Philosophie des Ortes: Reflexionen zum Spatial Turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften [1. Aufl.] 9783839426449

The engrossing cultural studies analyses of space-related research topics which have taken place over the past two decad

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Philosophie des Ortes: Reflexionen zum Spatial Turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften [1. Aufl.]
 9783839426449

Table of contents :
Inhalt
Einleitung: Philosophie des Ortes
Vom Raum zum Ort – und zurück
Das Erhabene als Ortserfahrung
Religiöse Orte und gelebter Raum
Questioning ‘situated cognition’
Can Place Prehend Philosophy?
The Taking Place of Risk
Orte der Technik
Afropolitans All?
»Nowhere Was Somewhere«
Der Ort des Gewesenen
»Wohnen bedeutet, an einem bestimmten Ort zu Hause zu sein«
Autorinnen und Autoren

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Annika Schlitte, Thomas Hünefeldt, Daniel Romic´, Joost van Loon (Hg.) Philosophie des Ortes

Edition Moderne Postmoderne

Annika Schlitte, Thomas Hünefeldt, Daniel Romic´, Joost van Loon (Hg.)

Philosophie des Ortes Reflexionen zum Spatial Turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften

Ein besonderer Dank für die Unterstützung des Graduiertenkollegs »Philosophie des Ortes« und die Realisierung dieses Sammelbandes gilt der Pädagogischen Stiftung Cassianeum Donauwörth.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2644-5 PDF-ISBN 978-3-8394-2644-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung: Philosophie des Ortes

Annika Schlitte/Thomas Hünefeldt/Daniel Romiü/Joost van Loon | 7 Vom Raum zum Ort – und zurück

Stephan Günzel | 25 Das Erhabene als Ortserfahrung

Annika Schlitte | 45 Religiöse Orte und gelebter Raum

Ulrich Beuttler | 63 Questioning ‘situated cognition’

Thomas Hünefeldt | 81 Can Place Prehend Philosophy?

Rob Shields | 105 The Taking Place of Risk

Joost van Loon | 129 Orte der Technik

Silja Graupe | 145 Afropolitans All?

Kerstin Schmidt | 177 »Nowhere Was Somewhere«

Richard Nate | 197 Der Ort des Gewesenen

Walter Schweidler | 217 »Wohnen bedeutet, an einem bestimmten Ort zu Hause zu sein«

Hans Dieter Zimmermann | 231 Autorinnen und Autoren | 247

Einleitung: Philosophie des Ortes Reflexionen zum Spatial Turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften A NNIKA S CHLITTE /T HOMAS H ÜNEFELDT / D ANIEL R OMIû /J OOST VAN L OON

Orte spielen als Sinneinheiten in unserem Welterleben und -erkennen eine fundamentale Rolle, die jedoch selten theoretisch reflektiert worden ist. In der modernen Philosophie galt der Ort lange Zeit als bloßes Anhängsel des Raumes, der in seiner Abstraktheit und Homogenität wenig zu tun hat mit der lebensweltlichen Erfahrung des An-einem-Ort-Seins, von der unser Denken und Handeln stets ausgeht. Während in den Sozial- und Kulturwissenschaften seit den 1990erJahren unter dem Stichwort »Spatial Turn« eine vermehrte Beschäftigung mit den Prinzipien räumlicher Strukturierung und Orientierung stattfindet, die auch die Philosophie erfasst,1 steht eine systematische philosophische Auseinandersetzung mit dem Ort im deutschsprachigen Raum noch am Anfang. Dabei birgt eine solche philosophisch informierte Reflexion des Ortes, als dessen erste Ausformung sich der vorliegende Band versteht, wichtige Ansatzpunkte für eine interdisziplinäre Diskussion, indem sie den Blick auf eine verdeckte Denkvoraussetzung freigibt, die zum Ausgangspunkt einer Selbstklärung der Kultur- und Sozialwissenschaften unter den Bedingungen des Spatial Turn werden kann. Diese gehen schließlich immer schon mit dem Ort um; denn auch wenn die Differenz von Ort und Raum in den Einzelwissenschaften bisher kaum systematisch

1

Obgleich sie sich mit dem Raumproblem kontinuierlich befasst hat, lässt sich eine bewusste Öffnung gegenüber der kulturwissenschaftlichen Raumforschung beobachten; vgl. Alpsancar, Suzana/Gehring, Petra/Rölli, Marc (Hg.): Raumprobleme. Philosophische Perspektiven, München 2011.

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reflektiert wurde, so ist in den empirischen Untersuchungen, die sich als Beitrag zur Raumforschung verstehen, schon vielfach ein konkreter Ortsbezug gegeben. In diesem Sinne unternimmt der vorliegende Band eine erste Annäherung an einen interdisziplinär anschlussfähigen Ortsbegriff und eine kritische Sichtung seines Potenzials für die Grundlagenreflexion der Kultur- und Sozialwissenschaften. Als Einführung in die Problematik soll nun zunächst die philosophische Auseinandersetzung mit dem Ort historisch situiert werden (1), um diese dann anschließend in den Kontext des Spatial Turn in den Kultur- und Sozialwissenschaften einzubetten (2) und davon ausgehend Perspektiven für eine interdisziplinäre Ortsreflexion herauszustellen (3). Am Schluss erfolgt ein kurzer Überblick über die in diesem Sammelband vereinigten Beiträge und ihren systematischen Zusammenhang (4).

1. O RT

UND

R AUM

IN DER

P HILOSOPHIE

Zunächst ist zu konstatieren, dass es so etwas wie den philosophischen Ortsbegriff nicht gibt. Der Blick in die Philosophiegeschichte zeigt, dass das Nachdenken über Raum und Ort die philosophische Reflexion zwar seit ihren Anfängen begleitet hat, aber auch stets der Schauplatz theoretischer Auseinandersetzungen geblieben ist, so dass sich hier ein Tableau verschiedenster theoretischer Ansätze entfaltet. Die doppelte Struktur des Raumes, als Differenz von Ort und Raum gefasst, ist laut Edward Casey in der Geschichte der modernen Philosophie jedoch lange vernachlässigt worden, nachdem die Antike noch beiden Seiten Rechnung getragen hatte.2 Zu der Abgrenzung von Ort und Raum in aktuellen philosophischen Ansätzen gehört darum auch bei mehreren Autoren eine historische Erzählung über das Schicksal des Ortes, bei der sich drei Etappen unterscheiden lassen: Herrschaft des Ortes, Verlust des Ortes und Wiedergewinnung des Ortes.3 Bevor diese aktuelle Bewegung hin zu einer Philosophie des Ortes näher erläutert wird, sollen einige wichtige Stationen dieser Geschichte daher kurz rekapituliert werden.

2

Vgl. Casey, Edward S.: »Smooth Spaces and Rough-Edged Places: The Hidden History of Place«, in: ders.: Getting Back into Place. Towards a Renewed Understanding of the Place World, 2. Aufl. Bloomington 2009, S. 349-366; hier S. 352.

3

Vgl. Waldenfels, Bernhard: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, Frankfurt am Main 2009, S. 16-19; so auch bei Casey, Edward S., The Fate of Place. A Philosophical History, Berkeley/Los Angeles/London 1997.

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In der Antike stehen sich mit der platonischen chǀra und dem aristotelischen topos allerdings gleich zwei konkurrierende Auffassungen gegenüber, die es verbieten, von einem einheitlichen antiken Ortsverständnis zu sprechen. Die Begriffe, die meistens mit »Raum« und »Ort« übersetzt werden, dürfen allerdings ebenso wenig mit der Ort/Raum-Unterscheidung in der aktuellen phänomenologischen Diskussion gleichgesetzt werden.4 Obgleich man in der Neuzeit mit Edward Casey das Verblassen eines qualitativen Ortsbegriffs zugunsten einer quantitativen Raumauffassung konstatieren kann,5 setzt sich das Bild nebeneinander bestehender unterschiedlicher Raumauffassungen fort. Denn auch innerhalb einer quantitativen, naturwissenschaftlich geprägten Sichtweise des Raumes standen sich stets verschiedene Ansätze gegenüber, weswegen man nicht von einem einheitlichen neuzeitlichen Raumverständnis sprechen kann. So wird zwar mit dem Siegeszug der Newtonschen Naturwissenschaft auch ein bestimmtes Verständnis des absoluten Raumes als eines leeren »Behälters« transportiert, das für die Physik lange Zeit bestimmend blieb, doch stand mit Leibniz' Auffassung des Raumes als relationaler Ordnungsfunktion sogleich ein Gegenmodell zur Verfügung. Gegen die Dominanz der abstrakten naturwissenschaftlichen Raumvorstellung – sei Raum nun absolut oder relativ verstanden – wendet sich Anfang des 20. Jahrhunderts die phänomenologische Wissenschaftskritik, wobei auch der Ortsbegriff – insbesondere bei Heidegger – eine wichtige Rolle spielt. In seinem Vortrag Bauen Wohnen Denken beschreibt Heidegger den Raum als etwas, das erst von Orten »eingeräumt« werden muss.6 Der Ort eröffnet einen Raum und »versammelt« die Dinge darin. Im Spätwerk gewinnt der Ort bei Heidegger in der Wendung von der »Ortschaft des Seins« schließlich eine starke ontologische Bedeutung. Ort ist hier nicht nur eine Erfahrung, etwas spezifisch Erfahrbares, sondern die Grundlage unserer Erfahrung selbst, ohne deswegen etwas Subjektives zu sein. Auf diese Weise erlangt der Ort eine fundamentale Bedeutung für unser Selbstverständnis, indem hier nicht nur ein philosophischer Gegenstand neu bzw. wiederentdeckt, sondern eine alternative Denkweise entfaltet wird. Im Anschluss daran haben sich mehrere Denker mit dem Ort beschäftigt und die Ortsgebundenheit der menschlichen Identität betont. Der konkrete Ort, der

4

Vgl. Malpas, Jeff: Place and Experience. A Philosophical Topography, Cambridge 1999, S. 24 f.

5

Vgl. Casey, Edward S.: The Fate of Place. A Philosophical History, Berkeley/Los

6

Heidegger, Martin: »Bauen Wohnen Denken«, in: ders.: Vorträge und Aufsätze,

Angeles/London 1997. Pfullingen 1954, S. 145-162; hier S. 155.

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dem Kontext unserer lebensweltlichen Erfahrung zugehört, wird hier dem abstrakten Raum gegenübergestellt, der eine Bedingung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis bildet.7 Zu einem zentralen Konzept wird der Ortsbegriff seit dem frühen 20. Jahrhundert insbesondere in der japanischen Philosophie, was auf die Wirkung von Nishidas Logik des Ortes zurückzuführen ist.8 Das besondere interdisziplinäre Potential dieser Entwicklung zeigt sich auch daran, dass eine Wiederkehr des Ortes zeitgleich auch in der Geographie zu beobachten ist. Nachdem diese als idiographische Wissenschaft begonnen hatte, die sich der Beschreibung besonderer Orte widmete, trat der Begriff des Ortes mit der quantitativen Revolution der Geographie zu einer mathematisch-exakten Wissenschaft über längere Zeit in den Hintergrund. Erst in den 1970er-Jahren kam der Ort sowohl in der Humangeographie als auch in der marxistischen Geographie als Konzept zurück. Mit Anthony Giddens’ Strukturationstheorie und Henri Lefebvres The Production of Space wanderten soziologische und philosophische Ortskonzepte in die Geographie ein und wurden dort fruchtbar. Auch die Phänomenologie hatte auf die Wiederentdeckung des Ortes in der angelsächsischen Humangeographie z.B. bei Yi-Fu Tuan großen Einfluss, so dass inzwischen unter Beteiligung von Philosophen wie Edward Casey und Jeff Malpas eine interdisziplinäre Diskussion entstanden ist, die mittlerweile auch in Deutschland zur Kenntnis genommen wird.9 Neben Husserl, Heidegger und Merleau-Ponty ist auch Gaston Bachelard ein wichtiger Stichwortgeber bei der Erarbeitung einer philosophischen Konzeption von »Ort« (»place«).10 Bachelard liefert mit seiner Poetik des Raumes von 1957

7

Knut Ebeling fasst die Bewegung im 20. Jahrhundert wie folgt zusammen: »Aus einem vorgängigen Raum a priori wurde der erfahrene Raum und aus den erfahrenen Räumen wurden am Ende die konkreten Orte«; Ebeling, Knut: »›In situ‹: Von der Philosophie des Raums zur ortsspezifischen Theorie«, in: Stephan Günzel (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007, S. 309-323, hier S. 316.

8

Nishida, Kitaro: Logik des Ortes. Der Anfang der modernen Philosophie in Japan,

9

Vgl. Quadflieg, Dirk: »Philosophie«, in: Stephan Günzel, (Hg.), Raumwissenschaften,

übersetzt und hg. von Rolf Elberfeld, Darmstadt 1999. Frankfurt am Main 2009, S. 274-289; Waldenfels, Bernhard: »Topographie der Lebenswelt«, in: Günzel, Stephan (Hg.), Topologie (2007), S. 69-84. 10 Für die Humangeographie grundlegend: Tuan, Yi-Fu: Space and Place. The Perspective of Experience, Minnesota 1977; als Einführung vgl. Creswell, Tim: Place. A short introduction, Malden/Oxford 2009; für die Philosophie vgl. E. Casey: Getting Back into Place, Ders.: The Fate of Place, J. Malpas: Place and Experience.

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eine Beschreibung der menschlichen Psyche auf Basis der Orte, die ein Mensch bewohnt; Michel Foucault betont zehn Jahre später die Bedeutung ausgezeichneter Orte, der »Heterotopien«, für die Kulturanalyse. Dass der Ort, selbst wenn er als Gegenkonzept zum Raum verstanden wird, größere Aufmerksamkeit erfährt, wird nun sicherlich auch durch ein verstärktes Interesse am Raum gefördert, das sich insbesondere in der poststrukturalistischen Philosophie herauskristallisiert. Mit Foucaults Vortrag Von anderen Räumen beginnt nämlich auch das Phänomen, das in den 1990er-Jahren mit dem Begriff des »Spatial Turn« belegt wurde und das eine generelle Hinwendung zu Fragen der Räumlichkeit in den Kulturund Sozialwissenschaften bezeichnet, wobei Fragen des Ortes (auch als Gegenpol zu einem eher diffusen Raumverständnis) eine wichtige, aber noch unzureichend untersuchte Rolle spielen.

2. D ER S PATIAL T URN IN DEN K ULTUR - UND S OZIALWISSENSCHAFTEN – B EDEUTUNG UND P ROBLEMATIK Der Fokus auf Raum dient nun teilweise auch als Gegenbewegung zu der Dominanz der Zeit in der modernen Wissenschaft und wird nicht nur bei Foucault, sondern auch durch mehrere als »postmodern« oder »poststrukturalistisch« zu bezeichnende Denker angeregt, die sich räumlicher Denkmuster bedienen (z.B. im Konzept des Rhizoms bei Deleuze und Guattari,11 in der Beschäftigung mit der platonischen chǀra bei Derrida12 ). In der Ordnung des Nebeneinander, welche Leibniz als Signum des Raumes auszeichnet, zeigt sich hier bereits eine Nähe zum Selbstverständnis der Postmoderne, die nicht mehr von einem Nacheinander von Theorien im Sinne einer linearen Entwicklung ausgeht, sondern von einem Zugleichsein konkurrierender Konzepte.13 Wie Foucault bemerkt, findet im Prinzip schon bei de Saussure im Strukturalismus eine Verschiebung der Perspektive von der diachronen Betrachtung der zeitlichen Genese auf die synchrone Betrachtung der räumlichen Struktur statt. Nicht nur als Untersuchungsgegenstand, sondern auch als metatheoretisches Paradigma wird der Raum dann gewertet, wenn im Hinblick auf die Kultur- und Sozialwissenschaften von einem »Spatial Turn« die Rede ist, dem inzwischen

11 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1992. 12 Derrida, Jacques: Chǀra, hg. von Peter Engelmann, Wien 2005. 13 Vgl. Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen, Frankfurt am Main 2006, S. 170-172.

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ein »Topological Turn« und ein »Topographical Turn«14 an die Seite gestellt wurde, was bereits als Hinweis auf die Ortsproblematik gewertet werden könnte. Trotz der großen Wirkung, welche Philosophen wie Foucault auf die an der Vorbereitung dieses Turns beteiligten Theoretiker hatten, hat sich die Philosophie bei den Diskussionen dieser Forschungsbewegung bisher eher zurückhaltend gezeigt. Zusammen mit einer gewissen Skepsis gegenüber Wesensbestimmungen des Raumes auf Seiten der Einzelwissenschaften hat dies jedoch dazu geführt, dass das jeweils zugrundeliegende Raumverständnis und die verwendete Terminologie vielfach diffus bleiben. Nachdem das Raumparadigma seine Fruchtbarkeit für konkrete Forschungen nun jedoch hinreichend bewiesen hat, ist es an der Zeit, die zum Teil ungeklärten begrifflichen Grundlagen des Spatial Turns einer philosophischen Analyse zu unterziehen. Denn es ist zwar vielfach eine Hinwendung zu räumlichen Phänomenen erfolgt, eine Auseinandersetzung mit den Aporien des Raumbegriffs aber ausgeblieben. Viele Theoretiker arbeiten in ihrer Raumkonzeption mit Dichotomien, die philosophisch zu durchdringen und zu systematisieren bisher ein Postulat der Forschung geblieben ist.15 Diese Unterscheidungen sind in ihrer Benennung zum Teil widersprüchlich, was das Verständnis zusätzlich erschwert. So unterscheidet Michel de Certeau beispielsweise lieu und espace in genau entgegengesetzter Weise zu Marc Augés Differenz von lieux und non-lieux und Caseys space und place. Bei anderen Autoren finden sich z.T. dreistellige Unterscheidungen; so bei Edward Soja im Anschluss an Henri Lefevbre, indem er first, second und third space voneinander abgrenzt.

14 Vgl. hierzu Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hg.): Spatial Turn: Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2007; Günzel, Stephan (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007; zur Abgrenzung vgl. ders.: »Spatial Turn – Topographical Turn – Topological Turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen«, in: Döring/Thielmann, Spatial Turn (2007), S. 219-237. 15 Vgl. Wagner, Kirsten: »Topographical Turn«, in: Stephan Günzel (Hg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2010, S. 100-109; hier S. 106.

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3. D ER MÖGLICHE B EITRAG DER P HILOSOPHIE DES O RTES ZUR G RUNDLAGENREFLEXION DER K ULTUR UND S OZIALWISSENSCHAFTEN NACH DEM S PATIAL T URN Einen Impuls zu einer Reflexion der begrifflichen Grundlagen der Kultur- und Sozialwissenschaften soll die Beschäftigung mit der Philosophie des Ortes liefern, wie sie im Rahmen des Forschungskontextes erfolgen wird, aus dem dieser Sammelband als eine erste Standortbestimmung hervorgegangen ist. Die philosophische Betonung des Ortsbegriffs ist mit dem oben geschilderten generellen Interesse am Raum zwar verbunden, lässt sich in ihrer Entwicklung aber doch davon trennen, so dass hier neben der philosophischen Arbeit am Ortsbegriff selbst auch im Hinblick auf die Unklarheiten der kulturwissenschaftlichen Raumdiskussion ein klärendes Potenzial zu erwarten ist. Es zeigt sich nämlich, dass viele Schwierigkeiten der kulturwissenschaftlichen Raumforschung in enger Verbindung mit philosophischen Grundproblemen stehen, zu deren Klärung von der Philosophie des Ortes ein fruchtbarer Impuls zu erwarten ist. Drei Problemfelder sind hier hervorzuheben: 1. Wo die Beschäftigung mit dem Raum eine Frontstellung gegen einen »Temporozentrismus« im Denken des 19. und frühen 20. Jahrhundert einnimmt, besteht eine erste Gefahr darin, Raum und Zeit als Antagonismen zu verstehen. Doch ist ein strikter Dualismus von Raum und Zeit in der Physik nach der Relativitätstheorie gar nicht mehr denkbar. So ist es nicht zielführend, Raum und Zeit gegeneinander auszuspielen, zumal wenn man bedenkt, dass auch Geschichte immer nur im Raum stattfindet und Orte sich wesentlich durch das auszeichnen, was an ihnen geschieht und geschehen ist; so dass beides sich nicht ohne Weiteres trennen lässt.16 Diesen Zusammenhang, den die Geschichtswissenschaft bereits erkannt hat und für ihre Untersuchungen nutzt, kann die Beschäftigung mit dem Ortsbegriff weiter entfalten helfen. 2. Zum zweiten besteht eine Spannung zwischen der Vorstellung des Raumes als einer sozialen Konstruktion, wie sie in der Soziologie vielfach vertreten wird, und der Vorstellung einer Determination durch den Raum, die aus der Rezeption einer älteren Tradition der Geographie erwächst. Wenn hier auch kein Geodeterminismus im Sinne des 19. Jahrhunderts angestrebt wird, so soll doch die

16 Vgl. Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München/Wien 2003.

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grundlegende Bedeutung des Raumes für soziale Beziehungen herausgestellt werden. Dies ist schwer vereinbar mit der Annahme, Raum werde durch soziale Interaktion produziert. Hier ist der Ort als Einbruch des Realen in eine Welt der Zeichen interpretiert worden.17 Er erinnert daran, dass beispielsweise auch der Raum der Öffentlichkeit ohne eine Verankerung an einem geeigneten Ort nicht denkbar ist. Der Ort fungiert als Inbegriff des Vorgefundenen, er ist jeweils schon da und wird nicht erst erzeugt. Gleichwohl ist er nichts Nur-Natürliches, sondern geht der Natur-Kultur-Differenz schon voraus, ähnlich wie der menschliche Leib, so dass durch eine Konturierung des Ortsbegriffs im Hinblick auf die Frage nach Natur und Kultur hier eine Überwindung dieses Dualismus erreicht werden könnte. 3. Eine dritte Problematik bezieht sich eher auf die Bewertung aktueller politischer und gesellschaftlicher Prozesse, die sowohl als Wiederkehr als auch als Verschwinden des Raumes und/oder des Ortes gedeutet werden. So steht dem Phänomen der weltweiten Vernetzung bereits jetzt eine Aufwertung des Lokalen gegenüber und die Verbundenheit mit einem Ort oder einer Region gewinnt für viele an Bedeutung. Hier müsste eine eher praktisch orientierte Reflexion des Ortes ansetzen und danach fragen, welche Rolle der Ort für die menschliche Identität spielt. Angesichts der Aktualität der herangezogenen philosophischen Überlegungen wird im Folgenden der interdisziplinäre Ansatz explizit nicht so verstanden, dass ein in der Philosophie bereits vorliegender, fester ›Wissensbestand‹ gleichsam als theoretisches Werkzeug in den Kontext einer anderen Wissenschaftstradition exportiert wird, was aufgrund der lebendigen, sich selbst immer wieder hinterfragenden Denkweise der Philosophie auch gar nicht möglich wäre. Auch geht es nicht um eine bloße Gegenüberstellung eines ›philosophischen Ortsbegriffs‹ mit anderen Ortsbegriffen, sondern die interdisziplinäre Auseinandersetzung wird als ein echtes Gespräch gedacht, bei dem nicht zwei vorher feststehende Positionen aufeinanderprallen, sondern bei dem sich der gemeinsame Gesprächsgegenstand erst durch die Verständigung herausbildet. Ganz im Sinne Hans-Georg Gadamers, welcher betont hat, »daß das Gespräch seinen eigenen

17 Vgl. ders.: »Kartenlesen, Augenarbeit. Über die Fälligkeit des spatial turn in den Geschichts- und Kulturwissenschaften«, in: Heinz Dieter Kittsteiner, (Hg.), Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten, München, S. 261-283.

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Geist hat«18 und man beim Eintritt in ein Gespräch nie weiß, was am Ende dabei herauskommt, sollen die hier versammelten Beiträge dazu einladen, sich gemeinsam auf die Suche nach dem Ort zu machen, von dem alles Fragen und Nachdenken seinen Ausgang nimmt. Die Aufgabe der Philosophie in diesem Prozess besteht vor allen Dingen darin, die Aufmerksamkeit auf die Voraussetzungen zu lenken, die in der Einzelforschung stets verdeckt bleiben, weil sie mit den Mitteln des wissenschaftlichen Denkens selbst nicht eingeholt werden können. So zeigt sie sich als ein beständiges Hinweisen auf denjenigen Grund, Ort und Boden, von dem unser Denken immer wieder an-, voran- und umgetrieben wird.

4. Ü BERBLICK

ÜBER DIE

B EITRÄGE

DES

B ANDES

Der einleitende Beitrag von Stephan Günzel plädiert für eine doppelte Bewegung Vom Raum zum Ort – und zurück. Dabei wird zunächst die von ihm als »topische Kehre« bezeichnete Abwendung von einem naturwissenschaftlichen Raumbegriff und Hinwendung zum Ort nachverfolgt, wie sie sich z.B. bei Heidegger vollzogen hat, um von dort aus erneut in einer »topologischen Kehre« zum Raum zurückzukehren, indem dieser nun vom Ort aus perspektiviert wird, wobei Ort jedoch als »Struktur«, »Bezug« und »Prozess« verstanden werden soll. Zunächst erfolgt eine kritische Diskussion der ersten Bewegung zur Ortsphilosophie am Beispiel von Otto Friedrich Bollnows Mensch und Raum. Günzel arbeitet heraus, inwiefern Bollnows Raum- bzw. Ortsverständnis abhängig bleibt von der Vorstellung geographischer Lokalisierung und einem positiv besetzten Heimatbegriff, der auch biographisch motiviert ist. Als Gegenfolie zu dieser Ortsphilosophie dienen Autoren wie Deleuze/Guattari und Michel de Certeau, welche die Bewegung im Raum aufwerten, aber auch hier sieht Günzel kontingente zeitgeschichtliche Gründe für die Wahl des jeweiligen Theorieansatzes. Die Kritik an der Ortsphilosophie stellt Günzel mit Emmanuel Lévinas vor, der in Heidegger, Gargarin und wir feststellt, dass die Fixierung auf den geographischen Ort ein bestimmtes Heimatkonzept implizit voraussetze, welches eine Spaltung der Menschen in Einheimische und Fremde fördere. Günzel entwickelt nun unter Berufung auf Heidegger, den er von diesen Vorwürfen anders als seine Nachfolger nicht getroffen sieht, den Begriff der Topologie als Alternative so-

18 Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 7. Aufl. Tübingen 2010, S. 387.

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wohl zu dem von Newton geprägten absoluten Raumdenken als auch zu einem heimatbezogenen Ortsdenken nach Bollnow. Topologie kann dabei in vierfacher Weise verstanden werden: 1. als mathematische Lehre vom Ort, 2. als Sprechen von Ort, 3. als Geist des Ortes und 4. als Logik des Ortes. Für eine Philosophie des Ortes biete sich nun die vierte Alternative an, die Günzel im letzten Abschnitt unter Rückgriff auf Husserls Begriff des »Bodens« und Foucaults Strukturbeschreibung von Orten zu plausibilisieren sucht. Der folgende Beitrag Das Erhabene als Ortserfahrung – Vorüberlegungen zu einer Hermeneutik des Ortes von Annika Schlitte zielt nun darauf ab, die bereits von Günzel konstatierte phänomenologische Hinwendung zum Ort für die Analyse einer konkreten ästhetischen Erfahrung fruchtbar zu machen. Die Autorin widmet sich der Frage, welche Rolle der Ort für die Erfahrung des Erhabenen in der Natur spielt. In einem ersten Teil wird die philosophische Beschäftigung mit dem Ort in den Theoriekontext des Spatial Turn eingeordnet, um davon ausgehend Aufgaben und Problemfelder einer Philosophie des Ortes – 1. die Abgrenzung von Ort und Raum, 2. der ontologische Status des Ortes und 3. die historisch-kulturelle Dimension des Ortes – vorzustellen. Der zweite Teil des Beitrags eröffnet Perspektiven für eine Untersuchung des Erhabenen als Ortserfahrung. Die Autorin geht dabei von der Beobachtung aus, dass der von der Phänomenologie beeinflusste Theoriestrang, welcher den lebensweltlichen Ort (»place«) vom physikalischen Raum (»space«) abgrenzt und seine fundamentale Bedeutung für unsere Welterfahrung betont, zwar im Kontext des Spatial Turn verstärkt Beachtung findet, es jedoch bisher wenig Einzeluntersuchungen zur Analyse und Systematisierung von Ortserfahrungen in verschiedenen Bereichen der Lebenswelt gibt. Als ein mögliches Untersuchungsfeld erscheint hier die Frage nach der Bedeutung des Ortaspekts der Erfahrung im Hinblick auf unser Naturverständnis. Schlitte argumentiert, dass das Erhabene einen geeigneten Untersuchungsgegenstand für ein solches Vorhaben darstellt, wenn man den Naturbezug, der für die philosophische Behandlung dieser Erfahrung im 18. Jahrhundert wesentlich war und der in der postmodernen Diskussion der 1980er-Jahre aus dem Blickfeld geraten ist, wieder ins Zentrum stellt. Der dritte Teil zeigt den Ortsbezug des Erhabenen an ausgewählten historischen Stationen der Begriffsgeschichte auf, wobei drei systematische Gesichtspunkte die Darstellung gliedern. Die Erfahrung des Erhabenen stellt sich dar als Naturerfahrung (1), als Transzendenzerfahrung (2) und als Kunsterfahrung (3). Parallelen ergeben sich dabei zur Thematisierung der religiösen Ortserfahrung in der Religionsphänomenologie sowie zur Auseinandersetzung mit Ort und Landschaft in der Land Art der 1970er-Jahre.

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Der in der Diskussion um das Erhabene zumindest indirekt vorhandene Bezug zur religiösen Erfahrung, der z.B. dann aufscheint, wenn davon die Rede ist, dass im Erhabenen eine Art Transzendenzerfahrung ermöglicht wird, welche die Relation von Mensch und Natur betrifft, führt zur Frage nach der theologischen Bedeutung von Ort und Raum, die im folgenden Beitrag im Zentrum steht. In seinem Text Religiöse Orte und gelebter Raum untersucht Ulrich Beuttler diese Problematik aus der Perspektive der systematischen Theologie und geht dabei insbesondere der Frage nach, welche Rolle der Ort und der Raum für das Mensch-Gott-Verhältnis spielen. Vor dem Hintergrund einer historischen Skizze der Entwicklung der Konzeption des Verhältnisses zwischen Gott und Raum in der Neuzeit, die in der These von der Orts- und Raumlosigkeit Gottes mündet, nennt Beuttler drei wichtige Argumente für die Raumbezogenheit Gottes, denen zufolge eine Beziehung Gottes zum Raum religiös, trinitäts- und schöpfungstheologisch sowie logisch notwendig ist, und entwickelt dann schließlich im konstruktiven Hauptteil seines Beitrags ein Raumverständnis, welches eine Anwesenheit Gottes im Raum zu denken erlaubt. Entscheidend ist dabei Beuttlers These, dass nur der euklidische, geometrische Raumbegriff, nicht aber das phänomenologische Raumverständnis einen Raumbezug Gottes ausschließt. Anknüpfend an Eugen Minkowski und Graf Dürckheim unterscheidet Beuttler vier aufeinander aufbauende phänomenologische Strukturmerkmale des »gelebten« Raumes: präreflexive Präsenz, elementare Worin-Struktur, Gestimmt- und Getöntheit sowie Gerichtet- und Leiborientiertheit. Auf dieser Grundlage stellt er dann jeweils dar, wie sich die Räumlichkeit der Gegenwart Gottes auf jeder der diesen vier Strukturmerkmalen entsprechenden Schichten des »gelebten« Raumes manifestiert. Während die Annäherung an die Ortsthematik in den letzten beiden Beiträgen aus der Perspektive der philosophischen Ästhetik und der Theologie erfolgte, nimmt Thomas Hünefeldt in dem nun folgenden Beitrag Questioning ‘situated cognition’: Preliminary outline of a comprehensive approach to understanding the situatedness of cognition die kognitionswissenschaftliche Diskussion um den Ort der Kognition in den Blick. Ausgehend von einer kritischen Auseinandersetzung mit dem aufstrebenden, aber gleichwohl auch noch sehr vieldeutigen kognitionswissenschaftlichen Paradigma der »situated cognition«, welches das Verortetsein von Kognition betont, skizziert Hünefeldt einen Ansatz zu einem möglichst vorurteilsfreien und umfassenden Verständnis des Verortetseins von Kognition, welcher an zwei Paradigmen anknüpft, die gemeinhin als wichtige Vorläufer des Paradigmas der »situated cognition« gelten, nämlich zum einen an die philosophische Phänomenologie und zum anderen an die allgemeine Systemtheorie, also zum einen an das Paradigma, das eine programmatisch nicht-

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naturalistische, phänomenologische Analyse des Verortetseins von Kognition erlaubt, und zum anderen an das Paradigma, das die allgemeinste naturalistische Analyse des Verortetseins von Kognition gestattet. Die Verbindung dieser beiden fundamentalen und zugleich komplementären Paradigmen resultiert in ein Verständnis des Verortetseins von Kognition, welches Kognition im Organismus als ganzem verortet und daher eher mit einem im strengen Sinne verstandenen Paradigma der »embodied cognition« als mit anderen Varianten des Paradigmas der »situated cognition« übereinstimmt. »Situated Cognition« verweist auf die Verortung des Denkens. Rob Shields stellt in seinem Beitrag Thoughts on Place die Frage, wie man anstatt einer Philosophie des Ortes den Ort der Philosophie als Ort des Denkens verstehen könnte. Er kritisiert die Konzeption der Ortsgebundenheit der Philosophie Heideggers, weil sie Zeit und Raum einfach voraussetzt als bloßes »da«. Die daraus entstehende Trennung zwischen konkretem Ort und abstraktem Raum führt zu einer Naturalisierung von Topographie und Geschichte. Stattdessen könnte man Topos als Lokalität im Sinne von »l’espace« (social spatialization) oder »Gegend« verstehen. Die Lokalität eines Ortes ist dann immer mehr als das, was lokalisierbar ist. Es gibt immer sozusagen »Angelegenheiten«, die weder da noch nicht da sind. Schließlich wird in Auseinandersetzung mit Michel Serres die Vorstellung von einem »Ort des Mythos« entwickelt, durch den diese wichtigen »Angelegenheiten« immer wieder auf der Basis einer offenen Wechselbeziehung zwischen Denk- und Verortungsprozessen verstanden werden können. »Erfassung« ist der zentrale Begriff in dem Beitrag The Taking Place of Risk: Optic media and the Neuropolitics of Prehension von Joost van Loon. Ähnlich wie Hünefeldt und Shields, geht auch van Loon davon aus, dass Erfahrung keine selbstverständliche und natürliche Angelegenheit eines privaten Subjekts, sondern immer schon »irgendwo« verortet ist. Für van Loon ist diese Verortung intensiv mit unterschiedlichen Arten der Medialität verwoben. Genauer spezifiziert, ist dieses Kapitel ein Versuch, den Begriff »Erfassung« von Alfred North Whitehead anzuwenden, um Virtualität in Bezug auf die optisch-mediale Gestaltung von Ort und Raum besser zu verstehen. Dieser Versuch erfordert eine Betrachtung der Frage, was es bedeutet, wenn wir sagen: »etwas findet statt« (something takes place), wenn dieses Etwas eine virtuelle Entität wie »Risiko« ist. Van Loon argumentiert, dass die Erweiterung der optischen Medialität der sogenannten Neuropolitik dazu führt, dass die Materialität von Leib und Ort sich zunehmend verflüchtigt, wodurch der Ausnahmezustand als Ausnahmeraum sich immer weiter ausdehnen kann. Ein konsequentes Miteinbeziehen eines Ortskonzeptes kann aber verhindern, dass man diesen Ausnahmezustand als Totalität missversteht.

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Ein Ausnahmezustand ermöglicht auch, dass wir die Unverzichtbarkeit des Ortsbegriffs in Bezug auf existenzielle Fragen vor Augen behalten. Es ist der Übergang von Risiko zur Katastrophe, der die technische Gestaltung der Verortung einer Umwelt und deshalb des In-der-Welt-Seins unumkehrbar enthüllt. In diesem Sinne konfrontiert Silja Graupe in ihrem Beitrag Orte der Technik. Ba ሙ und Basho ሙᡤ in der modernen japanischen Philosophie am Beispiel der Reaktorkatastrophe von Fukushima das japanische Ortsdenken, das sich dem verborgenen Grund und »Boden« unseres Nachdenkens zuwendet, mit dem naturwissenschaftlich-technischen Blick und Zugriff auf die Welt. Unter Berufung auf Nishitani arbeitet sie zunächst den engen Bezug von Technik und Wissen heraus: Die technische Naturbeherrschung und die moderne Wissenschaft setzen einen Naturbegriff voraus, der Natur immer schon als berechenbaren und geordneten Gesetzeszusammenhang betrachtet und der darum unfähig ist, die Voraussetzungen eines solchen Denkens selbst im Denken einzuholen. Das japanische Ortsdenken versucht demgegenüber, nicht noch einmal einen anderen Standpunkt außerhalb einzunehmen, der nun seinerseits die moderne Technik und Wissenschaft zum Objekt zu machen, sondern den Blick auf den Abgrund des NichtWissens zu richten, der sich angesichts einer nuklearen Katastrophe wie Fukushima auftut: Der Reaktorunfall soll auch als Erschütterung des sicheren Ausgangspunktes der modernen Wissenschaft verstanden werden, als Infragestellung des Ortes des Wissenschaftlers, der im Moment der Katastrophe nicht mehr Herr der Lage und distanzierter Beobachter ist. Das japanische Ortsdenken lenkt vielmehr den Blick auf die Eingebundenheit der Technik in das alltägliche Leben und den mitmenschlichen Umgang – eine Eingebundenheit, die Graupe an den bekannt gewordenen Reaktionen und Äußerungen der von der Reaktorkatastrophe Betroffenen aufzeigt. Am Schluss des Beitrags eröffnet Graupe Perspektiven eines Nachdenkens über die verdeckten Voraussetzungen der Wissenschaft, das sich aus der Katastrophe von Fukushima ergeben könnte und das sich an Nishidas Logik des Ortes orientiert. Ein solches Ortsdenken werde sich schließlich weniger als eine Form der wissenschaftlichen Reflexion denn als tätiger Selbstvollzug des Philosophierens verstehen lassen. Den Schauplatz für die Gegenüberstellung von technischer Naturbeherrschung und japanischem Ortsdenken bilden in Graupes Text die kosmopolitischen Herausforderungen, die sich aus der Konfrontation mit westlich dominierten Modernisierungsprozessen ergeben. Der folgende Beitrag Afropolitans All? The Rediscovery of Place in a Mobile World Literature von Kerstin Schmidt beschäftigt sich ebenfalls mit der Problematik kultureller Assimilationsprozesse, allerdings im Kontext der Postkolonialismus-Diskussion. Hier wird deutlich, wie eng die theoretische Reflexion der afrikanischen Diaspora mit verschiedenen

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Konzeptionen und Bewertungen von Raum und Ort verbunden ist. Wie Schmidt eingangs feststellt, war das Konzept des »Black Atlantic« (P. Gilroy) bislang wegweisend für die theoretische Fassung der Literaturen der afrikanischen Diaspora, auch der afro-amerikanischen. In der neueren Kritik wurde gezeigt, inwiefern Gilroys Konstrukt, wie im Übrigen auch ähnliche Theoretisierungen diasporischer Literatur, auf einer Präferenz von Raum über Ort basiert, welche die nahezu unbegrenzte Mobilität der global agierenden »entwurzelten« literarischen Figuren preist und damit traditionellere Vorstellungen der Heimkehr zu einem bestimmten Ursprungsort als rückständig und illusionär betrachtet. Eine genaue Betrachtung neuerer Werke aus dem stark wachsenden Bereich der »Black diaspora literature« zeigt nun aber eine auffällige Betonung von Ortsgebundenheit, die sich zwar dezidiert abwendet von früheren Vorstellungen der Rückkehr zu einem singulären Ursprung, die aber dennoch Örtlichkeit als zentrale Erfahrungskategorie der kosmopolitischen Figuren ausweist und auf so vielfältige literarische Weise fasst, dass eine Neu-Konzeptualisierung der diasporischen Literaturen dringend erforderlich ist. In diesem Essay schlägt Schmidt dafür die Theorie der »Relation« des karibischen Philosophen und Romanciers Edouard Glissant sowie die einschlägigen Arbeiten zur Bestimmung des Ortes von Edward Casey vor. Ein so begründeter Ansatz kann die neuen Literaturen, die sowohl Örtlichkeit als auch Mobilität als zentrale Parameter der Erfahrung des Exils sehen, wesentlich besser fassen als frühere Konzepte (z.B. »Black Atlantic«). Als literarische Beispiele werden verschiedene Romane, Kurzgeschichten und autobiographische Texte des «kanadisch-amerikanischen, ostafrikanischindischen« Autors M.G. Vassanji diskutiert. Es wird abschließend die Frage gestellt, inwiefern genau in diesem scheinbaren Paradoxon von einerseits ausgeprägter Ortsfokussierung und andererseits global-kosmopolitischem Kontext der Schlüssel zu einer Rekonzeptualisierung von Weltliteratur liegen kann, jener alten Idee, die in rezenter Literaturkritik wieder so viel Aufmerksamkeit erfährt. Der folgende Beitrag Nowhere was somewhere: Utopie und Erinnerung von Richard Nate hat ebenfalls die literarische Konstruktion von Orten zum Gegenstand. Wie Schmidts Text bewegt er sich im Spannungsfeld von europäischen und transatlantischen Sichtweisen, allerdings werden Europa und Amerika in den untersuchten Texten in der literarischen Form der Utopie angesprochen. Wie Nate in seinem Beitrag zeigen kann, überlagern sich hier u-topische und topische Bewegungen: Einerseits erscheinen die Kontinente eher als Sehnsuchtsorte denn als geographische Einheiten, andererseits bedienen sich die utopischen Texte verschiedener Strategien der Verortung der fiktiven Idealvorstellungen. Wie Rob Shields beschäftigt Richard Nate sich in seinem Beitrag mit dem Phänomen des Mythos, aber hier spezifisch in Bezug auf die Bedeutung von Ort für die Gestal-

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tung utopischer Darstellungen. Es geht dabei um die literarische Konstruktion eines »Irgendwos«, auch wenn diese an sich in dieser Form nie existiert hat. Mittels eines Vergleichs zwischen Novalis' Die Christenheit oder Europa und Arthur E. Morgans Nowhere was Somewhere: How History Makes Utopias and How Utopias Make History versucht Nate zu zeigen, dass auch sogenannte Nicht-Orte (u-topoi) irgendwo verortet sind. Während Novalis sich auf ein mittelalterliches Europa bezieht, ist Morgans Vision der Zivilisation der Inkas eine »systrophe« (siehe den Beitrag von Shields) seiner nostalgischen Utopisierung eines verlorenen Ideals der New-Deal-Gesellschaft. Orte und Nicht-Orte (Utopien) erscheinen in Nates Sichtweise nicht nur als Ziele individueller Sehnsüchte, sondern auch als Teil kollektiver Erinnerung. Damit ist eine Verbindung angesprochen, die in der modernen Literatur vielfach reflektiert worden ist und mit der sich auch Philosophen wie Gaston Bachelard und Paul Ricoeur befasst haben, nämlich diejenige zwischen Ort und Erinnerung. Walter Schweidler denkt in seinem Beitrag Der Ort des Gewesenen. Zu Ricoeurs Ontologie des Vergessens über den Ort nach, wohin Gewesenes im Vergessen verschwindet und woher es im Erinnern wieder zurückkehrt. Wenn es möglich ist, zwischen Gewesenem und nie Gewesenem zu unterscheiden, so ist dieser Ort nicht subjektivistisch zu verstehen und »im Kopf«, d.h. im Gehirn oder im Un- bzw. Unterbewusstsein zu suchen: so wie sich nicht im Kopf, sondern an den Tatsachen entscheidet, ob etwas wahr oder falsch ist, so entscheidet sich, ob man sich einer Sache wirklich erinnert oder man sie sich lediglich einbildet, nicht im Kopf, sondern in dem objektiven Gehalt dessen, woran man sich zu erinnern glaubt. Dementsprechend ist der Begriff des »Bildes«, auf den auch Ricoeur noch zurückgreift, um das zu bezeichnen, worin eine abwesende Sache gegenwärtig ist, anders als Ricoeur selbst dies noch tut, nicht in einem psychologischen Sinne zu verstehen. Der Schritt über Ricoeur hinaus besteht für Schweidler nun jedoch nicht in dem bereits von Ricoeur selbst angedeuteten, aber aus gutem Grund nicht weiterverfolgten konsequenten Schritt in die Metaphysik, sondern in einem Schritt in die künstlerische Fiktion, wie er in Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit und exemplarisch in der MadeleineEpisode zur Sprache kommt. Die künstlerische Fiktion erlaubt es, jenen Ort denkbar werden zu lassen, an dem das Gewesene in seiner Differenz zum nie Gewesenem und ›nur‹ Erdichteten wiedererkennbar bleibt. Diesen Ort kann es nur in einer »zweiten Zeit« geben, die von der Zeit, in der das Gewesene gegenwärtig gewesen ist, durch einen ontologischen Abgrund getrennt ist, dem es seine Rettung vor der Auslöschung verdankt. Es gilt also, eine Zeit philosophisch wiedererkennbar zu machen, die aus dem Mythos, der Dichtung, der Kunst, der Religion und anderen Quelle eigentlich bestens bekannt, aber doch vergessen ist.

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Mit der Bedeutung des Ortes für die Erinnerung und der künstlerischen Fiktion befasst sich auch der letzte Text, jedoch weniger aus philosophischer Sicht, sondern in Form eines Streifzugs durch literarische Gestaltungen der biographischen Erinnerung an den Ort par excellence, die Heimat als Ort der Kindheit. Hans Dieter Zimmermann lässt in seinem Beitrag »Wohnen bedeutet, an einem bestimmten Ort zu Hause zu sein«. Der Ort als Heimat nicht nur eine Reihe von Dichtern, Schriftstellern und Philosophen, darunter vor allem Martin Heidegger, Peter Huchel, Hannah Arendt und Marcel Proust, zu Wort kommen, um wesentliche Facetten dessen zu illustrieren, was es bedeutet, an einem Ort heimisch zu sein, sondern er ergänzt und erläutert die so angesprochenen Motive dabei vielfach auch mit eigenen persönlichen Erlebnissen und Beobachtungen. Von zentraler Bedeutung für den Ort als Heimat ist für Zimmermann dabei die Kindheit: »Heimat ist das Land der Kindheit«, so zitiert er den tschechischen Schriftsteller Karel Capek, »das Land der ersten und darum auch stärksten Eindrücke, Entdeckungen und Erkenntnisse«. Der Ort als Heimat ist für Zimmermann also »ein Ort, der für uns Bedeutung ist, nicht als geographischer Ort, nicht als physische Gegebenheit, sondern als ein Ort, der durch unsere Erfahrungen an diesem Ort, durch unsere Erinnerung daran, durch unsere Benennungen einzig zu dem Ort wird, der er in unserer Vorstellung ist.« Dementsprechend ist der Ort als Heimat für Zimmermann an unsere Erinnerung und an das Bewahren von Erinnerungen geknüpft, und zwar auch ganz konkret an das Bewahren materieller Erinnerungen. Ohne solche Erinnerungen geht nicht nur das Heimische verloren, sondern auch das Fremde, das unsere Neugierde reizt und zu dem wir streben, um dann wieder nach Hause zurückzukehren. Umgekehrt jedoch kann der Schriftsteller aus jedem Ort eine Art Heimat machen, also zu einem Ort, der durch Bedeutung aufgeladen ist, weil ihn der Schriftsteller in seinem Werk benannt und belebt hat. Das Bild, das sich aus dem Durchgang durch die verschiedenen Reflexionsfelder und die interdisziplinären Bezüge einer philosophischen Auseinandersetzung mit dem Ort ergibt, entspricht in seinen mannigfaltigen Facetten der Erfahrungsvielfalt des verorteten Denkens. Ästhetische Erfahrung, die Begegnung des Glaubenden mit Gott, soziale und politische Ideale, kulturelle Identitäten und biographische Erinnerungen wären ohne Ortsbezug nicht das, was sie sind. Doch auch das Denken selbst kann als ein verortetes betrachtet werden, womit die Reflexion über den Ort in eine Aufmerksamkeit auf den Ort der Reflexion selbst übergeht. Ein roter Faden dieses Sammelbands ist daher die Verwobenheit von Ort und Denken: so wie der Ort eines Denkens bedarf, das ihn erörtert und verortet, so bedarf das Denken eines Ortes, aus dem es sich nährt und entfaltet.

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Das Denken erweist sich dementsprechend in den einzelnen Beiträgen dieses Bandes nicht als bloßes Abstraktum, sondern zeigt sich in seiner Angewiesenheit auf eine Verortung in der Leiblichkeit, Materialität, Relationalität und Medialität. Denken schwebt nicht in einem luftleeren Raum, vor dem schon Kant warnt, wenn er in der Einleitung in die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft die trügerische Sehnsucht der Taube beschreibt, die glaubt, dort besser fliegen zu können als in der Luft, die ihren Flügeln einigen Widerstand entgegensetzt.19 Mit der unvernünftigen Taube vergleicht Kant schließlich Platons Reise »auf den Flügeln der Ideen, in den leeren Raum des reinen Verstandes«20 . Was Platon jedoch wie die Taube übersehen habe, sei, »daß er durch seine Bemühungen keinen Weg gewönne, denn er hatte keinen Widerhalt, gleichsam zur Unterlage, worauf er sich steifen, und woran er seine Kräfte anwenden konnte, um den Verstand von der Stelle zu bringen«21. In einem leeren Raum des reinen Verstandes hat das Denken also buchstäblich keinen Anhaltspunkt, es kann nirgendwo ansetzen und sich so auch nirgendwohin fortbewegen, so dass das böse Ende für die Taube wie für eine solche Philosophie vorgezeichnet ist. Auf der anderen Seite meint das Verortetsein des Denkens nun aber auch nicht, dass dieses sich an einem sicheren, abgeschlossenen Ort im Inneren des einzelnen Subjekts abspielt, sondern über die Betonung des Ortes zeigt sich das Denken gerade in seinem Welt- und Mitweltbezug. Ort und Denken sind in dieser Konstellation mithin überhaupt nicht voneinander zu trennen, sondern aufs Engste miteinander verwoben. Denken ist immer schon im Raum verortet, hat einen je spezifischen zeitlichen und örtlichen Rahmen. Der Ort ist indes selbst auch kein bloßes, vom Denken abzutrennendes, selbstständiges geographisches Faktum, sondern von Sehnsüchten, Erinnerungen, Erfahrungen durchdrungen, wovon die in diesem Band versammelten Untersuchungen ein beredtes Zeugnis ablegen.

19 Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage 1787 (= Akademieausgabe Bd. III), S. 32/B 9: »Die leichte Taube, indem sie im freien Fluge die Luft teilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, daß es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde.« 20 Ebd. 21 Ebd.

Vom Raum zum Ort – und zurück S TEPHAN G ÜNZEL

Der Titel »Vom Raum zum Ort – und zurück« rekurriert erst einmal ganz unabhängig vom Thema ›Raum und Ort‹ auf den Buchtitel postum erschienener Aufzeichnungen des Philosophen Hans Blumenberg.1 Der Titel des Buches lautet Zu den Sachen und zurück und bezog sich seinerseits auf eine Formulierung des Phänomenologen Edmund Husserls aus dem zweiten Teil der Logischen Untersuchungen von 1901 – die da lautete: »auf die ›Sachen selbst‹ zurückgehen«.2 Dieses Credo der Phänomenologie kann in der Tradition des neukantianischen Mottos: »Es muss auf Kant zurückgegangen werden!«3 gesehen werden kann, das wiederum dreieinhalb Jahrzehnte zuvor von Otto Liebmann formuliert worden war. Die entscheidende Wendung im Titel von Blumenbergs Schrift gegenüber den Neukantianern und Husserl ist dann aber freilich die Platzierung des ›Zurück‹: zu den Dingen und zurück. Die Frage ist somit ›woher man denn kam‹, als man zu den Sachen oder Dingen ging oder gehen sollte. Die Antwort lautet: ›Aus dem Geist‹ (dies wäre die Kritik der Neukantianer an den Hegelianern) oder ›aus dem Bewusstsein‹ (das ist Husserls oder überhaupt die phänomenologische Idee der Intentionalität als unausweichliche Gerichtetheit des Bewusstseins auf Etwas, die Blumenberg kritisiert); denn es ist eben das Bewusstsein, das auf die

1

Vgl. Blumenberg, Hans: Zu den Sachen und zurück, aus dem Nachlass hg. von Manf-

2

Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen, Zweiter Teil: Untersuchungen zur

red Sommer, Frankfurt a.M. 2002. Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Husserliana, Bd. XIX/1, S. 10 (Einleitung, § 2). 3

Liebmann, Otto: Kant und die Epigonen. Eine kritische Abhandlung, Stuttgart 1865, S. 215.

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Dinge gerichtet ist; auch wenn es sich selbst dabei nicht immer seiner selbst bewusst ist. Wenn von Blumenberg nun ein Zurück gefordert wird, heißt das nicht, dass nicht auch schon Husserl ›zurückgedacht‹ hätte – das war seiner Phänomenologie als Reflexion ja inhärent –, aber es besteht eben die Gefahr zu vergessen, dass es in der Phänomenologie nicht um die Dinge selbst, sondern dass es um diese als Bewusstseinsphänomene geht (und für Blumenberg letztlich um die daraus hervorgehenden Begriffe und Metaphern). Analog soll ein Anliegen für die Philosophie des Ortes vorgebracht sein: »Vom Raum zum Ort – und zurück« meint also, dass eine Philosophie des Ortes sich bereits ausgerichtet hat und ›von woher‹ kam – nämlich vom Raum. In diesem Zusammenhang kann man von einer ›topischen‹ Kehre oder der Wende zum Topos (also dem Ort) sprechen, die ausging vom Raum und sich ihm gleichfalls gegenüberstellte; was in der Behauptung einer Ursprünglichkeit (also des Ortes) aber in Vergessenheit geraten kann. Wie mit keinem anderen Namen ist diese Wende mit Martin Heidegger verknüpft, der in seinem 1951 gehaltenen, einschlägigen Vortrag »Bauen Wohnen Denken« formuliert: »Räume [empfangen] ihr Wesen aus Orten und nicht aus ›dem‹ Raum«.4 Der Satz Heideggers könnte geradezu als Schriftzug über einer Akademie oder einem Graduiertenkolleg stehen, das sich der Philosophie des Ortes gewidmet hat. Als Motto kondensiert es vor allem eine Grundhaltung – nicht nur gegen eine beliebige Raumvorstellung, sondern gegen die Vorstellung von Raum als Raum überhaupt. Gemeint ist freilich Newtons Konzept des absoluten Raums, zu dem vorlaufend die Geometrie Euklids gerechnet wird, und nachlaufend aber jede Naturwissenschaft, die Newtons Raumvorstellung zur Grundlage hat. Für die Durchsetzung dieser Raumvorstellung macht Heidegger bekanntlich den Rationalismus verantwortlich, wie er sich in Descartes’ Philosophie manifestiert, der seinerseits die Grundlagen für eine algebraische Geometrie legte, in der Raum durch Konstruktionspunkte in dem dann später nach ihm benannten – dem kartesischen – Koordinatensystem berechenbar wird. Nichts Geringeres als die Eckpfeiler der Geschichte von Philosophie und Physik hängen also an der Aussage Heideggers, dass das Wesen der Räume »aus Orten und nicht aus ›dem‹ Raum« herrührt, und werden durch Heidegger nicht nur in seinem Vortrag von 1951, sondern letztlich in seinem ganzen Werk behandelt. Eben deshalb kommt wohl kaum einem anderen Denker des 20. Jahr-

4

Heidegger, Martin: »Bauen Wohnen Denken«, in: ders.: Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 1954, S. 139-156, hier S. 149.

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hunderts das Attribut ›Raumphilosoph‹ (oder nun vielmehr: ›Ortsphilosoph‹) rechtmäßiger zu.5 Mit dem Zurück, das ich der Hinwendung in meinem Titel »Vom Raum zum Ort« hinzusetze, soll im Weiteren aber auch gesagt sein, dass das Woher nicht nur nicht vergessen werden sollte, sondern auch, dass die Rückkehr das ›Woher man kam‹ (frei nach dem französischen Dichter Rimbaud gesprochen) zu etwas Anderem macht. Das heißt: Die Wende zum Ort soll noch einmal gewendet werden – nicht um jedoch zu Newton zurückzukehren und schon gar nicht, um die Raumphilosophie auf eine Theorie der Natur als Physik zu beschränken. Ganz im Gegenteil soll in dieser Wende Raum unter dem Ortsaspekt betrachtet werden, aber nicht als ein Ort ›hier‹ oder ›da‹ im Sinne der geographischen Lokalisation, sondern Ort als Struktur, Bezug und Prozess. – Man könnte diese Betrachtungsweise eine ›topologische Wende‹ nennen. Vor der näheren Erörterung der raumphilosophischen Konsequenzen durch die vorgebrachte Figur des ›Hin-und-Zurück‹, soll zunächst die Ortsphilosophie problematisiert werden. Hierfür wird nicht bei Heidegger selbst angesetzt, sondern bei einem Autor, dem weit mehr dafür Rechnung zu tragen ist, dass die Philosophie des Ortes sich in der deutschsprachigen Philosophie weitgehend durchsetzen konnte; jedenfalls zu einem Konsens oder gar einem Paradigma wurde, dem heute so unterschiedliche Denker wie Bernhard Waldenfels6 oder Peter Sloterdijk7 zugerechnet werden können, die in ihrer je unterschiedlichen Weise für eine ortsbezogene oder vom Ort ausgehende Raumphilosophie plädieren, die sich der Phänomenologie (mit ihren ebenfalls großen Unterschieden) verpflichtet fühlt. Ob er nun ausgiebig zitiert wird oder nicht, der Katalysator ist Otto Friedrich Bollnow oder vielmehr sein Buch Mensch und Raum von 1963, das bislang in elf Auflagen erschienen ist.8 Auch wenn das freilich nicht an die neunzehn Auflagen von Sein und Zeit heranreicht, so ist der Unterschied doch der, dass Sein und Zeit nicht allein wegen der Raumthematik gelesen wurde – Mensch und Raum hinge-

5

Vgl. so etwa Schatzki, Theodore R.: Martin Heidegger. Theorist of Space, Stuttgart

6

Vgl. etwa zuletzt Waldenfels, Bernhard: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen.

2007. Modi leibhaftiger Erfahrung, Frankfurt a.M. 2009. 7

Vgl. vor allem Sloterdijk, Peter: Sphären, 3 Bde., Frankfurt a.M. 2004.

8

Bollnow, Otto: Mensch und Raum, Stuttgart 2010 – 2011 auch als Band 6 der zwölfbändigen Gesamtausgabe, hg. von Ursula Boelhauve u.a. (Würzburg: Königshausen & Neumann) erschienen.

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gen schon. Was Jürgen Habermas über Hans-Georg Gadamer sagte,9 ließe sich auch auf Bollnow anwenden: Sein Buch ist (unter anderem) eine Urbanisierung der heideggerschen Provinz (wenn man unter ›Provinz‹ zunächst einmal den Duktus seiner Begriffssprache versteht). Mustergültig werden hier all die Elemente, die in Heideggers Raum- bzw. Ortsphilosophie verstreut vorkommen, zusammengeführt, systematisiert und in Verbindung zu anderen Raumphilosophien (zu nennen wären v.a. weitere Phänomenologen, aber auch die durch Maurice Merleau-Ponty eingeführte psychopathologischen Ansätze zur Raumwahrnehmung) des 20. Jahrhunderts gesetzt. Bollnows Band wurde nicht nur von Philosophen gelesen, sondern hatte (ähnlich wie Gadamers kurz zuvor erschienenes Wahrheit und Methode) großen Erfolg in der Pädagogik sowie darüber hinaus in der Architektur, der Soziologie, der Geographie etc. Es ist also keine Übertreibung zu sagen: Ohne Bollnow hätte sich das Paradigma der Ortsphilosophie nicht in diesem Maße etablieren können, wie es heute der Fall ist.10 Der Inhalt von Mensch und Raum ist musterhaft für die Ortsphilosophie, wie sie dann auch bei Schmitz und Ströker anzutreffen ist11: Denn der erste und entscheidende Schritt ist der Vollzug eben der topischen Wende, die der promovierte Physiker Bollnow im ersten Abschnitt »Der Raumbegriff bei Aristoteles« an der Naturlehre des antiken Philosophen festmacht. In dieser ist bekanntlich der Begriff Topos zentral und vor allem kommt das nicht vor, was eben für die newtonsche Lehre fundamental ist: nämlich die Leere, mit der in der Neuzeit die

9

Vgl. Habermas, Jürgen: »Urbanisierung der Heideggerschen Provinz. Laudatio auf Hans-Georg Gadamer«, in: Hans-Georg Gadamer/ders.: Das Erbe Hegels. Zwei Reden aus Anlaß der Verleihung des Hegel-Preises 1979 der Stadt Stuttgart an HansGeorg Gadamer am 13. Juni 1979, Frankfurt a.M. 1979, S. 9-31.

10 Und dies beginnt damit früher als die erst ab 1967 veröffentlichten Bände von Hermann Schmitz zum Raum als leiblich erfahrener Atmosphäre, die ebenfalls das Ortsparadigma affirmieren; und zeitgleich zu der 1963 eingereichten, aber noch nicht veröffentlichten Habilitationsschrift von Elisabeth Ströker; vgl. Schmitz, Hermann: System der Philosophie, Bd. 3, Teil 1: Der leibliche Raum, Bonn 1967; Ströker, Elisabeth: Philosophische Untersuchungen zum Raum, Frankfurt a.M. 1965. 11 Als Ausnahme und Vorreiterin zugleich kann das Raumbuch der Husserl-Schülerin Hedwig Conrad-Martius von 1958 gelten, worin die aristotelische Ortslehre zwar detailliert vorgestellt wird, jedoch nicht auf eine phänomenologische Anthropologie hin interpretiert wird, sondern als Vorwegnahme der Quantentheorie. (Vgl. ConradMartius, Hedwig: Der Raum, München 1958.)

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Bewegung als Anziehung der Körper untereinander durch die Gravitationskraft gedacht wurde. Doch Bollnow geht es nicht um eine Revision der Physik. – Hierzu hätte er eben auf ganz andere Entwicklungen eingehen müssen: So gab es durchaus die Auffassung in der Relativitätstheorie auch die Vorstellung vom Vakuum zu relativieren, insofern es nach Einstein keinen »feld-leeren«12 Raum geben kann. Worum es Bollnow als Philosoph geht, ist vielmehr, die Grundlage für eine menschliche Raumlehre zu schaffen oder eben eine anthropologische Phänomenologie oder eine phänomenologische Anthropologie des Raums – daher auch der Titel: »Mensch und Raum«. Aristoteles fungiert hierfür zunächst als Autoritätsbeweis, die eigentliche Herleitung des Ortskonzepts hingegen ist eine andere und nicht derart explizit. Sie findet sich etwas deutlicher gegen Ende des Buches, wo ein Kapitel der »Begründung der Heimat« gewidmet ist, in dem es heißt: »[D]er Ort als Ort […] bezeichnet […] die bestimmte, angebbare Stelle auf der Erde. Mit der Bindung an diesen bestimmten Ort beginnt dann die Begründung der Heimat.«13 Dass es sich hierbei um mehr als um nur einen Aspekt, nämlich vielmehr das konstitutive Element der Ortsphilosophie Bollnows handelt, zeigt ein Blick weiter zurück: Bereits 1935 veröffentlicht Bollnow einen Aufsatz mit dem Titel »Der Mensch und seine Heimat«, in dem alle wesentlichen Elemente seines späteren Buches Mensch und Raum bereits angelegt sind. Der Grund, von ›Heimat‹ zu sprechen, war zu diesem Zeitpunkt für Bollnow ein wissenschaftsbiographischer: Als angehender Pädagoge war er Teil des Diskurses der ›Heimatkunde‹, also an der pädagogischen Grundlegung des gleichnamigen Fachs beteiligt, das in der Bundesrepublik ab 1960 allmählich durch die Bezeichnung ›Sachunterricht‹ abgelöst wurde (während die Bezeichnung in der DDR bis zu deren Ende beibehalten wurde). Führender Hochschulvertreter des Fachs Heimatkunde war Eduard Spranger, bei dem Bollnow in den 1920er Jahren in Berlin studierte und dessen Nachfolger er 1953 in Tübingen wurde. In einem zentralen Vortrag Sprangers von 1923 zum »Bildungswert der Heimatkunde« definiert er das Fach dabei als grundsätzlich bezogen auf »einen bestimmten Ort«,14 der sowohl eine

12 Einstein, Albert: »Relativität und Raumproblem«, in: ders.: Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, Berlin/Heidelberg/New York 1988 (Nachdruck 2001), S. 91-109, hier S. 107. 13 O. Bollnow: Mensch und Raum, S. 266. 14 Spranger, Eduard: »Der Bildungswert der Heimatkunde. Rede zur Eröffnungssitzung der Studiengemeinschaft für wissenschaftliche Heimatkunde am 21. April 1923«, in:

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zeitlich-historische Dimension, als auch eine räumlich-geographische habe. Zugrunde legt Spranger dabei in dem von ihm sog. Heimatprinzip das Modell der ›Lebenskreise‹, demzufolge am Ort von innen nach außen Familie, Beruf, Nation und Staat angesiedelt sind. Bemerkenswert an Bollnows Text von 1935 ist, dass er die im Heimatprinzip vorgängige Lokalisierung hier noch weniger rigide betont als in der Monographie von 1963 und stattdessen die Beziehungen zur Heimat betont, welche durch nahestehende Menschen (in erster Linie die Eltern) konstituiert sind: »Das allgemeine Wesen der Heimat […] läßt sich weder vom Land allein noch vom Menschen allein erfassen, sondern liegt in der Natur dieses Verhältnisses begründet, das alle Menschen in einer immer ähnlichen Weise an einen Boden bindet. Der Boden wechselt, aber die Natur dieses Verhältnisses bleibt sich gleich. Das Wesen der Heimat liegt also nicht in einem bestimmten Gegenstand begründet, sondern in der Natur dieses bestimmten Verhältnisses. Heimat ist selbst ein Verhältnis-Begriff.«15

Gleichwohl bleibt die entscheidende Prämisse der Ortsphilosophie, dass der Ort immer auch ein geographischer ist. Er ist nicht nur ein geographischer – er ist zudem geschichtlich, individuell etc.; aber er ist immer auch ein geographischer. Philosophisch von Interesse ist nun die Spannung, die sich hieraus für die Phänomenologie ergibt, deren Anspruch es ja ist, nicht für eine einzelnen Menschen, sondern unabhängig von Herkunft, Geschlecht etc. – also für ›das Dasein‹ überhaupt – die Grundstrukturen der Wahrnehmung herauszuarbeiten und diese zu benennen. In der Tat ist es so für eine Phänomenologie der Heimat essentiell, dass ein geographischer Ortsbezug gegeben ist (sei dieser Ort gegenwärtig real existent oder in der Erinnerung imaginiert); aber – so sei hier gefragt – ist der geographische Ortsbezug deshalb auch schon für eine Philosophie des Ortes essentiell? Nach Bollnow muss die Antwort wohl lauten ›ja‹; jedenfalls ist seiner auf den Ort gewendeten Raumphilosophie der geographische Ort zugrundegelegt. Der Grund hierfür scheint mir letztlich der zu sein, dass die Frage der Heimat nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schlichtweg dringender oder prekär geworden ist und sich in dem Festhalten am Ortsprimat durch Bollnow die biographische und generationenübergreifende Erfahrung des Heimatverlusts wider-

ders.: Der Bildungswert der Heimatkunde. Mit einem Anhang ›Volkstum und Erziehung‹, Leipzig: Reclam 1943, S. 5-46 [1923], hier S. 10. 15 Bollnow, Otto: »Der Mensch und seine Heimat« , in: Anklamer Heimatkalender 1935, S. 21-24 (zit.n. http://www.otto-friedrich-bollnow.de/doc/Heimat.pdf, S. 2).

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spiegelt: So musste sein Vater (Otto Ludwig Karl Richard), der seinerseits ein pommerscher Heimatforscher war, 1945 den Ort Freest in Vorpommern verlassen, um sich bei seinem zweiten Sohn Hermann in Wilhelmshaven niederzulassen. Bollnow selbst schreibt dazu in seiner Autobiographie von 1975: »Als meine eigentliche Heimat aber betrachte ich ein kleines Dorf im Kreise Greifswald [gemeint sein dürfte der Geburtsort des Vaters, Latzow; St.G.], in dem mein Großvater Lehrer war und in dem wir damals alle Schulferien verbrachten, und wo ich einmal nach einer schweren Krankheit einen unbeschwerten Sommer verlebte.«16

Soweit letztlich der zweite kontingente oder außerphilosophische Grund für die Präferenz der Heimat, neben derjenigen der institutionellen Herkunft Bollnows aus der Pädagogik der Heimat. Die Frage, die sich für mich daran anschließt, ist nun: Was ist zum einen die Alternative zur Ortsphilosophie? Aber viel mehr noch und darüber hinausgehend: Was ist eine Alternative für die Philosophie des Ortes? Eine mögliche Alternative (zur Ortsphilosophie) wurde 1980 von Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrer berühmt-berüchtigten Schrift Mille Plateaux in Form einer Apologie des Nomaden vorgebracht:17 Gegenübergestellt werden hier Sesshaftigkeit und Nomadentum, die nicht nur als historische Formen der Geschichte existierten, sondern auch bestimmten Philosophien entsprächen, denen die jeweilige Lebensform eingeschrieben sei. Als biblische Vorläufer wäre hier an Kain (als sesshafter Ackerbauer) und Abel (als nomadischer Hirte) zu denken; in der Philosophie zeichnet sich ein ›sesshaftes‹ Raumverständnis nach Deleuze und Guattari dadurch aus, dass hier immer von einem Punkt ausgegangen wird (was zu einem Primat des Ortes als geographischer Lokalisation führt), während die nomadische Raumphilosophie von der Linie oder vielmehr von einer Bewegung ausgeht (die zum Primat des Raums als Möglichkeit der Entfaltung führt). Als ein Theorie-Beispiel für Letzteres könnte prominent Michel de Certeau angeführt werden, der dezidiert vom Ort (fr. lieu) als dem ›Tod des Raums‹ spricht und den Raum (fr. espace) als den Ort definiert, »mit dem man etwas

16 Bollnow, Otto: Pädagogik in Selbstdarstellungen, hg. von Ludwig Pongratz, Bd. 1, mit Beiträgen von Fritz Blättner, Hans Bohnenkamp, Otto Friedrich Bollnow, Christian Caselmann, Erich Feldmann, Martin Keilhacker, Ernst Simon, Hamburg 1975, S. 95-144 (http://www.otto-friedrich-bollnow.de/doc/Selbstdarstellung.pdf), hier S. 96. 17 Vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus, aus dem Franz. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin 1992, S. 481ff.

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macht«.18 – Was geradezu eine Umkehrung Heideggers bedeutet, wenn formuliert würde: »Orte empfangen ihr Wesen aus dem Raum und nicht aus dem Ort.« (Certeau denkt dabei vor allem an die kartographische Festschreibung von Orten durch Koordinaten.) Beispiele für ersteres – die sesshaften Ortsphilosophie – ist eben Bollnow; aber in Frankreich selbst auch Marc Augé, der den von ihm sogenannten anthropologischen Ort, an dem Geschichte lebendig ist und greifbar wird, den Nicht-Orten oder unhistorischen Transit-Räumen der Moderne gegenüberstellt.19 Ein Verräumlichungsdenken wird vor allem in der deutschsprachigen Raumsoziologie von Martina Löw gefordert, insofern dies auf Augenhöhe mit der modernen Physik sei; also der Raumzeitphilosophie nach Einsteins entspricht, die den Raum als einen dynamischen begreift (wodurch dieser in sich relativ wird und eben nicht mehr wie bei Newton als absolut gelten kann). Doch die nomadische oder dynamische Alternative zur Ortsphilosophie ist ebenfalls nicht unproblematisch: Man muss nicht gleich soweit gehen wie Bollnow selbst und Menschen, die von sich meinten, keine Heimat zu brauchen, weil sie sich überall – und damit nirgend – zu Hause fühlten, mit (so Bollnow 1963 wörtlich) »ideenflüchtigen Kranken«20 gleichsetzen. Problematisch an Löws raumaffirmierender Konzeption ist etwa, dass das von ihr sogenannte ›Spacing‹ letztlich doch wenig dynamisch ist und ›Raum‹ dann sehr wohl als materielle Manifestation begriffen wird, wenn sie ›Spacing‹ definiert als »Errichten, Bauen oder Positionieren«, wie etwa »das Aufstellen von Waren im Supermarkt« oder »das Bauen von Häusern«.21 – Löw fällt so nicht nur hinter Einstein zurück, sondern vertritt letztlich eine Ortsphilosophie, die mit de Certeau gerade abgelehnt werden müsste, da Löw zwar Raum als Resultat einer Handlung begreift, nicht aber diese selbst als räumlich. Nochmals auf Deleuzes und Guattaris Konzeption des nomadischen Raums blickend, so lässt sich parallel zu Bollnow überdies eine ebenfalls zeitgeschichtlich-kontingente Motivation für diese Präferenz, d.h. die Nobilitierung des Nomadischen ausmachen.22 Konkret vor Augen stehen Deleuze und Guattari näm-

18 De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, aus dem Franz. von Ronald Voullié, Berlin1988, S. 218. 19 Vgl. Augé, Marc: Nicht-Orte, aus dem Franz. von Michael Bischoff, München 2011. 20 O. Bollnow: Mensch und Raum, S. 267. 21 Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2001, S. 158. 22 Eine bemerkenswerte Verbindung von nomadischer und sesshafter Raumphilosophie ist in Bollnows frühem Text zur Heimat anzutreffen, wenn er (freilich ohne die Hierarchie zwischen beiden umzukehren) im Sinne von ›Heimat-als-Verhältnis‹ schreibt:

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lich in erster Linie nicht die historischen Nomaden überhaupt (zu denen heute etwa vor allem die Arbeitsnomaden im Globalisierungsprozess gehören würden oder die Landflüchtlinge in den Dürregebieten der Erde), sondern ganz konkret: das palästinensische Volk in seinem Kampf für einen eigenen Staat. – Wie nämlich unter anderem aus einem kurzen Text von Deleuze über Jassir Arafat deutlich wird, der 1983 (also kurz nach den Tausend Plateaus) veröffentlicht wurde,23 war er wie andere Intellektuelle des Mai '68 in Frankreich und Deutschland auch, gegenüber dem (durchaus bewaffneten) Kampf gegen den Staat Israel positiv eingestellt. Die Konsequenz daraus muss nicht zwangsläufig sein, dass Philosophie nicht auf einer persönlichen Erfahrung beruhen darf, aus der eine Einsicht resultiert (wie im Falle Bollnow das Primat der Heimat aus der Vertreibung), oder eben auch aus einer politischen Überzeugung (wie bei Deleuze). Aus philosophischer Sicht sind Universalisierungen dieser Art jedoch zumindest kritisch zu sehen, wenn die entsprechende Erfahrung nicht offengelegt wird. Ein Philosoph, der die zugrundeliegende Erfahrung seiner Raumtheorie dezidiert offenlegt, ist der litauisch-französische Phänomenologe Emmanuel Lévinas: 1961 veröffentlicht er einen Text, mit dem an sich schon provokanten Titel »Heidegger, Gagarin und wir«. – Provokant ist der Titel nicht nur, da Lévinas einen Philosophen mit einem Kosmonauten auf einer Ebene verhandelt, sondern weil er auch ›uns‹ (das Wir) dezidiert einbezieht – also die Frage stellt, was haben wir (was hat ›unsere Erfahrung‹ oder ›unsere Überzeugung‹) mit Heidegger und Gagarin zu tun? Oder: Was haben sie uns zu sagen? Vor allem aber ist der Text zentral, da sich Lévinas radikal gegen eine Philosophie des Ortes wendet, deren Hauptvertreter Heidegger sei. Lévinas spricht wörtlich von einem »Aberglauben des Orts« in der heideggerschen Philosophie, welcher [Zitat:] »die heidnischen Schlupfwinkel unserer abendländischen Seele überschwemmt«.24

»[I]n demselben Sinne ist dann auch der Zigeunerwagen dem Zigeuner Heimat, ja noch weniger: die Landstraße für den Landstreicher. Irgend ein [sic!] Rest von Heimat liegt auch in diesen an keinen Ort gebundenen Beziehungen, nur ist sie anders aufgebaut und sehr viel ärmer als unsere, so dass sich ein reicheres Leben in ihr nicht mehr entfalten kann.« (O. Bollnow, »Mensch und Heimat«, S. 4.) 23 Deleuze, Gilles: »Die Größe von Yassir Arrafat«, in: ders.: Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995, hg. von Daniel Lapoujade, aus dem Franz. von Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 2005, S. 226-230. 24 Lévinas, Emmanuel: »Heidegger, Gagarin und wir«, in: ders.: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, aus dem Franz. von Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 1992, S. 173-176, hier S. 174.

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Heideggers Philosophie paraphrasiert Lévinas dabei wie folgt (es handelt sich hier wohlgemerkt nicht um seine eigene Auffassung, sondern um seine polemische Darstellung Heideggers): »Man möchte, dass der Mensch die Welt wiederfinde. Die Menschen hätten die Welt verloren. Sie kennen angeblich nur die vor sie gestellte, in gewisser Weise ihrer Freiheit entgegenstehende Materie, sie kennen nur Gegenstände. Die Welt wiederfinden heißt eine auf geheimnisvolle Weise in einem Ort zusammengekauerte Kindheit wiederfinden, sich dem Licht der großen Landschaften, der Faszination der Natur, den majestätischen hingelagerten Bergen öffnen; es heißt einen Pfad benutzen, der sich durch die Felder schlängelt [das ist Heideggers Motiv des ›Feldwegs‹; St.G.]; es heißt die Einheit spüren, die eine Brücke stiftet, indem sie die Ufer des Flusses und die Architektur der Bauten verbindet [das ist Heideggers Beispiel für eine Ortsstiftung in Vortrag »Bauen Wohnen Denken« von 1951; St.G.], die Gegenwart des Baums spüren, das Helldunkel der Wälder [das ist Heideggers Motiv der ›Lichtung‹; St.G.], das Geheimnis der Dinge, eines Krugs [das ist Heideggers Beispiel für die raumgebende Eigenschaft in dem Vortrag »Das Ding« von 1950; St.G.], der abgetretenen Schuhe einer Bäuerin [von Heidegger in Form eines van Gogh-Gemäldes in dem Vortrag »Der Ursprung des Kunstwerks« von 1935 als Entbergung der Erde thematisiert], das Funkeln einer Weinkaraffe auf einem weißen Tischtuch. Das Sein des Realen selbst würde sich hinter diesen privilegierten Erfahrungen zeigen, sich der Obhut des Menschen anvertrauend. Und der Mensch, Bewahrer des Lebens, zöge aus dieser Gnade seine Existenz und seine Wahrheit.«25

Soweit das längere Zitat, das in dieser Ausführlichkeit zeigen soll, dass Lévinas durchaus treffend beobachtet hat, dass die Ortsphilosophie Heideggers von Motiven geprägt ist, die im Heimatdiskurs eine Rolle spielen: Es sind allesamt Gegenmotive zu der durch Technik bestimmten Moderne, deren Rationalisierungstendenz Heidegger, wie gesagt, in seinen Texten kritisiert – bis dahin, dass er die Ablehnung des Rufes an die Universität Berlin 1933 in dem kleinen Aufsatz »Schöpferische Landschaft« mit seiner Verbundenheit zu der von ihm ausdrücklich so bezeichneten ›Provinz‹ (also dem Schwarzwald) erklärt.26 Lévinas geht es in seiner Kritik aber nicht um die heideggersche Provinzialität allein, sondern darum, dass aus einer Ortsphilosophie, die im Kern auf dem Konzept der Heimat fußt, eine duale Xenologie erwachsen muss: So schreibt

25 Ebd. 26 Vgl. Heidegger, Martin: »Schöpferische Landschaft. Warum bleiben wir in der Provinz?«, in: ders.: Aus der Erfahrung des Denkens. 1910-1976 (Gesamtausgabe, Bd. 13), Frankfurt a.M.: Klostermann 1983, S. 9-13 [1934].

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Lévinas: »Das Eingepflanztsein in eine Landschaft, die Verbundenheit mit dem Ort […] – eben dies ist die Spaltung der Menschheit in Einheimische und Fremde. Und in dieser Perspektive ist die Technik weniger gefährlich als [es] die Geister des Orts [sind].«27 Als Vertreter der technisierten Welt fungiert für Lévinas nun Gagarin und dessen erfolgreicher Flugversuch, bei dem erstmals ein Mensch in den Orbit gebracht wurde, wo er die Schwerelosigkeit leiblich erfahren konnte: »Bewundernswert an Gagarins Großtat ist gewiss […] nicht die sportliche Leistung, die anderen zu überflügeln, alle Höhen- und Geschwindigkeitsrekorde zu brechen. […] [W]as […] mehr als alles andere zählt, ist die Tatsache, den Ort verlassen zu haben. Eine Stunde lang hat ein Mensch außerhalb jedes Horizonts existiert – alles um ihn herum war Himmel, oder genauer gesagt, alles war geometrischer Raum. Der Mensch existierte im Absoluten des homogenen Raums.«28

Mit diesem Plädoyer von Lévinas wird also eine Alternative vorgebracht, die das ›Zurück‹ vom Ort zum Raum tatsächlich auf das zurückführt, wovon die topische Wende eigentlich wegführen sollte: vom absoluten Raum. – Der Grund für Lévinas ist dabei nicht nur der, deutlich und mithin überspitzt gegenüber der Ortsphilosophie aufzutreten, sondern der Grund ist auch der, zu zeigen, dass Newtons Raumvorstellung eben nicht nur eine Naturlehre ist, die den Menschen unberücksichtigt lässt (wogegen dann die Philosophie des Orts in Anschlag zu bringen sei), sondern von metaphysischen und auch religiösen Einsichten begleitet ist, die ihrerseits anthropologische (und mithin ethische) Implikationen haben. Die Annahme vom Raum als einem Absoluten geht nur zum Teil aus der kosmologischen Idee einer Endlosigkeit des Weltalls hervor (genau genommen wurde Newton selbst erst vor dem Hintergrund dieser Einsicht für Physiker plausibel); im Ansatz geht das Konzept des absoluten Raums vielmehr aus dem hebräischen Begriff für Raum – makom – hervor. Makom ist einer der Namen, mit denen Gott bezeichnet werden kann, der Sache nach meint makom vor allem aber ›Unteilbarkeit‹.29 Während also nach Lévinas die aristotelische Tradition des Toposdenken, welche im 20. Jahrhundert durch die Philosophie des Ortes aktualisiert wird, die Teilung voraussetzt – erst die Orte als Platz der Dinge konstituiert Raum –, so

27 E. Lévinas: »Heidegger«, S. 175. 28 Ebd., S. 175f. 29 Vgl. dazu auch Heuser, Harro: Der Physiker Gottes. Isaac Newton und die Revolution des Denkens, Freiburg i.Br. 2005.

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geht die newtonsche Tradition von einem Apriori des Raum als Unteilbarem aus, in dem sich die Dinge ungehindert bewegen können. Ethisch gewendet bedeutet das im Sinne von Lévinas, dass es für ein solches Raumdenken eben unmöglich ist, in ›fremd‹ und ›heimisch‹ zu unterscheiden. Vielmehr gehört Alles und gehören Alle dem gleichen Raum an. Gagarin fungiert hierbei in zweierlei Hinsicht: Einmal als Existenzbeweis für einen Leib ohne Orientierung, ein anderes Mal als Vertreter der ›Menschen des Kommunismus‹ (denen Gagarin seinen Flug gewidmet hatte) und die der Idee nach eine klassenlose Gesellschaft bilden, in der die Produktionsmittel – unteilbar in ›Klassen‹ – allen gemeinsam gehören. Die Aufgabe, vor die eine Philosophie des Ortes von daher gestellt ist – will sie gerade als Grundlage auch der gegenwärtigen Kulturwissenschaften fungieren –, kann so nicht einfach in dem Beharren auf einer Gegenposition zur Philosophie des Raumes bestehen, wenn im Zuge dessen ein Konzept von Heimat, eingedenk der Unterscheidung von zugehörig und fremd, explizit oder implizit vorausgesetzt wird. – Selbst wenn man die politische Weltanschauung von Lévinas nicht teilt, so hat seine philosophische Kritik doch Bestand. Allerdings trifft diese Kritik weniger auf Heidegger selbst zu, als vielmehr auf Heideggerianer – wie etwa Bollnow. An Heideggers Überlegungen kann vielmehr gegen Lévinas gezeigt werden, wie das Zurück vom Ort zum Raum (von woher die Räume nach Heidegger ›ihr Wesen empfangen‹) auf etwas anderes führen kann, als auf ›den (absoluten) Raum‹. Heideggers Motive von Brücke und Bauernschuhen mögen aus heutiger Sicht unglücklich gewählt sein, aber es ist eben bei ihnen nicht der Heimatbezug entscheidend (auch wenn er in den konkreten Beispielen gegeben sein mag). Der griechische Ortsbegriff, an den Heidegger anschließt, hat auch erst einmal nichts mit Heimat zu tun (ein Wort, das allemal nur in der deutschen Sprache zu existieren scheint), sondern mit dem, was in der Übersetzung von Aristoteles das »unmittelbar Umfassende« genannt wird. In seinem – wie auch »Bauen Wohnen Denken« – im Jahr 1951 veröffentlichten Text »Das Ding« übernimmt Heidegger denn auch das zentrale Beispiel aus der Physik des Aristoteles, um zu erklären, was der Ort ist: das Beispiel von Aristoteles ist eine Flüssigkeit (Wein) in einem Gefäß (Krug): Da der Ort nach Aristoteles weder die Form (morphe) noch der Stoff (hyle) eines Gegenstandes sei, kann weder die Gestalt des Kruges (heute würden wir wohl sagen, das Design – eben die Form) noch der das Material (weder des Kruges noch des Weines) als der Ort der umfassten Flüssigkeit angesehen werden. Was also ist der Ort als Umfassendes oder wie Heidegger schreibt: als das ›Fassende‹? – Heidegger schreibt in »Das Ding«: »Wand und Boden, woraus der

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Krug besteht und wodurch er steht,« so stellt Heidegger in Appropriation von Aristoteles fest, »sind nicht das eigentlich Fassende. Wenn dies [sc. Fassende] aber in der Leere des Krugs beruht, dann verfertigt der Töpfer, der auf der Drehscheibe Wand und Boden bildet, nicht eigentlich den Krug. Er gestaltet nur den Ton. Nein: er gestaltet die Leere. […] Allein, ist der Krug wirklich leer?«30

Die Idee also, dass nach Abzug von Stoff und Form eigentlich nur die Leere bleibt, aus der der Ort besteht – und dann weiter: »Worin beruht das Krughafte des Kruges? […] Wie fasst die Leere des Kruges? Sie faßt, indem sie das Aufgenommene behält. Die Leere faßt in zwiefacher Weise: nehmend und behaltend. Das Nehmen von Einguß und das Einbehalten des Gusses gehören jedoch zusammen. Ihre Einheit aber wird vom Ausgießen her bestimmt, worauf der Krug als Krug abgestimmt ist. […] Im Schenken des Gusses west das Fassen des Gefäßes.«31

Sieht man über Heideggers eigenwillige Sprache hinweg, so lässt sich hieran festmachen, dass mit dem Ort als dem ›Fassenden‹ weniger die Abgrenzung gegen andere Orte betont wird, als dass vielmehr die Möglichkeit, eine Stelle einzunehmen, als Tätigkeit oder Prozess gedacht wird. Man könnte vielleicht gar sagen als eine Operation: Ein Ort erscheint nicht als solcher oder existiert nicht, wenn er nicht mit einer Praxis verbunden ist. An dieser sind durchaus wieder materielle Elemente beteiligt, aber die Objekte sind für sich nicht raumkonstitutiv. Wenn nun nach einem eigenen Begriff gesucht wird, mit dem sich dieses Ortsverständnis ausdrücken lässt, so können wir uns an Heidegger selbst halten: Bereits vier Jahre vor seinen beiden zentralen Texten von 1951 sprach er von einer »Topologie des Seyns«32 und sein Spätwerk lässt sich entsprechend als Aus-

30 Heidegger, Martin: »Das Ding«, in: ders.: Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 1954, S. 157-179, hier S. 161. 31 Ebd., S. 163f.; kursiv St.G. 32 »Aber das denkende Dichten ist in Wahrheit die Topologie des Seyns.« (Heidegger, Martin: »Aus der Erfahrung des Denkens (1947)«, in: Aus der Erfahrung des Denkens, a.a.O., S. 75-86, hier S. 84.)

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arbeitung einer solchen Topologie lesen:33 Topologie (als Verbindung von topos und logos) kann dabei in verschiedenem Sinne verstanden werden: Einmal (1.) von logos her im Sinne einer ›Lehre‹ oder Wissenschaft des Ortes, sodann (2.) von logos als dem ›Sprechen‹ vom Ort, des Weiteren (3.) von logos als dem ›Geist‹ des Ortes, und zuletzt (4.) von logos als der ›Logik‹ des Ortes. 1. Als mathematische Lehre vom Ort geht die Topologie auf den Philosophen und Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz zurück, der zwar selbst noch nicht die Bezeichnung ›Topologie‹ verwendet, wohl aber in einem Text aus dem Jahr 1693 von einer Analysis situs spricht, also einer ›Analyse der Lage‹ als Betrachtung der Beziehungen zwischen Dingen.34 Ein berühmtes Beispiel für eine solche Orts- oder Lage-Analyse ist wiederum Leonard Eulers Lösung des Königsberger Brückenproblems von 1736, in der er zeigt, dass es nicht möglich ist, alle Brücken der Stadt über den Fluss Pregel jeweils einmal zu verwenden und abschließend wieder am Ausgangsort anzukommen (ein Versuch, der als Zeitvertreib im damaligen Königsberg beliebt war).35 Euler hingegen demonstrierte, dass die Lage der Orte als Verbindungspunkte der Brücken (den dann in der Topologie sogenannten ›Kanten‹) keinen unikursalen Durchlauf des Netzes (dem sogenannten Graphen) zulässt. Soweit die erste (und engere), mathematische Bedeutung von Topologie. 2. Bei Heidegger findet sich zunächst eine anderer, der zweite Sinn von Topologie: Topologie als das Sprechen vom Ort: Wie in dem Satz vom ›Schenken des Gusses‹ deutlich wird, sieht Heidegger in der dichterischen Sprache die vorrangige Möglichkeit, der existentialphänomenologischen Wahrheit des Raums nahe zu kommen. Es ist für ihn nicht in anderen Worten ausdrückbar, was der Ort als Geschenk oder Gabe seinem Wesen nach ist, außer so zu sprechen. Allerdings halte ich dieses Vorgehen nicht nur für eigenwillig und unter dem Vermittlungs-

33 Vgl. dazu auch Pöggeler, Otto: »Heideggers Topologie des Seins«; in: ders.: Philosophie und Politik bei Heidegger, Freiburg i.Br./München: Alber 21974 [1972], S. 71104 [1969]. 34 Vgl. Leibniz, Gottfried Wilhelm: »Zur Analysis der Lage«, aus dem Lat. von Artur Buchenau, in: ders., Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie 1 (Philosophische Werke in vier Bänden, Bd. 1), hg. von Ernst Cassirer, Meiner: Hamburg 1904, S. 49-55. 35 Vgl. Euler, Leonard: »Lösung eines Problems, das zum Bereich der Geometrie der Lage gehört«, aus dem Lat. von Wladimir Velminski, in: Leonard Euler. Die Geburt der Graphentheorie, hg. von Wladimir Velminski, Berlin 2009, S. 11-28.

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aspekt heute kaum ratsam, sondern wir finden gerade an dieser Stelle bei Heidegger etwas angelegt, das wieder in das Heimatdenken führt: So hat Heidegger etwa in seinem Text »Sprache und Heimat« von 1960 zwar scheinbar die Idee der Heimat von einem nationalstaatlichen oder auch provinziellen Territorium abgekoppelt (also vom geographischen Ort); aber letztlich hat er der ›Mundartdichtung‹ dabei ein »inständig schenkende[s] Hervorbringen von Heimat«36 zuerkannt. Das heißt, es wird nur das Medium gewechselt (Sprache statt Landschaft), nicht aber das Konzept von Heimat in der Ortsphilosophie aufgegeben. 3. Die dritte Möglichkeit, Topologie zu verstehen, und die zweite, die sich von Heidegger her entwickeln lässt, ist vor allem in der Architektur anzutreffen: Topologie als Geist des Ortes; oder in der geläufigen lateinischen Bezeichnung: genius loci. So entwickelt der norwegische Architekt Christian Norberg-Schulz unmittelbar von Heideggers Konzept des ›denkenden Wohnens‹ her einen phänomenologischen Begriff des Bauens, bei dem die lebendige Erfahrung der Architektur im Mittelpunkt steht.37 Heidegger selbst hat den Begriff ›Geist‹ jedoch weitgehend vermieden, gerade um der idealistischen Tradition zu entgehen, die für Heidegger abermals nur einen anderen Begriff für das Sein in Anschlag bring, statt dieses selbst zu denken.38 Bei einer der wenigen Gelegenheiten, an denen Heidegger tatsächlich ohne den distanzierenden Gebrauch mit Anführungszeichen vom ›Geist‹ spricht, steht dies in Beziehung zur ›Philosophie‹ des Nationalsozialismus als dem ›Führerprinzip‹.39 Wie Derrida anhand von Heideggers Rektoratsrede nachweist, geht die anführungszeichenfreie Verwendung 1933 zudem einher mit der postumen Veröffentlichung eines Hölderlin Verses über Heimat (nemlich zu Hauss ist der Geist nicht am Anfang, nicht an der Quell. Ihn zehret die Heimath), dem sich Heidegger dann auch 1942 im dritten

36 Heidegger, Martin: »Sprache und Heimat«, in: ders., Aus der Erfahrung des Denkens, a.a.O., S. 155-180, hier S. 180. 37 Norberg-Schulz, Christian: Genius loci. Landschaft, Lebensraum, Baukunst, Stuttgart 1982. 38 Vgl. Heidegger, Martin: »Zur Seinsfrage«, in: Wegmarken (Gesamtausgabe, Bd. 9), Frankfurt a.M., S. 385-426. 39 So heißt es gleich zu Anfang der Rede: »Die Übernahme des Rektorats ist die Verpflichtung zur geistigen Führung dieser hohen Schule« (Heidegger, Martin: »Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Rede, gehalten bei der feierlichen Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg i.Br. am 27.5.1933«, in: ders.: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Das Rektorat 1933/34, hg. von Hermann Heidegger, Frankfurt a.M. 1983, S. 9-19.

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Teil seiner Hölderlin-Vorlesung ausführlich widmet.40 Das heißt, die Auslegung von logos als ›Geist‹ (und von Topologie als ›Geist des Ortes‹) mündet letztlich in das Verständnis von Topologie als dem Sprechen vom Ort (in der ›Mundart‹). 4. Bleibt also noch eine letzte Möglichkeit für die Philosophie des Ortes, will sie sich von der Topologie inspirieren lassen oder sich als eine Topologie verstehen, die nicht auf einen mathematischen Ansatz oder eine Variante des Heimatdenkens hinausläuft: Diese Möglichkeit wäre diejenige, der Logik des Ortes. Unweigerlich muss hierbei an den japanischen Philosophen Kitaro Nishida und seinem Konzept von ba bzw. basho gedacht werden, das mithin unter dem Stichwort der ›Ortslogik‹ firmiert. In der Tat hat Nishida parallel zur zeitgenössischen Physik in den 1920er Jahren den Ort als ein »Kraftfeld«41 definiert und formuliert damit eine Ortsphilosophie, die ohne das Heimatkonzept auskommt. Ort als ein Kraftfeld zu verstehen ist tatsächlich der von mir bereits ausgemachten Idee nahe, dass Raum aus Orten in Form von Operationen oder aus einer Praxis hervorgeht. In der Phänomenologie Husserls entspricht dem Kraftfeld Nishidas die Idee des gerichteten Bewusstseins (der sogenannten Intentionalität). Die raumkonstitutive Praxis wäre hierbei die Ausrichtung des Bewusstseins auf die Objekte der Wahrnehmung zu Zwecken der Begriffsbildung, wie sie Blumenberg gefordert hat. Auch wenn diese Praxis keine Handlung im wörtlichen Sinne voraussetzt, kann sie dennoch als eine Aktivität verstanden werden. Sich dem Gedanken Husserls anschließend spricht Nishida dann im Rückgriff auf die aristotelische Wahrnehmungstheorie von der Seele als dem »Ort der Form«.42 Das heißt, das Bewusstsein ist insofern raumkonstitutiv, als dass die Formen selbst, die ansonsten an den Stoff der Dinge gebunden sind, nun in das Bewusstsein verlegt werden, oder vielmehr das Bewusstsein als Möglichkeit der Ablösung oder Herausstellung von Formen begriffen wird. Dies steht in der Tradition der Kantischen Formvorstellung, wonach im Bewusstsein eine Form des ›äußeren Sinns‹ gegeben ist, der die Räumlichkeit der Dinge erfasst.

40 Vgl. Derrida, Jacques: Vom Geist. Heidegger und die Frage, Frankfurt a.M. 1988 , S. 89ff. 41 Nishida, Kitaro: »Ort«, aus dem Jap. von Rolf Elberfeld, in: ders.: Logik des Ortes. Der Anfang der modernen Philosophie in Japan, hg. von Rolf Elberfeld, Darmstadt 1999, S. 72-139, hier S. 80; i.O. deutsch. 42 Ebd., S. 77.

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Allerdings hat man es bei dem Intentionalitätskonzept und der daraus resultierenden Ortslogik nach wie vor mit einem zentralistischen Ansatz zu tun, der strukturell wiederum dem Heimatprinzip entspricht und nicht mehr in Eigen und Fremd, wohl aber in Ego und Alter-Ego unterscheidet. Husserl selbst hat in seinen späten Texten daher versucht, von dieser Zentralität des Bewusstseins abzurücken und den Raum nochmals auf andere Weise als eine Form zu begreifen: Nicht mehr als eine Form der äußeren Anschauung, sondern als eine Form der Erfahrung, die damit zum Ort des Raumes wird – und diese Form der Erfahrung nennt Husserl ›Boden‹. Gemeint ist damit, dass zwar links und rechts relativ sein mögen, mithin auch vorn und hinten, nicht aber oben und unten, aufgrund der Boden-Form (oder dem, was die Erfahrung der Gravitationskraft ausmacht). Zwar ließe sich nun einwenden, dass doch damit das Bewusstsein auf die Instanz des Leibes erweitert wurde (also die Zentralität mitnichten überwunden ist), aber für Husserl ist der Leib nur das Medium der Erfahrung, der Ort dieser Erfahrung ist dagegen die Erde: So hat Husserl 1934 in seinem erst postum publizierten Text mit dem Titel die »Kopernikanischen Umwendung der kopernikanischen Umwendung« an kommende Astronauten die Botschaft geschickt, dass allen Menschen in der »Erfahrungsgenesis unserer Weltvorstellung«43 immer die Erde zugrunde liegen wird. Auf Gagarin gewendet bedeutet das nicht, dass er aufgrund des damaligen Entwicklungstandes noch nicht länger im All bleiben konnte (und von daher zur Erde zurückkehren musste), sondern es bedeutet, dass seine Erfahrung der Schwere- und Orientierungslosigkeit letztlich auch auf der Erfahrung der Bodenform beruht, insofern er nur den Unterschied spüren kann. (Hinzufügen lässt sich, dass er nach seiner Rückkehr ein anderer ist, da er nun die Existenzmöglichkeit im Absoluten kennt.) Auch Husserl ringt in seiner späten Topologie noch mit einer Idee von Heimat (universalisiert zur Erde) und er kann so für eine gegenwärtige Ortsphilosophie wiederum nur Inspiration sein, nicht aber der letzte Schritt. Statt dessen kann ein Ansatz in den Blick rücken, der die oben herausgestellten Bedingungen einer topologischen Ortsphilosophie erfüllt und also sowohl den Ort als eine Form der Praxis denkt wie auch keine Art von Zentralismus (bewusstseinsmäßig, leiblich oder im Sinne der Heimat) aufweist: Es handelt

43 Husserl, Edmund: »Kopernikanischen Umwendung der kopernikanischen Umwendung«, in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hg. von Jörg Dünne und Stephan Günzel, Frankfurt a.M. 2006, S. 153-165, hier S. 153.

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sich um Michel Foucaults durchaus nicht unbekannte Analyse des Panoptismus aus dem Buch Surveiller et punir von 1975, die aber zumeist nicht als eine Raum- oder Ortsanalyse gesehen wird.44 In seiner Analyse geht es Foucault um die Beschreibung der Situation im architektonischen Neuerungsvorschlag für Gefängnisse durch den Philosophen Jeremy Bentham aus dem Jahr 1791 (einem Entwurf der ursprünglich zur Überwachung von Fabrikarbeitern gedacht war): In Überbietung der von der Klosterzelle her abstammenden Einzelhaft werden die Gefangenen hier in einem Rundbau kaserniert, bei dem jede Zelle durch Licht von Außen erleuchtet wird. Die Gefangenen können sich durch die Lage der Zellen gegenseitig nicht sehen, wohl aber sind sie von einem Turm in der Mitte aus sichtbar. Da dieser aber durch kleine Fenster selbst wiederum keinen Einblick in sein Inneres gibt, befinden sich die Gefangenen in dem Zustand, dass sie jederzeit gesehen werden können, ohne wissen zu können, ob sie faktisch gerade beobachtet werden. Bentham zufolge führe diese Situation bei den Gefangenen zu einer Selbstreflexion auf die eigene Tat, wodurch es im Weiteren zu einer ›Besserung‹ im Verhalten der Delinquenten komme. Topologisch entscheidend für die Ortsphilosophie Foucaults ist nun aber nicht der konkrete Bau, der tatsächlich nur wenige Male – den Vorlagen entsprechend nur einmal (nämlich 1928 auf Kuba) – realisiert wurde. Doch auch wenn das Panopticon überhaupt nicht gebaut worden wäre, so liefert der Plan des Gebäudes allein schon das, was Foucault das »Diagramm«45 des Panoptismus nennt: also ein Muster oder eine Strukturbeschreibung. Diese ist selbst nicht als das feste Gebäude zu betrachten (wie es im Ausgang von der Architektur der Fall wäre), sondern als die Ermöglichungsbedingung von Praktiken. Die Topologie dieses ›Seins‹ des Panoptismus ist also das ›Gesehen-Werden, ohne selbst sehen zu können‹.46 Dies ist die Struktur, welche den Ort definiert; nicht als geographischen, nicht als architektonischen, sondern als Form. Die Aufgabe raumphilosophischer Topologen ist es entsprechend, diese Raumform auch in anderen Gestalten aufzufinden: So sind etwa auch heutige Videoüberwachungsanlagen (wie sie etwa in Großbritannien – von George Orwell sinniger

44 Vgl. dagegen Gehring, Petra: »Paradigma einer Methode«, in: Diagrammatik und Philosophie. Akten des 1. Interdisziplinären Kolloquiums für Philosophische Diagrammatik, hg. von ders., Thomas Keutner, Jörg F. Maas und Wolfgang Maria Ueding, Amsterdam/Atlanta 1988, S. 89-105. 45 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, aus dem Franz. von Walter Seitter, Frankfurt a.M. 1977, S. 264. 46 M. Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, S. 264.

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Weise in 1984 vorweggenommen – als sogenanntes Closed-circuit-TV oder kurz CCTV allgegenwärtig sind) noch panoptisch.47 Auch an diesen Anlagen ist nicht entscheidend, dass irgendwo tatsächlich jemand an den Monitoren das Geschehen überwacht, sondern die Möglichkeit, dass es sein könnte, dass aktuell oder in Zukunft (als Aufzeichnung) eine Handlung einem Subjekt zugeordnet werden kann. Entsprechend resultiert daraus das Verhalten am geographischen Ort. Kein einziges festes architektonisches Element ist hier gegenüber dem von Bentham geplanten Bau gleich geblieben. Dennoch ist die topologische Struktur identisch. Zuletzt kann von hier aus nochmal ein anderer Blick auf Heidegger und sein zentrales Raumbeispiel in »Bauen Wohnen Denken« geworfen werden, um darin Ansätze für eine topologische Analyse zu finden, die nicht in ein Heimatdenken münden. Das Beispiel ist kein Geringeres als das, was auch bei Euler in einer Vielzahl vorkommt: Brücken bzw. die Brücke. Man kann geradezu sagen, dass die mathematische Topologie ihre wichtigste Einsicht der Raumform der Brücke verdankt: Nämlich der Einsicht, dass die Relation entscheidender ist als die Substanz. Oder mit Heidegger gesprochen, das ›Woher‹ die Räume ›ihr Wesen empfangen‹ ist der Ort, nicht das Material. Der Unterschied zwischen der mathematischen und der philosophischen Topologie ist nur der, dass Orte für Euler nach wie vor die geographischen Punkte in der Stadt Königsberg sind, wenngleich es egal ist, wo die Stadt sich befindet oder welches Ausmaß die Brücken haben. Nach Heidegger hingegen, ist die Brücke selbst der Ort (gleich wo sie sich befindet). Das Wesen der Brücke ist also die Relation als das Verbindende zwischen den Punkten. Und die Brücke ist nicht vorrangig ein Bauwerk im geometrischen oder geographischen Raum, sondern sie ist selbst ein Ort. Aber nicht ein Ort als Heimat, sondern ein Ort als Form des Verbindens: »Der Ort ist nicht schon vor der Brücke vorhanden. Zwar gibt es, bevor die Brücke steht, den Strom entlang viele Stellen, die durch etwas besetzt werden können. Eine unter ihnen ergibt sich als ein Ort und zwar durch die Brücke. So kommt denn die Brücke nicht erst an einen Ort hin zu stehen, sondern von der Brücke selbst her entsteht erst ein Ort.«48

47 Vgl. dazu auch weitergehend Deleuze, Gilles: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaft«, in: ders., Unterhandlungen 1972-1990, aus dem Franz. von Gustav Rößler, Frankfurt a.M. 1993, S. 254-262. 48 M. Heidegger: »Bauen Wohnen Denken«, S. 148.

Das Erhabene als Ortserfahrung Vorüberlegungen zu einer Hermeneutik des Ortes A NNIKA S CHLITTE »What does it mean to find a place, a proper place (if there is one), for the sublime?« EDWARD CASEY

E INLEITUNG »Wer das Wort ›erhaben‹ ausspricht, heute, in der Mitte des 20. Jahrhunderts, wird bestenfalls auf ein betretenes Lächeln stoßen«1 – so lautete der erste Satz eines Aufsatzes von Wilhelm Weischedel, der im Jahr 1960 erschien und damit zu einer Zeit, als es um das Erhabene sehr still geworden war. Aus der heutigen Perspektive wissen wir, dass sich die Situation schon wenige Jahrzehnte später schlagartig ändern sollte, als der Begriff im Zusammenhang mit der Postmoderne-Diskussion eine einzigartige Renaissance erlebte, wenn er auch in einem anderen Kontext erschien als dem, der ihm im 18. Jahrhundert schon einmal zu großer Beliebtheit verholfen hatte. Spielte der Begriff damals eine wichtige Rolle bei der Herausbildung einer bestimmten ästhetischen Naturvorstellung, so wird das Erhabene Ende des 20. Jahrhunderts im Rahmen einer negativen Ästhetik auf die moderne Kunst bezogen. Nachdem die Postmoderne nun ihrerseits schon wieder der Vergangenheit anzugehören scheint und Lyotards Kant-Lektionen fast zwanzig Jahre zurückliegen, kann man den Versuch unternehmen, das Phänomen noch einmal neu in den Blick zu nehmen und die Geschichte des Erhabenen neu zu erzählen. Dabei soll

1

Weischedel, Wilhelm: »Rehabilitation des Erhabenen«, in: Josef Derbolav/Friedhelm Nicolin (Hg.), Erkenntnis und Verantwortung, Festschrift für Theodor Litt, Düsseldorf 1960, S. 335-345; hier S. 335.

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von der Annahme ausgegangen werden, dass bei dieser Geschichte die Frage nach dem Ort eine wichtige Rolle spielt, dass man also die Beschreibungen des Erhabenen auch als Beschreibungen einer spezifischen Ortserfahrung lesen kann, was im Folgenden in einer ersten Annäherung umrissen werden soll. Dazu werde ich einerseits kurz auf die Herausforderungen eingehen, die sich einer Phänomenologie des Ortes stellen, wie sie derzeit von Autoren wie Edward Casey und Jeff Malpas vertreten wird, und das Problem des Erhabenen in diesen Kontext einordnen (1). Im Anschluss daran wird kurz zu skizzieren sein, wie der Ortsaspekt des Erhabenen zu verstehen ist und welcher Beitrag von der Untersuchung zu dem größeren Projekt einer Philosophie des Ortes zu erwarten ist (2). Zuletzt werden in einem Ausblick drei wesentliche Stationen einer solchen Geschichte des Erhabenen als Ortserfahrung kurz vorgestellt (3).

1. Z UR E INORDNUNG DER T HEMATIK IN EINE P HILOSOPHIE DES O RTES Die Philosophie und der Spatial Turn Schon 1967 äußerte Michel Foucault in einem Vortrag die Vermutung, die seit dem 19. Jahrhundert andauernde Vormachtstellung der Geschichte sei im Schwinden begriffen und das »Zeitalter des Raumes« angebrochen.2 In der Tat kann im Zusammenhang mit Phänomenen wie Globalisierung, Migration und neuen Formen der Mobilität sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der wissenschaftlichen Forschung ein wachsendes Interesse am Raum wahrgenommen werden, das sich in zahlreichen Publikationen zum Thema niederschlägt.3 Hinsichtlich der Geistes- und Kulturwissenschaften mehren sich seit den 1990erJahren die Stimmen, die von einem »spatial turn« sprechen, der manchmal bereits von einem »topological turn« und einem »topographical turn«4 flankiert

2

Foucault, Michel, »Von anderen Räumen«, in: ders., Schriften in vier Bänden (Dits et

3

Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie

Ecrits), Bd. 4: 1980-1988, Frankfurt am Main 2005, S. 931-942; hier S. 931. und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006; Günzel, Stephan (Hg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2010; ders. (Hg.), Raumwissenschaften, Frankfurt am Main 2009. 4

Vgl. hierzu Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hg.): Spatial Turn: Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2007; Günzel, Stephan (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld

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wird. Obwohl Philosophen wie Foucault auf die Entwicklung des in der Geographie vorbereiteten Turns nachweislich eine große Wirkung hatten, war die Philosophie nicht die treibende Kraft dieser Forschungsbewegung. Zwar spielten Theorien über den Raum in der abendländischen Philosophie stets eine große Rolle, doch lässt sich in der einzelwissenschaftlichen Forschung häufig eine Abkehr beobachten von Versuchen zu bestimmen, was »der Raum« ist.5 Infolgedessen wird das jeweils zugrundeliegende Raumverständnis nur unzureichend geklärt oder ein sehr weiter Raumbegriff angewendet, was auch bereits verschiedentlich bemängelt worden ist,6 so dass die Philosophie hier zu einer grundlegenden Reflexion aufgerufen ist.

Von der Philosophie des Raumes zur Philosophie des Ortes Mit dem generellen Interesse am Raum verbunden und doch davon zu trennen ist eine Strömung, die gegen den Raumbegriff in der modernen Wissenschaft explizit den Begriff des Ortes ins Feld führt. An der Diskussion, die in jüngster Zeit auch in Deutschland rezipiert wird, sind sowohl Humangeographen als auch Philosophen wie Edward S. Casey und Jeff Malpas beteiligt.7 Zu einem neuen Erstarken des Ortes als Konzept kam es in den 1970er-Jahren sowohl in der Humangeographie als auch in der marxistischen Geographie. Ursprünglich ein Kernbegriff der beschreibenden Geographie, war der Ort mit der quantitativen Revolution der Geographie zu einer mathematisch-exakten Wissenschaft lange Zeit aus dem Blickfeld verschwunden. Die Wiederentdeckung des Ortes in der angelsächsischen Humangeographie bleibt bei vielen Autoren wie z.B. bei Yi-Fu Tuan jedoch eng mit philosophischen Traditionen, insbesondere der Phänomenologie, verbunden. Man kann in der Gegenüberstellung von Ort und Raum nämlich eine Fortführung der Wissenschaftskritik der Phänomenologie sehen, wenn der konkrete

2007; zur Abgrenzung vgl. ders.: »Spatial Turn – Topographical Turn – Topological Turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen«, in: Döring/Thielmann, Spatial Turn (2007), S. 219-237. 5

Vgl. Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen, Frankfurt am Main 2006, S. 10.

6

Vgl. z.B. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 2. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 291.

7

Vgl. Quadflieg, Dirk, »Philosophie«, in: Günzel, Raumwissenschaften (2009), S. 274289; Waldenfels, Bernhard: »Topographie der Lebenswelt«, in: Günzel, Topologie (2007), S. 69-84.

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Ort dem Kontext unserer lebensweltlichen Erfahrung zugeordnet wird, während der abstrakte Raum eine Bedingung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis bilden soll.8 Die Wendung hin zum »gelebten Raum«, zu der die Ortsthematik gehört, lässt sich in der Phänomenologie Anfang des 20. Jahrhunderts vielfach beobachten. Nachdem schon der vorkritische Kant auf die Rückbindung unserer Orientierung im Raum an unsere leibliche Verfassung hingewiesen hatte,9 sind schließlich Husserls Überlegungen maßgeblich gewesen, um die Vorstellung eines homogenen, isotropen Raumes aufzubrechen und eine philosophische Neufassung des Ortes vorzubereiten, die von einem leiblichen »Hier« ausgeht. Heidegger befasst sich in Sein und Zeit vor allem mit der alltäglichen Räumlichkeit des Daseins, wendet sich aber später der versammelnden ›Kraft‹ des Ortes zu. Er geht zwar nicht von der leiblichen Erschließung von Orten aus, leitet in seinen späteren Schriften jedoch explizit den Raum aus dem Ort ab und nicht umgekehrt. Raum ist etwas, das von Orten »eingeräumt« werden muss. Die Räume empfangen »ihr Wesen aus Orten und nicht aus ›dem‹ Raum«, heißt es in Bauen Wohnen Denken.10 Ausgehend von diesen Ansätzen zu Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts, v.a. beim späten Heidegger, bei Merleau-Ponty sowie Bachelards Poetik des Raumes, beschäftigt sich im englischsprachigen Raum eine Reihe von Forschern mit der Erarbeitung einer philosophischen Konzeption von »Ort« (»place«).11 Ziel dieser Untersuchungen ist es, an die lebensweltliche Vorgängigkeit des Ortes noch vor Raum und Zeit zu erinnern, wobei der Dialog mit den Kultur- und Sozialwissenschaften explizit gesucht wird.

8

Vgl. Ebeling, Knut: »›In situ‹: Von der Philosophie des Raums zur ortsspezifischen Theorie«, in: Günzel, Topologie (2007), S. 309-323; hier S. 316.

9

Vgl. Kant, Immanuel, »Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume«, in: ders., Vorkritische Schriften bis 1768, hg. von Wilhelm Weischedel (= Werkausgabe Bd. II), Frankfurt am Main 1968, S. 991-1000.

10 Heidegger, Martin, »Bauen Wohnen Denken«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 145-162; hier S. 155. 11 In der Geographie z.B. Tuan, Yi-Fu: Space and Place. The Perspective of Experience, Minnesota 1977; Massey, Doreen: Space, Place and Gender, Oxford 1994; Cresswell, Tim: Place. A short introduction, Malden/Oxford 2009; in der Philosophie vgl. Casey, Edward S.: Getting Back into Place. Towards a Renewed Understanding of the Place World, 2. Auflage Bloomington 2009; ders.: The Fate of Place. A Philosophical History, Berkeley/Los Angeles/London 1997; Malpas, J.E.: Place and Experience. A Philosophical Topography, New York 1999.

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Aktuelle Problemfelder und Aufgaben einer Philosophie des Ortes Im Gegensatz zum Raumparadigma, das in den Kulturwissenschaften in den letzten Jahren fest verankert ist, hat die philosophische Auseinandersetzung mit dem Ort im deutschsprachigen Raum ihr historisches und systematisches Potenzial bei weitem noch nicht ausgeschöpft.12 Dass es sich beim Ort auch um ein Phänomen unserer Alltagserfahrung handelt, macht die begriffliche Abgrenzung dabei allerdings eher noch komplizierter. Es ist leicht zu sehen, dass Raum gegenüber Ort die abstraktere Vorstellung ist, doch bleibt klärungsbedürftig, was Orte außer ihrer Konkretheit auszeichnet und welcher ontologische Status ihnen zuzusprechen ist. Der Geograph Tim Cresswell schlägt in seiner Einführung in die theoretischen Grundlagen der Ortsdiskussion als »Arbeitsdefinition« vor, Orte gegenüber dem Raum als Bedeutungsträger auszuzeichnen: »This is the most straightforward and common definition of place – a meaningful location.«13 Cresswell betont, dass sich die meisten Untersuchungen zum Ort daher mit der Erfahrung von Orten und/oder ihrer Bedeutung beschäftigen.14 Es liegt daher nah, sich dem Ort in der philosophischen Auseinandersetzung im Rahmen phänomenologischer und/oder hermeneutischer Ansätze zu nähern. Eine solche philosophische Beschäftigung mit dem Ort hat es insbesondere mit folgenden Problemkomplexen zu tun: a) Die Abgrenzung von Ort und Raum Die Differenzierung von Ort (place) und Raum (space) lässt sich in vielerlei Hinsicht mit der von Bergson geprägten Unterscheidung von physikalischer (objektiver) Zeit und dem (subjektiven) Zeiterleben vergleichen. So trennt z.B. schon Bollnow den qualitativ gegliederten, auf einen Mittelpunkt bezogenen und mit Bedeutung erfüllten »erlebten Raum« vom homogenen, isotropen und unendlichen »mathematischen Raum«.15 Während die Punkte im Koordinatensystem rein quantitativ bestimmt sind, sind Orte Erlebniseinheiten, denen eine Be-

12 Zu dieser Thematik auch unter Bezugnahme auf die angelsächsische Diskussion vgl. Quadflieg, Dirk: »Philosophie«, in: Günzel, Raumwissenschaften (2009), S. 274-289; Waldenfels, Bernhard, »Topographie der Lebenswelt«, in: Günzel, Topologie (2007), S. 69-84. 13 T. Cresswell: Place – A short introduction, S. 7. 14 Vgl. ebd., S. 12. 15 Vgl. Bollnow, Otto Friedrich: Mensch und Raum ( = Schriften Bd. VI), Würzburg 2011.

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deutung zukommt, die sowohl individuell als auch kulturell und sozial geprägt wird. Die Phänomenologie des Ortes geht davon aus, dass es sich bei diesem um ein konkretes, (leiblich) erfahrbares und qualitativ ausgezeichnetes Etwas handelt, während der Raum ein mathematisches Konstrukt ist, innerhalb dessen sich Beziehungen und Positionen nur quantitativ ausdrücken lassen. Dennoch lassen sich Orte nicht völlig unabhängig vom physikalischen Raum denken, und das Verhältnis zwischen beiden wird in der Philosophie verschieden bestimmt. Edward Casey, der die Bestimmung des Ortes eng an die leibliche Erfahrung zurückbindet, geht von einer historischen These aus, welche eine Verdrängung des Ortes durch den Raum im modernen Denken konstatiert, nachdem dem Ort in der antiken Philosophie noch eine große Bedeutung zugekommen sei. Casey betont gegen die moderne Raumvorstellung, die auf einer Abstraktion basiere, die Bedeutung des Ortes für unsere Welterfahrung.16 Auch Bernhard Waldenfels stellt eine solche verdeckte Geschichte des Ortes innerhalb der Philosophiegeschichte fest, die als Dreischritt strukturiert ist: Herrschaft des Ortes, Verlust des Ortes und Wiedergewinnung des Ortes.17 Eine strikte Dichotomie zwischen Raum und Ort, die vorgeht, »als wären Lebensort und vermessener Raum durch eine Kluft voneinander getrennt«18, möchte er dabei jedoch vermeiden. Anders als Casey plädiert Waldenfels deshalb nicht für eine Rehabilitierung des Ortes auf Kosten des Raumes, sondern für die Einführung des Orts-Raumes als einer Doppelfigur analog zum Leib-Körper. Eine allzu schematische Gegenüberstellung von Ort und Raum ist dann problematisch, wenn beide Begriffe mit konträren normativen Implikationen aufgeladen werden, wie sich bei den früheren Autoren in der Humangeographie, z.B. bei Yi-Fu Tuan zeigt.19 Dem Vorwurf, die Betonung des Ortes zeuge von einer romantisch-konservativen Haltung, muss daher in jeder philosophischen Auseinandersetzung Rechnung getragen werden.

16 »Although place is held to be a mere epiphenomenon by those who regard space and/or time as first in the order of being, in the order of knowledge place comes first. It is the ›first of all things‹ because we know it from the very beginning«, E. Casey: Getting Back into Place, S. 110. 17 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, Frankfurt am Main 2009, S. 16-19. 18 Vgl. ebd., S. 33. 19 Vgl. Y. Tuan: Space and Place, S. 3: »Place is security, space is freedom: we are attached to the one and long for the other.« Zumindest ein gewisser modernekritischer Impetus lässt sich aber auch bei Casey finden; vgl. E. Casey: Getting Back into Place, S. xv; ähnlich Augé, Marc: Nicht-Orte, 2. Aufl. München 2011.

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b) Ort und Erfahrung: Der ontologische Status des Ortes Nach diesen Überlegungen könnte man versucht sein, den Ort als subjektive Rückseite des Raumes zu betrachten, doch geht es den meisten Ortsdenkern um mehr als das. Jeff Malpas führt aus, der entscheidende Punkt sei nicht die Annahme, der Ort sei nur der subjektiven Erfahrung zugänglich, sondern er sei vielmehr die Voraussetzung für Erfahrung überhaupt.20 Wenn man Philosophen wie Jeff Malpas und Edward Casey folgt, ist der Ort nicht einfach die subjektive Seite des Raums, sondern eine Grundbedingung unseres Weltzugangs, welche der Subjekt-Objekt-Differenz noch vorausliegt. Orte wären nicht einfach natürliche Gegebenheiten, sondern bildeten einen Teil unseres Zugangs zur Welt. Was wir von der Welt kennenlernen, lernen wir zuerst an einem Ort und durch einen Ort kennen. Damit wäre der Ort weder eine nur subjektive Erkenntnisbedingung noch eine objektive Gegebenheit, sondern die Grundstruktur der Bezogenheit, aus der sich die beiden Pole erst ergeben. Diese Beziehungsstruktur ist es schließlich auch, die den Ort vom Raum unterscheidet. Schon Kant hatte in seinem Aufsatz Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume darauf hingewiesen, dass es die Gerichtetheit unseres eigenen Leibes ist, durch die wir uns in der Welt zurechtfinden, und damit die Hinwendung zum Ort in der Phänomenologie vorbereitet, auch wenn bei ihm neben diesem ›leibphänomenologischen‹ Ortskonzept das viel wirkmächtigere Theorem des Raumes als subjektiver Anschauungsform steht. Die enge Verbindung zwischen Leiblichkeit und Ort spielt fortan in der Phänomenologie des Ortes eine wichtige Rolle. Es ist demnach der Leib, der Orte erschließt und dadurch erst Orientierung ermöglicht. Orte sind jedoch nicht einfach Dinge in der Welt, sondern selbst eine Bedingung des Weltverstehens. Unser Zugang zur Welt ist stets leiblich und damit örtlich vermittelt. c) Ort und Bedeutung: Die historische und kulturelle Dimension des Ortes Wenngleich sich die Philosophie des Raumes schon bei Foucault gegen die Dominanz der Zeit wendet, so sind die Parallelen zur Zeitthematik in der Philosophie unübersehbar. Dabei ist es jedoch nicht sinnvoll, den Raum gegenüber der Zeit auszuspielen – nicht nur wegen der Verknüpfung der beiden in der Raumzeit der Relativitätstheorie, sondern auch deswegen, weil sich Geschichte immer

20 Vgl. J. Malpas: Place and Experience, S. 31f: »The crucial point about the connection between place and experience is not, however, that place is properly something only encountered ›in‹ experience, but rather that place is integral to the very structure and possibility of experience.«

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nur im Raum zeigt. Orte zeichnen sich wesentlich durch das aus, was an ihnen geschieht, so dass beides sich nicht ohne weiteres trennen lässt. Damit tritt jedoch gegenüber dem Erfahrungsaspekt die Bedeutungsdimension des Ortes in den Vordergrund: Orte sind mit einer Bedeutung verbunden, die für unsere Identität eine entscheidende Rolle spielt, wie sich auch an der engen Verbindung von Ort und Erinnerung zeigt, die Casey und mit ihm Ricœur betont haben.21 Über die individuelle Bedeutung hinaus, die Orte z.B. beim Erzählen der eigenen Lebensgeschichte haben, gibt es Orte, denen eine kulturell geteilte Bedeutung zukommt. Diesen Aspekt reflektiert z.B. die Beschäftigung mit Erinnerungsorten in der Geschichtswissenschaft22 oder auch mit Heiligen Orten in der Religionsphänomenologie.23 Dabei treffen an einem Ort kulturelle Vorstellungen, natürliche Gegebenheiten und subjektive Erfahrungsweisen zusammen, deren komplexes Geflecht eine Philosophie des Ortes zu untersuchen hat. Wenn man davon ausgeht, dass das Zusammenspiel dieser Faktoren an einem spezifischen Ort diesem eine Bedeutung verleiht, so könnte man die Untersuchung dieses Zusammenspiels als eine Art Hermeneutik des Ortes betrachten.

2. D ER B EITRAG ZUR O RTSTHEMATIK : D AS E RHABENE ALS O RTSERFAHRUNG Wie eine solche hermeneutische Annäherung an die Ortsthematik aussehen könnte, soll nun im Hinblick auf eine Form der ästhetischen Naturerfahrung sondiert werden, welche in der Geistesgeschichte sowohl mit bestimmten Orten als auch mit einem religiösen Gehalt verbunden gewesen ist, nämlich am Beispiel der Erfahrung des (Natur-)Erhabenen und ihrer Reflexion in Philosophie und Kunsttheorie. Mit der Konzentration auf das Erhabene als eine Form der Naturerfahrung wird an ein Potenzial des Begriffs erinnert, das in der nachromantischen Verengung des Erhabenheits-Diskurses auf die Begegnung mit Kunst aus

21 Vgl. Casey, Edward S.: Remembering: A Phenomenological Study, Bloomington 2000; s. dazu Ricœur, Paul: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004, S. 69-78. 22 Vgl. Assmann, Aleida: »Das Gedächtnis der Orte«, in: Ulrich Borsdorf/Heinrich Theodor Grütter (Hg.), Orte der Erinnerung. Denkmal, Gedenkstätte, Museum, Frankfurt a.M./New York 1999, S. 59-77. 23 Vgl. z.B. Eliade, Mircea: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt a.M. 1990; Van der Leeuw, Gerardus: Phänomenologie der Religion, 3. Aufl. Tübingen 1970.

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dem Blick geraten ist. Die Frage nach der ästhetischen Naturbetrachtung, zu der auch das Erhabene gehört, führt mitten hinein in die Problematik des modernen Naturverhältnisses24 , doch wird dieser Bereich in den jüngsten Publikationen zum Erhabenen vielfach ausgeblendet.25 Angesichts dieses Befundes lohnt es sich zu fragen, wie es um diese Möglichkeit der Naturerfahrung in der Gegenwart steht.26 Wenn wir heute zögern, vom Erhabenen der Natur zu sprechen, so liegt dies auch daran, dass sich der Blick auf Natur gewandelt hat. Wo diese im Zuge einer verstärkten ökologischen Sensibilisierung als etwas Gefährdetes erscheint, wo sie der menschlichen Nutzung und menschlicher Umgestaltung so bedingungslos unterworfen ist, dass es keine ›unberührten‹ Landstriche mehr gibt, wo naturwissenschaftliche Erklärungen die einstigen Rätsel entzaubert haben, scheint für das erhabene Naturerlebnis kein Platz mehr zu sein. Wenn dies so wäre, so könnte man vermuten, dass für eine Erfahrung, wie sie in den Naturschilderungen des 18. Jahrhunderts lebendig wird, mittlerweile die Gelegenheiten fehlen – was zur Ortsproblematik zurückführt. Dem Vorhaben, den Ortsaspekt dieser als »erhaben« gekennzeichneten Naturerfahrung herauszuarbeiten, liegt die Annahme zugrunde, dass wir uns, wenn wir um ein Verhältnis zur äußeren Natur bemüht sind, stets in bestimmten Ortsformationen befinden, in denen sich unsere Beziehung zur Natur bildet. Wie Natur uns erscheint, ist abhängig von den Orten, an denen Naturerfahrung stattfindet. Eine Form, in der diese Beziehung an konkreten Orten gestaltet wird, ist die Erfahrung des Erhabenen. Das Erhabene ist für das Selbstverständnis des Menschen deshalb interessant, weil es ihn in eine Beziehung zur Natur als etwas Anderem, von ihm Verschiedenen, setzt und kein harmonisches Einheitsgefühl erzeugt.

24 In Martin Seels für diese Problematik richtungsweisender Ästhetik der Natur, welche naturästhetische Überlegungen mit einer Ethik des guten Lebens verbindet, wird die Bedeutung des Erhabenen auch in seiner spezifischen Beziehung zur Räumlichkeit durchaus reflektiert, jedoch spielt die systematische Unterscheidung zwischen Ort und Raum bei ihm keine prominente Rolle; vgl. Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt am Main 1991. 25 Zur postmodernen Auseinandersetzung mit dem Erhabenen vgl. Johnson, David B.: »The Postmodern Sublime. Presentation and Its Limits«, in: Timothy M. Costelloe, (Hg.), The Sublime. From Antiquity to the Present, Cambridge/New York u.a. 2012, S. 118-131. 26 Für eine Rehabilitierung des Erhabenen im Hinblick auf Umweltethik und -ästhetik vgl. Brady, Emily: »The Environmental Sublime«, in: Costelloe, The Sublime (2012), S. 171-182.

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Wenn Natur als das Andere des Menschen verstanden werden soll, stellt sich jedoch die Frage, inwiefern das Erhabene als eine Art Transzendenzerfahrung gelten kann – womit der Überstieg eines konkreten Ortes bereits impliziert ist. Hier kann die Verbindung zur religionsphänomenologischen Untersuchung heiliger Orte dazu dienen, eine solche, möglichweise paradoxe, Ortserfahrung weiter zu profilieren. Es wäre zu zeigen, dass räumliche Konzepte wie Ferne und Nähe, »Oben« und »Unten« dazu beitragen können, die Erfahrung des Erhabenen verständlich zu machen. Durch die Betonung des Ortsaspekts kann man einer Schwierigkeit begegnen, die dem Naturerhabenen stets innewohnt: Wenn die Erfahrung des Erhabenen für unsere Naturbeziehung relevant sein soll, darf dieses weder als Eigenschaft der Natur noch als bloß subjektives Phänomen betrachtet werden.27 Das Erhabene muss vielmehr als ein Phänomen gerade der Beziehung zwischen Mensch und Natur gefasst werden, die als solche aber immer nur möglich wird an bestimmten Orten, was aber nicht heißt, dass Erhabenheit eine Eigenschaft spezifischer lokalisierbarer Naturformationen wäre. Das Phänomen des Erhabenen wäre vielmehr ein Beispiel dafür, wie Orte in der Interaktion von Mensch, Kultur und Natur zu Bedeutungsträgern werden, indem in ihnen eine bestimmte Seite der Natur konkret erfahrbar wird. Mit der Kennzeichnung des Erhabenen als »Ortserfahrung« ist dabei bewusst die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass auch Erfahrungen der Ent-Ortung, der Lösung vom Ort und Momente der Distanzierung bei diesem Phänomen eine Rolle spielen. Angesichts der etwa 2000 Jahre währenden Diskussion muss sich eine solche noch zu leistende ortsspezifische Analyse des Erhabenen auf einige wenige Autoren beschränken.28

27 Vgl. dazu und zum Ortsaspekt des Erhabenen in der amerik. Landschaftsmalerei Casey, Edward S.: Ortsbeschreibungen. Landschaftsmalerei und Kartographie, München 2006; zur Frage nach dem Ort des Kantischen Erhabenen vgl. ders.: »The Place of the Sublime«, in: Anna-Teresa Tymieniecka (Hg.), Passion for Place, Bd. II, Dordrecht u.a. 1997, S. 71-85. 28 Angesichts der Fülle der Begriffsbestimmungen ist eine Beschränkung unumgänglich; zur Übersicht vgl. Homann, Renate/Müller, Armin/Tonnelli, Giorgio: «Erhaben, das Erhabene«, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Basel 1972, Sp. 624-635; Gethmann-Siefert, Annemarie: »Das Erhabene«, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd.1, Wien/Zürich 1980, S. 571-572; Heininger, Jörg: »Das Erhabene«, in: Karl-Heinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 2., Stuttgart/Weimar 2001, S. 275-310; Kallendorf, Craig/Pries,

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Im Folgenden werden drei systematische Akzente skizziert, die an jeweils verschiedenen historischen Stationen der Begriffsgeschichte veranschaulicht werden können.

3. D AS E RHABENE ALS O RTSERFAHRUNG – S TATIONEN DER U NTERSUCHUNG Das Erhabene als Naturerfahrung Es lässt sich zeigen, dass die Denkfigur des Erhabenen in ihren mannigfachen Ausprägungen vielfach mit der Erfahrung eines bestimmten Ortes oder auch mit der expliziten Erfahrung der Ent-Ortung verbunden ist. Wörtlich bezeichnete das Erhabene (੢ȥȠȢ) »einfach nur etwas, das sich abhebt, also eine Anhöhe etwa, dann auch die Höhe selbst«29. Schon bei Longinus zielt das Erhabene auf das Göttliche, denn ihm zufolge entsteht Erhabenheit durch »Aufschwung«30, und »erhebt uns [...] fast bis zur Majestät Gottes«31. Im Erhabenen strebt der Mensch also über sich hinaus – wohin, das bleibt allerdings zu klären. Im 17. Jahrhundert wandert der Terminus in die französische ÄsthetikDiskussion ein32 und behält auch dann noch seine ethischen und religiösen Bezüge. Wenn in der postmodernen Renaissance des Erhabenen, in Deutschland z.B. bei Christine Pries33 , die metaphysischen Implikationen des Begriffs explizit zurückgewiesen wurden, so kann die Verbindung des Erhabenen mit dem Religiösen doch auf eine lange Tradition zurückblicken, worauf jüngst zu Recht

Christine/Zelle, Carsten: »Das Erhabene«, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, Tübingen 1994, S. 1357-1389; Pries, Christine (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989. 29 C. Kallendorf/C. Pries/C. Zelle: »Das Erhabene«, S. 1357. 30 Longinus: Vom Erhabenen, gr./dt., Stuttgart 1988, S. 37. 31 Ebd., S. 89. 32 Zur Begriffsgeschichte zu dieser Zeit vgl. Zelle, Carsten: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart/Weimar 1995; sowie Till, Dietmar: Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts (= Studien zur deutschen Literatur Band 175), Tübingen 2006. 33 Pries, Christine: Übergänge ohne Brücken. Kants Erhabenes zwischen Kritik und Metaphysik, Berlin 1995.

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wieder aufmerksam gemacht worden ist.34 Eine Neubesetzung dieses Begriffs35 besonders im Zusammenhang mit Naturphänomenen lässt sich im 18. Jahrhundert zum Teil durch neuartige Naturerlebnisse bei der zunehmenden Erschließung der Hochgebirgslandschaften der Alpen erklären.36 Oft sind es besondere Plätze in der Natur, die ausgezeichnet werden, um diese spezifische ästhetische Erfahrung zu ermöglichen. Eine interessante Gestaltung erhält der Ortsaspekt des Natur-Erhabenen in Shaftesburys The Moralists37, in denen gar der genius loci als Katalysator für ein neues ästhetisches Naturgefühl dient. Im 18. Jahrhundert verbindet sich die Vorstellung des Erhabenen mit einem bestimmten Landschaftsideal, das auch bei den klassischen Autoren des Erhabenen noch im Hintergrund steht, nämlich bei Burke und Kant. Ist bei Shaftesbury das Erhabene terminologisch noch mit dem Schönen vermischt, auch wenn sich spezifische Orte des Erhabenen herausbilden, die der gängigen Vorstellung von der schönen Natur widersprechen, so zeigt sich bei Edmund Burke zuerst die strikte Opposition von Schönem und Erhabenem, die dann von Kant aufgegriffen wird und für die Carsten Zelle das Schlagwort einer »doppelten Ästhetik«38 geprägt hat. Die Einteilungsgründe des Erhabenen und des Schönen bei Burke betreffen die Beschaffenheit des (Natur-)Objekts einerseits und die physiologische Wirkung des Gegenstandes auf das Subjekt andererseits.39 Während für Burke das Erhabene also auch eine Qualität eines Gegenstandes ist, wird es bei Kant schließlich subjektiv bestimmt, womit eine Bedeutung für das Naturverhältnis letztlich ausgeschlossen wird und das Erhabene von der Naturerfahrung zur bloßen Selbsterfahrung des moralischen Subjekts wird. Dies sagt die Analytik des

34 Vgl. Fritz, Martin: Vom Erhabenen: der Traktat ›Peri Hypsous‹ und seine ästhetischreligiöse Renaissance im 18. Jahrhundert, Tübingen 2011. 35 Vgl. Strube, Werner: »Schönes und Erhabenes. Zur Vorgeschichte und Etablierung der wichtigsten Einteilung ästhetischer Qualitäten«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 47 (2005), S. 25-59. 36 Vgl. ebd., S. 39 sowie Nicolson, Marjorie Hope: Mountain Gloom and Mountain Glory. The Development of the Aesthetics of the Infinite, Seattle/London 1997. 37 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury: Standard Edition. Sämtliche Werke, ausgewählte Briefe und nachgelassene Schriften. In englischer Sprache mit dt. Übersetzung, hg., übers. u. komm. v. Wolfram Benda, Gerd Hemmerich und Ulrich Schödlbauer, 2. Abt.: Moral and Political Philosophy, Bd. I, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, S. 16-385. 38 Vgl. C. Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. 39 Vgl. W. Strube: »Schönes und Erhabenes«.

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Erhabenen ganz deutlich, obwohl auch bei Kant zuvor die typischen Orte des Erhabenen in der Natur wie »drohende Felsen« oder »der grenzenlose Ozean« genannt werden.40 Alle diese Phänomene dienen aber (nur) dazu, zu den Vernunftideen hinzuführen und die Natur hinter bzw. unter sich zu lassen. Im Rahmen von Kants Menschenbild kann es sich bei der Bewunderung der Natur nur um eine Verwechslung handeln, eine »Subreption«. Dadurch verkörpert das kantische Erhabene gerade den Triumph der modernen Rationalität über die Natur, durch den die Unterwerfung der letzteren eingeleitet wurde. Kant sieht folglich die Möglichkeit einer Versöhnung des Geistes mit der Natur nicht im Erhabenen, sondern im Naturschönen, wenn nicht gegeben, so doch angedeutet.41 Doch was ist mit dem anderen, dem gemischten Gefühl angesichts der Natur – ist hier wirklich nur das Subjekt mit sich selbst beschäftigt? Oder kann die Natur selbst nicht auch Gegenstand der Bewunderung werden gerade in der Demonstration ihrer Macht? Damit das Erhabene etwas zum Verständnis unseres Naturverhältnisses beiträgt, müsste ein Ansatz verfolgt werden, welcher dieses als Konfrontation mit etwas, über das wir nicht verfügen können, deutet, ohne dieses etwas gleich mit dem Göttlichen gleichzusetzen.

Das Erhabene als Transzendenzerfahrung Eine direkte Parallele zwischen der Erfahrung des Erhabenen und dem Gefühl des Numinosen wird im 20. Jahrhundert von Rudolf Otto gezogen.42 Zwar erfolgt die Auseinandersetzung hier in einem theologischen Kontext, doch ist die phänomenologische Beschreibung, die Otto vornimmt, von großer aufschließender Kraft. Für unsere Beziehung zur Natur, die seit dem 18. Jahrhundert mit den Begriffen des Naturschönen einerseits und des Naturerhabenen andererseits beschrieben wurde, könnte außerdem Ottos zweipolige Bestimmung des Numinosen als mysterium tremendum et fascinosum ein hilfreiches Instrument sein. Dabei ist bemerkenswert, dass Otto sich in seiner Analyse des Numinosen explizit

40 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, hg. von Heiner F. Klemme, Hamburg 2001, § 28, B 104. 41 Vgl. Hutter, Axel: Das Interesse der Vernunft. Kants ursprüngliche Einsicht und ihre Entfaltung in den transzendentalphilosophischen Hauptwerken, Hamburg 2003, S. 182, Anm. 147. 42 Vgl. Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 2004, S. 56.

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auf Kants Analytik des Erhabenen bezieht.43 Dies ist deswegen hervorzuheben, weil Kant in seinem Bestreben, das Erhabene gerade nicht auf eine äußere Ursache, sondern eine Selbsterfahrung des Subjekts zurückzuführen, auf der Objektseite weder für eine Begegnung mit dem Numinosen noch eine wirkliche Naturerfahrung Platz lässt. Ottos metaphysische Überlegungen zur Überwältigung durch das Heilige wiederum sind für die Naturerfahrung sicherlich kein tragfähiger Ansatz, doch schärfen sie den Blick für das Problem der Transzendenz des Erhabenen: Geht man von einer strukturellen Analogie zwischen dem Erhabenen und dem Heiligen aus, so beinhaltet die Erfahrung des Erhabenen dann die Möglichkeit der Erfahrung von etwas, das über uns als Individuen hinausgeht, aber im Falle des Naturerhabenen gleichzeitig im Horizont des Natürlichen bleibt. Bei der Suche nach einem Verständnis des Erhabenen als Ortserfahrung bildet zudem die Untersuchung »Heiliger Orte« in der Religionsphänomenologie eine Brücke, denn hier gibt es bereits eine enge Verbindung zwischen der Theorie des Heiligen und einer Theorie des Raumes bzw. des Ortes: Wie Mircea Eliade herausgestellt hat, konstituiert sich der Unterschied zwischen dem Heiligen und dem Profanen im Wesentlichen durch eine spezifische Art der räumlichen Ordnung. Nach Eliade gibt es heiligen, bedeutungsvollen Raum und solchen, der nicht auf diese Weise strukturiert ist. Eliade streicht heraus, dass erst die religiöse Strukturierung des Raumes, z.B. durch »heilige Orte«, dem religiösen Menschen eine Orientierung ermöglicht, die der abstrakt, homogene, mathematische Raum nicht bietet. Diese religiöse Raumerfahrung erachtet er für so wesentlich, dass er davon ausgeht, »daß die religiöse Erfahrung der Inhomogenität des Raums eine Urerfahrung darstellt, die wir einer ›Weltgründung‹ gleichsetzen dürfen«44. Überlegungen zur großen Bedeutung der räumlichen Strukturierung der Welt für das religiöse bzw. mythische Bewusstsein, die auch die Bedeutung heiliger Orte miteinbeziehen, finden sich z.B. auch bei Ernst Cassirer.45 Das Gefühl des Naturerhabenen lässt sich nun analog zur religiösen Raumerfahrung als Transzendenzerfahrung, eine Erfahrung des Ganz Anderen verste-

43 Vgl. zum Vergleich von Kant und Otto Schlitte, Annika: »Heilige Orte – Orte des Erhabenen? Überlegungen zu einem Berührungspunkt von Naturästhetik und Religionsphilosophie bei Kant und Otto«, in: Jörg Lauster/Peter Schüz/Roderich Barth/ Christian Danz (Hg.), Rudolf Otto: Theologie – Religionsphilosophie – Religionsgeschichte, Berlin/New York 2013, S. 435-447. 44 Vgl. M. Eliade: Das Heilige und das Profane, S. 23 45 Vgl. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken, Text u. Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz (= ECW Bd. 12), Hamburg 2001. insbes. S. 87-123.

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hen, womit jedoch nicht das Numinose, sondern die Natur selbst gemeint ist. So lässt sich die Erfahrung des Naturerhabenen als eine säkularisierte Version einer religiösen Ortserfahrung deuten.

Das Erhabene als Kunsterfahrung – Entortung oder Neuverortung? Im Laufe des 19. Jahrhunderts hat das Erhabene seine tragende Funktion in der Ästhetik der Natur verloren und ist »zur Leerformel«46 geronnen. Von der Natur und der Religion verlagert sich das Interesse auf die Politik und die soziale Welt, nur in den USA scheint die offene Weite der Landschaft eine moralische Auszeichnung durch den Begriff des Erhabenen zu erhalten.47 Der Rückzug des Erhabenen aus der Ästhetik setzt sich im 20. Jahrhundert fort, und nach dem eingangs zitierten Weischedel-Aufsatz konstatiert noch 1972 der Artikel im Historischen Wörterbuch, alle Reaktualisierungsversuche des Erhabenen seien zum Scheitern verurteilt.48 Diese Einschätzung ändert sich wie gesagt, als kurz darauf in verschiedenen Disziplinen eine Renaissance des Erhabenen einsetzt, die von Lyotards Aktualisierung des Kantischen Denkens ausgeht. Allerdings beziehen Lyotard und andere Autoren den Begriff nun explizit auf die moderne Kunst.49 Auf sie, nicht mehr auf die Natur richten sich nun alle ästhetischen Hoffnungen. Bei Lyotard verweist das Erhabene auf die Darstellung des Nicht-Darstellbaren, er bringt es mit der Krise der Repräsentation in Verbindung. Dadurch löst sich das Erhabene nicht nur von der Natur, sondern es scheint auch seine Ortsgebundenheit aufzugeben. Ein Diskurs, der sowohl die Brüche in unserem Naturverhältnis als auch die Ortsbezogenheit, die in den Reflexionen über das Erhabene implizit enthalten war, zum Thema macht, ist nun nicht in der Philosophie, sondern in der Kunst zu finden, nämlich in der Land Art-Bewegung der 1960er und 1970er Jahre.50

46 J. Heininger: »Das Erhabene«, S. 297. 47 Vgl. z. B. Arensberg, Mary (Hg.): The American Sublime, Albany/New York 1986. 48 Vgl. R. Homann/A. Müller/G. Tonelli: »Erhaben, das Erhabene«, S. 635. 49 Vgl. Lyotard, Jean-Francois: Die Ästhetik des Erhabenen. Kant-Lektionen. Die ›Kritik der Urteilskraft‹, München 1994; ders.: »Das Erhabene und die Avantgarde«, in: ders.: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien 1989, S. 159-187. 50 Zur Einführung vgl. Lailach, Michael: »Jenseits der weißen Zelle«, in: ders./Uta Gosenick (Hg.), Land Art, Köln 2007, S. 6-25.

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Das Erhabene, so zeigt sich, ist nicht auf die Rezeption abstrakter Kunst beschränkt, sondern wird von den betreffenden Künstlern auch auf die Natur bezogen, worauf aber – und das ist das Interessante an dieser Konstellation – erst die Kunst aufmerksam macht. Dieses paradoxe Naturverhältnis wird von einigen Künstlern auch explizit thematisiert. Hier wäre z.B. auf Robert Smithsons Reflexionen über »Sites and Non-Sites«51 zu verweisen oder auf die Site-Specific Art52; auch bei Walter de Maria verbindet sich die Frage nach dem Ort der Kunst in seiner Land-Art-Installation »Lightning Field« explizit wieder mit dem Erhabenen.53 Allerdings ist die Natur der Land Art gerade keine unberührte, romantische, sondern eine verletzte und disharmonische Natur, die nicht frei ist von menschlichen Eingriffen. Viele Künstler arbeiten bewusst mit Orten, in die sich die menschliche Geschichte eingegraben hat – ehemalige Schlachtfelder, Industriebrachen und vieles mehr. Während den Land Art-Künstlern zunächst vielfach eine romantische »Zurück-zur-Natur«-Haltung unterstellt wurde, richtete man daher später die Aufmerksamkeit auf die Ortsbezogenheit der Kunstwerke: »Ortsbezogenheit ist das entscheidende Merkmal der Land Art. Die Arbeiten sind für bestimmte Schauplätze konzipiert und werden vor Ort realisiert. Sie verändern damit die Oberflächen, die Struktur und die Materialität der Standorte und schreiben sich in ihr Ge54

dächtnis ein.«

Ähnlich wie der Blick auf die Natur ohne Nostalgie auskommt – Smithson bemerkt: »Es gibt keinen Weg zurück ins Paradies oder zur Landschaft des 19. Jahrhunderts«55 –, bleibt auch der Ortsbezug fragil: Es kann daher auch hier nicht darum gehen, den Verlust der Verortung der Kunst zu beklagen oder einen Ort des Naturerhabenen reinstallieren zu wollen, sondern es gilt vielmehr, die Bewegung von Ver-Ortung und Ent-Ortung zu beschreiben, die unsere Erfahrung durchzieht und bestimmt und auf welche diese Kunst uns aufmerksam macht.

51 Vgl. Smithson, Robert: Gesammelte Schriften, Köln 2000. 52 Vgl. hierzu auch Casey, Edward S.: Earth-Mapping. Artists Reshaping Landscape, Minneapolis 2005. 53 Vgl. De Maria, Walter: »The Lightning Field. Some Facts, Notes, Data, Information, Statistics and Statement«, in: Artforum, April 1980, S. 52-56. 54 M. Lailach/U. Gosenick (Hg.): Land Art, S. 11. 55 R. Smithson: Gesammelte Schriften, S. 236.

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S CHLUSS In der philosophischen Thematisierung des Erhabenen lässt sich also immer wieder beobachten, dass besondere Orte für die Möglichkeit einer solchen Erfahrung eine Rolle spielen. Es sind leiblich erfahrbare Orte, an denen die Natur uns in einer besonderen, ästhetischen Weise zugänglich wird. Doch diese Orte verändern sich im Laufe der Geschichte so wie unser Naturverständnis sich ändert – dies wird in der zuletzt thematisierten Land Art anschaulich gemacht. Das komplexe Wechselspiel zwischen Kunst, Ort und Natur in der Land Art stellt daher ein wichtiges Untersuchungsfeld dar, um zu einem neuen Verständnis des Naturerhabenen zu gelangen. Dabei wäre das Erhabene weder als eine Eigenschaft bestimmter Naturobjekte noch als bloß subjektiver Reflexionsvorgang zu denken, sondern als eine örtlich vermittelte Beziehung, in der die Natur zwar als das Andere des Menschen erscheint, aber doch auf ihn bezogen bleibt. Die Frage nach dem Ort des Erhabenen führt also mitten hinein in die natürlichen und kulturellen Bezüge, die unsere Lebenswelt ausmachen, weshalb man getrost mit Weischedel schließen kann; und zwar mit dem letzten Satz seines Aufsatzes, der – anders als der erste – offenbar noch immer gilt: »Solange wir in solchem Fragen bleiben, wird es gut sein, den Namen des Erhabenen nicht zu vergessen.«56

56 W. Weischedel: »Rehabilitation des Erhabenen«, S. 345.

Religiöse Orte und gelebter Raum U LRICH B EUTTLER

1. E INFÜHRUNG Seit hundert Jahren findet in der Theologie eine neue Wertschätzung religiöser Orte statt. Zuerst in der Religionsphänomenologie und Religionswissenschaft, dann aber auch mit der ›empirischen Wende‹ in der praktischen Theologie der letzten Jahrzehnte. Die Aufwertung der religiösen Orte und der damit einhergehenden ›Lokalisierung‹ von Erscheinungen und Anwesenheit Gottes an solchen Orten intensiver religiöser Erfahrung, stellt eine systematisch-theologische Grundfrage, nämlich, welche Rolle der Ort und der Raum für das Gott-MenschVerhältnis spielen. Ich will in diesem Beitrag eine systematische-theologische ›Ortsbestimmung‹ vorlegen und die Problematik von Ort und Raum aus der Perspektive der systematischen Theologie reflektieren. Die genannte Frage war über Jahrhunderte in Religionsphilosophie und Theologie, immer unter Voraussetzung eines theistischen Gottesbildes, klar beantwortet worden: Gott ist weder im Raum noch am Ort. Raum und Ort, sagte man, spielen für das Gott-Mensch-Verhältnis höchstens eine subjektive Rolle, aber objektiv ist das Gott-Mensch-Verhältnis von Ort und Raum unabhängig. Nach dem theistischen Gottesbild ist Gott ein körperloses geistiges Wesen, das unendlich, allmächtig und damit auch, aufgrund seiner Wesenseigenschaften, allgegenwärtig ist. Allgegenwärtigkeit heißt aber im Theismus soviel wie Raumlosigkeit, erst recht Ortlosigkeit. Geistesgeschichtlich war diese theistische Auffassung von der raumlosen Allgegenwart Gottes sozusagen die lehrmäßige Formulierung, die man bei den großen Theologen wie in den lehramtlichen Bekenntnissen fand vom Mittelalter bis zur Neuzeit, bei Anselm v. Canterbury, bei Thomas v. Aquin, bei den Lutheranern der altprotestantischen Orthodoxie von Melanchthon bis Hollaz ebenso wie bei den Neuprotestanten und liberalen Theo-

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logen wie Schleiermacher und Ritschl oder den neothomistischen katholischen Theologen bis zum lehramtlich-katholischen Primärdokument des 19. Jahrhunderts, dem ersten Vaticanum. Diese Auffassung findet man aber auch bei allen philosophisch aufgeklärten Denkern von Descartes über Kant bis zu den Religionsphilosophen des 20. Jahrhunderts wie R. Swinburne u.a. Gegenüber dieser Standard-Gotteslehre des Theismus wurden allerdings immer wieder leise mystische oder erfahrungstheologische Einwände laut gegen eine solche rationale, ja rationalisierende Theologie: Der allgegenwärtige, raumlose Gott ist weder an- noch abwesend, er hat überhaupt keine erfahrbare Dimension. Er widerspricht damit jeder religiösen Erfahrung und auch jeder religiösen Erwartung. Den raumlosen Gott kann man zwar schön und widerspruchslos denken, aber er ist religiös recht unbrauchbar. Man kann, wie Martin Heidegger das ausgedrückt hat, diesen Gott weder anbeten noch vor ihm tanzen. In seiner Schrift »Identität und Differenz – Zur onto-theologischen Verfassung der Metaphysik«, sagt Heidegger zum metaphysischen Gott: »Zu diesem Gott kann der Mensch weder beten noch kann er ihm opfern… Vor der causa sui kann der Mensch weder aus Scheu ins Knie fallen noch kann er vor diesem Gott musizieren und tanzen.«1

Allerdings ist es für die Theologie und erst recht die Philosophie über lange Zeit unmöglich gewesen, den religiösen Gott, der an Orten ›wohnt‹, der sich offenbart und zeigt und wieder verbirgt, widerspruchsfrei zu denken. Denn ein Gott, der hier ist und nur hier, kann kaum in gleicher, identischer Weise auch anderswo sein. Und umgekehrt kann ein immer mit sich identischer Gott nicht am Ort sein, jedenfalls nicht an einem Ort mehr oder weniger als an einem anderen, wenn Ort einen umgrenzten Raum meint, wie seit Aristoteles bis in die Neuzeit üblich. Denn so am Ort wäre Gott selbst umgrenzt und eben nicht allgegenwärtig. Gott auch in den Zusammenhang mit dem Raum bringen und dies auch mit der Allgegenwart Gottes zusammendenken zu können, erfordert einen bestimmten Begriff von Raum. Das war erst in der frühen Neuzeit möglich. Ich gehe so vor, dass ich in einem ersten Teil die naturphilosophische Entwicklung vom Ort zum Raum skizziere, dann die Wendung zum raumlosen Gott aufzeige. Kritisch dazu nenne ich dann wichtige Argumente zur Notwendigkeit und Möglichkeit der Raumbezogenheit Gottes, bevor ich im konstruktiven

1

Heidegger, Martin: »Die onto-theologische Verfassung der Metaphysik«, in: ders., Identität und Differenz, Pfullingen 1957, S. 31-67, hier S. 64.

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Hauptteil ein phänomenologisches Raumverständnis entwickle, welches eine Raumanwesenheit Gottes zu denken erlaubt.

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In der frühen Neuzeit ereignet sich in der Naturphilosophie eine fundamentale Innovation. Die aristotelische Theorie des Ortes, die über das ganze Mittelalter bestimmend war, erfuhr eine grundsätzliche Kritik, was zu einer Abkehr vom Ort und einer Zuwendung zum Raum führte. Maßgeblich hierfür waren die neoplatonischen Naturphilosophen des 16. und 17. Jahrhunderts.2 Bei B. Telesius und F. Patrizi (Patritius) wird der Status der Raumes geklärt und ihm ein von der Materie unabhängiges Sein zuerkannt. Hierfür führt Bernhard Telesius in seiner Naturphilosphie »De rerum natura« (1586) ein: Raum (spatium) ist der Aufnehmer (receptor) oder Behälter der Körper (receptaculum rerum), in dem die Körper lokalisiert sind.3 Die Abkehr vom aristotelischen Ortsbegriff als Lagebeziehung bzw. als umschließende Fläche der Körper und die Zuwendung zum Raum als Behälter mit In-Relation ist hier klar vollzogen. »In eo entia locata esse«: In ihm, im Raum sind die Dinge lokalisiert. Damit ist der Raum selbst eine eigene Größe, er erhält ein selbständiges Sein. Der Raum ist nicht mehr bloßes Akzidenz, sondern hat eigenständige Realität, unabhängig von der Materie. Er bleibt unveränderlich beständig derselbe, egal wie in ihm Körper sich bewegen. Er bleibt auch dann, wenn man Körper aus ihm entfernt. Er hat eine Fähigkeit, Körper aufzunehmen, die unabhängig ist von den Körpern, die ihn erfüllen. Der Raum ist ohne innere Dynamik überall gleich homogen und mit sich identisch unbeweglich. Der Raum lässt sich sogar sinnlich wahrnehmen, wie die Experimente zeigen, so dass logische Argumente gegen die Nichtexistenz des Vakuums gegenstandslos sind. Der Raum ist keines der Weltdinge, denn er besteht durch und in sich. »Wie eine Substanz besteht und existiert er durch sich und in sich, so sehr, dass er auch immer durch sich und in sich besteht: und er bewegt sich niemals, noch än-

2

Ausführlich vgl. das Kapitel I.8 meiner Habilitationsschrift: Beuttler, Ulrich: Gott und

3

»Itaque manifeste spatium [sc. esse] … et entia omnia in eo locata esse«, In: Telesius,

Raum. Theologie der Weltgegenwart Gottes, Göttingen 2010, S. 192-233. Bernardino: De rerum natura, Neapel 1586, lib. I, c. S. 25, 37.

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dert er sein Wesen oder Ort, weder teilweise noch im Ganzen.«4 Der Raum ist die durch sich bestehende und von nichts abhängende Hypostase der Ausdehnung. Daher musste er vor allem anderen da sein und geschaffen sein, also vor der Welt, und zwar notwendig, bevor alles andere geschaffen wurde. Das notwendige Erste, dessen alles bedarf, um existieren zu können, ist der Raum. Was nämlich nicht irgendwo ist, ist nirgendwo, ist also nicht, ist also nichts, argumentiert Telesius.5 Damit übernimmt der Raum wesentliche Funktionen, die bis dahin ausschließlich Gott selbst zugeschrieben worden waren. Der Raum, so hat Thomas Campanella Patrizis neue Metaphysik des absoluten Raumes zusammengefasst, ist die erste Substanz (substantia prima) und das Substrat der Existenz aller Dinge (spatium esse basin omnis esse creati).6 Der Raum sei die alles enthaltende Gottheit (est autem locus omnium divinitas substentans). Er gibt Sein und erhält es, in ihm leben, weben und sind wir (dans esse atque conservans, in ipsa enim vivimus, movemur et sumus). Das ist ersichtlich ein Zitat von Apg 17, wo Gott als der bezeichnet wird, in dem wir leben, weben und sind. Dem Raum werden bei den neoplatonischen Naturphilosophen des 17. Jahrhunderts also wesentliche Funktionen Gottes zugeschrieben, zu enthalten und zu erhalten. Diese Auffassung der italienischen Platoniker setzt sich fort bei den englischen Platonikern, den sog. Cambridge Platonists, besonders bei Henry More, dessen Einfluss auf Newton nachgewiesen ist: Newtons berühmter absoluter Raum hat von daher einen grundsätzlich metaphysischen Hintergrund. Der absolute Raum ist nicht primär eine physikalische Größe, sondern eine metaphysische. Newtons absoluter Raum wird zwar von ihm auch physikalisch bewiesen mittels des berühmten ›Eimerexperiments‹, der absolute Raum ist aber wesentlich metaphysisch und theologisch notwendig. Die Funktion des absoluten Raumes ist eine metaphysische, er ist die Bedingung der Möglichkeit des Seins räumlicher Existenz. Der absolute Raum erhält und enthält alles materiellräumliche Sein.

4

»Atque utrumque per se substans, per se existens, in se existens, adeo, ut etiam per se stet semper, atque in se stet: neque umquam moveatur, neque essentiam, neque locum mutet, nec partibus, nec toto« (ebd.).

5

Ebd.

6

»… ipsum [spatium] esse basin omnis esse creati omniaque praecedere esse saltem origine et natura«, In: Campanella, Tommaso: De sensu rerum, Frankfurt 1620, lib. I, c. S. 12, 40.

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Und seine Funktion ist grundlegend theologisch. Durch den Raum, so Newton, übt Gott seine Weltgegenwart aus, durch den Raum ist Gott den Dingen innerlich präsent: Die Allgegenwart Gottes hat Newton so auf den Raum bezogen, dass Gott durch den Raum den Dingen intime präsent ist, sie wahrnimmt, bewegt und ordnet. »Folgt nicht aus den Erscheinungen, dass ein unkörperliches, lebendiges, intelligentes, allgegenwärtiges Wesen existiert, das im unendlichen Raum, als wäre es sein Sensorium, die Dinge innerlich ansieht und durch das er sie wahrnimmt, und sie als Ganze erfasst 7

durch ihre unvermittelte Präsenz in ihm.«

Der absolute Raum wird aber nach Newton ständig aus der Allgegenwart Gottes konstituiert, er ist nicht selbst wesenhaft göttliche Gegenwart. Der absolute Raum ist also gerade nicht Weltseele und nicht gleichewig mit Gott, sondern ist das Medium, das Gott für die Aktuierung seiner Allgegenwart in Anspruch nimmt. Gott »ist nicht die Dauer und der Raum, sondern er währt und ist zugegen. Er währt immer und ist überall zugegen, und konstituiert dadurch, dass er immer und überall existiert, die Dauer und den Raum.«8 Um Newtons absoluten Raum gab es einen berühmten Streit, der zwischen Samuel Clarke und G.W. Leibniz ausgetragen wurde. Dieser Streit um den Raum ging nicht nur um den Raum, denn im Hintergrund war es ein Streit um Gott und um das Verhältnis Gottes zum Raum und zu den räumlichen, weltlichen Dingen. Der Streit wurde in einem Briefwechsel in je fünf Briefen zwischen 1706 und 1716 geführt und wurde immer detaillierter und subtiler, ohne dass eine Annäherung oder gar Einigung erzielt werden konnte. Der Streit wurde nicht aufgelöst, er blieb bei zwei unvereinbaren Positionen stehen und endete nur durch Leibniz’ Tod 1716. Ich will hier nur den wesentlichen theologischen und metaphysischen Punkt nennen. Leibniz’ Kritik an Newton war die, dass, wenn der Raum das Organ Gottes wäre, das er benötigt, um die Dinge wahrzunehmen, dann seine Wahrnehmung

7

Newton, Isaac: Optics, Opera quae exstant omnia, Bd. IV, London 1782, S. 238; der Text der lat. Übersetzung von S. Clarke 1706 lautet: »Annon ex phaenomenis constat, esse Entem Incorporeum, Viventem, Intelligentem, Omnipraesentem, qui in Spatio infinito, tamquam Sensorio suo, res Ipsas intime cernat, penitusque perspiciat, totasque intra se praesens praesentes complectatur.«

8

Newton, Isaac: Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, lib. III, Scholium generale, Opera quae exstant omnia, Bd. III, London 1782, S. 172.

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bloß vermittelt, zudem örtlich gebunden und vom Wahrgenommenen abhängig, also bloß rezeptiv wäre. Gottes Wahrnehmung sei aber 1. nicht örtlich, sondern wesenhaft, 2. unmittelbar, nicht vermittelt, 3. aufgrund seines aktiven, die Dinge durch fortgesetzte Schöpfung erhaltenden Wirkens und nicht aufgrund bloßer Gegenwart.9 Clarke, der alle Briefe vor Absendung mit Newton besprochen hat, auch aus zentralen Stellen von Newtons Optik und der Prinzipien der Naturphilosophie, dem Hauptwerk Newtons zitiert, entgegnete, dass Gottes Wahrnehmung selbstverständlich unvermittelt sei, nämlich durch seine unmittelbare Allgegenwart, weshalb ›sensorium‹ nur ein Gleichnis sei und nicht für das Organ, sondern den Ort der Wahrnehmung stehe, wie auch der menschliche Geist nicht vermittelt der Sinne, sondern unmittelbar am Ort der von den Sinnen geformten Bildern erkenne. Warum hielt Clarke aber so penetrant am Ausdruck ›sensorium‹ fest, wenn Gottes Wahrnehmung, Allgegenwart und Einwirken doch auch für ihn ohne Vermittlung eines Organs oder Mediums geschieht? Damit die Allgegenwart räumlich ausgedehnt und am Ort gedacht werden kann, muss der unräumlich unendliche Gott eine räumlich ausgedehnte Eigenschaft haben, sonst könnte er nicht substantiell allgegenwärtig sein. Während für Leibniz Gott die Dinge in sich selbst wahrnimmt – der Raum sei der Ort der Dinge und nicht der göttlichen Vorstellungen – und sie dadurch erkennt, dass er sie immerwährend hervorbringt10, kann Gott für Clarke und Newton nur dann allwirksam sein, wenn er zuvor allen Dingen wesentlich und substantiell am Ort gegenwärtig ist, denn eine Kraft kann ohne Substanz nicht bestehen11. Dies ist er durch den Raum. Der Streit um den Raum war also ein Streit um Gott: Leibniz war aufgeklärter, rationaler. Er hielt an der nicht örtlichen Gegenwart Gottes fest, weil Gott für ihn extramundan, nicht kausale Wirkursache war. Gottes Wirkung ist nach Leibniz nur vermittelt der Weltursachen, aber nicht direkt möglich. Für Clarke hingegen waren Wirkungen Gottes direkte Herrschaftsakte Gottes. Clarke hatte wie Newton einen voluntativen Gottesbegriff. Gott war für ihn weniger Geist, als vielmehr Wille, der in der Welt vermittels des Raumes agiert und wirkt.

9

Der Briefwechsel wird zitiert nach der Ausgabe Clarke, Samuel: Der Briefwechsel mit Gottfried Wilhelm Leibniz von 1715/16, Ed Dellian (Hg.), Hamburg 1990. Jeweils mit dem Kürzel für den Autor (L = Leibniz, C = Clarke), der Briefnummer, dem Paragraphen und der Seitenzahl dieser Ausgabe: L1, §3, 10; L2, §5, 18; L3, §12, 31.

10 L4, §29f, 46, dagegen C4, §29, 57. 11 C3, §12, 37.

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Im 17. Jahrhundert vertrat Clarke die Mehrheitsposition, der klare Sieger hieß unmittelbar Newton/Clarke, in der Folge drehte sich das Blatt, und allein die leibnizsche Position setzte sich in Folge des deutschen Idealismus durch, insbesondere durch Immanuel Kant. Warum?

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Newton konnte sich in der Folge nicht durchsetzen, weil mit Newtons absolutem Raum die Gefahr der Vergöttlichung des Raumes verbunden war. Bei Joseph Raphson etwa trägt der Raum nicht nur die Eigenschaft der Unermesslichkeit, sondern er trägt alle metaphysischen Eigenschaften Gottes. In »De spatio reali seu ente infinito« (1702) listet Raphson folgende metaphysische Eigenschaften des Raumes auf, die allesamt ebenso Eigenschaften Gottes sind. Der Raum (spatium), das eigentlich Ausgedehnte (Extensum intimum), ist im Unterschied zur Materie 1. absolut unteilbar (indivisibile), 2. absolut unbeweglich (immobile), 3. aktual unendlich (actu infinitum), 4. reiner Akt (actus purus), 5. alles erhaltend und durchdringend (omni-continens & omni-penetrans), 6. unkörperlich (incorporeum), 7. unwandelbar (immutabile), 8. in sich eins (unum in se), 9. ewig (aeternum), 10. unbegreiflich (incomprehensibile), 11. vollkommen (perfectum), 12. der Seins- und Erkenntnisgrund von Ausgedehntem (Extensa sine eo neq; esse, neq; concipi, possunt), 13. ein Attribut der ersten Ursache, nämlich die Unermesslichkeit (attributum, viz. immensitas, primae causae).12 Die meisten Eigenschaften werden auf die Unendlichkeit zurückgeführt und aus dieser bewiesen, woraus nun aber, systematisch betrachtet, erhebliche Probleme entstehen. Da die Unendlichkeit des Raumes als aktuale, d.h. als Unendlichkeit Gottes verstanden wird, ist der Raum von der geschöpflichen Seite auf die Seite Gottes gewechselt. Der Raum ist bei Raphson die nichtmaterielle, von den endlichen materiellen Körpern und ihrer Ausdehnung substantiell unterschiedene, unendliche Ausdehnung Gottes und trägt daher seine metaphysischen Eigenschaften. Entsprechend ist Gott nicht nur denkendes, sondern auch ausgedehntes Wesen. Seine wesentliche Allgegenwart ist der Raum oder die unendliche Ausdehnung. Weil also die Gefahr der Vergöttlichung des Raumes in dieser Metaphysik des Raumes besteht, versteht man leicht Kants Radikalkritik: Kant führt in seiner

12 Raphson, Joseph: De spatio reali seu ente infinito, London 1702, c. V, S. 72-80.

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Kritik der reinen Vernunft eine Entsubstantialisierung des Raumes und damit einhergehend eine Enträumlichung Gottes durch. Der Raum ist nach der »transzendentalen Ästhetik«, dem ersten Hauptteil der Kritik der reinen Vernunft, welche die Erkenntnisformen Raum und Zeit behandelt, ›nur‹ noch Form der Anschauung, er hat nur empirische Realität, der absolute Raum hat keine An-sich-Realität mehr, er ist nur ideale Form, er ist eine Voraussetzung der Wahrnehmung und hat, wie Kant sagt, »transzendentale Idealität«. Der Raum ist also kurz gesagt im Subjekt als eine Form der Anschauung, in welcher wir Dinge als räumlich nebeneinander wahrnehmen. Jedenfalls kann man weder den Raum auf Gott noch Gott auf den Raum beziehen. Daher kann man auch nicht Gott direkt auf den Raum beziehen. Dies wäre ein ›Erschleichungsfehler‹, wie Kant sagt, durch den man ein Erkenntnisprinzip der sinnlichen Dinge fälschlicherweise auf die intelligiblen Dinge übertragen würde. Das Axiom »Alles, was ist, ist irgendwo und irgendwann« sei ein erschlichenes Axiom, ein unechtes Prinzip, durch das alle Dinge, auch die intelligiblen, »an die Bedingungen des Raumes und der Zeit im Dasein gebunden«13 würden. Der Raum ist lediglich die Form der Anschauung sinnlicher Dinge, aber nicht eine Qualität von Sein überhaupt. Würde man das (falsche) Axiom, dass alles irgendwo ist, auf Gott anwenden, würde man sich »eine örtliche Gegenwart Gottes« erdichten und »Gott, als von einem unendlichen Raum zugleich umgriffen, in die Welt«14 einschließen. Im Folgenden wurde durch dieses schlagende Argument Kants sowohl in der Philosophie als auch in der Theologie Gott nicht mehr räumlich in die Welt einbegriffen und nur noch die Raumlosigkeit Gottes und Gott-losigkeit des Raumes behauptet. Das prominenteste Beispiel des frühen 19. Jahrhunderts ist Friedrich Schleiermacher, dessen Auffassung für die folgenden gut hundert Jahre schulbildend war. Schleiermacher bestimmt den Raumbezug Gottes nur indirekt, nämlich transzendental, d.h. als Bedingung der Möglichkeit von Räumlichkeit, selbst aber strikt unräumlich. Gottes Allgegenwart bedingt den Raum und die räumlichen Dinge, ist selbst aber unräumlich. Im § 53 seiner ›Glaubenslehre‹ definiert

13 Kant, Immanuel: De mundu sensibilis (1770), in: Wilhelm Weischedel (Hg.), Schriften zur Metaphysik und Logik/1, Werke in zwölf Bd., Bd. V, Frankfurt a.M., S. 7-107, hier S. 91. 14 Ebd., S. 93.

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Schleiermacher: Die Allgegenwart Gottes ist »die mit allem Räumlichen auch den Raum bedingenden schlechthin raumlose Ursächlichkeit Gottes«.15 Die Allgegenwart sei »vollkommen raumlos, mithin auch nicht größer oder kleiner an verschiedenen Orten.«16 Gott ist nicht im Raum gegenwärtig und wirksam nach Analogie der Raumerfüllung von expansiven Kräften. Es ist daher keine ruhende Adessenz im Raum anzunehmen, und die operative Gegenwart strikt unräumlich vorzustellen. Einen Ort hat Gott nicht im Raum oder bei den Dingen, sondern ausschließlich »in sich selbst«, nur mit den »Wirkungen seines ursächlichen Insichselbstseins« ist er überall. Aber an dieser Standardauffassung der neuprotestantischen Gotteslehre meldet sich nun aber ein theologisches Problem: Der Weltbezug Gottes ist hier nur noch strikt raumlos gedacht, d.h. geistig im Gegensatz zur Körperlichkeit und Ausdehnung. Gott hat damit keinen Raumbezug mehr, er hat nur noch geistigmoralischen Weltbezug. Wenn man dennoch, wie Leibniz u. Schleiermacher, den kausalen Bezug Gottes zur Welt aufrecht erhalten will, dann entsteht die Aporie, wie der raumlose Gott erstens Raum und Zeit konstituieren soll und wie er zweitens ohne Kausal-Verhältnis sich kausal zur raumzeitlichen Welt verhalten soll. Der Selbstwiderspruch bei Schleiermacher besteht m.E. darin, dass er Gott als unräumliche und in keiner Weise räumlich vermittelte Allkausalität denkt. Wie aber soll der allkausale Gott alles ursächlich bestimmen, wenn er überhaupt keine räumliche Einflussnahme haben darf? Entweder Gott hat ein Kausalverhältnis zur Welt, dann muss dies auch räumlich gedacht werden, oder er ist unräumlich, dann kann er auch keinen unmittelbaren kausalen Bezug haben. Aber auch wenn man Gott keinen direkten Kausalbezug auf die Welt und keine unmittelbare Wirksamkeit mehr zuerkennen mag, weil man nicht wieder zum Voluntarismus der Cambridge Platoniker zurück will oder weil man das theistische Gottesbild eines rein geistigen Wesens des deutschen Idealismus vertritt, so ergeben sich doch grundlegende theologische Probleme, wenn man Gott jeden Raumbezug abspricht.

15 Schleiermacher, Friedrich: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1830/31), Martin Redeker (Hg.), zwei Bände, Berlin 1860, §53 Leitsatz, Bd. 1, S. 272. 16 Ebd., §53.1, S. 273.

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4. D IE DREIFACHE F ORDERUNG G OTTES

EINES

R AUMBEZUGES

Ich möchte an dieser Stelle wenigstens drei relevante Gründe nennen, warum es mir theologisch geboten scheint, einen Raumbezug Gottes anzunehmen. Eine Beziehung Gottes zum Raum (in noch zu klärender, bestimmter Weise) anzunehmen, ist aus verschiedenen Gründen unverzichtbar. Sie ist erstens religiös notwendig, weil der glaubende und betende Christ Gott auch außer sich, d.h. im Raum, zu erfahren glaubt und auch lokal auf sich und seinen raumzeitlichen Ort bezogen weiß. Sie ist zweitens trinitäts- und schöpfungstheologisch notwendig, weil die inkarnatorische Struktur der Ökonomie Gottes ein Eingehen Gottes in Raum und Zeit behauptet und einen, wie auch immer gearteten, bleibenden Raumbezug Gottes vorsieht. Schöpfung und Erhaltung sind, wenn sie christologisch-pneumatologisch vermittelt sein sollen, nicht ohne Raumbezug Gottes zu denken. Und eine Beziehung Gottes zum Raum ist, wie gleich noch zu zeigen ist, drittens logisch notwendig, da alle Gottesaussagen, schon die Existenzbehauptung, einen räumlichen Bezug zum Sprecher implizieren. So hat Ingolf Dalferth dargelegt, dass jede Aussage, die das Wort ›Gott‹ enthält, eine Relation impliziert zwischen dem, der die Aussage äußert und dem Gehalt, auf den es sich bezieht. ›Gott‹ impliziert also einen relationalen Bezug zwischen Gott und Mensch. Die Aussage »Gott existiert« als elementare Gottesaussage, heißt: Gott existiert in Bezug auf mich, es bezieht sich ein Sprecher auf Gott, wodurch er sich spezifisch lokalisiert. Allerdings ist für solche Lokalisation der geometrische Raum ungeeignet. V. den Brom hat kritisiert, dass ein lokaler Bezug von Gottesaussagen auf lokale Raumpunkte in eine Aporie führt. Wenn die Aussage »Gott existiert« bedeuten würde, dass Gott hier am Ort P1, genau am Ort des Sprechers realräumlich lokalisiert ist, dann hieße dies ja, dass er mit dieser Aussage an P2 nicht lokalisiert wäre, da örtliche Lokalisationen ortsexklusiv sind. Gott müsste raumübergreifend sein, um sowohl an P1 als auch an P2 lokalisiert zu sein, wodurch er aber eine Art Körper (body) oder Größe (size) erhielte, die sich über die Raumpunkte erstreckt. Aus dieser Aporie schließt v.d. Brom nun aber nicht etwa, dass vielleicht die räumliche, ortsexklusive Lokalisation der Fehler ist, sondern dass man Gottesaussagen überhaupt nicht lokalisieren kann. Gott, so schließt v.d. Brom mit dem Mainstream des Theismus, ist raumlos allgegenwärtig, er ist nicht als räumliches Wesen mit Teilbarkeit und Körperlichkeit zu denken, sondern als

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raumlose Entität (spaceless entity), und seine Allgegenwart ist als raumlose Präsenz (spaceless presence) zu denken.17 Setzt man den Raumbegriff v.d. Broms voraus, hat er natürlich recht. In der Tat kann man Gott keinen geometrischen Raumbezug zumessen, wie bei ortsexklusiven Raumdingen, das wäre philosophisch primitiv, dazu religiös fatal. Das hat aber auch niemand je behauptet. Der Raumbezug, von dem Dalferth spricht, ist natürlich keine ortsgeometrische Raumrelation, sondern ein gemeinsames ›Identifikationssystem‹ von Gott und Mensch. Das wäre ausführlich zu diskutieren. Entscheidend für uns ist, dass nur der euklidische, geometrische Raumbegriff einen Raumbezug Gottes ausschließt. Ein Raumbezug Gottes ist damit nicht überhaupt ausgeschlossen, aber er hängt am Raumbegriff. Um Raumbezug Gottes positiv formulieren zu können, braucht es einen anderen Raumbegriff. Kurz gesagt: Wir brauchen einen nicht homogenen, isotropen, geometrischen Raum, sondern einen gegliederten Raum, der Anwesenheit und Nähe ebenso wie Ferne und Absenz zu denken ermöglicht, der weder Gott verräumlicht, noch den Raum vergöttlicht. Wir brauchen aber eben auch einen Raumbegriff, der nicht zu einer raumlosen, homogenen, d.h. überall gleichförmigen und damit religiös unbedeutenden Allgegenwart führt. Es braucht einen Raum, der ein Ort ist und einen Ort, der Raum ist. Der Raum, der nur aus geometrischen Orten besteht, muss überwunden werden zu einem solchen, der existentielle Orte beherbergt. Und der lokale Ort von bloßen Stellen muss erweitert werden zum religiösen Raum, der Tiefenund Weitedimensionen erschließt. Ein religiös produktiver Ortsraum ist ein solcher, der Nähe und Ferne Gottes zu erschließen erlaubt. Der entsprechende, religiös konstruktive, Raumbegriff ist ein solcher, der Immanenz und Transzendenz umfasst. Dazu möchte ich im Folgenden einen Vorschlag machen und Schicht für Schicht einen geeigneten Raumbegriff aufbauen.18

5. D ER

GELEBTE

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UND SEINE RELIGIÖSE

S TRUKTUR

Als geeigneten Ausgang für das Vorhaben erscheint mir der sogenannte »gelebte Raum«, den Eugen Minkowski in seinen Überlegungen zur »gelebten Zeit« und

17 Brom, Luco van den: Divine Presence in the World. A critical Analysis of the Notion of Divine Omnipresence, Kampen 1993, S. 229. 18 Ausführlicher in U. Beuttler: Gott und Raum, II.2.-3., S. 257-353.

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Graf Dürckheim in seinen »Untersuchungen zum gelebten Raum« (1932) eingeführt haben: »Es gibt aber einen gelebten Raum, wie es eine gelebte Zeit gibt.«19 Dieser Raum ist vom mathematisch-geometrischen fundamental unterschieden, es handelt sich um einen »amathematischen und ageometrischen Raum«. Denn der Raum, in dem wir leben und handeln, in dem sich unser Leben abspielt, »beschränkt sich für uns nicht auf geometrische Verhältnisse, Verhältnisse, die wir aufstellen, wie wenn wir uns, selbst auf die einfache Rolle von wissbegierigen Beobachtern oder von Gelehrten beschränkt, außerhalb des Raumes befinden würden. Wir leben und handeln im Raum, und im Raum spielt sich sowohl unser persönliches Leben als auch das kollektive Leben der Menschheit ab. Das Leben breitet sich im Raum aus, ohne deshalb eigentliche geometrische Ausdehnung zu haben.«20

Der gelebte Raum hat eine Vielzahl von räumlichen Eigenschaften wie Distanzen, Ausdehnungen, Richtungen, die den geometrischen entsprechen, aber anders geartet sind, da sie »rein qualitativen Charakter«21 haben. Daneben trägt er weitere qualitative Eigenschaften wie Tönungen, Stimmungen, Anmutungen und Vitalqualitäten, die Graf Dürckheim eindrücklich analysiert hat. Hier wird besonders deutlich, wie der gelebte Raum mit dem Selbst verwoben ist. Ich möchte im Anschluss daran folgende vier aufeinander aufbauende Strukturmerkmale des gelebten Raums unterscheiden und jeweils nach der entsprechenden Räumlichkeit der Gegenwart Gottes fragen, die sich an die jeweilige Struktur von Raum anschließt. Der gelebte Raum und die Räumlichkeit des menschlichen Daseins sind a) präreflexiv präsent, b) elementar strukturiert, c) gestimmt und getönt, d) gerichtet und leiborientiert strukturiert.

19 Minkowski, Eugéne: Die gelebte Zeit II. Über den zeitlichen Aspekt psychopathologischer Phänomene, Salzburg 1971, S. 233. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 236.

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Analog dazu ist Gott jeweils auf jede Schicht des gelebten Raumes in religiöser Wahrnehmung, Erfahrung und Vollzug in einer bestimmten Weise, die der Raumstruktur entspricht, bezogen. a) Der unthematisch gegenwärtige Raum läuft immer mit als ungegenständlicher Hintergrund aller Objektwahrnehmung. Er ist in allem bewussten und unbewussten Wahrnehmen und Erleben immer ‚mitgegeben‘ und ‚mit da‘. Andererseits ist er nicht an sich immer da, sondern als ein Dasein für mich, als ein mir Mitgegebensein. Der unthematisch mitgegebene Raum ist »tiefer in uns selbst verankert als die aus ihm sich abhebenden gegenständlich bewussten Dinge. Wir kommen immer schon von dem Raum, in dem wir sind, her, wenn wir auf einzelne Dinge ‚im‘ Raum achten. In diesem unthematischen haben des Raumes sind wir geradezu mit dem Raum eins.«22

Dieser gelebte Raum ist »in seiner jeweils leibhaftigen und bedeutungsvollen Ganzheit ›gegenwärtig‹ in Gesamteinstellung, Haltung, Gerichtetheit und Zumutesein, man hat ihn im ‚Innesein‘, hat ihn in den Gliedern und im Gefühl, in Leib und Herz.«23 Der gelebte Raum, der einem unmittelbar gegenwärtig ist und in dem man sich unwillkürlich einbezogen weiß und von dem man sich umgeben spürt, eignet sich besonders dazu, eine elementare Form der Gegenwart Gottes zu symbolisieren. In strukturell analoger Weise ist dem gläubigen und bewusst religiös lebenden Menschen sein Glaube und dasjenige, auf den er sich richtet, Gott, in seiner Gesamteinstellung, Haltung, Gerichtetheit und Zumutesein gegenwärtig. Die allgemeine Gegenwart Gottes kann als ein unthematisch gegenwärtiger Raum beschrieben werden, der in allem Erleben, Wahrnehmen und Tun immer mitgegeben ist, sozusagen immer mitläuft. Dieser Raum der Gegenwart Gottes durchdringt einen selbst, ist aber doch ein äußerer, umgebender Raum. Er ist der Hintergrund des ganzen christlich-gelebten Daseins. Doch ist diese Gegenwart Gottes nicht an sich, sondern immer nur für jemand mitgegeben. Diese Art der Gegenwärtigkeit erfordert einen Latenzzustand der Aufmerksamkeit meinerseits, eine dieser umräumlichen Gegenwart Gottes inneseiende Einstellung. Sie färbt als Hintergrund mein übriges Gesamterleben, wobei der Aufmerksamkeitsgrad

22 Gölz, Walter: Dasein und Raum. Philosophische Untersuchungen zum Verhältnis von Raumerlebnis, Raumtheorie und gelebtem Dasein, Tübingen 1970, S. 202. 23 Dürckheim, Graf Karlfried von: Untersuchungen zum gelebten Raum, Frankfurt a.M. 2005, S. 26.

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darauf erhöht und abgesenkt werden kann. Wir stoßen hier auf eine elementare Räumlichkeit der Gegenwart Gottes. b) Der gelebte Raum ist das das menschliche Dasein als leibhaftiges Dasein ermöglichende Worin. Dies Worin ist ein ungegenständliches Worin: Der gelebte Raum umlagert und umwebt das Dasein, dass es als ein solches existieren kann. Der gelebte Raum ist das Worin gelebten Daseins. Er ist der das leibhafte Leben ermöglichende Raum und als sein Worin zugleich der Grund, auf dem jenes sich aufbaut und entfaltet. Der gelebte Raum ist aber nicht der kausale Verursacher des Daseins oder gar der vorfindlichen Existenz des Menschen, sondern mit dieser gleichursprünglich. Er ist mit dem Dasein mitgesetzt. Da er nicht mit mir selbst identisch ist, sondern mit mir geht als Um-herum meines Daseins, können wir religiös analog dazu Gott als das Worin menschlichen, allgemein: geschöpflichen Daseins ansprechen. c) Jeder Raum löst eine affektive Stimmung aus, die noch vor der bewussten Wahrnehmung seiner Größe, Formen und Farben liegt. Räume haben von sich her eine Färbung, eine Tönung, eine Stimmung, die sich unmittelbar überträgt. Ein Raum hat, die sinnlich wahrnehmbaren Raumqualitäten und -quantitäten grundierend, eine eigene Vitalität, eine je eigene Art von Lebendigkeit, gewissermaßen eine ›Seele‹, die sich unmittelbar mitteilt. Th. Lipps hat in seiner Ästhetik von einer ›Raumseele‹ gesprochen, die in der spezifischen ›Stimmung‹ des Raumes gegenwärtig ist. Die Gestimmtheit ist eine primäre Eigenschaft des gelebten Raumes. Sie teilt sich mit als das Anwesen des Raumes, als seine unauffällige Gegenwart für uns, im Sprechakt eines »schweigenden Sprechens.«24 Der Raum trägt eine Anmutung, die sowohl für den jeweiligen Raum als auch für mein Dasein in diesem Raum charakteristisch ist. Der gestimmte Raum ereignet sich in vielfältiger Weise: als machtvoll dröhnender oder sanft schweigender Raum, als leerer oder voller, weiter oder enger Raum, hell oder dunkel, freundlich oder abweisend, einladend oder ausgrenzend, bergend oder feindlich, schützend oder bedrohend, widerständig oder einfühlend. Der gestimmte Raum ermöglicht unmittelbare und mittelbare religiöse Raumerfahrungen. Der gestimmte Raum symbolisiert das dauerhafte und kommunizierende Anwesen eines anderen meiner selbst, das mich fundamental betrifft, indem es mein Dasein tönt und stimmt und in Kommunikation mit mir tritt. Der gestimmte

24 W. Gölz: Dasein und Raum, S. 203.

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Raum bringt das Angeredet-sein durch das Um-mich-herum zum Ausdruck und verweist auf das leibhafte Ummichsein der An- (oder Ab-)wesenheit Gottes, die mich in bestimmter und stimmender Weise ergreift, als Fülle oder Leere, als schweigendes Sprechen oder beredtes Schweigen. Der gestimmte Raum wechselwirkt mit mir. Es kommt zu einer »eigentümlichen Kommunikation des Erlebnis-Ichs mit einem je anderen ausdrucksbeseelten Raum«.25 Der gestimmte Raum kommuniziert als ungegenständlich Anwesender mit mir, wie der unsichtbare Gott mir nahe ist und sich als Nähe (oder Ferne) zuspricht. Dabei begegnet Gott nicht als abgegrenztes Gegenüber, sondern als ausgebreitete ›Atmosphäre‹, in die ich hineinbezogen bin.26 d) Der gelebte Raum wird zum orientierten Raum, wenn der Leib als sein Zentrum ihn konstituiert. Der durch den Leib erschlossene Raum ist weder homogen noch isotrop. Er hat einen ausgezeichneten Mittelpunkt, von dem her er sich erschließt, und ist mit einem Elementarkoordinatensystem versehen, einem »natürlichen Achsensystem«. Die drei durch das Körperschema ausgezeichneten Richtungen und Gegensatzpaare oben-unten, vorne-hinten, rechts-links sind phänomenologisch keineswegs gleichwertig und keineswegs erst durch den aufrecht stehenden Menschen vorgegeben. Denn »aufrecht stehen« setzt den Unterschied oben und unten und eine vertikale Achse schon voraus. Oben und unten sind außerdem im Unterschied zu links und rechts, sowie vorne und hinten nicht vertauschbar und nicht ineinander überführbar. Sie bleiben bei allen möglichen Bewegungen und Körperhaltungen des Menschen gleich. Ob man steht, liegt, läuft, sich dreht: oben und unten sind leibphänomenologisch objektive Richtungen. Die mythischen und religiösen Räume sind nach den phänomenologischen Analysen von E. Cassirer, G. van der Leeuw und M. Eliade wie der leiborientierte Raum inhomogen. »Für den religiösen Menschen ist der Raum nicht homogen; er weist Brüche und Risse auf: er enthält Teile, die von den übrigen qualitativ verschieden sind.«27 Man denke nur an bekannte biblische Erzählungen wie Jakobs Traum von der Himmelsleiter, an Moses Berufung am Dornbusch oder

25 Ströker, Elisabeth: Philosophische Untersuchungen zum Raum, Frankfurt a.M., 1965, S. 23. 26 Ausführlich zum Konzept der ›Atmosphären‹, die Hermann Schmitz als ausgebreitete Gefühle resp. gestimmte Räume beschrieben und als ›Halbdinge‹ charakterisiert hat, vgl. U. Beuttler: Gott und Raum, S. 317-335. 27 Eliade, Mircea: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt a.M. 1990, S. 23.

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Jesajas Thronvision. Jeweils wird ein ›heiliger‹ Ort, Bereich oder Raum vom übrigen, profanen Raum herausgehoben und abgetrennt. Der inhomogene Bruch im Raum konstituiert einen festen Punkt, eine Mittelachse, von der jede künftige Orientierung ausgeht. Die Hierophanie markiert im vorher homogenen, grenzenlosen Raum eine absolute Orientierung durch einen absolut festen Punkt, ein Zentrum. Der horizontale Bruch ist verbunden mit einer Öffnung nach oben, in die himmlisch-göttliche Welt, und der Unterscheidung zwischen unten und oben, zwischen dem irdischen und dem himmlischen, göttlichen, wahren Bereich. Die Hierophanie etabliert ein absolutes Achsensystem mit den Fundamentaldifferenzen oben-unten und innen-außen. Es wird erhalten, fortgeführt und gepflegt durch religiöse Riten, welche die religiöse Orientierung im religiös orientierten Raum ermöglichen.

6. D IE

EXISTENTIELLEN UND RELIGIÖSEN DES GELEBTEN R AUMS

S CHICHTEN

Der gelebte Raum hat dementsprechend mehrere Schichten, die mit je anderen Erkenntnishaltungen, Einstellungen und Handlungsweisen des Selbst verknüpft sind. Auf der elementarsten, ursprünglichsten Schicht ist das Selbst passiv gegenüber dem gelebten Raum. Man befindet sich ›im‹ gelebten Raum, d.h. man findet sich als passiv in ihm vor. Die elementare Schicht des Raumes ist eine passive. Auf der ersten, elementarsten Stufe ist der Raum das präreflexiv präsente Worin des menschlichen Daseins. Dies Worin ist mit einer elementaren Orientierung nach unten und oben verbunden. Dieses In-Sein ist nicht explizit oder gar intentional als In-einem-Raum-sein bewusst, sondern als Um-Raum in präreflexivem, unbewusstem Innesein unthematisch gegenwärtig. Für das Dasein ist dieser elementare Raum aber höchst fundamental. Der gelebte Raum bildet das Fundament, den Erlebnishintergrund und Horizont der ganzen leibhaften Existenz »Erst bezogen auf menschliches Dasein ist der Raum Horizont, Hintergrund, Fundament der Existenz.«28 Der gelebte Raum ist außer mit einer elementaren Orientierung mit einer Färbung, Stimmung und Tönung verbunden, die für das Dasein nicht akzidentiell, sondern wesentlich, d.h. konstitutiv für sein Sein ist. Die Gestimmtheit bildet mit dem Selbst eine Sinneinheit, sie ist als Erlebnishintergrund immer mit da, macht den Raum zu einem Raum für mich. Der ge-

28 W. Gölz: Dasein und Raum, S. 216.

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lebte Raum erst konstituiert das Selbst als Selbst, d.h. als selbstbezügliche und leibhafte Person, indem er die Basis und Grundierung für das aktive Orientieren, Strukturieren und Handeln im Raum legt. Analog kann dazu theologisch Gott als Fundament und Grund, als Hintergrund und Horizont der geschöpflichen und glaubenden Existenz des Menschen angesprochen werden. Gott ist für den Gläubigen das immer mitlaufende, ihm nicht durchweg bewusste, aber unthematisch gegenwärtige Fundament und Hintergrund seines Lebens, er ist ihm, vermittelt durch bewusste und unbewusste Glaubensvollzüge, in Gesamteinstellung, Haltung, Gerichtetheit und Zumutesein gegenwärtig. Gott bewirkt dem Menschen durch den Glauben eine Art Färbung des Gesamtlebens, was zum Empfinden von Gottesnähe, von Gehalten- und Orientiertsein führt. Gott ist hier nicht an sich, sondern als An- bzw. als Abwesender präsent, wie auch der gelebte Raum als Fundament das Dasein nicht gegenständlich, sondern ungegenständlich fundiert und stimmt. Gott kann analog zur elementaren Schicht des unthematisch gegenwärtigen gelebten Raumes als Fundament und Hintergrund des geschöpflichen Seins und des religiösen Erlebens bestimmt werden. Diese Gegenwart kommt der klassischen Allgegenwart am nächsten, sie ist am unkonkretesten und am wenigsten spezifisch. Sie erstreckt sich über die gesamte Ausdehnung des gelebten Raums hinweg, hat aber am Ort jedes religiösen Individuums ein Zentrum, wo sie auftauchen und hervortreten kann. Die nächsthöhere, aktivere Schicht ist der durch den Leib orientierte Raum, dessen Dimensionen vielfache Transzendenzen aufweisen, besonders die eigentliche Raum-Dimension der Tiefe und Weite, auf die besonders Merleau-Ponty hingewiesen hat29. Gott kann entsprechend als Tiefe oder Grund, als Woher und Worin des geschöpflichen Seins angesprochen werden. Dies ist eine phänomenologische Einholung der Rede von Gott als Schöpfer und Erhalter meiner Existenz und der ‚Elemente‘ meines gelebten Raumes. Dann können wir noch eine weitere reflexive Schicht namhaft machen, sie bezieht sich auf die Orientierung im Raum durch subjektive und objektive Prinzipien, durch Perspektiven und Orientierungspunkte. Entsprechend kann Gott metaphorisch als zentraler Orientierungspunkt und der Glaube als Lebensperspektive verstanden werden. Das sich im Leben, im Glauben und im Denken Orientieren hat jedenfalls eine äquivalente phänomenologische Struktur. ›Gott‹ erscheint auf dieser reflexiven Stufe nicht als Element des gelebten Raumes selbst (als Worin oder Woher oder Wohin), sondern als reflexiv gebildeter Begriff einer letzten, von der Welt unterschiede-

29 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin/New York 1966, ND 1974, S. 298-308, dazu U. Beuttler, Gott und Raum, S. 296-307.

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nen Instanz, auf die alles, was ist, bezogen ist, und von dem her es seinen ‚Ort‘ und Sinn erhält. Die Lokalisierung Gottes geschieht solcherart innerhalb eines gemeinsamen, Gott und Mensch übergreifenden Identifikationssystems, dem Glauben an den dreieinigen Gott als Schöpfer, Versöhner und Vollender, innerhalb dem alles in einer Perspektive coram Deo betrachtet werden kann. Diese Perspektive ist umfassend im Symbolsystem des Glaubens theoretisiert, aber realisiert stets in einer konkreten pragmatischen Situation. Wer den Ausdruck ›Gott‹ gebraucht, loziert sich coram Deo und stellt damit sich im religiösen Gebrauch in die Gegenwart Gottes, von der er spricht. Er gebraucht damit Gott als konkreten, tatsächlichen Horizont seines Lebens. Erst mit dieser letzten Stufe haben wir die abstrakträumliche Raumrelation erreicht, die der reflexiven Gegenwart Gottes am Ort eines Sprechers, der sich in der Gegenwart Gottes loziert, erreicht. Damit wird das gemeinsame, Gott und Mensch übergreifende Identifikationssystem aufgebaut, von dem I. Dalferth spricht. Es ist hier klar ersichtlich, dass die Gegenwart Gottes eine reale Raumgegenwart meint, die aber keinen geometrischen Ortsbegriff impliziert. Erst recht wurde bei den elementareren Schichten des gelebten Raumes und seiner religiösen Analogien deutlich, wie hier eine Raumgegenwart Gottes so gedacht werden kann, dass religiöse Raum- und Gotteserfahrungen eingeschlossen und vermittelt werden können, ohne dass eine naive, körperliche Raumgegenwart Gottes daraus resultierte, die man mit einem theistischen Gottesbegriff leicht abwehren könnte. Der Raumbegriff, den wir hier entwickelt haben, ist jedoch in der Lage, auch umgekehrt elementare und für das religiöse Leben wesentliche Raum- und Gotteserfahrungen zu erschließen, woraus sich ergibt, dass der raumlose, theistische Gottesbegriff ebenso fern von den tatsächlichen Gotteserfahrungen ist, die der religiöse Mensch macht, wie er fern ist einem angemessenen religiösen Raumbegriff. Wir meinen, mit dem stufenweise aufgebauten gelebten Raum nicht nur einen religiös brauchbaren Raumbegriff klar bestimmt zu haben, sondern auch einen Weg zur Erschließung von religiösen Raum- und räumlichen Gotteserfahrungen gewiesen zu habe.

Questioning ‘situated cognition’ Preliminary outline of a comprehensive approach to understanding the situatedness of cognition T HOMAS H ÜNEFELDT

1. B ACKGROUND In contemporary cognitive science, the term ‘situated cognition’ refers to an emergent, but also quite heterogeneous paradigm, which emphasizes aspects of cognition that have been neglected or could not be sufficiently accounted for by traditional cognitive science relying on computationalist or connectionist models.1 In particular, the central claims associated with this new paradigm may be summarized in the thesis that cognition depends not just on the brain but also on the situation or context in which it occurs, whether that situation or context is “relatively local” (as in the case of the body) or “relatively global” (as in the case of the body’s physical and social environment).2 Accordingly, the ‘situated cog-

1

For a recent overview, see Robbins, Philip/Aydede, Murat (ed.): The Cambridge Handbook of Situated Cognition, New York: Cambridge University Press 2009. For early monographs, see Clancey, William J.: Situated Cognition: On Human Knowledge and Computer Representation, New York: Cambridge University Press 1997, and Kirshner, David/Whitson, James (ed.): Situated cognition: Social, semiotic, and psychological perspectives, Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum Associates Publishers 1997.

2

See Robbins/Aydede: »A short primer on situated cognition«, in: P. Robbins/M. Aydede (ed.): The Cambridge Handbook of Situated Cognition. New York: Cambridge University Press 2009, pp. 3-10, here p. 3.

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nition’ paradigm may be conceived to comprise other emergent paradigms, which emphasize either the dependence of cognition on the body, such as the ‘embodied cognition’ paradigm,3 or the dependence of cognition on the body’s physical and social environment, such as the ‘embedded cognition’ and the ‘extended mind’ paradigms.4 Apart from the distinction between the “relatively local” context of the body and the “relatively global” context of the body’s physical and social environment, the ‘situated cognition’ paradigm may furthermore be articulated in terms of the way the dependence of cognition on context is conceived.5 In fact, both the dependence of cognition on the body and the dependence of cognition on the body’s physical and social environment may be conceived either in terms of a “causal” dependence or in terms of a “constitutive” dependence. While “causal” dependence simply implies that cognition is causally affected by the context in which it is ‘embedded’ but could in principle go on independently from any particular context, “constitutive” dependence implies that cognition is dependent on a particular type of context and therefore somehow ‘extends’ to this context. Accordingly, it is basically this difference that underlies the distinction between the ‘embedded cognition’ and the ‘extended mind’ branches of the ‘situated cognition’ paradigm. Taken together, these two distinctions in terms of which the ‘situated cognition’ paradigm may be articulated, i.e. the distinctions between the “causal” vs. “constitutive” dependence of cognition on its “relatively local” vs. “relatively global” context, result in four different ways to conceive the situatedness of cognition: 1. Cognition is only “causally”, but not “constitutively” dependent on the brain, the body, and the body’s environment;

3

See Gallagher, Shaun: How the body shapes the mind, Oxford: Oxford University Press 2005, and Shapiro, Lawrence: Embodied cognition, New York: Routledge/ Taylor & Francis Group 2011.

4

See Barrett, Louise: Beyond the brain: How body and environment shape animal and human minds, Princeton: Princeton University Press 2011, Menary, Richard: The extended mind, Cambridge: MIT Press 2010, and Mesquita, Batja/ Feldman Barrett, Lisa/Smith, Eliot (ed.): The mind in context, New York: Guilford Press 2011.

5

See P. Robbins/M. Aydede: »A short primer on situated cognition«, in: Id., The Cambridge Handbook of Situated Cognition (2009), p. 6.

Q UESTIONING ‘ SITUATED

COGNITION ’

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2. Cognition is “constitutively” dependent on the brain, but only “causally” dependent on the body and the body’s environment; 3. Cognition is “constitutively” dependent on the brain and the body, but only “causally” dependent on the body’s environment; 4. Cognition is “constitutively” dependent on the brain, the body, and the body’s environment. Now, these four theses do not only articulate different metaphysical positions concerning the traditional problem of the relationship between ‘mind’ and ‘matter’, but they do also roughly correspond to different paradigms in cognitive science. In fact, thesis 1 roughly corresponds to the computationalist paradigm, according to which cognition is a computational process that does not necessarily require a brain but is implementable in whatever kind of material substrate; thesis 2 roughly corresponds to the connectionist paradigm, according to which cognition is based on a brain-like neural structure; thesis 3 roughly corresponds to the ‘embodied cognition’ paradigm, according to which cognition requires a brain connected with a body, and thesis 4 roughly corresponds to the ‘extended mind’ paradigm, according to which cognition somehow ‘extends’ beyond the brain and the body to the body’s environment. Given these correspondences, it is evident that ‘situated cognition’ is not just another paradigm of cognitive science, but rather a symptom of an ongoing paradigm crisis in cognitive science. In fact, the question where cognition is situated eventually amounts to the question how a cognitive system is to be defined, in both the etymological and consequently also in the lexicalized sense of this term. Questioning ‘situated cognition’ might therefore help to develop a better understanding of the situatedness of cognition, in general, and of how to define a cognitive system, in particular. In order to realize this goal, this questioning should in particular tie in with two approaches that are important “antecedents” of ‘situated cognition’: philosophical phenomenology and general system theory.6 Philosophical phenomenology, in particular Heidegger’s Sein und Zeit (1927) and Merleau-Ponty’s Phénoménologie de la perception (1945), is an important “philosophical antecedent of situated cognition”,7 in so far as it is thought to provide phenomenological analyses of the situatedness of cognition, conceived, for example, in terms of the “being-in-the-world” of the “Dasein”

6

See Clancey, William J.: »Scientific antecedents of situated cognition«, and Gallagher, Shaun: »Philosophical antecedents of situated cognition«, in: Robbins/Aydede: The Cambridge Handbook of Situated Cognition (2009), pp. 11-34 and 35-52.

7

See S. Gallagher: »Philosophical antecedents of situated cognition«, ibid., pp. 35-52

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(Heidegger) or in terms of the “lived body” (Merleau-Ponty). Characteristically, however, the philosophers and scientists who refer to phenomenology as a philosophical antecedent of ‘situated cognition’ often neglect those aspects of the phenomenological approach which are most fundamental for the phenomenological tradition itself and which are also likely to be most fundamental for questioning ‘situated cognition’, namely: the critique of the “natural attitude” that is characteristic of both common-sense and scientific naturalism, and the attempt to account for this attitude from a phenomenological perspective. In fact, philosophical phenomenology is the most fundamental starting-point for questioning ‘situated cognition’ precisely because it programmatically suspends all naturalistic presuppositions and thus avoids any supposition about where and how cognition is situated: the phenomenological ‘cogitans’ is atopic, i.e. placeless, in the sense that it has no place in a naturalistic paradigm. At the same time, however, philosophical phenomenology also provides accounts of the conditions under which the “natural attitude”, in general, and scientific naturalism, in particular, can emerge and it thus provides accounts of the conditions under which the phenomenological ‘cogitans’ can receive a naturalistic interpretation collocating it in an objective world as one inner-worldly being among others. Actually, it is only from the perspective of such a naturalistic interpretation that it makes sense to speak of a ‘cogitans’ and its ‘cognition’ in the first place, as these terms usually imply reference to a particular type of activity of a particular type of innerworldly beings. In fact, from a strictly phenomenological, i.e. programmatically non-naturalistic perspective these terms are too much compromised with a naturalistic paradigm. Accordingly, phenomenologists would generally avoid using these terms in their analyses of phenomenological situatedness and would prefer not to characterize this situatedness as the situatedness of cognition. General system theory,8 in particular the theory of dynamic complex systems,9 is an important “scientific antecedent of situated cognition”,10 because it may be seen as “an all-encompassing generalization” summarizing “the meaning of situated cognition itself, as seen through all the scientific disciplines over the past century”.11 This “all-encompassing” character of general system theory is

8

See Ludwig von Bertalanffy: General system theory. Foundations, development, ap-

9

See, for example, Gallagher, Richard/Appenzeller, Tim (ed): Complex systems [Spe-

plications, New York: George Braziller 1969. cial issue], Science, 79 (1999). 10 See W.J. Clancey: »Scientific antecedents of situated cognition«, in: Robbins/Aydede: The Cambridge Handbook of Situated Cognition (2009), pp. 11-34. 11 W. J. Clancey: »Scientific antecedents of situated cognition«, ibid., p. 33.

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also what makes it, right after philosophical phenomenology, the second most fundamental starting-point for questioning the ‘situated cognition’ paradigm. In fact, general system theory allows the most generic naturalistic interpretation of the situatedness of cognition, in so far as it allows to avoid all naturalistic presuppositions except the fundamental and essential one, according to which the ‘cogitans’ is collocated in an objective world as one inner-worldly being among others. By considering virtually all inner-worldly beings, i.e. whatever may be identified as distinct “unities” or “wholes” within the world, as systems defined in relation to their environment, general system theory provides a literally “allencompassing” naturalistic framework, without being committed to a particular type of naturalistic paradigm. Rather, it allows to integrate different types of naturalistic paradigms by considering them as different levels of description focusing on different types of systems, e.g. on physical, biological, cognitive or social systems. This “all-encompassing” character of general system theory does, however, also imply that the definition of specific types of systems, and in particular the definition of a cognitive system, must be informed by concepts from other paradigms. As regards the definition of a cognitive system, this information must eventually come from a phenomenological paradigm, for definitions that are not sufficiently informed by phenomenology run the risk of missing those essential features of cognition which typically characterize cognition as a mental process with respect to non-mental processes. In fact, both the mental processes (e.g. temperature perception) and many non-mental processes (e.g. thermoregulation) of an organism can be described, for example, in terms of neurophysiology or information processing theory, but what typically distinguishes mental processes from non-mental processes are the phenomenological aspects of these processes, i.e. the “what it is like” to feel, perceive, think, remember, etc.. Even if one concedes the (rather controversial) supposition that these aspects will eventually be accounted for in terms of neurophysiology or information processing theory, they have to be recognized in the first place in order to establish the very fact that has to be accounted for. Accordingly, any criterion that is supposed to characterize cognition as a mental process with respect to non-mental processes, and thus to characterize a cognitive system with respect to other kinds of systems, eventually relies on information from a phenomenological paradigm. To sum up, in order to radically question ‘situated cognition’, it seems necessary to tie in with both philosophical phenomenology and general system theory, thus compensating the complementary defects of their respective analyses. Philosophical phenomenology provides programmatically non-naturalistic analyses of situatedness, but it does not allow to consider this situatedness as the situatedness of cognition unless a naturalistic perspective is taken into account. By con-

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trast, general system theory provides the most generic naturalistic analysis of the situatedness of inner-worldly beings, but the definition of a cognitive system needs to be informed by a phenomenological paradigm. Linking philosophical phenomenology and general systems theory should therefore allow to develop an as much as possible unbiased and comprehensive understanding of the situatedness of cognition, in general, and of how to define a cognitive system, in particular.

2. T YING

IN WITH PHILOSOPHICAL PHENOMENOLOGY

In order to allow an as much as possible unbiased and comprehensive understanding of the situatedness of cognition, in general, and of how to define a cognitive system, in particular, the appeal to philosophical phenomenology should provide both a programmatically non-anthropomorphic phenomenological analysis of the situatedness of a conscious being and a programmatically nonanthropomorphic phenomenological analysis of intersubjectivity. It should provide both analyses, because both analyses will be necessary in order to inform the definition of a cognitive system, and both analyses should be programmatically non-anthropomorphic, i.e. they should programmatically abstract from those features that may be supposed to be specifically human, in order to inform not merely the definition of a particular type of cognitive system, but of a cognitive system in general. Ideally, both analyses should involve not only the attempt to systematically review the existing phenomenological positions in order to identify relevant features, but also the attempt to integrate these features into a coherent picture and to fill possible lacunae concerning aspects that have not been treated so far. Of course, this cannot be accomplished in the context of this contribution. Accordingly, the following is merely a preliminary attempt to outline an approach to developing such a coherent picture and to summarize those features which at the moment seem to characterize a non-anthropomorphic phenomenological analysis of the situatedness of a conscious being (2.1) and a nonanthropomorphic phenomenological analysis of intersubjectivity (2.2).

2.1 Non-anthropomorphic phenomenological analysis of situatedness To provide a phenomenological analysis of the situatedness of a conscious being is to provide an analysis of the ‘life-world’ of that conscious being. In fact, if due

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to the phenomenological critique of naturalism the situatedness of a conscious being is no longer to be conceived in terms of the situatedness of a particular inner-worldly being among others, it must be conceived in terms of the features that characterize the world that is experienced or ‘lived’ by this conscious being. Accordingly, phenomenological situatedness may be expected to be manifest, for example, in the particular ‘sensory modalities’ in which this world is given (e.g., as a visual, auditory, tactile, etc. world), in the particular ‘horizons’ corresponding to these ‘sensory modalities’ (e.g., in the visual, auditory, tactile, etc. ‘horizon’), in the permanence of a ‘central body’ that is ‘lived’ in these ‘sensory modalities’ (e.g., as a seen, heard, touched, etc. body), in the perspective configuration of inner-worldly beings within these ‘horizons’ and with respect to the ‘central body’ that is thus ‘lived’ (e.g., in their relative spatiotemporal distance and size), in the particular kinds of inner-worldly beings that may be encountered (e.g., the different kinds of inner-worldly beings that characterize the ‘lifeworlds’ of human beings at different times and places in history), in the ways these inner-worldly beings present themselves as constraining, enabling, affording, etc. particular kinds of actions (e.g., as houses, tools, foods, mates, etc.), etc.. Now, if to provide a phenomenological analysis of the situatedness of a conscious being is to provide an analysis of the ‘life-world’ of that conscious being, then to provide a non-anthropomorphic phenomenological analysis of the situatedness of a conscious being is to identify those features of its ‘life-world’ which may be supposed to characterize not only a typically human ‘life-world’, i.e. the ‘life-world’ of ordinary human beings, but also the ‘life-worlds’ of other conscious beings and thus eventually the ‘life-worlds’ of any conceivable conscious being, i.e. any conceivable ‘life-world’. In order to be exhaustive, such an analysis should furthermore identify not only some, but possibly all of those features, and it should evidence how these features are related. Therefore, the attempt to provide a non-anthropomorphic analysis of phenomenological situatedness eventually amounts to the attempt to identify the system of all those features which may be supposed to characterize any conceivable ‘life-world’, and the question is how to identify this system. The starting-point of a method to identify the system of all those features which may be supposed to characterize any conceivable ‘life-world’ cannot be other than a preliminary understanding of the term ‘life-world’. In phenomenology, in general, as well as in the context of the present phenomenological inquiry, in particular, this term refers to the world that is experienced or ‘lived’ by a given conscious being. World is thereby understood as the ‘universal horizon’ wherein must be whatever there may be for a given conscious being, and thus as

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the totality of whatever may be therein, whether in the mode of being ‘presentat-hand’ (vorhanden) or in the mode of being ‘ready to hand’ (zuhanden) or in any other possible mode. In fact, whatever there may be for a given conscious being must be somehow ‘in’ its world, as some part or determination of that world, or otherwise it would not be at all for that conscious being. Given this preliminary understanding of the term ‘life-world’, there are two kinds of features that need to be identified in order to identify the system of all those features which may be supposed to characterize any conceivable ‘lifeworld’: first, the features that characterize wherein must be whatever there may be for a given conscious being, and second, the features that characterize whatever may be therein. This implies two tasks: first, to identify the system of all those features which may be supposed to characterize the dimensionality of any conceivable ‘life-world’ (2.1.1); and second, to identify the system of all those features that may be supposed to characterize the inner-worldly beings of any conceivable ‘life-world’ (2.1.2). 2.1.1 The dimensionality of any conceivable ‘life-world’ It seems natural to suppose that any conceivable ‘life-world’ is articulated in space and time, i.e. it seems natural to suppose that whatever there may be for a given conscious being must be situated in space and time. However, there are at least two arguments that cast doubt on this seemingly natural supposition. According to the first argument, the ordinary human experience and conception of space and time is closely related to the particular way in which the human body, i.e. in particular its sensory and motor organs, is lateralized. In fact, it is the particular lateralization of the human body what allows to define the distinctions between front and back, left and right, up and down, and these three distinctions are likely to ground the human experience and conception of space as being three-dimensional and of time as ‘passing’ or ‘going on’ in some direction. Therefore, conscious beings whose bodies are differently or not at all lateralized and directed might be expected to experience and conceive more or less different forms of dimensionality. Evidently, however, by referring to bodies that are differently lateralized and directed, this argument already presupposes what it seems to question, i.e. the dimensions in which these bodies may be lateralized and directed. Accordingly, it does not allow to conceive the dimensionality of a ‘life-world’ otherwise than in terms of space and time. Instead of confuting the supposition that any conceivable ‘life-world’ is articulated in space and time, this argument therefore rather confirms this supposition. The second argument, by contrast, does not question the ordinary human conception of space and time, but it suggests that it might be possible to con-

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ceive ‘life-worlds’ that lack one or more of the four dimensions of space and time, or in which one or more of these dimensions are infinitesimally reduced. As a matter of fact, surprisingly plausible attempts to describe such ‘life-worlds’ have been made in fiction. In particular, there is a whole tradition of fiction exploring how it would be like to be living in a world that lacks one or more of the three dimensions of space.12 Strange as such ‘life-worlds’ may seem at first sight, the surprising plausibility of the fictional attempts to describe them is significant: though it seems to be highly unlikely that such ‘life-worlds’ exist in fact, it might be possible to conceive them consistently. Accordingly, this possibility should not be discarded too easily. In any case, however, any conceivable ‘life-world’ may be supposed to be characterized by a specific ‘depth’ (e.g., a spatiotemporal ‘depth’), allowing for the distinction between close and far, and by a specific ‘scale’ (e.g., a spatiotemporal ‘scale’), allowing for the distinction between small and big. Accordingly, any conceivable ‘life-world’ may be supposed to be characterized by specific horizons of distance (i.e., the proximal horizon of what is too close, and the distal horizon of what is too far) and size (i.e., the microscopic horizon of what is too small, and the macroscopic horizon of what is too big) as well as by specific gradients of distance and size within these horizons. Both these horizons and these gradients will depend on a variety of factors such as the ‘sensory modalities’ in which the ‘life-world’ is given, the relative size and motor abilities of the ‘central body’ that is ‘lived’ in these modalities, and the ‘sensorial’ transmissibility of the environment in which this ‘central body’ is embedded. For example, the ‘life-worlds’ of bats, moles, seals, and human beings are likely to have quite different spatiotemporal horizons of distance and size as well as quite different gradients of distance and scale within these horizons, depending on the different habitats, the different corporeal size, and the different sensory, motor and cognitive abilities of these animals, and these differences are likely to further increase if we do not only consider different species of mammals, but also other classes of animals and eventually any conceivable conscious being.13

12 See, for example, Abbot, Edwin. A.: Flatland. A Romance of Many Dimensions, New York: Dover thrift Edition 1884/1992. 13 The exploration of the ‘life-worlds’ of different species of animals has been inaugurated by Jakob von Uexküll under the name of “Umweltlehre”. See, for example, von Uexküll, Jakob J.: Umwelt und Innenwelt der Tiere, Berlin: Springer 1909, and von Uexküll, Jakob J./Kriszat, Georg: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, Berlin: Springer 1934.

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2.1.2 The inner-worldly beings of any conceivable ‘life-world’ The attempt to identify the system of all those features which may be supposed to characterize the inner-worldly beings of any conceivable ‘life-world’ is closely related to that what, in the history of philosophy, has been conceptualized in terms of the attempt to identify the system of categories. In fact, what distinguishes these two kinds of attempts is not so much their scope, which in both cases concerns the universal characteristics of inner-worldly beings, but their method, i.e. the way they are grounded in the ‘life-world’: whereas traditional attempts to identify the universal characteristics of inner-worldly beings, e.g. those of Aristotle and Kant, are somehow guided by an analysis of language, e.g. by an analysis of the functions of judgment, and thus refer only indirectly to the ‘lifeworld’ and only to the particular ‘life-world’ of a zôon lógon échon, i.e. to a ‘life-world’ in which this ‘life-world’ is symbolically represented by language, the attempt that is here envisaged must be guided by a phenomenological analysis that directly refers to the ‘life-world’ itself, as it does not only concern the particular ‘life-world’ of a zôon lógon échon, but any conceivable ‘life-world’. In other words: whereas those traditional attempts presuppose that the characteristics of being are homologous to the characteristics of language, either because being determines language or because language determines being, the attempt that is here envisaged naturally avoids this anyway problematic presupposition, because it programmatically concerns not only the particular ‘life-worlds’ that are characterized by language, but any conceivable ‘life-world’. Surveying the history of philosophy in search of a method that allows to identify the system of all those features which may be supposed to characterize the inner-worldly beings of any conceivable ‘life-world’, the most promising candidate seems to be the recursively-transcendental procedure that underlies the method by means of which Charles S. Peirce identified his “New List of Categories”.14 In fact, though Peirce himself conceived this method as a method that, as Kant’s, “derive[s] the categories from the functions of judgment”,15 reference to functions of judgment is not essential to the recursively-transcendental procedure that constitutes the heart of this method.16 Significantly, in fact, Peirce’s earliest

14 See Peirce, Charles S.: Writings of Charles S. Peirce. A Chronological Edition, Bloomington: Indiana University Press 1982ff, vol. 2, pp. 49ff. 15 See C. Peirce: Writings of Charles S. Peirce, vol. 1, p. 352. 16 For a detailed description of this method and the underlying recursivelytranscendental procedure, see Hünefeldt, Thomas: Peirces Dekonstruktion der

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descriptions of this procedure do not make any reference to functions of judgment,17 and Peirce’s later accounts of the system of categories that he had originally identified by means of this procedure are purely phenomenological.18 Following Peirce’s earliest descriptions of this procedure, the method by means of which it might be possible to identify the system of all those features which may be supposed to characterize the inner-worldly beings of any conceivable ‘lifeworld’ may thus be illustrated in roughly the following way: •







In order to identify an inner-worldly being, it is necessary to refer to some quality on the ground of which it may be identified. Accordingly, any innerworldly being has some “Quality”. In order to refer to the “quality” of an inner-worldly being, it is necessary to consider it in relationship to some second inner-worldly being (a “correlate”) with respect to which that “quality” is manifest. Accordingly, any innerworldly being stands in the dyadic relationship of “Relation” to other innerworldly beings. In order to consider an inner-worldly being in relationship to some “correlate”, it is necessary to consider them both in relationship to some mediating third inner-worldly being (an “interpretant”), by means of which the innerworldly being is interpreted as representing something which stands in “relation” to that “correlate”. Accordingly, any conceivable inner-worldly being stands in the triadic relationship of “Representation” to other inner-worldly beings, i.e. any inner-worldly being is a “representant” (or “sign”) of an “object” with respect to an “interpretant”.19 In order to consider both the inner-worldly being and its “correlate” in relationship to an “interpretant”, all three must already stand in a relationship that is not itself mediated by an “interpretant”. But this original relationship, which comprises all conceivable inner-worldly beings of a given ‘life-world’ and which might therefore be considered as the original unity of this ‘life-

Transzendentalphilosophie in eine phänomenologische Semiotik, Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, in particular chapter 5.2. 17 See C. Peirce: Writings of Charles S. Peirce, vol. 1, pp. 331ff. 18 See Peirce, Charles S.: Collected Papers of Charles Sanders Peirce, Cambridge, 1931ff, vol. 1, §§ 23-276, §§284-287. 19 It is important to note that an “interpretant” is not necessarily an interpreter, i.e. a living being. In fact, virtually any kind of inner-worldly being may be an “interpretant”, if it realizes the mediating function of an “interpretant”.

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world’,20 is already implied in the analytic presupposition that the term “being” can be predicated of all inner-worldly beings of a ‘life-world’, which has been presupposed at the outset. Therefore, the recursively-transcendental procedure herewith comes to its end. Given the recursively-transcendental procedure by means of which the three categories of “Quality”, “Relation”, and “Representation” have been identified, it seems legitimate to claim that these three categories describe a system of features that may be supposed to characterize the inner-worldly beings of any conceivable ‘life-world’. In fact, Peirce explicitly makes such a claim in his later, purely phenomenological accounts of these three categories and of the corresponding “modes of being” “Firstness”, “Secondness”, and “Thirdness”.21 The question is, however, whether this system is complete, i.e. whether it describes the system of all those features which may be supposed to characterize the innerworldly beings of any conceivable ‘life-world’. In order to answer this question, it would be necessary to critically review other phenomenological accounts of the features that characterize inner-worldly beings and to consider in how far these accounts describe features which may be supposed to characterize the inner-worldly beings of any conceivable ‘life-world’ and in how far these latter features may be accounted for in terms of Peirce’s system of categories and of the corresponding system of “modes of being”.

2.2 Non-anthropomorphic phenomenological analysis of intersubjectivity To provide a phenomenological analysis of intersubjectivity is to provide a phenomenological analysis of the conditions that render possible the common-sense naturalistic understanding of intersubjectivity, i.e. that render it possible to understand the ‘life-world’ as the subjective world of a particular conscious being that coexists with other conscious beings in some supposed objective world. Fur-

20 Peirce himself considered this unity, which he calls “unity of consistency” or “unity of being”, as a non-psychological, phenomenological interpretation of Kant’s “unity of the I think” (see, for example, C.S. Peirce: Writings of Charles S. Peirce, vol. 1, p. 256). As for Kant the “I think” may accompany all mental representations, so for Peirce the term “being” may be predicated of all inner-worldly beings, i.e. of whatever may be identified as a discrete unity in space or time. 21 See C. Peirce: Collected Papers of Charles Sanders Peirce, vol. 1, §§23-26.

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thermore, to provide a phenomenological analysis of these conditions is to identify those features of the ‘life-world’ which render possible such a naturalistic understanding of intersubjectivity. Non-anthropomorphic is such an analysis, if it abstracts from all those features which may be supposed to be specifically human. Surveying the existing phenomenological analyses of intersubjectivity, there seem to be mainly two features of the ‘life-world’ which are commonly, though in quite different ways, considered as necessary conditions of the naturalistic understanding of intersubjectivity: the particular inner-worldly being that, in virtue of this understanding, is considered as ‘one’s own’ body, and the particular inner-worldly beings that, in virtue of this understanding, are considered as the bodies of the ‘others’. According to Husserl, for example, it is the similarity between ‘one’s own’ body and the body of the ‘other’ which renders possible the “analogical appresentation” by means of which the ‘other’ is constituted as such, i.e. as ‘alter ego’.22 By contrast, according to most post-husserlian phenomenologists, it is the perceiving or addressing body of the ‘other’ (i.e. in particular the other’s “face”) and thus also ‘one’s own’ body as it is perceived or addressed which render possible the “subjection” by means of which oneself is constituted as a personal (and thus personally responsible) subject.23 Finally, according to the pre-husserlian phenomenologist Peirce, it is the contrast between what is perceived by ‘one’s own’ body and what is asserted by the bodies of the ‘others’ which renders possible the “hypothesis” of personal subjectivity.24 In all these cases, the inner-worldly beings that, in virtue of a naturalistic understanding of intersubjectivity, are considered as ‘one’s own’ body and as the bodies of the ‘others’ render possible a naturalistic understanding of intersubjectivity, in so far as they render possible reference to a plurality of subjects, which nolens volens implies reference to a supposedly objective world in which the plurality of subjects may be supposed to coexist. Furthermore, in all these cases, neither ‘one’s own’ body nor the bodies of the ‘others’ need to be specifically human in order

22 See, for example, Husserl, Edmund: Cartesianische Meditationen, hrsg. v. Elisabeth Ströker, 3. Aufl., Hamburg: Meiner 1995. 23 While the role of the perceiving other is emphasized, for example, by Sartre and Merleau-Ponty, the role of the addressing other is emphasized, for example, by Levinas and Olivetti. See, for example, Sartre, Jean-Paul: L’être et le néant, Paris: Gallimard 1943, Merleau-Ponty, Maurice: Phénoménologie de la perception, Paris: Gallimard 1945, Levinas, Emmanuel: Totalité et infini. Essai sur l’extériorité, Den Haag: M. Nijhoff 1961, and Marco Maria Olivetti: Analogia del soggetto, Roma: Laterza 1992. 24 See, for example, C. Peirce, Writings of Charles S. Peirce, vol. 2, pp. 200ff.

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to fulfill the role they play in the respective phenomenological analyses of intersubjectivity. Now, given that these two features of the ‘life-world’, ‘one’s own’ body and the bodies of the ‘others’, are necessary conditions of the naturalistic understanding of intersubjectivity, the question is whether they are the only necessary conditions of that understanding and, if not, whether the specific features which characterize the existing phenomenological accounts of that understanding represent further necessary conditions. As to the first question, the mere experience of ‘one’s own’ living body and of the living bodies of the ‘others’ in the ‘lifeworld’ of a given conscious being is certainly not sufficient in order to understand these bodies as different conscious beings. This is even then true, if the living bodies of the ‘others’ are specifically conceived as being similar to ‘one’s own’ body or as perceiving, addressing, asserting, etc. bodies. As a matter of fact, though it seems likely that most animals or at least most mammals are conscious beings and thus have ‘life-worlds’ in which they experience both ‘their own’ bodies and the living bodies of ‘other’ animals, only some species of animals show signs of being able to recognize these ‘other’ animals, in general, and their conspecifics, in particular, as ‘other’ conscious beings, and thus to recognize ‘themselves’ as particular conscious beings among ‘others’;25 even in human beings, this ability has to be acquired during infancy and may be severely impaired in certain pathologies.26 Therefore, even if not only ‘one’s own’ living body and the living bodies of the ‘others’, but also one or more of the specific features emphasized by the existing phenomenological analyses of intersubjectivity are taken into account, still further conditions, such as certain representational and mnestic abilities, seem to be necessary in order to allow an at least rudimental understanding of particular inner-worldly beings as ‘other’ conscious beings and of ‘oneself’ as a particular conscious being among ‘others’.

3. T YING

IN WITH GENERAL SYSTEM THEORY

In order to allow an as much as possible unbiased and comprehensive understanding of the situatedness of cognition, in general, and of how to define a cognitive system, in particular, the appeal to general system theory should provide

25 See, for example Andrew Whiten: Humans are not alone in computing how others see the world, Animal Behavior, 86:2 (2013), pp. 213-221. 26 See, for example, Baron-Cohen, Simon/Tager-Flusberg, Helen/Lombardo, Michael (ed.): Understanding Other Minds (3rd ed.), Oxford: Oxford University Press 2013.

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both a general system-theoretic analysis of situatedness and a general systemtheoretic analysis of the distinction between different types of systems. It should provide both analyses, because both analyses are necessary in order to establish the basis upon which to specify the definition of a cognitive system and thus a system-theoretic understanding of the situatedness of cognition, and both analyses should be general analyses, i.e. they should be based only on the definition of a system in general, in order to establish a basis that comprises not only particular types of systems, but all conceivable systems. Following the general definition underlying Ludwig von Bertalanffy’s general system theory, “[a] system can be defined as a set of elements standing in interrelations”,27 without making any special hypotheses or statements about the nature of the system, of its elements or the relations between them. Accordingly, general system theory is the “scientific exploration of ‘wholes’ and ‘wholeness’” or, in other words, “a general science of ‘wholeness’”,28 whose subject matter is the “formulation and derivation of those principles which are valid for ‘systems’ in general”.29 In fact, Bertalanffy argued that “there exist models, principles, and laws that apply to generalized systems or their subclasses, irrespective of their particular kind, the nature of their component elements, and the relations or ‘forces’ between them”, i.e. he argued that “certain formal properties will apply to any entity qua system […] even when its particular nature, parts, relations, etc., are unknown or not investigated”.30 Though general system theory has so far failed to uncontroversially identify such “general system principles”,31 already Bertalanffy himself identified a number of principles that apply to large and important subclasses of systems, for example the principles of “wholeness and sum, mechanization, hierarchic order, approach to steady states, equifinality, etc.”31 It would exceed the scope of this contribution to illustrate the controversy concerning “general system principles” or to provide an overview about the principles that apply to particular subclasses of systems. In the following, it will merely be attempted to outline a general system-theoretic analysis of situatedness (3.1) and a general system-theoretic analysis of the distinction between dif-

27 See L. v. Bertalanffy: General system theory, pp. 55f. See also p. 38. 28 Ibid., p. XX and p. 37. 29 Ibid., p. 32. 30 Ibid., p. 32 and p. 20. 31 See Vitaly Dubrovsky: »Toward system principles: General system theory and the alternative approach«, Systems Research and Behavioral Science, 21 (2004), pp. 109122. 32 See L. v. Bertalanffy: General system theory, p. 84. See also p. 95.

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ferent types of systems (3.2). Both analyses will be general in so far as they will be based only on the above definition of a system in general.

3.1 General system-theoretic analysis of situatedness A general system-theoretic analysis of situatedness is an analysis of the situatedness of particular kinds of inner-worldly beings, namely of inner-worldly beings that are systems. Accordingly, if a system is defined as “a set of elements standing in interrelations”, then a general system-theoretic analysis of situatedness is an analysis of the situatedness of inner-worldly beings that are composed of other inner-worldly beings standing in interrelations. Thus, a general systemtheoretic analysis of situatedness will have to identify the features that characterize the situatedness of a system in three different respects: 1) in so far as a system is an inner-worldly being, regardless of whether or not it is composed of other inner-worldly beings, 2) in so far as a system is composed of other innerworldly beings standing in interrelations, and 3) in so far as a system or some of its components may be at the same time components of other systems. As to 1), the features that characterize the situatedness of a system in so far as it is an inner-worldly being, regardless of whether or not it is composed of other inner-worldly beings, are determined by the features that characterize the situatedness of any conceivable inner-worldly being. These features have to be identified by means of a non-anthropomorphic phenomenological analysis of the ‘life-world’ such as the one attempted in section 2.1. In fact, as any concept, however abstract it may be, should be grounded in experience, so any concept of world, in general, and of inner-worldly beings, in particular, should be grounded in the experience of the world and of inner-worldly beings, i.e. in the ‘life-world’ of conscious beings. Accordingly, the features that characterize the situatedness of a system in so far as it is an inner-worldly being have to be derived from the features that characterize the situatedness of the inner-worldly beings of any conceivable ‘life-world’. In section 4.1, when trying to link philosophical phenomenology and general system theory, it will be attempted to identify these features based on the results of the analysis attempted in section 2.1. For now, suffice it to point out that any general system-theoretic account of situatedness presupposes a phenomenologically based account of the situatedness of any conceivable inner-worldly being. As to 2), the features that characterize the situatedness of a system in so far as it is composed of other inner-worldly beings standing in interrelations are determined by basically two different kinds of factors. Firstly, the situatedness of a

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system differs depending on the type of its components: for example, a social system composed of human beings (e.g., a society) is evidently situated differently than a stellar system composed of stars (e.g., a galaxy) or a molecular system composed of molecules (e.g., a gene), etc.. Secondly, the situatedness of a system differs depending on the type of the interrelations between its components: for example, systems characterized by relatively place-dependent relationships (e.g., urban systems) are evidently situated differently than systems characterized by relatively place-independent relationships (e.g., contemporary financial systems), etc.. Evidently, these two different kinds of factors are closely related to the general system-theoretic analysis of the distinction between different types of systems, which will be examined in section 3.2. As to 3), the features that characterize the situatedness of a system in so far as this system itself or some of its components may be at the same time components of other systems are determined by the interrelations between the components of these other systems. These interrelations are themselves determined by the “general system principles” that apply to any system qua system, on the one hand, and by the particular principles that apply to the specific types of systems in question, on the other. Consider, for example, an animal system such as a human being. This system and its components (e.g., its genes) are at the same time components of other systems such as social, environmental, or evolutionary systems, which share certain general properties and differ with respect to other, more specific properties. Accordingly, the features that characterize the situatedness of this system will be determined by these general as well as by these more specific properties. Suppose, for example, that all the systems of which this system or its components may be components are characterized by the system principles identified by Bertalanffy, for example by the principle of equifinality. Then the features that characterize the situatedness of this system will be determined by the fact that the systems of which this system itself or its components are components tend towards particular states regardless of what are the initial conditions of these systems and their components. In fact, the tendency of these systems towards particular states determines the development and condition of its components. Analogously, the features that characterize the situatedness of a given system may also be determined by other general or more specific properties of the systems of which this system itself or some of its components are components.

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3.2 General system-theoretic analysis of the distinction between different types of systems Following Bertalanffy’s analysis of the distinctions that may be made in dealing with complexes of elements,32 systems may differ in basically three different respects: 1) according to the number of their elements, 2) according to the species of their elements, and 3) according to the type of interrelations between their elements. Unlike the first and the third of these three respects, the second respect may be further articulated by referring to nothing but the concepts implied in the definition of a system in general. In fact, it is possible to distinguish different types of systems depending on whether or not one or more of the elements of a system are themselves systems: systems composed of one or more subsystems are hierarchical systems and can be more or less complex depending on the number of subsystems and the kind of relations between them; their complexity can further increase if the subsystems are themselves composed of subsystems and if the relations between subsystems also comprise relations between subsystems at different levels. Analogously, it is also possible to distinguish different types of systems depending on whether or not they are subsystems of systems at one or more higher-levels. Any further distinction between different types of systems needs to be informed by concepts that are not implied in the definition of a system in general. In particular, this is true for the distinction between cognitive and non-cognitive systems and thus for the definition of a cognitive system. As argued at the outset, this definition needs to be informed by a phenomenological paradigm in order not to miss the essential features that characterize cognition as a mental process with respect to non-mental processes. Furthermore, in order to be as much as possible unbiased and comprehensive, this definition should be exclusively informed by programmatically non-anthropomorphic phenomenological analyses such as those outlined in sections 2.1 and 2.2. In section 4.2, it will therefore be attempted to link the results obtained in these two sections with the above results of the general system-theoretic analysis of the distinction between different types of systems.

33 See L. v. Bertalanffy: General system theory, p. 54.

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4. L INKING

PHILOSOPHICAL PHENOMENOLOGY AND GENERAL SYSTEM THEORY

The preceding appeals to philosophical phenomenology (2.) and general system theory (3.) not only confirmed, but further substantiated the initial supposition that in order to allow an as much as possible unbiased and comprehensive understanding of the situatedness of cognition, in general, and of how to define a cognitive system, in particular, it is necessary to tie in with both philosophical phenomenology and general system theory. On the one hand, in fact, the appeal to general system theory evidenced that general system theory needs to be informed by philosophical phenomenology not only in order to allow the definition of a cognitive system (3.2), but also in order to provide a complete account of the situatedness of a system in general (3.1). On the other hand, the appeal to philosophical phenomenology does not only illustrate that phenomenological situatedness cannot be understood as the situatedness of cognition unless a naturalistic perspective is taken into account (2.2), but it further suggests that a naturalistic perspective such as the one of general system theory has to be taken into account in order to allow to understand phenomenological situatedness as situatedness at all (2.1). In fact, to conceive the situatedness of a conscious being in terms of the features that characterize the ‘life-world’ of that conscious being makes sense only on the ground of an at least implicit naturalistic understanding of that ‘lifeworld’, i.e. only if that ‘life-world’ is at least implicitly understood as the world of a particular inner-worldly being among others. However this latter point may be, in the following it will be attempted to outline how information provided by philosophical phenomenology allows to complete the general system-theoretic account of situatedness (4.1) and to define a cognitive system (4.2).

4.1 Informing the general system-theoretic account of situatedness In section 3.1, it has been argued that general system theory allows to identify the features that characterize the situatedness of a system in so far as a system is composed of other inner-worldly beings standing in interrelations and in so far as a system or some of its components may be at the same time components of other systems, but that it does not allow to identify the features that characterize the situatedness of a system in so far as a system is an inner-worldly being, regardless of whether or not it is composed of other inner-worldly beings. In order to be grounded in experience, these latter features have to be identified by means

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of a non-anthropomorphic phenomenological analysis of the ‘life-world’ such as the one attempted in section 2.1. According to the preliminary results sketched in section 2.1, the situatedness of the inner-worldly beings of any conceivable ‘life-world’ is characterized by the fact that they are located in time and space, have some relative spatiotemporal distance and size, have some particular “Quality”, stand in some dyadic relationship of “Relation” as well as in some triadic relationship of “Representation” with other inner-worldly beings, and are conjoined in an original relationship which may be considered as the original unity of a given ‘life-world’. Now, as any meaningful representation of a world, in general, and of inner-worldly beings, in particular, must be grounded in the experience of the world and of innerworldly beings, i.e. in the ‘life-world’ of conscious beings, it must include at least those features that characterize any conceivable ‘life-world’, in general, and the inner-worldly beings of any conceivable ‘life-word’, in particular. Accordingly, the features that characterize the situatedness of the inner-worldly beings of any conceivable ‘life-world’ must also characterize the situatedness of any conceivable inner-worldly being, regardless of the world of which it is supposed to be part. In particular, these features must characterize the situatedness of an inner-worldly being not only insofar as it is supposed to be part of the ‘subjective’ world of a particular conscious being, but also insofar as it is supposed to be part of the ‘objective’ world, in which the plurality of conscious beings is supposed to coexist. As a matter of fact, the inner-worldly beings that are part of the supposedly ‘objective’ world of science are not less than the inner-worldly beings that are part of the ‘subjective’ world of a particular conscious being characterized by these features: they are located in time and space, even though in some case (e.g., in the case of subatomic particles) it might be impossible to determine where exactly they are located; they have some relative spatiotemporal distance and size, even though this distance and size is not relative to the “lived body” of a single individual but to the methodological ‘organon’ of the scientific community; they have some particular “Quality”, even though these qualities are rather physical (‘primary’) than perceptual (‘secondary’) qualities; they stand in some dyadic relationship of “Relation” to other inner-worldly beings, even though these relationships are rather physical than perceptual relationships; and they stand in some triadic relationship of “Representation”, i.e. they represent something, even though they represent rather physical than perceptual objects, and they are conjoined in an original unity, even if this unity is not the unity of a ‘subjective’ world but the unity of the ‘objective’ world. Consequently, if it is true that the situatedness of the inner-worldly beings of any conceivable ‘life-world’ is characterized by the features identified in section

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2.1, and if it is true that the features that characterize the situatedness of the inner-worldly beings of any conceivable ‘life-world’ characterize the situatedness of any conceivable inner-worldly being, regardless of the world of which it is supposed to be part, then it seems possible to conclude that the situatedness of a system insofar as it is an inner-worldly being is characterized by the fact that it is located in time and space, has some relative spatiotemporal distance and size, has some particular “Quality”, stands in some dyadic relationship of “Relation” as well as in some triadic relationship of “Representation” with other innerworldly beings, and is conjoined in an original unity with all other inner-worldly beings of a given world. These features would complete the general systemtheoretic account of situatedness, which also comprises the features that characterize the situatedness of a system in so far as a system is composed of other inner-worldly beings standing in interrelations and in so far as a system or some of its components may be at the same time components of other systems.

4.2 Informing the definition of a cognitive system As argued at the outset and further evidenced in section 3.2, the definition of a cognitive system needs to be informed by phenomenology, and in order to be as much as possible unbiased and comprehensive, this definition should be exclusively informed by programmatically non-anthropomorphic phenomenological analyses such as those outlined in sections 2.1 and 2.2. Actually, what allows to inform the definition of a cognitive system is rather the non-anthropomorphic phenomenological analysis of intersubjectivity (section 2.2) than the nonanthropomorphic phenomenological analysis of situatedness (section 2.1). In fact, whereas the latter analysis concerns features that may be supposed to characterize not only the ‘subjective’ worlds of particular conscious beings, but also the ‘objective’ world in which these conscious beings are supposed to coexist (see section 4.1), the former analysis concerns the conditions of such a naturalistic understanding of intersubjectivity, i.e. it concerns the conditions under which it is possible to understand the ‘life-world’ as the ‘subjective’ world of a particular conscious being that coexists with other conscious beings in some supposed ‘objective’ world. Therefore, it can provide essential information concerning how to define a cognitive system in the proper sense of this term. According to the non-anthropomorphic phenomenological analysis of intersubjectivity outlined in section 2.2, there seem to be mainly two features of the ‘life-world’ which are commonly, though in quite different ways, considered as necessary conditions of the naturalistic understanding of intersubjectivity: the

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particular inner-worldly being that, in virtue of this understanding, is considered as ‘one’s own’ body, and the particular inner-worldly beings that, in virtue of this understanding, are considered as the bodies of the ‘others’. Though the naturalistic understanding of intersubjectivity requires further conditions, which are likely to concern both these ‘others’ (e.g., a certain similarity to ‘one’s own’ body or certain behaviors such as perceiving, addressing, asserting, etc.) and ‘oneself’ (e.g., certain representational and mnestic abilities), the two conditions identified in section 2.2 not only already provide first information concerning the definition of a cognitive system, but also already imply an argument favoring one of the four different ways to conceive the situatedness of cognition, which have been described at the outset. In fact, if the naturalistic understanding of intersubjectivity is necessarily related to ‘one’s own’ body and the bodies of the ‘others’, then a cognitive system has to be conceived rather as an inner-worldly being that is similar to these bodies than as an inner-worldly being that is similar to a bodily organ such as the brain, or as some more extended inner-worldly being of which these bodies are part. Accordingly, a general system-theoretic approach to the situatedness of cognition that is exclusively informed by philosophical phenomenology seems to favor a strong version of the ‘embodied cognition’ view rather than the ‘extended mind’ view or the more traditional connectionist or computational views of the situatedness of cognition. Of course, the two conditions identified in section 2 are not yet sufficient to inform the definition of a cognitive system. In fact, in order to define a cognitive system it is not sufficient to assert that a cognitive system has to be conceived as an inner-worldly being that is similar rather to ‘one’s own’ body and the bodies of the ‘others’ than to other inner-worldly beings, but it has to be determined which particular morphological, behavioral, etc. features an inner-worldly being must have in order to qualify as a conscious being. As mentioned in section 2.2, philosophical phenomenology indicates several features (perceiving, addressing, asserting, etc.) which seem to be relevant and which might be necessary, though not sufficient conditions for identifying inner-worldly beings as conscious beings. Further indications, which might help to complete the existing phenomenological analyses, may be gathered from the empirical findings of psychological researches on ‘theory of mind’ or ‘mentalization’, i.e. on the ability to impute mental states to oneself and to other individuals, insofar as some of these researches examine variables concerning the individuals to whom mental states are to be imputed. In order to inform the definition of a cognitive system by means of a coherent and complete phenomenological account of the features an innerworldly being must have in order to qualify as a conscious being, it seems therefore necessary to critically review both the existing phenomenological analyses

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of intersubjectivity and the empirical findings of psychological researches on ‘theory of mind’ or ‘mentalization’.

5. C ONCLUSION In this essay, it has been attempted to outline an as much as possible unbiased and comprehensive approach to understanding the situatedness of cognition, in general, and to defining a cognitive system, in particular. It has been argued that, in order to realize this goal, it is necessary to tie in with both philosophical phenomenology and general system theory, i.e. with the paradigm that provides a programmatically non-naturalistic analysis of situatedness, and with the paradigm that provides the most generic naturalistic analysis of situatedness: on the one hand, philosophical phenomenology needs to be considered in the light of a naturalistic perspective such as the one of general system theory not only in order to allow to understand phenomenological situatedness as the situatedness of cognition, but also in order to understand it as situatedness at all; on the other hand, general system theory needs to be informed by philosophical phenomenology not only in order to allow the definition of a cognitive system, but also in order to provide a complete account of the situatedness of a system in general. While the general system-theoretic account of situatedness needs to be informed by means of a non-anthropomorphic phenomenological analysis of the situatedness of inner-worldly beings, the definition of a cognitive system needs to be informed by means of a non-anthropomorphic phenomenological analysis of the conditions of a naturalistic understanding of intersubjectivity. Both analyses should be based on a critical review of the existing phenomenological accounts concerning these issues and might well arrive at results that are different from the preliminary results sketched in this essay.

Can Place Prehend Philosophy? Spatialisation, Mythic Place and Virtual Time R OB S HIELDS

What is place to philosophy, what is place to thought? The linkage of philosophy and place suggests the question: “Is this a matter of the philosophy of place or the place of philosophy?” Place, even in an unexamined sense of the term, is both an object of thought and theoretical attention and the putative ground of thought, a milieu in which problematic events and entities come together in presence for the philosopher – place is a problematic ready to hand, to adopt the Heideggerian phrase. Furthermore, the specificity of places as time-space contexts is inevitably sedimented in concepts and theorems, so that even mathematical axioms hark back to the conditions that allowed the neutral and often threedimensional space of logical diagrams and propositions to exist. Philosophers scratch away at this context to retrieve these a priori conditions, puzzle at the lack of fit with current contexts or search for neglected aspects of the originary scene that have been overlooked. This paper explores place as a prehension of thought as it is found in myth and presented in the work of Heidegger, Lefebvre, Serres, Bakthin and Whitehead. In The Symbolism of Evil Ricoeur suggests that theoretical thinking is always specific, historically located, cultural, and socially-grounded.1 I would like to argue that place grounds thinking and founds philosophy in a constitutive manner. This will take the form of a consideration of place as a prehistory and prehension of philosophical reason. Place is sedimented in theoretical discourse even if it appears only in the mannered phrase that thought ‘takes place’. This ‘taking place’ is littered across the philosophical literature to such a great extent, so of-

1

Ricoeur, Paul: The Symbolism of Evil, New York 1969, p. 23.

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ten, so repetitiously, that one must wonder about its role. ‘Taking place’ is an unexamined action that animates the discourse of philosophy. Why construct the process of thought in the linguistic terms of an event ‘taking place’ where process is reified and immobilized? What service is place giving in this ‘taking’? What ritual anointing of events, objects, bodies, occurrences, categories and logical elements lies behind these words? Like a mouse running across a room, ‘taking place’ is a flicker that catches our eye and once we focus in on it, it upstages all of the other activities that were going on.

1. T HE P LACE

OF

T HOUGHT

Place appears in multiple guises in modernist and contemporary philosophy.2 Martin Heidegger is one of the best known philosophers to write of place in relation to questions of being, truth and presence.3 Even critics of his philosophy such as Badiou, for example, draw on Heidegger's exploration of Being as an event of “being-there” for which a site or place is integral.4 There is a range of readings of his work, which also exhibits different emphases on place, time and space. He wrote regularly of place – the place where being occurs, the place of equipment – but the spatiality of this place is assumed. Space is often referenced but is relatively undeveloped alongside time in some examinations of his work.5 In capsule form, a first phase culminates in Being and Time and includes relatively short comments on space within the context of a discussion of time and being. In a second phase through the 1930s, place or site emerges as the ‘there’

2

For a wide-ranging survey, see Paquot, Thierry/Younès, Chris (Eds.): Le Territoire

3

Chrétien Jean, Louis: De l’espace au lieu dans la pensée de Heidegger, Revue de

des philosophes: Lieu et espace dans la pensée au XXe siècle, Paris 2009. l’enseignement philosophique, 32:3 (1982), pp. 3-21; Franck, Didier: Heidegger et le problème de l’espace. Minuit, Paris 1986; Villela-Petit, Maria: L’Espace chez Heidegger: quelques repères. Les Etudes Philosophiques, 2 (1981), pp. 189-210; Arisaka, Yoko: On Heidegger’s Theory of Space: A Critique of Dreyfus, Inquiry, 38:4 (1995), pp. 455-467. 4

Badiou, Alain: Polemics, London 2007; MacCannell, Juliet Flower: Eternity or Infini-

5

Schatzki, Theodore: The Site of the Social. Pennsylvania, 2002; Id.: Martin Heidegger

ty? Badiou’s Point, Environment and Planning D, 27 (2009), pp. 823-839. Theorist of Space, Stuttgart 2007.

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of being, analysed as an event. In a third phase in the 1960s, place emerges more strongly in essays such as Being Dwelling Thinking.6 De Beistegui suggests that one of Heidegger's virtues is that he distinguishes place as ontological locality from simply being a site or being an aspect of space.7 Others such as Malpas argue that Heidegger should be read as ultimately formulating the philosophical question of the truth of being as a question of place and the way in which being becomes present and actual.8 In this strong version of an ‘emplaced’ reading, Heidegger’s Dasein is above all ‘Da-sein’ ‘being-there’, an event in place as well as in time.9 We must remember that this is not Heidegger's innovation: he draws on a tradition within modernity running from Machiavelli to Spinoza, Nietzsche, Benjamin, (and after Heidegger) Deleuze and Negri which has understood being as “the power of Being-there”, the realization of a dimension, an ethical faculty, will or the actualization of creativity.10 No contradiction between Heidegger's approaches to Being, which develop over time, is admitted: the “there of being” (Dasein) is the eventfulness of being (Ereignis) because place holds together time and space in mutual dependence. The site of the moment (die Augenblickstätte) articulates time and space. Place arises as (spatial) expanse and (temporal) division.11 Other spatial elements in Heidegger include the “totality of places” (Platzganzheit) and regions or “whereabouts” (Gegend).12 He laments that, “Places – and indeed the whole circumspectively oriented totality of places belonging to equipment ready-to-hand – sink to a multiplicity of positions for arbitrary things. The spa-

6

Heidegger, Martin: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), in: Id., Gesamtausgabe Vol. 65 (1936-1938), Frankfurt am Main; Heidegger, Martin: Being and Time, New York 1962; Heidegger, Martin: Building Dwelling Thinking, in: Id., Poetry, Language, Thought, New York 1951.

7

de Beistegui, Miguel: The Place of Place in Heidegger’s Topology. International Journal of Philosophical Studies, 19:2 (2011), pp. 277-283.

8

Malpas, Jeff: Heidegger’s Topology: Being, Place, World, Cambridge Mass 2006.

9

M. Heidegger, Being and Time, p 136.

10 Negri, Antonio: On Gilles Deleuze & Félix Guattari, A Thousand Plateaus. Graduate Faculty Philosophy Journal, 18:2 (1995), online version. 11 See Heidegger’s postscript on Hegel in Heidegger: Being and Time; also see Derrida, Jacques: Ousia and Gramme: A Note to a Note in Being and Time, in: Id., Margins of Philosophy University of Chicago Press, Chicago, 1982, pp. 29-68. 12 Both terms as in Heidegger: Being and Time, pp. 136, 147.

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tiality of what is ready-to-hand within the world loses its involvement-character [...] The world loses its specific aroundness; the world-around becomes the world of nature. The ‘world’ as totality of equipment ready-to-hand becomes spatialized to a context of extended things which are just present-at-hand and no more”.13

Place in this view is a metaphysical gathering opposed to space as dispersion and presumably to time as well as to inauthentic technological framings (Ge-stell) as Heidegger famously argues. Place and “taking place” is opposed to space and spacing. The relationship between places thus seems to be a challenge, for while they form a totality, the sense of a whole landscape of places-for-this and placesfor-that which stand in contrast and even in relations of negation to each other seems difficult to read off of Heidegger's work. Christian Norberg-Schulz naturalizes topography and history as the “genus loci” or spirit of places that then lend their identity to entire regions and to cities.14 Thus, the nature of Rome is essentialized in the anchoring of its seven hills that structure the topography, the circulation and ultimately the accessibility and livability of the centre of the city in relation to the Tiber river. The way this place-identity enters into a broader formation of places that are essential to our everyday geographies – and to a resident of Rome – and to a sense of the world as a spatialisation of places, a space of distance and difference, is unclear. Malpas15 notes that, “Place cannot be other than what is given in the multiplicity of places – to suppose otherwise would be to envisage the possibility of place, topos, as itself atopic”. However, this leaves the world of places un-named and implicit within individual places. We arrive at the problem of how to dwell in a larger world than is possible in the primitive localism that is inevitably implied by Heidegger. Even if place were not actual, the ideal terms that are set up do not reflect of everyday life that always included trade and resources beyond the horizons of local life, even in Europe before the Roman occupation, throughout the Middle Ages and certainly since the Renaissance. Place, this is to say, is always in a relationship with other places just as the now of a site encodes the past and affords selected futures. Place is always leaky and without closure. While he criticized the assumption that time and space were historically universal, Heidegger linked this sensibility to the onset of modern technology.

13 M. Heidegger: Being and Time, p. 112, cited in T. Schatzki: The Site of the Social, p. 47 (translation modified). 14 Norberg-Schulz, Christian: Genius loci: towards a phenomenology of architecture, London 1980. 15 J. Malpas: Heidegger’s Topology, p. 300.

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Technology is itself a means of unveiling aspects of our world – universally – but distracts us from the authentic condition of being and the nature of place, which is ‘spatialised’, thus confounding anything but a negative encounter with wider spaces. He linked this universalism to a particular historical developmental trajectory and condition: “[T]he being at home of a historical humanity involves a certain sort of space, more precisely, a certain sort of timespace. This time-space is the time-space in which the people dwell. This time-space is also at once the time-space that constitutes the open of the clearing into which this people stands. To explicate this timespace, Heidegger conceptualized place (Ort) as the here of human dwelling and abode (Ortschaft as the way a place is a here”.

16

Heidegger is generally understood to have placed time at the centre of understanding of being and the universalism of claims on behalf of “a historical humanity” and the ways in which spatiality is an unchallenged and unproblematic three-dimensional and passive element illustrate Heidegger's tendency to generalize his Eurocentric metaphysics in a temporalizing manner based on historical stages. Because he is interested in lived space rather than an objective, Cartesian space or a subjective sense of space, a three-dimensional space is generally presumed in Heidegger when he characterizes the being of equipment as readinessto-hand (Zuhandenheit), evoking nearness (zu Hand) even if not objectively present-to-hand. Place is part of equipment as well as location, where equipment is placed (platziert) together with other elements relevant to action in much the same way that Marx understands space as one example of capital. Further, as well as being placed in the sense of objective location, “equipment compose, are, places namely, places where something can be done, places where specific activities can be performed: a workbench is a place to build and fix things”.17 “When equipment for something or other has its place, this place defines itself as the place of this equipment – as one place out of a whole totality of places directionally lined up with each other and belonging to the context of equipment that is environmentally readyto- hand. Such a place and such a multiplicity of places are not to be interpreted as the ‘where’ of some random Being-present-at-hand of Things. In each case the place is the definite ‘there’ or ‘yonder’ [‘Dort’ und ‘Da’] of an item of equipment which belongs somewhere [...] the ‘whither’ to which the totality of places for a context of equipment

16 T. Schatzki: The Site of the Social, p. 57. 17 T. Schatzki: Martin Heidegger, p. 40.

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gets allotted, is the underlying condition which makes possible the belonging-somewhere of an equipmental totality as something that can be placed. This ‘whither’ [...] we call the ‘region’ (Gegend).”18

This groups equipment and place together as a set; that is, readiness-to-hand is a virtuality that has an ontological status quite different from any given element in the set. This virtuality or ‘intangibility’ is an ‘ideal-but-real’ quality and is central to definitions of place itself: “Place is an opaque and evanescent concept, resistant to standard forms of philosophical analysis, often seeming to dissipate like smoke at the first breath of inquiry, leaving us to turn to what may appear to be the more substantial and substantive notions of space and time.”19

This is not a matter of abstract representation as in an idea, fiction or any “possible ideal” concept but of something existing but not tangible, such as a memory, trust or indeed the past.20 Thought that ‘takes place’ is embedded in a spatial and also temporal framework that is denied or confounded in contemporary feelings of placeless-ness and lack of rootedness in places as richly social as well as ecological matrixes of self-actualisation and self-confirmation.21 However, it is not just that thought might have a context in the way that Plato's symposia are presented as parties where the guests argue and debate philosophical principles. Place as ‘taking place’ is necessarily a reference to a broader spatial and temporal framework that is epistemological and pragmatic as well as geographical or architectural – to social spatialisations that go beyond any particular instance of place and of taking place. “Something like a region must first be discovered if there is to be any possibility of allotting or coming across places for a totality of equipment that is circumspectively at one's disposal.).”22 Heidegger's Gegend is perhaps a more accurate correspondence to spatialisation. He links Gegend as a totality of places to meaning broadly and as a precondition for spatial encounters with equipment and with specific places as what I

18 M. Heidegger: Being and Time, p. 136, ss. 103. 19 J. Malpas: The Place of Topology, p. 295 20 Shields, Rob: Virtualities. Theory, Culture & Society, 23:2-3, pp. 284-286. 21 M. de Beistegui: The Place of Place in Heidegger’s Topology, p. 280. 22 M. Heidegger: Being and Time, p. 136, ss. 103.

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have called “places for this and places for that”. Schatzki translates Heidegger as follows: “[A]s its own unity [...] through the world-ish totality of involvements [...] [t]he ‘worldaround’ does not arrange itself in a space that has been given in advance, rather its specific worldhood articulates in its significance the context of involvements of any current totality of circumspectively allotted places. In each case the world discovers the spatiality of the space that belongs to it.”23

Such frameworks are not only cultural frames for action and understanding but they are social productions that deserve sociological and anthropological interrogation as such.24 They are the points of reference in relation to anomic senses of placeless-ness. They embed instruments, activities and more importantly affect and power in places and in the relations between places, neighbourhoods, cities and states. Assimilating spatialisation to Gegend makes clear that this is not a spatialisation that negates place as a local site of encounters but the matrix within which any given place is embedded. Spatialisation is a virtuality that is entangled with place and presence. It can only be known through a process of envisaging spatialisations through abstraction and representation.25 My further contention would be that the assumption of a Euclidean three dimensional space is neither natural nor objective but part and parcel of this cultural formation of spatialisation. As Schatzki suggests, this makes of Heidegger an important but not critical spatial thinker; he is not a critic of temporality nor of spatialisation itself even as he advocates a return to dwelling, to attachment that integrates time and space in the process of living.

23 M. Heidgger: Being and Time, p. 139, cited in Schatzki: Martin Heidegger, Theorist of Space, p. 40 (translation modified). 24 Shields, Rob: Places on the Margin: Alternative geographies of modernity, London 1991. 25 This process is one of making present, as Heidegger insists, moving “envisaging” as Vergegenwärtigung to “making present” as Gegenwärtigen, see M. Heidegger: Being and Time, p. 410. This process is indicative of a dualism of presence and absence that Derrida and Lyotard critique. See Derrida: Ousia and Gramme: A Note to a Note in Being and Time and Jean-François Lyotard, Willem van Rijen and Dick Veerman. An Interview with Jean-François-Lyotard. Theory, Culture and Society, 5:2 (1988), pp. 277-309. The ironic embedding of Gegen(d), as region in these terms also deserves more thought.

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De Beistegui also argues that Heidegger's position shifts over time, as later in his work he switches form spatiality to place, i.e. to that where matters of interest occur. Place appears as frames such as art, architecture, the polis, or poetry, all distinguished as the constitution of open time-spaces or opportunities for the emergent sense of totality the perception and prehension of the virtual, understood as what befalls us/what is befalling. His mature approach to time-space is “time spatializes” and “space temporalizes” to produce a unity of what we might call the ‘event-place’.26 “The ‘there’ of being unfolds between, and differently according to the various epochs of history, clearing and concealing, world and earth, rapture and captivation. The Event (Ereignis), or what Heidegger calls History, is precisely the play of time and space thus understood, the ‘where’ and ‘when’ of being. Time-space, as an event, always refers to a site – the site of a specific and concrete strife (Streit) between world and earth and encounter (Ent-gegnung) between men and gods, the site of a singular historical configuration.”27

However the universals at work and the assumed qualities of Heideggerian “place” as three-dimensional space and historical time seem to be themselves a highly modernist characterisation of the site of encounter “between men and gods” (sic). However, simplifying greatly Earth and Sky represent the folding of boundless potential into the limits of a particular place; Gods and Men represent the folding of eternal temporality into history. This “place” is a form that arises as a solution rather than a pretext or an aporia in advance of thought. How is it inhabited? How place is actualised in series, that is, in spaces made up of multiple, lived places remains an open question.

2. S PATIALISATION Social spatialisation is intended to precisely capture the sense in which places are ‘cast’ as ‘places-for-this’ or ‘places-for-that’. ‘Spatialisation’ in French and English popular usage has meant ‘making spatial’. However it further redefines ‘space’ as a problematic term by locating its partiality and identifying the cultural role that it plays by constructing a crucible and arena for the play of capital,

26 M. Heidegger: Beiträge zur Philosophie, p. 65 cited in M. de Beistegui: The Place of Place in Heidegger’s Topology, p. 282. 27 M. de Beistegui: The Place of Place in Heidegger’s Topology, p. 282.

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art and technology and for the constitution of places as identified and fixed locales within a wider space of other places – a space of distance and difference. Spatialisation seeks to not only translate but move beyond Lefebvre’s MarxistHegelian analysis of the Production of Space by stressing its Leibnizean, Nietzschean qualities and drawing on Foucault’s and Deleuze and Guattari’s equally Nietzschean engagements with cultural and psychological structures of power. ‘Space’ is a peculiarly modernist construction and in English tightly lashed to the mathematical and technical notion of a neutral void or extension. The Cartesian Extensio, separated from place and from lived space, undermines the use of ‘space’ as an analytical term which is trapped in a language which ignores its subtleties. For example, working in French, by contrast to the English ‘space’, Lefebvre's “l'espace” is all embracing of place, area and site. It seeks what could be influenced by spatialisations in different historical epochs rather than simply defining and delimiting the spatialisation of one particular time or place. I suggest this is at root a social spatialisation, which includes (1) a set of spatial relations (i.e. space proper) between and on which core elements of the mode of production (and consumption) depend; (2) the arrangements of architecture and the landscape; (3) understandings and representations of that logic; and (4) cultural forms of social space that include the body and its gestures and comportment. The translation of “l'espace” as spatialisation has stuck,28 but it is worth noting Lefebvre’s own use of “spatialisation”.For example, in La Production de l’espace Lefebvre does not separate spatialisation completely from place as localisation in the way that Castells later attempts to do with his vision of a dynamic “space of flows” in which place is dominated as a mere static, parochial node of localisation.29 Lefebvre's “l'espace”, is analytical and methodological in nature. Lefebvre identifies three dialectical moments or theses of “l'espace”, embedding his analysis within an enlarged and unorthodox, but still recognisably Hegelian and Marxist assessment of domination and resistance: 1. “Practices of Space” involve producing and enacting spatial order in every action, challenging the constructions we engage in. Elsewhere he refers to these as “l’espace perçu” of commonsensical action and “perceived space.”

28 Zieleniec, Andrzej: Space and Social Theory, London 2007, p. 76, also see the usage in Hubbard, Phil; Kitchen, Rob and Valentine, Gill: Key Thinkers on space and place, London 2004. 29 Lefèbvre, Henri: La Production de l’Espace. Antrhopos, Paris 1974; Castells, Manuel: The Rise of the Network Society, Oxford 1996.

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2. “Representations of Space” (or “Discourses on Space”) are found in narratives, such as the idea that space is an a-political neutral void, or theories of the planning professions or cartographic conventions that assume that the landscape can be rationally planned and subdivided – especially into planning zones for different uses. These discourses require argument and refutation. He also refers to this as “l’espace conçu” or “conceived space”. 3. “Spaces of Representation” (or “Discourses of Space”) frame our understandings of what is possible and how our senses and bodies are embedded in space. These more insidious habits of understanding are the special purview of radical artists who challenge the ways we see the world and ourselves. Elsewhere he refers to the potential of this most intangible of aspects of spatiality to become “l’espace vecu” or “lived space”: a kind of Nietzschean, fully engaged and unalienated identification of the actor, their actions and activities, with the environment itself. All three influence and tug at each other as productive contradictions, producing “l'espace” as a dialectical (trialectical) synthesis at any given historical mode of production. Marx’s modes of production become modes of production of space. If anything is a mark of Lefebvre’s analysis, it is the combination of totalisation and periodisation.

3. M YTHIC P LACE Outside of this historical frame of modes of production of space, what of places that precede Lefebvre's assumption of a historical teleology of modes of production of space? Michel Serres directs us to the Aeneid of Virgil arguing that each myth, each tale in this combinatorial of oral tradition comes from a specific place.30 Myth recalls, presents and mobilizes a space before history. It is precisely in the narrative sites of mythology, that people are shown encountering the relation Heidegger interrogated between Gods and Men (sic), Being and beingthere; places where the historical world is articulated with the divine. Even though they are representations, they are introduced as definite sites in which the audience is granted the privilege of looking on in participation as witnesses to action together with the protagonists in the mythic time (as in Heidegger's Ereignis). Serres focuses on examples from Virgil such as the following tale where a half mortal, Cacus, dares to steal from a God, but is discovered and

30 Serres, Michel: Rome: The book of foundations, Stanford 1991.

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killed, becoming himself venerated like a god, marking the beginning of historical time and the foundation of Roman society by such remembrance. XXVII. But time, in answer to our prayers, one day Brought aid, a God to help us in our need. Flushed with the death of Geryon, came this way Alcides, glorying in the victor's meed, And hither drove his mighty bulls to feed. These, pasturing in the valley, from his lair Fierce Cacus saw, and, scorning in his greed To leave undone what crime or craft could dare, Four beauteous heifers stole, four oxen sleek and fair. XXVIII. Then, lest their footprints should the track declare, Back by their tails he dragged the captured kine, With hoofs reversed, and shut them in his lair, And whoso sought the cavern found no sign. But when at last Amphitryon's son divine, His feasted herds, preparing to remove, Called from their pastures, and in long-drawn line, With plaintive lowing, the departing drove Trooped from the echoing hills, and clamours filled the grove.31

Before historical thought with its linear logic, there is place and before that the timeless space of the Gods. Time is the time of chance events, space is the milieu of manoeuvres, itineraries from one pasture to another. Place is a scene of encounter in a timely, mythic present of interacting bodies. Serres argues that philosophy has neglected these places and the spatiality that informs them. This spatiality is undomesticated, ungoverned by logic and thus an overall understanding has to be collaged together from fragments – the opposite of Descartes endless and totalising extensio of three-dimensional coordinate space. Instead, order is localised in narrative sites that do not necessarily conform to everyday spatiality or to an overall spatial order. Even where place has qualities – it is “a garden, a cave or a valley” - Serres comments that time - historical time - “has not yet begun; it has not yet been conceived. There are places, only places. To go back to

31 Virgil: The Aeneid of Virgil, London 1907.

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the origin is to leave one site for another”.32 The montage logic is characterized by the centrality of place and events that “take place”. The Roman historian Livy is said to have commented that barbarian thought was not only prehistorical, but that, in this mode of understanding, the linear time of history was inconceivable.33 Instead the prehistorical offered Livy a montage of images, of myths of gods and battles and above all places. What of these mythic places of thought? In contrast to ‘myth’ as a narrative texts that may be more or less fictional, “the mythic” is a virtual reality encoded in these representations. The Mythic is the chronotope (see below), the space of representations at the heart of Virgil's tale. What of the mythic spatialisation that persists in contemporary spatial metaphors? What is the spatialisation of classic foundation narratives in which each story, each parable, “takes place” more or less in mobile contiguity to any other parable? To examine this, a fusion of temporal and spatial analysis is required that is more correctly a “cultural topology” than a spatialisation.34 That is, we need an approach that embraces multiple spatial and temporal formations in contradiction without assuming any overall order. The time-space of myth intersects without conforming to the times and spaces of historical places. For example, in these mythic narratives, an ordering space beyond an epic scene need not be assumed. There is not even a matrix or plenum in which a clinamen35 as event disturbs a time-less flow. The contiguous or even co-located quality of the scenes is the essence of the spatialisation that precedes logical divisions of geographical-historical space into places-of-this and places-of-that. In this understanding that does not presume space or time as extensio and historia, place precedes the kind of thought that we understand as logico-philosophical reason, and also its causal time and space in which events and all things are later understood to be spaced and unfold. This is in strong contrast to a Euclidean and later Cartesian framework: it offers a remnant of the divine in that it provides an immersive logic in which all can be understood in the order of a universal and eternally knowable space and time of an event-place.36

32 M. Serres: Rome, p. 40. 33 Livy: Roman History, 1904. 34 R. Shields, Spatial Questions: Social Spatialisations and Cultural Topologies, London 2013. 35 Lucretius referred to clinamen as “an unpredictable swerve of atoms”. Lucretius: De Rerum Natura, Welt aus Atomen, Stuttgart 1986. 36 M. Serres: Rome, p. 185, p. 191.

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The bodies of the protagonists unite the elements of the narrative, creating a time-space identical with the site as an isolated island in time. This event-place fusion is a lived time and space that is both mundane and epic in a transposability that is characteristic of the mythic37 as virtual. At work in this proto-time and virtual space, dramatis personae are identical with their own presence and extend a gestural milieu mediated by their bodies in much the same way that the ant, the spider in its web or a woodland tick extends a space as an Umwelt with specific temporal and spatial conditions that derive from a limited repertoire of capacities to perceive and act, that is, to enter into relationships with other bodies that have a duration and dimension.38 In this case, time and space pertain to the interaction of bodies in a mythical moment. Even though they are often identified by kinship and filiation, the dramatis personae and action is in and of the event-place, almost as if they have forgotten themselves in the moment. This allows humans to imagine their own vicarious presence inside the lived time-space of myth and its narrative unfolding of events. It is not that there is “no time”; place is not atemporal, but that there is a focus on the present as the site of pathos and experience. Fate is played out; however, the sense of an unfolding plot is subordinate to the framing of the entire narrative in the mode of the present. Ricoeur notes that philosophers including Hegel, Heidegger and Gadamer have considered the way in which experience (Erfahrung) “designates the style of historicity of all knowledge”.39 Thought without time is unthinkable in modern thought; historicity is its precondition. Husserl argues that space is founded in human corporeality.40 But it is possible to project how, in the prehistorical form of mythic relation41 place might come to the fore as simply a “taking place”. As in all projections, this is a reduction of dimensions or degrees of freedom, such as a projection that maps a curved surface onto a flat plane. In this case, the reduction of a multidimensional time-space is to one definite point: that of the event - the “taking place”. This point form of action has no need of distinguishing between space and time, nor

37 By mythic I am referring specifically to this defining quality of myths as mythos, not to a specific myth or narrative, nor in any way to the ‘mythical’ as often used to refer to an erroneous tale or a fiction. 38 von Uexküll, Jakob: A Foray into the Worlds of Animals and Humans. with A Theory of Meaning, Minneapolis 2011. 39 P. Ricoeur: The Symbolism of Evil, p. 105. 40 Husserl, Edmund: L’Origine de La Geometrie, Paris 1962; Derrida, Jacques: Introduction to Husserl’s: “The Origins of Geometry”, Oxford 1975. 41 M. Serres: Rome, p. 90.

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of space as extension and time as progression. Can we speculate that there is a time of pure event or mythical happening, a collage or montage where the Gods overlap; the parables are in the same event space? The event-place or eventspace has no need of empirical presence given that absence is not an ontological possibility in such a schema. “Place is event, the emergent unthought empirical knotted from the formless material of form as a systrophe, an elementary aggregate, a knot, a mass, a vortex, a manifestation of energy and action, a circumstance [....] crossed by diverse movements and by the complex, chaotic work of transformations. It is always more or less centred, in an empty space or with an absent seat, a full presence”.

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Later, extended stories of epic travel over distances – Ulysses – begin the narration of the world as a space of mobilities and distance. In this topology where there are only places or points, time and space are virtualities. That is to say, they exist only to the extent that the event exists “as if” but not actually because there is a broader space in which ideas and narratives touch each other. Diverse temporal logics and spatial figures proliferate, bringing the far away and foreign local and in close communication. As-if extension and volume and as-if succession and duration: the as if is the discursive marker of virtualities, known only through their effects, their as-if-presence.43 Discussions of historicity also represent engagements with the past as virtuality, for it is real but not actual. Perhaps this is comparable to the space and time of a daydream, of conscious dreaming where there is relation in space and succession in time but only as if the actions happened and which elicit a gratuitous pleasure or frisson of repulsion. The systrophe is an event-space that is topological even if it is a kind of black hole in which everything is co-located in a primordial combinatory. It exhibits a ‘spatialisation’44 even if it is a point-form co-location without distribution that is not even necessarily as commodious as a three-dimensional space of the event-place Malpas references in Heidegger's work. Myths reside contiguously with each other in mythic time. Thus the actions of the protagonists in myth have impacts that stretch out time into the course of days and seasons or that place events in relation to landmarks, mountains, caves, rivers and regions to which they lend their genius or spirit.

42 Ibid., pp. 95-96. 43 Shields, Rob: The Virtual, London 2003; Shields, Rob: Virtualities. Theory Culture & Society, 23:2-3, pp. 284-286. 44 R. Shields: Knowing Space, p. 147.

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This temporality and spatiality lend the mythic a distinctive time-space quality or ‘topology’ even if it is to be zero-dimensional.45 Myth presents an origin point, a foundation to the unfolding of events whose succession is the ethnological prototype of temporality and history. There is ‘and then’ before ‘next’. Logical success is only prehended in the consequentiality of affect in myth. The vicissitudes of desire, hatred and fickleness trump the logical unfolding of causes and effects. True to the virtual, myths are known and knowable through their effect, a basic spatialising and temporalising that is already a symbolic mediation of the real. According to Mikhail Bakhtin, the “chronotope” as a time-space nexus, or what I have referred to as an element of cultural topology, provides “the ground essential for the “representability of events” functioning as the primary means of materializing time in space”.46 This topology frames the detail of places and actions.47 In his works he analyses chronotopes that prefigure the action that occurs in texts, much as historicity frames events. Chronotopes are the basis on which Bakhtin theorizes the specificity of literary genres. However he also uses the term more broadly: Goethe's Rome is discussed as a chronotope, because the sense of a particular locality is made inseparable from an awareness of history.48 Bakhtin notes that Greek myths tend to present adventures played out beyond any time of human experience, without effect, experience, aging or rational cause and effect impacting the characters. Time leaves no traces in mythical stories. Instead a vast stage of action is dominated by abstract chance and serendipity.49 The inherent analytical risk of the chronotope is that it rests on a hypostatizing movement to freeze an ideal-typical time-space characterizing a genre. Rather than functioning as a fecund virtuality that is an ideal-real that permits particular “knots of narrative” to be “tied and untied”, chronotopes can become reified abstractions: ideal-types that are themselves impermeable to change and becoming, set beyond the reach of human creativity.50

45 Shields, Rob: R. Shields, Spatial Questions: Social Spatialisations and Cultural Topologies. 46 R. Shields: Spatial Questions; Bakhtin, Mikhail: The Dialogical Imagination, Austin, 1981, p. 250. 47 M. Bakhtin: The Dialogic Imagination, pp. 84-258. 48 Bakhtin, Mikhail: The Bildungsroman and Its Significance in the History of Realism, in Michael Holquist (Ed.): Speech Genres & Other Late Essays, Austin 1986; Cox, Ailsa: Time and Subjectivity in Contemporary Short Fiction, Loughborough 1999. 49 M. Bakhtin: The Dialogic Imagination, p. 87. 50 M. Bakhtin: The Dialogic Imagination, p. 250.

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For Whitehead, place is an event or locality where things are co-occurring at the same time and should not be understood as a simple location or concrete entity. He argues that the point has no experiential reality but is an abstraction representing an idea derived theoretically. Instead, time and space are subcategories of extension. Similarly, objects are temporary. They are idealized and reified abstractions that are given a stable identity. Like Lyotard, Deleuze understands the event in material terms by advancing a reading of Whitehead's event as having four conditions that parallels Heidegger's description of the event of Being. The four conditions are extension of the event out of chaos (cf. Leibniz), a “disjunctive diversity” of “abstract potentialities”, intension, prehension and ingression.51 It is worth a brief detour through Whitehead to detail these elements because these four conditions are often compared to Heidegger's fourfold of the Earth, Sky, Man and Gods [sic] and to Deleuze's discussion of ‘folding’.52 In summary: 1. There is a fold of Extension and Intension: 1A Extension (as in extensity, extensio) in Whitehead is ‘something’ rather than ‘nothing’ or indistinguishable chaos. It evokes the idea of an infinite field, pattern or series that holds the potential for division into regions, values or qualities.53 It is a virtuality that is primarily multiplicity, but ‘a’ multiplicity; that is, not pure chaos and is thus similar to Heidegger's “Earth” 54 and harkens back to Descartes undifferentiated space as extensio. 1B Intension (as in intensity or intensio) makes a ‘this’ in contrast to ‘that’ , ‘the’ rather than any ‘a’. It coincides with Leibniz and Deleuze in that it is actually concrete matter with distinguishing characteristics, intensities or properties that are marked by difference and thus individuation.

51 Whitehead, Alfred North: Process and Reality: An Essay on Cosmology, New York 1978, pp. 21-40. 52 Deleuze follows Leibniz’ conception of folding as a differentiation that does not involve division or cutting up a totality, as in the pleating of cloth or folding of paper to make separate leaves in a book. 53 Whitehead, Alfred North: The Concept of Nature, New York 2004, p. 34. 54 Robinson, Keith: Towards a Political Ontology of the Fold: Deleuze, Heidegger, Whitehead and the ‘Fourfold’ Event, in Sjoerd van Tuinen & Niamh McDonnell (Eds.): Deleuze and the Fold, London 2010, pp. 184-202.

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2. There is a second set of foldings, Prehension and Ingression: 2A Prehension (as in the French verb prendre, Latin prehendere) grasps, takes account of, or impresses the world of concresced, individual things and site on the subject as affect. It moves from public to private, in a continual series, completing the actualization of the elements of the real. 2B Ingression (Latin ingredi, the same root as ‘ingredient’): Each actual occasion comes to ingress or ‘take in’ objects. “in large part by the ways in which it prehends its past. Each actual occasion has some measure of freedom in the way that it interprets and responds to that past, and the objects which an actual occasion exhibits for other emerging occasions is a function of its own prehensive functioning”.55

Ingression is the inclusion of prehensions to maintain an identity or to develop it.56 This is the key difference between Whitehead and Heidegger: ingression allows for creativity, differentiation and change. Leibniz' and Heidegger's folding repeats intension (1B) to maintain the closure of a pre-established harmony for the former, and a differentiated but fixed relation between things and the world, being and Being for Heidegger.57 Following Whitehead, thought depends on prehension as “concretely grasping” an object or situation as a given, factual reality.58 Possessing or intuiting a datum is akin to our positioning with respect to any antecedent or given affordances. They are one-way dependencies on whatever is prehended and this asymmetry gives an evolutionary character to prehension. But any occasion also prehends the rest of reality as it takes the form of an identity. Whitehead refers to the achieved result as a superject that condenses its necessary and sufficient preconditions to ‘concresce’ or cohere as an apparently independent entity that

55 Weiss, Eric: Front-Matter: Doctrine of the Subtle Worlds: Sri Aurobindo’s Cosmology, Modern Science, and the Metaphysics of Alfred North Whitehead, Californian Institute of Integral Studies, PhD Thesis, San Francisco 2003, published online 2009. 56 See Deleuze, Gilles: The Fold. Minnesota University Press, Minneapolis 1993, p. 78, and A.N. Whitehead: The Concept of Nature, p. 144. 57 G. Deleuze: The Fold, pp. 79ff; Deleuze, Gilles: Difference and Repetition, New York 1994. 58 Hartsthorne, Charles: Insights and Oversights of Great Thinkers. An Evaluation of Western Philosophy, Albany 1983.

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nonetheless is completely internalized and caught up in the dynamics of its own relations. It is not only path-dependent on prior events but contextual and changing. Place is thus a prehension of a configuration or situation in time and space – Serres' systrophe. This approach suppresses the power of place given to it by Heidegger as a foundational identity that anchors other identities. Whitehead's approach favours the sense of place as event demonstrated in Serres. It also jettisons the centrality of presence59 in favour of becoming and rejects the Cartesian and Lockean conception of identity that is determined by locatedness in time and space – whereby for entities to matter, for something to count, they must have a time-space location. In the logic of rational cause and effect, this location must be a place and event, as Serres recognizes. Thought prehends place, and event. At one point Serres comments: “[E]very representation presupposes that someone is placed in the place of someone else. The struggle over place is therefore purely and simply a representation struggle. The struggle and the fight, all of polemics, all of dialectics, all relation between forces have as their initial presupposition, as their result, this trading of place”.60

However, while thought prehends events in Whitehead's terminology, these occasions prehend in their own characteristic ways previous events. Objects and places thus also depend for their “taking place” as occurrences on a structure of prehension. Prehension is neither necessarily human nor cognitive. This allows places and objects to preserve their character as an identifiably continuing milieu such as a place within a spatialisation. In this sense, place prehends existing spatialisation and thus thought itself by drawing memory, representations and discourses into its character. Cycles of understanding and action include and drawin place-images and myths. This strengthens the implication of Serres’ analysis: there is a necessary entanglement between place and rational causal forms of thought which once broken apart support a very different logical process that is not structured by linear temporal cause and effect. “Place gathers things, thoughts and memories in particular configurations”,61 but more strongly, place prehends thought.

59 J. Derrida: Ousia and Gramme, 1982. 60 Serres, Michel: Genesis, Ann Arbor, 1995, p. 77. 61 Escobar, Arturo: Culture sits in places: Reflections on globalism and subaltern strategies of localisation. Political Geography, 20:2 (2001), pp. 139-174

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A reason for preferring the strong thesis that gives power to place in this dialectic is the mediating role of the body in knowing space through tactile and kinetic involvement in “place-ballets”.62 This structures the prehension of place by thought, not only through the sensorium but through the contingency of partial encounters which are never with the totality of place – parts of any such totality always remain conjecture; in this simple way, faith is central to everyday life.63 Corporeal prehension is not merely a mediator, an interface for the thinking machine, but an affective as well as functional engagement with the affordances of place and situation. Strohmayer makes an insightful claim about the spatiality of the event that renders the “linearity of time and space as absent ground [Abgrund]...or as play”.64 He refers to the virtual qualities of place as dematerialization. However, this often implies an abstraction that emphasizes the ideally possible of places as imaginary sites, topoi of metaphor, place-images and representations that are socially constructed but often not actualized or practiced. Place is not made into an abstraction in this process; I stress that it is over-dimensioned as virtual. Place is equally at home in daydream, myth or in lived experience. It need not necessarily be actualized as a concrete place. It could be a more ideal sort of site. That is, place that is not necessarily experienced in bodily terms,65 but can equally be ex-

62 Hetherington, Kevin: The Unsightly: Touching the Parthenon Frieze. Theory Culture Society, 19:5-6 (2002), pp. 187-205. 63 Casey, Edward: Between geography and philosophy: What does it mean to be in the place-world?, 91:4 (2001), pp. 683-693; Merleau-Ponty, Maurice: Cezanne’s Doubt Sense and Non-sense, Evanston, 1964, pp. 9-24; Rosen, Steven: Topologies of the flesh: a multidimensional exploration of the lifeworld, Athens 2006. 64 Strohmayer, Ulf: The event of space: geographic allusions in the phenomenological tradition. Environment and Planning D: Society and Space, 16:2 (1988), p. 118 65 Merleau-Ponty produced a strong argument against any sort of a priori space. In his Phenomenology of Perception he asserts that space is created by the pre-reflective activity of the subject. In visual terms, prior to having a spatial field, one has access to a “pre-spatial field” of colour and lighting, which is then structured into a lived spatial field by the interaction of the body with objects and the interrelation of things. Before the first perception of space, one is “already at work in a world” and spatiality is “already required”. In a similar manner, social space is permeated by otherness and requires the mediation of the body in order to be constituted as a spatial field which unites the body and the world of objects (cf. “I am now identical with my presence in the world.” Merleau-Ponty, Maurice: Phenomenology of Perception. Blackwell, 1962, p. 293, p. 340. In “Origins of Geometry”, Husserl argues that conceptions of space are

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perienced through narrative and affect as an imagined, non-space place.66 A contemporary example might be internet Wi-Fi ‘hotspots’ as logical, non-concrete places. Mythic place can be understood as standing in a nested topological relation to the spatialisations and temporalities of everyday life. Serres proposes a “sack logic” (logique de valise) to understand how one time-space might nest culturally inside another. This is similar to the relationship between successive prehensions that are creatively taken up and internalized as ingredients in the next prehension. In this vision, history arises as the timing of repetitive ritual and collective violations of taboo that cannot be conceived except as in place, as emplaced. These are struggles over place and over its representation.67 This is to say, struggles over place as the resource for subsequent social action, subsequent prehensions, and for social orders including those of time and space. I read “play” in Strohmeyer's comment as that of affect that overturns the conventional logic of causal succession and extension. It is a play that is a pathos, experience, but also indicates a situs: an inhabiting, like the scatter of cutlery and serving dishes at the end of a good meal, or as Lyotard says, “the bed after love”.68 Lucan originally introduces this idea of a “fatal order” of the end of the meal: “the objects are all in relation one with the others; they have all been used, handled by one or another of the convivial group; the distances that separate them [the objects] are the measure of life.”69 This situs is the sum of traces of an inhabiting, a habitus, a routine and rule where love becomes the law, a domestic pathos, not metaphysics, hygiene or good housekeeping. This is a scandalous place before logic. It is monstrous, formless topology that presents an aesthesis, a shared experiential assemblage that elides rational critical judgement. Mythical scenes are an everyday life, a mapping of mundane but unsanctioned and creative liaisons, much as, Lyotard tells us, the mythical scene of the conception of Eros by Penia who, from the doorway, sights drunken Poros in the garden. Situs is thus also a topography, a topos and even a topoi which has ef-

founded in human corporeality. E. Husserl: Origins of Geometry; J. Derrida: Introduction to Husserl’s: “Origin of Geometry”. 66 Augé, Marc: Non Places: Introduction to an Anthropology of Supermodernity, London 1995. 67 Serres, Michel: The Natural Contract, Ann Arbor, 1995, p. 77. 68 Lyotard, Jean-François: The Confession of Augustine, Stanford 2000. 69 Lucan, Tout à commencé la Le Corbusier, une encyclopédie. Centre Georges Pompidou, Paris 1987, cited in J.-F. Lyotard: The Confessions of Augustine, p. 202.

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fects. Topology, analysis situs70 thus demands a relational, aesthetic judgement as well as a pragmatics and kinesthetics. Place forces us out of the ordered topologies of reason and in so doing allows us to reflect back on them, on the relations of cause and effect that operate in, for example, three dimensional spaces and linear one-dimensional time. Place as aporetic, as a halting point, lies beyond philosophy. It appears as a mask on the dynamism that we know operates beneath such identities. It shares the semiotics of artifice with the masquerade,71 where the identity presented by the mask is playfully accepted as an idealized identity, even though we may well know the actual identity of the wearer.72 It is easy to be affected by it as a topos but it elicits thought, as Serres' argues: “It is easy to think about places where there is already thought. It is simple to turn over a soil that is rich and light. Nothing is more convenient than to practice philosophy on subjects or in languages in which philosophy has long been cultivated. [...] In the places where there has not yet been thought, it is hard to think. The rough coast of sterile rock. On subjects or in languages that philosophy has not yet come to. Philosophy must be practiced. It must be, out of duty, by research or by quest.”73

In Serres’ work, not only literary texts but thought itself is embedded in a wider milieu that includes place and historical context. Its response to place is to weave it into a wider spatialisation, a landscape of meaning, a chronotope, a cultural topology of places, events and relations that make up a characteristic time-space. Extending Harris' analysis of fictional discourse, thought establishes links across places, events, scales and domains. It is not only semio- or psycho-logical but eco-logical as well: it expresses the logic of oikos, at home thought “negotiates a

70 Poincaré, Henri: Papers on Topology: Analysis Situs and its Five Supplements. American Mathematical Society, Vol. 37 (2010). 71 Cambre, Maria Carolina: The Politics of the Face: Manifestations of Che Guevara’s image and its collage of renderings and agency. University of Alberta, PhD Thesis Edmonton AB 2011; Rykwert, Joseph: The necessity of artifice: ideas in architecture, New York 1982. 72 Preziosi, Donald: Brain of the Earth’s Body: Art, Museums and the Phantasms of Modernity, Minneapolis 2003. 73 M. Serres: Rome, pp. 63-64.

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place and passage in the world”74, “that connects a network, that traces a graph upon space”.75 Oikos signals what is at stake in this discussion. Place not only echoes back thought and does not simply come to rest as an identity in a wider spatialisation, but by assembling multiple thinkers and thinking together it multiplies the effect of thought. When it comes to any place, philosophy is thus faced with the continual process of sorting through prehensions, representations and embedded metaphors. Place embeds the traces of active thought in its configuration and architectonics. But further, place constitutes thinking as co-located, as grouped into sets of thinkers, as social. That is, place places thought in an ethos which includes both concord and struggle over representations, affects, faith in place and embodied commitments to place. Together these “virtues” of place, allow sustainability, the sustaining of thinking beings and cultures. The dialectic of “what is place to doctrine?” and “what is philosophy to place?” is a knot of relations and interdependencies. Place grounds thinking and founds philosophy on multiple registers: as much through affect and embodied engagement as through logical prehension. Heidegger's sustained engagement with place and region lays the basis for both processual understandings of the actualization of metaphysics as ‘Being-there’ and as equipment but demands Lefebvre's critical examination of the time-space relationships between such places. The appearance of ‘place’ in multiple guises in philosophy includes the reality that place is a play on unstable, passing formations – a disguise – that depends for its representation and interpretation on wider spatialisations. Place as ‘taking place’ refers to a wider topological framework. Serres deploys place as an elementary aggregate, a systrophe independent of historical and logical thought that nonetheless has historical and political effects. This mythic form of place exhibits a specific pre-historical spatialisation of point-form co-location without distribution. If Lefebvre reminds us that myth, as representation of space, is also a virtual reality or “space of representation” that frames everyday spatial routines and practices dialectically, we can see in Serres’ sack logic how the mythic can be curled up within everyday life and our faith in the identity of places – even when we know that our knowledge of them is doomed to be partial and brief. This haunted quality embeds the mythic in the everyday, in turn allow-

74 Harris, Paul: The itinerant theorist: Nature and knowledge ecology and topology in Michel Serres: Sub-Stance, 83 (1997), p. 37-58. 75 See Serres’ remarks on “Language and Space” in Oedipus and the Odyssey: “[T]his is a discourse that weaves a complex [...], that connects a network, that traces a graph upon space”, M. Serres: Rome, p. 47.

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ing the mythic to emerge as a chronotope within narratives rationalizing everyday events and situations. Whitehead and Serres unmask place as a temporary mask of stability over an underlying dynamic of change and fluid fields of actually real processes. This radically empirical approach offers a model of the relationship between thinking and place, but also suggests a stronger role for place as a time-space situs. While thought prehends place and events, place prehends thought and more importantly thinking in its many modes, embodiments and collective forms. Embodied, fleshy, kinesthetic place-ballets intervene as integral to prehension, while place aggregates thinkers into sets and groups that themselves come to be figures of place. This includes a struggle over representation, but the stronger form of the thesis sketched here sees place as placing thought into a social collective, into an ethos which itself is the object of struggle for it ultimately concerns the sustainability of certain forms of thought at the expense of others and forecloses possible prehensions, of ideas as much as of physical elements, in favour of sustaining others.

The Taking Place of Risk Optical mediation and the Neuropolitics of Prehension J OOST VAN L OON “This peculiar reality status of ‘no-longer-butnot-yet’ – no longer trust/security, not yet destruction/disaster – is what the concept of risk expresses and what makes it a public frame of reference […] Risks, then, ‘are’ a type of virtual reality, real virtuality”.1

1. T HE V IRTUAL Adopting Proust, Rob Shields defines the virtual as “real but not actual and ideal but not abstract” and in so doing, differentiates the virtual from the actual, the probable and the possible.2 Adding these two together, it follows that if risk is virtual and the virtual is not the probable, than we should perhaps think twice when referring to risk as an equivalent of probability. As a mathematical figure, probability is used both in terms of measurement and of estimation and is deployed to identify the difference between determination and random variation (statistics). Probability is real-concrete and at the same time ideal-abstract. Risk, by contrast, is not a calculation but an anticipation and, as such, it is embodied.3

1

Beck, Ulrich: “Risk Society Revisited: Theory, Politics and Research Programmes”, in Barbara Adam/Ulrich Beck/Joost van Loon (Eds.): The Risk Society and Beyond. Critical Issues for Social Theory, London 2000, p. 213.

2

Shields, Rob: The Virtual, London 2003, p. 25.

3

The notion of embodiment of the virtual can, for example, be traced in Spinoza’s conception of the passions, which with reference to risk are fear and hope. De Spinoza, Benedict: Theological-Political Treatise, Cambridge 2007.

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At the same time, it aligns itself with an open ended and abstract notion of the possible: the emergence of risk is not strictly limited to notions of chance and likelihood; instead its anticipations are like free associations that generate uncertainties related to the irreducibility of experience. However, the virtuality of risk also means that it is not abstract-ideal but concrete-ideal and this implies that in contrast to the possible and the probable, we need to look at risks in terms of taking place (which one could also refer to as “becoming-actual”). My main concern here is to show how the taking place of risk does not automatically mean that risks have to be actualized into (catastrophic) events to be real. I want to show that the concept of place must not be deployed to simply contrast real and ideal (for example in opposition to space). I want to argue that so-called topological devices provide indexical operations – for which I will use the term “optical mediation” by means of which risks take place as chrono-topical4 extensions of actual events that may or may not take place. It is through these chrono-topological mediations, that the taking place of risk becomes a process of social spatialization and (for example) sociologists to talk about panoramic phenomena such as “the risk society”.

2. P REHENSION , N EXUS

AND

O PTICAL M EDIATION

In developing his “philosophy of organism”, Alfred North Whitehead deployed the term “actual entity” (also referred to as “actual occasion”) to refer to “the final real things of which the world is made up”.5 Perhaps philosophers would find it heretical that one makes direct connections between “actual entities” and Spi-

4

I use the term chrono-topical somewhat differently from Bakhtin’s original conception of time-space as a generic organizational device deployed in novels. The chronotopical for this paper is what extends the timing and placement of an actuality beyond the here and now and thus allows us to think of temporalization and spatialization as virtual processes. Hence, rather than confined to representational textual forms, this notion of chronotope is a modality of all mediations. See Bakthin, Mikhail Mikhailovich: The Dialogic Imagination, Austin 1981.

5

Whitehead, Alfred North: Process and Reality. An Essay in Cosmology, New York 1978, p. 18.

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noza’s notion of substance, Nietzsche’s notion of force and – above all – Leibniz’ notion of monad (which was introduced to sociology by Gabriel Tarde).6 However, I do exactly that because for me the similarities in thinking ontology in terms of non-reducible particles is the most important aspect here, as it prevents us from having to generate an ontology on the basis of a priori categories. Whitehead refers to actual entities as “drops of experience, complex and interdependent” and can be analyzed in an indefinite number of (more or less abstract) ways. The most concrete of these engagements with actual entities he calls “prehension”, which he argues is its “referent to an external world” and thus has a “vector character; it involves emotion, and purpose, and valuation, and causation. In fact, any characteristic of an actual entity is reproduced in a prehension”.7 It is thus not that Whitehead’s ontological scheme cannot accommodate, for example, signifiers (as mental conceptions), but that it refuses to associate mental conceptions (res cogitans) with a substance other than the actual entities. The chronotopological function of prehensions as vectors is the pointing-towards or indexing of associations that are not outside of the actual entities but constituted by them. The possession of associations by actual entities is being realized through prehension. “Actual entities involve each other by reason of their prehensions of each other. There are thus real individual facts of the togetherness of actual entities, which are real, individual and particular, in the same sense in which actual entities and the prehensions are real. Any such particular fact of togetherness among actual entities is called a nexus […] The ultimate facts of immediate actual experience are actual entities, prehensions and nexus. All else is, for our experience, derivative abstraction”.8

Whitehead thus proposes an empirical philosophy that can accommodate “subjective forms” without having to create a special category of, for example, the human mind as operating in a universe beyond that of actual entities. This concept of prehension can be most useful in thinking about the event of “taking place”.9

6

Tarde, Gabriel: Monadologie und Soziologie, Frankfurt am Main 2009.

7

A.N. Whitehead: Process and Reality, p. 19.

8

Ibid., p. 20.

9

For a more thorough reflection on the phrase “taking place”, please see Rob Shields’ contribution to this edited collection. The great thing about the English language is that event is always-already thought of in terms of “place-taking.”

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The process philosophy of Whitehead ends the artificial distinction between place taking and place making, because the taking and making are both prehensions of the same actual entities. In further clarifying prehension, Whitehead asserts that “every prehension consists of three factors: (a) the ‘subject’ which is prehending, namely, the actual entity in which that prehension is a concrete element; (b) the ‘datum’ which is prehended: (c) the ‘subjective form’ which is how that subject prehends that datum.” 10 Affect plays a major role in this conceptualization of prehension because it constitutes the subjective forms. In English, it is already noticeable, for example, in the terms ‘apprehension’ and ‘comprehension’. Prehension is the event by which actual entities become objectified. This is what taking place means. For Whitehead, the nexus (“a set of actual entities in the unity of the relatedness constituted by their prehensions of each other”11) is that which allows us to speak of specific ‘phenomena’. Deleuze and Guattari would later deploy the term ‘assemblage’.12 I want to argue that Whitehead’s nexus provides an effective tool to think what we would call ‘place’ because it forces us to always consider the process of place taking/making as an effect of specific prehensions. Secondly, I want to argue that thinking in terms of prehension as affective associations always foregrounds the empirical and the experiential. It forces us to always think empirically. Thirdly, and this is the focal point of this paper, I want to argue that the synthesizing work of the nexus, i.e. the mobilization of prehensions, is always mediated.

3. F ROM

VISUAL TO OPTICAL MEDIATION AS DIFFERENT MODES OF OBJECTIFICATION

Gilles Deleuze deployed the notion of “intensity” instead of entity to make clear that irreducibility is not to be thought of as purely (or as Nietzsche stated “mechanically”) substantial.13 Deleuze’s philosophy of intensities allows us to con-

10 It should thus be clear that the subject is an actual entity and by no means limited to human being. See A.N. Whitehead: Process and Reality, p. 23. 11 A.N. Whitehead: Process and Reality, p. 24. 12 Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: A Thousand Plateaus. Capitalism and Schizophrenia, London 1988. 13 Deleuze, Gilles: Difference and Repetition, London, 1994; Nietzsche, Friedrich: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte. Frankfurt a.M. 1992, p. 439.

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ceptualize the juxtaposing of the “technical” and “the social” – which was the focal of the early Actor Network Theory’s intervention in Science and Technology Studies – as a repetition of a similar movement of matter-processes.14 This also helps us resist the residual anthropocentrism in notions of the (exclusively) social. After all, when most people talk about media and social change, for example, what they really refer to are technological media and human practices (including perceptions and dispositions). For a philosophy of intensities, this implies that too much has to be asserted a priori and this inhibits analyses remaining close to the empirical. A philosophy of intensities should however be able to differentiate between matter-processes in terms of how they produce affects and thus associations. Intensities can be differentiated in terms of ‘high’ and ‘low’ to express frequency, density or velocity. An analogue photograph, for example, is a matter-process, a gathering of specific intensities that are the consequence of a limited and controlled exposure of photosensitive chemicals to light. The photograph associates beyond light and photosensitive particles, specific paper, fluids, infrared light, a dark room, a film, a camera, a photographer (with eyes and hands), objects, a place. Without these associations, there is no analogue photograph. A painting is different. Of course we have paper, a brush, paint, an easel, and we also have a painter (with eyes and hands), an object, a place. The film El Sol del Membrillio (The Quince Tree Sun) by Victor Erice deals with the problem of realist painting.15 Painting a quince tree is providing a huge challenge for the old painter, whose eyesight is decaying, just as the summer moves to a close. Since starting to paint the quince tree, the fruit has ripened, the branches have become heavier, the leaves have grown, the sunlight has changed. The painter has to perform a tour de force just to retain the image he started off with and deploy all the tricks of the trade to maintain a realist perspective. It is for this reason that painting could be seen as a means to establish what Whitehead called “eternal objects” which – unlike actual entities – do not suffer from the passage of time (death). The realist painting is an attempt to trick time to create an identity between an eternal (idealized) object and its representation. The analogue photograph accomplishes that in an instant. Only if the shutter is opened long enough, is it possible to trace movement, to see time. Yet, the photograph never stops indexing

14 Latour, Bruno: Science in Action. How to follow scientists and engineers through society, Milton Keynes 1987. 15 Erice, Victor: El Sol de Membrillio, produced by María Morena, Euskal Media, Spain 1992.

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time; it testifies to the “there and then” of “having been there”.16 It assumes the immediacy of bearing witness, despite the fact that far more mediators have been involved in making this happen. The photograph is bound to a chronotopology that remains outside of the visual representation; literally, the photograph has taken (a) place. The matter-process of the analogue photograph is not the consequence of visual mediation. Visual mediation is what the painting performs. It is held together by a network of actors whose main orientation is geared towards stabilizing a present in the face of decay; creating an actuality of perception that can never be excluded. The analogue photograph, instead, is affected by optical mediation. It is not a carefully assembled all-at-once ness of a network, but a chain of rapid successive prehensions, many of which have been made invisible by technological black boxing (e.g. the camera obscura).17 The black boxing is where media scholars would pinpoint “technology at work” perhaps in the hope to be allowed to bracket off what would otherwise be extremely boring stories about the internal metabolic features of complex machines.18 But even the most ardent anti-technological humanist media scholar would not deny that there is a difference between analogue and digital photography. Digital photography does not involve chemicals, other than the ones mixed into hardware of machines as well as the ink of the printer, when digital images are being printed off. Digital photographs are still products of optical mediation: of rapid serial chains of affect. They are still matter-processes that instead of trying to trick the light, instrumentalize and deploy it, even if ‘only’ electronically. Visual and optical modes of mediation are different. The first operates with ‘forms’ the second with ‘indices’. The first produces all-at-once-ness,19 the second instantaneity. However, the products of visual and optical mediation; i.e. the mediated objects (or: media) they have become, are themselves not exclusively bound to the modes of objectification with which they have come into being. By triggering a change of mood, the painting becomes an actor of optical mediation; the photograph used to display an identity, for example in a passport, becomes a

16 Barthes, Roland: Image Music Text, London 1977. 17 Lury, Celia: Prosthetic Culture, Photopgraphy, Memory and Identity, London 1998. 18 Latour, Bruno: An Inquiry into Modes of Existence, Cambridge 2013. 19 A term used by Marshall McLuhan as a means to describe the consequences of electronic mediation as an extension of our central nervous system. McLuhan, Marshall: Understanding Media. The Extensions of Man. Second Edition, Hammondsworth 1964.

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visual mediator. However, the photographic image in a biometric passport retains its capacity for optical mediation; it can be scanned electronically; its digital undercurrents have been retained. As a biometric number it can travel at instant speed across the electronic highways of digital communication, for example triggering a response from immigration or airport security that a risk has just tried to enter the country.20 I deliberately avoid talking about visual and optical media. I refer to visual and optical mediation to indicate that functions are the key concern and to retain the possibility that a medium could perform both functions, depending on how it is being associated or enrolled. It is clear that an increased reliance on electronic matter-processes favors a deployment of optical mediation, since the physiology of the electronic current is the pulse. Digitalization has further enhanced the dominance of optical mediation since it enables direct forms of information processing without any dependency on hermeneutic filters that need to deploy horizons of interpretation. Instead, the work is primarily done by algorithms.

4. O N

THE MATERIALITY OF OPTICAL MEDIATION AS A PROCESS OF EMBODIMENT AS “ TAKING PLACE ”

It is not speed that marks the uniqueness of optical mediation; it is affect. Optical mediation cannot afford to create situations where the materiality of affect is being denied. Like a barcode without a scanner, an optical mediator without attachments becomes a useless figure. Optical mediation is thus strongly dependent on the complex matter-processes that trigger the chains of prehension. We could also call these “information flows”. Optical mediation highlights that information does not flow freely but remains embodied, tied to the assemblages of matter-processes or machines as Deleuze called them. Affect is always embodied. The reason why many among us have no problem retaining a doubling of object and its visual representation and thus treat visual representation as an object without a body - is because visual mediation has been primarily conceptualized around one specific modality of prehension: seeing (often treated as the equivalent of perception). However, the neurochemical connections between the eye and the brain are again not forms of visual but optical mediation. These forms of affects are embodied matterprocesses (neurons).

20 Kruger, Erin/ Magnet, Shoshana/ Van Loon, Joost: Biometric Revisions of the ‘Body’ in Airports and US Welfare Reform, Body and Society, 14 (2008), pp. 99-121.

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This is not to say that visual mediation is unimportant; not at all. Instead, by differentiating between visual and optical mediations, we could also differentiate between ways in which they objectify and these objectifications perform different but significant functions. Visual mediation enables us to engage with complete forms; they enable panoramic views of entire networks that have been held together to perform a re-presentation. For example, the phrase “seeing the bigger picture” is often invoked as a plea for mobilizing contexts. This can only be done in terms of visual mediation. When optical mediation invokes context, it becomes mere text; like hypertext never leads to a bigger picture but only to diversions and distractions. Optical mediation can only follow one trigger at the time; it engages with a stroboscopic sense of time, of pulsation of fluctuating intensities of frequency, density and velocity. Visual mediation is thus extremely important as a means to slow down, absorb the pulsations and provide a whole. It enables contemplation, abstraction and conceptualization. Despite all the hype about disembodiment in virtual realities, optical mediation foregrounds the body, albeit not necessarily the human body. Optical mediation mobilizes the neurochemical comportment of perception and cognition, seeking to calibrate the digital and the neurological (so called “neural networks”). When McLuhan provocatively wrote in 1964 that “television is the extension of our neural system”, he was not describing a process of disembodiment, but instead a transformation of sense-perception by which individual bodies are being linked together and form a neurological collective. This is nothing new, Elias Canetti’s reflections on “crowds” (which were published around the same time as McLuhan’s earlier writings) also pointed towards the psychoemotional fine-tuning of a collective entity.21 Leni Riefenstahl’s film Triumph des Willens could be seen as an experimental precursor to these theoretical reflections.22 Using cinematographic techniques, she had choreographed a crowd moving into ecstasy. Until today, Riefenstahl has been invoked as the dark iconic figure behind the aestheticization of politics that has been so closely associated with fascism and its deliberate and propagandistic manipulations of crowd behavior. Indeed, optical mediations are risky.

21 Canetti, Elias: Crowds and Power, New York 1992. 22 Triumph des Willens (DEU 1935, Leni Riefenstahl).

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5. T HE

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PHENOMENON OF RISK

I have often been told that the concept of risk is dead. Having been working in this area myself for the last 20 years (interrupted by phases where I also thought that risk was dead), I have been surprised more than once by the resilience of risk. I do not believe this is primarily because risk has been institutionalized in various strands of risk-research, but because the phenomenon of risk is resilient, despite the fact that it can be deployed to refer to almost anything and thus becomes a signifier of almost nothing. The resilience of risk does not lie in its capacity to become ever more abstract and thus to be able to travel easily from one domain to the next; instead the resilience of risk stems from its embodiment in optical mediation. Perhaps one of the biggest mistakes of social sciences dealing with risk has been to treat risk as a concept. As a concept it is deemed to be an abstraction that relates to something more general that resides within more concrete phenomena. However, rather than as a concept, I propose that we think of it first as a prehension. As a prehension it does not need to be as concrete as say a material object; in fact it can be a matter-process, an assemblage. Risks are virtual, they are real without being (very) concrete and ideal without being (very) abstract. Risks are virtual (chrono-topically realized) matter-processes that travel through optical media and thus become objectified through haptic chains of prehension. Hence, when Beck asserted that ontologically speaking, there is no difference between risk and risk-perception,23 he was absolutely right; a risk that is not prehended (perceived) cannot be a risk. A risk is always of something particular and for something particular. It is this associated ontology of something having a risk (which is a lot more tangible than something just being at risk) which brings together both notions of a risk of and a risk for. For example, if we understanding this having a “risk as being infected by a virus”, it is clear that this means that there is a risk for the physical health of the person concerned. However, at the very same time, the person also becomes a risk for others. The virus that prehends the human being in the moment of infection can also be said to have a risk. It has a risk in terms of threatening the integrity of the human body (a risk for) but it is also at risk of being killed off. The human immune system might detect its presence before it can gather strength in numbers and eliminate it by means of a concentrated deployment of antibodies. This is the

23 U. Beck: “Risk Society Revisited”, p. 219.

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risk of the stranger that enters a system that is geared towards eliminating foreign bodies. Because risk operates in chains of prehensions that are linked through optical mediation, it is moving along the lines of ‘having’ and ‘being’ had; risks are thus also infectious24; they multiply and fork off into a multiplicity of directions. This is why I prefer to speak of ‘risk flows’. Risk is always in movements of anticipation and realization; they exist in the chrono-topes that asymptotically approximate the actuality of the catastrophe, but never become the catastrophe. When the catastrophe becomes actual, the risk vanishes. The focus on having (or prehending) risk forces us to consider risk as always embodied, always tied to particular phenomena. Risks are themselves resilient because they are so mobile; they can easily shift, transform, disappear down one track and reappear somewhere else soon thereafter. However, even if in motion, risks remain embodied. Optical mediation provides the continuous engagement of risks. As optical mediation also deploys and can thus immediately engage with storage media, risks can be held in reserve, retained in archives, inscribed in memories. Even when under erasure, risks are easily retrieved by the traces left behind by optical mediation. These traces can always be tracked, the tracking itself can be saved and thus the pathways of risk can be repeated over and over again.

6. T HE

NEUROPOLITICS OF FEAR AND HOPE

Optical mediation facilitates the circulation, both in terms of displacement and retrieval, of risks. Because risks only exist in prehension, they are, so to speak, affective. It is for this reason that risks are not simply ‘perceived’ in terms of a cognitive capacity to understand a possible relationship between the occurrence of X as cause and the occurrence of Y as consequence in terms of a probability. To become a risk, such a perception has to be embodied as a prehension. This prehension does not have to be a comprehension (as for example, the understanding of a risk in terms of expert knowledge). To have a risk, to prehend a risk, one needs to be affected.

24 Using infection in the same way as Tarde referred to processes of imitation as contamination, I am thus not deploying risk (or later epidemics) in a metaphorical sense. The social event of infection in terms of the realization of risk is a virtual matter-process and thus much more concrete-ideal than the abstraction performed by the metaphor. Tarde, Gabriel: Social Laws. An Outline of Sociology, New York 1899.

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Two specific modalities of affect that can be associated with risk are fear and hope. Fear is the most obvious connection. The anticipation that we are approximating a catastrophe tends to take place within a modality of fear. Fear makes us apprehensive; we do not want this particular prehension, we would like to be free of it. It is therefore that fear often leads to a withdrawal or a flight as strategies of avoidance and negation. Hope is often seen as the complete opposite. Hope does not engender apprehension but instead increases prehension. It does not lead to avoiding but to approaching. Hope orients us to the beyond, that is the unknown, the future, that which has not yet come to pass. Why would hope be a modality of risk? It is a specific feature of what Frank Furedi has termed the “culture of fear” to associate risk and apprehension.25 Risk avoidance is indeed often what is often at the heart of risk management strategies. However, to conceptualize risk in exclusive association with fear is to also deny that the prehension of risk could generate excitement and pleasure. Risk taking, for example in bungee jumping or skateboarding cannot be understood if we only think of risk in terms of apprehension. Instead, the adrenaline rush of deliberately exploring experiences of limits are life affirming. Risk-Affect which can be prehensive, apprehensive or comprehensive, always concerns embodied experiences of limits which manifest themselves as fear or hope (or a mixture of both). These limits or boundaries constitute a specific space, a liminal space where the rules of normality are suspended and the legitimate, institutionalized ordering of the expected does not apply. This is what Giorgio Agamben has called the “space of exception”.26 The space of exception is the space where regular law is being suspended, the space where life is laid bare (bare life) in the face of the arbitrariness of the will to power, where the decision to grant life is at the mercy of a sovereign decision that is not accountable to anything but itself.27 We could call this point at which the sovereign decision becomes naked and stripped from the shackles or law a ‘crisis’. It is to the boundary (which is the place of exception) of this space of exception that risk points towards and optical mediation facilitates this pointing-

25 Furedi, Frank: Culture of Fear. Risk-taking and the Morality of Low Expectation, London 2002. 26 Agamben, Giorgio: Homo Sacer: Sovereign Power and Bare Life, Standord 1998. 27 Agamben developed this thesis as an extension as well as a critique of the work of Carl Schmidt, for example: Schmidt, Carl: Das Nomos von der Erde, Berlin 1974; also see Barbour, Charles: Sovereign Times: Acts of Creation. Law Culture and the Humanities 6:2 (2010), pp. 143-152.

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towards as indexing. Optical mediation brings our bodies closer to the space of exception and thus engenders the affective modalities of fear and hope. Optical mediation is geared towards crises; crisis is a liminal state where life-as-weknow-it or the “world-as-we-know-it” ceases to be self-evident. For decades, Paul Virilio has worked on the thesis that optical mediation – facilitating the logistics of perception – has increased the velocity of the political to such an extent that we are now seeing time.28 He calls this escape velocity as the critical point where we are being affected by impact before we can perceive it (this is the essence of ballistics). For Virilio, the beyond of escape velocity, which under normal circumstances would be referred to (by for example Bataille or Foucault) as a limit experience29 or a space of exception,30 is becoming ubiquitous. This is the price we pay for optical mediation; the speed of affect has overtaken the speed of anticipation. If Virilio is right then Ulrich Beck’s hope invested in reflexive modernization as enabling us to overcoming the perils of the paralysis produced by the paradoxes of the world risk society – which he further elaborated under the label of cosmopolitanization – would be in vain: reflexivity still relies on comprehension, comprehension still relies on analysis, but analysis requires visual mediation, an overview, a taking into account of ‘contexts’ and visual mediation is too slow.31 It is not surprising therefore, that Beck’s reflexive modernization works on the basis of a bifurcation between prehension (what is given) and comprehension (what is known). He knows very well that the experience of paralysis is generated by the analysis of paradoxes. It is also not surprising that his call to cosmopolitanize remains idealistic and moralistic and that his art of sociology has become a form of politics. The call to cosmopolitanize becomes the stronger the more the paralysis seems to spread. That Beck has not explicitly conceived the risk society thesis as inherently bound to the process of mediatization has been an oft-deployed criticism,32 and it

28 For example, Virilio, Paul: Open Sky, London 1997. 29 For a discussion of Limit Experience with reference to Bataille and Foucault, see G. Gutting: The Cambridge Companion to Foucault, Cambridge 2005. 30 G. Agamben: Homo Sacer. 31 Beck, Ulrich: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt am Main, 2007. 32 Compare, for example, Alexander, Jeffrey: Critical Reflections on Reflexive Modernization. Theory Culture & Society, 13:4 (1996), pp. 133-138; Cottle, Simon/ Beck, Ulrich : Risk society and the media: A catastrophic view, European Journal of Communication, 13:1 (1998), pp. 5-32; Elliot, Anthony: Beck’s Sociology of Risk: A Critical

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is not unfair to assert that his views of media (but also those of science and technology) are rather functionalist and instrumentalist. However, there is no denying that even though he limited himself mostly to the role of visual mediation, the risk society thesis is unthinkable without an explicit concept of the mediated nature of perception and comprehension. The problem with an undifferentiated conception of mediation, however, is that it reduces mediation to a rather abstract and empirically unsound understanding of function. By differentiating between optical and visual mediation we can also distinguish between prehension and comprehension as different modalities of having. We can distinguish between risk-perception as a form of cognition and risk-prehension as a form of affect, and explain why the first without the second is not an experience of risk, whereas the second without the first is. To avoid the trap of the ever increasing gap between prehension and comprehension, there is however a different notion of the political we could engage with. Rather than conceiving of the unfolding of the space of exception as the mere consequence of the proliferation of optical mediation, we could invoke a more active notion of the political that actually favors the proliferation of the space of exception. William Connolly has called this type of politics “neuropolitics” and described it as: the politics through which cultural life mixes into the composition of the body/brain process and vice versa.33 Neuropolitics can only take place through optical mediation. Taking place has to be taken quite literally as a form of “taking over” of place in terms of a formatting or calibration of place in relationship to bodies. Bodies affect each other and thus constitute a sense of place. These can be neurologically manipulated, for example in terms of ecstasy, rapture, outrage, anxiety or panic. It is well known that music can be deployed to generate specific moods among crowds; this is not done by means of cognitive interpretation; bodies are affectively attuned by sounds and rhythms. Visual effects in film, for example, are also deployed to manipulate moods. This once again illustrates that optical mediation is nothing new, and that it is not the exclusive property of digitalelectronic media. In fact, Adorno and Horkheimer’s concept of “obedience to the rhythm” that is generated by the culture industry could be seen as an early account of neuropolitics.34

Assessment, Sociology, 2002, pp. 293-315; Lupton, Deborah: Risk, London 1999; Mythen, Gabe: Ulrich Beck: A Critical Introduction to the Risk Society, London 2004. 33 Connolly, William: Neuropolitics. Thinking, Culture, Speed, Minneapolis 2002. 34 Adorno, Theodor/Horkheimer, Max: Dialectic of Enlightenment, London 1979.

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However, what is a more specific difference between analogue and digital mediation is the way in which these forms can be deployed in relation to place. The taking place of analogue optical mediation almost invariably requires a longer spell of co-presence to produce a mass-effect; whereas with digitalelectronic forms of optical mediation, place-making does not necessarily require a long-term establishment of co-presence (as the phenomenon of so-called flashmobs35 has shown). Neuropolitics can be deployed to manipulate crowds, generate a sense of urgency and crisis and expand the state of exception. For example, in reflecting on the media coverage of Ebola in the 1990s, Sheldon Ungar distinguished between the rhetoric of containment and rhetoric of endangerment to argue that both strategies of risk-communication have been deployed as a means of public health management.36 Despite the availability of in-depth epidemiological and virological analyses (and these have become more readily accessible since the expansion of the internet), the vast bulk of risk-communication related to emerging viruses (including the various types of influenza) has not been oriented towards cognitive persuasion, but has been neuropolitical, that is, primarily geared towards the management of collective moods (e.g. ‘worried’ or ‘reassured’). These neuropolitical strategies deployed by public health officials, epidemiologists as well as journalists are part and parcel of the place-making of a space of exception in relation to risk. Depending on the primary mood being cultivated, this space expands or contracts. Indeed, neuropolitics are intrinsically caught up in the interplay between territoriality (place-taking) and deterritorialization (the dissolution of boundaries in networks of prehensions).

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The space of exception is only thinkable as a nexus of the place of exception. For example an epidemic always consists of junctural zones which are places where virulent pathogens as actual entities prehend other life forms and establish radical forms of symbiosis, which in the worst cases can be fatal. Junctural zones are concrete, embodied places such as human bodies, bedrooms, hospitals and cities.

35 Molnar, Virág: Reframing Public Space Through Digital Mobilization: Flash Mobs and Contemporary Urban Youth Culture, Space and Culture, 17:1, pp. 43-58. 36 Ungar, Sheldon: Hot Crises and Media Reassurance: A Comparison of Emerging Diseases and Ebola Zaire. British-Journal-of-Sociology, 49:1(1998), pp. 36-56.

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Optical mediations, however, are prehensions that trigger contaminations of actual entities of a different kind: risks. Risk is a prehension that establishes subjective forms such as fear and hope. Through optical mediations, junctural zones become virtual places; still concrete in terms of their ideational-affective anticipations, but as anticipations no longer confined to actually occurring infections. Optical mediation provides indexical vectors that continue to be bound to actual entities (such as human bodies or pathogen DNA/RNA), but in their subjective forms establishes nexus that can be extended chrono-topically. This chronotopical extension of epidemic space is “the space of exception”; it is the translation of concrete events into “public facts”; the establishment of a political domain (chora). That the vectors of optical mediation do not adhere to any universal principles, but instead engage in neuropolitics, may itself be interpreted as apocalyptic, but only in so far as it reminds us that apocalypse means “to reveal”. Epidemic Space, as the space of exception, is thus the effect of a process of social spatialization. Supported by optical mediation, sociality (or nexus) takes place in actual occurrences, but is extended virtually so that it becomes possible to experience duration and continuity. Sociality accompanies the neuropolitical; it can amplify its prehensions, apprehensions and comprehensions. Crowds can be cultivated, masses can be moved. However, there is no guarantee that this process unfolds according to plan. Optical mediation can take place through a multiplicity of vectors: there is no guarantee that the socialities thus formed will all add up (in fact, it is rather unlikely). It is therefore not likely that the space of exception will ever succeed to colonize every place (a total state of emergency). There will always remain a place of exception where the Leviathan has no jurisdiction to impose its neuropolitics of survival.

Orte der Technik Ba ሙ und Basho ሙᡤ in der modernen japanischen Philosophie S ILJA G RAUPE

H INFÜHRUNG Um 14:46:34 beginnt am 11. März 2011 die Erde unter dem Meeresboden vor der Ostküste der japanischen Hauptinsel Honshnj zu beben. Das Beben dauert ungefähr zwei Minuten lang und erreicht eine Stärke von 9,0 Mw. Sein Epizentrum liegt 163 Kilometer nordöstlich des Atomkraftwerks Fukushima Dai-ichi. Die Ingenieure des Kraftwerks sind überrascht, nicht aber beunruhigt: »Ich habe mir keine Sorgen über den Zustand des Kraftwerks gemacht. Ich habe immer gedacht, dass Atomkraft sicher ist.«1 Ab 15:35 treffen gewaltige Tsunamiwellen mit einer Höhe von dreizehn bis fünfzehn Metern das Kraftwerk. Die nur zehn Meter über dem Meeresspiegel gelegenen Reaktorblöcke eins bis vier werden folglich meterhoch überschwemmt, die an der Küste positionierten Meerwasserpumpen zerstört; Wärme kann so nicht mehr an das Meerwasser abgegeben werden. Zunächst wandelt sich die anfängliche Zuversicht der Mitarbeiter in ungläubiges Staunen: »Ich konnte dies alles nicht in Übereinstimmung mit der Realität bringen. Ich war überwältigt.« Sodann schlägt die Befremdung in Unsicherheit um, die sich zur Angst steigert: »Wir drangen in unbekanntes Territori-

1

Alle wörtlichen Zitate von Personen, welche die Reaktorkatastrophe in Fukushima

Dai-ichi

miterlebten,

sind

folgendem

Dokumentarfilm

entnommen:

Inside Japan’s nuclear meltdown. Frontline PBS (28.02.2012), http://www.pbs.org/ wgbh/pages/frontline/japans-nuclear-meltdown/ (letzter Zugriff am 14.01.2014).

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um jenseits aller Vorstellungen vor.« »Mein instinktives Gefühl war, dass unsere Möglichkeiten zu reagieren, von nun an sehr begrenzt sein würden.« »Normalerweise wäre es vollkommen undenkbar gewesen, diese Zahlen [die Messungen der Radioaktivität, S.G.] in einem solch starken Ausmaß steigen zu sehen.« Angesichts der drohenden Kernschmelze versagt jegliches normale technische Verständnis; alle gewohnten Mittel der Naturbeherrschung erfüllen ihren Zweck nicht mehr. »Sie wussten nicht, wie sie es tun sollten.« »Wir haben es einfach nicht geschafft.« Arbeiter formieren ein Art Todeskommando. Unmittelbar vor Ort erhalten sie Anweisungen von KAN Naoto2, Japans Premierminister. Sie sollen in die Reaktoren vordringen, um Ventile per Hand zu öffnen – in vollkommener Dunkelheit und totaler Zerstörung. Kan weiß, dass dies die Menschen zum Tode verurteilt: »Es war eine sehr schwere Entscheidung für mich, aber ich dachte, es müsse getan werden, und ich habe es getan.« Im Inneren der Reaktoren angekommen, bewegen sich die Männer in »einem Ort, der nicht für Menschen gemacht war.« »Sie haben Mut und Entschlossenheit gezeigt; und ihre Frauen haben beständig mit ihnen telefoniert.« Doch selbst als die Ventile funktionieren, ist der Schrecken nicht vorüber. »Viele von uns wollten fliehen, aber es gab kein Entkommen. Wären wir gerannt, so wären wir [tödlicher] Strahlung ausgesetzt gewesen.« »Im Kontrollraum haben die Männer gesagt, dass es vorbei mit uns ist.« Als sich ein kurzer Moment der Flucht ergibt, sendet der Kraftwerksleiter, MASAO Yoshida, seine Leute nach Hause. »Geht einfach. Wir haben so viel getan, wir können nicht mehr tun. Geht einfach.« Doch Japans Premierminister fordert alle Älteren auf zu bleiben. »Alle über 60 sollten bereit sein, an einem so gefährlichen Ort einen Ausweg zu finden. Ansonsten hätten wir Japan einem unsichtbaren Feind überantwortet.« Am Ende bleiben wenige zurück. Aber sie können nichts tun. Umgeben von unmenschlichen, lebensfeindlichen Bedingungen verharren sie im Kontrollraum. Soldaten werden abkommandiert, von oben Wasser auf die siedenden Reaktoren zu schütten, um die Strahlenbelastung auf dem Gelände zu senken. Mit ihren Helikoptern fliegen sie mitten hinein in die radioaktiven Wolken über dem Kraftwerk. »Die Reaktoren waren menschenleer, menschenleer.« »Bevor ich meine Maschine startete, rief ich meine Frau an. Sie sagte: ›Wenn es jemand tun muss, dann geh und tue dein Bestes. Ich bete für Dich.‹ Und wir haben es getan, wir haben es getan. Wir haben es für alle Menschen getan.« Durch die Kühlung aus der Luft sinkt die Radioaktivität. Feuerwehrleute aus Tokio werden auf das Reaktorgelände gesandt, um Schläu-

2

Wie im Japanischen üblich, nenne ich hier wie auch im Folgenden erst den Familienund dann den Rufnamen.

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che zur Kühlung zu installieren. »Wir haben alle über 40 ausgesucht.« Viele dieser Männer unterrichten nicht einmal mehr ihre Frauen, als sie in die total zerstörten Ruinen vordringen. Sie und die Arbeiter vor Ort wissen, dass alle Sicherheitsvorkehrungen missachtet werden. »Selbst wenn die Regeln gebrochen wurden, schwiegen wir darüber.« Tage später hat zumindest der japanische Premierminister das Gefühl, die Wende sei geschafft. »Bis dahin wurden wir von einem unsichtbaren Feind bedrängt und bedrängt. Endlich war das System wieder in Ordnung, und die Wende begann.« 100.000 Menschen haben in der Folge der Reaktorkatastrophe bislang ihre Heimat verloren, Teile des Pazifiks sind verseucht, große Landstriche auf Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte unbewohnbar. Noch heute gehen unabsehbare Risiken von der Atomruine aus, nicht nur für den Großraum Tokio. MASAO Yoshida starb 2013 an Kehlkopfkrebs.

E INFÜHRUNG ›Ba‹ schreibt man im Japanischen mit dem Schriftzeichen ሙ . Bildlich gesprochen besteht dieses aus den beiden Teilen für ›Erde‹ und ›aufgehende Sonne‹. Damit bedeutet es ursprünglich so etwas wie ›ein Stück Erde, wo die Sonne aufgeht und erstrahlt‹. Im heutigen Japanisch bezeichnet Ba konkrete Orte, an denen etwas geschieht und in denen sich Dinge und Menschen befinden. ›Basho‹ wird mit den chinesischen Schriftzeichen ሙᡤ geschrieben. Es fügt ba also ein weiteres Schriftzeichen hinzu. Dieses besteht, erneut auf der bildlichen Ebene gesprochen, aus den beiden Teilen für ›Tür‹ und ›Axt‹. Von seinem Ursprung her meint es so etwas wie ›der Eingang, wo die Axt liegt‹, womit ein Ort von höherrangigen Personen gemeint ist. Insgesamt bezeichnet Basho so etwas wie »den Ort, an dem Ba vorhanden ist oder entsteht.«3 Mit Basho lässt sich also gleichsam nach dem Ort fragen, der einen anderen Ort umschließt und in sich umfasst. An dieser Stelle zunächst verkürzt formuliert, stellt die moderne japanischen Philosophie, wie sie von NISHIDA Kitarǀ (1870-1945) begründet und vor allem innerhalb der Kyǀto-Schule weiter ausgearbeitet wurde, diese Frage in einem sehr konkreten Sinn: Was ist der wahre Boden, der unser alltägliches Leben fundiert? Wo-

3

Hiroshi Shimizu: Die ordnende Kraft des ›Ba‹ im traditionellen Japan, in: Christa Maar et al. (Hg.), Die Technik auf dem Weg zur Seele, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 221.

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rauf gründen wir unsere Existenz? Dabei geht es, wie es NISHITANI Keiji (1900-1990) eindrücklich formuliert, um nicht weniger als »daß man‚ sein Licht auf das scheinen lässt, was unter den Füßen ist. In unserem gewöhnlichen, vorwärtsstrebenden Leben bleibt das, was sich unmittelbar unter unseren Füßen befindet, hinter uns zurück und kommt uns nie zu Gesicht. Einen Schritt zurücktreten heißt in dieser Situation, Licht auf das ›unter dem Fuß Befindliche‹ zu werfen. Im Zen wiederum heißt dies: ›Zurücktreten und zu sich selbst kommen‹ – die Umkehr unseres Lebens.«4

Im Chinesischen lautet ein Sprichwort: ›Man kann den Berg Lu nicht sehen, weil man auf seinem Gipfel steht.‹ Ganz ähnlich verhält es sich mit Basho: Als »Unter-dem-Fuße-Befindliche« macht er gerade jenen Boden aus, von dem aus wir normalerweise denken und handeln, ohne normalerweise über ihn zu denken und ihn bewusst zu gestalten. »Basho is the given-in-intuition prior to the analysis and expression of objectification«5. Wie schwer es auch immer sein mag: Für die japanische Philosophie bedeutet über Orte zu philosophieren, unsere gewöhnliche, nach außen schauende Haltung aufzugeben und uns bewusst über den Voraussetzungsboden jenes eigenen Denkens und Handeln zu werden, das wir weder in der Wissenschaft noch im Alltag kaum je eigens befragen. Sie fordert uns auf, unser Denken seiner gewohnten Umgebung zu entreißen und gerade dadurch zu seinem verborgenen Ursprung zurückzukehren: Jenes NichtGedachte, das uns zumeist so selbstverständlich ist, dass es uns nicht als Gegenstand, sondern nur als stillschweigende Voraussetzung des Denkens dient.6 Die Frage nach Basho ist also innerhalb der japanischen Philosophie eine fundamental existentielle. Im Deutschen mögen wir dazu neigen, unser eigenes Leben oder das eines anderen prinzipiell unabhängig vom Ort zu sehen, an dem es sich vollzieht. Auf unsere unverbrüchliche Eigenständigkeit als Subjekte beharrend, scheinen wir den Ort (beliebig) wechseln zu können, ohne dass dies unsere Individualität veränderte. Im Japanischen ist dies, erneut verkürzt gesagt, weniger der Fall: Hier meint zu existieren, in einem oder an einem ganz bestimmten Ort zu leben. Ändert sich der Ort, so verändert dies folglich auch uns selber: Wir werden jemand anderes. Nishida »will repeatedly say that to claim

4

Nishitani, Keiji: Was ist Religion. Frankfurt am Main, 2001.

5

Robert Carter: The Nothingness beyond God. An Introduction to the Philosophy of

6

Silja Graupe: Der Ort ökonomischen Denkens. Die Methodologie der Wirtschaftswis-

Nishida Kitarǀ, St. Paul (Minn.) 1997, S. 32. senschaften im Lichte japanischer Philosophie, Heusenstamm 2005.

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that something exists is just to say that it is located in a basho and that the meaning of existence changes as the basho changes.«7 »Beim Geborenwerden eines Individuum muß ein Boden (jiban) bzw. eine Umgebung gegeben sein, der bzw. die das Individuum hervorbringt. Die Einzelnen müssen einerseits durchgehend von der Umgebung bestimmt werden, andererseits müssen sie durchgehend die Umgebung bestimmen. Auf diese Weise kann es Einzelnes geben.«8

Dies impliziert, dass, sobald basho instabil, schwankend und brüchig wird, auch unser eigenes, gewohntes Leben auf dem Spiel steht. Ereignisse etwa, die wir im Deutschen oftmals als bloße Umweltkatastrophen bezeichnen, betreffen aus japanischer Sicht gerade nicht nur die Welt um uns herum. Sie drohen uns unserer eigenen Grundlage zu berauben, so dass unser eigenes Ich fragil wird und in Frage gestellt ist: »Was sind wir selber? Wo befinden wir uns? Was ist das Wesen unseres Selbst? Was ist der Ort unseres Selbstbewußtseins?«9 »Ein Abgrund tut sich im Grund unserer Existenz auf. Angesichts dieses Abgrunds taugen die Dinge nichts mehr, die bisher den Inhalt unseres Lebens ausgemacht haben. Dieser Abgrund liegt indessen eigentlich immer schon unserer Existenz zugrunde. […] Das Auftauchen dieses Nichts ist nichts anderes als die Vertiefung unseres eigenen Seins – welches gewöhnlich keine eigene Tiefe erreicht.«10

Es lässt sich an dieser Stelle vielleicht bereits erahnen, warum ich diesem Beitrag konkret die Situation der Reaktorkatastrophe in Fukushima Dai-ichi vorangestellt habe: Nicht nur ist sie ein basho im Sinne eines Ortes des Erlebnisses11, in dem und aus dem Menschen konkret handeln und auch handeln müssen. Auch

7

Robert Wargo: The Logic of Basho and the Concept of Nothingness in the Philosophy

8

Kitarǀ Nishida: Logik des Ortes, übersetzt und herausgegeben von Rolf Elberfeld.

of Nishida Kitarǀ, Michigan 1972, S. 184. Darmstadt 1999, S. 145. 9

K. Nishida: Logik des Ortes, S. 239.

10 K. Nishitani: Was ist Religion, S. 44-45. 11 Bei dem Begriff »Ort des Erlebnisses« handelt es sich um einen feststehenden Begriff der Philosophie Nishidas. »Nishidas philosophischer Ausgangspunkt ist immer das fungierende Leben selber. Die Wendung Ort des Erlebnisses bezeichnet somit ein Handlungsfeld, das sich selber als konkretes augenblickliches Geschehen vollzieht, ohne daß eine Trennung von Subjekt und Objekt bewusst würde« (Elberfeld in Nishida, Logik des Ortes (1999), S. 299).

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versinnbildlicht sie, wie uns unsere konkrete Lebenssituation oftmals gerade nicht zur Verfügung steht, sondern sich jäh unseren Zwecken und Zugriffen entzieht. Gerade Fukushima Dai-ichi zeigt, wie unsere technisierte Welt Lebenswirklichkeiten schafft, die einen Abgrund nicht allein vor uns, sondern unmittelbar unter uns aufreißen. Philosophie im Sinne moderner japanischer Ortphilosophie zu betreiben, meint, vor der Schwärze und Ungewissheit eines solchen Abgrundes weder zu fliehen, noch sie zu ignorieren oder hastig zu überdenken. Wir müssen sie im Gegenteil soweit ausloten und erforschen, bis sich in ihrer Tiefe die Frage nach dem eigentlichen Fundament der Technik ineins mit der Frage nach dem Sinn unserer Existenz stellt. Bevor ich diesen Fragen tatsächlich nachgehe, möchte ich zunächst auf drei Besonderheiten der modernen japanischen Philosophie des Ortes aufmerksam machen, wie sie vor allem durch die Kyǀto Schule geprägt wurde. Damit verbinde ich die Hoffnung, den Leser zumindest anfänglich auf die Andersheit der Argumentationsweise dieser Philosophie aufmerksam zu machen; keineswegs um den Nachweis einer grundlegenden Fremdheit oder gar Exotik zu führen, sondern um uns neue und vielleicht überraschende Möglichkeiten im eigenen Denken und Nachdenken zu öffnen.12 Erstens nimmt die moderne japanische Philosophie ihren Anfang, ebenso wie es sich wohl von der buddhistischen Tradition allgemein sagen lässt, in einem konkreten und unmittelbaren Leiden, das den Philosophierenden selbst angeht und berührt.13 Gewiss postuliert etwa Aristoteles in seiner Metaphysik einen anderen Ausgangspunkt der Philosophie: »Verwunderung war den Menschen jetzt wie vormals der Anfang des Philosophierens, indem sie sich anfangs über das Nächstliegende verwunderten, sodann im weiteren Fortgang auch über Größeres Fragen aufwarfen.«14 Implizit ist einer solchen Verwunderung, dass eine »Distanzierung auftritt, zwischen dem, was gerade passiert, und dem, der daran beteiligt ist. Die Verwunderung erzeugt einen Spalt zwischen dem Menschen und

12 F. Jullien: Der Umweg über China: ein Ortswechsel des Denkens. 13 Tatsächlich existiert ein enger Zusammenhang zwischen der modernen japanischen Philosophie, insbesondere der von Nishida und Nishitani zum Buddhismus, insbesondere dem Zen Buddhismus. Damit ist auch gesagt, dass Philosophie und Religion oftmals eng zusammengedacht werden. 14 Rolf Elberfeld: Wissen und Selbsttransformation im Buddhismus, in: Karen Gloy/ Rudolf zur Lippe (Hg.), Weisheit – Wissen – Information, Göttingen 2005, S. 265276, hier S. 266.

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dem Geschehen, so dass der Mensch in die Rolle eines Beobachters gebracht wird und nun mehr wissen möchte, was dort geschieht.«15 Der Mensch versucht zurückzutreten, um mehr über einen Ort zu erfahren, wie er ihm (zumindest scheinbar) gegenübersteht, an dem er nicht beteiligt ist und der ihm deswegen gleichsam äußerlich bleibt. Er möchte lediglich erforschen, was woanders geschieht (beispielsweise in den Sphären des Mondes, der Sonne und Gestirne). Hierfür aber muss er sich seines eigenen Standpunktes kaum bewusst werden; er braucht sich selber nicht zu verorten. Er kann über Orte forschen, ohne doch selber in oder an ihnen zu sein. Eine grundsätzlich andere Position ergibt sich, wenn man wie in der modernen japanischen Philosophie die leidende Trauer zum Ausgangspunkt des Nachdenkens nimmt. Gewiss unterbricht auch diese Trauer – etwa angesichts des eigenen oder fremden Todes oder eben einer Katastrophe wie der von Fukushima Dai-ichi – den alltäglichen Fluss des Lebens. Doch während es in der Verwunderung leicht fällt, »die Sache getrennt von sich zu betrachten, […] schlägt die Situation [der leidenden Trauer, S.G.] unmittelbar auf mich selber zurück. […] In jedem Fall bin ich beim Anblick eines Kranken oder Toten zutiefst von Anfang an selber betroffen, und zwar in der Grundstruktur meiner eigenen Existenz.«16 Damit beginnt das Philosophieren tatsächlich mit der Wahrnehmung, wie der Boden unter den eigenen Füßen, ja unter der Menschheit insgesamt schwankt und keinen festen Halt zu bieten vermag. Es gibt »zwei wesentliche Paradigmen zum Menschenbild. Das eine akzentuiert die sichere Leistung der Ratio. Es versteht den Menschen als ein Wesen mit festem Boden unter den Füßen, welches aufgrund der Festigkeit selbst auch eine festgelegte menschliche Natur hat. Das andere betont die kreative Offenheit der menschlichen Natur, aber damit die Unmöglichkeit, einen festen Boden unter den Füßen zu haben.«17 Die japanische Philosophie fordert uns auf, letzterem Paradigma nachzuspüren. Ortphilosophie in ihrem Sinne zu betreiben meint, nicht über uns fremde Orte zu forschen, sondern uns vertiefend mit jenen Orten auseinanderzusetzen, in denen wir selber existieren, leiden und gestalten. Konkret auf eine Ortphilosophie der Technik gesprochen heißt dies, nicht nach einem bloß äußeren Verständnis der Natur und ihrer Beherrschung zu streben, sondern jenem Leid und jener Vergänglichkeit

15 Ebd., S. 266. 16 Ebd., S. 267-268. 17 Harald Schwaetzer: Fragefelder. Online-Diskussionsplattform der Kueser Akademie zur Situation in und um Fukushima. http://kueser-akademie.de/index.php/m-arge/marge-philspiri/m-arbe-philspiri-pro/122-pro-japan vom 14.1.2014, S.1.

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auf den Grund zu gehen, die sich zeigen, wenn diese Beherrschung scheitert und dieses Scheitern wiederum auf uns zurückwirkt. Zweitens: Ortphilosophie im japanischen Sinne zu betreiben, ist keine Frage der Wahl. Es stellt eine Notwendigkeit dar, die sich unmittelbar aus den Fragen unseres eigenen Lebens aufdrängt. Warum stelle ich diese These auf? Solange wir ausgehend von der Verwunderung philosophieren, können wir hoffen, das Objekt unserer Forschung auf Distanz zu halten. Wir meinen, es vor uns hinstellen und unabhängig von uns betrachten zu können. Folglich scheinen wir sowohl über unseren Zugang zu diesem Objekt als auch über die Beschäftigung mit ihm insgesamt bestimmen zu können: Notfalls, so denken wir, könnten wir Forschungsmethode und -gegenstand wechseln, sollte dies unserem eigenen Interesse und Fortkommen besser entsprechen. Im Hinblick auf die moderne Technik impliziert dies, dass wir uns mit ihr nicht unbedingt auseinandersetzen müssen. Lediglich gilt sie uns als ein mögliches Spielfeld der Philosophie unter anderen, für oder gegen das wir uns aus freiem Willen entscheiden können. In der modernen japanischen Philosophie hingegen liegen die Dinge gänzlich anders, nicht zuletzt aufgrund ihrer geschichtlichen Situation.18 Im Jahre 1868 erzwingen die Schwarzen Schiffe des US-amerikanischen Kommandanten Perry die Öffnung Japans in Richtung Amerika und Europa. In der Folge konfrontieren sich die Japaner nicht nur ökonomisch und politisch, sondern auch wissenschaftlich und technologisch mit dem Westen. Wie etwa UEDA Shizuteru, ein weiterer Vertreter der Kyǀto-Schule, eindrucksvoll beschreibt, hat diese Öffnung weder für den Einzelnen noch die Gesellschaft im Ganzen den Charakter einer freien Entscheidung. Vielmehr ist sie unausweichlich. Dabei stehen nicht einfach nur tradierte Lebensweisen zur Disposition, um von neuen Denk- und Handlungsweisen, etwa jenen der modernen Naturwissenschaft und Technik, wohlüberlegt und friedlich abgelöst zu werden. Stattdessen kommt es zu einer »vollkommenen Konfrontation zwischen West und Ost, in der sich beide mit voller Kraft kopfüber gegeneinander werfen wie rivalisierende Festwagen, die bei einem matsuri [einem japanischen Festritual, SG] zusammenkrachen.«19 Diese Form konfrontativer und zugleich unausweichlicher Begegnung ist nicht nur turbulent, sie ist auch total: Alles – darunter Alltagswelt, Religion, Philosophie, Technik und

18 Silja Graupe und Karl-Heinz Brodbeck: Dialog der Kulturen – Eine Frage der Wahl? Über den Anfang interkulturellen Philosophierens. In: Coincidentia, 1:1 (2010), S. 193-99. 19 Shizuteru Ueda: Nishida’s Thought. In: The Eastern Buddhist, 28:1 (1995), S. 29-46, hier S. 34-35.

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Wissenschaft – wird zugleich in Zweifel gezogen und das sowohl in seinen althergebrachten östlichen Formen als auch in seinen neuen, westlichen Ausprägungen. Kurz: Es herrscht »eine Situation, in der die gesamte menschliche Existenz in all ihren Aspekten grundlegend problematisch wird.«20 Somit aber existiert keinerlei Standpunkt, der eine distanzierte, ruhige Form bloßer Beobachtung ermöglichte. Es gibt keinen sicheren Boden, von dem aus sich der Philosoph aus freien Stücken gezielt der Analyse dieses oder jenes Problems zuwenden könnte. Weder das Eigene noch das Fremde vermag ihm als gesichertes Werkzeug des Denkens und damit als Objekt einer wissenschaftlichen Wahl zu dienen. Sein Denken vollzieht sich stattdessen notwendig im Abgrund sowohl der individuellen als auch der weltlich-historischen Gegenwart. Konkret schreibt Ueda über Nishida: »What happened in Nishida’s self-awareness is that he came to take upon himself, in full consciousness, the world-historical task of building a world wherein East and West, as he saw them, would be one. This meant, however, throwing himself body and soul into that qualitative difference and therefore feeling his personality being torn internally, right down the middle.«21

Ein ähnlicher Anfang der Philosophie lässt sich im Werk von Nishitani erkennen. Auch er findet keinen sicheren Boden, von dem aus er die Vor- und Nachteile der westlichen Wissenschaft und Technik souverän abwägen und vergleichen könnte. Im Gegenteil spürt er, wie die modernen Entwicklungen jeglichem Denken den Boden entziehen. Folglich stellt auch für ihn die Hinwendung zur Philosophie keineswegs eine rationale Entscheidung dar. Sie erweist sich, wie Nishitani selber schreibt, als eine Angelegenheit von Leben und Tod: »My life as a young man can be described in a single phrase: it was a period of absolutely no hope. … My life at that time lay entirely in the grips of nihility and despair. … My decision, then, to study philosophy was in fact – melodramatic as it might sound – a matter of life and death.«22

»In Japan […] ties with tradition have been cut; the burden of having to come to terms with what lies behind us has gone and its place only a vacuum remains.«23

20 S. Ueda: Nishida’s Thought, S. 35. 21 Ebd., S. 42. 22 James Heisig: Philosophers of Nothingness, Honolulu 2001, S. 191. 23 K. Nishitani: Was ist Religion, S. 192.

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Die moderne Technik stellt Fragen und lässt Zweifel aufkommen, aber weder taugt das Alte, d.h. die ehemals eigenen Traditionen, um Antworten aufzuweisen, noch lassen sich vom Neuen, insbesondere der westlichen Wissenschaft, Lösungen erwarten. Es gibt keinerlei vorgezeichnete Wege, und dennoch müssen sie gefunden werden, eben weil sich all jene Fragen und Zweifel, die mit der Modernisierung Japans verbunden sind, nicht umgehen lassen. Folglich bleibt nichts anderes, als sich mit der westlichen Wissenschaft und Technik und den Bedrohungen, die von ihnen ausgehen, ohne feststehendes Instrumentarium auseinanderzusetzen. Dem Menschen ist diese Beschäftigung schlicht auferlegt, ohne dass er auch nur andeutungsweise wüsste, wie er sie bewältigen könnte. Er weiß um keinerlei Lösungsweg, und so muss er mit aller Kraft versuchen, sich diesen selber zu bahnen. Drittens lässt sich aus dem Gesagten folgende Einsicht gewinnen: Der modernen japanischen Philosophie, zumindest so wie ich sie verstehe, geht es kaum darum, gesichertes Wissen, endgültige Einsichten oder absolute Erkenntnisse zu gewinnen und sodann zu vermitteln. Eher zeigt sie Erkenntnisprozesse oder – um einen ostasiatischen Begriff zu verwenden – Übungswege (㐨, japanisch michi oder Dǀ, chinesisch dao) auf, entlang derer wir immer wieder neu und situativ eine angemessene Erkenntnis unserer eigenen Situation und Zeit entwickeln können. Sie lehrt also mehr eine bestimmte Art des Denkens denn einen bestimmten Erkenntnisinhalt. Dies aber wiederum impliziert, dass es oftmals wenig Sinn macht, lediglich über die japanische Philosophie forschen zu wollen und sie dabei gleichsam museal zu betrachten. Statt etwa darüber zu streiten, was Nishida, Nishitani oder ein anderer japanischer Philosoph über Wissenschaft und Technik geschrieben haben, halte ich es für angemessener, alle Anstrengungen zu unternehmen, um mit ihrem Werk die Problemlagen unserer Zeit anzugehen und produktiv zu verwandeln. Wo immer sich im heutigen 21. Jahrhundert unmittelbar ein Abgrund unterhalb unserer eigenen Existenz auftut, gilt es in ihrem Geiste schöpferisch forschen und produktiv zu denken. Noch anders gesagt, verfehlten wir meines Erachtens die eigentliche Intention der modernen japanischen Philosophie, wollten wir sie selber zu einem gesicherten Wissensfundament stilisieren, von dem aus wir die Errungenschaften der modernen Technik preisen oder aber kritisieren könnten. Sie ist, wie es im Zen Buddhismus heißt, eher ein ›Finger, der auf den Mond zeigt‹ denn der Mond selber: Sie stellt keinen Selbstzweck dar, sondern sollte uns befähigen, im Hier und Jetzt eigenständig zu neuer Erkenntnis und neuem Leben zu kommen. In diesem Sinne möchte ich im Folgenden versuchen, nicht über die japanische Technik- und Ortphilosophie zu schreiben, sondern mir angesichts der ato-

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maren Bedrohung, wie sie von Fukushima Dai-ichi ausgeht, mit den Werken von Nishida und Nishitani Klarheit über unseren eigenen Umgang mit der Technik zu verschaffen und dabei zugleich dem Konzept des basho auf die Spur zu kommen.

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Egal ob wir den Atombombenabwurf über Hiroshima am 6. August 1945, den Reaktorunfall in Chernobyl am 26. April 1986 oder eben die Nuklearkatastrophe in Fukushima vom 19. März 2011 nehmen: Immer wieder gedenken wir dieser Ereignisse. Dabei sind unsere Erinnerungen wohl zumeist nicht einfach sachlichobjektiv und nüchtern. Vielmehr konfrontieren sie uns mit unserer eigenen Betroffenheit, Fassungslosigkeit, Angst und Ohnmacht. Für Nishitani sind es genau solche Momente unmittelbarer Trauer, die uns jäh in den Abgrund der Wissenschaft und Technik stellen und zugleich tiefgreifend nach dem Sinn der eigenen Existenz fragen lassen. »Jene Situation, in der alles, was bis dahin für unser gewöhnliches Leben nötig war (Kunst und Gelehrsamkeit eingeschlossen), seine Bedeutung und seinen Wert verliert, tritt […] ein, wenn der Tod, das Nichts (nihil), die Sünde, etc. – die eine grundlegende Negation unseres Lebens, unseres Seins (esse) und unserer Ideale zur Folge haben – den Grund unserer Existenz untergraben, den Sinn des Lebens zweifelhaft werden lassen und für uns zum quälendsten Problem werden. […] Wenn der Horizont des Nichts sich vom Grunde unseres Lebens auftut, so ist dies die Gelegenheit zu radikaler Umkehr in unserem Leben. Diese Umkehr ist nichts anderes als die Umwandlung der selbstbezogenen (oder auf den Menschen bezogenen) Haltung, die alle Dinge befragt, welchen Nutzen sie für einen selbst (oder für den Menschen) haben, in die Frage, wozu wir selbst existieren.«24

Mehr noch: Der japanische Philosoph fordert uns auf, diese existentiellen Fragen ineins mit unseren quälenden Fragen nach dem Sinn der Technik zu verbinden. Was ist diese Technik? Beherrschen wir sie oder sie umgekehrt uns? Wie können wir inmitten von Katastrophen, die wir in der Technik selber schufen, handeln? Wer müssen wir werden, um inmitten des Leides und des Todes, die eine versagende Technik anrichtet, agieren zu können? Diese und ähnliche Fragen bedürfen einer philosophischen Haltung, »welche die Herausbildung der modernen Wissenschaft als schicksalsschwere Frage nach der Möglichkeit und Un-

24 K. Nishitani: Was ist Religion, S. 192, hier S. 43-45.

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möglichkeit der eigenen Existenz des Menschen auf sich nimmt. Es ist eine Haltung, die ermutigt, existentiell über das Wesen der Technik nachzudenken.«25 Verbleiben wir im Bann der Technik, so vermögen wir kaum etwas anderes in den Blick zu nehmen, als den Nutzen, der sich aus der Kernenergie ziehen lässt. Sowohl die kriegerische als auch die sog. friedliche atomare Nutzung müssen uns als Zeichen des Fortschritts gelten. Doch nicht zuletzt die Ereignisse in Fukushima Dai-ichi lassen uns – wieder einmal – innehalten und zögern. Was sind die eigentlichen Voraussetzungen, um diesen Nutzen zu erzielen? Von welcher Beherrschbarkeit der Natur gehen wir aus? Und können wir diese tatsächlich jeden Tag aufs Neue hervorbringen und gewährleisten? Was bleibt zu tun angesichts einer gescheiterten Technik, die niemandem mehr nutzt, sondern sich umgekehrt anschickt, all unsere gewohnten Vorstellungen von Nützlichkeit zu vernichten? Kurz: Fukushima Dai-ichi macht uns bewusst, wie sehr unser technologischer Fortschritt nicht nur im physikalischen, sondern auch im übertragenen Sinne auf wahrhaft schwankendem Boden, ja über einem gähnenden Abgrund gebaut ist. Was aber macht diesen unsicheren Boden aus? Was passiert, wenn wir gewahren, dass er den eigentlichen Ort aller Technik darstellt, einschließlich der atomaren? Laut Nishitani besteht ein unauflöslicher Zusammenhang zwischen der Technik, wie sie etwa in einem Atomkraftwerk in Erscheinung tritt, und dem Wissen, das in der modernen Naturwissenschaft entsteht und tradiert wird. »Das Benutzen von Instrumenten und technisches Handeln kann nur durch das in ihnen enthaltende Wissen zustande kommen.«26 Dieses Wissen aber ist hauptsächlich eines von der Gesetzmäßigkeit der Natur: »Kennzeichnend für ihn [den Menschen, SG] ist die Technik. In seinem Verständnis der Relation zwischen einem bestimmten Zweck, der angestrebt wird, und bestimmten Mitteln, die zu seiner Verwirklichung erforderlich sind, ist die Kenntnis der Naturgesetze enthalten.«27 »Anders gesagt: Wissen macht nur durch das technische Handeln des Menschen Fortschritte und der Fortschritt des Wissens wiederum bringt die Technik hervor. Hier werden Gesetze zu gewußten Gesetzen; zu Gesetzen, die, wiewohl gewußt, in instrumentellen

25 Nishitani, Keiji: Science and Zen, in: Frederick Franck (Hg.), The Buddha Eye. An Anthology of the Kyoto School and Its Contemporaries, Bloomington: World Wisdom 2004, S. 107-135, hier S. 115. Alle Übersetzungen aus dem Englischen stammen von mir, sofern nicht anders angegeben. 26 K. Nishitani: Was ist Religion, S. 192, hier S. 150. 27 Ebd., S. 192, S.150. Hervorhebung im Original.

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Techniken gelebt und ausgeführt werden. […] Das einzige, worin ›Technik‹ sich hier von ›Instinkt‹ unterscheidet, ist, daß die Gesetze sich in Handlungen aktualisieren, indem sie durch das Medium des Wissens reflektiert werden. Und diese wissende Aktualisierung ist nichts anderes als die Technik. Hier, auf dem Feld, auf dem Wissen ineins mit dem Handeln fortschreitet, erscheinen die Naturgesetze und kommen zu ihrer eigenen Realität. Auf diesem Feld begegnet man der Herrschaft der Naturgesetze, hier erkennt man sie und nimmt sie als solche auf sich.«28

Die Technik, so kann man vielleicht sagen, bedarf eines Ortes, an dem der Mensch auf eine bestimmte Weise der Natur gegenübertritt und von ihr Wissen erlangt. Wir müssen uns der Natur gegenüber in besonderer Art positionieren, damit sie uns überhaupt als gesetzmäßig erscheinen kann, und sich dieser Erscheinung gemäß für unsere Zwecke instrumentalisieren lässt. Doch was macht diesen Ort, diese Position aus? Die Technik selber vermag uns hierauf keine Antwort zu geben. Setzt sie doch die Vorstellung einer strikten Gesetzmäßigkeit der Welt immer schon voraus. Lediglich vermag sie uns zu sagen, wie wir diese Gesetzmäßigkeit beherrschen können, um sie für menschliche Zwecke bestmöglich zu nutzen. Doch kann sie diese Gesetzmäßigkeiten weder begründen noch in Frage stellen. Sie muss davon ausgehen, dass die Natur uns immer schon gegenübertritt, als sei sie geordnet und berechenbar. Dies ist der Ursprung all ihres Wissens und Handelns, ohne von ihm selbst zu wissen oder auch nur wissen zu wollen. Auf diese Weise aber ist es ihr unmöglich, ihren Ort, ihren eigenen Voraussetzungsboden zu erklären. Dies wiederum bedeutet, dass vom Standpunkt der modernen Technik der tiefere Grund für unvorhergesehene, nicht-gesetzliche Abläufe der Natur schlicht nicht in den Blick rückt. Eine Reaktorkatastrophe wie die in Fukushima Dai-ichi bleibt, vom Boden der Technik aus betrachtet, undenkbar und damit unerkannt. »Ich habe mir keinerlei Sorgen über den Zustand des Kraftwerkes gemacht«, sagt der Reaktorinspektor TAKAHASHI Sato über den Moment, als die Erde unter ihm bereits mit immenser Kraft bebte. »Ich habe immer gedacht, dass Nuklearenergie sicher ist.« Hier deutet sich an, was der Hinweis Nishitanis, in unserem gewöhnlichen, vorwärtsstrebenden Leben bleibe das, was sich unmittelbar unter unseren Füßen befände, stets hinter uns zurück und komme nie zu Gesicht, konkret im Hinblick auf unseren Umgang mit der Technik meinen kann: Nicht nur lässt das TǀhokuErdbeben den Boden unter dem Kontrollraum von Fukushima Dai-ichi physisch auf nahezu unvorstellbare Weise erzittern. Auch erschüttert es den Voraussetzungsboden allen Wissens, über welches die Techniker in diesem Kontrollraum

28 Ebd., S. 150-151. Hervorhebung im Original.

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verfügen – und zwar so grundlegend, dass sich all seine vormals angenommene Stabilität als trügerisch und illusorisch erweist. »Angesichts dieses Abgrundes taugen die Dinge nichts mehr, die bisher die Inhalte unseres Lebens ausgemacht haben.«29 Jeglicher Boden wird dem technologisch Wissenden entrissen. »Ich konnte dies nicht mit der Realität in Übereinstimmung bringen. Ich war sprachlos, wie gelähmt«, sagt Takahashi. »Wir betraten ein Territorium, das alles überschritt, was wir jemals bedacht hatten. […] Mein Bauchgefühl sagte mir, dass unsere Möglichkeiten [auf die Katastrophe, S.G.] zu antworten sehr begrenzt sein würden«, so formuliert es der geschäftsführende Direktor des Kraftwerks KOMORI Akio. Das so gesichert erscheinende technologische Wissen, das einst Macht über die Natur zu garantieren schien, schlägt unvermittelt in ein abgründiges Nicht-Wissen um, das nichts als Angst und Leere hinterlässt. Eine Philosophie des Ortes kann sich angesichts einer solchen Krise kaum damit zufrieden geben, lediglich die Grenzen des Wissens zu eruieren, wie sie sich vom Standpunkt der Technik ergeben. Sie hat darüber hinaus zumindest den Versuch zu unternehmen, dem Denken einen neuen, weiteren Ort zu schaffen, in dem sich diese Grenzen sprengen und überwinden lassen. Sie muss probieren, das Denken seinen Ort wechseln zu lassen, damit das vormals Undenkbare, Unvorstellbare und Unfassbare ins Licht neuer Erkenntnis rücken und sich Handlungsalternativen eröffnen können. Laut Nishitani kann sich ein solcher Ortwechsel aber nur vollziehen, wenn wir nicht vorschnell nach sicherem Boden diesseits oder jenseits des Abgrundes ›unter unseren Füßen‹ suchen, sondern tatsächlich in diesen Abgrund einstehen und unser Wissen inmitten des eigenen Nicht-Wissens grundlegend vertiefen: »It is not possible to turn around in an attempt to regain affirmative attitudes towards existence. The negative direction has to run its course, to be pursued by its very limits, and then to pierce these limits, to nihilize the nihility in order to reach the point where the negative, so to speak, converges with the positive.«30

Wie aber lässt sich das technologische Wissen weiter vertiefen, bis seine eigenen Grenzen nicht nur bewusst, sondern auch überwunden werden? Wie können wir, anders gefragt, inmitten einer Katastrophe wie der von Fukushima Dai-ichi die Beschränkungen der Technik durchbrechen? Wie oben bereits angedeutet, ist für Nishitani hier zunächst der enge Zusammenhang zwischen Technik und Wissen-

29 Ebd., S. 192, S. 44. 30 F. Franck: The Buddha Eye, An Anthology of the Kyoto School and Its Contemporaries, S.108.

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schaft zu verstehen: Letztere befähigt dazu, jene (Natur)Gesetze, die das technologische Handeln voraussetzt, explizit im Medium des Wissens zu reflektieren und so ausdrücklich in den Blick zu nehmen. Doch richtet sie sich dabei ebenso wie die Technik lediglich auf die äußere Welt. Alles gerät der Wissenschaft zum bloßen Objekt; alles stellt sie vor sich hin und veräußerlicht es, um es allein mithilfe von mathematischen Formeln und experimentellen Apparaten wie durch eine Brille mit fest vorgegebenem Schliff zu betrachten. Nur aus sicherer Distanz, etwa jener des Kontrollraumes von Fukushima Dai-ichi, kann sie die Welt nach festgelegten, eindeutigen Prinzipien – vornehmlich jenen der Mathematik – betrachten: »When modern science took the natural world to be self-existing, regulated by its own laws, it did not […] exteriorize the natural world alone. Its exteriorization was also directed to the field in which such ›interior‹ things as life and mind are established. […] In its essential structure scientific knowledge harbors the certainty that its method of experimental analysis can prevail, at least in principle, throughout the whole realm of natural phenomena, and this certainty is expressed in the scientist as a personal conviction. This conviction in turn is supported by the actual accomplishments of science and by the efficacy of its methods as proved by these accomplishments – although, more fundamentally, it is thought to rest upon the certainty inherent in mathematical reasoning.«31

Gewiss fasziniert uns in unserem alltäglichen Leben dieser objektiv-distanzierte Blick der Wissenschaft. Er überzeugt uns, eben weil er jenen technologischen Zugriff auf die Welt ermöglicht, der alles und jedes auf ein bloßes Mittel für unsere eigenen Zwecke reduziert. Damit aber beurteilen wir unseren wissenschaftlichen Zugang zur Welt ausschließlich von seinem (möglichen) Ergebnis, nicht von seinen eigentlichen Gründen her. Wir glauben an ihn und seine ›Richtigkeit‹, eben weil er uns dienlich und nützlich erscheint. Genau diesen Glauben aber erschüttert eine Krise der Technik wie die von Fukushima Dai-ichi fundamental. Zuvor schien allein der technologische Erfolg und Fortschritt der Wissenschaft Recht zu geben. Nun aber bleibt dieser Erfolg aus, ja verkehrt sich in sein brutales Gegenteil. Damit erstirbt zugleich jegliche Antwort, welche die Wissenschaft auf die Frage nach dem Sinn ihrer Existenz normalerweise zu geben versucht. Nichts bleibt, nur die bittere Einsicht, wie sich die Krise allen bisher gültigen wissenschaftlichen Erklärungen und in der Folge auch jeglichem technologischen Zugriff entzieht. »Zusehen zu müssen, wie die Werte [der Strahlungsmessung] stiegen und stiegen, wäre normalerweise vollkommen un-

31 K. Nishitani: Science and Zen, S. 111.

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denkbar gewesen«, sagt Takahashi über die ersten Stunden nach der Überschwemmung von Fukushima Dai-ichi. »Wir konnten es einfach nicht bewältigen.« Allenfalls lässt sich noch schemenhaft erahnen, wie mit der Krise umzugehen sei – so etwa beim Versuch im havarierten Kraftwerk, die Reaktoren zu entlüften. Aber gibt es kein gesichertes Wissen darüber, wie sich diese Ahnungen praktisch realisieren lassen. »Sie wussten einfach nicht, wie sie es bewerkstelligen sollten.« Genauer: Es fehlt der Ort, an dem und aus dem ein solches Wissen entstehen kann. Geradezu symbolisch erscheint die Lage im Kontrollzentrum von Fukushima Dai-ichi nach dem Tǀhoku-Erdbeben: Zunächst zeigen die Messinstrumente noch jene Werte an, die für Takashi und seine Kollegen unvorstellbar erscheinen. Dann aber versagen sie ganz. Der Ort, von dem noch wenige Stunden zuvor alle Steuerung und Beherrschung der in der Kernspaltung waltenden Naturkräfte ausging, liegt nun selbst vollständig im Dunkeln. Kein Wissen geht mehr von ihm aus, keine Information dringt in ihn vor. Nichts kann er den Arbeitern mehr bieten, als einen notdürftigen physischen Schutz vor jener Strahlung, die sich ansonsten rasend schnell über den Rest der Anlage ausbreitet. Im Kontrollraum sagten die Leute: »Wir sind erledigt«. »Viele von uns wollten weglaufen, aber es gab kein Entrinnen. Wären wir geflohen, so wären wir ungeschützt der Strahlung ausgesetzt gewesen.« Was den Menschen hier widerfährt, ist nicht einfach ›nur‹ eine Naturkatastrophe. Sie sehen sich vielmehr umgeben von den Folgen ihres eigenen Handelns, die weder ihnen noch dem Rest der Menschheit mehr nutzen oder anderweitig zur Verfügung stehen, sondern tatsächlich allein noch die Frage nach der eigenen nackten Existenz aufwerfen. »The establishment of modern science, to use familiar Zen terms, spells a sort of ›destruction to the house and demolition of the hearth‹, that is, a fatal breakup of the ›nest and the cave of the spirit‹. This turn of events has to be accepted as it is. Like it or not, it is the historical ›fate‹ of man or, rather, in Heidegger’s terms, his Geschick. It is a sort of fate assaulting man as a ›fatal‹ question, so that man once more gets reduced fundamentally, in his own eyes, to a question mark. In this context, the essence of science itself constitutes a problem of a scope that goes beyond the scope of science itself. The essence of science is not ›scientific‹. The essence of science is something to be brought into question in the same realm where the essence of man becomes a question to man himself.«32

Vom bloßen Standpunkt der Wissenschaft kann, ja muss man wohl an dieser Stelle einwenden, das Sterben von Menschen sowie das anderer Lebewesen sei

32 Ebd., S.115.

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am Ende auch nichts weiter als ein materieller Prozess, der seinerseits eben doch wiederum berechnend und experimentell analysierbar sei.33 Ja selbst der qualvolle Tod durch radioaktive Strahlung müsste auf diese Weise aufzufassen sein. Doch trifft dies das eigentliche Problem nicht. Denn hier geht es keineswegs darum, erneut einen bloß äußeren Standpunkt zu begründen, von dem aus der Wissenschaftler unbeteiligt auf das Schicksal anderer Menschen schauen könnte. Es steht nicht an, hastig nach einem neuen, vermeintlich festen Standpunkt zu suchen, um von diesem wiederum nur zu betrachten, was dort drüben und damit lediglich mit anderen Menschen oder auch einer von uns getrennt gedachten Natur geschieht. Fukushima Dai-ichi lässt uns – zumal im Lichte der Philosophie Nishitanis – vielmehr gewahr werden, wie sehr etwas ganz anderes auf dem Spiel steht: die Frage nach der Wissenschaft als eines existentiellen Problems des Wissenschaftlers sowie die Menschheit insgesamt: »For a thinker who faces science existentially, i.e. who accepts it as a problem for his own existence as such, that the usual state of the universe is explained by science in terms of lifeless materiality means that the universe is a field of existential death for himself and for all mankind. It is a field in which one is obliged, to adopt another Zen term, ›to abandon oneself and throw away one’s own life‹, a field of absolute negation.«34

Gewiss vermeiden wir diese bedrohliche Fragestellung im Hinblick auf die Technik normalerweise. Dies liegt wohl nicht zuletzt daran, dass uns die Technik allgemein und speziell die Atomenergie zumeist lediglich als Mittel zum Zweck zu Bewusstsein kommt. Wir gebrauchen sie nur, weil wir etwas anderes mit ihr erlangen wollen – und sei es so etwas Abstraktes wie ›der Fortschritt‹. Doch was wir dabei übersehen, ist die Tatsache, dass ihre Erzeugung stets unmittelbar Lebenswirklichkeiten schafft: »Mittel lösen sich nicht im Zuge der Zweckrealisierung auf, um im erwünschten Resultat aufzugehen. Mittel haben ein Sein; sie existieren als Dinge neben anderen Dingen. Die Vorstellung, wir könnten durch technische Mittel in einem offenen Fortschrittsprozess unsere Bedürfnisse immer besser befriedigen, verkennt diesen Zusammenhang. Mittel – z.B. Autos, Straßen, Häuser, aber auch und vor allem Fabriken zur Güterherstellung und Energieerzeugung – warten nicht in einer logischen Sphäre darauf, menschlichen Zwecken dienlich zu sein. Mittel sind Dinge inmitten unserer Lebenswelt, und selbst rein geistige Mittel – wie das Rechnen – erobern das menschliche Denken, verdrängen andere Erleb-

33 Ebd., S.116. 34 Ebd., S.117.

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nisweisen. Um einen Zweck zu vermitteln, muss das Mittel wirksam, also wirklich werden inmitten einer fremden Wirklichkeit, muss diese verändern oder zerstören.«35

Vielleicht können wir an dieser Stelle Atomkraftwerke – ganz ähnlich wie Autobahnen, Flughäfen, Supermärkte oder Hotelketten – als Nicht-Orte im Sinne Marc Augés beschreiben; als Räume also, die nur in Bezug auf bestimmte Zwecke (Verkehr, Transit, Handel oder eben Energiegewinnung) konstituiert sind.36 »Solche ›Nicht-Orte‹ […] sind keine ›anthropologischen Orte‹, man ist nicht heimisch in ihnen, sondern es sind ›Orte des Ortlosen‹«.37 So verstanden, scheint der Aufenthalt an einem Ort der Technik bar jeden Selbstzwecks. Niemand will an einem Ort wie Fukushima Dai-ichi verweilen, sondern durchquert ihn nur oder hält sich an ihm auf, weil er eigentlich etwas ganz anderes will. »Scientist destroy the teleological image of the world, and with it the characteristic feature of that image as an environment of life.«38 Doch spätestens in der atomaren Katastrophe offenbart sich diese Haltung als illusionär: Denn auch wenn Menschen niemals an Nicht-Orten sein wollen, so verbringen sie dennoch ihr Leben an ihnen; sie werden von ihnen als Personen geprägt. Gewiss mag ihre Aufmerksamkeit nur auf den Zweck und Erfolg gerichtet sein, der sie vermeintlich nach der Durchquerung der Nicht-Orte erwartet. »Sie fragen sich immer häufiger, wohin sie gehen, weil sie immer weniger wissen, wo sie sind.«39 Doch angesichts von Fukushima Dai-ichi erübrigt sich die Frage nach dem Wohin der Technik und damit auch nach jeglichem Fortschritt: Für den Umgang mit einem havarierten Atomkraftwerk existiert kein Zweck mehr – weder außerhalb noch in ihm. Wir finden uns allein noch umgeben »von technischem […] ›Zeug‹ (Heidegger), das wir als dieses eigentlich gar nicht wollen. […] Mittel besitzen [hier] keine rein logische, sondern vor allem eine ontologische Natur.«40 Wir sind mitten in ihnen; gefangen in den Nicht-Orten der modernen Technik. Folglich kann sich unser Fragen nicht darauf konzentrieren, wozu Kraftwerke wie das in Fukushima Dai-ichi gut sind, sondern lediglich darauf, ob überhaupt

35 Brodbeck, Karl-Heinz: Zweckmäßige Täuschungen. Zur Philosophie der Katastrophe (2011). Online-Diskussionsplattform der Kueser Akademie zur Situation in und um Fukushima.http://kueser-akademie.de/index.php/m-arge/m-arge-philspiri/m-arbephilspiri-pro/122-pro-japan vom 14.1.2014, S. 2 36 Marc Augé: Nicht-Orte, München 2011. 37 Ebd., Klappentext 38 K. Nishitani: Science and Zen, S. 111. 39 M. Augé: Nicht-Orte, S. 113. 40 K.-H. Brodbeck: Zweckmäßige Täuschungen, S. 3.

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und, wenn ja, wie sie selber Orte des Lebens und Überlebens zu begründen vermögen. Wie können Wissenschaft und Technik dem Menschen unmittelbar einen (Über)Lebensraum bieten und wie können wir umgekehrt der Wissenschaft und Technik einen Raum schaffen, damit sie uns leben und überleben lassen? Dies alles sind Fragen über die ureigenen Voraussetzungen von Wissenschaft und Technik, die sich nicht mehr mit deren eigenen Mitteln auflösen lassen. Keine Formel der Welt, kein einziges (Mess)Instrument kann den Ingenieuren im Kontrollraum von Fukushima Dai-ichi helfen, sich ihrer verzweifelten Lage inmitten eines beispiellosen Versagens der Technik zu stellen. »The real issue at stake […] is whether or not one has pursued the consequences resulting from the establishment of modern science uncompromisingly to the end, whether or not one has dared to penetrate to the dimension where the question of the essence of science can be posed – the dimension where science is no longer scientific. The problem here is one of philosophical conscience inquiring existentially and essentially into what science 41

is.«

Spätestens wenn die Technik nicht mehr dem Menschen dienlich ist, sondern ihn bedroht, dann ist nach dem Ort zu fragen, an dem beide tatsächlich gemeinsam existieren können. Ich möchte dieser Frage weiter nachgehen, indem ich einen Ortswechsel des Denkens vollziehe und mich ein wenig von der japanischen Philosophie ab- und der Betrachtung des Holzschnittes »Der Zeichner des liegenden Weibes« von Albrecht Dürer aus dem sechzehnten Jahrhundert zuwende (vgl. Abbildung 1). Auch wenn dieser Holzschnitt vordergründig nur die Einführung der Zentralperspektive als neue Form streng wissenschaftlichen Sehens skizziert, so scheint er mir dennoch als Metapher geeignet, um unsere Frage nach dem Ort von Wissenschaft und Technik weiter zu vertiefen.42

41 K. Nishitani: Science and Zen, S. 116. 42 Silja Graupe: Der kühle Gleichmut des Ökonomen. In: Andreas Fischer/Bettina Zurstrassen (Hg.): Sozioökonomische Bildung. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2014 (in Erscheinung).

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Abbildung 1: Albrecht Dürer: Der Zeichner des liegenden Weibes

Albrecht Dürer. Der Zeichner des liegenden Weibes, 7,6 x 21,2 cm. Erstveröffentlicht posthum in der 2. Auflage von ders.: Unterweisung der Messung mit dem Zirkel und Richtscheit, Nürnberg 1538; in: Gesammelte Werke, Wien 1928.

Betrachten wir Dürers Werk zunächst ein wenig genauer. Wie und auf welche Weise kann und darf der Zeichner (rechts im Bild) sein Gegenüber, die liegende Frau in erotischer Pose, wahrnehmen? Was muss er tun, um sie objektiv im Sinne der mathematischen Prinzipien der Zentralperspektive zu erfassen? In welche Form wissenschaftlicher Praxis muss er sich einüben? Zunächst macht Dürers Werk auf Folgendes aufmerksam: Der Zeichner tritt buchstäblich aus dem Geschehen heraus, um es von außen darzustellen. Er ist nicht mehr Teil der Welt, die er analysiert, verweilt nicht in ihr, sondern blickt aus der Distanz auf sie. Dabei bestimmt nicht er die Art seines Blickes, sondern eine feststehende Apparatur, eine Technik des Sehens. Zwischen ihn und die Frau treten mathematisch formulierbare Regeln der Abbildung, welche die Erfahrungswelten beider Seiten strikt voneinander trennen, in eine Seite des Subjekts und eine des Objekts. Zunächst scheint es, als würde eine solche Abbildungspraxis dem Zeichner recht wenig abverlangen, kommt es doch kaum auf dessen individuelle Fähigkeiten und Kenntnisse an. Weder benötigt er ein spezifisches noch gar ein lebendiges Wissen von der Frau, die vor ihm liegt. Keineswegs muss er sein Leben mit ihr geteilt oder gestaltet haben, um das ihr Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Lediglich braucht er einer bestimmten technischen Anleitung des Sehens zu folgen, die sich auf rein kognitive sowie wenige motorische Fähigkeiten beschränkt: Er muss seinen Blick auf einen winzigen Spalt verengen (in der Abbildung repräsentiert durch den Peilstab vor dem Gesicht des Mannes), um durch diesen einäugig und unbewegt bloße Linien und Umrisse zu registrieren. Dieser mathematisch korrekte Blick verlangt ihm so wenig ab, dass er, wie Hegel in einem allgemeineren Zusammenhang bemerkt, »davon wegtreten und an

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seine Stelle die Maschine treten lassen kann.«43 Im Grunde ist es vollkommen gleichgültig, wer genau Welt und Mensch beobachtet. Die Richtigkeit der Wahrnehmung hat nichts mit der spezifischen Person des Beobachters und dessen individuellem Erfahrungs- und Wissenskontext zu tun. Sie bemisst sich allein an einer allgemeinen (allen-gemeinen) Fähigkeit mathematisch-korrekter Linienführung, welche auch ein Fotoapparat übernehmen könnte. Zugleich ist es ebenfalls unerheblich, wer oder was eigentlich abgebildet wird: An die Stelle der liegenden Frau in erotischer Pose könnte auch ein Hase oder ein Stein treten. Die Prinzipien der Abbildung blieben die gleichen. Doch Dürers Werk verweist auch darauf, wie diese Art der Austauschbarkeit dem Beobachter in Wahrheit sehr viel abverlangt. Denn er muss bereit sein, als Mensch immer weniger zu werden. Will er fähig sein, einäugig und unbewegt bloße Umrisse wahrzunehmen und auf Papier zu bannen, muss er zuvor alle anderen individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten preisgegeben haben, ja zu einer nahezu vollständigen Selbstaufgabe bereit sein: Nicht nur darf er sich als reiner Beobachter nicht mehr bewegen; auch darf er nichts riechen, schmecken, tasten, hören, fühlen oder sprechen. Seinen mathematisch genauen Blick dürfen keine Emotionen trüben, kein Erleben von Gemeinschaft stören. Ja, er darf in keinster Weise als lebendiger Mensch in Beziehung zu der Frau treten, die ihm gegenüber liegt. Eher muss er sich nahezu vollständig entleiblichen und zur reinen res cogitans im Sinne Descartes' werden. Er hat sich als bloß denkende Substanz zu begreifen, die keinerlei Attribut der Körperlichkeit mehr ihr Eigen nennt – abgesehen von der Fähigkeit zu zeichnen. Zugleich muss er lernen, in der Frau nur noch Materie zu erkennen, sie rein mathematisch als bloße (geometrische) Ausdehnung, als res extensa (ebenfalls im cartesianischen Sinne) aufzufassen. Er muss ihre Person dergestalt zum Verschwinden bringen, dass diese gleichsam in ihrer eigenen Welt hinter dem Raster gefangen bleibt. »Je mehr sich der Geist an die Härte und Präzision des geometrischen Denkens gewöhnt, desto weniger wird er die bewegliche, veränderliche, qualitativ bestimmbare Vielfalt des Seins erfassen können.«44 Mir geht es hier nicht um eine umfassende Interpretation von Dürers Holzschnitt. Vielmehr plädiere ich dafür, wie bereits angedeutet, ihn als Metapher zu verwenden, um dem basho des modernen Wissenschaftlers weiter auf die Spur zu kommen: Auch die Ingenieure im Kontrollraum von Fukushima Dai-ichi fin-

43 Brodbeck, Karl-Heinz: Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie, Darmstadt 1999, S. 224-225. 44 Koyré, Alexandre: Galilei. Die Anfänge der neuzeitlichen Wissenschaft, Berlin 1988, S. 47.

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den sich am 11. März 2011 getrennt von der Wirklichkeit vor. Auch ihnen erlaubt die Technik nur einen ganz bestimmten und damit stark eingeschränkten Blick auf die Prozesse nuklearer Spaltung; ein Blick, der mit ihnen als Individuen ebenso wenig zu tun hat wie die Zentralperspektive mit dem Zeichner in Dürers Werk. Nur was nach mathematischen Prinzipien erfassbar ist, kann zu ihnen vordringen. Und mehr noch: Was ihnen als ›Wirklichkeit‹ gegenübertritt und damit als manipulier- und beherrschbare Realität gilt, entpuppt sich bei genauem Hinsehen immer schon als eine zugerichtete, eine abstrakte Welt. Die Frau in Dürers Holzschnitt ist bereits ihrer Alltäglichkeit entrissen und in ein experimentelles Umfeld gebracht worden, das ihr vorschreibt, wie sie sich zu verhalten hat. Ganz ähnlich ergeht es uns im Hinblick auf die atomare Technik: Auch hier setzt jegliche Erfassung, Kontrolle und Beherrschbarkeit der Natur voraus, dass wir sie zuvor experimentell auf dasjenige beschränken konnten, was sich von ihr wissenschaftlich erfassen und übermitteln lässt.45 Strenggenommen treten wir in der modernen Technik und Wissenschaft niemals der Natur selber gegenüber, sondern immer nur einem, manipulierten und auf bestimmte Phänomene zurechtgestutzten Abbild oder Ausschnitt von ihr. Dies aber reduziert nicht nur unsere Wahrnehmung der Welt auf einen winzigen Ausschnitt, sondern lässt uns auch als Menschen degenerieren. »Bei der Ausführung von Experimenten geht es […] um die Abspaltung seiner [des Subjekts, SG] körperlich und empfindenden Individualität, die eben im Akt der objektiven Erkenntnis nichts zu suchen hat. Das wiederum setzt ein Subjekt voraus, das sich in dieser Weise spalten lässt und bei dem der nach der Abspaltung allein übriggebliebene Verstand … nichts Besonderes oder Individuelles mehr enthalten darf.«46 »Nishitani says that the problem is that to become a subject vis-à-vis objects is no less demeaning of the true self and in fact ends up putting the self on the same substantialized ground as the objects it apparently lords over and therefore closes itself off to its true nature.«47

Kehren wir zur konkreten Frage nach dem eigentlichen Ort der Wissenschaft und unserer Existenz als Wissenschaftler angesichts der nuklearen Katastrophe in Fukushima Dai-ichi zurück. Was Nishitani mit der totalen »Vernichtung des

45 Daston, Lorraine/Galison, Peter: Objektivität, Frankfurt am Main 2007. 46 Ortlieb, Claus Peter: Bewusstlose Objektivität. Aspekte einer Kritik der mathematischen Wissenschaft, in: Hamburger Beiträge zur Modellierung und Simulation, 9 (1998), S. 16. 47 J. Heisig: Philosophers of Nothingness, S. 231.

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Hauses und der Zerstörung des Herdes« meint, wird aus meiner Sicht mit Hilfe des Werkes von Dürer eindrücklich deutlich: Dürers Zeichner benötigt zur wissenschaftlichen, distanziert-objektiven Erfassung seines Gegenübers das ruhige Umfeld seiner Studierstube hoch über den eigentlichen Geschehnissen der Welt. Ebenso bedarf unser technisierter, auf unsere eigenen Zwecke gerichteter Umgang mit der Natur ebenfalls eines Ortes, der natürliche Prozesse aus der Lebenswelt isoliert (in Form von Reaktionen, Kühlsystemen und dergleichen) und damit zugleich für diese Prozesse und die Menschen, die sie zu beherrschen versuchen, eine neuen Aufenthaltsort schafft. Und genau letzteren Ort finden wir in der nuklearen Katastrophe zerstört: Das gesamte Gebäude der Wissenschaft und Technik stürzt ein und reißt damit beide zugleich in den Abgrund: das wissenschaftliche Selbst und jene manipulierte Natur, die ihm in Experiment und Technik gegenübertritt. In der plötzlichen Dunkelheit des Kontrollraumes von Fukushima Dai-ichi gibt es nichts mehr zu messen und nichts mehr zu beobachten. Folglich bedarf es auch keines wissenschaftlichen Beobachters mehr. Nichts mehr mag dieser zu erkennen, nichts mehr zu verstehen, nichts mehr zu tun. Von seinem Standpunkt muss es tatsächlich so scheinen, als wäre die Welt einem »unsichtbaren Feind« überantwortet, wie es der japanische Premierminister Kan formuliert. Und so gerät, ja muss unsere wissenschaftliche Existenz, in der wir alle unsere Fähigkeiten auf die distanziert-objektive Wahrnehmung der Welt reduziert haben, in jene existentielle Krise geraten, von der Nishitani spricht: »The end of the world is an actuality here and now; it is a fact and a destiny at work directly underfoot. […] The state of Hiroshima immediately after the fall of the atomic bomb, for instance, gives us a glimpse of that hidden scientific actuality openly manifesting itself as an actuality in the human realm. […] The very procedure of stepping out onto the field of the scientific world view is here transferred into the decision to accept the universe with its feature of bottomless death as the place for abandoning oneself and throwing away one’s own life.«48

»Es ist kein Ort für Menschen mehr«, so beschreibt ein Mitarbeiter den Zustand im havarierten Fukushima Dai-ichi. »Ich denke, ich wäre unfähig gewesen, in die Reaktoren hinein zu gehen.« Doch endet unsere von der japanischen Philosophie inspirierte Suche nach dem basho der Technik keineswegs in diesem Schrecken. Zwar steht es uns nicht offen, diesen Schrecken kunstvoll zu umgehen oder hastig zu überdecken. Doch können wir in ihn gleichsam nochmals tiefer und eindringlicher einstehen.

48 K. Nishitani: Science and Zen, S. 117-119.

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»The scientific mode of thought that lies at the core of nihilism must be made to face and break through its own limitations. If the scientific standpoint were lived to the full, Nishitani suggests, as a total and exclusive way of being in the world, it would soon enough run up against the fundamental questions of human existence before which its powers would collapse. At this point, it must not turn back but cast itself into the dark night of its own irrelevance in order to resurrect in another, more self-conscious form.«49

Folgen wir diesem Gedankengang, so soll sich inmitten der Dunkelheit und Verzweiflung einer zerstörten und zerstörerischen Technik und Wissenschaft ein tieferer oder weiterer Ort öffnen, in dem nicht nur beide wiederbelebt, sondern auch wir selbst unsere Existenz als distanziert-objektive Beobachter und nutzenzentrierte Alltagsmenschen hin zu einer vollkommen anderen Seinsweise durchbrechen können. »The sword that kills is here at the same time a sword that gives life.«50 Doch wie soll dies möglich sein? Es scheint mir hier nochmals ein längerer Exkurs in die japanische Technikphilosophie angebracht, um dieser Frage nachzugehen. »Der technologische Standpunkt basiert seinerseits auf einer Perspektive, aus der alles als physikalische Energie oder Kraft gedeutet werden kann. Wer ein Wasserkraftwerk konstruiert, dem bedeutet Wasser Wasserkraft, elektrische Kraft und die Quelle von elektrischer Kraft.«51

Und so auch im Falle der Atomkraft: Vom Standpunkt der Technik scheint uns alles an ihr, angefangen beim Uran bis hin zur Auslegung der Kühlung, allein eine Frage von Energie und Energiemengen, die es bestmöglich zu nutzen gilt. Doch auf diese Weise, so Nishitani, verschließen wir uns gänzlich anderen Perspektiven. So könnten wir im Wasser etwa auch jenes Wasser sehen, »das wir trinken und mit dem wir uns waschen, oder das Wasser, das der Teemeister kostet, oder jenes Wasser, das den Dichter inspiriert«.52 Hier wiederum lässt sich eine durchaus »›religiöse‹ Auffassung von Wasser« vertreten, die besagt, dass in all diesen Fällen offenbar wird, dass Mensch und Natur sich nicht einfach nur

49 J. Heisig: Philosophers of Nothingness, S. 239. 50 K. Nishitani: Science and Zen, S. 120. 51 Nishitani, Keiji: Modernisierung und Tradition in Japan, in: K. Werhahn-Mees, C. von Barloewen (Hg.), Japan und der Westen, Band 1, Frankfurt/Main 1986, S. 183204, hier S.188. 52 Ebd.

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gegenüberstehen, sondern auf tiefe Weise miteinander verbunden sind, ja mitund auseinander hervorgehen. »Der Mensch kann ohne Wasser nicht leben. Das Wasser ist die Grundlage des menschlichen Seins. Das Sein des Wassers wie auch das Sein des Menschen ist ›von Natur aus‹ durch die Natur [ihr ursprüngliches So-Sein, SG] bestimmt und in dieser Naturordnung [dem Ort ihres So-Seins] sind beide unauflösbar miteinander verbunden. Daher kann der Mensch, wenn er sein eigenes Sein wahrhaft begreift, auch nicht einen Tropfen Wasser mehr unbedacht verwenden – vielmehr wird er sich ganz natürlich bemühen, das Wasser mit der größten Umsicht zu benutzen.«53

Hier erscheint, kurz gesagt, die Natur nicht mehr allein als Umwelt, sondern als Mitwelt: Wir gelangen an einen Punkt, an dem wir nicht nur erkennen, sondern erfahren, wie uns die Natur unmittelbar selbst angeht, eben weil unser Leben gleichursprünglich und unauslöschlich mit ihr verwoben ist: Was wir ihr antun, tun wir uns immer selber an – und umgekehrt. »Wenn wir dagegen Wasser, Wind oder Feuer als Kräfte verstehen, als Wasserkraft oder als die Kraft des Feuers – wenn wir alles als physikalische Kraft begreifen, dann nehmen wir eine grundlegend andere Haltung ein. In diesem Falle wird jedes ›Ding‹ durch Abstraktion seines Seins beraubt und letztlich auf Energiemengen reduziert.«54 »Nun könnte man meinen, die Subjektivität werde von der Reduktion auf Kraft und Energie nicht betroffen, weil der Mensch diese Kraft einsetze und steure. Dies ist jedoch nicht der Standpunkt des Subjektes. Weil dem Menschen in dieser Position nicht nur alle ›Dinge‹, sondern auch die anderen Menschen als mechanisch manipulierbar und steuerbar gelten, mangelt es hier an jeglichem Widerstand, an jeglichem ›Gegenüber‹. […] Wir haben es hier mit einem Standpunkt zu tun, der dem Ich eine ganz außergewöhnliche Macht einräumt, denn letztlich ist hier nicht mehr anzutreffen, was ihm auch nur den leisesten Widerstand entgegensetzte. In einer Welt, in der alles auf Kraft und Energie reduziert ist, steht grundsätzlich alles zur freien Verfügung und kann nach Belieben manipuliert werden. Wir haben hier in gewissem Sinne den Standpunkt eines Subjektes vor uns, das den Höhepunkt seiner Entwicklung erreicht hat. Doch im selben Zuge verliert Subjektivität jegliche Bedeutung und der Mensch wird enthumanisiert. […] Die Souveränität des Menschen ist nicht mehr als die Kraft, welche die Welt der Kräfte lenkt. Sie wird zu einer mechanischen Kraft, die mechanische Abläufe steuert. Wenn alles in Es verwandelt wird und die Dinge sich zur freien Verfügung und Manipulation anbieten, dann entgleitet die Sub-

53 Ebd., S. 189. 54 Ebd., S. 190.

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jektivität dem zum Maschinisten verkommenen Menschen. Unter dem Einfluß der Technologie läuft also auch das Selbstbewußtsein des Subjekts Gefahr, nach und nach zu verfallen.«55

In den Ruinen des havarierten Atomkraftwerkes lassen sich die Prozesse der Kernspaltung gerade nicht mehr auf Energiemengen reduzieren, die dem Menschen zur Verfügung stünden. Vielmehr erweisen sie sich unmittelbar als unerträgliche Hitze und lebensbedrohende Strahlung, die unser Dasein als Menschen direkt berühren und bedrohen. Ebenso wie der Zeichner in Dürers Werk – ganz gleich ob in Liebe oder Abneigung – außerhalb des ›Hauses der Wissenschaft‹ dem liegenden Weib tatsächlich als Frau und damit als einem Du begegnen könnte oder gar müsste, so sehen sich die Techniker angesichts der Katastrophe in Fukushima gezwungen, ihren vermeintlich sicheren Kontrollraum zu verlassen und sowohl den Naturgewalten des Tsunamis als auch den Gewalten, die sich aus den Folgen ihres eigenen technischen Handeln ergeben, unmittelbar als solchen, d.h. in ihre ureigentlichen Stärke zu begegnen. »Hier ist die Welt weder die mechanistische Welt der modernen Naturwissenschaft noch die teleologische der alten Metaphysik; sie ist vielmehr, jenseits all solcher Bestimmungen, die oben genannte Welt des Ur-Faktums, in der alle ›facta‹ ungründig in ihrem je eignen Grund sind und sich, jenseits alles Wodurch, Warum und Wozu realisieren; eine Welt, in der alle Dinge in Wahrheit, ›so, wie sie sind‹, ›Gleichnis ihrer selbst‹ (d.h. im wahren Sinne selbstidentisch) sind und mir zugleich in diesem Gleichnischarakter begegnen können.«56

Dieser neue Ort der Begegnung nun erweist sich, zumindest für Nishitani, als »nichts anderes als das Feld der Neugeburt des Selbst, wo Himmel und Erde neu werden im Großen Tod.«57 Gewiss ist hier keine Befreiung etwa vom Tod im physischen Sinne gemeint. Dieses oder ähnliches zu behaupten, wäre angesichts der tatsächlichen Situation in Fukushima mehr als zynisch. Eher geht es, wie es James Heisig formuliert, »sich selber von allen Vorurteilen und aller Voreingenommenheit zu befreien, die man sich selber und der Welt gegenüber eingenommen hat58«, so dass wir auf gänzlich neue und vormals unbekannte Weise schöpferisch tätig werden können. »Das jinenhǀni [der von-selbst sich zeigende

55 Ebd., S. 194-195. 56 K. Nishitani: Was ist Religion, S. 192, S. 423-424. 57 Ebd., S. 424. 58 J. Heisig: Philosophers of Nothingness, S. 232.

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ursprüngliche Vollzug, SG] muß schöpferisch sein. Wir selbst sind tätig als schöpferische Elemente der schöpferischen Welt und als Selbstbestimmung der absoluten Gegenwart.«59 Was dies konkret meinen kann, offenbaren meines Erachtens die Ereignisse im havarierten Atomkraftwerk eindrucksvoll. Zeigt der lebensgefährliche Einsatz der dort verbleibenden Ingenieure, Arbeiter, Feuerwehrleute und Soldaten doch, dass wir Menschen sehr wohl unseren selbstbezogenen, egoistischen Standpunkt durchbrechen und zu einer Existenz jenseits des distanziert-kühlen Wissenschaftlers gleichsam erwachen können; eine Existenz, in der wir nicht mehr aus der sicheren Distanz und auf abstrakte, vorbestimmte Weise, sondern unmittelbar unsere Mitwelt berühren und aus diesem Kontakt ebenso verändert hervorgehen wie die Welt auch. »Wir haben es getan«, sagt YAMAOKA Yoshiyaki, einer der Piloten, die unter Einsatz ihres Lebens in einer zuvor nie vollzogenen oder auch nur annähernd geplanten Aktion Wasser auf die siedenden Reaktoren schütten und dafür ihre Helikopter durch die radioaktiven Wolken über dem Kraftwerk fliegen. »Wir haben es getan, wir haben es für alle Menschen getan.« »An jenem Morgen, bevor ich die Maschine startete, sagt Yamaoka weiter, habe ich meine Frau angerufen.« Sie sagte: »Wenn es jemand tun muss, dann geh und tue dein bestes. Ich bete für Dich.« »Die große Weisheit geht hervor aus dem großen Mitleid und der großen Liebe. Ohne Mitleid und ohne Liebe ist sie eigensüchtig und eigenwillig und nicht mehr als ein logisches Spiel. Die Wahrheit liegt dort, wo wir in eins mit den Dingen denken und sehen. Barmherzigkeit und Freundschaft (jihi) bedeuten, daß wir selbst radikal diesen Standpunkt eingehen.«60

»Only a sense of responsibility that issues naturally from a deep awareness of the utter contingency of life on the one hand and the openness of the future on the other is the proper foundation for human action.«61 Menschen arbeiten unmittelbar in und an den havarierten Reaktoren – ein von Hand geöffnetes Ventil, ein Wasserstrahl, der auf die glühenden Brennstäbe gerichtet wird, die Suche nach einem Leck im Strahl einer einzigen Taschenlampe. Hier, in der äußersten Not und angesichts des Todes verlieren sie ihre Angst und ihre Ohnmacht, in der sie wenige Momente zuvor noch gefangen waren und begegnen den Problemen unmittelbar und direkt – nicht nur als rationale, sondern auch als fühlende und mitfühlende Wesen. Ihre Individualität ist hier nicht mehr allein durch technisches

59 K. Nishida: Logik des Ortes, S. 261. 60 Ebd., S. 267. 61 J. Heisig: Philosophers of Nothingness, S. 236.

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und austauschbares Wissen geprägt. Was sich in ihnen gleich einer natürlichen Quelle Bahn bricht, sind – inmitten eines situativen Handelns, das zugleich auch geschichtliche Gestaltungstätigkeit ist – Verantwortung für sich selbst und andere, Nächstenliebe, Hoffnung und das untrügliche Gespür, jenseits aller rationalen Erklärungen das Richtige in und für diesen Moment zu tun. Nishida fasst diesen basho als radikale Alltäglichkeit auf: »Es handelt sich um eine ganzheitliche Aktivität, Schritt für Schritt in jedem Blutstropfen konkret und irdisch. Das unterscheidende Wissen zu durchbrechen bedeutet nicht, ein bloß unterscheidungsloses Wissen zu erlangen. Es meint vielmehr, daß wir selbst wahrhaft zu Nichts werden, wie Dǀgen sagt: ›Den Weg des Buddha zu lernen bedeutet, sich selbst zu lernen, sich selbst zu lernen heißt, sich selbst vergessen, sich selbst vergessen bedeutet, alles Seiende zu erweisen.‹ Selbst wenn man die naturwissenschaftliche Wahrheit radikalisiert [vertieft, SG] gelangt man zu nichts anderem. Ich nenne dies: In eins mit den Dingen schauen, in eins mit den Dingen hören. Das Dogma des abstrakten Ich ist zu negieren und das gegenständlich verstandene Ich abzuschneiden.«62

In der radikalen Alltäglichkeit »werden alle Standpunkte negiert und zugleich entstehen sie alle von hier aus; es handelt sich um den Standpunk ohne Standpunkt. Darüber hinaus erscheint hier die große Weisheit und die überragende Übung.«63 Eine solche Alltäglichkeit wird weder durch Technik noch durch Wissenschaft hervorgebracht; kein abstraktes Wissen kann sie fassen. Vielmehr erweist sie sich umgekehrt als eigentlicher und ursprünglicher Ort aller Wissenschaft und Technik, als deren Voraussetzung, nicht aber deren Ergebnis. Erst auf ihrem schöpferischen Boden können wir hoffen, das zerstörte ›Haus der Wissenschaft‹ in technologischen Krisen wie der von Fukushima, ja das Haus der Menschheit insgesamt (wieder) zu errichten. Ohne das radikal gegenwärtige Tun der Menschen in Fukushima Dai-ichi wären heute zumindest weite Teile Japans mit großer Wahrscheinlichkeit unbewohnbar, insbesondere der Großraum Tokio. »Naturwissenschaftliche Erkenntnisse entstehen nicht nur durch das abstrakte Bewusstseins-ich, sondern vielmehr durch das Selbstgewahren des leiblichen Selbst.«64 Das aber heißt auch, dass unsere hoch-technisierte Welt auf Bedingungen ruht, die sie selber weder schaffen noch verstehen kann. »Auch die Akti-

62 K. Nishida: Logik des Ortes, S. 249. Hervorhebung im Original. 63 Ebd., S. 275. 64 Ebd., S. 244.

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vität unseres Denkens geht daraus hervor. Selbst unser abstraktes Denken ist eigentlich hierin fundiert.«65 »Lange wurden wir von einem unsichtbaren Feind bedrängt und getrieben«, sagt der japanische Premierminister Kan. »Aber schlussendlich war das System wieder in Ordnung und die Wende begann.« Dies klingt so, als gäbe es aus der Katastrophe von Fukushima über den eigentlichen basho der Technik nichts dauerhaft zu lernen. Es scheint, als könnten wir nun wieder in unser nutzenorientiertes Leben zurückfallen und uns auf die Position des distanziert-kühlen Beobachters zurückziehen. Ganz so, wie wir es auch bei anderen Katastrophen tun. Oder sind wir etwa bereit, anlässlich der immer häufiger auftretenden Fluten in Deutschland mehr als nur kurzfristig über die aufkeimende Hilfsbereitschaft und die erstaunlichen Leistungen und Fähigkeiten der betroffenen Menschen zu staunen und ihrem eigentlichen Quell wirklich auf den Grund zu gehen? Doch aus dem bis hier Gesagten sollte deutlich geworden sein, dass eine solche allenfalls aufflackernde Erkenntnis keineswegs den Ansprüchen genügt, die eine Philosophie des Ortes im Lichte von Nishitanis Werk erhebt. Vielmehr wäre weiterhin zu fragen, wie wir diesen Quell dauerhaft nähren und pflegen können – auch und gerade ohne den Zwang von Katastrophen, d.h. in und aus freier Einsicht und Willen.

A USBLICK Mir steht hier nicht genügend Platz zur Verfügung, um tiefergehend dieser Frage nachzugehen. Stattdessen möchte ich meine Ausführungen mit einen paar zusammenfassenden Bemerkungen zur japanischen Philosophie des Ortes beschließen. Hierfür wende ich mich nochmals Nishida Kitarǀ zu, genauer seiner Logik des Ortes (basho no ronri), in der er systematisch aufzuzeigen versucht, wie wir ›das Licht auf das unter unserem eigenen Fuße Befindliche‹ scheinen lassen können – auch, aber keinesfalls nur im Hinblick auf die Technik.66 Grundsätzlich lädt uns Nishidas Logik des Ortes ein, nach dem zu fragen, das eine bestimmte Wissensform voraussetzt, ohne sie umgekehrt selber erläutern und begründen zu können. Hierfür führt sie uns zunächst an die Grenze dieser Form heran, um an dieser Stelle ein fundamentales, mit Unsicherheit und Angst behaf-

65 Ebd., S. 250. 66 Vgl. hier besonders Nishidas Aufsatz »Ort« aus dem Jahre 1926 und seine Beitrag »Ortlogik und religiöse Weltanschauung«, den er kurz vor seinem Tod 1945 fertigstellte. Übersetzungen beider Werke finden sich in Nishida, Logik des Ortes (1999).

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tetes Nicht-Wissen aufzuspüren, das uns dazu drängt, unser vormalig als gesichert geltendes Wissensterritorium zu verlassen. Sodann lädt sie ein, den Sprung in einen, wenn auch nicht gänzlich unbekannten, so doch vormals unbewussten und unreflektierten Bereich der Erkenntnis zu vollziehen. Systematisch lässt Nishida diesen Erkenntnisweg bei jenem Wissen beginnen, das wir gewöhnlich als objektiv und empirisch bezeichnen und das Nishida unter anderem als gegenständliche Logik bezeichnet. Dieses Wissen stößt, so Nishida, bei genauerem Hinsehen an seine eigenen Grenzen, insofern es eine bestimmte Struktur des subjektiven Bewusstseins voraussetzt, ohne sie doch selber erfassen zu können: Solange wir wie Dürers Zeichner nur damit beschäftigt sind, Dinge und Wesen nach mathematischen Prinzipien abzubilden, können wir weder sagen, warum wir dies tun, noch unsere eigene Rolle in diesem Abbildungsprozess klären. Im metaphorischen Sinne bleibt das eigene, sehende Auge im Akt der Beobachtung unerkannt und damit zugleich auch jegliche Form der Subjektivität, weshalb Nishida diese »Ort des relativen Nichts« nennt: Vom Standpunkt der Gegenstandslogik, welche die Aufmerksamkeit stets nur nach außen richtet, müssen wir selber als nicht existent erscheinen. »So, Nishida maintains, the field or place of empirical judgments is really within the encompassing field of judgments about self-consciousness. Empiricism is actually dependent on, stands within, a field of judgments about self. Since empirical judgments, as empirical judgments, ignore the being of the self, treat it as a nothing, this encompassing basho can be called the basho of relative nothingness. The self is, relative to empirical statements, treated as a nothing. Of course, from the standpoint of the basho of relative nothingness, however, the self is very much something, the very thing empiricism assumes yet ignores.«67

Doch auch wenn die empirische Wissenschaft nichts davon wissen will: Selbstverständlich verfügen wir über die Fähigkeit, uns selber als (wissenschaftliche oder alltägliche) Beobachter in den Blick zu nehmen und die Grundlagen unserer objektiven Erkenntnis zu reflektieren. Wir können, wie es Dürer tut, eine Gesamtperspektive einnehmen, aus der uns die Begrenzungen unseres bloß rationalen, manipulierenden und steuernden Wesens (schmerzlich) bewusst werden. Wir sind, anders gesagt, fähig, uns im Akt der Beobachtung über uns selbst bewusst zu werden. Doch damit nicht genug. Auf was es Nishida weiterhin ankommt, ist, gleichsam nochmals unterhalb eines solchen selbst-reflexiven, aber gleichsam noch statischen Wissens einen Ort der Erkenntnis aufzuzeigen, in dem

67 R. Carter: The Nothingness beyond God, S. XV.

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wir die Einschränkungen unseres bloß rationalen Zugriffs auf die Welt nicht nur bedauernd zur Kenntnis nehmen, sondern ihn und damit uns selber aktiv verändern lernen. Hierfür vollzieht Nishida in seiner Logik des Ortes einen noch weiteren oder tieferen Sprung hin zu einem Ort des absoluten Nichts, wie er ihn nennt, der gleichsam jeder Subjekt-Objekt-Spaltung und damit jeglicher Trennung und Gegenüberstellung von erkannter Welt und erkennendem Subjekt vorausliegt und von dort aus zugleich deren Bedingungen aufsprengt. »Absolut bedeutet gemäß der chinesischen Schriftzeichen (zettai): jegliches Gegenüberstehen (tai) zerbrechen (zessuru).«68 Es ist, als würde uns Nishida jene Tür aufstoßen wollen, durch die wir den Elfenbeinturm der modernen Wissenschaft mitsamt ihren zahllosen Experimentierstuben nicht nur verlassen, sondern auch auf gänzlich andere, unmittelbare und schöpferische Weise mit allen Dingen und Lebewesen der Welt außerhalb und damit zugleich am Grunde dieses Turms in Kontakt treten können. Seine Logik des Ortes lädt uns ein, hinauszutreten in eine durch und durch »tätige Welt der Individuen, die Welt des persönlichen Ich, das vom Geschaffenen zum Schaffenden übergeht.«69 »On a model of concentric circles, Nishida takes a series of steps that lead from the imperial I, standing in judgment over the phenomenal world of form and matter, to an I humbled by reflection on its own workings and the limitations of language, to an I disillusioned with its own subjectivity by awakening to itself as the object of the things it knows, to a true I aware of itself as an instance of the self-awareness of reality: to an absolute nothingness manifest in the immediate experience of the world as it is. The world is affirmed radically only when it is located against [or in, SG] this final background.«70

Abschließend sei nochmals darauf verwiesen, dass es im Licht der japanischen Philosophie nicht allein darum geht, von dieser Form der Selbsterkenntnis zu wissen, sondern sie tätig zu vollziehen – ein jeder am und im Abgrund seiner eigenen Existenz. Wie ich eingangs sagte, zeigt die japanische Philosophie des Ortes eher Übungswege auf, denn dass sie gesicherte Erkenntnisse vermitteln wollte. »Versteht man sie gegenstandslogisch, so scheint sie alle Unterscheidungen zu verwischen. Demjenigen aber, der sie erlebt, ist sie wohl eine selbstevidente Tatsache. Abstrakt-logisches Denken steht hier nur im Weg.«71 In einem letzten

68 K. Nishida: Logik des Ortes, S. 225. 69 Ebd., S. 232. 70 J. Heisig: Philosophers of Nothingness, S. 74. 71 K. Nishida: Logik des Ortes, S. 233.

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Bild gesprochen, kann es also nicht das Anliegen einer japanisch inspirierten Ortphilosophie sein, den »Ort des absoluten Nichts« einfach nur so frisch wie möglich zu exponieren, wie man frische Fische im Fachgeschäft oder im Laboratorium vorlegt.72 Vielmehr gilt: »Der [radikal] alltägliche Geist ist der Weg.«73 »Bei Nishida […] muß man ins Meer hineinspringen, schwimmt selbst mit den Fischen zusammen und erlebt, was eine ursprüngliche Wesenheit von ihm und Fischen ist.«74 Dieses Wagnis sollten wir bereit sein, einzugehen und einzuüben, wollen wir uns mit Orten im japanischen Sinne beschäftigen – nicht nur, aber gerade auch angesichts der lebensbedrohenden Krisen unserer Zeit.

72 Hashi, Hisaki: Die Aktualität der Philosophie. Grundriß des Denkweges der KyotoSchule, Wien 1999, S. 37. 73 K. Nishida: Logik des Ortes, S. 276. 74 H. Hashi: Die Aktualität der Philosophie, S. 37.

Afropolitans All? The Rediscovery of Place in a Mobile World Literature K ERSTIN S CHMIDT What distinguishes this [Afropolitan] lot and its like (in the West and at home) is a willingness to complicate Africa. Taiye Selasi: “Bye-bye Barbar”1

B Y W AY OF I NTRODUCTION : A FROPOLITANS A NCIENT T RAVELERS

AND

In the recent past, the writer Taiye Selasi has received much critical recognition for introducing the term ‘Afropolitan’ to designate a new generation of emigrants from various parts of the African diaspora. The essay titled “Bye-Bye Barbar” proposed ‘Afropolitan’ for consideration in the debate on this new group of writers and intellectuals from the Black diaspora whose work and personal life-styles display a pronounced sense of cosmopolitanism; or, to put if differently, whose writing betrays a strong feeling of being “at home in the world”, to echo the title of Timothy Brennan's epochal study.2 Selasi, whose first novel Ghana Must Go (2013) was highly praised by literary critics and a wide readership alike, expanded in this theoretical piece on contemporary conditions of lives in exile and the topic of writing those lives with a notable emphasis on the conceptions of places of home and abroad.3 Selasi herself was born in London and raised in Massachusetts, her family coming from a Nigerian and Ghanaian back-

1

Selasi, Taiye: Bye-bye Barbar, LIP Magazine March 3, 2005. Thelip.robertsharp.

2

Brennan, Timothy: At Home in the World: Cosmopolitanism Now, Cambridge 1997.

3

Selasi, Taiye: Ghana Must Go, New York 2013.

co.uk, 20.01.2014.

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ground. Selasi's family trajectory is similar to the circuitous paths of her literary figures that are sent reeling into the world in different directions. In her essay, Selasi talks about the conditions of life of many contemporary writers and intellectuals as well as other highly educated people of African origin, who feel at home in the many nooks and crannies of the Western world while neither forgetting nor denying nor nurturing strong reservations or delusive nostalgia for Africa. The new type of emigrants can no longer answer the typical question: "where are you from?" by identifying just one, or two, particular places. Afropolitans are rather recognized by their often exuberant mix of various places, broad and versatile experience, and multiple affiliations: “They (read: we) are Afropolitans – the newest generation of African emigrants, coming soon or collected already at a law firm/chem lab/jazz lounger near you. You'll know us by our funny blend of London fashion, New York jargon, African ethics, and academic successes. Some of us are ethnic mixes, e.g. Ghanaian and Canadian, Nigerian and Swiss; others merely cultural mutts […]. There is at least one place on the African continent to which we tie our sense of self: be it a nation-state (Ethiopia), a city (Ibadan), or an auntie's kitchen. Then there's a G8 city or two (or three) that we know like the backs of our hands […]. We are Afropolitans: not citizens, but Africans of the world.”4

Selasi's crucial distinction between citizens of the world and “Africans of the world” nicely expresses the notable anchoring in a particular place, be it a country or a place such as “auntie's kitchen”, that marks this contemporary notion of citizenship. A cosmopolitan existence, which is, of course, contingent on the type of passport and a profound secondary education often gained at AngloAmerican colleges and universities, allows this new generation of African emigrants to be at home in the world while at the same time feeling distinct and deep attachments to one or more localities. And yet, Selasi's characterization of ‘Afropolitans’ resonates as a veritable championing of cosmopolitan life-styles that runs the danger of ignoring the masses of people of African descent or Africans that cannot travel freely and lack the opportunity of combining “New York jargon” and “London fashion” with African sensibility. Too many emigrants cannot feel at home in the world and do not know the various airports of urban centers of the West as the palms of

4

T. Selasi: Bye-bye Barbar.

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their hands. Her description sounds cool, almost blatantly so, and, as she readily admits in her essay, a bit too "self-congratulatory". Note the beginning of her essay: “It's moments to midnight on Thursday night at Medicine Bar in London. Zak, boy-genius DJ, is spinning a Fela Kuti mix. The little downstairs dancefloor swells with smiling, sweating men and women fusing hip-hop dance moves with a funky sort of djembe. […] London meets Lagos meets Durban meets Dakar.”5

While she convincingly establishes a new type of emigrant existence that combines cosmopolitanism with a sensitivity to places, she arguably focuses a bit too much on transnational lives, on the notion of fusing and meeting while downplaying somewhat the crucial role that particular places continue to play for those in danger of being “lost in transnation”. She mentions concrete places, e.g. Lagos, Durban, or Dakar, but the gist of her argument is transnational fusion rather than particular place-sensitivity. Granted that the essay shows awareness of the pitfalls of exuberantly praising transnational living conditions. Those are, more often than not, accompanied by a simplification of Africa as a mere foil of faint and elusive memories in absence of profound knowledge of the actual places. Selasi rightfully warns against the dangers of reifying Africa as a monolithic entity in discourses of Black diaspora. On the contrary, she urgently calls for a ‘complication’ of Africa but does not seem to put sufficient stress on gathering encompassing and deep experiences of African places. While Selasi presents a modern story when she talks about contemporary patterns of home and abroad, of travel and emigration, let me, as a second part of my introduction to this essay, expatiate on an old story of diasporic mobility that evokes ideas of ancient tribal existence. Generations of writers in exile have been desperately looking for a place beyond, as well as before, the extensive traveling that defines so much of modernity. But the crucial question is, of course, whether a true place of origin, untainted by travels and migratory tribulations, exists and where it can be found. The US-based Indian novelist Amitav Ghosh thematizes issues of traveling, globalization, and potential places of origin in the anecdotal short story called “The Imam and the Indian”. In this story, an Indian traveler comes to that most quiet and remote corner of the Nile delta and expects a most ancient and settled kind of people in that old soil which stands, in so many ways, for the beginning of Western civilization. In other words, Ghosh's traveler expects to find a ‘place’ in the truest sense of the word, a

5

Ibid.

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true beginning, untainted by the traces of modern mobility. But to his utter surprise, this is what he sees: “The men of the village had all the busy restlessness of airline passengers in a transit lounge. Many of them had worked and travelled in the sheikhdoms of the Persian Gulf, others had been in Libya and Jordan and Syria, some had been to the Yemen as soldiers, others to Saudi Arabia as pilgrims, a few had visited Europe: some of them had passports so thick they opened out like ink-blackened concertinas. And none of this was new: their grandparents and ancestors and relatives had travelled and migrated too, in much the same way as mine had, in the Indian subcontinent.”6

Ghosh's story raises many questions; above all, it questions many long-held and cherished assumptions: Is there a “point of rest”, a location to go back to in order to find a place of origin? From where does one start the diverse migrations? Is there a beginning, is there a place uninformed by the extensive traveling that we tend to identify with modern 'transnational' life-styles? And if so, where are these places of beginning, so needed to make identity statements, but also to form categories and labels for the respective life stories? Or, have we always, from the beginning, been ‘cosmospolitans’, at home in the world, as Ghosh's story suggests? Selasi's contemporary Afropolitans of postmodern culture and Ghosh's ancient travelers informed by tribal life-styles sketch the outlines of a new and burgeoning field of diasporic literature. This field takes its cue from the influential concept of the so-called Black Atlantic. But, as I argue, it significantly changes the Black Atlantic's treatment of place as a major category in diasporic writing and redresses some of its conceptual imbalances. As Black Atlantic writing is predicated on mobility and ideas of time-space compression, it has, more often than not, been called “global” literature as well. I will argue that this field of writing, to be sketched in a moment, is in dire need of rethinking, particularly in need of a fresh theoretical conceptualization. Eventually, I would propose to explore to what degree it could possibly prefigure new forms of that old concept called world literature, a concept that has regained so much prominence in comparative literature studies in recent years.

6

Ghosh, Amitav: The Imam and the Indian: Prose Pieces, Delhi 2002, p. 5.

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P LACE

The year 1993 marks the publication of Paul Gilroy’s path-breaking study The Black Atlantic: Modernity and Double Consciousness.7 This book develops in great, and persuasive, depth the idea of the so-called Black Atlantic: Going back to the triangular slave trade, the Black Atlantic can, according to Gilroy, no longer be seen as a violent rupture, robbing millions of Africans of history, culture, and identity – and of freedom. The Black Atlantic, to the contrary, has to be seen as a shared space of influence, much more connected in myriad ways than rigidly separated into Africa and the Americas by an unbridgeable gap of the vast ocean. For African-American culture and Caribbean cultures of African descent, this concept has had a lasting influence and far-reaching consequences. It has, also in more general terms, continued to shape what came to be known as Diaspora Studies and Black diasporic literatures. It has played an important role in transnational migrations, particularly when earlier nationalist models such as Négritude, Garveyism, Pan-Africanism, or Afrocentrism had failed. Gilroy’s figuration of the Black Atlantic was hence welcomed as a promising new perspective on a heavily contested issue. His focus on hybridity and decentralization as well as his conceptualization of continuously shifting identities liberated approaches to the Black Atlantic from the earlier obsession with symbolic return and the straitjacket of definitive cultural, religious, or national ascriptions. Gilroy’s theory strengthened the role of the Atlantic as a space ‘inbetween’, a meeting point and fluid contact zone. In the recent past, however, a number of scholars – Yogita Goyal prominently among them8 – have reviewed Gilroy’s classic rather critically. One of many points of critique focuses on the treatment of space and place. Gilroy presupposes a concept of heterotopian spatiality (modeled on Foucault) that prefers space over place and notions of the global over the local. In this sense, it hinges on a pronounced sense of cultural mobility that scholars such as Stephen Greenblatt have viewed as synonymous with contemporary culture.9 The view that cultures are hardly stable or fixed is of special relevance for diasporic cultures, as more

7

Gilroy, Paul: The Black Atlantic: Modernity and Double Consciousness,

8

Goyal, Yogita: Theorizing Africa in Black Diaspora Studies: Caryl Phillips’ Crossing

9

See Foucault, Michel: Of Other Spaces. Diacritics 16.1 (Spring 1986), pp. 22-27;

Cambridge 1993. the River. Diaspora, 12:1 (2003), pp. 5-38. Greenblatt, Stephen: Cultural Mobility: An Introduction. Cultural Mobility: A Manifesto, Cambridge 2010, pp. 1-23.

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recent work by Gilroy corroborates.10 But this focus on the power of emigration, wandering, contamination, and (post)colonial restlessness tends to obscure the importance of place in narratives of the Black Atlantic. It potentially disregards the experience of those left behind in a particular place, or of those unable or unwilling to become ‘mobile’. It also tends to ignore many examples from literary theory and practice that display a renewed interest in place, at times an almost blatant insistence on rootedness and locality precisely in the age of ‘cultural mobility’. I would like to look at Black diasporic writing that critically engages with the concept of the Black Atlantic and its treatment of place/space and instead develops a different idea of diasporic migration, away from the notion of a westward journey from one place to another to the experience of multiple locations and crisscrossing trajectories. Writers in this tradition emphasize the ‘relations’ – to use the French Caribbean writer Édouard Glissant's term – between figures, places, experiences, and feelings, as their characters frequently come back to socalled “points of entanglement” in their routes.11 Their objective is not necessarily to find roots, but to create them in the sense of a ‘skein’ of networks that stresses the slippages, displacements, and discrepancies of diasporic constellations and shows the ‘relative’ nature of the diasporic experience that informs these characters' lives. This rewriting focuses on concrete places as points of entanglement that characterize Black Atlantic lives. I will look at the ways in which these fictions abstain from re-creating a homeland as a dehistoricized static image in an essentialist, one-directional way, but instead find a way of ‘dwelling on’ these places and the concomitant life experiences by carefully historicizing and explaining them, or, put differently: bringing them close by granting them a sense of agency. I will investigate in how far representations of the Black Atlantic world and the history of slavery can be seen in terms of movements among single diasporas, as, for instance, of Caribbean communities to the Americas as well as to Europe, but also to Asia and Africa so that concepts of the Atlantic world have to be recast and expanded to include what Earl Lewis has called “overlapping dias-

10 See for example Gilroy’s 2007 collaborative project Port City: On Mobility and Exchange. 11 Glissant, Éduard: Poetics of Relation, Ann Arbor 1997.

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poras”.12 Since it is important to look at these interrelated and overlapping movements and their points of entanglement, I would like to study how a model of ‘relation’ based on Édouard Glissant's theory is better equipped to capture and express contemporary patterns of migration and experiences of diasporic lives than traditional concepts of the Black Atlantic. It is, again, a routine to invoke diaspora as a syncretized configuration of cultural identity: shifting, flexible, and invariably anti-essentialist. This notion pointedly revises an earlier definition of diaspora structured by a teleology of origin, scattering, and return. While these older conceptions of diaspora posited an organic link to the homeland, and imagined both symbolic and actual returns to the homeland, the new one focuses on displacement itself, maintaining that the lack of mooring in national or racial certitudes generates anti-essentialist attitudes. Theorists of diaspora contend that nationalist discourses (such as Négritude and Afrocentrism) failed to combat racist binaries of good and evil, strict oppositions between different skin colors – they merely inverted the categories. By placing great value on hybridity, these thinkers often claim that their work transcends such binaries.13 In the essay “Cruciality and the Frog's Perspective”, Paul Gilroy argues that the “essentially symbolic” value of the term diaspora lies in its emphasis on “the fact that there can be no pure, uncontaminated or essential blackness anchored in an unsullied originary moment”.14 At the heart of the Black Atlantic, Gilroy writes, is the “desire to transcend both the structures of the nation state and con-

12 Lewis, Earl: To Turn as on a Pivot: Writing African Americans into a History of Overlapping Diasporas. The American Historical Review, 100:3 (June 1995), pp. 765787. 13 I am thinking here of theorists such as James Clifford, Kobena Mercer, Stuart Hall, Homi Bhabha, Pico Iyer, and Arjun Appadurai; all of them deal, in different and interesting ways, with questions of diaspora, travel, or migration but with a strong emphasis on spatiality at the expense of the place-world. Pico Iyer, for instance, even talks about “global souls” in a recent TV series and in a book by the same title. See Iyer, Pico: The Global Soul: Jet Lag, Shopping Malls, and the Search for Home, New York 2001; “The Global Soul: Searching for a Home and Self in a Fast-Moving World.” “Voices”-Series. University of California, Santa Barbara. University of California Television. www.youtube.com/watch?v=0bmq6M9yh_g, 31.01.2014. 14 Gilroy, Paul: Cruciality and the Frog’s Perspective: An Agenda of Difficulties for the Black Arts Movement in Britain, in: James Proctor (ed.) Writing Black Britain 19481998: An Interdisciplinary Anthology, Manchester 2000, p. 309.

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straints of ethnicity and national particularity”15 in favor of a “more difficult option: the theorization of creolization, métissage, mestizaje, and hybridity”.16 Gilroy's definition is thus closely linked to the concept of hybridity, as both connote an anti-essentialist, split, or agonistic subjectivity. In his view, hybridity enables cultures to avoid replicating the binary categories of the past and to develop new models of cultural exchange by resisting the notion of pure, homogeneous cultures. I would argue that, while such refusal of essentialist binaries is necessary, this model of diaspora can easily lead to a reification of the homeland, presenting a dehistoricized account of the relation between homeland and diaspora. It can immobilize the homeland, relegate it to the position of a mere foil for projections, of an empty screen. There is little regard for African realities, for African places, in much of diasporic writing. On closer scrutiny, novels hailed as masterworks of the diasporic imagination, such as Caryl Phillips's acclaimed Crossing the River (1993), fall prey to this, as Yogita Goyal has shown in her reading of Phillips' novel.17 Caryl Phillips, often called “the bard of the African diaspora”18, the “chronicler of the dispossessed”, or simply a “citizen of the world”19, shows in his fictional narratives a strong preference for mapping the multiple geographies privileged by diaspora studies over the local imagination of places. As Gilroy, Phillips seems to search for a politics “against race”, believing in non-racial, hybrid routes of diaspora beyond the color line.20

15 P. Gilroy: Black Atlantic, p. 19. 16 Ibid., p. 2. 17 Y. Goyal: Theorizing Africa in Black Diaspora Studies. 18 Jaggi, Maya: Rites of Passage, in: Renée Schatteman (ed.) Conversations of Caryl Phillips, Jackson (MS) 2009, p. 77. 19 Dogar, Rana: A Citizen of the World: Caryl Phillips Talks about Race, Class, and Home. Newsweek, 10 May 1999, p. 63. 20 I am alluding here to Gilroy’s recent book titled Against Race: Imagining Political Culture Beyond the Color Line, Harvard University Press, Cambridge 2002. Let me also remind us that the history of African-American literature abounds with similar examples; in the spirit of Pan-Africanism, especially during the Harlem Renaissance, numerous Black American writers, politicians, and intellectuals made the journey back to their supposed homeland, often with the single objective to find cultural and historical roots as well as a viable sense of self, and less to get to know contemporary Africans and gain knowledge of African countries.

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While I share the antipathy to cultural nationalist binaries of master and slave, I would argue for a more historically sensitive approach to diaspora, which I see in Glissant's writing. His poetic approach to issues of mobility and stasis, to space and place, enables reciprocal conversations between homelands and diaspora, thus re-orienting current models of transnational dialogue. In other words, what is at issue is finding ‘room’ for the so-called places of origin and relating the different and, to evoke once again Earl Lewis's phrase, “overlapping diasporas”.21 In Caribbean Discourse, Glissant offers a framework that avoids positing diaspora either as a mythic or actual return to a homeland or an endless scattering that marginalizes that homeland. He argues that populations such as those of the Caribbean are formed by processes of uprooting (déracinement), inaugurated by the slave trade which leads to specific cultural politics of reclamation. To thwart forms of false consciousness or nostalgia, Glissant now proposes two forms of remembrance that are complex and heterogeneous: reversion, retour, and diversion, detour.22 Instead of linear trajectories of exile and return, he traces the circuitous path of multiple reversions and diversions instead of focusing on narrow direct oppositions. Rather, Glissant insists on the interdependence between the two seemingly contradictory movements: “We must return to the point from which we started. Diversion is not a useful ploy unless it is nourished by reversion: not a return to the longing for origins, to some immutable state of Being, but a return to the point of entanglement [point d'intrication], from which we were forcefully turned away.”23

Glissant's categories, above all, are compelling because of their subtleness and sensitivity to the complex and complicated processes of diasporic uprootings and the intricate trajectories of exile. Both movements are necessary for Glissant, while one may be more productive than the other at different times. This also means that diaspora and nation-state are not necessarily mutually exclusive; the nation-state functions as a site for creolization and hybridity. Rootless structures of creolization thus entangle with rooted structures of the nation-state; they are mutually constitutive.

21 E. Lewis: To Turn as on a Pivot: Writing African Americans into a History of Overlapping Diasporas. The American Historical Review, 100:3 (June 1995), pp. 765-787. 22 Glissant, Éduard: Caribbean Discourse: Selected Essays, Charlottesville 1999, pp. 1425; Y. Goyal: Theorizing African in Black Diaspora Studies, pp. 24-29. 23 É. Glissant: Caribbean Discourse, p. 26.

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Later in his career, Glissant noticed more global implications connected to his theories of reversion and diversion. By the same token, he feared that this theory would turn into another monolithic idea. In what he called a “poetics of relating”, he suggested an even more opaque and amalgamated circularity resulting in a complex texture of mutual influences and exchanges between places. In Poetics of Relation, he contrasts “root identity” with “relation-identity”. The latter, for him, comprises the following aspects: • • • •

is linked not to a creation of the world but to the conscious and contradictory experience of contacts among cultures; is produced in the chaotic network of Relation and not in the hidden violence of filiation; does not devise any legitimacy as its guarantee of entitlement, but circulates, newly extended; does not think of a land as a territory from which to project toward other territories but as a place where one gives-on-and-with rather than grasps.24

The focus on place is noticeable throughout in Glissant's writing in terms of a strong emphasis on the concrete places of experience that have to be seen in relation to each other. In other words, it is not just the routes and seemingly uninhibited mobility that are valued in contemporary diasporic writing, but the roots as well. Places of experience need renewed agency, but this agency needs to be thought at the same time as a skein of networks, and not in a nostalgic sense of essentialist recovery. The category of place has been subdued in much theoretical discourse and in novelistic writing from the Black Atlantic. Edward Casey, rightfully, reclaims its most substantial importance: “To be at all – to exist in any way – is to be somewhere, and to be somewhere is to be in some kind of place. Place is as requisite as the air we breathe, the ground on which we stand, the bodies we have. We are surrounded by places. We walk over and through them. We live in places, relate to others in them, die in them. Nothing we do is unplaced. How could it be otherwise? How could we fail to recognize this primal fact?”25

Theorizations need to go back to place, to recover the submerged category, if they want to capture contemporary diasporic writing, as place is crucial in much of the writing. Writers such as M.G. Vassanji – whose work I will discuss below

24 É. Glissant: Poetics of Relation, p. 144. 25 Casey, Edward: The Fate of Place: A Philosophical History, Berkeley 1997, p. ix.

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– focus on decidedly local experiences and tell us about lives that take place in a place, and not so much in space. In many ways, these writers seem to answer to Edward Casey's concern: “Where have all the places gone?” Supposedly, places have been replaced by the preoccupation with space, seen as placeless and unbound, as floating. Casey is the first to point out the dominance of space over place when he writes that places have been “submerged in space”.26 A renewed focus on place is definitely strong in new black diasporic writing, as I argue, and can be theorized by resorting to Glissant's poetics of relation and Casey's work on the continuing importance of place.27

M. G. V ASSANJI : T HE V ISCERAL R ESPONSE

TO

P LACE

As a “South Asian African North American” writer, Vassanji is one of several authors of the new South Asian diaspora who stress the relations among different diasporas in the Caribbean, North America as well as Europe, but also Asia and Africa. His work breaks open established notions of Black diasporic writing and the Black Atlantic. In terms of its depiction of travel and migration, Vassanji's writing is among those calling for a different concept of diaspora and a reconfigured sense of migration and homeland. Vassanji is an interesting case for many reasons, but, to start with, his own biographical journey is defined by many routes and roots: He was born in Nairobi, Kenya, in 1950, into a family of South Asian descent. He was brought up in Dar es Salaam, Tanzania, and went to the United States in 1970 to study physics at MIT. In 1978, he received a PhD in nuclear physics from the University of Pennsylvania, emigrated to Canada afterwards and has been going back and forth since then. He became affiliated with Atomic Energy of Canada and with the University of Toronto, where he worked as a research associate and lecturer in physics from 1980 to 1989 and published widely. In 1982, he founded and edited the Toronto South Asian Review (TSAR), which became the Toronto Review of Contemporary Writing Abroad in 1993 – a name change that is telling in itself.28

26 E. Casey: The Fate of Place, p. 197. 27 Casey, Edward: Getting Back into Place: Towards a Renewed Understanding of the Place-World (2nd ed.), Bloomington 2009. 28 Vassanji, M.G.: “Am I a Canadian Writer?”, Canadian Literature 190 (Autumn 2006), pp. 7-13.

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M.G. Vassanji begins his novel Amriika (1999) with a short prologue in which he writes about the “Beginnings” of his people. He tries to imagine a starting point for the continuous migrations of his people as well as for his novel. The prologue tells the story of the protagonist's grandmother's traveling, in search for the West: “My people sought it first in Africa, an ocean away, where they settled more than a hundred years ago. But in time this west moved further, and became – America; or, as Grandma said it: Amriika.” 29

The novel that follows, however, rewrites the experience of diasporic migration, reverses the dominant idea of the westward journey by locating the “West” in Africa. For South Asians, this is a perfectly fine geographical assertion. But for the larger part of diasporic writing, this geographical outline offers a novel perspective as it pays tribute to the often forgotten migration pattern from India to Africa. Vassanji takes great care to develop the relations between characters, places, experiences, and feelings; the difference in pronunciation, Grandma's “Amriika”, is one of many indications. The slight differences, at times just linguistic slippages, play a huge role in the drawing of his fictional characters. Vassanji's fiction avoids creating supposed points of origin in essentialist, onedirectional ways, but he tells his stories so specifically, detailing the minutiae of diasporic lives and their historical contexts that the reader, too, is compelled to dwell on the single constellations, experiences, and situations. Vassanji manages to bring these settings and feelings close by leaving ample fictional space for their specific, often geographically and culturally diverse, localities. “Ultimately, I see myself as everything that's gone into me – Africa, India, Britain, America, Canada, Hinduism, Islam”, writes Vassanji, as his characters experience life in the suburbs of Toronto, in Indian expatriate communities of Kenya, in drought-stricken Gujarat as well as in the small-town Midwest of the United States. In his literary discussion of roots and routes, Vassanji also strengthens the idea of place when he has the narrator of the novel No New Land (1991) say: “We are but creatures of our origins, and however stalwartly we march forward, paving new roads, seeking new worlds, the ghosts from our pasts stand not far behind and are not

29 M.G. Vassanji: Amriika, Toronto 1999, p. 3.

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easily shaken off. An account of Nurdin Lalani's predicaments must therefore go back in time and begin at a different place.”30

The notion of both travel and rootedness informs his work. “Wanderlust”, he says, “is part of my heritage, as is the quest for home”.31 And the idea of home entails a place-based, local imagination, as he points out in an interview with Susan Fisher on “History, Memory, and Home”: “I realized that my tradition was very local – it was made up of very local Indian traditions and stories that come from a particular region”.32 Vassanji is usually regarded a writer of South Asian origin. Asked about this, though, he points out that racial configurations in North America are very different from where he comes from. He explains: “Blackness means something special. Because of that, a person who is black but who has never been to Africa in three hundred years is suddenly more African than I am.” In the same interview, he is asked about the African qualities in his work. In response, he points out numerous affective aspects that tie him to the place of his upbringing: “I come from there, I have vivid memories of there, I have a visceral response to the sounds of Africa; I speak the language of there. I am drawn to write about it because I know the place. I care about what happens there. I have Swahili rhythms in my language. I feel instinctively that the way I speak my Indian language is not the same way it is spoken in Gujarat. Whether there's an Africanness to my work, or Canadianness or Indianness, and what percentage, or whether it's Hindu or Muslim, or Shiah or Sunni, or Tanzanian or Kenyan, I leave for the academic census-takers to determine.”33

For Vassanji, the feeling of being at home in a given place is thus connected to the following affective aspects of bodily responses: visceral response, sound, indepth knowledge of place, rhythm, the differences in language practice, and a particular feeling of caring for the place. His tradition and imagination are decidedly local – even though he writes about such different contexts and parts of the world as India, Africa, and North America. And he reminds us, too, that Africa is not just “black”, when he writes

30 M.G. Vassanji: No New Land, Toronto 1991, p. 9. 31 Cited in Ball, John Clement: Moyez Vassanji, in: Christian Riegel (ed.), Twenty-FirstCentury Canadian Writers, Detroit 2007, p. 260. 32 Fisher, Susan: History, Memory, Home: An Exchange with Moyez Vassanji, Canadian Literature 190 (Autumn 2006), p. 51 33 S. Fisher: History, Memory, Home, p. 51.

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about its often forgotten “brown” population. Local knowledge is a prerequisite for understanding. This comes up in various ways in his fiction. His 1991 book Uhuru Street makes a street the organizing site for a social portrait of an ethnicminority group in the cosmopolitan city of Dar es Salaam. The book highlights the street's and the city's worldly orientation by focusing on a very concrete place that is in itself cosmopolitan and defined by various relations among its inhabitants. To understand the place, Vassanji points out, it is important to know that Africa's east coast was over the centuries visited by Arabs, Indians, and Europeans, both travelers and merchants, also slave traders, missionaries, and colonizers. In The Gunny Sack (1989), an episodic epic covering a hundred years of the history of the Indian community in East Africa, Vassanji's narrator Salim sits in a North American hotel room and writes the story of his complex origins and inheritances, prompted in a Scheherazadic manner by objects he pulls from a gunnysack that belonged to his recently deceased great-aunt. Those objects trigger manifold memories and provoke reflection. They make him think about his actual relationships in North America and evoke incidents in the past and often in far-away places. There are also numerous correspondences in the novel, as, for instance, between Salim and his brother Sona, who is in the US researching a scholarly history of East Africa's Indian community. Thus, the narration weaves in epistemological and moral doubts about the truths told by narrative history, depending on positionality and point of reflection. I should add that this novel won the African regional Commonwealth Writers' Prize for Best First Book and established Vassanji as an “African” writer. The critic Peter Nazareth considered the work “the first Tanzan/Asian novel” by, it needs to be stressed, a writer with a Canadian passport.34 Much of the novel The Assassin's Song (2007) takes place in India – and was written at a time when Vassanji himself hadn't visited the place much. It is about a prodigal son, Karsan, who is the heir to Pirbaag. Pirbaag is the place of the shrine of a mysterious, medieval sufi, the “Wanderer”, and the novel tells the story of Karsan's family and the Shrine that is destroyed in the course of religious riots. Karsan's tale opens in the 1960s: he is next in line after his father to assume lordship of the Shrine of the Wanderer, but adamantly refuses to take over the task. He chooses self-imposed exile from his family, country, and tradition. This narrative is interwoven with the story of the centuries-old violent rift between Hindus and Muslims that still plagues India, for instance, in the horrific

34 Nazareth, Peter: The First Tanzan/Asian Novel. Research in African Literatures 21 (Winter 1990), pp. 129-133.

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real-life communal killings that shook the state of Gujarat in 2002. Karsan finally leaves Pirbaag; in a letter, he renounces succession to the status of gardi-varas. He wants to be “ordinary” and, in hindsight, wonders what that could be in the first place. He banishes himself from home but feels he has to come back after the riots.35 And coming back, he wonders: “Do we always end up where we belong? Do I belong here?” But there is a difference when he comes back: “I have concluded that it is time to make every little item that has survived from the library open to the world. There will be no more secrets in Pirbaag.”36 “I am the caretaker of Pirbaag”, he says, and no longer God. Those in need will get help. And when he does that: “part of me detaches and stands away, observing. Asking, Are you real? The answer is not simple.” He comes back to the place, but with a difference that reflects his personality and experiences in other places of the world. In other words, the novel expresses a certain distance that is, according to Glissant, so necessary for a poetics of relation. The question is how Karsan relates to the place, with its history and context. And only in relation does he find a viable sense of self and belonging. The place of Pirbaag, by the way, is quite particular: The Shrine of the Wanderer does not preach any one religion, but reflects a history of syncretism. As long as people knew how to tolerate that, life remained peaceful. Only when the relative nature gets lost, violence breaks out. Vassanji stresses both reversion and diversion and carefully delineates the manifold and complex relations between them. Karsan eventually creates his roots as well as his routes, but not in a mono-directional sense. In this novel, it is particularly important to explain the historical constellation of religious syncretism in order to understand Karsan's reasoning and feeling. Most importantly, the figure of Wanderer in The Assassin's Song is not presented as a foil triggering certain responses in the protagonist; in the novel, he has a life of his own. The narrative structure places the experiences of both figures side-by-side, without neglecting the links that are there and that are actively established in the narrative. This may also apply to Vassanji himself. In A Place Within: Rediscovering India (2008), a travelogue, he asks on the first page: “What was India to me?”37, adding that: “I must put this in the past, because by now I have returned many times and my relationship to the country has evolved.” At first, India was “essentially my own creation, what I put of myself in it.”38 “There were always stories

35 M.G. Vassanji: The Assassin’s Song. New York 2007, p. 223. 36 M.G. Vassanji: The Assassin’s Song, p. 314 37 Vassanji, M.G.: A Place Within: Rediscovering India, Toronto 2008, p. ix. 38 Ibid., pp. ix-x.

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about India”39, by family and relatives, but also the “ancestral, mythic memory of India”.40 What determines his relationship to India is the individual stories of overlapping diasporas, community and identity formations. Reading Gandhi, for instance, much later while in Cambridge, Mass., he finds: “Gandhi brought India even closer: he had lived many years in South Africa, and he had given an opinion regarding the so-called Indian Question in East Africa; and he was a Gujarati, from the same city, as I was to discover, as my maternal grandmother.”41

So what connects the stories of Gandhi and Vassanji are their parallel, in some way: shared experiences: Gandhi must have felt a similar strangeness in India that Vassanji experiences so many years later. The shared experience and the analogous geographical journeys, i.e. coming from the same places, work as connectors. The relation to India and East Africa determines the views, a shared structure of feeling perhaps. On his first tour in the streets of Delhi, Vassanji is surprised to understand the most vulgar verbal abuse of a youth by an angry man: the Kutchi he spoke was similar to the one spoken in Dar es Salaam where Vassanji grew up. He finds diverse relations in terms of the speech patterns of India which, in turn, affect his whole being and establish a 'felt connection' to the place: “[…] but above all, it [India] spoke to me; I found myself responding to it, it mattered to me. It was as if a part of me which had lain dormant all the while had awakened and reclaimed me.”42

B Y W AY OF C ONCLUSION : “T HE T ROUBLE WITH T EA ”, A FFECTIVE M EMORY , AND P LACES OF W ORLD L ITERATURE In the short story “The Trouble with Tea”, Vassanji takes great pains to detail the routine of going to morning mosque in Toronto at an early hour, about four or five o'clock in the morning. This time is spent in silence and often in the dark in

39 Ibid., p. x. 40 Ibid., p. xi. 41 Ibid., p. xiii. 42 Ibid., p. xvii.

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the mosque; every visitor, however, who comes to pray is served a cup of tea to begin morning devotions: “It was, he thought – this early, four-in-the-morning cup of tea, strong, creamy, sweet – the best you could find. The miracle was, it was the same everywhere, in Dar es Salaam, in Vancouver, and here on Dundas Street, Toronto; what's more, this soothing morning cup had been the same from as far back in his life as he could remember, even in its temperature. It scalded the tongue if you took a large sip right away, but even then not too severely. Taken in small sips at the right pace, it was pleasantly hot in the mouth and refreshing to the mind.”43

It is a single cup of tea that connects, for the protagonist of Vassanji's story, the different places that he has been living in, from early childhood to the contemporary life in different places of exile. The relation is affective, relates to the feeling of the temperature on the tongue, the slight physical injury that too greedy drinking may provoke, and the pleasant and soothing experience for body and the mind if consumed at the right pace. The protagonist calls the experience a “miracle” as it links so strikingly different places as Dar es Salaam and Toronto in the profusion of rich, creamy tea at morning mosque. He, too, is alert to the diasporic manifestations involved in this experience of Glissantian relation: “It was as if the formula, passed on for generations, had now spread to the four corners of the earth, and here he was, in one such corner, a yellow oil-painted room in a converted supermarket at Dundas and Bloor, partaking of the rich potion in the company of two other devotees before he went into the dark prayer hall for meditation.”44

The place for prayer in Toronto, a converted supermarket in the center of the Western city, may differ starkly from the places of prayer of his childhood. But the taste of tea and the concrete locality trigger a series of instant memories, connecting far-apart places – the “four corners of the earth” – that may have been important to his life. These places, however, are not mere foils to project a sense of time-space compression, but they are carefully presented, in detail, making them quite particular experiences in the here and now. The sense of ritual and communion is underscored by the silent presence of other believers, purportedly sharing the same experience. In the story, the morning cup of tea also

43 Vassanji, M.G.: The Trouble with Tea. When She Was Queen, Toronto 2005, p. 188. 44 M.G. Vassanji: The Trouble with Tea, p. 188.

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serves as a relay station triggering a long meditation on wisdom, revelation, and memories of stories of ancient Gujarat. To conclude, let me resort to Taiye Selasi's concept of Afropolitans with which I began this essay. Vassanji's fiction focuses on a variety of contemporary diasporic narratives, showing the characters' many diverse navigations between continents and cultures. At first sight, it would be an ideal candidate for the label “Afropolitan”, even if Vassanji continually goes beyond the “African cosmopolitan” and fictionally explodes these categories and borders. Another option would be to call his writing “global” and, in this sense, evoke the ghosts of the old concept of “Weltliteratur”. Recent years have seen a revived and marked interest in this idea, as the impressive work by critics such as Franco Moretti, David Damrosch, Joseph Tabbi, and several others can readily show. Moretti, for one, speaks about the “modern epic” as epitomizing world literature, thus he talks about a monumental sense of world literature, the isolated phenomenon of a single, as Fredric Jameson adds: sacred, text. Tabbi, in a different vein, connects world literature to the potential of electronic writing.45 For my purposes, Damrosch's approach is most important. Damrosch sees world literature as resolving into a “variety of worlds”, thus establishing variability as key to the concept.46 For him, the three defining conceptions classics, masterpieces, and “windows to the world” designate world literature. They are, however, not mutually exclusive, but in most cases, all three conceptions work together in different ways. Perhaps most importantly, Damrosch alerts us to the changes that works of art necessarily undergo when moved from one context to the next: “Works of world literature can very well be understood as windows on the world, so long as we understand that they serve as windows on two worlds at once: the world beyond us, and our own world as well”.47 As processes of reception leave their imprint on a given work, a nuanced, context-based, and decidedly local approach seems in place, as even cosmopolitanism cannot do without local anchoring: “No one actually is or ever can be a cosmopolitan in the sense of belonging nowhere. […] The interest of the term cosmopolitanism is located, then, not in its full theoretical extension,

45 Moretti, Franco: Modern Epic: The World-System from Goethe to García Márquez, London 1996; Tabbi, Joseph: Electronic Literature as World Literature; or, The Universality of Writing under Constraint, Poetics Today 31:1 (Spring), 2010, pp. 17-50. 46 Damrosch, David: What is World Literature? World Literature Today 77:1 (2003), pp. 9. 47 D. Damrosch: What is World Literature? p. 14.

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where it becomes a paranoid fantasy of ubiquity and omniscience, but, rather (paradoxically) in its local applications.”48 So, as a final idea I would like to suggest that a new – and rewarding – approach to world literature conceived as “windows to the world” may lie precisely in a pronounced stress on the significance of “place” and the (Glissantian) relations between different places in the vast spaces of the world. This conceptual trajectory could function as the key to a revised concept of world literature contingent on the investigation of the affective possibilities of single places as well as the manifold relations, connections, and relays that can be discerned between places. As Glissant, to conclude, reads relation in terms of the following three activities: “Relation relinks (relays), relates”.49

48 Robbins, Bruce: Comparative Cosmopolitanisms, in: Pheng Cheah/Bruce Robbins (eds.), Cosmopolitics: Thinking and Feeling Beyond the Nation, Minneapolis 1998, pp. 246-264. 49 É. Glissant: Poetics of Relation, p. 173.

»Nowhere Was Somewhere« Zur Erinnerung utopischer Orte R ICHARD N ATE

1. Z WEIERLEI T OPOI Als Gegenstände der persönlichen Erinnerung bedürfen Orte nicht notwendigerweise einer Benennung. Anders verhält es sich mit Orten als Gegenständen kultureller Erinnerung. Sie benötigen einen Namen, damit man sich über sie verständigen kann. Bekanntlich stehen Ortsnamen aber nicht für sich, sondern sind Bestandteile eines kulturell geprägten Lexikons. Hieraus erklärt sich zum Beispiel der Umstand, dass es oft mehr als eine Bezeichnung für einen Ort gibt. Namen wie ›Byzanz‹, ›Konstantinopel‹, oder ›Istanbul‹ mögen sich auf einen geographisch mehr oder weniger identischen Ort beziehen, indizieren aber zugleich wechselnde kulturelle Einflüsse zu unterschiedlichen Zeiten. Ortsnamen sind nicht neutral. Mit den Bezeichnungen ›Falklands‹ und ›Malvinas‹, die beide dieselbe südatlantische Inselgruppe bezeichnen, verbinden sich sehr unterschiedliche politische Konnotationen. Auch die Wahl des deutschen Namens ›Breslau‹ für die polnische Stadt ›Wrocáaw‹ dürfte nicht in jeder Situation als angemessen empfunden werden. Auf besonders deutliche Weise zeigt sich die kulturelle Gebundenheit von Ortsbezeichnungen in den ideologisch bedingten Umbenennungen des 20. Jahrhunderts. Die Bezeichnung ›Ostmark‹ für Österreich oder der Name ›Karl-Marx-Stadt‹ für Chemnitz sind nur zwei Beispiele für viele, die sich in diesem Zusammenhang anführen ließen. Die genannten Beispiele lassen auch erkennen, dass das, was man mit dem Begriff des Ortes belegt, sehr unterschiedliche Ausdehnungen besitzen kann. Wer von Orten spricht, der kann sich auf Straßen, Plätze, Städte, Länder oder ganze Kontinente beziehen, und diese können realer oder auch nur imaginärer Natur sein. Dass sich Ortsnamen von einem einmal gegebenen geographischen

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Bezug mitunter auch vollständig lösen können, zeigt der Begriff ›Arkadien‹, der zwar noch immer eine bestimmte griechische Landschaft bezeichnet, aber ebenso auch ein Sujet der Literatur und der darstellenden Kunst, das mit dieser Landschaft kaum noch etwas zu tun hat. Arkadien ist nicht nur ein realer, sondern auch ein sprachlicher Topos. Die Komplexität der Verhältnisse zwischen Orten und ihren Bezeichnungen zeigt sich nicht nur in dem Umstand, dass es oftmals mehrere Namen für einen Ort gibt, sondern auch darin, dass die Namen selbst durch eine semantische Offenheit gekennzeichnet sind. Zumindest für Ortsnamen gilt, was Friedrich Nietzsche für das Verhältnis des Menschen gegenüber der Sprache generell feststellte. Durch die Verankerung der Namen in der Alltagssprache gerät ihre kulturelle und historische Determination leicht in Vergessenheit, so dass sie als Teil einer überzeitlichen ›Natur‹ wahrgenommen werden.1 Die Folge sind Anachronismen. In besonderer Weise gilt dies für das 19. Jahrhundert, in dem die aufstrebenden europäischen Nationalstaaten auf ihrer Suche nach Gründungsmythen und Meistererzählungen auch solche Ereignisse zum Gegenstand ihrer kulturellen Erinnerung machten, die eigentlich keinen Zusammenhang mit der eigenen kulturellen Identität erkennen ließen. Hierdurch erklären sich Behauptungen wie etwa die, dass im Jahre 9 n. Chr. ein Cheruskerfürst namens ›Hermann‹ angetreten sei, ›Deutschland‹ vor der Herrschaft durch die Römer zu schützen.2 Anachronistisch ist hier nicht nur die Verwendung eines deutschen Namens für den Feldherrn und römischen Bürger Arminius, der sich mit germanischen Stämmen gegen das Römische Reich verbündete, sondern auch die Bezeichnung des historischen Schauplatzes.

1

Vgl. Nietzsches Begriff von der ›Metaphernvergessenheit‹ in seinem frühen Aufsatz Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (1873), Nietzsche, Friedrich: »Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873)«, in: Müller-Richter, Klaus/Larcati, Arturo (eds.). Der Streit um die Metapher: Poetologische Texte von Nietzsche bis Handke. Darmstadt 1998: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 31-39, S. 34. Roland Barthes bezeichnete die Folgen solcher Prozesse als »Mythen des Alltags«, Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Übers. Helmut Scheffel. Frankfurt a.M. 1964, S. 112.

2

Vgl. hierzu Flacke, Monika: »Deutschland: Die Begründung der Nation aus der Krise«, in dies. (Hg.). Mythen der Nationen: Ein europäisches Panorama. 2. Aufl., München/Berlin 2001, S. 101-128. In dem von Flacke herausgegebenen Sammelband finden sich neben dem genannten zahlreiche weitere Beispiele aus anderen europäischen Nationen.

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Ein weniger bekanntes, aber dennoch aufschlussreiches Beispiel dafür, wie schnell die historische Determination von Ortsbezeichnungen aus dem Blick geraten kann, ist der in Großbritannien verbreitete Name ›Wessex‹ für ein Gebiet in Südwestengland. Die genauen Grenzen des Territoriums stehen nicht fest. Manchmal bezieht sich der Begriff lediglich auf die drei Grafschaften Dorset, Somerset und Wiltshire, manchmal werden auch noch die Grafschaften Devon, Gloucestershire, Hampshire, Herefordshire und Oxfordshire hinzu gerechnet. Zwar war ›Wessex‹ einmal der Name eines mittelalterlichen Königreiches, doch geht sein gegenwärtiger Gebrauch auf einen willkürlichen Akt der Neubenennung zurück. Als der englische Schriftsteller Thomas Hardy sich am Ende des 19. Jahrhunderts dazu entschloss, seine Romane in einem Gebiet namens ›Wessex‹ spielen zu lassen,3 folgte er damit dem bereits bestehenden Trend, die angelsächsischen Wurzeln des britischen Königreiches gegenüber den normannischen Einflüssen zu betonen.4 Im Kontext dieses so genannten ›AngloSaxonism‹ war auch Hardys Wiederbelebung des alten Namens geeignet, das Gefühl einer ethnisch begründeten kulturellen Identität weiter zu festigen. ›Wessex‹ war nicht nur ein literarischer Ort; er stand auch für eine idealisierte Vergangenheit. In der Folgezeit erwies sich Hardys Namensgebung als sehr einflussreich. Zwar besitzt die Bezeichnung ›Wessex‹ keine politische oder juristische Relevanz, doch fungiert sie als kulturelles Symbol, das sich für ökonomische Zwecke, insbesondere für die lokale Tourismusbranche, sehr gut nutzen lässt. Etwas mehr als ein Jahrhundert nach Hardys Entscheidung kann sich der Besucher der Region heute Informationen bei einer »Wessex Tourist Association« beschaffen, er kann eine ›Wessex‹-Straßenkarte erwerben oder auch eine Fahrkarte bei den ›Wessex Trains‹ lösen. Schließlich kann er sich auf die Suche nach den Spuren eines ›literarischen Wessex‹ begeben, zu dessen Repräsentanten man längst auch solche Autoren rechnet, die schon lange vor Hardys Zeiten hier lebten und schrieben.5 Gemäß der schon erwähnten Tendenz zu einem anachronistischen Sprachgebrauch wird ›Wessex‹ bisweilen auch eine überzeitliche Qualität unter-

3

Siehe hierzu Gatrell, Simon: ›Wessex‹, in: Dale Kramer, The Cambridge Companion

4

Erkennbar ist dieser Trend etwa in der zeitgenössischen Nationalgeschichtsschrei-

to Thomas Hardy. Cambridge 1999, S. 19-37. bung, beispielsweise in: Green, John Richard: A Short History of the English People, Vol. 1. London 1892, S. 2 ff. Hardy wurde zu seiner Namensgebung durch die Arbeit des mit ihm befreundeten Folkloreforschers William Barnes angeregt. 5

Siehe z. B. Tolhurst, Peter: Wessex: A Literary Pilgrimage. Foreword by Ronald Blythe. Norwich 1999.

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stellt. So kann es beispielsweise passieren, dass der Steinkreis von ›Stonehenge‹ in einem lokalen Reiseführer als Zeugnis einer Jahrtausende alten ›Wessex‹Kultur angepriesen wird. Thomas Hardys Konstrukt gewinnt dabei den Status einer nicht mehr hinterfragten Wirklichkeit, was schließlich Anlass zu dem Fehlschluss gibt, der englische Autor habe ›Wessex‹ nicht erfunden, sondern wiederentdeckt. ›Wessex‹, so wird suggeriert, stellt eine im Vergleich zu anderen Ortsbezeichnungen ›natürlichere‹ Kategorie dar. Dass manche Gruppierungen hieraus mittlerweile sogar Forderungen nach einer Restrukturierung der politischen Landschaft in Südwestengland ableiten, verwundert deshalb kaum.6 Was hier mit Blick auf die Namen von Städten, Regionen und Nationen festgestellt wurde, gilt für die Bezeichnung von Kontinenten nicht weniger. Begriffe wie ›Europa‹ oder ›Amerika‹ sind historisch betrachtet relativ jung. Der Name Europa kam für das Gebiet, das heute damit assoziiert wird, erst spät in Gebrauch.7 Gleiches gilt für die Bezeichnung ›Amerika‹, die bekanntlich nicht auf die indigenen Kulturen dieses Kontinents zurückgeht, sondern sich von dem Vornamen des frühneuzeitlichen Entdeckungsreisenden Amerigo Vespucci herleitet und europäischen Ursprungs ist. Ähnlich wie im Falle von ›Wessex‹ geraten solche historischen Zusammenhänge mit der Zeit jedoch leicht aus dem Blickfeld. Wer über das ›Wesen‹ Europas nachdenkt oder gar, wie in der Mitte des 20. Jahrhunderts, über ›un-American activities‹ spekuliert, spricht über kulturelle Phänomene in einer Weise, als handele es sich dabei um jenseits der Geschichte angesiedelte Wirklichkeiten. Frühe Versuche, die kulturellen Besonderheiten eines Kontinents zu erfassen, waren oftmals durch bewusste oder unbewusste Rückgriffe auf antike oder biblische Vorstellungen geprägt. Aus der antiken Tradition waren Vorstellungen wie das Goldene Zeitalter, das Königreich Atlantis, die Glückseligen Inseln oder das schon erwähnte Arkadien geläufig, aus der jüdisch-christlichen der Garten Eden, das Gelobte Land oder das Himmlische Jerusalem. Wenn Autoren auf sol-

6

Siehe etwa die von der Wessex Constitutional Convention und anderen Interessengruppen herausgegebene Schrift The Case for Wessex (Vgl. Robins, David/Xylas, Nick: The Case for Wessex: A Joint Response to the White Paper on Regional Governance by the Wessex Constitutional Convention, Wessex Society and the Wessex Regionalists, Bristol 2002), in der es heißt, die propagierte politische Einheit ›Wessex‹ sei im Gegensatz zu den bestehenden Verwaltungseinheiten »geographically and culturally cohesive« (S. 4).

7

Den Boer, Pim: »Konzept Europa«, in: ders. et al. (Hg.). Europäische Erinnerungsorte. 3 Bde. Bd. 1: Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses. München 2012, S. 59-74, hier S. 59.

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che Bilder zurückgriffen, um sie für die Charakterisierung eines Kontinents zu nutzen, dann schufen sie ›Orte‹ im doppelten Sinne. Zum einen ging es ihnen um die Charakterisierung räumlich erfahrbarer Gebilde, zum anderen aber auch um sprachlich gebundene Vorstellungsbilder, die ja bereits seit der Antike als ›Topoi‹, d.h. ›Orte‹, metaphorisiert worden waren. Eine Textgattung, die seit Thomas Morus’ Wortschöpfung im Jahre 1516 als ›Utopie‹ bekannt ist, steht mit dem Gesagten in einem engen Zusammenhang. Utopien verdanken ihre Faszination dem Umstand, dass in ihnen keine wirklich existierenden Orte, sondern eben ›Nicht-Orte‹ (›u-topoi‹) beschrieben werden. Dabei bedienen sie sich jedoch des soeben beschriebenen topischen Reservoirs. Dieses bildet gleichsam den Baustoff für die Konzeption idealer Welten, kann aber auch für eine idealisierende Beschreibung geographischer Orte genutzt werden. Im Folgenden sollen zwei Beispiele aus dem 19. und 20. Jahrhundert angeführt werden, in denen eine solche Verbindung von u-topischen und topischen Elementen im Dienste einer kulturellen Bestimmung von Kontinenten steht. Zum einen handelt es sich um Novalis’ 1799 verfassten Essay Die Christenheit oder Europa, zum anderen um die weniger bekannte Schrift Nowhere Was Somewhere: How History Makes Utopias and How Utopias Make History des amerikanischen Reformers Arthur E. Morgan aus dem Jahr 1946.

2. V ERGANGENE Z UKUNFT – ZUKÜNFTIGE V ERGANGENHEIT : N OVALIS ’ E UROPA -E SSAY Als Novalis seine Europa-Vision am Ende des 18. Jahrhunderts einem Kreis von Jenaer Freunden vorstellte, hatte ›Europa‹ als kulturelle Kategorie gerade erst an Bedeutung gewonnen.8 Die bürgerlichen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts und die damit verbundene Infragestellung traditioneller Werte spielten in diesem Zusammenhang eine maßgebliche Rolle. Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert gewann Europa den Status eines kollektiven Symbols, mit dem sich jedoch sehr unterschiedliche politische und kulturelle Vorstellungen verbinden konnten.9 Edmund Burkes und William Blakes Kommentare zur Französischen Revolution lassen sich als Beispiele anführen. Ersterer vertrat einen konservativen Standpunkt, indem er in seinen Reflections on the Revolution in France (1790) den »Ruhm Europas« an die Weiterführung traditioneller Tugen-

8

Ebd., S. 59.

9

Ein Überblick findet sich in Lützeler, Paul Michael: Die Schriftsteller und Europa: Von der Romantik bis zur Gegenwart. München/Zürich 1992, S. 13.

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den knüpfte; letzterer nahm eine politisch radikale Haltung ein, wenn er in seinem epischen Gedicht Europe (1794) den gesellschaftlichen Umbruch als Teil eines schicksalhaften Prozesses interpretierte.10 Novalis’ Essay entstand im Kontext solcher Bestimmungsversuche. Dabei ging es dem Autor im Wesentlichen um die Darstellung eines Idealzustandes. Dieser, so suggerierte er, hatte in ferner Vergangenheit einmal existiert, war aber später verloren worden. Der Essay beginnt mit einer historischen Rückschau: »Es waren schöne, glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Erdteil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs. – Ohne große weltliche Besitztümer lenkte und vereinigte Ein Oberhaupt die großen politischen Kräfte. – Eine zahlreiche Zunft, zu der jedermann den Zutritt hatte, stand unmittelbar unter demselben und vollführte seine Winke und strebte mit Eifer seine wohltätige Macht zu befestigen.«11

Wie das Zitat deutlich macht, ging es Novalis um die Beschwörung einer verloren geglaubten kulturellen Identität. Diese setzte er mit dem frühen Mittelalter gleich, das in seinem Essay jedoch nicht zum Gegenstand einer historiographischen Beschreibung wird, sondern als Folie für die Formulierung einer utopischen Vision dient. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die von Novalis proklamierte ›Romantisierung‹ der Welt mit Hilfe der Imagination des Dichters.12 Im romantischen Diskurs stellten Wissenschaft, Historiographie und Poesie bekanntlich keine sich gegenseitig ausschließenden Größen dar. Tatsächlich

10 Burke, Edmund: »Reflections on the Revolution in France«, in: Mike Howard Abrams, Stephen Greenblatt (Hg.). The Norton Anthology of English Literature (7th ed., Vol. 2), New York/London 2002, S. 121-128, hier S. 125; Blake, William: Blake’s Poetry and Designs. Ed. Mary Lynn Johnson. New York/London 1979, S. 123 ff. 11 Novalis, Friedrich von Hardenberg: Die Christenheit oder Europa und andere philosophische Schriften. Köln 1996, S. 23. 12 Ähnlich Schneider, Christoph: »Europa als einheitlich-christlicher Kulturraum: Novalis’ Schrift Die Christenheit oder Europa von 1799«, in: Dominic Eggel/Brunhilde Wehinger (Hg.). Europavorstellungen des 18. Jahrhunderts/Imagining Europe in the 18th Century. Saarbrücken 2009, S. 169-185, hier S. 174. Zu den erkenntnistheoretischen Hintergründen dieser Position siehe Karl Heinz Volkmann-Schluck: »Novalis’ magischer Realismus«, in: Hans Steffen (Hg.). Die deutsche Romantik: Poetik, Formen und Motive (3. Aufl.), Göttingen 1978, S. 45-53, hier S. 45 ff.

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steht Novalis’ Essay am Beginn einer ganzen Reihe von poetischen Verklärungen der europäischen Vergangenheit, die das 19. Jahrhundert durchziehen. Nicht mehr die heidnische Antike diente dabei als primärer Bezugspunkt kultureller Selbstvergewisserung, sondern das christliche Mittelalter.13 Wie die zitierte Eingangspassage zeigt, schrieb Novalis diesem eine kulturelle Ganzheit zu, die jedem Menschen ein Gefühl der Geborgenheit vermitteln konnte. Das Signum der europäischen Kultur war damit nicht die gegenwärtig beschworene kulturelle Vielfalt, sondern im Gegenteil eine kulturelle Homogenität, deren Verlust in der Moderne der Autor allerdings bereits beklagte. Für die Aufsplitterung der Kultur machte Novalis unter anderem die Reformation verantwortlich. Die Kirchenspaltung hatte nach seiner Ansicht nicht nur einen Verlust institutioneller Einheit nach sich gezogen, sondern auch den einzelnen Gläubigen verunsichert, der sich nun mit unterschiedlichen, zum Teil auch widersprüchlichen Dogmen auseinandersetzen musste und Zeuge wurde, wie man den besonderen Status des Klerus – der »heiligen Instanzen«, von denen Novalis in seinem Essay schrieb –,14 öffentlich in Abrede stellte. Das besondere Verhältnis, welches der mittelalterliche Gläubige zur Mutter Gottes sowie zu Märtyrern, Heiligen und Priestern hatte aufbauen können, war bedroht. Die Spaltung des Glaubens besaß nach Novalis ihr Korrelat in einer Diversifizierung des weltlichen Wissens. Die Hinwendung zum Diesseits, wie sie zunächst der Humanismus und dann das naturwissenschaftliche Denken des 17. Jahrhunderts mit sich gebracht hatten, bedeutete demnach gerade keine ›Renaissance‹, sondern einen kulturellen Verfall. An die Stelle religiöser Ehrerbietung war eine als kalt und leblos empfundene mechanistische Philosophie gerückt. Von dieser gottfernen Naturphilosophie führte nach Novalis ein direkter Weg zum ›Religionshass‹ französischer Aufklärer und schließlich zur politischen Revolution. Das hier propagierte mechanistische Weltbild, so schrieb er, »machte die unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle, die vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller, und eigentlich ein echtes Perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende Mühle sei.«15

13 Auf den provokativen Charakter dieses Perspektivwechsels bei Novalis macht C. Schneider aufmerksam (»Europa als einheitlich-christlicher Kulturraum: Novalis’ Schrift Die Christenheit oder Europa von 1799«, in: D. Eggel/B. Wehinger, 2009, S. 169-185, hier S. 173). 14 F. Novalis: Die Christenheit oder Europa und andere philosophische Schriften, S.23. 15 Ebd., S.32.

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Dass es ausgerechnet ein aus Thüringen stammender, lutherisch sozialisierter junger Schriftsteller war, der die mittelalterliche Gesellschaftsstruktur als Heilmittel gegen die Irrwege der Moderne beschwor, lässt aufhorchen. Die Vermutung liegt nahe, dass es Novalis nicht um eine Beschreibung seiner eigenen kulturellen Wurzeln ging, sondern um die Darstellung eines ihm ebenso reizvoll wie exotisch anmutenden Zustandes, den er in der Vergangenheit verortete. Nicht das protestantische, auf das Individuum bezogene sola-fide-Prinzip bildet für den desillusionierten Lutheraner das Fundament der christlichen Religion, sondern die Kirche als eine von Gott gegebene Institution, deren Mitgliedern es gegeben ist, jeden »Fehltritt« zu vergeben und »jede mißfarbige Stelle des Lebens« »auszulöschen« und zu »klären«.16 Gerade, weil die Gläubigen des Mittelalters auf diese Weise entlastet gewesen seien, erklärt Novalis, hätten sie es vermocht, ihr »irdisches Tagewerk […] heiter« zu »vollbringen«.17 Angesichts dieser Einschätzung verwundert es nicht, wenn schließlich auch der anfängliche kirchliche Widerstand gegen die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft verteidigt wird. Die Ansicht, dass die Erde nichts weiter sei als ein »unbedeutender Wandelstern«, habe man zu Recht bekämpft, denn schließlich habe auch sie dazu beigetragen, die religiöse Gewissheit der Menschen zu erschüttern.18 In solchen Passagen zeigt sich die eher mythische als historiographische Ausrichtung des Essays. Beschworen wird ein paradiesischer Zustand, wie er der Darstellung des Buches Genesis zufolge vor Adams Sündenfall, das heißt vor dem Verzehr der Frucht vom Baum der Erkenntnis, bestand. Weniger um die Charakterisierung einer historischen Epoche scheint es Novalis zu gehen, als um die Imagination eines verlorenen Idealzustandes.19 Damit aber ist das von Novalis beschriebene europäische Mittelalter, so paradox es klingen mag, nicht nur ein Produkt der poetischen Imagination, sondern auch ein Ort der Moderne. Nicht ein in der Tradition verhafteter, konservativer Autor beschwört im Essay die vermeintlich bessere Vergangenheit, sondern ein jugendlicher Kulturkritiker, der das Gestern zu einem romantischen Sehnsuchtsort stilisiert. Europa, auf dessen geographische Ausdehnung Novalis bezeichnenderweise mit keinem Wort zu sprechen kommt, dient dabei vor allem als

16 Ebd., S.23. 17 Ebd., S.23. 18 Ebd., S.25. 19 Dass solches als typisch für die romantische Geschichtsauffassung angesehen werden kann, zeigt Schwering, Markus: »Romantische Geschichtsauffassung – Mittelalterbild und Europagedanke«, in: Helmut Schanze (Hg.). Romantik-Handbuch (2. Aufl.), Stuttgart 2003, S. 543-557, hier S. 545.

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räumlicher Platzhalter für eine zeitlich definierte Utopie. Die nähere Bestimmung erfolgt über ein narratives Schema, das sich des Modells der christlichen Heilsgeschichte zwar bedient, dieses aber auf einen spezifischen, in der Bibel nicht genannten Ort überträgt und ihn damit mythisiert. Zum heilsgeschichtlichen Schema gehört die Vorstellung eines vollkommenen Anfangszustandes, der durch menschliche Schuld verloren wurde, am Ende der Zeiten jedoch wiederkehren wird.20 Aus dem mythischen Charakter des Essays erklärt sich schließlich auch die relative Sorglosigkeit, mit der Novalis sich der geschichtlichen Vergangenheit nähert. Nicht an dem Grad seiner historischen Genauigkeit, sondern an der künstlerischen Qualität seiner poetischen Vision wollte der Autor offenbar gemessen werden. Dabei zeigt sich eine interessante Parallele zu seinem ebenfalls im Mittelalter angesiedelten Roman Heinrich von Ofterdingen. Schon die ersten beiden Sätze dieses Werkes – »Die Eltern lagen schon und schliefen, die Wanduhr schlug ihren einförmigen Takt.«21 – lassen mit ihren anachronistischen Aussagen erkennen, wie wenig sich der Autor beim Verfassen seines Textes vom Prinzip der Wahrscheinlichkeit leiten ließ. Warum Novalis die monoton vor sich hin tickende Wanduhr, nach der man im Mittelalter vergeblich Ausschau gehalten hätte, überhaupt an einer so prominenten Stelle seines Romans erwähnte, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Nicht auszuschließen ist, dass er sie einsetzte, um damit einen kulturellen Gegenpol zur Pilgerschaft seines Protagonisten Heinrich in die Welt der Poesie zu markieren. Anders ausgedrückt: Heinrich kehrt der mechanistischen Kultur den Rücken zu und begibt sich in die Welt der poetischen Imagination. Damit ist aber auch er als ein Vertreter der Moderne gekennzeichnet. Als zum Dichter Berufener entzieht er sich dem abgelehnten mechanistischen Raum- und Zeitbegriff, um kurz darauf von jener »blauen Blume« zu träumen, die, wie im Roman andeutet wird, die Verheißung des wiedererlangten Paradieses in sich birgt. Eine dieser Paradiesbeschreibungen findet sich im eingeschobenen Märchen des Dichters Klingsohr: »Die Blumen und Bäume wuchsen und grünten mit Macht. Alles schien beseelt. […] Die Tiere nahten sich mit freundlichen Grüßen den erwachten Menschen. Die Pflanzen bewirteten sie mit Früchten und Düften, und schmückten sie auf das zierlichste. Kein Stein lag

20 Zur Bedeutung heilsgeschichtlicher Kategorien für den Prozess kultureller Erinnerung vgl. allgemein Assmann, Aleida: »Zur Metaphorik der Erinnerung«, in: dies./Dietrich Harth (Hg.), Mnemosyne: Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a.M. 1991, S. 13-35, hier S. 22. 21 Novalis: Die Christenheit oder Europa und andere philosophische Schriften, S. 13.

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mehr auf einer Menschenbrust, und alle Lasten waren in sich selbst zu einem festen Fußboden zusammengesunken.«22

Novalis’ Texte, so lässt sich feststellen, geben uns zwar keinen näheren Aufschluss über das europäische Mittelalter, wohl aber über das Unbehagen, das ihr Autor in seiner eigenen kulturellen Gegenwart empfand. Novalis’ ›Romantisierung der Welt‹ war auch eine Form der Kulturkritik. Bei aller Rückwärtsgewandtheit war sie ein Phänomen der Moderne, denn sie entsprang einem Gefühl des Unbehaustseins – jenem horror vacui vielleicht, von dem Edward Casey in der Einleitung zur zweiten Auflage seines Buches Getting Back Into Place berichtet.23 Soweit räumliche und zeitliche Bezüge bei Novalis überhaupt eine Rolle spielen, dienen sie zur Markierung eines Sehnsuchtsortes. Das Wiederfinden der verlorenen Heimat, das sich als Grundmotiv durch das Werk des Autors zieht,24 liefert zugleich eine Erklärung für den heilsgeschichtlichen Rahmen, der sowohl seinem Essay als auch seinem Roman unterliegt. Die kulturelle Heimat findet Novalis in einer imaginierten Vergangenheit, die zugleich eine Hoffnung für die Zukunft birgt.25 Am Tiefpunkt der Geschichte angelangt, so verkündet der Autor in der Pose eines alttestamentlichen Propheten, stehe der verzweifelten Menschheit nun eine Zeit der kollektiven Wiedergeburt bevor.26 Sei die gegenwärtige Zersplitterung erst einmal überwunden, dann werde es »eine neue Geschichte, eine neue Menschheit« und sogar einen »neue[n] Messias« geben.27 Die Vision gipfelt in der Prophezeiung eines geeinten Europa, das mit einem »Himmel auf Erden« gleichgesetzt, als eine »heilige Zeit des ewigen Friedens« beschrieben und als ein »neues Jerusalem« gefeiert wird.28

22 Ebd., S. 146. 23 Casey, Edward S.: Getting Back into Place: Toward a Renewed Understanding of the Place-World (2nd ed.), Bloomington 2009. 24 Vgl. die in diesem Zusammenhang immer wieder zitierte Äußerung aus dem zweiten Teil des Heinrich von Ofterdingen: »Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause.« In: Friedrich von Hardenberg Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Ed. Jochen Hörisch. Frankfurt a.M.1982, S. 161. 25 Ähnliches konstatiert A. Assmann: »Zur Metaphorik der Erinnerung«, S. 24. für die Herausbildung des nationalen Gedächtnisses im frühen 19. Jahrhundert. 26 F. Novalis: Die Christenheit oder Europa und andere philosophische Schriften, S. 34. Zu den im Essay eingenommenen Sprecherposen siehe auch C. Schneider: Europa als einheitlich-christlicher Kulturraum, S. 178 ff. 27 F. Novalis: Die Christenheit oder Europa und andere philosophische Schriften, S. 37. 28 Ebd., S. 43.

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Es dürfte deutlich geworden sein, dass Novalis’ Europa-Essay mehr über die Dispositionen seines Verfassers verrät als über den Ort, den dieser zu beschreiben vorgibt. Ähnlich wie William Blake zur gleichen Zeit in England verkündete auch Novalis die Wiederkunft einer Zeit, in der die poetische Einbildungskraft jene Macht wiedererlangen sollte, die ihr nach romantischem Verständnis am Beginn der Geschichte einmal zugestanden worden war. Die Tatsache, dass Blake sein ›Neues Jerusalem‹ – auf eine alte Dissenter-Tradition zurückgreifend – »in England’s green and pleasant land« verortete,29 Novalis seinen Heilsort hingegen in Mitteleuropa ansiedelte, sollte man in diesem Zusammenhang nicht überbewerten. In beiden Fällen dienen die geographischen Einheiten vor allem als Platzhalter für eine poetische Vision. In diesem Sinne sind sie sowohl Topoi als auch U-Topoi. Mit den Worten Shakespeares gesprochen, könnte man sie als Produkte des »poet’s pen« bezeichnen, als Phantasmen, die erst durch den poetischen Akt »a local habitation and a name« gewinnen.30

3. N IRGENDWO ALS I RGENDWO : A RTHUR E. M ORGAN UND J OHN F RANKLIN C ARTER Obwohl Arthur E. Morgans Schrift Nowhere Was Somewhere einem ganz anderen historischen und geographischen Kontext entstammt als Novalis‘ Essay, mischen sich in ihr ortsgebundene Vergangenheits- und Zukunftsorientierungen auf eine ähnliche Weise. In dieser Hinsicht lässt sich die Schrift als neoromantisch charakterisieren. Morgan, der in seiner Jugend wesentliche Prägungen durch das amerikanische Progressive Movement erfahren hatte, war ein Verfechter des von Franklin D. Roosevelt 1933 verkündeten New Deal. Neben Harcourt A. Morgan und David Lilienthal war er in den dreißiger Jahren einer der amtierenden Direktoren der staatlich kontrollierten Tennessee Valley Authority (TVA), einer Gesellschaft, die zu dem Zweck ins Leben gerufen worden war, eine durch Bodenerosion und Überschwemmungen geschädigte Landschaft zu sanieren und zugleich die Lebensbedingungen ihrer Bewohner durch eine moderne Industrieund Landschaftsplanung zu verbessern.

29 Vgl. die entsprechende Prophezeiung in Blakes Gedicht »And Did Those Feet in Ancient Time«, in: Blake, W.: Blake’s Poetry and Designs, S. 238. 30 Vgl. den Monolog des Theseus in Shakespeares A Midsummer Night’s Dream, V, 1617, in: Shakespeare, William: A Midsummer Night’s Dream. Ed. By Harold E. Brooks, New York 1983, S. 104.

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Das Programm der TVA umfasste nicht nur die Errichtung monumentaler Staudämme, sondern auch die Elektrifizierung ländlicher Gegenden sowie eine Verbesserung der Infrastruktur der Tennessee-Region durch den Bau von Verkehrswegen und die Ansiedlung von Industrien. Auf einen Vorschlag Arthur E. Morgans hin wurde zudem eine Gartenstadt nach den Vorstellungen des Engländers Ebenezer Howard geplant und errichtet.31 Morgan bekannte sich zu den Ideen Edward Bellamys, dessen 1888 erschienener utopischer Roman Looking Backward 2000-1887 das Vertrauen in die Segnungen einer technologisch geprägten, auf menschlicher Planung beruhenden Gesellschaft zum Ausdruck gebracht hatte. Am Beginn seines Buches formulierte Morgan ein ähnliches Ideal, wenn er konstatierte: »Utopias are essential to human society as plans are essential for building bridges.«32 Angesichts von so viel Fortschrittsenthusiasmus mag es verwundern, dass Morgan zugleich die These vertrat, der Mensch sei von Natur aus eigentlich ein vergangenheitsorientiertes Wesen. Utopien, so meinte Morgan, waren nicht nur Darstellungen des Neuen, sondern auch Rückbesinnungen auf vergangene Wirklichkeiten. Der Utopismus sei geradezu ein Beispiel dafür, dass gerade die Erinnerung an das Gewesene die Phantasie der Menschen beflügele. In diesem Sinne schrieb er: »Nature is extremely parsimonious of originality. Very seldom does she create something new on a large scale. Nearly always she works over and uses what she already has. Utopians are no exception to this rule.«33 Einen solchen Bezug auf bereits Gegebenes reklamierte Morgan auch für Thomas Morus, der mit seiner 1516 erschienenen Utopia das Genre der neuzeitlichen Utopie bekanntlich erst begründet hatte.34 Obwohl Morus seinen Inselstaat mit fiktionalen Elementen angereichert hatte, beinhaltete sein Buch nach Morgan doch im Wesentlichen die Beschreibung einer bereits existierenden Wirklichkeit, nämlich die der südamerikanischen Inka-Kultur. Der zunächst etwas kryptisch anmutende Titel von Morgans Publikation – »Nowhere Was Somewhere« – findet hierin seine Erklärung. Morus’ angeblicher ›Nicht-Ort‹, so lautet Morgans These, war in Wirklichkeit ein ›Ort‹, und nicht zufällig befand sich dieser auf dem amerikanischen Kontinent.

31 Talbert, Roy: FDR’s Utopian: Arthur Morgan of the TVA. Jackson/London 1987, S. 115. Zur Idee der Gartenstadt siehe Howard, Ebenezer: Garden Cities of To-Morrow. Ed. Frederick Osborn, Cambridge 1965. 32 Morgan, Arthur E.: Nowhere Was Somewhere: How History Makes Utopias and How Utopias Make History, Westport 1946, S. 9. 33 A. E. Morgan: Nowhere Was Somewhere, S. 10. 34 Ebd., S.12.

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Völlig abwegig erscheinen Morgans Spekulationen nicht. Tatsächlich dürfte es kein Zufall gewesen sein, dass Morus auf das literarische Modell des Platonischen Idealstaats ausgerechnet zu jener Zeit zurückgriff, als Europa gerade in Kontakt mit der Neuen Welt und ihren Kulturen getreten war. Zwischen Columbus’ Reise in die Neue Welt und der Veröffentlichung der Utopia liegen gerade einmal 24 Jahre. Zudem hatte Morus selbst auf die Neue Welt hingewiesen, als er schrieb, er beziehe sein Wissen über den Inselstaat von einem Begleiter des in Südamerika gestrandeten Amerigo Vespucci, dem bereits erwähnten Namenspatron der Neuen Welt.35 Um ermessen zu können, welche Rolle die von Morgan erwähnte Vergangenheitsorientierung des Menschen für seine eigene Schrift besaß, sollte man sich ihren Entstehungskontext vergegenwärtigen. Morgan veröffentlichte sein Buch 1946, ein Jahr nach dem Tod Franklin D. Roosevelts. Die Aufbruchsstimmung der frühen New-Deal-Jahre war zu diesem Zeitpunkt bereits verflogen; nach dem Tod ihres Namengebers war die Ära im Begriff, zu einem Phänomen der Vergangenheit zu werden. Morgans These, dass Utopien nichts anderes seien als vergangene Wirklichkeiten, erhält angesichts dieses Befundes eine besondere Bedeutung. Die Vermutung drängt sich auf, dass es dem Autor um mehr ging als nur um den Nachweis, Thomas Morus habe sich von zeitgenössischen Berichten über die Inkas inspirieren lassen. Tatsächlich schien Morgan die Inka-Kultur nur insofern zu interessieren, als sich aus ihrer Darstellung erhellende Bezüge zu den Projekten des New Deal herstellen ließen. Sie fungierte, um einen zeitgenössischen Terminus zu gebrauchen, als »usable past«.36 Nicht nur die Inka-Kultur, sondern auch die Politik des frühen New Deal beschrieb Morgan im Sinne einer real existierenden Utopie und erklärte diese – in Verbindung mit dem Verweis auf Thomas Morus – damit zugleich zu einer genuin amerikanischen Angelegenheit. In diesem Sinne ist auch seine Behauptung zu lesen, das amerikanische Inka-Reich sei bereits zu jener Zeit eine Hochkultur gewesen, als Europa sich gerade erst angeschickt habe, aus den »dark ages« herauszutreten.37 Auch die Tatsache, dass Morgan wiederholt auf das hohe Maß an sozialer Sicherheit im Inka-Reich verwies, deutet auf den Versuch, den New Deal in einer Tradition amerikanischer Utopien zu verorten. Auf dem amerikanischen Kontinent, und

35 Morus, Thomas: The Utopia of Sir Thomas More. Trans. Ralph Robinson. Ed. H. B. Cotterill, London 1958, S. 17. 36 Siehe zur Bedeutung dieses Konzepts in den dreißiger Jahren Jones, Alfred: »The Search for a Usable Past in the New Deal Era«, American Quarterly 23 (1971), S. 710-724. 37 A. E. Morgan: Nowhere Was Somewhere, S. 19.

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nicht in Europa, so suggerierte Morgan, befand sich der Ursprung der modernen Utopie: »If substantially the social order described in More’s Utopia – Greek for ›nowhere‹ – actually was somewhere, in full, vigorous, and successful operation, the main question then tends to become, not whether such a utopia is possible, but whether it is desirable. And as we compare that remarkable economy with striking resemblances in the New Deal, we can have new light on both the possibilities and the price of such a regime.«38

Wie schon erwähnt, gehörte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Buches nicht nur die Inka-Kultur, sondern auch die programmatische Phase des New Deal bereits der Vergangenheit an. Hinter Morgans Würdigung der Inkas verbarg sich deshalb auch ein nostalgischer Rückblick auf die Aufbruchsstimmung der frühen Roosevelt-Jahre. So wie in den staatlichen Hilfsprogrammen des New Deal sei es auch den Inkas um eine nachhaltige Verbesserung der Infrastruktur gegangen.39 Wenn Morgan als besonderes Verdienst der Inka-Gesellschaft die Urbarmachung der Wüste herausstellte, dann zitierte er damit nicht nur den nationalen Topos einer »manifest destiny«, sondern verlieh diesem auch noch eine spezifisch sozialstaatliche Lesart. »[T]hese people took a region of barren desert and steep mountainsides«, schrieb er, »transformed it into a land of fabulous wealth, and used that wealth to provide economic security for all the people.«40 Es überrascht nicht, dass solche Formulierungen sich mit einem Pathos decken, wie es für regierungseigene Propagandaschriften und -filme der dreißiger Jahre typisch war. Morgans Schrift lässt sich vor allem als eine nachträgliche Rechtfertigung und Idealisierung der Roosevelt-Jahre lesen. Dabei ruft sie jene heilsgeschichtlich inspirierte Rhetorik in Erinnerung, mit der auch die Vertreter des New Deal für eine »Erneuerung des Kontinents« geworben hatten. In Dokumentarfilmen war die Neugestaltung des Tennessee-Tals zur Restauration eines verlorenen Paradieses verklärt worden. »We had the power to take the valley apart«, verkündete der Sprecher in Pare Lorentz’ Dokumentarfilm The River (1937), »we have the power to put it together again.«41 Im Rahmen dieser Rhetorik wurde der Wirtschaftsliberalismus zurückliegender Jahrzehnte als eine Abkehr vom rechten

38 Ebd., S. 18. 39 Ebd., S. 22. 40 Ebd., S.23. 41 Lorentz, Pare: »The River«, in: ders., FDR’s Moviemaker: Memoirs & Scripts, Reno 1992, S. 60-76, hier S. 74.

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Pfad dargestellt, auf welche die Great Depression als eine gerechte Strafe Gottes gefolgt war. Die politischen Maßnahmen des New Deal erschienen hingegen als Teil einer umfassenden moralischen und religiösen Erneuerung des amerikanischen Projekts. Entsprechend konstatierte Roosevelts Landwirtschaftsminister Henry Wallace in seinem Buch New Frontiers (1934), genuin amerikanisch sei nicht das Prinzip des Wettbewerbs, sondern das der sozialen Verantwortung.42 Noch deutlicher als bei Morgan zeigt sich eine solche Rhetorik in John Franklin Carters Schrift Remaking Amerika aus dem Jahr 1942.43 Unschwer erkennbar verbirgt sich hinter Kapitelüberschriften wie »The New Atlantis«, »Atlantis Lost« und »Atlantis Regained« das narrative Schema der Wiedergewinnung eines verlorenen Paradieses. Auch bei Carter mischen sich utopische und heilsgeschichtliche Elemente. Erstere zeigen sich in der intertextuellen Referenz auf Francis Bacons Erzählung New Atlantis (1627), letztere in der Anspielung auf John Miltons christliche Epen Paradise Lost (1667) und Paradise Regained (1671). Ebenso wie Morgan deutete auch Carter den New Deal als Wiederauffinden eines mythischen Ortes. Als man sich der Tatsache bewusst wurde, dass der profitorientierte Raubbau des frühen 20. Jahrhunderts das ursprüngliche amerikanische Paradies beinahe vollständig zerstört hatte,44 so schrieb er, entschloss man sich zu einer Umkehr: »It was, historically, in the early nineteen-thirties that the American people set about the rediscovery of their lost Atlantis.«45 Dabei ist klar, dass sich der von Carter verwendete Begriff »rediscovery« nicht so sehr auf eine geographisch definierte Einheit bezieht als vielmehr auf ein mit der Neuen Welt assoziiertes utopisches Konzept.

42 Wallace, Henry: New Frontiers, New York 1934, S. 56. 43 Der Politiker und Journalist Carter veröffentlichte die Schrift unter dem Pseudonym »Jay Franklin«. 44 Vgl. Franklin, Jay [John Franklin Carter]: Remaking America. Boston 1942, S. 16: »What might have been a Garden of Eden for a new breed of men [...], had become the arena for ugliness and hardship, grinding poverty and wasted wealth. What had held the promise of the Fortunate Isles, the New Atlantis, had become just another country, reproducing the fear and the greed, the insecurity and the want, of the Old World societies [...]. We had come near wrecking the richest continent in the world, with the threat before us that the deserts which had drowned northern Africa and Asia Minor in the sterile sea of sand would march across the Great Plains into the Great Valley which held our wealth.« 45 J. Franklin: Remaking America, S. 21.

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Trotz ihrer gemeinsamen Verankerung in der Rhetorik des New Deal erfüllt die kulturelle Erinnerung bei Carter und Morgan nicht dieselben Funktionen. In Carters 1942 veröffentlichtem Buch werden die Jahre des New Deal als eine Periode gekennzeichnet, in der die Vereinigten Staaten die nötigen Kräfte sammelten, um ihrer derzeitigen weltpolitischen Aufgabe gerecht zu werden. Der gegenwärtige Krieg gegen die Achsenmächte führe lediglich außenpolitisch fort, was man in den dreißiger Jahren auf dem Sektor der Innenpolitik begonnen habe. Bei Morgan dominiert dagegen eine nostalgische Perspektive. Hier dient der New Deal nicht mehr als Rechtfertigung für eine gegenwärtige Politik, sondern ist bereits zum Objekt einer retrospektiven Verklärung geworden. Ein Blick in Morgans beruflichen Werdegang erweist sich dabei als erhellend. Zu den Gestaltern der aktuellen Politik gehörte der Autor zur Zeit der Veröffentlichung seines Buches schon seit einigen Jahren nicht mehr. Morgan besaß den Ruf, ein Idealist und kompromissloser Moralist zu sein. Er war davon überzeugt, nur ein allgemeiner moralischer Wandel könne die ersehnte Erneuerung der amerikanischen Gesellschaft herbeiführen.46 Nicht nur Sozialisten wie Robert Owen und Edward Bellamy führte er deshalb als bedeutende Utopisten an, sondern auch den Propheten Jesaja und Jesus von Nazareth.47 Die InkaGesellschaft lobte Morgan nicht zuletzt deshalb, weil sie seiner Ansicht nach durch eine vorbildliche allgemeine Moral geprägt gewesen war. Die Bevölkerung des südamerikanischen Reiches habe ein derart ausgeprägtes Gefühl für soziale Verantwortung besessen, dass staatliche Regelungen sich nahezu erübrigt hätten.48 In der Führung der TVA manövrierte sich Morgan mit seinem rigiden Moralismus jedoch bald in eine Außenseiterposition. Mit seinem jüngeren, pragmatisch orientierten Kollegen David Lilienthal geriet er so sehr in Streit, dass Roosevelt sich 1937 gezwungen sah, seinen ehemaligen Wunschkandidaten zum Rücktritt zu drängen. Nach Morgans Rücktritt verschoben sich die Gewichtungen in der TVAPolitik. Nicht mehr utopische Visionen, sondern pragmatische Gesichtspunkte gaben den Ausschlag für Entscheidungen. Zwar erwies sich die zunehmend technologische Orientierung der Gesellschaft als vorteilhaft im Hinblick auf die Rüstungsanstrengungen des Zweiten Weltkriegs, doch gerieten die sozialpolitischen Ideale der Gründungsphase damit auch allmählich in Vergessenheit. Walter L. Creese resümierte 1990:

46 R. Talbert: FDR’s Utopian, S. 114. 47 Morgan: Nowhere Was Somewhere, S. 165, 175. 48 Ebd., S. 22.

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»The old sense of mission, of being in pursuit of a legitimate dream – a sense that had been ably and imaginatively nurtured by TVA’s earlier leaders – atrophied. The happier vision of a renewed Arcadian landscape, supplied with abundance, was converted, under the auspices of Cold War psychology, into a single minded, routine exercise. Those leaders who had looked for the more broadly humanistic, artistic, and sociological opportunities of the Tennessee Valley had either lost power, moved up, or passed on.«49

Berücksichtigt man diese Entwicklung, dann wird ersichtlich, warum die dreißiger Jahre Morgan aus der Perspektive des Jahres 1946 bereits wie ein zurückliegendes »Goldenes Zeitalter« erscheinen konnten. Die Utopie, so lautete Morgans Botschaft, war in der amerikanischen Vergangenheit zu suchen. Nachdem mit dem Untergang des Inka-Reiches die historische Bestimmung des Kontinents über lange Zeit hinweg in Vergessenheit geraten war, hatte sich erst der New Deal auf sie zurückbesonnen. Nun drohte das, was John Franklin Carter wenige Jahre zuvor noch als »paradise regained« bezeichnet hatte, ein zweites Mal verloren zu gehen.

4. A USBLICK Obwohl alle hier behandelten Texte den Anspruch erheben, die zurückliegende Wirklichkeit eines Kontinents zu beschreiben, ist offensichtlich, dass ihren Verfassern weniger an einer Rekonstruktion denn an einer Konstruktion der kulturellen Vergangenheit gelegen war. Nicht geographische, sondern rhetorische Topoi bestimmen die Texte. Mit der Idee eines fest umrissenen geographischen Raumes wird zwar wiederholt gespielt, doch bleibt der Grad semantischer Unbestimmtheit dabei so hoch, dass eine Vielzahl von Konkretisierungen möglich wird. Weder Novalis, noch Morgan oder Carter scheinen an einer räumlichen Definition ihres Gegenstandes sonderlich interessiert gewesen zu sein. Novalis setzte die Existenz einer geographischen Einheit namens Europa kurzerhand voraus, enthielt sich aber einer näheren Bestimmung. Ebenso steht der Name ›Amerika‹ bei Morgan und Carter eher für eine Idee als für einen geographischen Ort. Interessanterweise führt die Assoziierung eines Kontinents mit einer Idee in den Texten dazu, dass bestimmte Regionen, in denen man diese Idee in besonderer Weise verwirklicht sieht, als Repräsentanten des gesamten Kontinents erscheinen können. Entsprechend deutet Novalis an, Deutschland sei ›europäi-

49 Creese, Walter L.: TVA’s Public Planning: The Vision, the Reality. Knoxville 1990.

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scher‹ als andere Länder, denn schließlich schreite es mit seinen jugendlichen visionären Dichtern, zu denen der Autor wohl nicht zuletzt sich selbst gezählt haben mochte, auf dem Weg in die verheißene Zukunft klar voran.50 Morgan und Carter folgen einer ähnlichen Strategie, wenn sie die Vereinigten Staaten als jenes politische Gebilde beschreiben, in dem sich die amerikanische Idee derzeit am deutlichsten verkörpere. Näher charakterisiert werden die beschriebenen Orte durch Narrative, die sich zwar am Modell der christlichen Heilsgeschichte orientieren, aber auf einen säkularen Kontext übertragen werden. Während das Neue Testament von der Erlösung des Menschen, unabhängig vom Ort seiner Herkunft, spricht,51 beschreibt Novalis den europäischen Kontinent als einen von der Geschichte privilegierten Ort, und Morgan und Carter unternehmen das gleiche für Amerika. Solche Strategien entspringen einem Bedürfnis nach kultureller Selbstvergewisserung. Eine idealisierte Vergangenheit bildet den rhetorischen Bezugspunkt für den Entwurf einer besseren Zukunft. Erst durch die Einordnung in ein zeitlich definiertes, narratives Schema erhalten die Orte eine deutliche Kontur. Das, was sie auszeichnen soll, ist nicht das empirisch Vorfindbare, sondern die ›tiefere‹ Bedeutung, die hinter der Oberfläche der Erscheinungen vermutet wird. Der Ort wird damit zum Bestandteil eines Mythos. Er wird, mit Novalis gesprochen, ›romantisiert‹. Dass man solchen Mythen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Skepsis begegnet, dürfte vor allem den negativen Erfahrungen geschuldet sein, die romantische Verklärungen der jeweils eigenen Kultur in der ersten Hälfte des Jahrhunderts nach sich zogen. In neueren kulturhistorischen Studien geben kollektive Mythen allenfalls Anlass zu Dekonstruktionen. Hinzu gesellt sich der Gedanke einer Öffnung für kulturelle Fremdperspektiven. In diesem Sinne forderte beispielsweise die Historikerin Ute Frevert für die europäische Erinnerung ein »Geschichtsbild, das die eigenen Brüche und Fehlleistungen offen benennt«, um das »Mitgefühl und Wissen um die Leiden anderer Völker« zu fördern,52 und in ähnlicher Weise propagierte der Soziologe Ulrich Beck ein »selbstkritisches Experimentaleuropa«, das eine kritische Distanz zu den eigenen Mythen bewahren und sich immer wieder selbst in Frage stellen müsse.53 Auch amerikanische Kulturwissenschaftler haben die heilsgeschichtlich inspirierten Charakterisierungen ihrer Kultur einer kritischen Beurteilung unterzogen. Die Aufmerksamkeit

50 F. Novalis: Die Christenheit oder Europa und andere philosophische Schriften, S. 36. 51 Vgl. z.B. Kolosser 3, 8-11. 52 Frevert, Ute: »Was ist das bloß – ein Europäer«, Die Zeit 23.6.2005. 53 Beck, Ulrich: Der kosmopolitische Blick oder: Krieg ist Frieden. Frankfurt a.M. 2004, S. 256.

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des Historikers, so forderte etwa Robert F. Berkhofer 1995, solle sich nicht auf die immer wieder reproduzierten »master narratives« richten, sondern gerade auf jene Aspekte, die »beyond the great story« angesiedelt seien.54 Angesichts einer fortschreitenden Globalisierung erscheint ein solcher Perspektivwechsel konsequent. Während Thomas Morus’ Bild einer Insel namens »Utopia« die Vorstellung einer in sich geschlossenen, homogenen Kultur zumindest noch zuließ – obwohl, wie gezeigt, manches dafür spricht, dass auch sie schon ein Nebenprodukt des frühneuzeitlichen Kulturkontakts war –, sind Forderungen nach kultureller Homogenität zunehmend zu einem Kennzeichen politischer Randgruppen geworden. Der Preis, den man für das propagierte Ideal der kulturellen Vielfalt zahlt, besteht freilich im Verzicht auf jene einheitsstiftenden Mythen, die sich in der Vergangenheit nicht nur als politisch problematisch, sondern auch als rhetorisch effektiv erwiesen haben. Wie wenig sich der Verzicht auf ›große Erzählungen‹ mit tradierten Denkmustern verträgt, lässt sich an einem Beispiel aus jüngerer Zeit illustrieren. Als der amerikanische Publizist Jeremy Rifkin 2004 einen zukunftsträchtigen »European Dream« beschwor, bezog er sich damit unter anderem auf den europäischen Verzicht auf einen kollektiven Gründungsmythos von der Art, wie er ihn im »American Dream« verkörpert sah. Anders als die früheren Nationalstaaten zeichne sich die Europäische Union vor allem durch ein kritisches Verhältnis gegenüber der eigenen Geschichte aus. »Rather than commemorate a noble past, it [i.e. the EU] sought to ensure that the past would never be repeated«, heißt es in Rifkins Buch.55 Der Begriff des »European Dream« entbehrt allerdings nicht einer gewissen Ironie, suggeriert doch zumindest die Art der Wortbildung noch immer die Existenz einer identitätsstiftenden Meistererzählung. In Äußerungen wie »Europe has become the new ›city upon a hill‹« wird diese Ironie greifbar.56 Wenn Rifkin argumentiert, der »European Dream« sei dabei, dem amerikanischen den Rang abzulaufen, dann verortet er die beiden Identifikationsmodelle zudem im Kontext einer übergeordneten Wettbewerbssituation. Obwohl es gerade der transnationale, auf das Prinzip globaler Verantwortung gerichtete Charakter des »europäischen Traums« war, den Rifkin hervorhob,57 präsentierte er die beiden Modelle als Konkurrenten im Rahmen eines globalen Wetteiferns um kulturelle Profilbildung und stellte die

54 Berkhofer, Robert F.: Beyond the Great Story: History as Text and Discourse. Cambridge, Mass. /London 1995. 55 Rifkin, Jeremy: The European Dream: How Europe’s Vision of the Future Is Quietly Eclipsing the American Dream, New York 2004, S. 200. 56 J. Rifkin: The European Dream, S. 358. 57 Ebd., S. 7.

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behauptete Universalität des europäischen Modells damit zugleich wieder in Frage. An dieser Stelle lohnt es sich, noch einmal auf das eingangs erwähnte ›Wessex‹-Beispiel zurückzukommen. Der Begriff ›Wessex‹ ist nicht deshalb attraktiv, weil er einen klar definierten Ort bezeichnet, sondern weil er eine suggestive Funktion besitzt, durch welche die Region, die gerade mit ihm assoziiert wird, die Aura eines attraktiven ›Standortes‹ gewinnt. Gerade weil der ›natürliche‹ Charakter, den man ›Wessex‹ unterstellt, nicht näher spezifiziert wird, erweist sich der Begriff als ein willkommenes Symbol. Heilsgeschichtliche Visionen, wie sie bei Novalis und Morgan zu finden waren, verbindet mit ›Wessex‹ derzeit wohl kaum jemand, doch auch, wenn der Begriff eher als Markenname denn als Kennzeichnung für eine kulturelle Orientierung fungiert, hat er mit den hier vorgestellten utopischen Orten etwas gemein. Ebenso wie diese verdankt auch er seine Existenz nicht einer konkreten geographischen Gegebenheit, sondern der sinnstiftenden Funktion der Sprache.

Der Ort des Gewesenen Zu Ricoeurs Ontologie des Vergessen W ALTER S CHWEIDLER

»Vorbei! ein dummes Wort. Warum vorbei? Vorbei und reines Nicht, vollkommnes Einerlei«,

so zieht der Teufel im ›Faust‹ zuletzt das Fazit seiner – wie er noch nicht weiß – verlorenen Wette mit Gott. Wenn man im ›Faust‹ nicht ein rhapsodisches Sammelsurium, sondern, wie ich verteidigen würde, ein philosophisches Lebenswerk erblickt, dann ist mit der Differenz von vorbei und nie gewesen an seinem Ende die tiefste Frage, das Ganze also bezeichnet, um die es in diesem ›Stück‹ geht. Wenn es so sein sollte, dann ist es eine philosophische Aufgabe von größter Tragweite, dem Grund nachzugehen, der den Irrtum des Teufels ausmacht und das happy end in der Bergschluchtenszene rechtfertigt. Und mir scheint es tatsächlich so, dass man, wenn man im ersten Vers der genannten Stelle das »Wort« betont, in der gleich folgenden rhetorischen Frage auch schon eine indirekte Spur zu diesem Grund gelegt finden kann, aus dem der Teufel der Verlierer und aus dem Fausts vorbeigegangenes Leben der Auslöschung entkommen ist: »Da ist’s vorbei! Was ist daran zu lesen? Es ist so gut als wär’ es nicht gewesen«.1

Es ist die performative Seite dieses Ausrufs, die den Schlüssel zu dem Rätsel liefert, das hier am Ende des irdischen Teils des Weltendramas steht. Denn diese

1

Goethes Werke, Sophienausgabe, 17. Aufl. Weimar 1890, v. 11595 f., 11600 f.

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performative Seite steht in einem radikalen, blitzartigen Widerspruch zum Inhalt des Ausrufs. An dem, was »vorbei« ist, soll es etwas zu »lesen« geben; das heißt, der Teufel sieht sich einen Augenblick lang mit der ›kognitiven‹ Perspektive konfrontiert, dass da etwas zu verstehen, ein Sinn zu entziffern, eine Spur zu lesen wäre. Doch was er mit dem Ausruf tut, ist ein Willensakt: Er will und wir sollen sie vergessen. Die performative und die konstatierende Seite dessen, was da geschieht (und was indirekt natürlich auch das Verhältnis des hier zu Ende gehenden Stücks zu dem, der es bis hierher gelesen hat, aufspannt), stehen im prinzipiellen Widerspruch: Es gibt sie nicht, die Differenz zwischen Gewesenem und nie Gewesenem, und darum muss ihre Spur getilgt werden! Der Zusammenhang, den hier der Teufel verkörpert, ist in einem wesentlichen Sinn mit dem Zusammenhang verknüpft, in dem Ricoeur in seiner Ontologie des Anerkennens2 auf die Frage nach dem »Vergessen als Bedrohung« zu sprechen kommt: »ganz unerwartet« taucht das Problem des Vergessens an einer Stelle auf, an der er, anknüpfend an die aristotelische Schrift »Über Gedächtnis und Erinnerung«3, die mneme-memoria untersucht, also das »Vorhandensein eines Bildes aus der abgeschlossenen Vergangenheit im Geist«, und dabei die Aufmerksamkeit auf das für dieses Phänomen noch einmal grundlegende, es übergreifende ›Paradoxon‹ richtet, nämlich »das Rätsel, daß eine abwesende Sache als Bild, das sie repräsentiert, gegenwärtig ist«.4 Es ist klar, dass dies eine Stelle ist, die in ihrer Bedeutung für die philosophischen Urfragen nach Sein und Erkennen gar nicht übertroffen werden kann, und Ricoeur greift an ihr auch auf den Topos zurück, der von Peirce5 über Heidegger6 bis zu Derrida7 grundlegende Bedeutung für die Explikation der Anwesenheit des Abwesenden in unserem Denken gewonnen hat, nämlich zu der Denkfigur von der ›Spur‹, als die Gegenwärtiges für ein Vergangenes stehen kann, aus dem es mit hervorgegangen ist. Es ist dies ja, wie Ricoeur sogleich festhält, ein Topos, der das Rätsel, in dessen Lösung er uns versetzen soll, zunächst einmal noch verdoppelt, denn: »Alle Spuren sind ja in der Gegenwart, und es liegt an dem sie interpretierenden Denken, daß die Spur für eine Spur von … gehalten wird«. Das heißt, dass, wenn denn

2

Ricoeur, Paul: Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt am Main 2006.

3

Aristoteles: Kleine naturwissenschaftliche Schriften, Stuttgart 1997.

4

P. Ricoeur: Wege der Anerkennung, S. 146.

5

Vgl. Peirce, Charles S.: Prolegomena zu einer Apologie des Pragmatizismus, in: ders.:

6

Heidegger, Martin: Die Kunst und der Raum, Sankt Gallen 1969, S. 12.

7

Derrida, Jacques: Grammatologie, Frankfurt am Main 1983, S. 81, S. 88.

Schriften zur Semiotik Band 3, S. 132-196.

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die Zeit, die zwischen ihrem Lesen und ihrem Legen vergangen ist, noch irgend etwas Reales an sich hat, die Spur auf das, was sie zu lesen gibt, nicht nur verweist, sondern zu ihm zurückführt; »eine Wirkung, die Zeichen ihrer Ursache ist – darin liegt das Rätsel der Spur«8. Wir sind hier also dem Rätsel der Spur selbst auf der Spur, und diese Spur der Spur führt uns in die Zeit, die vorbei geht. Exakt an dieser Stelle taucht nun für Ricoeur unversehens das »Problem des Vergessens« auf: »Mit einem Wort, es gehört zur Idee der Spur, daß sie gelöscht werden kann. Mit der beunruhigenden Idee des drohenden Verschwindens der Spuren drängt sich das Vergessen als Bedrohung auf.«9 Und dass die Bedrohung nichts geringerem gilt als unserem eigenen Dasein, zeigt sich, wenn man auf die entsprechenden Gedankengänge in Ricoeurs großem Alterswerk »Gedächtnis, Geschichte, Vergessen«10 blickt. Darin wird von Anfang bis Ende um die Differenz von Gewesenem und nie Gewesenem gerungen,11 auch wenn der letzte Beweggrund dieses Ringens ganz direkt nur im vorangestellten Motto von Jankélévitch beleuchtet ist: »Wer gewesen ist, kann von nun an nicht mehr nicht gewesen sein«. Es geht bei der Frage nach dem Vergessen, so wie sie Ricoeur hier stellt, um Sein oder Nichtsein, also um eine ontologische Frage. Und als solche ist sie, wie immer bei Ricoeur, eine Frage, deren Antwort es nicht einfach zu verstehen, sondern als deren Antwort es das Verstehen zu verstehen gilt. Die Ontologie stellt die Frage, deren Antwort in der Hermeneutik besteht.12 Der Weg zur Antwort, den Ricoeur in »Gedächtnis, Geschichte, Vergessen« einschlägt, führt zunächst über die Explikation von Heideggers Begriff der ›Gewesenheit‹, mit der er auf »ein wenig bemerktes Paradox« aufmerksam machen will, nämlich Heideggers Rede von einem Vergessen, das nicht etwa Behinderung, sondern Bedingung von Erinnern ist.13 So wenig bemerkt dieses Paradox sein mag, so trivial es uns auf den ersten Blick erscheinen mag, so unleugbar beschreibt es doch die Eigentümlichkeit dessen, was wir Erinnerung nennen: Woran man sich erinnern kann, das muss zunächst einmal vergessen worden sein. Selbst wenn die Erinnerung noch ziemlich gegenwärtig ist und nach kurzer Zeit

8

P. Ricoeur: Wege der Anerkennung, S. 147.

9

Ebd.

10 Ricoeur, Paul: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004. 11 Vgl. etwa S. 559ff., S. 433: »Die vergangenen Dinge sind vergangen, aber keiner kann machen, dass sie nicht gewesen sind.« 12 Vgl. dazu Schweidler, Walter: D’une herméneutique de la culture à son fondement phénoménologique, in: Cinquant’anni di Colloquio Castelli (Archivio di filosofia LXXIX.2011.n.2), Roma 2011. 13 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, 15. Aufl. Tübingen 1979, § 68a, S. 339.

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wiederkehrt, sie bleibt doch ein Akt, mit dem man neu auf etwas aufmerksam wird, von dem man zuvor die Aufmerksamkeit abgewendet hatte. Das Erinnerte wird zumindest insofern immer erinnert als Vergessenes. Dieser Zusammenhang von Vergessen und Erinnern aber hat eine objektive Seite: das, was erinnert wird und vergessen war. Auf diese Seite kommt es entscheidend an, und wer sich ihr zuwendet, stößt auf den großen Kontrapunkt, mit dem wir endgültig bei der Hermeneutik sind: die fiktive Erinnerung, die Einbildung. Was ist das Kriterium für die Unterscheidung zwischen Erinnerung und Einbildung, zwischen Vergessenem und Erfundenem? Offenbar das Gewesensein des Gewesenen im Unterschied zu dem, was nie gewesen ist. Erinnern kann man sich nur an das, was vorbei ist. Wenn nun aber weiterhin gilt, dass man sich auch nur an das erinnern kann, was vergessen worden ist, dann folgt daraus, dass die Fähigkeit, mit der wir zwischen Erinnerung und Einbildung, Vergessenem und Erfundenem zu unterscheiden vermögen, ihren Grund genau in jener Differenz haben muss, mit der sich das, was vorbei geht, zugleich von dem, was gegenwärtig ist und von dem, was nie gewesen ist, trennt. Das heißt: Im Vergessen ist das, was vorbei geht, auch und wesentlich schon da als dasjenige, in das hinein alles Gegenwärtige hineinzugehen im Begriff ist und das deshalb selbst nicht ein Gegenwärtiges sein kann. Das Gewesensein (Heideggers »Gewesenheit«) hebt in dem, was vorbei ist, noch etwas anderes auf, das mehr ist als nur sein Vergangensein in Differenz zu dem, was jetzt gegenwärtig ist; Ricoeur nennt dieses Mehr seine »bewahrende Vorgängigkeit«, und zwar gegenüber »jedem datierten, eingetretenen oder vergessenen Ereignis«, und das heißt doch offenbar: gegenüber der Gegenwart selbst. Das Rätsel der Spur, die aus dem Gegenwärtigen noch in den Ursprung seiner Unterscheidung vom Vergangenen zurückführt, mündet damit in die Frage nach dem, das mit der Gegenwart zugleich gegeben ist als das, wo hinein sie zu vergehen im Begriff ist. Wohin führt uns nun diese Frage? Als Phänomenologe kann Ricoeur die Antwort auf sie nicht unmittelbar in einem theoretischen Gedankengang, sondern nur in der Auslegung eines jenseits aller Theorie gegebenen Phänomens suchen. Sein Ergebnis: Es ist das »kleine Wunder des Wiedererkennens«14, in dem jeder diese Antwort ganz selbstverständlich erfährt. Man erblickt einen Menschen, nimmt ihn zur Kenntnis als einen, den man nicht kennt, und plötzlich erkennt man an der Stelle, an der man ihn sieht, ihn wieder als den, den man von früher kennt. Hier wird das Vergessen als die Bedingung des Erkennens nicht durch reflektierendes Nachdenken erschlossen, sondern unmittelbar wahrgenommen; im Wiedererkennen des vormals Erkannten wird es augenblicklich

14 Ebd., S. 72.

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auch seiner selbst in seiner Differenz zum vormaligen und seither auch vergessenen Kennen bewusst. Und hier zeigt sich auch der Zusammenhang zwischen Vergessen und Erinnern einerseits und Gegenwärtigsein und Gewesensein andererseits, auf den sich unsere Frage richtete. Denn man erkennt im Wiedererkannten ja nicht oder jedenfalls nicht nur die eigene Erinnerung wieder, sondern den Erinnerten selbst. Es kann beispielsweise so sein, dass er sich sehr verändert hat, sich stark von dem unterscheidet, was man von ihm noch ›im Kopf‹ hatte, und nichtsdestoweniger weiß man auf einmal: Er ist es! Das heißt: Zu diesem Wiedererkennen gehört, wie zu jedem weltbezogenen Bewusstseinsakt, sein intentionaler Gehalt, und damit, insofern das Vergessen seine Bedingung war, das, was, um wiedererscheinen zu können, verschwunden sein musste. »Ein Seiendes ist einmal gegenwärtig gewesen; es ist zu einem abwesenden geworden; es ist zurückgekehrt. Erscheinen, Verschwinden, Wiedererscheinen.«15 Nicht nur meine Erinnerung war verschwunden, sondern das Erinnerte selbst aus ihr – wohin? Alle subjektivistischen Engführungen werden dem Problem, um das es hier geht, nicht gerecht. Wiedererinnerung ist kein Vorgang ›im Kopf‹. So wie nicht in meinem Kopf, sondern an den Tatsachen sich entscheidet, ob ein Satz, den ich ausspreche, wahr oder falsch ist, entscheidet sich, ob ich mich wirklich seiner wieder erinnere, an dem, was aus meiner Erinnerung verschwunden war und nun in sie zurückgekehrt ist. Zurückgekehrt woher? Vom ›Unbewussten‹ oder ›Unterbewussten‹ zu reden heißt nur das Problem zu wiederholen, nicht es zu lösen, und den Bewusstseinsraum ins Gehirn zu verlagern, heißt das Problem auf eine methodisch eingrenzbare Sphäre der notwendigen Bedingungen seiner Beantwortung16 zu reduzieren und, wenn man diese notwendigen mit den hinreichenden Bedingungen verwechselt, es in seiner Substanz zu verlieren. Die hinreichende Bedingung des Wiedererkennens kann nicht in seinen subjektiven Komponenten, sondern muss in seinem objektiven Gehalt gesucht werden – und da-

15 Ebd., S. 655. 16 Diese Sphäre für sich genommen ist selbstverständlich von hoher theoretischer wie praktischer Relevanz. Die »kortikale Spur« bildet eine konstitutive Seite des Gesamtkomplexes der Explikation des Wiedererkennens, und Ricoeur widmet der Auseinandersetzung mit ihr in den neuronalen Wissenschaften in Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 640 ff. einen substanziellen Abschnitt, der mit der exakten Markierung der Differenz zwischen notwendigen und hinreichenden Bedingungen endet: »Die Aufgabe der Neurowissenschaften besteht nun darin, […] das zu benennen […], was macht, daß ich denke, nämlich die neuronale Struktur, ohne welche ich nicht denken würde. Das ist nicht nichts, aber das ist auch nicht alles.« (S. 651)

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mit, jedenfalls soweit zu diesem das Vergessen gehört, im Vergessenen selbst und dort, wohin es verschwunden und woher es zurückgekehrt ist. Um nun die Brücke zu dem zu schlagen, was wir als das ›Lesen‹ unserer Spur markiert hatten, müssen wir darauf achten, dass das, was in einem solchen Fall des Wiedererkennens, wie wir ihn gerade angesprochen haben, geschieht, durchaus nicht auf die intrasubjektive Sphäre begrenzt ist. Das kollektive, »kulturelle Gedächtnis«17 ist zu einem ganz entsprechenden Akt fähig, wenn etwa, wie es in einem Fall wie dem der Entdeckung des Steins von Rosetta mit den Hieroglyphen geschah, Schriftzeichen wieder lesbar werden, deren Sinn aus dem Bewusstsein der Menschheit über viele Generationen hinweg verschwunden war. Wiedererkennen und Wiedererkanntes können über ein Leben, über Generationen und sogar über eine unvordenkliche Zeit hinweg getrennt sein. Thomas Mann hat das mythische Bewusstsein, wie er es in den Joseph-Büchern dichterisch einzuholen unternimmt, wesentlich als das charakterisiert, mit dem der Mensch an dem, was ihm widerfährt, ein Geschehen wiedererkennt, in dessen Bahnen er das wiederfinden muss, das wirklicher ist als der, für den er sich bis dahin gehalten hat. »Da ist es wieder! Sagt sich der Mensch und empfindet das Gegründet-Seiende, das mythisch Geschützte und mehr als Wirkliche, nämlich das Wahre dessen, was geschieht.«18 Und wenn wir neben allem anderen mit unserer Marssonde auch Bilder von einem Menschenpaar in den Weltraum schießen, dann, damit die erhofften kosmischen Empfänger dereinst unsere Nachkommen an ihnen wiedererkennen sollen. Auf dieser Basis können wir nun den nächsten Schritt tun und die Frage nach dem Wiedererkennen selbst stellen: Woran erkennen wir also dieses Phänomen des Wiedererkennens, sei es auf intra- oder intersubjektiver Ebene, selbst wieder? Den entscheidenden Punkt, auf den es dafür ankommt, hat Ricoeur in seiner Analyse der Bedingungen des Erinnerns mit der Unterscheidung markiert, an der sich Chance und Bedrohung des Vergessens entscheiden. Es handelt sich um die Unterscheidung zwischen zwei Arten, in denen das Vergessen für unser Leben bedeutsam wird und auf die wir uns zu ihm verhalten – verkürzt gesagt: zwei Seiten des Vergessens. Die erste, allzu bekannte Seite ist die, die wir herkömmlicherweise vor allem und am meisten fürchten: die des Vergessens als »Auslöschen von Spuren«, also des Verlusts der Erinnerungen, dem wir uns ausgesetzt sehen als der Drohung des Endes unserer bewußten Geisteskraft und Lebenszeit und den wir beklagen wie Altern und Tod.19 Ihm wirken wir mit der ganzen

17 Zum Begriff vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, München 2007. 18 Mann, Thomas: Gesammelte Werke Band IV, Frankfurt am Main 1974, S. 454. 19 Vgl. P. Ricoeur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 651.

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Kraft und dem Erfindungsreichtum unserer ars memoriae entgegen, vom Knoten im Taschentuch über das Tagebuch bis zur oral history und den Denkmälern, Jubiläen, Gedenktagen und kollektiven Vergegenwärtigungsritualen des kulturellen Gedächtnisses. Was mit unserem Leben vorbeigeht, kann in der Erinnerung anderer in unterschiedlichem, bis zu einem gewissen Grad steuerbaren Maß bewahrt werden. Dieses Maß selbst allerdings ist das endliche Leben, und mit diesem muss es vergehen. Die Bedrohung, um die es dabei geht, ist also eigentlich gar nicht nicht die des Vergessens, sondern die des Sterbens oder des Untergangs von allem. Und die Weise, auf die wir uns zu ihm verhalten, bleibt die des Ringens um die Verzögerung seines Verschwindens, nicht um die Rettung vor diesem. Wir verhalten uns damit zwar zu der Bedrohung, der wir uns durch das Vergessen ausgesetzt sehen, doch ohne uns die Frage zu stellen, was das Bedrohte, um das es uns dabei geht, eigentlich ist. Und dabei bleibt es, solange wir das Vergessen nur als Bedrohung und nicht als die Chance in den Blick nehmen, die uns überhaupt erst begreifen lässt, was durch es bedroht ist. Diese Chance ist selbst ein Phänomen, und mit ihm kommen wir zu einem weiteren philosophischen Urthema, nämlich dem Glück. Wir finden die Chance, dasjenige also, was das Vergessen zur Bedingung des Erinnerns macht, auf seiner anderen, zweiten Seite, die Ricoeur als das »verwahrende Vergessen« anspricht.20 Zu dessen Charakterisierung müssen wir noch einmal auf das Phänomen des unwillkürlichen Wiedererkennens zurückgehen, das uns als das »kleine Wunder« der Wiedererinnerung vor Augen getreten ist und das Ricoeur nun, um eben die so entscheidende Seite des Vergessens als Chance zu fassen, auch »dieses kleine Wunder des glücklichen Gedächtnisses«21 nennt. Was ist damit gemeint? Es kann ja nicht um die Behauptung gehen, dass jede solche plötzliche, unwillkürliche Wiedererinnerung angenehm wäre. Sie kann uns durchaus als ein stöhnendes »Jetzt geht das wieder los!« überfallen, und von der Heimkehr des Odysseus bis zu den effektvollsten Schockszenen im Gruselfilm steht das Wiedererkennen paradigmatisch für eine unter Umständen sehr böse Überraschung. Der entscheidende Punkt ist aber nicht die gute oder die böse, sondern die Überraschung selbst als solche. Mit Überraschung hat nach Ricoeur das »kleine Glück der Wahrnehmung«22 ganz wesentlich zu tun. Es gibt nämlich einen für die Bedeutung des Vergessens ganz wesentlichen Zusammenhang zwischen Überraschung und Erkenntnis, an den wir uns erinnern müssen, um zu verstehen, was hier die Rede vom ›Glück‹ rechtfertigt.

20 Vgl. P. Ricoeur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 654. 21 Ebd., S. 655. 22 Ebd.

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Gewiss kann man sich wünschen, dass einem ein Erlebnis des Wiedererkennens erspart geblieben wäre. Aber wenn es sich einmal ereignet hat, muss man als Mensch dasjenige, was darin ›Erkennen‹ war, doch dem Zustand des Verkennens, aus dem es einen befreit hat, vorziehen. Enttäuschung ist nicht angenehm, aber gegenüber der Täuschung, von der sie einen befreit, doch immer noch ein Glück. »Gefahr erkannt, Gefahr gebannt«, sagen wir ja. Erkennen hat wesentlich mit Glück zu tun, weil Glück selbst für einen Menschen notwendig Erkenntnis beinhaltet: Glücklich zu sein heißt zu merken, dass man es ist und zumindest in einem elementaren und intuitiven Sinne zu verstehen, warum man es ist. Und es heißt, sich von dem, was einem da aufgeht, überraschen zu lassen; sein Glück berechnen und aus ihm jedes Moment des Unverhofftseins ausmerzen zu wollen, ist die perfekte Anleitung zum Unglücklichsein. So hat das Glück genau das an sich, was uns dazu berechtigt, vom »Glück des Gedächtnisses« zu sprechen: das unverzichtbare Moment des Aufmerksamwerdens auf das, was es ohne diese Aufmerksamkeit nicht wäre und auf das man doch prinzipiell aufmerksam wird als auf ihren in dieser Aufmerksamkeit zugänglich gewordenen Grund und Inhalt, der schon vor ihr da gewesen ist und sie zu einem Akt der Erinnerung macht. Das Glück ist eigentlich die Form, in der wir als Menschen dem Hassobjekt des Teufels, der Differenz zwischen Gewesensein und nie Gewesenem, in einem, dem uns gegönnten Moment ihrer Entstehung, ja ihrer Zeugung, erkennend beiwohnen. In einem Moment des Glücks befinden wir uns, sie unmittelbar wahrnehmend und bewahrend, auf jener Ebene der Erinnerung, auf der sie das, woran sie einen erinnert, zugleich als aus ihr hervor- und ihr vorhergehend erfährt. Dies ist jene andere, zweite Ebene, von der man, wenn von irgendwo her, dem Ringen des »gewöhnlichen Gedächtnisses« um die Bewahrung des Gewesenen vor dem Vergessen einen Sinn abgewinnen kann, der nicht letztendlich mit dem Tod der sich erinnernden Wesen ins Obsolete versinkt. Meine abschließenden Bemerkungen sollen und können nur die Vermutung vortragen, dass der Begriff des Ortes für den Zusammenhang zwischen Ontologie und Hermeneutik, an den wir damit gelangt sind, zumindest partiell erkenntnisleitend sein könnte. Die Antwort auf das »Problem des Vergessens«, nämlich dass das Vergessen aus eben dem Grund Bedrohung ist, aus dem es Chance ist, halte ich für eines von Ricoeurs großen gedanklichen Vermächtnissen. Allerdings kommen wir mit ihr auch an eine Grenze, an der man, wie ich meine, um es zu bewahren und auch ganz in seinem Sinne, über Ricoeurs Vermächtnis doch ein Stück weit hinausgehen muss. Wir haben ja den Verweis auf das Phänomen des momentanen Wiedererkennens befolgt als die phänomenologische Antwort auf die Frage nach dem, das mit der Gegenwart zugleich gegeben ist als dasjenige, wo hinein sie zu

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vergehen im Begriff ist. Das »verwahrende Vergessen«, das es anhand dieses Phänomens gegenüber dem es zumeist verdeckenden Ringen mit dem alltäglichen Schwund unserer Erinnerungskraft herauszuarbeiten galt, sollte uns die »bewahrende Vorgängigkeit« erschließen, die das Gewesensein zu dem am Vergangenen macht, worin es in seiner Differenz zum Gegenwärtigen noch die andere, mit ihr einher-, in ihr aber nicht aufgehende Differenz zum nie Gewesenen aufspannt. Ricoeur hält diese Korrelation auch bis zuletzt explizit aufrecht: »das Vergessen nimmt in dem Maße eine positive Bedeutung an, wie das Gewesensein gegenüber dem Nicht-mehr-Sein in der an die Idee der Vergangenheit gebundenen Bedeutung vorherrscht. Das Gewesensein macht aus dem Vergessen die der Arbeit der Erinnerung dargebotene unvordenkliche Quelle.«23

Aber in der Zweideutigkeit dieser Formulierung schlägt sich die der ganzen Antwortstrategie Ricoeurs selbst nieder, die sich bewusst der Frage verweigert: Gewesensein wovon? Alles, was er zu ihr zu sagen hat, tendiert zur rein subjektiven Seite des Erinnerns wie des Vergessens. Schlüsselhaft ist dabei der Begriff, mit dem wir schon in den »Wegen der Anerkennung« den umfassendsten Horizont unseres Problems bei ihm als »das Rätsel, daß eine abwesende Sache als Bild, das sie repräsentiert, gegenwärtig ist«24, charakterisiert fanden. Im Kern ist nämlich diese Formulierung des Problems auch schon das Fazit, in das »Gedächtnis, Geschichte, Vergessen« mit einer intensiven Bezugnahme auf Bergsons »Materie und Gedächtnis«25 mündet: »Wenn eine Erinnerung wiederkehrt, so heißt das, daß ich sie verloren habe; aber wenn ich sie trotz alledem wiederfinde und wiedererkenne, so weil ihr Bild überlebt hat.«26 Das Vergessen, so findet man das Fazit am Ende noch einmal gezogen, macht das »Weiterleben der Erinnerung« in Bildern möglich, ja kommt ihm gleich.27 Das Verbindungsglied von Erinnerung und Vergessen ist also das »Weiterleben der Bilder«28. Wo aber leben die »Bilder« weiter? Ricoeur bleibt, was im Zeichen seiner Rezeption Bergsons unvermeidlich ist, auf der psychologischen Ebene, und es ist auf-

23 Ebd., S. 676. 24 Ebd. FN 5. 25 Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg 1993, wobei Ricoeur sich insbesondere auf Kapitel 3 bezieht. 26 P. Ricoeur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 657. 27 Ebd., S. 672. 28 Vgl. ebd., S. 662.

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schlussreich, dass er zuletzt sogar das Freudsche ›Unbewußte‹ als Lösungshorizont andeutet.29 Er sieht selbst, dass dies einem Ausweichen vor dem Problem gleichkommt, was wiederum bedeutet, dass er hier eine Grenze einräumt, die Bergson zu überwinden nicht mehr gewillt ist. Die Frage, ›wo‹ die Bilder weiterleben, sei eine »Falle«, weil es kaum möglich sei, »den psychischen Ort, ›von wo‹, wie es heißt, die Erinnerung zurückkehrt, nicht als ein Behältnis zu bezeichnen«. Die Konsequenz ist, dass man die Frage vergessen muss: Bergsons »ganzes Unternehmen besteht darin, die Frage ›wo?‹ durch die Frage ›wie?‹ zu ersetzen«.30 Das bleibt die Achillesferse nicht nur der bergsonschen, sondern auch der Strategie von Ricoeur selbst. Denn das Bild, wenn man es als ›psychische‹ Brücke von Vergangenheit und Gegenwart und überhaupt von Sein und Denken zu fassen versucht, hat seinen Ort, ob man will oder nicht. Und zwar hat es ihn im wie immer auch genau zu bestimmenden ›Inneren‹ des sich erinnernden Wesens, und als solches führt es in alle erdenklichen Aporien hinein, von denen die des tritos anthropos nur die ältestbekannte ist: Um, was zur Unterscheidung von Erinnerung und Einbildung unvermeidlich ist, das ›Bild‹ mit dem zu vergleichen, wovon es Bild ist, bräuchte man ein Kriterium, zu dessen Anwendung auf das ›Bild‹ man wieder ein Vergleichskriterium zwischen Bild und Denken benötigte, dessen Vollzugsbedingung in einem weiteren Kriterium bestünde usf. Derlei Aporien sind nur vermeidbar unter der Voraussetzung eines Begriffs von ›Bild‹, der nicht der Psychologie, sondern der Kunst entnommen wird,31 womit jedoch auch die Ortsfrage wieder unabschüttelbar zurückkehrt. Damit ist abschließend die Stelle markiert, an die wir, in seinem Sinne, über Ricoeurs gedankliches Vermächtnis werden hinausgehen müssen. Der Grund dafür ist, dass sich die Unterscheidung von »zerstörendem Vergessen und grundlegendem Vergessen«32 nicht wird halten lassen, wenn die ›Bilder‹, in denen alles uns je mögliche Erinnern weiterlebt, im Kopf – oder auch im Unbewussten – von Wesen verortet werden, denen wie allem in dieser Welt die Vernichtung be-

29 Ebd., S. 663 FN 17. 30 Ebd., S. 664. 31 Vgl. etwa Boehm, Gottfried: Die Wiederkehr der Bilder, in: Ders.: Was ist ein Bild, München 1994, S. 11-38. Wichtige Hinweise zu diesem Aspekt bei Proust gibt Bauer, Katharina: Erzählte Spuren – Vom Vergessen und Vergessenwerden, LigaPreisschrift, Eichstätt 2013: »Das Erzählen beherrscht die Kunst, die erlebte Zeit zu durchmessen. Die von Proust auf der Suche nach der verlorenen Zeit vermittelten Momente des Wiedererkennens machen das, was ›uns gewöhnlich unsichtbar bleibt‹ sichtbar: ›die Zeit‹.« 32 Ricoeur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 676.

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vorsteht. Ein möglicher Ausweg aus dieser Lage wäre der konsequente Schritt in die Metaphysik, also hin zu der Annahme eines dieser Welt jenseitigen, zeitüberhobenen und ortlosen Wesens, für das alles uns Gegenwärtige mit dem, wo hinein es zu vergehen im Begriff ist, jederzeit schon in einem ihm total überschaubaren futurum exactum aufgehoben wäre. Ricoeur hat die Richtung in diesen Ausweg an mehreren Stellen angedeutet,33 aber er hat ihn nicht beschritten mit dem guten Grund, dass das Thema des Vergessens und seiner Bedrohung im Kontext der Annahme eines solchen zeitüberhobenen und ortlosen Geistes seine philosophische Brisanz weitgehend verlieren müsste. Erstaunlich ist hingegen, dass er nicht einen anderen Ausweg ins Auge gefasst hat, dessen wohl größten künstlerischen Exponenten er bestens erforscht hatte: Marcel Proust.34 Proust hat ja in der »Suche nach der verlorenen Zeit«35, exemplarisch natürlich im Kompositionsmotiv der unsterblichen Madeleine-Episode, eben das Wiedererkennen nicht nur als Thema, sondern geradezu als Prinzip des Kunstwerks begriffen. Den genau damit angestrengten Anspruch kann man als die radikal paradoxe Antwort auf unsere Frage nach der Unterscheidung von Erinnerung und Einbildung verstehen: dass gerade die künstlerische Fiktion, hier in Form der dichterischen Imagination, jene »unvordenkliche Quelle« denkbar machen kann, die das Gewesene und mit ihm die Differenz zum nie Gewesenen wie auch zum ›nur‹ Erdichteten in jedem Moment aus dem Gegenwärtigen zugleich hervor- und diesem vorhergehen lässt. Was Erinnern ist, kann man zuletzt nur erinnernd erfahren, aber was das Gewesene ist, in das hinein das Erinnerte vergeht, kann man nur erfahren in der Erinnerung, die aus sich selbst hervorgeht als die Spur, die nur im Lesen ihrer selbst zu legen ist. Ich meine, Proust hat es, und zwar durchaus im Einklang mit dem, was Ricoeur – übrigens mit Bezugnahme auf Goethe – in »Zeit und Erzählung« als die für die erzählende Erkenntnis so entscheidende Wendung von Lebenszeit in Erzählzeit herausgearbeitet hat, unternommen, das Rätsel, das am Ende des »Faust« steht, als die Substanz des Anspruchs dichterischer Erkenntnis zu begreifen. Prousts geniale Explikation der Differenz von Gewesenem und ›nur‹ Erdichtetem bestand darin, sein wirkliches, vergehendes Leben in der erdichteten Wiederholung seiner selbst mit sich gerade zu jener Deckung kommen zu lassen, die im Vergessen aufzuheben das Werk einer Zeit ist, die das Unwiederholbare in jedem Moment, in dem es aus dem Gegenwärtigen hervorgeht, diesem zugleich

33 Ebd., S. 657, S. 673 f. 34 Vgl. Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung, Band II, 2. Aufl. München 2007, S. 222 ff. 35 Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Ausgabe in zehn Bänden, 6. Aufl. Frankfurt am Main 1979.

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als das mit ihr uneinholbar Verlorene vorausgehen lässt. Der Anspruch des Künstlers Proust ist es gewesen, diese Zeit des unwiderruflich, aber zugleich unwiederholbar Gewesenen im künstlerischen Werk seines Lebens wiedergefunden und sie damit in dem, was es sich und uns daran zu lesen gibt, einholbar gemacht zu haben. Und es ist der Augenblick dieses Wiederfindens, für dessen phänomenale Explikation die Madeleine-Episode paradigmatisch, man kann auch sagen metonymisch steht; denn in ihr geschieht exemplarisch, worin Proust das ganze sie erzählende Leben seines ›Helden‹ seinerseits noch einmal exemplarisch für die ganze es wie unseres bis an die Grenze des jetzigen Moments umschließende Vergangenheit stehen sieht. Mit ihr ist es nämlich, so die philosophische Einleitung zur Madeleine-Episode mit ihrer zauberhaft-nüchternen Anleihe bei dem, was ein »keltischer Aberglaube« über die Seelen der Verstorbenen sagt, so: »Vergebens versuchen wir sie wieder heraufzubeschwören, unser Geist bemüht sich umsonst. Sie verbirgt sich außerhalb seines Machtbereichs und unerkennbar für ihn in irgendeinem stofflichen Gegenstand (oder der Empfindung, die dieser Gegenstand in uns weckt); in welchem, ahnen wir nicht. Ob wir diesem Gegenstand aber vor unserem Tode begegnen oder nie auf ihn stoßen, hängt einzig vom Zufall ab.«36 Damit ist der Anspruch dieses Rettungswerks präzise markiert, uns mit dem in es eingegangenen – und damit auch dem noch in es einzugehen begriffenen – Leben das an ihm zu lesen zu geben, worin es seinem Tod zuvorzukommen vermochte. Es bleibt unvermeidlicherweise ein Werk der Erkenntnis, nicht der Tat, der Offenbarung, nicht der Erlösung; das heißt, es kann den ›Zufall‹, der es als einziger mit der Macht des Todes in unserem Leben aufnehmen kann, nicht herbeiführen, sondern nur unsere Aufmerksamkeit dazu disponieren, ihn, wenn er denn kommt, als diesen wiederzuerkennen. Die Explikation dieser Aufgabe, nicht schon ihre Erfüllung, scheint mir nun aber bei Proust ganz entscheidend durch die Kategorie des Ortes, genauer eigentlich des Zeitortes, zu dem zu finden und zurückzufinden einen das Verstehen des eigenen Lebens erlaubt, geleistet zu sein. Zur Erkenntnis des Weges, von dem uns abzulenken nach Ricoeurs Zeugnis die ganze Logik des bergsonschen Bildbegriffs ausmacht, gehört bei Proust die Einsicht, dass, wenn uns denn die Rettung zuteil wird, unser Leben uns, wie zufällig auch immer, an den Ort geführt haben muss, an dem wir sie gefunden haben.37 Wo hinein aus dem Gegenwärti-

36 Ebd. Band I, S. 63. 37 Zu verweisen ist hier allerdings auf die – mit Bezug auf Proust – betonte Bedeutung der ›Gedächtnisorte‹ und des Zusammenhangs der Vergangenheit, die ›stattgefunden‹ hat, mit dem menschlichen Wohnen in: P. Ricoeur, Gedächtnis, Geschichte, Verges-

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gen als dessen »vorgängig Bewahrendes« alles Gewesene im Unterschied zum nie Gewesenen vergeht, das ist in der dichterisch explizierenden Philosophie von Proust ganz wesentlich der Ort, an dem wir es im Gegenwärtigen als das wiederzufinden vermögen, das einmal zu ihm gehörte und nun in es zurückgekehrt ist. Das also ist es, worin man, kritisch über es hinausgehend, Ricoeurs gedankliches Vermächtnis wiedererkennt: Bedrohung kann das Vergessen letztlich nur sein als Bedrohung dessen, für dessen Existenzweise es die Bedingung ist, also des Gewesenen in seinem unverlierbaren Unterschied zum nie Gewesenen. Die eigentliche Antwort des denkenden Menschen auf die Frage nach dem Vergessen als Bedrohung muss daher die Explikation dieser Urdifferenz zwischen dem Gewesenen und dem nie Gewesenen sein, in der immerhin Goethe und Proust den Weg zur Rettung seines Lebens gesehen haben. Es gilt, dem Vergessen zu entreißen, was es ohne das Vergessen nicht gäbe, was also in ihm ebenso wie durch es aufgehoben wird: jene Zeit, in die hinein das Gegenwärtige als Gewesenes vergeht an den Ort, an dem es im Unterschied zum nie Gewesenen als es selbst wiedererkennbar bleibt. Diese Zeit ist das Thema und womöglich sogar das Prinzip, in dem man die philosophische Alternative zum Bildbegriff des materialistischen wie des psychologistischen Subjektivismus wiederfinden kann. Es ist die Zeit, in der sich jene Transformation der Wirkung in das Zeichen ihrer Ursache ereignet, die wir in unserem Leben als die Spur vorfinden, die aus ihm hinter alles zurückführt, das in der Welt, in der wir leben, jemals gegenwärtig gewesen sein kann. Ich muss und will es daher an dieser Stelle mit dem unvermeidlich programmatischen Hinweis bewenden lassen, dass die Aufgabe, vor welche die Philosophie unserer Zeit von jener Wiedererinnerung des Wiedererinnerns gestellt sehen könnte, der sich Prousts Lebensbuch gewidmet hat, in der Explikation des Rätsels besteht, dass es den Ort, an den das Gegenwärtige in seinem Unterschied zum nie Gewesenen vergeht, nur in einer Zeit geben kann, die von allem, das in unserer Welt je gegenwärtig gewesen ist, durch den ontologischen Abgrund getrennt ist, dem das, was vorbei geht, seine Rettung vor der letztendlichen Auslöschung allein verdankt. Es gilt also, eine Vergangenheit zu denken, die niemals Gegenwart war. Das heißt eigentlich: die Zeit philosophisch wiedererkennbar zu machen, die wir aus dem Mythos, der Dichtung, der Kunst, der Religion und vielen anderen Quellen bestens kennen und doch vergessen haben. Man findet in der Philosophie mehr als nur Andeutungen dieser Erinnerung an die zweite Zeit

sen, S. 74, vgl. S. 624ff. Wie dies zur Bergson-Rezeption Ricoeurs steht, wird bei ihm nicht klar.

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durchaus, so etwa im Werk von Schelling38, Merleau-Ponty39 und Lévinas.40 Aber die Aufgabe ist schwer zu leisten im Umfeld einer Zivilisation, die sich einem irrationalen Wahn hingibt, der die eigentliche Bedrohung darstellt, der sich unsere Verbindung zu der Vergangenheit, die nie Gegenwart war, heute ausgesetzt sieht. Es handelt sich um den Wahn, dass das letzte Rätsel, auf das wir an den Grenzen unserer Welt stoßen, ebenso lösbar sein müsste wie alle die anderen Rätsel. In Wahrheit aber ist es doch, dass die Lösung aller lösbaren Rätsel zu jenem letzten unlösbaren Rätsel führt, das wir als das Unerforschliche glücklich stehen lassen und ruhig verehren können, weil die Ankunft bei ihm es ist, was uns von dem Los, das durch die Arbeit an den Rätseln der Welt über uns verhängt war, befreit hat.

38 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Philosophie der Offenbarung, in: Sämtliche Werke, Stuttgart 1856-61 Band XIII, S. 308: »Die wahre Zeit besteht selbst in einer Folge von Zeiten.« 39 Vgl. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1965, S. 444f. mit der Rede vom »intelligiblen Ort« des Kunstwerks »in einer geheimeren Zeit als der natürlichen.« 40 Lévinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/München 1998, S. 337: »Die Transzendenz des Unendlichen ist ein unumkehrbarer Abstand in Bezug auf die Gegenwart, dem einer Vergangenheit vergleichbar, die niemals Gegenwart war.«

»Wohnen bedeutet, an einem bestimmten Ort zu Hause zu sein«1 Der Ort als Heimat H ANS D IETER Z IMMERMANN »Wir haben hier keine bleibende Stadt, die zukünftige suchen wir.« Hebräer 13,14. »...Denn Wie Du anfingst, wirst du bleiben, So viel auch wirket die Noth Und die Zucht, das meiste nemlich Vermag die Geburt Und der Lichtstrahl, der Dem Neugeborenen begegnet.«

So Friedrich Hölderlin in seiner großen Hymne »Der Rhein«, in der er den Flusslauf des Rheins als Lebenslauf beschreibt, besser: besingt, als den Lebenslauf eines Halbgotts. Aber gilt nicht auch für uns Menschen, was für diesen gilt?

1

Zu Martin und Fritz Heidegger, zu Martin Heideggers Rede zur Primiz seines Neffen und dem Jubiläum von Meßkirch siehe Zimmermann, Hans Dieter: Philosophie und Fastnacht. Martin und Fritz Heidegger. München 2005. Dort auch der Verweis auf Hannah Arendt. Das Gedicht ›Herkunft‹ von Peter Huchel in dem Band: Huchel, Peter: Die Gedichte. Hrg. von Axel Vieregg. Frankfurt a. M. 1997, S. 49. Die Zitate von Marcel Proust aus: Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 1-7. Aus dem Französischen von Eva Rechel-Mertens, revidiert von Luzius Keller. Frankfurt a.M. 2004. Die Zahl des Bandes in Klammern, danach die Seitenzahl.

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Das Datum der Geburt stellt uns in eine geschichtliche Situation hinein, der Ort der Geburt, der uns in eine Stadt, in eine Region, in eine Nation bringt, und die Familie, die uns empfängt, all dies bestimmt unser Leben ganz und gar, mögen wir später auch noch so eigenwillige Wege gehen. Was wäre aus mir geworden, wenn ich 20 Jahre früher als Tscheche geboren worden wäre oder 20 Jahre später als Franzose? Jedenfalls etwas ganz anderes als das, was ich nun geworden bin als Deutscher aus Rheinhessen. Die Stelle aus Hölderlins Hymne »Der Rhein« zitiert der Philosoph Martin Heidegger in seiner Tischrede zur Primiz, zur ersten Messfeier seines Neffen Heinrich Heidegger am Pfingstsonntag des Jahres 1954. Das meiste vermag die Geburt: Martin Heidegger stammte aus einer frommen katholischen Familie aus dem südbadischen Meßkirch, der Vater war Küster der Martinskirche, der Sohn studierte katholische Theologie in Freiburg und wollte Priester werden, nahm aber dann das Studium der Philosophie auf und entfernte sich von der katholischen Kirche, deren enge Auffassung von Philosophie ihn bedrückte. Er musste sich aus ihr lösen, um seine eigene Position zu finden. Behilflich war ihm dabei auch die evangelische Theologie, die ihm in Marburg, wo er seine erste Professur erhielt, in Gestalt seines Freundes Rudolf Bultmann begegnete. Seine Abwendung vom Katholischen war so schroff, dass er sich verschiedentlich geringschätzig über die katholische Kollegen in Freiburg äußerte, wohin er dann berufen wurde, ja, den Lebensweg katholischer Kandidaten in der Nazizeit regelrecht behinderte, indem er sie in Gutachten als katholisch und nichts als das abstempelte, sie also den Nazis verdächtig machte. Die viel kritisierte Sympathie für den Nationalsozialismus im kurzen Jahr seines Rektorats an der Universität Freiburg von 1933 auf 34 hatte auch mit seiner Abkehr von der katholischen Kirche zu tun. Wäre er katholisch geblieben wie sein Bruder Fritz, der wie die meisten Katholiken immer brav das katholische Zentrum wählte, wäre er nicht auf den Nationalsozialismus hereingefallen, der ihm einen endgültigen Abschied von der engen Welt Meßkirchs zu ermöglichen schien. Merkwürdigerweise war der Bruder, ein Bankbeamter, der sein Leben lang in Meßkirch blieb, in dieser Hinsicht klüger als der Philosoph in Freiburg, der sich von Meßkirch schroff abgewandt hatte. Die Herkunft legt uns fest, aber sie kann auch in Maßen überwunden werden, ja, sie muss in manchen Fällen überwunden werden, damit wir zu unserem Eigenen kommen. Das muss nicht bedeuten, dass wir den heimatlichen Ort verlassen, es geht um eine innere Befreiung, die ein Wegzug erleichtern wird, aber nicht

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garantiert. Diese innere oder äußere Entfernung von der Herkunft kann auch zu Irrtum und Fehlern führen, wie das Beispiel des Philosophen zeigt. Der Ertrag in seinem Fall, der einer großen Philosophie, die über die katholische Scholastik hinausführt, ist aber auch erheblich. So wie hier, so auch sonst: wir brauchen einen Ursprung, aber wir müssen uns auch von ihm unter Umständen entfernen können, um uns zu entwickeln zu mehr als zu dem, was wir an diesem Ursprung geblieben wären. Das kann auch schmerzhaft sein, das kann auch fehlerhaft sein. Im Grunde geht es darum, dass wir all das, was von Anfang an in uns angelegt ist, aus uns heraus entfalten. Das, was ich bin, soll ich werden. Unser Leben kann sich so wie in einem Bogen vollziehen, auch dies sah Hölderlin: in Progress und Regress, wie er sagt. Wir gehen von zu Hause weg, hinaus in die Welt, wie man das früher nannte, und kehren nach mancherlei Erfahrungen wieder nach Hause zurück. So wenig wie das ›Weggehen‹ bedeuten muss, dass wir tatsächlich weggehen, so wenig muss die ›Rückkehr‹ bedeuten, dass wir tatsächlich zurückkehren. Wir müssen nicht wieder am Ort unserer Geburt sesshaft werden, wir können uns auch in Gedanken und Erinnerungen wieder diesem Ort annähern, eine im Alter nicht seltene Bewegung. So auch bei Heidegger, der schon im Krieg die Familie in Meßkirch als einzige Stütze fand, als er den Mitarbeitern an der Universität nicht mehr trauen wollte. Seine Manuskripte brachte er nach Meßkirch, wo sie der fromme Bruder Fritz bei einem katholischen Pfarrer barg, der sie ausgerechnet im Kirchturm versteckte, wo sie den Krieg überdauerten. Und nach dem Krieg kam Martin oft und gerne nach Meßkirch und von dort pilgerte er mit dem Bruder auch wieder nach Kloster Beuron, um seinen Namenstag zu feiern. Heidegger in jener Tischrede von 1954: »Das meiste an natürlichen Gaben bringt die heimatliche Erde und der Himmel über ihr. Aus ihnen gedeiht Jenes, das stark genug ist, dem Geschenk der Gnade entgegenzuwachsen.« Himmel und Erde, auch dies eine Konstellation Hölderlins: der Lichtstrahl, der dem Neugeborenen begegnet, kommt von oben. Hier ist der Mensch zwischen Himmel und Erde gespannt, zwischen Diesseits und Jenseits. Und es gilt, der Gnade, wie Martin Heidegger sagt, ›entgegenzuwachsen‹. Der Ursprung ist festgelegt, aber wir müssen noch wachsen, der Gnade entgegen wachsen. Auch dies heißt ja, dass vieles, was wir später in unserem Leben bewirken, nicht unbedingt unser Werk ist. Manches wird uns geschenkt oder auch auferlegt. »Die Heimat ist das Land der Kindheit«, schreibt der große tschechische Schriftsteller Karel Capek, »das Land der ersten und darum auch stärksten Eindrücke, Entdeckungen und Erkenntnisse. Man braucht nicht dorthin zurückzukehren, denn eigentlich hört man nicht

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auf, dort zu leben, wo immer man sein mag. Die Heimat ist wie die Muttersprache, auch wenn jemand eine andere Sprache spricht oder schreibt, hört er doch nicht auf, in der Sprache seiner Kindheit zu denken und zu träumen. Das ist nicht Einfluss, sondern etwas Ursprünglicheres und Stärkeres: das ist ein Stück der eigenen Seele und Persönlichkeit.«

Die Heimat ist etwas, das wir immer mit uns herumtragen, das zu uns gehört, das Teil unseres selbst ist. Ich versuche trotzdem, es mir zu erklären. Da ist also die historische Zeit der Geburt, die ist sehr wichtig und wird oft vergessen, denn es ist doch ein Unterschied, ob ich 1922 geboren bin und noch Soldat im Krieg werden musste, ob ich wollte oder nicht, oder 1952 und in Friedenszeiten aufwuchs. Es gibt ein Generationenschicksal. Deshalb ist die Zeit der Geburt so wichtig wie der Ort. Also das Haus, der Hof, der Garten, die Straße, die Umgebung, in der das Kind heranwächst. Dann natürlich das Dorf oder die Stadt und die Landschaft und das Land. Dann und vor allem, wenn nicht zuerst: die Familie, deren Erbe wir sind, deren Erbgut wir mitbringen. Sie ist uns so selbstverständlich, dass wir bei Heimat mehr an den Ort denken als an die Familie, also die Eltern, die Großeltern, die Geschwister, Verwandte und Freunde. Hier erfolgt die Prägung fürs Leben, hier gibt es das, was die Entwicklungspsychologie UrVertrauen nennt: die Kinder bedürfen der Erwachsenen, die zuverlässig immer da sind und sich um sie kümmern. Du bist nicht allein, Du bist nicht verloren, da ist jemand, der Dich hält, das gibt Sicherheit für ein ganzes Leben. Was dies bedeutet in einer Zeit, in der die Familien auseinanderfallen, ist nicht auszudenken. Neulich erzählte mir ein Bekannter: seine Tochter war in der Klasse in BerlinCharlottenburg die einzige, die auf die Frage der Lehrerin »Wer hat Eltern, die noch nicht getrennt leben?« die Hand hob. Zwei Wochen später, sagte der Bekannte, hat mich meine Frau verlassen. Durch die Familie lernen wir die Sprache, die Muttersprache, wie es so schön heißt, die Sprache, in der die Mutter mit uns spricht. Sie wird uns unser ganzes Leben begleiten, sie bringt mehr als Worte: sie bringt Redensarten, Lebensweisen, Ansichten mit sich, in ihr und mit ihr denken wir. Möglicherweise haben wir auch einen Dialekt, dessen Wärme die Hochsprache vertreibt, zu dem wir aber immer wieder zurückkehren können. Und schließlich die Dinge, die wir geerbt haben: Möbel, Bilder, Bücher, Fotos. Das Bild des Urgroßvaters. Die alte Kommode, die schon der Großonkel benutzte. Der Tisch, an dem die Großmutter noch saß. Zur Heimat gehören deshalb auch die Toten, die immer mehr werden, je länger wir leben: schließlich sind alle gestorben, mit denen wir als Kind aufwuchsen, nur die Geschwister leben noch. Aber wir leben immer mit diesen Toten, nicht nur, wenn wir uns an sie erinnern.

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Peter Huchel in seinem Gedicht ›Herkunft‹, in dem er sich erinnert an die Kindheit, die er in Brandenburg auf dem Bauernhof seines Großvaters verbrachte, nur drei der sechs Strophen: »Eh die Magd die Vesper bot Und vom Brotlaib schnitt, ritzte sie das Kreuz ins Brot, gab den Glauben mit. Wenn es grün am Himmel tagt, ob sie feldwärts eilt, dienend noch, die graue Magd? Weiß ich, wo sie weilt? Und der Knecht, der grübelnd sann, war der Tag kaum hell, forschend, was die Spinne spann, lief im Netz sie schnell, seilte sie die Fäden fest, zog ein Sturm herauf, Regen blieb lang im Geäst, war sie träg im Lauf. Alle leben noch im Haus: Freunde, wer ist tot? Euern Krug trink ich noch aus, esse euer Brot. Und durch Frost und Dunkelheit Geht ihr schützend mit. Wenn es auf die Steine schneit, hör ich euern Schritt.«

Peter Huchel wurde in Berlin-Lichterfelde geboren und wuchs in Potsdam auf, wo er zur Schule ging. Nur in den Ferien war er auf dem Hof des Großvaters in Alt-Langerwisch und in der Zeit, in der seine Mutter erkrankte. Und doch ist dieser Hof der Hof seines Gedächtnisses, wie er gerne sagte. Hier hat er die tiefen Erfahrungen gemacht, die nicht nur sein Leben beeinflussten, sondern auch sein Dichten. Bis zum Schluss füllten die Bilder und Metaphern, die ihm das bäuerliche Leben gab, seine Lyrik. Er lebte auch immer, wenn möglich, in dieser Kindheits-Landschaft, vor dem Krieg in Michendorf, nach dem Krieg in Wilhelms-

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horst, wo sein Haus als Gedenkstätte heute an ihn erinnert, also jeweils wenige Kilometer von Langerwisch entfernt. Wenn er auch nie lange sich von der Heimat trennte, so hatte er doch Freunde in ganz Europa und brachte in der Zeitschrift »Sinn und Form« Poesie aus anderen Ländern, die er bereist hatte. Dieses Haus in Wilhelmshorst, das er sich nach dem Krieg kaufen konnte, wurde seine neue Heimat, nahe der alten, zu der er die Allee entlang an manchen Nachmittagen spazierte. Er schuf sich seinen Ort, an dem er wohnen und dichten konnte. Hier wuchs sein Sohn heran. Hier hielt er Hunde und Katzen, die er liebte. Hier hatte er einen großen Garten unter alten Bäumen, in dem er grub und pflanzte. Hier empfing er die Freunde bei Wein und Kaffee, ja, hier redigierte er auch die Zeitschrift. Er fuhr selten nach Berlin, meist schrieb er Briefe oder er telefonierte. Diese Wohnstätte ist heute noch von seinem Geist erfüllt und von dem seiner Verse. So versuchen viele, sich einen eigenen Ort zu schaffen, der nicht mehr der Ort der Kindheit ist, aber etwas von diesem Ort der Kindheit enthält. Wie groß ist die Sehnsucht nach einem eigenen Haus, einem Eigenheim, wie es heißt, also einem Heim, das nur mir gehört, einem beschützten Ort des Rückzugs, in dem die Familie geborgen ist, von wo sie auszieht in die Welt und wohin sie zurückkehrt am Abend. Wie viele Siedlungen mit kleinen Häusern und Reihenhäusern sind rings um Berlin in den letzten 20 Jahren entstanden, etliche brandenburgische Dörfer haben sich verdoppelt. Für viele, die kein Haus bauen wollen oder können, ist die Wohnung ein solcher Ort der Geborgenheit, sei es nun eine Eigentumswohnung oder eine Mietwohnung. Hier sind sie Herr in ihren eigenen vier Wänden, entlastet vom Druck der Öffentlichkeit, so scheint es. Hier richten sie sich ein nach eigenem Geschmack, mag er auch der von Ikea sein. Hier fühlen sie sich wohl, so ist doch anzunehmen. Und es ist nicht nur dieser Ort, es ist auch die Gegend, der Kiez, wie man in Berlin sagt, der sie anzieht, also das Stadtviertel, in dem es sich gut leben und einkaufen lässt. So findet jeder, so scheint es, für kürzere oder längere Zeit eine neue Heimat oder auch für immer. Die bäuerliche Welt, in der Peter Huchel noch vor und nach dem Ersten Weltkrieg aufwuchs, gibt es nicht mehr. Unsere Welt hat sich grundlegend verändert, auch die Landwirtschaft wurde industrialisiert. Doch die Sehnsucht nach dieser alten bäuerlichen Welt hat sich gehalten, als sei in ihr etwas von dem heilen Leben verborgen, das wir uns wünschen und das es hienieden nie gab, doch es treibt uns weiter um. Im immensen Erfolg von Hochglanzzeitschriften wie ›Landlust‹ zeigt es sich und in der rührenden Hoffnung auf ein reines Leben mit Biogemüse und frei laufenden Hühnern. Im Juli 1961 feierte die kleine Stadt Meßkirch in Südbaden ihr 700jähriges Bestehen. Es gab eine Landwirtschaftsausstellung, einen Tag der Handwerks-

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meister und eine Aufführung von Werken des Meßkircher Komponisten Conradin Kreutzer. Die Feier begann mit einem Heimatabend, an dem der Universitätsprofessor Martin Heidegger die Festrede hielt, der berühmte Sohn der Stadt. Besinnung sei die Sache des Abends, so Heidegger, der damals 72 Jahre alt war, des Abends am Ende des Tages, des Abends am Ende des Lebens. Er wolle aber nicht zurückblicken, er wolle auch nicht vom Heute sprechen, sondern von der Zukunft. Die Zukunft habe aber doch mit der Herkunft zu tun. »Das Heute hat seine Herkunft im Gewesenen und ist zugleich dem ausgesetzt, was auf uns zukommt.« Er skizziert die Tendenzen, die auf uns zukommen, 1961 zeigen sie sich in ihren Anfängen, heute sind wir von ihnen überwältigt. Die Fernseh- und Rundfunkgeräte brächten es mit sich, dass die Menschen da, wo sie wohnen, nicht mehr zu Hause seien. Es ist der Anbruch dessen, was wir heute Medienzeitalter nennen, das nicht nur ins Privatleben eingreift, sondern es zu verdrängen droht. Heidegger: »Die Menschen werden vielmehr täglich und stündlich fortgezogen in fremde, anlockende, aufreizende, bisweilen auch unterhaltsame und belehrende Bezirke. Diese bieten freilich keinen bleibenden, verlässlichen Aufenthalt. Sie wechseln unausgesetzt vom Neuen zum Neuesten. Durch all dies gebannt und fortgezogen, zieht der Mensch gleichsam aus.«

Diesem unaufhörlichen Wechsel vom Neuen zum Neuesten setzt Heidegger das Althergebrachte entgegen: die Kräfte der umgebenden Natur, den Nachhall der geschichtlichen Überlieferung und die »von alters her« gepflegte Sitte. Hier singt er das Loblied der Provinz, in der noch erhalten sei und erhalten bleiben könne, was in den Städten und Industriegebieten längst dahin sie. Freilich müsse auch das Althergebrachte immer wieder neu bedacht werden. Nur so könne das Heimische festgehalten werden. Er sieht also die Notwendigkeit des Bewahrens, nicht als rückwärtsgewandtes Bewahren, nicht als Zurück in die gute alte Zeit, das ohnehin unmöglich ist. Bewahren ist wörtlich gemeint: Aufbewahren, erhalten, also kein Verschleudern und Zerstören des Überlieferten, wie es allenthalben durch die Industrialisierung geschieht. Es ist eine konservative Haltung im eigentlichen Sinne des Wortes: das uns Anvertraute, sei es ein Werk der Natur, sei es ein Werke der Geschichte, sollen wir nicht um kurzfristigen Gewinns willen dahingeben, sondern an unsere Kinder und Enkel weiterreichen. Sonst verlieren wir das Heimische und das Unheimische, wie er es nennt. Wenn wir nicht mehr Heimat kennen, also einen Ort, an dem wir zu Hause sind oder doch uns zu Hause fühlen, dann haben auch die anderen Orte keinen Wert als Fremde, die unsere Neugierde reizt, zu der wir streben, um dann wieder nach Hause zurückzukehren. Verlieren wir die Heimat,

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verlieren wir auch die Ferne. »Dann gäbe es nur noch den rasenden Wechsel vom Neuesten zum Allerneusten«, so Heidegger. Kein Innehalten mehr, sondern permanenter Wechsel, der nicht befriedigt und nach immer neuer Abwechslung verlangt; es entsteht eine Leere, die durch Betriebsamkeit nicht gefüllt werden kann. Freilich sieht Heidegger auch, dass diese Entwicklung kaum aufzuhalten sein wird: »Vielleicht siedelt sich der Mensch in der Heimatlosigkeit an. Vielleicht verschwindet der Bezug zur Heimat, der Zug zur Heimat aus dem Dasein des modernen Menschen. Vielleicht bereitet sich aber auch inmitten des Andrangs zum Unheimischen ein neues Verhältnis zum Heimischen vor.«

Die Sehnsucht nach Heimat ist weiterhin vorhanden, das zeigen doch die vielen Bestrebungen, sich ein eigenes Heim zu schaffen in Wohnung oder Haus. Doch die Wohnung ist nicht mehr das Zu-Hause, das sie früher war. Sie ist die Schaltstelle, an der man sich einklinkt: sie ist der Anschluss für Telefon, Internet, Fernsehen, Radio. Die menschlichen Beziehungen verändern sich. Erfüllten früher die Gespräche mit Freunden und Nachbarn die freie Zeit, der Besuch im Wirtshaus und im Verein, so gibt es heute häufig den Rückzug ins Private, das vor allem aus dem Anschauen von Fernsehsendungen besteht, die zugleich Millionen anschauen. Telefon und Internet bieten die Möglichkeit des Kontakts zu vielen Menschen, doch immer ist es ein punktueller Kontakt. Man lernt den andern letztlich nicht kennen, wenn man ihn nicht trifft und mit ihm spricht von Angesicht zu Angesicht. Hannah Arendt, eine Schülerin Heideggers, hat in ihrer lesenswerten Schrift »Vita activa« von 1960 die Abhängigkeit von privatem und öffentlichem Raum in der westlichen Gesellschaft beschrieben und deren Verfall: »Es scheint im Wesen der zwischen den Bereichen des Privaten und des Öffentlichen obwaltenden Bezügen zu liegen, dass das Absterben des Öffentlichen in seinen Endstadien von einer radikalen Bedrohung des Privaten begleitet wird.«

Den Grund sieht sie darin, dass die Massengesellschaft nicht nur den öffentlichen Raum, sondern auch den privaten zersetzt, »dass sie also die Menschen nicht nur ihres Platzes in der Welt beraubt, sondern ihnen auch die Sicherheit in ihren eigenen vier Wänden nimmt, in denen sie sich einst vor der Welt geborgen fühlten und wo auch diejenigen, welche die Öffentlichkeit ausgeschlossen

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hatte, einen Wirklichkeitsersatz in der Wärme des eigenen Herdes innerhalb der Grenzen der Familie finden konnten.«

Hannah Arendt sah noch nicht die virtuelle Welt der Medien, die Heidegger schon kommen sah, aber sie analysierte den Realitätsverlust der Moderne, der nicht nur durch diese Medien bedingt ist, sondern sie überhaupt erst hervorgerufen hat. Weltentfremdung ist ihr geradezu das Signum der Neuzeit: Weltentfremdung, nicht Selbstentfremdung, wie Karl Marx meinte. Je mehr wir uns die Erde unterwerfen, um so mehr wird sie uns fremd, geht sie uns verloren Sie spricht von der ›Verschwendungswirtschaft‹, in der die gegenständliche Welt ständig aufgezehrt werden muss, damit die Produktion in Gang gehalten wird. Diese permanente Vernichtung sei notwendig für die kapitalistische Produktionsweise, Bewahren und Erhalten dagegen sei geradezu schädlich für sie. So wie bei der Produktion der materiellen Güter stets das Alte durch ein Neues ersetzt werden muss, damit die Produktion weitergeht, so auch bei den ideellen Gütern: in Kunst und Literatur. Vom Neuen zum Neuesten, ein nie endender Lauf. Die Güter sind vergänglich, die Menschen dagegen scheinen unsterblich zu sein. Ewige Jugend zeigen noch die braungebrannten Senioren in der Werbung, Krankheit und Tod werden ausgespart, selbst die Behinderten sind fröhlich in der Reklame. Was jetzt als Inklusion gefeiert wird, heißt nichts anderes, als dass man den behinderten Kindern ihr Leid nimmt. Man holt sie aus den Sonderschulen, in denen sie betreut wurden, und steckt sie in die überfüllten Klassen der normalen Schulen, wo man sich kaum um sie kümmern kann. Damit ist das Problem ›Behinderung‹ beseitigt. Die Alten sitzen in den Seniorenheimen, die Kranken sterben in den Kliniken. Bestattungsinstitute entsorgen die Leichen. Dann zeigt sich, dass auch die Menschen Teil der ›Verschwendungswirtschaft‹ sind, nur die Lebenden dürfen es nicht wissen. Die Gräber gibt es nur für begrenzte Zeit, anonyme Bestattungen nehmen zu. Wer keine Vorfahren hat und keine Nachfahren, hat auch keine Gegenwart, mag er das auch nicht merken. Ein Drittel der dreieinhalb Millionen Berliner leben als sogenannte Single, als Einzelne, Vereinzelte. Früher waren die Dinge beständig, die Menschen sterblich. Die Familiengräber blieben über Generationen erhalten. Das Haus, das der Großvater gebaut hatte, erbte der Enkel. Das Handwerkszeug hatte schon dem Vater gedient, den Schrank hatte schon ein Vorfahr genutzt. Die Dinge überdauerten Generationen. So wie es in der Sehnsucht nach Landleben und Landlust eine Gegenbewegung gibt, so auch hier: in der Restaurierung alter Häuser, ganzer Altstädte, wie wir es im Osten Deutschlands erleben konnten, halten wir am Alten fest, das uns

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zu entschwinden droht. Wir wollen es erhalten, auch wenn es seinen alten Halt verloren hat und nun als Touristenattraktion dient. Es ist so erholsam eine jahrhundertelang gewachsene Stadt zu betreten, in der die Werke von Generationen enthalten sind, die uns freuen und berühren. Auch darin ist die Sehnsucht nach einer heilen Welt zu spüren. Mit dem Jenseits, so die wichtige Feststellung von Hannah Arendt, hätten die Menschen auch das Diesseits verloren. Jedenfalls habe der »Verlust der Transzendenz« die Menschen nicht »diesseitiger und weltlicher gemacht«. Der Glaubensverlust habe die Menschen nicht auf ein Diesseits, nicht auf Weltgenuss verwiesen, sondern auf sie selbst zurückgeworfen. Einsamkeit sei die Folge, Zweifel und Selbstzweifel. Dies ist eine Heimatlosigkeit, aus der viele einen Ausweg suchen und nicht selten doch auch einen finden. Aber es sind immer Einzelne, die ihren eigenen Weg gehen. Die Gemeinschaft zerfällt, den Vereinen fehlt der Nachwuchs und die Kirchengemeinden schmelzen dahin. Das ist ein verhängnisvoller Kreislauf: die Gemeinden werden kleiner und haben nur noch ein Recht auf eine halbe oder eine Drittel Pfarrstelle, d. h. der Pfarrer muss drei Pfarreien versehen, um auf eine ganze Stelle zu kommen. Der Kontakt zwischen Pfarrer und Gemeinde wird selten, die Gemeinschaft leidet darunter. In Falkenstein bei Frankfurt am Main, lese ich in der Zeitung, hat sich deshalb die evangelische Kirchengemeinde zu einem Förderverein zusammengetan: dieser zahlt die Hälfte des Gehalts, so dass die kleine Gemeinde einen ›ganzen‹ Pfarrer besitzt, der sich intensiv um sie kümmert. Der Initiator sagte: »Wir wollen in Falkenstein nicht nur wohnen, sondern leben. Orte, wo man sich trifft, wo man jemanden sieht, mit dem man reden kann, gibt es sonst nicht.« Deshalb werden allzu oft die Menschen auf sich selbst zurückgeworfen. Jeder sucht sich seinen eigenen Weg in den vielfältigen Angeboten eines heilen Lebens. Die Ratgeber vermehren sich von Tag zu Tag und die Anleitungen zum rechten Leben, seriöse und weniger seriöse, haben hohe Auflagen. Gehe ich in den Edeka-Supermarkt einkaufen, finde ich am Brett hinter der Kasse Angebote von Kinderwagen aus zweiter Hand, von jungen Katzen, kostenlos abzugeben, von gebrauchten Autos. Im Bio-Supermarkt dagegen finde ich zahllose Angebote zum ganzheitlichen Leben: psychologische Beratungen für Kinder und Erwachsene, meditative Wochenenden, Yoga und Tai-Chi, Heilfasten nach der Heiligen Hildegard, so dass ich den Eindruck erhalte, alle die Menschen, die hier einkaufen, müssen restlos beschädigt sein. Sie sind es sicher nicht mehr als die, die bei Edeka einkaufen, sie wollen nur heraus aus ihrer Beschädigung und suchen das Heil in der Welt. Sie suchen einen Ort, an dem sie zu Hause sein können, einen spirituellen Ort. Die Kirche bringt es nicht, es muss etwas Besonderes sein. Sie sind vereinzelt und sie erwarten eine individuelle Ansprache, die über-

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lasteten Pfarrer nicht mehr bieten können. Wie sagte Ernst Bloch: alle sehnten sich nach etwas, »das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.« Ähnlich wie für Peter Huchel nicht Berlin oder Potsdam, wo er lebte, die Heimat war, sondern der Bauernhof in Alt-Langerwisch, den er in seiner Kindheit erlebte, so war auch für den großen französischen Schriftsteller Marcel Proust die Heimat nicht Paris, wo er geboren wurde und aufwuchs und schließlich sein Leben verbrachte, sondern eine kleine Stadt in der Provinz, die er als Kind mit den Eltern in den Ferien besuchte: der Geburtsort seines Vaters. Er nannte ihn Combray und bemühte sich im ersten Band seines umfangreichen Werks »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« ihn zu rekonstruieren, nicht dieses Städtchen, sondern zuerst und vor allem das Haus der Tante Leonie, dieser verwunschene Ort, in dem sie wohnten, und den Garten hinterm Haus. Im letzten, im siebten Band seines Romans, der »Die wiedergefundene Zeit« heißt, kommt dem Erzähler auf der vorletzten Seite eine Kleinigkeit in den Sinn: das zarte Klingeln des Glöckchens an der Pforte des Garten der Tante Leonie: »Das Datum, zu dem ich das Geräusch des Glöckchens gehört hatte, jenen Klang, der jetzt so fern und dennoch in mich eingebettet war, bildete einen Markstein in dieser unendlichen Weite der Zeit, von deren Vorhandensein in mir ich im Grunde nichts geahnt hatte. Es schwindelte mir, wenn ich unter mir und trotz allem in mir, als sei ich viele Meilen hoch, so viele zurückliegende Jahre erblickte.«

Da sieht er ein letztes Mal zurück auf die lange Zeit seines Lebens, die ihm zu entschwinden droht, nachdem er so akribisch rekonstruiert hatte, was alles im Laufe dieser Jahre geschehen war. Zurück war er gegangen bis in die frühesten Jahre, in denen er so grundlegende Erfahrungen machte von Liebe und Leid wie jedes Kind, Erfahrungen, die dann durch sein ganzes Leben zogen. Am Anfang des Romanwerks erinnert er sich an diese Abende in Combray, wenn er zu Bett gehen musste, die Erwachsenen aber noch bei Tisch blieben: »Mein einziger Trost war, wenn ich schlafen ging, dass Mama, sobald ich im Bett läge, heraufkommen und mir einen Kuss geben würde. Doch dieses Gutenachtsagen dauerte nur kurze Zeit, sie ging so bald schon wieder, dass der Augenblick, da ich sie heraufkommen und dann in dem Gang mit der Doppeltür das leichte Rascheln ihres Gartenkleides aus blauem Musselin mit kleinen strohgeflochtenen Quasten hörte, für mich ein schmerzlicher Augenblick war. Er kündigte bereits den nächsten an, der auf ihn folgen sollte, wo sie mich verlassen haben und wieder unten sein würde.«

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Der erste Teil des Romans ist also der Rekonstruktion dieses Ortes gewidmet, in dem der kleine Marcel so glücklich war in Haus und Garten inmitten der Familie, besser noch der Konstruktion des Ortes, denn aus Bruchstücken des Vergangenen fügt der Erzähler etwas Neues zusammen durch Stilisierung und Verdichtung. Was damals geschah, gibt es für ihn erst in dem Moment, in dem es ins Gedächtnis gerufen und in Worten festgehalten wird. Dann erst wird es greifbar. Doch wie es rufen, wenn es ins Vergessen abgesunken ist? Hier gibt es die berühmte Stelle mit der ›Madeleine‹, jenem Biskuit-Gebäck in Form einer Jakobsmuschel, das es auch heute noch in Frankreich zu kaufen gibt. Der Ich-Erzähler berichtet. Er kommt an einem Wintertag nach Hause, ist durchfroren, die Mutter gibt ihm eine Tasse warmen Tee und eine dieser »Petites Madeleines«. Er nimmt ein Stückchen in den Mund und trinkt den Tee darüber. »In der Sekunde nun, da dieser mit den Gebäckkrümeln gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand, und dessen Grund mir unbekannt bleib, hatte mich durchströmt. Es hatte mir mit einem Schlag, wie die Liebe, die Wechselfälle des Lebens gleichgültig werden lassen, seine Katastrophen ungefährlich, seine Kürze imaginär, und es erfüllte mich mit einem köstlichen Essenz, oder vielmehr: diese Essenz war nicht in mir, ich war sie selbst.«

Er weiß zunächst nicht, was mit ihm geschieht. Es muss etwas sein, das durch den Geruch, den Geschmack in ihm bewegt wurde. Dann: »Und mit einem Mal war die Erinnerung da.« Es ist die Erinnerung an den Sonntagmorgen in Combray, wenn Tante Leonie ihm eine Madeleine anbot, die sie zuvor in ihren Tee getaucht hatte. Und nun schließt sich ihm alles auf: »das graue Haus mit seiner Straßenfront, an der ihr Zimmer lag, wie ein Stück Theaterdekoration zu dem kleinen Pavillon an der Gartenseite hinzugetreten, der für meine Eltern nach hinten heraus angebaut worden war. ... und mit dem Haus die Stadt, vom Morgen bis zum Abend und bei jeder Witterung, der Platz, auf den man mich vor dem Mittagessen schickte, die Straßen, in denen ich Einkäufe machte, die Wege, die wir gingen, wenn schönes Wetter war.«

Ursprünglich hatte Proust von einem Zwieback geschrieben, den er aß und Tee dazu trank, dann ersetzte er den Zwieback durch diesen Biskuit, der die Form der Jakobsmuschel trägt, also der Muschel, die den Pilgerweg zum Heiligen Jakob nach Santiago de Compostela markiert. Dadurch verlieh er dem mysteriösen Vorgang eine religiöse Dimension. Der Vorgang gemahnt fast an die Eucharis-

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tie, an das Abendmahl: Marcel nimmt Tee und Gebäck ein und erfährt eine Erleuchtung, eine profane gewiss, aber die profane Welt der Kindheit erhält dadurch einen auratischen Schein. Sie wird in eine andere Dimension gehoben. So lernen wir sie kennen und so wird sie zu einem Exempel, an dem wir möglicherweise eigene Kindheitserlebnisse erfahren. Hier wird also ein besonderer Ort durch einen besonderen Vorgang erfasst, zunächst nur für Marcel Proust, jetzt aber für alle Proust-Kenner und -liebhaber, die nach Illiers, so heißt Combray in Wirklichkeit, nun Illiers/Combray, pilgern, um dieses Haus der Tante Leonie zu besuchen, den Garten und die Straße davor. Aus dem individuellen Erlebnis wird ein kollektives: nun ist es ein geheimnisvoller Ort, den viele aufsuchen. Marcel Proust schrieb 1904 einen Artikel für den ›Figaro‹: »Die gemordeten Kathedralen«. Die Regierung bereitete nämlich ein Gesetz vor, dass die Trennung von Staat und Kirche in Frankreich noch weiter vorantreiben sollte. Proust fürchtete um die gotischen Kathedralen von Chartre, Reims und Rouen, die er liebte, die er besuchte, die er beschrieb. Er fürchtete, die Kirche habe nicht mehr genug Mittel, um sie zu erhalten. Oder der Staat würde sie der Kirche entreißen, was kurze Zeit sogar vorgesehen war, um sie für kulturelle Veranstaltungen zu vermieten. Proust sah diese ungeheuren Werke, aus einem Geiste erbaut, der uns heute fern ist, von vielen Generationen über Jahrhunderte hin geschaffen, der Kölner Dom wurde erst im 19. Jahrhundert fertig. Und er sah, dass diese Kathedralen nicht nur aus Architektur und Skulptur bestehen, sondern aus dem Geist, der sie erfüllt, dem Gottesdienst und den Gebeten: »Wenn das Opfer von Christi Fleisch und Blut nicht mehr in den Kirchen zelebriert wird, werden sie ohne Leben sein. Die katholische Liturgie bildet mit der Architektur und Skulptur unserer Kathedralen eine Einheit, denn sie entspringt aus derselben Symbolik wie diese.«

Die gotischen Kathedralen mit ihren großen Fenster, die das himmlische Licht einlassen, den Lichtstrahl, der dem Neugeborenen begegnet, die einen Anschein des himmlischen Jerusalem erreichen wollen in ihren hochstrebenden Bögen, sie sind ein heiliger Ort, der uns auf unsere eigentliche Heimat hinweist und sie uns in dieser Welt als zukünftiges Ziel vor Augen hält. Dieser heilige Ort ist durch die Generationen von Toten, die an ihm gebaut haben, auch mit ihren Gebeten an ihm gebaut haben, geschaffen worden, er bringt uns eine Folge von Geschlechtern, in die wir uns einreihen, ob wir nun wollen oder nicht.

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Martin Heidegger verweilte einmal in einer Kirche so lange, dass sein Begleiter ungeduldig wurde. Daraufhin Heidegger: Man spürt, dass hier viel gebetet wurde. Ich habe einmal das Gegenteil erlebt, könnte man sagen. Das Metropolitan Museum in New York hat im Norden Manhattans eine Dependance, auf einem Hügel am Hudson River schön gelegen: ein mittelalterliches Kloster, so scheint es, »The Cloisters« genannt. Es ist aus Originalteilen zusammengesetzt. Reiche Mäzene haben aus Spanien und Südfrankreich vor mehr als hundert Jahren Bauteile von Kloster- und Kirchenruinen erworben und mit dem Schiff nach New York verbracht, Daraus wurden eine Kirche und ein Kreuzgang zusammengesetzt, ein Wunderwerk restaurativer Architektur: alles originale Teile. Und doch ist die Kirche, steht man darin, kalt und leer. Niemals wurde darin gebetet, niemals wurde darin Gottesdienst gehalten. Erst durch uns werden die Dinge lebendig, durch unser Gespräch mit uns und mit anderen und mit dem Anderen. Noch einmal Marcel Proust: »In dem Alter, in dem die Namen uns das Bild des Unergründbaren zeigen, das wir selbst hineingelegt haben, zu demselben Zeitpunkt, da sie für uns auch einen wirklichen Ort benennen und uns demnach zwingen, das eine mit dem anderen in einem Maße gleichzusetzen, dass wir aufbrechen, um in eine Stadt nach der Seele zu suchen, die sie nicht enthalten kann, die aus ihrem Namen zu vertreiben wir aber auch nicht mehr die Macht haben, verleihen sie nicht nur Städten und Flüssen eine Individualität, wie allegorische Bilder es tun, färben sie auf mannigfache Weise und bevölkern mit Wunderbarem nicht nur das physische Universum, sondern auch das soziale: jedes Schloss, jedes berühmte Stadthaus oder Palais besitzt dann seine weiße Dame oder seine Fee wie die Wälder ihre Waldgeister und die Gewässer ihre Wasserwesen.«

Dies also ist der Ort als Heimat: es ist ein Ort, der für uns Bedeutung ist, nicht als geographischer Ort, nicht als physische Gegebenheit, sondern als ein Ort, der durch unsere Erfahrungen an diesem Ort, durch unsere Erinnerungen daran, durch unsere Benennungen einzig zu dem Ort wird, der er in unserer Vorstellung ist. Genauer: nur in der Vorstellung dessen, der hier geboren wurde, hier aufwuchs oder doch länger lebte. Für einen anderen hat der Ort keine besondere Bedeutung. Ich erinnere mich an einen Freund, dem ich das Haus zeigte, in dem ich glückliche Tage der Kindheit verbrachte. Er sagte nur mürrisch. »Das ist ja eine Mietskaserne« und drängte weiter. Für mich war es ein verzauberter Ort und nicht wegen des Hauses, wie ich dann merkte, sondern wegen der Menschen, die mir dort Geborgenheit gaben. So ist also das Ergebnis der Umfrage, wonach 91% bei Heimat an die Familie denken, durchaus begründet. Auch sind wir mit

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unseren Erinnerungen an den Ort als Heimat allein, wenn nicht Mitglieder der Familie, Freunde diesen Ort als Heimat mit uns teilen. Der Schriftsteller kann aus jedem Ort eine Art Heimat machen für viele, also zu einem für viele wichtigen Ort, der durch Bedeutung aufgeladen ist, weil der Schriftsteller in seinem Werk ihn benannt und belebt hat und dadurch für alle Leser attraktiv gemacht hat. So erhält dieser Ort in der Vorstellung der Leser eine ähnliche Bedeutung wie in der des Schriftstellers. Ich gebe noch ein Beispiel: den Stechlin-See in der Nähe von Rheinsberg im Norden Brandenburgs gelegen, im Ruppiner Land, in dem Theodor Fontane geboren wurde. Diesen See gibt es, er ist einer unter vielen Brandenburger Seen, ein besonderer allerdings, denn er ist tiefer, klarer, stiller als andere und gefährlicher. So geht denn auch von ihm eine Sage um, die Fontane schon vorfand: es heißt, er sei unterirdisch mit dem Rest der Welt verbunden und zeige an, wenn es andernorts ein Unglück gibt. Als das große Erdbeben Lissabon zerstörte, soll der Stechlin-See geschäumt und gezischt haben und eine hohe Wassersäule sei aus ihm aufgestiegen. Theodor Fontane berichtete davon in seinen »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«, die seinen Romanen vorangingen. In seinem letzten Roman »Stechlin« von 1896 fügte er diesem See eine Erzählung hinzu. Er erfand ein Dorf Stechlin mit Kirche und ein Schloss Stechlin mit einem alten Adelsgeschlecht Stechlin. Der See spielt die Hauptrolle, ließe sich sagen, durch die Familie Stechlin, den Pfarrer, das Dorf aber erhält er eine Aura, die er vorher nicht hatte. So wird ein Stechlin geschaffen, das es nicht gab, weshalb viele Touristen es vergeblich suchen. Sie finden den See, aber nicht das Dorf und nicht das Schloss. Das gibt es nur in ihrer Imagination.

Autorinnen und Autoren

Günzel, Stephan, Prof. Dr. Stephan Günzel, Professor für Medientheorie an der Berliner Technischen Kunsthochschule; Gastdozent an den Universitäten Klagenfurt sowie Kassel und Göttingen, zuvor Gastprofessuren an der HU-Berlin und der Universität Trier. Schlitte, Annika, Annika Schlitte (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Philosophie an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Ihre Schwerpunkte sind Kulturphilosophie, Phänomenologie, Ästhetik und Hermeneutik. Beuttler, Ulrich, PD Dr. Ulrich Beuttler, Jg. 1967, Privatdozent für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg und Pfarrer an der Markuskirche Backnang; Schwerpunkte: Schöpfungslehre, Dialog mit den Naturwissenschaften, Gotteslehre. Hünefeldt, Thomas, Thomas Hünefeldt (Dr. phil., Dr. psych.) ist Postdoc an der „Sapienza“ Universität Rom und an der KU Eichstätt. Er ist Managing Editor der Zeitschrift „Cognitive Processing“ und forscht im Bereich der Philosophie und der Psychologie. Shields, Rob, Prof. Dr. Rob Shields ist seit 2004 Inhaber des Henry Marshall Tory Endowed Lehrstuhls und Professor für Soziologie an der University of Alberta in Edmonton und Herausgeber von Space and Culture. Van Loon, Joost, Prof. Dr. Joost van Loon ist seit 2010 Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie an der K.U. EichstattIngolstadt und Herausgeber von Space and Culture.

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Graupe, Silja, Prof. Dr. Silja Graupe ist Inhaberin des Lehrstuhls "Ökonomie und Philosophie" an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn sowie der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte in Bernkastel-Kues. Ihre Forschungsschwerpunkte in der Philosophie sind die interkulturelle sowie die japanische und chinesische Philosophie. Schmidt, Kerstin, Prof. Dr. Kerstin Schmidt hat seit April 2013 den Lehrstuhl für Amerikanistik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt inne. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die amerikanische Literatur und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere amerikanisches Drama und Theater, ethnische Literaturen in den USA und Kanada, diaspora studies, Medientheorien, Dokumentarphotographie sowie Theorien von Räumlichkeit in Architektur, Photographie und Literatur. Nate, Richard, seit 2003 Professor für Englische Literaturwissenschaft und Mentor des Europastudiengangs an der Katholischen Universität EichstättIngolstadt. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Wissenschaft, Utopien und Dystopien, kulturelle Selbst- und Fremdwahrnehmung. Schweidler, Walter, Prof. Dr. Walter Schweidler ist seit 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Forschungsschwerpunkte (u.a.): Gegenwärtige und neuzeitliche Ansätze der Ethik und der Politischen Philosophie; Rechtsphilosophie und Theorie der Menschenrechte; Phänomenologie, Metaphysik und Metaphysikkritik; Bioethik. Zimmermann, Hans Dieter, Hans Dieter Zimmermann war von 1975 bis 1987 Professor für neuere deutsche Literatur an der J.W. Goethe Universität in Frankfurt a.M. und von 1987 bis 2008 an der TU Berlin. Geschäftsführender Herausgeber der Tschechischen Bibliothek in deutscher Sprache. Mitglied des PEN, Vorsitzender der Hans Werner Richter Stiftung und der Hugo- BallGesellschaft.

Edition Moderne Postmoderne Franziska Martinsen, Oliver Flügel-Martinsen (Hg.) Gewaltbefragungen Beiträge zur Theorie von Politik und Gewalt 2013, 234 Seiten, kart., 26,99 €, ISBN 978-3-8376-2541-7

Paul Sörensen, Nikolai Münch (Hg.) Politische Theorie und das Denken Heideggers 2013, 252 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2389-5

Sabine Till Die Stimme zwischen Immanenz und Transzendenz Zu einer Denkfigur bei Emmanuel Lévinas, Jacques Lacan, Jacques Derrida und Gilles Deleuze 2013, 226 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2430-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Edition Moderne Postmoderne Daniel Bogner Das Recht des Politischen Ein neuer Begriff der Menschenrechte Juni 2014, ca. 360 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2605-6

Filipe Campello Die Natur der Sittlichkeit Grundlagen einer Theorie der Institutionen nach Hegel Juli 2014, ca. 230 Seiten, kart., ca. 28,99 €, ISBN 978-3-8376-2666-7

Mara-Daria Cojocaru Die Geschichte von der guten Stadt Politische Philosophie zwischen urbaner Selbstverständigung und Utopie 2012, 256 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2021-4

Stefan Deines, Daniel Martin Feige, Martin Seel (Hg.) Formen kulturellen Wandels 2012, 278 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1870-9

Christian Dries Die Welt als Vernichtungslager Eine kritische Theorie der Moderne im Anschluss an Günther Anders, Hannah Arendt und Hans Jonas 2012, 518 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1949-2

Maximilian Lakitsch Unbehagen im modernen Staat Über die Grundlagen staatlicher Gewalt 2013, 244 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2368-0

Hilge Landweer, Catherine Newmark, Christine Kley, Simone Miller (Hg.) Philosophie und die Potenziale der Gender Studies Peripherie und Zentrum im Feld der Theorie 2012, 346 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2152-5

Christian Lavagno Jenseits der Ordnung Versuch einer philosophischen Ataxiologie 2012, 228 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1998-0

Matthias Mayer Objekt-Subjekt F. W. J. Schellings Naturphilosophie als Beitrag zu einer Kritik der Verdinglichung Februar 2014, 386 Seiten, kart., 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2586-8

Martin Müller Private Romantik, öffentlicher Pragmatismus? Richard Rortys transformative Neubeschreibung des Liberalismus Januar 2014, 784 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2041-2

José M. Romero (Hg.) Immanente Kritik heute Grundlagen und Aktualität eines sozialphilosophischen Begriffs Juli 2014, ca. 160 Seiten, kart., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2581-3

Juliane Spitta Gemeinschaft jenseits von Identität? Über die paradoxe Renaissance einer politischen Idee 2012, 356 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2236-2

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