Philosophiegeschichtsschreibung in globaler Perspektive 9783787333257, 9783787333240

Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ist die Philosophiegeschichtsschreibung – vom breiten Strom der europäischen Fachph

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Philosophiegeschichtsschreibung in globaler Perspektive
 9783787333257, 9783787333240

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Deutsches Jahrbuch Philosophie Herausgegeben im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Philosophie Band 9

F E L I X M E I N E R V E R L AG · H A M BU RG

Philosophiegeschichtsschreibung in globaler Perspektive Herausgegeben von ROLF ELBERFELD

F E L I X M E I N E R V E R L AG · H A M BU RG

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3324-0 ISBN eBook: 978-3-7873-3325-7

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Inhalt

Rolf Elberfeld Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in globaler Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . 7

I. PHILOSOPHIEGESCHICHTSSCHREIBUNG ZUR ­ AUSSEREUROPÄISCHEN PHILOSOPHIE

Anke Graneß Konzepte und Modelle der Philosophiegeschichte in Afrika heute . . . . . . . . 21 Jacob Emmanuel Mabe Philosophiegeschichtsschreibung zur afrikanischen Philosophie in französischer und englischer Sprache im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Hans Schelkshorn Widerhall der Alten Welt oder ein verpflanzter Baum? Zur Debatte über die Geschichte der Philosophie im südlichen Amerika im 20. Jahrhundert . 65 Eli Franco Idealismus, Materialismus, Nationalsozialismus. Zur Historiographie und Periodisierung der indischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Hans-Georg Möller und Sun Weixian Aspekte chinesischer Philosophiegeschichtsschreibung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 John C. Maraldo Die Bestimmung und Ausweitung der japanischen Philosophie durch ­Geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Rolf Elberfeld Geschichtsschreibung zur Philosophie in Japan in westlichen Sprachen seit dem 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

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Inhalt

II. REFLE XIONEN ZUR EUROPÄISCHEN PHILOSOPHIEGESCHICHTS SCHREIBUNG: AUSSCHLÜSSE UND EINSCHLÜSSE

Franz Martin Wimmer Unterwegs zum euräqualistischen Paradigma der Philosophiegeschichte im 18. Jahrhundert. Barbaren, Exoten und das chinesische Ärgernis . . . . . . 167 Axel Rüdiger China als philosophiehistorisches Problem zwischen Philosophia perennis und frühaufklärerischem Eklektizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Catherine König-Pralong Alterität, fremde Nähe und Hybridisierung. Die Araber in der ­Philosophiegeschichte um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Udo Reinhold Jeck Die lautlose Invasion. Zur Auseinandersetzung griechischer Philosophen mit dem persischen Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

III. FORSCHUNGSMATERIALIEN ZUR PHILOSOPHIEGESCHICHTS ­­S CHREIBUNG IN GLOBALER PERSPEK TIVE

Rolf Elberfeld Ansätze globaler Philosophiegeschichtsschreibung. Kommentierender Überblick anhand von Textpassagen und Inhaltsverzeichnissen . . . . . . . . . . 281 Rolf Elberfeld und Leon Krings Auswahlbibliographie zur Philosophiegeschichtsschreibung in globaler Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Leon Krings Materialien und Auswahlbibliographie zur japanischsprachigen ­Philosophiegeschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365

Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in globaler Perspektive Rolf Elberfeld

Einleitung

Auf meinem Weg zum Weltkongress für Philosophie in Athen im Jahr 2014 ergab sich zufällig ein Gespräch mit Jürgen Habermas, einem der Hauptredner des Kongresses. Ich fragte ihn nach seinen Erfahrungen in Ostasien, da ich von seinen Aufenthalten in China und Japan gehört hatte. Er erzählte offen und eindrucksvoll von seinen Gesprächen und Begegnungen. Nachdem wir einige Zeit darüber gesprochen hatten, fragte er mich plötzlich und unerwartet, ob China und Japan tatsächlich »so komplex seien wie Europa«. Mich verblüffte die Frage, aber ich antwortete umgehend mit »ja« und versuchte meine Überzeugung zu begründen. Das Gespräch endete damit, dass Habermas über seine »blinden Flecken« sprach und sagte, dass man sich eben nicht mit allem auskennen könne. Die aufrichtige Rede über seine »blinden Flecken« überraschte mich, da ich in der Fachphilosophie auch schon auf andere Haltungen gestoßen bin. Das Gespräch machte für mich auf eindrückliche Weise deutlich, dass die Überzeugung unter europäischen Philosophen noch immer verbreitet ist, nur die europäische (und nordamerikanisch verlängerte) Philosophie sei im eigentlichen Sinne »komplex« und man könne dementsprechend in der außereuropäischen Philosophie nicht wirklich etwas lernen. Dass diese Fragen derzeit auch in den USA mit besonderer Zuspitzung diskutiert werden, zeigt das folgende Beispiel. Am 11. Mai 2016 wurde in der New York Times ein kleiner Artikel von den USamerikanischen Philosophen Jay L. Garfield1 und Bryan W. Van Norden veröffentlicht unter dem Titel If Philosophy Won’t Diversify, Let’s Call It What It Really Is. In diesem Artikel, der weltweit eine hitzige Diskussion ausgelöst hat, schlagen die beiden Philosophen in einer global rezipierten Tageszeitung vor, dass sich die philosophischen Institute, in denen ausschließlich »anglo-europäische« Philosophie unterrichtet werde, doch auch so nennen sollten, nämlich »Institute für angloeuropäische Philosophie«. »The vast majority of philosophy departments in the United States offer courses only on philosophy derived from Europe and the English-speaking world. For example, of the 118 doctoral programs in philosophy in the United States and Canada, only 1

Zu Garfield vgl. die Übersicht zur globalen Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung im dritten Teil. Dort wird als vorletzter Titel folgendes Buch besprochen: The Oxford Handbook of World Philosophy. Hg. v. Jay L. Garfield u. William Edelglass. Oxford 2011.

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10 percent have a specialist in Chinese philosophy as part of their regular faculty. Most philosophy departments also offer no courses on African, Indian, Islamic, Jewish, Latin American, Native American or other non-European traditions. Indeed, of the top 50 philosophy doctoral programs in the English-speaking world, only 15 percent have any regular faculty members who teach any non-Western philosophy.   Given the importance of non-European traditions in both the history of world philosophy and in the contemporary world, and given the increasing numbers of students in our colleges and universities from non-European backgrounds, this is astonishing. No other humanities discipline demonstrates this systematic neglect of most of the civilizations in its domain. The present situation is hard to justify morally, politically, epistemically or as good educational and research training practice. […] We therefore suggest that any department that regularly offers courses only on Western philosophy should rename itself ›Department of European and American Philosophy‹. This simple change would make the domain and mission of these departments clear, and would signal their true intellectual commitments to students and colleagues.«2

Die klar formulierte Position hat online in der Kommentarspalte an einem Tag hunderte von Reaktionen provoziert. Leicht vorstellbar sind die Widerstände und die Kritik von denen, die diesen Vorschlag für sinnlos halten, da sie ganz selbstverständlich die anglo-europäische Tradition der Philosophie für das eigentliche Zentrum der Philosophie überhaupt halten. Eine andere Linie der Kritik an dem Artikel, die sich in den Kommentarspalten finden lässt, ist aber eher überraschend. Sie hält die Beschreibung der Situation durch die beiden Autoren aus einem ganz anderen Grunde für falsch: »This article completely ignores the elephant in the room: the division between Anglo-American and Continental Philosophy that dominates all American doctoral programs. Little or no European philosophy is studied in most American doctoral programs, which instead devote themselves to logic, philosophy of science, philosophy of mathematics, and American and British authors. As a philosophy graduate student at Columbia University, I was told by the chairman of the department that ›history is bunk‹ and that French, German, and ancient Greek philosophers are worthless. American philosophy departments are in the hands of people who want to pretend that they are doing ›hard science‹. Ethnic divisions have nothing to do with it.«3

2 https://www.nytimes.com/2016/05/11/opinion/if-philosophy-wont-diversify-lets-call-it-

what-it-really-is.html?_r=0. 3 https://mobile.nytimes.com/comments/2016/05/11/opinion/if-philosophy-wont-diversify-lets-call-it-what-it-really-is.html. Die Analyse der verschiedenen Kommentare wäre sicher lohnenswert, da sich hier jeweils verschiedene Diskussionsstränge kristallisieren.



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Wenn diese Darstellung zutrifft, so werden in einem bestimmten US-amerikanischen Verständnis von Philosophie als »hard science«, das in dem Kommentar als in den USA weit verbreitet beschrieben wird, nicht nur die »außereuropäischen« Traditionen der Philosophie ausgeschlossen, sondern auch die europäische Geschichte der Philosophie bis hin zu den Griechen wird als philosophisch nutzlos gebrandmarkt. Als besondere Pointe in der Diskussion ergibt sich daraus, dass im 18. und 19. Jahrhundert in der europäischen Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung alle anderen Traditionen marginalisiert oder ganz ausgeschlossen wurden, was in verschiedenen Texten des vorliegenden Bandes gezeigt und analysiert wird. Das Schicksal der Ausschließung scheint aber gegenwärtig im Rahmen eines bestimmten Verständnisses von Philosophie als »hard science« auch die europäische Philosophie selbst zu betreffen. In diesen Diskussionen ist allzu offensichtlich, dass das Verabsolutieren eines bestimmten Verständnisses des Wortes »Philosophie« notwendig zu mehr oder weniger harten Ausschlüssen führt, von denen immer wieder andere Positionen in der Philosophie betroffen sind. Die großen Kontroversen, die im Hintergrund dieser Diskussionen stehen, sind nicht neu und sollen an dieser Stelle nicht weiter ausgebreitet werden.4 Festzustellen ist, dass die Auseinandersetzung über die Anerkennung außereuropäischer oder sogar europäischer Philosophie als Philosophie leider oft polemisch geführt wird und die sachliche Auseinandersetzung dadurch in den Hintergrund tritt. Garfield und Van Norden gehen am Ende ihres Artikels davon aus, dass es allein eine Frage der Zeit sein wird, bis sich die Verhältnisse verändern und man in der Philosophie beginnen wird, in globaleren Maßstäben zu denken. Der Blick in die gegenwärtigen Entwicklungen der Geschichtswissenschaft scheint diese Einschätzung zu stützen. Wurde noch vor 30 Jahren selten von »Weltgeschichte« oder »Globalgeschichte« gesprochen, so ist dies heute zu einem bedeutenden Forschungstrend innerhalb der Geschichtswissenschaft geworden, der sich in vielen gewichtigen Publikationen zeigt.5 Dass sich auch in der Philosophie und ihrer Geschichtsschreibung seit längerem ein solcher Trend abzeichnet, soll durch den vorliegenden Band in die Aufmerksamkeit gehoben werden. Bereits seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ist die Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­ bung – von der europäischen Fachphilosophie fast unbemerkt – zunächst sehr langsam und in den letzten 20 Jahren zunehmend schneller zu einem globalen Projekt geworden. Schon im 16. Jahrhundert wurde an vielen Orten der Welt das Wort »Philosophie« benutzt, so dass vor allem im 20. Jahrhundert verschiedene Traditionen 4

Zum Glück sind die Fronten zumindest in der deutschsprachigen Diskussion schon lange nicht mehr so hart, was sich beispielsweise an der konstruktiven Zusammenarbeit der Deutschen Gesellschaft für Philosophie und der Gesellschaft für Analytische Philosophie zeigt. 5 An dieser Stelle sei für diesen Diskurs in den Geschichtswissenschaften nur verwiesen auf Conrad, Sebastian: Globalgeschichte. Eine Einführung. München 2013.

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der Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung entstanden sind – z. B. in Indien, China oder Japan –, die in Europa als eigenständige Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bungen nur selten in ihrer Vielfalt in den Blick getreten sind. So haben beispielsweise Surendranath Dasgupta (1887 – 1952) für die indische Philosophie, Feng Youlan (1895 – 1990) für die chinesische Philosophie und Nakamura Hajime (1912 – 1999)6 für die japanische Denkgeschichte umfassende Entwürfe vorgelegt.7 Dabei ist zu beobachten, dass die jeweiligen Terminologien unterschiedlich ausfallen und auch der jeweilige Rahmen für das, was »Philosophie« genannt wird, verschieden ist. Es fällt auf, dass man in der chinesischsprachigen Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung selbstverständlich mit den Anfängen des chinesischen Denkens beginnt (ca. 6. Jh. v. u. Z.), wohingegen in Japan unter Philosophie eher das verstanden wird, was in Folge der Rezeption europäischer Philosophie seit 1868 in Japan entstanden ist. Daher werden in Japan für die älteren Traditionen eher »Geschichten des Denkens« (Shisōshi) geschrieben. Auch für den indischen Rahmen ist es selbstverständlich, mit den Veden (ca. 10. Jh. v. u. Z.) zu beginnen, wobei für den indischen Bereich auffällt, dass Phi­lo­so­phie­geschichten direkt in englischer Sprache verfasst wurden und werden, da seit der Kolonialisierung die gemeinsame Sprache der Intellektuellen in Indien das Englische ist. Diese und ähnliche Fragen stellen sich auch in Bezug auf andere Traditionen der Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung – wie z. B. die afrikanische, lateinamerikanische, arabisch-islamische, die jüdische und die buddhistische –, was teils in den Texten des vorliegenden Bandes geschieht. Die genannten Entwicklungen wurden in Europa in der Fachphilosophie zunächst kaum oder gar nicht bemerkt, da sich dort die Hauptlinien der europäischen Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung im 18. Jahrhundert in eine ganz andere Richtung entwickelt hatten. Als die Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in und für Europa im 18. Jahrhundert durch Johann Jakob Brucker (1696 – 1770) in einem bis zu seiner Zeit nicht erreichten Maße ausgearbeitet wurde, waren noch viele alte Traditionen des Denkens mit im Blick, die später keine Beachtung mehr fanden. Geographisch reichte der Blick von Asien (z. B. Indien, Persien, China, Japan) über Afrika (Ägypten, Libyen) nach Europa. Zwar wurden die Entwicklungen außerhalb der altgriechischen Tradition auch bei Brucker nicht zur Philosophie im engen Sinne gezählt, dennoch wollte er sie nicht prinzipiell aus dem Rahmen der Phi­lo­so­phie­geschichte ausschließen. Die danach in Europa einsetzende Ausschließungsgeschichte aller nicht-griechischen Denktraditionen erreichte durch die Verbreitung der kantischen Philosophie und der sich daran anschließenden Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung Ende des 18. Jahrhunderts einen ersten Höhepunkt. Mit der Urfassung des Grundrisses 6

Chinesische und japanische Namen werden in der in China und Japan gewohnten Reihenfolge geschrieben: Familienname Vorname. 7 Da sich im Anhang eine umfassende Bibliographie zur Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in globaler Perspektive findet, kann an dieser Stelle auf die dortigen Angaben verwiesen werden.



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der Geschichte der Philosophie (1863 – 1871) von Friedrich Ueberweg verbreitete sich dann ein Standardwerk zur Phi­lo­so­phie­geschichte, das weit bis ins 20. Jahrhundert unser Bild von der Geschichte der Philosophie prägen sollte. Dieses Standardwerk schloss von Anfang an alles »Orientalische« aus der älteren Phi­lo­so­phie­geschichte aus, so dass es in diesem Grundriss erst gar nicht zum Thema wurde.8 Nicht nur mit diesem Ausschluss setzte der Ueberweg Standards, sondern auch bestimmte Periodeneinteilungen sowie der Anfang der Phi­lo­so­phie­geschichte bei Thales – begründet durch die Vorhersage einer Sonnenfinsternis – haben bis heute kanonischen Rang. Vermutlich haben viele, die im deutschsprachigen Raum Philosophie studiert haben, diese Erzählung vom Beginn der »rationalen Philosophie« bei den ionischen Naturphilosophen in Grundlagenvorlesungen schon einmal gehört, die bis heute nicht nur im deutschsprachigen Bereich sehr verbreitet ist. Dass die ionischen Naturphilosophen das Wort »Philosophie« noch nicht kannten, spielt in den Darstellungen keine Rolle, wird aber regelmäßig gegen das Vorkommen von »Philosophie« außerhalb Europas geltend gemacht. Gleichzeitig mit der Ausschließung des »Orientalischen« aus den dominierenden Strömungen der fachphilosophischen Geschichtsschreibung zur Philosophie entwickelten sich in Europa verschiedene philologische Fächer wie die Indologie, Sinologie, Japanologie, Arabistik, Judaistik usw. In diesen Fächern studierte man vor allem die verschiedenen Sprachen, die aber nach dem Vorbild der Altphilologie (Altgriechisch und Latein) in Zusammenhang mit den kanonischen alten Texten aus den verschiedenen Traditionen erlernt wurden, die zumeist einen philosophischen bzw. religiösen Charakter besaßen. So entstanden in Europa außerhalb der Fachphilosophie Forschungstraditionen vor allem zur indischen und chinesischen Phi­lo­so­phie­geschichte, durch die teilweise auch die philosophiegeschichtlichen Forschungen von Dasgupta und Feng angeregt wurden. Die ersten Lehrstühle für Indo­ logie und Sinologie wurden in Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegründet. Eine erste Frucht für die Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung, die mit diesen Neugründungen in direktem Zusammenhang stand, waren die Darstellungen zur chinesischen und indischen Phi­lo­so­phie­geschichte von Karl Windischmann (1775 – 1838), die zwischen 1827 und 1834 erschienen sind und den Auftakt zur seiner unvollendet gebliebenen Philosophie im Fortgang der Weltgeschichte bildeten. Mit diesen Darstellungen beginnt in Europa eine Tradition der Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­ bung zu außereuropäischen Traditionen, die auch die philologischen Hintergründe der einzelnen Traditionen miteinbezieht. Einen weiteren Schritt in diese Hinsicht machte Paul Deussen (1845 – 1919) mit seiner Allgemeinen Geschichte der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Religionen (1894 – 1917), in der vor allem die Dass auch der Ueberweg im 20. Jahrhundert langsam auf die globalen Veränderungen der Philosophielandschaft vor allem der damaligen Gegenwart reagierte, ist Thema in meiner kommentierenden Übersicht zur globalen Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in diesem Band. 8

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indische Philosophie philologisch rückgebunden und in umfangreicher Weise dargestellt wird. Paul Deussen hatte neben der Philosophie auch Sanskrit studiert und war wohl der erste europäische Philosoph, der im Fach Philosophie über ein Thema der indischen Philosophie eine Habilitation verfasst hat und unter der Leitung eines Philosophen und eines Indologen in Berlin habilitiert wurde. Im 20. Jahrhundert entstanden dann weitere Phi­lo­so­phie­geschichten wie die Geschichte der Chinesischen Philosophie (1927 – 1938) von Alfred Forke (1867 – 1944) in drei Bänden, die bis heute eine kaum erreichte Fülle philosophiegeschichtlicher Entwicklungen in China darstellt. Ähnliches gilt für die Geschichte der buddhistischen Philosophie, die von Max Walleser (1874 – 1954) in seinem mehrbändigen Werk Die buddhistische Philosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung (1904 – 1914) aus verschiedensprachigen Quellen übersetzt und dargestellt wurde. Es ließen sich aus den Philologien noch viele weitere Beispiele anführen, die in Auswahl in der Bibliographie im Anhang des Bandes verzeichnet sind. Betrachtet man diese Entwicklungen, so ist erstaunlich, dass sich in Europa zwei gänzlich unabhängige Stränge der Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung entwi­ ckelt haben. Zum einen hat sich die europäische Philosophie und die ihr zugehörige Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung – abgesehen von wenigen Ausnahmen – ab dem 19. Jahrhundert fast ausschließlich mit der Geschichte der Philosophie in Europa beschäftigt, wobei sich diese nach und nach in unzählige Detaildiskurse aufgespalten hat. Zum anderen hat sich aber in Europa eine durchaus beachtliche Tradition der Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung beispielsweise zur indischen, chinesischen, jüdischen, arabischen und japanischen Philosophie entwickelt, die von der Fachphilosophie so gut wie nicht wahrgenommen wurde und wird. Eine Verbindung der beiden Stränge kam und kommt in Europa vor allem dann zustande – wie beispielsweise bei Paul Deussen –, wenn in der Philosophie Ausgebildete auch außereuropäische Philologien studieren, so dass Wissensbestände aus verschiedenen Fächerkulturen zusammengeführt und in ein fruchtbares Verhältnis gebracht werden können. Aus diesem Befund lässt sich sagen, dass eine grundlegende Veränderung in der Phi­ lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in Europa nur dann eintreten wird, wenn sich die Ausbildung im Fach Philosophie für die systematische Einbeziehung außereuropäischer Sprachen öffnet, so dass es zum selbstverständlichen Bild der Philosophieausbildung zählen würde, nicht nur Altgriechisch und Latein, sondern beispielsweise auch Sanskrit, Chinesisch, Japanisch, Arabisch, Hebräisch, Tibetisch usw. zu lernen. Erst wenn die Vielfalt der Sprachen über Europa hinaus einbezogen wird, kann es zu grundlegenden Veränderungen kommen für die Perspektive einer Phi­ lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in globaler Perspektive.9 Elberfeld, Rolf: Sprache und Sprachen. Eine philosophische Grundorientierung. Freiburg i. Br. 2012. 9



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Neben den Phi­lo­so­phie­geschichten für außereuropäisches Denken treten in Eu­ ropa zunehmend auch die vielfältigen Verflechtungen mit anderen Traditionen und die innere Vielfalt Europas selbst in die Aufmerksamkeit.10 In Bezug auf die europäische Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung ist hier in den letzten Jahrzehnten ein Paradigmenwechsel in verschiedener Hinsicht festzustellen. Nachdem im 18. Jahrhundert die außereuropäischen Philosophien (chinesische, indische, ägyptische, persische usw.) zunehmend ausgesondert wurden oder als primitiver Anfang der Denkgeschichte ihre Funktion zu erfüllen hatten, ist nun zu beobachten, dass bei der Erforschung der europäischen »antiken Philosophie« verstärkt orientalische Quellen einbezogen werden11 und in der Erforschung der europäisch »mittel­ alterlichen Philosophie« die islamischen und jüdischen Quellen nicht mehr nur am Rande wahrgenommen werden.12 Die Ergebnisse der neuen verflechtungsgeschichtlich orientierten Forschungen zeigen, dass Homer, Hesiod, Thales, Anaximander u. a. im Kontext orientalischer Traditionen zu sehen sind.13 Für den Bereich der mittelalterlichen Philosophie wird zunehmend ein plurales Bild entworfen, das erstmals den überragenden Beitrag der arabischen Philosophie würdigt, aber auch die byzantinische und jüdische Philosophie angemessener wahrnimmt.14 Diese neuen Richtungen sind entstanden, weil Disziplingrenzen z. B. zwischen Altphilologie und Orientalistik bzw. zwischen Forschungen zur mittelalterlichen Philosophie – die traditionell fast ausschließlich lateinische Texte zur Kenntnis nahm – sowie der Arabistik und Judaistik überwunden worden sind.15 Für die Neuzeit wird zudem Vgl. Elberfeld, Rolf: Philosophieren in einer globalisierten Welt. Wege zu einer transformativen Philosophie. Freiburg i. Br. 2017. Kapitel I: Verflechtungsgeschichten des Denkens in Afroeurasien und darüber hinaus. 11 Vgl. den Aufsatz von Jeck in diesem Band und Burkert, Walter: Die Griechen und der Orient. Von Homer bis zu den Magiern. 3. durchgesehene Auflage. München 2009. 12 Libera, Alain de: La Philosophie médiévale. Paris 1993. 13 Burkert, Walter: Frühgriechische Philosophie und Orient. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neu bearbeitete Ausgabe. Hg. v. Helmut Holzhey. Die Philosophie der Antike. Bd. 1. Frühgriechische Philosophie. Hg. v. Hellmut Flashar et al. Basel 2013, S. 97 – 125. In dem Aufsatz heißt es: »Die griechische Kultur entwickelte sich als Randkultur der alten Hochkulturen. Die Verbreitung ist dabei nicht auf einen einmaligen, schmalen Korridor beschränkt, etwa Hesiod; es gab vielerlei und fortlaufend neue Kontakte und Anregungen. Es ist auch nicht so, dass diese Einflussmomente nur den Bereich des Vorrationalen betroffen hätten, sei es Weisheit oder Mythologie, so dass den Griechen der Weg ›vom Mythos zum Logos‹ als selbständige Leistung vorbehalten blieb. Vielmehr ist die Abhängigkeit im Bereich der Mathematik und mathematischen Astronomie besonders deutlich.« S. 97 f. Wie üblich finden sich am Ende des Textes vielfältige Literaturhinweise für diese Verflechtungsgeschichte. 14 Speer, Andreas (Hg.): Wissen über Grenzen. Arabisches Wissen und lateinisches Mittelalter. Berlin 2006. Speer, Andreas (Hg.): Knotenpunkt Byzanz. Berlin 2012. Borgolte, Michael; Schneidmüller, Bernd (Hg.): Hybride Kulturen im mittelalterlichen Europa. Berlin 2010. 15 In diesem Zusammenhang ist auch eine institutionelle Veränderung in der deutschen 10

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gesehen, dass die europäische Expansion auch die Entwicklung der Philosophie und der Aufklärung in Europa in hohem Maße beeinflusst und bestimmte Gedanken provoziert und ermöglicht hat.16 Zudem wird die Bedeutung Chinas und der chinesischen Philosophie vor der Aufklärung und ihr Beitrag zur Vorbereitung der Aufklärung zunehmend beachtet.17 Man kann mit Fug und Recht davon ausgehen, dass sich das Bild von der europäischen Phi­lo­so­phie­geschichte in nicht allzu ferner Zukunft grundlegend geändert haben wird. Bis dies in den Lehrkanon an den Universitäten und in die Standarddarstellungen zur Phi­lo­so­phie­geschichte übernommen wird, kann es jedoch noch länger dauern. Eine weitere Entwicklung – die in neuer Zeit vor allem im englischsprachigen Raum zu beobachten ist – besteht darin, dass immer selbstverständlicher von einer History of world philosophies gesprochen wird, wobei dann mehr oder weniger kurz nicht nur die asiatischen Philosophien, sondern auch die Philosophie in Afrika, Lateinamerika und anderen Gegenden der Welt erwähnt werden. Die Darstellungen wählen jeweils unterschiedliche Wege, wobei die Gewichtung der einzelnen Traditionen häufig in direktem Zusammenhang mit den herausgebenden Personen steht. Wie in dem kommentierenden Überblick zu den globalgeschicht­ lichen Entwürfen deutlich gemacht wird, hat hier eine Suchbewegung für ein neues und globales Bild von der Phi­lo­so­phie­geschichte eingesetzt. Diese Suchbewegung gibt ausreichend und vielfältigen Anlass, die Bedingungen und Möglichkeiten einer globalen Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in grundsätzlicher Weise weiter zu erforschen. Hier tut sich ein neues Forschungsfeld auf, das dringend auf grund­ legende Bearbeitung wartet. Bei der Erforschung dieses Feldes ist Fragen wie den folgenden nachzugehen: Welche Strategien können in Bezug auf die Bestimmung des Philosophiebegriffs angewendet werden, um einen »Kanon« globaler Phi­lo­ so­phie­geschichte herauszubilden? Sollen die Darstellungen allein historisch oder auch systematisch vorgehen? Welche Rolle spielen die verschiedenen Sprachen für eine globale Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung? Können auch mündliche Traditionen des Denkens einbezogen werden? Wie könnte eine Verbindung zwischen den oben erwähnten Phi­lo­so­phie­geschichten beispielsweise in China oder Japan mit europäischen Ansätzen aussehen? In welchem Verhältnis stehen in einer globalen Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung Philosophie und Religion bzw. Philosophie und Philosophie zu beobachten. Inzwischen gibt es zumindest fünf philosophische Institute – in Würzburg, München, Köln, Freiburg und Jena –, an denen professionell über arabische Philosophie gelehrt wird. Im Mai 2014 ist zudem das Institut für Jüdische Philosophie und Religion an der Universität Hamburg eingerichtet worden inklusive eines Masterstudiengangs. 16 Lüsebrink, Hans-Jürgen: Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt. Göttingen 2006. 17 Lee, Eun-Jeung: »Anti-Europa«. Die Geschichte der Rezeption des Konfuzianismus und der konfuzianischen Gesellschaft seit der frühen Aufklärung. Münster 2003.



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die Künste? Welche Rolle spielen Übersetzungs- und Verflechtungsprozesse in den Darstellungen? Diese und viele weitere Fragen sind für den Versuch von hoher Wichtigkeit, eine Geschichte der Philosophie bzw. des Philosophierens in globaler Perspektive zu entwerfen, die zugleich einen neuen »Kanon« für die Phi­lo­so­phie­ geschichte und ihre Darstellung entwirft. Dass wir es uns heute nicht zuletzt aus politischen Gründen nicht mehr leisten können, ausgehend von alten Gewohnheiten und Bildungsverläufen den Blick allein auf die philosophischen Entwicklungen in Europa und Nordamerika zu heften, macht die Tagespolitik oft in trauriger Weise deutlich. Sicher kann eine neue Sicht der Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung die politischen Probleme nicht unmittelbar lösen, aber sie kann dazu beitragen, neue und postkoloniale Perspektiven des Wissens zur Geschichte der Philosophie zu entwickeln, die heute mehr als überfällig sind. Auf der Tagung Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in globaler Perspektive, die vom 6.–8. Oktober 2016 an der Universität Hildesheim stattgefunden hat und die als ­Forum für Philosophie der Deutschen Gesellschaft für Philosophie durchgeführt wurde, ist der Versuch unternommen worden, einigen der genannten Fragen und Perspektiven nachzugehen.18 Für das Fach Philosophie wurde mit dem Tagungsthema innerhalb Deutschlands und darüber hinaus weitgehend Neuland betreten. Es existieren zwar bereits vielfältige Reflexionen zu einzelnen Bereichen der Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung, aber der Versuch, die Probleme einer global orientierten Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in größerem Umfang und in der weiter oben beschriebenen Perspektivierung in die Aufmerksamkeit zu heben und zu reflektieren, ist bisher in der hier vorgelegten Weise noch nicht unternommen worden.19 Für die Tagung konnte nicht erwartet werden, dass alle Fragen, die es zu stellen gilt, ausführlich genug gestellt werden konnten. Es ging vielmehr um den Versuch, im Rahmen der Fachphilosophie Reflexionen zu Problemen und Strukturen einer global orientierten Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung weiter zu ent­wickeln. Mit dem vorliegenden Band wird somit ein Forschungsfeld in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, das dringend weiter zu erforschen und zu entfalten ist. 18

Ein Bericht über die Tagung, in der alle Beiträge einzeln besprochen werden, ist kurz nach der Tagung erschienen: Katrin Wille: Welche Geschichte erzählen wir? Über die Macht der Phi ­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 42:1 (2017), S. 113 – 117. 19 Vor allem ist hier auf die Arbeiten von Franz Martin Wimmer zu verweisen, der bereits sehr früh zum Thema einer globalen Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung gearbeitet hat und mit dafür gesorgt hat, dass in der Zeitschrift polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren zwei Themenhefte zur global orientierten Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung veröffentlicht wurden: Nr. 3 (1999) Andere Geschichten der Philosophie und Nr. 10/11 (2004) Philosophie im 20. Jahrhundert. Zudem sei an dieser Stelle verwiesen auf den Band: Philosophie und Phi­lo­so­ phie­geschichts­schrei­bung in einer veränderten Welt. Theorien – Probleme – Perspektiven. Hg. v. Heinz Kimmerle u. Hamid Reza Yousefi. Nordhausen 2012.

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Der vorliegende Band ist in drei Bereiche unterteilt. Der erste Teil bietet Darstellungen und Reflexionen zur Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung zur bzw. in der außereuropäischen Philosophie. In den Texten werden beispielsweise die chinesischsprachigen Phi­lo­so­phie­geschichten im 20. Jahrhundert thematisiert (Möller/ Sun) oder die Periodisierungsversuche zur indischen Phi­lo­so­phie­geschichte in westlichen Sprachen seit dem 19. Jahrhundert (Franco) oder es werden im Ansatz beide Perspektive in den Blick gebracht, wie beispielsweise für Japan (Maraldo, Elber­feld). Für den afrikanischen (Graneß, Mabe) und südamerikanischen Kontext (Schelkshorn) werden aufgrund der besonderen Bedingungen wiederum andere Darstellungsmodi gewählt. Die einzelnen Aufsätze und Überblicke zeigen nachdrücklich, dass die jeweiligen Bedingungen der Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bungen sehr verschieden sind und daher besonderen Anlass geben, eingehender über die Darstellungsformen nachzudenken. Der zweite Teil bietet drei Aufsätze zur kritischen Reflexion der europäischen Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung im 18. Jahrhundert. Es werden dabei insbesondere die Bedingungen der Ausschließung und Einschließung außereuropäischer Kontexte in der europäischen Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung analysiert (Wimmer, Rüdiger, König-Pralong). Ein weiterer Aufsatz behandelt die Verbindung der antiken griechischen Philosophie mit dem persischen Kulturkontext (Jeck). Der dritte Teil umfasst einen Literaturbericht zu Ansätzen der globalen Phi­lo­so­ phie­geschichts­schrei­bung seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die jüngste Zeit hinein (Elberfeld), den Ansatz für eine Forschungsbibliographie zur Phi­lo­so­ phie­geschichts­schrei­bung in globaler Perspektive (Elberfeld/Krings) sowie eine ausführliche Materialsammlung zur Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in japa­nischer Sprache (Krings). In die Forschungsbibliographie wurden nicht nur Beiträge in »westlichen« Sprachen aufgenommen, sondern auch Texte aus anderen Sprachen. Die Bibliographie zeigt, dass für den Versuch einer globalen Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung nicht nur vielfältige philologische Kenntnisse nötig sind, sondern sie macht mit Nachdruck deutlich, dass dieses Forschungsfeld nur durch größere Anstrengungen und eine Verbundforschung weiter entfaltet werden kann. Die Materialsammlung zur japanischen Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung zeigt, dass die japanischsprachigen Arbeiten einen sehr weiten Rahmen abstecken, der für bestimmte Bereiche (indische, chinesische, japanische und buddhistische Phi­lo­so­phie­geschichte) auch in europäischen Sprachen nur selten oder noch gar nicht erreicht worden ist. Diese Perspektiven sind dringend in den Forschungsrahmen zur Phi­lo­so­phie­geschichts­ schrei­bung einzubeziehen. Für die Realisierung der Tagung bedanke ich mich bei Beate Büscher und der Verwaltung der Universität Hildesheim. Für die finanzielle Unterstützung danke ich der DFG. Für die Übernahme der Druckkosten bedanke ich mich bei der Deut-



Philosophiegeschichtsschreibung in globaler Perspektive

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schen Gesellschaft für Philosophie. Für die Korrektur der Manuskripte habe ich von Marit Breede große Unterstützung erhalten, der ebenfalls mein Dank gilt. Am Ende des Projekts bleibt dem Herausgeber die Hoffnung, dass das Buch in diesem Sinne ein weiterer Baustein für zukünftige Forschungen sein kann.

I. PHI­L O­S O­P HIE­G ESCHI CHTS­S CHREI­B UNG ZUR AUSSEREUROPÄISCHEN PHILOSOPHIE

Konzepte und Modelle der Phi­lo­so­phie­geschichte in Afrika heute Anke Graneß

Versuche, eine philosophische Landkarte Afrikas zu zeichnen, bleiben bis heute eigentümlich leer – auch jene im Philosophie-Atlas von Elmar Holenstein. Der Philosophie-Atlas visualisiert die Ideengeschichte der Menschheit auf verschiedenen Landkarten und verortet somit im wahrsten Sinne des Wortes Ideen und Konzepte und die Wege ihrer Verbreitung.1 Dabei wird deutlich, dass Ideen zwar je in bestimmten Kontexten und an bestimmten Orten entstanden, dies aber selten isoliert, sondern immer im Austausch mit anderen Regionen. Den bleibenden Beitrag Afrikas zur Philosophie sieht Holenstein in der Entwicklung der grundlegenden Fähigkeiten für philosophisches Denken, nämlich der kog­ nitiven Fähigkeiten und des Sprachvermögens.2 Darüber hinaus verzeichnet sein Atlas sehr wenige Beiträge dieses Kontinents zur Geschichte der Philosophie. Nur das alte Ägypten nimmt auf mehreren Karten eine zentrale Position ein, sowohl im Zusammenhang mit der Verbreitung der Schriftkultur und als kulturelles und Handelszentrum als auch als Ort des Ideenaustausches (insbesondere Memphis und Alexandria) von etwa 3000 BCE bis 400 CE3. Auch das alte Äthiopien (Aksum 1

Diese Arbeit wurde unterstützt vom FWF – Der Wissenschaftsfonds (Österreich), V 348 Richter-Programm. 2 Holenstein, Elmar: Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens. Zürich 2004, S. 80. 3 Die Verwendung einer bestimmten Zeitrechnung ist in einem Band zur außereuropäischen Phi­lo­so­phie­geschichte natürlich bereits ein Problem, denn die Entscheidung für eine bestimmte Art der Zeitrechnung und gegen andere ist nicht nur eine Frage persönlichen Geschmacks, der Gewohnheit oder von Konventionen, sondern im interkulturellen Kontext natürlich auch eine politische Frage. Unhinterfragt die christliche Zeitrechnung zu verwenden, ist bereits ein Akt der Dominanz, in dem vorausgesetzt wird, dass dies die ›normale‹ oder ›gewöhnliche‹ Art der Zeitangaben sei. Im akademischen Betrieb hat sich die Verwendung der christlichen Zeitrechnung als allgemeines Referenzsystem weitgehend durchgesetzt – allerdings nicht unbedingt aufgrund ihrer größeren Überzeugungskraft, geht diese doch letztlich von einem angenommenen Geburtsjahr Jesu aus, sondern als Resultat von Kolonisierung und Globalisierung, die alle anderen Arten der Zeitrechnung nach und nach verdrängt haben. Im Rahmen einer Phi­lo­so­phie­geschichte Afrikas wäre es aufgrund des großen Einflusses des Islam in weiten Teilen des Kontinents zum Beispiel auch legitim, die islamische Zeitrechnung zu verwenden. Allerdings ist auch diese religiös und kulturell nicht neutral. Da es nun im akademischen Bereich üblich ist und aus Gründen der besseren Lesbarkeit für die vermutlich mehrheitlich mit der christlichen Zeitrechnung vertrauten Leser/innen benutze ich im Folgenden als Referenzsystem zur Jahreszählung eine auf der christlichen Zeitrechnung (nach dem gregorianischen Kalender) beruhende. Dabei verwende ich die englischen Abkürzungen BCE (Before Common Era = vor der Zeitenwende oder vor der Zeitrechnung) und CE (Common

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zwischen dem 1. und 8. Jahrhundert sowie im 17. Jahrhundert CE), die nordafri­ kanische Küste (zum Beispiel Karthago) oder aber Timbuktu im heutigen Mali (insbesondere im 14. bis 16. Jahrhundert CE) und die Ostküste Afrikas mit der Swahili-Kultur (Mombasa, 14. Jahrhundert CE) sind auf verschiedenen Karten als Handels- und Ideenzentren verzeichnet. Ansonsten gewinnt man den Eindruck, dass philosophische Traditionen und Ideen den afrikanischen Kontinent weiträumig umschifft haben.4 Damit verdeutlicht Holensteins Philosophie-Atlas allerdings nur die Tatsache, dass Afrika, insbesondere südlich der Sahara, in den großen Erzählungen der Phi­lo­so­phie­geschichte nicht als Ort der Philosophie betrachtet wird. Aus diesem Grund findet Afrika in den meisten philosophiegeschichtlichen Überblickswerken auch keine Erwähnung. Diese Leerstelle zu füllen und eine umfassende Geschichte der Philosophien, die sich auf dem afrikanischen Kontinent entwickelt haben, zu schreiben, ist eine der großen Herausforderungen, vor denen die Philosophie in Afrika heute steht. Ein umfassendes Werk dazu ist bisher nicht erschienen, allerdings einige Bücher und Artikel, die sich einzelnen Perioden (insbesondere dem 20. Jahrhundert) widmen, sowie einige einführende Überblickswerke in die Geschichte der Philosophie in Afrika. Die Modelle, die hier verwendet werden, aber auch die Probleme, die mit einer Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in Afrika verbunden sind, möchte ich hier kurz umreißen. Das Schreiben einer Phi­lo­so­phie­geschichte ist kein neutraler oder unschuldiger Prozess im Sinne einer ›objektiven‹ Beschreibung der Entwicklung dieser Wissenschaft oder Denktätigkeit. Schon in der Bestimmung dessen, was Philosophie ist (eine bestimmte Form des Denkens oder eine Wissenschaft und akademische Disziplin), kulminieren alle weiteren Probleme. Denn es macht einen großen Unterschied, ob Philosophie als Form des Denkens oder eben als Wissenschaft und akademische Disziplin verstanden wird. Dabei ist das vorausgesetzte Verständnis von Philosophie, das je nach Ort und Zeit durchaus stark variieren kann,5 entscheiEra = nach der Zeitenwende oder Zeitrechnung), die mir überzeugender erscheinen als die deutsche Abkürzung v. u. Z. = vor unserer Zeitrechnung. Natürlich kann man auch hier kritisch nachfragen, warum diese Ära »common« sei. Holenstein verwendet übrigens ein – (Minuszeichen) und ein + (Pluszeichen) für seine Zeitangaben. BCE/CE scheinen sich im Moment allerdings auf akademischem Gebiet eher durchzusetzen. Neutral ist dieser Versuch natürlich auch nicht, da weiterhin die christliche Zeitrechnung zugrunde liegt. 4 So zum Beispiel auf der Karte zu den »Erdumspannenden Konnexionen der philosophischen Traditionen 16. – 20. Jahrhundert« (Holenstein: Philosophie-Atlas, S. 122), auf der Afrika weitgehend leer bleibt (ebenso wie im Übrigen auch Südamerika). 5 Vgl. Elberfeld, Rolf: Was ist Philosophie? Programmatische Texte von Platon bis Derrida. Stuttgart 2006. Hier versammelt sind Definitionen von Philosophie aus der Geschichte der europäischen Philosophie. Die Sammlung illustriert auf schöne Weise die Unterschiedlichkeit des Verständnisses von Philosophie durch die Jahrhunderte und dass die europäische Tradition selbst über kein einheitliches unumstrittenes Verständnis von Philosophie verfügt.



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dend für das Ein- oder Ausschließen von Konzepten oder Denker/innen aus der Erzählung der Geschichte der Philosophie. Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung ist im Grunde ein selektiver Prozess, der Bedeutungen produziert und in dem ein Kanon formiert wird, der für das weitere Verständnis von Philosophie ausschlaggebend sein und somit zu einem Herrschaftsdiskurs werden kann. Denn ausgeschlossen wird, was nicht den diskursiven Regeln entspricht, an deren Zustandekommen wiederum fast ausschließlich europäische und nordamerikanische Philosophen beteiligt waren und weiterhin sind. Aus diesem Grund muss sich eine Phi­lo­so­phie­ geschichts­schrei­bung aus globaler oder interkultureller Perspektive der kanonformenden Macht des Diskurses ebenso bewusst sein wie der asymmetrischen Machtverhältnisse in der Akademie. Fragen wie: Warum schreiben wir eine Geschichte der Philosophie? Welche Interessen und Ziele verbergen sich hinter diesen Erzählungen? Welche Traditionen, Denker/innen und Begriffe werden eingeschlossen bzw. ausgeschlossen? Und warum? Und wie wollen wir die Geschichte der Philosophie heute weiterschreiben? – müssen stets mit reflektiert werden. Gerade das Beispiel Afrika macht deutlich, wie fatal die Auswirkungen eines Herrschaftsdiskurses in der Philosophie sein können: Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts werden philosophische Traditionen und Denker/innen Afrikas aus fast jeder in Europa oder Nordamerika entstandenen Phi­lo­so­phie­geschichte ausgeschlossen.6 Darüber hinaus ist die rassistische Unterstellung einer Unfähigkeit der Afrikaner/innen zu Rationalität und Logik weiterhin weit verbreitet. Auch aus diesem Grund steht die Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in Afrika vor ganz spezifischen Herausforderungen. Dazu gehört die Frage nach dem Umgang mit kolonialen und rassistischen Vorurteilen und Stereotypen, nach dem Umgang mit den durch den Kolonialismus verursachten epistemischen Brüchen wie der Auslöschung oder Veränderung ideengeschichtlicher Traditionen, die Frage nach der Möglichkeit der adäquaten Wahrnehmung afrikanischer Lebenswelten und Ideengeschichte in Vergangenheit und Gegenwart durch den Filter europäischer Sprachen, die heute offizielle Landessprachen in den meisten afrikanischen Ländern sind, und auch die Sprache der akademischen Diskurse oder die Auseinandersetzung mit den asymmetrischen Bedingungen der Wissensproduktion in Vergangenheit und Gegenwart. Aber dazu gehören auch methodologische Fragen einer Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung wie die nach dem Umgang mit dem philosophiVielmehr hat sich der Philosophiebegriff aufgrund verschiedener historischer Umstände, wie die Entwicklung der Wissenschaften, der Einfluss der Religionen (siehe z. B. Martin Luther und die Reformation), Entwicklungen in Kunst, Kultur und Technologie oder ökonomische Entwicklungen (Kapitalismus und Kolonialismus), in den Debatten ständig verändert. 6 Erfreuliche Ausnahmen sind hier: Garfield, Jay L. / Edelglass, William (Hg.): Oxford Handbook of World Philosophy. Oxford 2011. King, Peter J.: One hundred philosophers. The Life and Work of the World’s Greatest Thinkers. London 2004.

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schen Erbe in oralen Traditionen, wo materielle Artefakte, wie ein schriftlich überlieferter Text, fehlen und die Autor/innen von Ideen oder Konzepten zumeist nicht bekannt sind, oder der Umgang mit verschiedenen Ursprüngen und gebrochenen oder fragmentarischen Traditionen, für die sich eine nahtlose Debatte mit Vorgängern und Nachfolgern nicht nachweisen lässt. Damit stellt sich ganz grundsätzlich die Frage nach den zulässigen Quellen, die im Rahmen einer globalen Phi­lo­so­phie­ geschichts­schrei­bung neu diskutiert werden muss. Denn werden Schriftlichkeit, Text und Autorenschaft zum entscheidenden Kriterium für die Aufnahme in eine Phi­lo­so­phie­geschichte, werden weite Teile der Welt aus einer Phi­lo­so­phie­geschichte von vornherein ausgeschlossen, ebenso im Übrigen wie ein Teil der europäischen Philosophietradition, denn weder von Thales noch von Sokrates liegen überkommene Manuskripte vor, sondern nur Zeugnisse aus zweiter Hand. Ganz grundsätzlich erfordert das Herangehen an eine Phi­lo­so­phie­geschichte Afrikas zunächst: 1. das Abstecken des geografischen Rahmens und die Beantwortung der Frage »Was ist Afrika?« 2. das Abstecken des Zeitrahmens und eine Auseinandersetzung mit der Frage »Wann beginnt Philosophie in Afrika?« Ich werde mich im Folgenden mit diesen beiden Fragen etwas näher beschäftigen und in diesem Zusammenhang einige Modelle der Klassifizierung und Periodisierung der Philosophie in Afrika vorstellen.

1.  Das Abstecken des geografischen Rahmens: Was ist Afrika?

Afrika ist der zweitgrößte Kontinent der Erde. Im Gegensatz zu Europa, wo Kontinentalgrenzen durch Erdmassen gezogen wurden und somit etwas eher Willkürliches haben, ist Afrika ein geografisch durch seine Küsten klar abgrenzbarer Erdteil. Aber die auf den ersten Blick scheinbar einfach zu beantwortende Frage »Was ist Afrika?« entpuppt sich bei näherem Hinsehen als durchaus komplizierte und über den Verlauf geografisch festgelegter Grenzen weit hinausweisende Frage. Denn sie verweist auf die verschiedenen Bedeutungsschichten des Begriffs »Afrika«, auf Bilder, Assoziationen, Metaphern, auf Attribute und Eigenschaften, auf jahrhundertelang tradierte Vorstellungen, die nicht viel mit geografischen Grenzen zu tun haben. Da wäre zunächst der Umstand, dass die kontinentale und geschichtliche Einheit Afrikas sowohl im Alltagsbewusstsein vieler Menschen als auch im Rahmen akademischer Diskurse und Disziplinen im Wesentlichen ignoriert und Afrika in zwei Teile, nördlich und südlich der Sahara, eingeteilt wird. Dabei wird der Teil nördlich der Sahara als »nicht eigentlich« Afrika zugehörig betrachtet, sondern



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als Bestandteil der »arabischen Welt«, die wiederum keine geografische Einheit bezeichnet. Die »arabische Welt« definiert sich über die Dominanz der arabischen Sprache und den Einfluss des Islam.7 Die nördliche Mittelmeerküste Afrikas, insbesondere Ägypten, wird auch gerne als der »Mittelmeerkultur« zugehörig betrachtet, die nun wiederum weder sprachlich noch religiös definiert werden kann, sondern lediglich geografisch über die Anbindung ans Mittelmeer. Auch diese Region wird häufig nicht als Bestandteil des »eigentlichen« Afrika betrachtet. Das »eigentliche« Afrika beginnt im Verständnis vieler erst südlich der Sahara. Auch Madagaskar wird oft gesondert betrachtet. Mit dem Begriff »eigentlich« sind wir bei der nächsten Bedeutungsschicht des Begriffs Afrika, nämlich der kolonialen Gleichsetzung mit dem Bild von Wildheit, Hitze, »primitiven« Kulturen, Schwärze – oder Unterentwicklung, Hunger, Krankheiten und ständigen Bürgerkriegen und Chaos, wie es im heutigen Sprachgebrauch eher der Fall ist. Dabei wird deutlich, dass eine Abtrennung bestimmter geografischer Bestandteile Afrikas in kultureller und ideengeschichtlicher Perspektive in dem Wunsch begründet liegt, sowohl die hochgeschätzte Kultur des alten Ägypten als auch jene der arabischen Welt von eben jenem »wilden schwarzen und chaotischen« Afrika abzutrennen, dem Kultur, Wissenschaft und überhaupt Rationalität abgesprochen werden. Ein solches unhistorisches Herangehen negiert die jahrtausendealten Verbindungen zwischen allen Teilen Afrikas, auf denen nicht nur Handel betrieben wurde, sondern auch Ideen ausgetauscht. Auch die historische Verankerung des Islam in den Ländern südlich der Sahara, und zwar seit dem 11. Jahrhundert in Westafrika und bereits deutlich früher noch an der ostafrikanischen Küste (seit dem 8. Jahrhundert), wird in einem solchen Herangehen ausgeblendet. Eine Geschichte der Philosophie Afrikas kann die kontinentale Einheit allerdings ebenso wenig negieren wie den über den Kontinent hinausgehenden Austausch von Ideen und Konzepten, zum Beispiel mit der arabischen Halbinsel und dem Mittleren Osten oder über die transatlantische Achse. Denn interessanterweise geht der Begriff Afrika nicht nur mit einer geografischen Reduktion einher, sondern oft auch mit einer geografischen Ausweitung. Er umschließt häufig auch die afrikanische Diaspora, insbesondere die Nachfahren der verschleppten Sklaven in beiden Amerikas und in der Karibik. Mit Bezug auf die Philosophie ist es hier vor allem die Africana philosophy8, die zu einer Herausforderung für die Bestimmung dessen wird, was unter »afrikanischer Philosophie« zu verstehen ist und was unser Forschungsgegenstand »Geschichte der Philosophie Afrikas« überhaupt umfasst. Unter Africana philosophy wird die Arbeit von Philosophen/innen afrikanischen Ursprungs verstanden, die sich mit der Lebenserfahrung der afrikanischen Dia7 8

Die Arabische Liga umfasst 22 Staaten. Dazu gehören auch Somalia und der Sudan. Gordon, Lewis: Introduction to Africana philosophy. Cambridge, UK; New York 2008.

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spora auseinandersetzt.9 Sowohl das Beziehen auf ein intellektuelles und kulturelles afrikanisches Erbe (z. B. Kosmologien, Götter und Religionen oder Werte und Normen) als auch die geteilte Erfahrung von Sklaverei und Zwangsarbeit, von Kolonialismus und Rassismus, von Ausgrenzung und Abwertung sind Gemeinsamkeiten, die die Produktion von Philosophie in Afrika und der Diaspora prägen. Die intellektuelle Arbeit der Diaspora hat zudem die Entwicklung der Philosophie in Afrika im 20. Jahrhundert stark beeinflusst. Erinnert sei hier nur an die Wirkung der Harlem Renaissance auf die Négritude oder an den Einfluss Aimé Cesaires oder Frantz Fanons (beide aus Martinique) auf den Diskurs der Philosophie in Afrika, der bis heute anhält. Insofern ist natürlich auch nach dem Stellenwert der Philosophie der Diaspora in einer Phi­lo­so­phie­geschichte Afrikas zu fragen. Mit Blick auf die verborgenen (und oft gar nicht so verborgenen) Metaphern und Machtdiskurse, die bereits in der Bestimmung des Forschungsgegenstandes Afrika liegen, ist es nicht verwunderlich, dass die Frage »Was ist Afrika?« viele afrikanische Geisteswissenschaftler/innen in den letzten Jahrzehnten intensiv beschäftigt hat.10 Es war vor allem der kongolesische Philosoph und Literaturwissenschaftler Valentin Y. Mudimbe, der die Konstruktion Afrikas mittels der an Foucault angelehnten Methode der Archäologie des Wissens untersucht hat. Mudimbe spricht in seinem einflussreichen Buch The Invention of Africa (1988)11 ausdrücklich von einer Erfindung Afrikas.12 In seiner Analyse wird deutlich, dass die Reduktion eines so großen und heterogenen Kontinents auf einige wenige Stereotype im Wesentlichen ein Produkt des 19. und 20. Jahrhunderts ist. Und der kamerunische Philosoph Fabian Eboussi-Boulaga bezeichnet die Entstehung eines afrikanischen »Wir-Subjekts« sogar als das größte Phänomen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.13   9

»[…] the name does not refer to a particular philosophy, philosophical system, method, or tradition. Rather, Africana philosophy is a third-order, metaphilosophical, umbrella-concept used to bring organizing oversight to various efforts of philosophizing – that is, activities of reflective, critical thinking and articulation and aesthetic expression – engaged in by persons and peoples African and of African descent who were and are indigenous residents of continental Africa and residents of the many African Diasporas worldwide.« Outlaw Jr., Lucius T.: Africana Philosophy. In: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2016 Edition), Edward N. Zalta (ed.), URL = 10 Siehe Macamo, Elisio S.: Was ist Afrika? Zur Geschichte und Kultursoziologie eines modernen Konstrukts. Berlin 1999. Oder siehe David Simo: Was ist Afrika? Postkoloniale Konstruktionen von Afrikabildern. In: Das Bild von Afrika. Von kolonialer Einbildung und transkultureller Verständigung. Interdisziplinäre Beiträge zum Afrikabild in den Wissenschaften. Hg. v. Aïssatou Bouba u. Detlev Quintern. Berlin 2010, S. 75 – 88. 11 Mudimbe, Valentin Y.: The Invention of Africa: gnosis, philosophy, and the order of knowledge. Bloomington 1988. 12 Siehe Bechhaus-Gerst, Marianne/Gieseke, Sunna (Hg.): Koloniale und postkoloniale Konstruktionen von Afrika und Menschen afrikanischer Herkunft in der deutschen Alltagskultur. Frankfurt/M. 2006. 13 »Le surgissement d’un ›nous-sujet‹ africain est le phénomène humaine majeur de ce siècle



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Achille Mbembe, Historiker und Philosoph aus Kamerun, diskutiert in seinem Buch Die Kritik der schwarzen Vernunft (2014)14 unter der bezeichnenden Überschrift »Der Brunnen der Phantasmen« einige der Bilder und Metaphern, die der Begriff »Afrika« evoziert. Er stellt fest, dass das Wort »Afrika« insbesondere in der Moderne zwei Dinge bezeichnet: »eine umstrittene, in absoluter Unsicherheit und Seinsleere gefangene Gestalt des Menschlichen« und »die allgemeine Frage der Unentwirrbarkeit des Menschlichen, des Tiers und der Natur, des Todes und des Lebens«.15 »Im modernen Bewusstsein ist ›Afrika‹ der Name, den man ganz allgemein den für unfähig gehaltenen Gesellschaften beilegt, das heißt den Gesellschaften, die unfähig sind, das Universelle hervorzubringen oder davon Zeugnis abzulegen«,16 so Mbembe. Afrika ist eine »lebende Figur der Andersartigkeit«, das »Sinnbild einer dunklen und blinden Kraft, gefangen in einer gleichsam präethischen und präpolitischen Zeit«.17 Dabei zählt die Entsprechung zwischen Worten, Bildern und Tatsachen im Falle Afrikas nur wenig, schreibt Mbembe, sondern hier »zählt allein die Macht des Falschen«.18 Und somit wird der Begriff Afrika zur »Urform des Beliebigen – die Beliebigkeit der Bezeichnungen, denen nichts Besonderes zu entsprechen scheint außer dem anfänglichen Vorurteil in seiner endlosen Regression«.19 Es gibt bis heute kein Entrinnen vor jenen tief verwurzelten Stereotypen und Vorurteilen, die behaupten, dass »Afrika« oder »die Afrikaner« emotional und wenig rational seien und ergo zu Logik, Wissenschaft und Philosophie unfähig. Und so kann eine Phi­lo­so­phie­geschichte Afrikas nicht geschrieben werden, ohne sich mit Hegels Afrika-Bild auseinanderzusetzen, denn die Beschreibung des vorkolonialen Afrika als »unhistorisch«20 und »primitiv«21 ist bis heute eines der Haupthindernisse für eine vorurteilslose und gründliche Erforschung der Geschichte der Philosophie in dieser Region der Welt. Aufgrund der Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit kolonialen Bildern, Metaphern, wirkmächtigen Vorurteilen und dem bis heute bestehenden Legitimaen sont second versant, du moins pour nous«. Eboussi-Boulaga, Fabian: A contretemps: l’enjeu de Dieu en Afrique. Paris 1991, S. 67 f. 14 Mbembe, Achille: Kritik der schwarzen Vernunft. Frankfurt/M. 2014. 15 Ebd., S. 100. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 101. 18 Ebd., S. 105. 19 Ebd. 20 Hegels Beschreibung Afrikas in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (veröffentlicht 1837, gehalten 1822/23 bis 1830/31), in denen er die Einwohner Afrikas als weder zu Bildung noch Entwicklung fähig, als gefangen in Aberglauben und Fetischismus, ohne jegliche Sittlichkeit und Moral beschreibt, sind sehr bekannt und wurden bereits häufig zitiert. Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Band I: Die Vernunft in der Geschichte. Hg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 1994, S. 234. 21 Ebd., S. 217.

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tionsdruck bei einer Beschäftigung mit Philosophie in Afrika sowie den Auswirkungen der politisch-ökonomischen Asymmetrien der Welt auf die Produktion von Wissen – also all dem, was heute auch als Fortbestehen der kolonialen Matrix der Macht22 bezeichnet wird – gehen Fragen einer Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung für Afrika über die Grenzen der Disziplin Philosophie hinaus und ist das Schreiben einer Phi­lo­so­phie­geschichte Afrikas zugleich immer auch eine politische Aufgabe. Denn Phi­lo­so­phie­geschichte ist hier Bestandteil der Geschichte des intellektuellen und institutionellen Befreiungskampfes und der Selbstbestimmung ehemals kolonisierter Länder im Kontext der Weltgeschichte und einer dominanten Form der Erzählungen dieser Weltgeschichte. Dies erklärt die Bedeutung ebenso wie die Schwierigkeiten einer Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung für Afrika: Jeder Versuch ist ein politisch aufgeladener – von Beginn an. Aus dieser Perspektive betrachtet ist die Beschäftigung mit den Ursprüngen der Philosophie und Wissenschaft nicht einfach eine Frage der Neugier, sondern jeweils auch eines politisch aufgeladenen Gedächtnisses. Afrika, das wird bei einem kurzen Blick in die Literatur deutlich, ist also mehr als eine geografische Entität. Es ist eine Metapher bzw. eine theoretische Konstruktion, die, wie Elisio Macamo betont, zu einer empirischen Realität und damit wirkmächtig wurde.23 Angesichts des unsicheren begrifflichen Terrains ist somit bereits die Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes einer Phi­lo­so­phie­geschichte Afrikas durchaus schwierig. Aber auch die Eingrenzung eines zeitlichen Rahmens ist nicht unproblematisch.

2. Fragen der Periodisierung und Systematisierung oder die Frage nach dem Beginn

Die Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung ist in Afrika, lässt man die arabisch-islamische Philosophie Nordafrikas hier für einen Moment beiseite und beschränkt sich auf das Afrika südlich der Sahara, eine sehr junge Disziplin. Erste Versuche, die Entwicklung der Philosophie in Afrika zu systematisieren, gehen auf die 1970er und 1980er Jahre zurück. Natürlich könnte man Cheikh Anta Diop, den berühmten senegalesischen Historiker, Anthropologen und Ägyptologen, und sein Buch Nations

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Walter Mignolo verwendet diesen Begriff (im Anschluss an Anibal Quijano) zur Beschreibung einer Machtmatrix, die das Wissen der ehemals Kolonisierten disqualifiziert und das Wissen der ›westlichen‹ Welt als einzig wahres Wissen universalisiert. Mignolo, Walter: The Darker Side of Western Modernity: Global Futures, Decolonial Options. Durham/London 2011, ab S. 8. 23 Macamo: Was ist Afrika?, S. 218 f.



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nègres et culture (1954)24, mit dem Mitte des 20. Jahrhunderts die Diskussion um den Ursprung der Philosophie im alten Ägypten im Wesentlichen ausgelöst wurde, an den Beginn der modernen Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung Afrikas setzen, allerdings waren es erst Marcien Towa (1971)25, Paulin Hountondji (1976)26, Henry Odera Oruka (1981)27, Henry Olela (1981)28 oder auch Claude Sumner (1974 – 1978)29 mit seinen Arbeiten zur Philosophie im alten Äthiopien, die versuchten, philosophische Schulen und Traditionen auf dem afrikanischen Kontinent zu systematisieren. Umfassendere Arbeiten zur Geschichte der Philosophie in Afrika entstanden erst in den 1990er Jahren und später (Obenga 199030, Masolo 199431, Onyewuenyi 199332, Osuagwu 199933, Hallen 200234, Wiredu 200435). Allerdings sind diese Arbeiten noch kein Versuch einer umfassenden Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung: Towa, Odera Oruka, Masolo und Hallen beschränken sich auf das 20. Jahrhundert; Obenga, Onyewuenyi und Olela auf die Frage nach dem Beginn der Philosophie im alten Ägypten, Hountondji wirft schlaglichtartig Blicke auf verschiedene Epochen und Debatten, von Anton Wilhelm Amo bis Kwame Nkrumah, von Placide Tempels Diop, Cheikh Anta: Nations nègres et culture. Paris 1954. Zweite Auflage 1955 unter dem Titel: Nations nègres et culture: de l’antiquité nègre-égyptienne aux problèmes culturels de l’Afrique noire d’aujourd’hui. Paris 1955. 25 Towa, Marcien: Essai sur la problématique philosophique dans l’Afrique actuelle. Yaoundé 1971. 26 Hountondji, Paulin: Sur la »philosophie africaine«: critique de l’ethnophilosophie. Paris 1976. Dt: Afrikanische Philosophie: Mythos und Realität. Berlin 1993. 27 Odera Oruka, Henry: Four trends in current African philosophy. In: Symposium on philosophy in the present situation of Africa. Hg. v. Alwin Diemer. Wiesbaden 1981. Siehe auch: Odera Oruka, Henry: Trends in contemporary African philosophy. Nairobi 1990. 28 Olela, Henry: From ancient Africa to ancient Greece: an introduction to the history of philosophy. Atlanta 1981. 29 Siehe u. a. Sumner, Claude: The treatise of Zär’a Ya‘e̳qob and of Wäldä He̳ y w·at: text and .    authorship. Addis Ababa1976 – 1978. Ders.: Ethiopian philosophy / 5: the Fisalgwos. Addis Ababa 1982. Ders.: The Book of the wise philosophers. Addis Ababa 1974. 30 Obenga, Théophile: La philosophie africaine de la période pharaonique, 2780 – 330 avant notre ère. Paris 1990. 31 Masolo, Dismas A.: African philosophy in search of identity. Bloomington 1994. 32 Onyewuenyi, Innocent: African Origin of Greek Philosophy: An Exercise in Afrocentrism. Enugu 1993. 33 Osuagwu, Innocent Maduakolam: African historical reconstruction: a methodological option for African studies: The North African case of the ancient history of philosophy. Owerri 1999. Ders.: A contemporary history of African philosophy. Owerri 1999. Ders.: Early medieval history of African philosophy: the Africanity of the early medieval history of philosophy or of the Christian phase of North African Catholic thinkers. Owerri 2001. Ders.: A modern history of African philosophy: focus on Anton Wilhelm Amo, an African philosopher in 18th century German diaspora. Owerri 2010. 34 Hallen, Barry: A short history of African philosophy. 2nd ed. Bloomington 2009. First edition: 2002. 35 Wiredu, Kwasi (Hg.): A companion to African philosophy. Oxford 2004. 24

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bis zur Kritik der Ethnophilosophie, und Sumner beschränkt seine Forschungen auf Äthiopien. Auch Heinz Kimmerle36, der einer der Ersten war, der Konzepte, Schulen und Vertreter der Philosophie in Afrika im deutschsprachigen Raum bekannt machte, verstand seine Einführungen nicht in erster Linie als Beitrag zu einer Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung. Einzig Osuagwu versucht einen Bogen vom alten Ägypten bis ins 20. Jahrhundert zu schlagen. Mit Blick auf die bisher vorliegenden Versuche einer Rekonstruktion der Geschichte der Philosophie in Afrika lassen sich die drei folgenden Arten des Herangehens unterscheiden:

a)  Das chronologische Herangehen und die Frage nach dem Anfang

Die Grundfrage eines chronologischen Ansatzes ist natürlich die Frage nach dem Beginn der Philosophie, die durchaus unterschiedlich beantwortet wird.37 Die Antwort auf diese Frage ist eng mit dem jeweils zugrunde gelegten Philosophiebegriff verknüpft: Wie wird das Verhältnis zwischen Mythos und Philosophie oder zwischen Weisheit und Philosophie verstanden? Wird Philosophie an Schriftlichkeit gebunden? Wird Philosophie als eine Wissenschaft verstanden oder als eine bestimmte Art des Wissens und Denkens? Wann und wo der Beginn der Philosophie angesetzt wird, hängt entscheidend von der Beantwortung dieser Fragen ab. Die Mehrheit der Philosophen/innen vertritt heute die Auffassung, dass Philosophie im antiken Griechenland entstanden ist. »Mit Thales beginnen wir eigentKimmerle, Heinz: Philosophie in Afrika – afrikanische Philosophie. Annäherungen an einen interkulturellen Philosophiebegriff. Frankfurt/M. 1991. Ders.: Die Dimension des Interkulturellen. Philosophie in Afrika – afrikanische Philosophie. Zweiter Teil: Supplemente und Verallgemeinerungsschritte. Amsterdam, Atlanta 1994. Ders.: Afrikanische Philosophie im Kontext der Weltphilosophie. Nordhausen 2005. 37 Zu den Autoren, die einem chronologischen Herangehen an die Geschichte der Philosophie in Afrika folgen, gehören unter anderem: Smet, Alfons-Josef: Projet d’une histoire de la pensée africaine. In: ders.: Notes d’histoire de la pensée africaine: texte revu. Kinshasa 1975 – 1977, S. 3 – 82. Biyogo, Grégoire: Histoire de la philosophie africaine. 4 Vol. Paris 2006 – 2009. Ndjana, Hubert Mono: Histoire de la philosophie africaine. Paris 2009. Makumba, Maurice M.: Introduction to African philosophy: past and present. Nairobi 2007. Hallen, Barry: Das erste Kapitel seiner Short history of African philosophy gibt einen sehr kurzen Überblick vom alten Ägypten bis Anton Wilhelm Amo auf zwanzig Seiten. Diese Einführung widmet sich dann aber ausschließlich dem 20. Jahrhundert, insbesondere im anglophonen Afrika. Auch Gordon (siehe Fn. 8) beginnt im 18. Jahrhundert, fokussiert aber vor allem auf die Entwicklung der afro-amerikanischen Philosophie und betrachtet dazu deren verschiedene Wurzeln. 36



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lich erst die Geschichte der Philosophie«, lesen wir bei Hegel38 und bereits einige Jahre vor ihm schrieb Dietrich Tiedemann: »Mit Thales […] hebt die Geschichte der Weltweisheit so lange an, bis man vor ihm Jemanden wird auffinden, der auf Ansehen der Vernunft seine Lehren gegründet hat.«39 Diese Auffassung hat sich bis heute erhalten und findet sich in Klassikern der Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung, wie Karl Vorländer40 oder dem Ueberweg41, ebenso wie in jüngsten (populärwissenschaftlich) verfassten Phi­lo­so­phie­geschichten von Ralf Ludwig42 oder Richard David Precht43, um hier nur auf den deutschsprachigen Raum zu verweisen, und wird auch so an Schulen und Universitäten in Europa und Nordamerika gelehrt. Zumeist geht mit dieser Annahme die Auffassung von einem Fortschreiten der Vernunft bzw. einer Entwicklung (im Sinne einer Höherentwicklung) des (philosophischen) Denkens einher, in der sich Theorien zunehmend ausdifferenzieren und am Ende ein höherer Erkenntnisgewinn als am Anfang der Entwicklung steht bzw. ein Fortschreiten der Annäherung an die Erkenntnis der Wahrheit. Der Idee eines linearen Verlaufs der Entwicklung der Philosophie und damit der Suche nach einem Anfang folgen auch die meisten afrikanischen Philosophen.44 Allerdings werden große Zweifel an der Absolutheit des griechischen Modells erhoben. Den Beginn der Philosophie im antiken Griechenland anzusiedeln, hat seit Mitte des 20. Jahrhunderts, insbesondere in den 1980er/1990er Jahren mit der Black Athena Debatte, zu heftigen Kontroversen geführt. Während eine Gruppe von Historikern und Philosophen, dazu gehören Cheikh Anta Diop, Theophile Obenga, Martin Bernal45, Molefi Kete Asant46 und Maulana Karenga47 (die auch gerne als Afrozentristen bezeichnet werden), Ägypten zum Ausgangspunkt der Philosophie Hegel, G.W.F.: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Leipzig 1982. S. 160. Tiedemann, Dietrich: Der Geist der spekulativen Philosophie. Marburg 1791 – 97, S. XIX. 40 Vorländer, Karl: Geschichte der Philosophie. Leipzig 1911. 41 Flashar, Hellmut / Bremer, Dieter / Rechenauer, Georg (Hg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie, begründet von Friedrich Ueberweg. Die Philosophie der Antike. / Band 1, Frühgriechische Philosophie. Basel 2013. 42 Ludwig, Ralf: Philosophie für Anfänger: von Sokrates bis Sartre: ein Wegbegleiter durch die abendländische Philosophie. München 2015. Wobei hier anzuerkennen ist, dass Ludwig im Titel darauf verweist, dass er die abendländische Geschichte der Philosophie im Blick hat und nicht alle Philosophie. 43 Precht, Richard David: Erkenne die Welt: Geschichte der Philosophie 1. München 2015. 44 Interessanterweise nehmen afrikanische Philosophinnen kaum an den philosophie­h is­ torischen Debatten teil. Zumindest ist mir bis heute keine afrikanische Philosophin bekannt, die zu diesem Thema gearbeitet hätte. 45 Bernal, Martin: Black Athena: the Afroasiatic roots of classical civilization. New Brunswick/N. J. 1987. 46 Asante, Molefi Kete: The Egyptian philosophers: ancient African voices from Imhotep to Akhenaten. Chicago 2000. 47 Karenga, Maulana: Maat, the moral ideal in ancient Egypt: a study in classical African ethics. New York 2004. 38 39

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im Allgemeinen und der afrikanischen Philosophie im Besonderen machen, wird diese These von anderen heftig angefochten. Gegen einen Anfang der Philosophie im alten Ägypten werden verschiedene Argumente ins Feld geführt: – Zweifel daran, ob die Überlieferungen aus dem alten Ägypten überhaupt Philosophie seien und nicht eher in die Kategorie Weisheit fallen, – die Auffassung, dass in einer Despotie und unter einer starken Priesterschaft Philosophie nicht möglich sei, – mit Bezug auf die afrikanische Phi­lo­so­phie­geschichte: das Fehlen von nachweisbaren Traditionslinien ins Afrika südlich der Sahara – oder: das Zuordnen des alten Ägypten zu einer mediterranen Kultur. Werden Ägypten und auch das alte Äthiopien48 als Ursprungsorte der Philosophie aus den genannten Gründen ausgeschlossen, wird der Beginn der Philosophie in Afrika erst sehr viel später angesetzt, nämlich gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit den Aufzeichnungen afrikanischer Weltanschauungen oder Philosophien durch westliche Missionare oder Ethnologen.49 Wieder andere verlegen den Beginn der Philosophie in Afrika in die Jahre vor den Zweiten Weltkrieg und verbinden ihn mit der Entstehung der literarisch-philosophischen Strömung der Négritude in den 1930er Jahren in Paris. Lange Zeit galt in den Debatten auch das Werk eines belgischen Franziskanerpaters, nämlich Placide Tempels’ Buch La Philosophie Bantoue (1945)50, als Anfang der afrikanischen Philosophie. Das Buch eines weißen Missio48

Vgl. die Arbeiten von Claude Sumner (siehe Fn. 29). In der Folge wurde vor allem Zera Yacobs Hatata (Untersuchung oder Abhandlung) aus dem 17. Jahrhundert mehrfach interpretiert und diskutiert. Dt. Ausgabe: Zär’a Yaqob: eine äthiopische Weltanschauung. Hg. v. Victoria Frysak u. Bekele Gutema. Wien 2008. Siehe u. a. die Artikel von Sumner: The light and the shadow: Zera Yacob and Walda Heywat: Two Ethiopian philosophers of the Seventeenth Century. In: Wiredu: A Companion to African Philosophy, S. 172 – 182. Kiros, Teodros: Zera Yacob and Traditional Ethiopian Philosophy. In: Wiredu: A Companion to African Philosophy, S. 183 – 190. Gutema, Bekele: Zarayaqob: Ein äthiopischer Philosoph. In: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, Nr. 7 (2001), S. 68 – 74. Siehe auch den folgenden Blog: https:// ethiopianphilosophy.wordpress.com/ 49 Diese Auffassung vertritt zum Beispiel Jürgen Hengelbrock, der eine afrikanische Phi­lo­ so­phie­geschichte in der Missionsgeschichte Afrikas ansetzen würde, da es Missionare waren, die afrikanisches Denken als dem europäischen gleichwertig erfasst und dargestellt haben. Er verweist darauf, dass es schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Kongo Artikel über die Philosophien afrikanischer Völker gab. 50 Tempels, Placide: La Philosophie Bantoue. Elisabethville 1945. Paulin Hountondji steht dieser These kritisch gegenüber und bezeichnet die Bantu-Philosophie des belgischen Missio­ nars als »Vorläufer der afrikanischen Philosophie«. Hountondji: Afrikanische Philosophie – Mythos und Realität, S. 23. Für ihn ist Philosophie an Schriftlichkeit, an Wissenschaft und an Kontinuität gebunden. Diese Bedingungen werden im Wesentlichen erst ab dem 20. Jahrhundert erfüllt.



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nars zum Beginn der Philosophie in Afrika zu machen, ist sicherlich ein Problem. Richtig ist allerdings der Verweis, dass Philosophie als akademische Disziplin im Afrika südlich der Sahara im Wesentlichen erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann.51 Heute setzt sich die Auffassung, dass die Philosophie im alten Ägypten beginnt, unter afrikanischen Philosophen und Philosophiehistorikern immer mehr durch. So findet sich diese Auffassung nicht mehr nur bei den Vertretern der sogenannten afrozentrischen Perspektive, sondern auch unter dem Stichwort philosophy in der Oxford Encyclopaedia of African Thought52 und in verschiedenen einführenden Werken der letzten Jahre (Biyogo, Ndjana, Makumba, Hallen, ebenso in der Anthologie von Wiredu). Auch der nigerianische Philosophiehistoriker Maduakulam Osuagwu vertritt diese Auffassung. Osuagwu hat das bisher vielleicht umfangreichste Werk zur Phi­lo­so­phie­geschichte Afrikas verfasst und auch das einzige, das sich mit der Methode einer Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung für Afrika und der Frage, ob europäische Modelle auf die afrikanische Situation Anwendung finden sollten, beschäftigt. In seinem 1999 erschienenen ersten Band einer mehrbändigen Reihe zur Phi­lo­so­phie­geschichte in Afrika unter dem Titel African historical reconstruction: a methodological option for African studies entscheidet er sich dafür, der europäischen Variante der Periodisierung zu folgen, setzt den Beginn der Philosophie allerdings wesentlich früher an. Er schlägt eine Unterteilung in vier53 Perioden vor: Der kongolesische Philosoph Phambu Ngoma-Binda diskutiert zwar die These von der Entstehung der Philosophie im alten Ägypten, setzt seine Betrachtungen dann aber auch im Wesentlichen im 20. Jahrhundert und mit Tempels an. La philosophie Africaine contemporaine. Analyse historico-critique. Kinshasa 1994. Siehe auch Jürgen Hengelbrock: Ein interkultureller Denker. Hommage an Placide Tempels. In: Von der Hermeneutik zur interkulturellen Philosophie. Festschrift für Heinz Kimmerle zum 80. Geburtstag. Nordhausen 2010, S. 385 – 397. 51 Vgl. Hoffmann, Gerd-Rüdiger: Wie und warum im subsaharischen Afrika Philosophie entstand. In: Wie und warum entstand Philosophie in verschiedenen Regionen der Erde? Hg. v. Ralf Moritz, Klaus-Dieter Eichler, Hiltrud Rüstau u. Gerd-Rüdiger Hoffmann. Berlin 1988, S. 195. Mit Philosophie als Disziplin und Bestandteil des akademischen Betriebes hat Hoffmann sicherlich recht. Allerdings müssen auch hier Einschränkungen gemacht werden, denn in der weißen Siedlerkolonie Südafrika gab es Philosophie als akademische Disziplin bereits seit 1873, als an der Universität Kapstadt begonnen wurde, englischen Empirismus zu unterrichten. Und bereits 1859 gab es Kurse zur Geschichte der Philosophie an der theologischen Schule in Stellenbosch. Natürlich wurde hier ausschließlich europäische Philosophie unter­ richtet. 52 Irele, Abiola / Jeyifo, Biodun (Hg.): Oxford Encyclopaedia of African Thought. 2 Bde., ­Oxford 2010. 53 Eine Unterteilung in drei Perioden finden wir bei Masolo: African philosophy in Search of identity, oder auch bei Keita, Lancinay: African Philosophical Tradition. In: African Philosophy: An Introduction. Hg. v. Richard A. Wright. Lanham ³1984, S. 57 – 76.

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– Antike Geschichte der afrikanischen Philosophie (oder ägyptische Periode in der Zeit von 3000 bis 300 BCE), – die mittelalterliche Geschichte der afrikanischen Philosophie wird in zwei weitere Perioden unterteilt: das frühe Mittelalter oder die christlich-lateinische Phase nordafrikanischer katholischer Denker (die ersten 6 Jahrhunderte CE) und die arabisch-islamische Phase (9. – 15. Jahrhundert CE), – die moderne Geschichte der afrikanischen Philosophie und der Diaspora vom 16. bis 19. Jahrhundert CE (unter besonderer Berücksichtigung von Zera Yacob und Anton Wilhelm Amo) – und die afrikanische Philosophie der Gegenwart (das 20. Jahrhundert CE).54 Das Problem sowohl der Frage nach dem Anfang der Philosophie in Afrika als auch aller anderen Versuche einer Periodisierung, die vor dem 20. Jahrhundert ansetzen, ist, dass sich eine ungebrochene Traditionslinie der Rezeption, Interpretation und Diskussion von Konzepten, Texten und Autoren/innen im Prinzip kaum nachweisen lässt. Für die europäische Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung ist aber erst die Existenz einer chronologisch wie logisch nachverfolgbaren Tradition, d. h. von historisch belegten Autoren/innen, die sich in der Entwicklung ihrer Konzepte auf Vorgänger berufen und an welche sich von ihnen inspirierte Nachfolger anschließen, Beweis für das Existieren einer Phi­lo­so­phie­geschichte. Nun ist natürlich die Frage, was in diesem Zusammenhang als Quelle betrachtet wird. In der europäischen Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung ist das gemeinhin ein Text. Phi­lo­so­phie­geschichte ist im europäischen Verständnis das Produzieren von Texten auf der Basis von bereits existierenden Texten, die neu geordnet, klassifiziert und interpretiert werden.55 Eine ungebrochene textbasierte Philosophietradition von den alten Ägyptern bis heute lässt sich im Fall Afrikas nicht nachweisen, vielmehr existieren verschiedene regional begrenzte Schrifttraditionen, die zudem in unterschiedlichen Zeiten zu verorten sind, wie z. B. im alten Ägypten, im alten 54 Osuagwu: African historical reconstruction, S. 34 f. Osuagwu folgt einem, wie er schreibt,

formal-wissenschaftlichen Verständnis von Philosophie, welches reflexiver Natur sein müsse, rational, kritisch und kohärent. Ebenso sei Philosophie zwar in ein Kollektiv eingebettet, aber grundsätzlich an einen einzelnen Philosophen gebunden. Dabei betont Osuagwu zudem, dass Philosophie in erster Linie von professionellen Individuen oder Gruppen produziert werde, für welche Philosophie eine gemeinschaftliche Tätigkeit für gemeinschaftliche Zwecke ist. Siehe S. 29  f. 55 Siehe Lucien Braun: »Immer schon gab es Lektüren, die durch Auslese, Auswahl, Klassifizierung die Texte in neuen Ensembles zusammenstellten: das ist es, was wir Phi­lo­so­phie­ geschichte nennen. Die Resultate dieser Lektüren, solcher konstituierenden Realitäten, belasten alle späteren Lektüren. Das Gewicht dieser Trägheit macht sich beispielsweise in der Annahme geltend, einen Text als philosophisch anzusehen, nicht weil die gegenwärtige Evidenz ihn als solchen auswiese, sondern weil die Überlieferung ihn als solchen nimmt.« Braun, Lucien: Geschichte der Phi­lo­so­phie­geschichte. Darmstadt 1990, S. 3.



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Äthiopien, in Mali zur Zeit der Blüte Timbuktus oder an der Swahiliküste. Andere Quellen könnten möglicherweise herangezogen werden, bekannt ist hier zum Beispiel Cheikh Anta Diops Versuch, eine ideengeschichtliche Tradition zwischen dem alten Ägypten und den Kosmologien der Wolof (Senegal) aufgrund linguistischer Ähnlichkeiten herzustellen. Außerdem gibt es zurzeit verschiedene Versuche, eine Traditionslinie zwischen dem altägyptischen Grundkonzept der Ma’at und dem Konzept des ubuntu (Südafrika) herzustellen.56 Dies beruht im Wesentlichen auf konzeptuellen Ähnlichkeiten und der Annahme von »travelling concepts«, lässt sich aber auf materieller Basis quasi nicht nachweisen. Die Frage nach der Stellung oral überlieferter Traditionen im Rahmen einer Phi­ lo­so­phie­geschichte ist für Afrika eine Kernfrage und wird auf äußerst unterschiedliche Weise beantwortet. So lehnt Paulin Hountondji es ab, oral überlieferte Traditionen als Philosophie zu bezeichnen,57 während die Vertreter der sogenannten Ethnophilosophie, wie Alexis Kagame58 oder John Mbiti59, die Gesamtheit von oralen Überlieferungen eines Volkes, wie sie sich in Normen und Werten, in Sprichwörtern und Märchen oder auch in linguistischen Besonderheiten manifestieren, als Philosophie bezeichnen und dann eben von einer Bantu-Philosophie, DogonPhilosophie etc. sprechen. Der kenianische Philosoph Henry Odera Oruka60 ist ein Kritiker solcher kommunaler Philosophien und betrachtet Philosophie als an Individuen gebunden. Aus diesem Grund hat er in kenianischen Dörfern Interviews mit afrikanischen Weisen geführt und diese verschriftlicht als eine Art Brückenschlag 56

Beispiele von Arbeiten, in denen eine Linie von Ma’at bis ubuntu gezogen wird: Brood­ ryk, Johann: Understanding South Africa: the Ubuntu way of Living. Pretoria 2008. Broodryk schreibt: »The notion of botho/ubuntu started in Egypt as far back as 1500 BCE.« S. 45. Asante, Molefi Kete: Maat and Human Communication: Supporting Identity, Culture, and History Without Global Domination. Quelle: http://www.asante.net/articles/47/maat-and-­ human-communication-supporting-identity-culture-and-history-without-global-domination/, Published 6/22/2011. Kiros, Teodros: Moral Economy: An Original Economic Form for the African Condition. In: African Philosophy in Ethiopia. Hg. v. Bekele Gutema u. Charles C. Verharen. Addis Ababa 2012, S. 239 – 248. Verharen, Charles C.: Comparing Oromo and Ancient Egyptian Philosophy. In: Gutema/ Verharen: African Philosophy in Ethiopia, S. 217 – 238. 57 Dieses Argument vertrat u. a. Paulin Hountondji. Siehe Hountondji: Afrikanische Philosophie – Mythos und Realität, S. 110 – 115. »Aber was gewiß bleibt, ist, daß die erste und grundlegendste Voraussetzung für Philosophie und Wissenschaft (im strengen Sinne des Wortes), die breite, demokratische Verwendung der Schrift ist […]«, Ebd., S. 114. Diese Position hat Hountondji in seinen späteren Arbeiten revidiert. 58 Kagame, Alexis: La philosophie bantu-rwandaise de l’être. Bruxelles 1956. 59 Mbiti, John S.: Afrikanische Religion und Weltanschauung. Berlin 1974. 60 Odera Oruka, Henry: Sage Philosophy. Indigenous thinkers and modern debate on African philosophy. Leiden 1990.

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zwischen oraler Tradition und Autorenschaft und als Beitrag zur Rekonstruktion einer möglichen afrikanischen Phi­lo­so­phie­geschichte. Eine endgültige Klärung der Frage nach der Stellung des oralen Erbes in der Phi­ lo­so­phie­geschichte und nach dem methodischen Herangehen an eine Integration solchen Erbes mit philosophischer Relevanz ist noch nicht abzusehen.61 Aber klar ist, das eine globale Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung sich diesem Problem stellen und Position beziehen muss, sind nicht-schriftliche Traditionen in vielen Regionen der Welt doch zentraler Bestandteil der Ideengeschichte und der Philosophie, und zwar nicht nur in Afrika, sondern auch in Südamerika, oder denken wir an die philosophische Bedeutung von Meditation und Schweigen in verschiedenen asiatischen Traditionen.62 Das chronologische Herangehen an eine Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung für Afrika steht bisher auf unsicherem Grund, denn es krankt (zumindest im traditio­ nellen europäischen Verständnis von Phi­lo­so­phie­geschichte) an einer Reihe von »missing links«, von Lücken und fehlenden Gliedern in der Entwicklungsreihe philosophischen Denkens, zum Beispiel zwischen dem alten Ägypten und dem alten Äthiopien, zwischen dem alten Ägypten und Timbuktu, zwischen vorkolonialen Philosophien und dem 20. Jahrhundert. Es ist eine der Aufgaben der Phi­lo­so­phie­ geschichts­schrei­bung, solche Lücken zu füllen.

b)  Die Klassifikation entlang von Sprachgrenzen

Eine weitere Möglichkeit, Philosophie in Afrika zu klassifizieren, ist eine Einteilung entlang der Grenzen der ehemaligen Kolonialsprachen, wie sie zum Beispiel von der Oxford Encyclopaedia of African Thought vorgenommen wird.63 Der Vorteil eines Ausführlicher dazu: Mabe, Jacob Emmanuel: Mündliche und schriftliche Formen philosophischen Denkens in Afrika. Frankfurt 2005. 62 Siehe zu dieser Frage auch Elmar Holenstein: »Will man wissen, was in einer oralen Kultur an Philosophie und Wissenschaft möglich ist, muss man sich nach Süd-Asien wenden. Nahezu ein volles Jahrtausend lang, seit dem 8. Jahrhundert vor dem Wechsel der Zeitrechnung, wurden dort Philosophie und Wissenschaft mündlich betrieben und überliefert (darunter die eingehendste Grammatik einer Sprache, die es vor dem 19. Jahrhundert überhaupt gab, die Pāninis in Gandhāra um -400). Ihre Verschriftlichung setzte erst im letzten Jahrhundert vor dem Wechsel der Zeitrechnung allmählich ein. In der Geschichte der Philosophie in Süd-Asien findet man den Maßstab für das, was ohne Schrift philosophisch denkbar ist. Leicht memorierbare Merkverse sūtrāni bilden offenbar ein mit der Schrift in einem überraschenden Ausmaß vergleichbares Medium, das ein Textkorpus bereitstellt, das überregional und überzeitlich als Bezugsbasis für abstrakte und komplexe Reflexionen und Argumentationen dienen kann.« Holenstein: Philosophie-Atlas, S. 20. 63 Siehe Irele/Jeyifo: Oxford Encyclopaedia of African Thought Vol. II. Hier wird das Stichwort Philosophie unterteilt in sechs Sub-Einträge: African American Philosophy; African (South 61



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solchen Herangehens besteht darin, dass bestimmte Regionen, die in der Phi­lo­so­ phie­geschichts­schrei­bung Afrikas oft ausgeblendet werden, wie das portugiesischsprachige Afrika, hier Eingang finden und dass auch die arabisch-islamische Philosophie als Teil der Phi­lo­so­phie­geschichte Afrikas betrachtet wird. Trotzdem ist eine solche Klassifikation problematisch, folgt sie doch, indem die Kolonialsprachen zum Einteilungskriterium werden, kolonialen Mustern. Zudem kann mit einem solchen Kriterium die vorkoloniale Geschichte der Philosophie in Afrika, welche diesen Sprachgrenzen naturgemäß nicht folgt, schwer erfasst werden, ebenso wie der Austausch zwischen diesen Sprachgebieten. Ignoriert wird hier zugleich all jene Philosophie, die damals wie heute in afrikanischen Sprachen, wie zum Beispiel dem Swahili, produziert wird.

c)  Entlang von Schulen und Hauptströmungen

Die Einteilung der Philosophie des 20. Jahrhunderts in verschiedene Strömungen ist in den letzten 30 Jahren zum einflussreichsten Versuch einer Klassifikation der modernen Philosophie in Afrika geworden. Eine Einteilung in vier große Strömungen wurde zuerst im Jahr 1978 von Henry Odera Oruka unternommen.64 Dieses Modell ergänzte er 1990 um zwei weitere.65 Odera Oruka unterscheidet die folgenden Trends in der afrikanischen Philosophie des 20. Jahrhunderts: 1. Die professionelle Philosophie. Darunter versteht Odera Oruka all jene Philosophie, die von akademisch ausgebildeten Philosophen betrieben wird. Insbesondere bezieht sich dieser Begriff auf jene Philosophen, die Philosophie als ein rationales und kritisches Unternehmen verstehen und die Tätigkeit des Philosophierens als an das Individuum gebunden. Insofern umfasst der Begriff vor allem jene Philosophen, die sich als Kritiker der Ethnophilosophie verstehen. 2. Die Ethnophilosophie. Ethnophilosophie ist inzwischen ein weites Feld und tritt in den verschiedensten Arten auf. Gemeinsam ist jedoch allen Ansätzen dieser Richtung, dass sie sich hauptsächlich mit der Rekonstruktion einer traditionellen afrikanischen Philosophie aus Sprichwörtern, Grammatiken und/oder sozialen Institutionen beschäftigen und dabei eine Art gemeinschaftliche und unwanof the Sahara) Philosophy; Anglophone Philosophy; Francophone Philosophy; Lusophone Philosophy; und North African Philosophy. 64 Zuerst vorgestellt auf einer UNESCO-Konferenz im Jahr 1978 (siehe Odera Oruka: Sage Philosophy, S. 6), wurden die »Four Trends« 1981 wie folgt veröffentlicht: Odera Oruka, Henry: Four Trends in Current African Philosophy. In: Diemer (Hg.), Philosophy in the present Situation of Africa, S. 1–7. Der Aufsatz wurde neu veröffentlicht in Odera Orukas Anthologie: Trends in Contemporary African Philosophy. Nairobi 1990. 65 Odera Oruka: Sage Philosophy, S. XX.

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delbare ›Philosophie‹ voraussetzen, die es zu enthüllen und zu verstehen gilt.­ Neben der Sprache als Quelle der Rekonstruktion einer solchen Philosophie gelten Werte und Normen einer Gemeinschaft als Ausdruck dieser Philosophie. Diese werden dabei zumeist jenseits aller historisch-politisch-ökonomischen Verankerungen und Veränderungen betrachtet. Nicht selten wird der Kolonialismus hier als eine Unterbrechung der afrikanischen Geschichte angesehen, nach der nun zu den »eigentlichen« afrikanischen Werten und Institutionen zurückzukehren sei. 3. Die national-ideologische Philosophie. Hierzu zählt Odera Oruka Staatsmänner, die zugleich Philosophen waren, wie den Begründer der literarisch-philosophischen Strömung der Négritude, Leopold Sedar Senghor, erster Präsident des Senegal, oder die Vertreter des Modells des afrikanischen Sozialismus, wie zum Beispiel Julius Nyerere, erster Präsident Tansanias. 4. Das Projekt der Weisheitsphilosophie. Dieses Projekt hat Odera Oruka in den 1970er Jahren begründet – als eine Art Mittelweg zwischen professioneller und Ethnophilosophie. Ziel des Projektes ist es, Philosophen/innen oder philosophische Weise in afrikanischen Dorfgemeinschaften aufzufinden und deren Wissen aufzuzeichnen und damit zu bewahren. Darüber hinaus soll dieses philosophische Wissen zugleich herangezogen werden, um Lösungen für die Fragen der Gegenwart zu finden. Im Gegensatz zur Ethnophilosophie geht Odera Oruka davon aus, dass Philosophie an Individuen gebunden ist. Zugleich folgt er einigen Vertretern der professionellen Strömung, wie zum Beispiel Paulin Hountondji, nicht, die davon ausgehen, dass es eine vorkoloniale Philosophie in Afrika nicht gegeben haben könne, da Philosophie an Wissenschaft und an die Schrift gebunden sei. Die 1990 hinzugefügten Strömungen sind: – Die afrikanische hermeneutische Strömung. Als Vertreter erwähnt er hier Kwasi Wiredu und seine Untersuchungen zum philosophischen Horizont von Begriffen in afrikanischen Sprachen.66 Heute müssen sicher auch Philosophen wie Benoît Okolo Okonda67 oder Tsenay Serequeberhan68 hier eingeordnet werden. – Und die Strömung der literarischen Philosophie, in die er zum Beispiel den kenianischen Autor und Literaturkritiker Ngũgĩ wa Thiong’o oder den nigerianischen Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka einordnet. Siehe z. B. Wiredu, Kwasi: The concept of Truth in the Akan Language. In: ders.: Cultural Universals and Particulars. An African Perspective. Bloomington 1996, S. 105 – 112. 67 Okolo Okonda, Benoît: Pour une philosophie de la culture et du développement. Recherches d’herméneutique et de praxis africaines. Kinshasa 1986. 68 Serequeberhan, Tsenay: The Hermeneutics of African Philosophy: Horizon and Discourse. New York 1994. 66



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Diese Klassifikation, die übrigens von Odera Oruka selbst als Versuch einer Annäherung ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit verstanden wurde,69 wird seit vielen Jahren als eine Art Standard betrachtet und bis heute fast unverändert in vielen Publikationen zur afrikanischen Philosophie übernommen.70 Sein Klassifikationsversuch ist in der Tat eine praktikable Leitlinie, um die Diskurse in der afrikanischen Philosophie des 20. Jahrhunderts zu verstehen. Allerdings werden die Möglichkeiten, neue Entwicklungen und Strömungen in der Philosophie Afrikas heute wahrzunehmen, dadurch auch eingeschränkt. Insofern ist heute eine neue Form der Klassifikation nötig. Odera Orukas Versuch, philosophische Strömungen und Entwicklungen im 20. Jahrhundert zu identifizieren, blieb nicht der einzige. Andere Versuche orientieren sich an den Debatten zwischen Ethnophilosophen und ihren Kritikern. Dazu gehört auch Dismas Masolo, der mit seinem Buch African philosophy in search of identity (1994) eine umfassende Darstellung der Entwicklung der Philosophie in Afrika im 20. Jahrhundert liefert. Barry Hallen bezeichnet dieses Buch als: »The first truly comprehensive and detailed history of African philosophy […]«.71 Masolos Überblick, der im Jahr 1939, dem Jahr des Erscheinens von Aimé Césaires Cahier d’un retour au pays natal, einem Grundlagentext der Négritude, beginnt, enthält sowohl frankophone als auch anglophone Philosophen aus analytischer und phänomenologischer Tradition und beschreibt im Detail die Entwicklung der Debatten zwischen Négritude und Ethnophilosophie auf der einen und deren Kritikern auf der anderen Seite. Masolo bezeichnet diese Debatte auch als Kampf zwischen Logozentrismus und Emotivismus, da es letztlich der Begriff der Vernunft ist, der im Mittelpunkt aller Debatten um die Kontrolle über die afrikanische Identität steht.72 Auch im Mittelpunkt der Short history of African philosophy (2002, 2009) des amerikanischen Philosophen Barry Hallen steht die Auseinandersetzung um den Begriff der Vernunft zwischen, wie er es hier nennt, Universalisten und Relativisten im 20. Jahrhundert. Hallen folgt im Wesentlichen Odera Orukas Form der Klassifikation, fügt dieser jedoch eine weitere Strömung hinzu: Philosophie und Kultur, in der auch einige Philosophinnen Erwähnung finden. Unabhängig von Masolo und im gleichen Jahr erscheint La philosophie Africaine contemporaine. Analyse historico-critique (1994) des kongolesischen Philosophen Phambu Ngoma-Binda, der hier ebenfalls die Dynamik der Debatten in der afrikanischen Philosophie im 20. Jahrhundert beschreibt. Ngoma-Binda schlägt eine andere Terminologie vor. Er identifiziert drei Hauptachsen in den Debatten Odera Oruka: Sage Philosophy, S. 28. Siehe zum Beispiel Ochieng’-Odhiambo, F.: Trends and Issues in African Philosophy. New York 2010. Oder Imbo, Samuel O.: An Introduction to African Philosophy. Lanham 1998. 71 Hallen: Short history of African philosophy, S. 145. 72 Masolo: African philosophy in search of identity, S. 1. 69 70

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der Philosophie in Afrika: l’axe idéologico-politique (die auch Formen des politischen Denkens einschließt), l’axe hermeneutique und l’axe critic-prospectif (eine kritisch-zukunftsgerichtete Achse). Die beiden letzteren umschließen auch das philosophische Denken und stehen im Mittelpunkt seines Buches. Die hermeneutische Achse umfasst Ethnophilosophen wie Placide Tempels oder Alexis Kagame. Ngoma-Binda spricht hier auch von einer »l’hermeneutique comme philosophie de la force vitale«, also einer Hermeneutik als Philosophie der Lebenskraft. Zudem werden hier Cheikh Anta Diop und all jene Philosophen eingeordnet, die die Philosophie im alten Ägypten als Ausgangspunkt afrikanischer Philosophie verstehen. Die Arbeiten der hier versammelten Philosophen widmen sich hauptsächlich der Rekonstruktion, dem Verstehen und der Interpretation afrikanischer Konzepte und Denksysteme, einem originär hermeneutischen Unternehmen, argumentiert Ngoma-Binda. Die kritische und zukunftsgerichtete Achse dagegen, die manchmal auch als axe epistemologique73 bezeichnet wird, umfasst Denker wie Marcien Towa, Paulin Hountondji oder Alphonse Elungu Pene Elungu74, also im Wesentlichen die Kritiker der Ethnophilosophie. Diese Richtung verstehe afrikanische Philosophie als Werkzeug für die Entwicklung Afrikas. Interessant an Ngoma-Bindas Darstellung der Debatten des 20. Jahrhunderts ist zudem, dass hier Vertreter und Publikationen aus dem frankophonen Afrika diskutiert werden, die sich sonst selten in der Literatur finden. Zu den jüngsten Versuchen einer Klassifizierung der Philosophie in Afrika gehört das Buch des ugandischen Philosophen Wilfred Lajul African philosophy. Critical dimensions (2013).75 Auch er setzt die Gegenüberstellung von Ethnophilosophie und deren Kritikern fort und versucht, die Strömungen der Philosophie in Afrika im 20. Jahrhundert wie auf der folgenden Seite dargestellt schematisch zu erfassen: Lajul betont dabei: »[…] by dividing African philosophy into two categories, traditional and modern, I am not creating a dualism between, for instance, the inferiority of tradition and the superiority of modernity, or between the relativism of traditional African philosophy and the universalism of modern philosophy. By tradition I simply mean indigenous to Africa, while modern refers to the current situation in Africa today. As we know, thought and behaviour in Africa today is subject to many influences by many factors, which include missionary activities, colonialism and foreign value systems that did not originate in Africa.«76

La philosophie Africaine contemporaine, S. 138. Elungu, Aplhonse E. P.: Tradition africaine et rationalité moderne. Paris 1987. 75 Lajul, Wilfred: African philosophy. Critical dimensions. Kampala 2013. 76 Ebd., S. 9. 73 Ngoma-Binda: 74

Philosophic Sagacity

Odera Oruka

Ethnophilosophy

Tempels Senghor Kagame Lansana Keita Martin Bernal

Classical African Philosophy

Traditional African Philosophy

Odera Oruka

Artistic Philosophy

Hountondji Wiredu

Professional Philosophy

African Philosophy

Serequerberhan Towa

Amilcar Nyerere Sekou Toure

National Ideological Philosophy

Modern African Philosophy

Hermeneutical Philosophy

DI M E N S ION S OF A F R IC A N PH I L O S OPH Y

Ibout Njoku Nwigwe

Equalization Philosophy

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Allerdings laufen solche schematischen Darstellungen natürlich Gefahr, ein dualistisches Verständnis von Tradition vs. Moderne und der verschiedenen philosophischen Schulen in Afrika durch ein Fixieren in Diagrammen eher noch zu verstärken als aufzuheben. Das Überschneiden von Traditionen oder gar ein Verschwimmen an den Rändern eben dieser Schulen kann hier kaum deutlich gemacht werden. So findet sich Senghor in diesem Modell nur in der traditionellen Philosophie (aufgrund seiner Arbeiten zur Négritude). Allerdings war Senghor zugleich ein Vertreter des afrikanischen Sozialismus. Odera Oruka wird in die traditionelle Philosophie eingeordnet (aufgrund seiner Weisheitsphilosophie), zugleich war er jedoch akademischer und somit professioneller Philosoph und zudem einer der schärfsten Kritiker der Ethnophilosophie. Gerade an solchen schematischen Darstellungen wird deutlich, dass jedes Modell einer Klassifikation Schwächen hat und mit Reduktionen, Vereinfachungen und Ausschlüssen einhergeht. Zum Abschluss dieses Abschnittes möchte ich noch auf Ausgrenzungen hinweisen, die im Zusammenhang mit den bisher vorliegenden Abhandlungen zur Geschichte der Philosophie im Afrika südlich der Sahara deutlich werden. Eine Analyse dieser Arbeiten zeigt, dass bestimmte Regionen und Traditionen hier eher vernachlässigt oder gar ignoriert werden – ein Umstand, der einer kritischen Hinterfragung bedarf. Dazu gehören die folgenden in ungeordneter Reihenfolge und ohne Anspruch auf Vollständigkeit kurz umrissenen Traditionen, Regionen oder Träger/innen philosophischen Wissens: Frauen in der Philosophie und der afrikanische Feminismus

Der größte Mangel bisheriger Überblicksdarstellungen der Entwicklung der Philosophie in Afrika ist sicherlich der Ausschluss von Frauen ebenso wie des afrikanischen Feminismus bzw. der feministischen Philosophie. In den letzten Jahren gab es einige Bemühungen, in Sammelwerken zumindest eine Philosophin zu integrieren,77 aber im Grund bleiben sie bis heute ein Anhängsel in solchen Darstellungen. Dabei bieten sich interessante historische Denkerinnen an wie die äthiopische Nonne Walatta Petros (1592 – 1642), Zeitgenossin des äthiopischen Philosophen Zer’a Yacobs und Gründerin eines Frauenordens in Äthiopien, über deren Wirken und Lehren ein Manuskript aus den Jahren 1672/73 Aufschluss gibt,78 oder Nana Asma’u (1793 – 1864, Tochter Usman dan Fodiyos, des Gründers des Sokoto Kalifats), DichSiehe z. B. Wiredu 2004, Hallen 2009 oder auch Coetzee, P. H. / Roux, A. P. J. (Hg.): The African Philosophy Reader. London 1998. 78 Belcher, Wendy Laura / Kleiner, Michael (Hg.): The life and struggles of our mother Walatta Petros: a seventeenth-century African biography of an Ethiopian woman (originally written by G’alawdewos thirty years after the subject’s death, in 1672 – 1673). Princeton 2015. 77



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terin und Lehrerin, von der 60 Texte auf Ajami79 erhalten sind,80 ebenso wie gegenwärtige Philosophinnen wie Sophie Oluwole81 oder Nkiru Nzegwu82 und natürlich eine ganze Reihe von Vertreterinnen des afrikanischen Feminismus. Dabei umfasst der afrikanische Feminismus nicht nur Analysen zur sozialen Stellung der afrikanischen Frau, eine kritische Betrachtung von Geschlechterrollen und der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Macht oder Ohnmacht von Frauen, sondern immer zugleich auch kritische Reflexionen über Kolonialismus, Neokolonialismus und die postkoloniale Situation, d. h. Reflexionen auf die Strukturen der Welt und die hegemoniale Position des »Westens« in ihrer ökonomischen, politischen und eben auch akademischen bzw. epistemologischen Dimension. Philosophie im portugiesischsprachigen Afrika

Die Philosophieproduktion in jenen Teilen Afrikas, die unter portugiesischer Kolonisierung standen und in denen bis heute das Portugiesische offizielle Landessprache ist, werden in allen Darstellungen weitgehend ignoriert oder auf die Arbeiten Amílcar Cabrals reduziert. Hier gibt es nur sehr wenige Ausnahmen, wie die bereits erwähnte Oxford Encyclopedia of African Thought. Allerdings beschäftigt sich auch hier der Eintrag unter dem entsprechenden Stichwort weniger mit philosophischen Konzepten als vielmehr mit der Entwicklung der Kolonialpolitik Portugals in eben jenen Regionen. Aber bereits ein kurzer Blick in die philosophische Literatur, zum Beispiel aus Mosambik, zeigt, dass hier unter den sehr spezifischen historischen Bedingungen (post-kolonial, post-marxistisch und nach langjährigen Bürgerkriegen) interessante Debatten stattfinden.83 Diese werden zum großen Teil entlang 79

Als Ajami- oder Adschami-Schrift (vom arabischen Begriff für »fremd«) wird die Anwendung der arabischen Schrift auf andere Sprachen bezeichnet, insbesondere auf afrikanische Sprachen. Zu den Sprachen, die zum Teil bereits vor Jahrhunderten mittels des arabischen Alphabets verschriftlicht wurden, gehören u. a. das Hausa, Fulfulde, Wolof, Malinke oder auch Swahili und Somali. Später wurde diese Art der Verschriftlichung durch das lateinische Alphabet abgelöst. 80 Boyd, Jean/Mack, Beverly B.: The collected works of Nana Asma’u, daughter of Usman dan Fodiyo, (1793 – 1864). Ibadan 1999. 81 Oluwole, Sophie B.: Socrates and Ò rúnmìlà: two patron saints of classical philosophy. .   Lagos 2015. 82 Nzegwu, Nkiru: Family Matters: Feminist Concepts in African Philosophy of Culture. New York 2006. 83 Siehe hierzu u. a.: Bussotti, Luca / Ngoenha, Severino: Il postcolonialismo nell’Africa luso­ fona: il Mozambico contemporaneo / O pós-colonialismo na África lusofona : o Moçambique contemporâneo. Turin 2006. Castiano, José P.: Referenciais da Filosofia Africana: Em busca da Intersubjectivação. Maputo2010. Ngoenha, Severino Elias: Filosofia Africana: Das independências às liberdades. Maputo 1993. Ders.: Os tempos da filosofia: Filosofia e democracia moçambicana. Maputo 2004. Ders.: Ubuntu: Novo modelo de justiça glocal? In: Begegnung der Wissenskulturen im Nord-Süd Dialog: Dokumentation des XII. Internationalen Seminars

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anderer Leitlinien geführt als in anderen Teilen Afrikas. Zum Beispiel stehen hier Debatten um die Frage nach einer afrikanischen Identität nicht im Zentrum der Diskussionen. Die arabisch-islamische Philosophie im Afrika südlich der Sahara

Die arabisch-islamische Tradition, die südlich der Sahara bis in das 11. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann (an der Ostküste sogar bis in das 8. Jahrhundert), wird in Überblicksdarstellungen fast komplett ignoriert. Dies ist durchaus erstaunlich, bietet sich hier doch sogar ein Textkorpus auf Ajami oder Arabisch an, zum Beispiel in den Bibliotheken Timbuktus. Die Mehrzahl der hier lagernden Manuskripte ist theologischer Natur, allerdings finden sich darunter auch Texte mit philosophischen Abhandlungen.84 Viele dieser Schätze gilt es erst noch zu heben und durch Übersetzungen zugänglich zu machen. Bis heute gibt es unter afrikanischen Philosophen/innen jedoch auch Vorbehalte gegenüber den arabisch-islamischen Denktraditionen, nicht zuletzt aufgrund der These, dass der Islam (wie auch das Christentum) ursprünglich nicht zu Afrika gehört, sondern Hinterlassenschaft einer Eroberung und Kolonisierung ist. In Anbetracht der sehr langen Zeitspanne der Verankerung des Islam im Afrika südlich der Sahara und der großen regionalen Verbreitung scheint mir dies ein unhistorisches und problematisches Herangehen zu sein. Arbeiten zur Analyse des reichen Erbes der arabisch-islamischen Tradition aus philosophischer Perspektive sind allerdings noch selten. Afrophone Philosophien

Philosophien und philosophische Diskurse in afrikanischen Sprachen, aus Vergangenheit und Gegenwart, spielen ebenfalls in den vorliegenden Überblicksdarstellungen kaum eine Rolle. Dabei hat es Philosophie in afrikanischen Sprachen vor und nach der Kolonisierung immer gegeben. Allerdings wird sie bis heute kaum wahrgenommen. Eine Ausnahme stellt das Projekt der Weisheitsphilosophie Odera des Dialogprogramms Nord-Süd / The Encounter of Knowledge Cultures in the North-South Dialogue / Las culturas del saber y su encuentro en el diálogo norte-sur. Hg. v. Raúl FornetBetancourt, S. 95 – 105. Denktraditionen im Dialog, vol. 28. Frankfurt/M. 2008. Ngoenha, Seve­ rino Elias / Castiano, José P.: Pensamento engajado: Ensaios sobre filosofia africana, educação e cultura politica. Maputo 2011. Ngoenha, Severino Elias/Castiano, José P./Berthoud, Gérald: A longa marcha duma »educaçao para todos« em Moçambique. Maputo 2005. 84 Genannt wird hier oft Ahmad Baba al-Massufi al-Timbukti (1556 – 1627) und seine Abhandlung über die Sklaverei. Siehe dazu u. a. Jeppie, Shamil / Diagne, Souleymane Bachir (Hg.): The meanings of Timbuktu. Cape Town 2008. Diagne, Souleymane Bachir: The ink of the scholars: reflections on philosophy in Africa. Dakar 2016. Ders.: Pre-Colonial African Philosophy In Arabic. In: Wiredu: A Companion to African Philosophy, S. 66 – 77.



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Orukas dar, das gezielt nach Philosophie in afrikanische Sprachen sucht und diese dann übersetzt. Aber nicht nur in den oralen Überlieferungen findet sich Philosophie in afrikanischen Sprachen, sondern in sehr vielen unterschiedlichen Medien. Diese reichen von Liedern und Gedichten bis hin zu verschiedenen literarischen, religiösen oder akademischen Schriftformen, wie sie zum Beispiel auf Swahili durchaus vorliegen. Die Erschließung dieser Ressourcen steht allerdings erst am Anfang.85 Philosophie in Südafrika

Südafrika hinterlässt – nicht zuletzt aufgrund seiner problematischen Geschichte – in fast allen Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Philosophie in Afrika eine Leerstelle (eine Ausnahme ist die Anthologie von Kwasi Wiredu). Dabei lässt sich die akademische Verankerung der Philosophie in Südafrika bis in die 1870er Jahre zurückverfolgen. Allerdings wurde an den in der Siedlerkolonie Südafrika gegründeten theologisch-philosophischen Seminaren und späteren Universitäten ausschließlich europäische Philosophie gelehrt und betrieben. Südafrikanern/innen afrikanischer Abstammung war ein Studium der Philosophie praktisch bis zum Ende der Apartheid verwehrt. Heute bekannte schwarze südafrikanische Philosophen, wie Magobe B. Ramose, mussten im Ausland studieren und haben einen großen Teil ihrer akademischen Karriere in anderen Ländern absolviert. Erst seit dem Ende der Apartheid wird die akademische Philosophie Südafrikanern/innen afrikanischer Abstammung zugänglich und seit wenigen Jahren auch das Studium der Philosophie pluralisiert und Kurse zur Philosophie in Afrika angeboten. Auch die Aufarbeitung der Mitarbeit von Philosophen oder philosophischen Schulen an der Legitimation der südafrikanischen Segregationspolitik steht bisher erst am Anfang. Trotz alledem wäre eine Phi­lo­so­phie­geschichte Afrikas, ohne einen Blick auf Südafrika zu werfen, unvollständig. Soweit die kurzen Hinweise auf Leerstellen in der afrikanischen Phi­lo­so­phie­ geschichts­schrei­bung der Gegenwart. Um diese und andere Leerstellen zu füllen – insbesondere im Zusammenhang mit einer globalen Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­ bung und unter Berücksichtigung der spezifischen Umstände in verschiedenen Regionen der Welt –, müssen die herkömmlichen Modelle der Phi­lo­so­phie­geschichts­ schrei­bung, die vor allem aus dem 18. Jahrhundert und Europa stammen und in der

hier u. a. die Arbeiten von Rettová, Alena: Afrophone philosophies: reality and challenge. Köln 2008. Dies.: Chanter l’existence: la poésie de Sando Marteau et ses horizons philosophiques. Köln 2013. Oder die Arbeiten zur Philosophie auf Swahili von Kresse, Kai: Philosophising in Mombasa Knowledge, Islam and Intellectual Practice on the Swahili Coast. Edinburgh 2007. Und natürlich auch das wegweisende Buch von Jeffers, Chike: Listening to ourselves: a multilingual anthology of African philosophy. Albany 2013. 85 Siehe

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Mehrzahl von einem Ursprung der Philosophie86, einer linearen Entwicklung und zudem der engen Verbindung von Schrift und Philosophie ausgehen, kritisch überdacht werden. Eine globale Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung muss grund ­legend Methoden und Modelle hinterfragen und gegebenenfalls neue entwickeln.

3.  Ein anderes Geschichtsmodell?

Ganz unabhängig davon, wie man zum Beginn der Philosophie im alten Ägypten steht und wo immer man den Beginn der Philosophie oder der Philosophien lokalisiert, das Modell einer linearen Entwicklung der Philosophie stößt im Zusammenhang mit einer interkulturellen oder globalen Phi­lo­so­phie­geschichte auf seine Grenzen. Denn dieses Modell, das von inneren Strukturen und einer ungebrochenen Kontinuität eines sich in Texten widerspiegelnden philosophischen Dialogs über die Jahrhunderte ausgeht, kann Philosophietraditionen in schriftlosen Kulturen ebenso wenig erfassen wie diskontinuierliche und gebrochene Denktraditionen. Auch die Beeinflussung durch Denktraditionen außerhalb des betrachteten Kontextes wird in diesen Modellen zumeist ausgeblendet. Ein Gegenmodell zum linearen Entwicklungsdenken könnte man in Anlehnung an die Überlegungen des Mathematikers Benoît B. Mandelbrot und seiner Theorie der Fraktale87 entwerfen.88 In einem solchen Modell fraktaler Entwicklung geht man davon aus, dass Entwicklungen nicht von einem Anfang und einem Ende her zu denken sind, sondern als Prozesse der Veränderung und Ausdifferenzierung. Entwicklung hängt hier ab von der Wechselwirkung und dem Zurückwirken einzelner fraktaler Gebilde, die wiederum jedes für sich bereits hochgradig individuell und einzigartig sind. 86

Auch das Modell der Achsenzeit von Karl Jaspers, das von vier verschiedenen Ursprungsorten der Philosophie ausgeht, hat im hegemonialen Diskurs in der Philosophie bis heute keine nachhaltige Wirkung hinterlassen. Jaspers, Karl: Vom Ursprung der Geschichte. München 1949. 87 Mandelbrot, Benoît B.: The Fractal Geometry of Nature. Oxford 1982. Fraktale besitzen eine gebrochene Struktur und weisen einen hohen Grad an Selbstähnlichkeit auf. Das bedeutet, dass sich die Struktur in immer kleineren Maßstäben ständig wiederholt. Ein Objekt besteht also aus mehreren verkleinerten Kopien seiner selbst. Fraktale Erscheinungsformen findet man häufig in der Natur, als typische Beispiele werden die Blumenkohlzüchtung Romanesco oder auch Farne herangezogen. Auch die Verzweigungen unseres Blutkreislaufes oder die Form einer Küstenlinie können als fraktale Erscheinungsformen betrachtet werden. Fraktale Strukturen finden sich auch in quantitativen Beschreibungen menschlichen Schaffens und Handelns, etwa in der Musik, der Malerei und der Architektur. Mandelbrot war daher der Auffassung, dass Fraktale viel eher der intuitiven Erfassung zugänglich sind als die künstlich geglätteten Idealisierungen der traditionellen euklidischen Geometrie, wie etwa die Linie. 88 Ich bin Leonhard Praeg und seiner »Brokkoli Theorie der Evolution« für die Anregung sehr dankbar. Praeg, Leonhard: A report on Ubuntu. Scottsville 2014, S. 211 f.



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Die Vorteile der Übertragung eines solchen Modells auf die Phi­lo­so­phie­ geschichts­schrei­bung liegen auf der Hand: Es geht nicht mehr um die Suche nach einem Ursprungsort der Philosophie, von dem alles seinen Anfang nahm. Vielmehr können viele verschiedene Ursprungsorte philosophischen Denkens in ihrer Einzigartigkeit gleichberechtigt nebeneinander betrachtet werden.89 Auch eine Hierarchisierung ist unnötig. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Wechselwirkung verschiedener philosophischer Traditionen untereinander über Räume und Zeiten hinweg ebenso wie die Veränderungen, die philosophische Denktätigkeit dabei durchlaufen hat, desgleichen das Verständnis dessen, was Philosophie sei. Im Rahmen eines solchen diskontinuierlichen Modells ist das Fehlen von Traditionslinien auf dem afrikanischen Kontinent kein Mangel mehr, sondern ein Indiz für die Vielfalt von Ursprüngen und eigenständigen Formen der Entwicklung philosophischer Gedanken und Traditionen und einer Pluralität, die möglicherweise immer noch größer werden kann, ohne eine ungebrochene Kontinuität aufweisen zu müssen. Darüber hinaus ist ein solches Modell offen für Austausch und Einflüsse über den geografisch eingegrenzten Rahmen hinaus. Aber auch dieses Modell hat Nachteile, denn Fraktale sind Strukturen mit einem hohen Grad an Selbstähnlichkeit, das heißt, ein Objekt (in diesem Fall die Philosophie) besteht immer aus mehreren verkleinerten Kopien seiner selbst. Übertragen wir also das Modell der Fraktale auf die Phi­lo­so­phie­geschichte, sichert das Prinzip der Selbstähnlichkeit zwar, dass wir in jedem Fall von Philosophie sprechen können, zugleich steht dieses Prinzip jedoch der Pluralität philosophischen Denkens im Weg bzw. engt dieses ein. Darüber hinaus muss natürlich die Frage gestellt werden, wer die Definitionsmacht über den Begriff der Philosophie hat, das Prinzip der Ähnlichkeit also bestimmt, anhand dessen dann Philosophien in anderen Regio­nen der Welt erkennbar wären und sich gegen andere Wissensformen abgrenzen. Ein anderes, in der Philosophie gebräuchlicheres und bekannteres Modell ist das des Rhizoms, ein Modell, das insbesondere durch seine Verwendung bei Deleuze und Guattari zur Beschreibung der Wissensorganisation in Absetzung zum hierarchischen Baum-Modell entwickelt worden ist.90 Das Modell des Rhizoms als ein in sich verflochtenes System vermeidet Hierarchien ebenso wie Dichotomien, lässt viele Perspektiven und Ansätze zu, macht deren Verkettung und gegenseitige Einflussnahme deutlich ebenso wie das Abbrechen und Neuentstehen von Linien ja schon der Sammelband von Moritz/Eichler/Rüstau/Hoffmann: Wie und ­warum entstand Philosophie in verschiedenen Regionen der Erde? hinweist. 90 Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Rhizom. Berlin 1977. Vielleicht kann auch der Nomade oder die Nomadologie, die ebenfalls von Deleuze und Guattari als Metapher eingeführt werden, als Modell für eine Phi­lo­so­phie­geschichte dienen. Siehe Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin 1992. Denn hier handelt es sich um ein bewegliches Denken zwischen den Orten, beständig im Werden begriffen und ohne Streben nach Vollendung. 89 Worauf

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und bedeutet letztlich die Befreiung von vorgegebenen Machtstrukturen. Allerdings wurde bereits von Baudrillard an diesem Konzept eine Teleonomie kritisiert, das heißt die Zielgerichtetheit der Entwicklung, die auch diesem der Biologie entlehnten Modell innewohnt, sowie eine »merkwürdige Komplizenschaft mit der Kybernetik«.91 Letztlich ist allen Modellen zu misstrauen, insbesondere dann, wenn sie als para­ digmatisch verstanden werden. Zudem handelt es sich bei allen hier angeführten Modellen wiederum um Modelle aus dem europäischen Raum. Ob im nicht-westlichen Raum bereits geeignetere Modelle entwickelt worden sind, bleibt zu untersuchen. Aus der modernen Philosophie Afrikas ist mir ein alternatives Modell der Phi­ lo­so­phie­geschichts­schrei­bung bisher nicht bekannt. Die hier entwickelten Modelle orientieren sich im Wesentlichen an einer linearen Vorstellung der Entwicklung von Philosophie, verlegen den Beginn der Philosophie allerdings in das alte Ägypten, folgen im Weiteren dann aber wiederum den Periodisierungen der europäischen Phi­lo­so­phie­geschichte. Dies ist sicher noch ein eher unbefriedigender Zustand, der den spezifischen Herausforderungen einer Phi­lo­so­phie­geschichte für Afrika noch nicht gerecht wird. An diesem Punkt gilt es weiterzudenken.

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Baudrillard, Jean: Oublier Foucault. München 1983, S. 42.

Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung zur afrikanischen Philosophie in französischer und englischer Sprache im 20. Jahrhundert Jacob Emmanuel Mabe

1. Einleitung

Die Philosophie hat sich durch die zunehmende Bedeutung der Interkulturalität grundlegend verändert. Dieser gewaltige Wandel ist insbesondere der neuen Generation von Forschern zu verdanken, die sich anderen Geistestraditionen gegenüber aufgeschlossen und tolerant zeigen. Wie kaum je zuvor setzen sie sich immer stärker dafür ein, dass nicht nur die überkommenen Theorieansätze Europas, sondern auch afrikanische, arabische, asiatische und orientalische Denkparadigmen mehr Beachtung in der Philosophie finden.1 Wenn sich auch die mit den interkulturellen Bemühungen verknüpften Hoffnungen bislang nicht in jeder Hinsicht erfüllt haben, bleibt dennoch unverkennbar, dass die Suche nach essentiellen Gemeinsamkeiten sowie die Identifikation von Unterschieden zwischen den Kulturen leichter geworden ist. Auch wenn heute weltweit von Philosophie gesprochen wird und sie immer einheitlicher verstanden zu werden scheint, bleiben dennoch manche Differenzen beispielsweise hinsichtlich der Geschichtsschreibung bestehen, was damit zusammenhängt, dass die Vorstellungen der Menschen über die Vergangenheit von Kultur zu Kultur erheblich variieren. Ausgehend von der Voraussetzung, dass jeder Kontinent seine eigene Geschichtsdarstellung hat, wird im Folgenden gezeigt, wie in Afrika Phi­lo­so­phie­geschichte Repräsentativ für die Interkulturalität sind die Werke von Mall, Ram Adhar: Philosophie im Vergleich der Kulturen. Interkulturelle Philosophie – eine neue Orientierung. Darmstadt 1995; Kimmerle, Heinz: Interkulturelle Philosophie zur Einführung. Hamburg 2002; Wimmer, Franz Martin: Interkulturelle Philosophie. Wien 2004; Elberfeld, Rolf: Phänomenologie der Zeit im Buddhismus. Methoden interkulturellen Philosophierens. Stuttgart 2010; Stenger, Georg: Philosophie der Interkulturalität. Erfahrung und Welten. Eine phänomenologische Studie. Freiburg im Breisgau 2006; Paul, Gregor: Einführung in die Interkulturelle Philosophie. Darmstadt 2008; Mabe, Jacob Emmanuel: Zur Theorie und Praxis interkultureller Philosophie. In: ­Hamid Reza Yousefi u. Klaus Fischer (Hg.): Interkulturalität. Diskussionsfelder eines umfassenden Begriffs. Nordhausen 2010; Kasanda, Albert (Hg.): Dialogue interculturel. Cheminer ensemble vers un autre monde possible. Paris 2010; Jullien, François: Le Pont des singes. De la diversité à venir. Paris 2010; Yousefi, Hamid Reza: Interkulturalität und Geschichte. Perspektiven für eine globale Philosophie. Reinbek 2010; Fornet-Betancourt, Raúl: La philosophie interculturelle. Penser autrement le monde. Paris 2011. 1 

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Jacob Emmanuel Mabe

gedacht und geschrieben wird.2 Der Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung liegt jedoch darin, die französischsprachigen und englischsprachigen Modelle philosophischer Historiographie (unter Ausschluss Nordafrikas)3 zu illustrieren und durch eigene Argumentationen zu veranschaulichen.

2.  Zum Problem der Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in Afrika

Der Kampf um und gegen die Ethnophilosophie, aus der die moderne Philosophie Afrikas südlich der Sahara zwischen 1956 und 1976 entstand und die ihre Blütephase einleitete, wurde durch unterschiedliche Denkerpersönlichkeiten maßgebend geprägt. An diesem intellektuellen Kampf, der zunächst im frankophonen Zentralafrika begann und sich später auch auf die anglophonen Länder ausweitete, beteiligten sich insbesondere Alexis Kagame und André Makarakiza (Ruanda), Jean Calvin Bahoken, Basil Juléat Fouda, Fabien Eboussi Boulaga, Marcien Towa und Ebénézer Njoh-Mouelle (Kamerun), Paulin Jideni Hountondji und IssiakaProsper Latoundji Lalèyê (Benin), Theophilus Okere und Olubi Sodipo (Nigeria), William Emmanuel Abraham und Kwasi Wiredu (Ghana), Henri Odura Oruka (Kenia), Niamkey Koffi und Olabiyi Balola Yai (Elfenbeinkünste), Alassane Ndaw und Pathé Diagne (Senegal), Elungu Pene Elungu und François Nkombe Oleko (DR Kongo) etc. Diese Philosophen waren damals mit dem Anspruch angetreten, das geistige Erbe Afrikas zu erhalten und im Einklang mit den wissenschaftlichen Erfordernissen der globalen Welt fortzuführen. Unterdessen stellt die Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in Afrika im internationalen Vergleich einen Sonderfall dar, was auf die Kolonialherrschaft zurückzuführen ist, aufgrund derer die Geschichte sowie sämtliche Entwicklungen dieses Kontinents bis in die 1960er Jahre fast nur durch die Urteile und Vorurteile von europäischen Experten betrachtet wurden. Erst die politische Dekolonisierung, 2 

Folgende Werke vermitteln einen guten Überblick über die Geistes- und Kulturgeschichte Afrikas: Ki-Zerbo, Joseph: Histoire de l’Afrique noire. D’hier à demain. Paris 1972 (dt.: Die Geschichte Schwarzafrikas. 7. Aufl. Frankfurt/M. 1993); UNESCO (Hg.): General History of Africa. 8 Bände. Paris 1980 – 1994; Obenga, Théophile: Pour une nouvelle histoire. Paris 2000; Mabe, Jacob Emmanuel (Hg.): Das Afrika-Lexikon. Ein Kontinent in 1000 Stichwörtern, Wuppertal/Stuttgart 2001; M’Bokolo, Elikia: Afrique noire. Histoire et civilisation du xixe siècle à nos jours. 2 Bände. Paris 2004; Mabe, Jacob Emmanuel: Denken mit dem Körper. Eine kleine Geistesgeschichte Afrikas. Nordhausen 2010; Irele, F. Abiola / Jeyifo, Biodun (Hg.): The Oxford Encyclopedia of African Thought. 2 Bände. Oxford (USA) 2010. 3  Marokko, Algerien und Tunesien haben Arabisch als Unterrichts- und Wissenschaftssprache. Aus diesem Grund werden sie nicht hier als frankophone Staaten berücksichtigt. Zudem hat die Philosophie in diesen Ländern aufgrund ihrer islamisch-arabischen Orientierung eine andere historische Entwicklung.



Philosophiegeschichtsschreibung zur afrikanischen Philosophie im 20. Jhd.

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die in die politische Befreiung der meisten Länder mündete, entschärfte zum Teil die Fremdbeurteilung Afrikas und setzte stattdessen einen Emanzipationsprozess in Gang, der viele Afrikaner dazu ermutigte, sich mit der vorkolonialen und kolonialen Vergangenheit wissenschaftlich zu befassen.4 Aus dieser Selbstverpflichtung heraus versuchten zunächst die ersten Religionsphilosophen in verschiedenen Abhandlungen den Übergang von einer exogenen Afrikanistik zu einer endogenen Kulturforschung zu vollziehen, die leider von ethnologischen Prämissen ausging und später zu Recht durch Paulin Hountondji und Marcien Towa als Ethnophilosophie abqualifiziert wurde. Es gab gleichwohl andere Philosophen, die sich nicht auf ethnologische Berichte bezogen, sondern unter Berufung auf die schriftlichen Quellen westlicher Philosophen den Versuch unternahmen, das den Oraltraditionen innewohnende Denken auf seine philosophisch-historische Bedeutung zu untersuchen.5 Gerade aufgrund dieser Zusammenführung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit unterscheidet sich die afrikanische Geschichtsdarstellung insbesondere vom Modell Europas, bei dem man sich ausschließlich auf überlieferte Texte bezieht und die Geschichte der Philosophie mit den Antwortversuchen einzelner Denker schlechterdings verbindet. Die Konvergenz von Oralität und Literalität hat immerhin geholfen, einerseits die kulturellen Identitäten und sonstige Erlebnisse der Vergangenheit ausführlich Siehe insbesondere Césaire, Aimé: Cahier d’un retour au pays natal. Paris 1939; Fanon, Frantz: Peau noire, masques blancs. Paris 1952; Senghor, Léopold Sédar: L’apport de la poésie »noir« au Demi-Siècle. Paris 1953; Kagame, Alexis: La Philosophie bantu-rwandaise de l’être. Brüssel 1956; Diop, Cheikh Anta: Nations »noirs« et culture. De l’antiquité »noire« égyptienne aux problèmes culturels de l’Afrique Noire d’aujourd’hui. Paris 1954; Achebe, Chinua: Things Fall Apart. London 1958; Diop, Cheikh Anta: L’unité culturelle de l’Afrique noire. Paris 1959; Diop, Cheikh Anta: L’Afrique noire pré-coloniale. Paris 1960; Césaire, Aimé: Discours sur le colonialisme. Paris 1960; Achebe, Chinua: No Longer at Ease. London 1960; Fanon, Frantz: Les damnés de la terre. Paris 1961; Kane, Cheikh Hamidou: L’Aventure ambiguë. Paris 1961; Senghor, Léopold Sédar: Nation et voie africaine du socialisme. Paris 1961; Abraham, William E.: The Mind of Africa. Chicago 1962; Nkrumah, Kwame: Consciencism. Philosophy and Ideology for De-colonization and Development with Particular Reference to the African Revolution. London 1964; Senghor, Léopold Sédar: Liberté I. Négritude et humanisme. Paris 1964; Nkrumah, Kwame: Neo Colonialism. The Last Stage Of Imperialism. London 1965; Soyinka, Wole: The Interpreters. London 1965; Nyerere, Julius: Ujamaa – Essays on Socialism. Dar es Salaam 1968. 5  Vgl. dazu Hountondji, Paulin J.: Sagesse africaine et philosophie moderne. In: African Humanism – Scandinavian Culture: A Dialogue. Hg. v. Torben Lundback. Kopenhagen 1970, S. 187 – 197; Towa, Marcien: L’idée d’une philosophie négro-africaine. Jaunde 1979; Wiredu, Kwasi: Philosophy and an African Culture. Cambridge/New York 1980; A. Ruch u. K. C. Any­ anwu: African Philosophy. Rome 1981; Ndaw, Alassane: La pensée africaine. Recherches sur les fondements de la pensée africaine. Dakar 1983; Oruka, H. Odera (Hg.): Sage Philosophy. Indigenous Thinkers and the Modern Debate on African Philosophy. Leiden 1990 ; Gyekye, Kwame: An Essay of African Philosophical Thought. The Akan Conceptual Scheme. Temple University Press 1995; Oluwole, Sophie: Philosophy and Oral Tradition. Lagos 1999; Imbo, Samuel: Oral Traditions as Philosophy: Okot p’Bitek’s Legacy for African Philosophy. New York 2000. 4 

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zu dokumentieren und andererseits die wesentlichsten Ideen beispielsweise über Weisheit, Glauben, Wissen etc. zu identifizieren, welche die gesellschaftlichen Veränderungen in Afrika seit der Frühzeit ermöglichten.6 Seit Paulin Hountondji den Vorstoß wagte, die textuelle Überlieferung zur unentbehrlichen Bedingung für die Existenz einer jeden Philosophie zu machen, wird in der Phi­lo­so­phie­geschichte Afrikas überwiegend dem schriftlichen Erbe Rechnung getragen.7 Obgleich die Philosophie nach der Gründung von nationalen Universitäten in den verschiedenen Ländern eingeführt wurde, war sie lediglich auf die Vermittlung der westlichen Kulturwerte ausgerichtet, weshalb die afrikanische Philosophie am Anfang nicht zum Curriculum der akademischen Ausbildung gehörte. In den späteren Jahren wurden Forschungen über afrikanische Philosophie durchgeführt und die ersten Untersuchungsergebnisse teilweise in den neu gegründeten Zeitschriften in Jaunde (Kamerun), Kinshasa (DR Kongo), Lagos und Ibadan (Nigeria), Cotonou (Benin), Kampala (Uganda), Nairobi (Kenia), Abidjan (Côte d’Ivoire) etc.8 veröffentlicht. Außerdem erschienen die ersten philosophischen Monographien in Verlagen9, die damals auf Afrika spezialisiert waren. Vgl. Mabe, Jacob Emmanuel: Mündliche und schriftliche Formen philosophischen Denkens in Afrika. Grundzüge einer Konvergenzphilosophie. Berlin 2005. 7  Einzelheiten zur afrikanischen Phi­ lo­so­phie­geschichte vgl. Hountondji, Paulin: Sur la »philosophie africaine«: Critique de l’ethnophilosophie. Paris 1976; Smet, Alphonse J.: Histoire de la philosophie africaine contemporaine: courants et problèmes. Kinshasa 1980; Ngoma-Binda, Phambu: La philosophie africaine contemporaine: analyse historico-critique. Kinshasa 1994; Bidima, Jean Godefroy: La philosophie négro-africaine. Paris 1995; Imbo, Samuel Oluoch: An Introduction to African Philosophy. New York 1998; Ndjana, Hubert Mono: Histoire de la philosophie africaine. Paris 2009; Asiegbu, Martin F.: Four decades of African philosophy: Issues and Perspectives. In: The Proceedings of the Biennial Conference of the Nigerian Philosophical Association. Held at the University of Ibadan. 26.–28. October 2006. Ibadan 2008; Hallen, Barry: A Short History of African Philosophy. 2. Aufl. Bloomington 2009; Ochieng’-Odhiambo, F.: Trends and Issues in African Philosophy. New York 2010. 8  Zu den wichtigsten Zeitschriften in Afrika zwischen 1960 und 1980 gehörten: Abbia. Revue culturelle camerounaise, Cameroon cultural review. Hg. v. Centre d’édition et de production pour l’enseignement et la recherche (Yaounde, Kamerun) seit 1963; Cahiers des religions africaines. Hg. v. Presses universitaires du Zaïre (Kinshasa, DR Kongo) seit 1967; ZaireAfrique. Economie-Culture-Vie sociale. Hg. v. Centre d’études pour l’action sociale (Kinshasa, DR Kongo) seit 1971; Second Order. An African Journal of Philosophy (Ife-Ife, Nigeria) seit 1971. Nach 1980 kamen folgende Zeitschriften hinzu: African philosophical inquiry (Ibadan, Nigeria); Le Korè. Revue Ivoirienne de Philosophie et de Culture (Abidjan); QUEST: An African Journal of Philosophy / QUEST: Une Revue Africaine de Philosophie (Lusaka, Sambia); African Philosophical Inquiry (Ibadan, Nigeria); Journal of the Inter-African Council of Philosophy (Cotonou, Benin); Imodoye. A Journal Of African Philosophy (Lagos, Nigeria); Journal of African Religion and Philosophy (Kampala, Uganda); Revue philosophique de Kinshasa (DR Kongo), Revue senegalaise de philosophie (Dakar, Senegal); Thought and Practice (Nairobi, Kenya). 9  Es handelte sich um die Verlage Présence Africaine, Karthala und L’Harmattan in Paris; Éditions CLÉ in Yaoundé (Kamerun), Presse Universitaire du Zaire (DR Kongo); Nouvelles Éditions Africains (NEA) in Dakar (Senegal) und Abidjan (Côte d’Ivoire). 6 



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Zusammenfassend begann die Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in Afrika im Rahmen von Auseinandersetzungen mit dem oberflächlichen und klischeehaften Afrikabild der westlichen Anthropologen, Linguisten, Ethnologen und Theologen, die bei all ihrer Bewunderung für afrikanische Lebensformen eine sehr negative Einstellung zur Vergangenheit Afrikas zeigten. Für das philosophische Geschichtsdenken selbst stellten jedoch die theoretischen Methoden des Thomismus, des Rationalismus, des Empirismus, des Marxismus, des Existentialismus, des Pragmatismus und der Hermeneutik die wissenschaftlichen Voraussetzungen.10

3.  Zur philosophischen Historiographie Afrikas

Um die Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung Afrikas objektiv darzustellen, muss man zunächst zwischen den authentisch-afrikanischen Modellen einerseits und den afrozentrischen, afrikanistischen und interkulturellen Ansätzen andererseits unterscheiden. Die afrikanistische Historiographie geht auf den belgischen Missionsphilosophen Placide Tempels (1906 – 1977) zurück, der zum ersten Mal in der Phi­lo­so­phie­ geschichte überhaupt ein Buch über afrikanische Philosophie verfasst hat.11 Darin dominieren vor allem eurozentrisch-kolonialistische Vorstellungen,12 wonach die Afrikaner kollektiv eine eigene Metaphysik, Ontologie, Logik, Kosmologie, Ethik, Erkenntnistheorie, Ästhetik etc. besitzen, die sich implizit in ihrem Leben finden und denen Gesetzmäßigkeiten zugrunde liegen, die allerdings nur von Europäern oder mit europäischen Methoden untersucht, explizit formuliert und historisch sys­ tematisiert werden können. Die philosophischen Afrikanisten glaubten, durch ihr Engagement für Afrika allein die Rechte der Afrikaner auf eine eigene Philosophie besser zur Geltung bringen zu können.13 10 

Dem Eurozentrismus liegt demnach das Prinzip zugrunde, die geistigen Ideen Europas und des Westens als einzige Objekte der Philosophie und Wissenschaft einerseits und die Europäer als einzige Subjekte, d. h. Agenten oder aktive Denker der Philosophie- und Geistesgeschichte, andererseits darzustellen. Man tut so, als ob die Afrikaner weder von der Philosophie noch von deren geschichtlicher Entwicklung betroffen gewesen wären. Vgl. Towa, Marcien: Essai sur la problématique philosophique dans l’Afrique actuelle. Jaunde 1970/1975; Bidima, Jean-Godefroy: Théorie critique et modernité négro-africaine: de l’Ecole de Francfort à la docta spes africana. Paris 1993; Kouadio Dibi, Augustin: L’Afrique et son autre: la différence libérée. Abidjan 1994; Ama Mazama, Ama: L’impératif afrocentrique. Paris 2003; Amin, Samir: Modernité, religion et démocratie. Critique de l’eurocentrisme et critique des culturalismes. Paris 2008. 11  Tempels, Placide: La philosophie bantoue. Elisabethville 1955. 12  Vgl. Njoh-Mouelle, Ébénézer: Jalons II. L’Africanisme aujourd’hui. Jaunde 1975; Obenga, Théophile: Le sens de la lutte contre l’africanisme eurocentriste. Paris/Montréal 2001. 13  Siehe beispielsweise die Arbeiten von Horton, Robert: Destiny and the Unconscious in West Africa. In: Africa. Journal of the International African Institute 31:2 (1961), S. 110 – 116;

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Die interkulturelle Geschichtsschreibung grenzt sich von der afrikanistischen Denkungsart dadurch ab, dass sie weder eurozentrische noch rassistische Motive zeigt. Die interkulturellen Philosophen, wie etwa Claude Sumner (1919 – 2012), Alfons Jozef Smet (1926 – 2015), Heinz Kimmerle (1930 – 2016), Barry Hallen etc. hegen ein philanthropisches Interesse am afrikanischen Denken sowie an einem offenen und gleichwertigen Austausch mit Afrikanern über allgemeine Erkenntnisfragen.14 Der Afrozentrismus, der oft mit Cheikh Anta Diop (1923–1986) verbunden wird, hat vielmehr seine Wurzeln im Panafrikanismus.15 Seine Verfechter sind Afrikaner und Afroamerikaner, die zeigen wollen, dass manche Teile Afrikas bereits in der Antike und im Mittelalter die höchste Stufe der kulturellen Entwicklung erreicht hatten. Doch sie übertreiben manchmal und glauben den Eurozentristen mit den gleichen Mitteln begegnen zu müssen, indem sie behaupten, viele in der Welt herrschende Wissenssysteme hätten entweder ihre Wurzeln in Afrika oder stammten von Afrikanern.16 Ausgehend von dieser äußerst provokativen Grundannahme wird die Philosophie im Afrozentrismus als eine intellektuelle Entwicklung aufgefasst, die bei den alten Ägyptern entstand und von den Griechen unerlaubt übernommen und angeeignet wurde, ohne die wahren Erfinder und Autoren zu nennen.17 ders.: African Traditional Thought and Western Science. In: Africa. Journal of the International African Institute 37:1 (1967), S. 50 – 71; Maurier, Henry: Philosophie de l’Afrique noire. St. Augustin 1976. 14  Vgl. dazu Sumner, Claude: The Source of African Philosophy: The Ethiopian Philosophy of Man. Wiesbaden 1986. Smet, Alfons Jozef: Bibliographie de la pensée africaine. Répertoire et Suppléments I–IV. Kinshasa/Limete 1972 – 1975; ders. (Hg.): Philosophie africaine. Textes choisis. 2 Bände. Kinshasa 1975; Kimmerle, Heinz: Philosophie in Afrika – afrikanische Philosophie. Annäherungen an einen interkulturellen Philosophiebegriff. Frankfurt/M. 1991; ders.: Die Dimension des Interkulturellen. Philosophie in Afrika – afrikanische Philosophie. Zweiter Teil: Supplemente und Verallgemeinerungsschritte. Amsterdam/Atlanta 1994; ders. (Hg.): Afrikanische Philosophie im Kontext der Weltphilosophie. Nordhausen 2005, Wimmer, Franz Martin (Hg.): Vier Fragen zur Philosophie in Afrika, Asien und Lateinamerika. Wien 1988; Hallen, Barry: A Short History of African Philosophy. Indiana 2002; ders.: African Philosophy. The Analytic Approach. Trenton 2006. 15  Der Panafrikanismus ist eine politische Ideologie und Theorie, die aus den Revolten der afrikanischen Völker gegen die Sklaverei, die Unterdrückung und die koloniale Ausbeutung hervorgegangen ist. Sein ursprüngliches Ziel bestand darin, die wissenschaftlichen Methoden zur Erforschung und Überwindung des Imperialismus und Kolonialismus in allen ihren Formen zu entwickeln. Aus dem Panafrikanismus sind nicht nur die Befreiungsbewegungen in Afrika, sondern auch verschiedene Theorien, wie die Négritude, der Afrozentrismus, der afrikanische Sozialismus etc., hervorgegangen, die für das Verstehen des Sklavenhandels, des Rassismus und der kolonialen Ausbeutung notwendig waren und noch sind. Vgl. James, Cyril Lionel Robert: A History of Pan-African Revolt. Chicago 2012. 16  Vgl. Asante, Molefi Kete: Kemet, Afrocenticity and knowledge. Trenton/New Jersey 1992; Asante, Molefi Kete u. Abarry, Abu S. (Hg.): African Intellectual Heritage: A Book of Sources. Philadelphia 1996; Asante, Molefi Kete: The Afrocentric Idea. Philadelphia 1998. 17  Einzelheiten bei James, George G. M.: Stolen Legacy. Greek Philosophy Is Stolen Egyptian



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Ähnlich wie die Afrozentristen verfahren auch die Eurozentristen, die Europa in den Mittelpunkt der Weltgeschichte stellen und die Entwicklung der Philosophie fast ausschließlich mit den schriftlichen Überlieferungen einzelner europäischer Denker verbinden.18 Diese Logik lässt jedoch den Eindruck aufkommen, dass die Philosophie in jedem Land Europas stattgefunden und sich weiterentwickelt hätte. Die meisten Bücher zeigen jedoch eine Zentrierung insbesondere der modernen Philosophie auf Mittel- und Südeuropa. Allerdings hat sich die eurozentrische Darstellung der Phi­lo­so­phie­geschichte ab Ende des 19. Jahrhunderts langsam geändert, als Gelehrte aus China, Indien, Japan und islamischen Ländern anfingen, selbstbewusst aufzutreten und für die Anerkennung ihrer geistigen Produktionen als Philosophie zu plädieren.19

4.  Die afrikanischen Modelle der Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung 4.1  Das ethnophilosophische Modell

Das ethnophilosophische Modell der Geschichtsschreibung begann mit Alexis Kagame (1912 – 1981). In seinem Buch La philosophie bantu-rwandaise de l’être20 trat er zum ersten Mal für die Gleichstellung von oraler Tradition und geschriebener Geschichte ein. Kagame untersuchte dabei die gesprochenen Sprachen sowie andere mündlich überlieferte Sprichwörter, Mythen, Legenden, Märchen, Lieder, Lebens­ regeln etc., die er als lebendige Zeugnisse der Vergangenheit betrachtete und die Philosophy. New York 1954; Olela, Henry: From Ancient Africa to Ancient Greece: An Introduction to the History of Philosophy. Atlanta 1979; Olela, Henry: The African Foundations of Greek Philosophy. In: Wright, Richard A. (Hg.): African Philosophy. An Introduction. 3. Aufl. Lanham 1984, S. 77 – 92; Obenga, Théophile: L’Égypte pharaonique tutrice de la Grèce de Thalès à Aristote. In: Éthiopiques  1 – 2 (1989), S. 11 – 45.  Kamalu, Chukwunyere:  Foundations of African Thought. London 1990; Onyewuenyi, Innocent Chilaka: The African Origin of Greek philosophy. An exercise in Afrocentrism. Nsukka (Nigeria) 1993; Asante, Molefi K.: The Egyptian Philosophers. Ancient African Voices from Imhotep to Akhenaten. Chicago 2000. Biyogo, Grégoire: Origine égyptienne de la philosophie. Au-delà d’une amnésie philosophique: le Nil comme berceau universel de la philosophie. Paris 2001. 18  Vgl. Mudimbe, Valentin: The Invention of Africa. Gnosis, Philosophy, and the Order of Knowledge. Bloomington 1988; Serequebaran, Tsenay: The Critique of Eurocentrism and the Practice of African Philosophy. In: Postcolonial African Philosophy. A Critical Reader. Hg. v. Eze, Emmanuel. Oxford 1997, S. 141 – 161; Obenga, Théophile: Le sens de la lutte contre l’africanisme eurocentriste. Paris 2001; Eze, Emmanuel: On Reason. Rationality in the World of Cultural Conflict and Racism. Durham 2008. 19  Vgl. hierzu die ausführlichen bibliographischen Angaben zu den verschiedenen Phi­lo­so­ phie­geschichts­schrei­bungen im Anhang dieses Bandes. 20  Kagame, Alexis: La Philosophie bantu-rwandaise de l’être. Brüssel 1956. 

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nach seiner Ansicht erst das Historische ermöglichten.21 Ausgehend vom Konstrukt der Oraltradition, die Kagame als Voraussetzung für die Entwicklung der Kultur und der Vernunft auffasste, versuchte er, die Geschichte der Bantu, d. h. deren kollektives Gedächtnis und Überlieferungserbe,22 zu interpretieren, wobei er Kultur nicht von der Philosophie eindeutig abzugrenzen vermochte. Indem Kagame den kolonialistischen Umgang mit den Oraltraditionen bemängelte, entwarf er gleichwohl ein eigenes Konzept der Erforschung der gesprochenen Sprachen und verzichtete dabei ganz bewusst auf europäische Konzepte und Methoden. Kagame stützte sich in seiner Untersuchung insofern ausschließlich auf die gesprochenen Sprachen, indem er sie als die einzigen zuverlässigen Quellen betrachtete, auf die man sich beziehen kann, um die Bantu-Kultur auf ihre ontologische, ethische und historische Originalität zu prüfen.23 Mit diesem Argument wollte Kagame zeigen, dass die Bantu-Philosophie nicht nur existiert, sondern auch eine rekonstruierbare und interpretierbare Geschichte besitzt.24 Die Methode Kagames widerspricht vehement dem Vorgehen, das auf Placide Tempels zurückgeht, bei dem den Afrikanern zynischerweise die Fähigkeit abgesprochen wird, ihre eigenen Sprachenpotenziale philosophisch zu erschließen und nutzen zu können.25 Darüber hinaus wendete sich Kagame gegen die von der kolonialistischen Linguistik etablierte Unterscheidung von Sprache und Dialekt sowie die damit einhergehende Subsumierung aller gesprochenen Sprachen Afrikas unter die Kategorie von Dialekten. Kagame betrachtete diese Vorgehensweise als eine nicht hinnehmbare Diffamierung des gesamten Überlieferungserbes Afrikas, weshalb er eine eigene Klassifizierung unternahm, um zu zeigen, dass der oralen Tradition eine 21 

Vgl. Alexis Kagame: Apperception empirique du temps et conception de l’histoire dans la pensée bantu. In: Les cultures et le temps. Hg. v. UNESCO. Paris 1975, S. 103 – 133; ders.: La Philosophie Bantu comparée. Paris 1976 (dt. Sprache und Sein. die Ontologie der Bantu Zen­ tralafrikas. Übers. v. Almut Seiler-Dietrich. Heidelberg 1985).  22  Mit kollektivem Überlieferungserbe sind die tradierten Lebensformen und Denkkategorien gemeint, die alle Mitglieder einer Kultur gemeinsam haben. Das Gedächtnis bezeichnet alle von den vergangenen Generationen kollektiv oder individuell erlebten und erfahrenen Momente sowie Situationen von Glück, Leiden, Freude, Unglück etc., die alle Gesellschaftsmitglieder heute gemeinsam als Appell und Erinnerung betrachten. Näheres dazu bei Mabe, Jacob Emmanuel: Afrika als Erinnerungsort und Erinnerungsarbeit. Eine philosophische Perspektive. In: Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. Hg. v. Zimmerer, Jürgen. Frankfurt/M. 2013, S. 487 – 501; ders.: Vom ›kollektiven Gedächtnis‹ zur Konvergenzhistorik – Europäische und afrikanische Erinnerungen an den Kolonialismus philosophisch hinterfragt. In: Erinnerung verhandeln. Kolonialismus im kollektiven Gedächtnis Afrikas und Europas. Hg. v. Hobuß, Steffi u. Lölke, Ulrich. Münster 2007, S. 14 – 32. 23 Kagame: La philosophie bantu-comparée. A. a. O. 24  Kagame, Alexis: L’historicité de lyangombe, chef des Immandwa. In: Cahiers des religions africaines 10:19 (1976), S. 5 – 18. 25  Man war damals fest davon überzeugt, dass ein wahrhaft abstraktes Denken nur in einer Schriftsprache möglich sein könne.



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Onto­logie innewohnt und diese philosophisch entfaltet werden kann. Die Methode Kagames, die ontologischen Kategorien des Bantu-Denkens zu ermitteln, erwies sich aus seiner Sicht als fruchtbar, insofern er glaubte, mit deren Hilfe den in den alten gesprochenen Sprachen überlieferten Ideen und Denkweisen Aktualität zu verleihen.26 Kagame sah die Aufgabe der Ontologie darin, das Seinsverständnis der Vergangenheit, wie es sich in den Sprachen manifestiert, nicht nur zu vergegenwärtigen und glaubwürdig, sondern auch zukunftsfähig zu machen. Er warf deshalb den europäischen Ethnologen und Linguisten vor, den epistemischen, ontischen und normativen Wert afrikanischer Sprachen verkannt zu haben, indem sie Letztere dem Mythos zuordneten und dadurch abwerteten. Tatsächlich legte die eurozentrische Erforschung der afrikanischen Sprachen die Vermutung nahe, dass sie bestimmte Klischees verwendeten, um ihre selbst etablierte hierarchische und vertikale Differenz zwischen den höheren Schriftzivilisationen des Westens und den anderen niederen schriftlosen und primitiven Kulturen zu bestätigen. Bei Kagame wurde das Wort Bantu ein Sprachbegriff, den er auf das afrikanische Denken anwendete, um seine Seins- und Kategorienlehre in Auseinandersetzung mit Aristoteles und Thomas von Aquin historisch zu begründen. Fasste Kagame die Oraltradition als eine mündlich überlieferte Philosophie auf, so sah er seine Aufgabe als Schriftphilosoph darin, die Geschichte dieser Philosophie nicht mehr nur mündlich weiterzuerzählen, sondern auch schriftlich zu dokumentieren. Auf diese Weise legte Kagame den Grundstein für die philosophische Historiographie in Afrika und beeinflusste damit viele Gelehrte, wie André Makarakiza (Burundi), François-Marie Lufuluabo (Kongo), Antoine Mabona (Südafrika), Jean-Calvin Bahoken (Kamerun) und John Samuel Mbiti (Kenya), die ebenfalls begannen, die ontologischen und kosmologischen Gesetzmäßigkeiten, die ihren jeweiligen Oraltraditionen zugrunde liegen, historisch wie systematisch zu untersuchen. Auf diese Arbeiten beziehen sich viele mit dem ethnisch-kulturellen Denken befasste Autoren, die von der Philosophie der Akan, der Igbo, der Yoruba etc. sprechen.27 Bei aller damals ausgelösten Euphorie blieb diese von Kagame initiierte Form der Verschriftlichung der oraltraditionellen Philosophie nicht lange ohne Kritik. Diese Vgl. Vidal, Claudine: Alexis Kagame, entre mémoire et histoire. In: History in Africa 15 (1988), S. 493 – 504. 27  Vgl. z. B. Makarakiza, André: La dialectique des Burundi. Brüssel 1959; Gyekye, Kwame: Philosophical Relevance of Akan Proverbs. In: Second Order. African Journal of Philosophy 4:2 (1975), S. 45 – 53; Makinde, Kola u. Akin, M.: A Philosophical Analysis of the Yoruba Concepts of Ori and Human Destiny. In: International Studies in Philosophy 17:1 (1985), S. 53 – 69; Gyekye, Kwame: An Essay on African Philosophical Thought. The Akan Conceptual Scheme. Philadelphia 1987; Gbadegesin, Segun: African Philosophy: Traditional Yoruba Philosophy and Contemporary African Realities. New York 1991. 26 

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Kritik wurde laut, als der belgische Philosoph Franz Crahay28 sich zu Wort meldete und Zweifel an Kagames Programm äußerte. Der erste afrikanische Kritiker der Bantuphilosophie war Fabien Eboussi Boulaga,29 der Kagame vorwarf, die afrikanische Authentizität und Identität nicht angemessen zu spiegeln. Zudem hielt Eboussi den Bantuphilosophen vor, die Afrikaner nicht nur bevormunden, sondern ihnen auch ihre Würde als Kulturmenschen und Geschichtssubjekte nehmen zu wollen.30 Abgesehen von dieser massiven Kritik hat sich Kagame selbst in eine Situation gebracht, die ihn mit sich selbst in Widerspruch brachte. Statt sich auf primäre Quellen, nämlich die oralen Materialien und Sprachen zu konzentrieren, zog er zusätzlich zu den oralen Quellen nur die von Europäern produzierten Texte (Aristoteles, Thomas, Tempels etc.) heran, als ob die Afrikaner selbst keine Schriften überliefert hätten. Kagame hätte seine Recherchen erweitern müssen, um zu entdecken, dass Tertullian, Origines, Apuleus, Aurelius Augustinus, Anton Wilhelm Amo etc. afrikanische Philosophen waren, aus deren Texten man wichtige Erkenntnisse über Sein, Lebenskraft, Menschenwürde etc. gewinnen kann. Auch John Samuel Mbiti, der die afrikanische Philosophie mit Weltanschauung identifiziert,31 konnte nicht die Gegenstände empirisch nachweisen, die den verschiedenen Anschauungen in Afrika entsprechen.

4.2  Das revolutionäre Modell der Geschichtsschreibung

Der Wegbereiter der revolutionären Geschichtschreibung war Kwame Nkrumah (1909 – 1972). Doch erst Marcien Towa (1931 – 2014) und Paulin Hountondji haben gezeigt, wie sich revolutionäre Ideen in Philosophie umsetzen lassen. In seinem Buch Consciencismus32 bezeichnet Nkrumah die Revolution als eine Veränderung der sozialen Bedingungen und der Bewusstseinsinhalte der Menschen. Dabei ging es ihm nicht um die bloße Ablösung einer ungerechten Ordnung, sondern um die Realisierung von Gerechtigkeit und Gleichheit. Nkrumah begriff daher den Con28 

Crahay, Franz: Le décollage conceptuel: conditions d’une philosophie bantoue. In: Diogène 52 (1965), S. 61 – 84. 29  Eboussi Boulaga, Fabien: Le Bantou problemátique. In: Présence Africaine (Paris) 66 (1968), S. 4 – 40. 30  Eboussi Boulaga, Fabien: La crise du muntu. Authenticité africaine et philosophie. Paris 1977 und 2000. 31  Mbiti, John Samuel: African Religion and Philosophy. London 1969 (dt.: Afrikanische Religion und Weltanschaung. Berlin 1974). 32  Nkrumah, Kwame: Consciencism. Philosophy and Ideology for Decolonization and Development. London 1964 (dt. Consciencismus. Philosophie und Ideologie zur Entkolonialisierung und Entwicklung mit besonderer Berücksichtigung der afrikanischen Revolution. Köln/Opladen 1965).



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sciencismus als eine konsequente politische Ideologie mit gesellschaftspraktischem Bezug, d. h. mit dem Ziel, jeden einzelnen Menschen in seiner Denk- und Handlungsfähigkeit zu stärken. Den Weg zur vollständigen Emanzipation Afrikas sieht er darin, dass gut geschulte Persönlichkeiten die politische Führung übernehmen, um die consciencistische Idee in die Praxis umzusetzen,33 d. h. die Gesellschaft nach egalitärem Prinzip aufzubauen. Seine Ausgangshypothese beruhte auf der folgenden Erkenntnis: Afrika hätte sich durch exogene Einflüsse der von außen kommenden Religionen und der westlichen Kultur gründlich verändert. Denn in der traditionellen, vorkolonialen Epoche hätte der Mensch nicht nur Respekt, Integrität und Würde erfahren, sondern auch inneren Wert gehabt. Das alles sei durch den Einfluss des Islam, des Christentums sowie der europäischen Kultur verdrängt worden. Die gegenwärtige afrikanische Gesellschaft sei aufgrund dieser hinzugekommenen Elemente komplexer geworden. Da heute eurochristliche und islamische Handlungs- und Denkweisen das afrikanische Bewusstsein maßgeblich prägen, empfiehlt Nkrumah, sie hinfort nicht mehr als exogene Faktoren, sondern als endogene Effekte der afrikanischen Kultur aufzufassen. Wer dann Afrikas Entwicklung fördern wolle, habe stets dem Spannungsverhältnis zwischen tradierten, eurochristlichen und islamischen Kulturen Rechnung zu tragen. Denn nur durch deren Zusammenfügung biete sich für die Afrikaner die Chance, ihre verlorene Identität und Würde wiederzuerlangen. Dies setze allerdings voraus, dass die ursprüngliche menschliche Würde unangetastet bleibe. Doch Letztere kann nach Nkrumah nur geachtet und effektiv geschützt werden, wenn die Freiheit und Gleichheit der Bürger nicht bedroht, wie dies im Kolonialismus der Fall war, sondern gewährleistet und gefördert werden. Marcien Towa und Paulin Hountondji griffen die revolutionären Ideen Nkrumahs auf und setzten sie in ein neues Geschichtsdenken um, das aus weiteren textuellen Überlieferungen individueller Denker schöpft.34 Hountondji und Towa fassen die Philosophie neu auf, indem sie sie mit einem revolutionären Prozess gleichsetzen, der freies Denken fördert und sich zugleich gegen Geistesströmungen richtet, die offene Debatten behindern. Beide Philosophen weisen deshalb der Revolution die Funktion zu, die Denker zu ermutigen, sich der Vernunftkritik konsequent zu widmen und Debatten zu führen, die zur Veränderung gesellschaftlicher, wirtschaft­ licher und politischer Zustände beitragen können. Wie kaum ein anderer Afrikaner hat Marcien Towa stets davor gewarnt, die Philosophie als eine Erfindung der Gegenwart zu betrachten. Für ihn entstand das 33 

Vgl. Bénot, Y.: Nkrumah et le rôle de la personnalité dans l’Afrique contemporaine. In: Présence africaine 85 (1973), S. 39 – 47. 34  Hountondji, Paulin J.: Remarques sur la Philosophie africaine. In: Diogène 71 (1970), S. 120 – 140; Towa, Marcien: Essai sur la problématique philosophique dans l’Afrique actuelle. Jaunde 1970.

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reine Denken in Afrika – er nennt es das Denken des Absoluten35 – bei den alten Ägyptern. Denn Letztere hätten gezeigt, wie man an absolute Autoritäten glauben und trotzdem in der Lage sein könne, nach deren Wesen und Sinn für die menschliche Existenz zu fragen. Setzte Towa den Anfang der Phi­lo­so­phie­geschichte bei den Ägyptern, so vermochte er leider nicht mehr die weiteren Entwicklungswege des reinen Denkens aufzuzeigen, um die langen Zäsuren zwischen der Antike und der Gegenwart zu überbrücken. Nach den Ägyptern erkennt Kwame Nkrumah, durch den Towa maßgeblich beeinflusst wurde,36 Aimé Césaire (1913 – 2008) und Léopold Sédar Senghor (1906 – 2001) als erste Denker der afrikanischen Moderne an. Towa schließt sich ihm an und würdigt zudem die Denkansätze Aimé Césaires, während er Léopold Sédar Senghor scharf kritisiert, dem er neokoloniale Dienstbarkeit unterstellte.37 Towa setzte sich nicht zuletzt mit oraltraditionellen Denkern auseinander, die nach seiner Ansicht Menschen waren, die niemals etwas über ihren menschlichen Verstand stellten. Dass im traditionellen Denken Brutalität und Ungerechtigkeit stets weitgehend von Recht und Intelligenz übertroffen wurden, zeugt nach Towa von der Fähigkeit der alten Afrikaner, zu erkennen, dass das Leben ein ewiger Kampf sei, den es anzunehmen gelte. Damit seien sich die traditionellen Denker bewusst gewesen, dass nur der Verstand38 allein dem Menschen helfen könne, seine Existenzprobleme zu bewältigen. Towa will damit sagen, dass kein in den alten afrikanischen Traditionen mit Verstand agierender Mensch den Anspruch erheben konnte, den absoluten Maßstab für Vernunftwahrheiten und moralische Perfektion anzulegen. So bedauert er sehr, dass die Ethnophilosophie, statt die alten geistigen Fähigkeiten und Tugenden des Afrikaners hervorzuheben, ihn bloß als einen strengen Gläubigen darstellt,39 der nur an mythische Götter, Ahnen und Hellseher glaubt. Die Geschichtsrevolution, die nach Towa bei den alten Ägyptern einsetzte, bietet die Möglichkeit, zu einem neuen Denken überzugehen, das die Erneuerung der Philosophie in Afrika ermöglicht. Towa pflichtet jedoch nicht der These Nkrumahs bei, dass Afrika dringend mächtige Persönlichkeiten brauche. Er korrigiert die Perspektive und ergänzt sie durch seine eigene Forderung, dass diese FührungspersoTowa, Marcien: Idée d’une philosophie négro-africaine. Jaunde 1979. Euphorisch bezeichnete Marcien Towa den Consciencismus sogar als erstes philosophisches Werk Afrikas überhaupt. Vgl. Towa: Consciencisme. In: Présence africaine 85 (1973), S. 144 – 177. 37  Vgl. dazu Towa, Marcien: Léopold Sédar Senghor: Négritude ou servitude. Jaunde 1971. 38  Mit »Verstand« ist hier rationales Handeln gemeint, auf der Grundlage von Erkenntnis und nach reiflicher Überlegung. Die Ratio steigert in diesem Sinne die Erfindungsgabe des Menschen. 39  Ebd., S. 45. 35 

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nen, die Afrika braucht, nur durch die intellektuelle Revolution entstehen können, so dass sie aufgrund ihres Wissens und mit Blick auf die Geschichte politische und gesellschaftliche Verantwortung übernehmen.40 Dabei nimmt Towa das pharaonische Ägypten, das Athen der großen Philosophen und Europa im Zeitalter der Aufklärung zum Vorbild. Diese Epochen wären ohne die großen Denker nicht das geworden, was man von ihnen bis heute noch weiß. Towa will jedoch nicht, dass die spirituelle oder politische Macht das Wissen bestimmt, sondern umgekehrt das historische Wissen die Macht bestimmt, um so die philosophische Emanzipation zu stimulieren, die für die gründliche Erneuerung der Gesellschaften sowie die Verbesserung der menschlichen Existenzbedingungen notwendig ist. Paulin Hountondji seinerseits begreift die Philosophie als eine Geschichte im Sinne eines unabgeschlossenen Prozesses, der weder Diskontinuitäten noch Kontinuitäten zulässt, sondern sich vielmehr durch gewaltige Revolutionen mit fundierten und standfesten Theorien weiterentwickelt. Diese Theorien müssen allerdings aus überlieferten Kategorien und Terminologien entspringen, die weitergedacht und reflektiert werden müssen. Hountondji wendet sich dabei gegen jegliches Denksystem, das durch Meinungen und Behauptungen einzelner Personen bestimmt wird, an denen man nur festzuhalten hat. Stattdessen fordert er die anderen Philosophen auf, sich der Herausforderung der Interdisziplinarität zu stellen und eine Zusammenarbeit mit den Einzelwissenschaften anzustreben. Denn nur auf diese Weise können die Philosophen in die Lage versetzt werden, bestimmte Zusammenhänge durch die Wissenschaften zu erfassen und gegebenenfalls zu verändern und zu ergänzen. Wird die Philosophie dieser Aufgabe gerecht, so kann sie nach Hountondji besser helfen, die Gesellschaften Afrikas neu zu gestalten und zu de­ marginalisieren.41 So sieht er die Chance, die afrikanische Geschichte von politischen, religiösen und historischen Mythen endgültig zu befreien. Da Hountondji die von einzelnen Autoren verfassten Texte als die zuverlässigsten Quellen der Philosophie betrachtet, sofern sie rigoroses und präzises Denken spiegeln, setzt er den Anfang der Phi­lo­so­phie­geschichte in Afrika weder bei den Ägyptern noch bei den lateinisch-christlichen Denkern oder den islamischen Philosophen im Mittelalter. Zur Vermeidung einer langen Zäsur und zur Gewährleistung der Kontinuität in der Geschichtsdarstellung verbindet Hountondji den Anfang der modernen Philosophie Afrikas mit Alexis Kagame, Kwame Nkrumah, Marcien Towa etc., deren Texte aus seiner Sicht einen hohen wissenschaftlichen Anspruch 40 

Mit dieser Forderung wurde Towa oft missverstanden. Oft wird ihm eine marxistischleninistische Position unterstellt. Vgl. Fouda, B. J. u. Pokam-Sindjoun: La philosophie camerou­ naise à l’ère du soupçon. Le cas de Towa. Jaunde 1980. 41  Vgl. Hountondji, Pauline: Introduction. Démarginaliser. In: ders. (Hg.): Les savoirs ­endogèns. Pistes pour une recherche. Paris 1994, S. 1 – 36.

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erheben. Anton Wilhelm Amo (um 1700 – ca. 1754) betrachtet Hountondji lediglich als einen isolierten Vordenker der afrikanischen Moderne.42 Der geschichtsrevolutionäre Ansatz Towas und Houndtondjis wirkte nicht nur im frankophonen Raum nach, sondern verbreitete sich durch Henry Odera Oruka (Kenia), Kwasi Wiredu (Ghana), Olubi Sodipo (Nigeria) etc. sehr schnell in den englischsprachigen Ländern Afrikas.43

4.3  Das historistische Modell

Aus den Auseinandersetzungen mit den philosophischen Positionen von Alexis Kagame, Marcien Towa und Paulin Hountondji gingen zwei Strategien für die Phi­ lo­so­phie­geschichts­schrei­bung hervor, nämlich eine historistische und eine didaktische Strategie. Die historistische Strategie unterscheidet sich vom afrozentrischen Vorgehen dadurch, dass man außer den alten Ägyptern auch sämtliche Afrikanerinnen und Afrikaner rehabilitierte, die in der Vergangenheit Schriftstücke mit philosophischem Anspruch hinterlassen haben. Die Historisten wollen in Anlehnung an Cheikh Anta Diop zeigen, dass die früheren Afrikaner nicht nur den Mythos, sondern auch die Vernunft überliefert haben.44 Sie versuchen alle Denker und Denkerinnen zu ermitteln, die entsprechend der eurozentrischen Historisierungslogik Afrika repräsentieren. Aufgrund diverser Recherchen ist es diesem Ansatz gelungen, eine philosophische Historiographie Afrikas nach folgendem chronologischen Schema zu präsentieren: 1. Die ägyptische Antike (2800 v. Chr. – 300 v. Chr.) mit Imhotep, Ptahhotep, Echnaton, Manethon etc. 2. Die griechisch-alexandrinische Spätantike mit Philon, Plotin etc. 3. Das lateinisch-christliche Mittelalter von Tertullian und Apuleus bis Aurelius Augustin Zu Amo vgl. Mabe, Jacob Emmanuel: Anton Wilhelm Amo interkulturell gelesen. Nordhausen 2007; Ette, Ottmar: Anton Wilhelm Amo. Philosophieren ohne festen Wohnsitz. Eine Philosophie der Aufklärung zwischen Europa und Afrika. Berlin 2014. 43  Siehe Wiredu, Kwasi: On an African Orientation in Philosophy. In: Second Order 1:2 (1972), S. 3–13; Oruka, Henry Odera: Mythologies as African Philosophy. In: East African Journal 10 (1972), S. 5 – 11. 44  Omoregbe, Joseph: African philosophy: Yesterday and Today. In: Bodunrin, Peter O. (Hg.): Philosophy in Africa: Trends and Perspectives. Ife-Ife 1981, S. 1 – 9; Obenga, Théophile: La philosophie pharaonique. In: Présence Africaine 137/138 (1986), S. 3 – 24; Biyogo, Grégoire: Histoire de la philosophie africaine. 4 Bände. Paris 2006; Mono Ndjana, Hubert: Histoire de la philosophie africaine. Paris 2009; Mabe, Jacob Emmanuel: Denken mit dem Körper. Eine kleine Geistesgeschichte Afrikas. Nordhausen 2010; Abanuka, Batholomew: A History of African Philosophy. Enugu 2011. 42 



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4. Das islamisch-arabische Mittelalter mit Averroes, Ibn Khaldun (1332 – 1406), ­Ahmed Baba (1556 – 1627) etc.45 5. Die Neuzeit mit Zera Yacob (1599 – 1692), Skendes, Waldä Heywart sowie Anton Wilhelm Amo (ca. 1700 - ca. 1754) 6. Das 20. Jahrhundert besteht aus: (a) den poetisch-literarischen Texten auf Französisch und Englisch von René Maran, Aimé Césaire, Léopold Sédar Senghor, Wole Soyinka, Mongo Béti, Georges Ngal und Ngugi Wa Thiongo; (b) der Gesellschaftskritik von Frantz Fanon etc.; (c) den Geschichtstheorien von Cheikh Anta Diop, Ahmadou Hampâte, Joseph Ki-Zerbo, Engelbert Mveng, Ali Mazrui und Théophile Obenga etc.; (d) den rein philosophischen Texten der Ethnophilosophie, des afrikanischen Universalismus, der Hermeneutik, der politisch-ideologischen Philosophie. Zusammenfassend wurde das historistische Modell in der Geschichtsschreibung eingesetzt, um insbesondere die jungen Menschen mit der Vielfalt der Geisteswelt Afrikas vertraut zu machen. Anhand von schriftlichen und mündlichen Materia­ lien wurden zudem die wesentlichen metaphysischen, ontologischen, erkenntnistheoretischen, ästhetischen und ethisch-moralischen Kategorien und sonstigen Ideen untersucht und interpretiert, die aus den verschiedenen Epochen der Vergangenheit überliefert wurden.

5. Schlussbetrachtung

Dieser Artikel hat die verschiedenen Modelle der modernen Phi­lo­so­phie­geschichts­ schrei­bung in Afrika präsentiert und dabei verdeutlicht, dass die meisten afrikanischen Philosophen die Vergangenheit weniger anhand von Fiktionen und Imaginationen als anhand von empirisch beweisbaren Dokumenten untersuchen. Durch die Rekonstruktion und die damit einhergehende Aktualisierung historischer Fakten wird die Vergangenheit zu einem erinnerten und unvergessenen Zeitkontinuum, das die Möglichkeit für eine andere Zukunft in Afrika darstellt. Aus dem am Ende dargestellten historistischen Ansatz haben afrikanische Philosophen eine didaktische Strategie mit dem Ziel entwickelt, ein einheitliches Modell der philosophischen Geschichtsdarstellung für das universitäre Studium und den Sekundarschulunterricht bereitzustellen, um den Jüngeren ein neues Bild von Afrika und seiner Philosophie zu vermitteln. 45 

Einzelheiten bei Bachir Diagne, Souleymane: Precolonial African Philosophy in Arabic. In: Wiredu, Kwasi (Hg.): A Companion to African Philosophy. Malden 2004, S. 66 – 77.

Widerhall der Alten Welt oder ein verpflanzter Baum ? Zur Debatte über die Geschichte der Philosophie im südlichen Amerika im 20. Jahrhundert Hans Schelkshorn

Hinführung

Wer sich der Geschichte der Philosophie in Lateinamerika zuwendet, steht zunächst vor einer paradoxen Situation. Selbst wenn die Existenz einer Philosophie der indigenen Völker negiert wird, kann die lateinamerikanische Philosophie auf eine fast fünfhundertjährige Geschichte zurückblicken. Bereits kurz nach der Conquista entstanden in Santo Domingo und in Mexiko (Nichoacan) die ersten philosophischen Schulen. Seit 1553 können in Mexiko und Lima an den von den Spaniern gegründeten Universitäten Magister- und Doktoratsabschlüsse in Philosophie erworben werden. Zugleich ist jedoch die lateinamerikanische Philosophie in westlichen Phi­ lo­so­phie­geschichten beinahe inexistent. Diese Beobachtung machte bereits William Rex Crawford, der in der Mitte des 20. Jahrhunderts die erste umfassende Monografie in den USA über das lateinamerikanische Denken veröffentlichte. »Honest introspection will convince the average educated North American […] that the names of Latin-American thinkers are hardly even names to him.«1 Ein halbes Jahr­hundert später scheint die Situation unverändert zu sein. In einem Sammelband zur lateinamerikanischen Philosophie hält Eduardo Mendieta im Vorwort nüchtern fest: »one of the most amazing things about the bibliographical work on philosophy published in English over the last decade or so is its utter silence about Latin American philosophy and philosophers.«2 Ein ähnliches Bild zeigt sich in Europa. Zwar gab es im frühen 20. Jahrhundert einige philosophische Annäherungsversuche zwischen Europa und Lateinamerika. So hielt 1908 Francisco García Calderón in Heidelberg einen Vortrag über die zeitgenössischen philosophischen Strömungen im südlichen Amerika.3 Nach dem Ersten Weltkrieg entstanden bedeutende interkulturelle Dialogforen, an denen auch lateinamerikanische Denker teilnahmen. Alfonso Reyes publizierte in der von Paul Valéry gegründeten »Societé des esprits«; José Carlos Mariátegui war Mitglied der Crawford, William Rex: A Century of Latin-American Thought. New York 1946, S. 3. Mendieta, Eduardo: Introduction. In: ders. (Hg.): Latin American Philosophy. Currents, Issues, Debates. Bloomington/Indianapolis 2003, S. 1. 3 García Calderón, Franceso: Las corrientes filosóficas en la América. In: ders.: Ideas é impresiónes. Madrid 1919. 1

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Gruppe »Clarté« und der III. Internationale. 1930 hielt Coriolano Alberini in Berlin und Hamburg vielbeachtete Vorträge über die deutsche Philosophie in Argentinien.4 Nach dem Zweiten Weltkrieg rückte jedoch die lateinamerikanische Philosophie wieder aus dem Blickfeld des europäischen Denkens. Im deutschen Sprachraum war Ivo Höllhubers Studie über die spanischsprachige Philosophie lange Zeit beinahe die einzige Quelle für lateinamerikanische Philosophie.5 Eine Ausnahme bildet Spanien. Da zahlreiche Intellektuelle vor dem Franco-Regime nach Lateinamerika emigrierten, entstand in der Mitte des 20. Jahrhunderts auch im Bereich der Philosophie ein reger geistiger Austausch zwischen Spanien und den Ländern des südlichen Amerika.6 Erst in den letzten Jahrzehnten kam es in Europa im Schlepptau der lateinamerikanischen Literatur und der Theologien der Befreiung auch zu Rezeptionen lateinamerikanischer Philosophie.7 Doch selbst in der Bewegung der »interkulturellen Philosophie«, die vor allem im deutschen Sprachraum entstanden ist, hat die lateinamerikanische Philosophie keinen selbstverständlichen Ort. Obwohl Raúl FornetBetancourt – neben Ram Adhar Mall und Franz Martin Wimmer ein Pionier der »interkulturellen Philosophie« – durch zahlreiche Publikationen und Tagungen den philosophischen Dialog zwischen Lateinamerika und Europa wie kein anderer gefördert hat, wird in manchen Einführungen zur interkulturellen Philosophie das lateinamerikanische Denken noch immer mit keinem einzigen Wort erwähnt.8 Das hartnäckige Schweigen über die lateinamerikanische Philosophie ist allerdings nicht ohne Grund. Nach den Barbarendiskursen im 16. Jahrhundert, die sich gegen die indigenen Völker richteten, und den Rassentheorien des 18. Jahrhunderts, Vgl. dazu Alberini, Coriolano: Die deutsche Philosophie in Argentinien. Berlin 1930, das ein Geleitwort von Albert Einstein enthält. 5 Höllhuber, Ivo: Geschichte der Philosophie im spanischen Kulturbereich. München, Basel 1967. 6 Vgl. dazu Abellan, José Luis: El exilio filosófico en América. Los transterrados de 1939. México 1998. 7 Nach Höllhuber hat im deutschen Sprachraum vor allem Heinz Krumpel durch zahlreiche Überblickswerke in die Geschichte des lateinamerikanischen Denkens eingeführt: Krumpel, Heinz: Philosophie in Lateinamerika. Grundzüge ihrer Entwicklung. Berlin 1992; ders.: Aufklärung und Romantik in Lateinamerika. Ein Beitrag zur Identität, Vergleich und Wechselwirkung zwischen lateinamerikanischem und europäischem Denken. Frankfurt a. M./ Berlin u. a. 2004; ders.: Philosophie und Literatur in Lateinamerika. 20. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Identität, Vergleich und Wechselwirkung zwischen lateinamerikanischem und europäischem Denken. Frankfurt a. M./Berlin u. a. 2006. 8 So z. B. Paul, Gregor: Einführung in die interkulturelle Philosophie. Darmstadt 2008. Auch bei Collins, Randall: The Sociology of Philosophies. A Global Theory of Intellectual Change. Cambridge, London 1998, fällt Lateinamerika aus dem globalen Blickfeld heraus. Franz Martin Wimmer ordnet die lateinamerikanische Philosophie der Ethnophilosophie zu, deren Status als »Philosophie« jedoch in Frage gestellt wird. Vgl. dazu Wimmer, Franz Martin: Interkulturelle Philosophie. Wien 2004, S. 59. 4



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die auch die Kreolen zu degenerierten Europäern erklärten, hatte Hegel Amerika aus der Weltgeschichte ausgeschlossen und zu einem unphilosophischen Kontinent erklärt. Amerika ist nach Hegel bloß »der Widerhall der Alten Welt und der Ausdruck fremder Lebendigkeit«, in dem der Weltgeist bisher nicht Station gemacht hat.9 Das Hegel’sche Verdikt über Amerika blieb nicht ohne Wirkung. Der Selbstzweifel an der eigenen Philosophie begleitet vielmehr das lateinamerikanische Denken wie ein dunkler Schatten. Vor allem im 20. Jahrhundert brechen im südlichen Amerika immer wieder Debatten über die Existenz einer eigenständigen Philosophie auf. Aus diesem Grund ist in Lateinamerika eine Geschichte der eigenen Philosophie keine selbstverständliche Disziplin.10

1.  Geschichte welcher Philosophie? – Eine erste Vorklärung

Jede philosophische, d. h. nicht bloß archivarische Phi­lo­so­phie­geschichte bewegt sich in einem hermeneutischen Zirkel. Der zugrunde liegende Begriff von »Philosophie« gibt jeweils die Selektionskriterien für die historische Rekonstruktion vor. Dieser Mechanismus führt auch innerhalb der europäischen Philosophie zuweilen zu beträchtlichen Exklusionen. So schließt etwa Hegel im Bann seiner Systemphilosophie das Denken der Renaissance aus der allgemeinen Geschichte der Philosophie weitgehend aus. In Heideggers Rückgang auf das Seinsdenken der Vorsokratiker erscheint die römische Philosophie nur mehr als eine pervertierende Verflachung der griechischen Philosophie. In der heiklen Frage nach dem leitenden Vorverständnis von »Philosophie« müssen in Lateinamerika vorweg zumindest drei Denktraditionen unterschieden ­werden. Wie bereits erwähnt, gibt es seit dem 16. Jahrhundert europäische Philosophie in Lateinamerika. Nachdem in der Zeit der Kolonialherrschaft lange Zeit die Scholas­ tik dominierte, sind seit dem 18. Jahrhundert beinahe alle philosophischen Strömungen Europas und in der Folge auch der USA im südlichen Amerika rezipiert worden.  9

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Werke in zwanzig Bänden. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Bd. 12. Frankfurt a. M. 1986, S. 114. 10 Dieser Selbstzweifel an einer eigenen Phi­lo­so­phie­geschichte ist von den sachlichen Zweifeln, ob Phi­lo­so­phie­geschichte überhaupt für eine systematisch orientierte Philosophie relevant ist, abzuheben. Vgl. dazu etwa Rabossi, Eduardo: History and Philosophy in the Latin American Setting: Some Disturbing Comments. In: The Role of History in Latin American Philosophy: Contemporary Perspectives. Hg. v. Arleen Salles u. Elizabeth Millán-Zaibert. Albany 2005, S. 57 – 74.

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Mitte des 19. Jahrhunderts begründete Juan Bautista Alberdi, ein liberaler Jurist aus Argentinien, die sogenannte filosofía americana, die sich in der Folge zur filosofía hispano-, ibero oder latinoamericana wandelte. In der Tradition von Alberdis filosofía americana stehen bedeutende geistige Strömungen des 19. und 20. Jahrhunderts, die vom Positivismus bis hin zu den Philosophien der Befreiung und den postkolonialen Debatten der Gegenwartsphilosophie reichen. Seit dem 16. Jahrhundert ist im südlichen Amerika auch immer wieder die Frage nach der »Philosophie« der indigenen Völker Amerikas aufgebrochen. Darüber hinaus haben bereits in der Kolonialzeit einzelne indigene Denker wie z. B. Felipe Guamán Poma de Ayala den europäischen bzw. kreolischen Diskurs über Amerika unterbrochen. Da die Rezeptionen europäischer Philosophie in Lateinamerika selbst oft als epigonaler »Widerhall der Alten Welt« zurückgewiesen und die Weltbilder der indigenen Völker meist den vorphilosophischen Mythologien zugeschlagen wurden, rückte im südlichen Amerika im 20. Jahrhundert die Tradition der filosofía americana, 11 in der philosophische, literarische und sozialwissenschaftliche Reflexionen ineinanderfließen, ins Zentrum der Debatten über eine lateinamerikanische Phi­ lo­­so­phie­geschichte. In jüngerer Zeit ist auch in den USA von den Hispanics eine Diskussion über Status und Geschichte einer lateinamerikanischen Philosophie in Gang gekommen. Vor allem Jorge J. E. Gracia und Susana Nuccetelli12 haben pointierte Interpretationen zur Causa »lateinamerikanische Philosophie« vorgelegt, in der jeweils zwischen universalistischen und kulturalistischen bzw. distinktivistischen Ansätzen von Philosophie unterschieden wird.13 Universalistische Konzeptionen, die Philosophie als strenge Wissenschaft verstehen, schließen nach Gracia und Nuccetelli per se eine »lateinamerikanische« Philosophie aus; Philosophie als Suche nach universal gültigen Erkenntnissen verträgt kein geografisches Epitheton. Die auf Alberdi zurückgehenden Konzepte einer filosofía iberoamericana bauen, wie vor allem am Beispiel von Leopoldo Zea, einem Hauptvertreter einer »lateinamerikanischen« Philosophie in Mexiko, illustriert wird, auf einem kulturalistischen Verständnis philosophischer Vernunft auf, das nach Gracia und Nuccetelli inkonsistent und selbstwidersprüchlich ist. Wenn im Namen eines »strengen«, d. h. universalistischen und akademischen Begriffs von Philosophie die Vielfalt an literarisch-philoVgl. dazu die umfassende aktuelle Gesamtdarstellung von Beorlegui, Carlos: Historia del pensamiento filosófico latinoamericano: una búsqueda incesante de la identidad. Bilbao 2004 (22006). 12 Nuccetelli, Susana / Schutte, Ofelia / Bueno, Otávio (Hg.): A Companion to Latin American Philosophy. Malden/Mass. 2010. 13 Vgl. dazu Gracia, Jorge J. E.: Hispanic/Latino Identity: A Philosophical Perspective. Malden/Mass. 2000, S. 130 – 158; Nuccetelli, Susana: Latin American Philosophy. In: A Companion to Latin American Philosophy, S. 343 – 356. 11



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sophischen, politischen und auch religiös-theologischen Diskursen eliminiert wird, bleibt allerdings, wie Nuccetelli konzediert, »a very thin and unoriginal corpus of philosophical work«14 zurück. Aus diesem Grund entwickeln Gracia und Nuccetelli jeweils einen eigenen Theorierahmen, in den die heterogenen Diskurse eines lateinamerikanischen Denkens zumindest partiell integriert werden können. Scheinbar nahe liegende Kriterien wie Sprache (Spanisch, Portugiesisch), Geburt oder Zugehörigkeit zur lateinamerikanischen Kultur scheiden nach Gracia als Definitionsmerkmale von vorherein aus. Denn zahlreiche Werke aus der Kolonialzeit sind in Latein verfasst, bedeutende Denker wie José Gaos oder Eduardo Nicol sind nicht in Lateinamerika geboren. Auch der Bezug auf die »lateinamerikanische Kultur« ist nach Gracia zu diffus, um eine Philosophie als »lateinamerikanisch« qualifizieren zu können. So ordnet Gracia die lateinamerikanische Philosophie schließlich in sein eigenes Konzept einer nicht-essentialistischen »ethnischen Philosophie« ein, die von Wittgensteins Sprachspieltheorie inspiriert ist. Philosophie bewegt sich jeweils in einem »Ethnos«, das unterschiedliche Sprachspiele, die sich in schriftlichen Zeugnissen sedimentieren, zulässt. Nuccetelli plädiert hingegen für eine schwach universalistische Konzeption von Philosophie, in der sich zwar nicht alle, aber doch einige Themen und Methoden auf die sozialen und kulturellen Faktoren Lateinamerikas beziehen. In diesem Rahmen können nach Nuccetelli sowohl systematische Philosophien der Kolonialzeit als auch die Ansätze der filosofía americana in eine lateinamerikanische Phi­lo­so­phie­ geschichte integriert werden.15 Die Zugänge von Gracia und Nuccetelli benennen zwar zentrale Probleme einer lateinamerikanischen Philosophie; ihre metatheoretischen Rahmentheorien bilden jedoch ein allzu enges Korsett, aus dem de facto bedeutende geistige Strömungen aus der Geschichte der lateinamerikanischen Philosophie herausfallen. So anerkennt Nuccetelli zwar die philosophischen Beiträge von Las Casas, Sor Juana Inés de la Cruz und Domingo F. Sarmiento. Obwohl sie keine professionelle philosophische Ausbildung hatten, finden sich in ihren Werken originelle und universalgültige Einsichten. Die lebensphilosophisch und phänomenologisch orientierte Positivismuskritik, aber auch marxistische und sozialistische Philosophien im 20. Jahrhundert, einschließlich der Philosophien der Befreiung, sind hingegen nach Nuccetelli wegen ihrer mangelnden Originalität kein integraler Teil einer lateinamerikanischen Philosophie. Den Kritikern des Positivismus, die im südlichen Amerika weithin als »fundadores« einer lateinamerikanischen Philosophie anerkannt werden, wirft Nuccetelli vor, sich durch ihre Orientierung an der Metaphysik Latin American Philosophy, S. 348. Vgl. dazu Nuccetelli: Latin American Thought. Neben den Kolonialdebatten des 16. Jahrhunderts prüft Nuccetelli am Beispiel der Mayas auch die Rationalität/Irrationalität indigener Denkformen, ebd. S. 25 – 48. 14 Nuccetelli: 15

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noch mit obskuren Problemen wie z. B. der Frage nach dem Seienden als Seiendem auseinanderzusetzen.16 Auch Gracia droht mit seinem Konzept einer ethnischen Philosophie bedeutende Strömungen wie z. B. das breite Spektrum postkolonialer Philosophien auszublenden. »Nor can one talk very seriously recent proposals by postmodernists, philosophers of liberation, and others who claim that what is peculiar Latin American philosophy is the experience of so-called coloniality, or even perhaps marginality.«17 Vor diesem Hintergrund möchte ich im Folgenden einige Etappen des Streits um eine lateinamerikanische Philosophie kurz beleuchten. Ohne die Legitimität externer Deutungsperspektiven, wie sie Gracia und Nuccetelli vorlegen, zu negieren, soll der Blick primär auf die internen Selbstbegründungen einer lateinamerikanischen Philosophie gerichtet werden.

2. Entwicklungen der filosofía americana und ihr Verhältnis zur Phi­lo­so­phie­geschichte 2.1  Von der filosofía americana zur filosofía hispano-/iberoamericana

Die Ursprünge der filosofía americana liegen in der Zeit nach den Unabhängigkeitskriegen. Da die Forderung der Kreolen nach einer gleichberechtigten Stellung der beiden Vizekönigreiche in den spanischen Cortes sowohl von den Monarchis­ ten als auch den Republikanern abgelehnt worden ist, setzt im südlichen Amerika ein schmerzlicher Prozess der Selbstvergewisserung ein. Nach der bitteren Erfahrung, als Europäer zweiter Klasse behandelt zu werden, entdecken sich die Kreolen als Amerikaner.18 Nach den Unabhängigkeitskämpfen versinken allerdings die jungen Staaten des südlichen Amerika in Anarchie. In dieser Situation beginnen sich Intellektuelle, allen voran Andrés Bello und seine positivistischen Schüler Francisco Bilbao und José Victorino Lastarria, mit den soziopolitischen Herausforderungen ihrer Länder auseinanderzusetzen. Die Hinwendung zum eigenen soziohistorischen Kontext steht, wie Andrés Bello eindrucksvoll bezeugt, nicht Vgl. dazu Nuccetelli: Latin American Philosophy, S. 250: »the fundadores championed metaphysics, defined somewhat obscurely as ›the study of Being qua Being’ and nonempirical knowledge based on reason alone.« 17 Gracia, Jorge J. E.: Ethnic Labels and Philosophy. The Case of Latin American Philosophy. In: Latin American Philosophy. Currents, Issues, Debates. Hg. v. Eduardo Mendieta. Bloomington/Indianopolis 2003, S. 63. 18 Der Prozess der neuen Selbstdefinition manifestiert sich prototypisch bei Servando Teresa de Mier, der selbst an den Verhandlungen mit den Spaniern teilgenommen hat. Vgl. dazu Teresa de Mier, Servando: Cartas de un americano 1811 – 1812. La otra insurgencia. México 1987. 16



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im Widerspruch, sondern im Einklang mit systematisch orientierter Philosophie. Andrés Bello gründete die Universität von Santiago de Chile, verfasste bedeutende Werke über die Erkenntnistheorie und das Völkerrecht und publizierte während seiner Zeit als Botschafter in London die Biblioteca Americana und das Repertorio Americano, in denen wissenschaftliche und literarische Arbeiten von und über Amerika erschienen. Juan Bautista Alberdi, ein Mitglied der sogenannten Generación 1837, legt Mitte des 19. Jahrhunderts den definitiven Grundstein für die filosofía americana. In einer Vorlesung in Montevideo im Jahr 1840 fordert Alberdi19 die Entwicklung einer amerikanischen Philosophie, die sich aktiv am Aufbau der postkolonialen Staaten im südlichen Amerika beteiligt. Alberdi situiert das Projekt einer filosofía americana in einer differenzierten Diagnose über die Situation der Philosophie im frühen 19. Jahrhundert. Darin nimmt Alberdi einerseits die Hegel’sche Einsicht in die Geschichtlichkeit der Vernunft auf – jede Epoche ist von einem geistigen Prinzip getragen –, andererseits wird der Systemanspruch der Hegel’schen Philosophie radikal zurückgewiesen. Die Zersplitterung der nachidealistischen Philosophie zeigt nach Alberdi, dass keine Philosophie ihre Zeit umfassend in Gedanken zu erfassen vermag. Abseits des spekulativen Systemdenkens ist jedoch nach Alberdi bei Lammenais, Tocqueville oder Jouffroy eine Philosophie entstanden, die die modernen Gesellschaften im Licht der Freiheitsideale der Aufklärung und unter Einbeziehung empirischer Forschungen praxisorientiert analysiert. In diesem Sinn muss nach Alberdi auch eine amerikanische Philosophie eine »positive und reale Philosophie« sein, genauer eine »Philosophie, die die gesellschaftlichen, politischen, religiösen und moralischen Interessen dieser Länder trifft«.20 Da die Philosophie jeweils eine Zeitdiagnose für bestimmte Gesellschaften erstellen muss, kann nach Alberdi ihre Universalität nicht in den Ergebnissen, sondern nur in den formalen Argumentationsstrukturen der Vernunft liegen. »Es gibt jedoch keine universale Philosophie, weil es keine universale Lösung der Fragen gibt, die sie im Grunde konstituieren. Jedes Land, jede Epoche, jeder Philosoph hat seine besondere Philosophie gehabt, die mehr oder weniger verbreitet wurde, mehr oder weniger gedauert hat, weil jedes Land, jede Epoche und jede Schule unterschiedliche Lösungen der Probleme des menschlichen Geistes gegeben hat. Die Philosophie jeder Epoche und jedes Landes ist in der Regel die Vernunft bzw. das jeweils dominanteste und allgemeinste Prinzip oder Gefühl gewesen, die die Akte des Lebens und das Verhalten bestimmt hat. Und diese Vernunft ist aus den dringend19

Alberdi, Juan Bautista: Ideas para presidir la confección del curso de filosofía contemporanea. In: Fuentes de la cultura latinoamericana. Bd. 1. Hg. v. Leopoldo Zea. México 1993, S. 143 – 152. 20 Ebd., S. 148 (Übersetzungen aus dem Spanischen stammen, wenn nicht anders vermerkt, von mir).

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sten Bedürfnissen der jeweiligen Zeit und des jeweiligen Landes hervorgegangen. So wie es eine orientalische, griechische, römische, deutsche, englische und französische Philosophie gab, so es ist notwendig, dass auch eine amerikanische Philosophie existiert.«21

Im Streit der Ideologien zwischen Konservativismus, Liberalismus und Sozialismus entscheidet sich Alberdi für die liberale Idee des Fortschritts. Die moralischen Grundlagen der filosofía americana sind: »libertad, igualdad, asociación«.22 Der europäische Liberalismus kann jedoch in Amerika, wie Alberdi aufweist, nicht sensu directo, sondern nur durch eine sogfältige Diagnose der Verhältnisse vor Ort verwirklicht werden. Die filosofía americana entwickelt daher keine Metaphysik im Sinne eines ahistorischen Systems der Vernunft,23 sondern vollzieht sich im »Hören auf das Volk«: »Wir werden also im Vorbeigehen die Metaphysik des Individuums berühren, um uns mit der Metaphysik des Volkes zu beschäftigen. Das Volk wird das große Seiende sein, dessen Impressionen, dessen Lebens- und Bewegungs-, Denk- und Fortschrittsgesetze wir studieren und mit den anerkanntesten Meinungen der liberalsten Denker unseres Jahrhunderts und in Übereinstimmung mit den drängendsten Bedürfnissen des Fortschrittes dieser Länder bestimmen werden.«24

Im Licht des liberalen Republikanismus definiert allerdings Alberdi das »Volk« als die Gemeinschaft ökonomisch unabhängiger Bürger. Dies bedeutet: Indigene Völker, Mestizen und selbst Kreolen, die noch dem klerikalen Geist der Kolonialzeit verhaftet sind, gehören für Alberdi nicht zum »Volk« im eigentlichen Sinn, das ausschließlich aus liberalen Bürgern besteht. An dieser Stelle verstrickt sich Alberdis Konzept einer »filosofía más adecuada a América del Sur« im Eurozentrismus europäischer Fortschrittsideen. »Alles in der Zivilisation unseres Bodens ist europäisch: Amerika selbst ist eine europäische Entdeckung«. Umgekehrt gilt: »In Amerika ist alles, was nicht europäisch Ebd., S. 145 f. In diesem Sinn betont auch Raúl Fornet-Betancourt, dass Alberdis filosofía americana »keine Alternative zur universalen Philosophie darstellt, weil ihre Partikularität in und durch Anwendung der allgemeinen Vernunftprinzipien gewonnen wird«. Im Unterschied zu Hegel ist allerdings »die Einheit bzw. Universalität der Philosophie auf das Minimum der vernünftigen Argumentation beschränkt«. Fornet-Betancourt, Raúl: Die Frage nach der lateinamerikanischen Philosophie, dargestellt am Beispiel des Argentiniers Juan Bautista Alberdi. In: ders.: Philosophie und Theologie der Befreiung. Frankfurt a. M. 1988, S. 54 f. 22 Alberdi: Ideas para presidir, S. 151. 23 Vgl. dazu ebd., S. 149: »Die reine Abstraktion, die Metaphysik an sich, wird in Amerika keine Wurzeln schlagen.« Diese Diagnose gilt nach Alberdi nicht bloß für das südliche Amerika, sondern auch für die USA, die eine »neue gesellschaftliche Ordnung entworfen haben, die sie nicht der Metaphysik verdanken«. 24 Ebd., S. 148. 21



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ist, barbarisch.«25 Im Bann liberaler Fortschrittsideen kommt es in Argentinien im späten 19. Jahrhundert daher noch einmal zu Vernichtungsfeldzügen gegenüber der indigenen Bevölkerung. Obwohl Alberdis programmatischer Text erst Mitte des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt worden ist, adaptieren in der Folge auch die Positivisten die Lehren von Comte und Spencer im Licht der soziohistorischen Verhältnisse vor Ort. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der Positivismus in zahlreichen südame­ rikanischen Staaten zur Staatsdoktrin. Um die Jahrhundertwende löst allerdings die Krise der positivistischen Entwicklungsdiktaturen eine radikale Wende in der filosofía americana aus. José Martí, ein Vertreter des literarischen modernismo, weist den Rassismus der liberalen und positivistischen Ideologien vehement zurück. In dem berühmten Essay Nuestra América (1891) bestimmt Martí in deutlicher Abgrenzung zum Europäismus der Generación 1837 die indigenen Völker als Mutterkultur aller Menschen im südlichen Amerika, einschließlich der Kreolen.26 »Die in Amerika auf die Welt kamen und sich schämen, weil in ihnen das Indianerblut der Mutter fließt, die sie stillte! Ihre Mutter ist nun krank, doch diese Taugenichtse verleugnen sie und lassen sie allein auf ihrem Krankenlager liegen.«27 Ohne Versöhnung mit den indigenen Völkern sind nach Martí sämtliche Modernisierungsprojekte zum Scheitern verurteilt. Dies bedeutet: Amerika kann sich nicht gegen, sondern nur »mit seinen Indios retten«.28 Mehr noch: Da seit den Unabhängigkeitskriegen die amerikanischen Länder mit europäischen Lehrbüchern regiert werden, ist nach José Martí eine grundlegende Reform des Bildungswesens unabdingbar. »Die europäische Universität muss der amerikanischen weichen. Die Geschichte Amerikas von den Inkas bis heute muss in allen Einzelheiten vermittelt werden, auch wenn man auf die Geschichte der griechischen Archonten verzichten müsste.«29 In dieser Perspektive widmet sich José Martí in zahlreichen Essays den verschiedenen Regionen des südlichen Amerika. Darüber hinaus finden sich bei Martí Konturen einer lateinamerikanischen Geistes- bzw. Phi­lo­so­phie­geschichte, die sowohl politische Akteure (Bolívar, San Martín, Hidalgo), Literaten, Philosophen und auch Theologen wie Bartolomé de las Casas umfasst. Darüber hinaus weist Martí die Hegel’sche These vom ausschließlich griechischen Ursprung der Philosophie zu-

Juan Bautista: Bases y puntos de partida para la organización política de la república argentina. Buenos Aires 61993, S. 82. 26 Martí, José: Unser Amerika. In: Der lange Kampf Lateinamerikas. Texte und Dokumente von José Martí bis Salvador Allende. Hg. v. Angel Rama. Frankfurt a. M. 1982, S. 56 – 67. 27 José Martí: Unser Amerika, S. 57. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 60. 25 Alberdi,

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rück. Die Anfänge der Philosophie liegen, wie Martí mit Anquetil-Duperron festhält, im Orient (Ägypten, Indien, Persien, China).30 Nicht zuletzt stellt José Martí die von Liberalen und Positivisten stets hochgehaltene Vorbildfunktion der USA in Frage. Spätestens im Kuba-Krieg haben sich nach Martí die USA als imperiale Macht entpuppt, die das südliche Amerika und die Karibik zu einer neuen kulturellen Selbstbestimmung zwinge. An dieser Stelle überschneidet sich Martís Denken mit der um 1900 einsetzenden Positivismuskritik, die eine Rehabilitierung der romanischen Wurzeln des südlichen Amerika einleitet. Neben der Gruppe Ateneo in Mexiko (Antonio Caso, José Vasconcelos, Alfonso Reyes u. a.)31 löste vor allem José Enrique Rodó mit dem Essay »Ariel« (1900) eine Jugendrevolte aus, die weite Teile des Kontinents erfasste. Mit der Symbolfigur Ariel, dem Luftgeist in Shakespeares »Der Sturm«, beschwor Rodó eine ästhetische und religiöse Erneuerung des kulturellen Lebens aus den verachteten Quellen der romanischen Kulturen. Caliban, Symbol der wissenschaftlich-technischen Zivilisation mit den USA als Speerspitze, darf hingegen nach Rodó nur eine dienende Funktion für die gesellschaftliche Entwicklung im südlichen Amerika zukommen.32 In diesem Kontext wandelt sich Ende des 19. Jahrhunderts die filosofía americana in eine filosofía ibero- oder hispanoamericana, in der es neben kulturpolitischen Verschiebungen auch zu systematischen Umorientierungen kommt. Alberdis strikte Absage an die Metaphysik ist für Rodó und die Generación 1915 nicht mehr akzeptabel. Im Zuge der lebensphilosophischen Kritik am angelsächsischen Denken (Utilitarismus, Pragmatismus) werden in aller Offenheit Metaphysik und auch Religion in die systematische Architektonik einer lateinamerikanischen Philosophie integriert.

2.2 Wandlungen der filosofía hispanoamericana: José Vasconcelos und José Carlos Mariátegui

Trotz aller Brüche findet Alberdis Idee einer filosofía americana im frühen 20. Jahrhundert immer wieder ungeahnte Fortsetzungen. Diese Entwicklung soll im Folgenden mit einem Blick auf José Vasconcelos und José Carlos Mariátegui exemplarisch illustriert werden. Martí, José: Filosofía. In: José Martí. Obras completes. Bd. 19: Viajes. Diarios. Crónicas. Juicios. Notas. La Habana 1964, S. 360 f. Seit Anquetil-Duperron wendet sich nach Martí die abendländische Philosophie wieder dem Orient zu. 31 Vgl. dazu Conferencias del Ateneo de la Juventud. Hg. v. Juan Hernández Luna. México 2000. 32 Rodó, José Enrique: Ariel. In: José Enrique Rodó. Obras completes. Hg. v. Alberto José Vaccario. Buenos Aires 1948, S. 171 – 236; deutsche Übersetzung: Rodó, José Enrique: Ariel. Übers., hg. u. erläutert v. Ottmar Ette. Mainz 1994. 30



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José Vasconcelos war Mitglied des Ateneo, Philosoph, Schriftsteller und Bildungsminister in der Regierung Adolfo de la Huerta. In seinen Werken entwickelt Vasconcelos einen ästhetischen Monismus, in dem zahlreiche philosophische Stränge von Pythagoras bis zu Bergson, aber auch Traditionen des indischen Denkens in kreativer Weise verbunden werden. Aus diesem Grund verteidigt Vasconcelos vehement ein universalistisches Verständnis von Philosophie. Trotz seiner metaphysischen Orientierung, die in einem offenen Widerspruch zu Alberdi steht, sieht sich allerdings Vasconcelos gleichsam wider Willen zu einer Verortung seines Denkens im eigenen soziohistorischen Kontext gezwungen. Im Unterschied zur europäischen Philosophie, die sich um 1900 noch im Zentrum der Macht wähnt, steht die Philosophie in Lateinamerika nach Vasconcelos vor der Herausforderung des Niedergangs der hispanoamerikanischen Welt. Die globalen Machtverhältnisse sind jedoch, wie Vasconcelos hellsichtig diagnostiziert, der Philosophie nicht äußerlich, sondern durchdringen auch systematische Disziplinen. Vasconcelos stellt daher seiner Ethik einen Vorspann (Antecedentes) unter dem Titel »Nationalismus und philosophischer Universalismus«33 voran. Trotz allen Reichtums des Geistes ist nach Vasconcelos in den europäischen und jüngst auch nordamerikanischen Philosophien eine imperiale Macht präsent, die ihren Universalismus zu desavouieren droht. In der positivistischen und utilitaristischen Absage an Ästhetik, Metaphysik und Religion manifestiert sich nicht bloß eine Überlegenheit der Argumente, sondern zugleich die Machtfülle der führenden Industrie­nationen. Vor diesem Hintergrund setzt Vasconcelos trotz seiner Kritik an der Generación 1837 de facto zentrale Ideen der filosofía americana fort: »Wir suchen eine hispanoamerikanische Philosophie, weil wir keine andere Weise sehen, uns einer universalen Philosophie zu nähern. Denn beinahe die gesamte zeitgenössische Philosophie ist von einem Nationalismus, nicht jedoch von einem Partikularismus gefärbt.«34 Im Bewusstsein der kontextuellen Situiertheit menschlicher Vernunft verbindet Vasconcelos seine systematischen Werke mit zahlreichen Studien zur Geschichte und Zukunft Hispanoamerikas. Die Machtkritik der herrschenden Philosophie verwandelt Vasconcelos darüber hinaus in ein heuristisches Prinzip: Kreative geistige Bewegungen entstehen, wie an der griechischen Philosophie selbst, aber auch an der jesuanischen Bewegung oder am Wirken von Mahatma Gandhi exemplarisch sichtbar wird, eher an den Rändern als in den Zentren imperialer Macht.35 Auch Vasconcelos, José: Ética. Mexico 21939, S. 9 – 56. Im Unterschied dazu kann sich Henri Bergson in Die beiden Quellen der Moral und der Religion (1932) ohne umständliche Vorüber­ legungen ab dem ersten Kapitel sofort dem Phänomen der moralischen Verpflichtung zuwenden. Vgl. dazu Bergson, Henri: Die beiden Quellen der Moral und der Religion. Jena 1933. 34 Vasconcelos: Ética, S. 9. 35 Ebd., S. 26  f. 33

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realgeschichtlich liegt die Zukunft der Menschheit, wie Vasconcelos in seinem berühmten Text »La raza cósmica« (1925) aufzuweisen versucht, abseits der industriellen Machtzentren. Denn so wie im südlichen Amerika Europäer, Indios, Schwarze und im 19. Jahrhundert verstärkt auch Asiaten in der mestizjae verschmolzen, so werden sich in der Zukunft durch fortschreitende Globalisierungsprozesse weltweit sämtliche Rassen bzw. Kulturen miteinander vermischen.36 Kurz: Trotz der machtpolitischen Unterlegenheit gegenüber der angelsächsischen Welt antizipiert nach Vasconcelos Iberoamerika durch seine Kultur der mestizaje die Zukunft der Menschheit. In diesem weiten Horizont legt Vascencelos in den 1930er Jahren eine umfassende Geschichte der Philosophie vor, die mit den Philosophien Indiens, Chinas, Ägyptens und des alten Israels beginnt und erst in einem zweiten Schritt zur griechischen Philosophie übergeht.37 Von der griechischen Antike an folgt Vasconcelos allerdings weitgehend dem Kanon europäischer Phi­lo­so­phie­geschichte. Geleitet von seinem ästhetischen Monismus wird auch die christliche Philosophie (biblische Quellen, Patristik, mittelalterliche Philosophie)38 ausführlich dargestellt; zwei Kapitel widmen sich der Mystischen Philosophie, einerseits der Tradition von Dionysius Areopagita über Franz von Assisi bis Judas Abrabanel,39 andererseits der spanischen Mystik. Die lateinamerikanische Philosophie ist zunächst nicht Teil der allgemeinen Geschichte der Philosophie. Erst im Appendix »La filosofía en México«40 resümiert Vasconcelos in groben Strichen die Geschichte der Philosophie im südlichen Amerika seit der Gründung der ersten Universitäten. Vasconcelos ist sich bewusst, mit diesem Kapitel Neuland zu betreten: »Der Neugierige wird in unseren Bibliotheken vergeblich eine Sektion mit mexikanischen philosophischen Werken suchen.«41 Nachdem die Philosophie der Kolonialzeit relativ ausführlich erwähnt wird, wendet sich Vasconcelos zumeist kritisch den liberalen und positivistischen Philosophien nach den Unabhängigkeitskriegen zu. Erst mit Antonio Caso, einem Mitglied des Ateneo, und nicht zuletzt durch sein eigenes Wirken sei es zu einer Erneuerung der Philosophie in Hispanoamerika gekommen.42 José Carlos Mariátegui (1894 – 1930), Mitbegründer der Sozialistischen Partei in Peru, ist ideologisch ein Antipode zu Vasconcelos. In Anknüpfung und gleichVasconcelos, Jose: La raza cósmica. Misión de la raza iberoamericana. Argentina y Brasil. México 1988. 37 Vasconcelos, Jose: Historia del pensamiento filosófico. México 1937. 38 Ebd., S. 183 – 200; 218 – 245. 39 Ebd., S. 246 – 283. 40 Ebd., S. 533 – 559. 41 Ebd., S. 535; Vasconcelos stützt sich vor allem auf Valverde Téllez, Emeterio: Bibliografía filosófia mexicana. 4 Bde. México 1913. 42 Ebd., S. 539; 564  f. 36



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zeitiger Abgrenzung zur Generación 1837 nimmt Mariátegui eine Kontextualisierung des westlichen Marxismus vor. Im Konkreten erteilt er dem Geschichtsdeterminismus und Atheismus des orthodoxen Marxismus eine Absage und fordert für die indigene Bevölkerung in Peru eine Bodenreform, in der sie ihre gemeinwirtschaftlichen Produktionsweisen bewahren und sich zugleich für die moderne Technik öffnen können.43 Mariátegui analysiert die sozialen Verhältnisse in Peru und im südlichen Amerika stets im globalen Horizont. In der von ihm gegründeten Zeitschrift Amauta veröffentlicht er zahlreiche Essays zu politischen, philosophischen und ideologischen Fragen seiner Zeit. In diesem Kontext finden sich Studien nicht nur zu europäischen Philosophien, sondern auch zu Gandhi, Tagore, Sun Yatsen u. v. a. Darüber hinaus greift Mariátegui mit dem Essay ¿Existe un pensamiento hispanoamericano? (1925)44 in die erst langsam anhebende Debatte über eine filosofía americana ein. Einerseits kritisiert er die ideologische Ausrichtung von Alberdi und Sarmiento im Licht seiner marxistischen Gesellschaftstheorie; andererseits wendet er sich gegen den Vorschlag von Alfredo L. Palacios, die lateinamerikanische Philosophie von Europa radikal abzukoppeln. Auch wenn Europa durch den Ersten Weltkrieg seine geopolitische Vormachtstellung verloren hat, kann sich nach Mariátegui das hispanoamerikanische Denken auch in Zukunft nur im Austausch mit europäischen Philosophien weiterentwickeln. Mariátegui selbst war nicht nur Mitglied der II. Internationale, sondern stand auch in direktem Kontakt mit Romain Rolland, Henri Barbusse und italienischen Marxisten. Nachdem sein Denken von den kommunistischen Parteien als unorthodoxe Version des Marxismus lange Zeit marginalisiert worden war, erfuhr Mariátegui nach dem Zweiten Weltkrieg in den Dependenztheorien und den Theologien und Philosophien der Befreiung eine beachtliche Renaissance. Aus diesem Grund gilt Mariátegui heute zu Recht als der bedeutendste Begründer eines lateinamerikanischen Marxismus.45

Vgl. dazu vor allem Mariátegui, José Carlos: Sieben Versuche, die peruanische Wirklichkeit zu verstehen. Berlin, Freiburg (Schweiz) 1986. 44 Mariátegui, José Carlos: ¿Existe un pensamiento hispanoamericano? In: José Carlos Mariátegui. Textos básicos. Hg. v. Aníbal Quijano. México 1981, S. 364 – 367. 45 Vgl. dazu Fornet-Betancourt, Raúl: Ein anderer Marxismus? Die philosophische Rezeption des Marxismus in Lateinamerika. Mainz 1994. 43

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3. Begründung und Infragestellung einer eigenen Phi­lo­so­phie­geschichte: Samuel Ramos und die »Normalisierung« der Philosophie

In der Mitte des 20. Jahrhunderts intensiviert sich in Lateinamerika die professionelle Auseinandersetzung mit der europäischen Philosophie, ein Prozess, der auch durch den Exodus spanischer Intellektueller während des Spanischen Bürgerkriegs befördert wird. In diesem Kontext bricht vor allem in Mexiko und Argentinien die heikle Frage einer geschichtlichen Selbstvergewisserung der lateinamerikanischen Philosophie in aller Schärfe auf. Nach der Revolution ragt in Mexiko vor allem das Werk von Samuel Ramos hervor, der neben systematischen Werken in den 1930er Jahren eine radikale Selbstdiagnose der mexikanischen Kultur vorlegt. In seinem berühmten Werk El perfil del hombre y de la cultura en México (1934) kritisiert Ramos vor allem den Mimetismus, d. h. die obsessive Nachahmung der europäischen Kultur, und den nationalen Machismo, unter denen sich jeweils ein tiefer Minderwertigkeitskomplex verberge.46 Doch Ramos beschränkt sich nicht auf eine Psychoanalyse der mexikanischen Seele, sondern setzt zugleich zu einer Selbstverteidigung der lateinamerikanischen Philosophie an. »Das Werk einiger Denker und Wissenschaftler zeigt […], dass unsere Intelligenz gegenüber derjenigen der Europäer nicht inferior ist.«47 Allerdings bedarf es in Mexiko, wie Ramos in den Spuren von Alberdi betont, eines besonderen philosophischen Denkens. Bereits seit längerem versuche er zu verstehen, was es bedeute, als Mexikaner zu denken (»pensar como mexicanos«). Dies dürfe jedoch nicht als Aufruf zu einem philosophischen Nationalismus missverstanden werden. Im Gegenteil, Philosophie muss, wie Ramos klarstellt, stets nach universalgültigen Erkenntnissen suchen.48 Zugleich ist jedoch, wie er mit Ortega y Gasset betont, jede philosophische Erkenntnis örtlich und zeitlich situiert und folglich perspektivisch gebrochen. Das Problem der Philosophie in Mexiko liegt nun nach Ramos weniger in der Öffnung für die Universalität der Vernunft, sondern in der mangelnden Situierung im eigenen soziohistorischen Kontext. Denn wir denken in Mexiko »als ob wir Fremde (como si fuéramos extranjeros)« in diesem Land wären.49 Samuel, Ramos: El perfil del hombre y de la cultura en México. In: Samuel Ramos. Obras completes. Bd. 1. México 1990, S. 87 – 184. Die Theorie des Minderwertigkeitskomplexes übernimmt Ramos von Alfred Adler. 47 Ebd., S. 175. Zur Zuordnung von Vernunft und Leben vgl. Ortega y Gasset, José: Die Aufgabe unserer Zeit (El tema de nuestro tiempo) (1923). In: José Ortega y Gasset. Gesammelte Werke. Bd. II. Stuttgart 1978, S. 79 – 141. 48 Vgl. dazu Ramos: El perfil del hombre, S. 176: »Wer diese Ideen als Ausdruck eines engen Nationalismus versteht, würde sie missverstehen. Es geht vielmehr um Ideen für eine Grundlegung der Philosophie.« 49 Ebd. 46



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In den folgenden Jahren arbeitet Samuel Ramos intensiv am Projekt einer mexi­ kanischen Philosophie. 1941 gründet er den Lehrstuhl für mexikanische Phi­lo­so­ phie­geschichte, zwei Jahre später erscheint sein Werk Historia de la Filosofía en México (1943).50 Im Vorwort beschreibt Ramos die paradoxe Situation, dass zwar seit der Gründung der Universidad Pontificia 1553 in Mexiko ohne Unterbrechungen Philosophie betrieben, zugleich jedoch diese lange Tradition niemals philosophiegeschichtlich aufgearbeitet worden ist. Selbst in Mexiko glaubte nach Ramos niemand »an die Existenz einer reichen philosophischen Vergangenheit […], die es verdiente, im Rahmen einer besonderen Geschichte behandelt zu werden.«51 Doch Ramos geht es in seiner Geschichte der mexikanischen Philosophie nicht bloß um eine archivarische Ideengeschichte. Angesichts des diagnostizierten Defizits einer adäquaten Selbstsituierung des Denkens untersucht Ramos in seinen philosophiegeschichtlichen Studien vor allem die Art und Weise, wie mexikanische Philosophien europäische »Ideen assimiliert« bzw. »in für unsere mexikanische Exis­tenz vitale Elemente konvertiert haben«.52 Aus diesem Grund bezieht Ramos nicht nur Philosoph_innen, sondern auch »Humanisten, Wissenschaftler, Politiker, Erzieher, Moralisten etcetc.«53 in seine Geschichte der mexikanischen Philosophie ein. Darüber hinaus wirft Ramos bereits im ersten Kapitel die Frage nach einer Philosophie in den präkolumbianischen Kulturen auf.54 Auch wenn die Frage letztlich verneint wird, so würdigt er immerhin das hohe Niveau mathematischer Kenntnisse und die Spekulationen über den Ursprung der Welt, die bereits auf Philosophie und Wissenschaft verweisen würden. Darüber hinaus gab es, wie Ramos hervorhebt, bei den Azteken nicht nur kollektive Mythen, sondern auch individuelle Weisheitslehrer wie Nezahualcóyotl. Doch unabhängig von der Frage nach einer aztekischen Philosophie prägten die mesoamerikanischen Völker seit Jahrhunderten die nationale Kultur in Mexiko, so dass nach Ramos auch die Transformationen europäischer Philosophie ohne die Kenntnis der indigenen Kulturen in ihrer Eigenart nicht angemessen verstanden werden können. Trotz der bleibenden Bedeutung der mesoamerikanischen Kulturen erfolgte nach Ramos die eigentliche Begründung der Philosophie im Mexiko erst durch die Spanier. Aus diesem Grund stellt er in seinem Werk die wichtigsten mexikanischen Denker_innen von der Kolonialzeit bis in die unmittelbare Gegenwart vor.

Samuel, Ramos: Historia de la Filosofía en México. In: Samuel Ramos. Obras completas. Bd. II. México 1990, S. 97 – 231. 51 Ebd., S. 99. 52 Ebd., S. 101. 53 Ebd.; Ramos beruft sich für diese Vorgangsweise auf Wilhelm Diltheys Das Wesen der Philosophie (1907); vgl. dazu ebd., S. 102. 54 Ebd. S. 105 – 116. 50

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Samuel Ramos’ Historia de la filosofía en México ist ein eindrucksvolles Zeugnis für die Selbstbehauptung der lateinamerikanischen Philosophie. »Die Legende, dass die spanische Rasse und sein amerikanischer Zweig wenig dem rationalen Denken zugetan gewesen sind, enthält eine ungerechte Übertreibung, die man richtigstellen muss.«55 Gerade in den letzten Jahrzehnten ist nach Ramos die Philosophie nicht nur in Mexiko, sondern in ganz Lateinamerika aufgeblüht. In den intellektuellen Zentren des Kontinents werde inzwischen »nichts ignoriert, was in Europa gedacht wird«.56 Die umfassende Rezeption europäischen Denkens darf allerdings, wie er klarstellt, den alten Mimetismus nicht länger fortsetzen, sondern muss dem Ziel dienen, die »Bildung einer eigenen Philosophie zu initiieren«.57 Da die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs die europäische Kultur zu zerstören droht, fällt nach Ramos der aufstrebenden lateinamerikanischen Philosophie eine historische Verantwortung zu: »Allein Amerika kann in diesen Momenten die Kontinuität des Werkes der Kultur retten. Es ist die Verantwortlichkeit, die die jüngsten Ereignisse auf unsere Menschen geworfen haben.«58 Mit anderen Worten: Nachdem Europa in der Barbarei versinkt, ist Amerika nicht mehr bloßer Widerhall der europäischen Philosophie, sondern möglicherweise sogar das Land ihrer Zukunft. Neben Mexiko rückt in der Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem Argentinien zu einem Zentrum der Philosophie auf.59 Alejandro Korn und José Ingenieros, die jeweils vom Positivismus beeinflusst sind, veröffentlichen neben ihren systematischen Reflexionen bereits in früher Zeit auch philosophiegeschichtliche Arbeiten.60 Sowohl Korn als auch Ingenieros stellen ihr Denken bewusst in die Tradition des wiederentdeckten Alberdi. Wie in Mexiko so etabliert sich auch in Argentinien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Philosophie als universitäre Disziplin mit eigenen Instituten und Zeitschriften. Der gefestigte institutionelle Rahmen ermöglicht nicht nur eine Kommunikation zwischen den Philosophien in den unterschiedlichen Nationalstaaten, sondern auch eine Intensivierung der Auseinandersetzung mit europäischen Philosophien. Die Professionalisierung der Philosophie ist in Argentinien 55

Ebd. S. 100. Ebd., S. 228. 57 Ebd. 58 Ebd. 59 Zur Geschichte der Philosophie in Argentinien seit dem Ende des 16. Jahrhunderts sei vor allem auf das umfassende Werk von Caturelli, Alberto: Historia de la filosofía en la Argentina. 1600 – 2000. Buenos Aires 2001 verwiesen. 60 Vgl. dazu Korn, Alejandro: Influencias filosóficas en la evolución nacional. In: Alejandro Korn, Obras completas. Buenos Aires 1949, S. 43 – 189; diese Studie ist zunächst 1913 – 1914 in zwei Teilen erschienen; Ingenieros, José: Evolución de las ideas argentinas. 2 Bde. Buenos Aires 1918 – 1920. 56



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vor allem durch Francisco Romero, in Mexiko hingegen durch José Gaos, einem Exilspanier, maßgeblich befördert worden.61 Romero nannte die universitäre Akademisierung die »Normalisierung«62 der Philosophie in Lateinamerika. Mit Gaos und Romero ist die lateinamerikanische Philosophie auch in der »westlichen« Philosophie präsent geworden. Denn Romero adaptiert nicht bloß europäische Philosophien für lateinamerikanische Verhältnisse, sondern tritt, wie bereits seine Kritik an Ortega y Gassets La rebelión de las masas, aber auch seine späteren Werke zur philosophischen Anthropologie zeigen,63 selbst in den Diskurs der westlichen Philosophie ein. Ähnliches gilt von José Gaos, der als Schüler von Ortega y Gasset heute zu den großen Gestalten der spanischen Philosophie zählt. Für den Umgang mit der eigenen Geschichte löste die »Normalisierung« der Philosophie allerdings unterschiedliche Entwicklungen aus. Für Romero gibt es keine »lateinamerikanische Philosophie«, sondern nur eine Philosophie in Amerika, die mit dem Positivismus im 19. Jahrhundert einsetzt. Die Philosophie muss sich, wie Romero in unübersehbarer Abgrenzung zu Alberdi betont, von den bedrängenden Forderungen der Zeit und des sozialen Umfeldes möglichst abkoppeln, um zu objektiv gültigen Erkenntnissen zu gelangen. Allerdings würdigt Romero zugleich die Kritiker des Positivismus – José Vasconcelos, Antonio Caso (Mexiko), Carlos Faz Ferreira (Uruguay), Alejandro Deustúa (Peru), Alejandro Korn (Argentinien), Enrique Molina (Chile) – als »fundadores« der lateinamerikanischen Philosophie.64 Da die Philosophie griechischen Ursprungs ist, kann nach Romero eine lateinamerikanische Philosophie nur dann neue Wege des Denkens eröffnen, wenn sie die gesamte Geschichte der europäischen Philosophie durcharbeitet und ihre Grenzen auslotet. 61

Dies wird im Rückblick von bedeutenden Denkern wie Luis Villoro oder Enrique Dussel offen zugestanden. Vgl. dazu Villoro, Luis: México, entre libros. Pensadores del siglo XX. México 1995, S. 77 f.: »Das größte philosophische Defizit in unserer Umgebung ist nicht der Mangel an Erfindungsreichtum, sondern an Professionalismus gewesen […] Es ist keine Übertreibung festzustellen, dass die Lehrtätigkeit von Gaos in unserem Land der erste Schritt zu einer professionellen Behandlung der Philosophie war […] Mit Gaos bewegte sich der Philosophieunterricht zum ersten Mal vom Niveau des begeistert Brillianten zum rigoros Professionellen.« Ein ähnliches Urteil fällt Enrique Dussel über Francisco Romero: »He intended a project of rigorous philosophy in the continent, and his enthusiasm and initiative inspired a whole generation.« Dussel, Enrique: Philosophy in Latin America in the Twentieth Century. In: Mendieta, Eduardo: Latin American Philosophy. Currents, Issues, Debates. Bloomington 2003, S. 18. 62 Romero, Francisco: Sobre la filosofía en Iberoamérica [1940]. In: ders.: Filosofía de la persona. Buenos Aires 1944, S. 151. 63 Vgl. dazu Romero, Francisco: Ortega y Gasset y el problema de la jefatura spiritual [1956]. In: ders.: Ortega y Gasset y el problema de la jefatura spiritual y otros ensayos. Buenos Aires 1960, S. 7 – 30; ders.: Filosofía de la persona. Buenos Aires 1944; ders.: Teoria del hombre. Buenos Aires 1952. 64 Romero, Francisco: Sobre la filosofía en América. Buenos Aires 1952, S. 13. Dazu kritisch Caturelli: Historia de la filosofía, S. 618 f., der auf die argentinische Philosophie vor dem Positivismus verweist.

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Im Unterschied zu Romero, der trotz seiner Distanz zu Alberdi wichtige Stränge der filosofía americana in seine Phi­lo­so­phie­geschichte integriert, vollzieht Risiero Frondizi in seinem einflussreichen Artikel »Is there an Ibero-American philosophy?« (1949) einen radikalen Bruch mit den Ansätzen zu einer lateinamerikanischen Philosophie.65 Die pensadores waren, da sie Philosophie nicht um ihrer selbst willen, sondern aus sozialen, politischen oder literarischen Interessen betrieben hätten, nach Frondizi nicht nur Amateure, sondern geradezu die Totengräber der Philosophie im südlichen Amerika: »it is undeniable that the works of Sarmiento, Bello, or Martí to mention three great examples contain philosophical ideas. But such ideas appear as a result of literary or political concerns to which they remain subordinated. In none of them does philosophy have an independent status; none of them set forth philosophical problems motivated by philosophical interests. We are, of course, not reproaching them for this […] We only wish to point out what seems an undeniable fact: that philosophy has been subordinated to non-philosophical interests.«66

Während Frondizi gleichsam einen Schlussstrich über die filosofía iberoamericana zieht, um die Philosophie in Lateinamerika endlich auf einen soliden Boden zu stellen, vergleicht Crawford zur gleichen Zeit die lateinamerikanischen pensadores mit den französischen philosophes des 18. Jahrhunderts, die wie Voltaire ebenfalls literarische Texte verfassten und sich politisch engagierten. Darüber hinaus gibt Crawford zu bedenken, dass die Philosophie von Descartes über Kant zu Husserl nicht die einzig mögliche Form von Philosophie ist, vielmehr habe die Philosophie im Lauf der Geschichte immer wieder neue Gestalten angenommen.67 Inmitten radikaler Infragestellungen entwickelt in den 1940er Jahren José Gaos die wohl umfassendste Verteidigung des Projekts einer filosofía iberoamericana.68 Gewiss, im Licht eines »strengen« Begriffs von Philosophie erscheinen, wie auch Gaos konzediert, große Teile der lateinamerikanischen Philosophie als bloße LiteraFrondizi, Risiero: Is there an Ibero-American philosophy? In: Philosophy and Phenomenological Research 9 (1949), S. 345 – 355. 66 Ebd., S. 346. 67 Vgl. dazu Crawford: Latin American Thought, S. 8 f.: »The fusion of ethics, esthetics, and politics does not promise science, and the result is something that seems far from the monuments of European philosophy – Descartes, Spinoza, Kant and Hegel […] Further remind recalls to mind the ethical and social interests of Plato and Aristotle, and all the tradition of Hobbes, Locke, Condorcet, Comte, Marx, Nietzsche, Taine, and our own John Dewey. Would it be wise to admit that philosophy means different things in different cultures, that its definition and its aims are themselves historic products, and because of the meaning the word ›philosopher‹ has for us, not to deny that name to Latin Americans who have chosen to be more like the eighteenth-century philosophe than the early nineteenth-century Philosoph?« 68 Vgl. dazu vor allem Gaos, José: En torno a la filosofía y la cultura en México. In: José Gaos: Obras completas. Bd. VII. México 1996, S. 267 – 392. 65



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tur. Wenn darüber hinaus Originalität ein Kriterium von Philosophie ist, scheiden auch manche metaphysischen Entwürfe aus der allgemeinen Phi­lo­so­phie­geschichte aus. Doch spätestens seit dem Tod Hegels befindet sich nach Gaos auch die europäische Philosophie in einem tiefen Umbruch, in dem ein breites Spektrum an nach­ idealistischen Denkformen entstanden ist. Im Konkreten orientiert sich Gaos vor allem an Ortega y Gassets Konzeption von Philosophie: »mit der Umgebung (circumstancia) in einen Dialog treten«. Aus der von Dilthey inspirierten Idee der Philosophie leitet Ortega y Gasset »das erste Prinzip einer ›neuen Philologie‹« ab: »die Idee ist eine Aktion, die der Mensch angesichts eines bestimmten Umstands und mit einer genauen Zielrichtung verwirklicht […] Es gibt also keine ›ewigen Ideen‹«.69 Vor diesem Hintergrund müssen nach Gaos in der Geschichte der Philosophie drei Ebenen unterschieden werden: – die Geschichte der Philosophie, d. h. der philosophischen Ideen sensu stricto; – eine Geschichte des Denkens (pensamiento), d. h. der Ideen im Sinne von Überzeugungen, die die sogenannten pensadores aus den Bereichen der Philosophie, Literatur, Historie, Soziologie, aber auch der exakten Wissenschaften in die Öffentlichkeit einbringen; – die Geschichte der Ideen (im Sinn von Ortega y Gasset).70 Die drei Ebenen sind nach Gaos hierarchisch geordnet: »Die Geschichte der Philosophie und die Geschichte des Denkens (pensamiento) sind Teil der Geschichte der Ideen.«71 In diesem Sinn gibt es nach Gaos auch in Mexiko eine Geschichte der Philosophie, die Teil der Geschichte des Denkens ist, die wiederum einen Teil der Geschichte der Ideen bildet.72 Kurz: Die mexikanische Philosophie ist ein selbstverständlicher Teil der allgemeinen Philosophie. Inspiriert von Ortega y Gassets circumstancialismo entwickelt daher José Gaos eine Konzeption von Philosophie, in der Alberdis Idee einer filosofía americana mit all ihren Fortführungen integriert werden kann:73 »Amerikanisch wird eine Philosophie sein, die Amerikaner, d. h. Menschen inmitten ihrer amerikanischen Umgebung [circumstancia] über Amerika machen.«74 Aus diesem Grund gibt es nach Gaos nicht nur eine filosofía en, sondern auch eine filosofía de Iberoamérica. Zugleich geht Gaos über Alberdi einen wichtigen Schritt hinaus. Eine amerikanische Philosophie kontextualisiert nicht bloß universalistische Ideen aus Europa. 69

Ortega y Gasset: A »Historia de la filosofía« de Émile Bréhier (Ideas para historia de la filosofía). In: Ortega y Gasset: Obras completes. Bd. VI. Madrid 1947, S. 391. 70 Ebd., S. 276 f. 71 Ebd., S. 277. 72 Ebd. 73 So auch Beorlegui: Historia del pensamiento, S. 524. 74 Gaos, José: Pensamiento de lengua Española. In: José Gaos: Obras completes. Bd. VI. México 1990, S. 301.

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Denn die Erfahrung der Situiertheit des eigenen Denkens impliziert unumgänglich auch eine Kontextualisierung der europäischen Philosophie. Auch die »europäische Philosophie ist eine Philosophie von Europa (filosofía de Europa), die durch sich selbst begrenzt ist, jedoch mit dem Anspruch, die Philosophie im Allgemeinen zu inkorporieren«.75

4. Die Bewegung der Historia de la ideas: Selbstkonstitution der filosofía (ibero)americana im Medium der Phi­lo­so­phie­geschichte

José Gaos versammelte in Mexiko einen Kreis von Schülern (Luis Villoro, Fernando Salmeron, Leopoldo Zea u. a.), die in der Folge die philosophischen Debatten der Nachkriegszeit maßgeblich prägten. Die von Ramos initiierte Aufarbeitung der Phi­lo­so­phie­geschichte ist vor allem von Leopoldo Zea mit großem Engagement vorangetrieben worden. Neben zahlreichen Detailstudien, wie z. B. über den mexi­ kanischen Positivismus,76 und Gesamtdarstellungen baute Zea mit dem Projekt der Historia de las ideas ein kontinental verzweigtes Netzwerk für die systematische Erforschung der nationalen Phi­lo­so­phie­geschichten, einschließlich Brasiliens,77 auf. Die Bewegung der Historia de las ideas78 schließt nicht bloß eine archivarische Lücke regionaler Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung, sondern vollendet in gewisser Hinsicht die Selbstkonstitution der filosofía latinoamericana. Die epochale Bedeutung der Selbstaneignung der eigenen Denkgeschichte stellt Leopoldo Zea bereits in seinem ersten programmatischen Text En torno a una filo­ sofía americana (1942) in aller Deutlichkeit heraus. Da mit dem Zweiten Weltkrieg die globale Hegemonie Europas zu Ende gegangen ist, steht nach Zea Lateinamerika vor neuen Herausforderungen. Denn der Niedergang Europas eröffnet Lateinamerika die historische Möglichkeit, aus dem Bannspruch Hegels über Amerika endlich herauszutreten. »Amerika, bis gestern Echo oder Schatten der europäischen Kultur, muss sich festen Grund verschaffen und auf eigene Faust die Probleme seiner Umstände lösen. Doch dieses Sich-festen-Grund-Verschaffen, diese Suche nach Lösungen für Probleme, die 75

Ebd., S. 309. Zea, Leopoldo: El positivismo en México. México 1990 (die erste Auflage erschien in zwei Bänden 1943/44). 77 Vgl. dazu vor allem Francovich, Guillermo: Filósofos brasileños. Buenos Aires 1943; Cruz Costa, João: Contribucão a historia das idéias no Brasil. O desenvolvimiento da filosofía no Brasil e a evolucão historica nacional. Rio de Janeiro 1950. 78 Vgl. dazu Mahr, Günther: Die Geschichte der Ideen als Grundlage der lateinamerikanischen Philosophie. Diss. phil. Wien 1999; Cerutti Guldberg, Horacio / Magallón Anaya, Mario: Historia de las ideas latinoamericanas: ¿disciplina fenecida? México 2003. 76



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ihm seine Umstände stellen, ist der Ursprung einer Disziplin, die für den Menschen, der sich in einer problematischen Situation befindet, natürlich ist, nämlich der Philosophie. Amerika braucht eine Philosophie, ein originelles Überdenken und Lösen seiner Probleme.«79

In methodologischer Hinsicht folgt Zea weitgehend Ortega y Gasset und José Gaos. Mit Ortega y Gasset lehnt Zea »ewige Ideen« kategorisch ab; selbst Fragen nach dem Sein oder die Gottesfrage können jeweils nur vom Standpunkt einer bestimmten soziohistorischen Konstellation aus behandelt werden. Dies hat ihm immer wieder den Vorwurf des Kulturalismus eingebracht,80 ein Vorwurf, der allerdings seinem Denken nicht gerecht wird. Denn wie Ortega y Gasset leugnet Zea, wie bereits in der frühen Skizze zu seinem philosophischen Programm unmissverständlich klargestellt wird, keineswegs die Universalität der Vernunft. »Die Philosophie legitimiert sich nicht durch das Lokale ihrer Ergebnisse, sondern durch die Höhe ihrer Ansprüche. Daher wird sich eine amerikanische Philosophie nicht durch das Amerikanische rechtfertigen, sondern durch die breite Anlage ihrer Versuche. Es ist notwendig, dass man Philosophie mit Großbuchstaben betreibt und nicht einfach Philosophie eines bestimmten Landes; man muss die Probleme der Umstände lösen, aber mit Blick auf die Lösung der Probleme jedes Menschen.«81

Da spätestens nach den Unabhängigkeitskriegen die Frage einer kulturellen Selbstbestimmung und Situierung in der globalen Moderne unumgänglich geworden sind, verschmilzt bei Zea die Geschichte der filosofía americana mit der Philosophie der lateinamerikanischen Geschichte. Vor allem die Tradition der filosofía americana, an der sich nicht nur Philosophen, sondern auch Literaten, Juristen, Sozialwissenschaftler, Historiker und selbst politische Akteure beteiligten, war, wie Zea in zahlreichen Studien aufzeigt, ein zentraler Ort für nationale und kontinentale Identitätsdiskurse. Trotz der Führungsrolle von Leopoldo Zea erfolgte die Arbeit der Historia de las ideas keineswegs nach einem homogenen Masterplan. Im Gegenteil, die Aufarbeitung des historischen Materials war stets von intensiven, auch kontroversen methodologischen Debatten begleitet. Vor allem die heikle Frage nach dem Verhältnis zwischen kultureller Situiertheit und universalen Vernunftansprüchen ist von den großen Gestalten der Historia de las ideas wie Arturo Ardao, Arturo Andrés Roig, Miró Quesada und Horacio Cerutti-Guldberg durchaus unterschiedlich bestimmt Zea, Leopoldo: En torno a una filosofía americana. México 1945, S. 19. Deutsche Übersetzung nach Mahr: Die Geschichte der Ideen, S. 40. 80 Gracia: Hispanic/Latino Identity, S. 147 f.; Nuccetelli, Susana: Is ›Latin American Thought‹ Philosophy? In: Metaphilosophy 34 (2003), S. 528 f. 81 Zea: En torno a una filosofía americana, S. 33; leicht veränderte Übersetzung nach Mahr: Die Geschichte der Ideen, S. 42. 79

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worden. Aus diesem Grund ist die Historia de las ideas nicht bloß ein Diskurs über Phi­lo­so­phie­geschichte, sondern zugleich ein bedeutender Strang systematischer Philosophie in Lateinamerika. Unter den zahlreichen Kontroversen über die Grundlagen der Historia de las ideas ragt die Debatte zwischen Augusto Salazar Bondy und Leopoldo Zea hervor,82 von der in der Folge bedeutende Entwicklungen einer filosofía latinoamericana ausgegangen sind. Augusto Salazar Bondy, der selbst wichtige Arbeiten zur Geschichte der Philosophie in Peru vorgelegt hatte,83 stellte in seinem Buch ¿Existe una filosofía de nuestra América? (1968) die Authentizität der iberoamerikanischen Philosophie erneut radikal in Frage.84 Nachdem in jahrzehntelanger Arbeit die Geschichte der Philosophie im südlichen Amerika nun gleichsam auf dem Tisch liegt, muss nach Salazar Bondy eine nüchterne Betrachtung des Materials zum Schluss kommen, dass unsere Philosophie »trotz ihrer eigenen Besonderheiten kein genuines und ursprüngliches, sondern von Grund auf inauthentisches und imitatives Denken gewesen«85 ist. Die Inauthentizität iberoamerikanischer Philosophie entspringt allerdings nach Salazar Bondy nicht einfach individuellem Unvermögen, sondern verweist auf eine strukturelle Problematik. Im Unterschied zu Europa, wo die Philosophie ein selbstverständlicher Teil des kulturellen Lebens ist, habe die Philosophie »in Hispanoamerika nicht die Stütze einer gründenden geschichtlichen Gemeinschaft gefunden«.86 Denn die Philosophie hat nach Salazar Bondy im südlichen Amerika »vom Nullpunkt aus begonnen, d. h. ohne Stütze in einer einheimischen geistigen Tradition, da das indigene Denken nicht in den Prozess der hispanoamerikanischen Philosophie integriert wurde«.87 Kurz: Die lateinamerikanische Philosophie ist ein »transplantierter Baum«88, der trotz seines hohen Alters keine Wurzeln schlagen konnte.89 Ich fasse hier die Darstellung der Debatte zusammen in: Schelkshorn, Hans: Entgrenzungen. Ein europäischer Beitrag zum Diskurs über die Moderne. Weilerswist 2009, S. 67 – 74. 83 Vgl. dazu vor allem Bondy, Augusto Salazar: Historia de las ideas en el Perú contemporáneo. [1965] ¿Existe una filosofía de nuestra América? Lima 2013, S. 1 – 423. 84 Bondy, Augusto Salazar: ¿Existe una filosofía de nuestra América? México 131988. Salazar Bondy ist sich bewusst, dass diese Frage erst durch die Arbeit der Historia de las ideas in seriöser Weise behandelt werden kann. Vgl. dazu ebd., S. 20: »Das bedeutet, dass als Ergebnis der ganzen früheren Geschichte, von der wir heute viel mehr wissen als in der Vergangenheit, wir uns heute (vielleicht zum ersten Mal) der Probleme voll bewusst sind, die unser Denken betreffen, oder besser des radikalen Problems der Rechtfertigung iberoamerikanischen Philosophierens.« 85 Ebd., S. 93. 86 Ebd., S. 27. 87 Ebd. 88 Ebd. 89 Vgl. dazu ebd., S. 31: »Wir leugnen nicht, dass es einen universalen Faktor in der Philoso82



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Der Grund für die mangelnde Verwurzelung liegt nach Salazar Bondy in der einzigartigen Geschichte der lateinamerikanischen Philosophie. Denn die Philosophie wurde durch »die Spanier mitgebracht, weil sie kamen, um das Land zu erobern und die amerikanische Erde zu beherrschen, und sie importierten damit auch die intellektuellen Waffen der Herrschaft. Es darf uns daher nicht erstaunen, daß sich die Prüfung der hispanoamerikanischen Philosophie zum großen Teil in einen Bericht von der Ankunft der abendländischen Philosophie in unseren Ländern umkehrt […] in eine Erzählung des Prozesses der europäischen Philosophie im hispanoindischen Amerika.«90

Tatsächlich ist die griechische Philosophie auf ihrer »Wanderung« in fremde Völker zunächst von den Herrschenden selbst, konkret den Römern, Persern und islamischen Herrschern, übernommen worden. Dennoch entstanden auch in Rom Diskussionen, ob die griechische Philosophie im römischen Volk tatsächlich Wurzeln schlagen kann oder letztlich ein Fremdkörper bleiben wird.91 Mit der Eroberung der amerindischen Kulturen dringt die europäische Philosophie zum ersten Mal im Schlepptau einer Kolonialmacht in eine andere Kultur ein. Aus diesem Grund war nach Salazar Bondy die lateinamerikanische Philosophie über Jahrhunderte hinweg Teil einer Herrschaftsideologie: Die Scholastik stützte die Kolonialherrschaft; die liberalen und positivistischen Ideologien die Herrschaft der kreolischen Eliten; die jüngste »Normalisierung« der Philosophie ist hingegen Teil der westlichen Entwicklungsstrategien nach dem Zweiten Weltkrieg, die, wie Salazar Bondy mit den Dependenztheorien kritisiert, keinen sozialen Ausgleich zwischen den Völkern schaffen, sondern die globale Ungleichheit zwischen Nord und Süd noch vertiefen. Dies bedeutet: Die Inauthentizität der iberoamerikanischen Philosophie ist ein Symptom der globalen Herrschaftsverhältnisse, die die Völker Amerikas seit Jahrhunderten zu Unfreiheit und Abhängigkeit verdammen. Die »Konstitution eines genuinen und ursprünglichen Denkens und seine normale Entfaltung« erfordert nach Salazar Bondy nicht bloß den Aufbau philosophischer Institute, sondern letztphie gibt, noch denken wir, dass die Philosophie ›popular‹ sein muss; aber wir sind überzeugt, dass die eigene Art einer ausgearbeiteten Form intellektueller Schöpfung, wenn sie genuin ist, das Bewusstsein einer Gemeinschaft überliefert und in ihr eine tiefe Resonanz findet.« 90 Ebd. S. 27 f. 91 Da manche Römer die Philosophie für eine griechische Angelegenheit halten, die auch nur in der griechischen Sprache betrieben werden könne, sieht sich Cicero gezwungen, gegenüber kursierenden Selbstzweifeln die Möglichkeit, in der lateinischen Sprache zu philosophieren, eigens zu verteidigen. Vgl. dazu Cicero, Marcus Tullius: De finibus bonorum et malorum/ Über das höchste Gut und das größte Übel. Hg. u. übers. v. H. Merklin. Stuttgart 1989, I,10: »Ich kann mich nicht genug wundern, woher nur diese überhebliche Verachtung des Einheimischen stammt. Belehrung ist hier zwar gar nicht am Platz, ich bin jedoch der Überzeugung und habe sie oft dargelegt: Latein ist nicht nur keine an Ausdrucksmitteln arme Sprache, wie man gemeinhin glauben könnte, es ist daran vielmehr noch reicher als das Griechische.«

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lich eine »Transformation unserer Gesellschaft«, d. h. »die Beseitigung der Unterentwicklung und der Herrschaft«.92 Die Kritik von Salazar Bondy an der hispanoamerikanischen Philosophie löste zahlreiche Reaktionen aus. Die erste Antwort erfolgte von Leopoldo Zea, dem Koordinator der Historia de las ideas. Ohne das Problem der (neo-)kolonialen Abhängigkeiten zu ignorieren, so müssen, wie Zea in La filosofía americana como filosofía sin más (1969)93 moniert, die zahllosen Versuche einer Selbstverwurzelung der Philosophie ernst genommen werden. Dass Alberdi und die lateinamerikanischen Positivisten mit diesem Vorhaben gescheitert sind, liegt nach Zea in der unkritischen Übernahme linearer Fortschrittsideen und des ahistorischen Vernunftbegriffs der liberalen und positivistischen Philosophien. Aus diesem Grund ist für Zea »der Historismus«, der von Vertretern einer abstrakt universalistischen Vernunft oft als »Ausdruck der kulturellen Krise Europas« angesehen wird, »so etwas wie der konstitutive Akt« unserer »philosophischen Unabhängigkeit«.94

5. Neue Strategien der Verwurzelung im amerikanischen Boden und die Wahrnehmung »älterer Bäume« der Philosophie

Auch wenn die Historia de las ideas ein kontinentales Forschungsprogramm etablierte, so blieb das Konzept einer filosofía latinoamericana im südlichen Amerika letztlich eine kleine Pflanze inmitten des breiten Spektrums an Philosophien, die ihr Denken weiterhin ohne Sorge um eine Verwurzelung im amerikanischen Boden an bestimmten europäischen Strömungen orientierten. Darüber hinaus gibt es auch beträchtliche regionale Unterschiede. Während in Mexiko die Erforschung der eigenen Phi­lo­so­phie­geschichte, einschließlich der Philosophie der Kolonialzeit,95 weiterhin intensiv betrieben wird, hat in Brasilien das Projekt einer kontextuell verankerten Philosophie allenfalls marginale Bedeutung erlangt.96 Auch im karibi¿Existe una filosofía de nuestra América?, S. 93. Zea, Leopoldo: La filosofía americana como filosofía sin más. México 1969. 94 Ebd., S. 69 f. Die Orientierung am Historismus impliziert, wie Zea erneut klarstellt, keinen Kulturalismus. Auch in Lateinamerika kann es nur darum gehen, Philosophie als solche (sin más) zu betreiben; die Situiertheit des eigenen Denkens manifestiert sich ohnehin von selbst in den philosophischen Diskursen. 95 Vgl. dazu vor allem Marquínez Argote, Gérman: La filosofía en la América colonial: (­siglos XVI, XVII y XVIII). Bogotá 1996; Beauchot, Mauricio: Historia de la filosofía en el México colonial. México 1996. 96 Vgl. dazu den kurzen Überblick von Almeida Teotónio, Onésimo: On the Diversity of Brazilian Philosophical Expression. In: Philosophy and Literature in Latin America. Hg. v. Jorge J. E. Gracia u. Mireya Camurati. New York 1989, S. 18 – 35. Kimmerle, Heinz: Eine dritte Tradition afrikanischer Philosophie: afro-karibisch neben afrikanisch und afrikanisch-amerikanisch. In: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 31 (2014), S. 63 – 72. 92 Bondy: 93



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schen Raum ist durch die unterschiedlichen Einflüsse (Afrika, Nordamerika) und die Vielfalt der Sprachen (Spanisch, Englisch, Französisch) ein spezieller Strang der Philosophie entstanden, die so bedeutende Denker wie José Martí und Pedro Henríquez Ureña aus Kuba, Frantz Fanon aus Martinique und die afrokaribischen Denker_innnen Cyril L. R. James und Silvia Winter hervorgebracht hat.97 Nichtsdestotrotz war die Debatte zwischen Salazar Bondy und Leopoldo Zea ein Katalysator für die Entstehung neuer Philosophien. Vor allem die Philosophien der Befreiung haben Motive der filosofía iberoamericana auf dem Niveau professionalisierter Universitätsphilosophie weiterentwickelt. Enrique Dussel und Juan Carlos Scannone, zwei bedeutende Proponenten der argentinischen Philosophie der Befreiung, wenden sich zunächst der von Romero geforderten umfassenden Aneignung der europäischen Philosophie zu. In der Begegnung mit der Phänomenologie und Hermeneutik, insbesondere von Paul Ricœur, stoßen jedoch Scannone und Dussel plötzlich innerhalb der europäischen Philosophie auf radikale Selbstkontextualisierungen. Bei Heidegger wird nach der »Kehre« selbst das Denken des »Seins« zu einem Spezifikum der abendländischen Geschichte. Bei Paul Ricœur ist das moralische Denken Europas durch zwei gegensätzliche Konzepte geprägt, deren Wurzeln in unterschiedlichen Mythen liegen, nämlich dem tragischen Mythos der Griechen und dem dramatischen Mythos der biblischen Schöpfungs- und Sündenfallerzählung.98 Philosophie entspringt nach Ricœur nicht einfach einer selbsttragenden Vernunft, sondern vollzieht sich jeweils als Rationalisierung eines »ethisch-mythischen Kerns«. Sowohl Dussel als auch Scannone nutzen die hermeneutischen Selbstrelativierungen europäischer Philosophie für neue Konzeptionen einer lateinamerikanischen Philosophie. Der frühe Dussel unternimmt im Geist von Romero eine umfassende relecture (repensar) der Geschichte der europäischen Philosophie, die seit dem 16. Jahrhundert auch im südlichen Amerika eine spezielle Geschichte hat. In der Ethik der Befreiung setzt Dussel bei der Problematik von Salazar Bondy an. Die Philosophie kann ihre eigene Entfremdung nur überwinden, wenn sie sich in die sozialen Kämpfe gegen die globalen Strukturen neokolonialer Abhängigkeit einlässt. Inspiriert von Ricœur integriert Dussel auch mythische, weisheitliche und religiöse Symbolismen in die geschichtliche Rekonstruktion herrschaftskritischen Denkens.

Vgl. dazu Paget, Henry: Caliban’s Reason. Introducing Afro-Caribbean Philosophy. New York, London 2000; Osorio, Carlos Rojas: El pensamiento filosófico del Caribe. In: El pensamiento filosófico latinoamericano, del Caribe y »latino«. 1300 – 2000. Historia. Corrientes, Temas. Filosófos. Hg. v. Enrique Dussel, Eduardo Mendieta u. Carmen Bohórques. México 2009, S. 479 – 491. 98 Ricœur, Paul: Symbolik des Bösen. 2 Bde. Freiburg i. Br. 1960. 97

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In dieser Perspektive würdigt Dussel die Kolonialkritik von Las Casas sogar als Antizipation zentraler Motive seiner eigenen Philosophie der Befreiung.99 Juan Carlos Scannone hat sich vor allem um eine hermeneutische Verankerung der Philosophie in der cultura popular bemüht, die bereits Anfang der 1960er von Rodolfo Kusch vorbereitet worden ist.100 In diesem Kontext hat Scannone auch die Möglichkeiten einer philosophischen Aufhellung des »ethisch-mythischen Kerns« der amerindischen Kulturen ausgelotet. Die Frage einer Philosophie der präkolumbianischen Kulturen ist allerdings abseits und noch vor den Philosophien der Befreiung vor allem von Miguel LéonPortilla in seinem bahnbrechenden Werk La filosofía nahuatl (1954)101 aufgeworfen worden. Bei den Azteken gab es nach León-Portilla nicht nur mythische Weltdeutungen, sondern bereits spezialisierte Weisheitslehrer (tlamatinime), die eigene Disputationskulturen (»Blume und Gesang«) und auch Ansätze für eine skeptische Kritik an der mythischen Überlieferung, insbesondere der mythischen Legitimation der Menschenopfer, entwickelten. Die Frage nach einer Philosophie der mesoamerikanischen Völker ist zudem, wie León-Portilla aufzeigt, in Lateinamerika bereits seit dem 16. Jahrhundert immer wieder aufgeworfen worden. Nach Bernardino de Sahagún gibt es vor allem in der Barockzeit und im 18. Jahrhundert beachtliche Deutungen präkolumbianischer Kulturen.102 Carlos de Sigüenza y Gongora, einer der bedeutendsten Philosophen der Barockzeit, rezipierte nicht nur die moderne Wissenschaft, sondern hinterließ auch eine reiche Sammlung von Schriften, Bildern und Karten der mesoamerikanischen Völker. Francisco Clavijero legt in seiner Historia antigua de México (1781) eine umfassende Darstellung der mesoamerikanischen Kulturen vor, in der nicht nur das Kolonialsystem, sondern auch der Rassismus der europäischen Aufklärungsphilosophie scharf kritisiert wird. Clavijero weist vor allem die These von Cornelis de Pauw zurück, wonach durch das feuchte Klima in Amerika neben den indigenen Völkern inzwischen auch die Kreolen degeneriert worden seien.103 Dies bedeutet: Die europäische Philosophie ist zwar mit den Kolonialmächten nach Amerika gekommen, sie hat jedoch das Kolonialsystem nicht bloß legitimiert. Vgl. dazu zusammenfassend Schelkshorn, Hans: Diskurs und Befreiung. Studien zur philosophischen Ethik von Karl-Otto Apel und Enrique Dussel. Amsterdam, Atlanta 2007, S. 115 – 133. 100 Vgl. dazu Kusch, Rodolfo: América profunda. Buenos Aires 1962; Scannone, Juan Carlos: Ein neuer Ansatz in der Philosophie Lateinamerikas. In: Philosophisches Jahrbuch 89 (1982), S. 99 – 115; ders.: Weisheit des Volkes und spekulatives Denken. In: Theologie und Philosophie 60 (1985), S. 161 – 187. 101 León-Portilla, Miguel: La filosofía náhuatl. Estudiada en sus fuentes con un nuevo apéndice. México 92001. 102 Ebd., S. 28 – 53. 103 Vgl. dazu Clavijero, Francisco Javier: Historia antigua de México. México 91991, S. 503.   99



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Seit dem 16. Jahrhundert bricht in der »Neuen Welt« immer wieder auch eine Kritik an der kolonialen Herrschaft auf, die mit beachtlichen Öffnungen auf die Kulturen der indigenen Völker einhergeht. Die Arbeiten von León-Portilla haben mit einer zeitlichen Verzögerung auch den Problemhorizont der filosofía iberoamericana aufgebrochen. Vor allem nach dem Gedenkjahr der Conquista 1992 wird das Problem von Salazar Bondy, ob und wenn ja wie der transplantierte Setzling der europäischen Philosophie auf amerikanischem Boden Wurzeln schlagen kann, von der Frage überlagert, in welcher Beziehung die iberoamerikanische Philosophie zu den älteren, lange vor der Ankunft der Europäer gewachsenen Bäumen des Denkens steht bzw. stehen soll. So beginnt die von Enrique Dussel, Eduardo Mendieta und Carmen Bohórquez herausgegebene, mehr als 1100 Seiten umfassende, lateinamerikanische Phi­lo­so­ phie­geschichte bewusst mit dem Jahr 1300.104 Darüber hinaus werden auch indigene Autoren aus der Kolonialzeit, wie z. B. Felipe Guaman Poma de Ayala, in die Geschichte der lateinamerikanischen Philosophie aufgenommen. In der US-amerikanischen Forschung zur lateinamerikanischen Philosophie hat vor allem James Maffie die Philosophie der indigenen Völker gewürdigt.105 Die Öffnung auf indigene Denktraditionen blieb nicht ohne Folgen für das Projekt einer filosofía ibero- oder latinoamericana. Raúl Fornet-Betancourt hat in seiner Konzeption einer »interkulturellen Philosophie« bereits in den 1990er Jahren die Europazentriertheit der lateinamerikanischen Philosophie, einschließlich der Philosophien der Befreiung, kritisiert.106 Santiago-Castro Gomez dechiffrierte in den Spuren von Michel Foucault die essentialistischen Identitätsbilder sowohl der Historia de las ideas als auch der Befreiungsphilosophien.107 Walter Mignolos Konzept eines dekolonialen Denkens setzt bereits an der Idee von »Amerika« selbst an, die als ein Konstrukt europäischer Kolonialmächte problematisiert wird.108 Abseits der Frage nach indigenen Denkformen ist die Dekonstruktion essentialistischer Identitätsbilder auch von feministischen Philosophien, insbesondere von

Dussel, Enrique / Mendieta, Eduardo / Bohórques Carmen (Hg.): El pensamiento filosófico latinoamericano, del Caribe y »latino«. 1300 – 2000. Historia. Corrientes, Temas. Filosófos. Mexico 2009. 105 Maffie, James: Pre-Columbians Philosophies. In: Nuccetelli: A Companion to Latin American Philosophy, S. 9 – 22; ders.: Aztec Philosophy: Understanding a World in Motion. Boulder 2014. 106 Fornet-Betancourt, Raúl: Filosofía intercultural. México 1994; ders.: Zur interkulturellen Kritik der neueren lateinamerikanischen Philosophie. Mit Antworten von Enrique Dussel, Arturo A. Roig, Juan Carlos Scannone und Luis Villoro. Nordhausen 2005. 107 Castro-Gómez, Santiago: Crítica de la razón latinoamericana. Barcelona 1996. 108 Mignolo, Walter: The Darker Side of the Renaissance. Literacy, Territoriality, and Colonization. Ann Arbor 1995; ders.: The Idea of Latin America, Malden 2005. 104

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Ofelia Schutte,109 vorangetrieben worden. In diesem Kontext entstand ein neuer Strang philosophiegeschichtlicher Selbstvergewisserung, in der das Denken von Frauen in der lateinamerikanischen Geschichte bis hin zu aktuellen Debatten feministischer Philosophie rekonstruiert wird.110

6. Schlussbemerkung

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwischen sich die Grenzen zwischen den drei Hauptsträngen lateinamerikanischer Philosophie. Die Philosophie in Lateinamerika lässt sich von den Ansätzen einer lateinamerikanischen Philosophie immer weniger trennscharf abgrenzen. Bedeutende Philosophien der Kolonialzeit antizipieren bereits Momente der Befreiungsdiskurse der filosofía de América. Auch in der Frage nach dem Status indigener Denkformen verlaufen die Frontlinien zuweilen quer durch die philosophischen Schulen. Die Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts war keineswegs ein isolierter Fremdkörper auf amerikanischem Boden, sondern wandte sich zuweilen mit einer bemerkenswerten Intensität den indigenen Kulturen zu. Im Gegensatz dazu waren die liberalen Begründer der filosofía americana im 19. Jahrhundert einem rassistischen Eurozentrismus verhaftet. Auch über dem Graben zwischen europäischer und lateinamerikanischer Philosophie, der so lange mit einem hartnäckigen Schweigen gefüllt war, sind in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Stege und Brücken entstanden. Die Kontroversen über den Status einer lateinamerikanischen Philosophie sind – dies sollten die hier vorliegenden Skizzen zeigen –keineswegs eine exotische Debatte am Rand der euro­ päischen Philosophie. Im Ringen um eine eigene Philosophie bzw. Phi­lo­so­phie­ geschichte spiegelt sich vielmehr der Grundlagenstreit in der europäischen Philosophie über die Geschichtlichkeit menschlicher Vernunft. Die lateinamerikanische Philosophie nahm seit dem 19. Jahrhundert sämtliche Selbstrelativierungen europäischer Philosophie mit einer erstaunlichen Sensibilität konstruktiv auf. Unter dem Erfahrungsdruck postkolonialer Gesellschaften kontextualisieren zunächst liberale Denker wie Alberdi und die Positivisten und später auch manche Marxis­ ten die Universalismen europäischer Fortschrittsideen. Obwohl ihnen im Namen eines »strengen« Begriffs von Philosophie der Status eines philosophischen Denkens Schutte, Ophelia: Cultural Identity and Social Liberation in Latin American Thought. Albany 1993. 110 Vgl. dazu Gargallo, Francesca: Ideas feministas latinoamericanas. México 2004; FornetBetancourt, Raúl: Frauen und Philosophie im lateinamerikanischen Denken. Momente einer schwierigen Beziehung. Mainz 2008. In geschichtlicher Perspektive ragt vor allem das Denken von Sor Juana Inés de la Cruz hervor, der Octavio Paz ein monumentales Werk gewidmet hat. Paz, Octavio: Sor Juana oder die Fallstricke des Glaubens. Frankfurt a. M. 1982. 109



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immer wieder abgesprochen worden ist, erscheinen die Strömungen einer filosofía americana im Rückblick als konsequente Umsetzungen, zuweilen sogar als Antizipationen innereuropäischer Rationalitätskritik. Nur im Licht einer ungebrochenen Insistenz auf einer universalen Rationalität, die sich an der Tradition von Descartes über Kant und Hegel oder an bestimmten Strömungen der analytischen Philosophie orientiert, rücken die Ansätze einer filosofía iberoamericana in das Zwielicht des Irrationalen, literarischer Phantasie oder politischer Ideologie. Auch die Suche nach einer nationalen bzw. überregionalen kulturellen Identität, die von Anfang an ein zentrales Motiv der filosofía iberoamericana gewesen ist, ist der abendländischen Philosophie nicht fremd. Im Gegenteil, spätestens seit dem 17. Jahrhundert finden sich in europäischen Philosophien »neben« systematischen Reflexionen auch Überlegungen zur Stellung Europas in der globalen Moderne. Die Diagnose der Gegenwart ist nach Michel Foucault seit dem 18. Jahrhundert zu einer unumgehbaren Aufgabe der Philosophie geworden. »Kant, Fichte, Hegel, Nietzsche, Max Weber, Husserl, Heidegger, die Frankfurter Schule«, kurz fast alle maßgeb­ lichen Philosophien seit dem späten 18. Jahrhundert haben sich nach Foucault dieser Aufgabe gestellt.111 Die zahllosen Diskurse über die Moderne, denen jeweils die Frage »Was sind wir gegenwärtig?« zugrunde liegt, hat die Philosophie zu vielfältigen Allianzen mit anderen Disziplinen (Geschichtswissenschaften, Soziologie, Literatur u. a.) geführt. Da jeder »Diskurs über die Moderne« nach Foucault jeweils eine »Problematisierung einer Aktualität« vornimmt, in der der Philosoph stets »ein Teil von ihr ist und im Verhältnis zu ihr seinen Ort zu bestimmen hat«112, muss je nach inhaltlicher und systematischer Orientierung auch das Theorie-Praxis-Problem immer wieder neu bestimmt werden. Dies bedeutet: Die »unreinen« Dimensionen wie Interdisziplinarität, Nähe zur Literatur und gesellschaftspolitische Optionen, mit denen der philosophische Status der filosofía iberoamericana bis heute immer in Frage gestellt wird, sind längst zu integralen Elementen des Selbstverständnisses zahlreicher Strömungen der europäischen Gegenwartsphilosophie geworden. Aus diesem Grund verläuft der Rubikon zwischen Philosophie und Nicht-Philosophie nicht entlang der geografischen Grenzen zwischen Europa und Lateinamerika, sondern zwischen den philosophischen Schulen des inzwischen globalisierten Diskurses über die Moderne. Vor diesem Hintergrund muss erneut die Frage aufgeworfen werden, warum die Geschichte der lateinamerikanischen Philosophie, wie anfangs erwähnt, bis heute im Bewusstsein westlicher Philosoph_innen weithin unsichtbar geblieben ist. Die Gründe für die bedenkliche Abblendung einer jahrhundertelangen Geschichte Foucault, Michel: Die politische Technologie der Individuen. In: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Schriften, Bd. IV. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald. Frankfurt a. M. 2005, S. 999. 112 Foucault, Michel: Was ist Aufklärung? In: Dits et Ecrits. Schriften. Bd. IV, S. 859. 111

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philosophischen Denkens können nicht allein in innerphilosophischen Kriterien liegen. Denn seit der »Normalisierung« der Philosophie in der Mitte des 20. Jahrhunderts arbeiten sich auch Ansätze einer filosofía latinoamericana an der gesamten Geschichte der abendländischen Philosophie ab. Der Graben zwischen europäischer und lateinamerikanischer Philosophie verweist daher, worauf Leopoldo Zea in seiner Antwort an Salazar Bondy hellsichtig hingewiesen hat, auf (neo-)koloniale Machtverhältnisse. Der Selbstzweifel an der Existenz einer lateinamerikanischen Philosophie ist nach Zea ein später Nachklang der unseligen Debatte zwischen Bartolomé de las Casas und Ginés de Sepúlveda, in der in Europa, genauer in Valladolid, über die Humanität, d. h. der Vernunftbegabung der amerindischen Völker diskutiert worden ist. »Unser Philosophieren in Amerika hebt mit einer Polemik über das Wesen des Menschlichen an […] In der Polemik von Las Casas mit Sepúlveda beginnt diese seltsame Philosophie, die sich im 20. Jahrhundert fragen wird, ob sie eine Philosophie besitzt oder nicht. In der Polemik werden nicht nur das Recht auf das Wort, auf den Logos oder die Sprache in Parenthese gesetzt, sondern das gesamte Wesen des Menschen dieses Amerika.«113

Der Unterschied zwischen iberoamerikanischer und europäischer Philosophie liegt nach Zea nicht in der mangelnden Originalität, sondern im verinnerlichten Zweifel an der eigenen Humanität. Spätestens an dieser Stelle sollte die europäische Philosophie ihre künstlichen Barrieren gegenüber den Denktraditionen im süd­ lichen Amerika auch im eigenen Interesse abbauen. Denn in der lateinamerikanischen Philosophie stößt das europäische Denken nicht nur auf einen langen Ast ihrer eigenen Tradition, sondern auch auf die Wirkungsgeschichte ihres imperialen Tiefenstroms, der die neuzeitliche Philosophie in zahllosen Variationen bis in das 20. Jahrhundert hinein durchdringt.114 Die lateinamerikanische Philosophie ist, ob ungewollt oder in offener Kritik, ein Spiegel, in dem der europäische Geist mit der Fratze seiner Barbaren- und Rassendiskurse konfrontiert wird. Dies bedeutet: In der Überwindung (neo-)kolonialer Denkmuster kann sich die europäische Philosophie – um ein Diktum von José Martí abzuwandeln – nicht gegen, sondern nur mit der lateinamerikanischen Philosophie retten. In jüngster Zeit hat Eduardo Mendieta eine »Normalisierung« der Beziehungen zwischen nord- und südamerikanischer Philosophie gefordert. Da durch die Migrationsströme die Grenzen zwischen Süd- und Nordamerika seit langem aufgeweicht sind, muss sich nach Mendieta auch die Philosophie in einem größeren Amerika La filosofía ameriana como filosofía sin más, S. 12. Vgl. dazu Schelkshorn, Hans: Der Hochmut Europas und die Philosophie. In: Die Philosophie und Europa. Zur Kategoriengeschichte der »europäischen Einigung«. Hg. v. Wilfried Grießer. Würzburg 2015, S. 161 – 180. 113 Zea: 114



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situieren, in dem es fortan selbstverständlich ist, Emerson mit Rubén Darío, Peirce mit Ingenieros, Dewey mit Vasconcelos, Zea mit Wilson und Rorty mit Dussel zu lesen.115 In diesem Sinn sollte auch für die europäische Philosophie, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg der nordamerikanischen Philosophie geöffnet hat, die Auseinandersetzung mit lateinamerikanischer Philosophie ein selbstverständlicher Teil ihres Denkens werden.

115 Mendieta:

Introduction, S. 5.

Idealismus, Materialismus, Nationalsozialismus Zur Historiographie und Periodisierung der indischen Philosophie* Eli Franco

Im Folgenden werde ich recht kurz einige der bekanntesten Versuche zur Periodisierung der indischen Philosophie vorstellen. Es wäre ein Leichtes gewesen, die doppelte Anzahl an Versuchen zu präsentieren,1 da in diesem Bereich kein Konsens herrscht und quasi alle wichtigen Historiker der indischen Philosophie ihre eigene Periodisierung und Terminologie vorgeschlagen haben. Im Unterschied zu den Geschichtsschreibungen zur westlichen Philosophie – wo man zumindest mit den Termini »vorsokratisch«, »hellenistisch«, »mittelalterlich«, »Renaissance« und »Philosophie der Neuzeit« gewöhnlich etwas anfangen kann, selbst wenn man eine Periodisierung als solche ablehnen sollte – gibt es im Bereich der indischen Philosophie noch nicht einmal eine allgemeingültige Terminologie, die man ablehnen könnte. Niemand wüsste beispielsweise, worauf ich mich mit Begriffen wie »indische Philosophie in der klassischen Periode«, »in der mittelalterlichen Periode« oder »in der scholastischen Periode« genau beziehen würde. Tatsächlich wäre es noch nicht einmal eindeutig, dass ich mich mit diesen Begriffen nicht auf ein und dieselbe Periode bezöge. Es wundert daher nicht, wenn man sich bei der Betrachtung der Periodisierungen der indischen Philosophie der etwa letzten hundert Jahre an die Geschichte vom Elefanten und den sechs blinden Männern erinnert fühlt. Die unten im Abriss gegebenen Periodisierungen sind insofern bemerkenswert, als sie einige der einflussreichsten ideologischen Strömungen des 20. Jahrhunderts widerspiegeln, nämlich einerseits Idealismus, Marxismus und Nationalsozialismus, daneben aber auch die neue, etwas blauäugige Offenheit gegenüber Asien der 60er sowie den sozialanthropologischen Zugang der 70er Jahre. Andere Periodisierun*

Das Folgende ist eine leicht revidierte Übersetzung meines Aufsatzes Idealism, Materialism, National Socialism: On the Historiography and Periodization of Indian Philosophy. In: Historiography and Periodization of Indian Philosophy. Hg. v. E. Franco. Wien 2013, S. 19 – 46. Für die sorgfältige Übersetzung bin ich Herrn Jens Thomas verpflichtet. 1 Man möge berücksichtigen, dass ich abgesehen von wenigen Bemerkungen Periodisierungsvorschläge indischer Gelehrter nicht berücksichtige. Einige von ihnen haben nicht nur behauptet, dass eine Periodisierung in Bezug zur indischen Philosophie nicht sinnvoll sein könne, sondern auch, dass die indische Philosophie einer Entwicklung überhaupt entbehre oder dass ihre historische Entwicklung nicht beschrieben werden könne. Vergleiche dazu z. B. Dasgupta, Surendranath: History of Indian Philosophy, 5 Bde. Cambridge 1922, S. 62 – 64: »In what Sense is a History of Indian Philosophy possible?« oder auch Mishra, Umesha: History of Indian Philosophy. Allahabad 1957. Bd. I: S. 12 – 14: »Progressive Nature of Indian Philosophy«.

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gen, die weniger stark von voreingenommenen Ideologien und theoretischen Überlegungen beeinflusst waren, könnte man als »neutraler« ansehen, beispielsweise die von Oetke in seinem Werk recht detailliert behandelte eklektische Periodisierung von Glasenapps.2 Wenn wir vorindologische Periodisierungsversuche der indischen Philosophie einmal außer Acht lassen, so z. B. solche von Hegel und Marx,3 wurde die erste Periodisierung von Paul Deussen4 in seinem berühmten siebenbändigen Werk Allgemeine Geschichte der Philosophie vorgenommen, in dem er die indische Philosophie als der westlichen gleichwertig behandelt. Deussens in der Tat recht auffällige Einteilung sticht schon durch die Unterteilung der einzelnen Bände seiner Allgemeinen Geschichte hervor.5 Teil 1: Allgemeine Einleitung und Philosophie des Veda bis auf die Upanishad’s (Anfang 1900 v. Chr.)6 Teil 2: Die Philosophie der Upanishad’s (bis Ende 500 v. Chr.) Teil 3: Die nachvedische Philosophie der Inder (500 v. Chr. bis 1500 n. Chr.)7 2

Vgl. Oetke, Claus: Classification and Periodisation of Indian Philosophical Traditions: Some Conceptual and Theoretical Aspects. In: Franco (Hg.): Historiography and Periodization of Indian Philosophy, S. 1 – 10. Trotz der seit ihrer Publikation mittlerweile verstrichenen etwa sechzig Jahre betrachte ich von Glasenapps Philosophie der Inder als beste deutschsprachige Einleitung in die indische Philosophie. In der Originalfassung dieses Aufsatzes ging ich kurz auf seine Periodisierung ein, doch angesichts Oetkes eingehenderer Betrachtung dieses Werkes in diesem Band wäre eine weitere Erwähnung hier überflüssig. 3 Diesen beiden mag man noch Windischmanns Die Philosophie im Fortgang der Welt­ geschichte (Windischmann, Karl Joseph Hieronymus: Die Philosophie im Fortgang der Welt­ geschichte. 4 Bde. Bonn 1827 – 1834) hinzufügen, die, obgleich eindeutig vorindologisch, bereits auf den ersten indologischen Studien der sog. »Bonner Schule« fußt. 4 Zu Deussens geistiger Ausformung siehe seine Autobiographie Mein Leben (Deussen, Paul: Mein Leben. Leipzig 1922); eine aktuelle Bibliographie bietet Feldhoff, Heiner: Nietzsches Freund: Die Lebensgeschichte des Paul Deussen. Köln/Weimar 2008. 5 Band I, Teil 1: Allgemeine Einleitung und Philosophie des Veda bis auf die Upanishad’s (1894); Band I, Teil 2: Die Philosophie der Upanishad’s (1898; Band I, Teil 3: Die nachvedische Philosophie der Inder (1908); Band II, Teil 1: Die Philosophie der Griechen (1911); Band II, Teil 2,1: Die Philosophie der Bibel (1913); Band II, Teil 2,2: Die Philosophie des Mittelalters (1915); Band II, Teil 3: Die neuere Philosophie von Descartes bis Schopenhauer (1917). 6 Zum ungewöhnlich frühen Datum von 1900 v. Chr. siehe Deussen, Paul: Allgemeine Geschichte der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Religionen, 7 Bde. Bd. I/1 Leipzig 1894, S. 41. Ich schätze, dass für Deussen die vedische Periode um 800 v. Chr. endet und damit die upanischadische Periode beginnt. Doch habe ich dazu keine eindeutige Aussage gefunden. Er legt aber deutlich dar, dass die upanischadische Periode um 500 v. Chr. endet (Deussen: Allgemeine Geschichte. Bd. I/2 1898, S. 3). 7 Die Zeitangaben der dritten Periode werden in der »Inhaltsübersicht« des dritten Bandes gegeben (Deussen: Allgemeine Geschichte. Bd. I/3 1908, S. xi): »Die Nachvedische Zeit. (ca. 500 a. C. bis 1500 p. C.)«. Zu diesen Perioden siehe auch Band 1 (Deussen: Allgemeine Geschichte.



Zur Historiographie und Periodisierung der indischen Philosophie

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Deussens Periodisierung der indischen Philosophie tritt auch in seinen Outlines of Indian Philosophy8 zutage. Der Aufsatz stellt einen mutigen Versuch dar, die indische Philosophie auf nur vierzig kleinformatigen Seiten zu charakterisieren. In ihm wird die oben genannte Periodisierung an verschiedene geographische Gebiete Südasiens gebunden, jeweils entsprechend den – so zumindest nach Deussens Annahme – Perioden ihrer philosophischen und kulturellen Vormachtstellung: Indien habe die Form eines Vierecks, dessen Ecken in die vier Himmelsrichtungen zeigen. Teile man dieses in zwei Teile, indem man eine Linie von der Mündung des Indus zur Mündung des Ganges zieht, erhalte man zwei Dreiecke mit Hindustan im Norden und dem Dekkan im Süden. Durch eine weitere Teilung des nördlichen Dreiecks erhalte man nun drei Teile: den Punjab, die Gangesebene und das DekkanHochland. Diese drei Gebiete hätten jeweils die Oberhand in den drei Perioden der indischen Philosophie gehabt: die rigvedische Periode, die spätvedische Periode (die Upanischaden) und die dritte Periode, die manchmal Sūtra-Periode genannt wird und mit dem Buddha und dem Jina beginnt. Überraschenderweise beschäftigt sich der erste Band von Deussens Geschichte aber tatsächlich mit der vorphilosophischen Periode, der zweite mit den rudimentären Anfängen indischen philosophischen Denkens und erst der dritte mit dem Rest. Um zu verstehen, wie unangebracht diese Einteilung ist, mag man sich eine Einteilung der europäischen Philosophie in eine homerische Periode, eine vorsokra­ tische Periode und eine den ganzen Rest beinhaltende vorstellen;9 oder so, als ob man einen Menschen einteilte in Haar, Stirn und den Rest. Zudem zeige der Großteil der dritten Periode nach Deussens Periodisierung keine historische Entwicklung. Die verschiedenen philosophischen Systeme werden lediglich doxographisch dargestellt, und tatsächlich besteht der dritte Teil weitestgehend aus einer Übersetzung des Sarvadarśanasan· graha. Die indischen philosophischen Systeme entwickelten sich jedoch eindeutigerweise nicht getrennt voneinander, sondern erwuchsen aus gemeinsamen Debatten und gegenseitigem Widerspruch. Wie Ruben es so schön formulierte: »Die indischen Systeme aber stehen nicht neben-, sondern gegeneinander«.10 Bd. I/1 1894: »Perioden der indischen Philosophie«, wo die drei Perioden »Hymnenzeit«, »Brāhman· azeit« und »Sanskritzeit« genannt werden.   8 Deussen, Paul: Outlines of Indian Philosophy, with an Appendix on the Philosophy of the Vedanta in its Relations to Occidental Metaphysics. Berlin 1907, S. 4 – 6.   9 Man fühlt sich hier an Whitehead erinnert, der die gesamte westliche Philosophie nur als Fußnoten zu Platon betrachtete. 10 Ruben, Walter: Geschichte der indischen Philosophie. Berlin 1954, S. 20. Ein exzellentes Beispiel einer dialektischen Darstellung der Nyāya-Philosophie bietet Shastri, Dharmendra Nath: The Philosophy of Nyāya-Vaiśeṣika and its Conflict with the Buddhist Dignāga School. Delhi, Varanasi 1964.

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Wie kann man Deussens Einteilung nun erklären? Immerhin war Deussen zu seiner Zeit eine anerkannte Autorität auf dem Gebiet der indischen Philosophie, geschätzt von Europäern und Indern gleichermaßen, dessen Werk, wie bei nur wenigen westlichen Gelehrten der Fall, die Art und Weise beeinflusste, wie indische Intellektuelle ihre eigene Tradition auffassten.11 Ich schlage hier Folgendes vor: Was für Deussen von hauptsächlichem Interesse war und was er als die größte Errungenschaft in der Geschichte des indischen Denkens auffasste, geschah zu einer Zeit, bevor philosophisches Denken in Südasien eigentlich begann.12 Es gibt ein etwas obskures Fragment des griechischen Poeten Archilochos: »Der Fuchs weiß viele Dinge, doch der Igel eine große Sache« (wörtlich: »Vieles weiß der Fuchs, doch der Igel ein großes«, πόλλ’ οἶδ’ ἀλώπηξ, ἀλλ’ ἐχῖνος ἓν μέγα). Isaiah Berlin sponn diesen Gedanken weiter und teilte Schriftsteller und Denker in zwei Kategorien ein: Igel, die die Welt mit der Brille einer einzigen bestimmenden Vorstellung wahrnehmen, und Füchse, die auf eine Vielzahl von Erfahrungen zurückgreifen. Deussen war ein Igel. Die eine große Vorstellung, die er in den Upanischaden, in der Bibel und natürlich bei Schopenhauer wiederzufinden glaubte, könnte man ethischen oder altruistischen Monismus nennen. In einem Vortrag zu »The Philosophy of the Vedānta in its Relations to Occidental Metaphysics«, den er vor dem Mumbaier Ableger der Royal Asiatic Society am Samstag, den 25. Februar 1893, hielt, sagte er: »– And what kind of works may such a man (i.e. the jīvanmukta) do? – People have often reproached the Vedānta with being defective in morals, and, indeed, the Indian genius is too contemplative to speak much of works; but the fact is nevertheless, that the highest and purest morality is the immediate consequence of the Vedānta. The Gospels fix quite correctly as the highest law of morality ›love your neighbour as yourselves.‹ But why should I do so, since by the order of nature I feel pain and pleasure only in myself, not in my neighbour? The answer is not in the Bible (this venerable book being not yet quite free from Semitic realism), but it is in the Veda, is in the great formula, ›tat tvam asi‹ which gives in three words metaphysics and morals altogether.   You shall love your neighbour as yourselves, – because you are your neighbour, and mere illusion makes you believe, that your neighbour is something different 11

Zu Deussens Einfluss auf Vivekānanda siehe die provokative und etwas übertriebene Untersuchung von Paul Hacker (Hacker, Paul: Schopenhauer und die Ethik des Hinduismus. In: Saeculum 4 (1961), S. 365 – 399 [= Kleine Schriften, S. 531 – 564. Englische Übersetzung in: Philology and Confrontation: Paul Hacker on Traditional and Modern Vedanta. Hg. v. Wilhelm Halbfass. Albany 1995]). 12 Dies wirft natürlich die Frage auf, was Philosophie eigentlich ist. Ich kann hier nicht darauf eingehen, jedoch denke ich, dass man unstrittig sagen kann, dass im philosophischen Denken Behauptungen durch Argumente gestützt werden. Dieses wesentliche Merkmal fehlt in den Upanischaden. Siehe dazu Dasguptas Bemerkung in Anm. 17.



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from yourselves. Or in the words of the Bhagavadgîtâ: he, who knows himself in every­t hing and everything in himself, will not injure himself by himself, na hinasti âtmanâ âtmânam.13 This is the sum and tenor of all morality, and this is the standpoint of a man knowing himself as Brahman. He feels himself as everything, – so he will not desire anything, for he has whatever can be had; – he feels himself as everything, – so he will not injure anything, for nobody injures himself. He lives in the world, is surrounded by its illusions but not deceived by them: like the man suffering from timira, who sees two moons, but knows that there is only one, so the Jîvanmukta sees the manifold world and cannot get rid of seeing it, but he knows that there is only one being, Brahman, the Âtman, his own Self, and he verifies it by his deeds of pure disinterested morality.« 14

Obgleich Deussens Geschichte heutzutage obsolet geworden ist, hatte sie einen nachhaltigen Einfluss. Seine Unterteilung der indischen Philosophie in die Philo­ sophie der Veden, der Upanischaden, des Epos, des Buddhismus15 und der philosophischen Systeme ist zu einem von vielen Gelehrten des 20. Jahrhunderts eingeschlagenen, nur teilweise etwas modifizierten16 Weg der Darstellung geworden, nicht nur in der deutschsprachigen Welt (Strauss, Frauwallner), sondern auch in Indien (Hiriyana, Radhakrishnan etc.).17 Sein großer Verdienst war es, die indische Philosophie in die allgemeine Phi­lo­so­phie­geschichte zu integrieren, und sein Werk blieb für Jahrzehnte zumindest in der deutschsprachigen Welt für Philosophen und Allgemeinheit die autoritative Quelle für das Studium der indischen Philosophie. Wie auch immer unsere Kritik an Deussens Ansatz aussehen mag, müssen wir uns dennoch ins Gedächtnis rufen, dass seine Periodisierung um Längen besser war als 13

Zu einer Kritik an Deussens zweifelhafter Interpretation dieser Phrase siehe Hacker: Schopenhauer, Anm. 11. 14 Deussen: Outlines of Indian Philosophy, S. 336 f. 15 Das Kapitel über das Epos beginnt in Band 3. Interessanterweise wird der Buddhismus als Anhang zur Philosophie des Epos dargeboten (»Anhang zur Philosophie des epischen Zeitalters: Der Buddhismus«). 16 So wird der Buddhismus manchmal vor, manchmal nach der Philosophie des Epos abgehandelt. Der Jainismus, der von Deussen gar nicht behandelt wird, wird zumeist nach dem Buddhismus eingeführt. 17 Diesem Weg folgt man teilweise ganz selbstverständlich, manchmal aber auch mit einem gewissen Unmut. Dasgupta z. B. behandelt in seiner monumentalen History of Indian Philosophy zwar zu Beginn die Veden, Brāhman· as und Upanischaden, doch ist sein mangelndes Interesse und seine Frustration, sich mit dieser nicht-philosophischen Literatur beschäftigen zu müssen, deutlich spürbar. Siehe Dasgupta: History, Bd. I 1922, S. ix f.: »Though I have begun my work from the Vedic and Brāhmanic stage, my treatment of this period has been very slight. […] I do not think it is worthwhile to elaborate the broken shreds of thought of this [Brāhma ṇa] epoch. I could have dealt with the Upanishad period more fully, but many works on this subject have already been published in Europe and those who wish to go into details will certainly go to them.« Der letzte Satz bezieht sich zweifelsohne in erster Linie auf Deussens Werk.

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das, was zu seiner Zeit habhaft oder einflussreich war, nämlich die phantasievollen Periodisierungen nach Hegel und Marx. Von methodischer Seite stellt Deussens Allgemeine Geschichte zumindest zwei interessante Fragen, die weder ihre Aktualität noch ihre Dringlichkeit verloren haben. Zunächst diejenige, ob man bei der Darstellung der indischen Philosophie einen emischen oder einen etischen Zugang wählen sollte, und die vielleicht noch wichtigere Frage, ob eine Geschichte der indischen Philosophie vom chronologischen oder systematischen Standpunkt aus geschrieben werden sollte. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass einige der anerkanntesten indischen Philosophiehistoriker jeden Versuch einer Periodisierung der indischen Philosophie vehement ablehnten, zumindest nach der vedischen und upanischadischen Periode. So fragt beispielsweise Surendranath Dasgupta in einer Kapitelüberschrift seiner History of Indian Philosophy: »In what sense is history of Indian philosophy possible?«18 und verwirft ausdrücklich die Möglichkeit, eine indische Phi­lo­so­phie­geschichte nach dem Muster der zu seiner Zeit geläufigen europäischen Philosophiegeschichtsdarstellungen zu schreiben. Auch die Bemühungen Sarvepalli Radhakrishnans19, Umesha Mishras20 und Deviprasad Chattopadhyayas21 sind hier zu erwähnen, die ihre Darstellungen der indischen Phi­lo­so­phie­ geschichte unter dem Einfluss des im Sarvadarśanasaṅgraha angewandten, traditionellen doxographischen und hierarchischen Modells schrieben.22 Während sich dabei Radha­k rishnan weitestgehend an Madhavas Hierarchie hielt, indem er den Advaita Vedānta an die Spitze stellte,23 änderten Mishra24 und Chattopadhyaya die Hierarchie gemäß ihren religiösen und ideologischen Überzeugungen.25 Ersterer setzte den Śaivismus an die Spitze, Letzterer den Lokāyata-Materialismus. History, Bd. I 1922, S. 62 – 64. Radhakrishnan, Sarvepalli: Indian Philosophy, 2 Bde. London 1923 – 1927. 20 Mishra: History. 21 Chattopadhyaya, Debiprasad: Indian Philosophy – A Popular Introduction. Delhi 1964. 22 Zu den indischen Doxographien siehe Halbfass, Wilhelm: India and Europe. Albany 1988, S. 349 – 368. 23 Im Gegensatz zu Mishra und Chattopadhyaya schlug Radhakrishnan dann doch eine Periodisierung der indischen Philosophie vor (Radhakrishnan: Indian Philosophy, Bd. 1 1923, S. 57 – 60): 1) Die vedische Periode: 2500 – 600 v. Chr.  2) Die epische Periode: 600 v. Chr. –  200 n. Chr.  3) Die Sūtra-Periode: ab 200 n. Chr. Über deren Ende schreibt er nichts.  4) Die scholastische Periode: ebenfalls ab 200 n. Chr. bis heute. »The Sūtra period cannot be sharply distinguished from the scholastic period of the commentators. The two between them extend up till the present day.« Ebd., S. 59. 24 Mishras History ist größtenteils unvollständig, und der geplante Band zum Śaivismus wurde nie geschrieben. Der Ablauf seiner History wird jedoch am Anfang des ersten Bandes angerissen. 25 Für eine Biographie Mishras siehe: Jha, Govinda: Umesh Mishra. Dieses Buch erschien in der Serie »Makers of Indian Literature« der Sahitya Academy. Es handelt sich um eine englische 18 Dasgupta: 19



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Ein anderer wohlbekannter Versuch, die Geschichte der indischen Philosophie in Perioden einzuteilen, stammt von Erich Frauwallner (1898 – 1974).26 Frauwallners Verstrickung in den Nationalsozialismus ist zwar seit langem bekannt, die genauen Umstände und das Ausmaß seiner Involviertheit sind allerdings erst dank einer aufschlussreichen Untersuchung von Jakob Stuchlik27 zutage getreten. Frauwallner behauptet, dass man die Geschichte der indischen Philosophie in zwei Perioden einteilen könne: eine arische und eine nicht-arische.28 Die erste Periode beginne in vedischer Zeit, erreiche mit den in der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends n. Chr. entwickelten philosophischen Systemen ihren Höhepunkt und erlebe gegen Ende des ersten Jahrtausends dann ihren Niedergang. Die zweite Periode beginne mit Śa ṅ kara und setze sich bis ins 18. Jahrhundert fort, wo unter der britischen Herrschaft der Entwicklung einer indigenen indischen Philosophie durch die Einführung westlicher Ideen ein Ende gesetzt worden sei. Nach Frauwallner kann der Übergang von der ersten in die zweite Periode nicht mit der Annahme einer kontinuierlichen Entwicklung erklärt werden. Vielmehr habe eine dramatische Umwälzung stattgefunden. Die alten Systeme (Sā ṃ khya, Vaiśeṣika, Lokāyata, Buddhismus und Jainismus) seien in dem Sinne atheistisch gewesen, dass sie nicht auf einem höchsten Gott als Grundprinzip fußten. Sie waren, wie Frauwallner schreibt, »nicht religiös-dogmatisch gebunden«29, sondern »such[t]en ihre Lehren wissenschaftlich voraussetzungslos abzuleiten«. Im Gegensatz dazu seien die neuen Systeme theistisch, und göttliche Offenbarung durch Śiva oder Viṣṇu sei als die höchste Quelle des Wissens angesehen worden. Angesichts der Tatsache, dass die Religionen um Śiva und Viṣṇu nicht-arischen Ursprungs seien, müsse dieser tiefgreifende Wandel des Wesens der indischen Philosophie dahingehend erklärt werden, »daß es sich um einen Sieg nichtarischen Wesens über die ermattende Kraft des in den älteren Systemen schöpferischen arischen Geistes handelt«30. Frauwallner wiederholt seine Periodisierung der indischen Philosophie in »Die Bedeutung der indischen Philosophie«31. Tatsächlich stellt er seine Periodisierung Übersetzung durch Jayakantha Mishra der Maithili-Monographie von Govinda Jha gleichen Titels und 1995 veröffentlicht durch die Sahitya Academy. 26 Siehe auch Bronkhorst, Johannes: Periodization of Indian ontologies. In: Franco (Hg.): Historiography and Periodization of Indian Philosophy, S. 11 – 18. 27 Stuchlik, Jakob: Der Arische Ansatz: Erich Frauwallner und der Nationalsozialismus. Wien 2009. 28 Das Folgende stammt in etwas veränderter Form aus Franco, Eli/Preisendanz, Karin: Vorwort. In: Erich Frauwallner, Philosophie des Buddhismus. Berlin 2010. 29 Frauwallner, Erich: Der arische Anteil an der indischen Philosophie. In: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 46 (1939), S. 267 – 291, hier S. 271. Eine Zusammenfassung findet sich in: Der arische Anteil an der indischen Philosophie. In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 92, 2/3 (1938), S. *9* f. 30 Frauwallner: Der arische Anteil, S. 285. 31 Frauwallner, Erich: Die Bedeutung der indischen Philosophie. In: Der Orient in deutscher

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noch zwei weitere Male dar, einmal in der Einleitung zu seiner Geschichte der indischen Philosophie, wo er die arische Grundlage der indischen Philosophie deutlich, wenn auch weniger auffällig, erwähnt,32 des Weiteren 1959 im Aufsatz »Indische Philosophie«, in dem er behauptet, dass die klassische indische Philosophie in der Frühphase hauptsächlich ein Werk eingewanderter arischer Inder gewesen sei.33 Das Fazit von Frauwallners Darstellung in »Die Bedeutung der indischen Philosophie« lautet, dass die Wichtigkeit der indischen Philosophie nicht nur in ihrer Reichhaltigkeit bestehe, sondern auch in der Tatsache, dass sie sich unabhängig von der europäischen Tradition entwickelt habe und die indische Philosophie die einzige nicht-europäische Tradition sei, die mit der europäischen Philosophietradition verglichen werden könne. Für Frauwallner sind nur diese beiden Traditionen vergleichbar, weil nur sie einen wissenschaftlichen Charakter aufgewiesen hätten, den beispielsweise die chinesische Tradition nicht besitze.34 Dies zeige sich in der Tatsache, dass in diesen beiden Traditionen Epistemologie und Logik die Grundlage einer jeden Beweisführung bildeten, sowie in der methodisch präzisen Art und Weise, in der die grundlegenden Aussagen der Systeme abgeleitet und begründet würden. Nach Frauwallners Ansicht können diese und andere Gemeinsamkeiten zwischen der indischen und europäischen Tradition durch die gleiche, nämlich rassisch begründete, Veranlagung erklärt werden. Die grundlegende Umgestaltung des indischen Volkes, die schließlich zur Herausbildung des Hinduismus geführt habe, sei rassischen Gründen geschuldet gewesen und könne »mit der Aufsaugung des arischen Einwandererstromes durch die Urbevölkerung begründet«35 werden. Die alten philosophischen Systeme seien gleicherweise durch die nicht-wissenschaftlichen Śaiva- und Vaiṣṇava-Systeme überwältigt und marginalisiert worden. Daher sei es nach Frauwallner gewiss, dass der wissenschaftliche Charakter der frühen Systeme rassisch begründet war. Der indischen Philosophie gebühre daher Forschung: Vorträge der Berliner Orientalistentagung. Hg. v. Hans Heinrich Schaeder. Leipzig 1944, S. 158 – 169. Eine Zusammenfassung des Aufsatzes wurde veröffentlicht als: Die Bedeutung der indischen Philosophie. In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 96 (1942, Heft 3), S. 40 – 42. 32 Vgl. Frauwallner, Erich: Geschichte der indischen Philosophie. 2 Bde. Salzburg 1953 – 1956, Bd. I, S. 26 f. Bemerkenswert ist Frauwallners Verwendung des Nazi-Terminus »Volkskörper«. Die Nationalsozialisten betrachteten die deutsche Nation als einen gesund zu erhaltenden Körper, der rein und frei von Krankheiten und missliebigen Einflüssen und Parasiten (wie zu den sog. minderwertigen Rassen gehörende Minderheiten) sein sollte. 33 Vgl. Frauwallner, Erich: Indische Philosophie. In: Die Philosophie im XX. Jahrhundert. Hg. v. Fritz Heinemann. Stuttgart 1959, S. 49 – 67, hier S. 50 (= Kl. Schr., p. 2): »[…] während die klassische indische Philosophie der älteren Zeit im wesentlichen eine Schöpfung der eingewanderten arischen Inder ist.« Vorsichtshalber fügt er hinzu: »Aber eine endgültige Aussage darüber scheint verfrüht«. 34 Vgl. Frauwallner: Die Bedeutung der indischen Philosophie, S. 162. 35 Ebd.



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nicht nur deswegen besondere Aufmerksamkeit, weil sie die wichtigste (philosophische) Entwicklung außerhalb Europas darstelle, sondern auch weil sie eine typische Schöpfung eines arischen Volkes sei. Frauwallner zitiert zustimmend W. von Soden, der behauptet, dass Wissenschaft im eigentlichen Wortsinn etwas sei, das nur durch Indogermanen, die durch die nordische Rasse bestimmt würden, erschaffen werde konnte. Frauwallners Behauptungen sind, um es vorsichtig auszudrücken, nicht unproblematisch. Wenn wir die rassische Deutung über den Ursprung der indischen Philosophie, die man ja leicht als moralisch verachtenswert und faktisch falsch verurteilen kann, und die Frage nach der Angemessenheit einer Unterteilung der gesamten indischen Phi­lo­so­phie­geschichte in zwei Perioden einmal beiseitelassen,36 bleibt unklar, inwiefern die buddhistischen und jainistischen Philosophien als nichtreligiös bezeichnet werden können. Ferner gibt es einen beträchtlichen zeitlichen Abstand zwischen dem Aufstieg der vermeintlich nicht-arischen Religionen um Viṣṇu und K ṛṣṇa und dem Aufstieg der vermeintlich nicht-arischen Philosophien. Die Ersteren treten uns nämlich schon im Mahābhārata entgegen. Die Philosophie des Epos, und dies meint sogar Frauwallner, repräsentiert aber eine Periode, die der Herausbildung der klassischen, vermeintlich arischen Philosophiesysteme des Sā ṃ khya und Vaiśeṣika vorausgeht. Zudem sind die Bezeichnungen »wissenschaftlich«, »voraussetzungslos«, »atheistisch« usw. in ihrer herkömmlichen Bedeutung kaum für die Beschreibung der indischen Philosophie der frühen und klassischen Periode (noch überhaupt einer Periode) geeignet. Sie könnten höchstens mit der speziellen, sehr engen und recht beliebigen Bedeutung, die Frauwallner ihnen gibt, zur Beschreibung der indischen Philosophie taugen.37 Der jedoch, zumindest für mich, interessanteste Teil in Frauwallners Periodisierung besteht darin, dass er die zweite Hälfte des ersten Jahrtausends n. Chr. als eine Periode des Verfalls ansieht. Es ist schwer nachzuvollziehen, wie ein wissenschaft­ licher Charakterzug, der nach Frauwallners eigenen Worten in der Epistemologie und Logik zutage trete, die die Grundlage einer jeden Beweisführung bildeten, in der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends (und nicht etwa in der zweiten) seinen Höhe­ punkt erreicht haben soll. Ist die (tendenziöse)38 Logik eines Vārṣaga ṇya der Gipfel des wissenschaftlichen Geistes in Indien? Seltsam ist auch, dass die Zeit der hell36

Anders gesagt: Kann man die Zeit vom achten vorchristlichen Jahrhundert bis zum fünften Jahrhundert christlicher Zeit oder, insofern man die Zeit des Niedergangs mit einschließt, bis zum zehnten Jahrhundert tatsächlich als nur eine Periode ansehen? 37 Nach Frauwallners Auffassung könnte auch die griechische Religion als »atheistisch« angesehen werden, und jegliche nicht-theistische oder nicht-religiöse philosophische Lehre könnte man »wissenschaftlich und voraussetzungslos« nennen. 38 Meiner Ansicht nach sind die gemäß Vār ṣaga ṇya erlaubten logischen Beziehungen eindeutig mit dem Beweis der prak ṛti im Hinterkopf entworfen worden.

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sten Sterne in der indischen Philosophie – Dignāga, Praśastapāda, Uddyotakara, Prabhākara, Kumārila, Dharmakīrti, Akala ṅ ka, Dharmottara, Ma ṇḍanamiśra, Jayarāśi, Prajñākaragupta, Bhāsarvajña, Udayana usw. usf. – als eine Periode des Niedergangs angesehen und etwas abwertend als »Periode der logisch-erkenntnistheoretischen Spekulation«39 bezeichnet werden. Dies könnte höchstens durch Frauwallners stillschweigende Annahme erklärt werden, wahre Philosophie sei im Grunde systematische Metaphysik. Doch wie könnte die methodisch präzise Art und Weise, mit der die grundlegenden Aussagen der Systeme untermauert worden seien, für die Periode, in der der arische Einfluss angeblich dominant gewesen sein soll, festgestellt werden? Frauwallner war weder der Erste noch der Einzige mit seiner Bewertung der indischen Kultur, die stark von der Idee der »Rasse« beeinflusst war. Dazu mag man sich folgende Sätze von Hermann Oldenberg, dem großen Vedisten und Buddhologen, ins Gedächtnis rufen, den Frauwallner bewunderte und als brillant ansah, und der für diesen eine Quelle unmittelbarer Inspiration dargestellt zu haben scheint: »Vor allem werden jene Einflüsse (scil. der Urbewohner Indiens) in einer tiefsten Weise gewirkt haben, die wir nur ahnen können: durch die allmählich fortschreitende Wandlung des Blutes, die eine Wandlung der Seele bedeutet, durch das beständige Einströmen neuer Mengen von Wilden- und Halbwildenblut in die Adern derer, die sich noch immer Arier nannten. Zeus und Apollon haben ihre Herrschaft behalten, solange es griechische Götter gab, denn das Griechenvolk blieb dasselbe. Indra und Agni mussten andern Göttern das Feld räumen, denn das indische Volk war ein andres geworden. Für diese Geister, in denen unergründliche Mischungen widerstreitender Kräfte, miteinander verschlungen, gegeneinander entfesselt, ihr Spiel trieben, waren die Vedagötter allzu kindlich einfach; gar zu leicht war ihr Wesen ausgeschöpft. Sie waren von Norden gekommen: jetzt brauchte man tropische Götter. Es waren kaum mehr feste Gestalten; es waren ganze Gestaltenknäuel, Körper, aus denen Köpfe über Köpfe, Arme über Arme hervorquollen, Mengen von Händen, die Mengen von Attributen, Keulen und Lotusblumen halten: überall üppige und düstere, grandiose Poesie, Überfülle und verschwommene Formlosigkeit: Ein böses Verhängnis für die bildende Kunst.«40

Eine weitere Periodisierung der indischen Philosophie, die klar die Weltanschauung des Autors widerspiegelt, wurde von Walter Ruben (1899 – 1982) vorgeschlagen, einem der gelehrtesten Indologen seiner Zeit. Als bekannter Kommunist und obendrein noch Jude musste er nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten aus Deutschland emigrieren. Glücklicherweise wurde er auf einen Lehrstuhl für Indologie der Universität Ankara berufen und konnte die Kriegsjahre dort sicher Geschichte der indischen Philosophie. Bd. 1, S. 25. Oldenberg, Hermann: Die Literatur des alten Indien. Stuttgart ²1923, S. 132 f.

39 Frauwallner: 40



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verbringen. Nach einem kurzen Aufenthalt als Professor für indische Kultur41 an der Universität von Santiago de Chile (1948 – 1950) wurde er auf den Lehrstuhl für Indologie an der Humboldt-Universität in der DDR berufen und avancierte zum bekanntesten Indologen Ostdeutschlands. Von da an veröffentlichte er eine beeindruckende Menge an Büchern, die die indische Kultur in Übereinstimmung mit und aus der Perspektive des Marxismus darstellen, darunter insbesondere sein monumentales sechsbändiges Werk zur Gesellschaftliche[n] Entwicklung im alten Indien42. Ruben schlägt zum ersten Mal in seiner Einführung in die Indienkunde43 eine Periodisierung der indischen Philosophie vor. Diese ist jedoch lediglich eine Periodisierung der indischen Geschichte und steht nicht im Bezug zur Philosophie als solcher. Tatsächlich wird Philosophie in seiner Einführung, aus welchen Gründen auch immer, kaum behandelt. Möglicherweise war Ruben der Ansicht, dass zum damaligen Zeitpunkt eine Geschichte der indischen Philosophie noch nicht geschrieben werden könne. »Wie will man aber eine Geschichte der indischen Philosophie schreiben, wenn man nicht die Geschichte der indischen Gesellschaft und der indischen Wissenschaften kennt? Die bisherigen Geschichten der indischen Philosophie verdienen also diesen Namen noch nicht. Erst müssen Spezialisten der Geschichte der Wissenschaften mit Medizinern, Astronomen usw., aber auch mit Grammatikern, Juristen und Staatslehrern usw. die betreffenden Zweige der indischen Wissenschaften durcharbeiten, ehe eine wirkliche Geschichte der indischen Philosophie, die die Entwicklung und den Kampf des Materialismus gegen den Idealismus zum Gegenstand hat, von einem umfangreichen Kollektiv von Forschern in Gemeinschaftsarbeit verfaßt werden kann.«44

Dennoch veröffentlichte Ruben noch im selben Jahr seine Geschichte der indischen Philosophie45, in welcher er behauptet (im Vorwort, ohne Seitenzahlen), seiner Periodisierung in der Einführung in die Indienkunde zu folgen, jedoch tatsächlich 41

Rubens Aufgaben umfassten offenbar Forschung und Lehre sowohl der amerikanischen Indianer als auch der südasiatischen Inder (im Englischen beides Indians). Seine Bibliographie in http://bibliothek.bbaw.de/kataloge/literaturnachweise/ruben/literatur.pdf (Stand: 22. 4. 2017) enthält auch Tiahuanaco, Atacame und Araukaner: drei vorinkaische Kulturen. Leipzig 1952. VIII, 261 S.Taf. (ohne Einsichtnahme). 42 Ruben, Walter: Die gesellschaftliche Entwicklung im alten Indien. 1: Die Entwicklung der Produktionsverhältnisse im alten Indien, Berlin 1967. 2: Die Entwicklung von Staat und Recht im alten Indien, Berlin 1968. 3: Die Entwicklung der Religion im alten Indien, Berlin 1971. 4: Die Entwicklung der Philosophie im alten Indien, Berlin 1971. 5: Die Entwicklung der Dichtung im alten Indien, Berlin 1973. 43 Ruben, Walter: Einführung in die Indienkunde. Berlin 1954. 44 Ebd., S. 7. 45 Ruben: Geschichte der indischen Philosophie.

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lediglich versucht, das große Korpus des Quellenmaterials zur indischen Philosophie chronologisch zu ordnen, ohne überhaupt auf eine umfassende Periodisierung einzugehen. Wenn wir die vedische Periode als vorphilosophisch außer Acht lassen, seien die großen »Perioden« die (Zeit) des Buddha, Mahāvīra und der damaligen Materialisten (ca. 500 v. Chr.), der Sā ṃkhya-Dualismus (5.–4. Jhd. v. Chr.), Kauṭalya (300 v. Chr.), Aśokas Buddhismus und Manus Sā ṃ khya (ca. 250 v. Chr.), Mīmā ṃsā (200 v. Chr.), Nāgasena, Patañjali und Vaiśeṣika (ca. 150 v. Chr.), Mahāyana und Vedānta (um Christi Geburt), medizinische Texte und Nyāya (ca. 100 n. Chr.) und so weiter bis zum 20. Jahrhundert. Ruben war offenbar noch nicht in der Lage, die indische Philosophie in das marxistische, mutmaßliche Entwicklungsschema asiatischer Gesellschaften zu pressen. Eine marxistisch geprägte Voreingenommenheit ist jedoch deutlich im Buch wahrnehmbar und wird beispielsweise in den Kapitelüberschriften deutlich: »Magie der Brāhma ṇas, Beginn des eisenzeitlichen primitiven Sklavenhaltertums«, »Demagogie und Idealismus des alten Buddhismus« oder »Materialismus als Gegner des buddhistischen Nihilismus (Nāgārjuna) und der brahmanischen Logik (Nyāya)«. Man findet auch abfällige Bezeichnungen wie »diese Sāmkhya-Demagogen«46. Ruben behauptet nicht, in seiner Darstellung objektiv zu sein. Ganz im Gegenteil habe man sich für eine Seite zu entscheiden. »Man muß schon in der politischen Geschichte Partei ergreifen und beurteilen, was bei Caesar usw. richtig war und was nicht; und, muß man Partei ergreifen für das Rechte und Gute (wie Schlegel es bei seiner Verurteilung der Upanishadmystik getan hatte!), so gilt das auch für die Geschichte der Philosophie.«47 Insbesondere in Bezug auf Weltentsagung und Yoga nimmt Ruben kein Blatt vor den Mund. »Wenn sie [die bürgerlichen Indologieprofessoren] aber den Yoga schon nicht erlebnismäßig kontrollieren können, sollten sie doch wenigstens seine gesellschaftlich verheerenden Auswirkungen, die abergläubische Verdummung der Millionen indischer Werktätiger und Kleinbürger, studieren und ihn an diesen seinen Früchten erkennen.«48

In seiner Geschichte der indischen Philosophie schrieb Ruben: »Für jede Periode müssen die Produktivitätskräfte, die Produktionsverhältnisse, die Klassengegensätze, die politischen Auffassungen der Klassen und ihr progressiver oder reaktionärer Charakter festgestellt werden […] vor allem aber [ist] die Kenntnis der Geschichte der indischen Philosophie an der philosophischen Front Geschichte der indischen Philosophie, S. 5. Ebd., S. 7. 48 Ebd., S. 10 46 Ruben: 47



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im Kampf gegen den Gandhismus wichtig, der von den Imperialisten auch bis nach Westdeutschland getragen wird, durch Gandhisten nach Südafrika und den USA.«49

Ruben schlägt seine endgültige Periodisierung 1971 in Die Entwicklung der Philosophie im alten Indien vor: I. R.   g vedische Mythologie (1200 bis 900 v. u. Z.) II. Beginn der Philosophie in den Upanishaden (900 bis 550 v. u. Z.) III. Beginn der ältesten klassischen Naturphilosophien (550 bis 325 v. u. Z.) IV. Heranreifen der Naturphilosophien in der Mauryazeit (325 bis 236 v. u. Z.) V. Festlegung der meisten philosophischen Systeme (236 v. u. Z bis 300 u. Z.) VI. Ausbau der Erkenntnistheorie (300 bis 500 u. Z.) Hier endet das Buch (anders als in Ruben 1954,50 wo das 20. Jhd. erreicht wird). Zwar wird der zeitliche Rahmen durch die Buchreihe vorgegeben, jedoch ist Ruben der Auffassung, dass um 500 n. Chr. die Entwicklung der indischen Philosophie im Wesentlichen abgeschlossen gewesen sei.51 Philosophie habe sich in Indien nicht weiter entwickeln können, weil der Feudalismus um ca. 500 begonnen und bis ins 19. Jhd. angedauert habe, als er durch den Kapitalismus ersetzt worden sei. Die indische Philosophie wird hier eindeutigerweise in das marxistische Schema der angeblichen Entwicklung der indischen Gesellschaft gepresst. Die Produktionsweisen, die nach der marxistischen Ideologie asiatische Gesellschaften charakterisieren, sollen auch die Herausbildung und Entwicklung der indischen Philosophie in den verschiedenen Perioden determiniert haben: kein Landbesitz (die vorphilosophische vedische Periode), wirtschaftlich unabhängige Dorfgemeinschaften (Periode der Upanischaden), Despotismus (beginnend mit der Maurya-Zeit?52) und sozial-ökonomische Stagnation (von 500 bis ins 19. Jhd.). Mir ist dabei nicht klar, wie die philosophischen und gesellschaftlichen Periodisierungen genau in Beziehung stehen. Die gesellschaftliche Entwicklung, die nach marxistischer Ideologie durch verschiedene Produktionsweisen determiniert ist, sei »gesetzmäßig« und daher auch im antiken Griechenland aufgetaucht, wenn auch Griechenland wegen seiner fortgeschrittenen Wissenschaft und höheren geistigen Bildung eine schnellere Entwick49

Ebd., S. 21 f. Geschichte der indischen Philosophie. 51 Siehe Ruben: Die gesellschaftliche Entwicklung. Bd. 3. 1971. Vorbemerkung: »Damit [mit der VI. Periode] ist die Entwicklung im wesentlichen abgeschlossen.« Diese Zeit entspricht dem Höhepunkt der arischen Periode nach Frauwallner (s. o.). 52 Ruben äußert sich nicht eindeutig, wann der Despotismus in Indien begonnen habe. Möglicherweise sah er seine Anfänge schon in der upanischadischen Periode, vgl. Ruben: Die gesellschaftliche Entwicklung. Bd. 3. 1971, S. 241: »Dagegen förderte die asiatische Produktionsweise in Indian Despotismus und Religion. Dementsprechend war der Beginn des Idealismus bei Yājñavalkya wesentlich früher als bei Platon und wesentlich wichtiger als bei Parmenides.« 50 Ruben:

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lung durchgemacht habe.53 Dies erklärt Rubens durchgehende Vergleiche zwischen indischer und griechischer Philosophie, die uns heutzutage als etwas weit hergeholt erscheinen.54 »Philosophie begann in Indien und Griechenland mit dem Beginn von Ausbeutung, Staat und Recht«55, und ihre Entwicklung sei determiniert durch die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen. Tatsächlich seien die verschiedenen Philosophien von verschiedenen sozialen Schichten ins Leben gerufen worden: der Jainismus durch Kaufleute, die Mīmā ṃsā durch orthodoxe Brahmanen, der Vedānta durch Anhänger des Hinduismus (obgleich nicht klar sei, ob sie Śaivas, Vaiṣṇavas, oder Verehrer der Göttin waren), der Materialismus durch die städtische Bourgeoisie und das Vaiśeṣika durch wissenschaftliche Zirkel; eine Zeit lang, aber nicht länger in der fünften Phase (?) (s. o.), sei das Sā ṃ khya die spezielle Weltanschauung der Kṣatriyas gewesen, da es Gewalt gebilligt habe. Yoga habe zur selben sozia­ len Schicht wie das Sā ṃ khya gehört, da beide in der sechsten Phase verschmolzen seien; ferner sei der Nyāya von denselben Leuten unterstützt worden, die auch das Vaiśeṣika guthießen. Ruben betrachtet die Schulen des konservativen Buddhismus als Sekten. Der Buddhismus sei insbesondere in den Sekten des Sautrāntika und der Vaibhāṣikas lebendig gewesen und sei nicht länger die spezielle Weltanschauung gewisser Kṣatriya-Aristokraten gewesen.56 In der Entwicklung der indischen Philosophie unterscheidet Ruben zwei Richtungen: die wissenschaftliche, die mehr oder weniger materialistisch ist, und die idealistische. Der erstere Entwicklungsstand beinhalte den materialistischen Monismus und den Dualismus des Vaiśeṣika, Nyāya, Sā ṃ khya, den frühen Buddhismus, Jainismus, die Mīmā ṃsā des Vṛttikāra (»Mīmā ṃsā des anonymen ›Kommentators‹«) und auch Yoga. Die Anhänger dieser philosophischen Traditionen hätten an der Existenz und Erkennbarkeit der Welt festgehalten. Die zweite, nicht-wissenschaftliche Richtung beinhalte mehrere Traditionen eines idealistischen Monismus, der die Existenz und Erkennbarkeit der Welt verneinte, nämlich Madhyamaka, der Yogācāra und der Vedānta.57 Die unterentwickelten Naturwissenschaften in Indien formten die Naturphilosophie, denn das fehlende Wissen machte »Ausschweifungen der Fantasie« zu einem gesellschaftlichen Bedürfnis.58 Ferner habe die Unzulänglichkeit der verfügbaren Maschinen, die im Kampf gegen die Natur eingesetzt werden konnten, dem Pessimismus, Fatalismus, Agnostizismus, der Mystik und dem Idealismus Raum zur 53

Vgl. ebd., S. 243 Vgl. ebd., passim, besonders S. 97 – 102, 124 – 127, 155 f., 195 – 198, 235 – 243. 55 Ebd., S. 241. 56 Vgl. ebd., S. 236. 57 Vgl. ebd., S. 235. 58 Vgl. ebd., S. 238. 54



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Entfaltung gegeben. Die ungenügende Gesellschaftsentwicklung habe, gepaart mit Despotismus, zudem zu einer »Erlösungssehnsucht und Erlösungspropaganda, zur irrationalistischen Intuition des Yoga und zum Festhalten am religiösen Dogma«59 geführt. Nachdem wir uns nun mit den drei (zumindest im deutschsprachigen Raum) bekanntesten Periodisierungen beschäftigt haben, möchte ich zu einer weniger bekannten, jedoch keineswegs weniger bemerkenswerten Periodisierung kommen, die von Madeleine Biardeau (1922 – 2010) in ihrer brillanten und exzentrischen Abhandlung »Philosophies de l’Inde« (1969) vorgeschlagen wurde, und außerhalb Frankreichs wenig bekannt zu sein scheint. Biardeau unterteilt die indische Philosophie in drei bzw. eigentlich vier Perioden: 1. Die Herausbildung der Systeme von den Anfängen bis zum Ende des 5. Jhds. n. Chr. (Formation des systèmes des origines à la fin du Ve siècle de notre ère). 2. Die Verdrängung des Buddhismus. Von Dignāga bis Rāmānuja (Ende des 5. bis 11. Jhd.) (Élimination du bouddhisme. De Dignāga à Rāmānuja [fin V e-XI e siècle]). 3. Der Hinduismus auf der Suche nach seiner Philosophie. Von Rāmānuja bis zum 16. Jhd. (L’hindouisme à la recherche de sa philosophie. De Rāmānuja au XVIe siècle).60 Eine vom beginnenden 16. Jahrhundert weiterführende Periode ist nur angedeutet. Biardeau schreibt nur, dass »man sich seit dem 16. Jahrhundert fast nur im Kreis drehe« (»À partir du XVIe siècle on ne fait plus guère que tourner en rond«).61 Im Gegensatz zu Deussens, Frauwallners und Rubens Periodisierung jedoch enthüllt Biardeaus Periodisierung nicht ihre einzigartige Sichtweise auf die indische Philosophie. Ihr Werk in Gänze zu charakterisieren, fällt schwer, aber einige Einflüsse und Tendenzen sind deutlich. Zunächst bemerkt man einen Einfluss von Louis Dumont und seinem Homo Hierarchicus; ferner übernimmt ihre Darstellung häufig die Sichtweise der indischen Tradition selbst und vermischt emische und etische Perspektiven. Drittens scheint ihre besondere Auffassung der Epistemologie in ihrer Gesamtheit von Bhartṛhari, dem sie eine wegweisende Untersuchung widmete,62 59

Ebd., S. 238 f. Vgl. Biardeau, Madeleine: Philosophies de l’Inde. In: Histoire de la philosophie. Hg. v. Brice Parain. Bd. I. Orient – Antiquité. Paris 1969, S. 82 – 247, hier S. 96, 169, 214. Auf Seite 106 erwägt sie die Möglichkeit, die dritte Periode mit Ga ṅgeśa beginnen zu lassen, verwirft sie jedoch wieder, da sie nicht viel vom Navya-Nyāya hält, die »großartige Entwicklung der vedantischen Metaphysik« aber bewundert. 61 Ebd., S. 107. Vergl. jedoch Patils Beitrag in diesem Band: Patil, Parimal: The Historical Rhythms of the Nyāya-Vaiśeṣika Knowledge System. In: Franco (Hg.): Historiography and Periodization of Indian Philosophy, S. 97 – 132. 62 Vgl. Biardeau, Madeleine: Théorie de la connaissance et philosophie de la parole dans le brahmanisme classique. Paris/La Haye 1964. 60

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und vom Vedānta beeinflusst zu sein. Diese drei Punkte werde ich im Folgenden darlegen. Dumonts These, dass es in der kastendominierten indischen Gesellschaft keine Individuen gebe, tritt unter anderem in der folgenden Aussage gleich zu Beginn von Biardeaus Abhandlung klar zutage: »Man ist wohl nie durch persönliche Berufung in Indien Philosoph geworden« (»On n’est probablement jamais devenu philosophe en Inde par vocation personnelle«63). Dumonts These, dass der Weltentsager, indem er außerhalb der Kastengesellschaft steht, sich selbst durchaus als Individuum begreife,64 wird seltsamerweise ignoriert, möglicherweise weil Biardeau der Ansicht ist, dass mit Ausnahme des buddhistischen und jainistischen philosophischen Korpus die gesamte indische philosophische Literatur durch mehr oder weniger orthodoxe Brahmanen geschrieben worden sei. Naturgemäß passen die Materialisten und skeptischen Cārvākas nicht gut in dieses Bild hinein. Biardeau schlägt allerdings vor, dass diese keine eigentlichen Philosophen gewesen seien: »­Einige [Cārvākas] verneinten die Seele, andere die Tatvergeltung.65 […] Waren sie im eigentlichen Sinne Philosophen?« (»Les uns niaient l’âme, les autres la rétribution des actes. […] Étaient-ils à proprement parler des philosophes?«66). Als ein Beispiel von Biardeaus Vermischung der traditionellen indischen Sichtweise mit ihrer eigenen kann man das Klischee anführen, Indien habe keine Geschichte. »Der Gemeinplatz der Indologen, dass das Denken in Indien, wie seine sozialen und ökonomischen Formen, geschichtslos sei und sehr früh erstarrt in seiner Fragestellung und Dialektik, ist vor allem eine Selbstverständlichkeit und Erfordernis des ganzen indischen Denkens, sei es brahmanisch, buddhistisch oder jainistisch« (»Ce lieu commun des indianistes, que la pensée de l’Inde, comme ses formes sociales et économiques, est sans histoire, très tôt figée dans sa problématique et sa dialectique, est avant tout une évidence et une exigence de toute la pensée indienne, brahmanique aussi bien bouddhiste ou jainiste«67).

Zwar wird eine Entwicklung im Regelfall (jedoch nicht ohne Ausnahmen) innerhalb des indischen Denkens verneint, da alles den Rishis der alten Zeit bereits be63

Biardeau: Philosophies de l’Inde, S. 83. Vgl. Dumont, Louis: Le renoncement dans les religions de l’Inde. In: Archives de socio­ logie des religions, 4e Année, 7 (Jan. – Jun., 1959), S. 45 – 69. 65 Ich ergänze Cārvāka aus dem unmittelbaren Kontext: »Ceux que l’on appelle ›matéria­ listes‹ (Cārvāka) et ›mondains‹ (Lokāyata)«. Meines Wissens gibt es keine textuelle Grundlage für eine innere Unterteilung der Cārvāka/Lokāyata-Tradition, die Biardeau durch »les uns […] les autres« vorschlägt. Es ist auch nicht ganz klar, ob sie davon ausgeht, dass sich die Begriffe Cārvāka und Lokāyata auf zwei verschiedene Personenkreise beziehen oder es sich um zwei Bezeichnungen für einen Personenkreis handelt. 66 Biardeau: Philosophies de l’Inde, S. 86. 67 Ebd., S. 83. 64



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kannt gewesen sei und die Anerkennung einer Entwicklung, wenn überhaupt, eine negative ist von Vergessen und Schwinden geistiger Fähigkeiten. Doch kann dies vom Standpunkt moderner Wissenschaft als Gemeinplatz und Selbstverständlichkeit bezeichnet werden?68 Ein paar Seiten später bringt Biardeau eine ähnliche Ansicht vor, doch dieses Mal mit einer Einschränkung. Jedoch kommt die Einschränkung keiner Versicherung gleich, dass dies tatsächlich nicht der Fall gewesen sei. »Indien hatte, mindestens im Bewusstsein, das es von sich selbst hat, weder seinen Sokrates noch seinen Descartes oder Kant. Offensichtlich gibt es eine vollständige Kontinuität und vollkommene Gleichartigkeit vom Anfang bis zum Ende der Geschichte« (»L’Inde n’a eu – au moins dans la conscience qu’elle a d’elle-même – ni son Socrate, ni son Descartes, ni son Kant. Apparemment il y a continuité totale et parfaite homogénéité d’un bout à l’autre de l’histoire«69).

Keine Einschränkung findet sich in der folgenden Aussage, in der Biardeau über Südasien hinaus generalisierend Unveränderlichkeit und Widerstand gegen Wandlung nicht nur für Indien, sondern für »orientalische« Kulturen insgesamt behauptet. Mir ist nicht bekannt, dass Biardeau, die m. W. ihr ganzes Leben lang eine treue Katholikin blieb, jemals Hegel’sche oder Marx’sche Vorstellungen favorisierte, doch die folgende Aussage deutet in diese Richtung. »Die Unbeweglichkeit der orientalischen Gesellschaften muss uns Westlern nicht weiter vor Augen geführt werden, die wir von unserer Geschichte so fasziniert sind.« (»L’immobilisme des sociétés orientales n’est d’ailleurs plus à démontrer pour nous Occidentaux qui sommes fascinés par notre histoire.«70).

Man fragt sich, ob sie vielleicht andeuten wollte, dass an dieser Faszination etwas falsch sei. Trotz solcher Aussagen weiß Biardeau natürlich, dass das indische Denken eine Geschichte hat. Aber die Geschichte sei vor allem dem Vorhandensein des Buddhismus geschuldet gewesen, so als ob brahmanisches Denken in Ruhe gelassen wurde, 68

Dieser »Gemeinplatz« scheint unter französischen Indologen seit Lévis berühmter Bemerkung, Indien habe keine Geschichte, recht verbreitet gewesen zu sein (Lévi, Sylvain: L’Inde et le monde. Paris 21928, S. 13: »L’Inde n’a pas d’histoire.«). Liest man Lévis Bemerkung jedoch im Kontext, wird deutlich, dass er meinte, dass es in Indien keine Geschichtsschreibung, keine Archive, keine Sichtweise auf und kein Bewusstsein von einer eigenen Geschichte gab. Das Missverständnis von Lévis Bemerkung (und sicherlich nicht nur von Seiten Biardeaus – als Student in den späten siebziger Jahren hörte ich es oft und erneut 2003 auf dem Colloque Sylvain Lévi) stammt womöglich von der Uneindeutigkeit des Verbs »haben«, d. h. wenn Lévi sagte, Indien habe keine Geschichte, meinte er eigentlich, Indien sei nicht im Besitz seiner Geschichte oder könne seine Geschichte nicht vorweisen, aber nicht, dass es keine habe. 69 Biardeau: Philosophies de l’Inde, S. 88. 70 Ebd., S. 95.

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keine Geschichte hätte. Die geschichtliche Entwicklung geschah dann auch »unfreiwillig« (»histoire malgré elle«71). Biardeau sieht den Buddhismus als einen entscheidenden Faktor in der Entwicklung der brahmanischen Philosophie, und zwar nicht nur vom 5. bis 6. Jahrhundert n. Chr., sondern von seinen Anfängen an, mit anderen Worten seit der Zeit des Buddha selbst.72 Diese Sichtweise tritt einem auch in ihren ausführlichen Arbeiten zum Mahābhārata entgegen, das ihrer Meinung nach von nur einem Autor verfasst worden sei, und dessen verborgene Bedeutung darin bestanden habe, vonseiten des Brahmanismus einen Gegenangriff gegen die Ausbreitung des Buddhismus einzuleiten.73 Schließlich besitzt Biardeau einige bemerkenswerte Ansichten zur indischen Epistemologie. »Vielmehr kam das brahmanische Denken in der Zeit seiner Herausbildung nie mit einer völlig rationalen Philosophie in Berührung und wohl auch nicht, insofern man die Menge der Fachliteratur heranzieht, die auf uns gekommen ist, mit einer intellektuellen Suche in irgendeinem Bereich, der einem als ›natürlich‹ erschienen war, gemäß den bloßen Fähigkeiten des Menschen« (»La pensée brahmanique au contraire n’a jamais rencontré de philosophie purement rationnelle dans sa période de formation, ni même, probablement, si l’on en juge par l’ensemble de la littérature technique qui nous est parvenue, de recherche intellectuelle dans un domaine quelconque qui se fût présentée comme ›naturelle‹, dépendant des seules capacités de homme.«74).

Logisches Denken spielt anscheinend, jedenfalls nach Biardeau, im indischen Denken nur eine kleine oder gar keine Rolle. »Für den indischen Denker gibt es tatsächlich nicht zwei Erkenntnisgrade, sondern vielmehr zwei verschiedene Bereiche, den sichtbaren und den unsichtbaren, für die er über zwei gleichermaßen angemessene Erkenntnismittel verfügt, nämlich Wahrnehmung und Offenbarung. Das Problem des internen Kriteriums der Erkenntnisgültigkeit (zumindest für den Brahmanismus bis zur Neuen Logik (Navya-Nyāya); man wird sehen, dass die Angelegenheit sich für den Buddhismus seit Dignāga etwas anders darstellt) oder der Suche nach dem ersten Beweis, auf dem man aufbauen 71

Ebd., S. 96, Überschrift. Vgl. ebd., S. 104 f.: »Sur le plan philosophique, l’apparition du bouddhisme est probablement ce qui a tout déclenché. […] Le bouddhisme a donc été indiscutablement un ferment pour toute la pensée indienne. Il a fourni au brahmanism l’aiguillon nécessaire pour que celui-ci se dévloppât au plan conceptuell.« Allerdings zeigt Biardeau keinerlei konkreten buddhistischen Einfluss auf die Herausbildung des Sā ṃ khya oder Vaiśeṣika auf. 73 Vgl. Charles Malamouds Nachruf auf Biardeau in Le Monde vom 16.2.10: »Et ce sont enfin, en 2002, les deux volumes du Mahabharata, où elle expose en détail, avec fougue et allégresse, toute sa doctrine sur le sens de ce texte, sa structure secrète, la fonction qui lui est assignée (par ses auteurs ou plutôt son auteur) de mener une contre-offensive brahmanique face à l’expansion du bouddhisme.« 74 Biardeau: Philosophies de l’Inde, S. 90. 72



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kann, gibt es nicht.« (»Pour le penseur indien, en effet, il n’y a pas deux ordres de connaissance, mais plutôt deux domaines différents, le visible et l’invisible, pour lesquels il dispose de deux moyens de connaissance également adaptés, la perception et la Révélation. Il n’y a jamais de problème du critère interne de la validité de la connaissance (au moins pour le brahmanisme jusqu’à la Nouvelle Logique; on verra que les choses se présentent un peu différemment pour les bouddhistes à partir de Dignāga.), ni de recherche d’une évidence première sur laquelle bâtir.«75).   »Die indische Epistemologie wird sich daher darauf beschränken, die Quellen richtiger Erkenntnis aufzulisten, die pramā ṇas […] So werden Wahrnehmung, die recht eng als direkter Kontakt mit dem externen Erkenntnisobjekt aufgefasst wird, und geoffenbarte Rede die zwei Säulen sein, um die sich die Gesamtheit der Erkenntnis anordnen wird. Schlussfolgerung wird den gegenwärtig wahrgenommenen Bereich erweitern, ohne dem Bekannten wirklich etwas hinzuzufügen.« (»L’épistémologie indienne se bornera donc à recenser les sources de connaissance droite, les pramā ṇas, […] Ainsi la perception, entendue strictement comme contact immédiat avec l’objet externe, et la Parole révélée seront les deux piliers autours desquels s’organisera l’ensemble de la connaissance. L’inférence viendra étendre le domaine actuellement perçu sans rien ajouter réellement au connu.«76).

Während diese Ansicht in der Tat in einigen indischen philosophischen Werken gefunden werden kann,77 ist die tatsächliche Praxis indischer Philosophie von Biar­ deaus Aussage sehr weit entfernt. Man fragt sich, wie Biardeau der Ansicht sein kann, dass Philosophie ohne logisches Denken, das das bereits durch Wahrnehmung Bekannte erweitert, überhaupt möglich sein sollte. Die obige Aussage ist keine vereinzelte Übertreibung, sondern Teil von Biardeaus einheitlicher Darstellung des indischen Denkens als grundsätzlich irrational oder nicht-rational, in dem Vernunft, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle spiele. Zeitweilig ist nicht eindeutig, ob das, was sie schildert, ihre eigene Meinung oder die Selbstwahrnehmung indischer Denker repräsentiert. Beides ist unentwirrbar verbunden: »[…] die blinde Erkenntnis der offenbarten Rede ist schließlich einer direkten Wahrnehmung gleichgesetzt. Auf diese Weise ist jeder Fortschritt in der Erkenntnis, jede historische Perspektive unvorstellbar: alles ist gegeben […] Was nie wahrgenommen oder offenbart wird, existiert überhaupt nicht.« (»[…] la connaissance aveugle de la 75 Ebd. 76

Ebd., S. 91.

77 Biardeaus

Ansicht gründet in der berühmten Bestimmung der Schlussfolgerung im Nyāyasūtra (1.1.5), dass der Schlussfolgerung Wahrnehmung vorausgehe. Doch schon das Nyāyabhā ṣya interpretierte »vorausgehen« in dem Sinne, dass eine Konkomitanz zwischen zwei Entitäten wahrgenommen werden müsse, bevor eine Schlussfolgerung angewendet werden könne.

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Parole révélée est finalement assimilée à une perception directe. C’est ainsi que tout progrès dans la connaissance, toute perspective historique est inconcevable : tout est donné […] ce qui n’a jamais été perçu et n’a jamais été révélé n’existe absolument pas.«78).

Natürlich bestreitet Biardeau nicht, dass es überhaupt Rationalität im indischen Denken gebe: »Aber dass das Konzept von ›Vernunft‹ im indischen Denken nicht vorhanden ist, bedeutet nicht, wie man häufig meint, dass die Brahmanen sich nie anders bequemten eine Wahrheit zu verkünden, als aus der Extase [d. h. Meditation, E. F.] herauszutreten, um sogleich wieder in sie einzugehen. Diese Priester sind Geistliche, die sich wie wir diskursives Denken zunutze machten und von ihren Glaubensüberzeugungen ausgehend rationale Systeme erschufen.« (»Mais que le concept de ›raison‹ soit absent de la philosophie indienne ne signifie nullement, comme on le croit trop souvent, que les brahmanes n’aient jamais consenti à proférer une vérité qu’en sortant de l’extase pour y entrer aussitôt après. Ces prêtres sont des clercs qui font usage comme nous de la pensée discursive et construisent des systèmes rationnels à partir de leurs croyances.«79).

Biardeau weist auf die bekannte Tatsache hin, dass die »menschliche Natur« und die Rationalität, mit der sie im europäischen Denken die Geschichte hindurch in Verbindung gebracht wird, kein großes Thema in der indischen philosophischen Literatur ist. Jedoch erklärt sie dies nicht, wie ich vermutet hätte, mit der Tatsache, dass die Vorstellung vom ātman als Kern alles Lebendigen nicht auf die Menschheit beschränkt ist, sondern verankert dies im Kastensystem und Dumonts Ansicht, dass das Individuum in der indischen Gesellschaft nicht existiere. »Die Vorstellung eines ›menschlichen Wesens‹ setzt voraus, dass der Mensch ein ›Inneres‹ besitzt, eine Verhaltensweise, die (nur) ihm eigen ist und die daher kommt, dass er ein Mensch ist. Sie ist insbesondere an den Glauben an ein rationales Denken universellen Ausmaßes gebunden. Nichts davon in Indien, wo das psycho-physische Individuum keine Existenz außerhalb der Kaste hat, in die es geboren wurde.« (»[L]a notion même de ›nature humaine‹ suppose que l’homme a un ›intérieur‹, une forme de comportement qui lui est propre et qui vient de ce qu’il est homme. Elle est liée en particulier à la croyance en une pensée rationnelle de portée universelle. Rien de tel dans l’Inde, où l’individu psycho-physiologique n’a aucune existence en dehors de la caste où il est né […]«80).

Wenn schon die Periodisierung der indischen Philosophie eine schwierige Aufgabe darstellt, wie viel schwerer wäre da der Versuch einer globalen Periodisierung, die 78

Ebd. S. 91.

80

Ebd., S. 95.

79 Ebd.



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auch Europa und Asien mit einschließt? Und dennoch hat John Plott zusammen mit James Dolin und Paul Mays genau das im ausführlichsten Aufsatz über die Periodisierung der Philosophie im Allgemeinen unternommen.81 Er stellt den ehrgeizigen Versuch dar, Weltphilosophie mit der Weltgeschichte in Einklang zu bringen. In seinem Protest gegen den Vietnamkrieg und Engagement für den Weltfrieden, interkulturelles Verständnis und eine globale Sicht auf Philosophie scheint John Plott ein typischer Vertreter der sechziger Jahre zu sein, doch tatsächlich ist er wohl Ende des ersten Weltkrieges geboren worden.82 Er war Phi-Beta-Kappa-Student an der University of Chicago und promovierte an der Benares Hindu University. Nach ausgedehnten Reisen lehrte er an verschiedenen Institutionen in den USA, hauptsächlich an der Marshall University in Huntington, West Virginia. Bekannt ist er vor allem für die mit Paul Mays gemeinsam verfasste Monographie Sarva-DarśanaSaṅgraha: A Bibliographical Guide to the Global History of Philosophy83 und die fünfbändige Global History of Philosophy.84 Die Publikation der Global History wurde durch Plotts Tod im Jahre 1990 ausgesetzt. Das Projekt sollte durch Wallace Gray fortgeführt werden, der zwar »The Plott Project. An Unfinished Symphony«85, aber keine weiteren Bände der Serie veröffentlichte. Das erklärte Ziel von Plotts Periodisierung86 besteht darin, (1) eine akkuratere und angemessenere Periodisierung zu finden als es die Hegel’sche und post-marxistische waren, (2) die Weltgeschichte der Philosophie enger mit der allgemeinen Weltgeschichte in Beziehung zu setzen und (3) Unklarheiten, die in jeder Periodisierung der Weltgeschichte in Betracht zu ziehen sind, darzulegen und zu klären. Plott und seine Mitarbeiter kommen zu folgendem Ergebnis:

The Axial Age (750 – 250 v. Chr.) The Han-Hellenistic-Bactrian Period (250 v. bis 325 n. Chr.) The Patristic-Sūtra period (325 – 800 n. Chr.) The Period of Scholasticism (800 – 1350 n. Chr.) The Period of Encounters (1350 – 1850 n. Chr.) The Total Encounter (19. und 20. Jhd.)

Vgl. Plott, John / Dolin, James Michael / Hatton, Russell E.: Global History of Philosophy, hg. v. Robert C. Richmond. Bd. 2: The Han-Hellenistic-Bactrian period. Delhi 1989, S. 257 – 303. 82 Plott starb 1990 auf Hawaii. Es war mir nicht möglich herauszufinden, wann er geboren wurde, doch erhielt er seinen B.A. schon 1938. 83 Vgl. Plott, John / May, Paul: Sarva-Darśana-Sa ṅgraha: A Bibliographical Guide to the Global History of Philosophy. Leiden 1969. 84 Bd. 1: The axial age. Bd. 2: The Han-Hellenistic-Bactrian period. Bd. 3: The PatristicSūtra period. Bde. 4 – 5: The period of Scholasticism. 85 Vgl. http://www.sckans.edu/~gray/plott01.html (Stand: 21.4.2017). Grey verfasste auch zusammen mit Plott New Keys to East-West Philosophy. Hong Kong 1977, welches mir leider nicht verfügbar war. 86 Vgl. Plott et al.: Global History, S. 257. 81

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Hier ist nicht der Ort diese Periodisierung im Detail zu diskutieren. Die vielen Probleme, insbesondere in Bezug auf Indien, sind allzu deutlich. Sie ist jedoch aus zumindest zwei Gründen anerkennenswert: Sie ist ein Versuch, Perioden unter Einbeziehung nicht nur philosophischer Ideen, sondern aller Kulturfaktoren aufzustellen, und sie versucht, eine eurozentrische Sicht, die allzu oft der restlichen Welt übergestülpt wurde, zu vermeiden. Trotz aller Unzulänglichkeiten kann sie als Bemühung betrachtet werden, Sektierertum zu vermeiden und sich des Pluralismus zu erfreuen. In gewisser Weise ist die Periodisierung von Plott et al. das genaue Gegenteil von Rubens Periodisierung. Während Ruben (nach Marx) die Geschichte der Philosophie mit der allgemeinen Geschichte in Einklang zu bringen versucht, teilen Plott et al. die allgemeine Geschichte nach der Phi­lo­so­phie­geschichte ein.87 Zwei Aussagen des langen Aufsatzes sollten noch erwähnt werden: die eine ist offensichtlich falsch, es sei denn wir fassen den Begriff »historicize« sehr eng, die andere ist m. E. korrekt, wenn man den Begriff Metaphysik recht weit fasst: »Without periodization we cannot historicize at all«88 und »We must have metaphysics behind any possible science of periodization«89. Zwar ist es einfach, die oben genannte Periodisierung als problematisch oder nicht überzeugend zu deklarieren, es stellt sich aber die Frage, ob es besser geht. Ich habe ebenfalls meine eigene Periodisierung vorgeschlagen, wonach die indische Philosophie in drei große Perioden eingeteilt wird: vor, während und nach der Interaktion zwischen den buddhistischen und brahmanischen philosophischen Sys­ temen.90 Mit anderen Worten sind das die Periode bis zu Dignāga, die Periode von Dignāga bis Udayana und die Periode des Navya-Nyāya. Die erste Periode könnte man ontologische Periode nennen. Sie reicht etwa bis zum 4. Jahrhundert n. Chr., wobei die Anfänge unklar sind.91 Danach ist die indische Philosophie in ontologi87

Ebd.: »[…] it could be asserted that from about 500 B. C. or so to the present the real key to everything else is the periodization of the world history of philosophy in preference to, although not divorced from, all other aspects of culture and civilisation.« 88 Ebd. 89 Ebd., S. 260. 90 Ich möchte gleich anmerken, dass ich hier keine größere Originalität beanspruche. Die Gemeinsamkeiten mit Biardeaus Periodisierung sind offensichtlich, obgleich sich unsere Sichtweisen auf die indische Philosophie stark unterscheiden. Gewisse Gemeinsamkeiten klingen auch bei Vidyabhusanas Einteilung der indischen Logik in alte, mittelalterliche und moderne Schulen an, obwohl sein Augenmerk ja auf indischer Logik und nicht Philosophie im Allgemeinen liegt; siehe Vidyabhusana, Satis Chandra: A History of Indian Logic. Calcutta 1920. Interessanterweise sei es ebenfalls sinnvoll, wie mir ein Kollege aus der Sinologie sagte, die chinesische Philosophie nach diesem Prinzip einzuteilen, also die Zeit vor der Einführung buddhistischen Denkens nach China usw. 91 Selbst wenn man sich einig wäre, was als Philosophie betrachtet werden kann und was nicht, wären die Anfänge philosophischer Traditionen wie Vaiśeṣika oder Sā ṃ khya nicht datierbar.



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schen Fragestellungen nicht mehr schöpferisch. Der Dualismus des Sā ṃ khya, der Atomismus des Vaiśeṣika und der Idealismus des Vedānta sind bereits vorhanden. Auf buddhi­s­tischer Seite sind Sarvāstivāda (und Sautrāntika, falls es sich hierbei jemals um eine Schule handelte), Theravāda, Madhyamaka und Yogācāra schon voll entwickelt. Überspitzt formuliert besteht die einzige ontologische Entwicklung in der Einbindung der Vorstellung von Gott in die Metaphysik des Sā ṃ khya. Die zweite Periode kann man epistemologische Periode nennen. Der Einfachheit halber kann man sie mit Dignāga beginnen lassen, obwohl eine Interaktion und gegenseitige Kritik zwischen brahmanischen und buddhistischen Philosophen schon für mindestens ein oder zwei Jahrhunderte früher festgestellt werden können.92 Des Weiteren exis­tierten viele wichtige epistemologische Entwicklungen (die trairūpya-Theorie, die Verbindung von Schlussfolgerung und Beweisführung und die Unterscheidung von svārthānumāna und parārthānumāna) bereits zu Vasubandhus Zeit, wenn nicht sogar früher. Auf der anderen Seite gibt es gute Gründe anzunehmen, dass diese Periode eigentlich mit Kumārila und Dharmakīrti beginnt, da ihre Werke für die Zeit vom 7. bis zum 11. Jhd. von viel größerer Relevanz sind. Meiner Ansicht nach handelt es sich hier um die goldene Zeit der indischen Philosophie, die von der dauerhaften Auseinandersetzung zwischen den Buddhisten von Dharmakīrtis Schule und den Naiyāyikas und Mīmā ṃsakas dominiert ist, wobei Jainas, Vedāntins und Śaivas (insonderheit Abhinavagupta) Nebendarsteller waren. Die dritte Periode ist durch die Entwicklung des Navya-Nyāya und das Verschwinden des Buddhismus von der Bühne der indischen Philosophie charakterisiert. In dieser Periode wird der Fachwortschatz des Navya-Nyāya allmählich in alle lebendigen philosophischen Traditionen Südasiens eingeführt, insbesondere in die Mīmā ṃsā, den Vedānta und den Jainismus. Ist diese Periodisierung besser, überzeugender, weniger ideologisch oder weniger voreingenommen als die oben dargestellten? Sind wir nicht genauso voreingenommen wie unsere Vorgänger und gleichermaßen blind gegenüber unseren Vorurteilen und Vorlieben? Oder sollten wir gar jegliche Bemühung einer periodischen Einteilung aufgeben und bestimmen, dass eine Periodisierung unmöglich, unpraktisch und vielleicht sogar sinnlos und nicht wünschenswert ist? Sind alle Periodisierungen gleichermaßen falsch oder stehen manche der Wahrheit näher als andere? Können wir einem Relativismus entkommen, nach dem jede Hypothese in gleicher Weise angemessen ist, bzw. einem Skeptizismus, nach dem sie alle unhaltbar sind? 92

Eine frühe Interaktion zwischen buddhistischen und brahmanischen Philosophen beginnt schon im dritten Jahrhundert v. Chr., wie man z. B. im Nyāyasūtra oder in dem Āryadeva zugeschriebenen Werk beobachten kann. Die Natur und Intensität dieser Interaktion ändert sich jedoch mit Dignāga. Siehe auch McCrea, Lawrence: The Transformations of Mīmā ṃsā in the Larger Context of Indian Philosophical Discourse. In: Franco (Hg.): Historiography, S. 133 – 148.

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Letztendlich sind Skeptizismus und Relativismus in der Tat unvermeidbar. Offensichtlich verfügen wir über keine einzige wohldefinierte Methode oder endgültige Sichtweise in der Erforschung anderer Kulturen und übrigens auch unserer eigenen Kultur. Vielleicht können wir nur versuchen, uns unser selbst bewusst zu werden. Ich meine damit etwas, das Wilhelm Halbfass so ähnlich über die hermeneutische Situation des 20. Jahrhunderts und die Anforderung an eine vergleichende Philosophie sagte.93 Tatsächlich ist der Umgang mit anderen Kulturen eine zutiefst vergleichende und dialogische Unternehmung. Selbstverständlich setzt jede Periodisierung eine gewisse Sichtweise voraus,94 und mit jeder Sichtweise ändert sich die Periodisierung. Und in je höherem Maße Sichtweisen vorgeschlagen werden, als desto geringer erscheint die Wichtigkeit und Rele­ vanz einer Periodisierung. In On Being and What There Is schreibt Halbfass: »We do not know whether the question of being is meaningful.«95 Dabei war er aufrichtig besorgt über die Aussicht, was wohl mit der Philosophie geschähe, sollte diese Frage verschwinden. Wir mögen uns gleichfalls fragen, was wohl mit der Historiographie der indischen Philosophie geschähe, sollte der bloße Gedanke einer Periodisierung irrelevant, obsolet oder sinnlos werden.

Siehe insbesondere Halbfass: India and Europe, 1988, 164 f. und 432 f. der von mir vorgeschlagenen Periodisierung wird nicht nur eindeutigerweise die Wichtigkeit der Ontologie und Epistemologie für die indische Philosophie vorausgesetzt, sondern überhaupt auch die Möglichkeit, beide voneinander zu scheiden. Nähme man z. B. Ethik oder Sprachphilosophie als Schwerpunkte, sähe die Periodisierung ganz anders aus. 95 Halbfass, Wilhelm: On Being and What There Is. Albany 1992, S. vii. 93

94 In

Aspekte chinesischer Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Hans-Georg Möller und Sun Weixian

1. Zur Vorgeschichte: Geschichte und Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung im vormodernen China

Das Hauptthema dieses Aufsatzes ist die Entstehung und Entwicklung einer akademisch verankerten modernen chinesischen Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung des 20. Jahrhunderts im chinesischen Sprachraum. Da wir uns hierbei auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts beschränken, ist es sinnvoll, uns auf mainland China zu konzentrieren und nicht weiter auf Hong Kong, Taiwan oder Macau einzugehen, wo wichtige Arbeiten zur chinesischen Phi­lo­so­phie­geschichte meist erst später erschienen sind. Die thematische Einschränkung auf moderne akademische Phi­lo­so­phie­ geschichts­schrei­bung soll nun keinesfalls implizieren, dass es keine vormoderne chinesische Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung gegeben hätte. Während einerseits die professionelle akademische Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in China genau wie überall sonst auch eng mit der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung eines Bildungs- und Wissenschaftssystems im Sinne Luhmanns1 zu tun hat und insofern ein spezifisch modernes Phänomen ist, gibt es anderseits eine ebenso dynamische wie lange Geschichte chinesischer Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in einem weiteren Sinne. Zu dieser traditionellen chinesischen Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung einleitend einige allgemeine Bemerkungen, ohne dabei den Anspruch zu erheben, dieses Thema auch nur ansatzweise zu erschöpfen. Innerhalb der chinesischen Schriftkultur, die bereits in der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends v. u. Z. komplexe und umfangreiche Texte produzierte, hat die historische Literatur von jeher eine zentrale Rolle gespielt. Historische Texte wurden nicht nur in großer Vielzahl verfasst, sondern hatten auch stets ein sehr hohes gesellschaftliches, politisches und kulturelles (und oft quasi-religiöses) Pres­ tige. Dies illustrieren beispielsweise die Frühlings- und Herbstannalen (Chunqiu 春秋). Hierbei handelt es sich um eine Chronik des Staates Lu, die wahrscheinlich im 5. Jahrhundert v. u. Z. kompiliert wurde. In der westlichen Han-Dynastie (206  v. u. Z. – 9  n. u. Z.) wurde sie zu einer der sogenannten Fünf Klassischen Schriften (wu jing 五經) erklärt, die den offiziell sanktionierten grundlegenden Bildungskanon darstellten. Die Autorschaft des Textes wurde nun Konfuzius zugeschrieben, was die Autorität des Werkes deutlich indiziert. Ebenfalls in der westlichen 1

Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1992.

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Han-Dynastie wurden die Annalen des Historikers (Shiji 史記) verfasst, eine äußerst umfangreiche Gesamtdarstellung der Geschichte Chinas, die zum Modell der Vierundzwanzig Dynastiegeschichten (Ershisi Shi 二十四史) wurde, welche gewissermaßen als Fortsetzungen des Shiji eine staatlich organisierte und institutionalisierte Geschichtsschreibung manifestieren, die fast zwei Jahrtausende lang betrieben wurde. Frei nach Michel Foucault kann man der institutionalisierten Geschichtsschreibung im China der Kaiserzeit, und wohl auch zumindest im Ansatz der noch wenig institutionalisierten Geschichtsschreibung einige Jahrhunderte davor, die Funktion einer »Ordnung der Dinge« zuschreiben. Sie hatte unter anderem folgende Bedeutungen: 1. die Konstruktion historischer Autorität oder »Altehrwürdigkeit« von Sitten, Normen, Zivilisationsräumen, Sippenverbänden, politischen Strukturen usw.; 2. eine historische Sinnkonstruktion durch Unterscheidungen zwischen vorher und nachher, Aufstieg und Fall, Gut und Böse, Orthodoxie und Heterodoxie usw., welche u. a. temporale und ethische Strukturen etablieren und legitimieren konnten, und 3. eine generelle Einteilung der Welt und der Gesellschaft in Form von oft tabellarischen oder kompilatorischen Katalogisierungen, Klassifizierungen und Archivierungen, die konkret einen Großteil der historischen Werke ausmachen. Die wichtige gesellschaftspolitische und kulturelle Rolle der Geschichtskonstruktion spiegelt sich auch sehr deutlich in den altchinesischen philosophischen Texten wider, und zwar sowohl inhaltlich als auch rhetorisch. Die Erzählung von Geschichte kann durchaus als eine zentrale Methodik der Philosophie des Altertums bezeichnet werden. Dies trifft insbesondere, aber keinesfalls ausschließlich, auf die konfuzianische Tradition zu. In den diese Tradition definierenden altchinesischen Texten wie den Gesprächen des Konfuzius (Lunyu 論語) oder dem Menzius (Mengzi 孟子) wird die Illustration von idealer gesellschaftlicher Ordnung und zu vermeidender Unordnung oft anhand von (pseudo-)historischen Beispielerzählungen vorgenommen. Dem historischen Ereignis als solchem wird häufig mehr Raum gewidmet als der »abstrakten« Argumentation. Vielleicht noch wichtiger für die philosophische Methodik ist, dass auf diese Weise positive und negative historische Vorbilder gebildet werden, die zu einem wichtigen Element ethischer Didaktik und der »Kultivierung der Person« werden. Philosophie ist, so verstanden, eine Praxis der Emulation und wird zu einer Art role model ethics, wie man in Anlehnung an das von Roger Ames vorgeschlagene Konzept einer konfuzianischen role ethics wohl sagen kann.2 Dementsprechend dienten Texte wie das Lunyu und der Mengzi auch dazu, ihre jeweiligen Protagonisten, also Konfuzius und Menzius, durch die (pseudo-)historische Aufzeichnung des Lebens und Wirkens dieser sogenannten »Meister« (zi 子) als historische role models zu etablieren. 2

Ames, Roger T.: Confucian Role Ethics: A Vocabulary. Honolulu 2011.



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So gesehen waren Geschichtsschreibung und Philosophie im chinesischen Altertum von jeher eng verknüpft und in gewisser Weise mehr oder weniger von Anfang an direkt oder indirekt jeweils auch Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung. Die Schreibung von Geschichte widmete sich immer auch den philosophischen Meistern, und die Meister schrieben oder konstruierten immer auch Geschichte. Von daher ist es wenig verwunderlich, dass das bereits genannte Shiji an sehr prominenter Stelle, nämlich im Vorwort, eine Art philosophiegeschichtliche Auflistung von »sechs Schulen« (liu jia 六家) der Weisen oder Denker enthält. Diese kurze Übersicht über verschiedene Philosophien des Altertums war von herausragender Bedeutung und kulturgeschichtlichem Einfluss, und die getroffene Klassifizierung hat mehr oder weniger bis heute Bestand. Sie ist jedoch keineswegs die einzige oder älteste solche Klassifizierung. Um nur ein weiteres bedeutendes Beispiel zu nennen: Das bemerkenswerte Abschlusskapitel im Buch Zhuangzi 莊子 (3. Jhdt. v. u. Z.?), welches mit »Unter dem Himmel« oder »In der Welt« (tianxia 天下) betitelt ist, stellt eine recht ausführliche – aber auch ironische – Übersicht über »100 Schulen« (bai jia 百家) von Denkern dar. Auch wenn dort in der Tat nur sechs Gruppen von »Weisen« vorgestellt werden, hat sich der Begriff bai jia bis in die Gegenwart hinein nicht nur als Sammelbezeichnung für die Philosophen des chinesischen Altertums gehalten, sondern bezeichnet auch allgemein Gedankenvielfalt. Über solche Darstellungen hinaus finden sich oft kritische (pseudo-)historische Verweise auf andere Denker und Schriften sehr häufig in den Texten des Altertums. Vieles, was an Zitaten oder biografischen Angaben zu Philosophen des chine­sischen Altertums bekannt ist, ist nur indirekt durch Bemerkungen in Texten anderer überliefert – ganz ähnlich wie ja auch bei vielen altgriechischen Philosophen und insbesondere bei den Vorsokratikern. Außerdem sind eine Vielzahl von philosophiehistorischen Informationen in den zahlreichen Katalogisierungen von Werken der Meister sowie in Anthologien und Sammelwerken aus der Kaiserzeit zu finden. Das »Studium der Meister« (zi xue 子學) stellte eine eigene Bildungskategorie dar. In späteren Zeiten wurden auf Dynastien bezogene Kompilationen verfasst. Besonders bekannt sind das »Kompendium der Konfuzianer der Song- und YuanDynastie« (Song Yuan Ru Xue’an 宋元儒學案) und das »Kompendium der Konfuzianer der Ming-Dynastie« (Ming Ru Xue’an 明儒學案) von Huang Zongxi 黃 ­ 宗羲 (1610 – 1695). Schriften, die die Genealogien der Weitergabe von Weisheit oder Heiligkeit (lineage) im Buddhismus, Daoismus und im Konfuzianismus dokumentieren, können gleichfalls als eine Art von vormodernen Werken zur Phi­lo­so­phie­ geschichte verstanden werden. Ähnlich wie in der Geschichtsschreibung überhaupt kommen der vormodernen Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung die folgenden Funktionen zu: Konstruktion von Autorität durch Altehrwürdigkeit, Konstruktion von Sinn und Ordnung durch Unterscheidungen (von Lehrmeinungen, Verhaltensweisen, zeitlicher Abfolge, Auf-

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stieg und Niedergang usw.) sowie Konstruktion von Kontinuität durch Darstellung von Übermittlungslinien und zyklischen Erneuerungsvisionen. Der locus classicus zur Vorstellung eines zyklischen Erneuerungsrhythmus der (konfuzianischen) Philosophie, der sich bemerkenswerterweise wiederum an historischen role models orientiert, ist im letzten Abschnitt des Buches Mengzi (7B: 38) zu finden. Hier heißt es: »Menzius sprach: ›Von Yao und Shun bis auf Tang waren’s über fünfhundert Jahre. Ein Yu und ein Gao Yao haben sie gesehen und erkannt. Tang hat von ihnen gehört und sie erkannt. Von Tang bis auf den König Wen waren’s über fünfhundert Jahre. Ein Yi Yin und Lai Zhu haben ihn gesehen und erkannt; ein König Wen hat von ihm gehört und ihn erkannt. Von König Wen bis auf den Meister Kong waren’s über fünfhundert Jahre. Ein Tai Gong Wang und San Yi Sheng haben ihn gesehen und erkannt. Meister Kong hat von ihm gehört und ihn erkannt. Von Meister Kong an bis heute sind’s etwas über hundert Jahre. So nahe sind wir noch der Zeit des Heiligen, und so benachbart sind wir dem Ort, wo er geweilt. Und dennoch sollten wir nichts von ihm besitzen, ja, wirklich nichts von ihm besitzen?‹«3

Die Kommentatoren dieser Stelle weisen in der Regel darauf hin, dass Menzius mit dem Schlusssatz indirekt zu verstehen gibt, dass er sich selbst als den legitimen Fortführer der konfuzianischen legacy begreift.

2. Rahmenbedingungen, Aufgaben und Anfänge der modernen chinesischen Geschichtsschreibung

Die Entwicklung der modernen Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in China vollzieht sich im Kontext eines radikalen gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, der direkt mit dem Imperialismus und der damit verbundenen Globalisierung oder, wie man auch sagen kann, mit dem Übergang zur Weltgesellschaft verbunden ist. In dieser Zeit findet eine völlige Umformung der chinesischen Sprache statt. Die Schriftsprache wird weitgehend durch die nun verschriftlichte Umgangssprache ersetzt. Ein neues Vokabular, oft angelehnt an westliche Sprachen, bildet sich heraus, und neue Medien, vor allem Zeitschriften, aber auch moderne Buchformen, verbreiten sich schnell. Gesamtgesellschaftlich vollzieht sich ein radikaler Wandel hin zu, mit Niklas Luhmann gesprochen, »funktionaler Differenzierung«. Ein modernes Politik- und Wirtschaftssystem entstehen ebenso wie ein modernes Erziehungs- und Wissenschaftssystem. Moderne Universitäten werden gegründet. Wilhelm, Richard: Meng Zi. Die Lehrgespräche des Meisters Meng K’o. Berlin 2016, S. 210 f. (Transkription aktualisiert) 3



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Die Übernahme moderner westlicher Semantiken und Gesellschaftsstrukturen, insbesondere im akademischen Bereich, geschieht vornehmlich indirekt über Japan, was durch den zum Teil gemeinsamen Schriftzeichengebrauch im Japanischen und Chinesischen leichtgemacht wird. Japan weist gegenüber China zudem einen kurzen, aber entscheidenden Modernisierungsvorsprung auf, so dass viele gesellschaftliche und sprachliche Neuerungen von dort nach China gelangen. Zudem diente Japan um die Jahrhundertwende als Zufluchtsort für chinesische Eliten und insbesondere für Intellektuelle und politische Reformer, die vor konservativen Antimodernisierungswellen in China flüchteten. Durch Japan vermittelte semantische und strukturelle Aneignungen im Bereich der Philosophie sind zunächst einmal die Kategorie der Philosophie selbst (japanisch tetsugaku, chinesisch zhexue 哲學) sowie viele philosophische Begriffe aus der Metaphysik, der Ethik, der politischen Philosophie usw. Außerdem wird der traditionelle Kanon westlicher philosophischer Texte ebenso übersetzt wie auch viele Texte populärer zeitgenössischer Denker. Philosophische Textformen werden übernommen; dies betrifft u. a. die Erstellung philosophischer »Systeme«, die Betonung individueller Autorschaft und die Diskussion philosophischer Probleme in Zeitschriften. Innerhalb des entstehenden modernen Universitätssystems wird die Philosophie als ein zentrales geisteswissenschaftliches Fach etabliert. Dementsprechend gibt es bald schon professionelle Philosophen, die als Philosophieprofessoren vom Staat angestellt und bezahlt werden. In all diesen Dingen liefert Japan China die Vorbilder. Innerhalb der so entstehenden akademischen Philosophie wird die Konstruktion einer chinesischen Philosophie als Teil einer Weltphilosophie (neben westlicher und indischer Philosophie) schnell zu einer Hauptaufgabe. Dies geschieht vornehmlich durch eine »Übersetzung« traditioneller Texte, insbesondere derjenigen der Meis­ ter, in einen modernen philosophischen Rahmen. Neue Interpretationen in einer neuen philosophischen Fachsprache werden nötig. Neue Kontexte müssen erarbeitet werden, die eine Philosophie als solche in einen umfassenderen historischen und kulturellen Entwicklungsrahmen einordnen. Neue Institutionen wie philosophische Institute und Publikationsorgane müssen gegründet werden. Bei der Herausbildung einer chinesischen Philosophie im engeren, modernen Sinne kommt der Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung eine ganz zentrale Rolle zu. Der mehr oder weniger hegelianische Gedanke, dass Philosophie wesentlich darin besteht, sich die eigene Geschichte bewusst zu machen, hat einen großen Einfluss auf die Entstehung der modernen chinesischen Philosophie. Der Leitgedanke dabei ist, dass eine Phi­lo­so­phie­geschichte rekonstruiert werden muss, um eine wirk­ liche Philosophie zu haben. Der Sinologe John Makeham hat dies sehr deutlich erkannt und beschrieben. Einerseits betont er: »The Hegelian or nineteenth-century concept of philosophy as a unified historical process had a profound impact in

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China.«4 Und andererseits hebt er zutreffenderweise hervor: »For much of the twentieth century the writing of histories of Chinese philosophy and the ongoing elaboration, refinement, and re-telling of those histories were instrumental in defining and sustaining the development of the discipline of Chinese philosophy.«5 Die ersten modernen chinesischen Phi­lo­so­phie­geschichten, die zu akademischen Zwecken erstellt wurden, waren, dem gerade geschilderten Modernisierungsprozess entsprechend, in Japan verfasst worden. Auch dies hat John Makeham bereits eingehend dokumentiert: »From the 1880s Meiji historians had begun to write national histories for both China and Japan, many of which were translated and adopted for use in China as textbooks. In this process the model of the general history came to displace that of the dynastic history.«6 Es ist bemerkenswert, aber wenig überraschend, dass die japanischen Gelehrten wiederum ihre Vorstellungen von Phi­lo­so­phie­geschichte aus einigen, die moderne Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung mitbegründenden Werken deutscher Autoren abgeleitet hatten. Makeham schreibt: »Japanese scholars had already produced a number of general histories of Chinese philosophy. Their model for the writing of general histories was provided by nineteenth-century publications by German scholars such as Wilhelm Gottlieb Tenne­ mann (1761 – 1819), Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831), Heinrich Ritter (1791 – 1869), Albert Schwegler (1819 – 1857), Albert Stöckl (1823 – 1895), and Wilhelm Windelband, among others.«7

Somit ist es sicherlich nicht ganz falsch zu sagen, dass die moderne chinesische Phi­ lo­so­phie­geschichts­schrei­bung ihren Ursprung teilweise in Deutschland hat. Die erste von einem Chinesen verfasste allgemeine Phi­lo­so­phie­geschichte Chinas ist schließlich die von Xie Wuliang 謝無量 (1884 – 1964) verfasste und 1916 in Peking veröffentlichte Geschichte der chinesischen Philosophie (Zhongguo zhexue shi 中國哲學史).8 Xie hatte von 1903 bis 1904 in Japan studiert. Ein weiteres frühes Manuskript, das ebenfalls 1916 entstand, stammt von Chen Fuchen 陈黻宸 (1859 – 1917) und trägt denselben Titel wie Xies Buch: Geschichte der chinesischen Philosophie (Zhongguo zhexue shi 中國哲學史). Texte wie diese gingen in der Regel aus Vorlesungen hervor. Chen Fuchen war Professor an der 1898 als Kaiserliche Universität gegründeten Universität Peking.9 Makeham, John: Introduction. In: Learning to Emulate the Wise: The Genesis of Chinese Philosophy as an Academic Discipline in Twentieth-Century China. Hg. v. John Makeham. Hong Kong 2012, S. 1 – 38, hier S. 9. 5 Makeham, John: Hu Shi and the Search for System. In: Learning to Emulate the Wise, S. 163 – 186, hier S. 165. 6 Ebd., S. 167. 7 Ebd., S. 166. 8 Ebd. 9 Ebd. 4



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Im Anschluss an diese Bemerkungen zur »Vor- und Frühgeschichte« der chinesischen Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung will ich mich im Folgenden mit drei exemplarischen Persönlichkeiten beschäftigen, deren Biografien und Schriften sehr unterschiedliche Auseinandersetzungsformen mit der chinesischen Philosophie repräsentieren. Alle drei Personen waren auf ihre je eigene Weise sehr einflussreich und haben nicht nur die chinesische Geschichtsschreibung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt, sondern auch weite geistesgeschichtliche Schatten geworfen, die bis in die Gegenwart reichen.

2.1  Hu Shi 胡適 (1891 – 1962)

Hu Shi war einer der ersten Auslandsstudenten aus der neugegründeten chinesischen Republik, die in den USA studieren konnten. Zunächst absolvierte er ein BA-Studium an der Cornell University in Landwirtschaft und dann auch in Literatur und Philosophie, um schließlich an der Columbia University in New York unter John Dewey ein Promotionsstudium zu beginnen. Nach seiner Rückkehr nach China wurde er bereits im Jahre 1917 Philosophieprofessor an der Universität Peking. Hier war er aktiv an der Herausgabe der einflussreichen revolutionären Zeitschrift Neue Jugend (Xin Qingnian 新青年) beteiligt und an der damit eng verbundenen »Bewegung des 4. Mai« (1919) sowie der »Bewegung für eine neue Kultur«. Beide Bewegungen, die im Wesentlichen von städtischen Studenten und Intellektuellen getragen wurden, setzten sich erfolgreich für umfangreiche gesellschaftliche und kulturelle Modernisierungen ein und insbesondere für die bereits angesprochene Schriftreform. Hu Shi war ein Mitorganisator der einflussreichen und ausgedehnten Chinareise seines Lehrers John Deweys, die von 1919 bis 1921 dauerte. In der chinesischen Republikzeit war Hu eine wichtige Persönlichkeit des öffentlichen Lebens und sein Karriereweg führte ihn über die Universität hinaus. Von 1938 bis 1942 war er chinesischer Botschafter in den USA. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er nach China zurück und war unter der nationalchinesischen Regierung von 1946 bis 1948 Rektor der Universität Peking. Hu emigrierte dann wieder in die USA und ging somit der kommunistischen Machtübernahme aus dem Wege. 1958 übersiedelte er nach Taiwan, wo er Präsident der Academia Sinica wurde, der bis heute prestigeträchtigsten akademischen Institution Taiwans. Hu Shi verfasste als junger Professor an der Peking Universität eine der ersten chinesischsprachigen chinesischen Phi­lo­so­phie­geschichten, die Übersicht über die Geschichte der chinesischen Philosophie (Zhongguo zhexue shi dagang 中國哲學 史大綱). Deren erster Band erschien im Jahre 1919 in Shanghai und beschränkt sich auf das chinesische »Altertum«, das Hu mit dem Beginn der Han-Dynastie gegen

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Ende des 3. Jahrhunderts v. u. Z. enden lässt. Die geplanten Folgebände wurden nie verfasst. Der Text des Buches ging aus Hus Vorlesungen an der Universität Peking hervor und baut auf seiner Dissertationsschrift auf, die er im Jahre 1917 an der Columbia University eingereicht hatte und die den Titel The Development of the Logical Method in Ancient China trug. Hus Phi­lo­so­phie­geschichte stellt, wie bereits in den oben genannten traditionellen Texten zur chinesischen Phi­lo­so­phie­geschichte angelegt, eine Schulenvielfalt von Denkern dar: Konfuzianer, Mohisten, Daoisten und »Logiker« werden recht aus­f ührlich behandelt. Wie der Titel seiner englischsprachigen Dissertation besagt, ist Hu darum bemüht, die Geschichte einer altchinesischen »Logik« (mingxue 名學) zu rekonstruieren, welche er insbesondere bei Xunzi 荀子 findet. So versucht Hu die Rationalität und die dynamische Entwicklung des frühen chinesischen Denkens aufzuzeigen, wodurch dessen Modernitätspotenzial aufgedeckt werden soll. Die Arbeit weist in ihrem Anspruch, eine »genetische Methode« anzuwenden, einen direkten Einfluss John Deweys auf und folgt in ihrer allgemeinen Methodik Wilhelm Windelband. John Makeham zeigt überzeugend auf, dass Hu Shi wesentliche Elemente der genetischen Methode Deweys offenbar missverstanden hat. Makeham hebt hervor, dass Dewey mit dieser Methode in Anlehnung an Darwins Evolutionstheorie über einfache Ursache-Wirkung-Schemata hinausgehen und auch im Bezug auf die Geis­tesgeschichte komplexe Wandlungs- und Entwicklungsprozesse herausarbeiten wollte, die nicht rein kausallogisch zu erklären sind: »Dewey had credited Darwin’s theory of the origin of the species as freeing-up a new logic – one no longer constrained by a teleology or by immutable or absolute truths – that could be applied to morality and values. In particular, he understood this ›new logic‹ to refer to ›process‹ and ›enabling conditions‹ rather than cause and effect.«10

Genau dieser Intention zuwiderlaufend, so scheint es, wollte Hu jedoch die genetische Methode vor allem als Mittel zur Identifikation von Kausalketten verstanden wissen: »Whereas for Dewey, the genetic or historical method was concerned with identifying ›process‹ and the conditions/circumstances under which something comes into existence, Hu’s (mis-)understanding of Dewey’s notion of genetic method led him to conceive of historical change as involving isolatable chains of causes and effects.«11

Hu selbst spricht eben dieses Ziel recht unmissverständlich aus:

10 11

Ebd., S. 170. Ebd., S. 171.



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»I have always sought to find the cause and effect of every single thing and institution rather than regard them as autonomous things lacking any trace of where they have come from or where they go to. This attitude is the historical attitude […] The historical attitude is an important element in pragmatism.«

Dass Hu sich mit seiner so verstandenen historischen Kausalmethodik direkt auf Deweys Pragmatismus bezieht, erscheint in der Tat als etwas problematisch. Hu Shi geht es in seiner Phi­lo­so­phie­geschichte jedoch nicht allein um die Sichtbarmachung von Kausalitätsketten, sondern um mehr. Im Vorwort zu seiner Übersicht über die Geschichte der chinesischen Philosophie stellt er klar, dass er insgesamt drei methodische Ziele verfolgt, nämlich eine »Sichtbarmachung des Wandels« (ming bian 明變), die historische Entwicklungen und insbesondere Fortschritte aufzeigen soll, eine »Ergründung der Ursachen« (qiu yin 求因), die die Ursachen fortschrittlicher Entwicklungen identifizieren soll, und schließlich das »Abgeben einer kritischen Beurteilung« (ping pan 評判), welches zu einer »objektiven« (in einem pragmatischen Sinn) Bewertung der Veränderungen und der erreichten Fortschritte kommen soll. Wie John Makeham schlüssig zeigt,12 entsprechen diese drei Zielvorstellungen Hus ziemlich genau den von Wilhelm Windelband (dessen Werk Geschichte der Philosophie in der Bibliografie zu Hus Übersicht über die Geschichte der chinesischen Philosophie enthalten ist) formulierten philosophiegeschichtlichen Absichten. Windelband bestimmt die Aufgaben der philosophiegeschichtlichen Forschung so: »1) genau festzustellen, was sich über die Lebensumstände, die geistige Entwicklung und die Lehren der einzelnen Philosophen aus den vorliegenden Quellen ermitteln lässt; 2) aus diesen Thatbeständen den genetischen Prozess in der Weise zu reconstruieren, dass bei jedem Philosophen die Abhängigkeit seiner Lehren theils von denjenigen der Vorgänger, theils von den allgemeinen Zeitideen, theils von seiner eigenen Natur und seinem Bildungsgange begreiflich wird; 3) aus der Betrachtung des Ganzen heraus zu beurtheilen, welchen Werth die so festgestellten und ihrem Ursprunge nach erklärten Lehren in Rücksicht auf den Gesamtertrag der Geschichte der Philosophie besitzen.«13

Wendet man diese Kriterien philosophiehistorischer Analyse und Kritik rückwirkend auf Hu Shi selbst an, kann man sagen, dass er eine Kernsemantik moderner Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung auf die chinesische Tradition projiziert, indem er Begriffe wie Logik, Vernunft, Entwicklung, Fortschritt usw. adaptiert. Er tut dies, indem er Dewey und Windelband direkt folgt (oder kopiert), und dies geschieht im Rahmen eines gesamtgesellschaftlichen Modernisierungs- und Globalisierungspro12

13

Ebd., S. 176. Windelband, Wilhelm: Geschichte der Philosophie. Freiburg 1892, S. 12.

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zesses. Hu selbst reflektiert dies wenig und übernimmt ein neues Vokabular und neue Textformen weitgehend unkritisch. Somit ist seine philosophische Leistung vielleicht eher als beschränkt zu betrachten, was jedoch der Signifikanz seiner his­ torischen Rolle nicht abträglich ist. Hu Shis Lebensweg zeigt, dass er ohnehin nicht so sehr ein akademischer Theoretiker war, sondern mehr Publizist, Kultur-Manager und Politiker. Dasselbe kann man von dem folgenden Philosophen und Philosophiehistoriker nicht behaupten.

2.2  Feng Youlan (Fung Yu-lan) 馮友蘭 (1895 – 1990)

Feng Youlan studierte westliche und chinesische Philosophie an der Universität Peking, als Hu Shi dort Professor war. Im Jahre 1918 schloss er sein Studium ab und begann danach, Hu Shis Vorbild folgend, ein Auslandsstudium in den USA. Von 1919 bis 1923 studierte auch er Philosophie an der Columbia University in New York unter John Dewey und dem Neo-Realisten William Pepperell Montague (1873 – 1953), wobei Letzterem vielleicht der größere Einfluss auf Fengs weitere philosophische Entwicklung zugeschrieben werden kann. Wie dem auch sei, Feng reichte bei Dewey eine Dissertationsschrift mit dem Titel »A Comparative Study of Life Ideals« ein. Diese Arbeit ist eine breit angelegte vergleichende Studie zu einer Vielzahl westlicher und chinesischer Philosophen. Nach seiner Rückkehr nach China im Jahre 1923 hatte Feng Professuren für Philosophie an verschiedenen bedeutenden chinesischen Universitäten inne, so an der Tsinghua Universität und der Peking Universität. Zwischen 1946 und 1949 hielt sich Feng wiederum in den USA auf, wo er als Gastprofessor tätig war. Nach 1949 kehrte er, anders als Hu, freiwillig ins kommunistische China zurück. Auch nach 1949 erschienen eine Vielzahl von Veröffentlichungen von ihm, die die jeweiligen Änderungen der politischen Verhältnisse widerspiegeln. Er hatte eine Philosophieprofessur an der Universität Peking und durchlebte ein wechselhaftes Schicksal mit periodischem Zwang zu Selbstkritiken und Revisionen seiner Werke und philosophischen Positionen. Im Rahmen der in den 1980er Jahren beginnenden Liberalisierung und Rehabilitation der traditionellen chinesischen Philosophie und des Konfuzianismus erfuhr Feng schließlich eine generelle Würdigung als einer der bedeutendsten modernen chinesischen Philosophen. Im Jahre 1982 wurde ihm der Ehrendoktortitel der Columbia University verliehen. Fengs philosophisches Hauptwerk ist das ambitionierte und anspruchsvolle Sys­ tem einer »Neuen Metaphysik« (oder »Neue Li-Lehre«, Xin Lixue 新理學). Dieses philosophische System wurde zwischen 1939 und 1946 in einer Buchreihe von sechs Büchern ausgearbeitet. Es synthetisiert daoistische, konfuzianische, neokonfuzianische, buddhistische und westliche (u. a. Plato, Kant, Neo-Realismus,



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Wittgenstein) Ideen und Begriffe. Die einzelnen Bücher setzen unterschiedliche Schwerpunkte: Metaphysik, Ethik, politische Philosophie und auch Geschichte der Philosophie.14 Außerhalb Chinas ist Feng jedoch vor allem aufgrund seiner chinesischen Phi­ lo­so­phie­geschichte aus den 1930er Jahren bekannt, die zu einem grundlegenden Standardwerk wurde. Sie erschien ursprünglich 1934 in Shanghai unter dem Titel Geschichte der chinesischen Philosophie (Zhongguo Zhexue Shi 中國哲學史) in zwei Bänden und wurde später von Derk Bodde ins Englische übersetzt.15 Die englischsprachige Ausgabe diente in vielen westlichen Ländern als Lehrbuch zur chinesischen Philosophie. Der erste Band behandelt die »Periode der Philosophen« und befasst sich mit dem Altertum und der frühen Han-Dynastie und endet dementsprechend mit dem 1. Jahrhundert v. u. Z. Der zweite Band ist der »Periode der klassischen Gelehrsamkeit« gewidmet und umfasst den gesamten Zeitraum vom Ende der frühen Han-Dynastie bis zur Gegenwart. Das Werk präsentiert eine ausführliche Gesamtdarstellung der chinesischen Philosophie und bezeugt eine hervorragende Primärquellen-Kenntnis des Autors. Feng »übersetzt« die chinesischen philosophischen Begriffe und Semantiken in ein aus der westlichen Philosophie bezogenes konzeptuelles Vokabular; so wird etwa der Kernbegriff li 理 als »Prinzip« verstanden, und Begriffe wie »Natur«, »Freiheit« oder Kategorien wie »Rationalismus« und »Utilitarismus« werden herangezogen, um eine systematische Rekonstruktion von Denkschulen und deren Abfolge zu ermöglichen. Es gelingt Feng in diesem Werk, eine recht überzeugende Balance zwischen Herausstellung der Eigenheiten der chinesischen Philosophie und einer konsequenten Benutzung eines westlichen Begriffsapparates zu finden. In der Tat stellt es eine Art chinesische Parallelgeschichte zur Geschichte der westlichen Philosophie dar, die ebenso komplex ist und die sich mit den mehr oder weniger selben Fragen beschäftigt und dennoch oft alternative Antworten gibt. Somit konnte, ausgehend von Fengs Darstellung, von einer chinesischen Philosophie im engeren Sinne gesprochen werden, was, wie oben bereits angesprochen, eine Grundvoraussetzung dafür war, dass diese akademisch professionell kommuniziert werden konnte. Und dies gilt gleichermaßen im modernen China wie auch im Ausland. Fengs chinesische Phi­lo­so­phie­geschichte prägte somit die Rezeption der chinesischen Phi­lo­so­phie­ geschichte global über Jahrzehnte. Feng verfasste im Laufe seines Lebens noch eine ganze Reihe anderer Texte zur chinesischen Phi­lo­so­phie­geschichte. So ist auch eines der sechs Werke der »Neuen Metaphysik« ein philosophiehistorisches Buch. Die 1945 in Chongqing publizierte Neue Phi­lo­so­phie­geschichte (oder »Neue Ergründung des Weges« Xin yuan dao Vgl. Möller, Hans-Georg: Die philosophischste Philosophie. Feng Youlans Neue Metaphysik. Wiesbaden 2000. 15 Fung, Yu-lan: A History of Chinese Philosophy. 2 Bde. Princeton 1952 – 1953. 14

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新原道) wurde ebenfalls ins Englische übersetzt und erschien bereits im Jahre 1947 in London in der Übersetzung von E. R. Hughes unter dem wegen der hegelianischen Konnotationen gut gewählten Titel The Spirit of Chinese Philosophy. Ein weiteres philosophiegeschichtliches Werk Fengs ist A Short History of Chinese Philosophy, eine gleichfalls von Derk Bodde bearbeitete Kurzfassung der zweibändigen Geschichte der chinesischen Philosophie. Dieses ursprünglich 1948 in New York auf Englisch erschienene Buch wurde erst 1985 in chinesischer Sprache in Peking veröffentlicht (Zhongguo zhexue jian shi 中國哲學简史), als sich die politischen Verhältnisse dort deutlich liberalisiert hatten. In der Zeit der kommunistischen Herrschaft verfasste und publizierte Feng eine siebenbändige Revision seiner Gesamtgeschichte der chinesischen Philosophie mit dem Titel Geschichte der chinesischen Philosophie: Neuausgabe (Zhongguo zhexue shi xin bian 中國哲學史新編), die im Wesentlichen marxistisch-maoistischen Vorgaben folgt. Die ersten sechs Bände erschienen zwischen 1962 und 1989 in Peking, und der letzte Band wurde erst 1991 posthum in Taibei auf Taiwan veröffentlicht. Feng sah zeit seines Lebens die Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung als einen integralen Teil seines philosophischen Werkes an. Wie er in A Short History of Chinese Philosophy deutlich macht, fasste er Phi­lo­so­phie­geschichte als eine philosophische Disziplin auf und wollte nicht als bloßer Chronist oder Exeget verstanden werden: »I do not like to be simply a historian of philosophy. From the point of view of the pure philosopher, however, to clarify the ideas of the philosophers of the past, and push their theories to their logical conclusions in order to show their validity or absurdity is certainly more interesting and important than merely to find out what they themselves thought about these ideas and theories.«16

Diesem Anspruch einer philosophiegeschichtlich verankerten Philosophie folgend, stellt sowohl in A Short History of Chinese Philosophy als auch, in ausführlicherer Form, in The Spirit of Chinese Philosophy das jeweilige Schlusskapitel Fengs eigene Philosophie, seine »Neue Metaphysik«, dar. Diese erscheint so als Abschluss der chinesischen Phi­lo­so­phie­geschichte in der Moderne. Insbesondere in The Spirit of Chinese Philosophy wird die chinesische Phi­lo­so­phie­geschichte als Bildungsgeschichte des chinesischen Geistes dargestellt, der sich dialektisch entwickelt durch die Synthese theoretisch-metaphysischer Erkenntnis und moralischer Praxis und Kultivierung. Diese Entwicklung, so legt Feng nahe, kulminiert in Fengs eigenem System. Ähnlich wie bei Hegel wird dabei die chinesische Philosophie als ein systemisches Ganzes des Geistes verstanden, der sich seiner selbst auf immer höheren Stufen bewusst wird. Phi­lo­so­phie­geschichte und systematische Philosophie sind so untrennbar miteinander verbunden. 16

Fung, Yu-lan: A Short History of Chinese Philosophy. New York 1948, S. 333.



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In diesem Zusammenhang sollte auch Fengs Buch Xin Zhiyan 新知言 (wörtlich übersetzt »Neues Verstehen der Worte« oder sinngemäß Neue Methodologie) erwähnt werden. In diesem Text, der als das letzte der sechs Bücher der Neuen Metaphysik in Chongqing im Jahre 1946 erschien, stellt Feng die Entwicklung der chinesischen und der westlichen Phi­lo­so­phie­geschichte als Dialektik zwischen »positiver« (sprachlich ausgedrückter) und »negativer« (schweigender) Methodik dar. Im Westen sind Kant und Wittgenstein Beispiele der negativen Methodik, in China die Daoisten und Chan- (Zen-)Buddhisten. Fengs eigene Neue Metaphysik, so sein Anspruch, vereint schließlich die positive mit der negativen Methodik. Die negative Methodik ist für Feng die dialektisch höhere und nachfolgende, in die das positive System notwendig historisch und existenziell mündet. Die der positiven Methodik entsprechende Rationalität hebt sich selbst auf rationale Weise in der Irrationalität der negativen Methodik auf. Anders als es bei Hu Shi der Fall ist, gelingt Feng Youlan eine umfassende Gesamtdarstellung der chinesischen Phi­lo­so­phie­geschichte in einem systematischen westlichen Begriffsrahmen, der trotzdem die chinesische Philosophie als besondere zeigt. Feng integriert Philosophie und Phi­lo­so­phie­geschichte auf hegelianische Weise, ohne dabei Hegel zu kopieren. Feng konstituiert vielmehr seine Neue Metaphysik wesentlich aus der chinesischen Tradition heraus, die bei Hegel bekanntlich nur eine sehr untergeordnete und anfängliche Rolle spielte. Aufgrund von Fengs Sympathien zum Sozialismus und seiner marxistisch-maoistischen Wende nach 1949 wurde er trotzdem von den Neukonfuzianern in Hong Kong und Taiwan (Tang Junyi 唐君毅 u. a.), die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beanspruchen, den Geist der chinesischen Tradition zu verkörpern, als Verräter gebrandmarkt. Meiner Meinung nach hängt dies jedoch nicht nur mit Fengs marxistischer Wende zusammen, sondern auch damit, dass sein System bereits in seiner vormarxistischen Schaffensperiode in der Neuen Metaphysik über die konfuzianische Ethik hinausging und diese nur als eine Stufe auf dem Weg zu einer daoistischbuddhistischen transmoralischen Philosophie des Schweigens ansah. Feng war somit eigentlich nie ein wirklicher Neukonfuzianer, sondern auch zu einem guten Teil ein Neudaoist. Seiner Ansicht nach kam dem Konfuzianismus nicht von vornherein die Rolle zu, die chinesische Philosophie vorrangig zu repräsentieren.

2.3  Hou Wailu 侯外廬 (1903 – 1987)

Hou Wailu ist einer der wichtigsten Vertreter der marxistisch-maoistischen Philosophie, die nach 1949 in der Volksrepublik China zur orthodoxen Lehre erhoben wurde und die bis in die frühen 1980er Jahre eine Art gesamtgesellschaftliche Monopolposition innehatte. Die Ursprünge des chinesischen philosophischen

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Hans-Georg Möller und Sun Weixian

Marxismus gehen allerdings bis in 1920er Jahre zurück. Hou selbst trat in diesem Jahrzehnt der marxistischen Bewegung bei. Von 1927 bis 1930 studierte er in Paris, wo er Mitglied der Kommunistischen Partei Chinas wurde. Er übersetzte Marx’ Das Kapital ins Chinesische und besetzte nach 1949 Professuren an verschiedenen chinesischen Universitäten. Im Zuge seiner weiteren Karriere übte er eine Reihe von höheren akademischen und politischen Funktionen aus und kann somit durchaus als ein Repräsentant der politisch sanktionierten und propagierten Philosophie in der Volksrepublik China angesehen werden. Eine marxistische Geschichtsschreibung und Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung entstand in China in den 1930er Jahren. Li Shicens 李石岑 in Shanghai veröffentlichten Zehn Vorlesungen zur chinesischen Phi­lo­so­phie­geschichte (Zhongguo zhexue shi jiang 中國哲學十講) aus dem Jahr 1935 und Fan Shoukans 范壽康 ebenfalls in Shanghai veröffentlichte Gesamtdarstellung der chinesischen Phi­lo­so­phie­geschichte (Zhongguo zhexue shi tunglun 中國哲學史通論) aus dem Jahr 1938 machten sich die Methodik des »dialektischen Materialismus« zu eigen und unterschieden dementsprechend zwischen idealistischen und materialistischen Flügeln in der traditionellen chinesischen Philosophie.17 Die marxistische Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in dieser Zeit kritisiert explizit Hu Shi und adaptiert bald weitgehend das von Stalin 1938 propagierte 5-Stufen-Modell (Urkommunismus – Sklavenhaltergesellschaft – Feudalismus – Sozialismus – Kommunismus) der Weltgeschichte, das dann auch als Rahmen für die Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung herangezogen wird. In diesem ideologischen Kontext entsteht in den 1940er Jahren das Standardwerk zur chinesischen Phi­lo­so­phie­geschichte aus marxistisch-stalinistisch-maoistischer Perspektive, Hou Wailus Gesamtdarstellung der Geschichte des chinesischen Denkens (Zhongguo sixiang tongshi 中國思想通史).18 Die chinesische Geistesgeschichte wird hier als allgemeingültigen historischen Gesetzen folgend verstanden, die sich aber gleichwohl in einem konkreten und historisch spezifischen Rahmen entfaltet. Die Phi­lo­so­phie­geschichte spiegelt den marxistisch-stalinistisch interpretierten historischen Wandel wider und stellt einen permanenten Konflikt zwischen reak­ tio­nären idealistisch-subjektivistischen und progressiven materialistisch-­objek­ti­ vistischen Strömungen dar. Die Klassifizierung nach diesem Modell unterliegt allerdings Veränderungen (so sind beispielsweise die Daoisten mal mehr idealistisch, mal mehr materialistisch), die oft mit politischen Kurswechseln in Partei und Regierung zu tun haben. 17

Vgl. Schulz-Zinda, Yvonne: Marxist views on traditional Chinese philosophy pre-1949. In: Learning to Emulate the Wise, S. 311 – 346. 18 Hou, Wailu: Gesamtdarstellung der Geschichte des chinesischen Denkens (Zhongguo si­ xiang tongshi 中國思想通史). 3 Bde. Shanghai 1947 – 1951. Revidierte Neuauflage: 1957. 4. Band 1959.



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Wie seine marxistischen Kollegen wendet Hou Wailu ein modernes theoretisches Modell und Vokabular mehr oder weniger kohärent auf die gesamte chinesische Phi­lo­so­phie­geschichte an. Dieses Modell ist wenig originell und soll es auch nicht sein. Es unterliegt politischer Kontrolle und beherrscht den offiziellen volksrepublikanischen Philosophiediskurs von den 1950ern bis in die 1980er Jahre. Dabei beeinflusst es die westliche Rezeption der chinesischen Philosophie, anders als beispielsweise Feng Youlans Arbeiten vor 1949, nur wenig. In der Sowjetunion und in anderen kommunistischen Staaten mag dies jedoch ganz anders gewesen sein. Seit den 1990er Jahren hat die strikt marxistisch-stalinistische Phi­lo­so­phie­geschichts­ schrei­bung in der akademischen Philosophie Chinas an Bedeutung verloren und wird heute dort oft kaum noch ernst genommen.

3.  Kurze Schlussbetrachtung

Hu Shi, Feng Youlan und Hou Wailu repräsentieren unterschiedliche Wege der Konstruktion einer chinesischen Phi­lo­so­phie­geschichte nach modernen kommunikationsstrukturellen Vorgaben, in einem modernen Vokabular und innerhalb moderner gesellschaftlicher Funktionssysteme (Wissenschaft, Politik). In allen drei Fällen dient die Konstruktion einer chinesischen Phi­lo­so­phie­geschichte der Konstruktion einer chinesischen Philosophie als solcher. Anders gesagt, wenn es eine chinesische Philosophie geben soll, muss es eine chinesische Phi­lo­so­phie­geschichte geben, egal ob in einem hegelianischen oder marxistischen Rahmen. Feng Youlans Werk ist das vergleichsweise »philosophischste« der hier betrachteten Autoren, da es moderne Modelle und Vokabulare nicht einfach mehr oder weniger kritiklos übernimmt, wie dies bei Hu Shi in Bezug auf John Dewey und Wilhelm Windelband und bei Hou Wailu in Bezug auf marxistisch-stalinistische Vorgaben teilweise der Fall war. Feng versucht vielmehr, ein neues weltphilosophisches System durch eine Synthese chinesischer und westlicher Elemente zu konstruieren.

Die Bestimmung und Ausweitung der japanischen Philosophie durch Geschichtsschreibung* John C. Maraldo

1.  Einleitung. Die geistige Situation der frühen Meiji-Zeit

Die Aneignung der europäischen Philosophie in Japan erfolgte durch eine Umwandlung der japanischen Sprache. Die Begegnung mit der europäischen Philosophie am Ende der Tokugawa-Zeit und in der Meiji-Zeit, also etwa von 1853 bis 1912, führte japanische Intellektuelle in eine neue Denk- und Sprachweise ein, die ihr eigenes Philosophieren ermöglichte. Dieses Denken konnte allmählich in die anerkannte Phi­lo­so­phie­geschichte der Welt eintreten und als eine erkennbar japanische Philosophie erscheinen. Ich möchte aber die These vertreten, dass diese Verwandlung nicht auf diese neue Denk- und Sprachweise beschränkt ist, also nicht auf die moderne japanische Philosophie. Sie bestimmt auch das, was wir die traditionellen bzw. vormodernen Denkweisen in Japan nennen. Seit dieser Verwandlung gelten zumindest teilweise die vormodernen japanischen Traditionen zum ersten Mal als philosophische Traditionen, die zur Weltgeschichte der Philosophie gehören. Darüber hinaus bewirkt dieses Geschehen eine, wenn auch geringe, Verwandlung der heutigen Philosophie, insofern diese nicht bloß eine Reihe von verschiedenen Orientierungen oder kulturell bestimmten Schulen bedeutet, sondern vielmehr ein Philosophieren aufweist, das aus geschichtlich und kulturell verschiedenen Quellen erwächst. Wenn zeitgenössische Philosophen ihre Fragerichtungen und Einsichten aus einer erweiterten multikulturellen Überlieferung gewinnen, dann wird auch der künftige Lauf der Phi­lo­so­phie­geschichte geändert. So wie die Geschichtsschreibung eine Philosophie bestimmt und ausgeweitet hat, zumindest im Falle Japans, kann ein lebendiges und erneuertes Philosophieren die Phi ­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung neu bestimmen und erweitern. Im Folgenden werde ich versuchen zu zeigen, wie eine bestimmte Geschichtsschreibung die japanische Philosophie durch eine umgewandelte Sprache geprägt *  Teile dieses Aufsatzes werden publiziert unter dem Titel: The Japanese Encounter with and Appropriation of Western Philosophy. In: The Oxford Handbook of Japanese Philosophy. Hg. v. Bret W. Davis. Oxford. In Vorbereitung. Hier mit Genehmigung von Oxford University Press wiedergegeben. Siehe auch Oxford Handbooks Online, July 2015: http://www.oxfordhandbooks.com/view/10.1093/oxfordhb/9780199945726.001.0001/ oxfordhb-9780199945726-e-19?rskey=QaNm1w&result=2 (Stand: 7.02.2017). Für sprachliche Verbesserungen bin ich Leon Krings dankbar.

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und ausgeweitet hat. Wir beginnen mit der wohl bekannten herkömmlichen Version der Geschichte Japans im 19. Jahrhundert. Im Jahr 1853 wurde das Tokugawa-Regime überrascht, als vier amerikanische Dampfschiffe, zwei von ihnen mit massiven Kanonen bewaffnet, in den Hafen von Edo/Tōkyō einfuhren. Diese Begegnung leitete die erneute Öffnung Japans für Handel und Ideenaustausch mit westlichen Ländern ein. Zu ihrer Vermittlung bedurften die Ideen – anders als Gewerbeobjekte – sprachlicher Ausdrücke, und ihre Aneignung erfolgte nur durch einen langen, mühsamen Prozess der Verwandlung der japanischen Sprache. In den 1860er und 1870er Jahren begannen japanische Wissenschaftler nach Europa und Amerika zu fahren, um an den dortigen Universitäten neue Denkweisen und Wissenschaften kennenzulernen. Bald danach begannen philosophische, in europäischen Sprachen verfasste Texte nach Japan einzuströmen. Die Logik und die Ausdrucksweise dieser Texte zu verstehen, bedeutete, eine fremde Sprache zu lernen und sie an die eigene Sprache anzupassen, wie es auch im 5. Jahrhundert mit chinesischen Texten geschehen war. In der japanischen philosophischen Terminologie von heute sind die Spuren ihrer fremden und exotischen Herkunft aus den europäischen Sprachen beinahe unsichtbar, vor allem, weil traditionelle chinesische Schriftzeichen benutzt wurden, um die Termini zu übersetzen. Der Gebrauch von chinesischen Schriftzeichen machte es relativ leicht, verschiedene Übersetzungen auszuprobieren, um die Begrifflichkeit der europäischen Disziplinen zu vermitteln. Denn einzelne Schriftzeichen, jedes mit seinem eigenen semantischen Gehalt, konnten in praktisch unbegrenzten Kombinationen benutzt werden, um neue Wörter zu schaffen.1 Liest man die Übersetzungen und Abhandlungen der Meiji-Gelehrten, so findet man mehrere zusammengesetzte Wörter, welche denselben westlichen Begriff ausdrücken sollen, z. B. den Begriff Widerspruch.2 Viele dieser zusammengesetzten Wörter sind schon längst nicht mehr im Gebrauch. Andere Ausdrücke haben sich derart ein1

In der Meiji-Zeit wurden so viele Kombinationen von chinesischen Schriftzeichen (kango 漢語) neu geprägt, um Importgüter und unbekannte Begriffe aus dem Westen zu bezeichnen, dass sie nach und nach die ursprünglichen japanischen Wörter in der Schriftsprache an Zahl übertrafen. »Der Hauptfaktor für die Entstehung neuen Vokabulars und neuer Grammatik sind neu eingeführte Kulturen sowie die Übersetzung, die diese importieren ließen.« Suzuki Hideo: Meijiki no nihongo – furusa to atarashisa no konzai [Die japanische Sprache der MeijiZeit – Vermischung des Alten mit dem Neuen]. 2 In seinen »Bemerkungen zu der Kompilation von philosophischen Lexika und zu den Reformern der japanischen Sprache« (1888) erwähnt z. B. der Meiji-Philosoph Kiyono Tsutomu zwei Übersetzungen von »Widerspruchsprinzip«, die heute nicht mehr verwendet werden: dochaku shugi (撞着主義, der Grundsatz von Inkonsequenz bzw. von Konflikt) und shokugen no genri (食言の原理, das Prinzip des Wortbruchs). Meiji tetsugaku shisō shū [Gesammelte Werke der Philosophie und des Denkens der Meiji-Zeit]. Meiji bungaku zenshū [Gesammelte Werke der Literatur der Meiji-Zeit] 80. Hg. v. Senuma Shigeki. Tōkyō 1974. Der Ausdruck, der schließlich zum Standard wurde, von Kiyono aber nicht erwähnt wurde, heißt mujun (矛盾),



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gebürgert, dass der Leser leicht vergisst, dass sie vor hundert Jahren Neologismen waren. Auch wenn die Übersetzer der Meiji-Zeit sich unfähig fühlten, einen neuen Sinn zu vermitteln, oder wenn sie spürten, dass eine Neuprägung nicht ausreichen würde, konnten sie den Fremdbegriff einfach in eine von zwei phonetischen Schriften transkribieren oder auch chinesische Schriftzeichen rein phonetisch benutzen, um der Aussprache eines fremden Wortes in etwa zu entsprechen. Philosophia z. B. wurde zunächst einfach transkribiert und erst später durch ein neu geprägtes Wort, tetsugaku, übersetzt. Das bahnbrechende Erstlingswerk von Nishida Kitarō, Studie über das Gute, ist im Jahre 1911 erschienen.3 Mit wenigen Ausnahmen führte Nishida eine Ausdrucksweise ein, die sich in Stil und Begrifflichkeit von der Sprache seiner Vorgänger der Meiji-Zeit unterschied, die die europäische Philosophie als Erste anzueignen versuchten. Das oft zitierte Urteil, dass dieses Werk ein originelles Denken in Japan begründete, hängt, glaube ich, mit der neuen Kraft von Nishidas Sprache zusammen. Aber greifen wir erst noch etwas weiter zurück und gehen wir auf die Leistungen von zwei Gelehrten ein, welche japanische Denktraditionen zum ersten Mal als philosophische Traditionen bestimmten. Inoue Tetsujirō (1855 – 1944) und sein (trotz des gleichen Nachnamens) nicht mit ihm verwandter Zeitgenosse Inoue Enryō (1858 – 1919) haben zwar eigene Philosophiesysteme entwickelt, hier aber möchte ich hauptsächlich zeigen, wie sie sich philosophische Kategorien aus europäischen Sprachen aneigneten, um ältere Traditionen neu zu interpretieren und sie als aktuell für ein modernes Japan zu bestimmen.

2. Inoue Tetsujiro ¯ und die Entstehung der historischen und systematischen Philosophie in Japan

Wie sein Vorgänger Nishi Amane (1829 – 1897), der die europäische Philosophie in Japan eingeführt und ein Wort – tetsugaku – dafür erfunden hatte, befasste sich Inoue Tetsujirō mit dem Wesen der Moralität und der Rolle der Regierung sowie mit der Methode der Wahrheitsfindung in Bezug auf die Menschen und ihre Welt. Im Gegensatz zu Nishi rechtfertigte Inoue die Macht des Staats über die Rechte des Individuums, und er verfasste eine Theorie der nationalen Moralität. Sein wachsender Nationalismus und die Erfindung des sogenannten bushidō (Weg des Samurai) sind Themen, die gesondert behandelt werden müssten.4 Hier seien nur knapp ein altes chinesisches Kompositum von dem Schriftzeichen für eine (alles durchdringende) Hellebarde und dem Schriftzeichen für einen (undurchdringlichen) Schild. 3 Vgl. Kitarō Nishida in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Mit Texten Nishidas in deutscher Übersetzung. Hg. v. Rolf Elberfeld u. Yōko Arisaka, Freiburg i. Br. 2014. 4 Siehe Heisig, James W. / Kasulis, Thomas P. / Maraldo, John C.: Japanese Philosophy,

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seine philosophische Bildung und seine Überzeugungen umrissen. Zunächst erhielt ­Inoue eine Ausbildung in den chinesischen Klassikern, dann lernte er Englisch und Deutsch und von 1884 bis 1890 studierte er mit Eduard von Hartmann und Wilhelm Wundt in Deutschland. Nach seiner Rückkehr nach Japan wurde er der erste japanische Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie an der kaiserlichen Universität in Tōkyō. Er hielt Vorlesungen über die europäische Philosophie im Allgemeinen, spezialisierte sich aber auf den deutschen Idealismus und auf die Philosophie der japanischen Konfuzianer. Inoue stellte die Philosophie dar als eine systematische Untersuchung von Dingen und Sachverhalten im Allgemeinen durch Methoden, die sich nicht darauf beschränken, Tatsachen herauszufinden, wie es bei den empirischen Wissenschaften der Fall sei. Nur die Philosophie könne ein einheitliches Bild der Welt erreichen. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften und der Mathematik erziele die Philosophie geistigen Frieden bzw. einen gelassenen Geist.5 Dieses Ziel, das erhabene Ideal der Philosophie, scheint Inoue den morgenländischen Traditionen entnommen zu haben, jedenfalls hat diese Vorstellung seine Überzeugung unterstützt, dass die Denktraditionen des Ostens genauso philosophisch waren wie die moderne westliche Philosophie – wenn nicht weitaus philosophischer als sie. An der kaiserlichen Universität in Tōkyō waren zwar Sinologie und Indologie schon vertreten. Inoue aber war der Erste, der sie als legitime Bereiche der Philosophie förderte. Noch bevor er nach Deutschland gefahren war, hatte er Werke wie Vorträge über die westliche Philosophie und eine eklektische Neue Theorie der Ethik verfasst und durch eine Geschichte der östlichen Philosophie ergänzt sowie Vorlesungen über chinesische und östliche Philosophien gehalten. Der Höhepunkt dieser Bemühungen war ein dreibändiges Werk, das eine dreifache Aufteilung der konfuzianischen Schulen in Japan vorschlägt. Die Philosophie der japanischen Wang Yangming Schule (1900) und Die Philosophie der japanischen Zhu Xi Schule (1906) hatten als ihren Gegenstand die japanischen Fassungen jener Traditionen, die heute Neo-Konfuzianismus heißen. Die Philosophie der japanischen Alten Schule konzentrierte sich auf Denker wie Itō Jinsai (1627 – 1705) und Ogyū Sorai (1666 – 1728), die auf das Denken der ersten chinesischen Konfuzianer zurückgriffen und deren Begriffe in ausführlichen Lexika untersuchten. Inoues Bestrebung fiel in eine Zeit, in der japanische Gelehrte darüber stritten, ob es so etwas wie die Philosophie in Japan, oder auch schon in China, gegeben habe. Es war keineswegs selbstverständlich, die Bezeichnung Philosophie auf chiA Sourcebook, im Folgenden: Japanese Philosophy. Honolulu 2011, S. 1104 f.; Nawrocki, Johann: Inoue Tetsujirō (1855 – 1944) und die Ideologie des Götterlandes. Hamburg 1998. 5 Inoue Tetsujirō: Meine Weltanschauung im Kurzen. In: Tetsugaku zasshi (1884), der ersten japanischen Zeitschrift der Philosophie. Teilweise übersetzt von Clinton Godart. In: Japanese Philosophy, S. 611 – 618.



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nesische sowie japanische Denktraditionen anzuwenden.6 Inoue bot indessen keine direkten, diese Anwendung unterstützenden Argumente an, sondern er stellte die japanischen Denkschulen als philosophisches Denken in zweifacher Hinsicht dar. Erstens erklärte er ihre Lehren auf geschichtliche Weise, und zwar als Untersuchungen und Debatten zwischen Denkern, die die Wahrheit suchen. Diese zum großen Teil konfuzianistischen Denker Chinas und Japans haben einander über Jahrhunderte hinweg beeinflusst, sowohl in Bezug auf den Gehalt wie auch auf die Terminologie ihrer Auseinandersetzungen. Inoue war implizit der Meinung, dass ihr häufiger Appell an Autoritäten keinen Fehlschluss oder Mangel an unabhängigem Denken bedeute, sondern auf eine Anerkennung der historischen und kontextbezogenen Natur des Philosophierens hinweise. Inoue hat somit diese Denker zu Philosophen gemacht, indem er sie in einen geschichtlichen Zusammenhang setzte, d. h. indem er sie historisierte. Diese Bestrebung spiegelt die Bemühungen ab 1890 wider, die Existenz und den Bereich der »japanischen Literatur« durch das Schreiben ihrer Geschichte zu etablieren. Sie gleicht auch den Bemühungen, den Buddhismus als ein legitimes akademisches Feld sowie als eine sinnvolle Philosophie zu bestimmen, indem die Buddha-Lehre historischer und philologischer Forschung unterworfen wurde. ­Inoues Projekt erinnert an die Bestrebungen von Hu Shi im Jahre 1919 und von Feng Youlan im Jahre 1934,7 die in ähnlicher Weise versuchten, chinesische Denktraditionen als »Philosophie« zu bestätigen, indem sie die Geschichte dieser Traditionen schrieben. Diese Meinung vertritt Nakajima Takahiro, der uns auch daran er­innert, dass die Chinesen ihren neuen Ausdruck für Philosophie dem neu geprägten Wort Nishi Amanes entlehnt haben: Das chinesische zhexue wird mit denselben Schriftzeichen 哲学 wie das japanische Wort tetsugaku geschrieben. Zusammen mit den chinesischen Historikern meinte Inoue, die Philosophie der nationalen Traditionen könne die westliche Philosophie relativieren. Inoue behauptete allerdings, dass die Philosophie einer Nation nur dann lebendig bleiben könne, wenn sie ein neues Denken sowohl aus dem Morgenland als auch aus dem Abendland schöpfen würde. Japanische Denktraditionen zu historisieren, bedeute aber nicht, sie einfach zurückzuversetzen in eine Vergangenheit, die von einem neuen, internationalen Japan überwunden wurde. Vielmehr verstand Inoue seine Bestrebung als einen Nachweis dafür, dass Japan eine eigenständige philosophische Weltmacht gewesen sei und bleiben könne. Hier überschnitten sich seine philosophischen Anliegen mit seinen politischen Interessen. Inoue vermochte die japanischen Denktraditionen auch in anderer Weise als Philosophie zu entwerfen, indem er sie systematisch in einer europäischen Begrifflich6

Eine Zusammenfassung dieser Debatten bietet Maraldo, John: Overview: Beginnings, Definitions, Disputations. In: Japanese Philosophy, S. 553 – 582. 7 Vgl. zu diesen beiden Denkern den Aufsatz von Hans-Georg Möller in diesem Band.

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keit erklärte, auch wenn die von europäischen Denkschulen übernommenen Begriffe häufig als Kontrastbestimmungen wirkten. Inoue bestimmte z. B. die Yōmei, d. h. die japanische Wang-Yangming-Schule, im Gegensatz zur individualistischen Ethik und dem Utilitarismus, d. h. zu den am frühesten vertretenen Formen der europäischen Philosophie in Japan. Er berief sich auf Neologismen für Idealismus, Realismus, Materialismus sowie für den erkenntnistheoretischen Objektivismus und Subjektivismus, um westliche ebenso wie japanische philosophische Positionen zu beschreiben und meist auch einander entgegenzusetzten. Die japanischen Übersetzungen dieser Begriffe waren noch unbeständig, nur einige von ihnen wurden maßgebend und werden immer noch verwendet. Auffällig ist die Ironie einer Übertragung des vertrauten konfuzianistischen Denkens in hintergründige westliche Kategorien. Lesen wir die Standardübersetzungen heute, so vergessen wir leicht den neuartigen Eindruck, den sie zur Meiji-Zeit gemacht haben dürften. Zum großen Teil waren die Übersetzungen Wortschöpfungen oder neue Kombinationen von Schriftzeichen mit Nuancen weit entfernt von den Konnotationen der europäischen philosophischen Begriffe. Es gab auch einige vom buddhistischen Wortschatz entlehnte Übersetzungen, die aber dann verändert wurden, um neue oder zusätzliche Bedeutungen zu vermitteln. Die Ausdrücke für »Subjekt« und »subjektiv« und für Subjektivismus im erkenntnistheoretischen Sinn z. B. entstammten uralten Wörtern, die in etwa die Bedeutung »aus dem Blick des Gastgebers«, 主観, trugen, während »Objekt«, »objektiv« und »Objektivismus« auf Bedeutungen wie »aus dem Blick des Gastes« oder vielleicht »außerhalb des eigenen Sichtbereichs« hindeuteten. Man denke an die Übersetzungen zur Zeit Eckharts vom lateinischen subjectum als Unterwurf und vom objectum als Gegenwurf. Japanische Philosophen erschwerten oder vielmehr erklärten die Sache, als sie schließlich einen Unterschied einführten zwischen drei Arten von »Subjekt«: das abstrakt erkennende Subjekt shukan 主観, das konkret erlebende Subjekt shutai 主体 und das grammatische Subjekt shugo 主語. Unter den frühen Philosophen der Meiji-Zeit wurde aber nur das erste verwendet. Bemerkenswert ist, dass Inoue und seine Kollegen einer zwei Jahrtausende umfassenden Geschichte des westlichen philosophischen Wortschatzes begegneten, die sie in nur zwei oder drei Jahrzehnten ins Japanische übertrugen. Die selbst gewählte Aufgabe dieser Meiji-Philosophen war es, nicht nur die westliche Philosophie sich anzueignen, sondern auch ihre eigenen Denktraditionen als philosophische Traditionen umzudefinieren. Oft unter der Leitung von Inoue, beschlossen sie diese Aufgabe zu bewältigen, indem sie philosophische Wörterbücher kompilierten. Nishi Amane hatte schon angefangen, philosophische Termini zu definieren,8 aber erst 8

Nishis Bestrebungen deuten auf eine sich rasch wandelnde Periode von Versuch und Irrtum in der Geschichte der philosophischen Übersetzung hin. Seine erweiterte Enzyklopädia (Hya­kugaku renkan) von 1870 enthält längst aufgegebene Termini wie chichigaku 致知学 für



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Inoue und seine Mitarbeiter haben systematisch ein Wörterbuch kompiliert, das in drei Ausgaben (1881, 1894, 1912) erschienen ist.9 Die letzte Edition fügte dem englischen Wortschatz der ersten Ausgabe auch deutsche und französische Übersetzungen hinzu und ergänzte die einzelnen japanischen Übersetzungen um Alternativen. Kritiker haben zwar auf zahlreiche Fehlübersetzungen hingewiesen,10 was aber wohl nur zeigt, wie unbeständig die philosophische Terminologie damals noch war. Im Jahre 1909 begann ein umfangreicheres Lexikon zu erscheinen, das Teil einer großen Enzyklopedia Japonica war. Es erfasste Fachbereiche wie Medizin, technische Herstellung, Wirtschaft, Ausbildung und Landwirtschaft. Inoue war einer von ungefähr 75 Professoren, die die philosophischen Einträge verfassten und Biographien, Bibliographien und Kommentare hinzufügten. Die Gliederungsüberschriften dieses Großen Wörterbuchs der Philosophie zeigen den anvisierten Umfang der Philosophie und der anderen Bereiche, deren Termini es definierte: Neben der Philosophie mitsamt ihrer Geschichte sowie Logik, Erkenntnistheorie, Ethik und Ästhetik finden wir östliche Philosophie, östliche Ethik, indische Philosophie, Philosophie des Shintō, buddhistische Philosophie, Christentum und Judentum, Psychologie, Kinderstudien, Religion, Soziologie und Rechtswissenschaft, Sprachwissenschaft, Pädagogik, Biologie, Anthropologie und Psychiatrie. Biographien von östlichen sowie westlichen Philosophen waren beigefügt.11 Logik (heute ronrigaku), ritaigaku (理体学) für Ontologie (heute sonzai ron) sowie meikyōgaku (名教学) für Ethik (heute rinrigaku). Im Jahre 1883 verwendete Kiyono Tsutomu immer noch kakuchi tetsugaku (格致哲学), um Logik zu übersetzen, »die Lehre der größten Prinzipien des menschlichen Geistes«, er ersetzte aber bald diesen Neologismus durch den nunmehr gebräuchlichen Standardausdruck ronrigaku. Versuche, das Wort Ästhetik zu übersetzen, werden brillant beschrieben von Hamashita Masahiro: Nishi Amane on Aesthetics: A Japanese Version of Utilitarian Aesthetics. In: Japanese Hermeneutics: Current Debates on Aesthetics and Interpretation. Hg. v. Michael F. Marra. Honolulu 2002, S. 89 – 96. Eine japanische Geschichte der Übersetzung von vielen philosophischen Termini bietet Ishizuka Masahide/Shibata Takayuki: Tetsugaku-Shisō honyakugo jiten [Wörterbuch von philosophischen und geisteswissenschaftlichen Übersetzungen]. Tōkyō 2013.   9 Tetsugaku ji-i (哲学字彙). Hg. v. Inoue Tetsujirō. Tōkyō 1881; Dictionary of English, German, and French Philosophical Terms with Japanese Equivalents. Hg. v. Tetsujirō Inouye / Yujiro Motora / Rikizo Nakashima. Tōkyō 1912. 10 Piovesana, Gino K.: Recent Japanese Philosophical Thought 1862 – 1996: A Survey, with a New Survey by Naoshi Yamawaki 1963 – 96. London, New York 1997, S. 42. 11 Tetsugaku dai jisho (哲學大辭書). Hg. v. Moriyama Shōnojō et. al. Tōkyō 1909. Diese Sammlung umfasst drei Eintragsbände, eine Beilage und ein Inhaltsverzeichnis. Ein »viel besseres philosophisches Wörterbuch« (Piovesana, S. 79 f.) war Iwanami tetsugaku jiten (岩波哲 學辭典). Hg. v. Miyamoto Wakichi et. al. Tōkyō 1922. Darauf erschien eine abgekürzte Ausgabe, herausgegeben von Itō Kichinosuke, mit mehreren Auflagen, die lange Zeit als Standard dienten. Seitdem sind ein Duzend oder mehr Wörterbücher der Philosophie erschienen, unter ihnen auch eins für die moderne Philosophie, das einen Eintrag von Kanba Toshio über die japanische Philosophie und ihre Eigenschaften enthält, sowie Einträge über die Philosophie

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In den 1920er Jahren wurde die Übersetzung philosophischer Termini relativ fest bestimmt. Entweder wurden die frühen Übersetzungen durch japanische Wörter für westliche Termini ersetzt oder die Übersetzungen verhüllten den in ihnen spürbaren konfuzianistischen oder buddhistischen Hintergrund. Ein Beispiel dafür ist das Wort kan’nenron 観念論, das Inoues buddhistisch akzentuiertes yuishinron 唯心論 (Nur-Geist-Theorie) ersetzte, um den Ausdruck »Idealismus« zu übersetzen.12 Inoue versuchte die westliche Philosophie zu adaptieren und zugleich die japanische Philosophie retrospektiv zu erstellen, indem er nicht nur ihre Begriffe, sondern auch ihre Schulen systematisch darstellte. Die vorher erwähnte dreifache Aufteilung der konfuzianistischen Schulen in Japan war weitgehend seine eigene Erfindung und eine Anwendung der Hegel’schen Dialektik.13 Er versuchte – letztlich vergebens – japanische Denktraditionen als legitime Gegenstände kritischer Forschung innerhalb der philosophischen Abteilung der kaiserlichen Universität Tōkyō zu etablieren. Einhundert Jahre später, im Jahr 2017, gibt es in ganz Japan einen einzigen Lehrstuhl für japanische Philosophie oder genauer gesagt, für die Geschichte der japanischen Philosophie. In den 1920er Jahren hat die Universität Tōkyō unabhängige Abteilungen für chinesische und indische Philosophie etabliert sowie eine Abteilung für Buddhismuskunde, die auch den japanischen Buddhismus erforschte. In ihren eigenen Abteilungen lehrten manchmal Historiker und Religionswissenschaftler die Geschichte des japanischen Konfuzianismus, oft anhand der dreifachen Aufteilung Inoues. Die Universität Tōkyō hat jedoch nie formell die »japanische Philosophie« anerkannt. Für Inoue diente die Gliederung der westlichen Philosophie dazu, sowohl östliches Denken in den Bereich der tetsugaku einzuschließen wie auch seine eigene Position zu bestimmen. Der Aufsatz »Meine Weltanschauung, kurz zusammengefasst« aus dem Jahr 1884 bietet einen Überblick. Anhand etablierter Kategorien aus dem Westen teilt er zunächst die Philosophie nach Methode und Gehalt ein. Die Logik bestimme die Methode aller Philosophie und liege allen eigentlichen Weltder Meiji-Zeit, Philosophie in der Nachkriegszeit, und »Philosophie für die Notzeit«: Gendai tetsugaku jiten (現代哲学辞典). Hg. v. Miki Kiyoshi. Tōkyō 1936. 12 Siehe den Eintrag »Idealismus« in den von Inoue herausgegebenen Wörterbüchern sowie seinen Aufsatz »Meine Weltanschauung, kurz zusammengefasst« in: Senuma, Meiji tetsugaku shisō shi, S. 148 – 149. Der herkömmliche Ausdruck yuishin (唯心) bezieht sich auf die buddhis­ tische Lehre, wobei die gewöhnlich wahrgenommene Welt eine Projektion des getäuschten Geistes sei. Inoue verwendete den Ausdruck kan’nenron, um die allgemeine philosophische Position zu bezeichnen, nach der die Welt nur als Objekt für das Bewusstsein existiert, im Gegensatz zur Realismus-Schule (jitsuzai ha 実在派). M.a.W. war der yuishinron bzw. Idealismus bei Inoue nur ein Beispiel der Positionen, die üblicherweise als philosophischer Idealismus bezeichnet werden. 13 Siehe John A. Tucker in: Japanese Philosophy, S. 291; Tucker, John A.: Ogyū Sorai’s Philosophical Masterworks. Honolulu 2006, S. 103 f.



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anschauungen zugrunde. Implizit in dieser Behauptung ist die Meinung, dass die Logik bei östlichen ebenso wie bei westlichen Denkern existent sei. Seine Erklärung selbst versucht, diese Logik aufzuzeigen. Er stellt z. B. die Vedantische »idealistische« Position dar und widerlegt sie dann Schritt für Schritt. Er greift das in der Vedanta-Lehre klassische Beispiel des fehlbaren Bewusstseins auf, deutet dieses aber anders als gewöhnlich. Wir verwechseln ein auf dem Boden liegendes Seil mit einer Schlange und diese Art Verwechslung kommt immer wieder vor, solange wir ein getäuschtes, unerleuchtetes Leben führen. So stellt es die Vedanta-Lehre dar. Vom realistischen Standpunkt aus gesehen, nach dem die »Wahrheit« nur innerhalb kausaler Grenzen bestätigt wird, erscheine die Sache anders. In diesem Fall würden die bestätigenden Ursachen für die Existenz einer Schlange fehlen und ich würde sehen, dass die scheinbare Schlange sich nicht bewege und nicht beiße; also würde ich meinen Anfangsfehler erkennen – ganz innerhalb der gewöhnlichen, kausal bestimmten Welt. Nur wenn das Gesetz von Ursache und Wirkung sich als Täuschung erweisen würde, wäre die Vedanta-Lehre sinnvoll. Eher sei die Extremposition der Vedanta-Lehre der eigentliche Fehler, so argumentiert Inoue.14 Inoues Gliederung der Philosophie in Bezug auf ihren Gehalt folgt in ähnlicher Weise einer westlichen Einteilung. Die Philosophie untersuche das Wahre, das Gute und das Schöne. Das Wissen befasse sich mit dem Wahren, der Wille mit dem Guten und das Gefühl mit dem Schönen. Die Untersuchung des Wahren richte sich auf das Wesen des Geistes, der Materie und der Realität; nur diese Untersuchung gelte als die »reine« bzw. theoretische Philosophie, nur sie frage skeptisch, ob die Wahrheit überhaupt erreichbar sei. Die praktische Philosophie in der Form der Ethik und der politischen Philosophie erörtere das Gute, in der Form der Ästhetik betrachte sie das Schöne. Diese Einteilung mag uns wie der Beginn einer abgenutzten, stereotypischen Einführung in die Philosophie scheinen, bis wir an die relative Neuheit der Termini und der Unterschiede denken, die wohl Inoues japanischen Lesern aufgefallen wäre. Selbst das heutzutage ganz gebräuchliche Wort für Wahrheit, shinri 真理, war noch nicht die etablierte Übersetzung. Auch der Gedanke, dass der Mensch möglicherweise überhaupt nicht imstande ist, die Wahrheit zu erreichen, war sicher beunruhigend und vielleicht sogar beispiellos in der japanischen Geistesgeschichte. Im Allgemeinen war Inoue aber der Meinung, dass der Mensch Wissen erlangen könne, und er verteidigte eine Position, die er als eine Art Realismus im Gegensatz zum Idealismus beschrieb. Nach dieser Position seien die von uns wahrgenommenen Phänomene reale »Objekte außerhalb des Subjekts« und nicht bloß Erscheinungen, die die Realität verdecken. Für die gegensätzliche Position dachte er sich eine einfallsreiche Bezeichnung aus: die Theorie der »Realität jenseits der Welt der Erfahrung« (kakyōteki jitsuzai 過境的実在), die anscheinend 14

Siehe die Übersetzung von Godart in: Japanese Philosophy, S. 618.

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Kants transzendentale Philosophie des Dings-an-sich beschreiben sollte. Die von ihm bevorzugte Theorie war eine Lehre, die auch von anderen Philosophen wie Inoue Enryō, Kiyozawa Manshi und Miyake Setsurei geteilt wurde. Inoue Tetsujirō verwendete die buddhistische Konjunktion soku 即 (zugleich), um die uns gegebenen Phänomene zugleich als Realität zu bestimmen, nämlich mit dem Ausdruck »Phänomene zugleich Realität«. Diese Philosophen schrieben dem deutschen Idealismus eine ähnliche Theorie zu, die sie als »Identitätstheorie« oder auch »Identitätsrealismus« bezeichneten. Die Idee einer von den Erscheinungen unterschiedenen Wirklichkeit, bzw. einer mit den Erscheinungen identischen Wirklichkeit, war ja nicht ganz beispiellos in der Geistesgeschichte Japans, vor allem in der indischen Yogācāra-Lehre, wie sie von buddhistischen Gelehrten der Hossō-Schule des 8. Jahrhunderts vertreten wurde. Nach dieser Lehre sind alle Formen (sō 相) der erscheinenden Welt an und für sich schon die wahre Wirklichkeit (hō 法), wenn alle Gedankenkonstruktionen ausgelöscht wurden. Dennoch war das moderne Problem der Erkenntnistheorie ganz von einer psychologischen Symptomatik des Erkennenden und von jedweder Erlösungs- oder Erleuchtungslehre völlig getrennt. Die Geschichte der westlichen Philosophie, die Inoue seinen Studenten beibrachte, setzt das erkenntnistheoretische Problem in einen ganz anderen Kontext. Man kann sich nur die Herausforderung vorstellen, vor der Inoue gestanden hat, als er versuchte, seinen Studenten das Problem der Realität zu erklären. Das Problem dürfte ihnen merkwürdig vertraut und doch seltsam fremd erschienen sein. Bis zur Mitte des Jahrhunderts hat es sich schließlich eingebürgert, dass Buddhologen über diesen andersartigen Kontext hinwegsahen und Bezeichnungen wie »Realismus« und »Idealismus« in Bezug auf buddhistische Lehren verwendeten. Inoues »Weltanschauung, kurz zusammengefasst« stellte, wie er schreibt, »die Gedankenwelt des Morgenlandes sowie des Abendlandes« vor, und zwar sei diese Weltanschauung »nicht in ein Ost und ein West einzuordnen.« Er bestimmte seine eigene Position als einen Teil der Weltphilosophie. Indes gibt seine erkenntnistheoretische Position weder einen Hinweis auf die Rolle der Geschichtlichkeit in der Erkenntnis noch auf das historische Bewusstsein, das er sicherlich während eines Aufenthaltes bei Paul Deussen und Wilhelm Dilthey in Berlin erlangt hatte.15 Dennoch zeigt sich bei Inoue ein deutliches Geschichtsgefühl und eine feinsinnige Fähigkeit, Begriffe und Kategorien zu analysieren. Mit diesen war es ihm möglich, nicht nur die westliche Philosophie in Japan zu adaptieren, sondern auch östliches Denken in den Bereich der Philosophie einzubeziehen.

15 Nawrocki:

Inoue Tetsujirō, S. 113, Note 274; S. 96.



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3. Inoue Enryo ¯ und die Konstruktion des Buddhismus als eine Philosophie sowie der Philosophie als eine buddhistische Theorie

Abschließend möchte ich nur ein paar Worte sagen über den Buddhisten Inoue Enryō und seine Konstruktion des Buddhismus als eine Philosophie und der Philosophie als eine buddhistische Theorie. Inoue Enryō und Inoue Tetsujirō haben auf verschiedene Weise die japanischen Denktraditionen in den Bereich der Philosophie integriert. Inoue Tetsujirō hat die Philosophie der konfuzianistischen Schulen geschichtlich konstruiert, während es Enryō darauf ankam zu zeigen, dass der Buddhismus immer schon philosophisch gedacht habe.16 Der Ansatz Enryōs war eher ahistorisch, er zeigte die in der reinen Philosophie besprochenen Probleme auch in verschiedenen buddhistischen Schulen auf. Er skizzierte beispielsweise »buddhistische wissenschaftliche Theorien« der Zeit, des Raums, des Kosmos und der Kosmologie, zusammen mit Dutzenden von anderen, auch nicht-buddhistischen Theorien, von der Stern- und Wetterkunde bis hin zu Theorien der Kausalität und der Existenz. Die »reine« (oder theoretische) Philosophie scheint bei ihm bloß eine Sammlung von verschieden begründeten Theorien (ron 論) zu sein. Die Bedeutung der Leistung Enryōs aber liegt nicht so sehr in der Strenge seines Denkens als vielmehr in seiner Vorstellung vom Umfang der Philosophie. Entgegen der Ausrichtung der philosophischen Abteilung an der Universität Tōkyō erweiterte er die »reine Philosophie«, damit diese nicht nur westliche und buddhistische, sondern auch indische, chinesische, persische und ägyptische tetsugaku einschließt. Laozi und Zhuangzi haben zur reinen Philosophie beigetragen, so wie auch die japanischen Schulbegründer Dōgen und Shinran. Wahrscheinlich war Enryō der Erste, der Dōgen als einen philosophischen Denker betrachtete, d. h. als jemanden, der tetsugaku betreibt. Viele seiner Übersetzungen, Ausdrücke und Gliederungen sind inzwischen veraltet, andere Ausdrücke wie »buddhistischer Idealismus« oder »die Philosophie Dōgens« haben sich eingebürgert. Seine Theorie von der gegenseitigen Umfassung und Einschließung aller Dinge ist heute zumeist vergessen. Für diese Theorie hat er ein buddhistisch gefärbtes Netz über europäische Denkhaltungen ausgebreitet. Er hat sich aber auch einen Weg gebahnt, den Buddhismus als eine echte philosophische Tradition darzustellen. Sein im Jahre 1886 verfasstes Buch Ein Abend mit philosophischer Unterhaltung hat den jungen Nishida Kitarō begeistert und ihn dazu gebracht, den Grund (oder Abgrund) aller Distinktionen aufzusuEine ausführliche Behandlung findet man in Sueki Fumihiko: Meiji shisōka ron [Theorien der Meiji-Denker]. Tōkyō 2004, S. 43 – 61. Der Verfasser weist auch darauf hin, dass Enryō manchmal eine Differenz zwischen Buddhismus und Philosophie setzt, indem sie trotz eines gemeinsamen Interesses an Wahrheitserläuterung doch einer unterschiedlichen Orientierung folgen würden. Newsletter of the Toyo University International Research Center for Philosophy 7 (2014), S. 6. 16

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chen.17 Als Nishida, der als bedeutendster japanischer Philosoph des 20. Jahrhunderts gilt, im Jahre 1911 seine bahnbrechende Studie über das Gute veröffentlichte, waren bereits fünf Jahrzehnte vergangen, in denen die Denker der Meiji-Zeit einen Überblick über die Landschaft der Philosophie gegeben und eine Unzahl von philosophischen Termini definiert hatten. Die immer größer werdende Leserschaft von philosophischen Abhandlungen muss Nishidas Rückkehr zur Erfahrung wie frische Luft empfunden haben. Immerhin waren es die Denker der Meiji-Zeit, die den Hintergrund für Nishidas philosophische Bildung geschaffen hatten.

4. Schlussbemerkung: Die Bedeutung der Meiji-Erörterungen für die ­philosophische Geschichtsschreibung

Die historischen Debatten der Meiji-Zeit über den Stand von Konfuzianismus, Buddhismus und anderen asiatischen Denktraditionen lehren uns zweierlei: Erstens sind Denktraditionen wie »japanischer Buddhismus und Konfuzianismus«, aber auch »Shintō« und Shintoismus zumindest teilweise vom gegenwärtigen Zeitpunkt aus retrospektiv konstruiert. Das gilt vor allem für die europäischen Bezeichnungen dieser Traditionen jeweils als einen -ismus und zudem als eine philosophische Lehre. Das gilt aber auch für Bezeichnungen in der japanischen Sprache für so etwas wie die drei Schulen der japanischen Konfuzianer oder die »Philosophie« (tetsugaku) Dōgens oder Shinrans. Nach dem massiven Import von Denktraditionen aus dem Westen haben sich die Denker der Meiji-Zeit eine neue Begrifflichkeit angeeignet, nicht nur, um diese westlichen Traditionen zu verstehen, sondern auch, um alte japanische Traditionen neu zu bestimmen. Zweitens verändert die Neubestimmung der japanischen Denktraditionen wiederum die Auffassung der westlichen Philosophie. Oft heißt es, dass Philosophie nicht ohne den Einbezug ihrer Geschichte betrieben werden könne, im Gegensatz zu Physik oder Mathematik, die heute ohne Kenntnisse ihrer Geschichte fortfahren. Als die Denker der Meiji-Zeit der westlichen Philosophie begegneten und sich diese durch eine Verwandlung ihrer Sprache aneigneten, haben sie die Geschichte dieser philosophischen Tradition unterbrochen und ihre Grenzen erweitert. Die Aufnahme und die Verwendung von westlichen philosophischen Termini, Problemen und Methoden im japanischen Diskurs brachten eine Veränderung im Lauf der Geschichte der westlichen Philosophie mit sich – und nicht nur vom gegenwärtigen Zeitpunkt an. Wenn alte japanische Texte philosophisch neu gedeutet werden, wird die Vergangenheit der philosophischen Tradition überhaupt neu konstruiert. Siehe Wargo, Robert: The Logic of Nothingness. Honolulu 2005, S. 9 – 31. Meine gekürzte Übersetzung von dem Vorwort Enryōs zu dem Werk findet man in: Japanese Philosophy, S. 560 f. 17



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Indes wird diese Tradition nicht einfach dadurch erweitert, dass alte Texte mit erkennbaren Themen oder Argumenten in die Geschichte der Philosophie eingefügt werden. Ehrlich gesagt sind anglo-amerikanische und europäische Philosophen heute frustriert, wenn sie versuchen, in alten (aber auch in manchen neuzeitlichen) japanischen Texten explizite oder vertraute philosophische Argumente zu finden. Philosophie in japanischen Denktraditionen aufzufinden, darf nicht heißen, bloß eine Replik bzw. einen Nachbau der westlichen philosophischen Argumentation zu finden. Es handelt sich vielmehr darum, die Grundlagen der westlichen Philosophie herauszufordern und alternative Weltbilder zu konzipieren. Die »Philosophie« in der japanischen Geschichte ist ja kein Relikt aus der Vergangenheit, sondern Moment einer lebendigen Tradition.

Geschichtsschreibung zur Philosophie in Japan in westlichen Sprachen seit dem 20. Jahrhundert Rolf Elberfeld

Die erste kurze Darstellung »japanischer Philosophie« wurde in Europa bereits im Jahre 1736 veröffentlicht. Im siebten Band der Kurzen Fragen aus der philosophischen Historie von Jakob Brucker (1696 – 1770) heißt es: »Findet man in Japon auch eine Philosophie? Wenn wir das Wort in solcher Bedeutung nehmen, wie es bisher bey Betrachtung der Philosophiae exoticae gebraucht worden ist, und genommen werden muß, so findet sich allerdings auch eine Philosophie unter dieser Orientalischen Nation.«1 Kurz darauf kommt Brucker auf die Lehren zu sprechen und sagt: »Was lehret man aber vor Lehrsätze in Japan? Nicht viel Gutes, denn es geht das meiste auf eine Atheistery, oder Aberglauben und Abgöttery hinaus.«2 Einige Jahre später erscheinen diese Darstellungen, um neuere Erkenntnisse erweitert, auch in lateinischer Sprache, wobei der Tenor und die Beurteilung sich nicht verändern.3 Für längere Zeit verschwindet Japan dann wieder aus dem Blick der Philosophiehistoriker in Europa. Erst im dritten Teil des ersten Bandes der Allgemeinen Geschichte der Philosophie. Mit besonderer Berücksichtigung der Religionen,4 der 1908 erschien, hält es Paul Deussen für angebracht, im Anhang einiges über die Philosophie der Chinesen und Japaner zu schreiben. Der fünf Seiten umfassende Blick auf Japan enthält kurze und weitgehend unspezifische Bemerkungen zur Shinto-Religion, zum Buddhismus und zum »Neu-Confucianismus«.5 Deussen hatte aber bereits Kunde von den neueren Einflüssen europäischer Philosophie in Japan. Er beendet seine Bemerkungen mit dem Satz: »Ob es dem begabten und für fremde Einwirkungen so empfänglichen Volke beschieden sein wird, diese geistige Fremdherrschaft zu überwinden und wie in andern Wissenszweigen auch in der Brucker, Jakob: Kurze Fragen aus der philosophischen Historie. Bd. 7. Ulm 1736. 6. Buch: Von der Philosophia exotica, 3. Kapitel Von der Philosophie der Japoneser, S. 1194. 2 Ebd., S. 1201. 3 Brucker, Jakob: Historia Critica Philosophiae. Bd. 4, zweiter Teil, Leipzig 1744. Liber tertius: De philosophia exotica, Cap. 4 De philosophia japonensium, S. 907 – 919. 4 Deussen, Paul: Allgemeine Geschichte der Philosophie. Mit besonderer Berücksichtigung der Religionen. Leipzig 1894 – 1917: Band I, Teil 1: Allgemeine Einleitung und Philosophie des Veda bis auf die Upanishad’s (1894); Band I, Teil 2: Die Philosophie der Upanishad’s (1898); Band I, Teil 3: Die nachvedische Philosophie der Inder. Mit einem Anhang über die Philosophie der Chinesen und Japaner (1908); Band II, Teil 1: Die Philosophie der Griechen (1911); Band II, Teil 2,1: Die Philosophie der Bibel (1913); Band II, Teil 2,2: Die Philosophie des Mittelalters (1915); Band II, Teil 3: Die neuere Philosophie von Descartes bis Schopenhauer (1917). 5 Ebd. Band I, Teil 3, S. 710 – 715. 1

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Philosophie zu einer selbständigen Stellung zu erstarken, wird erst die Zukunft lehren können.«6 Bereits ein Jahr später (1909) erschien der Text Die japanische Philosophie in deutscher Sprache, der als erster Überblicksaufsatz zur japanischen Philosophie in einer westlichen Sprache gelten kann, verfasst von einem Japaner.7 Der Verfasser Inoue Tetsujirō (1856 – 1944) studierte von 1884 – 1890 Philosophie in Heidelberg und Leipzig, so dass er mit den philosophischen Entwicklungen in Deutschland gut vertraut war. Er unterteilt seinen Text in folgende Teile: 1. Die Chu Hi-Schule, 2. Die Wang Yang-ming-Schule, 3. Der Urkonfuzianismus in Japan, 4. Neue Blüte der Wang Yang-ming-Schule im 19. Jahrhundert, 5. Die national-philosophische Schule und die moderne Philosophie in Japan. Zu seinem Philosophieverständnis schreibt Inoue das Folgende: »Von Philosophie kann man in Japan erst nach der Einführung ausländischer Philosophie und Religion sprechen, und zwar soll die chinesische Philosophie durch den Koreaner Wang-in (5. Jahrhundert n. Chr.) ins Land gebracht worden sein, während die ausländische Religion, der Buddhismus, durch eine koreanische Gesandtschaft im Jahre 552 n. Chr. nach Japan gekommen ist. Man darf diese Tatsache jedoch nicht so auffassen, als ob es gar kein originelles, einheimisches Ideensubstrat für die japanische Philosophie gegeben habe, und daß diese nichts anderes sei, als die eingeführte ausländische Philosophie.« [Denn eine] »Gedankenströmung, die gewöhnlich populär ›Yamatodamashi‹, deutsch: der japanische Volksgeist, genannt wird, bildet den Stamm, auf welchem die beiden ausländischen Gedankensysteme, welche Japan in früherer Zeit befruchtet haben, die chinesische Philosophie und die indische Reli­ gion, aufgepfropft worden sind.«8

Wie selbstverständlich prägt Inoue die Wendung »chinesische Philosophie«, die offenbar in seiner Perspektive nicht wesentlich von der westlichen zu unterscheiden ist. In Bezug auf Indien spricht er jedoch von »Religion« und nicht ausdrücklich von Philosophie. Eine »japanische Philosophie« nimmt er hingegen nicht vor der Einführung der chinesischen an, sondern nur eine gewisse geistige Grundlage, auf der die anderen philosophischen Traditionen aufgenommen wurden, so dass die 6

Ebd., S. 715. 1905 hatte Paul Hinneberg ein großes Enzyklopädieprojekt unter dem Titel Die Kultur der Gegenwart ins Leben gerufen. Im ersten Teil, den Geisteswissenschaften gewidmet, und der fünften Abteilung erschien 1909 der Band Allgemeine Geschichte der Philosophie, hg. v. Wilhelm Wundt et al., in Leipzig. Die zweite vermehrte Aufl. erschien 1923. In diesem Überblicksband werden neben der europäischen Philosophie (Antike, Mittelalter, Neuzeit) auch die »Philosophie der primitiven Völker«, »Indische Philosophie«, »Islamische und jüdische Philosophie«, »Chinesische Philosophie« und von Inoue »Die Japanische Philosophie« (S. 100 – 114) behandelt. 8 Inoue: Die japanische Philosophie, S. 100. 7



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»japanische« Philosophie eine Mischung aus Rezipiertem und eigenen geistigen Grundlagen darstellt. Nach Inoues Einteilung gibt es somit bereits seit dem 5. Jahrhundert Philosophie in Japan, und zwar in Form der »chinesischen Philosophie«, so dass die Geschichte der Philosophie wesentlich aus der chinesischen Philosophie in Japan bestehe, die sich dann im Laufe der Zeit mit den geistigen Grundlagen Japans verbunden habe. Sein Aufsatz handelt dann vor allem von neokonfuzianischen Denkern japanischer Herkunft. Mit der neueren Rezeption der westlichen Philosophie sieht er aber eine Phase angebrochen, die einen Neuanfang verspricht: »Seit der Restauration der Mikado-Herrschaft hat die Philosophie in Japan eine ganz neue Bahn eingeschlagen. Die europäische Philosophie wurde sowohl von den Japanern selbst als auch von den Ausländern eingeführt. Am Anfang hat man besonders Mill, Spencer, Lewes und andere englische Philosophen verehrt. Als man aber die Philosophie mehr als Spezialstudium zu treiben anfing, hat man mehr Kant, Hegel, Schopenhauer, Lotze, Wundt, Paulsen, v. Hartmann und andere deutsche Philosophen zu verehren angefangen. Der Materialismus hat wenigstens einen Vertreter gefunden. Auch fehlt es nicht an Denkern, welche den Utilitarismus und sogar den Egoismus vertreten. Nietzsche wurde ebenfalls von einigen jungen Schriftstellern eingeführt, aber er ist nur wie eine flüchtige Mode schnell an uns vorbeigegangen. Neuerdings bestreben sich einige, den Sozialismus zu verbreiten, aber er scheint hier keinen Erfolg zu haben. Die christlichen Ideen kommen natürlich auch in manche Beziehung mit der philosophischen Geistestätigkeit. Es ist wohl möglich, daß die Philosophie in Japan durch den Zusammenstoß und die Verschmelzung der morgenländischen Gedanken mit den abendländischen in nicht entfernter Zukunft einen großen Aufschwung nehmen wird.«9

Als zu Beginn der Meiji-Zeit (1868 – 1915), in der Japan die westliche Kultur in atemberaubendem Tempo aufnahm und mit der die sogenannte Epoche des »modernen« Japans begann, verschiedene Philosophien aus Europa und den USA rezipiert wurden, prägte man auch neue japanische Wörter für »Philosophie« (tetsugaku) und »Religion« (shūkyō). An den gerade entstandenen Universitäten westlichen Stils konnte man alsbald westliche Philosophie studieren, so dass sich für die Japaner bald die Frage ergab, ob es in Japan schon vor der Meiji-Zeit Philosophie gegeben habe. In Japan tendierte die Meinung zunächst dahin, dass es vor der Einführung westlicher Philosophie nichts Vergleichbares in Japan gegeben habe. Für diese Position ist z. B. Nakae Chōmin (1847 – 1901) bekannt geworden, der in der frühen Phase der Rezeption Ende des 19. Jahrhunderts lapidar feststellte: »Es gibt keine Philosophie in Japan« (Nihon ni tetsugaku nashi).10 Vor allem unter Denkern, die im 20. Jahr  9

Ebd., S. 113. Nakae Chōmin: Ichinen yuhan, in: Gendai nihon bungaku taikei. Bd. 2, hg. v. Inoue Tatsuzō. Tōkyō 1972, S. 113. 10

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hundert von Heidegger beeinflusst wurden, ist diese Ansicht noch heute verbreitet, so dass auch an Universitäten unter dem Titel »Philosophie« fast ausschließlich westliche Philosophie gelehrt wird. Diese Tradition möchte das Wort »Philosophie« exklusiv auf die europäische Tradition beschränken, aber nicht in dem Sinne, dass die außereuropäischen Traditionen »geistloser« seien als die europäische, sondern im Sinne einer positiven Differenz.11 Denn wendet man »Philosophie« auf Daoismus, Buddhismus usw. an, so verkenne man gerade die besonderen Eigenheiten der außereuropäischen Traditionen und auch die der europäischen Tradition der Philosophie, so dass die fruchtbaren Differenzen gerade durch die einheitliche Bezeichnung verdeckt werden. Eine solche Begriffsbestimmung hat allerdings zur Folge, dass älteres japanisches Denken aus der Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung ausgeschlossen bleiben muss. In den folgenden Jahren erschienen kleinere Aufsätze in deutscher Sprache, in denen Japaner die neuesten philosophischen Ansätze in Japan vorstellten, die damals mit eigenem philosophischen Anspruch im engeren Sinne auftraten.12 In dem Aufsatz von Kitayama aus dem Jahre 1943 ist zudem ein neues Selbstbewusstsein japanischer Philosophen zu bemerken, die grundsätzliche Kritik an Europa üben: »Die japanische Philosophie ist in ihrer heutigen Gestalt eine Weltphilosophie, die sich gleichermaßen für die Ergründung der menschlichen Geschichte im Westen und Osten interessiert. So kann heute die Philosophie Japans der europäischen Philosophie den Vorwurf machen, daß diese ihrerseits nur um ihr einheitliches überliefertes Erbe wisse und nur eine traditionelle Bewußtseinsgestalt der Menschheitsgeschichte einseitig zum Gegenstand ihrer Betrachtungen mache und dabei die Ganzheit vergesse.«13

1944 erscheint das Buch von Paul Lüth Die japanische Philosophie.14 Lüth setzt sich in seinem Buch das Ziel, »die erste Gesamtdarstellung der japanischen Philosophie« zu liefern. Da er keine umfangreichen Materialien zur Verfügung hatte, schränkte er sein methodisches Vorgehen wie folgt ein: »Da das methodische Ziel dieser Arbeit darin besteht, den Ursprung, die Entwicklung und den Stufengang des japanischen Philosophierens im Zusammenhang zu schildern und zu verdeutlichen, konnte zwischen einer individualisierenden, also 11

»Geistloser« sind die anderen Traditionen für Hegel. Die positive Differenz interessiert vor allem Heidegger, auch wenn er doch insgesamt eurozentrisch denkt. 12 Kuwaki, Genyoku: Die Philosophischen Tendenzen in Japan. In: Kant-Studien. Bd. 33, 1928, S. 99 – 108; Taketi, T.: Japanische Philosophie der Gegenwart. In: Blätter für deutsche Philosophie. Bd. 14, 1940/41, S. 277 – 299; Kitayama, Junyu: Die moderne Philosophie Japans. Ein Beitrag zum Verständnis der ›Nishida-Philosophie‹. In: Kant-Studien, Neue Folge. Bd. 43, Heft 1/2, 1943, S. 263 – 274. 13 Kitayama: Die moderne Philosophie Japans, S. 263. 14 Lüth, Paul: Die japanische Philosophie. Tübingen 1944.



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historischen, und einer mehr generalisierenden Betrachtungsweise nicht geschieden werden, zumal es auch in der europäischen Literatur durchaus an einem Werke fehlt, welches das Ganze und die Teile der japanischen Philosophie einheitlich zu behandeln versucht hätte.«15

Die Strukturierung des Materials entspricht der Einteilung Inoues sehr genau. Zunächst stellt er den Shintoismus dar, als geistige Grundlage der japanischen Kultur. Es folgt die Darstellung der Übernahme der »chinesischen« Philosophie und der Philosophie des Buddhismus von Indien über China und Korea nach Japan. Den Buddhismus bezeichnet er ausdrücklich als »Philosophie«, da er »atheistisch« sei. Ein kurzes Kapitel wird dem »Weg des Samurai« gewidmet, ohne ausdrücklich zu erklären, warum er dies zur »Philosophie« in Japan zählt. Die letzten zwei Kapitel sind der Rezeption der abendländischen Philosophie in Japan gewidmet. Sie führen bis zu den »philosophischen Strömungen der Gegenwart« und der Darstellung der Philosophie Nishida Kitarōs. Insgesamt haben wir einen tastenden Versuch vor uns, der redlich darum bemüht ist, möglichst viele Informationen zusammenzutragen. Methodisch werden noch keine klaren Linien gezogen, was Lüth aber auch bewusst ist. Oscar Benl und Horst Hammitzsch geben 1956 die Textsammlung Japanische Geisteswelt. Vom Mythos zur Gegenwart heraus. Die Sammlung bietet Grundtexte durch die Jahrhunderte seit der Nara-Zeit. Es werden buddhistische wie konfuzianische und nationale Richtungen kurz vorgestellt. Der letzte Abschnitt trägt den Titel Der Einstrom europäischen Denkens und die Besinnung auf Eigenes. Es werden nicht nur Fukuzawa Yūkichi, sondern auch Nishida Kitarō, Watsuji Tetsurō, Suzuki Daisetsu, Shiga Naoya und Kobayashi Hideo jeweils mit kurzen Texten vorgestellt. Insgesamt eine Pionierleistung der deutschen Japanologie. Im Jahr 1963 erscheint erstmalig ein Versuch, die philosophischen Entwicklungen Japans in den vorhergehenden 100 Jahren in englischer Sprache darzustellen.16 Es geht in der Darstellung vor allem darum, Materialien zu einzelnen Denkern zu sichten und zu sammeln, wobei Piovesana keinen systematischen und ideenhistorischen Ansatz verfolgt. »Therefore, at the moment, the best which can be done is to give an introductory survey of Japanese thinkers, rather than a history of systems and philosophical ideas, for which the basic studies are still waiting.«17 Buddhismus und Konfuzianismus werden kaum thematisiert, und zwar aus folgendem Grund: »Non-Japanese readers will also be surprised because too little is said about Buddhist and Confucianist thought. Recent Japanese philosophical thought, means in Japan, predominantly, if not exclusively, the Western type of philosophi15

Ebd., S. 8. Piovesana, Gino K.: Recent Japanese Philosophical Thought – 1862 – 1962. A Survey. Tōkyō 1968, 41994. 17 Ebd., S. I. 16

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cal thinking.«18 Piovesans Pionierleistung besteht darin, erstmalig ausführlich und umfassend die Rezeption europäischer Philosophie in Japan seit 1868 und die daraus in Japan erwachsenen philosophischen Ansätze in ihrer Eigenständigkeit und Fruchtbarkeit in einer westlichen Sprache in den Blick gebracht zu haben. Teilweise als Reaktion auf das Buch von Piovesana erschien einige Jahre später eine Phi­lo­so­phie­geschichte Japans von Nakamura Hajime. Seine Darstellung richtet sich gegen all diejenigen, die von »Philosophie« in Japan erst seit dem 19. Jahrhundert ausgehen: »Of all of them, however, it must be noted that they understand Japanese philosophy to have started with the Meiji Restoration and with the entrance of Western culture into Japan. My point of view, however, is fundamentally different, for I am of the opinion that even prior to the Meiji Restoration there was a long history of philosophy in Japan. If compared with Greece, India, or China, Japanese philosophy got a late start, but if compared with the various countries of Europe, it was not far behind. The present book is an attempt to trace, in historical perspective, the problems considered in the history of philosophy in Japan.«19

Nakamuras Darstellung der japanischen Phi­lo­so­phie­geschichte beginnt im 7. Jahrhundert mit der Gründung eines »Staates« durch Shōtoku Taishi und endet im 1. Band mit der Kontroverse zwischen Christentum und Buddhismus im 17. Jahrhundert in Japan. Der 2. Band ist insgesamt dem modernen Kontext der Philosophie in Japan gewidmet. Spätestens mit dem Buch von Nakamura ist die japanische Philosophie in die globale Geschichte der Philosophie integriert worden, und zwar durch einen Japaner, der nicht nur die japanische, chinesische und indische Geschichte der Philosophie überblickt, sondern auch die europäische.20 Der erste umfassendere Überblick in deutscher Sprache auch über die neuere japanische Philosophie findet sich in dem von Horst Hammitzsch herausgegebenen Japan-Handbuch von 1981.21 Der Abschnitt »Philosophie« wurde von den Autoren Lydia Brüll, Hamada Junko und Klaus Kracht verfasst. Er beginnt mit einer Einleitung von Brüll Zur Entwicklung der Japanischen Philosophie. Darauf folgend werden im Stile eines Lexikons folgende Stichworte behandelt: Aufklärung, Buddhistische Philosophie, Ethik und Ästhetik, Gegenwartsphilosophie, Konfuzianismus, Nationale »Philosophie«, Nishida-Philosophie, Nishida-Schule, Religionsphilosophie, Sozialphilosophie und Philosophie der Technik. 18

Ebd., S. II. Nakamura, Hajime: A History of the Development of Japanese Thought, A. D. 592 – 1868, 2 Bde. Tōkyō 1963, Bd. 1, Preface. 20 Vgl. Nakamura, Hajime: Parallel Developments. A comparative History of ideas. Tōkyō 1975. 21 Hammitzsch, Horst (Hg.): Japan-Handbuch, Artikel: »Philosophie«, Sp. 1295  – 1396. Wiesbaden 1981. 19



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1983 erscheint von Robert Schinzinger das Buch Japanisches Denken. Der weltanschauliche Hintergrund des heutigen Japan. Schinzinger, der in der Philosophie durch seine frühen Nishida-Übersetzungen22 bekannt ist, hat es vermieden, das Wort »Philosophie« in den Haupttitel seines Buches aufzunehmen. Im Japanischen entspricht »Denken« dem Wort shisō, das auch heute noch verwendet wird, wenn man neutraler von Geistes- und Denkgeschichte spricht, worunter dann auch Philosophie im westlichen Sinne verstanden werden kann. Demgemäß unterteilt er sein Buch in »Japanische Weltanschauung (vor 1868)« und »Japanische Philosophie (seit 1868)«. Im ersten Teil behandelt er Shintoismus, Buddhismus, Konfuzianismus und Taoismus, die er nur in weitem Sinne als philosophisch bezeichnet. Der zweite Teil umfasst vor allem die Darstellung der Philosophie Nishidas und viele Informationen auch zur institutionellen Lage der Philosophie in Japan seit 1868. Schinzinger bringt keine theoretischen Überlegungen, weder zur Phi­lo­so­phie­geschichts­ schrei­bung noch zur Philosophie als solcher. 1989 erscheint das Buch Die japanische Philosophie. Eine Einführung von Lydia Brüll.23 Brüll plädiert von Anfang an dafür, den Begriff der Philosophie »im weitest möglichen Sinne« zu interpretieren, so dass sich dann »auch die traditionellen japanischen Denksysteme weitgehend philosophisch nennen«24 lassen. Mit dem Aufbau ihres Buches versucht Brüll neue Wege zu gehen, indem sie den »Akzent auf eine zusammenhängende Darstellung der einzelnen philosophischen Strömungen« legt: »Der erste Schwerpunkt – 7. bis 16. Jahrhundert – liegt eindeutig auf der buddhis­ tischen Philosophie, während das 16. bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts maßgeblich vom Konfuzianismus geprägt und ab 1868 die westliche Philosophie beherrschend war.« 25 Sie nimmt sich dabei keinesfalls die Darstellung einer »Geschichte der japanischen Philosophie« vor, sondern es geht ihr vielmehr darum, »den Blick möglichst wertneutral auf wesentliche Probleme des philosophischen Denkens in Japan während der Jahrhunderte zu lenken«. Dabei legt sie besonderes Gewicht auf die Philosophen, »die dem japanischen Denken neue Impulse gaben, einen Wandel brachten, neue Denkepochen einleiteten«. Brüll geht somit von einem weiten Philosophiebegriff aus, versucht »wertneutral« darzustellen und wählt aus nach dem Gesichtspunkt der »Neuheit«. Der Vorteil, den die Einteilung in die drei Perioden mit jeweiligem Schwerpunkt bringt, besteht darin, dass deutlich wird, wie die japanische Denkgeschichte zunächst indisch-chinesisch (Buddhismus), dann chinesisch (Konfuzianismus/Neokonfuzianismus) und zuletzt westlich geprägt wurde. Auf diese Weise zeigt sich der Schichtencharakter der japanischen TraKitarō: Die intelligible Welt: Drei philosophische Abhandlungen, übers. v. R. Schinzinger. Berlin 1943. 23 Brüll, Lydia: Die japanische Philosophie. Eine Einführung. Darmstadt 1989. 24 Ebd., S. X. 25 Ebd., S. XII. 22 Nishida,

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ditionsstruktur, so dass auch die verschiedenen Verknüpfungen sichtbar werden. Brülls Studie setzt auch in der Periodisierung eigene Akzente, ohne dabei jedoch die Reflexionen zur Methode und Ausrichtung außereuropäischer Phi­lo­so­phie­ geschichts­schrei­bung zu vertiefen. Als im Jahr 1990 die Textsammlung Die Philosophie der Kyōto-Schule. Texte und Einführung erschien,26 wurden vor allem für die moderne japanische Philosophie neue Akzente gesetzt. Das Buch versammelt Aufsätze von führenden Denkern der Kyōto-Schule und versucht in dem einleitenden Essay, ein philosophisch reflektiertes Bild dieser Schule zu zeichnen. Es enthält zudem eine ausführliche Bibliographie in westlichen Sprachen zu den Denkern der Kyōto-Schule samt einer Übersicht zu ihren Werken. Eine solche Zusammenstellung von Texten zu einer bestimmten japanischen Philosophenschule hatte es bis dahin auch in japanischer Sprache noch nicht gegeben. Parallel zur Bezeichnung »Frankfurter Schule« versucht Ōhashi die auf den Denker Nishida Kitarō zurückgehenden philosophischen Entwicklungslinien als »Kyōto-Schule« zu profilieren, wobei er explizite philosophische Kriterien der Auswahl angibt. Vor allem das Denken der Geschichte dient ihm als Leitlinie für die Auswahl der Texte. Die Denker werden zudem in verschiedene Generationen unterteilt, so dass auch die innere Entwicklung der Schule deutlich wird. Mit diesem Buch wurden neue Maßstäbe für die Betrachtung der japanischen Phi­lo­so­phie­geschichte gesetzt. Zum einen ist die Beschränkung auf eine bestimmte Schule der Philosophie in Japan hilfreich, um ein klares Profil zu gewinnen. Zum anderen ist die deutliche Kennzeichnung eines inhaltlichen Kriteriums für die Themenzentrierung philosophisch erhellend. Denn es zeigt sich, dass es gerade die Geschichtsbetrachtung ist – in philosophischer und allgemeiner Hinsicht –, die das Denken der verschiedenen Philosophen in Atem hält. Hier verbindet sich somit die Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung mit der philosophischen Erörterung von Geschichtlichkeit.27 Das Buch hat auch in Japan wichtige Impulse geliefert, sich der eigenen philosophischen Tradition in historischer und philosophischer Hinsicht zuzuwenden. In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts konnte man in Japan ein überraschend starkes Anwachsen der Bücher über Nishida und andere japanische Denker beobachten. Diese Tendenz bündelte sich noch einmal in der Gründung des Lehrstuhls für »Japanische Phi­lo­so­phie­geschichte« 1995 an der Universität Kyōto, der vormaligen Wirkungsstätte Nishida Kitarōs. Mit diesem Schritt wurde eine Entwicklung Ōhashi, Ryōsuke (Hg.): Die Philosophie der Kyōto-Schule. Texte und Einführung. Freiburg im Breisgau 1990. Unter dem gleichen Titel erschien die zweite, erweiterte und mit einer neuen Einleitung versehene Auflage Freiburg i. Br. 2011. 27 Vgl. hierzu Ōhashi, Ryōsuke: Der philosophiegeschichtliche Ort der Philosophie Nishidas. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 36:3 (2011), S. 263 – 280. 26



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institutionalisiert, die sich bereits seit den 80er Jahren verstärkt abgezeichnet hatte. Japaner begannen sich positiv und in größerer Breite auf die philosophischen Entwicklungen in Japan zurückzubeziehen. Ein Impuls hierfür mag gewesen sein, dass immer mehr europäische und nordamerikanische Studenten der Philosophie in Japan Forschungen betrieben und dadurch Anregungen für die eigene philosophische Arbeit empfingen. Die ausländischen Studenten trafen aber zunächst auf eine etwas ungewöhnliche und letztlich unbefriedigende Situation. Denn sie konnten nicht direkt Vorlesungen über japanische Philosophie hören, sondern das Angebot bestand im Grunde nur aus Themen zur westlichen Philosophie. In Privatgesprächen und kleinen Forschungskreisen suchten sie sich die Informationen zusammen, die für ihre Forschungen nötig waren. Obwohl die Editionslage für die Texte der modernen japanischen Philosophie durchaus als sehr gut bezeichnet werden konnte – fast alles lag und liegt in Gesamtausgaben vor –, gab es keinen Ort an einer japanischen Universität, an dem explizit die Tradition der modernen und alten japanischen Philosophie studiert werden konnte. Nach der Neugründung des Lehrstuhls für japanische Phi­lo­so­phie­geschichte, an dem auch Symposien zum innerasiatischen Dialog durchgeführt werden, wurde im Jahr 2000 eine Zeitschrift für japanische Philosophie ins Leben gerufen, die sich im Internet mit folgenden Worten (in der deutschen Version) vorstellt: »Das Forum für japanische Phi­lo­so­phie­geschichte wird von Studenten, insbesondere denen des Instituts für japanische Phi­lo­so­phie­geschichte an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Kyōto, organisiert. Es soll die Erforschung der japanischen Phi­lo­so­phie­geschichte vorantreiben und dient der Vernetzung. Wir begannen unsere Aktivitäten im April 2000. Deren wichtigste sind die Veranstaltung einer Arbeitsgemeinschaft (das Forum für japanische Phi­lo­so­phie­geschichte) zwei Mal im Jahr sowie die jährliche Herausgabe der Zeitschrift ›Japanische Philosophie‹ (im Shōwadō-Verlag). Des Weiteren möchten wir uns sowohl mit in- als auch ausländischen Forschern der japanischen Philosophie austauschen. Wir würden uns freuen, wenn es zu einem ständigen ›Ort der Diskussion‹, im wörtlichen Sinne, für Studierende der japanischen Philosophie wird. […] Im November 2000 wurde die erste Ausgabe der Zeitschrift ›Japanische Philosophie‹ […] veröffentlicht. Die Ziele, die damit verfolgt werden sollen, kommen im ›Nachwort des Herausgebers‹ mit folgenden einfachen Worten zum Ausdruck: ›Wir glauben, dass man sich der Beschäftigung mit japanischer Philosophie lange Zeit nicht offen zugewendet hat. Aber ist es nicht notwendig, um unabhängiges Denken zu ermöglichen und neue Aussichten zu eröffnen, dass man die Augen nicht nur nach außen, sondern auch auf diejenigen Dinge richtet, die die Grundlagen des eigenen Denkens ausmachen? Selbstverständlich bedeutet das nicht, dass man den Blick auf das Innere beschränkt. Eher denken wir, dass eben dasjenige Gespräch notwendig ist, das aus den Verschiedenheiten der Blickwinkel entsteht. Und ich glaube, dass erst durch genau dieses Gespräch das

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Denken wahrhaft kreativ wird. In dieser Absicht veröffentlichen wir die ›Japanische Philosophie‹.« 28

Seit den 1990er Jahren ist auch in westlichen Sprachen ein verstärktes Engagement für japanische Philosophie und Geschichtsschreibung zur japanischen Philosophie zu beobachten. 1993 erscheint von Gregor Paul das Buch Philosophie in Japan. Von den Anfängen bis zur Heian-Zeit. Eine kritische Untersuchung.29 Paul verfolgt ein dezidiert systematisches Interesse, das sich jedoch vor allem auf Erkenntnisfragen und Logik zuspitzt. Der Zeitraum, den er bearbeitet, 6. bis 12. Jahrhundert, wurde unter dieser Hinsicht zuvor noch nicht zusammenfassend dargestellt. Einbezogen werden vor allem buddhistische Philosophie, »konfuzianische Lehren und Disziplinen wie Logik, Sprachphilosophie und Ästhetik«. Im Anhang findet sich ein reiches Material vor allem zur Logik im alten Japan. Paul gibt sein Erkenntnisinteresse gleich zu Anfang deutlich zu erkennen: »Ohne die wichtigen und interessanten Besonderheiten der Geschichte der Philosophie in Japan zu ignorieren, habe ich mich darum bemüht, das, was sie mit indischen, chinesischen und westlichen Traditionen gemeinsam hat, so deutlich wie möglich zu machen, und Konsequenzen, die sich daraus ergeben, explizit zu formulieren.«30

Es ist somit vor allem das universal Gemeinsame, was Paul an der Philosophie in Japan interessiert. Er argumentiert von Anfang an vehement gegen die Auffassung, dass es in Japan keine Philosophie vor der Meiji-Zeit gegeben habe und dass es so etwas wie ein spezifisch »japanisches Denken« gebe. Vor allem die beiden Begriffe »Rationalität« und »Logik« dienen ihm dabei als Fundamente für eine universale Philosophie. »Wird der Begriff der Rationalität als regulative Idee eines humanen Kritizismus interpretiert, der sich vor allem der Logik und Empirie bedient, so sind rationale Tendenzen für alle Zeiten nachweisbar.«31 Ziel seiner Studie insgesamt ist das Folgende: »Die wichtigste Aufgabe dürfte in der Förderung interkulturellen Verstehens liegen. Sie ist trivialerweise dann am besten zu erfüllen, wenn Gemeinsamkeiten herausgearbeitet und Vorurteile bekämpft werden. […] Vergleiche sind damit Ziel und Methode. […] Sie können als Basis zu Spekulationen über die Entwicklung einer empirisch begründeten universalen Philosophie dienen, oder doch universaler philosophischer Kategorien.«32 28

Text auf: http://www.bun.kyoto-u.ac.jp/nittetsu/forum1.html (Stand: 10. 7. 2008). Paul, Gregor: Philosophie in Japan. Von den Anfängen bis zur Heian-Zeit. Eine kritische Untersuchung. München 1993. 30 Ebd., S. XIII. 31 Ebd., S. 18. 32 Ebd. 29



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Letztlich verspricht sich Paul durch die Beschäftigung mit der Philosophie in Japan Unterstützung bei der Suche nach einer universal-rationalen Philosophie, wobei diese auch, wie durch den Gedanken nahegelegt wird, ausschließlich aus der europäischen Tradition entwickelt werden könnte. In Japan kann man sich aber bestätigen lassen, dass alle Menschen den gleichen logischen Regeln folgen. Die japanische Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung ist in dieser Perspektive vor allem hilfreich, um die rationalen Standards als überall verbreitete Strukturen aufzuweisen. Ein Jahr später erscheint eine Studie mit dem Titel Japanische Philosophie nach 1868 in deutscher Sprache.33 Die Autorin, Hamada Junko, beginnt ihre Darstellung mit der Frage: »Sind geistes- oder philosophiegeschichtliche Studien und Darstellungen eher historische oder philosophische Aufgaben?«34 Mit der Entscheidung dieser Frage sieht sich, wie ja bereits deutlich geworden ist, jeder konfrontiert, der sich einen philosophiegeschichtlichen Zusammenhang zu vergegenwärtigen versucht. »Chronologische Gliederung philosophischer Entwicklungen nach Zeitaltern ermöglicht eine historische Darstellung. Als solche ist sie jedoch noch nicht philosophisch. Philosophische Darstellung verlangt, die Bedeutung einzelner Leistungen und deren inneren Zusammenhang explizit zu machen. Die Art, in der das geschieht, hängt natürlich auch von der Geschichtsauffassung des jeweiligen Autors ab. Das Bemühen um eine Identifikation objektiver Kausalzusammenhänge ist zugleich auch Interpretation. Es gibt so viele Möglichkeiten, eine Phi­lo­so­phie­geschichte zu schreiben, wie es Interpretationsmöglichkeiten gibt.«35

Hamada versucht der Gratwanderung zwischen historischer und philosophischer Perspektive dadurch gerecht zu werden, dass sie auf der einen Seite vollständig personenbezogen arbeitet und auf der anderen Seite diese Personen jeweils unter bestimmte philosophische Themen zu bündeln versucht. Das Buch ist in ein erstes Kapitel »1868 – 1945« und ein zweites »Die Philosophie nach 1945« eingeteilt. Dabei scheint mir vor allem der zweite Teil des zweiten Kapitels im Hinblick auf das Ineinandergreifen von historischer Personenorientierung und philosophischer Themenakzentuierung gelungen zu sein. Der Teil trägt folgenden Titel: »Die zweite Generation: von der Vernunft zur Sinnlichkeit – Verleiblichung«. Der einleitende Satz lautet: »Betrachtet man die gegenwärtige philosophische Situation in Japan, so fallen im allgemeinen zunächst zwei Aspekte ins Auge: der Zusammenbruch des absoluten Prinzips der Vernunft und der Vergleich japanischen und europäischen Denkens, der Hamada, Junko: Japanische Philosophie nach 1868. Köln 1994. Dieses Buch war bereits zuvor auf Japanisch erschienen. 34 Ebd., S. 1. 35 Ebd. 33

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oft die Form von Auseinandersetzungen hat. Beide verbindet die Kritik am Rationalismus. Wahrscheinlich beherrscht dieses Anliegen ja die ganze Welt.«36

Die Unterpunkte des Kapitels sind wie folgt aufgebaut: 1. Die vergleichende Philosophie, 2. Die traditionelle [westliche] Philosophie, 3. Das Scheitern der Vernunft: Verleiblichung, a) Auseinandersetzung mit dem Vernunftkonzept, b) Verleiblichung und Verwissenschaftlichung, c) Philosophie der Verleiblichung. Das Kapitel ist zugleich der Abschluss des ganzen Buches. Im Jahr 1995 erscheint die erste Gesamtdarstellung der Philosophie in Japan, die sich ausführlich auch philosophisch darüber Rechenschaft gibt, wie man ein solches Unternehmen in philosophischer Weise strukturieren kann.37 Die Autoren, Peter Pörtner und Jens Heise, gehen grundsätzlich von einer Offenheit der Philosophie aus, die nicht nur im Rahmen der europäischen Wirkungsgeschichte gegeben ist. Philosophieren bedeutet somit, sich in selbstrelativierender Weise auch auf andere Traditionen des Denkens beziehen zu können. »Erst ein Bewußtsein, das sich selbst als Wirkung von Überlieferung weiß, ist offen für ein Verstehen des Anderen.«38 Demgemäß bewegt sich das Buch zwischen zwei Polen: »Unsere Darstellung bewegt sich zwischen der historischen Einstellung, Philosophie in Japan als das andere zu verstehen, und dem Bewußtsein einer Wirkungsgeschichte, das sich nicht nur auf eine, sondern auf alle philosophischen Kulturen richtet.«39 Für dieses Unternehmen entwickeln sie einen grundsätzlichen »Leitfaden«, der selber eine »Philosophie« darstellt und dem ostasiatischen Denken nahe steht. Es handelt sich dabei um eine »topische Philosophie«, die versucht, die »Orte des Denkens« selber, die im Denken nicht unbedingt thematisch werden, aufzusuchen: »Die Orte, in denen traditioneller Sinn abgelagert ist, entziehen sich dem Diskurs nicht, aber sie begründen auch keine diskursiv-rationalen Verfahren.«40 Bei den Topoi handelt es sich somit um die Grundkoordinaten des Denkens, die in ihrem jeweiligen Strukturzusammenhang Themenfelder erschließbar machen. Als Topoi des ostasiatischen Denkens werden beispielsweise folgende angeboten: Topos paradoxer Identität (soku-Topos), Topos der Harmonie (wa-Topos), Topos der (qualitativ verstandenen) Zahl, Topos des natürlich-spontanen Hervortretens (shizen-Topos), Topos des Wandels (eki-Topos), Topos der Mitte (chu-Topos) usw. Die Darstellung ist so aufgebaut, dass nach den Darstellungen zum Shintoismus, Buddhismus, Konfuzianismus und Neokonfuzianismus die geschichtlichen Etappen der Entwicklung bis in die Philosophie nach 1945 ausgeführt werden. In den 36

Ebd., S. 131. Pörtner, Peter / Heise, Jens: Die Philosophie Japans. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 1995. 38 Ebd., S. 4. 39 Ebd., S. 5. 40 Ebd., S. 25. 37



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Text sind immer wieder Exkurse eingeflochten, die sich den verschiedenen Topoi widmen, die für das Verständnis der verschiedenen philosophischen Strömungen wichtig sind. Das Abschlusskapitel behandelt die Philosophie Nakamura Yūjirōs, der selber einen topisch fundierten Ansatz der Philosophie vorgelegt hat. Auf diese Weise ist zugleich eine Perspektive für den Dialog benannt. Es kann gesagt werden, dass die Darstellung insgesamt methodisch und philosophisch reflektiert ist und neben der Präsentation historischer Zusammenhänge auf einen philosophischen Dialog mit den Denkern und Ansätzen in Japan zielt. Im Jahr 2011 erschien die bislang umfassendste Textsammlung zur japanischen Philosophie in einer westlichen Sprache unter dem Titel Japanese philosophy. A sourcebook.41 Bei den Herausgebern handelt es sich um Philosophen, die sowohl in der europäischen wie auch in der japanischen Philosophie spezialisiert sind. Ein Teil der methodischen Vorüberlegungen zur Philosophie in Japan stammt von John Maraldo. Die Strukturierung des Buches und die Auswahl der Texte zeugen von einer langen Auseinandersetzung mit der Frage, in welcher Weise die japanische Denktradition in die globale Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung integriert werden kann. Das Buch setzt hier neue Standards, die bis in die Gegenwart reichen. In den letzten Jahren globalisiert sich das Gebiet der japanischen Philosophie in zunehmendem Maße: Im Jahr 2013 wurde das Journal of Japanese Philosophy begründet und ein Jahr später die International Association of Japanese Philosophy. Seit 2014 erscheinen die bereits fertigstellten Artikel für das von Bret Davis herausgegebene Oxford Handbook of Japanese Philosophy in einer Online-Version, das voraussichtlich 2018 in der Print-Version erscheint. Im Jahr 2016 ist die erste Nummer des European Journal of Japanese Philosophy erschienen. Die genannten internationalen Aktivitäten machen deutlich, dass japanische Philosophie zunehmend auch international diskutiert wird und nicht mehr aus dem globalen Diskurs der Philosophie wegzudenken ist. Die bisher hier dargestellte Entwicklung betrifft allein die westlichen Sprachen. Die andere Seite des Diskurses zur Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in Japan, und zwar nicht nur der japanischen Philosophie, hat sich seit über hundert Jahren in japanischer Sprache entwickelt. Ein Überblick findet sich im Anhang dieses Bandes.

41

Heisig, James W. / Kasulis, Thomas P. / Maraldo, John C. (Hg.). Honolulu 2011. Einige Jahre zuvor war bereits ein anderes Sourcebook erschienen, das sich aber vor allem auf die Kyōto-Schule beschränkte und hier nicht eigens besprochen werden soll: Sourcebook for modern Japanese philosophy: selected documents. Übers. u. hg. v. David A. Dilworth, Valdo H. Viglielmo u. Agustin J. Zavala. Westport 1998.

II. REFLE XIONEN ZUR EUROPÄISCHEN ­P HI­L O­S O­P HIE­G ESCHI CHTS­S CHREI­B UNG: AUSSCHLÜSSE UND EINSCHLÜSSE

Unterwegs zum euräqualistischen Paradigma der ­Phi­lo­so­phie­geschichte im 18.  Jahrhundert Barbaren, Exoten und das chinesische Ärgernis Franz Martin Wimmer

Einleitung

Als euräqualistisch sind Behandlungsweisen der allgemeinen Geschichte von Philosophie zu bezeichnen, in denen vorausgesetzt wird, dass Philosophie gleichzusetzen sei mit griechisch-okzidentaler Philosophie. Eine solche Gleichsetzung ist seit dem 19. Jahrhundert wohlvertraut, wurde in der Frühaufklärung bereits theoretisch begründet, findet sich jedoch in den meisten Phi­lo­so­phie­geschichten der Aufklärungszeit nicht; darin halten sich Darstellungen von barbarischen oder exotischen Philosophietraditionen überraschend lange. Bei deren Ausscheiden im späten 18. Jahrhundert spielt die Sicht auf chinesische Philosophie eine wichtige Rolle. Der Beitrag skizziert diesen Prozess und entwickelt Hypothesen, die sowohl die Persistenz nicht-okzidentaler Traditionen wie auch deren Verschwinden aus den Selbstbeschreibungen von Philosophie betreffen. Knapp nach 1700 wird in Europa erstmals eine Methodologie für dasjenige entwickelt, was als Phi­lo­so­phie­geschichte bei späteren Generationen hohe Bildungsprominenz gewinnen sollte.1 Dabei wird mit alten, aber nunmehr als schlecht erkannten Gewohnheiten abgerechnet und eine davon ist, dass man den Barbaren der klassischen Tradition hohe Weisheit zuschreiben sollte, auch wenn man nicht allzu viele schriftliche Quellen dafür hat.2 Seit Längerem hatte die philosophia barVgl. Braun, Lucien: Geschichte der Phi­lo­so­phie­geschichte. Darmstadt 1990, S. 109. Aus zwei Gründen wäre Flavius Josephus zum Thema der Barbaren ein wichtiger Autor: erstens, weil er den Historien der Nichtgriechen eindeutig den Vorrang gegenüber den griechischen und römischen Geschichtsschreibern gibt; die (meist kritische) Diskussion seiner Quellen bei Philosophiehistorikern der Neuzeit spielt dementsprechend eine große Rolle. Zweitens, weil Josephus seine eigene, die jüdische Tradition (zusammen mit der ägyptischen, chaldäischen und phönizischen) als »barbarisch« bezeichnet und den Ausdruck häufig verwendet, womit eine seit dem 5. Jahrhundert v. AZ etablierte Terminologie zugleich beibehalten und semantisch mehrfach erweitert wird. Es dürfte unmöglich sein, alle Facetten des Begriffs βάρβαροι bei Flavius Josephus mit einem einzigen deutschen Wort wiederzugeben, wie dies einer seiner Kommentatoren auch für das Englische festgestellt hat: »It is impossible to convey this fluidity of nuance in a single English term«, wie unterschiedliche Übersetzungen belegen: »›non-Greek‹ (cf. Thackeray ad loc.: ›non-Hellenic‹; Münster: ›Nichtgriechen‹) sounds purely neutral, while ›barbarian‹ seems unambiguously pejorative (cf. Whiston: ›nations which are called Barbarians‹; Blum: ›Barbares‹).« Siehe: Flavius Josephus: Against Apion. Hg.: Steve 1

2

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barica3 oder auch die vorsintflutliche Philosophie einen unbestrittenen Ehrenplatz bei den Historikern der menschlichen Denkgeschichte, und das betraf ebenso die alten Barbaren, von denen schon Griechen und Römer berichtet hatten, wie auch einige der neuen Barbaren, die erst nach den Entdeckungs- und Missionsfahrten der Neuzeit in Europa bekannt geworden waren. Dazu zählten also ab dem europäischen 17. Jahrhundert nicht mehr nur die Ägypter, Chaldäer, Hebräer, Inder oder Kelten, sondern nun auch die Chinesen. Die verbreiteten Nachrichten über philosophische Leistungen dieser Völker werden aber nun 1715 und in den Folgejahren in Christoph August Heumanns erstem methodologischen Entwurf einer künftigen wissenschaftlichen Philosophiehistorie4 allesamt verworfen. Für Heumann beginnt die Philosophie »ohne alle Homonymie« mit den jonischen Naturphilosophen und bleibt dann auch in ihrem ganzen Werdegang ein griechisch-lateinisch-europäisches Unternehmen. Fall für Fall arbeitet er in den folgenden Jahren all die anderen Traditionen ab und scheidet sie aus: die Ägypter, Chaldäer, die alten Hebräer, Kelten oder eben auch Chinesen. Begeistert rezensiert er darum den ersten Philosophie­ historiker, der das auch schon so gesehen und dessen Darstellung im Lehrwerk eines bekannten Cartesianers 1691 den Einleitungstext gebildet hatte.5 ­ ason. Übers. und Komment.: John M. G. Barclay (Josephus, Flavius: Translation and ComM mentary Bd. 10). Leiden 2007. S. 41, Anm. 231. Ich diskutiere Josephus hier jedoch nicht weiter, weil sein Weltbild sich noch nicht auf China oder auch Indien erstreckt. 3 Dies ist die übliche Benennung, womit sie von »graecanica« abgegrenzt wird. Gelegentlich findet sich auch der Ausdruck »traditionaria« dafür, etwa bei dem Rechtstheoretiker Heineccius, der das so begründet: »Vocabant veteres barbaros, quicumque Graecae non erant originis, adeoque & Hebraei eo nomine notabantur. Nobis autem tota philosophia barbarica TRADITIONARIA dici posse videtur, quum barbari omnes, reliquias sapientiae, a maioribus acceptas, sancte custodierint, easque rursus commendarint posteris.« Heineccius, Johann Gottlieb: Elementa philosophiae rationalis et moralis […] accessere historia philosophica. Amstelodami 2 1730. S. 3. Dieses Buch wurde mehrfach in gleicher Form aufgelegt, zumindest bis 1791 (Vene­ dig); die letzte Auflage (Zacateca, Mexiko 1839) enthält keine Darstellung der Phi­lo­so­phie­ geschichte mehr. 4 Heumann, Christoph August: Acta philosophorum, das ist gründliche Nachrichten aus der historia philosophica. Erstes bis sechstes Stück. Halle 1715 – 1716. Insgesamt erschienen die Acta in 18 Stücken bis 1727. 5 Coste, Pierre: Discours sur la philosophie, où l’on voit en abrégé l’histoire de cette science. In: Pierre-Sylvain Régis: Cours entier de philosophie, ou système général selon les principes de M. Descartes, etc. Amsterdam 1691, S. XXXI–LXXIV. Dass der Verfasser ein junger Philologe und nicht der bekannte Cartesianer Régis war, entging Heumann und ebenso auch noch Lucien Braun (1973), der mit Heumann den Umstand der gänzlichen Ausscheidung außergriechischer Nachrichten irrtümlich dem Umstand zuschreibt, der Autor sei nicht ein Historiker, sondern ein systematisch denkender Philosoph, nämlich eben Régis selbst gewesen. Heumanns Rezension findet sich im 6. Stück der Acta (1716), Kap. VI, S. 1061 – 1069. – Zur Frage der Autorschaft vgl. Piaia, Gregorio: The General Histories of Philosophy in France and in Italy 1650 – 1750. In: Models of the History of Philosophy. Volume II: From Cartesian Age to Brucker. Hg. v. Giovanni Santinello und Gregorio Piaia. Dordrecht 2010, S. 3 – 300, hier S. 79.



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Aber für lange Zeit bleibt diese Option, auch nach Heumann und trotz dessen sonst unverkennbarer Wirkung auf Brucker, den bedeutendsten Historiker der Philosophie in der deutschen Aufklärung, noch bloße Theorie.6 Eine Gleichsetzung von Philosophie mit europäischer Philosophie – ich möchte diese Gleichsetzung »eur­ äqualistisch« nennen, denn »eurozentrisch« ist ein verharmlosender Name dafür – ist für die Philosophiehistoriker des 18. Jahrhunderts trotz Heumanns Verdikten noch sehr untypisch. Im 19. Jahrhundert hingegen ist die euräqualistische Sicht auf die Geschichte der Philosophie bei der überwiegenden Zahl der Historiker7 zur Norm geworden und scheint bis heute für den akademischen Lehr- und Publikationsbetrieb in diesem Fach weitestgehend selbstverständlich und keiner Begründung bedürftig. Der Vorschlag, dass Institute, die sich mit keiner anderen als europäischer und (US-)amerikanischer Philosophie in ihrem Lehr- und Studienbetrieb befassen, sich auch entsprechend deklarieren und benennen sollten (etwa als Institut für europäische und amerikanische Philosophie an der Universität X), wurde ganz aktuell vorgebracht.8 Dieser Vorschlag hat offenbar wenig Aussicht auf Erfolg, denn zu selbstverständlich ist die Gleichung Philosophie = okzidentale Philosophie immer noch. Und natürlich betrifft die Sache nicht nur die Geschichtsschreibung der Philosophie, sondern alle ihre Bereiche. Wer heute etwa von philosophischer Ethik spricht und nur okzidentale Autoren oder Thesen nennt, muss nicht extra sagen, dass es sich um westliche oder okzidentale Ethik handelt. Würde jemand beim selZu Recht schreibt Park, Peter K. J.: Africa, Asia, and the History of Philosophy. Racism in the Formation of the Philosophical Canon, 1780 – 1830. Albany 2013. S. 76: »That philosophy’s origins are Greek was, in the eighteenth century, the opinion of an extreme minority of historians.« Ich folge jedoch Parks Einschätzung von Meiners (1786), der ihm zufolge erstmals diese Meinung begründet habe, nur mit Vorbehalten. Wie auch Park S. 78 bemerkt, war Meiners darin immerhin »the scholarly convention« gefolgt, nicht-griechische Philosophien anzuführen; auf diese Konvention kommt es mir hier an. 7 Ich referiere hier nur (Philosophie-)Historiker. Philosophinnen oder Historikerinnen, welche die Geschichte der Philosophie im Überblick behandelt hätten, sind mir im 18. Jahrhundert nicht begegnet. 8 »The vast majority of philosophy departments in the United States offer courses only on philosophy derived from Europe and the English-speaking world. For example, of the 118 doctoral programs in philosophy in the United States and Canada, only 10 percent have a specialist in Chinese philosophy as part of their regular faculty. Most philosophy departments also offer no courses on African, Indian, Islamic, Jewish, Latin American, Native American or other non-European traditions. Indeed, of the top 50 philosophy doctoral programs in the Englishspeaking world, only 15 percent have any regular faculty members who teach any non-Western philosophy«, schreiben: Jay L. Garfield/Bryan W. Van Norden: If Philosophy Won’t Diversify, Let’s Call It What It Really Is. In: The New York Times 2016. Internet: http://www.nytimes. com/2016/05/11/opinion/if-philosophy-wont-diversify-lets-call-it-what-it-really-is.html?_r=2 (Stand: 01. 02. 2017). Garfield und van Norden halten dies für irreführend und plädieren für eine Diversifizierung. Solange diese aber ausbleibt, sollten die Philosophie-Institute sich offen umbenennen, um anzugeben, was sie wirklich sind, nämlich etwa ein »Department of European and American Philosophy« (ebd.). 6

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ben Thema nur afrikanische oder chinesische Quellen nennen, so wäre klarerweise von afrikanischer oder chinesischer Ethik, nicht einfach von Ethik die Rede. Und so weiter. Das ist Euräqualismus, nicht Eurozentrismus.9

1.  China im philosophiehistorischen Weltbild der Aufklärung

Eurozentrisch, aber nicht euräqualistisch waren Darstellungen der Phi­lo­so­phie­ geschichte in den allermeisten Fällen noch das ganze 18. Jahrhundert hindurch, wie auch schon davor seit der Zeit des Humanismus. Man kannte und beschrieb die Geschichte der Menschheit ausgehend vom ersten Buch des Alten Testaments und darauf fußenden Berechnungen. Das war, selbst bei den frühesten berechneten Daten für das Alter der Welt, eine sehr überschaubare Geschichte.10 Seit der Zeit der Kirchenväter bis zu Universalgelehrten wie Athanasius Kircher waren auch hinreichend viele Versuche unternommen worden, um diese biblische Geschichte der Menschheit mit Mythologien und Historikern der griechisch-römischen Antike in Einklang zu bringen, sodass etwa katholische Gymnasiasten in Prag um 1725 die sechs Perioden bequem im Einzelnen lernen konnten, in die das Lehrbuch die bis damals verflossenen 5777 Jahre seit der Erschaffung der Welt einteilte.11 Eher noch handlicher sind die zwölf Perioden, in die ein hugenottischer Gelehrter derselben

  9

Gewöhnlich verwendet die Literatur zur Philosophiehistorie bislang Termini wie »Eurozentrismus« und »eurozentrisch« sowohl für die Behandlungsweise, welche nicht-okzidentale Philosophien erfahren haben, als auch für deren etablierten Ausschluss und die genannte Gleichsetzung. Ich schlage für Letztere eine andere Bezeichnung vor, weil dies einen qualitativen Unterschied zu einer bloß zentristischen Perspektive auf Anderes darstellt, die etwa darin bestehen würde, das Andere mit Begriffen und Wertungen der eigenen Tradition zu sehen und darzustellen. Während solche Zentrismen in vielen Epochen und Gesellschaften belegbar sind, scheint Äqualismus – für den Bereich der Philosophie – ein Produkt der europäischen Aufklärung zu sein. Für die Sicht auf die meisten anderen Bereiche menschlicher Kultur – wie Kunst, Religion, sogar Wissenschaft – herrscht im Zeitalter des Kolonialismus und Kulturimperialismus zwar Eurozentrismus, aber nicht ein Äqualismus vor. 10 Vgl. Bucelinus, Gabriel: Der gantzen Universal Historia Nußkern / Darinnen selbige auf das kürtzeste und annehmlichste / nit allein auf die Jahr / sondern auch Tag gebracht etc. Ulm 3 1678: »Es ist Christus der Herr geboren nach der Meinung nachfolgender Auctorn. Von Erschaffung der Welt Nach Meinung Pici Mirandulani 3509 […] Saliani, cui et nos accessimus 4053 […] Alphonsi Regis Aragonum 6984«. 11 Vgl. Josepho, Amadeus a S.: Institutio Syntactica Emmanuelis Alvari Sententiis, Proverbiis et Exemplis maxime Historicis ab Orbe Condito usque ad Nostram Aetatem Instructa. Pragae 1725. Die längste Periode ist hier übrigens die letzte (1725 Jahre seit Christi Geburt), die anderen sind kürzer: Adam bis Sintflut 1657 »anno mundi« (a.m.), Noah bis Abraham 2039 a. m., Abraham bis Saul 2962 a. m., David bis babylon. Gefangenschaft 3446 a.m., Nabuchodonosor bis Tod Cäsars 4011 a. m., Geburt Christi: 4052 a. m.



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Zeit die Menschheitsgeschichte einteilte.12 Dass bei solchen Befunden Berichte von Missionaren über die Annalen der Chinesen, die ein weitaus höheres Alter der Welt zu belegen schienen – und jedenfalls, völlig undenkbar, über die Sintflut hinausreichten –, ihren Teil zu einer Krise des europäischen Geistes13 beitrugen, verwundert nicht. Vor dem Hintergrund eines biblischen Geschichtsbildes spielte sich auch die Geschichte der Philosophie unter den Nachkommen Adams und Noahs ab. Auch wenn es heute schwer einleuchtet: Die Geschichte noch so entlegener und neu entdeckter »Barbaren« musste schließlich mit der biblischen Geschichte zusammenstimmen. Das kann man getrost eurozentrisch nennen, im Ganzen wie im Detail. So ist es nur ein Beleg unter vielen, wenn wir in einem Abriß der Geschichte der Weltweisheit aus der Mitte des 18. Jahrhunderts erfahren: »Die Chineser sind das älteste Volk, das sich auf die Weltweisheit geleget, und deren Ursprung von dem Fohi, ihrem ersten Könige, den einige nicht ganz unwahrscheinlich vor den Noah halten, herleitet.«14 Nicht nur eine so allgemeine Einordnung in die ureigene Weltgeschichte ist die Regel, sondern die Termini und Themen der Darstellung entstammen ebenso dieser eigenen Tradition, Verschiedenheit wird schnell als Defizienz erkannt. Das reicht von der These, es könne auf Chinesisch eigentlich keine Gedichte geben (wegen der Einsilbigkeit der Sprache), bei Renaudot15 bis zur häufig konstatierten Metaphysik-Abstinenz der Chinesen und ihrem hartnäckigen Atheismus16 und SpinozisVgl. Le Clerc, Jean: Abregé de l’Histoire Universelle Depuis Le Commencement du Monde Jusques à L’Empire de Charlemagne. Amsterdam 1730. Hier ist die längste Periode von Adam bis zur Sintflut mit 1656 Jahren angenommen, was aber bei den legendär langen Lebenszeiten der Patriarchen vor der Sintflut auch nicht viele Generationen ausmachte; die zweitlängste ist auch hier die gegenwärtige: von 800 bis 1730 n. Chr. Le Clerc setzt die Geburt Christi übrigens mit gewissem Zweifel im Jahr 3984 a.m. an. 13 Vgl. Hazard, Paul: Die Krise des europäischen Geistes. 1680 – 1715. Hamburg 1939. 14 Lodtmann, Carl Gerhard Wilhelm: Kurzer Abriß der Geschichte der Weltweisheit nach der Ordnung der Zeiten: zum Gebrauch academischer Vorlesungen entworfen. Helmstädt 1754, S. 12. 15 Es »läßet sich nicht wohl begreiffen, wie lauter einsilbige Worte eine gute Harmonie und Poesie machen können«, lesen wir bei Renaudot, Eusèbe: Nachricht und Urtheil von der Philosophie der Sineser. Übersetzt von Christoph August Heumann. In: Acta philosophorum, das ist gründliche Nachrichten aus der historia philosophica. Elftes Stück. Halle 1720, S. 717 – 86, hier S. 781. 16 Gundling wundert sich darüber, »quod constet & Confucium cuius auspiciis morum doctrinas sectati sunt, cuiusque manes summa veneratione adhuc hodie prosequuntur, & litteratos fere omnes Atheismi vinculis implicitos constringi«: Gundling, Nicolaus Hieronymus: Historia Philosophiae Moralis: In Qua De Opinionibus Variarum Sectarum De Scriptis Libris Et Auctoribus Eo Pertinentibus Ea Qua Par Est Libertate Disseritur etc. Halae 1706, S. 37. Der Hildesheimer Superintendent Reimmann beschreibt die Sache 1725 differenziert in seiner allgemeinen Geschichte des Atheismus, kommt aber dann mit seinem Koautor Mencke 1727 zu 12

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mus17. Das ist alles in allem zentristische, eurozentristische Beschreibung. Aber: Philosophie wird hier noch nicht gleichgesetzt mit europäischer Philosophie. Erst gegen Ende des Jahrhunderts werden Dieterich Tiedemann18 und Wilhelm Gottlieb Tennemann19 ihre Darstellungen der Geschichte des philosophischen Denkens ohne jede Besprechung von vor- oder außergriechischen Traditionen beginnen und durchführen, sie werden nicht mehr eurozentrisch, sondern euräqualistisch vorgehen. Die meisten der einflussreichen Philosophiehistoriker der Folgezeit werden dieses Vorgehen zur Norm machen. Zwei Fragen liegen nahe: Was war in den Jahrzehnten nach Heumanns Programm, wie sind die Philosophiehistoriker des 18. Jahrhunderts mit der überkommenen barbarischen Philosophie und insbesondere mit der chinesischen umgegangen? Und: Waren denn Tiedemann und Tennemann damit so überzeugend, dass ab dann niemand mehr ernsthaft nach den Barbaren fragte? 2.  Die Präsenz der philosophia barbarica und exotica

Ich will die zweite Frage nur kurz erörtern, denn ihre Behandlung betrifft das lange 19. Jahrhundert, aber ein Datum daraus möchte ich doch erwähnen, weil es so spät liegt und weil es eine Verlegenheit zum Ausdruck bringt, der man mutatis mutandis bündigen Formulierungen über die Philosophen Chinas: »Eosdem destitui Philologia, Logica, & Metaphysica. Et quod caput rei est, vera Theologia.« und: »Fuisse in China Epicuraeismum ante Epicurum & post Epicurum.« Mencke, Johann Burchard/Reimmann, Jacob Friedrich: Historia Philosophiae Sinensis nova methodo tradita. Praemissum est Auctoris de Historiae Philosophicae Lacunis, Monitum. Brunsvigae 1727, S. 6 f. 17 Pierre Bayle hatte im Dictionnaire historique et critique (1697) über chinesische Philosophie, insbesondere den Buddhismus, lediglich im Artikel über Spinoza sowie in verstreuten Bemerkungen z. B. zu Maldonat gehandelt, und diese Beschreibungen konnten deutsche Leser in der Übersetzung der 1740er Jahre nachlesen; vgl. Bayle, Pierre: Historisches und Critisches Wörterbuch. Übersetzt von Johann Christoph Gottsched. 4 Bde. Leipzig 1741 – 1744. Bd. 4, S. 264 (ad Spinoza), Bd. 3, S. 298 (ad Maldonat). 18 Tiedemann, Dieterich: Geist der speculativen Philosophie von Thales bis Sokrates. 6 Bde. Bd. 1. Marburg 1791. S. XIX: »Nun wird allgemein zugestanden, daß alle Lehren der Chaldäer, Perser, Indier, und selbst der Aegypter, so weit sie uns bekannt sind, entweder bloße Dichtungen halb roher Zeiten enthalten, oder auf religiöse Vorstellungen hinausgehen, keine zuverlässige Nachricht wenigstens gedenkt irgend einiger Beweise aus Begriffen, oder Erfahrungen. Von der Philosophie dieser Völker haben wir demnach kein Recht zu reden, noch in einer Geschichte der Philosophie solche Lehren aufzustellen.« 19 Tennemann, Wilhelm Gottlieb: Geschichte der Philosophie. 11 Bde. Bd. 1. Leipzig 1798, S. 30 und 32: »[…] finden wir, daß man nur in denen Nationen anfing zu philosophiren, welche sich zu einer beträchtlichen Stufe des Wohlstandes und der Cultur gehoben hatten, wie das der Fall bei den Asiatischen Griechen, kurz um die Zeit der Entstehung der persischen Monarchie der Fall war.« Den »ersten Schritt über die Natur that die Vernunft unter den Griechen, zu Thales Zeiten, und mit ihm beginnt die obgleich noch dunkle Geschichte der Philosophie.«



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bis heute begegnen kann: Albert Stöckls Lehrbuch der Geschichte der Philosophie erschien 1870 und darin wurde (noch) die »Philosophie bei den Chinesen« so benannt und beschrieben. Dieselbe Beschreibung findet sich auch noch in der dritten Auflage 1888, aber dann unter einem anderen Titel, es handelt sich jetzt dabei um »Die chinesische Gelehrsamkeit« und nicht mehr um Philosophie, die übrigens auf einer einzigen Druckseite abgehandelt werden konnte.20 So oder ähnlich – häufig wird der Terminus Weisheit hier eingesetzt – verhalten sich künftig viele Autoren besonders im Hinblick auf China,21 und die neuerdings besonders im Englischen übliche Redeweise, nicht-okzidentale Philosophien als »world philosophies« von »philosophy« zu unterscheiden, ist ein Nachklang dieser Verlegenheit: Diese Anderen sollten nicht verschwiegen werden, aber doch auch nicht ganz dazugehören. Für die Philosophiehistorie des 18. Jahrhunderts – jedenfalls für die in dieser Epoche hierin dominierende deutsche Tradition – lässt sich sagen, dass so gut wie alle Autoren in ihren Kapiteleinteilungen der Tradition treu bleiben und (auch) barbarische oder exotische Philosophien beschreiben. Diese Beschreibungen werden freilich gegen Ende des Jahrhunderts zunehmend knapper, sie beschränken sich zuletzt auf fast nichts weiter als eine Liste zu konsultierender Werke von eher kulturgeschichtlichem Interesse wie etwa bei Buhle 179622, aber sie bilden einen quasi kanonischen Einführungsteil, bevor der Autor dann zum Wesentlichen, nämlich zur griechischen Philosophie kommt. Und weil bei den Professoren der Philosophie, zuerst bei den lutherisch Reformierten und später auch bei Katholiken, die Gewohnheit sich durchsetzt, Überblicksvorlesungen zur Geschichte der Philosophie zu halten und diese dann ein-, zwei-, mehrbändig zu veröffentlichen, können wir uns heute noch viele Beispiele auch für die Behandlung der barbarischen Philosophie ansehen. Vgl. Stöckl, Albert: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Mainz 1870. 3. verb. Aufl. 1888. Bd. 1, jeweils S. 15. 21 Aufschlussreich ist hierzu eine Aussage von Gadamer aus neuerer Zeit: »Es ist im Grunde völlige Willkür, ob wir das Gespräch eines chinesischen Weisen mit seinem Schüler Philosophie nennen oder Religion oder Dichtung.« Vergleichbares treffe auf indische Traditionen zu. Es sei der »Begriff der Philosophie […] noch nicht auf die großen Antworten anwendbar, die die Hochkulturen Ostasiens und Indiens auf die Menschheitsfragen, wie sie in Europa durch die Philosophie immer wieder gefragt werden, gegeben haben.« Gadamer, Hans-Georg: Europa und die Oikoumene. In: Europa und die Philosophie. Hg. v. Hans-Helmuth Gander. Frankfurt a. M. 1993, S. 86. 22 Vgl. Buhle, Johann Gottlieb: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie und einer kritischen Litteratur derselben. Erster Theil. 8 Bde., Bd. 1. Göttingen 1796. Behandelt wird hier die Philosophie der »Aegyptier, Hebräer, Phönicier, Chaldäer, Perser, Hindostaner, Sinesen«, wobei bei Letzteren besonders Konfuzius hervorgehoben wird, über den es allerdings S. 108 f. heißt: »In den Schriften, die ihm beygelegt werden, ist […] keine Spur einer besonderen Lehre von ihm über die Gottheit, über den Zustand der Seele nach dem Tode u.s.w., anzutreffen, sondern sie sind historischen, moralischen, legislatorischen, und diätetischen Inhalts.« 20

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Das ist also die eine Möglichkeit, auch Chinas Philosophie im historischen Weltbild der Philosophie unterzubringen: sie als eine der barbarischen, in einer Reihe mit ägyptischer, chaldäischer etc. Philosophie zu beschreiben. Dass China in dieser Reihe überhaupt vorkommt, war verhältnismäßig neu und ein Verdienst der Übersetzungen von Jesuitenmissionaren, denn die bedeutenderen Autoren des 17. Jahrhunderts hatten davon noch nichts gehalten. Thomas Stanley23, Johannes Gerhardus Vossius24, aber auch Jakob Thomasius25 und andere beschreiben zwar die Philosophie von »Barbaren«, erwähnen China dabei aber nicht. Der Engländer Thomas Burnet scheint in seinen Archaeologiae philosophicae 1692 erstmals eine solche Lis­te vorgelegt zu haben, in der chinesische Philosophie als eine der Traditionen der »per varias terrarum gentes« im Altertum der Menschheit entwickelten Philosophie vorkommt, nämlich als eine der Varianten von indischer Philosophie: »Indorum Orientalium perlustratio. Speciatim de Serum & veterum Brachmanum literis & Philosophia« heißt der dritte Abschnitt in Burnets einleitendem Kapitel, noch bevor er auf Assyrer und Chaldäer, Perser, Araber und Phönizier, Hebräer und zuletzt Ägypter zu sprechen kommt.26 Über die »Seres, qui hodie Sina aut Sinenses dicti sunt« berichten Burnets antike Quellen ihm nur, dass sie ein hohes Alter erreichen und die Kunst der Seidenerzeugung kennen.27 Erst von christlichen Kaufleuten und Missionaren weiß er, dass ihr Staat seit ältesten Zeiten besteht, dass sie eine reiche Literatur und insbesondere Annalen haben, deren behauptetes Alter für Kenner der biblischen Geschichte unglaublich ist und die eine von äußeren Einflüssen ganz unabhängige Kulturentwicklung belegen sollen.28

Stanley, Thomas: The History of Philosophy, in Eight Parts. London 1656. Ders.: Historia philosophiae orientalis. Übersetzt von Joannes Clericus. Amstelodami 1690. Letzteres gibt den entsprechenden Abschnitt des Hauptteils wieder, wobei hier wie dort auffallenderweise neben China und Indien auch Ägypten fehlt, dessen Absenz nach Braun: Geschichte der Phi­lo­so­phie­ geschichte S. 77 auf ein philologisches Argument zurückgeht. 24 Vossius, Joh. Gerardus: De philosophorum sectis. 2 Bde. Hagae Comitis 1658. 25 Thomasius, Jacobus: Schediasma historicum, quo […] varia discutiuntur ad historiam tum philosophicam, tum ecclesiasticam pertinentia. Lipsiae 1665. 26 Burnet, Thomas: Archaeologiae philosophicae sive doctrina antiqua de rerum originibus libri duo. London 1692. 27 Diese Nachrichten lassen an Pomponius Mela (1. Jahrhundert) als Quelle denken, dessen Kosmographie bereits 1471 gedruckt worden war. Vgl. Pomponius Mela: Kreuzfahrt durch die Alte Welt. Hg. v. Kai Brodersen. Darmstadt 1994. 28 Burnet: Archaeologiae 1692, S. 15: »[…] a Noachi posteris: αυτοκέφαλοι και αυτοδιδάκτοι. Sunt apud ipsos, antiquitatis nobis incredibilis, annales.« Burnet verweist in dem Abschnitt als einzige Quelle auf: Martini, Martino: Sinicae Historiae Decas Prima. Res a gentis origine ad Christum natum in extrema Asia, sive Magno Sinarum Imperio gestas complexa. München 1658. Martini nimmt eine Besiedlung Chinas knapp nach der Sintflut an: »a cessatione diluvii, imo ante turris Babylonicae molitionem.« S. 7. 23



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Die Subsumtion der chinesischen unter indische Philosophie findet sich übrigens im 18. und 19. Jahrhundert immer wieder. So schon bei Gundling 170629, ferner in den Kompendien von Reinhard (1725), der Konfuzius zum größten Philosophen Indiens und Chinas erklärt, und Buddeus (1731).30 In der lexikalischen Behandlung Gautiers (1723) ist Konfuzius ein Schüler der Brahmanen: »On prétend que Confucius a été instruit de sa doctrine par les Brachmanes, ou Docteurs Indiens.«31 Und Brucker schreibt: »Übrigens gehören zu den Indianern auch die Sinenser, deren Philosophus Confucius erst zu unsern Zeiten berühmt worden ist […]«32 Das Einfluss-Verhältnis kehrt sich manchmal um,33 aber immer noch werden die Chinesen unter Indien abgehandelt, wenn wir 1807 bei Ernesti lesen: »Man rechnet in der weiten Bedeutung China oder Sina zu Indien: die Philosophie der Sinesen kommt auch mit der Indischen überein«34 und von Krause erfahren wir 1829: »[…] das älteste System der Siner ist, nach Morrison’s Zeugniss, der Buddh’ismus; und es scheinen überhaupt die weiteren Ausbildungen der philosophischen Systeme in Sina zu der indischen Philosophie im Verhältnisse späterer, erneuerter Umbildungen, oder Reproductionen zu stehen.«35 Mehr oder weniger stereotyp – die Reihung ist nicht immer gleich und die Liste insbesondere der europäischen Barbaren schwankt – wird das die Mehrzahl der Autoren bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts so sehen: Chinesische Philosophie stellt einen Fall von (nachsintflutlicher) barbarischer Philosophie dar.36 Erst ab den 1760er Jahren – einer Zeit, in der besonders viele Phi­lo­so­phie­geschichten entstehen – stoßen wir auf Darstellungen, in denen zwar die traditionellen Barbaren aufscheinen, Nachrichten über chinesische Philosophie jedoch fehlen – und dies vorwiegend bei eher prominenteren Autoren (wie Formey, Adelung); im Zeitraum 1700 – 1750 ist Historia, S. 32: »Commodissime autem procedemus, si Indiam in duas partes distinguamus, unam, quae est in extremo Oriente China dicta, altera, quae est Austrum versus. Utrobique Philosophos inveniemus.« 30 Vgl. Reinhard, Lorenz: Compendium historiae philosophicae. Lipsiae 1725. S. 28: »Auctor […] philosophiae Indorum & Chinensium, omnium doctorum virorum consensu, dicitur Confucius […]« und Buddeus, Johann Franz: Compendium historiae philosophicae. Observationibvs Illvstratvm. Hg. v. Johann Georg Walch. Halae Saxonvm 1731. S. 59: »Supersunt in Asia Indi, quo nomine Seres, quos hodie Sinenses vocamus, complecti possumus.« 31 Gautier, Hubert: La Bibliotheque Des Philosophes, Et Des Sçavans, Tant Anciens Que Modernes. 2 Bde. Bd. 1. Paris 1723, S. 371. 32 Brucker, Jakob: Kurtze Fragen aus der philosophischen Historie von Anfang der Welt, bis auf die Geburt Christi mit ausführlichen Anmerkungen erläutert. Bd. 1. Ulm 1731. S. 140. 33 Reinhard, Lorenz: Compendium historiae philosophicae. Lipsiae 1725, S. 30: »Nostra etiam aetate in India adhuc floret philosophorum secta, sequens doctrinam Confucii […]«. 34 Ernesti, Johann Heinrich Martin: Encyclopädisches Handbuch einer allgemeinen Geschichte der Philosophie und ihrer Litteratur. Lemgo 1807, S. 170. 35 Krause, Karl Christian Friedrich: Vorlesungen über die Grundwahrheiten der Wissenschaft, zugleich in ihrer Beziehung zu dem Leben. Göttingen 1829, S. 251. 36 Vgl. unten Tabelle 1, erste Spalte: Philosophia Barbarica – China inkludiert. 29 Gundling:

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mir diese Option nur einmal, bei einem wenig bekannten Autor, begegnet.37 Aber immer noch halten sich auch in der zweiten Jahrhunderthälfte diese Fälle nur in etwa die Waage mit solchen, die das in der zuvor genannten Art sehen. Dieselbe Art der Behandlung findet sich vereinzelt auch noch im 19. Jahrhundert,38 aber wirklich plausibel scheint es vor allem in der frühen Aufklärung gewesen zu sein, Chinas Philosophie als eine der Traditionen des Altertums aufzufassen und neben Chaldäer, Ägypter, Hebräer, aber auch Kelten, Skandinavier und Inder zu reihen. Seit den Arbeiten der 1730er und 40er Jahre von Brucker und Boureau-Deslandes haben Philosophiehistoriker in Bezug auf chinesische – wie auch japanische und indische – Philosophie jedoch noch eine zweite Option. Diese andere Möglichkeit hatte in gewisser Weise für den Fall Chinas schon Georg Hornius 1655 vorgeführt.39 Sie besteht darin, Philosophie aus China nicht mit den üblichen Völkern der Frühzeit, sondern gesondert davon abzuhandeln. Hornius beschreibt »Sinensium Philosophia. Antiquis Seres. Medio aevo Cathaei« entsprechend deren Bekanntwerden in Europa, nämlich als Einschub zwischen der Darstellung der Scholastik bis zum neuen Platonismus in Italien und späteren Autoren wie Marsilio Ficino und den Lutheranern, also im Kontext des 15./16. Jahrhunderts. Schon die Antike habe von der gerechten Ordnung ihres Staatswesens gewusst – »quis dubitet etiam Philosophiam excoluisse?«40 Persern und Sarazenen sei die Philosophie der Chinesen schon lange bekannt gewesen, den Europäern sei sie aber trotz Marco Polo und John Mandeville lange verborgen geblieben und auch jetzt sehr umstritten. Unstrittig jedoch ist für Hornius, dass in China – und nur dort – Philosophen regieren, die sich alle auf Lehrsprüche des »Confutius« berufen, welche allerdings »non difficiliores« sind »quam Officia Ciceronis«, ein Vergleich, der für gewöhnlich erst Hegel zugeschrieben wird.41 Kalckstein, Anton: Notitia philosophiae historica etc. Wratislaviae 1715. Seine Geschichte des menschlichen Denkens spielt sich westlich des Tigris, also in etwa innerhalb der römischen Reichsgrenzen ab. Vgl. Tabelle 1, zweite Spalte: Philosophia Barbarica – China exkludiert. 38 Zum Beispiel bei: Lapeña, Tomás: Ensayo sobre la historia de la filosofía desde el principio del mundo hasta nuestros días. Burgos 1806. Ast, Friedrich: Grundriss einer Geschichte der Philosophie. Landshut 21825. Rixner, Thaddäus Anselm: Handbuch der Geschichte der Philosophie zum Gebrauche seiner Vorlesungen. 1. Band: Geschichte der alterthümlichen, sowohl barbarischen als klassischen Philosophie. Sulzbach 1822. Lichtenfels, Johann Ritter von: Auszug des Wissenswürdigsten aus der Geschichte der Philosophie. Wien 1836. 39 Hornius, Georg: Historiae philosphicae libri VII, quibus de origine, sectis et vita philosophorum ab orbe condito ad nostram aetatem agitur. Lugduni Batavorum 1655. Darin enthält das 2. »Buch« die nichtgriechischen Philosophen ab Noah, worunter auch »Indorum Philosophi Brachmanes« zählen; hingegen wird »Sinensium Philosophia« im 6. »Buch« geschildert, das ansonsten die Epoche seit dem 9. Jahrhundert bis zur Gegenwart behandelt. 40 Ebd., S. 308. Er stützt sich auf den Bericht von Pomponius Mela, vgl.: Kreuzfahrt, S. 169. 41 Ebd., S. 310. Der Vergleich der Lehrsprüche des Konfuzius mit Ciceros »de Officiis« ist bekannt und wird oft zitiert – aber als abfälliges Diktum Hegels, der die Rangordnung allerdings 37



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Eine vergleichbare, aber doch ganz anders durchgeführte Lösung findet Jakob Brucker, der trotz seiner Hochschätzung von Heumanns Entwurf diesem in der restriktiven Auswahl an berichtenswerten Traditionen nicht folgt. Auch er löst die Philosophie Chinas (mit anderen) aus der Reihe der frühgeschichtlichen Traditionen heraus, behandelt sie aber gesondert in einem Annex als exotische Philosophie. Dass die Vernunft allen Menschen gemein sei, überzeugt Brucker ebenso wie die Nachrichten über die Philosophia barbarica, die er im ersten Band seines deutschen Hauptwerks dargelegt hatte, davon, wie er nach dem Durchgang durch die griechisch-römische und europäische Philosophie nun im siebten Band festhält, »daß wir nicht unvernünftig handeln, wann wir bey Betrachtung der Philosophischen Historie auch einen Blick in die übrige Theile des bewohnten Erdbodens thun, und nachsehen, ob nicht bey den übrigen Völckern der Welt philosophirt worden seye?«.

»Man muß sich aber«, so schränkt er gleich warnend ein, »wie bey der alten Philosophie der Ausländer«, womit die barbarica gemeint ist, »also auch bey der neuern einen andern Begriff davon machen, als von der Europäischen.«42 Hier wie dort fielen »die Philosophie und Theologie in eins zusammen«, weswegen das eigentlich Gegenstand einer allgemeinen Religionsgeschichte wäre. Da er diese jedoch für ein Desiderat hält, da ferner die Philosophie »am ehesten« in Asien »geblühet hat, also finden sich noch heutigen Tages daselbst Leute, welchen man den Nahmen der Philosophorum nicht gantz absprechen kan.« Brucker findet daher »[…] Gelegenheit sich um die Philosophie vieler Asiatischen Völcker zu bekümmern, die wir bessern Begriffs wegen mit einem Wort die Indianische Philosophie nennen können. Doch auch hier ist unmöglich alle Indianische Völcker durchzugehen, und es wird für unsere Absicht genug seyn, wann wir von der Philosophie der Malabaren, der Chineser, der Japoneser etwas gedencken, zum Schluß aber auch nach America einen Blick thun, und anhören werden, was vor eine Metaphysic man den Iroquoix in Canada beygelegt habe.«43

Diese Nachfrage Bruckers ist in der Ausführung selbst sogar noch kompletter, denn er fragt auch nach Philosophien im nicht-islamischen Afrika – und er wird diese Fragen auch in seinen für ein internationales Publikum geschriebenen lateinischen Werken beibehalten.44 anders als Hornius sieht: »Cicero de officiis – ein moralisches Predigtbuch giebt uns mehr und Besseres als alle Bücher des Konfutsee.« Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Hg. v. Karl Ludwig Michelet. Berlin 1833. S. 140. 42 Brucker: Kurtze Fragen. Bd. 7, S. 1044 f. Bei sehr ähnlichen Voraussetzungen – Philosophie liegt in der Natur aller Menschen, es gibt Zeugnisse für hohe Weisheit in Asien, deren Denken war noch ganz von Religion bestimmt – wird Victor Cousin 1828 zu einer ganz anderen Konsequenz kommen und diese alten Traditionen nicht mehr darstellen. Vgl. Fn. 56. 43 Ebd., S. 1046 f. 44 Vgl. Brucker, Jakob: Historia Critica Philosophiae a Mundi Incunabilis, ad Nostram usque

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Bruckers Lösung hat nicht viele Nachfolger gefunden. Sie findet sich zwar in einer englischen Kurzfassung45 von Bruckers Werk gegen Ende des 18. Jahrhunderts, tatsächliche Wirkung hat sie aber dadurch, dass Denis Diderot, der für die Encyclopédie die meisten der philosophiehistorischen Artikel verfasst hat, sich dabei ganz auf Brucker stützte. Da diese sowohl in der Encyclopédie selbst als auch in der gesonderten Veröffentlichung von deren philosophiehistorischen Artikeln46 in drei Bänden alphabetisch angeordnet ist, lässt sich die bruckersche Sonderbehandlung der philosophia exotica hier nicht mehr nachvollziehen; jedoch gibt die Inhaltsübersicht ein deutliches Bild davon, welche Traditionen Eingang gefunden haben. Das Bild der außereuropäischen Traditionen ist hier wesentlich reicher als die magere Auswahl, die Pierre Bayle in seinem Projekt eines allgemeinen Wörterbuchs 1679 vermittelt hatte, worin etwa der chinesische Buddhismus wie auch Konfuzius beinahe ausschließlich im Artikel »Spinoza« behandelt worden waren.47 Es gibt dagegen bei Diderot zahlreiche Einträge, die nicht-okzidentale Philosophien behandeln, von der »philosophie chez les anciens Arabes« (Bd.  1, 8 – 21) bis zur »Philosophie de Zenda Vesta« (Bd. 3, 399 – 414) – und aufgrund der alphabetischen Anordnung sind einzelne Abschnitte besonders augenfällig. Ein Beispiel aus dem ersten Band der Auswahl48 kann dies illustrieren:

Aetatem Deducta. Bd. 5. Lipsiae 1744, S. 919 – 923. Was Amerika und Afrika betrifft, so kommt er jedoch zu einem betrüblichen Ergebnis, das in der einbändigen Studienausgabe bündig so lautet: »In Africa […] et America tam detestabilis vbique superstitio regnat, vt non modo philosophiam omnem, sed et vsum rationis eiurasse videantur.« Vgl. Brucker, Jakob: Institutiones Historiae Philosophicae Usui Academicae Iuventutis Adornatae. Lipsiae 21756, S. 884. 45 Enfield, William: The History of Philosophy: From the Earliest Times to the Beginning of the Present Century; Drawn Up from Brucker’s Historia Critica Philosophiæ. 2 Bde. London 1791. 46 Diderot, Denis: Histoire générale des dogmes et opinions philosophiques. Depuis les plus anciens temps jusqu’à nos jours. Tirée du Dictionnaire Encyclopédique des Arts et des Sciences. 3 Bde. Londres 1769. 47 Vgl. Fn. 17. 48 Siehe das Inhaltsverzeichnis am Schluss des dritten Bandes von Diderot: Histoire générale. 1769, S. 415.



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Das hier alphabetisch bedingte Durcheinander führt sehr sinnenfällig vor Augen, wie selbstverständlich der globale Blick Bruckers in der Encyclopédie nachwirkt. Zugleich geben die Seitenzahlen auch eine ungefähre Vorstellung davon, in welcher relativen Ausführlichkeit die einzelnen Themen behandelt worden sind – es wird etwa ersichtlich, dass der Abschnitt über den Cartesianismus unwesentlich länger als derjenige über chinesische Philosophie ausfällt, eine Proportion, die im Vergleich mit späteren historischen Wörterbüchern erstaunen muss, wenn man den damaligen Stellenwert Descartes’ berücksichtigt. Keine der beiden bisher angesprochenen Möglichkeiten, in der historischen Selbstreflexion der Philosophie mit deren nichtgriechischen und nicht-okzidentalen Formen umzugehen, wird in bis heute autoritativen Darstellungen und Handbüchern des 19. Jahrhunderts49 noch eine merkliche Rolle spielen. Mit der Verabschiedung des biblischen Bildes von der Urgeschichte ist auch die Denkgeschichte früher nachsintflutlicher Völker für Philosophiehistoriker keine Nachfrage mehr wert. Zwar werden nun einige dieser traditionellen Urvölker als Gegenstand neu entwickelter Disziplinen – wie der Ägyptologie und der Altorientalistik – viel genauer als früher untersucht, auch sind ihre Schriftzeugnisse nach und nach zugänglich, aber in den allgemeinen Phi­lo­so­phie­geschichten spielen sie keine Rolle mehr. Was sich darin vielmehr durchsetzen wird, ist eine dritte Möglichkeit, die allerdings im Jahrhundert der Aufklärung noch ganz und gar nicht vorherrschte, nämlich ein konsequenter Euräqualismus im Philosophie-Verständnis, der sowohl über die altvertraute philosophia barbarica als auch über Bruckers exotica den Mantel des Schweigens breitet. Tiedemann ist noch ein Einzelfall, als der Rezensent der Allgemeinen Literatur-Zeitung 1792 über Vollbedings eben erschienenes Lehrbuch der theoretischen Philosophie urteilt: »In dem ersten Theile, welcher eine kurze Uebersicht der Geschichte der Philosophie bey der Vorwelt, bey den ältesten Völkern und ersten Philosophen, enthält, spricht der Vf. noch von der Weltweisheit der ersten Menschen vor der Noachitischen Fluth, von der Philosophie der Chinesen in Erfindung des Seidenbaues, der Seidenmanu­ facturen, der Tusche, des Rechenbretes [sic] u. d. gl. […] Wenn es übrigens wahr wäre, was er S. VII. Vorr. sagt, dass ein gutes Lehrgebäude der Philosophie die Geschichte derselben voraussetze, so würde er wohl sehr um eine Antwort verlegen seyn, wenn man fragen sollte, warum denn gerade die Geschichte der Philosophie bey den ältesten Völkern und Philosophen, von denen wir das wenigste wissen, so unentbehrlich […] sey.«50 Vgl. die Auswahl in der Digitalen Bibliothek: Bertram, Mathias (Hg.): Geschichte der Philosophie. Darstellungen, Handbücher, Lexikon. 2 Aufl. Berlin 2004. 50 Vgl. Rezension der Allgem. Literatur-Zeitung Numero 257, 1792, Sp. 682 zu: Vollbeding, Johann Christoph: Lehrbuch der theoretischen Philosophie. Berlin 1792. 49

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Sehen wir uns den Wechsel zwischen den drei Optionen der Darstellung chinesischer Philosophie in Phi­lo­so­phie­geschichten zwischen 1600 und 1800 in einer tabellarischen Übersicht an: Tabelle 1: Inklusion und Exklusion chinesischer Philosophie in allgemeinen Darstellungen der Phi­lo­so­phie­geschichte zwischen 1600 und 1800: Philosophia Barbarica – mit China 1600 – 1650

Philosophia Ohne Philosophia Philosophia ­Barbarica Barbarica – China Barbarica und – ohne China gesondert dargestellt ohne China (Heurnius 1600, 1619)

Burnet 1692 1650 – 1700

Stanley 1656 Vossius 1658 Kortholt 1660 Thomasius 1665 Grau 1674

Gundling 1706 Kalckstein 1715 Buddeus 1712 (Stolle 1714) Prandtner 1722 1700 Gentzken 1724 – Reinhard 1725 1750 Capasso 1728 Heineccius 1728 Boureau-Deslandes 1737 Lodtmann 1754

Klaus 1757 Buonafede 1766 Handerla 1782 1750 Gurlitt 1786 – Meiners 1786 1800 Eberhard 1787 Gmeiner 1788 (Vollbeding 1792) Buhle 1796

Formey 1760 Feder 1767 Batteux 1769 Büsching 1772 Steinacher 1774 Adelung 1786 – 87 Hartleben 1787 (Werdermann 1795)

Hornius 1655

Coste 1691

Brucker 1731–1736 Brucker 1742–1744 Jaroslai 1746

(Diderot 1769) Enfield 1791

Tiedemann 1791 Tennemann 1798

»Philosophia Barbarica« bezeichnet hier eine im 17./18. Jh. weitgehend stereotyp verwendete Liste von Völkern, die aus der Bibel oder von antiken Autoren bekannt waren (Hebräer, Chaldäer, Perser, Ägypter, Sabäer-Araber, Phönizier, Inder) und ebenso stereotyp ergänzt wurde durch asiatische (China, Japan, Malabaren), afrikanische (Äthiopier, Libyer) und europäische (Skythen, Gallier, Germanen) Völker; gegen Ende des 18. Jh. ist meist nur mehr kursorisch von »sogenannter« barbarischer Philosophie die Rede, wobei dieselben Völker gemeint



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Eine quantitative Interpretation der gesichteten Belege im 18. Jahrhundert mit besonderer Berücksichtigung der Darstellung chinesischer Philosophie ergibt: – In 33 von 35 allgemeinen Darstellungen von Phi­lo­so­phie­geschichte zwischen 1706 (Gundling) und 1798 (Tennemann) werden barbarische oder exotische Philosophien neben griechischen und okzidentalen zumindest kursorisch dargestellt. – 1700 – 1750 überwiegt die Einordnung chinesischer Philosophie in die Reihe der biblisch belegten Fälle von philosophia barbarica mit 9 von 13 gesichteten Werken. Drei Werke behandeln China als exotica (vor allem Bruckers Hauptwerke), einmal wird barbarica, nicht aber China dargestellt. In keinem Fall werden nichtgriechische Traditionen ignoriert. – 1750 – 1800 halten sich in 22 gesichteten Werken Darstellungen von philosophia barbarica unter Einschluss (10) und mit Ausschluss Chinas (8) in etwa die Waage (wobei jedoch einige bekanntere Autoren die zweite Option vertreten); zwei Werke behandeln China als exotisch. In zwei (wirkungsgeschichtlich nachhaltigen) Werken werden nicht-griechische Traditionen explizit ausgeschlossen. – Erst in der zweiten Jahrhunderthälfte mehren sich Fälle (in der Tabelle kursiv), die Darstellung nicht-griechischer alter Philosophie bis zur bloßen Aufzählung oder Erwähnung zu reduzieren. 3.  Ausblick: orientalische Philosophie im 19. Jahrhundert

Bevor wir zur Frage übergehen, mit welchen Begründungen oder aus welchen Gründen sich diese Veränderungen in der Philosophiehistorie des 18. Jahrhunderts vollzogen haben, scheint es sinnvoll, noch einen kurzen Blick auf das weitere Schicksal nicht-griechischer Philosophietraditionen, insbesondere derjenigen Chinas in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zu werfen. Die seit zweihundert Jahren vertrausind; im 19. Jh. kommt der Terminus kaum mehr vor, es ist stattdessen von »orientalischer Philosophie« die Rede, wobei diese nicht mehr die alte Liste der »Barbaren« umfasst, sondern eine ebenso stereotype Liste von Traditionen in Asien (meist: Persien, Indien, China). Zugehörigkeit von Autoren nach religiöser Orientierung:

katholisch-christlich reformiert-christlich unkonfessionell bzw. unbekannt Qualifikationsmerkmale: fett: mehrfache Auflagen oder starke Rezeption (…): keine generelle Phi­lo­so­phie­geschichte kursiv: ablehnende Stellungnahme, Erwähnung ohne eigentliche Darstellung

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ten Kapitel über philosophia barbarica finden sich nur mehr vereinzelt und mit anderen Bezeichnungen.51 Einige der bisher darin enthaltenen Traditionen werden aber sehr wohl dargestellt, zuweilen sogar als herausragend, aber meist unter einem neuen Namen. Es ist jetzt meist von orientalischer52 Philosophie die Rede, und dies meint natürlich in erster Linie Regionen in Asien (wozu gewöhnlich Ägypten gezählt wird). In den Listen der orientalischen fehlen zunehmend einige der traditionell als barbarisch oder auch exotisch benannten Philosophien: Alteuropäische und afrikanische Philosophie wird seltener nachgefragt, altamerikanische gar nicht mehr,53 wodurch die Druiden und Barden ebenso verschwinden wie äthiopische, liby­sche oder huronische Philosophie; es scheinen aber auch Japaner, Malabaren und Siamesen seltener auf,54 wogegen Tibetaner55 erstmals besprochen werden. Auffallend ist, dass der euräqualistische Ansatz in diesem Zeitraum zwar zunimmt (sieben von 23 gesichteten Werken repräsentieren ihn), aber noch keineswegs selbstverständlich ist und in Einzelfällen noch ausführlich begründet werden musste.56 Die Mehrzahl der Autoren hält es immer noch für nötig, bei einer Schilde51

Die in Tabelle 2, Spalte 1 genannten Werke handeln die alte Völkerliste der »barbarica« ab, verwenden aber nicht mehr diese Bezeichnung: Lapeña spricht von »Filosofía Antediluviana« und fährt dann mit Chaldäern etc. fort, Stanke von »Philosophia non systematica«. Vgl. Lapeña, Tomás: Ensayo sobre la historia de la filosofía desde el principio del mundo hasta nuestros días. 3 Bde. Bd. 1. Burgos 1806, S. 28 und Stanke, Leander Josef: Compendium historiae philosophiae. Viennae 1841, S. 5. 52 Man sollte erwarten, dass, wenn von »orientalischen« Völkern die Rede ist, auch »okzidentale« (nicht-griechische) behandelt werden, was aber nicht die Regel ist. Eine teilweise Erklärung für diesen Ausfall der ehemals »europäischen Barbaren« findet sich bei Ast: »Auch die nordische Religion der Scandinavier erhielt ihre mythologische Ausbildung vom Oriente, durch die Einwanderung eines asiatischen Volksstammes unter Odins Führung.« Ast, Friedrich: Grundriss einer Geschichte der Philosophie. Landshut 1807, S. 47. 53 Eine Nachfrage etwa zu möglicher Philosophie bei Azteken oder Inkas scheint es in dem ganzen untersuchten Zeitraum nicht gegeben zu haben. Auch Hanusch (1850), der über »die zu ganzen Bergen aufgehäuften altamerikanischen Urkunden mit Bilderschriften« schreibt, »die man auf öffentlichem Platze schonungslos durch Flammen vernichtete«, behandelt lediglich die »Kulturzustände der Amerikaner«: Hanusch, Ignaz Johann: Geschichte der Filosofie von ihren Uranfängen an bis zur Schließung der Filosofenschule durch Kaiser Justinian. Olmütz 1850, S. 69 f. 54 Die Behandlung dieser Völker im 18. Jahrhundert ging offensichtlich auf die inzwischen lange zurückliegenden und im Allgemeinen jetzt nicht mehr berücksichtigten Mitteilungen von Missionaren zurück. 55 Bei Ast findet sich eine Erklärung für die Bedeutung Tibets: »Der Orientalismus erscheint in sich selbst so gebildet, dass der Mittelpunkt und die Einheit seines Wesens Indien ist, das reale Element in der Bildung der Chaldäer und Perser, und das ideale in der Bildung der tibetanischen Völker hervortritt. Beide Glieder des Gegensatzes giengen in Nebenbildungen über. Der chaldäisch-persische Realismus wurde bei den Aegyptern Materialismus, und der tibetanische Idealismus bei den Sinesen Lebensweisheit.« Ast: Grundriss, S. 20. 56 So etwa bei Victor Cousin 1828: Er nennt als erste Zivilisationen der Menschheit die­ jenigen des »Orients« (in China, Indien, Persien, Ägypten) und stellt fest, dass deren Zeugnisse



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rung der Denkgeschichte der Menschheit auf Orientalisches einzugehen, und sei es nur zum Zweck des »Abscheiden[s] des Orients und seiner Philosophie«, wie Hegel dies in seiner bekannten Vorlesung formuliert.57 Für einige aber gewinnt die orientalische Philosophie – der Perser, Inder, Chinesen – einen neuen und über­ragenden Rang. So widmet Windischmann den ersten Band (über 500 Seiten) seines Werks zur Gänze China.58 Die Debatten des vergangenen Jahrhunderts sind für ihn allerdings ebenso wenig wie bei Hegel mehr präsent, weder die Novissima Sinica Leibniz’ noch Wolffs Oratio finden Erwähnung. Der Streit über chinesische Philosophie überhaupt scheint hier vergessen, wie ein Rezensent kritisch anmerkt: »Es wäre wohl passend gewesen bei einem Gegenstande, dessen Quellen nur so ­Wenigen zugänglich sind, bei einem Gegenstande, der die leidenschaftlichsten und gehässigsten Streitschriften, die jemals geschrieben wurden, hervorgerufen hat, es wäre wohl passend gewesen, bei solch einem schwierigen Stoffe in einem einleitenden Kapitel von der relativen Wichtigkeit und Glaubwürdigkeit der Documente zur ­Geschichte der chinesischen Philosophie zu sprechen.«59

Die orientalische Tendenz einzelner Philosophiehistoriker des frühen 19. Jahrhunderts würde eine gesonderte Darstellung erfordern und auch verdienen,60 hier sei nur kursorisch darauf verwiesen, dass es sie gibt. Eine vorläufige Übersicht gibt folgende Tabelle:

hohe Weisheit und eine Art von impliziter Philosophie belegen: »la philosophie indépendante […] ne lui [dem Orient. fmw] ait point manqué, cependant on peut dire qu’il n’a point été donné à la première époque de la civilisation de posséder la vérité sous cette forme libre et philosophique qui était réservée à la seconde.« Im »Orient« habe aber noch keine Entwicklung (»developpement«) der einzelnen Sphären menschlicher Geistestätigkeit stattgefunden: »la philosophie y a son existence comme tous les autres éléments de l’humanité, mais sous la condition de l’enveloppement«. Die Entwicklung findet erst nach dem Übergang der Zivilisation zu den Griechen statt: »La Méditerranée et la Grèce sont l’empire de la liberté et du mouvement, comme le haut plateau du monde indo-chinois est l’empire de l’immobilité et du despotisme.« Zitate nach: Cousin, Victor: Cours de l’histoire de la philosophie: Introduction à l’histoire de la philosophie. Paris 21841, S. 41. 57 Hegel: Vorlesungen, S. 114. 58 Windischmann, Carl Josef Hieronymus: Die Philosophie im Fortgang der Weltgeschichte. Erster Theil: Die Grundlagen der Philosophie im Morgenland. Erste Abtheilung. 3 Bde. Bd. 1. Bonn 1827. 59 Neumann, Carl Friedrich: Chinesische Philosophie und Literatur. Zu Windischmann, Die Philosophie im Fortgang der Weltgeschichte. In: Hermes, oder Kritisches Jahrbuch der Literatur. Hg. v. Karl Ernst Schmid. Leipzig 1829, S. 325 – 350, hier S. 327 f. 60 Said spart in seiner begriffsprägenden Analyse die Philosophen insgesamt aus. Eine detaillierte Studie über den »Orientalismus« bei europäischen Philosophen liegt m. W. bislang nur in türkischer Sprache vor: Kula, Onur Bilge: Batı Felsefesinde Oryantalizm ve Türk İmgesi. İstanbul 22010.

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Tabelle 2: 1800 – 1850 »Phil. Barbarica«– Orientalische Philosophie allg. – mit oder ohne China inkludiert China

Lapeña 1806 Stanke 1841

Ast 1807 Ernesti 1807 Rixner 1822 Lichtenfels 1836 Quintana 1840 Hanusch 1850

Orientalische Philosophie – besd. China und Indien

Orientalische Philosophie – ohne China

Windischmann 1827 Ritter 1829 Hegel 1833 Braniß 1842 Gumposch 1850

Degérando 1804 Steck 1805 Bachmann 1811 Krug 1815 Cousin 1828 Weiller 1813 Reinhold 1836 Fries 1837 Sigwart 1844 Galluppi 1847

Ohne Orientalische Philosophie und ohne China

Originalsprache:

Qualifikationsmerkmale:

Deutsch Französisch

fett: mehrfache Auflagen oder starke Rezeption kursiv: ablehnende Stellungnahme, Erwähnung ohne eigentliche Darstellung

Latein oder andere Sprache

4.  Der Streitfall China

Es gibt schon seit Beginn des 18. Jahrhunderts einen zeitweise sehr heftig geführten Streit über den Stellenwert wie auch über die Korrektheit der Darstellungen von chinesischer Philosophie durch Jesuiten, in dem auch die Novissima Sinica von Leibniz ihren Ort hatten. Dabei ging es um die Glaubwürdigkeit der Nachrichten über China und auch darum, ob hier von Philosophie überhaupt die Rede sein könne. Hatte Leibniz von einer Komplementarität der theoretischen Philosophie im Abendland und der praktischen Philosophie bei den Chinesen gesprochen und daraus die Notwendigkeit einer gegenseitigen Missionierung gefolgert, so urteilt Gundling einige Jahre danach mit einem etwas doppeldeutigen Vergleich: Man würde sich eine große und wertlose Last umhängen, wollte man den chinesischen Nachrichten glauben.61 Stolle kommt 1714 mit einem kurzen Resümee des Kon61

Gundling neigt nach eigener Auskunft im Streit der missionierenden Orden den Dominikanern zu; aus Leibniz’ Novissima bringt er ein langes Zitat über die Moral in China, die Idee der Komplementarität wird aber nicht erwähnt. Den Vergleich bringt er im Zusammenhang der Frage, wie weit man den Annalen Chinas trauen dürfe: »Solem lapidem molarem crederet, qui Sinensium fabulas veras crederet.« Vgl. Gundling, Nicolaus Hieronymus: Historia Philosophiae Moralis. Halae 1706, S. 34. Der »lapis molaris« ist einerseits der biblische Mühlstein (Lukas 17,2), andererseits der Name für Lava und Schlacke und in mineralogischen Schriften der Zeit sprichwörtlich für unedle Steine.



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fuzius aus, erwähnt Leibniz überhaupt nicht mehr und befindet das Thema für eigentlich entbehrlich.62 Chinas Philosophie spielt nun auch eine wichtige Rolle in der Debatte der frühen Aufklärung darüber, was überhaupt als Philosophie gelten soll und nach welchen Kriterien eine wissenschaftliche Geschichte der Philosophie möglich sei. Ich möchte dies an einem Beispiel etwas näher ausführen, das ich einleitend schon angesprochen habe, an der Kritik Heumanns, die er 1720, also im Jahr vor Wolffs Jenaer Rede, veröffentlicht hat. Ab 1715 veröffentlicht Heumann in Leipzig die Acta philosophorum, worin erstmals die Entwicklung einer Theorie von Philosophiehistorie als einer wissenschaftlichen Disziplin vorliegt.63 Im 11. Stück dieser Acta erscheint 1720 Heumanns Übersetzung einer französischen Abhandlung als Nachricht und Urtheil von der Philosophie der Sineser64. Sie stammt von Eusèbe Renaudot, der den Text ursprünglich als Anhang zu einem von ihm übersetzten Bericht über China durch zwei arabische Reisende des 9. Jahrhunderts verfasst hatte.65 Heumann übersetzt also Renaudot, er kommentiert ihn stellenweise und die beiden kommen zu einem vernichtenden Ergebnis. Die beiden Araber im 9. Jahrhundert haben in China nichts von dem vorgefunden, was die Jesuiten in neuerer Zeit beschrieben hatten, insbesondere keine Philosophie oder sonst bemerkenswerte Leistungen in den Wissenschaften. Für Renaudot/Heumann steht fest: Das hohe Alter der chinesischen Annalen ist nicht zu belegen, ihre Historie ist weitgehend erfunden, ihre astronomischen Berechnungen sind falsch und was man ihnen an Erfindungen zuschreibt (Kompass, Buchdruck, Schießpulver, Globen), ist angemaßt. Erfunden haben sie lediglich »Firniß und den Porcellan«66 und eine eigene Schrift, die ihnen aber ganz misslungen ist. Sie hat so

Vgl.: Stolle, Gottlieb: Historie der heydnischen Morale. Jena 1714, S. 8: »Die Sineser, welche sich ein Auge mehr, als die Europäer zu haben einbilden, haben vor langen Zeiten moralisiret, ob sie schon bey uns gar langsam damit bekannt worden. Die von etlichen Jesuiten zum Druck beföderte gesammte Sinesische Wissenschafft, kan uns von ihrer Weißheit und Klugheit den vollständigsten Bericht ertheilen. Es haben schon andere gelehrte Männer angemerckt, daß dieselbe so gar groß nicht sey, daß man […] ihrer nicht sollte entbehren können.« 63 Braun: Geschichte der Phi­lo­so­phie­geschichte, S. 109. 64 Renaudot, Eusèbe: Nachricht und Urtheil von der Philosophie der Sineser. Übersetzt von Christoph August Heumann. In: Acta philosophorum, das ist gründliche Nachrichten aus der historia philosophica. Elftes Stück. Hg. v. Christoph August Heumann. Halle 1720, S. 717 – 786. 65 Renaudot, Eusèbe: Eclaircissements sur les Sciences des Chinois. In: Anciennes relations des Indes et de la China, de deux Voyageurs Mahomentans, qui y allèrent dans le neuvième siècle; traduites d’arabe: avec des remarques sur les principaux endroits de ces relations. Paris 1718, S. 340 – 397. 66 Renaudot: Nachricht und Urteil, S. 772. Seit 1710 stellte in Sachsen die Meißener Manufaktur Porzellan her. 62

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viele Zeichen67, »daß man mit Wahrheit sagen kan, es sey keine eintzige Sprache, die eine so unvollkommene und mangelhafte Schreib-Art habe«.68 Entsprechend dürftig ist auch ihre Poesie wie die Kunst überhaupt. Und die Philosophie »der Chinesen«? Deren »vornehmstes Stück« sei wohl »die Morale« und »hiervon machet man insgemein ein sehr grosses Wesen«. Es ist aber nichts daran, wird Christian Thomasius dazu zitiert: Es sind »in derselben viele kluge Lehren enthalten, aber auch viel nichtswürdige Dinge, bey welchen man sich kaum des Lachens enthalten könne«. Was dem Konfuzius oder Mencius an Weisheit zugeschrieben wird, war wohl alles von den Pythagoreern und den Sieben Weisen über Araber nach China gekommen, denn es habe »ja leichtlich geschehen können, daß dieselben auch in Sina gekommen sind, und daß die Sineser nach ihrem angebohrnen Hochmuth sich mit fremden Federn geschmü­ cket haben. Denn man hat kein Zeugniß, mit welchem man beweisen könne, daß die Araber oder Perser von denen Sinesern etwas entlehnet hätten.«69

Die Goldene Regel kennen sie wahrscheinlich aus Indien, den Begriff einer Methode kennen sie ebenso wenig wie Prinzipien, sie haben nicht einmal ein Wort für Gott, auch keine Idee von der Unsterblichkeit der Seele, und so konnten »selbst die Muhamedaner […] nicht anders, als mit Verachtung von den Sinesern reden […]«70 Was Leibniz und andere davon faseln, gehört nicht zur wissenschaftlichen Literatur, das sind Mahnpredigten, allerdings keine harmlosen, denn was »die Scribenten der jüngern Zeiten [angeht], welche die Sinesische Weißheit über alle andere Völcker erhoben haben, so könte man dergleichen übermäßige Lob-Sprüche ungeahndet lassen, wenn nicht dieselben mit gefährlichen Folgereyen verknüpfet wären. Die größte Gefahr bestehet darinnen, daß das Ansehen der heiligen Schrifft hierbey Noth leidet […] so geben sie […] denen Atheisten und Frey-Geistern, starcke Waffen in die Hände, die Christliche Religion damit zu bestreiten.«71 67

Ebd., S. 777: »70. biß 80000«; ebd. S. 773: »ungeachtet ihnen der Buchstabe R. fehlet«. Fehlende Buchstaben spielten in der Geistesgeschichte überhaupt gelegentlich eine fatale Rolle, nachdem man bei den Bewohnern Brasiliens festgestellt hatte, dass sie die Konsonanten F, L, R nicht in ihrer Sprache haben, und es somit erklärbar war, dass sie die wichtigen Begriffe, die (lateinisch) damit anlauten, auch nicht kennen, nämlich Fides, Lex und Rex, was die Notwendigkeit einer Missionierung und kolonialen Verwaltung untermauerte. Vgl. Wimmer, Franz Martin: Gibt es interkulturell begründbare Maßstäbe zur Bewertung kultureller Entwicklung? In: Crossing Borders – Grenzen (über)denken – Thinking (across) Boundaries. Beiträge zum 9. Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie. Hg. v. Alfred Dunshirn, Elisabeth Nemeth u. Gerhard Unterthurner. Wien 2012, S. 57 – 79, hier: S. 62. 68 Ebd., S. 778. 69 Ebd., S. 754. 70 Ebd., S. 770. 71 Ebd., S. 783.



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So weit Heumann/Renaudot 1720. Im Jahr darauf hält, wie gesagt, Christian Wolff seine Rede und veröffentlicht sie einige Jahre später,72 die Debatte ist noch lange nicht zu Ende. Voltaire und andere rühmen China wegen dessen aufgeklärten Herrschern und seinen Philosophen-Beamten, die keine Priester sind, wie es die Geistesheroen der anderen nichtgriechischen Völker waren,73 die vielmehr eine Vernunftreligion vertreten, andere widersprechen: »there was a tension through­ out the Enlightenment between Sinophilia and Sinophobia«, stellt Mungello fest.74 Jedenfalls bleibt, wie gezeigt, Chinas Philosophie weiterhin und für lange Zeit für viele Philosophiehistoriker ein fixes Thema. Ziemlich pünktlich 100 Jahre nach Leibniz wird aber im ersten Satz von Lichtenbergs Satire 1796 ein idealisiertes Chinabild nur mehr wie ein Märchen aus Kindertagen nachklingen: »So lange ich über Völker zu denken im Stande gewesen bin, habe ich immer gemutmaßet, daß die Schinesen das weiseste, gerechteste, sinnreichste und glücklichste Volk auf Gottes Erdboden seien.«75 Lichtenbergs Gewährsleute sind nun aber leider nicht mehr gelehrte Missionare und deren feingeistige Gesprächspartner, er stützt sich auf den Bericht eines »gewissen Herrn Sharp […], der als Butler (Kellermeister und Mundschenk) die letzte Gesandtschafts-Reise nach Schina mitgemacht hat.«76 Der wiederum hatte von eiWolf, Christian: Oratio de Sinarum philosophiae practicae. Francoforti 1726. Voltaire behauptet 1756: »La Chine est le seul des anciens États connus qui n’ait pas été soumis au sacerdoce.« und »Il diffère sur-tout des autres nations, en ce que leur histoire ne fait aucune mention d’un collége de prêtres qui ait jamais influé sur les lois.« Zitiert nach: Voltaire: Essai sur les moeurs et l’esprit des nations. Paris 21792. S. 52 und 97. Das war keine ganz neue Erkenntnis, denn schon 1655 hatte man von Hornius erfahren: »In Sina Philosophi regnant.« Hornius: Historiae 1655, S. 308. Der oft wiederholten Formel von einer lediglich philosophisch verbrämten Theologie und Priesterherrschaft widersprechen dennoch wenige Autoren explizit, und zwar auch dann nicht, wenn sie den Atheismus der Chinesen herausstreichen. Eine Ausnahme hierin bildet Gurlitt, Johann-Gottfried: Abriß der Geschichte der Philosophie. Zum Gebrauch der Lehrvorträge. Leipzig 1786, S. 22, der zu »Konfuzee« anmerkt: »Seit ihm war bey Sinesen und Japonesen, so wie bey den Griechen, der Stand der Philosophen und Priester, wie die Religion beyder, von einander getrennt.« Vgl. dazu auch Holenstein, Elmar: China ist nicht ganz anders. Vier Essays in global vergleichender Kulturgeschichte. Zürich 2009, S. 41: »Wer in Ostasien lebt, reibt sich die Augen, wenn er Publikationen europäischer und nordamerikanischer Intellektueller zur Säkularisation, ihren Ressourcen und ihren Folgen liest. […] In China ist Atheismus seit der vorchristlichen Achsenzeit mit größter Selbstverständlichkeit eine legitime Wahl.« 74 Mungello, David E.: Confucianism in the Enlightenment: Antagonism and Collaboration between the Jesuits and the Philosophes. In: China and Europe: Images and Influences in Sixteenth to Eighteenth Centuries. Hg. v. Thomas H. C. Lee. Hong Kong 1991, S. 99 – 128, hier S. 99. 75 Lichtenberg, Georg Christoph: Von den Kriegs- und Fast-Schulen der Schinesen, neben einigen andern Neuigkeiten von daher. In: Deutsche Denker über China. Hg. v. Adrian Hsia. Frankfurt a. M. 1985, S. 103 – 116, hier S. 103. 76 Ebd., S. 105. 72

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nem schelmischen Mandarin erfahren, dass es Ehrlichkeit und Moral dort so gut wie gar nicht gibt – »Glaubwürdig? dafür haben wir im Schinesischen kein Wort.«77 – und dass »der einzige Gebrauch, den wir von der Vernunft machen, der ist, sie selbst nach und nach mit dem Körper unter der Form von Instinkt und Kunsttrieb gleichsam wie zu verschmelzen und aus dem Menschen höhere Tierarten zu schaffen, mit Instinktkünsten, die noch ganz das Ansehen von höchster Vernunft haben, aber eigentlich es nicht mehr sind. Vernunft hat sie geschaffen, hat sich aber nach vollendetem Bau nach und nach weggeschlichen, oder ist durch Verteilung unmerklich geworden. Eben so ist es mit unserer Philosophie. Diese war bereits vor funfzigtausenden Jahren völlig fertig. Jetzt philosophiert man, wie man lackiert nach Rezepten. Oder so wie wir Musikanten haben und keine Musiker mehr, so haben wir auch nur bloß Philosophanten und Physikanten, und keine Philosophen und keine Physiker mehr.«78

Die vermeintliche Tatsache, dass »die Chinesen immer auf der Stufe geblieben, auf der sie in grauer Vorzeit standen«, dass die Natur »diesen von unserer Gattung so verschiedenen Menschen taugliche Werkzeuge gegeben, das Bedürfnis des Augenblicks schnell zu finden, unvermögend aber weiter zu gehen«79, sollte in Diskursen über China insgesamt eine große Rolle spielen, sich sehr lange halten und war auch bereits vor Voltaire von Boureau-Deslandes formuliert worden.80 Wachstum, Fortschritt, Entwicklung zeichnen alles aus, was in der Menschheitsgeschichte Wert hat, und dazu sollte China im europäischen Weltbild geradezu zum Gegenbild werden. »Better fifty years of Europe than a cycle of Cathay«, reimt Tennyson 1842.81 Warum nur erhält das Thema sich in der Philosophiehistorie so lange, war etwa doch Wolff mit seiner Oratio so überzeugend? Über Wolffs Rede selbst und auch über die heftige Debatte, die sie ausgelöst hat, will ich hier weiter nichts sagen. Nur so viel: Die Oratio wird in den allgemeinen Phi­lo­so­phie­geschichten besonders des 19. und 20. Jahrhunderts so gut wie totgeschwiegen. Auch wenn sie den Streit um Wolff, seine Verweisung aus Preußen und die Zensur seiner Schriften 77

Ebd., S. 111. Ebd., S. 112 f. 79 Voltaire: Geschichte der Völker, vorzüglich in den Zeiten von Karl d. Gr. bis auf Ludwig XIV. Übersetzt von K. A. Schnitzer. In: Voltaires und Rousseaus auserlesene Werke. Hg. v. C. H. F. Hartmann. Bd. 33. Leipzig 1828, S. 17. 80 Vgl.: Boureau-Deslandes, André François: Histoire critique de la philosophie, ou l’on traite de son origine, de ses progrès, et des diverses revolutions qui lui sont arrivées jusqu’à notre tems. Amsterdam 1737, S. 87: »Ils ont encore les mêmes moeurs, les mêmes coutumes, les mêmes usages, la même manière de penser, qu’ils avoient autrefois.« Zu dieser »ersten kritischen Phi­ lo­so­phie­geschichte in Frankreich« vgl.: Geißler, Rolf: Boureau-Deslandes. Ein Materialist der Frühaufklärung. Berlin 1967, S. 38 – 59. 81 Tennyson, Alfred: Locksley Hall. 1842. In: Projekt Gutenberg: http://www.gutenberg. org/etext/8601. 78



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schildern, wird die Rede von 1721 und insbesondere deren Veröffentlichung meist nicht erwähnt, geschweige denn das darin enthaltene Argument. Ein besonders interessantes Beispiel liefert dazu Eduard Zeller, der 1862 in einem eigenen Aufsatz Wolffs Vertreibung aus Halle und den »Kampf des Pietismus mit der Philosophie« beschrieben, darin auch von der Rede und deren Veröffentlichung berichtet hatte, dann aber 1873 in seinem Hauptwerk weder das eine noch das andere einer Erwähnung mehr wert fand.82 Man gewinnt bei dieser Nachlese beinahe den Eindruck, es habe etwas wie eine damnatio memoriae stattgefunden, die einen maßgeblichen Einfluss chinesischen Denkens in der deutschen Aufklärung83 vergessen machte. Diese spezielle Frage – nämlich was die »chinesische« Seite in der Ethiklehre von Leibniz und Wolff in Bezug auf das Selbstverständnis der späteren deutschen Philosophen bedeutete – dürfte bei näherer Untersuchung sehr aufschlussreich sein, ist aber nicht sinnvoller Weise in einem Überblick behandelbar.

5. Hypothesen

Wir können bei der Frage, warum und wie nicht-okzidentale und nicht-griechische Philosophie in der Zeit der europäischen Aufklärung lange Zeit eine auffallend starke Präsenz in Phi­lo­so­phie­geschichten behaupten kann, schließlich aber ausscheidet, mehrere Hypothesen formulieren, die sowohl den Begriff der Geschichte wie der Philosophie betreffen. Ich möchte fünf Hypothesen anführen, wovon die beiden ersten das biblische Geschichtsbild betreffen und die Persistenz des Themas verstehbar machen: 1. Philosophie stammt letztlich von Gott, der sie dem ersten Menschen eingegeben hat – die Adam-Hypothese 2. Diese Ur-Philosophie wird nach der Sintflut von Noah und den Noachiten weitergegeben, weswegen die ältesten Völker Träger der höchsten Weisheit und Philosophie sind – die Noah-Hypothese Mit der Adam-Hypothese ist seit Beginn des 17. Jahrhunderts die Behandlung der sogenannten philosophia barbarica verbunden, wie Lipsius das 1604 formuliert: 82

Vgl. Zeller, Eduard: Wolff’’s Vertreibung aus Halle, der Kampf des Pietismus mit der Philosophie. In: Vorträge und Abhandlungen geschichtlichen Inhalts. Leipzig 1865, S. 108 – 139 und ders.: Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz. München 1873. 83 Zu dieser Frage selbst vgl. beispielsweise: Jaeger, Henrik: Konfuzianismusrezeption als Wegbereitung der deutschen Aufklärung. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 37:2 (2012) S. 156 – 181. Perkins, Franklin: Leibniz on the Existence of Philosophy in China. (2015). Internet: https://www.academia.edu/12073927/Leibniz_on_the_Existence_of_Philosophy_in_ China (Stand: 03. 02. 2017)

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»[Philosophiam] Barbaricam dicimus, quae extra Graeciam aut Italiam, & antiquissima quidem, fuit. Quídni antiquissima? cui à primo illo humani generis parente origo: imò à Deo ipso fuit. Quis enim alius Sapientiae hos radios, nisi ipsa Sapientia primum emiserit? Ille ut benignè imaginem sui homini infundit.«84

Diese aufgrund ihres Urhebers klarerweise perfekte Weisheit und Philosophie ist aus dem ersten Buch Mosis nur sehr unvollständig bekannt und wird deswegen zunehmend als historische Tatsache bezweifelt. Dennoch wird sie in Einzelfällen lange Zeit vertreten: Noch 1757 schreibt Klaus: »Ortum Philosophiae suum ad mundi exordium refert, & primum hominem, primum sui cultorem censet.«85 Und für Gmeiner, der 1788 die Adam-Hypothese zwar ablehnt, aber noch diskutiert, steht sie zumindest nicht ganz außer Zweifel.86 Abgesehen von der bei Lipsius angesprochenen Uroffenbarung an Adam wird eine Reihe von Hilfsannahmen entwickelt: Adam habe auch die Schrift erfunden, seine Bücher seien aber verloren;87 die Lebenszeit einiger vorsintflutlicher Patriarchen sei länger gewesen als die Jahrhunderte, in denen seit den Griechen philosophiert worden ist, und: »Wer sollte es denn einem von diesen tausendjährigen Helden der Schrift […] verwehrt haben, über sich und unter sich zu sehen und einmal eine Reflexion zu machen? Denn mehr bedurfte es nicht, um den Grund zur ganzen Philosophie zu legen.«88 Schließlich sei die philosophia antediluviana, die vorsintflutliche Philosophie, immerhin durch Noah, den Begründer des MenschenLipsius, Justus: Manuductionis ad Stoicam philosophiam libri III. Antverpiae 1604, Bd. 1, S. 13. 85 Klaus, Michael: Brevis introductio in philosophiam comprehendens tum doctrinam tum historiam philosophiae, accommodate ad auditores digestam. Viennae 1757, S. 19. 86 Gmeiner, Franz Xaver: Litterärgeschichte des Ursprungs und Fortgangs der Philosophie. 2 Bde. Bd. 1. Grätz 1788, S. 16 – 18: »In Rücksicht nun des historischen Ursprunges der Weltweisheit machen viele unsern Stammvater Adam zum Urheber derselben, und beruffen sich deshalb auf die Erzählung des Moses, allein es ist noch nicht außer allem Zweifel gesetzet: ob man in diesem Punkte aus der heiligen Geschichte etwas Zuverläßiges schöpfen könne. Da […] aus der Erzählung Mosis sich nicht schließen läßt, daß Adam eine solche Fertigkeit gehabt habe, so ist bei den ersten Menschen keine Philosophie im strengen Verstande zu suchen. […] Indessen kann man unsern Stammältern, und ihren Enkeln eine natürliche Vernunftlehre keineswegs absprechen, auch würde man ihnen zu wenig Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn man nicht zugeben wollte, daß sie ein undeutliches Kenntniß der ersten Grundwahrheiten hatten, aber von einer deutlichen Einsicht in dieselben zeigt sich nicht die geringste Spur.« 87 Pierre Bayle, der Adam als ersten Philosophen für nicht unmöglich, aber ungesichert erklärt, lehnt Adam als Autor ab, vgl.: Bayle, Pierre: Historisches und Critisches Wörterbuch. Erster Theil. A bis B. Übersetzt von Johann Christoph Gottsched. 4 Bde. Bd. 1. Leipzig 1741, S. 75 (Anm. K) »Die Juden geben vor, daß Adam ein Buch von der Erschaffung der Welt, und eines von der Gottheit gemacht habe.« 88 Batteux, Charles: Geschichte der Meynungen der Philosophen von den ersten Grundursachen der Dinge. Übersetzt von Johann Jakob Engel. Leipzig 1773, S. 8. 84



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geschlechts nach der Sintflut, weiter vermittelt worden und somit von den ältesten Völkern zu erfahren: »Wir setzen, als eine historische Wahrheit voraus, daß alle Völker des Erdbodens von Noah Söhnen, Japhet, Sem und Ham, herkommen, und daß die Kinder dieser Stammväter, von ihnen die richtigen Begriffe und Nachrichten, von Gott dem ewigen Geist, Schöpfer, Erhalter und Regierer aller Dinge, und von dem Ursprung der Welt, welche von Adam bis auf Noah fortgepflanzet waren, empfangen und gelernet haben. Und solchergestalt ist es begreiflich, woher es komme, daß die Lehrsätze der ältesten Völker, mit demjenigen, was Moses aus den Traditionen gesammlet hat, nicht selten übereinstimmen.«89

Eine besondere Ausprägung erfährt die Noah-Hypothese in der Neuzeit im Zusammenhang mit den Nachrichten über China. Hatte schon Gonzalez de Mendoza 1585 vermutet, dass China zuerst durch Noahs Enkelgeneration besiedelt worden sei,90 so liefert William Whiston 1696 in seiner Theorie der Erdgeschichte eine ganze Reihe von Argumenten dafür, dass niemand anders als Noah selbst der Begründer der chinesischen Monarchie sei: »[…] the Chinese mean no other by their first Monarch Fohi, than Noah himself«,91 zahlreiche Autoren schließen sich dem an, Gottscheds Erste Gründe der gesammten Weltweisheit enthalten Whistons These wortwörtlich in allen sieben Auflagen (1734 – 62) zu seiner Lebenszeit92 und noch Windischmann (1827) vertritt sie, wenn auch wieder in ähnlich abgeschwächter Form, wie wir ihr schon 1585 begegnet sind: China sei von Westen her durch »patriarchalische Geschlechter nach der Fluth« besiedelt worden, »denen die Erinnerung an den Bund und die göttliche Versicherung, daß die Fluth nicht wiederkehren sollte, nicht mehr ganz klar geblieben war.«93 Die beiden ersten Hypothesen fußen auf dem biblischen Bericht von den Anfängen der Menschheit. Beide erscheinen bis weit ins 18. Jahrhundert Historikern mehr oder weniger plausibel,94 wobei die Noah-Hypothese noch länger als die AdamBüsching, Anton Friedrich: Grundriß einer Geschichte der Philosophie und einiger wichtiger Lehrsätze derselben. 2 Bde. Bd. 1. Berlin 1772, S. 4 f. 90 Mendoza, Gonzalez de: Historia de las cosas mas notables, ritos y costumbres del Gran Reyno de la China. Roma 1585, S. 11: »[…] ay opinion, que los primeros, que le poblaron, fueron los nietos de Noe.« 91 Whiston, William: A New Theory of the Earth. From Its Original, to the Consummation of All Things. Wherein the Creation of the World in Six Days, the Universal Deluge, and the General Conflagration, as Laid Down in the Holy Scriptures, are Shewn to be Perfectly Agreeable to Reason and Philosophy. London 21708, S. 140. 92 Vgl. Gottsched, Johann Christoph: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit. Hg. v. P. M. Mitchell. (Ausgewählte Werke Bd. 5,1). Berlin 1983, S. 23 f.: »nichts ist wahrscheinlicher, als daß Noah eben der erste Monarch und Stammvater der Chineser gewesen ist […]«. 93 Windischmann: Philosophie im Fortgang der Weltgeschichte, S. 19 u. 85. 94 Man muss sich daran erinnern, dass in der wissenschaftlichen Literatur Europas erst89

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Hypothese aufrecht erhalten wird aufgrund der Auffassung, dass die philosophia barbarica Zeugnis nicht nur der ältesten, sondern zugleich der höchsten Weisheit sei. Jedoch erhebt sich nun ein ernsthafter Einwand gegen die philosophia barbarica als philologisches Argument: 3. Weder die Philosophie der Adamiten noch der Noachiten ist hinreichend dokumentiert, sodass sie nicht sicher rekonstruiert werden kann – die philologische Hypothese Dass die Historie der Philosophie nur dort und nur so weit möglich ist, als schriftliche Zeugnisse dafür vorhanden und einer gesicherten Interpretation zugänglich sind, war für Thomas Stanley 1656 die Begründung dafür, warum er in seiner Darstellung die Ägypter, aber auch die alten Hebräer nicht behandelt.95 Andere Autoren hindert das nicht, sowohl ägyptische als auch hebräische, chaldäische etc. Traditionen abzuhandeln, obwohl sie dasselbe Argument vorbringen. So zieht etwa Gentzken 1724 in seiner Historia philosophiae, die Kant in seinen Kursen 1767 – 81 verwendet hat,96 die Grenze: »[ …] ad Adami aut Noachi tempora adscendere […] abstineamus. […] concedamus, primos homines etiam speculationibus indulsisse, praeter vanas tamen conjecturas nil veri afferri posset, quoniam nulla amplius nobis supersunt documenta, sine quibus historiam conficere non licet.«97

Diese philologische Hypothese greift nun aber anscheinend im Fall der chinesischen Philosophie im 18. Jahrhundert überhaupt nicht. Texte aus dieser Tradition sind in hinreichender Menge vorhanden, sie liegen übersetzt und kommentiert vor. Selbst wenn Behauptungen chinesischer Quellen, die ein unglaublich hohes Alter einiger dieser Texte und jedenfalls der Tradition annehmen, nicht zu trauen ist, so reichen sie doch anscheinend bis nahe an die Sintflut hinauf und belegen somals der französische Naturwissenschaftler Buffon 1779 eine Schätzung des Alters der Erde gegeben haben dürfte, die nicht auf Berechnungen der Bibel beruhte, nach heutigen Kenntnissen aber auch ziemlich niedrig angesetzt war. Und auch noch die Unterhaltungen der Bergleute in Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre (1821) über »Erschaffung und Entstehung der Welt«, worin u. a. von vulkanischen Gebirgsbildungen und ehemaligen Vergletscherungen die Rede ist, verstören den Helden des Romans, »welcher noch von alters her den Geist, der über den Wassern schwebte, und die hohe Flut, welche funfzehn Ellen über die höchsten Gebirge gestanden, im stillen Sinne hegte und dem unter diesen seltsamen Reden die so wohlgeordnete, bewachsene, belebte Welt vor seiner Einbildungskraft chaotisch zusammenzustürzen schien.« Vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Stuttgart 1982, S. 286. 95 Vgl. Braun: Geschichte der Phi­lo­so­phie­geschichte, S. 77. 96 Vgl. ebd., S. 220. 97 Gentzken, Friedrich: Historia philosophiæ: in qua philosophorum celebrium vitae eorumque hypotheses notabiliores […] sistuntur. In usum lectionum academicarum. Hamburgi 21731, S. 1 f.



Unterwegs zum euräqualistischen Paradigma der ­Philosophiegeschichte

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mit möglicherweise noachitisches Denken. Es scheint mir nicht unwahrscheinlich, dass die Noah-Hypothese im Fall der chinesischen Philosophie lange Zeit für eine Persistenz des Themas sorgte. So umstritten die chinesischen Perioden schon seit Heumann/Renaudot waren, sie schienen jedenfalls weiter hinauf in die Vergangenheit belegbar als schriftliche Quellen aus anderen Weltgegenden. Heumann hatte jedoch in seiner Theorie der Phi­lo­so­phie­geschichte noch zwei weitere Hypothesen verfochten, die im Verlauf der Aufklärung immer wichtiger wurden und geeignet waren, der philosophia barbarica und exotica nach langem Beharren den Garaus zu machen: 4. Philosophie ist ein Werk freier Individuen und kann in Despotien oder unter Priesterherrschaft nicht entstehen oder gedeihen – die Freiheitshypothese 5. Philosophie geschieht in zeitlicher oder logischer Entwicklung – die Fortschrittshypothese Beides finden wir bei Heumann 1715 wie bei Tiedemann 1791: »[Es] war das Monar­ chische Regiment in denen Barbarischen Ländern der Philosophie gar sehr prae­ judicirlich«, schreibt Heumann98 und Tiedemann pflichtet bei: »[…] der Könige despotische Gewalt […]; füge man Einfluß der Priesterschaft, die allein in Besitz vorzüglicher Kenntnisse war […] so wird sich leicht ergeben, daß die Aegypter nicht wohl über der Kenntnisse erste Elemente hinausgehen, und bey dem höchst nöthigen, gleich den Brahmen [sic!] in Hindostan, und den Gelehrten in Sina, musten stehen bleiben.«99

Ebenso einig wie in der Ausschließung von Philosophie unter despotischen und priesterlichen Verhältnissen sind sie bezüglich Fortschritt und Entwicklung: »Fortgang der Wissenschaft ist nicht anders kennbar zu machen, als durch Zeitordnung, weil nur daraus ersichtlich ist, was jeder zuerst gesagt hat, und erfunden, also erhellt, daß die Geschichte der Philosophie sich an der Philosophen Zeitfolge muß binden«, formuliert Tiedemann seine Ordnungsidee.100 Und für Heumann war klar: »[…] gleichwie wir erst Kinder seyn müssen, ehe wir Männer werden, und dieses der natürliche Lauff aller Dinge ist, daß sie von der Unvollkommenheit zu einem vollkommenen Wesen Stuffen weise in die Höhe steigen; ebenermassen verhält es sich mit der Philosophie. Es muste dieselbe so zu reden erst in der Wiege liegen, hernach bekam sie einige Kräffte, sich selbst zu bewegen, biß sie endlich festen Fuß setzen und eine männliche gravität annehmen kunte.«101   98 Heumann:

Acta, I, 1715, S. 212. Geist der speculativen Philosophie I, 1791, S. 31.

  99 Tiedemann:

100

Ebd., S. X.

101 Heumann:

Acta, I, 1715, S. 249 f.

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Ob es sich nun um einen Lebenslauf der Philosophie handelt oder um mehrere,102 China – das, metaphorisch gesprochen, früh vergreiste Wunderkind – kommt in den Schilderungen solcher Entwicklungsgänge höchstens noch als Vorstufe vor.

Vgl. Gurlitt: Abriß, S. 6 – 8, wo sechs Stadien der alten Philosophie zwischen »Geburt und rohere Kindheit« bis »Alter und Tod« und noch einmal »fast die nämlichen Stufen« in der neueren Philosophie unterschieden werden; vgl. auch die dreifach wiederholten »vier Phasen« bei Brentano, Franz Clemens: Die vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand. Stuttgart 1895. 102

China als philosophiehistorisches Problem zwischen Philosophia perennis und frühaufklärerischem Eklektizismus1 Axel Rüdiger

In der Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung ist es immer noch nicht selbstverständlich, auf die interkulturellen Voraussetzungen von Genese und Form der modernen Philosophie hinzuweisen, die sich zuerst in Europa entwickelt hat.2 Und dies, obwohl es, neben den frühen arabischen Einflüssen und der Entdeckung Amerikas, vor allem der frühneuzeitliche Schock war, sich mit China ab dem 16. Jahrhundert einer gleichwertigen, wenn nicht überlegenen Hochkultur konfrontiert zu sehen, deren Schrifttradition die jüdisch-christliche Tradition offenbar sogar an Alter übertraf.3 Überraschenderweise ist aber gerade dieses Ereignis, das in Europa erheblich zum Bruch mit der eigenen philosophischen Tradition beigetragen hat, immer noch unzureichend in der Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung präsent. Dabei ist die Tatsache, dass die philosophische Auseinandersetzung mit der chinesischen Kultur einen gewichtigen Anstoß für die Revolutionierung der europäischen Philosophie und dem damit verbundenen Geschichtsbild gab, durch zahlreiche Stellungnahmen von Denkern bezeugt, die allesamt zu den heroischen Gründungsfiguren des modernen Philosophierens in Europa gezählt werden. So pries bereits Michel de Montaigne in seinem berühmten Essay Über die Erfahrung die Vorzüge des chinesischen gegenüber dem europäischen Regierungssystem.4 Francis Bacon, der ›Vater‹ der modernen Naturphilosophie und der ›wissenschaftlichen Revolution‹, äußerte gar die Ansicht, wonach das ›Buch der Natur‹ in chinesischer Schrift verfasst sein könnte, so dass das Studium dieser fremden 1

Der Aufsatz basiert auf einem von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Forschungsprojekt, das am Institut für Philosophie der Universität Hildesheim von Prof. Rolf Elberfeld betreut und von Dr. Henrik Jäger initiiert wurde. Ich möchte mich an dieser Stelle für die Unterstützung und die kollegiale Zusammenarbeit bei allen Beteiligten recht herzlich bedanken. 2 Die große Ausnahme von der Ausnahme bildet im Bereich der deutschsprachigen Philosophie vor allem das Werk von Franz Wimmer. Vgl. Wimmer, Franz: Interkulturelle Philosophie. Bd. 1: Geschichte und Theorie. Wien 1990 sowie derselbe: Interkulturelle Philosophie. Eine Einführung. Wien 2004. 3 Siehe hierzu Mungello, David E.: The great encounter of China and the West, 1500 – 1800. Lanham, MD u. a. 1999. 4 Vgl. Montaigne, Michel de: Essais. Buch III, Hauptstück 13. Zürich 1992, S. 349 f. Zur allgemeinen Bedeutung Montaignes für die frühneuzeitliche Chinarezeption siehe Perkins, Frank: Leibniz and China: A commerce of light. Cambridge 2004, S. 10 – 12.

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Sprache den Schlüssel zur ursprünglichen Universalsprache der Menschheit lie­fere.5 Sein großes Projekt der Erneuerung der Wissenschaften (Instauratio magna), das eine vorurteilsfreie Sammlung alles menschlichen Wissens in Gestalt einer Historia literaria vorsah, bezog daher ausdrücklich auch die fremde chinesische Wissens­ tradition mit ein. So ist es wohl auch kein Zufall, wenn selbst René Des­cartes, der Begründer modernen Philosophierens, an einer Schlüsselstelle seines Discours de la méthode ausgerechnet China als repräsentativen Beleg für die neue Ungewissheit in der europäischen Philosophie bezeichnete.6 Neben der internen religiösen Spaltung Europas wird China von Descartes als ein alternativer Ort des Wissens präsentiert, der das traditionelle Wahrheitsverständnis der Europäer herausfordert und auf die Notwendigkeit eines vorurteilskritischen Bruchs mit der eigenen lokalen europäischen Tradition verweist. Bevor sich dann schließlich Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff der konkreten Textüberlieferung der chinesischen Philosophie widmeten, um diese für das krisengeschüttelte Europa praktisch fruchtbar zu machen und zu popularisieren, beschäftigten sich auch Blaise Pascal, Baruch Spinoza und Nicolas Malebranche mehr oder weniger ausführlich, stets aber an methodisch zentraler Stelle, mit den durch die chinesische Kultur und Geschichte aufgeworfenen philosophischen Fragen. So wird am Beispiel von China schnell deutlich, wie unbegründet und ignorant die Vorstellung einer interkulturell voraussetzungslosen Entstehung der modernen Philosophie ist. Dennoch steht das historische Vergessen des chinesischen Schocks symptomatisch für die Dominanz der eurozentristischen Konzeption in der Phi­ lo­so­phie­geschichte. Hier wird die transkulturelle Begegnung gerade nicht in den Umbruch einbezogen, der zur universalistischen Innovation der europäischen Aufklärung führte, sondern im Gegenteil unter Berufung auf dieselbe getilgt. Die offen rassistische Verdrängung nicht-europäischen Denkens aus der westlichen Phi­lo­so­phie­geschichte, wie sie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts mit universalem Anspruch formuliert wurde, steht aus dieser Perspektive symptomatisch für die pathologische Verdrängung eines narzisstischen Traumas.7 Von daher ist es thera­ peutisch zwingend, an der philosophiehistorischen Rückkehr des Verdrängten zu arbeiten. Aus dieser Perspektive sollen an dieser Stelle die Rezeptionsbedingungen der chinesischen Philosophie im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert etwas genauer Darüber informiert Eco, Umberto: Die Suche nach der vollkommenen Sprache. München 1994, S. 218 – 221. 6 Vgl. Descartes, René: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. In: ders., Philosophische Schriften in einem Band. Hamburg 1996, S. 27 und 39. 7 Vgl. hierzu Park, Peter K. J.: Africa, Asia, and the History of Philosophy. Racism in the Formation of the Philosophical Canon, 1780 – 1830. Albany 2013. 5



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untersucht werden. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, welchen Einfluss diese Rezeption auf die Art und Weise hatte, wie Phi­lo­so­phie­geschichte gedacht und begründet wurde. Der philosophische Widerstreit, der in jener Zeit um die Bewertung der chinesischen Philosophie ausgetragen wurde, wird dazu in die Konstellation des Paradigmenwechsels von der älteren Philosophia perennis zur neuen Philosophia sectaria und eclectica eingebettet, der nicht nur die Verwissenschaftlichung der Phi­lo­so­phie­geschichte im 18. Jahrhundert prägte, sondern auch das europäische Zeit- und Geschichtsverständnis neu definierte. Aufgrund ihres bezeugten Alters und ihrer langen Schrifttradition spielte die chinesische Philosophie eine Schlüsselrolle in diesem Streit um das richtige Paradigma in der Phi­lo­so­phie­geschichte. Nachdem die philosophiehistorischen Ansätze von Philosophia perennis und Philosophia eclectica skizzenartig dargestellt sind, wird der unterschiedliche Umgang mit der chinesischen Philosophie insbesondere bei Leibniz und Christoph August Heumannn diskutiert. Am Ende wird die Bedeutung dieser bisher kaum gewürdigten Debatte sowohl für Christian Wolffs an der Universität Halle gehaltenen berühmten Rede über die praktische Philosophie der Chinesen (1721) als auch für Jacob Bruckers monumentale Phi­lo­so­phie­geschichte kurz angerissen. In methodischer Hinsicht soll die Rekonstruktion des möglichst konkreten philosophiehistorischen Kontextes der Rezeption der chinesischen Philosophie nicht zuletzt vor der Versuchung eines (post-)kolonialen Exotismus schützen, der die Verdrängungs­mechanismen insgeheim nur auf umgekehrte Weise reproduziert. Im Anschluss an die Forschungen von Eun-Jeung Lee zur historischen Rezeption des Konfuzianismus geht es nicht um die »Richtigkeit« der jeweiligen »Interpretationen, sondern um die systematische Analyse der Zusammenhänge, die mehr oder weniger zwingend zu einer bestimmten Rezeption geführt haben«.8

1. Die Philosophia perennis und die Phi­lo­so­phie­geschichte

»Die Philosophia perennis«, so fasst Wilhelm Schmidt-Biggemann seine diesbezüglich grundlegenden Forschungen zusammen, »ist das erfolgreichste Konzept der christlichen Wissenschaft vor der Aufklärung. Sie vereinigt historisch-antiquarische Gelehrsamkeit, Philologie, Geschichts- und Offenbarungstheologie, indem sie philosophischen Monotheismus, Schöpfungstheo-

Lee, Eun-Jeung: »Anti-Europa«. Die Geschichte der Rezeption des Konfuzianismus und der konfuzianischen Gesellschaft seit der frühen Aufklärung. Eine ideengeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. Münster, Hamburg, London 2003, S. 8. 8

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logie und Heilsgeschichte in den Zusammenhang einer historisch-enzyklopädischen Universalwissenschaft stellt.«9

Obwohl der Begriff der ›immerwährenden Philosophie‹ (Philosophia perennis) erst 1540 von Agostino Steuco (1497 – 1548) geprägt wurde, erstreckt sich das Konzept unter dem Namen der Philosophia Christiana über einen Zeitraum von den Kirchenvätern der Spätantike bis in die Neuzeit hinein.10 Im Mittelpunkt dieser Philosophie steht neben der monotheistischen Schöpfungstheologie und der eschatologischen Heilsgeschichte vor allem die Idee einer ›ewigen Wahrheit‹, die jenseits des zeitlichen Horizonts durch die »ontologische und geschichtliche Ursprünglichkeit des Geistes« verbürgt ist.11 Die spirituelle Teilhabe des Menschen an dieser gött­ lichen Wahrheit wird als ›Weisheit‹ (sapientia) gefasst, die allerdings nicht direkt der autonomen menschlichen Vernunfttätigkeit entspringt, sondern dieser erst über die göttliche Gnade geschenkt bzw. offenbart wird. Insofern handelt es sich hier um eine Philosophia adepta. Hieraus leitet sich ein weiteres wichtiges Merkmal der Philosophia perennis ab, das in dem wechselseitigen Begründungsverhältnis von Philosophie und Theologie besteht. Dies geht auf das Konvergenzverhältnis von biblischer und natürlicher Offenbarung zurück, die beide ursprünglich aus derselben göttlichen Quelle stammen. Aus diesem ontologischen Grund kann auch die nicht-christliche Philosophie – zunächst der antiken Griechen, später aber auch der Araber – zur Apologetik des Monotheismus der jüdisch-christlichen Religionstradition herangezogen werden. Beide, pagane Philosophie und christliche Offenbarungstheologie, basieren ontologisch auf der monotheistischen Schöpfungsidee und gehören historisch in den heilsgeschichtlichen Zusammenhang der Translatio sapientiae. Letzterer beginnt mit dem perfekten Anfangswissen, dessen ewige Wahrheit trotz des menschlichen Sündenfalls sowohl in der Offenbarung als auch in der Natur präsent bleibt. Insofern kann der heidnischen Philosophie aufgrund ihres ontologischen Status und der historischen Nähe zum göttlichen Schöpfungsakt die Dignität einer natürlichen Theologie (Theologia naturalis) zugesprochen werden, wodurch sie prinzipiell in das christliche Paradigma der Philosophia perennis integriert wurde. »Die Theologie der Schöpfung galt als natürliche Theologie und war so auch den Heiden zugänglich.«12   9

Schmidt-Biggemann, Wilhelm: Von der heiligen Weisheit zur archaischen Wildheit. Vico und die Renaissancephilosophie. In: ders., Apokalypse und Philologie. Wissensgeschichten und Weltentwürfe der Frühen Neuzeit. Hg. v. Anja Hallacker u. Boris Bayer. Göttingen 2007, S. 331 – 356, hier S. 332. Grundlegend dazu Schmidt-Biggemann, Wilhelm: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt/M. 1998. 10 Ich folge terminologisch Schmidt-Biggemann, der das Konzept unter dem allgemeinen Namen der Philosophia perennis von der Spätantike bis in die Neuzeit behandelt. 11 Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis, S. 51. 12 Ebd., S. 56.



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Innerhalb dieses heilstheologischen Rahmens aus göttlicher Schöpfungsidee und bevorstehendem ›Jüngsten Gericht‹ verbindet die Philosophia perennis seit der Spätantike die (neu)platonische Philosophie mit den monotheistischen Religionen des Christen- und Judentums sowie später auch dem Islam. Im Mittelalter stabilisiert sie die neuplatonische Aristoteles-Vereinnahmung gegen die vom Averroismus aufgebrachte Idee von der Ewigkeit der Welt, was durch die theistische Interpretation des Motivs des ersten Bewegers in der aristotelischen Metaphysik möglich war. Parallel zur aristotelischen Schulphilosophie wandelt sich der Neuplatonismus in der Renaissance ausgehend von Marsilio Ficino (1433 – 1499) in der Florentischen Akademie zur humanistischen »Heilswissenschaft« mit gnostischen Zügen.13 Diese bricht mit der mittelalterlichen Scholastik bezüglich des anthropologischen Pessimismus der augustinischen Gnadenlehre und wertet die heilsgeschichtliche Bedeutung der Philosophie im praktischen Rahmen der natürlichen Theologie auf.14 In deren inhaltlichem Zentrum steht nun die biblische Figur Adams als Archetypus des idealen Menschen, dessen Person nicht nur die humanistische Vermittlung zwischen Makro- und Mikrokosmus repräsentiert, sondern auch zum praktischen Vorbild des neuen Renaissance-Menschen wird.15 Exakt in diesem Kontext bemüht sich Ficino um die philologische Historisierung der Philosophie, indem er Historie und Tradition als Eigenschaften der Offenbarungstheologie nun auch konsequent auf die Philosophie überträgt. So stellt er der Bibel insbesondere das von ihm neu edierte und ins Lateinische übertragene Textkonvolut des Corpus Hermeticum zur Seite, das im 15. Jahrhundert von Byzanz nach Florenz gekommen ist und seinen Namen dem sagenhaften ägyptischen Oberpriester Hermes Trismegistos verdankt.16 Hierin befinden sich die vermeintlich ältesten prächristlichen Texte, deren Autoren vom persischen Zarathustra, den chaldäischen Orakeln über Trismegistos bis hin zu Pythagoras und Platon reichen. Diese Texte der alten Weisheit (Prisca theologia bzw. Prisca sapientia) in der Grauzone zwischen Philosophie und Theologie, die die altorientalische Weisheit mit Pla13

Ebd., S. 58. »Die im Mittelalter verbindliche Überzeugung war, dass es auf Erden keinen Rückweg zur ursprünglichen Weisheit Adams geben kann. Weisheit war nach Augustin ein Exklusivgeschenk göttlicher Gnade; alle selbständigen Anstrengungen in Richtung Weisheit galten a priori als verfehlt.« Assmann, Aleida: Adam als erster Leser der Welt. In: Dieselbe: Im Dickicht der Zeichen. Berlin 2015, S. 121 – 148, hier S. 129. 15 Ausgangspunkt dieser Entwicklung ist die Theologia naturalis (1437) von Raimundus Sabundus. Vgl. hierzu Assmann: Adam, S. 132 f. 16 Vgl. Hanegraaf, Wouter J.: Esotericism and the Academy. Rejected Knowledge in Western Culture. Cambridge 2012; Mulsow, Martin (Hg.): Das Ende des Hermetismus. Historische Kritik und neue Naturphilosophie in der Spätrenaissance. Dokumentation und Analyse der Debatte um die Datierung der hermetischen Schriften von Genebrard bis Casaubon (1567 – 1614). Tübingen 2002. 14

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ton verknüpfen, schaffen der Theologia naturalis nach dem Vorbild der biblischen Offenbarungstheologie eine eigene historische Texttradition, die auch als ›platonischer Orientalismus‹ bezeichnet werden kann.17 Mit dieser philologischen Historisierung der Philosophie über das Corpus Hermeticum oder die jüdische Kabbala wird »die Kontinuität von Philosophie und Offenbarung […] zur Geschichte von zwei Zweigen der einen Offenbarung«, die nun im heilsgeschichtlichen Zusammenhang der Translatio sapientiae auch als Phi­lo­ so­phie­geschichte geschrieben werden kann.18 »Diese Translatio sapientiae ist Bedingung der Phi­lo­so­phie­geschichte. Die älteste Philosophie bekommt denselben Status wie die älteste Offenbarung. Sie ist schließlich am nächsten bei der unsagbaren Wahrheit, weil sie am nächsten beim Ursprung der Manifestation des Geistes in der Schöpfung ist. Als ›Sprache Adams‹, die die philosophische Sprache schlechthin ist und die an der göttlichen Konzeption der geschaffenen Dinge teilhat, wird der Beginn der philosophischen Erkenntnis soweit wie möglich in den theologisch gedeuteten göttlichen Ursprung des menschlichen Wissens hineingenommen.«19

Analog zum Motiv einer Translatio imperii (›Der König ist tot, es lebe der König!‹) repräsentiert auch die Translatio sapientiae eine zeitlos-ursprüngliche Wahrheit durch ihre kontingent-historischen Träger hindurch. Als universales Rückgrat der Phi­lo­so­phie­geschichte in der Renaissance leitet sich die Idee der Translatio sapientiae von der Vorstellung einer ursprünglich perfekten und unschuldigen Weisheit her, die am monogenetischen Ursprung der Weltgeschichte in Form der adamitischen Ur- und Universalsprache prinzipiell allen menschlichen Völkern unterstellt wird. Nach dem Sündenfall sei diese primordiale Wissensfülle allerdings verloren gegangen, so dass in der postlapsarischen Gegenwart den Menschen nur noch einzelne Bruchstücke zugänglich sind, welche nun zusammenhanglos über die ganze Welt verstreut sind. Die Innovation des von Ficino begründeten Renaissanceplatonismus Vgl. Hanegraaf: Esotericism, S. 12 – 17; Jeck, Udo Reinhold: Platonica Orientalia. Aufde­ ckung einer philosophischen Tradition. Frankfurt/M. 2004. 18 Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis, S. 60 f. Johannes Reuchlin sah den ›platonischen Orientalismus‹ insbesondere über die Kabbala vermittelt, deren Traditionsbestände demnach in der griechischen Philosophie aufgingen. »So darf auch er [Pythagoras – A. R.], der diese Keime zuerst aufnahm, mit vollem Recht ein Cabbalist heißen, wenn gleich er zuerst den unbekannten Namen der Cabbala mit dem griechischen Namen der ›Philosophie‹ vertauscht hat.« Zitiert nach Cassirer, Ernst: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Bd. 1. Darmstadt 1994, S. 163. 19 Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis, S. 61. Ähnlich schon Cassirer: »Die Renaissance zuerst erfaßt die Aufgabe einer universellen Geschichte der Philosophie, die die einzelne geistige Erscheinung nach ihrem objektiven Gehalt ergreift, sie jedoch zugleich dem Gedanken der ›perennis philosophia‹ einordnet und unterstellt.« Cassirer: Das Erkenntnisproblem. Bd. 1, S. 165. 17



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besteht in dem Versuch, die alte Wissensfülle mit Hilfe von spekulativer Vernunft und spiritueller Liebe aus ihren historisch überlieferten Bruchstücken in Gestalt des logos spermatikos oder der ›eingeborenen Ideen‹ zu rekonstruieren. Er knüpft dabei neben der Theologia naturalis von Raimundus Sabundus (1385 – 1436) vor allem an die Lehre von der »gelehrten Unwissenheit« (Docta ignorantia) des Nikolaus von Kues (1401 – 1464) an, in der die Philosophie »als gläubige menschliche Mutmaßung von den Zeichen Gottes« definiert wird.20 Über diese allgemeine Voraussetzung der Zeichenhaftigkeit der Welt kann die Philosophia perennis die Welt, trotz ihrer zerstreuten Unvollständigkeit, als eine symbolische Ordnung interpretieren, deren für die Vernunft unzugängliche göttliche Ursache negativ mit Hilfe der sogenannten »Lehre von den Signaturen« über das Prinzip einer generativen Abwesenheit (Deus absconditus) bestimmt werden kann.21 Auf diese Weise kann der dogmatische Pessimismus der augustinischen Gnadentheologie bezüglich einer möglichen Rückkehr zur primordialen Weisheit und zur adamitischen Universalsprache philosophisch suspendiert oder zumindest relativiert werden. Dies eröffnet schließlich den philosophischen Raum für eine opti­mistische Weisheitsutopie, wie sie im Rahmen von Renaissance und Reformation im 16. und 17. Jahrhundert verbreitet war.22 Obwohl das philosophische Wissen dabei nur einen konjekturalen Status beanspruchen kann, steht es dennoch sowohl positiv über seine ontologische Teilhabe als auch negativ über seine erkenntnistheoretische Defizienz in einer relevanten Beziehung zur absoluten Wahrheit des göttlichen Geistes. Auf diese Weise generiert die philosophiehistorische Konzeptualisierung der Translatio sapientiae einen universalen Rahmen, in dem ein Menschheitsbegriff formuliert werden kann, der die bloße Summe seiner partikularen Teile übersteigt. »Die konjekturale Kenntnis der Welt impliziert, daß alle menschliche Erkenntnis sub specie fidei begriffen wird. Das bedeutet, daß auch das Wissen der Heiden, die Theologia prisca und die Philosophia perennis Licht vom Lichte Gottes sind. Die Einheit der Wahrheit manifestiert sich in ihren Elementen in der natürlichen Theologie.«23

Die verschiedenen Religionen der Menschen haben als Theologia naturalis allesamt einen philosophischen Anteil an der ewigen Wahrheit der Schöpfung. Da die eine ewige Wahrheit in allen Menschen unabhängig von ihren verschiedenen 20 Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis, S. 64. »Dieses Konzept impliziert die gläubige

Erkenntnis des Schöpfers, des Schöpfungsplans, der Ausführung der Schöpfung und ihres Ziels, gepaart mit der Rechenschaft darüber, wie diese unsere Kenntnis zustande kommt.« Ebd., S. 63 f. 21 Vgl. Assmann: Adam, S. 133 – 142. 22 Vgl. ebd., S. 142 – 145. 23 Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis, S. 68.

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konkreten Glaubensüberzeugungen angelegt ist, kann Erasmus von Rotterdam (um 1467 – 1536) schließlich den augustinischen Begriff des exklusiv christlichen ›Gottesstaates‹ sprengen und für die philosophierenden Heiden öffnen, da auch diese an der Translatio sapientiae teilhaben.24 Die heilsgeschichtliche Begründung der Phi­lo­so­phie­geschichte als »die eine Weisheit in den verschiedenen Zeiten« wird paradigmatisch 1540 bei Steuco vollendet, wenn er die humanistische Geist-Philosophie des florentinischen Neuplatonismus von Ficino und Pico della Mirandola (1463 – 1494) auf den Begriff der Philosophia perennis bringt.25 Steuco kann somit als »Historiker der ewigen Weisheit« verstanden werden, »der die Translatio sapientiae von der adamitischen Sprache bis zu seiner Gegenwart darstellte«.26

2.  Philosophia eclectica als neues Paradigma der Phi­lo­so­phie­geschichte

Als philosophiehistorischer Gegenspieler zur Philosophia perennis entwickelt sich im Laufe des 17. Jahrhunderts die eklektische Philosophie.27 Diese entwirft nach dem Vorbild von Diogenes Laertius, dessen Schrift De vita et scriptis philosophorum 1533 wiederentdeckt und in Basel publiziert wurde, eine stärker um Griechenland zentrierte Phi­lo­so­phie­geschichte.28 Da Laertius die griechische Phi­lo­so­phie­ geschichte eklektisch-deskriptiv nach verschiedenen Schulen (Sekten) unter Ausblendung einer Bewertung ihres jeweiligen Wahrheitsgehalts unterteilt, lässt sich dieser Ansatz zunächst noch unterhalb des Wahrheitsmonopols der Philosophia perennis in die neuplatonische Phi­lo­so­phie­geschichte einordnen. »Mit Diogenes Laertius ließ sich die Genealogie und der historische Lehr-Zusammenhang der griechischen Philosophie klar fassen, klarer als bei allen anderen antiken Völkern. Dadurch geriet der Monopolanspruch der Philosophia perennis zwar zunächst noch nicht ins Wanken, aber es begannen sich zwei Typen von Phi­lo­so­phie­ geschichte herauszubilden, einer, der an der Philosophia perennis orientiert war, ein anderer, der der griechischen Vorgabe des Diogenes Laertius folgte.«29 Vgl. Cassirer: Das Erkenntnisproblem, S. 170. Philosophia perennis, S. 63. 26 Ebd., S. 68. 27 Vgl. hierzu insbesondere Albrecht, Michael: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994. 28 Zur Bewertung von Diogenes Laertius siehe auch Braun, Lucien: Geschichte der Phi­lo­ so­phie­geschichte. Aus dem Franz. übers. von Franz Wimmer. Bearb. u. mit einem Nachwort versehen von Ulrich Johannes Schneider. Darmstadt 1990, S. 36 – 39. 29 Schmidt-Biggemann, Wilhelm: Jacob Bruckers philosophiegeschichtliches Konzept. In: Jacob Brucker (1696–1770). Philosoph und Historiker der europäischen Aufklärung. Hg. v. Wilhelm Schmidt-Biggemann u. Theo Stammen. Berlin 1998, S. 113 – 134, hier S. 116. 24

25 Schmidt-Biggemann:



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So bewahrt das philosophiehistorische Konzept im 17. Jahrhundert bei Autoren wie Gerhard Johannes Vossius (1577 – 1649) und Thomas Stanley (1625 – 1678) die Kompatibilität zur Philosophia perennis, da es auf »der Vorstellung einer einheitlichen Weisheit [beruht], die als ›Philosophia eclectica‹ die Ergebnisse der verschiedenen Sekten zusammenstellt[e] und als topisch-praktische Lehrsätze oder als zusammenfassende Theorie [anbietet]«.30 Gegen das Auseinanderdriften von philosophischem und theologischem Wahrheitsanspruch versucht Ralph Cudworth (1617 – 1688) im Rahmen der neuplatonischen Schule von Cambridge unter Rückgriff auf den Genesis-Kommentar Philos von Alexandrien noch einmal »die Phi­lo­so­phie­geschichte als eine Geschichte des Teilhabewissens an der göttlichen Weisheit zu beschreiben«.31 Gleichwohl setzt sich im Laufe des 17. Jahrhunderts vor dem Hintergrund von Reformation, Religionskriegen und kolonialen Eroberungen immer stärker die Skepsis bezüglich der Teilhabe der (heidnischen) Phi­lo­so­phie­geschichte an der christlich bestimmten Wahrheit durch. Insbesondere wegen der impliziten Paganisierung der christlichen Theologie durch das Konzept der natürlichen Theologie wird der Renaissanceplatonismus immer mehr zur Zielscheibe für den Vorwurf der Häresie und des Atheismus. Eine besondere Bedeutung aus dem Blickwinkel der Phi­lo­so­phie­geschichte kommt dabei dem Leipziger Universitätsprofessor Jacob Thomasius (1622 – 1684) und seiner antiapologetischen Kritik am christlichen Aristotelismus und Platonismus zu.32 Dessen Kritik an der unchristlichen Vermischung heidnischer Philosophie mit christlicher Offenbarungstheologie war zuvor eine intensive Debatte über die philosophiehistorische Bedeutung und die philologische Authentizität des von Ficino edierten Corpus Hermeticum als wichtigste Textsammlung der Prisca theologia vorausgegangen. Dabei hatte die neue christliche Frömmigkeitsbewegung vor allem Anstoß daran genommen, dass das Corpus Hermeticum der Bibel den Status der ältesten Urkunde des Menschengeschlechts streitig machte, wodurch man das unbedingte Wahrheitsmonopol der Heiligen Schrift, wie es im reformatorischen Grundsatz Ebd., S. 117. Vgl. Vossius, Gerhard Johannes: De philosophorum sectis liber. Den Haag 1657; Stanley, Thomas: The History of Philosophy. 4 Bde. London 1655 – 1662. Einen Überblick hierzu bietet Braun: Geschichte, S. 75 – 84 sowie Albrecht: Eklektik, S. 250 – 258. 31 Schmidt-Biggemann: Jacob Bruckers philosophiegeschichtliches Konzept, S. 117. Vgl. Cudworth, Ralph: The Intellectual System of the Universe. London 1678. Cudworth stützte sich hierbei auf den Genesis-Kommentar Philons von Alexandrien, den Schmidt-Biggemann folgendermaßen zusammenfasst: »Die Schöpfung der Welt sei nach den göttlichen Ideen erfolgt, die wie platonische Ideen eine eigene Sphäre zwischen Welt und Gott bildeten, diese Ideen seien die primordialen Schöpfungsgründe, die den logischen und den Existenz-Grund des Universums ausmachten.« Schmidt-Biggemann: Jacob Bruckers, S. 117. 32 Vgl. insbesondere Lehmann-Brauns, Sicco: Weisheit in der Weltgeschichte. Phi­lo­so­phie­ geschichte zwischen Barock und Aufklärung. Tübingen 2004, S. 21 – 111. 30

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sola scriptura fixiert war, bedroht sah. Wenn die mosaische Paradiesgeschichte später als die hermetischen Schriften datiert wird, wie sollte dann die in der Bibel beschriebene paradiesische Weisheit noch unbeschadet als universeller Rahmen fungieren?33 Der Widerspruch zwischen ontologischer Rahmung und historischer Datierung trieb auf diese Weise einen Keil zwischen das christliche Wahrheitsverständnis und den ›platonischen Orientalismus‹ der humanistischen Phi­lo­so­phie­geschichte. Mit der philologisch-kritischen Enttarnung der Hermetischen und Sybillinischen Schriften als pseudepigraphische Texte 1614 durch Isaac Casaubon (1559 – 1614), dem hugenottischen Bibliothekar Heinrichs IV., schien allerdings die historische Ursprünglichkeit der Bibel wieder hergestellt zu sein, aus der die Reformation ihren Grundsatz vom alleinigen Wahrheitsmonopol der ›Heiligen Schrift‹ (sola scriptura) ableitete.34 Mit dem Nachweis, dass es sich beim Corpus Hermeticum keineswegs um eine altägyptische Weisheitslehre aus der Feder von Hermes Trismegistos handelte, sondern um eine hellenistische Textkompilation, die kaum vor dem 2. Jahrhundert n. Chr. entstanden war, wurde jedoch auch der Wahrheitsanspruch der natürlichen Theologie insgesamt in Frage gestellt, die den Ausgangspunkt für die Phi­lo­so­phie­geschichte bildete. Zur Disposition stand nach der quellenkritischen Intervention Casaubons somit das theologisch-philosophische Konkordanzkonzept des humanistischen Modells der Translatio sapientiae überhaupt. Unter diesen Bedingungen musste die apologetische Verschränkung von Philosophie und Theologie innerhalb der Philosophia perennis einer strikten Trennung von Philosophie und Theologie in systematischer wie historischer Hinsicht weichen. Damit war der optimistisch-eschatologischen Weisheitsutopie des Renaissance-Platonismus, die im 17. Jahrhundert u. a. bei Jakob Böhme (1575 – 1624) und dem platonischen Pietismus noch an der philosophisch-praktischen Bedeutung der Idee der Translatio sapientiae festhielt, der Boden entzogen. Stattdessen erfolgte eine Rückkehr zum theologischen Pessimismus der augustinischen Gnadenlehre, in der die Philosophie heilsgeschichtlich keine Rolle mehr spielt. Mit der antiapologetischen Intervention von Jacob Thomasius wird die

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Siehe hierzu Vasoli, Cesare: Der Mythos der ›Prisci Theologi‹ als ›Ideologie‹ der ›Renovatio‹. In: Mulsow (Hg.): Das Ende des Hermetismus, S. 1760; Schmidt-Biggemann, Wilhelm: Katholizismus und Kabbala. Athanasius Kircher S. J. als Beispiel. In: Katholizismus und Judentum. Gemeinsamkeiten und Verwerfungen vom 16. bis 20. Jahrhundert. Hg. v. Florian Schuller, Giuseppe Veltri u. Hubert Wolf. Regensburg 2005, S. 46 – 72. 34 Vgl. Causaubon, Isaac: De rebus sacris et ecclesiasticis exercitationes XVI. London 1614. Siehe hierzu Mulsow, Martin: Ideologien der Anciennität, philologische Kritik und die Rolle der ›neuen‹ Naturphilosophie. In: Das Ende des Hermetismus, S. 1 – 13; Grafton, Anthony: Protestant versus Prophet: Isaac Casaubon über Hermes Trismegistos. In: ebd., S. 283 – 304.



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»vorchristliche Antike […] als eigenständige Epoche profiliert, deren philosophischer Lehrgehalt mit der christlichen Theologie kontrastiert. Die gleichwohl zu konstatierenden Vermischungen von heidnischer Philosophie und christlicher Theologie werden dann in antiapologetischer Hinsicht als Ketzergeschichte beschrieben.«35

In dieser Situation bietet sich die eklektische Methode des Diogenes Laertius an, um die Phi­lo­so­phie­geschichte jenseits und unabhängig vom metaphysisch-theologischen Wahrheitsanspruch neu zu konzeptualisieren. Freilich verändert auch die laertianische Eklektik mit ihrer Ablösung von der Philosophia perennis ihren Charakter. Das sich hieraus im Rahmen der Philosophia eclectica entfaltende neue Paradigma der Phi­lo­so­phie­geschichte zeichnet sich wesentlich dadurch aus, dass es den Wahrheitsgehalt der verschiedenen philosophischen Schulen in historische Meinungen transformiert und nach dem Schema von Philosophia eclectica und Philosophia sectaria ordnet.36 Die Philosophia eclectica verweist nun aber nicht mehr, wie noch bei Vossius und Stanley, auf den Neuplatonismus, sondern auf eine antisektiererische und vorurteilskritische Selbständigkeitseklektik, wie sie paradigmatisch im Umfeld der Frühaufklärung von Christian Thomasius (1655 – 1728) und Johann Franz Buddeus (1667 – 1729) an den Universitäten Halle, Jena und Göttingen formuliert wurde.37 Als Teil der Geschichte wird die Phi­lo­so­phie­geschichte jetzt allein der kontingenten Fides historica unterstellt, was bedeutet, dass Evidenz jenseits der Teilhabe an einem metaphysischen Wahrheitsverständnis nur noch über die Rekonstruktion und Evaluierung der philologischen Überlieferungsgeschichte erreicht werden kann. Die methodische Integration der quellenkritischen Ars critica, wie sie von Jean Le Clerc (1657 – 1736) entwickelt worden war, und der enzyklopädischen Historia literaria kompensieren das Wahrheitsdefizit in wissenschaftlicher Hinsicht und sollen die Regression auf einen willkürlichen historistischen Synkretismus verhindern.38 Dieses Programm wird paradigmatisch von Christian Thomasius in seiner Introductio ad philosophiam aulicam (1688) formuliert und in seiner frühaufklärerischen Schule unter Bezugnahme auf die libertas philosophandi Weisheit, S. 15. Vgl. die prägnante Zusammenfassung von Schmidt-Biggemann: Jacob Bruckers philosophiegeschichtliches Konzept, S. 126. 37 Vgl. hierzu Albrecht: Eklektik, S. 398 – 416 u. 434 – 450; Braun: Geschichte, S. 103 – 109; Lehmann-Brauns: Weisheit, S. 308 – 354. 38 »Mit der philosophischen Akzentuierung der philologischen Kritik hatte Le Clerc die Möglichkeit der Anwendung des cartesischen Methodenideals auf das Feld historischer Textkritik zu zeigen unternommen: Auch die Philologie verfuhr nach einer rationalen Methode, die klare und distinkte Erkenntnisse erreichen und also den Anspruch cartesischer Wissenschaftlichkeit erfüllen konnte. Allerdings war in Le Clercs ›philologischem Rationalismus‹ gerade die Frage nach der Wahrheit der historisch-kritisch rekonstruierten Textaussagen ausgeblendet worden, um deren methodisch einwandfreie, ›objektive‹ Erschließung zu garantieren.« Lehman-Brauns: Weisheit, S. 375 f. 35 Lehmann-Brauns: 36

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praktisch umgesetzt.39 Laut Ulrich Johannes Schneider besteht der Sinn der Bezeichnung Philosophia eclectica in der Frühaufklärung vor allem darin: »grundsätzlich Selbständigkeit auszuzeichnen, ohne ein Wahrheitsmonopol anzuerkennen«.40 Hieraus ergibt sich auch die Bedeutungsverschiebung der Eklektik innerhalb der Philosophia historia: »Völlig anders also als in der Spätantike erscheint der Eklektizismus in der Moderne nicht als eigene Sekte in Konkurrenz zu anderen Sekten, sondern als Grundhaltung eines (autoritäts)freien Philosophierens in Konkurrenz zu anderen Grundhaltungen.«41

3.  Leibniz und der Anfang der Philosophie in China

Was im Streit zwischen Philosophia perennis und frühaufklärerischer Eklektik aus philosophiegeschichtlicher Sicht vor allem zur Disposition stand, war neben dem Wahrheitsproblem vor allem die Frage nach dem Anfang der Philosophie. Hatten Philosophie und Theologie einen gemeinsamen Ursprung, wie dies die Idee der Translatio sapientiae mit Hilfe des ›platonischen Orientalismus‹ im Rahmen der traditionellen Überlieferungsgeschichte der Prisca sapientia unterstellte? Oder war mit der quellenkritischen Destruktion der hermetischen Textgrundlagen die philosophiegeschichtliche Idee der natürlichen Theologie generell obsolet geworden? Im letzteren Fall würden philosophische Vernunft und theologischer Glaube beziehungslos auseinanderfallen, so dass das konjekturale Wissen der Philosophie weder über die ontologische Spekulation noch über den subjektiven Spiritualismus Zugang zur primordialen Weisheit, natürlichen Ethik oder der ursprünglichen Universalsprache hätten. Die durch die Reformation ausgelöste neue christliche Frömmigkeit drängte unter Berufung auf die augustinische Gnadenlehre auf eine Reinigung der Theologie von den heidnischen Momenten der Philosophie. Diese antiapologetische Strategie, die insbesondere von Jacob Thomasius auch auf die Phi­lo­so­phie­geschichte angewendet wurde, akzeptierte die eklektische Methode nur unter der Voraussetzung, dass sie jeglichen affirmativen Bezug auf die pagane Philosophie aufgab und sich bedingungslos der christlichen Offenbarungswahrheit unterwarf.42 Auch in der hierauf aufbauenden Transformation der älteren AusThomasius, Christian: Introductio ad philosophiam aulicam, sive linae primae libri de prudentia cogitandi et ratiocinandi. Leipzig 1688. 40 Schneider, Ulrich Johannes: Das Eklektizismus-Problem der Phi­lo­so­phie­geschichte. In: Schmidt-Biggemann; Stammen (Hg.): Jacob Brucker, S. 135 – 158, hier S. 145. 41 Ebd., S. 147. 42 Vgl. Thomasius, Jacob: Schediasma historicum, quo varia discutiuntur ad historiam tum philosophicam tum ecclesiasticam pertinentia. Leipzig 1665. Zum Verhältnis von J. Thomasius’ Antiapologetik zur Eklektik siehe Albrecht: Eklektik, S. 297 – 301; Lehmann-Brauns: Weisheit, S. 47 – 53. 39



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wahl-Eklektik zur Selbständigkeits-Eklektik, wie sie paradigmatisch von Christian Thomasius – dem Sohn des Jacob Thomasius – formuliert wurde, blieb das Auseinanderfallen von profaner Philosophie und christlichem Glauben stilbildend.43 Die Philosophie und ihre Geschichte müssen auch hier ihren metaphysisch-spekulativen Wahrheitsbezug zugunsten der Theologie aufgeben, der nun allerdings durch die empirische Nützlichkeit und Wahrscheinlichkeit ersetzt werden sollte, wie sie der zweiten Natur des Menschen nach dem Sündenfall entsprach.44 Aus antiapologetischer Sicht war die heidnische Philosophie und Phi­lo­so­phie­ geschichte daher ohne jede heilsgeschichtliche Relevanz; es handelt sich hierbei um eine reine Ketzergeschichte. Die widersprüchliche Dialektik, die sich innerhalb der eklektischen Frühaufklärung entfaltete, lässt sich je nach Perspektive unterschiedlich artikulieren. Während Autoren wie Zedelmaier von einer »doppelten Emanzi­ pationsabsicht« sprechen, in der sich fortan Philosophie und Theologie auto­nom entfalten können,45 betont Schmidt-Biggemann stärker den problematischen Dualismus von christlicher und philosophischer Skepsis. Seine Argumente fasst Letzterer folgendermaßen zusammen: »Erwies sich die Konziliation von Glaube und Vernunft als unmöglich, dann bleibt ein doppelter Ausweg: Entweder christliche Skepsis, die den Glauben akzeptierte und die Philosophie skeptisch annahm, oder eine philosophische Skepsis, die die Philosophie akzeptierte und der christlichen Religion gegenüber skeptisch war. Die Schule des Hallenser Eklektizismus, der Brucker wie sein Lehrer Buddeus zugetan war, hat sich – cum grano salis – für die erste Lösung entschieden: für die gläubige Skepsis. Sie hat, wie ihr Lehrer Thomasius, nach dem Nutzen der Philosophie gefragt, nicht nach ihrer Wahrheit. Denn der Nutzen der Philosophie konnte entweder die ›Praeparatio evangeli‹ sein oder die Hilfestellung fürs praktische Leben. Die Wahrheit, auf die es ankam, war allemal die theologische. Und angesichts dieser festen Wahrheit konnte auch der ›historische Pyrrhonismus‹ in Kauf genommen werden, denn hier ging es um ›Fides historica‹, nicht um eine theologische Heilswahrheit.«46 Christian Thomasius hat die Schediasma historicum seines Vaters nochmals herausgegeben unter dem einschlägigen Titel: Origines historiae philosophicae et ecclesiasticae. Leipzig 1699. 44 Zur frühaufklärerischen Philosophie von Christian Thomasius siehe Schneiders, Werner: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim 1971. 45 »Zur Disposition stand […] das Verhältnis von profanem und heiligem Wissen, von Vernunft und Offenbarung. Im Blick auf die Anfänge des Wissens arbeitete die pragmatische historische Kritik an der Befreiung der menschlichen Wissensanstrengungen von religiöser Verbrämung, zugleich aber auch umgekehrt: an der Emanzipation des Offenbarungswissens von der Indienstnahme durch profane Interessen.« Zedelmaier, Helmut: Der Anfang der Geschichte. Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert. Hamburg 2003, S. 98 f. 46 Schmidt-Biggemann: Jacob Bruckers philosophiegeschichtliches Konzept, S. 119. 43

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Folgt man Schmidt-Biggemann, dann stiftete die antiapologetische Voraussetzung des neuen eklektischen Paradigmas in der frühaufklärerischen Phi­lo­so­phie­ geschichts­schrei­bung ein Trennungsdenken, das einerseits als Emanzipation der Philosophie, anderseits aber als instrumentelle Verkürzung der Philosophie zugunsten der Theologie gelesen werden kann. Damit eng zusammen hängt eine exklusive Logik, deren »normativ-identifizierende Historiographie« als Ausgangspunkt eines christlich-eurozentristischen Orientalismus interpretiert werden kann: »Sie etabliert mit ihrer Logik von Inklusion und Exklusion eine ›mosaische Unterscheidung‹ philosophischer Traditionen: orientalisch vs. abendländisch, griechisch vs. barbarisch, jüdisch vs. christlich. Ohne die Wahrheitsprinzipien wirklich transparent zu machen, sortiert sie philosophische Traditionen nach konfessioneller Herkunft und stiftet eine ihnen entspringende kontinuierliche philosophische Strömung, die sie zu philosophischen Canones stabilisiert.«47

Exakt in diese philosophiegeschichtliche Konstellation fällt Leibniz’ energische Parteinahme für die chinesische Philosophie, in der er nicht zuletzt einen ebenso textbasierten wie praktisch relevanten Beweis für die Wahrheit des Konzepts der natürlichen Theologie sieht.48 »China ist ein großes Reich, das dem kultivierten Europa an Ausdehnung nicht nachsteht und es an Einwohnern und guter politischer Ordnung sogar übertrifft. Auch gibt es in China eine in mancher Hinsicht bewundernswerte öffentliche Moral, verbunden mit einer philosophischen Lehre, oder richtiger, mit einer Natürlichen Theologie, die ehrwürdig ist durch ihr Alter, eingeführt und zur Autorität gekommen vor etwa 3000 Jahren, also lange vor der Philosophie der Griechen, auch wenn diese letztere, abgesehen von unseren heiligen Büchern, die erste ist, von der die übrige Welt Werke besitzt. Es wäre daher von uns, da wir im Vergleich mit den Chinesen neu Westerkamp, Dirk: Die philonische Unterscheidung. Aufklärung, Orientalismus und Konstruktion der Philosophie. München 2009, S. 42. Ganz ähnlich bezüglich des Ausschlusses der hermetischen Esoterik argumentiert Hanegraaf: Esotericism, S. 77 – 152. Siehe auch Bernal, Martin: Black Athena. The Afroasiatic Roots of Classical Civilization. Vol. 1: The Fabrication of Ancient Greece 1785 – 1985. London 1987, S. 189 – 4 43. 48 Zu Leibniz’ China-Rezeption siehe vor allem: Cook, Daniel J. u. Rosemont Jr., Henry: The Pre-Established Harmony between Leibniz and Chinese Thought. In: Journal of the History of Ideas 42 (1981), S. 253 – 267; Lach, Donald F.: Leibniz and China. In: Journal of the History of Ideas 6 (1945), S. 436 – 455; Lee: »Anti-Europa«, S. 54 – 140; Li, Wenchao u. Poser, Hans (Hg.): Das Neueste über China. G. W. Leibnizens Novissima Sinica von 1697. Stuttgart 2000; Merkel, Rudolf Franz: G. W. von Leibniz und die China-Mission: Eine Untersuchung über die Anfänge der protestantischen Missionsbewegung. Leipzig 1920; Mungello, David E.: Leibniz and Confucianism: The Search for Accord. Honolulu 1977; Perkins, Franklin: Leibniz and China: A Commerce of Light. Cambridge 2004; Roy, Olivier: Leibniz et la Chine. Paris 1972 sowie zuletzt Park, Peter K. J.: Leibniz and Wolff on China. In: Germany and China: Transnational Encounters since the Eighteenth Century. Hg. v. Joanne Miyang Cho u. David M. Crowe. New York 2014, S. 21 – 37. 47



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hinzugekommen und der Barbarei kaum entwachsen sind, sehr unklug und anmaßend, wollten wir eine so alte Lehre verurteilen, nur weil sie nicht auf den ersten Blick mit den scholastischen Begriffen, die uns vertraut sind, übereinzustimmen scheint.«49

Für Leibniz bestätigt die wechselseitige Ergänzung von europäischer und chinesischer Kultur seinen Optimismus bezüglich einer möglichen Koinzidenz von Vernunft und Glauben auch noch unter modernen Bedingungen, weshalb er sie als Argument gegen die Skepsis sowohl christlicher als auch philosophischer Provenienz ins Feld führt. Leibniz habe, so diagnostiziert Braun, »die Idee« verfochten, »dass die Erforschung der Wahrheit über das Kennenlernen fremder Gedanken geschehen kann«.50 Wenn Leibniz dabei nicht nur die vorbildliche politische Ordnung und öffentliche Moral Chinas erwähnt, sondern auch das Alter seiner natürlichen Theologie betont, welches die griechische Philosophie weit übertreffe, dann greift er offensichtlich auf eine Debatte zurück, die die chinesische Philosophie mit ihrer langen Schrifttradition als Alternative zum Corpus Hermeticum und anderen pseudepigrafischen Texten der Prisca sapientia präsentierte. Hierbei ging es um die Frage, ob die chinesische Philosophie- und Schrifttradition aufgrund ihres Alters die quellenkritisch widerlegten hermetischen Texte ersetzen und folglich die Philosophia perennis nicht nur philologisch rehabilitieren, sondern auch an die neuesten Errungenschaften der mathematischen Wissenschaft und mechanischen Technik anpassen könnte.51 Als lebendige Schriftsprache könne das Chinesische aufgrund seiner graphologischen Ähnlichkeit weiterhin bei der Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen hilfreich sein, wovon man sich den Zugang zu den alten esoterischen Geheimlehren und letztlich die Entschlüsselung der primordialen Universalsprache versprach. Nachdem solche Überlegungen schon von Francis Bacon (1561 – 1626) geäußert worden waren, erhielten diese Spekulationen mit den Berichten des jesuitischen Missionars Martino Martini (1614 – 1661) und insbesondere durch Athanasius Kircher (1602 – 1680) neuen Auftrieb.52 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Zwei Briefe über das binäre Zahlensystem und die chinesische Philosophie. Stuttgart 1968, S. 43. 50 Braun: Geschichte, S. 101. 51 Im Gegensatz zu seinem Lehrer Jacob Thomasius hielt Leibniz am überzeitlichen Wahrheitsbezug der Philosophia perennis fest. »Die Philosophie überdauert die Jahre (per-annos): sie ist philosophia perennis. Aber sie manifestiert zu verschiedenen Zeitpunkten und unter verschiedenen Gesichtspunkten verschiedene Aspekte. Diese Teilwahrheiten tendieren indessen zur einen, einzigen Wahrheit, alle Philosophien zur einen Philosophie.« Braun: Geschichte, S. 101. Ausführlich dazu Schmidt-Biggemann, Wilhelm: Der letzte Vertreter der Philosophia perennis: Leibniz konservativ interpretiert. In: ders., Apokalypse und Philologie. Wissensgeschichten und Weltentwürfe der Frühen Neuzeit. Hg. v. Anja Hallacker u. Boris Bayer. Göttingen 2005, S. 289 – 299. 52 Siehe hierzu Eco: Die Suche, S. 153 – 187. 49

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Nachdem Martini seinen Novus Atlas Sinensis 1655 als zehnten Band von Joan Blaeus (1596 – 1673) Atlas Maior in Amsterdam publizierte hatte, veröffentlichte er 1658 eine chronologische Übersicht zur Geschichte Chinas von den Anfängen bis zur Geburt Christi.53 Beide Bücher waren eine Sensation, die mit ihrer ursprüng­ lichen Datierung der chinesischen Geschichte vor der biblischen Zeitrechnung das europäisch-christliche Weltbild erneut ins Wanken brachte. Noch 1655 veröffentlichte der Calvinist Isaac La Peyrère (1596 – 1676) seine bald heftig umstrittene PräAdamiten-Hypothese, in der er sich gegen die Rehabilitation von Prisca sapientia und ›platonischem Orientalismus‹ mit Hilfe der chinesischen Schrifttradition wandte und stattdessen über eine doppelte Schöpfung des Menschengeschlechts spekulierte.54 Der jüdisch-christlichen Schöpfung Adams sollte demnach bereits eine heidnische Schöpfung vorausgegangen sein, die aber keinen Anteil an der biblischen Heilsgeschichte habe. Deshalb sei es nicht möglich, mit Hilfe der chinesischen Philosophie die neuplatonische Philosophia perennis zu rehabilitieren. Gegen La Peyrère betonte Georg Horn (1620 – 1670) in seiner Historia philosophica, die ebenfalls 1655 in Holland erschienen war, ausdrücklich die Kontinuität zwischen chinesischer und europäischer Philosophietradition im Sinne der Translatio sapientiae, indem er die konfuzianische Philosophie der Chinesen mit der platonischen Philosophie identifizierte. Für Horn war das chinesische Kaiserreich die Verwirklichung des Ideals einer platonischen Republik.55 Horn warf auch dem holländischen Philologen und späteren Domherrn von Windsor Isaac Vossius (1618 – 1689) vor, Anhänger La Peyrères zu sein, da dieser 1655 für eine Ersetzung der lateinischen Bibelübersetzung (Vulgata) durch die griechische Septuaginta plädiert hatte, um den von Martini indizierten Zeitrückstand der Europäer gegenüber den Chinesen aufzuholen.56 Vossius veranschlagte das Alter der chinesischen Schrift 1685 in seiner Abhandlung De artibus et scientiis Sinarum höher als dasjenige der ägyptischen Hieroglyphen und machte China damit zum natürlichen Ausgangspunkt der Phi­lo­so­phie­geschichte, das Europa darüber hinaus Martini, Martinio: Sinicae historiae decas prima res a gentis origine ad Christum natum in extrema Asia, sive magno Sinarum imperio gestas complexa. München 1658. Siehe hierzu auch Perkins: Leibniz and China, S. 25 f. 54 [La Peyrère, Isaac]: Systema theologicum ex Prae-Adamitarum hypothesi. Pars prima. O. O. [Amsterdam] 1655. Hierüber informieren Grafton, Anthony: Isaac La Peyrère and the Old Testament. In: ders., Defenders of the Text. The Traditions of Scholarship in an Age of Science. 1450 – 1800. Cambridge/Mass., London 1991, S. 204 – 213 sowie Zedelmaier: Der Anfang, S. 19 – 21. 55 Horn, Georg: Historiae philosophicae libri septem. Leiden 1655, S. 309 f. Vgl. zu Horn Braun: Geschichte, S. 71 – 73. 56 Siehe zu diesen Debatten Rossi, Paolo: The Dark Abyss of Time. The History of the Earth and the History of the Nations from Hooke to Vico. Chicago 1984, S. 145 – 152 sowie Zedelmaier: Der Anfang, S. 20 f. 53



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auch in allen anderen Belangen überlegen sei.57 Er widersprach damit der Autorität des Jesuiten Kircher, der die chinesische Kultur als ein koloniales Derivat der alten Ägypter interpretiert hatte.58 Vor dem Hintergrund dieser Streitigkeiten um den Ursprung der Phi­lo­so­phie­ geschichte kam der Edition der zentralen Texte der chinesischen Philosophietradition höchste Bedeutung zu. Nur wenn sie den Ansprüchen der quellenkritischen Ars critica standhielten, bestand die Chance, den theologischen Wahrheitsbezug der Phi­lo­so­phie­geschichte im Rahmen der Philosophia perennis gegen die christ­ liche wie philosophische Skepsis der Eklektik zu rehabilitieren. Politisch war die Debatte zusätzlich noch über den sogenannten ›Ritenstreit‹ aufgeladen, in dem es um die Verträglichkeit des chinesischen Konfuzius-Kultes mit der christlichen Religion ging, und von dem das gesamte Schicksal der jesuitischen China-Mission abhing.59 Die erste lateinische Edition der Klassiker des konfuzianischen Kanons besorgte 1687 eine Gruppe von jesuitischen Missionaren unter Führung von Philippe Couplet (1623 – 1693), die die Texte unter dem Titel Confucius Sinarum Pilosophus in einer feierlichen Zeremonie an der Pariser Académie des sciences Ludwig XIV. überreichten.60 François Noël (1651 – 1729) fügte diesen Texten 1711 noch das Buch ›Menzius‹ hinzu.61 Die eklektische Schule, welche die Begründung der christlichen Theologie mit Hilfe paganer Philosophie ablehnte, versuchte die Qualität dieser Texteditionen möglichst herunterzuspielen. So reagierte Christian Thomasius 1689 mit einer nega­tiven Rezension in den Monatsgesprächen, in der er den jesuitischen Übersetzungen jegliche wissenschaftliche Bedeutung absprach. Er räumte zwar ein, dass »Confutius wohl ein scharffsinniger und weiser Philosophus« sei, fügte aber sogleich hinzu, dass »diese Scientia Sinica nicht eben die scharffsinnigste ist«. Ähnlich wie bei Luthers Tischreden sei »zwar nicht zu leugnen / daß in denen drey Büchern Scientiae Sinensis gar viel überaus kluge und subtile Lehren des Confucii enthalten sind / die wohl zu wünschen wären / daß man sie auff hohen Schulen oder in gemeinem Leben in acht nähme. Allein Ausführlich hierzu Weststeijn, Thijs: Vossius’ Chinese Utopia. In: Isaac Vossius (1618– 1689) between Science and Scholarship. hg. v. Eric Jrink u. Dirk van Miert. Brill 2012, S. 207 – 242. 58 Vgl. Kircher, Athanasius: China monumentis, qua sacris qua profanis, nec non variis naturae et artis spectaculis, aliarumque rerum memorablium argumentis illustrata. Amsterdam 1667. 59 Vgl. hierzu zusammenfassend Lee: »Anti-Europa«, S. 31 – 34. 60 Couplet, Philippe u. a.: Confucius Sinarum philosophus, sive scientia Sinensis Latine exposita studio & opera. Paris 1687. 61 Noël, François, Sinensis imperii libri classici sex. Prag 1711. Vgl. hierzu Jäger, Henrik: Einleitung. In: François Noël, Sinensis imperii libri classici sex. (Die sechs klassischen Bücher des chinesischen Reiches). Hildesheim 2011, S. 5 f. 57

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es sind auch viele nichts würdige Dinge darinnen / bey welchen man sich des Lachens kaum enthalten kan / und das acumen wohl ein Jahr lang vergebens suchen solte.«62

Der Buddeus-Schüler Christoph August Heumann (1681 – 1764) fertigte im gleichen Ton die Arbeit von Noël ab, wobei er sich auf eine Rezension in den Acta Eruditorum von 1711/12 berief. Auch aus den von Noël präsentierten Menzius-Texten seien demnach »keine argumenta philosophiae moralis zu nehmen, sondern nur allerhand gute Regeln, die nicht einmahl denen ungelehrten Europäern unbekannt sind«.63 Überhaupt handele es sich bei der chinesischen Ethik um »eine Morale, welche durch die Theologiam Scholasticam […] in eine andere Gestalt gebracht worden [ist]«. Für Heumann »besteht die Sinesische* Morale in ganz gemeinen Wahrheiten, welche allen andern Völckern, auch denen ungelehrtesten, eben so bekannt sind, als den Sinesern: Und führen noch darzu viel Aberglauben und abgeschmackte Ceremonien bey sich.«64 Heumann sprach in diesem Zusammenhang auch von einer »Ethica vulgaris«.65 Johann Franz Buddeus (1677 – 1729), Heumanns Lehrer, hatte zuvor den bereits von Pierre Bayle (1647 – 1706) geäußerten Verdacht aufgegriffen und der chinesischen Philosophietradition abergläubische Häresie und spinozistischen Atheismus vorgeworfen.66 Während der hallesche Eklektizismus von Thomasius und Buddeus den jesuitischen Texteditionen der chinesischen Philosophietradition möglichst jeden Wert absprach und die inhaltliche Komplexität der chinesischen Ethik allenfalls auf eine scholastische Verzerrung zurückführte, reagierte Leibniz, der mit den jesuitischen China-Missionaren in einem regen Briefwechsel stand, auf die neuen Texte ganz anders.67 Nicht zuletzt, weil er die Desintegration von natürlicher Theologie und Offenbarungstheologie im Zerfallsprozess der Philosophia perennis für ein Thomasius, Christian: Freimütige, lustige und ernsthafte, jedoch vernunftmäßige Gedanken oder Monatsgespräche über allerhand, fürnehmlich aber neue Bücher. Bd. 4. Halle 1689, S. 599 – 634, hier S. 605 f. 63 Heumann, Christoph August: Eusebii Renaudoti Nachricht und Urtheil von der Philosophi der Sineser. In: Acta philosophorum. Das ist, Gründliche Nachricht aus der Historia Philosophica. Nebst beygefügten Urtheilen von denen dahin gehörigen alten und neuen Büchern. Bd. 2, 11. Stück, Halle 1720, S. 717 – 786, hier S. 752. 64 Ebd., S. 752 f. 65 Ebd., S. 752. 66 Vgl. Buddeus, Johann Franz: Dissertatio Philosophica de Spinozismo ante Spinozam. Halle 1701 sowie ders.: Dissertatio Historico-Moralis de Superstitioso Mortuorum Apud Chinenses Cultu. Halle 1701. 67 Vgl. hierzu ausführlich Widmaier, Rita: Leibniz und China. In: G. W. Leibniz, Der Briefwechsel mit den Jesuiten in China (1689 –1714). Hamburg 2006, S. XIII – CXXXIII. Leibniz legte an die chinesischen Übersetzungen die gleichen Qualitätsmaßstäbe an, die er für die heiligen Schriften der Juden, Christen und Araber forderte. Siehe hierzu auch Perkins: Leibniz and China, S. 188. 62



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Zeichen der europäischen Krise hielt, hatte er ein positives Verhältnis sowohl zur jesuitischen Missionspraxis der propagatio fidei per scientias als auch zur jesuitischen Auslegung der chinesischen Philosophie. Deshalb zeigte er sich 1697 in seiner Novissima Sinica von der philosophiehistorischen Qualität der chinesischen Texte offenkundig so überzeugt, dass er die chinesische Philosophie nicht nur gleichberechtigt als natürliche Theologie anerkannte, sondern ihr sogar eine missionarische Qualität für das moralisch depravierte Europa zuschrieb. »Jedenfalls scheint mir die Lage unserer hiesigen Verhältnisse angesichts des ins Unermeßliche wachsenden moralischen Verfalls so zu sein, daß es beinahe notwendig erscheint, daß man Missionare der Chinesen zu uns schickt, die uns Anwendung und Praxis einer natürlichen Theologie lehren, in gleicher Weise, wie wir ihnen Leute senden, die sie die geoffenbarte Theologie lehren sollen. Ich glaube daher: Wäre ein weiser Mann zum Schiedsrichter nicht über die Schönheit von Göttinnen, sondern über die Vortrefflichkeit von Völkern gewählt worden, würde er den goldenen Apfel den Chinesen geben, wenn wir sie nicht gerade in einer Hinsicht, die aber freilich außerhalb menschlicher Möglichkeiten liegt, überträfen, nämlich durch das gött­ liche Geschenk der christlichen Religion.«68

Mit dieser provokanten Stellungnahme zugunsten der chinesischen Phi­lo­so­phie­ geschichte, die Leibniz 1716 im unpublizierten Diskurs über die natürliche Theologie der Chinesen noch einmal bekräftigte, grenzte er sich auf das Schärfste von der antiapologetischen Eklektik der Thomasius-Schule ab und schloss sich der Position von Horn und insbesondere Isaac Vossius an, die er durch die jesuitische Übersetzungsleistung bestätigt sah.69 Wenn er in diesem Zusammenhang schließlich feststellte: »Konfuzius wie Platon haben an den Einen Gott geglaubt«,70 dann stellte er sich unmissverständlich in die Traditionslinie der neuplatonischen Philosophia perennis. Ganz undogmatisch übernahm Leibniz gleichwohl von dem als radikalen Freidenker verschrienen Vossius die Ansicht, wonach die chinesischen Schriftzeichen nicht historisch von den ägyptischen Hieroglyphen abhängen und deshalb eine eigenständige Spur für die Suche nach der ursprünglichen Weisheit und der vollkommenen Universalsprache darstellen, der er sich schon früh in seinem Projekt der ars characteristica universalis gewidmet hatte.71 Hierin wurde Leibniz noch vom ›Figurismus‹ des Jesuitenmissionars Joachim Bouvet bestätigt, der im Yijing – Gottfried Wilhelm: Das Neueste von China (1697). Novissima Sinica. Hg. v. Heinz Günther Nesselrath u. Hermann Reinbothe. Köln 1979, S. 19. 69 Vgl. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Discours sur la théologie naturelle des Chinois. Hg. v. Wenchao Li u. Hans Poser. Frankfurt/M. 2002. 70 Leibniz: Zwei Briefe, S. 109. Zum Verhältnis von Leibniz zur Philosophia perennis im Allgemeinen siehe: Schmidt-Biggemann: Der letzte Vertreter der Philosophia perennis. 71 Vgl. Perkins: Leibniz and China, insbesondere S. 139 – 146 sowie Widmaier, Rita: Die Rolle der chinesischen Schrift in Leibniz’ Zeichentheorie. Wiesbaden 1983. 68 Leibniz,

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dem vermeintlich ältesten Dokument der chinesischen Kultur – den Ursprung des von Leibniz entwickelten binären Zahlensystems vermutete.72 Insofern vermochte die Rezeption der chinesischen Philosophie- und Schrifttradition für Leibniz nicht nur den Ausfall der hermetischen Schriften und der alt­ ägyptischen Weisheitslehre zu kompensieren. Als eine im Gegensatz zur Hermetik lebendige und authentische Tradition erlaubte diese Rezeptionsleistung darüber hinaus, den antiquarischen Charakter der neuplatonischen Idee von der Translatio sapientiae auf innovative Weise in eine qualitativ neuartige Zivilisations- und Fortschrittstheorie zu überführen. So versprach sich Leibniz aus der kritischen Synthese von chinesischer und europäischer Philosophie eine neuartige Vereinigung von Vernunft und Glauben, die seinem neuen System der prästabilierten Harmonie entsprach.73 Mit Vossius vermutete Leibniz den Ursprung der Philosophie als natürlicher Theologie daher im alten China, deren Tradition möglicherweise bis vor die Sintflut zurückreichte.74 Dennoch betrachtete er die abstrakte Form des Philosophierens, wie sie mit der mathematischen Methode verbunden war, als eine ausschließliche Errungenschaft der Europäer, die auf Euklid und die Griechen zurückging. Gerade deshalb käme alles darauf an diese Wissensschätze zu vereinigen: »tauschen wir die Gaben aus und entzünden wir Licht am Lichte!«75

4. China oder Griechenland? Christoph August Heumanns griechische Revision der Phi­lo­so­phie­geschichte

Gegen den Versuch von Isaac Vossius und Leibniz, China als neuen gemeinsamen Ursprungsort von Weisheits- und Phi­lo­so­phie­geschichte zu etablieren, formierte sich bald Widerstand, der sich nun verstärkt auf den ausschließlich griechischen Ursprung der Philosophie berief. Die Identifizierung Griechenlands als alleinigen Ursprungsort der Philosophie lässt sich erstmals 1691 bei dem Cartesianer Pierre Coste (1668 – 1747) nachweisen.76 Coste widerspricht damit sowohl Vossius als auch 72

Der jesuitische Figurismus überträgt die von Philon von Alexandria zur Deutung der heidnischen Philosophie entwickelte Typologie bzw. Allegorese, die auch von den Kirchen­ vätern zur Interpretation des Alten Testaments angewandt wurde, auf die chinesische Phi­lo­ so­phie­geschichte. Vgl. hierzu Widmaier: Einführung, S. XC – CV. 73 Lee: »Anti-Europa«, S. 75 bezeichnet Leibniz’ »Konzeption der Weltkultur« als eine »eurasiatische Kultursynthese, die auf seiner Annahme des komplementären Charakters der chinesisch-konfuzianischen und der europäisch-christlichen Kultur basierte«. 74 Leibniz: Das Neueste von China, S. 84. 75 Ebd., S. 94. 76 Vgl. Wimmer: Interkulturelle Philosophie. Bd. 1, S. 191; ders.: Reply. In: Confluence. Online-Journal of World Philosophie 3 (2015), S. 151 – 161, hier S. 153. Laut Wimmer hat Braun den



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den Jesuiten und vollendet zugleich die auf Griechenland zentrierte Tendenz der eklektisch-laertianischen Phi­lo­so­phie­geschichte, indem er sie endgültig vom metaphysischen Rahmen der Philosophia perennis ablöst. Die Philosophie wird von den älteren orientalischen Weisheitslehren abgetrennt und als eine eigenständige Form des abstrakten Vernunftdenkens begründet, das nach dem Vorbild von Descartes wesentlich von der Mathematik geprägt ist. Mit den Weisheitsgenealogien wird aber auch die natürliche Theologie verworfen. Damit geht allerdings die Möglichkeit einer rationalen und quellenkritischen Umformung des alten heilsgeschichtlichen Motivs der Translatio sapientiae in eine moderne Fortschritts- und universale Zivilisationstheorie verloren, wie sie Leibniz mit seiner Integration der chinesischen Philosophie in die europäische Phi­lo­so­phie­geschichte vorschwebte.77 Costes Griechenland-These wird innerhalb der eklektischen Thomasius-Schule vermittelt über Bayle zuerst 1706 von Nikolaus Hieronymus Gundling (1671 – 1729) in seiner Historia philosophiae moralis aufgegriffen.78 Auch hier wird die These vom griechischen Ursprung der Philosophie explizit zur Delegitimierung traditioneller und alternativer Weisheitsgenealogien benutzt. So bestätigt Gundling in diesem Kontext ausdrücklich Christian Thomasius’ negatives Urteil über Couplets Confucius Sinarum Pilosophus und schließt einen alternativen Anfang der Phi­lo­ so­phie­geschichte in China nach dem Vorbild von Vossius und Leibniz entschieden aus.79 Zur Abwehr der von Leibniz in der Novissima Sinica vorgestellten neuen chinesischen Weisheitsgenealogie muss er aber so weit gehen, auch die von seinem halleschen Kollegen Buddeus noch verteidigte Philosophia hebraeorum zur bloßen Philosophia barbarica herabzustufen, so dass die heilige Geschichte der Hebräer ebenso wie die chinesische als eine pagane, vorchristliche Kulturgeschichte unter anderen erscheint.80 Zedelmaier fasst Gundlings Argumentation folgendermaßen zusammen: »Betrachtet man die überlieferten Texte mit vernünftigen Augen, so läßt sich überhaupt wenig mit Gewißheit über die Moralphilosophie der Barbaren aussagen. Man Text von Coste (Discours sur la philosophie, où l’on fait en abrégé l’histoire de cette science) fälschlicherweise Pierre Sylvain Régis zugeschrieben. Vgl. Braun: Geschichte, S. 68 f. 77 Dies wird weder von Lehmann-Brauns noch von Zedelmaier hinreichend in Betracht gezogen, da sie mit einem ausschließlich polarisierenden Schema arbeiten, wonach »die Entstehung der modernen Phi­lo­so­phie­geschichte eng mit einer Problematisierung der heiligen Ursprünge der Philosophie verknüpft ist.« Zedelmaier: Der Anfang, S. 60. 78 Gundling, Nikolais Hieronymus: Historia philosophiae moralis. Halle 1706, S. 113, Fn. p. Vgl. hierzu Lehmann-Brauns: Weisheit, S. 377; Zedelmaier: Der Anfang, S. 77 – 96. 79 Vgl. Gundling: Historia philosophiae, S. 32. Zu Thomasius’ Kritik an der Vorstellung von einer perfekten Philosophie in vorsintflutlicher Zeit siehe Zedelmaier: Der Anfang, S. 61 – 76. 80 Dazu Mulsow, Martin: Gundling vs. Buddeus. Competing Models of the History of Philosophy. In: History and the Disciplines. The Reclassification of Knowledge in Early Modern Europe. Hg. v. Donald R. Kelley. New York 1997, S. 103 – 125.

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findet entweder (wie im Fall von Ägypten) keine oder stumme Überreste, denen keine vernünftigen Aussagen zu entlocken sind, oder aber die Belege sind (wie im Falle der Chaldäer) Fälschungen. Die vorhandenen Texte sprechen von Idolatrie und Unvernunft der Barbaren, oder drücken, wie im Fall der Hebräer, nur einfache Wahrheiten aus.«81

Wenn Gundling diese einfache Wahrheit der Hebräer, die noch keine philosophische Komplexität erreicht, auch in den Schriften des Konfuzius findet,82 dann disqualifiziert er beide zwar in philosophischer Hinsicht, stellt aber die philologische Qualität der chinesischen Texte implizit mit dem Alten Testament auf eine Stufe. Dies bringt Gundling von Seiten der christlichen Skepsis, insbesondere von Buddeus, den Vorwurf der ›barbarischen‹ Naturalisierung der jüdischen Tradition ein, da dieser die Gefahr eines atheistischen Übergriffes auf die jüdisch-christliche Religion befürchtet. Aus diesem Problemhorizont heraus lässt sich Heumanns für die moderne Phi­ lo­so­phie­geschichts­schrei­bung höchst einflussreiche Adaption der GriechenlandThese verstehen, die er 1716 in seinen Acta philosophorum (1715 – 1727) publiziert. »Die Griechen«, so heißt es dort unmissverständlich, »haben zu erst die Flügel ihres Verstandes in die Höhe geschwungen / und zu philosophiren angefangen«.83 Mit diesen Worten beginnt die »Graecomanie des deutschen Philosophierens«.84 Da Heumann es aber für »unbillig« hält, die Hebräer, wie Gundling, »unter die Barbarischen Völcker mitzurechnen«,85 greift er nach dem Vorbild von Leibniz auf das Konzept der natürlichen Theologie zurück, um christlichen Glauben und pagane Vernunft unter bestimmten Bedingungen wieder versöhnen zu können.86 Bei den Acta philosophorum handelt es sich um eine zum größten Teil von Heumann selbst verfasste Zeitschrift, deren einziger Zweck die eklektische Revision der Historia philosophica war und welche in ihrer Bedeutung für die VerwissenschaftDer Anfang, S. 94. Historia philosophiae, S. 40. 83 Heumann, Christoph August: Von dem Ursprung und Wachsthum der Philosophie. In: Acta philosophorum, 2. Stück, Halle 1716, S. 246 – 314, hier S. 290. Siehe hierzu LehmannBrauns: Weisheit, S. 362–396. 84 Gadamer, Hans-Georg: Der Anfang des Wissens. Stuttgart 1999, S. 151. 85 Heumann: Eintheilung der Historia philosophicae. In: Acta philosophorum. 3. Stück. Bd. 2. Halle 1716, S. 472 – 462, hier S. 463 f. 86 Zugleich berief sich Heumann zugunsten der Konkordanz von Philosophie und Theologie auf Le Clerc. Die Kritik Heumanns an der Vernunftwidrigkeit der biblischen Darstellung der Erstarrung von Lots Frau zur Salzsäure brachte ihm allerdings den Ausschluss aus dem akademischen Umfeld von Buddeus in Jena ein. Vgl. Lehmann-Brauns: Weisheit, S. 359; Zedelmaier: Der Anfang, S. 107. Siehe auch Sparn, Walter: Philosophische Historie und dogmatische Heterodoxie. Der Fall des Exegeten Christoph August Heumann. In: Historische Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung. Hg. v. H. Graf v. Reventlow u. a. Wiesbaden 1988, S. 171 – 192. 81 Zedelmaier: 82 Gundling:



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lichung der Disziplin im 18. Jahrhundert kaum unterschätzt werden kann.87 Heumann entwickelt hierin das neuartige »Konzept einer philosophischen Phi­lo­so­phie­ geschichte«, das »die historische Kritik Bayles, die philologische Kritik Le Clercs und die Selbstständigkeits-Eklektik der Thomasianischen Aufklärung« vereint und die Historia philosophica in den Zusammenhang der Historia literaria einfügt.88 Während Heumanns Beitrag zum Ausschluss des perfekten Anfangswissens und der Prisca sapientia, in Gestalt der hermetischen und hebräischen Weisheitsgenea­ logien, aus der Phi­lo­so­phie­geschichte mittlerweile gut erforscht ist, trifft dies für sein Verhältnis zur chinesischen Philosophie nicht zu. Dabei dürfte gerade der Auseinandersetzung mit den Texten der chinesischen Philosophietradition eine gewisse Schlüsselrolle bei Heumanns kritisch-eklektischer Revision der Phi­lo­so­ phie­geschichte zukommen. Insbesondere weil die chinesischen Editionen von Couplet und Noël auf einem soliden Textfundament ruhten, deren Wert zudem von philosophischen Autoritäten bestätigt wurde, die, wie Vossius und Leibniz, auch im protestantischen Lager anerkannt waren, erforderte ihre Kritik einen ganz anderen Aufwand, als es bei den längst als pseudepigraphisch entlarvten Texten im Corpus Hermeticum oder den chaldäischen und sybillinischen Orakel-Texten der Fall war. Es wäre also gänzlich falsch, Heumanns Problem mit der chinesischen Philosophie einfach auf eine Stufe mit den herkömmlichen Weisheitslehren zu stellen.89 Diese gelten Heumann schon deshalb als philosophisch disqualifiziert, weil ihre Textgrundlage für die behauptete Anciennität längst quellenkritisch desavouiert ist, so dass ihre Qualität nur noch auf reiner Spekulation und vorurteilsbeladener Autoritätsgläubigkeit (praejudicium auctoritatis verum) beruht.90 Er kann daraus folgern: »daß diejenige Philosophie, welche die Pfaffen im Heydenthum getrieben haben / und die man Philosophiam barbaricam nennet / nothwendig eine falsche und unächte Vgl. zu Heumanns Bedeutung für die Phi­lo­so­phie­geschichte insbesondere Braun: Geschichte, S. 109–130; Lehmann-Brauns: Weisheit, S. 362 – 396; Longo, Mario: Storia delle storie storie generali della Filosofia. Bd. 2. Brescia 1979, S. 437 – 476; Wimmer: Interkulturelle Philosophie, S. 211 f.; Zedelmaier: Der Anfang, S. 96 – 131. 88 Lehmann-Brauns: Weisheit, S. 367. Zur Historia literaria siehe Grunert, Frank/Vollhardt, Friedrich (Hg.): Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 2007. 89 So aber Lehmann-Brauns: Weisheit, S. 387 u. 395 sowie Westerkamp: Die philonische Unterscheidung, S. 28. 90 »Da nun das praejudicium auctoritatis die Menschen am meisten blendet / und von Erkänntniß der Wahrheit abhält / so wird dasselbe durch Excolirung dieser Historie gewaltig geschwächet / wo nicht gar gehoben.« Heumann: Einleitung zur Historia Philosophica. Das I. Capitel / Von deren Nutzbarkeit, S. 19. »So schwach aber die menschliche Auctorität ist / das fundament zur Philosophie abzugeben: noch weit schwächer ist die tradition und der hergebrachte Glaube.« Heumann: Von denen Kennzeichen der falschen und unächten Philosophie. In: Acta philosophorum. 2. Stück. Bd. 1. Halle 1715, S. 199 f. Vgl. hierzu auch Wimmer: Interkulturelle Philosophie, S. 218 f. 87

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Philosophie sey. Adieu demnach / du liebe Philosophia Chaldaeorum, Persarum, Aegyptiorum, & c. davon man ingemein aus blinder veneration der Antiquität ein so grosses Wesen machtet.«91

Doch genügt dies, um die chinesische Philosophietradition, die in der Aufzählung bezeichnenderweise nicht erscheint, ebenso zu disqualifizieren? Zumal deren Verteidiger sowohl auf einen soliden Textkorpus als auch ihren hohen praktischen Wert als Moralphilosophie verweisen können! Tatsächlich bildet die chinesische Philosophietradition gerade nach der quellenkritischen Revision der Prisca theologia nun die Hauptkonkurrenz zum griechischen Ursprung der Phi­lo­so­phie­geschichte. Als neuer Platzhalter des platonischen Orientalismus muss der chinesischen Philosophietradition aus der eklektischen Perspektive Heumanns qualitativ mit gänzlich neuen Mitteln begegnet werden. Bei der Begründung des besonderen Charakters der griechischen Philosophie verweist Heumann einerseits wenig überraschend auf die Autorität von »Diogenes Laertius«, der »recht habe / wenn er behauptet / es hätten nicht die Barbaren / sondern die Griechen zuerst philosophiret«.92 Anderseits geht er aber ganz neue Wege, insofern er sowohl das antiapologetische als auch das eklektische Programm der Phi­lo­so­phie­geschichte dahingehend modifiziert, dass er das von der christlichen Skepsis der Thomasius-Schule aus der Historia philosophica ausgeschlossene Wahrheitsproblem rehabilitiert und im Rahmen der natürlichen Theologie wieder in die Phi­lo­so­phie­geschichte einführt. Um sich über den antiapologetischen Imperativ der eigenen Schule hinwegzusetzen, geht er ein Stück weit auf Leibniz und dessen Synthese von Glauben und Vernunft im Konzept der Theologia naturalis zu. Anstatt aber, wie Leibniz, die natürliche Theologie, wegen ihres hohen Alters, auf die chinesische Philosophie zurückzuführen, identifiziert sie Heumann nun ausschließlich mit den griechischen Philosophen. »Denn diese waren keine Heyden / sondern Philosophi, so unter den Heyden lebeten. Ein Heyde heisset ein Mensch / der im Aberglauben gantz ersoffen ist / und die güldenen und höltzernen Götter anbetet. Dieses thaten die rechten Philosophi nicht / oder nur manchmal zum Schein / und aus Furcht vor denen Heyden. Die Religio der Heyden war falsch: der Philosophorum ihre Religion aber / soferne sie philosophica war, wahr / obgleich nicht vollkommen. Denn ihre Theologie heisset Theologia naturalis.«93

Auf diese Weise verschiebt Heumann die ursprüngliche Konvergenz von Vernunft und Glauben, die Leibniz in der Theologia naturalis der Chinesen suchte, nach Von denen Kennzeichen, S. 209; Lehmann-Brauns: Weisheit, S. 377 f. Von dem Ursprung, S. 288 f. 93 Heumann: Von denen Kennzeichen, S. 215 f.; Lehmann-Brauns: Weisheit, S. 385. 91 Heumann: 92 Heumann:



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Griechenland. Wie Leibniz durchbricht er dazu das antiapologetische Verdikt der christlichen Skepsis, das die Philosophie strikt von der Theologie trennte, und res­ tauriert auf diese Weise den objektiven Wahrheitsbezug von Philosophie und Phi­ lo­so­phie­geschichte. »Und wie sollte die wahre Religion der wahren Philosophie zuwieder seyn / indem nicht nur die geoffenbahrte / sondern auch die natürliche Wahrheit / als religuiae imaginis divinae, von Gott herstammt.«94 Ebenso wie Leibniz die chinesische Philosophie von der hermetisch-altorientalischen Tradition der Ägypter als auch der biblischen Offenbarung der Juden unterscheidet, grenzt nun auch Heumann die griechische Philosophie über die natürliche Theologie von diesen Traditionen ab.95 Das Besondere bei diesem Rekurs auf die natürliche Theologie ist, dass Heumann »in seiner pragmatischen Darstellung den rein profanen, aus den natürlichen und kulturellen Rahmenbedingungen ableitbaren Ursprung der Philosophie« betonen kann, so dass »theologische Bewertungskriterien, wie sie seit Jacob Thomasius’ antiapologetischer Division von Philosophie- und Kirchengeschichte entscheidend für die Statusbestimmung der antiken Philosophie gewesen waren, keine Rolle mehr (spielten)«.96 Insofern gestattet es die Adaption von Leibniz’ Konzept der Theologia naturalis, dass Heumann gegen die christliche Skepsis seiner Lehrer den messianischen Rahmen der Offenbarungsreligion mit einer naturgeschichtlichen Phi­lo­ so­phie­geschichte füllt, deren kritisch-soziologische Radikalität methodisch vieles vorweg nimmt, was David Hume (1711 – 1776) später in seiner Natural History of Religion (1757) entwickelt.97 Heumanns Formel vom »Richterstuhle der Vernunft«,98 vor dem sich auch die biblische Geschichte zu verantworten habe, wird nicht zufällig zu einer der bekanntesten Losungen des religionskritischen Diskurses der Aufklärung. All dies bringt den Theologen Heumann jedoch nicht dazu, die gemeinsame Wahrheit von Offenbarungsglauben und philosophischer Vernunft generell zu verwerfen.99 Vielmehr bleibt er der harmonischen Konkordanz von philosophischer Von denen Kennzeichen, S. 203. »Unter der Theologie als Teil der Philosophie verstand Heumann eine natürliche Theologie, die mittels der menschlichen Vernunft erkannt werden konnte, nicht aber vollständig heilssuffizient war.« Lehmann-Brauns: Weisheit, S. 371. Lehmann-Brauns führt Heumanns Verwendung des Konzepts der natürlichen Theologie ausschließlich auf Hugo Grotius und Philippe de Mornay zurück, ohne den über Leibniz vermittelten China-Bezug in Erwägung zu ziehen. Ebd., S. 366. 96 Ebd., S. 384. 97 Siehe hierzu auch Zedelmaier: Der Anfang, S. 104 – 109. 98 Heumann: Von der Philosophie der Patriarchen. In: Acta philosophorum. 5. Stück. Halle 1716, S. 755 – 809, hier S. 765. 99 Zum Verhältnis von Theologie und Philosophie bei Heumann siehe detailliert LehmannBrauns: Weisheit, S. 367 – 371 sowie Zedelmaier: Der Anfang, S. 99 – 104. 94 Heumann: 95

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Vernunft und christlicher Offenbarung im Sinne von Leibniz verpflichtet. Doch während Leibniz sich die wechselseitige Missionierung von natürlicher Theologie und christlicher Offenbarung in der kreativen Begegnung mit China vorstellt, treten die Missionare der natürlichen Theologie bei Heumann nicht in chinesischer, sondern in griechischer Gestalt auf. Wie sich Heumann die Zusammenarbeit von philosophischer Vernunft und christlicher Offenbarung dabei konkret vorstellt, veranschaulicht er, im direkten Anschluss an die Formulierung seiner griechischen Ursprungsthese, in einer Analogie zum experimentellen Vorgang des Mikroskopierens.100 Die christliche Offenbarung vertritt hierbei die Funktion des Mikroskops und tritt gleichsam als protophysische Voraussetzung der natürlichen Vernunft auf.101 Nur im messianischen Rahmen der Offenbarung kann die natürliche Vernunft demnach die kognitiven Potenzen des experimentellen Wissens ausschöpfen. In diesem Sinne muss Heumanns Grundsatz verstanden werden: »wo die wahre Göttliche Offenbahrung sich befindet / da hat die Philosophie sichere Herberge«.102 Wie scharf Heumann, trotz der großen methodischen Anleihen bei Leibniz’ Konzept der natürlichen Theologie, sein griechisches Ursprungsmodell von der chinesischen Konkurrenz abgrenzt, demonstriert er in seinem Aufsatz Nachricht und Urtheil von der Philosophi der Sineser, der 1720 ebenfalls in den Acta philosophorum erschien.103 Der Text besteht aus kommentierten Auszügen aus einer 1718 von Eusèbe Renaudots (1646 – 1720) in Paris veröffentlichten antijesuitischen Streitschrift über China.104 Im Mittelpunkt steht zunächst die philologische Kritik nach dem bekannten Muster der Ars critica. Die Glaubwürdigkeit der chinesischen Phi100

»Von denen Griechen haben die Christen die Philosophie geerbet / welche / weil sie eine vollkommen reine Religion, und also eine göttliche Offenbarung darbey haben / auch die gelehrtesten Griechischen Philosophos an Weißheit übertreffen können. Ich kann nicht umhin / dieses mit dem schönen Gleichnisse zu erläutern / welches Arnoldus Geulinx giebet. Die Christen / spricht er / können es in der Philosophie weiter bringen / als die alten Philosophi im Heydenthum. Denn gleichwie / wenn man vorher durch ein microscopium etwas betrachtet hat / man hernach auch mit dem blossen Auge eines und das andere observieren kann / welches man nimmermehr mit dem blossen Auge würde bemercket haben / wenn man nicht vorher das microscopium hätte zu Hülffe genommen eben so verhält sichs auch mit unserm Verstande. Was wir aus der Göttlichen Offenbahrung erkennen / und ohne dieselbe nicht würden erkannt haben / das erkennen wir hernachmahls auch durch die Vernunfft / und zwar so deutlich / daß wir uns einbilden / es wäre eine Wahrheit / die wir bloß durch das Licht der Vernunfft erkannt hätten.« Heumann: Von dem Ursprung, S. 290 f. 101 Vgl. Böhme, Gernot (Hg.): Protophysik. Für und wider eine konstruktive Wissenschaftstheorie der Physik. Frankfurt/M. 1976. 102 Heumann: Von denen Kennzeichen, S. 204. Während Lehmann-Brauns: Weisheit, S. 385 vom »kognitive[n] Überschuß der Offenbarung« spricht, erkennt Zedelmaier: Der Anfang, S. 100 hierin eine »utopische[n] Vorstellung«. 103 Heumann: Eusebii Renaudoti Nachricht und Urtheil von der Philosophi der Sineser. In: Acta philosophorum. 11. Stück. Bd. 2. Halle 1720, S. 717 – 786. 104 Vgl. Renaudot, Eusèbe: Anciennes relations des Indes et de la Chine de deux voyageurs



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losophie wird mit Hilfe der Kritik an der vermeintlich schlechten und verfälschten Qualität der jesuitischen Übersetzungen sowohl von Couplet als auch von Noël in Zweifel gezogen. Aus diesem Grunde seien ehrenwerte Gelehrte wie Isaac Vossius und Leibniz, die der chinesischen Sprache überhaupt nicht mächtig waren, zu groben Fehlurteilen über Inhalt und Alter der chinesischen Philosophie verleitet worden. Heumann kommt deshalb zu dem Schluss, dass die »vollkommene und unverfälschte Edition des Confucius« bisher noch gar nicht erschienen ist, da die »Edition der Jesuiten nicht nur unvollkommen, sondern auch an vielen Orten verfälschet sey«.105 Der philologische Wahrheitswert der Textquellen hängt demnach davon ab, ob sie von mehreren untereinander unabhängigen Zeugen bestätigt sind. Darüber hinaus muss ein manipulatives Darstellungsinteresse definitiv ausgeschlossen werden können. Da die chinesischen Texte bisher aber allein von den Jesuiten übersetzt wurden und über die Bewertung der chinesischen Philosophie- und Religionsgeschichte zwischen jesuitischen und dominikanischen Missionaren große Streitigkeiten herrschen, rechtfertigt Heumann die Anwendung des skeptischen Grundsatzes des ›Pyrrhonismus historicus‹ auf die chinesische Tradition. Das heißt, solange für jede Behauptung der Jesuiten über China eine gegenteilige Meinung vorgebracht werden kann, muss diese als falsifiziert gelten.106 Folglich könne es sich bei der von Vossius und Leibniz bewunderten chinesischen Ethik nur um eine verfälschte »Morale« handeln, »welche durch die Theologiam Scholasticam […] in eine andere Gestalt gebracht worden [ist]«.107 Gleichzeitig könne mit Hilfe der Historia literaria nicht nur die »Unwissenheit der Sineser in der Metyphysic und Physic«, sondern auch in allen anderen Wissensdisziplinen demonstriert werden.108 Da die von Couplet veröffentlichten astronomischen und historischen Berechnungen fehlerhaft seien, lasse sich hieraus kein Beweis für das überlegene Alter der chinesischen Zivilisation führen.109 mahométans, qui y allèrent dans le neuvième siècle, traduites d’arabe, avec des remarques sur les principaux endroits de ces relations. Paris 1718. 105 Heumann: Eusebii Renaudoti, S. 729 f. 106 »Aus diesem allen erhellet / wie starcke Gründe der Pyrrhonismus historicus habe. Denn die Historien-Schreiber sind entweder coaevi, oder nicht. Die ersten wollen nicht die Wahrheit aufrichtig bekennen / theils aus Furcht / theils aus Haß / theils aus Affection: Die andern aber können nicht / eben deßwegen / weil sie selbst nicht coaevi sind / und auch keine aufrichtigen testes coaevos anführen können. […] Es dient also das Studium historico-criticum am meisten darzu / daß man seine ignorantiam doctam vermehre.« Heumann: Von der Glaubwürdigkeit in der Historia philosophica. In: Acta philosophorum. 3. Stück. Bd. 1. Halle 1717, S. 381 – 462, hier S. 418. 107 Heumann: Eusebii Renaudoti, S. 752. 108 Ebd., S. 720 – 722. 109 Vgl. ebd., S. 734.

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Schließlich wird auch die Idee eines platonischen Republikanismus, wie sie von Horn erstmals formuliert wurde, verworfen. Dazu rekapituliert Heumann mit Hilfe von Renaudot die These vom platonischen Republikanismus zunächst folgendermaßen: »Man hat vor langer Zeit gesaget, daß dasjenige Volck glücklich sey, bey welchem entweder die Könige Philosophi wären, oder Philosophi das Regiment führeten. Nun kann man mit Wahrheit sagen, daß, wenn iemals ein Land gewesen, in welchem Philosophi regieret haben, so ist es das* Königreich Sina. Denn die Mandarini, welche alle miteinander gelehrte Leute und Schüler des Confucii, und folglich Philosophi sind, haben viele hundert Jahre her alle vornehme so wohl Krieges- als Staats-Aemter verwaltet.«110

Werde diese Idee allerdings mit den realen Ereignissen der chinesischen Geschichte, inklusive ihrer zahlreichen Revolutionen und Umstürze, verglichen, so zeige sich laut Renaudot die komplette Irrelevanz des platonischen Republikanismus in China. »Absonderlich hat man dieses in der letzten Revolution gesehen, da die Tartarn sich des Sinesischen Reichs bemächtiget, und die ietzt regierende Kayserliche Familie auf den Thron gesetzet haben. Alle Staats-Fehler, welche man den Untergang der größten Reiche in Orient zuschreibet, nemlich die Despotische Herrschafft, das wollüstige Leben der Regenten, die Sorglosigkeit in Staats-Affairen, und die Hintansetzung der Kriegs-Wissenschafft, trifft man an dem Sinesischen Hofe an.«111

Diese Destruktion des chinesischen Republikanismus zugunsten eines orientalischen Despotismus korrespondiert bei Heumann wiederum mit der Aufwertung Griechenlands, welches jetzt nicht mehr nur zum alleinigen Ursprungsort der Philosophie, sondern auch zum alleinigen Bezugspunkt des Republikanismus wird. Auffällig ist hierbei jedoch, dass Heumann, wie schon im Falle der natürlichen Theologie, Motive aufgreift, die ursprünglich bei der Interpretation der chinesischen Kultur verwendet wurden. Wenn er etwa den griechischen Ursprung der Philosophie auf die Überwindung des Aberglaubens und die oligarchische Priesterherrschaft in den »freyen Republiquen« Griechenlands zurückführt, dann greift er dieselben Argumente auf, die schon Isaac Vossius in Bezug auf China vorgebracht hatte.112 Vossius hatte gegen die Interpretation Chinas als platonischen Ständestaat, 110

Ebd., S. 767. Ebd., S. 767 f. 112 »Quod si peccent reges, tanta in admonendis illis philosophorum est libertas, quanta vix olim prophetarum apud Israelitas. Eadem plebis in monendis philosophis libertas, si et illi suo non bene fungantur officio.« Issac Vossius: Variarum observationum liber. London 1685, S. 58 f. Ausführlich zu Vossius’ Idee einer demokratischen Verallgemeinerung der Philosophie als Bedingung des modernen Republikanismus in China siehe Weststeijn: Vossius’ Chinese Utopia. 111



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wie sie von Hornius vertreten wurde, argumentiert, dass die politisch-administrative Hochschätzung der Philosophie eher auf ein demokratisches Gemeinwesen ohne Geburtsadel und oligarchische Priesterherrschaft hinweise. Heumann teilt Vossius’ demokratische Bewertung der Philosophie, verbindet diese Argumentation mit Griechenland statt China. In diesem Sinne stellt er fest: »daß die Philosophie zwo Thüren gefunden / durch welche ihr der Eingang nicht wohl können versperret werden. Denn erstlich trug hierzu gar viel bey die Regiements-Form in Griechenland / zum andern dieses / daß auch ander Leute sich auf das Studiren legeten / welche keine Priester waren / und also der Superstition keinen Huldigung-Eyd geleistet hatten.«113

Da Vossius in dem von Heumann abgedruckten Text über die chinesische Philosophie mehrfach erwähnt wird, ist eine solche Verflechtung von chinesischem und griechischem Republikanismus zumindest nicht unwahrscheinlich. Das Nebeneinander von griechischen und chinesischen Motiven im Republikanismusdiskurs der Aufklärung bleibt auf alle Fälle das ganze 18. Jahrhundert über eine signifikante Tatsache.114 Zugleich geht aus dem letzten Zitat Heumanns hervor, dass er die Unterlegenheit von chinesischer Philosophie und Republikanismus gegenüber der griechischen Tradition der dort vermeintlich herrschenden ›Superstition‹ zuschreibt, die wiederum auf eine despotische Priesterherrschaft hinweist. Die Disqualifizierung der noch von Leibniz verteidigten natürlichen Theologie der Chinesen zur Superstition basierte auf einer antijesuitischen Strategie im sogenannten ›Ritenstreit‹, der 1715 vom Papst endgültig gegen die Jesuiten entschieden worden war. Die von den Jesuiten akzeptierten konfuzianischen Zeremonien durften nun offiziell nicht mehr als profaner Ausdruck einer natürlichen Theologie interpretiert werden, sondern wurden als Aberglauben verworfen. Über das päpstliche Urteil hinaus kann sich Heumann hierbei auch auf seinen Lehrer Buddeus berufen, der den Chinesen nicht nur Aberglauben, sondern sogar spinozistischen Atheismus glaubte nachweisen zu können.115 Für Heumann ist dabei einerseits entscheidend, dass die chinesische Superstition die Kompatibilität von Philosophie und vernunftkonformer Theologie zerstört. Anderseits destruiert die vermeintliche Tatsache des Aberglaubens auch die Möglichkeit eines natürlichen Offenbarungsbezugs, der es erlaubt hätte, die chinesische Tradition analog zur hebräischen als einfältige ›Weisheit‹ anzuerkennen, Von denen Kennzeichen, S. 212; Lehmann-Brauns: Weisheit, S. 377 f. Vgl. Pocock, John G. A.: Barbarism and Religion. Vol. 2: Narratives of Civil Government. Cambridge 1999, S. 97 – 119 sowie Richter, Susan: Pflug und Steuerruder. Zur Verflechtung von Herrschaft und Landwirtschaft in der Aufklärung. Köln, Weimar, Wien 2015. 115 Vgl. die beiden bereits erwähnten Dissertationen von Buddeus aus dem Jahre 1701 (Dissertatio Philosophica de Spinozismo sowie Dissertatio Historico-Moralis de Superstitioso Mortuorum Apud Chinenses Cultu). 113 Heumann: 114

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die von der ›schlechten Torheit‹ der Heiden zu unterscheiden wäre.116 Um sich nicht selbst, wie Gundling, dem Atheismusvorwurf auszusetzen, beschreibt Heumann die chinesische Philosophie als »gelehrte Torheit« (»Stultitia politica«), die zwar nicht ›barbarisch‹, sondern »civilisiret und manierlich« sei, deren Heidentum aber gerade deshalb besonders gefährlich sei.117 Da neben der unbelegten Anciennität, deren Nachweis dem quellenkritischen ›Pyrrhonismus historicus‹ zum Opfer gefallen war, auch die Superstition für Heumann ein Ausschlussgrund aus seinem Begriff der ›wahren Philosophie‹ ist, den er zur Revision der Phi­lo­so­phie­geschichte benutzt, scheint damit die chinesische Philosophietradition endgültig disqualifiziert und als Konkurrent zum griechischen Anfang der Phi­lo­so­phie­geschichte ausgeschaltet.

5.  ›Griechisches Wunder‹ oder chinesische Kultursynthese?

Nach dieser Generalkritik blieb auch von der chinesischen Philosophietradition nicht viel mehr übrig als ein vorphilosophisches Wissen, das sich unter der Bezeichnung philosophia empirica simplex bzw. philosophia practica simplex zusammenfassen ließ. Diesen Wissenstyp hatte Heumann zuvor bereits bei den alten Ägyptern, Chaldäern und Phöniziern diagnostiziert und scharf von der philosophia scientifica sive theoretica abgegrenzt, wie sie sich allein in Griechenland entwickelt habe. In diesem Kontext entwickelte er den »Unterscheid zwischen Künsten und zwischen Wissenschafft und Gelehrsamkeit« sowohl in historischer als auch in logischer Perspektive. »Denn es kann einer wohl den Titul eines vortrefflichen Künstlers behaupten / dem doch der Nahme eines Gelehrten keineswegs gebühret. Also lesen wir / daß die alten Egyptier gute Geometrae, und die Phoenicier in der Rechen-Kunst excellent gewesen. Diejenigen aber / welche daraus gleich eine Philosophie machen / übereilen sich gar sehr mit ihrem Urtheil. […] Wieviele unter Bürgers-Leuten verstehen die FeldmeßKunst und andere Künste mehr? Gleichwohl praetendiret niemand von diesen Leuten in die Zunfft der Gelehrten aufgenommen zu werden. Denn die conclusiones haben sie zwar inne / und wissen sich und andern dieselben zu nutze zu machen: aber die Principia mangeln ihnen. Sie können keine rationes geben / und pflantzen auch ihre Kunst weiter fort / ohne per modum scientiae dieselbe vorzutragen.«118

Von dem Ursprung, S. 263. Zu Heumanns Unterscheidung der hebräischen ›Weisheit‹ von heidnischen ›Torheit‹ siehe Lehmann-Brauns: Weisheit, S. 379 f.; Zedelmaier: Der Anfang, S. 98 f. 117 Heumann: Von dem Ursprung, S. 267. 118 Ebd., S. 270. 116 Heumann:



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Die empirisch-pragmatische Kunst des Feldmessens, wie sie die Ägypter ausübten, liefere zwar gewisse »conclusiones«, aber noch keine wissenschaftlichen »Principia«, wie sie die Griechen entwickelten. In diesem Zusammenhang führte Heumann nach dem Vorbild von Thomasius die Differenz zwischen konkret-empi­rischer Lebens- und abstrakter Schulphilosophie (»philosophiam vitae & philosophiam scholae«) ein.119 »Diese versirt in universalibus und hat mit vielen abstractonibus zu thun. Jene aber raisoniret circa singularia, und philosophiret über Sachen / so täglich in dem menschlichen Leben vorkommen.«120 Von hieraus gelangte er schließlich zu seiner philosophiehistorischen Stufentheorie, die auf die griechische Philosophie zuläuft: »Um nun alle Confusion, wie auch homonymie, zu vermeiden / so müssen wir den originem philosophiae Stuffenweiß also beschreiben. Bey denen alten Hebräern finden wir den Ursprung / (zwar nicht der Philosophie / aber doch) der schlechten und einfältigen Weißheit. In Chaldaea und Egypten / sonderlich aber in dieser letzten Landschafft / sind nicht nur allerhand Künste / sondern auch das Studiren / (aber nicht das studium philosophicum) ausgeübet und cultiviret worden. Die Griechen haben zu erst die Flügel ihres Verstandes in die Höhe geschwungen / und zu philosophiren angefangen: jedoch also / daß sie anfänglich nur particulariter philosophirten / mit der Zeit aber auch systematice, und endlich gar universaliter und systematice zugleich / oder / mit einem Worte / pansophice.«121

Damit lieferte Heumann eine erste Version des sogenannten ›griechischen Wunders‹, das zum neuen Ursprungsmythos der modernen westlichen Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte wurde.122 Seine logischen Argumente bezüglich der AbZu Thomasius’ Schrift De scholis antediluvianis (1700) siehe Zedelmaier: Der Anfang, S. 63 – 76. 120 Heumann: Von dem Ursprung, S. 264. 121 Ebd., S. 290. Bernal sieht in der Abwertung der phönizischen und ägyptischen Kultur gegenüber der griechischen den Ursprung der philosophischen Legitimation des europäischen Rassismus. Vgl. Bernal: Black Athena. Vol. 1, S. 189 – 4 43. Zur Heumanns Rolle als Pionier der Göttinger Schule äußert sich Bernal ebd., S. 215 f. Zedelmaier, der die Spezifik von Heumanns Problem mit der chinesischen Philosophie nicht berücksichtigt, kommentiert die Stelle wie folgt: »Wenn dem modernen Leser die Argumente und Differenzierungen, mit denen Heumann nachzuweisen versucht, dass die vorgriechische Philosophie tatsächlich nur den Status einer Vorgeschichte beanspruchen kann, verquer bis umständlich vorkommen mögen, dann auch deshalb, weil dies im Lichte der modernen Phi­lo­so­phie­geschichte evident erscheint. So muss der komplizierte Dialog, in den Heumann die Theologie und Philosophie zwingt, als besondere Anstrengung gelesen werden, die ungewöhnliche und theologisch prekäre Figur des griechischen Ursprungs der Philosophie zu begründen und zu legitimieren, um dadurch die Selbständigkeit der Philosophie zur Geltung zu bringen.« Zedelmaier: Der Anfang, S. 104. 122 Zur Wirkungsgeschichte des ›griechischen Wunders‹, die allerdings ohne Bewusstsein für Heumann als ihren Schöpfer auskommt, siehe u. a. Heit, Helmut: Der Ursprungsmythos der Vernunft. Zur philosophiehistorischen Genealogie des griechischen Wunders. Würzburg 2007; 119

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grenzung von konkret-empirischer Kunst und abstrakter Wissenschaft lassen sich ohne Weiteres nach dem Vorbild von Gundling auf die chinesische Philosophie übertragen. Auch diese kommt aufgrund ihres empirischen Charakters keinesfalls über die ›schlechte und einfältige Weißheit‹ der Hebräer hinaus; eher noch gleicht sie, wegen ihres nachgewiesenen Aberglaubens, der superstitiösen ›Torheit‹ der Ägypter. Damit begab sich Heumann aber in einen vollständigen Gegensatz zu Leibniz’ Vorstellung von einer kreativen Synthese abstrakter, europäischer Wissenschaft und praktischer, chinesischer Philosophie und Kunstfertigkeit. Leibniz hatte hierfür noch einmal den renaissance-humanistischen Rahmen der Philosophia perennis neu belebt, in der die Phantasie des ganzen Menschen auf der Grundlage der Einheit von Körper und Geist den Fluchtpunkt von Weisheitsutopie und Diesseitsreligion bildete.123 Die alte christliche Idee der Translatio sapientiae, die schon vom Renaissance-Platonismus eine explizit ganzheitlich-humanistische Wendung erhalten hatte, bekam so bei Leibniz einen qualitativ neuen interkulturellen Impuls, der ihre traditionelle Gestalt radikal veränderte.124 Obwohl auch Heumanns eklektischer Philosophiebegriff ausdrücklich beanspruchte, »nirgends bey der blossen theorie und speculation stehen [zu] bleibe[n] / sondern sich in allen Dingen zur praxi [zu] wende[n]«,125 baute er trotz seines Rückgriffes auf das Konzept der natürlichen Theologie dennoch zur Begründung des griechischen Ursprungs der Phi­lo­so­phie­geschichte auf einem positivistischen Trennungsdenken auf. Ein Denken, das die christlich-protestantische Antiapologetik und die frühaufklärerische Selbständigkeitseklektik gegen das ältere Paradigma der Philosophia perennis entwickelt hatten. Anstatt nach dem Vorbild von Leibniz die Papenfuß, Dietrich / Strocka, Volker Michael (Hg.): Gab es das Griechische Wunder? Griechenland zwischen dem Ende des 6. und der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. Tagungsbeiträge des 16. Fachsymposiums der Alexander von Humboldt-Stiftung veranstaltet vom 5. bis 9. April 1999 in Freiburg im Breisgau. Mainz 2001. 123 Fruchtbare Ansätze zu einer Deutung des florentinischen Renaissance-Platonismus als philosophische Synthese von geistiger und körperlicher Arbeit finden sich bei Rudolf zur Lippe: Naturbeherrschung am Menschen. Bd. 1: Körpererfahrung als Entfaltung von Sinnen und Beziehungen in der Ära des italienischen Kaufmannskapitals. 2. überarbeitete Aufl. Frankfurt/M. 1981, S. 293 – 343. 124 Zur Interpretation von Leibniz als ganzheitlichen Denker siehe Gloy, Karen: Die Geschichte des ganzheitlichen Denkens. München 1996, S. 39 – 74. Siehe hierzu auch Riedel, Manfred: ›Emendation‹ der praktischen Philosophie. Metaphysik als Theorie der Praxis bei Leibniz und Wolff. In: ders.: Metaphysik und Metapolitik. Studien zu Aristoteles und zur politischen Sprache der neuzeitlichen Philosophie. Frankfurt/M. 1975, S. 218 – 236. 125 Heumann, Christoph August: Von dem Wesen und Begriff der Philosophie. In: Acta philosophorum. 1. Stück. Bd. 1. Halle 1715, S. 100. Philosophie wird grundsätzlich definiert als »eine Untersuchung und Erforschung nützlicher Wahrheiten aus festen Gründen und principiis«. Ebd., S. 95.



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europäische Prinzipienwissenschaft mit der nützlichen Wahrheit chinesischer Philosophie zusammenzudenken – was Heumanns eklektischem Philosophie­begriff nicht widersprochen hätte –, schloss er Letztere, aufgrund von willkürlichen religiösen Anschuldigungen bezüglich eines vermeintlichen Aberglaubens, aus Philosophie und Phi­lo­so­phie­geschichte aus. Dass hierbei keineswegs religionskritische Motive intendiert waren, gab Heumann selbst offen zu. Ganz im Gegenteil sah er ebenso wie Renaudot in einer möglichen Anerkennung der chinesischen Philosophie die »größte Gefahr […], daß das Ansehen der heiligen Schrifft hierbey Noth leidet, und, obgleich die Lob-Redner der Sinesischen Philosophie in diesem Stück die Historie verwerffen, so geben sie doch, indem sie die übrigen Stücke der Sinesischen Historie nach allem Vermögen vertheidigen, denen Atheisten und Frey-Geistern, starcke Waffen in die Hände, die Christliche Religion damit zu bestreiten.«126

Damit wurde die ›libertas philosophandi‹ als Zweck der aufklärerischen Vorurteilskritik, die das methodische Grundgerüst der eklektischen Philosophie bildete, gewissermaßen in ihr Gegenteil verkehrt. Vossius und Leibniz wurde primär aus religiösen Gründen vorgeworfen, bei ihrer chinesischen Apologie neben dem Vorurteil der Altehrwürdigkeit (praeiudicium auctoritatis & antiquitatis) auch noch dem Vorurteil einer Überhöhung des Fremden verfallen zu sein. »Es ist dieses das praeiudicium peregrinitatis, welches verursachte, daß in unsern Ohren der Gesang einer Sinesischen oder sonst ausländischen Gans besser klinget, als der Thon einer innländischen Nachtigall.«127

6. Abschließender Ausblick: Christian Wolff (1679 –1754) und Jacob Brucker (1696 – 1770)

Wird Christian Wolffs Rektoratsrede von 1721 als direkte Antwort auf Heumanns Kritik an Leibniz und Vossius betrachtet – was bisher meines Wissens nach noch nicht geschehen ist –, dann lässt sich auch diese vielleicht besser verstehen.128 Wolff, Eusebii Renaudoti, S. 783. Ebd., S. 720. 128 Zur Interpretation von Wolffs Rede siehe vor allem Albrecht, Michael: Einleitung. In: Christian Wolff: Oratio de Sinarum philosophia practica (1721/26). Rede über die praktische Philosophie der Chinesen. Lat./dt., übers., eingel. u. hg. v. Michael Albrecht. Hamburg 1985, S. IX –  LXXXIX; Fuchs, Thomas: Christian Wolff und das China-Bild der Aufklärung. In: Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Bd. 5, hg. v. Jürgen Stolzenberg u. Oliver-Pierre Rudolph. Hildesheim 2010, S. 397 – 409; Jäger, Henrik: Konfuzianismusrezeption als Wegbereitung der deutschen Aufklärung. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 37,2 (2012), S. 165 – 189; Lee: »Anti-Europa«, S. 84 – 110; Park: Leibniz and Wolff on China. 126 Heumann: 127

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der die Philosophie immer als ›Welt-Weisheit‹ bezeichnete, nahm darin interessanterweise Abstand von Leibniz’ These einer natürlichen Theologie oder Religion bei den Chinesen, sprach ihre Philosophie aber gerade deshalb vom Aberglauben und Götzendienst frei.129 Ohne Heumann direkt zu erwähnen, kritisierte Wolff implizit dessen methodische Abtrennung des abstrakten Denkens (philosophia scientifica sive theoretica) von der Praxis (philosophia practica simplex) bei seiner Begründung des vermeintlichen ›griechischen Wunders‹ und leitete stattdessen den Ursprung der chinesischen Philosophie aus der synthetischen Praxis des Experimentes ab. Seine komplexe Argumentation fasste Wolff schließlich folgendermaßen zu­sammen: »Konfuzius war also begierig nach der Wahrheit, um ihretwillen hat er, als er mit Hilfe von Beweisgründen keine Sicherheit gewinnen konnte, den Weg des Versuchs (viam experimentalem) beschritten und hat das, was er andere lehren wollte, erst an sich selbst erprobt.«130

Für Wolff war Konfuzius folglich, wie schon Jäger bemerkt hat, der »Prototyp des Experimentalphilosophen«, dessen philosophischer Wahrheitsbezug sich weder auf religiöse Voraussetzungen noch allein auf abstrakte ›Beweisgründe‹ verließ, sondern abstraktes Denken und konkret-empirische Praxis im Experiment vereinte.131 »Die Chinesen«, so machte Wolff gegen Heumann geltend, »meinten nämlich, eine Theorie, die von der Praxis getrennt sei, verdiene nicht den Namen Philosophie; und sie wussten sehr wohl, dass ohne die Ausübung nicht einmal wahre Begriffe der moralischen Dinge, geschweige die Fertigkeit zu handeln erworben werden können.«132 Aus diesem Grunde bilde das Leben und Werk des Konfuzius »eine Fundgrube für die Moral- und Staatslehre […], mit der das, was von der griechischen Philosophie auf uns gekommen ist, nicht verglichen werden kann«.133 Sowohl in philosophiehistorischer als auch in republikanischer Hinsicht wurden Konfuzius und seine philosophische Tradition bei Wolff daher zur Chiffre für die experimentelle Einheit von formaler Denkabstraktion und praktischer Realabstraktion. Die Vollkommenheit der Alten wurde dabei in eine historische Fortschrittsperspektive der sittlichen Vervollkommnung transformiert, deren Motto Theoria cum Praxi lautete.134 Oratio, S. 149 – 151. Ebd., S. 87. 131 Jäger, Konfuzianismusrezeption, S. 185. Siehe auch Albrecht: Einleitung, S. XLIII u. LXIV. Für Jäger, der zahlreiche weitere Textbeispiele nennt, bildet Wolffs Konzept der Experimentalphilosophie den Schlüssel für seine Konfuzianismusrezeption. Diese These kann durch eine vergleichende Lektüre mit Heumanns Griechenland-Apologie nur ausdrücklich bestätigt werden. 132 Wolff: Oratio, S. 209. 133 Ebd., S. 107. 134 Vgl. hierzu Rüdiger, Axel: Produktive Negativität. Die Rolle des Perfektionismus im 129 Wolff: 130



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Die Lebendigkeit dieser wolffianischen Perspektive auf den Konfuzianismus im Laufe des 18. Jahrhunderts zeigt an, dass es keineswegs durchweg gelang, die chinesische Philosophie in den Interpretationsrahmen eines ›barbarischen Orien­ talismus‹ zu zwingen, wie das mit dem vormosaischen Orientalismus erfolgte.135 Obwohl Jacob Brucker seine monumentale und extrem einflussreiche Phi­lo­so­phie­ geschichte explizit gegen Wolff und Leibniz auf den methodischen Vorgaben Heumanns aufbaute, wagte er es nicht, die chinesische Philosophie umstandslos als »Philosophia barbarica« zu qualifizieren. Stattdessen prägte er den Neologismus der »Philosophia exotica«, der die nicht-europäischen Philosophien der Gegenwart umschreiben sollte.136 Inhaltlich machte Brucker, der stärker als Heumann der christlichen Skepsis in der philosophischen Wahrheitsfrage zuneigte, jedoch kaum einen Unterschied zwischen ›barbarischer‹ und ›exotischer‹ Philosophie. Immerhin gebe es in beiden historischen Denkformen keine klare Trennung von Religion und Philosophie, weshalb man sich »wie bey der alten Philosophie der Ausländer, also auch bey der neuern einen andern Begriff davon machen (müsse), als von der Europäischen«.137 Wie Heumann stützte sich Brucker auf den eklektisch-vorurteilskritischen Philosophiebegriff, dessen Genealogie auch er auf die griechische Antike zurückführte.138 Mit Bruckers Historia critica Philosophiae (1742 – 44), deren positideutschen Aufklärungsdenken zwischen Pufendorf und Kant. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 5 (2010), S. 721 – 740. 135 Diesbezüglich muss Westerkamp widersprochen werden, nach dem »[d]ie theoriesprachlichen Termini philosophia orientali, ›orientalische Philosophie‹ oder ›morgenländisches Denken‹ […] seit der Frühaufklärung unterschiedslos chinesische, indische, persische und diverse andere Traditionen ein[schließen]«. Westerkamp: Die philonische Unterscheidung, S. 28. Demgegenüber betont Jäger: Konfuzianismusrezeption, S. 172 f., zu Recht: »So wurde die konfuzianische Tradition bzw. China als historische Realität zu einer real existierenden Utopie, die den Beweis erbrachte, dass eine auf Vernunft gegründete Ethik in einer Gesellschaft realisiert werden kann, ohne dass sie durch eine Religion oder Kirche legitimiert werden muss.« Ähnlich auch Lee: »Anti-Europa«, S. 105 – 110. 136 Brucker, Jacob: Kurtze Fragen aus der Philosophischen Historie, von Christi Geburt biß auf unserer Zeiten, mit ausführlichen Anmerckungen erläutert. Siebender und letzter Theil. Ulm 1736, S. 1044. Zu Brucker siehe vor allem Schmidt-Biggemann; Stammen (Hg.): Jacob Brucker. 137 Brucker: Kurtze Fragen, S. 1045 f. 138 Brucker definiert einen eklektischen Philosophen folgendermaßen: »Nur derjenige ist für mich ein eklektischer Philosoph, der, nachdem er jedes Vorurteil der Autorität, der Verehrung, des Altertums, der Sekte (oder ähnliches) ausgeschaltet hat, bloß der Richtschnur der angeborenen Vernunft folgt, und aus der Natur, Eigenart und den wesentlichen Eigenschaften der Dinge, die er zu betrachten vorhat, klare und evidente Grundsätze schöpft, aus denen er, wenn er die richtigen Gesetze des Schließens gebraucht, sodann Schlußfolgerungen bezüglich der philosophischen Probleme ableitet. Wenn diese Regel aber feststeht, ›rezipiert‹ er beim Lesen der Überlegungen anderer Philosophen und beim Erwägen und Prüfen der Lehrgebäude nichts, was nicht der Strenge der Gründe und der Härte des Beweises Genüge leistet.« Brucker, Jacob: Historica citica Philosophiae. Bd. V. Leipzig 1766, S. 4, zit. nach der Übersetzung von Albrecht: Eklektik, S. 548 f.

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vistische Materialfülle im 18. Jahrhundert unerreicht bleibt, setzte sich das eklektische Paradigma in der Phi­lo­so­phie­geschichte endgültig durch. Dies konnte nur auf Kosten der chinesischen Philosophie erfolgen, deren emanzipatorische Relevanz als praktische Experimentalphilosophie nun durch ein Dasein als monströse Anomalie innerhalb eines neuen historischen Paradigmas abgelöst wurde.139 Die Spezialisierung des abstrakten Denkens innerhalb der Philosophie des 18. Jahrhunderts erreichte schließlich im Werk von Immanuel Kant (1724 – 1804) ihren Höhepunkt, dessen Ambivalenz nicht zuletzt in der Haltung zu China zum Ausdruck kam. So wurde China am Ende des Jahrhunderts zum Symptom der Dialektik der Aufklärung. Denn spätestens bei Kant und seiner Schule wurde die alte Anstandsgrenze überschritten, die Heumann und Brucker noch davor zurückschrecken ließ, die Qualität des chinesischen Philosophierens im Vergleich zur griechischen Tradition offen als ›barbarisch‹ zu bezeichnen. Kant hatte diesbezüglich keine Hemmungen mehr, wobei er nicht davor zurückschreckte, die von Christoph Meiners (1747 – 1810) entwickelten rassistischen Argumente zu verwenden.140

Zum »Monstrum China« vgl. Schneider, Ulrich Johannes: Die Vergangenheit des Geistes. Eine Archäologie der Phi­lo­so­phie­geschichte. Frankfurt/M. 1990, S. 247 – 264. 140 Vgl. hierzu die Nachweise bei Park: Africa, S. 69 – 95. 139

Alterität, fremde Nähe und Hybridisierung Die Araber in der Phi­lo­so­phie­geschichte um 18001 Catherine König-Pralong

Die Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung, die sich im 18. Jahrhundert als akademische Disziplin etablierte,2 war nicht nur ein narrativer Versuch, die Erhabenheit der modernen Vernunft durch die »Verzeitlichung« der Phi­lo­so­phie­geschichte zu beweisen,3 sie plante auch und vor allem einen Diebstahl:4 eine europäische und ausschließende Aneignung der Philosophie.5 So wurde im Okzident des 19. Jahrhunderts die Philosophie in aller Regel als ein wesentlich europäisches Charakteristikum betrachtet, während umgekehrt Europa als eine supranationale philosophische Einheit galt, die sich auf der politischen Ebene in repräsentativen Regierungsformen realisierte. 1

Die hier vorgestellten Ergebnisse sind Teil des Forschungsprojektes MEMOPHI (Medieval Philosophy in Modern History of Philosophy) – ERC-2013-CoG 615045, Seventh Framework Programme Ideas. Ich danke Nadja Germann für die sprachliche Korrektur dieses Textes sowie für ihre Anmerkungen zum Inhalt. 2 Siehe Schneider, Ulrich Johannes: Die Vergangenheit des Geistes. Eine Archäologie der Phi­lo­so­phie­geschichte. Frankfurt/M. 1990 und, vor allem, Schneider, Ulrich Johannes: Philosophie und Universität. Historisierung der Vernunft im 19. Jahrhundert. Hamburg 1999. Zum Aufkommen der Phi­lo­so­phie­geschichte in der Renaissance und der frühen Neuzeit, noch vor ihrer Institutionalisierung: Santinello, Giovanni (Hg.): Models of the History of Philosophy. I: From Its Origins in the Renaissance to the ›Historia Philosophica‹. Dordrecht 1993. 3 Das Konzept der »Verzeitlichung der Geschichte« oder »der Verzeitlichung der historischen Perspektive« wurde bekanntlich von Reinhardt Koselleck (Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M. 2005 [1979], S. 12 f., 19, 133, 188 – 195) als kulturelles Merkmal der Aufklärung eingeführt. Dieser Konzeption zufolge definierten die aufklärerischen Philosophen und Historiker die Geschichte als einen einheitlichen, fortschrittlichen und unwiederholbaren Prozess. Sie betrachteten ihre eigene Zeit als eine Epochenschwelle, die sich durch eine maßgebliche Beschleunigung auszeichnete. 4 Zum abendländischen »Diebstahl der Geschichte«, den Jack Goody 2006 tadelte und Mary Anne Perkins schon 2004 diagnostizierte: Goody, Jack: The Theft of History. Cambridge 2006; Perkins, Mary Anne: Christendom and European Identity. The Legacy of a Grand Narrative since 1789. Berlin, New York 2004, insbes. S. 115 – 133 (»The Appropriation of Universal History«). Im 19. Jahrhundert, auf der Grundlage der hegelschen Geschichtsphilosophie, setzte sich nämlich die Überzeugung durch, dass nur die Europäer ein historisches Selbstbewusstsein besäßen. Wie Mary Anne Perkins zeigte, hat diese Idee in der deutschen Phänomenologie des 20. Jahrhunderts (namentlich bei Husserl, Gadamer und Jaspers) sehr fruchtbares Terrain gefunden. 5 Zur europäischen Aneignung der Philosophie: Wimmer, Franz Martin: Interkulturelle Philosophie. Theorie und Geschichte. Wien 1990.

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Diese Identität schaffende Eroberung der Philosophie erfolgte durch die Konstruktion von Alteritäten. Gegen 1800 spielten insbesondere die Araber eine wichtige Nebenrolle in den philosophiegeschichtlichen Meistererzählungen von der Entstehung der modernen europäischen Rationalität. Dank der Nähe, die sie zur so genannten »abendländischen« Tradition aufwiesen, eigneten sie sich hervor­ ragend als Kontrastfigur. Die Alterität, die sie verkörperten, war keine inkommensurable Differenz wie die exotische Andersartigkeit der Chinesen, die Leibniz von weitem so bewundert hatte.6 Die Araber teilten nämlich mit den Europäern eine gemeinsame Geschichte im Mittelalter. Sie waren Monotheisten, hatten sowohl die Bibel als auch – seit dem 8. Jahrhundert – die griechische Philosophie rezipiert und studiert. Seit dem 12. Jahrhundert wurde darüber hinaus ein bedeutender Teil der antiken philosophischen Texte durch arabisch-lateinische Übersetzungen ins Abendland eingeführt. Diese Verflechtungsgeschichte, deren Dreh- und Angelpunkt die Philosophie bildete, ermöglichte somit eine vergleichende Phi­lo­so­phie­ geschichts­schrei­bung und identifizierte zugleich die Araber als die paradigmatischen Vertreter der nicht-europäischen Kultur.7 Ausgehend vom Prinzip, dass die Diskriminierung eine Gemeinsamkeit bzw. eine Gemeinschaft voraussetzt, hob in analogischer Weise Jean-Frédéric Schaub die Bedeutung der fremden Nähe für die diskriminierende Herauskristallisierung von Rassen hervor. Oft zielen rassistische Theorien und Praktiken darauf, assimilierte oder sich assimilierende Minderheiten sichtbar und fremd zu machen.8 Im Gegenzug dient die Herausstellung der Alterität der Konstruktion der eigenen Identität. Auf methodologischer Ebene bietet die Behandlung der arabischen Philosophie in der modernen europäischen Phi­lo­so­phie­geschichte einen aufschlussreichen Fall, um die Mechanismen und Motive der Komparatistik ans Licht zu bringen.9 Sie Siehe Almond, Ian: History of Islam in German Thought. London 2010, S. 7 – 28. Die Türkenfeindlichkeit, die im 18. und 19. Jahrhundert in Europa weit verbreitet war und in den Phi­lo­so­phie­geschichten sehr häufig auftritt, hat darüber hinaus zur Durchsetzung eines groben, vereinheitlichenden Islambildes beigetragen. Dazu: Almond: History of Islam. Zu den vergleichenden Religionswissenschaften und dem Islambild in der Vormoderne: Höfert, Almut: Europa und der Nahe Osten: Der transkulturelle Vergleich in der Vormoderne und die Meistererzählungen über den Islam. In: Historische Zeitschrift 287 (2008), S. 561 – 597. Zum Islambild: Rodinson, Maxime: Das Bild im Westen und westliche Islamstudien. In: Das Vermächtnis des Islams. Bd. 1. Zürich, München 1980, S. 23 – 82. 8 Schaub, Jean-Frédéric: Pour une histoire politique de la race. Paris 2015, S. 75, 312 f. Siehe ebenfalls Flem, Lydia: Le racisme. Paris 1985, S. 117 (zitiert von Jean-Frédéric Schaub). 9 Zum Rassismus in der modernen Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung, siehe: Park, Peter K. J.: Africa, Asia and the History of Philosophy. Racism in the Formation of the Philosophical Canon, 1780 – 1830. New York 2014. Für eine kritische Darstellung der modernen Komparatistik mit einem Akzent auf den linguistischen, religionswissenschaftlichen und rechtsgeschichtlichen Ansätzen, siehe: Salaymeh, Lena: ›Comparing‹ Jewish and Islamic Legal Traditions: Between Disciplinarity and Critical Historical Jurisprudence. In: Critical Analysis of Law 2 (2015), 6

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Die Araber in der Philosophiegeschichte um 1800

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deckt enge Verflechtungen und einen regen Austausch zwischen der Philosophie und den anderen Wissenschaften auf, die sich als Wissen vom Menschen und der Natur ab dem 18. Jahrhundert an den europäischen Wissensinstitutionen herausbildeten, namentlich der Ethnologie, der Naturhistorie, der Anthropologie, der Kulturgeschichte und der vergleichenden Linguistik.

1.  Einführende Bemerkungen zu Europa als Lebensraum der Philosophie

Von der Aufklärung bis hin zu Samuel Huntington wurde die abendländische Zivilisation oder »Europa«10 wiederkehrend durch drei Eigenschaften definiert, die in der Philosophie, der Kulturgeschichte sowie der Politikwissenschaft in Abgrenzung zur islamischen Welt konzipiert wurden. Erstens sei Europa die Welt der Freiheit, während die islamischen Länder den Despotismus verkörperten.11 Zweitens habe Europa die Religion von Politik und Wissenschaft entschieden getrennt, während morgenländische Zivilisationen grundsätzlich religiös und theokratisch seien.12 Zwar besitze Europa eine christliche religiöse Kultur, in der Neuzeit aber sei es gelungen, diese religiöse Kultur mit dem Säkularisierungsprozess zu vereinbaren. Obwohl diese europäische Trennung der Religiosität vom wissenschaftlichen und politischen Leben von den Romantikern – vor allem von Herder,13 Schlegel14 und S. 153 – 172. Zur französischen vergleichenden Geschichte der Religionen im 18. Jahrhundert: Revel, Jacques: Comparer les religions au début du XVIIIe siècle. In: Au miroir de l’anthropologie historique. Hg. v. Juan Carlos Garavaglia, Jacques Poloni-Simard, Gilles Rivière. Rennes 2013, S. 95 – 106; Revel, Jacques: The Uses of Comparison: Religions in the Early Eighteenth Century. In: Bernard Picard and the First Global Vision of Religion. Hg. v. Lynn Hunt, Margaret Jacob, Wijnand Mijnhardt. Los Angeles 2010, S. 331 – 347. 10 Ross Balzaretti (The Creation of Europe. In: History Workshop Journal 33 (1992), S. 181 – 196) behauptet, dass keine Idee von Europa im Mittelalter nachweisbar ist; er suggeriert somit, dass dieses Konzept eine Erfindung der Neuzeit und der Moderne ist. 11 Huntington, Samuel P.: The Clash of Civilizations. Sydney 2002 [1997], S. 311. 12 Siehe König-Pralong, Catherine: L’histoire médiévale de la raison philosophique moderne (XVIIIe-XIXe siècles). In: Annales HSS 70 (2015), S. 667 – 711. 13 Herder, Johann Gottfried: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. In: Herders Werke in fünf Bänden. Bd. 2. Berlin, Weimar 1964 [1774], S. 279 – 378, hier S. 287: »Der menschliche Geist bekam die ersten Formen von Weisheit und Tugend mit einer Einfalt, Stärke und Hoheit, die nun […] in unserer philosophischen, kalten europäischen Welt wohl nichts, gar nichts ihresgleichen hat. […] Ohne Zweifel gehört hierzu auch Religion, oder vielmehr war Religion ›das Element, in dem das alles lebt‹ und webte.« 14 Schlegel zufolge bietet die deutsche Mystik, die im Mittelalter entstanden sei, eine glückliche Alternative zum modernen verkümmerten Rationalismus, den er mit dem Geist der französischen Revolution identifiziert. Die Überlegenheit des Mystizismus bestehe gerade darin, dass er die Philosophie mit der Religion verschmelze. Siehe dazu König-Pralong, Catherine: Médiévisme philosophique et raison moderne. De Pierre Bayle à Ernest Renan. Paris 2016, S. 31 – 34, 99 – 114.

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Schleiermacher15 – bedauert wurde, akzeptierten bereits diese sie als eine Tatsache. In zugespitzter Form ist sie noch eine Grundannahme des kontroversen Buches von Samuel Huntington: »The West, however, has never generated a major religion. The great religions of the world are all products of non-Western civilizations and, in most cases, antedate Western civilization.«16 In seinem 1858 erschienenen Werk Allgemeine Geschichte und vergleichendes System der semitischen Sprachen ging Ernest Renan allerdings schon einen Schritt weiter, als er die Neigung zur Religiosität vor allem der semitischen Rasse zuschrieb: »La race sémitique, en particulier, ayant marqué sa trace dans l’histoire par des créations religieuses, c’est principalement en qualité de langues sacrées que les langues sémitiques sont arrivées à un rôle important.«17 Bemerkenswert ist nicht nur die Assoziation der Religiosität mit einer bestimmten, durch Rassenkennzeichnungen definierten Kultur, sondern auch die enge, und zwar monotheistische Definition der Religion, die in dieser Konzeption vorausgesetzt wird und andere Formen der Religiosität implizit ausschließt.18 Drittens schließlich sei die europäische Zivilisation durch eine spekulative oder analytische Rationalität gekennzeichnet, die sich als philosophische Vernunft definieren und vom arabischen und jüdischen Mystizismus abgrenzen lasse.19 Am Ende des 18. Jahrhunderts bildeten Freiheit, Säkularisierung und Philosophie die Eckpunkte eines umfassenden Deutungsrahmens, so dass die analytische Vernunft – ihrerseits das Produkt der sich allmählich säkularisierenden Phi­lo­so­phie­geschichte seit dem Mittelalter – dem mystischen, synkretistischen und schwärmerischen morgenländischen Mystizismus entgegengesetzt wird; einem Mystizismus, der seinerseits die unterwürfige, sklavische Natur der orientalischen Völker auf religiöser Ebene widerspiegele. Im vorliegenden Beitrag werde ich mich insbesondere mit dem dritten dieser konstitutiven Merkmale, der philosophischen Vernunft, beschäftigen und mich auf eine Zeitspanne konzentrieren, die für die Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung Siehe Kippenberg, Hans G.: Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne. München 1997, S. 31 – 38. 16 Huntington: The Clash of Civilizations, S. 54. 17 Renan, Ernest: Histoire générale et système comparé des langues sémitiques. Paris 1858, S. 431. Cf. Salaymeh: ›Comparing‹ Jewish and Islamic Legal Traditions, S. 160, 163. 18 In einer der ersten allgemeinen vergleichenden Geschichten der Religionen hatte Christoph Meiners seinerseits eine seiner Meinung nach allumfassende Definition der Religion aufgestellt, die aber ebenfalls mehrere Formen der Religiosität wie den Buddhismus ausschloss: »[…] wenn man Religion in die Erkenntnis und Verehrung Einer oder mehrerer verständiger höherer Naturen setzt, welche auf die Handlungen der Menschen achten, und diese Handlungen bald belohnen, und bald bestrafen.« Meiners, Christoph: Allgemeine kritische Geschichte der Religionen. Hannover 1806, S. 5. 19 Zum Fortdauern dieser Idee: Gutas, Dimitri: The Study of Arabic Philosophy in the Twentieth Century. In: British Journal of Middle Eastern Studies 29 (2002), S. 5 – 25. 15



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besonders ausschlaggebend war. Hierzu ziehe ich drei Philosophiehistoriker der Generation von 1795 – 1825 heran: den Marburger Professor Dietrich Tiedemann, den Kantianer Wilhelm Gottlieb Tennemann, der ebenfalls Professor für Philosophie an der Universität Marburg war, und den französischen Staatsmann und Philosophiehistoriker Joseph-Marie Degérando. Um 1800 belegen diese drei in ihrer Zeit sehr bedeutenden Philosophiehistoriker und Philosophen einen Wandel in der Behandlung der arabischen Philosophie,20 just in der Zeit der Festigung der Phi­lo­ so­phie­geschichte als akademischer Disziplin. Um 1800 führen Tiedemann, Tennemann und Degérando die arabische Kultur in das große Narrativ von der Entstehung der europäischen Vernunft ein, um die Vervollkommnung der Philosophie in der Moderne als das (für Tiedemann und Degérando nur vorläufige) Ende eines langen organologischen Prozesses vorzustellen, der mittelalterliche Umwege und orientalische Vermischungen aufweist. Im ausgehenden 18.  Jahrhundert wurde die Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung nämlich von den Methoden und Begriffen der Naturhistorie, der Naturkunde und der Anthropologie stark kontaminiert,21 und Denker wie Joseph-Marie Degérando suchten bewusst methodologische Impulse in den Naturwissenschaften. So wurden Konzepte wie Völkerstamm, Rasse, Hybridisierung, Blutsverwandtschaft, Umpflanzung usw. zu organisatorischen Begriffen der Phi­lo­so­phie­geschichte, wie wir beobachten werden. Zu dieser rassenbiologischen Prägung der Phi­lo­so­phie­geschichte gesellte sich der Einfluss linguistischer Rassentheorien in den folgenden Jahrzenten,22 der in den Studien von Ernest Renan und August Schmölders zur arabischen Philosophie, um nur zwei Beispiele zu nennen, seinen lebhaften Ausdruck finden sollte.23 Meiner Einschätzung nach gibt es jedoch keinen Grund, einen »kulturellen« Rassismus von den rassistischen Anwendungen und Vereinnahmungen wissenschaftlicher, insbesondere biologischer Arbeiten abzugrenzen. In solchen ideologischen Ansätzen wird der Rassenbegriff stets noch biologisch gedacht und immer schon kulturell 20

Anstelle von heutzutage gängigen Benennungen wie »islamische Philosophie« oder »Philosophie in der islamischen Welt« verwende ich den Begriff, dem man bei allen in meiner Studie herangezogenen intellektuellen Akteuren begegnet: die »arabische Philosophie«. Dieses Konzept ist breit zu verstehen, da es auch die jüdische Philosophie des Mittelalters sowie Philosophien in hebräischer und persischer Sprache umfasst. 21 Zur Philosophie der schottischen Aufklärung, in der die Rassentheorie lebhafte Debatten auslöste, siehe Sebastiani, Silvia: The Scottish Enlightenment. Race, Gender, and the Limits of Progress. New York 2013. 22 Siehe Olender, Maurice: Die Sprachen des Paradieses. Religion, Philologie und Rassentheorie im 19. Jahrhundert. Aus dem Französischen von Peter D. Krumme. Frankfurt a. M. / New York 1995; Demoule, Jean-Paul: Mais où sont passés les Indo-Européens. Le mythe d’origine de l’Occident. Paris 2014. 23 Siehe meine knappen Ausführungen im zweiten Teil dieses Aufsatzes, sowie KönigPralong: Médiévisme philosophique et raison moderne, S. 62 – 98.

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gebraucht.24 Die Philosophiehistoriker der Generation vor Renan hingegen, die wir hier untersuchen werden, wandten die Rassentheorie noch nicht so dezidiert und ideologisch auf die Philosophie an; sie wiesen eher eine Faszination für die biologischen Entwicklungstheorien und die Methoden der Naturwissenschaften auf. Um diesem Moment der Verflechtungsgeschichte der Philosophie mit den um 1800 neu entstandenen Wissenschaften nachzugehen, werde ich zunächst die Philosophiehistoriker Dietrich Tiedemann, Wilhelm Gottlieb Tennemann und JosephMarie Degérando in den Rahmen der Geschichte der Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­ bung sowie in ihre wissenschaftlichen Welten einordnen (2). Dann werde ich ihre jeweiligen Konzeptionen der arabischen Philosophie in chronologischer Reihenfolge betrachten (3), wobei ich die romantische Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung, die eine alternative Konstellation darstellt und bereits eingehender studiert wurde, hier beiseitelasse.

2. Historische und wissenschaftliche Kontexte moderner Rekonstruktionen der arabischen Philosophie

Die Zeit um 1800 lässt sich als Wendepunkt in der Erschließung des arabischen Denkens in der Phi­lo­so­phie­geschichte25 betrachten. In dieser Zeit setzte sich ein einheitliches Gesamtbild der arabischen Philosophie durch, während ihre frühaufklärerischen Darstellungen noch eine bemerkenswerte Mannigfaltigkeit aufgewiesen hatten. So konnte in der Frühaufklärung »der Araber« etwa den Atheismus verkörpern, beispielsweise Averroes bei Pierre Bayle;26 und noch beim Befürworter des AtheisDamit schließe ich mich dem Urteil von Ania Loomba an (Shakespeare, Race, and Colonialism. Oxford 2002, S. 3; zitiert von Schaub: Pour une histoire politique de la race, S. 113  f.). Im 20. Jahrhundert hingegen definierten sich einige rassistische Ansätze – wie der Rassismus im Spanien Francos – klar als linguistisch, in Abgrenzung zu biologischen Rassismen (siehe Schaub: Pour une histoire politique de la race, S. 148). 25 Obwohl die englischen und italienischen Phi­lo­so­phie­geschichten durchaus von Interesse sind (siehe beispielsweise den Fall des Jesuiten Giovanni d’Andrés, der in Fußnote 57 erwähnt ist), stehen in dieser Studie die deutsche und die französische Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung im Zentrum, die auf diesem Feld führend waren. 26 Bayle, Pierre: Dictionnaire historique et critique. Rotterdam 21702, S. 414 – 4 21. Zum Bild des Averroes in Bayle: Piaia, Gregorio: Talete in Parnaso. La storia dei filosofi e le belle lettere. Padova 2013, S. 127 – 144. Interessanterweise kommt eine ähnliche Konzeption bei Ernest Renan vor. Renan zufolge neigt ›der Araber‹ zur religiösen Indifferenz. Die Araber seien eine »nation raffinée, sceptique, incrédule«, die sich mit Resignation dem Koran unterworfen habe. Aufgrund dieser Indifferenz wurden daher in der arabischen Welt die ersten vergleichenden Betrachtungen der Religionen angestellt (Renan, Ernest: Mahomet et les origines de l’Islamisme. In: Revue des deux mondes 12 (1851), S. 1063 – 1101, hier S. 1069). Diese Darstellung 24



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mus, Pierre-Sylvain Maréchal um 1800, galten die Araber als eine atheistische Na­ tion.27 In manchen Erzählungen der französischen Lumières hingegen repräsentierte »der Araber« den religiösen Fanatismus des Orients, wie in der Tragödie Mahomet oder der Fanatismus von Voltaire.28 In der protestantischen Historiographie der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, namentlich bei Jakob Brucker, wurde darüber hinaus die arabische Philosophie mit der katholischen Scholastik identifiziert. Beide waren für ihn Pseudophilosophien, die sich so gleichen wie ein Ei dem anderen und eine irrtümliche Philosophie in die Theologie einführten.29 Der gemeinsame Nenner dieser frühaufklärerischen Konzeptionen bestand darin, dass die Araber eine exotische, d. h. vormoderne Alterität darstellten. Bei den französischen Philosophen war »der Araber« ein edler Wilder, bei den protestantischen Philosophiehistorikern und Theologen ein grausamer Barbar bzw. ein katholischer Scholastiker. In beiden Fällen wurden die Araber ins Mittelalter versetzt und dort eingesperrt. Und da diese Epoche nicht zur Geschichte der modernen Rationalität gehörte, konnte man den Arabern fortan leicht jeglichen philosophischen Geist absprechen.30 impliziert freilich einen Widerspruch, eine Entwicklung bzw. eine Schwankung oder aber eine Differenzierung zwischen den »Arabern« und den »Semiten« bei Renan, der die Semiten ja grundsätzlich als zur Religion geneigte Völker beschreibt (siehe namentlich das im ersten Teil dieser Studie angeführte Zitat). 27 Maréchal, Pierre-Sylvain: Dictionnaire des athées, anciens et modernes. Deuxième édition augmentée des suppléments de J. Lalande. Bruxelles 1833 [1799 – 1800], S. 10: »ARABES (les) Cette nation spirituelle compte beaucoup d’Athées, et répond parfaitement à ces demiphilosophes qui prétendent que l’Athéisme éteint toute imagination.« 28 Diese berühmte Tragödie, die 1736 zum ersten Mal aufgeführt wurde und in der der Islam als Chiffre für den Fanatismus steht, ist ein Beispiel unter anderen für diese weit verbreitete Wahrnehmung des Islam in den Lumières. Voltaire hat aber auch strategisch aufwertende Darstellungen des Islams verfasst (vor allem in seinem Essai sur les moeurs et l’esprit des nations). 29 Brucker, Johann Jacob: Historia critica philosophiae. Bd. 3. Leipzig 21766 [1744], S. 59: »Eleganter vero Pocockio vocata est theologia Muhammedanorum scholastica, eo quod scholasticorum theologiae ita similis est, ut ovum ovo non magis esse possit, eo quod vel communes parentes habuerint, vel una alteram genuerit.« 30 Mit der wichtigen Ausnahme einiger Islamwissenschaftler und Sprachforscher, die diese bei den Philosophiehistorikern sowie bei ihren eigenen Kollegen gängige Auffassung bestritten. Gegen den Islamwissenschaftler und ersten Herausgeber von Ibn T. ufayl, Edward Pococke, der behauptet hatte, Gott habe die Araber mit keinem philosophischen Geist ausgestattet (Pococke, Edward: Specimen historiae arabum. Hg. v. Josephus White. Oxford 1806 [1650], S. 7), lobte beispielsweise der schwedische Theologe, Sprachforscher und Botaniker Olof Celsius das philosophische Genie der Araber, das alle Bereiche der Philosophie umfasse und nicht minderwertiger als die Philosophien anderer Nationen sei (Celsius, Olof: Historia linguae et eruditionis Arabum. Upsaliae 1694, S. 36: »Ego vero non crediderim minorem Arabibus, quam caeteris gentibus ingenii praerogativam a Numine indultam in illis cognoscendis, quae ductu rationis et limine naturae pervestigari possunt«). Ein Jahrhundert nach Pococke wird seine Behauptung noch von dem Theologen Christoph Carl Fabricius diskutiert und abgelehnt. (Fabricius, Christophorus Carolus: Specimen academicum de studio philosophiae graecae inter Arabes. Altorfii 1745, S. 12 f.)

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Um 1800 wurden die Araber zusammen mit der mittelalterlichen Philosophie in das große Narrativ von der Entstehung der modernen Vernunft eingeführt. Meiner Kenntnis nach ist Dietrich Tiedemann der erste universitäre Philosophiehistoriker, der kurz nach 1790 eine entschieden positive und einschließende Konzeption der mittelalterlichen Philosophie entwickelte und somit das scholastische Denken in der Phi­lo­so­phie­geschichte rehabilitierte.31 Da die Philosophie im Mittelalter sowohl auf Latein als auch auf Arabisch betrieben und geschrieben worden war, teilte die arabische Kultur von nun an ein gemeinsames historisches Schicksal mit Europa und seiner Philosophie. Die Araber konnten nicht mehr oder nicht nur eine äußere Alterität darstellen. Sie gehörten zu »unserer« Geschichte. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist die vorhegelsche Phi­lo­so­phie­geschichts­ schrei­bung besonders interessant: Sie ist der Moment der Inklusion der Araber in die Geschichte der abendländischen Philosophie. Die Bewertungen und Konstruktionen der Philosophiehistoriker dieser Zeit schwankten noch zwischen unentschiedener Abwertung und neugierigem Interesse. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sollte sich die intellektuelle Lage indes polarisieren. Eindrucksvoll bezeugt die hegelsche Definition der Philosophie als europäischen Grundstückes und griechischen Erbes eine eurozentrische Wende, die die Phi­lo­so­phie­geschichte seit den zwanziger Jahren dauerhaft prägte.32 Obwohl er in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie ein Einführungskapitel den chinesischen und indischen »Philosophien« widmete,33 betonte Hegel, dass die Philosophie in Griechenland geSiehe König-Pralong: Médiévisme philosophique et raison moderne, S. 39 – 42. Noch im 20. Jahrhundert sind solche eurozentrischen und philhellenischen Stellungnahmen nicht selten. Als Beispiele kann man die Äußerungen von zwei führenden Philosophiehistorikern des 20. Jahrhunderts, Émile Bréhier und Olof Gigon, anführen. Bréhier, Émile: Études de philosophie antique. Paris 1955 [1947], S. 8 f.: »[…] la philosophie a pris son élan en Grèce et, de cet élan, elle a gardé l’amour et la passion de la liberté ; je ne disconviens pas que la philosophie soit une plante rare dans l’ensemble de l’humanité, et même une plante fragile ; et il n’y a pas eu, que je sache, de philosophie ainsi précisément nommée et caractérisée ailleurs que dans notre civilisation occidentale, sinon par une imitation qui s’est étendue jusqu’à l’Islam et jusqu’à l’Inde.« Ich möchte hier das Substantiv »plante« (»Pflanze«) hervorheben, das in der im dritten Teil rekonstruierten Konstellation wiederkehrend vorkommt. Gigon, Olof: Les grands problèmes de la philosophie antique. Paris 1961, S. 9: »Dernière remarque. Il n’est pas de nos jours inutile de souligner avec énergie que la philosophie, aussi bien la chose que le mot, est née chez les Grecs et qu’il n’existe de philosophie, au sens vrai du mot, qu’exclusivement dans la tradition qui nous vient des Grecs. Sans doute ne peut-on empêcher personne d’appeler philosophies la sagesse chinoise et les spéculations de l’Inde […]. Nous ne voudrions empêcher personne de manifester, par conviction ou par politique, la plus haute estime pour les classiques hindous et chinois. Mais ces derniers n’ont rien de commun avec ce que l’histoire, depuis Platon et Aristote, nous oblige à nommer ›philosophie‹.« 33 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I. In: Werke. Bd. 18. Frankfurt a. M. 1986, S. 138 – 172. 31 32



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boren ist. Er erklärte diese vermeintliche historische Tatsache durch das geschichtliche Aufkommen der Freiheit im griechischen Volk: »So sind wir im Okzident auf dem Boden der eigentlichen Philosophie. […] diese Freiheit finden wir erst im griechischen Volke. Daher fängt hier die Philosophie an. Im Orient ist nur ein Einziger frei (der Despot), in Griechenland sind Einige frei, im germanischen Leben gilt der Satz, es sind Alle frei, d. h. der Mensch als Mensch ist frei.«34

Hegel verband somit das erste und dritte der europäischen Identitätsmerkmale, die ich oben erwähnte: Freiheit und Philosophie. In diesem im 19. Jahrhundert vorherrschenden Szenario stellten die Araber eine innere Gefahr dar. Nachdem der Göttinger Literaturwissenschaftler und Ethnologe Arnold Heeren vergeblich versucht hatte, den mittelalterlichen arabischen Transfer der griechischen Philosophie zu leugnen,35 verbannten führende Philosophie- und Kulturhistoriker aufgrund qualitativer Geringschätzung die arabische Kultur aus der Philosophie. Sich in ideologischer Weise des Rassenbegriffs bedienend, den Kant und Blumenbach eingeführt hatten,36 sprachen sie der »semitischen Rasse« spekulatives Denken und analytischen Geist ab. Nichtsdestotrotz wurden Gelehrte wie die gerade erwähnten mitunter geradezu als Pioniere der Erforschung der arabischen Philosophie wahrgenommen. Das erste Handbuch der arabischen Philosophie veröffentlichte der Orientalist August Schmöl­ders 1842 in Paris in französischer Sprache. In dieser Geschichte der arabischen Philosophie, die Victor Cousin in Auftrag gegeben hatte, bemühte sich der deutsche Arabist die semitische Rasse (»la race sémitique«) als ein zurückgebliebenes Volk zu schildern, das zum Philosophieren völlig unfähig sei.37 Seit 1848 entwickelte Ernest Renan dieselbe Idee,38 und dies auch in seiner berühmten Dissertation zu Averroes aus dem Jahre 1852.39 Bei Schmölders und Renan, die sich mit der 34 Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S. 122. Hegel zufolge ist darüber

hinaus das Christentum die einzige Religion, die mit Freiheit und Selbstbewusstsein vereinbar ist. Siehe: Michael H. Hoffheimer: Race and Law in Hegel’s Philosophy of Religion. In: Race and Racism in Modern Philosophy. Hg. v. Andrew Valls. Ithaca 2005, S. 194 – 216. 35 Siehe meine Rekonstruktion der These von Heeren und der von ihr verursachten Debatte: König-Pralong: L’histoire médiévale de la raison philosophique moderne. 36 Bernasconi, Roberto: Crossed Lines in the Racialization Process: Races as a Border Concept. In: Research in Phenomenology 42 (2012), S. 206 – 228; Lettow, Susanne (Hg.): Reproduction, Race, and Gender in Philosophy and the Early Life Sciences. New York 2014; Sebastiani: The Scottish Enlightenment. 37 Schmölders, August: Essai sur les écoles philosophiques chez les Arabes. Paris 1842, insbesondere S. 1 – 12. 38 Renan, Ernest: Histoire de l’étude de la langue grecque dans l’Occident de l’Europe depuis la fin du V e siècle jusqu’à celle du XIV e. Texte introduit et édité par Perrine Simon-Nahum. Paris 2009 [1848], S. 542 f., 433. 39 Renan, Ernest: Averroès et l’averroïsme. Paris 31866 [1852], S. VII f.: »Ce n’est pas à la race

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Geschichte und dem Vergleich der Sprachen beschäftigten, erhielt diese rassistische Verbannung eine stark linguistische Prägung. Ihnen zufolge stellen die semitischen Sprachen unüberwindbare Hürden für das analytische und abstrakte Denken dar. Demgegenüber versuchten der Philosophiehistoriker Heinrich Ritter und der Philologe Salomon Munk die arabische Philosophie auf eigene Faust zu studieren und aufzuwerten. Die intellektuelle Welt war gespalten. Die Phi­lo­so­phie­geschichte der früheren Generationen, die sich durch eine offenere und noch nicht auf bestimmte Kategorien festgelegte Darstellung der arabischen Philosophie auszeichnete, gehörte zu einer sich wandelnden intellektuellen Welt, in der sich neue Wissenschaften vom Menschen herausbildeten und die Komparatistik als Methode durchsetzte.40 In diesem Rahmen entwickelten seit 1780 Arnold Heeren, Christoph Meiners, Johann Christoph Gatterer und August Ludwig Schlözer in Göttingen die Ethnologie als eine vergleichende Geschichte der Völker.41 Ähnlich bezeugten Herders Ideen, zwischen 1784 und 1791 veröffentlicht, zwar nach wie vor eine vielseitige, jedoch bereits kulturethnologisch geprägte Herangehensweise. In diesem intellektuellen Umfeld publizierte 1786 der Ethnologe und Philosoph Christoph Meiners, der die orientalischen Völker als unterwürfige, »schwache und übelartige Völker« beschrieb,42 eine Geschichte der Philosophie, an deren Anfang er den philosophiegeschichtlichen Ansatz im Hinblick auf seine Nähe zu diversen Nachbardisziplinen in die wissenschaftliche Landschaft einordnete:

sémitique que nous devons demander des leçons de philosophie. […] [elle] n’a pas produit le plus petit essai de philosophie qui lui soit propre.« Trotzdem stilisiert Hans Daiber Renan als den ersten großen Erforscher der arabischen Philosophie: Daiber, Hans: What is the Meaning of and to What End Do We Study the History of Islamic Philosophy? In: Daiber, Hans: Bibliography of Islamic Philosophy. Bd. 1. Leiden 1999, S. xi–xxxiii, hier S. xx: »The first true champion of Islamic philosophy was Ernest Renan (1823 – 1892) with his book Averroes et l’Averroïsme […].« 40 Bödeker, Hans Erich/Büttgen, Philippe / Espagne, Michel (Hg.): Die Wissenschaft vom Menschen in Göttingen um 1800. Wissenschaftliche Praktiken, institutionelle Geographie, euro­ päische Netzwerke. Göttingen 2008. 41 Siehe Vermeulen, Hans F.: Göttingen und die Völkerkunde. Ethnologie und Ethnographie in der deutschen Aufklärung, 1710 – 1815. In: Die Wissenschaft vom Menschen in Göttingen um 1800. Hg. v. Bödeker/Büttgen/Espagne, S. 199 – 230; Laudin, Gérard: Gatterer und Schlözer: Geschichte als ›Wissenschaft vom Menschen‹. In: Die Wissenschaft vom Menschen in Göttingen um 1800. Hg. v. Bödeker/Büttgen/Espagne, S. 393 – 418; Gierl, Martin: Christoph Meiners. Geschichte der Menschheit und Göttinger Universalgeschichte. Rasse und Nation als Politisierung der deutschen Aufklärung. In: Die Wissenschaft vom Menschen in Göttingen um 1800. Hg. v. Bödeker/Büttgen/Espagne, S. 419 – 434. 42 Meiners, Christoph: Über die Ursachen des Despotismus. In: Göttingisches historisches Magazin 2 (1788), S. 193 – 229, hier S. 196 f., 200, 208. Zum Ansatz von Meiners, siehe Gierl: Christoph Meiners. Geschichte der Menschheit und Göttinger Universalgeschichte. Rasse und Nation als Politisierung der deutschen Aufklärung.



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»Die Geschichte der eigentlichen Philosophie […] grenzt an die Geschichte vieler andrer Wissenschaften, besonders an die Geschichte der Naturkunde, der Natur­ historie, der Mathematik, selbst der Gesetzgebungen und Religionen, wovon man sie aber sorgfältig trennen muss […].«43

Meiners verlangte eine klare Abgrenzung der Phi­lo­so­phie­geschichte von der Geschichte der Religionen, betonte aber aufgrund der deutlichen naturwissenschaftlichen Einflüsse auf die Phi­lo­so­phie­geschichte seiner Zeit deren Nähe zur Naturkunde und Naturhistorie. Wie schon bemerkt wurde, war etwa der Wortschatz der Philosophiehistoriker voll von biologischen Begriffen wie »Keim«, »Samen«, »Fortpflanzung«, »Verpflanzung« usw. Darüber hinaus stellte die Evolutionstheorie, insbesondere der Monogenismus von Buffon,44 der Phi­lo­so­phie­geschichte ein Organisationsschema bereit.45 Anders als der sechzigjährige Meiners, der die poly­ genetische Annahme von der Existenz unterschiedlicher Rassen seit Beginn der Menschheitsgeschichte verteidigte,46 beriefen sich Tennemann und Degérando in ihren jeweiligen Phi­lo­so­phie­geschichten auf Buffon.47 Degérando besprach außerdem die zoologischen Entdeckungen von Abraham Trembley ausführlich und lobte dessen Freund Charles Bonnet, der den Menschen studieren wollte, wie er zuvor Insekten und Pflanzen untersucht hatte.48 Meiners, Christoph: Grundriss der Geschichte der Weltweisheit. Lemgo 1786, S. 1. Die in 36 Bänden zwischen 1749 und 1789 veröffentlichte Histoire naturelle von Buffon wurde vor 1775 zweimal teilweise ins Deutsche übersetzt: Herrn von Buffons allgemeine Naturgeschichte. Eine freye mit einigen Zusätzen vermehrte Übersetzung nach der neuesten französischen Außgabe von 1769, von F. H. W. Martini. 7 Bd. Berlin 1771 – 1774; Allgemeine Historie der Natur nach allen ihren besonderen Theilen abgehandelt; nebst einer Beschreibung der Naturalienkammer Sr. Majestät des Königes von Frankreich. Mit einer Vorrede Herrn Doctor Albrecht von Haller. Hamburg, Leipzig 1750 – 1774. 45 Dazu Magner, Lois N.: A History of Life Sciences. New York, Basel 32002, S. 299 – 323. Susanne Lettow (Generation, Genealogy, and Time. The Concept of Reproduction from Histoire naturelle to Naturphilosophie. In: Reproduction, Race, and Gender in Philosophy and the Early Life Sciences. Hg. v. Susanne Lettow. New York 2014, S. 21 – 43) zeigt den Einfluss von Buffon auf die Encyclopédie, in der »Phylum« als Synonym für »Volk« und »Nation« gilt. Herder berief sich seinerseits auf die Entdeckungen von Trembley, um seine Konzeption der Mischung und Entwicklung der Völker zu erklären. 46 Zum Polygenismus, den Meiners gegen Ende seines Lebens entwickelte: Carhart, Michel C.: Polynesia and Polygenism: The Scientific Use of Travel Literature in the Early 19th Century. In: History of the Human Sciences 22 (2009), S. 58 – 86. Zu seiner Positionierung in der Debatte zwischen »Polygenisten« und »Monogenisten«: Tombal, Dominique: Le polygénisme aux XVIIe et XVIIIe siècles: de la critique biblique à l’idéologie raciste. In: Revue belge de philologie et d’histoire 71 (1993), S. 850 – 874, hier S. 868 – 870. Zum Polygenismus im 18. Jahrhundert, insbesondere in Schottland und Frankreich: Sebastiani: The Scottish Enlightenment. 47 Tennemann, Wilhelm G.: Geschichte der Philosophie. Bd. 11. Leipzig 1819, S. 298; Degérando, Joseph-Marie: Histoire comparée des systèmes de philosophie. Bd. 3. Paris 21847 [1823], S. 369 f. 48 Degérando: Histoire comparée des systèmes de philosophie. Bd. 3, S. 369 f., 390 – 392. 43

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So wurde in den meisten deutschen und französischen Phi­lo­so­phie­geschichten, die an der Schwelle des 19. Jahrhunderts im universitären Kontext publiziert wurden, die Geschichte des philosophischen Geistes oder »der Zivilisation« mit der Entwicklung eines Organismus verglichen. Die verschiedenen Kulturen, manchmal als Stämme beschrieben, stellten entweder Entwicklungsphasen dieses organologischen Ganzen dar oder Hybridisierungen49 der philosophischen Kultur Europas mit anderen, nicht-philosophischen Kulturen, insbesondere der arabischen. Schon für Herder war »[…] die ganze Kultur des nörd-, öst- und westlichen Europa […] ein Gewächs aus römisch-griechisch-arabischem Samen«.50 Auf ähnliche Weise war der intellektuelle Hintergrund der Phi­lo­so­phie­geschichten von Tiedemann, Degérando und Tennemann biologisch geprägt. Dabei bot die Naturkunde nicht nur den Philosophiehistorikern die vergleichende und klassifizierende Methode. Wie Silvia Sebastiani unterstreicht, wurde Buffons klassifizierende Methode zum wissenschaftlichen Paradigma, das einen bedeutenden, von der historiographischen Forschung oft unterschätzten Einfluss auf sämtliche Kulturwissenschaften ausübte.51 Um die Ansätze unserer drei exemplarischen Philosophiehistoriker angemessen erörtern zu können, ist noch zu präzisieren, auf welche Quellen sie sich bei ihrer Erschließung der arabischen Philosophie stützten. Da sie diese nicht in ihrer Originalsprache lesen konnten, waren die von ihnen am häufigsten herangezogenen Quellen die mittelalterlichen lateinischen Übersetzungen. Einige Denker, wie der jüdische Philosoph Ibn Gabirol (Avicebron) aus dem 11. Jahrhundert,52 waren sogar nur durch Berichte lateinischer mittelalterlicher Autoren bekannt. In deutlich geringerem Maße trugen die orientalischen Studien zur Kenntnis der arabischen Philosophie bei. Bis zum 19. Jahrhundert war der Philosoph als Autodidakt von Ibn T. ufayl die einzige Originalquelle, die in kritischer Edition und moderner lateinischer Übersetzung zur Verfügung stand.53 Die scholastische Vermittlung hat 49

Zu diesem Konzept im Rahmen der Philosophie siehe Bernasconi, Robert: Heredity and Hybridity in the Natural History of Kant, Girtanner and Schelling during the 1790s. In: Reproduction, Race, and Gender in Philosophy and the Early Life Sciences. Hg. v. Lettow, S. 237 – 258. 50 Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Wiesbaden 1991 [1784 – 1791], S. 439. Bei Herder ist die Philosophie schon eine griechische, europäische Angelegenheit, obwohl Europa aus einer Mischung von Völkern entstanden ist. 51 »Le comparatisme devient, avec le naturaliste français, le geste de la méthode.« (Sebastiani, Silvia: Frontières de l’humain. L’homme-singe dans le débat britannique sur l’esclavage (1770 – 1780). In: L’expérience historiographique. Autour de Jacques Revel. Hg. v. Antoine Lilti, Sabina Loriga, Jean-Frédéric Schaub, Silvia Sebastiani. Paris 2016, S. 201 – 218, hier S. 204). 52 Erst 1846 konnte Salomon Munk Ibn Gabirol dank von Ibn Falaquera übermittelter hebräischer Fragmente identifizieren. Für eine ausführliche Darstellung dieser Entdeckung siehe Munk, Salomon: Mélanges de philosophie juive et arabe. Première livraison. Paris 1857. 53 Pococke, Edward: Philosophus autodidactus sive epistola Abi Jaafar, Ebn Tophail. Oxford 1671. Arabische Biographien, die die ersten Orientalisten, insbesondere Barthélémy d’Herbelot, Johann Heinrich Hottinger und Johannes Albertus Fabricius, herangezogen hat-



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auf diese Weise maßgeblich die Rezeption der arabischen Philosophie beeinflusst: die Auswahl der Philosophiehistoriker sowie ihre Rekonstruktionen im Detail. Darüber hinaus blieb die Historia critica philosophiae, die Jakob Brucker schon zwischen 1742 und 1744 publiziert hatte, die wichtigste Vorlage der Phi­lo­so­phie­ geschichts­schrei­bung um 1800. Zahlreiche Rekonstruktionen Bruckers wurden ohne Überprüfung übernommen.

3. Vergleichende Naturhistorie der Philosophie und Wahrnehmung der ­arabischen Philosophie um 1800: Tiedemann, Degérando, Tennemann

Die erste Schrift, die ich in meiner case study heranziehe, ist der vierte Band der Geschichte der theoretischen Philosophie, den der Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie an der Universität Marburg, Dietrich Tiedemann, 1795 veröffentlichte.54 Tiedemann, der ein Anhänger der Philosophie John Lockes war, verfasste seine Geschichte der Philosophie in pragmatischer Weise: Er begriff die Phi­lo­so­phie­ geschichte als eine Kette intellektueller Tatsachen, die als »Ursachen« und »Wirkungen« wie Phänomene der natürlichen Welt betrachtet werden können.55 Dabei spiegelten die Einordnung der Araber in die Phi­lo­so­phie­geschichte und der Ausschluss aller anderen orientalischen Kulturen aus dem Bereich der Philosophie den epistemischen Unterschied zwischen totaler Alterität und fremder Nähe deutlich wider. Zu den zeitlich oder räumlich fernen orientalischen Kulturen gab es nichts zu sagen: »Nun wird allgemein zugestanden, daß alle Lehren der Chaldäer, Persier, Indier, und selbst der Aegypter […] entweder bloße Dichtungen halb roher Zeiten enthalten, oder auf religiöse Vorstellungen hinausgehen […]. Von der Philosophie dieser Völker ten, wurden auch von den Philosophiehistorikern manchmal erwähnt. Unter diesen Werken waren im Abendland besonders wichtig diejenigen von Jirjis al-Makīn (13. Jahrhundert), der von Thomas Erpenius 1625 ediert und ins Lateinische übersetzt worden war, Leo Africanus (16. Jahrhundert), ediert von Johann Heinrich Hottinger, Ibn Abī Us. aybiʿa († 1270), Abū alFaraj (Bar Hebraeus, 13. Jahrhundert), ediert und übersetzt von Edward Pococke, und Ibn al-Nadīm (10. Jahrhundert), der erst im 19. Jahrhundert von August Müller und Gustav Flügel kritisch ediert wurde. 54 Tiedemann, Dietrich: Geist der spekulativen Philosophie. Bd. 4. Von den Arabern bis auf Raymund Lullius. Marburg 1795. Der Sohn von Dietrich Tiedemann, Friedrich (1781 – 1861), war ein berühmter Anthropologe, der sich namentlich in der von Blumenbach initiierten vergleichenden Anatomie auszeichnete. 55 Tiedemann, Dietrich: Geist der spekulativen Philosophie. Bd. 1. Marburg 1791, S. V: »Ersten Anfang, Fortgang, und Erreichung des höchsten Grades von Vollkommenheit der Philosophie soll diese Geschichte, nicht chronickenmäßig, sondern im natürlichen Zusammenhange der Ursachen und Wirkungen, mit möglichster Zuverläßigkeit erzählen.« (Meine Hervorhebungen)

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haben wir demnach kein Recht zu reden, noch in einer Geschichte der Philosophie solche Lehren aufzustellen.«56

Im Unterschied zu diesen inkommensurablen »Lehren« stellte das arabische Denken ein Moment der Phi­lo­so­phie­geschichte dar, zumindest insoweit es mit der abendländischen Philosophie im Mittelalter interagierte. So behauptete Tiedemann gegen Christoph Meiners, »die gemeine Meinung, dass die Araber die höhere Aufklärung der neuern Zeit vorbereitet haben«, sei »nicht so unrichtig«.57 Mittels Historisierung der eigenen philosophischen Kultur versuchte Tiedemann die arabische Philosophie zu rehabilitieren, d. h. sie in das abendländische Szenario einzuführen. Tiedemanns allgemeine Evaluation klingt indes zweideutig. Zwar stellte ihm zufolge das »arabische Zeitalter« eine fortschrittliche Etappe in der Geschichte der Philosophie dar. In diesem Sinne wies Tiedemann ausdrücklich die Fokussierung seiner Zeitgenossen auf Griechenland und Deutschland, anders gesagt die Kolonisierung und Nationalisierung zurück, die die Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung seit 1780 kennzeichnete. Übrigens blieb seine aufwertende Behandlung der arabischen Philosophie nicht unbemerkt; 1796 wurde sie in einer Rezension scharf kritisiert.58 Allerdings wurde in Tiedemanns Darstellung die arabische Philosophie von der abendländischen Scholastik und noch mehr von der modernen Philosophie überholt. 56 Tiedemann:

Geist der spekulativen Philosophie. Bd. 1, S. XIX.

57 Tiedemann: Geist der spekulativen Philosophie. Bd. 4, S. 367. Der Appell an die »gewöhn-

liche« oder »gemeine Meinung« ist ein rhetorisches Verfahren, ein stilistischer Topos des polemischen Diskurses. Schon 1782 verteidigte der Jesuit Giovanni d’Andrés, eine Hauptfigur des italienischen aufklärerischen Rationalismus, dieselbe Meinung auf eine ähnlich kämpferische Weise: »Io temo di comparire stolto amatore di paradossi se ardirò di affermare, che noi siamo debitori agli Arabi del rifiorire che fecero le scienze nell’Europa, e che da quella nazione si dee prendere l’origine della nostra cultura negli studi scientifici.« »[…] non è fuor di ragione l’asserire che il risorgimento dei buoni studi nell’Europa sia dovuto all’arabica letteratura.« »Ma io non cerco di dare un vanto agli Arabi che loro non si competa; voglio soltanto proporre la incontrastabile verità della loro influenza su i nostri studi; nè curo di glorificare l’arabico sapere; ma sì bene di esaminare le vere sorgenti della nostra letteratura […].« Andrés, Giovanni: Dell’origine, Progressi e stato attuale di ogni letteratura. Bd. 1. Roma, Venezia 21830 [1782], S. 245, 254 u. 291. 58 »Der Vf. ist sehr für sie [die arabischen Philosophen] eingenommen, und bemüht sich dieser Nation die Ehre zu sichern, dass sie große Selbstdenker hervorgebracht habe. Die angeführten Proben beweisen aber nur, dass sie nach fremden Principien einige Begriffe und Sätze weiter entwickelten, und die Aristotelische Philosophie mit der Alexandrinischen vermischten.« (s. n. In: Allgemeine Literatur-Zeitung 204 – 205 (Julius 1796), Sp. 9 –19, hier Sp. 13.) Die Rezension des Philosophiehistorikers Johann Gottlieb Buhle in den Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 183 (November 1795), S. 1825 – 1829, ist dem gegenüber deutlich positiver. Tiedemann antwortet auf die erste Rezension in der Vorrede des fünften Bandes seines Geistes der spekulativen Philosophie (1796, S. XIV–XVII). Er betont, dass die Araber »auch ein neues System aufgestellt haben« (S. XIV) und die moderne Philosophie ihre heutige Gestalt nicht hätte, »wenn die Araber nicht gewesen wären« (S. XV). Auf S. XVII kritisiert er die exklusive philosophiegeschichtliche Fokussierung auf Griechenland und Deutschland scharf.



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Für seine paradoxe Rekonstruktion griff Tiedemann konsequent auf das biologische Modell zurück. Demnach ist das Mittelalter eine Brache, die das spätere Aufblühen der Aufklärung überhaupt erst ermöglicht habe. Die »Menschenstämme« oder »Völkerschaften« werden mit Feldern verglichen, die kultiviert werden müssen. Deshalb könne die nach ihrem frühmittelalterlichen Untergang verkümmerte Philosophie nur auf einem Brachland wiederaufleben.59 Und da die Araber ein »rohes Volk« seien,60 in dem nie zuvor eine Philosophie blühte, böten sie ein für eine vorläufige Aufklärung geeignetes Terrain. Der politische Despotismus und die Schwärmereien des Korans61 freilich hätten eine Verwurzelung dieser Hors-­sol(hydroponischen) Aufklärung verhindert: »Unter den Arabern also stieg die Aufklärung von oben herunter. Wo die Wissenschaften von oben her allein befördert werden, da gleichen sie einer künstlich getriebenen Pflanze, die kurzes Leben hat, und bei der geringsten Unordnung im Treiben, zu Grunde geht.«62

In dieser landwirtschaftlichen Inszenierung ist das positive Merkmal der Araber ihre philosophische Rohheit, ihre wesentlich mittelalterliche Natur, das negative hingegen ihre religiöse Kultur. 1804, ein Jahr nach dem Tod Tiedemanns, erhielt der Kantianer Wilhelm Gottlieb Tennemann, der zweite Autor meiner case study, eine Professur für Philosophie an der Universität Marburg.63 Bereits 1806 veröffentlichte er eine deutsche Übersetzung der ersten Ausgabe der Vergleichenden Geschichte der Philosophie, die der französische Sozialwissenschaftler und Staatsmann Joseph-Marie Degérando, die dritte Figur meiner Konstellation, zwei Jahre zuvor publiziert hatte.64 Damit führte Geist der spekulativen Philosophie. Bd. 4, S. 48 f.: »[…] ein lange gebrauchtes Feld muss brach liegen und zur Wildnis werden, um mit neuer und grösserer Fruchtbarkeit prangen zu können. Auf gleiche Art bedürfen auch die verschiedenen Menschenstämme und Völkerschaften, wenn sie Jahrhunderte hindurch an ihrer Veredlung mit grossem Fleisse gearbeitet […] eines Stillstandes, und einer Verbesserung durch kraftvollere Völkerschaften, um mit neuem Eifer das grosse Werk der Vervollkommnung hinauszuführen.« 60 Ebd., S. 50. 61 Ebd., S. 58: »Diese schwärmerische Rechtgläubigkeit schränkte die Philosophie in Bagdad sehr ein, und war wesentliches Hindernis, dass sie weder tief wurzeln, noch weiten Raum gewinnen konnte.« 62 Ebd., S. 55. 63 Zur philosophischen Historiographie Tennemanns siehe: Micheli, Giuseppe: Tennemann: Storico della Filosofia. Padova 1992; Micheli, Giuseppe: Wilhelm Gottlieb Tennemann (1761 – 1819). In: Storia delle storie generali della filosofia. Bd. 4/I. Hg. v. Giovanni Santinello u. Gregorio Piaia. Padova 1995, S. 25 – 134. 64 Degérando, Joseph-Marie: Vergleichende Geschichte der Philosophie mit Rücksicht auf die Grundsätze der menschlichen Erkenntnisse. Aus dem Französischen übersetzt mit Anmerkungen von Dr. Wilhelm Gottlieb Tennemann. Bd. 1. Marburg 1806 [Degérando, Joseph-Marie: 59 Tiedemann:

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Tennemann die komparatistische Methode in die deutsche Phi­lo­so­phie­geschichts­ schrei­bung ein. Mittels eines Vergleiches der unterschiedlichen philosophischen Systeme sowie eines biologisch geprägten Wortschatzes65 hatte Degérando die Phi­ lo­so­phie­geschichte in Analogie zur allmählichen Entwicklung eines Organismus entworfen. Auf die zweite, maßgeblich erweiterte Ausgabe dieses Werkes werde ich später noch genauer eingehen, wenn ich auf Degérando zu sprechen komme. Die ers­te, von Tennemann herausgegebene Ausgabe nun vermittelte zwei Charakteristika der arabischen Philosophie, die ihrerseits nicht neu im deutschsprachigen Raum waren. Erstens galten die Araber ausschließlich als Vermittler des griechischen Denkens, deren philosophische Wirkung sich auf den mittelalterlichen Transfer dieser Philosophie beschränkte.66 Zweitens mangele es ihnen an Unterscheidungsfähigkeit und analytischem Geist. Sie hätten Aristoteles mit Platon verschmolzen und außerdem dieses Aggregat mit ihrer Religion vermischt.67 Demgegenüber wurde das moderne abendländische Denken als Unterscheidungs- und Reinigungsprozess, als Klassifikation und Vergleich konzipiert. Nur wenig später (1810) übernahm Tennemann diese Vision in seine eigene Geschichte der Philosophie,68 vor allem aber entwickelte er Tiedemanns biologische Metapher weiter. Demnach »pflanzten« die syrischen Christen durch ihre Übersetzungen der griechischen Philosophie »die ersten Keime der Aufklärung« unter den Arabern, einem rohen, wilden Volk, das zur Philosophie jedoch unfähig war.69 Bei Tennemann erwies sich das brachliegende Feld nämlich als unfruchtbar: »Es war also nichts anderes, als ein großer und gewissermassen gewaltsamer Sprung, wenn die Araber sich die reiferen Früchte des griechischen Geistes anzueignen suchten, eher sie zu dem Grade der Kultur gelangt waren, den die Griechen durch Poesie, Beredsamkeit und Geschichtsstudium erworben hatten […]. Die Folgen mussten bei Histoire comparée des systèmes de philosophie, considérés relativement aux principes des connaissances humaines. Paris 1804]. 65 Zur biologischen Herangehensweise des Degérando in der Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­ bung sowie den von ihm geplanten Sozialreformen: Chappey, Jean-Luc / Christen, Carole / Moullier, Igor (Hg.): Joseph-Marie de Gérando (1772 – 1842). Connaître et réformer la société. Rennes 2014. 66 Degérando: Vergleichende Geschichte der Philosophie, S. 163: »[…] denn die Philosophie der Araber hat vorzüglich darum für uns Wichtigkeit, weil sie auf die Fortschritte des Unterrichts unter den abendländischen Nationen Einfluss hatte.« 67 Nach der Behauptung, die Araber hätten Aristoteles mit Platon vermischt und »auch mit den Dogmen des Islamismus in Übereinstimmung« gebracht (S. 164), fasst Degérando seine Schilderung des arabischen Transfers folgendermaßen zusammen: »[…] so wurde Aristoteles von neuem mit den Platonischen Systemen und allen mystischen Ideen in Gesellschaft gebracht.« Degérando: Vergleichende Geschichte der Philosophie, S. 165. 68 Siehe Tennemann, Wilhelm Gottlieb: Geschichte der Philosophie. Bd. 8/2. Leipzig 1811, S. 450, und Bd. 8/1. Leipzig 1810, S. 371 – 373. 69 Tennemann: Geschichte der Philosophie. Bd. 8/1, S. 363.



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dieser von Oben herab eingeführten Aufklärung ganz anders sein, als da, wo sie in einem empfänglichen und dazu gebildeten Volke von selbst sich erzeugt.«70

Das von Tennemann gezeichnete Bild ist nicht das der natürlichen Hybridisierung, noch weniger der Zeugung, sondern vielmehr des gewaltsamen und gescheiterten Pfropfreises. Als widernatürlichem Phänomen konnte der Philosophie bei den Arabern somit nur ein kurzes Leben vergönnt sein – das stumme Zitat Tiedemanns (»bei dieser von Oben herab eingeführten Aufklärung«) ist kaum zu übersehen. Nun ist das Ziehen eines Vergleiches immer zweckorientiert: Hier dient es einer Konzeption von Philosophie als exklusiv abendländischer Eigentümlichkeit und dialektischem Prozess, der in Immanuel Kants kritischer Philosophie kulminiert. Als Fallbeispiel eines Irrweges oder Scheiterns stellte das arabische Moment eher eine geschichtliche Kontingenz und ein widernatürliches Ereignis dar als eine notwendige, natürliche Entwicklungsphase der Philosophie. Die letzte Schrift meiner case study ist die zweite, erweiterte Ausgabe der Histoire comparée des systèmes de philosophie, die der Baron Degérando 1822/23 veröffentlichte.71 Degérando sprach Deutsch und las die deutschen Historiker.72 Von 1800 bis 1805 war er Mitglied der Société des Observateurs de l’Homme, deren Hauptziel eine vergleichende Klassifizierung der Rassen war. Auf der Grundlage der anthropologischen Arbeiten von Petrus Camper und Friedrich Blumenbach beabsichtigte die Gesellschaft der Menschenbeobachter eine allgemeine Naturhistorie des Menschen (Histoire Naturelle de l’Homme).73 Degérando erhielt die spezielle Aufgabe, den moralischen Menschen zu betrachten und das Verhältnis des Geistes zur körperlichen Schönheit zu bestätigen.74 Als er zwanzig Jahre später seine überarbeitete Geschichte der Philosophie publizierte, saß er im französischen Staatsrat und war korrespondierendes Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bei ihm stellten die Araber eine Verbindung quer durch das Mittelalter dar, mittels derer die Renaissance die ursprünglichen Quellen der Philosophie wieder errei-

Geschichte der Philosophie. Bd.  8/1, S. 365 f. Degérando, Joseph-Marie: Histoire comparée des systèmes de philosophie, considérés relativement aux principes des connaissances humaines. Paris 21822 – 1823. Im Vergleich zur ersten Ausgabe vertieft die zweite insbesondere die Erörterung des Mittelalters. Der vierte und letzte Band ist dieser Epoche gewidmet. 72 Zu Degérando: Chappey / Christen / Moullier (Hg.): Joseph-Marie de Gérando (1772 – 1842). 73 Siehe: Bouteiller, Marcelle: La Société des Observateurs de l’Homme (1800 – 1805), ancêtre de la Société d’Anthropologie de Paris. In: Bulletins et Mémoires de la Société d’anthropologie de Paris 7 (1956), S. 448 – 465. 74 Für die Gesellschaft der Menschenbeobachter verfasst Degérando einige Anweisungen, die den Ethnologen auf dem Terrain helfen sollen (Considérations sur les diverses méthodes à suivre dans l’observation des peuples sauvages). 70 Tennemann: 71

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chen konnte: »[…] ils créent une sorte de canal par lequel l’instruction renaissante du moyen âge vient se remettre en rapport avec les sources primitives.«75 Abgesehen davon übernahm Degérando die mittlerweile gängige Konzeption der arabischen Kultur, der zufolge dieser die Philosophie wesentlich fremd sei,76 und zwar aus drei Gründen. Erstens sei ihre poetische Sprache für die Philosophie ungeeignet. Zweitens seien die ungehobelten und rohen Araber mangels Vorbereitung nicht in der Lage gewesen, das griechische Erbe aufzunehmen. Und schließlich betonte Degérando den unterwürfigen Charakter der Araber, die in der Philosophie – wie schon im politischen Leben – einem Despoten gefolgt seien. Dieser philosophische Despot sei Aristoteles, den sie überdies mit dem Koran und mystischen Ideen vermischt und verdorben hätten.77 Bei Degérando gelangte ferner die Naturalisierung des philosophischen Diskurses zu einem Höhepunkt. Zwei naturwissenschaftliche Konzepte führte er dabei in das große Narrativ der Phi­lo­so­phie­geschichte ein: die Hybridisierung und die Blutsverwandtschaft. Ihm zufolge verkümmerte und entartete die abendländische Kultur in der ausgehenden Antike und brauchte daher eine Mischung mit neuen Völkern, um wieder jung zu werden. In dieser biogenetischen Konstruktion wurden die Kreuzzüge – der mittelalterliche Kontakt mit den Arabern –78 als eine glückliche kulturelle Hybridisierung gepriesen: »[…] on reconnaîtra peut-être que le mélange des peuples nouveaux avec les restes d’une société dégénérée, quoique signalé à son origine par les plus funestes ravages, eut pour effet lent mais réel de rendre à l’Occident une existence rajeunie […]. Ainsi les semences déposées dans le sein de la terre germent en secret sous les frimats de l’hiver.«79

Und schließlich formulierte Degérando einen teleologischen interkulturellen Ansatz, in dem er die nicht-philosophischen Kulturen, d. h. alle nicht-europäischen Kulturen, mit dem mystischen Denken identifizierte. So wunderte er sich in seiner Phi­lo­so­phie­geschichte über die Blutsverwandtschaft der Ideen (»consanguinité des idées«), die überall außerhalb Europas festzustellen sei:

Histoire comparée des systèmes de philosophie. Bd. 4, S. 149. Ähnlich sind auch die Juden reine Vermittler (»intermédiaires«; ibid.). 76 Ebd., S. 182: »[…] les Arabes n’ont point eu de philosophie indigène.« 77 Ebd., S. 182 – 189, 289. 78 Die Kreuzzüge werden als eine spontane, natürliche Hinwendung des Abendlandes zum Morgenland beschrieben: »un mouvement universel et spontané de tous les peuples de l’Europe, de toutes les classes de la société. C’est l’Occident tout entier qui se précipite vers l’Orient.« Degérando: Histoire comparée des systèmes de philosophie. Bd. 4, S. 379. 79 Ebd., S. 378 f. 75 Degérando:



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»Comment se fait-il que les mêmes doctrines mystiques, fondées sur un idéalisme exalté […] se retrouvent à la fois, à la Chine, dans la philosophie de Lao-Tseu, et celle des sectateurs de Fohi, dans la théologie indienne, chez les Mages, chez les Gnostiques, chez les Juifs, à Alexandrie, à Rome, à Athènes, chez les Arabes, et reparaissent encore chez les Sofis de Perse?«80

In seiner Antwort auf diese Frage wies Degérando die Klimatheorie zurück, die namentlich Montesquieu formuliert hatte. Laut der Klimatheorie bewirken dieselben Ursachen dieselben Effekte; ein Mensch wird als Mensch von den äußeren Umständen bestimmt und gestaltet.81 Eine solche synchrone Erklärung passte nicht in die monogenetische Evolutionstheorie und Rassenkonzeption eines Degérando, der den anthropo-biologischen Monogenismus auf die Phi­lo­so­phie­geschichte übertrug. In seiner diachronen Vorstellung gab es folglich einen primitiven Zustand des Denkens, den er in Indien, bei Zarathustra verortete. Diese primitive, noch nicht philosophische Weisheit sei danach durch unterschiedliche »Kanäle« in die verschiedenen Gebiete der Welt geströmt. Die in Griechenland geborene und im modernen Europa wiedergeborene Philosophie stelle ihrerseits einen höheren Entwicklungsgrad des Denkens dar. Degérandos historisierte und naturalisierte Geschichte der Philosophie beruhte somit auf mehreren parallelen Zeitlichkeiten. In dieser Vorstellung gleicht die primitive Zeitlichkeit der nicht-philosophischen Kulturen einer langen Dauer, die im Morgenland immer noch fortwährt, während die nicht-lineare Zeitlichkeit der philosophischen Kultur diese in einer Sukzession von Geburten und Wiedergeburten nach Europa trägt.82 Bei Degérando ist der Einfluss der anthropologischen Annahme, gemäß derer es Völker ohne Geschichte gibt, kaum zu übersehen.83

80

Ebd., S. 278. Siehe beispielsweise: Montesquieu, Charles Louis Secondat de: L’esprit des lois. In: Œuv­ res complètes. Bd. 2. Hg. v. Roger Caillois. Paris 1951, S. 483: »Ce sont les différents besoins dans les différents climats, qui ont formé les différentes manières de vivre; et ces différentes manières de vivre ont formé les diverses sortes de lois.« 82 Um diese in der Aufklärung entstandene eurozentrische Konzeption der Zeitlichkeit zu beschreiben, hat Reinhardt Koselleck von der oben erwähnten »Verzeitlichung der Geschichte« gesprochen (siehe Fußnote 3 supra). Die aufklärerische Vorstellung der Zeitlichkeit sei mit dem Bewusstsein einer maßgeblichen Beschleunigung verbunden. Interessanterweise steht der aufklärerischen Zeitlichkeit eine andere gegenüber, nämlich die lange Dauer der angeblichen »Völker ohne Geschichte«. 83 Aus der Vielzahl an Studien siehe: Goody: The Theft of History. 81

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4. Schluss

Mit den Ansätzen von Tiedemann, Degérando und Tennemann tritt in der Phi­lo­so­ phie­geschichts­schrei­bung eine Fragestellung in Erscheinung, die strukturelle und thematische Ähnlichkeiten mit einem der Grundprobleme und Entstehungsgründe der Sozialwissenschaften um 1900 aufweist.84 Seit dem Aufkommen der Soziologie galt nämlich als Hauptproblem, das die Komparatistik lösen soll, das der Besonderheit des Abendlandes und seiner Macht. Hierbei ging es um die Möglichkeit eines reflexiven und kritischen Hinterfragens dieser politischen und wissenschaftlichen Vorherrschaft.85 Wie schon Franz Martin Wimmer hervorhob und wie ich anhand meiner case study zu zeigen suchte, war die moderne Komparatistik wahrscheinlich das Haupthindernis für einen egalitären interkulturellen Dialog oder »Polylog«86 auf dem spezifischen Gebiet der Philosophie – unabhängig davon, ob dieser Dialog ein Ideal oder ein erreichbares Ziel ist. Seit dem 18. Jahrhundert beruht implizit oder explizit, bewusst oder unbewusst der philosophiegeschichtliche Vergleich auf einem Konstrukt, das ausschließlich oder vornehmlich mit einer der beiden verglichenen Welten identifiziert wird. Im Fall der hier behandelten Werke basiert er auf der vermeintlich abendländischen Geschichte der Zivilisation, die die kulturelle europäische Identität untermauern soll. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts stellt die kritische Reflexion über die eigenen Praktiken in den Sozialwissenschaften eine bedeutende Entwicklung unserer wissenschaftlichen Tradition dar. Die epistemologische Frage nach der Möglichkeit 84

Diese Bemerkung soll keine teleologische Lektüre implizieren oder voraussetzen. Ich behaupte nicht, dass die Ansätze von Tiedemann, Tenneman und Degérando ein epistemisches Problem der Sozialwissenschaften antizipierten oder vorbereiteten. Ich lese sie für sich selbst und stelle danach strukturelle Parallelen fest, um eine Reflexion über das Problem der sozialen und kulturellen Komparatistik anzuregen. 85 Siehe beispielsweise die Stellungnahme von Étienne Anheim und Benoît Grévin in ihrer Kritik an Marcel Detienne (Comparer l’incomparable. Paris 2000), dessen Ansatz sie mit dem von Jack Goody (L’Orient en Occident. Paris 1999) kontrastieren: »En effet, depuis Marx, Durkheim ou Weber, le comparatisme s’est constitué comme la solution possible pour résoudre l’interrogation fondatrice des sciences sociales: quelle est la spécificité historique et sociale de l’Occident, qui lui a donné les moyens de dominer le monde, mais aussi de construire un savoir scientifique qui permettait une interrogation réflexive sur cette domination?« Anheim, Étienne / Grévin, Benoît: Les sciences sociales et le comparatisme (sur M. Detienne et J. Goody). In: Revue d’histoire moderne et contemporaine 49 (2001), S. 122 – 146, hier S. 128. 86 Zu diesem Begriff: Wimmer: Interkulturelle Philosophie, S. 19. Zum Vermeiden des historischen Vergleiches: Wimmer, Franz Martin: Intercultural Philosophy: Problems and Perspectives. In: CIRPIT 4 (2013), S. 115 – 124, hier S. 118: »[…] the primary intention of intercultural philosophy is not historical comparison. […] history is no longer the primary field, and in fact there currently is a shift in intercultural philosophy from an initially strong historical interest to other areas of discussion.«



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eines Denkens oder eines Wissens, das keinen vergleichenden Ansatz voraussetzen würde, kann hier nicht angeschnitten werden.87 Das Problem des Eurozentrismus in der vergleichenden Phi­lo­so­phie­geschichte wird heute jedoch insbesondere in dezentrierten vergleichenden Arbeiten kritisch hinterfragt.88 So wie ein dezentrierter vergleichender Ansatz die Grenzen und Gefahren des Vergleiches ans Licht bringen kann, ermöglicht es ein geschichtliches Hinterfragen der eigenen Tradition, eine Selbstkritik zu entwickeln. In der Philosophie hat diese Reflexion in erster Linie die Form der Geschichte der Phi­lo­so­phie­geschichte angenommen.89 Durch die Kritik an unseren eigenen philosophischen Kategorien und Grundsätzen versuchen wir deren voreilige Verallgemeinerung zu vermeiden.90 Als akademische, autonome, befreiende und souveräne Disziplin definiert, ist die Philosophie letztendlich selbst ein Konstrukt der europäischen Moderne, wenngleich diese Aussage nicht exklusiv zu verstehen ist. 87

Zu dieser Frage, die Bedeutung der vergleichenden Herangehensweise in den historischen Wissenschaften betonend: Schaub, Jean-Frédéric: Survivre aux asymétries. In: L’expérience ­historiographique, S. 165 – 179. 88 In diesem Sinne hat Joachim Kurtz die Rückwirkungen der abendländischen Phi­ lo­ so­phie­geschichte auf die chinesische Philosophie am Beispiel der »Logik« studiert: Kurtz, Joachim: The Discovery of Chinese Logic, Leiden 2011. Zur Aneignung und Verarbeitung der abendländischen Philosophie in der islamischen Welt: Von Kügelgen, Anke: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Philosophie in der islamischen Welt. Bd. 4: Geschichte der Philosophie in der islamischen Welt des 19. und 20 Jahrhunderts. Basel (im Druck). Zur japanischen Philosophie in globaler Perspektive: Elberfeld, Rolf u. a.: Komparative Philosophie. Begegnungen zwischen östlichen und westlichen Denkwegen. München 1998. 89 Zunächst in Deutschland und Frankreich: Geldsetzer, Lutz: Die Philosophie der Phi­ lo­so­phie­geschichte im 19.  Jahrhundert. Zur Wissenschaftstheorie der Phi­lo­so­phie­geschichts­ schrei­bung und -betrachtung. Meisenheim am Glan 1968; Braun, Lucien: Histoire de l’histoire de la philosophie. Paris 1973; Gueroult, Martial: Histoire de l’histoire de la philosophie. Paris 1938 – 1988. Danach und insbesondere in Italien: Santinello, Giovanni (Hg.): Storia delle storie generali della filosofia. Brescia, Padova 1979 – 2004; Santinello, Giovanni (Hg.): Models of the History of Philosophy. I: From Its Origins in the Renaissance to the ›Historia Philosophica‹. Dordrecht 1993; Piaia, Gregorio / Santinello, Giovanni (Hg.): Models of the History of Philosophy. II: From Cartesian Age to Brucker. Heidelberg 2011. Zu diesem wissenschaftlichen Ansatz: Dal Pra, Mario / Garin, Eugenio / Braun, Lucien / Geldsetzer, Lutz / Santinello, Giovanni: La storiografia filosofica e la sua storia. Padova 1982; Piaia, Gregorio: Il lavoro storico-filosofico. Questioni di metodo ed esiti didattici. Padova 2001. 90 In seinem Plädoyer für eine systematische interkulturelle Diskussion, die auf der Behandlung von allgemeinen interkulturellen topics basiert und das Ausblenden der kolonialen Vergangenheit voraussetzt, betont auch Franz Martin Wimmer die Notwendigkeit eines hinterfragenden Nachdenkens über die Phi­lo­so­phie­geschichte: »[…] philosophers from whatever regional background, tradition or cultural heritage have to forget about colonialism, racism or whatever hegemonic discriminations when they intend to do philosophy together. […] We occidental philosophers still have to realize what colonizing the world in modern age for philosophical thinking meant […] and this is why we must never forget about the history.« Wimmer: Intercultural Philosophy, S. 124.

Die lautlose Invasion Zur Auseinandersetzung griechischer Philosophen mit dem persischen Mythos Udo Reinhold Jeck

1. Einleitung 1.1  Griechische Philosophie und Orient

Die griechische Philosophie entwickelte im Verlauf ihrer Geschichte einen außerordentlichen Gedankenreichtum, ihre führenden Repräsentanten erschlossen sich zahlreiche neue Möglichkeiten des Denkens. Als Ursachen dafür gelten vor allem vorurteilslose Offenheit und bis zuletzt ungebrochene innovative Kraft. Das zeigt auch die philosophische Auseinandersetzung der Griechen mit dem Orient. Der Einfluss orientalischer Denkmotive auf die griechische Philosophie gilt heute als gesichert, die Quellen dokumentieren sogar wechselseitige Transformationsprozesse zwischen Orient und Okzident.1 Was in der frühen griechischen Philosophie begann, verstärkte sich im Hellenismus und in der Spätantike. Immer mehr traten die mannigfaltigsten Denkströmungen in unmittelbaren Kontakt: Griechische und orientalische Systeme standen unter gegenseitigem Einfluss, denn einerseits drangen Elemente des Orients in griechisches Denken ein, anderseits übernahmen Orientalen signifikante Philosopheme der Griechen. Der Rückgriff jüdischer Denker auf Platon bzw. die Platonisierung jüdischer Motive,2 die dann später zum massiven Einfluss des Platonismus auf das Christentum führten,3 aber auch die gnostischen Konstrukte zeigen diese Tatsache in aller Deutlichkeit.4 Orient und Okzident mischten sich in komplizierter, oft schwer zu rekonstruierender und wechselseitiger Reflexion und Spiegelung, so dass ursprünglich differente Konzeptionen zu neuen und originellen Entwürfen verschmolzen. Dass diese Prozesse ohne intensive interkulturelle Kontakte nicht möglich gewesen wären, ist klar. Vgl. Jeck, Udo Reinhold: Platonica orientalia. Aufdeckung einer philosophischen Tradition. Frankfurt a. M. 2004. 2 Vgl. ebd., S. 121 – 138. 3 Vgl. Beierwaltes, Werner: Platonismus im Christentum (Philosophische Abhandlungen 73). Frankfurt a. M. 32014. 4 Vgl. Aland, Barbara: Was ist Gnosis? Studien zum frühen Christentum, zu Marcion und zur kaiserzeitlichen Philosophie (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 239). Tübingen 2009. 1

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Allerdings bedürfen zahlreiche Verzweigungen dieser komplexen Beziehungen zwischen Orient und Okzident noch der näheren Erforschung. In dieser Untersuchung sollen jedoch nur die Kontakte einiger ausgewählter griechischer Philosophen von der archaischen Phase bis zum Neuplatonismus mit persischen oder vom persischen Denken beeinflussten Konzeptionen zur Sprache kommen.5 Sie spiegeln auf ihre Weise das kontinuierliche philosophische Interesse der Griechen am Denken einer ihrer wichtigsten orientalischen Nachbarn und besitzen einen bisher weitgehend unterschätzten Wert für die Geschichte der Philosophie.

1.2  Der Orient und der Anfang der Philosophie

Seit ihren Anfängen bewertet die europäische Geschichtsschreibung der Philosophie die Beziehung der griechischen Denker zum Orient unterschiedlich. Die Historiker der Philosophie haben sie gelegentlich überschätzt, manchmal kaum beachtet und nicht selten sogar ganz vernachlässigt. Vor allem die inhomogenen Konstrukte der Spätantike standen im Fokus heftiger Kritik: Übersensible Forscher schrieben ihren Urhebern intellektuelle Schwäche zu, warfen ihnen mangelnde Originalität vor und erfanden zur Diffamierung Fachtermini mit negativer Konnotation: Man sprach von Eklektizismus oder Synkretismus und übersah dabei die unbestreitbare Bedeutung dieses Denkens.6 5

Weil diese Untersuchung von der Hypothese ausgeht, dass die Perser Ansätze eines philosophischen Denkens eigenständig hervorbrachten und begründeten, lässt sich auch die hier vorgenommene Verwendung des Begriffs ›persisches Denken‹ für die Termini ›persischer Mythos‹, ›persische Mythologie‹ und ›persische Religion‹ rechtfertigen. Vergleichbar dachte schon Hegel, der in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie auf diese Zusammenhänge verwies, die ihn darüber hinaus zu allgemeinen Überlegungen über das Verhältnis von Philosophie und Mythologie inspirierten (vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Hg. v. Karl Ludwig Michelet. Erster Bd. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten: Ph. Marheinecke, J. Schulze, Ed. Gans, Lp. v. Henning, H. Hotho, K. Michelet, F. Förster. 13. Bd. Berlin 1833, S. 99 [ders.: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I. In: G. W. F. Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Theorie Werkausgabe Bd. 18. Frankfurt a. M. 1971, S. 103]: »Als Produkte der Vernunft [aber nicht der denkenden] enthalten die Religionen der Völker, so auch die Mythologien, sie mögen noch so einfach, ja läppisch erscheinen, wie ächte Kunstwerke, allerdings Gedanken, allgemeine Bestimmungen, das Wahre; der Instinkt der Vernünftigkeit liegt ihnen zu Grunde«). 6 Vgl. Reitzenstein, Richard / Schaeder, Hans Heinrich: Studien zum antiken Synkretismus aus Iran und Griechenland (Studien der Bibliothek Warburg VII). Leipzig, Berlin 1926 (Darmstadt 1965); Dietrich, Albert (Hg.): Synkretismus im syrisch-persischen Kulturgebiet. Bericht über ein Symposion in Reinhausen bei Göttingen in der Zeit vom 4. bis 8. Oktober 1971 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-historische Klasse, 3. Folge, Nr. 96). Göttingen 1975.



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Andere dagegen standen derartigen Konstruktionen positiver gegenüber und verwarfen sie nicht, sondern hoben ihre eigentümliche Qualität hervor. Es handelt sich dabei vor allem um Denker, die ein großes Interesse am Orient zeigten und jene spätantiken Entwürfe mit großem Interesse untersuchten. Dass sich damals nicht nur verschiedene griechische Denkrichtungen vermischten, sondern auch orientalische Mythologeme in die Philosophie der Griechen einmischten, erschien aus dieser Perspektive keineswegs als Qualitätsminderung, sondern als gelungene Integration bedeutender Gedanken aus externen Welten in eigene Kontexte; diese gelungene Einbeziehung des Fremden in die griechische Gedankenwelt, die zu neuartigen Konstrukten führte, fand daher eher Beifall als Ablehnung, und jene Schnittstellen, die diese Einwirkungen ermöglichten, rückten in den Vordergrund. Dabei zeigten sich bestimmte Elemente des orientalischen Gedankenpotentials im Vergleich zum okzidentalen Weltverständnis keineswegs als unterlegen und derartige Anregungen auch nicht als irrationale oder störende Impulse, sondern als Kristallisationskeime neuer origineller Entwicklungen. Diese grundlegende Differenz in der Wertung zeigt an, dass das Verhältnis der griechischen Philosophie zum Orient und das Studium der Quellen zu diesen Beziehungen zahlreiche Probleme für die interkulturelle Erforschung der Phi­lo­so­ phie­geschichte aufwerfen, die nicht ohne Grund bis in die Gegenwart zu vielen und heftigen Auseinandersetzungen führten. Dabei stand der Streit um den Anfang der Philosophie oft im Mittelpunkt des Interesses, wobei der oben genannte Gegensatz in voller Schärfe ans Licht trat: Dieser Konflikt existiert, seit die Philosophie ihre eigene Geschichte analysiert. Während manche Historiker den Ursprung der Philosophie im Orient sahen, beschränkten andere ihren Anfang allein auf Griechenland; so kam es einerseits zu einem extremen Orientalismus, andererseits stellte sich, oft als Reaktion darauf, ein einseitiger Purismus ein.7 Auch die gegenwärtigen Historiker der Philosophie dürfen dieser Problematik nicht ausweichen und müssen sich den damit verbundenen Schwierigkeiten stellen. In diesem Zusammenhang besitzt nicht nur das Bedeutung, was die Griechen über den Anfang ihrer eigenen Philosophie dachten, sondern auch die Frage, wo sie andere Anfänge des philosophischen Denkens lokalisierten.

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Heidegger drückte diese radikale Position in einer Freiburger Vorlesung im Hinblick auf Parmenides mit der ihm eigentümlichen Radikalität aus. Vgl. Heidegger, Martin: Was heisst Denken? Tübingen 31971, S. 136: »Der Stil der gesamten abendländisch-europäischen Philosophie – es gibt keine andere, weder eine chinesische noch eine indische – ist von der Zwiefalt ›Seiendes – seiend‹ her bestimmt.«

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1.3  Der persische Anfang

Die Quellen dokumentieren, dass die Griechen nicht nur von Ägyptern oder Phöniziern lernten, sondern ihr Interesse auch auf Persien richteten; sie ignorierten weder die politische Größe des persischen Imperiums noch die geistige Bedeutung der Kultur Persiens, sondern zeigten sich von beiden beeindruckt; das gilt besonders für die persische Religion, die ihren kritischen und wissbegierigen Geist herausforderte. Die persische Mythologie galt einigen griechischen Philosophen sogar als selbständige Philosophie, die sie nicht nur an eigene frühere Phasen ihrer Denkgeschichte erinnerte, sondern durch ihren wachsenden Einfluss auch bedrohte; die Griechen bemerkten schnell die Bedeutung der persischen Mythologie und spürten die Gefahr, die davon ausging. Auch für Persien gilt: Ohne Philosophen keine Philosophie. Die Repräsentanten der persischen Religion, die ›Magier‹ (Μάγοι),8 erschienen einigen Griechen als Philosophen. Diese Deutung findet sich schon in Zeugnissen aus dem Umkreis Platons:9 In den ihm zugeschriebenen Dialogen Axiochos und Alcibiades I gibt es nämlich deutliche Hinweise auf die Magier.10 Aber auch nach Sextus Empiricus befassen sich die Magier mit der Weisheit bzw. der Philosophie.11 Vor allem die Mitteilungen des Diogenes Laertius über eine angeblich uralte orientalische Philosophie und ihren Einfluss auf die Griechen stießen stets auf großes Interesse: Zahlreiche griechische Philosophen, so behauptete er, glaubten an einen originären Ursprung der Philosophie in Griechenland, andere verwiesen dagegen auf außergriechische Anfänge: Dazu zählten sie auch die Magier als Begründer der Philosophie.12 Hatten die Griechen Recht? Existierten damals persische Philosophen? BegrünVgl. Clemen, Carl: Μάγοι. In: Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft XIV 1 (XXVII) (Pauly-Wissowa). Stuttgart 1928, S. 509 – 518.   9 Vgl. Dörrie, Heinrich: Der hellenistische Rahmen des kaiserzeitlichen Platonismus. Bausteine 36 – 72: Text, Übersetzung, Kommentar. Aus dem Nachlass hg. u. bearb. v. Matthias Baltes u. Mitarb. v. Annemarie Dörrie u. Friedhelm Mann. In: Der Platonismus in der Antike. Grundlagen – System – Entwicklung. Begr. v. Heinrich Dörrie. Fortgef. v. Matthias Baltes u. Mitarb. v. Friedhelm Mann. Bd. 2. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, S. 176 f. (›66. Erste Erwähnungen der Magier als Lehrmeister Platons‹). 10 Vgl. Ps.-Plato: Alcib. I,122a1 – 2 . In: Platonis Opera. Recogn. brev. adnot. crit. instr. Ioannes Burnet. Tom. II. Tetralogias III–IV cont. Oxonii 1901 (171986), S. 328 f.: »ὧν ὁ μὲν μαγείαν τε διδάσκει τὴν Ζωροάστρου τοῦ Ὡρομάζου –ἔστι δὲ τοῦτο θεῶν θεραπεία – […]«; Ps.-Plato, Ax. 371a1 – 2. In: Platonis Opera. Recogn. brev. adnot. crit. instr. Ioannes Burnet. Tom. V. Tetralogiam IX. Definitiones et spuria cont. Oxonii 1907 (151987), S. 595: »Εἰ δὲ καὶ ἕτερον βούλει λόγον, ὃν ἐμοὶ ἤγγειλε Γωβρύης. ἀμὴρ μάγος […].« 11 Vgl. Sextus Empiricus: Pyrrh. hyp. III 205. In: Sextus Empiricus: Outlines of Pyrrhonism, with an english translation by R. G. Bury. Cambridge (Mass.), London (England) 1933 (repr. 1990), S. 464: »Πέρσαι δέ, καὶ μάλιστα αὐτῶν οἱ σοφίαν ἀσκεῖν δοκοῦντες, οἱ Μάγοι […].« 12 Vgl. Diogenes Laertius: Vitae I,1. In: ders.: Lives of Eminent Philosophers. With an english translation by R. D. Hicks. Vol. I. Cambridge (Mass.), London (England) 1925 (repr. 1991), S. 2:   8



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deten auch Perser insofern eigenständig ein philosophisches Denken? Gab es daher schon in der Antike eine persische Philosophie? Diese in der Vergangenheit lange umstrittenen Fragen bedürfen noch immer der Klärung. Unbestritten ist heute, dass in Griechenland, Indien und China beeindruckende philosophische Anfänge gelangen, die auf je eigene Weise umfangreiche Traditionen begründeten. Diese wirken bis jetzt mit großer Kraft und befinden sich im Zeitalter der Kommunikation in wechselseitiger Berührung. Allerdings vergaß man darüber jene Anfänge, die diesen hohen Grad der Produktivität und Vollendung nicht erreichten, das heißt jene, die gleichsam in ihrem Beginn stecken blieben, stagnierten oder sich nicht weiter entwickeln konnten bzw. nur wirkten, indem sie die anderen Traditionslinien beeinflussten und befruchteten. Es scheint, dass auch diese ›gedrosselten‹ Anfänge das Interesse der Philosophiehistoriker beanspruchen dürfen. Aber trifft das auf Persien zu? Stehen die Perser mit Griechen, Indern und Chinesen als Stifter philosophischer Anfänge wirklich auf einer Stufe? Die Quellen sprechen dafür, denn nicht nur die Einschätzung der Griechen, sondern auch zahlreiche andere Indizien deuten darauf hin, dass in Persien, das zwischen Europa und dem fernen Osten eine günstige geographische Lage besitzt und vielfach eine vermittelnde Funktion zwischen den Kulturen ausübte,13 ein weiterer originaler Anfang der Philosophie gelang; oder mit anderen Worten: Jene Gesellschaft, die in der Antike das Erbe des Alten Orients nicht nur politisch, sondern auch kulturell verwaltete und auf diesem Weg einen hohen Bildungsstandard erreichte, fand ebenfalls den Weg zum philosophischen Denken. Dieser Anfang entstand isoliert, er gelangte aber nicht über eine frühe Stufe hinaus, obwohl es in Persien durchaus Tendenzen zur Weiterentwicklung gab. Was die frühen griechischen und auch die indischen Denker so eindrucksvoll leisteten, nämlich die allmähliche Überwindung mythologisch geprägter Theogonien und Kosmogonien sowie ihr Ersatz durch rationale Konstrukte, das misslang in Persien.14 Dennoch erreichte der persische Anfang eine außerordentliche Resonanz; seine Impulse wirkten noch weit über die Antike hinaus. Warum gelang diese massive Wirkung einer anscheinend so unentwickelten Konzeption? Warum ließen sich die Griechen, die auf einem ganz anderen und höheren Niveau philosophierten, davon so sehr beeindrucken? Dafür gibt es einsichtige Gründe. »Τὸ τῆς φιλοσοφίας ἔργον ἔνιοί φασιν ἀπὸ βαρβάρων ἄρξαι. γεγενῆσθαι γὰρ παρὰ μὲν Πέρσαις Μάγους […].« 13 Vgl. Wiesehöfer, Josef: Das antike Persien. Von 550 v. Chr. bis 650 n. Chr. Düsseldorf, Zürich 1998. 14 Vgl. Burkert, Walter: Iranisches bei Anaximandros. In: Rheinisches Museum für Philologie 106 (1963), S. 97 – 134; Ders.: Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philos.-hist. Kl., Jg. 1984,1). Heidelberg 1984.

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1.4  Die persische Provokation

Die Griechen beobachteten die Entwicklung und Wandlungen der persischen Religion seit den Anfängen ihres eigenen Denkens bis hin zur Spätantike.15 Dabei reagierten sie auf wichtige Elemente dieser Mythologie und beachteten besonders den persischen Feuerkult16 und Dualismus17 sowie die Lehre der Perser von der unendlichen Zeit (Zeruane Akherene),18 das heißt jene Mythologeme, die (aus ihrer Sicht) als Protostrukturen philosophischer Begrifflichkeit ein viel versprechendes Bedeutungspotential enthielten. Die Griechen diskutierten insofern die Momente einer Konfiguration, deren systematischer und innerer Zusammenhang sich leicht erkennen lässt. Vereinfacht gesagt: Das Feuer gehört zum Licht, der Antagonismus von Licht und Finsternis verlangt nach einer höheren Einheit. Dafür steht die unendliche Zeit. Dass die Griechen in diesem Zusammenhang auch Zarathustra (›Zoroaster‹) als Stifter der Religion Persiens große Beachtung schenkten, ist bekannt und bedarf hier keiner näheren Analyse.19 Zoroaster, der persische Feuerkult und der Mythos von der unendlichen Zeit beunruhigten die Griechen jedoch nicht. Lediglich den Dualismus der Perser empfanden sie als Provokation; er bedrohte grundlegende Theoreme ihrer Philosophie und stellte sie indirekt infrage. I. Der Dualismus galt den Griechen nicht zu Unrecht als Basis der persischen Mythologie, denn die Aufspaltung des Universums in zwei prinzipielle Reiche bzw. die Rückführung der innerweltlichen Entitäten auf zwei Prinzipien, auf einen guten und einen bösen Gott, auf Licht und Finsternis, durchwirkt als Kerngedanke selbst die feinsten Verästelungen der persischen Mythologie.20 Wer sie in ihrem tiefsten Wesen begreifen will, muss hier ansetzen.

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In dieser Untersuchung geht es nicht darum, inwieweit die Griechen zu einem korrekten Verständnis der persischen Mythologie gelangten oder davon abwichen. Diese Frage lässt sich nur durch einen Vergleich ihrer Thesen mit den überlieferten persischen Originaltexten beantworten (vgl. zu diesem Problem de Jong, Albert: Traditions of the Magi. Zoroastrianism in Greek and Latin Literatur [Religions in the Graeco-Roman World 133]. Leiden, New York, Köln 1997). Auch eine detaillierte Darstellung des persischen Feuerkults, des Dualismus der Perser sowie ihrer Lehre von der grenzenlosen Zeit aus den originalen Quellen muss hier entfallen. Darüber liegt auch schon seit dem 19. Jahrhundert zahlreiche Sekundärliteratur vor. 16 Vgl. 2. 17 Vgl. 3. 18 Vgl. 4. 19 Vgl. Stausberg, Michael: Faszination Zarathushtra. Zoroaster und die Europäische Reli­ gionsgeschichte der Frühen Neuzeit (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 42). Berlin, New York 1998. 20 Der Dualismus erscheint deshalb auch heute noch als jener ›roter Faden‹, der durch die verwirrenden Einzelheiten späterer Modifikationen des persischen Mythos führt.



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II. Auf den ersten Blick erscheint dieser Dualismus einfach, leicht zu durchschauen und auch sehr einleuchtend. Doch das ist eine Täuschung; einige äußerst kritische griechische Philosophen erkannten schnell,21 dass dieses Konzept bei näherer Prüfung in zahlreiche und unüberwindliche Schwierigkeiten führt. Sie zeigten die Aporien dieser Lehre auf und unterwarfen sie einer fundamentalen Kritik. Die Griechen begriffen auch deshalb die große Gefahr, die vom Dualismus ausgeht, weil sie seit ihren philosophischen Anfängen stets auf Einheit setzten und diese grundsätzliche Einsicht nie aufgaben.22 Daraus erwuchs ihrer Philosophie ein Vorteil, denn sie setzte nicht auf Differenz, sondern bevorzugte die Synthese und deutete die Welt als eine Einheit, die sich nicht in differente Bereiche aufspaltet. Der persische Dualismus blieb daher nicht nur für die griechische Philosophie bis zu ihrem Ende, sondern auch weit darüber hinaus eine ständige Herausforderung und deshalb ein permanenter Gegenstand der Kritik. Doch auch die Perser erkannten die Grenzen des Dualismus, reagierten darauf und versuchten einen anderen Weg, indem sie über die beiden Prinzipien des Guten und Bösen, des Lichtes und der Finsternis, eine unendliche Zeit setzten. Aber dieser Versuch, der hier später noch zur Sprache kommt,23 blieb wenig durchdacht und unklar. Der Dualismus überdauerte und besaß daher weiterhin für viele eine hohe Anziehungskraft, denn er erklärte die Existenz des Bösen scheinbar einsichtiger als das abendländische Denken, stellte die Macht und den Einfluss des Bösen schärfer heraus und verharmloste die Kraft des Negativen im Universum nicht.

1.5  Griechische Literatur zur persischen Mythologie

Der Zustrom persischer Elemente in die Horizonte der griechischen Philosophen vollzog sich zunächst wenig bemerkt nach Art einer ›lautlosen Invasion‹, denn dieser Integrationsprozess kam zu Anfang nur allmählich und unspektakulär voran. 21

Nicht nur die Griechen fragten danach, ob sich zwei vollkommen antagonistische Prinzipien als Weltgrund überhaupt denken lassen (vgl. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Philosophie der Mythologie 1842. In: Schellings Werke. Nach d. Originalausg. in neuer Anord. hg. v. Manfred Schröter. 5. Ergänzungsbd. München 1943 [41984], S. 85 [XII 219]: »Nun ist es zwar etwa denkbar, wie eine solche die Vernunft völlig zerreißende und gleichsam zur Verzweiflung bringende Meinung von zwei absolut streitenden und sich entgegengesetzten Principien im Kopf eines Einzelnen entstehen, – schon schwerer ließe sich denken, wie sie in seinem Kopfe sich behaupten und in die Länge bestehen könne, aber ganz unglaublich ist, wie ein solcher zerreißender Dualismus sogar unter einem Volk wie die Perser sich behaupten konnte«). 22 Selbst die aus der griechischen Philosophie erwachsene Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit deutete durch ihre onto-theologische Verfassung das Ganze des Seienden aus einer göttlichen Erstursache als eines einheitlichen Grundes und nicht aus zwei antagonistischen Prinzipien. 23 Vgl. 4.

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Später gewann er an Schwung und erreichte gegen Ende der Antike einen dramatischen Höhepunkt. Da aus allen Phasen der griechischen Philosophie Zeugnisse der Auseinandersetzung mit der persischen Mythologie erhalten blieben,24 lässt sich diese sukzessive Infiltration in ihren Grundzügen rekonstruieren. Allerdings ist das Bild, das dem Historiker aus den erhaltenen Quellen entgegentritt, durch Überlieferungsverluste und fiktionale Elemente in den Quellen entstellt. Zahlreiche biographische Berichte über die Beziehungen griechischer Philosophen zu Persien gehören in den Bereich der Phantasie und enthalten nur selten wertvolle Informationen. Weil vor allem in der Spätantike orientalische Kontakte nicht nur mit Ägypten,25 sondern auch nach Persien das Ansehen eines Philosophen in den Augen seiner Anhänger erheblich steigerten, verbreiteten sich in der Spätantike Fälschungen; viele legten sorgfältig und mit Bedacht falsche Spuren, noch mehr folgten leichtgläubig diesen Fährten. Andererseits gibt es auch verlässliche Informationen zur geschichtlichen Entwicklung der komplexen Beziehung zwischen dem griechischen und persischen Denken. Schon die hellenistischen Griechen besaßen eine umfangreiche und hoch qualifizierte philosophische Literatur über die Mythologie der Perser. Leider exis­ tieren davon nur noch fragmentarische Berichte und indirekte Zeugnisse.26 Durch den Verlust dieser wertvollen Materialien bleibt daher bei der Rekonstruktion von Entwicklungslinien nichts als eine sorgfältige Spurensuche übrig. Zudem muss sich die Untersuchung auf jene Momente beschränken, die ein besonderes Interesse verdienen und kann deshalb die gesamte Bewegung nur punktuell und skizzenhaft in den Blick nehmen. Sie beginnt daher mit dem Anfang, das heißt, zunächst kommt der Einfluss der Perser auf die frühe griechische Philosophie zur Sprache. Dabei steht Heraklit im Mittelpunkt. 2. Feuer 2.1 Heraklit

Die frühen Griechen standen in einer schwierigen und ambivalenten Beziehung zu Persien: Die Perserkriege, die auf die gewaltige Präsenz des persischen Imperiums im östlichen Mittelmeerraum und seinen Expansionsdrang zurückgehen, sprechen Vgl. Jeck: Platonica orientalia, S. 79 – 94. Vgl. ebd., S. 59 – 77. 26 Vgl. Clemen, Carl: Die griechischen und lateinischen Nachrichten über die persische Religion (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 17,1). Gießen 1920. Schon Friedrich Windischmann hat Zeugnisse dazu gesammelt (vgl. ders.: Zoroastrische Studien. Abhandlungen zur Mythologie und Sagengeschichte des alten Iran. Nach dem Tode des Verfassers hg. v. Fr. Spiegel. Berlin 1863, S. 260 – 313 [›11. Stellen der Alten über Zoroastrisches‹]). 24 25



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dabei eine deutliche Sprache. Persien setzte Griechenland unter gewaltigen politischen und militärischen Druck; die Griechen leisteten erfolgreich Widerstand.27 Aber sie reagierten nicht nur abwehrend auf den persischen Imperialismus, sondern sie besaßen, wie die Berichte Herodots zeigen, auch Wissen über die frühe Natur­ religion der Perser: Nach dessen Angaben verzichteten diese Orientalen auf Tempel, Altäre und heilige Bilder, da sie Anthropomorphismen beim Götterkult ablehnten. Dagegen opferten sie ihren Gottheiten auf hohen Bergen und verehrten den gesamten Himmelskreis als obersten Gott, die Himmelskörper sowie die Elemente Erde, Feuer, Wasser und Luft.28 Das Feuer stand nicht nur bei den Persern in hohem Ansehen. Auch Heraklit, der damals in Ephesus an der kleinasiatischen Küste philosophierte,29 stellte, wie die Reste seiner verlorenen Schrift bezeugen, neben der Lehre von den Gegensätzen vor allem das Feuer in den Mittelpunkt seines Denkens.30 Das bedarf hier keines besonderen Nachweises; schon Aristoteles wies im ersten Buch der Metaphysik ausdrücklich darauf hin, dass Heraklit das Feuer als das erste Prinzip dachte.31 Es lag und liegt also nahe, die Feuerspekulation Heraklits mit dem persischen Feuerkult in Verbindung zu bringen, obwohl der Grieche – wie kaum ein anderer Denker des Altertums – mit Nachdruck seine Eigenständigkeit betonte. Vgl. Günther, Linda-Marie: Griechische Antike. Tübingen, Basel 2008, S. 109 – 127 (›Der Beginn der Klassischen Zeit: Griechen und Perser [ca. 500 – 430 v. Chr.]‹). 28 Vgl. Herodot: Hist. I 131,1 – 2 . In: Herodoti Historiae. Recogn. brev. adnot. crit. instr. Caro­ lus Hude. Editio tertia. Tom. I. Oxonii (o. J.): »Πέρσας δὲ οἶδα νόμοισι τοιοισίδε χρεωμένους, ἀγάλματα μὲν καὶ νηοὺς καὶ βωμοὺς οὐκ ἐν νόμῳ ποιευμένους ἱδρύεσθαι, ἀλλὰ καὶ τοῖσι ποιεῦσι μωρίην ἐπιφέρουσι, ὡς μὲν ἐμοὶ δοκέειν, ὅτι οὐκ ἀνθρωποφυέας ἐνόμισαν τοὺς θεοὺς κατά περ οἱ Ἕλληνες εἶναι· οἱ δὲ νομίζουσι Διὶ μὲν ἐπὶ τὰ ὑψηλότατα τῶν ὀρέων ἀναβαίνοντες θυσίας ἔρδειν, τὸν κύκλον πάντα τοῦ οὐρανοῦ Δία καλέοντες· θύουσι δὲ ἡλίῳ τε καὶ σελήνῃ καὶ γῇ καὶ πυρὶ καὶ ὕδατι καὶ ἀνέμοισι.« Albert de Jong hat eine ausführliche Analyse dieser Aussagen Herodots vorgelegt und dabei besonders ihre religionsgeschichtlichen und altiranischen Hintergründe in den Vordergrund gestellt. Zugleich hob er die Qualität und historische Treue der Ausführungen Herodots hervor. Vgl. de Jong: Traditions of the Magi, S. 76 – 120. 29 Vgl. Diels, Hermann / Kranz, Walther: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch u. Deutsch v. Hermann Diels. Hg. v. Walther Kranz. Erster Bd. Zürich, Hildesheim 181989 (Unver. Nachdr. der 6. Aufl. 1951); Kirk, Geoffrey S. / Raven, John E. / Schofield, Malcolm: Die vorso­ kratischen Philosophen. Einführung, Texte und Kommentare. Ins Deutsche übers. v. Karlheinz Hülser. Stuttgart, Weimar 1994, S. 198 – 233. 30 Vgl. Heraklit: fr. 30 (Diels/Kranz 22 [12.] B), S. 157,10 – 158,3: »κόσμον τόνδε, τὸν αὐτὸν ἁπάντων, οὔτε τις θεῶν οὔτε ἀνθρώπων ἐποίησεν, ἀλλ᾽ ἦν ἀεὶ καὶ ἔστιν καὶ ἔσται πῦρ ἀείζωον ἁπτόμενον μέτρα καὶ ἀποσβεννύμενον μέτρα.« Zum Feuer Heraklits vgl. die Fragmente 14, 31, 63, 64, 66, 67, 76, 90, aber auch jene Sentenzen Heraklits, die sich auf Licht, Sonne, Gold usw. beziehen. 31 Vgl. Aristoteles: Met. I 3, 984a5 – 8 . In: Aristotelis Metaphysica. Recogn. brev. adnot. crit. instr. W. Jaeger. Oxonii 1957 (81985), S. 9: »Ἀναξιμένης δὲ ἀέρα καὶ Διογένης πρότερον ὕδατος καὶ μάλιστ᾽ ἀρχὴν τιθέασι τῶν ἁπλῶν σωμάτων, Ἵππασος δὲ πῦρ ὁ Μεταποντῖνος καὶ Ἡράκλειτος ὁ Ἐφέσιος.« 27

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Um Hinweise auf Heraklits Orientalismen zu erhalten und Argumente für die Hypothese eines persischen Einflusses auf diesen Denker zu sammeln, erweist sich ein Rückblick auf die lange, bisher in ihrer Gesamtheit kaum erforschte Geschichte der Heraklitinterpretation als sinnvoll.32 I. Schon in der Antike stand eine mögliche Verbindung zwischen Heraklit und Persien zur Diskussion. Wie seine berühmte Phi­lo­so­phie­geschichte zeigt, beteiligte sich Diogenes Laertios an diesen Spekulationen und teilte Texte aus dem angeblichen Briefwechsel zwischen Heraklit und Dareios mit.33 Dass man derartige Fälschungen und so offensichtlich fiktive, inhaltlich völlig wertlose Dokumente in Umlauf brachte, ja sogar an ihre Authentizität glaubte, spricht für sich.34 II. Eine höhere Qualität besitzen dagegen Äußerungen des Klemens von Alexandria,35 die auch deshalb Beachtung verdienen, weil dieser christliche Schriftsteller sowohl Heraklit als auch die orientalischen Mythologien sehr gut kannte. Klemens stellte Heraklit in den größeren Zusammenhang eines universellen Feuer­ kults, dem nach seiner Ansicht nicht nur einige griechische Philosophen huldigten, sondern der auch bei zahlreichen Asiaten Verbreitung fand: Parmenides führte Feuer und Erde als Götter ein, während Hippasos von Metapont und Heraklit von Ephesus das Feuer als einzigen Gott verehrten.36 Heraklit und seine Nachfolger betrachteten das Feuer sogar als Ursprung und Prinzip der Dinge. Nicht anders verhielten sich die Perser, Meder und Magier.37 32

Dabei hilft die Vielfalt jener Analysen weiter, die Orientalisten, Sprachforscher und Philosophiehistoriker seit der Frühen Neuzeit über die Quellen griechischer und lateinischer Provenienz zur persischen Mythologie vorlegten und dabei gelegentlich auch auf Heraklit eingingen. 33 Vgl. Diogenes Laertius: Vitae IX,13 – 14. In: ders.: Lives of Eminent Philosophers. With an english translation by R. D. Hicks. Vol. II. Cambridge (Mass.), London (England) 1925 (rev. 1931, repr. 1991), S. 418 – 421. 34 Vgl. Bernays, Jacob: Die heraklitischen Briefe. Ein Beitrag zur philosophischen und reli­ gions­geschichtlichen Litteratur. Berlin 1869. 35 Vgl. Clemens Alexandrinus: ΛΟΓΟΣ ΠΡΟΤΡΕΠΤΙΚΟΣ ΠΡΟΣ ΕΛΛΗΝΑΣ. Admonitio ad graecos, sev ad gentes. In: Clementis Alexandrini Opera Græce et latine qvæ extant. Post accvratam d. v. Danielis Heinsii recensionem & breues additas in fine emendationes, facta est non pœnitenda imo necessario prælectio ab eo qui operis Editioni præfuit: adiecit doctissi­mas annotationes ex variorum Auctorum scriptis decerptas. Accedunt diuersæ lectiones et emendationes, partim ex veterum scriptis, partim ex huius ætatis doctorum iudicio à Friderico Sylbvrgio collectæ: Cum tribus locupletibus, auctorum, rerum, verborum, & phraseωn indicibus. Lvtetiæ Parisiorvm M. DC. XXXXI (1641), 1–76. 36 Vgl. ebd., S. 42bC: »Παρμενίδης δὲ ὁ Ἐλεάτης θεοὺς εἰσηγήσατο πῦρ καὶ γῆν, θάτερον δὲ αὐτοῖν μόνον, τὸ πῦρ, θεὸν ὑπειλή φατον Ἵππασός τε ὁ Μεταποντῖνος καὶ ὁ Ἐφέσιος Ἡράκλειτος.« Ebd., S. 42aC: »Parmenides autem Eliates introduxit Deos Ignem & Terram. Ex his autem alterum solum Deum existimarunt Ignem, Hippasus Metapontinus, & Ephesius Heraclitus«. Clemens Alexandrinus bezog sich hier auf Aristoteles, modifizierte jedoch dessen Aussage leicht. Vgl. Anm. 31. 37 Vgl. ebd., S. 43aA: »τοῦτό τοι καὶ οἱ ἀμφὶ τὸν Ἡράκλειτον τὸ πῦρ ὡς ἀρχέγονον



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III. In der Frühen Neuzeit setzte sich der berühmte Orientalist Thomas Hyde intensiv mit dem Feuerkult der Perser auseinander,38 wobei er auch die Ausführungen des Klemens von Alexandria über Heraklit und die Perser zitierte.39 IV. Doch erst der Zugang zu den originalen heiligen Schriften der Perser40 – in Deutschland vor allem durch Johann Friedrich Kleuker vermittelt41 – ermöglichte eine neue Qualität der Diskussion. Darauf reagierte der Mythologe Friedrich Creuzer und las nicht nur die antiken griechisch-lateinischen Persica, sondern verglich sie auch mit Angaben aus der neuen Übersetzung des Zend-Avesta. Zudem besaß er detaillierte Kenntnisse der vorsokratischen Philosophie, so dass ihm Analoσέβοντες πεπόνθασιν· τὸ γὰρ πῦρ τοῦτο ἕτεροι Ἥφαιστον ὠνόμασαν. Περσῶν δὲ οἱ μάγοι τὸ πῦρ τετιμήκασι καὶ τῶν τὴν Ἀσίαν κατοικούντων πολλοὶ, πρὸς δὲ καὶ Μακεδόνες, ὥς φησι Διογένης ἐν πρώτῳ Περσικῶν. Τί μοι Σαυρομάτας καταλέγειν, οὓς Νυμφόδωρος ἐν νομίμοις βαρβαρικοῖς τὸ πῦρ σέβειν ἱστορεῖ, ἢ τοὺς Πέρσας καὶ τοὺς μήδους καὶ τοὺς μάγους;« Ebd., S. 43bA: »Hoc etiam vsu venit Heraclito & eius sectatoribus, qui ignem tanquam ortus rerum principium colunt. Hunc enim ignem alij nominarunt ἥφαιστον, id est, Vulcanum. Persarum autem Magi ignem coluernt, & multi ex iis qui Asiam incolunt. Quinetiam Macedones, vt ait Diogenes in primo Persicorum. Ne Sauromatas recenseam quos refert Nymphodorus, in libro de Legibus Barbaricis, ignem colere, aut Persas & Medos & Magos?«. 38 Vgl. Hyde, Thomas: Veterum Persarum et Parthorum et Medorum Religionis Historia. 2 1760, S. 135 – 138 (›Cap. VI: De Persarum custodiâ Aquæ, simul et Ignis‹); S. 139 – 148 (›Cap. VII. De Vestâ Romanorum et Græcorum‹); S. 148 – 159 (›Cap. VIII. De Vestâ Persarum, seu de Ignis custodiâ apud Sacerdotes Magos. De antiquis Pyreis ante Zoroastrem. Et Manugjabri Regis Oratio pia, &c.‹); S. 348 – 352 (›Cap. XXVII. De Naturâ Ignis, et de generali Ratione Custodiæ ejusdem, etc. Quo Signo Persæ ad Sacra convocantur, et quomodo se gerunt in Ecclesiis. De Virgarum Usu in Sacris, et de eorum Mussitatione quotidianâ, atque Silentio‹); S. 358 – 367 (›Cap. XXIX. De Igne, ejusque Nominibus. De Pyréis, seu Templis Ignis, et quomodo se ibi gerunt Magi. De Improperiis, seu Nominibus vituperii quibus Mohammedani istum populum appellant et, per Invidiam, notant: et de Nominibus quibus iste Populus inter se suos compellare solent‹). 39 Vgl. ebd., S. 146 f.: »Has opiniones foverunt Philosophi, de quibus Clem. Alex. p. 42, 43, Parmenides Eleates introduxit deos Ignem et Terram. Ex his, alterum solum Deum existimârunt, Ignem, Hippasus Metapontinus et Ephesius Heraclitus. – Heraclitus et ejus Sectatores Ignem, tanquam ortûs rerum Principium, colebant, qui Ignis illis dictus est Ηφαιστος Vulcanus. Persarum etiam Magi Ignem coluerunt, et multi ex iis qui Asiam incolunt: quin etiam Macedones, ut ait Diogenes in primo Persicorum. Ne Sauromatas recenseam, quos refert Nymphiodorus in Libro de Legibus Barbaricis, Ignem colere, aut Persas et Medos et Magos?« 40 Vgl. Anquetil-Duperron, Abraham Hyacinthe: Zend-Avesta. Ouvrage de Zoroastre. Paris 1771. 41 Vgl. Kleuker, Johann Friedrich: Zend-Avesta. Zoroasters Lebendiges Wort, worin die Lehren und Meinungen dieses Gesetzgebers von Gott, Welt, Natur, Menschen; ingleichen die Ceremonien des heiligen Dienstes der Parsen u. s. f. aufbehalten sind. Erster Theil, welcher mit dem, was vorausgeht, die beiden Bücher Izeschne und Vispered enthält. Riga 1776. S. 44: »Die Parsen glauben ein Ur fe u e r und ein m at e r i e l le s Feuer; dieses ist ein Bild von jenem: jenes ist von Ewigkeit und dieses durch jenes geworden. Das Urfeuer ist das Band der Einigung zwischen Ormuzd und dem in Unendlichkeit verschlungenen Wesen (der Zeit ohne Gränzen): es ist der Saame, woraus Ormuzd alle Wesen gezeugt hat […]«

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gien zwischen griechischer Philosophie und persischer Mythologie auffielen. Über Heraklits Orientalismen äußerte er sich in seinem Hauptwerk Symbolik und Mythologie der alten Völker.42 Dort bezeichnete er den Ephesier als »Diener des reinen Feuers«, denn die erhaltenen Fragmente seiner Schrift zeigen aus Creuzers Perspektive in ihrer Gesamtheit deutlich eine »Feuer und Lichttheorie«.43 Nach Creuzer entnahm Heraklit einerseits Informationen aus der griechischen Religion mit ihren orientalischen Beziehungen, andererseits stand er selbst durch die optimalen Kommunikationsmöglichkeiten von Ephesus im Kontakt mit dem Orient. Die Informationen aus beiden Quellen erschloss er sich zunächst mit der Schärfe seines griechischen Geistes, durchdachte sie eigenständig und verarbeitete sie dann zu einer systematischen Philosophie. Creuzer bezweifelte insofern die Selbstinterpretation des Ephesiers, indem er dessen Hinweise zur Unabhängigkeit des eigenen Denkens ignorierte und ihn keineswegs als gänzlich autonomen Denker deutete: Heraklit erreichte ebenso wenig wie Pythagoras oder Platon völlige Originalität.44 Diese Interpretation verteidigte Creuzer beharrlich;45 dass die bedeutendsten Kenner der antiken Philosophie seiner Zeit eine entgegengesetzte Auffassung vertraten, störte ihn nicht.46 V. Creuzers Analysen blieben nicht ohne Wirkung und beeinflussten noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts die Heraklitinterpretation; Hegel kannte sie sogar Vgl. Creuzer, Friedrich: Symbolik und Mythologie der alten Völker besonders der Griechen. 2. Theil. Leipzig, Darmstadt 21820 (Darmstadt 31841 [ND: Hildesheim, New York 1973]). 43 Vgl. ebd., S. 193 (S. 594 f.): »[…] und in diesem Sinne war auch Heraclitus der Ephesier ein Diener des reinen Feuers. Er legte als ein frommes Opfer seine Bücher über die Natur im Tempel der grossen Göttin seiner Vaterstadt nieder (Diogen. Laërt. IX. 6.). In den Bruchstücken seines Buchs schimmert allenthalben eine Feuer- und Lichttheorie hindurch.« 44 Vgl. ebd., S. 193 (S. 595): »Was ihm der Orient und Aegypten in der Religion seines Vaterlandes dargeboten, was er aus eigenem, dort so erleichtertem Verkehr mit dem Morgenlande geschöpft hatte, durchdrang er mit Griechischem, scharfem Geiste, begründete es durch eigenes tiefes Denken, brachte es in systematischen Zusammenhang, und machte es fruchtbar für sein Volk, besonders für seine Mitbürger in ihrem Jonisch – freien Gemeinwesen. Aus s ic h hat er also Vieles genommen. Aber dass er A l le s aus sich genommen, dass er im strengsten Sinne Erfinder seiner Lehre sey, ist nicht zu glauben. Noch nie hat ein menschlicher Geist aus sich allein geschöpft, und Heraclitus so wenig als Orpheus, Pythagoras, Plato können Erfinder in d i e s e m Sinne heissen. Heraclitus geht sichtbar von Priesterlehre und von Symbolen dieser Lichtreligionen aus.« 45 Vgl. ebd., S. 196 (S. 598): »Auch die ganze Feuerlehre des Ephesischen Philosophen ist ja in Princip und Folgerungen Magismus, so wie sein Satz von der Geburt der Götter aus Feuer (Augustin. de Civit. Dei VI. 5.), was durch Vergleichung im Einzelnen sich über allen Widerspruch erheben lässt.« 46 Vgl. ebd., S. 596 Anm. 1: »Dass übrigens nicht nur Schleiermacher, sondern auch Heinr. Ritter in der Gesch. der Philosophie I. S. 267 ff. und Chr. A. Brandis im Handb. der Gesch. der Griech. und Röm. Philosophie I. S. 184. das Einwirken orientalischer Lehrsätze auf Heraklits System ableugnen wollen, – kann mich nicht im Geringsten irre machen.« (Dieser Zusatz findet sich nur in der dritten Aufl. der Symbolik und Mythologie). 42



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gut.47 Er fand nicht nur im Denken des Ephesiers Orientalismen,48 sondern auch in dessen Sprachgebrauch die Bildlichkeit des Orients.49 Aber er ging nicht näher darauf ein, sondern deutete Heraklits Feuer als den Prozess der »physikalische[n] Zeit«.50 Auch Schelling ließ sich durch Heraklits Lehre vom Feuer inspirieren: In einem seiner zahlreichen Weltalter-Entwürfe postulierte er eine enge Verwandtschaft des persischen Feuerkults mit der Philosophie Heraklits und dem verzehrenden Urprinzip seines eigenen späten Systems.51 Mit den Heraklitinterpretationen der idealistischen Philosophen und ihrer Nachfolger erreichte die orientalisierende Deutung Heraklits im 19. Jahrhundert einen Höhepunkt.52 Zeller schritt dagegen ein und bereitete dieser Tendenz ein Ende: Er untersuchte das Problem und bestritt heftig, dass Heraklit einst persische Vgl. Hegel: Geschichte der Philosophie I, S. 331 (S. 322): »Kreuzer hatte Hoffnung gemacht, ihn zu bearbeiten mit größerer Kritik und Sprachkenntniß. Er hat eine vollständigere Sammlung (besonders aus Grammatikern) gemacht. Da er aber bei Mangel an Zeit sie einem jungen Gelehrten zur Bearbeitung überlassen hatte, dieser aber starb, so kam sie nicht in das Publikum.« 48 Vgl. ebd., S. 330 (S. 321): »[…] wenn auch Heraklit orientalischen Ton hat […]«. 49 Vgl. ebd., S. 342 (S. 332): »Diese orientalischen, bildlichen Ausdrücke sind nicht in roh sinnlicher Bedeutung zu nehmen [ …]«. 50 Vgl. ebd., S. 338 – 3 40 (S. 329 f.): »a. Abstrakter Proceß, Z e i t . Heraklit hat also gesagt: ›Die Zeit sey das erste körperliche Wesen‹, wie Sextus dieß ausdrückt […]. b. Reale Form als Proceß, Fe u e r […] Das Feuer ist die physikalische Zeit; es ist diese absolute Unruhe, absolutes Auflösen von Bestehen […]«. 51 Vgl. Schelling: Die Weltalter. Bruchstück (Aus dem handschriftlichen Nachlaß). In: Schellings Werke. Nach d. Originalausg. in neuer Anord. hg. v. Manfred Schröter. 4. Hauptbd.: Schriften zur Philosophie der Freiheit 1804 – 1815. München 1927 (31978), S. 606 (VIII 230): »Ewig erzeugt sich der Gegensatz, um immer wieder von der Einheit verzehrt zu werden, und ewig wird der Gegensatz von der Einheit verzehrt, um immer neu aufzuleben. Dieses ist die Feste (ἑστία), der Heerd des beständig sich selbst verbrennenden und aus der Asche wieder neu verjüngenden Lebens. Dieß das unermüdliche Feuer (ἀκάματον πῦρ), durch dessen Dämpfung, wie Heraklit behauptete, das Weltall erschaffen worden, und das als ein in sich selbst laufendes, sich immer rückwärts wiederholendes und wieder vor sich gehendes einem der Propheten im Gesicht gezeigt worden; der Gegenstand des uralten Magismus und jener Feuer=Lehre, der zufolge auch noch der jüdische Gesetzgeber seinem Volke hinterlassen: der Herr dein Gott ist ein verzehrend Feuer, nämlich nicht seinem Innern und eigentlichen Wesen, wohl aber seiner Natur nach.« 52 Vgl. Lassalle, Ferdinand: Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos. Nach einer neuen Sammlung seiner Bruchstücke und der Zeugnisse der Alten dargestellt. Erster Bd. Berlin 1858, S. 355 (ders.: Gesammelte Reden und Schriften. Hg. u. eingel. v. Eduard Bernstein. 7. Bd.: Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos I. Berlin 1920, S. 557): »Denn freilich können wir mit Creuzer vielleicht noch in die Worte, daß Heraklit ›Zoroastrisch philosophirt habe‹, in gewisser Weise übereinstimmen […]«; Gladisch, August: Herakleitos und Zoroaster. Eine historische Untersuchung. Leipzig 1859, S. 21: »So stimmen Herakleitos und Zoroaster oder die alten Perser nicht nur überhaupt in der Grundansicht, in der Anschauung des Lebens als des Göttlichen, sondern auch in der bestimmten Auffassung des eigentlichen Lebenselements und Urwesens aller Dinge völlig überein.« 47

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Motive übernahm, denn einerseits gibt es im Denken des Griechen keinen guten und bösen Gott wie bei den Persern, andererseits vertrat Zoroaster nicht den universellen Fluss aller Entitäten wie Heraklit.53 Dass jedoch die Licht- und Feuersymbolik in Heraklits Philosophie eine wichtige und zentrale Bedeutung besitzt, lässt sich nicht bestreiten. Im 20. Jahrhundert hat Eugen Fink aus dem Horizont seines eigentümlichen, von Heidegger beeinflussten Denkens dieser Tatsache erneut große Bedeutung zugesprochen.54 Auf einen möglichen Bezug Heraklits zur persischen Mythologie ging er dabei allerdings nicht ein.

3. Dualismus 3.1  Klassische griechische Philosophie 3.1.1 Platon

Tiefere Spuren im griechischen Denken als der Feuerkult der Perser hinterließ ihr Dualismus und provozierte schon Reaktionen der klassischen griechischen Philosophen, die sich ebenfalls mit dem Orient auseinandersetzten. Wenn Platon vom Orient sprach, meinte er meist nur Ägypten: In den echten Dialogen drückte er oft seine Hochachtung vor der ägyptischen Tradition und der uralten Weisheit Ägyptens aus. Vor allem die Einleitung des Timaios demonstriert diese Tendenz eindrucksvoll.55 Vergleichbare Äußerungen zu Persien fehlen ganz. Es gibt jedoch Indizien dafür, dass Platon den persischen Dualismus indirekt und an versteckter Stelle in einer signifikanten Passage seines Dialogs Politikos kritisierte.56 Ein Teilnehmer dieser Unterredung geht innerhalb mythologischer Überlegungen zur Kreisbewegung des Himmels davon aus, dass sich allein das Göttlichste stets auf dieselbe Weise verhält und das Selbe bleibt. Die Physis eines Körpers entspricht jedoch nicht dieser Ordnung. Das gilt auch für den Himmel, denn er hat Vgl. Zeller, Eduard: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung dargestellt. Erster Theil. Allgemeine Einleitung. Vorsokratische Philosophie. Tübingen 21856, S. 26 f.: »Nicht anders steht es auch mit den andern Zusammenhängen, die Gladisch entdeckt haben will. Heraklit soll die zoroastrische Lehre wiederholen. Und doch kennt weder jener den ursprünglichen Gegensatz eines guten und eines bösen Gottes, noch kennt diese die heraklitische Grundlehre vom Fluss aller Dinge, ihre Entstehung aus Einem Urstoff, die von Heraklit so stark betonte Einheit und Harmonie alles Seins, in welcher der Gegensatz des Guten und Bösen verschwindet, und die ganze physikalische Naturerklärung des ephesischen Philosophen.« 54 Vgl. Heidegger, Martin/Fink, Eugen: Heraklit. Seminar Wintersemester 1966/1967. Frankfurt a. M. 1970. 55 Vgl. Jeck: Platonica orientalia, S. 29 – 32. 56 Vgl. ebd., S. 405 f. 53



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zwar Vieles und Mächtiges von seinem Erzeuger empfangen, besitzt aber Gemeinschaft mit dem körperlichen Sein und vermag sich daher nicht der Veränderung zu entziehen. Er vollzieht deshalb seine Ortsbewegung in Gestalt eines kontinuier­ lichen Kreislaufs.57 In diesem Zusammenhang verwarf Platon die Annahme, dass zwei Götter mit antagonistischer Haltung auch entgegengesetzte Drehungen des Kosmos veranlassen könnten.58 Dass hier eine subtile Kritik des persischen Dualismus vorliegt, lässt sich vertreten, denn wer sonst als die Perser sprach damals von einem guten und einem bösen Gott mit gegensätzlichen Aktivitäten? Eine Parallelstelle aus den Nomoi zeigt ähnliche Ausführungen,59 doch auch dort erscheinen die Perser nicht explizit.

3.1.2 Aristoteles

Aristoteles zeigte sich offener für die Religion der Perser. Obwohl schwere Textverluste einen detaillierten Einblick in seine umfangreichen persischen Studien verwehren, lässt sich ein spezifisches Interesse des Stagiriten an der Mythologie Persiens – anders als bei Platon – durch eindeutige Zeugnisse belegen. Nach Diogenes Laertios nahm Aristoteles nicht nur einen orientalischen Anfang der Philosophie an, sondern verfasste zudem eine leider nicht überlieferte Schrift zur persischen Religion mit dem Titel Magikos.60 Auch in einem anderen, heute bis auf Reste verlorenen Text, ging Aristoteles auf die Magier ein und behauptete dort sogar – vielleicht gegen Platon –, dass die Geschichte dieser persischen Philosophen weiter in die Vergangenheit zurückreiche als die Kultur der Ägypter. Die Grundthese der Perser beschrieb er als Dualismus, denn diese Orientalen gingen von einem bösen und einem guten Gott als Prinzipien aus; der eine heißt Zeus bzw. Oromasdes, der andere Hades oder Areimanios.61 Vgl. Plato: Polit. 269d5–e7. In: Platonis Opera. Recogn. brev. adnot. crit. instr. E. A. Duke, W. F. Hicken, W. S. M. Nicoll, D. B. Robinson, J. C. G. Strachan, Tom. I. Tetralogias I–II cont. insunt Euthyphro, Apologia, Crito, Phaedo, Cratylus, Theaetetus, Sophista, Politicus. Oxonii 1995, S. 495. 58 Vgl. ebd., 269e7 – 270a2, S. 495 f.: »ἐκ πάντων δὴ τούτων τὸν κόσμον μήτε αὐτὸν χρὴ φάναι στρέφειν ἑαυτὸν ἀεί, μήθ᾽ ὅλον ἀεὶ ὑπὸ θεοῦ στρέφεσθαι διττὰς καὶ ἐναντίας περιαγωγάς, μήτ᾽ αὖ δύο τινὲ θεὼ φρονοῦντε ἑαυτοῖς ἐναντία στρέφειν αὐτόν […].« 59 Vgl. Plato: Leg. X, 898c1  – 5. In: Platonis Opera V, S. 346 f.: »Νῦν δὴ χαλεπὸν οὐδὲν ἔτι διαρρήδην εἰπεῖν ὡς, ἐπειδὴ ψυχὴ μέν ἐστιν ἡ περιάγουσα ἡμῖν πάντα, τὴν δὲ οὐρανοῦ περιφορὰν ἐξ ἀνάγκης περιάγειν φατέον ἐπιμελουμένην καὶ κοσμοῦσαν ἤτοι τὴν ἀρίστην ψυχὴν ἢ τὴν ἐναντίαν.« 60 Vgl. Jeck: Platonica orientalia, S. 51. 61 Vgl. Diogenes Laertius: Vitae I, 8; S. 8 –10: »Τὴν δὲ γοητικὴν μαγείαν οὐδ’ ἔγνωσαν, φησὶν Ἀριστοτέλης ἐν τῷ Μαγικῷ καὶ Δείνων ἐν τῇ πέμπτῃ τῶν Ἱστοριῶν· ὃς καὶ μεθερμηνευόμενόν φησι τὸν Ζωροάστρην ἀστροθύτην εἶναι· φησὶ δὲ τοῦτο καὶ ὁ Ἑρμόδωρος. Ἀριστοτέλης δ’ ἐν 57

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Aristoteles kannte den persischen Dualismus nicht nur, sondern durchdachte ihn auch innerhalb interessanter Reflexionen zur Auflösung einer schwierigen Aporie: Im XIV. Buch der Metaphysik fragte er, ob auch das Gute und Beste zu den Prinzipien und Elementen zählt, und berichtete im Hinblick darauf über mehrere Hypo­ thesen: I. Aus der Perspektive bestimmter älterer und neuerer Theologen existiert das Gute und Schöne nicht von Anfang an, sondern zeigt sich erst durch eine progressive Veränderung der Physis des Seienden, das heißt, es entwickelt sich erst allmählich. II. Eine vergleichbare Meinung vertraten die archaischen Dichter: Aristoteles deutete ihre Theogonien als Modelle sukzessiver Verbesserung, denn sie beruhen darauf, dass die Archonten des Seienden wechseln. Die ersten und frühesten Gottheiten müssen weichen, damit ein späterer und besserer Gott die Herrschaft antreten kann: Nach Nacht, Himmel, Chaos und Okeanos herrschte Zeus.62 III. Neben Theologen und Dichtern äußerte noch eine dritte Gruppe eine Meinung zu diesem Problem. Sie drückte nicht alles mythisch aus und bezeichnete das erste Erzeugende als das Beste. Zu dieser Auffassung bekannten sich nach Aristoteles einerseits die persischen Magier (οἱ Μάγοι), andererseits auch griechische Philosophen wie Empedokles und Anaxagoras; der eine erhob die Philia (ἡ φιλία) zum primären Element, der andere den Nus (ὁ νοῦς) zur Arche.63 Aristoteles entschärfte insofern den persischen Dualismus, verglich das Konzept der persischen Magier mit dem Denken früher griechischer Philosophen und stellte dabei Analogien fest. Durch die große Bedeutung seiner Metaphysik für das abendländische Denken gerieten diese Überlegungen niemals in Vergessenheit. Einige Schüler des Aristoteles interessierten sich ebenfalls für das persische Denken und führten auch dabei das Werk des Lehrers auf ihre Weise fort, doch diese Texte gingen ebenfalls verloren.64

πρώτῳ Περὶ φιλοσοφίας καὶ πρεσβυτέρους εἶναι τῶν Αἰγυπτίων· καὶ δύο κατ’ αὐτοὺς εἶναι ἀρχάς, ἀγαθὸν δαίμονα καὶ κακὸν δαίμονα· καὶ τῷ μὲν ὄνομα εἶναι Ζεὺς καὶ Ὠρομάσδης, τῷ δὲ Ἅδης καὶ Ἀρειμάνιος. φησὶ δὲ τοῦτο καὶ Ἕρμιππος ἐν τῷ πρώτῳ περὶ Μάγων καὶ Εὔδοξος ἐν τῇ Περιόδῳ καὶ Θεόπομπος ἐν τῇ ὀγδόῃ τῶν Φιλιππικῶν.« 62 Vgl. Aristoteles: Met. XIV 4, 1091a29–b6; S. 304. 63 Vgl. ebd., 1091b6 – 12; S. 304: »οὐ μὴν ἀλλὰ τούτοις μὲν διὰ τὸ μεταβάλλειν τοὺς ἄρχοντας τῶν ὄντων συμβαίνει τοιαῦτα λέγειν, ἐπεὶ οἵ γε μεμιγμένοι αὐτῶν [καὶ] τῷ μὴ μυθικῶς πάντα λέγειν, οἷον Φερεκύδης καὶ ἕτεροί τινες, τὸ γεννῆσαν πρῶτον ἄριστον τιθέασι, καὶ οἱ Μάγοι, καὶ τῶν ὑστέρων δὲ σοφῶν οἷον Ἐμπεδοκλῆς τε καὶ Ἀναξαγόρας, ὁ μὲν τὴν φιλίαν στοιχεῖον ὁ δὲ τὸν νοῦν ἀρχὴν ποιήσας.« 64 Vgl. Jeck: Platonica orientalia, S. 58 Anm. 98 (Hermippos von Smyrna), S. 82 (Eudemos von Rhodos).



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3.2 Spätantike 3.2.1  Alexander von Lykopolis

Ihren Höhepunkt erreichte die philosophische Diskussion persischen Denkens in der Spätantike. Damals entstanden unter dem Einfluss der Mythologie Persiens mächtige geistige Bewegungen mit großer Anziehungskraft. Besonders die unter dem Namen ›Gnosis‹ zusammengefasste Strömung, die sich als philosophisch bezeichnen lässt, griff auf signifikante Elemente der persischen Mythologie zurück. Daher bezeichnete schon August Neander, ein bedeutender Kirchenhistoriker des 19. Jahrhunderts, bei der Charakterisierung der zahlreichen Zweige der Gnosis die innere Tendenz einer dieser Richtungen, die vermehrt persische Elemente einsetzte, mit Recht als ›Parsismus‹.65 Ein radikaler Modus der Gnosis, der Manichäismus, verdient in diesem Zusammenhang besondere Beachtung.66 Mani, der Stifter dieser Lehre, vertrat eine komplexe, aus differenten Momenten konstruierte Lehre, wobei persische Motive einen großen Raum einnahmen. Zwar erscheint es heute als unhistorisch, ausschließlich dieses Element im Manichäismus hervorzuheben und Einflüsse anderer Herkunft darüber zu vernachlässigen, doch bestätigt ein im 20. Jahrhundert aus Papyrusfunden rekonstruiertes Hauptwerk Manis, die Kephalaia, dass Mani nicht nur in Persien wirkte, sondern sich selbst auch mit Zarathustra verglich.67 Spätere Manichäer Vgl. Neander, August: Allgemeine Geschichte der christlichen Religion und Kirche. Erster Band, welcher die Kirchengeschichte der drei ersten Jahrhunderte umfasst (= Ersten Bandes zweite Abtheilung, welche die Geschichte des christlichen Cultus, des christlichen Lebens und einen Theil der Sektengeschichte enthält). Hamburg 1826, S. 644 f.: »Die andere Auffassungsweise schloß sich mehr an die p a r s i s c h e Lehre von einem A h r i m a n und seinem Reiche an, welche sich anzueignen den vornehmlich in Sy r i e n sich bildenden gnostischen Sekten nahe liegen mußte. Diese Auffassungsweise nahm ein t h ät i ge s , w i ld t o b e nd e s Reich des Bösen oder der Finsterniß an, welches, durch seinen Angriff auf das Lichtreich die Vermischung des Lichts und der Finsterniß, des Göttlichen und des Ungöttlichen herbeiführte. So verschieden auch diese beiden Auffassungsformen der Darstellung nach erscheinen können, so ist in ihnen doch dieselbe Grundidee zu erkennen. Wo die letztere Auffassungsweise etwas mehr spekulativ wird, geht sie in die erstere über, wie bei einer Auffassung des weit mehr als alle gnostischen Systeme den Charakter des P a r s i s mu s an sich tragenden M a n ic h ä i s mu s sich Spuren zeigen werden […]; und wo die erstere Auffassung einen mehr poetischen Charakter annimmt, sich mehr der Phantasie anschaulich darzustellen sucht, geht sie unwillkürlich in die letztere über.« 66 Vgl. Rudolph, Kurt: Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion. Göttingen 31990. 67 Vgl. Kephalaia. 1. Hälfte (Lief. 1 – 10). Mit einem Beitr. v. Hugo Ibscher. In: Manichäische Handschriften der Staatlichen Museen Berlin. Hg. im Auftr. der Preuss. Akad. der Wiss. unter Leitung v. Prof. Carl Schmidt. Bd. 1. Stuttgart 1940, S. 7, 27 – 33: »[Der Apostel] des Lichtes, der glänzende Φωστήρ 28 [ist gekommen nach] Persien (Περσίς) zu dem König Hystaspes 65

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hielten ihn deshalb wie Zarathustra, Buddha und Christus für eine Verkörperung des Lichtes und der Sonne.68 Mani unternahm viel zur Ausbreitung seiner Lehre,69 doch erst nach dem Tod des Propheten (276/277) gewann seine Bewegung deutlich an Einfluss und Ausdehnung: Sie entwickelte sich allmählich zur Weltreligion, trug persisches Gedankengut in große Teile des römischen Imperiums und verbreitete sich weit über den vorderen Orient hinaus bis ins Innere Asiens. Dies gelang vor allem durch ihren Einfluss auf bedeutende Intellektuelle: Selbst Augustinus fesselte sie zehn Jahre.70 Welche Kraft Manis Spekulationen damals besaßen, zeigt die Tatsache, dass der Manichäismus und seine Derivate punktuell politische Macht erlangten und sogar noch den byzantinischen Staat verunsicherten.71 Im Vergleich zur originären Staatsreligion Persiens und den persisch geprägten gnostischen Systemen erwies sich der Manichäismus als weitaus größere Bedrohung des abendländischen Geistes, weil er trotz kaiserlicher Verbote lautlos im Untergrund wirkte. Er bedrängte nämlich nicht nur das Christentum, die Reste der klassischen heidnischen Religionen und andere Bewegungen aus dem Orient, die in den Mittelmeerraum strömten, sondern auch die altehrwürdige Philosophie des Westens als Hüter okzidentaler Rationalität. Die griechischen Denker der Spätantike standen insofern drei mächtigen Impulsen aus dem persischen Imperium gegenüber, die sie durch ihren Erfolg unter Druck setzten. Diese Tatsache ließ sich nicht übersehen; die Philosophen durften sie nicht ignorieren.

29 [er hat ausgewählt] gerechte (δίκαιος) und wahrhafte Jünger 30 [und hat gepredigt] seine Hoffnung in Persien (Περσίς), aber 31 … [nicht hat] Zarathustra (Ζαράδης) Bücher geschrieben, sondern seine 32 Jünger nach seinem Tode erinnerten sich und schrieben … 33 [die Bücher], die sie heute lesen…«

Neander: Allgemeine Geschichte der christlichen Religion und Kirche I 2, S. 817  : »M a n i soll in der That bis nach Ostindien und China gereiset seyn und spätere Manichäer beriefen sich darauf, daß M a n i , B u d d h a s , Z or o a s t e r, Christus und die Sonne (der höhere die Sonne beselende [sic!] Geist) derselbe seyen, das heißt: alle diese Religionsstifter nur verschiedene S on ne n i nc a r n at ione n 1), es sey daher in allen diesen verschiedenen Religionen nur Eine Religion unter verschiedenen Formen«; ders.; ebd., Anm. 1: »Die späteren Abkömmlinge der Manichäer mußten bei ihrem Uebertritt zur katholischen Kirche die von ihnen früher behauptete Lehre verdammen: τον Ζαραδαν και Βουδαν και τον χριστον και τον μανιχαιον ἑνα και τον ἀυτον ἐιναι. S. I a c o b. To l l i i i n s i g n i a it i ne r a r i i It a l ic i Tr aj e c t . 1696. p. 134.« 69 Vgl. Römer, Cornelia Eva: Manis frühe Missionsreisen nach der Kölner Manibiographie. Textkritischer Kommentar und Erläuterungen zu p. 121 – p. 192 des Kölner Mani-Kodex (Abhandlungen der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Sonderreihe: Papyrologica Coloniensia XXIV). Opladen 1994. 70 Vgl. Flasch, Kurt: Augustin. Einführung in sein Denken. Stuttgart 1980, S. 27 – 32; Drecoll, Volker Henning / Kudella, Mirjam: Augustin und der Manichäismus. Tübingen 2011. 71 Vgl. Garsoïan, Nina G.: The Paulician heresy. A study of the origin and development of Paulicianism in Armenia and the eastern provinces of the Byzantine Empire. The Hague/Paris 1967. 68 Vgl.



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Wie neuere koptische Papyrusfunde beweisen, entwickelte sich vor allem Ägypten zu einem der Schwerpunkte des westlichen Manichäismus. Dagegen kämpfte gegen Ende des 3. Jahrhunderts der neuplatonisch geprägte Philosoph Alexander aus dem ägyptischen Lycopolis und verfasste eine Schrift gegen die Manichäer.72 Sie fand schon früh Beachtung,73 ist aber auch gegenwärtig noch Gegenstand der Forschung.74 Bis zur Entdeckung originaler Manichaica zählte sie sogar zu den wichtigsten Zeugnissen des Manichäismus und blieb wohl nur wegen dieses Quellenwerts erhalten. Alexander beschränkte sich nicht nur auf die Mitteilung konkreter Details zum System Manis, sondern erforschte auch dessen logische Struktur und versuchte auf dieser Basis eine philosophische Widerlegung des Manichäismus, das heißt, er bekämpfte die manichäische Lehre mit den erprobten Instrumenten der griechischen Philosophie. Dabei ging er in seiner Schrift zwar auch auf die Entstehung der damals noch jungen Bewegung Manis ein,75 doch primär interessierte ihn die Ausarbeitung einer Kritik des manichäischen Dualismus.76 Mani, so berichtete Alexander, lehrte wie die Perser zwei Prinzipien oder Archai, nämlich Gott (ὁ θεός) und Materie (ἡ ὕλη). Der Gott ist gut, die Hyle, die Materie, schlecht. Diese Konzeption wies Alexander zurück. Im Hintergrund stand dabei ein deutliches Befremden des im griechisch-platonischen Geist gebildeten Philosophen darüber, dass Mani und seine Jünger dem Irregulären, Bösen und Dunklen einen außerordentlich großen Einfluss in der Welt einräumten. Dazu kamen grundsätzliche Zweifel: Lässt sich diese mysteriöse Hyle Manis überhaupt denken? Augenscheinlich orientierte sich Mani bei ihrer Konzeption nicht an den bewährten Modellen griechischer Philosophen. Deshalb arbeitete Alexander die Differenz zwischen griechischem und manichäischem Denken deutlich heraus: I. Nach seiner Ansicht dachte Mani die Materie nämlich keineswegs wie Platon, der sie im Timaios als das bestimmte, aus dem alles entsteht, das Qualität sowie

Alexander Lycopolitanus: Contra Manichaei opiniones disputatio, ed. Augustus Brinkmann. Lipsiae 1895. 73 Vgl. Baur, Ferdinand Christian: Das Manichäische Religionssystem nach den Quellen neu untersucht und entwikelt. Tübingen 1831, S. 7 Anm. 6: »Er wird gewöhnlich Bischof von Lycopolis genannt, in seiner Schrift selbst erscheint er, wie Beausobre gut gezeigt hat […], als ein heidnischer Philosoph, der vom Christenthum eine höchst nüchterne Ansicht hat […] Daß er, wie der Titel seiner Schrift sagt, (Alex. Lycopol. qui ex gentibus ad Manichaei opiniones conversus fuerat) einige Zeit Manichäer war, ist nach dem Inhalt seiner Schrift nicht zu glauben.« 74 Vgl. van der Horst, Pieter Willem/Mansfeld, Jaap: An Alexandrian Platonist against Dualism. Alexander of Lycopolis’ Treatise ›Critique of the Doctrines of Manichaeus‹. Leiden 1974. 75 Vgl. Alexander Lycopolitanus: Contra Manichaei opiniones disputatio II, S. 4,10 – 22. 76 Vgl. Pétrement, Simone: Le dualisme chez Platon, les Gnostiques et les Manichéens. Paris 1947. 72 Vgl.

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Gestalt aufnimmt und das deshalb als Allumfassendes Amme (ἡ τιθήνη)77 und Mutter (ἡ μήτηρ)78 heißt. II. Auch auf Aristoteles griff Mani nicht zurück, denn dieser bezeichnete die Materie als Element (τό στοιχεῖον), das sich durch Form (τό εἶδος) und Beraubung (ἡ στέρησις) näher bestimmt.79 III. Die manichäistische Hyle ließ sich also nicht mit den Konzepten und Mitteln der besten philosophischen Tradition Griechenlands erklären; Mani zielte damit auf etwas ganz anderes als auf das, was die großen Denker der griechischen Klassik als Materie konzipierten; er dachte sie vielmehr als jene ungeordnete Bewegung, die sich in jedem einzelnen Seienden findet.80 Zusammenfassend gesagt: Alexander von Lykopolis erkannte nicht nur, dass sich die mythologisierende Konzeption Manis nur schwer mit den traditionellen Begriffen der griechischen Philosophen fassen lässt, sondern er begriff auch die unüberbrückbare Distanz dieser orientalischen Lehre zum Denken der großen Philosophen Griechenlands. Daher ging es ihm nicht darum, persische Elemente in die griechische Philosophie zu integrieren oder gar derartige Denkmotive durch griechische Begrifflichkeit zu erhellen, sondern er wollte den Einfluss des Mani­ chäismus entschieden zurückdrängen. Dabei leitete ihn die feste Überzeugung, dass derartige Konstrukte aus dem Orient letztlich nicht gegen eine wohl durchdachte philosophische Argumentationen und Kritik bestehen können; die weitere Wirksamkeit dieser Konzeptionen vermochte er mit seinen Gegenargumenten allerdings nicht aufzuhalten.81 Nicht nur damals, sondern seit dieser Zeit fordern der Dualismus und seine theoretischen Modifikationen immer wieder sowie auf vielfältige Weise als philosophisches Grundproblem zum Nachdenken auf.82 Vgl. Plato: Tim. 49a5 – 6. In: Platonis Opera. Recogn. brev. adnot. crit. instr. Ioannes Burnet. Tom. IV. Tetralogiam VIII cont. Oxonii 1902: »πάσης εἶναι γενέσεως ὑποδοχὴν αὐτὴν οἷον τιθήνην.« 78 Vgl. ebd., 51a4 – 6: »διὸ δὴ τὴν τοῦ γεγονότος ὁρατοῦ καὶ πάντως αἰσθητοῦ μητέρα καὶ ὑποδοχὴν μήτε γῆν μήτε ἀέρα μήτε πῦρ μήτε ὕδωρ λέγωμεν …« 79 Vgl. Happ, Heinz: Hyle. Studien zum Aristotelischen Materie-Begriff. Berlin, New York 1971. 80 Vgl. Alexander Lycopolitanus: Contra Manichaei opiniones disputatio II, S. 4,23 – 5,11: »Τοιάδε οὖν τις φήμη τῆς ἐκείνου δόξης ἀπὸ τῶν γνωρίμων τοῦ ἀνδρὸς ἀφίκετο πρὸς ἡμᾶς. ἀρχὰς ἐτίθετο θεὸν καὶ ὕλην, εἶναι δὲ τὸν μὲν θεὸν ἀγαθόν, τὴν δὲ ὕλην κακόν· ἀγαθῷ δὲ πλείονι τὸν θεὸν ὑπερβάλλειν ἢ κακῷ τὴν ὕλην. τὴν δὲ ὕλην λέγει οὐχ ἣν Πλάτων, τὴν πάντα γινομένην ὅταν λάβῃ ποιότητα καὶ σχῆμα – διὸ πανδεχῆ καὶ μητέρα καὶ τιθήν καλεῖ – καὶ Ἀριστοτέλης, τὸ στοιχεῖον περὶ ὃ τὸ εἶδος καὶ ἡ στέρησις, ἀλλ’ ἕτερόν τι παρὰ ταῦτα· τὴν γὰρ ἐν ἑκάστῳ τῶν ὄντων ἄτακτον κίνησιν, ταύτην ὕλην καλεῖ. συντετάχθαι δὲ τῷ θεῷ δυνάμεις ἑτέρας οἷον ὑπηρέτιδας, ἀγαθὰς πάσας, καὶ ἄλλας τῇ ὕλῃ ὁμοίως, πάσας κακάς.« 81 Vgl. Jeck: Platonica orientalia, S. 403 – 413 (›29. Persischer Dualismus und Trinität‹). 82 Vgl. Nieke, Wolfgang: Dualismus. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter. Bd. 2. Basel, Stuttgart 1972, S. 297 – 299. 77



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4.  Zurvan akarana 4.1 Damaskios

Die griechische Philosophie zeigte sich aus Alexanders Sicht den manichäisch-persischen Mythologien deutlich überlegen. Umso mehr erstaunt es, dass sich gegen Ende der Antike ein bemerkenswertes Ereignis vollzogen haben soll, das als Gipfelpunkt der Auseinandersetzung griechischer Denker mit dem persischen Denken gelten darf, nämlich die Expedition griechischer Philosophen nach Persien.83 Darüber berichtete der byzantinische Historiker Agathias.84 Nach seinen Angaben, die – wenn sie zutreffen – in diesem Zusammenhang einen hohen Argumentationswert besitzen,85 verließen nämlich nach der durch Kaiser Justinian verfügten Schließung der platonischen Akademie einige prominente Philosophen das römisch-byzantinische Imperium und suchten Unterstützung beim persischen Königs Chosrau I. († 579):86 Die gesamte Elite der spätantiken Philosophie – nämlich Damaskios von Syrien, Simplikios von Kilikien, Eulamios von Phrygien, Priskianos von Lydien, Hermeias und Diogenes von Phönizien, Isidoros von Gaza – brach nach Persien auf.87 Das geschah sicher nicht ohne Grund. Als Motiv für die Auswanderung der Akademiker lässt sich vermuten, dass diese Philosophen auf den ausgezeichneten Ruf des persischen Monarchen reagierten, der als Liebhaber griechischer Literatur galt. Angeblich ließ er manches davon sogar ins Persische übersetzen. Zudem zeigte er sich den schwierigen Dialogen Platons (Timaios, Phaidon, Gorgias und Parmenides) gewachsen und soll auch über gute Kenntnisse der Philosophie des Aristoteles verfügt haben. Vermutlich wollte er das Niveau des persischen Denkens heben und durch griechische Elemente bereichern. Im Hinblick darauf blieb Agathias jedoch skeptisch und verwies auf Übersetzungsschwierigkeiten: Er hielt es für unmöglich, dass eine Transformation des hoch qualifizierten Inhalts griechischer Werke in die persische Sprache gelingen könne.88 Wie die späteren Übersetzungen griechischer Vgl. Jeck: Platonica orientalia, S. 86 – 90. Vgl. Keydell, Rudolf: Agathiae Myrinaei Historiarum Libri Quinque (Corpus Fontium Historiae Byzantinae. Series Berolinensis II). Berlin 1967. 85 Vgl. Suolathi, Jaakko: On the Persian Sources used by the Byzantine Historian Agathias (Studia Orientalia). Helsinki 1947; Cameron, Averil: Agathias on the Sassanians. In: Dumbarton Oaks Papers 23 – 24 (1969 – 1970) 67 – 183; ders.: Agathias. Oxford 1970; de Jong: Traditions of the Magi, S. 229 – 250 (Kommentar zu Agathias: Hist. 2,23 – 25). 86 Vgl. Cameron, Alan: The Last Days of the Academy at Athens. In: Proceedings of the Cambridge Philological Society 195 (1969), S. 7 – 29; ders.: La fin de l’Académie. In: Le Néoplatonisme (Colloques internationaux du Centre National de la Recherche Scientifique, Sciences Humaines, à Royamont, 9 – 13 juin 1969). Paris 1971, S. 281 – 290; Blumenthal, Henry J.: 529 and its sequel. What happened to the Academy? In: Byzantion 48,2 (1978), S. 369 – 385. 87 Vgl. Agathias: Hist. II 30,3; 80,7 – 15. 88 Vgl. ebd., II 28,1 – 3; 77,5 – 19. 83

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philosophischer Texte in orientalische Sprachen deutlich zeigen, hat die weitere Entwicklung der Geschichte der Philosophie die Skepsis des Byzantiners glänzend widerlegt. Agathias berichtete zudem über ein zusätzliches Motiv der Teilnehmer an dieser Expedition und ihre damit verknüpften Erwartungen: Sie sahen im persischen Monarchen jenen Philosophenkönig, den Platon in der Politeia zur Heilung politischer Gebrechen in der Polis empfahl.89 Platon scheiterte bekanntlich mit seinem Konzept, aber auch die gewagte Unternehmung der Neuplatoniker misslang; die Philosophen kehrten nach kurzer Zeit desillusioniert aus Persien zurück. Diese hoch qualifizierten Denker brachen sicher nicht ohne Vorbereitung nach Persien auf: Vor Ort erlangten sie vielleicht weitere Einblicke; wahrscheinlich kehrten sie auch mit neuen Einsichten und Eindrücken zurück. Darüber lassen sich nur Vermutungen anstellen. Dass aber die letzten Platoniker der Antike nähere Informationen über die persische Religion besaßen, steht fest, denn dieses Wissen nutzten sie in ihren erhaltenen Schriften. Ein Beispiel dafür findet sich bei Damaskios († nach 538), der zu den oben genannten Exilanten zählt und ein Werk mit dem Titel Probleme und Lösungen der Ersten Prinzipien verfasste.90 Dort analysierte er die Theologie der Arier oder Μάγοι, indem er die Überwindung des persischen Dualismus durch den Zurvanismus, eine Modifikation des orthodoxen Zoroastrismus, näher in den Blick nahm. Die Perser kannten nämlich, wie schon gesagt, das Konzept einer den dualen Mächten übergeordneten Zeit91 und fassten sie als Gott mit dem Namen ›Zurvan‹92 auf, ein Gott, der als zusätzliche Bestimmung die Bezeichnung ›unbegrenzte Zeit‹ (Zurvan akarana) trug.93 Damaskios reagierte darauf, wobei er sich auf ältere Angaben des Eudemos von Rhodos stützte und sie aus eigener Perspektive neu interpretierte94: I. Nach dieser Quelle durchdachten die Magier und Arier die ursprüngliche Einheit; einige bezeichneten sie als Zeit, andere als Raum. 89

Vgl. Anm. 87. Vgl. Damascius: Traité des premiers principes. Vol. III: De la procession. Texte établi par Leendert Gerring Westerink et traduit par Joseph Combès. Paris 1991. 91 Vgl. Colpe, Carsten: Die Zeit in drei asiatischen Hochkulturen (Babylon – Iran – Indien). In: Die Zeit. Hg. v. Anton Peisl u. Armin Mohler (Schriften der Carl-Friedrich-von-SiemensStiftung 6). München, Wien 1983, S. 225 – 256. 92 Vgl. Zaehner, Robert Charles: Zurvan. A Zoroastrian Dilemma. Oxford 1955 (ND: New York 1972); Bianchi, Ugo: Zaman i Ohrmazd. Lo zoroastrismo nelle sue origini e nella sua ­essenza. Torino 1958. 93 Zu den altiranischen Termini vgl. Bartholomae, Christian: Altiranisches Wörterbuch. Strassburg 1904 (ND: Berlin, New York 1979), S. 1703 f. 94 Vgl. Gnoli, Gherardo: A note on the Magi and Eudemus of Rhodes. In: Acta Iranica 28 (1988), S. 283 – 288; de Jong: Traditions of the Magi, S. 184 f. 90



Zur Auseinandersetzung griechischer Philosophen mit dem persischen Mythos

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II. Aus dieser Einheit jenseits dualistischer Spaltung sollten dann durch Trennung ein guter Gott und ein böser Dämon hervorgehen oder nach der Auffassung anderer Perser Licht und Finsternis. III. Aus dieser Spaltung entwickelt sich zudem eine duale Serie höher stehender divinaler Entitäten, der jeweils Oromasdes bzw. Areimanios vorstehen, das heißt, die beiden aus der Urgottheit ausgeschiedenen Gottheiten dirigieren ihrerseits jeweils ein System göttlicher Kräfte.95 Augenscheinlich gab es unter den Persern theoretische Differenzen, aber das Grundkonzept ließ sich erkennen: Damaskios arbeitete diese systematische Struktur heraus und bediente sich zu ihrer Umschreibung der eigentümlich geprägten Begrifflichkeit seiner eigenen Philosophie, die auf Platon und den Platonismus zurückgeht. Wenn die Magier über den Ursprung der zwei Prinzipien aus der Ureinheit sprachen, so kleidete Damaskios dieses Denken einerseits in die Sprache der Platoniker, andererseits bediente er sich bei der Charakteristik des Übergangs der Ureinheit in ihre Derivate der platonischen Dialektik des Einen und Vielen. Zum Verständnis diesen Progresses nutzte er sogar einen Terminus aus Platons Parmenides (διακρίνω),96 das heißt, er übersetzte ohne Scheu und anders als Alexander von Lykopolis das persische Denken formal und inhaltlich in die griechische Philosophie. Diese Synthese zwischen neuplatonischer Philosophie und persischer Mythologie überzeugte und erlangte deshalb noch die Aufmerksamkeit führender Philosophen des deutschen Idealismus.97

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Vgl. Damascius: De princ. III 1252, S. 165,17 – 24: »Μάγοι δὲ καὶ πᾶν τὸ ἄριον γένος, ώς καὶ τοῦτο γράφει ὁ Εὔδημος, οἱ μὲν Τόπον, οἱ δὲ Χρόνον καλοῦσιν τὸ νοητὸν ἅπαν καὶ ἡνωμένον, ἐξ οὗ διακριθῆναι ἢ θεὸν ἀγαθὸν καὶ δαίμονα κακόν, ἢ φῶς καὶ σκότος πρὸ τούτων, ώς ἐνίους λέγειν. Οὗτοι δὲ οὗν καὶ αὐτοὶ μετὰ τὴν ἀδιάκριτον φύσιν διακρινομένην ποιοῦσι τὴν διττὴν συστοιχίαν τῶν κρειττόνων, τῆς μὲν ἡγεῖσθαι τὸν Ὡρομάσδην, τῆς δὲ τὸν Ἀρειμάνιον.« 96 Vgl. Plato: Parm. 157a4 – 6 . In: Platonis Opera II, S. 43: »κατὰ δὴ τὸν αὐτὸν λόγον καὶ ἐξ ἑνὸς ἐπὶ πολλὰ ἰὸν καὶ ἐκ πολλῶν ἐφ᾽ ἓν οὔτε ἕν ἐστιν οὔτε πολλά, οὔτε διακρίνεται οὔτε συγκρίνεται.« 97 Vgl. Jeck: Zervane Akerene – ein orientalisches Mythologem in Hegels Berliner Interpretationen zur Zendreligion. In: Jahrbuch für Hegelforschung 6/7 (2000 – 2001), S. 277 – 306; ders.: Platonica orientalia, S. 501 – 524 (›Die unendliche Zeit der Perser [Zeruane Akherene]‹); ders.: Zeruane Akerene. – Zu Friedrich Creuzers Rekonstruktion der persischen Mythologie. In: Mythos – Geist – Kultur. Festschrift zum 60. Geburtstag v. Christoph Jamme. Hg. v. Kerstin Andermann u. Andreas Jürgens. München 2013, S. 13 – 26.

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5.  Zusammenfassung und Ausblick

Seit dem Anfang der griechischen Philosophie bei den Vorsokratikern bis zu ihrem Ende im Neuplatonismus, das heißt, fast ein Jahrtausend, blickten die Griechen aus unterschiedlichen Perspektiven auf die sich gleichfalls wandelnde Mythologie der Perser. Sie und ihre Derivate übten insofern nicht nur einen großen Einfluss auf die orientalisch-asiatische Geistesgeschichte aus, sondern bewegten auch das Denken des Okzidents. Die griechischen Philosophen profitierten auf vielfache Weise von diesen Impulsen: Einerseits ließen sich ihre führenden Repräsentanten davon inspirieren, andererseits kam es zu heftigen Abwehrreaktionen. Der persische Feuerkult, das persische Konzept eines fundamentalen Antagonismus im Sein, der zu einer dualistischen Deutung des Universums führte, sowie der persische Entwurf einer als grenzenlose Zeit über allen Gegensätze existierenden Einheit standen dabei im Mittelpunkt. Zudem erwiesen sich diese Mythologeme als Protostrukturen philosophischer Begrifflichkeiten, die allerdings nicht die Perser, sondern die Griechen kritisch diskutierten. Allein sie nutzten die persischen Konzepte als Kristallisationskeime und Impulse für mannigfaltige philosophische Überlegungen. Diese komplexe geistesgeschichtliche Erscheinung mit ihren vielfachen Verzweigungen liegt nicht offen zutage, sondern verlangt nach Klärung. Allerdings blieben auf diesem bedeutenden Forschungsfeld bis jetzt noch viele Probleme ungeklärt; sie harren zukünftiger Erforschung. Dennoch lassen sich schon jetzt bestimmte Entwicklungslinien zeichnen: Der Nachweis persischer Motive in der vorsokratischen Philosophie gelingt nur selten, weil er mit großen Schwierigkeiten verbunden und durch zahlreiche Hypothesen belastet ist: Hier kann es wohl kaum eine letzte Sicherheit geben, denn die archaischen Denker Griechenlands bekundeten – von Ausnahmen abgesehen – ihr Interesse für den Orient aus begreiflichen Gründen nicht offen. Mit großer Wahrscheinlichkeit ließ sich aber schon Heraklit vom Feuerkult der frühen Perser inspirieren. Im Hinblick auf das Zeitalter der klassischen griechischen Philosophie gibt es größere Klarheit: Platon diskutierte indirekt den persischen Dualismus, Aristoteles berücksichtigte in seinen Untersuchungen zur Ersten Philosophie das persische Denken und stellte es sogar mit den Konzepten der frühen griechischen Philosophen auf eine Stufe. Doch auch hier bleibt die Quellenlage dürftig und lü­ cken­haft. In der Spätantike änderte sich das: Als der vom persischen Dualismus geprägte Manichäismus im Mittelmeerraum an Einfluss gewann, stellten sich ihm griechische Philosophen entgegen. Dazu gehört auch Alexander von Lykopolis, der gegen diese Bewegung stritt und die Unvereinbarkeit manichäischer Theoreme mit den Grundauffassungen der klassischen griechischen Philosophen demonstrierte. Gegen Ende der Antike erreichte die Auseinandersetzung der griechischen Philosophen mit der persischen Weltanschauung ihr Maximum. Führende Vertreter



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des Neuplatonismus, die sich kurzfristig in Persien aufhielten, reagierten in ihren Schriften auf die persische Religion. Wie sein Hinweis auf die unendliche Zeit der Perser zeigt, besaß auch Damaskios Grundkenntnisse der persischen Religion und deutete sie mit den Mitteln der neuplatonischen Philosophie. Eine Untersuchung dieser Fakten fördert nicht nur nebensächliche Details einer längst vergangenen Epoche zutage, sondern ihre Bewertung zieht für die philosophiegeschichtliche Forschung Konsequenzen nach sich: Sie betreffen die Stellung des persischen Denkens in der Geistesgeschichte. Schon unter den Griechen herrschte Streit darüber, ob bestimmte Orientalen den Status von Philosophen beanspruchen dürfen. Manche bestritten das, einige hielten jedoch die so genannten Magier, die führenden Repräsentanten der persischen Religion, für Philosophen. Wenn Aristoteles, ein Denker von unbestreitbarer Bedeutung mit einzigartiger Wirkung auf das okzidentale Denken, jene These in seiner Metaphysik, diesem Grundtext der abendländischen Philosophie, ebenfalls vertrat und sogar ein Buch über die Magier verfasste, dann sollte seine entschiedene Haltung in dieser Frage Beachtung und seine eindeutige Auffassung Gehör finden. Wer sich seinem Urteil anschließt, muss daraus allerdings radikale Schlussfolgerungen ziehen und bestimmte ungenügende Schemata der gegenwärtigen philosophischen Geschichtsschreibung, die längst nicht mehr greifen, ohne Zögern aufgeben. Das bedeutet jedoch, dass er dem persischen Denken nicht länger den Rang eines eigenständigen Anfangs in der Weltgeschichte der Philosophie verweigern darf. Dazu braucht er sich allerdings nur jenen älteren Theoretikern anschließen, die schon früh die Bedeutung dieses Anfangs aus seiner machtvollen Nachwirkung erschlossen und entsprechend würdigten.

III. FORSCH UNGSMATERIALIEN ZUR ­P HI­L O­S O­P HIE­G ESCHI CHTS­S CHREI­B UNG IN G LOBALER PERSPEK TI V E

Ansätze globaler Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung Kommentierender Überblick anhand von Textpassagen und Inhaltsverzeichnissen Rolf Elberfeld

»Weltgeschichte der Philosophie«, »Global History of Philosophy«, »World Philosophy«, »World Philosophies« oder »Histoire mondiale de la philosophie« sind Buchtitel, unter denen nach 1945 bis in die jüngste Vergangenheit hinein Versuche unternommen worden sind, die Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung systematisch – mehr oder weniger – auf den globalen Kontext zu erweitern. Dabei ist die Zahl der Versuche in den letzten 20 Jahren deutlich gestiegen. Im Folgenden sollen ausgewählte Entwürfe dieser global orientierten Phi­lo­so­ phie­geschichts­schrei­bung anhand von programmatischen Textpassagen und Inhaltsverzeichnissen vorgestellt und reflektiert werden. Eine systematische Untersuchung dieser Erweiterungsentwürfe steht noch aus. Bevor ich die Entwicklungen ab dem 20. Jahrhundert thematisiere, sollen zunächst vier historisch zentrale Kontexte der älteren Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in Erinnerung gerufen werden, um die Neuerungen besser kontrastieren zu können. A. Diogenes Laertius (um 220 n. u. Z.) war im 17. und 18. Jahrhundert als Philosophiehistoriker überaus wirksam. Seine Festlegung, dass Philosophie nur bei den Griechen entstanden sei, wurde damals für viele Philosophiehistoriker zum Leitfaden ihrer Darstellung. Gleich zu Anfang seines Buches Leben und Meinungen berühmter Philosophen stellt er fest: »Die Entwicklung der Philosophie hat, wie manche behaupten, ihren Anfang bei den Barbaren genommen. So hatten die Perser ihre Magier, die Babylonier und Assyrer ihre Chaldäer, die Inder ihre Gymnosophisten, die Kelten und Gallier ihre sogenannten Druiden und Semnotheen, wie Aristoteles in seinem Buche Magikos und Sotion in dem dreiundzwanzigsten Buch seiner Sukzession der Philosophen (Daidoche) berichtet. […] Indes man täuscht sich und legt fälschlich den Barbaren die Leistungen der Griechen bei; denn die Griechen waren es, die nicht nur mit der Philosophie, sondern mit der Bildung des Menschengeschlechts überhaupt den Anfang gemacht haben. […] So hat denn die Philosophie ihren Ursprung bei den Griechen, und auch ihr Name schon weist jede Gemeinschaft mit den Barbaren entschieden von sich ab.«1 Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, übers. v. O. Apelt. Hamburg, S. 3. 1

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Diogenes Laertius legt in autoritärer Weise fest, dass nicht nur die Philosophie, sondern sogar die »Bildung des Menschengeschlechts« bei den Griechen begonnen habe. Obwohl seine Zeitgenossen, wie er selber zugesteht, diese Zusammenhänge ganz anders sahen, wie beispielsweise Clemens von Alexandrien oder Numenios,2 wurde im 17. und 18. Jahrhundert seine Meinung weitgehend zum Maßstab für die Festlegung des »eigentlichen« und »wahren« Anfangs der Phi­lo­so­phie­geschichte. B. Johann Jakob Brucker (1696 – 1770) ist einer der wichtigsten Philosophiehistoriker des 18. Jahrhunderts, dessen Phi­lo­so­phie­geschichten in vielfältiger Weise zur Grundlage der weiteren philosophiegeschichtlichen Forschung geworden sind. Er hat in deutscher und lateinischer Sprache in stupender Gelehrsamkeit alles damals verfügbare Wissen über die Geschichte der Philosophie in zwei mehrbändigen Ausgaben zusammengetragen: 1. Johann Jakob Brucker: Kurze Fragen aus der philosophischen Historie. Leipzig 1731 – 1736, 7 Bde. 2. Johann Jakob Brucker: Historia critica philosophiae a mundi incunabulis ad nostram usque aetatem deducta. Leipzig 1742 – 1744, 5 Bde. Zudem hat er eine zusammenfassende Schrift veröffentlicht, die als erstes Lehrbuch der Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in Europa gelten kann: Johann Jakob B ­ rucker: Erste Anfangsgründe der philosophischen Geschichte. Leipzig 1736 / Ulm 1751. Brucker unterteilt die Phi­lo­so­phie­geschichte in 1. Philosophie der Barbaren, 2. Philosophie [ausgehend von den] Griechen, 3. Exotische Philosophie. So umfasst die deutschsprachige Phi­lo­so­phie­geschichte folgende Themen: 1. Band: Philosophie der Barbaren: Philosophie vor der Sintflut, Philosophie der Hebräer, Philosophie der Chaldäer, Philosophie der Perser, Von der Indianischen Philosophie [Indien], Philosophie der Araber und Sabäer, Philosophie der Phönizier, Philosophie der Egypter, Philosophie der Mohren und Libyer, Philosophie der Kelten und Deutschen, Philosophie der Römer, Philosophie der Scythen, Geten, Thrakier, Philosophie bei den Griechen. 2. Band: Philosophie der Griechen. 3. Band: Philosophie der Römer. 4. Band: Jüdische Philosophie. 5. Band: Philosophie bei den Arabern und Saracenen, Mittelalterliche Philosophie. 6. Band: Philosophie in der Renaissance. 7. Band: Philosophie seit der Reformation / Philosophia exotica: Philosophie der 2

Vgl. hierzu vor allem das Kapitel »Verflechtungsgeschichten des Denkens in Afroeurasien« in: Elberfeld, Rolf: Philosophieren in einer globalisierten Welt. Wege zu einer transformativen Phänomenologie. Freiburg i. Br. 2017.



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Malabaren [Indien], Philosophie der Chinesen, Philosophie der Japaner, Philosophie der Canadeser [Kanadier], 8. Band: Zusätze. Im Folgenden seien kurze Zitate aus dem Lehrbuch Erste Anfangsgründe der philosophischen Geschichte angeführt, um Bruckers Einschätzung der Philosophie außer­halb Europas im Ansatz nachvollziehen zu können: »Der philosophischen Historie erster Priodus von Anfang der Welt bis auf den Anfang der Römischen Monarchie; Erster Theil: Von der barbarischen Philosophie; Das erste Buch: Von der Philosophie vor der Sündfluth; Erstes Capitel: Von der barbarischen Philosophie überhaupt; I. Was versteht man durch Barbaren in der philosophischen Historie? Barbaren nennten die Griechen alle diejenigen Völcker, deren Aussprache rauh und nicht so rund und lieblich lautete als die griechische. Hernach hieß bey den Griechen ein Barbar derjenige, der durch die Gelehrsamkeit nach griechischer Weise seinen Verstand nicht aufgeheitert hatte. Es sind also hier barbarische Völcker, welche keine Griechen sind. II. So haben dann diese barbarischen Völcker keine Philosophie gehabt? Wann man den Meynungen der Griechen nachgehet, so muß man freylich ja dazu sagen; wann man auch die Philosophie nach der anfangs gegebenen Bestimmung nimmt, so hat diese Bejahung ihren wahren Grund in der Geschichte. Dann die Griechen sind die ersten gewesen, welche die Erkenntnis der Wahrheit und Glückseligkeit in ein kunstförmiges Lehrgebäude verfasset haben. Versteht man aber durch die Philosophie eine Erkenntnis der zur Glückseeligkeit dienenden Wahrheiten überhaupt, so wie sie sonderlich durch die Sage und Übergabe von den Eltern auf die Kinder gekommen, so kann man diesen barbarischen Völckern eine Philosophie gar wohl zuschreiben.«3 »Das dritte Buch: Von der Philosophia exotica; Das erste Capitel: Von der Philosophie der asiatischen Völker überhaupt; I. Hat man auch ausser Europa philosophiert? Ja; nur muß man mercken, daß man sich von der Philosophie der Ausländer ein wenig einen andern Begriff machen müsse, als man bißher grossen Theils von der Philosophie gehabt. Es dachten und redeten nemlich die Ausländer zwar auch vom Wahren und Guten, sie vermischten es aber mit ihrer Religion, aus welcher das, was philosophisch ist, heraus gesucht werden muß. Weil dieses aber sehr weitläufig ist, so wird einem Anfänger genug seyn, wann er theils merckt, daß unter den Persern Brucker, Johann Jakob: Erste Anfangsgründe der philosophischen Geschichte. Leipzig 1736 / Ulm 1751, S. 7 f. 3

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noch Überbleibsel von der alten Zoroastrischen Religion und Philosophie zu finden, theils zur Probe etwas weniges von der Philosophie der Indianer [=Inder], Chineser und Japoneser weiß, weil von den Mahometanern schon seines Ortes Bericht gegeben worden ist.«4

Wie man leicht erkennen kann, legt Brucker zum einen den Maßstab des Diogenes Laertius zugrunde, spricht aber zum anderen den »Barbaren« doch »Philosophie« in einem allgemeineren und abgeschwächten Sinne und in Vermischung mit religiösen Motiven zu. Diese Argumentation ist bis heute noch vielerorts zu finden: Philosophie gab es nur bei den Griechen, aber bei großzügiger Betrachtung und einem weiten Verständnis von Philosophie und im Übergang zur Religion kann auch in außereuropäischen Traditionen von Philosophie gesprochen werden. Was allerdings heute gar nicht mehr selbstverständlich ist, ist die Breite der Differenzierungen für außereuropäische Philosophie bei Brucker, die aber im Laufe des 18. Jahrhunderts in den philosophiegeschichtlichen Darstellungen immer weiter abnimmt, wobei letztlich in vielen Darstellungen nur noch China und Indien übrigbleiben. C. Immanuel Kant (1724 – 1804) verengt den Begriff der Philosophie in radikaler Weise, so dass sich die Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung nach der Verbreitung der kantischen Philosophie in grundlegender Weise veränderte. Kant behauptet, dass es nur eine »wahre« und zeitgemäße Philosophie geben könne und alle anderen Philosophien mit dieser einen widerlegt seien. Er schreibt in der Vorrede zur Meta­ physik der Sitten (1797): »[…] Es kommt auf die Frage an: ob es wohl mehr als eine Philosophie geben könne? Verschiedene Arten zu philosophieren, und zu den ersten Vernunftprinzipien zurückzugehen, um darauf, mit mehr oder weniger Glück, ein System zu gründen, hat es nicht allein gegeben, sondern es mußte viele Versuche dieser Art, deren jeder auch um die gegenwärtige sein Verdienst hat, geben; aber, da es doch, objektiv betrachtet, nur Eine menschliche Vernunft geben kann: so kann es auch nicht viel Philosophien geben, d.i. es ist nur Ein wahres System derselben aus Prinzipien möglich, so mannigfaltig und oft widerstreitend man auch über einen und denselben Satz philosophiert haben mag. So sagt der Moralist mit Recht: es gibt nur Eine Tugend und Lehre derselben, d.i. ein einziges System, das alle Tugendpflichten durch Ein Prinzip verbindet; der Chymist: es gibt nur Eine Chemie (die nach Lavoisier); der Arzneilehrer: es gibt nur Ein Prinzip zum System der Krankheitseinteilung (nach Brown), ohne doch darum, weil das neue System alle andere ausschließt, das Verdienst der älteren (Moralisten, Chemiker und Arzneilehrer) zu schmälern; weil, ohne dieser ihre Entdeckungen, oder auch mißlungene Versuche, wir zu jener Einheit des wahren Prinzips der ganzen Philosophie in einem System nicht gelanget wären. – Wenn also jemand 4

Ebd., S. 537 f.



Ansätze globaler Philosophiegeschichtsschreibung

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ein System der Philosophie als sein eigenes Fabrikat ankündigt, so ist es eben so viel, als ob er sagte: ›vor dieser Philosophie sei gar keine andere noch gewesen‹. Denn wollte er einräumen, es wäre eine andere (und wahre) gewesen, so würde es über dieselben Gegenstände zweierlei wahre Philosophien gegeben haben, welches sich widerspricht. – Wenn also die kritische Philosophie sich als eine solche ankündigt, vor der es überall noch gar keine Philosophie gegeben habe, so tut sie nichts anders, als was alle getan haben, tun werden, ja tun müssen, die eine Philosophie nach ihrem eigenen Plane entwerfen.«5

Mit dieser Auffassung von der einen wahren Philosophie, die sich aus einheitlichen und rationalen Prinzipien ableitet, konnten vielfältige Zusammenhänge mit bestem Gewissen aus der Phi­lo­so­phie­geschichte und der Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung ausgeschlossen werden mit dem Hinweis, dass außerhalb Europas kein rationales und an Prinzipien orientiertes Denken zu finden sei. Diese Behauptung wird bis heute vertreten, obwohl die, die dieses behaupten, natürlich nicht alle Quellen kennen, an denen man diese Behauptung überprüfen könnte. Dies führte spätestens in der ersten Fassung des »Ueberwegs«6 zum kompletten Ausschluss außereuropäischer Philosophie mit der Begründung, dass es außerhalb Europas unter rationalen Kriterien nichts Philosophisches gebe.7 D. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) hielt mehrmals seine Vorlesung zur Geschichte der Philosophie. Die Vorlesungsmitschriften wurden nach dem Tode Hegels von Karl Ludwig Michelet rekonstruiert und zusammengestellt. In dieser Fassung sind sie überaus wirksam geworden. Bekanntlich versteht Hegel die Phi­lo­ so­phie­geschichte als einen Verlauf von Osten nach Westen. Anders als Kant bezieht er die »orientalische Philosophie« wieder mit ein, auch wenn er diese im gleichen Atemzug abwertet: »Das erste ist die orientalische Philosophie, aber sie tritt nicht in den Körper der ganzen Darstellung ein; sie ist nur mehr etwas Vorläufiges, von dem wir nur sprechen, um davon Rechenschaft zu geben, warum wir uns nicht weitläufiger damit beschäftigen und in welchem Verhältnis es zum Gedanken, zur wahren Philosophie steht. Wir sollen, indem wir von der orientalischen Philosophie sprechen, eben von der Philosophie sprechen, aber in dieser Rücksicht ist gleich zu bemerken, daß das, was man ,orientalische Philosophie‹ nennt, vielmehr die religiöse Vorstellungsweise der Orientalen überhaupt ist – eine religiöse Vorstellung, Weltanschauung, die sehr Kant, Immanuel: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Metaphysik der Sitten. Erster Teil. Hg. v. B. Ludwig. Hamburg 1998, S. 7. 6 Ueberweg, Friedrich: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Von Thales bis auf die Gegenwart. 3 Bde. Leipzig 1863 – 1871. 7 Vgl. zur Entwicklung der kantianischen Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung: Braun, Lucien: Geschichte der Phi­lo­so­phie­geschichte. Darmstadt 1990, S. 217 – 279. 5

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nahe liegt, für Philosophie zu nehmen. Wir haben eben schon abgeschieden die Gestaltung, in der das Wahre die Form der Religion erhält, und die Form, die es durch den Gedanken in der Philosophie bekommt. Die orientalische Philosophie ist also religiöse Philosophie, religiöse Vorstellung, und es ist der Grund anzugeben, warum es näherliegt, die orientalische Religionsvorstellung auch als Philosophie zu betrachten.   Bei der römischen, griechischen und christlichen Religion werden wir weit weniger an Philosophie erinnert; sie sind weniger dazu geeignet; die griechischen und römischen Götter sind Gestaltungen für sich, ebenso Christus und der Gott der Juden; so können wir hierbei im ganzen stehenbleiben; wir brauchen sie nicht sogleich für Philosopheme zu halten, sondern es wäre ein eigenes Geschäft, die Gestaltungen der griechischen Mythologie und der christlichen und anderer Religionen erst zu interpretieren und zu verwandeln in Philosopheme. Bei der orientalischen Religion hingegen werden wir viel unmittelbarer an eine philosophische Vorstellung erinnert.«8

Hegels Einschätzungen schließen im Grundtenor an die von Brucker an. Er versucht aber im Gegensatz zu Brucker in systematischer Weise zu zeigen, wie der Weltgeist sich langsam über verschiedene Gebiete hinweg von Osten nach Westen entfaltet hat und in der Gegenwart Hegels seinen Höhepunkt reflexiver Selbstvergewisserung erreicht. Anders als Kant schließt Hegel bestimmte Stationen außereuropäischer Philosophie nicht aus, sondern deutet sie als Vorstufen des Geistes, wobei die eigentliche Philosophie erst in Griechenland beginnt. * 1. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden wir erstmalig einen komplett anderen Entwurf der Geschichte der Philosophie unter dem damals zum Leitwort avancierten Begriff der »Kultur«. Paul Hinneberg konzipierte zu Anfang des Jahrhunderts eine Buchreihe unter dem Titel Die Kultur der Gegenwart, die die kulturellen Errungenschaften der damaligen Gegenwart in all ihren Aspekten darstellen sollte. Es handelte sich um ein enzyklopädisches Projekt, das letztlich unvollendet blieb, aber dennoch überraschende Ergebnisse zeitigte. So erschien 1909 erstmalig der Band Allgemeine Geschichte der Philosophie, der unter anderem von Wilhelm Wundt herausgeben wurde.9 Der Inhalt des Bandes umfasste die folgenden Themen, dargestellt in Form von Aufsätzen: Wilhelm Wundt, Philosophie der Primitiven Völker; Hermann Oldenberg, Die indische Philosophie; Wilhelm Grube, Die chinesische Philosophie; Tetsujiro Inouye, Die japanische Philosophie; Hans von Arnim, Die europäische Philosophie des Altertums; Clemens Baeumker, Die patristische Philosophie; Ignaz Goldziher, Die islamiHegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Einleitung. Orientalische Philosophie. Hg. v. Walter Jaeschke. Hamburg 1993, S. 365. 9 Zweite vermehrte Aufl. 1923. In: Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, Teil I Abteilung V. Hg. v. Paul Hinneberg, Berlin 1905 ff. 8



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sche und die jüdische Philosophie des Mittelalters; Clemens Baeumker, Die christliche Philosophie des Mittelalters; Wilhelm Windelband, Die Neuere Philosophie. In diesem Band ist ein philosophisches Spektrum vertreten, dass es in dieser Form noch nicht gegeben hatte. Verschiedenes ist bemerkenswert. Der Aufsatz von Wundt bezieht die damals aufblühende ethnologische Literatur mit ein unter dem Titel »primitive Völker«. Wurden diese bei Brucker noch die »Barbaren« genannt, so wurden die kleinen Kulturen spätestens seit Taylors Buch Primitive Culture von 1871 im Rahmen eines kulturellen Entwicklungsschemas als die »Primitiven« bezeichnet. Wundts Überlegungen bereiten Auslegungen vor, die wir später bei LéviStrauss finden unter dem Stichwort das »Wilde Denken«. Dieses Thema ist für die Philosophie noch immer schwierig und bedürfte im Rahmen einer globalen Phi­ lo­so­phie­geschichts­schrei­bung einer vertieften Erforschung.10 Die Darstellungen der indischen und chinesischen Philosophie stammen jeweils von einem damals berühmten Indologen bzw. Sinologen. Hier zeigt sich, dass die außereuropäische Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung zu diesem Zeitpunkt in Europa in die Philologien ausgelagert wurde, so dass in den folgenden Jahrzehnten zwar immer wieder Phi­lo­so­phie­geschichten beispielsweise zu Indien und China entstanden, diese aber in der europäischen Fachphilosophie nicht mehr rezipiert wurden. Der Aufsatz über die japanische Philosophie ist eine weitere Innovation des Bandes. Erstmals stellte ein Japaner, der zuvor Philosophie in Deutschland studiert hatte, selbst die Entwicklung der Philosophie in seinem Land dar. Hier zeigt sich, dass durch die Weltkongresse der Philosophie seit 1900 eine neue Epoche des sich immer weiter vernetzenden Gesprächs in der Philosophie begonnen hatte.11 Ähnliches kann für die Darstellung der islamischen und jüdischen Philosophie festgehalten werden. Auch wenn beide Themen durch den damals berühmten jüdischen Orientalisten Ignaz Goldziher dargestellt wurden, so gilt Goldziher auch als einer der Begründer der modernen Islamwissenschaften. Goldziher hatte somit einen breiten Zugriff auf die hebräischen und arabischen Quellen der Philosophie. Die Zusammenstellung und die Auswahl der Themen wird in dem Band selbst nicht weiter reflektiert. Vermutlich fehlte eine Person in der Fachphilosophie, die den Zusammenhang übergreifend zu diskutieren in der Lage war. 2. Der von Friedrich Ueberweg begründete Grundriss der Geschichte der Philosophie (Urbearbeitung 1863 – 1871) hat eine bemerkenswerte Neu- und Umarbeitungs­ Vgl. Därmann, Iris: Fremde Monde der Vernunft. München 2005; Wirkungen des wilden Denkens – Zur strukturalen Anthropologie von Claude Lévi-Strauss. Hg. v. Michael Kauppert u. Dorothe Funcke. Frankfurt a. M. 2008. 11 Zur Geschichte der Weltkongresse für Philosophie im 20. Jahrhundert vgl. Elberfeld, Rolf: Philosophieren in einer globalisierten Welt. Wege zu einer transformativen Phänomenologie. Freiburg i. Br. 2017, Kap. II. 10

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geschichte bis in die Gegenwart hinein, deren Ende auch heute noch nicht absehbar ist.12 Auch wenn die erste Fassung des Grundrisses zu Anfang die alte »orientalische« Philosophie aus der Darstellung ausschloss, so ergab sich mit der 9. Neubearbeitung der Urfassung und der Ausgliederung der Darstellung für die Philosophie des 19. Jahrhunderts im Jahr 1902 eine Neuerung, die Unerwartetes in den Blick brachte.13 Der 3. Teil der Urfassung Die Neuzeit schloss noch mit nur fünf Seiten zum Thema Der gegenwärtige Zustand der Philosophie ausserhalb Deutschlands mit der Bemerkung: »Ausserhalb Deutschlands sind seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts originale philosophische Systeme nicht entstanden; doch ward die philosophische Tradition gewahrt und theilweise auch die Forschung weiter geführt.«14 Dennoch werden auch in diesem Band der Urfassung bereits eine Liste von Ländern – neben England, Frankreich, Italien und Spanien – genannt, die nur selten nach nationalstaatlicher Bezeichnung in der Phi­lo­so­phie­geschichte genannt worden waren: Nordamerika, Belgien, Holland, Dänemark, Schweden, Norwegen, Russland, Polen und Ungarn. Durch die Ausgliederung der Darstellung zum 19. Jahrhundert wurde dieser Teil über die gegenwärtige Philosophie außerhalb Deutschlands erheblich erweitert, so dass auf gut 280 Seiten viele neue Informationen zugänglich wurden. Geographisch veränderte sich hingegen in diesem Band das Spektrum nicht. Erst in der 11. Neubearbeitung, in der der Band Das neunzehnte Jahrhundert und die Gegenwart von Konstantin Oesterreich ganz neu bearbeitet herausgegeben wurde, erweiterte sich die Darstellung beispielsweise zur Philosophie in Nordamerika erheblich. Erstmalig trat auch die Darstellung der (gegenwärtigen) Philosophie in Asien hinzu, die allerdings nur zwei Seiten umfasste. In der zweiten vollständigen Neubearbeitung des Ueberwegs von 1924 bis 1927 wurde eine Neueinteilung unternommen und es trat ein 5. Teil hinzu mit dem Titel Die Philosophie des Auslands vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart. Einträge erhalten folgende nationale Philosophiekontexte: Frankreich, England, Italien, Schweden, Finnland, Dänemark, Norwegen, Holland, Tschechien, Polen, Russland, Ungarn, Spanien, Griechenland, Nordamerika, (erstmalig) Süd- und Mittelamerika und Asien. Auch wenn die beiden zuletzt genannten Bereiche wieder sehr kurz ausfielen, so wirkt das Bild jedoch geographisch deutlich erweitert. Die Begründung für diese neuen Differenzierungen resultieren aus dem zu Anfang des 20. Jahrhunderts immer stärker durch Nationen geprägten Bewusstsein auch in der Philosophie:

Vgl. Rother, Wolfgang: Vom alten zum neuen Ueberweg. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike. Bd. 1. Frühgriechische Philosophie. Hg. v. Hellmut Flashar, Dieter Bremer, Georg Rechenauer. Basel 2013, S. XV–XXV. 13 Ueberweg, Friedrich: 4. Teil. Das neunzehnte Jahrhundert, 9., neu bearbeitete, mit einem Philosophen- und Litteratoren-Register versehene Auflage. Hg. v. Max Heinze. Berlin 1902. 14 Ebd., S. 300. 12



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»Die Entwicklung der europäischen wie der außereuropäischen Philosophie seit 1800 läßt deutlich erkennen, wie sehr die Ausbildung dieser Wissenschaft, so sehr sie an indviduelle Begabungen gebunden ist, zugleich doch auch von der umgebenden Kultur bedingt ist. Erst mit dem Erstarken der nationalen Individualität traten überall selbständigere Philosophien hervor. […] Die Differenzierung des Kulturlebens, wie sie sich im Laufe der letzten Jahrhunderte in immer steigendem Maße nach Nationen und Ländern herausgebildet hat, spiegelt sich auch in der Geschichte der Philosophie deutlich wieder. […] Die Idee der einen übernationalen Wahrheit ist in den Hintergrund getreten gegenüber der Freude an einer national-charakteristischen Weltanschauung.«15

Mit dem Band von 1927 hatte eine »Nationalisierung« der Philosophie eingesetzt, mit der zum einen ein neues und deutlich erweitertes Bild von der Geschichte der Philosophie entstanden ist, zum anderen bildet diese Nationalisierung der Philosophie aber bis heute einen Stein des Anstoßes, da es sich ja bei der Kategorie der »Nation« nicht um eine philosophische, sondern eine politisch-geographische Einteilung handelt. Bis heute hat eine globale Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung mit diesem Problem zu kämpfen. In der 3. Neubearbeitung des Ueberwegs seit 1983 müssen hierfür neue Wege gefunden werden. So erscheinen beispielsweise die vier Bände zur arabisch-islamischen Philosophie unter dem Obertitel Philosophie in der islamischen Welt. Das Wort »Welt« klingt erheblich offener als »Nation« oder auch »Kultur«, dennoch ist auch diese Einteilung eigens philosophisch zu begründen und weiter zu reflektieren. 3. Karl Jaspers (1883 – 1969) legte im Jahr 1957 einen monumentalen Versuch vor, über die Grenze der Zeiten und Kulturen hinweg ins philosophische Gespräch mit den von ihm so genannten »großen Philosophen« zu finden, um auf diese Weise seine Gegenwart und Zukunft philosophisch bestimmen zu können. Das Buch Die großen Philosophen schlägt einen Bogen, der für die damalige Zeit erstaunlich ist. Jaspers versuchte die zu seiner Zeit bereits unüberschaubare Fülle an philosophiegeschichtlichen Informationen zu bewältigen, indem er eine philosophia perennis konzipierte, die nicht an den Grenzen Europas haltmacht. »Die Weltgeschichte der Philosophie ist zum erstenmal bewußt durch Hegel, heute aber ganz anders als damals zum Element gegenwärtigen Philosophierens geworden. […] Die Überlieferung der Philosophie ist für uns wie ein Meer, das nach Umfang und Tiefen unausgemessen und unausmeßbar ist. Noch nie zwar hat man wie heute enzyklopädisch so viel gewußt, noch nie hatte man so viele Texte in trefflichen AusFriedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie, 5. Teil. Die Philosophie des Auslands vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart. Hg. v. Konstantin Oesterreich. Berlin 1927, S. II f. Dieser Band wurde 1953 in der 13. Auflage unverändert nachgedruckt. 15

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gaben zur Verfügung, noch nie so viele Berichte über das Gedachte, so viele Register und Nachschlagewerke, die, was man sucht, schnell bereitstellen. Diese bewunderungswürdigen Leistungen sind unentbehrlich für jede realistische Beschäftigung mit der Phi­lo­so­phie­geschichte. Aber sie bringen als solche die Philosophie nicht zu lebendiger Gegenwart. Eher entsteht das verwirrende Wissen einer Vielfachheit des Nebeneinander und Nacheinander oder die irreführende Vereinfachung in dogmatischen Übersichten.«16 »[Die Philosophen] stehen durch Probleme, Fragen und Antworten im Zusammenhang sachlicher Entwicklungsmöglichkeiten. Sie haben ihre Beziehung zu Mythus, Religion, Dichtung und Sprache. Sie zeigen eine Verwirklichung des Philosophierens in ihrer eigenen Praxis oder in den historischen Folgen ihrer Gedanken. Sie bedeuten gleichsam Inkarnationen von Mächten menschlicher Möglichkeiten, stoßen sich ab, verbünden sich, gehen gleichgültig aneinander vorüber oder beziehen sich aufeinander. Aber jene Aspekte unter historischen, sachlichen, genetischen, praktischen und kämpferischen Gesichtspunkten treten, obgleich unentbehrlich als Mittel der Auffassung, doch zurück in dem Maße, als die Philosophen selbst sichtbar werden. An ihre Zeit durch ihre Erscheinung gebunden, werden sie zeitlos objektive Gestalten, überschreiten sie den Geist ihres Zeitalters, indem sie ihn prägen. Sie können in der Folge auf alle Zeiten wirken. Sie interessieren als sie selbst und ihre Wahrheit. Jeder ist durch Werk und Wesen einzig, in einem nicht definierbaren Punkt unüberbietbar, wenn auch jeder, unterworfen dem Geschick aller Menschen, seine zu ihm gehörenden Grenzen hat. Sie sind in ihrem übergeschichtlichen Charakter wie ewige Zeitgenossen.«17 »Wir wissen nur, daß der Weg zur tiefsten Vernunft in Jahrtausenden von den Philosophen beschritten wurde, und daß wir mit ihnen auf diesen Weg gelangen möchten.«18

Schon im Jahre 1949 hatte Jaspers in seinem Buch Vom Ursprung und Ziel der Geschichte die Theorie der »Achsen-Zeit« entwickelt. In dieser Achsen-Zeit (800 v. bis 200 n. u. Z.) sind nach Jaspers in verschiedenen geographischen Räumen unabhängig voneinander philosophische Denkbewegungen entstanden, die durch »maßgebende Menschen« repräsentiert werden und die alle in einen großen umfassenden philosophischen Zusammenhang hineingehören. Sein Buch Die großen Philosophen beginnt daher zunächst mit einer längeren Bestimmung von »Größe« in der Philosophie. Daran anschließend werden Sokrates, Buddha, Konfuzius und Jesus als die »maßgebenden Menschen« vorgestellt. Als die »Fortsetzenden Gründer des Philosophierens« kommen dann Plato, Augustinus und Kant zu Wort. Im letzten Teil Jaspers, Karl: Die großen Philosophen. München 1957, S. 7. Ebd., S. 9 f. 18 Ebd., S. 13 f. 16 17



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finden sich unter dem Titel Aus dem Ursprung Denkende Metaphysiker Darstellungen zu Anaximander, Heraklit, Parmenides, Plotin, Anselm, Spinoza, Laotse und Nagarjuna. An dieser Auswahl kann man gut die Gesinnung Jaspers erkennen und somit auch die Grenzen seines Entwurfs. Er versucht im Sinne eines lebendigen Philosophierens der Gegenwart die Grenzen der europäischen Phi­lo­so­phie­geschichte zu lockern. Dies gelingt ihm aber nur partiell, indem er vier – wenn man Jesus auch dazu zählt, fünf – außereuropäische »große Denker« einbezieht. Sein Entwurf gibt Anlass, kritisch über die Möglichkeiten und Grenzen eines »überzeitlichen« Raumes der Vernunft im Sinne einer philosophia perennis und die Orientierung an »Großen Denkern« nachzudenken als mögliche Grundlage für Phi­lo­so­phie­ geschichts­schrei­bung in globaler Perspektive. 4. Kurt Schilling (1899 – 1977) hat im Jahr 1964 einen Versuch zur Weltgeschichte der Philosophie vorgelegt. Er bezieht folgende Bereiche und Epochen ein: Indien, China, Die antike Mittelmeerwelt [Griechen, Zarathustra, Neuplatonismus, Judentum], Wiedergeburt der Philosophie in den sekundären Hochkulturen: Islam, Christentum, Europa 15.–19. Jh., Industriezeitalter. Er unterscheidet in programmatischer Weise die »Geschichte der Philosophie« und die »Weltgeschichte der Philosophie«: »Die ›Geschichte der Philosophie‹ schlechtweg ist die Erforschung unserer Tradition des Philosophierens. Diese Tradition beginnt mit den Griechen und endet mit der heute nicht mehr lebenden letzten Generation. Man kann diesen alten Titel ›Geschichte der Philosophie‹ nicht unbedacht in ›Weltgeschichte der Philosophie‹ verändern. Die Geschichte der Philosophie hat für uns grundsätzlich eine andere philosophische Aufgabe als die Welt-geschichte der Philosophie. In der erstgenannten kommt es darauf an, zuvor in aller Breite einen Begriff von Philosophie zu entwickeln, der nicht nur beschränkt ist auf die Gegenwart, sondern die Möglichkeiten umfaßt, die traditionell hinter ihr stehen. Erst mit diesem Begriff kann man sich dann auch an Kulturen wenden, die ganz außerhalb der eigenen Tradition liegen und auf der Grundlage der letzten Gleichheit alles Menschlichen die Ähnlichkeiten in der Philosophie verschiedener Kulturen wiedererkennen. Eine nur aus der Gegenwart stammende einseitige Privatsystematik des Verfassers genügt dazu so wenig wie die genauesten philologischen und historischen Kenntnisse auf einem, vielen oder sogar allen Gebieten. Ich muß wirklich zuvor schon wissen, was Philosophie ist. Es wäre auch nicht mehr sinnvoll, eine Weltgeschichte der Philosophie von verschiedenen spezialisierten Verfassern schreiben und vom Buchbinder zusammenheften zu lassen. Der Name wäre damit usurpiert und mißbraucht.   Ich habe diese Auseinandersetzung mit der ganzen Tradition unseres europäischen Denkens bis zurück zu den Griechen in meiner ›Geschichte der Philosophie‹ (2 Bde., II. Aufl., 1951/53) versucht. Dieses Buch ist, wie ausdrücklich betont sei, etwas völlig anderes und auch ebenso selbständig gegenüber der vergleichenden Weltgeschichte

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wie diese ihm gegenüber. Trotzdem ist eine Weltgeschichte der Philosophie für jeden Autor heute ein Wagnis. Es wird niemanden mehr geben, der die Philosophie als solche und zugleich Sprache und Kultur, nicht nur der eigenen Tradition bis zurück zu den Griechen, sondern auch die der Chinesen, Inder, Perser, Araber, beherrscht. (Gerade die einseitige Schopenhauernachfolge, nicht nur eine ungenügende Indologie, hat z. B. Deussen dazu gebracht, die tiefgreifenden Unterschiede zwischen dem Rigveda, den Upanishaden, Buddha und dem Vedānta zu verwischen.) Und so ist diese gesamte nichteuropäische Philosophie bisher überhaupt nur als Literaturgeschichte von Texten dargestellt worden. Für den nichtsprachkundigen Philosophen, der hier mit Übersetzungen und erzählten Berichten aus zweiter Hand sich behelfen muß, ist auch nur ein Überblick möglich, keine so eingehende Auseinandersetzung wie in meinem älteren zitierten Buch mit der eigenen, auch sprachlich durchdringbaren Tradition. Daran möchte ich von vornherein keinen Zweifel lassen. Ich kann nicht chinesisch, sanskrit, avestisch, arabisch. Aber auch ein Überblick mit richtigen, in der eigenen zweieinhalbtausendjährigen Tradition bewährten Gliederungen und Urteilen ist für die Philosophie etwas anderes als die beste Literaturgeschichte philosophischer Texte mit falschen, einseitigen oder gar keinen. Mag also dieses Wagnis andere, die auch über die philosophischen Voraussetzungen verfügen, anregen, es im einzelnen zu berichtigen oder im ganzen besser zu machen.«19

Methodisch ist bemerkenswert, dass Schilling zunächst einen klaren Begriff der Philosophie aus der eigenen, europäischen Phi­lo­so­phie­geschichte heraus bestimmt, um dann alle anderen von dieser Bestimmung her zu beurteilen. Er denkt nicht an die Möglichkeit, dass durch die Auseinandersetzung mit außereuropäischem Denken auch neue Möglichkeiten verbunden sein könnten, die Philosophie und ihre Geschichte neu zu bestimmen. 5. Nakamura Hajime (1912 – 1999), japanischer Indologe und Philosoph, legte 1975 sein Buch Parallel Developments. A comparative History of ideas in englischer Sprache vor. Nakamura war einer der wenigen Gelehrten seiner Zeit, die nicht nur Sanskrit, Chinesisch und Japanisch beherrschten, sondern auch Zugang zu europäischen Sprachen besaßen. Sein Zugang zu einer globalen Ideengeschichte ist vergleichend und darauf gerichtet, die Ähnlichkeiten und Differenzen in parallelen Entwicklungsgeschichten des Denkens anhand von Sachfragen zu thematisieren. Es stehen also nicht Personen, wie bei Jaspers, sondern Sachthemen im Zentrum der Aufmerksamkeit. »We are living in the age when things should be viewed and discussed on a global scale. No event is isolated from other events. We are in need of a kind of global history of ideas in which the developments of ideas should be viewed in the global scope, and 19

Schilling, Kurt: Weltgeschichte der Philosophie. Berlin 1964, S. 27/29.



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yet we are afraid that no work to the effect has been brought about. Of course, there have been published a number of authoritative works, such as History of Philosophy Eastern and Western or History of World Religions and so on. But in these works separate courses of development of ideas in various cultural areas were set forth in different chapters by different scholars from different angles, and the final outcomes seem too disparate, providing us with no conformity in the purpose and the style.   I thought that in order to keep conformity, developments of ideas in various cultural areas should be viewed by a single author and then the details should be corrected by other scholars specialising in various aspects of human intellect or in different traditions.   To this end I have toiled presumptuously to write a comparative history of ideas covering various traditions in global scope. In launching this project I tried to avoid elaborate theorising and allow the data to speak for themselves, as a glance at the following pages will show. Some theoretical considerations are, of course, unavoidable but whatever theories emerge in this work do not wander far: from the problems that emerge from the data of intellectual history.   I have attempted to describe and assess certain key problems in the history of ideas, both East and West. The material has been patiently collected; it was there, and it seemed a pity not to put it into some kind of order and present it to a public that might, after all, find something of value hidden within these pages. This work does not necessarily cover all important religions and philosophical systems. It covers only those features or problems of thought which are common to East and West through the end of the nineteenth century. Synchronical considerations are chiefly presented in the main text, while diachronical similarities between thinkers of different ages are mentioned mostly in the footnotes.«20 »This work represents an attempt to isolate, describe and analyze certain key philosophical problems that have appeared historically in almost parallel development within different cultural areas, East and West. The terms ›religion‹ and ›philosophy‹ will be used in this work in the broadest possible sense. In the West the two terms have been fairly sharply distinguished from each other, while in Eastern traditions the dividing line is often difficult to discern. If we insist on being too strict in our definitions, we fail to catch many common problems. It is possible that an idea or attitude held by a Western philosopher finds its counterpart not in an Eastern philosopher but in an Eastern religious thinker, and vice versa. For example, the virtue of tolerance was stressed in the West more by enlightened philosophers than traditional religionists, whereas in Japan and China it was emphasized more by traditional religionists than by modern philosophers. Thus, if we limit our scope to only one of the two, either religion or philosophy, we are apt to miss some interesting common Nakamura, Hajime: Parallel Developments. A comparative History of ideas. Hg. v. Ronald Burr. With a preface by Charles Morris. Tōkyō 1975, S. V. 20

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features. Although this work is chiefly focused on ›philosophical thought,‹ we shall occasionally deal with symbols and practices which are inseparable from it.«21

Nakamuras Entwurf ist der erste systematisch an Sachfragen orientierte und philologisch informierte Versuch, die Denkgeschichte zwischen Asien und Europa zu sondieren. Sein Buch wirft wichtige Fragen für die Darstellungsform einer global orientierten Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung auf, die auch heute erneut durchdacht werden müssen. 6. John C. Plott (gest. 1990) hat den ersten Versuch unternommen, eine Global History of Philosophy zu schreiben.22 Im Rahmen dieses Versuchs liegen fünf Bände vor. 1. The Axial Age (1963), 2. The Han-Hellenistic-Bactrian Period (1979), 3. The Patristic-Sūtra Period (1980), 4. The Period of Scholasticism, Teil I (1984), 5. The Period of Scholasticism, Teil II (1989). Wie die Titel der einzelnen Bände zeigen, hat sich Plott bemüht, ein eigenes Periodisierungsschema zu entwerfen, das er allerdings erst für den zweiten Band – d. h. über zehn Jahre nach dem ersten – entwickelt hat. Hält er sich im ersten Band noch an die von Jaspers vorgeschlagene Bezeichnung »Achsenzeit«, so bahnt er 16 Jahre später neue Wege für die Bezeichnung der verschiedenen Perioden. »Wir können nicht mehr Periodisierungen vorschlagen, die nicht alle historischen Fakten einschließen, auch die Kunst, Literatur und Musik; und gewiß ist auch die Bedeutung von Transport und interkultureller Kommunikation in der Entwicklung aller Zivilisationen stark unterschätzt worden. Daher hoffen wir, die Notwendigkeit für eine multi-dimensionale Zugangsweise zur allgemeinen Geschichtsphilosophie ebenso wie zur Weltgeschichte selbst zu unterstreichen.   Die Diskrepanzen zwischen allen geläufigen Periodisierungen der Weltgeschichte machen es zu einer dubiosen Frage, ob eine für alle annehmbare Periodisierung überhaupt möglich ist. Jedoch ist es angesichts der allgemein üblich gewordenen Verzerrungen notwendig, als einen modus vivendi etwas anzustreben, womit man eher arbeiten kann als mit dem, was bisher angeboten wurde, etwas, das kommenden Generationen helfen kann, sich von dem Provinzialismus, den kulturellen Fanatizismen und Ethnozentrismen freizumachen, welche die Menschheit bis heute geplagt haben.«23

Plotts Vorschlag für eine neue Periodisierung der Phi­lo­so­phie­geschichte in globaler Perspektive gliedert sich wie folgt: 21

Ebd., S. 3. Plott, John C.: Global History of Philosophy. Vol. 1 – 5. Delhi 1963 – 1989. 23 Ein vollständige Übersetzung der Überlegungen aus Band zwei findet sich auf der Homepage von Franz Wimmer: http://homepage.univie.ac.at/franz.martin.wimmer/plottperioden. html. 22



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Die Prä-Achsenzeit: 3500 – 1600 v. (Bildung der Mythologien) Die Achsenzeit (750 – 250 v.) Frühe Achsenzeit (750 – 500 v.) Mittlere Achsenzeit (500 – 325 v.) Späte Achsenzeit (325 – 250 v.) Die Han-Hellenistisch-Baktrische Periode: (250 v. – 325 n.) Die frühe han-hellenistisch-baktrische Periode (250 v. – 50 n.) Späte han-hellenistisch-baktrische Periode (50 – 325 n.) Patristik-Sutra-Periode (325 – 800) Frühere Patristik-Sutra-Periode (325 – 625) Spätere Patristik-Sutra-Periode (625 – 800) Periode der Scholastik (800 – 1350) Die Periode der Begegnungen (1350 – 1850) Wachsende Begegnungen: Synthese und Verfeinerung (1350 – 1550) Maximale Begegnungen: europäische Expansion, Entdeckung und Ausbeutung (1550 – 1750) Rückzug von den Begegnungen: Nationalismus und Naturalismus (1750 – 1850) Die vollständige Begegnung 1850 – heute Mit diesem Vorschlag hat Plott einen Vorstoß gewagt, der in vielerlei Hinsicht anregend ist. Zum einen kann sich an diesem Vorschlag die Frage nach alternativen Periodisierungssystemen entzünden und zum anderen stellt sich die Frage, ob es tatsächlich nötig und möglich ist, für alle philosophischen Entwicklungen in globaler Perspektive ein solches System entwerfen zu können.24 7. Klaus Dieter Eichler und Ralf Moritz haben kurz vor der Wende im Jahr 1988 einen Band in Ost-Berlin herausgegeben mit dem Titel: Wie und warum entstand Philosophie in verschiedenen Regionen der Erde? Der Titel des Bandes akzentuiert die Geschichte der Philosophie in geographischer Hinsicht, so dass nach Ursprüngen der Philosophie in verschiedenen Regionen der Welt gefragt wird. Der Band umfasst folgende Beiträge: Hiltrud Rüstau, Die Genesis der altindischen Philosophie; Ralf Moritz, Wie und warum entstand in China philosophisches Denken?; Steffi Richter, Zur Herausbildung philosophischen Denkens in Japan; Klaus-Dieter Eichler/Helmut Seidel, Philosophie im antiken Griechenland; Gerd-Rüdiger Hoffmann, Wie und warum im subsaharischen Afrika Philosophie entstand; Birgit Gerstenberg, Philosophisches Denken im präkolumbischen Mexiko und die Philosophie der Kolonialzeit 24

Vgl. hierzu auch die Überlegungen zur Periodisierung von Phi­lo­so­phie­geschichte von Eli Franco in diesem Band.

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in Lateinamerika. Der programmatische Horizont des Bandes ist der Marxismus, der für die Autorinnen und Autoren die folgenden Auswirkungen hatte: »Philosophie, die ›Liebe zur Weisheit‹, das Wort ist, wie wir alle wissen, griechischen Ursprungs, und wer an Entstehung von Philosophie denkt, hat zunächst meist das Denken im antiken Griechenland im Sinn. Doch auch außerhalb der griechischeuropäischen Kulturentwicklung hat es philosophisches Denken gegeben, und zwar höchst bedeutsames, höchst produktives, oft mit immenser geschichtlicher Wirksamkeit. Die Autoren des vorliegenden Buches möchten ihren Beitrag dazu leisten, den Blick zu weiten und die gesamte Weltkarte der Philosophie zu betrachten. Dies entspricht dem Internationalismus unserer Weltanschauung und unserer politischen Praxis. Doch ist das leichter gesagt als getan, denn dabei ist an die Schwierigkeiten im Umgang mit Quellen zu denken, an Sprachbarrieren, an die Notwendigkeit, vorhandene Übersetzungen kritisch zu benutzen, an zwangsläufige Unsicherheiten der Interpretation, nicht zuletzt an die vielen Fragen, die noch bei der Klärung von historischen Voraussetzungen geistiger Entwicklungen auftreten. Nichtsdestoweniger gibt es gute Gründe, das philosophische Erbe der Menschheit als Ganzes in den Blick zu nehmen, Gründe, die zunehmend dringlicher werden.   Der wohl gewichtigste Grund: Atomare Bedrohung heißt heute Bedrohung der ganzen Menschheit, und dies läßt bewußt werden, was es im Kampf dagegen zu bewahren gilt: eben das Gattungswesen Mensch mit allem, was es hervorgebracht hat und was von der Entwicklung seiner produktiv-schöpferischen Möglichkeiten zeugt. Der Gedanke an den universellen kulturhistorischen Entwicklungsprozeß der Menschheit sensibilisiert für das ganze Ausmaß dessen, was es heute zu erhalten gilt und im Kampf für den Frieden eingesetzt werden kann und muß.   Die geistige Aneignung der Wirklichkeit durch den Menschen hat menschheitsgeschichtliche Größenordnung; Phi­lo­so­phie­geschichte ist damit zwar nicht identisch, wird aber in diesem universellen Prozeß erzeugt. Wir als Marxisten fühlen uns allem, was Menschen an Progressivem, Produktivem und Humanistischem, an Wissen und Erkenntnis über die Welt hervorgebracht haben, verpflichtet. Wir sehen darin eine Bestätigung menschlicher Wesenskräfte, schöpferischer Leistungen. Wie der Kampf um den Frieden weltweite Dimension hat, so sind die produktiven geistigen Leistungen der Menschheitsgeschichte ein weltweites Potential in diesem Kampf. Sozialistischer Humanismus prägt unseren Zugang auch zu den geistigen Errungenschaften anderer Völker und prägt unsere Achtung vor ihnen. Auch philosophische Traditionen verstehen wir als Ausdruck jeweiliger geschichtlicher Erfahrungen, wir sehen in ihnen eine Widerspiegelung des Weges, den ein Volk historisch zurückgelegt hat. Jedes Volk hat mit seiner Geschichte einen Beitrag zum Werden der Welt von heute geleistet. Aufgabe ist, die Originalität eines solchen Beitrages zu würdigen, das, was er an Spezifischem in die Schatzkammer der Menschheitskultur eingebracht hat – fehlte es, wäre die Menschheit heute ärmer. […]   Die vorliegende Publikation ist dem Problem der Herausbildung philosophischen



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Denkens gewidmet, dem Anfang philosophischen Bewußtseins, und sie möchte damit selbst in gewissem Sinne einen Anfang machen. Sie enthält Beiträge zur gleichen Problematik, in unterschiedlichen Regionen betrachtet. Die Verfasser sind sich bewußt, daß dies erst Voraussetzung für eine Art Zusammenschau ist, der eigentliche Vergleich aber noch aussteht. Dabei kann auch nicht der Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden. Nichtsdestoweniger hoffen die Autoren, Anstöße zu liefern für die Ausarbeitung einer vergleichenden Phi­lo­so­phie­geschichte auf marxistischer Grundlage. Diese steht – so scheint es den Autoren – auf der Tagesordnung der Wissenschaftsentwicklung. Der Vergleich setzt die Bestandsaufnahme des Faktischen voraus, aber auch in dieser Hinsicht bleibt noch viel zu tun. […]   Was die Beiträge auf den ersten Blick zeigen, ist die faszinierende Vielgestaltigkeit bei der Entstehung von philosophischem Denken. Erkennbar wird jedoch, daß die Entstehung von Philosophemen eindeutiger gesellschaftlicher Bedingungen bedurfte. Als übereinstimmende Voraussetzung wird eine bestimmte Form von früher Klassengesellschaft, so etwa die Sklaverei in Griechenland, die altorientalische Klassengesellschaft in Indien oder China, und damit in Verbindung die in den jeweiligen Gesellschaften vollzogene Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit festgestellt. Es bestätigt sich, daß die Entstehung von philosophischem Denken an entsprechende weltanschaulich-ideologische Bedürfnisse gebunden ist, die sich im Prozeß der praktischen Aneignung der Welt durch den Menschen und der damit verbundenen Entwicklung seiner gesellschaftlichen Lebensform ausgebildet haben, dies auf dem Boden einer Evolution von Kultur allgemein und damit auch von Wissen über die Umwelt schlechthin. […]   In Indien, China und Griechenland hat sich philosophisches Denken als solches autochthon ausgeprägt, wenngleich gerade in Griechenland Elemente anderer Kulturen – so Ägyptens – mit zur Schaffung von Voraussetzungen dafür beigetragen haben. Es fällt auf, daß dort, wo philosophisches Denken als solches autochthon entstanden ist, dies in deutlicher Distanz zu vorangegangenen religiösen Vorstellungen geschah, als unleugbare Revolution im Denken, wobei in China philosophisches Bewußtsein der ethico-politischen Problematik untergeordnet war und in gewisser Weise von ihr bestimmt wurde. Im Prozeß der Rezeption chinesischen Kulturerbes entstand philosophisches Denken in Japan mehr als ein Jahrtausend später. Im Nahen Osten hat sich Philosophie etwa zeitgleich mit der Entstehung japanischen philosophischen Denkens unter fundamentalem Einfluß der antiken griechischen Philosophie ausgebildet. Hinsichtlich der geistigen Entwicklung Lateinamerikas sind zwei inhaltlich und zeitlich verschiedene Etappen zu berücksichtigen: einmal eine eigenständige Ausbildung protophilosophischer Elemente in vorkolumbischer Zeit (vor allem im 15. Jahrhundert), die ihre enge Verflechtung mit überkommener Religion und Mythologie bewahrten, und zum anderen die Zeit nach der Conquista (Eroberung) mit der beginnenden Rezeption europäischer, vor allem spanischer Philosophie. Im subsaharischen Afrika wiederum bildeten sich im Rahmen vorkolonialer Entwicklung einerseits in bestimmten Gebieten (so in Teilen Westafrikas) – in gewissem Sinne

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analog zur Entwicklung in Lateinamerika – protophilosophische Elemente in einer von Religion und Mythen bestimmten Weltanschauung aus. Andererseits zeigen sich – lokal begrenzt – Einflüsse europäisch-arabischen Denkens. Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges formte sich hier in Zusammenhang mit der revolutionären nationalen Befreiungsbewegung Philosophie als theoretische Disziplin.«25

Mit diesem Buch treten erstmals in der Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung verstärkt und gleichberechtigt afrikanische und südamerikanische Perspektiven der Philosophie in die Aufmerksamkeit. Mit dieser Erweiterung ergeben sich Fragen, die bis heute kontrovers diskutiert werden. Für viele ist die Einbeziehung Indiens und Chinas in die Phi­lo­so­phie­geschichte nicht wirklich problematisch, aber die Einbeziehung Afrikas und Südamerikas ist weit davon entfernt, selbstverständlich zu sein. Durch die marxistische Perspektive, die per definitionem in der DDR eine »internationale« war, wurden in dem Band Grenzen überwunden, die im damaligen Westdeutschland noch festen Bestand hatten. 8. Ram Adhar Mall und Heinz Hülsmann haben nur ein Jahr später im damaligen Westdeutschland einen in ähnlicher Weise geographisch orientierten Entwurf unter folgendem Titel vorgelegt: Die drei Geburtsorte der Philosophie: China, Indien, Europa. Die Autoren begründen ihren Entwurf und die Auswahl, die sich eben nur auf drei Orte beschränkt, wie folgt: »Dem Leser möchten wir hier deutlich machen, worin wir den eigentlichen Beitrag dieses Buches sehen. Wenn zwei Autoren, von denen einer ein Asiate, der andere ein Europäer ist, ein Buch schreiben über die drei Ursprünge der Philosophie: China, Indien und Europa, so bedeutet dies eine gemeinsame Autorschaft, kraft deren sie den Versuch unternehmen, die Gleichzeitigkeit und Gleichrangigkeit in genau dieser gemeinsamen Denkarbeit zu verwirklichen. Das Auszeichnende des Versuchs ist eigentlich, die jeweilige Tradition in die geistige Ko-Existenz einer gemeinsamen Situation zu überschreiten. Der Versuch hat nichts mit dem romantischen und dilettantisch anmutenden Interesse für das asiatische und europäische Denken zu tun. […]   Es ist uns sicherlich bewußt, daß China, Indien, Europa eine Assoziationskette freisetzen, der gemäß wir an Afrika, Australien, Südamerika zu denken haben. Dem sind wir aber nicht nachgekommen, weil da auch die Gesprächspartner fehlten. Nicht nur das ist zu bemerken, wesentlicher erscheint uns die Tatsache, daß wir gezwungen sind, Philosophie aus unserem Koautorendialog heraus anders zu thematisieren. Unser Philosophieren enteuropäisiert sich, auch wenn der philosophische Diskurs leicht zur Täuschung führen kann, die Diktion der europäischen Terminologie garantiere ihre Dominanz. Vermeiden wir aber das Mißverständnis, als könne dies bedeuten, Wie und warum entstand Philosophie in verschiedenen Regionen der Erde? Hg. v. Klaus Dieter Eichler u. Ralf Moritz. Berlin 1988, S. 5 – 9. 25



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daß dadurch unsere Philosopheme chinesisch oder indisch werden. Es geht nicht um eine Art Kulturromantik und einen Weltanschauungstourismus. Die Gleichzeitigkeit, die wir erfahren, ist eine globale Situation. Die Philosophie ist nicht nur ihre Geschichte. Die Geschichte ist selber situativ geworden. Ob China, Indien oder Europa, sie finden sich zusammen in dieser Situation einer menschlichen Welt. In dieser Welt ist der Mensch selber die Provokation für die Geschichte. Das wäre gedanklich zu bestehen.   Das heißt aber konkret, daß die geschichtlichen Bestände in die Situation hineinwirken und in derselben präsent bleiben. Wir sind heute gezwungen, Philosophie nicht einfach nur vom Text her zu denken, und das heißt von der Schrift her und auf der Basis einer schriftlichen Dokumentation und Objektivation zu denken. Die Herausforderung, in der wir uns situativ finden, ist ursprünglich. Wir haben darauf zu achten, daß gleichzeitig zu der Schriftkultur die lebendigen Traditionsbestände von Ritual, mündlicher Überlieferung wirksam bleiben. Damit verweisen wir auf ein Defizit. Mbira ist als philosophischer Inhalt zu bedenken. Ebenso sind die ethnophilosophischen Versuche eines Castaneda oder eines Eliade ernst zu nehmen.   Wir sind uns klar darüber, daß wir für einen eineindeutigen Philosophiebegriff ein Skandalon liefern. Es geht uns hier nicht um ein Wiederfinden eines durch Definitionsgewalt oder durch eine philosophische Konvention festgelegten Philosophiebegriffs, sondern um einen ›metonymischen Transfer‹ des Philosophischen, das trotz seiner Traditions- und Sprachgebundenheit seine Unverfügbarkeit behält.«26 »Immer wieder und immer noch wird in Forschung und Lehre dieser Topos vertreten, der Ursprungsort der Philosophie sei Griechenland, genauer Athen. Wir lernen diese Geschichte in der Schule; wir hören sie an der Universität, aber sie steht auch in der wirksamen Tradition vor unseren Augen, in unserem Bewußtsein. Daß Athen der Geburtsort dessen sei, was wir als Philosophie lernen und wissen, erinnert aber zugleich daran, daß Kleinasien und Ägäis, daß Ägypten und Italien, daß der Mittelmeerraum daran beteiligt gewesen sind. Der mediterrane Raum ist also der Raum, in dem Philosophie sich entwickelt hat.   Damit sind wir eigentlich schon in diese Nachbarschaft der Kontinente geraten. Wir bemerken, wie hier Asien und Europa und Afrika einander berühren. Die kontinentale Nähe zueinander bleibt auch der Ort einer Überlappung, einer Überschneidung, wo sich die Lebenslinien verbinden. Wir bemerken eine spezifische Geographie, in der Denkwege, Lebenswege und Verkehrswege zusammengehören und zusammenführen. Diese Geographie des Ursprungs ist auch einer dieser Kontinente. Sie haben dabei ihre eigentümliche Stellung zueinander. Das gehört dann vor allem zu dieser geschichtlichen Selbstdeutung. Aus dieser resultiert jene Einheit der Geschichte, die mit dieser Deutung zusammengehört. Mall, Ram Adhar u. Hülsmann, Heinz: Die drei Geburtsorte der Philosophie: China, Indien, Europa. Bonn 1989, S. 9 ff. 26

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  Die Geschichte der Philosophie ist also selber eine Philosophie der Geschichte. Sie scheint eine Geschichte als Hermeneutik derer, die von Europa her sie entwerfen. Diese erwähnte Ursprungsgeschichte ortet Philosophie ihrer Genese nach in Athen. Dazu gehören sodann Rom und Jerusalem. Philosophie, Staat und Religion verbinden sich darin zu einer Totalität. Das imperium romanum bezieht Asien und Afrika in seinen Bestand und beherrscht so ökonomisch wie auch ideologisch den mediterranen Raum. Damit ebnet sich und eröffnet sich der Raum der europäischen Geschichte, die Dimension der europäischen Philosophie. Diese historische Einstellung ist bekannt. Aber aus unserer heutigen Situation und angesichts der technologischen Formierung der Gesellschaft wird kaum noch bestritten, daß da Korrekturen nötig sind. […]   Die These von den drei Orten ist darum sowohl eine zeitliche wie auch eine räumliche Korrekturthese. Sie betrifft den darin wirksamen Absolutheitsanspruch, ob er nun anonym oder offen artikuliert wird. Sie betrifft nicht weniger uns selber; denn es geht sicherlich darum, sie als eine Anregung oder Beschränkung zu vertreten. Sie ist nicht restriktiv zu nehmen, so als solle gesagt sein, es könne nicht mehr Orte des Philosophierens geben oder es gebe Zeiten, die ein qualitatives Mehr an Philosophie und an Wahrheit verwirklichen. Ein solches Urteil zu beanspruchen, wäre unsinnig.   Damit ist zugleich zugestanden, daß wir Afrika und Lateinamerika, Australien oder Neuseeland, wie immer, wann immer und wo immer, hier nicht als unbedeutend und unwichtig abqualifizieren wollen. Das zwingt zugleich zu sagen, daß wir auch die Formen von Tradition, Dokumentation und Objektivation nicht irgendwie auszuzeichnen gedenken. Der Zugang zu anderem Denken und zum anderen Leben soll von uns nicht auf bestimmte materielle, ideelle Quellen beschränkt werden.«27

Auch wenn die beiden Autoren nur »drei« Geburtsorte der Philosophie behandeln, so sollen andere Gegenden dabei nicht ausgeschlossen werden. In den Erörterungen ist eine Perspektive besonders wichtig. Wenn die Autoren sagen, dass »die Geschichte der Philosophie selber eine Philosophie der Geschichte sei«, wird deutlich, dass jeder Versuch, eine Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in globaler Perspektive zu konzipieren, sich die Frage nach der Philosophie der Geschichte in philosophischer Perspektive zu stellen hat. Letztlich arbeiten sich die meisten Versuche zur Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung noch immer an Kant und Hegel ab, die diese Frage in zugespitzter und zugleich eurozentrischer Weise beantwortet haben. 9. Ernst R. Sandvoss hat im Jahr 1989 eine zweibändige Geschichte der Philosophie vorgelegt, die in zwei Hinsichten global orientiert ist. Im ersten Band werden Indien, China, Griechenland und Rom jeweils ausführlich behandelt. Im zweiten Band werden dann chronologisch Mittelalter, Neuzeit und Gegenwart dargestellt. Die Behandlung der Gegenwart ist dabei in besonderer Weise global orientiert. 27

Ebd., S. 11 ff.



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Sandvoss geht in seiner Darstellung weitgehend nationalstaatlich vor, so dass für den Bereich Europas neben England, Frankreich, Deutschland und Italien auch die neueren Entwicklungen beispielsweise in den Niederlanden, in Belgien, Österreich, der Schweiz, Griechenland, Spanien, Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland, Polen, in der Tschechoslowakei, in der DDR, in Jugoslawien, Bulgarien usw. dargestellt werden. Darüber hinaus bezieht er dann aber auch neben den USA, Indien und Japan alle anderen Weltgegenden mit ein wie Mexiko, Argentinien, Uruguay, Peru, Bolivien, Australien, Süd-Korea, Israel, Islamische Länder, Südostasien, Tibet und Afrika. Ein solcher Überblick ist im Rahmen einer Phi­lo­so­phie­geschichte einmalig, wobei in der Neuauflage von 2001 die neuen Ländernamen nach 1989 in Europa nicht mehr verändert wurden. »[…] schon vor der Auflösung des eurozentrischen Weltbildes, besonders in den letzten Jahrzehnten, ist das Wissen um fremde Kulturen und damit auch um außereuropäische Philosophie so stark angewachsen, daß eine Beschränkung auf die euro­ päischen Denker kaum mehr zu rechtfertigen ist. Die vorliegende Darstellung der Philosophie, die eine vorläufige Bilanz der philosophischen Errungenschaften von dreitausend Jahren zu ziehen versucht, entspricht also der allgemeinen Horizonterweiterung, wenn sie die indische und die chinesische Philosophie einbezieht und in gebührendem Maß berücksichtigt.   Dabei sollen die Konstruktionen Hegels nicht durch neue ersetzt werden. Wer glaubt heute noch an einen kumulativlinearen Fortschritt philosophischen Erkennens im traditionellen Sinn? Die Evolution der Philosophie verlief nicht geradlinig auf ein bestimmtes Ziel hin. Eine solche Entwicklung ist schon wegen des fehlenden Ideentransfers zwischen den alten Kulturen auszuschließen, und die Annahme einer einheitlichen, konvergierenden Entwicklung, gleichsam die Entfaltung einer Idee in verschiedenen Volksgeistern, geht von unhaltbaren Voraussetzungen aus.   Die Entwicklung der Philosophie vollzog sich eher in Schüben, wobei die Denkansätze in den einzelnen Kulturen durchaus nicht als harmonisch aufeinander abgestimmt erscheinen, sondern jeweils bestimmten spezifischen Bedingungen entsprechen. Vieles ging verloren, einiges überlebte, weniges erwies sich als fruchtbar. Um dieses Wenige, räumlich und zeitlich weit Verstreute, muß es einer weiterführenden Geschichte der Philosophie zu tun sein. Die Einheit stand nicht am Anfang, sie war nicht vorgegeben, vielleicht steht sie am Ende und ist aufgegeben; das Ende aber ist nicht in Sicht.«28

Im zweiten Band findet sich ganz am Ende der Abschnitt Philosophie im globalen Zeitalter. Dort heißt es: »Zu Beginn des dritten Jahrtausends, nach dem Übergang von der Industrie- zur Informationsgesellschaft, im Zeitalter weltumspannender Kommunikation und 28

Sandvoss, Ernst R.: Geschichte der Philosophie. Bd. 1. München 1989, S. 11 f.

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globaler Verflechtung von Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur ist auch die Philosophie zur Gewinnung eines neuen Selbstverständnisses herausgefordert. Philosophie im globalen Zeitalter erscheint nicht mehr glaubwürdig in Verbindung mit dem Absolutheitsanspruch eines Systems, einer Richtung oder einer Schule. Das egozentrische, ethnozentrische, speziell das eurozentrische Denken hat seine Zeit gehabt, es wird von einem polyzentrischen, pluralistischen und globalen Denken abgelöst. Die Wahrheit erscheint nicht mehr wie zur Zeit des europäischen Besitzbürgertums als Besitz von Wissen und Macht, viel eher als Weg der Überwindung von Besitz-, Macht- und Geltungsstreben, als Befreiung vom Wissen, nicht zugunsten von Unwissenheit, Glauben oder Aberglauben, sondern vom besseren Wissen. Der Philosophie als solcher fällt dabei die zwar alte, aber neu zu definierende Aufgabe der Wissensprüfung zu, die zugleich, als Selbstprüfung, eine existentielle Bedeutung hat.   Die Begegnung von westlicher und östlicher Philosophie eröffnet neue Möglichkeiten gegenseitiger Überprüfung der Standpunkte, Richtungen und Methoden. Wenn die Philosophie sie nutzt, hat sie eine Zukunft, sonst kaum.«29

Es ist erstaunlich, dass Sandvoss bereits vor fast 30 Jahren Perspektiven für die Phi­ lo­so­phie­geschichte und für das globale philosophische Gespräch formuliert hat, die vielleicht erst heute zunehmend an Realität gewinnen. Sandvoss hat sehr klar die Entwicklung einer global orientierten Philosophie gesehen und mit seinen Mitteln darauf reagiert. 10. Die Encyclopédie Philosophique Universelle, die 1989 bis 1998 im Auftrag der UNESCO in Paris erschienen ist, setzt für die globale Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­ bung einen ganz neuen und an pragmatischen Grundsätzen orientierten Rahmen. Die Enzyklopädie ist wie folgt aufgebaut: 1. L’Univers Philosophique (1989); 2. Les Notions Philosophique – Dictionnaire (zwei Bände) (1990); 3. Les Œuvres Philosophique – Dictionnaire (zwei Bände) (1992); 4. Le Discours Philosophique (1998).30 Der 1. Band führt in einem sehr weit gefassten Rahmen in die Problemfelder der Philosophie ein, wobei die Philosophie grundsätzlich in globaler Perspektive behandelt wird. Der 2. Band, unterteilt in zwei Teilbände, ist ein philosophisches Begriffslexikon, das drei Abschnitte umfasst: 1. Philosophie Occidentale, 2. Pensées Asiatiques (Inde, Chine, Japon), 3. Conceptualisation des Sociétés Traditionelles. Die Differenzierung und die Konzeption bieten somit einen neuen Ansatz, um auf sprachlicher Ebene philosophische Begriffe in unterschiedlichen Kulturkontexten zu thematisieren, ohne dass dabei Differenzen nivelliert werden, aber auch ohne dass dabei nur die großen Traditionen in Europa und Asien einbezogen werden. Der 3. Band, ebenfalls unterteilt in zwei Teilbände, ist ein philosophisches Werklexikon, das wie folgt aufgebaut ist: 1. Philosophie Occidentale (Antiquité, Moyen Age, Renais29

30

Ebd., Bd. 2, S. 579. Alle Bände wurden unter der Leitung von André Jacob herausgegeben.



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s­ance, Age Classique, Modernité, Essor des sciences humaines, Pensée contemporaine), 2. Pensées Asiatique (Inde, Chine, Japan, Corée), 3. Conceptualisation des Sociétiés Traditionelles (Afriques, Amérique, Asie du Sud-Est, Europe, Océanie). Dieses Lexikon bietet erstmalig in großer Fülle eine Zusammenschau »philosophischer« Werke aus den verschiedensten Traditionen der Welt. Allein der Teil über Asien bietet Informationen, die bisher in keinem anderen westlichen Lexikon zugänglich sind. Der 4. Band thematisiert den Diskurs der Philosophie im Allgemeinen und in globaler Perspektive. Beginnend mit der Analyse verschiedener Sprachen und ihrer Bedeutung für den philosophischen Diskurs, folgt eine ausführliche Thematisierung unterschiedlichster Nationalphilosophien. In weiteren Sektionen werden das Problem der Übersetzung und die Fragen der philosophischen Komparatistik erörtert. Daran anschließend werden Analysen zur Bedeutung der Textualität in globaler Perspektive durchgeführt. Das Lexikon entwirft in einem breit angelegten Versuch eine Neuorientierung des gesamten philosophischen Diskurses in globaler Perspektive. Dabei ist vor allem das hohe methodische Bewusstsein bemerkenswert, so dass die verschiedenen Ebenen der Diskurse in hoher Differenzierung und jenseits verengter Zentrismen durchgeführt werden. In vielerlei Hinsicht ist diese Enzyklopädie noch immer eine Ausnahmeerscheinung und liefert Ausgangspunkte für vielfältige Überlegungen zur Neukonzeption einer globalen Phi­lo­so­ phie­geschichts­schrei­bung. 11. Robert C. Solomon und Kathleen M. Higgins, Philosophierende in der Tradition der sogenannten Continental philosophy in den USA, stellten 1993 die erste global orientierte Textsammlung in englischer Sprache zusammen unter dem Titel: From Africa to Zen: An Invitation to World Philosophy.31 Die Aufsätze sind verfasst von heute noch bekannten Spezialisten für die jeweiligen Themenbereiche: 1. Understanding Order: The Chinese Perspective, David L. Hall and Roger T. Ames; 2. Ways of Japanese Thinking, Graham Parkes; 3. Traditional American Indian Attitudes towards Nature, Baird Callicott and Thomas W. Overholt; 4. Pre-Columbian and Modern Philosophical Perspectives in Latin America, Jorge Valadez; 5. Arabic Philosophy, Eric Ormsby; 6. Jewish Philosophy, Oliver N. Leaman (2003 neu); 7. Persian Philosophy, Homayoon Sepasi and Janet McCracken; 8. The Myth of Authenticity: Personhood, Traditional Culture, and African Philosophy, Jacqueline Trimier; 9. Indian Philosophies, Stephen H. Phillips; 10. Buddhist Philosophy as a Buddhist Practice, Peter D. Hershock (2003 neu); 11. Nga Whakaaro Maori: Maori Philosophy, Roy W. Perrett (2003 neu); 12. Esoteric Philosophy, Robert A. McDermott. Das Themenspektrum ist beeindruckend und umfassender als jede bisherige monographische Darstellung. Vor allem sind auch vorkoloniale amerikanische Perspektiven einbezogen 31

Dieses Buch wurde in einer zweiten Auflage von 2003 um neue Themen erweitert.

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und zudem die Maori in Neuseeland. Die programmatischen Überlegungen für den Band werden in der folgenden Textpassage deutlich zum Ausdruck gebracht: »As everyone who has recently set foot in a university or read the editorials of our more cosmopolitan newspapers knows, there is a vigorous attempt in academia to combat the ethnocentrism of the traditional (›male, white, European‹) college curriculum and the implicit chauvinism (if not racism) it represents. In philosophy in particular, some administrations have all but mandated that as a field of study it should become increasingly conscious of and attentive to other philosophical traditions. Even a casual review of the standard course offerings and dissertation topics demonstrates an embarrassing one-dimensionality, stretching through time from Socrates to Sartre or Quine with nary a mention of Confucius or Nagarjuna. There is no mention of African philosophy or any African philosopher (except Augustine, whose origins are conveniently ignored) and no Latin American philosophy. No matter what one’s position on the politically hot, and even explosive, topic of ›multiculturalism,‹ it must be admitted that the demand for global sensitivity in philosophy is healthy for a subject that has indeed become overly narrow, insulated from other disciplines, and in many quarters oblivious even to its own culture as well as to others.   Coming to appreciate those other cultures and their philosophies is hampered, however, by the very narrow strictures on what deserves the honorific name of ›philosophy.‹ For example, the current emphasis on argumentation – often summarized as rationality – as the essence of philosophy excludes much of the more poetic and nondisputational wisdom of non-Western cultures, and even gives rise to the remarkable suggestion that these cultures are therefore nonrational or prerational. In the East and in the South, the ideas by which people guide their lives are often expressed in song, slogan, and poetry, not disputational prose – and poetry has been banned from philosophy since Plato. In many cultures, philosophy places an overwhelming emphasis on ethics and religion, often expressed in myth and allegory. Such traditions are therefore dismissed as ›not philosophy‹ not only because ethics and religion themselves have been relegated to second place since the onset of the obsession with epistemology that began with Descartes and ›the New Science,‹ but because myth and allegory (except for a few canonized exceptions in Plato) have also been declared to have no role in philosophy. The obsession with logical argumentation and epistemology reached its zenith only recently, with the logical positivists in the era of World War II, when virtually every concern of substance was dismissed as technically ›meaningless.‹ That terrible war may have been global, but the philosophy it provoked in its aftermath became even more provincial. Indeed, as recently as 1989, one of our best and most broad-minded philosophers could write that ›Philosophy has really arisen only twice in civilization, once in Greece and once in India‹ (Arthur Danto, Connections to the World, p. 14).   What we call Western philosophy is studied, of course, by students from around the globe, but instead of adding new dimensions to the overly well-defined Western



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tradition many or most of those graduating philosophers and philosophy teachers who learned their trade in the pubs and tutorials of Oxbridge or the seminar rooms of the best American and Canadian universities returned to their native cultures and taught, in essence, the same one-dimensional Anglo-American philosophy and the supposedly ›neutral‹ remnants of logical positivism. Local philosophies may have affected the course of instruction in quaint ways, but most culturally specific and significant ideas were dismissed as prerational, intellectually primitive, and unprofessional. Similarly, the best of African philosophy is dismissed as mere ›ethno-philosophy‹ or ›mythology.‹ Even Buddhism and Confucianism, with credentials as ancient as those of the pre-Socratics and on which we have far more substantial extant texts, have been excluded. And one still hears the claim, in not just a few philosophy departments, that the discipline of philosophy is defined, as a matter of power if not by way of tautology, as whatever its practitioners say it is, with some casual and selective references to a few of the great philosophers of the past.   One obvious complication with the idea of cross-cultural philosophical education is that in reading other philosophical traditions we are not only trying to understand other authors, other languages, other ideas. We are also trying to embed ourselves in another culture, engage with another kind of life. If Hegel was right, that philosophy is the spirit of its time (and place) rendered conceptually articulate, then understanding a philosophy is necessarily understanding the strains and structures of the culture it expresses and through which it is expressed. This raises deep questions about our ability to comprehend such philosophy. It is not enough to know the language (one can readily enough learn Sanskrit, Swahili, or Chinese if one is sufficiently motivated), or even to have something more than a tourist’s view of the land, its peoples, and customs. One must, it seems, put oneself ›in another’s skin,‹ to see ›from the inside‹ a life that is as routine and unexceptional as our lives are to us. It is, therefore, not enough to show that early Indian philosophers developed an epistemology displaying remarkable similarities to that of the British empiricists or that certain Buddhists had a concept of self resembling some arguments in David Hume or Jean-Paul Sartre. In this sense one can grossly misunderstand a philosophy precisely by ›understanding‹ it, that is, by embracing and absorbing a few seemingly familiar ideas while ignoring the surrounding mysteries and the underlying structure, which, for those who promulgated them, allowed them to make sense.   What we call world philosophy isn’t a single discipline or way of thinking. There is no ›core‹ or ›mainstream.‹ It is not variations on a single set of themes expressed or Persian way, now in the Anglo-American way (however that may be understood). For the embarrassing fact long submerged in the tyrannical reign of the ›history of philosophy‹ – that exclusionary artifice invented largely by Hegel to embrace all of European philosophy in a single ›totalizing‹ narrative – is that what we call ›Western‹ philosophy isn’t really that at all. Even assuming that one wants to include Greece in what we now call ›the West,‹ it is evident that much of the definitive influence on the great Greeks came from Asia Minor and the Orient, from northern Africa and the

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migrations of many tribes north and south, east and west. Judaism and Christianity were not, despite their now official designation as such, ›Western‹ religions, nor was Islam, which produced some of the greatest medieval philosophy. In addition to the radical differences in philosophy and culture we find across the globe, we also find, almost everywhere we turn except among a few, soon-to-be-destroyed long-isolated rain forest and African bush peoples, confluences and influences, ideas swapped and shared along with foodstuffs, satins and spices, amalgamated theories evolved from once-warring myths and ideologies, global philosophy as a long-cooking stew instead of a single worldwide intellectual ›human condition.‹ […]   In this, the second edition of From Africa to Zen, we have added the much needed chapter on Jewish philosophy and the chapter specifically on Buddhism. In deference to our many years and friends in New Zealand, we also decided to add the chapter on indigenous philosophy. Several of the chapters from the first edition have been slightly revised or supplemented. We have been very pleased by the reception of the book and encouraged by many comments to the effect that we have reminded readers of the importance and legitimacy of a number of important but neglected traditions in philosophy. We hope that this second edition continues to encourage a more global and tolerant sensibility regarding the many faces of philosophy.«32

In den Ausführungen ist deutlich zu erkennen, dass die gesellschaftliche Situation in den USA Intellektuelle zunehmend dazu gedrängt hat, den eurozentrierten Kanon und die Vorherrschaft der Weißen kritisch zu hinterfragen. Im Rahmen der Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung geht es somit auch um Unterdrückungs- und Marginalisierungsprozesse von Menschen in verschiedenen Kulturen, die eine eigene Stimme erhalten sollen. Der Band zeigt in seiner programmatischen Begründung und der Zusammenstellung, dass es in der globalen Phi­lo­so­phie­geschichts­ schrei­bung in zentraler Weise auch um die politische Dimension der Anerkennung marginalisierter Denkkulturen geht. 12. David E. Cooper, ehemaliger Präsident der amerikanischen Aristoteles-Gesellschaft und Professor für Continental Philosophy in den USA, legte 1996 einen globalgeschichtlichen Versuch vor unter dem Titel: World Philosophies. An Historical Introduction. Im Titel steht nicht, wie im zuvor besprochenen Buch World Philosophy, sondern der Plural World Philosophies. Dieser Unterschied wird auch in der programmatischen Einleitung reflektiert: »The title of this book is ambiguous. ›World philosophies‹ might refer to philosophies from around the world, or it might mean something like ›worldviews‹, theories on the grand scale about ›The World‹. My title is intended to bear both senses, so it is a pun. From Africa to Zen: An Invitation to World Philosophy. Hg. v. Robert C. Solomon u. Kathleen M. Higgins. Lanham 1993, 2. Auflage 2006, S. IX ff. 32



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  It is not necessary to be a devotee of ›political correctness‹ to regret that the great preponderance of histories of philosophy, many passing themselves off as ›general‹, deal only with Western thought. A few Arabs are sometimes included but, so to speak, as honorary Westerners, deemed worthy of inclusion for their commentaries on Aristotle and hence their influence on mediaeval Christian thought. Exclusion of the Indian, Chinese and Japanese contributions to philosophy was forgivable, perhaps, at the beginning of the nineteenth century, when the German philosopher Hegel passed his scathing verdicts on those traditions: for precious few of their works had been translated. It was less excusable a century later, after the explosion in oriental scholarship, for Edmund Husserl to express doubt as to the very existence of non-Western philosophy. Today, after a further century of scholarship and translation, such an exclusion ought to seem absurd. If to many people it does not, this must be mainly due to the feeling – encouraged, admittedly, by some enthusiasts for ›the wisdom of the East‹ – that these traditions are too indelibly ›religious‹, ›irrational‹ and ›mystical‹ to warrant a place on today’s hard-nosed, ›analytical‹ curriculum. This book will have failed in one of its aims if that feeling persists with the reader to the end.   A better reason, arguably, for keeping non-Western philosophies out of the curricular sun would be that life is short, especially the life of the undergraduate. No student – indeed, no teacher – has time to savour the riches of all philosophical traditions: better then, some would say, to restrict attention to the tradition of the culture in which the students have grown up. But, in the first place, many of the ideas of, say, ancient India and Kamakura Japan are no more and no less ›relevant‹ to the contemporary culture of young Britons or Americans than those of ancient Greece and mediaeval France. Second, in philosophy as in gastronomy, the sensible response to an overstocked larder is surely to choose the best items, not those which happen to lie on one side or the other of an imaginary line. I am unimpressed, incidentally, by the consideration that few teachers or students are likely to be masters of Sanskrit, Mandarin and other mediums of non-Western philosophy. Most are not masters, either, of the languages in which Plato, Aquinas and Kant wrote, but that is no reason for students to be kept away from these thinkers.   The present book, then, attempts to redress an imbalance: the ›world philosophies‹ it presents are indeed from ›around the world‹, sizeable chunks of it, at any rate: India, China, Japan, the Near and Middle East, and Africa, as well as Europe and North America. Doubtless, there are other parts of the world which have made their contribution to philosophy, but which I do not discuss. Total comprehensiveness, however, cannot be my aim in a book which would otherwise, as Vikram Seth charmingly puts it at the beginning of his massive novel, ›strain your purse and sprain your wrists‹.   Indeed, it is not only geographical comprehensiveness that the book lacks: for its subject is not philosophy at large, but philosophies. ›Philosophy‹, as the name of a very general intellectual activity, does not have a plural, no more than does ›music‹; and philosophies no more exhaust the field of philosophy than music consists entirely in the outpouring of musicals. Philosophies, like musicals, are particular products

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of the more general activity. The singular of ›philosophies‹ is ›a philosophy‹; and by ›a philosophy‹, I mean – as ›the man in the street‹ tends to mean – an account on the grand scale of the nature of reality, the place of human beings within it, and the implications of all this for how people should comport themselves in the world and towards one another. Taoism, Thomism, Cartesianism and Existentialism – to mention but a few – are philosophies in this sense, and it is on such ›-isms‹ that the book focuses. There are, on the surface at least, some exceptions to be found in the book, such as Logical Positivism, whose champions would certainly reject that theirs were philosophies in the sense just characterized. But these are best seen as self-conscious reactions against grand accounts like those mentioned, and in that respect parasitic upon them. Anyway, it is unclear that, despite the intentions of their authors, these reactive exceptions avoid offering accounts of the very kind they condemn.«33

Auch wenn der Autor kein ganz neues Periodisierungssystem vorschlägt, so ist die Einteilung der Themen in dem Buch doch interessant und innovativ: Part I Ancient Philosophies: 1. India, 2. China, 3. Greece Part II Middle Period and ›Modern‹ Philosophies: 1. Mediaeval Philosophies (Christianity, Islamic and Jewish Philosophy), 2. Developments in Asian Philosophy (Theistic Vedanta, Neo-Confucianism, Zen Buddhism, Illuminationism), 3. From Renaissance to Enlightenment Part III Recent Philosophies: 1. Kant and the Nineteenth Century, 2. Recent NonWestern Philosophies (India, China and Japan, The Islamic World, Africa), 3. Twentieth-Century Western Philosophies. Hervorzuheben ist vor allem, dass die Entwicklungen der verschiedenen Stränge der Phi­lo­so­phie­geschichte bis ins 20. Jahrhundert dargestellt werden. In den meisten Phi­lo­so­phie­geschichten findet sich das Bild von den »alten« Traditionen des Denkens oder der Philosophie in Indien und China, wobei dann völlig übersehen wird, dass diese Entwicklungen bis ins 20. Jahrhundert reichen. Cooper zeigt demgegenüber chronologisch auf, dass es verschiedene parallele Entwicklungen gegeben hat, die von der Antike bis in die Gegenwart reichen, und zwar nicht nur in Eu­ ropa. Vor allem ist daher in dieser Gesamtdarstellung neu, dass die philosophischen Strömungen im 20. Jahrhundert in Indien, China, Japan, der islamischen Welt und Afrika einbezogen werden. 13. Eliot Deutsch und Ronald Bontekoe haben 1997 einen Einführungsband zur globalen Phi­lo­so­phie­geschichte unter dem Titel A companion to world philosophies herausgegeben. Auch bei diesem Band wird der Plural Philosophien in den Vordergrund gestellt. Programmatisch betonen die Herausgeber das Folgende: Cooper, David E.: World Philosophies: An Historical Introduction. Oxford 1996, 2. Auf­ lage 2003, S. 1 ff. 33



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»The purpose of this work is to provide a sophisticated, one-volume companion to the study of select non-Western philosophical traditions. It has become increasingly evident to many teachers and students of philosophy as well as to general readers that philosophy is not the exclusive province of the West; that indeed other traditions have a depth and range comparable to Western thought and exhibit distinctive features, the knowledge of which can enrich philosophical understanding and creativity wherever it occurs. This volume will strive at once to introduce some of the finest thinking within and about non-Western traditions to teachers, students and general readers, and to offer interpretations and insights relevant to the work of other scholars in the field.«34 »This Companion volume is organized in a way that will give the reader some know­ ledge of the historical background and contemporary situation with respect to each of the selected traditions. It will also show some of the distinctive ways of thinking developed within those traditions, by focusing on a number of specific topics: namely, conceptions of reality and divinity, of causality, of truth, the nature of rationality, of selfhood, of humankind and nature, ideas of the good, social and political ideas, and aesthetic values. These topics, while covering a broad range, do not, of course, come near to exhausting the philosophical content of these traditions.   The accounts given in this volume are all in English. The traditions themselves, needless to say, were developed within their own indigenous languages and it is extremely important for us not to assume that all basic ideas and concepts translate readily from one language to another. Many of the presentations will make that clear, but one must always be on one’s guard to note that the usage of certain similarsounding terminology (as given in translation) does not guarantee that the same philosophical issue is being addressed. When Western philosophers today worry about the nature of the self, say in terms of the problem of other minds, they occupy a quite different philosophical space than did the classical Chinese, who understood personhood as socially grounded, or the Indian philosophers in their speculations concerning the nature of human consciousness. But it is precisely these complexities that make the comparative philosophical enterprise so exciting.   One last note: reading secondary accounts about a tradition is no substitute for the harder work of studying the primary texts themselves – and indeed, of coming to an understanding that a philosophical text itself may mean different things in different traditions. For example, in the Indian tradition the major philosophical work is presented within commentarial traditions identified with the various schools rather than, with some notable exceptions, separate treatises with a distinctive authorial style of the sort that we are familiar with in the modern Western context. Philosophical truth itself was not something so much discovered as recovered within the framework of a given school of thought.«35 A companion to world philosophies. Hg. v. Eliot Deutsch u. Ronald Bontekoe. Malden 1997, S. XII. 35 Ebd., S. XIV. 34

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Der inhaltliche Aufbau des Bandes versucht, sowohl systematische wie auch historische Aspekte einzubeziehen, und ist in dieser Hinsicht durchaus bemerkenswert und innovativ: Part I Historical Background: 1. Chinese philosophy: a synoptic view, 2. A history of Indian philosophy, 3. Classical Polynesian thinking, 4. African philosophy: a historical overview, 5. A survey of Buddhist thought, 6. Islamic philosophy: an overview Part II Philosophical Topics: A. The Chinese tradition: 1. Ideas of the good in Chinese philosophy, 2. The Chinese conception of selfhood, 3. Human beings and nature in traditional Chinese thought, 4. Causation in Chinese philosophy, 5. Chinese socio-political ideals, 6. Reality and divinity in Chinese philosophy, 7. Reason and principle in Chinese philosophy: an interpretation of Li, 8. The way and the truth, 9. Chinese aesthetics B. The Indian tradition: 1. Socio-political thought in classical India, 2. Indian conceptions of reality and divinity, 3. Rationality in Indian philosophy, 4. Humankind and nature in Indian philosophy, 5. The idea of the good in Indian thought, 6. Indian aesthetics: a philosophical survey, 7. The self and person in Indian philosophy, 8. Truth in Indian philosophy C. The Buddhist tradition: 1. Ideas of the good in Buddhist philosophy, 2. Reflections on social and political ideals in Buddhist philosophy, 3. Causality in Buddhist philosophy, 4. Humankind and nature in Buddhism, 5. Buddhist reality and divinity, 6. The Buddhist concept of self, 7. Rationality in Buddhist thought, 8. Buddhist perspectives on ontological truth D. The Islamic tradition: 1. Truth and Islamic thought, 2. Islamic aesthetics, 3. Reality and divinity in Islamic philosophy, 4. Selfhood/personhood in Islamic philosophy, 5. The concept of the good in Islamic philosophy, 6. Causality and Islamic thought, 7. Rationality in Islamic philosophy Part III The Contemporary Situation: 1. Contemporary Chinese philosophy, 2. Contemporary Japanese philosophy, 3. The contemporary Indian situation, 4. Contemporary Polynesian thinking, 5. Current trends and perspectives in African philosophy, 6. Contemporary Buddhist philosophy, 7. Contemporary Islamic thought In Zusammenarbeit mit zahlreichen Gelehrten und SpezialistInnen für die verschiedenen Themenbereiche, die hier nicht alle namentlich genannt werden können, ist den Herausgebern eine neue Darstellungsform für das Feld globaler Phi­lo­ so­phie­geschichts­schrei­bung gelungen, die einen bedenkenswerten Weg zwischen historischer und systematischer Darstellung findet.



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14. Eliot Deutsch, einer der wichtigsten Philosophen im Feld der Comparative Philosophy in den USA, der nicht nur wiederholt die großen East-West-Philosophers Conferences in Hawai’i an der Universität Honolulu organisiert hat, sondern selbst auch Indologe ist, hat im Jahr 1997 eine Textsammlung unter dem Titel Introduction to world philosophies herausgegeben, die als ein Parallelwerk zu dem zuvor genannten Buch gelesen werden kann. In dem Band sind Texte aus verschiedenen Traditionen in englischer Übersetzung jeweils unter bestimmten Themen zusammengestellt worden. »This Introduction to World Philosophies is dedicated to the idea that philosophy is not the exclusive province of the West, and that indeed other traditions – notably the Asian ones we will be exploring – have a depth, range, and distinctive character that need to be recognized if for no other reason than to enrich considerably our own philosophical background and to enable us to understand better our own tradition. One could, of course, appeal to the fact that since we live in a global society with a highly interdependent economy, and since many nations, including most conspicuously the United States, are rapidly becoming multicultural, to survive well in such a situation we need to know a great deal about different world traditions. The appeal I would make here, however, is a straightforward philosophical one: we can think better and more creatively in philosophy when we understand and appreciate the rich and diverse ways in which basic issues have been dealt with, identified, and defined in different cultures.   This introductory text does not deal with all of the philosophical traditions in the world. It should, however, be obvious that no excuse need be given for this lack of comprehensiveness in a single work.   The book is divided into five parts. I have not designated all of them explicitly in terms of the usual branches of philosophy, although the readings quite obviously fall respectively within the areas of philosophical anthropology, ethics and political philosophy, epistemology, metaphysics, and philosophy of religion.«36

Die thematischen Überschriften, unter denen die Texte aus verschiedenen Traditionen versammelt sind, lauten wie folgt: 1. Who Am I?, 2. What is the Aim of Life? How to Be Ethically, How to Be Politically, 3. What Do I Know? What Is Truth?, 4. What Is Reality?, 5. What Is Religious Experience? Does God Exist? Why Is There Evil?. Anhand dieser Zusammenstellung, die bewusst für thematische Seminare konzipiert ist, können verschiedene Themen in globaler Perspektive behandelt und diskutiert werden.

36

Introduction to world philosophies. Hg. v. Eliot Deutsch. New Jersey 1997, S. XI.

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15. Randall Collins hat im Jahr 1998 ein Buch publiziert unter dem Titel The sociology of philosophies: a global theory of intellectual change. Dieses Buch analysiert die globalen philosophiegeschichtlichen Entwicklungen aus soziologischer Perspektive ausgehend von der Metapher des »Netzwerkes«. Collins kann in beeindruckender Weise vielfältige Vernetzungen innerhalb verschiedener intellektueller Traditionen aufzeigen wie auch zwischen den verschiedenen Traditionen. Er analysiert nicht nur das alte Griechenland, sondern auch das alte China, Indien und Japan in verschiedenen Phasen ihrer Entwicklung. Ebenso werden der Islam, das Judentum und das Christentum mit einbezogen, unberücksichtigt bleiben hingegen Afrika und Südamerika. Er verfolgt dann verschiedene Netzwerke bis ins 19. Jahrhundert. Der Entwurf von Collins liefert ein bisher nicht bekanntes Bild von den Vernetzungsstrukturen intellektueller Entwicklungen seit der Antike. In programmatischer Hinsicht beschreibt er seinen Versuch wie folgt: »The twentieth century is the first in which comprehending world history has become possible. Previous generations of scholars knew too little about other parts of the world beyond their own. Cosmopolitan historical research, beginning in the German university revolution around 1800, reached a critical mass in the early years of our own century. Then appeared the first great efforts to break out of a Eurocentric viewpoint and to sketch the shapes on a world scale: Weber, Spengler, Toynbee, Kroeber. Their work is judged of mixed quality today, not surprisingly for pioneering efforts; that it appeared simultaneously indicates it was based on an underlying shift in the means of intellectual production. […]   Two generations later, we are in a position to understand world culture much more deeply. Ironically, as scholarship has filled in more gaps and given firmer contours to what formerly was just coming into focus, we face new obstacles to understanding. We suffer from cognitive overload, from having amassed too much information to assimilate it. Disciplinary specialization and subspecialization are predictable in an academic profession that since 1960 has grown worldwide to a size dwarfing anything before. That is one reason why, since European universities expanded recently from elite to mass systems, doctrines have arisen attacking the very possibility of knowledge. Although the world is certainly not a text, today when several hundred thousand publications appear every year in the humanities and social sciences, and another million in the natural sciences, it may well feel as if we are drowning in a sea of texts.   Will we close our eyes on knowing world history at just the time when we have the resources to break out of our regional cultures? Practitioners of world comparisons are not entirely lacking; scholars such as Braudel, Needham, McNeill, and Abu-Lughod have continued to widen East-West perspectives, and Malraux opened the doors of a ›museum without walls‹ of world art. Although contemporary Western scholars are often hedged in by historicist particularism, Asian scholars such as Shigeru Nakayama and Hajime Nakamura have made bold efforts at trans-parochial



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history from the other side. Further on in the twenty-first century, when economic linkage and intermigration will indeed produce a common world culture, educated people will likely be embarrassed to know so little about the intellectual history of other parts of the world than their own.   But how to deal with the practical problem? To be a literate person today is like living in the library of Jorge Luis Borges, where near-infinite corridors of books contain the universe but we lack a key to their contents. My strategy has been to focus on intellectual networks: the social links among those thinkers whose ideas have been passed along in later generations. I have chosen philosophers because theirs is the archetypal intellectual role, which goes back several thousand years in each of the world civilizations, and from which have branched off most of the specialized disciplines. My first labor has been to assemble such networks for China, India, Japan, Greece, the Islamic world, medieval Christendom, and modern Europe, over very long periods of time. Assembling these networks has become a little history of its own; I have been working on some parts of this project for over 25 years.   The networks are a mnemonic device, a way to keep track of the expanses of history outside the few places that are familiar to us all. The networks are also the basis of a theory; I am arguing that if one can understand the principles that determine intellectual networks, one has a causal explanation of ideas and their changes. In a very strong sense, networks are the actors on the intellectual stage. Networks are the pattern of linkage among the micro-situations in which we live; the sociology of networks penetrates deeply into the very shapes of our thought. The network dynamics of intellectual communities provides an internal sociology of ideas, taking us beyond the reductionism of traditional externalist sociology. The historical dynamics of social identities in networks, too, casts the question of canonicity in another light. We need not fall into a Platonism of eternal essences to avoid the polemical simplification of reputation to sociopolitical dominance; there is a social construction of eminence which does justice to the inner processes of intellectual life.«37

16. Ben-Ami Scharfst. ein publizierte im gleichen Jahr (1998) einen globalgeschichtlichen Entwurf unter dem Titel: A comparative history of world philosophy. From the Upanishads to Kant. Seine Darstellung ist rein komparativ-systematisch orientiert, wobei er sich dabei an bestimmte Autoren aus Europa, Indien und China hält. Er beschränkt seine Darstellung auf die drei genannten Traditionen und fällt in dieser Hinsicht deutlich hinter die bereits besprochenen Entwürfe zurück. Er begründet seine Auswahl wie folgt: »There are three great philosophical traditions, the Indian, the Chinese, and the European. Before I describe them, I want to ask and answer, very briefly, what a philosophical tradition is, why I say that there are only three such traditions, and Collins, Randall: The sociology of philosophies. A global theory of intellectual change. Cambridge 1998, S. XVII. 37

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why it is best to study them together, as they are studied here, rather than separately or successively.   What is a philosophical tradition? A chain of persons who relate their thought to that of their predecessors and in this way form a continuous transmission from one generation to the next, from teacher to disciple to disciples disciple. Or rather, because a whole tradition is made up of many subtraditions, it is one and the same tradition because all of its subtraditions share common sources and modes of thought and develop by reaction to one another. A tradition is by nature cumulative and it progresses in the sense that it defines itself with increasing detail and density. I define the tradition as philosophical to the extent that its members articulate it in the form of principles – if only principles of interpretation – and of conclusions reasonably drawn from them; and I define it as philosophical to the extent that its adherents defend and attack by means of reasonable arguments – even those that deny reason – and understand and explain how they try to be reasonable. As history demonstrates again and again, no philosophy is purely rational, pure rationality being an unreasonable, impossible ideal. Matters of religion, communal loyalty, reverence for teachers, and cultural habits, not to mention individual psychology, have always limited rationality, so that philosophical subtraditions or schools are rational by tendency rather than in any absolute way.   I go on to my second question: Why say that there are only three great philosophical traditions? To claim this, one must put aside the correct but, for our purpose, insufficient definitions of philosophy as wisdom or as the group of principles, either stated or implied, by which any person or community views life. In keeping with the original meaning of the term philosophy, love of wisdom, philosophers, one supposes, have wanted to be wise, yet experience has taught that there is no good reason to think that they are necessarily so except, circularly, by their own definitions, and no good reason to think that nonphilosophers cannot be equally wise, that is, perceptive, farsighted, and sagacious, in the ways that their particular lives have taught them. Nor is there any good reason to suppose that traditions that are not philosophical by the definition I have adopted have not had their own depth of sophistication and practical intelligence (which is implicitly also theoretical). […]   I have still not explained why I have said that there are only three philosophical traditions, the Indian, the Chinese, and the European. What about such others as the Jewish, Muslim, Japanese, and Tibetan? Well, yes and no, as philosophers say, these are and are not separate traditions. The matter is more complicated than it seems at first. To begin with, it is possible to argue that even the Indians, Chinese, and Europeans never arrived at points of view unified enough to justify classifying them as distinct traditions. In all three, there are obvious and unobvious points of cleavage. To mention only the most obvious, in India, the Indians who regarded themselves as orthodox tried to delegitimize, that is, read out of their tradition, the philosophies they classified as unorthodox; in China, the Taoists mocked the tradition that Confucians revered, and during China’s later history, orthodox Confucians saw Buddhism



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as deeply foreign to Chinese tradition; and in Europe, it is not hard to distinguish the different national traditions-philosophy that is in a French, English, German, Italian, or other tradition.«38

Der inhaltliche Aufbau folgt bestimmten systematischen Themen, die direkt mit konkreten Namen verschiedener Traditionen verbunden werden: 1. The Three Philosophical Traditions 2. The Beginnings of Metaphysical Philosophy: Uddalaka, Yajnavalkya, Heraclitus, Parmenides 3. The Beginnings of Moral Philosophy: Confucius/Mencius, the Buddha, Socrates 4. Early Logical Relativism, Skepticism, and Absolutism: Mahavira, Chuang-tzu, Protagoras, Gorgias, Plato 5. Early Rational Synthesis: Hsun-tzu, Aristotle 6. Early Varieties of Atomism: Democritus/Epicurus/Lucretius, ›Guatama,‹ and Nameless Buddhists 7. Hierarchical Idealism: Plotinus/Proclus, Bhartrhari 8. Developed Skepticism: Sextus Empiricus, Nagarjuna, Jayarashi, Shriharsha 9. Religio-Philosophical Synthesis: Udayana, Chu Hsi, Avicenna, Maimonides, Aquinas 10. Logic-Sensitized, Methodological Metaphysics: Gangesha, Descartes, Leibniz 11. Immanent-Transcendent Holism: Shankara, Spinoza 12. Perceptual Analysis, Realistic and Idealistic: Asanga/Vasubandhu, Locke, Berkeley, Hume 13. Fideistic Neo-Skepticism: Dignaga/Dharmakirti, Kant Durch die Zusammenstellung verschiedener Namen unter bestimmten Themen ergeben sich bereits aus dem Inhaltsverzeichnis komparative Querbezüge zwischen den drei Traditionen, die zugleich auch die verschiedenen Epochen überschreiten und damit einen neuen Modus der Darstellung zeigen, der durchaus Vorteile besitzt. Es können somit kulturübergreifend Entsprechungen auf einen Blick gesehen und über die geschichtlichen Kontexte hinweg behandelt werden. 17. Ninian Smart (1927 – 2001), britischer Religionswissenschaftler, veröffentlichte im Jahr 1998 das Buch World philosophies, das 2002 auch in deutscher Übersetzung erschienen ist. Seine Darstellung der globalen Phi­lo­so­phie­geschichte ist insgesamt regional aufgeteilt und erfasst unter geographischen Aspekten fast die gesamte Welt, nur Australien und Polynesien erhalten keine eigene Darstellung. Neben der Ben-Ami: A comparative history of world philosophy. From the Upanishads to Kant. Albany 1998, S. 1 ff. 38 Scharfstein,

.

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regionalen Einteilung ist die Darstellung zugleich historisch differenziert, so dass auch moderne Entwicklungen einbezogen werden. In programmatischer Hinsicht versteht Smart seinen Versuch wie folgt: »We are living through one of the most transformative times in world history. Indeed, ours is the age when histories have come together into a single process. This is because of a blend of world wars and singular inventions. By pitting colonial powers against each other, World War I raged over virtually the whole globe, from the Somme to East Africa and from Tientsin to the Atlantic. World War II even more dramatically and deeply enmeshed the globe, and burned from Glasgow to Hiroshima and from Papua New Guinea to Murmansk. Satellite communications, jet airliners and computers have helped to knit together the globe in meshes of more or less instantaneous exchanges and almost time-free travel. In older days it was arduous or impossible to travel from one of the main centers of civilization to another. It took years to travel from Europe to East Asia, and hardly less from India. Great swathes of the world were unknown to the rest – the interior of Africa, large parts of South and North America, large stretches of Siberia and many islands of the Pacific. Regions were relatively discrete from one another, and so we are wont to think of countries’ histories separately: we think of Chinese, Japanese, Indian, Tibetan, Persian, German, Italian history. But in our day, all these histories have flowed together to form, from now on, a single stream – world history. By the same token we are all (or virtually all) included in the processes of global economics, geopolitics and planetary ecology. From now on we are forced to think globally. And yet often our traditions of education and culture, especially in the West, because the West has not endured the impact of the West as a colonial power-source, lead us to think in terms merely of our own tradition.   Thus philosophy for many scholars and interested lay persons means Western philosophy, literature means Western literature, music means Western music and so on. In this book, I shall attempt to give a picture of the philosophies of all the world. It may be that from now on humans will speculate together in a global manner: but now more than ever it is vital to remember the diversities of the past. The varying centers of civilization and culture, together with their outlying peripheral civilizations, have contributed divergent themes to the sum of human thought. We need to be conscious of our ancestors of all races, religions and intellectual climates, who have helped to shape human living and human ideas. They can be our critics and can remain sources of ideas and new slants on things. Especially because we all belong to a cross-cultural world, the plural past can be amazingly invigorating. We can exploit several kinds and sources of riches. But the shape of a project of thinking about the world’s philosophies depends on what we mean by ›philosophy‹ and its plural. The word, after all, is a Western word, and there is no guarantee that it has a clear equivalent outside of the West.«39 39

Smart, Ninian: World philosophies. London 1998, S. 1 f. Deutsche Übersetzung: Welt­



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»In what follows I shall attempt to sketch the evolution of human thinking on a regional basis. I shall treat separately such areas as South Asia, China, Korea and Japan, even though they obviously have a great deal of interplay. In particular, because Buddhism (so important both religiously and philosophically throughout Asia) spread from India to China and from there further afield, it is important to begin our Asian sequence with South Asia first. This already dictates one main sequence of chapters and treatments. Also I think it is salutary for Western readers in particular but really for all readers, to begin their reading of world thought outside of Europe. This will help them, and us, escape from being too confined in the strait-jacket of a conventional view of the history of the field. It will enable us to look with fresh eyes upon the patterns of the world.«40

Das Inhaltsverzeichnis gliedert die Themen wie folgt: 1. The history of the world and our philosophical inheritance, 2. South Asian philosophies, 3. Chinese philosophies, 4. Korean philosophies, 5. Japanese philosophies, 6. Philosophies of Greece, Rome and the Near East, 7. Islamic philosophies, 8. Jewish philosophies, 9. Europe, 10. North America, 11. Latin America, 12. Modern Islam, 13. Modern South and South-east Asia, 14. China, Korea and Japan in modern times, 15. African philosophies, 16. Concluding reflections. Da dieses Werk auch in die deutsche Sprache übersetzt wurde, ist es die einzige zusammenhängende Darstellung der Phi­lo­so­ phie­geschichte in globaler Perspektive in deutscher Sprache nach 1990. 18. Elmar Holenstein hat im Jahr 2004 einen im Vergleich zu allen anderen Entwürfen gänzlich neuen Versucht vorgelegt, globalgeschichtliche Zusammenhänge in der Philosophie darzustellen und zu thematisieren. In seinem Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens stellt er die geographische Dimension ins Zentrum und macht durch viele Karten und Übersichten deutlich, an welchen Orten und durch welche Netzwerke philosophisches Denken entstanden ist. »An sich interessiert sich die Philosophie nicht dafür, wer was wann und wo gesagt hat. Worauf es ihr ankommt, ist vielmehr, ob das, was jemand, wann und wo auch immer, geäußert hat, als wahr oder falsch, gut oder schlecht, unsere Erkenntnis fördernd oder behindernd zu bewerten ist. Bevor wir jedoch eine Aussage beurteilen können, müssen wir sie verstehen. Für das Verständnis einer Aussage ist es sehr wohl aufschlußreich, wer sie wann und wo, in welchem Zusammenhang gemacht hat. Dies ist ein erster, ein hermeneutischer Grund, warum wir uns zusammen mit der Geschichte für die Geographie der Philosophie interessieren. Der oberste Leitsatz der Hermeneutik, der Lehre vom Verstehen, ist, daß für das Verständnis eines Textes die geschichte des Denkens. Die geistigen Traditionen der Menschheit, übers. v. Nikolaus de Palé­ zieux. Darmstadt 2002, 2. unv. Aufl. 2009. 40 Ebd., S. 11 f.

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Kenntnis seines Kontexts, des sprachlichen wie des situativen Zusammenhangs, von entscheidender Bedeutung ist. […]   Denkweise und Denkinhalte gewinnen an Tiefenschärfe und werden leichter begreiflich, wenn wir den Herkunftsort und die Lebensstationen eines Philosophen kennen, wenn wir beispielsweise wissen, daß Vico aus dem süditalienischen Napoli, Montesquieu aus dem französisch-aquitanischen Bordeaux, Rousseau aus dem französisch-schweizerischen Genève und Hume aus dem schottischen Edinburgh stammt. Bei Philosophen außerhalb des eigenen Erdteils begnügt man sich üblicherweise mit einer allgemeingehaltenen Mitteilung ihrer nationalen Zugehörigkeit, selbst wenn dieses subkontinentale Ausmaße hat. Dabei dürfte der Herkunftsort für Philosophen aus anderen Erdteilen als Hintergrundinformation nicht weniger aufschlußreich sein, das persische Shīrāz für den Iraner Mollā Sadrā, das bengalische Navadvīpa für den Inder Gadādhara, Yuyao in Ost-Zhejiang für den Chinesen Huang Zongxi, die kaiserliche Hauptstadt Kyōto für den Japaner Itō Jinsai, um nur vier Zeitgenossen der vier genannten Europäer aus dem 17. und 18. Jahrhundert zu nennen.«41 »Wann beginnt die Geschichte der Philosophie? Sicherlich fängt sie nicht erst mit dem Aufkommen des Wortes ›Philosophie‹ an, und sicherlich wird nicht nur dort philosophiert, wo es ein dieser Tätigkeit entsprechendes Wort gibt. Niemand käme auf die Idee, von Mathematik nur dort zu sprechen, wo man dafür ein Fachwort geprägt hat. Der Sache nach sei die Philosophie uralt, nur der Name sei neueren Datums, schrieb Cicero vor 2100 Jahren in seinen Disputationen aus Tusculum. […] Eine globale Geschichte der Philosophie kann man nicht ohne einen weiten Begriff der Philosophie abfassen. Sie läßt sich auch nicht ohne Überlegungen zu ihrer Vor- und Kontextgeschichte schreiben. Zur Philosophie gehört, daß sie Rechenschaft über ihre Voraussetzungen und Rahmenbedingungen ablegt. Die mentalen und sozialen Voraussetzungen des Philosophierens decken sich in beachtenswerter Weise mit den mentalen und sozialen Fähigkeiten, welche die Menschen zusammen mit ihrem Sprachvermögen erworben haben. Die Geschichte der Philosophie beginnt in diesem Atlas daher weder am hellenischen ›Binnenmeer‹ Thalassa hē esō noch im südasiatischen ›Mittelland‹ Madhyamā Dish noch in der ostasiatischen ›Mittleren Ebene‹ Zhongyuan, sondern mit der Anfangsgeschichte der Menschheit in Afrika.«42 »Der Atlas befaßt sich mit den philosophischen Strömungen rund um die Erde. Er verfolgt dabei zweierlei mit besonderem Nachdruck: die Beziehungen und die typologischen Vergleichsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Erdteilen einerseits und, nur in einem scheinbaren Gegensatz dazu, die Mannigfaltigkeit der intellektuellen Entwicklungen innerhalb der einzelnen Erdteile andererseits. Die Menschheit ist insgesamt homogener, als man das im frühen 20. Jahrhundert glaubte annehmen 41 42

Holenstein, Elmar: Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens. Zürich 2004, S. 7. Ebd., S. 17 f.



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zu müssen, und die einzelnen Kulturen sind heterogener, als man das damals dogmatisch angenommen hatte. Es gibt große Unterschiede zwischen den philosophischen Ansichten der Menschen. Die größten findet man nicht zwischen den einzelnen Erdteilen, sondern zwischen den Individuen und den Schulbildungen innerhalb der einzelnen Erdteile. Wenn man der Überzeugung ist, daß es keine umfassende Theorie gibt, in die sich alle menschenmöglichen Erfahrungen und alle elementaren Wertvorstellungen konfliktfrei einordnen lassen, ist das keine Überraschung.«43

Neben den zahlreichen Karten und Übersichtsdarstellungen bietet der Atlas von Holenstein auch textliche Interpretationen, die aber keine Darstellung der Phi­ lo­so­phie­geschichte geben. Holensteins Beitrag liegt vielmehr darin, auf visueller Ebene deutlich zu machen, dass sich die Geschichte der Philosophie in keiner Weise allein auf Europa begrenzen lässt. Vor allem die Karten zur Spätantike und zum Mittelalter machen deutlich, dass die Entwicklungen in Europa ohne die Zentren der Philosophie in Asien nicht möglich gewesen wären. Auf den Karten zeigt sich immer wieder ein reiches Netz von Verflechtungen, das einen Imaginationsraum öffnet, der für zukünftige Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bungen einen guten Ausgangspunkt bietet. 19. Jay L. Garfield und William Edelglass haben im Jahr 2011 The Oxford Handbook of World Philosophy herausgegeben. Beide Herausgeber sind bekannt als Spezialisten für buddhistische Philosophie. Jay L. Garfield studierte zunächst west­ liche Philosophie. Nach einigen Jahren der Lehre am Hampshire College forderte die Universität die Professoren in den 1980er Jahren auf, ihr Lehrrepertoire um nicht-westliche Philosophie zu erweitern. Daraufhin begann Garfield Tibetisch und tibetisch-buddhistische Philosophie zu studieren. Das Erlernen einer nichteuropäischen Sprache der Philosophie hatte bei Garfield zur Folge, dass sich bei ihm ein globales Verständnis von Philosophie entwickelt hat. Da beide Herausgeber Spezialisten für buddhistische Philosophie sind, wird verständlich, warum in dem Handbuch die buddhistische Philosophie einen relativ großen Umfang einnimmt, obwohl auch andere Bereiche ausführlich einbezogen werden. Zur Programmatik ist im Vorwort das Folgende zu lesen: »Curiously, the tendency to believe that one’s own culture is the only one in which philosophical thought has or even could emerge is also widespread. Those readers who have come of philosophical age in Euro-American or Australasian contexts will be aware that this conceit is still alive and well in their own cultures, though now far less universally endorsed than it was only a few years ago. Western philosophers are not the only ones to have held such parochial views; there have been times when non-Chinese ideas were regarded as barbarian in China, and philosophy in India was 43

Ebd., S. 21.

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taken to be exhausted by the six great systems. Many now still doubt the possibility of philosophical thought in cultures deemed to be too ›primitive‹ simply because they did not employ writing.   This widespread prejudice regarding the unique ability of one’s own culture to develop philosophical thought or insight was generally presupposed, or else justified in ways that seem naive and misguided, at best, today. These views belie the long history of intercultural philosophical influence. Communication between Greek, Persian, and Indian philosophical communities was commonplace. Early European philosophy owes much to Islamic philosophy, as it does to Roman and Greek philosophy, traditions in turn influenced by Persia and India. East Asian philosophy is informed by Buddhism, Confucianism, and other views that spread along the Silk Road; and goods brought from china to the Middle East and Europe were surely accompanied by diverse ideas and cultural practices. So even the notion of hermetically sealed traditions in parallel development is largely a historical fiction. To understand the history of world philosophy is at least in part to understand the history of philosophical dialogue between, and not only within, the world’s cultural traditions.   However tempting – and misleading – the view of philosophy as culturally sealed or as unique to any one particular culture may have been in the past, today there are both compelling moral and intellectual reasons for serious students of philosophy and professional philosophers to expand their gaze beyond a single culture – whether their own or that of some other. We live today in the aftermath of a long period of colonialism. One effect of colonialism has been to reinforce prejudices regarding the intellectual or cultural superiority of certain nations over others; another has been to impoverish and to disempower those who have been both colonized and disparaged. This is a serious, pervasive moral wrong.   One aspect of this disempowerment and disparagement is the neglect of the philosophical traditions of subaltern cultures. There have been attempts to justify this neglect. For example, some have insisted that non-Western intellectual traditions lack rational argument, a claim readily dismissed by anyone with knowledge of the traditions represented in the pages that follow. (Curiously, this view was never advanced by those Western philosophers actually familiar with non-Western traditions, but frequently by those ignorant of them, a fact that raises its own questions about rational argument.) Or, it was argued, that even if non-Western traditions did possess rational inquiry, this did not constitute philosophy because the inquiry took place within a religious, soteriological framework. Properly speaking, it was claimed, this was a form of religious practice and not philosophy, which is the pursuit of knowledge for its own sake. Such a narrow view, based perhaps on certain forms of recent Western philosophical practice, is blind to the varied philosophical styles and approaches that constitute the Western philosophical tradition, and would exclude from ›philosophy‹ much of what is generally considered philosophy from the Greeks to the Early Moderns and even some contemporary philosophers.   Instead of grounding their arguments in descriptive accounts of non-Western



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philosophy, some Western thinkers have simply argued that ›philosophy‹ is by definition a Greek-European project and is only mistakenly applied as a universal category to the intellectual traditions of other cultures. On this view, there may indeed be wisdom in the classic texts of other traditions, but again, these texts are not, strictly speaking, philosophical; rather, they are best approached through the methodologies of other disciplines, such as religious studies, intellectual history, anthropology, or cultural studies. Such views marginalize non-Western intellectual traditions, making them objects of cultural study, limited by their cultural particularity, and excluded from the realm of philosophy (that is, Western philosophy, not taken for granted as the unmarked case), which is thought to transcend cultural location in its pursuit of universal truth. We are left, on the one hand, with an often explicit claim of universal reason, and on the other, with the implicit claim that access to this universality is restricted to particular geographic locations.   Another aspect, and a curious reflection of the first, is that philosophers in subaltern cultures are encouraged, in order to work internationally, to attend primarily to the philosophical ideas, texts, and figures of dominant cultures, thus simultaneously alienating themselves from their own cultural context and reinforcing the view that there is not much there worthy of attention in the first place. However, the current global dominance of Western discourse in philosophical debates is due in no small part to the Western dominance of non-Western peoples over the last four centuries; political, military, economic, and technological power have as much to do with the framework of contemporary philosophical discourse as any alleged universal truths of Western philosophy that are unique in their transcendence of cultural and historical location. In today’s multicultural world, the neglect and occlusion of non-Western thought hence constitute a kind of neocolonialism. Complicity in this occlusion of a wide range of philosophical traditions – which itself could be regarded as constituting and legitimizing violence by suppressing the perspectives of others – even if it is passive complicity, is morally unacceptable.«44

Die einzelnen Kapitel des Buches sind von namenhaften Spezialisten verfasst worden, so dass sich auch hier wieder eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Fachphilosophie und den Philologien zeigt. Die Themenvielfalt ist bemerkenswert und spiegelt den gegenwärtigen Stand global orientierter Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­ bung wider: I. Chinese Philosophy: 1. The Yijing: The Creative Origin of Chinese Philosophy, 2. Classical Confucianism I: Confucius, 3. Classical Confucianism II: Mencius and Xunzi, 4. Daoism: Laozi and Zhuangzi, 5. Major Rival Schools: Mohism and Legalism, 6. Chinese Buddhist Philosophy, 7. Neo-Confucianism, 8. Contemporary Confucianism The Oxford Handbook of World Philosophy. Hg. v. Jay L. Garfield u. William Edelglass. Oxford 2011, S. 3 ff. 44

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II. Non-Buddhist Indian Philosophy: 9. Nyaya-Vaisesika Philosophy, 10. SamkhyaYoga, 11. Mimamsa, 12. Vedanta, 13. Jain Philosophy, 14. Anglophone Philosophy in Colonial India III. Indo-Tibetan Buddhist Philosophy: 15. Abhidharma Philosophy, 16. Madhya­ maka in India and Tibet, 17. Yogacara, 18. Buddhist Epistemology (pramanavada), 19. Buddhist Thought in Tibet: An Historical Introduction, 20. Dzogchen, 21. Buddhist Ethics IV. Japanese and Korean Philosophy: 22. Japanese Ethics, 23. Japanese Aesthetics and Philosophy of Art, 24. Natural Freedom: Human/Nature Nondualism in Japanese Thought, 25. The Philosophy of Zen Master Dogen: Egoless Perspectivism, 26. Nishida Kitaro: Self, World, and the Nothingness. Underlying Distinctions, 27. Korean Buddhist Philosophy V. Reintroducing Islamic Philosophy. The Persisting Problem of »Smaller Orientalisms«: 28. The Hellenizing Philosophers, 29. Philosophy of Illumination, 30. Sufism, 31. Islamic Theology, 32. Muslim Jurisprudence VI. Philosophy in Africa and the African Diaspora: 33. Africana Philosophy: Prospects and Possibilities, 34. African Philosophy, 35. Afro-Caribbean Philosophy, 36. African American Philosophy: A General Outline, 37. Race in Contemporary Philosophy, 38. Affirmative Actio VII. Recent Trends in Global Philosophy: 39. Global Feminism, 40. Native American Philosophy, 41. Indigenous Environmental Philosophy, 42. Cosmopolitanism, 43. Reparations. 20. Yves-Marie Adeline, Autor verschiedener geistesgeschichtlicher Bücher, hat im Jahr 2015 einen globalgeschichtlichen Entwurf in französischer Sprache vorgelegt: Histoire mondiale de la philosophie. Die Darstellung teilt sich in drei große Bereiche: 1. La Pensée antique, 2. La Pensée médiévale, 3. La Pensée moderne. Im ersten Teil werden das »mythische Denken«, die »orientalische Weisheit« (Indien, China, Meso­potamien) und die Philosophie der Griechen bis zur frühen christlichen Philosophie thematisiert. Der zweite Teil liefert eine weitgehend konventionelle Darstellung europäisch-mittelalterlicher Philosophie unter Einbezug islamischer und jüdischer Traditionen. Der dritte Teil bezieht in zwei kurzen Abschnitten Entwicklungen chinesischer und japanischer Philosophie vom 15. – 18. Jahrhundert mit ein. Insgesamt fällt die Darstellung weit hinter die bisher besprochenen Entwürfe zurück.



Ansätze globaler Philosophiegeschichtsschreibung

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Wie die hier vorgelegte Übersicht zeigt, ist seit der Mitte des 20. Jahrhunderts eine global orientierte Phi­lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in europäischen Sprachen entstanden, die bereits jetzt ein beachtliches Ausmaß erreicht hat. Nicht berücksichtigt wurden in der Übersicht Darstellungen in außereuropäischen Sprachen, was in zukünftigen Forschungen notwendig geschehen muss. Da aber bisher noch keine das gesamte Feld einbeziehenden Forschungen vorliegen, zeigen sich in diesem Bereich verschiedene Forschungsdesiderate. Auch wenn in den letzten Jahren zunehmend auch über Möglichkeiten einer global orientierten Phi­lo­so­phie­geschichts­ schrei­bung nachgedacht wurde,45 so ist das Thema insgesamt noch weit davon entfernt, ausreichend erforscht zu sein. Vor allem die neueren Entwicklungen auch im englischsprachigen Bereich wurden bisher noch nicht zusammengeführt und eingehender reflektiert. Die besonderen Schwierigkeiten in diesem Forschungsfeld bestehen darin, dass vielfältige Sprachen einbezogen werden müssen, so dass diese Forschungen nicht von einzelnen Personen durchgeführt werden können. Um in diesem Feld neue Impulse setzen zu können, müsste eine Gruppe von Menschen, ausgestattet mit verschiedenen philologischen Kompetenzen, zunächst die Situation in verschiedenen sprachlichen Kontexten (Chinesisch, Japanisch, Arabisch, Hebräisch, Tibetisch, Spanisch, Italienisch, Russisch, Koreanisch usw.) ausgehend von den Ergebnissen und Darstellungen im vorliegenden Buch sondieren. Anhand dieser Erkenntnisse könnten dann neue Überlegungen und Entwürfe für eine Phi­ lo­so­phie­geschichts­schrei­bung in globaler Perspektive erarbeitet werden, die nicht nur die vielfältige postkoloniale Kritik einbeziehen – was bisher nur im Ansatz geschehen ist –, sondern auch die teilweise langen Traditionen der Phi­lo­so­phie­ geschichts­schrei­bung beispielsweise in Japan und China berücksichtigen. Ein solches breit angelegtes Forschungsprojekt hätte die Chance, auf der Grundlage der bisherigen Entwürfe und Vorarbeiten ein neues Bild von einer global orientierten Phi­lo­so­phie­geschichte zu entwerfen.

45

Es ist vor allem Franz Martin Wimmer, der schon früh über diese Zusammenhänge geforscht hat: Wimmer, Franz Martin: Interkulturelle Philosophie. Wien 1990; Wimmer, Franz Martin: Philosophiehistorie in interkultureller Orientierung. In: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 3 (1999), S. 8 – 20. In neuer Zeit sind weitere Arbeiten entstanden, die das Forschungsfeld weiter geöffnet haben: Schneewind, J. B.: Globalization and the History of Philosophy. In: Journal of the History of Ideas 66:2 (2005), S. 169 – 178. Philosophie und Phi­lo­ so­phie­geschichts­schrei­bung in einer veränderten Welt: Theorien – Probleme – Perspektiven. Hg. v. Heinz Kimmerle u. Hamid Reza Yousefi. Nordhausen 2012. Für weitere Literatur vgl. die Bibliographie im Anhang.

Auswahlbibliographie zur ­ Philosophiegeschichtsschreibung in globaler Perspektive Rolf Elberfeld und Leon Krings

Die folgende Auswahlbibliographie wurde von den Autorinnen und Autoren dieses Bandes zusammengestellt und von Rolf Elberfeld und Leon Krings redaktionell bearbeitet. Sie stellt einen ersten Versuch dar, Forschungsliteratur zur Philosophiegeschichte und -geschichtsschreibung in globaler Perspektive zusammenzutragen, um die Breite des Forschungsfeldes in die Aufmerksamkeit zu heben. Die in der europäischen Fachphilosophie weitgehend unberücksichtigten Themenfelder machen mit Nachdruck die erheblichen Forschungsdesiderate in diesem Bereich deutlich. Die Anzahl der angegebenen Titel wurden weitgehend auf jeweils zehn für die einzelnen thematisch differenzierten Bereiche begrenzt. Die Angaben in den einzelnen Unterabschnitten sind nach Erscheinungsjahr geordnet. Aufgrund der großen Fülle der Literatur wurde für die japanische Sprache von Leon Krings eine eigene Übersicht erstellt, die im Anschluss an diese Auswahlbibliographie zu finden ist. Das Material zeigt insgesamt, dass inzwischen vielfältige Traditionen der Philosophiegeschichtsschreibung existieren, die aber bisher noch nicht in eine gemeinsame Perspektive gerückt worden sind. Wenn die hier vorgelegten Materialien dazu beitragen können, weitere Forschungen zu motivieren und zu unterstützen, so erfüllen sie damit ihren Sinn. I. Einzelne Traditionen der Philosophiegeschichtsschreibung (in alphabetischer Reihenfolge) Philosophiegeschichtsschreibung im Kontext: 1. Afrika  |  2. Buddhismus  |  3. China  |  4. Europa  |  5. Indien  6. Islam  |  7. Japan  |  8. Judentum  |  9. Lateinamerika II. Globale Philosophiegeschichtsschreibung 1.  Globale Philosophiegeschichtsschreibung in westlichen Sprachen 2.  Theoretisierung globaler Philosophiegeschichtsschreibung

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Rolf Elberfeld und Leon Krings

I. Einzelne Traditionen der Philosophiegeschichtsschreibung (in alphabetischer Reihenfolge) 1.  Philosophiegeschichtsschreibung im Kontext Afrika 1.1  Philosophiegeschichten in westlichen Sprachen

Claude Sumner: Ethiopian philosophy. Bd. 1 – 5. Addis Ababa 1974 –1982. Henry Odera Oruka: Four Trends in Current African Philosophy, in: Alwin Diemer (Hg.): Philosophy in the present Situation of Africa. Wiesbaden 1981, S. 1 – 7. (Neu veröffentlicht in: Henry Odera Oruka: Trends in Contemporary African Philosophy. Nairobi 1990). Lancinay Keita: African Philosophical Tradition, in: Richard A. Wright (Hg.): African Philosophy. An Introduction. Lanham 1984. 3rd Ed., S. 57 – 76. Dismas A. Masolo: African philosophy in search of identity. Bloomington 1994. Phambu Ngoma-Binda: La philosophie Africaine contemporaine. Analyse historicocritique. Kinshasa 1994. Pieter Boele van Hensbroek: African political philosophy. 1860 –1995. An Inquiry into three Families of Discourse. Groningen 1998. Innocent Maduakolam Osuagwu: A contemporary history of African philosophy. Owerri 1999. Hubert Mono Ndjana: Early medieval history of African philosophy: the Africanity of the early medieval history of philosophy or of the Christian phase of North African Catholic thinkers. Owerri 2001. Barry Hallen: A short history of African philosophy. Bloomington 2002, 2. Aufl. 2009. Souleymane Bachir Diagne: Pre-Colonial African Philosophy in Arabic, in: Kwasi Wiredu (Hg.): A Companion to African Philosophy. Malden, Mass. 2004, S. 66 – 77. Grégoire Biyogo: Histoire de la philosophie africaine. 4 Bde. Paris 2006 – 2009. Maurice M. Makumba: Introduction to African philosophy: past and present. Nairobi 2007. Lewis Gordon: Introduction to Africana philosophy. Cambridge, UK; New York 2008. Hubert Mono Ndjana: Histoire de la philosophie africaine. Paris 2009. Hubert Mono Ndjana: A modern history of African philosophy: focus on Anton Wilhelm Amo, an African philosopher in 18th century German diaspora. Owerri 2010.



Auswahlbibliographie zur P ­ hilosophiegeschichtsschreibung

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1.2  Diskussionen zum Beginn der Philosophie im alten Ägypten (Afrozentrismus) Cheikh Anta Diop: Nations nègres et culture: de l’antiquité Nègre-Egyptienne aux pro­ blèmes culturels de l’Afrique noire d’aujourd’hui. Paris 1954. Henry Olela: From ancient Africa to ancient Greece: an introduction to the history of philosophy. Atlanta 1981. Henry Olela: The African Foundations of Greek Philosophy. In: African Philosophy: An Introduction. Hg. v. Richard A. Wright. 3. Aufl., Lanham 1984. Martin Bernal: Black Athena. The Afroasiatic roots of classical civilization. New Brunswick, N. J. 1987. Théophile Obenga: La philosophie africaine de la période pharaonique: 2780 – 330 avant notre ère. Paris 1990. Innocent Onyewuenyi: African Origin of Greek Philosophy: An Exercise in Afrocentrism. Enugu 1993. Molefi Kete Asante: The Egyptian philosophers: ancient African voices from Imhotep to Akhenaten. Chicago 2000.

1.3  Theoretisierung afrikanischer Philosophiegeschichte Marcien Towa: Essai sur la problématique philosophique dans l‘Afrique actuelle. Yaoundé 1971. Alfons-Josef Smet: Projet d’une histoire de la pensée africaine. In: Ders.: Notes d’histoire de la pensée africaine: texte revu. Kinshasa 1975 – 1977, S. 3 – 82. Paulin Hountondji: Sur la »philosophie africaine«: critique de l’ethnophilosophie. Paris 1976. Dt: Afrikanische Philosophie: Mythos und Realität. Berlin 1993. Jean Kinyongo: La philosophie africaine et son histoire. In: Les Études Philosophiques 4 (1982), S. 407 – 18. Innocent Maduakolam Osuagwu: African historical reconstruction: a methodological option for African studies: The North African case of the ancient history of philosophy. Owerri 1999. Jakob Emmanuel Mabe: Mündliche und schriftliche Formen philosophischen Denkens in Afrika. Grundzüge einer Konvergenzphilosophie. Frankfurt a. M. 2005. Anke Graness: Questions of Canon Formation in Philosophy: The History of Philosophy in Africa. In: Phronimon. Accredited Journal of the South African Society for Greek Philosophy and the Humanities 16:2 (2015), S. 78 – 96. Anke Graness: Writing the history of philosophy in Africa: where to begin?, in: Journal of African cultural studies 28:2 (2016), S. 1 – 15.

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Rolf Elberfeld und Leon Krings

2.  Philosophiegeschichtsschreibung im Kontext Buddhismus 2.1 Philosophiegeschichten1 Max Walleser: Die buddhistische Philosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. 1. Die philosophische Grundlage des älteren Buddhismus. Heidelberg 1904; 2. Die Mittlere Lehre Mādhyamika-śāstra des Nāgārjuna; nach der tibetischen Version. Heidelberg 1911; 3. Die Mittlere Lehre des Nāgārjuna; nach der chinesischen Version. Heidelberg 1912. Max Walleser: Prajña Pāramitā. Die Vollkommenheit der Erkenntnis; nach indischen, tibetischen und chinesischen Quellen. Göttingen 1914. Beni Madhab Barua: Prolegomena to a history of Buddhist philosophy. Calcutta 1918. E. J. Thomas: The history of Buddhist thought. New York 1951. Erich Frauwallner: Die Philosophie des Buddhismus. Berlin 1956. Arthur F. Wright: Buddhism in Chinese history. Stanford 1959. Etienne Lamotte: Histoire du Bouddhisme Indien, des origines à l’ère Śaka. Louvain 1958. Engl. Übers. v. Sara Webb-Boin: History of Indian Buddhism, From the Origins to the Śaka Era. Louvain-la-neuve 1988. David J. Kalupahana: A history of Buddhist philosophy: continuities and discontinuities. Honolulu 1992. Volker Zotz: Geschichte der buddhistischen Philosophie. Hamburg 1996. Heinrich Dumoulin: Geschichte des Zen-Buddhismus. Bd. 1 Indien und China, Bd. 2 ­Japan. Bern/München 1985.

2.2  Theoretisierung buddhistischer Philosophiegeschichte David J. Kalupahana: Buddhist philosophy: a historical analysis. Honolulu 1976. Sueki Fumihiko: Theoretische Überlegungen zur Geschichte des buddhistischen Denkens in Japan (Nihonbukkyō shisōshi ronkō). Tōkyō 1993. John Maraldo: Is There Historical Consciousness Within Ch’an? In: Japanese Journal of Religious Studies 12:2/3 (1985), S. 141 – 172. John Maraldo: History. In: Encyclopedia of Buddhism. Hg. v. Robert Buswell et. al. New York 2004, S. 332 – 336. Klaus Dieter Mathes (Hg.): Toward a History of Tibetan Mahāmudrā Traditions. (Zen­ tralasiatische Studien Bd. 44) Wien 2015.

1

Die japanischsprachigen Geschichten der buddhistischen Philosophie sind in der Zusammenstellung von Leon Krings zu finden.



Auswahlbibliographie zur P ­ hilosophiegeschichtsschreibung

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3.  Philosophiegeschichtsschreibung im Kontext China 3.1  Philosophiegeschichten in westlichen Sprachen Karl Windischmann: Die Philosophie im Fortgang der Weltgeschichte, Erster Theil: Die Grundlagen der Philosophie im Morgenland, 1. Band: China. Bonn 1827. Daisetz Teitaro Suzuki: A brief History of early Chinese philosophy. London 1914. Ernst Viktor Zenker: Geschichte der chinesischen Philosophie: zum ersten Male aus den Quellen dargestellt. 2 Bände. Reichenberg 1926 – 1927. Alfred Forke: Geschichte der alten chinesischen Philosophie. Hamburg 1927, 21964; ­Geschichte der mittelalterlichen chinesischen Philosophie. Hamburg 1934, 21964; ­Geschichte der neueren chinesischen Philosophie. Hamburg 1938, 21964. Carsun Chang: Geschichte der neukonfuzianischen Philosophie. Vom 10. Jahrhundert bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Gastvorlesung an der Thüringischen Universität zu Jena 1930. Frankfurt a. M. 2016. Feng Youlan: A history of Chinese philosophy. Übers. v. D. Bodde. 2 Bde. Princeton 1952 – 53. Wolfgang Bauer: Geschichte der chinesischen Philosophie: Konfuzianismus, Daoismus, Buddhismus. München 2001. Anne Cheng: Histoire de la pensée chinoise. Paris 2002. Bo Mou: History of Chinese philosophy (Routledge history of world philosophies 3). Lon­don 2009. Xiao Jiefu: A concise history of Chinese philosophy: main currents of philosophical thought from mythology to Mao, translated from the Chinese by Zhang Siqi. San Francisco 2012.

3.2  Philosophiegeschichten in chinesischer Sprache2 Xie Wuliang 謝無量: Zhongguo zhexueshi (中國哲學史 Geschichte der chinesischen Philosophie). Shanghai 1916. Hu Shi 胡適: Zhongguo zhexueshi dagang (中國哲學史大綱 Grundzüge einer Geschichte der chinesischen Philosophie). Shanghai 1919. Zhong Tai 鐘泰: Zhongguo zhexueshi (中國哲學史 Geschichte der chinesischen Philo­ sophie). Shanghai 1929. Feng Youlan 馮友蘭: Zhongguo zhexueshi (中國哲學史 Geschichte der chinesischen Philosophie). Bd. 1 Shanghai 1931, Band 2 Shanghai 1934. 2

Die japanischsprachigen Geschichten der chinesischen Philosophie sind in der Zusammenstellung von Leon Krings zu finden.

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Rolf Elberfeld und Leon Krings

Hou Wailu, 侯外廬 et al.: Zhongguo sixiang tongshi (中國思想通史 Allgemeine Geschichte des chinesischen Denkens). 4 Bände. Shanghai/Beijing 1947–1959. Zhang Dainian 張岱年: Zhongguo zhexue dagang (中國哲學大綱 Grundriss der chinesischen Philosophie). Beijing 1958. Ren Jiyu (Hg.) 任繼愈: Zhongguo zhexueshi (中國哲學史 Geschichte der chinesischen Philosophie). Beijing 1963–1979. Tang Junyi 唐君毅: Zhongguo zhexue yuanlun (中國哲學原論 Grundlinien der chinesischen Philosophie). 4 Bände. Hong Kong 1966-1975. Mou Zongsan 牟宗三: Zhongguo zhexue shijiujiang (中國哲學十九講 Neunzehn Vorlesungen zur chinesischen Philosophie). Taipei 1983. Lao Siguang 勞思光: Xinbian zhongguo zhexueshi (新編中國哲學史 Neue Geschichte der chinesischen Philosophie). Taipei 1984–1986.

3.3  Theoretisierung chinesischer Philosophiegeschichte Hans-Georg Möller: Die philosophischste Philosophie. Feng Youlans Neue Metaphysik. Mit einer Übersetzung der »Neuen Methodologie«. Wiesbaden 2000. Michael Lackner; Iwo Amelung; Joachim Kurtz (Hg.): New Terms for New Ideas. Western Knowledge and Lexical Change in Late Imperial China. Leiden 2001. Ren Jiyu: Characteristics of the History of Chinese Philosophy. In: Contemporary Chinese thought, übers. v. M. E. Sharpe, 41:4 (2010), S. 32 – 37. Joachim Kurtz: The Discovery of Chinese Logic. Leiden 2011. John Makeham (Hg.): Learning to Emulate the Wise. The Genesis of Chinese Philosophy as an Academic Discipline in Twentieth-Century China. Hong Kong 2012. Joachim Gentz, Dirk Meyer (Hg.): Literary forms of argument in early China. Leiden 2015.

4.  Philosophiegeschichtsschreibung im Kontext Europa3 4.1  Philosophiegeschichten, 17. bis 19. Jahrhundert4 Thomas Stanley: The history of Philosophy. London 1656 ff. Christoph August Heumann: Acta philosophorum, das ist gründliche Nachrichten aus der historia philosophica. Halle 1715 – 1726. 3

Die japanischsprachigen Geschichten der europäischen Philosophie sind in der Zusammenstellung von Leon Krings zu finden. 4 Eine umfassende Liste der europäischen Philosophiegeschichten vom 15. Jahrhundert bis 1833 findet sich in: Lucien Braun: Geschichte der Philosophiegeschichte. Darmstadt 1990, S. 390 – 407.



Auswahlbibliographie zur P ­ hilosophiegeschichtsschreibung

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Johann Jacob Brucker: Kurze Fragen aus der philosophischen Historie vom Anfang der Welt bis auf die Geburt Christi, mit ausführlichen Anmerkungen erläuert. 7 Bände. Ulm 1731 – 1736. Johann Jacob Brucker: Historia critica philosophiae, a mundi uncunabilis ad nostram usque aetatem deducat. 5 Bände. Lipsiae 1742 – 1744. Dietrich Tiedemann: Geist der speculativen Philosophie. 6 Bände. Marburg 1791 – 1797. Johann Gottlieb Buhle: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, und einer kritischen Literatur derselben. 8 Bände. Göttingen 1796 – 1804. Wilhlem Gottlieb Tennemann: Geschichte der Philosophie. 11 Bände. Leipzig 1798 – 1819. Joseph Marie Degerando: Histoire comparée des systèmes de philosophie, considérés relativement aux principes des connaissances humaines. 2 Bände. Paris 1804. Friedrich Ast: Grundriß einer Geschichte der Philosophie. Landhut 1807. Friedrich Ueberweg: Grundriß der Geschichte der Philosophie. 3 Bände. Berlin 1863 – 1866.

4.2  Philosophiegeschichten im 20. Jahrhundert in deutscher Sprache5 Friedrich Ueberweg: Grundriß der Geschichte der Philosophie, völlig neu bearbeitet und erweitert um einen 4. Band. Berlin 1915 ff. Johannes Hirschberger: Geschichte der Philosophie. Bd. I: Altertum und Mittelalter, Bd. II: Neuzeit und Gegenwart. Freiburg 1949 – 1952. (Viele Auflagen) Hans Joachim Störig: Kleine Weltgeschichte der Philosophie. Stuttgart 1950, 182016. Wilhelm Totok: Handbuch der Geschichte der Philosophie. 6 Bde. (Bd. 1, Altertum: indische, chinesische, griechisch-römische Philosophie). Frankfurt  a. M. 1964 – 1990, 21997. Christoph Helferich: Geschichte der Philosophie von den Anfängen bis zur Gegenwart und östliches Denken. Stuttgart 1985, 42012. Wolfgang Röd (Hg.): Geschichte der Philosophie. 13 Bände. München 1976 ff. Ueberweg. Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neu bearbeitete Ausgabe. Hg. v. Helmut Holzhey. Basel 1988 ff. (Die Einbeziehung der außereuropäischen Welt steht in dieser Neubearbeitung erst am Anfang.) Ernst Sandvoss: Geschichte der Philosophie. 2 Bände. München 1989 ff.

5

Es werden weit verbreitete Philosophiegeschichten aufgeführt, in denen zumeist nur Indien und China für die außereuropäische Welt berücksichtigt wird.

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Rolf Elberfeld und Leon Krings

4.3  Theoretisierung europäischer Philosophiegeschichte Lutz Geldsetzer: Die Philosophie der Philosophiegeschichte im 19. Jahrhundert: zur Wissenschaftstheorie der Philosophiegeschichtsschreibung und -betrachtung. Meisenheim am Glan 1968. Lucien Braun: Geschichte der Philosophiegeschichte. [Paris 1973] Übers. v. Franz Martin Wimmer, bearb. u. mit einem Nachwort v. Ulrich Johannes Schneider. Darmstadt 1990. Giovanni Santinello (Hg.): Dall’età cartesiana a Brucker (Storia delle Storie Generali della Filosofia. Bd. 2). Brescia 1979. [Gregorio Piaia, Giovanni Santinelle (Hg.): Models of the History of Philosophy, Vol. II, From the Cartesian Age to Brucker. Dordrecht 2010] Mario Dal Pra, Eugenio Garin, Lucien Braun, Lutz Geldsetzer, Giovanni Santinello: La storiografia filosofica e la sua storia. Padova 1982. Giovanni Santinello (Hg.): Dalle origini rinascimentali alla «historia philosophica». (Storia delle Storie Generali della Filosofia. Bd. 1). Brescia 1981. [engl. Übers.: Giovanni Santinello (Hg.): Models of the History of Philosophy. From Its Origins in the Renaissance to the Historia Philosophica. Dordrecht 1993.] Giovanni Santinello (Hg.): Il secondo illuminismo a l’età Kantiana I. (Storia delle Storie Generali della Filosofia. Bd. 3/1). Padova 1988. Giovanni Santinello (Hg.): Il secondo illuminismo a l’età Kantiana II. (Storia delle Storie Generali della Filosofia. Bd. 3/2). Padova 1988. [Gregorio Piaia, Giovanni Santinelle (Ed.): Models of the History of Philosophy. Vol. III, part 1 & 2. The Second Enlightenment and the Kantian Age. Dordrecht 2015] Giovanni Santinello (Hg.): L’età hegeliana I. La storiografia filosofica nell’area tedesca. (Storia delle storie generali della filosofia. Bd. 4/1). Padova 1995. Gregorio Piaia: Il lavoro storico-filosofico. Questioni di metodo ed esiti didattici. Padova 2001. Giovanni Santinello (Hg.): L’età hegeliana II: La storiografia filosofica nell’area neolatina, danubiana e russa. (Storia delle storie generali della filosofia. Bd. 4/2). Roma-Padova 2004. Axel Beelmann: Theoretische Philosophiegeschichte. Grundsätzliche Probleme einer philosophischen Geschichte der Philosophie. Basel 2001. Sicco Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte. Philosophiegeschichte zwischen Barock und Aufklärung. Tübingen 2004. Peter K. J. Park: Africa, Asia, and the History of Philosophy. Racism in the Formation of the Philosophical Canon. 1780 – 1830. New York 2013. Onfray Michel: Contre-histoire de la philosophie. 9 Bände. Paris 2006 – 2013. Gerald Hartung, Valentin Pluder (Hg.): From Hegel to Windelband. Historiography of Philosophy in the 19th Century. Berlin 2015.



Auswahlbibliographie zur P ­ hilosophiegeschichtsschreibung

333

5.  Philosophiegeschichtsschreibung im Kontext Indien 5.1  Philosophiegeschichten in westlichen Sprachen6 Paul Deussen: Allgemeine Geschichte der Philosophie, mit besonderer Berücksichtigung der Religionen. Bd 1: Allgemeine Einleitung und Philosophie des Veda bis auf die Upanishad‘s. Leipzig 1894. – Bd. 2: Die Philosophie der Upanishad’s. Leipzig 1899. – Bd. 3: Die nachvedische Philosophie der Inder. Nebst einem Anhang über die Philosophie der Chinesen und Japaner. Leipzig 1908. Surendranath Dasgupta: A History of Indian Philosophy. 5 Bde. Cambridge 1922. Helmuth von Glasenapp: Die Philosophie der Inder. Eine Einführung in ihre Geschichte und ihre Lehren. Stuttgart 1949. Erich Frauwallner: Geschichte der indischen Philosophie. 2 Bde. Salzburg 1953 – 1956; engl. Delhi 1973. Jadunātha Siṃ ha: A History of Indian philosophy. 2 Bde. Calcutta 1952 – 1956. Umeśa Miśra: History of Indian philosophy. 2 Bde. Allahabad 1957 – 1966. Debiprasad Chattopadhyaya: Studies in the history of Indian philosophy. 3 Bde. Calcutta 1973. Marietta T. Stepanyants: History of Indian philosophy: A Russian viewpoint. New Delhi 1993. Debi Prasad Chattopadhyaya et al. (Hg.): The Project of History of Indian Science, Philosophy and Culture (PHIPSC), Großprojekt in über 100 Bänden: http://csc-india.in/ publication.html, 1995 – 2015.

5.2  Theoretisierung indischer Philosophiegeschichte Eli Franco (Hg.): Periodization and Historiography of Indian Philosophy. Wien 2013. 6.  Philosophiegeschichtsschreibung im Kontext Islam 6.1  Philosophiegeschichten in westlichen Sprachen Tjitze J. de Boer: Geschichte der Philosophie im Islam. Stuttgart 1901. Henry Corbin: Histoire de la philosophie islamique. Paris 1964; jap. 1974; engl. 1993. Saiyid Husain Nasr, Oliver Leaman: History of Islamic philosophy, 2 Bde. (Routledge history of world philosophies 1). London 1996. 6

Die japanischsprachigen Geschichten der indischen Philosophie sind in der Zusammenstellung von Leon Krings zu finden.

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Rolf Elberfeld und Leon Krings

Ulrich Rudolph: Islamische Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 2004. Geert Hendrich: Arabisch-islamische Philosophie. Geschichte und Gegenwart. Frankfurt a. M. 2005. Ḥusain Naṣr: Islamic philosophy from its origin to the present: philosophy in the land of prophecy. Albany 2006. Ulrich Rudolph (Hg.): Philosophie in der islamischen Welt. Bd. 1. 8.–10. Jahrhundert. Basel 2012. (drei weitere Bände sind im Enstehen: II: 11.–12. Jh.; III: 13.–18. Jh.; IV: 19.–20. Jh.) Oliver Leaman (Hg.): The biographical encyclopedia of Islamic philosophy. London 2015. Peter Adamson: Philosophy in the islamic world (A history of philosophy without any gaps 3). Oxford 2016.

6.2 Philosophiegeschichtsschreibung in arabischer Sprache vor dem 16. Jahrhundert7 Abū Naṣr al-Fārābī (gest. 950): Über das Aufkommen der Philosophie. Dt. Übers. von Gotthard Strohmaier in seinem Text: Von Alexandrien nach Bagdad – einer fiktive Schultradition. In: Aristoteles – Werk und Widmung. Hg. v. J. Wiesner. Berlin 1987. Abū Naṣr al-Fārābī (gest. 950): Die Aufzählung der Wissenschaften. Dt. Übers. (nach der lateinischen Version des Dominicus Gundissalinus) von Jakob Hans Josef Schneider: al-Farabi: Über die Wissenschaften. Freiburg 2006. Abū-Ḥasan al-ʿĀmirī (gest. 992): Das Leben zur Ewigkeit. Engl. Übers. v. Everett K. Rowson: A Muslim Philosopher on the Soul and its Fate. New Haven 1988, S. 71 – 75. Sāʿid al-Andalusī (gest. 1070): Die Generationen der Völker. Franz. Übers. v. Régis Blachère: Livre des catégories des nations. Paris 1935. Muḥammad aš-Šahrastānī (gest. 1153): Die Religionen und die (weltanschaulichen) Richtungen. Franz. Übers. v. Jean Jolivet: Livre des religions et des sectes. Bd. II. Paris 1993. al-Qif ṭī (gest. 1248). Die Geschichte der Gelehrten. Dt. Übers. v. Friedrich Dieterici: Alfārābī’s philosophische Abhandlungen. Leiden 1892. Ibn Ḫaldūn (gest. 1406): Prolegomena (zur Geschichtswissenschaft). Engl. Übers. von Franz Rosenthal: The Muqaddima. 3 Bände. New York 1958 ff.

7

Da der Beitrag von Ulrich Rudolph zur Tagung nicht als Text in diesem Band realisiert werden konnte, sollen an dieser Stelle zumindest die Texte in chronologischer Reihenfolge genannt werden, über die in dem Vortrag zur Philosophiegeschichtsschreibung vor 1800 in der islamischen Welt gesprochen wurde.



Auswahlbibliographie zur P ­ hilosophiegeschichtsschreibung

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6.3  Theoretisierung der Geschichtsschreibung Franz Rosenthal: A History of Muslim Historiography. Leiden 1952.

7.  Philosophiegeschichtsschreibung im Kontext Japan 7.1  Philosophiegeschichten in westlichen Sprachen8 Paul Lüth: Die japanische Philosophie: Versuch einer Gesamtdarstellung unter Berücksichtigung der Anfänge in Mythus und Religion. Tübingen 1944. Gino K. Piovesana, Yamawaki Naoshi: Recent Japanese Philosophical Thought – 1862 – 1962. A Survey. Tōkyō 1968, 31997. Nakamura Hajime: A History of the Development of Japanese Thought, A.D. 592 – 1868, 2 Bde. Tōkyō 1969. Robert Schinzinger: Japanisches Denken. Der weltanschauliche Hintergrund des heutigen Japans. Berlin 1983. Lydia Brüll: Die japanische Philosophie. Eine Einführung. Darmstadt 1989, 21993. Gregor Paul: Philosophie in Japan: von den Anfängen bis zur Heian-Zeit; eine kritische Untersuchung. München 1993. Hamada Junko: Japanische Philosophie nach 1868. Köln 1994. Peter Pörtner, Jens Heise: Die Philosophie Japans: von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 1995. H. Gene Blocker, Christopher L. Starling: Japanese philosophy. Albany 2001. James W. Heisig, Thomas P. Kasulis, John C. Maraldo (Hg.): Japanese Philosophy: A Sourcebook. Honolulu 2011. (Sehr umfangreiche Textsammlung)

7.2  Theoretisierung von japanischer Philosophiegeschichte Gregro Paul: Zur Geschichte der Philosophie in Japan und zu ihrer Darstellung: welchen Kriterien sollte eine für den westlichen Leser geschriebene »Geschichte der Philosophie in Japan« genügen? Tōkyō 1986. Thomas P. Kasulis: Engaging Japanese Philosophy. A Short History. Honolulu 2018.

8

Die japanischsprachige Literatur zur Geschichte des Denkens und der Philosophie in Japan sind in der Zusammenstellung von Leon Krings zu finden.

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Rolf Elberfeld und Leon Krings

8. Philosophiegeschichtsschreibung im Kontext Judentum 8.1  Philosophiegeschichten in westlichen Sprachen David Neumark: Geschichte der jüdischen Philosophie des Mittelalters: nach Problemen dargestellt. 3 Bde., Berlin 1907 – 28. Isaac Husik: A history of mediaeval Jewish philosophy. New York 1916. M. József Grózinger: Geschichte der jüdischen Philosophie und der jüdischen Philosophen von Moses Mendelssohn bis zur Gegenwart. Berlin 1930. Julius Guttmann: Die Philosophie des Judentums. München 1933. Engl.: Philosophies of judaism: the history of jewish philosophy from biblical times to Franz Rosenzweig. New York 1964. Heinrich Simon, Marie Simon: Geschichte der jüdischen Philosophie. Berlin 1984, 21990. Colette Sirat: A history of Jewish philosophy in the Middle Ages. Cambridge 1985. Daniel H. Frank: History of Jewish philosophy (Routledge history of world philosophies 2). London 1997. Andreas B. Kilcher, Otfried Fraissez (Hg.): Metzler Lexikon jüdischer Philosophen. Stuttgart/Weimar 2003. Maurice-Ruben Hayoun: Geschichte der jüdischen Philosophie. Darmstadt 2004. Steven M. Nadler, Tamar Rudavsky: The Cambridge history of Jewish philosophy. 2 Bde. Cambridge 2009 – 2012. 8.2  Theoretisierung von jüdischer Philosophiegeschichte Esther Seidel: »Jüdische Philosophie« in nichtjüdischer und jüdischer Philosophiegeschichtsschreibung. Frankfurt a. M. 1984. Yonatan Kohen: Philosophers and scholars: Wolfson, Guttmann and Strauss on the history of Jewish philosophy. Übers. aus dem Hebräischen v. Rachel Yarden. Lanham 2007. Dirk Westerkamp: Die philonische Unterscheidung. Aufklärung, Orientalismus und die Konstruktion der Philosophie. München 2009. 9.  Philosophiegeschichtsschreibung im Kontext Lateinamerika 9.1 Philosophiegeschichten Ivo Höllhuber: Geschichte der Philosophie im spanischen Kulturbereich. München/Basel 1967. Jorge J. E. Gracia (Hg.): Latin American Philosophy in the Twentieth Century. Man, Values and the Search for Philosophical Identity. Buffulo 1986.



Auswahlbibliographie zur P ­ hilosophiegeschichtsschreibung

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Alain Guy: Panorama de la philosophie ibéroamericaine: du 16. siècle à nos jours. ­Genève 1989. Susana Nuccetelli: Latin American Thought. Philosophical Problems and Arguments. Boulder 2002. Susana Nuccetelli et al. (Hg.): A Companion to Latin American Philosophy [Part I: Historical Perspectives]. Malden Mass. 2010. James Maffie: Aztec Philosophy: Understanding a World in Motion. Boulder 2014. Heinz Krumpel: Philosophie in Lateinamerika: Grundzüge ihrer Entwicklung. Frankfurt a. M. 22011. Ivan Jaksic: The Hispanic World and American Intellectual Life, 1820 – 1880. New York 2 2012. Heinz Krumpel: Lateinamerika. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Band 4: Spanien, Portugal, Lateinamerika. Hg. v. Johan­ nes Rohbeck, Wolfgang Rother. Basel 2016, S. 375 – 416.

9.2  Philosophiegeschichten in spanischer und portugisischer Sprache Leopoldo Zea: El pensamiento latinoamericano. México 31976. Geraldo Pinheiro Machado: A filosofia no Brasil. São Paulo 1976. Adolpho Crippa (Hg.): As idéas filosófias no Brasil: séculos VIII e XIX. São Paulo 1978. Mario Magallón Anaya: Dialéctica de la filosofía latinoamericana. Una filosofía en la historia. México 1991. Gérman Marquínez Argote, Mauricio Beauchot (Hg.): La filosofía en la America colonial: (siglos XVI, XVII y XVIII). Bogotá 1996. Alberto Caturelli: Historia de la filosofía en la Argentina. 1600 – 2000. Buenos Aires 2001. Carlos Beorlegui: Historia del pensamiento filosófico latinoamericano: una búsqueda incesante de la identidad. Bilbao 22006. Ildefonso Murillo (Hg.): El pensamiento hispánico en América: siglos XVI – XX. Salamanca 2007. Gallardo Garrido, Miguel Ángel: El legado filosófico español e hispanoamericano del siglo XX. Madrid 2009. Alberto Saladino García (Hg.): Historia de la filosofía mexicana. México 2014.

9.3  Theoretisierung von lateinamerikanischer Philosophiegeschichte Francisco Miró Quesada: Desperatar y proyecto del filosofar latinoamericano. México 1974. Arturo Andrés Roig: Teoría y crítica del pensamiento latinoamericano. México 1981.

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Rolf Elberfeld und Leon Krings

Horacio Cerutti-Guldberg: Hacia una metodología de la historia de la ideas (filosóficas). Guadalajara 1986. Arturo Ardao: La inteligencia latinoamericana. Montevideo 1987. Raúl Fornet-Betancourt: Estudios de filosofía latinoamericana. México 1992. Ders.: Rostro y filosofía en América Latina. Mendoza 1993. Ders.: Filosofía intercultural. México 1994. Ders.: Lateinamerikanische Philosophie zwischen Inkulturation und Interkulturalität. Frankfurt a. M. 1997. Javeri Sasso: La filosofía latinoamericana y las construcciónes de su historia. Caracas 1998. Mario Magallón Anaya: Historiographische Gedanken zu einer Ideengeschichte in Lateinamerika. In: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 3 (1999) S. 21 – 32. David Sobrevilla: Repensando la tradición de nuestra América. Estudios sobre la filosofía en América Latina. Lima 1999. Jorge E. J. Gracia: Hispanic/Latino Identity. A Philosophical Perspctive. Oxford 2000. Carlos Rojas Osorio: Latinoamérica. Cien años de filosofía. San Juan 2002. Horacio Cerutti Guldberg, Mario Magallón Anaya: Historia de las ideas latinoamericanas: ¿disciplina fenecida? México 2003. Eduardo Mendieta (Hg.): Latin American Philosophy. Currents, Issues, Debates. Bloom­ ington/Indianopolis 2003. Arleen Salles, Elizabeth Millán-Zaibert (Hg.): The Role of History in Latin American Philosophy: Contemporary Perspectives. Albany 2005. Carlos Piñeiro Iñíguez: Pensadores latinoamericanos del siglo XX: ideas, utopia y destino. Buenos Aires 2006. José Santos Herceg: Conflicto de representaciónes. América Latina como lugar para la filosofía. México 2010. Susana Nuccetelli: Latin American Philosophy: Metaphilosophical Foundations. In: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2014 Edition), Edward N. Zalta (Hg.); https://plato.stanford.edu/archives/sum2014/entries/latin-american-metaphilosophy/ (Stand: 30. 3. 2107).



Auswahlbibliographie zur P ­ hilosophiegeschichtsschreibung

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II.  Globale Philosophiegeschichtsschreibung 1.  Globale Philosophiegeschichtsschreibung in westlichen Sprachen9 Wilhelm Wundt (Hg.): Allgemeine Geschichte der Philosophie. Zweite vermehrte Aufl. 1923. In: Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, Teil I, Abteilung V. Hg. v. Paul Hinneberg, Berlin 1905 ff. Karl Jaspers: Die großen Philosophen. München 1957. Kurt Schilling: Weltgeschichte der Philosophie. 1964. Nakamura Hajime: Parallel developments. A comparative history of ideas. Tōkyō 1975. John C. Plott: Global History of Philosophy. Vol. 1 – 5. Delhi 1963 – 89. Klaus Dieter Eichler u. Ralf Moritz (Hg.): Wie und warum entstand Philosophie in verschiedenen Regionen der Erde? Berlin1988. Ram Adhar Mall, Heinz Hülsmann: Die drei Geburtsorte der Philosophie: China, Indien, Europa. Bonn 1989. Ernst R. Sandvoss: Geschichte der Philosophie. 2 Bde. München 1989. Encyclopédie philosophique universelle. Publié sous la dir. d’André Jacob, UNESCO, 4 Bände. Paris 1989 – 1998. Robert C. Solomon: From Africa to Zen. An Invitation to World Philosophy. Lanham 1993. David E. Cooper: World Philosophies: An Historical Introduction. Oxford 1996. Eliot Deutsch (Hg.): Introduction to world philosophies. New York 1997. Elito Deutsch, Ronald Bontekoe (Hg.): A companion to world philosophies. Malden Mass. 1997. Randall Collins: The sociology of philosophies: a global theory of intellectual change. Cambridge/Mass. 1998. Ben-Ami Scharfstein: A comparative history of world philosophy. From the Upanishads to Kant. Albany 1998. Ninian Smart: World philosophies. London 1998. Dt. Darmstadt 2002. Elmar Holenstein: Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens. Zürich 2004. Jay L. Garfield, William Edelglass (Hg.): The Oxford Handbook of World Philosophy. Oxford 2011. Andrew Sartori, Samuel Moyn (Hg.): Global Intellectual History. New York 2013. Yves-Marie Adeline: Histoire mondiale de la philosophie. Paris 2015.

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Die im Folgenden genannten Titel werden im vorhergehenden Text von Rolf Elberfeld einzeln vorgestellt und kurz diskutiert.

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Rolf Elberfeld und Leon Krings

2.  Theoretisierung globaler Philosophiegeschichtsschreibung John C. Plott, Paul Mays: SARVA-DARSANA-SANGRAHA: A Bibliographical Guide to the Global History of Philosophy. Leiden 1969. John C. Plott: The Transition from Comparative Philosophy to the World History of Philosophy. In: Philosophic Research and Analysis 5:2 (1975), S. 10 – 12. Franz Martin Wimmer: Eurozentrismus in der Philosophiegeschichte. In: Entwicklungspolitik und Universität 4 (1982), S. 22 – 24. Franz Martin Wimmer: Vergleichende Philosophiegeschichte als Postulat und Realität. In: CONCEPTUS. Zeitschrift für Philosophie 17:42 (1983), S. 93 – 101. Franz Martin Wimmer: Interkulturelle Philosophie. Wien 1990. Franz Martin Wimmer: Philosophiehistorie in interkultureller Orientierung. In: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 3 (1999), S. 8 – 20. Themenheft: Andere Geschichten der Philosophie. In: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 3 (1999). John C. Plott, James M. Dolin, Paul D. Mays: Das Periodisierungssystem. In: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 3 (1999), S. 33 – 51. (übers. v. F. M. Wimmer) J. B. Schneewind: Globalization and the History of Philosophy. In: Journal of the History of Ideas 66:2 (2005) S. 169 – 178. Heinz Kimmerle: Philosophie – Geschichte – Philosophiegeschichte. Ein Weg von Hegel zur interkulturellen Philosophie. Nordhausen 2009. Hamid Reza Yousefi: Interkulturalität und Geschichte. Perspektiven für eine globale Philosophie. Reinbek 2010. Heinz Kimmerle, Hamid Reza Yousefi (Hg.): Philosophie und Philosophiegeschichtsschreibung in einer veränderten Welt: Theorien – Probleme – Perspektiven. Nordhausen 2012. William Sweet: Migrating texts & traditions. Ottawa 2012. Prasenjit Duara et al. (Hg.): A Companion to Global Historical Thought. Hoboken 2014. Justin E. H. Smith: Philosophy’s Western Bias. In: The Stone Reader: Modern Philosophy in 133 Arguments. Hg. v. Pater Catapano, Simon Critchley. New York / London 2016, S. 95 – 99. Jay L. Garfield; Bryan W. Van Norden: If Philosophy Won’t Diversity, Let’s Call It What It Really Is. In: New York Times, May 11, 2016. (https://www.nytimes.com/2016/05/11/ opinion/if-philosophy-wont-diversify-lets-call-it-what-it-really-is.html?_r=0)

Materialien und Auswahlbibliographie zur ­japanischsprachigen Philosophiegeschichtsschreibung Leon Krings

Die folgende Materialsammlung soll einen ausgewählten Überblick über bestehendes Quellenmaterial zur japanischen Philosophie- und Ideengeschichte in japanischer Sprache bieten. Sie versteht sich als eine Sammlung von Quellen und Übersichten, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und der zukünftigen Forschung als Hilfsmittel dienen soll, ohne selbst schon einen umfassenden Forschungsüberblick liefern zu können. Dabei liegt der Fokus auf der japanischsprachigen Literatur zur Philosophie- und Ideengeschichte, die sich aber nicht nur auf Japan bezieht. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschien in Japan eine Vielzahl von Monographien zur Philosophie- oder Ideengeschichte Europas, Ostasiens und Indiens. Mit »Ideengeschichte« ist hierbei eine Disziplin gemeint, die im Japanischen mit dem Ausdruck shisōshi bezeichnet wird und im Deutschen auch mit »Geistes­geschichte«, »Denkgeschichte« oder »Geschichte des Denkens« wiedergegeben werden könnte.1 Die Unterscheidung zwischen »Philosophiegeschichte« und »Ideen­geschichte« bzw. »Geschichte des Denkens« markiert dabei eine grundlegende Einteilung, die zumeist ein jeweils bestimmtes Verständnis des behandelten Gegenstands und des Umfangs der einzubeziehenden Texte und Autoren impliziert. Während »Philosophiegeschichte« (tetsugakushi) sich auf den japanischen Übersetzungsbegriff für die in der Meiji-Zeit (1868 – 1912) rezipierte Philosophie westlicher Prägung bezieht und dementsprechend die europäische und nordamerikanische Philosophie sowie von dieser maßgeblich beeinflusste japanische Autoren behandelt, umfasst die »Ideen­ geschichte« bzw. »Geschichte des Denkens« in der oben genannten Bedeutung auch »Denker«, die nicht zur Philosophie im engeren Sinne gezählt werden, sondern zumeist aus einer vormodernen Epoche stammen und sich an anderen Traditionen als der europäischen Philosophie, etwa dem Konfuzianismus oder dem Buddhismus, orientieren. Doch nicht immer ist klar zu entscheiden, ob ein solcher »Denker« nicht auch als »Philosoph« gelten könnte oder sollte. So wird etwa der buddhistische Mönch Dōgen (1200 – 1253) in Japan meist zur »Geschichte des Denkens« gerechnet, obgleich er nicht nur von modernen japanischen Philosophen wie Watsuji Tetsurō 1

Eine genauere Entsprechung zum deutschen Wort »Geistesgeschichte« findet sich in dem japanischen Ausdruck seishinshi. Der Ausdruck shisōshi wird hier daher als »Ideengeschichte« wiedergegeben, während »Geistesgeschichte« als Übersetzung für seishinshi verwendet wird.

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Leon Krings

ernst genommen wurde, sondern mittlerweile auch in Europa und den USA zum Gegenstand philosophischer Untersuchungen im engeren Sinne geworden ist. Es werden zunächst japanischsprachige Materialien zur »Geschichte des Denkens« bzw. »Ideengeschichte« Japans im weiteren Sinne behandelt und anschließend auf entsprechende »Philosophiegeschichten« im engeren Sinne eingegangen. Da die Grenzen zwischen »Ideengeschichte« und »Philosophiegeschichte« mitunter fließend sind, ist die Einteilung in gewisser Weise künstlich, da Texte zur »Ideen­geschichte« immer wieder auch in Materialsammlungen zur »Philosophiegeschichte« auftauchen. Die Unterscheidung wird hier dennoch angewandt, um das Material in einem vorläufigen Sinne zu ordnen. Die japanischen Namen werden in japanischer Reihenfolge (Familienname / Vorname) angegeben. Die Materialsammlung ist wie folgt unterteilt: I. Materialien zur japanischen »Ideengeschichte« bzw. »Geschichte des Denkens« (shisōshi) 1. Großes System der japanischen Ideengeschichte (日本思想大系 Nihon shisō taikei) 2. Großes System des japanischen Denkens der Moderne (近代日本思想大系 Kindai nihon shisō taikei) II.  Materialien zur japanischen Philosophiegeschichte (tetsugakushi) 1. Ausgewählte Schriften zur Kyōto-Philosophie (Kyōto tetsugaku sensho) 2. Online-Materialsammlung der Universität Kyōto III.  Japanischsprachige Philosophiegeschichtsschreibungen 1. Philosophie der Philosophiegeschichte 2. Globale Philosophiegeschichte 3. Geschichte der westlichen Philosophie 4. Geschichte der japanischen Philosophie und des japanischen Denkens 5. Geschichte der ostasiatischen Philosophie 6. Geschichte der chinesischen Philosophie 7. Geschichte der indischen Philosophie 8. Geschichte der buddhistischen Philosophie



Materialien zur ­japanischsprachigen Philosophiegeschichtsschreibung

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I. Materialien zur japanischen »Ideengeschichte« bzw. »Geschichte des Denkens« (shiso ¯shi) 1.  Großes System der japanischen Ideengeschichte (日本思想大系 Nihon shiso ¯ taikei )2 Um einen Überblick über die japanische »Ideengeschichte« bzw. »Geschichte des Den­kens« zu erhalten, erscheint es sinnvoll, das Große System der japanischen Ideen­ geschichte (Nihon shisō taikei) heranzuziehen. Es handelt sich um eine Sammlung von annotierten Texten aus Mythologie, Dichtung, Philosophie, Wissenschaft und Reli­ gion, die als Standardwerk auf dem Gebiet gilt. Die Textsammlung erschien zwischen 1970 und 1982 und umfasst folgende 67 Bände, die die japanische Ideengeschichte vom Altertum bis zur »frühen Neuzeit« (kinsei), d. h. bis zum Ende der Edo-Zeit (1603 – 1868), widerspiegeln. 1. Kojiki 古事記 »Aufzeichnung alter Begebenheiten«: Älteste Mythensammlung ­Japans. 2. Shōtoku Taishi 聖徳太子 (574 – 622): Halblegendärer Regent, der unter Kaiserin Suiko diente und u. a. die sogenannte »Verfassung in siebzehn Artikeln« sowie Kommentare zu buddhistischen Sutren verfasst haben soll. 3. Ritsuryō 律令: Straf- und Verwaltungsrecht, das zwischen dem Ende des 6. und dem 7. Jahrhundert entstand und sich am chinesischen Konfuzianismus und Legalismus orientiert. 4. Saichō 最澄 (767 – 822): Buddhistischer Mönch und Begründer der japanischen Tendai-Schule des Buddhismus, die auf der chinesischen Tiantai-Schule basiert. 5. Kūkai 空海 (774 – 835): Buddhistischer Mönch und Begründer des japanischen Shingon-Buddhismus, einer Form des sogenannten »esoterischen Buddhismus« (mikkyō). 6. Genshin 源信 (942 – 1017): Mönch des Tendai-Buddhismus, der einen großen Einfluss auf die Entwicklung des Amida-Glaubens in Japan ausübte. 7. Ōjōden 往生伝 / Hokkegenki 法華験記: Das Ōjōden ist eine Sammlung von Biographien herausragender Personen, die eine Wiedergeburt im »reinen Land« des Amithaba-Buddha erlangt haben sollen. Das Hokkegenki ist eine Sammlung von Geschichten, die das Leben von Mönchen, gewöhnlichen Menschen, Tieren und anderen Wesen beschreibt, die die Lehre des Lotos-Sutras verkörperten oder von dessen angeblich magischer Kraft errettet wurden. 8. Politisches und soziales Denken des Altertums: Schriften japanischer Hof-Aristokraten zu politischen, sozialen und rechtlichen Themen. 2

Eine Übersicht auf Japanisch mit einer Auflistung der in den jeweiligen Bänden enthaltenen Autoren und Texte findet sich unter: https://www.philosophyguides.org/data/systemjapanese-thought/

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  9. Abhandlungen zur »ursprünglichen Erleuchtung« (hongaku) im Tendai-Buddhismus: Schriften zur Lehre der »ursprünglichen Erleuchtung«, welche besagt, dass die leidenden Wesen bereits von Natur aus erleuchtet sind, sich dessen allerdings erst bewusst werden müssen. Die Schriften werden Tendai-Mönchen wie Saichō, Ryōgen oder Genshin zugeschrieben. 10. Hōnen 法然 (1133 – 1212) / Ippen 一遍 (1234–1289): Begründer der buddhistischen Schulen Jōdō-shū und Ji-shū, welche dem Amidismus bzw. »Reinen-Land-Buddhismus« zugerechnet werden. 11. Shinran 親鸞 (1173 – 1263): Schüler von Hōnen und Begründer der buddhistischen Jōdō-shinshū, der »Neuen Schule des Reinen Landes«. 12. Dōgen 道元 (1200 – 1253), erster Band 13. Dōgen 道元 (1200 – 1253), zweiter Band: Begründer der Sōtō-shū, einer Schule des japanischen Zen-Buddhismus. Sein Hauptwerk Shōbōgenzō gilt als einer der bedeutendsten Texte der buddhistischen Philosophie in Japan. 14. Nichiren 日蓮 (1222 – 1282): Buddhistischer Reformator, der das Lotos-Sūtra ins Zentrum seiner Lehre stellte. Nichiren gründete selbst keine eigenständige Schule, eine Reihe buddhistischer Strömungen in Japan bezieht sich allerdings auf ihn, u. a. die Nichiren-shū. 15. Früher Buddhismus der Kamakura-Zeit: Enthält u. a. Schriften und Kommentare von Jōkei 貞慶 (1155 – 1213, Hossō-shū), Kōben 高弁 (auch: Myōe, 1173– 1232, Kegon-shū), Ryōhen 良遍 (1194 – 1252, Hossō-shū), Eison 叡尊 (1201 – 1290, Shingon-risshū) und Gyōnen 凝然 (1240 – 1321, Kegon-shū). 16. Zen-buddhistisches Denken des Mittelalters: Enthält Schriften von Myōan Eisai 明奄栄西 (1141 – 1215), Chūgan Engetsu 中巌円月 (1300 – 1375), Bassui Tokushō 抜隊得勝 (1327 – 1387) und Ikkyū Sōjun 一休宗純 (1394 – 1481), die der RinzaiSchule des Zen-Buddhismus zugerechnet werden. 17. Rennyo 蓮如 (1415 – 1499) / Ikkō-ikki 一向一揆: Schriften von Rennyo, einem Mönch der Jōdō-shinshū, sowie Texte zu den Ikkō-Aufständen. 18. Omorosōshi おもろさうし: Sammlung von Gedichten der Inseln Okinawa und Amami. 19. Shintō-Abhandlungen des Mittelalters: Mittelalterliche Schriften zum polytheis­ tischen Shintō (»Weg der Götter«), die vor allem Mythologien und Interpretationen zu bestimmten Gottheiten (kami) enthalten. 20. Jisha-engi 寺社縁起: Sammlung von Gründungslegenden buddhistischer Tempel und shintoistischer Schreine. 21. Mittelalterliches Denken zu Regierung und Gesellschaft, erster Band: Enthält v. a. Gesetzestexte und Vorschriften, die von der Shogunats-Regierung oder von Regionalfürsten erlassen wurden. 22. Mittelalterliches Denken zu Regierung und Gesellschaft, zweiter Band: Texte zum Denken des »Hofadels« (kuge) und des »einfachen Volkes« (shomin).



Materialien zur ­japanischsprachigen Philosophiegeschichtsschreibung

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23. Kunsttheorien des Altertums und Mittelalters: Enthält Schriften zu Musik, Gartenkunst, Kalligraphie, Dichtung, Literaturkritik, Malerei, Teekunst, Nō- und KyōgenTheater. 24. Zeami 世阿弥 (1363 – 1443) / Zenchiku 禅竹 (1405 – ca.1470): Schriften von Zeami Motokiyo, dem Begründer des klassischen Nō-Theaters, sowie seines Nachfolgers Komparu Zenchiku. 25. Christliche und anti-christliche Schriften 26. Mikawa-monogatari 三河物語 / Hagakure 葉隠: Zwei Schriften, die vor allem auf die Darstellung eines Samurai-Ideals abzielen und jeweils Ōkubo Tadataka (1560 – 1639) und Yamamoto Tsunetomo (1659 – 1719) zugeschrieben werden. 27. Denken der frühneuzeitlichen Samurai: Enthält u. a. Schriften der Neukonfuzianer und Kokugaku-Gelehrten Muro Kyūsō (1658 – 1734), Hayashi Hōkō (1644 – 1732), Satō Naokata (1650 – 1719), Asami Keisai (1652 – 1712), Ogyū Sorai (1666 – 1728), Dazai Shundai (1680 – 1747), Matsumiya Kanzan (1686 – 1780), Goi Ranshū (1697 – 1762), Yokoi Yayū (1702 – 1783) und Ise Sadatake (1718 – 1784). 28. Fujiwara Seika 藤原惺窩 (1561 – 1619) / Hayashi Razan 林羅山 (1583 – 1657): Vertreter des Neukonfuzianismus. 29. Nakae Tōju 中江藤樹 (1608 – 1648): Neukonfuzianer. 30. Kumazawa Banzan 熊沢蕃山 (1619 – 1691): Neukonfuzianer. 31. Schule von Yamazaki Ansai 山崎闇斎 (1619 – 1682): Neukonfuzianische Schule. 32. Yamaga Sokō 山鹿素行(1622 – 1685): Neukonfuzianer und Militärberater, der als Mitbegründer des »Studiums der alten Bedeutungen« (kogigaku) gilt, einer konfuzianischen Strömung, die den chinesischen Neukonfuzianer Zhu Xi kritisierte und eine Rückkehr zu den Lehren von Konfuzius und Menzius propagierte. 33. Itō Jinsai 伊藤仁斎 (1627 – 1705) / Itō Tōgai 伊藤東涯 (1670 – 1736): Ebenfalls Wegbereiter des »Studiums der alten Bedeutungen« (kogigaku, s. o.). 34. Kaibara Ekiken 貝原益軒 (1630 – 1714) / Muro Kyūsō 室鳩巣(1658 – 1734): Neu­ konfuzianische Denker. Kaibara schrieb auch zu Botanik und Medizin, Muro verteidigte v. a. die Lehren Zhu Xis vor ihren Kritikern. 35. Arai Hakuseki 新井白石 (1657 – 1725): Neukonfuzianer und Ökonom. 36. Ogyū Sorai 荻生徂徠 (1666 – 1728): Neukonfuzianer und Ökonom, der der Strömung des »Studiums der alten Bedeutungen« (kogigaku) nahestand. 37. Sorai Schule: Schriften von Ogyū Sorais Schülern. 38. Schriften der frühen Neuzeit zur Regierung: Enthält Schriften von Honda Masanobu 本多正信 (1538 – 1616), Honda Tadakatsu 本多忠勝 (1548 – 1610), Ikeda Mitsumasa 池田光政 (1609 – 1682), Ōtsuki Risai 大月履斎 (1674 – 1734), Tokugawa Yoshimune 徳川吉宗 (1684 – 1751), Tokugawa Muneharu 徳川宗春 (1696 – 1764), Hayashi Shihei 林子平 (1738 – 1793), Uesugi Harunori 上杉治憲 (1751 – 1822), Matsudaira Sada­ nobu 松平定信 (1759 – 1829), Hirose Tansō 広瀬淡窓 (1782 – 1856), Ii Naosuke­ 井伊直弼 (1815 – 1860), Yoshida Tōyō 吉田東洋 (1816 – 1862), Maki Yasuomi

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真木保臣 (1813 – 1864), Shibui Taishitsu 渋井太室 (1720 – 1788) und Yamagata Daini 山県大弐 (1725 – 1767). 39. Shintō Abhandlungen der frühen Neuzeit / Frühe Kokugaku: Schriften zum Shintoismus und zur Schule der »nationalen Studien« bzw. »Landesstudien« (kokugaku), die sich um die Bestimmung einer japanischen Kultur in Abgrenzung von ausländischen Einflüssen bemühte. 40. Motoori Norinaga 本居宣長 (1730 – 1801): Vertreter der Kokugaku (s.o.), der sich dem Studium der klassischen japanischen Literatur widmete. 41. Miura Baien 三浦梅園 (1723 – 1789): Neukonfuzianer, der sich durch seine originellen Gedanken in der Naturphilosophie, der Politik und der Ethik auszeichnet. 42. Sekimon-shingaku 石門心学: Von Ishida Baigan (1685 – 1744) gegründete, religiösphilosophische Strömung, die neukonfuzianische Lehren mit Gedanken aus Shintoismus und Zen-Buddhismus verknüpft. Die Schule versteht sich als »Studium des Herz-Geistes« (shingaku) und zeichnet sich u. a. durch eine Popularisierung ethischer und moralischer Vorstellungen aus. 43. Tominaga Nakamoto 富永仲基 (1715 – 1746) / Yamagata Bantō 山片蟠桃 (1748 – 1821): Zwei Philosophen, die ihre Ausbildung am Kaitokudō, einer in Osaka gegründeten Akademie für Händler aus dem erstarkenden Stadtbürgertum, absolvierten. Beide vertraten eine atheistische Position und setzten sich für eine Rationalisierung des überlieferten Gedankenguts ein. Yamagata ist bekannt für sein Werk Yume no shiro (Anstelle von Träumen), in dem er u. a. ein heliozentrisches Weltbild vertritt. 44. Honda Toshiaki 本多利明 (1744 – 1821) / Kaiho Seiryō 海保青陵 (1755 – 1817): Hauptsächlich in der politischen Ökonomie tätige Denker. Kaiho Seiryō säkularisierte das Gedankengut des Konfuzianismus, indem er den Begriff des »Prinzips« bzw. der »Vernunft« (理 ri) durch den des »Profits« (利, ebenfalls ri) ersetzte. 45. Andō Shōeki 安藤昌益 (1703 – 1762) / Satō Nobuhiro 佐藤信淵 (1769 – 1850): Zwei Denker, die dem traditionellen Gedankengut Japans kritisch gegenüberstanden. Andō Shoeki ist ein kritischer Denker, der u. a. behauptet, die menschliche »Welt der Gesetze« sei eine Geschichte des Verfalls, die sich von der Ordnung der »Welt der Natur« abgespalten hat und von ungerechten Machtverhältnissen geprägt ist. Er kritisiert sowohl die feudalen Machtverhältnisse der damaligen Gesellschaft als auch die Lehren des Neukonfuzianismus. Satō Nobuhiro propagierte umfassende politische und ökonomische Reformen nach westlichem Vorbild und setzte sich u. a. auch für eine Eroberung Chinas ein. 46. Satō Issai 佐藤一斎 (1772 – 1859) / Ōshio Chūsai 大塩中斎(1793 – 1837): (Neu-)Konfuzianische Denker. Ōshio ist bekannt für seine Kritik an und Rebellion gegen das Tokugawa-Shogunat und gilt daher als Vorläufer der Meiji-Restauratoren. 47. Konfuzianismus am Ende der frühen Neuzeit: Schriften der konfuzianischen Denker Hosoi Heishū 細井平洲 (1728 – 1801), Nakai Chikuzan 中井竹山 (1730 – 1804), Minagawa Kien 皆川淇園 (1735 – 1807), Tsukada Taihō 塚田大峯 (1745 – 1832),



Materialien zur ­japanischsprachigen Philosophiegeschichtsschreibung

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Hoashi Banri 帆足万里 (1778 – 1852), Hirose Tansō 広瀬淡窓 (1782 – 1856), Yasui Sokken 安井息軒 (1799 – 1876), Ōhashi Totsuan 大橋訥菴 (1816 – 1862) und Ikeda Sōan 池田草菴 (1813 – 1878). 48. Frühneuzeitliche Schriften zur Geschichte: Schriften zur Geschichtsschreibung von Asaka Tanpaku 安積澹泊 (1656 – 1738), Kuriyama Senpō 栗山潜鋒 (1671 – 1706) und Date Chihiro 伊達千広 (1802 – 1877). 49. Rai San‘yō 頼山陽 (1780 – 1832): Konfuzianischer Philosoph, Historiker, Künstler und Dichter. 50. Hirata Atsutane 平田篤胤 (1776 – 1843) / Ban Nobutomo 伴信友 (1773 – 1846) / Ōkuni Takamasa 大国隆正 (1793 – 1871): Denker der »Nationalen Studien« bzw. »Landesstudien« (kokugaku), einer Schulrichtung, die Traditionen wie Konfuzianismus und Buddhismus als ausländische Lehren betrachtete und demgegenüber die Bedeutung des einheimischen Gedankenguts Japans betonte. 51. Das Denken der Kokugaku-Bewegung: Enthält Schriften weiterer Vertreter der »Nationalen Studien« (kokugaku, s.o.): Ikuta Yorozu 生田万 (1801 – 1837), Tachibana Moribe 橘守部 (1781 – 1849), Izumi Makuni 和泉真国 (1765? – 1805), Mutobe Yo­ shika 六人部是香 (1798 – 1864), Suzuki Shigetane 鈴木重胤 (1812 – 1863), Katsura Takashige 桂誉重 (1817 – 1871), Miyaoi Yasuo 宮負定雄 (1797 – 1858), Miyauchi Yo­ shinaga 宮内嘉長 (1789 – 1843), Suzuki Akira 鈴木朖 (1764 – 1837), Nagano Yoshitoki 長野義言 (1862 – 1815), Tomobayashi Mitsuhira 伴林光平 (1813 – 1864), Takeo Masatane 竹尾正胤 (1833 – 1874), Tsunoda Tadayuki 角田忠行 (1834 – 1918) und Yano Harumichi 矢野玄道 (1823 – 1887). 52. Ninomiya Sontoku 二宮尊徳 (1787 – 1856) / Ōhara Yūgaku 大原幽学 (1797 – 1858): Zwei Denker, die vor allem für ihren Einfluss auf bäuerliche Organisationsstrukturen bekannt sind. Ninomiya Sontoku war für Agrarreformen verantwortlich und an der Bildung genossenschaftlicher Kreditvereine beteiligt, die es den Bauern ermöglichten, gemeinschaftlich organisierte Investitionen zu treffen. In ähnlicher Weise konzipierte Ōhara Yūgaku Verbünde gemeinschaftlichen Grundbesitzes, die als Vorläufer der späteren Agrargenossenschaften gelten können. 53. Mitogaku-Schule: Hauptsächlich neukonfuzianisch ausgerichtete Gelehrten-Schule mit einem Fokus auf historischen Studien, deren Name auf die geographische Verbindung zur Präfektur Mito zurückgeht und die auch auf Gedankengut aus dem Shintō und der Kokugaku aufgreift. Der Band enthält Schriften von Fujita Yūkoku 藤田幽谷 (1774 – 1826), Aizawa Seishisai 会沢正志斎 (1782 – 1863), Fujita Tōko 藤田東湖 (1806 – 1855), Toyoda Tenkō 豊田天功 (1805 – 1864) und Tokugawa Nari­ aki 徳川斉昭 (1800 – 1860). 54. Yoshida Shōin 吉田松陰 (1830 – 1859): Denker der späten Edo-Zeit, der aufgrund seines Interesses an westlichen Wissenschaften, seiner Revolte gegen die Shogunats-Regierung und der Ausbildung einer Vielzahl von kritischen Schülern als Wegbereiter der Meiji-Restauration gilt.

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55. Watanabe Kazan 渡辺崋山 (1793 – 1841) / Takano Chōei 高野長英 (1804 – 1850) / Sakuma Shōzan 佐久間象山 (1811 – 1864) / Yokoi Shōnan 横井小楠 (1809 – 1869) / Hashimoto Sanai 橋本左内 (1834 – 1859): Vordenker der Meiji-Restauration, die westliche Wissenschaften bzw. »Hollandstudien« (rangaku) studierten und sich für eine Öffnung Japans einsetzten. 56. Politische Schriften der Bakumatsu-Zeit: Texte zu den letzten Jahren der Shogunats-Regierung (bakufu), der sogenannten Bakumatsu-Zeit, die der Meiji-Restauration und der Öffnung Japans für den Westen unmittelbar voranging. 57. Buddhistisches Denken der frühen Neuzeit: Schriften der buddhistischen Autoren Daiga 大我 (1709 – 1782), Tokuryū 徳竜 (1772 – 1858), Ryūon 竜温 (1800 – 1885), Gōsei 仰誓 (1721 – 1794), Sojun 僧純 (1791 – 1872), Nichiō 日奥 (1565 – 1630), Nitten 日典 und Nichion 日遠 (1572 – 1642). 58.  Denken der Volksbewegungen: Schriften zu Volksbewegungen und -aufständen, die zum Ende der Edo-Zeit (1603 – 1868) entstanden sind. Enthalten sind u. a. Schrif­ ten von Miuchi Meisuke 三浦命助 (1820 – 1864) und Kanno Hachirō 菅野八郎 (1810 – 1888), die selbst Anführer von Aufständen und Volksbewegungen waren. 59. Denken des frühneuzeitlichen Stadtbürgertums (chōnin): Enthält u. a. Schriften von Samukawa Masachika 寒河正親, Nishikawa Joken 西川如見 (1648 – 1724), Mitsui Takafusa 三井高房 (1684 – 1748), Tokiwa Tanpoku 常盤潭北 (1677 – 1744), Itō Tanpoku 伊藤単朴 (1680 – 1758) und Muro Kyūsō 室鳩巣 (1658 – 1734), Autoren des in der Edo-Zeit erstarkenden Händler- und Stadtbürgertums. 60. Frühneuzeitliche Schriften zur Liebeskunst (shikidō): Literatur, die sich v. a. auf die Freudenviertel der Edo-Zeit beziehen und erotische Beziehungen behandeln. 61. Frühneuzeitliche Schriften zu den Wegkünsten (geidō): Schriften zum Teeweg, zur Kunst des Blumensteckens, zum Weg des Duftes, zur Schwertkunst, zum Jōruribzw. Gidayū-Gesang und zum Kabuki-Theater. Als Autoren sind u. a. vertreten: Nanpō Sōkei 南坊宗啓 (Lebensdaten unbekannt), Ikenobō Senkō 池坊専好 (2. Generation, 1575 – 1658), Yagyū Muneyoshi 柳生宗厳 (1529 – 1606), Yagyū Munenori 柳生宗矩 (1571 – 1646), Miyamoto Musashi 宮本武蔵 (1584 – 1645), Uji Kaganojō 宇治加賀掾 (1635 – 1711), Takemoto Gidayū 竹本義太夫 (1651 – 1724), Jun Shiken 順四軒 (1719 – 1785) und Ichikawa Danjūrō 市川団十郎 (2. Generation, 1688 – 1758). 62. Denken der frühneuzeitlichen Naturwissenschaft, erster Band: Enthält u. a. Schriften von Miyazaki Yasusada 宮崎安貞 (1623 – 1697), Ōkura Nagatsune 大蔵永常 (1768 – 1861), Tamura Nizaemon 田村二左衛門 (1790 – 1877), Nakamura Naozō 中村直三 (1819 – 1882), die v. a. zur Agrarwirtschaft geschrieben haben. 63. Denken der frühneuzeitlichen Naturwissenschaft, zweiter Band: Enthält astronomische und medizinische Schriften von Kobayashi Kentei 小林謙貞 (auch: Yoshinobu, 1601 – 1683), Shibukawa Harumi 渋川春海 (1639 – 1715), Hazama Shigetomi 間重富 (1756 – 1816), Takahashi Yoshitoki 高橋至時 (1764 – 1804), Yoshimasu Tōdō 吉益東洞 (1702 – 1773) und Gotō Konzan 後藤艮山 (1659 – 1733).



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64. Westliche Wissenschaften (yōgaku), erster Band: Schriften von Aoki Kon’yō 青木昆陽 (1698 – 1769), Maeno Ryōtaku 前野良沢 (1723 – 1803), Sugita Genpaku 杉田玄白 (1733 – 1817), Ōtsuki Gentaku 大槻玄沢 (1757 – 1827) und Shiba Kōkan 司馬江漢 (1747 – 1818), die sich mit den westlichen Wissenschaften bzw. den sogenannten »Hollandstudien« (rangaku) beschäftigten. 65. Westliche Wissenschaften (yōgaku), zweiter Band: Schriften und Übersetzungen von Shizuki Tadao 志筑忠雄 (1760 – 1806), Yoshio Nankō 吉雄南皐 (auch: Shunzō, 1787 – 1843), Takahashi Yoshitoki 高橋至時 (1764 – 1804) und Baba Sajūrō 馬場佐十郎 (auch: Sadayoshi, 1787 – 1822). In dem Band findet sich zudem eine von Sugita Genpaku 杉田玄白 (1733 – 1817) und anderen Forschern besorgte Übersetzung der anatomischen Tafeln des deutschen Forschers Johann Adam Kulmus (1689 – 1745). 66.  Kenntnisse zu Europa: Enthält Reiseberichte zu den USA, Frankreich und ­England von Tamamushi Sadayū 玉虫左太夫 (1823 – 1869), Shibata Takenaka 柴田剛中 (1823 – 1877) und Fukuda Sakutarō 福田作太郎 (1833 – 1910). 67. Denken der Volksreligionen: Enthält u. a. Schriften der Religionsstifter Kurozumi Munetada 黒住宗忠 (1780 – 1850), Nakayama Miki 中山みき (1798 – 1887), Konkō Daijin 金光大神 (1814 – 1883) und Itō Rokurobei 伊藤六郎兵衛 (1829 – 1894).

2.  Großes System des japanischen Denkens der Moderne (近代日本思想大系 Kindai nihon shiso ¯ taikei) Das Große System des japanischen Denkens der Moderne (Kindai nihon shisō taikei) ist ein weiteres Großprojekt zur japanischen Ideengeschichte. Es umfasst Autoren und Texte, die in der japanischen »späten Neuzeit« bzw. »Moderne« (kindai), d. h. um die Epoche der Meiji-Zeit (1868 – 1912), geboren wurden bzw. entstanden sind und konzentriert sich vor allem auf politische Denker.3 1. Katsu Kaishū 勝海舟 (1823 – 1899): Gelehrter der »Hollandstudien« (rangaku), Politiker und Schiffsbauingenieur. 2. Fukuzawa Yukichi 福沢諭吉 (1835 – 1901): Politischer Philosoph und Übersetzer. 3. Nakae Chōmin 中江兆民 (1847 – 1901): Liberal orientierter politischer Denker und Journalist. Übersetzte Rousseaus Du Contract Social ou Principes du Droit Politique und andere Schriften ins Japanische und schrieb u. a. Ein Diskurs dreier Betrunkener über die Staatsverwaltung. 4. Kuga Katsunan 陸羯南 (1857 – 1907): Politischer Journalist. 3

Eine Übersicht auf Japanisch mit einer Auflistung der in den jeweiligen Bänden enthaltenen Autoren und Texte findet sich unter: https://www.philosophyguides.org/data/systemmodern-japanese-thought/

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5. Miyake Setsurei 三宅雪嶺 (1860 – 1945): Konservativer Philosoph und Autor. 6. Uchimura Kanzō 内村鑑三 (1861 – 1930): Protestantischer Autor und Pazifist. 7. Okakura Tenshin (auch: Kakuzō) 岡倉天心 (1862 – 1913): Denker, Literat sowie Kunstwissenschaftler und -förderer. Schrieb u. a. das auf Englisch verfasste Buch vom Tee. 8. Tokutomi Sohō 徳富蘇峰 (1863 – 1957): Historiker, Kritiker und Journalist. 9. Oka Asajirō 丘浅次郎 (1868 – 1944): Biologe, der u. a. Darwins Evolutionstheorie in Japan popularisierte, aber auch zu anderen Wissenschaftsgebieten und zur Philosophie schrieb, z. B. Philosophie als Kunst (geijutsu to shite no tetsugaku). 10. Kinoshita Naoe 木下尚江 (1869 – 1937): Christlich orientierter Sozialist und Schriftsteller, der sich für die Rechte von Frauen und Arbeitern einsetzte und u. a. auch zu den buddhistischen Autoren Hōnen und Shinran schrieb. 11. Nishida Kitarō 西田幾多郎 (1870 – 1945): Begründer der Kyōto-Schule und häufig als wichtigster japanischer Philosoph der Moderne bezeichnet. Knüpfte sowohl an die damalige Philosophie Europas und der USA als auch an buddhistische Konzepte an. Entwickelte zahlreiche philosophische Begriffe wie »Ort des absoluten Nichts«, »handelnde Anschauung«, »absolut widersprüchliche Selbstidentität« usw. 12. Suzuki Daisetsu 鈴木大拙 (1870 – 1966): Buddhist. Schrieb zahlreiche Bücher v. a. über den Zen-Buddhismus und trug damit maßgeblich zur Popularisierung des Zen in den USA und Europa bei. 13. Kōtoku Shūsui 幸徳秋水 (1871 – 1911): Sozialist und Anarchist. Übersetzte die Werke zeitgenössischer europäischer und russischer Anarchisten wie Kropotkin ins Japanische. 14. Yanagita Kunio 柳田国男 (1875 – 1962): Begründer der japanischen Volkskunde (minzokugaku). 15. Hasegawa Nyozekan 長谷川如是閑 (1875 – 1969): Einer der bekanntesten Vertreter von Liberalismus und Demokratie zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. 16. Ishikawa Sanshirō 石川三四郎 (1876 – 1956): Zunächst Sozialist, dann Anarchist. Wurde von Edward Carpenter und Elisée Reclus beeinflusst. 17. Yoshino Sakuzō 吉野作造 (1878 – 1933): Politikwissenschaftler und Historiker. Plädierte u. a. für die Kompatibilität von Kaiserherrschaft und Demokratie. 18. Kawakami Hajime 河上肇 (1879 – 1946): Marxistischer Ökonom. Übersetzte Marx‘ Das Kapital 1937 ins Japanische. 19. Yamakawa Hitoshi 山川均 (1880 – 1958): Spielte eine führende Rolle bei der Gründung der Kommunistischen Partei Japans im Jahr 1922. Vertrat eine kritische Haltung gegenüber dem Anarchismus und der Kommunistischen Internationalen. 20. Ōsugi Sakae 大杉栄 (1885 – 1923): Sozialist, später Vertreter des Anarcho-Syndikalismus. 21. Ōkawa Shūmei 大川周明 (1886 – 1957): Nationalistischer japanischer Schriftsteller



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und politischer Philosoph sowie Verfechter der Panasienbewegung. Seine Schriften inspirierten viele rechtsextremistische japanische Gruppen in den 1930ern. 22. Origuchi Shinobu 折口信夫 (1887 – 1953): Schriftsteller und Literaturwissenschaftler. 23. Tanabe Hajime 田辺元 (1885 – 1962): Philosoph. Zusammen mit Nishida Kitarō wichtigster Vertreter der ersten Generation der Kyōto-Schule. Studierte bei Alois Riehl, Heinrich Rickert und Edmund Husserl und führte Heideggers Denken in Japan ein. Bekannt u. a. für eine »Logik der Spezies« und sein Spätwerk Philosophie als Metanoetik. 24. Yanagi Muneyoshi 柳宗悦 (1889 – 1961): Kunstkritiker, Religionsphilosoph und Begründer der japanischen Volkskunst-Bewegung. 25. Watsuji Tetsurō 和辻哲郎 (1889 – 1960): Philosoph der Kyōto-Schule, der v. a. für seine Werke Fūdo und Ethik als Anthropologie bekannt ist. 26. Hayashi Tatsuo 林達夫 (1896 – 1984): Philosoph sowie Literatur- und Kulturkri­tiker. 27. Miki Kiyoshi 三木清 (1897 – 1945): Philosoph. Studierte in Europa bei Martin Heidegger, Heinrich Rickert und Karl Löwith. Vertreter des Marxismus. 28. Tosaka Jun 戸坂潤 (1900 – 1945): Marxistisch orientierter Philosoph und Kritiker. 29. Kobayashi Hideo 小林秀雄 (1902 – 1983): Literaturkritiker und Schriftsteller. Unterstützer der japanischen Kriegspolitik. 30. Textsammlung zum Denken der Meiji-Zeit 1 [Auswahl] a. Ōkubo Toshimichi 大久保 利通 (1830 – 1878): Politiker der Meiji-Restauration. b. Kido Takayoshi 木戸孝允 (1833 – 1877): Politiker. Gehörte mit Saigō Takamori und Ōkubo Toshimichi zu den »Drei Großen der Meiji-Restauration« (ishin no sanketsu). c. Nakamura Masanao (auch: Keiu) 中村正直 (1832 – 1891): Pädagoge und Übersetzer. Übersetzte u. a. Samuel Smiles Self-Help und John Stewart Mills On Liberty ins Japanische. d. Tsuda Mamichi 津田真道 (1829 – 1903): Politiker und Rechtswissenschaftler. Gründungsmitglieder der Meirokusha.4 e. Nishimura Shigeki 西村茂樹 (1828 – 1902): Pädagoge und Politiker der MeijiRestauration. Gründungsmitglied der Meirokusha. Schrieb u. a. zum Zusammenhang von Ethik und Politik sowie zur Komparatistik der Regierungs- und Wirtschaftssysteme weltweit. f. Nishi Amane 西周 (1829 – 1897): Philosoph und politischer Verwalter. Prägte u. a. das japanische Wort tetsugaku als Übersetzung für den westlichen Begriff der Philosophie. Gründungsmitglied der Meirokusha. 4 

Die Meirokusha war eine Gesellschaft von Intellektuellen, die im Jahr 1874 offiziell gegründet wurde und sich der Förderung westlicher Werte und der Aufklärung verschrieb. Die Gesellschaft gab zudem die Zeitschrift Meiroku Zasshi heraus.

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g. Katō Hiroyuki 加藤弘之 (1836 – 1916): Staatsrechtsgelehrter und Politiker der Meiji-Zeit. Schrieb u. a. zu Fragen der Verfassung und des »Staatskörpers« (­kokutai). Gründungsmitglied der Meirokusha. h. Ueki Emori 植木枝盛 (1857 – 1892): Politischer Denker. Vertreter der Freiheitsund Menschenrechtsbewegung. i. Azusa Ono 小野梓 (1852 – 1886): Rechtsgelehrter mit Spezialisierung auf dem anglo-amerikanischen Rechtssystem. j. Baba Tatsui 馬場辰猪 (1850 – 1888): Staatstheoretiker, der sich für die Etablierung einer liberalen Demokratie in Japan einsetzte. k. Mutsu Munemitsu 陸奥宗光 (1844 – 1897): Politiker und Diplomat. l. Motoda Nagazane 元田永孚 (1818 – 1891): Konfuzianistischer Gelehrter, der unter anderem zur Pädagogik schrieb. m. Itō Hirobumi 伊藤博文 (1841 – 1909): Politiker und erster Premierminister ­Japans. n. Inoue Kowashi 井上毅 (1844 – 1895): Politiker mit Schwerpunkt auf Verfassungs­ kunde und Bildungspolitik. 31. Textsammlung zum Denken der Meiji-Zeit 2 a. Shiga Shigetaka 志賀重昂 (1863 – 1927): Herausgeber der Zeitschrift Nihonjin. b. Hozumi Yatsuka穂積八束 (1860 – 1912): Rechtswissenschaftler. c. Aruga Nagao 有賀長雄 (1860 – 1921): Rechtswissenschaftler und Soziologe. Studium in Berlin, später Rechtsberater des chinesischen Präsidenten Yuan Shikai. d. Inoue Tetsujirō 井上哲次 (1856 – 1944): Philosoph, der sich u. a. intensiv mit dem japanischen Konfuzianismus auseinandersetzte. e. Kume Kunitake 久米邦武 (1839 – 1932): Historiker. f. Ōnishi Hajime 大西祝 (1864 – 1900): Philosoph, der u. a. zu Ethik, Ästhetik und Logik arbeitete. g. Mori Ōgai 森鴎外 (1862 – 1922): Schriftsteller, Militärarzt, Dichter und Übersetzer. h. Tsubouchi Shōyō 坪内逍遥 (1859 – 1935): Dramatiker, Erzähler und Übersetzer. i. Kitamura Tōkoku 北村透谷 (1868 – 1894): Dichter und Literaturkritiker. j. Yamaji Aizan 山路愛山 (1865 – 1917): Historiker. k. Uemura Masahisa 植村正久 (1858 – 1925): Christlicher Theologe und Kritiker. l. Taoka Reiun 田岡嶺雲 (1879 – 1912): Kultur- und Literaturkritiker. 32. Textsammlung zum Denken der Meiji-Zeit 3 [Auswahl] a. Takano Fusatarō 高野房太郎 (1869 – 1904): Vorreiter der japanischen Gewerkschaftsbewegung. b. Katayama Sen 片山潜 (1859 – 1933): Journalist, Gründer der Sozialdemokratischen Partei Japans (1901), Mitbegründer der KPdUSA (1919), Mitbegründer



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der Kommunistischen Partei Japans (1922) und Exekutivmitglied der Kom­mu­ nis­tischen Internationale. Sakai Toshihiko 堺利彦 (1871 – 1933): Sozialist, Schriftsteller und Historiker. Tazoe Tetsuji 田添鉄二 (1875 – 1908) Sozialist. Shirayanagi Shūko 白柳秀湖 (1884 – 1950): Schriftsteller, Gesellschaftskritiker und Historiker. Kuro’iwa Ruikō 黒岩涙香 (1862 – 1920): Schriftsteller, Journalist und Übersetzer. Tanaka Shōzō 田中正造 (1841 – 1913): Politiker und Gesellschaftsaktivist. Fukumoto Nichi’nan 福本日南 (1857 – 1921): Journalist, Politiker und Historiker. Naitō Konan 内藤湖南 (1866 – 1934): Historiker und Sinologe. Begründer der Kyoto-Schule der Geschichtsschreibung. Kiyozawa Manshi 清沢満之 (1863  –  1903): Reformator der buddhistischen Schule Jōdō-shinshū. Er studierte westliche Philosophie bei Ernest Fenollosa. Ōmachi Keigetsu 大町桂月 (1869 – 1925): Dichter, Essayist und Kritiker.

33. Textsammlung zum Denken der Taishō-Zeit 1 [Auswahl] a. Uesugi Shinkichi 上杉慎吉 (1878 – 1929): Verfassungsrechtler, der sich für eine Anerkennung des Tennō als Staatsoberhaupt einsetzte. b. Minobe Tatsukichi 美濃部達吉 (1873 – 1948): Verfassungsrechtler und Spezialist für Verwaltungsrecht. Er spielte eine bedeutende Rolle bei der Schaffung der Japanischen Verfassung. c. Hozumi Yatsuka 穂積八束 (1860 – 1912): Jurist. Kritiker der These, der Tenno sei nicht Souverän, sondern oberster Repräsentant des japanischen Staates. d. Maruyama Kanji 丸山幹治 (1880 – 1955): Politischer Journalist und Kritiker. 34. Textsammlung zum Denken der Taishō-Zeit 2 [Auswahl] a. Sōda Kiichirō 左右田喜一郎 (1881 – 1927): Wirtschaftswissenschaftler, der vom Neukantianismus beeinflusst wurde. b. Ōyama Ikuo 大山郁夫 (1880 – 1955): Liberaler Politiker. Emigrierte 1933 in die USA. c. Kagawa Toyohiko 賀川豊彦 (1888 – 1960): Christlicher Reformer, Pazifist, Autor und Gewerkschaftsaktivist. d. Tomonaga Sanjūrō 朝永三十郎 (1871 – 1951): Philosoph. e. Gonda Yasunosuke 権田保之助 (1887 – 1951): Soziologe und Filmtheoretiker. f. Tanaka Ōdō 田中王堂 (1868 – 1932): Philosoph und Kritiker, der von u. a. Wil­ liam James und George Santayana beeinflusst wurde. g. Yamamoto Kanae 山本鼎 (1882 – 1946): Künstler, der die Holzschnittkunst der sōsaku-hanga begründete.

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h. Deguchi Onisaburō 出口王仁三郎 (1871 – 1948): Mitbegründer der ŌmotoReligion. i. Nakazawa Rinsen 中沢臨川 (1878 – 1920): Literaturkritiker. j. Hiratsuka Raichō 平塚らいてう (1886 – 1971): Autorin, Journalistin, politische Aktivistin und Pionierin des Feminismus in Japan. k. Abe Jirō 阿部次郎 (1883 – 1959): Philosoph, der u. a. zur Ästhetik schrieb. l. Yamamoto Senji 山本宣治 (1889 – 1929): Politiker und Biologe. m. Takashima Beihō 高島米峰 (1875 – 1949): Sozialpädagoge, Buddhologe und Religionswissenschaftler. n. Kuriyagawa Hakuson 厨川白村 (1880 – 1923): Anglist und Literaturkritiker. o. Itō Noe 伊藤野枝 (1895 – 1923): Feministin und Anarchistin. Zweite Frau des Anarcho-Syndikalisten Ōsugi Sakae. Zusammen mit ihm und einem Neffen 1923 beim sog. »Amakasu-Zwischenfall« von Polizisten ermordet. p. Arishima Takeo 有島武郎 (1878 – 1923): Schriftsteller aus dem Umfeld der Shira ­kaba-Gruppe. q. Motoyuki Takabatake 高畠素之 (1886 – 1928): Journalist und Aktivist. Zunächst anarchistisch und sozialistisch orientiert, später Nationalsozialist. Legte 1924 die erste Übersetzung von Das Kapital in japanischer Sprache vor. r. Hirabayashi Hatsunosuke 平林初之輔 (1892 – 1931): Literaturkritiker und Autor von »Proletarier-Literatur«. s. Tsuji Jun (auch: Ryūkitsu Mizushima) 辻潤 (1884 – 1944): Dadaistischer Dichter, Essayist und Bühnenschriftsteller. Übersetzte Max Stirners Der Einzige und sein Eigentum und Cesare Lombrosos L‘uomo di genio in rapporto alla psichiatria ins Japanische. t. Suehiro Izutarō 末弘厳太郎 (1888 – 1951): Jurist. u. Aono Suekichi 青野季吉 (1890 – 1961): Marxistischer Literaturtheoretiker. v. Takahashi Sadaki 高橋貞樹 (1905 – 1935): Kommunist und Anhänger der Bura­ kumin-Befreiungsbewegung. w. Ha’nyū Sanshichi 羽生三七 (1904 – 1985): Sozialistischer Politiker. x. Tsuchida Kyōson 土田杏村 (1891 – 1934): Philosoph und Literaturkritiker. 35. Textsammlung zum Denken der Shōwa-Zeit 1 [Auswahl] a. Fukumoto Kazuo 福本和夫 (1894 – 1983): Marxistischer Ökonom. b. Koizumi Shinzō小泉信三 (1888 – 1966): Ökonom. c. Kushida Tamizō 櫛田民蔵 (1885 – 1934): Ökonom. d. Akutagawa Ryūnosuke 芥川龍之介 (1892 – 1927): Dichter und Schriftsteller. e. Watanabe Masanosuke 渡辺政之輔 (1899 – 1928): Kommunistischer Politiker. f. Inomata Tsunao 猪俣津南雄 (1889 – 1942): Marxistischer Ökonom. g. Nakano Shigeharu 中野重治 (1902 – 1979): Kommunistischer Politiker und Schriftsteller.



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Kawai Eijirō 河合栄治郎 (1891 – 1944): Liberalistischer Soziologe und Ökonom. Katō Tadashi 加藤正 (1906 – 1949): Kommunistischer Philosoph. Nabeyama Sadachika 鍋山貞親 (1901 – 1979): Kommunistischer Politiker. Tateyama Toshitada 竪山利忠 (1907 – 1993): Sozialist. Hirotsu Kazuo 広津和郎 (1891 – 1968): Japanischer Schriftsteller, Kritiker und Übersetzer. m. Akamatsu Katsumaro 赤松克麿 (1894 – 1955): Sozialist, anschließend Verteter des Nationalsozialismus. n. Ōkuma Nobuyuki 大熊信行 (1893 – 1977): Ökonom, Kritiker und Dichter. o. Ogura Kinnosuke 小倉金之助 (1885 – 1962): Mathematiker, Mathematikpäda­ goge und Mathematikhistoriker.

36. Textsammlung zum Denken der Shōwa-Zeit 2 [Auwahl] a. Nosaka Sanzō 野坂参三 (1892 – 1993): Mitbegründer der Kommunistischen Par­tei Japans. b. Ozaki Hotsumi 尾崎秀実 (1901 – 1944): Journalist, Kommunist und Spion. c. Yanaihara Tadao 矢内原忠雄 (1894 – 1961): Christlicher Pazifist und Ökonom. d. Ryū Shintarō 笠信太郎 (1900 – 1967): Journalist.

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II.  Materialien zur japanischen Philosophiegeschichte (tetsugakushi) 1.  Ausgewählte Schriften zur Kyo ¯to-Philosophie (Kyo ¯to tetsugaku sensho) Zwischen 1999 und 2003 im Tōei-Verlag erschienene Sammlung von dreißig Bänden in zwei Serien mit ausgewählten Schriften von Vertretern der auf Nishida Kitarō (1870 – 1945) zurückgehenden Kyōto-Schule der japanischen Philosophie. Im Hinblick auf die Gesamtheit der philosophischen Publikationen dieser Schule handelt es sich nur um eine kleine Auswahl, die allerdings einen gewissen Überblick über zentrale Autoren gibt. Von den meisten in dieser Serie aufgenommenen Denkern liegen umfangreiche Gesamtausgaben vor, zudem gab und gibt es viele originelle Denker derselben Epoche, die nicht zur Kyōto-Schule gezählt werden können. Es werden jeweils die Autoren und das in der Serie enthaltene Werk in deutscher Übersetzung angegeben. Erste Serie 1. Kōsaka Masaaki 高坂正顕 (1900 – 1969): Ideengeschichte der Meiji-Zeit 2. Miki Kiyoshi 三木清 (1897 – 1945): Pascal – Shinran 3. Tanabe Hajime 田邊元 (1885 – 1962): Philosophie als Metanoia / Philosophie des Todes 4. Shimomura Toratarō 下村寅太郎 (1902 – 1995): Die japanische Moderne innerhalb der Geistesgeschichte 5. Kuki Shūzō 九鬼周造 (1888 – 1941): Das Problem des Zufalls 6. Suzuki Shigetaka 鈴木成高 (1907 – 1988): Die Entstehung Europas / Industrielle Revo­ lution 7. Kimura Motomori 木村素衛 (1905 – 1946): Praxis des Schönen 8. Watsuji Tetsurō 和辻哲郎 (1889 – 1960): Ethik der menschlichen Existenz 9. Mutai Risaku 務台理作 (1890 – 1974): Logik der gesellschaftlichen Existenz 10. Tosaka Jun 戸坂潤 (1900 – 1945): Brücken zwischen Wissenschaft und Literatur 11. Nishitani Keiji 西谷啓治 (1900 – 1990) et al.: Logik der Weltgeschichte 12. Karaki Junzō 唐木順三 (1904 – 1980): Versuche zur Gegenwartsgeschichte 13. Ōshima Yasumasa 大島康正 (1917 – 1989): Entstehungsgründe der Epocheneinteilung / Existenzlogik 14. Ueda Juzō 植田寿蔵 (1886 – 1973): Ausgewählte Aufsätze zur Kunsttheorie 15. Kōyama Iwao 高山岩男 (1905 – 1993): Kulturtypologie / Prinzip der Entsprechung Zweite Serie 1. Nishitani Keiji 西谷啓治 (1900 – 1990): Essaysammlung 2. Takahashi Satomi 高橋里美 (1886 – 1964): Phänomenologie der Ganzheit 3. Miki Kiyoshi 三木清 (1897 – 1945): Schöpferische Vorstellungskraft 4. Imanishi Kinji 今西錦司 (1902 – 1992): Ökologie der handelnden Anschauung 5. Kōyama Iwao 高山岩男 (1905 – 1993): Philosophie der Hypermoderne



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6. Hisamatsu Shin‘ichi 久松真一 (1889 – 1980): Philosophie des Erwachens 7. Yamanouchi Tokuryū 山内得立 (1891 – 1974): Philosophie des Schlafes 8. Miyake Gōichi 三宅剛一 (1895 – 1982): Philosophie der menschlichen Existenz 9. Watsuji Tetsurō 和辻哲郎 (1889 – 1960): Studien zur japanischen Geistesgeschichte 10. Kōsaka Masaaki 高坂正顕 (1900 – 1969): Geschichtliche Welt 11. Karaki Junzō 唐木順三 (1904 – 1980): Mujō / Miki Kiyoshi 12. Shimomura Toratarō 下村寅太郎 (1900 – 1995): Wissenschaftsgeschichte als Geistesgeschichte 13. Kuki Shūzo 九鬼周造 (1888 – 1941): Der Reim in japanischen Gedichten / Literaturtheorie 14. Hisamatsu Shin’ichi 久松真一 (1889 – 1980): Kunst und die Philosophie des Tees 15. Nishitani Keiji 西谷啓治 (1900 – 1990): Geschichte der Mystik / Vorlesungen in Shin­shu

2.  Online-Materialsammlung der Universität Kyo ¯to5 Materialsammlung des Philosophischen Seminars für Geschichte der japanischen Philosophie der Universität Kyōto, die sich als »Überblick über grundlegende Literatur für das Studium der japanischen Philosophiegeschichte« versteht. Die Bibliographie erlaubt einen Einblick in japanischsprachige Standardwerke zur Philosophie- und Ideengeschichte bzw. Geschichte des Denkens in Japan sowie bedeutende Forscher auf dem Gebiet. Für die vorliegende Liste wird jeweils der Autor, der Titel und das Erscheinungsdatum angegeben. 1.  Japanische Ideengeschichte im Allgemeinen a. Watsuji Tetsurō 和辻哲郎: Geschichte des ethischen Denkens in Japan (Nihon rinri shisōshi), 1962. b. Muraoka Tsunetsugu 村岡典嗣: Forschungen zur Japanischen Geschichte 4: Umriss der japanischen Ideengeschichte (Nihon shisōshi kenkyū 4: nihon shisōshi gaisetsu), 1956. c. Nakamura Hajime 中村元: Geschichte des japanischen Denkens (Nihon shisōshi, ­japanische Übersetzung der englischen Ausgabe: A History of the Development of Japanese Thought), 1988. d. Tamura Enchō 田村圓澄 / Kuroda Toshio 黒田俊雄/ Sagara Tōru 相良亨 / Minamoto Ryōen 源了圓 (Hg.): Grundwissen zur Geschichte des japanischen Denkens (­Nihon shisōshi no kiso chishiki), 1974. 5

Online abrufbar unter: https://www.bun.kyoto-u.ac.jp/japanese_philosophy/jp-kihonbunken2/

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e. Sagara Tōru 相良亨 (Hg.): Einführung in Geschichte des japanischen Denkens (Nihon shisōshi nyūmon), 1984. f. Imai Jun 今井淳 / Ozawa Tomio 小沢富夫 (Hg.): Geschichte der wissenschaftlichen Dispute im japanischen Denken (Nihon shisō ronsōshi), 1979. g. Ishida Ichirō 石田一良 (Hg.): Grundriss der japanischen Ideengeschichte (Nihon shisō gairon), 1963.

2.  Japanische Philosophie und japanisches Denken der Neuzeit im Allgemeinen a. Fujita Masakatsu 藤田正勝 (Hg.): Für diejenigen, die das Denken der japanischen Moderne studieren (Nihon kindai shisō wo manabu hito no tame ni), 1997. b. Tsunetoshi Sōzaburō 常俊宗三郎: Für diejenigen, die die japanische Philosophie studieren (Nihon no tetsugaku wo manabu hito no tame ni), 1998. c. Tanaka Kyūbun 田中久文: Die japanische »Philosophie« lesen und analysieren (Nihon no »tetsugaku« wo yomitoku), 2000. d. Miyakawa Tōru 宮川透: Moderne japanische Philosophie (Kindai nihon no tetsugaku), 1961. e. Japanische Denker (Nihon no shisōka), 3 Bde., hg. v. d. Redaktion des Asahi-Shinbun Journals. f. Hashikawa Bunzō 橋川文三 / Kano Masanao 鹿野政直 / Hiraoka Toshio 平岡敏夫 (Hg.): Grundwissen zur Geschichte des modernen japanischen Denkens (Kindai nihon shisōshi no kiso chishiki), 1971. g. Kuno Osamu 久野収 / Tsurumi Shunsuke 鶴見俊輔: Denken im gegenwärtigen Japan (Gendai nihon no shisō), 1956. h. Kano Masanao 鹿野政直: Einführung in das moderne japanische Denken (Kindai nihon shisō annai), 1999. i. Sakamoto Takao 坂本多加雄: Aufsätze zur Geistesgeschichte des modernen Japan (Kindai nihon seishinshi ron), 1996. j. Matsuzawa Hiroaki 松沢弘陽: Politisches Denken in Japan (Nihon seiji shisō), 1993. k. Furuta Hikaru et al. 古田光 (Hg.): Geschichte des gesellschaftlichen Denkens in der japanischen Moderne (Kindai nihon shakai shisōshi (Kindai nihon shisōshi taikei 1 – 2)), 1968 – 1971.

3.  Werke zu spezifischen Epochen a. Meiji-Zeit (1868 – 1912) i. Funayama Shin‘ichi 船山信一: Studien zur Philosophiegeschichte der Meiji-Zeit (Meiji tetsugakushi kenkyū (Funeyama Shin’ichi chosakushū 6)), 1999.



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ii. Kōsaka Masaaki 高坂正顕: Geschichte des Denkens der Meiji-Zeit (Meiji shisōshi (Kyōto tetsugaku sensho), 1999. iii. Matsumoto Sannosuke 松本三之助: Geschichte des Denkens der Meiji-Zeit (Meiji shisōshi), 1996. iv. Matsumoto Sannosuke 松本三之助: Die geistige Struktur der Meiji-Zeit (Meiji seishin no kōzō), 1993. v. Irokawa Daikichi 色川大吉: Geistesgeschichte der Meiji-Zeit (Meiji seishinshi), 2 Bde., 1976. b. Taishō-Zeit (1912 – 1926) i. Funayama Shin‘ichi 船山信一: Studien zur Philosophiegeschichte der Taishō-Zeit (Taishō tetsugakushi kenkyū), 1999. ii. Watanabe Kazuyasu 渡辺和靖: Autonomie und Kommunität: Der Verlauf des Denkens der Taishō- und Shōwa-Zeit (Jiritsu to kyōdō – Taishō shōwa shisō no nagare), 1987. c. Shōwa-Zeit (1926 – 1989) i. Takeuchi Yoshitomo 竹内良知: Geschichte des Denkens der Shōwa-Zeit (Shōwa shisōshi), 1958. ii. Arakawa Ikuo 荒川幾男: Geschichte des Denkens der Shōwa-Zeit: Licht und Schatten der 1930er (Shōwa shisōshi – kuraku kagayakeru 1930 nendai), 1989. iii. Oketani Hideaki 桶谷秀昭: Geschichte des Denkens der Shōwa-Zeit: die Vorkriegszeit (Shōwa shisōshi – senzen hen), 1992. iv. Tsurumi Shunsuke 鶴見俊輔: Geistesgeschichte Japans zur Vorkriegszeit (Senjiki nihon seishinshi), 2001. v. Takeyama Michio 竹山道雄: Geistesgeschichte der Shōwa-Zeit (Shōwa no seishinshi), 1985. d. Nachkriegszeit i. Mineshima Hideo 峰島旭雄: Die Geschichte des Denkens der Nachkriegszeit lesen (Sengo shisōshi wo yomu), 1997. ii. Yamada Sengo 山田洸: Geschichte des Denkens der Nachkriegszeit (Sengo shisōshi), 1989. iii. Oketani Hideaki 桶谷秀昭: Geschichte des Denkens der Shōwa-Zeit: die Nachkriegszeit (Shōwa shisōshi – sengo hen), 2000. e. Komparatives Denken i. Koizumi Takashi 小泉仰 / Koyama Chūmaru 小山宙丸 / Mineshima Hideo 峰 島旭雄 (Hg.): Für ein komparatives Denken (Hikaku shisō no susume), 1979. ii. Saigusa Mitsuyoshi 三枝充悳: Aufsatzsammlung zum komparativen Denken (­Hikaku shisō ronshū), 3 Bde., 1982 – 83.

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iii. Imamichi Tomonobu 今道友信: Philosophie in Ost und West (Tōzai no tetsugaku), 1981. iv. Mineshima Hideo 峰島旭雄: Wie können wir das komparative Denken begreifen? (Hikaku shisō wo dō toraeru ka), 1988. f. Andere Schriften i. Watsuji Tetsurō 和辻哲郎: Studien zur japanischen Geistesgeschichte (Nihon sei­ shinshi kenkyū (Kyōto tetsugaku sensho 24)), Neuausgabe 2002. ii. Maruyama Masao 丸山真男: Denken in Japan (Nihon no shisō), 1961. iii. Karaki Junzō 唐木順三: Versuche zur Gegenwartsgeschichte (Gendaishi he no kokoromi (Kyōto tetsugaku sensho 12), 2001. iv. Shimomura Toratarō 下村寅太郎: Die japanische Moderne innerhalb der Geistesgeschichte (Seishinshi no naka no nihon kindai (Kyōto tetsugaku sensho 4)), 2000. v. Ueyama Shunpei 上山春平: Denken in Japan: Genealogie der Indigenität und Verwestlichung (Nihon no shisō: dochaku to ōka no keifu), 1998. vi. Yuasa Yasuo 湯浅泰雄: Philosophie und Existenzdenken im modernen Japan (Kindai nihon no tetsugaku to jitsuzonshisō), 1978. vii. Ienaga Saburō 家永三郎: Studien zur Geschichte des Denkens der japanischen Moderne (Nihon kindai shisōshi kenkyū), 1953. viii. Naitō Konan 内藤湖南: Studien zur japanischen Kulturgeschichte (Nihon bunkashi kenkyū), 1924. ix. Kamei Katsuichirō 亀井勝一郎: Studien zur Geistesgeschichte der Japaner (Nihon­jin no seishinshi kenkyū), 1960 – 66. x. Karaki Junzō 唐木順三: Geschichte des Herz-Geistes der Japaner (Nihonjin no kokoro no rekishi), 2 Bde., 1976. xi. Terada Tōru 寺田透: Gedenkschrift: Denken in Japan (Oboegaki – nihon no shisō), 1983. xii. Sagara Tōru 相良亨: Denken in Japan: Prinzip, Natur, Weg, Himmel, Herz-Geist, Tradition (Nihon no shisō – ri shizen michi ten shin dentō), 1998. xiii. Ōhashi Ryōsuke 大橋良介: Japanische Dinge, europäische Dinge (Nihonteki na mono, yōroppateki na mono), 1992. xiv. Takashima Motohiro 高島元洋: Das japanische Gemüt (Nihon no kanjō), 2000. xv. Fujita Masakatsu 藤田正勝 (Hg.): Koordinatenachsen des Denkens: Die Ausbildung der Philosophie in Japan und ihre Möglichkeiten (Chi no zahyōjiki – Nihon ni okeru tetsugaku no keisei to sono kanōsei), 2000. xvi. Kayano Yoshio 茅野良男 / Fujita Masakatsu 藤田正勝 (Hg.): Die japanische Moderne als Wendezeit (Tenkanki to shite no nihon kindai), 1999.



Materialien zur ­japanischsprachigen Philosophiegeschichtsschreibung

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III.  Japanischsprachige Philosophiegeschichtsschreibungen 1.  Philosophie der Philosophiegeschichte Iida Takashi (Hg.): Philosophie der Philosophiegeschichte (Tetsugakushi no tetsugaku). Tōkyō 2009.

2.  Globale Philosophiegeschichte Saitō Kaname: Chronologie der globalen Philosophiegeschichte (Sekai tetsugakushi nenpyō). Tōkyō 1926. Takemasa Tarō / Nomura Saichirō: Kurze Weltgeschichte der Philosophie (Kanmei sekai tetsugakushi). Tōkyō 1939. Shida Sōkichi / Ui Hakuju / Mutai Risaku: Weltgeschichte der Philosophie (Sekai tetsuga­ kushi). Tōkyō 1948.

3.  Geschichte der westlichen Philosophie Ōnishi Hajime: Geschichte der westlichen Philosophie (Seiyō tetsugakushi), 2 Bde. Tōkyō 1895. Hatano Seiichi: Geschichte der westlichen Philosophie im Umriss (Seiyō tetsugakushi yō). Tōkyō 1901. Abe Yoshishige: Geschichte der westlichen Philosophie der Neuzeit (Seiyō kinsei tetsugakushi). Tōkyō 1948. Katsura Juichi: Geschichte der westlichen Philosophie der Neuzeit (Seiyō kinsei tetsugakushi). Tōkyō 1951. Yamazaki Masakazu: Geschichte der westlichen Philosophie (Seiyō tetsugakushi). Tōkyō 1970. Kuki Shūzō: Manuskript zur Geschichte der westlichen Philosophie der Neuzeit (Seiyō kinsei tetsugakushi kō (Kuki Shūzō zenshū 6 /7)). Tōkyō 1981. Hiromatsu Wataru: Aufsätze zur Philosophie und Philosophiegeschichte (Tetsugaku · tetsugakushiron (Hiromatsu Wataru chosakushū 7)). Tōkyō 1997. Kumano Sumihiko: Geschichte der westlichen Philosophie: von der Antike bis zum Mittelalter (Seiyō tetsugakushi: Kodai kara chūsei he). Tōkyō 2006. Kanzaki Shigeru: Geschichte der westlichen Philosophie (Seiyō tetsugakushi). 4 Bde. Tōkyō 2011 – 2012.

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4.  Geschichte der japanischen Philosophie und des japanischen Denkens Kiyohara Sadao: Ideengeschichte des japanischen Volkes (Nihon kokumin shisōshi). Tōkyō 1925. Okada Isen: Geschichte der japanischen Philosophie: Mit einem Fokus auf der Literatur (Nihon tetsugakushi: bunken chūshin). Tōkyō 1929. Tohiro Kazō: Geschichte der modernen japanischen Philosophie (Kindai nihon tetsuga­ kushi). Tōkyō 1935. Nagata Hiroshi: Geschichte der japanischen Philosophie (Nihon tetsugakushi). Tōkyō 1937. Nagata Hiroshi: Geschichte der japanischen Philosophie und des japanischen Denkens (Nihon tetsugaku-shisōshi). Tōkyō 1938. Asō Yoshiteru: Geschichte der japanischen Philosophie der Neuzeit (Kinsei nihon tetsu­ ga­kushi). Tōkyō 1942. Kiyohara Sadao: Geschichte des japanischen Denkens (Nihon shisōshi). Tōkyō 1942. Takeoka Katsuya: Geschichte des japanischen Denkens (Nihon shisōshi). Tōkyō 1943. Muraoka, Tsunetsugu: Studien zur Geschichte des japanischen Denkens (Nihon shisōshi kenkyū). 4 Bde., 1948 – 75. Oguchi Tadao: Geschichte der japanischen Philosophie im Umriss (Nihon tetsugakushi gaisetsu). Tōkyō 1952. Miyakawa Tōru / Arakawa, Ikuo: Geschichte der modernen japanischen Philosophie (Nihon kindai tetsugakushi). Tōkyō 1976. Fujita Masakatsu: Erfahrung, Sprache, Ausdruck: Versuch einer Studie zur japanischen Philosophiegeschichte (Keiken · Kotoba · hyōgen: nihon tetsugakushi kenkyū no kokoromi) (Dissertationsschrift). Kyōto 2000. Saigusa Hiroto: Geschichte der modernen japanischen Philosophie (Kindai nihon tetsuga­ kushi). Tōkyō 2014.

5.  Geschichte der ostasiatischen Philosophie Mio Katsuma: Geschichte der ostasiatischen Philosophie im Umriss (Tōyō tetsugakushi gaisetsu). Tōkyō 1930. Muraoka Tsunetsugu: Geschichte der ostasiatischen Philosophie (Tōyō tetsugakushi). Tōkyō 1932. Akizawa Shūji: Geschichte der ostasiatischen Philosophie: Analyse ostasiatischer Besonderheiten in der Philosophie (Tōyō tetsugakushi: tetsugaku ni okeru tōyōteki tokushitsu no bunseki). Tōkyō 1937. Miyajima Shin’ichi: Zusammenfassung der Geschichte der ostasiatischen Philosophie (Tōyō tetsugakushi kōyō). Tōkyō 1942.



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Uno Sei’ichi / Nakamura Hajime / Tamaki Kōshirō: Vorlesungen zum ostasiatischen Denken (Kōza tōyō shisō), 8 Bde.. Tōkyō 1967.

6.  Geschichte der chinesischen Philosophie Endo Ryūkichi: Geschichte der chinesischen Philosophie (Shina tetsugakushi). Tōkyō 1900. Takase Takejirō: Geschichte der chinesischen Philosophie (Shina tetsugakushi). Tōkyō 1901, 21910. Uchida Shūhei: Sinologie: Geschichte des Konfuzianismus (Shinagaku: jugakushi). Tōkyō 1901. Naka’uchi Gi’ichi: Geschichte der chinesischen Philosophie (Shina tetsugakushi). Tōkyō 1903. Matumoto Bunzaburō: Geschichte der chinesischen Philosophie (Shina tetsugakushi). Tōkyō 1907. Uno Tetsuto: Vorlesungen zur Geschichte der chinesischen Philosophie (Shina tetsuga­ kushi kōwa). Tōkyō 1914. Watanabe Hidekata: Geschichte der chinesischen Philosophie im Umriss (Shina tetsuga­ kushi gairon). Tōkyō 1924, 21930. Saiki Mamoru: Geschichte der chinesischen Philosophie im Umriss (Shina tetsugakushi gaisetsu). Tōkyō 1930. Narita Hideo: Geschichte der antiken chinesischen Philosophie (Shina kodai tetsuga­ kushi). Hirosaki 1934. Takada Shinji: Geschichte der chinesischen Philosophie des Altertums (Jōdai shina tetsu­ ga­kushi). Tōkyō 1938. Feng Youlan: Geschichte der antiken chinesischen Philosophie (Shina kodai tetsugakushi). Aus d. Chines. übers. v. Kakimura Takashi. Tōkyō 1942. Honda Shigeyuki: Überlegungen zur Geschichte der chinesischen Philosophie der frühen Neuzeit (Shina kinsei tetsugakushi kō). Tōkyō 1944. Kano Naoki: Geschichte der chinesischen Philosophie (Chūgoku tetsugakushi). Tōkyō 1953. Uno Tetsuto: Geschichte der chinesischen Philosophie: Der frühneuzeitliche Konfuzianismus (Shina tetsugakushi: kinsei jugaku). Tōkyō 1954. Shigezawa Toshio: Studien zur Geschichte der chinesischen Philosophie: Geschichte der Auseinandersetzungen zwischen Idealismus und Materialismus (Chūgoku tetsuga­ kushi kenkyū: yuishinshugi to yuibutsushugi no kōsōshi), Kyōto 1964. Kimura Ei’ichi: Überblick und Untersuchung der chinesischen Philosophiegeschichte (Chūgoku tetsugakushi no tenbō to mosaku). Tōkyō 1976.

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7.  Geschichte der indischen Philosophie Ui Hakuju: Geschichte der indischen Philosophie (Indo tetsugakushi). Tōkyō 1932. Kanakura Enshō: Geschichte der indischen Philosophie (Indo tetsugakushi). Tōkyō 1948. Nakamura Hajime: Philosophie und Denken in Indien: Geschichte der anfänglichen Philosophie des Vedānta (Indo tetsugaku shisō (shoki vēdānta tetsugakushi)). 4 Bde. Tōkyō 1950 – 56. Hashimoto Hōkei: Geschichte der ostasiatischen Philosophie: Kultur und Philosophie Indiens (Tōyō tetsugakushi: indo no bunka to tetsugaku). Tōkyō 1964. Kanaoka Shūyū: Geschichte der indischen Philosophie im Umriss (Indo tetsugakushi gaisetsu). Tōkyō 1979, 21990. Yamaguchi Zuihō: Kritische Erörterung der Geschichte des indischen Buddhismus (Hyōsetsu indo tetsugakushi). Tōkyō 2010.

8.  Geschichte der buddhistischen Philosophie Buddhistisches Denken (Bukkyō no shisō). 12 Bde., verschiedene Herausgeber. Tōkyō 1969 ff. Ōno Tatsunosuke: Ideengeschichte des japanischen Buddhismus (Shinbashi nihonbukkyō shisōshi). Tōkyō 1957. Saigusa Mitsuyoshi: Ideengeschichte des indischen Buddhismus (Indobukkyō shisōshi). Tōkyō 1975. Kimura Kiyotak: Ideengeschichte des chinesischen Buddhismus (Chugokubukkyō shisōshi). Tōkyō 1979/11. Yuda Yutaka: Geschichte des buddhistischen Denkens (Bukkyō shisōshi). Tōkyō 1983. Tachikawa Musashi: Ideengeschichte der »Leerheit«. Vom frühen Buddhismus bis zur japanischen Moderne (Kū no shisōshi. Geshibukkyō kara nihonkinda e). Kyōto 2003.

Autorinnen und Autoren Rolf Elberfeld ist Professor für Kulturphilosophie an der Universität Hildesheim. Eli Franco ist Professor für Indologie an der Universität Leipzig. Anke Graneß ist Inhaberin einer EliseRichter-Stelle des FWF am Institut für Philosophie der Universität Wien. Udo Reinhold Jeck ist apl. Professor für Philosophie an der Ruhr Universität Bochum. Catherine König-Pralong ist Leiterin des Projektes »Medieval Philosophy in ­Modern History of Philosophy« (memophi) an der Universität Freiburg. Leon Krings ist Doktorand im Fach Philosophie an der Universität Hildesheim. Jacob Emmanuel Mabe ist Gastwissenschaftler am Frankreich-Zentrum der Freien Universität Berlin.

John C. Maraldo ist Professor für Philosophie (i. R.) an der Universität Nord­ florida (USA). Hans-Georg Möller ist Professor für Philosophie an der Universität Macau. Axel Rüdiger ist Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim. Hans Schelkshorn ist außerordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Christliche Philosophie der Universität Wien. Sun Weixian ist Doktorand im Fach Philosophie an der Universität Macau. Franz Martin Wimmer ist Professor für Philosophie (i. R.) an der Universität Wien.