ist metaphysische Spekulation oder naturalistisches Vorurteil.“ 84 Den Kategorien liegen die vor-kategorialen Erlebnisse bzw. Gegebenheiten zwar auch für Cornelius zugrunde. Bei seiner Aktauffassung vernachlässigt aber Husserl, dass Bedeutungen im Laufe der Zeit erlernt werden. Aufgrund dessen neigt er dazu, die Sprache so zu fetischisieren, wie es bei seinen bedeutendsten Nachfolgern geschieht. 85 Ganz im Gegenteil betont Cornelius den genetisch-prozesshaften Charakter des Erkennens, indem er die Begriffsbildung einerseits auf die Tradition zurückführt, andererseits als Resultat der Auseinandersetzung des Einzelnen mit seiner

79 80 81 82 83 84 85

Adorno (1973a), 24. Adorno (1973a), 29. Adorno (1973a), 26. Cornelius (1906b), 27. Adorno (1973a), 70. Adorno (1973a), 68. Adorno (2002), 86–88.

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Umwelt und althergebrachten Vorstellungen ansieht. Seiner Ansicht nach sind Geltung und Genesis zwar zu differenzieren, aber nicht zu trennen. Die Einnahme einer solchen Perspektive ist jedenfalls nicht nur dem Empiriokritizismus, sondern den Untersuchungen Adolf von Hildebrands geschuldet, der das Ding als Zusammenhang des Gegebenen bzw. als Theorie ‚seiner‘ möglichen Erscheinungen beschreibt. 86 So zeigt sich für Cornelius am Beispiel der Kunsterfahrung, dass so etwas wie eine völlige Adäquatheit zwischen Wahrnehmung und Wahrgenommenem tatsächlich nicht existieren kann. Kein Ding ist so, wie es tatsächlich existiert, unmittelbar auch für das Auge gegeben […]. Wir können das Ding in jedem Augenblick nur von einem Standpunkt und von einer Seite her betrachten. Wollen wir es von verschiedenen Standpunkten, aus größerer oder geringerer Entfernung und von verschiedenen Seiten sehen, so müssen wir jedesmal der neuen Ansicht die vorher gesehenen opfern. Wir können uns der letzteren alsdann noch erinnern, aber wir sehen sie nicht mehr. 87

Adornos später ausgeführte Kritik an dem einen identischen Rot, an dem Allgemeinen, das Husserl an einem individuellen Gegenstand erblickt 88, speist sich aus der Verdinglichungstheorie seines Lehrers, der die Wesensschau als Hypostasierung ansieht. Cornelius vertritt die Auffassung, dass das Auge den gegenwärtig sinnlichen Eindruck „unvermerkt“ 89 kontrolliert, weil „alles, was wir […] von dem Dinge wissen oder zu wissen meinen, uns nur durch […] Erinnerungen an frühere Erfahrungen bekannt ist und […] zu jener Erscheinung hinzugedacht wird als etwas, was nicht etwa jetzt erlebt, sondern erst […] erwartet wird.“ 90 Aus diesem Gedankengang ergibt sich, dass das von Husserl in seiner ‚leibhaften Gegenwart‘ betrachtete Ding sich als Produkt einer „falsche[n] Objektivation“ 91 erweist, die dann eintritt, „wenn man […] das unmittelbar Gegebene fälschlich verdinglicht, d. h. ein mittelbar Gegebenes statt des unmittelbar Gegebenen unterschiebt.“ 92 In seiner Dissertationsschrift greift Adorno dieses Motiv auf: das Streben Husserls, dem Wesen der Sache unmittelbar habhaft zu werden, hat „zur Neigung geführt, alle Gegenstände sofort zu verdinglichen.“ 93 Denn es lässt sich mit Cornelius schlüssig sagen, dass die Wahrnehmung eines Dinges nicht unmittelbar entstehen kann. 94 Deshalb dürfen Begrifflichkeiten nicht unmittelbar abgeleitet werden, wenn man nicht den Fehler begehen will, ewige Wesenheiten aus flüchtigen Erlebnissen herauszuschauen, als ob die ‚Fülle‘ der Wirklichkeit von den Kategorien des Verstandes in Fesseln gehalten werden könnte. Und wenigstens in diesem Punkt ist und bleibt Adorno trotz der gegensätzlichen Ansichten und Herangehensweisen mit dem experimen-

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Hildebrand (1918), 2. Cornelius (1908), 14. Adorno (1970a), 104 f. Cornelius (1926b), 117. Cornelius (1926b), 89. Cornelius (1906b), 24. Cornelius (1926b), 117. Adorno (1973a), 29. Cornelius (1906a), 408.

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tellen Psychologen Wertheimer einer Meinung: „daß weder er noch […] ich an solche ‚Schächtelchen‘ geglaubt haben.“ 95 Damit ist aber für Adorno auch das Programm der Gestalttheorie an seinem naiven Realismus gescheitert. In Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre kritisiert er als „Erbe der experimentellen Psychologie“ und anhand des Arguments der falschen Objektivierung ihre Tendenz, unmittelbare Daten als „Selbstgegebenheiten“ anzusehen. 96 Der Grund hierfür liegt eben darin, dass sie aus „Furcht von jeder Merkmalatomistik“, bzw. aufgrund ihres Kampfes gegen jeden ‚Rest‘ von Assoziationspsychologie die Erinnerungserlebnisse an den Rand drängt und allzu leicht Platz für eine unreflektierte Ontologie macht, indem sie dabei die Vorstellungsinhalte völlig übersieht. 97 Adorno gibt damit die Grundintention der Wissenschaftslehre Cornelius’ wieder, nach der Wahrnehmung und Wahrheit zu trennen sind, so wie sie von Horkheimer noch geteilt wird, indem er sich mit aufklärerisch-rationalistischem Pathos gegen jede Spielart von naivem Realismus richtet, dabei betonend, dass unmittelbare Gegebenheiten „jenseits der Sphäre von wahr und falsch“ liegen, da sie „mit dem Dasein seines Gegenstandes identisch“ 98 sind, während nur dort, wo sie sich nicht decken, „der Gegenstand dem Wissen ‚transzendent‘ ist, […] etwas wie […] Aufklärung gefordert“ 99 wird. Hier spüren Adorno und Horkheimer den Parallelen von Husserl und Köhler nach und stoßen auf die Forderung, die zwei Formenlehren nicht miteinander zu identifizieren. Evident ist hier, dass die ‚Cornelius-Schule‘ die Unterscheidung zwischen Phänomena und Noumena auf die Trennung von Dasein und Wissen von etwas zurückführt, um die Unvollständigkeit der Erfahrung zu retten. Ihnen zufolge liegt die Möglichkeit, „Neues“ zu erfahren, gerade in diesem kardinalen Unterschied, weil „das Gegebene selber […] ja einmalig und unwiederholbar schlechthin [ist]“, wie der junge Adorno pointiert. 100 Unter dem Einfluss von Cornelius soll die Verstärkung des sensualistischen Moments in der erkenntnistheoretischen Reflexion letztendlich dafür sorgen, dass die „Dinge an sich […] zu – wenigstens teilweise – unbekannten Gegenständen [werden]“ und somit auf uns immer wieder zukommen können, weil wir ja „die unbegrenzten Möglichkeiten solcher Erfahrung nicht vorauszusehen imstande sind“ und „die Möglichkeit neuer Erfahrung stets die Erkenntnis neuer Eigenschaften der Dinge in Aussicht stellt.“ 101 Vor diesem Hintergrund findet Adornos Auseinandersetzung mit der Wesensschau statt, die als fixierte Momentaufnahme des Neuen, nämlich als Verdinglichung der Objektwelt, so wie sie die Autoren der Dialektik der Aufklärung als „Mimesis […] ans Tote“ 102 später formulieren, kritisiert wird.

Adorno (2003), 209. Adorno (1973b), 227. 97 Adorno (1973b), 197. 98 M. Horkheimer, „Gegenstand der Psychologie nach Cornelius“, MHA. 99 Horkheimer (1987c), 34. 100 Adorno (1973b), 195 f. 101 Adorno (1973b), 64 f. 102 Horkheimer, Adorno (1989), 73. 95 96

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Diesem Ansatz folgend entsteht der Dingbegriff allein durch die Kombination von subjektiven und objektiven Faktoren. 103 Unter den ersten tritt die symbolische Funktion der Erinnerung hervor. Sie dient dazu, den Nexus der Sinnenwelt zu erfahren, ohne das Prinzip der Unabgeschlossenheit des Erfahrungszusammenhanges dadurch zu verletzen, dass man isolierte Daten als Sachen an sich hypostasiert. Kurzum: Die „Wahrnehmung eines Dinges“ kann niemals unmittelbar entstehen, weil nur die Erinnerung als subjektiver Faktor erklären kann, „[w]as es heißen soll, ‚eine Anschauung zur Wahrnehmung zu machen‘“ 104. Hier soll also die empirische Verstärkung des sensualistischen Moments in der erkenntnistheoretischen Reflexion Kantischer Herkunft in erster Linie dafür sorgen, dass die einzig mögliche Momentaufnahme des Neuen offenbleibt. Hinter diesem Anspruch bleibt Cornelius selbst jedoch weit zurück, wo er, im Anschluss an dem Empiriokritizismus, die dadurch herausdestillierten Gestaltqualitäten als transzendentale Formen versteht, von denen im Verlaufe der Zeit bzw. mit der fortschreitenden Erfahrung die unmittelbaren Wahrnehmungserlebnisse am Ende doch wohl weitgehend präformiert werden, weil das ordnende Denken seine Regel im Bewusstsein nach dem Selbsterhaltungsprinzip fassen muss – und zwar, indem es „uns dazu treibt, das Neue […] jederzeit unter das von unserem eigenen Dasein her bekannte Schema einzufügen.“ 105 In diesem Sinne sind wir letztlich gezwungen, die objektiven Faktoren bzw. die Eigenschaften der Dinge nach dem Ähnlichkeitsprinzip so zu ordnen, dass dieses Prinzip als „Urbild der Gestaltqualitäten“ 106 die kritisch-unterscheidende Bedeutung der Erinnerung schwächt und die Verdinglichung aufs Neue bekräftigt. Auf diesen Punkt werde ich am Ende des Aufsatzes ausführlicher zurückkommen, möchte aber zunächst feststellen, dass die hier vorgenommene Skizzierung der frühen Verdinglichungsdebatte einen Beitrag zur Entstehungsgeschichte eines Schlüsselbegriffs der Kritischen Theorie leisten kann. Demgegenüber steht die weitergehende Frage: Ist es sinnvoll und möglich, die Grundidee der Kritik Horkheimers und Adornos am verdinglichten Bewusstsein auf Cornelius’ Lesart der transzendentalen Formen als erinnerte Gestaltqualitäten und auf die daran anschließende Auseinandersetzung mit Husserls ersten Formulierungen des Begriffs der kategorialen Anschauung zurückzuführen? Eben das Denkmotiv des Verlusts der Erinnerung als transzendentale Bedingung der Wissenschaft ist nämlich eine der zentralen These der Dialektik der Aufklärung, wenn Adorno und Horkheimer im letzten Teil des Buches an die utopische Kraft der Erinnerung appellieren und gleichzeitig vor der vergegenständlichenden Kraft der Vergessenheit warnen, dabei behauptend: „Alle Verdinglichung ist ein Vergessen“ 107. Dieses Zitat wurde bekanntlich von Axel Honneth wieder aufgegriffen und im Vergessen der Anerkennung als primäre Beziehung zur inneren sowie äußeren Natur umgedeutet. Dabei wurde behauptet, dass aus der zitierten Stelle ein Vorrang des 103 104 105 106 107

Cornelius (1903), 66. Cornelius (1906a), 408; Cornelius (1926a), 74. Cornelius (1903), 22. Horkheimer (1987c), 48. Horkheimer, Adorno (1989), 255

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Anerkennens vor dem Erkennen herzuleiten sei. 108 Diese Deutung ist anhand unserer vorherigen Ausführungen diskussionsbedürftig. Denn auch wenn wir Honneth zustimmen in der stillschweigenden Annahme, dass die Dialektik der Aufklärung sich thematisch wohl als eine Abhandlung über die Verdinglichung lesen ließe 109, können wir nicht einsehen, wie Adorno mit dem Begriff der Anamnesis ein romantisches Primat der Lebenswelt gegenüber dem kapitalistischen System feststellen wollte. Den Anspruch, die Fülle der Realität zu erfassen, hat Adorno als Verdienst von Husserl und seinen Nachfolgern erkannt und mit der These vom Vorrang des Objekts gewürdigt. 110 Zugleich hat er aber auch eine nagende Kritik an der Phänomenologie geübt, deren Evidenztheorie zur Verabsolutierung von gegenwärtigen Erlebnissen und mithin zu einer Hypostasierung der Präsenz der Natur und deren ursprünglicher Gegenwart führe, als ob eine unvermittelte und unvoreingenommene Einstellung gegenüber Dingen und Menschen existiere und uns näher an deren Wahrheit führe, sei es in Form der wahren Praxis von Lukàcs, der Sorge von Heidegger oder der anteilnehmenden Anerkennung von Honneth. Dass wir nicht umhin kommen zu verdinglichen, dass wir nicht nicht konstruieren können im pejorativen Sinne der Verdinglichung, quasi a priori, das ist für Adorno eine Bestimmung des Subjekts, ein Zwangsmechanismus, den er als ihrer sich selbst vergessene Natur bezeichnet, wo jede Spur vom subjektiven Zwang verwischt wird. 111 4. Die gestalttheoretische ‚Wende‘ Trotz seiner Allgegenwärtigkeit in der Debatte um die Jahrhundertwende 112 rezipiert Adorno den Gestaltbegriff im engen Zusammenhang mit der Transformation der Erkenntnistheorie aufgrund der Tatsache, dass er in einer der Hochburgen der Gestaltpsychologie unter der Betreuung Cornelius’ studiert. Unter diesen Umständen wird er genötigt, die Ergebnisse ihrer Untersuchungen unter der Lupe von Cornelius’ Erkenntnistheorie zu betrachten. Vor diesem Hintergrund hat die gesamte Gestalttheorie nicht nur biographisch, sondern auch systematisch einen grundlegenden Einfluss auf Adornos Haltung gegenüber der Erkenntnistheorie ausgeübt. Spuren dazu sind vor allem in seinen Vorlesungen über die Erkenntnistheorie

Honneth (2005), 45. Thematisch wird die Verdinglichung im ersten Dialektik-Buch dadurch, dass sie mit dem Gesamtzivilisationsprozess übereinstimmt. 110 Schon der Terminologie nach. „Anerkennen“ wird von Husserl, „Wiedererkennen“ von Cornelius benutzt. 111 Auch wenn die Verdinglichungskritik Adornos in vieler Hinsicht von Husserl und Heidegger angeregt wird und deren Objektivismus und Ontologiekritik in seiner Kritik des Begriffs einfließen, deren autoritären Gestus, das Objekt als ein Ansicheseiendes zu betrachten und somit die Idee eines Erlebnisses der Wahrheit zu konzipieren, weist Adorno als Kult des Tatsächlichen und Verblendungszusammenhang zurück. Die Verherrlichung unmittelbarer Erfahrung liegt ihm fern, weil dadurch das Denken, das die Natur unweigerlich verdinglicht, ideologisch beanspruche, „Urerfahrung zu sein.“ Adorno (2003), 462. Erkennen heißt also identifizieren, verdinglichen, verfälschen. Reine Erfahrungen gibt es aber nicht. 112 Simonis (2001). 108 109

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(1956–7) auffindbar. 113 Um nur eine Stelle anzuführen, an der Adorno die erkenntnistheoretische Relevanz der gestalttheoretischen ‚Wende‘ auf den Punkt bringt: Wir können angesichts dieser Ergebnisse der Psychologie nicht so, wie es vor der Ausbildung der Gestalttheorie der Fall gewesen ist, ganz naiv die Welt in ein Chaos einteilen auf der einen Seite, und in eine Ordnung, die wir aufgeprägt haben, sondern wir müssen schon sagen, daß das Primäre, woran unsere Ordnungsfunktion sich betätigt, zwar von uns ein Konstituiertes ist, das heißt, etwas ist, was immer auch Bewußtsein, was immer auch Subjekt ist, zugleich aber auch bereits ein Objektives, also etwas, was uns mit einer bestimmten Struktur gegenübertritt, die wir nicht einfach brechen können, die wir nicht einfach mit der Gewalt unserer Kategorisierungen nach Belieben in unsere Ordnungsschemata übersetzen können, sondern nach der wir uns selbst in einem bestimmten Sinn auch bereits zu richten haben. 114

Der Nachweis dieses Zitats würde sicherlich genügen, um die Gestalttheorie und Adorno auf gewisse Weise in eine gemeinsame Tradition zu stellen, deren epistemologische Voraussetzungen sowohl in den ‚Tongestalten‘ Machs als auch in den ‚Verschmelzungsphänomenen‘ Stumpfs zu suchen sind. Diese prominenten Wissenschaftler bemühten sie sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr, die Grundlage für eine empirisch-ästhetische Erneuerung der klassischen InhaltForm-Problematik zu legen. Dabei machten sie sich vor allem eines bewusst: Dass die Euklidische Geometrie einerseits und das deduktive Vorgehen in der Mathematik andererseits in einer Krise steckte, die ihre Fundamente in Frage gestellt hatte. Dadurch erhielt die Kantische Lehre von Raum und Zeit wesentliche Schläge: 1873 widerlegt Stumpf den apriorischen Ursprung der Raum- und Zeitvorstellung und plädiert für eine psychologisch-erkenntnistheoretische Interpretation von Kants Werk. 115 Sein Ausgangspunkt ist die Beobachtung Herbarts, dass Kant seine Anschauungsformen aus der Geometrie gewinne, indem er die Musik vergesse. 116 Sowohl Cornelius als auch Adorno verfolgen diese Kritik am Ursprung der Anschauungsfunktionen. 117 Demzufolge scheint Kants Begriff der reinen Anschauung „wirklich ein[en] Denkfehler“ zu enthalten. 118 Adorno ist sich mit Stumpf einig, dass man sich weder einen Raum noch eine Zeit ohne empirisches Substrat, ohne Beziehung auf ein ‚Etwas‘, vorstellen kann. Die Grundlage der Vernunftkritik wird also durch den Nachweis eines Rezeptivitätselements widerlegt: Wenn die Einheit der Apperzeption von einem empirisch-zeitlichen Moment abhängt, dann gerät der transzendentale Geltungsanspruch und damit auch das Projekt einer transzendentalen Vernunftkritik ins Wanken. Adorno formuliert diese Aporie wie folgt: Kant selbst, der den begrifflichen Charakter von Raum und Zeit bestreitet, kommt doch nicht darüber hinweg, daß Raum und Zeit nicht vorgestellt werden können ohne Räumliches und Zeitliches. Insofern sind sie selber nicht anschaulich, nicht „sinnlich“. Diese Aporie er-

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Adorno (2018), 92–157. Adorno (2018), 138 f. Stumpf (1873), 12 f., 110, 115. Moro (2012). Cornelius (1926a), 38 f.; Adorno (1995), 343 f. Adorno (1995), 344. Hierzu ähnlich: Cornelius (1926a), 68.

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zwingt die kontradiktorischen Aussagen, dass einerseits Raum und Zeit „Anschauungen“ seien, andererseits „Formen“. 119

So lässt sich feststellen, dass die anthropologische, psychologisierte und holistische Perspektive, die Adornos Lehrer vertritt, wenn er den schroffen „Gegensatz von Materie und Form“ in der transzendentalen Ästhetik zurückweist 120, „Unklarheiten“ in dem Schematismuskapitel 121 sowie „Dunkelheiten“ 122 in der Vernunftkritik als „Kinderkrankheiten“ 123 denunziert und die Urteilstafel für „ein durchaus dogmatisches Element“ hält 124 (das alles unter dem Motto: „[E]s wird nichts ‚zusammengefaßt‘“ 125), eine Metakritik der Erkenntnistheorie implizit voraussetzt, wie sie Adorno später auch gegen ihn ausführen wird: Keine Materie ist von den Formen abzusondern. Dennoch aber ist die Form einzig als Vermittlung der Materie. In solchem Widerspruch drückt Einsicht in die Nichtidentität, die Unmöglichkeit sich aus, in subjektiven Begriffen ohne Überschuß einzufangen, was nicht des Subjekts ist; schließlich das Scheitern von Erkenntnistheorie selber. 126

Cornelius’ Verteidigung einer transzendental-empirischen Version von Neukantianismus mündet schließlich in die Feststellung Adornos, dass Erkenntnistheorie nicht mehr transzendental-idealistisch vertretbar ist. Der zentrale Gedanke seiner psychologisch angelegten Erkenntnistheorie, dass Anschauung als solche auf ein bestimmtes Objekt bezogen ist und insofern nicht nur ‚leer‘ anschaut, sondern einen bestimmten Gegenstand anschaut, wodurch sie phänomenal mitbestimmt wird, ordnet der Anschauung Spontaneität zu und widerlegt zugleich den positivistischen Anspruch auf ‚sinnliche Gewissheit‘, den die Erkenntnistheorie erhebt. Die Richtung ist schon vorgezeichnet und wird von Befunden der gestalttheoretischen Untersuchungen bekräftigt. Mit Cornelius beginnt man, sich der phänomenologischen Methode zu bedienen, um Phänomena als Anschauungen einer Ordnung der Dinge zu betrachten, statt nur auf sie hinzuweisen, als ob sie unzusammenhängenden bzw. flüchtige Erscheinungen und insofern Wirklichkeiten zweiten Grades wären. Damit fängt Erkenntnis nicht mehr mit dem zusammenhanglosen Mannigfaltigen an. Bei Cornelius ist Sinnlichkeit nicht mehr als ‚Volk‘ ohne ‚Oberhaupt‘, und zwar als Sinnlichkeit ohne Verstand, Mannigfaltigkeit ohne Einheit verstanden. Denn im Gegensatz zu Kant (sowie zu Stumpf) geht er einen „umgekehrte[n] Weg“ 127: „Unser Ausgangspunkt scheint mir der natürlichere, da ja in Wirklichkeit die complexen Adorno (1970a), 152. Cornelius (1926a), 35. 121 „In diesem dunkelsten aller Kapitel der Kritik soll den Kategorien, nachdem ihnen zuvor mit Gewalt und widerrechtlich jeder sinnliche Inhalt abgesprochen worden war, von neuem ein solcher gegeben werden: und zwar, da jeder empirische Inhalt eine ‚Verunreinigung‘ bedeuten würde, nur ein reiner Inhalt“. Cornelius (1926a), 76. 122 Cornelius (1926a), V. 123 Cornelius (1926a), 1. 124 Weil sie „aus der herkömmlichen Logik übernommen“ ist. Dabei ging er sogar so weit, vorzuschlagen: „die Tafel der Kategorien muß beseitigt werden“. Cornelius (1926a), 55, 58. 125 Cornelius (1926a), 63. 126 Adorno (1970a), 151 f. 127 Cornelius (1926a), 68. 119

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Inhalte das primär Gegebene sind, worin wir die Bestandtheile erst secundär erkennen.“ 128 Deshalb war bei ihm „das Ganze einschließlich der Beziehung der Teile ebenso unmittelbar gegebenen wie diese Teile selbst“ 129 und das Ding als transzendentaler Gegenstand keineswegs ein „bloßes X“ 130: Der Inhalt des Gegebenen erweist sich also als qualitativ strukturiert. In dieser Hinsicht liefert aber die Gestalttheorie weit über Cornelius hinaus einen „empirische[n] Befund […] von außerordentlicher Wichtigkeit“ 131, mit dem sie nichts weniger als die alte spekulative Phänomenologie des Geistes indirekt bestätigte, weil ihren erkenntnistheoretischen Ergebnissen zufolge Hegel Recht hatte, wenn er die Abbildtheorie und die Annahme eines ursprünglichen Bewusstseins ablehnte. Mit den Worten Adornos: Es handelte sich hier um Gedanken […], die auf dem Standpunkt eines […] in sich durchreflektierten Idealismus, nämlich bei Hegel, in vollem Umfang bereits entwickelt gewesen sind […], daß aber genau an dieser Stelle nun die einzelwissenschaftlichen Ereignisse in der Tat das vindiziert haben, was die große philosophische Spekulation hier einmal behauptet hat. 132

Doch die Untersuchungen Wertheimers hatten der Dingtheorie des Duos Cornelius-Krueger einen schweren Schlag versetzt. Nach ihnen (insbesondere durch Köhlers ‚Isomorphismus‘) wurde der Einheitssinn immer mehr als Eigenschaft natürlicher Wesen statt als Ausdruck menschlicher Innerlichkeit verstanden. Damit ging eine Radikalisierung der erwähnten Schwierigkeit einher. Und davor warnte der Cornelius-Assistent, der in den 1920er Jahren seinen ‚Mentor‘ dazu aufgefordert hatte, auf den sog. „gestalttheoretischen Einwand“ zu achten, da er „eine Aporie des Unmittelbar Gegebenen“ aufgewiesen hatte, die „ein prinzipieller Einwand gegen die Fassung des Bewusstseinsbegriffs in der Transcendentalen Systematik“ und eine „Spitze“ gegen „die gesamte historische Entwicklung des Bewusstseinsbegriffes“ war. 133 Mit aller Wahrscheinlichkeit lagen auch hier die Prämissen, aus denen der Übergang zur Dialektik folgte. 5. Gegen Lenin Cornelius’ Nähe zu Avenarius führt uns zu Lenins Kampfschrift Materialismus und Empiriokritizismus (1909). Darin bekämpft Lenin seine Reduktion der Dinge auf ‚Empfindungskomplexe‘ als Idealismus à la Berkeley und er beschimpft ihn deswegen als ‚Machisten‘ (einen „vom Lehrer anerkannten Schüler“): „Der Materialismus – so donnert dieser Wachtmeister auf dem Professorenkatheder, wollte sagen: der Schüler der ‚neuesten Positivisten‘ – verwandle den Menschen in einen Automaten. […] Der Schluß […] [seines] Buches lautet: Er bedarf der Erziehung […] 128 129 130 131 132 133

Cornelius (1893), 61. Cornelius (1926a), 36. Cornelius (1926a), 65; Adorno (1973a), 71. Adorno (2018), 137. Adorno (2018), 139. Horkheimer (1987c), 29.

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nicht nur zur Tätigkeit, sondern ‚vor allem‘ ‚der Erziehung zur Ehrfurcht – nicht vor den vergänglichen Werten einer zufälligen Tradition, sondern vor den unvergänglichen Werten der Pflicht und der Schönheit – vor dem Göttlichen in uns und außer uns‘“ 134. Lenins Aussagen richteten sich gegen Versuche einiger Genossen, Empiriokritizismus und Marxismus zu amalgamieren. 135 Cornelius nahm von der Polemik nichts auf. 136 Ein Anhänger der Theorien von Avenarius und Mach zu sein, bestritt er in einer Replik auf Husserl: „[A]lles, was in dieser Hinsicht über mich behauptet worden ist, gehört ins Gebiet der Legende. Mein Denken ging in ganz anderer Richtung“ 137. Damit ist widerlegt, dass Cornelius lediglich versuchte, sich gegen den Vorwurf des biophysikalischen Materialismus (Husserl), aber nicht gegen den des subjektiven Idealismus (Lenin) zu verteidigen. Dieses Vorurteil könnte daran begründet liegen, dass der Empiriokritizismus in Europa aufgrund seiner Nähe zu den biologischen und evolutionistischen Theorien von Darwin, Spencer und Nietzsche weitgehend unstrittig blieb, während er als angesehene, verbesserte Form von Materialismus in Russland unerwarteten Ruhm erntete, nicht zuletzt deshalb, weil er eine Art Teleologie enthielt, die mit den Gesetzen der Dialektik in Einklang gebracht zu werden schien. 138 Tatsächlich war Cornelius sowohl von Mach als auch von Avenarius stark beeinflusst 139 – mit letzterem teilte er sogar die Wiederaufnahme von Schopenhauers Denken. 140 Da er aber erkenntnistheoretisch verfuhr, nahm er zugleich einen gewissen Abstand sowohl von ihren empiristischen als auch von ihren materialistischen Zügen. Zwar erkannte er die materielle Bedingtheit der ‚Bewusstseinstatsachen‘ sicherlich von der Welt der Physik her, jedoch suchte er den physikalischen Reduktionismus sowohl der ‚harten‘ Naturwissenschaften als auch Machscher Provenienz, der dem Bewusstsein jede Bedeutung absprach, durch den Rekurs auf das Subjekt als verbindendes und geistiges Zentrum idealistisch zu ergänzen. Darauf hat Adorno in seinen Vorlesungen wiederholt hingewiesen, zum Beispiel in seiner Erkenntnistheorie:

Lenin (1971), 216 f. Zitat aus: Cornelius (1903), 357. In Bezug auf Conerlius’ Haltung gegenüber dem Materialismus siehe: Cornelius (1903), 115 f. 135 Verdino (1972), XIII. 136 Anders als Horkheimer: Horkheimer (1987e); Schmidt (1987). Es ist deshalb interessant, dass die beiden in derselben Zeit sich von dem ‚dogmatischen‘ Materialismus Cornelius’ spöttisch distanzierten. Kurz vor seiner Emeritierung hatte Cornelius eine Vorlesung über Probleme des historischen Materialismus (SS 1928) und einen Vortrag über Klassenphilosophie und reine Philosophie (26. 1. 1919) gehalten. Dahms (1994), 22. 137 Cornelius (1921), 85. 138 Verdino (1972), XIV. Noch dazu: Ewald (1905), 141. 139 Cornelius (1897), III-V. Speziell von Avenarius wurde dabei die sog. ‚Ausschaltung‘ der Introjektionslehre übernommen. Cornelius (1921), 86; Cornelius (1906a), 401 f. Aber sowohl die ‚toten Werte‘ Avenarius’ als auch die damit einhergehende Kritik der ‚Verdoppelung der Welt‘ spielten eine bedeutende Rolle in der ganzen Philosophie Cornelius’. Zahlreiche Zeitgenossen erkannten ihn als mehr oder weniger ‚orthodoxen‘ Anhänger des empiriokritischen ‚Standpunktes‘ : Rensi (1924), IV; Stern (1900), 131. Oskar Ewald wies diesbezüglich auf eine von Cornelius vollgezogene „Selbstaufhebung des Empiriokritizismus“ hin. Ewald (1905), 169–171. 140 Avenarius (1905), 72–74; Krauss (2015). 134

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Hier möchte ich wirklich das berühmte Argument Ihnen vortragen, das mein alter Lehrer Cornelius immer uns eingepaukt hat als Widerlegung des Materialismus, daß nämlich die Gehirnvorgänge deshalb nicht identisch seien mit den Tatsachen des Bewußtseins, weil wir ja, wenn wir etwa eine Farbe sehen, nicht etwa dabei die Gehirnvorgänge sehen, die sich da abspielen, sondern die Farbe blau oder die Farbe rot; daß also infolgedessen zwischen dem Inhalt von Bewußtsein und den psychisch notwendigen Bedingungen, die zu diesem Bewußtsein dazugehören, ein notwendiger Unterschied besteht. 141

Cornelius zufolge (der, „wie alle Idealisten, daraus nun einfach den […] Vorrang der Tatsache des Bewußtseins gefolgert [hat]“ 142) war die mechanisch-materialistische Auffassung („daß nichts existiert als die Materie und ihre Bewegungen“ 143) eine einseitige und insofern dogmatische Weltanschauung, die durch Erkenntnisse der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts widerlegt worden waren, indem diese eine Wechselbeziehung zwischen Geist und Natur bewiesen hatten. 144 Und gerade auch hier setzt die späte Kritik Adornos an Lenins ‚Diamat‘ an, wenn sie nämlich betont, dass „Brechts mündliche Äußerung, nach dem Buch über den Empiriokritizismus sei keine Kritik an der Immanenzphilosophie mehr notwendig, kurzsichtig war.“ 145 Adorno erkannte zwar als Anspruch, dass der revolutionäre Parteichef „anstatt in Erkenntnistheorie anzutreten […] die Verschworenheit des subjektiven Positivismus mit den powers that be dartun [wollte].“ Aber immerhin war ihm auch klar, dass Lenins „politisches Bedürfnis […] dabei sich gegen das theoretische Erkenntnisziel [kehrte]“, indem er gegen diese avancierte Erkenntnistheorie „zwanghaft wiederholend das Ansichsein der Erkenntnisgegenstände beteuerte“. 146 Mit seinem Beharren auf einen transzendenten bzw. ‚naiven‘ Realismus war Lenin Adorno zufolge nur gegen den, aber damit keineswegs über dem Empiriokritizismus, dessen Theorie „eine verfeinerte Formulierung der Kantischen Erkenntnistheorie“ bot. 147 Trotz seiner nachdrücklichen Kritik am sogenannten ‚identifizierenden Denken‘ kann man die Weigerung Adornos, sich als ‚Antikantianer‘ zu verhalten bzw. hinter Kant zurückzugehen, um auf diese Weise nur eine „aufgewärmte intentio recta“ 148 anzubieten und damit auch zu vorkritischen Positionen restaurativ zurückzukehren 149, als Erbe seiner ‚transzendentalen Phase‘ unter dem Einfluss Cornelius’ angesehen und in dem Satz „Objekt der Theorie ist kein Unmittelbares“ zusammengefasst werden. 150 Denn indem dieser sich zwischen Hume und Kant bewegt, um eine Synthese von beiden zu erzielen, pendelt er mit derselben Absicht zwischen Empiriokri141 Adorno (2018), 122. Siehe auch: Horkheimer (1987b), 117. Letzte Quelle der Erkenntnis waren für Cornelius die sinnlichen Wahrnehmungen. Dennoch identifizierte er nicht Geltung mit Genesis: Cornelius (1903), 117. 142 Adorno (2018), 122. 143 Cornelius (1903), 118. 144 Cornelius (1903), 120 f. 145 Adorno (1970c), 206. 146 Adorno (1970c), 205. 147 Adorno (2018), S. 280. Dazu benötigte man eher eine immanente Kritik, wie sie Adorno in der Metakritik der Erkenntnistheorie vollzog. 148 Adorno (1977b), 747. 149 Adorno (2002), 53 f. 150 Adorno (1970c), 206.

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tizismus und Neukantianismus: Bei ihm wird das Ich keineswegs als ‚unrettbar‘ wie bei Mach und trotzdem nicht als ‚logische Einheit‘ im Sinne der Schule Hermann Cohens verstanden. 151 Gegen die bloß empiristischen Tendenzen der Weber-Fechnerschen ‚Psychophysik‘ verteidigt er die Berücksichtigung des Ichs als „geistige[s] Band“ 152 als „einen Fortschritt Kants gegenüber Hume“. Damit will er den radikalen Skeptizismus des Empiriokritizismus korrigieren: Er möchte die Begriffe Ich, Kausalität und Ding retten, statt sie in ‚Empfindungskomplexen‘ oder in ‚E-Werten‘ zerfließen zu lassen. 153 Im Sinne dieses aufklärerischen Impulses, den er Cornelius zu verdanken hat, verbietet sich Adorno selbst, auf irgendeine Form von Subjektivität zu verzichten. Geprägt von seinem Lehrer sieht er die eigentliche Aufgabe (die ‚kopernikanische Wende‘) des Kritizismus in der Rettung der Objektivität „durch das Subjekt hindurch.“ 154 Damit verbietet er sich zugleich, hinter Wertheimer zurückzugehen. Denn „[i]n einer schlechthin Einen, unterschiedslosen, totalen Materie wäre keine Dialektik.“ Es war ein verhängnisvoller methodischer Irrtum des östlichen Materialismus, die erkenntnistheoretische Wende auf das Subjekt ‚übersprungen‘ oder gar als reaktionär abgestempelt zu haben: „Keine Theorie darf agitatorischer Schlichtheit zuliebe gegen den objektiv erreichten Erkenntnisstand sich dumm stellen. Sie muß ihn reflektieren und weitertreiben.“ Die Subjektrolle herunterzuspielen, nahm also die Etablierung der „Parteicheflinie“ als Orthodoxie vorweg. Eine von der Existenz des erkennenden Bewusstseins unabhängige Realität haben die Dinge nie. Deshalb häuften sich in diesem Zusammenhang die Einwände gegen die naive Lehre der ‚verdoppelten‘ Welt von Lenin: „Gedanke ist kein Abbild der Sache“; „Abbildtheorie verleugnet die Spontaneität des Subjekts“; „Abbildendes Denken wäre reflexionslos“. 155 Gegen Lenin hielt Adorno mit Cornelius fest, ‚Seelendinge‘ seien eben nicht ‚Simulacra‘ – Abbilder der Dingwelt: „Die aufklärende Intention des Gedankens, Horkheimer (1987b), 475. Horkheimer (1987b), 474. 153 Horkheimer fasste zusammen, was Cornelius mit Hume zeigte, dass „die Bedeutung der Begriffe des beharrlichen Dings, der Kausalität und der Persönlichkeit […] sich durch Rückgang auf Bewusstseinserlebnisse nicht befriedigend erwiesen“ ließ. Horkheimer (1987a), 151. Unter naturalistische Begriffe rubriziert Cornelius solche, die ihre Bedeutung via Definitionen gewinnen und daher einen Zirkelschluss enthalten: Begriffe durch Begriffe definieren, impliziere einen regressus ad infinitum und könne dem Sinn der bezeichneten Sachen nie gerecht werden. Cornelius (1921), 92. Adorno zollte dieser Auffassung in seinen Vorlesungen über Philosophische Terminologie einen gewissen Tribut, indem er bekräftige, dass „wir mit Definitionen in der Philosophie nicht auskommen“, um dann zu dem Schluss zu kommen, dass die „bessere und schlagendere“ Definition von Urteil von seinem ‚alten‘ Lehrer Cornelius stammt: „Urteil ist ein Tatbestand, auf den die Frage nach seiner Wahrheit oder seiner Unwahrheit sinnvoll angewandt werden kann“. Adorno (2016), 16 f. Siehe auch: Cornelius (1934). 154 Adorno (1995), 143. 155 In der Variation bestand die Eigenschaft empirisch-transzendentalen Bewusst-Seins’ nach Cornelius’ Auffassung. Weil sie einst da war (‚Dasein‘ gegenwärtiger Empfindung), „bleibt uns auch nach ihrem Erlöschen ein Wissen von ihr zurück: ein Abbild der Empfindung, von ihr verschieden und doch ihr innig verwandt, erhält sich in unserer Erinnerung. […] Wie die Welt der Dinge uns die sinnlichen Wahrnehmungen in nie zu erschöpfender Mannigfaltigkeit der Verbindungen zuführt, so vermögen wir unsererseits jene ‚Gedächtnisbilder‘ in endloser Vielheit der Gestaltungen zu neuen Formen zusammenzufügen: der durch die Reihenfolge der vergangenen Ereignisse gebundenen Erinnerung reiht sich dieses freie Spiel unserer Phantasie als neuer Factor unseres geistigen Lebens an.“ Cornelius (1903), 19 f. 151

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Entmythologisierung, tilgt den Bildcharakter des Bewußtseins“, weil „[e]inzig unverdrossen verdinglichtes Bewußtsein wähnt, oder […] andern ein[redet], es besitze Photographien der Objektivität“. Insgesamt galt die Erkenntnistheorie Lenins als „ästhetisch defekt“. War sie auch deshalb „unwahr“ 156? 6. Gegen sich selbst Offenbar unter dem Einfluss seines akademischen Lehrers folgt Adorno einer bipolaren Struktur der Subjekt-Objekt-Relation, während das Kantische Schema als ‚vermittelndes Drittes‘ zwischen Kategorie und Erscheinung abgelehnt und der Vollzug des kategorialen Denkens an die Sinnlichkeit gebunden wird. 157 So gibt es auch bei Adorno nicht nur keine ‚unüberbrückbare Kluft‘ zwischen Bewusstsein und Realität, sondern auch keine deutliche Trennlinie zwischen Geltung und Genesis, wie Carl Braun sehr richtig anmerkt: „Die fehlende Unterscheidung zwischen der quaestio facti und der quaestio iuris und die dadurch unzulängliche Bestimmung der metaphysischen und transzendentalen Deduktion in ihrer Differenz weist zurück auf Adornos ‚vorkritische‘ Phase, in der er noch ‚vorbehaltlos‘ die ‚Version des transzendentalen Idealismus‘ seines Lehrers Hans Cornelius vertreten hat.“ 158 Außerdem bleibt Adornos ‚psychologisierte‘ Lesart des Apriori mit Cornelius’ KantDeutung behaftet 159: Den transzendentalen Dingbegriff Kants erklärt Adorno daran anknüpfend als „Funktionsgleichung“ resp. als „das allgemein gültige und notwendige Gesetz, das uns angibt, wann und wie wir bestimmte Erscheinungen zu erwarten haben“ 160. Darüber hinaus hinterließ der ‚anthropologisierte‘ Kritizismus Spuren in seinem späteren Werk, da er aufgrund von Adornos gesellschaftstheoretischen Interessen sowohl an der Verflechtung zwischen Individuations- und Denkprozessen als auch an der sprachlichen Vermitteltheit von ‚harten‘ Fakten eine Rolle spielt. Gerade im Hinblick auf diesen letzten Aspekt unterscheidet Adorno zwischen dem ‚logischen‘ „Neo-Positivismus“ und „dem guten alten Positivismus im Stil von Mach und Avenarius“ 161. Insbesondere ein Aspekt scheint aber besonders berücksichtigungswürdig: Sowohl bei Adorno als auch bei Cornelius drückt sich das Interesse für die Subjektivität als ‚lebendige Einheit‘ in Form des Ästhetischen aus. Beide teilten die Ablehnung einer positiv zu setzenden Transzendenz und die Betrachtung des Anschauungsmoments als ein naturimmanentes Bindeglied zwischen Geistigem und Materiellem, Idealem und Realem. Auch wenn für Adorno Erkenntnistheorie und Gesellschaftstheorie nicht zu trennen sind, wie bei dem ‚reinen‘ erkenntnistheoretischen Ansatz der Fall ist, gilt für ihn die gestalttheoretisch revidierte transzendentale Ästhetik

156 157 158 159 160 161

Adorno (1970c), 205 f. Rehfus (1976), 58. Braun (1983), 110. Braun (1983), 177. Adorno (2018), 280. Adorno (2002), 60 f.

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Kants als „ein kleines Modell für Dialektik.“ 162 Und obwohl er in Übereinstimmung mit der Gestalttheorie darauf besteht, dass das unmittelbar Gegebene „eine bestimmte Strukturiertheit“ aufweist, die das Konstituens als Konstitutum entpuppt 163, gelangt er dabei zu abweichenden Schlussfolgerungen, die ihn wiederum in die Nähe der Transzendentalphilosophie des Lehrers rücken. Die selbstvergessenen ‚Selbstgegebenheiten‘ und das statisch-hierarchische Prinzip des ‚Vorrangs des Ganzen‘ den Teilen gegenüber bleiben ihm fremd. Dies führte dazu, dass er sich auf seinen ‚alten Lehrer‘ gerne stützte, z. B. in diesem ‚Geistessplitter‘ aus seinen Vorlesungen: Der Tatbestand, den ich demgegenüber in der letzten Stunde habe hervorgehoben wollen, wäre wahrscheinlich strenger und angemessener so zu charakterisieren sein, daß wir etwas wahrnehmen, was zunächst weder Ganzes noch Teil ist, sondern ein Drittes, außerordentlich schwer in Worte zu Fassendes, für das mein alter Lehrer Cornelius den von objektiver Ironie nicht ganz freien Begriff der ‚Wirrnis in einer Wirrnis‘ zu verwenden pflegte, wobei selbst hier eigentlich der Begriff ‚Wirrnis‘ auch schon das Gegenteil voraussetzen würde. Sie sehen also, wie schwer es ist, dieses Tatbestands überhaupt habhaft zu werden. Es wird weder das Ganze noch werden die Teile zunächst artikuliert als solche wahrgenommen, und das, was wir primär wahrnehmen, ist, ‚Etwas überhaupt‘ – gewissermaßen noch diesseits jener Unterscheidung, womit allerdings die von der üblichen Wissenschaftslogik vollzogene Priorität der Teile gegenüber dem Ganzen, zu dem wir uns angeblich erheben sollen, ebenso hinfällig wird wie etwa eine dogmatische Vorstellung von in sich ganz und gar artikulierten Gestalten, die wir sollen wahrnehmen können, ohne daß dabei das Bewußtsein von Teilen ebenfalls uns gegeben sei. 164

Hier geht es also um die ‚alten‘ positiven ‚Bewusstseinstatsachen‘, von denen Cornelius wiederholt redet. 165 Tatsächlich ist bei ihm das ‚Ich fühle‘ – und eben nicht so sehr das ‚Ich denke‘ – die erste Grundlage der Erkenntnistheorie, so dass in seiner Lehre der Denk- bzw. Lernprozess als ein Eintauchen in die Fülle des Lebendigen verstanden wird: „[D]as All, dessen Dasein du kennst, ohne daß du dazu der bunten Masken der Worte noch der Begriffe bedarfst“ 166. In diesem Sinne ist Bewusstsein zunächst einmal Gefühl der Einheit, das den Unterschied zwischen Gegenwart und Vergangenheit bzw. Unterscheidung als erster Erkenntnisfaktor voraussetzt. 167 Demzufolge schreitet das empirische Subjekt vom Bild zur Theorie aus Gedächtniskraft, weil nur sie die Eigenschaft besitzt, über unmittelbare Daten hinauszugehen, z. B. um sie durch Verknüpfung prinzipiell unterschiedlicher Erlebnisse zu transzendieren. Doch selbst wenn das Erinnerungserlebnis prinzipiell verschieden gegenüber dem Wahrnehmungserlebnis ist und deshalb nicht als schlichte Wiederholung von früheren Erlebnissen gedeutet werden kann, vollzieht sich damit der Übergang von Perzeption zur Apperzeption ohnehin dank eines Mechanismus’ des Wiedererkennens, der im Laufe der Entwicklung (von der Kindheit zum Erwachsenalter) 162 163 164 165 166 167

Adorno (2010), 153. Adorno (2018), 138. Adorno (2010), 153 f. Cornelius (1931), 197. H. Cornelius, „Die Seele und die Dinge“, BSB, Ana 352, Ästhetik. H. Cornelius, „Über die Entwicklung des Zeitbegriffs“, BSB, Ana 352, Angefangene Arbeiten.

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tendenziell dazu neigt, das Bewusst-Sein zum Automatismus werden zu lassen und so jene ‚Möglichkeiten der Erscheinungen‘ zu verringern, die von ihm abhängen. Der Schritt entsteht in der Tat aus einem auf symbolischer Ebene ‚sublimierten‘ Selbsterhaltungsprinzip, der psycho-anthropologisch gesehen sich als ein systemstiftender Drang unter dem Ähnlichkeitserkennungsprinzip erweist: Hier ist es nämlich eine ‚Tendenz der Seele‘, Unbekanntes auf Bekanntes zurückzuführen, um Orientierung und ‚Ruhe‘ in der Welt finden zu können. 168 Damit ist diese Erkenntnistheorie weniger daran interessiert, „Neues zu finden, als das Bekannte unter die rechten Rubriken und in die gehörigen Fächer zu bringen.“ 169 Dennoch sind bereits in ersten Arbeiten von Cornelius Hinweise auf eine „Neuheit“ von „Phantasievorstellungen“ zu finden, die „im Charakter des Inhalts selbst gegeben“ sei. Sein Psychologiebuch von 1987 ging daher von der „Unbestimmtheit der Gedächtnisbilder“ aus, um von einer „neuen Combination“ 170 letzterer zu sprechen und damit – wie anderenorts erklärt wurde – „Complexe solcher Ideen“ zu nennen, „die einzeln bereits von früher her bekannt sind, so daß nur die neue Art ihrer Zusammenfügung zu einer Mehrheit den Charakter des Neuen bedingt“ 171. Auch hierin erweist Adorno sich, bei allen Unterschieden, als Erbe von Cornelius’ ‚transzendentaler Phase‘: indem er nämlich gegen die Evidenz als Wahrheitskriterium betont, dass die philosophischen Begriffe ihren Inhalt, d. h. das Nichtbegriffliche, überhaupt nicht unmittelbar-intuitiv, sondern nur mittelbar-diskursiv aufzuzeigen imstande sind, und zwar durch die Kombination einer Mehrheit unterschiedlicher Begriffe hindurch, die er als ‚Konstellation‘ bezeichnet. In dieser Hinsicht spricht sein Lehrer von einer „bildlichen Darstellung“ 172, in der „die Mannigfaltigkeit unserer sinnlichen Erlebnisse eingekleidet“ 173 wird. Damit sind „nicht bloß einzelne Worte, sondern auch Sätze und größere Zusammenhänge“ gemeint, deren Bedeutung sich z. B. im Laufe der Philosophiegeschichte gebildet hat und die somit auf problematische Sachverhalte hinweisen, die man bewusst sich vergegenwärtigen soll, um sie zu lösen. 174 Dieser Auffassung nahe kommen die Vorlesungen Adornos über die Philosophische Terminologie (1962–3), in der die Unzulänglichkeit analytischer Konzepte beklagt wird und die philosophischen Begriffe als etwas auftreten, in dem „die Tradition des Problems gewahrt wird, gehalten wird in Gestalt der Termini“ 175. Allerdings ist der ‚kritische Weg‘ allein noch offen, wie Adorno im Anschluss an Kant zu sagen pflegte. 176 Demnach sollen die ‚Dinge‘ unter dem Gesichtspunkt ihrer Veränderbarkeit statt unter dem ihres positiv zu beschreibenden ‚Gesamteindrucks‘ betrachtet werden. Hier scheint die Hauptschwierigkeit nicht so sehr in der Über168 169 170 171 172 173 174 175 176

Cornelius (1903), 90. Stern (1900), 131. Cornelius (1897), 195 f. Cornelius (1903), 176. Dazu auch: Müller (2019), 30–35. Cornelius (1903), 42 [Nach Ulrich Müllers Hinweis]. Cornelius (1932), 75. H. Cornelius, „Zum Problem der Philosophiegeschichte“, BSB, Ana 352, Angefangene Arbeiten. Adorno (2016), 20. Adorno (1977a), 315; Adorno (1977c), 462; Adorno (1973c), 444; Adorno (1984), 176.

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setzung der Kantischen Schemata in Erinnerungsbilder, sondern vielmehr in ihrem symbolischen Charakter zu liegen, durch welchen Cornelius – um dem Nominalismus-Vorwurf entgegenzutreten – die vorhandene Problematik der Nichtidentität untergräbt. Mit diesem utopisch aufgeladenen Erkenntnisbegriff bezeichnet Adorno den Vorgriff auf die Welt des Nichtidentischen als einem friedvollen, versöhnten „Miteinander des [individuellen] Verschiedenen.“ 177 Mit anderen Worten: Durch die symbolisch verstandene Verbindung von Zeichen und Bedeutung verbindet Adornos Lehrer in seiner psychologisch angelegten Erkenntnistheorie Wahrgenommenes mit Erinnertem, Neues mit Altem und Vergängliches mit Dauerhaftem derart, dass die ersten Aspekte den zweiten gegenüber im Erwachsenalter vorherrschend sind. Auf diese Weise wird aber die Anschauung – nämlich das Moment, in dem das Nichtidentische sich am Horizont des persönlichen Bewusstseins profiliert –, von den empirisch-transzendentalen Mechanismen des ‚durchgebildeten Menschen‘ so weit präformiert, dass sie ihre ‚Leibhaftigkeit‘ und ‚Fülle‘ vor seinen Augen zu verlieren droht. 178 Sucht man das Ganze auf eine vereinfachte Formel zu bringen, so könnte man sagen, dass Adorno hier von einer akademischen Philosophie beeinflusst ist, die Erkenntnistheorie zu systematisieren sucht, nicht primär, um ‚zu den Sachen selbst‘ zu gelangen, sondern eher, um in sich selbst dieselben Sachen zurückzugewinnen. Stattdessen versucht Adorno, in seiner (eher unvollendeten) Theorie der Interpretation die Gestaltlehre als eine ‚Verwandlungslehre‘ voranzutreiben, um die vorhandene ‚Ordnung der Dinge‘ in Frage zu stellen, bzw. um die weiteren möglichen Anordnungen der in ihnen enthaltenen Mannigfaltigkeit entfalten zu können. Dabei scheint Adorno sich gestalt-erkenntnistheoretisch zwar anregen zu lassen, geht jedoch ein Stück weit „über das Verständnis der Gestalttheorie hinaus, wenn er die Ganzheit nicht nur als ein ‚Mehr‘, sondern als ein gegenüber den Einzelmomenten ‚Anderes‘ bestimmt“. Mit Cornelius und gegen die Gestaltpsychologie hebt er zwar hervor, dass das Ganze „im Zusammenhang seiner Elemente vermittelt verstanden werden soll“ 179. Aber dabei bedient Adorno sich gegen Cornelius und mit der Gestalttheorie einer kritischen, fast destruktiven Auffassung, so wie sie Gelb in den 1920er Jahren vertreten hatte, um jegliche Positivität von den Gestaltqualitäten zurückzuweisen und so indirekt dem Weimarer ‚Ganzheits-Fetischismus‘ entgegenzuwirken. 180 Die ‚Gestaltqualität‘ hatte Gelb in diesem Zusammenhang als „Totalität der gegenseitigen Relationen“ definiert – mit der folgenden Begründung: „Wenn ich eine bestimmte Melodie in umgekehrte Reihenfolge […] spiele, so erscheint sie völlig verändert, ohne daß die Summe der Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten der Töne verändert ist, aber wohl werden andere Relationen […] variiert, nämlich die zeitlichen, infolgedessen sämtliche Tonschritte, die bei einer Melodie in der OriginalaufAdorno (1970c), 153. Hiermit kehrt sich der Verdinglichungsvorwurf gegen die transzendentale Psychologie Cornelius’ um. Der Problematik war Adorno sich bewusst, wenn er in seinem ersten Habilitationsversuch auf die Entwicklung der Charakterologie hinwies, um zu kritisieren, wie „psychische Dispositionen“ zu einer festgefügten „psychischen Dingwelt“ führen könnten. Adorno (1973b), 194–196. Siehe auch: Adorno (1995), 310 f. 179 Pradler (2003), 134. 180 Gay (2001). 177 178

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fassung steigend sind, und bei umgekehrter Darbietung der Töne fallend erscheinen und umgekehrt.“ 181 Nun aber zu dem, was Adorno ausführt, um sich gegen die Theorien Schönbergs zu wenden: [Dessen Beispiel des Huts] hat sicher […], um die Anlage von musikalischen Modellen als Variation zu bezeichnen […], etwas sehr Bestechendes und Drastisches, aber es hat auch ein bisschen etwas von einer terrible simplification. Denn in Wirklichkeit ist es eben doch mit einer musikalischen Gestalt nicht so, daß sie dasselbe bliebe, von welcher Seite man sie zeigt, sondern einfach dadurch, daß ein jegliches Musikalisches in der Zeit sich abspielt, ist die Gestalt selber gegen die zeitliche Dimension, das heißt, gegen die zeitliche Anordnung […] der in einer melodischen Gestalt enthaltenen Töne nicht indifferent. […] Um Ihnen das zu erläutern mit einem Beispiel, das sich mir immer mehr eingeprägt hat: In dem langsamen Satz des ‚Kammerkonzerts‘ von Berg gibt es dieses dritte Thema, das zunächst von der Klarinette gespielt wird […]. Und später […] kommt […] in der Reprise dieses Thema wesentlich in seiner krebsgängigen Gestalt […]. Nun, in dieser rückläufigen Bewegung erscheint das genannte dritte Thema dann als zweites, aber ich würde sagen, […] daß es kaum als solches zu erkennen ist […], wohl aber ist es so, […] daß also das Gleichgewicht, das durch die Anordnung der Komplexe an dieser Stelle intendiert wird, jedenfalls nicht erzielt wird im Sinne eines Gleichgewichts sich ausbalancierender thematischer Einzelgestalten. 182

Sowohl für Cornelius als auch für Adorno bleibt extrem wichtig, dass man „oft nicht weniger als der entfalteten Theorie“ bedarf, um sich „des Essentiellen“ an den Dingen – wenn auch nur annährend – bewusst zu werden. 183 Die Ablehnung der Evidenztheorie hat somit sozialkritische Folgen. Denn die Logik des Identitätsdenkens ist „of an archaich nature“ 184, ‚Urangst‘. Sie entstand dem Bedürfnis nach Sicherheit, dem Versuch, die Angst vor der Naturfülle durch Vereinfachung ihrer Komplexität zu meistern. Von hier aus begreift Adorno als Sozialforscher die Verdinglichung als vorurteilsbehaftete und stereotypisierende Wahrnehmung, deren Verfälschungen „are not to be corrected […] by taking a real look“, denn „experience itself is predetermined by stereotipy“ 185. Adorno bedient sich einer Dialektik, die es ihm gestattet, mithilfe ihres Hauptinstruments, nämlich der bestimmten Negation, der psychischen Verdinglichung entgegenzutreten, die durch die symbolische Funktion der Erinnerung verursacht wird und in der Idee des Wahrheitserlebnisses einfach vertuscht wird. Mit seinem Konstellationsbegriff macht er es quasi zum Programm, die ‚toten Werte‘ des Empiriokritizismus zu fokussieren, um die ‚blinden Flecke‘ und die ‚Abhübe der Erscheinungswelt‘ als „ausgespielt[e] Steine zum Sieg führen“ zu können. 186 Dadurch gewinnt er zwar nie die gesuchten Sachen an sich selbst. Wohl aber kann er dieselben Sachen anders denken. Und von nun an macht er als Kritiker sowohl die Natur als auch sich selbst zum Gegenstand seiner Kritik.

Gelb (1911), 15. Adorno (2014), 356 f. 183 Adorno (1970b), 494. 184 Adorno (1950), 634. 185 „There is no simple gap between experience and stereotypy. Stereotypy is a device for looking at things comfortably“. Adorno (1950), 618. 186 Adorno (1977d), 233. 181

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Gegen Natur: Weil Adorno sich gegen einen tiefverwurzelten ‚Drang nach Totalität‘ richtet, die die Subjektivität infolge jenes Evolutionsprozesses bis ins Innerste geprägt hat. Gegen sich selbst: Weil er infolgedessen auch gegen die dem eigenen Denken innewohnenden Verdinglichungstendenzen stets revoltieren musste, wie er selber einmal formulierte: „Ich möchte […] denken, daß die Redlichkeit eines Denkens genau an der Stelle anfängt, wo sie sich gegen dieses Denkens selber kehrt, und wo es gewissermaßen weh tut.“ 187 Biographisch vollzieht sich diese Wendung gegen den einst vertretenen ‚Standpunkt‘ von Cornelius. Dabei handelt es sich um den Übergang von seinen vorkritischen zu seinen kritischen Schriften und daher auch um ein Stück Selbstkritik, wie sie Adorno unmittelbar nach der ‚transzendentalen Phase‘ in den Thesen und Vorträgen der frühen 30er Jahren vollzieht. LITERATURVERZEICHNIS Abromeit, J. (2011), Max Horkheimer and the Foundations of the Frankfurt School, New York. – (22014), „The Origins and Development of the Model of early Critical Theory in the Work of Max Horkheimer, Erich Fromm and Herbert Marcuse“, in: Ingram, D. (Hg.), Critical Theory to Structuralism. Philosophy, Politics, and the Human Sciences, London/New York. Adorno, T. W., Frenkel-Brunswik, E., Levinson, D. J., Sanford, R. N. (1950), The Authoritarian Personality, New York. Adorno, T. W. (1970a), „Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien“, in: Adorno, T. W., Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Drei Studien zu Hegel, Frankfurt am Main. – (1970b), „Jargon der Eigentlichkeit“, in: Adorno, T. W., Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt am Main. – (1970c), „Negative Dialektik“, in: Adorno, T. W., Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt am Main. – (1973a), „Die Transzendenz des Dinglichen und Noematischen in Husserls Phänomenologie“, in: Adorno, T. W., Philosophische Frühschriften, Frankfurt am Main. – (1973b), „Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre“, in: Adorno, T. W., Philosophische Frühschriften, Frankfurt am Main. – (1973c), „Zum Beschluß einer Diskussion [über ‚Tradition‘]“, in: Adorno, T. W., Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt am Main. – (1977a), „Über Tradition“, in: Adorno, T. W., Kulturkritik und Gesellschaft, 1, Frankfurt am Main. – (1977b), „Dialektische Epilegomena“, in: Adorno, T. W., Kulturkritik und Gesellschaft, 2, Frankfurt am Main. – (1977c), „Wozu noch Philosophie“, in: Adorno, T. W., Kulturkritik und Gesellschaft, 2, Frankfurt am Main. – (1977d), Noten zur Literatur, 2, Frankfurt am Main. – (1984), „Über das gegenwärtige Verhältnis von Philosophie und Musik“, in: Adorno, T. W., Musikalische Schriften, 5, Frankfurt am Main. – (1995), Kants Kritik der reinen Vernunft, Frankfurt am Main. – (2002), Ontologie und Dialektik, Frankfurt am Main. – (2003), Einleitung in die Soziologie, Frankfurt am Main. – (2010), Einführung in die Dialektik, Frankfurt am Main. – (2014), Kranichsteiner Vorlesungen, Berlin. – (2015), Einführung in die Dialektik, Berlin.

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Adorno (2016), 29.

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Existenzialismus und Popularisierung Zur Rolle der Philosophie bei Albert Camus Oliver VICTOR (Düsseldorf)

Die Debatte rund um Für und Wider der Popularisierung von Philosophie ist stark geprägt durch das jeweilige Philosophieverständnis der Befürworter und Gegner. Diejenigen, die einer Öffnung der Philosophie über das universitäre Fachpublikum hinaus eher kritisch gegenüberstehen, knüpfen das häufig an ein Verständnis von Philosophie als reiner Wissenschaft und akademischer Disziplin. Popularisierungstendenzen von Philosophie hingegen wohnt meist der Impetus inne, die Philosophie habe einen essentiellen Beitrag zum konkreten Leben der Menschen als Individuen und Gemeinschaftswesen beizutragen und müsse somit ihre Kontroversen für ein breites Publikum über den universitären Bereich hinaus öffnen. Solche Bestrebungen rücken in die Nähe einer Philosophie als Lebensform und Lebenskunst – hier recht allgemein verstanden als ein Konzept von Philosophie, welches der Praxis einen Vorrang vor der Theorie einräumt und vor allem in der Tradition der hellenistischen Schulen steht. 1 Die Frage, ob Philosophie für einen breiten Adressatenkreis zugänglich sein sollte, ist keineswegs eine, die erst in gegenwärtigen Diskussionen zum Vorschein kommt. Gerade die idealtypische Gegenüberstellung der beiden o. g. Lager lässt sich aus philosophiehistorischer Perspektive exemplarisch anhand von Hegel und Kierkegaard illustrieren. Für Hegel ist die Philosophie bekanntlich „ihrer Natur nach etwas Esoterisches, für sich weder für den Pöbel gemacht noch einer Zubereitung für den Pöbel fähig“ 2. Es liegt nahe, dass diese doppelte Ablehnung – weder scheinen philosophische Probleme als solche für den Laien zugänglich noch deren Lösungen für ihn verständlich – aus Hegels Philosophieverständnis selbst hervorgeht. Der Standpunkt, den Hegel hier unter Rekurs auf das Begriffspaar ‚esoterisch/exoterisch‘ vertritt, ist unmittelbar an das Selbstverständnis der Philosophie des Deutschen Idealismus als Systemphilosophie in der Tradition Kants gebunden. 3 Die SysZu dieser Funktion der Philosophie vgl. Ernst (2016), 302 f. Hegel (1970), 182. 3 Kant versteht in der Kritik der reinen Vernunft, A833/B861 „unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee.“ Bestrebungen der Popularisierung von Philosophie stand Kant selbst hingegen bekanntlich deutlich offener gegenüber als etwa Hegel. Zur Kontroverse der Popularisierung von Philosophie bei Kant und Hegel im Kontext fachterminologischer Überlegungen vgl. Kann (2020), 408–435. 1 2

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tementwürfe des Deutschen Idealismus mit ihrem Anspruch, ein die Wirklichkeit als ganze erklärendes Theoriegebilde zu entwerfen, richten sich an Fachkollegen. Kierkegaard, der sich in dieser Hinsicht expressis verbis von Hegel und dem Deutschen Idealismus distanziert, vertritt ein konträres Philosophieverständnis, indem er sich auf die griechische Antike beruft und den Primat auf die menschliche Praxis verlagert: „Dies hat die schöne griechische Wissenschaft verstanden, und darum ist es so wohltuend, sich mit ihr zu beschäftigen, weil sie die Menschen nicht verließ mit der Absicht wie eine Stimme aus den Wolken zu tönen, sondern auf der Erde blieb, auf dem Markte, beim Tun und Treiben der Menschen“ 4. Kierkegaard steht damit am Anfang einer Reihe von Denkern, die nicht müde werden, den Systemphilosophen Hegel, Fichte und Schelling ein weltabgewandtes, blutleeres und in reinen Abstrakta verbleibendes Philosophieren zu attestieren. Ungeachtet der Frage, ob diese zugestandenermaßen polemisch zugespitzte Kritik inhaltlich en détail zutreffen mag, war sie allemal philosophiegeschichtlich wirksam. Ähnlich wie sein Zeitgenosse Feuerbach, der damit nachhaltig die Philosophie der Marxschen Schule prägt, kritisiert Kierkegaard im Duktus jener nachhegelschen Philosophie dieses Systemdenken und setzt dem eine Philosophie entgegen, die beim konkreten (Er-)Leben des einzelnen existierenden Menschen ansetzt. Er markiert damit den Beginn der Existenzphilosophie, die gerade unter dem Label des Existenzialismus im Frankreich des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erlebt und als eine, im wahrsten Sinne des Wortes ‚populär‘ gewordene, Philosophie die Mentalität und Haltung einer ganzen Generation nachhaltig prägt. Dass sich aus einem bestimmten Philosophieverständnis heraus sogar eine gewisse Notwendigkeit zur Popularisierung und Öffnung hin zu einem breiteren Adressatenkreis ergeben kann, um dem Anspruch an das eigene Philosophieren Rechnung zu tragen, soll im Folgenden gezeigt werden. Der vorliegende Beitrag möchte diese These anhand einer Auseinandersetzung mit der existenzialistischen Philosophie als Lebensform und Lebenskunst untermauern, indem zunächst auf den Existenzialismus im Allgemeinen und schließlich auf Camus’ Philosophie im Besonderen rekurriert wird. 1. Warum Existenzialismus und Popularisierung? Was lässt die Existenzphilosophie bzw. den Existenzialismus 5 als prädestinierten Ausgangspunkt einer Debatte um das Für und Wider der Popularisierung von Philosophie erscheinen? Hannah Arendt beschreibt 1946 in ihrem Artikel „French existentialism“ in der US-amerikanischen Wochenzeitschrift The Nation die damalige Kierkegaard (1952), 212. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags wird das Popularisierungsmotiv im Kontext des französischen Existenzialismus besprochen. Auf Kierkegaards existenzphilosophischen Ansatz wird dabei insofern zurückgegriffen, als er für das öffentlichkeitswirksame Philosophieren der französischen Existenzialisten wegweisend war. Wie sich die Existenzphilosophien eines Heidegger oder Jaspers zum Popularisierungsbestreben von Philosophie verhalten, wäre sicherlich eine ebenso lohnenswerte Untersuchung, würde jedoch eine eigene Analyse erfordern. 4 5

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kulturelle und intellektuelle Situation in Paris mit den folgenden Worten: „A lecture on philosophy provokes a riot, with hundreds crowding in and thousands turned away. Books on philosophical problems […] sell like detective stories. […] Philosophers become newspapermen, playwrights, novelists. They are not members of university faculties but ‚bohemians‘ who stay at hotels and live in the cafe – leading a public life to the point of renouncing privacy. […] This is what is happening, from all reports, in Paris.“ 6 Philosophische Vorlesungen, die Unruhen oder gar Aufstände initiieren, philosophische Bücher, die sich wie Bestseller verkaufen und Philosophen, die selbst nicht an Universitäten oder akademischen Instituten lehren, sondern in der Öffentlichkeit leben und die Tätigkeit des Philosophierens selbst in den öffentlichen Raum verlegen, dies vermittelt den Eindruck einer Philosophie, die sich als wesentlichen Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens begreift und nicht zuletzt deshalb ihre Tätigkeit in die Öffentlichkeit, sprich unter die Menschen selbst verlagert. Das hier skizzierte Bild des Existenzialismus mag mit dem Großteil unserer Vorstellungen von dieser Strömung übereinstimmen und ist häufig anzutreffen, bleibt inhaltlich allerdings an der Oberfläche. Vielmehr können prima facie meines Erachtens folgende vier inhaltliche Aspekte genannt werden, die es rechtfertigen, den Existenzialismus im Kontext der Popularisierungskontroverse zu thematisieren, wobei sich bereits eine Tendenz zugunsten der Popularisierung von Philosophie abzeichnet: (1) Für das Selbstverständnis der Existenzphilosophie ist seit Kierkegaard als ihrer Initialfigur charakteristisch, dass sie sich als eine Philosophie versteht, die aus der konkreten Lebenswirklichkeit der Menschen und ihren Problemen erwächst. Im Kern lässt sich Kierkegaards Denken im Rahmen seiner Distanzierung zur Hegelschen Systemphilosophie als ein Ansatz typisieren, der den einzelnen existierenden Menschen und die sich aus seiner konkreten Handlungswirklichkeit ergebenden Problemfelder wieder in den Mittelpunkt der philosophischen Reflexion rückt. Er zählt somit zu den Denkern der s. g. anthropologischen Wende im 19. Jahrhundert, 7 insofern sich seine Philosophie als eine Wende hin zum Menschen als Existierenden beschreiben lässt, der ein latent metaphysikkritischer Gestus und ein damit einhergehender Anthropozentrismus innewohnen. (2) Von Anfang an ist die Existenzphilosophie eng mit den historischen Ereignissen der jeweiligen Epoche verflochten. Bei Kierkegaard ist das durch seine intensive Auseinandersetzung mit der zu seiner Zeit vorherrschenden Hegelschen Philosophie dokumentiert und im 20. Jahrhundert verstärkt zu konstatieren durch das gesellschaftliche und politische Engagement der Existenzialisten, insbesondere in der Résistance während des Zweiten Weltkriegs. So ist der Existenzialismus immer wieder in einen direkten Zusammenhang mit den Geschehnissen des Zweiten Weltkriegs und den daraus resultierenden nihilistischen Tendenzen gebracht worden, letztendlich zugespitzt in der These, dass sich seine Popularität in der Mitte des 6 Arendt (1946), 226. Malpas (2012), 294 f. sieht darin vor allem ein Charakteristikum des französischen Existenzialismus, der von Beginn an nicht so stark an ein akademisches Umfeld gebunden ist, wie z. B. sein deutsches Pendant. 7 Vgl. hierzu Decher/Hennigfeld (1992).

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20. Jahrhunderts einzig und allein dadurch erklären lässt, dass er als eine Antwort auf die Kriegsgräuel und den sich daraus ergebenden Sinn- und Orientierungsverlusten aufzufassen ist. Gerade in Zeiten des Gewissheits-, Orientierungs- und Sinnschwundes finden die Schriften der Existenzialisten Gehör. In einem durch Kriege bisher unbekannten Ausmaßes an Zerstörung geprägten Europa sind existenzielle Erfahrungen nun keine abstrakten philosophischen Reflexionen mehr: „Zu den zentralen Themenkreisen des Existentialismus gehören klassische philosophische Gegenstände, die vor dem Hintergrund der Kriegsgräuel nun eine spezielle Realisation erfahren hatten und der Interpretation bedurften: das menschliche Sein, Angst, Freiheit, Absurdität, Revolte, Ekel“ 8, wie Reichenbach-Klinke erläutert. Um diese These zu bekräftigen, wird häufig darauf verwiesen, dass eine ganze Epoche sich insofern in den Werken des Existenzialismus wiedererkennt, als er die Verzweiflung, Ängste und zugleich Hoffnungen und neuen Sehnsüchte einer ganzen Generation aufnimmt und thematisiert. Er werde zum Spiegel der geistigen Situation seiner Zeit. 9 Mit Blick auf Albert Camus sei bereits darauf hingewiesen, dass er selbst anlässlich des ihm verliehenen Nobelpreis für Literatur betont, die Schriftsteller seiner Epoche sowie seine ganze Generation seien insbesondere aufgrund der großen Kriege dazu verpflichtet gewesen, „sich eine Lebenskunst für Katastrophenzeiten zu schmieden“ 10. Zum einen gewinnen klassische Philosopheme im Kreis des Existenzialismus aufgrund des historischen Kontextes alltagspraktische Relevanz, zum anderen reagiert die existenzialistische Philosophie auf die Nöte und Sehnsüchte einer ganzen Generation. So besteht eine direkte Wechselwirkung zwischen historisch-soziokulturellen Gegebenheiten und philosophischen Inhalten. Jene Zeitgeschehnisse hatten zwar einen entscheidenden Anteil vor allem an der großen Popularität des Existenzialismus als Lebensform und Lebenshaltung und ließen ihn sogar zu einer Art Mode sowie kulturellen Bewegung werden. Relativierend muss jedoch hinzugefügt werden, dass sie allein seine Entstehung nicht erklären können. Zu eng ist die Genese der Existenzphilosophie an das s. g. postmetaphysische Zeitalter gebunden, das sich aus dem Geiste Kierkegaards und Nietzsches entwickelt. Sie hat ihren Ursprung also weit vor den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts und ist mit genuin philosophiegeschichtlichen Entwicklungen, wie etwa einer allgemein metaphysikkritischen Haltung und einer Idealismus- sowie Systemkritik im Besonderen, verbunden. 11 Gerade in Bezug auf Letztere lässt sich die Existenzphilosophie durchaus in erster Linie als Reaktion auf den Deutschen Idealismus verstehen. Gleichwohl ist kaum eine philosophische Strömung derart an die historischen Ereignisse ihrer Zeit gebunden wie der Existenzialismus. Die methodologischen Überlegungen Hans-Georg Gadamers, wonach der Sinn einer

8 Reichenbach-Klinke (2014), 56. Der Existenzialismus wird hier, wenn nicht als die einzig mögliche, so doch als eine plausible Antwort auf den Krieg gedeutet. 9 Vgl. Galle (2009), 11. 10 Camus (1997), 227. 11 Einen ausführlichen Katalog sowohl historischer als auch systematischer Merkmale der Existenzphilosophie, welche sich aus den Philosophien Kierkegaards und Nietzsches entwickeln lassen, habe ich an andere Stelle herausgearbeitet. Siehe dazu Victor (2021), insb. 273–276.

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Aussage auch immer unter Berücksichtigung ihrer „Motivationsgeschichte“ 12 zu betrachten sei, gelten demnach für Studien zum Existenzialismus in besonderer Weise. Aus der engen Gebundenheit an die jeweiligen historischen Umstände erklärt sich (3), dass der Existenzialismus nicht eine philosophische Theorie unter vielen bleibt, mit der sich ein kleiner esoterischer Kreis von Fachphilosophinnen und Fachphilosophen beschäftigt, sondern sich zu einer breiten gesellschaftlich-kulturellen und politischen Bewegung entwickelt hat. Er wird zum Ausdruck des geistigen Klimas und Lebensgefühls einer Generation. Seine Vertreter partizipieren bewusst am breiten gesellschaftlichen Diskurs: „Unser Bestreben ist es, dazu beizutragen, gewisse Veränderungen in der Gesellschaft, die uns umgibt, hervorzubringen.“ 13 Alexander Lohner resümiert: „Das spezifische Vokabular, welches nicht nur in philosophischen Traktaten und Arbeiten vorkommt, sondern popularisiert zur Zeitsprache und gängiger Ausdruck des modernen Lebensgefühls (der Dichtung, der Filmkunst usw.) geworden ist, dokumentiert dies.“ 14 Hierhinter verbirgt sich zugleich die Überleitung zu einem weiteren inhaltlichen Gesichtspunkt, der den Existenzialismus als geeignet für den Diskurs um Pros und Contras der Popularisierung von Philosophie erscheinen lässt: (4) Indem sich seine Vertreter bewusst nicht auf das Verfassen philosophischer Abhandlungen beschränken, sondern ihre Positionen in unterschiedlichen Kunstformen ergänzend veranschaulichen und weiterentwickeln, öffnen sie diese explizit für eine breite gesellschaftliche Debatte. Philosophie tritt in Interaktion mit Dichtung, Film, Theater und einem weiten Spektrum literarischer Genera. Dadurch wird sie einem großen Publikum zugänglich. Insbesondere der Verbindung von Philosophie und Literatur werden wir am Beispiel von Camus und seinem Werk nachgehen. Diese Auflistung erhebt keinesfalls einen Anspruch auf Vollständigkeit, sie dient vielmehr einer ersten, rhapsodischen Annäherung an unsere Thematik. Analog dazu kann ein inhaltlicher Punkt geltend gemacht werden, der zunächst eine Einbindung des Existenzialismus in unser Themengebiet abwegig erscheinen lässt. Folgende Charakteristika könnten den bisher evozierten Eindruck, es handele sich bei ihm um eine Philosophie des gesellschaftlichen Engagements, geradezu konterkarieren. Subjektivitätsphilosophie, radikaler Individualismus, Einsamkeit und Nihilismus sind zumeist negativ konnotierte Topoi, die häufig mit dem Existenzialismus assoziiert werden und nicht gerade für ein Plädoyer der Popularisierung von Philosophie zu sprechen scheinen, impliziert Letztere doch ein Sich-Öffnen hin zur Gesellschaft und zu einem breiten Publikum. Unbestrittenermaßen beginnt die Existenzphilosophie beim einzelnen Existierenden in der Welt und ist insofern als ein subjektivitätsphilosophischer Ansatz zu klassifizieren, jedoch keineswegs im Sinne eines subjektiven Rationalismus eines Descartes oder gar einer idealistischen Subjektivitätsphilosophie Fichtes. Innerhalb der Vielfalt subjektivitätsphilosophischer PosiGadamer (1987), 468. So fasst Sartre das Anliegen der Zeitschrift Les Temps Modernes in der ersten Ausgabe vom Oktober 1945 zusammen. Sartre (1945), 7; Übers. O. V. 14 Lohner (1997), 18. 12 13

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tionen sind Existenzphilosophien denjenigen Ansätzen zuzuordnen, die den einzelnen Menschen als Sinnen- und Geistwesen, seine Umwelt und seine unmittelbare Handlungswirklichkeit ins Zentrum rücken. Genauer gefasst, steht seit Kierkegaard das Individuum in der unhintergehbaren Subjektivität seiner gelebten Existenz im Mittelpunkt; es geht darum, sich selbst in Existenz zu verstehen. 15 Dieser Zugang zur Existenz ist an die Exklusivität der ersten Person-Singular-Perspektive gebunden, hierin unterscheidet sich der existenzphilosophische Ansatz von anderen Strömungen, wie z. B. dem Marxismus oder dem Pragmatismus. Der Übergang vom Abstrakten hin zum Konkreten ist entscheidend und identitätsstiftend für diese Art zu philosophieren. Dabei erhält der Terminus ‚Existenz‘ eine besondere Valenz. Dieser wird zwar durch die Existenzphilosophie keineswegs neu in die philosophische Fachterminologie eingeführt, ihm wird jedoch ein weitaus engeres Bedeutungsspektrum zugeschrieben, als das in der scholastischen Unterscheidung von existentia und essentia der Fall ist. ‚Existenz‘ meint nun nicht mehr das bloße Dass-Sein im Unterschied zum Was-Sein, sondern impliziert das Gestalten der eigenen Existenz in Interaktion mit der Welt und anderen Individuen. Die menschliche Seinsweise ist nicht nur, so ließe sich in klassischer Sartrescher Diktion ergänzen, im Sinne eines An-sich, sondern auch eines Für-sich zu bestimmen. ‚Existenz‘ wird exklusiv der menschlichen Seinsweise vorbehalten. Insofern zeichnet sich das Spezifikum des existenzphilosophischen Existenzbegriffs durch eine Trias des Sich-Verhaltens zu sich selbst, zur Welt sowie zu anderen Mitmenschen aus. Die Kategorien des Einzelnen und der Gesellschaft konstituieren zwar innerhalb des existenzphilosophischen Diskurses ein Spannungsverhältnis, zumindest die französischen Existenzialisten beanspruchen aber, dass ihrem Denken eine gemeinschaftsbezogene Dimension inhärent ist. So lässt sich mit Sartre zeigen, dass aus dem ursprünglich subjektivistischen Ansatz, der auf diversen metaphysischen Prämissen basiert, ein die Gemeinschaft involvierendes und ihr gegenüber verantwortungsbewusstes Denken entspringt. Ebenso versteht bereits Kierkegaard seinen eigenen Ansatz im Rahmen einer Ethik der Liebe als prinzipiell auf den Anderen und die Gemeinschaft hin ausgerichtet. 16 Der Schritt zu einer gewissen Notwendigkeit von Popularisierung ist damit nicht mehr weit. Werfen wir einen Blick in Sartres berühmten Essay Ist der Existenzialismus ein Humanismus?, der wie kaum ein anderer Text zu einer Art Manifest existenzialistischer Philosophie wurde. Dieser Essay geht auf einen 1945 öffentlich gehaltenen Vortrag Sartres im Pariser Club Maintenant zurück und kann interessanterweise selbst als ein Popularisierungsversuch bestimmter Thesen aus seinem schwer zugänglichen und fachwissenschaftlich-begrifflicher Philosophie zuzuordnenden Opus Magnum Das Sein und das Nichts angesehen werden. Sartre hat ein Geschick dafür, zentrale Sujets seiner Philosophie in Fachtermini zu vermitteln, dabei zugleich aber für Nicht-Philosophen verständlich zu bleiben. Somit genoss er sowohl unter Fachphilosophen als auch in der breiten Gesellschaft Anerkennung. 17 Dieser 15 16 17

Vgl. Kierkegaard (1958), 55. Vgl. dazu Søltoft (2002). „Sartre a le mérite d’avoir exposé dans ses écrits de vulgarisation les principales thèses existentialistes

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am 29. Oktober 1945 gehaltene Vortrag ist für Denis Huisman die Geburtsstunde und die Taufe des Terminus ‚Existenzialismus‘. 18 In ihrer umfangreichen Sartre-Biographie skizziert Cohen-Solal dieses Massenereignis unter der programmatischen Überschrift „Paris: Der Existentialismus ist gekommen“ 19. Der Essay selbst versteht sich als eine Verteidigung des Existenzialismus gegen bestimmte, seinerzeit gegen ihn vorgebrachte Einwände. Dabei wehrt sich Sartre vehement gegen den Vorwurf, der Existenzialismus sei eine Form von Quietismus. Demgegenüber betont er nachdrücklich, dass es sich beim Existenzialismus um eine Philosophie des Engagements handelt, dessen Bezugspunkt die Gesellschaft und die jeweilige zeitliche Situation ist. 20 Häufig würden Menschen Fragen an ihn richten, so Sartre, die nicht über die dafür nötige philosophische Vorbildung verfügen. Angesichts dieser Umstände sehe er sich mit zwei möglichen Umgangsweisen konfrontiert: Entweder „die Antwort verweigern oder die Diskussion auf dem Gebiete der Popularisierung aufzunehmen. Ich habe die zweite gewählt.“ 21 Wichtig ist nun, warum sich Sartre dazu entschlossen und auf die Seite der Befürworter der Popularisierung von Philosophie gestellt hat. Er selbst führt aus: Wenn die existenzialistische Philosophie tatsächlich vor allem eine Philosophie ist, die sagt: die Existenz geht der Essenz voraus, so muß sie, um wirklich aufrichtig zu sein, gelebt werden. […] Entweder muß man die Lehre auf eine streng philosophische Ebene stellen und auf den Zufall zählen, daß sie eine Auswirkung habe, oder aber, da die Leute anderes von ihr verlangen, und da sie eine Bindung sein will, muß man einwilligen, sie zu popularisieren, vorausgesetzt, daß die Popularisierung sie nicht entstellt. 22

Hier zeigt sich die eingangs aufgestellte These bestätigt, dass sich aus einem bestimmten Philosophieverständnis heraus eine Notwendigkeit zur Popularisierung ergeben kann. Die grundlegende Prämisse der Philosophie Sartres ist, dass beim Menschen die Existenz der Essenz vorausgeht. Der Mensch wird in ihr als ein freies Wesen beschrieben und ist nichts anderes als das, was er aus sich selbst macht. Verallgemeinernd stellt das eine Absage an klassische Wesensdefinitionen des Menschen dar. Zugleich lastet dadurch laut Sartre eine enorme Verantwortung auf dem Individuum, da es, indem es sich entwirft, zugleich ein Bild des Menschen erschafft. Durch den individuellen Akt des Sich-Entwerfens bindet es die ganze Menschheit: „So bin ich für mich selbst und für alle verantwortlich, und ich schaffe ein bestimmtes Bild des Menschen, den ich wähle; indem ich mich wähle, wähle ich den Menschen.“ 23 So wird deutlich, inwiefern sich das Erfordernis zur Popularisierung aus der Grundthese des Existenzialismus, sprich des Primats der Existenz vor der Essenz, dans les termes techniques de la philosophie tout en se rendant accessible au lecteur non spécialisé.“ (Foulquié (1947), 59). Vgl. auch Cohen-Solal (1988), 406. 18 Vgl. Huisman (2005), 7. 19 Vgl. hierzu Cohen-Solal (1988), 390–395. 20 Zum Begriff des Engagements im Existenzialismus siehe Großheim (2007), 59–63, insb. 62, wo ebenfalls auf Sartres genannten Essay rekurriert wird. 21 Sartre (1966), 37. 22 Sartre (1966), 37. 23 Sartre (1966), 13.

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selbst ergibt. Als eine Philosophie des Sich-Bindens und des Engagements, die eine Wirkung auf das konkrete Leben der Menschen ausüben möchte, kann sie nicht auf den Zufall setzen, ohne dabei Gefahr zu laufen, ihren eigentlichen Anspruch zu verfehlen. An den Philosophen wird die Erwartung herangetragen, seine An- und Einsichten einem breiten Publikum verständlich zu vermitteln. Popularisierung darf dabei selbstverständlich nicht zu Lasten einer Entstellung oder gar Verfälschung der Inhalte geschehen; darauf weist auch Sartre mahnend hin. Bevor wir auf Camus und sein Verständnis der Philosophie als Lebensform und Lebenskunst eingehen, sei noch ein philosophiehistorischer Exkurs gestattet, der zur Verdeutlichung des Selbstverständnisses des Existenzialismus beitragen soll. Das hier anhand von Sartre skizzierte Philosophieverständnis ist in seinen historischen Wurzeln schon bei Kierkegaard grundgelegt. Wie eingangs in der Gegenüberstellung von Kierkegaard und Hegel anklang, plädiert Kierkegaard für eine Rückbesinnung auf das antike Philosophieren im Stile von Sokrates. Die Philosophie dürfe nicht, wie im Falle des Systemdenkens Hegels, in reinen Abstrakta verharren, sondern müsse im wahrsten Sinne des Wortes ‚lebendig‘ werden. Hier steht der ‚dänische Sokrates‘ 24 in der Traditionslinie der Linkshegelianer und der elften Feuerbachthese von Marx: „Die Philosophen haben die Wirklichkeit nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern.“ 25 Der Philosophie kommt bei Kierkegaard eine erbauliche Funktion zu, er selbst verfasst s. g. Erbauliche Reden, die als eine Förderung von Subjektivität ausgelegt werden können und zwar in der Hinsicht, dass der Leser zum Gestalten der Existenz angehalten und aktiv in den Prozess des Philosophierens eingebunden wird. Der Adressat muss dabei kein Fachphilosoph sein, Kierkegaards Reden richten sich an alle Menschen und sollen im Idealfall einen Anstoß zur Existenzgestaltung geben. Indem er die Kategorie des Erbaulichen mit der Funktion von Philosophie verbindet, positioniert sich Kierkegaard ausdrücklich gegen Hegel, der seinerseits die Warnung ausrief, die Philosophie müsse sich hüten, erbaulich sein zu wollen. 26 Camus greift die Kontroverse zwischen Hegel und Kierkegaard auf und tritt als Philosophiehistoriker in Erscheinung, wenn er polemisierend konstatiert: „Kierkegaard stieß Hegel gegenüber eine furchtbare Drohung aus: ihm einen jungen Mann zu schicken, der ihn um Ratschläge bittet.“ 27 Als Zwischenfazit lässt sich mit Blasberg festhalten, dass wir beim Existenzialismus mit einer Philosophie konfrontiert werden, „die den universitären Bereich zugunsten rebellisch-individueller Lebensformen oder aber des politischen Engagements verläßt. Mit Camus wird gar das Außenseitertum Trend, wird das Denken der Revolte ‚von unten‘ salonfähig und nobelpreiswürdig.“ 28 Für Camus, der nie Vgl. Diem (1956). Marx in Engels (1978), 78. 26 Vgl. Hegel (1986), 16 f. Bei Hegel kommt der Philosophie als Wissenschaft die Rolle zu, „die Menschen aus der Versunkenheit ins Sinnliche, Gemeine und Einzelne herauszureißen und ihren Blick zu den Sternen aufzurichten […]. Wer nur Erbauung sucht, […] mag zusehen, wo er diese findet. […] Die Philosophie aber muß sich hüten, erbaulich sein zu wollen.“ (Hegel (1986), 16 f.). 27 Camus (2011b), 274. 28 Blasberg (2004), 8 f. 24 25

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eine akademische Position innehatte, blieben nach eigener Aussage Fußballplätze und Theaterbühnen seine wahren Universitäten. 29 Sein politisches Engagement ist nicht zuletzt durch seine Mitarbeit an der Widerstandszeitung Combat und seine kurze Mitgliedschaft in dem Parti communiste français belegt. 2. Philosophie als Lebensform und Lebenskunst bei Albert Camus 2.1. Camus’ Aversion gegen die Systemphilosophie Camus soll hier exemplarisch als ein Vertreter des Existenzialismus betrachtet werden, der sich unter dem Leitmotiv einer Philosophie als Lebensform und Lebenskunst dezidiert an einen breiten Adressatenkreis und nicht bloß an eine kleine esoterische Gruppe von Fachgenossen richtet. Somit wird der Versuch unternommen, sein Œuvre als eine gelungene Realisierung der Popularisierung von Philosophie zu exponieren. Die Bandbreite des Engagements von Camus beschreibt SchillingerKind treffend als eine Existenz als „Literat, Philosoph, Dramatiker, Dramaturg, Schauspieler, Journalist und Widerstandskämpfer“ 30 in Personalunion. Zwar ist es für Vertreterinnen und Vertreter des Existenzialismus nicht außergewöhnlich, dass sie nicht nur als Philosophen, sondern auch als Literaten in Erscheinung treten, dennoch bedarf es bei Camus, so hat es den Anschein, immer wieder einer besonderen Rechtfertigung, um ihn der Philosophie im engeren Sinne zuzuordnen. Den Grund für eine solche Skepsis liefert Camus teils selbst, da er Zeit seines Lebens ein ambivalentes Verhältnis zur Philosophie hatte. Aufgrund seiner Ausbildung zwar Philosoph – Camus absolvierte ein Diplôme d’Études Supérieures in Philosophie an der Universität von Algier –, finden sich bei ihm zugleich widersprüchliche Aussagen, in denen er sich mal als Philosoph, mal expressis verbis als Nicht-Philosoph bezeichnet. Innerhalb der Camus-Forschung hat das eine umfangreiche Debatte ausgelöst, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. 31 Hier soll die These vertreten werden, dass Camus Philosoph und Literat zugleich ist, dass das eine das andere bei ihm nicht ausschließt, sich vielmehr ergänzt, und dass sich Camus in den Äußerungen, in denen er sich von der Philosophie abgrenzt, eher von einem bestimmten Philosophiebegriff distanziert als von der Philosophie als solcher. Sicherlich ist Camus kein Philosoph im klassisch-akademischen Sinne. Das hat er mit anderen Existenzialisten gemein, und seine Absage an die Philosophie ist primär eine an die Systemphilosophie des Deutschen Idealismus: „Ich bin kein Philosoph. Ich glaube nicht genug an die Vernunft, um an ein System zu glauben. Was mich interessiert, das ist zu wissen, wie man sich verhalten soll.“ 32 In Systemen zu philosophieren, bedeutet für Camus – hier folgt er der Ansicht Kierkegaards –, in reinen Abstrakta zu verbleiben und die konkrete Existenz des Menschen nicht zu berücksichtigen. Dem setzt auch er ein auf antiken Vorbildern basierendes, praxis29 30 31 32

Vgl. Camus (1965), 607. Schillinger-Kind (1999), 7. Vgl. dazu exemplarisch Amiot/Mattéi (1997). Camus (1965), 1427; Übers. O. V.

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orientiertes Philosophieverständnis entgegen, wobei er besonders von Vertretern der späten römischen Stoa inspiriert ist. 33 Theoretischen Reflexionen kommt für Camus nur dann eine Relevanz zu, wenn von ihnen eine direkte Wirkung auf die Praxis und Handlungswirklichkeit des Menschen ausgeht. In diesem Sinne prägt das Primat der Praxis auch sein Verständnis der Philosophie als Lebenskunst. Ihm geht es eben darum, wie er sagt, zu wissen, wie man sich verhalten soll. Im Französischen heißt es, „de savoir comment il faut se conduire“ 34, was sich freier übersetzen ließe mit: Zu wissen, wie man leben soll. In erster Linie ist es Camus’ Absicht, existenzielle Fragen zum Gegenstand philosophischer Überlegungen zu erheben, alles andere komme, wie er selbst sagt, hinterher: „Sich entscheiden, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht, heißt auf die Grundfrage der Philosophie antworten. Alles andere – ob die Welt drei Dimensionen und der Geist neun oder zwölf Kategorien hat – kommt später.“ 35 Eine solche Rolle der Philosophie geht für Camus mit dem Ideal der Konformität von Leben und Lehre einher, mit Kriterien wie Authentizität und Aufrichtigkeit, die ihm von Senecas Devise her, nicht aus Worten, sondern aus Taten bestehe die Philosophie, 36 vertraut waren. Formulierungen wie, „[d]ie Philosophien sind so viel wert wie die Philosophen. Je größer der Mensch, desto wahrer die Philosophie“ 37, demonstrieren, dass sich für ihn die wahre Größe einer Theorie und Lehre geradezu erst in ihrer praktischen Anwendbarkeit zeigt. Die Praxistauglichkeit wird zum Bewertungskriterium. Für Reichenbach-Klinke spiegelt sich in diesem Handlungsbezug die Triebfeder von Camus’ gesamtem Werk wider. 38 Diese kurzen Ausführungen dürften genügen, um zu zeigen, dass Camus’ skeptische bis ablehnende Haltung gegenüber der Philosophie vor allem einer Aversion gegen die Systemphilosophie geschuldet ist und nicht einer gegen die Philosophie insgesamt gleichkommt. Indem Camus eine bestimmte Art zu philosophieren kritisiert, wird er vielmehr selbst zum Philosophen und zwar zu einem, der das einzelne Individuum in der unhintergehbaren Subjektivität seines gelebten Lebens zum zentralen Sujet philosophischer Betrachtung macht. Philosoph zu sein bedeutet für Camus nicht, ein rein theoretisches System begrifflicher Erklärungen aufzustellen, sondern sich Fragen der konkreten Existenzgestaltung im Hier und Jetzt zu widmen. 39 Das kommt dem nahe, was Gabriel Marcel konkrete Philosophie und ein Philosophieren hic et nunc nennt. 40 Darüber hinaus soll die eigene Haltung im Sinne einer Philosophie als Lebensform und Lebenskunst internalisiert und verkörpert werden, und so führt Camus an die zitierte Sisyphos-Passage anknüpfend aus: „Und wenn es wahr ist, dass – wie Nietzsche es verlangt – der Philosoph, um Achtung zu Zum Einfluss stoischen Denkens auf Camus siehe Reichenbach-Klinke (2014), 36–55. Dass Camus bereits in jungen Jahren Texte der Stoa studierte, belegt der Camus-Biograph Olivier Todd: „Camus, à dixsept ans, se sait mortel et à l’hôpital il lit Épictète, esclave affranchi, pauvre lui aussi.“ (Todd (1996), 62). 34 Camus (1965), 1427. 35 Camus (2011c), 11. 36 Vgl. Seneca, epist. mor. II, 16, 3. 37 Camus (2011a), 40. 38 Vgl. Reichenbach-Klinke (2014), 27. 39 Vgl. Lévi-Valensi (1997), 27. 40 Vgl. Marcel (1963), 65. 33

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genießen, ein Beispiel geben muss, dann begreift man die Wichtigkeit dieser Antwort, da sie ja der endgültigen Tat vorausgehen wird.“ 41 Ein weiteres, für unsere Thematik zentrales Merkmal von Camus’ Philosophie kommt in der intendierten Erweiterung des Adressatenkreises zum Ausdruck, die sich in der Wahl der Form seiner Texte niederschlägt. Das ist wiederum ein charakteristisches Merkmal des Existenzialismus im Allgemeinen. Wie nun zu zeigen sein wird, beschränkt Camus sich nicht auf das Verfassen philosophischer Traktate – solche sind bei ihm strenggenommen gar nicht anzutreffen –, sondern bedient sich diverser literarischer Darstellungsformen. So kann Reichenbach-Klinkes folgender Feststellung in Bezug auf die gesamte existenzialistische Philosophie auch mit Blick auf Camus zugestimmt werden: „Man bediente sich unkonventioneller Ausdrucksformen und wollte andere Kulturformen und Gesellschaftsschichten nicht vom Diskurs ausschließen. Durch diesen Abbau von Berührungsängsten sowie die Interaktion und gegenseitige Inspiration von Kunst, Literatur, Musik und Philosophie kommt es im Existenzialismus zu einer Vermischung verschiedener Ebenen.“ 42 Entscheidend vor dem Hintergrund der Popularisierung von Philosophie ist vor allem das Bestreben, keine gesellschaftliche Schicht von philosophischen Debatten auszuschließen, im Gegenteil wird der Versuch unternommen, eine größtmögliche Anzahl an Zuhörern aus der Breite der Gesellschaft zu erreichen, gerade weil Fragen der Existenz solcher Natur sind, dass sie jedes Individuum tangieren sollten. Die bisher erörterten Stellungnahmen Camus’ sind keine Gelegenheitsäußerungen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass schon der Systematik und Konzeption seines Gesamtwerkes ein Popularisierungsmotiv innewohnt. In einem Interview bekennt Camus, dass er von Beginn an einen präzisen Plan verfolgte und sein Werk auf drei Zyklen hin angelegt hat. Demzufolge ist es Forschungskonsens geworden, zwischen folgenden drei Werkzyklen zu differenzieren: dem Absurden, der Revolte und dem unvollendet gebliebenen Zyklus der Liebe. Von Bedeutung ist nun, dass jedes dieser Themen in drei unterschiedlichen literarischen Formen behandelt wird: „[I]ch wollte zunächst die Negation ausdrücken. In drei Formen. Romanhaft: Das war Der Fremde. Dramatisch: Caligula, Das Missverständnis. Ideologisch: Der Mythos des Sisyphos“ 43, so Camus. Dem Zyklus der Negation, d. h. des Absurden, widmete sich Camus also in Form eines philosophischen Essays (das ideologische Werk), eines Romans und eines Dramas. Die gleiche Methode wandte er in Bezug auf die Revolte an und beabsichtigte sie für die Liebe. Inwiefern kann dieser Umstand nun als ein Pro der Popularisierung von Philosophie interpretiert werden? Dieser Frage wollen wir nachgehen, indem die Interaktion von Philosophie und Literatur bei Camus eingehender analysiert wird. Im Rahmen der hiesigen Überlegungen müssen wir uns dabei freilich auf das Popularisierungsmotiv beschränken und können somit bei Weitem nicht die ganze Debatte um das Verhältnis von Literatur und Philosophie bei Camus behandeln.

41 42 43

Camus (2011c), 15. Reichenbach-Klinke (2014), 56 f. Camus (1965), 1610; Übers. O. V.

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2.2. Der Roman als eine in Bilder gefasste Philosophie Das Hauptaugenmerk soll auf der literarischen Gattung des Romans liegen, und ich möchte mich der Frage zuwenden, inwiefern der Roman im Sinne Camus’ als ein Medium zur Popularisierung von Philosophie betrachtet werden kann. Ist der Roman ein probates Mittel zur Erweiterung des Adressatenkreises? Fokussieren wir uns auf den Zyklus des Absurden und damit auf die Werke Der Fremde und Der Mythos des Sisyphos. Sartre verfasste eine Rezension zum Roman Der Fremde und rekurriert dabei auf das Sisyphos-Buch, das nur in einem geringen zeitlichen Abstand zum Roman erschienen ist. Camus arbeitete zeitgleich an beiden. Für Sartre steht fest, dass Camus mit dem Sisyphos-Mythos den Kommentar zum Roman geliefert hat. Wenige Zeilen darauf beschreibt er den philosophischen Essay sogar als „philosophische Übersetzung“ 44 des Romans. Folgt man Sartres Interpretation und erweitert sie, ließe sich anfügen, Der Fremde sei vice versa die literarische Übersetzung des philosophischen Essays. Wir werden jedoch gleich noch sehen, dass der Nutzen der Literatur für die Philosophie bei Camus über eine reine ‚Übersetzungsleistung‘ hinausgeht. Aus inhaltlichen Gesichtspunkten erscheint es naheliegend, den Roman als eine literarische Darstellung des Absurden zu typisieren, verkörpert doch der Protagonist Meursault die ganze Dramatik einer sich des Absurden bewusst gewordenen Existenz. Der Roman als Kunstwerk wird für Camus zur Inkarnation eines intellektuellen Dramas. 45 Die Gleichgültigkeit der Welt, die Tatsache, dass sie dem menschlichen Sinn- und Orientierungsstreben keine adäquaten Antworten liefert, und mögliche daraus resultierende fatale Folgen werden dem Leser des Romans anhand der Lebensgeschichte Meursaults im wahrsten Sinne vor Augen geführt. Das intellektuelle Drama des Menschen, sein Ruf nach Klarheit und Sinn, der auf das Schweigen der Welt trifft, fließt in eine bilderreiche Sprache ein. Ein solcher Interpretationsansatz knüpft an Camus’ eigene Ausführungen zur Funktion des Romans an. Für ihn ist ein Roman nichts anderes als eine in Bilder gefasste Philosophie, und in einem guten Roman sei schließlich eine ganze Philosophie in Bilder übergegangen. In seinen Carnets fügt er dazu an: „Man denkt nur in Bildern. Wenn du Philosoph sein willst, schreib Romane.“ 46 Aus dieser freilich überspitzten Formulierung ergeben sich jedoch innerhalb des Camusschen Werks zwei essentielle Punkte: Zum einen ist Camus dieser Aussage selbst treu geblieben, indem er Romane verfasst hat, zum anderen wird er damit im Sinne seiner Auffassung von Philosophie, d. h. einer lösungsorientierten Erhellung der sich aus der conditio humana ergebenden Probleme, selbst zum Philosophen. Als Romancier sah Camus die Chance, auch ein nicht-akademisches Publikum zu erreichen und für philosophische Inhalte zu sensibilisieren sowie schließlich zum Handeln aufzurufen. 47 Zwar stellt je nach Komplexität des Inhalts und der Form ein Roman nicht per se ein hinreichenSartre (1978), 79. Vgl. Camus (2011c), 118. 46 Camus (2011a), 19. Siehe auch Camus’ Rezension zu Sartres Der Ekel, wo er ausführt: „Ein Roman ist nichts anderes als eine in Bilder gefasste Philosophie. Und in einem guten Roman ist die ganze Philosophie in die Bilder eingegangen.“ (Camus (1965), 1417; Übers. O. V.). 47 Vgl. Reichenbach-Klinke (2014), 33. 44 45

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des Kriterium für ein Popularisierungsbestreben dar, dennoch wird er wohl nahezu immer ein größeres Publikum erreichen als ein fachphilosophischer Aufsatz. Zudem sind Themen und Sprache der existenzialistischen Romane auf einen breiten Adressatenkreis zugeschnitten und spielen auf zeitgenössische Ereignisse an – man denke allein an die Pest-Epidemie, die im Roman im übertragenen Sinne zwar nicht nur, aber auch für den Nationalsozialismus steht. Camus bedient sich der Literatur als Mittel der Veranschaulichung von Philosophie. Letztlich hat der Roman bei ihm noch eine gewichtigere Funktion inne, insofern dieser nicht bloße Veranschaulichung, sondern Anreicherung und schließlich die Krönung philosophischer Gedanken ist. Das romaneske Werk ist für Camus weitaus mehr als ein Instrument, um Philosophie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Es wird zu einem adäquaten Medium für Philosophie insgesamt, der Stil ist untrennbar mit dem Inhalt verbunden, er konstituiert ihn sogar ein stückweit mit. Wie ist das zu verstehen? Dazu lohnt ein Blick in das Kapitel „Philosophie und Roman“ aus Der Mythos des Sisyphos, in dem Camus selbst über jene Verhältnisbestimmung reflektiert. Der Roman repräsentiert für Camus „das Ergebnis einer oft unausgesprochenen Philosophie, ihre Veranschaulichung und ihre Krönung.“ 48 Einen Roman als Darstellung und Bebilderung philosophischer Gedanken anzusehen, erscheint erst einmal nicht abwegig. Doch inwiefern kann er zur Krönung von Philosophie werden, insofern ‚Krönung‘ eine Art Überbietung oder einen Mehrwert zu intendieren scheint, der über den reinen Veranschaulichungsaspekt hinausgeht? Camus’ Äußerungen zufolge ermöglicht ihm der Roman, „eher in Bildern als in Beweisführungen zu schreiben“ 49. Dahinter verbirgt sich allerdings eine erkenntnistheoretische Prämisse, insofern die Wahl des Darstellungsmediums eine bewusste Entscheidung bedeutet, die von „der Nutzlosigkeit eines jeden Erklärungsprinzips und von der lehrreichen Botschaft des sinnlich wahrnehmbaren Erscheinens“ 50 überzeugt ist. Die gewisse Formfreiheit, welche der Roman impliziert, ermöglicht Camus, der Prozesshaftigkeit seines Denkens in Bildern Rechnung zu tragen, etwas, das ihm in einem fachwissenschaftlichen Aufsatz, der strengen Argumentationsmustern verpflichtet ist, nicht möglich wäre. Die Inhalte des Denkens werden nun lebendig, zum Leben erweckt, was mitunter daran liegt, dass die für Camus essentielle Sphäre des sinnlich Wahrnehmbaren mit in die Erkenntnisgenerierung einbezogen wird. Neben dieser erkenntnistheoretischen Perspektive wird Camus seiner anthropologischen Prämisse, der Mensch denke nur in Bildern, gerecht. Stimmt man der Annahme zu, dass Denken nur oder zumindest primär in Form von Bildern geschieht und der Roman eine in Bilder gefasste Philosophie darstellt, ist dieser ein dem Menschen angemessenes Medium zum Philosophieren. Der Romancier wird, mit Milan Kundera gesprochen, zum „Erforscher der Existenz“ 51 und, so lässt sich ergänzen, zum Philosophen im existenzialistischen Sinne. Die These, Denken geCamus (2011c), 121. Camus (2011c), 121. 50 Camus (2011c), 121. Ergänzend dazu Camus (1965), 1417; Übers. O. V.: „Und es ist diese heimliche Vereinigung der Erfahrung und des Denkens, des Lebens und des Nachdenkens über dessen Sinn, die die großen Romanciers ausmacht.“ 51 Kundera (1987), 53. 48 49

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schehe einzig in Form von Bildern, ist freilich für sich genommen kontrovers. In unserem Kontext erklärt sich daraus jedoch, wieso Camus im Roman eine philosophische Ausdrucksform sehen konnte, welche zudem dem Popularisierungsmotiv nachkommt. Schauen wir exemplarisch noch einmal auf L’Étranger. Dort gelingt Camus etwas, das er in einem klassischen Traktat nicht realisieren könnte, nämlich das Absurde zum Leben zu erwecken, es innerhalb eines fiktionalen Rahmens zu konkretisieren. 52 Meursault reflektiert nicht bloß über das Absurde, er lebt es, daraus mögliche resultierende, mitunter gefahrbringende Konsequenzen werden für den Leser sichtbar. Der Roman wird zu einem Gedankenexperiment, potenzielle Handlungen und Lebensentwürfe können durchexerziert und durchgespielt werden. Unter Bezugnahme auf Camus geht Pierre Hadot in seinen Überlegungen zur Philosophie als Lebensform auf ebendiese Funktion des Romans ein: „Le roman est souvent la description d’une expérience existentielle que le lectuer peut refaire lui-même, au moins en pensée.“ 53 Für Camus sind es ohnehin die Folgen einer Erkenntnis dasjenige, was zählt und worauf es ankommt. 54 Durch Meursault wird die Lebensweise des absurden Menschen verkörpert und dem Leser als eine mögliche Existenzform samt ihrer Konsequenzen illustriert. So bemerkt Michael Lauble: „Was im Essay Der Mythos des Sisyphos philosophisch analysiert wird, wird im Roman Der Fremde als Befindlichkeit erzählt und als Atmosphäre durch Sprache und Erzählen selbst vermittelt“ 55. Das ist die von Sartre angesprochene Übersetzungsleistung des Romans. Das Klima der Absurdität, 56 von welchem Camus im Sisyphos-Buch spricht, wird spürbar und (nach-)empfindbar. Da der Mensch in Bildern denkt, wird dem Philosophierenden nahegelegt, dieser Tatsache zu entsprechen. Darin zeigt sich, an wen sich Philosophie bei Camus richtet, nämlich an alle Menschen. 57 Er wählt die Form der Texte demnach gemäß seinen anthropologischen Prämissen. Wie gesehen, war Sartre der Auffassung, der Existenzialismus müsse, um aufrichtig zu sein, gelebt werden. Camus erweckt nun mittels des Romans das Absurde fiktiv zum Leben, indem er ihm durch seinen Protagonisten ein Gesicht gibt. LéviValensi betont zu Recht, dass es nicht nötig ist, die philosophische Dimension der Romane eigens hervorzuheben, sie sei offensichtlich: „Faut-il alors rappeler le sens et la portée éthiques et métaphysiques du roman camusien? […] Faut-il démontrer que chacun à leur manière, Meursault, Rieux, Clamence, narrateurs de leur propre vie, sont porteurs d’une méditation […] sur les relations entre l’homme et le monde“ 58? Camus’ literarischen Werken ist sowohl ein metaphysischer als auch ein Gleiches ließe sich bzgl. des Theaters sagen, das sich zur Zeit des Existenzialismus großer Beliebtheit erfreute. Jene Theaterstücke vermitteln einen lebensnahen Zugang zur Dramatik der menschlichen Existenz und setzen philosophische Betrachtungen in eine direkte Beziehung zum konkreten Erleben. Vgl. dazu Hadot (2001), 222. 53 Hadot (2001), 222. 54 „Was mich interessiert sind, sind nicht so sehr die absurden Entdeckungen. Es sind deren Konsequenzen“, so Camus (2011c), 28. 55 Lauble (1984), 87. 56 Vgl. Camus (2011c), 24. 57 Vgl. Reichenbach-Klinke (2014), 32. 58 Lévi-Valensi (1997), 32. 52

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ethischer Gehalt inhärent. Die Figuren Meursault in Der Fremde oder Dr. Rieux in Die Pest vollziehen philosophische Betrachtungen über das Verhältnis von Mensch und Welt, von Menschen zu Menschen etc. Analog zum Fremden als eine in Bilder gefasste Philosophie des Absurden ist Die Pest eine in Bilder gefasste Philosophie der Revolte. 59 Dass die Funktion, die Camus dem Roman zuweist, für den Existenzialismus allgemein kennzeichnend ist, zeigt sich bei Simone de Beauvoir in ihrem Essay Literatur und Metaphysik: „Existentialismus will den Sinn innerhalb der Existenz begreifen; und wenn die Beschreibung des Wesens Gegenstand der Philosophie als solcher ist, ermöglicht nur der Roman, das Ursprüngliche der Existenz in seiner vollständigen, einmaligen und zeitlichen Wahrheit zu evozieren.“ 60 Eine Philosophie, die subjektive, individuelle und zeitliche Erfahrungen thematisieren möchte, kann dies nicht in zeitlosen, abgeschlossenen Systemen tun, ohne sich selbst zu widersprechen und jene zeitlichen Erfahrungen, die hier als Gewissheiten verstanden werden, zu leugnen. 61 Es gilt, die Form dem Gegenstand anzupassen. 62 Da individuelle Erfahrungen Gegenstand philosophischer Reflexion werden, widmet sich der Existenzialismus seinen Topoi im Medium der Literatur, weil diese, so Markus Wild, „Menschen in konkrete Situationen versetzt (im Drama) oder in den Hintergrund ihrer Lebensgeschichten einbettet (im Roman).“ 63 Insofern der Existenzialismus die Subjektivität der menschlichen Existenz in ihrer Unhintergehbarkeit der ersten Person Singular thematisiert, ist es auch nicht problematisch, dass der Roman als Fiktion keinen Anspruch auf Faktizität oder allgemeingültige Wahrheit erheben kann. Es genügt zuvorderst, wenn der Roman dem Leser dazu verhilft, eigenständige Reflexionen anzustellen, indem dieser an zwar fiktiven, aber konkreten Lebensgeschichten partizipieren kann. Mit Jeff Malpas wird Sartres Roman Der Ekel so zu einem „metaphysical journal“ 64, das die Gedanken und Erfahrungen der Figur Antoine Roquentin erzählt. Metaphysische Tragweite bekommt der Roman nicht zuletzt dadurch, dass die Handlung an der Erfahrung des Ekels, des grundlegenden Zwiespalts zwischen Mensch und Welt, ihren Ausgangspunkt nimmt. Der Ekel, der mit Camus’ Erfahrung des Absurden verglichen werden kann, verleiht den Überlegungen im Roman metaphysischen Gehalt, indem das Grundverhältnis von Mensch und Welt diskutiert wird. Dies soll den Leser dann wiederum zur Analyse seines eigenen Selbst- und Weltverhältnisses anregen. Bei Camus wird die Einbettung in Lebensgeschichten besonders in Der erste Mensch ersichtlich, was an dessen unverkennbar autobiographischem Tenor liegt. An Jaspers Bezeichnung der Grenzsituationen anknüpfend sieht Bollnow in Der Pest eine „dichterisch anschauliche“ und zugleich „in die systematischen Fragen einer philosophischen Existenzerhellung hinüberspielende […] Betrachtung über die Möglichkeiten menschlichen Verhaltens in Grenzsituationen.“ (Bollnow (1965), 39). 60 Beauvoir (1992), 95. 61 Vgl. Beauvoir (1992), 94. 62 Zu Der Fall hält Camus fest: „Ich habe die Form dem Gegenstand angepasst, das ist alles.“ (Camus (1965), 1927; Übers. O. V.). 63 Wild (2014), 39. 64 Malpas (2012), 300. 59

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Camus erzählt unter dem Pseudonym Jacques Cormery seine eigene Lebensgeschichte, er begibt sich auf Spurensuche nach seiner Herkunft. Der Leser wird in den Hintergrund und die Umstände einer Lebensgeschichte hineinversetzt, und durch die autobiographischen Anspielungen wirkt die Geschichte authentischer. „Containing similarly evocative descriptions that draw on Camus’s own life and experience, the novel explores the character of a life as worked out in relation to the places in which it is lived“ 65, so Malpas. Zugleich wird die Funktion des Romans so aufgefasst, dass er den Leser in den Erzählhorizont zu involvieren hat, dessen Mitarbeit ist gefragt und somit bekommt der Roman einen appellativen und verbindlichen Gestus. Bei Camus wird das in Der Fall besonders deutlich: Zu Beginn der Erzählung, in der Szene in einer Amsterdamer Bar, hat der Leser den Eindruck, selbst der Gesprächspartner des Protagonisten Clamence zu sein. 66 In dieser direkten Ansprache kann ein weiteres Popularisierungsmotiv gesehen werden. Vorteile literarischer Ausdrucksformen existenzialistischer Philosophie bestehen dabei darin: 67 (1) das Konkrete darzustellen. So können Handlungen in bestimmten Situationen in literarischen Texten durchgespielt werden. Letztere werden zu einer Art Gedankenexperiment, das zumindest im fiktionalen Rahmen konkretisiert werden kann. (2) Der Perspektivenwechsel von der abstrakten Ebene der Systematisierung hin zur konkreten Sphäre der Veranschaulichung ermöglicht ein adäquateres Beschreiben der Probleme der Existenz. Dadurch wird versucht, sich dem methodologischen Problem, Konkretes zum Gegenstand des Philosophierens werden zu lassen, anzunehmen. (3) Eng damit verbunden ist die Möglichkeit, den Menschen als ganzen (Geist- und Sinnenwesen) zu berücksichtigen. Gefühle und Emotionen können in literarischen Texten eher zum Ausdruck kommen als in einer rein theoretischen, intellektualistischen Abhandlung. (4) Diese literarische Form des Philosophierens ermöglicht eine direkte Anbindung des Lesers an den Text. Der Philosoph, sofern er seine Aufgabe darin sieht, seine Adressaten zu selbstständigem Denken zu animieren, hat die Möglichkeit, ein breiteres Publikum direkt anzusprechen. Es ist zwar kein Alleinstellungsmerkmal der Existenzialisten oder gar von Camus selbst, auf literarische Genera zurückzugreifen, ihre Themen können dadurch jedoch angemessen und für eine breite Leserschaft zugänglich problematisiert werden. Selbst in seinen explizit als philosophisch bezeichneten Schriften rekurriert Camus auf Mythen. Das ist sicherlich für einen philosophischen Text nicht üblich. Helden der griechischen Mythologie (Sisyphos, Prometheus, Nemesis) werden zu personifizierten Heroen dreier Werkzyklen. Die jeweiligen Themen erhalten durch sie, wie durch die Romanfiguren, ein Gesicht und können für den Leser zu einer Art Identifikationsfigur und Projektionsfläche werden. „Auf diese Weise glaubte Camus die conditio humana eindringlicher vor Augen führen zu können als durch eine systematische philosophisch-anthropologische Abhandlung.“ 68 Anhand dieser Interpretation von Kurt Salamun zeigt sich, wie aus dem Anspruch der existenzialisMalpas (2012), 310. Vgl. Malpas (2012), 308. 67 Die hier aufgelisteten Punkte (1) und (3) finden sich auch bei Joseph/Reynolds/Woodward (2011), 8. Für die übrigen und daran anknüpfenden vgl. Victor (2021), 281 f. 68 Salamun (2012), 148. 65 66

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tischen Philosophie, die Problemhorizonte der condition humaine sichtbar und anschaulich zu machen, das Selbstverständnis erwächst, sich einer breiten Masse mitzuteilen und die Form der Mitteilung daran anzupassen. Gleichwohl muss man sich bewusst sein, dass eine solche Darstellungsweise einen größeren Interpretationsund Auslegungsspielraum zulässt, was einem um letzte Klarheit und Eindeutigkeit bemühten Philosophieren nicht unbedingt entgegenkommen mag. So sind philosophische Gedanken, die in Mythen, Romanen oder Dramen zur Sprache kommen, naturgemäß vielschichtiger und entziehen sich einer finalen Deutung. Dieser Effekt ist durch die Existenzialisten selbst jedoch beabsichtigt und entspricht der bei ihnen häufig anzutreffenden Annahme eines erkenntnistheoretischen Perspektivismus. Bereits Kierkegaard war darum bemüht, die „unendliche Lebensmalerei mit ihrem bunten Farbenspiel und ihren unzähligen Nuancierungen“ 69 hervorzuheben und jedem Einzelnen zu seiner eigenen (Lebens-)Wahrheit zu verhelfen. Dies wiederum entspricht Camus’ Verständnis von Mythen: „Mythen leben nicht aus sich selber. Sie warten darauf, daß wir sie verkörpern.“ 70 2.3. „Etappen einer Heilung“: Philosophie als Therapie und Lebenskunst Bisher wurde Camus als ein Denker beschrieben, der ein praxisorientiertes Philosophieverständnis vertritt, für den die Philosophie einen direkten Bezug zum konkreten, situationsbezogenen Handeln haben soll und der deshalb versucht, mittels der Literarizität seiner Texte, eine möglichst große Anzahl an Zuhören zu adressieren, die nicht zwangsläufig über eine philosophische Ausbildung verfügen müssen. Abschließend soll sein Denken unter dem Motiv der Philosophie als Therapie und Lebenskunst eruiert und darin ein weiteres Moment einer gewissen Notwendigkeit zur Popularisierung von Philosophie, das sich aus diesem Philosophiebegriff selbst ergibt, herauskristallisiert werden. Exemplarisch wird dazu auf einen Tagebucheintrag mit dem programmatischen Titel „Etappen einer Heilung“ 71 eingegangen. Dabei soll im Unterschied zum Roman nicht das Tagebuch selbst als Medium zur Popularisierung von Philosophie ausgewiesen werden. Die inhaltlichen Aspekte lassen jedoch Camus’ Philosophie als eine Lebenskunst und Geisteshaltung erscheinen. Sein Denken wird beinahe zu einem therapeutischen Handbuch in Umgang mit der Absurditätserfahrung. Darin wurden Potenziale einer Psychologie des Absurden gesehen, in der sich wiederum Affinitäten zur Logotherapie manifestieren. 72 Dass für Camus gemäß stoischem Paradigma der Philosoph jemand ist, dem eine Vorbildfunktion zukommt, mag nicht mehr überraschen. Bemerkenswert ist, dass diese Vorbildfunktion in der gegenwärtigen französischen Philosophie weiterhin mit seinem Namen assoziiert wird und das ebenfalls in Abgrenzung zur wissenschaftlichen Philosophie. Der Gegenwartsphilosoph André Comte-Sponville beKierkegaard (2005), 23. Camus (1973), 159. 71 Vgl. Camus (2011b), 279–281. 72 So bei Thomas Pölzler, für den das eigentliche Potenzial einer Logik des Absurden erst in ihrer psychologischen Auslegung zur Sprache kommt. Vgl. dazu Pölzler (2016), 73–76. 69 70

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kennt etwas zugespitzt: „[I]l m’est indifférent que mes enfants lisent ou pas la Critique de la raison pure ou l’Éthique à Nicomaque; mais je regretterais pour eux, pour leur vie d’hommes, qu’ils ne lisent pas, un jour ou l’autre et si possible dans leur jeunesse, Le mythe de Sisyphe.“ 73 Camus’ Philosophie, die für unser Leben als Mensch im Hier und Jetzt maßgebend sein will, wird hier mit dieser Tatsache gegenüber vermeintlich indifferenten Systemphilosophien kontrastiert. Mit dieser Rolle des Philosophen gehen bestimmte Pflichten einher, die nicht zuletzt an das Authentizitätskriterium, der eigenen Lehren gemäß zu leben, gebunden sind: „Um die Welt ändern zu können, muß der Gedanke zunächst das Leben des Menschen ändern, der ihn denkt. Es muß sich in ein Beispiel verwandeln.“ 74 Dass diese Aufgabe keineswegs leicht zu realisieren ist, sondern zur Herausforderung, Pflicht und Bürde für den Menschen wird, dem war sich Camus bewusst. Er muss anerkennen: „Wir führen ein schwer zu lebendes Leben. Es gelingt nicht immer, sein Tun mit der eigenen Anschauung der Dinge in Einklang zu bringen.“ 75 Dennoch gilt es, das Verbleiben in reinen Abstrakta zu überwinden, die Brücke hin zum Konkreten zu bauen und den Übergang von einem bloßen savoir-faire hin zu einem savoirvivre zu vollziehen. 76 Einen wahrhaft therapeutischen Tenor erfährt vor diesem Hintergrund die Tagebuchnotiz „Etappen einer Heilung“, welche programmatisch Handlungsmaximen auflistet, deren Internalisieren und Habitualisieren der Verfasser sich zum Ziel setzt. 77 Camus’ Anspruch an die Philosophie als Lebensform und Lebenskunst, sich an alle Menschen zu richten und Hilfestellung in konkreten Lebenssituationen zu geben, kommt dort in besonderer Prägnanz und Selbstverpflichtung zum Ausdruck. Hier sei ein kurzer Blick in Camus’ Biographie gestattet. Seit seiner Jugend leidet Camus an einer Tuberkuloseerkrankung, die ihn Zeit seines Lebens wiederholt zu Arbeitspausen, Krankhaus- und Kuraufenthalten zwingt. In diesen Phasen liest er Texte später römischer Stoiker wie Epiktet, Marc Aurel oder Seneca. Affinitäten zu deren Denken sind sowohl auf formaler als auch inhaltlicher Ebene offensichtlich: „Mit dem Tod ins reine kommen, das heißt ihn akzeptieren. […] Methode: Sobald das Angstgefühl auftaucht, vom ersten Alarmzeichen an, beschleunigte oder verlangsamte Atmung. […] An der Wirklichkeit der Menschen und der Dinge festhalten. […] Die Energie wiederfinden – in der Mitte.“ 78 Allein der formale Aspekt, rhapsodischer Auflistung von Handlungsmaximen, erinnert an stoische Texte wie die Selbstbetrachtungen des Philosophen-Kaisers Marc Aurel. Auch in der Philosophie der Stoa wird besonderer Wert auf das Einüben gelegt, und insofern sei Philosophie als Lebenskunst dort vor allem eine Kunst im Sinne einer technê. 79 Unter dem Motiv der Comte-Sponville (1997), 159 f. Camus (2011a), 329. 75 Camus (2011a), 58. 76 Vgl. hierzu Camus (2011c), 118. 77 In dieser Hinsicht kann das Verfassen eines Tagebuchs eine Möglichkeit sein, die eigenen (philosophischen) Einsichten im Blick zu behalten. Ernst (2016), 308 erläutert das am Beispiel Marc Aurels. 78 Camus (2011b), 279 f. 79 Vgl. dazu Ernst (2016), 306. Camus steht hier in der Tradition Marc Aurels, dessen Niederschriften als geistige (Ein-)Übungen klassifiziert werden können. Zu Marc Aurel vgl. Hadot (1997), 80–84. 73 74

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Sorge um das eigene Selbst gilt es, die für sich gewonnenen Erkenntnisse in die Tat umzusetzen und das eigene Leben ihnen gemäß zu gestalten. Für unsere Belange können wir uns auf diese kurzen Formanalysen beschränken. Inhaltliche Parallelen zum Denken der Stoa, wie die Lehre des mittleren Maßes oder die Akzeptanz der eigenen Sterblichkeit und des Schicksals sind ebenso präsent. Zu betonen ist zudem, dass es sich um Maximen handelt, die der Verfasser zu seinen eigenen Idealen und Prinzipien erhebt, er stellt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Universelle Handlungsprinzipien kann eine existenzialistische Ethik aufgrund ihrer metaphysischen Prämissen ohnehin nicht formulieren. Sie kann einzig versuchen, die eigene Lebensweise als eine mögliche Existenzform authentisch zur Darstellung zu bringen. Die Bewertung und Stellungnahme zu dieser bleibt auf Seiten des Lesers, hier wird sein aktiver Part gefordert. Diese Intention lag auch den Romanen zugrunde. Camus listet in seiner Tagebuchnotiz Maximen auf, die für ihn im Laufe seines Heilungsprozesses zu verwirklichen sind, ihm als Orientierungs- und Leitfaden dienen können. Philosophie wird zur Therapie und Praxis sowie einer ars vitae 80 im stoischen Sinne. Mark Orme konstatiert: „Camus appears to be writing primarily for his own benefit and for therapeutic reasons, in keeping with the ‚stages of a recovery‘ in the Carnets“ 81. Dass Camus vorrangig für seinen eigenen Nutzen schreibt, muss jedoch relativiert werden. Er rekurriert zwar auf persönliche Erlebnisse, was schon allein am subjektiven Gestus seiner Schriften liegt, und stellt dabei den einzelnen Existierenden in den Mittelpunkt. Das bedeutet aber nicht, dass er primär für sich selbst schreibt, zumal der Philosoph zugleich als Beispiel fungieren soll. In Affinität zu Schriften der Stoa, man denke z. B. an Senecas Trostschrift an Marcia, die sich dezidiert an den Trauernden richtet, haben auch Camus’ Texte einen genuin therapeutischen Tenor. Gleichsam lässt sich Abels Typisierung der stoischen Philosophie als einer Philosophie der Krise 82 auf Camus beziehen. In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises betont Camus die Pflicht des Künstlers, die nach ihm auch die des Philosophen ist, die Gemeinschaft der Menschen zu binden und dafür aus der Einsamkeit des künstlerischen Schaffens heraustreten zu müssen: „Da seine Berufung von ihm fordert, die größtmögliche Zahl von Menschen zu verbinden, kann sie sich nicht in Lüge und Knechtschaft schicken, die, wo immer sie herrschen, zahllose Menschen der Einsamkeit überantworten.“ 83 Jenes Heraustreten lässt sich als ein In-die-Öffentlichkeit-Treten des Philosophen verstehen. 3. Fazit Die Philosophie des Existenzialismus insgesamt und Camus’ Philosophie im Besonderen sind als eine Denkbewegung in Erscheinung getreten, die sich der Gesellschaft als ganzer öffnet, den philosophischen Diskurs selbst in das öffentliche Leben 80 81 82 83

Vgl. Sasso (1997), 210. Orme (2007), 196 f. Vgl. Abel (1978), 44. Camus (1997), 226.

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hinein verlegt. Als eine Philosophie des Engagements mit einem praxisorientierten Philosophieverständnis, in dem den Philosophen eine Beispielfunktion zukommt und besonderer Wert auf das Kriterium der Konformität von Leben und Lehre gelegt wird, können die Vertreterinnen und Vertreter dieser Philosophietradition zu den Befürwortern der Popularisierung von Philosophie gezählt werden. Literarische Darstellungsformen zeugen von dem Bemühen, den Adressatenkreis zu erweitern und ebenso erkenntnistheoretischen und anthropologischen Prämissen der eigenen Philosophie zu entsprechen. Im Gegensatz zur vermeintlich abstrakten Systemphilosophie wird eine Philosophie als Lebensform und Lebenskunst propagiert, und so zeigt sich, dass sich aus einem bestimmten Philosophiebegriff heraus eine Selbstverpflichtung zur Popularisierung ergeben kann, welcher dann auf der Ebene der Form nachgegangen werden muss. Ein solches Verständnis von Philosophie ist keineswegs obsolet oder überholt, sondern bleibt auch gegenwärtig in einer analytisch und akademisch geprägten Philosophie relevant. Zwar wird klassischer Weise der Existenzialismus der Art von Philosophie zugerechnet, die im Gegensatz zur analytischen Philosophie steht, etwa bei Peter Strawson: Es gibt eine Art von Philosophie, […] die Art mehr oder weniger systematischer Reflexion über die Situation des Menschen, die man etwa bei Heidegger, Sartre und Nietzsche findet, […] – eine Reflexion, die manchmal neue Perspektiven des menschlichen Lebens und Erlebens aufzeigt. Der analytische Philosoph hingegen – zumindest wie ich ihn verstehe – verspricht keine dergestalt neue und offenbarende Vision. […] Denn der selbstverliehene Titel ‚analytischer Philosoph‘ deutet schon an, daß die beste Beschreibung seiner Hauptbeschäftigung ‚Begriffsanalyse‘ ist. 84

So ist es von besonderem Interesse, wenn Anton Hügli bemerkt, dass gerade über die Strömung der analytischen Philosophie wieder verstärkt ins Bewusstsein rückt, dass Philosophie neben der Begriffsanalyse noch eine weitere wesentliche Rolle habe, wie er mit Richard Rorty erläutert. Vor allem in der Tradition des Existenzialismus komme der Philosophie nämlich die Funktion zu, „dem Menschen neue Beschreibungen seiner selbst unter neuen Begriffen zu ermöglichen und ihm dadurch zu erlauben, andere Einstellungen zu sich und zur Welt zu gewinnen und sich selber zu transformieren. ‚Edifying‘, bildend, nennt Rorty diese Funktion“ 85. Rorty spricht wörtlich davon, dass dem Existenzialismus als einer bildenden Philosophie eine soziale Aufgabe zukommt. 86 Er stellt in Der Spiegel der Natur die bildende Philosophie der systematischen Philosophie gegenüber. Letzterer gehe es darum, die Philosophie auf den sicheren Pfad einer Wissenschaft zu führen, wohingegen die bildende Philosophie eine soziale Rolle erfülle, indem es ihr wesentliches Anliegen sei, ein Gespräch und einen Diskurs innerhalb der Generation ihrer jeweiligen Epoche in Gang zu bringen und zu halten. 87 Insofern der Philosophie eine bildende und, im Strawson (1994), 12. Hügli (2007), 210. 86 Vgl. Rorty (1987), 410. Sartre spricht von einer sozialen Funktion, welche die Literatur insgesamt zu erfüllen habe, vgl. dazu Sartre (1945), 8. 87 Vgl. Rorty (1987), 400 sowie Rorty (1987), 408–410. 84 85

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Sinne Kierkegaards, eine erbauliche Funktion zugeschrieben wird, zeigt sich, dass sie sich nicht damit begnügen kann und darf, sich nur an ein rein wissenschaftliches Fachpublikum zu adressieren. Der (Existenz-)Philosoph muss seinem Auftrag, den Menschen zu neuen Beschreibungen ihrer selbst und ihrer Umwelt zu verhelfen, nachkommen. Eine solche Philosophie kann nur eine für alle Menschen sein, vorausgesetzt natürlich – wie schon Sartre betont –, dass ihre Inhalte nicht entstellt oder gar verfälscht werden. 88 LITERATURVERZEICHNIS Abel, G. (1978), Stoizismus und Frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik, Berlin/New York. Amiot, A.-M./Mattéi, J.-F. (1997), Albert Camus et la philosophie, Paris. Arendt, H. (1946), „French existentialism“, in: The Nation 162/8, 226–228. Beauvoir, S. de (1992), Auge um Auge. Artikel zu Politik, Moral und Literatur. 1945–1955, Reinbek. Blasberg, C. (2004), „Vorwort“, in: Dies. (Hg.), Denken/Schreiben (in) der Krise. Existentialismus und Literatur, St. Ingbert, 7–15. Bollnow, O. F. (1965), „Albert Camus. Die Pest“, in: Ders., Französischer Existentialismus, Stuttgart, 39–52. Camus, A. (1965), Essais, Paris. – (1973), Literarische Essays, Reinbek. – (1997), Fragen der Zeit, Reinbek. – (2011a), Tagebücher. 1935–1951, Reinbek. – (2011b), Tagebuch. März 1951–Dezember 1959, Reinbek. – (2011c), Der Mythos des Sisyphos, Reinbek. Cohen-Solal, A. (1988), Sartre. 1905–1980, Reinbek. Comte-Sponville, A. (1997), „L’absurde dans Le mythe de Sisyphe“, in: Amiot, A.-M./Mattéi, J.-F. (Hgg.), Albert Camus et la philosophie, Paris, 159–171. Decher, F./Hennigfeld, J. (1992), Philosophische Anthropologie im 19. Jahrhundert, Würzburg. Diem, H. (1956), „Sokrates in Dänemark“, in: Ders. (Hg.), Kierkegaard, Frankfurt a. M., 7–24. Engels, F. (1978), Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, Berlin. Ernst, G. (2016), „Philosophie als Wissenschaft oder als Lebenskunst? Einige zeitgenössische Betrachtungen“, in: Ders. (Hg.), Philosophie als Lebenskunst. Antike Vorbilder, moderne Perspektiven, Berlin, 300– 321. Foulquié, P. (1947), L’Existentialisme, Paris. Gadamer, H.-G. (1987), Gesammelte Werke. Band 4. Neuere Philosophie II. Probleme. Gestalten, Tübingen. Galle, R. (2009), Der Existenzialismus. Eine Einführung, Paderborn. Großheim, M. (2007), „Engagement“, in: Hügli, A./Thurnherr, U. (Hgg.), Lexikon Existenzialismus und Existenzphilosophie, Darmstadt, 59–63. Hadot, P. (1997), Die innere Burg: Anleitung zu einer Lektüre Marc Aurels, Frankfurt a. M. – (2001), La philosophie comme manière de vivre, Paris. Hegel, G. W. F. (1970), Jenaer Schriften 1801–1807, Frankfurt a. M. – (1986), Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M. Huisman, D. (2005), Histoire de l’existentialisme, Paris. Hügli, A. (2007), „Philosophie“, in: Ders./Thurnherr, U. (Hgg.), Lexikon Existenzialismus und Existenzphilosophie, Darmstadt, 205–210. Joseph, F./Reynolds, J./Woodward, A. (2011), „Introduction“, in: Dies. (Hgg.), The Continuum Companion to Existentialism, London, 1–14. Für wertvolle Hinweise sowie eine kritische Durchsicht des Manuskripts danke ich Frauke Albersmeier und Dennis Sölch. Ein besonderer Dank gilt ebenso den anonymen Gutachtern des Philosophischen Jahrbuchs für weitere hilfreiche Anmerkungen und Hinweise.

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Die Bedeutung der Carnets Emmanuel Levinas’ (Tagebücher 1940–1945) für eine künftige Geschichte humanen Denkens Klaus KIENZLER (Augsburg)

1. Die Humanität der Carnets Emmanuel Levinas’ im Buch Geisel von Bernhard Casper Bernhard Casper legte innerhalb von 10 Jahren zwei Sammelbände mit zentralen Themen zur Philosophie Emmanuel Levinas’ vor, nämlich 2009 Angesichts des Anderen und 2020 Geisel für den Anderen. Dazwischen sind in Frankreich die wichtigen Carnets de captivité (Aufzeichnungen aus der Gefangenschaft) Levinas’ erschienen. Casper versucht eine Fortschreibung und Vertiefung der Philosophie Levinas’ vor diesem Hintergrund. Die beiden Sammelbände sind: Bernhard Casper, Geisel für den Anderen – vielleicht nur ein harter Name für Liebe. Emmanuel Levinas und seine Hermeneutik diachronen da-seins, Freiburg/ München: Alber 2020, 240 S., ISBN 978-3-495-49080-8. Bernhard Casper, Angesichts des Anderen. Emmanuel Levinas – Elemente seines Denkens, Paderborn: Schöningh 2009, 180 S., ISBN 978-3-506-76771-4. Im Jahre 2015 stellte Bernhard Casper die Carnets de captivité (Aufzeichnungen aus der Gefangenschaft) von Emmanuel Levinas mit den Worten vor: „Wenn unsere gegenwärtige Epoche der Globalisierung von einem durchgehenden Merkmal gekennzeichnet ist, dann dem, dass wir uns in ihr mehr als je zuvor mit der Frage nach der Menschlichkeit des Menschen konfrontiert finden. Denn angesichts der Erreichbarkeit von allen für alle und der technischen Mittel, die wir besitzen, um uns in einem Gattungssuizid selbst zu vernichten, hängt unser globales Überleben schlechthin davon ab, ob es uns gelingt, in dieser Frage einen Weg in die Zukunft zu finden, – und ob wir willens sind, ihn zu gehen.“ 1 – Die Rede vom Gattungssuizid ist ein starkes Wort. Am Schicksal von Levinas, das dieser in den Carnets schildert, findet es seine Berechtigung. Bisweilen droht uns das Wort auch in neuerer Zeit, wenn wir etwa an die Jahre 1989 f. oder 2015 denken. Bernhard Casper selbst widmete sich vor allem der Begegnung mit wichtigen Denkern des 20. Jahrhunderts wie Franz Rosenzweig und Emmanuel Levinas. Er 1

Casper (2015a), 242.

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schlug eine Brücke zu deutsch-französischen Begegnungstreffen mit Levinas. Im Jahr 2020 gab Casper dann einen weiteren Band mit Beiträgen zu Levinas heraus: „Geisel für den Anderen – vielleicht nur ein harter Name für Liebe“. 2 Dort schreibt er in den ersten Sätzen des Vorwortes: „Wenn es in unserer Epoche der unwiderruflichen Globalisierung, in der zum ersten Mal in unserer menschlichen Geschichte alle Menschen allen anderen Menschen auf diesem Planeten Erde wie nie zuvor gegenwärtig geworden sind, eine Frage vor allen anderen Fragen gibt: Und was jetzt? Wohin gehen wir in der […] Gegenwart aller für alle?“ (9) 3 – Es ist die Frage der Jahre 2020 f. Es ist die Frage nach der Menschlichkeit des Menschen, die Casper immer wieder an Levinas stellt. Emmanuel Levinas, 1906 in Kaunas in Litauen geboren, studierte zu Beginn der 20er Jahre bei dem Husserl-Schüler Jean Hering in Straßburg. Nach Studien von 1928–1929 bei Edmund Husserl und Martin Heidegger promovierte er 1930 mit einer Dissertation zu Husserl, der ersten zu Husserl in Frankreich. Er nahm die französische Staatsbürgerschaft an und diente beim Ausbruch des 2. Weltkrieges in der französischen Armee. 1942 wurde er in das Kriegsgefangenenlager Stalag XI/B-1492 in der Lüneburger Heide überführt (17 ff.). In den Carnets schreibt er: „Wir waren nur mehr scheinbar Menschen, in Wirklichkeit aber nichts anderes als eine Horde Affen […]. Man zog uns unsere menschliche Haut ab […]. Ein armseliger innerer Widerspruch erinnerte uns daran, dass wir Vernunftwesen waren. Aber wir gehörten nicht mehr zu dieser Welt.“ Levinas schildert, wie ein Hund die Gefangenen an ihrem Geruch als Menschen erkannte und sie jedes Mal freudig begrüßte. Levinas nennt diesen Hund „Bobby“ den „großen Bewacher der Menschenwürde“, „den letzten Kantianer, den es in Nazi-Deutschland gab“. 4 Vor diesem Hintergrund ist das philosophische Werk Levinas’ heute zu lesen. Levinas hat im Gefangenenlager nichts mehr, was ihm gehörte. Auch sein Name ist ihm genommen worden. Er ist nichts weiter als eine Nummer. Die Carnets zeigen, wie Levinas sich die letzten Fragen stellt, die ihn als Menschen in dieser Situation bedrängen. Die letzte, höchst spekulative Frage, die er aus der Philosophie kannte, reichte jetzt nicht mehr aus: „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“ (Schelling) Jetzt ist es die Frage eines konkreten Menschen in dieser bestimmten geschichtlichen Situation: „Warum darf ich als ich selbst denn überhaupt sein?“ (66 f.) 2. Die beiden Bände „Geisel“ und „der Andere“ von Bernhard Casper Emmanuel Levinas ist 1995 in Paris gestorben. Das Gespräch mit ihm und die Forschung über ihn wurde danach etwa 10 Jahre weiter gepflegt. Dann wurde es Der Titel des Buches geht auf ein Wort von Levinas zurück (vgl. Casper (2020), 24). Alle direkt im Haupttext in Klammern angegebenen Seitenzahlen verweisen auf die entsprechende Seite von Casper, B. (2020), Geisel für den Anderen – vielleicht nur ein harter Name für Liebe. Emmanuel Levinas und seine Hermeneutik diachronen da-seins, Freiburg/München. 4 Casper (2015a), 242–244. 2 3

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ruhiger. Das dürfte mit dem philosophischen Denken Levinas’ zusammenhängen. Charakteristisch dafür ist das zeitlebens lebendige Gespräch von Levinas etwa mit Strasser, Casper, Derrida, Ricoeur, Marion, Krewani. Waldenfels und Tengelyi haben dieses Gespräch nach dem Tod Levinas’ innerhalb der französischen Phänomenologie ein- und weitergeschrieben. Die Veröffentlichungen der Carnets brachten dann eine gewisse Relecture – in Frankreich stärker, in Deutschland von Casper mit einer Anzahl von Artikeln. Casper hat seine Beiträge zur Philosophie Levinas’ in zwei Sammelbänden herausgegeben, zunächst: Angesichts des Anderen. Emmanuel Levinas – Elemente seines Denkens (2009). Der Inhalt entspricht dem Titel: Es ist keine systematische Darstellung des Werkes von Levinas, aber darin sind die zentralen Elemente des Denkens des französischen Philosophen zusammengefasst wie „Menschsein“, „Illéité“ (Rede von Gott), „Schöpfung“, „der Andere“, „Verantwortung“, „der Dritte“, „Zeit“ und Andere. 2020 hat Casper dann den zweiten Sammelband von Beiträgen nachgelegt: ‚Geisel für den Anderen – vielleicht nur ein harter Name für Liebe‘. Emmanuel Levinas und seine Hermeneutik diachronen da-seins (2020). Der neue Band hat einen gewichtigen Grund: Zwischen dem ersten Band 2009 und dem zweiten 2020 sind in Frankreich die ersten drei Bände der Œuvres complètes (hg. von J. L. Marion) erschienen, der geplanten Gesamtausgabe der Schriften Levinas’, wobei die ersten drei, die sogenannten Carnets, bisher unveröffentlichte „Aufzeichnungen“ enthalten. Diese haben zweifellos große Bedeutung für das Verständnis des Denkens und der Schriften Levinas’. Eine deutsche Übersetzung gibt es bis heute leider nicht. 5 Casper hat 2015 die drei Bände rezensiert: Œuvres complètes, Tome 1: Carnets de captivité et autres inédits. Paris: Éditions Grasset & Fasquelle 2009. 512 S., enthält Aufzeichnungen, die Levinas zwischen 1940 und 1945 im jüdischen Lager für Kriegsgefangene in mehrere Hefte eingetragen hat. Es sind philosophische Notizen, die gerade für die Gestalt und Tiefe der späteren Schriften äußerst aufschlussreich sind. – Tome 2: Parole et silence et autres inédits au Collège philosophique. 2011. 416 S., enthält u. a. neun Vorlesungen, die Levinas am Collège Philosophique unter Jean Wahl 1947 gehalten hat, und 19 weitere an der Israelitischen Schule, von denen die erste als Schrift Le temps et l’autre (1946/47) erschienen ist. Weitere Manuskripte sind Wege zu dem ersten großen Werk Levinas’ Totalité et Infini. Essai sur l’exteriorité (1962). – Tome 3: Eros, littérature et philosophie. Essais romanesques, notes philosophiques sur le thème d’éros. 2013. 384 S., enthält zwei Romanfragmente. 6 3. da-„sein“ Das Studium der Carnets ermöglicht einen vertieften Blick in die Genese des philosophischen Gesamtwerkes von Levinas. In einem späteren Rückblick auf sein 5 6

Casper (2015a), 244 f. Casper (2015b), 103–107.

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Werk spricht Levinas von zwei unterschiedlichen Wegen. Der eine Weg ist der „vom Sein zum Seienden“, der den Ausbruch des Seienden aus der Totalität des Seins verfolgt (TU) 7 und der andere Weg ist der „vom Seienden zum Anderen“, der den Weg vom Seienden zum Anderen nimmt (JS) 8. Beide Wege sind in den Carnets noch verschlungen. Es zeichnen sich aber Schwerpunkte ab. 9 Dem ersten Weg geht es um die Alternative zur abendländischen Philosophie, zur Totalität des Seins; er kann mit Levinas als Weg vom „Sein zum Anderen“ bezeichnet werden. Das Aufbrechen der Totalität des Seins durch den Anderen wird in Levinas’ Werk vor allem auf drei Weisen durchgeführt. In Unterschrift (Signature) nennt er dazu die drei Dimensionen „der Zeit, Sprache und Subjektivität“. 10 Es sind die drei großen Themen des Anderen (Subjektivität), der Sprache und der Zeit. Sie werden uns im Folgenden leiten. „Husserl war nach Bergson und vor Rosenzweig der entscheidende Moment in meinem philosophischen Leben“, bekennt Levinas 1981 selbst (24 f.). Rosenzweig hat auf die Frage nach dem wirklichen Menschsein geantwortet: ‚Ich bedarf, um wirklich zu sein, des Anderen wie der Zeit.‘ 11 Hier gilt die Aufmerksamkeit jedem einzelnen Wort. Levinas kann uns dabei daran erinnern, aufmerksam zu sein auf das verbale „sein“, auf die „Zeit“ und auf den „Anderen“. „da-sein“ ist Teil des Titels des Sammelbandes von Bernhard Casper „Hermeneutik diachronen da-seins“. Auf das verbale „sein“ und auf die „Zeit“ wurde Levinas bereits bei Bergson aufmerksam. Er spricht davon, dass ihm Bergson eine neue Sicht der Zeit ermöglicht habe (39 f.). Bergson komme das Verdienst zu, die Zeit des Lebendigen, la durée, gedacht und vom bestehenden Modell der physikalischen Zeit getrennt zu haben. Dies hätte auch für Husserl und Heidegger die Möglichkeit ergeben, Zeit anders zu denken, die endliche Zeitlichkeit des Da-„seins“ zu denken. 12 „Zeit“ ist für Levinas dann philosophisch überraschend zuerst das Verhältnis des Subjekts zum „Anderen“. Die erste frühe Schrift nach der Befreiung trägt dann den Titel Die Zeit und der Andere (1946/47). Rosenzweig hat die Verbindung zwischen „Sein“ und „Zeit“ klar benannt: „Sein ist erst dadurch, dass es sich zwischen Menschen zeitigt. ‚Ich bedarf, um wirklich zu sein, des Anderen wie der Zeit.‘“ 13 „Sein“ ist verbales „sein“, ist „zeitigen“; Da-„sein“ ist „Sich-zeitigen“. Aber der Sinn des (verbalen) „sein“ und der „Zeit“ waren philosophisch nicht vorgegeben. Sie waren das große Thema von Heidegger, den Levinas neben Husserl in Freiburg gehört und studiert hatte. Und Levinas macht aus seiner Bewunderung für Heidegger keinen Hehl, obwohl er für ihn später zum Todfeind wurde. Die frühe Begeisterung für Heidegger hatte zum Grund, wie Heidegger von dem „sein“ sprach, nämlich auf eine neue, in der Philosophie nicht gehörte Weise, die Levinas nicht vergessen konnte. Levinas (1987). Levinas (1992). 9 Levinas (1983), 18–19, 142, 310. 10 Levinas (1976), 110. 11 Rosenzweig (1984), 150 f. 12 Levinas (1991), 18 f. 13 Casper (2015a), 57. 7 8

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Dafür spricht das Urteil Levinas’ zu Heideggers Sein und Zeit. „Heideggers Sein und Zeit, […] das ist ein Buch, das man nur dem Phaidros von Plato, der Kritik der reinen Vernunft von Kant und der Phänomenologie des Geistes von Hegel vergleichen kann. Ich gestehe es jedes Mal offen, obgleich ich den Heidegger von 1933/34 nie entschuldigen konnte“ (25, 50), so beschreibt Levinas selbst die Bedeutung von Sein und Zeit (45). Heideggers epochemachendes Werk signalisierte für Levinas einen Durchbruch, der ein von Grund auf neues Denken ermöglichte. Dieses erlaubte eine ganz neue Sicht auch auf den Menschen. Levinas hörte in Freiburg im Wintersemester 1928/29 Heideggers Vorlesung „Einleitung in die Philosophie“, in welcher dieser die zentrale These vortrug, dass der Ort der Wahrheit „nicht der Satz“ sei, „sondern das Da-sein“ (104). 14 Die Begeisterung Levinas’ für Heideggers „sein“ betraf zuerst nicht den wörtlichen Begriff des verbalen „sein“, sondern Heideggers Emphase galt dem „Leben“ und „Existieren“. Aber Heidegger setzte sehr bald an deren Stelle das verbale „sein“. Deshalb trifft, was Levinas zum Existieren sagt, ganz auf den Sinn von „sein“ zu. Levinas: „Hier nimmt das Verb ‚existieren‘ in gewisser Weise einen aktiven Sinn an. Man könnte vielleicht sagen, daß alle Philosophie Heideggers darin besteht, das Verb existieren als transitives Verb zu betrachten.“ Levinas weist darauf hin, dass Heidegger auf einen Sinn von Sein hingewiesen habe, der weithin vergessen wurde. Vom Sein (être) hat man üblicherweise gesprochen, als wäre es ein Substantiv, obwohl es das Verb schlechthin ist (être). Mit Heidegger sei die Verbalität des Wortes sein wiederentdeckt worden. Sein ist vor allem Geschehen und Ereignis. 15 „Sein“ ist kein Substantiv, sondern „transitiv“. Wie ist das transitive verbale „sein“ zu verstehen? Hannah Arendt hat es einmal deutlich gemacht. Sie beschrieb das Denken Heideggers überzeugend als ein „transitives“ Geschehen, das nicht zuerst ein „Denken über etwas“, sondern ein „Etwas Denken“ sein wollte. Denken ist unserem allgemeinen Verständnis nach ein „Denken über etwas“, Denken und Gegenstand stehen sich gegenüber, Denken ist gegenständliches Denken. „Etwas denken“ dagegen geht nicht auf ein konkretes Etwas, sondern vor allem auf den Vollzug des Denkens selbst. Solches Denken ist transitiv. Es stellt sich das Etwas nicht als Objekt gegenüber, sondern geht sozusagen in das Etwas über, um es nicht von außen, sondern von sich selbst her zu bedenken. Denken und Etwas bilden keinen Gegensatz, sondern bilden eine Einheit, eben das „Etwas Denken“. Levinas gibt das transitive Verhältnis des „seins“ oft auch so wieder: „[S]o hat das Verb ‚sein‘ immer ein Akkusativobjekt: ich bin mein Schmerz, ich bin meine Vergangenheit, ich bin meine Welt.“ In der Begegnung mit dem Anderen ereignet sich das Durchdringen des Selbst mit dem Anderen, das Selbst geschieht im wirklichen Transzendieren. Levinas überwindet Heideggers Begriff des Daseins auf nicht reversible Weise. Da-„sein“ ist Da-„Sein für Andere“. Levinas spricht von „transitiver Intentionalität“ in deutlicher Absetzung von der „Intentionalität des Bewusstseins“ Husserls. Und hier liegt der Unterschied von Le-

14 15

Vgl. Heidegger GA 27, 109. Levinas (1949), 80.

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vinas zu Husserl sowie Heidegger. Husserl ging von der Intentionalität des Bewusstseins als „objektivierender Intentionalität“ aus, also dem Gegenüber von Subjekt und Objekt. Deshalb sprach Levinas von der „nicht-intentionalen Intentionalität“, weil ihr nicht das Gegenüber von Objekt und Subjekt zu Grunde liegt, sondern gerade das Durchdringen beider wie beim „Etwas-denken“. „Da-sein“ ist ein großartiges Wort. Es ist in andere Sprachen kaum zu übersetzen. Schon bei Heidegger ist Dasein kein opakes „Da“, kein beliebig Vorhandenes, sondern ein sich selbst gegenwärtiges „Da“ (105 f.). Aber es ist nach Levinas nicht nur sich selbst gegenwärtig, sondern gegenwärtig „im Angesicht des Anderen“: „Hier bin ich (me Voici)“ 16, kein „selfie“, sondern im Widerspiegel vom Anderen her, im Antworten auf den Anruf des Anderen. Levinas gebraucht für das „Da“ das Französische „me Voici (hier bin Ich)“. Das „me“ ist Akkusativ, nicht „Moi“ Nominativ. Das Ich präsentiert sich als „me“ im Akkusativ, als angerufen vom Anderen, nicht als „Moi“, als Behauptung des Subjekts. Levinas gibt das „Moi“ = „responsabilité“ grundsätzlich wieder: als „Selbst“ = „Verantwortung“ (für den Anderen). 17 4. „Sprechen“ (dire – dit) Ein Großteil der philosophischen Äußerungen Levinas’ in den Carnets haben das „Sagen“ bzw. „Sprechen“ (dire) zum Thema. Casper widmet ihm das Kapitel „2. Das diachrone Ereignis von Sprache in ihrem ‚ganz wirklichen Gesprochenwerden‘ “ (75– 89). In die Formulierung des Kapitels geht der Einfluss des Sterns der Erlösung Rosenzweigs ein. Denn in dessen Mittelpunkt steht das „Sprechen“ der Offenbarung als das „wirkliche Gesprochenwerden der Sprache“, als das geschehende „ereignete Ereignis“ (50). Die Phänomenologie des „Sagens“ ist die „Urhandlung“ (91) des fundamentalen Verständnisses und der Erfahrung des „Selbst“ („Moi“). Das „Sagen“ gibt die „Ursituation“ des wirklichen Menschseins wieder (22): „Das Gesicht spricht.“ „Das Antlitz 18 spricht. Die Manifestation des Antlitzes ist schon Rede.“ „Die Epiphanie des Antlitzes ist ganz und gar Sprache.“ 19 Das Erste, wo der Andere begegnet, ist das Gesicht. Damit ist aber nach Levinas bereits das Sprechen gegeben. Für Heidegger ist das „Sein“ der Anfang der Philosophie, für Levinas der „Andere“. Die „Weise des Nächsten [Anderen] heißt Gesicht.“ 20 Der Andere wird vertreten durch das Gesicht. Deshalb: „[W]enn das Wesen der Philosophie darin besteht, diesseits aller Gewissheiten zum Prinzip zurückzugehen, […] dann ist das Antlitz des Anderen der eigentliche Anfang der Philosophie.“ 21 Levinas erinnert

Casper (2015a), 249. Casper (2015a), 247 f. 18 Mit dem Thema „Antlitz des Anderen“ beginnt das Gespräch zwischen Casper und Levinas am 11. Juni 1981 in Paris (21–36). 19 Levinas (1987), 87. 20 Levinas (1992), 199. 21 Levinas (1983), 207. 16 17

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wiederholt an das Diktum Rimbauds „Ich ist ein Anderes“. 22 Das Gesicht ist der Andere; der Andere ist deswegen der andere Anfang der Philosophie. Das Gesicht spricht. Es befiehlt vor allem: „Dieses Unendliche, das stärker ist als der Mord, widersteht uns schon in seinem Gesicht, ist sein Gesicht, ist der ursprüngliche Ausdruck, ist das erste Wort: ‚Du wirst keinen Mord begehen (tu ne commettra pas de meurtre)‘“ oder einfacher noch: „Du wirst nicht töten“. Das „Gesicht, ist der ursprüngliche Ausdruck, ist das erste Wort: ‚Du wirst keinen Mord begehen‘.“ 23 Das Gesicht bringt zum Ausdruck „ein Gebot und Verbot […]. Ich soll ihn nicht allein sterben lassen. Ich soll ihn auch nicht töten.“ (21 f.) Die Intentionalität der Sprache ist zutiefst ethisch: Sie zeigt sich als die Sprache der Verantwortung angesichts des Anderen. Sprache ist Verantwortung (78). Sagen (dire) ist ursprüngliches Sprechen (parler) – „Dieses Sagen ist ein Sprechen vor dem Sprechen.“ 24 „Das ursprüngliche oder vor-ursprüngliche Sagen – das Vorwort im eigentlichen Sinne.“ 25 Levinas nennt solches Sprechen „ursprüngliche Sprache“ (‚langage‘ im Gegensatz zu ‚langue‘). „Das Antlitz eröffnet die ursprüngliche Rede, deren erstes Wort die Verpflichtung ist, […] Rede, die verpflichtet, in die Rede einzutreten.“ 26 Levinas unterscheidet streng „dire“ (Sagen) und „(le) dit“ (das Gesagte). „Dire“ ist das ursprüngliche Sagen, „dit“ das ausgesagte Etwas. Im Sprechen zeigt sich die primordiale Struktur der transitiven Intentionalität, die Differenz des Ich im Sprechen, die Diachronie des Ereignisses. Sprache wird nicht zuerst verstanden als Totalität eines in sich geschlossenen Zeichensystems, sondern als das immer neue diachrone Ereignis, das sich zwischen mir als mir selbst und dem Anderen als ihm selbst zuträgt – Ereignis, in dem die Zeit nicht wirklich wird als der vermessene Zeitraum, „in dem etwas geschieht“, sondern als die „Zeit, die als sie selbst geschieht“ (64, 79). In der Subjektion vor dem Anderen gründet für Levinas die Subjektivität des Subjekts. Das fremde Antlitz ist die Antwort auf die Frage „Wer?“, die sich von jeder Was-Frage unterscheidet und die auf gewisse Weise jeder Frage vorausgeht. 27 Die Frage: ‚Wer bin ich?‘ beantwortet sich nicht, indem ich mich betrachte, sondern indem ich jemandem antworte und mich antwortend von Ihm unterscheide. Rosenzweig: „Sprache in ihrem ganz wirklichen Gesprochenwerden [geschieht] in Wort und Ant-wort als dem augenblicksentsprungenen Ereignis.“ (12, 60) Ich gehe nicht von mir aus, sondern ich komme auf mich zurück in einer rückläufigen Bewegung, die Levinas „Rekurrenz“ nennt. 28 An dieser Stelle mag der Beitrag von Bernhard Waldenfels angeführt werden. Die responsive Philosophie Waldenfels’ hat durchaus große Ähnlichkeit mit der Philosophie Levinas’. Ihre Gemeinsamkeit besteht vor allem in der Phänomenologie 22 23 24 25 26 27 28

Levinas (1992), 261 f. Levinas (1987), 285. Levinas (1983), 287. Levinas (1992), 29. Levinas (1987), 289. Levinas (1992), 258; (1987), 70 f. Levinas (1992), 227 ff.

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des „Sprechens“. Nach Waldenfels könnte man Levinas’ Denken als „Akkusativ“Philosophie bezeichnen, während Waldenfels diese mit der eigenen „Dativ“-Philosophie verbindet. Waldenfels spricht vom radikalen Gebrauch des Akkusativs bei Levinas, was zu einer radikal ethischen Philosophie führe. Er dagegen will diese durch den Blick auf den Dativ ergänzen. Das Gemeinte ist gut an Levinas’ Standartbeispiel „me Voici“ zu erläutern. Hier wird das „Moi“ (Ich) zum Akkusativ der Anklage „me“. Das Subjekt ist bei Levinas vor allem als Angeklagter durch den Anderen betroffen. Für Waldenfels verschwindet das Subjekt aber nicht einfach, sondern im „Voici“ ist es involviert; es muss den Anderen und seine Anklage entgegennehmen und annehmen. Das „me Voici“ ist ein „Geben“ (Dativ) und „Nehmen“ (Akkusativ). Das Subjekt hat dabei die Rolle des „Respondenten“. Husserl würde von dem „fungierenden Ich“ sprechen. Es ist in dem ethischen Sprechen ebenfalls zu berücksichtigen 29 5. „Zeitlichkeit“ Levinas stellt an den Anfang der frühen Schrift Die Zeit und der Andere (1946/47) programmatisch die Aussage: „Das Ziel dieser Vorlesungen besteht darin zu zeigen, dass die Zeit nicht das Faktum eines isolierten und einsamen Subjektes ist, sondern dass sie das eigentliche Verhältnis des Subjektes zum Anderen ist.“ 30 Eine philosophisch überraschende Ansage, dass Zeit für Levinas das Verhältnis des Subjektes zum Anderen sei. Siehe dazu das Kapitel „3. Die Zeitigung des Leibes in der Diachronie des ‚für den Anderen‘“ (90–102). Rosenzweig hat das „Sich-zeitigen“ des Menschen beschrieben. Es ereignet sich im „Sprechen“. Sprechen wird für Rosenzweig zur Methode des „Neuen Denkens“ 31, der neuen Philosophie, der Philosophie der Menschlichkeit. „So entspringt der Zeitlichkeit des neuen Denkens seine neue Methode […]. An die Stelle der Methode des Denkens, wie sie alle frühere Philosophie ausgebildet hat, tritt die Methode des Sprechens. Das Denken ist zeitlos, will es sein […]. Sprechen ist zeitgebunden, Zeit genährt Anderen […]. Der Unterschied zwischen altem und neuem, logischem und grammatischem Denken liegt […] im Bedürfen des Anderen, und was dasselbe ist, im Ernstnehmen der Zeit.“ 32 Levinas „suchte Husserl“ 1928 in Freiburg, „fand aber Heidegger“ (104). Husserl und Heidegger beschäftigten sich mit der Zeitlichkeit, wenn auch auf unterschiedliche Weise; ihr Zeitverständnis trennte sie. Levinas geht nicht nur über Husserl, sondern auch über Heidegger hinaus, weil er das Sich-zeitigen des Daseins „diachron“ versteht. Sich-zeitigen ereignet sich bei Heidegger als Dasein zum Tod, als sich Vorwegsein auf die Zukunft, auf den Tod hin. Doch erfährt das Dasein nach Levinas keineswegs seinen Tod als die „eigenste, unbezügliche unüberholbare Möglichkeit“ wie nach Heidegger. Tod ist nach Levinas nicht die letzte Möglichkeit des 29 30 31 32

Waldenfels (1995), 335–341. Levinas (1984), 17. Rosenzweig (1984). Rosenzweig (1984), 150 f.

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Da-„seins“ bzw. „Seins“. Vielmehr zeigt sich mir der Tod letztlich als „die Unmöglichkeit der Möglichkeit“, welche mich zwingt, nicht die Zeit von dem Dasein zum Tode her, sondern den Tod von der Zeit her zu denken. Levinas versteht das Dasein und seine Zeitigung nicht als Selbstermächtigung des Seins, sondern als die irreversible „Beunruhigung des Selben durch das Andere“ (inquiétude du Même par l’Autre): „diachron“ (79). Sich-Zeitigen ist kein evolutionäres Sich-entwickeln des Selbst, sondern Bruch des Selben durch den Anderen. „Ich bin in meinem Michzeitigen als Dasein zum Tode immer schon ‚ôtage pour autrui‘ – Geisel für den Anderen, oder auch Leibbürge für den Anderen.“ (67) Der Andere und die Anderen begegnen mir wie der Tod: als Unmöglichkeit meiner Möglichkeit. „Der Tod des Anderen ist der erste Tod.“ 33 Hier legt sich Rosenzweigs Unterscheidung nahe zwischen der „Zeit, in der etwas geschieht“ und der „Zeit, die selber geschieht“ (64, 79). Rosenzweig macht diese wesentliche Unterscheidung im Zeitverständnis. Zeit kann chronometrisch verstanden werden, „Zeit, in der etwas geschieht“, unser gewohntes Zeitverständnis. Zeit als äußeres Schema, das sich über alles legt und alles etwa nach der Uhr einteilt. Solche Zeit reiht äußere Zeitmomente unendlich aneinander, ohne das innere Werden in der Zeit, das Wachsen und Altern des menschlichen Daseins zu erklären. Das Mich-Zeitigen geschieht in meinem Leib und ist je meine Zeitigung, die nicht nur rein zeitliches Wachsen oder Älterwerden meint, sondern mein eigenstes Selbst„sein“, das für sich der Welt und des Anderen bedarf. Das Ich als Selbst bedarf des Anderen, seiner Zeit, die er mir schenkt, und meiner Zeit, die ich ihm gebe (92). Rosenzweig unterscheidet „Zeit, in der etwas geschieht“ und „Zeit, die selber geschieht“ (64, 79). „Zeit, die selber geschieht“ ist letztlich das Momentum, welches Levinas’ Philosophie Leben eingibt. Es ist das Momentum, das das „diachrone Dasein“ in allen Lebensweisen erhält und bestimmt. Es ist das Momentum des „daseins“, weil es dem verbalen da-„sein“ nicht nur um das opake „da“, sondern transitiv um das „mich“ und den „Anderen“ geht. Es ist das Momentum der „nichtintentionalen Intentionalität“, dessen diachrone und transitive Weise es zum Ausdruck bringt. Es ist das Momentum des „Sprechens“, dessen Urhandlung die Diachronie ist, „als Wort und Antwort“ (60). Es ist das Momentum der Philosophie Levinas’ als Ethik (78). Es ist das Momentum der Zeitlichkeit, die für Levinas selbst Ausdruck der „transzendierenden, transitiven, nichtintentionalen Intentionalität“ ist. 6. Anders als Sein – Derselbe im Anderen Wie gesagt, spricht Levinas im Rückblick auf sein philosophisches Werk von zwei unterschiedlichen Wegen. Der eine Weg ist der „vom Sein zum Seienden“, der den Ausbruch des Seienden aus der Totalität des Seins verfolgt (TU), und der andere Weg ist der „vom Seienden zum Anderen“, der den Weg vom Seienden zum Anderen nimmt (JS). Etwas deutlicher werden die beiden Wege, wenn man Levinas’ weitere Hinweise beachtet, dass der erste Weg das „Jenseits von Sein“ zum Thema hat, die 33

Levinas (1996), 53.

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„Unendlichkeit“ oder Transzendenz (TU); der andere Weg das „Diesseits“, nämlich das „Derselbe-im-Anderen“ (JS). Oder TU und JS charakterisiert Levinas einmal folgendermaßen: „Sie gehören noch der Metaphysik des Transzendenten an (TU). In der Phänomenologie kündigt sich eine Metaphysik des Transzendentalen an (JS).“ Dieser Überblick wird deutlicher im Blick auf die Carnets. Für den zweiten Weg „Derselbe-im-Anderen“ steht das andere große Werk Autrement qu’être ou au-delà de l’essence (JS). Zugang zu diesem sperrigen und schwierigen Werk findet man durch die Kommentare von Ricoeur und Derrida. Kurz vor dem Tod Levinas’ erschien ein weiterer erhellender Kommentar von Elisabeth Weber, Verfolgung und Trauma. Zu Emmanuel Lévinas’ „Autrement qu’être ou au-delà de l’essence“. 34 Die Autorin geht von der Widmung des Buches für die ermordete Familie Levinas’ aus und erkennt, dass das Buch den Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung zugeeignet ist. Sie erkennt darin den Charakter des Buches insgesamt und interpretiert es vor diesem Hintergrund. Dabei versucht sie nicht nur die unsagbaren Traumata und Schrecken der Verfolgung in das Sagen zu heben, wie man erwarten würde, sondern sieht zudem, dass die Traumata und Verwundungen auch die Sprache des Buches selbst betreffen. Es ist ein sperriges, schwieriges, kein philosophisches Buch im gewohnten Sinn, sondern ein die Wunden des Jahrhunderts sprachlich abbildendes Buch. Die Worte von Verwundungen, Leiblichkeit und Sterblichkeit, von Gedenken, Gesetz und Gewalt prägen seine Sprache. „Husserl war nach Bergson und vor Rosenzweig der entscheidende Moment in meinem philosophischen Leben. Ich glaube auch, der entscheidendste Moment in der Philosophie überhaupt. Die phänomenologische Besinnung ist für den modernen Menschen die einzige Möglichkeit, methodisch zu philosophieren“ so bekennt Levinas 1981 selbst (24 f., 49). Ein Gutteil des Werkes Levinas’ kann als Auseinandersetzung mit Husserl und Heidegger gelesen werden, um sein eigenes „Neues Denken“ zu positionieren und zu entfalten. Einen Überblick über die Verbindungen Levinas’ mit den genannten Philosophien gibt das Kapitel „1. Von Kant mit Husserl und Heidegger zu der Leibbürgenschaft für den Anderen“ (37–74). Während Totalité sich vor allem mit Heidegger befasst, arbeitet sich Autrement erkennbar an Husserl ab. Levinas hat in Freiburg die Phänomenologie kennen gelernt. Sie wurde lebenslang für seine Philosophie wegweisend. Dafür steht für ihn die Begegnung mit Husserl. Die Phänomenologie Husserls war für ihn entscheidend. Im Zitat nennt er neben Husserl Bergson und Rosenzweig, nicht Heidegger. Im Zentrum der Bewusstseinsphänomenologie Husserls steht die Frage nach dem „Prinzip aller Prinzipien“, dem „originär gebenden Bewusstsein“ und der „Urstätte aller objektiven Sinnbildungen“. Husserl spricht von „Urimpression“. Er versteht die Phänomenologie als Transzendentalphilosophie. Die „transzendentale Subjektivität“ wird zur „Urstätte“, die alles zu Erkennende in die Immanenz des intentionalen Bewusstseins einholt (158). Nach Levinas bringt dieses Prinzip zunächst aber keine aktive gegenständliche Intentionalität wie bei Husserl hervor, sondern die Urstätte ist vor aller Aktivität höchste Passivität. Von den Analysen der Urimpression her 34

Weber (1990).

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wird jene Grundbestimmung einsichtig, die im Zentrum des späteren Denkens Levinas’ steht. Sie besagt, dass die Subjektivität, bei Husserl Ausdruck höchster Aktivität, bei Levinas zuerst selbst nicht Aktivität ist, sondern „Urpassivität“ (95), nur „passivité plus passive que toute passivité antithétique de l’acte“ (61 f.). 35 Es ist eine Passivität, passiver als alle Passivität, weil sie nicht als Vorstufe, sondern antithetisch zum Akt gedacht wird. Diese antithetische Formulierung ist dann Grund der Bestimmung von Subjektivität bei Levinas als „Dasein – für den Anderen“ oder in der Spitzenformulierung von „Derselbe im Anderen“. Das Dasein ist Leibbürgschaft für den Anderen, „être ôtage pour autrui“ (Subjekt ist Leibbürge für den Anderen zu sein) (23). Für Husserl ist die „Intentionalität“ einer der zentralen Begriffe der Bewusstseinsphänomenologie. An ihm scheiden sich die Geister, vor allem auch Heidegger und Levinas, die weiterhin Phänomenologie betreiben, allerdings mit einem veränderten Begriff von Intentionalität. Husserl spricht von „objektivierender“ oder „thematisierender Intentionalität“. Heidegger geht demgegenüber zunächst von der „Faktizität des Lebens“ und dann von der „Daseinsanalytik“ aus. (104) Levinas arbeitet sich an beiden ab, um sie beide zu überwinden und die Phänomenologie neu zu fassen. Sein neuer Begriff der Intentionalität ist der schon eingeführte der „nichtintentionalen bzw. transitiven Intentionalität“. Casper hat 2009 dazu einen treffenden Titel in einem Artikel gewählt: „‚Autrement que‘ Husserl et ‚au-delà de‘ Heidegger“. 36 Wir haben einen ersten Begriff dieser Intentionalität bereits mit dem verbalen „sein“ verbunden. Der Begriff ist für das Denken Levinas’ fundamental, nämlich im Sinne seines Denkens insgesamt charakterisierend. Siehe dazu das Kapitel „6. Die nicht-intentionale Intentionalität“ (139–155). Das „sein“ des Da-seins ist kein Substantiv, sondern verbales Geschehen (56). Das Sein als Substantiv verschlingt alles: alles ist Sein. Levinas nennt die Subjektivität „Hypostase“ (63, 108): Das substantivische Sein wird Allmacht. Hier setzt Levinas gerade seinen Unterschied zu Heidegger an: „Ein wesentliches Moment meiner Philosophie – und das ist es, was sie von der Philosophie Heideggers unterscheidet – ist die Bedeutung des Anderen.“ 37 Sein des Da-„seins“ ist nicht monadologisch, sondern relational: „Da-sein für“ (den Anderen). Das Selbst ist „ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält“ (s. Kierkegaard). Oder das Selbst ist in der phänomenologischen Sprache Levinas’ Intentionalität, aber nicht Intentionalität nach Husserl: „Ich“ (Bewusstsein in mir) denke „etwas“ (außer mir). Auch nicht Intentionalität im Sinne der Transzendenz des Seins Heideggers, der Dasein als jenes „Seiende, dem es in seinem Sein um dieses Sein selber geht“ 38 bestimmt. Sondern Intentionalität ist, wie oben beschrieben: Ich = „Selbst“ und der „Andere“. Die Intentionalität des Daseins und des Selbst ist „nichtintentionale Intentionalität“. Ich und der Andere: Die Beziehung zum Anderen als Selbst ist einzig möglich als ein Durchdringen des Ich von diesem Anderen, als Transitivität, als „sich selbst“ (me 35 36 37 38

Levinas (1992), 164. Casper (2009). Casper (2015a), 247. SZ, 12

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voici). Das Ich bleibt nicht in sich, um alles Andere in der Vorstellung zu verschlingen. Es transzendiert sich. Hier ist die Intentionalität nach Levinas im starken und vielleicht ursprünglichen Sinne des Terminus ein Akt, eine Transitivität, Akt und Transitivität par excellence, die jeden Akt erst möglich macht: Hier ist die Intentionalität die Einheit von Leib und Seele. Nicht eine Apperzeption dieser Einheit, in der Leib und Seele als zwei Objekte vereint zu denken sind, sondern Apperzeption als „Inkarnation“ (94), Einheit von Leib und Seele. „Die Heterogenität der Termini, die sich vereinen, unterstreichen die Wahrheit (…) dieser transitiven Intentionalität.“ 39 Die transzendierende Intentionalität, zu der Levinas vorstößt, und die sich in Wahrheit als diachrone, Geisel oder umstürzende, durchkreuzte Intentionalität (intentionalité bouleversée) erweist (59 ff.), erlaubt es ihm, dem Problem der Sinnenhaftigkeit alles Existierens, dem inkarnatorischen Charakter, der Leiblichkeit gerechter zu werden als dies von Husserls Ansatz her möglich war. Der „Gegenstand der Intention“ ist „älter als die Intention [Husserls]“. Waldenfels gibt das Herzstück von Levinas’ Autrement, nämlich den Mittelteil mit dem Titel „Zeugnis“, als Philosophie der Verantwortung, genauer in der Formulierung Levinas’ als „Antwort der Verantwortung (réponse de la responsabilité)“, wieder. Mit dem Aufzeigen der inneren Struktur und der Beschreibung des Vorgangs der responsiven Verantwortung zeigt er zugleich die innere Struktur und den formalen Vorgang des Zeugnisses auf. Damit hebt er die Umstrukturierung und Umorganisation heraus, wie sie im Zeugnis bzw. in der responsiven Verantwortung geschieht. Es sind zwar formale Zuschreibungen, aber doch die wesentlichen Gelenkstellen, um das innere Geschehen von Zeugnis bzw. Verantwortung zu erkennen. Waldenfels zitiert an dieser entscheidenden Stelle Levinas. Er weist darauf hin, dass hier nach Levinas die „Subjektivität des Subjekts“ gemeint ist. Sie besteht, wie Levinas immer wieder formuliert im „Geben des Selbst“. Es ist die entscheidende Frage, die oft an das Werk von Levinas gestellt wird und die von Waldenfels doch recht deutlich beantwortet wird: „In der Subjektion liegt für Levinas die Subjektivität des Subjekts. Das fremde Antlitz ist die Antwort auf die Frage Wer?, die sich darin von jeder Was-Frage unterscheidet und die auf gewisse Weise jeder Frage vorausgeht (TU 258 / JS 70 f.). Die Frage: ‚Wer bin ich?‘ beantwortet sich nicht, indem ich mich betrachte, sondern indem ich jemandem antworte und mich antwortend von ihm unterscheide. Ich gehe nicht von mir aus, sondern ich komme auf mich zurück in einer rückläufigen Bewegung, die Levinas ‚Rekurrenz‘ nennt (JS 227 ff.).“ 40 7. Leibliches Da-sein für den Anderen Die wichtige Einsicht in die Transitivität des Seins ist nicht nur von größter Bedeutung für das Verständnis der Begegnung mit dem „Anderen“, 41 sondern Leiblichkeit und Sinnlichkeit sind auch Anfang allen geistigen Handelns. 39 40 41

Levinas (1983), 146–149. Waldenfels (1995), 330. Levinas (1983), 146–149.

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Leibliches Dasein macht für Levinas die „primordiale Struktur der Intentionalität“ aus. Die „transitive Intentionalität“ des leiblichen Daseins nennt Levinas „Inkarnation“. Was bedeutet Inkarnation nach Levinas? (94) Der Mensch ist Sinnlichkeit und Leiblichkeit. Leiblichkeit und Sinnlichkeit bedeuten nach Levinas zugleich Abstand und Nähe zum Anderen, sind ‚an-archische‘ Empfänglichkeit, bringen die Differenz der Nicht-Differenz zum Ausdruck. Siehe dazu das Kapitel „3. Die Zeitigung des Leibes in der Diachronie des ‚für den Anderen‘ “ (90–102). Schon im ersten seiner Carnets schreibt Levinas: „Es gibt nicht zusätzlich einen Leib, der eine Seele widerspiegeln würde […], sondern der Leib als er selbst ist dieses Ereignis […]. Der Leib drückt kein Ereignis aus. Er ist dieses Ereignis.“ (92 f.) Die „nichtintentionale oder transitive Intentionalität“, wie sie sich am verbalen „sein“ und am „Etwas denken“ aufzeigen lässt, sind Grund einer ganzen Reihe zentraler Themen der Philosophie Levinas’. Sie wird zur Grundstruktur seiner Philosophie. Leider wird sie in der Literatur etwas wenig berücksichtigt. Sie betrifft nämlich Sinnlichkeit und Leib als Grundlagen des geistigen Lebens des Menschen, also auch für das Prinzip des Bewusstseins von Husserl. Levinas geht in der Beschreibung des Geisteslebens weit hinter das Bewusstsein Husserls zurück. Er sieht das Geistesleben in der Sinnlichkeit und im Leib begründet (95 ff.). Levinas begreift Sinnlichkeit wie Husserl als Kinästhesie, d. h. Sinnlichkeit ist Selbst-Bewegung, die vor jedem Bewusstwerden geschieht. Bewusstsein dagegen ist Gegenstandbewusstsein; ihr Charakteristikum ist die thematische Intentionalität. Solche Intentionalität meint die Ausrichtung eines Aktes auf einen Gegenstand. Dies ist aber schon das Ergebnis eines Vorganges, einer vorgängigen Bewegung, der kinästhetischen Sinnlichkeit. Kinästhesie ist durchaus Thema bei Husserl, das er aber gegenüber dem „Bewusstsein“ etwas am Rande liegen lässt. Levinas spricht gegenüber der Intentionalität des Gegenstandsbewusstseins von „fungierender Intentionalität“ im Sinne Merleau-Pontys. In der Sprache von Levinas gründet so die Intentionalität des Bewusstseins, das ein thetisches Gegenstandbewusstsein ist (s. „Denken über etwas“), in der früheren Intentionalität, die transitiv, also reine Bewegung und Handlung ist, „transitive Intentionalität“, vor jedem Gegenstandsbezug und demnach vor jeder einzelnen Aktmodalität (s. „Etwas Denken“). „Der ‚Aktintentionalität‘, d. h. dem thetischen Gegenstandsbewusstsein […] liegt eine ‚fungierende Intentionalität‘ zugrunde, die jene erste ermöglicht; Heidegger nennt sie die Transzendenz.“ 42 Wahrnehmen, Empfinden: „Alles Sinnliche ist bei Husserl wesentlich kinästhetisch. Die zum Sinnlichen hin offenen Sinnesorgane bewegen sich: […] die Bewegung des Organs ist die Intentionalität des Empfindens, sie vollzieht gerade ihre Transitivität. [Es konstituieren sich] Raumpunkte [und] Raum […]. Hier ist das Empfinden die Bewegung selbst. Hier ist das Bewegen die Intentionalität der Kinästhese und nicht ihr Intendiertes.“ 43 Im Wahrnehmen, im Empfinden, in der Sinnlichkeit gründen die Fundamente des geistigen Lebens. 42 43

Merleau-Ponty, PW 475. Levinas (1983), 146–149.

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Levinas führte mit der Zeitlichkeit nicht nur endgültig über eine Phänomenologie des Bewusstseins Husserls und nicht nur über eine Hermeneutik der Faktizität des Daseins zum Tode Heideggers hinaus, sondern zu dem geschehenden Transzendieren in das Sich-Zeitigen meiner selbst angesichts des Anderen. Der Begriff der Zeitlichkeit bei Levinas erinnert an Rosenzweig, dass das menschliche Dasein ‚der Zeit und des Anderen‘ bedürfe. Vor allem ist der „Leib“ der Ort, wo sich die Zeitigung des Menschseins vollzieht. Levinas nennt den Leib „die Weise […] Zeit zu haben“ (91 f.). Der Leib ist keineswegs eine fertige Substanz, sondern sein Leben ist verbales „sein“, das sich mit und in der Zeit ereignet und vollzieht. Der Leib zeigt sich überhaupt nur in seinem Sich-Zeitigen, in seinem Wachsen und Altern. Solches Bedürfen der Zeit für das Wachsen und Altern ist aber keineswegs das Werk meines Ichs, sondern der „Zeit, die selber geschieht“. 44 In der Forschung zu Levinas tut sich im Zusammenhang mit Autrement seit einiger Zeit eine interessante Richtung auf, die vor allem durch Corine Pelluchon vertreten wird. Sie stellt die Frage neu: Pour comprendre Levinas – Un philosophe pour notre temps, und spricht bei Levinas ganz neue Seiten an: Wovon wir leben. Eine Philosophie der Ernährung und der Umwelt. 45 Sie schreibt eine Existenzphilosophie für das 21. Jahrhundert: Wir werden durch die Natur ernährt. Unter Rückgriff auf die Phänomenologien von Levinas, Derrida und Ricœur entwirft die Autorin eine Existenzphilosophie, die nicht nur den Menschen, sondern auch Tierwohl, Ökologie und Umweltschutz im Blick hat. 8. „Sein ist nicht das Heil“ Im ersten Carnet (Gefangenschaftsheft) findet sich die lapidare Aussage Levinas’: „Salut n’est pas l’être“ („Das Heil ist nicht das Sein“) (52, 70). Bernhard Casper hat in seinem Band darauf aufmerksam gemacht und den Zusammenhang mit der Zeitsituation im Kriegsgefangenenlager erläutert: s. Kapitel „4. Das Heil ist nicht das ‚Sein‘“ (103–119). Die Aussage wirft ein besonderes Licht auf das Denken Levinas’ jener Zeit der Gefangenschaft, das religiöse Erfahrungen philosophisch reflektiert und verarbeitet. Es wäre breiter auf diese dankenswerten Hinweise Caspers einzugehen. Denn sie werfen ein Licht auf das Denken Levinas’ insgesamt. Die Aussage kann als ein Schlüsselsatz für die Aufzeichnungen der Gefangenschaft angesehen werden und darüber hinaus für das Zentrum des ganzen späteren Levinas’schen Denkens, wenn Levinas dann auch Gottesrede und Philosophie streng auseinanderhält. Die Zeit fragte 2019 Corine Pelluchon, Professorin der Philosophie an der Universität Paris-Est-Marne-la-Valle: „Worüber denken Sie gerade nach?“ Sie antwortet mit dem Hinweis auf die aktuelle Bedeutung der Philosophie Levinas’: „Seitdem ich vor Jahren als Philosophin in einem Krankenhaus mit Schwerkranken und Sterbenden gearbeitet habe, beschäftigt mich das Denken von Emmanuel Lévinas. Er 44 45

Rosenzweig (1976), 148. Pelluchon, C. (2020a), (2020b).

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weckt den Sinn für den verwundbaren Menschen. Er hat mein eigenes Denken auf den Weg gebracht, und heute möchte ich ihn im politisch aufgewühlten Frankreich der Gegenwart neu ins Gespräch bringen.“ 46 LITERATURVERZEICHNIS 1. Siglen GA JS PW SZ TU

Heidegger, M. (1975 ff.), Gesamtausgabe, hg. v. F. W. von Hermann. Frankfurt am Main. Levinas, E. (1992), Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg. Merleau-Ponty, M. (1966), Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin. Heidegger, M. (1963), Sein und Zeit (Zehnte, unveränderte Auflage). Tübingen. Levinas, E. (1987), Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg.

2. Weitere Literatur Casper, B. (2009), „‚Autrement que‘ Husserl et ‚au-delà de‘ Heidegger. Zur Bedeutung von Levinas für eine künftige Geschichte des Denkens“, in: Dialegesthai. Rivista telematica di filosofia 11. – (2015a), „Emmanuel Levinas und seine Carnets de captivité“, in: Freiburger Rundbrief 22, 242–251. – (2015b), „Rez.: Emmanuel Levinas, Œuvres complètes, Tome 1–3“, in: Theologische Literaturzeitung 140, 103–107. – (2020), Geisel für den Anderen – vielleicht nur ein harter Name für Liebe. Emmanuel Levinas und seine Hermeneutik diachronen da-seins, Freiburg/München. Levinas, E. (1949), En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger, Paris. – (1976), Noms propres, Montpellier. – (1983), Die Spur des Andern. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg. – (1984), Die Zeit und der Andere, Hamburg. – (1987), Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg. – (1991), Entre nous. Essais sur le Penser-à-l’Autre, Paris. – (1992), Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg. – (1996), Gott, der Tod und die Zeit, Wien. Pelluchon, C. (2020a), Pour comprendre Levinas – Un philosophe pour notre temps, Paris. – (2020b), Wovon wir leben. Eine Philosophie der Ernährung und der Umwelt, Darmstadt. Rosenzweig, F. (1976–1984), Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften, Den Haag/Dordrecht. – (1984), Das Neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum „Stern der Erlösung“, in: Rosenzweig, F., Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften. Band III. Zweistromland, 139–161. Waldenfels, B. (1995), Deutsch-Französische Gedankengänge, Frankfurt. Weber, E. (1990), Verfolgung und Trauma. Zu Emmanuel Lévinas’ „Autrement qu’être ou au-delà de l’essence“, Wien. Universität Augsburg Katholisch-Theologische Fakultät Universitätsstraße 2 86135 Augsburg [email protected]

https://www.zeit.de/2019/33/emmanuel-levinas-andersartigkeit-verwundbarkeit-sterblichkeitphilosohpie.

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JAHRBUCH-SCHÄTZE Kommentar zu Hermann Krings’ Abhandlung „Freiheit. Ein Versuch Gott zu denken“ 1 Matthias LUTZ-BACHMANN (Frankfurt/M.)

1. Der Mitherausgeber des „Philosophischen Jahrbuchs“ und Münchner Philosoph Hermann Krings (1913–2004) stellte im Jahr 1970 seine Überlegungen zur Frage eines dem Stand der Philosophie seiner Zeit angemessenen Gedanken „Gottes“ vor. Sie schließen an eine Reihe weiterer Aufsätze aus derselben Zeit an, die unter dem Titel „System und Freiheit“ 2 als Band 12 der „Reihe: Praktische Philosophie“ im Verlag Karl Alber Freiburg/München 1980 erschienen sind. Darunter befindet sich auch der hier wieder vorgestellte Aufsatz: „Freiheit. Ein Versuch Gott zu denken“ 3 sowie weitere für die Gottesthematik einschlägige und wichtige Aufsätze. Worin aber liegt die bleibende Relevanz der Überlegungen von Hermann Krings für die Gegenwart, also mehr als fünfzig Jahre nach deren erster Publikation im „Philosophischen Jahrbuch“? Ich möchte diese Frage im Blick auf die zeitgenössische Diskussion in der Philosophie dadurch zu beantworten versuchen, dass ich in drei Schritten zuerst den Ausgangspunkt der Überlegungen von Hermann Krings beschreibe, den er uns selbst in seinem Aufsatz vorträgt (2.), um dann den systematischen Gedanken bei Krings kurz zu skizzieren (3.), dessen bleibende Aktualität für die Gegenwart ich meinerseits vertrete, woran auch die eine oder andere mögliche Kritik an diesem Vorschlag im Grundsätzlichen nichts ändert (4.); denn darin zeigt sich die Aktualität eines Beitrags zur Philosophie, dass er uns – nach wie vor – zu kritischen Stellungnahmen, zur Wiederaufnahme von Einsichten und zum Weiterdenken einlädt. Genau das leistet Hermann Krings’ Aufsatz: „Freiheit. Ein Versuch Gott zu denken“ bis auf den heutigen Tag. Und deshalb ist er es wert, über fünfzig Jahre nach seinem ersten Erscheinen im „Philosophischen Jahrbuch“ erneut vorgestellt und diskutiert zu werden. 4 Erstmals erschienen in: Philosophisches Jahrbuch 77 (1970), 225–237. Im folgenden Nachdruck werden die ursprünglichen Seitenzahlen in eckigen Klammern im Text vermerkt. 2 Hermann Krings, System und Freiheit. Gesammelte Aufsätze, Freiburg/München 1980. 3 Ebd., 161–184. 4 Vgl. hierzu auch Matthias Lutz-Bachmann, „Transzendentale Freiheit und Gottesidee: Hermann Krings’ ‚Versuch Gott zu denken‘“, in: Th. Buchheim, Fr. Hermanni, A. Hutter, Chr. Schwöbel (Hg.), Gottesbeweise als Herausforderung für die moderne Vernunft, Tübingen 2012, 533–546. 1

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Matthias Lutz-Bachmann, Kommentar zu Hermann Krings’ Abhandlung „Freiheit“

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2. Krings geht in seinem Versuch, einen Gedanken Gottes im Rahmen der zeitgenössischen Philosophie zu skizzieren, von der These aus, dass nach den grundlegenden Beiträgen von Kant und Fichte zur Begründung von Philosophie überhaupt eine Fortschreibung der philosophischen Gotteslehre in den Bahnen der klassischen Metaphysik (auch „Onto-Theologie“ genannt) nicht mehr möglich sei. Über die systematische These eines „nachmetaphysischen“ Zeitalters in der Philosophie kann viel gestritten werden. Hier mischen sich manche vermeidbaren Missverständnisse hinsichtlich der Frage, was das Charakteristische des „metaphysischen Denkens“ sei, mit anderen, philosophisch berechtigten Anliegen. Dies ist eine Debatte, auf die ich hier nicht detailliert eingehen kann. 5 Ich verweise lediglich auf sie und stelle hierzu fest, dass selbst aus der Perspektive einer Darstellung der zeitgenössischen Philosophie, die von ihr unter Aufnahme der Rede von „wissenschaftlichen Paradigmen“ im Anschluss Thomas Kuhn als einer Philosophie im Rahmen eines neuen, eines die Bewusstseinsphilosophie beerbenden sprachphilosophisch oder sprachpragmatischen „dritten Paradigmas“ spricht, die Fragen der Metaphysik auf keinen Fall als einfachhin „erledigt“ betrachtet werden können. Diese Sichtweise wurde bereits von Zeitgenossen im Blick auf Kant bemüht, obgleich sich Kant seinerseits bekanntlich um die Begründung eines neuen Konzepts von Metaphysik, „die als Wissenschaft wird auftreten können“ bemüht hatte. Die Rede vom Ende der Metaphysik seit Kant wird auch dadurch nicht korrekter, dass sie von prominenten Vertretern der Philosophie des 19. Jahrhunderts in Umlauf gebracht wurde – und über die Reformprogramme der Philosophie im 20. Jahrhundert immer wieder neu aufgelegt wird. Doch dies markiert ein offenes Problem, das gerade auch im Blick auf die zeitgenössische Philosophie auf eine vertiefende, gewissermaßen „nachideologische“ Behandlung wartet 6. Im Blick auf die Frage einer philosophischen Rede von „Gott“ aber markiert der Einstieg von Hermann Krings mit Kant und Fichte eine in der Sache gut begründete Einsicht. Sie besteht darin, dass die klassischen Beiträge der Philosophie zur Gottesthematik bis zu Kant und Fichte fast ausschließlich der in der antiken Philosophie formulierten Programmatik folgten, nicht von „Gott“, sondern von einem Prinzip eines „a-personal“ oder „überseiend“ gedachten „Göttlichen“ handelten und infolgedessen auch von Gott als einem „ersten Prinzip“ des Denkens, des Seins oder dessen sprachen, „über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann“ (Anselm). Diesem Programm einer philosophischen Rede von Gott schließen sich in der Tat Kant und Fichte sowie weitere Vertreter der modernen Religionsphilosophie wie Schleiermacher oder Kierkegaard ausdrücklich nicht an. Ob wir diese Debatte dann eine nachmetaphysische Diskussion nennen wollen oder nicht – wichtig für uns ist, Vgl. hierzu u. a. den Band Chr. Erhard, D. Meißner, J. Noller (Hg.), Wozu Metaphysik? Historisch-systematische Perspektiven, Freiburg/München 2017. Hierin findet sich auch mein Aufsatz: „Metaphysik. Überlegungen zu einem Konzept von Philosophie im Anschluss an Kant“, ebd., 79–94. 6 Vgl. hierzu u. a. auch meinen Eintrag „Philosophie“ in: Staatslexikon, Band 5, 8. Auflage, Freiburg/Basel/Wien, 2020, Sp. 782–794. 5

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dass Hermann Krings’ Vorschlag mit dieser Prämisse einsetzt. Und damit bewegen sich die Überlegungen von Krings im Horizont einer Diskussion, der auch unsere heutigen Beiträge zur Frage einer philosophischen Gottesrede bestimmt. 3. Hermann Krings setzt bei seinem eigenen Vorschlag mit einer Explikation des Begriffs der Freiheit ein. Damit nimmt er nicht nur den zentralen Gedanken von Kant und Fichte auf, sondern trifft auch den Nerv einer jeden zeitgenössischen Rede von Gott heute auch außerhalb der im engeren Sinn fachphilosophischen Reflexion. Mit diesem Ausgangspunkt bezog sich Krings seinerzeit, wie er vor allem auch am Ende seines Aufsatzes selbst hervorhebt, auf die jüngeren Debatten im Raum der christlichen Theologien, aber auch der pluralistischen Gesellschaft und ihrer strukturellen Verfassung als „säkularer“ Öffentlichkeit. Mit dieser Feststellung ist jedoch keinesfalls die These verbunden, dass die Rede von Gott aus der öffentlichen Debatte verschwunden sei oder – gar normativ gewendet – aus ihr verschwinden sollte und nur mehr als eine private Angelegenheit Beachtung findet. Diese Forderung erhebt nur ein seinerseits von problematischen Prämissen ausgehender, ontologisch wie wissenschaftstheoretisch gleichermaßen unhaltbarer Säkularismus, dem mit John Rawls, Charles Taylor oder Jürgen Habermas die sozialphilosophisch in jeder Hinsicht differenziertere These von einer „postsäkularen Konstellation“ 7 entgegengehalten werden kann und muss. Das sind gleichsam Prämissen der Argumentation von Hermann Krings, die er selbst in diesem Aufsatz nicht expliziert. Der Ausgangspunkt bei der Erfahrung der menschlichen Freiheit markiert im Text von Hermann Krings nicht nur eine bewusstseinstheoretische Wende der Philosophie, sondern er nimmt auch die moderne Verfassung unserer gesellschaftlich bestimmten, somit sprachlich-symbolisch vermittelten Lebenswelt auf, in der die Ausdifferenzierung von Geltungsbereichen, von Wert- oder Lebenssphären bei gleichzeitiger Trennung von politischer Macht und Religion den Freiheitsraum der individuellen Menschen gegen „heteronome Übergriffe“ sichern kann. Hierzu dienen u. a. auch die weltanschauliche Neutralität des Staates sowie die säkulare Begründung des Rechts und die Anerkennung der Autonomie der kulturellen Lebenswelt, wobei allerdings die Überformung unserer Lebenswelt durch die Imperative einer nur kapitalistischen Verwertungsinteressen dienenden Ökonomie oder durch die Regression politischer Systeme mit neuen Formen staatlicher Diktatur, wie wir sie in der Gegenwart beobachten, nicht ausgeblendet werden darf. Hiergegen wendet sich Krings unausgesprochen mit dem Konzept einer unbedingten Philosophie der Freiheit. Gegenüber diesen Tendenzen ist es aus guten Gründen vielversprechend, die philosophische Rede von Gott systematisch an das Freiheitsversprechen der Moderne, bei aller Fragwürdigkeit und Ambivalenzen der Moderne selbst, und an die FreiVgl. hierzu den von mir herausgegebenen Band Postsäkularismus. Zur Diskussion eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt/New York 2015.

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heitserfahrung von uns Menschen positiv anzuschließen. Genau so verfährt Hermann Krings, indem er sich auf diesem Weg auch dagegen absichert, die Rede von Gott mit einer an Heidegger und die Postmoderne anschließenden Rede vom „unsagbaren Anderen“ unserer Vernunft überhaupt gleichzusetzen. Wenn die Philosophie von „Gott“ (nicht vom „Göttlichen“) sprechen will, dann systematisch im Ausgang von der Selbst- und Welterfahrung von uns Menschen. Damit muss philosophische Gottesrede selbst ein Stück weit auch bereit sein, sich den Einsichten der Religionsphilosophie, auch der Religionsphänomenologie, ja Kulturphilosophie gegenüber zu öffnen, ohne allerdings in das andere Extrem zu verfallen, nur noch von den Erfahrungen zu sprechen, die Menschen dann mit dem Namen Gottes oder als religiös bezeichnen. Eine solche Sichtweise führt dazu, dass manche glauben, sich mit Hinweis auf ihre fehlenden „religiös“ genannten Erfahrungen, den gesamten Bereich einer „Rede von Gott“ vom Hals halten zu können. Doch ein solcher Ansatz ausschließlich bei sog. religiösen Erfahrungen führt am Ende zu einer Aufhebung der rationalen Fragestellung der philosophischen Theologie; denn eine Theorie, die so verfährt, legt sich einseitig fest auf eine Auslegung von performativ zu deutenden Glaubens- oder Gemeinschaftserfahrungen von Menschen, die dem Gehalt der Rede von Gott von vorneherein einen fideistischen Zuschnitt verleihen. Das ist ein Holzweg, den Krings erst gar nicht beschreitet, indem er gerade nicht mit bestimmten, stets sozial und kulturell geprägten Praktiken in der Lebenswelt seine Reflexion auf die Frage nach der Bedeutung der Gottesvorstellung beginnt, sondern mit der elementaren Erfahrung von Freiheit, die jeder Mensch, die wir somit alle machen, wenn wir beginnen, selbstbestimmt unser Leben zu führen. Diese Erfahrung setzt also nicht bereits eine bestimmte „Hermeneutik des Lebens“ voraus. Sie ist auch in einer hinreichend allgemeinen Bestimmtheit in allen kulturellen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontexten unausweichlich, zumal sie die Voraussetzung der Frage nach dem grundlegenden Sinn des moralisch Richtigen oder nach dem sittlichen Guten markiert, die in allen uns bekannten menschlichen Gemeinschaften begegnet und in letzter Instanz den Referenzrahmen auch einer Kritik von illegitimer Herrschaft bildet. Diese grundlegende und universelle Erfahrung von Freiheit deutet Hermann Krings in seinem Aufsatz auf dem Weg einer transzendentalphilosophischen Analytik als eine Verfassung unseres Lebens. In ihr geben wir Menschen, die wir stets kontingente Träger von Freiheit sind, mit unserem „Willen“ uns „selbst einen Inhalt“. Mit dieser Einsicht schließt Hermann Krings einerseits an den kantischen Begriff der Autonomie i. S. einer „Selbstbestimmung“ an und doch geht er über die Bestimmung von Freiheit als pure Unabhängigkeit von einem anderen Willen hinaus (das entspräche einem rein negativen Begriff der Freiheit). Stattdessen zielt Krings mit seiner Analyse auf einen positiven Begriff von Freiheit als Selbstbestimmung – ein Begriff, der, so Krings, „darin besteht, dem Willen einen Inhalt zu geben, der ihn zum bestimmten Willen macht.“ Diese alles andere als redundante Formulierung führt Hermann Krings schließlich zu der Einsicht, dass unsere so verstandene Freiheit nicht nur formell bestimmt werden muss, sondern auch einen materialen Gehalt, einen Inhalt unseres Wollens sucht, der klarerweise über das Kriterium eines nur durch seine Formalität bestimmten „kategorischen Imperativs“ im Sinne der Phil. Jahrbuch 128. Jahrgang / II (2021)

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Prüfung der Universalisierbarkeit von Handlungsmaximen hinausführt. Krings schließt hier entgegen der vom Neukantianismus vertretenden Tendenz, Kants Ethik auf den Formalismus als vermeintlich einziges Kriterium der intersubjektiv gültigen Normen festzulegen, somit an Einsichten der späten Kantischen „Metaphysik der Sitten“ an, und legt dar, dass Freiheit in ihrem positiven Sinn verstanden selbst bereits eine Anerkennung oder besser Bejahung anderer Freiheiten intendiert. Mit dieser intersubjektivitätstheoretischen Wendung des Freiheitskonzepts legt Krings zugleich eine Dynamik des Freiheitsgeschehens frei, die den Philosophen veranlasst, weiter zu fragen: So bejaht, folgt man Hermann Krings, die Freiheit unseres Willens unbedingt die Freiheit der anderen, die aber ebenso wie wir als kontingente Träger von Freiheit begegnen. Die Kontingenz der Träger von Freiheit steht aber in einer grundlegenden Spannung zur gleichzeitig festgehaltenen Unbedingtheit, mit der diese Freiheit von uns stets schon bejaht wird. Zur Auflösung dieser Spannung skizziert Hermann Krings den Begriff einer Freiheit, der es dem Philosophen als Bedingung der Möglichkeit dafür, den Begriff einer unbedingten, aber kontingenten Freiheit überhaupt denken zu können, abverlangt, auch den Begriff einer unbedingten und selbst nicht-kontingenten, mithin vollkommenen Freiheit denken zu müssen. Krings weist zurecht darauf hin, dass dies keine „bloße Begriffskonstruktion“ sei, sondern einen philosophischen Gehalt indiziert, der auf dem Weg einer „Bedingungsanalyse“ gewonnen wird und der in letzter Instanz dafür geeignet sei, dem Konzept einer endlichen Freiheit (mittels dessen wir Menschen uns selbst angemessen begreifen) einen „erfüllenden Gehalt“ zu geben. Dieser Begriff einer nicht-kontingenten oder vollkommenen Freiheit steht bei Hermann Krings für den Gehalt des Gottesgedankens in der Philosophie der Moderne, und damit nimmt der Gedanke Gottes einen überaus zentralen Platz in der systematischen Philosophie insgesamt ein. 4. Hermann Krings transzendentalphilosophische Analytik des Gottesgedankens ist in mehrfacher Hinsicht bestechend und herausfordernd zugleich. Sie besticht, da sie aus der allgemeinen philosophischen Debatte hinlänglich bekannte, manchmal aber falsche oder zumindest problematische Alternativen vermeidet. Sie kommt mit einem Minimum an Grundbegriffen und Prämissen aus und legt mit einer gewissen Eleganz einen Gedanken Gottes philosophisch nahe, der die Probleme einer früheren „onto-theologisch“ genannten Begründung der Rede von Gott vermeidet. Auch geht es ihm nicht um einen Notwendigkeitsbeweis der Annahme der Existenz Gottes, sehr wohl aber um die Explikation der unhintergehbaren Bedeutung der Rede von Gott, die sich einerseits an die nach wie vor fruchtbaren Reflexionen der theologischen Traditionen in Judentum, Christentum und Islam mit einer zugleich unübersehbar kritischen Funktion für diese Debatten anschließen lässt, die sich andererseits aber auch im Horizont einer säkularen Kultur und postsäkularen Gesellschaft vernünftig situieren, ja philosophisch begründen lässt. Dabei vermeidet Krings jeden Versuch eines „überschwenglichen“ Vernunftgebrauchs, zeigt uns Phil. Jahrbuch 128. Jahrgang / II (2021)

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aber in nuce die Gründe auf, weshalb wir gut beraten sind, philosophisch nicht bei einem strikten Formalismus im Verständnis von Freiheit stehen zu bleiben. Dies hat natürlich Konsequenzen etwa auch für eine zeitgenössische Moraltheorie. Kontrafaktische Geltungsansprüche von Unbedingtheit, wie sie etwa in der Diskursethik plausibel gemacht bzw. als möglich ausgewiesen werden, erfordern einen weiteren philosophischen Gedanken, den die klassische Diskurstheorie in ihrer eingeschränkten Lesart von Kant bislang vermeidet; denn das von unserem freien Willen ohne Selbstwiderspruch „Gesollte“ muss zumindest mit der denkbaren, d. h. mit der vernünftigen Möglichkeit des Gedankens eines uneingeschränkt „verwirklichten Gesollten“ verbunden werden können. 8 Kant bringt das mit seiner Rede vom „Selbstzweck“ der Vernunft selbst und bereits früh vom „Selbstzweck“ des Menschen zum Ausdruck, worin seine „Würde“ bestehe. Der moralphilosophische Formalismus hatte stets mit diesen Einsichten Kants seine systematischen Probleme, bis in die Gegenwart. 9 Doch diese Rede Kants vermeidet interessanterweise Hermann Krings, auch wenn man ihm in diesem Punkt nicht unbedingt folgen muss. 10 Stattdessen führt er mit seiner Analyse der „Erfüllungsbedingungen“, also „Verwirklichungsbedingungen“ der stets endlichen Freiheit von uns Menschen den Gedanken einer unendlichen und d. h. einer „vollkommenen“ und in diesem Sinne „verwirklichten“ Freiheit vor. Dieser Gedanke begründet bei ihm den philosophischen Gehalt der Rede von Gott. Diese Einsicht hat Anspruch darauf, in den Debatten der Gegenwart in der Philosophie und darüber hinaus diskutiert – auch bestritten – zu werden, zumal man fragen kann, ob die hier vorgelegte transzendentale Analyse von Hermann Krings, die er selbst zurecht als „via reductionis“ beschreibt, nicht durch die Ansätze einer sprachpragmatischen Analyse noch präziser und zielführender gefasst werden könnte. Doch sind Gesichtspunkte wie dieser nichts anderes als ein Angebot oder eine Einladung, sich unter den Bedingungen der Gegenwart zu den Motiven und den Argumenten von Hermann Krings philosophisch-argumentativ zu verhalten. Dazu lädt der Wiederabdruck seines Aufsatzes ein.

Vgl. hierzu W. Vossenkuhl, Was gilt. Über den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, Hamburg 2021. 9 Vgl. hierzu meinen Beitrag „Werte und Normen“, in: R. Forst/K. Günther (Hg.), Normative Ordnungen, Berlin 2021, 249–277. 10 Vgl. hierzu meinen Beitrag: „Hoffnung aus Vernunft. Kants Hoffnung auf ein ‚ethisches Gemeinwesen‘“, in: F. Gruber/ M. Knapp (Hg.), Wissen und Glauben, Freiburg i. Br. 2021, 145–205. 8

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Freiheit Ein Versuch Gott zu denken 1 HERMANN KRINGS

Fichtes aufsehenerregende Frühschrift „Versuch einer Kritik aller Offenbarung“ (1792) hat eine neue Epoche der Religionsphilosophie eröffnet. Fichte reflektiert nicht auf den Unterschied zwischen einem philosophischen und einem religiösen Bewußtsein von Gott, mithin auch nicht auf den zwischen einer ‚natürlichen‘ Theologie und einer Offenbarungstheologie. Dieser Unterschied, der seit der christlichen Spätantike für das Verhältnis von Philosophie und christlicher Theologie maßgeblich gewesen war, betraf die Inhalte: einerseits wurden religiöse Bewußtseinsinhalte unterschieden, die mit Verstand und Vernunft mitgegeben waren und somit einen Teil der Metaphysik bilden konnten; andererseits wurden religiöse Bewußtseinsinhalte unterschieden, die hinter Verstand und Vernunft zurückblieben wie etwa der spätantike Dämonenglaube, oder die über Verstand und Vernunft hinausgingen wie der christliche Glaube an Inkarnation und Auferstehung. Fichte hebt die Unterscheidung nicht auf, aber er hinterfragt sie, indem er den Begriff der Offenbarung selber zum Gegenstand der Kritik erhebt: Ist Offenbarung überhaupt ein möglicher Begriff? Offenbarung wird also schlechthin – und zunächst unabhängig von den Inhalten tatsächlich angenommener Offenbarungen – unter die philosophische Kritik gestellt. Darum geht es in der Reflexion Fichtes auch nicht mehr um Gottesbeweis, d. h. um die Frage, ob die im religiösen Akt realisierte Gegenwart Gottes auch philosophisch als Dasein Gottes bewiesen werden könne, oder um Theodizee, d. h. um die Frage, ob die religiöse Erfahrung in sich überhaupt kohärent sei, exemplifiziert an der Frage, ob die Gotteserfahrung und die Erfahrung des Bösen in der Welt philosophisch-begrifflich versöhnbar seien. Es geht Fichte vielmehr um die Verantwortbarkeit des christlichen Offenbarungsglaubens durch den Menschen als sittliches Vernunftswesen. Diese Untersuchung geht nun ebenfalls nicht auf eine philosophische Gotteslehre in Abhebung von einer theologischen Gotteslehre aus. Sie erörtert nicht das Problem von Glauben und Wissen und prüft nicht, was man von Gott wissen könne und was man glauben müsse. Sie fragt vielmehr, ob ein Glaube an Gott verantwortet werden könne und wie er verantwortet werden könne. Sie verfährt dabei wie andere 1 Vortrag am 6. 10. 1969 in der Philosophischen Sektion bei der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft in Münster.

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philosophische Untersuchungen auch, indem sie eine doppelte Reflexion durchführt: sie reflektiert nicht nur den Begriff, sondern auch die Möglichkeit des Begriffs. Die Vorstellung, welche mit dem Namen Gott bezeichnet wird, wird vorgefunden wie andere Vorstellungen allgemeiner Art [226] auch, z. B. Natur, Sprache, Geschichte. Die Philosophie aber nimmt die Vorstellung oder das Vorstellungsfeld nicht hin, sondern stellt sie in Frage. Sie reflektiert sie am Leitfaden der Grundfrage, ob eine Vorstellung dieser Art auch möglich sei. Anders gesagt: Kann jener Gehalt, der durch diese Vorstellungen präsent und präsentiert ist, auch gedacht werden. Die Einzelwissenschaften setzen die Möglichkeit ihres Gegenstandes voraus, reflektieren innerhalb eines angesetzten Vorstellungsbereichs und stellen ihn nicht erst in Frage. So verfährt auch die Theologie; sie fragt nicht, ob Offenbarung möglich sei, sondern geht von dem Faktum aus, daß Offenbarung wirklich ist 2. Der Begriff ‚denken‘ muß deutlich gefaßt werden. Denken heißt hier zunächst, eine Vorstellung als möglich erweisen. Dieser Möglichkeitserweis kann, wenn z. B. eine Hypothese das Ziel der Untersuchung ist, theoretische Bedeutung haben. Im Bereich der praktischen Philosophie hat der Möglichkeitserweis vorab die Bedeutung, daß der Mensch es verantworten kann, eine solche Vorstellung zu haben; daß eine solche Vorstellung zu haben, nicht unvernünftig, nicht inhuman ist. Sollte sie sich in anderem Zusammenhang als bedeutungsvoll erweisen, so kann gegen sie nicht der Einwand erhoben werden, sie sei wissenschaftlich unmöglich. Kants Interesse, die Idee ‚Gott‘ denken zu können, lag nicht nur in der Abwehr der rationalen Metaphysik als einer angeblich objektiven Erkenntnis dessen, was unter dem Namen Gott vorgestellt wird, sondern ebenso in der Zurückweisung der pseudowissenschaftlichen Behauptung, die Vorstellung von Gott sei nicht möglich und der Vernunft unwürdig. Der Begriff ‚denken‘ muß allerdings mit Kant von dem des Erkennens unterschieden bleiben. Es geht bei einem Versuch, Gott zu denken, nicht darum, Gott zu erkennen, auch nicht darum, das Dasein Gottes zu beweisen, also nicht um den Nachweis, daß das unter dem Namen Gott Vorgestellte objektive Realität habe. Noch weniger geht es darum, dieses als real gesicherte Objekt zu beschreiben und eine Wesensbestimmung von ihm zu geben. Der Versuch, Gott zu denken, begibt sich nicht auf einen Weg der Erkenntnis Gottes. Zunächst soll das Denkmodell skizziert werden, nach welchem die philosophische Tradition bis Kant den Gottesbegriff gedacht hat. Sodann wird die Grundstruktur der kantischen Kritik erinnert. Ausgehend von der durch Kant und Fichte aufgeklärten kritischen Problemlage soll der Versuch, Gott zu denken, ausgeführt werden.

2 Die Theologie der letzten hundert Jahre hat diese Faktizität als solche in verschiedener Weise zum Gegenstand theologischer Reflexion und zum Problem gemacht. K. Rahner hat expressis verbis die Frage nach den transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit von Offenbarung gestellt. Vgl. K. Rahner, Bemerkungen zum Begriff der Offenbarung, in: Interpretation der Welt, Festschr. f. A. Guardini, hrsg. v. H. Kuhn, H. Kahlefeld, K. Forster, S. 713–722; K. Rahner/E. Simons, Zur Lage der Theologie, Probleme nach dem Konzil, 1969.

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1. Die traditionelle Denkform der philosophischen Gotteslehre Die Begriffe, auf die Vorstellungen von Gott, seien sie heidnischer oder biblischer Art gewesen, gebracht worden sind, sind in der klassischen Philosophie [227] vornehmlich Begriffe der prima philosophia, die später den Namen Ontologie erhalten hat. Diese Philosophie hatte nach Aristoteles die Aufgabe, nach dem Seienden als Seiendem zu fragen, und sie führte diese Frage am Modell des Seienden in der Natur durch. Die ontologischen Grundbegriffe aristotelischer Provenienz wie Sein, Wesen, Akt, Substanz, Bewegung, Ursache, Ziel, das Gute u. a. waren das begriffliche Arsenal, aus dem sich die Gotteslehre bestückte. Das formale Prinzip aber, welches das Operieren mit diesen Begriffen bei dem Versuch, Gott zu denken, bestimmt hat, ist die via eminentiae gewesen: die Extrapolation eines Begriffsinhaltes bis zu einem inhaltlichen und formalen Primum (primum movens, prima causa, finis ultimus, ens necessarium, summum ens, actus purus, summum bonum etc.). Dieses Prinzip ist von Anselm v. Canterbury auf den gültigen Ausdruck gebracht worden: aliquid quo nihil maius cogitari potest; – wobei das cogitare wesentlich theoretischen Charakter hat. Die Denkbewegung besteht darin, einen Begriff zu entwickeln, der durch seine begriffliche Form unüberbietbar ist; also nicht nur tatsächlich (wie der höchste Berg oder der klügste Mensch), sondern prinzipiell unüberbietbar wie die erste Ursache oder das ipsum esse subsistens. Das logische Maximum eines ontologischen Begriffs zu konzipieren, ist das Charakteristische dieses Konzepts. Das Denken in onto-theologischen (Kant) Begriffen ist verbunden mit der Vorstellung des Universums als einer sich aufstufenden Rangordnung der Naturen, sei es, daß diese Rangordnung mehr kosmologisch konzipiert ist wie in der griechischen Antike (sublunarischer Bereich, Planetenhimmel, Fixsternhimmel), sei es, daß er mehr begrifflich konzipiert ist (unbelebte Natur – belebte Natur; Mensch – Engel; Welt – Gott). Jeder dieser Bereiche ist ferner Gegenstand einer theoretischen Wissenschaft: Physik, Psychologie, Engellehre, Kosmologie, theologia naturalis. Zwar wirft die theologia naturalis besondere Probleme auf wie z. B. das Problem der theologia negativa; in ihrer Wissensstruktur als metaphysica specialis stimmt sie jedoch mit den anderen metaphysicae speciales überein. Das Charakteristische dieses Wissenschaftssystems besteht, sofern es aristotelischen Prinzipien folgte, im übrigen darin, daß der Prototyp aller Gegenständlichkeit der Naturgegenstand ist. Das besagt keineswegs, daß der Mensch, der Engel oder Gott nicht personal begriffen worden wären. Die Dominanz des Naturgegenstandes hat nicht eine „objektive“ Ursache, sondern eine subjektive, d. h. sie hat ihren Grund im erkennenden Subjekt, das auf Sinnlichkeit und kategoriales Denken angewiesen ist. Das aristotelische Prinzip, daß alle Erkenntnis mit den Sinnen anhebe und daß alle abstrahierende Erkenntnis einer conversio ad phantasma bedürfe, hatte für jedwede Erkenntnis und schlechthin Geltung. Es galt primär vom Naturgegenstand, aber ebenso für die Lehre vom Menschen wie für die Lehre von Gott. Diese Denkform, die im späteren Mittelalter durch die formelle Einheit der intuitiven und der abstrakten Erkenntnis (Duns Scotus, Wilhelm von Ockham) eher noch eine schärfere Ausprägung gefunden hat, hat sich auch in der Neuzeit unangefochPhil. Jahrbuch 128. Jahrgang / II (2021)

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ten erhalten. Der Cusaner bestimmt den Begriff von Gott als maxime absolute, cum sit omne id, quod esse potest, est penitus in actu (de docta ign. I,4). Doch der Cusaner denkt dialektisch: Gott ist ebenso als das absolut Klein[228]ste zu begreifen; weil er aber dieser Art der Größte ist, manifestum est minimum maximo coincidere (ibd.). Die unendliche Linie ist die Analogie für die Vorstellung von Gott. Descartes denkt Gott unter den Begriffen substantia infinita, ens perfectissimum, Spinoza unter dem Begriff der Substanz (Deus sive substantia; Deus sive natura), Leibniz unter dem Begriff der unendlichen Monade. 2. Die Kritik Kants Kants religionsphilosophische Kritik steht in dem größeren Rahmen seiner Kritik des Wissenschaftsbegriffs. Wenn auch das Wesen von Wissenschaft von Anfang an und immer umstritten gewesen war, so hatten sich die Kontroversen doch auf einen prinzipiell univok verstandenen Begriff von Wissenschaft bezogen. Kant unterzieht diesen Begriff einer Kritik und kommt zu einer formalen Differenzierung dessen, was Wissenschaft heißen kann. Er unterscheidet drei Formen von Wissenschaft: die Objektwissenschaft, die reine Vernunftwissenschaft und die dialektische Wissenschaft. Die Objektwissenschaft oder, wie sie auch genannt werden kann, die „positive“ Wissenschaft ist die Wissenschaft von den Gegenständen. Kant versteht die Gegenstandserkenntnis wesentlich als eine Leistung der transzendentalen Synthesis einer sinnlich gegebenen Mannigfaltigkeit. Die Synthesis vollzieht sich ihrerseits nach den Grundsätzen des reinen Verstandes und folgt regulativen Vernunftprinzipien. Der Gegenstand wird als unter Gesetzen stehend erkannt; die Erkenntnis ist darum objektiv und allgemein-gültig. Sie ist Erkenntnis von Naturgegenständen oder genauer: von den Gegenständen als Natur. Was der Name „Gott“ bezeichnet, ist nicht ein Gegenstand, der als Natur erkannt werden kann. Darum kommt die Theologie nicht unter den Gegenstandswissenschaften vor. Das Wort ‚Gott‘ nennt weder einen möglichen „positiven“ Gegenstand noch einen Verstandesbegriff. Doch wenn auch das, was das Wort ‚Gott‘ nennt, bei einer Analyse der theoretischen Gegenstandswissenschaft nicht in der Reihe möglicher Gegenstände vorkommt, so doch an einer anderen Stelle, nämlich unter den Vernunftprinzipien, denen Kant unter dem Namen ‚Ideen‘ eine transzendentale Bedeutung für die theoretische Erkenntnis beimißt. Diese kommt nicht allein durch die in der ‚Analytik‘ gefundenen transzendentalen Bedingungen, durch Anschauung und Begriff zustande, sondern wesentlich auch durch die Konsequenz des Denkens. Vorstellungen nun, die sich, aus der Konsequenz des Denkens ergeben, ohne Vorstellungen von Objekten sein zu können, weil keine korrespondierende Anschauung gegeben ist, Vorstellungen also von der Vollständigkeit und Ganzheit des Denkens selber nennt Kant Ideen. Unter diesen Ideen muß auch der Begriff der absoluten Einheit der Bedingungen „aller Gegenstände des Denkens überhaupt“, also „der Inbegriff aller Möglichkeit“ gedacht werden (B 601). Sofern diese Idee „in individuo“ verstanden wird (B 596), wird sie das

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„Ideal der reinen Vernunft“ genannt. Dieses ist der Begriff von Gott „in transzendentalem Verstände“ (B 607; cf. B 594–610). Die reine Vernunftwissenschaft bezieht sich nicht auf Sinnliches. Ausgehend [229] von dem „einzigen Faktum der praktischen Vernunft“, d. i. das moralische Gesetz (daß der Wille rein durch Vernunft bestimmt sei), tut Kant in der „Analytik der reinen praktischen Vernunft“ dessen unbedingte Gültigkeit dar und erweist die Autonomie des Menschen als eines sittlichen Vernunftwesens unter moralischen Gesetzen als gerechtfertigt und geboten. Diese reine Vernunftwissenschaft sagt zwar nicht objektiv, was geschehen soll, sie sagt jedoch – rein apriori – in welcher Form das geschehen soll, was geschieht. Der Wille soll rein durch Vernunft bestimmt sein, was daran erkennbar ist, daß die Maxime allgemeines Gesetz sein könnte. Auch diese Wissenschaft begründet keine Theologie und enthält keine Theologie. Jedoch reflektiert auch sie auf eine Konsequenz der Vernunft, hier nicht des Denkens, sondern des Handelns. Die Konsequenz des sittlichen Handelns aber führt zu einem Zustand des Menschen als sittlichem Wesen, der als schlechthin vernünftiger Zustand bezeichnet werden kann. Die reine Vernunftwissenschaft führt also nicht zu der Vorstellung einer absoluten Möglichkeit und sicher nicht eines höchsten Gegenstandes, wohl aber zu der Vorstellung eines höchsten Zustandes, den Kant als das höchste Gut bezeichnet. Dieses aber besteht in der Kongruenz von Sittlichkeit und Glückseligkeit. Der für den Menschen schlechthin vernünftige Zustand besteht nicht in barem Sittlichsein, sondern darin, daß der Mensch eben im radikalen Sittlichsein (als Vernunftwesen) sein Glück (als Naturwesen) finde. Die Natur muß darum von Kant als ‚zweckmäßig‘, d. h. als kompatibel und kongruierend mit der sittlichen Ordnung gedacht werden. Da diese ‚moralische Teleologie‘ aber nicht durch das endliche Vernunftwesen bewirkt werden kann, weil die sittliche Vernunft zwar alles über den Willen, aber wenig oder nichts über die Natur vermag, muß ein Prinzip gedacht werden, welches diese Beziehung der Natur auf sittliche Ordnung begründet. Wenn Sittlichkeit nicht sinnlos sein soll, muß aus reiner Vernunft der Begriff eines sittlichen Urhebers der Welt gedacht werden. Diese Überlegungen, durch die Kant Begriffe von Gott denkt, gehören jedoch weder der reinen Vernunftwissenschaft noch auch einer Objektwissenschaft an. Im Hinblick auf die reine Vernunftwissenschaft gilt, daß die Sittlichkeit des Menschen unbedingt gefordert ist, ob Gott gedacht wird oder nicht, ob er gedacht werden kann oder nicht, ob an ihn geglaubt wird oder nicht. Sowohl die positive Wissenschaft wie die reine Vernunftwissenschaft wird durch eine Analytik der reinen Vernunft begründet; d. h. Vernunft wird, ausgehend von einer sinnlichen oder einer sittlichen Evidenz, auf die in ihr selbst liegenden Bedingungen hin analysiert. Wenn Kant nun bei der kritischen Darstellung dieser beiden Formen von Wissenschaft Themen behandelt, die weder der einen noch der anderen Art von Wissenschaft zugehören, und für sie gleichwohl kritische Begründetheit des Gedankengangs in Anspruch nimmt, dann rechnet er mit einer dritten Form von Wissenschaft, die er selber Dialektik nennt. Die dialektische Wissenschaft hat es prinzipiell mit einer Differenz zu tun. Sie hat einerseits das Differente (z. B. Begriff mit Anschauung gegenüber Begriff ohne Anschauung oder Sittlichkeit gegenüber Natur) auseinanderzuhalten und Phil. Jahrbuch 128. Jahrgang / II (2021)

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den trügerischen Gebrauch der Vernunft, in welchem das Differente unterschiedslos ge[230]nommen wird, abzuwehren; andererseits ist es ihre Aufgabe, das notwendige Verhältnis der Differenten auszudenken. Kant führt dieses Aus- und Zuendedenken in den mit ‚Dialektik‘ betitelten Teilen der drei Kritiken durch. In der „Kritik der reinen Vernunft“ kommt er dabei (unter Abweisung der Gottesbeweise und der rationalen Gotteslehre) zum Begriff einer „Transzendentalen Theologie“ (B 607, 640). In der „Kritik der praktischen Vernunft“ wird (I. Teil, II. Buch, 2. Hptst. ßB2ßK. VßB2ß) „das Dasein Gottes als ein Postulat der reinen praktischen Vernunft“ nachgewiesen. In der „Kritik der Urteilskraft“ führt Kant (im Anhang, § 87) den „moralischen Beweis für das Dasein Gottes“, der sich in folgender Frage und Antwort zusammenfassen läßt: Läßt sich „moralische Teleologie“ (d. h. Zweckmäßigkeit der Natur für das moralische Gesetz oder Übereinstimmung von moralischem Gesetz und Naturgesetz) ohne ein Prinzip außer uns denken? Antwort: Nein. Denn Sittlichkeit und Natur sind weder durch ein Naturgesetz noch durch ein moralisches Gesetz, noch auch durch die faktisch-geschichtliche Existenz des Menschen notwendig miteinander verbunden. Darum muß eine „moralische Weltursache“ gedacht werden. Aus der skizzierten Analyse ergibt sich methodologisch, daß Kant einen realen Begriff von Gott nicht im Ausgang von der Erkenntnis der Naturgegenstände gewinnt, sondern im Ausgang von der Erkenntnis des Menschen als eines sittlichen Wesens. Das Denken, in welchem Kant einen Begriff von Gott zu denken versucht, setzt nicht eine Denkreihe ontologischer Begriffe fort, um via eminentiae ein Primum zu denken, sondern es läßt die Reihe stehen, springt aus der Reihe heraus, um das zu denken, was diese Reihe sinnvoll zu denken allererst möglich macht. Die Notwendigkeit der Annahme eines Begriffs „Gott“, hier bei Kant des Daseins Gottes als eines höchsten sittlichen Wesens und Urhebers der Welt, ist nicht eine theoretische, sondern eine praktische Notwendigkeit. 3. Abriß einer transzendentalen Freiheitslehre Der hier ansetzende Versuch, Gott zu denken, vollzieht sich ebenfalls nicht in den Gedankenfolgen der Ontologie oder Metaphysik, sondern das Denken des Menschen als eines sittlichen Vernunftwesens soll zu einem Begriff von Gott führen. Da dessen Ausgangs- und Zielbegriff der Begriff der Freiheit ist, ist die Gedankenfolge, innerhalb derer Gott gedacht werden soll, das Denken der Freiheit. Die These, die durch die nachfolgende Ausführung erklärt werden soll, lautet also: Eine transzendentale Analytik der Freiheit führt dazu, einen Begriff von Gott zu denken. Der Begriff der Freiheit wird formal gefaßt als Selbstbestimmung. Selbstbestimmung bedeutet negativ die Unabhängigkeit von Fremdbestimmtheit, sei sie naturaler oder sozialer Art. Positiv besteht die Selbstbestimmung darin, dem Willen einen Inhalt zu geben, der ihn zum bestimmten Willen macht. Der Begriff des Willens kann in diesem Zusammenhang nicht ausführlich erörtert werden. Er soll jedoch einerseits von der Willkür unterschieden werden, [231] welche gleichgültig gegen den Inhalt ist, und andererseits von einem Willen, der nicht Phil. Jahrbuch 128. Jahrgang / II (2021)

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selbst sich den Inhalt gibt, sondern seine Bestimmtheit durch etwas anderes erhält als er selbst. Der Ausdruck Selbstbestimmung bedeutet demnach, daß der Wille sich selbst einen Inhalt gibt. Der Ausdruck „Selbst“ bezeichnet die reine Reflexionsbestimmung, nicht eine metaphysische Setzung. Der Ausdruck „dem Willen einen Inhalt geben“ ist undeutlich, weil er offenbar außer einem anscheinend formal verstandenen Prinzip „Wille“ noch ein materiales Prinzip voraussetzt, ohne daß deren Zusammengehörigkeit ersichtlich wäre. Noch fragwürdiger ist der Ausdruck „der Wille gibt sich selbst einen Inhalt“. Denn wird er derart verstanden, daß der Inhalt aus der bloßen Form des Willens stamme, so liegt ein Widerspruch vor, weil dieser Inhalt streng genommen ein inhaltsloser Inhalt wäre. Die bloße Form des Willens wäre zwar nominell als Inhalt deklariert, doch die Selbstbestimmung wäre zu einem leeren Formalismus entwertet. Der Ausdruck kann aber auch nicht bedeuten, daß der Wille je eine neue, noch nie dagewesene Inhaltlichkeit originär erfinden müßte; wie jede Originalitätssucht wäre auch diese transzendentale Verpflichtung zur Originalität durch ein starkes Moment von Fremdbestimmtheit gekennzeichnet, da der Blick ständig auf das Dagewesene gerichtet sein müßte, um des entscheidenden Merkmals des Nochnichtdagewesenen sicher sein zu können. Der Ausdruck „der Wille gibt sich selbst einen Inhalt“ hat „objektiv“ verstanden keinen Sinn; objektiv verstanden hebt er sich selbst auf. Erst ein transzendentales Verständnis erschließt den Sinn dieses Ausdrucks. Das aber bedeutet, daß der Inhalt nicht als das Objekt des Willens, sondern als das Materiale eines Wollens und daß das Sichselbstgeben nicht als objektives Eingeben oder Hervorbringen, sondern als ein ursprüngliches Sichöffnen für Gehalt, als primärer Entschluß des Willens zur eigenen Materialität verstanden werden 3. Ob eine Inhaltlichkeit vernommen und von woher oder in welcher Weise sie entgegengenommen wird, sie muß, um selbst gegeben zu sein, transzendental erschlossen sein; der Wille muß sich entschließen, und zwar zu sich selbst als materialem Wollen. Der Wille wird also als je schon in einem Kontext stehend begriffen, doch nicht als Partikel des Kontextes, auch nicht als absolutes Ich gegenüber dem Kontext, sondern als das ursprüngliche Sichverschließen und Sichentschließen, welches die Form dieses Kontextes ausmacht. Der Ausdruck „der Wille gibt sich selbst einen Inhalt“ hat darum zunächst nicht die empirische Bedeutung, aus einer Reihe vorliegender inhaltlicher Möglichkeiten eine bestimmte zu wählen; er hat die transzendentale Bedeutung, sich einer inhaltlichen Möglichkeit zu erschließen oder sich vor ihr zu verschließen; er bedeutet, nicht nur zu hören, sondern zu er-hören 4. Das Verhältnis von transzendentalem Ent-schluß und empirischer Bestimmung hat seine Analogie im menschlichen Vollzug. Wer kein Ohr oder kein Auge für eine Sache hat oder schlechthin „abwesend“ ist, hört oder sieht nichts. Wer sich Sachverhalten oder Menschen gegenüber verschließt, kann [232] sie nicht erfassen, nicht er-

3 Vgl. Verf., Wissen und Freiheit, in: Die Frage nach dem Menschen, Aufriß einer philos. Anthropologie, Festschr. f. Max Müller, hrsg. v. H. Rombach, 1966, S. 37. 4 Ebd. S. 33 ff.

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kennen. Wer von einer Sache schlichthin keine Vorstellung hat, bemerkt sie möglicherweise gar nicht. Das positive Wesen der Freiheit wird dadurch bestimmt, daß der Wille sich selbst einen Inhalt gibt. Damit erfüllt der Begriff des transzendentalen Entschlusses oder des ursprünglichen Sichöffnens den Begriff der transzendentalen Freiheit. Transzendentale Freiheit besagt, daß das Wollen sich selbst als ursprünglich materiales Wollen bejaht. Transzendentale Freiheit begründet empirische Freiheit; denn durch das Moment des transzendentalen Entschlusses bewahrt die konkrete materiale Bestimmtheit des Willens auch im geschichtlichen Kontext, der in bezug auf den Willen als das Ensemble der empirischen Bestimmungsfaktoren verstanden werden muß, den Charakter der transzendentalen Selbstbestimmtheit. Der ursprüngliche Ent-schluß kann jedwede Inhaltlichkeit erschließen, doch welcher Inhalt ist der Form der transzendentalen Freiheit angemessen? Der Wille ist nicht gleichgültig gegenüber dem Inhalt; welcher Inhalt erfüllt die Form der Freiheit? Durch welchen Inhalt wird ihrer Dignität entsprochen? Der den transzendentalen Ent-schluß erfüllende Gehalt muß die Dignität der transzendentalen Freiheit selber haben. Der erfüllende Inhalt der Freiheit kann, sofern er ihr der Form und Dignität nach nicht nachstehen soll, kein anderer sein als Freiheit. Das aber bedeutet: Freiheit gibt sich letztlich und erstlich dadurch einen Inhalt, daß sie andere Freiheit bejaht. Nur im Ent-schluß zu anderer Freiheit setzt sich Freiheit selbst ihrer vollen Form nach. Mit dieser aus dem Begriff der transzendentalen Freiheit sich ergebenden Konsequenz sind keine empirischen Entscheidungsfragen beantwortet. Sie erweist jedoch ein Grundmoment oder einen Grundcharakter jedweder Selbstbestimmung des Willens. Der Begriff der Selbstbestimmung ist rein aus sich kein bloß formaler Begriff und noch weniger ein bloß „subjektiver“ Begriff. Er ist prinzipiell ein materialer Begriff und ein „intersubjektiver“ Begriff; genauer: er ist der Begriff der transzendentalen Affirmation anderer Freiheit. Die Freiheit als ursprünglicher Ent-schluß für Gehalt hat soviel Realität und Dignität wie jener terminale Gehalt, auf den hin sie sich eröffnet. Die Freiheit hat darum, wiewohl ihrer Form nach unbedingt (als die reine Figur des Entschlusses und Sich-öffnens), ihrer Realität nach verschiedenen Rang. Doch in welchem Rang sie sich auch realisieren mag, keine Realisation erschöpft die durch nichts bedingte und durch nichts zu begrenzende Form des Sich-öffnens. Aus dieser Unbedingtheit der Form folgt, daß kein Inhalt, auch nicht der adäquate Inhalt (= die andere Freiheit), der Freiheit endgültig eine Grenze setzen kann, den Aktus des Sich-öffnens und Ent-schließens gewissermaßen zum Erliegen bringen kann. Vielmehr ist die endliche, d. h. die auf Realisierung angewiesene Freiheit um der Unbedingtheit ihres Sichöffnens willen durch ihre eigene Form auf unbedingte Freiheit bezogen und je schon gerichtet. Diese Dimension der Freiheit, auf unbedingte Freiheit bezogen zu sein, rührt nicht daher, daß diese etwa als ein Absolutes vorgestellt oder als das absolute Ziel „gesetzt“ wäre; sie rührt auch nicht daher, daß die endliche Freiheit unter der Forderung einer „unendlichen Annäherung“ an ein zwar geltendes, aber nie zu erreichendes Ziel [233] stünde: absolut frei zu sein (übrigens ein nach der transzendentalen Analyse der Freiheit in sich widersprüchlicher Ausdruck). Der BePhil. Jahrbuch 128. Jahrgang / II (2021)

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zug auf unbedingte Freiheit ist vielmehr ein formaler Charakter des transzendentalen Ent-schlusses selber. Der Vollzug der Freiheit als Bejahung anderer Freiheit enthält einen unbedingten Anspruch; er besitzt als unbedingtes Sich-öffnen die Dimension des Unbedingten und greift, kraft seiner eigenen Form, auf unbedingte Freiheit vor. Transzendentale Freiheit realisiert sich darum in der Bejahung anderer Freiheit und im Vorgriff auf unbedingte Freiheit 5. Der Ausdruck „unbedingte Freiheit“ bezeichnet ebensowenig wie der Ausdruck „transzendentale Freiheit“ ein Objekt oder ein Wesen. Er bezeichnet auch nicht einen transzendentalen Vollzug. Durch ihn ist vielmehr die Idee der Einheit von unbedingter Form des Sich-öffnens und unvermittelter Fülle der Inhaltlichkeit bezeichnet. Die Identität kann auch durch den Begriff der vollkommenen Freiheit gefaßt werden. Sofern empirische menschliche Freiheit durch transzendentale Freiheit begründet ist, enthält sie kraft ihrer Form das Moment des Vorgriffs auf vollkommene Freiheit. Die transzendentale Freiheit verwirklicht ihren Unbedingtheitscharakter, der ihr formaliter zugehört, im ursprünglichen Sich-öffnen, d. h. in der Bejahung anderer Freiheit und im vorgreifenden Sich-öffnen auf unbedingt-vollkommene Freiheit hin. Darin besteht die Struktur der Materialität eines Wollens, sofern der Inhalt des Wollens selbstgegeben sein soll. Menschliche Sittlichkeit, deren Wesen in der gehaltvollen Verwirklichung von Freiheit besteht, hat darum zur Bedingung ihrer Möglichkeit die Bejahung von anderer Freiheit und den Vorgriff auf vollkommene Freiheit. Die Idee der vollkommenen Freiheit ist nicht via eminentiae, sondern via reductionis konzipiert. Nicht eine inhaltliche Aufsteigerung des Begriffs der endlichen Freiheit etwa von der äußeren über die innere zur absoluten Freiheit, sondern der Rückgang auf den formal unbedingten Charakter der endlichen Freiheit bietet den Ansatzpunkt für das Denken eines Begriffs der vollkommenen Freiheit. Dieser Ansatzpunkt wird jedoch nicht Anlaß zu einer bloßen Begriffskonstruktion (formal unbedingt plus material unbedingt), sondern im Weg der Bedingungsanalyse wird der die endliche Freiheit erfüllende Gehalt gedacht. – So führt auch das Wort des Augustinus vom cor inquietum nicht dazu, einen Begriff absoluter Ruhe auszudenken, sondern vielmehr zu dem Begriff dessen, was dem cor inquietum genugtut und es zum requiescere bringt. 4. Der Begriff von Gott Für die entwickelte Struktur der endlichen Freiheit kann es dahingestellt bleiben, ob die vollkommene Freiheit, auf welche als Idee Bezug genommen [234] wird, als göttliche Freiheit oder als Freiheit des Gottes oder auch als Gott bezeichnet wird. Die Analyse ist unabhängig von Benennungen solcher Art. Doch sie bietet die Möglich5 Zum Problem des transzendentalen Aktus in seinem Charakter als Theoria und zum Begriff des ‚Vorgriffs‘ auf das Sein als den erfüllenden Terminus des Wahrheitsstrebens vgl. Verf., Transzendentale Logik, 1964, S. 113 ff., 170 ff.; K. Rahner, Geist in Welt, 21957; M. Heidegger, Sein und Zeit, 111967, § 45. Vgl. auch H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 1960, S. 277 f.

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keit, einen Begriff von Gott zu denken. Zwar wird durch die Idee der unbedingten und vollkommenen Freiheit nicht der Begriff eines „Wesens“ gedacht, das an sich selbst unüberbietbar wäre – quo maius cogitari non potest. Allenfalls wird ein Bezug gedacht, welcher als Bezug eines unbedingten Aktus aufs Unbedingte unüberbietbar ist, also gewissermaßen ein Bezug quo maius cogitari non potest. Wesentlich ist, daß gerade nicht der Begriff eines unüberbietbaren Seins gedacht wird, sondern das schlechthin Sinnerfüllende für Freiheit. Nur in bezug auf vollkommene Freiheit kann Freiheit das sein, was sie sein will. Die Idee der vollkommenen Freiheit ist, sofern Freiheit sein soll – und das ist identisch mit sein ‚will‘ – ein notwendiger Gedanke. Die Vorstellung von Gott, gedacht im Begriff der die transzendentale Freiheit erfüllenden vollkommenen Freiheit, ist nicht nur möglich, sondern notwendig. Doch diese Notwendigkeit ist nicht „objektiv“; erst im Vollzug von Freiheit „wird“ diese Notwendigkeit. Sie ist keine Notwendigkeit des theoretischen, sondern des praktischen Denkens. Sofern innerhalb eines Denkens der Freiheit ein Begriff von Gott gedacht wird, ist dieser Begriff als ein notwendiges Moment der transzendentalen Struktur der Freiheit gedacht und zwar als die Idee des erfüllenden Gehaltes für transzendentale Freiheit. Der Begriff von Gott, der sich hier im Denkmodell des Denkens transzendentaler Freiheit ergibt, entspricht nicht den philosophischen Gottesbegriffen der Tradition. Dieses Denkmodell verdankt offenkundig Entscheidendes Kant und Fichte. Gleichwohl ergibt sich auch gegenüber den Begründern der Transzendentalphilosophie ein anderes Resultat; denn Gott wird weder als das Postulat einer im Grunde ontologisch verstandenen Einheit von Freiheit und Natur, noch auch als „moralische Weltordnung“ verstanden. Da der Begriff von Gott nicht wie in der traditionellen Philosophie durch eine lineare Extrapolation der ontologischen Begriffe, d. h. im Eminenzmodell gedacht worden ist, sondern, um es abgekürzt zu sagen, im Freiheitsmodell, können von ihm alle jene Aussagen, die durch das ontologische Modell begründbar waren, hier nicht gemacht werden. Gott, im Denkmodell des Freiheitsdenkens gedacht, kann nicht als „höchstes Wesen“, nicht als substantia infinita, nicht als causa begriffen oder bezeichnet werden. Daß die ontologischen Aussagen in diesem Denkmodell unmöglich bleiben, mag als ein Mangel angesehen werden. Der Begriff von Gott, so wie er im Denkmodell des Freiheitsdenkens gedacht wird, entspricht jedoch weitgehend dem Begriff von Gott, der sich aus den Schriften des Alten und des Neuen Testaments gewinnen läßt. Der Begriff von Gott im Alten Testament ist bestimmt durch die „Erwählung“ des Volkes Israel und dadurch, daß Jahwe zu Israel spricht. Gott wird verstanden als der sich frei Eröffnende. Erwählung und Wort Jahwes haben aber nur dies zum Inhalt: daß Israel seinerseits frei sich ent-schließe und das Wort höre. Beides, das Wort Jahwes und das Hören Israels sowie das Reden Israels (Beten) und das Erhören Jahwes bilden ein Kommerzium, das in den prophetischen Schriften unter mannigfachen Bildern als ein Kommerzium der Freiheit vorgestellt wird. [235] Die Grundkategorie, unter der Gott im Neuen Testament begriffen wird, ist selbst („Der Vater liebt den Sohn …“) und für die Menschen („So sehr hat Gott die Welt geliebt …“). Nur in bezug zu diesem in Jesus von Nazareth offenbar gewordePhil. Jahrbuch 128. Jahrgang / II (2021)

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nen Entschluß Gottes und im eigenen Vollzug solchen freien Sich-entschließens kann der Mensch sein Wesen als Mensch und sein Heil gewinnen. Das eine Gebot, das alle weiteren Gebote in sich enthält, ist das Gebot der Gottesliebe und der Menschenliebe. Wenn das Liebesgebot im Neuen Testament als ein „neues“ Gebot bezeichnet wird, so bedeutet das nicht, daß es sich hier um eine gegenüber dem Alten Testament neue Moralvorschrift handele; das Gebot ist vielmehr neu gegenüber und im Unterschied zum Gesetz überhaupt, auch insofern es Moralvorschriften enthält. Deutlicher: Das Neue Testament ist und hat zunächst keine Morallehre. Es gebietet im Liebesgebot den Ent-schluß im eminenten Sinn. Wir sagen: Es gebietet die transzendentale Freiheit. Das Neue Testament gebietet nicht Moral, sondern das, was Moralität ermöglicht. Es zielt eindeutig auf dasjenige, ohne das Vorschriften nicht begründbar sind und das, wenn es real ist, die Vorschrift für alle möglichen Vorschriften abgibt. Augustins Wort ‚ama et fac quod vis‘ radikalisiert den neutestamentlichen Zusammenhang von transzendentalem Ent-schluß und tatsächlicher materialer Bestimmtheit des Wollens. Das ursprüngliche Sich-öffnen im amare konstituiert jene Materialität des Wollens, welche das inhaltlich bestimmte Tun unmittelbar und nicht vermittelt durch eine Vorschrift als freies Tun hervorgehen läßt. Statt der obsolet gewordenen Moralvorschriften stellt darum das Neue Testament repräsentative Verhaltens- und Handlungsweisen vor, in denen sich die neue Freiheit einen Ausdruck gibt. Das Neue Testament bedeutet für das Bewußtsein der Menschheit insofern einen entscheidenden Reflexionsschritt, als es das Gesetz im Sinn von Vorschriften des Rechttuns überholt und auf den Grund der Möglichkeit von Rechttun verweist: das ursprüngliche Sichöffnen des Menschen für den Mitmenschen im Hinblick auf den Ent-schluß Gottes für den Menschen. Insofern ist das Neue Testament auch ein epochemachender Schritt in jenem Prozeß, den wir seit dem 18. Jahrhundert Aufklärung nennen; ein Schritt, der auch dem Begriff der Emanzipation einen vernünftigen Sinn zu geben vermag. Das Neue Testament fordert allerdings eine „unglaubliche“, gleichwohl verstehbare Grundbedingung: nämlich daß der Mensch sich vorab auf die Vollkommenheit Gottes beziehe: „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Ohne hier eine Exegese von Matth. 5,48 bieten zu wollen, sei angemerkt, daß das TELEIOS des Textes nicht moralische Vollkommenheit bedeutet, sondern von der Hinwendung Gottes zum Menschen gesagt ist: Gott wendet sich ganz dem Menschen zu 6. Dieses Wort, welches das Schlußwort der „Bergpredigt“ ist, verweist darauf, daß der Ent-schluß und die Entäußerung Gottes der notwendige Bezugsrahmen ist, innerhalb dessen der Entschluß trans[236]zendentaler Freiheit aufgegeben ist. Christlich realisiert sich die Freiheit als der unbedingte Ent-schluß für den Menschen im Hinblick auf den unbedingten Entschluß Gottes für den Menschen; jener Ent-schluß, als welcher Jesus existiert hat.

6 Vgl. Theol. Wörterbuch zum Neuen Testament, begr. v. G. Kittel, hrsg. v. G. Friedrich, Bd. VIII, Stuttgart 1965, S. 74 ff.

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Der Versuch, einen Begriff von Gott im Kontext einer transzendentalen Philosophie der Freiheit zu denken, läßt den Gegensatz zwischen dem Gott der Philosophen und dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Pascal beschwört, hinter sich. Pascal bezog sich auf eine Philosophie, die Gott im ontologischen Modell zu denken versucht hatte; dieses Modell hat sich indes im Hinblick auf das Glaubensproblem Pascals als ungeeignet erwiesen. Insofern Pascal sich auf eine seiner Fragestellung inadäquate Philosophie bezog, hatte er recht, die Unterscheidung des ‚Gottes der Philosophen‘ zu akzentuieren. Doch Pascals Entgegensetzung gilt nicht für jede und alle Philosophie. Der hier durchgeführte Denkversuch setzt nicht bei der Ontologie oder der Gegenstandserkenntnis überhaupt an, um einen höchsten Gegenstand begrifflich zu fassen; er geht auch nicht von einer Extrapolation der Natur aus, um ein Übernatürliches zu denken; er geht auch nicht vom Wissen oder vom Bewußtsein überhaupt aus, vom cogito oder der allgemeinen Subjektivität, geschweige vom Irrationalen, sei es Gefühl oder Emotion oder auch eine von Emotionen unmittelbar bestimmte Praxis. Der Versuch ist vielmehr im Rahmen einer Reflexion auf das humane Wesen des Menschen angesiedelt; dieses ist als Freiheit und die Freiheit ist als Freiheit für Freiheit gefaßt. 5. Zur Theologie der Revolution Der Versuch, einen Begriff von Gott im Zusammenhang einer transzendentalen Freiheitslehre zu denken, hat sachliche Berührungspunkte mit den Gärungsprodukten der neueren theologischen Entwicklung. Der Begriff von Gott wird von vielfach marxistischen Philosophemen folgenden Theologen theologisch reduziert auf Gemeinde, Nächstenliebe oder auch auf den revolutionären Kampf zugunsten der nichtemanzipierten, notleidenden Menschen (in Lateinamerika, Biafra, Vietnam). Diese Vorstellung von Gott kulminiert in der Parole ‚God’s political activity‘ (Shaull) 7, ein Schlagwort, das die Begriffe auf den Kopf stellt, einen merkwürdig inhumanen Unterton anklingen läßt und offensichtlich aufrütteln soll. Die Theologie wird ‚politische‘ Theologie 8. Das christliche Handeln besteht wesentlich im Kampf für die soziale Gerechtigkeit und für die Humanisierung der Welt. Bei allem christlichen Ernst und Pathos, die einer solchen Einstellung eigen sind, verfehlt sie, sicherlich für Europa, ihr Ziel; denn allzuschnell geht sie im [237] allgemeinen Emanzipationsklischee und Sozialenthusiasmus unserer zweiten Aufklärung auf. Charakteristisch für diese Einstellung ist jedoch, daß sie auf die Kategorie der Liebe, d. h. eines freien Sich-öffnens und Hingebens in sich eine veränderte Vorstellung von Gott zielt bzw. eine veränderte Vorstellung von Gott bezeugt. Diese Vorstellung ist durch eine Unbedingtheit im Sichbeziehen auf den Menschen als 7 T. Rendtorff/H. E. Tödt, Theologie der Revolution, Analysen und Materialien, 21968. Vgl. Diskussion zur ‚Theologie der Revolution‘ hrsg. v. E. Feil u. R. Weth, 1969. 8 Vgl. die an Inhalt gewinnende Kontroverse zwischen J. B. Metz und H. Maier; zuletzt J. B. Metz, Politische Theologie in der Diskussion, in: Diskussion zur ‚politischen Theologie‘, hrsg. v. H. Peukert, 1969, S. 267–301, und H. Maier, Nocheinmal: Politische Theologie, in: Stimmen der Zeit, 1970, S. 145–171. Dort Literatur.

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Mitmenschen geprägt. Diese veränderte Vorstellung von Gott ist „unreligiös“ und „unkirchlich“ und soll es wohl auch sein. Da ihr aber die Philosophie fehlt, ist sie weithin unkritisch, zum mindesten unvollständig und vielfach widerspruchsvoll; denn nichts ist für eine Verabsolutierung weniger geeignet als der Mensch selbst. Die scheinbar „humanisierte“ Vorstellung von Gott gibt sich als das Produkt eines kritischen und aufgeklärten Denkens; tatsächlich stellt sie sich aber nicht der Prüfung des Denkens, sondern bleibt eine vage, von Emotionen bestimmte und nicht ohne Pathetik vorgetragene Vorstellung. Da sie nicht auf den Begriff kommt, sucht sie ideologische Abstützungen oder auch eine, diesmal marxistische, Scholastik. Durch einen Rückgriff auf vorwiegend dem 19. Jahrhundert entstammende begriffliche oder ideologische Schemata wird das Problem der Theologie nicht gelöst werden können. Dazu bedarf es eines eigenen und in sich kohärenten Denkens; wenigstens eines Versuchs, zu denken. Ein solcher Versuch darf es allerdings nicht scheuen, einen veränderten Begriff von Gott zu denken, auch wenn dabei gewohnte Prädikate wie höchstes Wesen, Allmacht, erste Ursache oder andere verloren gehen. Der transzendentale Gedankengang, der zu dem Begriff der unbedingten und vollkommenen Freiheit als der Bezugsdimension für das Freisein des Menschen führt, stellt einen Versuch dar, neue Prädikate und nicht nur Prädikate, sondern eine veränderte, dem Fragen des Menschen entsprechende Denkstruktur zu finden. Wenn das Bewußtsein der Menschen in der geistigen und sozialen Entwicklung des 20. Jahrhunderts tiefgreifenden Veränderungen unterworfen ist und nicht nur unterworfen ist, sondern diese Veränderungen will, dann ist nur zu hoffen, daß das Bewußtsein von Gott nicht leer ausgeht, sondern entsprechend in Bewegung gerät. Eine Scheu davor, daß nicht nur das Bewußtsein von der Welt sich ändern könnte, sondern auch das Bewußtsein von Gott, mag ihr Recht und nicht allein ihr Recht, auch ihren Sinn haben; aber sie wird nicht als Maßstab gelten dürfen. Eine epochale Veränderung des Bewußtseins, so wie es auch früher in der Geschichte der Menschheit geschehen ist, enthält die Alternative, daß entweder das Bewußtsein von Gott schwindet oder ebenfalls eine Veränderung vollzieht.

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JAHRBUCH-KONTROVERSEN VI: Zu Luciano Floridis „New Political Ontology for a Mature Information Society“ (Fortsetzung)

Schlussnotiz Luciano Floridis folgende Repliken schließen die aktuelle Jahrbuch-Kontroverse ab. Sie hat deutlich werden lassen, dass die Digitalisierung keineswegs nur randständiger Gegenstand der Technikphilosophie ist. Die Digitalisierung ist vielmehr mitten in unserer Lebenswelt angekommen und öffnet sich so für ganz unterschiedliche Bereiche der Philosophie – die Ontologie, Erkenntnistheorie, Ethik, und nicht zuletzt auch die politische Philosophie. Floridis hier diskutierter Initiativaufsatz zeigt eindrucksvoll, dass wir nur dann sinnvoll philosophisch über die Digitalisierung reden können, wenn wir sie aus dem Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Bereiche heraus verstehen. Ich danke allen an der Debatte beteiligten Philosophinnen und Philosophen, allen voran Luciano Floridi, für die äußerst anregende und philosophisch ergiebige Kontroverse. Verbunden ist dieser Dank mit der Hoffnung, dass die hier behandelten Themen auch in Zukunft immer mehr Eingang in den philosophischen Diskurs finden mögen. Denn die Digitalisierung ist schon lange kein rein technisches Phänomen mehr, sondernd durchdringt und transformiert unseren Alltag, unser Denken und Handeln zunehmend. Diese Transformationen begrifflich zu fassen und kritisch zu bedenken, darf als eine der Hauptaufgaben der gegenwärtigen und künftigen Philosophie gelten. Jörg Noller

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Replies to Broy, Gabriel, Grunwald, Hagengruber, Kriebitz, Lütge, Max, Misselhorn, and Rehbein Luciano FLORIDI (Oxford)

Preface to my replies I am most grateful to Thomas Buchheim, Jörg Noller, the editorial team, and the publisher of the Philosophisches Jahrbuch for the remarkable honour of being invited to contribute to the “Jahrbuch-Kontroverse” series. The scholarly attention paid by colleagues to one’s own work is the greatest gift one may receive in academia, even more so these days, when we seem to have increasingly less time to study, think, and dialogue. I have replied to the comments in the same alphabetic order in which they appear in the publication. Here, I only wish to add three remarks concerning all of them. The first is about a regret. I failed to inform readers of the article that it is only an abridged version (ca. 17,000 words) of a book (ca. 65,000 words), already published in Italian (Floridi 2020b) and forthcoming in English in 2022, entitled: The Green and the Blue – Naïve ideas to improve politics. As it becomes clearer from the comments and my replies, I believe that many of the justified requests for clarifications, further justifications, terminological definitions and so forth would have been formulated differently if I had warned the colleagues about the nature of the article. The book is written in the same “naïve style” but does one crucial thing that the article is missing: it presents 20 chapters that provide the framework within which the last chapter, the one containing 100 theses (the article provides “only” 69), may be understood more easily. I apologise. The second remark concerns my gratitude towards the colleagues who took the time to comment on the article. In many cases, the questions, criticisms, and indeed even the misunderstandings contained in the comments will be precious to improve the text of the English version, which will be in any case further expanded with respect to the Italian edition (I need to add at least one more chapter on digital sovereignty, already outlined here (Floridi 2020a)). The last remark concerns a commitment: I know that I need to study much better Arendt, Buber, Jonas, and Levinas. I promise to do my homework before the English edition is published.

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Luciano Floridi, Replies

1. Reply to Manfred Broy If you could look at my copy of Broy’s comments, you would find way too many passages highlighted. Not just because we agree on many fundamental issues – we do – but because, on many of these issues, Broy shares the rights questions and the insightful comments required to move further and develop our understanding more deeply. The highlighted passages are places where he is asking for more because more is actually needed. In this reply, I shall limit myself to commenting on only a few such passages, but I recommend reading his text carefully and doing the homework he is rightly suggesting. Broy is correct that some of the conceptual changes we experience today – in particular, think of a shift from a substantialist to a relational ontology – predate the digital revolution: Obviously, these changes have started more than 100 years ago, 20 years before Zuse built the first programmable computer. At this time, there was nothing what could be called the digital or digital natives which are today much more related to networks, relations and to sets, and which influence and form the structure of our society. There seems to be a feedback process going on here between changes in the society and those caused by the digital – all run by the “Blue” and in no way by the “Green”. (85)

He is also right in stressing that there is a feedback mechanism in place. I would only add that there is also a mechanism of “realisation” (Floridi 2018): the digital revolution has catalysed, highlighted, and brought into a shared narrative conceptual changes that have long historical roots. Think of the Copernican revolution and its impact on how we conceptualised ourselves, no longer at the centre of the universe. Of course, we were never at the centre of the universe; we just did not know it. The Copernican revolution was the turning point, as it made us scientifically aware of such a peripheral position, but it was not unprecedented, nor did it get immediate acceptance. The re-conceptualisations brought about by the digital revolution are comparably deep – this is why I have spoken of a fourth revolution, with Turing coming after Copernicus, Darwin and Freud (Floridi 2014) – but they have long historical roots. If anything, the digital revolution has made us vividly and widely aware of such changes, bringing them to cultural maturity and visibility. Broy is also correct to call attention to China. I could not agree more. There was no space to do so in the article, but I have sought to analyse China’s policies elsewhere (Roberts et al. 2021). Like many people, I am concerned by the increasing economic and military power acquired by this autocracy, but I am even more worried by the cultural influence associated with such a power. As Europeans, it would be terrible to jump out of the frying pan of Americanism into the fire of “China-ism”. This leads me to the last comment I wish to share here. Broy rightly highlights that there is not, and indeed there should not be, only one (totalitarian, I would add) human project. Our ethical perspectives can differ significantly and should not be eradicated in the name of “one planet – one people – one human project”. We still have a living memory of the tragic horrors that this way of thinking caused in Europe last century. This is why I argued elsewhere that we should reconsider the

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modern foundation of our liberal societies in terms of tolerance first and then justice, rather than justice-only (Floridi 2015, 2016d). However, we should also recall that there is much about which we all agree, think for example of the UN Sustainable Development Goals; that there is much on which we are not ready to compromise, and rightly so, think of the protection of human dignity and fundamental human rights, not negotiable, no matter what culture, place, or time we are considering. Pluralism is not relativism; this becomes clear if one looks at design practices. If you search on Google for images of “chair”, you will see that human ingenuity has created a vast number of artefacts, all counting as chairs. Yet all these artefacts have fundamental elements that they share: they are pieces of furniture meant to be for only one person to sit on (if more than one person, then they start looking like a sofa), they have a back (if they do not they are stools), they have some kind of legs (usually but not necessarily four), they typically do not have side support for a person’s arms (when they do they are called armchairs), they are not meant to support your legs (those are chaise longue). We recognise them everywhere, even if they come in a wide variety of styles, materials, functions, sizes, and so forth. Broy remarks that: Luciano Floridi is right when he complains about the absence of a human project in our information society – also in Europe. In fact, we do not have a human project for the digital age. (90)

The human project I am talking about is like a chair: there can be an infinite yet bounded number of ways (think of real numbers between 1 and 2) of designing and implementing it, some of which are more successful than others, but just because we are aware of this pluralism, we should not fall into the trap of thinking that it has no boundaries and anything goes: a lamp or a bed are not chairs as a matter of fact, and some poorly designed chairs (for example, too fragile, too expensive, too ugly, too uncomfortable) are chairs nobody wishes to have or use. The same holds true of the variety of human projects we encounter in the history of humanity. So, if I can abuse the analogy, the question I have sought to address in the article and the much longer book is: what is the right chair we need to design and build today? The answer I have defended is: the Green and the Blue. If you think of it, it really is quite obvious. 2. Reply to Markus Gabriel I found Gabriel’s comment very useful. It shows me where I failed to communicate, and hence being convincing. Therefore, in this reply, I shall try to ameliorate the situation. Section one provides some justified scolding. I do not refer to some authors, I miss some references, I should have built more links with existing lines of thinking. To my justification, let me say that in this article (and in the book it comes from) I am not interested in the history of ideas. One may argue that I should, and I accept that. But whether it is a feature (for me) or a bug (for Gabriel), the absence of any referPhil. Jahrbuch 128. Jahrgang / II (2021)

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ence to Bruno Latour, for example, should be seen as meant. It is not an oversight. I know, of course, about actor-network theory. I read more essays by my students about it every year than I wish to remember. I meant to avoid it. So, following the comment about the astonishing absence of references to already existing relational contemporary social and political ontologies (96)

the question is why I decided not to use such references. There is no space here – nor do I believe it is interesting – to expand on this, but let me just point to a previous comment: Despite his recourse to the very idea of a “human project for the digital age”, Floridi seems to be ensnared by a certain post-modern and posthumanist siren song that is a constitutive part of the problem Floridi wants to overcome. (95)

I spent half of my academic life as an analytic philosopher, doing mostly logic, epistemology, and studying the sort of philosophers and philosophies that consider “post-modern” and “post-humanist”, with or without the hyphen (you never know whether the hyphen is meaningful), insulting epithets. I am not proud of it, I repented, I moved to a department of social science to abandon my old faith and try to open my mind, I no longer consider myself an analytic philosopher, but I hope I may be forgiven when conceptual confusion still triggers in me a natural reaction. It is precisely because I stay away from such “post-modernist” and “post-humanist” ways of thinking that I do not link my line of reasoning to them, Latour included. It is a matter of simple coherence (I shall say something more about post-anything labels and why I do not use them in my reply to Hagengruber). As for the rest of section one, since I agree with the objections, I must clarify that they are directed to someone else’s position, not mine. All my references to mathematics and physics are meant to be mere illustration, not methodological applications or import. In other words, I agree with the following passage: I have a series of objections against the idea of grounding a transformation in (social and political) ontology on an analogy with mathematics and natural science, for the objects of (social and political) science cannot be meaningfully modelled in terms of natural science. There is no social vector space and category theory is not capable of getting the kind of qualitative experience into view that is constitutive of “the participant stand-point”, to invoke Strawson’s felicitous formulation. (96 f.)

So, this is where I failed to communicate. To my defence, I can only add that I thought it was too obvious to state it. Who in his right mind could believe that “objects of (social and political) science could be meaningfully modelled in terms of natural science” I do not know, certainly not me. I have never been convinced even by Leibniz’s calculemus or any Carnapian approach, not even when I was an analytic philosopher, let alone now. So, I am glad to agree with the objections because they are almost all correct but irrelevant. “Almost all” because there is, however, one that is relevant, but luckily, it is incorrect, because based on lack of knowledge of the methodology it discusses:

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If there is a right and a wrong level of abstraction, in what does the rightness consist? It cannot be reduced to “a way of describing the world”, as there are indefinitely many such ways of describing the world. There has to be some set of criteria that help us to decide which of the available modes of description better capture how things really are. (97)

It is well known that the method of Levels of Abstraction (LoAs, the method can be somewhat technical, but for a simple introduction see [Floridi 2016c]) avoids relativism by adding a crucial element missed by the objection: the purpose for which a specific LoA is adopted. Imagine describing a building. You can describe it in various ways, depending on the chosen observables (an unfortunate misname, they are just conceptual variables, nothing to do with “observation”) and hence the LoA adopted: architectural, economic, historical, psychological, social, etc. The objection seems to imply that any LoA will do and hence that one cannot evaluate or judge which issuing description of the system (i. e., which model) is preferable. This is correct, but only if one misses the point that an LoA models a system (the building, in our example) for a purpose, and it is the purpose that enables the comparison and the evaluation. Consider the following example. If Alice’s purpose is to know whether something is the same building in terms of its function, the right LoA may indicate that it used to be a hospital, but it is now a school, so the answer is no, it is not the same building, and furthermore an LoA that models the building in terms of its economic value would be incorrect (it would not address the purpose). But if Alice’s purpose is to know whether it is the same building in terms of location, e. g., because two people referred to it to give her some instructions on how to get somewhere, then the answer is obviously yes, the two people were referring to the same building, while the economic LoA would still remain incorrect. So LoAs can be compared, in terms of being more or less correct, depending on the purpose, and these can be more or less fitting depending on the questions one is addressing. The real debate is about what the correct LoA is, given a purpose, not whether an LoA is possible or not. The temptation is to ask absolute questions, without asking why (what for, for what purpose) the question is being asked in the first place. But absolute questions, that is, questions devoid of any indication of why they are asked in the first place and hence what LoA would in principle adequately answer them, should be resisted because they only lead to an absolute mess. Theseus’ ship, with some pieces changed, is not the same ship if it is a collector asking, but it is the same ship if it is the taxman asking. The reply, that we need to ask the question at the ontological level, is precisely why I insist, as evident in the article and in all my writings, that I would rather maintain some Kantian, sensible approach and hence an epistemological and not an ontological interpretation of the method of abstraction. In philosophy of science, this leads to an information-based structural realism (Floridi 2008) that is “ontologically committed” (in Quine’s sense) only in terms of epistemological choices. Of course, anybody is welcome to wonder what the ultimate answers about the intrinsic ontology of noumena may be, but as far as I am concerned, I would rather avoid what I believe to be a nonsensical waste of time. Let me move to another failure in my communication. I think this question well summarises it:

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I wonder why Floridi does not extend his dialectical operation (political abstention is itself a political act etc.) to his own decisions? (100)

I think I did. I also thought that the point I was making was not very controversial, historically speaking, so clearly something went wrong. Let me try again: in general (history and religious texts and practices provide the evidence), even the best kind of religion tends (of course not always, not everywhere) to support a single, often intolerant view of what that human project is; whereas the best kind of ethics tends (of course not always, not everywhere) to be tolerant (ethics texts and practices provide the evidence). If religion wins the battle for hearts and minds, ethics is often at risk (consider just LGBTQ+ rights). One only needs to check what happens in the US or in Iran. If ethics wins, there may be a better chance that religion may be tolerated. Perhaps I am too simple-minded, but it is the dialectic of tolerance that I had in mind. If I recall correctly, it is the reason why John Locke said that one should be tolerant towards everybody but the Catholics because they are so intolerant that, if they were tolerated, they would take over, and that would be the end of the tolerant people. This leads to a famous problem, called at different times the paradox (Popper) or dilemma (Rawls) of toleration: how far is too far? This is not the place to discuss it, but the reader interested in its analysis and a possible way of resolving it may wish to check (Floridi 2015). To summarise, I do not see the relation between ethics and religion as an opposition because the former can support the latter. In a completely different context, when I was invited by the Osservatore Romano (the daily newspaper of Vatican City State) to comment on “Fratelli tutti”, the third encyclical of Pope Francis, I tried to explain this by stressing that – concerning the three theological virtues: faith, hope, and charity (love) – believers, agnostics and atheists can still agree on charity, which can and should unite all of them, even if they hold irreconcilable views about the first two. So, no opposition, but tolerant inclusion of religion by ethics, is what I meant to express. I better stop here. There are too many other misunderstandings to list them, like the view that I support some EU-centrism (I thought it was clear that I was speaking of an expectation of leadership by example: as in other contexts, the EU should prove its commitments to fundamental values by showing it in practice), or like the suggestion that I may be arguing for the inclusion or expulsion of EU member states depending on political orientations (of course this would be insane, I thought it was clear that I was speaking of some necessary flexibility linked to the most severe violations of human rights, toleration is not without limits, see discussion above, the EU should not be a club one can never be asked to leave no matter what atrocities one commits). I still hope that a more careful and charitable reader will avoid these misunderstandings by reading what I have written. However, I took full responsibility for these shortcomings. The fact that Gabriel’s comment is littered with so many misunderstandings means that I inadvertently failed to convey my ideas in a sufficiently clear way. Reassuringly, this means that I can easily agree with the “objections” moved by Gabriel because they fail to address what I meant. And even more constructively, I agree with the last paragraph of his comment, which I finally recognise as a correct summary of some of the points I tried to

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articulate in the article. Shame on me for such an apparent lack of clarity. As a former analytic philosopher, I promise to try to do better in the forthcoming book. 3. Reply to Armin Grunwald The comment by Grunwald reminds me of one of those amazing technological artefacts one can sometimes observe in a museum, where the archaeologist is able to reconstruct and show a whole mechanism and its inner workings from just a few original bits of rusted metal. As I mentioned in the Preface, the article that I published is only a concise, simplified and heavily pruned synthesis of precisely the artefact that Grunwald has managed to reconstruct with remarkable insightfulness and patience. As he writes: Luciano Floridi’s “grand narrative” rather needs a monographic book project as a suitable form. (117)

Indeed, and the book is available, only in Italian but I hope soon in English (and in a more expanded version). As I anticipated in the Preface, I regret having failed to inform the readers of the article that the latter is not the whole Netflix series, so to speak, but more like a trailer. Once this is clear, it is impressive how well Grunwald has guessed the rest of the narrative from the available fragments. It follows that many of the valid requests made by Grunwald are entirely justified, about terminological clarifications, links with parts that seem otherwise only connectable yet not connected, supporting arguments, and so forth. By way of clarifying what this may mean, let me offer one specific example by relying on the chapter in which I explain what I mean by “mature information society”. We are so familiar with talk of “the information society” that we sometimes forget that there is no such thing, but rather a multitude of societies, different from each other, some of which may qualify as information ones in different ways and degrees. So, we should really speak of “information societies” without a “the” but with an “s”, and ensure that our generalisations are not so generic as to apply to all of them, while obliterating any salient distinction. Just to be clear, there is always a level of abstraction at which something is like anything else: the moon is like your umbrella, which is like a pizza, because they are all individual objects that exist and look round, for example. The point is not being smug about one’s own acrobatic equations (x is like y, which is like z) but being critical in checking whether the level of abstraction at which the equation is drawn is fruitful to fulfil the purpose that one is pursuing. All this should clarify why, once we have many information societies that are all different from one another, it still makes sense to compare them in terms of relevant criteria and why, more specifically, it is essential to understand what it means for an information society to be more or less mature than others. In the article (and in the book), I refer to “maturity” as a matter of people’s expectations, not technological or economic development, let alone ethics or civilisations. Let me explain this using an analogy. When you are in a hotel in Paris, you rightly expect the water in the bathroom to Phil. Jahrbuch 128. Jahrgang / II (2021)

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be drinkable because France is a “water mature society”. In fact, you do not even think about it. There is no need for the hotel to advertise the safety of its water, nor for you to ask at the reception whether the water is drinkable. France is a “water mature society” not just because of its water system, but because people living there treat drinkable water as something ordinary, non-informative, a matter of fact that lies in the background. It is part of life, of what anyone implicitly and unreflectively expects the water to be like in Paris. At the same time, we all know that drinkable water is not a trivial matter. There are hundreds of millions of people who do not have access to safe water. So, if you take a more adventurous holiday in an unfamiliar place, your expectations change. It becomes normal to inquire whether it is safe to brush your teeth with the water from the tap. Clearly, expectations change contextually. They are a good way to gauge the maturity of the society in which one lives. The formula is simple: if the occurrence of a feature F in a society S is no longer informative, but it is rather its absence that it is, then S is F mature. According to this interpretation, we are already living in mature information societies in some corners of the world. In such corners, we expect, as a matter of course, to be able to order any kind of goods online, to pay for them digitally, to be able to exchange any sort of contents on the web, to search for any question and find any bit of information, to use services, stream entertainment, and so forth, and all this 24/7, seamlessly, quickly, and reliably, without asking anymore whether it is possible, or being astonished that it is. We realise we live in a mature information society only when such expectations are unfulfilled. Once we analyse information societies in terms of their members’ unreflective and implicit expectations, comparable to having drinkable water in Paris, then we can switch from quantitative to qualitative assessments, and consider some significant consequences. This is what I do more extensively in the book and partially in the article (the interested reader may wish to check (Floridi 2016b), which is the original text in English of which the chapter in the Italian book is a revised version). The exercise could be repeated, but I hope the previous example shows how brilliant the reconstruction and critical assessment provided by Grunwald is. 4. Reply to Ruth Edith Hagengruber I have learnt much from Hagengruber’s comment. This quotation well summarises one of the lessons I enjoyed most: In this model [Bruno’s], a unit is not seen as an immobile entity, as a part in a system of wholes, but as the capacity to entail differences, the more, the wider, the better and the stronger. The turn from a part-whole driven ontology to a perspective of things as objects of information began. (123)

It is a good reminder, to myself included, that new ideas are often old ideas that did not make it to the surface of our popular culture or academic discourse before. And as someone who has done research on the Renaissance and the transmission of knowledge (Floridi 2002), I agree entirely with Hagengruber. I think that the lesson Phil. Jahrbuch 128. Jahrgang / II (2021)

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she outlines has remained largely unapplied, and that we still reason, in everyday life and in socio-political contexts, way too much in Aristotelian terms (small blocks making bigger blocks, the “Lego-like” ontology that I criticise in the article) and not enough in terms of relations, nodes, and connectedness. If this is more a Platonist tradition, I can only be delighted, having always been more of a friend of Plato’s than of Aristotle’s. There is more to learn from her text, for example the insightful link she highlights between the article and another work of mine in which I discuss the fourth revolution in our conceptual displacement (Floridi 2014) from the centre of the universe, of the animal kingdom, of the mental space and now of the infosphere (Copernicus, Darwin, Freud, Turing). But let me make one contribution to our dialogue lest I may appear too lazy. Hagengruber frequently refers to “post-humanism”, for example here: The post-humanism of the Green and the Blue is only another step in the series of “lost uniqueness” and domination. (125)

She does so interestingly, but I have avoided using the same terminology in my own work for the same reason I avoid presenting a human project for the twentyfirst century in terms of Enlightenment or a new Renaissance. It is not just because these are periods that we have glorified through historical narratives that have been particularly selective and well-edited (Athens forced Socrates to commit suicide; the Enlightenment is also the guillotine; the Renaissance is also when Bruno was burned at the stake, etc.). This is the case, but perhaps it might still be fine, as long as we all know what we are engaging in an exercise of selective memory. It is also not because all these periods are “white male” periods, just to use Hagengruber’s recurrent expression, and anyone unhappy with the qualification may also be reluctant to adopt them. Instead, it is because I am convinced that we need to understand our present and possibly design our future more autonomously, learning the lesson from those periods, which should teach us precisely the opposite of any postanything approach: more intellectual independence. The Renaissance did not define itself post-medievalism, and so forth. We need to find our own voice, not simply appropriate our ancestors’ or, even worse, define ourselves in terms of what we are not, post-this or post-that. I do not have a good suggestion to replace these labels, and this is a shortcoming of the point I am making here, for one may argue that, in the absence of any better conceptualisation, we may as well fall back to a good one. But, at least in my case, I would like to leave the conceptual space empty, and feel the pain of the absence, rather than filling it with post-humanism, or neo-Enlightenment or post-modernity or … any other ready-made label that invites us to be conceptually lazy and enjoy repetition, rather than risk novelty. So, I am happy to follow Hagengruber in her analysis and appreciate the terminological nuances but, when it comes to my own conceptual design, I am ready to feel that unpleasant feeling of a missing concept lingering on the tip of my tongue and yet still escaping a complete formulation. Almost like some kind of “post-humanism”, … but not really.

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5. Reply to Alexander Kriebitz, Christoph Lütge, and Raphael Max The comment by Kriebitz, Lütge, and Max is an excellent example of clear and substantive thinking (the valuable distinction between changes of degree and changes of type is a good case in question, where some constructive disagreement could bear fruit). There is much to praise in both the content and the reasoning, but I shall limit myself here to stress the value of an “order ethics approach”. I learnt about order ethics from Lütge himself a long time ago, and I have been convinced ever since that it may be a great companion of travelling for the explorations in which I engage. In case, it is only my fault that I have not relied on it more. The following quotation shows why: Differing from first order approaches, which take a specific moral framework such as utilitarianism or deontology for granted, second order approaches – of which order ethics is one – are about solving conflicting statements on morality between first order approaches and solving situations in which conflicting normative expectations confront individuals. From the perspective of order ethics, the main purpose of ethics is to define the normative foundations of societies under the condition of moral pluralism and to elaborate principles and structures that overcome failures in cooperation. Different from virtue ethics or deontological approaches, norms derive here from the mutual consent of individuals, with the ultimate goal of reaching mutual improvements by cooperation. (138)

Any reader of the article will see that this is very close to what I have discussed there and in other contexts (Floridi 2016a, 2017) in terms of “infraethics”. By way of contribution to our constructive exchange, let me expand on one point, included in the quotation above, namely the concept of cooperation. Cooperation is different from collaboration, which is different from coordination. Agents coordinate when they simply do not hinder each other while going their own ways. Imagine Alice and Bob cooking and eating their own meals when they want and as they wish, using the same kitchen. They coordinate their actions as long as neither of them represents an impediment for the other. Less metaphorically, when markets work correctly, they are good at creating coordination, e. g., through competition between Alice and Bob. Collaboration requires coordination, but it also includes sharing tasks: Alice may contribute the appetisers and the drinks and Bob the main course, in our example. Markets are less good at creating relations of collaboration in the absence of incentives. Cooperation needs even more, for it implies sharing the whole process: Alice and Bob do the shopping and the cooking together. They co-design, co-create, and co-own the meal, so to speak. Markets do not perform well when it comes to cooperation unless the law intervenes. This is where I find my own work on infraethics and the order ethics approach complementarily helpful. For global problems require more than coordination or even collaboration, they require cooperation: a sharing of decision processes, choices, and implementations of policies that touch the lives of millions and sometimes billions of people. We only need to think about the pandemic or climate change. So, markets are necessary mechanisms, but they are largely insufficient without political will and normative incentives.

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Let me close with a couple of clarifications. I may be wrong in my analysis, but when I argue that we need to upgrade our ontology, what I mean is that I would welcome a relational way of thinking and conceptualising the world, including above all socio-political issues, as mainstream as opposed to an intellectual effort that has tried to make a difference since Plato. Far from me to say that we never reasoned relationally, or that there are no important precedents in understanding the world relationally. This would be a mistake too silly to make. What I am arguing is that, if we look at how we frame contemporary issues, we still see a Lego-like approach being the default approach. Referring to the debate about AI touched upon by the comment, for example, how many times do we still hear that it is a 2 or 3 players game, US, China and maybe the EU? This is what I mean when I say that we should change our perspective. Finally, I agree that the second half of the twentieth century reacted to the horrors of the first half by implementing a meta-project that would not offer a social project but only the protection of individual projects. This has been a significant development and I hope a point of no return, at least for liberal democracies. However, today, we also need to find a better middle-ground. We need to ensure that Alice and Bob can pursue their own projects, but also help them to have a project as a couple, to use my previous analogy. Because the global problems we are facing can only be solved together, cooperating, not just individually and merely coordinating. To use a recent example, it is only if the G7 and then the G20 cooperate that the problem of tax abuses by multinationals and online technology companies can be tackled. Even the whole EU would be insufficient, if working alone. The American constitution begins with “We the people …” and it is precisely that “we approach” that I am defending in the article, not as an alternative to, but as a necessary complement of the individualism to which we are so accustomed: we must walk on two legs, have protection of individual projects and promotion of social projects. We need coordination, but also collaboration and cooperation. This is how I would analyse an “institutional understanding of ethics”, an important remark that concludes their interesting comment. 6. Reply to Catrin Misselhorn I expected a comment about the article in this collection, but the text by Misselhorn is about a book I published in 2019: The Logic of Information – A Theory of Philosophy as Conceptual Design (Floridi 2019). Putting aside the surprise, I begun reading it as a review of that book, but, actually, it is only a series of objections to my replies to four potential objections that I imagine one may formulate (both conceptually and historically) to my interpretation of philosophical questions as open questions, that is as questions that remain open to reasonable disagreement even when the parties involved have all the factual, scientific, logico-mathematical information one may wish them to enjoy. If the readers have already lost any interest, I fully sympathise. However, if they are still reading, then, regrettably, I must confess that I have not learned anything from the objections. Of course, this is my Phil. Jahrbuch 128. Jahrgang / II (2021)

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problem and my loss. But I have a justification. The objections appear to me so unrelated to what I mean, state, and argue that, conceptually speaking, they are not even wrong. Instead, they remind me of the famous remark by Pauli: “Das ist nicht nur nicht richtig; es ist nicht einmal falsch!”. Let me give you one example. I hope everybody will agree that “what is the result of 1 + 1?” is a mathematical question, even if extremely simple, perhaps too elementary to bother anyone who is not a child (but mind that it takes hundreds of pages to prove that the answer is 2 in Principia Mathematica). Mathematical questions studied by mathematicians are way more complicated and more consequential. Yet, this takes nothing away from the mathematical nature of the question about the sum indicated above. Mathematical questions can be that simple and elementary. So, when someone objects that a philosophical question cannot be an open question because some open questions are too simple and elementary to qualify as philosophical, like “should I wear my hair shorter?”, the reply is similar: that is still a philosophical question, just one that is not very interesting and consequential. There is not even a bullet to bite; this is just plain common sense. I am sure there is a stage in life when it is a crucial, significant question for someone. But it is not just the sort of foundational, consequential question addressed by philosophers, who may start questioning what the alternatives are (long, very long, short, very short, etc.), and whether some of them are dictated by social, or peer pressure or perhaps fashion or maybe health, etc. to finally get to something that is richer in significance and consequences and deeper in insights. But philosophical questions too, can be that simple and elementary. Just check those asked by children. Things do not improve as the text progresses, and the objections end with a rather odd description of the method of abstraction – something quite ordinary in Computer Science where it is studied in the context of Formals Methods – which I could not recognise, and indeed quite distant from the (textbook) material presented in the book. I won’t bother the reader with all this; I only wish to stress my inability to follow Misselhorn’s text. I have not recognised any of my ideas in the comment. The last part is particularly baffling. Here is an example: Floridi’s new political ontology tends to obscure these dangers. The replacement of the individual as the normative foundation of society by a relational view that reduces it to a node in a functional system lends itself readily to technological solutionism which goes against the spirit of liberal democracy. Discarding the idea of the free and equal moral person as the normative basis of political theory is tantamount to affirming the practices of the Tech Giants even if Floridi wants to give them a positive spin with infraethics. (154)

Nothing could be more distant from what I wrote and argued. I find it reassuring that several other commentators in this collection have understood the points I have sought to make and criticised them with insightful clarity. It shows that it is doable. Of course, readers have the right to misread authors and misinterpret their intentions as they wish. Sometimes it is even helpful for the development of their own ideas. But authors have the right to be astonished by such a lack of understanding, refuse to have words put in their mouth, as the saying goes, and not engage with something they never wrote or meant in the first place.

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7. Reply to Malte Rehbein The comment by Rehbein is interesting because I have learnt from it (as from some, though we have seen not all, comments in this collection) where I need to be clearer and more explicit. I am saying this because I believe I would subscribe to almost anything he writes (more on the “almost” qualification presently). However, in the future book, I shall still resist the temptation of moving from discussing problems and solutions to discussing people and their theories. If I am wrong, I won’t become right just because I make such a shift; if I am right, the shift may always follow later (and if anyone is interested in doing such interpretative work, I shall be most grateful and honoured). For now, ars long vita brevis, as they used to say, life is too short, and I am keen on exploring the ideas discussed by Rehbein in his comment, not people. So, I would rather run the risk of reinventing this or that wheel than spending a lifetime wondering whether the wheels I need have already been invented, by whom, and why, and whether they are really like the ones I need or just similar, which ones work better, and so forth. As Montaigne once wrote (I go by memory, I hope it is Montaigne), one cannot do research (I think he says explore) without losing sight of the coast. So here I am, lost. This is not a license to be lazy though; therefore, in terms of my contribution to this asynchronous dialogue with Rehbein, let me take advantage of a very helpful paragraph, on p. 157, to clarify some of my thoughts. I will structure the paragraph into a conversation between R (Rehbein) and (F): R: “I would like to argue that the world is not secular.” F: I agree, but I would like to add: unfortunately. A secular world has a better chance of being more tolerant than a non-secular one (by the way, I am not an atheist, I am a religion-friendly agnostic, and I would give anything to reacquire my faith, I just seem to be unable to get it back no matter how hard I try). R: “It is not binary, neither ontologically nor in terms of an information divide.” F: I agree, but in the same sense then it is not analogue either; on this, I agree with Kant, discrete vs continuous are ways in which we conceptualise reality (Floridi 2009). R: “Technology is not the only solution, but part of the problem and it should be treated as such.” F: This is imprecise. Technology can be part of the solution – do we really need to stress the immense benefits of technology at all levels? I am reminded of it every time I go to the dentist – but can also be part of the problem – ditto – so it is up to us to make sure that only the first half takes place. R: “Capitalism is not a compelling prerequisite (markets are).” F: I am not sure what “compelling prerequisite” means. However, if it means that we can solve our environmental and social problems by getting rid of capitalism, or by-passing it, or stopping it, etc., then I wish that were true, but I fear we better be realistic and harness capitalism and its energies to solve the problems we have. This is why politics, legislation, and governance are so crucial. R: “The human condition, together with a new contractual definition of global

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equality and justice, well-being and welfare beyond materiality and consumption should indeed be the starting point of any human project.” F: I agree. I would add that we need to create enough wealth for the billions of people who live so miserably, though. “Beyond materiality” is fine as long as it is not the kind of materiality that determines the availability of food and shelter, decent living standards, human rights, jobs, health care, safety, etc. Call that “good materiality”, and we are on the same page. I intensely dislike consumerism, but we need more “good materiality” for billions of people. R: “However, information is a necessity, but not a sufficiency to serve as a core concept for a new ethical and political framework.” F: If I understand this correctly, I agree, and strongly doubt anybody could disagree. R: “What is required might not be a new ontology, but a new inter-generational social and environmental contract.” – End of the paragraph (p. 157). F: In the book, I have suggested replacing the social contract with a sense of ontic trust. Let me close this reply and the whole set by summarising what I mean by it (the reader interested in knowing more can check chapter 15 of (Floridi 2013). A straightforward way of clarifying the concept of ontic trust is by drawing an analogy with the idea of “social contract”. Various forms of contractualism (in ethics) and contractarianism (in political philosophy) argue that moral obligation, the duty of political obedience, or the justice of social institutions, have their roots in, and gain their support from, a so-called social contract. This may be an actual, implicit, or merely hypothetical agreement between the parties (e. g., the people and the sovereign, the members of a community, or the individual and the state) constituting a society. The parties accept to agree to the terms of the contract, and thus obtain some rights, in exchange for some freedoms that, allegedly, they would enjoy in a hypothetical state of nature. The rights and responsibilities of the parties subscribing to the agreement are the terms of the social contract, whereas the society, state, group etc., is the artificial agent created to enforce the agreement. Both rights and freedoms are not fixed and may vary, depending on the interpretation of the social contract. Interpretations of the theory of the social contract tend to be highly (and often unknowingly) anthropocentric (the focus is only on human, rational, individual, informed agents) and stress the coercive nature of the agreement. These two aspects are not characteristic of the concept of ontic trust, but the basic idea of a fundamental agreement between parties as a foundation of moral interactions is sensible. In the case of the ontic trust, it is transformed into a primeval, entirely hypothetical pact, logically predating the social contract, that all human (I shall drop this specification henceforth, unless this generates confusion) agents cannot but sign when they come into existence, and that is constantly renewed in successive generations. Generally speaking, a trust in the English legal system is an entity in which someone (the trustee) holds and manages the former assets of a person (the trustor, or donor) for the benefit of some specific persons or entities (the beneficiaries). Strictly speaking, nobody owns the assets; since the trustor has donated them, the trustee has only legal ownership; and the beneficiary has only equitable ownership. Now, Phil. Jahrbuch 128. Jahrgang / II (2021)

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the logical form of this sort of agreement can be used to model the ontic trust, in the following way: • the assets or “corpus” is represented by the world, including all existing agents and patients; • the donors are all past and current generations of agents; • the trustees are all current individual agents; • the beneficiaries are all current and future individual agents and patients. By coming into being, an agent is made possible thanks to the existence of other entities. It is therefore bound to all that already is, both unwillingly and inescapably. It should be so also caringly. Unwillingly, because no agent wills itself into existence, though every agent can, in theory, will itself out of it. Inescapably, because an agent may break the ontic bond only at the cost of ceasing to exist as an agent. Moral life does not begin with an act of freedom, but it may end with one. Caringly because participation in reality by any entity, including an agent – that is, the fact that any entity is an expression of what exists – provides a right to existence and an invitation to respect and take care of other entities. The pact then involves no coercion, but a mutual relation of appreciation, gratitude, and care, which is fostered by recognising the dependence of all entities on each other. A simple example may help to clarify further the meaning of the ontic trust. Existence begins with a gift, even if possibly an unwanted one. A foetus will be initially only a beneficiary of the world. Once she is born and has become a full moral agent, Alice will be, as an individual, both a beneficiary and a trustee of the world. She will be in charge of taking care of the world, and, insofar as she is a member of the generation of living agents, she will also be a donor of the world. Once dead, she will leave the world to other agents after her and thus become a member of the generation of donors. In short, the life of an agent becomes a journey from being only a beneficiary to being only a donor, passing through the stage of being a responsible trustee of the world. We begin our moral agents’ career as strangers to the world; we should end it as friends of the world. BIBLIOGRAPHY Floridi, L. (2002), Sextus Empiricus: the transmission and recovery of pyrrhonism, Oxford. – (2008), “A Defence of Informational Structural Realism,” in: Synthese 161 (2), 219–253. – (2009), “Against digital ontology,” in: Synthese 168 (1), 151–178. – (2013), The Ethics of Information, Oxford. – (2014), The Fourth Revolution – How the Infosphere is Reshaping Human Reality, Oxford. – (2015), “Toleration and the Design of Norms,” in: Science and Engineering Ethics 21 (5), 1095–1123. – (2016a), “Hyperhistory, the emergence of the MASs, and the design of infraethics,” in: Information, Freedom and Property: The Philosophy of Law Meets the Philosophy of Technology (ed. Hildebrandt; van den Berg), Chapter 7, London. – (2016b), “Mature information societies – A matter of expectations,” in: Philosophy & Technology 29 (1), 1–4. – (2016c), “The method of abstraction,” in: The Routledge Handbook of Philosophy of Information, London/New York, 66–72.

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– (2016d), “Tolerant Paternalism: Pro-ethical Design as a Resolution of the Dilemma of Toleration,” in: Science and Engineering Ethics 22 (6), 1669–1688. – (2017), “Infraethics – on the Conditions of Possibility of Morality,” in: Philosophy & Technology 30 (4), 391–394. – (2018), “Semantic Capital: Its Nature, Value, and Curation,” in: Philosophy & Technology 31 (4), 481– 497. – (2019), The Logic of Information: A Theory of Philosophy as Conceptual Design, Oxford. – (2020a), “The Fight for Digital Sovereignty: What It Is, and Why It Matters, Especially for the EU,” in: Philosophy & Technology 33 (3), 369–378. – (2020b). Il Verde e Il Blu – Idee ingenue per migliorare la politica, Milan. Roberts, H./Cowls, J./Morley, J./Taddeo, M./Wang, V./Floridi, L. (2021), “The Chinese approach to artificial intelligence: an analysis of policy, ethics, and regulation,” in: AI & SOCIETY 36 (1), 59–77. Oxford Internet Institute University of Oxford 1 St Giles Oxford, OX1 3JS [email protected]

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BUCHBESPRECHUNGEN Frederick C. Beiser, Hermann Cohen: An Intellectual Biography, Oxford: Oxford University Press 2018, XI + 387 S., ISBN 978-0-19-882816-7. Im Jahr 2018 jährte sich zum einhundertsten Mal der Todestag des Marburger Neukantianers Hermann Cohen (1842–1918). Zu diesem Anlass erschien auch das vorliegende, zu besprechende Buch. Der Autor hat sich nicht weniger vorgenommen, als „the first complete intellectual biography of Cohen“ (viii) zu schreiben. Anders als Walter Kinkel und Andrea Poma1 stütze er sich dabei auch auf die „Jüdischen Schriften“, wenngleich er dennoch nicht alle Schriften Cohens bespreche und auch die Logik der reinen Erkenntnis (1902/1914) und die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (1919/1929) – immerhin Cohens Hauptwerke – nicht detailliert behandeln könne. Ob diese Behauptung in Richtung der genannten Autoren zutrifft, sei einmal dahingestellt; auch sonst ist das Vorhaben ambitioniert und die Auswahl und Auswertung von Primär- und Sekundärliteratur eher fragwürdig,2 was insofern überrascht, als der Autor als ein Fachmann für Neukantianismus gilt. In 18 Kapiteln und einer knappen Einleitung geht er dabei vor. In einem Einleitungskapitel wird die Biografie bis 1865, also die Schulzeit und das Studium am Breslauer Jüdisch-Theologischen Seminar sowie in Berlin bis zur Promotion in Halle dargestellt. Über sachliche Fehldarstellungen, die möglicherweise aus der Unkenntnis der Zeit und des Deutschen rühren – in Berlin wurden zu der Zeit keine jüdischen Philosophen promoviert (gegen 18); Cohens Dissertationsprüfung wurde von zwei der drei Prüfern nicht abgelehnt (so 20 ohne Quellenangabe), sondern lediglich ein Prädikat (also besser als „rite“) abgelehnt –, lässt sich dabei hinwegsehen. Schwieriger ist es dagegen, dass Beiser – wie auch andere Philosophiehistoriker – Franz Rosenzweig auf den Leim geht: Cohen hat sich nirgends schriftlich mit dem Zweitnamen „Jecheskel“ bezeichnet (so 7). Im zweiten Kapitel stellt Beiser den „jungen Völkerpsychologen“ Cohen dar, der zu dieser Zeit eher Herbartianer denn Kantianer gewesen sei. Im dritten Kapitel werden die „frühen jüdischen Schriften“ Cohens, d. h. u. a. seine Schriften über Heinrich Heine (anonym 1867) und den Sabbat (1869, erstmals gedruckt 1881), dargestellt; erneut geht der Autor dabei Rosenzweigs Selbstdarstellung als „one of his closest students“ (41) auf den Leim; Ro-

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senzweig hatte bekanntlich die philosophischen Schriften Cohens nicht und die „jüdischen“ Schriften nur sehr eklektizistisch wahrgenommen. Auch dass „the German government“ Heinrich Heines Schriften unter Bann gestellt habe (42), ist angesichts der deutschen Vielstaaterei der Zeit verwunderlich. Unabhängig davon stellt sich die Frage, warum einerseits der konfessionelle Aspekt so stark betont wird, wenn andererseits Cohens „early philosophical position“ (42) betont wird. Ob Cohen sich als der neue Heine gesehen hat (so 45), wäre eine eigene Abhandlung wert; wichtig ist die Feststellung, dass die Abhandlung über den Sabbat „explains for us why Cohen wanted to be and remain a Jew“ (53). Im vierten Kapitel wendet sich Beiser den „Anfängen als Neukantianer“ zu und stellt sowohl den Aufsatz zum Trendelenburg-Fischer-Streit als auch die erste Auflage von Kants Theorie der Erfahrung (beide 1871) dar. Ob seine Polemik gegen „Recent scholars“ (63 mit Anm. 18) dabei zutrifft, sei dahingestellt; dass insbesondere die erste Kantmonografie einen Wendepunkt in Cohens Denken darstellt (vgl. 72), liegt auf der Hand und wurde in der Literatur auch mehrfach festgestellt. Im fünften Kapitel wendet Beiser sich der Verbindung mit Friedrich Albert Lange, Cohens Marburger Mentor, zu; dabei betont er insbesondere die Unterschiede der jeweiligen Kantinterpretation. Dennoch unterstützte Lange Cohens Habilitation in Marburg, nachdem eine solche in Berlin zweimal gescheitert war3 und bereitete den – schwierigen – Weg dafür, dass Cohen 1876 (nicht „1872“, wie es 92 heißt) sein Nachfolger werden konnte. Im sechsten Kapitel werden die ersten Schriften des Marburger Professors Cohen zu Kant und Plato analysiert. Das siebte und achte Kapitel thematisieren die „jüdischen“ und die „philosophischen“ Schriften der 1880er Jahre. Dass hier eine Trennung unternommen wird, stellt die Untersuchung auf den Stand vor der Holzheyschen Ausgabe der Werke Cohens, in deren „Kleineren Schriften“ genau diese Trennung überwunden werden soll. Das ist bedauerlich. Zu den „jüdischen Schriften“ zählt der Autor Cohens Beitrag zum „Berliner Antisemitismusstreit“, der durch Treitschke ausgelöst wurde, und sein Gutachten im Prozess gegen Ferdinand Fenner. (Aus diesem Zusammenhang da-

Buchbesprechungen tiert übrigens auch Cohens Publikation seines Vortrags zum Sabbat von 1869.) Beiser verpasst in diesem Kapitel die Chance, auf das Verhältnis zu Cohens verkanntem Lehrer M. Joel einzugehen, der jenem gerade zu dieser Zeit publizistisch immer einen Schritt voraus war. Im achten Kapitel, das zugleich das längste des gesamten Buchs ist, stellt Beiser Cohens Kantschriften der 1880er Jahre vor, die auch ein Produkt der beginnenden Zusammenarbeit mit seinem Meisterschüler und späteren Kollegen Paul Natorp waren. Insbesondere die Infinitesimalschrift von 1883, die vollständig überarbeitete und um das Doppelte erweiterte zweite Auflage von Kants Theorie der Erfahrung sowie die Ästhetik werden von Beiser analysiert und dargestellt. In Kapitel 9 springt der Autor wieder zu „Jüdischen Schriften“, diesmal zu denen der 1890er Jahre, in denen Cohen seine Messiasidee als Vollendung der Menschheit sowie seine Idee der Versöhnung entwickelt. Dass Beiser in diesem Kapitel im Blick auf die Kontroverse mit Moritz Lazarus die minutiöse Analyse in Adelmanns oben genannter Schrift übergeht, obgleich er sie an anderer Stelle polemisch verzerrt zitiert, ist sehr bedauerlich. Das zehnte Kapitel ist der überarbeiteten Neufassung der „Einleitung mit kritischen Nachtrag“ zu Langes Materialismusbuch gewidmet, die nicht nur im Blick auf sein Religionsverständnis zurecht als eine Art Wendepunkt für Cohens schriftstellerisches Wirken angesehen werden kann und den Weg zu seinem philosophischen System ebnete. Der erste Band des Systems, die Logik der reinen Erkenntnis, wird sehr knapp im elften Kapitel dargestellt; das ist insofern bedauerlich, als Cohen hierin seine eigentliche Philosophie als eine Theorie des „reinen Denkens“ grundlegte. Im zwölften Kapitel erfolgt erneut eine Darstellung „jüdischer Schriften“, diesmal der Nullerjahre des 20. Jahrhunderts. Eine Auseinandersetzung mit Cohens Beitrag zur Maimonidesfestschrift der „Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums“ und dessen auch religionspolitischen Implikationen unterbleibt fast gänzlich, obgleich diese Schrift das Scharnier zwischen Religionsphilosophie und Neukantianismus darstellt.4 Stattdessen werden neben anderem die universitätspolitischen Schriften zur Einführung eines Lehrstuhls für Judentum dargestellt. Im 13. Kapitel wird dann die Ethik aus seinem „System“ mit ihren religiösen, juristischen und politischen Implikationen vorgestellt, in Kapitel 14 die Ästhetik. Ab Kapitel 15 kommen die letzten acht Lebensjahre Cohens in den Blick, beginnend mit den „Jüdischen Schriften“ der Zeit von 1910–1915. Wie

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willkürlich und von wie wenig Verständnis für die Lebensgeschichte Cohens diese Einteilung ist, zeigt sich daran, dass Cohen bis 1912 in Marburg lehrte und zum 70. Geburtstag mit gleich zwei Festschriften und einem studentischen Fackelzug geehrt wurde, bevor er nach Berlin übersiedelte, wo er an der Lehranstalt (bzw. Hochschule) für die Wissenschaft des Judentums unterrichtete. Die Religionsschrift von 1915 wird auch nicht in diesem, sondern erst im letzten Kapitel behandelt, obgleich sie chronologisch und systematisch in dieses Kapitel gehört. Im sechzehnten Kapitel werden die intellektuellen Kontroversen der ersten drei Kriegsjahre, darunter Cohens antizionistische Position und seine Schriften zu „Deutschtum und Judentum“5 dargestellt. Kapitel 17 ist wiederum „Jüdischen Schriften“, diesmal den „letzten“ der Zeit von 1915–1918, gewidmet, bevor im letzten Kapitel die posthum veröffentlichte Religionsschrift, die ihrerseits viele Übernahmen der kleineren Schriften der Kriegsjahre enthält, kurz dargestellt wird. Es folgen ein verwirrend angeordnetes, vielfach fehlerhaftes und schlecht lektoriertes Literaturverzeichnis und ein Register. Beiser hat sich ein großes Projekt vorgenommen, indem und in dem er den dezidiert jüdischen Neukantianer Hermann Cohen anhand seiner Schriften interpretiert und darstellt. Dieser Versuch ist ausdrücklich zu loben, wenngleich die Darstellung unter vielen Unzulänglichkeiten leidet. Da ist zu einem die in der jüngeren Cohenvorstellung angestrebte – und editorisch verwirklichte – Aufhebung der künstlichen Zweiteilung des Werks in „philosophische“ und „jüdische“ Schriften zu nennen, über die sich der Autor hinwegsetzt. Möglicherweise hängt das mit der angedeuteten Nichtkenntnis der Sekundärliteratur zu Cohen zusammen (das Literaturverzeichnis weist erhebliche Lücken auf6 ; angeführte Literatur wird kaum verwendet), aber auch einem fehlenden Sensorium für die intellektuellen Strömungen der Zeit. Cohens gesellschaftliches und (religions-)politisches Wirken wird nur teilweise berührt – so fehlen Hinweise auf seine Mitgliedschaft in Logen, seine staatliche Ehrung als Geheimrat, sein Mitwirken in der institutionalisierten „Wissenschaft des Judentums“ usw. Auf eine wirkliche Biografie Cohens werden wir also auch weiterhin warten müssen; eine knappe englischsprachige Einführung in Cohens Kant-Interpretation liegt nun vor. Immerhin.

Görge K. Hasselhoff (Dortmund) [email protected]

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Anmerkungen Vgl. W. Kinkel (1924), Hermann Cohen: Eine Einführung in sein Denken, Stuttgart; A. Poma (1988), La filosofia critica di Hermann Cohen (= Studi di filosofia, 22), Mailand (engl. 1997). 2 Um nur ein Beispiel zu geben: In der Einleitung behauptet er, der Cohen-Forscher Dieter Adelmann interpretiere Cohens Plato-Schriften vor dem „influence of Jewish mysticism“ (4). Abgesehen davon, dass Beiser keinen Beleg für diese Behauptung gibt, stellt Adelmann das Gegenteil dar: „Dabei geht es immer um das Denken zwischen der Religion und der Philosophie im Sinne des Begriffs ‚Denken‘.“ (D. Adelmann (2010), „Reinige dein Denken“: Über den jüdischen Hintergrund der Philosophie von Hermann Cohen, Würzburg, 235). 3 Inwieweit ein akademischer Antijudaismus dabei eine Rolle gespielt hatte, thematisiert der Autor nicht. 1

4 Dass es eine englische Übersetzung dieser Schrift (mit einem zugegebenermaßen etwas wirren Kommentar) aus der Feder von Almut Bruckstein gibt (Hermann Cohen (2004), Ethics of Maimonides, transl. with commentary by Almut Sh. Bruckstein, Madison), scheint Beiser entgangen zu sein. 5 Die englische Übertragung von Knut Martin Stünkel (in: B. Bentlage et al. (eds.) (2017), Religious Dynamics under the Impact of Imperialism and Colonialism: A Sourcebook (= Numen Book Series, 154), Leiden, 495–502) der kürzeren der beiden Schriften mit diesem Titel scheint der Autor nicht wahrgenommen zu haben. 6 So werden Cohen-Experten wie Francesca Albertini, Brigitte Falkenburg, Pierfrancesco Fiorato, Beate Ulrike La Sala, Peter A. Schmid oder Reiner Wiehl gar nicht genannt, wesentliche Monografien wie die Doktorarbeiten von Dieter Adelmann oder Hartwig Wiedebach scheinen unbekannt.

Judith Butler, Die Macht der Gewaltlosigkeit. Über das Ethische im Politischen, aus dem Amerikanischen von Reiner Ansén, Berlin: Suhrkamp 2020, 251 S., ISBN 978-3-518-58755-3. Judith Butlers Buch über Gewaltlosigkeit macht einen unfertigen Eindruck. Sie überlässt sich ihren Assoziationen. Die Kernaussagen fallen unvermittelt, ohne systematisch hergeleitet zu sein. Der Titel des Buches ergibt sich erst zum Schluss, in einem „Postskriptum“. Es gibt keine Begriffsdefinitionen, weder von „Gewalt“ noch von „Gewaltlosigkeit“. Butler verfolgt eine ideenpolitische Intention: Sie will aufweisen, wie mächtig gewaltlose Aktionen sein können, die herrschende Gewalt abzulösen. Schon über den ersten Satz könnte man stolpern: „Plädoyers für Gewaltlosigkeit treffen im gesamten politischen Spektrum auf Kritik.“ (11) Tatsächlich? Ist nicht das Gegenteil der Fall? Gleichwohl hat das Buch seine Reize. Eine philosophische Performance, die Aufmerksamkeit weckt. Butlers Arbeitsweise wirkt irritierend, sie verweigert sich Konventionen, sprengt Denkmuster, fragt ununterbrochen, gibt wenige Antworten, rezipiert, beginnt nochmals von neuem, legt aus, schaut auf die Ränder, nicht auf die Zentren. Der Leser oder die Leserin wendet sich vom Buch nicht ab, sondern ihm zu. Dem Buchtitel nach handelt Butler über Gewaltlosigkeit, tatsächlich traktiert sie jedoch einen anderen, einen ungewöhnlichen Begriff, den das Rechtschreibprogramm als fragwürdig einstuft: „Betrauerbarkeit“. Das amerikanische Wort lautet „grievability“. Eine Definition findet sich am Schluss des ersten Kapitels: „Betrauerbar sein heißt angesprochen sein auf eine Weise, die mich wissen

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lässt, dass mein Leben zählt, dass sein Verlust nicht bedeutungslos ist, dass mein Körper als einer behandelt wird, der zu leben und zu gedeihen imstande sein sollte und dessen Prekarität so gering wie nur möglich sein sollte, wofür auch förderliche Bedingungen gegeben sein sollten.“ (80) Butlers These ist, dass menschliche Leben heute als unterschiedlich wertvoll gelten. Mensch ist nicht gleich Mensch, sondern der eine gilt mehr als der andere. Butlers Kriterium ist die Betrauerbarkeit. Es sind die staatlichen Institutionen, die Menschen nach Wertigkeiten taxieren. Beispiele sind für Butler die rechtliche Ausgestaltung der Gesundheitsvorsorge, das Strafrecht, das Staatsbürgerschaftsrecht. In diesen Bereichen gälten die Menschen nicht als gleich betrauerbar. Der Gedanke der Betrauerbarkeit ist neu und reizvoll. Butler weitet ihn aus und fragt, ob Betrauerbarkeit auch Anwendung finden sollte auf Embryonen, Tiere und Insekten, letztlich auch auf Seen, Gletscher oder Bäume. Leider gibt sie keine Antwort. Die staatlichen Institutionen, die Menschen so behandeln, als wären sie unterschiedlich betrauerbar, konstituieren die „Biomacht“ des Staates (148). Butler bewegt sich im Fahrwasser von Foucault. Im Anschluss an die rassismustheoretischen Arbeiten von Frantz Fanon, die sie empirisch mit Beispielen aus dem heutigen Amerika unterfüttert, zeigt sie, wie „‚rassische‘ Phantasmen die demografischen Wertsetzungen prägen“ können (148). Das Leben

Buchbesprechungen eines Farbigen gilt als weniger betrauerbar als das eines Weißen. Auch das Leben von sexuellen Minderheiten gilt als weniger betrauerbar als jenes der heterosexuell orientierten Mehrheit. Butler weitet ihre theoretischen Überlegungen auf die europäische Flüchtlingspolitik aus. Wenn Europa sich darum bemühe, Migranten aus Europa fernzuhalten, gründe dies zum Teil in dem Wunsch, „Europa weiß zu halten, eine Nationalität zu schützen, die als rein imaginiert wird“ (153). Am Beispiel im Mittelmeer ertrinkender Flüchtlinge erläutert sie, wie sich ein Denken in Betrauerbarkeitskategorien auswirkt. „Diejenigen, die wir nicht betrauern können, können wir auch nicht verlieren. Sie stehen jenseits des Verlusts, sind schon verloren, haben nie gelebt, und hatten nie einen Anspruch auf Leben.“ (154) Butler hat ihr Buch in vier Teile gegliedert, die aufeinander aufbauen sollen, es aber nicht wirklich tun. Die ersten beiden Teile behandeln die Betrauerbarkeit aus einem moralphilosophischen, einem gesellschaftstheoretischen und einem psychoanalytischen Blickwinkel. Im ersten Teil des dritten Kapitels versucht sie „die stillschweigenden, ja unbewussten Formen des Rassismus zu verstehen, die den staatlichen und öffentlichen Diskurs über Gewalt und Gewaltlosigkeit prägen“ (133). Im zweiten Teil setzt sie anhand der Schriften von Walter Benjamin und Étienne Balibar auseinander, wie der Staat und seine Behörden die eigene „Gewalt“ (korrekt müsste es „Macht“ heißen) stützen und absichern, indem sie gewaltfreie Aktionen als „gewaltsam“ darstellen und so delegitimieren. Das vierte Kapitel über die politische Philosophie bei Freud ist ein Appendix. Der Band schließt mit dem Postskriptum „Gefährdung, Gewalt, Widerstand – noch einmal durchdacht“. Dort wirft sie einen Blick auf sexuelle Gewalt in Lateinamerika, eine Weltregion, „in der Frauen als unbetrauerbar gelten“ (231, kursiv im Original). Betrauerbarkeit und Gewaltlosigkeit hängen für Butler insofern zusammen, als gewaltlose Beziehungen zwischen Menschen erst dann möglich werden, wenn radikale Gleichheit herrscht. Diese bemisst sich am Faktor Betrauerbarkeit. Worauf ihre Überlegungen hinsteuern, sind gesellschaftliche Verhältnisse radikaler Gleichheit, die erst dann gegeben ist, wenn alle Menschenleben gleich viel gelten. Ihre utopische Perspektive nennt Butler ein „egalitäres Imaginäres“ (101). Wenn Butler von Betrauerbarkeit spricht, denkt sie allein an den Akteur Staat. Dass Betrauerbarkeit auch in zwischenmenschlichen Beziehungen eine Rolle spielt, thematisiert sie nicht. Ein Blick dorthin ermöglicht ein tieferes Verständnis des Phänomens der Betrauerbarkeit. Je näher ein Mensch einem

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anderen steht, desto mehr wird er betrauert. Es gibt eine unterschiedliche Wertigkeit von Betrauerbarkeit, die auf persönliche Bindungen und Empfindungen zurückzuführen ist. Für Butlers Verständnis von Gewaltlosigkeit ist ihre Auseinandersetzung mit Walter Benjamins Text „Zur Kritik der Gewalt“ (1921) wichtig. In ihre Betrachtungen bezieht sie zwei weitere BenjaminTexte ein. Butler konzentriert sich auf eine häufig übersehene Stelle über Gewaltlosigkeit. Benjamin verstehe Gewaltlosigkeit als eine „Technik ziviler Übereinkunft“. Sie sei kein Mittel, aber auch kein Ziel, sondern eine „aktive Denkhaltung“, die außerhalb der herrschenden Logik der Gewalt stünde (159). In diesem Begriff von Gewaltlosigkeit sieht Butler jene Kraft oder Macht, welche die herrschende Gewalt brechen könne. Benjamins Begriff von Gewaltlosigkeit verbindet sie mit dem Postulat nach radikaler Gleichheit. Nach Butler bedingen Ungleichheit und Gewalt einander, Gleichheit und Gewaltlosigkeit sind ihr ziviles Pendant. Butlers Modell einer gewaltlosen und radikal gleichen Gesellschaft, in der keine Unterschiede in der Wertigkeit von Menschenleben existieren, ist zwar eine Utopie, sie hält es jedoch für keineswegs unrealistisch, dass sie verwirklicht werden kann. Im Postskriptum rekurriert sie auf die Dialogphilosophie von Martin Buber (ohne Bubers Werk „Ich und Du“ zu nennen): „Das ‚Ich‘ braucht ein ‚Du‘, um zu überleben und zu gedeihen […].“ „Ich kann nicht leben, wenn ich nicht mit anderen Menschen zusammenlebe […].“ (242) Diese Interdependenz der Menschen ist es, glaubt Butler, die dazu führt, dass sie der Gewalt abschwören. „Gerade weil wir zerstören können, ist es unsere Pflicht zu wissen, warum wir nicht zerstören sollen, und ist es unsere Pflicht, die Gegenkräfte zu sammeln, die unsere Destruktivität in Schach halten können. Gewaltlosigkeit wird zu einer bindenden ethischen Pflicht, eben weil wir aneinander gebunden sind.“ (186) Um eine gewaltlose Gesellschaft in die Praxis umzusetzen, denkt Butler an Streiks und Verweigerung. Gewaltlosigkeit manifestiere sich „in solidarischen Widerstandsbündnissen und Standfestigkeit“ (244). Über die Medien und den öffentlichen Raum soll eine Grundlage für die neue und egalitäre Form von „Biopolitik“ geschaffen werden. Das Buch hat eine Adressatin, es ist „die Linke“. Diese nimmt Butler, wie die Einleitung zeigt, als eine Kraft wahr, die Gewalt als ein geeignetes Mittel betrachtet, gesellschaftliche und politische Veränderungen zu bewirken. Butlers Intention ist, diese Behauptung, Gewaltlosigkeit sei „nichts als schwache und wirkungslose Passivität“ (244), zu widerlegen. Die moralische Verwerflichkeit von

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Gewalt thematisiert sie nicht. Die Begründung dafür, gewaltlos statt gewaltvoll vorzugehen, ist nicht ethisch motiviert. Butler will ein „Gegengewicht“ aufbauen „gegen die todbringende Phantasmagorie, die nur zu oft Polizeigewalt gegen Ge-

meinschaften von People of Color, militärische Gewalt gegen Migranten und staatliche Gewalt gegen Dissidenten rechtfertigt“ (245).

Wolfgang Hellmich (Tübingen) [email protected]

Agnes Callard, Aspiration: The Agency of Becoming, New York: Oxford University Press 2018, 287 S., ISBN 978-0-19-063948-8. Im Allgemeinen besitzen Menschen die Fähigkeit, eigene Persönlichkeiten auszubilden. In der Philosophie spricht man in diesem Zusammenhang von der Identität der Person. Für gewöhnlich verändern Menschen ihre Persönlichkeiten über unbestimmte Zeiträume hinweg. Das schließt Veränderungen beispielsweise in Hinblick auf ihre politischen und religiösen Ansichten sowie Ansichten in Bezug auf sich selbst und andere Menschen ein. Im äußersten Fall geben wir lang eingesessene Ansichten auf oder nehmen zuvor fremde und für uns vollkommen neue Ansichten an. Es ist nun besonders interessant, wie der Prozess der eigenen Werteentwicklung aus philosophischer Sicht zu verstehen ist. Zu dieser Frage hat die an der Universität von Chicago lehrende Philosophin Agnes Callard vor kurzer Zeit eine gründliche und umfassende Theorie vorgelegt. Die Grundthese des Buches besteht darin, dass die Genese von Werten als ein persönliches Streben (aspiration) nach Werten aufzufassen ist. Die Autorin versteht das Streben als eine Form des Handelns (agency) im Gegensatz zu einer Art des sich bloß Verhaltens. Das ist insofern maßgebend, als damit gleichzeitig impliziert ist, dass dem Streben eine Form praktischer Rationalität unterliegt. Callard betont, dass „[i]nsofar as becoming someone is something someone does, and not merely something that happens to her, she must have access to reasons to become the person she will be“ (2). Folglich setzt die von ihr entwickelte Theorie des Strebens in grundlegender Weise voraus, dass die Genese von Werten eine Form praktisch rationalen Handelns ist. Der Aufbau des Buches orientiert sich an der Erläuterung und Verteidigung der Grundthese im Hinblick auf Fragen, die in drei verschiedenen Feldern der Ethik angesiedelt sind. Diese Felder sind a) Theorien praktischer Rationalität, b) Moralpsychologie und c) moralische Verantwortung. In den drei Teilen des Buches beschäftigt sich die Autorin entsprechend jeweils mit Fragen in Bezug darauf, wie a) das Anstreben von Werten als dezidiert rationaler Prozess verstanden werden kann, wie sich

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b) der Prozess psychologisch realisiert, und inwiefern er c) mit einer moralischen Verantwortung verbunden ist. Der erste Teil beinhaltet zunächst eine Untersuchung von zwei einschlägigen entscheidungstheoretischen Ansätzen zu einer Theorie des Strebens, denen gegenüber die Autorin auf überzeugende Weise argumentiert, dass die Rationalität des Strebens keine Form strategischer Nutzenoptimierung ist. Im Gegenzug schlägt sie vor, dass für das Streben nach Werten die Kategorie „vorwegnehmender Gründe“ (proleptic reasons) einschlägig sei. Wenn das Streben nach Werten von Gründen geleitet ist, die Werte aber erst akquiriert werden müssen und daher das zu begründende Ziel noch unbekannt ist, dann muss es sich im Zuge des rationalen Strebens um eine besondere Art von Gründen handeln, so die Argumentation. Im zweiten Teil hebt Callard zwei unterschiedliche Arten von Konflikten hervor, von denen sie in eingängiger Weise zeigt, dass das Streben keiner der beiden zugeordnet werden kann. Von dem Phänomen der schwierigen (und unter Umständen tragischen) Wahl aus verfügbaren Optionen, und dem andererseits widerspenstigen Auftreten ungewollter Motive unterscheidet sich ein für das Streben charakteristischer Konflikt (bezeichnet als „intrinsic“ conflict), in dem die Werte der gegenwärtigen Person in einem Spannungsverhältnis zu den Werten der zukünftig zu werdenden Person stehen. Weil der intrinsische Konflikt häufig das Phänomen der Willensschwäche (akrasia) verursacht, gehört eine philosophische aber jedoch, wie die Autorin betont, weitestgehend eigenständige Untersuchung dieses Phänomens zum zweiten Teil des Buches, in der sie zeigen möchte, dass das Phänomen der Willensschwäche durch die Theorie des Strebens erklärt werden kann. Im dritten Teil wendet sich Callard schließlich der tiefgreifenden moralischen Frage zu, inwiefern Personen für ihre Persönlichkeit (und die damit verbundenen Werte) verantwortlich gemacht werden können. Personen können nur dann für die Wahl ihrer Werte verantwortlich gemacht werden,

Buchbesprechungen wenn ihnen eine Entscheidungsmöglichkeit zuteil geworden ist. Diese Voraussetzung führt zum ersten Horn eines Dilemmas, da sich eine Entscheidung zum einen auf bereits vorhandene Werte stützen muss, zum anderen jedoch unklar ist, wie sie sich auf zukünftige noch unbekannte Werte beziehen kann. Wenn uns aber überhaupt keine Entscheidungsmöglichkeit in diesem Zusammenhang zuzusprechen ist, dann droht das zweite Horn des Dilemmas: Wir scheinen der Verantwortlichkeit ganz zu entgehen, da wir nicht für etwas verantwortlich gemacht werden können, das uns unabhängig von unserem eingreifenden Handeln bloß geschieht (vgl. die oben erwähnte Voraussetzung, das Streben als ein Handeln aufzufassen). Callard meint dieses Dilemma unterwandern zu können, indem sie argumentiert, dass der Ruf zur Verantwortung an die zu werdende Person zu richten ist. Diese steht insofern mit den Werten der gegenwärtigen Person in Verbindung, als „the actions [she] perform[s] are versions of the actions [she] will be in a position to perform once [she has] fully acquired the value“ (208). Von dieser Auffassung ausgehend, entwickelt Callard eine asymmetrische Theorie der Verantwortung. Personen sind in einem guten Sinne verantwortlich dafür, dass sie die Bedingungen erstreben, unter denen sie bestimmte Werte akquirieren; demgegenüber tragen sie Schuld, wenn sie solche Bedingungen nicht erstreben. An dieser und anderen Stellen des Buches besteht ein besonderer Grund zu Annahme, dass Callards grundlegende Auffassung der Natur von Werten in entscheidender Hinsicht von dem metaphysischen Verständnis der von ihr geschätzten klassischen Autoren der griechischen Antike geprägt ist. Diesem Verständnis zufolge leitet sich, grob gesagt, die Existenz von Werten aus der transzendenten Idee des Guten ab. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass sich die bestehende Existenz von Werten und Ideen als metaphysische Grundannahme dem kritischen Zweifel entzieht, und stattdessen der Fokus der philosophischen Untersuchung auf den Bedingungen des Erkennens (episteme) ontologisch präsupponierter Werte liegt. Oftmals lässt sich nur in geringem Maße erkennen, dass diese Grundannahmen als solche identifiziert und mit zum Gegenstand der kritischen Untersuchung gemacht werden. Dadurch bleibt es der Autorin versagt, ihre Theorie aus dem grundlegenden Dilemma herauszuführen, mit dem jede epistemische Theorie des Strebens grundlegend konfrontiert ist: Wie können Aspirantinnen und Aspiranten zukünftige Werte annehmen, die sie gegenwärtig nicht in der Lage sind zu erkennen?

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Wie bereits erwähnt, versteht Callard ihre Theorie als „the distinctive form of agency directed at the acquisition of values“ (4 f.). Dieses Verständnis muss sich zwangsläufig auf eine bestimmte Auffassung von Werten verpflichten, und zur kritischen Beurteilung des Buches sollte nach dieser Auffassung gefragt werden. Mindestens zwei verschiedene Zugänge sind in dieser Hinsicht vorstellbar. Der epistemische Ansatz orientiert sich an einer ontologischen Auffassung von Werten. Ihm zufolge existieren Werte immer schon und die Aufgabe besteht darin, sie in der richtigen Weise zu erkennen. Der praxisorientierte Ansatz betont demgegenüber die Idee der Werte-Genese und geht davon aus, dass Werte nicht immer schon bestehen, sondern durch Praktiken hervorgebracht werden bzw. durch sich wiederholende Praktiken bestätigt werden. Callard entscheidet sich für den epistemischen Ansatz und setzt in diesem Zuge die vergegenständlichten Werte häufig in ein epistemisches („see“, „aprehend“, „grasp“, „having access to“ values), adaptives („attuned to“, „teaching“, „pursuit“ values) oder possessives Verhältnis zur Person („have“, „gain“, „possess“ values). Sie vernachlässigt dabei letzten Endes die von ihr erwähnte Einsicht, dass „[w]e aspire by doing things, and the things we do change us“ (5), gleichwohl darauf hinweisend, dass „one aspires to be a doctor […] to become a member of a gym […] to invite him for coffee […] to spend more time at one’s church“ etc. (Hervorhebungen d. Rez.). Würde sie ihre Einsicht ernst nehmen, dann hätte sie dies von einem Erkennen ontologisch präsupponierter Wert zu der Idee führen können, dass sich die Genese von Werten in der Praxis vollzieht. Eine praxisorientierte Theorie des Strebens hätte mehrere Vorteile. Erstens scheint sie die im Hinblick auf die Rolle praktischer Gründe unverständliche Annahme „vorwegnehmender Gründe“ zu vermeiden. Diese Annahme kann das erwähnte Dilemma nicht auflösen, sondern verschiebt es lediglich von einem Erkennen von Werten auf das Erkennen von Gründen. Es bleibt vollkommen unklar, wie ein Akteur bewusst Gründe für ein Handeln anführen kann, dessen Wert er (noch) nicht einsieht (vorausgesetzt dass der Wert der Handlung einen Grund darstellt). Was hier als „vorwegnehmender Grund“ vorgeschlagen wird, besitzt strenggenommen gar nicht die Funktion eines Grundes. Statt Gründe auf ein zahnloses epistemisches Hilfsmittel zu reduzieren, wäre es daher angebracht, sie als Resultat einer Praxis zwischen Interaktionspartnerinnen zu verstehen, in der sich entscheidet, was als guter Handlungsgrund unter bestimmten Umständen Anerkennung findet. Pro-

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zessen der Einführung und des Erlernens von Werten in einer gemeinsam geteilten Praxis kommt in diesem Zusammenhang eine große Bedeutung zu. Auf der Grundlage einer praxisorientierten Theorie des Strebens stellt sich auch das Problem der Willensschwäche anders dar. Callard ist darin zuzustimmen, dass die Wurzel des Problems nicht im Vergleich von Gründen oder Deliberationsweisen (Davidson) besteht. Wir bezeichnen eine Person als willensschwach, wenn ihre motivierenden Gründe gegenüber anderen Gründen, die gewichtig sein können, für die Handlung ausschlaggebend sind. Diese Situation durch ein epistemisches oder konatives Defizit zu erklären, greift jedoch zu kurz. Gemäß dem praxisorientierten Ansatz gibt die Person mit ihrem Handeln den sie motivierenden Gründen einen höheren Wert als anderen möglichen Gründen. Das bedeutet, dass jemand, der sich der Drogensucht hingibt, den Gründen, die dafür sprechen davon abzulassen, mit ihrem Handeln keinen ausreichenden Wert einräumt (auch wenn sie natürlich für Außenstehende einen höheren Wert einnehmen können). Die Entscheidung zum Entzug ist für die betroffene Person ein besonderer Kraftakt, weil sie sich in eine für Körper und Psyche ungewohnte Praxis einüben muss. Der epistemische Ansatz zwingt die Autorin schließlich in Bezug auf moralische Verantwortung zu der schwer verständlichen Behauptung, dass Aspirantinnen und Aspiranten aus Gründen handeln, die ihren Bezugspunkt in der Zukunft haben.

Die Autorin glaubt, dass die Personen sich als „unvollständig“ (incomplete) empfinden, weil sie bereits eine Ahnung von den angestrebten Werten haben. Dieser Gedanke erinnert an die Platonische Ideenschau. Dem praxisorientierten Ansatz zufolge gelingt es der Person hingegen sich als vollständig zu empfinden, weil sie sich im Einklang mit ihrer eigenen Praxis und mit der Praxis ihrer Mitmenschen erfährt. Dieser Einklang stellt an sich einen Wert dar. Trotz seiner konzeptionellen Schwächen merkt man dem Buch häufig den wunderbar eingängigen philosophischen Erzählstil antiker Texte an, den die Autorin in beinahe virtuoser Manier mit dem oftmals eher formalen Argumentationsstil, wie er gegenwärtig in der analytischen Philosophie praktiziert wird, in Einklang zu bringen weiß. Es gelingt ihr, einen geduldigen Schreibstil zu entwickeln, der gleichzeitig informativ und argumentativ erhellend ist. Das Buch sorgt auf diese Weise für eine wahre und anhaltende Lesefreude und ist daher allen philosophisch Interessierten sehr zu empfehlen.1

Anmerkungen 1 Diese Arbeit wurde durch die Projekte PTDC/ FER-FIL/29906/2017 und UIDB/00183/2020 der FCT (Fundação para a Ciência e a Tecnologia) finanziert.

Florian Franken Figueiredo (Lissabon) [email protected]

Elsa Dorlin, Selbstverteidigung. Eine Philosophie der Gewalt. Aus dem Französischen von Andrea Hemminger, Berlin: Suhrkamp 2020, 315 S., ISBN 978-3-518-58756-0. Elsa Dorlin versteht ihr Buch über „Selbstverteidigung“ als eine „Genealogie“ oder auch als „Geschichte der Selbstverteidigungskonstellationen“ (21). Die Pariser Philosophieprofessorin erforscht also das Auftreten und Zusammenwirken von verschiedenen „Kulturen“ der Selbstverteidigung. Ein Beispiel ist die Black Panther Party for Self Defense, die 1966 gegründet wurde, um Freiheit und Gerechtigkeit für die schwarze Bevölkerung in den USA durchzusetzen. Dabei berufen sich die Black Panthers auch auf den jüdischen Widerstand im Warschauer Ghetto. Ein weiteres Beispiel sind feministische Selbstverteidigungskulturen, die „in einem zitathaften Zusammenhang“ (22) mit antirassistischer oder antikolonialer Selbstverteidigung stehen. Verbindungen und Verknüpfungen von Selbstverteidigungskulturen ergeben sich immer wieder und unabhängig von Zeit und Ort. Dor-

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lin erklärt dies damit, dass es eine allumfassende, diffuse, nicht offen auftretende Gewalt gebe, die auf „Machttechnologien“ beruhe und Selbstverteidigung erforderlich mache. Ihr Verfahren vergleicht sie mit dem Öffnen von „Archiven“, von Archiven des „Körpers“ und der „Muskeln“. Menschliche Körper nennt sie „Hauptarchive“ (21), die Geschichten erzählen von Gewalt und Unterdrückung, von Angriff und Verteidigung. Auch Dorlins eigene körperliche Erfahrung scheint eine Rolle zu spielen. Vielleicht ist es aber auch nicht persönlich gemeint, wenn sie schreibt, die eigene körperliche Erfahrung sei „das Prisma, durch das ich dieses Archiv gehört, gesehen und gelesen habe“ (22). So außergewöhnlich und interessant das Thema ist – es wird bis zum Schluss nicht recht klar, worauf die 46-jährige Politik- und Sozialphilosophin

Buchbesprechungen hinauswill. Ist das Buch „nur“ eine „Phänomenologie der Gewalt“, wie der Untertitel anzeigt, also eine Zusammentragung bestimmter Phänomene von Gewalt und bestimmter Reaktionen darauf? Der einführende Teil endet mit zwei Leitfragen, aber auch sie zeigen keine eindeutige Richtung an: „Was macht die Gewalt Tag für Tag mit unserem Leben, unserem Körper, unseren Muskeln? Und was können diese ihrerseits innerhalb und mit der Gewalt tun als auch nicht tun?“ (22 f.) Es gibt einige Stellen, die darauf hindeuten, dass es Dorlin um eine Philosophie der Selbstverteidigung geht. Selbstverteidigung begreift sie als Chance, zum Subjekt, zu einem „starken“ Subjekt zu werden. Dorlin will – um bei ihrer Diktion zu bleiben – „Muskeln“ aufbauen, den Körper ertüchtigen, um sich besser gegen die allgemeine Gewalt verteidigen zu können. Aber dem widerspricht, dass sie nicht allein auf Selbstverteidigung vertraut. Es ist vielmehr sogar so, dass sie Selbstverteidigung auch als eine Abwehrhandlung betrachtet, die den Angreifer dazu verleitet, sein Gegenüber „umso mehr zugrunde zu richten“ (12). Dorlin gilt als eine führende Feministin in Frankreich, ihren Ansatz versteht sie auch als „feministisch“, und feministisch heißt für sie, die Machtverhältnisse durch ein Raster zu betrachten, welches „traditionell als jenseits oder außerhalb der Politik angesehen wird“ (22). Im weiteren Verlauf der Studie spielen feministische Positionen jedoch keine Rolle. Die Studie ist kritisch. Es wird nicht ausdrücklich und durchweg für das weibliche Geschlecht Partei ergriffen, sondern für das Recht im Allgemeinen, für die Gerechtigkeit. Die Studie kritisiert die herrschenden „Machttechnologien“, die Herrschaftsverhältnisse begründen, in denen die einen „oben“ und die anderen „unten“ stehen. Das von Michel Foucault und Frantz Fanon inspirierte, 2017 im französischen Original erschienene und mit Preisen ausgezeichnete Buch beginnt mit dem Prolog „Was ein Körper vermag“. Dieser Teil ist der theoretisch oder philosophisch relevante Teil der Untersuchung. Er hebt sich von den folgenden acht historisch-soziologisch orientierten Kapiteln darin ab, dass Thesen formuliert und Intentionen angedeutet werden. Selbstverteidigung nennt Dorlin „Kampfethiken des Selbst“ (20). In der Verteidigung des Selbst wird der Mensch erst zum Subjekt. Wer sich selbst verteidigt, dem gelingt es, mit der Gewalt zu leben und zu überleben. Wer sich nicht selbst verteidigt, wird zum Spielball „einer Unzahl von Machtpraktiken“, die „mit unterschiedlichen Formen von Brutalität verbunden“ sind (21). Dorlin vergleicht Selbstverteidigung mit

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defensivem Widerstand und unterscheidet sie von der Notwehr. Selbstverteidigung ist ein BehauptenWollen angesichts einer allgemeinen Gewalt. Sie wirkt selbstkonstituierend. Notwehr hingegen ist ein „juristischer Begriff“ (19), ein Rechtfertigungsgrund für Verteidigung. Sie gibt jemandem nur das Recht zur Abwehr eines Angriffs. Offensichtlich gibt es zwei Geschichten der Selbstverteidigung. Zum einen jene Selbstverteidigung, die der Macht standzuhalten versucht, zum anderen jene Selbstverteidigung, die in Form defensiven Widerstands in der Gesellschaft zu finden ist und die impliziert, den Körper stark zu machen, den Menschen zum Subjekt aufzubauen. Letztere Geschichte sei „verschüttet“ (21). Dorlin geht es darum, sie freizulegen, um jene Formen von Selbstverteidigung zu ermuntern, die freie und selbstbewusste Menschen schaffen. Die acht inhaltlichen Kapitel sind der „Körper“ des Buches, der Prolog ist der „Kopf“. Im „Körper“ werden Selbstverteidigungskulturen über verschiedene Epochen hinweg verfolgt. Neben der Geschichte des Waffentragens und der Selbstverteidigung der Sklaven in der Antike werden das JiuJitsu der englischen Suffragetten, der Aufstand im Warschauer Ghetto und die US-Bürgerwehren (vigilants) behandelt. Ein Kapitel widmet sich der Lynchjustiz in Virginia. Wie Dorlin ausführt, geht diese auf den Juristen und Plantagenbesitzer Charles Lynch zurück. Infolge des eigenen Unvermögens habe der Gesetzgeber Lynch und seine Männer autorisiert, Pferdediebe und andere Banditen im Schnellverfahren auch mit dem Tode zu bestrafen. Später sei das „Lynch-Gesetz“ in den Südstaaten zur Grundlage für die Verfolgung von Landstreichern, Fremden und farbigen Rebellen geworden. Weiterhin werden die Black Panthers behandelt, und Dorlin geht auf Israel ein, ein Staat, der „auf der paramilitärischen Erfahrung von Selbstverteidigungstechniken beruht“ (100). Kurz behandelt werden noch die Philosophien des Gesellschaftsvertrags von Hobbes und Locke, die Dorlin als „Konzeptualisierungen der modernen Selbstverteidigung“ (105) deutet. Im Computerkriegsspiel „Hey Baby!“ sieht sie eine „Fabel des empowerment“ (195). Es sei ein Gegenentwurf zur allgemein geltenden Vorstellung von „Viktimisierung“ (195). Dorlin sympathisiert mit den porträtierten Kulturen der Selbstverteidigung, die als Reaktionen auf Kolonialismus, Rassismus oder Sexismus entstehen. Selbstverteidigungskulturen sind für sie die Folge ungerechter Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse. Sie sind Kulturen der Deklassierten, der Schwächeren, der Farbigen, der Frauen.

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Aus ihrer Perspektive, aus der Perspektive der „Opfer“ und für die „Opfer“ ist das Buch verfasst. Die Studie vertritt ein recht schematisches Weltbild. Hier die Starken und Mächtigen, dort die Schwachen und Beherrschten. Geschichte stellt sich für Dorlin als Geschichte von Macht- und Gewalttechnologien dar, die bewusst angewandt werden, um andere Menschen zu kontrollieren und zu unterdrücken. Im Prolog behauptet sie sogar, heutzutage würden jene Machttechnologien stärker denn je eingesetzt, um den eigenen Fortbestand zu sichern. Dorlin ruft jedoch nicht zu „Widerstand“ auf. Sie sagt auch nicht explizit, ob es geboten erscheint, die Fähigkeit zur Selbstverteidigung zu erwerben. Überraschend ist, dass sie eigentlich überhaupt keine direkte Aussage macht, wie sie persönlich zur Selbstverteidigung steht. Was man an Dorlins Archivarbeit vermisst, ist eine stärkere Systematisierung, ein roter Faden. Die aufgezeigten Selbstverteidigungskulturen sind derart heterogen, dass man ihnen hätte eigene Typennamen geben sollen, um sich besser orientieren zu können. Dieser Einwand soll jedoch nicht die Leistung in diesem Teil der Studie schmälern. Die Archive der Selbstverteidigung, die allerdings „Archiv[e] der Herrschenden“ sind (42) und insofern auch ein falsches Bild vermitteln könnten, werden gründlich und inhaltlich weit ausgreifend erforscht. Ein Manko ist, dass dieser lange Teil, das Herzstück des Buches, kaum mit dem Prolog verknüpft ist. Dorlin schneidet hier noch ganz andere Komplexe des Selbstverteidigungsthemas an. Ein zentraler Gedanke – ein angesichts der These von der Selbstwerdung durch Selbstverteidigung widersprüchlicher Gedanke – ist, dass Selbstverteidigung letztlich einer Selbstvernichtung gleichkommt. Dorlin behauptet dies nicht generell, sondern bezieht es auf einen bestimmten Rahmen, nämlich auf den Komplex der Folter. Sie schildert Foltermethoden aus der Vergangenheit, die nur einen Sinn und Zweck haben: das Opfer zu erniedrigen, Selbstverteidigungsreflexe zu provozieren, die den Weg in den Tod verzögern, aber unweigerlich zum Tod führen werden. Folter, wie sie Dorlin darstellt, impliziert die Auslöschung des Subjekts auf bestialische Weise. Ein Gefangener wird in einem Käfig eingesperrt. Unter ihm befindet sich ein Messer. Wenn die Kräfte zu schwinden beginnen, fällt er in das Messer. Doch getrieben vom Schmerz richtet er sich wieder auf. Er verteidigt sich. Er kämpft. Dieser Kampf kann mehrere Tage dauern. Wie Dorlin es deutet, geht es hierbei darum, dem Opfer und den Zuschauern dieses Todeskampfes zu vermitteln, dass Selbstverteidigung das Leid nur vergrößert. Jeder Widerstand wird ge-

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brochen, das ist die Botschaft. Folter ist für Dorlin eine Machttechnologie, die einzig dazu dient, dem Gefolterten sein „radikales Unvermögen, sich selbst zu verteidigen“, besser vorführen zu können (11, kursiv im Original). Foltertechnologien werden angewandt, um die Aussichtslosigkeit von Selbstverteidigung zu demonstrieren. Sie sind ein Herrschaftsmittel und werden eingesetzt, um „Wesen zu produzieren, die sich umso mehr zugrunde richten, je mehr sie sich verteidigen“ (12). Die in der Folter gewonnene Erfahrung der Aussichtslosigkeit, sich zu wehren, sich selbst zu verteidigen, habe Folgen, so führt Dorlin weiter aus, „für die politischen Mythologien (welches Schicksal ist unserem Widerstand beschieden?), für die Vorstellungen der Welt sowie für die Vorstellungen von sich selbst (was kann ich tun, wenn alles, was ich zu meiner Rettung unternehme, in mein Verderben führt?)“ (10 f.). Dorlin geht davon aus, dass Wesen produziert werden sollen, denen die absolute Ohnmacht eingeimpft ist. Sie nennt dies „unglückliche Subjektivierung“ (19). „Unglückliche Subjektivierung“ sei „das Charakteristische des modernen Subjekts“ (11). Freilich sind nicht alle Subjekte betroffen. Es gibt jene, die zur Selbstverteidigung befähigt sind, weil sie sich in einer entsprechenden Macht- oder Herrschaftsposition befinden. Und es gibt die Schwächeren und Deklassierten, deren Selbstverteidigung nur umso tiefer in den selbstvernichtenden Abgrund führt. Wenn auch Selbstverteidigung zum Tod führen kann, hat sie doch auch bewusstseinskonstituierendes Potenzial. Das ist die Dialektik der Selbstverteidigung. Wer sich selbst verteidigt, hat die Chance, der allgemeinen Gewalt zumindest temporär zu entrinnen. Wer sich selbst verteidigt, ist oder wird zu einer starken Persönlichkeit. Selbstverteidigung ist nur eine andere Bezeichnung für Subjektwerdung. Es gibt einiges an dem Buch zu kritisieren: Dass sich kein klares Bild über die Intention ergibt. Dass der Begriff der Selbstverteidigung und seine unterschiedlichen Dimensionen nicht entwickelt werden, auch um Missverständnisse zu vermeiden. Dass Prolog und inhaltlicher Teil nicht aufeinander abgestimmt sind. Dass das Buch unvermittelt abbricht. Und dennoch macht die unkonventionelle Studie Freude. Sie ist geschrieben mit großer Lebendigkeit. Man ist verblüfft, wie viele Selbstverteidigungskulturen es gibt. Man beginnt, intensiver darüber nachzudenken, warum es sie gibt. Das Buch zerstreut mit seinem ungewöhnlichen Thema die Gedanken.

Wolfgang Hellmich (Tübingen) [email protected]

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Toivo J. Holopainen, A Historical Study of Anselm’s Proslogion. Argument, Devotion and Rhetoric (= Anselm Studies and Texts, Bd. 2), Leiden/Boston: Brill 2020, IX + 238 S., ISBN 978-90-0442320-6. 1. Toivo Holopainen (= H) has been intensively engaged with the Proslogion (= P) of Anselm of Canterbury since the 1980s. For him, the P is simply the most fascinating work within the history of philosophical theology. With the book reviewed here, he presents a deepening and complementary overview of his previous efforts. The work is clearly structured and, thanks to its easily understandable language, accessible to all interested parties no matter whether they work in philosophy, especially in logic, theology, history, or philology. H takes great care in announcing what he is going to do and in summarizing what he has worked out. I refer by way of example to the subchapters at the end of the three main parts (88 f., 161–163, 220– 224). The first chapter, “Introduction” (1–8), formulates the objectives and explains the division into three main parts, which are indicated in the subtitle. While most of the secondary literature interprets and judges the proofs of God in the second and third chapters of P, H aims at “the interpretation of the treatise in general” (1). Slightly more detailed, “this study is a historical introduction to the Proslogion. The idea is to explain some things that the reader needs to be familiar with in order to be able to read and understand the Proslogion in a historically adequate way” (2). I will not attempt to describe the course of the investigation in detail. A review can hardly capture the development of the subtle entanglements between the views and intentions of Anselm on the one hand and his fellow players and adversaries on the other hand. Rather, H’s answers to two central questions will find outline in their main features: What does Anselm understand by the one argument (unum argumentum)? Why does Anselm choose a mixture of prayer and proof as literary form of the P? 2. When addressing the question of the single argument, one should first take note of the unusual text situation. “Anselm’s description of the single argument in the preface to the Proslogion is the only legitimate starting point for the identification of the single argument because it is the only passage which quite explicitly speaks of the argument in question.” (58 f.) In the P itself there is no mention of the single argument. Also the Responsio Anselmi does not contain the word combination. Indications that something of relevance can nevertheless be found in the P or in the Responsio Anselmi must therefore result from the interpretation

of the Prooemium. If we now read this preface to the final version of the P, we can see that twothirds of it deal with the single argument. These explanations can be divided into three parts. In the first part, Anselm gives a characterization of the nature and function of the single argument. In the second part, he tries to attract the reader’s attention to his discovery by telling a story of seeking and finding it. Eadmer, in chapter xix of his Vita Anselmi, has fancifully expanded this origin legend (198 f.). The third part connects the P with the single argument and gives the impression that Anselm composed the P mainly for the introduction of the single argument. The story of genesis is rhetorical in nature, and the propagated connection of the unum argument with the P will later be put in perspective. For the sequel, the first part, which is at the same time the first sentence of the P, has all attention. Anselm starts with an observation about his first work, the Monologion. This is put together by the concatenation of many arguments. Because of this he has begun to search for a single argument (unum argumentum), which, one may add, is supposed to accomplish more simply similar tasks, but in particular satisfies two requirements. H translates the crucial passage thus: “I began to ask myself whether it might be possible to find a single argument which would need no other for proving itself than itself alone, and would suffice by itself to establish that God truly exists, that he is the supreme good needing no other yet needed by all for their existence and well-being, and whatever we believe about the divine substance” (28). Two requirements for the single argument must be distinguished: It can prove itself. It alone is sufficient to prove the truths about the divine substance. The formulation of the first criterion places significant obstacles to understanding. The presentation of the second criterion offers approaches for an interpretation, which, however, raise urgent follow-up questions without circumstance. “The announcement of the single argument includes an implicit task for the reader” (208). From the formulation of the second criterion, one can infer at least the following insights: (i) the single argument is a means of proving something; and a means of proof is not itself a concrete proof. “Anselm’s single argument is not at all a piece of argumentation or a piece of text that was actually

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written down somewhere in the Proslogion. Instead, the single argument is a means of argumentation that one can use to construct pieces of argumentation” (5). (ii) The single argument is supposed to be alone sufficient to support or—more strongly —to prove propositions of a certain kind. Three sorts are mentioned: propositions about the existence of God, some propositions well known from the Monologion, and finally all that that is believed about the divine substance. The groups are not disjoint. The last one includes the two preceding ones. In short: the unum argumentum is a kind of passepartout for the knowledge of God. “That is to say, the scope of the single argument is to prove both God’s existence and everything that the Christians believe about the divine essence” (4). H sees the indicated idea, the single argument as a means to prove everything believed about God, taken up and developed in the summarizing 10th chapter of the Responsio Anselmi. Just as in the Prooemium, there is talk of existence in reality and of all that is believed concerning the divine substance, but in connection with the utterance “something than which a greater cannot be thought,” whose proving power is expressly emphasized. To improve the still fragmented understanding, it is necessary to ask explicitly what sort of entity the single argument is. First, the word ‘argument’ is used in multiple ways (today as well as) in the 11th century. But none of the main meanings in Boethius’ Dialectic is applicable. There is, however, a less common usage in Boethius. “Some passages in In Ciceronis Topica suggest a fourth interpretation: the term ‘argument’ can be used to refer to the middle term of the syllogism” (77). If one goes through the Responsio Anselmi with the idea that the single argument could be a possibly complex term, then one will find relevant passages in the fifth chapter. “Anselm there explicitly uses the term ‘argument’ (argumentum) for entities like ‘that than which a greater cannot be thought’ and ‘(that which is) greater than all else’ (maius omnibus)” (60). Moreover, he tries to explain there at the two arguments mentioned, i. e. complex terms, that the first term proves itself, but the second does not. However, it is still open what it could mean that a term or a notion proves itself. In addition, the reading of the fifth chapter and the tenth chapter gives, as usual in Anselm, at best a direction. “The way in which ‘that than which a greater cannot be thought’ can be used for proving claims about itself is, of course, Anselm’s reductio technique: you can prove claims about that than which a greater cannot be thought by appealing to the signification of the expression ‘that than which a greater

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cannot be thought’” (64). This can be formulated, I hope in the spirit of H, roughly thus: theses about that what ‘that which a greater cannot be thought’ denotes can be proved in their essence by resorting precisely to the meaning of the unum argumentum, that is, to the uses given with it. For example, the proof of the wisdom of that beyond which a greater cannot be thought runs like this: “If that than which a greater cannot be thought were not wise, it could be thought to be wise, which is greater. Therefore, if that than which a greater cannot be thought were not wise, then that than which a greater cannot be thought would be that than which a greater can be thought. But this is impossible. Therefore, that than which a greater cannot be thought is wise” (34). It should be, so the claim of Anselm, the meaning of the unum argumentum, which alone (?) or nevertheless in the core allows this proof. Argumentations of this kind are found in the second, third, and fifteenth, and, less easy to see, in the fifth and eighteenth chapters of the P. Two side notes are indicated. Firstly, the quoted text, which is arranged according to the main proof in the second chapter of the P, is elliptical, incomplete and associative. Thus, what H does not seem to realize, it is at best a starting point for a logical reconstruction. Secondly, it has not escaped H’s notice, of course, that already Karl Barth, in the introduction to Fides quaerens intellectum, identifies the complex term ‘that than which a greater cannot be thought’ as the single argument and states in a related note that ‘argumentum’ is used in medieval Latin both in the sense of ‘middle term’ and in the sense of ‘means of proof.’ However, according to H, he does not follow through with this determination “in practice” (39, fn. 6, 40 fn. 7). 3. Hardly any reader denies that in P there are both prayers and discourses (proofs and explanations). Now Anselm has written prayers that are not enriched with discourses. Furthermore, he has written discursive texts, e. g. Monologion, which do not contain prayers. The distinction, going back to Arthur McGill, between a rationalistic, a fideistic, and a mystical tradition of interpretation arises from emphasizing one of the two types of texts and explaining away or yet putting in the background the other in one way or another. But why does Anselm present with the P a text that can be read as a prayer in which discourses are embedded or as a discourse framed and interrupted by prayers? H offers a clear and pointed answer that is at least highly worthy of consideration. “I argue that the Proslogion should be seen as Anselm’s subtle attempt at justifying the kind of rational ap-

Buchbesprechungen proach that he had used in the Monologion, and that he justifies it before an audience that consists of Christian believers. The devotional exercise in the Proslogion makes the readers deeply involved in the rational analysis of faith before they start to suspect anything but in addition, it enhances the idea that understanding (intellectus) is something that a Christian should strive for in the present life. The Proslogion in its complete form draws attention to the rational aspect of the devotional exercise and insinuates that the rational method should be seen as a means of acquiring understanding” (7). This explanation allows integrating the concerns of the three distinguished interpretative traditions. I can only point here to a few threads of the finely spun web of H’s considerations. The special form of the presentation becomes comprehensible if one takes into account (at least) two circumstances. Firstly, Anselm pursues the fides quaerens intellectum program without any ifs and buts. The truths of faith can and should be understood. This form of contemplation of God is typical of our present existence and must not be confused with that of the direct vision of God in the hereafter (171– 178, 195 f.). God himself grants the insights by enabling us to perform corresponding proofs. The single argument, as seen, plays a prominent role. But its use is only a means and, contrary to the message in the Proemium, not the goal pursued with the P. Secondly, Anselm writes for a circle of readers, “the monastic and clerical audience in Normandy and its surroundings in the late 1070s and early 1080s,” (6) that meets the use of rational methods with distrust, even rejection, insofar as they are seen in direct connection with erroneous doctrines, especially in the doctrine of the Eucharist. The presentation of the rational method in the context of rhetorically subtle prayers is intended to break the link between rationality and heresy. If one now asks why the rational method in matters of faith has fallen into such disrepute among the intended audience, then the treatise De corpore et sanguine Domini, usually attributed to Lanfranc,

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comes into play. At this point, that is, in the second part, H’s deliberations become highly subtle, original, bold and highly critical towards the standard interpretation. It is, to mention only a few topics, about the authorship (Lanfrank and/or Anselm) the audience (Berengar on the one hand, the monastic and clerical readership on the other hand), the relationship of Anselm and Lanfrank (teacher-pupil or associate), the ecclesiastical-political circumstances of the Eucharistic controversy and the position of Berengar’s Scriptum contra synodum. Of particular interest here is the following: Lanfrank and perhaps Anselm, quite independently of their real attitude, are essentially concerned with creating the impression among their readership that the use of the procedures taken from dialectics in the doctrine of the Eucharist and generally in the doctrine of the faith leads to heresy. To this end, they not only make extensive use of rhetorical devices, but also do not shy away from crude misinterpretations and unjustified moral accusations. Since De corpore did not fail to have the desired effect, the Monologion, whose readership is the same, could only cause irritation and aversion. Against these attitudes, Anselm sets, in short, the P, a text with the rhetorical nature of De corpore and the rational attitude of the Monologion (110–139). 4. Summarizing his previous research, H offers an original and highly plausible explanation of the particular literary presentation form of the P. This will not lose quality even if not all of the occasionally very bold assumptions about De Corpore turn out to be true. Any further comprehensive interpretation of the P will have to relate to this. Moreover, the author presents an understanding of the one argument that combines the few explicit pronouncements and the not as such presented usages into a largely coherent picture. This forms the starting point for further conceptual penetration. In sum, I have no hesitation to announce H’s book as a must-read for advanced connoisseurs of the P.

Geo Siegwart (Greifswald) [email protected]

Christoph Kann, Die Sprache der Philosophie, Freiburg: Alber 2020, 600 S., ISBN 978-3-49548999-4. Vor Jahren hat Christoph Kann seine Habilitationsschrift der positiven doktrinären Prüfung der – schon von Nietzsche vertretenen – „Fußnotenthese“ gewidmet, dass die Philosophiegeschichte in weiten Teilen als „Fußnote zu Platon“ (Whitehead)

betrachtet oder gar rekonstruiert werden könne.1 Seit 2000 lehrt Kann in Düsseldorf. Nach 2001 publizierte er keine weitere große Monographie. Die Sprache der Philosophie lässt sich nun als umfassende monographische Summe und Gegenstück

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zur früheren Monographie betrachten, die die Kontinuität der Philosophiegeschichte und Fortsetzungswürdigkeit des fachsprachlichen Projektes begriffsgeschichtlich und sprachanalytisch abgeklärt erneut herausstellt. Am Ende der Einleitung spricht Kann von einem „Beitrag zu einem synoptischen Bild der Philosophie“ (29). Am Schluss der Untersuchung spricht er mit Peirce und Ryle auch von einer normativen „Ethik der Terminologie“ (540). In Zeiten diskurspolizeilicher Revision der Alltagssprache, die im Wissenschaftsdiskurs mitunter Züge einer Verschlimmbesserung annimmt, klingt Ryles „Metapher der ‚Hubschrauberpiloten der Verkehrspolizei‘“ (541) zwar leicht bedrohlich; Kann vertritt aber gerade keinen Purismus der Restriktion von Fachsprache auf eine glatt gebügelte Normalsprache, sondern beschreibt das komplexe Wechselspiel im philosophischen Diskurs. Dazu schreibt er am Schluss: „Wir wollten nicht bei den Termini als vermeintlich statischen Gebilden stehen bleiben, sondern dem inneren Gesetz ihres Bildens nachspüren. […] Terminologische Fragestellungen der Vergangenheit sollten aufgenommen, miteinander verknüpft und vertieft werden, ohne im Duktus neuerer Forschungsdiskussionen zur Begriffsgeschichte oder historischen Semantik auf immer neue Metastufen zu führen.“ (538) Kann beschränkt sich also auf die Sprache der Philosophie und deren fachsprachliche Terminologisierung im ständigen Austausch mit der Normalsprache: nicht etwa auf eine Sozial- oder Institutionengeschichte der Akademie und Universität. Die diversen Projekte normalsprachlicher Übersetzung – aus dem Griechischen ins Latein (Cicero, Boethius) oder später etwa ins Deutsche (C. Wolff) – thematisiert er eindrucksvoll ohne Rekurs auf historisch-politische Hintergründe (Reichsbildung Roms oder alteuropäische Nationalisierungsprozesse). Die Amerikanisierung des Diskurses erscheint auch nur als Fortschritt im Standard. Heideggers „Kryptoterminologie“ etwa wird nicht mit expressionistischer Avantgarde oder terminologiepolitischer Philosophentyrannei erklärt. Kann beschränkt sich auf die Sprache der Texte und antwortet damit auf diverse neuere Tendenzen in den „Geisteswissenschaften“: auf den Einzug der angelsächsischen analytischen Philosophie und Sprachkritik, die Wiederentdeckung der Scholastik, das Erbe lexikalischer Großprojekte und neuere Profilierungen der „Begriffsgeschichte“. Sein akademischer Referenzrahmen ist durchaus überraschend. So bezieht er sich für seine Fragestellung u. a. auf ältere Vorgänger wie Eucken und Tönnies sowie auf Damir Barbarić (Die Sprache der Philosophie, 2011), insbesondere aber auch

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auf Adornos heute selten gelesenes Nachlasswerk Philosophische Terminologie (1974). Dass dessen Politisierung einer „negativen Dialektik“ für Kanns Fragestellung irrelevant ist, entspricht der Beschränkung auf den fachphilosophischen Diskurswandel und die Terminologie. Kann gliedert seine gewichtige Analyse in drei Hauptteile. Er nähert sich den „Konstituenten“ des Diskurses zunächst, von der Unterscheidung zwischen Fachsprache und Normalsprache ausgehend, über analytische Differenzierungen von Aspekten wie: Terminologie, Definition und Übersetzung, sondiert dann Varianten etymologisierender Argumentation und Metaphorik und exponiert die geläufige Distinktion in Dichotomien, die oft als „Ismen“ profiliert sind. Im zweiten Hauptteil expliziert er mit reichen philosophiehistorischen Bemerkungen leitende Unterscheidungen und Dichotomien (wie Realismus und Idealismus). Der dritte Hauptteil transponiert diese analytischen „Innenansichten“ und prägenden Unterscheidungen des Diskurses dann in eine Art Fortschrittsgeschichte reflexiver Selbstauffassung des Diskurses und unterscheidet dabei markante historische Etappen und Projekte. Hier finden sich erneut zahlreiche abgeklärte Beobachtungen und Befunde: so Skizzen zum Wechselspiel fachsprachlicher Terminologisierung und reflexiver Terminologie- und Jargonkritik oder zur Dialektik von Popularisierung (Wolff, Kant) und esoterischer Verfachlichung (Hegel), kritischer Terminologierevolution (Whitehead) und ambitiöser „Kryptoterminologie“, wofür Heidegger als Paradebeispiel steht. Es wurde erwähnt, dass Kanns abgeklärte Synopse reiche Anregungen und Einsichten ins Detail bietet. Mit dem Verweis auf die Kontinuität des Diskursprojektes über die lateinischen Übersetzungen hinaus ins Mittelalter und die neuere Schulphilosophie trägt sie Züge einer Einführungs- und Werbeschrift, Erinnerung auch an die kategorialen Grundbegriffe und basalen Standards des Faches. Die klare Beschränkung auf die „Sprache“ der Philosophie lädt zu ergänzenden Gegenrechnungen der synoptischen Einheitsschau im Stil und Gestus einer breiter angelegten Philosophiegeschichte und Geschichte des „absoluten Geistes“ ein. Kanns „Innenansichten der philosophischen Fachsprache“ ließe sich etwa eine Institutionengeschichte der Universitätsphilosophie oder der Performanz seiner Lehre hinzufügen; soziale und politische Rahmenbedingungen oder auch eine Mediengeschichte des Faches ließen sich ergänzen; Heideggers „Kryptoterminologie“ oder Wittgensteins „Lebensform“ stellen sich dann etwas anders dar. Auch hier aber sieht Kann nebenbei vieles im Detail. So ver-

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Buchbesprechungen bindet er Heideggers Jargon treffend mit der „Weigerung, die geläufige lateingeprägte Terminologie zu nutzen“ (470), und spricht von einem (dionysischen) Versuch, „Wein in das Wasser der etablierten Verständigungsmittel“ (477) zu gießen. Seine Ethik der Terminologie wirbt im besten Sinne für die altüberlieferte Gabe und Sprache der Unterscheidung.

Anmerkungen 1 Vgl. dazu die Rezension des Vf. zu: Christoph Kann, Fußnoten zu Platon. Philosophiegeschichte bei A. N. Whitehead, Hamburg 2001, in: Philosophischer Literaturanzeiger 54 (2001), 319 f.

Reinhard Mehring (Heidelberg) [email protected]

Werner Konitzer/Johanna Bach/David Palme/Jonas Balzer (Hgg.), Vermeintliche Gründe. Ethik und Ethiken im Nationalsozialismus, Frankfurt: Campus Verlag 2020, 488 S., ISBN 9-783593-510316. Im vorliegenden kommentierten Quellenband Vermeintliche Gründe. Ethik und Ethiken im Nationalsozialismus tragen die Herausgeberinnen und Herausgeber Werner Konitzer, Johanna Bach, David Palme und Jonas Balzer Originaltexte von akademischen und institutionell verankerten Philosophen, die in einem Zeitraum von 1920 bis 1942 mit einem Bezug zu nationalsozialistischem Gedankengut veröffentlicht wurden, gekürzt aber ansonsten unverändert, jedoch jeweils biographisch und kontextual von den Herausgeberinnen und Herausgebern eingeführt, zusammen. Das ambitionierte Projekt, in welchem erstmals Textausschnitte nationalsozialistischer Philosophen jenseits der „Klassiker“ gemeinsam veröffentlicht werden, reiht sich in die Publikationen der Wissenschaftlichen Reihe des Fritz Bauer Instituts sowie neueren Forschungen zu nationalsozialistischen Moralphilosophien ein. Neben einer konkreteren Einordnung in den Forschungsstand seitens der Herausgeberinnen und Herausgeber reflektiert der Quellenband auch die Schwierigkeiten der Arbeit mit und an Texten nationalsozialistischer Färbung sowie deren Aufarbeitung und versucht sowohl Gemeinsamkeiten als auch wiederkehrende Aspekte einer Moralphilosophie zusammenzutragen. Dabei schlagen sie mit einer herausfordernden Blaupause zur Lesart einen genuinen Zugang vor, der sich der nationalsozialistischen Normativität aus einer Erste-Person-Perspektive nähert und so einen Appell zum „Sich-Einlassen“ auf die Originaltexte an die Leserinnen und Leser richtet. Durch diese Herangehensweise soll anhand heutzutage wenig gelesener Texte vor und auf dem Weg zur Shoa eine Sichtbarmachung und Analyse des damaligen „normativen Klimas“, also die für richtig erachteten Werte und Normen insbesondere im Kontext der vollzogenen Untaten, ermöglicht wer-

den (8). Vor einem von den Herausgeberinnen und Herausgebern beobachteten Hintergrund einer zunehmenden Salonfähigkeit nationalsozialistisch konnotierter Floskeln in aktuellen öffentlichen Diskursen, wolle man Konfrontationen mit den eigenen Wertvorstellungen aus eben jener Erste-Person-Perspektive anregen und Diskussionen anstoßen sowie eröffnen. Ganz im Stile Fritz Bauers fordert der Quellenband somit auch die deutsche Philosophie zur (erneuten) Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit auf, welche die Herausgeberinnen und Herausgeber als noch nicht abgeschlossen ansehen. Gleichwohl werden diejenigen enttäuscht, die in den veröffentlichten Texten ausschließlich das radikal Böse finden wollen. Vielmehr gehe es den Herausgeberinnen und Herausgebern um eine „Sensibilisierung für die subtileren Formen der Schrecklichkeit des Nationalsozialismus und seiner Mentalität“ (75). Dem zugrunde liegen die zentralen Beobachtungen, dass der Nationalsozialismus weder ein außeroder amoralisches, un- oder pseudophilosophisches Phänomen gewesen sei, noch dass es so etwas wie die eine nationalsozialistische Moralphilosophie gegeben habe (56). Auch jenseits der intuitiv ins Gedächtnis springenden „Klassiker“, habe es eine große Fülle an Publikationen mit Begründungs- oder Rechtfertigungsansprüchen der gedanklichen Vorbereitung der kommenden und vor allem gegenwärtigen Verbrechen gegeben. Der Titel des Quellenbandes Vermeintliche Gründe soll bereits an diesen Punkt anschließen und impliziert dabei die einleitend erwähnte Blaupause zur Lesart. Die „Vermeintlichkeit“ stamme zum einen von der Tatsache, dass die Nationalsozialisten ebenso wie die jeweiligen Autoren die Gründe für ihre Taten und Thesen als moralisch gut, richtig und notwendig ansahen, wenngleich diese nach den Herausgeberinnen und Herausgebern angesichts der

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Missachtungen der Menschenwürde niemals gute Gründe sein könnten. Zum anderen sei exemplarisch auch das Fundament der Gründe in der Hinsicht „vermeintlich“, als dass die Rechtfertigungsstrukturen in Bezug auf Untaten an Jüdinnen und Juden durch ihre irrtümliche Konstruktion – beispielsweise in Form von Fehlschlüssen aus Verschwörungstheorien oder sozialdarwinistischer Eugenik – in keiner Weise zu legitimieren seien. Die Normativität des Titels in der vorangestellten Ablehnung ist hierselbst zwar auffällig, aufgrund der philosophischen Perspektive der ersten Person, welche die Herausgeberinnen und Herausgeber bei der Wahl des Titels und zum Lesen der Originaltexte einführen und vorschlagen, dennoch beabsichtigt. So würden historiographische Untersuchungen der Intellektualität des NS aus einer Dritte-Person-Perspektive und dadurch aus einer größeren Distanz zum Objekt durchgeführt werden. Die Frage nach den moralischen Einstellungen und Überzeugungen alleine führe nicht zu einer Reflexion anhand eigener Wertmaßstäbe und reproduziere nationalsozialistische Begriffe ferner womöglich unkritisch. Die Werte, Normen und Taten des NS seien jedoch etwas, dem man nicht unkritisch gegenüberstehen dürfe (34 ff.) und demzufolge die Gründe der nationalsozialistischen Moralphilosophen durch die Wahl des Titels im Vorhinein als „vermeintliche“ deklariert wurden. Das Lesen der Texte aus einer Erste-Person-Perspektive und die damit verbundene Distanzverringerung – zu verstehen als ein Sich-Einlassen und Sich-Beziehen auf die (vermeintlichen) Gründe – stellt eine persönliche Herausforderung an die Leserinnen und Leser. Es bietet allerdings auch den Vorteil, nationalsozialistisches Gedankengut jenseits eines vorgestellten „Ich bin doch kein Nazi“, sondern stattdessen anhand von Wertmaßstäben abzulehnen. Leider nehmen die Herausgeberinnen und Herausgeber mit der Formulierung im Titel diesen persönlichen und intrinsischen Prozess des Perspektivwechsels bereits ein wenig vorweg. Sehr gelungen ist indessen die umfangreiche Einleitung des Werkes, welche neben den Intentionen der Herausgeberinnen und Herausgeber auch die Schwierigkeiten des Ansatzes – und besonders positiv herauszustellen den aktuellen Forschungsstand – ausführlich aufgreift. Dies geschieht mit der Intention, einen Weg von den historiographischen moralphilosophischen Untersuchungen der letzten Jahre hin zu der Rechtfertigung der Veröffentlichung nationalsozialistischer Primärquellen, vorgeschlagen in einer Lesart aus der ersten Person, finden zu können (12 ff.). Die restliche Ein-

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leitung bemüht sich unterdies, der Verneinung einer einheitlichen nationalsozialistischen Moralphilosophie zum Trotze, um eine Systematisierung von wiederkehrenden Motiven innerhalb jeweils einiger der verschiedenen Originaltexte. Diese zehn Aspekte nationalsozialistischer Moralphilosophie, etwa das untergeordnete Verhältnis von dem Individuum zur Gemeinschaft oder die Maxime, den Kampf des NS als ewige Aufgabe anzusehen, (56 ff.) bieten den Leserinnen und Lesern bei der Lektüre eine Strukturierungshilfe und verdeutlichen die unterschiedlichen Herangehensweisen der gesammelten Autoren. Die offen geführte Liste bietet zudem nach Beendigung des Bandes die Möglichkeit der Reflexion und Ergänzung um weitere Items. Es folgen die zwanzig im Schnitt zwanzigseitigen Originaltexte, die nach einem einheitlichen und hilfreichen Schema aufbereitet wurden. So findet sich vor jedem der unveränderten Texte eine Inhaltsangabe und ein Deutungsvorschlag sowie respektiv eine Kontextualisierung der jeweiligen Texte hinsichtlich anderer Publikationen der Autoren. Letztere werden zudem über einen kurzen Ausschnitt ihrer Biographie mit Blick auf deren Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus eingeführt. Innerhalb der Einleitung verweisen die Herausgeberinnen und Herausgeber zusätzlich darauf, dass sie die Autoren nicht kategorisch und umgehend als Nationalsozialisten klassifizieren wollten. Stattdessen wurden bei der Auswahl der Texte neben dem politischen Engagement auch andere Auswahlkriterien, zum Beispiel die Beurteilungen durch die SS oder die Unterschrift beim Bekenntnis der deutschen Professoren zu Adolf Hitler, berücksichtigt (53). Die Herausgeberinnen und Herausgeber sind sich der Kontroversität und Unvollständigkeit ihres Autorenkanons dabei durchaus bewusst (55). Einige berühmte Namen wie Heidegger fehlen aufgrund mangelnder Abdruckerlaubnis, andere im Quellenband aufgeführte Autoren wie Nicolai Hartmann, Friedrich Gogarten oder Graf Karlfried Dürckheim sind in ihrem Engagement beim NS umstritten, wieder andere wie Alfred Baeumler oder Max Wundt offensichtlich überzeugt. Wenngleich die Aufarbeitungen der Texte doch sehr gelungen sind, empfiehlt es sich wohl erneut vor dem Hintergrund des Perspektivwechsels zunächst den Originaltext und erst danach die vorgestellten Informationen der Herausgeberinnen und Herausgeber zu lesen. Beim Lesen der Primärquellen aus der ersten Person wird auch das Herausfordernde exemplifiziert. Denn das Nationalsozialistische fällt bei

Buchbesprechungen vielen Texten nicht nur wegen der angesprochenen fehlenden Einstimmigkeit der Theorie nicht direkt ins Auge, sondern auch weil die Autoren untereinander kaum Diskursivität herstellen (59). Stattdessen entwickeln sich häufig verschiedenartige „Grundlegungen der Ethik“ sowie anti-liberalistische und anti-individualistische Kritiken, die stellenweise durchaus Kontinuitäten mit den charakteristischen Argumentationsfiguren der Konservativen Revolution oder dem Kommunitarismus der ersten Welle besitzen. An solchen Stellen kann dann vielleicht tatsächlich die Distanz zur Argumentation der Originaltexte insofern verringert werden, als dass ähnliche Thesen auch aus eben jenen Debatten bekannt sind. Es fällt allerdings auch auf, dass sich die meisten Texte nicht nur des Diskurses untereinander, sondern auch der lesenden Person entziehen, indem die argumentative Grundlage in einem völkischen Instinkt gesucht wird (49 ff.). Allzu häufig verzichten die verschiedenen Autoren auf eine durch Gründe geleitete Reflexionstätigkeit – wodurch sich auch die Frage stellt, inwiefern es sich bei den Texten der akademischen Philosophen überhaupt um Philosophie handeln kann – und verweisen stattdessen beispielsweise auf eine auf Blut oder Gemeinschaft gegründete Einsicht im Angesicht einer heroischen und durch Treue gebundenen Aufgabe (157 ff.). So stellt sich die Hürde, gute Gründe gegen diese partikular zugänglichen und „vermeintlichen“ Gründe vorzubringen, die doch gleichwohl das normative Klima, in welchem die Texte verfasst wurden, treffend spiegeln. Der Quellenband zeigt, dass die akademische Philosophie in die dem NS nahestehende Normativität weitaus verstrickter war, als vielleicht angenommen. Auch gegen Einwände einer solchen These (z. B. die Separat- oder Sandwich-Theorie (39 f.)), wenden sich die Herausgeberinnen und Herausgeber in der Einleitung gemäß des For-

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schungsstandes selbst und regen so die individuelle Aufarbeitung weiter an. Einem selbstverständlichen Ablehnen wird durch die zur Verfügung gestellten Texte eine wichtige Alternative gegenübergestellt, welche die Diskurse zu eröffnen sucht. Die Konfrontation der eigenen Wertvorstellungen mit den einzelnen Werten und Normen aus der Zeit des NS jenseits der Shoa, Auschwitz und den anderen herausstechenden Untaten ist herausfordernd, dennoch wertvoll für die gesamte Debatte. Die methodologischen Hinweise seitens der Herausgeberinnen und Herausgeber sind insbesondere positiv zu vermerken, da etwa der Perspektivwechsel und der Überblick über die Aspekte einer bisher diskursverschlossenen nationalsozialistischen Moralphilosophie überaus hilfreich für ein Verständnis der Texte sind. Des Weiteren ist die Auswahl der Autoren in der Art vielschichtig, als dass auch interdisziplinär vereinzelt Theologen und Pädagogen ausgewählt wurden, wodurch gerade die Unterschiedlichkeit der Begründungen nicht nur durch den Diskursivitätsentzug verdeutlicht wird. Lediglich beim Titel des Werkes und der Voranstellung der Inhaltsangaben an die Originaltexte nehmen einem die Herausgeberinnen und Herausgeber die Möglichkeit gemäß der vorgeschlagenen ErstePerson-Perspektive die Distanz selbstständig zu verringern. Insgesamt fällt dies jedoch nicht stark ins Gewicht. Vermeintliche Gründe. Ethik und Ethiken im Nationalsozialismus ist ein rundum gelungener Quellenband, der neben der Diskurseröffnung durch die Originaltexte zusätzlich mit der Einleitung einen lesenswerten Anstoß zur Auseinandersetzung mit der Normativität aus der Zeit des Nationalsozialismus entwickelt sowie eine tiefgreifendere und differenzierte Methode zur Ablehnung vorstellt.

Bastian Klug (Gießen) [email protected]

Franz von Kutschera, Der Weg der Westlichen Philosophie, Paderborn: mentis 2019, 543 S., ISBN 978-3-95743-141-7. Das Werk ist mehr als eine Geschichte der Philosophie; es ist eine kritische Würdigung der gesamten Entwicklung des philosophischen Denkens von den Anfängen bis in die Gegenwart. Philosophie ist für v. Kutschera kein Einzelfach, sondern eine grundlegende Orientierung für alle Wissenschaften. Das Buch ist in folgende Kapitel untergliedert: Vorbemerkungen, die Vorsokratiker, die klassische antike Philosophie, die Stoa, der Neu-

platonismus und das Ende der antiken Philosophie, Philosophie im Mittelalter und Renaissance, die klassische Philosophie, der Deutsche Idealismus, Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert. Der Autor beginnt mit der Unterscheidung von mythischem und mündigem Denken. Mythisches Denken kennt die Unterscheidung von Subjekt und Objekt nicht. Mündiges Denken beruht darauf, dass das Ich und die äußere Welt voneinander un-

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terschieden sind. Nach v. Kutschera ist der Buddhismus die religiöse Quelle für die Unterscheidung von Subjekt und Objekt und damit die Wurzel für das mündige Denken. Die Vorsokratiker haben große wissenschaftliche Leistungen erbracht, die später wieder vergessen wurden. Demokrit nahm an, dass die Welt aus unteilbaren Atomen besteht. Die Pythagoreer erkannten, dass die Erde eine Kugel ist. Hiketas nahm eine Rotation der Erde zur Erklärung von Tag und Nacht an. (37) Die klassische Philosophie, deren Vertreter Sokrates, Platon und Aristoteles sind, bildet den Höhepunkt der antiken Philosophie. Dieser Höhepunkt blieb teilweise für über 2000 Jahre vorbildlich. (69) Ein wichtiger Teil dieser klassischen Philosophie besteht in Platons Ideenlehre: „Mit den Ideen hat sich ihm eine jenseitige geistige Welt eröffnet, eine Welt des Ewigen und Unwandelbaren, des Körperlosen und nicht durch sinnliche Wahrnehmung, sondern nur durch Denken erkennbaren.“ (95) Die Kritik der Ideenlehre Platons durch Aristoteles wird von v. Kutschera dargestellt. Platon unterscheidet zudem drei Vermögen der Seele: Vernunft, Wille und Begierde. Die Vernunft ist unvergänglich, die beiden anderen Vermögen entstehen durch die Inkarnation. (149) Die Seele wird als eigenständig gegenüber der physischen Welt angenommen. Somit vertritt Platon einen Leib-Seele-Dualismus, welcher, ähnlich Pythagoras, die Form eines Antagonismus annimmt: „Die Seele lebt im Körper wie in einem Gefängnis, sie kann sich nicht frei entfalten und auch ihre Erkenntnismöglichkeiten sind beschränkt.“ (150) Ein wesentlicher Beitrag des Aristoteles besteht in der assertorischen Syllogistik. Diese gilt als erste logische Theorie und Aristoteles als Begründer der Logik: „Wie Kant ist schon Aristoteles der Meinung, Erfahrung läge erst dort vor, wo Erscheinungen begrifflich bestimmt werden.“ (125) Begriffe wie auch Gesetze werden durch Induktion gewonnen. (126) Generell jedoch verliert die antike Philosophie ca. seit dem 2. Jh. v. Chr. das Vertrauen darin, dass die Wirklichkeit erkennbar ist. Dies mündet in die langsame Bedeutungslosigkeit der Philosophie: „Philosophie lebt ja von Vertrauen in die Kraft der Vernunft.“ (230) Im Mittelalter stand die Philosophie anfangs ganz im Dienst der Theologie. Größere Unabhängigkeit erlangte die Philosophie durch die Idee der Fundamentaltheologie, deren Aufgabe es war, „die Existenz Gottes ohne dogmatische Voraussetzungen, nur mit Vernunftgründen zu beweisen“ (242). Das Werk von Thomas von Aquin steht für die Versöhnung von Glaube und Vernunft. In der Renaissance entsteht die Idee der Autonomie des Men-

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schen. Bacon formuliert als Ziel der neuen Wissenschaft, dem zivilisatorischen Fortschritt durch Beherrschung der Natur zu dienen. „Finalgesetze sind nutzlos, nur eine Kenntnis der Ursachen ermöglicht […] planmäßiges Handeln.“ (264) Die klassische Philosophie beginnt mit Descartes. Dessen Philosophie ist durch den Cartesischen Dualismus gekennzeichnet. Laut dessen „zerfällt die Wirklichkeit in zwei ganz verschiedene Teilwelten, die seelisch-geistige und die physische Welt“. (267) Dementsprechend gibt es zwei Substanzen, nämlich Körper und Seelen: „Körper sind ausgedehnt, haben aber kein Bewusstsein. Seelen haben ein Bewusstsein, sind aber nicht ausgedehnt. […] Der Mensch ist ein Doppelwesen, das aus zwei Substanzen besteht, seinem Körper und seiner Seele.“ (267 f.) Der Cartesische Dualismus ist jedoch am Problem der psychophysischen Wechselwirkungen gescheitert. In diesem Kontext expliziert v. Kutschera verschiedene erkenntnistheoretische Positionen, nämlich den ontologischen Realismus, den erkenntnistheoretischen Idealismus und den ontologischen Idealismus. Hume vertritt einen erkenntnistheoretischen Idealismus auch bezüglich der inneren Erfahrung. „Wir können uns selbst ebenso wenig erkennen wie die Dinge der Außenwelt.“ (307) Laut v. Kutschera vertritt er die These, dass „[a]lle sinnvollen empirischen Aussagen […] Sätze der Beobachtungssprache“ sind; sie „enthalten also neben Beobachtungstermen nur logisch-mathematische Terme“ (311). Eine Besonderheit des Werkes von Franz v. Kutschera besteht darin, dass er sich ausführlich mit der Philosophie des Deutschen Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) auseinandersetzt. Wie die gesamte neuzeitliche Philosophie zielt der Deutsche Idealismus auf Wissen ab, also darauf die Wirklichkeit möglichst akkurat zu erkennen. Er besitzt laut v. Kutschera jedoch folgendes Spezifikum: „Perfekte Erkenntnis gibt es nur, wo Sein und Bewusstsein zusammenfallen oder doch von gleicher Art sind. […] Die Einheit von Sein und Bewusstsein zeigt sich in überintentionalen Erfahrungen.“ (424) Der Gehalt solcher überintentionalen Erfahrungen kann jedoch nicht angemessen beschrieben werden. Außerdem sind „solche Erfahrungen […] selten und unverfügbar. Von unseren normalen intentionalen Erfahrungen her sind es Grenzerfahrungen, die man nicht willkürlich gewinnen kann.“ (424 f.) V. Kutschera konstatiert letztlich, dass der Deutsche Idealismus in seinem Primärunterfangen gescheitert ist, da er „die Schwierigkeiten seines Unterfangens völlig unterschätzt hat. Fichte Schelling und Hegel haben versucht, über eine Wirklichkeit ganz neuer Art mit dem alten philosophischen Vo-

Buchbesprechungen kabular zu reden. Das Resultat konnte für andere nur unverständlich bleiben und musste ihnen als völlig irrational erscheinen.“ (426) Die dominierende philosophische Richtung im 19. und 20. Jhdt. ist der Materialismus. Der Materialismus reduziert die gesamte Wirklichkeit auf deren physische Natur. Dementsprechend ist die Physik für ihn fundamental. Sie ist „prinzipiell […] die umfassende Realwissenschaft, und alle Erscheinungen lassen sich letztlich physikalisch beschreiben und erklären“ (433). Der Materialismus hat zwei Hauptprobleme: die Reduktion biologischer auf physikalische Phänomene und die des Seelisch-Geistigen auf Physisches. Die Evolutionstheorie bewerkstelligt im Wesentlichen die Lösung des ersten Problems. Die Lösung des zweiten Problems ist laut v. Kutschera „bisher nicht gelungen, in Neurologie, Psychologie und auch in der Philosophie des Geistes geht man aber […] davon aus, das sei lediglich eine Frage der Zeit“ (434). Jedoch musste der Materialismus, wie auch viele andere philosophische Positionen, seine zunächst sehr starken These in Auseinandersetzung mit Kritik zunehmend abschwächen. Dies führt dazu, dass die klaren Umrisse der Theorie sich immer mehr auflösen: „Wer sich heute mit ihm auseinandersetzen will, sieht sich in der Rolle des Menelaos bei seinem Ringen mit Proteus: Wo immer man den zu fassen sucht, ändert er seine Gestalt.“ (435) V. Kutschera gelingt eine Widerlegung des Materialismus mit rein formalen Argumenten. (440–442) Die Menge

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unserer mentalen Zustände ist immer erweiterbar, daher kann es keine vollständige Theorie aller mentalen Phänomene geben. Eine vollständige Theorie unseres seelisch-geistigen Lebens ist jedoch Ziel all jener Forschungen, die sich in Biologie, Neurologie und Kognitionswissenschaften mit dem Verhalten und Denken von Menschen befassen. Franz v. Kutscheras Buch ist von außerordentlich hoher Qualität. Die historische Darstellung wird mit systematischen Beiträgen zur theoretischen und praktischen Philosophie verbunden. Beispielsweise werden im historischen Zusammenhang des Weges zum Idealismus die verschiedenen erkenntnistheoretischen Positionen expliziert. Im historischen Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass Kant zeigen will, dass sich die Vernunft in Widersprüche verwickelt, wenn sie über den empirischen Bereich hinausgeht. Das Werk sollte eine Pflichtlektüre für alle Doktorandinnen und Doktoranden des Faches Philosophie sein. Denn diese, die in der Regel ein Spezialgebiet der Philosophie bearbeiten, sollten den Gesamtzusammenhang des Faches in historischer und systematischer Hinsicht kennen. Auch für philosophisch interessierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anderer Fächer ist das Werk in jeder Hinsicht zu empfehlen.

Hans Werbik [email protected]

Georg Lukács, Gelebtes Denken. Mit einem Beitrag von Agnes Heller und einem Nachwort von Werner Jung, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2021, 222 S., ISBN 978-3-8498-1732-9. Der Text ist kurz, aber voller interessanter Beobachtungen. In seinen letzten Lebensjahren soll Georg Lukács gelacht haben, wenn seine Schülerinnen und Schüler widersprachen und marxistische Positionen in Frage stellten. Der Text stammt von Lukács’ bekanntester Schülerin, der 2019 verstorbenen Agnes Heller; er ist der Neuausgabe von Georg Lukács’ Autobiographie Gelebtes Denken angehängt. In seinem Lachen habe Befreiung gelegen, so Heller. „Lachend scheidet der Weltgeist von seiner Vergangenheit. Nie trennte er sich ganz von ihr, doch trat er in die Gegenwart ein.“ (207) Heller deutet an, dass der späte Lukács zumindest verbal kritische Distanz zu dem entwickelte, was sich Marxismus nannte. Auf Denkkorrekturen macht schon István Eörsi aufmerksam. Der ungarische Dramatiker ist jener Interviewer, der mit der Literaturhistorikerin Erzsé-

bet Vezér als Co-Interviewerin die autobiographischen Gespräche mit Lukács 1969 und nochmals kurz vor dessen Tod 1971 führte. Zu ihm soll Lukács gesagt haben: „Vermutlich ist das ganze Experiment, das 1917 begonnen hat, misslungen, und das Ganze muss ein anderes Mal und an einem anderen Ort angefangen werden.“ 1 Die mitgezeichneten Gespräche stützen diese Aussage freilich nicht. Spuren des Zweifels sind nicht zu vernehmen. Lukács räumt Fehler ein, hält jedoch am Kommunismus uneingeschränkt fest. Dieser Kommunismus erscheint merkwürdig perspektivlos, kein Punkt am Horizont, auf den Kurs zu halten sich lohnen würde. Lukács spricht über die Kämpfe der Vergangenheit, nicht über die Gegenwart, schon gar nicht über die Zukunft. Die autobiographischen Gespräche, die jetzt anlässlich der 50. Wiederkehr seines Todestages in je-

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nem Verlag wiedererschienen sind, der auch seine nicht abgeschlossene Werkausgabe weiterbetreut, haben zwei Teile. Teil eins sind die redigierten Tonbandabschriften, Teil zwei ist der 23-seitige Stichworttext „Gelebtes Denken“, den Lukács, bereits schwer von einer Krebskrankheit gezeichnet, noch selbst diktiert hat. Der Text bildet die Grundlage für die Nachfragen, aus denen die autobiographischen Gespräche entstanden sind. In der Literatur wird er selten behandelt, denn er ist nicht leicht lesbar, da Lukács seine Gedanken nicht ausformuliert, sondern im Telegrammstil festhält. Die Interviewer haken selten nach, kritische Nachfragen werden kaum gestellt. Die durchgängige Anrede ist „Genosse Lukács“. Im Stichworttext spielt Lukács’ zweite Frau Gertrud eine wichtige Rolle. Sie scheint einen großen Anteil an seiner überraschenden Wende zum Marxismus gehabt zu haben. „Seit ich G. traf, ist von ihr bejaht zu werden zum Zentralproblem meines persönlichen Lebens geworden.“ (169) 1917 lernt er Gertrud Bortstieber kennen, ab 1919 lebt er mit ihr zusammen, 1933 heiratet er sie, deshalb so spät, weil sie eine Witwenrente bezog, die im Falle einer früheren Heirat entfallen wäre. Die Nationalökonomin und Übersetzerin Gertrud Bortstieber war eine überzeugte Marxistin und Mitglied der ungarischen KP. Lukács trat der KP 1918 bei. Seine Entwicklung zum Kommunisten nennt er die „größte Wendung“ in seinem Leben (170). In den Jahren 1917 bis 1919 habe sein Denken eine „innere Umwandlung“ erfahren (169). Gertrud Bortstieber brachte zwei Söhne mit in die Ehe. Lukács widmete ihr Geschichte und Klassenbewusstsein von 1922. Er schreibt, ohne sie wäre er zwar auch Kommunist geworden, aber „höchst wichtige persönliche Nuancen des Wie hätten sich ohne sie sicher ganz anders entwickelt. Und damit vieles Allerwesentlichste an meinem Leben“. (169) Hat man sich an den Sprachduktus gewöhnt, zeichnet der Stichworttext ein Lebensbild mit einer großen Fülle an Wandlungen und Aktivitäten. Als Kind führt Lukács einen „Guerillakampf“ gegen die Mutter (159), gibt seinen Widerstand jedoch auf, als ihm klar wird, dass er nur unnötig Ressourcen verschwendet. Lukács arrangiert sich, die bürgerliche Welt jedoch bleibt ihm fremd. Es herrsche ein „System formal sinnloser Reaktionsverpflichtungen“ (158). „Reaktionsverpflichtungen“ ist lebensphilosophisch aufgeladen. Das Leben ist vorgezeichnet. Diesem Leben stellt Lukács entgegen, was er „essayistische Lebensführung“ nennt (163). Der Essay ist frei von formalen Zwängen. „Leben: Außerhalb bleiben“, heißt es an einer Stelle (167). Adornos Philosophie lehnt er als „Philosophie der

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Kompromisse“ (164) ab. Gewalt hält Lukács nicht für grundsätzlich falsch; politische und soziale Emanzipation sei nicht immer ohne Gewalt zu verwirklichen. Um reaktionäre Gewalt zu brechen, hält Lukács Gewalt als Gegenmittel für gerechtfertigt. Der letzte Satz des Diktats kritisiert die Eitelkeit als menschliches Hauptlaster. Sie „nagelt Menschen in Partikularität fest“ (180). Auch die rund 150-seitigen autobiographischen Gespräche lohnen die (Wieder-)Lektüre. Sie erzählen von der Vergangenheit, von Hoffnungen und Kämpfen, von taktischen Erwägungen und Begegnungen. Sie sind ein zeitgeschichtliches Dokument über den Weg in die Theorie und Praxis des Marxismus-Kommunismus. Lukács’ Denken orientiert sich zunächst an der Lebensphilosophie und dem Neukantianismus. Seine Wende zum Marxismus bemüht er sich als folgerichtig darzustellen. Die Gründe aber bleiben im Dunkeln. Gerechtigkeitsempfinden oder moralische Gründe, wie sie zum Beispiel Max Horkheimer bewegten, sind es nicht. Lukács Vater ist Direktor einer Bank, für ihn sei Erfolg Kriterium für richtiges Handeln gewesen. Die Begegnung mit Bloch lehrt ihn, dass es noch immer möglich sei, wie Aristoteles oder Hegel zu philosophieren. Im Gegensatz zu Georg Simmel fallen über Max Weber anerkennende Worte. In seinem Werk Die Zerstörung der Vernunft (1954) jedoch polemisiert er heftig gegen den „Rationalisten“ Weber, der den politischen Irrationalismus mitbereitet habe. Kunst ist für Lukács dann gut, wenn sie sich einer schlechten Entwicklung entgegenstellt; ästhetische Kriterien scheinen keine Rolle zu spielen. Lukács spricht über seine Zeit als ungarischer Volkskommissar. Man habe darauf hingewirkt, Künstler vom Verkauf oder Nichtverkauf ihrer Kunstwerke unabhängig zu machen. Den Kunstwerken sollte ihr Warencharakter genommen werden. Lukács distanziert sich von seiner Essaysammlung Die Seele und die Formen, auch von Die Theorie des Romans sowie vom dritten frühen und wegen seiner Verdinglichungstheorie einflussreichsten Werk Geschichte und Klassenbewusstsein. Das Buch habe einen „ontologischen Fehler“, d. h. das gesellschaftliche Sein werde nicht als Sein schlechthin gefasst. Die „Universalität des Marxismus“ werde nicht erkannt. Charakteristisch seien „idealistische Elemente“ und ein „messianisches Sektierertum“ (70). Lukács kritisiert seinen naiven Glauben, Klassenbewusstsein entstehe, ohne dass es eines externen Anstoßes bedürfe. 1934 hatte Lukács Geschichte und Klassenbewusstsein im Moskauer Exil geradezu selbstvernichtend widerrufen. In den autobiographischen Gesprächen fällt das Urteil milder aus. „Trotz aller vor-

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Buchbesprechungen handenen Fehler in Geschichte und Klassenbewusstsein ist dieses Buch immer noch intelligenter und besser als sehr vieles anderes, was jetzt von bürgerlicher Seite über Marx zusammengeschmiert wird.“ (70) Lukács tritt dem Eindruck entgegen, sein Denken lasse sich in unterschiedliche Phasen teilen. „Bei mir ist jede Sache die Fortsetzung von etwas. Ich glaube, in meiner Entwicklung gibt es keine anorganischen Elemente.“ (75) Damit erscheint Geschichte und Klassenbewusstsein nicht länger als „idealistischer“ Fremdkörper, sondern als integraler Bestandteil seiner sich fortentwickelnden marxistischen Philosophie. Stalins Schauprozesse nennt er „überflüssig“ (108), die „große Verhaftungswelle“ habe „keinerlei Nutzen“ gehabt (108). Im Stalinismus sieht Lukács eine Art gesteigerten Rationalismus, einen „Hyperrationalismus“ (105), jedoch keinen Irrationalismus. Über den sowjetischen Diktator heißt es: „Stalin war die einzige Anti-Hitler-Macht.“ (107) Der sowjetische Diktator wird nicht verurteilt. Verbrechen werden zu taktischen Fehlern. Zur Sowjetunion empfindet Lukács ein besonderes Treueverhältnis. Als die Regierung von Imre Nagy aus dem Warschauer Vertrag austritt, stimmt nur Lukács mit einem weiteren Mitglied des Zentralkomitees dagegen. Dass über die Frage der weiteren Vertragszugehörigkeit eine öffentliche Diskussion entstanden ist, gefällt Lukács nicht. Das sei Parteiangelegenheit. Mehrfach kritisiert Lukács Abweichungen von einer imaginären „richtigen“ marxistischen Lehre als „sektiererisch“. Lukács vertritt ein festgefügtes Weltbild, das keinen Raum lässt für andere Meinungen. Daran hält er auch in den letzten Lebensjahren fest. Er ist zwar der Auffassung, dass die Möglichkeit bestehen müsse, sich auch mit der „bürgerlichen“ Philosophie auseinanderzusetzen, eine Präsenz ihrer Werke in den ungarischen Bibliotheken hält er für wünschenswert, Lehrstühle dafür einzurichten sei jedoch nicht angezeigt. Nicht recht einzuschätzen ist seine Kritik des Topos von der „Notwendigkeit“. Liegt darin eine Abkehr von der marxistischen Denkfigur eines „notwendigen“ Geschichtsverlaufs? Notwendigkeit existiere „nur in der Mathematik“, schreibt Lukács (106). Statt von „Notwendigkeit“ zieht er es vor, von „Wahrscheinlichkeiten“ zu sprechen. Charakteristisch für die Gespräche ist Lukács’ Betonung des praktischen Moments. Die marxistische Theorie soll die Praxis anleiten. Die Gespräche enden mit einem Aufruf zum praktisch-politischen

Engagement und mit einem Bekenntnis zum ethischen Dezisionismus. „[…] die Dinge verändern sich nicht von selbst, nicht durch spontane Prozesse, sondern infolge bewusster Setzungen. Die bewusste Setzung bedeutet, dass der Zweck dem Ergebnis vorausgeht.“ (154) Das „Zustande-gebracht-Haben“ sei wichtiger als das „Zustande-gekommen-Sein“ (154). Die Beurteilung dessen, was zustande gekommen ist und ob dies der „Setzung“ entspricht, obliegt der politischen Führung, die sich im Einklang mit der korrekten Lehre weiß. Die Gespräche ermöglichen einen Einblick in Lukács’ Denkwelt, die weniger offen und unorthodox ist, als sein Ruf als unabhängiger marxistischer Denker nahelegt. Lukács nimmt uneingeschränkt Partei für den Parteikommunismus. Im Universitätsdiskurs scheint er unabhängiges Denken stärker zugelassen zu haben als in politischideologischen Diskussionen, wie etwa Agnes Heller berichtet. Im Großen und Ganzen jedoch weicht er kaum von der marxistischen Doktrin ab. Von individueller Freiheit ist bei ihm keine Rede, sie ordnet er einer allgemeinen, politisch vorgegebenen „Freiheit“ unter. Über die bürgerliche, kulturell vielstimmige Lebenswelt, über die Demokratie verliert er kein anerkennendes Wort. Sein politisches Denken bewegt sich in Parteikategorien, ohne dass von Parteien im Plural oder Parteienkonkurrenz die Rede wäre. Selbstkritische Worte fallen nur im Zusammenhang mit seinem Frühwerk. Die stalinistischen Auswüchse des Kommunismus rechtfertigt er mit der Bedrohung durch den Faschismus. Die Gespräche sind ernüchternd, weil sie kaum Anknüpfungspunkte für eine freiheitliche Transformation des Marxismus bieten. Sie sind als historisches Zeugnis eines Zeitzeugen bedeutsam, von der heutigen globalisierten, nicht mehr in Blöcke aufgeteilten Welt, in der ein parteilich organisierter Marxismus kaum mehr eine Rolle spielt, sind sie jedoch weit entfernt, von den Problemen, die diese Welt beschäftigen, ganz zu schweigen. Die Gespräche zeigen, wie unabhängige Philosophie, wie Wissenschaft bei Vorliegen politischer Interessen und auf der Grundlage einer „wissenschaftlich“ genannten Weltanschauung nur schwer möglich ist.

Anmerkungen 1 I. Eörsi (1981), „Das Recht des letzten Wortes“, in: G. Lukács (1981), Gelebtes Denken. Eine Autobiographie im Dialog, Frankfurt/M., 14.

Wolfgang Hellmich (Tübingen) [email protected]

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Wolfgang Wieland, Philosophische Schriften, hg. v. N. Braun, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, 477 S., ISBN 978-3-525-35213-7. Dass durch diesen Band nun auch die wichtigsten philosophischen Abhandlungen von Wolfgang Wieland (1933–2015), die, wie der Herausgeber zu Recht in seinem ‚Vorwort‘ schreibt, „bei Sachkennern schon lange in hohem Ansehen stehen“ (VI), leicht zugänglich gemacht sind, nachdem 2014 die medizintheoretischen Schriften in einer Sammlung vorgelegt wurden,1 ist sehr zu begrüßen. Die sorgfältige Edition folgt einer Gliederung, die Wieland noch selbst entworfen hatte,2 und wird durch einen Anhang mit einem Curriculum Vitae von 1982, einer Bibliographie aller Veröffentlichungen Wielands und nützlichen Personen- und Sachregistern ergänzt. Der älteste aufgenommene Aufsatz stammt aus dem Jahr 1960, der jüngste aus dem Jahr 2011. Nicht aufgenommen wurden die in der Forschung hochgeschätzten Studien zur aristotelischen Syllogistik, wohl weil sie sich nach Wielands eigener Beurteilung primär an Spezialisten richten. Der Band gliedert sich in drei Themenkreise, die die präzise Strukturiertheit von Wielands Aufsatzwerk buchtechnisch treffend abbilden: Auf ‚Systematische Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie‘ (3–221) (I) folgen Studien ‚Zur Geschichte der Philosophie: Antike und Mittelalter‘ (221–345) (II). Abgeschlossen wird der Band mit Untersuchungen zur Geschichte der Philosophie des Deutschen Idealismus (345–451) (III). I. Es ist charakteristisch für die philosophische Lebensarbeit von Wolfgang Wieland, dass systematische Fragen der Praktischen und der Theoretischen Philosophie gleichermaßen intensiv behandelt werden und dass er vor allem auch die tektonischen und argumentativen Probleme zwischen beiden Feldern fokussiert. Dabei kommt der Urteilskraft eine besondere Bedeutung zu. Dies zeigt sich bereits in dem die Rubrik eröffnenden, erstmals 1974 veröffentlichten Aufsatz Praxis der Urteilskraft (3–27), der im Horizont der ‚Rehabilitierung praktischer Philosophie‘ (M. Riedel) und einer Topik der Urteilskraft (W. Hennis) zu sehen ist und sich gleichermaßen mit dem Konstruktivismus der Erlanger Schule und dem damaligen Ausarbeitungsstand der Frankfurter Gesellschaftstheorie auseinandersetzt. Treffend gibt Wieland gegen Letztere zu bedenken, dass sich die Urteilskraft auch und gerade dort zu bewähren haben wird, wo Konsensbereitschaft nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Klassischen Rang hat längst Wielands 1989 separat erschienener Aufsatz Aporien der prakti-

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schen Vernunft gewonnen. Er entwickelt unterschiedliche Aporientypen, u. a. die Applikations-, die Motivations- und die Institutionenaporie, die grundlegend das Aufgabenfeld praktischer Vernunft beleuchten, die es gerade nicht dabei bewenden lassen kann, „allgemeine Normen zu begründen und Einzelhandlungen unter sie zu subsumieren“ (41). Wieland schreibt ihr vielmehr zumindest den Anspruch zu, „Handlungen nicht nur beurteilen, sondern auch motivieren zu können“ (41), so dass auch Bedingungen für die Ausführung jener Handlungen mitgesetzt werden können. Die Urteilskraft ist demnach nicht nur ein Beurteilungsvermögen, sondern auch das Vermögen, die Sorge um allgemeingültige, situationsinvariante Normen zu motivieren und situativ anzuwenden. Bedeutsam ist Wielands Einsicht, dass die Aporien der Vernunft nicht nur aus den Randbedingungen der Außenwelt resultieren, sondern in ihrer eigenen Struktur grundgelegt sind (55 f.). Die Linie zum Verständnis der Urteilskraft wird in einem weiteren Aufsatz ex negativo weiter profiliert, der der Frage nachgeht, welche Strategien zur Umgehung des Gebrauchs der Urteilskraft angewendet werden können und auch faktisch angewandt wurden (2002; 136–178).Wieland typisiert hier noch einmal souverän die Bereiche, in denen Urteilskraft vor allem virulent ist: im sogenannten gesunden Menschenverstand, als praktische Urteilskraft, die konkretes Handeln einschätzt, im Bereich der praktischen Wissenschaften, zu dem Wieland, der auch approbierter Arzt war, vor allem die Medizin rechnet,3 in der regulierenden Ausrichtung der Rechtsgesetze auf Einzelfällt und nicht zuletzt im Gebrauch des ästhetischen Urteils, zu dem Wieland durch seine außergewöhnlichen aktiven und passiven musikalischen Fähigkeiten eine besondere Nähe gehabt haben dürfte. Wieland zeigt, dass Urteilskraft im epistemologisch logischen Sinn ein Begründungsdefizit aufweist, was jedoch keineswegs bedeutet, dass sie in den Bereich des Irrationalen führen muss. Sowohl bei der Topologie der Urteilskraft als auch in dem ideengeschichtlich und argumentativ brillanten Aufsatz Wissenschaft im Fadenkreuz der Aufklärung. Zur Tragweite des hypothetischen Denkens (2007, 179–221) spielen die drei kantischen Kritiken eine exemplarische Rolle. Die Frage nach der Rolle der Hypothesenbildung und der Wichtigkeit vortheoretischer, alltäglicher Weltorientierung verweist einerseits auf das Spannungs-

Buchbesprechungen verhältnis theoretischer und praktischer Vernunft im epistemischen Prozess von der Antike bis in das 20. Jahrhundert, andrerseits aber auf eine mit Wissenschaft nicht abgegoltene Dimension im Aufklärungsprozess.4 Kategorialer Grundlagenklärung folgen die Abhandlungen über die Identifizierung des Individuums in der Welt der Kontingenz (1995, 57–81) und die an Platon und Hegel orientierte Verbindung von Dialektik und Relationen (1997, 100–115). Wieland gelingt es, vor allem in der Untersuchung externer Relationen die Dynamik herauszuarbeiten, die in Begriffen verborgen ist. Aufgabe und Interesse des Dialektikers ist es gerade, diese eine axiologische Systematik überschreitende Dimension der Begrifflichkeit zu akzentuieren oder sogar zu provozieren. Zwei Abhandlungen widmen sich sodann grundlegenden bioethischen Fragen, zu deren Behandlung Wieland durch seine Doppelkompetenz als Philosoph und Mediziner prädestiniert war. Daraus ergibt sich ein Zuschnitt dieser Arbeiten, der mit der verbreiteten flachen kasuistischen Ausrichtung ‚angewandter Ethik‘ nicht das Geringste zu tun hat. Hochdifferenziert bestimmt Wieland eine Disposition, nämlich die „Moralfähigkeit“ als „Grundlage von Würde und Lebensschutz“ (2003, 115–136). Diese Disposition zur Moral versteht er als Schlüsselargument für Würde und Lebensschutz bereits des Embryos, da es dabei um eine originäre, nicht abgeleitete Potentialität geht. Höchst eindrücklich ist auch die flankierende, den Bogenschlag noch erweiternde Studie über Herausforderungen der Bioethik (2004, 161–178), die im Gegenüber zu Gentechnologien und Entschlüsselung des Genoms zwei Positionen überzeugend entgegentritt: einer technologisch utilitaristischen Optimierungsideologie und einem moralphilosophischen Defaitismus, der nur eine religiöse Begründung menschlicher Würde zulässt. Wieland formuliert stattdessen eine grundlegende Orientierung: „Der Ethik steht es nicht frei, auf die Suche nach Invarianten zu verzichten.“ (173) Ihre Situation gleich daher gerade nicht der des Physikers, der nach Naturkonstanten und -gesetzen sucht. Als thematischer Leitfaden steht im ersten Teil des Bandes die Abhandlung Über den Grund des Interesses der Philosophie an ihrer Geschichte (1995, 81–100). Wieland fragt mit Umsicht nach Philosophiegeschichte als integralem Bestandteil philosophischen Denkens selbst: Selten kann Philosophiegeschichte unmittelbar in der intentio recta, im reinen Interesse an der Lösung von Wahrheitsfragen, fruchtbar gemacht werden; zumeist wird dies nur in einer „intentio obliqua“ geschehen können, einem intentionalen Bezug auf die Zeug-

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nisse der Tradition, in denen, gemäß der Formel „Veritas filia temporis“, der Wahrheitsaspekt aufscheint, der sich aber auch im harten eigenständigen Nachdenken des Lesers und Interpreten bewähren können muss II. Damit ist der Rahmen für die philosophiehistorischen Beiträge Wielands gesetzt. Was die antike Philosophie betrifft, lag in den siebziger Jahren ein gewisser Hauptakzent seiner Arbeit auf Aristoteles, der sich dann auf Platon verschob. Ein meisterlich knapper Beitrag bezieht sich auf Das sokratische Erbe in Platons Philosophie (1996, 221–242), das für Wieland im Wesentlichen in den aporetischen Frühdialogen Platons grundgelegt ist und das paradigmatisch das Bewusstsein dafür schärfen, kann, dass Philosophie eben niemals nur „als Doktrin“, sondern immer zugleich als Tätigkeit zu verstehen ist, die ihre Leistungsfähigkeit gerade dort unter Beweis stellt, wo keine definitiven Antworten erwartet werden können. Dem Zusammenhang von Staat und Selbstbewusstsein gilt sodann eine „Notiz zu Platons Politeia“ (1990, 243–257), deren Gedankengang von der platonischen Analogie von Polis und Seele auf das für Sokrates’ Befragungskunst initiierend wirkende Delphische Orakel und seinen Spruch „Gnothi seauton“ zurückführt. Jene Selbsterkenntnis, um die es Platon gehe, weise im Unterschied zur wissenden Selbstbeziehung in der neuzeitlichen Philosophie immer auch die „Undurchschaubarkeit der Grundlagen“ auf, auf denen menschliche Existenz beruht (256 f.) Ihre kennzeichnende Einsicht gelte der Unauflöslichkeit menschlicher Endlichkeit in deren Sterblichkeit. Zwei der drei Aristoteles-Abhandlungen gelten der Verbindung von zeitlicher Kausalität mit den Grundstrukturen der aristotelischen Logik (258– 266; 266–278), die im unbestimmten Wahrheitswert der Aussage von der „morgen“ stattfindenden Seeschlacht exemplarisch sichtbar wird. Damit verbindet sich zugleich die Frage nach einer Epistemologie prognostischer Aussagen. Wieland macht darauf aufmerksam, dass solche Aussagen immer schon im Rahmen der Welt, auf die hin prognostiziert wird (277), situiert sind, so dass sie operational, vor allem durch Indikatoreneliminierung, zu bearbeiten und zu verschieben sind. Eine dritte Aristoteles-Abhandlung (1996/2003, 278– 303)5 erinnert daran, dass die aristotelische Philosophie nicht nur auf die beiden Säulen von Theoria und Praxis zurückgreifen kann, sondern dass Aristoteles eine dritte Grunddisziplin benennt, die aber nur sporadisch, vor allem in seiner Poetik ausgearbeitet ist. Sie gilt einer poietischen Philosophie, als einer Theorie des Herstellens und der kulturellen Welt. Wieland weist diesem Ansatz sogar

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die Möglichkeit zu, die wissenschaftlich-technische Zivilisation auch der Moderne durchschaubarer machen zu können. Mit Beiträgen zur mittelalterlichen Philosophiegeschichte wird der Name Wolfgang Wielands nicht ohne weiteres verbunden werden. Dennoch hat er sich in den sechziger Jahren auch solchen Fragen gewidmet.Zugleich schreiben diese Beiträge Wielands intensives Interesse an Zeit und Bewegung bei Aristoteles und im Aristotelismus fort. Eine Abhandlung gilt dem Streit um die Ewigkeit der Welt zwischen Joannes Philoponus und Simplicius (1960, 303–327), ein zweiter dem Zusammenhang von Kontinuum und Engelzeit bei Thomas von Aquin (328–341); in beiden Aufsätzen kommt die philosophiehistorische Betrachtungsart gleichsam auf den Prüfstand. III. Dies zeigt sich auch im Spannungsfeld der Klassischen Deutschen Philosophie, in der Wielands akademischer Anfang mit der frühen Dissertation über Schellings Lehre von der Zeit (1956) situiert ist. Gerade in dieser Rubrik ist die Abweichung von einer chronologischen Anordnung aufschlussreich. Deutlich wird eine eindrucksvolle Kontinuität in der Klarheit der Darstellung, die Wielands Schriften von Anfang an eigen ist und die sich methodisch, auch unter Aufnahme analytischer Feinstrukturen, weiter differenziert. Am Anfang dieses Teils steht der zu Recht zum Klassiker avancierte Aufsatz Kants Rechtsphilosophie der Urteilskraft (1998, 345–365). Es versteht sich, dass damit die systematischen Untersuchungen über die Urteilskraft im Blick auf Kant weitergeführt sind. Wielands Überlegungen gehen von dem rechtstheoretisch so naheliegenden wie weitreichenden Befund aus, dass kein Gesetz die Bedingungen seiner Anwendung kodifizieren kann. Kant entwickelte eine Rechtsphilosophie der Urteilskraft nur fragmentarisch, setzt aber die unhintergehbare Grundlinie fest, dass „die Wirkungen desselben Gesetzes in verschiedenen Fällen als Versuche angesehen werden“ müssen, nach denen es geprüft oder weiterbestimmt werden muss (Kant, R 430), ohne dass die Rechtsprechung genötigt ist, Ausnahmen zuzulassen, die das Gesetz am Ende entkräften. Dem schließt sich ein früher Aufsatz über Die Anfänge Schellings und die Frage der Natur (365–403) an, in dem Wieland der Rubrizierung der Schellingschen Naturphilosophie als kennzeichnendes Beispiel spekulativen Denkens widerspricht. Schellings Naturphilosophie sei vielmehr als „Selbstkritik der Philosophie überhaupt“ zu verstehen (383), so dass sie keinesfalls einen Rückfall in einen vorkantischen Dogmatismus begünstige. Sie entspringe vielmehr einem „auf die Spitze

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getriebenen Zweifel gegenüber dem Sinn den Möglichkeiten der Philosophie überhaupt“ (402). Der Selbstkritik der Philosophie an ihren eigenen Wegen und Methoden gilt Wielands nachhaltiges Interesse. Dies zeigt sich auch von der Kehrseite her, der inspirierenden Studie über Heinrich Heine und die Philosophie (1963, 430–447). Heines Philosophiegeschichtsschreibung im Kontext deutscher Ideologien und in der Differenz zwischen deutschen und französischen Zuständen ist interessant, weil sie in eine Zeit fällt, in der die philosophischen Grundbegriffe gesellschaftlich-historischer Bedingtheit zugeschrieben werden zu können scheinen und damit ihren Anspruch auf situationsinvariante Wahrheit verlieren. Wieland sieht darin durchaus eine particula veri, denn Philosophie habe ihre Autonomie „nicht schon deswegen, weil sie von ihren Verflechtungn mit der Gesellschaft nichts weiß“ (447). Doch auch der umgekehrte Befund ist zutreffend: Trennungen und Abstraktionen von gesellschaftlichen Umständen sind oftmals der Philosophie nicht bewusst, eben weil sie „Bedingungen ihrer Möglichkeit“ sind. Die beiden aus den sechziger bzw. frühen siebziger Jahren stammenden Hegel-Aufsätze widmen sich Einzelausschnitten des Hegelschen Systemdenkens: der „Dialektik der sinnlichen Gewissheit“ (1966, 403–414) und dem Anfang der Hegelschen Logik (1973, 414–430). IV. Der ambitionierte Titel des Bandes erweist sich als vollauf berechtigt. Die in ihm gesammelten Studien ergänzen die drei großen Monographien, mit denen sich Wieland einen bleibenden Namen gemacht hat: Die aristotelische Physik (1962, 31992), Platon und die Formen des Wissens (1982, 1999) und Urteil und Gefühl – Kants Theorie der Urteilskraft (2001), wozu auch beiträgt, dass sie im selben Verlag und in derselben Aufmachung erschienen sind. All diese Studien sind, auch wo sie komplexe Probleme verhandeln, von einer vorbildlichen Klarheit und zurückgenommener sachgemäßer Eleganz, beste philosophische wissenschaftliche Prosa, die mit einem Minimalaufwand an Fußnoten und formalem Apparat auskommt. Sie zeigen, was Wieland in seinem Curriculum Vitae (1982) als Maxime festhält, in mustergültiger Weise: dass Philosophie ihre Motive und Antriebe aus einem Bereich beziehe, der sich der Spezialisierung entziehe und den Kant den „Weltbegriff der Philosophie“ nannte. Dass sie aber „in der Tagesarbeit wie in jeder anderen Wissenschaft, zunächst immer um das historische oder das systematische Detail“ bekümmert sein müsse (453). Dass die Aufklärung der historischen und der systematischen Fragen zwar methodisch getrennt werden muss, dass beide

Buchbesprechungen aber gleichwohl in einem engen Zusammenhang stehen, zeigt dieser Band in aufschlussreicher Weise, so dass der Gewinn noch weit über jenen hinausgeht, den man aus den Einzelstudien wird ziehen können.

Anmerkungen 1 R. Enskat/A. Vigo (Hgg.) (2014), Medizin als praktische Wissenschaft. Kleine medizintheoretische Schriften (= Reason and Normativity, Bd. 9), Hildesheim. 2 Die Auswahl der Schriften und ihre buchtechnische Gliederung waren in mehrjährigen mündlichen und schriftlichen Beratungen von Wolfgang Wieland und Rainer Enskat schließlich vom Autor bestimmt und unter dem Titel Kleine philosophische Schriften geplant worden. Anschließend war von Gregor Damschen eine druckreife Version der ausgewählten Schriften für den Verlag erarbeitet worden (persönliche Mitteilung von Rainer Enskat).

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Von Wielands medizintheoretischem Buch Diagnose. Überlegungen zur Medizintheorie, Berlin/ New York 1975, das der Urteilskraft eine Schlüsselrolle für die ärztliche Diagnose und ihre den Patienten aufklärende Funktion zuschreibt, nahmen die Untersuchungen ihren Ausgang, die schließlich in dem Buch von R. Enskat (2008), Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Medizinethik, Weilerswist ihren Niederschlag gefunden haben. 4 Vgl. hierzu schon R. Enskat (1997), „Aufklärung trotz Wissenschaft“, in: Ders. (Hg.) (1997), Wissenschaft und Aufklärung, Opaden, 119–157. 5 Veränderte Erstpublikation: „Aristoteles und die Idee einer poietischen Wissenschaft. Eine vergessene philosophische Disziplin?“, in: T. Grethlein/ H. Leitner (Hgg.) (1996), Inmitten der Zeit. Beiträge zur europäischen Gegenwartsphilosophie, Würzburg, 479–505. 3

Harald Seubert (Basel/München) [email protected]

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Bei der Redaktion bis zum 15. 06. 2021 eingegangene Bücher Alexy, R.: Begriff und Geltung des Rechts. Freiburg/München: Alber 2020. 240 S. Bennent-Vahle, H.: Besonnenheit – eine politische Tugend. Zur ethischen Relevanz des Fühlens. Freiburg/München: Alber 2020. 367 S. Brioschi, M. R.: Creativity Between Experience and Cosmos: C. S. Peirce and A. N. Whitehead on Novelty (= Whitehead Studien, Bd. 6). Freiburg/ München: Alber 2020. 320 S. Brücher, G.: Ethik im Drohnenzeitalter. Band 2: Künstliche oder kulturelle Intelligenz (= Friedenstheorien, Bd. 5). Freiburg/München: Alber 2020. 240 S. Dietz, H.: Die Zeitlichkeit des Seins: Positionsbestimmungen der Dialogphilosophie (= dia-logik, Bd. 13). Freiburg/München: Alber 2020. 408 S. Dörpinghaus, A./Lembeck, K.-H. (Hgg.): Sehen als Erfahrung. Freiburg/München: Alber 2020. 224 S. Fetz, R. L.: Nacht über Palma: Philosophischer Roman. Freiburg/München: Alber 2020. 304 S. Franzen, G./Hampe, R./Wigger, M. (Hgg.): Zur Psychodynamik kreativen Gestaltens. Künstlerische Therapien in klinischen und psychosozialen Arbeitsfeldern (= Kultur, Kunst, Therapie, Bd. 4). Freiburg/München: Alber 2020. 376 S. Fricke, W./Märker, K./Otto, C.: Erbrecht von A bis Z. Eine Darstellung ohne Juristendeutsch. Freiburg/München: Alber 2020. 256 S. Friesen, H. (Hg.): Im globalen Spannungsfeld der Korruption: Analysen eines Phänomens aus interdisziplinären Perspektiven. Freiburg/München: Alber 2020. 264 S. Fuchs, T.: Randzonen der Erfahrung: Beiträge zur phänomenologischen Psychopathologie (= Schriftenreihe der DGAP, Bd. 9). Freiburg/München: Alber 2020. 400 S. Gerhardt, V.: Kulturelle Erneuerung – Der Beitrag der abendländischen Philosophie. Freiburg/ München: Alber 2020. 120 S. Hasse, J.: Photographie und Phänomenologie: Mikrologien räumlichen Erlebens. Freiburg/München: Alber 2020. 400 S. Heß, S.: Aus dem Lot geraten. Modellierung von Konflikten und Spannungen im menschlichen Inneren in den Persönlichkeitstheorien von Sigmund Freud und Carl Rogers. Würzburg: Königshausen & Neumann 2020. 198 S.

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Hilt, A./Torkler, R./Waczek, A. (Hgg.): Erzählend philosophieren – ein Lehr- und Lesebuch. Freiburg/München: Alber 2020. 456 S. Hundeck, M.: Weltbejahung und Gemeinschaft. Studien zum Werk Paul Häberlins. Freiburg/ München: Alber 2020. 400 S. Lévinas, E.: Dialog: Ein kooperativer Kommentar (= Interpretationen und Quellen, Bd. 5). Hg. v. B. Liebsch. Freiburg/München: Alber 2020. 280 S. Luft-Steidl, S.: Entfremdung durch Digitalisierung. Walter Benjamins kritische Ästhetik im 21. Jahrhundert (= Seele, Existenz und Leben, Bd. 36). Freiburg/München: Alber 2020. 160 S. Meincke, A. S.: Dispositionalism: Perspectives from Metaphysics and the Philosophy of Science (= Synthese Library, Bd. 417). Berlin: Springer 2020. 260 S. Pasqualin, C./Sforza, M. A. (Hgg.): Das Vorprädikative: Perspektiven im Ausgang von Heidegger. Freiburg/München: Alber 2020. 272 S. Prütting, L.: Brechts Metamorphosen: Von Jesus zu Stirner, Lenin und Lao-tse (= Literatur und Philosophie, Bd. 1). Freiburg/München: Alber 2020. 632 S. Reder, M./Cojocaru, M.-D./Filipović, A./Finkelde, D./Wallacher, J. (Hgg.): Schwerpunkt Normativität jenseits von Grenzen. (= Jahrbuch Praktische Philosophie in globaler Perspektive, Bd. 4) Freiburg/München: Alber 2020. 208 S. Revue des Sciences Philosophiques et Théologiques, Tome 103, Nr. 2–3, April–Sept. 2019. Revue Philosophique de Louvain, Tome 117, Nr. 3, August 2019. Schiller, H.-E.: Hegels objektive Vernunft. Kritik der Versöhnung. Springe: zuKlampen 2020. 208 S. Schmitt, G.: Die unbedingte Forderung: Eine philosophisch-anthropologische Rekonstruktion sittlicher Imperative (= Eichstätter philosophische Beiträge, Bd. 5). Freiburg/München: Alber 2020. 448 S. Seitschek, H. O./Modesto, J. (Hgg.): Helfen durch die Wahrheit. Romano Guardini auf dem Weg zur Ehre der Altäre. Mainz: Grünewald 2020. 136 S. Staudigl, M. (Hg.): Der Primat der Gegebenheit: Zur Transformation der Phänomenologie nach JeanLuc Marion. Freiburg/München: Alber 2020. 472 S.

Bei der Redaktion bis zum 15. 06. 2021 eingegangene Bücher Steger, F./Orzechowski, M./Rubeis, G./Schochow, M. (Hgg.): Migration and Medicine (= Angewandte Ethik Medizin, Bd. 4). Freiburg/München: Alber 2020. 320 S. Steinbach, T.-F.: Gelebte Geschichte, narrative Identität. Zur Hermeneutik zwischen Rhetorik und Poetik bei Hans Blumenberg und Paul Ricœur. Freiburg/München: Alber 2020. 480 S. Steinbach, T.-F./Hartung, G./Koenig, H. (Hgg.): Der Philosoph Georg Simmel (= Kulturphilosophische Studien, Bd. 8). Freiburg/München: Alber 2020. 504 S. van Kerckhoven, G.: „Einander zu ereignen“: Rilkes diskrete Phänomenologie der Begegnung

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(= Literatur und Philosophie, Bd. 2). Freiburg/ München: Alber 2020. 152 S. Völker, S.: Philosophie der Nondualität: Religionshistorische Einordnung und philosophische Kritik der Buddhismusinterpretation David R. Loys (= Welten der Philosophie, Bd. 19). Freiburg/ München: Alber 2020. 888 S. von Brück, M.: Interkulturelles Ökologisches Manifest. Freiburg/München: Alber 2020. 152 S. von Heereman, F.: Der Eine Für Den Anderen: Historisch-Systematische Untersuchung zum Verhältnis von Liebe als Güte und Person als Bild. Freiburg/München: Alber 2020. 368 S.

Phil. Jahrbuch 128. Jahrgang / II (2021)

Philosophisches Jahrbuch Im Auftrag der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Thomas Buchheim Volker Gerhardt Matthias Lutz-Bachmann Isabelle Mandrella Pirmin Stekeler-Weithofer Wilhelm Vossenkuhl

128. JAHRGANG 2021

VERLAG KARL ALBER FREIBURG / MÜNCHEN 2021

Wissenschaftlicher Beirat des Philosophischen Jahrbuchs Karl Ameriks (Notre Dame) Emil Angehrn (Basel) Manfred Baum (Wuppertal) Myriam Bienenstock (Tours) Rémi Brague (München) Christine Chwaszcza (Köln) Donatella Di Cesare (Rom) Christoph Demmerling (Jena) Mechthild Dreyer (Mainz) Alexander Fidora (Barcelona) Günter Figal (Freiburg) Rainer Forst (Frankfurt/M.) Raimond Gaita (London) Marcela García (Los Angeles) Petra Gehring (Darmstadt) Carl Friedrich Gethmann (Siegen) Michael Großheim (Rostock) Stephan Hartmann (München) Marion Heinz (Siegen) Wolfram Hogrebe (Bonn) Ludger Honnefelder (Bonn) Vittorio Hösle (Notre Dame) Johannes Hübner (Halle/S.) Christian Illies (Bamberg) Hidé Ishiguro (Tokyo) Marco Ivaldo (Neapel) Christoph Kann (Düsseldorf) Andrea Kern (Leipzig) Heiner Klemme (Halle/S.)

Nikola Kompa (Osnabrück) Armin Kreiner (München) Alejandro Llano (Pamplona) Winfried Löffler (Innsbruck) Erasmus Mayr (Erlangen-Nürnberg) Roberta De Monticelli (Mailand) Kristof Nyirí (Budapest) Mathias Obert (Kaohsiung) Ryôsuke Ohashi (Kyoto) Elif Özmen (Gießen) Onora O'Neill (Cambridge) Volker Peckhaus (Paderborn) Dominik Perler (Berlin) Dietmar von der Pfordten (Göttingen) Michael Quante (Münster) Nicholas Rescher (Pittsburgh) Friedo Ricken (München) Thomas Ricklin † (München) Edmund Runggaldier (Innsbruck) Thomas Schmidt (Frankfurt/M.) Yossef Schwartz (Tel Aviv) Ludwig Siep (Münster) Andreas Speer (Köln) Eleonore Stump (St. Louis) Gabriele Tomasi (Padua) Peter Trawny (Wuppertal) Robert Yelle (München) Paul Ziche (Utrecht)

INHALT EDITORIAL I/2021 (Isabelle Mandrella) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . EDITORIAL II/2021 (Volker Gerhardt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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BEITRÄGE Thomas Jeschke, Thomas Mores Utopia als Philosophie: Plädoyer für eine dialogische Lesart . . . . Henrike Moll/Pirmin Stekeler-Weithofer, Über die Entwicklung des Verstehens von Wahrnehmung und Perspektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Buchheim, ‚Ultimate Responsibility‘ without causa sui: Schelling’s Intelligible Deed of Freedom contra Galen Strawson’s Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steffi Schadow, Braucht die Moralphilosophie den Begriff der Verpflichtung? Über Anscombes Kritik an der Moralphilosophie der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martina Roesner, Philosophie – Heilmittel oder Krankheit der Seele? Zur Symptomatologie und Therapie des Denkens bei Avicenna und Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3 21 228 246 268

BERICHTE UND DISKUSSIONEN . . . . .

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ZUR DISKUSSION: BERICHTE UND AKTEN Elena Corsi, Adorno und Cornelius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oliver Victor, Existenzialismus und Popularisierung. Zur Rolle der Philosophie bei Albert Camus . .

291 321

Sven Ellmers, Extern, intern oder immanent? Anmerkungen zu Rahel Jaeggis Sozialkritik

Klaus Kienzler, Die Bedeutung der Carnets Emmanuel Levinas’ (Tagebücher 1940–1945) für eine künftige Geschichte humanen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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JAHRBUCH-SCHÄTZE: ROBERT SPAEMANN, DIE ZWEI GRUNDBEGRIFFE DER MORAL (1966) Wilhelm Vossenkuhl, Kommentar zu Robert Spaemanns Abhandlung „Die zwei Grundbegriffe der Moral“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Robert Spaemann, Die zwei Grundbegriffe der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62 66

JAHRBUCH-KONTROVERSEN VI: LUCIANO FLORIDI, A NEW POLITICAL ONTOLOGY FOR A MATURE INFORMATION SOCIETY (FORTSETZUNG) Jörg Noller, Einführende Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Manfred Broy, Reflections on the essay “The Green and the Blue – A New Political Ontology for a Mature Information Society” by Luciano Floridi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Gabriel, Being Human in the Digital Age – Comments on Floridi’s sketch for a New Political Ontology . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Armin Grunwald, The information society: cause for a philosophical paradigm shift? A response to Luciano Floridi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ruth Hagengruber, Out of the Box – into the Green and the Blue. Comments on a Post-humanist Information Society . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alexander Kriebitz/Christoph Lütge/Raphael Max, Reflections on Floridi’s “The Green and the Blue: A New Political Ontology for a Mature Information Society” . . . . . . . . . . . . . . . . . Catrin Misselhorn, Are philosophical questions open? Some thoughts about Luciano Floridi’s conception of philosophy as conceptual design and his new political ontology . . . . . . . . . . . . Malte Rehbein, A Responsible Knowledge Society Within a Colourful World. A Response to Floridi’s New Political Ontology . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg Noller, Schlussnotiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Luciano Floridi, Replies to Broy, Gabriel, Grunwald, Hagengruber, Kriebitz, Lütge, Max, Misselhorn, and Rehbein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

JAHRBUCH-SCHÄTZE: HERMANN KRINGS, FREIHEIT. EIN VERSUCH GOTT ZU DENKEN (1970) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias Lutz-Bachmann, Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermann Krings, Freiheit. Ein Versuch Gott zu denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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BUCHBESPRECHUNGEN Besprechungsaufsatz: Neuere Forschungen zu Hans Blumenberg (Harald Seubert) . . . . . . . . . Besprechungsaufsatz: Gegen den Aristokratismus der Lebenskunst. Anmerkungen zu Günter Gödde/ Jörg Zirfas (Hg.), Kritische Lebenskunst: Analysen – Orientierungen – Strategien der Lebenskunst (Alexander Kappe) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Danielle Allen, Politische Gleichheit. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2017 (Wolfgang Hellmich) . . Dan Diner/Carl Friedrich Gethmann (Hg.), Herrschaft des Konkreten (Wolfgang Hellmich) . . . . . Rainer Enskat, Urteil und Erfahrung. Kants Theorie der Erfahrung. Zweiter Teil (Harald Seubert) . . Emmanuel Falque, Den Rubikon überschreiten. Philosophie und Theologie: Ein Versuch über ihre Grenzen (Burkhard Liebsch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Fischer/Peter Reifenberg/Jakub Sirovátka (Hg.), Das Antlitz des Anderen. Zum Denken von Emmanuel Levinas (Eugen Wenzel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Heidegger, Vorträge. Teil 2: 1935–1967 (= GA, Bd. 80.2), nach den Handschriften hg. v. G. Neumann (Harald Seubert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Hottner, Kristallisationen. Ästhetik und Poetik des Anorganischen im späten 18. Jahrhundert (Larissa Wallner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emanuel John, Die Negativität des Sittlichen. Zur Überwindung ethischen Leides (Jonathan Krude) . Nikolaus Lobkowicz, Philosophische Memoiren. Erinnerungen an die Philosophie (Hans Otto Seitschek) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ivan Macut, Hrvatska filozofija od sloma Nezavisne Države Hrvatske 1945. do raspada Socijalističke Federativne Republike Jugoslavije 1991. godine. [= Die kroatische Philosophie vom Zusammenbruch des Unabhängigen Staates Kroatien 1945 bis zum Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien 1991] (Dinko Aracic) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Rohkrämer, Martin Heidegger. Eine politische Biographie (Oliver Precht) . . . . . . . . . Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Historisch-kritische Ausgabe. I,11,1–2. Schriften 1802, hg. v. M. Durner u. I. Radrizzani / Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Historisch-kritische Ausgabe. I,12,1–2. Schriften 1802–1803, hg. v. P. Ziche u. V. Müller-Lüneschloss (Ryan Scheerlinck) . . . Eberhard Schockenhoff (Hg.), Liebe, Sexualität und Partnerschaft: Die Lebensformen der Intimität im Wandel (Eugen Wenzel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans Otto Seitschek/Johannes Modesto (Hg.), Helfen durch die Wahrheit. Romano Guardini auf dem Weg zur Ehre der Altäre (= Romano Guardini – Quellen und Forschungen, Bd. 5) (Johannes Maximilian Nießen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas A. Szlezák, Aufsätze zur griechischen Literatur und Philosophie (= International Plato Studies 3) (Harald Seubert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antoine Louis Claude Destutt de Tracy, Grundzüge einer Ideenlehre. Bd. I–V, hg. v. H. J. Sandkühler (Elena Haase) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frederick C. Beiser, Hermann Cohen: An Intellectual Biography (Görge K. Hasselhoff) . . . . . . . Judith Butler, Die Macht der Gewaltlosigkeit. Über das Ethische im Politischen (Wolfgang Hellmich) . Agnes Callard, Aspiration: The Agency of Becoming (Florian Franken Figueiredo) . . . . . . . . . Elsa Dorlin, Selbstverteidigung. Eine Philosophie der Gewalt (Wolfgang Hellmich) . . . . . . . . . Toivo J. Holopainen, A Historical Study of Anselm’s Proslogion. Argument, Devotion and Rhetoric (Geo Siegwart) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Kann, Die Sprache der Philosophie (Reinhard Mehring) . . . . . . . . . . . . . . . . Werner Konitzer/Johanna Bach/David Palme/Jonas Balzer (Hgg.), Vermeintliche Gründe. Ethik und Ethiken im Nationalsozialismus (Bastian Klug) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz von Kutschera, Der Weg der Westlichen Philosophie (Hans Werbik) . . . . . . . . . . . . . Georg Lukács, Gelebtes Denken. Mit einem Beitrag von Agnes Heller und einem Nachwort von Werner Jung (Wolfgang Hellmich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Wieland, Philosophische Schriften (Harald Seubert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bei der Redaktion bis zum 15. 06. 2021 eingegangene Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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PHILOSOPHISCHES JAHRBUCH DER GÖRRES-GESELLSCHAFT Hinweise für die Gestaltung von Beiträgen, Berichten und Rezensionen I. Allgemeine Hinweise 1. Texte sind als MS-Word-Datei per Email einzureichen. Falls das nicht möglich ist, ist der Text per Post an die Redaktion zu schicken. In der Textdatei sollte der Name des Autors nicht vorkommen. Kommen im Text Zitate in anderen Schriftarten vor, ist der verwendete Schriftsatz mit einzureichen (insbesondere bei griechischen Zeichen). 2. Jedem Text, der als Beitrag (nicht als Bericht, Diskussionsbeitrag oder Rezension) eingereicht wird, ist ein Abstract (max. 10 Zeilen) in englischer Sprache anzuhängen. 3. Der Sendung gesondert beizufügen ist eine formlose Erklärung des Autors, dass der Text weder im Ganzen noch in Teilen bereits veröffentlicht ist und bis zur Entscheidung der Gutachter des Philosophischen Jahrbuchs auch keiner anderen Fachzeitschrift oder keinem anderen Publikationsorgan zur Veröffentlichung angeboten wird. 4. Die Texte sind zu senden an die: Redaktion des Philosophischen Jahrbuchs, Philosophische Fakultät Lehrstuhl I, Geschwister-Scholl-Platz 1, D-80539 München, [email protected]. de. Für unaufgefordert eingesandte Texte oder nicht bestellte Rezensionsexemplare wird keine Haftung übernommen. 5. Beiträge, Berichte und Diskussionsbeiträge werden – in anonymisierter Form – zwei Gutachtern zur Prüfung vorgelegt. Die Entscheidung, ob sie publiziert werden, wird – auf Grundlage der Begutachtung – in einer der Sitzungen des Herausgeber-Gremiums getroffen. Rezensionen werden von der Redaktion auf ihre formale Korrektheit und Übereinstimmung mit Prinzipien wissenschaftlicher Auseinandersetzung geprüft. Eine solche Begutachtung erfolgt auch bei Rezensionen, die erbeten worden sind. Zusätzliche Hinweise für die Gestaltung der Textdatei erhalten die Autoren mit der Benachrichtigung über die endgültige Annahme ihres Beitrags. II. Richtlinien für die Text-Gestaltung 1. Textformat: Umfang für Beiträge und Berichte in der Regel nicht über 25 Seiten, inkl. Anmerkungen und Literaturangaben (max. 60.000 Zeichen mit Leerzeichen); Umfang für Buchbesprechungen zwischen 2 und 5 Seiten (6.000 bis 12.000 Zeichen mit Leerzeichen). Zeilenabstand 1,5 (auch in den Anmerkungen); ca. 70 Anschläge/Zeile; ca. 35 Zeilen/Seite, möglichst in der Schriftart Times Roman und der Schriftgröße pt. 12. 2. Anmerkungen: Sie werden fortlaufend nummeriert (hochgestellt, ohne Klammer) und erscheinen als Fußnoten. 3. Haupttext: Jeder neue Absatz beginnt mit einem Einzug (1 cm.). 4. Zitate: (a) Zitate sind grundsätzlich in doppelte, typographische Anführungszeichen zu setzen. Nur bei längeren Zitaten (ab 6 Zeilen), die eingerückt und im Petitdruck wiedergegeben werden, entfallen die Anführungszeichen. Die zugehörigen Stellennachweise sind nicht im Haupttext, sondern in den Anmerkungen zu führen. Ausnahmen sind nur zulässig, wenn innerhalb des Aufsatzes mehrfach in unaufwändiger Weise auf einen einzigen Primärtext Bezug genommen wird oder klassische Autoren nach den autorspezifischen Konventionen zitiert werden. Einfache Anführungszeichen dienen zur Kennzeichnung von lediglich sinngemäßen, aber nicht wörtlichen Zitaten. (b) Auslassungen in Zitaten werden durch drei in eckige Klammern gesetzte Auslassungspunkte gekennzeichnet, die von dem vorangehenden und nachfolgenden Wort durch einen normalen Wortzwischenraum getrennt sind. (c) Satzzeichen, die ein Zitat beschließen, stehen grundsätzlich außerhalb des Zitats – es sei denn, es werden vollständige Sätze zitiert. Fußnotenziffern, die auf den Zitatnachweis in einer Anmerkung verweisen, stehen grundsätzlich unmittelbar hinter dem das Zitat beschließenden

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Anführungszeichen; sie stehen nur dann am Ende eines Satzes nach dem schließenden Satzzeichen, wenn sie sich auf mehrere Zitate in ein und demselben Satz beziehen oder das Zitat ein vollständiger Satz ist. Fußnotenziffern, die auf eine Anmerkung verweisen, die keinen Zitatnachweis enthält, stehen am Satzende hinter dem schließenden Satzzeichen – es sei denn, die Anmerkung bezieht sich nur auf ein einzelnes Wort oder einen Satzteil. In diesem Fall steht die Fußnotenziffer hinter dem betreffenden Wort oder Satzteil, und zwar ggf. vor einem Satzzeichen, das den betreffenden Satzteil beschließt. Kursivierung: Zu kursivieren sind Werktitel und Hervorhebungen sowie fremdsprachliche Begriffe. Fette Schrift ist nicht möglich. Abkürzungen: Kein Wortzwischenraum ist vorgesehen bei „d.h.“, „z.B.“, „ff.“ (letzteres allerdings mit einem Zwischenraum zur vorhergehenden Seitenzahl); Wortzwischenraum dagegen bei abgekürzten Vornamen (z. B. „T. A. Warfield“). Verwendet wird: – „Vf.“ (nicht: „Verf.“); – „vgl.“ (nicht: „vergl.“ oder „s[iehe].“ o. ä.); – „[Hervorh. abgekürzter Autorname]“ (nicht: „Hervorheb. vom Vf.“); – „Hg.“ (bei mehreren „Hgg.“, nicht „Hrsg.“ oder „Hr.“); – „ebd.“ (nicht „idid.“, „ebda“ o. ä.). Bibliographische Angaben: Klassische Werke werden in der üblichen Weise abgekürzt. Die Verwendung von Siglen ist am Ende des Beitrags zu erläutern. Für die Zitierung sonstiger Autoren ist ein gesondertes Literaturverzeichnis maßgeblich, das am Ende des Beitrags anzulegen ist. Die Nennung aller zitierten Autoren erfolgt hier in alphabetischer Reihenfolge. Die einzelnen Beiträge der Autoren sind ihrerseits chronologisch aufzuführen und zwar in folgender Weise: Dretske, F. (1970), „Epistemic Operators“, in: Journal of Philosophy 67, 1002–1023 (bei Artikeln); – (1981), Knowledge and the Flow of Information, Cambridge. Parsons, T. (1980), Nonexistent Objects, New Haven/London. Mehrfachauflagen sind durch hochgestellte Zahlen gekennzeichnet, z. B.: Dretske, F. (3 1981), Knowledge and the Flow of Information, Cambridge. Bei mehreren Beiträgen eines Autors innerhalb eines Jahres ist die Jahreszahl durch kleine Buchstaben zu differenzieren: z. B. 1995a, 1995b usw. Alle Primärtext-, Monographien- und Zeitschriftentitel sind kursiv zu setzen. Aufsatztitel werden dagegen nicht kursiv gesetzt bzw. durch Unterstreichung für den Kursivdruck markiert, sondern in (doppelte) Anführungszeichen gesetzt. Bei Monographien soll über den Erscheinungsort hinaus der betreffende Verlag nicht aufgeführt werden. Die Zitation in den Fußnoten erfolgt durch Angabe des Autorennamens, Jahreszahl und Seitenangabe, also z. B. Dretske (1981), 123–125. Der Seitennachweis erfolgt durchgängig mit bloßen Zahlen, also ohne S. oder p. Der Verweis auf zwei aufeinander folgende Seiten eines Textes erfolgt grundsätzlich mit f. (also nicht 24–5, sondern 24 f.). Auch die zweite und jede weitere Nennung eines bereits zitierten Titels soll in der o. g. Weise erfolgen (also nicht durch a. a. O. oder ibid. usw.) Orthographie: Maßgeblich für Beiträge in deutscher Sprache sind die neuen Regeln der deutschen Rechtschreibung nach dem Duden, Die deutsche Rechtschreibung, 24. völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Auf der Grundlage der neuen amtlichen Rechtschreibregeln, Mannheim – Leipzig – Wien – Zürich 2006 ff.

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III. Spezielle Richtlinien für Rezensionen: 1. Erster Absatz: Vor dem Rezensionstext werden die Titelangaben des besprochenen Werkes angeführt – und zwar diesen Vorlagen entsprechend: Günter Bien, Die Grundlegung der praktischen Philosophie bei Aristoteles (= Problemata, Bd. 18), Freiburg/München: Alber 1973, 402 S., ISBN 3-518-28709-5. Ernesto Garzón Valdés/Ruth Zimmerling (Hgg.), Facetten der Wahrheit. Festschrift für Meinolf Wewel, Freiburg/München: Alber 1995, 543 S., ISBN 3-495-47820-5. Falls das rezensierte Buch eine Einleitung mit anderer, z. B. lateinischer Nummerierung besitzt, ist diese gesondert zu nennen. Beispiel: XXV+345 S. 2. Haupttext: Seitenangaben des rezensierten Buches werden im laufenden Text in runde Klammern gesetzt, ohne S. oder p. 3. Bibliographische Angaben: Wird in der Rezension Bezug auf andere Werke genommen, so sind diese in den Fußnoten in folgender Weise anzuführen: F. Dretske (1981), Knowledge and the Flow of Information, Cambridge. 4. Rezension von Sammelbänden: Die behandelten Autoren werden nur an der Stelle, an der die Besprechung ihres Beitrags beginnt, durch Kursivierung ihres Namens hervorgehoben. 5. Rezensent: Am Ende jeder Besprechung steht rechtsbündig und kursiviert der Name des Rezensenten sowie die Angabe des Wohn- bzw. Hochschulortes in Klammern. Falls vorhanden steht darunter die aktuelle Email-Adresse.

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Das Philosophische Jahrbuch wird herausgegeben im Auftrag der Görres Gesellschaft von Prof. Dr. Thomas Buchheim, München, Prof. Dr. Volker Gerhardt, Berlin, Prof. Dr. Dr. Matthias Lutz-Bachmann, Frankfurt a. M., Prof. Dr. Isabelle Mandrella, München, Prof. Dr. Pirmin Stekeler-Weithofer, Leipzig, Prof. Dr. Wilhelm Vossenkuhl, München. – Redaktion: PD Dr. Jörg U. Noller, Anschrift: Redaktion Philosophisches Jahrbuch, Philosophische Fakultät Lehrstuhl I, Geschwister-Scholl-Pl. 1, D-80539 München. [email protected] Bitte senden Sie weder Manuskripte noch Rezensionsexemplare an den Verlag, sondern stets an die Redaktion. Der Jahrgang des Philosophischen Jahrbuchs erscheint in 2 Halbbänden im Frühjahr und Herbst jedes Jahres. Vertriebsanfragen bitten wir, an den Verlag Karl Alber, Hermann-Herder-Straße 4, 79104 Freiburg i. Br. zu richten. Das Philosophische Jahrbuch und alle in ihm enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: PBtisk a. s., Příbram Printed in Czech Republic Verlag Karl Alber in der Verlag Herder GmbH, Freiburg/München ISBN 978-3-495-45106-2

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ISSN 0031-8183