Philosophie - Soziologie, Gesellschaft: Gesammelte Studien zum Ideologieproblem 9783111648910, 9783111265520

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Philosophie - Soziologie, Gesellschaft: Gesammelte Studien zum Ideologieproblem
 9783111648910, 9783111265520

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Philosophie, Soziologie und Gesellschaft
Soziologie zwischen Fortschritt und Tradition
Ideologienbildung und Ideologienkritik
Wissenssoziologie
Kritik und Konformismus
Der Erfahrungsbegriff in der empirischen Sozialforschung
Der Leninismus Ideologie als philosophisches System
Utopie und Selbstaufklärung der Gesellschaft- Reflexionen zu Ernst Blochs „Das Prinzip Hoffnung"
Ideologie und Gesellschaft in der Sowjetunion nach Stalins Tod
Totalitarismus
Nachweise und Anmerkungen
Personenregister

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H. J. Lieber / Philosophie — Soziologie,

Gesellschaft

H. J. L I E B E R

Philosophie — Soziologie Gesellschaft Gesammelte

Studien

zum

Walter de Gruyter

Ideologieproblem

& Co.

vorm. G. J . Göschen'sdie Verlagshandlung • J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J . Trübner • Veit & Comp. Berlin

1965

©

Archiv-Nummer 42 69 65/1 Copyright 1965 by "Walter de Gruyter Sc Co., vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung J . Gurtentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J . Trübner • Veit & Comp. Printed in Germany — Alle Rechte der Ubersetzung, des Nachdrucks, der photomechanisdien Wiedergabe und der Anfertigung von Mikrofilmen — auch auszugsweise— vorbehalten.

Vorwort In einer Zeit der vollendeten Emanzipation der Soziologie von der Philosophie nach ihren inneren Bezügen zu fragen, ist nicht gerade modern. Das gleiche gilt, wenn dieser analytische Aspekt mit der Frage nadi ihrer gesellschaftlichen Funktion verbunden wird, scheint sie doch für die Soziologie in ihrer zeitgenössischen Gestalt ohnehin gelöst und scheint sie andererseits an dem Wesen der Philosophie, so wie es heute noch verstanden wird, vorbeizugehen. Dennoch ist nach Meinung des Verfassers gerade nur eine analytische Fragestellung dieser Art geeignet, Phänomene der Ideologisierung in der Gesellschaft zu durchschauen und Soziologie wie Philosophie eine aufklärerisdie Funktion in der Gesellschaft zurückzugewinnen. Die hier gesammelten Aufsätze und Vorträge stehen alle im Umkreis solcher Überzeugung. Sie sind zu unterschiedlichen Anlässen entstanden und doch allesamt Vorarbeiten zu einem Buch über das Verhältnis von Philosophie und Soziologie in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. Ihren inneren Zusammenhang müssen sie selbst erweisen. Die Anmerkungen zeigen ihn nur gelegentlich an.

Inhalt Philosophie, Soziologie und Gesellschaft

1

Soziologie zwischen Fortschritt und Tradition

23

Ideologienbildung und Ideologienkritik

56

Wissenssoziologie

82

Kritik und Konformismus — Das soziologische Selbstverständnis der Intelligenz

106

Der Erfahrungsbegriff in der empirischen Sozialforschung . . . .

118

Der Leninismus — Ideologie als philosophisches System

137

Utopie und Selbstaufklärung der Gesellschaft — Reflexionen zu Ernst Blochs „Das Prinzip Hoffnung"

164

Ideologie und Gesellschaft in der Sowjetunion nach Stalins Tod

186

Totalitarismus — Aspekte eines Begriffs

213

Nachweise und Anmerkungen

231

Personenregister

245

Philosophie, Soziologie und Gesellschaft Das Thema weist, so scheint es, auf die Fragestellungen der Wissenssoziologie hin. Seit je hat sich ja die Wissenssoziologie als eine spezielle Forschungsmethode begriffen, deren Erkenntnisgegenstand die Beziehungen bilden, die zwischen Wissen und Gesellschaft, zwischen artikuliertem Bewußtsein und sozialer Realität als Inbegriff von sozialen Lagen, Schichtungen und Institutionen bestehen. Insofern als die Wissenssoziologie dabei als Wissen gerade auch seine systematisch betriebene und begründete Ausprägung begreift, wie sie in den entfalteten Wissenschaften gegliederte Gestalt gewinnt, ist die Wissenssoziologie ihrer Intention nach immer auch Wissenschaftssoziologie. Eine wissenschaftssoziologische Perspektive ist im Thema, das dem Verhältnis zwischen Wissenschaften und Gesellschaft gilt, unabdingbar enthalten. Halten wir uns daher zunächst an die Art und Weise, wie Wissenssoziologie im differenzierten Betrieb soziologischer Forschung heute sich angesiedelt hat, so lassen sich zumindest zwei Fragestellungen von unterschiedlichem Denkansatz und unterschiedlicher Forschungsmethodik gegeneinander abgrenzen, die beide durch den Terminus „Wissenssoziologie" gedeckt sind und damit auch von unserem Generalthema angezielt werden. Wissenssoziologie weist sidi einmal aus als konkret gezielte strukturanalytische und darin vorwiegend deskriptive Methode der Erforschung jener gesellschaftlichen Prozesse und Institutionen, die dem Bereich des systematisch betriebenen Wissenserwerbs wie ebenso der systematischen Wissensvermittlung eigentümlich sind. Solcherart vorgehende Wissenssoziologie ist in der Lage, etwa typologisch zwisdien unterschiedlichen For-

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Lieber

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Philosophie, Soziologie und Gesellschaft men arbeitsteiliger Kooperation in den verschiedenen Wissenschaftsgebieten zu unterscheiden und diese Differenz immanent zu begründen. So etwa vermag sie nicht nur die Problematik gesellschaftlicher Arbeitsteilung in wissenschaftlicher Forschung und Lehre überhaupt als ein Problem für bestimmte Wissenschaften insbesondere etwa im Umkreis sogenannter geisteswissenschaftlicher Disziplinen aufzuzeigen, sondern zugleich bis zu Fragen der Entsprechung zwischen Gesellschaftsentwicklung und Wissenschaftsorganisation vorzudringen. Indem dabei z. B. die traditionalbestimmte Stabilität zeitgenössischer Wissenschaftsorganisation in Lehre und Forschung etwa der Universitäten mit dem Ubergang traditionaler Gesellschaften in die moderne Gesellschaft konfrontiert wird; indem dabei zugleich der Bildungsansprudi tradierter Wissenschaftsorganisation in Bezug gesetzt wird zu den Ansprüchen und Möglichkeiten, die die zeitgenössische Gesellschaft in Hinsicht auf Wissenschaft und Bildung in sich birgt, ist der wissenssoziologischen Forschung dieser Art ein kritischer Impuls und eine kritische Potenz nicht zu bestreiten. Diskussionen um eine Universitätsreform etwa, um die notwendigerweise herzustellende Korrespondenz von Wissenschaftsorganisation und Gesellschaftsentwicklung haben in wissenssoziologischen Analysen dieser Art immer wieder ihr stützendes und absicherndes Fundament. Freilich, so sehr Wissenssoziologie dieser Art, ihrem eigenen Verständnis nach, Soziologie der Wissenschaftsorganisation ist, sie kann dabei nicht stehenbleiben, wenn sie ihre Auskünfte über die Wissenschaftsorganisation nicht als Forderungen nach purer gesellschaftlicher Realitätsanpassung der wissenschaftlichen Institutionen gelten lassen will, hinter denen sich ein unkritisches Hinnehmen der gesellschaftlichen Realitäten selber als letztentscheidender Orientierungsnorm verbirgt. Will Wissenssoziologie dieser Art ihre kritische Möglichkeit in der Analyse der Entsprechung von Entwicklungen in der Gesellschafts- und der Wissenschaftsorganisation wirklich wahrnehmen und entfalten und nicht erstarren in einem blinden gesellschaftlichen Konformis-

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Philosophie, Soziologie und

Gesellschaft

mus, wird sie nicht umhin können, ihren Bezug auf und ihr Begründetsein in einer geschichtsphilosophisch-kritischen T h e o rie der Gesellschaft ebenso zu bekennen, wie ihr Gebundensein an einen sozialkritisch reflektierten Wissenschaftsbegriff 1 . D a s aber bedeutet: mag immer das Thema „die Wissenschaften und die Gesellschaft" im Sinne einer Wissenschaftssoziologie als Soziologie der Wissenschaftsorganisation angegangen werden können und ein Recht für sich haben; es verbirgt sich in solchem Vorgehen unabdingbar ein Verständnis, ein Bewußtsein von Gesellschaft wie von Wissenschaft, das den organisationssoziologischen Aspekt sprengt. W i l l dieses Bewußtsein jedoch nicht einfach axiomatisch oder postulatorisch als Maßstab funktionieren, sondern sich selbst kritisch reflektieren und darin absichern, so kommt eine andere Perspektive wissenssoziologischer F o r schung ins Spiel: die Frage nach der sozialen Bedingtheit und Funktion der Wissensgehalte. Seit je ist Wissenssoziologie in diesem Sinne auch kritische Analyse der zwischen den Wissens- bzw. Wissenschaftsgehalten und der Gesellschaft bestehenden funktionalen Bezüge und A b hängigkeiten. Indem jedoch das Verhältnis zwischen Wissen und Gesellschaft dabei nicht nur je punktuell beschrieben, sondern in seiner grundsätzlichen Bedeutung erfaßt werden soll, bleibt die wissenssoziologische Analyse nicht begrenzte Angelegenheit einer speziellen wissenschaftlichen Forschungsdisziplin, sondern erlangt sie grundlagentheoretische Konsequenz. D i e wissenssoziologische Frage hört auf, Angelegenheit einer speziellen und darin begrenzten wissenschaftlichen Einzeldisziplin zu sein; sie wird vielmehr Basis und Fundament einer gesellschaftlich bezogenen und gezielten Selbstbegründung der Wissenschaften. Was zur Debatte steht, ist nicht mehr die soziale Betriebsorganisation der Wissenschaften in ihrer Korrespondenz oder Diskrepanz zur gesellschaftlichen Gesamtentwicklung, vielmehr ist es das gesellschaftliche Selbstverständnis der Wissenschaften in einem umfassenden Sinne. Dieses aber hängt nicht nur ab von der Frage, ob — und l*

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Philosophie, Soziologie und Gesellschaft

wenn ja, dann in welchem Sinne — die einzelnen Wissenschaften die Gesellschaft oder Gesellschaftliches zu ihrem Erkenntnisgegenstand haben, sondern viel fundamentaler davon, ob und in welchem Sinne die Art und Weise des Erkenntnisvollzuges, die darin sich entfaltenden Denkansätze, Konzeptionen, Denkstrukturen und möglicherweise auch Wertungen oder Wertvorstellungen zurückverweisen auf soziale Lagen und Standorte, auf soziale Schichten und deren Realinteressen, auf partielle oder generelle Bedürfnisse der Gesellschaft, von denen her sie Impuls und Richtung erhalten, von denen her sie motiviert sind und verstehbar werden. Freilich ist eine so geartete Fragestellung, die als Problem hinter der ganzen Vortragsreihe steht, in ihrem Sinn und ihrer Geltung nur einsichtig zu machen, wenn zumindest als Arbeitshypothese anerkannt wird: wissenschaftliches Denken ist, so mannigfache Ausprägungen es in den einzelnen Disziplinen erfahren und so sehr es dabei doch einheitlich sein mag in der Anerkennung von verbindlichen Normen der Wahrheitssuche und Wahrheitsvergewisserung, kein reines Licht, wie schon Francis Bacon sagte, d. h. es ist kein vom realen Lebensprozeß der Gesellschaft abgelöster, rein theoretischer Akt, sondern steht auch in sozialen Zusammenhängen, durch die es bedingt ist und die es zu reflektieren hat, und sei es auch nur um der eigenen Reinheit und also der eigenen Aufklärung willen. Solche sozial orientierte Selbstaufklärung jedoch wird keine Wissenschaft von sich abweisen wollen noch können, ist sie doch im Begriff der Wissenschaft selbst als Forderung enthalten. Für Philosophie und Soziologie stellt sich dabei die Forderung nach wissenssoziologischer Selbstaufklärung in einer besonders dringlichen und dabei zugleich diffizilen Art, ist doch solche Forderung selbst ein traditionales Element des philosophischen wie des soziologischen Denkens. Die Einsicht in die Sozialbedingtheit des Bewußtseins, sie mag im einzelnen unterschiedlich ausfallen und formuliert sein, hat ihren bestimmbaren Ort in der Geschichte der Philosophie und ist von ihr der Sozio4

Philosophie, Soziologie und Gesellschaft logie, gerade auch in deren Emanzipationsprozeß von der Philosophie, übermittelt. U n d zwar kulminiert sie hier wie dort im Wissen um das Verhältnis von Ideologienbildung und Ideologienkritik. Es ist das Phänomen des Ideologischen, das in V e r folgung des erwähnten Selbstaufklärungsprozesses in Philosophie und Soziologie ins Spiel kommt und ihm seinen besonderen Reiz gibt 2 . D e r heute verbreitete und darin zugleich weitgehend verwässerte Gebrauch des Begriffs Ideologie, der alles Geistige schlechthin und undifferenziert als Ideologie zu bezeichnen bereit ist, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß diesem Begriff ursprünglich ein zutiefst kritischer Aspekt innewohnt, der eine K r i t i k des Geistes ebenso unmittelbar anzielt wie eine K r i t i k der Gesellschaft, in deren Zusammenhang Geistiges als Ideologie wirkt. Ideologie meint die Spannung zwischen sozialer Distanz und sozialem Engagement des Geistes, zwischen Gesellschaftsinterpretation und Gesellschaftsapologie ebenso wie den Verdacht gegen einen an die gesellschaftlichen Realitäten blind verfallenden und sie unmittelbar verklärenden Geist. Dabei aber wird solche Spannung und solch funktionaler Bezug von Geist und Gesellschaft im Begriff der Ideologie eben nicht einfach beschrieben, sondern zugleich als ein der K r i t i k würdiges wie bedürftiges Phänomen dingfest gemacht. Solche K r i t i k zielt darin auf den an die Gesellschaft unmittelbar verfallenden Geist ebenso wie auf die Gesellschaft, zu deren Struktur solche Verfallenheit gehört. Insofern als dabei einerseits von dem im Ideologiebegriff ausgesprochenen Verdacht vorab die Philosophie getroffen wird, andererseits dieser Verdacht selbst sich als Konsequenz radikal-kritischer Philosophie versteht, ist die im Ideologiebegriff sich konzentrierende kritische Analyse von Bewußtsein und Gesellschaft unmittelbar als Element einer sozialen Selbstaufklärung der Philosophie gedacht. U n d dieser Sachverhalt ist es, der zu der These A n l a ß gab, die Philosophie habe es im radikalen Ernstnehmen der Frage nach ihrem Verhältnis zur Gesellschaft in einem sehr unmittelbaren Sinne mit sidi 5

Philosophie, Soziologie und Gesellschaft

selber zu tun, sofern sie ihre selbstaufklärerische Tradition nicht zu verleugnen gewillt ist. Es ist die Philosophie der Aufklärung bei den französischen Enzyklopädisten ebenso wie bei Kant, in der solche kritische Analyse der Ideologie — verstanden als Selbstaufklärung der Philosophie — erstmals deutlich Profil gewinnt. Vorhergehende Einsichten in den Verfälschungscharakter sozial bedingter Vorurteile für die an Wahrheit interessierte wissenschaftliche Erkenntnis und die Konsequenz eines durch Erkenntniskritik zu bewirkenden Abbaus solcher Vorurteile gehen hier eindeutig in sozialkritische Analysen über. Als Ideologie gilt jetzt jener philosophisch-metaphysische und religiöse Geist, der als Instrument der Rechtfertigung — den eigenen Wahrheitsansprudi gleichsam unterlaufend — sein Wesen und seine Funktion hat. Der Zusammenhang von politischer Macht und Geist als ihrem Instrument ist es, der das Thema aufklärerischen Nachdenkens über das Phänomen des Ideologischen bildet und der bis in seine sozial-institutionellen Ausprägungen hinein verfolgt wird. Kritik an der Ideologie ist Kritik an der Madit, die sich ihrer bedient. Solche Kritik zielt jedoch darin unmittelbar auch eine praktische Veränderung der Gesellschaft an, die als der Ideologisierung bedürftig und eben dadurdi als unvernünftig sich erweist. Es soll durch kritische Analyse des Zusammenhanges zwischen politischer Macht und Ideologie sowohl der Schein und Geltungsanspruch des Ideologischen destruiert werden, als auch jene politische Macht und Realität, die aus der Verbreitung solchen Scheins ihren Bestand herleitet und sichert. Indem die Ideologienkritik als Machtkritik solcher Art die Tendenz zur Gesellschaftsveränderung in sich enthält, wird sie selbst zu einer progressiven Kraft in der historisch-sozialen Dynamik. Im analytisch-kritischen Begreifen der Gefahren eines ideologischen Verfalls und ihrer machtpolitischen Triebkräfte will sich der philosophische Geist zu dem aufklärend befreien, was er zu sein vermag und in bezug auf die Gesellschaft auch stets zu sein

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Philosophie, Soziologie und Gesellschaft beansprucht: Element ihrer Gestaltung nach Maßgabe der V e r nunft. Freilich ist ideologienkritische Philosophie der Aufklärung zu solcher gesellschaftsgestaltender Potenz nur befähigt, weil ihr ein utopisches Element unaufhebbar innewohnt. Es ist die aus der Idee der Vernunft deduzierte Konzeption einer gerechten, freien und gleichen Gesellschaftsordnung, die den Maßstab der Bestimmung und K r i t i k des Ideologischen abgibt, und z w a r dadurch, daß sie der faktischen Ordnung der Gesellschaft und der Funktion des Geistes in ihr als antizipatorisches Prinzip vorgehalten wird. Es wird damit in der aufklärerischen Ideologienlehre neben dem Zusammenhang von Ideologie und politischer Macht auch ein solcher zwischen Ideologie, Ideologienkritik und Utopie einsichtig, der für die soziale Selbstaufklärung der P h i losophie konstitutiv zu sein scheint. I n der T a t , K r i t i k der Ideologie als einer geistig verklärenden Rechtfertigung dessen, was gesellschaftlich ohnehin der F a l l ist, scheint möglich und konsequent nur dann, wenn sie in einem geschichtsphilosophisch orientierten Begriff von Fortschritt sich gründet, der der Gesellschaft in dem, was sie ist, noch immer das vorhält, was sie zu sein vermag und was sie zu sein beansprucht und die daher in der K o n f r o n t a t i o n von Idee und Wirklichkeit, von N o r m und Faktizität der Gesellschaft immer wieder ihre Basis hat. M a g immer sich dieser Aspekt der Ideologienkritik und -analyse entsprechend den Ausformungen der bürgerlichen Gesellschaft zur Klassengesellschaft etwa im W e r k v o n M a r x gewandelt und differenziert haben, mag dabei nunmehr weniger das Phänomen der gezielten Indienstnahme des G e i stes durch die politischen Mächte autoritärer Prägung das Interesse finden, als vielmehr der Selbsttäuschungsprozeß einer G e sellschaft, die im Bewußtsein und durch das Bewußtsein ihre inneren Antagonismen sich verdeckt, und z w a r aus objektiven Gründen der Gesellschaft selbst, mag also die Falschheit des als Ideologie bezeichneten Bewußtseins nicht schon in seiner F u n k tion der Rechtfertigung schlechthin gesehen werden, sondern in

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Philosophie,

Soziologie und Gesellschaft

jener konkreten Rechtfertigung, die das gesellschaftlich T a t sächliche als erfüllte Idee verklärt und damit hinter den Anspruch der Gesellschaft ebenso zurückfällt wie hinter den sozialen Anspruch der Philosophie; in all dem ist auch bei M a r x im Begriff des Ideologischen und seiner Kritik der Bezug auf radikale Aufklärung der Philosophie wie der Gesellschaft durchgehalten. Mag immer sich dabei in den Konzeptionen einer universalhistorischen Erlösungs- oder Erfüllungsfunktion des Proletariats das Marxsche Denken zumindest in Ansätzen selbst wieder ins Ideologische verkehren, seinem Impuls nach ist es — entgegen dem, was heute als Marxismus kursiert — alles andere denn beliebig handhabbare Methode der Polemik und der totalen Verdächtigung im politisch-sozialen K a m p f . Es ist auch dieser differenzierte Ideologienbegriff im Sinne Hegels bestimmte Negation, Konfrontation von Geistigem und seiner Verwirklichung, und er hält insofern an einem Begriff von Wahrheit als Idee und Aufgabe fest. Unwahrheit der Ideologie ist j a auch hier im Verhältnis der philosophischen Idee zur gesellschaftlichen Praxis als dem Medium ihrer Verwirklichung begründet, und es sind daher nicht die Ideen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit „an sich" falsch, sondern nur in jenem gesellschaftlich verbreiteten Schein, der besagen will, sie wären bereits realisiert, ihr Anspruch wäre gesellschaftlich bereits eingelöst. Was dabei Wahrheit ist, ist aber demzufolge ebenfalls nicht mehr im Sinne einer Philosophie des un- oder überhistorischen „An-sich-Seins" auszumachen, sondern eben als Potenz und Tendenz in den historischen Prozeß selbst hineingenommen. Philosophie, die mit dem Begriff der Ideologie als kritischem Grundbegriff eigener sozialer Selbstaufklärung arbeitet, hört auf, Wesensphilosophie traditioneller, vorkritischer A r t zu sein, wie sie ebenso eine sich selbst genügende und in sich kreisende, jedes Engagement überhaupt vermeidende Kritik um der Kritik willen hinter sich läßt. Vielmehr ist sie gerade gehalten, aus der kritischen Konfrontation des Sein-Sollenden, des Schon-Wirk8

Philosophie, Soziologie und Gesellschaft liehen, des Erst-noch-Möglichen und darin Notwendigen ihre Impulse zu ziehen, um in der Dialektik von Distanz und E n g a gement, von K r i t i k und Apologie ihrer eigenen gesellschaftlichen Verbindlichkeit in einem unmittelbar-praktischen und historisch konkreten Sinne mächtig zu werden oder zu bleiben. D i e hier zunächst zu behandelnde Frage nach dem Verhältnis zeitgenössischer Philosophie zur Gesellschaft, hat diesem Sachverhalt Rechnung zu tragen. Ist es der K e r n aufklärerischer Tradition in der Philosophie, für je konkrete Gesellschaft und ihren historischen P r o z e ß aktiv Verantwortung tragen zu wollen, also der eigenen sozialen Verbindlichkeit bewußt zu sein und sie vermöge des IdeologiebegrifFs zugleich kritisch zu reflektieren, so muß zeitgenössische Philosophie daraufhin abgefragt werden, ob sie und in welchem Sinne sie die durch den Ideologiebegriff ausgemachte eigene soziale Selbstgefährdung ins Bewußtsein hebt, ob sie und wie sie ihre Tradition gesellsdiaftsorientierter Selbstaufklärung wachhält und aktualisiert. Zeitgenössisches Philosophieren scheint dies zu tun, ist doch die sogenannte „Kultur- und Sozialkrise" eines ihrer zentralen Themen. Philosophie gibt sich in der Behandlung dieses Themas bewußt als kritische Theorie. Gerade dieser Anspruch jedoch wird von ihr nicht selten im Vollzug der Analyse gleichsam so unterlaufen, daß sich darin erneut Elemente eines ideologischen Verfalls offenbaren. Es ist zur Stützung dieser These durchaus nicht vonnöten, auf die Untergangsapotheose eines Spengler zu rekurrieren, der als echter Ideologe die Adaptation an die Verhaltensweisen totaler Technisierung und Organisation ausdrücklich als Signum eines heroischen Bewußtseins anempfiehlt. J e n e zu Zeiten der Wirkung eines Spengler mit dem Krisenbewußtsein verbundene, sich in einen Trancezustand des Heroismus hineinsteigernde Untergangsstimmung findet heute kaum noch die verbreitete Anerkennung, wie nach dem 1. Weltkrieg. Selbst die der Spenglerschen D e n k a r t so verwandten Krisentheorien, etwa eines Toynbee in England oder eines Sorokin in Amerika 3 , sind be9

Philosophie, Soziologie und Gesellschaft

müht, einem Untergangspessimismus zu entgehen und die Krisenphänomene nicht als unausweichliche Verfallserscheinungen einer untergehenden, zum Tode verurteilten Kultur und Gesellschaft zu deuten und einfach hinzunehmen. Ob einem solchen Bemühen freilich Erfolg beschieden sein kann, ob im Bannkreis des Denkens dieser Kultur- und Sozialkritiker Raum bleibt für die Anerkennung eines Geistes, der aus dem Bewußtsein und der Analyse der Krise zugleich Impulse für ihre verantwortliche Gestaltung zu gewinnen weiß, muß füglich bezweifelt werden. Die gedankliche Konzeption universalhistorisch gültiger und wirkender Gesetze kulturell-sozialen Wandels — mag sie im einzelnen von Spengler noch so verschieden sein — paralysiert jede echte, aktive Sozialkritik einfach deshalb, weil die singuläre als krisenhaft genommene Konstellation von Kultur und Gesellschaft der Gegenwart lediglich als Fall einer umfassenden, rhythmisch gestalteten Geschichtsdynamik erscheinen muß, in der jede Krise als Niedergangsphase gleichsam von selbst ihre Aufhebung im Werden einer neuen Kultur findet. Im Zuge einer universalhistorischen Sinndeutung wird so dem Krisenerleben der Gegenwart sein beunruhigender Stachel genommen, und der Mensch der Gegenwart erscheint um so nachhaltiger an die durch die Geschichte und ihre philosophische Deutung sanktionierte Faktizität seines Schicksals gebunden. Die universale, geschichtsphilosophische Zyklentheorie der Krise kapituliert vor den historisch-sozialen Faktizitäten, indem sie sie als Sinnerfüllung umgreifender Determinismen akzeptiert. Ist auf diese Weise bei den genannten Denkern die dem eigentlichen Sinn nach sozialbefreiende" und -aktivierende Funktion jeder sozialkritischen Philosophie im Grunde in ihr Gegenteil verkehrt, und wird die geschichtsphilosophische Deutung der Krise, zumindest in Ansätzen, zum ideologischen Medium ihrer Rechtfertigung, so gilt Ähnliches auch von jenen sozialphilosophisch-neoliberalen Positionen, die in der Nachfolge und in Variationen der Tönnies'schen Konzeptionen von Gemeinschaft und Gesellschaft, als Krisenherd der Moderne ein Über10

Philosophie, Soziologie und Gesellschaft

wuchern urtrümlidi-humaner Gemeinschaftsordnungen durch zweckrationale und gesellschaftlich-herrschaftliche Verbandsund Organisationsformen angeben4. Abgesehen davon, daß in diesen Konzeptionen nur allzu leicht romantische Verklärungen von Gemeinschaft und Führung als allein menschenwürdiger Sozialinstitution mitschwingen, so gilt von ihnen doch auch dies: Indem sie eine Reorganisation der Gesellschaft mit dem Ziel einer erneuten Entfaltung der Gemeinschaft anempfehlen, passen sie sich dem ihrem eigenen Begriff von Gemeinschaft widersprechenden Element der Organisation so weitgehend an, daß sie ungewollt akzeptieren, was sie bewußt negieren und kritisieren. Besonderer Beachtung sind aber zweifellos jene Positionen zeitgenössischer Philosophie würdig, in denen nach „neuen" Wegen einer Metaphysik gesucht wird, erblickt doch solches Philosophieren in diesen neuen Wegen seine auch von der Gesellschaft der Zeit zu akzeptierende Zukunft. In Würdigung der Kritik an traditionaler Seinsmetaphysik sucht sie diese neuen Wege, indem sie von einer Analyse der Situation des Menschen als „In-der-Welt-Sein" ausgeht und sich demzufolge als Existenzphilosophie oder Existenzialontologie den Zugang zum Sein als Ursprung oder Transzendenz erschließt. So sehr damit die Möglichkeit sich zu eröffnen scheint, daß Philosophie die Geschichte und mit ihr und in ihr das Werden der Gesellschaft als ein höchst Konkretes wieder in den Griff zu nehmen in der Lage wäre, so sehr wendet sich existenzielles Philosophieren in seiner zeitgenössischen systematischen Ausprägung doch weitgehend gegen solche Möglichkeit, bleibt gleichsam hinter dem zurück, was es selbst vermöchte. Indem die Philosophie ihren Ausgangspunkt, das „In-der-Welt-Sein" des Menschen, selbst wieder auf seine Existenzialien oder bleibenden Bestimmungen hin abfragt, verliert sie Geschichte und Gesellschaft als je konkreten Prozeß entweder ganz aus dem Blick, oder aber sie gerinnen ihr begrifflich zu so etwas wie „Geschichtlichkeit" und „Soziabilität". Damit aber werden Geschichte und Gesellschaft 11

Philosophie, Soziologie und Gesellschaft nicht nur wiederum zu etwas im Grunde Unhistorischem; Philosophie dieser A r t selbst fällt in eine Position zurück, die der traditionalen Seinsmetaphysik und ihrer Unterscheidung zwischen Substanz und Akzidenz, zwischen dem Bleibenden und seinen Erscheinungen, zwischen dem Ersten, dem Ursprünglichen und dem Abgeleiteten zumindest nicht unähnlich ist 5 . K a r l Löwiths jüngste Versuche, das Problem von Mensch und Geschichte durch Rekurs auf „die D a u e r " oder das „Dauernde in der Geschichte" anzupacken, wäre hierfür etwa ein Beleg*. Gerade das aber provoziert doch wohl die Frage — und zwar angesichts der Geschichte der Philosophie ebenso wie angesichts der Geschichte der Gesellschaft, der sie verbunden ist — , ob Philosophie nicht damit gerade den Auftrag verfehlt, den zu erfüllen ihr heute ihrem eigenen Verständnis gemäß als V e r pflichtung aufgegeben ist. Die Dringlichkeit und der Sinn dieser Frage werden besonders dann einsichtig, wenn man jene Passagen zeitgenössischer Existenzphilosophie beachtet, in denen sie sich angeblich den Fragen „zeitgeschichtlicher" Existenz des Menschen stellt und dabei — ungeachtet der Differenz der Positionen im einzelnen — die Traditionen einer an Freiheit interessierten Philosophie gegen die totale Bedrohung menschlichen Selbstseins in Anschlag zu bringen versucht. All jene Passagen gipfeln doch im erweckenden Appell an die Individualität, sich in permanenter Entscheidung die Eigentlichkeit personaler Existenz zu bewahren oder zu erringen. Sehen wir einmal von dem jeder geschichtlich-sozialen Konkretion ermangelnden Entscheidungsbegriff ab, der blindes, dezisionistisches Engagement an das f a k tische Geschehen der Zeit nicht nur provoziert, sondern es als existenzphilosophischen Entschluß und daraus folgenden, geschichtlichen „Einsatz" auch noch verklärt — was etwa an Heideggers Verhalten 1933 in dem Zusammenhang mit seiner Philosophie demonstrierbar wäre 7 — , so steht darüber hinaus der appellatorische Charakter dieser Philosophie doch fortlaufend in der Gefahr, die Faktizitäten der modernen Gesellschaft

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Philosophie, Soziologie und Gesellschaft

nicht als je historische Bedingungen einer Entfaltung und Bewährung menschlicher Existenz kritisch zu akzeptieren und zu bearbeiten, sondern sie schon als solche zum Medium ausschließlich uneigentlicher Existenz, zum Medium der Bedrohung von Eigentlichkeit zu depravieren. Handelt es sich angesichts der Sozialsituation der Moderne vor allem um die Frage, wie der Mensch in dieser versachlichten Sozialwelt der Apparate, Funktionen und Organisationen noch als Mensch zu existieren vermag, so lebt der erweckende existenzphilosophische Appell zum eigentlichen Selbstsein nur allzu leicht aus der bewußten Distanzierung von eben diesen sozialen Faktizitäten. Insofern jedoch, als eine solche Distanzierung von der faktischen Gesellschaft, wenn sie sich übersteigert, zur geistigen Esoterik verleitet, bleiben trotz einer so gearteten philosophischen Kritik die Faktizitäten der Gesellschaft dem blinden Sich-Auswirken überlassen. Die kritische Philosophie verwandelt sich kaum zureichend zum Element einer Entradikalisierung und Bändigung blinder gesellschaftlicher Mächte und Prozesse. Zumal wenn zeitgenössische Existenzialontologie alles konkret Sachhaltige sozialer Existenz in Konsequenz ihres Begriffes von Eigentlichkeit den Einzelwissenschaften, wie Soziologie, Ökonomie, Psychologie und Geschichte, als Gegenstand analytischer Forschung zuweist 8 , versagt sie sich selbst zunehmend die Möglichkeit, jenes Sein begrifflich zu fassen, das sie als Philosophie anzielt. Es muß ihr entschwinden, indem sie es — trotz aller Beteuerung konkreter Sicht — fast nur noch als ein jeder historisch-sozialen Bestimmung entleertes Abstraktum im Blick hat. Sie sanktioniert aber damit die faktische Gesellschaft, die sie vermeintlich kritisiert, hintergründig auf eine höchst gefährliche Weise. Nicht nur gibt sie der Emanzipation der genannten Einzelwissenschaften von der Philosophie vorbehaltlos nach, sondern sie bestätigt damit zugleich auch das Prinzip gesellschaftlicher Arbeitsteilung als für die Entfaltung und Bewährung des Geistes gültig9. Damit aber liefert sie diese Wis13

Philosophie, Soziologie und Gesellschafl

senschaften, wie ebenso sich selbst, der faktischen Gesellschaft und ihren Entfaltungs- und Wertungsmaßstäben aus. Indem sie allen gesellschaftlich-konkreten Inhalt menschlich-sozialer Existenz vermöge ihres Begriffes von Eigentlichkeit nur allzuleicht vernachlässigt und den Einzelwissenschaften zuweist, paßt sie sich ungewollt einer Gesellschaft an, die in sich die Tendenz offenbart, das Wirken des Geistes fast nur noch entweder nach Maßstäben von Leistung, Nutzen und Erfolg zu werten oder aber als dekorativen, sozial unverbindlichen, kulturellen Luxus zu dulden. In einem wie im anderen Falle wird der Geist als kritische Potenz der gesellschaftlichen Ohnmacht überantwortet; eine Philosophie jedoch, die dem nicht nur zustimmt, sondern zu einem erheblichen Teil sogar in diesem Verlust der Einheit des kritischen Geistes fundiert ist, dankt als Element gesellschaftlicher Aufklärung in letzter Konsequenz ab und erstarrt — wenn auch ungewollt — schließlich in ideologischer Option. Das aber berechtigt wohl zu der Aussage: wenn Philosophie in der Würdigung ihrer eigenen Geschichte und des darin entfalteten Selbstverständnisses eingestehen muß, daß sie kein vom Lebensprozeß der Gesellschaft abgelöster, rein geistiger Akt ist, sondern in der Spannung von sozialer Distanz und sozialem Engagement und in diesem Sinne in der kritischen Verarbeitung der Spannung von Theorie und Praxis sich ebenso begründet wie entfaltet, dann hat sie heute nachhaltig Ernst zu machen mit dieser Einsicht. Das aber heißt: sie hat Gesellschaft in ihrer konkreten Gestalt einmal zu verstehen als das Resultat einer Philosophie, die von jeher versprach, durch rationale Erkenntnis und darin gründende Beherrschung der Welt Vernunft in ihr ebenso zu verwirklichen wie Freiheit. Sie hat Gesellschaft in ihrer konkreten Gestalt zum anderen zu begreifen als einen Prozeß, der dies Versprechen der Philosophie immer weniger einzulösen in der Lage ist. Und sie hat schließlich diesen Widerspruch von Idee und Realität der Gesellschaft, der ebenso ein solcher von Anspruch und Resultat bisheriger Philosophie ist, zu reflektieren. Reflexion dieses 14

Philosophie, Soziologie und Gesellschaft Widerspruchs aber erfüllt sich nicht, indem Philosophie als metaphysische Frage nach abstrakten und zeitlosen Grundbestimmungen von Welt und Mensch sich gerade von jenem Schuldzusammenhang der Geschichte und Gesellschaft absondert, an dem sie selbst teilhat. Reflexion des Widerspruches erfüllt sich nur, indem Philosophie als radikale Kritik der Gesellschaft wie ihrer selbst seine realen Bedingungen bewußt macht. Philosophie hat ihre Zukunft darin, daß sie sich als metaphysische Theorie traditionaler Gestalt, die sie auch in jedem neuen Gewände bleibt, überwindet und zu einer radikal-kritischen, gesellschaftlich-konkreten Aufklärung befreit, in der sich der philosophische Gedanke als Element rationaler Einsicht wie Veränderung bewährt 10 . Erweist sich damit das Verhältnis von Philosophie und Gesellschaft noch immer als so geartet, daß es dem ideologiekritischen Zugriff sich stellt und eines solchen auch bedürftig ist, so gilt ähnliches von der Soziologie, wenn man sie auf ihr Verhältnis zur Gesellschaft abfragt und dabei wiederum ihr eigenes geschichtliches Selbstverständnis in Anschlag bringt. Das Verhältnis der Soziologie zur Gesellschaft ist ja nicht nur dadurch gekennzeichnet, daß ihr die Gesellschaft expressis verbis zum Erkenntnisgegenstand wird und daß sie sich in der Präzisierung eines solchen Erkenntnisobjektes — in bewußter Abgrenzung gegen die Philosophie — als eigenständige, erfahrungswissenschaftlidie Disziplin zu begründen unternimmt. Vielmehr ist schon im historischen Ursprung erfahrungswissenschaftlicher Emanzipation der Soziologie von der Philosophie der Anspruch mit enthalten, gerade eine nicht mehr philosophisch-spekulative Sozialerkenntnis werde das Versprechen auf Gestaltung einer gerechten und freien und darin vernünftigen Gesellschaft einzulösen vermögen. Das aber bedeutet: Soziologie begreift sich in ihrem Ursprung als die erfahrungswissenschaftliche Disziplin, die das Erbe der Aufklärungsphilosophie verpflichtend übernimmt, indem sie es seines metaphysischen Fundamentes entkleidet und positiv verwirklicht. Und nicht nur dies: Die Forderung 15

Philosophie, Soziologie und Gesellschaft nach positiver Sozialerkenntnis mit praktischer Konsequenz durch eine erfahrungswissenschaftliche Soziologie hat selbst ihr Fundament in einem wissenssoziologischen Theorem, nämlich in der Zuordnung von Gesellschaftsentwicklung und Erkenntnisentwicklung. Comtes Konzeptionen sind hierfür ein Indiz, zugleich aber auch dafür, daß und in welcher Weise die Idee einer positiven, da erfahrungswissenschaftlichen Sozialerkenntnis einen gesellschaftlichen Konservatismus zu provozieren v e r m a g " . Wenn nach Comte die Soziologie die Aufgabe übernehmen muß, die durch philosophische Spekulation und K r i t i k und deren gesellschaftsrevolutionäre Konsequenzen aus den Fugen geratene Welt wieder in Ordnung zu bringen, wenn sie helfen soll, die Revolution zu beenden, ohne ihre Errungenschaften preiszugeben, wenn sie beitragen soll zu einer Versöhnung von Fortschritt und O r d nung, und wenn sie demzufolge als Wissenschaft der sozialen Krise zugleich Wissenschaft der sozialen Stabilisierung sein soll, dann ist damit die Auffassung von der gesellschaftlichen F u n k tion des soziologischen Gedankens umrissen, die an der Wiege der Soziologie steht: Soziologie als Wissenschaft ist Mittel sozialer Koordination und Integration, und sie erschöpft sich darin. Was sie an gesellschaftlicher K r i t i k zu leisten vermag, ist kaum mehr als der analytische Hinweis auf jene sozialen Tatbestände, die als Störungsfaktoren einem Positivwerden, und d. h. im wesentlichen einem reibungslosen Funktionieren der Gesellschaft entgegenstehen. Zeitgenössischer, erfahrungswissenschaftlicher Betrieb der Soziologie steht in dieser oder jener F o r m , bewußt oder nicht bewußt, im Banne jener positivistischen Tradition, die von Comte sich herleitet. Aber wo bei Comte die Idee eines Positivwerdens der Gesellschaft und des Beitrages der Soziologie dafür noch immer, ausgesprochen und offen bekundet, in einer geschichtsphilosophischen Sicht der notwendigen Entwicklung der Gesamtgesellschaft begründet ist, wo bei C o m t e daher noch so etwas vorhanden ist wie philosophisch-historische Theorie der 16

Philosophie, Soziologie und Gesellschaft

Gesellschaft, die dem kritischen Argument sich stellt, da fällt diese Kondition in zeitgenössischer, erfahrungswissenschaftlicher Soziologie auch noch weitgehend aus. Seit der um Max Weber entbrannten Werturteilsdiskussion hat sich der Verzicht auf gesamtgesellschaftliche Kritik als Aufgabe der Soziologie durchgesetzt. Wie darin Werturteilsfreiheit notwendig als jedes sozialpraktische Engagement vermeidende und verneinende Voraussetzungslosigkeit mißverstanden wird, beweist nicht zuletzt das Nachwirken jener Tradition soziologischen Denkens, die vorab mit Comte anhub. Der positivistische Bann wird nicht durchbrochen. Die Konsequenzen liegen auf der Hand. Um soziale Phänomene erfahrungswissenschaftlich unter kontrollierbaren Bedingungen analysieren zu können, sieht Soziologie dieser Art sich gezwungen, ihre Gegenstände aus dem sozialen Zusammenhang herauszulösen und sie zu isolieren gegen Einwirkungen aus anderen sozialen Bereichen. Die isolierende Determination des Besonderen wird auch hier zur Negation des Ganzen der Gesellschaft. Sie bezahlt die Exaktheit der Analyse isolierter Detailphänomene mit der Irrelevanz ihrer Ergebnisse für die Erkenntnis des gesamt-gesellschaftlichen Zusammenhanges und der Richtung des sozialen Prozesses. Damit aber steht sie angesichts der Frage, wie historisch gewordene Gesellschaft von heute sich zu ihrem Morgen, also zu ihren eigenen Möglichkeiten verhält, in einer seltsam zwiespältigen Situation: sie kann sie nicht abweisen, ist sie doch seit eh und je an sie gestellt; sie kann sie aber auch kaum hinreichend beantworten, denn Fragen der Richtung und Zukunft der Gesellschaft sind beim gegenwärtigen Begriff und Stand der soziologischen Forschung nur mit unzulässigen Extrapolationen anzugehen, die man gerne der Philosophie zuschiebt12. Erst dann, wenn derartige Teilbeobachtungen sich in eine allgemeine soziologische Theorie einfügen lassen, sollen sie ihre erfahrungswissenschaftliche Klärung finden. Der Gedanke an eine Vertagung ad calendas graecas liegt aber dann nahe, wenn nicht solche Zukunftsprobleme überhaupt als nicht veri-

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fizierbare und deshalb „sinnlose" Probleme von vornherein ausgeklammert bleiben. Bewußt ist nicht mehr „die Gesellschaft" der Erkenntnisgegenstand, sondern das, was man das Soziale nennt. Als „Soziologie ohne Gesellschaft" glaubt die Soziologie heute allein ihren Status als Wissenschaft erreichen zu können. Horkheimer und Adorno weisen darauf mit Redit hin, wenn sie sagen: „Aus der Not des Verlustes eines Begriffes von Gesellschaft wird die Tugend der Überschaubarkeit ihrer Teilgebiete gemacht 13 ." Die Gesellschaft bleibt nur noch als hypothetische Annahme von einem Ganzen vorhanden, auf das die einzelnen Bereiche und Institutionen funktional bezogen sind. Wenn z. B. die funktionalistische Theorie soziales Handeln sowie Institutionen und Werthaltungen unter dem Gesichtspunkt ihres Beitrages zum Funktionieren eines als System vorgestellten Ganzen untersucht, erscheint die erwähnte Auflösung der Gesellschaft in isolierte Teilbereiche dadurch kompensiert, daß diese Teilbereiche unter einem einheitlichen Gesichtspunkt betrachtet werden können: dem ihres Beitrages zur Erhaltung der Integrität bestehender Strukturen. Der von Talcott Parsons „allwichtig" genannte Begriff der Funktion bezeichnet den Bezug eines Teiles auf ein Ganzes14. Genauer gesagt: etwas hat dann eine Funktion, wenn es das Funktionieren des gegebenen Gefüges fördert. Der Funktionalismus, die machtvollste Schule des soziologischen Denkens in den letzten Jahrzehnten, sieht dementsprechend jedes Problem unter dem Aspekt von Gleichgewicht und reibungslosem Funktionieren von Gesellschaften und ihren Subsystemen. Sie klassifiziert jedes Phänomen nach seiner Leistung für die Erhaltung des Gleichgewichts im System. Gewiß, dieses Gleichgewicht wird nicht statisch gedacht, sondern beweglich. Das System hat nicht eine Struktur vom Typ des Gebäudes, sondern vom Typ des Organismus. Aber die in Analogie zum Organismus gedachte Dynamik bleibt zuletzt doch eben die eines geschlossenen Systems. Das hat weitreichende 18

Philosophie, Soziologie und Gesellschaft

Konsequenzen. Das Ganze ist harmonistisch, es kann nicht als Einheit in Widersprüchen gedacht werden. Demzufolge erscheinen Störungen des Gleichgewichts auch nicht als strukturell gezeitigt und bedingt, sondern entweder als durch pathologische Abweichung oder durch das Eindringen metasozialer Einflüsse hervorgerufen. Um sich im Gleidigewicht zu halten oder wieder ins Gleichgewicht zu bringen, verfügt das soziale System über gewisse Mechanismen, die für die Schlüssigkeit der funktionalistischen Theorie sehr wichtig sind: die Mechanismen der „sozialen Kontrolle"; und es erhebt sich die Frage, inwieweit die funktionalistisch verstandene und betriebene Soziologie nicht selber — jenseits ihrer Erkenntnisabsichten — bereits als ein Mittel der sozialen Kontrolle anzusehen ist. Da sie wesentlich ungeschichtlich ist, kann sie sozialen Wandel nur in der Dimension des Sdion-Vorhandenen fassen. Soziale Konflikte bekommt sie, wenn überhaupt, nur schwer in den Griff, sie hebt die bei aller Negativität immer noch „positiv funktionalen", integrativen Aspekte an sozialen Konflikten hervor, oder sie bestimmt sie nichtssagend als sogenannte Dysfunktionen, von denen sie nicht mehr zu sagen weiß, als daß sie Anomalien seien. Als Triebkräfte des sozialen Prozesses über bestehende Strukturen hinaus können sie einer funktionalistischen Soziologie kaum hinreichend zum Thema werden. Das aber bedeutet, daß sie letztlich wohl oder übel zu einem Mittel der Sanktionierung der sozialen Normen und Institutionen wird, wie sie nun einmal sind. Anpassung an die geltenden Verhältnisse ist deshalb auch nicht nur theoretischer Sdilüsselbegriff der Analyse und Diagnose, sondern zugleich auch stereotype Auskunft an die Individuen zum Zwecke der Therapie. Von Wertfreiheit kann hier nur noch in einem Sinne die Rede sein: nicht mehr umfassende sozial-kritisdie Analyse — wie in der Soziologie des 19. Jahrhunderts — bildet den Inhalt der erwähnten Zentralbegriffe, wie Funktionssystem, soziale Kontrolle und Anpassung, vielmehr Verbannung jeder kritischen Distanzierung von der Wirklichkeit aus der Analyse. Unver2*

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Philosophie, Soziologie und Gesellschaft sehens entsteht jedoch dabei ein in umgekehrter Weise wertendes B i l d : ein Bild der Harmonie, der Integration der Anerkennung des Faktischen als sinnvoll und richtig 15 . Stabilisierungsinteressen der gegenwärtigen Gesellschaft können deshalb von den Soziologen unmittelbar in ihren Begriff der Gesellschaft mit einbezogen werden. Das bedeutet: ein konservativer Einschlag erfahrungswissenschaftlich-funktionalistisdier Soziologie ist wohl unverkennbar, aber doch im Sinne politischer Ideologie nicht ohne weiteres nachzuweisen. D e r Konservativismus tritt im Mantel der mißverstandenen Wertfreiheitsforderung als Konformismus auf, der gewissermaßen unausgesprochen bleiben kann. U n d er entzieht sich der K r i t i k noch einmal mehr dadurch, daß die Gegenwart — wie etwa bei Schelsky — als „nachideologische Epoche" beschrieben wird 1 ", in der verzerrende Bilder der Wirklichkeit als Instrumente der Rechtfertigung nicht mehr möglich oder doch nicht mehr wirksam seien. Ideologiekritik, die noch auf Gesamtgesellschaft, ihren historischen Prozeß, ihr Woher und Wohin zielt und darin den soziologischen Gedanken nicht unberührt läßt, wird so um ihre W i r kung gebracht, indem sie sich dem V o r w u r f eines Verfehlens der sozialen Realitäten und Interessen ausgesetzt findet. U n d dennoch kann und darf Ideologiekritik sich trotz oder gerade wegen dieses Selbstverständnisses zeitgenössischer Soziologie aus gutem Grunde ihr Geschäft nicht nehmen und ihren Sinn nicht bestreiten lassen. Seit nämlich sich die Soziologie von der Philosophie emanzipierte, als positive Einzelwissenschaft begründete und sich dennoch darauf berief, Grundlage gesellschaftlichen Fortschritts zu sein, huldigt sie einer Tradition, w o nach Fortschritt der Gesellschaft am G r a d e ihrer Stabilität sich allein bemißt. Hintergründig wird jedoch solche Orientierung der Soziologie zum Element der unkritischen Sanktionierung gesellschaftlicher Realitäten und Mächte in ihrer Faktizität. D a mit verfehlt Soziologie gerade jenen Anspruch, der auch und unverlierbar zu ihrer Tradition gehört und aufklärerisches G e sellschaftsdenken prägte: Gestaltungsfaktor eines gesellschaft-

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Philosophie, Soziologie und Gesellschaft liehen Prozesses zu sein, der — gemessen an der Idee einer gerechten, freien, gleichen und vernünftigen Gesellschaft — noch immer über das hinausdrängt, was jeweils gesellschaftlich der Fall ist. Vermöge der Einsicht in die konservierend-konformistisdie Funktion einer Soziologie als Erfahrungswissenschaft also gilt es, die Einseitigkeit der darin zum Zuge kommenden T r a dition soziologischen Denkens zu erkennen und wieder R a u m zu gewinnen für eine Soziologie als kritischer Theorie der G e sellschaft, die der Frage nach dem nicht ausweicht, was Gesellschaft als Ganzes morgen sein kann und sein soll. Sie wird dabei — zugleich in der Reflexion ihres eigenen Erbes — die Distanzierung von den Faktizitäten dieser Gesellschaft bekennen müssen, jedoch nicht um sich anmaßend über sie zu erheben, sondern um vermittels einer K r i t i k , die ihrer Maßstäbe aus der K o n f r o n t a t i o n von Idee und Realität der Gesellschaft entnimmt, das Engagement an diese Gesellschaft und ihre Möglichkeiten zu bekunden. Freilich ist das ein Engagement, das das B e stehende nicht schon als solches sanktioniert, sondern über es hinausgreifend praktische Mitwirkung an dem einschließt, was die Gesellschaft von heute angesichts ihres Morgen sein will. Die Soziologie wird damit nicht nur selbst mitverantwortlich für diese Gesellschaft von morgen, und zwar als kritische, aufklärerische Instanz, sondern sie gewinnt darin zugleich auch einen Begriff von Fortschritt zurück, der für die ursprünglichen I m pulse aufklärerischen Gesellschaftsdenkens verbindlich war. A u f klärung jedoch ist das, was gegenwärtige Gesellschaft seit ihrem historischen Ursprung zu verwirklichen versprochen hatte und doch vermöge der in ihr waltenden objektiven Mächte und auch vermöge der an sie hintergründig gebundenen Soziologie einzulösen noch immer nicht in der Lage war. D a m i t schließt sich der Kreis der Gedanken: wenn zeitgenössische Philosophie und Soziologie vermöge ihrer Emanzipation voneinander noch immer das verfehlen, was sie — gemäß ihrem eigenen Erbe — gesellschaftlich seit je versprachen, dann wird die Rücknahme der Emanzipation voneinander die notwendige

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Philosophie, Soziologie und Gesellschaß

Bedingung für die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Einlösung dieses Versprechens. Wenn damit als Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Soziologie als Wissenschaften zu ihrer eigenen Gesellschaft auf Grund der Einsicht in ideologische Funktionen ihrer zeitgenössischen Gestalt die Forderung nach einem Soziologischwerden der Philosophie und einem Philosophischwerden der Soziologie sich aufdrängt, dann darf das freilich nicht mißverstanden werden. Nicht darum kann es sich handeln, zwei selbständige wissenschaftliche Disziplinen lediglich einander näherzubringen oder zu kompilieren, sondern darum, sie im Hegeischen Sinne in ihrer Isolation aufzuheben, um sie in einer radikalen Veränderung ihrer singulären Gestalt zu ihrer eigenen Wahrheit zu bringen, die dann auch eine solche für die Gesellschaft zu sein vermag, der sie unabdingbar verbunden sind und bleiben.

Soziologie zwischen Fortschritt und Tradition Wenn in einer öffentlichen Vortragsreihe der Universität die Wissenschaften auf ihr Verhältnis zu Fortschritt und Tradition befragt werden sollen, so scheint solche Absicht symptomatisch für das Verständnis von Wissenschaft in dieser Öffentlichkeit zu sein, denn zweifellos wird von der Durchführung solcher Absicht erwartet, daß die Wissenschaft in der Lage ist, ihr Verhältnis zum Gestern und Morgen jener Gesellschaft präzise anzugeben, der sie in ihrer Entfaltung verbunden ist. Es ist der geschichtliche Entfaltungsprozeß der Gesellschaft selber in eine noch offene Zukunft hinein, für den die Wissenschaft ihre Verantwortung im Zuge einer Selbstbesinnung bekennen soll. Der Soziologe nun, angesichts solcher Erwartungen, aufgefordert, seine Wissenschaft in ihrem Verhältnis zu Fortschritt und Tradition zu bestimmen, gerät dabei in nicht geringe Verlegenheit. Statt Fortschritt und Tradition unmittelbar als die zwei Pole eines dynamischen Entwicklungszusammenhanges begreifen zu können, zwischen denen sich seine Wissenschaft als solche entfaltet, ist er vielmehr gezwungen, vorweg eine Feststellung zu treffen, die einen seiner Wissenschaft in besonderem Maße eigenen Sachverhalt bezeichnet: die Idee von Fortschritt ist selbst ein traditionales Element der Soziologie. Aus der geschichtlichen Entfaltung der Soziologie als eigenständiger Wissenschaft ist die Idee von Fortschritt nicht wegzudenken, auf die sie sich stets bezogen hat. Nicht nur hat die Soziologie sich von jeher als ein Element des Fortschritts, und zwar der Gesellschaft als Ganzer ebenso wie auch des Bewußtseins von ihr, begriffen; die Fortschrittsidee war vielmehr darüber hinaus auch in weitem Maße konstitutives Element für die Begründung der Soziologie als

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Soziologie zwischen Fortschritt und Tradition selbständiger Wissenschaft überhaupt. Eben deshalb jedoch ist in der Soziologie Fortschritt alles andere denn Antithese zur Tradition. Vielmehr muß die Fortschrittsidee von vornherein als jenes traditionale Element der Soziologie angesehen werden, das ihr Selbstbewußtsein begründet, das ihr die eigene Geschichte allererst als Tradition im eigentlichen Sinne bestimmt und das ihr zugleich Anlaß dafür sein kann und muß, sich selbst in ihrer jeweiligen konkreten Gestalt mit dem zu konfrontieren, was sie zu sein und zu leisten vorgibt. Die Fortschrittsidee als traditionales Element der Soziologie verleiht dieser einen Anspruch, der ihr sachnotwendig zum Maßstab immanenter Selbstkritik werden muß. Das heißt, es ist nicht Fortschritt in der Soziologie gegen Tradition auszuspielen, sondern es ist der in der Tradition der Soziologie seit je bedeutsame Anspruch, sie sei Element des gesellschaftlichen Fortschritts, beim Wort zu nehmen und als Maßstab der Kritik ihrer Entfaltung, als Maßstab der Wertung von Geschichte und Prozeß dieser Wissenschaft zu bewähren. Es ist die Soziologie in ihrem Werden an ihrer eigenen Idee zu messen, um darüber befinden zu können, was in ihr und in bezug auf sie Fortschritt heißen kann. Ein solches Vorgehen jedoch zwingt zur geschichtlich sich orientierenden Verständigung darüber, als was Soziologie sich in ihrem Ursprung begriff. Die Frage nach Ursprung und Motiv der Soziologie erfolgt dabei aber nicht um der Bewußtmachung historischer Sachverhalte willen, sondern sie dient eben allein dem Ziel, den Anspruch der Soziologie gegen seinen möglichen Verfall und sein mögliches Mißverständnis kritisch zu sichern. Der in diesem Zusammenhang notwendige Verweis auf Comte und den Positivismus als Schöpfer der Idee einer Soziologie als Gesellschaftswissenschaft erschöpft dabei zweifellos nicht, was die historische Besinnung zu leisten hat, aber er vermittelt Hinweise auf wesentliche Bestimmungen des ursprünglichen soziologischen Fortschrittsbegriffs. Soziologie, so wie Comte sie versteht und in seinem „Cours de philosophie positive" entwirft, soll positive Gesellschafts24

Soziologie zwischen Fortschritt und

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Wissenschaft sein. Positiv das heißt: sie soll in einer Oberwindung der Befangenheit menschlichen Nachdenkens über die Gesellschaft in religiösen Vorstellungen und philosophisch-metaphysisdien Spekulationen die Aufbau- und Ablaufgesetzlichkeit der Gesellschaft erkennen, wie sie ist und diese Erkenntnis zugleich nutzen zur Gestaltung der Gesellschaft gemäß der Idee savoir pour prévoir und prévoir pour regier. Soziologie als positive Wissenschaft soll auf diese Weise das Gesellschaftsbewußtsein zu einer den Naturwissenschaften gleichwertigen Objektivität der Sachverhaltsaussage ebenso befreien, wie zur Bewährung der so gearteten Erkenntnis in der gesellschaftsgestaltenden und "lenkenden Tat. Soziologie wird eben damit nach Comte zum Element des Fortschritts und zwar des Gesellschaftsbewußtseins ebenso wie der Gesellschaft selbst. Sie ist Fortschritt im Gesellschaftsbewußtsein insofern, als sie dieses aus religiösen und metaphysisch-philosophischen Vorurteilszusammenhängen löst, in denen es bisher befangen war, und es zur empirisch exakten Sachaussage befähigt; sie ist Garant und mitbewegende Kraft des Fortschritts der Gesellschaft insofern, als sie deren Entfaltungsgesetz erkennt und diese Erkenntnis in rationaler Planung und Organisation der Gesellschaft nutzbar macht. Sie ist Fortschritt als Verwirklichung einer Vernunft in der Gesellschaft gemäß den Prinzipien, die Vernunft als verbindlich in sich enthält: Glück, Sicherheit, Freiheit und Ordnung. Damit aber erweist sich der Fortschrittsbegriff des Comteschen Positivismus und damit auch seine Konzeption der Soziologie auf doppelte Art der Philosophie verbunden: Soziologie ist Erfüllung und Verwirklichung dessen, was Philosophie von jeher versprach und sie ist zugleich Überwindung der Philosophie in ihrer überlieferten Gestalt, die als metaphysische Spekulation dieses Versprechen nicht einzulösen vermochte. Soziologie ist Erfüllung der Philosophie, denn seit eh und je, seit ihren Anfängen in der griechischen Antike hat Philosophie danach gestrebt, mit dem theoretischen Entwurf einer gerechten und vernünftigen Gesellschaft diese zugleich zu verwirklichen, 25

Soziologie zwischen Fortschritt und

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Gedanke und Tat im Element der Gesellschaft als gerechter zu verbinden. Die Soziologie hält nach Comte an diesem verpflichtenden Erbe fest. Sie ist dabei aber zugleich auch Überwindung der Philosophie und verändert damit unter der H a n d eben dieses Erbe, zu dem sie sich bekennt. Sie überwindet die Philosophie in ihrer utopischen Gestalt, in ihrem Anspruch, gemäß normativen Ideen der spekulativen Vernunft das Sein der Gesellschaft gestalten zu können. Sie wendet sich dem Sein der Gesellschaft vielmehr als solchem mit empirischer Methodik zu, erkennt und konstatiert dessen Gesetzmäßigkeiten und leitet aus ihnen die Ziele möglicher Gestaltung und tätiger Ordnung der Gesellschaft ab. Gestaltung der Gesellschaft ist nicht mehr eine solche nach dem Entwurf der Vernunft, sondern sie ist bewußtes und regulierendes Verwirklichen von Gesetzmäßigkeiten und Tendenzen, die in der Gesellschaft als solche vorhanden sind. Die Fortschrittlichkeit der Soziologie, die in der Überwindung der traditionalen philosophischen Reflexion sich erfüllt, besteht also nach Comte im wesentlichen in der Überwindung der Dualität von Sein und Sollen der Gesellschaft. An seine Stelle tritt die Konstatierung des Faktischen ebenso, wie seine Anerkennung als Maßstab dessen, was in der Gesellschaft überhaupt möglich ist. Damit jedoch wendet sich der Fortschrittsbegriff und -ansprach der positivistischen Soziologie Comtes auf hintergründige, jedoch dauerhafte Weise gegen sich selbst; das als Fortschritt Deklarierte erstarrt in einem gesellschaftlich regressiven Konformismus. Indem sich die gesellschaftswissenschaftliche Reflexion infolge ihrer Ablehnung der Philosophie als Methode und Konzeption jede Frage nach dem Ganzen der Gesellschaft und ihrem Sinne versagt, ist sie gezwungen, das als Faktum Konstatierbare selbst als Sinn zu akzeptieren. Die Ausformung der Soziologie als positive, die Philosophie überwindende Einzelwissenschaft empirischer Struktur schließt ihre Abdankung als umfassende gesellschaftskritische Theorie ein und gipfelt in der Anerkennung des Bestehenden. Die Idee des Fortschritts, zu dem die Comtesche Soziologie sich bekennt, den sie jedoch pri26

Soziologie zwischen Fortschritt und Tradition mär als einen solchen in ihrer Methode zur empirischen Positivität hin begreift, zeitigt die gesellschaftliche Konsequenz, daß Soziologie zum Medium des Konservierens und Stabilisierens je schon bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse erstarrt, daß sie das faktisdie Sein der Gesellschaft als ihren nicht hintergehbaren Sinn anerkennt und Gesellschaft stets nur in dem zu bestätigen vermag, was sie ist1. Nicht zufällig drängt sich die Erinnerung an Hegel auf. Wo bei Hegel sich die Identität von Vernunft und Wirklichkeit im Staate darstellt, von dem er die Aufhebung der über die bürgerliche Gesellschaft hinaustreibenden Widersprüche erwartet, da glaubt Comte an solche Vereinbarung von Vernunft und Wirklichkeit gerade vermöge seiner und in seiner Soziologie. In ihr werden die gesellschaftlichen Widersprüche auf solche Weise in ein in sich widerspruchsloses Begriffssystem gebracht, daß von diesem nicht nur ihre wissenschaftliche sondern auch ihre realpolitische Aufhebung soll erwartet werden können. Damit aber ist in einer Hegel zumindest äußerlich ähnlichen Form die Funktion wissenschaftlicher Ratio auf die Sanktionierung des je Wirklichen als immer schon vernünftig festgelegt und eben deshalb verliert der Fortschrittsbegriff positivistischer Prägung jeden umfassend kritischen Impuls ebenso wie seinen dynamischen und gesellschaftsrevolutionierenden Akzent, der ihm in der Gestalt aufklärerischer Philosophie zukam 2 . Der Umschlag der sich progressiv verstehenden Soziologie in regressiven gesellschaftlichen Konformismus, wenn nicht sogar Konservatismus, formt bis in die Begriffe hinein den Positivismus des Comteschen Werkes. Er zeigt sich an den Begriffen von Empirie und Induktion ebenso wie an den Begriffen von gesellschaftsgestaltender Praxis und Gesellschaftskritik als vermeintlich wissenschaftlicher Aufklärung der Gesellschaft. Empirie und exakte Beobachtung werden, weil sie anders denn als bloße Konstatierung von singulären Erscheinungen und ebenso singulären Erscheinungszusammenhängen der Gesellschaft nicht gedacht sind, ohnmächtig, das Ganze der Gesellschaft als dynami27

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sehe Totalität im Blick zu halten. Die Gesellschaft ist damit der auf Empirie festgelegten Soziologie wenig mehr, als Summe von Regionen sozialer Verhaltungsweisen, Verbände und Verhältnisse. Sie gerinnt zum Konglomerat gesellschaftlicher Teilgebiete oder Sektoren, deren Zusammenhang oder Interdependenz sich dem erkennenden Zugriff sperrt. Dankt Soziologie jedoch auf diese Weise, d. h. infolge ihrer ausschließlichen methodischen Festlegung auf exakte Empirie des Singulären, als Theorie der Gesellschaft als ganzer ab, so bleibt diese sich selbst und ihrem blinden Vollzug überlassen. Die Gesellschaftsentwicklung muß immer schon als eine in sich geschlossene gedacht werden, damit sie von der Soziologie post festum auf ihre Gesetzmäßigkeiten gebracht werden kann. Eine kritische Funktion der Soziologie hat nur in diesem vorgegebenen Rahmen ihren Platz. Sie ist nicht Wertung der Gesellschaft als ganzer, verbietet sich doch eine solche Wertung jeder der Wertfreiheit huldigenden Methode exakter Tatsachenfeststellung und Empirie. Kritik ist vielmehr nichts anderes, denn in exakter Faktenanalyse gründende Aussage über bestehende Disproportionalitäten oder Unangepaßtheiten zwischen menschlichem Verhalten und ihm vorgegebenen, objektiven sozialen Instanzen und Ordnungen. Diese selbst in ihrem faktischen Sein bleiben von solcher Kritik unberührt, sind sie doch vielmehr die Bedingung ihrer Möglichkeit 3 . Der gesellschaftsgestaltenden Praxis, die die positivistische Soziologie zuläßt, ist durch solche Bestimmung von soziologischer Erkenntnis und Kritik eine sichtbare Grenze gezogen. Praxis als reale Gestaltung der Gesellschaft ist in Empirie wie Kritik gründende Beseitigung von Störungsfaktoren des reibungslosen Funktionierens der einzelnen sozialen Handlungsgefüge gemäß den faktischen Bedingungen und objektiven Möglichkeiten, die diese Gefüge in sich enthalten. Gesellschaftsgestaltende Praxis ist auf Herstellung einer sozialen Ordnung verwiesen, die ihr Funktionieren frei von Krisen und Revolutionen garantiert. So vermag Comte beispielsweise in sozialen Konflikten und in dem kritischen Bewußtsein von deren dynamischer Potenz

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lediglich Erscheinungen sozialer Krankeit zu sehen, Störungen des Gleichgewichts eines Systems, das — biologisch — nach dem Vorbild eines Organismus vorgestellt wird. Dieser Ansatz macht sich auch in Comtes grundlegender Unterscheidung zwischen sozialer Statik und Dynamik geltend. Die statischen, insbesondere institutionellen Elemente der Gesellschaft erhalten um ihrer vermeintlichen Dauer willen den Vorrang zuerkannt, während die dynamischen Momente der Gesellschaft, d. h. die jeweils besonderen, konkreten Abläufe des Gesellschaftsprozesses unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktion für die Erhaltung des Gleichgewichts des sozialen Organismus, den invarianten Strukturen nachgeordnet werden. Damit aber dringt die philosophische Tradition, die das Wesen mit dem Dauernden und das Vergängliche mit der bloßen Erscheinung gleichsetzt, gerade auch in die Soziologie ein. Indem Comte diesen Sachverhalt nicht zu reflektieren vermag, funktioniert der proklamierte Neutralismus seiner Soziologie hintergründig als gesellschaftskonservierendes und -stabilisierendes Element, denn Soziologie soll ja gerade dadurch an der Gestaltung einer vernünftigen Ordnung der Gesellschaft mitzuwirken in der Lage sein, daß sie solche Ordnung nicht in der Manier tradierter Philosophie utopisch als Idee antizipiert, nach der sich eine Wirklichkeit zu richten hat, sondern indem sie sich den faktischen Tendenzen der Gesellschaft einfügt, diese als Gesetz und Vernunft dieser Gesellschaft begreift und sie tätig organisierend von dem befreit, was ihrer Vollendung und ihrem vollkommenen Funktionieren entgegensteht 4 . Die Sanktionierung des Bestehenden in seinem faktischen Bestand als Norm, als Idee, die Sanktionierung des gesellschaftlich Wirklichen als vernünftig, sowie die Abdankung der Soziologie als umfassende und radikal-kritische Gesellschaftstheorie ist nicht zuletzt durch diese Bestimmung von Praxis in sich geschlossen. Gemessen an diesen Bestimmungen über Aufgabe und Funktion der Soziologie als die Philosophie überwindender und vollendender positiver Wissenschaft erscheinen die Aussagen Comtes über die Gestalt der idealen und damit zugleich fort29

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schrittlichen Gesellschaft der Zukunft völlig konsequent. Wenn er die überlieferten philosophiscli-naturrechtlidien Postúlate von Volkssouveränität und Demokratie sowie von Freiheit und Gleichheit als Fundamente einer menschenwürdigen politischsozialen Ordnung gerade als Keimzelle aller sozialen und politischen Anarchien der Moderne bezeichnet 5 , wenn er im Zuge der Ablehnung dieser Postúlate wieder mit besonderem Nachdruck den sozialen Ordnungsgedanken mit dem ständischen Hierarchieprinzip verbindet, und also einen unegalitären Freiheitsbegriff konzipiert 6 , wenn er schließlich die mit dem Entstehen des Proletariats als neuer sozialer Unterschicht sich stellende soziale Frage als eine solche der bloßen Besserung der Lebenslage der Proletarier bei Aufrechterhaltung der bürgerlichen Klassenherrschaft bezeichnet, wenn er von der Soziologie erwartet, daß gerade sie jeden revolutionären Einbruch der Unterklasse in das hierarchische Klassen- oder Standesgefüge der neuen Industriegesellschaft unterbinden helfe 7 und wenn er schließlich die Garantie für soziale Sicherheit und Ordnung in der weisen Herrschaft von durch Soziologen beratenen Bankiers und industriellen Großunternehmern erblickt, dann bekennt sidi der an den methodischen Bestimmungen der Soziologie aufgewiesene Konformismus Comtes offen als politischer Konservatismus 8 . Der Konservatismus Comtes jedoch steht nicht im Dienste einer politisch-feudalistischen Restauration — obwohl es in seinem Werk durchaus Gedanken gibt, die der Verehrung des feudalständischen Mittelalters durch die deutsche Romantik recht verwandt sind — sein Konservatismus ist bürgerlich. E r steht im Dienste der Rechtfertigung einer sich im Vollzug der Entwicklung der industriellen Wirtschaftsgesellschaft formierenden und konsolidierenden, neuen bürgerlich-sozialen Hierarchie. Gerade dies ist bedeutsam für unseren thematischen Zusammenhang: Comtes Entwurf einer Soziologie als positiver Gesellschaftswissenschaft erweist sich als Antwort auf die seit Beginn des vorigen Jahrhunderts immer sichtbarer werdenden inneren Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft, die nach Comtes 30

Soziologie zwischen Fortschritt und Tradition eigenen Worten die Gefahr der Selbstauflösung, der erneuten Revolution u n d damit audi der politisch-sozialen Anarchie in sich enthalten. Soziologie soll nach Comte zur Begründung einer gesellschaftlichen O r d n u n g beitragen, die diese Widersprüche institutionell so ausgleicht, daß sie Sicherheit, Glück, Frieden und Wohlstand garantiert. Sie wird damit Element des Fortschritts der Gesellschaft. Indem es jedoch Comte entsprechend seinem Begriff von Positivtät der Soziologie verbietet, in einer umfassenden, an einer Idee von menschenwürdiger Gesellschaft sich orientierenden, kritischen Reflexion den Bedingungen der gesellschaftlichen Widersprüdie und der Möglichkeit ihrer Aufhebung nachzusinnen, indem er sich auf eine Methode der puren, wertfreien Feststellung dessen, was in der Gesellschaft faktisch geschieht, festlegt, vermag die Soziologie die Gesellschaft nur noch zu bestätigen, wie sie ist. Ihr Beitrag zur Gestaltung einer angeblich neuen Gesellschaftsordnung erschöpft sich in der Konsolidierung der bestehenden. Angesichts des Bewußtseins davon jedoch, d a ß die innere Selbstgefährdung der bürgerlichen Gesellschaft im E n t stehen des Proletariats als sozialer Klasse gipfelt u n d ihre Widersprüche demzufolge vor allem im Antagonismus der Klassen beschlossen liegen, k a n n f ü r Comte Konsolidierung der Gesellschaft nur heißen: materielle Befriedigung der arbeitenden Massen bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Klassentrennung u n d der sozialen Herrschaftshierarchie. Konsolidierung solcher A r t schließt sachnotwendig das Abrücken von jener Idee einer Verwirklichung von Freiheit u n d Gleichheit in der Gesellschaft ein, die das Gestaltungselement des Bürgertums in seinem Kampf gegen die feudalen autoritären Mächte bildete. Konsolidierung der bürgerlichen Gesellschaft, wie Comte sie versteht, heißt Abfall dieser Gesellschaft von ihrer eigenen Idee und ihrem eigenen Ursprung. Indem die Soziologie dazu beiträgt, ja bewußt im Dienste solcher Konsolidierung steht, wird ihre vermeintlich progressive Funktion regressiv, wenn nicht reaktionär. Indem die Soziologie nach Comte es sich verbieten muß, 31

Soziologie zwischen Fortschritt und Tradition auf den Widerspruch von Idee und Realität der bürgerlichen Gesellschaft einzugehen, vielmehr gehalten ist, lediglich Funktionsstörungen in der realen Gesellschaft zu konstatieren und Mittel zur Abhilfe zu empfehlen, wird ihre Kritik an der bestehenden Gesellschaft zu deren hintergründiger Apologie. Mit diesen Feststellungen jedoch gewinnt die Thematik dieser Vortragsreihe für die Soziologie besondere Akzente. Nicht nur die traditionale Berufung der Soziologie auf die Fortschrittsidee ist festzustellen, sondern zugleich auch die innere Problematik dieser Berufung, die sich im Umschlag von Fortschritt und Kritik in regressiven Konformismus offenbart. Nicht ein Gegensatz von Fortschritt und Tradition ist f ü r die Soziologie bezeichnend, sondern das ihre eigene Geschichte und Tradition bestimmende Verhältnis von Kritik und Konformismus, Fortschritt und Reaktion. Konnte dieses für die Soziologie bestimmende Spannungsverhältnis an jenem Selbstverständnis des Comteschen Werkes aufgewiesen werden, das ihre Gestalt als positive Gesellschaftswissenschaft begründet, so kommt ihm doch eine über den historischen Ursprung der Soziologie hinausweisende Bedeutung zu. Wo immer Soziologie sich selbst und ihre Aufgaben gemäß den Axiomen positivistischer Tradition begreift, trägt sie jenes Element eines gesellschaftlichen Konformismus in sich. Ihr deklamatorisches Sichberufen auf den Fortschritt wird jedoch damit in sich genau so fragwürdig, wie im Werke von Comte selbst. Wenn etwa die Soziologie heute, indem sie sich als empirische Gesellschaftswissenschaft bestimmt, die Idee von Fortschritt fast nur noch im methodologischen Sinne begreift, wenn sie ihren Fortschritt als Wissenschaft fast ausschließlich in der Verfeinerung und methodischen Sicherung empirischer Erhebungs- und Beobachtungsverfahren erblickt, wenn ihr demzufolge die Empirie als Methode zum fast einzigen Signum ihrer eigenen Fortschrittlichkeit wird, so steht sie zweifellos im Banne des Positivismus und anerkennt diesen als gültige Tradition. Sie verabsolutiert dabei zugleich das eine Element dieser Tradition, näm32

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lieh die Ablehnung der Philosophie als sozial fruchtloser Spekulation, in einer Art und Weise, die die Berufung auf den Positivismus als recht vordergründig erscheinen läßt. Erhob bei Comte die Festlegung der Soziologie auf die den Naturwissenschaften analog gedachte Methode der induktiven Empirie noch den Anspruch, das Erbe der Philosophie anzutreten, Mittel rationaler Gesellschaftsordnung und somit Element des gesellschaftlichen Fortschritts zu sein, war der Comtesche Fortschrittsbegriff also bei aller methodologischen Fassung noch immer geschichtsphilosophisch fundiert, so entfällt gerade dies in der zeitgenössischen empirischen Sozialforschung fast ganz. Ihr aufs Methodologische vereidigter Fortschrittsbegriff ist gesellschaftlich neutralisiert. Gerade dies aber offenbart um so nachhaltiger ihre gesellschaftlich-konformistische und nicht fortschrittliche Funktion*. Die empirische Sozialforschung versagt sich heute, gemäß ihrem eigenen Selbstverständnis, jede Konzeption der Gesellschaft als dynamischer Totalität. Sie bleibt vielmehr den je faktisdi-singulären Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens zugewandt. Sie will dieses in seinem faktischen Sein erkennen, d. h. empirisch-voraussetzungslos konstatieren, wie es ist. Und sie vermeint zugleich, durch Ordnung, Klassifikation und Generalisierung etwas über die Gesellschaft als ganze und deren Struktur ausmachen zu können. Die angeblich voraussetzungslose Empirie des je Besonderen als bloße Feststellung dessen, was der Fall ist, soll, so wird erwartet, durch Sammlung und Vergleich die Theorie der Gesellschaft ermöglichen. Sie, die Empirie, habe der Theorie vorauszugehen und sei ihr Fundament. Da jedoch für die sozialen Sachverhalte der Schluß vom Partiellen auf das Ganze gemäß dem methodischen Modell reiner Induktion kaum gelingt, weil das objektive Strukturgefüge der Gesellschaft die disparaten sozialen Fakten übersteigt und ihrerseits determiniert, bleibt das Ganze der Gesellschaft theoretisch unbewältigt, verfehlt die soziologische Empirie mit ihren Erhebungstechniken ihr eigenes Objekt: die Gesellschaft. An die Stelle der Gesellschaft als Erkenntnisobjekt tritt „das Gesell-

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Soziologie zwischen Fortschritt und Tradition schaftliche 10 ", das freilich kaum mehr ist als die Summe der sozialen Regionen oder Bereiche, in denen sich soziales Verhalten vollzieht. Ist jedoch auf diese Weise das Objekt der empirischen Soziologie bestimmt, so ist über die Bedeutung des empirisch Erkannten f ü r eine umfassende Gesellschaftsorientierung kaum noch etwas auszumachen. Paradoxerweise aber mit innerer Notwendigkeit schlägt die Forderung nach exakt überprüfbarer GleitUngültigkeit empirisch-soziologischer Erkenntnis in eine soziologische, d. h. f ü r die Theorie der Gesellschaft irrelevante G/eicfcgültigkeit eben dieser Erkenntnis um. Der vermeintliche Fortschritt der Methode verliert sein Gewicht und mehr als dies. Indem die empirische Soziologie jede unmittelbar auf das Ganze der Gesellschaft zielende Erkenntnis als Rückfall in eine überwundene müßige philosophische Spekulation ablehnt, indem sie vielmehr auf der strengen Arbeitsteilung und Kompetenzabgrenzung zwischen unverbindlicher Sozialphilosophie und empirisch-exakter und wissenschaftlich verbindlicher Soziologie besteht, — eine Trennung, der zeitgenössisches Philosophieren z. T. seinerseits entgegenkommt —, tabuiert sie zugleich die disparaten sozialen Fakten als unhintergehbare gegenständliche Gegebenheiten. Das f ü h r t einerseits dazu, daß Erkenntnis zur bloß verdoppelnden Widerspiegelung der je faktischen Gesellschaft verkommt und diese als fraglos gültig bestätigt. Die Interdependenz je herrschender sozialer Mächte im Ganzen der Gesellschaft, sowie deren Konkurrenz, wird vor dem erkennenden Zugriff geschützt, was sie als solche ihrem blinden Sich-Auswirken überläßt. Die Bestätigung dessen, was ist, durch empirische Erkenntnis dient zugleich seiner gesellschaftlichen Sanktionierung. Darüber hinaus hängt die empirische Sozialforschung einem naiven Erfahrungsbegriff an, nach dem Erfahrung theoretisch voraussetzungslos gewonnen werden kann. Die Unhaltbarkeit eines solchen Begriffes von Erfahrung, sowie das Wissen um die Notwendigkeit theoretischer Antizipationen als kategorialer Bedingungen f ü r die Möglichkeit von Erfahrung überhaupt, gehört zwar seit Kant in die 34

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Tradition

Kinderstube der Erkenntnistheorie, ist aber in der empirischen Sozialforschung kaum hinreichend bewußt 11 . Das führt andererseits dazu, daß die gerade als voraussetzungslos deklarierte Erfahrung der empirischen Sozialforschung in einem recht handfesten, aber zumeist unreflektierten theoretischen Axiom gründet, in einem Axiom, das das reibungslose Funktionieren der bestehenden Sozialinstitutionen als allein gültigen Maßstab anerkennt und in der vollkommenen Angepaßtheit des Menschen an die durch die Gesellschaft vorgegebenen Verhaltensschemata das einzige Problem der Gesellschaft wie ebenso ihrer wissenschaftlichen Erfahrung sieht. Der Begriff der Anpassung spielt daher in der empirischen Soziologie und zumal in der amerikanischen nicht zufällig eine entscheidende R o l l e " . Paradigmatisch dafür, daß sich demzufolge auch die praktische Bedeutung der empirischen Soziologie voll im Rahmen der positivistischen Tradition hält, ist die amerikanische Theorie vom cultural lag 13 . In ihr gibt sich das Bewußtsein seinen Ausdruck, daß, gemessen am technisch-industriellen Fortschritt in Naturbeherrschung und Daseinsbewältigung, die sozialen Organisationen und Institutionen mit diesem Fortschritt nicht Schritt gehalten haben, sondern nachhinken. Das Maß an Rationalität, das den technischen Fortschritt bestimmt, ist im Bereich der institutionellen Regelung menschlich-sozialen Verhaltens noch nicht erreicht. Gerade die Entfaltung der Rationalität auch in diesen Bereichen sei daher die entscheidende Aufgabe der Gegenwart. Die Entfaltung solcher Rationalität im Sozialen soll jedoch gerade in der soziologischen Empirie ihre Grundlage haben. Das empirisch fundierte Wissen um die Institutionen der Gesellschaft und die durch sie vorgegebenen Verhaltenszwänge soll die harmonische Einpassung des Menschen in sie garantieren und auf diese Weise Funktionsstörungen in der Gesellschaft beseitigen. Empirisch-wissenschaftlich fundierte Sozialpraxis wird, wie schon bei Comte, zum Fundament der Sicherung der Gesellschaft, wie sie ist. Sie akzeptiert die bestehende Gesellschaft als Norm ihrer eigenen Leistung und reduziert diese auf den Ent-

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wurf gesellschaftsadäquater Anpassungstechniken zur Beseitigung von Störungen im Bestehenden. Die zunächst so attraktive soziologische Theorie vom cultural lag, in der sich der Glaube an die Fortschrittlichkeit der empirischen Methode mit dem Glauben an den Beitrag dieser Methode zum Fortschritt der Gesellschaft sinnvoll verbindet, erfüllt eine gesellschaftskonformistische Funktion. Dennoch darf nicht unerwähnt bleiben, daß in der amerikanischen Soziologie sich heute starke Widerstände gegen diesen konformistischen Positivismus finden. Die Einengung des Begriffs rationaler Gesellschaftslenkung auf die Anpassung des Menschen an durch Institutionen vorgegebene Verhaltensmuster wird in sich fragwürdig. Es bricht das Bewußtsein auf, daß Sinn, Ziel und Vernunft von Gesellschaft sich nicht im reibungslosen Funktionieren je bestehender institutioneller Ordnungen erschöpfen kann, da es den Menschen selbst auf bloße Funktionen reduziert. Es scheint sich Soziologie in Amerika wieder zur umfassenden, philosophisch fundierten und gebundenen Sozialkritik zu befreien, die in der Lage ist, die bestehenden gesellschaftlichen Prozesse an dem zu messen, was sie zu sein vorgeben: Ordnungen zur Entfaltung und Bewahrung von Menschenwürde und Individualität. Bezeichnend dafür ist etwa, daß Robert Lynd — selbst ein bedeutender Vertreter der amerikanischen empirischen Sozialforschung — dieser in einem Buch die radikale Frage vorlegen kann: knowledge for what 14 ? Wenn er darin die Situation des amerikanischen Soziologen kennzeichnet als das Stehen zwischen der Forderung nach gradlinigem, scharfem und wenn nötig radikal abweichendem Denken und der Forderung, sein Denken solle nicht umstürzlerisch sein, so macht er damit ja nur bewußt, daß gesellschaftlicher Konformismus nicht das letzte Wort und der einzige Wert soziologischen Denkens sein kann. Er deutet an, daß Soziologie zu jenen Ursprüngen der Fortschrittsidee zurückfinden muß, die Fortschritt als Verwirklichung von Vernunft und Menschenwürde in der Gesellschaft begreift. 36

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In der deutschen Soziologie der Gegenwart, soweit sie sidi nach dem zweiten Weltkrieg in ihren Repräsentanten zur empirischen Methodik bekennt und diese weitgehend in ihrer durch die amerikanische Soziologie entwickelten Gestalt übernommen hat, und dies ist fast ausnahmslos der Fall, ist von einem solchen Bewußtsein der inneren Problematik der gesellschaftlichen Rolle der empirischen Sozialforschung kaum etwas zu spüren. Sie funktioniert — im wesentlichen ohne die Spur einer kritischen Selbstreflexion — reibungslos als Instrument des gesellschaftlichen und zu einem erheblichen Teil sogar politischen Konformismus. Sie ist zwar bemüht, sidi von der spezifischen Tradition der deutschen Soziologie, die Soziologie als Geisteswissenschaft begriff, zu distanzieren, setzt aber gerade in diesem Bemühen auf hintergründige Weise spezifische, nämlich gesellschaftskonservierende Funktionen eben dieser Tradition fort. Die Tradition der deutschen Soziologie ist weit weniger auf einen einheitlichen Nenner zu bringen als die angelsächsische. Selbst die Idee von Fortschritt spielt in ihrer Ausbildung nur eine untergeordnete Rolle. Dennoch ist auch sie einer Idee von Fortschritt verbunden. Aber im Unterschied zur Verbindlichkeit der positivistischen Fortschrittsidee für die angelsächsische Soziologie, und zugleich im Unterschied zu deren Abgrenzung der Soziologie gegen die Philosophie ist für die inhaltliche Bestimmung des Fortschrittsbegriffs der deutschen Soziologie in entscheidendem Maße die Auseinandersetzung mit Marx maßgebend. Insofern jedoch als dieser seine Analyse der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Antagonismen als philosophisch-kritische Theorie einer konkreten historischen Wirklichkeit vorlegt, insofern also als sein Werk historisch und dabei zugleich revolutionär ist, wird für das Selbstverständnis der deutschen Soziologie vor allem ihre Abgrenzung gegen Geisteswissenschaft und Geschichtsphilosophie maßgebend, wie ebenso die Bestimmung ihres Verhältnisses zur gesellschaflsverändernden Praxis. Und weiter: hatte Marx expressis verbis sich zum Fortschritt in der Gesellschaft bekannt und die kritische Theorie der Gesellschaft im 37

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Sinne ihrer Selbstaufklärung als Element dieses gesellschaftlichen Fortschritts verstanden, so mußten konsequenterweise auch die aus der Auseinandersetzung mit ihm gewonnenen Positionen der Soziologie sich gemäß einem Begriff von Fortschritt verstehen. Marx schließt bekanntlich in seinem Denken unmittelbar sowohl an Hegel als auch an die Freiheitsphilosophie der Aufklärung an. Ist für ihn aus der Philosophie Hegels insbesondere das Postulat einer Identität von Vernunft und Wirklichkeit relevant, so erweist sich das für sein Denken verbindliche Erbe der Aufklärung zumal darin, daß Verwirklichung der Vernunft als realer Gestaltung von Freiheit und Gleichheit in der Gesellschaft begriffen wird. Die Gesellschaft jedoch, die Marx gemäß dem Postulat einer Verwirklichung der Vernunft als Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit des Menschen analysiert, ist für ihn selbst etwas höchst Konkretes und Historisches: es ist die kapitalistisch-industrielle Wirtschaftsordnung, die sich zunehmend vom Staat emanzipiert und in dieser Emanzipation das zu bewältigende Schicksal menschlicher Existenz ist. Dieser historisch-konkrete Gesellschaftsbegriff Marxens macht es ihm unmöglich, bei den politischen Freiheits- und Gleichheitspostulaten der Aufklärungsphilosophie stehenzubleiben. Ebensowenig kann von ihm noch die Hegeische Staatstheorie, die dem Staat die Funktion der Aufhebung und sinnlichen Verklärung des bedürfnisgebundenen Egoismus der bürgerlichen Gesellschaft zuerkennt, als Lösungsversuch angenommen werden. Das zentrale Thema der Marx'schen Gesellschaftsanalyse ist dabei zweifellos von einem philosophisch-anthropologischen Fundament getragen: es ist die Aufgabe des Menschen als Mensch, seine wahre Wirklichkeit zu suchen und zu finden, d. h. sich als Mensch in Freiheit und Gleichheit zu verwirklichen, sich zu emanzipieren von allem, was seiner Wahrheit als Mensch, seiner Freiheit und Gleichheit entgegensteht. Finden der wahren Wirklichkeit ist daher alles andere als ein bloß theoretischer Akt, ein Akt des bloßen Begreifens. Suchen und Finden der Wahrheit menschlicher Existenz ist notwendig verändernde Gestaltung 38

Soziologie zwischen Fortschritt und Tradition ihrer Gesellschaftlichen Ordnung. Finden der Wahrheit ist V e r änderung der Wirklichkeit, die ihr entgegensteht; aber diese V e r änderung ist alles andere denn willkürliche revolutionäre Praxis. Sie ist reale Erfüllung dessen, was dem Menschen aufgegeben ist, sie ist seine Verwirklichung. Diese anthropologischen Konzeptionen Marxens begründen, warum seine Theorie der Gesellschaft diese unter dem Aspekt ihrer verändernden und gestaltenden Erfüllung sieht und zugleich radikale K r i t i k der Gesellschaft ist. K r i t i k der Gesellschaft — an der Idee der Emanzipation des Menschen sich orientierend — ist aber für M a r x notwendig auch K r i t i k an der bloßen politischen Emanzipation, wie sie sich in der frz. Revolution und der Deklaration der Menschenrechte erfüllte. Formte sich das Bürgertum im 18. J h r d . zur politischen Klasse, indem es gegen die alten feudalen Mächte und Autoritäten die Forderungen nach staatsbürgerlicher Gleichheit und Freiheit erhob und durchsetzte, so vermeinte es zugleich, daß mit der politischen Gleichheit und Freiheit auch die gesellschaftliche verwirklicht sei. Hintergründig bewirkte diese Selbstbeschränkung der bürgerlichen Revolution aufs Politische eine Distanzierung von S t a a t und Gesellschaft, von citoyen und bourgois, von Staatsbürger und Privatmensch. Die Folge war, d a ß sich die politischen Freiheits- und Gleichheitsgarantien als Fundamente eines unbegrenzten Egoismus der Privatinteressen in der bürgerlichen Gesellschaft bewährten. Zumal die mit den politischen Freiheits- und Gleichheitsgarantien verbundene Sicherung des Privateigentums durch den S t a a t und vor dem Staat bewirkt, daß die Gesellschaft zu einer Ordnung rigoroser Interessenkonkurrenz erstarrt, in der der Mensch sich selbst zum bloßen Mittel herabwürdigt und die demzufolge Element totaler gesellschaftlicher Unfreiheit wird. Die politische E m a n zipation des Menschen, sofern sie sich aufs bloß Politische und Rechtliche beschränkt, bleibt damit nicht nur formal, sondern verkehrt sich in das Gegenteil von dem, was Freiheit und Gleichheit als Selbstverwirklichung des Menschen allein sinnvoll heißen 39

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kann. Jedes Bewußtsein, das sich dieser Einsicht sperrt und vielmehr an der Idee politischer Gleidiheit als Garantie der gesellschaftlichen Freiheit festhält, wie ebenso an der Idee des Staates als Instanz der Überwindung des Privategoismus, fällt hinter den Stand der Verhältnisse zurück, an denen die Idee der Emanzipation des Menschen zu messen und zu bewähren ist. Sie wird zur Ideologie, zur sanktionierenden Rechtfertigung eben der Gesellschaft, die als bürgerliche der Vollendung der politischen Emanzipation in einer umfassend gesellschaftlichen entgegensteht. Insofern als die volle Emanzipation des Menschen in der Gesellschaft aber allein Fortschritt heißen kann, wird solch ein ideologisches Bewußtsein reaktionär. Soweit die kritischen Denkansätze in Marxens Sozialtheorie, die in einer besonderen Weise das Erbe der aufklärerischen Freiheitsphilosophie aufnehmen und verarbeiten und die zugleich begründen, warum Marx die Gesellschaft von vornherein unter dem Aspekt ihrer erfüllenden Veränderung sieht, warum seine Theorie revolutionär ist. Soll dieser revolutionäre Impuls aber nicht bloßes utopisches Postulat bleiben, dann muß es gelingen, jenes in der Dynamik der Gesellschaft wirkende Agens durch Analyse bewußt zu machen, das das Erstarren der Gesellschaft in einem Entfremdungszusammenhang bewirkt, das das Verfallen des Bewußtseins in einen ideologischen Verblendungszusammenhang bedingt und das zugleich Elemente einer fortschrittlichen Veränderung dieser Gesellschaft aus sich selbst heraus in sich enthält. Die zu diesem Zweck von Marx durchgeführte Analyse ist verständlicherweise auf die konkrete Gesellschaft des industriellen Kapitalismus bezogen. Sie ist Analyse und Theorie, oder wie es auch heißt: Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft. Demzufolge wird das Agens ihrer historischen Dynamik in der Ökonomie gefunden. Die Produktionsverhältnisse sowie der Klassenantagonismus erscheinen als das die Gesellschaft Bestimmende, die ihr zugleich die Eigenbedeutung gegenüber dem Staat verleihen. Die Gesetze dieser Ökonomie sind es, die die Gesamtwirklichkeit des Menschen in gesellschaft40

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licher, politischer und kultureller Ordnung inhaltlich prägen. Insofern, als diese ökonomisch-sozialen Gesetze sich in der Entfaltung von Privateigentum an Produktionsmitteln und organisierter Arbeitsteilung auswirken, sind diese die Bedingungen für die Selbstentfremdung des Menschen in Arbeit und Gesellschaft, für seine unwahre Existenz. Zugleich sind die so gekennzeichneten gesellschaftlichen Verhältnisse die primäre Realität, von der alle andere Realität funktional abhängt, was zu der bekannten These von der Abhängigkeit des Bewußtseins vom gesellschaftlichen Sein führt. In ihr ist zugleich die Antwort nach den Ursachen des Verfalls des Bewußtseins in einen ideologischen Verblendungszusammenhang zu sehen. Hängt alles Bewußtsein als funktionaler Reflex vom gesellschaftlichen Sein ab, dann bewirkt eine — gemessen an der Idee der vollen Emanzipation des Menschen — unwahre gesellschaftliche Wirklichkeit ein ihr zugehörendes unwahres Bewußtsein. Die Unwahrheit von Wirklichkeit und Bewußtsein der bürgerlichen Gesellschaft jedoch manifestiert sich in der gesellschaftlichen Gestalt des Proletariers und in der Existenz des Proletariats als Klasse. Obwohl Bedingung für das Funktionieren der kapitalistisch-industriellen Produktion, ist der Proletarier zugleich der gesteigerte Ausdruck ihrer inneren Prinzipien: der Degradierung des Menschen zur Sache, sowie der Ausdruck ihrer inneren Widersprüche: der Verdinglidiung und Entfremdung des Menschen unter gleichzeitiger Berufung auf die Verwirklichung seiner Freiheit und Gleichheit, seiner Selbstgewinnung in der politischen Ordnung. Auch für das Proletariat jedoch gilt der funktionale Zusammenhang von gesellschaftlichem Sein und Bewußtsein; es wird daher, sofern es seine Existenz und deren Bedingungen begreift, zu der Instanz, die die Gesellschaft über sidi selbst hinauszuheben, der Vollendung entgegenzuführen vermag, wobei es freilich zugleich sich selbst als Proletariat aufhebt. Das Proletariat vermag damit in einer Selbstüberwindung zu erfüllen, was das Bürgertum versprach, aber nicht einzuhalten vermochte. Es vollendet die bürgerliche Revolution als menschliche. 41

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Die Voraussetzungen dieser kritischen Gesellschaftstheorie Marxens sind nun in mannigfacher Weise für die Ausbildung der deutschen Soziologie als eigenständiger Wissenschaft bestimmend geworden 15 . Diese Voraussetzungen sind: 1. das Postulat der notwendigen Emanzipation des Menschen als seiner Selbstverwirklichung in der Gesellschaft wird zur Bedingung der möglichen Analyse der Gesellschaft. 2. Diese Analyse zwingt zur Unterscheidung zwischen politischer und menschlicher Emanzipation und damit zur Abgrenzung von Staat und Gesellschaft. 3. Die Gesellschaft als System der Bedürfnisse hat ihr Fundament in der Ökonomie, was die Differenzierung der Lebenswirklichkeit des Menschen nach funktional aufeinanderbezogenen Wirkungszusammenhängen, nämlich Sein und Bewußtsein zur Folge hat 16 . Für die Auswirkungen dieser Voraussetzungen Marxschen Denkens auf das Werden der deutschen Soziologie ist jedoch entscheidend, daß Marx selbst seine kritische Theorie im „Kommunistischen Manifest" zu einem erheblichen Teil dogmatisiert. Was Voraussetzung der kritischen Analyse einer konkreten historischen Situation, nämlich der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, ihrer Ökonomie und ihrer inneren Widersprüche war, wird zu einer universalhistorischen Geschichtsmetaphysik ausgeformt. Die Produktionsverhältnisse erhalten eine gleichsam metaphysische Weihe, der Klassenantagonismus wird zum geschichtlichen Wirkfaktor schlechthin. Die These einer Abhängigkeit des Bewußtseins vom Sein wird zur universalhistorischen Methode. Damit löst sich die kritische Theorie Marxens, die Selbstaufklärung einer konkreten Gesellschaft, nämlich der bürgerlichen, über ihre Widersprüche und zugleich Element von deren Aufhebung sein wollte, nicht nur in dogmatischer Philosophie einerseits und einseitige, nämlich ökonomische Geschichtsinterpretation andererseits auf. Ihr Anspruch darauf, als Element der Selbstaufklärung der Gesellschaft zugleich Bedingung ihres tatsächlichen Fortschritts zu sein, wird in sich selbst fragwürdig. Die Theorie, die einer besonderen historisch-sozialen 42

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Situation zum kritischen Selbstbewußtsein verhelfen soll, wird, gerade indem sie sich als universalhistorische Methode anbietet, in sich auf seltsame Weise unhistorisch. Gerade diese zum historischen Materialismus dogmatisierte Gestalt der Marxschen Theorie wird der Gegenstand der Auseinandersetzung, innerhalb deren sich die deutsche Soziologie entfaltet. Ihre Thematik ist ihr damit auf eigentümliche Weise vorbestimmt: sie ist bemüht, in analog unhistorischer Weise ihr Objekt, die Gesellschaft, in ihrer Struktur und Dynamik aus einigen wenigen Grundgesetzlichkeiten zu bestimmen, und sie versucht zugleich — wo sie an der von Marx aufgewiesenen Problematik der modernen Gesellschaft nicht vorbeisieht — diese Problematik mit solchen weitgehend formalisierten Grundbegriffen zu bewältigen. Dies gilt zunächst von Ferdinand Tönnies, der mit seinem Buch „Gemeinschaft und Gesellschaft" für lange Zeit einer der einflußreichsten Denker für die Entwicklung der deutschen Soziologie war 17 . Der Marxschen K r i tik an der kapitalistisch-industriellen Gesellschaft, sowie seiner Forderung nach einer Selbstverwirklichung des Menschen in der Gesellschaft durchaus verbunden, sucht er sie auf eine neue theoretische Grundlage zu stellen. E r findet diese in der Gegenüberstellung von Gesellschaft und Gemeinschaft, die er als in einer Verschiedenartigkeit des menschlichen Willens, dem Wesens- und dem Kürwillen, begründet anerkennt, wobei das gesellschaftliche Verbandsprinzip einen mechanischen, das gemeinschaftliche dagegen einen organischen Charakter habe. Beide Begriffe sollen heterogene soziale Ordnungsprinzipien überhistorischer Bedeutung bezeichnen, aus denen je singulares soziales Geschehen abgeleitet und begriffen werden kann. Dabei steht für Tönnies von vornherein fest, daß die Gesellschaft als in mechanischen Prinzipien gegründet die in ihr gebundenen Menschen nur partiell verbindet, ihrer Existenz daher zwar notwendig, aber ihrer personalen Entfaltung nur akzidentell sei. Im Unterschied dazu ist Gemeinschaft die der Entfaltung des Menschen als Person adäquate Verbandsform, da sie ihn über 43

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die Isoliertheit interessengebundener Subjektivität erhebt zur Einheit und Allgemeinheit eines Wir. Auf diese Weise kann die Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft für Tönnies zu einer Marx analogen scharfen Kritik am Kapitalismus werden. Da sie aber den Kapitalismus nur als Fall des gesellschaftlichen Prinzips überhaupt zu begreifen vermag, und somit seine besonderen historischen Bedingungen übersehen muß, bleibt sie unhistorisch und als Kritik, wenn nicht vordergründig, so doch romantisch und abstrakt. Der Fortschritt über Marx hinaus, der zumal in der Überwindung des Denkens im Klassenmodell durch ein Denken nach dem Modell „Gemeinschaft— Gesellschaft" bestehen soll, fällt auf diese Weise hinter jene Stufe des soziologischen Denkens zurück, die in den Marxsdien Denkansätzen schon erreicht, wenn auch von ihm selbst schon dogmatisch verbogen war: Analyse einer gesellschaftlichen Wirklichkeit in ihrer historisch konkreten Struktur und Beurteilung dieser Realität gemäß einer anthropologischen Norm, auf die sich diese Gesellsdiafl selbst berief. Das Tönnies'sche Vorgehen, das mit unhistorischen Begriffen immerhin noch historisch orientierte Kritik der Gesellschaft leisten wollte, hat bekanntlich jene Schule der deutschen Soziologie befruchtet, die sich selbst als formale oder auch allgemeine Soziologie verstand. Gleichviel, ob die Repräsentanten dieser Riditung der deutschen Soziologie Fundamentalgesetzlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens aus einigen sozialen Grundtrieben und deren Kombination abzuleiten suchten, wie etwa Vierkandt, oder aber die Aufgabe der Soziologie in der Erforschung von Formen der Vergesellschaftung erblickten und unter diesen Beziehungen und Gebilde unterschieden, wie etwa Simmel und v. Wiese, sie alle suchen der Soziologie ein eigenes Erkenntnisobjekt zu gewinnen, indem sie die Gesellschaft radikal aus dem Element des Geschichtlichen herausheben. Die geschichtliche Dynamik wird zum bloßen Akzidentellen der Gesellschaft, oder, wie es bei Simmel heißt, zum bloßen Beispiel für die Bestätigung der Gültigkeit überzeitlicher, formaler Sozialphänomene. Wenn dabei etwa 44

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Simmel in den mit Hilfe seiner formalen Kategorien durchgeführten Analysen schließlich doch die Geschichtlichkeit der gesellschaftlichen Phänomene anzuerkennen gezwungen ist, so offenbart sich darin zwar die innere Widersprüchlichkeit des Beginnens der formalen Soziologie. Ihr Beginnen selbst jedoch, so wie sie es verstand, blieb davon unberührt. Die Leistung und Aufgabe der Soziologie sollte sich dahin erschöpfen, historischkonkrete gesellschaftliche Phänomene als Variation überzeitlicher Sozialgesetzlichkeiten zu erfassen. Ihre Methode war die der Subsumption des Historisch-Besonderen als Fall unter ein Überhistorisch-Allgemeines. Gesellschaft selbst aber erstarrte damit zur ständigen Wiederholung des ewig Gleichen. W a r damit die Soziologie im Verhältnis zur Geschichte zur Unfruchtbarkeit verurteilt, so versagte sie es sich zugleich, die Gesellschaft überhaupt noch unter dem Begriff eines möglichen Fortschrittes zu sehen. Das ursprüngliche Ziel von Tönnies war infolge seiner radikalen Übersteigerung ins Formale kurzerhand aus der Soziologie verbannt. Die Konsequenz bestand in einer Absicherung der tatsächlichen gesellschaftlichen Prozesse gegen jede Kritik. Die formale Soziologie funktionierte damit in ihrem Denkansatz — gleichviel, ob sie sich dessen bewußt war — analog dem angelsächsischen Positivismus als Element der fraglosen Bestätigung dieser faktischen Gesellschaft. Obwohl die deutsche Soziologie in diesem ihrem Selbstverständnis als formale nicht verharrte und gerade ein sinnvolles Verhältnis zur Geschichte wiederzugewinnen bemüht war, so blieb ihr doch für lange Zeit der Weg zu einer konkreten, kritischen Theorie der Gesellschaft versperrt. Darüber hinaus hat sie sich von gewissen Postulaten der formalen Soziologie, daß nämlich historisch-konkrete Sachzusammenhänge der Gesellschaft durch Messung an generellen Sozialgesetzlichkeiten zu begreifen seien, nur schwer zu befreien vermocht. Bestimmend dafür war einmal die zunehmend stärkere Anlehnung an die positivistische Forderung nach philosophischer Wertfreiheit und sogenannter Voraussetzungslosigkeit der soziologischen Er45

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kenntnis und des darin gründenden Urteils 18 . Bestimmend war weiter das Bestreben, Gesellschaft in ihren geschichtlichen Bedingungen gemäß einem universalhistorischen Entwicklungsgesetz zu begreifen, das gegen die Dogmatik des Marxschen historischen Materialismus abgrenzte. Und bestimmend war schließlich, daß sich schon bei Tönnies mit der Unterscheidung zwisdien Gesellschaft und Gemeinschaft die Unterscheidung zwischen Zivilisation und Kultur verband, die für die deutsche Soziologie immer stärkere Bedeutung gewann 18 . So stellt z. B. Max Weber — in bewußter Abgrenzung gegen die formale Soziologie — dieser die Aufgabe, die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer Eigenart aus ihren je besonderen historischen Bedingungen zu verstehen. Gemäß dieser Aufgabenstellung wendet er selbst sich einer Analyse des Kapitalismus zu, der für ihn ebenso wie für Marx die gesellschaftliche Wirklichkeit der Gegenwart darstellt. Die Analyse der historischen Bedingungen des Kapitalismus wird ihm dabei sachnotwendig Anlaß zur Auseinandersetzung mit dem historischmaterialistischen Dogma. Dennoch bleibt er an die Marxsche Unterscheidung zwischen gesellschaftlichen Sein und Bewußtsein gebunden, deutet jedoch das Abhängigkeitsverhältnis zwischen diesen beiden Bereichen grundsätzlich anders als Marx. Die These, daß der moderne Kapitalismus seine geschichtliche Voraussetzung in einer bestimmten geistigen Verhaltensweise, nämlich der Fähigkeit zur radikalen Rationalisierung des Lebens habe, und die These, daß diese Verhaltensweise zu ihrer gesellschaftlichen Durchsetzung bestimmter religiöser, nämlich protestantischer Fundamente bedurfte, führt bei Weber nicht nur zu breit angelegten Analysen über den Zusammenhang von Religion, Wirtschaftsethik und Gesellschaft, sondern darüber hinaus auch zur Konzeption einer universellen, historisch-soziologischen Methode, die im Gegensatz zu Marx von der Priorität des Bewußtseins gegenüber dem gesellschaftlichen Sein ausgeht. Seine Soziologie rückte jedoch von der historischen Konzeption schließlich ab, die sie in der Auseinandersetzung mit 46

Soziologie zwischen Fortschritt und Tradition Marx eingenommen hatte. Die Konsequenz war einmal eine Reduzierung der Soziologie auf Aufgaben einer Typologie sozialer Verhaltensstrukturen, die in der Durchführung zweifellos belangvolle Aussagen erbrachte, die aber das geschichtlich Besondere gesellschaftlicher Prozesse aus den Analysen der Soziologie wieder ausklammerte und in letzter Instanz schließlich in einem abstrakten Analogiedenken erstarrte. Die Konsequenz war weiter die Behauptung, daß sich die Soziologie von jeder aufs Ganze der Gesellschaft gehenden Kritik freihalten müsse. Indem eine solche Kritik als Wertung der Philosophie zugeschoben, diese zugleich als nichtwissenschaftlich und in letzter Instanz als metaphysischer Glaube deklariert wird, dankt die Webersche Soziologie als rationale Aufklärung der Gesellschaft als ganzer ab. Sie vergißt damit ihren eigenen Ursprung: gegen Marx zwar polemisierende, aber darum nicht weniger radikale und historisch-kritische Aufklärung der kapitalistischen Gesellschaft zu sein. Max Webers Bruder Alfred ist darin konsequenter: er hält nicht nur mit Nachdruck an der Idee einer Soziologie als historischer Wissenschaft fest, sondern zugleich auch an ihrer kritischen Aufgabe als sozial erhellender, aufklärender, Wege zur Gestaltung der Zukunft weisender Situationsanalyse. Die Grundbegriffe f ü r die Durchführung einer solchen Situationsanalyse ergeben sich ihm dabei aus der an Tönnies angeknüpften Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation. Zivilisation ist ihm Inbegriff aller die naturale Existenz des Menschen, sein Dasein erhaltenden und erweiternden oder steigernden Leistungen des lebensbezogenen Intellekts. Kultur ist ihm der gegen die Zivilisation deutlich abgrenzbare Inbegriff von Sinngebungen des Lebens, zumal in Kunst, Religion und Philosophie. Gesellschaft als Ordnung des Zusammenlebens ist zwar fundamental von den Bedingungen der Zivilisation bestimmt, ihre besondere historische Struktur jedoch resultiert nach A. Weber aus der Art und Weise, wie Kultur die durch die Zivilisation vorgegebenen Bedingungen sozialer Existenz geistig überhöht und 47

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formt. Das angedeutete Verhältnis zwischen Gesellschaft, Zivilisation und Kultur ist zugleich der Grund dafür, daß sich dem Soziologen die universalgeschichtliche Gesellschaftsentwicklung einmal, nämlich von der Zivilisation her, als durchgehender, geradliniger, fortschrittlicher Zusammenhang darstellt. Zum anderen jedoch ist ihm die gleiche universalhistorische Entwicklung — gemessen am Phänomen der Kultur — Abfolge von gegeneinander abgegrenzten Kultur- und Gesellschaftskörpern oder -epochen. N u r das zivilisatorische Element der Gesellschaftsentwicklung ist mit dem Begriff des Fortschritts zu messen, der bei Weber freilich wesentlich etwas Quantitatives meint. Die Kulturgestalt der epochal gegliederten Gesellschaftsentwicklung, als das eigentlich Qualitative an ihr, fügt sich einem solchen Fortschrittsbegriff nicht. Kultur ist fortschrittslose Sinngestaltung von Dasein. Eine von dieser methodischen Konzeption getragene historisch-soziologische Analyse oder Ortsbestimmung der Gegenwart als erhellender Kritik muß infolge ihres Begriffs von zivilisatorischem Fortschritt sachnotwendig die technisch-ökonomische Entwicklung als grundsätzlich nichtkritisierbare Bedingung gesellschaftlichen Seins, als unentrinnbares Schicksal der gegenwärtigen Gesellschaft hinnehmen. Ihre Kritik kann nur eine solche an der Kultur der Gesellschaft sein, insofern diese als unfähig angesehen wird, die mit dem zivilisatorischen Fortschritt der Gesellschaft, mit Mechanisierung, Entindividualisierung, Rationalisierung, Spezialisierung usw. sich stellenden Probleme geistig aufzugreifen und zu meistern. Kritik der Gesellschaft wird zur Kritik an ihrer Kultur und nur zu einer solchen. Meisterung der Krise ist dann aber nicht eine Frage der möglichen verändernden Gestaltung der gesellschaftlichen Daseinsbedingungen in politischer und wirtschaftlicher Ordnung, sowie ihrer Entwicklungstendenzen, sondern es ist eine Frage des rechten kulturschöpferischen, sinngestaltgebenden Bewußtseins. Nicht zufällig gipfelt die Soziologie A. Webers daher auch in der Konzeption einer sozial frei schwebenden Intelligenz, die 48

Soziologie zwischen Fortschritt und Tradition — von den zivilisatorischen Bedingungen nicht voll absorbiert und gleichsam außerhalb des quantitativen Fortschritts stehend — die kulturschöpferische Sinngebung der Gesellschaft zu leisten habe. In dieser vermeintlich schöpferischen Leistung aber ist sie reaktiv bezogen auf den faktischen Prozeß der Gesellschaft, der als solcher unabhängig von dieser Bewußtseinsleistung verläuft und ihr die Bedingungen vorgibt. Die Distanzierung der Kultur von der Zivilisation beraubt den Geist nicht nur seiner Einheit, sondern eben deshalb auch seiner umfassend gestaltenden Möglichkeiten in der Gesellschaft. So bleibt auch A. Webers Versuch einer Soziologie der Wirklichkeit der modernen Gesellschaft und ihren inneren Widersprüchen gegenüber, wie Marx und auch Lorenz v. Stein sie als Problem aufgewiesen hatten, seltsam hilflos. Auch er vermag, obwohl er einer solchen Aufgabestellung noch am nächsten steht, nicht, die Soziologie als aufklärend-kritische Theorie der Gesellschaft durchzuhalten, die vermöge ihrer kritischen Funktion zugleich als Element der Befreiung der Gesellschaft zu dem sich bewährt, als was diese Gesellschaft gemäß ihren ideellen U r sprüngen sich verstand: Fortschritt nicht nur im Bewußtsein, sondern in der sozialen Realität von Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Vernunft und Würde des Menschen. Wäre es die Aufgabe der deutschen Soziologie gewesen, die Idee von Freiheit und Gleichheit des Menschen, sowie das Axiom einer fortschreitenden Ordnung und Gestaltung nicht nur des Staates, sondern der Gesellschaft als ganzer gemäß diesen Ideen als theoretische Bedingung oder Voraussetzung der wissenschaftlichen Erkenntnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge und Widersprüche anzuerkennen und von daher in einer fruchtbaren Auseinandersetzung mit den Marxschen Postulaten sich zu entfalten, so hat sie aufs Ganze gesehen gerade diese Aufgabe immer wieder verfehlt. Es ist daher audi kaum verwunderlich, daß die deutsche Soziologie der genannten Repräsentanten bei subjektiv ehrlichem Bemühen objektiv einer Richtung des soziologischen Den4

Lieber

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Soziologie zwischen Fortschritt und Tradition kens im Grunde ohnmächtig gegenüberstand, die die radikale Kritik Marxens an der kapitalistischen Gesellschaft als Klassengesellschaft des entfremdeten Menschen, sowie seine Kritik an der politischen Demokratie als bloß formaler annahm, die weiter vorgab, mit der Forderung einer Überwindung der Klassengesellschaft Ernst zu machen, die sich nachdrücklich als Triebkraft gesellschaftlich-politischen Fortschritts begriff und die dennoch alles dies ebenso radikal ins extrem Reaktionäre umbog. Für diese Richtung deutscher Soziologie darf das Werk Hans Freyers als beispielhaft gelten, obwohl sich ähnliche Aspekte bei O. Spann finden lassen, wie bei C. Schmitt u. a. Mit der Forderung, Soziologie habe Wirklichkeitswissenschaft zu sein20, wendet sich Freyer ebenso gegen die formale Gesellschaftslehre, wie gegen jede Bestimmung der Soziologie als Geisteswissenschaft. Dem konkreten Realitätsbezug des Denkens soll in der Soziologie wieder Raum gewonnen werden. Hinter diesem Streben nach konkretem Realitätsbezug der soziologischen Aussage aber steht eben von vornherein sehr handfest ein gesellsdiaftsveränderndes Wollen, das vorgibt, jene Überwindung des Klassenkampfes und Verwirklichung des Menschen in der Gesellschaft zu leisten, die Marx gefordert, zu der aber der Sozialismus wie die herkömmliche Soziologie nichts beigetragen hätten. In einer einseitig übersteigerten Anknüpfung an die konservativen Elemente in der Hegeischen Staatsauffassung, an die Tönnies'sche Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft sowie an Rassenmythen von Blut und Boden oder Raum wird soziale Wirklichkeit zunächst als Dialektik von Gebilde und Wille oder auch Schicksal und Entscheidung bestimmt. Als Gebilde ist sie schicksalhaft sozialer Kampf, zukunftentscheidender Wille gibt dem sozialen Kampf seine inhaltliche Bestimmung und führt ihn zu seiner konkreten geschichtlichen Wahrheit. Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft erkennt die Schicksalhaftigkeit des Klassenkampfes in der bürgerlichen Gesellschaft, zugleidi aber auch die Notwendigkeit eines zukunftgestaltenden Wollens, das dieses Schicksal als Aufgabe einer aktiven 50

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Meisterung begreift. Fortdauer des Klassenkampfes führt, da er im Inneren der Gesellschaft nicht gelöst werden kann, zum Zerfall, zur Selbstzersetzung der Gesellschaft überhaupt. Soziale Entscheidung muß dieser Selbstzerstörung der bürgerlichen Gesellschaft Einhalt gebieten. Sie kann es, indem sie die blutsbestimmende Einheit der völkischen Gemeinschaft als das den Klassenkonflikt überhöhende Prinzip nicht nur erkennt, sondern durch politische Tat auch verwirklicht. In solcher politischen Tat formt sich die Einheit des Volkes zur Einheit des Staates, der im Kampf um die Einheit seines Lebensraumes, des Reiches, die konkrete, geschichtlich-gesellschaftliche Wahrheit seines Schicksals erfaßt und gestaltet. Die Freyersche These einer „Revolution von rechts" als einzig möglicher Überwindung des Klassenkampfes und der parlamentarischen Demokratie als seines Instrumentes, faßt nur schlagkräftig zusammen, daß Fortschritt der Gesellschaft im Staatssozialismus faschistischer Prägung besteht. Indem seine Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft diese sozialpolitische Konzeption theoretisch begründet und darin zugleich zu ihrer Verwirklichung beitragen soll, versteht sie sich selbst als Element des sozialen und politischen Fortschritts. Da aber Freyers Konzept einer „Revolution von rechts" die Klassengesellschaft und ihre inneren Widersprüche im Grunde unangetastet läßt und nur ihren offenen Antagonismus politisch durch die Proklamation eines militanten Aufbruchs zum Reich zu verhüllen sucht, bewährt sich seine Soziologie als zutiefst reaktionär, als Konservierung eben dieser Klassengesellschaft21. Bekanntlich ist diese Theorie Freyers nicht nur die Konzeption eines abwegigen Ideologen geblieben, sondern politische Realität mit historisch-katastrophalem Ausgang geworden. Gerade dieser Tatbestand hätte der deutschen Soziologie nach dem 2. Weltkrieg zum Anlaß einer fundamentalen kritischen Reflexion auf ihre traditionalen Voraussetzungen werden müssen, sowie zum Anlaß einer kritischen Analyse der historischsozialen Determinanten, die die erwähnte Ohnmacht der libe4»

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Soziologie zwischen Fortschritt und Tradition ralen deutschen Soziologie gegenüber den Theoretikern der totalitären Lösung der Probleme der industriell-kapitalistischen Gesellschaft und diese Lösung selbst begründeten. Eine solche kritische Aneignung von Tradition hätte der deutschen Soziologie aucii den erneuten Durchbruch zur konkreten Bestimmung einer Idee gesellschaftlichen Fortschritts ermöglicht. Beides: Traditionsbesinnung und Reflexion möglichen gesellschaftlichen Fortschritts war um so eher geboten und ist es auch heute noch, als Tendenzen zur totalitären Umformung der Gesellschaft durch den Zusammenbruch des politischen Systems Hitlers keineswegs als überholt gelten dürfen. Sie zeichnen sich heute freilich weit weniger an den im engeren Sinne politischen O r d nungsinstitutionen ab, als vielmehr an den gesellschaftlichen Lenkungsmäditen mit ihrer Tendenz zur Reduktion des Menschen auf seine bloße soziale Rolle im Produktions- und Konsumgefüge. Allein der Tatbestand, daß angesichts der Medien moderner Kulturindustrie auch die Sphäre des Privaten den Gesetzen des gesellschaftlichen Konsums unterworfen zu sein scheint, ist in diesem Zusammenhang beachtenswert. Eine Besinnung und Reflexion der skizzierten Art hätte freilich mit gleicher innerer Konsequenz gefordert, daß sich Soziologie zur Frage der Verwirklichung von Vernunft und Freiheit in der Gesellschaft als legitimem Orientierungsprinzip ihrer eigenen Forschung bekannte und sie nicht als unzulässige Spekulation der Philosophie als Aufgabe zuwies. Versuche einer solchen Reflexion und Selbstbesinnung können der deutschen Soziologie nach dem 2. Weltkrieg nicht abgesprochen werden, man mag sie im einzelnen als ausreichend erachten oder nicht. Die bestimmende und repräsentative deutsche Soziologie der Nachkriegszeit jedoch, die sich als empirische ausgibt und versteht, läßt im ganzen einen solchen Versuch vermissen. Soweit sie sich mit ihrer Geschichte beschäftigte, verengte sie die Auseinandersetzung auf das Problem der Methode und begriff die Ablehnung der formalen und geisteswissenschaftlichen Tradition ausschließlich als Rechtfertigung ihrer Wendung 52

Soziologie zwischen Fortschritt und

Tradition

zum Empirismus. Soweit sie diesen in den durch die amerikanische Soziologie ausgebildeten Techniken übernahm, sperrte sie sich zugleich gegen die im angelsächsischen Positivismus doch bei aller konformistischen Potenz immer noch lebendigen sozialphilosophisdi-kritischen Komponenten. In bewußter Ausschaltung jeder das Ganze der Gesellschaft anzielenden Theorie, beschränkt sie ihre Aufgabe auf exakte Beschreibung und Feststellung dessen, was in der Gesellschaft faktisch geschieht. Von ihr gilt daher das gleiche, was von den Konsequenzen des positivistischen Empirismus schon gesagt wurde. Und ebenso wie diesen kennzeichnet auch die deutsche empirische Soziologie der Gegenwart — entgegen ihrem aufs Methodische festgelegten Selbstverständnis — ein bestimmtes theoretisches Postulat: daß im reibungslosen Funktionieren der gesellschaftlichen Prozesse, Institutionen und Mächte, sowie im störungsfreien Angepaßtsein des Menschen an sie, sich der Sinn von sozialer Ordnung erschöpfe. Anpassung wird ihr zum Schlüsselbegriff, und rechte Anpassung ist ihr zureichendes Kriterium gesellschaftlichen Fortschritts. Da sie in ihrer praktischen Auswirkung die gesellschaftliche Anpassung fördern will, gibt sie vor, Motor dieses Fortschritts zu sein22. Angesichts einer Tradition der deutschen Soziologie jedoch, die sich besonders nachhaltig auf die Widersprüche der industriellen Gesellschaft hingewiesen fand, aber ein radikales Bewältigen der sich daraus ergebenden Aufgaben immer wieder verfehlte und schließlich reaktionär überwältigt wurde, ist diese Berufung der deutschen empirischen Sozialforschung nicht nur fragwürdig, sie wird vielmehr zur Fortsetzung eines gesellschaftlich-politischen Konservativismus mit veränderten ideologischen Vorzeichen. Hierfür spricht nicht nur die angeblich empirisch begründete Aussage Schelskys, daß Dauerreflexion nicht institutionalisierbar sei23, was — insofern es direkt auf die jüngste deutsche Vergangenheit bezogen wird — nicht nur eine Absage an geschichtliche Selbstbesinnung einschließt, sondern eine solche zugleich als gesellschaftlichen Störungsfaktor deklariert. Hitler 53

Soziologie zwischen Fortschritt und

Tradition

sowie dessen ideologische und gesellschaftlich-geschichtliche Voraussetzungen verblassen zum nicht weiter bedeutsamen Betriebsunfall auf dem geradlinigen Wege des Fortschritts der Gesellschaft. Für die ideologisch-konservative Funktion dieser zeitgenössischen deutschen empirischen Sozialforschung, die die konformistischen Elemente des amerikanischen Empirismus weit übersteigt, spricht auch die wiederum als empirisch begründbar aufgestellte These vom Vorhandensein einer klassenlosen bürgerlichen Mittelstandsgesellschaft. Sich stützend zumal auf Nivellierungstendenzen in der äußeren Lebensform der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, verwischt sie den schlichten Tatbestand der nach wie vor gültigen Spannung zwischen gesellschaftlicher Macht und gesellschaftlicher Ohnmacht. Das Postulat, die klassenlose Mittelstandsgesellschaft sei wirklich, erfüllt aber damit mit anderen Mitteln die gleiche gesellschaftspolitisch-ideologische Funktion, die einst Freyers Theorie der militanten völkischen Gemeinschaft übte: Verschleierung gesellschaftlicher Spannungen und Gegensätze zum Zwecke ihrer Konservierung, Sicherung der faktischen Gesellschaft vor einer Kritik als Mittel ihrer Stabilisierung. Schelsky hat daher auch nicht zu Unrecht die Aufgabe der von ihm vertretenen Soziologie als die einer Stabilisierungswissenschaft bezeichnet. Kritik der Gesellschaft als Aufklärung soll einer Gegenaufklärung weichen 84 , die sich gerade wegen ihrer Stabilisierungsfunktion auf Fortschritt beruft. Ein solcher Begriff von Fortschritt läßt aber dann die Spannung von Wirklichkeit und Möglichkeit, von Wirklichkeit und Idee, Sein und Sollen vermissen, von der aus allein er sich einen konkreten Inhalt zu geben vermag. Ein recht verstandener Fortschrittsbegriff ist in sich selbst kritisch. Zu einem solchen hat Soziologie, will sie ihre echte Tradition nicht vergessen oder verengen, zurückzufinden. Dann auch erst könnte sozialwissenschaftliche Empirie in der Fülle ihrer Tediniken als sinnvoll, nämlich als Element kritischer Aufklärung der Gesellschaft sich bewähren und entfalten. Dies aber setzt voraus, daß Soziologie selbst kritische Theorie der Gesell54

Soziologie zwischen Fortschritt und Tradition schaft wird, sie darf sich ihr philosophisches Fundament fernerhin nicht versagen, sondern hat es bewußt zu halten. D a n n allein auch erfüllt die Soziologie das, was der Begriff von Wissenschaft material von jeher in sich schloß: Erkenntnis im Dienste vernünftiger Gestaltung der Welt als Bedingung f ü r die Realität der Freiheit des Menschen. „ N u r im Geiste der Kritik ist Wissenschaft mehr, als bloße Verdoppelung der Realität durch den Gedanken, und die Realität erklären heißt allemal auch, den Bann der Verdoppelung brechen. Solche Kritik aber bedeutet nicht Subjektivismus, sondern die Konfrontation des Gegenstandes mit seinem eigenen Begriff. Das Gegebene gibt sich nur dem Blick, der es unter dem Aspekt eines wahren Interesses sieht, unter dem einer freien Gesellschaft, eines gerechten Staates, der Entfaltung des Menschen." Wenn Soziologie die gesellschaftlichen Dinge nicht an dem mißt, was sie selber bedeuten wollen, sieht sie sie nicht nur oberflächlich, sondern falsch".

Ideologienbildung und Ideologienkritik Sinnt man der Verwendung des Begriffs „Ideologie" nach, wie sie sidi in Alltagssprache, Tagespublizistik, politischer Diskussion und wissenschaftlichem Schrifttum der Gegenwart abzeichnet, so stellt man alles andere denn eine Einstimmigkeit der Begriffsbedeutung fest. Wo jedoch im wissenschaftlichen Schrifttum der Begriff immerhin noch einen — freilich unterschiedlich gedeuteten und beurteilten — Zusammenhang v o n Geist und Gesellschaft, Bewußtsein und politisch-sozialer Macht zumindest deskriptiv festzuhalten sucht, da scheint im außerwissenschaftlichen Gebrauch des Wortes auch dieses Charakteristikum noch verloren zu sein. Ideologie steht hier weitgehend für Idee oder Ideelles überhaupt 1 . Sofern sich dahinter ein rationales, durchaus nicht immer artikuliertes Mißtrauen oder ein Verdacht gegen idealistische Traditionen zumal deutscher Geistesphilosophie, die die sozialen Verflochtenheiten des Geistes nur zu leicht mißachtete, verbergen, wäre der erwähnten Ersetzung von Idee durch Ideologie ein fruchtbarer Sinn abzugewinnen, der lediglich der Aufklärung und Bewußtmachung bedürftig wäre. Tatsächlich jedoch scheint der erwähnte Austausch der Begriffe ein bemerkenswertes Anzeichen dafür, wie stark man politisch-sozialen Systemen und der in ihnen stattfindenden Manipulation des Geistes als politischem Instrument, seiner Indienstnahme f ü r propagandistische Herrschaftsrechtfertigung und -Sicherung im Grunde schon verfallen ist, gegen die als „totalitäre" Ordnung man sich in dem Bewußtsein der Verpflichtung der Idee einer freien Gesellschaft, ihre Möglichkeit, aber auch ihre Problematik und Gefährdung abzugrenzen eigentlich berufen fühlt. 56

Ideologienbildung

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Ideologienkritik

Die angesichts der Expansionskraft kommunistischer Ideologie immer wieder laut werdende Forderung nach einer einheitlichen Gegenideologie des Westens mag für diesen Sachverhalt als Bestätigung dienen. In ihr verbirgt sich doch ein Doppeltes: einmal erscheint die Geschlossenheit des als Ideologie bezeichneten und als wissenschaftlich ausgegebenen Weltanschauungssystems als so attraktiv, daß das Bekenntnis zu gleicher Geschlossenheit und Einheitlichkeit im Geiste sich als einzig mögliche Reaktion anbietet. Dabei wird die mit solcher Geschlossenheit unabdingbar verbundene, ja sie allein garantierende politische Institution, die als Instanz der Verwaltung von Bewußtsein funktioniert und damit Geistiges schlechthin zum Gegenstand herrschaftsgebundener Verwaltung degradiert, als Konstituens solcher Ideologie entweder nicht gesehen oder aber als Konsequenz in Kauf genommen. Der einschränkende Verweis auf die Möglichkeit einer Organisation einheitlicher Ideologie ohne politisch-totalitäre Konsequenz überzeugt dabei kaum und täuscht nur schwer darüber hinweg, in welchem Ausmaß die Bereitschaft zur Übernahme des Prinzips institutionell gebundener und gesicherter Ideologie, die aus der Auseinandersetzung mit dem totalitären Gegner resultiert, zugleich den Verfall an dessen Prinzipien einer totalen Gesellschaftsplanung und -lenkung zur Folge hat. Daß solche beobachtbaren, wenn auch in ihren sozialen und politischen Konsequenzen nicht hinreichend bewußten Reaktionen ihrerseits nicht als Inhalt einer wie auch immer gearteten sozialfreien, reinen Mentalität Struktur gewinnen, sondern als soziale Verhaltensweisen auf gesellschaftliche Bedingungen und Verursachungszusammenhänge zurückweisen, durch die sie provoziert sind, daß — mit anderen Worten — die Disposition zur totalitären Reaktion auf den totalitären Gegner selbst gesellschaftlich motiviert sein muß und somit zur Reflexion der Probleme einer in Anspruch und Verpflichtungsbewußtsein nichttotalen Gesellschaft zwingt, sei hier vorab nur am Rande betont 2 . An den erwähnten Reaktionsweisen auf totalitär-instrumentale Ideologien ist für den hier zu behandeln57

Ideologienbildung

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Ideologienkritik

den Zusammenhang zunächst etwas anderes und weiteres von Belang: in ihnen gewinnt eine undifferenzierte Fassung des Begriffs Ideologie Raum, die nicht mehr in der Lage ist, das umfassend gesellschaftskritische und sozial-aufklärerische Element zu bewahren und aktiv zu entfalten, das seit je im Begriff selbst mitgedacht war und um dessen immer erneute Bewährung es sich handeln muß, wenn von Ideologien überhaupt sinnvoll gesprochen werden soll. Wie immer das als Ideologie Bezeichnete im einzelnen strukturiert sein und mit der Absicht von Kritik und Aufklärung analysiert werden mag, unabdingbar bezeichnet der Begriff ein Verhältnis von Geist und Gesellschaft derart, daß Bewußtsein oder Geistiges vom historischen Entfaltungsprozeß der Gesellschaft nicht abgehoben, sondern der in ihm stattfindenden, wie auch immer motivierten sozialen Konkurrenz der Gruppen, dem K a m p f um Macht und seiner Rechtfertigung funktional verbunden ist. Ideologie meint den Geist in seinem funktionalen Bezug zur geschichtlichen Dynamik der Gesellschaft; aber sie stellt ihn nicht einfach als Faktum fest, sondern hält ihn kritisch als ein der Veränderung bedürftiges wie fähiges Problem der Gesellschaft im Blick. Der Maßstab der Kritik ist dabei jedoch nicht ein der Gesellschaft wie dem Geist äußerlicher, sondern er resultiert aus dem Bewußtsein, daß der sich aus objektiven Bedingungen der Gesellschaft immer wieder notwendig herstellende funktionale Bezug von Geist und Gesellschaft sowohl dem Anspruch der Gesellschaft als auch dem Anspruch des Geistes nicht gerecht wird, hinter beide gleichsam zurückfällt. Ideologie ist somit gesellschaftlich notwendiges und gesellschaftlich motiviertes Bewußtsein, das jedoch in beidem, in Notwendigkeit und Motivation, zugleich falsches Bewußtsein ist. Versucht der im Ideologiebegriff enthaltene kritische Aspekt gerade diese Falschheit des Bewußtseins durch eine soziologisch begründete Bedingungsanalyse auszumachen, so ist er an einen Begriff von Wahrheit verwiesen, auf den er sich zu beziehen vermag, der aber seinerseits wegen der historisch-sozialen Dynamisierung 58

Ideologienbildung

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Ideologienkritik

des Geistes ebenfalls nicht unhistorisch und gesellschaftsfremd oder gesellschaftsneutral konzipiert sein kann. Nicht zuletzt deshalb steht jede mit dem Begriff Ideologie arbeitende und eben darin kritische Philosophie und Soziologie in einem Gegensatz zu Interpretationen von Geist und Gesellschaft, die den Traditionen eines unhistorisdien Idealismus verbunden bleiben. Jeder Versuch, diesen hier zunächst nur angedeuteten, im Begriff Ideologie zusammengedachten, dialektischen Zusammenhang von Falschheit und Wahrheit im historisch-dynamischen Verhältnis von Geist und Gesellschaft näher zu präzisieren, muß nicht zufällig an der Geschichte des Begriffs sich selbst orientieren, ist doch gerade hier die Geschichte des Begriffs zugleich eine Geschichte der Sache selbst, die der Begriff zu fassen sucht*, da ein soziologischer Begriff immer auf Gesellschaftliches zielt und mit dessen Wandel sidi selbst in Inhalt und Funktion verändert. Der mit dem Begriff Ideologie gemeinte Sachverhalt eines sozial-motivierten falschen Bewußtseins ist in der philosophischen Erkenntniskritik schon gesehen, lange bevor der Begriff Ideologie selbst bereitgestellt ist4. So gibt Fr. Bacon in seiner Beschreibung und Analyse des Bewußtseins, die der Befreiung der Vernunft und damit der Aufklärung dienen soll, als Verfälschungsursachen wahrer Geistigkeit die „Idola" an, womit er kollektive Vorurteile meint, die durch die Gesellung der Menschen und die dieser Gesellung dienende Rede bewirkt seien. Bis in die Worte hinein bekunde sich die Verblendung des Geistes durch den gesellschaftlichen Verkehr. Als Kern oder Wesen jenes später Ideologie genannten Phänomens erscheint demzufolge bei Bacon die sozial verursachte Störung, Trübung oder Verfälschung des Geistes. Ziel der diesen Sachverhalt kennzeichnenden Analyse ist die Befreiung eben dieses Geistes zu Seiner reinen und wahren, da ungetrübten Gestalt im Vollzug einer die sozialen Mechanismen der Vorurteilsbildung enthüllenden Aufklärung. Damit offenbart Bacons Aspekt seine erkenntniskritische Intention. Sie kann nur durchgehalten werden, indem 59

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die gesellsdiaftlich-kausierten Medianismen der Vorurteilsbildung als etwas dem Geiste gegenüber grundsätzlich Akzidentelles begriffen werden, das seine Substanz nicht tangiert oder konstituiert. Die Aufklärung, die solche akzidentellen Verfälschungen des Geistes zu beseitigen strebt, kann dann freilich nur im einzelnen Subjekt aktiv werden, wobei dieses als Träger der in allen Menschen identischen Vernunft erscheint. Der Appell an das so begriffene Subjekt zur aufklärenden Selbstbefreiung im Geiste ist daher ebenso konsequent wie die Deklaration der Falschheit des Bewußtseins als dem Subjekt zuzurechnende Schuld. Noch in Kants berühmter Antwort auf die Preisfrage der Akademie „Was ist Aufklärung?": „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen" ist solche frühaufklärerische Sichtweise des Phänomens durchgehalten. Sie gründet in einer moralisch pejorativen, subjektivistischen Schuldvorstellung, wie in einem unhistorischen Begriff von Gesellschaft und egalitärer Vernunft und hat darin den Maßstab der ihr möglichen Kritik. Gebunden ist sie unabdingbar an den Glauben an die Macht und Möglichkeit der Ratio. Diese den Glauben an die Macht der Ratio in sich aufnehmende Sicht des Phänomens ist in der ganzen Aufklärungsphilosophie durchgehalten und bestimmt auch die Fassung des Begriffs Ideologie, wie sie sich im Umkreis der französischen Enzyklopädisten herstellt. Jedoch gesellt sich etwa bei Helv^tius und Holbach dem zunächst erkenntniskritischen Aspekt ein radikal sozial- und machtkritischer Aspekt bei, durch den zugleich der politisch-progressive Impuls der ganzen Ideologienlehre noch sichtbarer Profil gewinnt. Gegenstand des im Begriff Ideologie festgehaltenen Zusammenhanges von Geist und Gesellschaft ist jetzt nicht mehr nur der Verfall des Geistes an gesellschaftlich verursachte Vorurteilsmechanismen, der im Subjekt stattfindet und nur in ihm und von ihm zu durchbrechen ist, sondern die bestimmte soziale Funktion, die solche Verblendung und Verfälschung des Geistes hat. Es wird die Funktion kritisch anvisiert, die einer Verblendung des Geistes durch die Gesell60

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schaft, für die Gesellsdiaft und in der Gesellschaft zukommt. Der Satz des Helv^tius, daß „die Vorurteile der Großen die Gesetze der Kleinen 5 " seien, gibt dabei die Richtung der sozialkritischen Funktionsanalyse an. Ideologie oder falsches Bewußtsein ist dasjenige in der Gesellschaft vorherrschende soziale Selbstverständnis, das — von den Mächtigen der Gesellschaft fortlaufend erzeugt — ihrem Bedürfnis nach Machtsidierung und -konsolidierung dient. Die Rechtfertigung einer aus der Vernunft nicht legitimierbaren Macht ist somit die Funktion des zur Ideologie verkommenen Geistes, wobei das instrumentale Moment in solcher Rechtfertigung politischer Macht im Vordergrund der Analyse steht. Insofern als vor allem die Religion als unvernünftiger oder vernunftswidriger Vorurteilszusammenhang erscheint, der vor dem Richterstuhl der Vernunft nicht zu bestehen vermag, und insofern als dabei der institutionelle Zusammenhang von Kirche und Staat, geistlicher und weltlicher Hierarchie dem sozialkritischen Blick der Aufklärer in besonderem Maße sichtbar wird, ist eines der bedeutsamsten Kapitel aufklärerischer Ideologienlehre auch die Theorie vom machtpolitisch gebundenen und gezielten Priestertrug. Der Zusammenhang von politischer Macht und Geist als ihrem Instrument ist es somit, der das Thema des aufklärerischen Nachdenkens über das Phänomen des Ideologischen bildet und der bis in seine institutionellen Ausprägungen hinein verfolgt wird. Der Ideologiebegriff der erwähnten Aufklärer ist dabei aber eben analytischer und kritischer Begriff zugleich. Kritik an der Ideologie ist Kritik an der Macht, die sich ihrer bedient. Solche Kritik jedoch zielt unmittelbar auf praktische Veränderung und Revolutionierung der Gesellschaft, die als der Ideologisierung bedürftig und damit unvernünftig sich erweist. Es soll durch kritische Analyse des Zusammenhanges zwischen politischer Macht und Ideologie sowohl der Schein und Geltungsanspruch des Ideologischen destruiert werden, als auch die Macht, die in der Verbreitung solchen Scheins sich gründet und darin zugleich ihr Wesen hat. Es soll durch Aufklärung dieser Art 61

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Ideologienkritik

der Weg zur Gestaltung einer vernunftgemäßen, gerechten und liberalen Gesellschaft freigemacht werden. Indem Ideologienkritik als Machtkritik solcher Art die Tendenz zur Gesellschaftsveränderung unabdingbar in sich enthält, wird sie selbst zu einer der Triebkräfte jener historischen Entwicklung, als deren Resultat die politische Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft sich darbietet. Erweist sich die Ideologienlehre der Aufklärer somit als eine progressive Kraft historischer Dynamik, so ist ihr diese Potenz nur eigen, weil sie eines utopischen Fundamentes nicht entbehrt. Es ist die Konzeption einer vernünftigen und gerechten Gesellschaft, die die bestehende Gesellschaft in ihrer faktischen Ordnung überschreitet und dadurch den Maßstab der Bestimmung und Kritik der Ideologie abgibt, daß sie ihr als antizipierende Idee vorgehalten wird. Es wird damit in der aufklärerischen Ideologienlehre neben dem Zusammenhang von Ideologie und Macht zugleich ein solcher zwischen Ideologie, Ideologienkritik und Utopie einsichtig, der fortan auf mannigfache Weise die Diskussion des Problems bestimmt. So hat jene Schule französischer Philosophie, die sich selbst die der „Ideologen" nannte, geschart um Destutt de Tracy, gerade dieses als utopisch bezeichnete Element systematischwissenschaftlich zu begründen und zu präzisieren versucht. In einer Weiterbildung der schon vorliegenden Denkansätze soll die Ideologie, die analytische Wissenschaft von den Ideen, nicht mehr nur falsches Bewußtsein und die Mechanismen seiner Bildung und sozialen Ausbreitung analysieren, sondern jegliches Bewußtsein überhaupt in seiner Strukturgesetzlichkeit durchsichtig machen, um auf Grund solcher gesetzes-orientierten Bewußtseinsanalyse praktische und allgemein verbindliche Regeln für Erziehung und Rechtgebung, für staatliches und politisches Handeln und damit für den Aufbau einer vernünftigen und zugleich natürlichen Gesellschaft überhaupt ausmachen und formulieren zu können. Die erst später im Positivismus Comtes voll entfaltete Überzeugung von der Möglichkeit einer vernünftigen 62

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Gesellschaftslenkung und -regelung auf der Grundlage einer Analyse von Verhaltensgesetzlichkeiten ist hierin gleichsam vorgebildet. Und was noch wichtiger ist: jenes utopische Element, ohne das Ideologienkritik als Destruktion sozial falschen Bewußtseins nicht auszukommen vermag, soll durch die systematische Analyse wissenschaftlich aus der Natur des Menschen, aus der Strukturgesetzlichkeit des Bewußtseins und der Bildung seiner Inhalte, der Ideen, begründet werden. Utopische Antizipation einer vernünftigen Gesellschaft soll nicht länger Entwurf purer Spekulation, sondern soll der naturalistischen Begründung durch Wissenschaft fähig und auch bedürftig sein. In einer naturalistischen Variation wirkt somit auch in dieser Position der Glaube an die gesellschaftsgestaltende Kraft der Vernunft ungebrochen fort. Gerade das aber ist der Grund dafür, daß nunmehr in der Argumentation Napoleons I. gegen diese Schule der „Ideologen" eine neue Fassung des Ideologiebegriffs sich abzuzeichnen beginnt, nach der die Falschheit des als Ideologie bezeichneten Geistes in seiner Wirklichkeitsfremde sich bekunden soll. So ist für Napoleon gerade der aufklärerische Glaube an die kritische Macht des Geistes, Gesellschaft und politische Ordnung rational gestalten zu können, Signum einer idealistischen Anmaßung, die die nicht übersehbaren, irrationalistisch-emotionalen Grundlagen von Gesellschaft und Politik verfehlt und eben deshalb ideologisch wird®. Jene aufklärerische philosophische Position also, die den Verfall des Geistes in herrschaftsdienliche Ideologie bloßzulegen, durch rationale Kritik aufzuklären und damit Gesellschaft selbst zur Gestaltung aus der Vernunft und gemäß der Vernunft zu befreien trachtete, fällt jetzt dem Verdacht des Ideologischen anheim. Die Funktion dieses Ideologiebegriffes ist damit deutlich: indem jede rational begründete, auf Gesellschaftveränderung abzielende Sozialkritik als wirklichkeitsfern oder weltfremd, zuletzt als idealistisch verdächtigt wird, leistet er dem Irrationalismus und der Gegenaufklärung in der Gesellschaft Vorschub. Es wird nicht nur die Faktizität der Gesellschaft 63

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und der in ihr stattfindenden Prozesse zur uahintergehbaren, durch Kritik nicht zu treffenden Positivität der Gesellschaft erklärt; es wird zugleich auch der Geist dem blinden Sich-Auswirken gesellschaftlicher Mächte überantwortet. Und gerade dieses totale Engagement des Geistes an die faktische Gesellschaft erscheint als Garant seiner Ideologiefreiheit. In der im Namen einer vermeintlichen Realpolitik oder eines politischen Realismus vorgebrachten Rede von den „weltfremden Ideologien" schwingt auch heute noch Grundsätzliches dieser napoleonischen Begriffsbedeutung als Erbe nach. So sehr jedoch beide skizzierten Begriffsbedeutungen von Ideologie als falsches gesellschaftliches Bewußtsein, die aufklärerisch-kritische und die antiaufklärerisch-apologetische 7 , in heutiger Ideologientheorie teils durcheinandergehen, teils miteinander verbunden sind, sie zeitigen ihre Wirkung nicht historisch unvermittelt. Waren beide an durchsichtigen politischen Machtverhältnissen und ihrem Mechanismus orientiert und operierten sie mit einem im Kern unhistorischen Begriff von Gesellschaft und gesellschaftlicher Notwendigkeit, so mußte die Entfaltung einer in den in ihr herrschenden Machtverhältnissen weit weniger durchsichtigen Industriegesellschaft einerseits und das Gewinnen eines neuen Verhältnisses zur Geschichte in der Philosophie andererseits auch die Ideologienlehre auf eine neue Basis stellen. Das Werk Marxens ist für diese neue Problemsicht des Ideologischen der klassische Ausdruck. In ihm ist das Bildungsgesetz der Ideologien auf der historischen Entwicklungsstufe einer vom Bürgertum getragenen und durch die bürgerliche Revolution selbst voll freigesetzten Industriegesellschaft liberalmarktwirtschaftlicher Struktur ausgesprochen. So sehr dabei Elemente aufklärerischer Ideologienkritik im Werk von Marx aufgehoben sind, der Aspekt auf das Phänomen des Ideologischen sowie sein kritischer Anspruch müssen sich in dem gleichen Maße wandeln, in dem sich die Gesellschaft als Klassengesellschaft ausformt und die durch die Klassenstruktur vermittelten politischen und sozialen Machtverhältnisse das seit je den Gegenstand der 64

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Ideologienkritik bildende Thema „Ideologie und politische Macht" zur Problemstellung „Ideologie, Klassengesellschaft und Klassenherrschaft" hindrängen und ausweiten. Wenn Marx dabei die bürgerliche Gesellschaft und ihre sozialen Antagonismen als Resultat ihrer eigenen Geschichte, des sogenannten materiellen Lebensprozesses der Gesellschaft begreift, wenn er eine Anatomie dieser bürgerlichen Gesellschaft anzielt und ihr Strukturprinzip im Privateigentum und der organisierten Arbeitsteilung, im Dualismus von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen entdeckt und wenn er darin zugleich eben diese Gesellschaft unter dem Aspekt ihrer notwendigen Veränderung sieht, wenn seine Theorie der bürgerlichen Gesellschaft also notwendig revolutionär ist, so hat das seinen realen wie logischen Grund im Entfaltungsgesetz dieser Gesellschaft selbst. Und gerade das ist für die Bestimmung und Kritik des Ideologischen durch Marx von Belang. Was nämlich bei Marx Ideologie heißt, ist der aus objektiven Gründen der gesellschaftlichen Situation zum Rechtfertigungszusammenhang bestehender sozialer Verhältnisse erstarrte Geist, so jedoch, daß solche Funktion des Geistes Signum einer Gesellschaft ist, die der Rechtfertigung bedarf, aber eben darin ihren eigenen Anspruch und somit sich selbst verfehlt, weil sie ihre Faktizitäten als erfüllte Norm sanktioniert. Ideologie ist das Zurückfallen der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Realität hinter ihren eigenen Anspruch und die Selbsttäuschung über diese Diskrepanz im Bewußtsein und durch das Bewußtsein. Gerade diese geistige Selbsttäuschung jedodi ist nicht irgendwelchen Machenschaften der sozial Mächtigen zuzuschreiben, sondern sie ist ein Strukturgesetz der Gesellschaft, das sich aus ihrem Ursprung herleitet. Wie nämlich das Bürgertum als revolutionäre Klasse sich politisch nur konstituieren konnte, indem es gegen die alten autoritären Mächte, Staat und Kirche, die Ideen von Freiheit und Gleichheit als Garanten einer vernünftigen Emanzipation des Mensdien real zur Geltung brachte, so war damit zugleich das Resultat seiner gesdiiditlich-revolutionären Befreiung vor-

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weggenommen; die Emanzipation der Gesellschaft vom Staat zum Zwecke einer Verwirklichung liberaler Konkurrenz wohlverstandener Interessen auf der Grundlage gleicher Chancen als Garantien sozialer Harmonie und sozialen Wohlstandes. Konnte dabei das Bürgertum in seiner revolutionären Phase darauf vertrauen, daß mit der formal-rechtlich gesicherten, staatsbürgerlichen Gleichheit audi die gesellschaftliche Freiheit schon real sei, daß die politische Emanzipation schon die Idee einer gesellschaftlichen Emanzipation des Menschen überhaupt, die Idee einer Verwirklichung von Vernunft in der Gesellschaft erfülle, so mußte angesichts der historischen Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Realität, angesichts der in ihr sichtbar werdenden sozialen Antagonismen und der Indienstnahme des zunächst neutralisierten Staates durch die neuen gesellschaftlichen Mächte, der Zweifel sich regen, ob nicht die durch die ideelle Zielrichtung bürgerlicher Revolution mit hervorgebrachte Gesellschaft gerade dieser Zielrichtung entgegensteht, hinter ihr zurückbleibt. Und solcher Zweifel ist es, der in Marxens Ideologienkritik radikal durchgehalten und systematisiert ist. Ideologie ist ihm jenes Selbstbewußtsein der bürgerlichen Gesellschaft, das der Antagonismen dieser Gesellschaft, der Gefährdung von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit durch die neuen anonymen gesellschaftlichen Mächte und ihrer historisch-sozialen Bedingungen nicht einsichtig zu werden vermag und demgegenüber die Realität und Faktizität dieser Gesellschaft schon als erfüllte Idee, als Verwirklichung ihres eigenen Anspruchs auf Vernunft ausgibt und sanktioniert. Durch solchen Verfall der Ideologie in verklärende Bestätigung dessen, was ist, geht das Bewußtsein jener bei allem sozialen Engagement notwendigen Distanz zur Gesellschaft verlustig, ohne die es sich selbst nicht sozial-progressiv zu entfalten vermag. Gemessen an seinem eigenen Anspruch wird es falsch und eben in dieser Falschheit trägt es das Signum historisch-sozialer Notwendigkeit an sich, denn der Verfall des Geistes in Ideologie, das sich im sozialen Distanzverlust bekundende 66

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Engagement des Geistes an im und durch den sozialen Machtkampf profilierte gesellschaftliche Realinteressen hat selbst ein gesellschaftliches Fundament. Dennoch ist auch und gerade nach Marx Ideologie nicht nur falsches Bewußtsein schlechthin; in allem sozialen Engagement ist ideologisches Bewußtsein dieser Art ja doch auf Wahrheit bezogen, an Wahrheit orientiert und vermag somit — zumindest potentiell — Statthalter jener Wahrheit zu sein, um die es gesellschaftlich geht. Nicht zuletzt im kritischen Aspekt, den dieser Ideologiebegriff in sich enthält, ist der stellvertretende Bezug der Ideologie auf Wahrheit festgehalten und ausgemacht. Absicht der Kritik an der Ideologie ist es j a eben, den stets möglichen Verfall des Geistes an die Faktizitäten und Realitäten der Gesellschaft aus der Struktur eben dieser Gesellschaft einsichtig zu machen mit dem Ziel, dadurch einen permanenten Entideologisierungs- und Selbstaufklärungsprozeß der Gesellschaft anzubahnen, der seine fruchtbaren Impulse aus der Konfrontation der Gesellschaft mit ihrem eigenen Anspruch zieht, einer Konfrontation von Idee und Realität, die zugleich immer eine solche des Geistes mit seiner eigenen gesellschaftlichen Wirklichkeit ist. Diesen zumal in den frühen Arbeiten Marxens entfalteten Einsichten in das Bildungsgesetz der Ideologien wie in die Möglichkeit und Aufgabe ihrer Kritik kommt bleibende Bedeutung zu. Sie demonstrieren, daß und warum die als Ideologienkritik sich entfaltende Selbstkritik der Gesellschaft ihre Maßstäbe dieser Gesellschaft selbst entnimmt, jedoch nicht dem, was sie faktisch ist, sondern dem, was sie zu sein beansprucht. Sie demonstrieren schließlich, daß und warum nur eine solcherart sich selbst reflexiv werdende Gesellschaft ihren eigenen Möglichkeiten gegenüber offen ist und in dieser Offenheit ihre Zukunft sich erschließt. Sie verweisen aber eben damit auf ein Verhältnis von Kritik und Apologie der Gesellschaft, nach welchem Kritik am Faktischen selbst Garant der Verteidigung des in ihr Möglichen und Notwendigen ist. In der T a t wird die entfaltete Industriegesellschaft und deren

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an der Idee der Freiheit und Gerechtigkeit orientierte politische Ordnung nur dann des Bezuges auf Aufklärung, auf Rationalität, nicht verlustig gehen und sich selbst gegenüber offen zu bleiben vermögen, wenn sie den stets möglichen ideologischen Verfall des Geistes an blinde gesellschaftliche Mächte und Prozesse in ihr eigenes Bewußtsein kritisch aufnimmt, wenn die in ihr statthabende Konkurrenz der Gruppen und Mächte am Medium des rationalen Argumentes bleibend ihr Vermittlungsprinzip findet und wenn sie der unaufhebbaren Dialektik von Distanz und Engagement im Verhältnis von Geist und Gesellschaft realen Entfaltungsraum gewährt. Freilich hieße es, selbst einem Stück ideologischer Verblendung verfallen, wollte man solche Bedingungen einer Ideologienkritik, verstanden als Selbstaufklärung moderner Gesellschaft, durch eben diese Gesellschaft schon ohne weiteres als erfüllt und garantiert annehmen. Allenfalls im Bereich von Philosophie und Wissenschaft, sofern diese in Voraussetzung und Ziel am Geschichtlich-Gesellschaftlichen sich orientieren, scheint Ideologienbildung der angedeuteten Art wie auch deren Kritik noch möglich und sinnvoll. Fast nur in diesem Bereich tritt Geistiges noch selbständig und im Vertrauen auf seine Mächtigkeit aus den unmittelbaren Verflechtungen mit den gesellschaftlichen Prozessen heraus, nur in diesem Bereich noch hält der Geist an seinem Anspruch fest, Gesellschaftliches durchdringen und gestalten zu können, nur hier noch hat das rationale Argument seinen unbestrittenen Geltungsumkreis. Gerade als gesellschaftskritisch orientierte Selbstreflexion von Philosophie und Wissenschaft der beschriebenen Art wäre traditionelle Ideologienkritik in der von Marx herkommenden Intention noch lebendig zu entfalten. Wo jedoch darüber hinaus in der modernen Industriegesellschaft — und von einer solchen kann überall dort gesprochen werden, wo der historisch irreversible Trend zur industriellen Produktion die Struktur der sozialen Schichtung ebenso bestimmt wie die Lebenserwartungen und Verhaltensweisen in dieser Gesellschaft8 — Geistiges in funktionalen Bezügen zu ge68

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sellschaftlichen Mächten, Interessen und Zwecken stehend sich erweist, da ermangelt dieses Verhältnis von Geist und Gesellschaft weitgehend der genannten Bedingungen traditioneller Ideologienkritik. Nicht nur, daß das rationale Argument oft zum bloßen Vorwand für die Durchsetzung und Entfaltung realer Sozialinteressen sidi herabgewürdigt findet, Geistiges selbst hat am gesellschaftlichen Konformismus und seiner Stärkung, wie an politischer Manipulation oder doch Aktivierung und Gewinnung von Massen und Kanalisation von deren Meinungen und Reaktionsweisen in einer so unmittelbaren und direkten Weise teil, daß es seine Substanz und sein Wesen weit eher an diesem bezweckten Resultat hat. Zumal an totalitären Sozialordnungen der Moderne, an den sie tragenden Bewegungen und der in ihnen evidenten Indienstnahme des Geistes für in ihrem Sinn nicht mehr kritisch befragbare gesellschaftliche Zwecke bestätigt sich dieser Verlust des Bezuges auf intendierte Wahrheit im Geiste. Das Ideologienproblem erhält so eine neue Dimension: Ideologie ist der Geist als an Wahrheit nicht mehr orientiertes gesellschaftliches Instrument. Kritik an der Ideologie wäre Analyse der Bedingungen in der Gesellschaft wie im Geiste selbst, die solche Instrumentalisierung nicht nur zulassen, sondern geradezu provozieren. Jedoch wäre es verfehlt, die Gesetze solcher Ideologisierung des Geistes nur totalitären Bewegungen und den durch sie gestalteten Staats- und Gesellschaftsordnungen der Moderne zuzuschreiben. Die Formierung des Totalitären in Ideologie, politischer Bewegung und institutioneller Ordnung fällt selbst in die Geschichte der bürgerlich-industriellen Gesellschaft und ihre Krise, in ihren Wandlungsprozeß von der liberalen Konkurrenzgesellschaft zur organisierten Massengesellschaft. Nicht zuletzt eben der Aufbruch der zunächst nur ökonomisch-sozial aktivierten Massen ins Politische, der ihren Schritt vom Objekt zum Subjekt der Politik zum Ziele hatte, und die gleichzeitige Schwerfälligkeit der überlieferten politischen Institutionen und der sie tragenden sozialen Schichten, angesichts solcher poli-

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tischen Emanzipation der Massen mit der Idee von Demokratie in einer Transformation ihrer Realität erneut Ernst zu machen, provozierten und provozieren Tendenzen zum Totalitären. Wie wenig nun dieser Sachverhalt hier im einzelnen verfolgt werden kann, wichtig bleibt für den Versuch, an der Entwicklung des Ideologiebegriffs den Funktionswandel des Phänomens Ideologie selbst einsichtig zu machen, folgendes: die sozialistische Theorie hat vermöge ihrer politischen Auswirkungen daran nicht unerheblichen Anteil. Marxens Kritik der bürgerlichen Ideologie bleibt ja nicht Ideologienkritik schlechthin. Getragen von der Überzeugung, daß es nicht genügt, durch Kritik falsches Bewußtsein als solches zu denunzieren und dessen notwendige Realursachen bloßzulegen, sondern daß es notwendig ist, durch reale Veränderung der Gesellschaft, die falsches Bewußtsein erzeugt, den Schritt von der kritischen Theorie zur revolutionären Praxis als Bedingung der Aufhebung von Falschheit schlechthin zu beschreiten, sucht Marx nach der realen Potenz in der bürgerlichen Gesellschaft, die deren Uberwindung in einem Akt revolutionärer Selbstbefreiung und Selbstaufhebung zu leisten in der Lage ist. Er findet diese Realpotenz in der Existenz des Proletariats als Klasse, die für ihn der gesteigerte Ausdruck der inneren Prinzipien wie auch Antagonismen der bürgerlichen Gesellschaft ist. Gerade sein Begriff des Proletariats als Klasse trägt jedoch dabei Elemente einer Widersprüchlichkeit in sich, die hier zu beachten sind. Ist nämlich das Proletariat einerseits die durch soziale Lage und soziales Interesse als Einheit von revolutionärem Bewußtsein und revolutionärer Aktion bestimmte Klasse, sodaß kritische Philosophie nur im Engagement an sie und ihre Aktion sich zu verwirklichen vermag, so ist andererseits die kritische Theorie selbst das Instrument, durch das die proletarisierten Massen der bürgerlichen Gesellschaft sich zur Klasse allererst formieren. Ist die Klasse des Proletariats so einerseits reales Fundament der Selbstverwirklichung kritischer Theorie, so ist sie andererseits zugleich doch erst als Resultat eben dieser Theo70

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rie als Klasse wirklich. Wie immer bei M a r x selbst diese Widerspriichlidikeit in der Bestimmung des Proletariats als Klasse vermittelt und ausgetragen ist, für die durch seine Theorie inspirierte politische Emanzipationsbewegung des Proletariats wurde die Theorie zum an Massen appellierenden und sie politisch integrierenden Instrument. Sie konnte es freilich nur werden, insoweit sie sich selbst in politische Programmatik umsetzte. I m „Kommunistischen Manifest", in der Dogmatisierung einer zunächst historisch-konkret gezielten kritischen Gesellschaftstheorie zur universalhistorischen Geschichtsmetaphysik mit all ihren Implikationen ist solche Umsetzung in politische Programmatik angebahnt. D i e ideologienkritische Konzeption offenbart damit in sich selbst Elemente des Ideologischen, insofern sie als Instrument der politischen Gestaltgewinnung einer revolutionären Klasse und der Legitimierung von deren Missionsbewußtsein funktioniert. Solange jedoch dabei in dieser politisch zweckbestimmten Ausweitung der kritischen Theorie nach wie vor die rationale Diagnose Grundlage der politischen Rechtfertigung blieb, blieb die sozialistische Theorie selbst noch Ideologie im klassischen Sinne. Es ermangelte ihr noch jener manipulative, auf Irrationalismen bei den Massen spekulierende Charakter, der Ideologien heute eigen zu sein scheint. Dieser jedoch ist weitgehend Resultante von politischen Reaktionen auf die ursprüngliche sozialpolitische Konzeption der Theorie. I n dem gleichen M a ß e nämlich, in welchem das Proletariat mit einem solchen durch seine Ideologie gerechtfertigten sozialpolitischen Missionsbewußtsein in den politischen K a m p f eintrat und es — in einer Vulgarisierung Marxscher Denkansätze — unternahm, das politische Selbstverständnis seiner Gegner einem totalen und undifferenzierten Ideologieverdacht zu unterziehen, so als habe es keinen intentionalen Bezug auf Wahrheit mehr, konnte es nicht ausbleiben, daß nunmehr auch die politisch A n gegriffenen sich ihrerseits ebenfalls der Methode des totalen Ideologieverdachts bemächtigten. N u r andeutungsweise sei hier darauf verwiesen", daß solches

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Ideologienbildung und Ideologienkritik totalitäre Verkommen von rationaler Ideologienkritik zur Methode beliebig handhabbarer politischer Verdächtigung sich vor allem in der Denunziation der angezielten proletarischinternationalen Klassensolidarität als eines volks- oder nationalstaatsfremden bzw. -feindlichen Klassenegoismus auswirkte. Die Bezugsbasis solcher Denunziation ist damit gesetzt. Das Ausspielen von weitgehend mystifiziert gebrauchten Begriffen wie Volk, Nation als Primärgemeinschaft und deren politischer Ordnung, das Reich, gegen ein am Klassenmodell orientiertes Denken. Durch solchen Bezug soll die Chance sich eröffnen, die politisch sich emanzipierenden Massen der sozialistischen Bewegung zu entfremden, national neu zu orientieren und zu integrieren und damit den vom Sozialismus angegriffenen Herrschaftsschichten ihrerseits eine politische Massenbasis zu verschaffen. Erst damit jedoch wurde politische Ideologie zu dem, als was sie heute weitgehend zu beschreiben ist: Instrument der politischen Manipulation und Organisation von Massen, die in der Dienstbarkeit f ü r solchen Herrschaftszweck sich erschöpft. U n d in gleichem Maße, in dem solcher antisozialistischen Ideologisierung der ursprünglichen liberalen und konservativen Theorien der Erfolg nicht versagt blieb, schlug sie auch auf die sozialistische Theorie selbst — zumal in ihrer kommunistischen Variante — zurück. Die totalitären Ideologien, die dann in Faschismus oder Nationalsozialismus und Bolschewismus historische Realität gewinnen, haben in der so skizzierten Situation ihren Ursprung. Allein die sich anbahnende Aufweichung des Geistes zum puren herrschaftsorganisierenden und -stabilisierenden Instrument, das nicht mehr an Wahrheit, sondern nur noch an seinem Resultat sich orientiert, hat sie ermöglicht oder doch in der Gesellschaft Prädispositionen dafür geschaffen. Pareto hat in seiner Derivaten-Lehre aus solcher historischen Situation die theoretische Konsequenz gezogen 10 , indem er alles Geistige schlechthin zur Ideologie erklärte, d. h. jetzt, zum Instrument der Verhüllung, Rechtfertigung, Organisation und Durchsetzung von Gruppen72

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interessen im politischen Machtkampf der Massengesellschaft. Ideologie ist der Geist als Funktion nackter politischer Macht — und Geist ist für ihn politisch relevant nur als so geartete Ideologie. Damit jedoch wird die gesellschaftliche Ohnmachterklärung eines Geistes, der noch auf Wahrheit und gesellschaftliche Substantialität sich glaubt beziehen zu können, total. Die Gesellschaft ist der blinden Auswirkung politischer Konkurrenz überantwortet, Vernunft samt rationaler Argumentation danken als Instanz gesellschaftlich-politischer Verständigung und Konkurrenz wie auch Selbstaufklärung ab. Was ideologische Auseinandersetzung heißt, ist kaum mehr als unmittelbarer Reflex politischer Machtkämpfe, deren Ausgang zugleich über jene entscheidet. Jedoch nicht nur dies ist an Paretos Theorie von Belang. Indem er der Aufweichung des Geistes zum puren Herrschaftsmittel wissenschaftlichen Ausdruck verleiht und somit begründet, daß Geist nichts anderes als dieses zu sein vermag, bereitet er selbst der Ideologie totalitärer Prägung den Weg. Für die Struktur solcher totalitär-instrumentalen Ideologien ist dabei — über das Gesagte hinaus — folgende Skizzierung möglich: weil sie Massen durch deren Bewußtseinsmanipulation dem Herrschaftszweck entsprechend politisch aktivieren und organisieren wollen, sind sie an diese Massen und ihre politischen Emanzipationswünsche verwiesen, müssen sie sich diesen anpassen. Erzwingt das einerseits die Propagierung von Stereotypen des politisch-historischen Urteils, die als Orientierungsschematismus überschaubar und verstehbar sind und zugleich unter dem vordergründigen Schein von historisch-politischer Aufklärung der Massen deren Verdummung nicht nur fortsetzen, sondern noch verstärken, ist ihre Funktion also einerseits permanenter Betrug der Massen im Namen von deren Aufklärung, so ist andererseits der Situation ihres Ursprungs entsprechend totalitäre Ideologie fortlaufend der demokratischen Fassade bedürftig, der Anpassung an Elemente der demokratischen Theorie. Wenn nämlich totalitäre Ideologie organisierte 73

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Herrschaft über die Massen anzielt und reditfertigt, indem sie deren politischen Emanzipationswünschen reale Erfüllung verspricht, so muß sie in der Lage sein, die totale Herrschaft über die Massen als Herrschaft dieser Massen selbst auszugeben. Rechtfertigung totaler Diktatur als totaler Demokratie ist somit notwendig die Primärfunktion totalitärer Ideologie. Diese Primärfunktion politischer Rechtfertigung ist totalitäre Ideologie nur zu erfüllen in der Lage auf der Basis einer quasi philosophischen Geschichts- und Gesellschaftsinterpretation, die freilich ihres unmittelbaren politisch-instrumentalen Charakters wegen den Begriff von Philosophie zugleich negiert, auf den sie sich beruft. D. h. totalitäre Ideologie kann in ihren Begründungsversuchen und Geltungsansprüchen die rationale oder wissenschaftliche Fassade aus immanenter Notwendigkeit nicht entbehren, ist jedoch ebenso infolge der gleichen Notwendigkeit kaum in der Lage, den Scheincharakter solcher Berufung auf Wissenschaft hinreichend zu verbergen. Ziel der quasi philosophischen Geschichtsdeutung muß es sein, ein politisch-gesellschaftliches Sendungsbewußtsein der totalitären Führungsgruppe zu formulieren und aus der Geschichte zu begründen und dieses Missionsbewußtsein der die Herrschaft ausübenden Minderheit zugleich als allein wahres Sozialbewußtsein der der Herrschaft unterworfenen Gesamtgruppe zu demonstrieren. Muß totalitäre Ideologie deshalb immer den Anspruch erheben, in einer für die Gesamtgruppe allein gültigen Form auszumachen, was deren politisch-soziale Sendung, was deren geschichtlicher Auftrag ist, und ist sie deshalb unabdingbar missionarisch, so soll gerade dieser missionarische Charakter die politisch-ideologische Integration der Gesamtgruppe garantieren. Ist die Konsequenz dessen einmal die geschichtsphilosophisch unterbaute Fixierung von politisch sozialen Gegnern, an denen sich, bei wechselnder inhaltlicher Bestimmung, die propagandistisch-organisatorische Gleichschaltung von Bewußtsein und Verhalten der Massen immer wieder zu orientieren vermag, und ist deshalb das Freund-FeindSchema Grundlage und Modell des ideologisch bestimmten, 74

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politisch-sozialen Alternativdenkens, so ist andererseits das damit angestrebte Ziel eine Identifikation von Führungs- u n d Volkswille derart, daß jedweder mögliche politisch-soziale Pluralismus in Bewußtsein u n d Verhalten schon als solcher dem Vorwurf des politischen Desintegrationsfaktors sich ausgesetzt findet. Gerade dieser von totalitärer Ideologie angezielten Identifikation von Führungs- u n d Volkswille kommt zentrale Bedeutung zu, prägt sich doch als gestecktes Ziel zugleich die inhaltliche Struktur des ideologischen Aussagesystems: ein Substitutionsschema ist ihm ebenso unerläßlich, wie eine Mystifikation u n d Verklärung der Gruppe, die den Gegenstand ideologischer Bewußtseinsmanipulation abgibt, sei sie als Volk, sei sie als Klasse begrifflich bestimmt. Indem Volk oder Klasse als unmittelbare Willens- und Aktionseinheit ausgegeben werden, die zu verwirklichen und zu entfalten der schicksalhafte Geschichtsauftrag sind, ist der Missionarismus selbst Grundlage der möglichen Bestimmung von Volk oder Klasse. Beide aber sind damit durch ideologisiertes Geschichtsverständnis mystifizierte Größen sui generis. Ihre vermeintliche historisch-soziale Mission gilt zugleich als die Wahrheit und Eigentlichkeit ihres realen Seins. Die Geschichte selbst muß von solcher Ideologie dann unter einem doppelten Aspekt gesehen werden: sie ist Medium, an dem u n d durch das die Mission des Volkes oder der Klasse als deren existenzielle Wahrheit demonstriert wird, u n d sie ist zugleich jener Schicksalszusammenhang, durch den ausgemacht werden kann, daß und w a r u m Volk oder Klasse ihre Mission und damit sich selbst bisher verfehlt haben. Ist damit der Missionarismus zugleich eschatologisch gezielt u n d begründet, so nimmt er sachnotwendig das erwähnte Substitutionsschema an dieser Stelle in sich auf. Ist nämlich das Volk oder die Klasse geschichtlich zur Verwirklichung der aufgegebenen Wahrheit in Existenz und Bewußtsein berufen und haben sie zugleich eben diese Berufung noch stets verfehlt, dann bedarf das des Nachweises einer das Volk oder die Klasse zu sich selbst bringenden, mit sich selbst real vermittelnden geschichtlich sozialen Instanz. Deshalb tritt 75

Ideologienbildung und Ideologienkritik zur Mystifikation von Volk oder Klasse in der totalitären Ideologie immer audi das Axiom hinzu, daß die totalitäre Führungssdiicht in ihrer politischen Existenz gleichsam die Inkarnation der missionarischen Wahrheit von Volk oder Klasse darstellt und somit an ihr allein Volk oder Klasse die reale Garantie f ü r ihre Selbstverwirklichung finden. Die angezielte Identifikation von Führungs- und Volkswille wird durch solch ein ideologisches Substitutionsschema und dessen Propagierung einer politischen Durchsetzung fähig gemacht, was jedoch dann nicht nur ideologische, sondern auch realpolitische Konsequenzen hat. Können nämlich die Repräsentanten des totalitären Machtstaates ihren Machtanspruch dadurch ideologisch nachhaltig absichern, daß sie sich selbst als Verkörperung des wahren Volkswillens und ihre Herrschaft über das Volk als dessen eigene Herrschaft ausgeben, so entmachten sie damit zugleich das faktische Volk durch ideologische Verklärung in dessen eigenem Namen. In solcher realpolitischen Entmachtung des faktischen Volkes durch dessen ideologische Verklärung erschöpft und erfüllt sidi auch der unmittelbare Herrschaftszweck totalitärer Ideologie. D a ß totalitäre Ideologien der skizzierten Funktion und Struktur über das Gesagte hinaus notwendig auch ihre politischinstitutionelle Seite haben, ist evident. Wenn ihr Herrschaftszweck, nämlich Aktivierung, Organisation und Integration von Massen und die politische Durchdringung der Gesamtgesellschaft durch Bewußtseinsmanipulation erreicht werden soll, so bedarf die Ideologie der relativen Beständigkeit, bedarf sie der Monopolisierung ihrer Interpretationsbefugnis, bedarf sie des Schutzes vor unbotmäßiger Kritik, kurzum, sie bedarf der monopolistischen Verwaltung. So ist die institutionelle Ausgestaltung und Privilegierung einer besonderen Funktionärskaste, der die verbindliche Darlegung und Interpretation der Ideologie, ihre Anpassung als historisch-soziales Orientierungsschema an die wechselnden Verhältnisse obliegt, der totalitären Ideologie ebensowenig äußerlich, wie die Entwicklung und verbindliche Übung 76

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von Tediniken der gelenkten Bewußtseinskontrolle auch dieser Funktionärskaste selbst — man denke etwa an die Funktion von Kritik und Selbstkritik im bolschewistischen System. Auch diese institutionelle Seite totalitärer Ideologie bestätigt damit aber nur ihre im unmittelbaren Herrschaftszweck sich erschöpfende manipulative, politische Funktion. Ist diese jedoch in der modernen Massengesellschaft vorab nur durch Propaganda und deren Instrumente zu erfüllen, so wäre zu fragen, in welchem Verhältnis totalitäre Ideologie und Propaganda stehen, ja ob es sachlich lohnt, zwischen beiden zu unterscheiden, ob nicht Ideologie hier in Propaganda aufgeht 11 . Nicht zuletzt auch die bolschewistische Unterscheidung zwischen Agitation und Propaganda mag die Vermutung nahelegen, daß Ideologie mit den wechselnden Inhalten der Propaganda zusammenfällt. Gerade das aber widerspricht dem Phänomen. Ist nämlich Propaganda vor allem der Inbegriff der auch institutionellen Maßnahmen, durch die politisch verbindliche Bewußtseinsinhalte und Urteilsschemata in konkret gezielte Massenmanipulation umgesetzt werden und tritt daher Propaganda auch — bis in die von ihr verwandten Symbole und Typisierungen hinein — in wechselnden Phrasierungen auf, so ist Ideologie gleichsam die Gesamtheit der geistigen Stereotypen, die als Konstanten der wechselnden Propaganda zugrundeliegen und deren Kontinuität im Wandel begründen. Daraus jedoch erschließt sich die Einsicht in einen weiteren Sachverhalt, der Beachtung verdient und nur durch einen gegen Propaganda abgegrenzten Begriff von Ideologie festgehalten werden kann. Bei aller politisch-organisatorisch gezielten, manipulativen Funktion totalitärer Ideologie weist sie quasi objektive, der beliebigen Manipulation vorgeordnete Züge auf, Momente, die sich im Laufe der Zeit verfestigt und gleichsam so verselbständigt haben, als seien sie Elemente eines objektiven Geistes. Dadurch aber trägt totalitäre Ideologie die Grenze ihrer möglichen Variations- und Manipulationsfähigkeit in sich und bindet auch diejenigen, die manipulativ über sie verfügen. Das heißt, der Begriff totalitärer Ideologie ist 77

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gerade geeignet, die eigene Konsistenz des ideologischen Instrumentes gegenüber seinen manipulatorischen Benutzern auszumachen; ein Sachverhalt, ohne den bestimmte Erscheinungen totalitärer Diktatur, wie etwa die notwendige Ideologisierung von Machtkämpfen oder die Selbstkritik nicht als pure politische Unterwerfung, sondern als Wiederherstellung und Bekundung des ideologischen Einverständnisses, nicht sachgerecht zu begreifen sind. Für die Erkenntnis der Funktionsstruktur der Sowjetideologie ist dabei jedoch über das Gesagte hinaus noch folgendes zu beachten: So sehr sie ihrer Dienstbarkeit für den Herrschaftszweck wegen eine aus dem Anspruch autonomer Rationalität erwachsende Kontrolle durch ungelenkte Kritik nicht verträgt und vielmehr der organisatorischen Absdiließung ihrer Inhalte wie ihrer Interpreten bedürftig ist, so sehr sie also die Tendenz zur Dekretierung in sich birgt und ungelenkte Kritik immer als Störungsfaktor verdächtigen muß, so wenig ist sie in der Lage, solche der institutionellen Verfestigung und Verwaltung entgegenwirkende kritische Rationalität restlos und endgültig auszuschließen. Und zwar nicht wegen eines wie immer auch philosophisch zu bestimmenden Freiheitsdranges des Menschen als ens rationale, sondern wegen ihres historischen Ursprungs. Ist gerade die Sowjetideologie aus dem geistigen Selbstverständnis einer politischsozialen Bewegung herausgewachsen, die als solche das Erbe politisch-liberal gezielter, aufklärerischer Rationalität in sich aufnahm und fruchtbar zu machen suchte, und beruft sie sich selbst fortlaufend auf diese ihre historische Herkunft, so trägt sie ihren eigenen Widerspruch kaum überwindbar in sich. Wenn die sozialistische Theorie in ihrer bolschewistischen Ausgestaltung in totalitärer Ideologie sich verwandelte, so hat doch andererseits diese Ideologie nicht die Kraft, mit ihrem Ursprung restlos und reibungslos fertig zu werden. Der „Kult eines ihr fremden Gottes 12 ", nämlich das Bekenntnis zu rationaler Kritik, wohnt ihr — selbst wenn er in ihrer realen Gestalt zur bloßen Fassade verkommen ist — doch so inne, daß das Ernstnehmen des in 78

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diesem ihrem historischen Ursprung enthaltenen Anspruchs von ihr selbst nicht störungsfrei auszuschalten ist. Ihre eigenen Klassiker sind damit, wenn auch nicht immer in ihren Aussagen, so doch in ihren Intentionen, ihre potentiellen Gegner. Gerade auf Grund dieses Sachverhaltes jedoch ist bolschewistische Ideologie in sich selbst nie sicher, auch dann nicht, wenn sie mit brutaler Gewalt den zu vernichten sucht, der den in ihr und ihrem Ursprung enthaltenen Gedanken radikal ernst zu nehmen und zu denken wagt. Der Kritik totalitärer Ideologie, zumal der bolschewistischen, sind aber damit ihre Wege vorgezeichnet. Sie wird nidit einfach ihre Kraft darauf konzentrieren können, diese Ideologie zu widerlegen, als sei sie an Wahrheit überhaupt und ausschließlich interessiert. Ein solches Vorgehen würde die Kritik selbst zur Ohnmacht und Naivität verurteilen. Sie wird vielmehr mit dem Ernst zu machen haben, was der Ideologiebegriff seit je, bei aller Anerkennung des historisch-sozialen Wandels seines Gegenstandes, aussprach: Verdacht gegen einen der Gesellschaft und der politischen Macht blind verfallenden Geist ebenso, wie Kritik der Gesellschaft und der politischen Ordnung, zu deren Struktur diese Verfallenheit des Geistes gehört. Konkret aber bedeutet das: über den Einzelnachweis des Wechselverhältnisses zwischen machtpolitischer Zielsetzung, aktualitätsbezogener Propaganda und Konsistenz der ideologischen Fundamente hinaus hat Kritik totalitärer Sowjetideologie vorab jene Dispositionen analytisch freizulegen, auf die die Ideologie selbst zielt, hat sie aber zugleich auch jene gesellschaftlichen Bedingungen oder Tendenzen auszumachen, die die Dispositionen einer Anfälligkeit für totalitäre Ideologie bewirken. Schließlich wird Ideologienkritik über diesen analytischen Aspekt hinaus gerade wegen der zuletzt skizzierten Zusammenhänge an jener Methode immanenter Kritik festzuhalten und diese zu bewähren haben, die in der Konfrontation des Anspruchs der Ideologie mit ihrer eigenen Verwirklichung besteht. Im einen wie im anderen Falle jedoch kommt sie ohne historische Dimensionen nicht aus, denn 79

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wie die Disponiertheit für totalitäre Ideologie selbst Resultat der Geschichte der Gesellschaft ist, so auch der Verfall sozialistischer Theorie und ihrer ideologischen wie politischen Impulse in totalitär-instrumentale Ideologie. Gilt aber dies, dann verfehlt Kritik an der totalitären Ideologie ihr Geschäft und ihre Aufgabe, wenn sie nicht zugleich als Selbstkritik einer Gesellschaft und politischen Ordnung sich bewährt, die als im Anspruch nicht-totalitäre um ihrer selbst und ihrer Zukunft willen sich über die gesellschaftlichen Bezüge und Bedingungen des Geistes in ihr nicht täuschen darf. Der bloße Glaube an die Autonomie des Geistes und die idealistische Deskription von sogenannten Grundwerten einer freiheitlichen Gesellschaft genügt nicht, angesichts der Tatsache, daß die Entfaltung totalitärer Ideologien und der ihr entsprechenden politischen Ordnungsstruktur selbst in die Geschichte dieser Gesellschaft fällt 13 . Weil sie selbst teilhat an dem Verfall des Geistes und seiner sozialen Möglichkeiten in instrumentale Ideologie, muß Ideologienkritik sich als Instanz gegen bequeme sozialpsychische Verdrängungen dieser historisch-gesellschaftlichen Erfahrung permanent bewähren. N u r so erweist sie sich ihrem eigenen geschichtlichen Ursprung verbunden und verpflichtet. So wird sie das Selbstverständnis totaler Diktatur als totaler Demokratie, wie es als Kern totalitärer Ideologie sich erwies, zum Anlaß nehmen müssen, kritisch zu reflektieren, was nichttotale Demokratie heute heißen kann und welche Bedingungen für ihre Realgestaltung, aber auch ihre Realgefährdung ihr durdi die entfaltete Industrie- und organisierte Massengesellschaft wie auch durch tradierte politische Theorien oder Urteilsschablonen vorgegeben sind. Sie wird so beitragen müssen nicht nur zu einer erneuten aufklärenden Reflexion politischer Grundbegriffe und deren mythologisierter Gestalt sowie zum Abbau politisch-ideologischer Tabus, sondern vor allem auch zur Einsicht in die politisch-gesellschaftlichen und anthropologischen Tendenzen, die geeignet sind, der Ersetzung des rationalen Argumentes durch Appellation an und Manipulation von Wün80

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sehen, Emotionen und Irrationalismen Vorschub zu leisten. Sie wird so vielleicht die Einsicht in eine Fundamentalproblematik moderner Massendemokratie begründen helfen: daß Demokratie für ihren Bestand und ihr Funktionieren permanent der Rationalität grundsätzlich aller ihrer Glieder bedarf und daß sie doch ebenso in ihrer sozialen Realität der Entfaltung solcher Rationalität weitgehend entgegensteht. Sie wird dabei jedoch als der Entfaltung von Rationalität entgegenstehende Instanzen nicht nur politische Mächte und Gruppen und deren an propagandistischer Manipulation von Bewußtsein orientiertes Agieren kritisch zu fixieren haben, sondern vor allem auch jene nichtpolitischen gesellschaftlichen Mächte, die einen ungebrochenen sozialen Konformismus nicht nur bewirken, sondern als Idee und Norm einer wahren, da ungestört funktionsfähigen Gesellschaft auch noch propagieren. Die sozial-psychologischen Methoden der Menschensteuerung und Anpassungssteigerung in Arbeits- und Alltagswelt, die sich in den Techniken der „humanrelations"-Pflege ebenso auswirken, wie in den Klischees der Kulturindustrie und der in ihnen enthaltenen Tendenz auf Standardisierung des Verhaltens bedrohen ja den Menschen und damit die Gesellschaft unabhängig von der politischen Struktur ebenfalls in einem totalen Sinne, nehmen sie doch auch das noch in Regie, was potentielle Widerstandskraft gegen gesellschaftliche Zwänge zu sein vermöchte. Dieses dingfest zu machen, reicht der tradional-liberale Aspekt der Ideologienkritik als reiner politischer Machtkritik nicht aus14. Versperrt jedoch die Fixierung des ideologienkritischen Blicks an den politisch-totalitären Gegner den Weg zum notwendigen Wandel des Aspekts auf die nicht-politischen Mächte von Verhaltensgleichschaltung und Bewußtseinsmanipulation in der eigenen Gesellschaft, dann bleiben diese Mächte unkritisch ihrem blinden Sich-Auswirken überlassen. Die kritische Aufklärung über die totalitäre politische Diktatur wirkt als Stütze von Ideologisierung und Gegenaufklärung in der eigenen Gesellschaft. Ideologienkritik aber fällt damit hinter sich und ihren Anspruch zurück.

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Lieber

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Wissenssoziologie Entgegen einer gängigen Auffassung ist die Wissenssoziologie als selbständige soziologische Disziplin kaum eindeutig zu bestimmen. Zumal die üblichen Abgrenzungen zwischen einer allgemeinen Soziologie einerseits und jeweils speziellen Soziologien andererseits reichen nicht aus, um der Wissenssoziologie eine eindeutige Stellung in der Systematik der Soziologie zuzuweisen. Wohl wird sie zumeist als eine spezielle Soziologie neben anderen verstanden 1 , mit der besonderen Aufgabe, die Beziehungen zwischen Denken und sozialer Realität zu erkunden, indem sie die Zuordnung von Wertvorstellungen, Denkstrukturen, Gedankengehalten und sozialen Lagen, Schichten und Institutionen untersucht. Aber die Thematik, mit deren Bewußtmadiung die Wissenssoziologie entstand, treibt doch über die eingeschränkte Aufgabenstellung einer Bindestrich-Soziologie hinaus. Gegenstand der Erforschung ist für sie nicht nur die spezifische Realisierung genereller Gesetzlichkeiten, die von einer „allgemeinen Soziologie" erfaßt und systematisiert werden, sondern gerade auch der Zusammenhang von Denken und sozialem Handeln in seiner grundsätzlichen Bedeutung. Die wissenssoziologische Fragestellung betrifft somit eine der Grundfragen jeder allgemeinen theoretischen Soziologie und gehört insofern als ein Hauptstück in deren systematische Ausbildung. Zugleich hat die Wissenssoziologie die Beziehungen zwischen der Gesellschaft und dem theoretischen Wissen von ihr zum Gegenstand, ist also als Soziologie der Soziologie deren Grundlagenwissenschaft sowohl zur Sicherung der Geltung ihrer Aussagen als auch zur Einsicht in ihre gesellschaftliche Stellung und Aufgabe. Bei dieser Aufgabenstellung kann sie nicht mit dem bloßen Zurechnungsverfahren auskommen, sondern muß die Wahrheitsfrage stellen und 82

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die Verfälschungen und Verzerrungen festhalten, die das menschliche Denken in sozialen Situationen erfährt. Zwar entstand sie und erwarb sie ihre Selbständigkeit gerade dadurch, daß sie die Ideologiekritik und deren Nachweis der Bedingungen falschen Bewußtseins ersetzte durch wertneutrale Zurechnung von Denken und sozialen Strukturen. Aber sofern man ihr über die Aufgaben einer soziologischen Geistesgeschichte hinaus eine erkenntnistheoretische, grundlagenkritische Funktion zubilligt, kann sie sich doch nicht völlig eines Begriffs von Ideologie und eines kritischen Verfahrens zur Auffindung sozialbedingter Denkstörung entschlagen. Diese Zwiespältigkeit ist ihr von Anbeginn, zumal bei Mannheim, zu eigen. Wie immer sie sich in Abgrenzung gegen die klassische Ideologienlehre zu begründen versucht, indem sie den ursprünglich polemisdi-kritisch gezielten Ideologiebegriff verallgemeinert und methodologisch neutralisiert, sie kann dabei nicht stehenbleiben, will sie nicht in Skepsis und Relativismus abgleiten. Sie muß um den Aufweis von Kriterien sich bemühen, anhand deren sie zwischen in einer Zeit wirklichen und unwirklichen Gedanken unterscheiden kann. Wenn sie solches Bemühen verwirklicht, indem sie zur Zeitdiagnostik sich erweitert, so stößt sie erneut an die Grenzen klassischer Ideologiekritik. Das Problem des falschen Bewußtseins kehrt auf der Ebene der Wissenssoziologie von neuem wieder, sowie sie über die Aufgaben einer soziologischen Geistesgeschichte hinaus der Bedeutung ihrer Ergebnisse für die Gültigkeit wissenschaftlichen, insbesondere soziologischen Denkens nachgeht. Um zu verstehen, warum und wie Wissenssoziologie sich von der Ideologiekritik abzulösen sucht und in ihrem Vollzug doch nur unvollkommen von dieser loskommt, muß wenigstens skizzenhaft auf die Ideologiekritik im Prozeß ihrer Entfaltung und im Widerspiel ihrer extremen Positionen hingewiesen werden. Ideologiekritik, d. h. die Einsicht in die soziale Bedingtheit von Bewußtseinsstrukturen und Bewußtseinsgehalten und in deren soziale und politische Funktion, entsteht mit dem Über6*

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gang von der feudal-agrarischen zur kapitalistisch-industriellen Gesellschaft. Deren Träger griffen zur Sicherung und Erweiterung ihrer neuen ökonomischen Funktionen und zur Transformierung ihrer wachsenden gesellschaftlichen Macht in politische Macht das überlieferte Weltanschauungssystem der geschlossenen mittelalterlichen Gesellschaft als deren wichtigste verbliebene Stütze an. An die Stelle der Autorität des Offenbarungsglaubens trat die autonome Vernunft als Instanz des „methodischen Zweifels". Solange die entstehende bürgerliche Gesellschaft mit der Grundlegung ihrer ökonomischen Position vordringlich beschäftigt war, beschränkten sich dabei die ersten Ansätze der Ideologiekritik auf die Kritik der traditionellen Denkgebote und -verböte im Bereich der Naturerkenntnis. Der Bereich des sozialen Wissens und Handelns blieb, als nicht auf Wahrheit sondern Autorität gegründet, ausgenommen. Erst als die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft so weit gediehen war, daß das Bürgertum seine ökonomische Kraft aussichtsreich gegen die politischen und sozialen Schranken seiner Interessen einsetzen konnte, trat der Widerspruch zwischen ökonomischen Funktionen und sozialer und politischer Struktur unmittelbar ins Bewußtsein, wandelte sich der Begriff der Ideologie vom bloßen sozial bedingten metatheoretischen Störungselement im Erkenntnissubjekt zum mit Zwang eingesetzten Mittel der Verhüllung und Rechtfertigung von Herrschaft. Es erweiterte sich die zunächst erkenntnistheoretisch interessierte Ideologiekritik zur expliziten Sozialkritik 2 . Die Ideologiekritik der französischen Aufklärung entlarvt daher die weltanschaulichen Dogmen nicht nur als Vorurteile, sondern als Mittel der Rechtfertigung ungerechter Verhältnisse. Sie deckt auf, wie sie verbreitet und aufrechterhalten werden von denen, die aus der Verblendung ihren Nutzen ziehen. In der Theorie vom Priestertrug, dem Hauptstück ihrer Ideologiekritik, bekämpft sie die Religion, weil sie ein Reich imaginärer Wesenheiten und damit eine irreale Welt des Ersatzes schafft, in welcher das menschliche Glücksbedürfnis die Erfüllung finden 84

Wissenssoziologie soll, die ihm in der Wirklichkeit unter den obwaltenden sozialen Verhältnissen und ihrer politisch-rechtlichen Ordnung versagt bleiben muß. Das Bündnis von T h r o n und A l t a r ist so das Hauptthema aufklärerischer Ideologiekritik. I h r Ideologiebegriff ist jedoch dabei noch nicht radikal formuliert; das Phänomen der notwendigen Selbsttäuschung ist noch nicht in ihm aufgenommen. D i e auf ihm beruhende K r i t i k ist noch allein auf die interessenpsydiologische, individuelle Zurechnung angewiesen. Ideologie hat die Struktur der Lüge; insofern meint der Ideologiebegriff in diesem Stadium Machination und noch nicht „gesellschaftlich notwendigen Schein". Aufklärerischer Ideologiekritik liegt die Uberzeugung zugrunde, daß die Einsicht in die bloßgelegten Interessen diese auf ein M a ß reduziert, das sie miteinander vereinbar macht, wodurch ihre ideologische Verhüllung hinfällig werde. D a s aber setzt Freiheit v o n despotischer H e r r schaft, D e n k - und Redefreiheit voraus, sowie politische Verhältnisse, in denen die Interessengegensätze, die mit dem Mittel des Gedankens verhüllt oder gerechtfertigt werden sollen, nicht unüberbrückbar groß sind. S o ist die Ideologiekritik der A u f k l ä rung zugleich K r i t i k an der herrschenden politischen Ordnung. I n der K r i t i k jedoch offenbart sie selbst Elemente der Ideologie, glaubt sie doch, es genüge, durch K r i t i k das Bewußtsein in O r d nung zu bringen, um eine vernünftige und freie Gesellschaft zu begründen. D e n selbst wiederum ideologischen Charakter dieser Position, die noch keine Einsicht in die aus der Wirtschaft stammenden Antagonismen der entfalteten Industriegesellschaft hat bzw. haben kann, erschließt in vollem U m f a n g erst die Marx'sche Theorie. Sie bleibt der aufklärerischen Position verpflichtet und bildet sie weiter aus, indem sie sich zugleich von ihr abhebt und gerade im Widerspruch zu ihr den eigenen Ideologiebegriff entwickelt. D i e Problemstellung „Ideologie und Macht" erweitert und differenziert sich — der Entfaltung der Industriegesellschaft folgend — zum Thema „Ideologie und Klassengesellschaft und Klassenherrschaft". 85

Wissenssoziologie I n der Veränderung der aufklärerischen Ideologiekritik greift M a r x Feuerbachs Einsicht in den projektiven C h a r a k t e r der religiösen Vorstellungswelt auf. E r sieht in der Religion das notwendige falsche Bewußtsein gesellschaftlicher Verhältnisse, die noch vom Widerspruch zwischen den Kräften und den Bedürfnissen der Menschen bestimmt sind. Seine Ideologiekritik ist deshalb mehr als bloße Negation der Wünsche und Hoffnungen, die sich in der Religion ausdrücken. D e r religiöse Schein wird als Entäußerung des Menschen begriffen, als Widerschein menschlichen Wesens in bestimmten historisch-gesellschaftlichen V e r hältnissen, als „Ausdruck" des sozialen Zustandes und als „Protest" gegen ihn. Religion wird also nicht nur in ihrer affirmativen Funktion enthüllt, sondern zugleich selber in ihrer negativen und antizipatorischen Funktion in die K r i t i k der gesellschaftlichen Zustände, die der ideologischen Verklärung bedürfen, übergeführt. Solche Einsicht in die projektive Struktur religiösen Scheins treibt die Religionskritik über sich hinaus zur K r i t i k der gesellschaftlichen Bedingungen religiöser Entfremdung. U n d nicht nur das. Die K r i t i k , die jenes Denken als ideologisch bekämpft, das sich selbst undurchdringlich geworden ist und sich gegen ein Bewußtsein seines Zusammenhanges mit dem Prozeß der sozialen Kräfte verblendet hat, muß, um ihrem eigenen A n spruch zu genügen, mehr sein als bloß begriffliche Anstrengung, muß zur Aufhebung der Trennug von Theorie und Praxis selber in Praxis übergehen. Für die Marx'sche Ideologiekritik ist die im Bewußtsein des Menschen herrschende Entfremdung nur ein Moment der totalen Entfremdung des wirklichen menschlichen Lebens in der kapitalistischen Gesellschaft, deren Hauptmerkmal die ökonomische Entfremdung darstellt. Demzufolge ist die Überwindung des ideologischen Bewußtseins innerhalb der antagonistischen Klassengesellschaft Sache des praktisch-revolutionären Handelns. D e r über die realen V e r hältnisse gebreitete ideologische Schleier ist nur dann zu zerreißen, wenn es gelingt, die objektiven gesellschaftlichen Bedin86

Wissenssoziologie

gungen, denen die theoretischen Konstruktionen entsprechen, durch menschliche Tätigkeit zu verändern. Das ist der Marx'schen Ideologiekritik mögliches Ziel, weil ihr die Ideologiehaftigkeit des Denkens nicht als unabänderliches Merkmal der menschlichen Vernunft, sondern als Ergebnis der aus der Klassenstruktur sich ergebenden sozialen Widersprüche gilt. Dieses falsche Bewußtsein ist gesellschaftlich notwendiger Schein, dessen das kapitalistische System zu seiner Erhaltung bedarf. Es unterliegen ihm sowohl die Kapitalisten als auch die Proletarier, aber in Lagen, die sehr verschieden bedeutsam sind für Interesse und Fähigkeit, die Entfremdung aufzuheben. Die herrschende Klasse steht unter der Denknotwendigkeit, von ihrer Praxis in dem Sinne zu abstrahieren, daß die über sie hinaustreibenden gesellschaftlichen Widersprüche verdeckt werden. Das Proletariat dagegen als Negation der herrschenden Gesellschaftsordnung kann die negative Kraft des Gedankens positiv bewähren, indem es die in der Gesellschaft angelegten objektiven Möglichkeiten und Tendenzen gegen die Verewigung der bestehenden Verhältnisse in Anschlag bringt, indem es den illusionären Versöhnungen von Idee und Wirklichkeit widersteht und vielmehr das ideale Selbstverständnis der Gesellschaft mit deren eigener Realität konfrontiert und in Widerspruch setzt. Der konkrete historische Anlaß dieser Distanzierung zur bürgerlichen Gesellschaft, welche die Einsicht in deren historische Bedingtheit und die objektive soziale Funktion der in ihr herrschenden Bewußtseinsformen ermöglicht, liegt darin, daß das Proletariat die französische Revolution gegen deren eigenes Bewußtsein als Einsetzung einer neuen Klassenherrschaft erfährt. Idem die in der Menschenrechtserklärung proklamierten Ideen der Freiheit und Gleichheit, in welchen sich das Selbstbewußtsein der bürgerlichen Gesellschaft zusammenfaßt, als Unverletzlichkeit des Eigentums und als Gleichheit vor dem Gesetz verwirklicht werden, treten sie dem Proletariat als neue Besitztitel einer herrschenden Klasse entgegen. Die Marx'sche Ideologiekritik, 87

Wissenssoziologie die aus den Erfahrungen dieser Lage hervorgeht, ist im Hegelsdien Sinne bestimmte Negation, Konfrontation von Geistigem mit seiner Verwirklichung. Ideologie wird als objektiv notwendiges und zugleich falsches Bewußtsein gesehen, als „Verschränkung des Wahren und Unwahren". Ihre Unwahrheit ist in ihrem Verhältnis zur wirklichen Praxis begründet. So sind die Ideen der Freiheit und Gleichheit und Gerechtigkeit nicht „an sich" unwahr, sondern in jenem Schein, der besagen will, sie wären bereits realisiert. Gerade in seinem kritischen Aspekt also hält der Marx'sche Ideologiebegriff einen stellvertretenden Bezug der Ideologie auf Wahrheit fest, ist deshalb nicht nur ein Mittel der Polemik und Verdächtigung, sondern notwendige Bedingung des Denkens einer an Selbstaufklärung interessierten Gesellschaft. Solcher Fortführung der aufklärerischen Tradition in der klassischen Marx'schen Ideologiekritik des 19. Jahrhunderts steht die irrationalistische Ideologiekritik als extreme Gegenposition entgegen. Gerade das Denken, das in der Kritik an der Gesellschaft auf der Möglichkeit einer der Wahrheit mächtigen Vernunft beharrt, verfällt dem Ideologieverdacht, weil es wirklichkeitsfremd die unhintergehbaren irrationalen, emotionalen Grundlagen von Gesellschaft und Politik verfehlt. Die Wirklichkeitsfremdheit eines Denkens wird zum Indiz der Ideologie, wobei die Wirklichkeit, der sich das Denken fügen soll, mit der jeweils bestehenden Gesellschaftsstruktur und den sie sichernden Machtverhältnissen und Institutionen identifiziert wird. Der Vorrang der institutionellen staatlichen Ordnung wird aus der unveränderlichen Verderbtheit der menschlichen N a t u r abgeleitet. Die Vernunft gilt dieser Position als bloße Kompensation menschlicher Schwäche, steht im Dienste des Lebenswillens, ist Ersatz f ü r fehlende Instinkte. Verstellung und List zum Zwecke der Anpassung an eine sonst übermächtige Umwelt sind ihre Leistungen. Die Ideologiehaftigkeit des Denkens ist Grundmerkmal des Menschen und nicht Ergebnis sozialer, dem menschlichen 88

Wissenssoziologie Eingriff unterliegender Bedingungen. Jeder Versuch, das menschliche Denken und Handeln von Vorurteilen und Illusionen zu befreien, beeinträchtigt die Entlastungsfunktion der Vorurteile, zerstört schließlich die Verhaltenssicherheit der Menschen und setzt mit der Veränderung der Herrschaftsinstitutionen die notdürftig im Zaume gehaltenen destruktiven Energien frei. N u r wenige „freie Geister" können die Wahrheit ertragen; für die „Masse" sind Mythen und „Lebenslügen" unentbehrlich. Ideologiekritik kann nach dieser Konzeption deshalb nur Platz schaffen für neue Mythologie oder ist ein Mittel, die Unvermeidlichkeit ideologischen Denkens gegenüber der Ideologiekritik der Aufklärung nachzuweisen. Von Denkern wie Macchiavelli und Hobbes führt diese Linie über Napoleons denunziatorisdies Ausspielen der Realpolitik gegenüber den „Ideologen" bis hin zu Nietzsche, Pareto und Sorel 3 . Anders Comte als Repräsentant einer dritten Position des Ideologiegedankens, die aus der Auseinandersetzung mit den durch die französische Revolution entstandenen Problemen Profil gewinnt. Erklärtes Ziel der Comteschen Begründung der Soziologie ist es, die als Krise empfundene nachrevolutionäre Situation der Gesellschaft zu beenden. Indem er die Krise als „intellektuelle und damit moralische Anarchie" diagnostiziert*, muß er das Mittel zur Überwindung der Krise in einer U m wälzung des Wissens der Gesellschaft von sich selbst sehen. Richtunggebend ist dabei die Uberzeugung, daß die so erfolgreichen Methoden der Naturerkenntnis und Naturbeherrschung auf die Gesellschaft übertragen und für deren „Reorganisation" fruchtbar gemacht werden können 5 . Grundlage solcher Erwartung ist die von Comte im Dreistadiengesetz vermeintlich als notwendig erkannte Entwicklung des menschlichen Denkens in drei aufeinanderfolgenden Phasen: der theologisch-fiktiven, der metaphysisch-abstrakten und der positiven. Im Dreistadiengesetz hat dabei die Comtesche Soziologie ein im Ansatz geradezu wissenssoziologisches Theorem zu ihrem Zentrum. Denn durch das Dreistadiengesetz wird die Gesellschaftsentwicklung in ihrer

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Richtung und ihrer Dynamik aus dem Fortschritt der Naturerkenntnis und der Naturbeherrschung begriffen, wobei jeweils Gesellschaftsformen und die sie bestimmenden politischen Machtgruppen den Formen der Erkenntnis und ihren Trägern zugeordnet werden. Diese Korrelation von Gesellschafts- und Erkenntnisentwicklung wird konsequent bis zu der Konstellation durchgeführt, in der das Entstehen der positiven Soziologie als möglich und notwendig nachgewiesen werden kann. Das heißt, die Einsicht in die Konvergenz von Gesellschaft und Erkenntnisentwicklung ist Voraussetzung und zugleich Beginn der Soziologie. Indem Comte das Denken primär als ein Mittel der gesellschaftlichen Koordination und Integration betrachtet, ist die Richtung seiner Kritik bestimmt: Sie hat Hindernisse für das Positivwerden von Sozialwissenschaften und Gesellschaft wegzuräumen. Wenn es gelingt, „Ordnung und Fortschritt zu versöhnen 6 ", d. h. die stabilisierende Funktion des Denkens, wie sie einmal vorbildlich im theologischen Denken des Mittelalters verwirklicht war, mit dem Fortschritt der Naturerkenntnis zu vereinen, bzw. in den Prinzipien der positiven Naturerkenntnis selbst zu begründen, ist die nadirevolutionäre Krisensituation zu überwinden. Das ist nach Comte nur zu erreichen durch die Anwendung der Prinzipien positiver Wissenschaft auf Politik und Soziologie und durch die Übertragung der Macht auf die Elite, die sich aus den führenden Industriellen und Sozialwissenschaftlern zusammensetzen soll. Ihre Aufgabe ist die Organisation der Gesellschaft auf der Grundlage einer Analyse von Verhaltensgesetzlichkeiten und nach Maßgabe naturgesetzlicher Konstanten. Vor dem in der gesellschaftlichen Ordnung realisierten Naturgesetz beugen sich illusionäre Hoffnungen und partielle Interessen wie vor keiner anderen Autorität. N u r die Einführung des naturwissenschaftlichen Denkens in die politische und soziale Theorie erzieht den Menschen zu jener „weisen Resignation 7 ", die die Gewähr stabiler und dauerhafter Gesellschaftsordnung ist. Da Comte die Krise nachrevolutionärer Gesellschaft bloß als 90

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geistige und moralische Anarchie diagnostiziert, erwartet er eben von dieser „Resignation" die Uberwindung der Krise. Gerade der Verzicht auf strukturelle Veränderungen der Gesellschaft wird also zur Voraussetzung für die Überwindung der Krise. Damit ist Comtes Position deutlich von der Marx'schen Position abgegrenzt. Während Marx die metaphysischen Systeme nicht einfach als unwahr abtut, sondern auf die Verwirklichung ihres uneingelösten Anspruches dringt, betrachtet Comte die metaphysisdien Spekulationen bloß als illusionäres unruhestiftendes Wunschdenken, dessen Wahrheitsanspruch unberücksichtigt bleiben kann zugunsten eines Bewußtseins, das zum „Spiegel der äußeren Ordnung 8 " transformiert ist. Die spontanen und aktiven Funktionen des Bewußtseins haben im positiven Denken hinter den rezeptiven und passiven zurückzutreten. Solche in Comte durchbrechende soziologische Haltung zum Denken, die es als Mittel sozialer Integration und Kontrollen glaubt funktional bestimmen zu können, offenbart in sich jedoch unabweisbar ihre Gebundenheit an die realen Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft. Denn in dem Maße wie sie am Denken nurmehr die Funktion der sozialen Kontrolle gelten läßt, wird sie selbst Instrument der sozialen Kontrolle mit der Funktion, die Interessen des Bürgertums, das die Wirtschaftskraft der kapitalistischen Gesellschaft bei gleichzeitiger Wahrung ihrer Struktur und Institutionen steigern will, gegen die sozialen Kräfte abzusichern, die auf weitere Revolutionierung der Gesellschaft drängen. Das heißt, die kritische Intention der Comteschen Ideologielehre wird von ihrer affirmativen Funktion eingeholt; eine Konstellation, die auch von der späteren positivistischen Ideologielehre kaum überwunden wird. Und eben das ist nidit ohne Belang für die Wissenssoziologie. Als akademische Disziplin entsteht sie ja gerade mit dem Anspruch, nur die theoretische Systematisierung der Situation zu sein, die sich aus dem Vollzug der Ideologiekritik im 19. Jahrhundert ergibt. Der Prozeß der gegenseitigen Relativierung aller 91

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Standorte mit dem Mittel der Ideologiekritik sei an einen Punkt gelangt, jenseits dessen das Ideologieproblem in neuer Sicht sich stelle, und zwar insofern, als aus der Einsicht in die Bedingtheit aller Standorte neue Möglichkeiten ihrer Vereinbarkeit entstünden 9 . Als Voraussetzung für das Erschließen solcher Möglichkeit gilt, daß der Ideologiebegriff aus dem Zusammenhang sozialphilosophischer Theorien, in die er als Mittel der Ideologiekritik eingebettet war, herausgelöst wird, und daß er an Stelle der bisherigen polemischen Funktion einen wertfreien neutralen Charakter annimmt. So besagt schon der Name Wissenssoziologie, daß alles Bewußtsein, nicht nur das falsche, sondern auch das wahre, eben das Wissen, dem Nachweis der gesellschaftlichen Bedingtheit unterliegen soll. Welche Struktur die Wissenssoziologie, die in der deutschen Soziologie und Philosophie der zwanziger Jahre ausgebildet wird, im Prozeß ihres Entstehens bekommt, ist dabei nicht nur abhängig von der philosophischen Position, die ihr jeweils zugrunde liegt, sondern auch von der Richtung der Ideologiekritik, gegen die sie sich wendet, von der sie aber zugleich in gewissem Maße abhängig bleibt. So ist die Wissenssoziologie Max Schelers10 geprägt von dem Bemühen, gegenüber dem Gomteschen Dreistadiengesetz und dem Marx'schen Uberbau-Unterbau-Sdiema in dem Verhältnis von Denken und Gesellschaft die Geltung einer von historischen und soziologischen Bedingungen unabhängigen Wert- und Geistsphäre zu erweisen. Scheler löst die Comtesche Reduzierung des Denkens auf ein Mittel der Naturerkenntnis und Naturbeherrschung auf, indem er sie einbezieht in eine Typologie des Denkens nach dessen intentionaler Struktur. Gleichwohl gewinnt er diese Typologie aus der Comteschen Dreistadienlehre, indem er die Stadien des Entwicklungsprozesses zu zeitlos gültigen Wesensformen menschlichen Wissens überhaupt erklärt, die in jedem historischen Zeitpunkt nebeneinander bestehen und wirksam sind, von denen keine die andere ersetzen oder vertreten kann. 92

Wissenssoziologie

Damit werden die rein wissenssoziologischen Ansätze im Werk Comtes freigelegt und die kritische Spitze der Comteschen Soziologie entfernt. Eine kritische Intention Comtesdier Prägung ist der Wissenssoziologie Schelers von ihrem philosophischen Ansatz her unmöglich. Ihr liegt, wie dem Denken Schelers überhaupt, die ontologisch verstandene Trennung von Dasein und Wesen, Natur und Geist, als zwei letzten seinshaften Gegebenheiten zugrunde, die sich in ihrer wissenssoziologischen Ausbildung hauptsächlich gegen das Marx'sche Uberbau-Unterbau-Theorem richtet. Die Idealfaktoren bilden ein Reich ewiger Wahrheiten, Ideen und Wertwesenheiten in eigener zeitlos gültiger Rangordnung. Ihnen steht eine davon wesensverschiedene, rein naturale Triebstruktur als Unterbau oder Inbegriff der Realfaktoren gegenüber, ebenso absolut gültig und historisch invariant. Beide Seinsbereiche bestehen, jeweils eigener Gesetzlichkeit unterworfen, unabhängig voneinander und vermögen einander qualitativ nicht zu beeinflussen. Lediglich beim Realwerden ist eine Wechselwirkung von Geist und Natur möglich. Der Geist hat nicht die Macht, von sich aus seine Inhalte ins Leben zu setzen. Was von potentiellen geistigen Gehalten real wird, liegt bei den realen Verhältnissen, die allerdings keinen strukturierenden, sondern nur einen begrenzenden Einfluß auf das Wirklichwerden des Geistes haben können. Wie die Realfaktoren gewissermaßen nur „schleusenöffnend" und „schleusenschließend" den Eintritt des Geistes in die Wirklichkeit regulieren, ist es den Idealfaktoren ihrerseits verwehrt, in das wertblinde Wirken der Realfaktoren irgendwie formend oder verändernd einzugreifen. Für die Wissenssoziologie, die nach Sdieler den Modus des möglichen Zusammenwirkens der beiden platonisch voneinander abgehobenen Bereiche zu finden hat, bedeuten diese Voraussetzungen, daß sie den Einfluß der Gesellschaft auf das Denken und Wissen lediglich als Auswahlfunktion fassen kann. Die soziologische Bedingtheit einzig des Realwerdens des Geistes ist mögliches Thema der Schelerschen Wissenssoziologie. Die geisti93

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gen Sachverhalte selbst, der Inhalt oder das Quäle des Wissens bleiben jenseits jeder soziologischen Relativierung, damit aber auch der Geltungsbereich des Wissens. Entgeht die Schelersche Wissenssoziologie auf diese Weise der Relativismusproblematik, so doch nur um den Preis der Ohnmachtserklärung des Geistes gegenüber dem sinnblinden Walten der massiveren Realfaktoren. Sie setzt das, was an Wesensgehalten im Wissen erscheint, als vom historisch-gesellschaftlichen Prozeß unberührbares Element; damit verliert der Begriff des falschen Bewußtseins wie auch der der Wahrheit seinen Sinn. Die Brücken zur Ideologiekritik sind abgebrochen, und die daraus resultierende Wissenssoziologie kann die Irrationalität des sich selbst überlassenen Gesellschaftsprozesses nurmehr bestätigen, gerade indem sie ihn — verbunden mit der historischsozialen Ohnmachtserklärung des Geistes — in naturalen Triebstrukturen fundiert. Karl Mannheim teilt mit Scheler die Frontstellung gegen die Ideologiekritik des historischen Materialismus. Zugleich aber erkennt er, daß die Schelersche Wissenssoziologie auf Grund ihrer metaphysischen Voraussetzungen nicht an die von der Ideologiekritik geschaffene Problemlage heranreicht. Die eigentliche Problematik, die die Wissenssoziologie aufgreifen muß, will sie als Wissenschaft der Ideologiekritik ihre Funktionen streitig machen, beginnt für Mannheim erst dort, wo die gesellschaftlichen Verhältnisse eine mitbestimmende Bedeutung für den Geltungsbereich geistiger Zusammenhänge und ihre Struktur haben, wo ihre „Geltungsrelevanz" beachtet werden muß. Mannheim erscheint dieser Ansatz möglich, weil er Geist und Gesellschaftsprozeß nicht als zwei eigene, sich statisch gegenüberstehende Seinsbereiche ansieht, sondern als zwei aufeinander angewiesene und miteinander sich verändernde Momente eines prozeßhaften Ganzen: der Geschichte. Der Geschichtsprozeß ist eine dynamische Einheit, die Geist und Leben umfaßt; sind aber beide, Geist und Leben, historisch, so gibt es kein reines Ansich94

Wissenssoziologie sein des Geistes, gibt es kein Denken, das von der Entwicklung und Wandlung im realen Geschichtsprozeß unberührt bliebe. Und wie es für Mannheim nach den Voraussetzungen einer dynamisch-historischen Lebensphilosophie keine seinsabgelöste Entwicklung des Geistes gibt, so auch kein geistfremdes oder geistblindes, rein naturales Geschehen, das geschichtlich bedeutsam werden könnte. Das Verhältnis des Überbaus zum Unterbau und des Unterbaus zum Uberbau ist gegenseitig. Das aber führt zu der Frage, ob und wie es zu rechtfertigen ist, daß Mannheim die Wissenssoziologie als „Totalitätskonstruktion" des Geschichtsprozesses gerade vom „Unterbau" her und zwar in dessen Zentrierung um die sozial-ökonomischen Ordnungen anlegen will. Mannheim begegnet dieser Frage mit dem Hinweis, daß sich „in der gegenwärtigen Epoche des Geistes gerade hierher der Realitätsakzent" im Erleben verschoben habe". Das methodische Recht der wissenssoziologischen Fragestellung wird damit nicht theoretisch begründet, sondern aus einem allem Theoretischen zugrundeliegenden Seins- und Geschichtserleben des Menschen der Gegenwart hergeleitet. Damit wendet Mannheim die „verstehende" Methode seiner Wissenssoziologie, geistige Zusammenhänge und Denkströmungen als „Ausdruck eines veränderten Erlebens einer sich stets verschiebenden existentiellen Unterlage 1 2 " zu deuten, auf die Wissenssoziologie selber an. Dazu sieht sich Mannheim gehalten, weil er in der Ideologiehaftigkeit — der Erscheinung, daß alles historisch-soziologische Denken als „seinsverbunden" interpretiert werden kann — das Wesensmerkmal der menschlichen Denkstruktur erblickt. Der Anspruch auf Wahrheit erscheint ihm als eine notwendige Selbsttäuschung, die aus der Gleichsetzung bestimmter historisch möglicher Perspektiven mit der Einsicht in den Gesamtverlauf der Geschichte resultiert. Mit der Verallgemeinerung partieller historischer Perspektiven sei in der Bemühung um Erkenntnis von Gesellschaft und Geschichte stets die metaphysische Hypostasierung gewisser Wirklichkeitsbereiche verbunden. Von diesem

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Wissenssoziologie

Sachverhalt habe die Wissenssoziologie auszugehen; die Tendenz zur Hypostasierung bilde das zentrale Thema ihres Forschens. Ziel müsse dabei sein, die jeweiligen Systematisierungszentren, die vor aller Reflexion im Begriffe liegenden Denkvoraussetzungen, die den Schein des Selbstverständlichen an sich haben, ins Bewußtsein zu heben und den Grund für diesen Schein des Selbstverständlichen einsichtig zu machen. Das eben gilt von vornherein auch für die Wissenssoziologie selber, insofern sie die Erlebnisgrundlage der Ideologiekritik in die Reflexion hebt und in ihr immer noch die eigene vortheoretische Voraussetzung erkennt, insofern sie sich also gleichsam als die Intentio obliqua der Ideologiekritik begründet. Indem die Wissenssoziologie sich in ihrer geistesgeschichtlidien Ausgangslage derart der Ideologiekritik verpflichtet weiß, betrachtet sie diese doch als eine im wesentlichen abgeschlossene Phase des Ideologiegedankens. Sie bricht mit der Intention der Ideologiekritik und will diese, von ihrer aufklärerischen Bedeutung gereinigt, als neutrale soziologische Forschungsmethode der akademischen geisteswissenschaftlichen Praxis „integrieren". Dazu funktioniert sie die analytischen Begriffe der Ideologiekritik in deskriptive um, setzt sie an die Stelle von Analyse und Kritik morphologische Beschreibung. Indem Seinsverbundenheit und mangelnde Objektivität des Denkens gleichgesetzt werden, gerinnt die soziale Wirklichkeit zu einem wertneutralen Zurechnungsobjekt. Wenn dabei die ökonomischen Faktoren aus dem soziologisdien Ansatz weitgehend ausgeschieden werden, „um das sui generis Soziale erfassen zu können 13 ", führt das, verbunden mit einer Repsychologisierung der Ideologiekritik, zu einer Formalisierung der wissenssoziologischen Kategorien. Werden die Motive für ideologisches Bewußtsein in der Beschaffenheit der menschlichen Denkstruktur oder aber in subjektivpsychischem Befangensein in kollektiven Willensrichtungen aufgesucht, so kann das „soziale Sein", auf das hin Geistiges funktionalisiert werden soll, in der Wissenssoziologie „letzten Endes nur noch als irrationale Grenzgröße ohne irgendwelche positiven 96

Wissenssoziologie

Bestimmungen 14 " auftreten. Diese Unbestimmtheit ihres Grundbegriffes jedoch setzt die Wissenssoziologie entgegen dem Vorhaben Mannheims der Gefahr aus, der gerade hier wieder eindringenden Relativismusproblematik nur um den Preis der Wiederaufnahme von Hypostasierungen einer idealistischen Geschichtsmetaphysik Herr werden zu können. Die klassische Ideologiekritik wollte die herrschenden Denkweisen aus der jeweiligen Produktionsweise und dem ihr entsprechenden gesellschaftlichen Ganzen ableiten. Die Formen und Gehalte des Denkens wurden als die Weise interpretiert, in der die Welt den entsprechenden Gruppen dieser Gesellschaft kraft ihres gegenseitigen Verhältnisses in der Arbeit erscheinen muß. Die Wissenssoziologie will demgegenüber die herrschenden Vorstellungsweisen jeweils Schichten und sozialen Gruppen zuordnen, ohne sich dabei an einer umfassenden, im ökonomischen begründeten Theorie von Geschichte und Gesellschaft zu orientieren. Die Gruppen und Standorte, auf die hier Geistiges bezogen werden soll, werden damit aus dem Selbstbewußtsein der Gruppen und Schichten erschlossen, werden so genommen, wie sie sich selber verstehen und voneinander differenzieren oder wie sie aus ihren Denkweisen und Vorstellungsgehalten, die als geistiger Ausdruck eines Erlebnistypus verstanden werden, rekonstruiert werden können. So werden letztlich aus geistigen Gebilden Standorte und soziale Gruppierungen destilliert, auf die die geistigen Gebilde wiederum nur zurückbezogen werden, ohne daß bei diesem Verfahren andere soziale Kriterien der Zuordnung anwendbar wären, als jene, die die sozialen Gruppierungen als ihre eigenen jeweils schon artikuliert haben. Und nicht nur das. Die Methode einer um den Begriff der funktionalen Zurechnung zentrierten Reduktion von Bewußtsein auf soziales Sein muß schließlich auch noch den anvisierten funktionalen Bezug selbst aus dem Griff verlieren zugunsten einer bloßen Feststellung von „Formentsprechungen" und „Stilgleichheiten" in der Dynamik des Geistes und der Gesellschaft. Die die Wissenssoziologie eigentlich begründende Fragestellung nach

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Lieber

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Wissenssoziologie der Priorität der Gesellschaft gegenüber dem Geiste findet so hier ihr Ende und erscheint transformiert in eine Geschichtsphilosophie, nach der die Geschichte ein werdendes Absolutes ist; freilich ein Absolutes, das — eben in Geist und Gesellschaft emaniert — nur vermöge eines wissenssoziologischen Verfahrens soll erschlossen werden können, das kaum mehr zu tun vermag, als auf eine Sinnhaftigkeit in der Abfolge der Standorte zu vertrauen 1 5 . Beide Aspekte Mannheimschen Denkens, die Repsychologisierung des Ideologieproblems und die Philosophie der geschichtlichen Emanation eines Absoluten, reduzieren die im Ideologiebegriff ursprünglich angezielte Bewußtseins- und Gesellschaftskritik auf eine Selbstkritik lediglich des Bewußtseins. Sie kann zwar von der ideologischen Befangenheit nicht grundsätzlich befreien, sie aber doch mindern und in Fluß bringen. Soweit der ideologischen Befangenheit zu entgehen ist, entgeht man ihr nicht, indem man die realen objektiven Bedingungen der Ideologiebildung zum Zwecke struktureller Veränderungen aufsucht, sondern indem man die eigenen Intentionen und U r teile nurmehr gebrochen durch das Medium der Selbstreflexion vorträgt, den Wahrheitsanspruch nicht mehr in die Aussagengehalte legt, sondern in das sie begleitende Bewußtsein ihrer nur partikularen Geltung. Mit solchem Reflexiv- und Prinzipiellwerden des Ideologieverdachtes verändert sich jedoch etwas in der Seinsverbundenheit des Denkens: Ideologiebildung ist nurmehr als gebrochene, als eine mit schlechtem Gewissen möglich; sie muß schon von vornherein ein Moment von Revisionsbereitschaft enthalten, steht unter dem Zwang der Anpassung an eine gegen sie erfolgreiche K r i t i k und an eine allgemeine Skepsis gegenüber dem mit eigenem Anspruch aus dem gesellschaftlichen P r o z e ß heraustretenden Gedanken. Will Denken überhaupt noch zur Diskussion, die von dem D i k t u m des totalen Ideologieverdachts beherrscht wird, zugelassen werden, muß es selber schon von vornherein sein cui bono und den Index seiner Seinsverbundenheit öffentlich darlegen. 98

Wissenssoziologie

Der totale Ideologieverdacht Mannheims läßt kein Denken und keine Theorie aus, gibt aber dafür dem Denken als solchem schon die Chance, die Ideologiebildung zu kontrollieren und die Menschen gegen sie zu immunisieren, indem es ihr die Wirksamkeit der Naivität nimmt. Indem Mannheim die Ideologiehaftigkeit mit seiner These von der Seinsverbundenheit des Denkens zum Wesensmerkmal der menschlichen Denkstruktur erklärt, werden Ideologiebildung und Ideologieabbau wieder zu bloßen Bewußtseinsprozessen. Da Mannheim die „sozialen Seinslagen" als Erlebenslagen faßt, ist ihm ein Prozeß der geistigen Distanzierung gegenüber den sozialen Lagen vorstellbar, der eine Veränderung der sozialen Lagen selber mit sich bringt. Das aber gibt den Intellektuellen ihre besondere Stellung und Aufgabe in der Gesellschaft. Da Mannheim das „soziale Sein" nicht in den Klassengegensätzen aufgehen läßt, und da über die Zugehörigkeit zu einer Klasse primär die subjektiven Empfindungen der Betroffenen entscheiden, kann er die Klassenbildung bei jenen ihre Grenze finden lassen, die schon immer dem sozialen Prozeß relativ distanziert gegenüberstanden, weil sie ihm im Medium des Gedankens zum Ausdruck verhalfen, und die nun, wo sie im Reflexivwerden des Ideologiegedankens der allgemeinen Krisis der Denklage gewahr werden, erhöhte Distanz zu ihrer Ausgangslage gewinnen. So kann Mannheim die Intellektuellen, die die Träger dieser Bewegung des Reflexivwerdens des Ideologiegedankens sind, als „sozial freischwebend" bestimmen und ihnen das Vermögen zusprechen, sich aus der Verklammerung in partikulare Sichtweisen und Interessen heraus auf einen Standort zu erheben, an dem etwas vom Gesamtsinn der Geschichte aufleuchte. Die sozial freischwebende Intelligenz hat dank ihrer Einsicht in die Partikularität aller sich bekämpfenden Gruppen, Schichten und Klassen die Möglichkeit der Kontrolle aller Befangenheiten, denen auch sie immer wieder unterliegt. Sie ist deshalb dazu prädestiniert, in der kritisch gewordenen Denklage der Gegenwart die „Intention auf das Ganze" wachzuhalten. Sie hat die sich an99 7*

Wissenssoziologie einander abarbeitenden Partikularsichten in Versuche zu einer „Kultursynthese der Gegenwart" aufzunehmen, die nicht einen „zeitlos geltenden Abschluß", sondern eine jeweils „mögliche maximale Erweiterung der Sicht" zum Ziel haben. Indem sie in einem stets neu zu prüfenden „Situationsbericht" den Menschen immer mehr aus dem Verhaftetsein an vergängliche Sicherheiten löst, hat sie ihm durch den immer tiefer dringenden und umfassender werdenden Einblick in den Wandel seiner sozialen und geistigen Selbstverwirklichung die werdende T o t a l i t ä t seines eigenen Wesens zu erschließen. Das aber bedingt, d a ß die Intelligenz, und die Wissenssoziologie mit ihr, beim bloßen Aufweis der Partikularität aller Standorte nicht stehenbleiben kann. Sie muß vielmehr über die wertfreie Zurechnung von Denken und sozialer Lage hinausgehen und innerhalb der Seinsverbundenheit des Denkens wertend differenzieren. Sie muß Zeitdiagnostik als Aufgabe akzeptieren. D a m i t jedoch kehrt die Problematik der Ideologiekritik, zu deren Uberwindung die Wissenssoziologie begründet wurde, zurück und trifft die Wissenssoziologie insofern mit vermehrter Wudit, als sie die Basis einer eigenen sadihaltigen Theorie von der Verfassung der Gesellschaft und dem in ihr möglichen Denken preisgegeben hat. Denn versteht sich die Wissenssoziologie als „Zeitdiagnostik", muß sie die miteinander kämpfenden und aufeinanderfolgenden „Partikularsichten" in ihrem „Stellenwert und ihrer Bedeutung" zu erfassen suchen, müssen die Momente von Wahrheit in den Partikularsichten aufgesucht werden, aufgrund derer sie sich perspektivisch in das werdende Sinnganze der Geschichte einfügen lassen. Die Kriterien, anhand derer die Wahrheitsgehalte feststellbar sein sollen, zu denen das Denken bei aller Seinsverbundenheit fähig ist, glaubt Mannheim zu gewinnen, indem er die Seinsverbundenheit näher als „Seinsadäquatheit" bzw. als „Seinsinadäquatheit" bestimmt. Als wahr erweisen sich danach Gebilde, Haltungen und Urteile nur insoweit, als sie sich für die Lage des erkennenden Subjektes im Gesellschaftsprozeß und für 100

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sein praktisches Verhalten in ihm bewähren. Diese pragmatische Wahrheitsbestimmung wird noch deutlicher in Mannheims Unterscheidung zwischen ideologischem und utopischem Denken. Beiden, Ideologien und Utopien, ist der Charakter der „Seinsinkongruenz", d. h. ihre „Nichtübereinstimmung" mit der jeweiligen gesellschaftlichen Wirklichkeit gemeinsam. Während jedoch dem utopischen Denken eine „sprengende" Wirkung zukommt, die auf den Weg zur Verwirklichung der utopischen Vorstellungen führt, geht den Ideologien eine verändernde Wirkung ab. Die spezifische Differenz zwischen ideologischem und utopischem Denken liegt also nach Mannheim darin, ob ein Denken sich in der Geschichte als realisierbar oder unrealisierbar herausstellt. Die Frage nach wahr oder falsch, adäquat und inadäquat erweist sich als Frage nach dem Erfolg. Der damit noch keineswegs gebannte Relativismus drängt jedoch auch noch über solche pragmatische Konzeption hinaus. Soll der totale Ideologieverdacht nicht dazu führen, daß der Gedanke im Kampf der gesellschaftlichen Kräfte seine regulierende Funktion verliert und die gesellschaftlichen Konflikte dem blinden Ungefähr des nackten Machtkampfes überlassen werden, muß die Wissenssoziologie an der metaphysischen Voraussetzung eines Gesamtsinnes der Geschichte festhalten, der als ein werdender die sich bekämpfenden Klassen und Gruppen durchwaltet und den die Wissenssoziologie in ihren kultursynthetischen Entwürfen immer umfassender freilegen kann. Die auseinanderstrebende Gewalt der Partikularsichten und die destruktive Tendenz des totalen Ideologieverdachtes erscheinen durch den Leitgedanken der Mannheimschen Soziologie gebändigt, durch den unbestimmten Glauben, daß alle „Denkstandorte und Denkgehalte . . . Teile eines über sie hinausragenden Werdens sind 18 ". Erst die Vorstellung, daß der gesamte Prozeß der Geschichte und seine Deutungsversuche in einem sinnvollen Zusammenhang stehen, stiftet die gesuchte tiefere Einheit hinter allem Wandel und Wechsel der Standorte. Die Hypostasierung des historischen Geschehens zu einem „werdenden Absoluten" 101

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schafft der Wissenssoziologie den archimedischen Punkt, von dem aus die in ihr angelegten relativistischen Konsequenzen wenigstens hypothetisch am Ausmünden in eine prinzipielle Skepsis gehindert werden können. Die alle metaphysischen Sicherheiten „dynamisch" auflösende Wissenssoziologie kann also selber auf den Halt einer metaphysischen Fundierung nicht verzichten. Mehr noch: sie hebt die von ihr vermeintlich zunächst übernommene, in der Ideologiekritik geleistete, Zerstörung aller absoluten philosophischen Sinnforschung dadurch wieder auf, daß sie sich selbst als deren fortgeschrittenste Position erklärt. Aber konnte Hegel noch die Behauptung eines verstehbaren Sinnes hinter den Begebenheiten im Zusammenhang seines Systems wirklich ausführen und eben damit die klassische Ideologiekritik herausfordern, kann Mannheim ihn — im Widerspruch zu seinem eigenen totalen Ideologiebegriff — nur mehr beteuern. Den Schwierigkeiten, in die die Mannheimsche Wissenssoziologie durch den totalen Ideologiebegriff geraten ist und denen sie mit den von ihr beanspruchten Mitteln einer speziellen soziologischen Disziplin gar nicht begegnen kann, geht die Verwendung des Ideologiebegriffs in der konsequent positivistischen Soziologie (für die hier Geiger als Repräsentant stehen darf) aus dem Wege. Sie betrachtet das Ideologieproblem nur als einen Spezialfall erkenntnistheoretischer Reflexion, der sich die Soziologie zur Sicherung ihrer Aussagen auch selbst zu unterziehen hat. Ideologie erscheint ihr nur als erkenntnistheoretischer Begriff sinnvoll wissenschaftlich anwendbar. Der Geigersche Ansatz ist nur mehr mittelbar an den politischen oder gesellschaftlichen Implikationen des ideologischen Denkens interessiert, unmittelbar zielt er vielmehr auf die Reinhaltung wissenschaftlicher Erkenntnis, die mit den Mitteln der traditionellen Logik und Erkenntniskritik zu leisten ist17. Der Ideologiebegriff wird somit wieder völlig auf die Tradition festgelegt, die sich aus der Idolenlehre Bacons herleitet, fällt damit jedoch aus dem Zusammenhang geschichtlich-gesellschaft102

Wissenssoziologie liehen Denkens heraus, dem die Wissenssoziologie unabdingbar verpflichtet ist. Das Wirken Mannheims und einiger seiner Schüler in der Emigration sowie die Übersetzung seiner Schriften zur Begründung der Wissenssoziologie aus den zwanziger Jahren verschafften ihrer Thematik Eingang auch vor allem in die amerikanische Soziologie. Die dortige Diskussion der mit dem totalen Ideologiebegriff verbundenen Probleme führte jedoch dazu, daß weniger die philosophische Basis der Mannheimschen Konzeption von der amerikanischen Soziologie reflektiert wurde, als vielmehr die Teile ihres Ansatzes, die sich vermeintlich gefahrlos in eine empirische Forschungspraxis einfügen ließen. So beschränkten sich die amerikanischen Soziologen vorwiegend darauf, Wissenssoziologie als soziologische Geistesgeschichte zu betreiben; sie bedienen sich dabei der Methode der Zuordnung von Denkweisen und Werthaltungen zu sozialen Gruppen und Schichten oder suchen systematisch die funktionalen Beziehungen zwischen Denken und sozialem Handeln zu bestimmen, ohne daß sie selber der Frage der Geltungsrelevanz des Sozialen für gedankliche Gebilde noch weiter nachgehen. Sie wird vielmehr als ein metasoziales Problem weitgehend ausgeklammert. Mannheim hatte die Wissenssoziologie in einer Gesellschaft konzipiert, die durch die ihr innewohnenden Widersprüche in ihrem Bestand bedroht erschien; der totale Ideologieverdacht war Bedingung und Reflex dieser Situation, in der die Wissenssoziologie so etwas wie eine Schlichtungsinstanz sein sollte. Mannheim mußte einsehen, daß die Wissenssoziologie eine solche Funktion nur unter Beibehaltung eines wertenden Ideologiebegriffes übernehmen konnte; insofern sind im Mannheimschen Begriff der Ideologie trotz aller Nivellierung noch immer Momente des kritischen Begriffes enthalten, der falsches Bewußtsein meint. In der amerikanischen Soziologie dagegen, die offenbar nicht wie Mannheim von einer als „kritisch" empfundenen Denklage ausgeht, wird der Wissenssoziologie nicht eine Schlichtungsfunktion gegenüber streitenden Denksystemen und 103

Wissenssoziologie Werthaltungen zugedacht, sondern primär die Funktion eines empirischen Forschungsinstrumentes. Selbst der von ihr adaptierte Ideologiebegriii wird aus ihr als Ballast, der ihre Loslösung von erkenntnistheoretischen wie geschiditsphilosophischen Problemen verhindert, zugunsten des Aufweises empirischer Zusammenhänge von Wissen und Gesellschaft entfernt. I m Laufe dieser Entwicklung wird die Wissenssoziologie in ihrem theoretischen Aspekt in die allgemeine soziologische Theorie ( T a l c o t t Parsons 1 8 ) eingeordnet. Es verschiebt sich der Schwerpunkt des konkreten Forschungsinteresses von der Analyse politisch relevanter Anschauungen von Gesellschaft und Geschichte zur Analyse der wissenschaftstheoretisch relevanten sozialen B e dingungen von Wissenschaftsentwicklung und Wissenschaftsbetrieb, zum Ausbau einer Wissenschaftssoziologie ( R . K . Merton, B . Barber 1 *). Ziel der allgemeinen systematisch-theoretischen E r örterungen wie der speziellen sozialgesdiiditlichen und institutionellen Untersuchungen ist es, die sozialen Funktionen des Denkens und Vorstellens festzustellen, sei es, daß sie als generelle und invariante vom sozialen Wandel abgehoben, sei es, daß sie aus den spezifischen Formierungen sozialen Handelns und sozialer Beziehungen in kulturellen und geistigen Institutionen abgeleitet werden. Die Hauptfunktionen des Denkens und Vorstellens werden als solche der „Realitätsanpassung" und der „Integration" beschrieben. Es wird verfolgt, wie sich mit dem Wandel der Sozialstruktur diese Zentralfunktionen in ihrem Inhalt, der A r t des Wissens, das jeweils diese Funktion leistet, verändern, wie sie aber in ihrer formalen Struktur gleichbleiben. D a s Hauptaugenmerk liegt dabei darauf, daß und auf welche A r t diese Funktionen mit dem Übergang traditioneller Gesellschaften in die moderne Gesellschaft auf das „empirische Wissen" und die an ihm orientierte moderne Wissenschaftsentwicklung übergehen, darauf also, daß in dem P r o z e ß des sozialen Wandels, den M . Weber als „Rationalisierung" beschrieb, sich ein Rollentyp herausbildet, der sachbezogen neutral, zugleich universalistisch orientiert und spezialistisch differenziert die 104

Wissenssoziologie

moderne Entwicklung in Wirtschaft wie Wissenschaft erst zuläßt. In derart gerichteten Untersuchungen, die Denken und Vorstellungen nach dem Gesichtspunkt ihres Beitrages zur Erhaltung der Integrität gegebener Strukturen betrachten und im Dominieren eines empirischen Wissenschaftsbegriffs den Fluchtpunkt der Konvergenz von Gesellschafts- und Wissenschaftsentwicklung sehen, setzen sich demnach Ansätze der Comteschen Soziologie ungebrochen f o r t " ; damit aber auch die Tendenz der Wissenssoziologie, ihr Selbstverständnis aus ihrer Leistung für die Erhaltung des Gleichgewichts im vorhandenen sozialen System zu gewinnen. Die auf solche Weise in Amerika verarbeitete und weiter politisch wie philosophisch neutralisierte wissenssoziologische Konzeption wirkte auf die deutsche Wissenssoziologie zurück, traf hier jedoch auf eine Situation der Reflexion der Probleme von Bewußtsein und Gesellschaft, die nach wie vor durch die Spannung zwischen geschiditsphilosophisch-kritisch gezielter Theorie der Gesellschaft und empirisch zu begründender soziologischer Theorie gekennzeichnet ist, damit aber zugleich auch immer noch als eine solche zwischen der Bindung an und Verarbeitung von Traditionen klassischer Ideologiekritik und der Methodik positiv-empirisch zu leistender Zurechnungen von sozialem Standort und Bewußtsein. Die eingangs erwähnte Schwierigkeit einer eindeutigen Lokalisation der Wissenssoziologie in der Systematik soziologischer Erkenntnis hat in dieser unausgetragenen Spannung, die zugleich eine solche der Funktionsbestimmung der Soziologie für die Gesellschaft ist, ihren sachlichen Grund.

Kritik und Konformismus Das soziologische

Selbstverständnis

der

Intelligenz

Jede soziologische Theorie der Intelligenz ist notwendig dadurch mehr als bloße, sachorientierte Theorie, daß sie von eben jener Intelligenz gestaltet wird, die den Gegenstand der Theorie abgibt. Mag auch die soziologische Theorie in objektivierender Distanzierung die Frage nach Aufgabe, Stellung und Funktion der Intelligenz in der Gesellschaft rein sachorientiert zu klären unternehmen; insofern, als sich in ihr die Intelligenz selbst zum Gegenstand theoretischer Reflexion wird, ist die soziologische Theorie der Intelligenz immer zugleich auch Ausdruck für ihr eigenes soziales Selbstverständnis. Schon der Begriff „Intelligenz" weist auf diesen Sachverhalt einer in der Theorie sich vermittelnden Selbstverständigung jener Menschen hin, die in besonderem Maße die für eine Gesellschaft repräsentativen Kulturbestände tragen. Es offenbart sich in ihm doch das Bemühen eben jener Menschen, sich selbst über die Mannigfaltigkeit der sozialen Relationen der einzelnen hinweg von der Gesellschaft aus als in sich einheitliche Gruppe zu begreifen und zu bestimmen. Einer solchen im Begriff sich offenbarenden soziologischen Selbstverständigung der Intelligenz stehen jedoch Schwierigkeiten entgegen, die der Begriff selbst eher verdeckt als freilegt. Jeder Versuch, die Stellung der Intelligenz in der Gesellschaft rein soziologisch zu bestimmen, scheitert im Grunde daran, daß sie als eigenständige soziale Gruppe weder angesprochen werden kann noch in Erscheinung tritt. Ebenso widersteht sie einer eindeutigen Zuordnung zur Klassen-, Einkommen-, Stände- oder Berufsstruktur der Gesellschaft. Zwar ist die Intelligenz in den ihr zugehörigen Menschen diesen versdiiede-

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Kritik und

Konformismus

nen sozialstrukturellen Ordnungen stets auch verbunden, als Intelligenz jedoch sprengt sie deren Grenzen und bestimmt sich den ihr eigenen gesellschaftlichen Wert und Ort unmittelbar nur aus ihrer Funktion in der und für die Gesellschaft. Nur als Schicht spezifischer, soziokultureller Funktionen wird die Intelligenz als solche soziologisch fixierbar. Hierüber herrscht in der einschlägigen Literatur fast Einhelligkeit der Meinungen. Aber hier, d. h. in der Kennzeichnung der für die Intelligenz als solche konstitutiven soziokulturellen Funktionen beginnt auch erst die ganze Problematik der sozialen Selbstverständigung der Intelligenz, die sich in den Begriffen „Kritik und Konformismus" zusammendrängt. Orientiert sich die soziologische Theorie nämlich zum Zwecke einer solchen methodischen Fixierung der Intelligenz an der entwickelten Struktur der arbeitsteiligen Konkurrenzgesellschaft und nimmt sie deren Faktizitäten als Zuordnungsmaßstab einfach an, so verfehlt sie das im Begriff der Intelligenz sich stellende Problem. Dann nämlich bleibt kaum ein anderer Zugang zum Phänomen, als typologisch zwischen einer musischen, spekulativ-philosophischen oder kulturellen Intelligenz einerseits und einer wissenschaftlidi-technisch organisatorischen Intelligenz andererseits zu unterscheiden. Der einen wäre die „Vergeistigung des Daseins" durch die Erhaltung und Hervorbringung der für eine Gesellschaft repräsentativen Kulturbestände in Kunst, Religion und Philosophie als soziale Funktion zuzuerkennen, der anderen die Steigerung, Rationalisierung und Organisation des Lebens in Wirtschaft, Technik und Politik auf der Grundlage pragmatisch-wissenschaftlicher Erkenntnis 1 . Die Verselbständigung der sozialen Aufgaben der Intelligenz in gegeneinander abgrenzbare Ressorts, die als Faktum sich aus der Entwicklung der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft anbietet, wird durch eine solche soziologische Theorie der Intelligenz erst eigentlich sanktioniert. Die Theorie selbst offenbart dadurch ihre Konformität mit eben jener sozialen Arbeitsteilung und Spezialisierung, die, in ihren soziokulturellen Konsequen107

Kritik und

Konformismus

zen kritisch zu analysieren, die Intelligenz doch eigentlich aufgerufen wäre. Der Geist als eine kritisch-aufklärerische und somit sozialdynamische Potenz wird in einem solchen soziologisch-theoretischen Selbstverständnis seiner Träger, eben der Intelligenz, zuletzt der gesellschaftlichen Ohnmacht überantwortet. In seiner sozialen Aktualisierung als „organisatorisch-technische Intelligenz" wird er zum sachdienlichen Mittel, das beliebigen Zweckzusammenhängen und Herrschaftszielen sich dienstbar einzuordnen vermag und sich seinen Wert zuletzt nach den Maßstäben berechenbarer Leistung für eine vorgegebene Arbeitswelt bestimmt. Als Ware ist er dem Markt und seinen Gesetzen unterstellt. Wo, im Zusammenhang damit, die „Vergeistigung des Daseins" zur Funktion einer ebenso sozial abgegrenzten musischen oder philosophisch-spekulativen oder kulturellen Intelligenz erstarrt, verliert sie nur allzuleicht ihre unmittelbare soziale Verbindlichkeit und ihren echten sozialen Bezug. Während Vergeistigung des Daseins im Grunde nur wirksam werden kann, wo die Intelligenz als Ganzes die dialektische Spannung zwischen sozialem Engagement und Distanz zur Gesellschaft als Konstituenz ihrer sozialen Existenz annimmt und immerwährend um eine Gestaltung dieser Spannung ringt, erkauft sich die sogenannte kulturelle Intelligenz als Sondergruppe die für die Erfüllung ihrer Funktion notwendige Freiheit nur dadurch, daß sie für ihr Gegenbild, die organisatorische Intelligenz, die Maßstäbe einer arbeitsteiligen Sozialwelt des Herrschafts- und Leistungswillens als verbindlich akzeptiert. Sie lebt vom Verlust der Einheit des Geistes, und dies fällt dann nur allzu leicht insofern auf sie selbst zurück, als ihr Bemühen nur noch die Chance hat, als sozial unverbindlicher Luxus oder bloße kulturelle Dekoration der Gesellschaft sich seinen Wert zu bestimmen. Wird auf diese Weise einsichtig, daß die Arbeitsteilung als Strukturprinzip der Gesellschaft nicht zum Maßstab der Funktionsbestimmung der Intelligenz dienen kann und daß, will die Intelligenz nicht in ihrem soziologisch-theoretischen Selbstver-

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Kritik und

Konformismus

ständnis hinter ihren Begriff zurüdkfallen, an der Einheit des Geistes in all seinen Repräsentanten festgehalten werden muß, so bleibt als Ansatz nur die Möglichkeit, den Geist selbst in seiner sozialen Funktion zu erhellen. D i e hierzu notwendige Analyse wird dabei nicht nur zufällig historisch, ist doch die das Phänomen „Intelligenz" erst konstituierende Befreiung des Geistes zu einer — zumindest im Anspruch — autonomen sozialen Realität selbst durch und durch historisch determiniert. Das Ungenügen an einer soziologisch-theoretischen Selbstverständigung der Intelligenz, die in der formalen Abgrenzung von soziologischen Intelligenztypen gipfelt, gründet nicht zuletzt darin, daß sie das Bewußtsein ihrer eigenen bis in die Gegenwart hineinreichenden Geschichte vermissen läßt oder doch zumindest nicht genügend fruchtbar macht. Erst seit dem Aufkommen der neuzeitlichen bürgerlichen G e sellschaft kann von der Intelligenz als einem eigenen sozialen Phänomen gesprochen werden. Erst in demselben Maße, in dem die hierarchische, einheitlich religiös begründete und sanktionierte Gesellschaftsordnung des Mittelalters zerbrach, trat an die Stelle der Tradition die Vernunft als Ordnungselement und Legitimierungsprinzip menschlich-sozialen Lebens und Wollens. Erst in dem Maße, in welchem sich durch das aufkommende Bewußtsein von der Autonomie des Geistes gegenüber allen vorgegebenen, religiösen und feudalen Autoritäten Wissenschaft und Philosophie von der Theologie wie auch vom Staat emanzipierten, vermochten sich der Geist und seine Träger als eine eigene soziale K r a f t und Ordnungsmacht zu begreifen. D a m i t aber erhielt die Intelligenz eine ihr bislang vorenthaltene dynamische Funktion in der Gesellschaft. D e r Situation ihres sozialen Ursprunges entsprechend bewährte sie sie bis in die Aufklärung hinein vornehmlich als K r i t i k und Destruktion jener Autoritäten, wie Religion und Staat, die sich in ihrer traditionalen Gestalt als die Gegenmächte sozial-autonomer Geistigkeit erwiesen hatten. Das heißt: das konstitutive Element für die soziale Funktion der Intelligenz

109

Kritik und Konformismus w a r die K r i t i k , und der Geist konnte sich als autonom begreifen, indem er sich in einer umfassenden K r i t i k der sozialen Mächte permanent bewährte, in einer K r i t i k freilich, die sich nicht in der bloßen Negation des Bestehenden erschöpfte. Indem die V e r nunft sich zur Richterin der historisch-sozialen Faktizitäten aufschwang, formte sie den Maßstab ihrer K r i t i k : die in allen Menschen als ursprünglich gleich angenommene Vernunft, zur N o r m des Sozialen selbst aus. Infolge der noch kaum entwickelten Industriegesellschaft konnte die Intelligenz als Repräsentantin einer solchen kritischen Haltung darauf vertrauen, daß mit der formal staatsbürgerlichen Gleichheit in der T a t auch schon jene Freiheit

erreicht und sozial gesichert sei, aus der

kritisch-

autonome Geistigkeit allein zu leben vermag 2 . H a t t e sich damit die Intelligenz von Anbeginn ihres selbstbewußten Wirkens als Repräsentantin eines kritischen Geistes legitimiert, der als grundsätzlich unteilbar mit der Sicherung seiner eigenen sozialen Voraussetzung zugleich verantwortungsbewußt die sozialen Mächte selbst sittlich zu formen und zu binden versucht, so bleibt auch fortan dieses kritische Geschäft konstitutiv für die gesellschaftliche Funktion der Intelligenz. In dem M a ß e jedoch, in dem sich die moderne Gesellschaft in ihren Ordnungsgefügen vom Staat emanzipiert, in dem die Entwicklung der Industriegesellschaft fortschreitet, ihre inneren Antagonismen sichtbar werden und die formal gesicherte, egalitäre Freiheit sich durch ganz andere als die traditional-autoritären Mächte material als bedroht erweist, muß auch die Funktion der Intelligenz sich wandeln zu einer K r i t i k , die unmittelbar auf das Ganze der Gesellschaft zielt und dieses G a n z e als ein primär dynamisches begreift, das in der Totalität seiner Ordnungen immer wieder mit seiner eigenen Idee kritisch zu konfrontieren ist. Die Intelligenz wird zu der sozialkritischen Instanz, die gleichsam als beunruhigendes Gewissen der Gesellschaft dieser selbst stets ihren Spiegel vorhält. U n d Intelligenz gibt sich auch als solche auf, wenn sie sich nicht mehr unmittelbar und als 110

Kritik und Konformismus Ganzes, d. h. an jeder Stelle ihres sozialen Wirkens, dieser ihrer sozialkritischen Funktion verpflichtet weiß. Wenn man von dieser sozialen Funktion der Intelligenz gelegentlich als von einer „sokratischen Funktion" gesprochen hat', so mit Recht deshalb, -weil sich in der radikalen, kritischen Fragehaltung des Sokrates prototypisch das soziale Missionsbewußtsein der Intelligenz seinen Ausdruck gibt und weil am Wirken des Sokrates zugleich einsichtig wird, auf welch innige Weise Kritik und Apologie der Gesellschaft stets dialektisch miteinander verbunden sind. In der Tat, Sozialkritik erfüllt sich auch heute noch erst darin als echt und aufbauend, daß sie, in steter Rückbesinnung auf die freiheitlichen Werte menschlicher Daseinsordnung, der Gesellschaft radikal die Frage nach dem letzten Sinn aller auf Vervollkommnung der Daseinsorganisation abzielenden technischen, wirtschaftlichen und politischen Planungsarbeit vorlegt und darin zumindest potentiell beansprucht, die Gesellschaft vor dem Abfall von sich selbst, nämlich vor dem Verfall an einen blind-fanatisdien Fortschrittsglauben zu bewahren, der das Faktum sich vervollkommnender Daseinsorganisation zugleich als N o r m der geistigen Daseinsorientierung akzeptiert. In aller Distanz von der Gesellschaft, die solche radikale Kritik erst möglich macht, erweist sich die Intelligenz auf diese Weise eben derselben Gesellschaft doch zutiefst verbunden und verpflichtet. Ihre Kritik ist immer zugleich Apologie, denn sie setzt voraus, daß eine Gesellschaft, die es zu verteidigen gilt, als in sich problematisch geworden erlebt wird. Nicht zuletzt am Gegenbild totalitärer Sozialordnungen und der in ihnen stattfindenden Gleichschaltung der Intelligenz zum reibungslos funktionierenden Instrument einer nach ihrem Sinn nicht mehr kritisch befragbaren Herrschaft wird sich die freie Intelligenz des notwendig apologetischen Charakters ihrer Sozialkritik bewußt. Diese dialektische Spannung von Kritik und Apologie, aus der die freie Intelligenz allein die Impulse ihres sozial-aufbauenden Wirkens zu ziehen vermag, ist jedoch dort gründlich 111

Kritik und

Konformismus

zerstört, wo kritische Apologie offen oder versteckt zum Konformismus erstarrt. Die vermeintliche Kritik wird dann zur Ideologie, zur Selbstrechtfertigung der Gesellschaft und ihrer Faktizitäten. Die Intelligenz wird zur Schicht der Ideologen, die, mit dem Anspruch Kritiker zu sein, doch auf eine hintergründige Weise gerade in ihrer Kritik der Gesellschaft diese als im Grunde fraglos gültig bestätigen. Das Problem der sozialkritischen Funktion der Intelligenz in der Gegenwartsgesellschaft drängt sich nicht zuletzt deshalb in der Gegenüberstellung von Intelligenz und Ideologie, Kritik und Konformismus zusammen, weil das Selbstverständnis der Intelligenz, wie es sich in der Sozialkritik und Soziologie der Gegenwart abzeichnet, nur allzu leicht in einen gesellschaftlichen Konformismus abgleitet und damit in sich ideologische Elemente offenbart. Das ist etwa überall dort der Fall, wo, wie in der anfangs erwähnten soziologischen Theorie der Intelligenz, das Strukturprinzip der arbeitsteiligen Konkurrenzgesellschaft zum konstitutiven Element einer sozialen Selbstverständigung der Intelligenz wird. Damit bleibt es im Grunde kritisch unbefragt, und mit dem in der Scheidung zwischen kultureller und organisatorischer Intelligenz sich kundgebenden Verlust des Glaubens an die Einheit des Geistes als sozial-dynamischer Potenz verliert sich die Intelligenz recht eigentlich selbst. Versuche, durch typologische Abgrenzung einer eigenen „sozialwissenschaftlichen Intelligenz" von der „kulturell-musischen" und der „organisatorisch-technischen" die Einheit der Sozial- und vor allem Machtkritik zu retten und als spezielle Funktion eben dieser sozialwissenschaftlichen Intelligenz zuzuerkennen 4 , bestätigen nur, wie radikal man sich der arbeitsteiligen Gesellschaft und der Konkurrenz ihrer Gruppen überantwortet. Denn das ist doch die tiefere Bedeutung eines solchen Versuches: der kulturellen Intelligenz wird eine sozialkritische Funktion eigentlich aberkannt, die sozialwissenschaftliche Intelligenz jedoch muß als wissenschaftliche auf eigene normsuchende und normsetzende Kritik der Gesellschaft und der in ihr vorgegebenen Verhaltens112

Kritik und

Konformismus

muster verzichten. D i e Normen als philosophische Ideen sozialen Verhaltens und sozialer Organisation bleiben — als durch die Gesellschaft vorgegebene — von dieser Intelligenz auf ihren Wahrheitswert hin unbefragt. Ihre K r i t i k reduziert sich auf eine solche der Mittel zur Normenrealisation. Die Entscheidung über die soziale Geltung der Normen fällt in letzter Instanz in der von der sozialwissenschaftlichen Intelligenz grundsätzlich nicht beeinflußbaren und daher blinden Konkurrenz der gesellschaftlichen Gruppen und Mächte. Durch die Selbstbegrenzung der Funktion der Intelligenz als nur wissenschaftlich, und d. h. nur immanentkritisch führt die K r i t i k dann mit innerer Konsequenz zur konformistischen Bestätigung der herrschenden gesellschaftlichen Mächte. Paradigmatisch hierfür ist etwa das Selbstverständnis der amerikanischen Soziologen, das sich in der Theorie vom „cultural l a g " vom Nachhinken der sozialen Ordnungsformen und Einrichtungen hinter dem technisch-organisatorischen Fortschritt seinen Ausdruck gibt, und das vom sozialen Fachmann oder Sozialingenieur allein das Heil der Gesellschaft, die Überwindung des Abstandes (lag) zwischen technischem Fortschritt und sozial-institutioneller Stagnation erwartet 5 . Die Aufgabe freilich, die diesen Sozialingenieuren zu bewältigen vorbehalten ist, ist dabei kaum eine andere, als durch die Entwicklung spezifischer Techniken der Menschenführung und -behandlung die Anpassung des Menschen an die durch die technisch-industrielle Produktion vorgegebenen Forderungen maximal zu steigern und zu fördern. D i e Reduzierung des Menschen auf seine Funktion und R o l l e in der Gesellschaft wird zum Leitbild der kritischen Arbeit der sozialwissenschaftlichen Intelligenz. Indem diese jedoch auf solche Weise die Faktizitäten der modernen Gesellschaft nachdrücklich bestätigt und als N o r m ihrer eigenen Arbeit akzeptiert, dankt sie als radikale sozialkritische Instanz ab; ihre Ohnmachtserklärung ist total. Nicht sehr viel anders verhält es sich mit jener Selbstkritik der. Intelligenz, die, etwa bei Spengler sichtbar 8 , aus der vermeint-

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Lieber

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Kritik und

Konformismus

lieh wissenschaftlichen Einsicht in die Verlaufsstruktur zivilisatorischer Kultur- und Sozialepochen die Forderung nach totaler A n - oder Einpassung der Intelligenz in die restlos organisierte, technisch-zivilisatorische Arbeitswelt ableitet. Durch eine sogenannte universalhistorische Kultur- und Gesellschaftskritik beweist sich die Intelligenz auf diese Weise die Unmöglichkeit ihrer eigenen gesellschaftlichen Existenz und Funktion, was die Selbstzerstörung der Intelligenz ebenso zur Folge hat, wie die Anerkennung des Gesellschaftsprozesses als eines geistblinden. In eine ähnliche Richtung wirkt die Intelligenz, wenn sie sich in esoterischer Zirkelbildung (z. B . George-Kreis) von der Gesellschaft abspaltet, ihre K r i t i k an der Gesellschaft durch eine „aristokratische H a l t u n g " zu legitimieren trachtet und sich selber dergestalt als soziale „Wertelite" besonderer, kritischer Qualifikation bestimmt 7 . I h r Selbstbewußtsein resultiert dann in der Nachfolge Nietzsches aus dem „Pathos der Distanz" zur Gesellschaft. A u f untergründige Weise sanktioniert und bestätigt das aber gerade die Gesellschaft, von der man sich distanziert: der faktische Gegensatz von Elite und Masse, den es doch eigentlich ständig als Problem der modernen Gesellschaft im Blick der K r i t i k zu halten gilt, wird durch ein solches Selbstverständnis der Intelligenz normativ erhöht. Indem es unfreie, unaufgeklärte Gefolgschaft ( = Masse) als reale Voraussetzung der eigenen Existenz als Wertelite fordert, j a geradezu provoziert, offenbart es sein geheimes Einverständnis mit den herrschaftlichen und zugleich nivellierenden und versachlichenden Tendenzen der modernen Gesellschaft. Nicht minder groß ist die Gefahr, unbewußt einem K o n f o r mismus zu verfallen, für die Intelligenz dann, wenn sie ihre kritische Funktion nur oder doch vornehmlich gegenüber den im engeren Sinne politischen Mächten und zumal dem Staat zu üben sich anschickt. Angesichts der Gefährdung der freiheitlichen Sozialordnung durch die totalitären politischen Systeme der Moderne mag eine solche Blickrichtung der kritischen Intelligenz als angemessen erscheinen, um die Gesellschaft v o r dem V e r f a l l 114

Kritik und

Konformismus

in politische Totalitarismen zu bewahren. Es muß sich jedoch unheilvoll auswirken, wenn die Intelligenz durch eine solche Frontstellung die Tatsache aus den Augen verliert, daß in der modernen, technisierten und rationalisierten Sozialwelt selbst dann Tendenzen zur „totalen Gesellschaft" vorherrschen, wenn sie eine freiheitliche politische Ordnungsstruktur aufweist. Die sozialpsychologischen Methoden der Menschensteuerung und Anpassungssteigerung in Arbeits- und Alltagswelt, die sich in den Tediniken der „human-and-public-relations"-Pflege ebenso auswirken wie in den Klischees der Kulturindustrie und der in ihnen enthaltenen Tendenz auf Standardisierung des Verhaltens, bedrohen den Menschen und damit die Gesellschaft, wenn auch weniger direkt sichtbar in einem ebenfalls totalen Sinne8. Sicher nicht so brutal durchgeführt wie in politisch-totalitärer Unterdrückung bleibt doch die Entpersönlichung und totale Gleichschaltung des Menschen durch diese Techniken auf die Dauer kaum weniger wirksam. Gerade diese Wirksamkeit aber ist mit den Mitteln herkömmlicher „Macht- und Sozialkritik" nicht dingfest zu machen. Insofern nicht nur der Staat und die politischen Organe an diesen Tendenzen teilhaben und sie vorantreiben, sondern vor allem die privaten gesellschaftlichen Mächte, muß die bisher erprobte Blickrichtung der kritischen Intelligenz sich wandeln. Der traditionelle, liberale Aspekt reicht zur Ausübung ihrer umfassend sozialkritischen Funktion kaum mehr hin. Versperrt jedoch die Fixierung des Blickes auf den politischtotalitären Gegner den Weg zu einem solchen Wandel des Aspekts auf die nichtpolitischen Mächte totalitärer Gleichschaltung in der eigenen Gesellschaft, dann bleiben diese unkritisch ihrer blinden Auswirkung überlassen. Die kritische Aufklärung über die totalitäre politische Diktatur wirkt, wenn sie sich vereinseitigt, als Stütze einer total unaufgeklärten Gesellschaft. Durch eine solche hier nur skizzierte Überprüfung ideologischkonformistischer Elemente im gesellschaftlichen Selbstverständnis der Intelligenz mag offenbar werden, welche Bedeutung einer jede Spezialisierung aufhebenden, humanistischen Verpflichtung 8"-

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Kritik und

Konformismus

der Intelligenz f ü r die Ausübung ihrer sozialkritischen A u f g a b e zukommt. Es ist dies eine humanistische Verpflichtung, die an der Einheit des Geistes in der Mannigfaltigkeit der sozialen Funktionen seiner Träger ebenso festhalten m u ß wie an der Verbindlichkeit eines Menschenbildes, das wahres Menschentum als nur aus und in der Spannung von Freiheit und Bindung, Personalität und Sozietät, Individuation und Partizipation sich bewährend und verwirklichend begreift. N u r eine solche humanistische Verpflichtung der Intelligenz vermag der skizzierten Gefahr eines Verfalls ihrer Selbsterfassung an die normativen Modelle einer sich von der „Masse" abhebenden „Wertelite", einer nur „liberalen" Kritik „politisch-totalitärer Macht", einer wissenschaftlich total organisierbaren, harmonischen Gesellschaft „wohl angepaßter" Menschen und einer radikalen, auch für die eigene soziale Funktion konstitutiven Arbeitsteilung auf die Dauer entgegenzuwirken. Der Verbindlichkeit solcher Modelle für das Selbstverständnis der Intelligenz steht nicht zuletzt die Entfaltung von Atomenergie und Automation entgegen. Sie drängt doch über die bestehenden Gesellschafts- und Wirtschaftsformen hinaus, erfüllt das bislang nur idealistisch-utopische Postulat der „Menschheit" mit ökonomischer und sozialer Realität und zwingt die a k t i v wie passiv in ihrem Dienst stehende Intelligenz dazu, ihre spezialistisch fixierten Funktionen, ihre arbeitsteilige Begrenzung, ihre soziale Abgeschiedenheit zu durchbrechen und zu sich selbst als einer der Gesellschaft nicht nur funktional verpflichteten, geistigen und d. h. kritischen Potenz zurückzufinden. Von Anbeginn ihres historischen Wirkens zur Sozialkritik berufen, w i r d heute die Intelligenz dieser ihrer Berufenheit nur dann gerecht, wenn sie — ihrer humanistischen Verpflichtung bewußt — in der R a d i k a l i t ä t der das Strukturganze der Gesellschaft anzielenden und mit seiner Idee stets konfrontierenden Fragehaltung sich als konstitutives Element einer Entradikalisierung blinder gesellschaftlicher Mächte und Prozesse bewährt. Es liegt auf der H a n d , d a ß unter einem solchen Aspekt der

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Kritik und

Konformismus

Universität, obwohl sie keineswegs allein die Intelligenz rekrutiert, eine ungemein wichtige gesellschaftliche Aufgabe zufällt. Ihre relative Unabhängigkeit von Staat und Interessentengruppen darf sie weder durch Anhäufung musealen Bildungswissens noch durch die Bereitstellung von Menschen als Verfügern über sachlich begrenztes, pragmatisches Leistungswissen „belohnen". Der im Stadium fortschreitender, bürokratisch-organisatorischer Gestaltung fast aller sozialen Lebensbereiche sich immer stärker durchsetzenden Tendenz zur Verfachlichung und Versachlichung des Geistes hat sie in sich stets dadurch entgegenzuwirken, daß sie im Vollzug gesellschaftsbewußter Kritik einmal die Substanzialität ihrer Unabhängigkeit stets erneut prüft und nachweist, zum anderen das Faktum spezialisiert-aufgegliederter wissenschaftlicher Lehr- und Forschungsarbeit permanent mit den ihr zugrunde liegenden Idealen konfrontiert. Die Philosophie hat hierbei eine hervorragende Funktion insofern, als sie — nicht als Fachdisziplin, sondern als spezifische, radikal-kritische, ganzheitlich orientierte Erkenntnis- und Fragehaltung — in der wissenschaftlichen Arbeitsteilung nicht aufgeht. In einer steten, sozialbewußten Aktualisierung dieser ihrer Potenz könnte es der Philosophie allein gelingen, die dialektische Spannung zwischen Distanz und Verbundenheit von Geist und Gesellschaft, sowie zwischen Funktionalität und Totalität des Geistes in der Gesellschaft so einsichtig zu machen, daß sich diese Einsicht zum Gestaltungselement eines kritisch-aufgeklärten, sozialen Selbstverständnisses der von der Universität erzogenen Intelligenz ausformt®. Die im Zuge einer positivistisch und empiristisch begründeten Emanzipation vor allem der Soziologie, aber auch anderer sozialer und politischer Wissenschaften von der Philosophie sich abzeichnende Gefahr, daß politisch-soziale Erziehung und Bewußtseinserhellung zur Domäne spezialisierter Ausbildung sich verengt und verfachlicht, erhöht nur die Bedeutung einer sozialbewußten und sozialkritischen Philosophie für die Formung einer Intelligenz, die ihre gesellschaftliche Funktion aus der Einheit des Geistes richtig begreift.

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Der Erfahrungsbegriff in der empirischen Sozialforschung Die Gestalt des Sokrates, der die Jünglinge Athens nach ihrer Meinung über das Wesen und den eigentlichen Inhalt bestimmter, vorwiegend ethischer Grundbegriffe ihrer Gesellschaftsordnung befragte, scheint in der modernen Gesellschaft im Interviewer wiedererstanden zu sein. Wie einst Sokrates, so sucht auch er — nunmehr ausgerüstet mit einem Fragebogen und dadurch in der Gewißheit gesteigerter Objektivität sich wähnend — die Meinungen der Vielen über Faktizitäten und Normativitäten des Gemeinwesens, in dem sie leben, zu erkunden. Und wie zu Zeiten des Sokrates steht auch dabei — zumindest dem Anspruch nach — oft das Ziel leitend hinter der Befragungsabsicht, die Wirkung und Lebendigkeit der verpflichtenden, in der Gruppe geltenden, zumeist latenten sozialen Ideale und Verhaltensmodelle zu erfassen und zu überprüfen. Ein grundlegender Unterschied zwischen dem Verhalten des Sokrates und der Meinungsbefragung durch den modernen Interviewer scheint sich freilich unmittelbar aufzudrängen: Sokrates bemühte sich darum, direkt dem jeweils Befragten das Ungewisse des Bloß-Gemeinten einsichtig zu machen, das sich anbietende Urteil seines Vor-Urteilsgehaltes zu überführen. Sokrates wollte mit seiner Frage, wenn auch nicht zum Wissen, so doch zum Wissen des Nichtwissens hinführen, zutiefst davon überzeugt, daß ein durch radikale selbstkritische Reflexion methodisch bewußtes Nichtwissen die Geburtsstätte eines wahren Wissens zu werden vermag. Der Sinn der sokratischen Frage war demzufolge ein eminent aufklärerisch-kritischer, ihr pädagogisches Ziel: die potentielle Befreiung des Individuums zum 118

Der Erfahrungsbegriff

in der empirischen

Sozialforschung

autonomen, gesicherten, geläuterten und infolge der Uberprüfung wahren Wissens. Ihre im fragenden Ansprechen des Individuums sich zugleich vermittelnde und erfüllende soziale Funktion war die Konfrontation der Gesellschaft mit ihrer eigenen Idee, war eine in der kritischen Reflexion sich manifestierende Apologie, die freilich der Gefahr blinder Konformität mit den bloßen Faktizitäten der Gesellschaft sich permanent entwand. Nicht zuletzt wegen dieser in der Kritik immer zugleich apologetischen, deshalb jedoch nicht ebenso konformistischen Funktion der sokratischen Frage hat Franz L. Neumann wohl mit Recht in der Gestalt und im Wirken des Sokrates die prototypische Verkörperung des Selbstbewußtseins einer sozialverantwortlichen Intelligenz erblickt1. Gemessen an dieser aufklärerisch-kritisdien Zielsetzung, Struktur und Potenz der sokratischen Frage, ist freilich der moderne Interviewer alles andere denn ein zweiter Sokrates. Aus dem Faktum fortlaufender Befragung der modernen Gesellschaft durch ein wahres Heer von Interviewern unmittelbar auf einen Prozeß permanenter Selbstaufklärung in dieser Gesellschaft schließen zu wollen, wäre vermessen, ja absurd. Der Interviewer will, ja er darf nicht durch die kritische Aufklärung zum Wissen befreien wollen, für ihn gilt die erfragte und kundgebende Meinung als solche, an sie ist er fixiert. Jenseits der Frage nach ihrer Wahrheit oder Unwahrheit hat er sie zunächst lediglich zu konstatieren, zu registrieren und möglichst exakt so, wie sie sich anbietet, auch dann festzuhalten, wenn sie sich nicht ohne weiteres einem vorentworfenen Antwortschema einfügt. Auf diese Weise zum Registrator geworden, hat sich der moderne Interviewer zum sachlichen Mittel, zum Organon einer umfassenden Erhebungskonzeption zu machen, die das persönliche, meinungserkundende Gespräch zum bloßen Vorwand, zum technischen Medium degradiert. Es wäre angesichts dieses Sachverhaltes sicher nicht uninteressant, etwa unter sozialkritischem Aspekt die Frage zu erörtern: wie total anders als die antike polis, die eine Gestalt wie Sokra119

Der Erfahrungsbegriff

in der empirischen

Sozialforschung

tes als Konstituens sozialphilosophischer Selbstverständigung ermöglidite, muß eine Gesellschaft strukturiert sein, in der eine solche technisch bedingte Versachlichung des Gespräches nicht nur möglich ist, sondern nach verbreiteter Auffassung auch als einziges Element einer sicheren Vergewisserung der Gesellschaft über sich selbst und das in ihr wirkende Meinungs- und Verhaltensgefüge der Gruppen erscheint. Die Erörterung dieser Frage wäre nicht zuletzt deshalb interessant, weil jene Versachlichung des Gespräches ja eben nicht nur am Interviewer und seinem Tun sich offenbart, sondern auch den anderen Gesprächspartner, den Befragten, so radikal einbezieht, daß er in der Gesprächsplanung eigentlich kaum noch anders als unter dem Aspekt des psychologisch geschicktesten, den größten Effekt versprechenden Zugriffs präsent ist. Man denke an die Techniken der Interviewerschulung; aber das soll hier nicht näher erörtert werden. Es ist vielmehr davon auszugehen, daß die empirische Sozialforschung und mit ihr der Interviewer, als ihr wohl entscheidendstes Vollzugsorgan, in der modernen Gesellschaft ihren Platz einnimmt und behauptet. Es ist anzuerkennen, daß die angedeutete Versachlichung des Gespräches durch Planung und rationalen Vorentwurf im Rahmen der empirischen Sozialforschung notwendig ist, will sie ihr Ziel erreichen. Es ist zuzugestehen, daß das geplante Gespräch den Interviewer zu einer Zurückhaltung zwingt, die nicht immer leicht ist, vielmehr einen hohen Grad an Selbstdisziplin ebenso voraussetzt wie an intellektueller Redlichkeit. Es ist, mit einem Wort, das Faktum der empirischen Sozialforschung mit all ihren Implikationen im Hinblick auf Gestalt und Funktion des Interviewers anzunehmen und nicht vorschnell in eine sozialkritische Frage einzufangen, die sich an ihrer sehr äußerlichen Ähnlichkeit mit der meinungserkundenden Tätigkeit des Sokrates orientiert. Eine Sozialkritik dieser Art würde zudem nur allzu schnell den Vorwurf einer idealistisch-romantischen Verklärung vergangener Sozialstrukturen auch dann auf sich ziehen, wenn man 120

Der Erfahrungsbegriff

in der empirisdien

Sozialforschung

der These einer inneren Korrespondenz und Affinität von empirischer Sozialforschung und versachlichter Gesellschaft zustimmt. Wenn dennoch von der freilich sehr äußerlichen Analogie zwischen der meinungserkundenden Funktion des modernen Interviewers und dem meinungserhellenden und -läuternden Gespräch des Sokrates ausgegangen wurde, so deshalb, weil sich angesichts der empirischen Sozialforschung die Frage stellt, ob sie nicht — wenn auch in anderer Form als im sokratischen Dialog und keineswegs unmittelbar im Tun des einzelnen Interviewers — dennoch eine sozial aufklärerische und kritische Potenz darstellt. Zumal an der sich als Meinungsforschung verstehenden empirisdien Sozialforschung erweist diese Frage ihr Gewicht, scheint doch gerade sie potentiell in der Lage, durch Feststellung und Analyse von sozialen Tabus und von Meinungen als Vorurteilszusammenhängen einen permanenten Selbstaufklärungsprozeß, wenn auch nicht unmittelbar der Gesellschaft, so doch des Soziologen einzuleiten, der ihn vor der Gefahr eines Verfalls an die bloßen Faktizitäten der Gesellschaft als letzter, hinzunehmender Instanzen bewahrt. Und darf nicht gerade die kritische Selbstaufklärung des Soziologen als erste Bedingung und Voraussetzung einer Aufklärung auch der Gesellschaft gelten? Verbindet sich jedodi mit der empirischen Sozialforschung diese Erwartung einer sozialkritischen Aufklärung, die dem Beginnen des Sokrates in ihrer Tragweite nicht nachsteht, so erhebt sich die Frage: welches Selbstverständnis dieser empirischen Sozialforschung vermag allein eine solche Erwartung als sinnvoll zu garantieren? Oder anders formuliert: welche Forderungen an theoretischer Selbstreflexion über Leistungsmöglichkeiten und Leistungsgrenzen des eigenen Beginnens sind an die empirische Sozialforschung zu stellen, damit ihr der Funktionswert einer durch den Soziologen sich vermittelnden Aufklärung der Gesellschaft mit Recht zuerkannt werden kann? Diese Frage bestimmt präzise den logischen Ort der hier zu behandelnden Thematik. Wie immer auch die Bestimmung dessen, was Aufklärung sei, ausfallen mag; von dem aufgeklärten Selbstverständnis einer

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Der Erfahrungsbegriff

in der empirischen

Sozialforsdmng

Wissenschaft wird mit Fug und Recht wohl nur dann gesprochen werden können, wenn ein kritisches Bewußtsein von ihrer Methode ebenso nachweisbar ist wie von der Adäquation von Methode und Gegenstand. Die empirische Sozialforschung, in dem Zustand betrachtet, in dem sie sich in der Gegenwart darbietet, weist sich zweifellos durch eine verbreitete und diffizile Diskussion um Fragen der Objektivität und Stringenz der von ihr verwandten und in steter Verfeinerung befindlichen Methoden und Erhebungstechniken aus. Aus diesem Sachverhalt einer allverbreiteten sogenannten Methodendiskussion allein jedoch schon unmittelbar auf das Vorhandensein jenes erwähnten kritisch-aufgeklärten Selbstverständnisses der empirischen Sozialforschung schließen zu wollen, erscheint als verfrüht und im Grunde wohl auch als unzulässig. Nicht nur läßt die empirische Sozialforschung weitgehend das kritische Bewußtsein davon vermissen, daß die diffizilste und exakteste Analyse disparater sozialer Fakten nicht den Gegenstand „Gesellschaft" in seiner differenzierten Struktur trifft, so daß ihr allein dadurch das Bewußtsein der Niditidentität von sozialwissenschaftlicher Empirie und Soziologie als Theorie der Gesellschaft abgeht. Auch ist ihr generell das dialektische Bedingungsverhältnis von Empirie und Theorie kaum hinreichend kritisch bewußt. Dies aber hat nicht zuletzt seinen Grund wohl darin, daß der sie als empirische Sozialforschung allererst determinierende Begriff der Erfahrung kaum einer kritischen Selbstreflexion unterworfen ist2. Aus der in Grenzen durchaus berechtigten Ablehnung einer sozial- und geschichtsphilosophisch bestimmten Soziologie erwachsen, fehlt diesem konstitutiven Begriff der empirischen Sozialforschung in weitem Ausmaß das erkenntnistheoretische — und insofern als Erkenntnistheorie = Erkenntniskritik ist — das erkenntniskritische Fundament. Es scheint relativ gleichgültig, an welche technische Form empirischer Sozialforschung man denkt, ob an die einfache oder differenzierte Direktbefragung, die Einzelfallstudie, die aus122

Der Erfahrungsbegriff

in der empirischen

Sozialforschung

gebauten Techniken der teilnehmenden Beobachtung oder was immer es an Techniken sonst noch gibt. Sie alle bieten sich unter dem Oberbegriff „social research" an. Jedes der erwähnten, als empirisch sich verstehenden Erhebungsverfahren hat zwar eine eigene methodologische und technologische Problematik, ihnen allen aber ist die Absicht eigen, in die Sozialwissenschaften, zumal in die Soziologie, Erkenntnismethoden der experimentierenden Wissenschaften gegenstandsadäquat und fruchtbar einzugliedern. Die empirische Sozialforschung steht damit — eingestandenermaßen oder nicht — im Banne der von Comte sich herleitenden soziologischen Tradition und bleibt auch in letzter Instanz, wie dieser, am Modell der naturwissenschaftlichen Erkenntnis orientiert. Das wird nicht zuletzt durch jene empirisch-soziologische Position — etwa bei R. König — bestätigt, die sich offen gegen den Begriff empirische Sozialforschung wendet und eher den Terminus/»Taktische Sozialforschung bevorzugt zu sehen wünscht®. Die in einem solchen Streit um den Begriff sich manifestierende Haltung ändert jedodi kaum etwas an der Sache. Obwohl hier andere, als experimentell-beobachtende Techniken der Empirie in der Sozialwissenschaft als Erfahrung anerkannt werden, so schränkt doch der Begriff praktische Sozialforschung diese Anerkennung eben sofort insofern wieder ein, als er die pragmatische Komponente der positivistischen Tradition, die Idee einer sich unmittelbar in soziale Praxis umsetzenden Faktenanalyse aufnimmt und zur Grundlage der begrifflichen Selbstverständigung macht. Auch dort, wo man das eigene Beginnen als praktische Sozialforschung bestimmt, von einer empirischen Sozialforschung zu sprechen, scheint doch wohl eben deshalb geboten und gestattet, weil sich die sozialwissenschaftliche Induktion und Erfahrung hier ganz generell und mit allem Nachdruck zur Methode des messenden Experimentes und der kontrollierten Beobachtung bekennt. Der Titel des von König in der Schriftenreihe Praktische Sozialforschung veröffentlichten 2. Bandes bestätigt dieses Argument 4 . Hinter diesem Bekenntnis zum 123

Der Erfahrungsbegriff

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SozialforsAung

messenden und damit quantifizierenden Experiment in der empirischen Sozialforschung steht nun oft, wie schon erwähnt, die Hoffnung und Überzeugung, daß es gerade mit Hilfe dieser Methodik gelingen kann, die soziologische Erkenntnis aus ihrer vor allem in Deutschland vorherrschenden philosophisch-geisteswissenschaftlichen Tradition zu befreien und sie auf den Boden gesicherter Tatsachenbeobachtung, -feststellung, -beschreibung und -analyse zu stellen. So sinnvoll eine solche Auseinandersetzung zumal mit der Tradition, die Soziologie als Geisteswissenschaft bestimmt, angesichts einer Gesellschaft ist, die die Idee freien, sinnbestimmten sozialen Verhaltens der Menschen zunehmend selbst als herrschaftsdienliche Ideologie entlarvt, so sinnvoll und fruchtbar ist die erwähnte Überzeugung sicher auch noch aus einem weiteren Grunde: es ist kaum zu bestreiten, daß sich der soziologische Gedanke in der empirischen Sozialforsdiung ein Instrument kritischer Selbstüberprüfung eigener theoretischer Konzeptionen an die Hand gibt5. Zur Erfüllung einer solchen selbstkritischen Funktion der empirischen Sozialforschung in der und für die Soziologie scheint sie jedoch dann grundsätzlich unfähig, wenn sie im Banne eines naiven unkritischen Begriffes von Empirie und Gegenstand sich der Forderung einer fortlaufenden Reflexion auf das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Empirie und Theorie entzieht. Anders formuliert: der Sinn und die mögliche kritische Funktion der empirischen Sozialforschung für eine Theorie der Gesellschaft ist dort gründlich verkannt, wo die Leistung und Eigenart experimenteller Beobachtungs- und Meßverfahren sich mit einer wie auch immer gearteten naiv-realistischen Erkenntnistheorie verbindet. Ein übersteigerter unkritischer Empirismus, verbunden mit einer naiv-realistischen Abbildkonzeption empirischer Erkenntnis, ist hier durchaus fehl am Platze. Gerade eine solche erkenntnistheoretische Haltung verbindet sich jedoch — wenn auch oft sehr untergründig — zu einem erheblichen Teil mit den Erwar124

Der Erfahrungsbegriff

in der empirischen

Sozialforschung

tungen, die mit der empirischen Sozialforschung verknüpft sind. Man vermeint — mehr oder weniger bewußt — durch die Tediniken des „social research" das objektive Strukturgefüge der Gesellschaft so in den Griff zu bekommen, wie es als ein AnSich vor dem erkennenden Zugriff liegt und sich ihm auch in diesem An-Sich-Sein als Gegenstand darbietet. Hiergegen kritisch Stellung zu nehmen, erscheint als unabdingbar für jede Soziologie, die erkenntnistheoretisch Klarheit darüber zu gewinnen sucht, was ihre Erfahrung, ihre Empirie eigentlich ist und leistet, und welches erkenntnistheoretische Fundierungsverhältnis zwischen Erfahrung und Gegenstand besteht. Für eine solche erstrebte und sachnotwendige Klarheit über Sinn und Grenze sozialwissenschaftlicher Empirie jedoch ist die erkenntnistheoretische Reflexion noch immer auf jenen kritischen Erfahrungsbegriff verwiesen, den Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft" gültig konzipiert hat: Erfahrung ist kategoriale Gestaltung eines noch vorgegenständlich gegebenen, disparaten Erkenntnismaterials im logischen Akt der Erkenntnis. Der Erkenntnisgegenstand als in sich geordnet-strukturierter ist das Korrelat der Funktion gegenstandskonstitutiver Erkenntniskategorien. Erfahrung ist in diesem Sinne ein im Element des Begriffes ebenso wie im Element des vorgegebenen Faktums fundierter logischer Akt, der den Gegenstand allererst als einen solchen der Erkenntnis bestimmt. Vermochte Kant diesen kritischen Erfahrungsbegriff im Vollzug einer Analyse der Frage: „wie ist Natur möglich" zu begründen, vermochte er dabei zugleich die Grenze und die Geltungsgrundlage einer jeden erfahrungswissenschaftlichen Naturerkenntnis zu bestimmen, und vermochte er schließlich, den logischen Primat der erkenntnistheoretischen Selbstvergewisserung vor jeder inhaltlichen Detailanalyse zu begründen, so ist zum Zwedke einer Bestimmung dessen, was sozialwissenschaftliche Empirie zu leisten vermag, von jeder Soziologie gefordert, daß sie in analoger Weise die Frage aufwirft und analysiert: „wie ist Gesellschaft möglich?" 125

Der Erfahrungsbegriff

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Sozialforschung

Die Soziologie hat dabei jedoch nicht etwa in der Art Simmeis die erwähnte Frage nach der Möglichkeit von Gesellschaft überhaupt im Sinne einer wie auch immer ausfallenden Ontologie zu verbiegen, sondern sie hat an ihrer erkenntniskritischen Konzeption festzuhalten, die die logischen Bedingungen der Möglichkeit von Gesellschaft als Gegenstand erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnis anzielt. Die Rückbesinnung auf die Grundlegung eines kritischen Erfahrungsbegriffes durch Kant ist angesichts der hier zum Thema stehenden Problematik der Erfahrung in der empirischen Sozialforschung nicht zufällig gefordert. Nicht zuletzt eben dadurch scheint Kant für die Vorhaben und das Selbstverständnis der empirischen Sozialforschung von Belang, daß er den skizzierten kritischen Erfahrungsbegriff gerade auch als für die experimentellen Beobachtungsmethoden und Meßverfahren gültig nachgewiesen hat. Die berühmte Stelle in der Vorrede zur 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft, in der Kant von der Methode der Entdeckung der Fallgesetze im Experiment durch Galilei spricht, gibt, so scheint es, eine bleibend gültige und kritisch geklärte Bestimmung von Struktur und Funktion des Experimentes, sagt er doch dort: wir gehen mit kategorialen Prinzipien der Beobachtung an die Natur heran, nicht um von ihr in der Art eines Schülers belehrt zu werden, sondern um sie zu zwingen, auf theoretisch vorentworfene Fragen in bestimmter Art und Weise zu antworten. Diese Aussage über das Experiment und seine Struktur gilt auch und insofern von der empirischen Sozialforschung, als diese sich als experimentelle Beobachtungsmethodik versteht. In der Tat darf etwa jede mit dem Interview arbeitende Repräsentativerhebung als Forschung auf der Grundlage experimenteller Versuch- und Meßanordnung gelten. Kein empirischsozialwissenschaftliches Experiment dieser Art jedoch bildet vermeintlich vorgegebene, soziale Tatbestände (seien es Meinungen, Haltungen, Verhaltensweisen, Gruppierungen usw.) in ihrem sogenannten An-Sidi-Sein einfach ab, sondern es bestimmt sich 126

Der Erfahrungsbegriff

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Sozialforschung

allererst das, was ihm zum zu erforschenden Gegenstand wird, durch eine antizipierende Theorie. Und diese theoretische Antizipation ist nicht zuletzt auch für jede in Experiment und Beobachtung zu erreichende sozialwissenschaftliche Erfahrung als Resultat konstitutiv. Auch jedes sozialwissenschaftliche Experiment ist — bildhaft gesprochen — als eine Frage an den Gegenstand zu verstehen. Die Struktur dieser Frage aber ist selbst nicht wiederum ausschließlich und naiv aus dem Gegenstand induktiv abgeleitet, sondern ihm gegenüber zu einem erheblichen Teil theoretisch auf eine solche Art vorentworfen, daß der theoretische Vorentwurf selbst schon das, was als Gegenstand gilt und angezielt wird, logisch formt und gestaltet. Ohne einen solchen theoretisch-antizipatorischen Vorentwurf, der experimentelle Erfahrung leitet, „sagt" der Gegenstand nichts, bleibt er für das Erkenntnissubjekt „stumm". Für jede Wissenschaft, die sich der experimentellen Erfahrungsmethode bedient, und das heißt auch für die empirische Sozialforschung, gilt, daß das gesicherte Erkenntnismaterial in seiner Ordnung und in seinem Aussagewert der Art und Struktur der theoretischen Antizipation korrelativ zugeordnet ist, denn nur diese antizipierende Funktion der Theorie begründet die Sicherheit und den Sinn der im Experiment erzielbaren Resultate. Dieser im Sinne eines kritischen Erfahrungsbegriffes skizzierte unaufhebbare Zusammenhang von theoretischer Antizipation und Empirie gilt nicht nur für die Vielfalt empirisch-soziologischer Erhebungstechniken, sondern auch für alle Arbeitsstadien eines konkreten empirischen Forschungsvorhabens. Es ist konstitutiv für die je konkrete Untersuchungskonzeption, für Entwurf und Gestaltung des Fragebogens, der Beobachtungsperspektiven oder des Grundreizes als eigentlicher, experimenteller Versuchsanordnung, für die Durchführung von Interview, Beobachtung und Gruppendiskussion. Er gilt für die verschiedenen Stadien der Auswertung und Materialanalyse, angefangen von der Kategorisierung und der Verschlüsselung bis hin zum korrelativen Vergleich. Dabei ist es für die konstitutive Funktion des Zusammenhanges von 127

Der Erfahrungsbegriff

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Sozialforschung

Theorie und Empirie sogar weitgehend gleichgültig, ob sich die Auswertung bei quantitativen Aussagen auf der Grundlage einoder mehrdimensionaler Korrelationen beruhigt, oder aber qualitative Analysen des Materials anzielt. Stets ist Anlage und Durchführung der empirischen Gesamterhebung wie auch das in der Auswertung zu erreichende Resultat durch den dialektischen Zusammenhang von Theorie und Empirie bestimmt. Dies erhellt nicht zuletzt daraus, daß die Frage, inwieweit eine Auswertung von Erhebungsmaterial überhaupt bis zu qualitativen Aussagen vorangetrieben werden kann, weitgehend von der theoretischen Konzeption der das Material allerst beschaffenden Erhebung vorgeprägt ist. Ein in empirischen Untersuchungen erworbenes Material ist nicht beliebig, sondern fast immer nur in den durch die Theorie antizipierten Grenzen auswertbar, die seinen E r werb bestimmen. Kein empirisches Erhebungsmaterial spricht als solches für sich. Nur allzu oft täuschen quantitativ-statistische Angaben und Tabellen über diesen Sachverhalt hinweg. Demgegenüber ist jedoch mit Nachdruck darauf hinzuweisen, daß gerade auch alle quantitativen Aussagen der empirischen Sozialforschung nur möglich sind auf der Grundlage einer Egalisierung von in letzter Instanz qualitativ Ungleichartigem. Bei Fragebogenerhebungen etwa bieten die Kategorisierung und Verschlüsselung der erhaltenen Antworten auf sogenannte offene Fragen hierfür instruktive Beispiele. Die Maßstäbe für diese zur Quantifizierung notwendigen Egalisierung sind dabei gewiß nicht willkürlich gesetzt, sondern im Ganzen der Untersuchung sachlich begründet, und zwar in der theoretischen Konzeption ebenso wie in dem erarbeiteten Material. Aber diese Maßstäbe bedürfen auch stets einer solchen Rechtfertigung aus dem Ganzen der Untersuchung und ihrer theoretischen Grundlage. Gerade in Hinsicht auf quantitativ-statistisch aufbereitete empirische Untersuchungen ist die quaestio juris stets nachdrücklich gestellt. Und das wiederum bedingt es, warum jeder Ergebnisbericht über eine empirisch-soziologische Untersuchung einen methodologisch klären128

Der Erfahrungsbegriff

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Sozialforschung

den Teil über theoretische Konzeption und Durchführung der Untersuchung, über die verwandten und eingeschalteten mannigfachen Kontrolltechniken und über die theoretisch-methodischen Grundlagen der Aufbereitung des Materials in Deutung und Analyse enthalten muß. Gerade hierauf ist mit Nachdruck hinzuweisen, denn ohne diese bewußte und selbstkritische Zuordnung der erzielten Ergebnisse zu ihren theoretisch-antizipatorischen Grundlagen ist ein Ergebnisbericht wissenschaftlich sinnlos und nur geeignet, irrige Vorstellungen über die mitgeteilten Fakten und auch über die Art und das Wesen empirisch sozialwissenschaftlicher Forschung zu erwecken. Von hier aus wird vielleicht verständlich, warum etwa der kritische Soziologe nicht immer glücklich sein kann über das, was er von empirischen Erhebungsberichten und Resultaten in der Presse, ja mitunter sogar in Veröffentlichungen empirisch arbeitender sogenannter sozialwissenschaftlicher Forschungsinstitute (man denke an das Jahrbuch der öffentlichen Meinung des Allensbacher Institutes 8 ) wiederfindet. So sehr ihm an einer sozialen Wirkung empirischer Untersuchungsergebnisse im Sinne einer gesellschaftlichen Aufklärung gelegen sein muß, so wenig ist zumal bei Pressenotizen über solche Untersuchungen in der Regel jener erwähnte innerlich notwendige Zusammenhang von Theorie und Empirie beachtet. Meist stehen die erarbeiteten zumal quantitativ mitgeteilten Resultate für sich da, ohne daß ihre theoretisch-methodische Begründung dem Leser ebenfalls einsichtig würde. Die große Verbreitung von Pressenotizen dieser Art, verbunden mit dem bei vielen Lesern vorhandenen, beinahe magisch anmutenden Glauben an den Aussagewert der reinen Zahl, sorgt dann nur zu leicht dafür, daß sich der potentiell aufklärende Sinn der empirischen Sozialforschung, vor allem der Meinungsforschung, in sein genaues Gegenteil verkehrt. Diese Binsenwahrheiten auszusprechen, erscheint in diesem Zusammenhang deshalb geboten, damit die sich wieder an kantische Formulierungen anlehnende These ihre Geltung zu beanspruchen vermag: bei keiner empirisch-soziologischen Erhe-

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Lieber

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Sozialforschung

bung kommt an Ergebnissen, die einen soziologischen Sinn haben, mehr heraus, als an theoretischer Antizipation in sie hineingedacht worden ist. H a t die moderne Naturwissenschaft, wenn irgend sie philosophisch reflexiv ist, diese Tradition der kantischen Erkenntniskritik — zumindest im Hinblick auf das Verfahren des Experimentes — fruchtbar in sich aufgenommen, so steht dem in der empirischen Sozialforschung eine beinahe panisch anmutende Angst entgegen, damit unkontrollierbaren Subjektivismen den Einbruch in die mühsam errungene Exaktheit der Methode zu eröffnen. Diese Befürchtung hat zweifellos eine sachliche Grundlage: die für das sozial wissenschaftliche Experiment etwa einer Repräsentativerhebung konstitutive antizipierende Theorie hat niemals jenen überzeitlich-apriorischen Allgemeingültigkeitsgrad, den Kant vermeinte, seiner transzendentalen Apperzeption als funktionalem Inbegriff der Kategorien, und das heißt zugleich, als Schema gesetzlicher Natur, zusprechen zu können. Vielmehr erwächst diese antizipierende Theorie als Element des Reflexivwerdens von Gesellschaft, das der experimentellen Überprüfung sich stellt, dem Sozialforscher unmittelbar aus seinem Darinnensein in dieser Gesellschaft, aus seinen noch vorwissenschaftlichen sozialen Lebens-, d. h. Erlebnis- und Wertungsbezügen zu. Sie enthält in sich unvermeidbar einen Grundbestand an philosophischer Bewältigung von Gesellschaft 7 , damit aber freilich auch an standortbedingter Relativität. Diese Struktur der theoretischen Antizipation, wie sie in der sozialwissenschaftlichen Empirie zur Auswirkung gelangt, ist aber darum nicht weniger rational — oder gar irrationalistisch-intuitiv — weil sie den engen Begriff von Rationalität = exakter, beliebig wiederholbarer Deduktion und Demonstration sprengt 8 ; sie ist, wie alles Philosophisch-Theoretische, darum nicht weniger Wissenschaft, weil sie in Ursprung und Struktur mehr als Wissenschaft ist. Die sich der Erhöhung zum Wissen sperrende Ahnung um

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Der Erfahrungsbegriff

in der empirischen

Sozialforschung

diesen Sachverhalt vermag in der empirischen Sozialforschung sich nur deshalb nicht zu methodischer Fruchtbarkeit zu entfalten und schlägt vielmehr in die erwähnte panische Angst um, weil man — an einem engen Begriff von Exaktheit orientiert — Subjektivität mit Willkür, Relativität mit Relativismus, Philosophie mit müßiger Spekulation unbesehen und undurchdacht identifiziert, was freilich ebenfalls sein, wenn auch nicht eingestandenes, philosophisches Fundament hat. Statt sich der erkenntnistheoretisch-methodologischen Diskussionen um die Struktur historisch-soziologischer Erkenntnis fruchtbar und kritisch zu erinnern, wie sie gerade in Deutschland mehr als ein halbes Jahrhundert lang bestimmend gewesen ist, fällt die empirische Sozialforschung nur allzu gerne in ein Stadium der methodologischen Selbstverständigung zurück, das vor der mit Dilthey beginnenden erkenntniskritischen Reflexion datiert. Statt die lebendige Anteilhabe des Subjektes an jener historisdi-sozialen Lebenswirklichkeit, die ihm zum Erkenntnisgegenstand wird und selbst eine subjektiv schon immer vermittelte ist, als Fundament möglicher Erkenntnis dieser Wirklichkeit überhaupt anzunehmen, wird sie als Element unexakter Verfälschung dessen, was ist, abgetan und erscheint als ein zu Eliminierendes. Das dahinterstehende Orientierungsmodell ist dann aber notwendigerweise dies: empirisch-sozial wissenschaftliche Forschung habe voraussetzungslos zu beginnen, was den Rückfall in einen naiven erkenntnistheoretischen Realismus ebenso involviert, wie die Verwandlung der Forderung nach überprüfbarer Gleichgültigkeit der soziologischen Erkenntnis in eine soziologische G/eic&gültigkeit und Irrelevanz eben dieser Erkenntnis. Als ein sprechendes Beispiel dafür, daß der skizzierte innere Zusammenhang von Gesellschaftstheorie und Empirie als Konstituenz möglicher Erfahrung der empirischen Sozialforschung und ihrem erkenntnistheoretischen Selbstverständnis durchaus nicht in dem sachlich geforderten Maße präsent ist, mag H o f stätters Kritik am Gruppenexperiment des Frankfurter Institutes für Sozialforschung gelten®. Lebt die Studie in Anlage, 9»

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Der Erfahrungsbegriff

in der empirischen Sozialforschung

Durchführung, erarbeitetem Material und qualitativ wie quantitativer Auswertung fundamental aus dem Wissen um ihre theoretische Grundlage: die ideologienkritische Konzeption, ist demzufolge dann — sachnotwendig und theoretisch fundiert, zugleich unter K r i t i k an gängigen Konzeptionen der Meinungsforschung — die Idee tragend, daß ein Begriff wie „objektiver Geist" auch in der empirischen Operation seine methodologische Fruchtbarkeit entfalten muß, so fällt gerade dieses theoretische Fundament der Studie vor aller Einzelargumentation dem A n griff des Kritikers anheim. Wäre nun in ihm ein kritischer Begriff von Erfahrung in dem angedeuteten Sinne, ein Wissen um die korrelative Zuordnung von empirischem Resultat und antizipierender Theorie wach, dann zöge dies unumgänglich die Konsequenz nach sich, daß die K r i t i k am Resultat des Experimentes sich unmittelbar und direkt zur K r i t i k an seinem sozialtheoretischen Fundament, die K r i t i k an der Empirie zur K r i t i k an der Theorie sich ausweitet. D a s hätte freilich zugleich die weitere Konsequenz, daß die eigene sozialtheoretische Position des Kritikers, seine Ansicht von dem was Gesellschaft in ihrem Wesen sei, sich offen bekennen müßte. Dieser Weg einer Auseinandersetzung jedoch wird bezeichnenderweise nicht gegangen. Indem das Substantielle der theoretischen Konzeption der Studie zum bloß Accidentellen depraviert wird, wird der empirische Befund der Studie im wesentlichen als solcher genommen und Beurteilungs- bzw. Bewertungsmaßstäben unterworfen, die einfach deshalb sachunangemessen sind, weil sie ihre Orientierung an einer anderen Sozialtheorie, an einem atomistisch-nominalistischen Modell von Gesellschaft, nur unschwer verbergen. Gerade dies jedoch wird durch das einer Selbstkritik nicht unterzogene Postulat kaschiert, Empirie erschöpfe sich im faktenfeststellenden, quantifizierbaren und exakt verifizierbaren Befund. D e r Beleg für die Absenz des kritischen Wissens um die wechselseitige Bedingtheit von Theorie und Empirie in der empi132

Der Erfahrnngsbegriff

in der empirischen

Sozialforschung

rischen Sozialforschung ließe sich am Beispiel der Hofstätterschen Polemik gegen das Gruppenexperiment beliebig erweitern. Jedoch zöge ein solches Vorgehen nur allzu leicht den Vorwurf des Fixiertseins am einzelnen Fall und seiner unvermittelten Erhöhung zum typischen auf sich. Und in der Tat: die empirische Sozialforschung wird die in Verarbeitung kantischer Denkansätze hier entwickelten Gedanken über die konstitutive Bedeutung der Theorie für eine jede gültige und ihren Begriff erfüllende Erfahrung nidit ohne weiteres als Argumentation gegen ihr methodologisches Selbstbewußtsein anzuerkennen bereit sein. Sie wird sich darauf berufen, daß ihr gesamtes Vorgehen durch den inneren Zusammenhang von hypothetischem Erhebungsentwurf und empirischer Überprüfung, also Verifikation oder Falsifikation, bestimmt ist. Sie wird darauf hinweisen, daß sie die „hypothesenbildende Phantasie", wie König gelegentlich sagt, nicht nur für ihre Empirie als richtungsweisende Grundlage benötigt, sondern auch laufend beschwört und fordert. Sie wird schließlich darauf hinweisen, daß ihre Erhebungsberichte, insofern in ihnen die Explikation der Hypothese und die methodologische Erörterung genauso ihren Platz haben wie der empirische Befund, die anerkannte und praktisch bewährte Einheit von Hypothese und Empirie nachdrücklich bestätigen. Dieser Argumentation ist solange kaum etwas entgegenzuhalten, solange man, wie die Empiriker selbst, willens ist, das für jede Empirie notwendige Fundament an Theorie als durdi die hypothetische Konzeption abgegolten und erfüllt anzusehen, Theorie und Hypothese als ein im Grunde Identisches zu akzeptieren. Folgt man dieser verbreiteten Auffassung der Empiriker, dann ist die Erwartung logisch und konsequent, daß alles Theoretische sich der Umsetzung in Empirie, der empirisch beliebig nachprüfbaren, exakten Verifikation und Falsifikation so restlos als fähig und auch bedürftig erweisen muß, daß alles, was dieser Forderung nicht genügt, mit Recht als Theorie übersteigende Spekulation mißachtet werden darf. Gerade diese Annahme und Folgerung jedoch haben nicht die Stringenz, die 133

Der Erfahrungsbegriff

in der empirischen

Sozialforschung

ihnen nach Meinung der Empiriker zukommt 1 0 . Es ist sicher nicht zu bestreiten, daß jede Hypothese, insofern als sie gemäß ihrem Begriff eine rationale Annahme mit einem gewissen Wahrscheinlichkeitsgrad von sachlicher Geltung darstellt, ein Element von Theorie in sich enthält. Aber wenn Theorie — in dem in diesem Zusammenhang gemeinten Sinne — notwendig auf das Ganze der Gesellschaft, ihre Ordnungsstruktur und ihre Wesensgesetzlichkeiten zielt, so f a ß t die Hypothese das in ihr mit enthaltene Theorem sofort partiell, biegt es ins Pragmatisch-Technische um, was ihrem Charakter als arbeitstechnischer K o n z e p tion entspricht. Indem die Hypothese in Form und inhaltlicher Gestalt sich schon immer an dem der Empirie überhaupt Zugänglichen orientiert, also vom Ziel der Empirie aus konzipiert ist, bleibt sie auf das Faktisch-Singuläre zugeschnitten, das als solches in der Gesellschaft ein Sekundäres und Partielles ist und etwa in seiner Summierung ihre ganzheitliche Ordnungsstruktur nicht erschöpft. Schreibt gemäß dem entwickelten, erkenntniskritischen Erfahrungsbegriff die Theorie der Empirie ihr G e setz vor und bestimmt sie ihr damit zugleich methodologisch ihren systematischen O r t im Ganzen soziologischer Erkenntnis, so ist es bei der Hypothesenbildung die angezielte Empirie, die die Umsetzung der Theorie in Hypothese gestaltet und bestimmt. Dabei schaltet das Bewußtsein der Problematik weitgehend aus, ob denn überhaupt das Theorem restlos der U m setzung in auf Empirie zugeschnittene Hypothesen fähig ist oder nicht selbst durch solche Umsetzungen schon Veränderungen erfährt, die es seinem Wesen und seiner soziologischen F u n k tion entfremden. I n der Hypothesenbildung der empirischen Sozialforschung dominiert die Frage nach dem technisch R e a l i sierbaren gegenüber dem sachlich geforderten Bewußtsein vom methodologisch Möglichen und seiner ebenso methodisch begründeten Grenze. Überhaupt scheint der im Bereich der empirischen Sozialforschung gängigen und umfangreichen sogenannten Methodendiskussion im weiten Ausmaß eher der Begriff der technologischen als der methodologischen Selbstverständigung im 134

Der Erfahrungsbegriff

in der empirischen

Sozialforschung

eigentlichen Sinne angemessen zu sein. Ein vorwiegend technologisches Selbstverständnis der empirischen Sozialforschung jedoch steht permanent in der Gefahr, die disparaten und unvermittelt sich anbietenden Faktizitäten der Gesellschaft als letzte, in der Frage nicht mehr hintergehbare Instanzen zu akzeptieren, an sie fixiert zu bleiben und damit potentiell ihrer Bestätigung und Rechtfertigung zu dienen. Arbeitshypothesen zum Beispiel zum Zwecke einer empirischen Analyse und Bestimmung dessen, was der Begriff Sozialstatus soziologisch eigentlich meint, sind mannigfach möglich. Sie mögen sich an ökonomisch bedingten Einkommensstrukturen, an subjektiven Rangvorstellungen, an objektiven Prestige- oder Funktionshierarchien, an subjektiv wie objektiv feststellbaren Formen der Lebenshaltung und ähnlichem orientieren, oder auch durch deren Kombination eine diffizilere Ausgangsbasis für die empirische Aussage zu gewinnen suchen. Sie bleiben bei all dem am Ziel der unmittelbaren empirischen Faktenanalyse und dadurch erreichbaren Begriffsbestimmung ebenso fixiert, wie an den disparaten, sich anbietenden Faktizitäten der Gesellschaft, die unbefragt als gegeben angenommen werden. Die vor aller Empirie zunächst theoretisch zu erörternde Frage, ob und wie der Begriff Sozialstatus angesichts der modernen Gesellschaft und ihrer objektiven Strukturgesetzlichkeiten überhaupt noch einer einheitlichen Bestimmung zugänglich und verwendungsfähig ist, bleibt vermöge des Fehlens einer Theorie dieser Gesellschaft ausgeklammert. Das Ziel ist, durch Empirie eine umfassend theoretische Aussage zu begründen. Insofern aber, als diese Empirie in Verfolg eines naiven hypothetischen Experimentierens theoretisch unreflektiert dem blinden Funktionieren überlassen bleibt, verfehlt sie weitgehend und im Letzten ihr eigentliches Ziel: den für die Theorie der Gesellschaft, die Soziologie, sinnvollen Befund. Abgesehen einmal von der Frage, ob die Praxis der empirischen Sozialforschung in ihrer verbreiteten Gestalt überhaupt das Zugeständnis der Notwendigkeit von Hypothesen für die Empirie wirklich erfüllt; das techno135

Der Erfahrungsbegriff

in der empirischen

Sozialforscbung

logisch bestimmte Bewußtsein einer Zuordnung von Hypothese und Empirie erfüllt noch nicht die aus einer kritischen Analyse des Erfahrungsbegriffes resultierende Forderung nach fortlaufender methodologischer Präsenz des Wissens um die dialektische Einheit von soziologischer Theorie und Empirie. Erweist sidi auf Grund der entwickelten Gedankengänge zum Erfahrungsbegriff das Verhältnis von Theorie und Empirie in der empirischen Sozialforschung — gerade eben als empirischer — als diffiziler strukturiert, als ein übersteigerter, naivrealistischer Empirismus mit seiner unkritischen Hoffnung auf theoretisdi-voraussetzungslose Erkenntnis dessen, was der Fall ist, vermeint, so darf folgende abschließende und an den Ausgangspunkt anknüpfende Bemerkung vielleicht einen Anspruch auf begründete Anerkennung erheben: Will die empirische Sozialforschung ein Element gesellschaftlicher Aufklärung sein, indem sie sich als Mittel der kritischen Konfrontation der Gesellschaft und ihrer Faktizitäten mit ihrer eigenen Idee bewährt, dann ist ein Bewußtsein von der ihrem Grundbegriff, dem der Erfahrung, immanenten methodologischerkenntnistheoretisdien Problematik eine erste, wenn auch gewiß nicht die einzige, Voraussetzung. Ist diese Voraussetzung nicht durch eine fortlaufende Aktualisierung des kritischen Methodenbewußtseins, das Theorie und Empirie nicht oberflächlich durch bloße Versicherung ihrer Korrespondenz versöhnt, sondern ihre dialektische Spannung fruchtbar austrägt, erfüllt, so bleibt die sozialwissenschaftliche Empirie naiv, bleibt an die theoretisch nicht bewältigten Faktizitäten der Gesellschaft fixiert und tendiert dazu, Instrument des Konformismus in dieser dann eben weder durch Theorie noch durch Empirie aufgeklärten Gesellschaft zu sein".

Der Leninismus Ideologie als philosophisches System Der „dialektische und historische Materialismus" versteht sich selbst als „marxistisch-leninistische Philosophie" -wie ebenso auch als revolutionäre und damit allein progressive „Ideologie". Deutet das Selbstverständnis der Theorie als „Philosophie" auf den Anspruch hin, gemäß einem traditionellen Begriff von Philosophie ernstgenommen werden zu wollen, so revidiert der Begriff „Ideologie" gerade diesen Anspruch in bestimmtem Sinne. Sobald Philosophie als Ideologie bezeichnet und ausgewiesen wird, ist ihr der Anspruch auf genuine, rein theoretische und darin autonome Reflexion ihrer Probleme bestritten, vielmehr wird demgegenüber ihr in Problemansatz und Resultat sich bekundender funktionaler Bezug zur geschichtlichen Dynamik der Gesellschaft, zur in ihr stattfindenden sozialen Konkurrenz der Gruppen, zum Kampf um Macht und deren Rechtfertigung mit besonderem Nachdruck ins Bewußtsein gehoben. Wie immer sich der Begriff Ideologie analog zu dem von ihm kritisch angezielten Gegenstand historisch gewandelt haben mag, seit jeher hat er den Geist in seinem funktionellen Bezug zu gesellschaftlichpolitischen Herrschafts Verhältnissen dingfest gemacht1. Es ist evident, daß der Leninismus als verbindliche Weltanschauung in anderer Art zum Gegenstand der Forschung wird und werden muß, je nachdem, ob er in seinem Selbstverständnis als „Philosophie" oder als „Ideologie" ernstgenommen wird. Wäre die Annahme des Selbstverständnisses als Philosophie geeignet, traditionale Methoden philosophischer Argumentation und Analyse als ausreichend erscheinen zu lassen, so muß ein Ernstnehmen des Selbstverständnisses als „Ideologie" gerade ein 137

Der Leninismus — Ideologie als philosophisches System solches methodisches Verfahren als unzureichend erachten und sich der ideologienkritischen Funktionsanalyse befleißigen. Sie hat als systemimmanente Forschung und K r i t i k sich zu bewähren, wobei der Begriff des Systems jedoch den funktionalen B e zug von Geist, Gesellschaft und Rechtfertigung unabdingbar in sich aufnimmt. D i e W a h l des methodischen Aspektes ist dabei jedoch nicht dem subjektiven Belieben anheimgestellt, sondern durch objektive Momente vorgegeben, und z w a r eben durch das Selbstverständnis des dialektischen und historischen Materialismus als Ideologie. Nicht nur geht diese Theorie andere philosophische Positionen permanent mit einer — wenn auch zumeist recht naiven — ideologienkritischen Methodik an und bekundet damit implizit, daß sie die ideologische Funktion der Philosophie als Konstituens möglicher Philosophie überhaupt erachtet; die Entfaltung der Ideologienlehre und Ideologienkritik fällt selbst in ihre eigene Geschichte als Theorie und wirkt von daher in ihrem Selbstverständnis als Ideologie bestimmend nach. Freilich ist dabei die klassische Ideologienlehre des Marxschen Werkes im Selbstverständnis und in der Methodik der Sowjetideologie kaum ungebrochen gültig. Als philosophisch-systematische Aussage über Mensch, Gesellschaft, Geschichte, W e l t und Erkenntnis formt sich der Leninismus zweifellos nicht ohne eine innere Bemühung um die V e r arbeitung und Weiterbildung der von M a r x und Engels konzipierten theoretischen Position. W a r diese Position einerseits, soweit sie primär auf M a r x zurückging, vor allem geschichtlichpolitische Theorie der gesellschaftlichen Revolution mit dem Ziel einer Gestaltung von Vernunft in der Gesellschaft derart, daß mit der Revolution Theorie als bloße Theorie sich überwinden und Einheit von Theorie und Praxis als Humanität in Gedanke und T a t sich herstellen sollte; und w a r diese Position andererseits, soweit sie auf Engels zurückging, durch den Versuch gekennzeichnet, die am Begriff des Menschen und der Idee seiner Freiheit orientierte Theorie der geschichtlich-sozialen R e v o l u 138

Der Leninismus — Ideologie

als philosophisches

System

tion durch eine Ontologie zu begründen, die die Revolution zum Gestaltungsgesetz alles Seienden überhaupt erklärte, so war der Leninismus, wollte er von dieser in sich durchaus nicht einheitlichen Position aus eben gerade einheitlich weiterdenken, gezwungen, nicht nur revolutionäre Theorie der Geschichte und revolutionäre Ontologie zu sein, sondern beides zur Einheit eines philosophischen Aussagesystems zusammenzufügen und aus ihm zu begründen. Der Leninismus als philosophisches System ist der Versuch, diese weder von Engels noch von seinen westeuropäischen sozialistischen Epigonen hinlänglich geleistete Aufgabe radikal und entschieden in Angriff zu nehmen und zu meistern. E r ist nicht zuletzt deshalb ein systematisches Gebilde, selbst wenn man zugestehen muß, daß viele Schriften Lenins durch je aktuelle Anlässe verursachte Gelegenheitsschriften sind und den Charakter solcher Schriften an sich tragen: vorläufig, sporadisch, ad hoc gezielt. Indem das denkerische Bemühen Lenins sich dieser skizzierten Aufgabe zuwandte, blieb jedoch der kontinuierliche Bezug auf Marx und Engels nicht ungebrochen, sondern offenbarte in sich die Gebundenheit an eine geistige Tradition spezifisch russischer Provenienz. War diese Gebundenheit einmal und gleichsam hintergründig eine solche an die durch den Begriff „principialnost'" gekennzeichnete Geisteshaltung der russischen Intelligenz 2 , die nach eigener Aussage einiger ihrer Repräsentanten, etwa Berdjaew', einen absoluten theoretischen Dogmatismus unter Überspielung jeder wie auch immer gearteten, an einem Begriff von Aufklärung sich orientierenden Kritik unmittelbar praktisch nahm, so war die erwähnte Gebundenheit vordergründig eine solche eben an diesen naiven Pragmatismus, nach dem jedwede Theorie Anweisung zum Handeln ist und sich darin erschöpft. Gerade die Begegnung der russischen revolutionären Intelligenz mit der Marxschen Position steht von Beginn an unter einer solchen pragmatischen Perspektive, womit diese Intelligenz freilich selbst schon im Ansatz hinter Marx zurückfällt, hatte 139

Der Leninismus — Ideologie als philosophisches

System

doch dieser seit seiner philosophischen Selbstverständigung in den Jugendschriften permanent um einen Begriff von Praxis gerungen, der diese nicht als bloße Anwendung von praxisvorlaufender Theorie zu bestimmen suchte. Wo Marx um eine Überwindung der Dualität von Theorie und Praxis sich mühte, indem er diese Dualität als Signum einer Situation der Entfremdung nachzuweisen suchte, da ist diese Dualität von Theorie und Praxis ein konstitutives Element für die Aneignung der Marxschen Position durch die russische Intelligenz. Der Leninismus bildet hierin keine Ausnahme, sondern erhebt diesen Pragmatismus gleichsam ins Systematische. Der skizzierte Sachverhalt wird zunächst von entscheidender Bedeutung für die Aneignung der politisch-revolutionären Theorie im engeren Sinne, also des historischen Materialismus, ohne freilich darauf beschränkt zu bleiben. Grundlegend dafür ist zunächst die realpolitische Situation der revolutionären Intelligenz in Rußland gegen Ende des vorigen Jahrhunderts. Als das narodniiestvo, die Bewegung der Volksfreunde, mit seinem revolutionären Voluntarismus und Terrorismus sich angesichts der unter Alexander III. einsetzenden scharfen Reaktion, wie auch angesichts verbreiteten Unverständnisses bei dem von ihm angesprochenen Volk, praktisch zur politischen Ohnmacht oder doch Erfolglosigkeit verurteilt sah, war die Begegnung vieler Angehöriger dieser Bewegung mit den Gedanken von Marx gleichsam der Beginn einer neuen revolutionären Besinnung und Konzeption. Indem man — zumeist in der Emigration — die Marxschen Gedanken kennenlernt und sich dabei vor allem durch gewisse ökonomisch-deterministische Passagen angesprochen fühlt, erscheint der Mißerfolg des narodnicestvo und seines Terrorismus nicht mehr als etwas mehr oder minder Zufälliges, sondern als bedingt durch Mißverständnis und Fehleinschätzung der ökonomischen Gesetze politischer und sozialer Revolution. Marx' Werk selbst — mit seiner Konzeption der ökonomischen Determinanten geschichtlich-sozialer Entwicklung, des ideologischen 140

Der Leninismus — Ideologie als philosophisches System Überbaus, des Klassenkampfes, der revolutionären R o l l e und Mission des Proletariats — wurde gemäß einem solchen V e r ständnis dann zugleich zum neuen und verbindlichen Evangelium der Revolution und des revolutionären Kampfes. Das heißt: für diese revolutionäre Intelligenz in Rußland, die in einer Situation des Scheiterns oder doch der Erfolglosigkeit ihrer bisherigen Aktionen nach einer neuen revolutionären Selbstverständigung suchte, blieb M a r x nicht der radikalkritische Analysator der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer inneren Antogonismen, sondern wurde er zum Demonstrator einer universalhistorisch gültigen Entwicklungsgesetzlichkeit der Geschichte und zum darin gründenden Propheten konkreter revolutionär-politischer Aktion. Es ist hier nicht die Frage zu untersuchen, ob und in welchem Sinne etwa durch ein solches Begreifen Marxens die in seinem W e r k nicht restlos gelöste Spannung zwischen politisch-revolutionärem Aktivismus und radikal-kritischer Analyse als Element der verändernden Aufklärung nicht durch die russische Intelligenz eindeutig und einseitig im Sinne eines revolutionären Aktivismus gelöst wurde. V o n Bedeutung für die systematische Entfaltung zunächst der politisch-philosophischen Konzeption des russischen Marxismus und dann auch des Leninismus war etwas anderes: Wollte man — gleichsam in positivistisch-pragmatischer Manier — aus der wissenschaftlichen Erkenntnis universalgeschichtlich-gültiger Entwicklungsgesetzlichkeiten, als welche man M a r x ' Lehre nahm, Rezepte für die konkrete, politischrevolutionäre Aktion, also den handelnden Eingriff in die G e sellschaft ableiten, dann mußte die politisch-soziale Situation Rußlands, in die hinein man agieren wollte, kritisch mit jenen ökonomisch-sozialen Bedingungen konfrontiert werden, die gem ä ß dem W e r k von M a r x als unabdingbare Voraussetzungen eines sich in der proletarischen Revolution gegen sich selbst wendenden Kapitalismus erkannt waren. Eine solche K o n f r o n t a t i o n aber mußte sachnotwendig zu dem Eingeständnis führen, daß R u ß l a n d unmittelbar und für absehbare Zeit für eine proletari141

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sehe Revolution als Voraussetzung einer sozialistischen Gestaltung der Gesellschaft nicht reif war. Seiner — trotz gewisser Anfänge bürgerlich-kapitalistisch-industrieller Produktion — im Grunde vorbürgerlichen Staats- und Gesellschaftsstruktur fehlte ja gerade jener entfaltete und profilierte Klassenantagonismus zwischen Bürgertum und Proletariat, der — zum Bewußtsein des Proletariats gelangt — nach Marx der proletarisch-revolutionären Aktion allein die geschichtliche Wirkmächtigkeit zu verleihen vermochte. War aber die sich zu Marx bekennende russisch-revolutionäre Intelligenz zu solcher kritischen Einsicht gezwungen, dann gab es für sie eigentlich nur eine verbindliche Alternative: entweder gilt der geschiditsdeterministisch verstandene Marx auch für die Entwicklung Rußlands, so daß dieses eine westeuropäische Entwicklung durchzumachen oder vielmehr zunächst nachzuholen hat, oder aber Rußland kann aufgrund seiner eigenen geschichtlich-sozialen Voraussetzungen einen eigenen Weg zum Sozialismus gehen, dessen Gestalt dann freilich mit den von Marx vorgegebenen politisch-revolutionären Kategorien nicht hinreichend zu bestimmen war. Daß für die russische revolutionäre Intelligenz diese Alternative zunächst bestimmend werden konnte, hat seinen ideellen Grund in der Tradition dieser Intelligenz selbst. Von Alexander Herzen, dem Initiator des narodniiestvo über Bakunin, Cernysevskij und Tkacev bis hin zu den radikalen narodniki der endenden siebziger Jahre ist dieser Intelligenz ein Glaube gemeinsam: daß Rußland in Anknüpfung an die kollektivistische Eigentumsordnung der Dorfgemeinde, des „mir", einen eigenen von Westeuropa unterschiedenen Weg zu einem bäuerlich-genossenschaftlichen Sozialismus werde gehen können. Obwohl dieser Glaube zweifellos einer Idealisierung und Romantisierung der „mir"-Verfassung entsprang, so war er doch für die ersten russischen Marxisten noch so attraktiv, daß Vera Zasulic 1881 in einem Brief an Marx um eine verbindliche Auskunft über die 142

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These vom eigenen russischen Weg zum Sozialismus bitten konnte 4 . So kurz Marxens Antwort auf diese Frage ausfällt, er hat sie sich nicht leicht gemacht. Schon anläßlich seiner Studien über Indien und China 5 war er auf die Fragen einer revolutionärsozialistischen Gesellschaftsgestaltung in Ländern mit ausgeprägter Agrarstruktur gestoßen. Und wie seine umfangreichen Entwürfe zu einem Anwortschreiben an V. Zasulic zeigen, hat er sich anläßlich ihres Briefes erneut ausführlich mit diesem Problem auseinandergesetzt. In seiner Antwort, die dann ähnlich auch in der Ausgabe des Kommunistischen Manifestes von 1882 wiederholt wird, beschränkt Marx seine Analysen über Möglichkeiten und Voraussetzungen einer revolutionär-sozialisitischen Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft eindeutig auf Westeuropa und gesteht zu, daß der „mir" zur Grundlage einer gesellschaftlichen Erneuerung Rußlands werden könne, die der westeuropäischen sozialen Revolutionierung korrespondiere. Freilich knüpft er diese positive Antwort an drei Bedingungen: die Dorfgemeinde müsse noch lebenskräftig und nicht schon im Zerfall begriffen sein, sie müssen von allen etatistischen und sonstigen Begrenzungen und Fesseln befreit werden und ihre politisch-revolutionäre Befreiung müsse in Korrespondenz zu einer europäisch-proletarischen Revolution stehen. Auf diese Antwort Marxens wäre hier kaum hinzuweisen, hat sie doch in ihrem Inhalt für die geistige und politische Formierung des russichen Marxismus keine beachtenswerte Rolle gespielt. Interessant ist dieser ganze Vorgang vornehmlich wegen der Reaktion der ersten russischen Marxisten auf Marxens Auskunft. Und diese Reaktion vermag, so scheint es, die an den Beginn der Ausführungen gestellte These vom pragmatischrevolutionär-aktivistischen Verständis der Marx'schen Lehre zu bestätigen. Wo nämlich, wie aus dem Brief der Zasulic ersichtlich, die russischen Marxisten eine Antwort erwarteten, die von ihnen so oder so als konkrete Aktionsdirektive hätte verstanden wer143

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den können, da gab Marx eine bedingungsanalytische Auskunft als kritischer Theoretiker. Und nicht nur dies: die von ihm nicht näher präzisierte revolutionäre Befreiung des „mir" oder der „obäScSina" von den erwähnten Fesseln wurde von der Ergänzung durch eine erfolgreiche westeuropäische Revolution in einem so starken Maße abhängig gemacht, daß die russischen Marxisten darin eine entscheidende Begrenzung der ihnen möglichen revolutionären Aktivität erblicken mußten. Was sie von Marxens Antwort erwarteten, das gerade also bot er ihnen nicht. Ihre Reaktion war daher auch, jene Passagen in Marxens Antwort aufzugreifen und ernst zu nehmen, in denen er lediglich im Konjunktiv von der Lebensfähigkeit der „ob?2ina" sprach. Unter geistiger Führung von Plechanov verlegten sich die Versuche einer an Marx orientierten revolutionären Selbstverständigung eben darauf, den schon beginnenden Verfall der „obscina" wie den ebenso schon beginnenden Aufbau einer kapitalistischen Produktion und das Anwachsen eines Industrieproletariats in Rußland zu beweisen. In der Tat war es das geistige Wirken Plechanovs, das den sich geistig wie politisch formierenden russischen Marxismus schließlich auf das Bekenntnis zum europäischen Weg Rußlands festlegte. Aber Plechanov tat das, so will es scheinen, nicht nur, um aufgrund der sicher zutreffenden Einschätzung der russischbäuerlichen Mentalität als einer konservativen ein für alle mal mit der tradierten „mir-Romantik" aufzuräumen, sondern vor allem, um aufgrund einer solchen Situationsanalyse breiteren Raum zu gewinnen für eine unmittelbar mögliche und als sinnvoll erscheinende politisch-revolutionäre Aktion. Diese konnte dann freilich nur eine solche der Stützung der liberal-bürgerlichen Revolutionierung der bestehenden vorbürgerlichen Autokratie sein. Hatte in Rußland nämlich, nach Plechanovs Ansicht, die Entwicklung zum industriellen Kapitalismus schon begonnen, dann bestand der einzig mögliche Weg nach vorn in der bürgerlichen Revolution'. Erst im Rahmen der Konsolidierung ihrer politischen Errungenschaften — das blieb dabei der ver144

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bindliche Glaube — würden sich die Klassengegensätze zwischen Proletariat und Bourgeoisie so profilieren, daß auch hier der Kampf um die sozialistische Revolution beginnen könne. Was also für die russischen Revolutionäre auf der Grundlage einer übersteigert deterministischen Aneignung Marxens als Ziel unmittelbarer politischer Aktion zur Debatte stand, das war das zwar als begrenzt und vorläufig gedachte, aber doch für eine längere Zeit als notwendig angesehene revolutionäre Kampfbündnis des marxistisch aufgeklärten Proletariats mit der politisch-revolutionären Bourgeoisie. Und in dieser Situation einer an der Möglichkeit unmittelbarer, politisch-revolutionärer Aktion vornehmlich orientierten Selbstverständigung der russischen Marxisten unter Führung Plechanovs beginnt nun im Denken und Handeln Lenins der sogenannte Leninismus zunächst als politische Philosophie systematisch Gestalt zu gewinnen. In der radikalen Bekämpfung der politischen Konzeptionen des narodnicestvo mit Plechanov durchaus einig und von dem westeuropäischen Weg Rußlands vorerst gleichermaßen überzeugt, lehnt Lenin doch das ökonomisch-deterministische Verständnis der Marx'schen Theorie mit Entschiedenheit ab und zwar wiederum wegen seiner Konsequenzen für die politische Aktion. Zwar sei es gewiß, daß auch in Rußland zunächst eine bürgerliche Revolution stattfinden und sich der Kapitalismus ausbreiten müsse; dennoch gäbe es schon jetzt, d. h. in der noch vorbürgerlichen-revolutionären Phase der Entwicklung, eine politisch-revolutionäre Aufgabe für das Handeln der sozialistischen Partei, die eben darin bestehe, bei dem Proletariat jene radikal-klassenkämpferische Bewußtheit zu erzeugen, ohne die es nicht zur revolutionären Aktionseinheit werde. Die proletarische Revolution sei zwar gewiß, aber komme nicht von selbst, sie setze ein klassenbewußtes Proletariat voraus, das ihr Träger sei, das sich in Rußland bisher kaum gebildet habe und das auch auf keinen Fall weder durch ein fatalistisches Geschichtsverständnis noch durch Aktionsbündnisse mit dem Bürgertum der 10

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Chance und Notwendigkeit eines Umbruchs seiner revolutionären Impulse in eine einheitliche Aktion beraubt werden dürfe. Mag diese Argumentationsweise Lenins, wie sie sich in seinen ersten Publikationen abzuzeichnen beginnt 7 , zunächst durchaus auf die spezifisch russischen Verhältnisse zugeschnitten sein und somit als Beitrag zu einer internen Auseinandersetzung der russischen Marxisten zu gelten haben; was sich in ihr bekundet, wird schließlich zum Fundament einer einen allgemeinen Geltungsanspruch für die sozialistische Bewegung überhaupt erhebenden politischen Philosophie der revolutionären Selbstbefreiung des Proletariats. Das wichtigste Dokument für diese politische Philosophie des Leninismus ist zweifellos die aus dem Jahre 1902 stammende Schrift mit dem bezeichnenden Titel: „Was tun?" — Alle späteren Schriften Lenins, von „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück" über „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution" bis hin zu „Staat und Revolution 8 " dürfen als Explikation und Konkretisierung der in der frühen Schrift entwickelten politischen Philosophie gelten. Mag auch in dieser Schrift die interne Auseinandersetzung mit verschiedenen Richtungen im russischen Marxismus der äußere Anlaß gewesen sein und im Vordergrund stehen, mag Lenin sich in seinen Konzeptionen der Parteiorganisation und -aktion wieder offen und bewußt Gedankengängen radikaler narodniki zubekennen, die in den Schriften etwa eines Netfaev und Tkacev entwickelt worden waren, seine Aussage bleibt in ihrem Anspruch nicht auf die russische Situation beschränkt. Im Gegenteil: indem er seine Argumente auf die grundlegende Auseinandersetzung mit Bernstein und dem Revisionismus bezieht und von dort her abzusichern sucht, indem er für sie in Anspruch nimmt, die Erfahrungen der Entwicklung der sozialistischen Bewegung in den westeuropäischen Ländern kritisch ausgewertet und angeeignet zu haben 9 und indem er schließlich dem russischen Proletariat dann, wenn es sich seinem Konzept entsprechend verhalte und organisiere, die Erfüllung einer avantgardistischen Mission gegenüber 146

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dem internationalen Proletariat überhaupt zuspricht10, geriert er sich als Konzeptor einer umfassenden Philosophie politischsozialistischer Revolution. Für diese politische Philosophie der proletarischen Revolution aber ist und bleibt fortan eine grundlegende Unterscheidung von Bedeutung: die Unterscheidung zwischen dem „spontanen" und dem „bewußten" Element in der Gestaltung der Revolution 11 und zwischen dem Proletariat als „Masse der Proletarier" und dem Proletariat als klassenkampfbewußter, revolutionärer Einheit. Lenin ist soweit Marxist, daß er dem Proletariat aufgrund der geschichtlichen Entwicklungsgesetzlichkeit ein Gravitieren zum Sozialismus hin zuerkennt. Aus eigener Kraft, spontan, gelangt aber das Proletariat nach Lenin immer nur zu einer gewerkschaftlichen Einstellung und Organisation, sein Bewußtsein bleibe reformistisch und tradeunionistisch", im Mittelpunkt des Verhaltens und der politischen Aktion stehe der Kampf um die Verbesserung von Arbeits- und Lohnbedingungen. Insofern als sich dieser Kampf jedoch im Rahmen der bestehenden kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung abspiele, im angezielten Kompromiß diese Ordnung recht eigentlich sanktioniere und nicht negiere, stelle das Proletariat aufgrund seiner Lage aus sich heraus zwar eine revolutionäre Potenz, nicht aber sdion eine revolutionäre Realität und Macht dar. Erfolg und Vollzug der Revolution hängen eben nach Lenin gar nicht primär von der Klassenlage, sondern vielmehr von der Klassenbewußtheit ab. Erst in der Einheit einer radikal kämpferischen, die Existenz des politisch-sozialen Gegners total negierenden Klassenbewußtheit formiert sich das Proletariat als revolutionäre Klasse. Ist die Klasse der Proletarier spontan zur Erringung eines solchen, ihre Einheit als Klasse konstituierenden Bewußtseins nicht befähigt, so resultiert daraus die Aufgabe einer breit angelegten Aufklärungsarbeit unter den Massen des Proletariats mit dem Ziel revolutionärer Bewußtseinserhellung. In der Beantwortung der Frage, wem nun diese für die Revolution notwendige Aufklärungsarbeit als Aufgabe obliegt, ent10»

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wickelt Lenin seine weithin bekannten Ansichten über Funktion, Charakter und Organisation der bolschewistischen Partei 13 . Wenn die erste Voraussetzung der Revolution und ihres Erfolges die proletarische Bewußtheit und wenn der Kernpunkt dieser Bewußtheit die Bedingungslosigkeit des Klassenkampfes ist, dann muß die vordringlichste Aufgabe einer proletarischen Partei darin bestehen, aus der Masse der zahlreichen, aber ungegliederten, ausgebeuteten Arbeiter überhaupt erst einmal eine einheitliche Klasse zu bilden, daß heißt, das Proletariat zu einer Einheit zu formen. Eben deshalb kann diese Partei auch nicht das ganze Proletariat umfassen, sondern muß in einer kleinen, zentral gelenkten Führungsgruppe bestehen, deren Mitgliedschaft strengen Auswahlprinzipien und einer scharfen Kontrolle ihrer revolutionären Bewußtheit unterliegt. N u r diese zur Führung im revolutionären Kampf berufene Partei kann den Erfolg der Revolution garantieren. Die Aufgabe einer sozialistischen politischen Partei ist der bedingungslose politische Kampf gegen die herrschende Klasse mit dem Ziel ihrer totalen Vernichtung. Ihr Ziel ist und bleibt also nach Lenin die totale gesellschaftliche Revolution: das Mittel dazu ist der sdionungslose Ideologieverdacht, und der zu beschreitende Weg besteht in der Gründung und Organisation einer Partei der Berufsrevolutionäre, die in der Übergangsphase der Diktatur des Proletariats auch zur Führung berufen sei und alles Recht auf ihrer Seite habe. Es ist hier nicht der Ort, die Differenzierungen dieser Theorie bis zu dem Buch „Staat und Revolution" und bis zu den programmatischen Äußerungen während der Revolutionszeit sowie die Bedeutung dieser Theorie für den Vollzug der Revolution, für das Verhältnis zwischen Bolsdiewiki und Sowjets und für Lenins Vorstellungen einer „demokratischen" Diktatur, eines demokratischen Zentralismus zu erörtern. Für uns handelt es sich um die Konsequenzen, die sich aus der Theorie vom Führungsanspruch einer parteilich organisierten, proletarischen 148

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Avantgarde für die Lehre einer notwendigen Einheit von Theorie und Praxis ergeben. Sie bieten sich von selbst an: da die Spontaneität, die Eigengesetzlichkeit des ökonomisch bestimmten Geschichtsprozesses die Revolution zwar vorbestimmt, aber das Proletariat als Gesamtheit der Proletarier aufgrund der sich nicht ebenso spontan herstellenden Einheit von sozialem Sein und Bewußtsein nur virtuell eine revolutionäre Kraft darstellt, wird das Bewußtsein für Lenin zum primären Gestaltungs- und Vollzugselement der Revolution. Auch für diese These kann sich Lenin formal noch auf Marx berufen, hatte doch dieser davon gesprochen, daß das Bewußtsein selbst zur materiellen Gewalt wird, wenn es die Massen ergreift. Aber gerade dieser Marx'sche Satz wird im Denken Lenins zur Grundlage der Legitimation des Führungsanspruches der proletarischen Avantgarde, denn das Ergreifen der Massen durch die revolutionäre Bewußtheit ist eben nicht spontan sich herstellende Identität von Aktion und Reflexion, sondern es ist Ergebnis einer zielgerichteten politisch-sozialen Aufklärung der Massen. Insofern als diese Aufklärung für Lenin nicht Selbstaufklärung des Proletariats sein kann, fällt sie als Aufgabe zielbewußter und gesteuerter Aktion jener besonders revolutionsbewußten Avantgarde des Proletariats anheim, in der sich der geschichtlich-revolutionäre Auftrag des Proletariats und sein Bewußtsein gleichsam inkarniert. Das aber bedeutet: von einer ursprünglichen Identität von Bewußtsein und Aktion kann nach Lenin eigentlich nur in bezug auf die proletarische Avantgarde, d. h. aber konkret: in bezug auf die Partei der Bolschewiki gesprochen werden. In den Händen der Partei verwandelt sich demzufolge die Funktion der Theorie, sie wird zum Instrument einer steten revolutionären Aktivierung der Massen. Ohne die Partei gelangt das Proletariat weder zum Bewußtsein seiner historischen Mission noch zu einer diese Mission erfüllenden Aktion. Es ist die Partei, die die geschichtlich notwendige und geforderte Einheit von Theorie und Praxis recht eigentlich erst schafft, ohne sie und ihre Aktivität 149

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ist diese Einheit im umfassenden Sinne nicht möglich. So findet das Proletariat eben nur durch die Partei in Bewußtsein und Aktion zu seiner eigenen geschichtlichen Wahrheit. Es mag von hier aus verständlich werden, wieso die Lehre einer notwendigen Einheit von Theorie und Praxis bei Lenin in der bekannten Forderung einer bedingungslosen Parteilichkeit des Denkens kulminiert und warum sidi für Lenin Parteilichkeit und Wahrheit des Bewußtseins nicht ausschließen, sondern im Gegenteil gegenseitig bedingen, ja sogar identisch sind. Manifestiert sich die Wahrheit der Geschichte aufgrund der skizzierten Gedankengänge in der theoretisch profilierten Aktion der Partei, so ist die Bindung des Bewußtseins an die Partei mit logischer Konsequenz der einzige Garant einer Wahrheit des sozialen Seins und Bewußtseins des zur Erfüllung der Geschichte und seiner eigenen Aufhebung berufenen Proletariats. Ist schon durch diese Gedanken, die zweifellos über ad-hocKonzeptionen politischer Aktion hinaus ins Grundsätzliche weisen, mit aller Radikalität eine politisch pragmatische und auch voluntaristische Komponente in die Marx'sche Gedankenwelt hineingebracht, die mit dessen Versuch einer dialektischen Fassung des Verhältnisses von Theorie und Aktion sicher nur noch entfernt zusammenstimmen und auch mit Marxens eigener Argumentation gegen die sogenannte Fraktion Willich-Schapper aus dem Jahre 1852, daß nämlich niemals der bloße Wille anstelle der wirklichen Verhältnisse zum Triebrad der Revolution gemacht werden dürfe 14 , zumindest kritisch anzugehen wäre, so ist unter unserem Aspekt, der aus der Frühschrift Lenins die Ansätze zu einer systematischen politischen Philosophie herauszuheben sucht, etwas anderes von entscheidender Bedeutung. Wenn es nämlich als das Strukturprinzip totalitärer Ideologien überhaupt gelten darf 15 , daß sie mit einem missionarischen Volksbegriff arbeiten, der jeden Pluralismus der Sozialgruppierung schon als Abfall von der Volkseinheit zu deklassieren in der Lage ist, daß sie weiterhin in diesem Volksbegriff die Spannung zwischen Potenz des Volkes zur Erlangung seiner Mission 150

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als Wahrheit des völkischen Seins einerseits und Unvermögen zur Verwirklichung dieser Potenz andererseits auf eine solche Weise einbauen, das nur in der Identifikation mit einer berufenen Führungselite das Volk sich selbst in seiner Wahrheit und Mission zu verwirklichen und zu erfüllen vermag, — wenn also die Identifikation von Führungs- und Volkswille Kern und Ziel totalitärer Ideologie ist, dann ist gerade eine solche politische Philosophie totaler Identifikation im Werk Lenins ausgeprägt und bleibt für den von ihm sich herleitenden Leninismus bestimmend. Diesen Sachverhalt unterstreicht nicht zuletzt der ebenfalls schon in der erwähnten Frühschrift Lenins enthaltene Gedanke, daß die organisierte Avantgarde des Proletariats, indem sie es durdi ihre Führung zu seiner eigenen geschichtlichen Wahrheit in Bewußtsein und Aktion bringe, zugleich im Namen des ganzen Volkes und für das Volk tätig sei; ein Gedanke, der Lenins grundsätzlichen Antiparlamentarismus ebenso bekundet wie seinen neuen Parteibegriff, der eben in der totalen politischen Identifikation des pars pro toto ausmündet; ein Gedanke schließlich, der dann in „Staat und Revolution" zur vollen Entfaltung gelangt. Wenn Lenin sich dabei in „Staat und Revolution" darum bemüht, von den Marx'schen Wertungen der Pariser Komune aus seinen Gedanken einer die Gewaltenteilung wie den Parlamentarismus überwindenden Räterepublik zu begründen, so kann er sidi formal durchaus auf Marx berufen. Der politisch-philosophisdie Gehalt seiner Deduktionen ist jedoch ein anderer als bei Marx und weist ausgeprägt in die Richtung der erwähnten ideologischen Identifikationen. Indem es sich für ihn darum handelt, die radikale Herrschaft einer aufgeklärten Avantgarde über die unaufgeklärte Masse der Proletarier auch und gerade innerhalb der Sowjets als allein reale Gestalt einer Herrschaft eben dieser Massen auszugeben und zu demonstrieren, gipfelt sein Werk in dem Selbstverständnis totaler, zentralistischer Diktatur als totaler Demokratie, ein Selbstverständnis, das den Kern des politisch-philosophischen Leninismus bildet. Das Ver151

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dikt Marxens gegen Bakunin und Necaev aus den Jahren 1872 bis 1873, daß nämlich das Proletariat um seiner selbst willen niemals und durch niemand zum bloß chaotischen Material für die bewußte Bearbeitung und Formung durch „Meister" und „Priester" der Revolution degradiert werden dürfe 16 , trifft damit auch Lenin in seiner Konzeption, und zwar nicht so sehr wegen der Unterscheidung zwischen dem spontanen und dem bewußten Element des Proletariats, die man im Ansatz auch bei Marx finden kann, als vielmehr eben wegen der Abgrenzung einer aufgeklärten Elite gegen eine unaufgeklärte Masse. Gerade diese Konzeption läßt das Marx'sche Vertrauen auf die in Aktion umschlagende kritische Selbstaufklärung des Proletariats gründlich hinter sich. Der sidi nicht zuletzt auch in dieser Elitentheorie Lenins ausdrückende Voluntarismus zeitigt freilich seine realpolitische Konsequenz wiederum totalitärer Prägung: je mehr es gelingt, den gerade auch in bezug auf das Volk missionarischen ProletariatsbegrifT, die in ihm enthaltene Spannung von Sein und Sollen oder Potenz und Aktus und die daraus abgeleitete Identifikation von Führungswille und Volkswille verbindlich zu machen, um so eher gelingt die reale politische Entmachtung dessen, was faktisch Volk heißen kann. Realpolitische Entmachtung des faktischen Volkes im Zuge seiner missionarischen Verklärung und Identifikation mit einer seine Wahrheit inkorporativ darstellenden Elite, dies drängt sich als Konsequenz des politisch-philosophischen Leninismus auf. Jedoch ist Lenin in seinem Denken bei einer pragmatischpolitischen Philosophie der Geschichte und Gesellschaft nicht stehengeblieben, sondern hat sie durch eine umfassende Ontologie und Erkenntnistheorie, den eigentlichen dialektischen Materialismus, überhöht. Das im Mittelpunkt seines Denkens stehende Postulat einer Einheit von Theorie und Praxis läßt es jedoch nicht zu, diesen Sachverhalt lediglich als zufällige, äußerliche oder akzidentelle Bestimmung seiner geistig-politischen Existenz zu begreifen. Der Interpret ist vielmehr gerade da ge152

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zwungen, hintergründige Motivationen aufzuspüren, die es gestatten, den inneren Zusammenhang von Theorie und Praxis der Politik, Ontologie und Erkenntnistheorie zu begreifen. Ein solches Begreifen der strukturellen Verbundenheit von Politik, Ontologie und Erkenntnistheorie ist dabei von Lenin selbst gefordert, steht es für ihn doch unbezweifelbar fest, daß nur die umfassende Philosophie des dialektischen Materialismus die Wahrheit politisch-revolutionärer Selbstverständigung und Aktion garantiert. Lenin erweist sich damit als ein getreuer Anhänger der philosophischen Versuche Engels', die ja auch darin gipfeln, den historischen Materialismus Marxens durch eine ontologische und erkenntnistheoretische Verallgemeinerung umfassend philosophisch zu fundamentieren. Im Mittelpunkt dieser Versuche Engels stand dabei bekanntlich das Bemühen, die Dialektik — verstanden als K a m p f der Gegensätze — als Gestaltungsprinzip alles Seienden und zumal auch der Natur nachzuweisen und die These einer Abhängigkeit des Bewußtseins vom Sein zu einem übergreifenden sowohl ontologischen als auch erkenntnistheoretischen Postulat auszuweiten. Konkret war er dabei auf die Problemstellungen eines an den Naturwissenschaften seiner Zeit orientierten Materialismus hingewiesen. E r mußte die Thesen seines dialektischen Materialismus als mit den Ergebnissen naturwissenschaftlicher Erkenntnis vereinbar nicht zuletzt deshalb zu beweisen suchen, weil Eugen Dühring gerade diese Möglichkeit bestritten hatte und damit nicht ohne Einfluß auf die Führung der Berliner Sozialdemokratie geblieben war 1 7 . Engels war die Lösung dieser Aufgabe — wenn auch unvollkommen — dadurch gelungen, daß er zunächst eine nicht ontologisch-materialistische, sondern erkenntnistheoretisch-realistische Definition der Materie vorlegt, diese dann jedoch Zug um Zug mit Bestimmungen einer dialektisch-materialistischen Ontologie anreichert und schließlich Forschungsergebnisse der zeitgenössischen Naturwissenschaften gemäß den vorgegebenen Deutungsschematismen seines dialektischen Materialismus interpretiert. 153

Der Leninismus — Ideologie als philosophisches System Lenin ist durch sein rückhaltloses Bekenntnis zur geistigen Einheit von M a r x und Engels, historischem und dialektischem Materialismus, zwar an die von Engels vorgegebenen ontologischen und erkenntnistheoretischen Postulate gebunden, er kann sich jedoch mit ihrer einfachen Annahme oder Übernahme nicht begnügen. D i e Problemsituation der Naturwissenschaften hat sich gegenüber den Zeiten der Engels'schen Konzeptionen nicht nur radikal geändert, sondern dahin zugespitzt, daß die N a t u r wissenschaft selbst im Zuge der Entdeckung der energetischen Struktur des Atoms an der Gültigkeit des Materiebegriffes zu zweifeln begann. Die These vom „Verschwinden der M a t e r i e " steht nicht zufällig im Mittelpunkt der naturwissenschaftlichphilosophischen Diskussion seiner Zeit. Die Deutschen Mach und Avenarius zogen in ihrer empiriokritizistischen Philosophie daraus die Konsequenz, indem sie behaupteten: die W e l t ist dem erkennenden Menschen zunächst und unmittelbar in der Empfindung gegeben. Alle Begriffe, mit denen wir uns gemeinhin verständigen, sind nichts anderes als Zeichen für solche unmittelbaren Empfindungen und Empfindungszusammenhänge. Sie sind gleichsam nichts anderes als gedankliche Symbole, die der Verständigung unter den Menschen dienen und diese Verständigung erleichtern, die aber in der Wirklichkeit selbst keine Entsprechung haben 1 8 . U n d man behauptet nun, daß die Ausbildung solcher Begriffe und die Formulierung von Naturgesetzen im Leben wie in der Wissenschaft ein P r o z e ß sei, der darin seine Grundlage habe, daß der Mensch sich um eine Ersparnis seiner Gehirntätigkeit, um eine Ökonomie des Denkens bemühe. Wenn also schon alle Erkenntnis sich auf Empfindungen und Empfindungszusammenhänge zurückführen lasse, so sei doch die Begriffsbildung für den Menschen notwendig und seine eigentliche Erkenntnisleistung. Denn Erkennen ist eigentlich nichts anderes als Ordnung der Empfindungen mit den Mitteln des Begriffes zum Zwecke einer möglichst einfachen Verständigung und einer möglichst großen Ersparnis der Geistestätigkeit. Die Leistung des wissen154

Der Leninismus — Ideologie als philosophisches System schaftlichen Denkens also beruht vor allem in einer Vereinfachung der Verständigung zwischen den Menschen über ihre Empfindungsinhalte. Wie immer man die Leistung dieser Philosophie für die L ö sung der naturwissenschaftlichen Problematik heute einschätzen mag, es ist nicht zu verkennen, daß der in ihr enthaltene N o m i nalismus jeder materialistischen Ontologie eigentlich den Boden entzog. Dennoch wäre der K a m p f Lenins gegen diese Philosophie in der Schärfe, in der er von ihm geführt wird, kaum verständlich, wenn nicht der Empiriokritizismus zum philosophischen Standort auch einer Gruppe von Bolschewiki geworden wäre, die unter Führung von Bogdanow stand, und wenn nicht gerade diese Gruppe von den Grundlagen dieser Philosophie aus auch zu einer von Lenin unterschiedenen Revolutionstheorie gelangt wäre 1 9 . Bogdanow greift den Empiriokritizismus auf und formt ihn dahingehend aus, daß Erkenntnis nichts anderes sei als Organisation von Empfindungselementen. Insofern jedoch als uns die Wirklichkeit nur in Empfindungen vermittelt ist, ist sie als erkannte Wirklichkeit Produkt dieser organisierenden Tätigkeit. Ihre Objektivität gründet in der sozialen Übereinkunft über die Begriffe als Organisationsprinzipien. Philosophie als Lehre von der Wirklichkeit und ihrer Erkenntnis wird demzufolge zur Organisationswissenschaft, zur T e k t o l o g i e " . U n d daraus ergeben sich dann auch nach Bogdanow Konsequenzen für die politisch-revolutionäre Theorie. Wenn M a r x gefordert hatte, die Philosophie habe die W e l t zu verändern, so glaubt Bogdanow dieser Forderung mit seiner Organisationswissenschaft gerecht zu werden. Wie das D e n k e n ein Organisieren von Erfahrungselementen ist, so ist überhaupt jede menschliche Tätigkeit schlechthin eine organisierende. D e r Sinn jeder Organisation liegt in der Herstellung von Gleichgewichtszuständen zwischen den verschiedensten gegeneinander gerichteten K r ä f t e n . Jedes einmal errungene Gleichgewicht jedoch kann immer wieder erneut dadurch gestört werden, daß K r ä f t e 155

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auftreten, die in dem bisherigen Gleichgewichtszustand nicht gebunden waren. In diesem Sinne wird ihm dann der Kampf um das Gleichgewicht nicht nur zum obersten Prinzip menschlich organisierender Tätigkeit, sondern auch zum Entwicklungsgesetz der Welt und der Geschichte. Dialektik ist nach Bogdanow ein Kampf um die Aufhebung von Gleichgewichtsstörungen, die sich aus dem Gegeneinander verschieden gerichteter Kräfte ergeben21. Das Bewußtsein ist dann nicht nur eine ideologische Widerspiegelung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern es ist — und das ergibt sich aus der Bedeutung, die Bogdanow der organisatorischen Erfahrung für die Gesellschaftsgestaltung zuerkennt — selbst die entscheidende gesellschaftsgestaltende Kraft. Das hat dann auch ganz bestimmte Konsequenzen für seine Gesellschafts- und Revolutionstheorie. Für Bogdanow ist die Aufspaltung der Gesellschaft in Klassen nicht primär das Ergebnis unterschiedlichen Besitzes an Produktionsmitteln, sondern des unterschiedlichen Besitzes an organisatorischer Erfahrung. Die herrschende Klasse ist für ihn die Klasse der Produktions-Organisatoren. Und der Weg zur Aufhebung der sozialen Klassengegensätze, zur Herstellung des sozialen Gleichgewichtes, ist daher auch ein anderer als Marx meint. Es kommt nicht so sehr auf die Sozialisierung des Eigentums an, auf die Überführung der Produktionsmittel in die Hand der Arbeiterklasse, sondern es kommt auf eine Sozialisierung der organisatorischen Erfahrung an, darauf also, daß das Proletariat zum Erwerb einer solchen Erfahrung befähigt wird und an den Schlüsselstellungen teilgewinnt, von denen aus die Gesellschaft organisiert wird. Hieraus ist ersichtlich, wie Bogdanow von einer neuen philosophischen Grundlegung des Marxismus aus auch zu einer abweichenden Revolutionstheorie gelangt, die nicht mehr entschieden an dem Gedanken des bedingungslosen Klassenkampfes festhält. Diese hier nur skizzierte, durch eine vom dialektischen Materialismus abweichende Philosophie begründete Revolu156

Der Leninismus — Ideologie als philosophisches System tionstheorie Bogdanows ist der Schlüssel zum Verständnis von Lenins Bemühungen um die Grundlegung des dialektischen Materialismus angesichts einer gegenüber Engels veränderten naturwissenschaftlichen Problemsituation. Es erweist sich nämlich, daß politische Notwendigkeiten, daß Postulate der R e v o lutionstheorie die Ausarbeitung des dialektischen Materialismus durch Lenin begründen. D e r philosophische Gedanke, der in dem so entstehenden W e r k Lenins seine Darstellung findet, entfaltet sich nicht genuin an einer philosophischen Problemsituation, die ihn zur kritischen Bewährung aufruft. E r stellt sich vielmehr pragmatisch in den Dienst eines revolutionären W o l lens, das in seiner Tendenz und Legitimierung sich als durch die veränderte naturwissenschaftlich-philosophische Problemsituation gefährdet ansieht. Die Philosophie hat sich daher auch hier, d. h. in der Behandlung einer neuen, nicht unmittelbar politischen, sondern naturwissenschaftlich geprägten Problemsituation — gemäß der postulierten Einheit von Theorie und Praxis — als Element einer G e staltung und Legitimierung der politisch-revolutionären Praxis zu bewähren. In der Ausarbeitung einer so gearteten Philosophie beginnt Lenin bezeichnenderweise nicht mit ontologischen Definitionen, sondern mit erkenntnisrelationalen, da er argumentiert: der Begriff Materie meint lediglich den Sachverhalt, daß es eine v o m Bewußtsein unabhängig existierende Außenwelt gibt, die allem Bewußtsein vorgegeben, auf die es hingewiesen, von der es im Erkenntnisvollzug abhängig ist. Materialismus also erscheint gleichbedeutend mit Realismus 2 2 . Lenin sucht diese Behauptung durch eine Unterscheidung zwischen einem philosophischen und einem naturwissenschaftlichen Materiebegriff zu sichern und zu stützen 2 3 . D e r naturwissenschaftliche Begriff der Materie enthält, so meint Lenin, inhaltlich bestimmte Aussagen über die Eigenschaften des Seienden. W a s die Naturwissenschaften über die inhaltlich besonderen Eigenschaften der Materie im einzelnen aussagen, ist abhängig von den

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ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln der experimentellen Gegenstandszergliederung und Gegenstandsbeobachtung. Wie sich die Erkenntnismethoden der Naturwissenschaften ständig wandeln und zunehmend verfeinern, so wandelt sich fortschreitend auch unser Wissen um die besonderen Bestimmungen und Eigenschaften der Materie. Das aber bedeutet: der naturwissenschaftliche Materiebegriff ist nicht absolut, sondern nur relativ auf den geschichtlichen Erkenntnisfortschritt gültig. Hier gibt es grundsätzlich kein endgültiges und fertiges Wissen von der Materie. Anders verhält es sich jedodi nach Lenin mit dem philosophischen Materiebegriff. E r enthält keine Eigenschaftsbestimmungen der Materie, sondern nur die grundsätzliche Behauptung darüber, daß es eine unabhängig vom erkennenden Bewußtsein bestehende Wirklichkeit gibt, auf die alles Erkennen zugeordnet ist. Im philosophischen Sinne sei der Begriff der Materie nur eine Kategorie, das heißt, eine für das Denken verbindliche Aussageweise zur Bezeichnung der objektiven (bewußtseinsunabhängigen) Wirklichkeit der Welt und ihrem grundsätzlichen Vorrang vor allem Erkennen. Nur an diese Grundauffassung über das Verhältnis des Erkennens zum Gegenstand sei der philosophische Materialismus gebunden. Die Bedeutung dieser Begriffsunterscheidung liegt auf der H a n d : Lenin ist nicht gezwungen, den Erkenntnisfortschritt in den Naturwissenschaften zu leugnen, und er hat dabei zugleich die Chance, die für seine politische Theorie so eminent wichtige Behauptung einer durchgängigen Abhängigkeit des Bewußtseins vom Sein als umfassend gültig aufrechtzuerhalten, denn, das ist der Sinn der Unterscheidung: keine Einzelwissensdiaft vermag die Geltung der These von einer dem Bewußtsein vorgegebenen, objektiven Wirklichkeit außer Kraft zu setzen. Die Wissenschaft tangiert hier die Philosophie nicht. Konsequenz zu Ende gedacht, würde das freilich zugleich bedeuten, daß sich die realistische Philosophie jeden Versuch einer eigenen Aussage über die Struktur des Seins versagen müßte, 158

Der Leninismus — Ideologie als philosophisches System sondern dabei vom Erkenntnisfortschritt der Einzel Wissenschaften abhängig wäre. Zu solchen Konsequenzen kann sich Lenin — wieder aus Gründen der politischen Position — nicht entschließen, denn für die politische Aktion ist die Annahme einer dialektischen Struktur des materiell bestimmten geschichtlichen Seins konstitutiv. Soll gemäß den Intentionen von Engels, denen sich Lenin anschließt, diese politische Aktion durch eine umfassende Philosophie ontologisch gestützt werden, dann ist es notwendig, die zunächst erkenntnisrealistische Begriffsbestimmung der Materie inhaltlich — und z w a r unabhängig von den Resultaten der Einzelwissenschaften — so anzureichern, daß die Dialektik, verstanden als K a m p f der Gegensätze, als Grundbestimmung der Materie, des bewußtseinsunabhängigen Seins, erscheint. I n der T a t hat Lenin Zug um Zug — beginnend mit dem schon erwähnten philosophischen Hauptwerk und aufgipfelnd in seinen philosophischen Heften — die zunächst eingenommene, realistische Position zu einer eben dialektisch-materialistischen Ontologie um- und ausgeformt. Gleichviel, ob man sich zur näheren Kennzeichnung dieser systematisch entfaltenen Ontologie des Leninismus an die 16 Thesen zur Dialektik bei Lenin 2 4 , die 4 Thesen bei Stalin 2 5 oder die wieder stärker auf Lenin und sogar Engels zurückgreifenden 3 Thesen des neuen Lehrbuchs „Grundlagen der marxistischen Philosophie 2 "" hält, als K e r n der dialektisch-materialistischen Ontologie wird folgendes gelten dürfen: die Materie ist nicht etwas Stoffliches, sondern trägt die Differenzierung von Stofflichem und Nicht-Stofflichem als Gegensatz in sich. D e r K a m p f zwischen diesem potentiell in der Materie enthaltenen Gegensatz ist die Antriebskraft einer Selbstbewegung der Materie, deren Verwirklichungsform die Entwicklung vom Anorganischen über das Organisdie zum Bewußtsein, verstanden als Umschlag von Quantität in Qualität, ist 27 . Gerade die von soldier Ontologie ausgesagte sogenannte dialektische Struktur also soll begründen, daß und warum die Materie der verschiedenen, in hierarchischer Ordnung zueinander stehenden Existenzweisen fähig ist. 159

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Wäre schon von hier aus zumindest die Korrespondenz von Ontologie und politischer Theorie zu demonstrieren, insofern als eben das Moment der Revolution als Fundament jedweden Fortschritts durch die genannten Prinzipien der Dialektik ontologisch abgesichert erscheint, so reicht doch dieser Zusammenhang weiter und vollendet sich in einer der Ontologie zur Seite stehenden Erkenntnistheorie. Die systematische Ausbildung einer Erkenntnistheorie im dialektischen Materialismus ist dabei gleichsam von der erkenntnisrealistischen Grunddefinition der Materie her geformt. Sie muß also realistische Abbild- oder Widerspiegelungstheorie sein, und sie ist es auch. Aber sie ist doch zugleich mehr als naiver Realismus, und zwar vermöge ihrer Gebundenheit an die dialektische Ontologie. Postuliert nämlich die dialektische Ontologie vermöge ihres Gesetzes vom K a m p f der Gegensätze und dem Umschlag von Quantität in Qualität die hierarchische Ordnung in den Existenzweisen der Materie, also die Identität des Materiellen in der Verschiedenheit seiner Daseinsformen, dann muß in der Materie eine Potenz zu ihrer eigenen Bewußtwerdung, gleichsam eine Anlage zum Bewußtsein 28 — wie Lenin formuliert — angenommen werden. Ist aber der Verwirklichungsort solcher Bewußtwerdung der Materie der Mensch, dann ist Bewußtwerdung der Materie identisch mit ihrer Menschwerdung, und die dem Menschen eigene Erkenntnis bewußtseinsunabhängiger Realität ist eigentlich Selbsterkenntnis der Materie als Widerspiegelung niederer Existenzformen der Materie in einer höheren. In der T a t scheint mir — zumindest in dem Buch „Materialismus und Empiriokritizismus" — der zunächst vorherrschende erkenntnistheoretische Realismus hintergründig auf einen solchen, man ist fast geneigt zu sagen, Hegelianismus zu verweisen. Zumindest überspielt ein durch die Dialektik geprägter pluraler Monismus den vordergründigen dualistischen Realismus. Aber auch darin vollendet sich der Leninismus noch nicht als philosophisches System. Gerade vermöge seiner ontologischen 160

Der Leninismus — Ideologie als philosophisches

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Begründung der Erkenntnistheorie formt sich diese konsequenterweise zu einem Pragmatismus aus. Ist nämlich die Bewußtwerdung der Materie in ihrer Menschwerdung real, und ist Menschwerdung als Prozeß andererseits nidit mit der Genese des Einzelmenschen als Bewußtseinsträger erschöpft, so muß sich die Entwicklung der Materie nach ihrer Menschwerdung in der sozialen Entfaltung des Menschen fortsetzen. Erkenntnis der bewußtseinsunabhängigen Realität durch den Menschen hat sich demzufolge in der Dienstbarkeit für solche soziale Entfaltung des Menschen zu bewähren und erweist darin ihre Wahrheit. Lenin gibt deshalb konsequenterweise als einzig gültiges Wahrheitskriterium der Erkenntnis die Praxis an, versucht dadurch gemäß seiner Konzeption einer Einheit von Theorie und Praxis die Dualität von Subjekt und Objekt im Erkenntnisprozeß zu überwinden und bestimmt die Praxis schließlidi genauer als Experiment und Industrie 2 ". Gerade das aber verlangt abschließend eine genauere Beachtung. Es erweist sich nämlich, daß unter Praxis jenes Handeln zu verstehen ist, durch das sich der Mensch mit den Mitteln der Experimente, der Technik und Industrie planvoll einer Beherrschung der Natur zuwendet, diese Natur seinen selbst gesetzten Zielen entsprechend gestaltet und sie sich somit dienstbar macht. Wahr ist das Erkennen, das sich in diesem naturgestaltenden und -verändernden Handeln bewährt. Zugleich wird der Mensch durch solches Erkennen und Handeln frei, eben weil er sich die Natur unterwirft und ihr nicht mehr blind ausgeliefert ist. Die Praxis, in der sich eine Erkenntnis als wahr zu erweisen hat, ist also hiernach zunächst jenes auf Naturbeherrschung abzielende Handeln, das sich in der Technik, Industrie und Wirtschaft seine planvolle Ordnung gibt. Mit anderen Worten: die Arbeitsordnung des Menschen ist als Inbegriff der Praxis Kriterium der Wahrheit des Erkennens. Diese konkrete Bestimmung dessen, was Lenin unter Praxis versteht, weist auf diese Weise zugleich darauf hin, daß er in seiner Erkenntnistheorie nicht bei einem beliebigen philosophischen

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Lieber

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Der Leninismus — Ideologie als philosophisches

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Pragmatismus stehenbleibt, sondern ihn mit seinem politischen Pragmatismus zur Einheit verschmilzt30 — ja sogar verschmelzen muß. Ist die Praxis erst einmal als technisch-industrielle Arbeitsordnung bestimmt, dann ist sie zugleich — nach dem Grundgedanken des historischen Materialismus, also der politischrevolutionären Theorie — als sozial-politische Praxis bestimmt. Die Art, in der der Mensch seine auf Naturbeherrschung abzielende Arbeit ordnet, ist ja, so meint Lenin im Anschluß an Marx, immer auch Grundlage seiner umfassenden Gesellschaftsordnung und seines gesellschaftlichen Bewußtseins. Die Befreiung des Menschen von der Natur durch ihre technisch-industrielle Beherrschung ist allein dann in einem umfassenden Sinne für den Menschen wahr, wenn sie ihn zugleich sozial befreit und das heißt, wenn sie im Dienst der Errichtung einer klassenlosen, sozialistischen Gesellschaft steht. Den Weg zur Errichtung dieser klassenlosen Gesellschaft aber habe wissenschaftlich allein gültig die Philosophie des dialektischen Materialismus gewiesen. N u r sie bestehe daher auch die Bewährungsprobe in der gesellschaftlich-politischen Praxis. Das bedeutet einmal: jede Philosophie, die für ihre Aussagen und Erkenntnisse den Geltungsgrad wissenschaftlicher Wahrheit und Objektivität in Anspruch nehmen will, ist gezwungen, sich zum dialektischen Materialimus zu bekennen, für ihn Partei zu ergreifen. Nur eine solche bewußt parteiliche Philosophie besteht die gesellschaftlich-politische Bewährungsprobe und ist damit wahr. Das bedeutet aber weiter zugleich, daß nicht nur die Philosophie parteilich sein muß, sondern auch jedes um gegenständliche Wahrheit und Objektivität bemühte einzelwissenschaftliche Erkennen. N u r wenn sich die Wissenschaften eindeutig an die Philosophie des dialektischen Materialismus binden, entgehen sie der Gefahr, einer falschen Gesellschaftsordnung dienstbar und damit Hilfsmittel für eine soziale Unterdrückung des Menschen zu werden. Und da eine falsche Gesellschaftsordnung notwendig auch eine falsche Philosophie als Ingebriff einer umfassenden Weltorientierung erzeugt, verbürgt auch nur der dialektische Materialismus als wahre Phi162

Der Leninismus

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losophie der wahren Gesellschaft den Wissenschaften den einzigen Zugang zur wahren Erkenntnis der Welt. N u r er weist sowohl den Philosophen als dem Wissenschaftler den richtigen Weg zur Wahrheit der Erkenntnis. Und da man für die Wahrheit Partei ergreifen muß, muß man nach Lenin auf dem Boden des dialektischen Materialismus stehen. Die schon in der politischen Philosophie Lenins postulierte Identifikation von Wahrheit und Parteilichkeit ist damit eben durch solche ontologisch begründete Erkenntnistheorie zu einem systematischen Abschluß gebracht. Parteilichkeit ist jedoch nicht nur Parteinahme für eine bestimmte philosophische Position, die sich als solche kritische Reflexion noch stellen müßte, sondern sie ist bedingungslose Parteinahme für eine politische Institution und Identifikation mit ihr, die sich — wie es heute heißt — als „Inkarnation des Marxismus-Leninismus" begreift, als „Marxismus-Lenismus in Aktion". —

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Utopie und Selbstaufklärung der GesellsdiaftReflexionen zu Ernst Blochs „Das Prinzip Hoffnung" Das zentrale Thema des Blochschen Hauptwerkes ist zweifellos die Demonstration des Zusammenhanges zwisdien Utopie, Kritik als Aufklärung der Gesellschaft und gesellschaftsverändernder Praxis. Insofern, als dabei vor allem das Ineinander von Kritik als Aufklärung und revolutionärer Tat im Zentrum der Überlegungen steht, ist eine innere Nähe zur Thematik des Marx'schen Denkens impliziert. Wo jedoch bei Marx dieser Zusammenhang unabdingbar auf den Ideologiebegriff verweist und an diesem Begriff sich gerade als Zusammenhang erschließt (und zwar derart, daß eine die ideologische Verselbständigung des Bewußtseins zu bloßer Theorie und Kontemplation erfassende und denunzierende Kritik sich nur dann in ihrer Wahrheit verwirklicht, wenn sie über sich selbst als bloße Kritik hinausgreifend die gesellschaftlichen Bedingungen der ideologischen Verselbständigung des Geistes selbst aufhebt, also als Element der Veränderung der Gesellschaft praktisch wird — wo bei Marx am Phänomen der Ideologie und ihrer Kritik sich die Einheit von Theorie und Praxis erschließt), da ist bei Bloch die Utopie das den Zusammenhang von Reflexion und Aktion, von Gesellschaftskritik und Gesellschaftsveränderung belegende und konstituierende Medium. Bloch bringt damit einen Begriff philosophisch wieder zu Ehren, der, so scheint mir, bis zu Kant hin das unhintergehbare Prinzip einer Philosophie als praktischer Vernunft bezeichnete, der aber nicht zuletzt eben durch Marx als Kennzeichen einer 164

Zu Ernst Blochs „Das Prinzip Hoffnung" Philosophie denunziert wurde, die gerade als utopische ihrer ebenso möglichen wie notwendigen Verwirklichung in der geschichtlich-gesellschaftlichen Praxis nie mächtig zu werden vermag. Insistiert Marx also auf dem die gesellschaftliche Wahrheit und Macht des Geistes verfehlenden Kern des Utopischen in seiner tradierten, dem realen, geschichtlichen Prozeß selbst hoffnungslos äußerlich bleibenden Gestalt, und ist Bloch andrerseits gerade bemüht, diese gesellsdiaftlidie Macht und Wahrheit des Geistes vom Phänomen und der Funktion des Utopischen her zu begründen, dann erhebt sich als erstes die Frage: Was ist für Blodx Utopie, so daß er von ihr und gerade von ihr her die Einheit von Gesellschaftskritik und Gesellschaftsveränderung als Einheit von Theorie und Praxis abzuleiten unternimmt? — Zweifellos ist sie und muß sie etwas anderes sein als jenes in rationaler Spekulation gründende und in transzendentallogischer Manier aus der Ratio als „Bewußtsein überhaupt" ableitbare Vorentwerfen oder Postulieren einer vollkommenen Gesellschaft oder eines vollkommenen Staates, das den realen geschichtlich-gesellschaftlichen Prozeß und seine Determinanten ebenso überspringt wie vermöge dessen zugleich unreflektiert und unbewältigt läßt. Sie muß aber dennoch — positiv gewendet und formuliert — jenes Hinausgreifen über die sture Faktizität des Geschichtlichen lebendig halten, das seit je als Kennzeichen des Utopischen galt und ohne das Utopie weder Korrektiv noch Regulativ des Geschichtlichen zu sein vermag. Das heißt: Utopie muß die Spannung von Normativität und Faktizität, die zugleich eine Spannung von Distanz und Engagement ist, in sich aufnehmen und vermitteln. Gerade dieses jedoch faßt Bloch in der Bestimmung zusammen: Utopie sei Denken als Übersdireiten. Von diesem heißt es: „Denken heißt überschreiten. So jedoch, daß Vorhandenes nicht unterschlagen, nicht überschlagen wird. Weder in seiner Not, noch gar in der Bewegung aus ihr heraus. Weder in den Ursachen der Not, noch gar im Ansatz der Wende, der darin heranreift. Deshalb geht wirkliches Uberschreiten auch nie ins bloß Luftleere 165

Z » Ernst Blochs „Das Prinzip

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eines Vor-uns, bloß schwärmend, bloß abstrakt ausmalend. Sondern es begreift das Neue als eines, das im bewegt Vorhandenen vermittelt ist, ob es gleich, um freigelegt zu werden, aufs äußerste denWillen zu ihm verlangt. Wirkliches Uberschreiten kennt und aktiviert die in der Geschichte angelegte, dialektisch verlaufende Tendenz 1 ." Solches als Utopie bezeichnetes Denken als Überschreiten, das im Uberschreiten dem faktisch Vorhandenen sich stellt und eben deshalb konkret zu sein vermag, ist jedoch für Bloch nicht in sich gegründet und aus sich allein begreifbar. Es weist auf ein Anderes, noch Vorrationales zurück, das den Phänomenzusammenhängen von Bedürfnis und Befriedigung zuzurechnen ist, aber doch als ein solches Triebhaft-Sinnliches die Potenz zur Rationalität in sich trägt. Bloch nennt dieses materielle oder naturelle Fundament von Utopie „Hoffnung als fundamentalen menschlichen Erwartungsaffekt 2 ", und er gewinnt so die Thematik seines Philosophierens: aus dem Prinzip der Hoffnung das Prinzip des Utopischen in seiner kritischen wie praktischen Möglichkeit erschließen. Das aber ist nach ihm nichts anderes, als der Hoffnung ihren philosophischen Begriff zu geben, „an die Hoffnung . . . Philosophie zu bringen 3 ". Solches philosophische Begreifen von Hoffnung ist dabei aber nach Bloch zugleich mehr als bloße Phänomenologie der Hoffnung. Indem die Hoffnung auf solche Weise philosophisch begriffen zur „docta spes", zur begriffenen Hoffnung sich wandelt und erhöht, ist die Hoffnungsphilosophie Blochs Hermeneutik der Hoffnung, ihres Gehaltes und ihrer Funktion, und sie ist zugleich mehr als dies. Sie erhebt den Anspruch, durch die philosophische Reflexion der Hoffnung das Hoffen selbst zu lehren. Sie will als Theorie zugleich praktisch sein. Die philosophische Analyse der Hoffnung beginnt Bloch zwar mit einer Darstellung dessen, was er die „kleinen Tagträume" nennt, — das sind jene kleinen oder größeren Wünsche des Alltags, die von der Jugend bis ins hohe Alter teils durchgehalten werden, teils sich wandeln; an denen sich jedoch — selbst in

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Zu Ernst Blochs „Das Prinzip

Hoffnung"

ihrer ungezielten Gestalt — eben Hoffen unmittelbar als „Träumen nach vorwärts 4 ", als Leben von der Zukunft her und zur Zukunft hin, in seiner Funktion für den Menschen erschließt. I h r zentrales Thema und damit zugleich ihren eigentlichen Gegenstand findet die Philosophie der Hoffnung jedoch erst dort, w o sie — über solchen Bericht hinwegschreitend — die Funktion des antizipierenden oder utopischen Bewußtseins als in einer Triebund Affektstruktur des Menschen begründet erkennt. D e r Mensch ist Triebwesen; Bewußtsein, Denken schlechthin ist in den Trieben fundiert und erscheint als deren Funktion. Solche Aussage Blochs führt jedoch nicht zu einer triebnaturalistischen Menschenlehre, sondern soll nur die Besonderheit menschlicher Triebstruktur deutlich machen, die nicht mechanisch in Wechselspiel von R e i z und Reaktion als einfache Anpassung an eine daseiende N a t u r sich erschöpft. D e r Mensch ist vielmehr das einzige Wesen auf dieser Welt, das zu „gezielten Trieben" fähig ist. Sein aus dem Inneren hervorbrechender Trieb hat Richtung, er ist intentional. Z w a r ist auch der Trieb des Menschen, wie jeder Trieb, auf ein „äußeres E t w a s " bezogen. Aber dieses muß nicht notwendig „ d a " sein, fertig schon vorgegeben sein. Es kann auch bloße Tendenz zum Einmal-da-Sein zum Inhalt haben. Trieb des Menschen ist nicht Reaktion, sondern A k t i o n ; wie er selbst nicht eindeutig determiniert ist, so ist auch N a t u r , Dasein für ihn offen und unfertig. Seine Aktion ist bearbeitende Veränderung des bloß Daseienden, ist Erhöhung und Läuterung des bloß Daseienden, der N a t u r , zu ihrer eigenen Möglichkeit; sein R e sultat ist Humanisierung der Natur. D i e triebgebundene A n passung ist als Anpassung des Menschen an die N a t u r immer zugleich auch Anpassung der N a t u r an den Menschen 5 . Sdion diese Argumentation Blochs verweist auf die N ä h e seines Denkansatzes zum W e r k von M a r x . W o dieser jedoch von Begriff und Phänomen der Arbeit ausgeht, greift Bloch hinter sie zurück und versteht sie als Triebrationalisierung, als bewußte Triebgestaltung. Auch diese Begriffe wollen jedoch bei Bloch recht verstanden werden. Sie meinen nicht jene an den psychi167

Zu Ernst Blochs „Das Prinzip Hoffnung' sehen Phänomenen von Verdrängung und Kompensation aufgezeigte Triebrationalisierung der Psychoanalyse, wie sie von Sigmund Freud und anderen analysiert wurde. In eindeutiger Abgrenzung gegen die psychoanalytische Theorie, die das Unbewußte immer nur als ein Nicht-Mehr-Bewußtes anzusehen vermag, geht es bei Bloch um das Noch-Nidit-Bewußte*. Dieses jedoch erschließt sidi ihm nidit vom Sexual- oder Machttrieb, sondern nur vom Selbsterhaltungstrieb her. Der Hunger gewinnt hier zentrale Bedeutung, als Antriebskraft mensdilichen Lebens. Denn Hunger ist objektbezogener, erlebter Mangel, ist Entbehrung. Trieb zur Selbsterhaltung ist subjektive Verneinung solcher Entbehrung. Er formt sich im Mensdien zum Erwartungsaffekt der Hoffnung aus. Abgegrenzt gegen die sogenannten gefüllten Affekte, wie etwa Neid und Habsucht, die an ihrem konkreten Gegenstand kleben und als bloße Reaktion eigentlich keine Zukunft haben oder erschließen, steht Hoffnung als Erwartungsaffekt nach Bloch formal neben Furcht und Angst, die gleichartige Erwartungsaffekte darstellen. Sie alle sind in „ihrer Triebintention weitsinnig", haben einen Zukunft antizipierenden Charakter, wenngleich sie als solche in ihrer offenen Tendenz zunächst relativ unbestimmt und in diesem Sinne abstrakt oder ziellos bleiben. Gegenüber Angst und Furcht jedoch vermag eben Hoffnung zur gezielten sich zu verwandeln, vermöge der in ihr enthaltenen und aus ihr geborenen utopischen Funktion. Bloßes zielloses Begehren wird hier als Wunsch konkret, indem es sich die Vorstellung eines „besseren Etwas" zulegt. Hier an dieser Nahtstelle der Triebstruktur, wo Hoffnung zu solcher Vorstellung von Besserem sich erhebt, setzt das Rationalwerden von bloßem Trieb ein, hier ist der Weg von der Hoffnung als Affekt über den Wunsch zur „docta spes" beschritten. Wünschen nämlich (als in Vorstellung konkretisiertes Hoffen) enthält in sich immer sdion die Einsicht in Mängel am Jetzt. Aus solcher Einsicht gehen die Tag- oder Wachträume hervor, in denen sich konkrete Utopie ausformt. Sie sind demzufolge mehr als bloßer Traum — sowohl mehr als der Nicht-Mehr-Bewußtes erschlie168

Zu Ernst Blochs „Das Prinzip Hoffnung" ßende Nachttraum der Psychoanalyse als auch mehr als bloßes Schwärmen oder Phantasterei: der Tagtraum besitzt „Erweiterungswillen". Er entwirft eine bessere Welt, wobei dieser Entwurf über ein Sinnen und Planen geht, das vom konkreten D a sein zum konkret Erhofften schreitet. Der Tagtraum als konkrete Utopie, als Objekt und Inhalt der bewußten Hoffnung, ist so der psychische Geburtsort des Neuen: „Das Noch-Nicht-Bewußte ist so einzig das Vorbewußte des Kommenden, der psychische Geburtsort des Neuen. U n d es hält sich vor allem deshalb vorbewußt, weil eben in ihm selber ein noch nicht ganz manifest gewordener, ein aus der Zukunft erst heraufdämmender Bewußtseinsinhalt vorliegt. Gegebenenfalls sogar ein erst objektiv in der Welt entstehender: so in allen produktiven Zuständen, die mit nie Dagewesenem in Geburt stehen. Dazu ist der Traum nach vorwärts disponiert, damit ist Noch-Nicht-Bewußtes als Bewußtseinsweise eines Anrückenden geladen; das Subjekt wittert hier keinen Kellergeruch, sondern Morgenluft 7 ." Hoffnung, wird sie durch philosophische Analyse in dieser ihrer Trieb- und Bewußtseinsstruktur erkannt, ist wissend-konkretes Träumen, das dem Menschen das Transzendieren der puren, schlechten Gegenwärtigkeit ermöglicht. Sie ist Fundament eines Denkens, das Welt als zu verändernde begreift. Zukunft bleibt in solchem das Verändernwollen infomierenden Denken nicht Verlegenheit, und Vergangenheit bleibt nicht Bann. Vielmehr wird gerade in solchem Denken als begriffener H o f f n u n g oder konkreter Utopie das Verhältnis des Menschen zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft — gemessen an herkömmlicher Vorstellung — radikal verwandelt. Damit aber verwandelt sich zugleich geschichtliche Zeit selbst. Gegenwart bleibt nicht punkthaftes Jetzt als Schwelle zu einer Zukunft, die bloße Offenheit ist. Vergangenheit bleibt nicht bloße in sich abgeschlossene und ruhende Determination. Vielmehr erhalten Vergangenheit wie Gegenwart ihre wahre Wirklichkeit aus der in der konkreten Utopie entworfenen Zukunft. Die Zukunft selbst als konkret vorbewußte wird zum Kriterium 169

ZK Ernst Blochs „Das Prinzip

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dessen, was Vergangenheit und Gegenwart heißen kann. Es ist das Zukunftsträchtige in Vergangenheit und Gegenwart, was ihnen ihre wahre Qualität verleiht. Totalität des geschichtlichen Prozesses ist damit nach vorwärts wie nach rückwärts unabgeschlossen. Gerade diese Unabgeschlossenheit aber ermöglicht es, von der konkreten Utopie, also von der Zukunft her, Vergangenheit und Gegenwart kritisch zu reflektieren und zu dem zu befreien, was an progressiver Tendenz oder Potenz sich in ihnen verbirgt. Konkrete Utopie ist daher jenes Agens, das die Kontinuität des Geschichtsprozesses herstellt und zugleich der Idee eines Fortschritts in der Geschichte praktische Qualität verleiht. Die weiteren zentralen Begriffe der Philosophie Blochs werden vom so gedeuteten Phänomen konkreter Utopie und begriffener Hoffnung her verständlich: „Novum", „Front", „Zeitwende", „Produktivität". „Front, das ist der vorderste Abschnitt der Zeit, wo die nächste entschieden wird 8 ", also Wende der Zeit; und „Novum, das ist die reale Möglichkeit des Noch-NichtBewußten, des Nodh-Nicht-Gewordenen, mit dem Akzent des guten Novum, wenn die Tendenz daraufhin aktiviert wird 9 "; solche Aktivierung ist Produktivität an der Front als Entwurf des Neuen. An dieser Stelle können wir zunächst einhalten und das Ausgeführte auf unser Thema beziehen. Philosophie als utopische ist Verwirklichung praktischer Vernunft, jedoch nicht so, daß sie im kantischen Sinne bloße regulative Idee für das sittliche Verhalten der je singulären Individualität bleibt, sondern so, daß sich in ihr und vermöge ihrer Sinn, Kontinuität und Fortschritt von Geschichte und Gesellschaft allererst herstellen. Die Utopie bleibt nicht regulativ, sondern sie konstituiert geschichtliche Kontinuität als sinnhaft und fortschrittlich. Diese ihre konstitutive Funktion bewährt sich darin, daß sie die faktische Geschichte in ihrem Verlauf und ihren Tendenzen nicht spekulativ überspringt, sondern gerade kritisch reflektiert und eben darin das ausmacht, was als Positivum und als Negativum gelten darf. Utopische Philosophie ist Philosophie als konkrete Kritik je konkreter 170

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geschiehtlich-gesellsdiaftlicher Situation; das Kriterium solcher Kritik gewinnt sie dabei aus dieser Situation ebenso, wie aus der von ihr entworfenen und jener Situation entgegengehaltenen Normativität. Sie ist als Kritik Theorie in praktischer, revolutionierender Absicht und trägt dabei konkret die dialektische Spannung von Faktizität und Normativität in sich ebenso aus, wie die von Engagement und Distanz, von Relativität und Absolutem. Sie ist darin Selbstaufklärung je konkreter Gesellschaft in ihrer Wirklichkeit ebenso wie in ihren Möglichkeiten, die sich zugleich als Notwendigkeiten erweisen. Damit aber wird Kritik selbst zu einem Stück gesellschaftsverändernder Praxis. Das kann und soll freilich nicht heißen, daß mit solchen praktischen Implikationen der Kritik als theoretischer Reflexion die Notwendigkeit einer die Utopie verwirklichenden, gesellschaftlich-revolutionären Praxis selbst ersetzt oder zu ersetzen wäre. Die reale gesellschaftlich-geschichtliche Revolution ist und bleibt die Erfüllung kritisch-theoretischer Utopie. Wenn jedoch solche die theoretische Kritik allererst erfüllende und vollendende revolutionäre Praxis eben nicht in purer Dezision ex nihilo ihr Fundament haben kann, so zwingt das vorab zur kritischen Analyse der je konkreten Bedingungen ihrer Möglichkeit; ja, diese aus der Funktion der Utopie sich herleitende Bedingungsanalyse möglicher Revolutionierung des Bestehenden unter dem Aspekt der gesellschaftlich zu verwirklichenden Vernunft und Humanität ist selbst notwendige Erfüllung einer der Möglichkeiten solcher Veränderung. Eben darin jedoch ist dann Kritik soweit praktisch, als sie es als theoretischer Akt in sich und aus sich zu sein vermag. Ist aber utopische Philosophie solcher Art konstitutiv für einen möglichen Sinn von Geschichte und Gesellschaft, der als solcher freilich nur durch revolutionierende Praxis verwirklicht werden kann, und ist weiter die Funktion solcher Utopie vorab die der kritischen Reflexion jener historisch-sozial objektiven Bedingungen (die jene Revolution als möglich wie als notwendig begründen), dann hat utopische Philosophie sich zumal darin zu 171

Zu Ernst Blochs »Das Prinzip

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bewähren, daß sie Geschichte und Vergangenheit nicht einfach negiert, sondern kritisch aneignet und als verpflichtendes Erbe bewußt macht. Sie hat jene Spuren aufzufinden, welche die Vernunft in der Geschichte — wenn schon in ihrem Versprechen und Anspruch uneingelöst — hinterlassen hat, und sie hat als einer historisch-konkreten Zeit verbundene und verpflichtete Philosophie diese Spuren eben als Erbschaft dieser Zeit ebenso zu erschließen wie zu aktivieren. Sie bewährt sich zumal darin als kritische Theorie in praktischer Absidit. Ich wähle dabei die Begriffe „Spuren" und „Erbschaft dieser Zeit" bewußt, sind es doch Buchtitel10, die anzeigen, wie Bloch noch vor dem Erscheinen des „Prinzip Hoffnung" seinem Begriff von Utopie und Erbe gemäß um die Geschichte als verpflichtender, die Zukunft in sich bergender Vergangenheit rang. Zumal die „Erbschaft dieser Zeit" als zeit- und sozialkritische Analyse der deutschen Situation von 1920—1933 bekundet jenes Streben nach Bewältigung und Aneignung der Vergangenheit als Erbe, indem es konkrete Kritik der Zeit als einer solchen ist, die ihr Erbe verloren hat, wie ebenso Versuch einer Gestaltung — oder wie Bloch gelegentlich sagt: Montage dessen, was einmal Heimat heißen und sein wird: Verwirklichung einer zunädist antizipierten „heiligen Welt", in der der Mensch seiner selbst wieder mächtig sein wird. Als Beleg dafür nur ein Zitat aus dem Vorwort zu „Erbschaft dieser Zeit": „Trägt das untergehende Bürgertum, eben als untergehendes, Elemente zum Aufbau einer neuen Welt bei, und welches sind gegebenenfalls, diese Elemente? Es ist eine rein mittelbare Frage, eine des diabolischen Gebrauchs; als solche ist sie bisher, wie es scheint, vernachlässigt worden, obwohl sie durchaus dialektisch ist. Denn nicht nur im revolutionären Aufstieg oder in der tüchtigsten Blüte einer Klasse, auch in ihrem Niedergang und den mannigfaltigen Inhalten, die gerade die Zersetzung freimacht, kann dialektisch brauchbares Erbe enthalten sein11." Im „Prinzip Hoffnung" ist demgegenüber ein historisch weiter ausholendes und weniger konkret-zeitkritisches Fragen nach 172

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dem verpflichtenden Erbe in Theater, Musik, Malerei, Literatur, Magie, Religion und Philosophie bestimmend. Die philosophiehistorischen Partien sind dabei besonders aufsdilußreidi und bezeichnend, gehen sie doch der Frage nach, wo in der Philosophie das Wissen um die Funktion der Zukunft erschließenden Hoffnung aufbrach, sich durcharbeitete und Gestalt gewann. „Isoliert gefaßte und so festgehaltene Vergangenheit ist eine bloße Warenkategorie, das ist ein verdinglichtes Faktum ohne Bewußtsein seines Fieri und seines fortlaufenden Prozesses, materialistische Dialektik wird das Instrument zur Beherrschung dieses Prozesses zum vermittelt-beherrschten Novum. Dafür ist die Ratio des noch fortschrittlich gewesenen bürgerlichen Zeitalters das nächste Erbe (minus der standortsgebundenen Ideologie und der wachsenden Entleerung von Inhalten). Aber diese Ratio ist nicht das einzige Erbe, vielmehr, auch die vorhergehenden Gesellschaften und selbst mancher Mythos in ihnen (wieder minus bloßer Ideologie und erst recht minus vorwissenschaftlich enthaltenem Aberglauben) geben einer Philosophie, die die bürgerliche Erkenntnisschranke überwunden hat, gegebenenfalls fortschrittliches Erbmaterial ab, wenn auch, wie sich von selbst versteht, besonders aufzuklärendes, kritisch anzueignendes, umzufunktionierendes 11 . " Zumal Aristoteles, Leonardo, Giordano Bruno, die Sozialutopisten, Leibniz, Schelling, Hegel, die romantische Naturphilosophie sind gemäß solcher Perspektive lebendiges und verpflichtendes Erbe. Und dennoch ist solches Philosophieren immer begrenzt und unwahr geblieben. Erst Marx ist mit seinem Denken die radikale Wende, der endgültige Durchbruch einer dem Werdenden, der Zukunft als Vollendung von Mensch und Welt zugewandten Philosophie. Vormarxistische Philosophie bleibt — bei aller Bedeutung im einzelnen — schauendes, betrachtendes Wissen des Gewordenen und je Seienden als eines Objektiven. Sie bleibt praxis-abgelöste Ontologie: „Erst Marx setzte statt dessen das Pathos des Veränderns, als den Beginn einer Theorie, die sich nicht auf Schauung und Auslegung resigniert. Die starren 173

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Scheidungen zwischen Zukunft und Vergangenheit stürzen so selber ein, ungewordene Zukunft wird in der Vergangenheit sichtbar, gerächte und beerbte, vermittelte und erfüllte Vergangenheit in der Zukunft". „Die marxistische Philosophie als diejenige, welche sich endlich adäquat zum Werden und zum Heraufkommenden verhält, kennt auch die ganze Vergangenheit in schöpferischer Breite, weil sie überhaupt keine Vergangenheit außer der noch lebendigen, noch nicht abgegoltenen kennt. Marxistische Philosophie ist die der Zukunft, also auch der Zukunft in der Vergangenheit; so ist sie, in diesem versammelten Frontbewußtsein, lebendige, dem Geschehen vertraute, dem Novum verschworene Theorie-Praxis der begriffenen Tendenz 13 ." „Alles an den Hoffnungsbildern Nicht-Illusionäre, Real-Mögliche geht zu Marx, arbeitet —wie immer jeweils variiert, situationsgemäß rationiert — in der sozialistischen Weltveränderung 14 ." „Marxistisches Wissen bedeutet: die schweren Vorgänge des Heraufkommens treten in Begriff und Praxis 15 ." Es ist evident, daß solche historische Heraushebung der Marx'schen Philosophie als eines endgültigen Durchbruchs philosophisch bewußter Zukunft sich vor allem an den Partien des Marx'schen Denkens orientiert, in denen erfüllende Weltveränderung das Thema bildet. Die Thesen über Feuerbach gewinnen deshalb auch zentrale Bedeutung für Bloch. Er findet in ihnen am prägnantesten seine eigene philosophische Position vorgeformt: das Bewußtsein von der Gebundenheit des Denkens an Sinnlichkeit, die Interpretation der Sinnlichkeit als konkrete Praxis, die pragmatische Wahrheitskonzeption und das Verstehen der Philosophie als Element der Weltveränderung. Zugespitzt ließe sich sagen: Blochs Marxismus ist ein von den Feuerbach-Thesen herkommender, der zudem diese Thesen im Sinne der Hoffnungsphilosophie interpretiert. Marxismus ist für Bloch „aktive Tendenzkunde", d. h. er kann Freiheit nicht als aus objektiver Gesetzlichkeit erwachsend garantieren, sondern nur aus dem offenen Zukunftsentwurf heraus anzielen. Man 174

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muß — gerade im rechten Verständnis von Marx — das ganze Weltgeschehen auf den Menschen beziehen, auf ein „humanistisches Eschaton im Zielpunkt des Fortschritts", um der puren Determination durch das bloße Objekt zu entgehen und Freiheit realisieren zu können. „Marxismus . . . ist. . . einzig auf jenes positive, keiner Entzauberung unterliegende In-MöglichkeitSein bezogen, das die wachsende Verwirklichung des Verwirklichenden, zunächst im menschlichen Umkreis erfaßt. Und das innerhalb dieses Umkreises utopische Totum bedeutet eben jene Freiheit, jene Heimat der Identität, worin sich weder Mensch zur Welt noch aber auch die Welt zum Menschen verhalten als zu einem Fremden . . . Der Weg öffnet sich darin als Funktion des Ziels, und das Ziel öffnet sich als Substanz im Weg, in dem auf seine Bedingungen hin erforschten, in dem auf seine Offenheiten hin visierten . . . Marxismus ist derart Theorie-Praxis eines Nachhause-Gelangens oder des Ausgangs aus unangemessener Objektivierung; die Welt wird dadurch zur Nichtmehr-Entfremdung ihrer Subjekte-Objekte, also zur Freiheit entwickelt. Das Freiheitsziel selber wird zweifellos erst vom Standort einer klassenlosen Gesellschaft her als bestimmtes In-Möglichkeit-Sein deutlich visierbar 18 ." Die klassenlose Gesellschaft ist für Bloch also nicht zwangsläufiges Resultat einer eigengesetzlichen Genesis der Geschichte, sondern sie ist antizipierender Entwurf einer heilen, den Begriff vom Menschen erfüllenden Heimat. „Wirkliche Genesis ist nicht im Anfang, sondern am Ende 17 ", sie hängt vom antizipierten Ziel ab. Wenn dabei die ökonomischen Realitäten als dasjenige verdinglichte und verdinglichende Objektive erscheinen, das von der Utopie vor allem angezielt werden muß und aus dem sie ihre revolutionären Impulse zieht, so hat auch dies sein Fundament im Selbsterhaltungstrieb und seiner Dialektik von Hunger, Verneinung und Hoffnung. Hunger nämlich und Selbsterhaltungstrieb sind „gesellschaftlich gewordene und gesteuerte Bedürfnisse der Wechselwirkung 18 " und bleiben als solche letztlich auf das wirtschaftliche Interesse bezogen. Der Entschluß zur 175

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Aufhebung der Klassengesellschaft kommt aus dem ökonomisch aufgeklärten Hunger 1 ", d. h. aus einem Hunger, der in der Klassengesellschaft aufbrechend als „Appetit auf angemessene Zustände" diese Gesellschaft verneint. Aus solchen und ähnlichen Interpretationen des Marx'schen Werkes ergibt sich, warum f ü r Bloch Marx der größte Träumer nach vorn ist und eben damit die Wende in der Philosophie bezeichnet. Es ergibt sich aus dieser Marx-Interpretation weiter, daß Bloch — wie jeden bürgerlich-positivistischen, sozial-konformistischen Fortschrittsglauben — so auch jeden Vulgärmarxismus radikal ablehnt: jede mechanische, deterministische Deutung des Marxismus, die — mit Engels schon beginnend — einem erstarrten Realitäts-, Materie- und Dialektikbegriff verfällt. Kaum verwunderlich ist es daher, daß Bloch von solchen Interpretationen des Marx'schen Werkes wie auch des Vulgärmarxismus aus zum entschiedenen Kritiker des dogmatisierten dialektischen und historischen Materialismus werden mußte. U n d in der Tat scheint mir seine Polemik gegen Engels etwa — vorgebracht in „Subjekt—Objekt"" — sowie weite Passagen im Hauptwerk mit zu dem Besten zu gehören, was in Anknüpfung an Marx gegen diesen sogenannten Marxismus-Leninismus zu sagen ist. Wenn Bloch dennoch lange Zeit in der Zone als philosophischer Lehrer wirken durfte und das Ketzerische seiner Philosophie erst nach den politischen Erschütterungen des Ostblocks im Herbst 1956 radikal angegriffen wurde 21 , so hat man heute dafür eine einfache Erklärung: erst nach den sogenannten konterrevolutionären Ereignissen sei völlig offenbar geworden, welche gefährlichen Konsequenzen eine philosophisch falsch verstandene Koexistenzpraxis in sich berge, die sich nicht entschieden genug zur Parteilichkeit in der Philosophie bekenne. Aus solchem Argument wird dabei besonders offenbar, was sich im Kern hinter dem Kampf gegen Bloch verbirgt: die Unsicherheit und Angst des Systems gegenüber einer Philosophie, die durch 176

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den Rückgriff auf Marx den ideologischen Allmachtsanspruch der Partei zu unterminieren in der Lage ist. In der T a t : Bloch spricht zwar davon, daß Marxismus Parteilichkeit für die Zukunft heiße, und d. h. er vermeidet den Begriff der Parteilichkeit als Fundament von Wahrheitsfindung in Theorie und Praxis nicht 22 . E r entspricht damit formal der offiziellen Doktrin. Aber sein erwähnter Begriff von Parteilichkeit ist viel zu unbestimmt, als daß er einem ideologisierten Herrschaftssystem ausreichen könnte, das mit Parteilichkeit eine politisch höchst konkrete und unmittelbar institutionelle Bindung meint. Blochs Begriff der Parteilichkeit läßt, so wie er gemeint ist, autonome individuelle Geistigkeit als Instanz konkreter und dogmatisch ungebundener Kritik noch zu. Seine solchen Begriff von Parteilichkeit stützende Philosophie fügt sich — insbesondere wegen ihres Versuches einer Vermittlung zwischen Kollektivismus und Individualismus — nicht oder doch nur im Verstoß gegen ihren eigenen Anspruch der totalitären Identifikation von Partei und Proletariat sowie der daraus sich ergebenden bolschewistischen Forderung nach Aufgehen der Individualität im parteigelenkten Kollektiv als einziger Realität von Menschlichkeit. Es nimmt daher nicht wunder, daß der Kampf gegen Blochs Philosophie in der Zone vor allem im Vorwurf eines mystischen, irrationalistischen, metaphysisch-religiösen und somit unwissenschaftlichen Subjektivismus gipfelt. Formal lassen sich etwa drei Gruppen von kritischen Positionen gegen Bloch in der Zone unterscheiden. Die eine Gruppe kritisiert sein philosophisches System als Ganzes, eine zweite Gruppe kritisiert einzelne philosophische Kategorien seines Systems und eine dritte Gruppe schließlich erhebt gegen Bloch — sicher nicht ganz zu Unrecht — den Vorwurf, daß er auf dem Wege über den Kampf gegen den mechanischen Materialismus und die bürgerliche Weltauffassung den dialektischen Materialismus selbst desavouiere. Den Argumenten innerhalb dieser Gruppen im einzelnen nachzugehen, ist hier nicht möglich und für ein eigenes kritisches Urteil über die

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philosophische Leistung Blodis auch kaum ergiebig, denn immer wieder wird die Philosophie Blochs im Grunde nur am undiskutierten Dogma des dialektischen Materialismus gemessen. Lediglich folgende Argumentationsreihe, die sich in vielfachen Variationen immer wieder findet, verdient eine gewisse Beachtung": Bloch sehe den Menschen primär psychologisch und nicht als Gesellschaftswesen. Habe schon dies allein die Konsequenz einer unmarxistischen Geschichtsauffassung, die im Subjektivismus ende, so gelte dieses vollends von einer ontologisdien Ausweitung des subjektivistischen Prinzips. Nicht nur müsse Bloch — so argumentiert man — einen subjektiv-willenhaften Weltgrund annehmen, der über die Spaltung von Subjekt und Objekt hinweg zu deren Aufhebung als seiner eigenen Erlösung dränge, was finsterster unmaterialistischer und damit eben idealistischer Metaphysik religiösen Ursprungs entspräche. Bloch müsse zugleich finalistisch denken; d. h. das Ziel der Geschichts- und Weltbewegung müsse für ihn wichtiger werden als die Bewegung selbst. Werde damit die Bewegung zum bloßen Mittel für das Ziel, so müsse das Ziel am Ende der Geschichte und Vollkommenheit der Welt zugleich ein Zustand der Bewegungslosigkeit und Ruhe sein, und so Ende jeder Dialektik. Da aber Leben nur in Bewegung und Spannung ist, bedeute das: nach Bloch muß das Ziel der Bewegung als deren absolutes Ende, als Bewegungslosigkeit zugleich Tod oder Nichts sein. Bloch lande so — und das ist das abschließende Argument dieser Gedankenreihe — in dem Versuch, die einzelnen der Mängel der Welt aufzuheben, beim totalen Mangel, dem Nichts schlechthin, das auch dann ein solches bleibe, wenn es als Alles deklariert werde. Der ganze utopische Optimismus Blochs sei deshalb im Kern Pessimismus, er sei optimistische Variante des Existenzialismus als der hervorstechendsten Form des gegenwärtigen Nihilismus. Wie bei diesem deklassiere die Bewertung des Subjektiven das Objektive zur bloßen Kulisse. Aufschlußreich ist diese Argumentation der offiziellen Philosophie der Zone gegen Bloch vor allem deshalb, weil sie unter178

Z« Ernst Blochs »Das Prinzip Hoffnung" streicht, welche innere Gefährdung das System in einer Philosophie erblicken muß, die Welt, N a t u r u n d Geschichte nur in bezug auf den Menschen zu denken vermag und im Menschen als einem utopischen Wesen die welterschließende u n d weltvollendende Instanz erblickt. Dieser Gefährdung vermag man nur zu entgehen, indem man — mit H i l f e welcher dialektischen u n d rhetorischen Kunstgriffe auch immer — den an die Aktivität des Individuums gebundenen Fortschrittsoptimismus Blochs als Pessimismus und Nihilismus darstellt. Man verdächtigt Bloch einer philosophischen Position, die er selbst nachdrücklich ablehnt u n d bekämpft, und wenn dabei der Begriff Existenzphilosophie fällt, so ist das nicht zufällig. Insofern nämlich, als nach der offiziellen kommunistischen Ideologie der philosophische Existenzialismus der Nihilismus schlechthin ist, ist die Deklaration Blochs als „Existenzphilosophie mit veränderten Vorzeichen" zugleich ausreichender Grund f ü r seine Abstempelung als antikommunistisch, zivilisations- und fortschrittsfeindlich. Erst mit solchem Verdacht ist das Schicksal der Blochschen Philosophie in der Zone vollends besiegelt. Dieses Schicksal der Blochschen Philosophie mag um so mehr Verwunderung erregen, als Blochs Kritik am dogmatisierten Marxismus-Leninismus vorwiegend eine solche an der Ideologie als philosophischem System bleibt u n d kaum jene konkrete sozialkritische Dimension erreicht, die sie gemäß ihrem eigenen Anspruch eigentlich radikal zu verfolgen hätte. Der G r u n d hierf ü r liegt in einem weiteren Aspekt des Blochschen Werkes, den es zu reflektieren gilt. Mit der Ehrenrettung des Utopischen in der Philosophie, ja mit der in anthropologischer Analyse der H o f f n u n g gründenden Demonstration, d a ß Philosophie nur als utopische sich selbst in ihrem konkreten A u f t r a g zu verwirklichen vermag, scheint Bloch — nicht zuletzt wegen seines Bezugs auf M a r x — eines Begriffes von Philosophie wieder mächtig, der von dieser ihre Bewährung als konkret-praktische Kritik der stets historischen Gesellschaft ebenso unabdingbar fordert, wie er ihre sich in solcher

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Praxis dokumentierende Verantwortung bewußt hält für das, was Sinn und Vernunft in Geschichte und Gesellschaft heißen kann. Böte Blochs philosophische Konzeption — so gesehen — die Chance, Philosophie überhaupt wieder in ihre konkrete geschichtlich-gesellschaftliche Verantwortung zu bringen, so setzte das freilich voraus, daß sie radikal und endgültig mit jenen Traditionen bisherigen Philosophierens bräche, nach denen der Sinn von Geschichte sich in und durch Kontemplation als ein ihr innewohnendes Agens ausmachen läßt. Bloch müßte, um dem treu zu bleiben, was sein Denken der Philosophie überhaupt zumindest als Chance eröffnet, mit jedem Versuch einer wie auch immer gearteten Ontologie oder ontologischen Fundamentierung des Utopischen brechen — wäre er doch eben nur dann in der Lage, Philosophie in ihrer konkreten Verpflichtung und Verantwortung für einen humanitären Geschichtssinn festzulegen und festzuhalten. Gerade dieser aus seinem eigenen Anspruch an die Philosophie sich herleitenden Verpflichtung jedoch entzieht sich Bloch in seinem Hauptwerk, ist doch in diesem durchgehend das Bemühen bestimmend, das an der Hoffnung und Utopie Entwickelte im Sinne tradierter Ontologie als Prinzip des Seienden selbst kosmologisch oder ontologisch festzumachen. Zwar philosophiert er nicht — wie sonst üblich — über „Geschichtlichkeit" oder „Zeitlichkeit" in Natur und Geschichte, sondern bemüht sich um eine, wie es heißt, marxistische Kosmologie. Aber mit der Konzeption einer solchen, die den Sinn des Menschen aus einem Sinn der umgreifenden Natur- oder Seinsgeschichte herzuleiten unternimmt, mündet eben alles Bemühen Blochs schließlich doch in eine ontologische Eschatologie aus; die bei ihm lediglich das Ungewisse offen läßt, Heilsgeschichte oder Katastrophengeschichte sein zu können. Daß aber solche Offenheit letztlich nicht aus der Ontologisierung ausbricht, dafür spricht wohl Blochs Materiebegriff, der — er mag von dem, was im offiziellen Diamat Materie heißt, sich meilenweit unterscheiden — dennoch ebenso das verfehlt, worum Marx mit seiner sogenann180

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ten materialistischen Begründung der Philosophie rang: „Materie, das ist nicht der mechanische Klotz, sondern — gemäß dem implizierten Sinn der Aristotelischen Materie-Definition — sowohl das Nach-Möglichkeit-Seiende, also das, was das jeweils historisch Erscheinen-könnende bedingungsmäßig bestimmt, wie das In-Möglichkeit-Seiende, als das reale Möglichkeitssubstrat des dialektischen Prozesses. Gerade als bewegtes Sein ist die Materie ein noch unausgetragenes Sein; sie ist der Boden und die Substanz, worin unsere Zukunft, als ihre ebenso eigene, ausgetragen wird. Probleme in Fülle liegen derart vor der gegenwärtigen Philosophie; dem jetzigen Westen sind sie, obwohl überfällig, noch nicht im .Überstieg* parat. E x Oriente lux, dieses alte Wort aus Geographie und Christentum zugleich, bekommt bei solchem Anblick eine frische, umfunktionierte Wahrheit; aus dem Ostpunkt der gegenwärtigen Menschheit kommt das Licht. Die deutsche Philosophie, von Hegel zu Marx, artikuliert es zuerst, die deutsche Philosophie hat sich dieser Verpflichtung wert zu halten 2 4 ." Klammert man die den Schluß des Zitats bildende, philosophisch-politische Apologie des Ostens als Wahrheitsquelle für den Menschen und die daraus abgeleitete Verpflichtung vorerst einmal aus, und bedenkt man nur, was der Rückgriff auf den aristotelischen Materiebegriff eigentlich bedeutet, so ergibt sich folgendes: Es ist das Seiende, die als Materie bezeichnete Wirklichkeit selbst, die die Dynamik von Möglichkeit und Wirklichkeit in sich enthält und zwar so, daß es in der Materie selbst ein treibendes Agens gibt, das sie über sich und ihre bloß naturale Gestalt hinausführt. Dem zukunftsoffenen Wesen des Menschen korrespondiert ein Sein, eine Welt, die ebenfalls offen ist und in der ein „Willenhaft-Intensives" — gleichsam ein Interesse — wirkt und treibt. Denn: „kein Ding ließe sich wunschgemäß umarbeiten, wenn die Welt geschlossen, voll fixer, gar vollendeter Tatsachen wäre. Statt ihrer gibt es lediglich Prozesse, daß heißt dynamische Beziehungen, in denen das Gewordene nicht völlig gesiegt hat. Das Wirkliche ist Prozeß . . . " " Und dieser Prozeß 181

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ist dialektische Tendenz vom Nichts zum Alles. Sein, Materie, ist — in der Realität der Subjekt-Objekt-Spaltung — zugleich Anlage zur Aufhebung dieser Spaltung, als Aufhebung einer Selbstentfremdung des Seins in der Identität von Subjekt und Objekt. Gleicherweise an Aristoteles, wie vor allem an Hegel anknüpfend, meint Blochs dialektischer Materiebegriff eine Potentialität des Seins als Anlage und Drang, über sich selbst in seiner konkreten und unvermittelten Gestalt des bloß Natürlich-Kreatürlidien, des Ding- und Objekthaften hinaus zu sich selbst als Einheit oder Totum von Natur und Geist zu kommen. Der Mensch fällt als Hoffender aus diesem materiell-dialektischen Zusammenhang nicht heraus — im Gegenteil: im Menschen hat das Treibende in dieser Welt, das in der dialektischen Materie als dem „Ort realer Möglichkeiten" liegt, allein seine „höchste Blüte" und seine bewußte Gestalt gefunden. Im Menschen wird das Treibende der Welt zum bewußten Handeln auf ein Besserwerden gelenkt. Die allein im Menschen mögliche Erfassung des „Nicht" als „Noch-Nicht" bringt, über den „Hunger" als „horror vicui", die Welt in Gang. Er, der Mensch, hat allein die Fähigkeit, die noch unfertige Welt, damit zugleich aber auch sich selbst, zu Ende zu bilden. So kommt mit dem Menschen ein subjektiver Faktor in die Welt, der jedoch als Potenz in der Welt selbst angelegt ist. Das aber heißt doch wohl: nur als Agent umfassender, dynamischer Seinsgesetzlichkeit hat der Mensch eine Funktion; er ist durch die Gesetzlichkeit determiniert, aber vermöge letzter Gebundenheit an ontische Determinanten dann zugleich auch entlastet. Hegel feiert gerade in den Passagen seines Werkes fröhliche Auferstehung, die am wenigsten geeignet sind, Philosophie zu ihrer aktiven Verantwortlichkeit für das, was Sinn und Vernunft in der Geschichte heißen kann, zu befreien. Und dafür, daß die Ontologisierung der Hoffnungsphilosophie Blochs, die Demonstration des Utopischen als eines ontischen Prinzips sui generis ganz im Sinne Hegels die Philosophie der 182

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Geschichte aus ihrer Verantwortlichkeit eben für diese Geschichte entläßt und (auch in ihren kritischen Passagen) zur bloß kontemplativen Konstatierung eines aufgrund eigener eschatologischer Wirkprinzipien sich durchsetzenden Sinnes verkommt, spricht nicht zuletzt die mit dem Begriff „ex oriente lux" umschriebene Position Blochs. An ihr enthüllt sich ja nur, daß — analog der Hegeischen Emanation des Weltgeistes in die Volksgeister und deren eschatologisch bestimmte Abfolge — auch Blochs ontologisch gemeinte Materie mit dem in ihr wirkenden „Prinzip Hoffnung" notwendig aufgehende und notwendig untergehende Gesellschaften entsprechend einem Entwicklungsplan des Weltalls prädeterminiert, was zugleich Konsequenzen für seine ideologiekritische Aufarbeitung der Philosophie hat. Da ist z. B. die Auseinandersetzung Blochs mit der Existenzphilosophie und vor allem mit Heidegger und seiner Lehre von der Angst als der das In-derWelt-Sein erschließenden Grundbefindlichkeit. Auf eine solche Auseinandersetzung scheint die ganze Hoffnungsphilosophie Blochs sachnotwendig zu drängen. Entsprechend dem eigenen Anliegen Blochs und seiner Herkunft von Marx dürfte jedoch eine Auseinandersetzung solcher Art nicht nur in der Deklaration der Angst als eines der Hoffnung entgegenstehenden negativen Erwartungsaffektes sich erschöpfen. Es müßte vielmehr entsprechend dem, was bei Bloch selbst konkrete Utopie heißt, die existenzphilosophische Position Heideggers auf ihre sozialen Motivationen und Konsequenzen hin detailliert untersucht werden. Heidegger böte dafür nicht nur hinreichend Anlaß, die Blochsche Hoffnungsphilosophie selbst stellt auch die Fundamente und Bedingungen für ein solches Vorhaben bereit. Was Bloch jedoch an tatsächlicher HeideggerKritik vorlegt, drängt sich in die lapidaren Sätze zusammen: „Heidegger also reflektiert und verabsolutiert mit seiner Angstontologie ersichtlich nur die ,Grundbefindlichkeit' einer untergehenden Gesellschaft. Er reflektiert vom Kleinbürgertum her die Gesellschaft des Monopolkapitals mit Dauerkrise als nor183

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malem Zustand; einzige Alternative zur Dauerkrise sind Krieg und Kriegsproduktion 2 6 ." Mit solcher Argumentation wird nicht nur die Fülle philosophie- und sozialkritischer Möglichkeiten vertan, die in Blochs Analysen über die Rolle und Funktion des Utopischen in G e schichte und Gesellschaft bereitgestellt ist. Bloch bleibt auch weit hinter dem zurück, was an ideologienkritischer Aussage zur Existenzphilosophie heute schon vorliegt, man denke etwa an Adorno 2 7 . U n d nicht nur dies. Was für Blochs Auseinandersetzung mit Heidegger gilt, zeichnet leider sein ganzes W e r k in all den Passagen aus, die Gesellschaftskritisches ausmachen. W o der Begriff konkreter Utopie und philosophisch erhellter Hoffnung die Chance böte, Philosophie überhaupt auf ihren sozialkritischen Aspekt zurückzubringen und als Potenz radikaler Aufklärung in der Gesellschaft zu bewähren, da fällt Bloch nur allzu oft hinter diese seine eigenen Möglichkeiten zurück. E r bindet sich bedingungslos an ein Denkmodell von notwendig untergehenden und ebenso notwendig aufsteigenden Gesellschaften. G e m ä ß seiner schon zitierten Interpretation des „ex Oriente l u x " liegt alle Möglichkeit zu menschenwürdiger Zukunft allein in dem, was gegenwärtiger Ostpunkt der Menschheit heißt; westlich-bürgerlich-demokratische Lebensordnung ist notwendig niedergehende Gesellschaft schlechthin. K o n k r e t e Utopie als aktivierende Möglichkeit einer menschenwürdigen Zukunft hat in ihr keine Chance. Was an sozialkritischer Aussage zur westlichen Gesellschaft bei Bloch sich findet — wie etwa die verdienstvolle und bemerkenswerte Decouvrierung der V e r gnügungsindustrie als Utopieersatz — ist demzufolge bei Bloch auch nicht als Medium der Selbstaufklärung dieser Gesellschaft über ihre eigenen Möglichkeiten zu einer besseren Zukunft gemeint, sondern als Demonstration ihres geschichtsnotwendigen Unterganges. O b gewollt oder nicht zeitigt aber dies die A p o logie kommunistischer Sozialordnung. S o diskreditiert Bloch sein eigenes Beginnen bedauerlicherweise immer wieder durch eine vorlaufende ideologische und politische O p t i o n für den 184

Zu Ernst Bloths „Das Prinzip

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kommunistischen Osten, die — trotz aller beachtlichen Kritik an dessen dogmatisierter Ideologie — doch gesellschaftlich unreflektiert, naiv und kaum weniger dogmatisch ist. Die Hoffnung, die Bloch den Westen lehrt, ist und bleibt die Gewißheit seines unabdingbaren Unterganges, die sich mit einer Apologie des Kommunismus verbindet und diesen nicht nur als utopische Zukunftsvision meint, sondern eben auch als politisch-soziale Realität. Ihm gegenüber schweigt die sich an der Utopie orientierende kritische Philosophie oder geriert sich allenfalls nur als Kritik von deren Ideologie, ohne damit freilich selbst zur Ideologienkritik zu werden, eben weil sie die gesellschaftlichen Realitäten unbefragt läßt, die solche instrumentale Ideologie hervorbringen. Erweist sich die Parteinahme der Philosophie, von der Bloch als von einer notwendigen Parteinahme für die Zukunft spricht, gemäß einer geschichtsontologischen Prädeterminationskonzeption als Forderung nach dem unreflektierten und in diesem Sinne naiven sozialen Engagement, so verliert Bloch sich mit solcher Argumentation selbst und wird zum ideologischen Apologeten. Dieser Umbruch von utopieorientierter Kritik in unkritische ideologische Option aber hat seinen logischen Grund gerade in jener Ontologisierung des philosophischen Gedankens, der in die tradierten Bahnen kontemplativ-konstatierender und spekulierender Philosophie einschwenkt, wo es doch gerade gilt, Philosophie von solcher Ontologisierung zu bewahren, um sie in ihrem der Vernunft wie dem Menschen und der Gesellschaft verpflichtenden Anspruch wirksam zu erhalten und allererst zu entfalten.

Ideologie und Gesellschaft in der Sowjetunion nach Stalins Tod Die an den politischen und gesellschaftlichen Realitäten der Stalin-Ära vornehmlich orientierte Deutung der Sowjetideologie als eines puren, aber gesellschaftlich unmittelbar wirksam werdenden Instrumentes der Manipulation und Rechtfertigung in den Händen der politisch Herrschenden ist nicht mehr ohne weiteres durchzuhalten; es sei denn um den Preis, daß man sich die Einsicht in das, was in der Sowjetunion faktisch in Gesellschaft und Gesellschaftstheorie geschieht, bewußt verbaut. Zweifellos kann heute nicht mehr davon ausgegangen werden, daß die sowjetische Gesellschaft beliebig manipulierbares Objekt für den politischen Willen einer elitären Führungsgruppe ist. Zwar ist die sowjetische Gesellschaft von heute das Resultat eines unter Einsatz von unkalkulierbarem Massenterror bewirkten parteigelenkten Industrialisierungsprozesses, und in der Phase ihres Werdens hatte sie tatsächlich weitgehend den Charakter eines Objektes der Politik, inzwischen jedoch hat das Resultat eine gewisse Eigenständigkeit und Dignität gegenüber seinen Initiatoren erhalten, an die auch diese gebunden sind. Sicher hieße es ein an den sozialen Entwicklungsprozessen des 19. Jahrhunderts orientiertes Denkmodell auf die gegenwärtigen Prozesse der Sowjetgesellschaft zu übertragen, wollte man im Ernst schon von einer Emanzipation der Gesellschaft vom Staat und damit von einem im Ansatz schon weitgehend geglückten Einbruch in die totalitäre Identifikation von Staat und Gesellschaft sprechen. Unbestreitbar aber ist, daß der Industrialisierungsprozeß der sowjetischen Gesellschaft, je mehr er fortschreitet, um so mehr Tendenzen zur Differenzierung der Sozialstruktur zeitigt, wie 186

Ideologie und Gesellschaft in der UdSSR nach Stalins Tod

ebenso Tendenzen zur Freisetzung und Anerkennung der eigene ständigen Belange der verschiedenen Handlungsgefüge der Gesellschaft. In dem gleichen Maße, in dem solche realgesellsdiaftlichen Faktoren den durch Jahrzehnte als gesellschaftlich-politische Initiativkraft praktizierten Massenterror um der Effektivität des industriegesellschaftlichen Systems willen unmöglich machen und zur Veränderung der Herrschaftstechniken führen müssen, ist dann aber auch die Ideologie in ihrer bisher fast ausschließlich beachteten Gestalt als eines weniger an Wahrheit als vielmehr am manipulativen Effekt orientierten Instrumentes der Herrschaftssicherung und Herrschaftsrechtfertigung davon betroffen. Sie gerät selber aufgrund der gesellschaftlichen Gegebenheiten in einen Konflikt mit ihrem eigenen Anspruch, daß nämlich Parteilichkeit einziger und hinlänglicher Garant der Wahrheit des Bewußtseins der Aktion und der sozialen Existenz sei. Eine Fülle von Phänomenen kann heute schon als Indiz für diesen Sachverhalt beigebracht werden. Der dialektische Materialismus ist in seinen klassischen Thesen über die Struktur der Materie, ihrer Bewegungsprinzipien, ihrer Erscheinungsformen und ihrer Daseinsweisen im Grunde auf eine naturwissenschaftliche Erkenntnissituation zugeschnitten und von ihr abhängig 1 , die mit der zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Problemsituation kaum noch ohne Schwierigkeiten in Einklang zu bringen ist. Konnte man die hierin seit je für den Diamat angelegte Spannug so lange relativ leicht durdi verbale Interpretationen überspielen, solange man nicht gezwungen war, eine naturwissenschaftliche und zumal physikalische oder mathematischlogische und kybernetische Grundlagenforschung zu treiben, so reicht ein solches Vorgehen heute nicht mehr aus. Der aus den praktischen Erfordernissen einer um Konkurrenzfähigkeit ringenden industriellen und militärisch-technischen Großmacht sich ergebende Zwang zur genannten Grundlagenforschung hat zu einer relativen Freisetzung der konkreten Forschung in diesen Disziplinen von der Gebundenheit durch die Ideologie geführt, 187

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die nicht mehr übersehen werden kann. Dieser Freisetzungsprozeß einzelwissenschaftlicher Forschung von der Ideologie schlug jedoch vermöge der ihm innewohnenden Dynamik auf sie selber zurück. V o r allem dort, wo sie sich mit einzelwissenschaftlichen Problemen konfrontiert sieht und diese philosophisch zu reflektieren gezwungen ist, zumal also in philosophischen Spezialuntersuchungen macht sidi eine Tendenz der philosophischen Analyse bemerkbar, die weit mehr an der Sache, als an der ideologischen Dogmatik orientiert ist. Und es ist nicht mehr gestattet, von der ungebrochenen Identität von Philosophie und Ideologie auszugehen oder darauf zu insistieren 2 . Auf einem Spezialgebiet der Sowjetphilosophie, nämlich der sogenannten sozialistischen Ethik oder Moraltheorie, madit sich ein ähnlicher Zug zur Reduzierung oder gar Überspielung bis dahin geltender ideologischer Tabus geltend 3 . Das Prinzip dieser Ethik, der sozialistische Kollektivismus, wirkt sich j a nicht nur in dem gleidisam abstrakt bleibenden Postulat einer unmittelbaren Identität von Einzel- und Allgemeinwille oder Individualund Gesellschaftsinteresse als Maßstab wahrer Sittlichkeit und Moralität aus, seine gesellschaftliche Konkretion erfährt es ja mindestens seit Ende der 20er Jahre dadurch, daß das institutionelle Gefüge der arbeitsteiligen Produktionsgesellschaft sowie das Gefüge der sie durchdringenden politischen Institutionen durch Ausgestaltung einer Theorie der Kollektive in die Identifikationsschematik aufgenommen wurde. Gesellschaftlich oder politisch-funktional bestimmte Kollektive erhielten dadurch die ideologische Weihe von Instanzen realisierter Sittlichkeit mit Verbindlichkeitsanspruch für das individuelle Verhalten. Sollte dieser kollektivistische Identifikationsschematismus dazu dienen, die restlose Einfügung des Individuums in die durch die Kollektive vorgegebenen Verhaltensmuster als Bedingung für das Erreichen eines vollen sozialistischen Bewußtseins zu demonstrieren, so war damit zugleich die Argumentationsweise bestimmt, mit der Abweichungen vom geforderten Kollektivismus erklärt und, was noch wichtiger ist, denunziert werden 188

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konnten. Sie erschienen als Überreste des Befangenseins in vorsozialistischem, ideologischem Bewußtsein unter den Bedingungen der sozialistischen Gesellschaft. Audi dieser Mechanismus von geforderter kollektivistischer Identifikation und ideologischer Denunziation funktioniert heute nicht mehr reibungslos oder störungsfrei. Es mehren sich die Stimmen einzelner sowjetischer Philosophen, die nach den Ursachen der genannten Abweichung fragen und sie immer weniger in den sogenannten Überbleibseln zu sehen bereit sind, als vielmehr in den Bedingungen der Sozialstruktur der Sowjetgesellschaft selber. In dem gleichen Maße jedoch, in dem auf diese Weise die Sozialstruktur selber und die in ihr sich abzeichnende Differenzierung der Interessen für die Spannung zwischen normativem Kollektivismus und faktischem, sozialen Verhalten verantwortlich gemacht wird, wirkt das auf den Anspruch der ethischen Theorie zurück. Auch hier sieht sich die Ideologie einer aus der Gesellschaft herkommenden inneren Aushöhlung ihrer Geltung ausgesetzt. Als wichtigstes Anzeichen dafür jedoch, wie stark die Ideologie in ihren Ansprüchen von den aus dem gesellschaftlichen Prozeß heraufdrängenden Erfordernissen berührt, ja, im Kern betroffen ist, darf wohl die Eingliederung einer erfahrungswissenschaftlich arbeitenden Soziologie in die Gesellschaftstheorie des historischen Materialismus gelten 4 . Offenbar erweisen sich die Faktizitäten der Gesellschaftsdifferenzierung als so stark und gravierend, daß ihre Meisterung gemäß den Aufgaben des zu erreichenden und nach wie vor proklamierten gesellschaftlichen Endzieles auf der Grundlage einer Deduktion von Maßnahmen lediglich aus der dogmatisierten Theorie als nicht mehr hinreichend erscheint. Der Zwang der Verhältnisse, unter denen an der utopischen Zukunftsvision einer kommunistischen Gesellschaft festgehalten werden soll, verlangt eine erfahrungswissenschaftliche Analyse dessen, was in der Gesellschaft real der Fall ist. Die Gesellschaft will in dem ernst und zur Kenntnis genommen werden, was sie tatsächlich ist, und zwar nicht nur um ihrer eigenen Effektivität, sondern auch um 189

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der Möglichkeit ihrer dynamischen Integration willen. Wie immer nun die dogmatisierte Ideologie mit ihren traditional bestimmten Ablehnungen jeder erfahrungswissenschaftlichen Soziologie als positivistisch, und damit bürgerlich, die systematische Einordnung solcher Methodik leistet und begründet, bedeutsam ist auch hier wieder die den ideologischen Anspruch treffende Konsequenz. Wo nämlich die Ideologie vermöge ihrer eigenen Postulate über die Gesellschaftsentwicklung konsequent vom Axiom einer Willens- und Verhaltens- bzw. Interessenhomogenität innerhalb der Sowjetgesellschaft ebenso auszugehen hat wie vom Axiom der Einheit von Führungs- und Volkswillen, wenn sie sich selbst nicht Lügen strafen will, da birgt empirische Sozialforschung — bleibt sie ihren methodischen Prinzipien treu — gerade die Tendenz in sich, durch Aufweis der tatsächlichen Differenzierungen in sozialer Lage, Interessengebundenheit, Lebenserwartung, Prestigevorstellung der einzelnen sozialen Gruppen usw. die erwähnten Identitätspostulate ihres ideologischen Charakters zu überführen. Empirische Sozialforschung kann unter den Bedingungen einer traditional-ideologisch durchformten Gesellschaft zu einer gegen die Ideologie sich wendenden Instanz von gesellschaftlicher Aufklärung werden. Das muß nicht geschehen, wie noch zu zeigen ist, aber es bleibt doch festzuhalten: J e mehr um des von der Ideologie vorgezeichneten Endzieles willen die Faktizitäten der Gesellschaft ernst genommen werden wollen, und zwar auch gerade unter Einsatz von erfahrungswissenschaftlichen Methoden der Analyse, um so mehr begibt sich die Ideologie in die Gefahr, nicht nur in einzelnen ihrer Axiome vom Faktischen her Lügen gestraft, sondern vielmehr in der verhüllenden Funktion erkannt und destruiert zu werden, die sie bislang wahrnahm und die ihr ihre Bedeutung im ganzen der politisch-gesellschaftlichen Ordnung garantierte. In jedem Falle kann auch die Etablierung empirischer Soziologie in der Sowjetunion als Indiz für einen Prozeß gewertet werden, der ihrer Entwicklung zur industriegesellschaftlichen Differenzierung 190

Ideologie und Gesellschaft in der UdSSR nach Stalins Tod

und entsprechenden Strukturen korrespondiert und die Ideologie in ihrer politischen Rechtfertigungs- und Stabilisierungsfunktion in erhebliche Schwierigkeiten bringt. Die hier an einigen Beispielen erläuterten Anzeichen für ein Zurücktreten der Funktionen der Ideologie in ihrer dogmatischen Gestalt, die für das Gewinnen einer größeren Ideologiefreiheit einzelner wissenschaftlicher Disziplinen und ihrer rationalen sachorientierten Forschungsmöglichkeit sprechen, haben nun seitens westlicher Beobachter zu Urteilen über die Entwicklung der Sowjetunion in der Nach-Stalin-Ära geführt, die fast alle auf die These eines Entideologisierungsprozesses in der Sowjetunion hinauslaufen. Dabei wird aber in der Regel solche These nicht nur im Sinne der Konstatierung eines beobachtbaren Sachverhaltes ausgesagt, sondern ist zugleich mit einer — sei es offen ausgesprochenen, sei es im einzelnen nicht artikulierten — allgemeinen Theorie der Gesellschaftsentwicklung verbunden. Es ist dies eine Konzeption, wonach Prozesse der gesellschaftlichen Differenzierung bei gleichzeitig zunehmender Konsumorientierung und genereller Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse zur Ausbildung von gesellschaftlichen Verhaltens- und Orientierungsweisen führen, die immer weniger auf Ideologien sich beziehen und schließlich Entideologisierung der Gesellschaft zur Folge haben müssen. Solches Konzept, aufgipfelnd in der These vom Eintritt der Gesellschaft in eine nachideologische Epoche, ist eingestandenermaßen an der Entwicklung westlicher Industriegesellschaften entworfen 5 . Als Indiz für seine Richtigkeit wird mehr oder weniger die Tatsache herangezogen, daß ein konsumorientiertes Verhalten seine materiellen Erwartungen immer zunehmend an der Leistungs- und Funktionsfähigkeit des gesellschaftlichen Systems für das erstrebte Resultat abmißt und immer weniger zur Bindung an Ideologien bereit ist. Auf die Sowjetunion übertragen, scheint sich dieses Konzept in dem gleichen Maße als Entwicklungstendenz zu bestätigen, in dem auch hier mit zunehmender Intensität Erwartungen der Hebung des Wohlstandes, der Sicherung der materiellen Position und dergleichen das 191

Ideologie und Gesellschaft in der UdSSR nach Stalins

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konkrete soziale Verhalten der Individuen und der differenzierten Gruppen bestimmen. Zwar wird man dabei nicht übersehen können und wollen, daß Ansprüche der Ideologie von der zentralen politischen Instanz nach wie vor aufrecht erhalten werden, wonach sie die Sachwalterin des Endzieles der gesellschaftlichen Entwicklung, damit aber auch deren Initiator sei, aber man wird solche Ansprüche doch schon als Rückzugsgefechte der Ideologie und ihrer Funktionäre angesichts einer gesellschaftlichen Entwicklungstendenz zur Entideologisierung deuten. In der Tat scheint manches für solch eine These zu sprechen; zumindest sind ja doch Anpassungen der Ideologie und ihrer Funktion der Herrschaftslegitimierung der Partei an die konsumorientierten Massenwünsche zu konstatieren, wenn etwa die Veränderungen der Sozialstruktur, die zur Erreichung des kommunistischen Endzieles gemäß seinen ideologischen Definitionen als notwendig erscheinen, immer weniger als Aufgaben gezielter politischer Aktionen ausgegeben werden und immer mehr als Konsequenzen oder Resultate einer gesteigerten ökonomischen Produktivität, und wenn diese unter Berufung auf Lenin mehr und mehr zur Aufgabe der Partei erklärt wird 6 . Die Reorganisationen der Partei seit 1962 erweisen sich in diesem Zusammenhang als konsequent; stellen sie doch offenbar den Versuch dar, die Partei stärker als bisher in die Verantwortung für die Produktion zu bringen und von daher in ihren Führungsansprüchen abzusichern. Daß die Partei damit sich selbst in eine potentiell unsichere Position bringt, ist sicher nicht zu bestreiten; macht sie sich doch in ihren Führungs- und Autoritätsansprüchen in einem Höchstmaß von der Effektivität der Produktion abhängig, und setzt sie sich doch damit möglicher Kritik vom Standpunkt der wirtschaftlichen Rationalität dann zunehmend aus, wenn solche Effektivität dem differenzierten Gruppengefüge der Gesellschaft nicht glaubhaft oder sichtbar gemacht werden kann. Birgt also die Bindung der Partei und ihrer ideologischen Legitimierung an das Prinzip effektiver Produktivität für die Partei selbst zweifellos Gefahren in sich, so wird das der These von der Ent192

Ideologie und Gesellscbafl in der UdSSR nach Stalins Tod

ideologisierung der Gesellschaftsprozesse auch in der Sowjetunion einmal mehr zum Indiz für ihre Richtigkeit. Gerade indem man den erwähnten Prozeß der ideologischen Umorientierung der Partei zum Zwecke ihrer Legitimierung als einen solchen der Reaktion auf oder der Anpassung an die Gegebenheiten der industrie- und konsumgesellschaftlichen Interessenstruktur deutet, scheint sich der behauptete Prozeß der Zurückdrängung der Ideologie zu bestätigen. Das aber ist nun die Frage, ob solche These von der Entideologisierung, gerade weil sie diese als gesellschaftlich zwangsläufig postuliert, nicht an Phänomenen der Gesellschaft vorbeisieht, die wohl nur als solche der Reideologisierung zureichend beschrieben werden können. Gemeint ist hiermit nicht nur der Prozeß einer politisch bewußt angezielten „Reideologisierung von oben" in der Sowjetunion, der als Ersatz der Stalinschen „Revolution von oben" heute ebenso beobachtbar ist, und der der Partei die Möglichkeit eröffnen soll, aus der Position der Reaktion auf die Gesellschaft in die Position der Aktion für die Gesellschaft erneut überzugehen. Hiervon wird noch zu reden sein. Gemeint ist vielmehr der Sachverhalt, daß in den Industriegesellschaften, für die der sogenannte Prozeß der Entideologisierung als verbindlich und unhintergehbar ausgesagt wird, dieser offenbar nur systematische gesellschaftsphilosophische Theoreme mit sozial-normativem Anspruch trifft. Insofern, als diese Theoreme einem gesellschaftlich wie auch wissenschaftlich bewirkten Prozeß der Relativierung ausgesetzt waren und sind, insofern als dadurch zugleich der die Wirklichkeit verzerrende Charakter solcher Theoreme und ihre Dienstbarkeit für die Rechtfertigung partieller sozialer Interessen und Gruppen einsichtig werden, hat das in der Tat einen Geltungsabbau zur Folge, der als Funktionsverlust dieser Ideologien gewertet werden kann. Aber das ist eben die Frage, ob solchem Prozeß des Ideologieabbaus ein Prozeß zunehmender Rationalität und Aufklärung der Gesellschaft tatsächlich entspricht, und nur dann hätte die These von der Entideologisierung ihr volles Recht,

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oder ob er nicht durch den Prozeß einer gleichsam untergründigen Ideologisierung der Gesellschaft begleitet ist, der seinen sichtbaren Ausdruck im funktionierenden sozialen Konformismus ebenso findet wie in der Totalität, mit der Bewußtsein und Verhalten der Menschen durch die Medien der Massenkommunikation in Regie genommen werden und sich nehmen lassen. Handelt es sich hier um einen untergründigen Prozeß der Ideologisierung einfach deshalb, weil Techniken, Medien und Institutionen der Gesellschaft vermöge ihrer Wirkungsweise den Menschen um die Chance der bewußten Distanzierung von eben dieser Gesellschaft bringen, weil sich Gesellschaft, so wie sie ist und funktioniert, als unhintergehbare Orientierungsnorm aufdrängt, so wäre zu fragen, ob eine wissenschaftliche Theorie, die diesen Tatbestand lediglich beschreibend analysiert, nicht selber an diesem Prozeß der Ideologisierung der Gesellschaft teil hat 7 . Wenn das Theorem industriegesellschaftlicher Prozesse und deren Entideologisierungsfunktion nur noch oder doch fast ausschließlich in der Lage ist, die Gesellschaft nach dem Modell eines sich artikulierenden und differenzierenden, und darin reibungslos und störungsfrei funktionierenden Systems zu beschreiben, so liegt die Vermutung nahe, daß es vor lauter Entideologisierung der Gesellschaft die Prozesse erneuter, wenn auch anders gearteter Ideologisierung nicht mehr sieht, ja, sie bewußt bestätigt und sanktioniert. Dadurch aber erwiese sich an der These von der Entideologisierung einmal mehr, wie sehr sie den ohnehin stattfindenden Ideologisierungsprozessen der Gesellschaft Unterstützung leiht und sie, indem sie sie wissenschaftlich beschreibt und bestätigt, gleichsam zur Norm der Gesellschaft erhöht. Ihre antiaufklärerische Verhüllungsfunktion wäre aber gerade darin, und zwar entgegen ihrem eigenen Verständnis, offenbar. Können solche Zweifel gegenüber der sozialen Funktion der Theorie der industriegesellschaftlich bewirkten Entideologisierung schon angesichts ihrer Analysen westlicher Gesellschaften nicht unausgesprochen bleiben, so verstärken sie sich bei ihrer 194

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Übertragung auf die Gesellschaftsentwicklung in der Sowjetunion erheblich. Auch hier wird ja der angebliche Entideologisierungsprozeß der Sowjetgesellschaft mit ihrer Entwicklung industriegesellschaftlicher Strukturen fast im Sinne kausal-analytischer Erklärung in Zusammenhang gebracht. Selbst wenn man einmal absieht von der in solcher Analyse sich verbergenden Tendenz, die Gesellschaftsentwicklung in der Sowjetunion nach dem Modell der Annäherung an die westlichen Gesellschaften zu begreifen, und zwar eben vermöge des angeblich ideologiefreien und damit politisch-neutralen Begriffs der Industriegesellschaft, so ist es doch auch hier die Frage, ob damit nicht Phänomene einer untergründigen Ideologisierung verkannt werden, die für die Entwicklungsprozesse der Sowjetgesellschaft doch von erheblicher Bedeutung sind. Wenn nämlich in bezug auf die Sowjetunion davon ausgegangen werden muß, daß ihre Gesellschaftsentwicklung und Differenzierung durch Jahrzehnte hindurch ideologisch-politisch initiiert war und in Griff gehalten wurde, ja, daß sie selbst Resultat eines Prozesses ideologisch gesicherter und begründeter Aktion ist, und zwar mindestens seit Ende der 20er Jahre, also seit dem Beginn der eigentlichen Stalin-Ära, ohne konkurrierende Pluralität in der politischen Auslegung der Ideologie, dann darf doch wohl die Frage nicht ungestellt bleiben, ob und in welchem Ausmaß durch die Ideologie vorgegebene Verhaltens- und Orientierungsschemata so in den Bereich der gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit abgesunken sind und sich dort verfestigt haben, daß sie quasi unreflektiert gesellschaftlich-politische Konformität bewirken und zumindest Dispositionen zu einer Identifikation der persönlichen Bedürfnisse und Interessen mit dem politischen Ganzen der Gesellschaft und seinen Schicksalen bereitstellen. So ist zum Beispiel zu fragen, in welcher Weise die Oktoberrevolution von 1917 als ein so entscheidender Neubeginn der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung in Rußland bewußt und zugleich mit der Deklaration der erreichten sozialistischen Entwicklungsphase im Bewußtsein der Bevölkerung verbunden ist,

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daß eine kritisch distanzierende Reflexion der gesellschaftlichpolitischen Schicksale der Revolution gleichsam außerhalb des Möglichen liegt. Es ist zu fragen, in welcher Weise die Partei als Initiator und Garant dieses erreichten Sozialismus an der selbstverständlich gewordenen Identifikation von siegreicher Oktoberrevolution und etablierter sozialistischer Sowjetgesellschaft partizipiert, sodaß ihr Anspruch, Lenkungsinstanz des Wohls des Ganzen zu sein, von solchen selbstverständlich gewordenen, Konformität beweisenden Dispositionen des Bewußtseins und Verhaltens zu profitieren vermag. Es ist zu fragen, ob nicht die differenzierten materiellen und geistigen Bedürfnisse in der Sowjetgesellschaft, die Konsumerwartungen der Bevölkerung, vor allem aber die Wünsche nach Sicherung der sozialen Position sowie nach Erweiterung der Chancen zu sozialer Mobilität gemäß einem Prinzip der Leistung, so eng und wiederum selbstverständlich an die Faktizitäten der etablierten Sowjetgesellschaft gebunden sich erweisen, daß diese in ihrer Faktizität zugleich als ideologische Norm möglichen Verhaltens funktioniert. Auch gerade hier wäre zu fragen, ob nicht der Wunsch nach sozialer, zukunftsoffener Mobilität und Evolution seine Möglichkeiten an der Stabilität des Bestehenden sich erschließt, damit aber ein konservativer Einschlag, nicht so sehr politischer als vielmehr gesellschaftlicher Intention, dieses untergründig wirkenden ideologischen Engagements unverkennbar ist. Und es wäre schließlich zu fragen, welche Rolle in diesen Zusammenhängen primär gesellschaftlicher und nicht politisch-manipulativer Ideologisierung des Bewußtseins und Verhaltens der Menschen entgegen oder trotz aller Entstalinisierung die sowjetnationalen oder sowjetpatriotischen Axiome der Ideologie nach wie vor als soziale Bindungs-, Disziplinierungs-, Integrationsund Identifikationsmotivationen noch immer spielen und spielen können, gerade weil sie selbstverständlich funktionierende Orientierungsweisen des Bewußtseins breitester Schichten und Gruppen geworden sind. Sicher ist es nicht leicht, diese Fragen eindeutig zu beant196

Ideologie und Gesellschaft in der UdSSR nach Stalins Tod worten, insbesondere was das Problem der Teilhabe der Partei an einem solchen, hier postulierten untergründigen Ideologisierungsprozeß in der Sowjetgesellschaft angeht. So ist es schwer abzuschätzen, inwieweit die gesellschaftlich wie politisch notwendige Zerstörung des Stalinmythos die Unfehlbarkeitsansprüche der Partei so erschüttert hat, daß nicht einmal eine latente Bereitschaft zum Einverständnis mit ihrer Rolle als sozial-politischer Ordnungsinstanz mehr ungebrochen vorausgesetzt werden kann. Ebensowenig kann schon mit Sicherheit ausgemacht werden, welche Rückwirkung das trotz des noch immer aufrechterhaltenen Nachrichten- und Informationsmonopols beobachtbare Bekanntwerden mit sogenannten revisionistischen Positionen im internationalen Kommunismus — etwa Polen und Jugoslawien — haben kann für die hier vermutete ideologische Funktion eines untergründigen gesellschaftlichen Konformismus, auch in Hinsicht auf die Anerkennung der O r d nungsmacht der Partei. Andererseits sind doch Anzeichen für die gesellschaftsstabilisierende und integrierende Funktion des ideologischen K o n f o r mismus und der mit ihm verbundenen sozial-politischen Identifikationsbereitschaft nicht zu übersehen. So richtig nämlich die banale Feststellung auch immer ist, daß der Sputnik nicht wegen, sondern trotz des dialektischen Materialismus hergestellt werden konnte und als erster künstlicher Erdtrabant flog, so richtig ist doch eben auch, daß gerade er immer wieder als Zeichen für die Ü b e r legenheit des sozialistischen Systems und der Effektivität seiner politisch-sozialen Ordnung funktioniert. Das Interessante daran ist j a eben, daß solche system-legitimierende Symbolisierung und Ideologisierung technischer Erfolge nicht erst künstlich durch propagandistische Anstrengung der politischen Führungsinstanz erzeugt werden muß, wiewohl auch das der Fall ist, sondern offenbar als eigenständige F o r m der Identifikation breitester Schichten mit dem Ganzen des gesellschaftlich-politischen Systems funktioniert. Wollte man auch darin — wie ebenso in den Elogen der sowjetischen Astronauten auf die Partei als den M o t o r des 197

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Sozialismus und seiner überlegenen Erfolge — nur die unglaubwürdige Bezeugung äußerer Konformität der Aussage mit einem zur Gepflogenheit abgesunkenen Ritual erblicken, so hieße das denn doch wohl die Bedeutung jener ideologischen Mechanismen unterschätzen, die darin zur Auswirkung gelangen und sich bezeugen. Dafür spricht nidit zuletzt auch ein Sachverhalt, den man mit dem Schlagwort „Goldmedaille und Sozialismus" zutreffend umschreiben kann. Ist der Sport in der modernen Gesellschaft ohnehin schon weitgehend in die Dimension des Ideologischen übergegangen 8 , und zwar vor allem für jene vielen, die ihn nicht aktiv betreiben, sondern für die Sieg oder Niederlage zu Symbolen nationalen Glücks oder Unglücks werden, so erhält der gleiche Sachverhalt bezogen auf die Sowjetunion dadurch einen besonderen Akzent, daß wiederum vom sportlichen Erfolg her die etablierte sozialistische Gesellschaft ihre Bestätigung als Vermittlungsinstanz geschichtlicher Größe und Mission erfährt, was in dieser oder jener Weise auf die Ansprüche der Partei zurückschlagen muß. Das aber legt zumindest die Vermutung nahe, daß beobachtbare Faktoren einer partiellen Begrenzung der Wirkungsweise ideologischer Zwänge auf sehr handfesten Phänomen eines gesellschaftlich-politischen Konformismus aufruhen, der seinerseits seine Herkunft aus und seine innere Verbundenheit mit der Ideologie nicht verbergen kann und selbst als Instanz ideologischer Identifikation funktioniert. Der hier bewußt in die Form von Fragen und Annahmen gekleidete Verweis auf einen als Ideologisierungsinstanz wirkenden gesellschaftlich-politischen Konformismus in der Sowjetunion, der mit den Sekuritätsinteressen der differenzierten gesellschaftlichen Gruppen ebenso zusammenhängt wie mit tradierten Schematismen der Ideologie, obwohl er gleichsam unterhalb der Zwänge ihrer systematisierten Gestalt als Stabilisierungsfaktor des gesellschaftlichen Systems wirkt, erfolgt hier nicht mit dem Ziel, mit veränderten Vorzeichen die Parallelisierung der Gesellschaftsentwicklung in Ost und West, von der j a die Theorie 198

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der Entideologisierung weitgehend ausgeht, um einen Aspekt zu bereichern und damit auf die Spitze zu treiben. So sehr ein solches Analogiedenken auch hinter unseren Bemerkungen stekken mag, sie zielen auf etwas anderes ab, was in besonderer Weise das Verhältnis von Ideologie und Gesellschaft zu kennzeichnen scheint: nämlich die Dialektik von Entideologisierung von unten und Reideologisierung von oben. Um es noch einmal zu betonen: es wird hier nicht der gemeinhin als Entideologisierung beschriebene Prozeß in der Sowjetunion bestritten, der dem Tatbestand Rechnung zu tragen sucht, daß die systematisch entfaltete und begründete Ideologie des dialektischen und historischen Materialismus nicht mehr oder doch immer weniger die Triebkraft für das konkrete soziale und politische Verhalten der Individuen und Gruppen der differenzierten Sowjetgesellschaft ist. Es ist aber zu bedenken, daß diesem aus der Dynamik der Gesellschaft sich ergebenden Prozeß Aktionen zur Reideologisierung von oben entgegenzuwirken versuchen, deren die Partei zur Selbstrechtfertigung bedürftig ist. Weil die Herrschaft der Partei nur aus der Ideologie begründbar ist — und Lenins Leistung bestand ja gerade darin, die Erfüllung der revolutionären Utopie von der Durchsetzung und Sicherung einer als Avantgarde des sozialen Fortschritts ausgegebenen Parteiherrschaft abhängig zu machen9 —, kann die Partei auf den Anspruch der Verbindlichkeit der Ideologie nidit verzichten und ebenso nicht darauf, diesen Anspruch realpolitisch durchzusetzen. Die Ideologie muß, es sei denn um den Preis der Selbstaufgabe der Partei, die Antriebskraft ihrer sozial-politischen Aktionen und Orientierungen bleiben. Mag immer dabei die Partei in die Reaktion auf Faktoren der realen gesellschaftlichen Prozesse gedrängt sein und nach Wegen der Anpassung an sie suchen, sie kann nicht darauf verzichten, der Ideologie ihre aktiv gestaltende und gesellschaftsdynamisierende Funktion zurückzuerobern. Und sie hat bisher auf solche Versuche auch nicht verzichtet. Daher das intensive Bemühen um eine Belebung des ideologischen Interesses durch Propagierung der Ideologie in neuen Lehrbüchern oder 199

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durch ihre Kodifizierung als Parteiprogramm, daher das Bemühen, sie als Mittel der sozialen Disziplinierung — sei es direkt, sei es auf dem Umweg über die Kontrolle und Steuerung des Kulturlebens — verstärkt einzusetzen, daher die rigorose Ablehnung ideologischer Koexistenz. Je weniger nun um der Effektivität des gesellschaftlich-politischen Systems und der Logik der industriellen Produktion willen der Terror als Mittel der Erzeugung ideologischer Konformität für solche Reideologisierung von oben noch eingesetzt werden kann, um so mehr und dringlicher stellt sich die Frage nach ihren realgesellschaftlichen Chancen. Der Verweis auf den latenten, aber wirksamen ideologischen Konformismus könnte auf diese Frage eine Antwort ermöglichen oder zumindest eine Richtung angeben, in der sie zu sudien ist. Die realgesellschaftliche Chance einer Reideologisierung von oben wäre dann nämlich äußerst gering, wenn dem sogenannten Entideologisierungsprozeß von unten ein Prozeß radikaler Selbstaufklärung der Gesellschaft über ihre eigenen Antagonismen korrespondierte. Das heißt aber vor allem, wenn die gesellschaftlichen Prozesse, die zur Zurückdrängung ideologischer Zwänge führen, eine radikalkritische Rationalität in der Gesellschaft freisetzten, die das Ganze der Gesellschaft anzielt und ihr Kriterium im Ernstnehmen des revolutionären Ursprungs vermöge der Konfrontation von Idee und Realität oder Faktizität der Gesellschaft findet. Auf diese oder jene Weise müßte solche radikalkritische Rationalität auf die Impulse Marx'schen Denkens, auf die Problematik von Entfremdung und Selbstentfremdung des Menschen in der Gesellschaft und ihrer revolutionären Aufhebung zurückgreifen. Konkret hieße das von allem, daß sich radikalkritische Rationalität in der Reflexion und möglichst ideologiefreien Aneignung der Entwicklung der eigenen Gesellschaft und ihrer revolutionären Verpflichtung bewährt. Nun ist nicht zu bestreiten, daß die Ideologie des sogenannten Marxismus-Leninismus selbst in ihrer dogmatisierten Gestalt Elemente zur Freisetzung solcher radikalkritischen gesellschafts200

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revolutionären Rationalität unabdingbar in sich birgt. Kolakowski hat mit Nachdruck darauf hingewiesen 10 , indem er davon sprach, daß der zum Instrument der Herrschaft abgesunkenen institutionalisierten Ideologie der Geist eines ihr fremden Gottes innewohnt. E r meint damit den radikalkritischen, aufklärerischen Impuls Marx'schen Denkens, der das Konzept eines wissenschaftlichen Sozialismus ebenso begründet wie die Aufgabe und Effizienz einer die Verhüllungs- und Verblendungsfunktion der Ideologie entlarvenden revolutionären Kritik. Gerade indem sich die institutionalisierte Ideologie darauf beruft, Wissenschaft zu sein, trägt sie ihren eigenen Gegensatz auch dann in sich, wenn er zur bloßen Fassade politischer Manipulation des Geistes verblaßt ist. So sehr nun Kolakowski von diesem Ansatz aus in scharfsinniger Analyse den immanenten Widerspruch der Sowjetideologie bloßlegt, um Raum zu gewinnen für die Entfaltung eines dem institutionalisierten Marxismus entgegenwirkenden intellektuellen Marxismus, so wenig kümmert er sich um die realpolitischen und realgesellschaftlichen Bedingungen, die die Institutionalisierung bewirkt haben, und so wenig stellt er sich vor allem die Frage, welche realgesellschaftlichen Prozesse die Bedingungen für den Abbau institutionalisierter Ideologie abgeben könnten. Gerade das aber ist die entscheidende Frage, die erörtert werden muß, wenn Tendenzen der Zurückdrängung der institutionalisierten Ideologie in der Sowjetunion beobachtet werden können und beurteilt werden sollen. Diese Frage aber ist — so scheint mir — nicht zureichend gestellt, wenn nicht das schon mehrfach erwähnte System eines ideologischen Konformismus als einer realgesellschaftlichen Kraft und Möglichkeit bedacht wird. Wenn nämlich als ein solcher ideologisch funktionierender Konformismus nicht nur der Sowjetpatriotismus mit seinen nationalistischen Implikationen angesehen wird, sondern auch und gerade — wie schon angedeutet — die Bindung der Evolutions-, Mobilitäts- und Sekuritätswünsche der differenzierten Gruppen an das etablierte politisch-gesellschaftliche System des

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sogenannten erreichten Sozialismus, sodaß dieses als unhintergehbare Realbedingung für die mögliche Erfüllung dieser Wünsche akzeptiert wird, dann könnte die Partei mit ihren Bestrebungen einer Reideologisierung von oben gerade hier auf Dispositionen in den gesellschaftlichen Gruppen treffen, die die Chance ihres Erfolges vermehren. Ist nämlich als Absicht solcher Reideologisierung von oben die Tendenz erkennbar, die Stabilität des politisch-gesellschaftlichen Herrschaftssystems zu erhöhen, ohne seine notwendige kontinuierliche Evolution zu begrenzen oder zu hemmen, so würde solche Absicht in der Funktion des erwähnten Konformismus nur seine Entsprechung finden, nämlich Evolution und Sekurität durch Stabilität des Erreichten und Bestehenden zu garantieren. Die Partei könnte um so eher die Legitimität ihrer politischen Führungs- und gesellschaftlichen Lenkungs- und Kontrollfunktion gegen unliebsame Störungselemente absichern, je mehr und intensiver sie sich mit den konformistischen Verhaltensweisen in der Gesellschaft und ihrer Orientierung an Stabilität, Evolution und Sekurität zu verbinden weiß. Beidem, der Partei wie dem gesellschaftlichen Konformismus, müßte ja das hartnäckige Erinnern an das Vergessen oder die Nichteinlösung des Versprechens, das im revolutionären Ursprung der Gesellschaft enthalten war und ist, als Störungselement in dem gradlinigen Prozeß des Fortschritts sich darstellen; eines Fortschritts, dessen Ziel dann freilich kaum noch in etwas anderem gesehen werden kann, als in dem reibungslosen und störungsfreien Funktionieren des gesellschaftlich-politischen Systems zum Zwecke der Befriedigung der Bedürfnisse der differenzierten Gruppen bei Gewährleistung einer relativ offenen Mobilität innerhalb des hierarchischen Leistungsgefüges dieser gesellschaftlichen Gruppen. Noch einmal sei betont, daß ein solcher Prozeß der Akkompagnierung von Partei und gesellschaftlichem Konformismus in einem Gesellschaftsgefüge sich nicht bruchlos und ohne innere Widerstände vollziehen kann, das seit seinem Bestehen auf eine Theorie sich berufen hat, die das radikalkritische, das Ganze der 202

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Gesellschaft anzielende, utopisch-revolutionäre Element des Gedankens als Konstituens in sich birgt, und es hängt offenbar mit dieser aufklärerisch-revolutionären Tradition der Ideologie und ihrer gesellschaftlichen Ansprüche zusammen, wenn gerade in der jungen literarischen und dramatischen Intelligenz der Sowjetunion immer wieder die Absicht durchbricht, die bestehende Gesellschaft an ihrer Idee kritisch zu messen und dadurch eine Rechtfertigung für dieses Vorgehen zu erlangen, daß man sich selbst in eine verpflichtende Kontinuität zur Generation oder Garde der alten Revolutionäre bringt 11 . Wegen der Gefährlichkeit solcher Tendenzen stoßen freilich gerade sie auf Bemühungen um eine Verstärkung des ideologischen Drucks, die ja in bezug auf die Kunst und insbesondere die Literatur deutlicher und nachhaltiger sind als für andere Bereiche des geistigen Lebens, etwa die Wissenschaft. Der Erfolg solcher Bemühungen hängt sicher zu einem erheblichen Teil davon ab, inwieweit es gelingen kann, die junge, radikalkritische Intelligenz und ihr hartnäckiges Erinnern an das uneingelöste revolutionäre Versprechen in die Position des gesellschaftlich-politischen Außenseiters zu bringen und sie als Störungselement des sozialen und nationalen Fortschritts in der öffentlichen Meinung zu verdächtigen. Aussagen über die Chancen solcher Bemühungen auf lange Sicht sind heute kaum schon zu machen; festzustellen ist lediglich, daß die Argumente zur ideologischen Kontrolle dieser Bereiche des Kulturlebens und seiner Träger in die angedeutete Richtung zielen 12 . Das aber beweist nur einmal mehr, daß die Partei mit ihren Reideologisierungstendenzen auf den angedeuteten gesellschaftlich-politischen, ideologischen Konformismus spekuliert. J e mehr solche Spekulation aufgehen sollte — und auch darüber ist kaum definitiv zu entscheiden —, um so deutlicher würden dann freilich auch die Konsequenzen und Möglichkeiten dessen, was zunächst als Indiz für die Zurückdrängung der Bedeutung und Funktion der Ideologie angegeben wurde 203

Ideologie und Gesellschaft in der UdSSR nach Stalins Tod und was der Theorie von der Entideologisierung immer wieder als Stütze dient. Als Konsequenz erwiese sich, daß die dogmatisierte Ideologie als Inbegriff einer systematischen, einheitlichen und zugleich axiomatisch-differenzierten Aussage über Wesen, Gesetzlichkeit und Ziel von Welt, Mensch und Geschichte immer mehr in ihrer Funktion der unmittelbaren Anleitung zum permanent revolutionären politischen Handeln nach innen und außen zurücktreten könnte zugunsten einer Funktion der sozialen Disziplinierung und politischen Integrierung der Gesellschaft nach Maßgabe der in ihr selbst bereitliegenden konformistischen Erwartungen und Wünsche der differenzierten Gruppen. Durch Anpassung der Ideologie das in den Griff zu bekommen und politisch als Aktivierungs- und Stabilisierungsfaktor einsetzen zu können, an das man sich anpaßt, wäre erstrebtes Resultat eines Funktionswandels der Ideologie. Sie könnte damit in sich weite Disziplinen von einer unmittelbaren dogmatischen Bevormundung freisetzen zu selbstverantwortlicher und sachorientierter Reflexion ihrer Probleme. Freilich wäre die Grenze solcher Freisetzung zugleich bestimmt. Sie läge dort, wo sachorientierte Reflexion von Spezialproblemen an Grundsätze der Ideologie heranzuführen und diese in Frage zu stellen vermöchte, ohne die die Ideologie auch angesichts des erwähnten Funktionswandels ihre Leistung der Gesellschafts- und Herrschaftskonsolidierung bei gleichzeitiger Evolutionierung nicht zu vollbringen vermag. Es scheint geboten, die zunächst als Beispiele für den Entideologisierungsprozeß herangezogenen Disziplinen des dialektischen und historischen Materialismus daraufhin zu befragen, ob und in welcher Weise es der Ideologie gelungen ist, die angegebene Grenze möglicher Freisetzung des Gedankens von ideologischem Druck einzuhalten. Was den dialektischen Materialismus angeht, so sei hier nur daran erinnert, wie sehr vermöge einer Differenzierung und Abgrenzung der Begriffe Philosophie und Ideologie 13 versucht wird, einmal der philosophischen Fach- und Spezialforschung 204

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den notwendigen Entfaltungsraum zu gewähren und zugleich die propagandistische Funktion der Theorie als verbindlicher Weltanschauung aufredit zu erhalten. Es wird damit nicht nur ein Ausgleich zwischen der politischen Erziehungsfunktion der Theorie für das Bewußtsein der Massen einerseits und der sich spezialisierenden philosophischen Grundlagenforschung andererseits angestrebt, es wird damit zugleich versucht, die allgemeinsten Prinzipien der Theorie, etwa Determinismus, Atheismus, Dynamismus, um ihrer nach wie vor betonten politisch-gesellsdiaftlichen Implikationen willen gegenüber möglichen Einbrüchen seitens der philosophischen Spezialforschung abzusichern. Audi hier also scheint das Bemühen um Grenzziehung und Sicherung der gesellschaftspolitisch gezielten Ideologie bei gleichzeitiger Freisetzung notwendiger Spezialforsdiung von ideologisch-dogmatischer Bevormundung vorzuherrschen und die Situation zu bestimmen. Wäre schon hierin eine Bestätigung für die These zu erblicken, daß es sich für die Ideologie und die sie verwaltende gesellschaftlich-politische Instanz, die Partei, vor allem darum handeln muß, die Grenze zu bestimmen und auf deren Einhaltung zu drängen, an der relativ ideologiefreie, sachoriente Philosophie nidit in radikal-kritische Gesellschaftsreflexion und Ideologieenthüllung umschlagen darf, wäre also als Indiz für die Situation der Philosophie in der Sowjetgesellschaft der Nach-Stalin-Ära anzugeben, daß sie ihre relative Befreiung vom Druck ideologischer Dogmatik in der konkreten Forschung um den Preis einer gesellschaftspolitischen Neutralisierung, j a Kastration möglicher ideologiekritischer Impulse erkauft und erkaufen muß, so scheint etwas anderes für den angedeuteten Zusammenhang von Entideologisierung, Reideologisierung und gesellschaftlichem K o n formismus viel bedeutsamer, nämlich die Wiederaufnahme des Prinzips der Negation der Negation als Grundgesetz der Dialektik in die offiziellen und darin populären Darstellungen der Theorie durch die neuen Lehrbücher 14 . Die Diskussion um den revolutionären oder konservativen 205

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Charakter dieses Grundgesetzes ist so alt wie die Diskussion um die Dialektik selber. Wie immer es jedoch damit bestellt sein mag, unbestritten ist, daß mit der Verurteilung dieses Prinzips und seiner zentralen Stellung in der Deborinschen Philosophie 15 Stalin es als antirevolutionäres Element aus der Dialektik verbannt hatte, und zwar unter Hinweis auf die Vorrangigkeit des Kampfes der Gegensätze gegenüber ihrer Vermittlung oder Versöhnung. Bei Stalin selber hing das zweifellos mit seiner These von der Verschärfung des Klassenkampfes zusammen. Insofern als nun mit der Verurteilung Stalins auch gerade diese These aufgegeben wurde, war Raum gewonnen für die Wiederaufnahme der Negation der Negation. Dennoch wäre es falsch, gerade im Prinzip der Negation der Negation und seiner Aufnahme als dogmatischen Bestandteil in die Theorie eine entschiedene, als Bruch zu deutende Abweichung von Stalin zu sehen. So nämlich, wie die Negation der Negation heute in den Lehrbüchern gedeutet wird, nämlich als universales Gesetz mit harmonisierendem, integrierendem und evolutionärem Charakter 16 , hat Stalin ihm gerade in seiner Sprachwissenschaftsarbeit 17 im Grunde schon den Weg bereitet. Als ein Kerngedanke dieser Schrift Stalins darf j a doch wohl gelten, daß er das Theorem des Widerspruchs als Antriebskraft der gesellschaftlichen E n t wicklung seiner revolutionären Implikationen zu entkleiden und evolutionär zu deuten versuchte, und zwar vermöge der These von der nationalen Einheit ebenso wie vermöge der These einer Revolution von oben. Es handelte sich für ihn also darum, Spannungen bzw. Konflikte in der sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft, da sie faktisch wirklich sind, auch ideologisch als möglich anzuerkennen, aber so anzuerkennen, daß sie die Stabilität des politisch-gesellschaftlichen Gefüges in seiner erreichten Gestalt nicht gefährden, sondern evolutionär sichern. Schon bei Stalin kann beobachtet werden, wie stark unter variierter Beibehaltung der ideologisch geprägten revolutionären Terminologie sozialer Konflikt als Faktor von Evolution und Stabilisie-

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rung des bestehenden gesellschaftlich-politischen Systems anerkannt werden soll. Genau diese Tendenz setzt nun das Prinzip der Negation der Negation fort. Als Gesetz der harmonisierenden und integrierenden Vermittlung von Widersprüchen bestimmt, interpretiert es die bestehende Sowjetgesellschaft als eine solche, in der der soziale Konflikt Dynamik begründet, neue Entwicklungselemente produziert, sie aber zugleich kontinuierlich an das bestehende Gesellschaftsgefüge bindet, und demzufolge dessen Stabilität und Funktionssicherheit garantiert und stärkt. D i f ferenzierung und Integration, Konflikt, Stabilität und K o n t i nuität stehen auf diese Weise als Orientierungsmodell hinter Stalins Thesen ebenso wie hinter dem Gesetz der Negation der Negation. Beide ideologischen Axiome offenbaren damit ihren gegenrevolutionären Aspekt und sind im Sinne der Korrespondenz auf die Gegebenheiten der bestehenden nachrevolutionären Sowjetgesellschaft zugeschnitten. Wie es sich für diese darum handeln muß, das erreichte, differenzierte, politisch-gesellschaftliche Leistungsgefüge als unhintergehbare Basis möglichen Sozialprogresses zu sidiern und zugleich den Progreß selbst zu garantieren, also Stabilität und Evolution miteinander in Beziehung zu bringen und wechselseitig auseinander zu begründen, so geben die erwähnten ideologischen Axiome eben dieser Tendenz theoretisch Ausdruck. Insofern, als in ihnen der nichtantagonistische Widerspruch als Motor progressiv-evolutionärer Entwicklung anerkannt wird, könnte in beiden Thesen der Ansatz zu einer soziologischen Theorie des Konflikts in einer relativ offenen, dynamischen, nicht mehr nur von Terror und Zwang beherrschten Gesellschaft gesehen werden 18 . Insofern jedoch, als dabei der Aspekt des Konfliktes die Anerkennung jedweder sozialen-Antagonismen eindeutig ausschließt und seinen Orientierungsmaßstab allein am Modell eines harmonischevolutionären, störungsfrei funktionierenden Gesellschaftssystems findet, sichert dieses theoretische Konzept die bestehende Sowjetgesellschaft gerade gegen revolutionäre Einbrüche ab.

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Obwohl ihm erkenntnisersdiließende Intention nicht bestritten werden kann, funktioniert es damit jedoch hintergründig zweifellos als ideologisches Element, denn je mehr es sich als Orientierungsschema des Gesellschaftsbewußtseins durchzusetzen vermag, um so weniger wird es möglich, die bestehende Sowjetgesellschaft an ihrem revolutionären Ursprung zu messen und das uneingelöste revolutionär-utopische Versprechen als Maßstab radikal-revolutionärer Kritik gegen das bestehende politischsoziale Gefüge in Anschlag zu bringen. Das aber bedeutet wie es scheint doch folgendes: gerade in der Ausklammerung revolutionärer Entwicklungsmöglichkeiten für die Sowjetgesellschaft durch das harmonistisdi-evolutionär gedachte Prinzip der Negation der Negation nimmt die Ideologie an jenem zuvor erwähnten gesellschaftlich-politischen Konformismus teil und stärkt ihn, indem sie ihm theoretischen Ausdruck verleiht. Es ist dies ein theoretisch profilierter Konformismus, der nidit unkritisch funktioniert und blindes Totalengagement bedeutet, sondern Kritik im Rahmen der bestehenden Gesellschaft ermöglicht, sie aber zugleich auf das störungsfreie Funktionieren eben dieser Gesellschaft als Maßstab festlegt. Das Ganze der Gesellschaft kann kritisch durch Konfrontation von Idee und Realität nidit angegangen werden, eben darin offenbart sich nicht zuletzt, wie sehr sich die Ideologie als Instrument des gesellschaftlichen Konformismus den Bedingungen der Gesellschaft fügt und sie zugleich in den Griff zu nehmen trachtet. Bei Stalin stand dabei noch immer die Tendenz im Vordergrund, für solchen Konformismus und seine Stärkung die Partei in die unmittelbare Verantwortung zu bringen. Gegenwärtig ist solche Absicht nur mehr vermittelt sichtbar, etwa wenn von einer wachsenden Rolle der Partei in der Ubergangsphase vom Sozialismus zum Kommunismus gesprochen wird 19 . Der erwähnte gesellschaftliche Konformismus soll nicht dem freien Funktionieren im Spiel der sozialen und politischen Kräfte überlassen bleiben, sondern wird nicht zuletzt vermöge der ideologischen Profilierung an das hierarchische Institutionsgefüge der 208

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Gesellschaft mit der zentralen Stellung der Partei gebunden. Gerade dies jedoch beweist, wie sich die Partei durch Wandlung der Ideologie unter Anerkennung der veränderten Sozialsituation als Initiativkraft für deren Progreß verstärkt zu behaupten weiß. Ähnliche Schlußfolgerungen sind möglich, ja, drängen sidi auf, wenn die Art und Weise beachtet wird, in der die empirische Sozialforschung ihre Eingliederung in das Lehrgebäude der Theorie findet. Hier ist nicht so sehr die Argumentationsweise interessant, mit der diese Eingliederung von empirisch-soziologischen Forschungsmethoden, die traditional mit positivistischen Positionen zusammenhängen, in ein gesellschafts-theoretisches Konzept begründet wird, zu dem es ebenso traditional gehört, den Positivismus bzw. sozialpositive Forschungsmethodik als ideologisches Instrument der Rechtfertigung und Verschleierung von antagonistischen Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft zu verdächtigen 20 . Diese im Grunde wissenschaftslogische bzw. wissenschaftstheoretische Problematik ist für den hier behandelten Zusammenhang einfach deshalb von relativ geringem Interesse, weil sie als solche in der Sowjetunion kaum befriedigend diskutiert wird 21 . Wo sich das wissenschaftstheoretische Problem dahin zuspitzen müßte, das Verhältnis marxistischer Soziologie zu empirischer Forschungsmethodik prinzipiell zu reflektieren, und wo solche Reflexion entweder die marxistische Gesellschaftstheorie als radikal-kritische bekennen und demzufolge auch die soziologische Empirie als kritisch-aufklärerische Instanz in der Gesellschaft freisetzen, oder aber marxistische Gesellschaftstheorie auf einen soziologischen Positivismus reduzieren müßte, da überspielt die Sowjetideologie die sich hierin verbergende Problematik oft durch ein schlichtes, ideologisch-dogmatisches D i k tum, nämlich: empirische Soziologie sei ideologisches Element nur in der kapitalistischen Gesellschaft; unter den Bedingungen der sozialistischen Gesellschaft verliere sie automatisch diesen Charakter und entfalte sich als ideologisch-neutrale Methodik

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konkreter Tatsachenanalyse. Einmal mehr bestätigt sich darin, wie sehr empirische Sozialforschung auf den Status quo der Sowjetgesellschaft festgelegt ist. Gerade das aber verdient Beachtung. Soweit die publizierten empirischen Forschungsprogramme der sowjetischen Soziologen schon eine Aussage gestatten, sind sie daran orientiert, die sowjetische Gesellschaft entgegen bisher üblichen ideologisch geprägten Deduktionen über die Homogenität und Identität des Sozialgefüges gerade in ihrer differenzierten Struktur zur Kenntnis zu bringen und dabei die Ursachen für jene faktischen Konfliktsituationen freizulegen, von denen etwa im Bereich der sowjetischen Ethik gesprochen wird, nämlich: Konflikt zwischen persönlichem Interesse und Interesse der Persönlichkeit, zwischen persönlicher Freiheit und Freiheit der Gesellschaft, zwischen individuellem Bedürfnis und gesellschaftlicher Notwendigkeit usf.22 Audi dabei aber erfolgt die Analyse solcher Konflikte und ihrer Ursachen stets, jedenfalls was die Aufgabenstellung angeht, unter einem gleichsam doppelten Aspekt, nämlich: wie können solche Konfliktsituationen als Störungsfaktoren des sozialen Fortschritts — sei es durch administrative Maßnahmen, sei es durch Selbstregulierungsmechanismen der einzelnen gesellschaftlichen Kollektive — beseitigt werden; oder aber: wie können beobachtete Phänomene der persönlichen, materiellen Interessiertheit des Sowjetbürgers als Instanzen oder Triebkräfte des sozialen Wandels und des kontinuierlichen Aufbaus aktiviert und kanalisiert werden? Zusammengebunden sind beide Aspekte durch die grundsätzlich nicht in Frage gestellte These vom stattfindenden Übergang der Sowjetgesellschaft in ihre kommunistische Endphase, für deren Erreichen die bestehende Sozialordnung als conditio sine qua non erscheint. Damit aber reduziert sich die Funktion der empirischen Sozialforschung im Grunde darauf, positives Wissen von der faktischen Gesellschaft bereitzustellen, das für deren sozialen Progreß konstruktiv verwendet werden kann. Der Erwerb solchen positiven Gesellschaftswissens erweist sich damit aber als

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am gesellschaftstheoretischen Modell von Stabilisierung und kontinuierlicher Evolution des Bestehenden orientiert. Mag immer vermöge der empirischen Sozialforschung das sowjetische Gesellschaftsbewußtsein seinen eigenen sozialstrukturellen Gegebenheiten gegenüber offener werden als bisher, die empirische Sozialforschung selber erweist sich in ihrer Funktion als Stützungselement jenes ideologisch-gesellschaftlichen Konformismus, von dem hier ausgegangen wurde und dessen Kennzeichen — wie es scheint — eben darin besteht, die tatsächliche Gesellschaft nicht mehr an ihrem eigenen revolutionären Ursprung und Versprechen kritisch abmessen zu können, sondern selbst dann in dem normativ zu bestätigen, was sie ist, wenn ihr die Evolution auf einen proklamierten Endzustand hin zuerkannt bleibt. Gerade die utopische Vision büßt auf solche Weise ihre mögliche revolutionäre Dimension ein. H a t aber das Ausgeführte ein gewisses Recht für sich, dann ergeben sich daraus methodische Konsequenzen für eine kritische Analyse der Sowjetideologie heute. Es scheint nicht mehr möglich, alles was im Umkreis von dialektischem und historischem Materialismus geschieht, einfach und unmittelbar als Variation der Ideologie, d. h. des herrschaftssichernden und politisch aktivierenden Instrumentes einer totalitären Partei abzutun und zu diskreditieren. Man würde sich mit solchem Vorgehen und solcher Interpretation die Einsicht in die unendliche Fülle dessen versperren, was in der Sowjetunion heute im Umkreis des dialektischen und historischen Materialismus an konkreter Sachanalyse geschieht. Ebenso wenig scheint es möglich, bei der Erfassung und Erklärung von differenzierten Vorgängen und Diskussionen innerhalb der Sowjettheorie eine ideologiekritische Funktionsanalyse einfach auszuschalten, ohne daß man damit den Blick für den Zusammenhang von Ideologie und Gesellschaft verliert, der nach wie vor besteht. Freilich kann dabei Ideologiekritik nicht mehr ungebrochen in der Art durchgehalten werden, wie sie in der am Stalinschen System orientierten Totalitarismusforschung*' 14*

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Ideologie

und Gesellschaft in der UdSSR nach Stalins Tod

üblich war. Weil diese Ideologie nur und ausschließlich als Herrschaftsinstrument bestimmte, orientierte sich Ideologiekritik vorab am Problem von Ideologie und Politik. Solche Sichtweise hat auch heute noch in Grenzen sicher ihr Recht, kann doch das Element der Herrschaft, der Herrschaftssicherung, der Herrschaftskonsolidierung in seiner Bedeutung auch heute nicht verkannt werden. Insofern jedoch, als Herrschaft und damit Politik heute in der Sowjetunion an eine differenzierte Gesellschaft sich verwiesen findet, die sie selbst hervorgebracht hat und die eigenen Gesetzen der Entwicklung folgt, denen audi die Politik Rechnung zu tragen hat, muß der ideologiekritische Aspekt sich wandeln und sein Thema zunehmend an der Problematik von Ideologie und Gesellschaft finden. Nur so werden Phänomene konformistischer Selbstideologisierung der Sowjetgesellschaft erfaßt werden können, und nur wenn sie erfaßt und in Rechnung gestellt sind, wird auch die politische Dimension im Funktionswandel und in der Differenzierung der Ideologie eine sachgerechte Interpretation finden, die sich nidit vorschnell am Theorem universeller Entideologisierungstendenzen der Moderne orientiert und beruhigt und damit selber zur Instanz ideologischer Verblendung des analytischen Geistes führt.

Totalitarismus Aspekte eines Begriffs

Mit einer gewissen Selbstverständlichkeit sucht das politische Bewußtsein der Gegenwart die weltpolitische Ost-West-Spannung in ihren mannigfachen Dimensionen als Auseinandersetzung zwischen totalitärer Diktatur und freiheitlicher- pluralistisch-rechtsstaatlicher Demokratie auf den Begriff zu bringen. Die Begriffspolarität, die darin zur Anwendung gelangt, hat jedoch das Eigentümliche an sich, daß die gemeinte spezifische Differenz der Herrschaftssysteme nicht primär in den verwendeten Substantiven zum Ausdruck gelangt: Diktatur und Demokratie, sondern in den angebotenen Adjektiven: totalitär und freiheitlich-rechtsstaatlidi-pluralistisch. Das aber legt zumindest die Vermutung nahe, daß der Begriff Demokratie, als solcher und allein genommen, entweder zu unbestimmt oder aber historisch-politisch zu abgenutzt ist, um die gemeinte spezifische Differenz anzugeben. Und so zutreffend nun diese Vermutung ist — worauf noch ausführlicher Bezug genommen werden muß —, die Unzulänglichkeit des isoliert genommenen und nicht näher präzisierten Demokratiebegriffes für eine politische Bewußtseinsorientierung im weltgeschichtlichen Gegenwartskonflikt ist nicht ohne inneren Bezug zu den politisch-ideologischen Ansprüchen jener Systeme, die als totalitär gelten. Die verbreitete Selbstverständlichkeit der Verwendung des Begriffes Totalitarismus täuscht jedoch nur allzu leicht über diesen Bezug hinweg und ist eher geeignet, die innere Problematik zu verdecken als zu erhellen, die diesem Begriff seit eh und je innewohnt; seit jener Zeit, da er sich in politischer Wissenschaft, Soziologie und Philosophie ausformte und konstitutive Bedeutung gewann 1 . 213

Totalitarismus

Audi für den Totalitarismusbegriff gilt: Grundbegriffe einer politischen Bewußtseinsbildung und -Orientierung, wie sie in einer Zeit gelten, sind stets erneut kritisch zu reflektieren, um nicht blind Vorstellungen zu verfallen, mit denen sich solche Begriffe in dem gleichen Maße anreichern können, in dem sie selbstverständlich werden, und die gerade dadurch oft eher verklärend als erklärend zu wirken geeignet sind. So, wie der Begriff Totalitarismus heute als Kern einer politischen und geistigen Auseinandersetzung mit der kommunistischen Welt sich eingebürgert hat, ist er begriffsgeschichtlich primär nicht am kommunistischen, sondern am nationalsozialistischen Herrschaftssystem orientiert. So, wie sich der Begriff jedoch primär am Nationalsozialismus orientierte, war er vorab als kritischer und negativ wertender Gegenbegriff gemeint, gezielt gegen jenen Grundbegriff nationalsozialistischen Selbstverständnisses, der von einigen seiner ideologischen Wegbereiter wie Carl Schmitt, Ernst Forsthoff, Hans Frey er bereitgestellt war: den Begriff des totalen Staates 2 . Was der Begriff des totalen Staates programmatisch aussprach, daß nämlich durch ein Totalwerden des Staates über die Gesellschaft bei gleichzeitiger revolutionärer Überwindung von gesellschaftlichem Pluralismus und seinen politischen Ausdrucksformen, Parteien, Parlament und Gewaltenteilung, auf der Basis von sogenannter Volksgemeinschaft die Antagonismen und Probleme der modernen bürgerlichen Industrie-, Klassen- und Konkurrenzgesellschaft gelöst werden könnten mit dem Ziel dessen, was man totale Demokratie nannte; was auf diese Weise im Begriff des totalen Staates positiv gewertet und angezielt wurde, das gerade sollte im Begriff des Totalitarismus als ein der Kritik und negativen Bewertung ebenso würdiger wie bedürftiger Anspruch festgehalten werden, und zwar im Namen einer auf die Ideen von Freiheit und Gleichheit eingeschworenen Demokratie, die sich gerade als nicht-totale verstand und zu verteidigen verpflichtet wußte. Der skizzierte Sachverhalt ist nicht ohne Belang auch für die heutige Verwendung des Begriffes, ist doch auch heute in der 214

Totalitarismus

Auseinandersetzung mit der kommunistischen Welt dieser kritisch-negativ wertende Charakter festgehalten. Martin Drath etwa hat diesen Sachverhalt offen bekannt, wenn er sagt: „Das Wort Totalitarismus drückt oft mehr eine Wertung des so charakterisierten Systems aus als eine zusammenfassende Feststellung klar herausgestellter Tatsachen, die zur Charakterisierung als totalitär führen. Mit diesem Begriff wird also geurteilt, nicht — oder nicht nur — festgestellt 3 ." Dennodi nimmt Drath in Anspruch, den Begriff gerade darin als Erkenntnisbegriff doch durchhalten und begründen zu können. In diesem an Draths Worten nur verdeutlichten Versuch, den Begriff Totalitarismus als politischen Erkenntnis- und Wertungsbegriff begründen und gebrauchen zu können, manifestiert sich dabei aber ein in sich problematischer Anspruch des Begriffes selbst, dem es nachzusinnen gilt: als analytischer Begriff sollte und soll er eine Erkenntnis der Elemente, der Ursprünge und der Funktionsstruktur totalitärer Herrschaftssysteme leisten; als kritischer Gegenbegriff wollte und will er diese Systeme nicht nur negativ bewerten, sondern darin zugleich und notwendig mitwirken an einer Bewußtmachung dessen, was nichttotale Demokratie heißen kann. So beweist der Begriff gerade als Gegenbegriff unabdingbar seine Zugehörigkeit zur demokratischen Theorie und beansprucht ebenso unabdingbar, als Element der Aufklärung und Aktivierung demokratischen Bewußtseins sich zu bewähren. Dem ersten Aspekt des Begriffs: historische wie systematische Erkenntnis der als totalitär bezeichneten Herrschaftssysteme leisten zu wollen, kann hier nicht ausführlich nachgegangen werden. Eine kritische Analyse der Geltung dieses Anspruches hätte sich nämlich in breite methodologische Erörterungen einzulassen, ob und in welchem Ausmaße sich eine mit typologischen Begriffen arbeitende Sozialwissenschaft — und der Totalitarismusbegriff ist eingestandenermaßen ein Typusbegriff — den Zugang zur erkenntnismäßigen Erschließung der historischen Dimension der je konkreten Herrschaftssysteme und ihrer Eigengesetzlich215

Totalitarismus keit versperrt, und z w a r gerade dadurch, daß die typenbildende Wissenschaft durch ihr Verfahren der Abmessung des historischkonkret Singulären am idealtypisch Allgemeinen nur allzu leicht in der Gefahr steht, das Singulare zum bloß Akzidentellen zu erklären u n d damit in seiner die Erkenntnis bedrängenden Stringenz aus dem Blick zu verlieren. Die kritische Analyse der Leistungsmöglichkeit und Leistungsgrenze des Totalitarismusbegriffes f ü r die Erkenntnis des Nationalsozialismus u n d des bolschewistischen Kommunismus sähe sich auf diese Weise vor die Frage gestellt, ob nicht in der Subsumtion beider Phänomene unter einen typologischen Begriff gerade das Spezifische jedes Phänomens in seinem historischen Ursprung u n d seiner geschichtlich-gesellschaftlichen Entfaltung verloren geht zugunsten eines Verharrens bei äußeren u n d relativ formalen Analogien in H e r r schaftsaufbau und Herrschaftstechnik. Sie sähe sich aber damit auf die Stufe der methodologischen Diskussion innerhalb der Sozialwissenschaften zurückgeworfen, die durch den N a m e n Max Webers wesentlich bestimmt und heute noch keineswegs definitiv ausgetragen ist. Nach wie vor gilt ja doch wohl, daß ein typologisches Verfahren konkrete Zwecksetzungen und historische Tendenzen politisch-sozialer Systeme gleichsam unterlaufen, zum bloßen Vorwand oder gar Schein erklären muß, womit dann freilich unreflektiert schon immer eine Grundsatzentscheidung über das Wesen von Geschichte gefällt ist. Nicht zuletzt deshalb stellt sich gerade am typologischen Verfahren immer erneut die Frage nach dem Verhältnis von Soziologie und Geschichte. Eine kritische Reflexion des Erkenntnisanspruchs des Totalitarismusbegriffs müßte schließlich — vom methodologischen Problem unabhängig — doch offen bekennen, d a ß mögliche Zweifel an der Erkenntnisfunktion des Begriffes nicht zuletzt durch Entwicklungen in der Sowjetgesellschaft selbst bedingt sind, durch Entwicklungen, die in der Sowjetunion durch die Reduktion des stalinistischen Terrors als Administrationsmittel die Analogien in der Herrschaftstechnik von Nationalsozialismus 216

Totalitarismus

und Bolschewismus zumindest fragwürdig erscheinen lassen; durch Entwicklungen schließlich, die in der Sowjetunion vermöge der Entfaltung industriegesellschaftlicher Produktionsund Lebensweisen so etwas sichtbar werden lassen, wie eine relative Eigenständigkeit einer sich differenzierenden Gesellschaft gegenüber der politischen Ordnung und ihren Totalitätsansprüchen4. Eine solche kritische Reflexion des Begriffes müßte nicht unbedingt und zwangsweise zur Aufgabe des Totalitarismusbegriffes führen, sprechen doch gerade im Sowjetsystem viele Erscheinungen dafür, daß die erwähnte relative Eigenständigkeit der sich differenzierenden Gesellschaft gegenüber Staat und politischer Ordnung keineswegs ohne sehr heftige Reaktionen der politischen Ordnung und ihres zentralen Trägers, der Partei, sich etabliert. Eine diesen Tatbeständen Rechnung tragende, kritische Reflexion des Begriffs würde die Totalitarismusforschung jedoch zumindest aus den Fesseln idealtypisch-konstruierender Formalisierungen befreien, ihr den Blick für die singuläre Eigenständigkeit der geschichtlich-gesellschaftlich-politischen Realitäten und ihrer Tendenzen in der Sowjetunion freimachen. Erst damit aber könnte es gelingen, die bisherige Totalitarismusforschung aus einem ihr eigenen Zirkel zu befreien. Spricht sich nämlich im typologischen Verfahren im Grunde immer erneut der Verzicht auf inhaltliche, historisch-material gezielte Befragung der als totalitär bezeichneten politischen Systeme aus, so rückwirkend auch der Verzicht auf einen eigenständigen, historisch-materialen Begriff von Demokratie. Wo Totalitarismus als bloßer Gegenbegriff zur Demokratie gedacht wird, da gerinnt Demokratie zum bloßen Gegenbegriff des totalitären Systems. Ein solcher typologischer Zirkel jedoch droht, beide Begriffe im Zuge einer Formalisierung zugleich zu ideologisieren. Durch eine derartige Ideologisierung aber würde neben der historisch-systematischen Erkenntnisfunktion des Begriffs „Totalitarismus" dann — nolens volens — zugleich auch seine zweite beschädigt: die Funktion demokratischer Selbstaufklärung. Erst eine kritische Reflexion der Leistungsfähigkeit des Totalitaris217

Totalitarismus

musbegriffs und des ihn begründenden typologischen Verfahrens angesichts der historisdi-materialen Ursprünge und Tendenzen des bolschewistischen Systems in seiner spezifischen Differenz zum faschistischen könnte den erwähnten Zirkel durchbrechen und damit nicht unwesentlich beitragen zur möglichen Bewährung des zweiten in ihm enthaltenen Anspruchs: Selbstaufklärung und Selbstbewußtmachung nichttotaler Demokratie. Gerade diesem zweiten Aspekt aber soll und muß im folgenden das Interesse gelten, geht es doch darin um uns und unser politisches Bewußtsein selbst. Und gerade in bezug auf diesen zweiten Aspekt haben wir die Frage zu stellen: trägt der Totalitarismusbegriff in der Art, wie er mit verbreiteter Selbstverständlichkeit benutzt wird, zur Selbstbewußtwerdung nichttotaler Demokratie als freiheitlicher, politischer Herrschaftsordnung bei? Daß sich eine solche Frage aufdrängt, ist dabei gewiß nicht zufällig. Wenn nämlich ein mit dem Totalitarismusbegriff arbeitendes, politisches Bewußtsein dem Anspruch nach unter diesen Begriff sowohl Nationalsozialismus wie Bolschewismus subsumiert, und zwar beide als negativ-kritisdi zu bewertende Phänomene, so müßte erwartet werden können, daß sich nicht nur die Kritik auf beide politischen Systeme in gleicher Radikalität erstreckt, sondern daß auch und gerade die Kritik des bolschewistischen Systems Anlaß zu permanenter "Reflexion und geistiger Bewältigung jener Ausformung des nationalsozialistischen Totalitarismus wird, der unabdingbar der eigenen Gesellschaft zugehört. Ein solches am Begriff Totalitarismus sich orientierendes Bewußtsein wäre sich selbst nur dann treu, wenn es nicht — auf der Basis der Feststellung äußerer Ähnlichkeiten zwischen beiden Systemen — lediglich in einer ebenso äußeren Negation verharrte, sondern wenn es am Phänomen des Bolschewismus auch den Nationalsozialismus als ein geschichtliches Ereignis begriffe, das der Krise der liberalen Demokratie und Gesellschaft — zumindest in Deutschland — konstitutiv zugehört. N u r dann könnte sich das Arbeiten mit dem Totalitarismusbegriff als 218

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Element der Stärkung demokratischen Potentials in der eigenen Gesellschaft bewähren und entfalten, die am Schuldzusammenhang des Totalitären unaufhebbar teilhat. Die Konfrontation jedoch solcher im Begriff Totalitarismus enthaltenen Ansprüche an ein radikal-kritisdies politisches Bewußtsein mit der Realität, in der es uns verbreitet entgegentritt, läßt einige wohl berechtigte Zweifel daran aufkommen, ob unter den objektiven Bedingungen von politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen, die durch das Totalwerden des Ost-West-Konfliktes weitgehend bestimmt sind, der Totalitarismusbegriff in der angedeuteten Festigung der Demokratie in Deutschland sich bewährt. Zwar spricht vieles dafür, was hier nicht geleugnet werden soll, daß die parlamentarische Demokratie mit ihren Institutionen und ihren liberalen Idealen heute im Bewußtsein breiter Schichten in Deutschland tiefer und nachhaltiger sich zu begründen vermochte als nach 1918. Der rasche wirtschaftliche Aufschwung nach dem militärischen und staatlichen Zusammenbruch von 1945 hat hierzu sicher erheblich beigetragen. Insofern als er unter den Bedingungen demokratischer Staats- und Gesellschaftsordnung sich vollzog, ja von ihr getragen und bewirkt wurde, konnte auch die Demokratie und das Bewußtsein von ihr als einem Wert davon profitieren. Darüber hinaus hat der wirtschaftliche Wiederaufbau Wandlungen der Sozialstruktur gezeitigt, denen die Durchsetzung neuer Einstellungen und Werthaltungen korrespondiert, die der Demokratie angemessener sind als die traditionellen, auf den Obrigkeitsstaat bezogenen und an ihm orientierten. Die deutsche Gesellschaft der Gegenwart scheint durch ein Klima gekennzeichnet, das weniger vom Staat als von der Wirtschaft bestimmt wird. Zumindest können in ihr — entgegen ihrer eigenen Tradition — staatlich-militärische Wertvorstellungen nicht mehr unangefochten über wirtschaftlichzivil-bestimmte dominieren. Persönliches Erfolgsstreben, Freizeit- und Konsumorientierung, Individualismus, Ablehnung 219

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militärischer Disziplin, Nüchternheit, ja Materialismus bieten sich als sichtbarste Züge des Sozialverhaltens an 5 . Wie immer man solche Verhaltensweisen bewerten mag — und sie funktionieren ja in der Gesellschaft auch nicht ungebrochen6 —, eines wird man nicht bestreiten dürfen: die sie tragende wirtschaftliche Prosperität, das in ihnen sichtbare Vordringen eines „ökonomischen Individualismus" schaffen günstigere Bedingungen als jemals zuvor für das Einleben der Demokratie in Deutschland. Vielleicht mag die Korrespondenz von Etablierung der Demokratie und wirtschaftlicher Prosperität dazu beitragen, eine Hypothek der Vergangenheit zu tilgen: die Hypothek nämlich, die daraus stammte, das die Demokratie in Deutschland zu spät kam und weder mit dem wirtschaftlichen Hochliberalismus zusammenfiel noch mit einer erfolgreichen revolutionären Emanzipation des liberalen Bürgertums. Vielleicht kann der erwähnte Zusammenhang von Demokratie und Prosperität sogar die Tatsache vergessen machen, daß die Demokratie von den Siegern eingeführt wurde. Vielleicht; denn der Prozeß einer verspäteten Festigung der Demokratie in Deutschland braucht Zeit, und ob die Zeit ungestört für diesen Prozeß arbeitet, ist eine nicht leicht entscheidbare Frage. Bisweilen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als drohe die Totalität und Unausweichlichkeit der Ost-West-Spannung die endgültige Bewältigung und Entwertung des Nationalsozialismus und der ihn verursachenden geschichtlich-gesellschaftlichen Mächte geradezu zu verhindern. Indem die totalitäre Gefährdung freiheitlicher Demokratie angesichts der sowjetischen Expansion nach dem zweiten Weltkrieg ins Außenpolitische projiziert wird und nur noch oder vornehmlich als eine Gefährdung von außen erscheint, funktioniert der auf solche Weise zugleich auf den Bolschewismus beschränkte Totalitarismusbegriff nur allzuleicht als Legitimation einer bequemen sozialpsychischen Verdrängung der eigenen Vergangenheit und als Kompensation der in ihr zu kurz gekommenen und gescheiterten politischen Ambitionen. 220

Totalitarismus Nicht nur scheint Hitlers Überfall auf die Sowjetunion von solchen Aspekten eines den Totalitarismusbegriff benutzenden Bewußtseins aus post festum legitimiert. Das Wissen um die Einheit der westlichen Welt als Reaktion auf die sowjetische Drohung provoziert eine Wertung von 1945, als hätten die Sieger das bewährte Bollwerk gegen den Bolschewismus damals nur aus Torheit zerstört, um es — nach rechter Einsicht in seine Funktion — schleunigst wieder zu errichten. Mit der Churchill zugeschriebenen Parole: „Die westlichen Alliierten haben 1945 das falsche Schwein geschlachtet" wird die Einsicht verdrängt, daß die Drohung des östlichen Lagers gegenüber dem restlichen Europa in ihrer Unausweichlichkeit erst durch den Eroberungskrieg des Dritten Reiches heraufbeschworen wurde. Das durch 1945 erschütterte Geschichtsbewußtsein wird auf solche Weise in bedenklicher Form wiederhergestellt und in eine Kontinuität zur Gegenwartsproblematik gebracht, wenn gegen das hartnäckige Erinnern an das durch den Nazismus Geschehene ins Feld geführt wird, ein solches Erinnern schade dem deutschen Ansehen im Ausland und leiste dem Kommunismus Vorschub, weil es den deutschen Beitrag zur Verteidigung gegen den Kommunismus gefährde. Als Beispiel für solche Bewußtseinsreaktionen darf etwa gelten, wenn sich heutige Traditionsverbände der ehemaligen Waffen-SS gegen die Dokumentarsendung des Deutschen Fernsehens über „Das Dritte Reich" mit folgenden Argumentationen zur Wehr setzen: „es könnte nur in Chruschtschows Interesse sein, fortgesetzt eine Kampfeinheit zu verleumden, die jenes Ziel verwirklichte, das bisher nicht einmal die N A T O erreichte: eine Kampfeinheit europäischer Soldaten, die unter einem Oberbefehl und von nationalen Interessen absehend gegen den Bolschewismus kämpfen auf der Grundlage eines gemeinsamen Glaubens 7 ". Gehört solche Argumentation auch sicher in die Vorstellungswelt rechtsradikaler Gruppen, die eingestandenermaßen mit dem Kommunismus zugleich die Demokratie erledigen möchten, so findet sie sich jedoch eben nicht nur dort, wenn etwa F. J . 221

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Strauß davon sprach: „das Dritte Reich war nicht symptomatisch für das deutsche V o l k " und es gelte daher, solchen Verzerrungen der deutschen Geschichte ein Ende zu bereiten, entstammten sie doch nur einer kommunistischen Diffamierungskampagne und dienten sie nur dem Ziel, das Bündnis der Bundesrepublik mit der westlichen Welt zu zerstören 8 . Bezeichnend ist schließlich auch der Versuch, die politisch und juristisch ungelöste Problematik der deutschen Ostgebiete in einer Dimension zu sehen, die die gegenwärtige Situation in eine ungebrochene Kontinuität zur Vergangenheit bringt, und zwar mit Slogans dieser Vergangenheit, so wenn es heißt: „die ostkundlichen Bestrebungen . . . wollen im Rahmen von Erziehung und Unterricht . . . den Anspruch auf die unaufgebbaren Gebiete wachhalten und die deutsche Jugend für eine neue Ausfahrt im Auftrage Europas vorbereiten 9 ", oder gar: „Wir dürfen nicht vergessen, daß Deutschland wieder mehr Lebensraum finden kann bei Nachbarn, die diesen Raum nicht brauchen und ihn mit Sklavenarbeitern für ihre Kolchosen besetzt haben 1 0 ." In welchen Schattierungen solche Bewußtseinsreaktionen auch immer auftreten mögen, bedenklich an ihnen ist doch folgendes: Indem eine ungebrochene Kontinuität zwischen nationalsozialistischer Ostpolitik und den Impulsen und Motiven gegenwärtiger Auseinandersetzung mit dem Kommunismus hergestellt wird, wird im Grunde die Demokratie recht eigentlich um ihre Legitimität gebracht. Damit aber funktioniert das mit einem vereinseitigten und in bezug auf die eigene Gesellschaft und ihre Geschichte entschärften Totalitarismusbegriff operierende politische Bewußtsein hintergründig als Element der Unterminierung demokratischen Potentials, wenn nicht sogar selbst als prätotalitäre Potenz. Will gegenüber solchen Konsequenzen das demokratische politische Bewußtsein sich seiner inneren Legitimität im Ost-WestKonflikt nicht berauben lassen und den Totalitarismusbegriff weiterhin als Orientierungsmodell benutzen, so wird es — und das ist ein weiterer Aspekt — sich diese Legitimität kaum hin-

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Totalitarismus

reichend aus dem Insistieren auf der Geltung der formal-rechtlichen Prinzipien liberal-pluralistischer Demokratie erringen können. Damit will ich diese Prinzipien (Grundrechte und deren Schutzinstitutionen, Gewaltenteilung, verfassungsmäßig gebundene und geregelte Gruppenkonkurrenz, Anerkennung des Individuums als in Freiheit sich entfaltender letzter politischer Entscheidungsinstanz und dgl. mehr) keineswegs gering ansetzen. Aber das nicht zuletzt durch politische Wissenschaft und Soziologie erarbeitete Wissen um die Bedeutung und Konsequenz von Institutionen der Bewußtseinsmanipulation in der pluralistischen Demokratie, das Wissen um die Problematik, in welchem Ausmaß freiheitliche Demokratie auf die grundsätzliche Rationalität aller ihrer Glieder angewiesen ist und doch der Entfaltung solcher Rationalität durch gruppengebundene Techniken der Tabuierung, der Manipulation und Nivellierung vermöge realer gesellschaftlicher Prozesse immer wieder nur allzu leicht entgegensteht, macht die alleinige Berufung auf die formalen Prinzipien der Demokratie als hinreichender Bezugs- und Urteilsbasis zumindest zweifelhaft. Solcher Zweifel verdichtet sich nicht zuletzt angesichts der Tatsache, daß die totalitären Systeme, mit denen man sich auseinandersetzen will, ihre Ansprüche aus der Kritik an dem sogenannten bloß formalen Charakter der pluralistischen Demokratie herleiten. So inhaltlich unterschieden diese Kritik an der formalen Demokratie in Nationalsozialismus und Bolschewismus ausfällt — und diese Unterschiede sind bedeutsam genug, stehen sie doch einerseits, wenn auch heute nur noch äußerlich, in der Tradition radikal-demokratischer Theorie, während sie andererseits fundamental Liberalismus wie Aufklärung mit romantischen Kategorien wie Volksgemeinschaft als Blut- und Willenseinheit negieren — so inhaltlich unterschieden also die Kritik an der bloß formalen Demokratie gezielt ist, eine in der weltpolitischen Gegenwartsspannung sich ihrer Legitimität versichernde Demokratie kann an dieser Kritik nicht vorbeigehen; sie hat sie in ihr eigenes politisches Bewußtsein selbstkritisch aufzunehmen, und 223

Totalitarismus zwar nicht zuletzt auch deshalb, um die reale und materiale Bedeutung gerade auch der formalen Prinzipien und ihrer die Offenheit der Gesellschaft erschließenden Möglichkeiten mit gutem Grunde nachdrücklich bekennen zu können. Wenn dabei die Kritik der totalitären Systeme an der sogenannten formalen Demokratie in der Deklaration des eigenen Systems als realer und totaler Demokratie kulminiert, so muß freiheitliche Demokratie sich dem darin enthaltenen Anspruch stellen und ihn reflektieren, um — wie gesagt — im Bewußtsein zu halten, was nicht-totale Demokratie als reale heißen kann. Sie wird dazu jedoch nur in der Lage sein, wenn sie Einsicht in jene totalitäre Bewußtseinsstruktur gewinnt, die solche Deklaration ermöglicht, und wenn sie solche Bewußtseinsstruktur in sich selbst überwindet. Ohne den Anspruch erheben zu wollen, hier eine detaillierte Analyse totalitären Bewußtseins zu bieten, wird doch folgendes immer wieder bedacht werden müssen: die Ideologie, die solches Bewußtsein zu formen unternimmt, kann — und das hängt mit dem zuvor Bemerkten zusammen — ohne Berufung auf die Tradition der demokratischen Idee nicht auskommen. Gehört es jedoch zu dieser Tradition, das Konzept der politischen Souveränität des Volkes in der Realität der Gesellschaft durchsetzen zu wollen, so kann auch die totalitäre Ideologie nicht umhin, solche Ansprüche in sich aufzunehmen. Sie muß vorgeben, mit ihnen Ernst machen zu wollen. Faktisch jedoch unterläuft sie gleichsam die in solchem Anspruch sich bekundende Problematik immer wieder dadurch, daß sie die in der gesellschaftlichen Realität des tatsächlichen Volkes unabdingbar vorhandenen Differenzierungen der Willens- und Interessengruppen und deren politisch-soziale Konkurrenz von vornherein als Störungs- oder Desintegrationsfaktor verdächtigt. Der politische Volksbegriff wird durch ausschließliche Orientierung am Modell der konfliktfreien Integration so auf eine qualitativ eigene Identität mit sich selbst als Bewußtseins-, Willens- und Aktionseinheit festgelegt, daß jedwede Realität von Pluralismus in der gesell224

Totalitarismus

schaftlich-politischen Ordnung um die Chance der Anerkennung gebracht wird. Der Hebel für solche ausschließlich integrale Bestimmung des Volksbegriffes ist dabei in der Regel eine missionarische Geschichtskonzeption, die es gestattet, Volk von einem sogenannten Auftrag oder einer Mission her so als in sich identisch zu bestimmen, daß jede Pluralität in der sozial-politischen Bewußtseins-, Willens- und Interessenorientierung schon als Abfall von sich selbst, von seiner Wesenheit und Wahrheit ausgegeben und angeklagt werden kann. Über die Funktion solcher geschichtsmissionarischen Festlegung des politischen Volksbegriffes, der zugleich immer Züge eines verklärenden Irrationalismus zeigt, für die Absicherung des totalen Führungsanspruches einer organisierten Minderheit oder avantgardistischen Elite ist in anderem Zusammenhang gehandelt worden 11 . Das Denkschema einer totalen Identifikation von Führungs- und Volkswille ist dafür nur das sichtbarste Indiz. Hier ist das Augenmerk auf etwas anderes zu richten. Gerade die geschichtsmissionarische Verklärung des Volksbegriffes dient immer wieder dazu, die Bewußtseinsorientierung der von der Ideologie angesprochenen Massen auf eine Schematik des Freund-Feind-Denkens so festzulegen, daß solche Schematik als allein mögliche Form von politischer Orientierung überhaupt erscheint. Inhaltlich wechseln dabei die Stereotypen, die als Inbegriff des Feindes wie des Freundes erscheinen, das Schema selbst bleibt davon unberührt. Liegt die außenpolitische Konsequenz eines solchen Denkschematismus gleichsam dadurch auf der Hand, daß Politik hiernach nicht mehr als Kunst des Möglichen bestimmbar ist, sondern als am Modell des Krieges allein abmeßbar auf die Alternative von Sieg oder Niederlage ausschließlich projiziert wird, so offenbart sich die innenpolitische Konsequenz eines solchen den Prinzipien liberaler Demokratie zuwiderlaufenden Extremismus vor allem an der Verdächtigung und Verfolgung jeder Form gesellschaftlich-politischer Opposition und Kritik als volksfeindlich. H a t das Erinnern an diese entscheidenden Elemente totalitärer 15

Lieber

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Totalitarismus Ideologie ein gewisses Recht f ü r sich, so wird nicht-totale Demokratie um ihrer Legitimität und ihres Bestandes willen sich unabdingbar daraufhin zu befragen haben, ob in ihr in ausreichendem Maße ein Bewußtsein sich entfaltet u n d stärkt, das solcher Ideologisierung Widerstand bietet. Sehen wir einmal ab von der — durchaus nicht primär im Bereich des Politischen angesiedelten — Wirkung jener in der pluralistischen Gesellschaft sich entfaltenden kulturindustriellen Medien der Massenkommunikation, die Horkheimer und Adorno unter dem Titel: Aufklärung als Massenbetrug 12 treffend beschrieben haben, so läßt das Totalwerden der Ost-West-Spannung auch hier den Zweifel aufkommen, ob nicht die totalitäre Bedrohung von außen totalitäre Reaktionen im Innern der Gesellschaft provoziert, die die freiheitliche Demokratie gerade um jene Legitimität bringen, deren sie bedürftig ist. Wenn gelegentlich, angesichts politischer Argumentationen in der Bundesrepublik, der Eindruck kaum vermieden werden kann, als wäre ihre Position im Weltkonflikt nur aus einer missionarischen, spezifisch deutschen, weltgeschichtlichen Aufgabe her zu bestimmen, so verdichtet sich der darin enthaltene politische Denkansatz vollends zu totalitärem Denken fatal ähnlichen Mystifikationen des politischen Volksbegriffes dann, wenn er sich mit der Verdächtigung der politischen Pluralismen und ihrer legitimen Konkurrenz als bloßer Parteipolitik verbindet, und wenn darin und dadurch zugleich das politische Bewußtsein auf ein nationales Allgemeinwohl vereidigt werden soll, so als ergäbe sich dieses nicht erst aus der politischen Konkurrenz der Pluralismen, sondern als sei es ihnen wie eine geschichtsontologische Entität sui generis a priori vorgelagert. Die im Rahmen einer Veranstaltung des Komitees „Rettet die Freiheit" gefallenen Worte: „Wir stehen vor einer Situation, in der Opposition, Gegnerschaft zur Regierung, in Staatsfeindlichkeit umzuschlagen droht", sprechen — um ein Zitat zu geben — in diesem Zusammenhang für sich13. Sie stehen jedoch nicht allein. Die Verdächtigung der parla226

Totalitarismus mentarischen Opposition als volksfeindlich während des letzten Wahlkampfes, die in die gleiche Zeit fallende Verunglimpfung einzelner Emigranten und damit die Abwertung der Emigration überhaupt 14 , die umstrittene Äußerung von Bundeskanzler Adenauer anläßlich seiner Audienz beim Papst über eine den Deutschen von Gott gestellte abendländische Mission15, die Versuche von Vertriebenenverbänden, sich in ihren Ansprüchen und Interessen als das Gewissen der Nation auszugeben, das alles scheinen Anzeichen dafür, daß hinter solchen Äußerungen und Argumentationen Triebkräfte am Werke sind, die ihre eigene Dynamik haben — und zwar auch gegen das Bewußtsein derer, die solche Argumente benutzen. In ihnen zeichnet sich ja doch neben geschichtsmissionarischen Verklärungen des politischen Volksbegriffes auch noch jene Schematik der politischen Identifikation ab, die als Strukturprinzip totalitären Bewußtseins gelten mußte. Die nach 1945 in Westdeutschland zweifellos sichtbaren und erreichten demokratischen Wandlungen in Staat und Gesellschaft, für deren Effektivität nicht zuletzt auch die politische Erfolglosigkeit rechts- wie linksradikaler Bestrebungen spricht, scheinen durch solche politischen Bewußtseinsreaktionen, werden sie in breitem Maße verbindlich, gleichsam der Gefahr innerer Aushöhlung ausgesetzt. Mit solchen Reaktionen gerät der Staat in die Bedrängnis, wieder autoritäre Züge anzunehmen, welche latente und gefährliche Möglichkeit dann gelegentlich sogar durch Verweis auf den labilen Charakter der liberalen Demokratie ins Positive oder Vorbildhafte gewendet wird, wenn es etwa heißt: „In manchen deutschen Kreisen gilt es als modern, die Nase über die autoritären Regime in Spanien und Portugal zu rümpfen. Dabei könnte ein Blick über die Pyrenäen jeden Deutschen davon überzeugen, welche Krisen der westlichen Welt durch die feste Staatsführung Francos erspart geblieben sind 16 ." Die erwähnten Reaktionen offenbarten zugleich die — keineswegs immer bewußte — Bereitschaft, zum Ausgleich der Schlag15*

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Totalitarismus kraft des feindlichen totalitären Systems die eigene Gesellschaft diesem anzugleichen. Die angesichts der Expansionskraft kommunistischer Ideologie immer wieder laut werdende Forderung nach einer einheitlichen Gegenideologie des Westens mag f ü r diesen Sachverhalt als eine der möglichen Bestätigungen dienen, verbirgt sich doch in ihr folgendes: es erscheint die Geschlossenheit des gegnerischen, politisch-ideologischen Systems als so attraktiv, daß das Bekenntnis zu gleicher ideologischer Geschlossenheit im Geiste sich als einzige mögliche Reaktion anbietet 17 . Dabei wird die mit solcher Geschlossenheit verbundene, ja sie allein garantierende politische Institution, die als Instanz der Verwaltung von Bewußtsein funktioniert und damit Geistiges schlechthin zum Gegenstand herrschaftsgebundener Verwaltung degradiert, als Konstituens solcher Ideologie nicht gesehen oder aber verkannt. Der einschränkende Verweis auf die Möglichkeit einer Organisation und Verbindlichkeit einheitlicher Ideologie ohne politischtotalitäre Konsequenz überzeugt dabei kaum und täuscht nur schwer darüber hinweg, daß die Übernahme des Prinzips ideologisch-einheitlich gebundener und geschlossener Geistigkeit als Reaktion auf den Gegner eben schon den Verfall an dessen Prinzip politischer Bewußtseinslenkung zur Folge haben muß oder doch haben kann. Schließlich aber muß — als eines weiteren Aspektes totalitären Denkens — der Möglichkeit gedacht werden, daß, je mehr sich der Ost-West-Konflikt zuspitzt, um so mehr eine Mentalität und ein Begriff von Politik sich durchzusetzen in der Lage sind, die als Kennzeichen totalitären Denkens aufgewiesen wurden und bisher in Demokratien nur extremistischen und darin antidemokratischen Gruppierungen vorbehalten waren: das Alternativdenken vermöge der Freund-Feind-Schematik 18 . Ich will dabei in bezug auf diesen politischen Urteilsschematismus nicht der Frage nachgehen, inwieweit er zur Profilierung des faktischen politischen Gegners beiträgt oder inwieweit er nicht umgekehrt eine realistische Wahrnehmung des Gegners geradezu 228

Totalitarismus verbaut, indem er ihn durch Hypostasierung zum feindlichen Prinzip schlechthin in seiner konkreten Gestalt und Dimension im Grunde verflüchtigt. Wieder soll nur die mögliche Konsequenz nach innen bedacht werden. Sie scheint kaum übersehbar. Wenn nämlich der reale Gegner, als Feind schlechthin bestimmt, zum negativen Korrelat der eigenen Vollkommenheit verblaßt, dann funktioniert ein dahin zielender Denkschematismus als Instanz der Verklärung der eigenen Gesellschaft in ihrer Faktizität zum Guten und Vollkommen schlechthin. Die eigene Gesellschaft verliert aber dann nur allzuleicht jene Offenheit in sich und gegenüber ihren eigentlichen Ansprüchen und Möglichkeiten, die zum Wesen freiheitlicher Gesellschaft und politischer Ordnung gehört und die zu ihrer Aktivierung und Entfaltung der unterscheidenden Kritik im Inneren ebenso bedürftig ist wie der Ausschließung einer totalen politischen Verdächtigungsmethodik, f ü r die der im Konformismus des FreundFeind-Denkens nicht Befangene schon dem Diktum sich ausgesetzt findet, er sei selbst Feind oder arbeite diesem in die Arme. Das Allgemeinwerden soldier im undifferenzierten FreundFeind-Denken gründenden politischen Verdächtigungsmethodik, die der Tendenz nach alle menschlichen Regungen und Verhältnisse — auch die nicht-politischen — sich zu unterwerfen strebt, verzerrt dabei gröblich einen Sachverhalt, den es im Bewußtsein zu halten gilt: so wenig eine die Unvollkommenheiten der eigenen Gesellschaft festmachende Kritik die Tendenz des Gegners übersehen kann, solche freie und autonome Kritik f ü r seine eigenen Ziele auszumünzen, so wenig kann und darf das um der Freiheit in der Gesellschaft willen dazu führen, Kritik überhaupt nur noch auf den alles überschattenden weltpolitischen Gegensatz zu relativieren und durch solche Ablenkung nach außen in ihrer Berechtigung gleichsam zu unterhöhlen, wenn nicht sogar zu tabuieren. Mögen nun immer auch die hier skizzierten Aspekte totalitären Denkens in Aktion und Reaktion überzeichnet erscheinen, 229

Totalitarismus

mag die Skizze nicht scharf genug zwischen dem erst noch Möglichen und dem schon Wirklichen geschieden haben: wenn Philosophie ihr gesellschaftlich-politisch aufklärendes Geschäft nicht verleugnen will, dann muß sie auf den Zwang der Verhältnisse hinweisen, unter denen sich Demokratie heute gerade in Deutschland zu behaupten und zu entfalten hat, Verhältnisse, denen objektiv die Provokation totalitärer Reaktionen auf die totalitäre Gefährdung tendenziell innezuwohnen scheint. H a t aber diese Aussage, nach dem Dargestellten, ein Recht für sich, dann wird eine Studentenschaft, die es mit ihrem Engagement an die Demokratie ernst meint, im Umkreis dieser Probleme und Phänomene den Ort ihrer politischen Aufgabe finden können und finden müssen, um mitzuwirken an der Gestaltung einer in sich offenen Gesellschaft, einer Gesellschaft, in der Pluralität und Konkurrenz im Geistigen auf der Basis von Wahrheitsorientierung und rationaler Argumentation und in der damit auch rationale Kritik, die sich an der Konfrontation der Realitäten der Gesellschaft mit den ideellen Ansprüchen eben der gleichen Gesellschaft orientiert, noch immer die gültige Form der Verteidigung, also der Apologie dieser Gesellschaft ist.

Nachweise und Anmerkungen Philosophie,

Soziologie

und

Gesellschaft

Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrages, gehalten im Rahmen der Abendveranstaltungen der Freien Universität Berlin, Winter-Semester 1962/63; als Vortrag abgedruckt in: „Die Wissenschaften und die Gesellschaft", Berlin 1963. 1. Vgl. zur Problematik einer Begründung der Wissenssoziologie als spezieller Disziplin in Abgrenzung gegen eine sogenannte allgemeine Soziologie den hier S. 82 abgedruckten Beitrag. 2. Vgl. zur ideologienkritischen Tradition in Philosophie und Soziologie den hier S. 56 abgedruckten Beitrag; außerdem K u r t Lenk: „Ideologie", Neuwied 1 9 6 1 ; dieses Werk enthält eine beachtenswerte Bibliographie zum Ideologieproblem. 3. Arnold Toynbee: „A Study of History", 6 Bde, 1933 ff. Pitirim Sorokin: „Social and Cultural Dynamics", 4 Bde, 1937 ff. „Die Krise unserer Zeit", Frankfurt a. M . 1950. 4. Besonders deutlich wird das etwa an dem Werk von A. R ü s t o w : „Ortsbestimmung der Gegenwart — eine universalgeschichtliche Kulturkritik", 3 Bde, 1950 ff. 5. Vgl. hierzu vor allem die grundsätzliche K r i t i k Th. W . Adornos an der Ursprungsphilosophie in: „Zur Metakritik der Erkenntnistheorie", Stuttgart 1956. 6. K a r l Löwith: „Gesammelte Abhandlungen — zur K r i t i k der historischen Existenz", Stuttgart 1960. Vgl. dazu auch die K r i t i k von Jürgen Habermas: „Karl Löwiths stoischer Rüdezug vom historischen Bewußtsein", in: „Theorie und P r a x i s " , Neuwied 1963. 7. Vgl. zur Problematik des Dezisionismus im existenzphilosophischen Entscheidungsbegriff Christian G r a f von K r o c k o w : „Die Entscheidung", Stuttgart 1958. — Zum Zusammenhang von H e i deggers Verhalten 1933 und seiner Philosophie, insbesondere mit „Sein und Zeit", siehe K a r l Löwith, a.a.O. S. 89. 8. Besonders klar ausgesprochen ist dieses Vorgehen bei K a r l Jaspers: „Die geistige Situation der Zeit", 3. Aufl. Berlin 1932. 9. Siehe T h . W . Adorno, a.a.O. 10. Vgl. zu den letzten Passagen H . - J . Lieber: „Philosophie", in:

231

Nachweise und

11. 12. 13. 14. 15.

16.

Anmerkungen

„Handbuch der Wissenschaft und Bildung", Bd. II, Berlin—Darmstadt—Wien 1960. Vgl. zu A. Comte die hier S. 23 und S. 82 abgedruckten Beiträge, sowie die dort genannte Literatur. René Königs Unterscheidung zwischen „Theorie der Gesellschaft" und „soziologischer Theorie" ist hierfür etwa kennzeichnend. Vgl. „Soziologie", Fischer Lexikon, Frankfurt a. M. 1958. „Soziologische Exkurse", Frankfurter Beiträge zur Soziologie hrsg. von Th. W. Adorno und W. Dirks, Bd. 4, 1956, S. 12. T. Parsons in: „Twentieth Century Sociology" hrsg. von G. Gurvitch und W. E. Moore, N. Y. 1945, S . 48. Ralf Dahrendorf hat mit fast gleichlautenden Formulierungen eine sehr überzeugende Kritik am soziologischen Begriff der Industriegesellschaft geübt. Vgl. „Gesellschaft und Freiheit", München 1961. H. Schelsky: „Ortsbestimmung der deutschen Soziologie", Düsseldorf/Köln 1959.

Soziologie

zwischen Fortschritt und

Tradition

Überarbeitete Fassung eines Vortrages, gehalten im Rahmen der Abendveranstaltungen der Freien Universität Berlin, Winter-Semester 1960/61. Bisher nicht veröffentlicht. 1. Comtes Programm, „die wissenschaftlichen Anschauungen stets den Tatsachen unterzuordnen, deren realen Zusammenhang sie bloß feststellen sollen", beschränkt die Soziologie auf die Retrospektion. Die Gesellschaftsentwicklung muß erst die Stufenfolge ihrer Möglichkeiten durchlaufen haben, bevor die Soziologie sie auf ihre Gesetzmäßigkeiten bringen kann. A. Comte: Soziologie, deutsche Übersetzung von Valentin Dorn, 3 Bde, 2. Aufl., Januar 1923, 1/215. Über die Entstehung der Soziologie vgl. 1/164 ff. — Zu der hier verfolgten Perspektive in der Analyse Comtes vgl. auch: H.Maus: „Bemerkungen zu Comte", Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie V/1953, S . 513 ff. 2. Vgl. zum Verhältnis Hegel — Comte die bei der Zusammenstellung dieses Bandes erschienene Arbeit von Oskar Negt: „Strukturbeziehungen zwischen den Gesellschaftslehren Comtes und Hegels", Frankfurter Beiträge zur Soziologie. Bd. 14, Frankfurt a. M. 1964. 3. Vgl. Comte: Soziologie, I, 111 ff. 4. Vgl. Comte: Soziologie, I, 139 ff.

232

Nachweise und 5. 6. 7. 8. 9.

10. 11. 12.

13.

14.

15.

16. 17.

Anmerkungen

Vgl. Comte: Soziologie, I, 43 ff. Vgl. Comte: Soziologie, I, 448/49. Vgl. Comte: Soziologie, I, 148 ff. Vgl. Comte: Soziologie, 1/450. „The services of real social scientists would be as indispensable to fascists as to communists and democrats just as are the services of physicians and physicists", sie müssen sich bloß gegen den Einfluß dieser versthiedenen Sozialsysteme immunisieren. G. A. Lundberg: „Contemporary Positivism in Sociology", in: American Sociological Review, Bd. IV, 1933, S. 53. Vgl. „Soziologie", Das Fischer-Lexikon, hrsg. von R. König, Frankfurt a. M. 1958, S. 98. Vgl. den hier S. 118 aufgenommenen Aufsatz über den „Erfahrungsbegriff in der empirischen Soziolforschung" und die dort genannte Polemik um das Frankfurter Gruppenexperiment. Vgl. hierzu die interessante These H . Schelskys, daß die mit dem Anpassungsmodell arbeitenden Sozialwissenschaften und Sozialtediniken die Steuerungs- und Formierungsfunktionen übernommen haben, die in der industriellen Gesellschaft durch „Institutionsabbau" und „Kommunikationsverlust" freigeworden sind. So in: „Soziologie der Sexualität", Rowohlts deutsche Enzyklopädie, Bd. 2, Ausg. 1955, S. 109 ff. Zur Problematik des Anpassungkonzepts in der Theorie vom „cultural lag" vgl. auch den hier aufgenommenen Aufsatz: „Kritik und Konformismus" und die dort genannten Studien von K. Sontheimer und P. Tillich. Robert S. Lynd: „Knowledge for What?, The Place of Social Science in American Culture", Princeton, New Jersey 1939. Zur gleichen Problematik auch C. Wright Mills: „The Sociological Imagination", New York 1959, Deutsch: „Kritik der soziologischen Denkweise", Neuwied — Berlin 1964. Hierauf haben in eindringlichen Studien aufmerksam gemacht: K. Löwith, „Max Weber und Karl Marx", wieder abgedruckt in „Gesammelte Abhandlungen", Stuttgart 1960, und: Siegfried Landshut „Kritik der Soziologie", 1929. Beiden Abhandlungen verdanken die nachstehenden Ausführungen entscheidende Aspekte. Das gleiche gilt von G. Lukacs: „Die Zerstörung der Vernunft", Berlin 1954. In dieser Weise formulier Landhut, a.a.O. Eine eindrucksvoll kritische Analyse der Tönnies'schen Konzeption in ihrer Bedeutung für die Soziologie hat R. König gegeben. Siehe „Die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft bei Ferdinand Tön233

Nachweise und

18. 19.

20. 21.

22. 23. 24. 25.

Anmerkungen

nies", in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Jhg. 7, 1955, S. 348 ff. Zur Werturteilsdiskussion in Vergangenheit und Gegenwart vgl. Werner Hofmann: „Gesellschaftslehre als Ordnungsmacht", Berlin 1961. Zur Bedeutung der deutschen Begriffsunterscheidung von Kultur und Zivilisation für die Soziologie vgl. neben Lukacs (a.a.O., S. 469 ff.) vor allem: Norbert Elias, „Uber den Prozeß der Zivilisation", 2 Bde., Basel 1939. Hans Freyer: „Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft", Leipzig — Berlin 1930. Die dezisionistisdien Komponenten, die hier an Freyer besonders betont werden, sind ebenso entscheidend etwa für Carl Schmitt, Ernst Jünger u. a. Für diese sind sie untersucht und dargestellt von Christian Graf Krockow: „Die Entscheidung", Stuttgart 1958, und von Jürgen Fijalkowski: „Die Wendung zum Führerstaat — Ideologische Komponenten in der politischen Philosophie Carl Schmitts", mit einem Vorwort von H.-J. Lieber, Schriften des Instituts für politische Wissenschaft Berlin, Bd. 12, Köln und Opladen 1958. Schließlich bietet eine kurze und sehr kritische Einordnung dieser Positionen in die Soziologie der 20er Jahre René König: „Die Soziologie der zwanziger Jahre" in: „Die Zeit ohne Eigenschaften" hrsg. von Leonhard Reinich. Siehe das in Anmerkung 12 genannte Buch von Schelsky. H . Schelsky: „Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? Zum Thema einer modernen Religionssoziologie", Ztschr. f. ev. Ethik, 1957, Heft 4. Schelsky: „Soziologie der Sexualität", a.a.O., S. 8. „Soziologie Exkurse", Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Bd. 4, S. 18. Ideologienbildung

und

Ideologienkritik

Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrages, der auf der 6. Arbeitstagung des Arbeitskreises für Ost-West-Fragen zum Thema „Ideologie und Machtpolitik" Mai 1961 in Köln gehalten wurde. Als Vortrag gedruckt in: „Moderne Welt", 3. Jhg. Heft 1, Köln 1961/62. 1. Vgl. z.B. Eduard Spranger: „Wesen und Wert politischer Ideologien", in: „Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte", 2. Jhg. 1954, S. 119. 2. Vgl. zu diesem Zusammenhang den hier S. 213 aufgenommenen Aufsatz. 234

Nachweise und Anmerkungen 3.

V g l . „ I d e o l o g i e " , i n : Soziologische E x k u r s e , B d . I V der F r a n k furter Beiträge zur Soziologie, hrsg. v o n T h . W . A d o r n o und W . D i r k s , F r a n k f u r t a. M . 1 9 5 6 . Diesem E x k u r s v e r d a n k t der v o r liegende A u f s a t z w e r t v o l l e Anregungen.

4.

D i e wichtigste A n a l y s e der Geschichte des Begriffs bietet noch immer H a n s B a r t h : „ W a h r h e i t und I d e o l o g i e " , Zürich 1945. V g l . außerdem K u r t L e n k : „ I 3 e o l o g i e " , N e u w i e d 1961. 5 . Z i t i e r t nach B a r t h a . a . O . , S. 6 5 . 6 . Einschlägige Z i t a t e finden sich in „Soziologische E x k u r s e " , a . a . O . , S . 166 f. 7. Z u r gegcnaufklärerisdien Position des Ideologiebegriffs vgl. auch den hier S. 82 abgedruckten A u f s a t z über „Wissenssoziologie". 8. D i e von R a l f D a h r e n d o r f vorgelegte K r i t i k am Begriff der Industriegesellschaft h a t dennoch ihr volles Recht. V g l . „Gesellschaft und F r e i h e i t " , München 1 9 6 1 . 9 . V g l . hierzu P e t e r F u r t h : „Ideologie und P r o p a g a n d a der S R P . " i n : „Rechtsradikalismus im Nachkriegsdeutschland", B d . 9 der Schriften des Instituts für politische Wissenschaft, B e r l i n und F r a n k f u r t a. M . 1 9 5 7 , S. 2 0 0 . 10. V g l . V i l f r e d o P a r e t o : „Allgemeine Soziologie", hrsg. v o n C . B r i n k m a n n , Tübingen 1 9 5 5 , S. 161 ff. 11.

V g l . den in Anmerkung 3 genannten A u f s a t z aus „Soziologische E x k u r s e " , ebenso die in Anmerkung 9 zitierte A r b e i t v o n Peter Furth. 12. H i e r a u f h a t besonders L . K o l a k o w s k i hingewiesen. Siehe sein B u c h : „ D e r Mensch ohne A l t e r n a t i v e " , München 1960. 13. V g l . den hier S. 2 1 3 abgedruckten A u f s a t z . 14. V g l . den hier S. 1 0 6 abgedruckten A u f s a t z .

Wissenssoziologie Als Stichwortartikel für das H a n d w ö r t e r b u c h für Sozial Wissenschaften gemeinsam mit Peter F u r t h geschrieben. D o r t als 4 9 . Lieferung 1964 erschienen. H i e r mit Einverständnis von P. F u r t h in erweiterter und überarbeiteter Fassung abgedruckt. 1. 2. 3.

V g l . hierzu v o r allem K a r l M a n n h e i m : „ D i e G e g e n w a r t s a u f gaben der S o z i o l o g i e " , Tübingen 1 9 3 2 , S. 17 ff. V g l . zum folgenden den hier S. 56 abgedruckten Beitrag. V g l . die Hinweise und T e x t s t e l l e n bei E . G r ü n w a l d : „ D a s P r o blem einer Soziologie des Wissens", W i e n und Leipzig 1 9 3 1 , bei H . B a r t h : „Wahrheit und I d e o l o g i e " , Zürich 1945 und bei K . Lenk: „Ideologie", Neuwied 1961.

235

Nachweise und

Anmerkungen

4. A. Comte: „Cours de philosophie positive", zitiert nach der Obersetzung der Bde. IV—VI von Valentin Dorn: »Soziologie", 3 Bde., 2. Aufl. Jena 1923, Bd. I, S. 3 ff. 5. Vgl. den hier S. 23 abgedruckten Beitrag „Soziologie zwischen Fortschritt und Tradition". 6. A. Comte a.a.O., S. 7—8 und: „Discours sur l'exprit positif", übersetzt und hrsg. von I. Fetscher, Hamburg 1956, S. 115 ff. 7. A. Comte a.a.O., S. 139. 8. A. Comte: „Systeme de politique positive, Bd. II, Paris 1954, S. 382. Vgl. dazu auch Jean Lacroix: „L'aspect objectif et l'aspect subjectif de la Sociologie d'Auguste Comte", in: „Cahiers internationaux de la Sociologie", 1956, S. 3—14. 9. Prototypisch hierfür ist etwa Karl Mannheims Werk „Ideologie und Utopie". 10. Vgl. zur Wissenssoziologie Schelers neben dem in Anmerkung 3 genannten Werk von Lenk auch H.-J. Lieber: „Wissen und Gesellschaft", Tübingen 1952. 11. K.Mannheim: „Das Problem einer Soziologie des Wissens", in: „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik", Bd. 53 (1925), S. 633. 12. K.Mannheim: „Historismus", in: „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik", Bd. 52 (1924), S. 35. 13. K.Mannheim: „Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen", in: „Verhandlungen des 6. deutschen Soziologentages in Zürich", Tübingen 1929, S. 43. 14. H . Plessner: „Zwischen Philosophie und Soziologie", Bern 1953, S. 222. 15. Vgl. dazu Mannheims Ausführungen über „Totalität", „Synthese", „Übergleiten des wertfreien Ideologiebegriffs in den wertenden", in: „Ideologie und Utopie", 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1952, S. 92 f., 132, 82. 16. K. Mannheim: „Das Problem einer Soziologie des Wissens", a.a.O., S. 635. 17. Das gilt m. E. auch für die Untersuchungen von E. Topitsch: „Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft", Neuwied 1961. 18. T. Parsons: „The Social System", Glencoe III. 1951, insbesondere Kap. VIII. 19. B.Barber: „Science and the Social Order", Glencoe III. 1952; R. K. Merton: „Science, Technology and Society in 17th Century England", Brügge 1938 (in „Osiris", Studies on the History and Philosophy of Science, IV). 20. Vgl. dazu auch den hier S. 23 aufgenommenen Beitrag. 236

Nachweise und Kritik und

Anmerkungen Konformismus

Erweiterte Fassung eines Aufsatzes, der in der Festschrift für Eduard Spranger: „Erziehung zur Menschlichkeit", Tübingen 1957 erschienen ist. 1. Beispielhaft für ein solches Vorgehen ist das bekannte Buch von Th. Geiger: „Aufgaben und Stellung der Intelligenz in der Gesellschaft", Stuttgart 1949. — Von einem ähnlichen Konzept der arbeitsteiligen Gesellschaft zur Funktionsbestimmung der Intelligenz geht auch René König aus. Vgl. Verhandlungen des 14. deutschen Soziologentages, 1959, S. 53 ff. 2. Vgl. „Ideologie", in: „Soziologische Exkurse", Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Bd. IV, 1956. 3. Vgl. einen von Franz Neumann am 28. XI. 1950 in der RiasFunkuniversität gehaltenen und als Manuskript vervielfältigten Vortrag. 4. Vgl. Th. Geiger, a.a.O., Kap. II. 5. Siehe hierzu den instruktiven Aufsatz von K. Sontheimer: „Soziologie als Instrument des Konformismus", Frankfurter Hefte XI/8, 1956. 6. O.Spengler: „Der Untergang des Abendlandes", Bd. I, 11.-14. Aufl. München 1920, insbesondere „Einleitung", S. 57. 7. Es ist bezeichnend, daß dieses Selbstverständnis der Intelligenz als „Wertelite" heute bei den studentischen Korporationen noch immer sich wiederfindet. Vgl. D. Grossherr: „Die Korporationen und die Demokratie", in: „Die neue Gesellschaft" III/6, 1950, und LutzE. Finke: „Gestatte mir Hochachtungsvoll", Hamburg 1963. 8. Paul Tillich: „The Person in a Technical Society", in: „Christian Thought and Social Action", N . Y . 1953, übersetzt in: „Perspektiven", H . 8, 1954, S. 129 ff. — Siehe zur gleichen Problematik auch M. Horkheimer und Th. W. Adorno: „Dialektik der Aufklärung", Amsterdam 1947, insbesondere S. 144 ff. 9. Vgl. M. Horkheimer, W.Dirks, R. Guardini: „Die Verantwortung der Universität", 1953.

Der Erfahrungsbegriff

in der empirischen

Sozialforschung

Unveränderter, jedoch durch Anmerkungen ergänzter Abdruck eines Vortrages, der im Institut für Sozialforschung an der Universität Frankfurt a. M. gehalten wurde und als solcher im „Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie", XLIII/4, 1957 erschienen ist. 237

Nachweise und

Anmerkungen

1. Vgl. den hier S. 106 abgedruckten Beitrag. 2. In der Zeit seit dem ersten Erscheinen des vorliegenden Beitrages sind zwei Arbeiten erschienen, die die hier vorgetragenen Gedanken weiterführen. Jürgen Fijalkowski unternimmt es, den vorliegenden Beitrag in eine vergleichend-kritische Übersieht über die EmpirieTheorie-Diskussion einzuordnen. (Vgl. „Über einige Theoriebegriffe in der deutschen Soziologie der Gegenwart", in: „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie", Jhg. 13, Heft 1, 1961.) Gerald Eber lein greift die hier behandelte Problematik in einer grundsätzlichen Analyse auf. (Vgl. „Der Erfahrungsbegriff der heutigen empirischen Sozialforschung", Sozial wissenschaftliche Schriftenreihe hrsg. von L. Clausen, D. Dankwerts, H . J. Krysmanski, Heft 2, Berlin 1963.) 3. „Das Interview — Formen, Technik, Auswertung" (Praktische Sozialforschung Bd. I) hrsg. von R. König, 2. Aufl. Köln 1957. 4. Ebenda. 5. Vgl. Th. W . A d o r n o : „Soziologie und empirische Forschung", in: „Wesen und Wirklichkeit des Menschen", Festschrift f. H . Plessner, Göttingen 1957. 6. Gemeint ist mit dieser Anspielung das „Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947—1955", hrsg. vom Institut für Demoskopie, das der Verfasser 1956 für den Rias-Berlin äußerst kritisch besprochen hat. 7. Zum Verhältnis zwischen Philosophie und Soziologie vgl. neben den hier abgedruckten Beiträgen des Verfassers vor allem M. Horkheimer: „Soziologie und Philosophie", abgedruckt in den Verhandlungen des 14. deutschen Soziologentages, Stuttgart 1958. 8. Vgl. zu dieser Einengung des Rationalitätsbegriffes die einschlägigen Passagen bei Fijalkowski a.a.O., S. 95 f. 9. „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie", 9. Jhg. 1957 S. 97 ff. und die Replik Adornos S. 105 ff. 10. Zum Verhältnis „Theorie und Hypothese" vgl. Fijalkowski a.a.O., sowie die dort genannte Literatur. 11. Gerade dieser ideologiekritische Hinweis ist im ersten hier abgedruckten Beitrag weiter ausgeführt.

Der Leninismus — Ideologie als philosophisches

System

Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrages, der im Rahmen der Universitätstage der Freien Universität Berlin im Winter-Semester 1960/61 gehalten wurde. Als Vortrag abgedruckt in: „MarxismusLeninismus, Geschichte und Gestalt", Berlin 1961. 238

Nachweise und Anmerkungen 1. Vgl. zum Ideologiebegriff die hier abgedruckten Beiträge auf S. 56 und S. 82. 2. Vgl. zur Tradition der russischen revolutionären Intelligenz die verdienstvolle Sammlung von Richard Pipes: „Die russische Intelligentsia", Stuttgart 1962. 3. N . Berdjaev: „Les sources et les sens du sommunisme russe", 1938, S. 2 9 f., hier deutsch zitiert nach J . M . Bochenski: „Der sowjetrussische dialektische Materialismus", Bern 1950, S. 33. 4. D e r Briefwechsel Marx—Zasulic sowie die Entwürfe Marxens dazu sind enthalten i n : „Karl Marx, — Werke, Sdiriften, B r i e f e " , hrsg. von H . - J . Lieber, Bd. I I I , 2. Halbband, Stuttgart 1960. 5. Einschlägige Artikel Marxens ebenfalls a.a.O. der genannten Marx-Ausgabe. 6. Zum Beispiel G . V . Plechanov: „Socializm i politiceskaja b o r ' b a " , 1883. 7. Zum Beispiel W . I . L e n i n : „Was sind die Volksfreunde und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?" — „Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten", beide Schriften i n : „Ausgewählte Werke in zwei Bänden", Bd. I, Moskau 1946. Siehe auch Lenins Schrift von 1 8 9 9 : „Die Entwicklung des Kapitalismus in R u ß land", in: Lenin: „Werke", deutsch nach der 4. russischen Ausgabe, Bd. 3, Berlin 1956. 8. Alle Schriften sind in der genannten zweibändigen Auswahlausgabe enthalten. Stellenverweise im folgenden beziehen sich auf diese Ausgabe. 9. 1/188. 10. 1/190. 11. 1/191 ff. 12. 1/192. 13. 1/256 ff. 14. M a r x : Werke, Schriften, Briefe, a.a.O., 1. Halbband S. 454. 15. Vgl. den hier S. 56 abgedruckten Beitrag. 16. Vgl. M a r x : Werke, Schriften, Briefe, a.a.O., 2. Halbband S. 958 ff. 17. Vgl. F r . Engels: „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft", Berlin 1948. 18. V g l . e t w a E . M a c h : „DieMechanik in ihrer Entwicklung historischkritisch dargestellt", 3. Aufl., Leipzig 1897, S. 473. 19. Näheres dazu sowie einschlägige Literatur, mit der sich Lenin auseinandergesetzt hat, in: „Materialismus und Empiriokritizismus", deutsche Ausgabe Moskau 1947. 20. A. Bogdanov: „Tektologija", Berlin—Petrograd—Moskau 1922. 21. Vgl. einschlägige Zitate in deutscher Ubersetzung bei G. A. W e t t e r : „Der dialektische Materialismus", Wien 1953, S. 105 ff.

239

Nachweise und

Anmerkungen

22. W. I. Lenin: „Materialismus und Empiriokritizismus", a.a.O., S. 147, 276/277. 23. a.a.O., S. 128, S. 130 ff. 24. W. I. Lenin: „Aus dem philosophischen Nachlaß", Berlin 1954, S. 144. 25. J. W. Stalin: „Uber dialektischen und historischen Materialismus", Text und Kommentar hrsg. von I. Fetscher, 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1957. 26. „Grundlagen der marxistischen Philosophie", deutsche Ausgabe Berlin 1960. 27. Vgl. G. A. Wetter: „Sowjetideologie heute", Bd. I, FischerBücherei, Frankfurt a. M. 1962. 28. Vgl. „Materialismus und Empiriokritizismus", a.a.O., S. 87, wo Lenin der Materie die Eigenschaft der Widerspiegelung zuspricht. 29. Lenin a.a.O., S. 137 ff. 30. Vgl. H.-J. Lieber: „Erkenntnistheoretischer und politischer Pragmatismus in der Philosophie Lenins", in: „Aus Politik und Zeitgeschichte" — Beilage zu „Das Parlament", XVII/58 vom 30. IV. 58.

Utopie und Selbstaufklärung

der Gesellschaft

Erweiterte und überarbeitete Fassung eines Vortrages, der in der evangelischen Akademie Berlin im Oktober 1960 gehalten und bisher nicht veröffentlicht wurde. 1. Ernst Bloch: „Das Prinzip Hoffnung", 2 Bde., Frankfurt a. M. 1959. Bd. I, S. 2. 2. A.a.O., S. 10, 77 ff., 121 ff. 3. A.a.O., S. 5. 4. A.a.O., S. 9, 132 ff. 5. A.a.O., S. 223 und besonders S. 802 ff. 6. A.a.O., S. 129 ff. und 356 ff. 7. A.a.O., S. 132. 8. A.a.O., Bd. II, S. 1623. 9. Ebenda. 10. Ernst Bloch: „Spuren", Berlin 1930, erweiterte Ausgabe Frankfurt a. M. 1959, „Erbschaft dieser Zeit", Zürich 1935, erweiterte Ausgabe Frankfurt a. M. 1962. 11. „Erbschaft dieser Zeit", erweiterte Ausgabe, S. 16. 12. „Das Prinzip Hoffnung", a.a.O., Bd. I, S. 7. 13. A.a.O., S. 8.

240

Nachweise und 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20.

21.

22. 23.

24. 25. 26. 27.

Anmerkungen

A.a.O., S. 16. A.a.O., S. 17. A.a.O., S. 241. A.a.O., Bd. II, S. 1628. A.a.O., Bd. I, S. 76. A.a.O., S. 84. Ernst Blodi: „Subjekt — Objekt", Berlin 1951. Später präzisierte Bloch seine Kritik an Hegel. Vgl. „Hegel und die Gewalt des Systems", Vortrag an der Humboldt-Universität-Berlin am 14. November 1956. Die Auseinandersetzungen um Blodi behandelt ausführlich Hellmuth G. Bütow: „Philosophie und Gesellschaft im Denken Ernst Blochs", Philosophische und soziologische Veröffentlichungen des Osteuropa-Institut an der Freien Universität Berlin, hrsg. von H.-J. Lieber, Bd. III, Berlin 1963. Dieses Buch expliziert darüber hinaus den hier verfolgten Umschlag von Kritik in ideologische Option im Denken Blochs aufgrund einer eingehenden Analyse auch des Frühwerkes. Vgl. „Parteilichkeit in Wissenschaft und Welt", in: „Aufbau" Heft 7, Berlin 1951. Vgl. R. O. Gropp: „Ernst Blochs Philosophie — eine antimarxistische Welterlösungslehre", in: „Ernst Blochs Revision des Marxismus", Berlin 1957. „Das Prinzip der Hoffnung", a.a.O., Bd. II, S. 1623. A.a.O., Bd. I, S. 225. A.a.O., S. 124. Vgl. Th. W.Adorno: „Zur Metakritik der Erkenntnistheorie", Stuttgart 1956.

Ideologie

und Gesellschaft

in der

Sowjetunion

Bisher nicht veröffentlichter Vortrag auf der wissenschaftlichen Tagung der deutschen Gesellschaft für Osteuropa-Kunde in Münster i. Westf., 14.—16. IV. 1964. Zur Veröffentlichung im Tagungsbericht vorgesehen. 1. Vgl. den hier S. 137 abgedruckten Beitrag über „Leninismus". 2. V. Kelle, M. Koval'zon: „Formy obicestvennogo soznanija", Moskva 1959, S. 2 3 5 - 2 3 7 . 3. Vgl. H.-J. Lieber: „Individuum und Kollektiv in der Sowjetideologie", Schriftenreihe der niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung, 1964, dort auch Auszüge aus einschlägiger sowjetischer Literatur. 241 16

Lieber

Nachweise und

Anmerkungen

4. Über den Stand und „Die Entwicklung der empirischen Sozialforschung in der Sowjetunion" unterrichtet René Ahlberg unter dem angegebenen Titel in: „Berichte des Osteuropa-Instituts an der Freien Universität Berlin — philosophisch-soziologische Folge", hrsg. von H.-J. Lieber, Berlin 1964. 5. Vgl. etwa Raymond Aron: „Fin de l'âge idéologique?", in: „Sociologica" — Frankfurter Beiträge zur Soziologie Bd. I, Frankfurt a. M. 1955, ferner Eric Voegelin: „Die industrielle Gesellschaft auf der Suche nach der Vernunft", in: „Die industrielle Gesellschaft und die drei Welten", Zürich 1961. 6. „Grundlagen des Marxismus-Leninismus — Lehrbuch", Berlin 1960, Kapitel 26. 7. Vgl. den hier S. 1 abgedruckten Beitrag über „Philosophie, Soziologie und Gesellschaft". 8. Vgl. „Soziologische Exkurse", Frankfurter Beiträge zur Soziologie Bd. 4, 1956, S. 117. 9. Vgl. den hier S. 137 abgedruckten Beitrag über „Leninismus". 10. L. Kolakowski: „Der Mensch ohne Alternative", München 1960. 11. Vgl. das hektographierte Heft „Feniks", Moskva 1961, Nr. 1, abgedruckt in der Zeitschrift „Grani", Nr. 52/1962, S. 88 ff., besonders das Gedicht von A. Sug „Zvuki", wo es heißt: „wir sind die gleichberechtigten Urenkel des Jahres 1917". Die Komsomol'skaja Pravda hat dagegen eine Kampagne geführt. 12. N . S. Chruschtschow, L. F. Iljitschow: „Die Kunst gehört dem Volke — Reden zur Kulturpolitik", Berlin 1963. 13. Kelle, Koval'zon, a.a.O., S. 235-237. 14. Vgl. „Grundlagen der marxistischen Philosophie", Berlin 1960, Kap. 9. 15. Vgl. René Ahlberg: „.Dialektische Philosophie' und Gesellschaft in der Sowjetunion", in: „Philosophische und soziologische Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts an der Freien Universität Berlin", hrsg. von H.-J. Lieber, Bd. II, Wiesbaden 1960. 16. Vgl. „Grundlagen der marxistischen Philosophie", a.a.O., S. 309. 17. J.W.Stalin: „Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft", Berlin 1954. 18. Vgl. P.Chr. Ludz: „Totalitarismus oder Totalität", in: „Soziale Welt", XII/2, 1961, S. 137 f. 19. B.Meissner: „Das Parteiprogramm der KPdSU, 1903 bis 1961", Köln 1962, S. 240. 20. Vgl. den in Anmerkung 4 genannten Bericht R. Ahlbergs. 21. Vgl. die in dem in Anmerkung 4 genannten Bericht aufgeführte Bibliographie.

242

Nachweise und

Anmerkungen

22. Vgl. die in Anmerkung 3 zitierte Analyse des sozialistischen Kollektivismus. 23. Vgl. den in Anmmerkung 18 zitierten Aufsatz, und neuerdings „Soziologie der D D R " , hergb. von P. Chr. Ludz, Sonderheft 8/1964 der Kölner Zeitschrift f. Soziol. u. Sozialpsychol.

Totalitarismus Stark erweiterte Fassung eines Festvortrages zur feierlichen Eröffnung des 13. Konvents der Freien Universität Berlin, Februar 1962. Für die hier abgedruckte Fassung durfte ich dankenswerterweise Materialien verwenden, die P. Furth gesammelt hat. 1. Eine kurze und übersichtliche Darstellung der Geschichte der Totalitarismusforsdiung und der Kritik an ihr bietet O . Stammer: „Aspekte der Totalitarismusforsdiung", in: „Soziale Welt", Bd. 12, Heft 2, Göttingen 1961. Zur Problematik der Totalitarismusforsdiung, soweit sie auf die Parallelität von Nationalsozialismus und Bolschewismus abzielt, vgl. Ernst N o l t e : „Der Faschismus in seiner Epoche." München 1963. 2. Vgl. zur ideologischen Funktion der Theorie des totalen Staates etwa bei Carl Sdimitt das Budi Jürgen Fijalkowskis: „Die Wendung zum Führerstaat — Ideologische Komponenten in der politischen Philosophie Carl Schmitts", mit einem Vorwort von H . - J . Lieber, Bd. 12 der Schriften des Instituts für politische Wissenschaft, K ö l n - O p l a d e n 1958. 3. Martin D r a t h : „Totalitarismus in der Volksdemokratie", Einleitung zu Ernst Richert: „Macht ohne Mandat", Bd. 11 der Schriften des Instituts für politische Wissenschaft, Köln und Opladen 1958, S. X I I I . 4. Vgl. neben dem hier aufgenommenen Aufsatz: „Ideologie und Gesellschaft in der Sowjetunion nach Stalins Tod" zur Kritik an der Leistungsfähigkeit des Totalitarismusbegriffs f ü r die Erkenntnis der modernen Sozialgesellschaft Peter Chr. Ludz: „Totalitarismus oder Totalität", in: „Soziale Welt", Bd. 12, Heft 2, 1961. 5. Vgl. Ralf Dahrendorf: „Gesellschaft und Freiheit", München 1961. 6. Vgl. gerade dazu Th. W . A d o r n o : „Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit", in: „Gesellschaft Staat, Erziehung — Blätter für politische Bildung und Erziehung", 1/1960. 7. Aus der New York Times vom 23.1. 61 rückübersetzt. 8. Rede vor dem CSU-Wirtschaftsbeirat. Zitiert und referiert nach „Die Welt" vom 11. X I I . 61. 16*

243

Naditveise und

Anmerkungen

9. „Deutsche Ostkunde", Heft 9, 1959. 10. So der bayerische Arbeitsminister Stein auf einer Delegiertenkonferenz des „Bundes der Vertriebenen" in Würzburg am 12. 5. 1961, zitiert nach „Deutsche Zeitung" vom 13. 5. 61. 11. Vgl. die entsprechenden Passagen des hier aufgenommenen Aufsatzes „Ideologienbildung und Ideologienkritik". S. 73 ff. 12. Vgl. „Dialektik der Aufklärung", Amsterdam 1947. 13. Zitiert nach „Frankfurter Rundschau" vom 23. 2. 59. 14. Vgl. Fr. J. Strauss über den damaligen Pressechef der SPD Fr. Heine: „Einer jener Emigranten, die von London aus über BBC Deutschland geschadet haben und Schuld daran sind, daß die Alliierten 1945 dem deutschen Volk mit H a ß und Rachsucht begegnet sind" oder „die Tatsache, daß jemand emigriert, bedeutet noch gar nichts. Es hätte auch so kommen können, daß in der Auseinandersetzung von 1933 die Kommunisten gewonnen hätten und die Hitler, Goebbels, Göring und Eichmann emigriert wären. Sollte man sie allein deshalb als anständige und humane Leute feiern?" Zitiert nach „Der Spiegel" Jhg. XV, N r . 15, S. 16 und Nr. 35, S. 15. 15. Aufgrund dieser Äußerung haben, wie die Züricher Zeitung „Die Tat" berichtete, zum ersten Male katholische Abgeordnete in einer Front mit kommunistischen Abgeordneten im polnischen Parlament (Sejm) Adenauer angegriffen. 16. Dr. Richard Jaeger, Vizepräsident des deutschen Bundestages, in der „Abendzeitung" München, N r . 198 vom 8. II. 63 in der Rubrik: „Die Stimme der CSU". 17. Vgl. das Inserat: „Um Gottes willen wacht auf!" „Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 19.1. 61. 18. „Im Kampf zwischen Gut und Böse gibt es keine Neutralität. Keine Nation kann auf die billige Tour gerettet werden". Frank Buchmann in einer Anzeige auf dem Umschlag der Zeitschrift „Der europäische Osten", 7. Jhg. Nr. 80, Juni 1961.

Personenregister Adenauer, K. 227, 244 Adorno, Th.W. 18, 184, 226, 231, 232, 235, 237, 238, 241, 243 Ahlberg, R. 242 Alexander III. (v. Rußland). 140 Aristoteles 173, 182 Aron, R. 242 Avenarius, R. 154

Dirks, W. 232, 235, 237 Drath, M. 215, 243 Dühring, E. 153

Bacon, Fr. 4, 59, 102 Bakunin, M. 142, 152 Barber, B. 104, 236 Barth, H . 235 Berdjaev, N . 139, 239 Bloch, E. 164-185, 240, 241 Bochenski, J. M. 239 Bogdanov, A. 155, 156, 157, 239 Bruno, G. 173 Buchmann, Fr. 244 Bütow, H . G. 241

Fetscher, I. 236 Feuerbach, L. 174 Fijalkowski, J. 234, 238, 243 Finke, L. E. 237 Forsthoff, E. 214 Franco, Fr. 227 Freud, S. 168 Freyer, H . 50, 51, 54, 214, 234 Furth, P. 235

CernySevskij, N . G. 142 Chruschtschow, N . S. 242 Churchill, W. 221 Comte, A. 16, 2 4 - 3 2 , 33, 35, 62, 89-91, 92, 93, 105, 123, 232, 235 Dahrendorf, R. 232, 235, 243 Deborin, A. M. 206 Destutt de Tracy, A. 62 Dilthey, W. 131

Eberlein, G. 238 Elias, N . 234 Engels, Fr. 138, 139, 153, 154, 159, 176, 239

Geiger, Th. 102, 237 George, St. 114 Gropp, R. O. 241 Grossherr, D. 237 Grünwald, E. 235 Guardini, R. 237 Habermas, J. 231 Hegel, G . W . F. 8, 22, 27, 38, 50, 102, 173, 181, 182, 183 Heidegger, M. 12, 183, 184 Helvétius, C. A. 60, 61 Herzen, A. 142 245

Personenregister Hitler, A. 52, 53, 221 Hobbes, Th. 89 Hofmann, W. 234 Hofstätter, P. R. 131, 133 Holbach, P. H . D. v. 60 Horkheimer, M. 18, 226, 237, 238 Iljitschow, L. F. 242 Jaeger, R. 244 Jaspers, K. 231 Jünger, E. 234 Kant, I. 6, 34, 60, 125, 126, 133, 164 Kelle, V. 241, 242 König, R. 123, 133, 232, 233, 234, 237, 238 Kolakowski, L. 201, 235, 242 Koval'zon, M. 241, 242 Krodtow, Chr. v. 231, 234 Lacroix, J. 236 Landshut, S. 233 Leibniz, G . W . 173 Lenin, W. I. 139, 145-163, 192, 199, 239, 240 Lenk, K. 231, 235 Leonardo da Vinci, 173 Löwith, K. 12, 231, 233 Ludz, Chr. P. 242, 243 Lukacs, G. 233, 234 Lundberg, G. A. 233 Lynd, R. 36, 233 Machiavelli, N . 89 Mach, H . 154, 239

246

Mannheim, K. 83, 94-102, 103, 235, 236 Marx, K. 7, 8, 3 7 - 4 2 , 44, 46, 47, 49, 50, 64-67, 68, 70, 71, 85— 88, 91, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 149, 150, 152, 153, 154, 155, 156, 164, 165, 167, 173, 174, 176, 177, 179, 181, 200, 201, 239 Maus, H . 232 Meissner, B. 242 Merton, R. K. 104, 236 Mills, C. Wright 233 Napoleon I. 63, 89 Neüaev, S. 146, 152 Negt, O. 232 Neumann, Fr. L. 119, 237 Nietzsche, Fr. 89 Nolte, E. 243 Pareto, V. 72, 73, 89, 235 Parsons, T. 18, 104, 232, 236 Pipes, R. 239 Plechanov, G. V. 144, 239 Plessner, H . 236 Richert, E. 243 Riistow, A. v. 231 Schapper, K. 150 Sdieler, M. 9 2 - 9 4 Schelling, F. W. J. 173 Sdielsky, H . 20, 53, 54, 232, 233, 234 Schmitt, C. 50, 214, 234 Simmel, G. 44, 126 Sokrates 118, 119, 120 Sontheimer, K. 233, 237

Personenregister Sorel, G. 89 Sorokin, P. 9, 231 Spann, O. 50 Spengler, O. 9, 10, 113, 237 Spranger, E. 234 Stalin, J. W. 159, 193, 206, 208, 242 Stammer, O. 243 Stein, L. v. 49 Strauss, Fr. J. 222, 244 Sug, A. 242 Tillich, P. 233, 237 Tkaiev, P. N . 142, 146

Tonnies, 47, 50, Topitsdì, Toynbee,

F. 10, 43, 44, 45, 233 E. 236 A. 9, 231

Vierkandt, A. 44 Voegelin, E. 242 Weber, A. 47, 48 Weber, M. 17, 46, 104, 216 Wetter, G. A. 239, 240 Wiese, L. v. 44 Willich, A. 150 Zasulic, V. 142, 143, 239

Marxismus — Leninismus Gesdiidite und Gestair Universitätstage 1961. Veröffentlichung der Freien Universität Berlin Oktav. 232 Seiten. 1961. DM 2,—

Gesellschaftliche Wirklichkeit im 20. Jahrhundert und Strafrechtsreform Universitätstage 1964. Veröffentlichung der Freien Universität Berlin Oktav. 239 Seiten. 1964. DM 4,— GERHARD BAUER

» Geschichtlichkeit« Wege und Irrwege eines Begriffs Oktav. X I I , 208 Seiten. 1963. DM 18 — (Die kleinen de-Gruyter-Bände 3)

Historische Theorie und Geschichtsforschung der Gegenwart Herausgegeben von Richard Dietrich Oktav. VIII, 149 Seiten. 1964. DM 9,80

Faktoren der politischen Entscheidung F e s t g a b e f ü r ERNST FRAENKEL z u m 6 5 . G e b u r t s t a g .

Herausgegeben von Gerhard A. Ritter und Gilbert Ziebura Mit 1 Bildnis. Groß-Oktav. X, 451 Seiten. 1963. Ganzleinen DM38,—

Walter de Gruyter & Co • Berlin 30